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Von W. Michael Gear erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: SPINNEN-ZYKLUS: Spinnenkrieger 06/5045 Spinnenfäden 06/5046 Spinnennetze 06/5047
W.Michael Gear
SPINNEN-
KRIEGER
Erster Roman des SPINNEN-ZYKLUS Deutsche Erstausgabe
HEYNE SCIENCE FICT1ON & FANTASY Band 06/5045
Titel der amerikanischen Originalausgabe THE WARRIORS OF SPIDER Deutsche Übersetzung von Horst Pukallus Das Umschlagbild malte Sanjulian
Redaktion: E. Senftbauer Copyright © 1988 by W. Michael Gear Erstveröffentlichung by DAW Books, Inc., New York Copyright © 1993 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1993 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Technische Betreuung: Manfred Spinola Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin ISBN 3-453-06616-2
1
Es begann mit einem Zwischenfall. Ein Milliarden von Jahren altes Band aus Gas, Molekülen und Staub schlängelte sich auf seiner Bahn durch den Kosmos auf den Kurs eines vollautomatischen FLFTransportraumschiffs. Der Staubanteil besaß lediglich geringe Masse, gerade genug, um die Warnanlagen aus zulösen. Das Schiffshirn leitete den Austritt aus dem Nichts oberhalb der Lichtgeschwindigkeit ein; der riesige Funklenkfrachter wechselte in das Universum über, das die Menschen für Realität hielten. Es dauerte einen Moment, bis das Schiffshirn die vor aus befindliche Wolke gescannt, die Zusammensetzung ermittelt und ausgerechnet hatte, daß sie für den Über lichtflug keine Gefahr verkörperte. Masse war vorhanden, jedoch zu wenig, um hinsichtlich der Sicherheit des Raumschiffs Anlaß zur Sorge zu geben. Während die Triebwerke einen Strahl greller Helligkeit ins Schwarz des Weltalls spieen, fing das Schiffshirn schwache Radiowellen auf, zögerte und drosselte das Höllenfeuer, das in den Antimateriereaktoren tobte. Das Schiffshirn richtete empfindliche Antennen auf eine min dere, durch Rotverschiebung gekennzeichnete Radio quelle inmitten der verschlungenen Sternennebel und lauschte. Seine cyborgischen Elemente empfanden Über raschung; die Computer speicherten schleunigst alles, was sie von dem unzulänglichen Signal erfassen konnten. Das Schiffshirn entschied, damit genug getan zu haben, fuhr den Antrieb wieder hoch und schaltete, während das FLF-Raumschiff erneut in den Irrsinn des Überlichtflugs hinüberglitt, die Schutzschirme ein.
Ein halbdunkler Raum, in dem himmelblaues Licht schimmerte, umgab Direktor Skor Robinson, der ge wichtslos über einer großen Computerkonsole trieb, die mitten in der Luft schwebte und in allen Farbtönungen des Regenbogens schillerte. Der Direktor war ein hoch gewachsener, dürrer Mann mit dem leichten Knochenbau, an dem man den Stationsgebürtigen erkannte. Trotz seiner Körpergröße stand sein enormer, knollenartiger Kopf zum Rest seiner Erscheinung in groteskem Mißverhältnis; er wirkte wie ein wasserköpfiger Embryo mit der nur ange deuteten Gestalt eines Strichmännchens. Obwohl eine helmähnliche Computer-Kontakthaube aus mattem Metall den Schädel des Direktors umhüllte, kaschierte diese Kopfbedeckung die übergroße Hirnschale nicht im geringsten; statt dessen unterstrich sie seine mor phologische Unterschiedlichkeit — die Tatsache, daß er halb Mensch war, halb Maschine —, während sie seine Gehirnwellen mit dem Giga-Verbund verknüpfte und phy sisch sein immenses Gehirn kühlte, ein Hirn, das fünfmal so groß war wie bei einem normalen Menschen. Nur das gewichtsfreie Milieu des Kontrollraums ermöglichte es seinem zierlichen Hals, überhaupt einen solchen Kopf zu tragen. Schläuche bildeten eine Nabelschnur, die seinen Körper ernährte, die Ausscheidungen entfernte und den Stoffwechselumsatz, das Blutbild sowie den allgemeinen Gesundheitszustand beobachtete. Diese Daten gingen in permanenter Rückkoppelung seinem enormen Gehirn und dem Giga-Verbund zu und gewährleisteten, daß seine stoffliche Existenz optimal funktionierte. In der Nullschwerkraft bedeutete die Kontakthaube keine Last für Robinson, der die Informationen, die ihm aus dem UBM-Giga-Verbund zuströmten, ordnete und analysierte. Robinson, dessen Ausbildung schon vor der Geburt angefangen hatte, zählte zu der Handvoll von Personen, die man gentechnisch darauf spezialisiert hatte,
mit dem Giga-Computerverbund per Schnittstelle kom munizieren zu können ... und zur gleichen Zeit mit der sogenannten Menschheit. In jeder Sekunde beanspruchten Tausende von Ein zeldaten seine Aufmerksamkeit. Sollte die Kaffeepro duktion auf Zymans Welt erhöht werden? Ja. Dagegen galt es die Kristallzucht der Station Hebron zu verringern. Angesichts des tendenziellen Bevölkerungswachstums mußte so ein Eingriff für die Dauer der nächsten fünf Jahre als notwendige Vorsichtsmaßnahme eingestuft werden. Gleichzeitig wog ein anderer Teil seiner Kapazitäten den Stand der Toron-Herstellung gegen deren potentiellen Marktwert in dem Fall ab, daß der Außensektor kommer ziell erschlossen werden konnte. Laufend fällte er nicht anders Entscheidungen, als gewöhnlich Gedanken flössen. Kaum merklich zuckte sein Gesicht, dessen Ausdruck an eine Trance erinnerte, während er die zur Absatzsti mulation konzipierte Preissenkung stornierte, die zur Erschließung des Außensektors hatte beitragen sollen. Die Wahrscheinlichkeit einer Destabilisierung war zu hoch, wenn er zuließ, daß die Expansion der Menschen sich so weit über die Grenzen des Direktorats hinaus aus dehnte. Der Friede war sehr, sehr zerbrechlich. Die Zügel, an denen das Direktorat die Menschheit lenkte, waren unerhört dünn. Nur ein geringfügiges Ungleich gewicht im System, und schon konnte ein Desaster die Folge sein. Die Menschheit hing wie ein Gespinst aus Sommer fäden gefahrvoll über dem Abgrund des Chaos. Ohne die gewaltigen UBM-Computer, die rings um Robinson die gesamte Station ausfüllten, wäre ihm die Ausübung seiner Kontrolle unmöglich gewesen. Sie verarbeiteten die Informationsmassen, die ständig durch ihre Speicher wan derten. Sie führten die Politik aus, über die Skor Robinson und die wenigen anderen, ihm gleichen AssistenzDirektoren entschieden. Wie ein Staubkorn im Wind
mochte die Kontrolle jeden Augenblick verloren gehen. Plötzlich blieb reflexartig ein kurzer Satz Daten in ei nem Gedanken Robinsons hängen. Er betraf nichts We sentliches, nur schwache Radiowellen, die ein Frachter außerhalb des Außensektors aufgefangen hatte. Wichtig? Skor Robinson zauderte. Ein inneres Gespür war bei ihm angesprochen worden, und er hielt Anfrage in den phäno menalen Datenbanken der UBM-Computer. In der angegebenen Richtung lagen keine Kolonien. Es fand dort auch keine Erforschung statt. Nichts. Dort gab es ausschließlich Schwärze und Sterne. Trotzdem...? Obwohl er merkwürdiges Unbehagen empfand, hatte Robinson keine Zeit zu tieferem Nachdenken. Er reichte die Meldung an Semri Nawtow weiter, dem die Populationskontrolle oblag, ehe er sich mit der Weizenkrise auf der Station bei Anten IV zu befassen begann. Und was geschah im Siriussystem? Weshalb veränderte sich dort die gesellschaftliche Struktur? Eine Sekunde lang überlegte er, ob er die Patrouille alarmieren sollte, tat es aber nicht. Radiowellen außerhalb der Grenze? Daran konnte nichts Wichtiges sein. *
*
*
Dr. Leeta Dobra kaute auf ihrer Lippe, betrachtete den Monitor und runzelte erwartungsvoll die Stirn. Die Analyse erschien. Leeta war mit der Untersuchung der kürzlich in versiegelten Behältern von einer Weltraum station eingetroffenen Knochenproben fertig. Um einer Station irgendwelche menschlichen Überreste abzu luchsen, brauchte es buchstäblich höhere Gewalt. Die meisten Stationen brachten ihren Toten inbrünstige religiöse Hochachtung entgegen. Dies Verhaltensmuster ging zurück auf die Zeit, in der jede Form organischer
Materie als Kostbarkeit galt. Anorganisches Material konnte aus Asteroiden gewonnen oder von einem Mond geholt werden; organische Stoffe hatten anfangs aus schließlich von der Erde gestammt. Später waren entspre chende Moleküle freischwebend im Weltraum entdeckt worden. Allerdings hatte es noch eine gewisse Zeit gedau ert, bis es gelang, sie auf wirtschaftliche Weise zu ernten. Da war es längst so weit gewesen, daß die Vorstellung, Knochen und Fleisch oder Exkremente könnten einen anderen Weg als in ihre dampfenden hy-droponischen Tanks nehmen, Stationsbewohnern einen Schrecken ein jagte. Sechshundert Jahre — nach Erdzeit — waren verstri chen, seit man die erste orbitale Raumstation bevölkert hatte. Noch immer lieferte der Julianische Kalender Menschen, die fern ihrer Ursprungswelt lebten, einen Bezugspunkt; ansonsten jedoch bewertete man Zeit nur noch als Funktion von Masse und Geschwindigkeit. Versonnen hielt Leeta inne, besah sich die Zahlen auf dem Monitor. Der Homo sapiens war weit gekommen — und hatte sich beträchtlich gewandelt. Die Menschheit faszinierte Leeta. Die ganze Spezies formte sich in etwas anderes um. Menschen wohnten in weit entfernten, um neue Sonnen, Planeten und Asteroiden verstreuten Stationen. Sie paßten sich an, wie andere Umweltbedingungen und Strahlungsverhältnisse es ver langten, änderten sich mit jeder Generation stärker. Nur die Planetenbewohner hatten noch deutliche Ähnlichkeit mit den Normalmenschen der Erde; doch selbst bei ihnen ließen sich zumindest statistisch erfaßbare Abweichungen nachweisen. Leeta nickte, während sie die dargestellten Untersu chungsergebnisse durchsah. Per Kontaktron ergänzte sie sie um Anmerkungen und leitete die gesammelten Informationen dem Giga-Verbund zu, der sie — die Ge nehmigung des Direktorats vorausgesetzt — Interessierten zugänglich machte. Sie lehnte sich zurück und streckte
sich, an ihren Armen und Beinen, denen man die planeta re Herkunft ansah, dehnten sich Muskeln. Leeta atmete tief durch und gähnte, schüttelte sich das dichte, blonde Haar auf die Schultern. Bedächtig stand sie auf und schob das Kontaktron in die Halte-rung. »Ich komme, Jeffray«, brummelte sie verdrossen und blickte aufs Chronometer. »Ich komme ja schon.« Bestimmt wartete Jeffray Astor bereits auf sie, die Stirn von einer Miene der Gereiztheit und der Verunsicherung gefurcht. Wie üblich war er wohl schon außer sich wegen ihrer Unpünktlichkeit. Seit dem Tag, für den das Direktorat ihn ins Gesundheitsamt bestellt hatte, war vie les anders geworden. Aus war es seither mit seiner Empfindsamkeit, seinen Träumen, seinem Wunsch, die Galaxis mit innovativen Neuerungen auf dem Gebiet der Subraum-Kommunikation zu überziehen. Der fesche, stets zum Lächeln geneigte Mann, der ihr Jeffray gewesen war — wie sie ihn gekannt hatte —, war völlig verändert zurückgekehrt. Er sah gut aus, war hellhäutig, fast albinoblond, hatte für einen Planetgebürtigen einen schmalen Körperbau. Bitter fragte sich Leeta, ob der Umstand, im Bereich ei ner Gravitationsquelle geboren worden zu sein, mittler weile die einzige Gemeinsamkeit sein mochte, die sie beide noch hatten. Seine hellblauen Augen deuteten Unterordnungsbereitschaft an, und im allgemeinen ge nügte ein strenger Blick Leetas, um ihn — auch wenn er schmollte — zu regelrechter Unterwürfigkeit zu ernied rigen. Zwar war er einfühlsam und zumeist freundlich, sogar wahrhaft brillant, sobald es um TransduktionsKommunikationstechnik ging; dennoch hatte er sich vom Rest des akademischen Lebens entfremdet. Er kam unter Leuten schlecht zurecht, blieb für sich. Er benahm sich scheu und zurückhaltend, und häufig zeigte er sich deprimiert. Allerdings war es nicht immer so mit ihm gewesen ... Nicht vor seinem Besuch im Gesundheits amt.
Rasch schaute Leeta sich in dem säuberlichen, weißen Zimmer um, überzeugte sich davon, daß alles sich an sei nem Platz befand. Die Regale mit den Geräten waren in schönster Ordnung. Die Tischplatten glänzten. Sie schloß die Knochenproben wieder in ihre Vakuumbehältnisse und sortierte sie ein. Gott bewahre, daß Dr. Chem, der Abteilungsleiter, irgend etwas beanstandete! Er hatte ihr schon genug Kummer bereitet. Obwohl er Anthropologe war, verhielt er sich in mancher Hinsicht engstirnig, ließ Leeta dauernd spüren, daß es sich bei ihr um eine Planetgebürtige handelte — und folglich, gemessen am Bordstandard, um eine Schlampe. Stationsbewohner verwendeten peinliche Genauigkeit darauf, alles ordentlich zu halten — für Leetas Begriffe ebenfalls ein Spleen. In der Anfangszeit der Stationen hat ten sie sehr wenig Platz gehabt. Weil sie in engen Gemeinschaftsquartieren untergebracht gewesen waren, hatten sie jeden Quadratzentimeter möglichst günstig genutzt; mittlerweile war auch daraus dogmatischer kul tureller Ballast geworden. Sie machte die Tür von außen zu und sperrte ab, hin terließ als letzte Benutzerin des Zimmers elektronisch ihren Handabdruck. Der Korridor unter ihren Füßen ver lief mit der konstanten Aufwärtskrümmung, an die man sich in Stationen gewöhnen mußte. Sie beeilte sich mehr als beabsichtigt, steigerte ihre ela stischen, muskelbetonten Schritte zu schnellem Laufschritt, so daß die Türen nur so an ihr vorüberzu-flitzen schienen. Fast geriet sie ins Taumeln, während sie in Sichtweite des Transports das Tempo verminderte. Unabhängig von der Höhe der Schwerkraft blieb das Trägheitsmoment immer erhalten. Nach Leetas Verständnis der Dinge hätte der Transport eigentlich Lift heißen müssen. Er beförderte eine Person auf- oder abwärts; beziehungsweise ein- oder auswärts, je nach der Betrachtungsweise. Sie gab die Etage an, die sie aufsuchen wollte, und wartete auf eine Kabine. Als sich
die Tür öffnete, rannte sie den Mann, der ihr entgegentrat, beinahe um, ehe sie ihn sah. Sie fing sich ab, schluckte, lachte und machte einen Schritt rückwärts. »In Eile?« erkundigte sich Dr, Emmanuel Chem, wölb te die Brauen. »Ich bin spät dran für ‘ne Verabredung. Jeffray wartet schon in .,.« »Leider werden Sie noch ein wenig mehr Verspätung haben«, sagte Chem im Tonfall der Zerstreutheit, Leeta stutzte, musterte ihn genauer. Sein mit einem struppigen Bart verziertes Gesicht hatte einen ange spannten, zutiefst nachdenklichen Ausdruck. Sie sah ihm an, daß sich hinter den dunkelbraunen Augen irgend etwas Bedeutsames verbarg. Er verkniff die buschigen Brauen, bis es den Anschein hatte, als müßten sie auf die lange, fleischige Nase herabrutschen. Leeta konnte unter seiner Altershaut winzige Blutgefäße erkennen. »Ist an meiner Untersuchung der Proben was falsch?« Leeta drohte sich der Magen umzudrehen. Sie hatte alles richtig erledigt. Die Analyse war einwandfrei, und zwar bis hinab auf die subatomare Ebene. »Ich kann mir nicht denken ...« »Kommen Sie mit, meine Liebe. Es geht um wichtige res als ein paar alte Knochen.« Schon strebte Chem den Korridor hinab, bewegte sich mit der Art von geschmei digem Seemannsgang vorwärts, die anscheinend alle Stationsbewohner gemeinsam hatten. »Mein Gott!« entfuhr es Leeta »Wir haben ... haben uns jahrelang um den Erhalt dieser Proben bemüht. Station Chung ist unglaublich weit abgelegen. Wissen Sie, was diese Proben das Direktorat kosten?« »Spielt keine Rolle«, nuschelte Dr. Chem über die Schulter. »Bitte kommen Sie, ich erkläre Ihnen alles in meinem Büro.« Beim Betreten des geräumigen Büros Dr. Chems schnauzte er den Apparat an, der in der Ecke stand.
»Kaffee!« orderte er, räusperte sich. Der Apparat gab zwei Becher aus. »Dr. Chem, ich weiß nicht, was ...« Geistesabwesend winkte er nur ab. In ihrer Erbitterung ließ Leeta es zu, daß ihre Auf merksamkeit abschweifte. In Chems Büro gab es zahl reiche Bandkassetten, Akten, Speicherwalzen sowie viel fältiges Bildmaterial. Außerdem hatte er offenbar eine Vorliebe für antiquierte Bücher. Richtige Bücher aus ech tem Papier. An einer Wand hing ein Sortiment von zehn verdrahteten Skeletten, eines aus der Prähistorie der Erde, der Rest veranschaulichte den differenzierten Knochenbau der modernen Menschheit. Chem beschäftigte sich mit dem Kaffee, während Leeta die Skelette anschaute und wegen der Verzögerung insge heim vor Wut schäumte. Auf den Wandregalen über den Skeletten stand eine Sammlung von rund dreihundert menschlichen Schädeln sowie ungefähr zweihundert vor zeitlichen Schädelexemplaren, wie man sie außerhalb der Erde nicht fand; sie stammten von Protohominiden, den uralten Ahnen des Menschengeschlechts. Ursprünglich hatte der Anblick dieser verdrahteten Knochen — der Gebeine von seit langem toten Männern und Frauen — Leeta Betroffenheit eingeflößt. Heute ging davon auf sie ein beruhigender Einfluß aus. Als wissens durstige Studentin hatte dieser Raum sie zum Staunen gebracht. Das Faszinierende der Gebeine hatte sie auf das Gebiet der Anthropologie gelockt. Die Arbeit mit Knochenmaterial war für sie zu einer Art von magischer Handlung geworden. Sobald ihre Finger Knochen anfaß ten, rührte sie gleichzeitig an etwas tief im eigenen Innern, verband sie Vergangenheit und Gegenwart, erwachte in ihr angesichts der Zeitspanne und der Umwälzungen, die die Menschheit schon durchgestanden hatte, ein Gefühl der Hoffnung.
Das Bezaubernde an ihrer Arbeit war nie geschwun den. Im Laufe sämtlicher Studienjahre, unter den harten, äußerst schwierigen Bedingungen des Praktikums sowie schließlich während ihrer nach Erreichen des Doktortitels ausgeübten Tätigkeit hatte sie immer Ehrfurcht vor Gebeinen empfunden. Anders als es sich mit den trocke nen Texten der Fachzeitschriften verhielt, konnte sie in die leeren Augenhöhlen eines Schädels blicken und sich fra gen, was dies Individuum einmal gesehen, gefühlt, geliebt und gefürchtet haben mochte. Welche Wunder hatte es in seiner Welt gegeben? Was hätte dieser Mensch von ihrer Welt gehalten? Kälte, Schmerz, Sorgen und Freuden bedeuteten reale Bestandteile einer Verwandtschaft, die selbst über astronomische Entfernungen und Jahrhunderte hinweg bestehen blieb. Chem schreckte sie aus ihren Gedanken, als er ihr einen Becher Kaffee reichte und nahm auf einer der Cou-chen in der Konferenzecke des Büros Platz. Er zeigte auf die Kontaktrone und setzte sich eines auf. Leeta schob sich ebenfalls ein Exemplar über den Kopf und adjustierte das Gerät. Etwas wie eine verrauschte Funkausstrahlung, in der vielleicht hohl menschliche Stimmen anklangen, drang an ihr Gehör. »Das ist von außerhalb des Außensektors gekommen.« Chem sprach in sprödem Ton. »Aus einer Gegend, wo es keine bekannten menschlichen Niederlassungen gibt.« Als die Aufnahme vorbei war, zog Leeta sich das Kontaktron vom Kopf und sah Chem an; sie war bestürzt, spürte ihren Puls aus Aufregung rasen. »Mein Gott...!« sagte sie fast andächtig. »Was...? Ich meine: Wer ist das?« Ihr Blick fiel auf die Skelette an der Wand. Chem hob die Brauen und schaute sie ungnädig an — eine Miene, die er immer schnitt, wenn er der Ansicht war, daß sie sich nicht wie ein Profi benahm. In seinen Augen stand dann unausgesprochen der Vorwurf: Ich kann nicht
glauben, daß Sie so daherreden. »Verraten Sie’s mir«, ver langte er. Leeta senkte den Blick, ihr wurde peinlich bewußt, daß Chem von ihr eine nüchterne wissenschaftliche Einschätzung forderte. Immerhin war er der Abtei lungsleiter. »Diese Frage zu klären, ist genau die Aufgabe, vor die Assistenz-Direktor Nawtow uns gestellt hat«, fügte Chem ausdruckslos hinzu. »Ich schlage vor, Sie durchforschen die historischen Datenbanken. Sehen Sie nach, was sich über frühe Weltraumexpeditionen finden läßt. Wie der Assistenz-Direktor uns mitgeteilt hat, sind alle Archive, Dokumentationszentren und Historischen Institute infor miert worden. Weder Astronavigation noch Handelsorganisation haben irgendwelche Aufzeichnungen über Raumflüge in diese Richtung.« »Ihnen ist zweifellos klar, daß das eine Spur sein könn te, die zur alten Erde zurückführt.« Leeta verlieh ihrer Stimme einen sachlichen Tonfall. Doch ihr Puls hämmer te. Vielleicht besaßen diese unbekannten Menschen die gleichen Eigenschaften der Tapferheit und Beherztheit wie die früheren Menschen der Erde. Ihr Blick erfaßte die gro ben Umrisse, die den Schädel eines männlichen Puebloindianers kennzeichneten. Chem nickte. »Genau. Aber noch wissen wir nichts, stimmt’s? Ich glaube auch nicht, daß wir’s herausfinden werden, solange Sie nicht an die Arbeit gehen. Sie küm mern sich um die historischen Daten. Ich nehme mir die Literatur über primitive Gesellschaftsformen vor.« Leeta knabberte am Daumen; ihr Blick ruhte noch auf dem Schädel. »Sie denken, es sind Primitive? Sie haben Funk.« Dr. Chem zuckte die Achseln. »Soviel wissen wir. Aber wir wissen auch, daß noch nie irgend jemand etwas von ihnen gehört hat. Sie wohnen in einer Gegend des Weltalls, die nie besiedelt worden ist... Oder deren
Besiedlung nicht aktenkundig ist.« Chem starrte in seinen Kaffee, hatte im Bart die Lippen gespitzt. »Die Patrouille nimmt an, daß es sich lediglich um eine stellare Radio quelle handelt... einen Radiostern.« Leeta nickte, trank einen Schluck Kaffee und stürzte sich voller Eifer in die Sichtung der historischen Literatur. Ein hartnäckiges Piepsen störte sie bei den Nachfor schungen. Leeta stockte der Atem. »Jeffray!« stöhnte sie, schlagartig dämpfte Trübsinn ihre Erregung. Willentlich setzte sie eine neutrale Miene auf und nahm den Anruf entgegen. »Du hast das Essen verpaßt«, sagte er ohne Um schweife, sobald sein Abbild sie aus dem Monitor an schaute. Aus Unsicherheit zitterte ihm das Kinn. Leeta musterte das hochaufgeschossene, knochige, typisch pla netare Aussehen seiner Erscheinung. Es zählte zu den Eigenheiten, die sie zusammengebracht hatten. Männliche Stationsbewohner hegten eine gewisse Abneigung gegen Frauen, die ihnen das Kreuz brechen konnten, ohne ins Schwitzen zu geraten. Sie nickte, verspürte beim Anblick der Fischartigkeit seiner hellblauen Augen Unbehagen. Das ganze Bild wirk te unangenehm: Ein bleicher Mann vor weißem Hintergrund. Möglicherweise war ihre gesamte Beziehung längst so blaß geworden wie die fahlen Räume, in denen sie sich aufhielten. Sie entschloß sich zu offensivem Vorgehen. »Hör mal, Jeffray, es ist was Wichtiges dazwischengekommen. Ich weiß noch nicht, wann ich hier weg kann. Vielleicht muß ich den ganzen Abend bleiben. Ich erzähle dir, um was ‘s geht, sobald wir Aufschluß über den Zusammenhang der Einzelheiten haben. Du wirst platt sein, wenn du erfährst...« »Klar.« Er nickte, als ob er alles verstünde, aber in sei nen Augen erkannte Leeta nichts als Leere. »Dauernd tust du mir so was an, Leeta. Immer schaffst du’s, mir das
Gefühl zu geben ... Ich ...« Er verfiel ins Stammeln, senk te den Blick. »Dann sehen wir uns eben etwas später.« »Wir werden uns darüber unterhalten«, versprach Leeta, hatte plötzlich Gewissensbisse. Fast hätte sie hinzu gefügt: Ich liebe dich. Doch sie verkniff sich die Äuße rung. Es blieb fruchtlos. Alles, was sie taten, war fruchtlos. Ihr Blick irrte durch das Zimmer, obwohl nun auf der Mattscheibe wieder die Literaturverzeichnisse erschienen. Im sanften Licht der Beleuchtung glänzten die Schädel, schienen ihr zuzugrinsen. »Gäbe es bloß noch Männer wie euch«, flüsterte Leeta kaum hörbar und im Ton der Trostlosigkeit. Und Jeffray? Was war nur mit ihm los? Er war ein lang weiliger Mensch, aber sehr gescheit, hatte eine aus sichtsreiche Zukunft in der Transduktiven SubraumKommunikation. Warum betrug er sich dann so verdammt wachsweich, nahm ihre Launen, wenn auch widerwillig, einfach hin? Kein einziges Mal hatte er sich darum bemüht, ihre berufliche Betätigung zu begreifen; und hielt man sich an die Wahrheit, mußte man feststellen, er hätte sich gar nicht weniger dafür interessieren können. »O Gott...!« seufzte Leeta, streckte die Arme, stemmte sie gegen die Konsole. »Ach, hätten wir bloß noch die guten, alten Zeiten, in denen Mead, Underhill und die anderen ihre Forschungspersonen sehen und mit ihnen reden konnten! Wo finde ich meinen Neandertaler?« Um die bedeutenden Frauen in den Anfängen der Anthropologie rankten sich Anekdoten. Obwohl sie längst vergangene Histörchen waren, kolportierte man sie noch heute. Hörensagen um Affären mit Angehörigen wilder Stämme, über starke Leiber, die im Mondschein glänzten, um Liebe, urtümliche Hochzeitsriten und gebrochene Herzen nach Beendigung der Feldforschungen. Der Gedanke an die Erzählungen um Margaret Mead und ihre vielen Ehemänner verzogen Leetas Lippen zu
einem Lächeln. Sie hatte Reo Fortune für Gregory Bate son verlassen, und Mead und Bateson waren nicht nur ein Liebespaar, sondern auch großartige Freunde geworden — eine Geschichte, die den Legenden um He-loise und Abelard, um Simone de Beauvoir und Sartre keineswegs nachstand. »Also bleibt’s bei Jeffray«, murmelte Leeta vor sich hin, fühlte dabei, wie sich ihre Miene verhärtete. »Bei Jeffray... Aber erst, wenn meine Augen zu müde sind, um länger auf ‘n Bildschirm zu starren.« Eine Vorstellung, die so fade war wie der Kaffee. Wie viele Stunden vergingen, während sie den Com puter die Aufzeichnungen von fast sechshundert Jahren Geschichte durchsuchen ließ? Leeta betrachtete die Angaben, die auf dem Monitor glommen. »Chem?« »Ja?« Chem blickte von dem Stimulans hoch, das er gerade trank. Leeta wartete, bis er sich von seinen Com putern abgekoppelt und von seiner Couch erhoben hatte. »Ich glaube, ich habe was«, sagte sie, übermittelte ihm das Bild der Daten, die sie gegenwärtig las. »Sowjetischer Gefangenentransporter Nikolai Romanan, gestartet zwei tausendfünfundneunzig und im Gulag-Sektor als vermißt gemeldet.« Chem nickte wie im Selbstgespräch. »Tja, ich seh’s, eine komplette Fuhre Häftlinge, amerikanische und me xikanische Liberale, allesamt Konterrevolutionäre. Nicht nur, es war auch eine größere Anzahl amerikanischer Ureinwohner dabei. Hmm. Arapaho und Sioux. Und ein paar Cheyenne.« »Ich entsinne mich«, ergänzte Leeta ihn mit Genugtu ung. »Groschins Untersuchungsbericht! Er hat festgestellt, daß die Uramerikaner sich nach der sowjetischen Machtübernahme neutral verhielten. Erst als sich in den Reservaten nichts änderte, fingen sie an, sich zu wehren, und durchaus mit Erfolg. Die Partei war der Meinung, daß
Groschin die Unzufriedenheit der Uramerikaner viel zu gründlich dokumentiert hatte, deshalb steckte man ihn ins Gefängnis, ehe man ihn nach Sektor Moskau ins Exil schickte.« »Abweichler«, grummelte Chem. »Hervorragend. Unter dem Gesichtspunkt des Überlebenswillens kann man sich keine geeigneteren Leute vorstellen. Abweichler sind Innovatoren. Denken Sie bloß an ...« »Was kann nur schiefgegangen sein?« Leeta furchte die Stirn. »Das Ziel war Sirius. Wie könnte es zu erklären sein, daß sie es so weit verfehlt haben? Ich kann mir nicht vorstellen, wie ...« »Das ist doch schon lange her! In der Anfangszeit der Raumfahrt sind viele Schiffe verunglückt oder verschol len.« Chem überlegte. »Warum sind Sie so sicher, daß diese Gruppe von der Nikolai Romanan stammt?« »Es ist die naheliegendste Vermutung.« Leeta hob die Schultern. »Setzen wir einmal die maximale Reproduk tionskapazität dieser Leute voraus. Auf der Häftlingsliste standen fünftausend Personen. Unterstellen wir einmal, daß die Bandkassetten und sonstigen Aufzeichnungen des Raumschiffs erhalten geblieben sind. Gehen wir von fünf bis sechs Kindern pro Frau aus. Nehmen wir dann noch unbeschränkte Ressourcen an, und man hat innerhalb von fünfhundert Jahren eine Population, die an eine Ausbreitung in den Weltraum denken kann.« Kurz schwieg sie. »Emmanuel, es waren Leute aus technolo gisch hochentwickelten Ländern, die an Bord dieses Transporters gewesen sind, keine Exilanten aus Indien oder Afrika. Sie konnten auf ein technologisches Erbe zurückgreifen.« »Falls Ihre ... Annahmen stimmen«, antwortete Chem. »Gäbe es andere Möglichkeiten?« »Eine.« Leetas Stimme klang barsch, als sie ihm die Daten übermittelte. »Hm!« brummte Chem. »Potemkin Neun, Vermutlich
bei der Konföderiertenrevolte zerstört. Zuletzt nach schwerer Beschädigung in Richtung Außensektor ge sichtet. Guter Gott...!« Chem stockte, seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Schauen Sie sich mal das Hologramm an. Ich würde sagen, das Schiff ist ganz übel zerschossen.« Leeta, die den zerblasterten Rumpf schon gesehen hatte, setzte das Kontaktron ab und rieb sich die Augen. Sie war völlig ermüdet. Seit Chem sie am Lift abgefangen hatte, waren nahezu zwölf Stunden verstrichen, und davor war sie zwecks Untersuchung der Knochenproben schon reichlich früh im Labor gewesen. Sie gähnte. »Ich glaube, es ist am sinnvollsten, sich auf die Nikolai Romanan festzulegen, wenn wir mal außer acht lassen, daß dort eine der Autarken Stationen abhan dengekommen sein könnte. Mit so etwas muß man immer rechnen. Wenn wir bloß ... Es gibt kein Datenmaterial über sämtliche damaligen Aufspaltungen, das so weit zurük kreicht. Die halbe Arbeit war vergeblich ...« »Für heute genügt’s.« Chem gähnte gleichfalls. »Kann sein, wir wünschen uns zu sehr, daß es ‘ne verschollene Kolonie ist. Die Patrouille ist der Meinung, es ist ‘n Radiostern. Oder es ist ‘ne vergessene Station ... Wer weiß?« »Wahrscheinlich ist es eher so was«, pflichtete Leeta bei. Sie stand auf und reckte sich; sie wußte, daß Chem jetzt, wie jedesmal bei solchen Gelegenheiten, ihren sport lichen Körper angaffte. Ihre Muskeln riefen bei ihm unweigerlich derartige Reaktionen des Befremdens her vor. Der arme Mann hatte sein ganzes Leben in einer Weltraumstation zugebracht. Aufgrund der minimalen Schwerkraft, die die Winkelbeschleunigung erzeugte, hatte er dünne Knochen und eine zarte Muskulatur. Leeta verabschiedete sich und öffnete durch Handflächendruck die Tür. Langsam schlenderte sie, tief in Gedanken, den
Korridor entlang. Chem hatte wahrscheinlich wirklich recht. Man hatte es wieder einmal nur mit einer verges senen Raumstation zu tun. Dann konnten sie zwei oder drei Praktikanten zur Erledigung der grundlegenden Feldforschung hinschicken; sie würden die Sprache ler nen, die Kultur entschlüsseln und eine Kommunika tionsverbindung zum UBM-Giga-Verbund herstellen. Alles Routine. Während Leetas Universitätsaufenthalt hatte dergleichen sich vier-, fünfmal ereignet. Trotzdem wäre es ungewöhnlich, falls eine Station sich so weit draußen befinden sollte. Zum Überschreiten der Lichtgeschwindigkeit waren sie außerstande. Ein ver schollenes Sternenschiff...? Sie biß die Zähne zusammen. »Wenn’s bloß eins war ...!« Sie war darüber froh, daß Jeffray, als sie die Tür zu ih rem Zimmer öffnete, schon schlief. Sie schmiegte sich unmittelbar an die Bettkante, vermied es, sich an seinen warmen Leib zu legen. Beim Eindösen sah sie vor sich das Bild eines Mannes. Eines starken Barbaren, dessen Haare lose im Wind wehten; er stand vor ihr und lächelte, reich te ihr eine schwielige Hand. *
*
*
John Smith Eisenauge beugte sich aus dem Sattel hinab und betrachtete den zerscharrten grauen Staub. Seine Kehle wurde trocken. Unter ihm begann das Pferd, seine bevorzugte schwarze Stute, nervös zur Seite zu tänzeln. »Hoscha, wir sind hier in Sicherheit«, murmelte er, obwohl die Größe der in den Untergrund gedrückten Spuren seine Behauptung Lügen strafte. Während sich ihm die Nackenhaare sträubten, saß Ei senauge lautlos ab; durch die dünnen Sohlen seiner Stiefel spürte er das Erdreich. Er hatte ein breitflächiges Gesicht mit flachen Knochen, in dem die schwarzen, klugen Augen tief und weit ausein ander beiderseits einer schmalen Hakennase saßen, ein
festes, bartloses Kinn sowie einen breiten Mund mit vol len Lippen. Er bewegte sich mit beinahe katzenhafter Geschmeidigkeit, unter weicher, von Rauch dunkler Lederkleidung spielten kraftvolle Muskeln. In trotziger Haltung stand er mitten auf der Fährte. Zwei schwarze Zöpfe baumelten ihm auf den Rücken. Er war ganz in lohbraunes Wildleder gekleidet. Auf den Jagdrock, um den er in der Höhe seiner schmalen Taille straff einen Gürtel geschnallt hatte, war in Schwarz eine achtbeinige Spinne gemalt. An den Unterseiten der Är mel wippten Fransen, während ihre Oberseiten einen aufgenähten, langen Streifen mit geometrischen und zoo morphischen Mustern aufwiesen, die seine Clanzu gehörigkeit und Geistkraft verdeutlichten. Seine lederne Hose war auf gleiche Art befranst und verziert. In einer Faust hielt er ein langes, einschüssiges Gewehr; längs des Laufs und Kolbens, wo man sie zum Nachladen am schnellsten ergreifen konnte, waren Messingpatronen befestigt. Am Gürtel trug er einen Beutel, einen langen Kriegs dolch sowie glänzend-schwarze Coups — die Skalpe von menschlichen Gegnern Eisenauges, von Feinden, die er im Kampf getötet hatte. Die Coups, das Zeichen eines wahren Spinnenkriegers, bedeuteten John Smith Eisen auges ganzen Stolz. Die Coups stammten von den Köp fen etlicher Santosketzer. Kein anderer Krieger auf Welt — ob Spinnenkrieger oder Santos — hatte so viele Coups an Gürtel oder Jagdrock gebunden. Die gräßlichen Trophäen zeichneten John Smith Eisenauge als hervorra genden Krieger aus, als gefährlichsten Kämpfer des Spinnenvolks. Achtsam spähte Eisenauge die Abhänge an beiden Seiten des staubigen Pfads hinauf: Nichts regte sich im Dämmerlicht. Unter seinen dicken, starken Fingern spürte er das beruhigende Gefühl des Gewehrkolbens. Nur wenige Männer hatten sich je so weit von der
Siedelei Welts entfernt. Er mußte neue Kräfte erlangen. Ihm blieb keine Wahl. Das war die Art, wie man Welt erkundete; die Weise, wie Männer sich auf die Probe stell ten. Er wollte mehr ... benötigte mehr. Viermal hatte er schon den Berg aufgesucht und um Geistkraft gebetet. Jedesmal hatte er die gewünschte Vision gehabt. Diesmal gedachte er weiter fortzugehen, als die meisten Männer es wagten. Er beabsichtigte, sich von dem Gift in seinem Herzen zu heilen. Er würde sogar die Erinnerung an sie hinter sich lassen. Der Urururgroßvater seines Vaters, Luis Smith Ando jar, hatte das riesige Ostmeer gesehen. Er hatte vom Meer eine große, bunte Muschel mitgebracht und sie im Ehrensaal der Ahnen aufgestellt. Dort genoß sie seither ebensolche Verehrung wie der Name des Clans — und wie Luis Smith Andojar. Und die gleiche Verehrung sollte man einmal John Smith Eisenauge entgegenbrin gen. Zurückgelassen hatte er nichts als Jenny und Schmerz. Hier inmitten der Bärenberge lauerte der Tod. Die Fährte auf dem Pfad bewies es. Hinter Eisenauges Rücken zitter te die Stute. Der Bär war kein solches Geschöpf, wie man es auf den Bildern von der alten Erde sehen konnte. Vielmehr war er auf Welt heimisch und jagte Menschen. Es handelte sich bei der Kreatur um eine gewaltige, wilde, schuppige Bestie mit einem Gabelschwanz sowie zwei langen, an den Enden mit Saugnäpfen ausgestatteten Fangarmen — Verlängerungen der beiden Wirbelsäulen —, die dazu dienten, ein Sabbermaul voller säureartigem Seiber zu füt tern, das ein ausgewachsenes Pferd am Stück verschlingen konnte. Bären überfielen die Pferde- und Viehherden. Viele Männer hielten an den Funkgeräten Wache, damit es möglich war, sich ihrer zu erwehren. Die Großen Kanonen töteten die Ungeheuer aus weitem Abstand. Zur Zeit der Großväter — die inzwischen lange, lange vorbei war —,
ehe das Volk die Großen Kanonen baute, waren die Bären noch eine wirklich ernste Gefahr gewesen. Damals hatten die Männer sie nur mit Mut und Gewehren bekämpfen müssen ... Und mit Hilfe der Propheten. Viele Männer kamen ums Leben. Ausschließlich der Funk und die Propheten hatten ihnen einen Vorteil verliehen. Heutzutage hielten die Bären sich den Pferden und Rindern fern. Sie waren schlaue Raubtiere und hatten es rasch gelernt, sich vor den Großen Kanonen zu hüten. Sie blieben in den weitab der Siedelei gelegenen Bärenbergen und beschränkten sich darauf, Grüne Schnitter, Dreihörnige Kröten und kleinere Tiere zu fressen. Eisenauge führte die Stute auf den felsigen Kamm des Höhenzugs, wo sie sich verhältnismäßig in Sicherheit befanden. Der Bär, dessen Spuren er im Tal gefunden hatte, würde ihnen da oben nicht über den Weg laufen. Er war weit voraus; jedenfalls hoffte Eisenauge es. Nachdem er die Zügel der Stute an seinen Gürtel ge knüpft hatte, nahm er die Decke, entrollte sie und wik kelte sich hinein, legte Gewehr und Dolch griffbereit ne ben sich. Gerade war über den schwarzen Bergketten, die Welts Horizont bildeten, Dritter Mond aufgegangen. Den Blick auf die Scheibe des Gestirns geheftet, das langsam höherstieg, versuchte Eisenauge seine Erinnerungen zu unterdrücken. Daheim in der Siedelei lebte Jenny Garcia Smith. Heute nacht schlief sie friedlich im Haus ihres Vaters. Eisenauge verkniff die Lider, Gefühle brannten in seiner Brust. Er würde weit, weit fortgehen müssen, um genug Medizin zum Kurieren des Übels seiner verbotenen Liebe machen zu können. Sie zählte zum Smith-Clan. Dem Namen nach galt sie als seine Schwester. Als Tochter der Schwester seines Vaters war sie für ihn Tabu; andernfalls hätten sie Blut schande begangen. Ein Smith konnte keinen anderen Smith heiraten. Die Ahnen hatten es so bestimmt. Das
Clangesetz sagte es. Und vor allem hatte Spinne es dem Volk durch eine Vision mitgeteilt. Spinnes Gesetz war das Gesetz Gottes. Gott hatte die Gestalt einer Spinne angenommen und war am Kreuz gestorben, um den Menschen die Freiheit zu schenken. Spinne hatte ihnen Gebote verkündet, deren Befolgung sicherstellte, daß sie frei blieben. Jedes Jahr nahm der Garcia-Clan einen jungen Mann, der sich gründlich darauf vorbereitet hatte, und nagelte ihn im Spinnenkostüm auf einem Hügel ans Kreuz, während die Spinnenclans zu Ehren der Sonne, dank der sich Welt immerzu erneuerte, im Heiligen Wigwam vier Tage lang den Sonnentanz tanz ten. Spinnes Weg, Gottes Weg... Und fast hätte John Smith Eisenauge sich des allerschlimmsten Verbrechens schuldig gemacht. Er hatte sich in eine Frau verliebt, die seine Schwester war, und hätte er sie genommen... Nein, er durf te nicht einmal daran denken! Keine Schmach hätte größer sein können. So stellte Spinnes Wort es klar. Das Leid verursachte Rumoren in seinem Bauch. Sie konnte niemals die Seine werden; es war vollständig aus geschlossen. Er hatte ein gemeinsames Fortlaufen erwo gen. Sie hätten so etwas tun können — falls sie keinen Wert darauf legten, je wieder das Gesicht eines dritten Menschen zu sehen. Hätte man sie aufgegriffen, wäre die Vergeltung der Tod gewesen. Und außerhalb der Siedelei gab es nur Bären ... und die Santosräuber. Erinnerungen kamen ihm. Er rang mit Tränen, während er über seine Vergangenheit nachdachte, über die Unbarmherzigkeit, mit der er seinen Zorn gegen die Santosräuber gerichtet, den Eifer, mit dem er Spinne gesucht, nach Geistkraft getrachtet hatte. Was hatte er falsch gemacht, daß er zur Strafe Jenny so sehr lieben mußte? Zweifellos hatte er etwas Unrechtes getan, so daß ein verärgerter Geisthelfer ihn mit einer derartig unseligen
Liebe geschlagen hatte. Aber was? Wie schon viele Male vorher durchdachte Eisenauge nochmals sämtliche Sicherheitsvorkehrungen, die er bei allem stets getroffen gehabt hatte. Doch trotz all seiner Tapferkeit auf dem Kriegspfad ließ sein Herz ihn, was Jenny anging, im Stich. Müßig betastete er die Skalpe, die an seinem Gürtel hin gen. Er hob den Blick und sah, daß Dritter Mond den Abendhimmel weiter erklommen hatte. Er hatte eine rötli che Färbung. Erster Mond war gelblich, Zweiter Mond fast weiß. Zusammen erhellten sie nachts den Himmel so stark, daß ein Mensch beinahe genausogut wie am Tag sehen konnte. Das war ein Vorteil Welts. Die alte Welt, die Erde, hat te nur einen Mond gehabt. Aufgrund des Vorhandenseins dreier Monde kamen die Geister den Menschen hier näher. Die Ahnen — jene Vorfahren, die auf der Flucht vor den Sobjets, die die alte Welt unterworfen hatten, um sie zu zerstückeln und damit ihren Roten Stern zu speisen, vom Himmel herabgeflogen waren — hatten erklärt, hier stün de Spinne den Menschen ganz nah. Für die Ahnen waren es damals schreckliche Zeiten gewesen. Hunger und Tod hatten sie heimgesucht. Dem Garcia-Clan haftete die Ehrlosigkeit an, um des Überle bens willen Menschenfleisch verzehrt zu haben. Das war der Grund, weshalb sie Spinne alle Jahre wieder ans Kreuz nagelten — um für ihre schauderhafte Sünde zu büßen. Außerdem gab es die Räuber, die Santos. Sie be wohnten den Norden und das Landesinnere. An Zahl und Stärke begannen sie das Spinnenvolk zu übertreffen. Sie hatten mehrere Dörfer. Andere Räuber hausten verstreut, in kleinen Banden, am Rande der Gebiete des Spinnenvolks und der Santos. Alle jungen Männer träum ten davon, auszureiten und Tiere aus den Herden der Santos zu stehlen oder eine ihrer Frauen zu entführen. Und
die Santos hielten es ihrerseits ebenso. Wegen ihres ketzerischen Irrglaubens, Gott hieße Herrjesses und wäre als Mensch ans Kreuz genagelt wor den, waren die Santos schon in der Anfangszeit aus den Reihen des Volkes ausgestoßen worden. Die Santos taug ten nichts. Sie waren Untermenschen. Sie hatten einen fal schen Gott, keinen Mut und keine Ehre. Leute wie sie waren es gewesen, die die Ahnen verrieten und hintergin gen, als der Himmel den Sobjets gehörte und sie ihn dem Roten Stern opferten. Allerdings hatte jeder Clan für irgendeine Art von Sünde Buße zu leisten. Die Smith hatten die computeri sierten Kommunikatoren zerstört, damit keine Stimmen von Menschen, die das Regime der Sobjet-Weltraum-teufel überlebt hatten, mehr empfangen werden konnten. Der erste Smith hatte befürchtet, die Sobjets könnten den Ahnen zur neuen Welt folgen. Um alle Clans stand es gleich. Alle hatten etwas zu ver bergen und wünschten sich, die anderen würden sich nicht daran erinnern. Doch diese Schuld war eine gute Sache. Die Menschen konnten durch sie Menschen sein. Sie durf ten eine Schwäche haben, ohne ständig aus Scham das Gesicht verhüllen zu müssen. Als Spinne ans Kreuz gena gelt wurde und sich in Gott verwandelte, verzieh er den Menschen ihr Versagen. Gott vergab auch John Smith Eisenauge, wenn er betete, in der Schwitzhütte Schweiß vergoß und ausreichende Opfer darbrachte, so daß Spinne oder seine Geisthelfer ihm und seiner mißlichen Lage Beachtung schenkten. Hätte er nur genug Zeit gehabt, um einen Propheten um Hilfe zu bitten! Seine Kiefermuskeln verkrampften sich. Ihm war ein möglicherweise verhängnisvoller Fehler unterlaufen, als er fortritt, ohne vorher den Beistand eines Propheten zu suchen. John Smith Eisenauge schauderte zusammen. Schon der bloße Gedanke an die Propheten jagte ihm eiskalten Dolchen gleiche Furcht durch die
Glieder. Ein schönes Erlebnis war es nicht, sich mit einem Mann zu unterhalten, der in die Zukunft blickte und die Fehlgriffe seines Gesprächspartners sah ... und den Zeitpunkt und die Art seines Todes. Eisenauge sank in ruhelosen Schlummer. Tag um Tag ritt er nach Osten. Unterdessen wurde das Gelände ständig steiler und unwegsamer. Er suchte sich den Weg durch Bergpässe, auf denen der Wind ihm die Decke vom Leib zu reißen drohte, ihm das lange, schwar ze Haar aufwirbelte wie eine lockere Samenkrone im Sturm. Die Luft heulte und brauste, während sie durch die Pässe aus rosarotem Granit fuhr und in die verwitterte Ebene hinabrauschte. Die Mahlzeiten begannen für Eisenauge und die gedul dige schwarze Stute knapp zu werden. Dennoch zog er unentwegt weiter, tröstete sich mit dem einen günstigen Umstand, daß sich in dieser Höhe keine Bären herum trieben. Meistens führte er das Pferd jetzt am Zügel. So fiel die Fortbewegung dem hageren Tier leichter, zumal die Felsen ihm allmählich die Hufe zerschrammten und zerkerbten. An einem kalten Morgen erreichte er endlich den Gipfel; der Höhenwind umtoste ihn dermaßen heftig, daß er in der dünnen Luft um Atem ringen mußte. Er rastete, ließ die Stute das karge Gras abknabbern, während er über ein neues Land ausschaute. Grasig und eben, durchsetzt mit Säulengewächsen und dornigen Sträuchern, lag es vor ihm ausgebreitet. Der Anblick, der sich ihm bot, beeindruckte ihn tief; die Hänge neigten sich nach Südosten abwärts und erstreckten sich ununterbrochen bis an den Horizont. Im Norden durchzogen da und dort von Buschwerk gesäumte Gewässer das Flachland; mit blaugrauem Degengras bewachsene Abschnitte erregten den Anschein, als lägen Nadelkissen in der Landschaft. John Smith Eisenauge lenkte den Blick noch einmal in den Westen, sah unter sich
die schroffe Gebirgsgegend in die Richtung des Meers und der Siedelei abfallen. Ein rauher, zerklüfteter Landstrich war es, den er durchquert hatte, um auf diesen Berggipfel zu gelangen. Alten Geschichten zufolge hatte sein berühmter Vorfahr unwirtliches, gebirgiges Land durchmessen und war bis zum Ostmeer vorgestoßen. Von einer ausgedehnten Ebene war in der Überlieferung nicht die Rede. Johns Blick schweifte über das unebene, von Schluchten durchschnit tene Gebiet, das ihn jetzt von Jenny trennte, und seufzte. Fern hinter den aus gesprungenem, zer-spelltem Granit zusammengesetzten Felsrücken vermochte er gerade noch das weitflächige Grasland, das er verlassen hatte, zu erkennen. Dort irgendwo, außer Sicht, jenseits des Horizonts, war sie. Er schaute den schmalen, von Grünen Schnittern ausge tretenen Pfad zurück, dem er gefolgt war, um den Paß zu ersteigen, und verhielt in der Bewegung. Hinter ihm, ungefähr acht Kilometer entfernt, ritten auf demselben Pfad drei Reiter bergauf. Santos? Der Gedanke rang John ein Lächeln ab. Wes halb sollte ein Mann, der keinen Grund mehr zum Leben wußte, sich wegen einiger Räuber Sorgen machen? Andererseits mochten es Leute des Volkes sein; aber wenn, welche? Wer könnte sich so weit von der Siedelei entfernen? Er verspürte einen sonderbaren Gleichmut, als er sich auf Kampf, Blut und Tod gefaßt machte. Inmitten der kühlen Höhenluft beobachtete Eisenauge die Reiter. Den ganzen Tag lang erklommen sie den gewundenen Trampelpfad zum Gipfel. John lag in einer Mulde hinter den Felsen und wartete geduldig. Das schwere Gewehr lag griffbereit auf seiner Satteltasche. Schließlich sah er den ersten Reiter, zum Schutz gegen den durchdringenden, eisigen, wüsten Wind eng in eine Decke gehüllt, über die Kante des Höhenzugs kommen. Sorgfältig richtete John das Korn auf die Brust des
Fremden, rückte es in die aus Horn gefertigte Kimme. Da drehte der Mann, den nur das Zucken eines Fingers von Tod trennte, seinen Kopf und blickte genau in Johns schar fe Augen. »Chester!« Erleichtert atmete John auf; er erhob sich in die Hocke, legte beiderseits des Munds die Hände ne beneinander. »Chester Armijo Garcia«, rief er. »Was treibst denn du hier?« Er lachte und verließ die Deckung. Hinter Chester ritten Philip Smith Eisenauge und ein alter Mann aus dem Hohlweg auf den Höhenkamm. Doch die Frage blieb offen: Was taten seine stets so ern sten, nach innen gekehrten Vettern hier? Sie waren immer eigenwillige Jungen gewesen, hatten sich mehr mit dem beschäftigt, was in ihren Köpfen vorging, statt ihre Aufmerksamkeit der Welt ringsum zu widmen. Als John zu ihnen hinunterrief, hatte auch der Alte den Kopf gewandt und zu ihm herauf geblickt. In Eisenauges Brustkorb fing das Herz zu wummern an. Nein! Das war doch nicht möglich ... Der Alte, ein Zukunftsseher, nickte nur, als wüßte er über Eisenauges innere Regungen Bescheid. Eisenauge versuchte zu schlucken, ihm war, als wollte ihm das Blut in den Adern gerinnen. Unter den Rippen schienen ihm seine Lungen gelähmt zu werden. Plötzlich bedeckte kal ter Schweiß seine Stirn. Warum war ein Prophet ihm in die Wildnis gefolgt ?
2
Leutnant Rita Sarsa behielt ihr Profilächeln bei, während sie das Stimmengeplapper rund um sich ignorierte. Es hätte sie zuviel Mühe gekostet, für das langweilige Geschwafel dieser Akademiker auch nur die geringste Beachtung zu erübrigen, anstatt den Flug mit dem Patrouillenschlachtschiff Projektil nach Arcturus und zur Universität in Gedanken noch einmal zu durchleben. Die Erinnerung ans Pilotieren der Blitzkorvette streichelte ihre Seele wie die Berührung eines Liebhabers. Noch nie zuvor hatte sie den Nervenkitzel einer solchen Machtfülle empfunden. Zu fühlen, wie ihr Körper mit dem Kommandosessel verschmolz, wenn das Raumschiff unter Schub stand, war reine Ekstase gewesen. Sie hatte sich im Vollbesitz von Freiheit und Gewalt befunden. Für kurze Zeit war sie vollkommen sie selbst gewesen, hatte sie ihr Schicksal in der Hand gehabt. Dann hatte das Gefühl nachgelassen und war ver schwunden, während sie das Raumschiff in die Docks der Universität steuerte und die Kontrolle wieder dem regulä ren Kommandanten überließ. Würde sie dieses Gefühl des selbstbestimmten Schicksals je noch einmal genießen dürfen? Leere, quälender Schmerz, der in der Asche ihrer Er innerung wühlte, so daß sie an den Tod ihres Ehemanns denken mußte. Den ... Nein! Nicht daran denken! An ihrer Seite faselte Emmanuel Chem irgend etwas, während er wieder eine ganze Reihe von Kollegen und sonstigen Wissenschaftlern sowie Verwaltungsexperten und Studenten vorstellte. Um Gottes willen, wieso hatte ihr Vorgesetzter, Oberst Damen Ree, ausgerechnet sie für diesen verrückten Auftrag ausgesucht?
»Es sieht ganz so aus, als ob wir demnächst eine Ex pedition hinschickten«, hatte er in seiner abgehackten Sprechweise gesagt, knapp mit dem bulligen Schädel genickt. Der grimmige Humor auf seinen Lippen hatte die Härte seiner eindringlichen Augen nicht gemildert. »Wegen eines Radiosterns?« hatte Rita eingewandt. In Rees Gegenwart fühlte sie sich nie wohl. Seine ge drungene, muskelbepackte Gestalt erinnerte sie jedesmal an eine straff aufgedrehte Feder — immer wirkte er, als könnte er jeden Moment hochfahren, als ob ihn nur eiser ner Wille und strenge Selbstbeherrschung bändigten. »Jawohl«, hatte er geschnaubt. »Sinnloser Aufwand. Aber Befehle sind Befehle, Leutnant. Das Direktorat gibt die Anweisungen, und wir gehorchen. Schießen Sie Ihren Hintern zum Arcturus.« Erst da hatte sie in seinen Raubvogelaugen die Andeutung eines humorigen Glit zerns erkannt. »Gönnen Sie sich Abwechslung. Saufen Sie. Bumsen Sie. Essen Sie gut. Machen Sie anständig einen drauf, bevor wir Sie nach hier in die ... die Routine zurückrufen.« Er lebte als Mann ohne Krieg, doch der Drang zum Konflikteaustragen war ihm so unzweifelhaft angeboren wie seine Gesichtszüge und die Blutgruppe. Schon oft hatte Rita sich gefragt, wie er nur vom einen zum ande ren Tag durchhielt... Er war ein Gladiator in einer Ära des Friedens, der keine andere Funktion versah, als ein potentiell hochgradig gefährliches Raumschiff längs einer Grenze hin- und herzufliegen, die nicht mehr aus geweitet wurde, die jedoch auch niemand in Frage stell te. »Zu Befehl, Sir«, hatte Rita in trockenem Ton geant wortet und zackig salutiert. Eine quengelige Stimme drang in Rita Sarsas Bewußt sein und störte ihre Gedankengänge. Über die Schulter blickte sie sich um und sah einen knochigen, langen Lu latsch an Dr. Dobras Ärmel zupfen.
»Jeffray«, schalt die blonde Anthropologin, »es ist wichtig. Wie oft muß ich dir noch sagen, daß ...« »Mir sagen ?« nörgelte er. »Wer ist denn hier der Fach mann für Transduktive Subraum-Kommunikation? Ihr werdet dort draußen überhaupt nichts finden! Die ganze Sache ist bloß ‘n Täuschungsmanöver der Patrouille, um mehr Gelder für ihre ...« Er schaute gerade noch rechtzei tig auf, um Ritas zornigen Blick zu sehen. Sie drehte sich ihm zu, spürte dabei, wie ihre in der Niedrigschwerkraft schwammigen Muskeln sich schlag artig spannten, als sie unwillkürlich eine kampfbereite Haltung einnahm. Es hatte im Direktorat Gequassel darü ber gegeben, die Patrouille wäre überflüssig geworden. »Sprechen Sie ruhig weiter. Was wollten Sie sagen?« Flüchtig bemerkte Leutnant Sarsa Dr. Dobras peinli ches Geniertsein; das Gesicht der Anthropologin lief rot an. Der Mann namens Jeffray zog ein Stück weit den Kopf ein und schluckte. »Ich ... ich meinte ... Naja, wissen Sie ... Es wirkt bis jetzt alles so vage ... Da ist einfach nichts ...« »Vielleicht nicht«, schnauzte Rita. »Aber andererseits möchten Sie, daß die Patrouille sich ständig in Bereit schaft hält, oder nicht?« Er wich ihrem Blick aus. Schließlich antwortete er bloß mit einem hündischen »Doch ...« Er wandte sich ab, ent zog sich Dobras Griff; mit bleicher Miene schlurfte er davon. »Entschuldigen Sie, Doktor.« Rita sprach in unter kühltem Tonfall. Leeta Dobra sah sie an, ihr Mund zitterte, während sie mit Ärger und Scham rang. »Na-nein«, entgegnete sie unsicher. »Es ist meine Schuld... Er ist... Wir sind ... Ich habe gewußt, daß es verkehrt ist, ihn mitzunehmen.« Der Ansatz eines müden Lächelns erschien auf ihren Lippen; anscheinend gelangte sie insgeheim zu einem Entschluß.
»Er war nicht immer so. Sie ... Sie haben bloß das Pech, ihn in einer schlechten Phase kennenzulernen.« »Ihr Problem, Doktor«, sagte Rita kurzangebunden. Die Verlegenheit der Anthropologin war ihr unangenehm. Was fand Dobra nur an dem Mann? »Wenn Sie wohl entschuldigen wollen, Leutnant«, sagte die Anthropologin ebenso kühl, als hätte sie Ritas Gedanken gelesen. Rita nickte, hing ihren Gedanken nach, erinnerte sich, sah das Gesicht ihres Ehemanns, wie es sich verzerrte, bevor er ... Sie unterdrückte die Erinnerung, verdrängte sie, scheuchte sie in die untersten Abgründe ihrer Seele zurück, mauerte sie in ihrem Gedächtnis ein. In diesem Moment faßte Chem sie am Ellbogen und führte sie durch den Raum, redete unterwegs unaufhörlich über mit anderen Abteilungen zu teilende Budgets und Giga-Verbund-Computerzeit. Zerstreut wunderte Rita sich über Leeta Dobras Miene. Aber was fand sie denn bloß an dem ... diesem Wesen ? *
*
*
»Weißt du, ‘s macht überhaupt keinen Sinn.« Jeffray, der auf einer Hantelbank hockte, senkte den Kopf in die Hände. »Ihr stützt euch nur auf wilde Vermutungen — und weshalb? Wegen einer ungeklärten Radioemission? Mensch, sie stammt wahrscheinlich von irgendeinem Radiostern. Es hat schon andere Fälle gegeben, in denen komische Geräusche wie Stimmen geklungen haben. Warum seid ihr ...« »Weil es eine vergessene Kolonie sein könnte!« Leeta drehte sich um und schüttelte den Kopf, versuchte den Schweiß aus den Augen zu entfernen. Im hellen Licht des Sportzentrums glänzte ihre Haut, ihr Brustkorb wogte, während ihre Lungen um Luft rangen. Der Anblick von Rita Sarsas Augen hatte sich ihrem Gedächtnis einge
brannt. Die Miene des weiblichen Leutnants hatte unmiß verständlich Widerwillen und Verachtung ausgedrückt. Wie sehr sie sich auch bemühte, Leeta wurde das Bild der inneren Stärke und der Verständnislosigkeit in Sarsas küh len, grünen Augen nicht mehr los. Jeffray hörte nicht zu nörgeln auf. »Funk ist doch so ... so primitiv! Niemand würde so was benutzen.« »Es gab einmal ‘ne Zeit«, erwiderte Leeta hitzig, »da wußten die Menschen noch nichts von vereinheitlichten Feldern, Transsonanz, Tachyonen oder Jota- und Regap artikeln! Die Subraum-Transduktion ist uns erst seit sechs hundert Jahren bekannt.« Jeffrays Blick huschte nervös durch die Halle, blieb nie auf Leetas Gesicht haften. »Wer würde denn Funk benut zen«, meinte er nach längerem Schweigen, »obwohl jedes Kind die Transduktion ...« »Verdammt noch mal!« brauste Leeta auf, die Verärge rung verursachte ihr einen Adrenalinschub. »Nie hörst du mir zu! Ich habe mich selber gründlich mit Transduktion befaßt. Ich hab’s für dich getan ... für uns. Ich kenne die Transduktion in- und auswendig! Aber du hast... Ich meine ... Was hast du je von mir gelernt? Du hast dir nie bloß mal die Mühe gemacht, dich ...« »Ich brauche mir so was von dir nicht anzuhören, Leeta«, unterbrach er sie. »Wer wird uns denn den Le bensunterhalt verdienen?« Er verschränkte die Arme, hob den Kopf. »Du? Vielleicht im Sport? Kann man Geld ver dienen, indem man Radiosignalen hinterherlauscht? Und glaubst du im Ernst, das Direktorat genehmigt eine Expedition, um ...« Er verstummte angesichts des Blicks, den Leeta ihm zuwarf. Während sie sich ins Trimmgerät stemmte, schaute Leeta wieder fort. »Egal, jedenfalls werde ich in Form sein«, brummelte sie. Bebte ihre Stimme schwach vom Bewußtsein der Unterlegenheit? Erneut reizte der Ge danke an Leutnant Sarsas intelligente, grüne Augen sie bis
zur Verbitterung. Leeta wuchtete noch energischer gegen den Widerstand des Trimmgeräts an, spürte die Hin- und Herbewegungen ihrer Bauchmuskulatur. Sie hatte sich schlaff werden lassen. Im Laufe der letz ten drei Wochen hatte sie sich der Schlaf stimulation unterzogen. Die Stimulation ihrer Muskeln durch ein Gewirr elektronischer Kabel während der Nacht änderte nichts an Jeffrays Gemütsverfassung. Und sie besserte, wenn sie ehrlich war, auch ihre Laune nicht. Doch im merhin spürte sie jetzt stählerne Härte, wo vor nur einigen Wochen noch schwabbeliges Gewebe gesessen hatte. »Ich habe mich informiert.« Jeffray sah sie ausdrucks los an, versuchte anscheinend versöhnlich zu sein. »Falls die linguistische Übersetzung einigermaßen richtig ist, lautet der Text: >Santos in der Siedlung. Alle Spinnen zwecks Kuhs heim zu den Familien. Meldet den Dingsda< — diese Vokabel hat man nicht klären können — >den Dingsda-Standort des Radars.<« »So haben wir ihn auch interpretiert«, sagte Leeta. Er sah ihr nicht einmal in die Augen. Sie beobachtete, wie er langsam aufstand, man merkte ihm die einskom mafünffache Gravitation an. »Radar, Spinnen und... DM lieber Gott, was soll denn Kuhs sein? Können eure Computer vielleicht aus jeder beliebigen Statik Nonsensewörter machen?« Nachdem er für eine Weile geschwiegen hatte, wak kelte er mit dem Kopf. »Du bist eine Närrin, Leeta. Ich bin ganz und gar dagegen, daß du mitfliegst, jawohl. Ich werd’s nicht dulden. Es reicht jetzt. Ich hab’s... Ich hab’s satt. Ich bin’s leid, daß du mich andauernd übergehst. Von nun an fälle ich die Entscheidungen. Hast du verstanden? Ich. Bleib bei mir ... oder ... oder hau ab!« Seine hellen Augen funkelten, er hatte das Kinn nach vorn geschoben, biß nun die Zähne zusammen. »Was ist bloß aus dir geworden, Jeffray?« stöhnte Leeta, forschte in seinem Mienenspiel nach irgendeinem
Anhaltspunkt, der ihr seine Verhaltensweisen begreiflich machen könnte. »Was hat man im Gesundheitsamt an dem Tag, als du dort gewesen bist, nur mit dir angestellt? Wo ist der alte Träumer geblieben, den ich geliebt habe?« Sein verzerrtes Gesicht spiegelte Verdruß. An seinen schmalen Lippen zitterten die Mundwinkel. »Ich weiß nicht, wovon du redest.« Seine Stimme klang kalt und lei denschaftlos. Leeta schwieg, dachte an ihre zu Leutnant Sarsa ge äußerte Behauptung. »Ich muß zu einer Verabredung in den Grünen Kome ten. Du kannst mir deinen Entschluß dort mitteilen.« Er maß sie mit berechnendem Blick. Leeta musterte ihn; ein merkwürdiges Gefühl der Leere fing in ihrem Innern zu klaffen an. Er senkte den Blick, straffte sich und strebte mit steifen, umständlicheckigen Bewegungen zur Tür hinaus. Allerdings war diese Art, sich zu bewegen, in erhöhter Schwerkraft typisch. Unter solchen Bedingungen verhielt sich jeder sehr vorsichtig. Ein schlichter Sturz konnte einen Knochenbruch zur Folge haben. Er hatte recht, sie arbeiteten tatsächlich nur auf der Grundlage sehr spekulativer Mutmaßungen. Sogar Chem war dieser Meinung. War sie wirklich eine Närrin? Leetas Hand bebte, als sie sich ein Rinnsal Schweiß von der Stirn wischte. Um bei 1,5 Ge in Schweiß auszubrechen, brauch te es nicht allzu viel. Bei Nullschwerkraft trat das Umgekehrte ein, das Zeug klebte auf der Haut, sammelte sich an, ging von allein nicht ab; es stagnierte — so wie ihr Leben. Und wenn es sich nun doch um einen von Menschen abgesandten Funkspruch handelte? Chem hinderte seine Stationsgebürtigkeit noch nachhaltiger als sein fort geschrittenes Alter daran, den Fuß auf einen Planeten zu setzen. Leeta war das einzige planetengebürtige Mitglied der Fakultät. Sie hatte den Großteil ihres Lebens auf
Frontier zugebracht, wo immerhin beachtliche 1,25 Ge herrschten. Sie war die geeignete Person. Sie mußte nur noch ihren Körper wieder in Form bringen. Muskeltonus allein genügte nicht. Knochen erlitten immer Mikroschäden, denen sich mit nichts anderem als Training unter Gravi tationsbedingungen entgegenwirken ließ. Wurden Mus keln stärker, mußten die Knochen mit ihnen wachsen. Alles besteht aus vernetzten Systemen, dachte Leeta. Der menschliche Körper war nichts als eine Verflechtung von Systemen. Blut, Knochen, Muskeln, Organe, Nerven, Gehirn, Haut, alle arbeiteten zusammen. Das war eine Lektion, die man in der anfänglichen Zeit der Weltraumfahrt anscheinend nicht gelernt hatte. Sie spürte, wie ihre Bauchmuskulatur zitterte, während sie sich bedächtig aufrichtete und einen gemächlichen Lauf rund um den Saal begann, die Wärme in den gerade genug beanspruchten Muskeln genoß. Wüßte sie nur ... Mit mißmutigem Grinsen starrte sie unterwegs flehentlich die steril weißen Wände an, als hoffte sie, sie könnten ihr helfen, fühlte den Kummer zunehmen. Die Sterne? Oder Jeffray? Abenteuer oder Stagnation? Die Wahl lag bei ihr. Erneut sah sie vor sich Sarsas Gesicht. Ruhig, besonnen; Leutnant Sarsa hatte einen so ... so verdammt kompetenten Eindruck hinter lassen. Es war seltsam: Ausgerechnet in diesem Moment kam ihr das Bild eines blanken Schädels aus Chems Büro vor Augen, als ob er über ihre Träume lachte. Träume? Ihr Herz wurde hart. Sie sollte ihre Träume aufgeben — für Jeffray? Dieser Gedanke ernüchterte sie. Früher hätte er so et was nicht von ihr verlangt. Sie versuchte, sich den Mann auszumalen, dessen Gesicht der blanke Schädel einmal getragen haben moch te. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie er, stolz und
unabhängig, über sie den Kopf schüttelte, in seinen Augen — wie bei Sarsa — Verständnislosigkeit glomm. Sie nahm einen Transport hinauf zu den Duschen, pell te sich aus dem Klasse-II-Trainingsanzug und zog den Hoch-Ge-BH aus. Wasser sprühte kühl über ihre erhitzte Haut, wie um sie auf die Begegnung mit Jeffray vorzube reiten, verursachte ihr ein brennendes Prickeln. Was sollte sie ihm sagen? Sie empfand Verwirrung, die ihr Angst einflößte, ihr ausgewogenes seelisches Gleichgewicht störte und sie konfus machte. Womit habe ich so eine Misere verdient? fragte sie sich. Kaltes Wasser lief ihr übers Gesicht und vermischte sich mit ihren heißen Tränen. »Ich möchte den alten Jeffray wiederhaben«, seufzte sie ins Spritzen und Plätschern des Wassers. Doch sie konnte ihn nicht mehr haben. Diese Erkenntnis wurde ihr nun nach und nach klar. Es ist längst eine Tatsache, erkannte sie, den alten Jeffray gibt es nicht mehr, Jeffray ist ein anderer geworden: Ein Fremder. Die Leere unter ihrem Herzen breitete sich mit der Gewißheit des Todes aus. Müde, aber erfrischt kleidete Leeta sich in eine Frei zeitkombination und betrachtete sich im Spiegel, bemühte sich um Fassung. »Ihr Problem, Doktor.« Sie entsann sich an Rita Sarsas harte Stimme. Beheben Sie’s selber, sollte das wohl hei ßen. Aus ihrem klassischen Europäoidengesicht blickten blaue Augen sie an. Sie hatte eine hohe Stirn, kantige Wangenknochen, ein festes Kinn und eine gerade Nase. Von manchen Leuten war sie, wie sie gehört hatte, als hübsch bezeichnet, einmal sogar schön genannt worden. Ihr Körper war wieder fit, die Brüste waren rund und prall. Sie sah durchaus nicht übel aus, befand sie. Gar nicht schlecht. Inzwischen fühlte sie sich etwas wohler. Sie warf sich ein Jackett um die Schultern und machte sich auf den Weg zum Grünen Kometen.
»Ich werd’s selber beheben«, murmelte sie kummervoll vor sich hin. Das Lokal war überfüllt. Die Fakultät behielt die kleine Bar überwiegend ihren Mitarbeitern vor; die Studenten hatten es sich angewöhnt, die weniger gediegenen Etablissements aufzusuchen. Hier trafen sich Techniker und Mathematiker. Coree Mancamp und Veld Arstong saßen mit Jeffray in einer Ecke. Leeta durchquerte das Gedrängel, fühlte in ihren Füßen Leichtigkeit, aber in ihrer Seele Abge storbenheit. Am Tisch rückte Jeffray für sie beiseite. »Wie ich höre, bist du davon überzeugt, außerhalb des Außensektors ‘n Haufen verschollener Menschen entdec kt zu haben.« Coree feixte; sein fleischiges, rotes Gesicht wirkte aufgedunsen. »Als einzigen Hinweis hat sie ‘n verstümmeltes Ra diosignal. Blödsinn, den die linguistischen Computer aus verstreuten radiostellaren Emissionen gebastelt haben.« Jeffray grinste selbstgefällig, Arroganz leuchtete ihm aus den Augen. »Sonst nichts.« Leeta stutzte; seine neue, ungewohnte Unverfrorenheit machte sie nervös. Sie quälte sich ein Lächeln ab und nickte Coree trotzig zu. Die entscheidende Qualität inne rer Kraft, die sie in Rita Sarsas Augen gesehen hatte, spornte sie an, ermutigte sie. Wenn Sarsa dermaßen selbst bewußt sein konnte, dann war auch sie dazu fähig. Sie griff das Thema auf, ohne Jeffray zu beachten. »Bis jetzt ist noch alles fraglich. Wir wissen von zwei Raumschiffen, die in dieser Richtung verschwunden sind. Die Annahme, eine Autarke Station könnte so weit abgeirrt sein, ist eher abwegig. Aber jedenfalls blik-ken wir auf sechshundert Jahre Weltraumforschung zurück. Wir wissen noch nicht einmal über die Hälfte davon rich tig Bescheid. Wie leicht kann im Verlauf der letzten sechs Jahrhunderte irgendwo ein Sternenschiff verschollen geblieben sein?«
Arstongs breites Gesicht bekam einen Ausdruck der Sachkundigkeit. »Sehr leicht, würde ich sagen. Früher, als es Piraten und Kriege gab und Händler überall hinflogen, mußte man mit so etwas einfach rechnen. In der damali gen Konföderation bestand sogar noch die Sklaverei, ent sinnt ihr euch? So was ist heute undenkbar.« Ein Plus für Arstong. Leeta schenkte ihm ein Lächeln der Dankbarkeit, während Jeffray die Wut aus den Glot zern stierte. Arstong hatte die Konversation versachlicht. Jeffrays Blick wurde ebenso beklommen wie giftig; die beiden anderen Männer bemerkten Leetas Erregtheit. »Hört zu, so leid’s mir tut, aber ich kann nicht bleiben, ich bin völlig ausgelaugt«, gestand Leeta. »Ich möchte heim und mir ‘n paar Stunden Schlaf gönnen.« Langsam erhob sie sich, fühlte ihre Muskeln sich ver-krampfen, ihr Blick streifte Jeffray. Jetzt oder nie? »Ich komme mit«, sagte Jeffray halblaut. »Morgen muß ich früh raus.« Sie bot ihm ihren Arm. Den größten Teil des Wegs leg ten sie wortlos zurück. »Tja«, meinte Jeffray schließlich und drehte ihr das Gesicht zu, »ich will, daß du mich heiratest und unter die sen Unfug einen Schlußstrich ziehst. Du hast dich derartig in dein Verschollene-Menschen-Phantom verrannt, daß ich noch gar keine Gelegenheit hatte, dir folgendes zu sagen: Ich habe mich um einen Posten in der Kommunikationszentrale des Direktorats auf Range be worben. Und man will mich dort haben. Ich muß nur noch das Einstellungsgespräch hinter mich bringen, und wir können hin.« Leeta schloß die Lider. »Das geht nicht, Jeffray.« Mit plötzlich trockenem Gaumen versuchte sie zu schlukken. »Range? Du weißt doch, wie provinziell es dort ist. Wenn wir dort zusammenleben, ohne verheiratet zu sein, schadet’s deiner Karriere.« Sie öffnete die Augen rechtzeitig, um seine Miene starr werden zu sehen.
»Du ... du willst mich nicht heiraten? Du willst nicht ... mitkommen?« Zuerst nölte seine Stimme, dann versagte sie, seine Finger gruben sich in Leetas Arme. »Als wir uns kennenlernten, habe ich mich durchs Praktikum gehungert«, antwortete sie leise, »und du hast davon geträumt, der Transduktionstechnik völlig neue Möglichkeiten zu erschließen, die Methoden der Kommunikation zwischen Stationen und Planeten zu revolutionieren ... es vielleicht sogar der Menschheit zu ermöglichen, ohne den Giga-Verbund zu kommunizie ren.« Ihre Lippen zuckten, während sie ihn musterte. Traurig anschaute. »Wo ... wo sind deine Träume ge blieben, Jeffray?« »Ich habe dich durchgefüttert!« schrie er. »Dir ein Zu hause gegeben! Dich geliebt!« Ein Schuldgefühl wallte in Leeta auf, doch Zorn fegte es weg. Mit einem Ruck befreite sie sich aus Jeffrays Händen. »Ja, verdammt, das hast du!« Sie tat einen Schritt zur Seite, wirbelte herum. »Und ich habe mich um dich gekümmert! Dir Gesellschaft geleistet! Dir zugehört. Ich habe alle deine verdammten Schwierigkeiten mit dir durchgestanden und dafür gesorgt, daß dein Leben nicht durcheinandergerät. Aber wir hatten einmal mehr! Kannst du dich nicht entsinnen? An den Abend vor meinen Prüfungen? Weißt du nicht mehr, wie du mich im Arm gehalten hast? Mir gesagt, ich würde alles schaffen? Erinnerst du dich nicht an die Jubiläumsparty bei Veld? Warum kannst du nicht wie damals sein? Was ist bloß mit dir passiert?« Sein Mund schlotterte, als er zu sprechen versuchte, sein Blick huschte unstet umher. »Ich ... ich brauche dich, Leeta! Ich ...« Leeta holte tief Luft und entließ den Atem durch die Nase. »Ich weiß, Jeffray.« Mit einer Hand strich sie sich über die Seite des Gesichts, rang in der plötzlichen Stille um die Worte, deren es bedurfte. »Damals habe ich dich
auch gebraucht... Aber jetzt ist es anders.« Flehentlich sah sie ihn an. »Heute bin ich für dich nur noch wie eine Mutter. Ich habe mir Mühe gegeben, die Gelegenheit wahrgenommen, einfach einmal herauszufinden, wie es sich verhält, und festgestellt, daß ich mich für so was nicht eigne. Wir sprechen nicht mehr miteinander, haben keine Gemeinsamkeiten mehr. Nun brauche ich Freiheit, oder alles, wofür ich gearbeitet habe, wird mir entgleiten. Ich bin nicht dazu fähig, meine Träume auf so eine Weise zu verkaufen, wie du sie verschachert hast.« Er ballte die Hände zu Fäusten, wippte auf den Füßen. »Solche wie deinen Traumwilden?« Die Kiefermuskeln verkrampft, schüttelte er abweisend den Kopf. »Du lebst in einer Traumwelt, Leeta. Du bist ‘ne romantische Schwärmerin. Dort draußen gibt’s keinen Helden.« Er mäßigte seinen Tonfall. »Komm, begleite mich nach Range. Werde meine Frau, gebäre meine Kinder. Dort gibt es reichlich Platz, saubere Luft...« »Nein!« Auf dem Absatz machte Leeta kehrt und schritt durch den Korridor davon. »Leeta!« brüllte Jeffray. »Komm zurück! Wenn nicht, dann werde ich’s dir, das schwöre ich, so heimzahlen, daß du’s nie vergißt!« *
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Oberst Damen Ree von der Direktoratspatrouille sah das Signal eintreffen und kniff die Augen zusammen. Die Sonde befand sich wieder im normalen Weltraum. Wie die Programmierung es verlangte, sprang sie jede Sekunde hinaus und herein. Tatsächlich sogar jede Mi krosekunde, jedoch dauerte es ein Momentchen, das Si gnal zusammenzustellen und abzusetzen. Wenn etwas zwischen dem Überlichtbereich und dem, was die Men schen als Realität ansahen, hin- und herwechselte, be wirkte die Zeit sonderbare Vorgänge.
»Ich hab’s, Oberst«, rief Funkoffizier Anthony. »Dies mal ist nichts dabei. Jetzt ist sie wieder weg.« Der Bildschirm erlosch, erhellte sich erneut. Dieses Mal schwieg der Funkoffizier. Ree nahm an, daß der junge Mann ohnehin nur ab und zu Bemerkungen machte, um wachzubleiben und die Langeweile zu bekämpfen. »Da ist’s wieder«, sagte der Funkoffizier. Oberst Ree wandte sich ab und ließ sich vom Geträn keautomaten einen Becher mit Kaffee füllen. Gott sei Dank, daß man während dieser langen Nachtschichten wenigstens Kaffee hatte. Langsam trank er; der Funkof fizier äußerte weiter unregelmäßig seine Anmerkungen. Eigentlich war der Dienst nicht schlecht. Hätten sie nur etwas zu tun ... Alle zwei Monate fand ein Intrapsychi sches Manövertraining statt. Über die Geschehnisse in den zumeist völlig ruhigen Sektoren, die sein Raumschiff Projektil zu patrouillieren hatte, mußte ein Log geführt werden. Dann und wann galt es, wenn eine Station Probleme hatte, einen Notfall zu beheben. Die An forderungen waren also gering. Diese Situation reizte ihn ebenso sehr zum Wahnsinn wie den jungen Mann, der mit dem Sondenmonitor re dete. Ree stapfte das Deck auf und ab, dachte sich dabei, daß die Graphstahlplatten an sich längst ausgetreten sein müß ten. Seiner Beförderung zum Kommandanten der Projektil war ein heftiges Ringen vorausgegangen. Aber keiner sei ner Konkurrenten hatte je seine Motivation oder seine Befähigung in Zweifel gezogen. Er trug die enge Dienstuniform der Patrouille in Raumfahrerweiß und mit breitem, überhängendem Rundkragen, der seine massigen Schultern betonte und hinten über dem Koppel spitz zulief. Er ging auf mit wei chem Haftgummi besohlten Vakuumschuhen. Seine Gesichtszüge waren kantig, vielleicht nicht un bedingt gutaussehend, jedoch zeichneten sie sich mit den
ausgeprägten Wangenknochen, der Knollennase und dem wuchtigen Kinn durch eine gewisse attraktive Rauheit aus. Der Mund war sehr beweglich, die Lippen hatten klare Umrisse und saßen breit im Gesicht, während die Mundwinkel einen harten Ausdruck aufwiesen. Eine groß flächige Stirn reichte bis zu einem zurückgewichenen Haaransatz mittelbrauner, kurzgeschnittener Haare hinauf. Seine dunklen Augen erregten unweigerlich jedermanns Aufmerksamkeit. Ihr durchdringender, allzeit wachsamer Blick bezeugten die scharfe Intelligenz, den Elan und die Willenskraft Oberst Damen Rees, des Kommandanten der Projektil. Ree war eine Führerpersönlichkeit, die keine Einmischung duldete, ein unnachgiebiger, streitbarer Mann, der eine ständige Herausforderung verkörperte. Und was jetzt? fragte sich Ree, drosch eine knochige Faust in eine rauhe Handfläche. Was mache ich jetzt? Wo finde ich heutzutage noch einen Gegner, der meiner wür dig ist? Er lachte vor sich hin. Ein unerprobtes Schwert war eine stumpfe Waffe. Der Oberstenrang war in der Patrouille der höchste im Weltraumeinsatz erreichbare Dienstgrad. Selbstver ständlich gab es noch den Admiral ... Als hätte er vor, sich in die Position des alten Kimianjui zu schwingen! Als wäre er daran interessiert, nur die Generallinie vor zugeben, Etats zu überprüfen, die Materialbeschaffung zu überwachen, hinter einem arcturischen Schreibtisch zu sit zen und mitanzusehen, wie alles allmählich verdammt herunterkam! Sein Blick fiel auf die Monitoren der Kommandobrük ke. Irgendwo da draußen mußte doch irgendeine Bedro hung existieren, irgend etwas, das die Patrouille zu Ak tivitäten antreiben konnte, dem Dasein ihrer Mitglieder einen Sinn verlieh. Aliens? Wo? Das Beobachten der Sonde brachte sie nur um den Verstand. Wahrscheinlich handelte es sich bei den Ra diowellen lediglich um sporadische Emissionen eines
Sterns irgendwo im All, in dem Schwankungen unter worfene Fusionsprozesse abliefen. Selbstverständlich waren die Radiosignaturen aller lokalen Sterne gespei chert; trotzdem reagierten sie, abhängig davon, was ihre atomaren Feuer gerade speiste, manchmal seltsam. Wäre es nicht ein wahres Geschenk Gottes, wenn dort etwas richtig Bösartiges lauerte? Irgend etwas, das für diese klapperigen Wasserköpfe von Direktoren eine echte Gefahr bedeutete? »Süße Träume«, nuschelte Ree kaum vernehmlich, ließ den Blick über das Flackern der Lämpchen an den Instrumenten wandern, die Anthony unter Kontrolle hielt. Außerdem: Wer konnte wissen, ob nicht das halb Menschen-, halb Computerhirn eines FLF-Frachtraumschiffs selbst irgendwelche Verdrehtheiten ausheckte? Es gruselte Ree regelrecht. Ständig erlosch der Bildschirm, glomm wieder auf; je der Wechsel stand für zwei Tage >Auswärtsaufenthalt< der Sonde. Zwei Tage, die im wirklichen Universum nur eine Sekunde dauerten. In ein, zwei Tagen — im realen Raum — sollte die Sonde auf Gegenkurs gelenkt werden; danach würde eine Woche bis zu ihrer Rückkehr vergehen, und damit wäre die Aktion beendet. Alles in allem bestand sie wieder nur aus einer neuen Vergeudung von Zeit und Fähigkeiten tüchtigen Personals. »Da kommt sie«, ertönte gelangweilt Anthonys Stim me. »Und da ist...« Er richtete sich gerade auf, seine Stimme bekam einen gepreßten Klang. »Warten Sie! Es ist noch da, Sir.« Oberst Ree trank seinen Kaffee, während er dem Funkoffizier über die Schulter lugte. »Nach was sieht’s aus? Zerhackte Hintergrundstrahlung?« »Kursänderung nach Sieben-acht-acht-sechs-neun-vier, Sir.« Der Funkoffizier sichtete die Eingabe. Abermals wurde die Mattscheibe hell. »Kürzerer Sprung. Kursänderung nach Sechs-drei-zwei-drei-neun-neun.
Das ist ‘n Dreieck.« Jetzt grinste der junge Mann. Er hob den Blick zu Ree. »Kann sein, daß die Sonde nur Unsinn auffängt, Sir, aber jedenfalls hat sie die Quelle geortet und ... Einen Moment, Sir.« Der Funkoffizier kam einem Befehl Rees zuvor, indem er per Kontaktron mental die Kommunikation aufforderte, eine holografische Sternenkarte auf einen Monitor zu projizieren. »Da ist sie.« Er zeigte auf ein kleines, gelbes Sternchen, veran laßte eine Vergrößerung. »Ach du Schande!« entfuhr es Ree. »Das miese Ding ist ja nicht mal katalogisiert.« Am Rande bemerkte er, wie Majorin Antonia Reary durch die Panzertür die Kommandobrücke betrat, um ihn von der Wachschicht abzulösen. »In all den Jahren, seit Raumfahrt betrieben wird, haben wir keine fünf Prozent der bekannten Sterne katalogisiert, Sir.« Der Funkoffizier zuckte die Achseln. »Was ist das?« fragte Ree, als er den Sondenmonitor flackern sah. Majorin Reary gesellte sich zu ihnen, ihr hoher Wuchs erlaubte es ihr, alles ungehindert zu über blicken. »Die Radiostrahlung, Sir.« Der Funkoffizier beugte sich übers Kontrollpult. »Sie hat wirklich was Merkwürdiges an sich.« Lautlos bewegte er die Lippen, während er der Kommu mental Weisungen übermittelte. »Keine beliebige Sequenz. Die Sonde hat von der Radioquelle ungefähr den gleichen Abstand wie das FLF-Raum-schiff, als es die Signale aufschnappte. Berücksichtigt man Rotverschiebung, Störeinflüsse und Entfernung, ist es ein Glücksfall, daß man überhaupt was aufgefangen hat.« Die Sonde hatte bis auf weiteres in den realen Weltraum übergewechselt, das >Innen<, wie es die Raumfahrer nannten, wogegen sie umgekehrt den Hyperraum als >Auswärts< bezeichneten. Sie bremste und hielt auf die Quelle der Radiowellen zu. Ree trank noch mehr Kaffee, sich dessen bewußt, daß seine Schicht vorbei war, aber
nicht dazu bereit, das Kommando abzugeben, bevor sie die Angelegenheit aufgeklärt hatten. »So«, meinte Reary ausdruckslos, »die Sonde hat was entdeckt?« Ree straffte sich und nickte. Wie gewöhnlich benahm die Majorin sich reserviert. Sie war die einzige Gefähr dung seiner fortgesetzten Befehlsgewalt über die Projektil. Wie sie ununterbrochen seinen Vorgänger in Frage gestellt hatte, so stellte sie permanent auch ihn in Frage. Das schuf eine vielleicht häßliche Situation, anderer seits war es allerdings eine, die die Beteiligten dazu zwang, ihren Grips zu gebrauchen. Sie erzeugte eine Gruppe von Raubtiermenschen, Kriegern, Widersachern, die ihre Aggressionen und ihr Können gegen niemanden als gegeneinander zu richten vermochten. Der Funkoffizier blickte auf, Triumph in der Miene, brach das gespannte Schweigen. »Möchten Sie’s hören, Sir?« Ree nickte, und ein Lautsprecher wurde eingeschal tet. Die Anhäufung von Wörtern ergab keinen Sinn, doch eines begriffen jetzt alle auf der Brücke der Projektil Anwesenden: Das war nicht das Geräusch eines Sterns, sondern menschliche Stimmen bildeten diese Laute. »Übersetzung wird gleich vorliegen, Sir«, kündete der Funkoffizier an. »Die Kommu benutzt die vom Gi-gaVerbund erhaltenen linguistischen Dateien.« Der Lautsprecher knackte und knisterte, genau wie man es aus alten Filmen und Holos kannte. »... vier ... auf dem Nordrücken ... anscheinend verletzt. Santos sind ... zurück ... sind tot.« Eine andere Stimme erklang. »Holt... herunter ... Feuer auf den Feldern. Tomas Ruis Carmela wird singen ... beten. Er hat schon früher gute Medizin gemacht.« Darauf folgte wieder die erste Stimme. »... schickt die
Jungs mit... Bärenwarnung ist ergangen ... Frühjahrslager ... Zeit für Kuhs. Eskizin ananhe hopo hukayea.« Der Sprecher verstummte. »Was war denn das letzte?« fragte Ree, strich sich mit der Hand über den aus gedünnten Bürstenhaarschnitt. Er betrachtete die ange spannte Miene des Funkoffiziers. Reary machte ein ver sonnenes Gesicht, ihr Blick ruhte auf dem Monitor, auf dem ein Leuchtpünktchen die Position der Sonde mar kierte. »Da muß ich passen, Sir. Keine der Übersetzungsda teien, die wir mitführen, läßt sich anwenden. Ich leite den Text jetzt an die Universität und den Giga-Verbund weiter, Sir.« »Verständigen Sie Leutnant Sarsa.« Ree erlaubte sich ein Lächeln, während er den restlichen Kaffee trank. Ja wahrhaftig, vielleicht bahnte sich hier eine Abwechslung von der Langweile an. Menschen? Dort draußen? Was für eine Sorte wüster Kerle mochten sie sein? Piraten? Möglicherweise war es nun soweit, daß die Patrouille in ihre ehemalige Vorrangstellung zurückgelangen konnte. Ree beschloß, sein Grinsen nicht zu verhehlen. Als er auf blickte, musterte Majorin Reary ihn aus halb geschlosse nen Lidern, während sie sich an ihrem langen Kinn rieb. *
*
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Seit der Nacht, in der die Träume ihn zu quälen begon nen hatten, war Chester Armijo Garcias Leben nicht mehr das gleiche gewesen. Zum erstenmal seit seiner Kinderzeit fiel es ihm schwer, Traum von Wirklichkeit zu unterschei den. Einmal hatte er vom alten Wattie geträumt, wie er sich auf dem Erdboden krümmte, Blut aus seinem Bein sprudelte, während Tedor Garcia Gelbes Bein seine Frau an der Hand wegführte, in der anderen Faust ein rauchen des Gewehr.
Am nächsten Tag hatte Chester diesen Vorfall mit ei genen Augen mitangesehen. Tedor hatte sich nicht um geblickt, und Wattie hatte durch die Kugel das Bein ver loren. Das Vorgehen war eine gerechtfertigte Strafe für eine versuchte Vergewaltigung gewesen. Verängstigt hatte Chester sich an seinen besten Freund gewandt, Philip Smith Eisenauge ... Und erfahren, daß auch er unter solchen Träumen litt. Sie waren schon seit langem Freunde, die einander ihre Gedanken anvertrauten, ähnlich dachten, den Wunsch hegten, Krieger zu werden und für Spinne Coups und Ehre zu erringen. Ähnlich wie Pfeilkrautsamen waren sie sich, fanden Vergnügen an denselben Spielen, sie kannten einer die Überlegungen des anderen, ehe sie sie aussprachen. Und jetzt verhielt sich alles völlig anders, war alles so fürchterlich geworden. Chester schluckte, dachte an den Alten. Auch in diesem Fall hatten die Träume sie beide gewarnt. Sie hatten es vorher gewußt, daß der grauhaarige Greis den Türvorhang des Wigwams heben, sie aus seinen schwarzen Augen, die im Feuerschein glitzerten, anschau en würde. »Kommt mit«, hatte seine brüchige Stimme sie aufge fordert. »Die Zeit ist da.« Die Herzen verkrampft von Furcht, hatten sie sich er hoben und waren dem Propheten aus dem Wigwam ge folgt, hatten ihre Pferde gesattelt und waren mit ihm, der ihnen die Richtung wies, ostwärts in die Berge geritten. Es grauste Chester. In der Gegenwart eines Propheten dachte man noch einmal neu über jeden Moment seines Lebens nach. »Alter?« John Smith Eisenauges Stimme zitterte, als sie Chesters Gedankengänge unterbrach. »Kommt«, sagte der Prophet und ging voraus zu einem Unterschlupf zwischen den Felstürmen am Rande der Ebene.
Angesichts des Flackerns von Furcht in Johns Augen mußte Chester einen Aufschrei unterdrücken. Ja, sogar John Smith Eisenauge fürchtete einen Propheten. Eisen auge hockte sich bei dem Alten auf den Boden, senkte zum Ausdruck der angezeigten Achtung den Blick, sein Kriegergesicht spiegelte innere Angespanntheit wider. »Du bist mir gefolgt?« begann Eisenauge schließlich mit gedämpfter, heiserer Stimme das Gespräch. Zerstreut drehte der Greis einen langen, spitzen Halm Degengras zwischen den Fingern. »Ich bin dir gefolgt.« Seine Stimme klang wie Wintergras im Wind. »Oder ... bist du vielleicht mir gefolgt, Krieger?« Eisenauge konnte sein Erschrecken nicht verbergen. Chester wünschte sich, er hätte etwas zu trinken, um das Brennen seiner ausgedörrten Kehle zu lindern. »Ich ... ich suche eine Vision, Großvater.« Eisenauge verwendete nun die respektvollste Form der Anrede. »Ich bin ausgezogen, um Heilung zu finden. Ich bin dir nicht gefolgt...« »Blutschande«, rief der Greis, deutete mit krummem Zeigefinger auf ihn. »Nein!« Flehentlich widersprach Eisenauge, voller Verzweiflung sah er erst Chester, dann Philip an, der sich auf die Lippe biß und zu Boden schaute. Natürlich wußten beide über Eisenauge, Jenny und ihre verbotene Liebe Bescheid. Und als Eisenauge sich auf Krieg und Streifzüge verlegte, hatte das Volk seine Entscheidung mit beifälligem Nicken anerkannt. Wußte der Prophet mehr? Chester verdrängte seine Befürchtungen, er litt so intensiv mit seinem Freund, als könnte er dadurch Eisenauge um einiges von seinem Jammer erleichtern. »Nicht?« fragte der Greis leise, aber in unvermindert strengem Ton. Er hob sein vom Alter verhutzeltes Gesicht, seine Augen funkelten. Seine Stimme drang sichtlich wie ein Dorn in Eisenauges Seele. »Ich sehe in deinen Verstand, Krieger. Zwischen uns zweien hat sich der Kreis
geschlossen.« Es verursachte Eisenauge alle Mühe, nicht zu schlottern wie ein Grüner Schnitter, den ein Bär gepackt hatte. »Ich ... ich bin ausgezogen, um Rettung zu erlangen«, beteuer te Eisenauge halblaut. »Ich bin fortgeritten, um eine Vision zu suchen, um ...« »Um das Volk zu retten«, beendete der Prophet an sei ner Stelle den Satz, seine Stimme erinnerte an eisigen Nebel. Entsetzen und Leidenschaft verzerrten sein faltiges Gesicht. »Um das Volk zu retten«, wiederholte er mit einem Fauchen. »Oder um’s zu vernichten, Eisenauge?« »Es zu retten«, versicherte John, dessen Stimme zu ver sagen drohte, voller Elend schloß, verkniff er die Augen. Chester, der sich wünschte, seinem Freund in seiner Zerknirschung behilflich sein zu können, widerstand trotz dem der Versuchung, eine Hand auf ihn zu legen. Tiefes Mitgefühl für Eisenauge grämte sein Herz. Er beherrschte sich, behielt seine unsichere Hand bei sich. »Morgen werden wir es erleben.« Der Greis nickte vor sich hin und stand auf. »Bereite dich vor, Eisenauge. Morgen wirst du eine Entscheidung fällen. Du wirst dich vor Spinne bewähren ... oder in den Tod gehen. Dies ist ein günstiger Ort. Der Bär wird erst am Morgen kommen.« »Der Bär?« Eisenauge hob den Blick. »Ich verstehe dich nicht, Großvater.« »Oh, du wirst mich verstehen, namenloses Kind. Morgen wirst du den Bären töten ... oder der Bär wird dich töten. Ich kann das Ergebnis nicht voraussehen. Es ist ein Cusp für dich — alles liegt an deiner Entscheidung —, und ebenso für das Volk. Bereite dich vor, Eisenauge. Triff die Wahl. Gilt’s dein Leben? Oder das Volk?« Damit schritt der Greis hinaus in den Wind, und Chester starrte seinen Verwandten betroffen an. Das Schweigen währte eine längere, zermürbende Weile, während Eisenauge um Fassung rang. »Was be
deutet das?« ächzte er endlich mit nahezu entstellter Miene. »Ich weiß es nicht«, antwortete Philip mit hohler Stimme. »Es hängt mit Träumen zusammen. Ich ... ich sehe dich, John Smith. Ich sehe auch den Bären ... aber sonst nichts.« Philip schloß die Lider und holte tief Atem. Halb zu sich selbst nickte Chester. Er entnahm seiner Gürteltasche Feuerstein und Stahl — Zündkapseln waren zu wertvoll, um sie fürs Feuermachen zu verschwenden — und begann ein kleines Lagerfeuer zu entfachen. »Ich hatte den gleichen Traum wie Philip«, erklärte er mit leiser Stimme. »Auch ich kann den Ausgang des Kampfs nicht vorhersehen, mein Freund. So leid’s mir tut.« Es tut mir leid, daß das alles geschieht, meinte er damit. Könnte ich dir nur helfen! »Das alles ist eine Prüfung«, sagte Philip. »Ich erkenne es. Die Träume ...« »Träume?« fragte Eisenauge, und Chester schaute un willkürlich Philip an, bemerkte in seinen Augen einen gleichen Ausdruck der Kraft wie in den Augen des Alten. Eine neue Befürchtung regte sich in seiner Brust. In was verwandelte sich sein alter Freund? »Du mußt der Krieger des Volkes sein, der Kämpe, Ei senauge«, fügte Philip hinzu. Resigniert schloß er die Augen. »Einen von uns, Chester oder mich, wird Spinne zu den Sternen rufen.« »Was bedeutet das?« fragte Eisenauge noch einmal. Er wirkte so blaß, als hätte ein Pferd ihn in den Leib getreten. »Ich rieche deine Furcht, Verwandter«, sagte Chester, legte zur Aufmunterung eine Hand auf Eisenauges Schulter. Im trockenen Gras knisterten Flammen. »Es wird sich alles zum Guten wenden. Spinne wird ...« »Nur deine Furcht überdeckt mit ihrem Geruch seine«, sagte Philip, dessen Blick eine Beklommenheit wider spiegelte, als wäre er ein zum Tode verurteilter Räuber.
»Das ist wahr«, gab Philip einsichtig zu. Fahrig zog er sein Gewehr aus der Hülle und fing an den Verschluß aus einanderzubauen, um es zu reinigen. Mit einem kleinen Tuch putzte er Verschlußkopf und Schlagbolzen, warf John Smith’ verkrampfter Gestalt einen kurzen Blick zu. »Morgen mußt du einen Bären töten. Vielleicht solltest auch du dein Gewehr nachsehen.« Wie benommen nickte Eisenauge und nahm die Waffe zur Hand, seine Augen huschten furchtsam hinaus in die Schatten, in die sich der Greis entfernt hatte. »Reinige deine Waffe, Eisenauge«, flüsterte Philip halb in Trance. »Wir haben den Alten erlebt. Er kennt sich mit Bären aus. Mache deine Seele auf Spinne gefaßt. Beweise, daß du gelernt hast. Dein Schicksal liegt in sei ner Hand.« Chester erhob sich und sah bei den Pferden nach dem rechten; er spürte Eisenauges Wunsch, allein zu sein. Während er die Pflöcke und Riemen nachschaute, mit denen sie die Reittiere angebunden hatten, gingen ihm Philips Worte durch den Sinn. Eine Prüfung? Warum ich? Er bemerkte die undeutliche Erscheinung des Propheten, der sie aus der zunehmend tieferen Dunkelheit beobach tete. Chester schüttelte den Kopf, redete zu den Pferden, in deren Nähe ihm wohl war, er hatte ein Gefühl der Verwandtschaft mit den Tieren, der Welt und dem Volk Spinnes. Sollte Philip Prophet werden. Er war stets ein Mann der Hingabe und Geistigkeit gewesen. Nein, für Chester Armijo Garcia war das Leben, so wie es war, in Ordnung. Er schnupperte in der kühlen Abendluft und spürte, wie seine Seele vor Lebenslust tanzte. Sollten andere ihren Geist mit dem Zukünftigen belasten. Hier in der abendlichen Luft schweifte seine Seele umher und verflocht sich mit der Seele der Pferde, konnte er die hintergründige Gegenwart Spinnes spüren.
Das Leben war gut. Das Dasein war gut. Vom Erdreich unter seinen Füßen begann ihm Verstehen zuzuströmen, breitete sich in seinem Innern aus. Er hob den Blick an den Himmel, betrachtete die bekannten Sterne. »Spinne«, sagte er leise, »ich bin ein glücklicher Teil deiner Schöpfung. Ich bin mit den einfachen Dingen zu frieden. Gib Eisenauge Kraft. Philip wird einen wunder baren Propheten abgeben. Er besteht aus Feuer und Stein, während ich aus Luft und Geist bin, ein Mensch, der mit Pferden spielt und den Frieden liebt. Mach ihn zum Auserwählten... Aber segne mir diesen Augenblick, denn ich bin wahrhaft unwürdig.« Doch in der Nacht hatte er neue Träume. In seiner Halbund-halb-Wirklichkeit verließ Chester Welt und beschritt einen Weg zwischen den Sternen, fühlte die friedliche Realität Spinnes. Er begegnete Menschen, sonderbaren Menschen, fremdartigen Menschen, die in stählernen Kästen durch Finsternis, Kälte und Leere schwebten. Er blickte in einen solchen Stahlkasten, sah darin sich selbst nackt auf einem Tisch liegen, Menschen mit Me tallstücken in den Händen schnitten ihm den rasierten Kopf auf, öffneten ihm den Schädel. Mit wachsendem Entsetzen schaute Chester zu, wie sie Handlungen an sei nem Gehirn ausführten, es an verschiedenen Stellen mit Elektrizität luden. Andere Personen beobachteten Gehäuse, in denen Leuchtstriche flimmerten. »Spinne, rette mich!« Er hörte sich ins Schwarz, in die Leere hinausschreien. Auf dem Tisch ruckten seine Gliedmaßen, bäumte er sich auf, während gräßliche Schreie aus seiner Kehle drangen. Die Hände auf den Bauch gepreßt, vor Übelkeit der Ohnmacht nahe, gelähmt von Furcht, litt er mit seinem zuckenden Körper, bis die Glieder erschlafften. Die Männer und Frauen mit den Instrumenten hoben die Schultern, als sie merkten, wie das Geflacker der
Leuchtstriche in den Gehäusen nachließ, und schalteten sie ab. Indem er vor Ungläubigkeit stöhnte, sah ehester weiter zu, war wegzuschauen außerstande, während sie sein Hirn Stück für Stück zerschnitten, bis nur noch ein ausgehöhlter Schädel zurückblieb. »Dein Tod«, sagte neben ihm eine rauhe Stimme. In der vertrauten Dunkelheit Welts setzte ehester sich auf, das Gesicht schweißnaß. »Tod?« krächzte er, bebte vom kalten Schweiß der Furcht. »Kannst du damit leben?« fragte der Prophet. »Wenn es das ist, was Spinne von dir verlangt?« Niedergeschmettert durch die Gewißheit, die Chester im Glühen der Augen des Alten erkannte, kehrte er dem Greisengesicht den Rücken zu. Sein wie zu feuchtem Mergel gewordenes Fleisch schlotterte. Nein! Es war zu entsetzlich! Dürfte er bloß noch einmal die herzenswarme Gegenwart Spinnes fühlen, das Leben spüren ... Aber es gab nur noch Finsternis, Eisigkeit und Grauen. Erneut hatte er die Zukunft gesehen. Seine Zukunft.
3
Stunden nach der Trennung von Jeffray bemerkte Leeta plötzlich, daß sie sich in der Nähe der Reede aufhielt. Ziellos war sie durch die endlosen, weißen Korridore gewandert, hatte mit ihren auf gewühlten Gefühlen gerungen. Nun taten ihr die Füße weh, ihr war richtig jämmerlich zumute, und deshalb betrat sie schließlich eine der hiesigen, wenig heimeligen Spelunken. Inmitten der trüben, höllenroten Beleuchtung proji-zierte VisiPlasma holografisch schattenhafte, nackte Gestalten bei sittenwidrigen Tänzen. Chrom- und Messingarmaturen mit erotischer Formgebung umglänzte die Automatbars und die Kunden, die daran herumlungerten. Gedämpfte Töne schollen aus den direktionali-sierten Sonikkegeln, die über verschiedenen Tischen und in Nischen hingen, die Gäste mit ihrer jeweiligen Lieblingsmusik beschallten. Im Hintergrund lagen sich zwei Männer in den Armen und küßten sich leidenschaftlich. Neugierige Augen versuch ten mit Leeta Kontakt aufzunehmen, Blicke beurteilten sie, luden sie ein oder verwarfen sie abschätzig. Sie wich allen aus, sie suchte nichts als einen freien Tisch, durch maß den Raum zügig und ließ dabei sämtliche Anwesenden unbeachtet. Die Antigrav-Sitzbank erwies sich für ihre Füße als willkommene Entlastung. Auf Leetas Order hin erhoben sich ein lokal gebrannter Single-Malt-Whiskey und ein obergäriges Bier aus der Automatbar. Leeta beugte sich über die Getränke und trank mal da-, mal davon, dachte nach, versuchte in allem einen Sinn zu entdek-ken. Was sollte sie noch machen? Er hatte sich eben derartig stark verändert.
»Allein, Schatzi?« fragte eine dunkle Tenorstimme, und Leeta merkte vage, wie sich ein feister Leib zu ihr auf die Antigrav-Sitzbank schob. Leeta schaute hoch und blickte in ein grobes Gesicht, dessen Augen Krähenfüße säumten. Schwacher Kör pergeruch ging von dem Mann aus, und er hatte die Wulstlippen zu einem scheelen Grinsen verzogen, das wohl ein Lächeln sein sollte. »Ja«, antwortete Leeta kühl, »und es ist mir lieber, es bleibt so.« Er nickte, aggressive Belustigung glitzerte ihm aus den Augen. »Tja, Schatzi, dann muß ich eben dafür sorgen, daß du’s dir anders überlegst. Was kostet ‘ne Nacht mit dir? Zehn Kredits? Fünfzehn? Sag mir den Preis, gib dir Mühe, und ich zahle gut. Vielleicht springt sogar ‘n Bonus dabei raus, hm?« Er griff nach ihr, als sie Anstalten zum Aufstehen mach te. Leeta entwand sich seinen zudringlichen Fingern, aber sein Arm schoß wie ein Tentakel vor und umschlang ihre Taille, zog sie an sich. »Laß uns was trinken«, drängte er sie barsch; sie roch Alkohol in seinem Atem. »Nein, nicht...« »O doch, du wirst jetzt was trinken«, sagte der Kerl im Befehlston; in seinen Augen spiegelte sich Vergnügen wider. »Ich betracht’s als schlechtes Benehmen, wenn ich ‘n Mädchen zum Trinken einlade und’s will nicht mithal ten.« Sein Grinsen wurde schmierig, während seine Pfote über Leetas Schenkel strich. »Nein, ich ...« »Trink, Mädchen!« Sein Blick verhöhnte sie, während er sich mit der Hand immer größere Unverschämtheiten herausnahm. Leetas Stimme versagte. Eingeschüchtert hob sie das Bier an die Lippen, und sein Triumphgefühl entlockte dem Burschen ein Lachen. Leetas Muskeln zitterten unter sei ner rohen Hand, mit der er ihr Geschlecht befummelte.
Furcht fuhr ihr ins Gedärm. Sie fühlte sich körperlich krank, als sie das Glas absetzte. »Und jetzt lassen Sie mich bitte gehen, ja?« Sie hörte das Winseln ihrer Stimme und ekelte sich deswegen vor sich selbst. »Na klar, wir gehen«, rief er. »Wir werden uns die Nacht um die Ohren schlagen! Mann, für einen, der so lang im Fernraum gewesen ist wie ich, hab ich ja ‘ne dufte Flitsche erwischt.« Seine Finger kneteten ihre Scham. Leeta, deren Herz furchtsam in ihrer Brust pochte, sah nicht, wie er sich vorbeugte, um ihren Hals zu küssen. Ein Aufschrei entfuhr ihr, sie wehrte sich, sah von benachbarten Tischen Gesichter amüsiert herübergaffen. Die Wärme seines Munds an ihrem Hals nötigte sie fast zum Erbrechen. Sie trat und schlug, leistete gegen seine überlegenen Kräfte Widerstand, versuchte sich loszurei ßen. »Laß sie sofort los!« Die Stimme überraschte sie beide. Es handelte sich um eine ruhige, tiefe Altstimme, die mit der gelassenen Selbstsicherheit der Befehlsge-wohntheit sprach. Ruckartig schaute Leeta sich über die Schulter um. Da stand, noch in Uniform, die Fäuste in die Hüften ge stemmt, Leutnant Rita Sarsa. »Also, ich hab keine Probleme mit der Patrouille«, brummte der Raumfahrer verunsichert. »Ich und das Dämchen hier wollen uns bloß einig werden. Bloß einig, sonst nichts.« »Laß sie los!« Langsam hob Rita Sarsa das Kinn. »Ich will keine Scherereien mit dir«, nuschelte der Raumfahrer patzig, zog aber seine Hand zurück. »Es geht nur um ...« Sarsa nahm eine leicht geduckte, unverkennbar bestens ausbalancierte Haltung ein, ihre Hände durchliefen eine komplizierte Reihe von Gebärden. »Matrose, möchtest du deine Knochen auf dem Fußboden verteilt haben?«
Bösartig verzog Rita die zarten Lippen. »Ich wäre nicht davon überzeugt, daß ein Med dich wieder zusammen flicken könnte.« Der Raumfahrer schüttelte den Kopf. »He, ich mei ne ...« Er ließ so plötzlich von Leeta ab, daß sie schwankte und beinahe von der Antigrav-Sitzbank plumpste. Als sie sich nach ihrem Bedränger umblickte, sah sie nur noch seinen Rücken, während er, ohne Zeit zu verlieren, zum Ausgang strebte. Sie klammerte sich ans Geländer der Automatbar, schloß die Augen, stieß ein Seufzen der Erleichterung aus. Sie hatte Mühe damit, ihr aufgeregtes Herz zu beruhigen. Sarsa rutschte auf die Antigrav-Sitzbank, neigte den Kopf seitwärts, ein Schopf roter Locken fiel ihr auf eine breite, muskulöse Schulter. »Fordern Sie immer Schwie rigkeiten so heraus, Doktor? Das hier ist bestimmt nicht... ahm ... die richtige Umgebung für Sie.« Leetas Auflachen klang halb hysterisch. »Nein ... nein, ich bin nur ... Ich mußte irgendwie von allem weg. Ich habe mit Jeffray Schluß gemacht und ... Ach, was für ein Schlamassel ist mein Leben geworden.« Sie schüttelte den Kopf und langte nach dem Whiskey, leerte das Glas mit einem Zug. Sarsas Lachen hatte einen spröden, halb feindseligen Klang. »Es gibt nur eine Person auf der Welt, die Ihr Le ben lenken kann, Doktor — ganz egal, was diese was serköpfigen Direktoren Ihnen einreden wollen —, und das, meine Liebe, sind Sie.« Leeta verkniff sich eine wütende Erwiderung. »Woher wissen denn Sie das?« Die Frage entschlüpfte ihr nicht zornig, sondern als ob sie schmollte. Sarsas spöttische Augen musterten sie. Ihre Antwort fiel einfach aus und hörte sich nach schlichter Wahrheit an. »Weil ich es ausprobiert habe, Doktor.« Leeta betrachtete sie von oben bis unten, sah den harten Glanz in Rita Sarsas Augen, bemerkte das Kühne in ihrem
Gebaren, die Schwielen an ihren sommersprossigen Händen, die ruhige, selbstbewußte Art, wie sie sich bewegte. Auf seltsame Weise fühlte sie sich dadurch eben falls ermutigt, ihre Courage stellte sich wieder ein. »Das kann ich mir gut vorstellen, Leutnant«, sagte Leeta, indem sie provozierend frech lächelte. »Hm-hm«, machte Sarsa mit nachdenklicher Miene. »Vielleicht sind Sie doch keine so üble Schramme.« Leeta orderte ein neues Bier. »Niemand außer mir selbst kann richtig auf mich achtgeben. So ist es, hm?« »Genau.« Auch für Sarsa gab die Automatbar einen Drink aus: Meteorschzvarm on the rocks. Ein Zeichen für reichlich Kredits. Leeta pflügte mit den Fingern durch ihre etwas wirr gewordenen Locken; sie empfand eine derartige körper liche und seelische Ausgebranntheit, als könnte sie kei nerlei Gefühle mehr aufbringen. »Wissen Sie, ich weiß auch nicht, was mit Jeffray passiert ist. Er hat sich voll kommen verändert. Seine Träume von der Revolutio nierung der Transduktionstechnik sind ganz einfach ver pufft. Am einen Tag war er noch völlig normal. Am näch sten Tag war er vollständig umgekrempelt, praktisch ein Fremder.« Sarsa hob ein wenig den Kopf. »Transduktionstech nik?« Sie verengte die Lider. »Inwiefern umgekrempelt?« Leeta holte tief Luft, die Erinnerung schmerzte; sie starrte auf die Stelle der Tischplatte, an der sie ihr Bierglas hin- und herschob. »Als wäre sein Funke von Genialität auf einmal erloschen. Ich weiß es nicht. Er ging zu einer Reihenuntersuchung ins Gesundheitsamt. Es drehte sich um die Ermittlung von irgendwas Statistischem. Danach war er eben nicht mehr der alte Jeffray.« »Hmmm...« Sarsas Brummen klang gepreßt. Leeta fiel ihr angespannter Gesichtsausdruck auf. »In dieser Gesellschaft tun Leute halt sowas. Tanzen nach der Pfeife. Versuchen nicht anzuecken. Keine Fragen, oder eines
Tages ist man nicht mehr der Alte.« Sie trank vom Meteorschwarm, und Leeta merkte zum erstenmal, wie hitzig-rot ihr Gesicht geworden war, die Glasigkeit, die ihre Augen angenommen hatten. »Sie sind ja halb betrunken, Leutnant«, rief Leeta, ver gaß darüber Sarsas sonderbare Äußerungen. »Verdammt richtig, Doktor.« Sarsa grinste wie ein Kobold. »Und’s macht mir ‘n Riesenspaß! Ich bin seit dem Tag nicht mehr anständig abgefüllt gewesen, an dem man mich ins Brunstleben eingeführt hat.« »Brunst?« Leeta stellte ein Bein auf eine Fußstange und lehnte sich auf der Antigrav-Sitzbank zurück. >»Leutnant<, Doktor.« Sarsa hob die Schultern. »Tja, mein Auftrag kommt mir geradezu wie ‘ne echte Sause vor. Wer weiß, wie lange ich die Verbindungsoffizierin noch spielen darf? Ich werde mir gönnen, was nur geht, bevor man mich wieder auf die Projektil holt.« Um ihre Absicht zu unterstreichen, patschte Sarsa sich auf den Bauch, grinste nochmals und rülpste laut. »Wie ist es denn eigentlich da draußen?« fragte Leeta, stützte das Kinn aufs Knie, während ihr Blick die zappe ligen Holos nackter Männer und Frauen streifte, die über der Automatbar tobten. Sarsa lachte, als sie den andächtigen Tonfall der Frage hörte. »Grauenhaft langweilig, Doktor.« Der Leutnant machte eine wegwerfende Geste. »Die Patrouille ist wie ‘n Straflager.« »Was?« entfuhr es Leeta. Sie setzte sich aufrecht hin. »Leutnant, das kann doch nicht Ihr Ernst...« »Zum Teufel, doch!« Sarsa verzog den Mund und schnitt eine Grimasse. »Glauben Sie etwa, wir hätten drau ßen irgendwas zu tun? Wir fliegen vom einen Abschnitt des Außensektors zum anderen und wieder zurück, als wären wir die Apportierhunde der Direktorenärsche. Wir machen unser Intrapsychisches Manövertraining, polieren die Maschinen, absolvieren die Simulationen ...« —
Sarsas Stimme sank zum Flüstern herab —, »... und das immer wieder, immer wieder ... und immer wieder ...« »Aber daß Sie von einem Straflager sprechen ...?« Leeta sah den Widerwillen in Ritas Miene, neigte den Kopf zur Seite. Sarsa schnaubte: »Sind Sie nicht Anthropologin?« Gereizt schüttelte Rita den Kopf. »Sagen Sie’s doch sel ber ... Was taugt denn eine Zivilisation, die sämtliche Informationen einer Kontrolle unterwirft? Seit achtzig Jahren keine neue Kolonie gegründet hat? Keine einzige neue soziale Errungenschaft vorweisen kann? Seit wer weiß wie lange keinen Grenz- oder Handelskonflikt aus tragen mußte? Wissen Sie, daß die Patrouillenzone der Projektil in den letzten dreißig Jahren um zehn Prozent reduziert worden ist? Zehn Prozent! Der Grund ist, daß die Grenzen schrumpfen. Haben Sie gehört? Schrumpfen, gottverdammich noch mal!« Sie gab einen dumpfen Laut des Mißmuts von sich und drosch die Faust auf die Automatbar. Leeta schluckte, schielte rundum, um zu sehen, ob ir gend jemand ihnen zuhörte; der Tonfall des Patrouillen leutnants beängstigte sie. »Das ist nun einmal der Preis der gesellschaftlichen Stabilität. Aber >Straflager.. .?<« »Gesellschaftliche Stabilität?« johlte Sarsa sarkastisch. »Ist ja ‘n toller Witz, Doktor. Gesellschaftliche Stabilität?« Sie wölbte die roten Brauen, so daß sich ihre helle Haut straff über die zierlichen Wangenknochen spannte. »Scheißdreck! Ich nenne das bloße Direktoratspropa ganda.« Einen Moment lang schwieg sie. »Dann sagen Sie mir mal, wohin in all dieser Stabilität wir die Leute stek ken, die ein bißchen eigenwillig sind, ein wenig ge walttätig, etwas rauhbeinig in ihrem Auftreten? Ich rede nicht von Personen, die der Psychotherapie bedürfen, beachten Sie das bitte, ich meine ausschließlich solche, die sich in der >Stabilität< nicht so reibungslos zurecht finden.«
Nun mußte Leeta ihrerseits die Schultern heben. Die Ironie des Leutnants klang für ihr Empfinden nach Verrat, mindestens jedoch nach moralischer Verkommenheit. Weil ihre Neugier stärker war, überwand sie den Drang, einfach zu gehen. »Wohin denn, Leutnant?« Sarsa beugte sich vor und hauchte Leeta Dünste teuren Whiskeys ins Gesicht. »In die Patrouille, Doktor. Dahin.« Sarsa nickte, das Gesicht nur wenige Zentimeter von Leetas Nasenspitze entfernt. »Wir stellen sie ins Abseits. Wir schieben sie dorthin ab, wo sie keinen Ärger verursa chen können. Sie werden in ‘n Raumschiff gesetzt und dürfen im Kosmos rumschwirren, wo sie aus ‘m Weg sind und nicht stören.« Sie lehnte sich zurück und stierte mit düsterer Miene in ihren Drink; dann bekam sie Schluckauf. Während sie schwieg, begann Leeta darüber nachzu denken. Eine Zeitlang setzte die Unterhaltung aus. Schließlich leerte Sarsa den Whiskey. »Alles ist abgeschlafft«, ergänzte Sarsa ihre Darle gungen. »Die Menschen sind allesamt, so wie Ihr Jeffray, weich und lau geworden. Keiner hat noch Mumm. Alles steht unter Kontrolle. Die Spezies hat keinen Schwung mehr... stellt sich keine Aufgaben.« Sarsa tippte die Taste für noch einen Whiskey. »Ist Ihnen das klar?« Vor Leetas Augen grinste der tausend Jahre alte Schädel eines Puebloindianders. »O ja«, murmelte sie, trank vom Bier. »Ich glaube ... ich glaube, ich weiß es schon längst.« Nervös rieb Leeta die Hände. »Ich ... ich hatte auch mei nen Traum. Verstehen Sie, einer der Gründe, weshalb ich Anthropologin geworden bin, war nämlich, daß ich mir immer Gedanken über die Menschen gemacht habe. Die Leute, die früher gelebt haben, wissen Sie ... deren Skelette wir untersuchen. Denken Sie mal an ihre Charakterstärke! Sie hatten nicht diese Unmengen von Computern, diese vielen zivilisatorischen Vor
sichtsmaßnahmen. Verstehen Sie nicht? Sie waren frei! Wirkliche Menschen, die dank ihrer eigenen Kraft exi stierten. Wo findet man so was heute? Wir sind alle keim frei, domestiziert. Gott, was würde ich dafür geben, könn te ich erfahren, wie diese Menschen tatsächlich gewesen sind.« Sie füllte die Lungen mit Luft und atmete hörbar aus. Versonnen nickte Rita Sarsa. Sie trank Whiskey, ihre Lider hingen zusehends herab, als der Alkohol immer stär ker wirkte. »Zahm sind wir geworden«, lallte sie. »Wie Schafe!« Während des Gesprächs betrachtete Leeta die äußer lichen Eigenheiten der Frau. Sie hatte ein angenehm ge schnittenes Gesicht; eine gerade Nase und ein festes Kinn betonten die funkelnd-grünen Augen. Die hohe Stirn ver mittelte den Eindruck von Intelligenz; der Mund hatte schmale Lippen mit einer Andeutung von Humor an den Winkeln. In losen Locken hing ihr feuerrotes Haar auf die Schultern. Überm flachen Bauch hatte Sarsa eine Wespentaille; die Hüften waren rund, die Beine muskulös. Sie konnte steile, ausgewogene, stramme Brüste vorwei sen. Mancher hätte vielleicht behauptet, ihre Schultern seien etwas zu breit, aber die Muskeln ihrer Arme sorgten für einen Ausgleich. Wenn Sarsa sich bewegte, geschah es mit pumaähnlicher Anmut. Mit Sicherheit schaute jeder Mann den Leutnant zweimal an. Mißgestimmt starrte Sarsa, nachdem Leeta zu Ende gesprochen hatte, in die bernsteingelbe Flüssigkeit in ihrem Glas. »Zu dumm, daß ‘s keine Möglichkeit gibt, wie man den ganzen gottverdammten Misthaufen wenden und die Wasserköpfe drunter begraben könnte.« Leeta überlegte, ihr scharfer Verstand begann Verglei che zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu ziehen. Keine neuen Kolonien seit achtzig Jahren? Die Grenzen schrumpften? Warum kam es in einem offenen ökono mischen System wie dem Weltraum zu so etwas? Seit der
Überwindung der geschlossenen Ressourcengrundlagen der Erde war keine Gesellschaftsform mehr gescheitert ... Und wo doch, dann infolge einer Überbeanspruchung der Ressourcen oder ungenügender Warendistribution. »Und Sie meinen, es liegt am Direktorat?« Die Stirn tief gefurcht, betastete Leeta ihr Kinn. Zerstreut nickte Sarsa. Aber wie sollte trotz des Giga-Verbunds die Distribu tion in Unordnung geraten? Wie sollten einer Station Mittel zur Deckung irgendwelcher Bedürfnisse fehlen, solange atomarer Brennstoff den Fusionsreaktoren buch stäblich zuflog? Asteroiden, Sonnen und jedes physikali sche Element, das die Menschheit brauchte, standen zu allgemeiner Nutzung zur Verfügung. »Überzeugt haben Sie mich nicht«, sagte Leeta. Rita Sarsa stützte sich auf den Ellbogen, hatte einige Mühe mit dem Geradeausschauen. »Sie lesen doch Zeugs von früher, oder?« »Klar, das ist ein Bestandteil der Anthro ...« »Und wie schneidet’s ab, wenn Sie’s mit ‘n Sachen ver gleichen, die heut geschrieben werden? Hä?« Unsicher schwankte Sarsa. »Raus mit der Sprache. Sehn Sie heut irgendwo inner Menschheit noch ‘n Funken Elan? Oder sind alle wie Ihr Jeffray?« Leeta verzichtete auf die scharfe Entgegnung, die ihr auf der Zunge lag. Die Frau war betrunken. Trotzdem hatte sie, wie Leeta einräumen mußte, nachdem sie nun darüber nachzudenken angefangen hatte, in so mancher Hinsicht recht. Im Geiste sah sie einen blanken Schädel grinsen wie zur Bestätigung. »Zwei Frauen in einer Bar bedeuten noch keine ge sellschaftliche Umwälzung«, erklärte Leeta. »Kann sein, Doktor.« Rita grinste verdrossen, versuch te mit ihrer vom Whiskey getrübten Sicht klarzukommen. »Aber man weischa nie, was Gott mit eim vor hat. Bis jetz hatter olle Lump mich anne hinterletzten Ecken unn
Enden vom Weltall gescheucht. Hab mich schon imma gefragt, ob er aus ‘m bestimmten Grund auf mich geschis sen hat.« Sie zog eine Schmollmiene. »Is lang her, daß ich dran gedacht hab ...« Sie kniff die Lider fest zusammen und schüttelte heftig den Kopf. »Nein ... Nich dran denken ... Nich ... Rita, alts Mädchen ...« Mit sichtlich trockener Kehle schluckte sie. »Geht’s Ihnen gut?« fragte Leeta. »Möchten Sie einen Nüchternmacher?« »Puuuh«, stöhnte Sarsa, schüttelte nochmals den Kopf. »Ich hab gar nich gemerkt, dassich schon so voll bin ...« Leeta orderte eine Ernüchterungspille, achtete darauf, daß Sarsa sie schluckte, nahm sie am Arm und begleitete sie zu einem Transport, der sie beide in die Etage mit den Dienstwohnungen beförderte. »Zwo Fraun und kein geschellschafflische Umwält zang?« brabbelte Sarsa halblaut, während Leeta sie in ihr geplüschtes Zimmer führte. »Na, wenn’s so is, dann scheiß doch druff...!« *
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John Smith Eisenauge wälzte sich unter seiner Decke hin und her; sein Leibesinneres stach und rumpelte. Das alles, nur weil er Jenny begehrt hatte? War das an gemessen? Hatte er etwas verbrochen, durch das er so eine Behandlung verdiente? Stets hatte er sein Schwitzbad genommen, immer gebetet und Gott Spinne seine Medizin dargebracht. Warum war er auf einen solchen Weg abgeirrt? Konnte er es ablehnen, mit dem Bären zu kämpfen? Kein Mensch bei Verstand verweigerte sich jemals ei nem Propheten. Nach beunruhigenden Träumen holte die Stimme des Alten John Smith Eisenauge aus qualvollem Schlaf. »Der Bär kommt«, flüsterte die schwächliche Greisenstimme.
John Smith Eisenauge warf die Decke beiseite und raff te sich hoch. Er blinzelte der Gestalt entgegen, die sich schwerfällig näherte. Die Pferde waren fort. Seine Vettern saßen droben auf den Felsen, wo sie sich außerhalb der Reichweite des Ungeheuers befanden. Wie waren sie dort hinaufgelangt, ohne daß er es merkte? Chester ähnelte einem Leichnam. Ungleichmäßig watschelte der Bär heran, tastete sich mit seinen Saugnäpfen vorwärts. Aus eingefleischter Gewohnheit zog John sein Gewehr aus der Hülle. »Das Gewehr wird dir keine Hilfe sein, Krieger«, krächzte die spröde Stimme des Alten in die frostige Morgenluft. Sorgfältig zielte Eisenauge über Kimme und Korn auf die Stelle, wo der Bär sein Gehirn hatte. Es war tief im Brustkorb des Viehs verborgen, stak zwischen den beiden dicken Wirbelsäulen, geschützt durch harte Knorpel. »Dein Gewehr wird nicht schießen«, sagte der Greis leise. Eisenauge hörte nicht auf ihn. Er drückte den Abzug durch und zuckte zusammen, als der Hahn lediglich klik kte. In rasender Hast klappte er den Verschluß auf und sah die Geschoßkammer leer. »Du mußt den Bären mit deinem Messer erlegen, John Smith Eisenauge!« Der Greis kicherte boshaft, hielt zwi schen seinen Fingern die langen Patronen in die Höhe. »Tust du’s nicht, werde ich mit dir den Tod finden. Das Leben eines Propheten liegt in deiner Hand, Eisenauge. Sieh zu, daß du es bewahrst. Glaube! John Smith, Spinne wird dir Kraft verleihen!« Der inzwischen erheblich größer sichtbare Bär wat schelte immer näher. »Weg da!« Eisenauge wandte sich um, schob den Greis hinter sich. Eilig zückte er seinen lan gen Dolch, duckte sich zu kampfbereiter Haltung. Ein rascher Blick machte ihm klar, daß Philip und Chester nicht einzugreifen beabsichtigten. Er stieß wüste
Schimpfworte hervor. Verrückter, verfluchter alter Narr! Warum hatte er das alles getan? Der Bär ragte nun riesig empor. Es gab für den Propheten keine Möglichkeit zur Flucht. Verzweifelt stürzte John Smith dem Ungetüm entgegen, versuchte es von der gebrechlichen Greisengestalt fortzu-locken. Der breite Saugnapf haschte mit erstaunlicher Schnelligkeit nach Eisenauge. John warf sich zu Boden, rollte sich zur Seite, entging dem mit blauroter Haut über zogenen Saugnapf nur knapp. Der Bär gab ein Aufbrüllen von sich und verströmte stinkigen Atem. Kleine Seibertröpfchen sprühten auf John Smith und sengten sich mit Gezischel in sein Fleisch. »Glaube!« erscholl die Stimme des Propheten, der nun in einen Singsang der Beschwörung verfiel. »Glaube, und du wirst siegen! Gib dein Herz und deine Seele Spinne hin!« Seine Worte brannten sich nachgerade in Eisenauges Hirn, während er sich unter den massigen Leib des Bären wälzte, auf den Rücken drehte und mit der langen Klinge zustieß. Er war sich der bedrohlichen Nähe der Säulenbeine bewußt, die zu seinen beiden Seiten übers Erdreich stampften. Erneut brüllte der Bär, als die Klinge sich durch die kleinen Schuppen seines Bauchs bohrte. Heiße Flüssigkeit schoß herab, während das riesenhafte Monstrum sich über Eisenauge umzuwenden anschickte. Er klammerte sich mit aller Kraft an die Waffe, zuckte zusammen, als einer der beiden Schwänze nahe an seinem Kopf durch die Luft sauste. Die Bestie drehte sich auf der Stelle, glotzte mit ihren Stielaugen unter ihren verwundeten Bauch, um ihre Beute sehen zu können. John rappelte sich auf, glitt auf schaumigem, schwar zem Blut aus. Er war nun hinter dem Monster. Der Bär richtete sich auf und stapfte zu Johns Entsetzen direkt auf den Propheten zu.
Für das Volk bedeuteten die Vier Alten die Macht, das Gesetz, die Wahrheit. Sie vermochten die Zukunft zu erkennen, die Kranken zu heilen oder mit einem Wort dem Menschen das Leben zu beschneiden. Sie waren Gottgesegnete, denn Spinne sprach zu ihnen. Falls der Alte den Tod fand, trug John daran die Schuld. Die schlim me Folge wäre, daß man ihn ausstoßen würde, verbannen, seinen Namen zum unnennbaren Tabu erklären. Über sei nen Clan käme solche Schande, daß man ihn möglicher weise aus den Reihen des Volkes ausschlösse. Noch nie hatte irgendwer einen der vier greisen Propheten umkom men lassen. Starb er andererseits bei der Verteidigung des Alten, träfe seinen Clan keine Schmach. Falls er als erster starb, hatte er ehrenvoll gekämpft. Also gab es keinen anderen Weg. Er mußte es auf sich nehmen. Dann konnten seine Vettern heimreiten und dem Volk vom ruhmreichen Opfergang Eisenauges erzählen. Jenny Garcia Smith würde stolz sein. Die Verzweiflung trieb Eisenauge zu einem wahnwit zigen Vorgehen. Indem er einen Kriegsruf schrie, sprang John Smith Eisenauge vorwärts und krallte sich an einen der gepanzerten Schwänze des Bären. In fieberhafter Eile erkletterte er den Rücken des Tiers. Der Bär blieb stehen, schnaubte, drehte sich schnell um die eigene Achse, stierte stumpfsinnig umher, versuchte das Etwas auf seinem Rücken zu erkennen. Eisenauge klomm weiter. Eine der kleinen Stielaugen der Kreatur richtete seinen Blick nach hinten, als sie endlich begriffen hatte, wohin Eisenauge verschwunden war; an eine der Knochenplatten geklammert, die aus den zwei Wirbelsäulen des Viehs rag ten, hieb John, im Vertrauen zu Spinne fest mit dem Messer zu und stimmte ein Kriegslied an. War es Glück oder Schicksal? Fast trennte er das Stiel auge ab, es baumelte nur noch, wo er es beinahe durch
geschnitten hätte, an einem dünnen Strang Gewebe. Das zweite Auge zeigte sich, traute sich jedoch nicht so weit vor, und die Fangarme schlängelten in Johns Richtung. Zwischen die Knochenplatten gedrückt, stach und schlug John wild nach dem Auge. Wiederholt verfehlte die Klinge es, während die Saugnäpfe sich näherschoben. Der linke Fangarm schnellte auf Eisenauge zu. Aller dings in falschem Winkel. Die Bestie taumelte umher. Sie hatte nur noch ein Auge und sah daher nun mit un genügender Tiefenschärfe. Im letzten Moment hob John das Bein, und der Fangarm des Geschöpfs saugte sich auf den harten Schuppen der eigenen Kehrseite fest. John legte sein ganzes Gewicht in die Klinge und be gann an dem Greifarm zu sägen. Zu spät, denn der andere Fangarm packte ihn am Bein. Wie ein weißer Blitz schoß Schmerz in Johns Hirn. Er keuchte abgehackte Atemzüge, als der Bär ihn sich vom Rücken riß. John verlor den Dolch. Er hörte sich hilflos schreien, während der wutent brannte Bär ihm sein giftiges Maul entgegenschwang. John Smith Eisenauge schloß die Lider, um sich den greulichen Anblick zu ersparen, und machte sich auf den Tod gefaßt. Gewissenhaft fing er sein Medizinlied zu sin gen an. »Der Tod kommt Der Tod bringt mich zu Gott Gottes Name heißt Spinne Das Volk kennt Gott Der Tod kommt Sieh ihn leise über die Hügel kommen Er kommt mich holen Der Tod kommt Der Tod kommt.« Er sang es in der Altsprache, so wie es die Propheten lehrten. Währenddessen erfüllte ihn eine seltsame Ge lassenheit, linderte den fürchterlichen Schmerz. So
schlimm war der Tod gar nicht. Spinne erwartete die Rückkunft der Seele Johns, um von ihr zu erfahren, was er erlebt hatte. Völlig unvermutet prallte er auf den harten Untergrund, der Atem wurde ihm brutal aus dem Leib gewuchtet. Durch die Gewalt des Aufschlags benommen, schlotterte er vor sich hin, spürte rauhen Kies unter seiner aufge schrammten Wange. In seinen Ohren tönte ein lautes Sausen. Aus vom Schmerz verschleierten Augen starrte er zum Riesenleib der Kreatur auf, die nun auf ihren säulenartigen Beinen unsicher wankte. John konnte, weil er auf dem Erdboden lag, aus seinem Blickwinkel erkennen, daß durch die Messerwunde eine verquollene Masse von Innereien aus der Bauchhöhle des Wesens gerutscht war; die wurstartig gewellten Därme hatten sich um die Beine gewickelt und noch mehr Organe herausgerissen. Plötzlich sackte das Tier auf die Seite. Unvorteilhaft stützte es sich auf nur noch drei Beine, die anderen waren in dem Matschhaufen seiner eigenen Eingeweide umge knickt. Der Schmerz in Johns Bein wich, als der Fangarm, nachdem er ihn zum Schluß wie einen Grashalm ge schüttelt, ihn ein Stück weit durch blutiges Degengras und über Steine geschleift hatte, erbebte und sich endlich lok kerte. »Gottes Name heißt Spinne ...«, sang John mit heiserer Stimme sein Gebet. Langsam trat der Prophet näher, winkte Chester Ar-mijo Garcia und Philip Smith Eisenauge zu, daß sie von den Felsen herabsteigen sollten. »Der Bär liegt im Sterben«, stellte der Alte fest. »Du bist es, den wir suchen.« Seine greisenhafte Stimme klang nun freundlicher. »Du bist es, Krieger, der das Volk retten muß. Die Vision der Zukunft ist nicht vollauf klar, doch die Wahl ist getroffen. Noch viele Cusps stehen bevor. Hör
mir zu, John Smith Eisenauge, ich werde dir die Geschichte unseres Volkes erzählen. Schon dreimal sah das Volk sich vor dem Untergang. Dies ist das vierte Mal. Sie kommen. Diesmal kommen sie von den Sternen. Beim ersten Mal waren es die Weißen Männer, die kamen. Sie brachten uns die Pferde, die wir heute reiten. Sie töteten die Angehörigen des Volkes und vergifteten sie. Alle Propheten starben ... und niemand sah noch die Zukunft. Beinahe vergaß das Volk sich selbst. Viele nahmen die Lebensart des Weißen Mannes an und verlernten das Lied der Flöte. Es war eine schlechte Zeit. Die Propheten hat ten ein Zeitalter vorausgesagt, in der Maschinen durch die Lüfte fliegen. Sie hatten auch die Maschinen gesehen, die Menschen über die Erde beförderten. Sie hatten gesehen, wie das Volk wieder zusammenwuchs und neue Kräfte erlangte. Wir kennen keine Aufzeichnungen, die bewei sen, daß die Propheten auch das Kommen der Sobjets vor hersagten. Das war das zweite Mal. Sie kamen und nah men uns erneut unser Land, zwangen uns, wie Sklaven zu arbeiten. Das war nicht der Weg, den Spinne wollte. So wie bereits in der Vergangenheit, kämpften wir auch die ses Mal. Sie kämpften besser als wir. Sie führten uns ins Sternenschiff und flogen uns zu den Sternen. Dort ver suchten die Sobjets uns zu ermorden. Im Sternenschiff setzte das Volk sich zur Wehr, in demselben Sternenschiff, das heute inmitten der Siedelei ruht. Das war das dritte Mal. Bei diesem Mal gewannen wir, aber das Ster nenschiff erlitt schwere Beschädigungen. Wir ließen das Sternenschiff hier auf Welt landen. Wir wußten nicht, wo wir sind. Die Kommunikationsanlagen wurden von unse ren Vorfahren zerstört, weil die Sobjets uns nicht finden sollten. Nun kommen andere. Es ist das vierte Mal. Die Vier ist Spinnes Heilige Zahl. Sie werden kommen und unser Land haben wollen. Sie sind schwach. Wir sind stark. Wir sehen in die Zukunft. Sie nicht. Wir sehen vor aus, was geschehen mag. Es kann gut ausgehen ... oder
schlecht. Das Volk braucht dich. Es braucht dich, damit du für es handelst. Du mußt glauben. Du mußt den rechten Weg gehen. Dies ist das vierte Mal. Die Vier ist die Heilige Zahl. Dies ist das letzte Mal. Du bist ein Krieger. Einer von diesen zweien ist ein Prophet.« Er deutete auf Philip und ehester. »Nun werden wir leben oder sterben. Ich habe gesprochen.« Achtlos wandte der Greis sich ab, als sähe sein Geist etwas, schritt davon. John Smith Eisenauge zwinkerte, versuchte seine ver schwommene Sicht zu klären, sich die Worte des Pro pheten einzuprägen. Konnte das wahr sein? Seine Finger wühlten sich in den Kies, indem er seine matten Händen ins Erdreich grub, sich vom Saugnapf des Bären zu befreien bemühte. Philip Eisenauge gab sich einen Ruck und zerrte den Saugnapf von Johns Bein. Schmerz durchglühte Johns Empfinden; also konnte es kein Traum sein.
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Dr. Leeta Dobra hob den unordent lichen Schopf. Mit den Fingern rieb sie sich die Augen, versuchte vollends ins Wachsein überzuwechseln. Seit der Trennung von Jeffray war eine jämmerliche Woche ver strichen. Die kleine Wohneinheit, in die sie umgezogen war, hatte beengte Verhältnisse. In der Anthropologie ver diente man keine so hohen Gehälter wie in der Technik. Ihr war gar nicht klar gewesen, wieviel Platz sie für selbst verständlich gehalten hatte. Dösig stand sie unter der Dusche, fragte sich, ob ihr Blut eigentlich wirklich noch zirkulierte, da meldete die Wohnungkomplex-Kommu einen Anruf. Sie drehte sich dem Badezimmer-Terminal zu und ließ ihn durchstellen. Plötzlich linste Chems zotteliges, gealtertes Gesicht sie an. »Sie sind ja naß«, murmelte er zerstreut. »Ach natür lich, ‘ne Dusche. Entschuldigen Sie die Störung. Ich glaube, Sie kommen mal schnell zu mir rauf. Es ist wichtig.« Als der Bildschirm erlosch, wandte er sich be reits ab. »Was?« rief Leeta überstürzt; sie wußte, wie Chems Verstand arbeitete, wenn ihn etwas stark beschäftigte. Nachdem er ihr — nach seiner Auffassung — alles mit geteilt hatte, was sie momentan wissen mußte, erübrigte er keine Zeit mehr für sie. »Verfluchter Kerl!« zischte Leeta halblaut, während sie sich abtrocknete und einen weißen, hautengen Dura-lonEinteiler überstreifte. Halbherzig betrachtete sie ihr Spiegelbild und lächelte. Da Jeffray nun aus ihrem Leben verschwunden war, verwendete sie mehr Aufmerksamkeit auf sich selbst. Einladungen zum Essen, zu Traumzirkeltreffen sowie anderen Aktivitäten schmei chelten ihrem Ego.
Sie griff sich ihr Jäckchen und lief zur Tür hinaus, hörte sie noch ganz leise hinter sich zufallen. Sie rannte fast durch den Korridor, ein mindestens unschickliches Verhalten. Aber was sollte es! Irgend etwas stimmte nicht. Chem hatte genau den entsprechenden Ausdruck im Gesicht gehabt. Schwungvoll stieß sie die Tür zu Chems Büro auf, schaute den alten Professor an. Er lag mit geschlossenen Lidern auf der Couch und konzentrierte sich auf die Informationen aus seinem Kontaktron. Gefrustet verdreh te Leeta die Augen und hob ein zweites Gerät von der Wand. Sie introierte sich ins System und kontaktierte Chem. Er übermittelte ihr eine Datei. Neugierig nahm Leeta Einblick und lehnte sich zurück; gleich darauf röte te Faszination ihr vor Aufregung die Wangen. Kaum hatte sie mit der Sichtung der Daten richtig an gefangen, bemerkte sie Chems hartnäckiges Signal, mit dem er Beachtung forderte. Statt mit ihm innerhalb des Systems zu kommunizieren, entfernte sie ihr Kontaktron und wartete. Er schob sich das Gerät in den Nacken und massierte seine Schläfen. »Was halten Sie davon?« Ein andeu tungsweises Lächeln verzog ihm die Lippen; wirre Haarbüschel, grau wie Stahlwolle, standen ihm vom Kopf ab. »Mehr hat die Projektil nicht empfangen? Sehr schade. Ich habe von dem, was Oberst Ree als verstümmelten Text aufgefaßt hat, der Linguistik eine Kopie zugeleitet. Ich wette, es ist eine alte uramerikanische Sprache.« Leeta schenkte ihm ein süffisantes Grinsen. »Ich glaube, gerade hat meine Mutmaßung sich bestätigt.« Chem nickte, befaßte sich in Gedanken mit den Daten. »Sie haben die Auftragserteilung gesehen. Der Direktor wünscht, daß wir die Expedition leiten. Soweit ist alles Routine. Wir wissen nur noch nicht, ob’s Stationsoder Planetenbewohner sind. Die Störungen, die die Sonde
festgestellt hat, verweisen wohl darauf, daß die Funkwellen ...« »... eine Atmosphäre durchquert haben.« Leeta nickte. Soviel war völlig klar gewesen. Vielleicht hatte sie die Zeit mit Jeffray doch nicht ganz umsonst verbracht. Einmal hatte er ihr gezeigt, wie man einen Transduktor baute. »Was machen wir als nächstes?« fragte sie. Chem, der noch immer angestrengt überlegte, rieb seine altersfleckigen Hände. »Glauben Sie, Sie können während meiner Abwesenheit meine Seminare übernehmen?« »Während Ihrer Abwesenheit...« Ungläubigkeit ver engte Leeta die Kehle. Chem warf ihr einen Blick leichter Irritation zu. »Na türlich. Sie erwarten doch nicht, daß ich nur ein paar Praktikanten hinschicke, oder? Dafür könnte der Fall zu wichtig sein.« Leeta bemühte sich um Beibehaltung eines gemäßigten, professionellen Tons. »Und wenn es Planetenbewohner sind? Wollen Sie dann die Anbahnung des Erstkontakts den Praktikanten überlassen?« Tu mir das an, Chem, und ich werde dir den Arsch aufreißen, das darfst du mir glau ben! Chems Stirnfalten vertieften sich. Leeta atmete auf: Der alte Knabe hatte bloß nicht richtig nachgedacht. Er hatte zu intensiv über den Daten gegrübelt. Wurde er neuer dings konfus, grenzte seine Zerstreutheit womöglich ans Senile? Bei dieser Spekulation kniff Leeta die Lider zusammen. »Ja wahrhaftig«, sagte er leise. »Ich hatt’s vergessen, Dr. Dobra.« Er lächelte freundlich. »Sie haben schon für den Feldeinsatz unter Gravitationsverhältnissen trainiert, nicht wahr?« »Ich hatte so eine Vorahnung, Sir.« Leeta erwiderte sein Lächeln und verzieh ihm. »Ich dachte mir, diesmal könn te es erforderlich sein. Kann sein, sie haben eine Station.
Falls ja, ist das für mich auch kein Problem. Ich bin zwar bloß eine untergeordnete Expertin, aber Sie haben mich ja so gut wie alles gelehrt, was Sie wissen.« Er nickte. »Eine sympathische Schmeichelei, liebe Leeta. Also werde ich eine Vertretung für Ihre Seminare suchen. Vielleicht Rodney Woo. Er ist ein heller Kopf, er müßte in Kürze mit seiner Dissertation fertig sein. Mit Studenten kommt er gut zurecht.« Laut räusperte sich Chem. »Wahrscheinlich ist es am besten, Sie rangen umgehend mit dem Zusammenstellen Ihres Teams an. Trödeln Sie nicht. Ich habe Ihnen die Information nicht gegeben, aber Leutnant Sarsas Blitzkorvette fliegt in zwei Tagen zum Rendezvous mit der Projektil. Ihnen bleibt also wenig Zeit. Besorgen Sie sich die Ausrüstung und alles, was erforderlich ist. Die Rechnung geht ans Direktorat.« Spontan beugte Leeta sich vor und küßte den Alten gerührt auf die Stirnglatze. Sie setzte sich aufrecht hin, stülpte sich das Kontaktron über den Kopf und machte sich daran, ihre Praktikanten zusammenzusuchen. Am folgenden Tag begegnete sie, während sie durch den Korridor eilte, Veld Arstong. »Veld«, rief sie, paßte sich seinen großen Schritten an. »Ich habe die Neuigkeit schon gehört.« Er grinste. »Du hast also deine vergessene Kolonie gefunden?« »Sieht so aus. Heute abend veranstalten wir in meinem Büro eine Fete. Willst du auch kommen? Es sind nur ich und die Abteilung da. Du wärst bestimmt gerne gesehen. Du könntest einige der Leutchen kennenlernen, die an der Expedition teilnehmen.« Sie schenkte ihm ein herzliches Lächeln. »Ich komme gern.« Fröhlich nickte Veld, doch dann zögerte er. »Ahm, vielleicht sollte ich’s aber besser nicht. Du weißt, ich arbeite mit Jeffray zusammen. Es wäre mir unangenehm, wenn er ...« Leeta tätschelte ihm die Schulter. »Ach, hör auf, du
warst der einzige, der meine Ansichten unterstützt hat. Darum sollst du jetzt auch mit uns feiern. Jeffray und ich sind miteinander fertig. Das ist ‘n abgeschlossenes Kapitel, Veld. Jeffray wird sicher nicht sauer sein.« Sie hoffte, daß sie überzeugend wirkte. »Also ... Na gut, ich komme«, willigte Veld ein. »Soll ich was mitbringen?« »Eine Flasche deines Lieblingsgetränks.« Leeta lachte. Inzwischen war das Projekt zum häufigsten Ge sprächsthema der Abteilung geworden. Leeta hatte schließlich drei der fähigsten Graduierten ausgesucht: Marty Bruk, Physio-Anthropologe; Netta Solare, Kul turspezialistin; und Bella Vola, Linguistin mit Kenntnis alter uramerikanischer Sprachen. Den Rest des Teams wählte Dr. Chem in Rücksprache mit den Ressorts Planetologie, Botanik, Zoologie und anderen Abteilungen aus. Aber der wichtigste Aspekt der Expedition unterstand Leeta. Die Studenten — für eine Party immer zu haben — tra fen früh ein. Rita Sarsa schmunzelte, als sie hereinkam. Ihr durchtriebenes Lächeln wich einer ernsten Miene, als sie, während sie die Gesichter der Anwesenden musterte, den gutaussehenden Rodney Woo bemerkte, und irgendwie schaffte sie es, unverzüglich seine volle Aufmerksamkeit zu beanspruchen. Veld trat ein; er wirkte unter den lautstarken Anthro pologen etwas fehl am Platz. Techniker zählten im all gemeinen zu einem feingeistigeren Schlag und neigten weniger zu sozialen Auswüchsen. »Leute«, rief Leeta. »Ich möchte euch ‘n Verbündeten von der Technikerseite vorstellen. Das ist Veld Arstong. Er hat auch geglaubt, daß dort irgendwo ‘ne vergessene Kolonie sein kann. Beifall!« Der ganze Haufen Gäste brach in Jubel aus, Pfiffe, Johlen und Grölen erscholl. Veld schwang die Flasche, die er dabei hatte, und grinste; ihm blieb kaum eine gangbare
Alternative. »Tolle Begrüßung«, kommentierte er gedämpft aus ver preßtem Mundwinkel zur Seite. »Mit diesen ... diesen Barbaren hast du zu tun?« In der Mitte des Lesezimmers hatten die jüngeren Studenten einen Kriegstanz begonnen. Enthemmt hüpften und heulten sie, achteten jedoch zumindest ein wenig dar auf, keine Gläser mit Bier, Wein oder Whiskey umzuwer fen. »Hat Jeffray dir nie was über uns erzählt?« Leeta lach te, nahm Veld am Arm und machte ihn mit den Größen der Anthropologischen Fakultät bekannt. »Er hat bloß erwähnt«, antwortete Veld leise, nachdem Leeta ihm einen angesehenen Kollegen vorgestellt hatte und bevor sie sich dem nächsten zuwandte, »ihr wärt alle ‘n bißchen abartig.« »Gehören Sie zu Leetas Team?« erkundigte sich Netta Solare, indem sie Veld die Hand drückte. »Ich bin Techniker.« Er lächelte, besah sich die Farbe in ihrem Gesicht. »Ist das ‘ne neue Mode?« wollte er wissen. »Das?« Überrascht stutzte sie. »I wo, nein, das ist ‘ne alte Maoribemalung. War früher auf der Erde im Bereich des Pazifiks verbreitet... vor ungefähr... äh ... achthundert Jahren. Ich habe sie zur Feier des Tages angelegt.« Sie wirbelte davon und schloß sich dem Kriegstanz an. »Bemalung von was?« fragte Veld in völliger Ratlosig keit. »Egal.« Leeta ergriff seine Hand. »Wir haben noch kei nen Techniker im Team. Hast du Interesse? Ich könnte deine Übernahme beantragen.« Veld schüttelte den Kopf. »Ich bin Stationsbewohner ... typischer Stubenhocker sozusagen. Außerdem bin ich nicht darauf versessen, von Wilden aufgefressen zu wer den. Ich kenne die Holos. Auch die alten mit dem großen Kochtopf und ‘m ähnlichen Tanz wie dem da.« Er deutete auf die Horde Studenten.
»Ach, Techniker ...«, stöhnte Leeta. »Ihr habt keinen Sinn fürs Abenteuer.« Veld bewies ihr das Gegenteil. Sobald er etwas von dem mitgebrachten Scotch getrunken hatte, paßte er sich dem Partygeschehen ziemlich gut an. Die meisten Bekannten Leetas akzeptierten ihn, und im Laufe des späteren Abends nahm er selbst an einem Kriegstanz teil. »Das hat Spaß gemacht«, sagte Veld, grinste und japste, als er sich aus dem Kreis von Studenten und Lehrpersonal absonderte, der wild umhersprang und -stampfte. Sogar Chem tappte im Gewimmel der Gestalten mit, die sangen und geheimnisvolle Laute ausstießen. »Ich glaube, mir reicht’s bald für heute«, gab Leeta zu. »Morgen muß ich früh loslegen. Übermorgen fliege ich schon nach Atlantis.« Leeta merkte, daß Leutnant Sarsa, einen Arm um Rodney Woos Taille geschlungen, mit ihm die Fete verließ. Nach der Körpersprache der beiden stand ihnen noch eine lange Nacht bevor. Dieser Gedanke erzeugte bei Leeta ein plötzliches Gefühl inne rer Hohlheit. »Atlantis?« wiederholte Veld. »Lag das nicht auf der Erde?« Leeta hob die Schultern, versuchte insgeheim, ihre Sehnsüchte zu ersticken. »Das stimmt... Eine unterge gangene Zivilisation, die im Meer versunken sein soll. Wir müssen unser Ziel ja irgendwie nennen. Das bezeichnet man als das menschliche Bedürfnis nach Sym bolisierung.« »Ach so.« Veld nickte tiefernst, zeigte damit, daß er nicht durchblickte. »Hast du... äh ... was dagegen, wenn ich dich begleite?« Als die Tür sich schloß und sie beide vom übermüti gen Lärmen im Büro abschnitt, umgab sie unvermittelt die Ruhe des Korridors. An der Wand hockte angelehnt ein volltrunkenes Studentenpärchen und schlief Arm in Arm.
»So was macht mich traurig«, flüsterte Leeta. »Bei mir hinterlassen sie eher den Eindruck, als wären sie glücklich und zufrieden«, meinte Veld, indem er ihnen aus der Nähe in die Gesichter guckte. »Das ist es ja, was mich traurig macht«, bekannte Leeta, klammerte sich an Velds Arm. Ursprünglich hatte sie nicht die Absicht gehabt, soviel zu trinken. »Ich schlafe nicht mehr gut, seit Jeffray und ich... Na, du weißt schon.« »Er ist auch nicht gut drauf«, sagte Veld. »Vermißt du ihn?« fragte er. »Nein!« gestand Leeta nachdrücklich, atmete dabei stoßartig aus. »Ich vermisse ihn nicht, und das ist auf gewisse Weise auch traurig. Aber Jeffray ist nur ein ...« »Trotz allem ist er ‘n ganz netter Bursche«, meinte Veld. »Er ist kalt wie ‘n Fisch geworden«, erklärte Leeta. »Ich begreife einfach nicht, was da schiefgelaufen ist.« Unterwegs versuchte sie, die an Jeffray beobachteten Veränderungen kurz zu beschreiben, im Gespräch den Sinn des Vergangenen zu ergründen. »Hier wohnst du?« fragte Veld, als Leeta schließlich vor ihrer Tür stand. »Komm rein«, sagte Leeta und zog ihn hinter sich in die Wohneinheit. »Ein Schluck mehr«, fügte sie sardonisch hinzu, »wird am morgigen Kater nicht viel ändern.« »Jedenfalls bist du inzwischen erheblich lebenslustiger geworden.« Veld grinste, als sie ihm ein Glas puren Whiskeys reichte. »Durchaus möglich«, antwortete sie versonnen. »Das kommt vom Freisein.« »Andererseits stimmt irgend was nicht mit dir.« Den Kopf seitwärts geneigt, runzelte Veld die Stirn. »Du bist ...« »Ich habe Angst, daß dort draußen« — Leeta vollführte eine Geste — »irgend etwas vorfallen könnte.«
»Du?« fragte Veld und trat näher. »Du und Angst? Ich hätte nicht gedacht...« »Ja, ich kenne auch Angst«, sagte Leeta leise. »Jeffray hätte ich das nie verraten. Er wäre zusammengeklappt. Er wäre ...« Veld nickte, als er sich vorbeugte, um sie zu küssen. »Du wirst mir doch nicht die Knochen brechen? Ich bin nun mal ‘n Stationstyp.« Leeta erwiderte seinen neugierigen Blick. War es das, was sie brauchte? In dieser Nacht des Triumphs einen war men Leib neben sich? Genügte es, wenn irgend jemand sie wärmte, und sie konnte wieder schlafen? In ihrem Innern klaffte die Einsamkeit wie ein Abgrund. »Ich versprech’s«, flüsterte sie mit heiserer Stimme. »Ich werde ganz zärtlich zu dir sein.« *
*
*
Der Ritt war lang und anstrengend gewesen. John Smith Eisenauges Wundschorf hatte sich verhärtet und gelöst, auf seinem Körper ein Kreuz und Quer von rosigen Malen hinterlassen, die auf seiner von der Sonne dunklen Haut Narben bildeten; die Narben würden bleiben und ihn immer an die Tage der Schmerzen und des Genesens erin nern, die sich dem Erlegen des Bären angeschlossen hat ten. Eisenauge ließ seinen Blick über die ausgedehnten Weiden schweifen, die gefleckten Rinder und die Pfer deherden. Wo waren die Wachen? Philip und Chester ritten als Beschützer des Alten, der steif im Sattel saß, an seinen und Eisenauges Seiten. Was von dem Alten zu erfahren gewesen war, hatte Eisenauges Verwandte verändert. Lange Tage des Ritts lagen hinter ihnen, manchmal hat ten sie dürsten müssen, während regelmäßig heiße Winde sie umwehten, vom Hunger waren sie hager geworden. Von Bären belauert und von Kälte gemartert, waren sie
halb benommen dem Propheten gefolgt, der ihnen — als einziger unbeugsam gegenüber allem Leid — den Weg wies. Und am Ende waren sie an den Strand eines anderen Meers gestolpert, das weit im Süden lag, nicht des Ostmeers, das Eisenauges Vorfahr entdeckt hatte. Nun kehrten sie als Gewandelte heim, von der Wildnis geprägte Männer, und in jeder ihrer von den Strapazen der Reise müden Mienen spiegelten sich nachhaltige Erinnerungen wider. John Smith Eisenauge ritt als Sieger zurück zu den Heimstätten seines Volkes. Philip ähnelte mit seinen schwermütig-ernsten, klugen Augen einer Säule der Macht, Chester, dessen sanftmütiges Gesicht von Wind und Sonne schmal geworden war, hielt den Blick gesenkt, unterließ es völlig, sich in der Umgebung umzuschauen, während er sich wegen der Ungewißheiten zermürbte, die ihn quälten. Nur der Prophet — ewig wie die Felsen — war unverändert ge blieben. »Ist das Rauch?« fragte Philip, deutete voraus, in den Augen einen Ausdruck von Betroffenheit. Eisenauge spähte in die bedeutete Richtung, strengte seine Augen an, um etwas erkennen zu können. »Es hat Krieg und Tod gegeben«, durchdrang die schwächliche Stimme des Alten die stille Luft. »Ein Cusp lag an. Die Santos hatten einen Entschluß ge faßt.« »Wie schlimm verhält’s sich, Prophet?« fragte John Smith. »Weshalb hast du uns nicht gewarnt?« »Es sollte sein«, entgegnete der Prophet im Tonfall der Endgültigkeit. »Ihr habt nicht anwesend sein sol len.« Weitere Fragen hätten nichts anderes als eine Abnut zung von Johns Kiefermuskeln bewirkt. Er spürte, wie sich sein Pulsschlag beschleunigte. Seltsame Dinge waren geschehen — und geschahen noch. Auf dem stetigen Weg nach Süden hatten sie weites
Grasland durchquert, und jeden Abend hatte der Greis ihnen die Geschichten des Volkes erzählt. Von einer Zeit auf der alten Welt namens Erde. Über die Art und Weise, wie das Volk lebte, jagte und kämpfte. Von Kriegen gegen den Weißen Mann, der später mit dem Volk ver schmolz. Wie die Sobjets den Weißen Mann besiegten, und ebenso die Mekkikaner, die Ahnen der Santos. Er erzählte vom Schicksal des Volkes während des Flugs zu den Sternen. Wie die Sobjets es ins Sternenschiff geführt und die Besatzung später beschlossen hätte, es ins All hinauszuwerfen, um es auszurotten. Das Volk hatte sich erhoben und die Sobjet-Mannschaft getötet, sie in Stücke gehackt und skalpiert, so wie es dem Brauch der Ahnen entsprach. Danach hatte das Volk viele Tage lang leiden müssen; das Sternenschiff war dauernd aus dem Weltraum hinaus und wieder hineingesprungen, während das Volk es flie gen zu lernen versuchte. Es gab weitere Tote; Angehörige des Volkes kämpften gegeneinander. Das Volk litt Hunger und Durst, aß vom eigenen Fleisch. Und schließlich brach te Spinne es nach Welt. Es wußte nicht, wo Welt war; doch irgendwie gelang es, das Sternenschiff am Rand eines Ozeans zu landen. Von dort aus zogen die Überlebenden ins Land, suchten sich eine neue Heimat. Einer der ersten Propheten hatte tief im Rumpf des Sternenschiffs die eingefrorenen Rinder und Pferde entdeckt. Einige davon überlebten das Auftauen; daraus entwickelten sich die Herden des Volkes. Ihre Ohren waren von den Worten des Alten trunken gewesen. Sie hatten gelauscht und genickt, waren eins mit dem Volk geworden, während sie die Geschichten hörten, die in vergangenen Zeiten ausschließlich die Medizinmänner hatten hören dürfen. »Warum erzählst du uns das alles, Großvater?« hatte Chester Armijo Garcia gefragt. »Es muß weiterüberliefert werden«, hatte der Greis
geraunt, den Blick zu den Sternen gehoben. »Wenn die Visionen zutreffen ... wird man einen von euch einen Propheten nennen. Nicht John Smith Eisenauge. Du wirst es sein, Chester Armijo Garcia ... oder du, Philip Smith Eisenauge. Nicht ich bin es, der zwischen euch entschei det. Blickt in euer Inneres und seht, was Spinne euch zum Geschenk gemacht hat. Schaut in eure Seelen. Was erkennt ihr?« Seitdem war keiner von ihnen mehr der gleiche; sie grü belten, sorgten sich und warteten. Sie ritten an einem niedergebrochenen Zaun vorüber. »Ein Überfall«, knirschte John Smith, während er die Fährten las. »Räuber waren hier und haben der Siedelei Pferde geraubt.« »Sie wissen, daß ein bedeutsames Ereignis bevorsteht.« Die Stimme des Alten hatte einen hohlen Klang. »Sie erfahren es von ihrem Propheten.« Verblüfft blickte John Smith Eisenauge hoch, fühlte sich allerdings nicht so betroffen, wie er es wohl früher gewesen wäre. »Die Santos haben Propheten?« In seinem Tonfall schwang eine Andeutung von Ungläubigkeit mit. »Sie sind Menschen wie wir.« Der Greis lächelte ein zahnloses Lächeln. »Sie haben nur einen Mann, den sie als Propheten bezeichnen. Schon vor Generationen hat er sich von den Vier Alten getrennt. Er behauptete, Gott hieße Herrjesses.« John Smith saß wieder auf, schob das Gewehr locker in die Hülle. Es war ein gutes Gewehr; er hatte damit schon zahlreiche Räuber erschossen. Gottes Name lautete Spinne. Tief in Gedanken versunken, setzte er den Ritt fort. Über der Siedelei hing dicker, übelriechender Qualm. Unmittelbar neben der Zufahrtsstraße lag ein Toter. John Smith sah die Blutverklebtheit des skalpierten Schädels. So handelte ein Mann auf dem Weg der Ehre. Spinne hatte einen Coup gewährt. Der Tote war kein Angehöriger des
Volkes; seine Kleidung war mit den Kreuzen der Santos verziert. »Weshalb haben sie ausgerechnet diesen Wohnsitz überfallen?« fragte ehester tonlos. »Wegen der Pferde, Rinder und Weiber«, brummte John. »Aus welchem anderen Grund sollten Männer so etwas tun?« »Sie suchten das Funkgerät«, sagte der Greis leise. »Das haben wir vorausgesehen. Sie wollen das Funkgerät, um die Anderen vom Himmel herabrufen zu können.« »Die Sobjets?« fauchte John Smith. »Kommen sie wie der?« »Nicht die Sobjets.« Philip Smith Eisenauge schüttelte den Kopf. »Andere. Hast du die Worte des Alten nicht gehört?« »Siehst du etwas?« fragte der Prophet, wandte sich Philip zu; in seinen Augen schimmerte Interesse. »Ich weiß es nicht...« Philips Stimme schwankte. Er blinzelte, als ginge in seinem Kopf etwas vor, das er nicht verstand. »Die Träume ...« Einen Kilometer weiter gelangten sie zum Fort. Die kleine, aus Balken errichtete Bastion stand mitten auf der Landstraße. »Wer da?« rief eine Stimme ihnen entgegen. »Ein Prophet!« erwiderte John Smith Eisenauge un wirsch. »Ich bin Eisenauge. Meine Begleiter sind Ver wandte. Den Alten seht ihr selber.« Ein Krieger sprang auf und kam vorsichtig näher, das Gewehr lockeren Griffs in den Händen. Am Muster seiner Umhängedecke erkannte man einen Angehörigen des Andojar-Clans. Er musterte den Greis, senkte dann den Blick. »Verzeihung, Großvater. Wir trauen niemandem.« »Ihr seid Gesegnete«, antwortete der Prophet, gab John ein Zeichen zum Weiterreiten. »Singt eure Loblieder.« Die Pferde suchten sich einen Weg durchs Labyrinth der Barrikaden. Zwei andere Posten schauten aus befestigten Gräben zu den Ankömmlingen auf.
Die Häuser waren flache Bauten mit Tonnendächern und nach Osten gewandten Eingängen. Dazwischen lag, in der Mitte der Behausungen, der graue Rumpf des Sternenschiffs. Obwohl es längst in den Untergrund einge sunken war, wußte jeder, es war einmal zwischen den Sternen geflogen. Es ruhte inmitten des Grüns der Felder wie eine graurückige Schildkröte. »Der Alte kommt«, rief Chester Armijo. »Der Alte kommt!« Sein Ruf wurde aufgenommen und breitete sich durch die ganze Siedelei aus. John Smith Eisenauge sah Männer und Frauen gebückt aus Türen treten, her überschauen, zum Gruß die Hände emporstrecken. Die Gesichter glänzten vor Freude. Doch sie widerspiegelten auch Wachsamkeit. Schon im Vorbeireiten bemerkte John Smith Eisenauge Anzeichen des Krieges. Waren die Räuber etwa bis ins Innere der Siedelei vorgedrungen? Von so etwas hatte man noch nie gehört. Keine Räuber hatten es je gewagt... »Haben sie das Funkgerät erbeutet?« erkundigte Philip sich plötzlich bei einem Mann. »Nein, aber fast wären sie zum Sternenschiff vorge stoßen«, lautete die Auskunft. »Wir haben sie zurückge schlagen. Aber die Alten sagen, daß sie vielleicht wie derkommen.« John spürte, wie er im Sattel ein wenig zusammensank. Mit einem solchen Empfang hatte er nicht gerechnet. Er hatte erwartet, bei der Heimkehr als Held gefeiert zu wer den. Ärger peinigte seinen Bauch. Die Räuber hatten ihm das angetan, von ihnen war er um die Früchte seines Siegs gebracht worden. Er merkte, daß niemand nur fragte, wo er gewesen sei, ballte die Hände zu Fäusten. Alle Augen des Spinnenvolks galten dem Greis. John Smith schaute sich um, sah den durchdringenden Blick des Propheten, dessen hutzelige Lippen ein andeutungsweises Lächeln zeigten, auf sich ruhen.
Der Greis trieb sein Pferd heran. »Was fühlst du? Glaubst du noch? Bedarfst du eines Schwitzbads? Mußt du dich an den Namen Gottes erinnern?« John Smith Eisenauge holte tief Atem. »Ich dachte, ich dürfte im Strahlenkranz des Ruhms heimkehren. Ich bin gewesen, wo noch kein anderer Mann hingegangen ist, aber werde keines Blicks gewürdigt.« Seine Stimme klang nach trotzigem Schmollen. »Du empfindest Mißmut?« Der Alte nickte, seine Au gen glitzerten wie bei einem Vogel. »Du verhältst dich wie ein namenloses Kind. So stolz bist du, Eisenauge? Du bist nicht reif genug, um dem Volk zu dienen, und zu unwert vor Spinne!« Die Heftigkeit und Schärfe der Worte des Propheten tra fen Eisenauge wie ein Blitz ins Gehirn. Er schrak zurück, als wäre ihm ein Faustschlag versetzt worden. »Erforsche deinen Geist«, sagte die rauhe Stimme des Propheten im Klang ihrer vollständigen Machtfülle. »Betrachte deinen Zorn. Zergliedere und untersuche ihn. Erkenne ihn als das, was er ist, Krieger. Wie kannst du kämpfen, wenn du deinen Zorn nicht wie einen Dolch benutzt? Würdest du dein Messer gegen dich selbst rich ten? Könntest du es gegen dein Volk wenden?« Beklommen schluckte John Smith, beugte sich im Sattel immer tiefer. Welchen Zweck verfolgte der Alte? Indem sie die Pferde an den Zügeln führten, betraten sie die staubige, offene Fläche zwischen dem auf ihrer Seite gelegenen Halbkreis der Häuser und dem Sternenschiff. Der Greis ritt ein paar Meter voraus, hob eine Hand. Gehorsam blieben John, Chester und Philip stehen. »Wo sind die Toten?« krächzte die Stimme des Pro pheten. »Dort sind sie.« Eine Frau des Andojar-Clans wies mit dem Finger. Die Leute wichen beiseite und gaben den Blick auf ein Holzgerüst frei, auf dem im Tod verkrümm
te Leichen lagen. Vielen sah man Verstümmelungen an. Der Greis winkte John vorwärts, seine dunklen Augen glommen im gräulichen Zwielicht der beginnenden Abenddämmerung. Die schwarze Stute tänzelte seitwärts, scheute offensichtlich den Haufen fauligen Fleischs, dem Eisenauge sich mit ihr näherte. Bei dem schwachen Geruch des Todes verengte sich Johns Nase. Noch war der Gestank nicht so schlimm ... Aber noch ein Tag, und man würde ihn weithin riechen können. Fliegen, die wie das Flimmern einer Dunstwolke über den Leichnamen schwebten und summten, flirrten durch einander, als er an das hölzerne Gerüst trat. Die erstarrten, verrenkten Gliedmaßen der Toten hatten ein unwirkliches Aussehen. Bei einigen begannen die Bäuche aufzuquellen. Eisenauge stellte fest, daß die Räuber viele skalpiert hat ten. Dort lag der Sohn von seines Vaters Bruder, eine Schußwunde in der Brust, auf der Umhängedecke geron nenes, schwarzes Blut. Hier lag Rabe O’Neal Andojar. Da Reuben Eisenauge Garcia. Gemeinsam mit ihnen war John Smith Eisenauge zum erstenmal auf den Kriegspfad gezogen. Sie waren tüchtige, tapfere Kämpfer gewesen. Einen nach dem ande ren besah John sich die Leichen; er kannte jeden der Toten. Und dann stockte auf einmal sein Herz. Die Zunge blieb ihm am Gaumen kleben. Mit steifen Bewegungen kauerte er sich nieder, betrachtete das blutverkrustete Haar eines zertrümmerten Schädels. Eckige Knochensplitter ragten aus der schwärzlich gewordenen Haut. Die Kehle war auf geschlitzt, die Eingeweide hatte man aus dem Leib geris sen. Zudem hatte man der Frau die Brüste abgeschnitten. Der Unterleib war verwüstet. Man hatte ihr ein Gewehr in die Vagina gestoßen und es abgefeuert. Sie war die letzte Tote in der Reihe aufgebahrter Opfer. Liebe? John krampfte sich zusammen. Wunderbare,
wahre Liebe? Pure Liebe, die kein Geben oder Nehmen brauchte? Nie erfüllbare Liebe? In der Tat hatte dieselbe Liebe ihn zu jenem fernen Meer getrieben. Verzagt streckte er eine Hand aus, zog das Pferd noch näher an das Totengerüst. Die Stute fing sich zu sträuben an, sie hatte die Augen weit aufgesperrt, blähte ihre Nüstern, warf den Kopf hin und her; zuletzt gehorchte sie doch. Eisenauges Finger strichen über das zerschlagene Ge sicht, streichelten die schon harten Lippen. Man hatte ihr die Augen aus dem Schädel geschält und grauenhaft leere Höhlungen zurückgelassen, in denen nun winzige weiße Maden umherkrochen. Anhand der Blutergüsse an den Schenkeln ersah John, daß man sie, bevor man sie tötete, lange geschändet hatte. Er schloß die Lider; der Verwesungsgeruch verursachte ihm Brechreiz. Unter seinem Herzen begann sich eine gewaltige Leere aufzutun. Sein Magen verkrampfte sich, die plötzliche Unabwendbarkeit des Übergebens überraschte John. Ohne daß er es verhindern konnte, stülpten seine Eingeweide sich schier um, und er erbrach — zu seiner Schmach vor den Augen des Volkes — seinen Mageninhalt zu Füßen der Leiche auf den Erdboden. Benommen fuhr er sich mit dem Ärmel über den feuch ten Mund und biß sich auf die Lippe, um das Zittern sei nes Kinns zu unterbinden. Ein letztes Mal schaute er die Tote an, dann wandte er sich dem Pferd zu. Jenny Garcia Smith war tot. Ihre Seele gehört Spinne. Ihr Körper war von Räubern mißhandelt, geschändet, zerschlitzt, zerfetzt und entstellt worden — von Santos. In seiner Umnachtung des Grauens erkannte John keine Gesichter mehr. Die Stute ging langsam. Johns Gehirn war wie betäubt, als hätten Entsetzen und Schmerz es gelähmt. Er strebte an der für seinen zeitweilig getrübten Verstand
formlos gewordenen Ansammlung von Leuten vorüber. Fast lief er sogar den Alten um; nur dessen schwache, piepsige Stimme drang ihm ins Bewußtsein. »Kehre zurück auf den Berg. Denk an die Worte, die wir heute gewechselt haben. Bereite dich vor. Nimm diese Männer mit. Einer von ihnen wird dir folgen. Einer wird zu mir umkehren. Sie werden dich an den Ort bringen, an dem du zu sein hast. Von dort an wird Spinne dich leiten. Das Schicksal des Volkes liegt in deiner Hand. Geh! Durchschaue deinen Zorn. Verstehe deinen Schmerz. Ich habe gesprochen.« Der Alte hob die Hand zum Abschiedsgruß und schickte John Smith Eisenauge mit einem Wink fort. Eisenauge erfuhr nie, ob er selber die Stute antrieb, oder ob sie aus Instinkt den anderen Pferden folgte. Er spürte, wie er ritt, entsann sich verschwommen an flüch tige Bilder von Häusern, Feldern und Kriegern mit Gewehren und grimmigen Mienen; und an den Schmerz des Volkes. * * * Die schnelle Blitzkorvette war nicht auf Reisekomfort angelegt, sondern ausschließlich für hohe Geschwindig keit konstruiert worden. Der Innenraum war beengt. Die Gravo-Abschirmung zum Schutz der empfindlichen menschlichen Passagiere konnte bis zu 40 Ge Beschleu nigung kompensieren. Flog der Autopilot allein, entwik kelte das Schiff einen Schub von über 100 Ge. Leeta Dobra lag in der schmalen Klappkoje und dachte über die erlebten Abschiede nach. Die größte Überra schung war gewesen, als Assistenz-Direktor Semri Nawtow persönlich anordnete, daß Chem die Expedition begleiten sollte. Am Tag der Abreise waren die ersten Fotos eingetrof fen. Leeta hatte sie rasch durchgesehen und sie anhand eines Duplikationsprogramms vom Bordcomputer repro
duzieren lassen. Die Signale kamen ganz offenbar von einem Planeten. An ihrem Ursprungsort gab es keine Station; es verhielt sich, wie sie es von Anfang an vermu tet hatte. Die einzige wirklich schwierige Situation war ent standen, als Jeffray gesehen hatte, wie Veld Arstong ihre kleine Wohneinheit verließ. Veld hatte gezögert, gelächelt, etwas Unverständliches genuschelt — und war gegangen. Sie hatte sich an die Wand gelehnt, die Arme ver schränkt und Jeffray auf herausfordernde Weise ange schaut. Er hatte ein kleines Päckchen dabei gehabt; sie hatte geahnt, daß es sich dabei um ein Geschenk han delte. »Ich wollte dir bloß alles Gute wünschen«, hatte er schließlich gesagt, leicht gestammelt, als hätte er eine aus gedörrte Kehle; in seinen hellen Schwächlingsaugen hatte Weinerlichkeit gestanden. »Vielen Dank, Jeffray.« Wie schwer war es ihr gefallen, das zu sagen. Niedergeschlagen hatte er weggeschaut und sich ebenfalls getrollt. Sie hätte ihm nicht nachspionieren sollen; aber auf jeden Fall, sie sah, wie er das kleine Geschenk am Ende des Korridors in den Müllkonverter warf. Veld. Wieder ein Techniker. Was besagte das in bezug auf ihre Persönlichkeit? Angeödet schnitt Leeta eine Grimasse und schwang sich aus der Koje. »Keine Männer mehr«, faßte sie einen Vorsatz. Nicht daß sie schon viele gehabt hätte. Nur Jef fray und Veld. Als Teenager war sie viel zu stark mit dem Studium beschäftigt gewesen, um ihre Sexualität ausleben zu können. »Ich schwöre ab«, murmelte sie leise. Die Andeutung eines Lächelns verzog ihre Lippen. Sie erinnerte sich an einen Studienkollegen, der sich sehr große Mühe gegeben hatte, um sie zu erobern. Das Ende war gewesen, daß er sie nur noch >Eiserne Jungfrau< nannte. Sie ging an die
Kommu, setzte das Kontaktron auf, um die bisher gesam melten Informationen nochmals zu sichten. Die Daten über Mexico, Amerika und die uramerika nischen Bevölkerungsgruppen, von denen man annahm, daß sie an Bord der Nikolai Romanan vertreten gewesen waren, lieferten erstaunliche Aufschlüsse. In den Texten, die von der Sonde übermittelt wurden, hatten sich ein außerordentlich hilfreicher Hinweis gefunden. Bella Vola hatte die Sprache versuchsweise auf Arapa-ho-Sioux ein gegrenzt. Wenigstens hatten die wichtigsten Vokabeln da ihren Ursprung. Der Rest der Sprache umfaßte eine reich haltige Mischung aus Spanisch und Englisch. Inzwischen bezweifelte niemand mehr, daß man eindeutig den Verbleib des sowjetischen Raumschiffs geklärt hatte. »Dr. Chem möchte mit Ihnen sprechen«, teilte die Kommu der Blitzkorvette Leeta per Lautsprecher mit. »Durchschalten.« Leeta hockte sich auf die Koje und richtete den Blick auf den Monitor. Auf dem Bildschirm erschien Chems blühend-rosiges Konterfei. »Haben Sie Zeit für eine Teamsitzung?« er kundigte er sich. »Ich bin der Meinung, wir sollten damit anfangen, über den Arbeitsplan zu diskutieren. Es bleibt uns mindestens noch ein Monat Zeit, bis wir auf Atlantis anlangen. Damit haben wir ausreichend Gelegenheit, um uns hinsichtlich des Verfahrens jede denkbare Alternative zu überlegen.« »Einverstanden«, sagte Leeta zu. »Wollen wir uns im Kasino treffen? Ich würde lieber eine persönliche Be sprechung haben anstatt eine Kommu-Konferenz.« Er nickte knapp, und sofort, wie es für Chem typisch war, erlosch der Bildschirm. Leeta seufzte. Chem stand unter erheblichem Stress. Das Projekt mußte auf einem Planeten durchgeführt wer den. Seit über zweihundert Jahren war es das erste Forschungsunternehmen dieser Art. Und Chem würde im Orbit bleiben müssen, im Raumschiff. Er gab nicht mehr
als einen Repräsentanten ab, einen Fachberater. So etwas mußte ihm einfach weh tun. Das Kasino war überfüllt, als sich alle versammelt hat ten. Die Mehrzahl der Anwesenden waren als Zuhörer zugegen. Auch die Planetologen würden ihre Arbeit aus der Kreisbahn erledigen. Dagegen sollten die Zoologen und Botaniker die Oberfläche des Planeten aufsuchen, um eine querschnittweise Auswahl von Tier- und Pflanzenexemplaren zu besorgen. Die wichtigste Aufgabe fiel der Anthropologie zu, und das hieß: Leetas Team. »Als erstens«, sagte Chem zur Einleitung, »lassen Sie uns über unsere Möglichkeiten reden. Ich weiß, daß Sie alle schon seit Tagen über diese Fragen nachdenken, aber wir wollen unsere Ansichten jetzt auf den Tisch legen und durchsprechen.« Leeta nickte. »Wir werden wissenschaftlich anerkannte Methoden der Kontaktherstellung anwenden. Es mit einer ähnlichen Methodologie versuchen, wie Parker sie auf Aristan erprobt hat.« »Das war allerdings vor drei Jahrhunderten«, gab Marty Bruk mit gefurchter Stirn zu bedenken, das bullige Gesicht angespannt vom Überlegen. Leeta zuckte die Achseln. »Wieso sollte sie hier un brauchbar sein? Es ist eine bewährte Methodologie. Sie ist jahrelang als Form des Tauschhandels benutzt worden. Es gibt ...« »Entschuldigung«, unterbrach sie der Planetologe. Der Kürze halber rief man Szchinzki Montaldo nur Monti. »Wovon reden Sie überhaupt?« Leeta lachte. »Verzeihung. Nach der Parker-Methode hinterläßt man Gebrauchsgüter an Stellen, wo die Sub jekte — in diesem Fall die Atlanter — sie finden. Als Er gebnis dieser Geschenke spricht sich herum, daß irgend jemand in der Umgebung besondere Gegenstände ver teilt. Während sie sich daran gewöhnen, fangen wir da mit an, uns gelegentlich sehen zu lassen, wobei wir uns
immer freundlich verhalten und neue Geschenke ma chen. Dadurch erziehen wir die Leute dahin, keine Furcht vor uns zu haben. Es baut eine Brücke der Freundschaft, die ...« »Haben Sie so was schon mal praktisch durchgeführt?« fragte Montaldo unumwunden. »Äh ... nein.« Chem vermittelte den Eindruck von Selbstgefälligkeit. »Wenigstens nicht im Laufe der letzten Jahrhunderte.« »Wir machen uns keine großen Sorgen«, sagte Netta in beinahe herablassendem Ton. »Für solche Fälle sind wir ja ausgebildet worden. Wir sind Experten.« Chem nickte, und Leeta widmete dem Planetologen ein gutmütiges Lächeln. Er zog die Schultern hoch, zuckte die Achseln; man merkte ihm an, daß sie ihn nicht überzeugt hatten. In dem Schweigen, das sich dem Wortwechsel an schloß, hob Marty Bruk den Blick. »Werden uns Boden fahrzeuge zur Verfügung gestellt? Ich würde gern ein Labor aufbauen. Vielleicht können wir durch Luftbeob achtung eine Begräbnisstätte ausfindig machen und uns ein paar Leichen holen. Je eher wir grundlegende physi sche Daten kompiliert haben, um so besser wird sich die Arbeit fortsetzen lassen.« Chem räusperte sich. »Die Patrouille wird uns behilf lich sein«, sagte er. Ein Thema nach dem anderen wurde angesprochen und abgehandelt. Es klappte alles völlig reibungslos. Leeta empfand innerlich satte Zufriedenheit. Es verhielt sich tat sächlich so, wie Netta klargestellt hatte: Sie waren Profis. Nachdem sie lange Zeit niemand in den Einsatz geschickt hatte, tat es gut, zu sehen, daß die Planung mit lehrbuch mäßiger Perfektion ablief. »Ich habe Hunger«, hörte sie Bruk äußern. »Essenspause!« ging Chem sofort darauf ein. Er hatte sich ein Kontaktron übergestülpt, ohne Zweifel, um seine
Datei um einige Notizen zu ergänzen. Mit lautem Füßescharren standen die Versammelten auf. Manche gaben ein Räuspern von sich, andere hu steten. Einige reckten die Glieder. »Ich nehme an, es wird schon gutgehen«, hörte Leeta eine halblaute Bemerkung Montaldos, »aber keiner hat gesagt, was zu tun ist, falls diese Leute erst schießen und dann Fragen stellen.« Leeta unterdrückte ein Auflachen. Guter Gott, wie naiv konnte man eigentlich sein? Das sind Menschen ... So wie wir. Was für ein abwegiger Einfall, daß sie gewalttätig sein könnten. Seit drei Jahrhunderten verzichteten die Menschen nun schon darauf, sich gegenseitig umzubrin gen. Die Spezies war endlich darüber hinausgewachsen.
5
Die Zeit schien stillzustehen. John Smith Eisenauge hielt sich auf seiner knochigen Rap penstute fest und schwankte im Rhythmus ihrer Gangart. Die Stute ließ den Kopf hängen; sie stolperte vor Müdigkeit, Chester und Philip warfen Eisenauge wie derholt achtsame Blicke zu, während sie sein Tier in die Richtung der Höhenzüge führten. Jenny Garcia Smith war tot. Nein, es konnte nicht sein ... Es war schwer zu glauben. Doch er hatte den entstellten Leichnam gesehen und gefühlt. Wie brutal war sie, die Wehrlose, Zierliche, so voller Liebe und Leben, am Ende ausgelöscht worden. Ihr für immer verlorenes Lächeln zermarterte Eisenauges Seele. Die Gesetze des Volkes hatten ihm die Liebe zu ihr untersagt. Sie hätte einen anderen Mann heiraten müssen. So schrieben die Sitten des Volkes es vor, war es Gesetz, wie Spinne es verkündet hatte — und Spinne war Gott. Von der Zeit an, als sie beide noch Kinder gewesen waren, hatte John ein Schwellen innerer Wärme gespürt, immer wenn Jenny in seine Nähe kam. Er erinnerte sich an ihre Art des Gehens, ihre Anmut, nie tat sie einen Fehltritt. Die Haut ihrer Arme war straff und glatt gewesen, man hatte darunter das Muskelspiel sehen können. Die Weise, wie ihr Lächeln ihre Wangen anhob, hatte in dieser vergangenen Zeit sein Herz mit Glück erfüllt. Ihr herzliches Lächeln hatte ihre regelmäßigen, weißen Zähne entblößt, sobald sie ihn erblickte. Er hatte ihr das Verlangen angemerkt, es in ihren Augen gelesen, an der Haltung ihres Körpers erkannt. Dann war sie jedesmal errötet, sie hatte gewußt, daß sie ein verbotenes Geheim nis gemeinsam hatten.
Er sah ihre kräftigen Arme vor sich, wie er sie gesehen hatte, wenn sie mit einem Packen Häute oder Fleisch auf dem Rücken von den Weiden heimgekommen war; er hatte das verlockende Schaukeln ihrer Hüften beobachtet, das Schwingen ihrer wundervollen Beine. Sie hatte den Kopf leicht zur Seite gewandt und ihm ein verstohlenes Lächeln geschenkt. Verfaulendes Fleisch! Mehr war sie jetzt nicht mehr. Der Prophet hatte gewollt, daß er sie in diesem Zustand erblickte. Über den Leichnam waren Fliegen geschwirrt. Von allen Geschöpfen, die man von Erde nach Welt mitge bracht hatte, waren sie am schlimmsten. John Smith Eisenauge hob die Hände und rieb die Fingerspitzen aneinander, fühlte noch einmal, wie kalt ihr Gesicht gewesen war; rauhe, ausgezackte Knochensplitter hatten seine Haut geschrammt. Die Lippen waren steinhart gewesen, und in den leeren Augenhöhlen hatten sich Maden gemästet. Seine Trauer vertiefte sich; sein Brustkorb wogte auf grund des immer stärkeren Wunschs, weinen zu dürfen. Aber ein Krieger des Volkes weinte nicht wie ein Weib oder ein Kind. Nicht einmal um eine so wunderbare Lie be, wie er sie zu Jenny gefühlt hatte. Sie war tabu gewe sen; eine Verwandte. Wäre sie am Leben geblieben, hätten sie beide sich bis ans Ende ihres Daseins kennen können, ohne sich je zu heiraten; das war ihnen vollständig klar gewesen. John blickte auf fast dreißig Sommer zurück, während sie fün fundzwanzig Sommer erlebt hatte, bevor die Santos kamen, sie gefoltert, vergewaltigt und ermordet hatten. Er, ein ehrbarer Krieger des Volkes? Sein Clan hatte ihn schon öfters gescholten, weil er sich nicht mehrere Frauen hielt. Jenny hatte in der unbekümmerten Weise, die sie beide auszeichnete, darüber Scherze gemacht, daß er dem Volk keine Kinder bescherte. Denn jedesmal, wenn er gegen Räuber gekämpft, mit
dem Gewehr Bären gejagt, auf den richtigen Moment zum Erlegen der riesigen Bestien gewartet hatte, war es aus Verzweiflung geschehen, daß er seinen Hals riskierte. Jedesmal, wenn er auszog, war es, um Medizin zu erlan gen, war es die Folge seiner verbotenen Liebe gewesen. Dem Tod zu trotzen machte ihn stark. Hinter seinem Rücken tuschelten die Leute, fragten sich, warum er nicht war wie andere Menschen. Allerdings schauten sie ihm nicht in die Augen und sagten ihm ihre Meinung ins Gesicht. So etwas hatte nur Messerfehden zum Resultat. Einmal hatten sie ihn bei einer Messerfehde erlebt. Er hatte Patan Reesh Gelbes Bein ohne Gnade, in tobsüchtiger Wut und grausam getötet. Danach war er zum Lager hinausgeritten, um für den Geist des Toten, wie es Brauch war, zu beten. Als er seine Medizin erhielt, brach te Patan Reesh Gelbes Beins Seele sie ihm, hatte ihm ver ziehen. »Hier werden wir schlafen«, entschied Chester Armi-jo Garcia. »In der ersten Nachthälfte werde ich Wache hal ten. Es könnten Santos in der Gegend sein.« Philip schüttelte den Kopf. »Ich glaub’s nicht. Ich glau be, sie sind fort. Ich... kann’s nicht genau sagen. Ich ... ich hab’s irgendwie im Gespür.« Er schnitt erneut eine düste re Miene und wirkte, als lauschte er auf irgend etwas in seinem Kopf. Ins Grübeln versunken, saß John Smith Eisenauge ab und pflockte zerstreut das Pferd an einer Stelle an, wo es Gras knabbern konnte. Er wickelte sich in seine Dek-ke und suchte Trost im Schlaf. Jennys Bild geisterte durch seine Träume, verfolgte ihn, und seine Seele klagte die ganze lange, frostige Nacht hindurch. Vier Tage später näherten sie sich den entfernten, hohen Bergen. Chester entdeckte im Windschatten der Felsklippen einen kleinen, zum Lagern geeigneten Winkel, den die Abendbrisen, die vom hinter ihnen gelegenen Meer heran
wehten, nicht erreichten. »Du hast sie sehr geliebt«, sagte Philip mit sanfter, teil nahmsvoller Stimme. »Darüber darf nicht gesprochen werden«, entgegnete John, fragte sich, wieso sein Magen schon so lange keine Nahrung mehr verlangte. »Ich kenne dein Leid.« Philip machte ein kummervolles Gesicht, neigte den Kopf zur Seite. »Ich fühle es ... hier.« Mit den Fingern berührte er seine Stirn. »Dann mußt du es sein, von dem der Alte gesprochen hat«, meinte Chester mit dem für ihn eigentümlichen, stil len Lächeln. »Du wirst Prophet sein. Mein Verwandter geht von mir.« Chesters Worte hatten einen unsicheren Klang, infolge der Gedanken und Gesichte im eigenen Kopf hatten seine Augen einen Ausdruck von Hohlheit. »Ich fürchte mich«, gestand Philip leise. »Ein Mann des Volkes — und Furcht?! Das denke dir einmal! Ich habe gegen Räuber gekämpft und bin ihnen mutig entge gengetreten. Ich habe einen Verwandten mit einem Bären ringen sehen und bin mit ihm durch fremde Landstriche bis ans ferne Südmeer gereist, und doch fürchte ich jetzt um mein Wohl.« Er sprach in zunehmend gepreßtem Ton, in seinen Augen schimmerte Panik. Chester nickte. »Ich weiß«, raunte er heiser, kaum hörbar. »Wir haben alle unser Heil verloren, Vetter«, sagte John Smith, hob eine narbige Hand und faßte den Verwandten an der Schulter. Sie hockten ums Lagerfeuer und schauten in die Flammen, die aus den Korkstrauchästen züngelten, die Chester als Brennstoff genommen hatte. Goldgelber Lichtschein flackerte über ihre ausdruckslosen Mienen und eingesunkenen Augen. Jeder hing seinen Gedanken nach. Jeder stellte Spinne stumm eine Frage. John Smith Eisenauge brach als erster auf. Vorsichtig erstieg er den höchsten Felsturm, den er in weitem Um kreis finden konnte. Er legte seine gefaltete Decke auf den
Stein und blickte zu den zwei gerade sichtbaren Monden empor. Er betete und sang, obwohl er vor Erschöpfung zit terte. Die Morgendämmerung rückte heran. Während die Sonne heiß den Himmel erklomm, setzte er den Ritus fort, er betete, bis er heiser war, sang das Lied, das er angestimmt gehabt hatte, als er den Bären tötete. In der ersten Nacht kam seine Medizin zu ihm. Ein junger Mann erschien, schritt durch die Luft, sang wäh rend des Näherkommens. Der junge Mann lächelte ihm zu, machte über seinem Kopf das Zeichen des Grünen Schnitters, sprach jedoch kein Wort, verschwand schließ lich in einer Wolke. An darauffolgenden Abend betete er wieder, und des Nachts sah er in den Träumen seines Schlummers Jenny, wenn er wach war, litt er Schmerz und Trauer. Und am nächsten Tag kam durchs Hitzegleißen Welts erneut Gelbes Bein zu ihm und erzählte ihm noch mehr über Kriege, Schlachten und Kämpfe, die bevorstanden. »Sei stark, Eisenauge.« Gelbes Bein lachte. »Im Duell gegen mich hast du leichtes Spiel gehabt. Aber die Men schen vom Himmel werden alle Listen anwenden.« »Ich muß gegen die Menschen vom Himmel kämp fen?« Verwirrt starrte John die Erscheinung an. »Sind es die Sobjets?« »Nein, aber sie werden dem Volk neues Unheil bringen. Du bist gewarnt.« Gelbes Bein lachte nochmals, dann flog er himmelwärts, hinauf zu den Sternen, die am östlichen Horizont zu glimmen anfingen. John Smith Eisenauge schaute in tiefer Besinnlichkeit über die mit grünen, braunen und gelben Tupfern ge sprenkelten Plains aus, die das Volk seine. Heimat nannte. Fern über dem schmalen Silberstreifen, der sich vom Ozean erkennen ließ, ballte sich Gewölk. Das bauschige Weiß bildete einen augenfälligen Kontrast zum kräftigen Blaulila des klaren Himmels. In der Höhe stand Zweiter Mond.
Der rosarötliche Granit unter Johns Gesäß war hart, und er litt unter der Gluthitze der Sonne. Durst peinigte ihn, stellte ihn auf die Probe, sein Körper schrie nach Erlösung. Irgendwo war Spinne und beobachtete ihn, so wie er das ganze Universum beobachtete. Trotzig blickte Eisenauge in die lohend-heiße Glutscheibe des Himmels lichts empor. Tags darauf zeigte sich ihm der Bär, näherte sich durchs Schimmern der Hitzewellen, die vom Land aufwallten. Eisenauge betrachtete das Ungetüm, erkannte an der Färbung, daß es das Tier war, das er getötet hatte. Das riesenhafte Wesen sprach zu ihm mit Donner stimme: »Mein Blut hat deine Arme bespritzt, Mann von einem anderen Planeten. Mein Leben mußte geopfert wer den, damit deines um so stärker sei. Nutze die gewonnene Kraft gut. Mein Blut wird dir allzeit Kraft verleihen. Mag sein, ich werde eines Tages, solltest du ein falsches Leben führen und dich als unwürdig erweisen, das meine von dir wiederholen. Vorerst jedoch bin ich dein. Bis dahin sei stark.« Und schon war der Bär fort. Die Stelle, wo die Krea tur gestanden hatte, war leer. John Smith Eisenauge runzelte die Stirn. War das dort ein Tropfen Bärenblut auf dem Stein? Er berührte das schwärzliche, klebrige Zeug mit dem Finger, verrieb es sich auf dem fiebrigen Leib und fühlte, wie ihm Kraft zufloß. Er versuchte sich zu konzentrieren; seine Gedanken schweiften ständig ab. In seinem Delirium sah er lebendige Schatten übers Land kriechen, während die Sonne zum viertenmal, seit er in die Gebirgshöhen gestiegen war, den Himmel überquer te. Mit verschwommener Sicht spähte er übers heimatliche Flachland aus, sah hinter der Siedelei den dünnen Strich des Ozeans. »Betrachte deinen Zorn. Zergliedere ihn und untersu che ihn.« Die Worte des Propheten klangen in ihm nach.
»Würdest du dein Messer gegen dich selbst richten ? Könntest du es gegen dein Volk wenden ?« Ratlos zwinkerte John Smith, dachte an den Zorn, den er empfunden hatte. Seine Seele schwebte aus dem Körper empor und besah sich sein stoffliches Wesen von oben. Verbissen analysierte er die Wut, und die Gewalt, die im Haß stak, nötigte ihn zur Ehrfurcht. Er war eine Triebkraft. Er tötete. Er vernichtete. John drehte ihn in seinem Körper hin und her, ordnete ihn neu, arbeitete daran, ihn in eine Waffe umzuwandeln, bis er das Gefühl des Gelungenseins hatte. Das gleiche versuchte er mit der Trauer zu leisten. Aber sie wollte sich von seiner Seele nicht lösen, ganz als ob er daran hinge. Sein erstickter, abgehackter Schrei des Grams lähmte ihm die zerquälte Seele. »Du hast dich nicht geläutert, Bruder.« Er blinzelte in die Sonne und sah vor sich auf dem Fels die schlanke Gestalt Jenny Garcias stehen. »Ich...« Infolge des Dursts vermochte er zunächst nicht zu sprechen. »Du bist tot«, krächzte er schließlich aus aus gedörrter Kehle. »Nur mein Leib ist es, Bruder.« Sie lachte ihn an, ihre Stimme klang friedlich. »Man hat dir Leid angetan«, rief er und spürte, wie ihm Tränen kamen. »Man hat mir Leid angetan«, stimmte sie ihm im selben ruhigen Tonfall wie vorher zu. Die Tränen brannten in Johns verschleierten Augen wie Säure. Jenny strich sachte über seine Stirn, ihre kühle Hand wischte die Pein fort. Die Kühle sickerte aus ihren zarten Fingern in seinen Körper, verursachte ein Prickeln, bereitete ihm ein belebendes Gefühl freudiger Erregung. »Ich liebe dich«, flüsterte er, die Lider geschlossen, während er merkte, wie Kummer und Schmerz aus seinem Wesen fortgespült wurden. Sie hatte inzwischen die Hände gesenkt, betastete seine Lenden. Aufgrund ihrer zärtlichen
Berührung versteifte sich sein Glied. »Und ich liebe dich, Verbotener«, wisperte sie ihm leise ins Ohr. »Ich bin gekommen, um deinen Körper zu läu tern. Ich werde ihn von dem reinigen, was in ihm schwärt. Unter deinem Herzen hat sich ein Gift der Seele festge setzt. Wenn ich mein Werk verrichtet habe, wird der Schmerz deiner Gewalt unterstehen.« Er fühlte, wie sie sich auf ihn schwang. Kalte Flammen des Entzückens umstoben ihn, durchkribbelten mit elektri schem Feuer seinem Körper, während sie ihn vom Schmerz erlöste. Der Druck ihrer Brüste auf seinem Brustkorb übte auf ihn eine besänftigende Wirkung aus. Sein Glied drang in sie ein, glühte und pochte, bis sie in einem heißen, wonnevollen Emporschießen aufflammte, das seine Seele in einem phantastischen Tanz der Er füllung in höchste Höhen aufwärtstrug. Er hörte sich in wilder Selbstvergessenheit der Ver zückung schreien, während seine Gestalt in unbe-herrschbaren Lustkrämpfen zuckte. »Ich liebe dich, Jenny!« schrie er hinauf an den leeren Himmel. »Finde die Santos. Du mußt sie vertreiben. Du mußt sie vom Volk fernhalten, mein Bruder.« Ihre Stimme wirkte auf ihn beruhigend, er fühlte ihre Finger seine fiebrige Stirn streicheln. »Deine Bestimmung liegt zwischen den Sternen. Trenne von deinem kleinen Finger ein Glied ab. Mit diesem Opfer wird dein Schmerz verschwinden. Dadurch wird deine Kraft wachsen. Du wirst genesen und stark genug sein, um die Santos von unserem Land zu ver jagen. Aus weiter Ferne wird eine Frau zu dir kommen. Mache sie, wenn du es kannst, zu der deinen. Die Anderen können uns töten. Darum mußt du sehr vorsichtig sein. Du mußt glauben. Das Schicksal des Volkes hängt von dir ab. Der Weg, den du zu gehen hast, ist schwierig und tückisch. Selbst die Geisthelfer vermögen ihn nur schlecht zu erken nen. Unsere Stärken sind Klugheit und Kriegstüchtigkeit. Es muß einen Weg zum Sieg geben.« Im nächsten
Moment war sie verschwunden. Auf dem körnigen Felsuntergrund stemmte John Smith Eisenauge sich hoch, er fror ein wenig, während sein Same im Wind trocknete. Es war Nacht geworden. Im Norden, ungetrübt durch eine niedrige, zerfranste Wolkenbank, die heraufgezogen war, blinkten Sterne. Regen kündete sich an. Jennys Worte gingen ihm durch den Sinn. Er zückte das Messer vom Gürtel und legte seine linke Hand auf den Stein. »Trenne ein Glied deines kleinen Fingers ab«, mur melte er mit geschwollener Zunge. «Mit diesem Opfer wird der Schmerz verschwinden.« Die rasiermesserscharfe Schneide des Dolchs schnitt ihm in die weiche, braune Haut, als er die Mitte der Klinge über dem obersten Glied des kleinen Fingers ansetzte. Entschlössen sägte er tiefer, fühlte die Sehnen und Bänder sich teilen. Blut umfloß die Klinge. Er spürte Widerstand, als die Schneide auf Knochen traf. Indem er den Dolch hin- und herbewegte, fand er das Gelenk und trennte die Fingerspitze ab. Das Brennen der Verletzung steigerte sich zu heftigem Schmerz, während das mißhandelte Fleisch blutete, zer schnittene Nerven die Nachricht dem Gehirn zuheulten. Geistesabwesend umwickelte er den Stumpf fest mit einem Zipfel seines Hemds. Beiläufig nahm ein Teil seines Bewußtseins die Beschwerden zur Kenntnis, bewertete ihn als Angelegenheit des Körpers, nicht der Seele. So waren sie leichter zu ertragen. Nun konnte Jennys Geist gehen. Seine Liebe würde nicht sterben; aber von nun an vermochte er mit ihrem Verlust zu leben. Plötzlich flimmerte die Wirklichkeit. Er klammerte sich an den harten, unnachgiebigen Fels, um Halt zu haben. Sein Magen bäumte sich auf und versuchte, obwohl er leer war, zu erbrechen. In seinem Elend rannen ihm dicke Tränen die Wangen hinab, als ein anderer Teil seines Bewußtseins durch
Finsternis und verwaschenes Wallen hundert Feuer er blickte, die in der Nacht flackerten. An den Feuern saßen, unter ihre Decken gekauert, die Santos. Ein hoch gewachsener Krieger erhob und reckte sich, schaute sich nervös im Lager um. Endlich verhielten seine schwarzen Augen und sahen John Smith Eisenauge an. »Ich habe dein Weib umgebracht, Spinnenkrieger. Und vorher habe ich sie mit meinem Samen gefüllt.« Der Mann grinste. »Sie hatte kaum Kraft, gegen mich war sie wehr los ... gegen mich, den Großen Mann von den Santos.« Mit dem Daumen wies er sich auf die Brust, in seinen Augen glitzerten Triumph und Herausforderung. »Ich werde dich töten«, knurrte John Smith Eisenauge, musterte das bärtige Gesicht, prägte sich die stämmigen Schultern und den sorgfältig verzierten Kriegsrock ein. An den Schultern baumelten Pferdeschweife, und um den Hals hing dem Mann ein frischer menschlicher Skalp, und John wußte, er stammte von Jenny. »Dein Haar wird neben ihrem hängen.« Laut lachte der hünenhafte Krieger, betastete am Griff des Dolchs, den er am Gürtel trug. John Smith taumelte hoch. »Ich werde dich töten!« schrie er zu dem nachtschwarzen Himmel empor. Großer Mann lachte nur verächtlich über Eisenauges Drohung und spie geringschätzig ins Feuer, stemmte trot zig die Fäuste in die Hüften. »Du wirst sterben!« brüllte Eisenauge, starrte in den höhnischen Blick des Kriegers. »Ich sehe, du hast eine Vision. Das ist gut.« Ein schee les Lächeln glitt über die bärtigen Lippen Großen Manns. »Mach dir eine taugliche Medizin, Spinnenkrieger. Die Wege der Propheten und der Krieger sind verschieden. Das Funkgerät interessiert mich nicht — aber dir werde ich den Tod bringen.« Er stieß einen johlenden Kriegsruf aus, der die Männer ringsum überraschte, auf die Beine scheuchte.
John Smith Eisenauge fluchte, seine Seele entflammte in Weißglut des Zorns. »Tod!« grölte er mit der vollen Kraft seiner Lungen. »Tod dir, Santos!« Ein Blitz knatterte, schlug im Osten zwischen die Felsen, während ein Donnerschlag gegen den uralten Granit der Gipfel rollte. Doch der Santoskrieger lachte nur. Wie durch ein Fin gerschnippen verschwand die Vision. Auf dem Fels zer spritzte wie ein kühler Vorbote naher Kälte ein großer Regentropfen. Weitere Blitze spalteten den Himmel, er hellten zerwühlte, zerfranste Wolken. »Tod«, raunte John Smith dem Gewitter entgegen. »Ich habe ihn gesehen. Es war wie eine Vision. So wie die Propheten sehen. Ich werde diesen Mann töten.« Ordentlich packte er seine Sachen zusammen und er richtete einen kleinen Steinhaufen, unter dem er die Fin gerspitze seiner linken Hand begrub. Dann machte er sich, das Gewehr in der Faust, an den gefährlichen Abstieg zum weit unten befindlichen Lager. Als er es Stunden später erreichte, war es nicht Che-ster, der ihn erwartete, sondern Philip. Sein jüngerer Verwandter hockte unter einem vom Ruß geschwärzten Felsübersprung, nährte das Feuer mit Zweigen. Die Feuerstelle lag hinter dem Tropfrand der Felsen. Philips Miene war angespannt, seine eingesunkenen Augen hatten einen übermüdeten Blick, als hätte er nicht geschlafen. Die Decke hatte er straff um die Schultern gezogen, wäh rend er in die Flammen stierte, als sähe er nichts. Böen peitschten John Regen auf Kopf und Rücken, während er sich umschaute. Die Pferde waren angepflockt und ruhten sich aus. Weil der Wind in die verkehrte Richtung wehte, hatte die Stute ihn noch nicht bemerkt. »Diese Achtlosigkeit könnte dich das Leben kosten, Vetter«, sagte John Smith leise. Plötzlich hob die Stute den Kopf und wieherte, es freute sie, ihn wiederzusehen. Philip hob den Kopf nicht. »Ich weiß, wo der Tod auf mich wartet«, antwortete er mit matter Stimme.
John Smith Eisenauge betrat den Unterschlupf und kramte einen Dörrfleischstreifen aus der Satteltasche. Wilder Hunger hatte ihn gepackt. John blickte auf. »Wo ist Chester?« Er merkte, wie ihm beim Aroma des Fleischs das Wasser im Mund zu sammenlief. Getrunken hatte er aus den Rinnsalen, die die Furchen der Felsen hinabschossen, soviel wie er konnte, sein ausgetrocknetes Körpergewebe hatte das Wasser auf gesaugt wie ein Schwamm. Philip ließ den Blick gesenkt, zog lediglich leicht die Mundwinkel herab. »Er ist fortgegangen, um einer der Alten zu werden.« Er vollführte die Geste, die >vorbei< bedeutete, zeigte an, Chester war kein Verwandter mehr. Er war zu einem Mann ohne Verwandte geworden, einem Mann des ganzen Stammes, aller Clans. »Ich dachte, du wärst es.« John Smith Eisenauge hörte die eigene Stimme diese Äußerung tun. Philip schüttelte den Kopf. »Ich war zu ... war zu schwach. Die Visionen hätten mich ... mich zugrunde gerichtet. Es ist nur wenigen vorbehalten, Prophet zu werden. In der Prophetie lauert Irrsinn, Bruder. Die Zu kunft zu schauen ist eine schreckliche Sache. Mir hat Spinne statt dessen diesen Weg gewiesen. Er ist... bes ser.« »Was ist es für ein Weg?« John Smith runzelte die Stirn, betrachtete seinen Vetter beunruhigt. »Du entscheidest mein Schicksal, Bruder«, entgegnete Philip. Er schob noch einen Zweig ins Feuer, ehe er auf stand und hinaus in den Regen schlenderte. »Ich? Ich soll dein Schicksal entscheiden?« John Smith verzehrte ein weiteres Stück Dörrfleisch; dann behandelte er seinen Finger, umwickelte ihn mit einem strammen Verband und tränkte ihn mit destilliertem Alkohol. Er biß die Zähne zusammen und zog die Schultern ein, als der Alkohol sich wie flüssiges Feuer in die Adern brannte. Aber er sterilisierte. Danach schlief John Smith.
»Die Räuber sind dort.« Nachdem John Smith sich am nächsten Morgen erhoben hatte, deutete er nach Nord osten, während er das Gewehr in die Hülle steckte. Die Waffe war von seinem Onkel angefertigt worden und ver schoß Kugeln vom Kaliber 9,5 mm und einem Gewicht von 20 Gramm mit einer Geschwindigkeit von fast einem Kilometer pro Sekunde. Philip spähte in den Regen und nickte. »Wir werden sie einholen. Es wird vier Tagesritte dauern. Aber wir müssen uns beeilen. Voraus krepiert ein Kalb, das uns gebraten besser schmecken wird, als wenn wir es den Aasfressern überlassen.« »Woher weißt du das?« erkundigte sich Eisenauge, blickte Philip aus finsterer Miene ins gequälte Gesicht. »Ich weiß es«, gab sein Vetter leise zur Antwort. »Fra ge mich nicht nach Dingen, die zu hören dir Unheil be scheren könnte.« Das Gemisch aus Grauen, Warnung und Beklommenheit verlieh Philips Stimme einen hohlen Klang. Eisenauge nickte, fühlte eine Anwandlung von Furcht in seinem Leib kribbeln. Die Wege der Propheten eigneten sich nicht für alle Männer. Es schien als ob ein Klumpen ihm die Kehle verengte. Es bestand aller Grund zur Furcht. Vielleicht trieb er die Rappenstute zu grob an, sobald er sie auf die Fährte der Räuber lenkte, in die Richtung des Kriegers, der auf ihn, wie er wußte, im Lager der Santos wartete. * * * Leetas Erregung wuchs, während der weiße, massige Rumpf der Projektil die Bildschirmfläche immer mehr ausfüllte. Für jemanden, der mehr als nur ein paar Monate auf einer der wichtigen Stationen zubrachte, waren Raumschiffe keine besondere Attraktion. Doch die Vor stellung, an Bord eines richtigen Kriegsschiffs zu gehen, löste bei Leeta einen tiefen Kitzel der Vorfreude aus.
Sie begriff, daß es sich dabei um eine atavistische Re gung handelte. Wer hatte denn heutzutage noch Ver wendung für Kriegsschiffe? Für polizeiliche Aufgaben behielt die Menschheit sie bei; aber gegen wen hätte man denn noch kämpfen können? Es hieß, irgendwann könnte von irgendwoher außerhalb des bekannten Weltraums eine ernste Gefährdung durch Aliens kommen. Doch bisher hatten sämtliche intelligenten Lebensformen, denen die Menschheit begegnet war, am Tun der Menschen keinerlei Interesse gezeigt — eine Tatsache, die die Personen, von denen die ersten Kontakte hergestellt worden waren, ziem lich stark erschüttert hatte. Ein primitives Element der menschlichen Psyche, be fand sie. Ich bin nach wie vor nicht mehr als ein hochin telligenter Primat. Es ist unmöglich, die Ergebnisse von Milliarden Jahren der physischen und sozialen Evolution innerhalb weniger Jahrhunderte wegzuzüchten. Der Rumpf der Projektil schwoll auf dem Monitor an, bis es darauf nur noch Weiß zu sehen gab. Einige schwach erkennbare Umrisse mußten Luken, Waffenkuppeln und Hangarkomplexe sein. Seufzend fing Leeta mit dem Packen ihrer überall ver streuten Sachen an und bereitete sich aufs Überwechseln in das riesige Raumschiff vor. Seit ihren Anfängen hatte die Gravitationstechnik erhebliche Fortschritte gemacht. Sie spürte das Anlegen kaum; wahrscheinlich bildete sie sich eher ein, es zu fühlen. »Sie können jetzt umsteigen, Dr. Dobra«, teilte die Stimme des Blitzkorvetten-Gehirns ihr in gedämpftem Ton mit. Es war soweit. Leeta verließ die Kabine und raste bei nahe durch den Korridor zur Schleuse. Dort erwarteten sie echte militärische Wachen, alle in Uniformen der Pa trouille, genau wie man sie in Filmen und Holos zu sehen bekam und aus Beschreibungen kannte. Sie kontrollierten ihre ID mit Hautanalysen und Retinaaufnahmen und —
das war das Tollste — salutierten sogar, als sie an Bord ging. Anstatt eines Robodroiden begrüßte sie dort Rita Sar sa, ein kesses Lächeln auf den Lippen. »Angenehmen Flug gehabt, Doktor? Ich hab’s mir verkniffen, Rollen und tak tische Gegenschubmanöver zu üben.« Leeta lachte, händigte ihr Gepäck einem Fähnrich aus. »Ich hätte den Unterschied sowieso nicht bemerkt.« »Ich zeige Ihnen Ihr Quartier. Danach haben Sie fünf zehn Minuten Zeit zur allgemeinen Orientierung, dann will der Oberst Sie in einer Konferenz sehen.« Sie durchquerten eine Folge weißer Korridore. »Ahm ... und wenn das vorbei ist«, fügte Sarsa unterwegs hinzu, »würde ich gerne mit Ihnen sprechen.« Leeta las in der neutralen Miene des Leutnants. In den kühlen grünen Augen konnte sie gerade noch eine Andeutung von Anspannung erkennen. Das Quartier war geräumig und richtig adrett, und so weiß wie alles im Weltraum. Damit hatte man schon in der Anfangszeit der Raumfahrt begonnen. Weiß ließ alle Innenräume größer wirken. Zudem war alles leichter sau berzuhalten. Darüber hinaus fielen Lecks, Risse und alle Schäden sonstiger Art leichter auf. Kaum hatte Leeta die Kurzeinweisung hinter sich, saß sie auch schon mit dem Rest des Teams neben Chem an einem Konferenztisch. Rita hatte bereits Platz genommen, auf dem Kopf ein Kontaktron, den Blick auf einen Monitor geheftet, dessen Bildschirm nur sie sehen konnte. Hier sah sie zum erstenmal wirklich aus, wie man sich eine Offizierin der Patrouille vorstellte. Der Konferenztisch, um den sie sich versammelt hatten, stand in der Mitte eines größeren Raums. Klassische Flötenmusik von Zion spielte dezent im Hintergrund. »Oberst Damen Ree«, kündete plötzlich eine Ordon nanz den Kommandanten an, eine Tür öffnete sich, her ein kam ein muskulöser Mann in Uniform. Leeta nickte:
Er war das Musterbild eines Offiziers. Sie bemerkte, daß alle dem Militär zugehörigen Anwesenden aufgestanden waren; sie erhob sich ebenfalls, und der Rest des Teams, wenn auch etwas verlegen, tat es ihr nach. »Rühren.« Das Kommando klang markig. Ree lächelte. »Für Zivilisten ist das bestimmt ungewohnt.« Er hat meine Gedanken gelesen, überlegte Leeta, wäh rend die gegenseitige Bekanntmachung erfolgte. Ree hatte eine stattliche Statur, war vielleicht vierzig oder womög lich ein guterhaltener Fünfziger, sein kurzer Bart war ordentlich gestutzt, frei von Zöpfchen und Juwelenschmuck. Die Weise, wie sich seine dunklen Au gen bewegten, verriet einen scharfen Verstand. »Meine Damen und Herren«, wandte Ree sich förmlich an die Experten, »wir stehen, was unsere Absprachen betrifft, auf etwas unsicherem Boden. Meine vom Direktor erhaltenen Instruktionen besagen, daß ich Ihnen während Ihrer Untersuchung dessen, was anscheinend eine verges sene Kolonie ist, jede Unterstützung gewähren soll. Ich muß bekennen, es hat mich ein wenig enttäuscht, daß der Patrouille nicht gestattet worden ist, die gegenwärtige Situation auf ihre Weise zu handhaben. Aber ich vertraue darauf, daß unter den gegebenen Umständen Ihre Fachkenntnisse nützlicher als unsere Einschätzungen sind.« Leeta merkte, daß der Oberst über eine Persönlichkeit mit der natürlichen Autorität verfügte, die Respekt ver langte und auch sofort erweckte. »Was Ihre professionellen Schlußfolgerungen angeht«, ergänzte er seine Äußerungen, indem er Dr. Chem und Leeta zunickte, »hat es mich erstaunt, zu sehen, wieviel aufschlußreiche Arbeit Sie auf der Grundlage so weniger Daten geleistet haben.« Das war, begriff Leeta, durchaus keine Kritik. Er mach te den Eindruck, als ginge er die Sache vollauf routiniert an.
Verkrampft lächelte Ree. »Ich habe eine Frage. Trotz aller Planungssitzungen, die zu meiner Unterrichtung ver anstaltet worden sind, fehlen mir bis jetzt irgendwelche Hinweise darauf, welchen Umfang- auf diesem Planeten, den Sie Atlantis nennen, Ihr Sicherheitsbedürfnis anneh men wird. Können Sie mich darüber informieren?« Sein Blick forschte in einem Gesicht nach dem anderen. Dr. Emmanuel Chem stand auf und gab sein übliches, einem Knurren ähnliches Räuspern von sich. »Oberst Ree ...« Er nickte dem Offizier zu. »Die Anthropologie hat in ihrer langen, ehrenvollen Geschichte ständig un bewaffnete, ungenügend ausgerüstete Wissenschaftler zur Feldforschung geschickt, die sie oft Wochen oder Monate von jeder möglichen Hilfe trennten.« Er gestikulierte mit seiner großen Hand. »Ja gewiß«, sagte er, »am Anfang, im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, gab es Leute, die in Schwierigkeiten gerieten. Aber ich möchte klarstel len, daß wir von der Zeit an, als die ersten Menschen sich in den Weltraum hinauswagten, keinen Kollegen mehr bei Forschungen verloren haben. Kurzum, ich darf Ihnen versichern, daß unsere Arbeit völlig ungefährlich ist. Unsere Methodologie ist schon vor Jahren gründlich ausgearbeitet worden.« Chem lächelte und hob etwas den Kopf an, als ob ein Studienneuling seine Kompetenz in Zweifel zöge. Ree lächelte unbeeindruckt. »Ausgezeichnet, Professor. Ich beuge mich Ihrem sachverständigen Urteil, weil es ein Gebiet anbelangt, das von meinem Spezialwissen weit entfernt ist. In diesem Fall freue ich mich auf das ersprieß liche Zusammenwirken mit Ihnen allen. Es wird bestimmt sehr lehrreich für mich sein. Lassen Sie mich nun auf Einzelheiten eingehen. Sie werden beim Aufenthalt auf der planetaren Oberfläche Bodenfahrzeuge und Schutzmannschaften verfügbar haben, soviel Sie brau chen. Wir können in einer einsamen Gegend einen Stützpunkt
mit Kommunikations- und Laborausstattungen etablieren. Die Techniker befassen sich schon mit der Ausrüstung, die Mr. Bruk über das Material hinaus, das Sie von der Universität mitgebracht haben, für erforderlich erachtet. Selbstverständlich versehen wir alle Mitglieder Ihres Bodenpersonals mit direkten Kommunikationsmöglich keiten, und es wird ein Transduk-tions-Anschluß zum Giga-Verbund an Ihrer Universität bestehen. Leutnant Sarsa, die Sie alle inzwischen kennen, wird als Verbindungsoffizierin der Patrouille fungieren. Wenden Sie sich mit allen Fragen, Beschwerden oder Problemen direkt an sie. Ich habe volles Vertrauen in ihre Fähigkeit, alle Schwierigkeiten auszuräumen. Gibt es sonst irgend etwas, das Sie zu besprechen wünschen?« Leeta hob die Hand. »Ja, Sir. Da Sie über unsere ge plante Prozedur Bescheid wissen, wüßte ich gern, ob sie irgendwelche Anforderungen an Sie stellt, die Sie nicht erfüllen können oder die Ihnen unzumutbare logistische Umstände verursachen müßten. Ich ... äh ... Was ich wis sen möchte, ist... Haben Sie durch unseren Bedarf irgend wie übertriebenen Aufwand?« Der Oberst nickte vor sich hin, während sie sprach, hörte aufmerksam zu. Sein gezwungenes Lächeln störte Leeta nur geringfügig. »Dr. Dobra, wir stehen zu Ihren Diensten. Das meine ich voll und ganz ernst. Um ein Beispiel anzuführen: Dieses Raumschiff hat eine hin längliche Bewaffnung, um einen Planeten oder eine Sta tion in Stücke zu schießen. Falls nötig, können wir in nerhalb einer halben Stunde mit Sturmtruppen jeden Planeten des Direktorats unter unsere Kontrolle bringen. Bitte ...!« Er streckte eine Hand in die Höhe, als er rings um Mienen der Bestürzung sah, Stimmengemurmel ent stand. »Ich erwähne das lediglich zum Vergleich. Der maßgebliche Punkt ist, die Projektil hat für Sie vielleicht unvorstellbare Hilfsmittel zur Verfügung, die Sie kaum ernsthaft beanspruchen, geschweige denn belasten wer
den.« Diesmal lächelte er aufrichtig herzlich. Der Stolz auf die Macht seines Raumschiffs brachte sein Gesicht zum Leuchten. »Er fährt echt voll auf diese Blechdose ab.« Leeta hör te Marty Bruk mit Bella Vola tuscheln. Während des Flugs hatte Leeta beobachten können, wie sich zwischen den beiden eine zusehends engere Beziehung entwickelte. »Wann werden wir über dem Planeten eintreffen?« fragte Leeta. Ree zögerte nicht mit der Antwort. »In fünf Tagen, vier zehn Stunden und rund zwanzig Minuten.« »Hervorragend«, sagte Chem jovial. »Dann müßte ja alles bestens klappen.« Ree holte tief Atem. »Es gibt nur ein kleines Problem.« Sofort galt ihm die allgemeine Aufmerksamkeit. »Die Funksendungen haben aufgehört.« Stimmengewirr brach aus, ebbte erst nach einer lauten Frage Leetas ab. »Sind Sie ganz sicher? Kann es nicht sein, daß sie dort einfach ‘n freien Tag haben?« Es wurde wieder still. »Sie kennen den zuletzt aufgefangenen Text.« Ree hob die Schultern. »Darin war in irgendeinem Zusammenhang von Radar die Rede. Aber danach ... Es ist nichts mehr gekommen. Aus meiner Sicht ist daran interessant, daß die Drohnensonde, die sich inzwischen im Orbit befindet, keine elektromagnetischen Wellen eines Typs von Radar mißt, wie man ihn nach unserer Auffassung dort zu bauen imstande sein könnte.« Leeta nickte. Sie entsann sich an die grundsätzliche Funktionsweise des altmodischen Radars; Jeffray hatte sie ihr einmal beschrieben. »Hat die Sonde schon Video- oder Holoaufnahmen übermittelt?« wollte Montaldo erfahren. »Ja, Doktor, sie haben uns heute erreicht.« Ree hakte die Daumen in den Gürtel seiner Uniform und nickte. »Projektion!« befahl Ree. Ein Abbild des Atlantis getauf
ten Planeten begann sich wie ein solider Globus über dem Konferenztisch zu drehen. Leeta hielt den Atem an. Die Planetenkugel erinnerte sie an die Erde: Ein wolkiges, blaues Rund mit unregel mäßigen, grün und braun getupften Flächen von Kon tinenten. Das Holo vergrößerte eine fünfeckige Land masse. »Dort liegt anscheinend das Zentrum der menschlichen Aktivitäten«, erläuterte Ree. »Nach den bisher durch die Sonde erbrachten Daten ist die menschliche Population überwiegend auf die Westhälfte dieses Kontinents beschränkt. Auf den anderen Landmassen läßt sich kein Anzeichen menschlicher Aktivitäten feststellen.« Der Holo-Ausschnitt vergrößerte sich weiter, so daß man unwillkürlich den Eindruck hatte, der Tisch fiele aus großer Höhe auf den Kontinent zu. »Das ist die beste Aufnahme, die wir von einem menschlichen Dorf vorlie gen haben.« Rees Tonfall, hatte Leeta das Empfinden, klang nach Befriedigung. »Wir haben sie erst seit ein paar Stunden. Beachten Sie die braunen Flecken. Dabei handelt es sich offenbar um Hütten. Die Tiere, die Sie ringsherum sehen, sind Rinder und Pferde vom irdischen Typus.« Am Konferenztisch kam es zu Äußerungen der Freude. Leeta merkte, wie sie fröhlich lächelte. Sie konnte rund um das Dorf verstreute Wiesen unterscheiden. »Keine Ernten«, konstatierte sie. »Das ist merkwürdig.« »Tatsächlich.« Chem erhob sich halb von seinem Platz, um besser sehen zu können. »Massai«, sagte Netta Solare halblaut. »Bitte?« fragte Ree, der mit dem Wort eindeutig nichts anzufangen verstand. Solare schenkte ihm ein Lächeln. »Die Massai waren eine afrikanische Volksgruppe, Oberst. Sie lebten früher ausschließlich von Vieh. Ihre traditionelle Gesellschafts form kannte keine Landwirtschaft, sie sahen sich erst nach der Akkulturation dazu gezwungen. Wir bezeichnen sie als
Pastoralisten. Davor zogen sie immer ihren Viehherden nach.« »Aber sie haben Funk«, sagte Ree, als hielte er es für erforderlich, sie daran zu erinnern. »Ja sicher«, meinte Leeta, erwiderte Oberst Rees Blick. »Ich habe ein Modell entworfen, das alles berücksichtigt. Das sind keine im eigentlichen Sinne primitiven Leute. Sie haben die ganzen Jahre hindurch Zugriff auf die Datenspeicher der Nikolai Romanan gehabt. Wir werden voraussichtlich eine herausragende Gelegenheit erhalten, um ein Volk kennenzulernen, das eine Mischform aus technologischer Gesellschaft und Pastoralismus entwik kelt hat. Faszinierend! Sind keine Hinweise auf Fabriken oder Bergbau entdeckt worden?« Ree winkte ab, als wollte er um Nachsicht bitten. »Bis jetzt haben wir nur dieses eine Bild. Der Planet ist ziem lich groß. Es wird einige Zeit dauern, bis die Sonde ihn rundum kartografiert hat.« »Eine afrikanische Sozialstruktur mittlerer Entwick lungsstufe?« überlegte Solare laut. »Wie könnte es so etwas aus einem amerikanischen, mexikanischen und Arapaho-Sioux-Hintergrund entstanden sein? Es gibt ‘ne Menge ...« Ree lachte. »Ich glaube, diese Exkursion wird sehr in teressant sein.« Alle Anwesenden lachten heiter mit. Man war, wie Leeta bemerkte, allgemein bester Laune. Seit sechshun dert Jahren hatte es für Anthropologen nichts so Aufre gendes zu studieren gegeben. Für die Theorie verkörperte es ein Problem. Pastorali sten, die ihren Herden folgten. Gleichzeitig benutzte diese Stammesgesellschaft — denn das mußte sie sein — richti ge Funkgeräte. In den Aufzeichnungen über irdische Kulturen fand sich nichts Vergleichbares. Ein Rätsel, und sie hatte die Aufgabe, es zu lösen! Die Kommu-Computer der Projektil störten die Sitzung. »Eine persönliche
Nachricht für Dr. Dobra ist angekündigt worden. Es wird empfohlen, sie in Ihrem Quartier entgegenzunehmen.« Verwundert schweifte Leetas Blick über die plötzlich neugierigen Gesichter in ihrer Umgebung; sie sah auf ein mal gespannte Wachsamkeit in Ritas Augen. Resigniert hob sie die Schultern und entschuldigte sich. »Soll ich die Doktorin vielleicht begleiten, Oberst«, bot Rita an, »damit sie sich nicht verirrt?« Ree war einverstanden, und wenige Augenblicke später durcheilten Leeta und Rita enge Korridore. Leeta betrat die Kabine, die jetzt ihr vorläufiges Zuhause abgab, und nickte in die Richtung des Monitors, während Sar-sa, der man noch immer Anspannung anmerken konnte, sie allein ließ. »Da bin ich, Projektil. Was ist los?« »Eine subspatiale Transduktions-Verbindung für Sie, Dr. Dobra«, sagte das Raumschiff in seinem eigentümlich modulierten Ton. »Her damit!« Erwartungsvoll schaute Leeta den Bild schirm an. Zu ihrer unendlichen Überraschung erschien darauf Veld Arstongs Gesicht. »Veld«, rief sie. »Ich fühle mich geschmeichelt. Das ist ein teurer Anruf.« Weshalb verspürte sie plötzlich Be unruhigung? Sie hätte nicht gedacht, daß er sie so stark vermißte. Er zögerte, senkte den Blick, befeuchtete sich mit der Zunge die Lippen. »Ich weiß nicht, wie ich’s dir sagen soll, Leeta.« Sein Stocken und Stammeln irritierte Leeta, das war überhaupt nicht seine Art; es erinnerte sie an Jeffray. »Versuch’s ganz einfach.« Leetas Stimme klang scharf und abgehackt. »Du hast mich aus einer wichtigen Un terredung geholt.« »Hör mal ...« Er hob den Blick, sein Gesicht lief rot an. »Mach’s mir nicht noch schwerer.« »Ich ...«, setzte Leeta zu einer Erwiderung an, aber er brachte sie mit einem Wink zum Schweigen.
Er schaute ihr nun emotionslos in die Augen. »Ich komme gerade aus Jeffrays Wohneinheit. Ich wollte ihn besuchen, um mit ihm zu reden. Er hat das Einstel lungsgespräch mit dem Direktoratssupervisor von Range platzen lassen. Er hatte keinerlei Selbstvertrauen mehr. Ich ... Tja ...« Veld schüttelte den Kopf. »Seine Leiche war schon in die Hydroponie hinuntergebracht worden, Leeta. Er hat heute früh Selbstmord verübt.« Die Antwort erstickte auf Leetas Lippen, indem Be klemmung ihr die Brust beengte. »Warum?« fragte sie ton los. »In seinem Kommu-Apparat hat er eine Mitteilung hinterlassen.« Mühevoll schluckte Veld. »Sie besagt, er könnte ohne dich nicht leben.« Leeta schloß die Augen, holte angestrengt Luft in die Lungen. Wie hatte er sich ausgedrückt gehabt? «... dann werde ich’s dir, das schwöre ich, so heimzahlen, daß du’s nie vergißt!« »O Gott«, flüsterte Leeta.
6
Skor Robinson hielt inne, um eine Reihe von Informationen zu sichten, die die Patrouille und die Universität dem Giga-Verbundsystem zugeleitet hat ten. Also war der Ursprungsort des seltsamen Radiosignals gefunden worden. Er bereitete die Daten auf und aktivier te Analyseprogramme zur Bestimmung der potentiellen gesellschaftlichen Effekte der Entdeckung auf den Herrschaftsbereich des Direktorats. Die Ergebnisse waren erschreckender Natur. Nawtow? wandte er sich durchs System an den Assistenz-Direktor. Ja? Es sind erste Daten bezüglich der von außerhalb des Außensektors aufgefangenen Radiosignale eingegangen. Der Planet, von dem sie stammen, ist Atlantis genannt worden. Soeben sind Anthropologen an Bord des Patrouillenraumschiffs Projektil eingetroffen. Anscheinend haben wir es mit einem von Menschen bewohnten Planeten zu tun, der nicht in unserer Kontrollsphäre liegt. Robinson wartete, ließ AssistenzDirektor Nawtow Zeit zum Sichten der Daten, die er ihm durch den gewaltigen Computerverbund übermittelt hatte. Und Ihre Empfehlung lautet? erkundigte sich Nawtow schließlich. Ich halte es für ratsam, antwortete Robinson, dessen Verstand zu gewissen Teilen immer mit dem Problem befaßt geblieben war, daß alle mit diesem besonderen Fall vertrauten Beteiligten entweder liquidiert oder einer Korrekturtherapie unterzogen werden. Nawtow überlegte. Falls sich die Kenntnis von dieser Entdeckung allgemein verbreitet, würden uns
Schwierigkeiten entstehen. Ich sehe als Resultat einer sol chen öffentlichen Information soziale Störungen voraus. Deshalb muß den Menschen das Faszinosum, das Personengruppen ohne Direktoratsaufsicht für sie wären, vorenthalten werden. Im Interesse der Bevölkerung stim me ich Ihnen daher zu. Ich ermittle gerade, welche Individuen gegenwärtig von der Entdeckung wissen, und erteile die entsprechenden Anweisungen. Das Gesundheitsministerium ist bereits benachrichtigt. Die be troffenen Individuen werden liquidiert oder mit einer Korrekturtherapie behandelt. Kurz widmete Robinson den von Nawtow veranlaß-ten Maßnahmen seine Aufmerksamkeit. Ihr Vorgehen ist zufriedenstellend, Assistenz-Direktor. Allerdings dürfen wir die Anthropologen nicht einfach liquidieren. Wir wer den dort eine isolierte Kerngruppe belassen und per GigaVerbund ihre Kommunikation überwachen, so daß keine Informationen durchsickern. Sie wird uns dabei von Nutzen sein, das Potential und die Gefährlichkeit dieser wildlebenden Menschen zu analysieren. Sind Sie sicher, daß das angebrachte Verfahren aus einer derartigen Untersuchung besteht? fragte Nawtow eine Na-nosekunde später. Wäre es angesichts der poten tiellen Risiken nicht besser, den Planeten schlichtweg zu sterilisieren? Und was alles würden wir dadurch eliminieren? entgegnete Robinson. Etablieren wir Programme, ohne eine Vorstellung von den zu verarbeitenden Daten zu haben ? Sicherlich fällen wir auch Entscheidungen, die auf teils mutmaßlichen Daten beruhen — aber auf der Grundlage von ausschließlich spekulativen Daten zu han deln, erachte ich als zu gefährlich. Nawtow gab Zustimmung zu verstehen. Wir müssen jedoch vorsichtig sein. Die Populationsindizes zeigen gesteigerte soziale Turbulenzen an. Besonders Sirius hat einen sie-benkommaeinprozentigen Zuwachs an gesund
heitsamtlichen Korrekturtherapien zu verzeichnen. Jetzt ist nicht die Zeit für Risiken. Robinson nahm m die Daten Einsicht. Ich sehe, was Sie meinen. Höher als die durchschnittlichen Trends. Ich empfehle Ihnen, auf die zuständigen Behörden erhöhten Druck hinsichtlich des Aufspürens der Rädelsführer der sirianischen Unruhestiftung auszuüben. Vor allem von der Persönlichkeit dieses Ngen Van Chow habe ich den Eindruck, daß es sich um einen ausgesprochenen Abweichlertyp handelt. Statistisch bewertet liegt er am äußersten Rand der Verhaltensnormkurve. Wieso haben wir ihn so lange übersehen ? Anhand Ihrer Extrapolationen erkenne ich eine deutli che Gefahr für die Gesellschaft, sollte die Existenz der wildlebenden Menschen der Allgemeinheit bekannt wer den, teilte Nawtow mit, nachdem er endlich alle Permutationen durchkalkuliert hatte. Haben Sie die Wahrscheinlichkeit untersucht, daß sie sich der Kontrolle des Direktorats unterordnen ? Robinson leitete das Datenmaterial Nawtow zu. Wie Sie hieraus ersehen, bin ich der Meinung, daß es der Patrouil le gelingen kann, sie erfolgreich in die Menschheitsfamilie zu integrieren. Infolge unserer ökonomischen Überlegen heit müßten wir dazu fähig sein, ausreichenden Einfluß auf ihre Ressourcenbeschaffung zu nehmen — die momen tan bestenfalls primitiv sein dürfte —, und dank unserer Technik wird das Gesundheitsministerium bei der Bevölkerung hohes Ansehen genießen und deshalb einen erstrangigen akkulturati-ven Faktor bilden. Nawtow ant wortete nicht sofort. Mit einem fa ? hakte Robinson nach. Nawtows Frage war dermaßen absurder Art, daß sich für eine Sekunde Robinsons Herzschlag veränderte. Einmal angenommen, sie haben eine Tendenz zur Gewalttätigkeit? Robinsons Antwort hatte den Charakter einer Rüge. Unmöglich! Es sind doch Menschen, über die wir uns hier
verständigen. Er unterbrach die Verbindung und kehrte an seine Bearbeitung der Daten zurück. Aber irgendwie blieb Nawtows dumme Frage im Hintergrund seiner Gedanken haften. Gewalttätig? Menschen? So etwas gehörte der Vergangenheit an. Außerdem: Welche Waffen könnten sie besitzen, die die Patrouille nicht hatte? Mit Sicherheit war die Projektil mit ihrer Kapazität zur Verwüstung eines gesamten Planeten ein paar verschollenen, barbarischen Menschlein weit überlegen ... wie unzivilisiert diese Leute auch sein mochten. Und Sirius? Skor Robinson begutachtete die Situation. Man hatte dort eine starke potentielle Neigung zu Lebensmittelunruhen. Gleichzeitig stellte Assistenz-Direktor Nawtow zuviel Fragen. Vielleicht war die Zeit da, um im Direktorat wieder einmal die Zügel zu straffen. Sollte es im Siriussystem ruhig noch ein wenig gären. Ohne im Giga-Verbund irgendeinen verdächtigen Hinweis zu hinterlassen, stornierte Skor den auf Ngen Van Chow ausgestellten Haftbefehl. Und was die wildlebenden Menschen betraf, blieb als letzte Möglichkeit immer noch die Sterilisation ihres Planeten. * * * Leeta hörte es kaum, als der Tür-Servomat summte. »Doktor?« Aus dem Kommunikator drang Rita Sarsas Stimme. »Ahm ... Wissen Sie, ich muß mit Ihnen reden. Es ist dringend.« »Herein«, sagte Leeta in mattem Ton. Sarsas scharfe Augen erfaßten jede Einzelheit. »Kom men Sie, wir machen einen Spaziergang.« Leeta schüttelte den Kopf; die Nachricht von Jeffrays Tod hatte sie völlig niedergeschmettert. »Mir ist nicht nach Spazierengehen zumute, Leutnant.« Jeffray tot? Einfach so? Weshalb? Was hätte sie anders machen kön
nen? Schuldgefühle kamen ihr, durchkrochen sie wie Frost. Eine kräftige Hand faßte sie an der Schulter. Sarsa zerr te Leeta von der Koje empor. Wut kochte in Leeta hoch. Sie fuhr herum. »Ich möchte nicht spazierengehen, Leutnant!« schnauzte sie Sarsa an. »Lassen Sie mich in Ruhe!« Ritas Gesicht war hart geworden. Die Lider der grünen Augen hatte sie zu Schlitzen verengt. »Oh, es ist aber genau das, was Sie jetzt am besten vertragen, Doktor. Erinnern Sie sich an den Bock in der Bar der Universität? Sie schulden mir ‘ne Gefälligkeit... Und Sie werden sie mir jetzt erweisen.« Der heftige Nachdruck ihrer Äußerungen drang sogar in Leetas benommenen Verstand. Willenlos nickte sie, bemerkte auf einmal das helle Funkeln in den Augen des Leutnants. »Klar, Rita, klar ... Es ist bloß ...« »Mund halten!« fauchte Rita, beugte sich vor, sprach von nun an im Flüsterton. »Reden Sie weiter belangloses Zeug. Sagen Sie, wie schrecklich ‘s ist, daß sich Jeffray umgebracht hat. Spielen Sie die Tieftraurige.« Leeta schwieg, gewann in einigem Umfang die Fassung zurück, ihre Gedanken drehten sich wie rasend im Kreis, setzten zeitweilig aus, kreisten dann wieder wie verrückt. Sie fügte sich Ritas Griff an ihrem Arm, folgte dem Leutnant hinaus; sie gelangten in ein Labyrinth von Korridoren, die nach keinem erkennbaren System ange legt zu sein schienen. »Ich versteh’s nicht«, sagte Leeta. Sie spürte, daß sie das Geschocktsein gar nicht zu simulieren brauchte. »Wieso Jeffray? Das ist unfaßbar. Ich weiß nicht... Was hätte ich denn zu ihm sagen sollen? Oder was tun müs sen?« Ihre Gedankengänge überschlugen sich. Rita murmelte wenig sinnvolle Bemerkungen wie >So ist das Leben halt< und >So was kommt eben vor.< »Moment mal!« stieß Leeta in plötzlicher geistiger
Klarheit hervor. Mitten im Korridor blieb sie stocksteif stehen. »Woher wissen Sie davon? Das war doch ein pri vater...« Ritas strenge Miene zeigte nicht das geringste Einlen ken. »Vertrauen Sie mir, Doktor!« knirschte sie durch die Zähne. »Spielen Sie einfach weiter mit!« Leeta schüttelte den Kopf, aber folgte der entschiede nen Führung des Leutnants einen schmalen Niedergang hinab. Rita öffnete ein Schloß, indem sie den Handteller auf die dicke Scannerplatte legte, und schwere Metalltüren glitten beiseite. Nervös kaute Leeta auf den Lippen, späh te in die dahinter herrschende Dunkelheit. Gerade wollte sie neue Einwände aussprechen, da packte eine eisenharte Faust sie am Arm und schubste sie in die Finsternis. Schlagartig verdrängte Furcht die Gefühle von Schuld und Schmerz. »Rita! Ich weiß wirklich nicht, was Sie ...« Plötzlich erhellte weißes Licht eine ungleichmäßig ge formte Kammer, sie sah glänzende Apparaturen rund um eine große, langgestreckte, einem Projektor ähnliche Anlage. Sarsa trat darauf zu, hockte sich auf das riesige Stück Maschine. Hinter dem Kabel- und Drahtbündel von be achtlichem Durchmesser, das um eine Teillänge des schweren Geräts geschlungen war, wölbte eine Wand sich zu einer halbrunden Nische. »Rita?« Leetas Herz schlug im Stakkato gegen ihre Rippen. Ihre Atmung ging kurz und mühsam, die Furcht begann in ihrer Leibeshöhle zu rumoren. »Was hat das alles ...?« Ritas grimmiges Lächeln ließ sie verstummen. Der Leutnant patschte mit der Hand gegen ein Schaltfach an der Seite der Maschine. »Tut mir leid wegen der Ge heimniskrämerei, Doktor. Ich wollte Sie nicht erschrek ken. Kommen Sie, setzen Sie sich. Das Ding hier ist ein schwerer Blaster. Damit kann man praktisch das Uni versum in Brocken ballern. Ich habe Ihnen gesagt, wir
müßten uns unterhalten. Entsinnen Sie sich? Jetzt ist es soweit. Jeffray hat uns unvermutet dazu gezwungen, den Zeitpunkt ein bißchen vorzuverlegen.« Unsicher kauerte Leeta sich hin; der Wechsel im Ver halten des Leutnants genügte noch nicht, um ihren Argwohn zu zerstreuen. »Trotzdem bin ich ratlos. Ich kann nicht begreifen, was ...« Rita nickte, zog ein Bein an, hielt es mit gefalteten Händen und lehnte sich an. »Hier sind wir« — sie winkte rundum — »auf dem Gefechtsdeck. Momentan sind die Monitoren alle abgeschaltet, weil ich sie abgeschaltet habe. Also können wir nun reden, ohne belauscht zu wer den.« Leeta schnitt eine böse Miene. »Meine Kabine wird abgehört?« »Zum Teufel, ja! Um Himmels willen, wir sind auf einem Kriegsschiff.« Rita schüttelte den Kopf, so daß rote Lokken ihr auf die Schultern fielen. »Und daher wissen Sie von dem Anruf bezüglich Jef frays Tod«, mutmaßte Leeta. »Teilweise«, bestätigte Rita mit raschem Nicken. »Al lerdings hatte ich bereits mit so etwas gerechnet. Deshalb hatte ich’s so eilig, aus der Konferenz abhauen zu können. Aber zusätzlich hat Anthony oben in der Kom-mu mir ‘n Tip gegeben, daß für Sie ‘ne wichtige Nachricht kommt.« »Aber wieso denn?« Leeta begriff überhaupt nichts. »Wieso konnten Sie ...?« Sarsa senkte eine Hand auf Leetas Schulter. »Lassen Sie mich weiter ausholen und Ihnen die Zusammenhänge erklären. Erstens hatten Sie mir erzählt, nach einem Besuch beim Gesundheitsamt wäre Jeffray verändert gewesen. Zweitens erwähnten Sie, er hätte sich mit der Revolutionierung der Transduktionstechnik beschäftigt, vielleicht sogar mit der Aussicht, den Giga-Verbund für das Kommunikationssystem überflüssig zu machen. Dann haben wir eine Gruppe Menschen, die sozusagen aus dem
Nichts auftaucht, Menschen außerhalb der Direktorats kontrolle. Ganz bemerkenswert, hä?« Leeta zuckte die Achseln, versuchte die aufgezählten Sachverhalte irgendwie miteinander zu verbinden. Sie hob die Brauen zu einem tiefen Stirnrunzeln. »Wie soll das alles mit Jeffrays Freitod zusammenhängen? Was hat es mit Ihrer Heimlichtuerei zu schaffen? Ich sehe da einfach keinen ...« Rita kaute auf ihrer Unterlippe. »Hören Sie, Doktor, Sie leben schon lang im Rahmen des Systems. Was ich Ihnen erklären möchte, mag weit hergeholt klingen ... Aber ich habe alles andere als ‘n Dachschaden. Sind Sie mir soviel zu glauben bereit?« Leeta dachte über das Wenige nach, was sie über Rita Sarsa wußte. »Na schön.« »Gut. Was das Gesundheitsamt mit Jeffray angestellt hat, war nämlich, ihn zu psychen. Wissen Sie, was ich meine?« Leetas Herz setzte für einen Schlag aus. »Psychen? Was man mit Kriminellen macht? Mit Geisteskranken?« Nein, doch nicht Jeffray! »Warum? Ich verstehe nicht, was...« »Er war eine Gefahr, Leeta«, sagte Rita mit fester, deut lich betonter Stimme. »Oh, gewalttätig oder verrückt war er natürlich nicht... Seine Gefährlichkeit bestand aus sei ner Genialität. Das Direktorat mag Leute nicht, die den Bestand des Giga-Verbunds gefährden. Es ...« »Den Giga-Verbund gefährden?!« brauste Leeta auf, sprang auf die Füße. »Wie könnte eine innovative Ver besserung der Transduktionstechnik den Giga-Verbund gefährden?« Sie forschte in Ritas Miene. Resolut verschränkte der Leutnant die Arme. »Indem sie eine Kommunikation daran vorbei ermöglicht. Heili ges Kanonenrohr, was glauben Sie denn, wie diese was serköpfigen Schufte die vielen Milliarden über Milliarden von Menschen an der Kandare halten?« Trotzig reckte sie den Kopf empor. »Hören Sie mal, Dr. Dobra, Sie sind
doch von uns beiden die Intellektuelle. Überlegen Sie! Fügen Sie die Daten zusammen. Jeffray, den GigaVerbund, alles. Nehmen Sie sich ‘n Moment Zeit und den ken Sie drüber nach.« Leeta machte den Mund auf, um zu widersprechen, klappte ihn jedoch wieder zu, ohne etwas zu sagen. Sarsa wölbte mit herausfordernder Miene die Brauen. Abstrakt besehen, zeichneten sich ihre Darlegungen durch eine gewisse Logik aus. »Aber woher wollen Sie das so genau wissen?« erkundigte sie sich, verkniff die Lider, hob ver bissen das Kinn. Ritas Lächeln fiel bitter aus. »Ich bin keine allzu nette Person, Doktor.« Sie vollführte eine Gebärde, als sähe sie einen Anlaß zu einer Entschuldigung. »Was meinen Sie, wie ich so schnell Leutnant geworden bin? Durch Intrigen, Sabotage, Seiteneinstieg, Manipulation von Sicherheitssystemen und ähnliches ... Indem ich das System mit seinen eigenen Methoden geschlagen habe. So und nicht anders.« Sie beugte sich vor. »Ich bin hier, weil ich ‘ne rebelli sche Natur habe. Leute wie mich hat man am liebsten in der Patrouille. Dann sind wir von der Straße weg und blei ben den >normalen< Leuten fern. Man läßt uns unser Fernweh ausleben, und unsere Abenteuerlust wird zum ausschließlichen Nutzen des Direktorats kanalisiert.« »Das erklärt mir noch längst nicht, woher Sie das wis sen«, entgegnete Leeta mißmutig. »Falls Sie was wissen«, fügte sie hinzu, als ob sie schmollte. Das Kinn nach vorn geschoben, wandte Rita sich ihr zu. »O doch, es erklärt’s. Ich habe Ihnen das Warum und Wozu genannt. Ich habe schon Geheimdateien gemolken, als ich noch Obergefreite war, verstehen Sie? Ich weiß genau, was das Gesundheitsministerium treibt... und warum. Ich kenne ziemlich viel von den dreckigen Machenschaften des Direktorats.« Ungläubig blinzelte Leeta. »Sie ... haben Geheimda
teien angezapft?« Entgeistert schüttelte sie den Kopf. »Das ist ja ... Das ist...« Anscheinend fühlte Sarsa sich inzwischen wieder zu ihrem frechen Feixen imstande. »Tja, mich würde man psychen, bis jede einzelne Synapse in meinem Gehirn kauterisiert wäre.« Sie hob die Schultern. »Ich kann nichts dran ändern, Doktor. Es liegt an meiner Persönlichkeit. In der Patrouille bin ich mehr oder weniger in Sicherheit.« Rita faßte Leetas Schulter. »Aber Sie sind’s nicht, Lee ta.« Ihre grünen Augen blickten nun erneut kalt und hart. »Ich habe mir auch die Datenbanken der Universität ange sehen.« Sie holte einen Bogen dünner Folie aus der Tasche. »Es hat einen Grund, warum im letzten Au genblick Emmanuel Chem mitgeschickt worden ist.« Wie benommen nahm Leeta die Folie zur Hand und las die aufgedruckten Instruktionen. Ihre Sicht verschleierte sich während des Lesens, der Text verschwamm. »Man ... wollte mich auch ...? Ich sollte zu einer Reihenuntersuchung ins Gesundheitsamt bestellt werden? Aber... Jeffray...« Die Implikationen verschlugen ihr den Atem. Rita zupfte ihr den Bogen aus den wie gefühllos ge wordenen Fingern, riß die spröde Folie sorgfältig in ganz schmale Streifen. »Ich werd’s in den Konverter werfen. Ich glaube, Jeffray hat Sie angezeigt. Das gehört zum Psyching. Es wird ein entsprechender Befehl im Unterbewußtsein implantiert. Jeffray muß Sie wohl für ‘ne Risikoperson gehalten haben. Das könnte zu seinem Suizid beigetragen haben. Selbst wenn’s ihm nicht bewußt gewesen ist, unbewußt muß ihm klar gewesen sein, daß er Sie ins Verderben stürzt.« »Ich ...« Ohne es verhindern zu können, zitterte Leeta. »Leutnant, das kann ich nicht kapieren. Ich meine, erwar ten Sie von mir, zu glauben, daß man mir gestattet hat, die Universität zu verlassen, ohne vorher meine ge sundheitsamtlichen Daten zu sichten?«
»Keineswegs, Doktor. Ich muß Ihnen noch was erzäh len. Ich habe einen Patrouillenoffiziers-Dienstausweis. Damit kann man ‘ne Menge anstellen ... Er verschafft mir allerhand Zugriff. Kurz gesagt, nach dem aktuellen Stand der Daten sind Sie gepsycht, ist Ihr Verhalten >korrigiert< worden.« Sie winkte mit einer sommersprossigen Hand. »Naja, sollte jemand die Sache chek-ken, wird er auf Unstimmigkeiten stoßen. Aber für den Fall habe ich ‘ne Schleife eingebaut, und es wird ‘ne Zeitlang dauern, bis man was merkt.« Rita zog Leeta zu sich herum, schaute ihr direkt ins Gesicht. »Und jetzt kommt das Schlimmste, Doktor. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie jemals zurückkehren können.« »Was meinen Sie damit? Ich soll nicht zurückkehren können?« Die Verwirrung drohte Leetas Verstand zu trü ben. Rita seufzte, schlug sich auf den Schenkel. »Ich weiß es nicht. Vielleicht wird’s möglich sein. Andererseits ist es, wird man erst einmal darauf aufmerksam, ziemlich offen sichtlich, daß in Ihren Daten rumgepfuscht worden ist. Kann sein, ich habe Ihnen keinen Gefallen getan.« »Warum haben sie’s dann gemacht?« rief Leeta, den Tränen nah. »Wieso pfuschen Sie in meinem Leben herum?« Sie starrte in Sarsas Augen. Sie erhielt beherrscht und in maßvollem Ton Antwort. »Dr. Dobra, wenn Sie es wollen, können Sie selbstver ständlich heimkehren und sich zum Psyching melden, dabei ausplaudern, wer Ihre Daten gefälscht hat und warum. Ich habe gar nichts dagegen. Ich bin die Risiken in voller Kenntnis ihrer Tragweite eingegangen. Bloß sagen Sie mir vorher über Ihre Absicht Bescheid, damit mir genug Zeit bleibt, um ein Raumschiff zu stehlen und schleunigst aus der Direktoratssphäre zu verschwinden.« Leeta spürte, daß sie eine trockene Kehle hatte. »Freilich ist es auch wirklich ganz schön viel, was da so plötzlich auf Sie einstürmt«, ergänzte Sarsa. »Ich glaube
Ihnen gern, daß es Sie verflucht aufregt... daß Sie am lieb sten die Möglichkeit solcher Vorgänge leugnen würden ... und mich dem nächstbesten Direktoratssupervisor auslie fern ... Stimmt’s?« »Nun ja ...« Leeta legte sich nicht fest; das Logische des Erläuterten überwältigte sie, und sie fühlte sich nicht dazu fähig, Rita böse zu sein. Ritas Grinsen begann breiter zu werden. »Aber ich habe das in Kauf genommen, weil ich Sie gut leiden kann, Doktor. Jawohl, ich habe auch geglaubt, daß Sie da draußen ‘ne verschollene Kolonie entdecken werden. Ich wollte dabei sein, wenn’s soweit ist, und ich dachte mir, um das zu erreichen, halte ich mich am besten an Sie. Und ich habe mir überlegt, daß ‘s vorteilhafter für Sie ist, Ihre Aufgabe mit freiem Geist und scharfem Verstand angehen zu kön nen. Chem ist für den Fall mitgeschickt worden, daß das Psychen Ihre Fähigkeit, dem Direktorat nützlich zu sein, zerstört hätte. Außerdem steht Ihnen, falls ich mich in Ihnen täusche, immer noch der Weg offen, sich von den Wasserköpfen nach Debilien versetzen zu lassen.« »Vielen Dank«, maulte Leeta. »Keine Ursache.« Sarsa lächelte. »Ahm ... Hören Sie zu, ich habe Ihnen tatsächlich allerhand zugemutet. Manche meiner Behauptungen kommen Ihnen sicherlich völlig abwegig vor... Aber gönnen Sie sich Zeit zum Nachdenken. Letztendlich müssen Sie selber für sich ent scheiden, ob ich recht habe oder mich irre. Ich brauche nur rechtzeitig zu wissen, ob ich mir ‘n schnelles Schiff klau en muß, sobald diese Atlantis-Mission vorbei ist.« Ratlos hob Leeta die Hände. »Ich sage Ihnen früh genug Bescheid.« Sie schluckte, um die Trockenheit ihrer Kehle zu beseitigen. »Nur ist es so ... Wissen Sie, es ist mir zuwi der, aber ich habe das Empfinden, ich neige dazu, Ihnen zu glauben.« Hörbar entließ Rita angestauten Atem aus dem Brust korb, lehnte den Kopf zurück. »Ja, ich dachte mir, daß die
Indoktrination, die man Ihnen im Laufe der Jahre einge trichtert hat, bei Ihnen weniger nachhält. Ich glaube, ich habe an dem Abend in der Bar angefangen, mich für Sie zu interessieren.« »Warum?« Leeta legte den Kopf seitwärts, furchte die Stirn. »Wieso für mich?« Sarsas Wangen bekamen Grübchen, als sie versonnen die Lippen verzog. »Weil Sie Träume haben, Leeta. Das ist es, was die Menschheit gegenwärtig am dringendsten nötig hat. Und ... und mein ... mein Mann hat mir verdeut licht, daß es im menschlichen Dasein keine größere Gabe als die des Träumens gibt.« * * * Eisenauge bemerkte im weichen Untergrund Hufab drücke von Pferden. Zu der ersten Fährte stießen eine zweite und dritte. Er zügelte sein Reittier, fragte sich, warum Philip nicht das unübersichtliche, felsige Terrain ringsum nach einem Hinterhalt ausspähte. »Hier waren drei«, brummte Eisenauge, spürte ein Pochen in seinem kleinen Finger. Er hatte zu heilen an gefangen und juckte deswegen. »Unsere?« fragte Philip in neutralem Tonfall. »Weiß ich nicht«, antwortete Eisenauge. »Komm. Sie werden irgendwo lagern.« Durchdringenden Blicks musterte Philip seinen Be gleiter. Endlich sprach Eisenauge die Frage aus, die ihm schon lange auf der Zunge lag. »Was hat das alles zu bedeuten?« Philip schöpfte tief Atem. »Unsere Welt geht ihrem Ende entgegen, Bruder.« »Neuerdings nennst du mich dauernd Bruder.« Eisen auge ließ die Stute — weil sie andere Pferde roch, hatte sie die Ohren gespitzt — den Weg suchen. Philip zuckte die Achseln, den Blick nun auf die hö hergelegenen Felsen gerichtet. »Seit dem Moment an, als
wir uns auf den Gipfeln der Bärenberge trafen, John, besteht zwischen uns ein sogar noch engeres Band als zwi schen Brüdern. Was wir jetzt gemeinsam haben, reicht tie fer, ist verbindender, bedeutsamer als ein gemeinsamer Mutterleib, stärker als das Blutsband zwischen Vater und Kind.« »Und was ist das?« erkundigte Eisenauge sich spöt tisch; er war verdrossen, weil das Aufspüren der Santos sich hinzog, sein gewaltiger Haß trieb ihn vorwärts. Als Philip in gespenstischem Raunen antwortete, rührte er an bestimmte Saiten von Eisenauges Seele. »Unsere Bestimmung ... Bruder.« Eisenauge biß sich auf die Lippe, betrachtete die Fels wände, die rundum emporragten. Das Wetter von Jahr tausenden hatte den Stein gezeichnet, scharfe Kanten abgeschliffen, Risse und Spalten ausgewaschen. An dür ren Wurzeln hingen Korksträucher, Degengras, Dornbüsche und Säulengewächse über den Pfad, rangen dem ausgedörrten Land gerade das Nötigste zum Leben ab. In der Höhe hatte der Himmel, wo keine Wolken ihn verbargen, eine schwache Blau-Grün-Färbung ange nommen. Im Osten wurde ein Schimmer Zweiten Monds sichtbar. »Diese Anderen«, sagte Eisenauge. »Kommen sie von der Erde?« Philip machte eine verneinende Geste. »Ursprünglich ja. Aber jetzt kommen sie von den Sternen.« Während er weitersprach, dabei mehrfach stockte, senkte er seine Lautstärke. »Ich ... ich habe in meiner Vision wenig ge sehen, John Smith. Ich weiß, daß sie wie das Volk sind. Auch sie sind einmal vor den Sobjets geflohen, in den Weltraum, weißt du, um dem Roten Stern zu entgehen. Jetzt haben sie uns gehört... Das Funken haben sie gehört. Deshalb kommen sie ...« »Aber was wird geschehen?« rief Eisenauge. »Werden
wir gegen sie kämpfen? Sind sie unsere Freunde? Was müssen wir tun?« Er schwang die Fäuste, um seine Er bitterung zu zeigen. Philip verkniff die Lider, wand sich wie unter Qualen. »Ich habe ... ich habe Krieg gesehen. Blitze blauroten Lichts habe ich geschaut. Gegenstände schössen durch die Luft. Entsetzliches habe ich sehen können ... Fliegendes ... Brennendes. Da waren ... Dinge, die ich nicht begriff. Fremdartiges war da, für das ich keine Wörter weiß ... Nur in Visionen, die ...« »Aber werden wir SIEGEN?« brüllte Eisenauge in äu ßerster Gereiztheit. Philip ballte die Hände zu knochigen Fäusten, an seinen Armen wellten sich die Muskeln auf- und abwärts. Seine Kinnmuskulatur zitterte, aus innerer Aufgewühltheit klap perten ihm fast die Zähne. »Du verlangst Auskünfte, die nicht einmal ein Prophet dir geben könnte!« Philip hob die jetzt zu einer flehentlichen Gebärde geöffneten Hände. »Hörst du eigentlich nie zu, Eisenauge? Die Wege der Propheten und Krieger sind verschieden. Laß allem seinen Lauf, bis dein Cusp da ist, du deine Entscheidung fällen mußt. Treibe mich nicht in den Irrsinn!« Eisenauge nickte, seine eigenen, allzu starken Emo tionen kaum zu mäßigen fähig. »Also gut, Bruder. Ich werde, was das angeht, den Mund halten. Es soll mir genü gen, wenn wir die Santos finden. Sobald ich Großer Mann von den Santos getötet habe, können die Sternenmenschen mich mal kreuzweise.« Philip wich die Farbe aus dem Gesicht, als wäre in ihm ein Stöpsel gezogen worden. »Das wird deine Ent scheidung sein, Eisenauge. Mehr kann ich dir nicht sagen, will ich meine Seele nicht ewigem Wahnsinn überlassen ... Nur... flößt deine Besessenheit mir Angst ein. Du hast das Schicksal des Volkes in der Hand ... und meins. Spinne allein weiß, ob du deiner Aufgabe würdig bist.« Eisenauge hob den Kopf, spürte insgeheim Ansätze ern
ster Besorgnis. »Was haben diese sonderbaren Worte zu bedeuten, Vetter?« Philip Smith Eisenauge schloß die Augen wie jemand, der Schmerzen litt. Um seinen Mund hatten sich Falten gebildet, als wäre er plötzlich weit über seine Jahre hinaus gealtert. Wieder schlotterte sein Kinn, während er nach drücklich den Kopf schüttelte. Als er die Weigerung seines Vetters sah, ihm zu ant worten, trieb Eisenauge verärgert seine Stute an. »Was ist das für ein Wahnwitz?« knirschte er durch zusam mengebissene Zähne. »Die Welt ist ja verrückt geworden.« Sie folgten fortgesetzt der Fährte. Eisenauges Blick schweifte ständig über die Felsen, achtete auf Anzeichen eines Hinterhalts. Ein Pferd wieherte, ein Mensch schrie, gedämpft hall ten Echos von den Wänden einer Schlucht wider, zeugten von Schrecken und Schmerz. Eisenauge zügelte das Pferd, wie durch Zauberei hielt er auf einmal das Gewehr in der Hand. »Nur ein Tölpel tappt in eine Falle der Santos«, mur melte Eisenauge wachsam. »Spinne behüte uns.« »Dort sind Spinnenkrieger«, sagte Philip mit aus druckloser Stimme. »So?« meinte Eisenauge, wölbte die Brauen, beobach tete die Felsen, die vor ihnen aufragten. »Ich habe meine nahe Zukunft gesehen, Eisenauge. Es ist nicht hier, wo du entscheiden wirst, ob ich lebe oder sterbe. Nein, diese Männer sind Spinnenkrieger.« Deprimiert sank Philip im Sattel zusammen. »Wieder so eine Vision?« Mürrisch suchte Eisenauge mit den Augen die hohen Felsen ab. »Ja«, antwortete Philips dumpfe Stimme. »In wenigen Sekunden wird Freitag Garcia Gelbes Bein über den Findling dort spähen, um zu sehen, wer wir sind.« »Was war das dann für ein Schrei?« Eisenauges Finger umfaßten das geschnitzte Holz des Gewehrs fester; es
machte ihn froh, eine greifbare Tatsache in der Hand zu halten. »Die Krieger haben einen Santosspäher gefangenge nommen.« Philips Miene war teilnahmslos, als wäre er tat sächlich der Überzeugung, ihm stünde unausweichlich ein baldiger Tod bevor. Eisenauge bemerkte das vorausgesagte Ereignis. Er richtete das Gewehr auf den erwähnten Findling und sah, wie sich langsam ein Kopf über den Rand des Fels brockens schob. Hinter dem schmalen Korn an der Mündung der Waffe erschien das Gesicht Freitag Garria Gelbes Beins — und verschwand einen Sekundenbruch teil später wieder, als er das Gewehr sah. Eisenauge senkte die schwere Waffe. »Freitag! Komm raus! Ich habe dich erkannt.« Hinter dem Felsklotz war ein Schnarren zu hören. Diesmal zeigte das Gesicht sich kurz an der Seite des Findlings, ehe es erneut ruckartig außer Sicht verschwand. »Bei Spinnes heiligem Namen, John Smith Eisenauge, diesen Freitag kennst du nicht«, johlte Freitag. Eisenauge legte den Kopf schräg/ sah skeptisch Philip an. »Und wie ist das erklärlich, Freitag?« »Weil der Freitag Gelbes Bein, den du kanntest, ein tap ferer Mann war«, lautete die Antwort. »Aber dieser Freitag Garcia Gelbes Bein, den du jetzt siehst, spähte über einen Felsen, um zu schauen, wer da kommt. Keine besondere Leistung für einen tapferen Mann ... der er blieb, bis er in die Mündung eines so großen Schieß prügels blickte.« Eisenauge lachte auf. »Und das macht dich zu einer anderen Person?« »Ja, Krieger! Der tapfere Freitag Garcia Gelbes Bein, den du gekannt hast, hätte beim Anblick dieses Gewehrs niemals soviel stinkiges braunes Zeug in seine Hose ver schossen, wie es der Feigling Freitag Garcia Gelbes Bein getan hat.«
Wider Willen lachte Eisenauge nun schallend laut. Ein Blick in Philips Gesicht zeigte ihm, daß es unverändert schlaff und welk aussah, die Augen unvermindert leer dreinstarrten, so als hätte er auch über diese Einzelheit längst Bescheid gewußt. Ein Schaudern schlimmer Vorahnungen lief Eisenauge über den Rücken. Noch fehlte ein letzter Beweis. »Und wer war’s, der eben geschrien hat, Freitag?« Freitag Garcia Gelbes Bein lugte nochmals über den Felsklotz, ehe er, sobald er sah, daß Eisenauges Ge wehrlauf nach oben zeigte, zum Vorschein und herab geklettert kam. Er war ein kleingewachsener Mann, der ein großes Bild Spinnes auf den Kriegsrock gemalt hatte. An seinem Gürtel hing ein einzelner Coup. Gelbes Beins Brust wirkte so breit, wie er groß war; auf krummen Beinen näherte er sich im Laufschritt, glänzendschwarze Zöpfe wehten ihm hinterher. »Nach dem grausamen Überfall der Santos sammelten wir Krieger uns, um ihre Verfolgung aufzunehmen. Viele Tage lang zogen wir auf ihrer Fährte in die Richtung der Berge. Dann haben wir gestern einen ihrer Kundschafter erwischt. Wie ein Narr versuchte er uns ein Pferd zu steh len. Wer Pferde stehlen will, sollte vorher erprobt haben, wie schnell er laufen kann.« Freitag neigte den Kopf auf die Schulter. »Er ist ein sehr starker Mann. Eigentlich hätte er schon gestern abend tot sein müssen.« Ein Gefühl der Kälte krampfte Eisenauge zusammen, erschwerte ihm das Atmen. Er widmete Philip nur einen flüchtigen Blick, er ahnte schon, daß er in dessen Augen nichts als Tatsachen sich spiegeln sähe. Alles war so ge kommen, wie sein Vetter es vorausgesagt hatte. Eisenauge nickte, versteifte sich auf seine Wut, um zu verhindern, daß sein Mut schwand. »Dann werden wir die Santos einholen können. Wenn es soweit ist, werde ich mir ihren Führer suchen, Großer Mann, und ihn töten. Jennys Geist wird erst frei sein, wenn sein Blut über meine Klinge
rinnt.« Der Zorn erfüllte ihn mit innerer Wärme und dem Gefühl der Rechtmäßigkeit, verscheuchte die Furcht vor Philips Worten, wie der Herbstwind Staub fortwehte. »Nein!« flüsterte Philip wie in höchster Pein. Eisenau ge drehte sich um, sah seinen Vetter noch erbleichen, bevor er sich, als wäre er körperlich krank, neben sein Pferd erbrach. Freitag Garcia Gelbes Bein, dem bei diesem Anblick sein normalerweise unverwüstlicher Humor verging, wich zurück und schluckte. »Was ist los?« fragte Eisenauge hitzig. Philip straffte sich im Sattel, wischte sich mit einem schmuddligen Lederärmel den Mund ab. Trotz der stillen Luft war seine Stimme kaum hörbar. »Soeben hast du mich ... und das Volk dem Verhängnis ausgeliefert. Du hast uns zum Tode verurteilt.«
7
Nach einer neuen Konferenz, die stattfand, während die Projektil in eine Kreisbahn um Atlantis einschwenkte, sprach Leeta Dobra Leutnant Sarsa an. »Hören Sie mal ... Es geht um die Unterhal tung, die wir hatten. Ich habe ausgiebig darüber nach gedacht.« Leeta spürte, wie sie die Stirn noch tiefer furchte. Sie mußte sich diese Unart abgewöhnen, oder eine dauerhafte Stirnfalte mußte daraus entstehen. »Es ist so ... Naja, was soll ich machen? Wenn ich nicht zu rückkehren kann, wohin könnte ich gehen? Ich meine ... Also, mein Leben lang habe ich geschuftet, um Anthropologin zu werden. Ich kann doch mein Lebens ziel nicht einfach aufgeben.« Rita senkte den Kopf, ihre Augen spiegelten Verson nenheit wider. »Nein, Doktor, das nicht. Aber dort unten ist ‘n ganzer Planet voller Romananer, die eine An thropologin brauchen.« Eine Wallung durchzog Leeta, als hätte sie eine Er leuchtung, ihr war, als strömte neues Leben durch ihre Adern. »Natürlich! Also kann mein Traum doch wahr wer den.« Sarsa brach in lautes Gelächter aus. »Na, jetzt spielen Sie aber mit Antimaterie, Doktor.« *
*
*
Atlantis füllte die Bildschirme der Kommandobrücke aus. Ree gelangte zu der Ansicht, daß der Planet schön war; und bei weitem nicht alle Planeten waren schön. Diese Welt empfand er als attraktiv, so wie die Menschen alle erdähnlichen Welten als attraktiv empfanden. Irgend etwas im Blut aktivierte etwas anderes im Unterbewußtsein, geradeso als riefe die Heimat. Immerhin
war ein Planet ja die ursprüngliche Geburtsstätte der Menschheit gewesen. »Monitoring-Aufzeichnungen kommen rein, Sir«, rief ein Leutnant. Widerwillig kehrte Ree den Bildschirmen den Rücken zu, um sich die aktuellen Daten anzuschauen. Endlich lagen Bilder einiger größerer Tiere vor. Nur die Pferde und Rinder hatten ein vertrautes Aussehen, der Rest umfaßte Getier von grotesker Fremdartigkeit. Darunter befanden sich auch merkwürdige Wesen mit zwei Wirbelsäulen, durch die sie wirkten, als wären sie zusammengeleimt worden, um das Äußere von Siame sischen Zwillingen zu haben. Auch Daten über die menschliche Bevölkerung gingen ein. Überall auf dem Kontinent, dem Montaldo scherzhaft den Namen Seestern gegeben hatte, bewegten sich Personen umher. Kleinere Gruppen waren allem Anschein nach auf Wanderschaft, manche hielten auf das Wrack der Nikolai Romanan zu, während andere anscheinend nach Osten zogen, in die Richtung der Berge und dessen, was dahinter lag. Tagelang kauderwelschten die Anthropologen schon über die demographischen Daten der Romananer; so hat ten sie Atlantis’ Bewohner nämlich letztendlich benannt. Theorien über Bewegungsprofile von Nomaden, Züge von Viehherden und zahlreiche sonstige fachwissenschaftliche Konzeptionen, alle abgeleitet von vergangenen Studien und Forschungen, bestimmten die Diskussionen im Konferenzsaal. Ree sah und hörte sich alles an und lernte dazu. Au ßerdem war es ihm gelungen, sich zur gleichen Zeit eine kleine Sammlung früher anthropologischer Speziallite ratur zu besorgen. Er hatte nicht den geringsten Durch blick, wenn Leeta und ihre Kollegen über Schamanismus, Initiationsriten, Verwandtschaftstypen, Exogamie, Sozialstrukturen und Ressourcenbeschaffung redeten. Oberst war Damen Ree keineswegs mangels Durchblick
geworden. Nun fehlte ihm nur noch die Zeit, um das ganze verdammte Zeug auch zu lesen. Drei Tage lang waren wieder in unterschiedlichen Ab ständen Funksprüche aufgefangen worden. Erneut war die Rede von Pferden und dem Zustand von Rindern; zudem wurde eine rätselhafte Anfrage aufgeschnappt, die dahin ging, in welchem Maße >Verlegung< — Verlegung von was? — erforderlich sei. Was mochte damit gemeint sein? Ree runzelte die Stirn. Leeta Dobra — an der er wach sendes Interesse verspürte — hatte ihm allen Ernstes ver sichert, die Äußerung über >Verlegung< sei die Erklärung für die zeitweilige Funkstille. »Es ist ganz offensichtlich«, hatte sie gerufen, sich zum erstenmal seit Tagen wieder lebhaft gezeigt. »Es erklärt ziemlich viel. Wir sind während der Schlußphase einer bedeutenden Festlichkeit eingetroffen. Deshalb hat vor übergehend kein Funkverkehr stattgefunden. Sie waren alle um das Raumschiff versammelt, um zu tanzen und zu feiern. Und diese Leute, die wir jetzt durch die Gegend wandern sehen, sind auf dem Heimweg.« Das klang einleuchtend. Eine Nachprüfung war ver sucht worden, und tatsächlich hatte man rund um das Wrack der Nikolai Romanan eine außergewöhnliche Menge Rauch entdeckt. Das paßte zu Leeta Dobras Theorie. Außerdem fühlte sich Ree — er erwischte sich beim Grinsen — schlichtweg für Dr. Dobra eingenom men, zu ihr hingezogen. Etwas an ihrer Weise, sich zu bewegen, brachte sogar ein altes Schlachtroß wie ihn in Versuchung. Er lachte vor sich hin, fasziniert von der Vorstellung, daß eine Frau noch sein Interesse wecken konnte. In letzter Zeit war sie allerdings reichlich zu rückhaltend gewesen. Zu sehen, daß ihre Stimmung sich wieder besserte, tat gut. Er heftete den Blick erneut auf die Bildschirme und gab durch sein Kontaktron eine Anweisung. Ein Bild mit Reitern erschien. Es handelte sich um die beste Aufnahme,
die sie bisher gemacht hatten. Auf einem Gebirgspaß ritten zehn dunkelhäutige Reiter durch einen felsigen, engen Hohlweg; ihre Augen suchten wachsam die Umgebung ab, die sie durchquerten. Die Männer besaßen einen sehnigen, drahtigen Kör perbau, manche zierte nur spärlicher Bartwuchs, während andere wahre Wälder von Bart am Kinn hatten; gekleidet waren sie in Lederhäute von Tieren. Unter jeder Pelzmütze lugte ein Gesicht mit falkenartigen Zügen in die Welt. Ihre Kleidung war mit bunten Abbildungen geschmückt. Einige hatten an den Jacken oder Gürteln Haarbüschel hängen. Das lange Rohr, das Ree bei einem der Männer quer überm Sattel liegen sah, war als Gewehr identifiziert wor den. Ree fuhr sich mit der Zunge über den Gaumen, wäh rend er die Waffe betrachtete. Natürlich hatten sie so etwas nötig. Riesige Raubtiere waren gesichtet worden. Gewaltige Bestien mit zwei Schwänzen und Fangarmen, die an den Enden Saugnäpfe aufwiesen; damit packten sie blitzartig ihre Beute. Mittlerweile hatten die hochlei stungsfähigen Kameras der Projektil eines dieser Ungeheuer dabei aufgenommen, wie es ein Kalb fraß. Selbstverständlich mußten diese Menschen Waffen haben. Sie lebten auf einer feindseligen Welt. Weshalb empfand er also diese vage Beunruhigung? Es hatte Staunen ausgelöst, als man die beiden Kanonen bemerkte, die das Hauptdorf der Romananer schützten. In der ersten Betroffenheit war gleich sorgenvoll über even tuelle kriegerische Aktvitäten spekuliert worden. Dann hatte man beobachtet, wie die Kanonen eines der Ungeheuer vernichteten, das sich zu nah an die Ortschaft wagte. Damit war sehr schnell auch das Problem geklärt gewesen. Die Verwendung von Kanonen war vollauf ver ständlich. Wer wollte schon so eine Bestie in seine Nähe lassen? Ree verengte die Lider, während er den vordersten
Reiter musterte. Was ging jetzt im Kopf dieses Mannes vor? Woran dachte er? Wie würde er reagieren, wenn das erste Anthropologenteam ihm über den Weg lief? Er schaltete das Bild weg und besah sich statt dessen die Statusanzeigen, entnahm ihnen, daß die Projektil in jeder Hinsicht mit höchster Effizienz funktionierte. Was die Einheimischen taten, spielte letzten Endes keine Rolle. Eine Horde schmutziger, abscheulich gekleideter, mit Schießgewehren bewaffneter Reiter konnte im Zweifelsfall einer Fliegenden Festung wie der Projektil nur belanglosen Ärger verursachen. Sie hatten nicht ein mal Flugzeuge, ganz zu schweigen von Raketen. Aber noch während er vor sich hinschmunzelte — selbstzufrieden das Bewußtsein überlegener Macht genoß —, empfand Ree, indem er sich an das hagere Gesicht des Reiters erinnerte, im Hintergrund seiner Gedankengänge zunehmendes Unbehagen. Der Mann gehörte nicht zu der Sorte Mensch, in deren Dunstkreis er Leeta Dobra ohne bewaffnete Eskorte lassen mochte. Ree nickte Anthonia Reary zu, die ihn auf der Kommandobrücke ablösen kam. Infolge der Anwesenheit der Anthropologen hatte das Essen sich für Ree zu einer Art von Ritual entwik-kelt. Er fand tatsächlich Vergnügen an der Gesellschaft dieser Akademiker. Zum erstenmal seit Jahren drehte die Konversation sich um etwas anderes als das Schlachtschiff und die Dienstvorschriften der Patrouille. Seit vom Arcturus eine Nachricht für sie eingetroffen war, hatte Dr. Dobras Verhalten sich verändert. Der Kummer in ihren Augen löste bei ihm rege Anteilnahme aus. Sie hatte irgendeinen schweren Schlag erlitten, dessen Natur er nicht einmal erraten konnte. Die Lebendigkeit, die er ihr vorher angemerkt hatte, war verflogen. Erst im Laufe der letzten Tage machte Leeta Dobra den Eindruck, als begänne sie sich zu erholen; vielleicht weil sie viel Zeit mit Sarsa verbrachte. Ansonsten blieb sie davon unbeeinflußt; vielmehr ver
tiefte sie sich doppelt so intensiv in die Arbeit. Sie behielt alles in der Hand, war eine gute, sogar erstklassige Vorgesetzte. Sie sah nicht nur glänzend aus, sondern hatte auch Köpfchen; um so mehr mußte man sie bewundern. Er nahm das Bordreglement zum Vorwand, um sich am Eßtisch den Platz neben ihr zu sichern. Während er ein Glas Wein hob, schaute er sich besinnlich die Umrisse ihres Kinns an. »Wissen Sie was? Ich habe mir noch einen Stapel Bücher über Indianer besorgt.« Sie warf ihm einen zerstreuten Blick zu und lächelte. »Lohnt sich die Lektüre für Sie?« Ree lachte leutselig. »Um die Wahrheit zu sagen, Doktor, bis jetzt habe ich noch keine Zeit zum Lesen ge funden. Aber ich muß erwähnen, wenn wir hier fertig sind und wieder den regulären Patrouillendienst versehen, werde ich genug Zeit haben, um selber in Anthropologie den Doktortitel zu erwerben.« »Ist es in der Patrouille denn dermaßen langweilig?« erkundigte Dobra sich, zog eine Miene angestrengten Überlegens, als brächte sie im Kopf verschiedene Daten miteinander in Korrelation. Sie war in Gedanken nicht bei der Unterhaltung. »Ist es«, bestätigte Ree. »Ihre Arbeit kommt mir viel aufre gender vor. Erzählen Sie mir doch einmal etwas über Ihre Tätigkeit an der Universität. Haben Sie sich immer mit derartig faszinierenden Daten zu beschäftigen?« Er neigte den Kopf zur Seite, Leeta zu, zeigte eine lockere Miene. Leeta hob die Schultern. »Überhaupt nicht. Leider muß ich gestehen, daß ich bisher mit nichts zu tun gehabt habe, das sich mit diesem Projekt vergleichen läßt. Wir machen hier Geschichte, Oberst.« »Ich habe mir nochmals den Reiter angesehen.« Einen Moment lang schwieg Ree. »Was werden Sie unter nehmen, wenn die Romananer sich feindselig verhalten?« In der Erinnerung sah er schwarze Augen mit durchdrin gendem Blick.
Leeta lachte. »Uns gegenüber werden sie nicht feind selig sein. Ich gehe davon aus, daß ihre Vergangenheit — die Sobjets, ihr Widerstand gegen sie, die Deportation zu den Sternen — ihnen nicht mehr geläufig ist. Falls sie eine kulturelle Überlieferung haben, dann wahrscheinlich in Form von Märchen oder Mythen. Mit Sicherheit werden sie in uns so was wie Himmelsgötter sehen.« Versonnen nickte Ree. »O ja, ich glaube, falls es erfor derlich wird, können wir auf Ihren Wunsch durchaus Blitze schleudern.« Er schaute ihr in die Augen und er kannte, daß vorübergehend Erheiterung ihren Trübsinn überwog. »Werden Sie sie instruieren, Ihnen einen Tempel zu bauen?« »Von mir aus sollen sie Bella Vola einen Tempel hin stellen.« Ihr Blick wurde wieder hart. »Ich bin’s satt, mit Heiligenverehrung belästigt zu werden.« Ree sah ihr an, daß ihre Trübseligkeit zurückkehrte. Ihr Tonfall sagte ihm alles. Ein Mann hatte ihr diesen Kummer bereitet. Durch seinen unauffälligen MiniKontakter übermittelte er seinem persönlichen Kom mandocomputer eine Notiz. Er beabsichtigte diskrete Erkundigungen einzuholen. Kommandeur eines Schlachtschiffs der Direktoratspatrouille zu sein, hatte seine Vorteile. »Trotzdem sind Sie es, die die Leitung des Projekts haben.« Ree versuchte es mit einem Scherz. »Tja, wenn diese Hirten Götter verehren, sind es bestimmt Kühe oder Pferde. Sie gäben zweifellos ein anziehenderes Tempelstandbild ab. Vielleicht wird man Ihnen sogar hau fenweise Gold und seltene Früchte als Geschenk zu Füßen legen.« Er merkte, daß ihr diese Vorstellung gefiel. Sie lachte leicht geistesabwesend. Ree wechselte den Ton. »Im Ernst, Doktor, wie sollten wir nach Ihrer Ansicht im Fall dieser Leute vorgehen? Offensichtlich kann man sie ja nicht einfach von ihrem ländlichen kleinen Planeten fortschaffen und zusehen las
sen, wie sie mit den etablierten Verhältnissen in der Galaxis allein fertigwerden.« Ihr Blick wurde scharf. Volltreffer! Nun galt ihm ihre volle Aufmerksamkeit. »Natürlich müssen wir als erstes ein grundlegendes kul turelles Profil ausarbeiten. Aber am liebsten hätte ich’s, der Planet würde irgendwie unter Quarantäne gestellt.« Sie blickte auf; ihre Stimme klang nervös. »Mißver stehen Sie mich nicht, ich meine keineswegs, Quarantäne zu unserem Schutz ... Es geht mir um den Schutz der Romananer. Denken Sie mal darüber nach. Wie leicht kön nen sie in dieser oder jener Beziehung zu Opfern werden. Zum Beispiel, noch ehe sie den Schock, uns vom Himmel herabsteigen zu sehen, verwunden haben, könnte hier schon ‘ne halbe Million Touristen umhertrampeln, von denen jeder sein Holo von ‘m echten Wilden haben will. So was meine ich mit Erscheinungen, deretwegen ich mir ‘ne Quarantäne wünsche.« Sie furchte die Stirn. »Etwas anderes, das ich gerne hätte, ist eine Forschungsbasis für langfristige Untersuchungen. Zum erstenmal seit fünfhun dert Jahren haben wir eine Gelegenheit, ein regelrechtes anthropologisches Forschungszentrum zu errichten.« Ihre Stimme bekam einen heiseren Klang. »Denken Sie nur an die Arbeit, die wir leisten könnten ... die Theorien, die sich überprüfen ließen ...« Ree hielt die Bemerkung zurück, die ihm durch den Kopf ging. Für eine so herausragende Wissenschaftlerin hatte sie soeben reichlich naive Wunschträume geäußert. Glaubte sie wirklich, die Universität könnte einen solchen Planeten für sich in Beschlag nehmen? Nur ein Direktor hatte die Macht, einen ganzen Planeten für den einen oder anderen Zweck zu reservieren. »Haben Sie vor, die Weiterleitung von Informationen an den Giga-Verbund einzustellen?« fragte Ree leise. Leeta Dobra warf ihm einen irritierten Blick zu. »Selbstverständlich nicht. Was ist denn das für eine Frage?«
»Montaldo hat auf dem nördlichen Kontinent eine Toron-Ablagerung von bemerkenswert reiner Zusammen setzung entdeckt. Die Information darüber ist schon ab gegangen. Außerdem werden Sie diese Menschen bereits dadurch verändern, daß Sie sich bei ihnen blicken lassen. Sie werden Konsequenzen der Abbautätigkeit bemerken, auch wenn sie auf einem anderen Kontinent stattfindet. Und man wird hier mit Sicherheit noch mehr Bodenschätze aufspüren. Das Toron ist lediglich der erste Rechtfertigungsgrund, um an eine Ausbeutung des Planeten zu gehen. Das ist bloß der Anfang.« Ree begeg nete ihrer Bestürzung mit ruhigem Blick. »Das hatte ich freilich vergessen. Natürlich haben Sie recht. Ich frage mich, ob es uns gelingen kann, ihnen zu erklären, was mit ihnen geschehen wird ... und die Folgen irgendwie abzumildern.« »Und was, wenn sie von vornherein gar keine Lust haben, zum Forschungsgegenstand zu werden?« Es be gann Ree Spaß zu machen, Dobra zu ködern und ihr Aussagen zu entlocken. Mißtrauisch musterte Leeta ihn. »Warum sollten sie sich weigern, wenn wir ihnen verdeutlichen, wie wichtig es ist?« »Weshalb sollten sie den Abbau des Torons ablehnen, wenn die Firmen ihnen erzählen, wie reich sie das machen wird?« entgegnete Ree. »Es gibt im Leben mehr als Reichsein«, erwiderte Leeta. »Ich bin der Überzeugung, daß das so unverdor benen Menschen wie den Romananern vollkommen klar ist. Bis jetzt sind sie noch mit nichts gekauft oder korrum piert worden.« Sie hob den Blick. »Sind Sie immer so zynisch?« Ree zuckte die Achseln. »Ich bin bloß Angehöriger des Militärs. Die Expertin für menschliche Gesell schaftsformen sind Sie. Ich habe mir nur Gedanken über die Weiterungen gemacht, die die Entdeckung der
Romananer zur Folge haben wird. Außerhalb Ihrer Uni versität liegt eine riesiggroße Galaxis.« Er schaute sie mit der unschuldigsten Miene an. Zunächst antwortete sie nicht, sondern überlegte an gestrengt, den Kopf in die Handfläche gestützt. »Ich glau be, sobald wir einen Begriff davon haben, wer sie eigent lich sind, sollten wir uns Pläne ausdenken, wie wir sie schützen können. Ihre Erhaltung garantieren ... Tja, es ist wohl so, daß sie für jede Art der Ausplünderung eine leich te Beute abgeben. Die alte Literatur ist voller grauenhafter Berichte über negative Akkulturation. Man hat gräßliche Sachen verbrochen. Seuchen, Kriege, Völkermord, Ausbeutung, Ausräuberei, Vergewaltigung, Folter...« Es schauderte ihr. »Wir müßten ...« »Ich bin sicher, daß genau das der Grund ist, weshalb der Direktor uns mit der Durchführung dieses Projekts beauftragt hat, Doktor.« Ree tatschte ihr zur Aufmunte rung auf die Schulter. »Wir sind hier, um sicherzustellen, daß Sie und die Romananer in Frieden gelassen werden, bis klügere Köpfe dazu imstande sind, die richtigen Schlußfolgerungen zu ziehen und über die künftige Disposition dieser Leute zu entscheiden.« »Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden ...« Nun musterte sie ihn mit einem unverkennbar abweisenden Blick. »War mir ein Vergnügen, Doktor.« Warum dieser giftige Blick? Verstört lehnte Ree sich in seinen Stuhl, trank aus dem Glas den letzten Schluck Wein. Wieder sah er das Bild des romananischen Kriegers vor sich, dem der Wind ins rauhe Gesicht blies. Es war schwer zu glauben, daß so ein Mann Schutz brauchen sollte. Aber das letzte Wort hat ten die Experten; und die endgültige Entscheidung lag, wie sich von selbst verstand, beim Direktor. *
*
*
Marty Bruk strich mit den Fingern über Bella Volas Rük-ken, schaute währenddessen zu der Holografie auf, die fast die ganze Wand ausfüllte. Er spürte Bellas leich ten Atem an seinem Arm, beobachtete die romananischen Reiter, wie sie den Paß erstiegen. In seinem geschulten Blick sahen diese Menschen für Planetenbewohner voll ständig normal aus. Die Sache mit Bella hatte sich ganz einfach so ergeben. Vorher hatten sie sich — an der Universität — kaum gekannt. Als sympathisch hatte er sie immer empfunden, jedoch hatte eine Beziehung zu einem anderen Mädchen, einer Studentin der Theaterwissenschaft, ihn daran gehin dert, sich näher für sie zu interessieren. Jetzt war er hier, und Bella war es auch. Es lief ganz gut. In seiner Phantasie malte Marty sich die Umrisse des Schädels hinter dem grimmigen Gesicht des ersten Reiters aus. Die Art und Weise, wie der Mann das Pferd ritt, ver riet nichts über seine Statur, Gangart oder die relative Länge seiner Arme in Proportion zu den Beinen. Atlantis’ Gravitation betrug das l,15fache der Erdnorm. Bruk erwartete keine erheblichen Abweichungen von den terra nischen Standardphänotypen; bei diesen Menschen mußte lediglich mit schwereren, in der Substanz etwas festeren Knochen gerechnet werden. Zum Teufel mit der allgemeinen Anatomie und lang weiligen Indizes, dachte Bruk. Er kannte viel präzisere Kriterien, die er als wichtiger erachtete. Wie stand es mit Variationen der DNS? Welche Aminosäuren waren ausge tauscht oder abgewandelt worden? Was für mi kroevolutionäre Faktoren hatten die einzigartige Anpas sung dieser Leute an Atlantis eingeleitet? Waren sie gegen neue Krankheiten resistent? In wievielerlei Beziehung hatte ihr menschlicher Körper sich verändert, um den Bedingungen dieser Welt entsprechen zu können? Sie mußten anders sein. Davon war Bruk fest über zeugt. Sie mußten sich von jeder anderen Population
menschlicher Planetenbewohner deutlich unterscheiden. Die Stationsbewohner hatten sich zu einer völlig neuen menschlichen Subspezies entwickelt. Die Menschheit umfaßte so viele Varianten, wie es Stationen gab. Genetische Verschiebungen, verstärkte Einflüsse ionisie render Strahlung, höhere Ligasenfreiset-zung beim DNSReplikationsprozeß — das alles resultierte in reicherer, in einigen Fällen von der jeweiligen Population selbst mani pulierter Diversifikation. Atlantis war anders. Der Planet war etwas Pures — unbeeinträchtigt durch den Lebensstil von Menschen in künstlichem Milieu. Hier hatte die Natur selbst den Menschen verändert, genau wie früher auf der prähisto rischen Erde. Hier waren Menschen vollständig vom Rest der Menschheit isoliert worden, während die Bewohner der Erde, Zions, Sirius’, Arpeggios und sämtlicher sonsti ger Siedlungsräume dem unablässigen Austausch der Gene unterlagen. Der ständige genetische Austausch innerhalb des den Menschen bekannten Weltraums ging zwangsläufig mit der örtlichen Zuführung neuer Charakteristika und dem Export anderer Eigenschaften einher, so daß permanent ein Verschmelzen und Vermischen des biologischen Erbes der Menschheit stattfand. Nur auf Atlantis, wo Menschen seit so langem in völliger Isolation lebten, konnte man noch das vollkommen unverfälschte Laboratorium der Natur vorfinden. Bruk war dermaßen in seine Gedanken versunken, daß er die Frau vergaß, die sorglos in seinem Arm schlief. Das Holo regte seine Phantasie fortgesetzt an, bis er sich sogar die DNS-Struktur des Reiters vorzu stellen versuchte. * * * Es kostete Leeta beträchtliche Mühe, die Augen offen und den Verstand klar zu halten. Sie wußte sich nicht ein mal daran zu erinnern, wann sie das letzte Mal geschlafen
hatte. »Wie steht’s?« erkundigte sie sich bei dem BioTech. »Ich kann nichts feststellen«, antwortete der junge Mann. »Was unsere Abteilung anbelangt, können Sie jederzeit hinunter. Durch die Mykobakterien, die wir in den Bodenproben gefunden haben, werden vielleicht klei ne Kongestionsprobleme auftreten, aber nichts, das sich nicht mit einem gewöhnlichen Antibiotikum beheben ließe.« »Prima.« Leeta spürte, wie ein Schwall von Aufregung und ihre Müdigkeit um die Vorherrschaft rangen. »Das war die letzte Hürde. Morgen fangen wir an.« Sie bedankte sich bei den BioTechs und strebte durch die kahlen Korridore zu ihrem Quartier. Sie war so er schöpft, daß sie beim Ausziehen ihre Kleidungsstücke in der ganzen Kabine verstreute. Es handelte sich um eine harmlose Form von Rebellion. Zum Teufel mit den Stationsbewohnermanieren! »Schlafsynch«, wies sie den Computer an. Ihre Stirn empfand das leichte Gewicht des Kontaktrons wie eine Zärtlichkeit. »Ach, Jeffray«, stöhnte sie unterdrückt. »Warum hast du mir das angetan?« Sie dachte an Oberst Ree. Die Absichten des Mannes waren offensichtlich, und sie schmeichelten ihr. Allerdings war er viel zu alt. Er war eindeutig nicht ihr Typ. Und was wäre, falls er je erfuhr, daß das Gesundheitsministerium an und für sich vorsah, ihr das Gehirn zu toasten? Und wen, verdammt noch mal, glaubte er eigentlich über die Tonne bügeln zu können? Nur Sarsa und die Anforderungen der Arbeit erleich terten ihr etwas die Belastung, die Jeffray ihr aufge zwungen hatte. Ganz egal, wie nachhaltig sie alles ver nünftig zu betrachten versuchte, es verhinderte nicht, daß sie unter Schuldgefühlen litt. Verflucht, was hätte sie denn machen sollen? Ihre Lebensaufgabe aufzugeben, nur um ihn zu bemuttern, war doch unzumutbar gewesen! Das Dasein war hart; sie konnte unmöglich die Verantwortung
für Personen übernehmen, die zu schwach waren, um die Härten des Lebens verkraften zu können. Aber wäre sie nicht irgend etwas zu tun imstande gewe sen ? Dieser Gedanke quälte sie, während sie sich hin- und herwälzte, sich dessen bewußt, daß sie den Effekt der Schlafsynchronisation vereitelte. Was hätte sie tun können? Halb außer sich, versuchte sie wieder einmal, das Problem zu bewältigen. »Jeffray, du Scheißkerl!« fauchte sie gepreßt. Er hatte kein Recht gehabt, ihr derartige Unannehm lichkeiten zu verursachen. Überhaupt kein Recht... Und obendrein hatte er sie denunziert und zur Psychingkan didatin gemacht. Vielleicht wäre alles anders gekommen, hätte sie nicht ein paar Tage lang mit Veld geschlafen? Nein! stellte ihr Verstand wütend klar. Was sie tat, war ihre Sache. Hätte sie sich womöglich einfach mit ihm zusammen setzen und mit ihm reden sollen? Hätte sie irgend etwas sagen müssen? Wäre es möglich gewesen, sein Ego ir gendwie so zu stärken, daß es ihm gelungen wäre, die Trennung zu verwinden? »Ich habe nicht gewußt, daß du so verzweifelt warst«, flüsterte sie, verspürte ein immer stärkeres Gefühl des Bedauerns. »Verflixter Hund, Jeffray, dafür hasse ich dich jetzt«, murmelte sie halblaut. Diese Erkenntnis verdutzte sie. Das war wirklich die größte Ironie. Der armselige Waschlappen hatte ihr eins auswischen wollen, aber auf grund seiner gewohnten Täppischkeit ging der Schuß nach hinten los. Er hatte es geschafft, daß sie ihn haßte. Das Schuldgefühl brachte sie dazu, ihn zu hassen. Sie haßte ihn, weil er ihr die Zeit stahl, die sie brauchte, um sich auf die Romananer zu konzentrieren. Sie haßte ihn wegen der seelischen Bürde, die er ihr eingebrockt hatte. Selbst sein letzter, gehässiger Versuch, ihre Zuneigung zu gewinnen, erwies sich als Fehlschlag. Erbärmlicher Hampelmann! Wie hatte sie es nur so lange mit ihm ausgehalten?
Erbittert fügte sie sich dem Einfluß der Schlafsynchron isation. * * * Leutnant Rita Sarsa blockte einen mörderischen Hieb ab. Unter Ausnutzung des gegnerischen Kraftaufwands wirbelte sie herum und versetzte dem Robot einen fürch terlichen Faustschlag in den Nacken. Einem Menschen hätte der Schlag augenblicklich das Genick gebrochen. Zu Ritas Befriedigung polterte die Maschine auf den Fußboden. »Siegpunkt«, konstatierte der Robot. Während sie um Atem rang, reckte Rita die Schultern, nahm sich ein Handtuch vom Gestell und rieb sich kräftig den Schweiß von Gesicht und Hals. Das Austoben gab ihr ein Gefühl äußersten Lebendigseins. Rita war an Bord der Projektil Inhaberin des Kampfsportpokals der Frauen — eine Tatsache, auf die sie außerordentlichen Stolz emp fand. Sie zog sich aus und betrat die Dusche; laues Wasser spülte ihr den Körpergeruch der Anstrengungen von der Haut. Gleichzeitig hatte das euphorische Gefühl des Aufgemöbeltseins, wie es aus harter Körperertüchtigung resultierte, auf sie eine entspannende Wirkung. Neben ihr duschte Anthony, der als Funkoffizier Dienst tat. »Hast du gewonnen?« rief er. »Mit knapper Not, Tony.« Sie erwiderte sein Grinsen. Sie beide hatten einmal ein kurzes Techtelmechtel gehabt. Rita fand ihn ganz nett, doch es fehlte ihm einfach am Elan und am Dynamischen, das sie sich bei einem Mann wünschte. Wie in jeder ihrer Beziehungen hatte sie auch ihn immer stärker auf die Probe gestellt, schließlich unauf hörlich mit ihm konkurriert. Dabei war ihr Verhältnis ziemlich rasch abgekühlt. Tony hatte nur genickt und seine Uniform angezogen. »He, Tony«, rief Rita halblaut. Er drehte sich um. »Wollen wir mal zusammen essen, wenn ich diesen
Sonderauftrag erledigt habe?« Sie legte den Kopf schief. »Es geht um nichts Ernstes, daß wir uns nicht mißver stehen. Bloß um ‘ne Gelegenheit zum Unterhalten, ‘n biß chen gemütlich rumzusitzen und ein paar Dinge zu berei nigen.« Er ahnte ihr insgeheimes Bedürfnis nach Aussöhnung. »Ja, Leutnant, hört sich gut an. Von mir aus gern. Kann sein, wir verstehen uns wie Katz und Hund, aber ich ver misse deine schwungvolle Art.« »Freunde, ja?« rief Rita. Er zwinkerte ihr zu, nickte, winkte und ging. Rita stieß ein Brummeln aus und verließ die Dusche, um sich abzutrocknen. Seit dem Zusammenbruch ihres Ehemanns war ihr Leben in ein unübersichtliches Tohu wabohu nach dem anderen geraten. Aus Ängstlichkeit prüfte sie nun die Männer, die attraktiv auf sie wirkten, auf das Verhandensein irgendwelcher schwerwiegender Mängel. Bis jetzt hatte allen, die sie kennengelernt hatte, jeder Funke von Charakterstärke gefehlt. Sie ließen sich schikanieren, so wie Tony, zogen viel zu schnell den Schwanz ein. Vielleicht hätte sie das Psyching vertragen können. Der bloße Gedanke hatte zur Folge, daß ihr eisige Kälte bis ins Mark zu sickern schien. Das Bedürfnis, sich mit anderen zu messen, hatte sie — mindestens so sehr wie ihre Abneigung gegen das Direktorat — in die Patrouille getrieben. Innerhalb dreier kurzer Jahre war sie dank ihrer Fähigkeiten, Intelligenz und Schläue in den Leutnantsrang aufgestiegen, obwohl ihre Mitbewerber Akademiker gewesen waren, die in der Patrouille eine jahrelange Ausbildung genossen gehabt hatten. Allerdings hatten sie sich an die Regeln gehalten; und so etwas lehnte Rita völ lig ab. »Immer mußt du mit dem Kopf durch die Wand, altes Mädchen«, rief sie gereizt, warf sich, als ihr Sinn für trockenen Humor sich durchsetzte, das nasse, rote Haar
über die Schulter. Sie betrachtete sich im Spiegel und grin ste. »Und je dicker die Wand, um so besser. Und jetzt mußt du auf ‘ne Hammelherde weichlicher Anthropologen auf passen, Liebchen. Heiliges Kanonenrohr! Herzlichen Dank, Oberst.« Rita kleidete sich an und schaute nach, ob ihr Gepäck komplett für den Hinabtransport auf den Planeten be reitlag. Anschließend beeilte sie sich zu den Forschern. Und was sollte sie im Fall Leetas unternehmen? Die Frau stand jetzt praktisch unter ihrem Schutz. Hatte sie irgend eine fatale Schwäche, die sie ins Verhängnis stürzen könn te? In Ritas ausgeprägter Vorstellungskraft lauerte ständig das Gespenst des Militärgerichts, des Psy-chings oder der Todesstrafe. »Erst müßt ihr mich kaschen«, nuschelte sie aus dem Mundwinkel. »Das Direktorat kann mich mal ...« »Guten Tag, Leutnant«, begrüßte Leeta sie — und blin zelte ihr zu. Ihre blauen Augen spiegelten Erregung wider, richtige Lebhaftigkeit. War die Doktorin also womöglich über den Berg? »Ihre Ausrüstung ist wunschgemäß ins Shuttle geladen worden.« Rita lächelte und nahm es sich im selben Augenblick übel. »Wir können ablegen, sobald Sie Ihre Leute zusammen haben.« »Prächtig.« Leeta aktivierte ihr Kontaktron und bat die Landungsteilnehmer, sich auf dem Shuttledeck zu treffen. »Kommen Sie, Doktor, wir machen eine Besichtigung.« Das Shuttle beeindruckte Leeta genug, um sie zu häufi gem Lächeln zu bewegen. Befestigt an großen Klammern einer Startvorrichtung wartete der Flugapparat auf den Einsatz; der Bug lief nadelspitz zu, der Rumpf endete hin ter vier Stummeltragflächen in den gruseligen Löchern der Düsen eines Fusionsantriebs. Dobra ließ sich unverkenn bares Interesse anmerken. »Die Kiste gefällt Ihnen, hm?« Rita stemmte die Fäuste in ihre Hüften.
»Wieso ‘n Fusionsantrieb?« fragte Leeta und wandte sich um. »Aus ‘m ganz einfachen Grund: Wasserstoff kann man überall finden«, erklärte Rita. »Fusionstechnik erfordert im Gegensatz zu Antimateriereaktoren keine starken Stasisfelder. Außerdem braucht sie weniger Monitoring und nicht soviel Computerunterstützung. Selbst bei einem neunzigprozentigen Ausfall des Computers und der elek trischen Anlagen kann sogar eine Einzelperson dieses Schätzchen noch fliegen. Auch Sie könnten’s zurück zur Projektil bringen, Doktor.« Während ihrer Erläuterungen entnahm Rita einer Schublade eine Art Schutzanzug und begann ihn überzustreifen. Er schmiegte sich wie eine zweite Haut an ihre Gestalt. »Was ist das?« erkundigte sich Leeta. »Muß ich auch so was überziehen?« Rita schüttelte den Kopf und grinste. »Ich glaube nicht, Doktor. Zumal Sie wohl überhaupt nicht damit zurechtkä men. Das ist ein Schutzpanzer.« »Rita, ich glaube wirklich nicht, daß wir so etwas be nötigen«, sagte Leeta mit merklichem Mißfallen. »Das sind Primitive. Sie haben bloß Flinten und zwei altmo dische Kanonen.« »Vertrauen Sie mir und machen Sie sich keine Sorgen. Das Tragen der Panzerkleidung ist bei jeder Erster kundung dienstlich vorgeschrieben. Hier weicht nur eins von der Routine ab: Daß Sie sie nicht anlegen müssen.« Leeta verkniff den Mund und zuckte die Achseln. »Fertig?« Rita schwang sich hinauf zur Schleuse. Dobra stutzte und zögerte, als sie plötzlich Professor Chem sah. »Sie können unmöglich mit, Emmanuel«, rief Leeta. »Es wäre Ihr Tod.« Bei ihren Worten verzog sich sein Gesicht zu einem herzlichen Lächeln. »Nein, nein, Leeta ...« Seine Stimme klang weich und heiser. »Ich bin nur da, um Ihnen viel
Erfolg zu wünschen. Ihnen steht etwas Großes bevor. Ich wollte, ich wäre ein wenig jünger.« Sein Tonfall zeugte von Traurigkeit. Der Alte nickte kaum merklich vor sich hin. Seine sanf ten, braunen Augen waren verschleiert, als er sich straffte und aus der Schleuse kletterte. Er bewegte sich langsam und präzis, seine gebeugte Erscheinung wirkte um so ecki ger, weil er eine beinahe absichtlich übertriebene Umständlichkeit an den Tag legte. »Ich hoffe«, meinte Leeta leise, »er macht’s nicht wie Jeffray und gibt den Löffel ab.« »Darüber zerbrechen Sie sich später den Kopf, wenn’s mal soweit sein sollte«, brummte Rita in Leetas Ohr. Sie checkte bei jedem der Wissenschaftler die Si cherheitsgurte. Wunder über Wunder: Anscheinend hatten sie alles richtig gemacht. Summtöne geisterten durch das Kontaktron, während man die Kommunikationsfunktionen überprüfte. Rita lauschte auf die routinemäßigen gegenseitigen Durchsagen des Piloten und der Kommandobrücke. Die Schleusenluke fiel zu, Rita spürte ganz schwach einen Ruck, als das Shuttle aus dem Raumschiff katapultiert wurde und auf den Planeten zuschoß. Sie musterte Dr. Dobra, die im Gurtsystem lag, die Augen auf den Monitor gerichtet, der Atlantis zeigte, wie er unter ihnen rotierte, das sichtbare Viertel vom Terminator halbiert. Jawohl, sie erholte sich, fand sich mit der Realität ab, war zu Neuem bereit. Mit ihr hatte man an der Universität eine gute Wahl getroffen. Ein Punkt für die Rote Rita. Der Landungsflug dauerte keine zwanzig Minuten. Im Shuttle bekam man die Atmosphäre nur durch ein ungleichmäßiges Vibrieren zu spüren; dann hörte man Luft vorbeipfeifen. Wider Willen empfand Rita ein Krib beln der Aufregung. Wenn sie bloß nicht untätig herum stehen mußte!
Es war beschlossen worden, in dem offenen Flachland zu landen, das sich östlich der Bergkette und südöstlich der Nikolai Romanan erstreckte. Von dort aus lag das Dorf weniger als eine Airmobil-Flugstunde entfernt, und auch die beiden größten Stämme am Rande des besiedelten Gebiets ließen sich vom dortigen Standort aus ähnlich leicht erreichen. Sobald das Shuttle aufsetzte, erklang die Stimme des Piloten. »Keine Menschen oder größeren einheimischen Lebensformen in Sichtweite. Wenn Sie wollen, können Sie von Bord gehen.« »Dann mal los!« ordnete Leeta an, als sich die Luke öff nete und der Antigravlift aktivierte. Rita schlang den Blaster um die Schulter und überholte Leeta auf dem Weg zum Ausstieg. Der Frau stand die Erregtheit unverhohlen im Gesicht geschrieben. »Verzeihen Sie, Doktor«, sagte sie in umgänglichem Ton. »Ich will Ihnen nichts streitig machen, aber ich muß zuerst hinaus.« Sichtlich verärgert schluckte Leeta; dann jedoch nickte sie widerwillig. »Nach Ihnen, Leutnant.« Rita trat ins Antigravfeld und führte ihre fünfzehn Patrouillensoldaten auf die Planetenoberfläche hinab. Markig erteilte sie Befehle, schaute beifällig zu, wie die Soldaten einen Perimeter sicherten. Leeta trat ebenfalls in den Antigravlift und schwebte federleicht hinunter auf die Oberfläche. Als sie das An tigravfeld verließ und wieder unter den Einfluß normaler Schwerkraft gelangte, stolperte sie und fiel beinahe auf die Nase. Die Frachtluken des Shuttles schwangen auf, und Rita wies Soldaten an, die Ausrüstung zu entladen. Die frische, angenehm duftende Luft bereitete ihr ein sinnliches Vergnügen. Im schwachen Wind ließen sich Gerüche nach Wildheit und Freisein schnuppern. Es roch nach Leben, nach Gras, Erdreich und Staub, auch dem Moschusduft
von Moder, alles durchmischt mit Andeutungen von Feuchtigkeit Wärme und Vitalität. »Wie wundervoll«, hörte sie hinter sich Vola sagen. »Zu dumm, daß wir arbeiten müssen, Marty.« Vola gab einen romantischen Seufzer von sich, der tief im Innern Rita Sarsas eine Irritation bewirkte. »Nun will ich hier aber bald mal ein Lager stehen se hen!« schrie Rita den Patrouillensoldaten zu. »Legt euch ins Zeug, wir sind nicht zum Däumchendrehen da! Los doch, Leute, los doch, ‘n bißchen zackig!« Unter Sarsas Kommando waren die Soldaten leistungsfähiger als die Wissenschaftler. Ritas Untergebene bewährten sich als Musterbilder der Effizienz und errichteten das Basislager innerhalb von Minuten. Man hätte meinen können, sie hät ten es vorher tausendmal geübt. Die Schatten und die wechselnde Position der Sonne waren unheimliche Phänomene. Wie lange war es her, überlegte Rita, daß sie zuletzt unter freiem Himmel ge standen hatte? Und außerdem gab es hier Geräusche. Selbstverständlich existierte auch in einer Station oder einem Raumschiff immer eine Geräuschkulisse. Hier je doch verhielt es sich anders. Statt des Summens von Maschinen und Apparaten hörte man ein ununterbro chenes Säuseln von Wind, das Rascheln von Gras und Kleintieren. Wilde, ungebändigte Lebenskraft umgab sie. Ein friedloser Bestandteil der leidgeprüften Seele Ritas wurde davon angesprochen. »Vielleicht ist uns in den Stationen etwas entgangen«, sagte Leeta versonnen, blieb neben Rita stehen und schau te ins von der Brise gewellte Grasland aus. Obwohl die Bemerkung der Ärztin mit ihren Gedanken und Empfindungen korrespondierte, hob Rita die Schultern. »Es gibt eben nicht so viele bewohnbare Pla neten. Die Stationsbewohner sind mit ihrer Lebensweise zufrieden. Sie fragen sich, wie der Rest der Menschheit ohne ihr Gemeinschaftsgefühl zurechtkommt. Menschen
beurteilen die Wirklichkeit nach dem, was sie über sie wis sen.« Sie zögerte. »Ich kannte mal ‘n jungen Mann«, fügte sie dann in zynischem Tonfall hinzu, »der sein gesamtes Leben in Stationen verbracht hatte. Er hatte sich im Arcturus-System von ganz unten zum diplomatischen Gesandten hochgearbeitet, genau wie sein Vater. Folglich war er an Gravitation bestens gewöhnt, er kannte alles von null bis eins Komma sechs Ge. Er war ein sehr agiler, fle xibler Mann. Und er hatte das unwiderstehliche Bedürfnis, einmal den Fuß auf einen Planeten zu setzen.« Sarsa lächelte schwach vor sich hin, während sie sich erinnerte. »Und was ist aus ihm geworden?« fragte Leeta neu gierig. Ritas Lächeln entgleiste. »Oh, er bekam die Gelegen heit. Er wollte auf der Erde ins Freie und unter den Ster nen schlafen. Er traf nachts ein, und natürlich erfüllte man ihm seinen Wunsch. Das einzige Problem entstand an nächsten Morgen, denn als er aufwachte und sich umschaute, drehte er vollständig durch.« Sie betrachtete Leeta, wie um ihr dadurch den Ernst der Geschichte besser zu verdeutlichen. »Verstehen Sie, Doktor, er hatte noch nie freien Himmel gesehen gehabt. Er fühlte sich auf einmal vollkommen ungeschützt. Er ist sehr gründlich gepsycht worden, aber er war nie wieder der Alte.« »Anscheinend haben Sie ihn gut gekannt«, meinte Leeta, atmete die laue, feuchtwarme Luft ein und schwelg te im Schauspiel des Sonnenscheins. »Stimmt«, bestätigte Rita sachlich. »Er war mein Ehe mann, Doktor.« Dann stapfte sie zum Rand des Lager geländes, schaute über die kahle Ebene aus, hielt den lan gen Blaster vorsichtig in der Armbeuge. Selbst nach so vielen Jahren war der Kummer nicht geringer geworden. Leeta biß sich, als sie den Schmerz in Ritas Augen sah, auf die Lippe. Das war also das Geheimnis? Ritas
Ehemann hatte einen Traum gehabt — und der Traum war sein Untergang gewesen. Und trieb diese Erinnerung — oder eine in diesem Zusammenhang eingebildete Schuld — Sarsa zur Rebellion? Leeta empfand Mitgefühl und Sympathie für sie. Sie kehrte zur schon aufgebauten Laboratoriumskuppel zu rück, um die Installation der Ausstattung und Kommu nikationsrelays sowie die Lagerung der Kisten mit den Vorräten, von denen sie sich ernähren mußten, zu über wachen. Bruk hatte bereits das bekannte Bild der Berge und der Reiter an die Innenwand projiziert. Leetas Gedanken schweiften ab, als sie die von Lebendigkeit strotzende Kraft in den dunklen Augen erkannte. Sie bezeugten Leidenschaft und Stärke. Die Reiter wirkten hart, wie Menschen, die nicht bei jeder Kleinigkeit zu sammenklappten. Von solchen Männern hatte sie immer geträumt. Während sie den vordersten Reiter musterte, stellte sie sich vor, wie ihre Finger über die Umrisse seines energi schen Kinns strichen. So ein Mann hinterließe ihr keine Schuldgefühle und Gewissensbisse. Er bliebe ihr nicht mit ausschließlich seinen Schwächen und Schlappen im Gedächtnis. Die Erinnerung an ihn wäre keine Plage. Sie widmete dem Holo einen letzten Blick und ging die Wohnräume inspizieren. Ständig war sie sich des Planeten außerhalb der Kuppel bewußt, der sie anzog, anlockte wie mit den Klängen leisen Sirenengesangs. Hier bin ich, säu selte er immerzu verführerisch, komm und laß mich dich auf die Probe stellen, Sternenfrau. »Und hier bin ich«, flüsterte Leeta zur Antwort. »Ich habe meinen Traum und nichts zu verlieren, wenn ich ihn auslebe. Gib dein Bestes.«
8
Chester Armijo Garcia trieb sein Pferd auf den letzten Höhenkamm und blickte übers brau ne, grasige Flachland hinüber zum Lager der Ster nenmenschen. Er konnte das Sternenfahrzeug erkennen, seine dünne Spitze zeigte ins Tiefblau des Himmels. Das niedrige, erdfarbene Kuppelgebäude paßte gut in die Farbtöne von Erdreich, Gras und Felsen. Er nickte. Alles war so, wie es sein sollte. Nochmals drückte er dem Wallach die Fersen in die Rippen und spürte, wie das Tier gehorsam vorwärtsstreb te. Er war auf das Zureiten seines Pferds einmal gehörig stolz gewesen. Stolz war eine lächerliche Pose. Nur selbst gefällige, sinnlose Prahlerei; soviel hatte er inzwischen eingesehen. Mittlerweile beobachteten sie ihn. Sie kannten ihn schon seit einiger Zeit; dessen war er ganz sicher. Die Vision ließ daran keinen Zweifel, daß sie längst von ihm wußten. Der vom langen Ritt müde Wallach stolperte ein wenig. Es tat ihm leid, ihn so beansprucht zu haben, aber es spielte keine Rolle. Dies war sein letzter Ritt. Er konnte sie sehen. Sie verließen die Kuppel, etwa sechs Sternenmenschen waren es. Während er sich nä herte, vermochte er Geräte und Apparate zu unterscheiden, und in den Händen hielten sie gewöhnliche Ferngläser. Aha! Dort stand die Frau mit dem strohgelben Haar. Sie sollte große Bedeutung haben. Keine hundert Meter mehr, Chester zog an den Zügeln; der Wallach beäugte die Sternenmenschen mit aufgestell ten Ohren, überlegte vermutlich, ob er von ihnen Gras und etwas Kaltes zu trinken bekäme. So waren Pferde nun ein mal. Armijo Garcia schwang sich vom Wallach, sprang be
hend auf den Boden. Zum Zeichen der Freundschaft und um zu zeigen, daß er keine Waffe versteckte, hob er die Hände. Er wußte, daß sie nicht schießen würden, aber es gehörte sich einfach so, selbst für einen Propheten. Er führte das Pferd am Zügel und ging auf die beiden Frauen zu, die vorgetreten waren; die restliche Gruppe blieb im Hintergrund. »Willkommen auf Welt«, rief er zum Gruß. Eine der Frauen, die mit dem dunklen Haar, senkte den Blick auf ein Kästchen in ihren Händen. »Grüße.« Die tonlose Stimme des Kästchens über raschte Chester. Er hob die Schultern. »Ich bin da. Ich bin meiner Vision gefolgt.« Nun sagte das Kästchen etwas zu der Frau, offenbar in deren Sprache. Verblüfft begriff Chester schlagartig, daß die Ankömmlinge die Menschensprache nicht kannten. Das hatte die Vision ihm nicht enthüllt. Was mochte die Vision außerdem ausgelassen haben? Letzte Überbleibsel des Mannes, der er zuvor gewesen war, drängten ihn zur Flucht. Aber ungeachtet aller Unwägbarkeiten und Anwand lungen stand seine Bestimmung fest. Er schnallte den Sattel ab und warf ihn zu Boden. Das Kästchen wandte sich an ihn, aber er hörte nicht hin. Worte zählten nicht. »Kehr heim«, sagte er dem Wallach leise ins Ohr, drückte seinen muskulösen Hals, fühlte noch einmal seine ganze Zuneigung zu dem Tier. »Ich werde dich vermissen, mein teurer Freund. Aber jeder von uns muß sich seinem Schicksal beugen. Geh heim!« Er versetzte dem Tier einen Klaps auf den Leib und sah dem Wallach nach, wie er erst davontrabte, dann in leichtem Galopp in die Steppe lief. In ein paar Hundert Metern Entfernung blieb das Pferd ste hen, schaute sich über die Schulter um und fing sorglos zu grasen an. In schmerzlicher Trauer wandte Chester sich ab, hob das Gewehr auf und schlang sich den Sattel um die
Schulter. Er nickte ernst, als er an der verdutzten Frau vor beiging und die Richtung auf das Lager nahm. »Warte«, krächzte das Kästchen. »Wohin willst du?« Mit dem Kinn wies Chester voraus. »In euer Lager. Ihr habt Drähte, um sie an meinem Körper zu befestigen. Ihr besitzt Maschinen, die mein Inneres nachzeichnen und in meinem Blut lesen. Wie meine Vision es ankündete, bin ich zu euch gekommen. Haben eure Propheten euch nicht unterrichtet?« Im Vorbeigehen sah er Bestürzung in ihrer Miene. Die Augen der Frau mit dem feuerroten Haar ruhten mißtrauisch auf seinem Gewehr. Auch wenn diese Leute nicht die Menschensprache beherrschten, erkannte er trotzdem die Beunruhigung der Frau. Wortlos zog er das Gewehr aus der Hülle und reichte es mit dem Kolben vor aus der Frau. Ihr Mund stand offen, als sie die schwere Waffe entgegennahm. Die Sternenmenschen folgten ihm, das Kästchen quäk te ununterbrochen Fragen. Er mißachtete sie; er wußte den Weg. Im Kopf sah er, wie die Kuppel innen eingeteilt war, woraus ihre Einrichtung bestand. Der große, schwarzhaa rige Mann, auf den er zustrebte, platzte beinahe vor Wissensdurst. Armijo Garcia spürte, wie die Augen des Mannes ihm ins Körperinnere zu schauen versuchten. Er schenkte dem Schwarzhaarigen ein breites Lächeln. »Endlich begegnen wir uns, Knochenzähler. Hier bin ich. Du kannst anfangen, über mich Wissen zu erwerben. Die Frau mit den Fragen mag sie mit ihrem Kästchen an mich stellen, während du mit deinen Maschinen in meinen Körper blickst. Es wird eine Weile dauern, bis alle gelernt haben, wie Menschen zu reden. Nun werde ich zuhören.« Nachdem er das gesagt hatte, legte er den Sattel und die Satteltaschen neben der Tür ab und trat durch den Eingang. Der Knochenzähler sperrte die Augen weit auf. Chester hatte die Kuppel betreten, bevor die Sternenmenschen richtig verstanden, was geschah. Sein
Eindringen überraschte Wächter, aber sie schlossen sich ihm schnell an. Ein regelrechter Tumult brach aus, als er sich orientiert hatte und schnurstracks zu der Maschine ging, die er in der Vision gesehen hatte. Ohne eine Er klärung abzugeben, ließ Chester sich auf dem Sitz nieder und begann die Kleider auszuziehen. In wildem Durcheinander und wirrem Geschnatter drängte eine ganze Schar Sternenmenschen zur Tür herein. Die Blonde deutete auf ihn und sagte irgend etwas in ihrer Sprache. Wächter fummelten an Gegenständen, die sie an den Gürteln trugen und bei denen es sich wohl um Waffen handelte, während ihre Blicke voll Unbehagen zwischen ihm und der Rothaarigen hin-und herhuschten, der er das Gewehr ausgehändigt hatte. Sobald der große Schwarzhaarige sah, wo Chester Platz genommen hatte, glomm es in seinen Augen auf; erst nach einem raschen Blick hinüber zur Blonden erlosch darin das Funkeln. Unauffällig begann der Schwarzhaarige an der Maschine zu hantieren und warf dabei der Blonden dauernd verstoh lene Blicke zu. »Genug!« befahl Chester gebieterisch, hob eine Hand und machte so dem Wirrwarr und Lärm ein Ende. Die dun kelhaarige Frau lauschte auf ihr Kästchen und wandte sich anschließend halblaut an die Blonde. Die Blonde holte tief Luft und schüttelte, während sie eine Frage stellte, den Kopf. »Wer bist du?« übersetzte das Kästchen. »Ich bin Chester Armijo Garcia, Prophet des Volkes. Ich bin da. Ihr wünscht mich und mein Volk kennenzulernen. Ich bin gekommen, um mit euch an Bord des großen Schiffs zu gehen, das im Weltraum schwebt. Ich bin gekommen, um mit euch zu einem fernen Ort inmitten der Sterne zu reisen. Das ist mein Weg. Ich habe ihn in der Vision erblickt. Auch die Vier Alten haben ihn geschaut. Ich weiß nicht, warum ich auserwählt bin, aber es ist mir eine Ehre, dem Volk zu dienen.«
»Woher weißt du, daß wir *** sind?« fragte die Blonde. »Niemand hat uns *** gesehen. Unser *** hat eine leere *** gezeigt. Habt ihr ein *** das *** kann?« »Euer Kästchen spricht nicht allzu gut«, sagte Chester höflich. »Es braucht Zeit zum Lernen. Wir hatten nur die Funksprüche.« Die Augen der Blondine spiegelten Ver wunderung. »Habt ihr unsere Ankunft mit Fernsehfunk beobachtet?« Chester lächelte. »Unsere Funkgeräte sprechen nur. Sehen können sie nicht. Ich wußte aus der Vision, wo ihr eintrefft. Ich habe viele Tagesritte zurückgelegt, um hier zu euch zu stoßen.« »Das ist unmöglich«, hörte er aus dem Kästchen. Die Sternenmenschen unterhielten sich jetzt untereinander, hatten anscheinend vergessen, daß das Kästchen alles übersetzte. »Sie müssen eine Art von *** haben, die unsere ... ver folgt hat.« »Ausgeschlossen.« Die Rothaarige schüttelte mit Nachdruck den Kopf. Sie hatte in ein kleines Gerät an ihrer Hüfte geflüstert. »Das Raumschiff meldet keine *** unserer Landung. Außerdem ist sein Ritt beobachtet wor den. Schon zwei Tage vor unserer Ankunft hatte er aus den Bergen einen direkten Weg zu dieser Stelle ein geschlagen.« Die Augen aller Anwesenden richteten sich auf Che sters Gesicht. Die Blonde wirkte noch immer fassungslos, als könnte sie seinen Worten nicht glauben. »Du hast gewußt, sagst du, daß wir hier sein werden, an diesem Ort?« Chester gähnte und nickte zur Bejahung. Weshalb reg ten diese Leute sich so auf? Die Zukunft zu sehen, war doch eine leichte Sache. Die meisten Äußerungen, die sie taten, wurden von dem Kästchen nur sehr unzulänglich übersetzt.
Der Schwarzhaarige kümmerte sich um nichts, bedien te nur seine Maschine, an der er erregt auf einen Bildkasten starrte. Nun war der Zeitpunkt da, an dem er die Drähte an Chesters Brust festmachen mußte. Genau wie in der Vision streckte Chester die linke Hand aus, und der Schwarzhaarige klebte das am Ende des Drahts befindliche Ding auf die Haut. Erst als der Mann fertig war, schaute er Chester unsicher an und schluckte schwer. »Woher weißt du, was du zu tun hast?« fragte er, run zelte die Stirn, während er sich besah, was die Maschine ihm anzeigte. »Aus der Vision.« ehester lächelte. »Ich weiß es, so wie ich weiß, daß der Wind übermorgen den Metallmast umwehen wird. So wie ich weiß, daß drei weiße Schiffe am Himmel kämpfen werden. Ich werde auch dem Mann mit dem großen Kopf begegnen. Ich werde es um meines Volkes willen tun.« »Gequassel«, sagte die Blonde mit verpreßtem Mund. »Wer bist du?« fragte ehester, deutete mit ausge strecktem Finger auf die Blondine. »Ich wußte, daß ich dich kennenlerne. Du bist sehr wichtig.« »Ich bin Leeta Dobra«, stellte sie sich vor. »Wir sind zwischen den Sternen ein weites Stück geflogen, um uns über euer Volk Wissen anzueignen. Wir hatten aber nicht vor, es so bald zu tun. Ich muß sagen, du hast uns sehr überrascht.« »Ja. Doch es gab keinen Grund, um Zeit zu ver schwenden. Sage dem rothaarigen Kriegsweib, daß ich nicht fortzulaufen versuchen werde, und sie braucht keine Sorge zu haben, daß ich ihr Kriegsgewehr stehlen könnte. Ich werde auch nicht versuchen, ohne ihre Erlaubnis in das Schiff zu gelangen.« Ernst nickte Chester der sichtlich betroffenen Rothaarigen zu. Was für interessante Leute: Sie hatten weibliche Krie ger! »Kriegsweib, hast du viele Coups?« »Ich bin Leutnant Sarsa, Chester. Du kannst dich je
derzeit frei bewegen. Wie kommst du darauf,, ich hätte ein Kriegsgewehr? Und woher willst du wissen, daß ich Befürchtungen wegen des *** habe?« »Er hat *** nicht kapiert«, sagte die Schwarzhaarige mit dem Kästchen zu ihr. »Verwenden Sie lieber die Be zeichnung >Schiff<.« Saras wachsamer Blick ruckte zwischen der Schwarz haarigen und Chester hin und her. »Ich bin mir nicht si cher, ob das Ganze mir gefällt.« Ihr Blick bohrte sich durchdringend in Chesters Augen. »Kannst du Gedanken lesen?« übersetzte das Kästchen — wohl ziemlich wortge treu — ihre Frage. »Nein. Ich sehe Ereignisse, die in der Zukunft liegen. Ich kann auch in der Vergangenheit Wichtiges sehen.« Er schaute Dobra an. »Wie den Mann, der aus dem Leben schied, als du ihn verlassen hast. Er war den Schmerz nicht wert, den du gelitten hast. Das Weh zerreißt dein Herz wie ein Bär ein junges Kalb. Es ist das Los der Schwachen, zu sterben. Frag ihn.« Chester ignorierte den Ausdruck des Schreckens in Leetas plötzlich aschfahlem Gesicht und deutete auf den bärtigen Schwarzhaarigen, der seinerseits Dobra anblickte. Nervös schluckte der Schwarzhaarige; doch gleichzei tig glänzten seine Augen von äußerstem Interesse. Chester sah ihm an, daß ihm eine Bemerkung auf der Zunge lag, er jedoch wegen Leeta Bedenken hatte, sie auszusprechen. Zur Zustimmung nickte der Mann andeutungsweise. »Wie ist es möglich, daß du ...?« Leeta Dobras Stimme erstickte. Mit der Hand griff sie sich an die Kehle, in ihren Augen leuchtete Furcht, sie fing zu zittern an. »Mein Gott!« schrie sie erschüttert und lief aus der Kuppel. Traurig schüttelte Chester den Kopf. »Verzeiht mir«, bat er halblaut. »Ich bin noch nicht lange Prophet. Ich muß noch viel lernen. Es war nicht meine Absicht, ihr Kummer zu verursachen. Es gibt soviel, was die Visionen enthüllen, und es bleibt zu wenig Zeit, um über alles nachzudenken.«
Aufgerissene Augen, die Entsetzen ausdrückten, starr ten ihn an. Nicht einmal der Schwarzhaarige hatte noch Beachtung für den Bildkasten seiner Maschine übrig, Chester konnte an den Hälsen der Leute den Puls rasen sehen. Er hatte ihnen allen Furcht eingejagt. Sonderbar, daß die Vision ihm davon nichts gezeigt hatte. Wahrhaftig, was anderes mochte er außerdem nicht vorhergesehen haben? Dieser Gedanke hatte auf ihn eine sehr ernüchtern de Wirkung. *
*
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»Sie müssen über Subraum-Transduktionstechnik ver fügen«, stieß Leeta hervor, während sie im Konferenz raum auf- und abstapfte. Sorgenvolle Mienen musterten sie. »Das ist die einzige Möglichkeit, wie sie von ... von Jeffray erfahren haben können.« Noch immer fiel es ihr schwer, seinen Namen auszusprechen. »Er hat genau gewußt, was ich hinsichtlich der Si cherheit gedacht habe«, meinte Rita mit leiser, matter Stimme. Leeta atmete tief ein. »Er hat bloß gut geraten.« Sie nahm an der Ecke des Tischs Platz. »Sehen Sie mal, wenn Sie in einem fremden Raumhafen sind, was tun Sie? Sie versetzen sich in die Lage der Konstrukteure. Er hat nur logische Schlußfolgerungen gezogen und uns damit aus dem Gleichgewicht gebracht.« »Aber wer beobachtet und erforscht dann wen?« fragte Bella Vola, strich sich mit den Fingern durchs schwarze Haar und sah Leeta an. »Die Gehirnfunktionen sind total anders«, sagte Mar-ty Bruk. »Er saß direkt vor der Computerelektronischen Meßdetektoranlage. Die Holos vom Hirn des Burschen zeigen Abweichungen. Der gesamte Hirnaufbau ist ver schieden. Der Corpus Callosum ist viermal größer als bei
einem normalen Gehirn. Die Rolando-, die Silvius-Furche, die Parieto-Hinterhauptfurche und der Rest sind anders geformt und verleihen den Hirnlappen eine ein zigartige Morphologie. Insbesondere überwiegt die rechte die linke Hirnhälfte fast völlig, wenn er an seine Visionen denkt. Die Messungen der Energieverteilung sind in bezug auf Inzidenz und Wellenerzeugung phänomenal. Ich wiederhole, ich habe das komplette Gehirn auf dem Monitor gehabt. Es verhält sich, als ob jeder Nerv gleich zeitig sendet und empfängt. Er müßte hoffnungslos schi zophren sein, im günstigsten Fall he-bephrenisch. Er müßte physisch und emotional abschotten. Aber es pas siert nicht. Er hockt so gelassen da, wie man’s sich nur wünschen kann. Sie haben’s selber gesehen.« Vor Aufregung hatte Bruk sich halb vom Stuhl erhoben. »Aber Hellsichtigkeit?« Vehement schüttelte Leeta Do bra den Kopf. »Wie bei Nostradamus«, flüsterte Netta Solare. »Laut Fachliteratur haben die Arapahos behauptet, ihre Scha manen könnten in die Zukunft schauen. Sie wollen den Luftverkehr, den Frieden mit den Weißen und alles mögli che sonstige vorhergesehen haben. Vielleicht waren ihre Propheten nicht ausgestorben, bevor sie ins Reservat muß ten? Vielleicht haben wir hier einen ihrer Schamanen leib haftig vor uns.« »Nostradamus’ Prophezeiungen sind nie als richtig bewiesen worden.« Leutnant Sarsa machte ein mißge launtes Gesicht. »Es müßten eine Menge Zufälligkeiten zusammenge troffen sein.« Solare zog die Brauen hoch. »Also, was berichten wir Damen Ree und Emmanuel Chem?« — Leeta hob eine Hand — »Sollen wir an die Kommu gehen und sagen: >He, wißt ihr was? Diese Leute können im Kopf die Zukunft sehen. Sie wissen, was wir tun werden, ehe wir dran denken.< Überlegt euch doch einmal die Folgerungen, die sich aus solchen Aussagen
ergeben. Berücksichtigen wir mal alles, was wir über die Realität, Physik und menschliche Psyche wissen. Wenn die Romananer die Zukunft sehen ... Na, dann können wir alles zum Müll schmeißen.« Ihre Kollegen schwiegen. Bleichen Gesichts schaute Rita Sarsa auf. »Ich dachte tatsächlich gerade daran, was geschähe, falls er mein Gewehr in die Finger bekäme, als er genau das sagte.« »Ach!« fauchte Leeta und streckte beide Hände in die Höhe. »Jetzt hören Sie aber mal auf!« »Und woher weiß er von Jeffray?« fragte Marty Bruk gesenkten Blicks. »Wenn sie über ‘n Empfänger für Subraum-Transduktions-Nachrichtenübermittlung verfügen, weshalb haben sie dann keinen Sender gebaut?« »So einfach ist das nicht.« Leeta schüttelte den Kopf. »Sie müßten eine enorme Energiequelle besitzen. Es er fordert erhebliche Energie, Jotapartikel zu separieren und auf Regamodus zu beschleunigen. Außerdem brauchten sie einen Ableiter, um die Regapartikelmasse als Signal nach >außen< zu lenken. Es müßte auch gerichtet werden. Kaum auszudenken, was in der globalen Tektonik passie ren könnte, wenn sie Massewellen unkontrolliert durch die Gegend sausen ließen. Wir hätten irgendwo die Antennen gesichtet. Du kannst drauf wetten, daß Ree sie nicht über sehen hätte.« »Dann hast du gerade deine eigenen Argumente wi derlegt.« Kühl und professionell musterte Marty Bruk sie. »Irgendeine Art von Signal müssen sie von Veld auf gefangen haben. Es muß so gewesen sein. Es gibt keine andere Erklärung.« Leetas Tonfall klang nahezu weiner lich. »Kann sein, sie sind doch zum Gedankenlesen fähig.« Bruk hob die Schultern. »Das ist zumindest physiologisch möglich. Verstärkt können Gehirnwellen fernübermittelt werden. Vielleicht liegt bei diesen Personen eine Adaption vor, die sie sensitiviert hat?«
»Psychische Phänomene zu akzeptieren«, sagte Leeta mit einem Aufseufzen, »ist für mich leichter, als an Hell sehen zu glauben.« Sie ging zum Getränkeautomaten und ließ sich einen Becher mit Kaffee füllen. »Doktor...« Rita zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. »Unsere Meldung an die Projektil ist überfällig. Die mili tärischen Vorschriften verlangen, daß wir uns zur Lage äußern.« Leeta nickte, allerdings mehr bei sich selbst als zu ihrer Umgebung. »Ich weiß. Senden Sie die von Marty aufge zeichneten physischen Daten. Zudem haben wir ja die Analysen des Gewehrs und des Sattels. Das ist doch schon was. Es sind genug Informationen, um Emmanuel für eine Weile zu beschäftigen. Bitten Sie Oberst Ree gleichzeitig um ein gründliches Scanning des gesamten Planeten. Es könnte ja doch irgendwo eine Energiequelle sein.« »Alles klar, Doktor.« Rita stand auf und folgte Leeta hinaus, während die übrigen Sitzungsteilnehmer un vermittelt in eine wirre Diskussion verfielen. Rita warf Dobra einen ernsten Blick zu. »Er hat Ihnen ‘n ganz schön harten Schlag versetzt, was?« fragte sie gedämpft. Leeta ballte eine Hand zur Faust. »In Gottes Namen, woher weiß er bloß Bescheid?« Ihre Stimme zischelte vor heftiger Erregung. Rita kniff die Lider ihrer kühlen, grünen Augen zu sammen. »Da drinnen« — mit einer Schulter wies sie hin über zum Konferenzraum — »habe ich ‘ne Bemerkung gehört, daß möglicherweise nicht nur wir hier For schungen betreiben. Ich bin keine Wissenschaftlerin, Doktor. Aber unter militärischen Gesichtspunkten ist es immer ein Vorteil, den Gegner zu verunsichern.« Damit strebte sie an Leeta vorbei, warf unterwegs den Wächtern rings um Chester Garcias’ Unterkunft einen kurzen Blick zu. Leeta spürte, wie ihr das Herz in der Brust hämmerte. In ihr wuchs der Drang, in Tränen auszubrechen. Sie merkte,
daß ihre Lippen zu zittern anfingen, und biß darauf, bis der Schmerz alle ihre Empfindungen überwog. Wie hatte ein so großartiges Projekt auf einmal einen so miserablen Verlauf nehmen können? Was hätte sie anders anpacken müssen? Wieso ging jetzt alles schief? Was konnte sie unternehmen? Sollte sie darauf warten, daß der Wind den Beobachtungsturm umwarf, wie Garcia es vor ausgesagt hatte? Rita hatte ihre Untergebenen den Turm überprüfen lassen. Er war völlig richtig montiert. Ein Posten bewachte ihn, damit niemand sich daran zu schaf fen machte. Leeta rieb sich die Augen, zwang sich zum Abfassen des Berichts und legte sich danach zu Bett. Die Schlaf synchronisation schaltete sie ab wie eine Lampe. Doch trotz der Computerstimulation beunruhigte sie unter ihren oberflächlicheren Träumen irgendwelches Alpdrücken. Am folgenden Morgen arbeitete Bella Vola Tests aus. Um die Mittagszeit bestand kein Zweifel mehr, Chester Armijo Garcia lag bei Doppel- und Dreifachtests sowie computerrandomisierten Testreihen immer einhundert prozentig richtig. Er schaffte es ohne jede vorherige Un sicherheit und ohne Umstände. Gleichzeitig zeichnete Bella Vola sein Vokabular auf und machte sich dazu No tizen. Marty Bruk nahm an Garcia rundum vollständige Messungen, Sondenuntersuchungen, Klassifikationen und Vergleichsexaminationen vor. Kurz nach Mittag fegte ein Sandsturm durchs Lager und riß den Beobachtungsturm nieder. Leeta formulierte ihren Report so objektiv wie möglich ... und zögerte. Die Sonne schob sich in den Westen. Leeta fühlte sich wie ein eingesperrtes Tier. Sie speicherte die erste Fassung der Meldung lediglich und reichte einen völlig nichtssagenden Tagesbericht ein. Als sie sich schlafen legte, aktivierte sie den hypnopädischen Romananisch-Sprachkursus, den der Computer auf der Grundlage von Garcias Wortschatz erstellt hatte.
»Leutnant«, rief Leeta am folgenden Morgen quer übers Stützpunktgelände. »Lassen Sie uns ‘n Airmobil nehmen und ‘n Erkundungsflug machen. Ich bin kurz vorm Durchdrehen und brauche ‘n bißchen Abstand. Ich muß weg und über alles nachdenken. Es ist in zu kurzer Zeit zuviel vorgefallen.« Rita nickte ernst. »Glauben Sie, wir sollten erst Garcia fragen, ob’s gefährlich wird?« Sie fragte in trocken-humorigem Ton. Leeta schloß die Augen und atmete tief durch. »Nein. Wenn wir ins Unheil fliegen ... will ich’s nicht vorher wis sen.« Sie befanden sich schon in der Luft, da drehte Rita ihr das Gesicht zu. »Sie haben Rem oder Chem noch nichts Konkretes durchgegeben, Doktor?« fragte sie. »Für alle Fälle habe ich einen Gesamtbericht verfaßt, in dem alles enthalten ist.« Leeta lag mit geschlossenen Lidern im Sitz, kostete das Gefühl aus, den Wind durchs Haar stieben zu spüren. Ein vollkommen neues Vokabular ging ihr durch den Kopf. Sie öffnete die Augen, sah ein sechsbeiniges, grünes Geschöpf, das emsig Grasflächen kahlfraß, wußte sofort seinen Namen. Es hieß Grüner Schnitter. Sie spähte an den westlichen Horizont. Dort lag eine Siedlung des Volkes. Eine unheimlich fremdartige Ort schaft, die jedoch zur gleichen Zeit eine starke Versuchung bedeutete. Durch die Begegnung mit Garcia hatten sie kaum einen Grundstock des zu erlangenden Wissens gesammelt. Über sein Volk wußten sie noch so gut wie gar nichts. Garcia zufolge waren nur sehr wenige Männer mit der Prophetengabe begnadet. »Durch diese Propheten ändert sich wirklich alles«, räumte sie ein. »Ich kann’s noch immer nicht glauben, Rita. Ich meine, anscheinend verhält es sich so, aber in nerlich kann ich mich bis jetzt nicht damit abfinden.« Während sie über einen Bären hinwegflogen, beachtete
Leeta ihn lediglich mit einem flüchtigen Blick, ihre Über legungen beschäftigten sie viel zu sehr. Der Leutnant zuckte die Achseln. »Wissen Sie, ich bin mir nicht mal sicher, ob ich ihn bewachen lassen soll. Wenn er die Zukunft sieht, wie soll man ihn dann ge fangenhalten können? Schlimmer noch: Welchen Sinn hat’s, überhaupt irgend etwas zu tun? Wie kann man etwas versuchen, wenn ein anderer schon das Ergebnis kennt? Malen Sie sich nur die Weiterungen aus. Wir werden den Oberst bald informieren müssen. Das ist eine Sache, die weit über Ihre oder meine Kompetenzen hinausgeht, Doktor.« Leeta nickte, schaute über die ausgedehnte, goldbraune Ebene aus. Sie konnte das Erdreich riechen, das trockene Gras, den Geruch des Planeten als Gesamtheit. In der Ferne, wo der felsige Rand der Ebene sich zum entlegenen östlichen Meer absenkte, verschwamm das Braun mit einem dunklen Blaurot. Damit wäre das gesamte Projekt erledigt. Man würde andere Leute schicken. Supervisoren, Psychologen, Mi litärs, Physiker. Wissenschaftler und Forscher aller Fa kultäten. Vielleicht erklärte man den Planeten sogar zur Verbotenen Zone. Oberst Ree konnte sie ohne weiteres von der ganzen Angelegenheit ausschließen, wenn er das Team zurückpfiff, die Expedition abbrach und in Nullkommanichts zum Arcturus zurückflog. Und wo bliebe dann Leeta Dobra? Unter der Psy-chingapparatur des Gesundheitsamts? Und Rita? Für den Rest des Lebens in einem gestohlenen Raumschiff auf der Flucht? Konnte sie mitansehen, wie wegen eines hellsich tigen Schamanen das gesamte Projekt fehlschlug? Es gab hier zuviel zu entdecken. Sie spürte, wie ihr Tränen des Zorns kamen. Die ganze hiesige Kultur mußte ungeheuer faszinierend sein. Man stelle sich nur einmal eine gesell schaftliche Entwicklung unter der Leitung alleswissender Mystiker vor! Was für unglaubliche Zickzackwege mußte
ein Volk unter solchen Bedingungen einschlagen? »Ich denke mir, wir sollten Garcia zum Raumschiff hin aufschicken«, sagte Leeta schließlich. Darin sah sie eine Chance. Es mußte einige Zeit dauern, bis Ree sich davon überzeugt hatte, daß Garcia wirklich das alles konnte, was sie aufgezeichnet hatten. Außerdem war sie dadurch das Problem insgesamt auf Chem abzuwälzen imstande. Der alte Geier würde sich so intensiv mit Garcia befassen, daß er die Existenz von Leetas Team so gut wie vergaß. Unterdessen konnte das Team mit der Erforschung der Gesamtkultur weitermachen. Ein genialer Plan! »Und wie steht’s um die Sicherheit?« fragte Sarsa. »Hat ein Kriegsschiff mit der Ausstattung der Projektil nicht auch ‘n supersicheren Knast?« »Sie meinen ‘n Arrestbunker. Doch.« Rita Sarsa nickte. »Ich bin an sich niemand, der einem Problem aus weicht, aber warum lassen wir nicht Ree die Entschei dungen treffen? Er ist Ihr Vorgesetzter. Chem ist, formal gesehen, mein Chef. Ich glaube, Sie haben recht. Diese Geschichte ist uns über den Kopf gewachsen.« Leeta sah, wie Sarsas Zustimmung sich in einem listi gen Feixen äußerte. »Ich bin der Meinung, daß das für alle Beteiligten der sicherste Weg ist. Es ist eine Lösung für uns, die Projektil, die Universität, die Romananer, einfach alle.« Sarsa nickte. »Und wir haben für ‘ne Weile frei, Doktor.« Leeta grinste vor sich hin, kostete den Anblick der Farben aus, in denen die Landschaft unter ihnen dahin sauste, während Rita das Airmobil in weiträumigem Bo gen zur Basis zurücksteuerte. *
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»Ich weiß, es klingt verrückt, Sir.« Trotz der ungläubigen Blicke Oberst Rees und Emmanuel Chems blieb Leeta fest. »Deshalb möchten wir ihn ja zur Projektil schicken. Wir wollen unsere Beobachtungen von zweiter Seite bestätigt haben. Wir haben’s auch nicht geglaubt. Gefühlsmäßig können wir’s noch immer nicht glauben. Es ist eine große Sache, wir sind der Ansicht, zu groß für uns. Angesichts der Tragweite hielten wir es für ge rechtfertigt, Ihnen anheimzustellen, die Verantwortung zu übernehmen.« Ree begann gedämpft zu lachen. »Ihr Stil gefällt mir, Doktor. Na gut, schicken Sie ihn rauf.« »Dr. Dobra ...« Chem stieß, um sich zu räuspern, eine Art Grunzen aus. »Ich habe erhebliches Vertrauen in Sie gesetzt. Dies ist ein sehr ernsthaftes Projekt. Ich wäre tief enttäuscht, sollte sich diese ... diese Hellsichtigkeit als ein von Ihnen ausgeheckter Ulk erweisen.« Sie fühlte, wie sein Blick ihr unter die Haut ging. Genau wie früher, als sie noch Studienanfängerin gewesen war, wurde ihr Gaumen trocken. »Ich darf Ihnen versichern, Doktor«, mischte Leutnant Sarsa sich in einem Tonfall ein, der etwas vom Knallen einer Peitsche an sich hatte, »daß es uns ebenso ernst wie Ihnen ist. Ich bin nicht als Anthropologin ausgebildet, habe aber meine Fähigkeiten im Beobachten sowie in Strategie und Taktik. Militärisch betrachtet, könnte es sein, daß irgendwer an uns einige gerissene Tricks auspro biert, die wir nicht durchschauen. Falls es so ist, sind wir herauszufinden außerstande, wie’s gemacht wird. Es dürf te sich empfehlen, Sie halten alles Erforderliche bereit, Doktor. Wir haben uns keinen Ulk erlaubt.« Leeta wußte den strengen Blick des Beleidigtseins zu schätzen, den Sarsa dem Professor schenkte. Chem gab sofort nach. Er nickte nur und sagte nichts mehr. »Schicken Sie ihn rauf«, wiederholte Ree. »Wir werden
ihn ganz genau überprüfen und danach weitersehen ...« »Ich schicke Ihnen die Daten mit«, sagte Leeta. »Ich schlage vor, Sie speichern sie erst einmal in einer gesi cherten Datei, bis Sie sich dazu in der Lage fühlen, Ihre Schlußfolgerungen zu ziehen. Sobald Sie mit Ihren Me thoden durch sind, kann unser Datenmaterial noch einmal für sich gründlich gesichtet werden. Auf diese Weise gelangen wir für die anschließende Forschung an zwei gesonderte Datensammlungen.« Und es erbringt mir mehr Zeit! dachte Leeta in diebischem Vergnügen. Chester Armijo Garcias Miene blieb unverändert, wäh rend er auf den Antigravlift zuschritt. »Er wird dich emporheben wie durch Zauberei«, er läuterte Leeta halblaut. »Du brauchst dich nicht zu fürch ten, du stürzt nicht. Es ist unmöglich. Befindest du dich erst mal im Antigravfeld, kannst du nicht hinaus. Also keine Bange. Es wird alles klappen.« »Ich weiß.« Er nickte. »Diesen Teil des Geschehens habe ich nicht vorausgesehen, aber mir ist bekannt, daß ich den großen Ort zwischen den Sternen erreichen werde. Ich habe die Zukunft geschaut. Ich habe keine Furcht.« Nachdem er das gesagt hatte, setzte er einen Fuß ins Antigravfeld, stolperte fast, betrat es dann jedoch seelen ruhig vollends. Leeta verbarg ihre Belustigung, als sie sah, wie Garcia das Gesicht verzog, während er aufwärtszuschweben begann. Sie drehte sich um und lief zur Kuppel, um darin in Deckung zu gehen. Das brausend laute Pfeifgeräusch, mit dem das Shuttle aufstieg, um die Projektil anzufliegen, übertönte alles. Während das hohe Jaulen verklang, legte Bruk einen Arm um Bella Vola. »Weißt du was? Trotz der Probleme, vor die der Junge uns gestellt hat, werde ich ihn vermissen. Es ist jetzt schon langweilig ohne ihn.« »Er ist ‘n echt manierliches Kerlchen«, meinte Netta mit der Andeutung eines Lächelns. »Richtig artig. Ich
hatte noch nie mit jemandem zu tun, der sich so bereit willig und hilfsbereit verhalten hat.« Leeta projizierte ein Holo des nördlichen Landstrichs. »Wir werden ihn ja wiedersehen. In der Zwischenzeit wol len wir uns mit der neunzig Kilometer nordwestlich von hier ansässigen Populationsgruppe beschäftigen. Dort steht ein kleines Dorf. Mein Vorschlag ist: Wir nehmen als erstes mit diesen Leutchen Kontakt auf und schauen, ob wir eine Vorstellung von den hiesigen Denkweisen bekommen, ehe wir uns zu dem Hauptdorf trauen, in dem sich das Wrack der Nikolai Romanan befindet.« Leeta bemerkte eine ruckartige Veränderung in Rita Sarsas Gesichtsausdruck; ihr kesses Grinsen hatte sich verbreitert. Während sie am nächsten Morgen nach Norden flogen, zwinkerte Rita, ein auffälliges Funkeln in den Augen, ihr zu. »So-so. Das Rebellentum steckt an, hä, Doktor?« Leeta erwiderte ihr Grinsen. »Sagen wir mal, ich glau be, der Zeitpunkt ist da, um mein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.« »Chester auf die Projektil zu schicken, war ‘n guter Trick«, sagte Rita so leise, daß Solare es nicht hören konn te. »Damit haben Sie uns Zeit rausgeschunden.« Leeta erspähte einen kleinen Jungen, der eine Pferde herde beaufsichtigte. Sarsa landete das Airmobil hinter einer länglichen Erhebung. Netta hatte sich während des Flugs ungewöhnlich still betragen. Jetzt folgte sie Leeta wortlos auf den Höhenkamm. Leeta winkte dem Jungen zu. Er sah sie, wendete sein Pferd, kam angeritten, zügel te das Reittier und beobachtete die Frauen stumm aus fünfzehn Metern Abstand. Er hatte ein schmales Gesicht mit mahagonibrauner Haut, das lange Haar fiel bis auf die Schultern und wehte im Wind. Blaue und rote Kreuze schmückten den Saum seines blusenartigen Hemds, weiche Kalbslederstiefel reichten ihm bis an die Knie. Seine obsidian-schwarzen
Augen blickten sehr reserviert, und nicht das geringste Kräuseln verzog seine dunklen Lippen. »Sei gegrüßt«, rief Leeta ihm auf romananisch zu und zeigte ihm ein herzliches Lächeln. »Was kannst du mir über euer Dorf mitteilen? Wer ist euer Oberhaupt? Habt ihr einen Propheten? Wir sind Fremde aus weiter Ferne. Wir möchten mit eurem Volk Handel treiben.« Der Jugendliche — er war nicht älter als dreizehn, ver mutete Leeta — schnitt eine abweisende Miene. »Welches ist euer Clan?« fragte er, wirkte jetzt sichtlich nervös. »Es ist ein weit entfernter Clan.« Leeta lächelte. »Wie gesagt, wir sind neu hier im Land. Wir würden gerne mit eurem Oberhaupt über Handelsbeziehungen reden.« »Ihr habt Pferde?« fragte er, die Hand am Griff seines Messers, während sein Blick über die Anhöhen der Um gebung schweifte, als suchte er Begleiter Leetas. »Wo sind eure Männer?« wollte er plötzlich wissen. »Ich sehe keine ***.« Obwohl er zusehends mißtrauischer wurde, lächelte Leeta fortgesetzt weiter. Das letzte von dem Jungen ver wendete Wort war in der Sprachdatei nicht enthalten. »Wie lautet der Name eures Volkes?« erkundigte sich Netta Solare. »Wir sind Santos.« Stolz richtete der Junge sich im Sattel auf. »Unser Name für Gott ist Herrjesses. Er ist ein Mensch, keine Spinne.« »Es sind Christen«, flüsterte Solare zu Leeta. »Wartet«, verlangte der Junge auf einmal; in seinen Augen lichterte nun ein sonderbares Leuchten. »Ich werde ... Händler holen.« Er trat seinem Pferd die Fersen in die Rippen und galoppierte über die Anhöhe davon, hinter der das Dorf lag. Rita Sarsa kam im Airmobil angeschwebt. »Doktor«, rief sie. »Nachricht von Oberst Ree. Er rät uns, ins Ba sislager umzukehren.«
»Was?« fragte Leeta verstimmt. »Doch nicht jetzt. Wir stehen unmittelbar vor der Kontaktaufnahme.« »Der Oberst meint, er hat einen Hinweis auf die Be deutung eines der Wörter gefunden, über die wir uns schon den Kopf zerbrochen haben. Außerdem hat er neue Informationen von Chester Garcia erhalten. Er empfiehlt, daß wir alle eine Konferenz veranstalten.« Leeta holte tief Luft, zog den Kommunikator aus der Gürteltasche, drückte die Sendetaste. »Oberst Ree?« »Da kommen die Santos«, rief Netta aufgeregt. »Dr. Dobra?« fragte Rees Stimme. »Bitte gedulden Sie sich ‘ne Viertelstunde, dann rufe ich zurück«, sagte Leeta hastig und trennte die KommuVerbindung. Sie drehte sich den Reitern zu, die heran sprengten. »Alle haben Gewehre«, bemerkte Sarsa. »Ich weiß nicht, ob mir das sympathisch ist.« »Kein Mann hat je eine unbewaffnete Frau erschossen.« Leeta lachte. Sie fühlte, wie ihr Puls kräftiger schlug. Endlich sah sie richtige Männer vor sich, Krieger auf halb wilden Pferden, ungezähmt von jeder Zivilisation, ganz andere Typen als ein hellsichtiger Schamane. Hier sah sie echte Barbaren. Sie bewunderte die Art, wie sie auf den Pferden saßen, als sie sie zügelten, die Tiere unruhig tän zelten. Einige Reiter ritten über den Höhenzug, als wollten sie sich davon überzeugen, daß sie es tatsächlich nur mit drei Frauen zu tun hatten. Manche beobachteten argwöh nisch das Airmobil. »Ich wünschte, ich wäre so gescheit gewesen, meinen Schutzpanzer anzulegen«, hörte Leeta Leutnant Sarsa brummen. »Seid gegrüßt«, rief Leeta dem hünenhaften Mann zu, der sich an der Spitze des Reitertrupps befand. Er hatte mehrere Haarbüschel um den Hals hängen und an Säumen von Jacke und Hose festgenäht. Er war ein wahrer Riese.
Er hätte der Reiter in dem Holo sein können, dem so beständig Rees Aufmerksamkeit gegolten hatte. »Ihr seid gekommen, um mit uns Santos Handel zu trei ben, so?« fragte der hochgewachsene Mann. »Wo sind eure Männer?« »In unserem Lager«, antwortete Leeta höflich. »Wir können sie später einmal mitbringen. Erst möchten wir uns mit euch unterhalten. Wir haben Sachen, die wir euch im Austausch für Informationen geben werden. Dürfen wir euer Dorf besuchen?« Der Hüne lächelte ein breites, zufriedenes Lächeln. »Am Handel mit schönen Frauen sind wir jederzeit in teressiert.« Die Männer hinter ihm lachten. »Komm, ich werde dich in unser Lager bringen.« Er streckte Leeta ei ne Hand entgegen. »Was machen wir jetzt?« fragte Netta. Ihre Stimme klang, als wäre sie gehörig verängstigt. »Auf gar keinen Fall werden wir ablehnen«, raunte Leeta ihr in scharfem Ton zu. »Das könnte ein fürchter licher Verstoß gegen die guten Sitten sein.« Sobald sie zu Ende gesprochen hatte, umklammerte sie mit beiden Händen den Arm des Reiters; sie spürte, wie der Riese sie hinter sich in den Sattel schwang. Sie roch verbranntes Holz, Pferd, Leder und einen Männergeruch. Er hat mich auf das Pferd gezogen, als wäre ich leicht wie eine Feder! Sie starrte die breiten Schultern dicht vor ihrer Nase an, versuchte das Ausmaß ihrer Muskelbepacktheit zu erraten. Das Gefühl des Pferds zwischen ihren Beinen empfand sie als seltsam. Sie hatte noch nie auf einem Tier gesessen. Netta Solare gab ein Quietschen von sich, als ein stäm miger Reiter sie hinter sich aufs Pferd hob. Nur Sarsa blieb stehen, sie betrachtete die Reiter, die im Kreis um sie trab ten und lachten, mit merklichem Mißfallen. »Kommen Sie, Leutnant«, rief Leeta. »Das ist ein ganz
außergewöhnliches Gefühl. Ehrlich, ich glaube, Sie könn ten sich dran gewöhnen.« »Ich bin weniger begeistert«, entgegnete Rita, wandte sich zum Airmobil um. Bevor sie einen Schritt in dessen Richtung gehen konnte, packte ein Mann sie, zog sie zu sich hoch. Vor Leetas Augen warf sich Rita geschmeidig mitten in der Luft herum, befreite sich aus dem Griff des Reiters und landete, wenn auch wacklig, wieder auf den Beinen. »Nicht!« Fast hätte Leeta aus vollem Hals geschrien. »Sie verderben den Kontakt!« Während Rita ins Gleichgewicht zurückfand, grapschte ihre Hand nach der Pistole an ihrem Gürtel. Gleichzeitig lenkte ein anderer Mann sein Pferd hinter sie. Als sie her umwirbelte, war es zu spät. Leeta übergab sich beinahe, als sie den dumpfen Schlag hörte, mit dem ein Gewehrlauf Sarsas roten Schopf traf. Der Leutnant brach zusammen und blieb schlaff liegen. »O mein Gott!« kreischte Netta Solare schrill. Während das Pferd des Hünen, an dessen Rücken Leeta sich klam merte, lostrabte und gleich darauf in Galopp verfiel, sah sie noch flüchtig, wie zwei Männer sich über Rita Sarsa beugten und ihr die Uniform auszogen. Leeta bemühte sich, ihre immer stärkere Furcht zu unterdrücken. Sie hätte abzuspringen versuchen können, aber das Pferd lief zu schnell, und zudem war sein Rücken ziemlich hoch über dem unebenen Untergrund. Vielleicht würde sich noch alles einrenken. Womöglich hatte Rita die Santos nur gekränkt. Daran versuchte Leeta fest zu glauben.
9
Damen Ree schwieg, stand wie in völliger Gleichgültigkeit an ein Schott gelehnt und be obachtete Chester und die Anthropologen auf dem Mo nitor. Die Sprengladung war nicht stark genug, um je manden zu verletzen. Niemand in dem Raum wußte von ihr. Die Anthropologen ließ Ree — unter dem Vorwand, Chester könnte gefährlich werden — im Schutzpanzer arbeiten. Außer ihm hatte nur der Waffenmeister Kenntnis von der Sprengladung. Der Waffenmeister lag in Schlafsynchronisation. Rees Gehirn war abge schirmt. Falls Chester wirklich in die Zukunft sehen konnte, würde er Bescheid wissen. Die Explosion wäre ein trau matisches Erlebnis. Im Log sollte sie als Fehlfunktion ei nes Geräts ausgegeben werden. »Du sagst, die Propheten müssen ausziehen und eine Vision suchen?« fragte einer der Graduierten. »So ist es angebracht. Es ist Spinnes Wille.« Chester nickte, die Hände passiv auf dem Bauch gefaltet. »Spinne ist also Gott?« fragte der Student weiter. »Warum Spinne? Weshalb nicht etwas anderes?« Chester lächelte und hob die Schultern. »Gott ist, wie er ist. Ich stelle Gott nicht in Frage. Aber Spinne ist der Trickster, der Weg, der Lichtbringer.« »Ein Trickster gilt im allgemeinen doch als boshaft«, meinte Chem von der Seite des Raums. »Ein Lichtbringer gilt als gut. Wie kann Gott ebenso gut wie böse sein?« Chester drehte nicht einmal den Kopf. »Gibt es Licht ohne Dunkelheit? Gibt es Schmerz ohne Freude? Wenn Gott das Universum ist, ist dann nicht das Universum Gott? Das Gute und das Böse sind eins, Dr. Chem. Alles ist nichts. Muß es damit mehr auf sich haben?«
»Ja«, murrte ein anderer Student. »Was ist mit der Physik? Es gibt Naturgesetze, die überall im Universum gültig sind. Im Weltraum sind sechzehn meßbare Di mensionen vorhanden. Heißes brennt. Kaltes friert.« Zur Zustimmung nickte Chester. »Wir stolpern einer über die Worte des anderen.« Er musterte die stillen Ge sichter der Anwesenden. »Wenn es im Universum Gesetze gibt und Gott das Universum ist, dann sind es Gottes Gesetze.« Chem schüttelte den Kopf. »Demnach ist alles im Universum Gott. Wenigstens nach eurer Art zu denken.« »Es ist eine sehr gute Art, um eine komplizierte Wahrheit in einfache Worte zu fassen, Dr. Chem. Es ist die Art des Volkes. Ich kann dir nicht sagen, was Gott ist, Dr. Chem.« Chester verzog bekümmert das Gesicht. »Es liegt bei dir, es selber herauszufinden. Ergründe dein Herz. Ersteige den Berg. Faste, singe, bete, sieh! Könntest du mir das Licht erklären, wenn ich mein Lebtag im Finstern gelebt hätte? Für solche Dinge sind Worte beklagenswert unzulänglich. Aber gleichzeitig sind sie in anderer Hinsicht sehr mächtig.« Mittlerweile wurde Chesters Lächeln — heiter-gelassen, verständnisvoll und freundlich — allen Beteiligten immer vertrauter. »Die Spinne war das Arapahosymbol für Gott.« Chem machte eine nachdenkliche Miene. »Sieht euer ganzes Volk in Gott eine Spinne? Gibt es bei euch Leute, die Wakantanka kennen? Vielleicht unter den Sioux-nachfahren?« Chesters Miene zufolge blieb er unbeeindruckt. »Wakantanka ist ein anderer Name für Spinne. Nur die Propheten kennen diesen Namen. Es erstaunt mich, daß ihr dieses Wort wißt. Es muß dank der Überlieferungen sein, die ich in meinen Visionen gesehen habe.« Chester hob einen kurzen, dicken, sonnengebräunten Finger. »Bei den Santos ist Spinne unbekannt. Sie behaupten, Gott hätte die Gestalt eines Mannes angenommen. So soll er,
genau wie Spinne, ans Kreuz genagelt worden sein, damit alle Menschen in Freiheit leben könnten. Sie nennen die sen Mann Herrjesses. Er ist ein ganz niederträchtiger Gottmann, der Menschen im Feuer verbrennt, anstatt ihre Seelen zu sich heimzurufen, so wie Spinne es macht. Eine derartige Vorstellung von Gott beweist beträchtliche Beschränktheit. Das ist meine Meinung. Die Santos lassen ihren Geist nicht frei umherschweifen. Sie ersteigen keine Berge, um Visionen zu haben. Statt dessen verstecken sie sich im Dunkel ihrer Hütten und knien auf dem Boden, wo sie ihren Gott darum anwinseln, zu ihm sprechen zu dür fen.« »Mexikanische Einflüsse«, murmelte ein Student. »Betreibt ihr mit den Santos Handel?« erkundigte sich Chem. »Veranstaltet ihr mit ihnen gemeinsame Ze remoniells?« »Es gibt...« Chester runzelte die Stirn. »Kann sein, Zeremoniells ist die passende Bezeichnung. Durch et was, das ihr rituelles Verhalten nennen würdet, erlangen wir von ihnen Pferde und Frauen, aber ehe ich es näher erkläre, sollte ich wohl sagen, daß es Zeit zum Gehen ist. Der Krach wird niemandem äußeren Schaden zufü gen. Aber du, Dr. Chem, müßtest an den Ort gebracht werden, der Chirurgie heißt, und dein Herz müßte man neu zum Schlagen bringen.« Langsam stand Chester auf. »Wovon redest du?« rief Chem. »Welcher Krach?« Ree hatte sich aufgerichtet, eine grimmige Miene zer furchte sein rauhes Gesicht. Das kann doch nicht sein! Un möglich! Chester zeigte auf den Monitor, hinter dem die Sprengladung versteckt lag. »Das Ding da wird einen gro ßen Lärm machen und Funken sprühen. Oberst Ree hat sich das ausgedacht, um meine Fähigkeit, in die Zukunft zu schauen, zu überprüfen. Uns bleiben noch mehrere Minuten. Wir können abwarten und dann sehen, was
geschieht, Dr. Chem, aber wie ich gesagt habe, es wäre notwendig, dein Herz neu zum Schlagen anzuregen.« Stimmengemurmel ertönte, während Ree die Perso naldaten Emmanuel Chems abrief. »Verdammt!« hörte er sich laut fluchen. Er hatte nicht berücksichtigt, daß der Alte ein Herzleiden haben könnte. Aber es war da: Eine Coronarerkrankung, die sich bei Aufregung akut ver schlimmerte. Chester stand an der Tür. »Bitte laßt uns für einen Moment hinausgehen. Der Anfall, den man bei euch ei ne Herzattacke nennt, würde dich nicht das Leben ko sten, Dr. Chem, aber er wäre sehr unangenehm ... und schmerzhaft. Es ist überflüssig, daß du dich ihm aus setzt. Oberst Ree hat nun die Information, die er wollte. Er kann seinen Bombenmann jetzt wecken. Es ist noch genug Zeit, um das Gerät vor der Zerstörung zu bewah ren.« Nacheinander gingen alle hinaus. Ree schaltete die Bilderfassung auf den Korridor um. Woher konnte Garcia den Zeitpunkt der Detonation wissen? Nicht einmal er selbst kannte ihn. Der verfluchte Zünder war auf Au tomatik eingestellt worden, damit niemand wissen sollte, wann die Ladung explodierte. Mental legte Ree die Kommu auf den Lautsprecher des Korridors, in dem Chester unterdessen Chem und seine Mitarbeiter zu beruhigen versuchte. »Wie lang ist es noch bis zur Explosion, Chester?« Chester hob nicht den Blick. »Eure Zeiteinteilung ist mir nicht geläufig, Oberst Ree, aber mir würde die Frist genügen, um einen halben Kilometer weit zu gehen. Die Zeit reicht noch, falls du das ...« Also etwa fünf Minuten? »Ich weiß nicht, wann die Explosion stattfindet, Chester. Wenn du sie vorausgesehen hast, wieso bist du dann so sicher, daß ich sie verhindern kann? Woher soll ich dann wissen, ob du den richtigen Zeitpunkt vorhergesehen hast?« Zum erstenmal seit sei
nem Abgang von der Akademie fühlte Ree sich gründlich verunsichert. »Im Universum existiert freier Wille, Oberst. Ereignisse müssen nicht geschehen. Andernfalls wäre jedes Dasein sinnlos ... vergleichbar mit dem Sein einer Maschine. Wir würden nichts dazulernen. Spinne könnte nicht dank unse rer Erfahrungen und unserer Kenntnisse mächtiger wer den. Doch du wirst den Knall nicht verhindern. Du hast unvermindert den Wunsch herauszufinden, ob ich recht behalte, was den Zeitpunkt betrifft. Beweisen kann man nie, daß es freien Willen gibt. Man kann sich immer eine andere Erklärung zurechtlegen. Ist es nicht so?« Ree dachte über seine Argumentation nach, während Chester wartete, die Arme auf der Brust verschränkt, ein strahlend freundliches Lächeln auf dem Gesicht. Ree entdeckte die Schleife in seiner Logik und holte tief Luft. »Entschärfe ich die Sprengladung, kann ich behaup ten, sie wäre in Wirklichkeit gar nicht explodiert, du hät test nur meine Gedanken gelesen, von der Einstellung des Zünders nichts gewußt.« Ree nickte vor sich hin, spürte in seiner Magengrube ein Kältegefühl sich ausbreiten. »Und was ist mit Chems Herzanfall? Wie wolltest du den bewei sen?« Chesters Miene blieb gelassen. »Gar nicht. Du schätzt den guten Professor und achtest ihn. Es gehört zu deinen Aufgaben, Menschen vor Nachteilen zu beschützen. Die Zerstörung des Monitors wäre für dich keine Belastung. Daß Maschinen leiden würden, ist dir unbekannt. Dr. Chems Leid hingegen müßte dir ein Gefühl der Schuld einflößen. Obwohl ich es nicht beweisen kann, verändert freier Wille das Kommende und wandelt es in etwas ande res um.« »Mein Gott«, flüsterte Damen Ree zu sich selbst. Der kleine Schwätzer hatte recht. Er konnte unmöglich Chems Gesundheit riskieren. Auch in bezug auf die verdammte Explosion war Chester im Recht. Zum Teufel mit dem
Monitor. Er war bei der ganzen Sache am unwichtigsten. Erst nachträglich merkte Ree, daß er im Kommando sessel Platz genommen hatte. Seine Gedanken über schlugen sich. Paradoxon um Paradoxon ging ihm durch den verwirrten Verstand. Wo sollte das alles hinführen? Wieso wurde Chester Armijo Garcia von alldem, was er in seinem Kopf sah, nicht irrsinnig? Freier Wille? Kon sequenzen ohne Ende zeichneten sich ab. »Wie ...?« Rees Stimme krächzte, sein Gaumen war plötzlich trocken. »Wie ... denkst du? Wenn jede Hand lung den Lauf der Dinge verändert, werden sämtliche Entscheidungen exponential. Davon müßtest du doch völ lig ... völlig ...« »Wahnsinnig werden?« Chester zeigte ein nicht so recht durchschaubares Lächeln. »Das ist wahr. Allerdings denke ich nicht an meine Handlungen, Oberst. Obwohl ich weiß, daß ich Vorgänge ändern könnte, richte ich mich nach dem, was ich im Kopf sehe. Der Wahnsinn, von dem du sprichst, bleibt stets außerhalb des geistigen Horizonts. Darum ist mein Verwandter Philip gescheitert. Der Gedanke ans Voraussehen der Zukunft erschreckte ihn, er hatte die Vorstellung, eine ewige Zukunft risse ihn wie ein Strudel in einen Irrgarten sich unablässig verzweigender künftiger Pfade. Ich dagegen bin ein einfacher Mensch. Ich nehme das Leben und die Harmonie des Daseins, wie sie sind. Ich folge dem Weg des geringsten Widerstands in die Zukunft, Oberst. Ich kenne meine letztendliche Bestimmung. Ich könnte sie beeinflussen, mein Schicksal in meine Hände nehmen. Ich werde es nicht tun, obwohl mich am Ende Leid erwartet. Es soll so sein. Das ist alles.« »Man denke an die Macht!« röchelte Ree, dessen Au gen ausdruckslos geworden waren, in heiserem Flüstern hervor. »Ein Einzelner könnte das Universum beherr schen.« »Keineswegs.« Knapp schüttelte ehester den Kopf und lächelte auf wohlwollende Weise. »Ich verstehe deine
Sorge. Aber so etwas zu versuchen hätte, wie du vorhin ganz richtig erkannt hast, Wahnsinn zur Folge. Dafür ist das menschliche Gehirn nicht stark genug. Ein Mensch würde in die Fallgrube der wahlweisen Entscheidungen stürzen und, vollkommen in sich selbst versunken, darin den Tod finden. Dergleichen ist unter unserem Volk viele Male passiert. Nur ein paar Tage lang können Menschen die Zukunft beeinflussen. Dann sehen sie die Welt nicht mehr. Sie sehen nur noch in ihrem Kopf. Sie essen, trin ken und schlafen nicht mehr. Entscheidungen können sie dabei nicht fällen. In diesem Zustand der Besessenheit sind sie ...« »Überlastung?« überlegte Ree laut. »Völlige geistige Überlastung?« »Ich glaube, du hast es verstanden«, bestätigte Che-ster, starrte nun ins Nichts. »Die Explosion steht bevor.« Stille folgte. Vor Betroffenheit konnte Ree keinen wei teren Gedanken fassen. Wumm! Die gedämpfte Detonation wirkte wie eine Erlösung. Ein Alarm heulte los, die Katastrophen-schutzmannschaft hastete in den Einsatz. Gewohnheitsmäßig kontrollierte Ree ihre Reaktionszeit. Chem starrte offenen Mundes Chester an, dann hob er den Blick zu dem Lautsprecher, den Ree benutzt hatte. »Tut mir sehr leid, Dr. Chem.« Rees Stimme klang rauh. »An Ihr Herz hatte ich nicht gedacht.« Anschließend wandte er vorerst allem den Rücken, zog sich in seine Unterkunft zurück, um wieder Ordnung in das Chaos zu bringen, das sich in seinem normalerweise peinlich genau geregelten Verstand ergeben hatte. Er rief die alten Ethnographien über die Arapahos ab. Chem hatte sie und die Sioux erwähnt. Offensichtlich stammten diese Menschen, wer sie auch waren, von den beiden längst ver schwundenen Stämmen ab. Weil er beinahe verzweifelt der Ablenkung bedurfte, vertiefte Damen Ree sich rasch gründlich in eine seit lan
gem vergangene Welt. Anfangs mußte er sich zur Konzentration zwingen, aber die Texte faszinierten ihn. Im Laufe des Lesens zogen die Schriften Kroebers, Trenholms, Hydes, Grinnells und Fitzpatricks ihn voll ständig in ihren Bann. Er war immer ein schneller Lerner gewesen und ar beitete sich zügig durch die Informationen, die ihm das Kontaktron zuleitete. Bilder von Kriegern früherer Zeiten entstanden in seinem auffassungsfähigen Hirn. An thropologische Artikel, Regierungsberichte, Feststellun gen des Sowjetischen Besatzungskommissariats — alle strömte in Damen Rees scharfen Verstand. Danach schlief er und träumte von wilden Räubern, die durch Grasland ritten, das mit den Ebenen des Planeten, den die Projektil umkreiste, Ähnlichkeit besaß. Im Traum sah er in Tücher gehüllte, magere Männer mitten durch einen Blizzard schleichen und Sprengsätze direkt neben einem sowjetischen Wachgebäude anbringen. Eine Bilderfolge nach der anderen schwirrte durch seine Träume. Die Schlafsynch weckte ihn. Trotz seiner mentalen Aktivität fühlte er sich aufgefrischt, er setzte sich mit dem Empfinden auf, mit allem zurechtkommen zu können, was der neue Tag bescheren mochte. Er betrat die Dusche und erledigte die morgendliche Reinigung. Aufgrund einer Laune projizierte er das Holo des romana-nischen Reiters. Das hagere, hakennasige Gesicht schien ihn direkt anzublicken. Räuber. Unwillkürlich fiel ihm dies Wort ein. Mit gefurchter Stirn kleidete er sich an und machte sich auf den Weg zur Kommandobrücke. »Ein Bericht liegt vor, Sir«, rief Hauptmann Iversons Stimme, als Damen am Getränkespender Kaffee orderte. Ree drehte sich um und schaute den Text durch, sich des sen bewußt, daß er bezüglich Chester Armijo Garci-as eine Entscheidung zu fällen hatte. »Nirgendwo ein Anzeichen für eine Transduktionsanlage oder Radar
erkennbar. Die von Leutnant Sarsa erbetene Observation ist abgeschlossen, Sir.« »Danke, Neal.« Ree trank Kaffee. Radar? Daran hatten sich von Anfang an alle gestört. Räuber? Radar? Gab es in der romananischen Sprache bei diesen Begriffen eine pho netische Ähnlichkeit? Kommu, eine Verbindung mit Chester Garcia, befahl er mental. Er wandte sich dem Bildschirm zu, sah darauf im nächsten Augenblick den Romananer auf seiner Koje sit zen und den Lautsprecher ansehen, als wüßte er, daß in diesem Moment eine Stimme aus ihm ertönen sollte. »Guten Morgen, Chester«, begrüßte Ree ihn. Der Bursche hatte sich schnell auf den Bordstundenplan ein gestellt. »Oberst.« Garcias Miene wechselte nicht. »Ich habe eine Frage. Weißt du die Antwort?« Den zweiten Satz hatte er sich einfach nicht verkneifen kön nen. Garcia nickte. »Deine Annahme ist richtig. Ihr habt das Wort Räuber fälschlich in die Bezeichnung des Geräts übersetzt, das ihr Radar nennt.« Ree stand der Mund offen. Er unterdrückte den Drang, hastig zu schlucken. Ein Schaudern der Angst lief ihm über den Rücken. Gott! Würde ihm, nachdem er diesen Mann kannte, je wieder Frieden vergönnt sein? »Ich werde künftig warten, bis du gefragt hast«, sagte Chester. »Vergib mir. Mir war klar, wie sehr ich dich er schrecken müßte.« Ree nickte nur benommen und trennte die Verbindung. Er zitterte; er hatte aus dem Becher Kaffee verschüttet. Indem er mehrmals tief durchatmete, zwang Damen Ree sich zur Ruhe. Eine Aktivierung der Statuskontrolle zeig te ihm, daß an Bord des Raumschiffs alles reibungslos funktionierte. Heiliges Kanonenrohr, vielleicht hätte er einfach Garcia fragen sollen, wann seine Anwesenheit auf der Kommandobrücke erforderlich sei und was er tun
solle! Statt dessen beraumte er eine Sitzung des gesamten an Bord befindlichen wissenschaftlichen Personals an. Als er den Konferenzraum betrat, saßen zu beiden Seiten des Tischs schon reihenweise Leute, die recht verhärmt wirk ten; keiner von ihnen hinterließ den Eindruck, als ob er geschlafen hätte. »Meine Damen und Herren«, begann Ree in ge dämpftem Ton, »ich glaube ... ich glaube, wir stehen vor einem ernsten Problem. Kommu, bitte durchschalten zu Dr. Dobra und ihrem Team auf der Planetenoberfläche.« Sein Blick schweifte über die Anthropologen und den leicht belustigten Montaldo. »Wir werden den Ausgang unserer Überprüfung Chester Garcias durchgeben müssen. Ich nehme an, wir alle wissen, wie wichtig die Gruppe drunten auf dem Planeten den Fall nimmt.« Nervöses, gepreßtes Auflachen ertönte. Chem starrte vor sich hin ins Nichts, er beachtete keinen der Anwe senden. »Hier Leutnant Sarsa«, drang eine Stimme durch die Kommunikation. »Hier Oberst Ree. Holen Sie mir Leeta. Ich bin der Ansicht, wir müssen uns ausführlich besprechen.« »Wir sind gegenwärtig unterwegs, Sir.« »Vielleicht ist es ratsam, ins Basislager umzukehren.« »Dr. Dobra befindet sich gerade hinter einer Anhöhe bei der Kontaktaufnahme.« »Holen Sie sie«, befahl Ree. »Ich glaube, es wird Sie interessieren, daß wir eine der Übersetzungsschwierig keiten geklärt haben. Außerdem möchte ich mich ent schuldigen, Sie hatten recht, was Garcia betrifft. Ich habe unsere gesamte Wissenschaftlertruppe für eine ausgiebige Diskussion zusammengerufen. Die Angelegenheit gleitet uns allmählich aus den Händen.« »Jawohl, Sir. Einen Moment.« Für einige Zeit blieb die Kommu stumm.
Am Tisch begannen die Stimmen lauter zu werden, da meldete sich Dobra. »Oberst Ree?« Im Hintergrund war etwas über Santos zu hören. »Dr. Dobra?« rief der Oberst. »Bitte gedulden Sie sich ‘ne Viertelstunde, dann rufe ich zurück.« Danach folgte Schweigen. »Wird wohl was Wichtiges anliegen«, bemerkte einer der Graduierten, beteiligte sich dann wieder an der Konversation. Ree ermahnte die Versammlung zur Ruhe. Während man auf Leetas Rückruf wartete, trug jedes Fachgebiet seinen Bericht über Garcia vor. Was soll ich bloß mit ihm anfangen? fragte sich währenddessen Ree. Wie soll ich nur mit diesem kleinen, braunen Kerl und sei nem elenden Planeten umgehen? Er widerstand einer plötzlichen Anwandlung, die dahin ging, das Bodenteam und die Begleittruppe an Bord zurückzubeordern und das ganze Ding, als wäre es ein Seuchenherd, in seine Atome zu zertrümmern. »Oberst!« Durch den mentalen Kanal seines Kontak trons meldete sich die Kommu. »Leutnant Sarsas Kom munikator ist außer Betrieb. Sie trägt das Instrumenten koppel nicht mehr, Sir.« Schnellstens Statuskontrolle vornehmen, befahl Ree durchs Kontaktron. »Bitte verzeihen Sie«, wandte er sich laut an die Wissenschaftler. Er eilte, geplagt von Ungewissen Befürchtungen, zur Kommandobrücke. Was mochte Garcia dazu zu sagen haben? * * * Furchtsam blickte Leeta auf, als der Hüne den Raum verließ. Lüstern hatte er mit den Fingern über ihre Brüste gestrichen und ihr dann zu ihrem Entsetzen zwischen die Beine gegriffen. Inzwischen waren sie alle drei nackt aus gezogen worden. Sie lagen, an Händen und Füßen gefes selt, im klammen, stinkigen Kehricht einer Hütte, deren rauchgeschwängerte Luft sie ständig zum Husten zwang.
Rita Sarsa ächzte und hob im düsteren Lichtschein der Feuerstelle, in der Kohlen glühten, den Kopf. Netta Solare brabbelte, wo sie mit abgewandtem Gesicht lag, vor sich hin. »Guter Gott«, stöhnte Leeta, als sie sah, welche Mühe Rita der Versuch kostete, im Zwielicht den Blick auf sie zu heften. »Bin ich schon vergewaltigt worden? Ich meine, wäh rend ich weggetreten war?« »Nein«, flüsterte Leeta, sich darüber im klaren, daß Rita die Sorge ausgesprochen hatte, die sie selbst verdrängte. »Tut mir alles sehr leid. Ich hätte nie im Leben gedacht, daß sie ...« Sie verstummte. »Machen Sie sich keine Vorwürfe, Doktor.« Wenigstens Ritas Stimme merkte man Mumm an. »Es war mein Fehler, mich so überrumpeln zu lassen. Wo haben wir was falsch angepackt? Herrgott... Was für ein Kopfschmerz ....’« Als Leeta das >wir< hörte, beschleunigte die Erleichte rung ihren Herzschlag. Sarsa gab ihr keine Schuld; zu mindest öffentlich nicht. »Netta?« rief Leeta. »Netta! Raff dich auf, wir müssen uns was ausdenken.« Die verkrümmte Gestalt blieb auf der Seite im Schmutz liegen; Netta verweigerte sogar jede Antwort. Nur das Beben der Schultern Solares und ihr gedämpftes Schluchzen verrieten, daß sie noch lebte. »Sehen Sie mal nach, ob Sie irgendwo hier drin was Scharfes finden können«, schnaufte Rita, scharrte mit den gefesselten Händen im Dreck. »Wollen Sie versuchen«, fragte Leeta ungläubig, »die Männer zu erstechen?« »Es wäre nützlich zum Durchschneiden der Fesseln«, sagte Rita in merklich sarkastischem Tonfall. Dumme Frage, stimmte Leeta insgeheim zu und fing in der lockeren, feuchten Erde zu wühlen an. Sie entdeckte ein Knochenstückchen und etwas modriges Leder.
Rücksichtlos schubste sie Solare beiseite und suchte auch die Stelle ab, an der sie gelegen hatte. Infolge der unge wohnten Beanspruchung ihrer Muskeln brach ihr der Schweiß aus. »Nichts«, keuchte sie zum Schluß. Sarsa gab keine Antwort, ihr Blick huschte durch die Hütte, während sie nachdachte. »Gott...«, stöhnte Leeta leise. »Es tut mir wirklich leid.« »Lassen Sie’s gut sein, Doktor«, ermahnte Sarsa sie mit herber Stimme. »Die erste Regel der Kriegsführung lautet: Kein nachträgliches Gejammer. Die zweite Regel heißt: Wenn was schiefgeht, muß die Lage bereinigt werden. Was können Sie mir über diese Burschen sagen? Verdammt noch mal, denken Sie nach!« Leeta bemühte sich um klare Gedanken. Ein Gesicht lugte durch den Vorhang, der die Tür bedeckte, Glitzer augen musterten die Gefangenen. »Zappelt nicht soviel«, rief der Mann, indem er sich entfernte. »Macht nur die *** stramm.« »Dufter Typ«, schnob Rita. Leeta versuchte sich an alles zu erinnern, was sie im Lager beobachtet hatte. Nichts als die wollüstigen Augen männlicher Gaffer fielen ihr ein. Und die Scham, als der Hüne sie anderen Kerlen in die Arme geworfen hatte und sie ihr die Kleidung vom Leib gezerrt hatten. In ihrem Entsetzen war sie zu nicht mehr imstande gewesen, als zu verhindern, daß sie laut schrie. An ihre schlimmste Befürchtung — vielfache Vergewaltigung — wagte sie gar nicht zu denken. »Nur Männer«, sagte sie halblaut und zwinkerte, um die Tränen zu unterdrücken. »Na gut, wenn Sie’s sagen ... Ich war ja bewußtlos, ent sinnen Sie sich? Inwiefern ist das von Belang?« Sarsa ließ nicht locker, hatte die Augen geschlossen. »Hm?« Leeta riß sich zusammen. Wieso? »Vielleicht ein Jagdlager«, meinte sie plötzlich. »Oder vielleicht eine
Gruppe auf Raubzug.« »Räuber!« Abgehackt lachte Rita sardonisch auf. »Und wir haben an Radar gedacht.« Leeta spürte, wie sich ihre Kehle verengte. »Sie sind wie ihre Vorfahren vor sechshundert Jahren.« Die Äuße rungen kamen ihr wie von selber, fast gegen ihren Willen, über die Lippen. Ratlos hob sie den Blick. »Mein Gott... Wie ich mich getäuscht habe ... uns alle.« »Wir leben in einer verweichlichten Gesellschaft, Doktor.« Trotz ihrer unbequemen Haltung zuckte Rita die Achseln. »Nehmen Sie’s sich nicht zu Herzen. Die einzi gen Personen, die sich noch mit Kriegsfragen befassen, sind wir beim Militär. Und das nur dank der Ab bildungskassetten und des Intrapsychischen Trainings. Normale Leute denken an so was nicht. Ich glaube, Sie konzentrieren sich nun besser auf das Zeug, was in Ihren Lehrbüchern steht, und denken darüber nach. Womit müs sen wir rechnen? Gibt’s ‘ne Chance, daß diese Jungs gleich reinkommen, uns unsere Klamotten hinschmeißen und johlen >War bloß ‘n Scherz?<« Leeta durchdachte schnell die kulturhistorischen Fak ten. »Santos ... Gott namens Herrjesses ... also Christen. Vielleicht hat dieser Stamm keine indianische Ethik? Kann sein, es sind waschechte Christen. Trotzdem werden sie uns ja wohl nicht gleich abmurksen ... Sogar die Mexikaner haben früher Sklaven gekauft und verkauft. Es dürften verschiedenerlei Einflüsse ineinandergeflossen sein. Ich würde sagen, sie beraten darüber, wer von uns wessen Frau werden soll.« »Frau?« Ritas Ton verriet ihre Ungläubigkeit. »Frau«, bekräftigte Leeta nachdrücklich. »Alle sind in einem Raumschiff hier eingetroffen, erinnern Sie sich? Es kann nur eine knappe Anzahl von Blutlinien vorhanden sein. Ich wette, sie sichern den Genaustausch zwischen den verschiedenen Gruppen durch Exogamie. Raubzüge sind eine Methode, um an neue Frauen, Pferde und
Gebrauchsgegenstände zu gelangen. Frauen müssen sehr wichtig für sie sein.« »Sie meinen, als ... Besitz!« Rita konnte es anscheinend kaum fassen. »Wie ‘n Scheißpferd! Oder ‘n Schoßtier. Hn hn, nicht mit mir.« Sie schüttelte den Kopf. »Das sollen sie mal versuchen, und ich werde dem Erstbesten die Eier schleifen.« Trotz der Situation kicherte Leeta; die wiedergefundene Fähigkeit zum Nachdenken machte ihr Mut. »Sehen Sie’s doch von der guten Seite. Kein blödes Getändel vorher. Man braucht sich nicht mehr den Kopf drüber zerbrechen, ob man mit so ‘m lahmen Trübling überhaupt ausgehen will.« Leeta fühlte sich wohler, als sie merkte, daß ihre Stimmung sich deutlich besserte. Ihre Gemütsverfassung verschlechterte sich jedoch wie der, als Männer hereinkamen, harte Hände sie an Füßen, Schultern und um die Taille packten. Sie trugen sie, wäh rend rauhe Pranken unablässig ihre Geschlechtsteile befummelten, ins Abendlicht hinaus. Leeta schloß die Lider, nahm sich innerlich fest zusammen und stand es durch. »Bleiben Sie tapfer, Doktor«, brummte Rita, als man sie im Lichtkreis eines großen Lagerfeuers auf dem Erdboden ablegte. Netta sank schlaff nieder, schluchzte hysterisch. »Einen Vorteil haben wir, sie verstehen unsere Sprache nicht.« Krampfhaft versuchte Leeta an etwas Positives zu denken. »Genau. Sobald sie uns die Fesseln abnehmen, mische ich ‘n paar von ihnen auf, und Sie hauen ab, so schnell Sie können, verstanden?« Ritas Stimme klang harsch. »Und was wird aus Ihnen?« wollte Leeta wissen, schau te ihre beiden Leidensgefährtinnen nacheinander kurz an. »Und aus Netta?« Die Männer hatten sich im Kreis ums Feuer gekauert, stierten sie mit geilen Blicken an.
In der Nähe sah sie das Airmobil stehen; man hatte es ins Lager geschleppt. Die Instrumente waren kaputt gedroschen worden. »Um mich machen Sie sich keine Sorgen, Doktor.« Ri ta sprach im Tonfall äußerster Selbstsicherheit. »Für so etwas bin ich ja jahrelang ausgebildet worden. Was Net-ta angeht, sie hört ja, was wir reden. Entweder rafft sie ‘n bißchen Mumm zusammen, oder sie bleibt hier. Hast du kapiert, Kindchen?« Hastig schluckte Netta und nickte, Furcht leuchtete ihr aus den Augen, während sie ins wölfische Grinsen der ums Feuer versammelten Männer schielte. Der Feu erschein warf schemenhaftes Geflacker auf ihre Visagen. »Sie haben ja nicht mal ‘ne Waffe«, meinte Leeta. »Ich brauche keine.« Sarsa zögerte, widmete Leeta dann einen flüchtigen Blick. »Lassen Sie uns mal an nehmen, ich bekomme keine Chance. Glauben Sie, Sie können mit dem fertigwerden, was dann folgt? Es wird schlimmer als alles sein, was bisher vorgefallen ist. Wahrscheinlich wird’s sogar vor Zuschauern geschehen.« Leeta erwiderte ihren eisenharten Blick, holte Atem und nickte. »Ich werd’s wohl müssen, hm?« Der Hüne, den man Großer Mann nannte, kam zu ihnen, streckte die Hände an den zunehmend dunkleren Himmel empor. »Wir danken Herrjesses für eine solche Fülle neuer Weiber. So stark ist unsere Geistkraft, daß diese Beute uns ohne Blutvergießen oder Tote zugefallen ist. Herjesses ist seinem Volk günstig gesonnen. Er lächelt auf uns herab. Wir werden mächtig sein, wenn wir gegen die Sobjets vom Himmel kämpfen, denn hier haben wir ihre Frauen!« Großer Mann griff sich eine Faustvoll von Ritas Haa ren. »Schaut her! Haare wie die Morgensonne. Noch nie haben wir Haar von solcher Farbe erblickt. Und hier!« Er grabschte in Leetas Haar, zog daran, und sie mußte sich gehörig beherrschen, um nicht zu schreien. »Selten ist Haar, das die Farbe der Herbstgräser hat! Von nun an wird
es in unseren Familien häufiger sein.« Die Männer johlten und grölten, schlugen zum Beifall auf ihre von Schmuddel schmierigen Schenkel. »Die Sobjets sind da! Wir haben ihre Frauen gefangen. Wir sind stark und mächtig. Heil dem Propheten der Santos! Er hat uns ausgeschickt, um die Spinnen zu berau ben. Er hat uns ausgeschickt, um die Sobjet-Wei-ber zu fangen.« Inzwischen waren die Männer allesamt aufgesprungen, tanzten in kurzen Hüpfschritten ums Lagerfeuer, schwan gen die Gewehre über dem Kopf und brüllten im Chor. »Haben Sie alles mitgekriegt?« fragte Leeta. »Klar«, bestätigte Sarsa kurzangebunden. Netta stieß ein Kreischen aus, als Großer Mann sie packte und auf die Füße stellte. »Seht euch dies Weib an! Wer will es haben? Es ist kräftig, wenn auch etwas zu fett. Es hat breite Hüften und wird uns viele Söhne schenken. Es ist weich« — er kniff Leeta und entlockte ihr ein wei teres Kreischen — »und kann einem Mann die Nächte wärmen.« »Bleib wacker. Kindchen!« zischelte Rita zu Solare. »Ree wird bald da sein. Keine Bange. Sie wissen, wo das Airmobil gestanden hat. Man wird uns retten.« Leeta nickte, sie sah allen Grund, um sich Ritas Ein schätzung anzuschließen. Wie lange war ihre Gefan gennahme her? Eine Stunde? Oder vielleicht zwei Stun den? Wie lange mochte Ree abgewartet haben? »Martin Luis«, rief Großer Mann. »Sie gehört dir!« Ei genhändig warf er Netta dem Mann zu, der sie hinter sich aufs Pferd gezogen hatte. Allgemeines Geschrei begleitete das Geschehen, als Martin Luis sein Messer zückte und ihr die Fesseln durchschnitt. Netta brach erneut zusammen und wimmerte nur vor sich hin. »Ich behalte diese.« Großer Mann zeigte auf Leeta und schenkte ihr ein gemeines Lächeln. »Ich habe sie in mei nen Sattel gehoben.«
Der Mann, der Rita mit dem Gewehrlauf niederge schlagen hatte, trat vor. «Die Frau mit dem Feuerhaar habe ich gefällt. Ich beanspruche sie für mich.« »Aha!« Großer Mann feixte. »Aber warte, Ramon, mein Freund. Auch ich hätte diese Frau gerne für mich. Was wäre sie dir wert?« »Egoistischer Mistkerl!« fauchte Sarsa hinter Leetas Rücken. »Meint er denn, er wäre für uns zwei Manns genug?« »Haben Sie sich genau angesehen, wie groß er ist?« fragte Leeta leise. »Er hat kein Gramm Speck an seiner baumlangen Statur.« »Schon recht, wenn er uns nur losschneidet«, antwor tete Sarsa knurrig und im Tonfall listiger Berechnung. »Fünf Pferde«, bot Ramon. Aus der Versammlung erscholl lautes >Ah< und >Oo oh<. »Zehn«, überbot ihn Großer Mann. »Sie sind ‘ne Menge wert, Leutnant.« Leeta sah, wie Netta durch den Kreis der Männer weggetragen wurde. »Ich komme mir direkt zweitklassig vor.« Rita erzielte schließlich einen Preis von zweiundfünfzig Pferden; die Männer sperrten vor Staunen Mäuler und Augen weit auf. Großer Mann grinste süffisant. »Das war’s wohl.« Rita trippelte nach vorn, drehte sich um und dem Riesen die Hände zu. Leeta unterdrückte ihre Furcht und tat das gleiche. »Wir gehen ganz brav mit in seine Hütte«, sagte Rita. »Dort haben wir ‘ne größere Chance. Ich sage Ihnen schon, was Sie tun sollen.« Großer Mann schnob. »Ihr versteht, was los ist. Um so besser.« Leeta fühlte ihr Herz hämmern. Ihre Blase war voll, die Furcht rumorte in ihren Därmen. Statt des Messer spürte sie auf einmal Großer Manns Fäuste, und zum schallenden Gelächter der Männer warf er sie sich über die Schulter.
Das gleiche machte er mit Rita. Der mit unangenehmem Geschaukel verbundene Weg war zum Glück kurz. Leeta plumpste wie ein Mehlsack auf das Schlaflager. Rita fiel neben sie. »Ungefesselt macht es mehr Spaß.« Leeta konnte kaum glauben, daß es ihre Stimme war — sie klang so fest und gleichmäßig —, die diese Äußerung aussprach. Sie blickte auf; er grinste auf sie herab. »Gut.« Er lachte. So schnell, daß sie es gar nicht sah, hatte er das lange, schmale Messer aus der Scheide ge zogen, blitzte die Klinge an ihren Füßen; die Riemen waren zertrennt, ehe sie zurückschrecken konnte. Noch eine Handbewegung des Hünen, und auch Ritas Füße waren frei. »Umdrehen«, befahl der Mann. Seinem boshaften Grinsen und dem blanken Messer den Rücken zuzu wenden, war das Schwierigste, das Leeta je hatte tun müs sen. Die Hände fielen ihre frei an die Seiten. »Gleich ist’s soweit.« Rita schmunzelte. »Halten Sie sich bereit.« In der Mitte der Hütte flackerte ein Feuer, warf ge spenstische Schatten auf ihre nackten Leiber und den hochgewachsenen, in Leder gekleideten Mann. Draußen mußte es jetzt vollständig dunkel geworden sein. Rita lächelte den Riesen verheißungsvoll an und hob eine Hand, um ihn im Bart zu kraulen. Fasziniert schaute Leeta zu, wie er sich vorbeugte, um den Leutnant zu küs sen. Was dann geschah, blieb sie später zu rekonstruieren außerstande. Rita schien ruckartig zu zucken, und im nächsten Moment krachte der Hüne mit einem dumpfen, hohlen Wumsen auf den Boden. »Nichts wie weg!« Rita schnappte sich das Messer und warf es Leeta zu. Sarsa nahm das lange Gewehr, schlang sich den mit Geschossen gefüllten Patronengürtel um die Schulter. »Und was ist mit Netta?« fragte Leeta.
»Wir befreien sie später«, zischte Rita. »Wir wissen nicht, wo sie ist. Ree wird schon auf der Suche nach uns sein. Wir müssen von hier verschwinden. Das nennt man Verlustminimierung, Doktor.« Gleich darauf war sie bereits in die Dunkelheit hinausgelaufen. »Und unsere Kleider?« rief Leeta, sobald sie die kühle Abendluft spürte, ihr hastig nach. »Seien Sie nicht so zimperlich«, erwiderte Rita. »Hal ten Sie die Klappe und kommen Sie mit«, fügte sie hinzu. Leeta biß die Zähne zusammen und versuchte das Tempo der geisterhaft hellen Gestalt mitzuhalten, die ihr voraus eilte. Unterwegs in die Finsternis, blickte Leeta sich um und sah den Kreis der Männer noch ums Lagerfeuer hocken. Sie lachten, unterhielten sich und tranken aus Schläuchen. Einige sangen. Sie rannte schneller, obwohl sie schmerz hafte Stiche in die Füße verspürte. Statt zu jammern, biß sie sich auf die Lippe, bis sie Blut schmeckte, und folgte Rita Sarsa. Die Gewehrschüsse begannen zu knallen, während sie beide einen steilen, felsigen Höhenrücken zu erklettern anfingen. Leeta japste und keuchte, stolperte auf von Schmerz brennenden Füßen Rita nach, holte sie ein. Ein unregelmäßiges Stakkato von Schüssen hallte durch das kleine Tal. Männer schrien und fluchten, sprangen rund um die Feuerstelle durcheinander. Das Donnern von Hufschlag dröhnte hohl durchs Dunkel, schattenhafte Gestalten huschten durchs Lager. Wie gebannt beobachte te Leeta das Chaos, während auf das Zucken von Mündungsfeuer eine halbe Sekunde später das Peitschen der Schüsse folgte. »Kommen Sie!« befahl Rita, zog Leeta von der schau rigen Szenerie fort. »Haben Sie ihn umgebracht?« Ein Quieken entfuhr Leeta, als sie auf etwas Spitzes trat. Stechender Schmerz durchfuhr ihr Bein, aber sie humpelte Rita nach.
»Ich hab’s versucht, Doktor.« Ritas Stimme ließ sich Enttäuschung anmerken. »Ich habe mir echt Mühe gege ben. Aber er war so groß, verdammt noch mal. Er hatte soviel Muskeln. Ich glaube, ich habe ihn nur betäubt. Vielleicht erledigen diese Unbekannten da hinten, was wir bloß angefangen haben, hä?« Leeta dachte über diese Möglichkeit nach, während sie sich, obwohl sie hinkte, dicht hinter Rita hielt. Schmerzen, glutheiße Qual, erschwerten ihr jeden Schritt, so daß sie ständig vor sich hinächzte. Ihr Elend blockierte irgend etwas in ihrem Verstand. Sie hatte den Eindruck, der Schmerz breite sich übers gesamte Uni versum aus. Vor Leetas von Tränen verschleierten Augen schienen sogar die Sterne in unnachempfindbarem Schmerz umherzutrudeln. Zwischen den Planeten schien er anzuschwellen und abzuebben, während ihr wie umnachtetes Gehirn sie Rita Sarsa hinterdreinhetzte. »Ich muß ‘ne Pause machen.« Leeta konnte nicht mehr, sie hatte es sagen müssen. »Guter .Gott, meine Füße sind zerfetzt.« Sie schniefte. »Meine auch«, sagte Rita. Ihre Stimme zitterte. »Wie halten Sie das nur aus?« fragte Leeta. »Durch ‘n Soldatentrick. Spezialausbildung.« Rita setz te sich auf einen Felsklotz. »Meine Güte, wo bleibt denn Ree?« Beinahe hätte Leeta richtiggehend zu flennen angefangen. »Was ist bloß passiert?« Wieder fielen in der Umgebung des San-toslagers mehrere Schüsse. »Ob das unsere Leute gewesen sind?« »Ich habe noch nie erlebt, daß ‘n Raumfahrer auf ‘m Pferd reitet. Kommen Sie, gehen wir weiter. Morgen früh werden wir bestimmt ein Airmobil sichten. Weiß Gott, wie mir zumute sein wird, wenn meine Soldaten mich in die sem Zustand sehen.« »Mir ist alles lieber als dieser Großkotz.« Es schauderte Leeta. »Wenn ich das überstanden habe, nehme ich alles
und jeden auf mich ...« »Sind Sie die Anthropologie leid geworden?« Rita lach te. »Schon beim ersten Mal, daß Sie Feldforschung ...?« »Ich ...« Leeta verstummte. »Schhhh! Was war das?« Rita duckte sich, richtete die Mündung des Gewehrs in die Dunkelheit. Leeta streckte die Messerspitze nach vorn, hoffte so auf alles vorbereitet zu sein. Der Harte Arm, der sich um ihre Kehle legte, erstickte ihren Schrei. Unter einer schweren Gestalt sackte Rita zusammen. Angestrengt schnappte Leeta nach Luft, um ihre gierigen Lungen mit Atem zu füllen. Benommenheit überkam sie, ihr Geist sank in eine Welt dunkleren und immer dunkle ren Graus ... und zuletzt in barmherzige Schwärze. Der Eindruck, in Bewegung zu sein — ein Gefühl des Hin- und Herschaukeins —, zog sich endlos in die Län-ge. Was für eine unerfreuliche Bewegungsart! Weshalb konn te sie sie nicht beenden? Abgesehen vom Geschaukel litt sie unter schubweisen Kopfschmerzen. Die Beschwerden sauerstoffbedürftiger Zellen machten sich in unregelmäßi gen Abständen bemerkbar. Akademisch wußte sie darüber genau Bescheid; das half die Schmerzen jedoch nicht im geringsten zu lindern. Leeta wollte schlucken, aber irgend etwas steckte in ihrem Mund. Gequält hob sie ein Lid und konnte mit ei niger Mühe den Untergrund sowie etwas erkennen, das nach einem Pferdefuß aussah. Ihre Blase war leer. Sie fragte sich, wann das geschehen sein mochte. Besorgt überlegte sie, was sich wohl ereignet hatte. »Hier lagern wir«, rief eine gedämpfte Stimme. »Hilf mir, Philip.« Es handelte sich um eine männliche Stimme. Aber sie gehörte nicht Großer Mann von den San-tos. Es war eine völlig andere Stimme. Sie hatte einen sanfteren Klang, ein Timbre, das Leetas Gemüt ansprach, ihr ein momentanes Gefühl der Sicherheit einflößte. Sie hörte ein dumpfes Geräusch, dann faßten Fäuste sie — diesmal
behutsamer — um die Taille. Sie merkte, daß sie wieder an Händen und Füßen gefesselt war, und das zeitweilige Gefühl, in Sicherheit zu sein, wich einem Schaudern der Furcht. Die Hände senkten sie auf den Erdboden. Sie versuchte sich aufzusetzen, sah im Dunkeln etwas sich regen. Jemand wurde neben ihr ausgestreckt. Rita? Ein Schaben ertönte, Funken stoben. Eine düstere Gestalt bückte sich und begann vorsichtig in rote Schwelglut zu blasen. Bald züngelten Flämmchen empor. Der zweite Mann koppelte die Pferde an. Der Mann, der das Feuer entfacht hatte, schaute sich um und nahm Leeta den Knebel aus dem Mund. »Sei gegrüßt, Sternenfrau«, sagte der massige Schatten, der vor ihr stand, schlicht und einfach. »Ich bin Philip.« Nachdem auch ihr der Lappen aus dem Mund entfernt worden war, spie Rita aus. »Auf die Sexekution vorberei tet, Doktor?« fragte sie. Leeta betrachtete ihre blutigen Füße. »Mir ist jetzt alles egal, Rita. Noch einmal weglaufen können wir nicht.« »Da kommt der Sexekutor, Mädchen.« Ritas Stimme klang kühl. Sie und Leeta schauten zu dem hageren Mann auf, der sich nun vorbeugte, das Gewehr im Arm, um sie zu mustern; dicke Muskelstränge spannten sich unter dem weichen Leder, das er trug. »Wenigstens sieht er gut aus«, hörte Leeta sich sagen, während sie in seine tiefen, von Kummer gezeichneten Augen blickte.
10
John Smith Eisenauge füllte seine Lungen mit Luft und ließ den Atem langsam entweichen, während er beobachtete, wie die Santos mit ihren Gefangenen wild ins Lager ritten. Krieger sangen, schwangen Gewehre an den Himmel, johlten und grölten, sprengten auf den Pferden hin und her, um ihre Reitkünste zu zeigen. Auf- und abschwellendes Siegesgeheul belei digte Eisenauges Ohren. Dann schien sich das Blut in seinen Adern in Eis zu ver wandeln: Er erkannte den hochgewachsenen Santos. Ihn! Dieser Mann hatte seine Jenny vergewaltigt, gemartert und ermordet. Furchtsam klammerte sich eine gelbhaarige Frau an ihn, offensichtlich eine Gefangene. John Smith Eisenauge beabsichtigte sich diese Frau zu holen! »Wir tun’s«, raunte er Philip zu. Sein Vetter nickte nur, aber aus Beunruhigung irrte sein Blick unstet umher. Philip hob eine Hand und gab den übrigen Spin nenkriegern, die unterhalb der Erhebung warteten, ihre Pferde zurückhielten, ein Zeichen. »Anverwandter«, meinte Philip leise, mit merklichem Zögern, »du mußt jetzt... eine Entscheidung treffen.« John Smith huschte vom felsigen Kamm der Anhöhe hinab, er neigte, gereizt wegen der Verzögerung, den Kopf seitwärts. »Welche Entscheidung?« Sein Herz glühte vor Verlangen, über die Santos herzufallen, Blut über seinen Kriegsdolch rinnen zu sehen. Philip schöpfte tief Atem. »Du weißt, daß eine Vision mir Furcht eingeflößt hat. Heute mußt du aufgeben, oder ich muß es. Ich bin unwichtig, Vetter. Aber falls ich zurückstecke, verliert das Volk. Die Entscheidung liegt bei dir.« John Smith Eisenauge drohte an unterdrückter Wut schier zu ersticken. Doch etwas wie ein kühler Strang der
Vernunft durchzog seine erhitzten Gedanken. Das Volk und verlieren? Philip hatte, ähnlich wie ein Prophet, die Zukunft gesehen. Weil er große Mühe aufwenden mußte, um die Glut seines unausgetobten Zorns zu bezähmen, klang Eisenauges Stimme gepreßt. »Welcher Art ist die Entscheidung, Vetter?« Bei seinem Tonfall duckte Philip sich gekränkt. »Es betrifft den Santoskrieger.« Er brachte nur Geflüster her vor. »Du mußt ihn am Leben lassen ... oder du wirst dem Volk, mir und dir selbst den Tod bringen.« »Ich verstehe dich nicht, Vetter.« John Smith Eisenauge widmete seinem Verwandten einen Blick, der einem Dolch glich. »Spinne bietet dir den Santoskrieger, um an ihm Ver geltung zu üben.« Philip senkte den Blick. »Er wird bald besinnungslos in seiner Hütte liegen. Es steht dir frei, ihn zu deinem Gefangenen zu machen. Wenn du ihn mitneh men und an ihm Rache üben willst, werden sich genug Männer finden, die dir helfen.« Ein rachgieriges Lächeln verzog John Smith’ Lippen. Philips Blick entglitt zusehends mehr in die Entrückt heit seiner Vision. »Du hast die Wahl zwischen dem Krieger ... und der Sternenfrau. Die Frauen werden den Santos entfliehen. Wenn sie auch uns entkommen, wird das Volk untergehen. Ich werde ... leiden müssen.« Er hob den Blick. »Dann wirst auch du zu leiden haben, Verwandter.« »Mich wird’s schmerzen, den Santos entwischen zu las sen!« Eisenauges Wut entlud sich. »Was ... was wird sein, wenn wir erst den Santos töten und uns danach die Frauen greifen?! Was dann ... hä? Du hast wie ein Prophet in die Zukunft geschaut, also sag’s mir!« Er packte Philip an der Schulter, seine Finger gruben sich ins weiche Leder des Ärmels, hinterließen Blutergüsse im Fleisch, während sein Blick sich in Philips Augen bohrte. »Ich kann nicht allzu weit vorausschauen.« Erbittert
erwiderte Philip den Blick. »Begreifst du denn nicht? Mir ist kein Sehertum bestimmt! Ich bin kein Prophet. Mein Geist hat die Gabe, aber mein Verstand verfügt nicht über die Fähigkeiten eines Propheten. Ich erliege zu leicht den Versuchungen, Verwandter. Ich weiß nur, daß dir die Entscheidung obliegt.« Zwischen den beiden Männern entstand ein ausge dehntes Schweigen. Langsam ließ Eisenauge von seinem Verwandten ab. «Und was taugen dann deine Visionen, hm, Vetter?« Er schnob spöttisch. Philip ließ den Kopf sinken, holte zittrig Atem. »Ich weiß es nicht.« Widerwillig entrang die Antwort sich sei ner Kehle. »Die Zukunft zu sehen, das bedeutet, sich auf Pfaden zu verirren ... die sich zu weiteren Pfaden verzwei gen ... und immer noch mehr Pfaden verästeln Ich drohte in einen Abgrund zu stürzen, aus dem es für mich kein Zurück gegeben hätte. Stets ist der Abgrund da, um mich zu locken. Spinne spielt mit mir seine Tricks. Ich bin ...« »Meine Entscheidung!« John Smith Eisenauge spie in ein Büschel Degengras zu seiner Linken. »Der alte Prophet hat dir das gleiche gesagt.« Philip hob die Schultern. »Es liegt jetzt in deiner Hand, John. Die Vier Alten haben sich zum Beten zurückgezogen. Sie wer den sich nicht einmischen. Alles hängt von dir ab, Krieger des Volkes. Es ist dein Cusp. Spinne hat dich auserwählt, um dich entscheiden zu lassen. Wie stark ist deine Medizin? Wie machtvoll dein Zorn?« »Warum sagen sie mir nicht, was ich tun soll?« rief John Smith. »Sie werden sich doch nicht deinetwegen um den Verstand bringen, du Narr!« schalt Philip unterdrückt. »Bald wird es dunkel sein. Was wollen wir tun, John Smith? Stürmen wir die Hütte des Santoskriegers und neh men ihn als Gefangenen mit? Retten wir die Frauen vor den Santos? Wie lautet deine Entscheidung?«
»Wozu rätst du, Vetter?« Johns Stimme klang sanft, obwohl ihn bei dem Gedanken, Jennys Mörder nicht töten zu dürfen, innerlich wüster Schmerz peinigte. Ihm kam die Erinnerung an seine Vision. Er sah den Santos wieder vor sich, wie er ihm in die Augen gestiert, ihn herausgefordert und verhöhnt, über seine Schwäche gelacht hatte. Neuer Jähzorn durchlohte seine Nerven, hitzig verkrampften sich seine Muskeln. Philip hatte die Lider fest geschlossen. Ein Zittern be gann in seinen Beinen, verbreitete sich über seine ganze Gestalt und steigerte sich zu Krämpfen, ehe er schlaff auf den Erdboden sackte. Philip stürzte ins Innere seiner Seele, in die Myriaden von Zukünften, die nur er zu schauen vermochte. Plötzlich in kalten Schweiß gebadet, ergriff John Smith Eisenauge ihn an den Armen und schleuderte ihn grob auf den Abhang, brach den Bann der Vision. Eisenauge kauerte sich neben seinen Vetter, sah ihm in die gequälten Augen. »Ich kann nichts sagen«, wimmerte Philip. »Ich kann’s nicht. Das Labyrinth würde mich ver schlingen. Ich müßte den Verstand verlieren. Ich kann dir keinen Rat geben, Anverwandter. Ich kann nur ... ich kann ... ich ...« Er fing wieder zu beben an. John Smith Eisenauge seufzte. »Wir sind Werkzeuge höherer Mächte, Vetter. Verzeih mir. Ich hatte kein Recht, so etwas von dir zu verlangen. Sag mir nichts mehr. Ich habe an Jennys Leichnam geschworen, daß das Blut des Santos fließen soll. Und nun, behauptest du, muß ich zwi schen ihr und den zwei Frauen wählen, die ich nicht kenne? Die Zukunft des Volkes soll von diesen Frauen abhängen ... und nicht vom Blutschwur eines Kriegers? Wo ist da der Sinn?« Zur Aufmunterung klopfte er Philip auf die Schulter. »Spinne kennt den Sinn«, flüsterte Philip. »Was wirst du tun?« John Smith Eisenauge zog seinen Vetter auf die Beine.
»Ich werde ...«, murmelte er. »Ich weiß es noch nicht.« Damit wandte er sich ab. Bei den Pferden nahm John Smith das Gewehr aus der Hülle. Er prüfte, ob sich eine Patrone im Lauf befand, ver schob am Verschluß das Verriegelungsstück. Er merkte, wie die Krieger rundherum ihn neugierig musterten. Er kannte jeden. Wie oft war er schon mit ihnen auf den Kriegspfad geritten? Wie viele Male hatte er gemeinsam mit ihnen getanzt? Mit einigen hatte er bereits als Kind gespielt. Manche Gesichter fehlten, die Gesichter Reuben O’Neal Andojars und anderer. Santoskugeln hatten diese Männer getötet. Ein paar waren an Krankheiten gestorben. Diese und jene waren von Bären verschlungen worden. Alle waren sie Krieger des Volkes gewesen. Jeder von ihnen hatte sein den Toten, Gott und sich selbst/ gegebe nes Wort immer gehalten. Und ich soll meinen Schwur brechen müssen? wunder te sich John Smith Eisenauge, während er die Reiter in Ei nerreihe in den Canon hinabführte. In Kürze würde es stockfinster sein. Was sollte er tun? Er schaute an den lavendelfarbenen Himmel empor und glaubte in den Wolken, die aus dem Westen heranwehten, Jennys Gesicht zu erkennen. Schuldgefühle begannen sich in ihm zu regen. Eine halbe Stunde später hatte er seine Krieger in Po sition gebracht. Philips Blick ruhte auf ihm, während die Kriegs- und Bittgesänge im leichten Abendwind leise zu Spinne aufstiegen. Freitag Garcia Gelbes Bein kam den Abhang herabge schlichen. »Sie verteilen die Frauen unter sich. Alle sitzen ums Feuer. Viele trinken.« John Smith Eisenauge schenkte seinem Vetter einen kurzen Blick und hob die Schultern. »Also vorwärts!« Im Dunkeln ließen Philips Augen sich nicht erkennen. John stieß der Rappenstute die Knie in die Flanken und ritt im Trab voraus.
Das Dröhnen des Hufschlags schwoll hinter ihm an. Einige Krieger sangen noch ihre Kriegs-, Sieges- und Hoffnungslieder. John Smith knirschte mit den Zähnen, während die Rappenstute, angestachelt von der Wildheit der Attacke, allen vorangaloppierte, um als erste ins Kriegslager der Santos zu sprengen. Rechts fiel ein Schuß. Eine halbe Sekunde später knall te ein zweiter. Wächter. Die Spinnenkrieger überquerten eine niedrige Höhe, und schon preschten sie mitten zwi schen die Hütten. Männer rannten durcheinander, versuch ten dem Kugelhagel der Angreifer in rasender Hast zu ent gehen, brüllten, warfen Messer, die Attacke der Spinnenkrieger versetzte sie in Panik. John Smith Eisenauge legte das Gewehr an und schoß auf einen Mann, der sich mit schußbereiter Waffe vor ihm aufrichtete. Während der Santos in den Dreck stürzte, riß John das Pferd herum. Überall waren Reiter, schlugen auf der Flucht befindliche Gestalten nieder, schossen, sangen Siegeslieder. Während die Stute tänzelte, sich drehte, lud Eisenauge eine neue Patrone in die Geschoßkammer. Die Santos waren vollständig überrascht worden. Eisenauges Männer würden sämtliche Pferde erbeuten und im Kampf viele Coups erringen. Er sprang von der Stute und nahm mit dem Messer bei dem Niedergeschossenen den Coup. Nahebei hinkte eine Gestalt davon, wollte aus dem Getümmel flüchten. Eisenauge legte nochmals an und schoß den Mann zwi schen die Schulterblätter. Blutgier beherrschte ihn, als er niederkniete, um den zweiten Coup zu nehmen. Das bluti ge Haar wehte an seinem Gürtel, während er auf eine Hütte zulief. Eine Anzahl der Hütten, von Spinnenkriegern angesteckt, stand inzwischen in Flammen. Er sah Philip mit einem hysterischen Weibsbild ringen, er deutete auf die Hügel und schlug es mit der flachen Seite seines blut verschmierten Kriegsdolchs auf die nackten Hinterbacken,
damit es endlich Beine machte. Eisenauge lugte in die Hütte und erstarrte inmitten der Bewegung. Wie im Traum trat er ein und betrachtete den Santoskrieger. Bedächtig langte er nach dem Messer, sich der Nähe einer dritten Person neben seiner Schulter bewußt. Er erübrigte für Philip einen kurzen Blick, sah auf sei ner Stirn Schweißperlen, während seine Augen voller Furcht zwischen John und dem riesigen Krieger hin-und herruckten. Philips Kehlkopf hüpfte; seine Augen ähnelten Tümpeln dunklen, bodenlosen Wassers. Eisenauge sah in der Erinnerung Jennys Verstümme lungen, den Ekel und die Furcht, die sich im Tod ihrer Miene eingeätzt hatten ... Er zitterte vor sich hin, während er Großer Manns erschlaffte Gesichtszüge musterte. »Bist du würdig?« hörte er in seinem Ohr die Stimme des Bären flüstern. »Wie verwendest du mein Blut?« Eine / andere, eine brüchige Greisenstimme fragte: »Könntest du deinen Zorn gegen dein Volk richten?« Bilder von Gesichtern, Gelächter, Ereignissen in der Siedelei, der Augen Patan Reesh Gelbes Beins, wie sie im Sterben erloschen, gingen im blitzartig durch den Kopf, als seine Finger den Ledergriff des Kriegsdolchs umklammerten. »Du ... oder das Volk?« raunte Eisenauge zu dem Be sinnungslosen. Der Schmerz zermalmte ihm das Gemüt, sein heißer Zorn zerriß ihm die Seele. »Um des Volkes willen habe ich Jenny dem Tod überlassen. Für das Volk ... für Spinne ... habe ich ...« Ein Schlottern befiel seine Muskeln. Die Lider zusammengekniffen, rang Eisenauge um Selbstbeherrschung. »Und wenn ich nur den Coup nehme?« flüsterte John wie benommen. »Wird das einen Unterschied bedeuten?« Es juckte ihm in den Händen, dem Krieger wenigstens das Haar zu rauben. »Ich weiß es nicht.« Philips Stimme hatte einen rauhen
Klang. »Spinne könnte mit mir einen Trick spielen.« John Smith Eisenauge ballte die Finger zur Faust und schüttelte sie in die Richtung des Santos. Ein Wutschrei drang aus seiner Kehle, als er — zermartert von seinem Entschluß — aus der Hütte zurück in die makabre Szenerie des Lagers rannte. Hütten loderten, Männer schrien. Gelegentlich hallten noch Schüsse durchs Tal. Er fand die Rappenstute, wo er sie stehengelassen hatte. »Wohin, Philip?« rief John, als auch sein Vetter die Hütte verließ. »Ich weiß nicht wohin.« Philip wandte den Kopf hin und her. Schließlich zeigte er auf den nächstgelegenen Hang. »Dorthin! Ich glaube, sie dürften dort hinaufgelaufen sein. Das müßte stimmen, glaube ich. Von diesem Augenblick an war die Vision nicht besonders aufschlußreich, Bruder.« Philip holte sein Kriegspferd und folgte John, der sein Reittier den Hang aufwärtsführte. Bruder? Ja, von diesem Moment an waren sie tatsäch lich Brüder. »Sind sie bewaffnet?« John blinzelte dort hinüber, wo im Dunkeln sein Vetter ritt. »Wir dürfen nichts riskieren.« Philips Stimme troff geradezu von Erleichterung. John nickte. Auf dem Hügelkamm saß er ab. »Wir ge hen zu Fuß. Die Pferde würden sie hören.« In einigem Abstand voneinander strebten John Smith Eisenauge durch die tintenschwarze Finsternis. Die Wolken verbargen alle drei Monde. Ein leises Tappen mit ten in der abendlichen Finsternis teilte John Smith Eisenauge mit, daß sein Vetter die Fährte gefunden hatte. Wie auf Katzenpfoten schlich John zu ihm, bückte sich, beschnupperte den Untergrund. Blut! Fünfzehn Minuten später hörten sie die Frauen. John gab Philip durch Tappen Weisungen, während er lautlos hinter ihren Standort schlüpfte.
Schritt um Schritt, im Finstern niedergeduckt, näherten sie sich ihnen. Eine Frau stand vor John Smith. Er konnte das Weiß ihrer Haut erkennen. Die zweite Frau kauerte zusammengesunken daneben, redete mit leiser Stimme. Hatten sie keine Ohren? Hörten sie nicht, wie sich das Degengras bog? John tappte an der Messerscheide das Zeichen für Be reitschaft. Die eine Frau verstummte. Sofort sprang John. Sie wehrte sich kaum. Ein Messer entfiel ihrer lahmen Hand. John hörte Geräusche heftigen Ringens und ein gedämpftes Aufknurren des Schmerzes, sah Gestalten sich winden, wo Philip die andere Frau angesprungen hatte. »Diese hier ist soweit«, rief er mit trockenem Humor hinüber. »Muß ich die ganze Nacht lang warten, bis du ein dürres Weib überwältigt hast?« Trotzdem dauerte es noch ein Weilchen, bevor Philip, indem er laut schnaufte, sich aufrichtete. »Nächstes Mal... nimmst du dir diese da vor. Ich glaube, sie hat / mir die Rippen gebrochen.« Zittrig atmete er ein. »Gib auf sie acht, ich hole die Pferde.« Er lief davon in die Dunkelheit. Nachdem sie die bewußtlosen Frauen gefesselt und geknebelt hatten, schloß John sich Philip an, der ihnen den Weg durch die Finsternis suchte. »Die Sternenmenschen werden kommen und nach ihnen suchen. Wir müssen uns an einem Ort verstecken, wo sie uns aus der Luft nicht sehen können.« John Smith Eisenauge blickte empor zu den verwaschen-schwärzlichen Wolken. »Wer war die Frau, die du aus dem Lager der Santos fortgejagt hast? Die von dir den Klaps mit dem Messer abgekriegt hat.« »Eine Sternenfrau. Keine die wir brauchen. Man wird sie am Morgen finden.« Philips Stimme klang nun nach Sorgenfreiheit und Erleichterung, viel lebendiger als vor her. »Du hörst dich nicht mehr sehr wie ein Prophet an ...
Bruder.« John konnte nicht vermeiden, daß in seinem Tonfall Ironie mitschwang. Die Stimme seines Vetters verriet regelrechte Unbekümmertheit; so hatte sie seit der Zeit vor Johns Kampf mit dem Bären nicht wieder geklungen. »Die Ehre und Bürde des Prophetentums ist Chester bestimmt. Ich bin jetzt mit meinem Los zufrieden. Ich lebe und habe ein schönes Weib auf mein Pferd gebunden.« Er schwieg kurz. »Das Volk hat die Aussicht aufs Überleben erhalten. Vielleicht werde ich noch viele Jahre erleben. Vielleicht nicht. Ich will’s gar nicht wissen.« »Du wärst umgekommen?« John empfand Ungläu bigkeit. »Das wäre ich. Das Dasein eines Alten ist schwer. Krieger zu sein und in Unwissenheit durch die Welt zu rei ten, ist ein Segen, Anverwandter.« Philip lachte und jauchzte. »Ich hatte meinen Tod im Lager der Santos vor ausgesehen. Hättest du den Krieger getötet, wäre auch mein Leben verfallen gewesen. So und nicht anders wäre es gekommen.« »Und wann wirst du nun sterben?« fragte John Smith. »Ich weiß es nicht... und es ist mir gleich!« Wieder lachte Philip. »Und was ist mit diesen Frauen?« John Smith Eisen auge betrachtete die schlaffe Gestalt, die quer über seinem Sattel lag. »Wir müssen nett zu ihnen sein. Wir müssen ihre Liebe zu gewinnen versuchen. Darüber hinaus weiß ich kaum etwas.« John sah, wie Philips schwach unterscheidbare Umrisse die Schultern hoben, dann zusammenzuckten. »Es ist wirklich wahr« — seine Stimme klang wieder gepreßt — »ich glaube, sie hat mir die Rippen gebrochen ... und das nur mit den Fingern.« Liebe? John Smith Eisenauge beobachtete den Kopf der Frau, der bei jedem Schritt des Pferds hin- und her baumelte. Eine Sternenfrau lieben? Er hatte kein Interesse
mehr an Liebe. Ausschließlich Jenny könnte ihm Liebe schenken — und Jenny war tot. Großer Mann lebte ... Eine Schuld blieb ungesühnt. Johns Versagen bereitete ihm plötzlich Gewissensbisse. Er würde den Anblick seines Widersachers nicht ver gessen, ehe man seine leblose, kalte Leiche aufs Toten gerüst bahrte. Dort lag der Weg der Vergeltung. Das war der Weg, um seine und Jennys Ehre zu wahren. Warum hatte er sich von diesem Weg abgewandt? Tränen brann ten in seinen Augenwinkeln, als er sich daran erinnerte, wie Jenny ihn früher, solange noch warmes Leben sie erfüllte, angelächelt hatte — und er anschließend an ihren entstellten Leichnam dachte. Durch die Biegungen und Verwinkelungen des Canons ritt er voraus. Sie verließen die Schlucht auf einem schma len Trampelpfad Grüner Schnitter und ritten quer durchs Gelände weiter. John trieb, vom Kummer wie betäubt, die Rappenstute härter an. Als ein schwaches Grau den wolkenverhangenen Himmel verfärbte, entdeckte er einen Felsüberhang. »Hier lagern wir«, rief Philip. Wie sollte er mit der Frau umspringen? fragte sich John. Sie vom Pferd werfen? Sein Schmerz war keine Rechtfertigung für rohes Betragen. »Philip, hilf mir«, rief John zurück. Zusammen legten sie die Frauen auf den Erdboden; danach brachte John die Pferde zum Tränken an die tiefste Stelle der Höhle, wo sich Wasser angesam melt hatte, und pflockte sie unter dem Überhang aus Sandstein an. Philip hatte schon ein Feuer entzündet, als Eisenauge in die Hocke ging, um die Sternenfrauen zu mustern. Sie unterhielten sich leise in sinnlosen Lauten. War es mög lich, daß sie nicht richtig sprechen konnten? Philip keuchte, als er sich aufrichtete, preßte die Hände auf die Rippen. John stellte sein Gewehr beiseite. »Laß mich mal sehen. Kann sein, man muß die Rippen verbin
den. Ich kann noch immer nicht glauben, daß eine so klei ne Frau dich ernsthaft verletzt haben soll.« Die Gedanken an Jenny beschränkten sich nun auf ein dumpfes Weh. »Ich weiß auch nicht, wie sie das gemacht hat«, mur melte Philip kläglich. »Nur gut, daß sie bloß das Gewehr hatte. So wie sie gezappelt hat, hätte sie mich mit einem Messer fünfmal erstechen können.« »Vielleicht war das die andere Hälfte deiner Vision«, scherzte John, meinte es aber nur halb im Spaß. »Sie reden nicht wie das Volk«, fügte er hinzu, als er merkte, daß Philip sich bei diesem Thema nicht zum Scherzen aufge legt fühlte. John verzog das Gesicht, sobald er den Bluterguß an Philips Körperseite sah. Er war häßlich und schon ganz dunkel. Er versuchte vorsichtig zu sein, während er die Stelle abtastete, spürte schließlich, wie Knochen anein anderschabten, hörte Philip aufjapsen. »Wie hast du so weit reiten können, ohne zusammenzubrechen?« »Dafür bin ich einfach zu froh, noch am Leben zu sein, Vetter.« Trotz der Beschwerden spiegelten Philips Augen äußerste Lebhaftigkeit. »Mein Dasein hat sich verändert. Nicht einmal Freitag Garcia Gelbes Bein wird künftig häufiger als ich lachen.« Kopfschüttelnd betrachtete John Smith Eisenauge die beiden noch gefesselten Frauen, zückte sein Messer. Die Gelbhaarige krampfte sich in plötzlicher Furcht zusam men, wogegen die Rothaarige ihn bösartig anschielte. John lächelte, während er die Fesseln durchschnitt. »Tut ihm nichts mehr.« Mit der Messerspitze deutete er auf Philip. »Gegen Weiber ist er ein schlechter Kämpfer.« Am Himmel zuckte ein Blitz, als John halblaut vor sich hinlachte und sich erhob. Sekunden später rumpelte ein hohles Dröhnen durch die Hügel. John entnahm den Satteltaschen Decken und seine Reservekleidung, kehrte damit zum Feuer zurück. In zwischen hatten die Frauen die Reste der Fesseln von
ihren Gliedern gezupft und rieben sich die Handgelenke. Noch immer beobachteten sie Philip mit halb verstörten Blicken. »Ich weiß nicht, ob diese Sachen euch passen. Der Re gen kommt. Es wird kühl werden.« Er kauerte sich nieder und besah sich ihre verdreckten Füße. In der allmählich stärkere Helligkeit des Morgenlichts konnte er erkennen, daß an ihnen Schmutz und Blut klebten. Philip briet Steaks von Grüner Schnitter-Fleisch. Der Grüne Schnitter hatte keinen sonderlich guten Ge schmack, aber sein Fleisch hielt einen Menschen eini germaßen bei Kräften. Ein Mensch benötigte zum Leben Fleisch. Die Frauen streiften die Kleidungsstücke über, so gut es ging, und wickelten sich in die Decken, unterhielten sich dabei in ihrer fremden Sprache. »Sie werden einige Tage lang nicht zum Laufen im stande sein, Vetter.« John Smith Eisenauge blickte hoch. »Degengras und Klingenbüsche sind ihren Füßen schlecht bekommen.« Philip schnitt Streifen aus seinem Hemd, nachdem John es zerrissen hatte, um ihm die Rippen zu verbinden. »Wenn wir das nächste Mal Frauen retten, müssen wir mehr Kleider dabei haben, hm? Aber sie sehen beide immer noch sehr schön aus, sogar in deinen elenden Lumpen, die man nicht einmal einem Santoskadaver als Leichenhemd anle gen möchte.« Philip war so fröhlich, daß er scherzte, wie man es früher nie von ihm gekannt hatte. Diesmal machte John eine böse Miene, als er seine Äußerung hörte. »Jenny hat sie angefertigt.« Mit matter Hand deutete er hinüber zu der Kleidung, die die gelb haarige Frau trug. Schlagartig senkte Philip den Blick. »Ich ... ich ... Vergib einem Narren wie mir, Eisenauge. Ich nehme die Bemerkung zurück.« Sorgfältig briet Philip das Fleisch. Während neuer Schmerz in ihm schwelte, gab John Smith den Frauen durch Zeichen zu verstehen, daß sie ihre
Füße ausstrecken sollten, fing an, ihnen behutsam Dreck, Blut und Grashalme aus den Wunden zu waschen. Bei den Berührungen zuckten sie öfters zusammen. Die Rothaarige atmete tief ein, als er fertig war, lehnte sich zurück und schloß die Lider. Philip bot den Frauen zu essen an, doch da schlief die Rothaarige schon. Außerhalb des Felsüberhangs hatte Regen auf den Untergrund zu prasseln begonnen. John Smith Eisenauge ging neues Säulenpflanzenholz sammeln. Schließlich kehrte er ermüdet zum Unterschlupf zurück — in der kühler gewordenen Luft war sein Atem nun als Wölkchen sichtbar —, warf das gesamte, knorrige Holz, das er hatte finden können, in einen Winkel. Beide Frauen schliefen. Auch Philip schnarchte leise. John Smith sah ein letztes Mal nach den Pferden und legte sich danach eben falls zum Schlafen nieder; seine letzten Gedanken galten Jenny und dem hünenhaften Santoskrieger, den leben zu lassen er sich entschieden hatte. * * * Schlammige Brühe rauschte durch den Tümpel unter halb des Felsüberhangs, während Ströme von Regen vom Himmel herabgossen. Leeta schluckte schwer. Nochmals schaute sie sich nach den Männern um, die noch schliefen. Sie verließ den Tropfrand der Höhle und trat, gefolgt von Rita, ins kalte Wasser. Knöcheltiefes Regenwasser überschwemmte den schmalen Pfad. Der Schmerz, der aus Leetas wunden Füßen herauf schoß, fühlte sich geradezu fürchterlich an, ihr war zumute, als ginge sie auf freigelegten Nervenen den. Aber vor ihnen lag der Fluchtweg. Ree würde sie fin den ... Irgendwie. Schon Sekunden nach Verlassen des Unterschlupfs war sie trotz der dicken Lederkleidung durchnäßt bis auf die Haut. »Auf- oder abwärts?« flüsterte Rita ihr ins Ohr. »Aufwärts ist näher bei Ree«, überlegte Leeta. Sobald
sie es gesagt hatte, zwang sie sich dazu, den Bach hinauf zuhumpeln, in den der Pfad sich verwandelt hatte. Ungefähr achtzig Meter weiter starrten sie beide un gläubig ins Röhren und Tosen unüberschaubarer Was sermassen, die über schmale Felssimse herabbrausten und ihnen den Fluchtweg versperrten. Leeta schlotterte heftig, als sie Rita ratsuchend an schaute. »Und was jetzt?« »Keine Ahnung.« Rita schüttelte den klatschnassen Schopf; sie zitterte gleichfalls. »Da kommen wir nicht durch.« Ihr Blick suchte die fast senkrecht steilen Fels wände ab. »Zu glatt zum Klettern. Ich denke mir, wir werden’s abwärts versuchen müssen.« Sie befanden sich in jämmerlicher Verfassung, waren niedergeschlagen, naß, litten Schmerzen, froren und kann ten die Gegend nicht... Eine höllisch miese Situation, faßte Leeta in Gedanken zusammen. »Vielleicht ist Anthropologie doch kein so tolles Fach«, sagte sie. Der Weg nach unten erwies sich als noch schlimmer als der Aufwärtsweg. Der Unterschlupf unter der Felswand wirkte verführerisch warm, trocken und gemütlich, wäh rend sie durchs Wasser daran vorüberplatschten, leise zu sein versuchten. Die Pferde schauten ihnen mit gelindem Interesse zu, dachten zweifellos in ihren schlichten Gemütern, wie verrückt Menschen doch sein konnten. Fast waren sie vorbei, da erscholl vom Lagerplatz her eine Stimme. »Bis ihr kalt und naß genug geworden seid, haben wir für euch das Frühstück zubereitet. Versucht nicht das Gewässer zu durchqueren, ihr würdet ertrinken.« »Glauben Sie, sie wissen mehr als wir?« fragte Rita, indem sie versuchte, die Lage mit Humor zu meistern. »Wir wollen fliehen«, rief Leeta auf romananisch. Aus der trockenen Zuflucht der Höhle drang Gelächter. »Für so was bleibt euch noch die Zeit, wenn die Vor aussetzungen wieder besser sind. Nur zu, nutzt diese prachtvolle Gelegenheit! John und ich bleiben hier im
Warmen. Sobald eure Füße euch zu sehr schmerzen und eure Bäuche leer sind, kommt zurück. Wir werden euch nichts antun. Wir gehören zum Spinnenvolk. Wir sind Ehrenmänner.« In den zwei letzten Sätzen klang Stolz mit. »Ach, zum Teufel«, stieß Rita hervor. »Meine Füße sind wund. Mir ist eiskalt. Sie haben dort drin Feuer und Essen.« Damit schleppte sie sich zum Unterschlupf zurück, ließ Leeta im Regen stehen und die Wahl, sich ihr anzuschließen. Es regnete drei Tage lang. Trotz aller Befürchtungen benahmen die beiden Männer sich anständig. Um die Gelegenheit, die die Situation zur Feldforschung bot, opti mal zu nutzen, fragte Leeta sowohl Philip wie auch den viel wortkargeren John Smith Eisenauge über ihr Volk aus. »Ihr sagt, die Santos werden immer stärker?« meinte Rita während einer Befragungspause. »Wieso? Weshalb wächst ihre Bevölkerungszahl, warum schrumpft eure?« Philip hob die Schultern. »Einst wurden wir immer mehr und dehnten unseren Siedlungsbereich bis in die Plains hinter den Bärenbergen aus. Das war zur Zeit mei nes Vaters. Seitdem haben sie uns ständig ihren räu berischen Überfällen ausgesetzt. Nur die Funkgeräte ver hindern, daß sie uns ausrotten. Sie und die Kraft unserer Krieger.« Philip warf John einen kurzen Blick der Anerkennung zu. Leeta schnob verächtlich. »Und ich dachte in meiner Naivität, wir finden hier ‘n freundliches, friedliches Hir tenvölkchen vor. Es fällt mir nach wie vor schwer, mich an die Vorstellung zu gewöhnen, daß Menschen sich ge genseitig umbringen. Das ist wie ein Ausflug in die Ver gangenheit.« »Ich war der Meinung«, kommentierte Rita, »um genau so was geht’s bei der Anthropologie.« »Warum schließt ihr keinen Frieden mit den Santos?« wollte Leeta wissen. Unerwartet ergriff John Smith das Wort. »Die Dinge
stehen nicht zum Frieden, Sternenfrau. Unser Haß und Zorn tragen Blut, Tod und altes Unrecht im Herzen. Spinne hat das Volk und die Santos so geschaffen. Wäre es richtig, Frieden zu schließen, würden unsere Propheten es uns mitteilen. Jetzt verhält es sich so, daß das Treiben der Räuber uns stark hält. Sie sind die Grundbedingung unse rer Schnelligkeit und Kraft, der Ursprung unserer Siege. Ohne Krieg müßten wir verkümmern.« Sobald er das gesagt hatte, stand er auf und stapfte zum Tropfrand des Unterschlupfs, starrte hinaus in den vom Regenwasser überfluteten Hohlweg. »Weshalb ist er dermaßen verbittert?« erkundigte sich Leeta. »Was macht ihn so traurig?« »Die Santos haben seine Schwester getötet.« Philip sprach in verhaltenem Ton. »Der große Santos, der euch gefangengenommen hatte ... er ist es gewesen. Er ver schleppte Jenny, vergewaltigte, blendete und ermordete sie. Jenny Garcia Smith und John Smith Eisenauge waren füreinander Tabu. Es durfte nicht sein, aber sie liebten sich. Er ist ein von Spinne gesegneter Mann. Er mußte zwischen Rache und eurem Leben wählen. Er mußte zwi schen dem Santoskrieger einer- sowie mir und dem Volk andererseits die Wahl treffen.« »Du meinst, er wußte von uns?« fragte Rita argwöh nisch. Unbehaglich nickte Philip. »Ich hatte schon alles in einer Vision geschaut.« »Du bist also ein Prophet?« fragte Leeta. »Nein.« Nachdrücklich schüttelte Philip den Kopf. »Ich bin dafür zu schwach. Spinne hat Chester auserkoren. Nicht mich.« »John hat also einen Kampf mit den Santos vermie den?« mutmaßte Rita. »Keineswegs!« Philip wirkte bestürzt. »Er hat zwei von ihnen getötet. Habt ihr nicht die neuen Coups an seinem Gürtel gesehen?«
»Kuhs?« Leeta runzelte die Stirn. »Das Wort habe ich schon oft gehört. Alles was ich an seinem Gürtel sehe, sind seine Waffen und diese Haarbüschel.« Stolz zeigte Philip auf die Haarsträhnen, die er an Jacke und Gürtel hängen hatte. »Das sind meine Coups.« Sein Grinsen wurde breiter. »Diesen hier nahm ich, als ich fünf zehn war, ich erschoß einen Räuber, der das Pferd meines Onkels stehlen wollte. Den hier nahm ich, da war ich kaum sechs Monate älter. Es war das erste Mal, daß ich mit auf den Kriegspfad auszog. Ich habe den Räuber aus dem Hinterhalt erschossen und ihn ...« »Du meinst, das ist Menschenhaar?!« ächzte Leeta. »Macht euer Sternenvolk nicht das gleiche? Wie be haltet ihr dann den Überblick über eure Coups?« Philip wirkte ehrlich verwirrt, schaute zwischen Leeta und Rita hin und her. Plötzlich erhellte sich sein Blick. »Natürlich! Ihr seid Weiber. Vielleicht zeigen eure Männer euch ihre Coups nicht, aus Sorge, sie könnten durch euch unrein werden.« Er nickte, als hätte er eine scharfsinnige Schlußfolgerung gezogen. Leeta merkte, daß sie unwillkürlich von dem Mann abrückte, mit geweiteten Augen die Skalpe anstarrend; ihr Verstand schien vor Schreck völlig abgestumpft zu sein. »Ganz so ist es nicht, Philip.« Rita hatte ein grimmiges Grinsen aufgesetzt. »Ich bin eine Kriegerin des Ster nenvolks. Trotzdem habe ich nie einen Coup genommen. Ich bezweifle, daß unsere Kriegsführer so etwas billigten. Unser Volk wäre dagegen. Sie halten uns sowieso schon für zu wild.« »Du? Eine Kriegerin?« In Philips Augen spiegelte sich Unglauben wider. »Ein Weib?« »Ich habe dir ‘ne ganz ordentliche Verletzung beige bracht«, prahlte Rita. Unbewußt legte Philip eine Hand auf seine gebrochene Rippe. »Er macht einen viel zu sensiblen Eindruck«, meinte
Leeta versonnen, den Blick hinüber zu Eisenauge gerich tet, »als daß man glauben könnte, er bringt jemanden um.« Philip wandte sich an sie. »Wenn ein Räuber deine Familie ermordet, die Vorräte raubt und deine Tochter schändet, wie wehrst du dich gegen ihn?« »Tja, also ... so was kommt bei uns nicht vor.« Leetas Gesichtsausdruck zeugte von Entsetzen und Fassungs losigkeit. Philip schüttelte den Kopf. »Ich weiß, euer Volk un terscheidet sich stark von uns ... aber ihr könnt mir nicht einreden, daß bei euch die Männer nicht auf Raubzüge oder auf den Kriegspfad gehen. Das glaube ich nicht. Spinne hat die Menschen so geschaffen.« »Sie hat recht«, sagte Rita mißmutig. Philip schnitt eine pfiffige Miene. »Wenn es bei den Menschen zwischen den Sternen keine Raubzüge und kei nen Kriegspfad gibt, wozu haben sie dann Krieger? Hä?« »Das ist eine komplizierte Angelegenheit«, räumte Leeta ein, deren Blick noch immer auf dem mit Skalpen verzierten Gürtel Eisenauges ruhte. Und ihn hatte sie als gutaussehenden Mann betrachtet! Mit dem Blut von Menschen an den Händen? Aber wie sollte sie den Aus druck der Fürsorge bewerten, den sie in seinen Augen bemerkt hatte, während er ihnen die zerschrammten, zer stochenen Füße wusch? Waren das die Augen eines Totschlägers? Schlimmer noch, eines Mörders? Sie warf Philip einen Blick zu. Er hat damit angegeben, einen Mann aus dem Hinterhalt erschossen zu haben! »Schade, daß du und John den langen Krieger nicht getötet habt.« Rita schüttelte den Kopf. »Ich hab’s ver sucht. Ich hätte ihn, als die Chance da war, erstechen sol len.« Überrascht richtete Leeta ihren Blick auf Rita. »Das hört sich an, als ob’s Ihnen Spaß gemacht hätte.« An scheinend befand der Leutnant sich unter diesen blut gierigen Tieren im richtigen Element.
»Dafür bin ich schließlich ausgebildet worden, Doktor. Nicht nur das, ich glaube, ich werde hier die schönste Zeit meines Lebens zubringen. Noch nie habe ich mich so lebendig gefühlt.« Ritas Augen leuchteten. »Von dem Moment an, als wir von diesen Santosschuf-ten ver schleppt worden sind, habe ich selbständig gehandelt. Für diese kurze, herrliche Zeit bin ich etwas zu leisten imstan de.« Sie lachte. »Da können Sie drauf wetten, daß ich jeden Augenblick zu genießen gedenke. Ich mach’s genau so wie Sie, Sie tun hier was, auf das Sie immer gehofft haben. Sagen Sie mir, wie stehen die übrigen Wissenschaftler der Universität zur Anthropologie? Sie tragen die Nasen hoch und behaupten, Ihr Fachgebiet sei vollkommen sinnlos, oder nicht? Naja, aber jetzt sind Sie hier ... und das Gesundheitsministerium mit seinen huma nen Psychingapparaten ist woanders.« Leeta lachte schnaubend. »Ja, da haben Sie recht.« Sie erinnerte sich daran, wie Jeffray sich über sie amüsiert, er gelächelt hatte. Sie erinnerte sich an die Reaktion ihrer Eltern. Niemand hatte sich je vorzustellen vermocht, die Anthropologie könnte für sie einmal von Nutzen sein. Und was die Psychingapparate betraf ... »Vielleicht sind wir aus dem Grund hier, weil’s ‘ne Möglichkeit ist, um den schlaffen Ärschen da oben mal was zu beweisen«, fügte Rita hinzu. »Vielleicht ist das ‘ne Chance, um ihnen eins auszuwischen.« »Wie denn?« fragte Leeta. »Durch Mord?« Ritas Lider wurden schmal, sie stützte das Kinn auf die gefalteten Hände. »Haben Sie schon mal drüber nachge dacht, wie das Direktorat auf die hiesigen Vorgänge rea gieren wird? Malen Sie sich bloß aus, wie der Bericht über diese kleine Barbarenwelt aussehen dürfte. Es graust Ihnen vor Philip, weil er zwei Männer getötet hat, die gegen sein Volk Krieg führten. Sie sind ja vielleicht ‘ne Ulknudel, Doktor! Mir ist die Neugier in Ihrem Blick auf gefallen, wenn Sie John angeguckt haben. Jetzt erfahren
Sie, daß er Menschenhaar als Trophäen am Gürtel trägt, und schon bekommen Sie kalte Füße.« »Das ist unfair«, rief Leeta entrüstet, während Philip das Gespräch mitanhörte, ohne etwas zu verstehen. Sie sprachen wieder Standard. »So, wirklich?« Ritas Entgegnung strotzte von Sar-kasmus. »Vermutlich haben Sie schon vergessen, welche Furcht Sie vor dem riesigen Krieger hatten. Im Raumschiff dachte ich noch, Sie wären ganz in Ordnung, nur vielleicht ‘n bißchen einfältig, was die Zustände in der Welt angeht, aber im großen und ganzen in Ordnung. Lassen Sie mich noch mal auf den mutigsten Mann zu sprechen kommen, den ich je gekannt habe ...« Ritas Blick schien sich wie glühendes Eisen in Leetas Gemüt zu boh ren. »Erinnern Sie sich an das, was ich Ihnen über meinen Ehemann erzählt habe? Er / war ... Ich habe nicht erwähnt, daß man ihn gewarnt gehabt hatte. Glauben Sie, Psychoprofile seien nicht akkurat? Er kannte das Risiko, aber er hatte nun einmal seinen Traum ...! Er nahm die Gelegenheit zu seiner Verwirklichung wahr und hat’s nie bereut... Und ich bedauere es auch nicht! Und was ist mit Ihnen? Fürchten Sie sich davor, zu fragen, wie die Kehrseite der Medaille aussieht? Haben Sie Furcht vor der Frage, an was Sie tatsächlich glauben, Doktor? Oder davor, daß ‘s womöglich mehr damit auf sich haben könn te, ‘n Teufelskerl zu sein, als Sie’s aus Büchern wissen? Vielleicht wird diese Welt Ihnen das Rückgrat brechen, so daß Sie Ihren Krempel packen und an die Universität mit ihren geschützten Fluren und ihrer schönen, gammeligen Sicherheit zurückkehren, die keine Gefahren kennt. Viel leicht wird ...« »Halten Sie den Mund, Leutnant!« »Scheiße, nein!« brauste Rita auf. »Was glauben Sie dem Direktorat eigentlich schuldig zu sein? Woraus be steht denn Ihre verdammt feine Gesellschaft? Dem GigaVerbund? Den Wasserköpfen? Wo bleibt die ganze ver
fluchte Edelmütigkeit und Überlegenheit, wenn Jeffray Sie denunziert und dem Psychen ausliefert? Diese Menschen hier wissen, wer ihre Freunde und wer ihre Feinde sind — wissen Sie’s auch? Denken Sie an den Psychingapparat, Doktor, wie er Ihnen die Synapsen ver kokelt. Das ist Ihre Moral...« »Seien Sie still!« schrie Leeta, biß die Zähne zusam men. »Und zurück können Sie nicht mehr, Doktor.« Rita senkte die Lautstärke ihrer Stimme. »Diese Entscheidung haben Sie schon gefällt. Leeta Dobra ist verloren ... Dafür hat Jeffray gesorgt.« Im unvermittelten Schweigen musterte Leeta nun Philip mit Blicken des Schuldbewußtseins. Wie recht hatte Rita Sarsa? Wie recht hatte Leeta Dobra? Wie sehr hatte über haupt jemand recht? War das nicht die Lektion, die die Anthropologie zu lehren versuchte? Daß es immer noch andere Wege zur Wahrheit gab — oder nicht? Aber Menschenhaar? Aufgewühlt erhob sie sich, schlenderte ans andere Ende des Unterschlupfs, sah zu, wie vom grauen Himmel Regen plätscherte. Von der Kühle schauderte es ihr, sie lehnte sich an den moosigen Stein der Felswand. Sie schloß die Lider und durchdachte ihr bisheriges Leben; dachte an Jeffray, Veld, Chem und alle anderen. Sie entstiegen ihrem Gedächtnis wie Gespenster. Während sie über sie nach dachte, drängte sich immer wieder das Bild der sehnigen, bedrohlichen Gestalt John Smith Eisenauges in den Vordergrund ihrer Überlegungen. »Sternenfrau, rühr dich nicht. «Die eindringliche Stim me sprach ihr fast direkt ins Ohr. Vorsichtig schlug Leeta die Augen auf; sie hatte Johns Stimme erkannt. »Warum?« fragte sie unbesorgt. »Weil ich schießen werde«, lautete die ruhige Antwort. »Beweg dich nicht. Sonst könnte ich dich treffen.« »Ich...« Der Knall des großen Gewehrs dröhnte in der
engen Höhle ohrenbetäubend laut. Felssplitter und Dreck spritzten auf Leetas Beine. Trotz der Warnung sprang Leeta erschrocken zurück. Bestürzt, ja entsetzt fuhr sie herum, ihr Herz wummerte, der Schuß hallte noch mit hellem Klingen in ihren Ohren nach. »Verdammter Kerl!« schrie sie den Romananer an, während er das schwere Gewehr senkte. »Du hättest mich erschießen können!« Er hörte nicht zu. Statt dessen betrachtete er den Erdboden vor ihren Füßen. Langsam schaute Leeta hinab, starrte das Etwas an, das schleimiger, schwarz-braun getupfter Gelatine ähnelte. Es wand sich träge, braune Flüssigkeit sickerte aus dem Leib. »Wa-was ...?« flüsterte Leeta. »Ein Felsenegel«, klärte Eisenauge sie auf. »Bei Regen kriechen sie aus ihren Löchern. Hätte er deinen Fuß um klammert, wären wir machtlos gewesen. Manchmal kann man einen Betroffenen retten, wenn man ihm rechtzeitig das Bein absägt. Es hätte davon abgehangen, wie kräftig du bist, Sternenfrau. Es wäre hier, wo wir bloß Messer zum Schneiden und Feuer zum Wunden-ausbrennen ver fügbar haben, sehr schmerzhaft geworden.« Er drehte sich um und kehrte bedächtig zurück ans Lagerfeuer. Sie schluckte mit Mühe, unterdrückte den Drang, laut zu schreien, und zwang sich dazu — ihr plötzliches Schlottern zu unterbinden außerstande —, um das Ge schöpf herumzugehen, das noch immer zuckte, und Ei senauge zur Feuerstelle zu folgen. Philip regte der Vorfall anscheinend nicht weiter auf, während Rita eine seltsame Miene des Triumphs schnitt. »Alle Welten sind nun einmal verschieden, Doktor.« Nach dieser Bemerkung setzte sie ihre gedämpfte Unterhaltung mit Philip fort. Am nächsten Tag ließ der Regen nach. »Zwei Tages reisen«, schätzte John, indem er an den Himmel hinauf spähte, an dem sich zerklüftete Wolkengebirge türmten.
»Können wir’s zum Lager Gessali schaffen?« fragte Philip. »Ich glaube, ja. Es wird für die Pferde anstrengend sein. Die Frauen werden reiten, weil sie keine Schuhe haben. Wir müssen durch den Matsch latschen, Vetter.« John lachte. Nach der überwältigenden Vielfalt der Ereignisse empfand Leeta es als besonders erregend, auf einem Pferd aus der Schlucht zu reiten. Sie spürte, wie ihr Blut vor Aufregung schneller floß, als das große, schwarze Tier an einer Stelle des rutschigen Pfads strauchelte und ausglitt. Aber John, der die Stute am Zügel führte, streb te sicheren Schritts voraus. Es nieselte fortwährend auf Leetas unbedeckten Kopf, doch der Kitzel des Aben teuers überwog ihre Wahrnehmung so sehr, daß sie es gar nicht beachtete. Sie verließen die Schlucht und zogen durch offene Weite, in der inzwischen ergrüntes Gras wuchs. Wäh rend die Männer vor den Pferden dahinstapften, warf Leeta einen Seitenblick hinüber zu Rita. In der Leder kleidung und mit dem von den Santos erbeuteten Ge wehr quer überm Sattel sah der Leutnant regelrecht ver wegen aus. In einer längst verstrichenen Vergangenheit, verge genwärtigte sich Leeta, hatten die Vorfahren der heutigen Menschen ebenfalls so gelebt, keine Sicherheiten außer denen gekannt, die ihnen ihre Schläue und ihre Waffen boten. Der Gedanke an die lange, lange Generationenfol ge der Menschheit machte Leeta sentimental. Sie entsann sich der Ehrfurcht, mit der sie die uralten Skelette berührt hatte, die in Chems Büro hingen. Diese Toten hatten frü her einmal genau so ein Dasein gekannt. Stunden vergingen. Leeta schwelgte so tief im Erleben, daß es sie kalt ließ, als John und Philip plötzlich — wie ein Mann — stehenblieben und aufmerksam vor sich das Gras absuchten. Rita, die achtsamer war, nahm das Gewehr zur
Hand, ihr Blick forschte im feuchten Gras. »Santoskrieger«, konstatierte Eisenauge leise. »Es ist nicht länger als zwei Stunden her, daß sie hier entlang geritten sind.« Philip schaute auf, seine Miene spiegelte verdrossene Wachsamkeit wider. »Es müssen ungefähr sechzig ge wesen sein.« »Zwanzig für jeden, was, meine tapferen Krieger?« Rita lachte halblaut, sah nach, ob das Gewehr eine Patrone in der Geschoßkammer hatte. Leeta fühlte, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte. Nun verspürte sie, während ihr Blick ängstlich durchs leere Gras schweifte, wieder Furcht.
11
Oberst Ree lenkte seine Aufmerk samkeit auf die qualmenden Überreste des Santosdorfs. Andere Airmobile flogen für ihn Geleitschutz, während Schützenlinien von Patrouillensoldaten vorrückten, eine Handvoll Flüchtender vor sich hertrieben. Leutnant Sarsas beschädigtes Airmobil lag auf der Seite, es war verbeult und offensichtlich ausgeschlachtet worden. Ree streifte die Nachtsichtbrille ab, lehnte sich im dü sterroten Licht des Instrumentenbretts seines Airmobils zurück. »Noch immer keine Spur, Neal?« erkundigte er sich bei Iverson. »Nein, Sir. Wir haben das Koppel gefunden, sonst nichts. Sarsas Blaster fehlt noch.« Iverson schwieg einen Moment lang. »Sir? Ich glaube, Sie sollten sich einmal hier unten diese Leichen ansehen. Wir haben das Dorf innerhalb eines Perimeters abgeriegelt. Selbst wenn sie dazu fähig wären, einen Gegenstoß zu führen, sie haben nichts, wogegen wir uns nicht im Halbschlaf wehren könnten.« Eine Minute später beugte Ree sich über den Leichnam eines jungen Manns. Dem Burschen war ein großes Loch in die Brust geschossen worden. Hauptmann Iverson deu tete auf den blutigen Schädel, der im hellen Licht der auf ihn gerichteten Scheinwerfer glänzte. »Das ist nicht nur bei ihm der Fall. Sämtliche Toten sind der gleichen Prozedur unterzogen worden.« Ratlos blickte Iverson zu Ree hoch. »Heiliges Kanonenrohr!« entfuhr es Ree, sobald er begriff, was er da sah. »Wissen Sie, was das ist? Das nennt man Skalpieren.« Entgeistert schüttelte er den Kopf. »Hm?« Iverson schaute ihn sichtlich ahnungslos an.
»Zum Beweis für die Tötung eines Gegners. Beachten Sie das Haar an der Jacke des Burschen. Ich wette, das ist menschliches Haar.« Interessiert betrachtete Ree die Leiche. »Ich möchte, daß das alles hier genau dokumen tiert wird. Lassen Sie die Leichen einpacken und ins Raumschiff schaffen. Anschließend wollen wir mal ver suchen, ob wir aus den Gefangenen ‘n paar Auskünfte rauskriegen.« Auf dem Absatz machte Ree kehrt und strebte zum Standort von Leutnant Mosche Raschids Vernehmungsstelle. Eine halbe Stunde danach war Damen Ree dem Auf finden der verschwundenen Frauen nicht im geringsten nähergelangt. »Schicken Sie Suchtrupps aus. Jeder Ro mananer ist anzuhalten. Denken Sie daran, daß sich in nerhalb jeder Stunde seit dem Überfall das Suchgebiet verdoppelt hat. Seit dem Angriff der Spinnenkrieger sind vier Stunden verstrichen. Auf Pferden können jetzt sie praktisch überall im Umkreis von siebzig Kilometern sein. Verdammt noch mal!« Ree drosch sich die Faust in die Handfläche. »Mitteilung an die Projektil. Ich will wissen, wohin sämtliche Gruppen Einheimischer sich gewandt haben. Schalten Sie die Kommu zu. Jedem Hinweis ist sorgfältig nachzugehen.« »Oberst...« Iverson hob den Blick. »Kommu gibt durch, daß sich ein ziemlich beachtliches Unwetter zu sammenbraut. Warnungen vor starkem Wind mit Wind geschwindigkeiten von über einhundertzwanzig Kilo metern pro Stunde. Dem sind die Airmobile nicht ge wachsen, Sir.« »Wie lange noch, bis das Unwetter uns erreicht?« frag te Ree, empfand wachsende Erbitterung. Wenn-Do-bra etwas zustieß ... »Es wird etwa gegen Morgen sein, Sir. Bis dahin blei ben uns vier Stunden — falls wir ‘n bißchen risikofreudig sind.« Iversons Miene drückte Besorgnis aus. »Scheuchen Sie alle! Ich will, daß jeder Einheimische
aufgegriffen wird. Wenn sie abhauen wollen, soll man ihnen die Pferde unterm Arsch wegblastern. Bei Wider stand die Blaster mit Minimalfunktion benutzen.« Ree nuschelte einen unterdrückten Fluch und schaute an den schwarzen Himmel empor. »Wir hätten eine komplette Sturmtruppe landen sollen. Bomben und Granaten, so was laß ich mir von Kerlen nicht gefallen, die auf Gäulen rei ten!« Die Zeit wurde zu Rees Feind, und während sie sich hinzog, schmorte er innerlich vor sich hin. Die Zahl der Gefangenen wuchs. Man schaltete Bella Vola in die Ver nehmungen ein, weil Ree der alleinigen Verwendung der Translatoren mißtraute. Santos und Spinnenkrieger mach ten stets die gleichen Aussagen. Die Santos hatten die Frauen nur gesehen, bis sie >verheiratet< worden seien. Verheiratet — um Himmels willen! Die Spinnenleute wuß ten überhaupt nichts von den Frauen, vermißten jedoch ihren Häuptling und seinen heiligen Vetter. Was, zum Teufel, sollte denn nun das bedeuten? Der Wind fegte mit plötzlicher Heftigkeit durch die Schlucht, gerade als sich der Himmel aufzuhellen anfing, wirbelte Staubwolken und ein Gemengsei verdorrter Vegetation in die Luft. Ree mußte untätig mitansehen, wie ein Patrouillensoldat in den wüsten Böen nur mit knapper Not die Havarie eines Airmobils abwenden konnte. »Oberst? Uns trennt ‘ne gute halbe Flugstunde vom Basislager, und die Windstärke nimmt zu.« Iverson er weckte einen ernsthaft beunruhigten Eindruck. »Was sol len wir mit den Gefangenen machen?« »Mitbringen«, befahl Ree. »Aber bedenken Sie das Gewicht, Sir«, wandte Iverson ein. »Das Fliegen wird auch ohne sie schwierig genug sein.« »Sie haben meine Anweisung gehört. Also los! Wie lange wird das Unwetter dauern?« Ree unterdrückte einen Fluch.
»Drei Tage, sagt die Kommu, Sir... Danach folgt aller dings eine zweite Schlechtwetterfront.« Iverson schnitt eine Miene, als hätte er in eine Zitrone gebissen. »Kommu!« schnauzte Ree, während sein unvermutet vom Wind aus der Flugbahn gelenktes Airmobil durch die Luft schlingerte. »Schicken Sie voll bemannte Sturmtransporter runter, und zwar schleunigst!« Er sah einen Soldaten an, der neben ihm die Augen aufsperrte. »Falls der Wind schlimmer wird, können sie uns abholen. ST fliegen unter allen Bedingungen.« Der einzige, kleine Erfolg bestand im Auffinden Netta Solares. Das letzte Airmobil, das zum Basislager zu rückflog, sichtete sie, wie sie einen Hang hinaufkroch; sie war nackt und plapperte zusammenhanglose Sätze. Raschid meldete, sie wäre völlig durcheinander und emp fahl ein Psyching. Er teilte mit, sie sei offensichtlich ver gewaltigt worden. Rees Magen krampfte sich zusammen, bis er einem Eisbrocken glich, während er ins Wirbeln der grauen Wolken hinausstarrte. * * * Direktor Skor Robinson schwebte über seiner enormen Computerkonsole. Die Wirtschaftskrise im Siriussystem nahm zusehends ärgere Formen an. Robinsons agiler Verstand sah neue Unruhen voraus und leitete zwei mit Lebensmitteln von Range beladene FLF zum Sirius um. Weil er sich darüber im klaren war, daß Versorgungs schwierigkeiten möglicherweise nicht das einzige Pro blem im Sirius-Sektor verkörperten, gab er der Patrouille Anweisung, innerhalb von zwanzig Tagen mit Raum schiffseinheiten in Sirius’ Nachbarschaft präsent zu sein. War es ein Fehler gewesen, Van Chow frei umherlaufen zu lassen? Die Unabhängigkeitspartei trieb ständig politische Machinationen. Van Chow durchlief in ihren Reihen eine steile Karriere. Nein, ein einzelner konnte unmöglich eine solche statistische Relevanz haben.
Zufrieden splittete er seinen Geist in verschiedene Denkmodi, deren jedes eine untergeordnete Aufgaben stellung behandelte. Fast unverzüglich geriet er in von einem dieser Denkmodi verursachte Aufregung. Die Sache weckte sein größtes Interesse, die Erregung steigerte sich zu Beunruhigung. Skor ließ von den übrigen Angelegenheiten ab und konzentrierte sich mit vollem Bewußtsein auf den Bericht der Forschungsexpedition auf Atlantis. Routinemäßig liefen alle Reports über neue Stationen oder — wie in diesem Fall — wiedergefundene Kolonien zuerst durch Skors Computerkonsolen, so daß er in sie Einsicht nehmen konnte, ehe die Öffentlichkeit davon Kenntnis bekam. Man wußte nie, wie eine neue Station eine stabile Wirtschaft beeinflussen mochte. Von Exoten erfuhren die Menschen am besten gar nicht; so etwas führ te nur zu sozialen Wirren. Kaum hatte er den Text zu lesen angefangen, blockierte Skor auch schon die In formationsübertragung an den Giga-Verbund. Hellsichtigkeit? Krieger? Propheten? Eine auf Zu kunftsschau gestützte Religion? Beiläufig, mit einem le diglich minimalen Teil seines Verstands, rief Skor Daten über Emmanuel Chem ab, den Verfasser des Berichts. Doktor der Philosophie, zahlreiche akademische Würden, ausgewogenes Psychoprofil, galt als brillant, aber altbak ken, ihm ließ sich keine Neigung zu Übertreibungen oder Exzessen nachsagen. Schwärmerei paßte offenbar nicht zu dem Mann. Also Tatsachen? Konnten diese Menschen — Roma naner waren sie inzwischen benannt worden — wirklich hellsichtig sein? Ausgeschlossen. So etwas lag außerhalb des Bereichs der physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Aber sollte diese Information allgemein bekannt werden ... Skor widmete ungefähr eine Halbsekunde dem Durchdenken der Konsequenzen in bezug auf Ökonomie, Religionsgemeinschaften, gesellschaftliche Situation und diverse andere Faktoren.
Notiz. Der Planet namens Atlantis wird zur Verbotenen Zone erklärt. Die Patrouillenschlachtschiffe Bruderschaft und Viktoria erhalten Befehl, den Vektor von Sirius nach Atlantis zu wechseln. Bewies es Klugheit, Sirius unbewacht zu lassen? Unter seiner Kontakthaube verzog Skor die bleiche Miene. Zum erstenmal seit zwanzig Jahren versuchten verkümmerte Muskeln ein Stirnrunzeln zustandezu bringen und verursachten ihm im Gesicht schmerzhafte Beschwerden. Zunächst hatte der Verstand des Direktors Schwierigkeiten beim Identifizieren des Gefühls. Gleichzeitig versuchte er, die Übermittlung seiner kör perlichen Lebenszeichen an die Computer zu blockieren, doch es war zu spät. Hastig speicherte er eine diesbezügliche Erklärung. Trotzdem mußten Nawtow und Roque es bemerkt haben. Zweifellos erfüllte es sie mit großer Neugier, mit Sicherheit legten sie Wert darauf, zu erfahren, was dem Direktor eine solche Unpäßlichkeit bereitet hatte. Wäre es vielleicht am besten, Ree zu befehlen, den Planeten zu sterilisieren? Aber das wäre ein verfrühtes Vorgehen. Skor brauchte mehr Daten. Unter Verwendung eines militärischen Höchste-Priorität-Signals orderte er bei der Projektil weitere Informationen. Er beobachtete die Computerdarstellung seiner Körperfunktionen, spürte und sah ein paar Sekunden lang sein Herz rasen, während eine merkwürdige Empfindung ihn ablenkte. Was war das? Voller Staunen erkannte er, daß es sich um Furcht han delte. Wahrhaftig! Was für eine beachtliche Stimulation seines Kreislauf- und Nervensystems! Skor bemühte sich, seinen Körper unter Kontrolle zu bringen, während seine Gemütsaffektion wenig benutzte Nervenstränge in seinem mageren Rumpf und in Richtung seiner dünnen Gliedmaßen ins Kribbeln versetzten. Er korrigierte seine Mentalmodi, ließ Ruhe sein übergroßes Gehirn durchströ men.
Aber auch danach war die Furcht noch da. Nie zuvor war er so verstört gewesen. Dieser Umstand lieferte ihm Anlaß zum Überlegen. Eine derartige Situation durfte kein zweites Mal eintreten. Wenn Atlantis und die Ro-mananer ihm eine solche Verunsicherung einflößen konnten — man denke sich nur einmal die Folgen, falls die Öffentlichkeit jemals von ihnen erfuhr! Man denke an die Gefahr, die so ein Wissen bedeutete, wenn seine Feinde davon Kenntnis erhielten! Skor bewegte die Zunge im Mund umher. Fast hatte er seine Zunge vergessen. Wie unsicher sie sich bewegte ... Seine Ernährung geschah intravenös. Katheder entfernten automatisch seine Exkremente. Skor schalt sich einen Trottel, errang durch eine entschiedene mentale Anstrengung die Selbstbeherrschung zurück und begann für den Fall, daß die Atlantis-Affäre sich zu ver selbständigen drohte, vorsorglich einige Verfahren ein zuplanen. Gleichzeitig bezähmte er seine Neugierde. Anschließend widerrief Skor die Umleitung der mit Lebensmitteln beladenen FLF zum Sirius. Er verlagerte die Hauptaktivitäten der Patrouille in den Gulag-Sektor und überwies der sirianischen Unabhängigkeitspartei anonym eine halbe Milliarde Kredits. Zum Schluß traf er Tarnmaßnahmen. Während diese Vorkehrungen in die Wege geleitet wur den, erstellte er Sonderbefehle für Oberst Ree und über mittelte sie ihm unter höchster Geheimhaltungsstufe. Seine Lösung war todsicher. Sauber, glatt, sachgerecht, eine gute Art und Weise, um eine potentielle Bedrohung des Direktorats im Keim zu ersticken. * * * In der kühlen Luft bibberte Leeta vor sich hin. Sie lag auf nassem, kaltem, hartem Boden, und ihr war im ganzen Leben noch nicht so erbärmlich zumute gewesen. Ihr Zähneklappern konkurrierte mit dem Schmatzen und
Mahlen der Pferdekiefer. Sie schlotterte, krümmte sich so dicht zusammen, wie sie es nur konnte; doch aus ihren eis kalten Füßen kroch die Kälte in ihren Beinen immer höher. Sie hörte ein Flüstern und biß die Zähne zusammen, um das Klappern zu unterbinden. Plötzliche Furcht verdräng te ihr körperliches Unbehagen. Sie hoffte, daß sich in die sem Moment keine Santos über ihre feuchtklamme Decke beugten. In der Nacht waren kaum vernehmbar ein Gewisper und leises Lachen zu hören. Die Laute wiederholten sich, wäh rend Leeta sich über sie wunderte, bebte und sich Wärme, ein Lagerfeuer, ein Bett und etwas Warmes zum Trinken wünschte. Deprimiert spähte sie zu Ritas Schlafplatz hin über und sah ihre Decke sich bewegen. Wieder ertönten die Laute. Ein Traum? Sie machte Anstalten, sich aufzusetzen, dachte daran, ihre Begleiterin zu wecken. Da wurde die Decke beisei tegeschlagen. Eine Gestalt hob ein Kleidungsstück auf und faltete es zusammen. Eine Männerstimme murmelte etwas. Das Seufzen einer Frau antwortete. In langsamem Wechsel ging die Unterhaltung weiter. Leeta streckte sich wieder aus, rollte sich erneut ein. Nun war die Bedeutung der Laute nur allzu klar. Oben auf der Hügelkuppe saß Eisenauge und hielt wegen der Santos Wache. Rita brauchte wenigstens nicht zu frieren. Mit der Kühle breitete sich in Leeta auch ein Gefühl der Vereinsamung aus. Weshalb bin ich eigentlich hier? Verdruß kam in ihr auf. Wieder fing sie zu schlottern an. Kälte, Elend ... und nun auch noch Einsamkeit. Sollte diese Nacht denn nie enden? Immer wieder ging ihr die Vorstellung durch den Kopf, wie es wäre, sich jetzt an Jeffrays Seite kuscheln zu kön nen. Er hätte sie gewärmt. Bevor sie Atlantis betrat, hatte sie ihr Lebtag lang nie gefroren. Und nun lag sie hier wie eine nasse Ratte. Wann würde die Unterkühlung einset zen? Wie viele Kalorien hatte sie noch zum Verbrennen?
Die leisen Geräusche an der anderen Schlafstelle nah men an Aufdringlichkeit zu. Leeta biß sich auf die Lippe und die Kiefer zusammen. Still stemmte sie sich hoch, schnitt eine Grimasse, weil sie sofort den Muskelkater spürte. Zudem waren die Innenseiten ihrer Schenkel und Waden rot aufgescheuert und wund. Das hatte man also vom Reiten. Ihre Gesäßmuskulatur erinnerte sie an pürier te Leber. Mühselig richtete sie sich auf, schlang die triefnasse Decke um ihre Schultern. Von Ritas Schlafplatz war ein scharfes Einatmen zu hören; dann noch einmal. Hure! Vorsichtig suchte Leeta sich einen Weg hinauf zur Hügelkuppe. »Ich bin’s«, sagte sie gedämpft, sobald sie sich dem Fleck näherte, wo sie Eisenauge sich zur Wache hinhok ken gesehen hatte. Sie wankte auf den höchsten Punkt der Anhöhe, ent deckte dort jedoch nichts außer Degengras unter ihren blo ßen Füßen. Wo war Eisenauge? Der Wind entzog ihrem Körper auch noch den Rest der Wärme. Leeta kauerte sich ins feuchte Gras, ihre Augen erforschten den Himmel nach dem Glitzern irgendwelcher Sterne oder nach Mondschein mitten in all dem Schwarz. Sie unterdrückte ein Schluchzen, verkniff es sich, weil sie keine Lust hatte, ein Jammerlappen zu sein. Guter Gott! Weshalb mache ich bloß so etwas mit? Was tu ich hier? Ich bin eine blödsinnige Person. Wäre es denn so mies gewesen, die Ehefrau eines Technikers zu sein ? Sie und Jeffray befänden sich jetzt beim Umzug nach Range. Dort hätten sie ein eigenes Haus beziehen dürfen. In freier Natur hätten sie leben können. Dann wäre ihr jetzt warm. Warm! O Gott, jetzt Wärme zu verspüren! Und sie wäre gepsycht worden. Verwandelt in einen braven, angepaßten, in jeder gesellschaftlichen Hinsicht vollkommen tadellosen Menschen — ohne die mindeste
Spur irgendeines eigenständigen Gedankens. Sie senkte den Kopf und rieb sich mit einem kalten Finger die verrotzte Nase. Sie zitterte jetzt ununterbro chen. Wenn sie die Zehen bewegte, fühlten sie sich wie aufgeweichtes Holz an. Die Realität bestand aus Kälte, Nässe, Kummer und Leid. So war das Leben. Wieso, zum Teufel, hatte überhaupt irgendwer Interesse am Leben? Jeffray hatte die Wahrheit erkannt. Er war am vernünftig sten vorgegangen: Er war ausgestiegen. Ohne sie war er ausgestiegen. Sie war selber schuld, unfreundlich wie sie sich benommen hatte. Sie unterdrückte ein neues Schluchzen, bebte von Kopf bis Fuß. »Wäre dir ein zusätzliches Hemd recht?« fragte hinter ihr eine ruhige Stimme. Leeta keuchte und fuhr herum, suchte in der Dunkelheit nach Eisenauges Umrissen. »Ich ka-ka-kann u-un-möglich dein He-hemd nehmen«, antwortete sie; das Geklapper ihrer Zähne machte ihre Entgegnung zu einem abgehak kten Gestammel. Sie hörte, wie er nähertrat. Lederkleidung raschelte, als er sich vorbeugte. Flüchtig berührte ein warmer Finger ihre Wange. Ein warmer Finger! »Du bist ziemlich ausge kühlt. Das ist schlecht.« Sie merkte, wie er sein Hemd ablegte. Seine Hände nahmen ihr die nasse Decke von den Schultern, betasteten ihr durchfeuchtetes Lederhemd. »Zieh das aus«, sagte er. »Aber...« »Danach wird’s dir wärmer sein.« Eisenauges Stimme klang nach fürsorglicher Freundlichkeit. Ohne richtig glauben zu können, was sie tat, zog Leeta das schwere, feuchte Hemd aus. Sie schämte sich, als hätte er sie nicht schon nackt gesehen ... und das zudem im Hellen. Aber er verhieß ihr Wärme. Sie half ihm dabei, ihr sein ledernes Hemd überzustreifen. Und ... Gott sei Dank, es war warm!
»Ich hätte nie gedacht, daß etwas so Banales wie ein warmes Hemd soviel bedeuten könnte«, sagte sie. »Du solltest schlafen«, riet ihr Eisenauge. »Mir war zu kalt. Aber was wirst du jetzt machen? Du wirst zum Eisblock gefrieren.« Sie verspürte eine An wandlung, die an Panik grenzte. Daß er ihretwegen, um sie zu wärmen, solche Nachteile erleiden mußte, war nicht richtig. »Es ist nicht kalt. Solange das Wasser ringsum nicht gefriert, kann ich kein Eisblock werden.« Seine Stimme zeugte von Sorglosigkeit und Belustigung. »Ich habe wegen deines Hemds ein schlechtes Gewis sen«, gestand Leeta halblaut. »Ich habe mein zweites Hemd von dir zurückerhalten«, antwortete er mit seiner wohlklingenden Stimme. »Ich trage es bereits. Du solltest dir etwas Schlaf gönnen. Morgen liegt ein langer Tag vor uns.« Leeta zögerte. »Am Lagerplatz herrscht... reger Ver kehr, könnte man wohl sagen. Philip und Rita sind ... äh ... naja, sie ...« Eisenauges verhaltenes Auflachen überraschte sie. »Das freut mich. Philip hat noch nie einer Frau nahege standen.« »Aber er macht doch einen so netten Eindruck«, stellte Leeta fest, runzelte die Stirn. »Philip ist nicht immer so wie heute gewesen. Seine Visionen waren ihm etliche Jahre hindurch eine schwere Bürde ... lange vor der Ankunft von euch Sternenmen schen. Er hat sehr viel in seinem eigenen Innern gelebt. Das Zukünftige hat ihn gequält.« »Und du?« fragte Leeta. »Bist du immer so wie jetzt gewesen?« So zerquält, Eisenauge? So voll der Trauer, die ich in deinen Augen erkenne? »Wie bin ich denn?« lautete seine Gegenfrage.
»Vergrämt«, sagte Leeta ganz einfach.
»Ich bin ein Krieger.« Eisenauge traf diese Feststellung
mit Stolz. »Krieger kennen keinen Schmerz.« »Sie muß eine ganz wundervolle Frau gewesen sein«, mutmaßte Leeta. Schweigen folgte. »Erzähle mir was von ihr«, fügte sie hinzu; ihre Stimme verriet deutlich ihre Anteilnahme. Träge verstrich Zeit. Leeta befürchtete, Eisenauge würde auf ihre Bitte nicht eingehen. »Sie gehörte zu meinem Clan«, sagte er jedoch schließ lich. »Zu meiner Familie. Sie war die Tochter der Schwester meines Vaters. Eine Smith war sie. Wir durften nicht heiraten. Dann ist sie ermordet worden. Das ist alles.« »Es hat damit mehr auf sich gehabt, Eisenauge«, sagte Leeta leise. »Du hast mir mehr verraten, als in deiner Absicht stand.« »Tatsächlich, Sternenfrau?« Nun klang seine Stimme spöttisch. »Tatsächlich.« Leeta hatte kein Bedürfnis, noch etwas hinzuzufügen. Eine Zeitlang schwiegen sie beide; endlich schauderte es Leeta erneut. »Werden die Santos uns finden?« fragte sie. »Darüber bestimmt Spinne«, sagte Eisenauge gleich mütig. »Es sind viele«, erinnerte Leeta ihn. »Was passiert, wenn sie uns stellen?« »Dann kämpfen wir«, entgegnete Eisenauge ohne jede Emotion. »So viele kannst du nicht schlagen, Eisenauge, ganz egal, welch ein guter Krieger du bist.« Sie hörte, wie er über den Ernst in ihrer Stimme lachte. »Erwartest du, daß du ewig lebst, Sternenfrau?« Er war richtig erheitert. »Nein, aber soll man kämpfen, wenn man nicht ge winnen kann? Warum?« Seine Haltung blieb ihr ein Rätsel.
»Philip und ich werden kämpfen.« Leeta hörte ihm sein Achselzucken an. »Vielleicht wird die KriegerSternenfrau auch bleiben, um zu kämpfen. Während wir kämpfen, kannst du fliehen. Unsere Ehre gebietet uns den Kampf.« »Ehre? Wieso? Wozu ist Ehre gut, wenn man tot ist?« Fast hätte Leeta zu weinen angefangen. Eisenauges Stimme klang auch weiterhin gelassen. »Sollten die Santos uns gefangennehmen, werden sie Philip und mich töten, ob wir uns wehren oder nicht. Sie können nicht anders handeln. Ist es nicht besser, wie Männer zu sterben, als wie Weiber?« »Ich bin eine Frau, und ich fühle mich nicht ehrlos!« fauchte Leeta ihn an, entsann sich auf einmal ihrer vor herigen Überlegungen. Gott sei Dank konnte dieser Mann ihr nicht in den Kopf schauen. »Kann sein, ihr Sternenfrauen seid anders als Spin nenfrauen«, gestand Eisenauge ihr zu. »Das kommt nur daher, weil ihr eure Frauen so macht. Ihr würdet ihnen ja gar nicht erlauben, sich als Kriegerinnen zu bewähren.« »Spinne hat es uns so gelehrt.« Falls er sich beleidigt fühlte, verriet sein Ton es nicht. »Gehen die Menschen zwischen den Sternen auf den Kriegspfad?« In Gedanken sah Leeta ein verwaschenes Bild Jeffrays vor sich. »Eigentlich benötigen wir keine Krieger. Die Sternenvölker sind friedliebend. Sie treiben untereinander Handel. Sie gehen nicht auf Raubzüge.« »Diese Völker sind also nicht stark?« Anscheinend bezweifelte er ihre Angaben. »Was verhilft ihnen zur Tapferkeit? Vor welchen Herausforderungen stehen sie?« »Bei ihnen dreht’s sich um andere Dinge«, erklärte Leeta. »Unsere Herausforderungen spielen sich im Kopf ab. Können wir eine bessere Methode ausdenken, um etwas anzufertigen? Läßt sich mehr Nahrung herstellen? Kann man dies oder jenes einfacher erledigen?«
»Gibt es Coups für die Personen, die so etwas leisten?« Eisenauges Tonfall bezeugte Interesse. »Nicht unbedingt.« Leeta furchte die Stirn. Was könnte man damit vergleichen? Akademische Anerkennung? Von Erfindern hatte sie nie etwas gehört. Da sie nun genauer darüber nachdachte, fiel ihr auf, daß sie von noch nieman dem außerhalb ihres Bekanntenkreises irgend etwas zu hören bekommen hatte. Sogar die Namen von Schauspielern, Politikern und Autoren waren kaum bekannt. Das Wesentliche einer Existenz bestand — den Direktoren zufolge — im Beitrag eines Individuums zur Gemeinschaft. »Weshalb Taten verrichten, wenn es keinen Coup zum Lohn gibt?« fragte Eisenauge befremdet. »Ist das das Dasein, wie unser Volk es künftig führen sollte? Der Prophet sagte, die Sternenmenschen würden kommen und versuchen, uns so zu machen, wie sie sind. Wenn’s keine Coups mehr gibt, es an Herausforderung fehlt, dann möch te ich die Zukunft des Volkes nicht erleben.« »So schlimm verhält es sich ja nun auch wieder nicht«, erwiderte Leeta. »Wir haben Sachen, die das Leben erleichtern. Man kann studieren, was die Menschen in der Vergangenheit getan haben. Man kann ferne Welten ken nenlernen.« Eisenauge lachte. »Die Vergangenheit sehen? Das Le ben erleichtern? Ferne Dinge sehen? Was soll daran gut sein? Wie viele Menschen schauen die Zukunft? Wie viele Menschen gelangen an ferne Orte?« »Ich bin jedenfalls hier«, sagte Leeta mit Betonung; doch sie konnte nicht leugnen, daß Eisenauge bei ihr einen Keim des Zweifels gesät hatte. »Du bist da«, bestätigte er. »Wird man auch mich fort gehen und ferne Stätten besuchen lassen? Kann ich mein Volk zu den Sternen führen, ohne daß wir wie ihr wer den?« Darauf konnte sie keine Antwort geben. Wie kam eine
Person ans Reisen? Indem sie zum Militär ging? Indem sie für jemanden Aufträge auf anderen Planeten erledigte? Die Menschen reisten wenig. Selbst den Handel wickelte man mit vollautomatisierten Raumschiffen ab, den FLR Die Stationen wanderten durchs All; aber ihre Bewohner verließen die Stationen nie. Sie lebten permanent im Innern ihrer gigantischen Behälter. Sie bildeten eine mobi le Gesellschaft, keine Gesellschaft mobiler Individuen. »Ich weiß es nicht«, flüsterte Leeta. »Wenn die Santos uns finden, werde ich kämpfen, wäh rend du fliehst, um am Leben zu bleiben. Kämpfe ich gut, werden die Santos sich meinen Namen merken. Du wirst lange leben und zwischen den Sternen meinen Namen nennen. Auf diese Weise wird sogar Spinne selbst von mir erfahren. Ich werde der größte aller Spinnenkrieger sein. Kann man mehr aus seinem Leben machen?« Der Stolz, der in seiner Stimme mitschwang, schok kierte Leeta. Bekannt zwischen den Sternen wollte er wer den? Ob das Direktorat die Verbreitung derartiger Informationen gestattete? Würde es dulden, daß man den Ruhm eines Barbarenkriegers in die ganze Galaxis hinaus posaunte, als streute man Samen auf einen brachliegenden Acker? Von neuem schauderte es ihr. Die Kühle, die nie völlig aus ihr gewichen war, machte ihr erneut zu schaffen. »Ich wollte«, meinte sie leise, »wir hätten ein Feuer.« »Damit die Santos es erspähen? Dann müßte meine Seele lange vor der Zeit zu Spinne zurückkehren.« Er lachte; Leeta spürte, wie er sich neben sie setzte. Er schlang einen warmen Arm um sie, während er die Dek-ke von ihrer Schulter zog und sie beide hineinhüllte. Im ersten Moment wäre Leeta am liebsten auf Distanz gegangen, hätte sie sich diesen fremden Mann lieber vom Leib gehalten. Doch schon strömte seine Körperwärme behaglich in ihre bleischweren Glieder. »Man wird dir oder deinesgleichen nie erlauben, sich
im Weltraum frei zu bewegen«, flüsterte Leeta, dachte an die Psychinganordnung, die das Gesundheitsministerium über sie verhängt hatte. »Von euch ginge ein störender Einfluß aus. Man wüßte nicht, was man mit euch anfangen sollte, Eisenauge. Euer Verhalten ist unberechenbar. Man würde euch höchstens als Laboratoriumsspezies tolerie ren.« Kurz erläuterte sie, um was es sich bei einem Laboratorium handelte. »Dann ist es vielleicht besser, wir suchen den Kampf mit den Santos, Sternenfrau.« In Eisenauges Stimme klan gen Trauer und Resignation an. »John Smith Eisenauge wird keine ... keine Spezies abgeben, wie du’s nennst. Wenn das die Folgen unserer Begegnung mit euch sein sollen, die das Volk zu tragen hat, werden wir gegen die Santos und euch Sternenmenschen bis in den Tod kämp fen. Dadurch wird man sich an uns erinnern. Nur unsere Seelen gehören Spinne. Unsere Körper können wir nach Gutdünken verwenden.« Er sprach im Ton absoluter Gewißheit. »Ihr könnt nicht siegen.« Leeta hob den Blick. »Das Raumschiff dort oben, die Projektil, ist dazu imstande, diesen gesamten Planeten in Staub zu zerpulvern, Ei senauge. Dagegen ist jeder Kampf sinnlos. Wir Sternen menschen sind zu mächtig.« »Dann werden wir ehrenvoll sterben und unsere Seelen voller Stolz zu Spinne emporsenden«, antwortete Eisenauge schlichtweg. Dagegen ließ sich nicht argumentieren. Sein Gott — Spinne — hatte klargestellt, wie die Dinge standen. Es würde eine Weile dauern, bis sie ihn und seinen Stamm verändert hatte; das war das ganze Problem. Sie konnte unmöglich zulassen, daß man sie vernichtete; sie waren zu edle Menschen. Leeta merkte nicht, wann sie einschlief. Ritas Augen war Übermüdung anzusehen, als sie und Leeta im Morgenlicht auf die Reittiere stiegen. »Lange Nacht gehabt?« fragte Leeta.
Rita schenkte ihr ein Lächeln, das nach satter Befrie digung aussah. »Ich hatte den Eindruck, sie ging ziemlich schnell rum. Mir ist aufgefallen, daß Sie sich verdrückt haben, Doktor.« »Eisenauge und ich hatten in der Nacht ‘n sehr aus gedehntes Gespräch. Am Lagerplatz konnte ich jedenfalls keinen Schlaf finden.« Leeta wußte, daß in ihrer Stimme Arroganz mitklang und sie das Kinn angehoben hatte. Rita unterdrückte ein Lachen. »Wenn Sie sich durch solche Sprüche wohler fühlen, Doktor ... Sicherlich haben Sie und Eisenauge ...« »Verdammt noch mal! Ich sage Ihnen, wir haben ... Ach was, Sie glauben mir sowieso nicht. Denken Sie doch, was Ihnen in den Kram paßt.« Sie wölbte die Brauen. »Aber verraten Sie mir eins: Was finden Sie an Philip?« »Freiheit, Doktor. Er lebt für den Tag. Das gefällt mir.« »Und was ist morgen? Sie wissen, daß Ree uns sucht.« Leeta blickte an den grauen Himmel empor; sie zitterte noch ein wenig, aber sie hatte warm geschlafen und sich den Bauch mit Braten vollgestopft. Rita spähte umher, ihre scharfen Augen beobachteten wachsam die benachbarten Hügel. Schließlich verweilte ihr Blick auf Philips Hinterkopf, und ein Lächeln verzog ihre Lippen. Als sie wieder Leeta ansah, zuckte sie die Achseln. »Ich hoffe, daß morgen nie kommt.« »Wird’s aber.« Leeta empfand ihre Entgegnung selber als Plattheit. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich wieder Offizierin an Bord eines Patrouillenschiffs sein möchte, das nie ir-gendwen oder irgendwas angreift.« Rita atmete tief ein. »Wissen Sie, das Handgemenge mit Großer Mann war das erste Mal in meinem Leben, daß ich eine wirkliche, ernste Auseinandersetzung durchstehen mußte. Der Rest meiner Laufbahn hat aus Schlafsynchronisation, Intrapsychischem Manövertraining, Körperertüchtigung und Kampf sporttraining in leeren Räumen und langweili
gem Routinedienst bestanden. Stellen Sie sich bloß mal vor, Doktor: Irgendwo in der Nähe ist ‘n halbes Hundert Männer, die uns umbringen werden, falls sie dazu die Gelegenheit kriegen!« Sarsas Augen glommen. »Da zählt jede Sekunde. Jeder Atemzug wird zur Kostbarkeit. Man weiß nie, ob man in ‘n paar Stunden überhaupt noch atmen wird.« Sie grinste. »Und ich bin ‘ne geborene Rebellin! Das habe ich Ihnen ja schon an der Universität gesagt.« Leeta kniff die Brauen zusammen. Wie sollte man so etwas nachvollziehen können? Was war richtig? Sarsa war keine Barbarin; zumindest prädestinierte ihre Ausbildung sie nicht dazu. Der Gedanke, ein Santos könnte sich ein Vergnügen daraus machen, sie zu töten, jagte Leeta Furcht und Schrecken bis ins Mark ein. Furcht war ihr zuwider. Für Rita dagegen gab Gefahr anscheinend eine regelrech te Stimulierung ab. Während sich am Horizont Wolken ballten, setzte leich ter Nieselregen ein. Auf dem Weg längs der Bärenberge zeigte sich die Landschaft allmählich vielfältiger. Plötzlich blieb Eisenauge stehen und deutete an den Horizont. Ein heller Streifen bewegte sich durch den Himmel. »Ein ST«, rief Rita mißgestimmt. »Ree macht Ernst.« Leeta holte tief Luft. Das war die Rettung! »Und dort sind die Santos.« Eisenauge wies voraus. Etwas weiter unterhalb ihres Standorts, am spitzen Ausläufer eines Höhenzugs, hatten Reiter ihre Pferde gezügelt, beobachteten den ST. Aus der Art und Weise, wie die Santos ihre Reittiere durcheinanderwimmeln lie ßen, ging hervor, daß der Sturmtransporter, der nun auf sie zusteuerte, die Santos beträchtlich außer Fassung brachte. »Tja«, sagte Leeta, »ich kann nicht sagen, es wäre nicht informativ gewesen. Wir sind dir und Philip ‘ne Menge schuldig, Eisenauge, aber ‘ne heiße Dusche wird mir jetzt...« Sie beendete den Satz nicht; der lange, weiße ST
schwenkte zu den Santos hinab, weiß-violette Licht strahlen schössen zwischen die Reiter und verursachten Explosionen, die Staub, Steine, Sand und verkohltes Fleisch in die Höhe wirbelten. »Was, zum Teufel, ist denn nun passiert?« rief Rita. »Werden sie auch uns angreifen?« fragte Philip mit gepreßter Stimme. Ritas Gesicht wurde blaß, während sie auf der Lippe kaute. »Philip, ja! Wir müssen in Deckung gehen. Gibt’s hier irgendwo ‘ne Möglichkeit, sich unterzustellen? In der Flugmaschine kann man unsere Körperwärme orten. Und es sind Apparate an Bord, die im Dunkeln sehen.« Philip hob den Blick zu ihr und lächelte verschwöre risch. Zutiefst betroffen sah Leeta den Leutnant an. »Sie ha ben sie einfach umgebracht!« »Stimmt, Doktor«, knirschte Rita. »Sieht so aus, als hätte Ree den Krieg erklärt.« John und Philip waren ins Laufen verfallen, und Leeta mußte sich vorn am Sattelknopf festhalten. Zwar hatte sie sich mittlerweile an die Bewegungen des Pferds gewöhnt, fühlte sich jedoch noch alles andere als sicher im Sattel. John Smith führte sie in ein zerklüftetes, felsiges Flußbett. Leichtfüßig sprang er von Fels zu Fels, warf regelmäßig einen Blick an den Himmel. Unwillkürlich bewunderte Leeta, die sich furchtsam festklammerte, weil sie jeden Moment einen Sturz befürchtete, die Be hendigkeit sowohl des Romananers wie auch des Pferds. Sie konnte Eisenauges gedämpftes Schnaufen hören, während er vorauseilte. Seine Blasebalglungen hatten mit der Anstrengung und dem Tempo kaum Schwierigkeiten. Die schwarze Stute hatte die Ohren gespitzt, zügig suchte sie einen Weg durch die tückische Strecke. Zeit verstrich. Das Nieseln verstärkte sich zu schwa chem Regen. »Wie lange dauern die Regenfälle?« erkun digte sich Leeta.
»Bis zum Frühjahr«, rief Eisenauge ihr zu. »Das ist wohl nicht gerade heute nachmittag, wie?« fragte Leeta, versuchte sich wenigstens in begrenzte Zu versicht hineinzusteigern. Sie konnte den Irrsinn, als den sie die Aktion des ST einstufte, noch immer nicht fassen. Eisenauge lachte. Wahrhaftig, er lachte! »Nein, Ster nenfrau. Bis dahin vergeht noch viel Zeit. Keine Sorge, wir werden heute abend ein trockenes Lager haben.« In nicht allzu weiter Entfernung erscholl ein lautes Krachen, dem sich ein durchdringendes Pfeifen anschloß. Eisenauge stand still und lauschte. »Verdammt!« raunte Rita. »Der ST hat auf etwas ge schossen. Das war ‘n Blaster. Wir müssen uns verstekken. Philip, bleiben die Pferde in der Nähe, wenn wir sie zurücklassen?« »Weit werden sie sich nicht zerstreuen. Meins ist gut abgerichtet, aber die Stute nutzt natürlich jede Gelegen heit, um Johns häßliche Fratze aus den Augen zu be kommen.« Er grinste John zu. »Die Stute läuft nicht fort«, schnob Eisenauge. »Außer womöglich um deinen braunen Wallach von ihrem Weidegrund zu vertreiben.« »Na gut, dann hört auf zu quasseln und laßt uns ab hauen«, schnauzte Rita, sprang aus dem Sattel auf ihre noch empfindlichen Füße, ohne die Miene zu verziehen. »Eisenauge, du und Dr. Dobra sucht da unter dem Felsen Deckung. Philip, laß die Pferde frei und folge mir dort in den Felsspalt. Bei direkter Ortung mit den Scannern kön nen wir nicht unbemerkt bleiben, aber wenn der ST ein wenig Abstand hält, sind wir in Sicherheit.« Leeta verstand, um was es ging, zerrte den widerwil ligen Eisenauge mit sich unter den Überhang eines rie sigen Felsklotzes. Sofort begann sie an der Vorderseite ihres kleinen Unterschlupfs Steine aufzuschichten. John erwies sich als schnell lernfähig. Vermutlich aufgrund der Annahme, daß sie ihre Gründe hatte, leistete er ihr Hilfe.
Danach warteten sie. »Wie lange müssen wir uns ver steckt halten?« rief Leeta zu den aufgetürmten Geröll hin über, hinter dem Rita und Philip hockten. Versteckten sie sich wirklich vor der Patrouille? Vergeblich versuchte Leeta zu schlucken. Erst das Psyching. Und jetzt bestand die Aussicht, vom Direktorat erschossen zu werden? Kaltblütig erschossen? Warum? Die Fragen drehten sich in ihrem Kopf im Kreis. »Wenn sie eine Suchaktion fliegen, ein paar Stunden. Andernfalls läßt’s sich schwer schätzen. Es kommt drauf an, hinter was sie her sind. Seien Sie ruhig! Man könnte uns hören.« »Von wie weit her hören?« flüsterte John in Leetas Ohr. »Keine Ahnung«, bekannte Leeta. »Rita ist die Exper tin. Wir tun, was sie sagt.« Sie war sich Eisenauges Nähe sehr deutlich bewußt, roch seinen Körpergeruch, spürte seine Körperwärme. Ein leises Jaulen schwoll an und behielt für eine Weile eine gleichmäßige Lautstärke bei. Sie sehen sich die Pferde an, schlußfolgerte Leeta. Dann entfernte sich das Jaulen und verebbte in östlicher Richtung. Eine Stunde verstrich; danach traute Leeta sich wieder, in Eisenauges Armen zu schlafen. »Das dürfte genügen«, rief Rita schließlich in sachli chem Ton. »Sie müßten jetzt schon länger aus der Um gebung weg sein.« Die Pferde waren auf die Kuppe eines Hügels abgewandert. Rita hatte erneut diesen besonderen Ausdruck in den Augen; Leeta konnte sich denken, wie sie und Philip die Zeit genutzt hatten, während sie das Weiterfliegen des ST abwarteten. Das Lager Gessali war näher als angenommen. Der große Felsüberhang verlief an der Sohle eines größeren Geländegrabens entlang, wo der Fluß eine Erhebung unterspült und ausgehöhlt hatte, danach aber ins alte Flußbett zurückgekehrt war; auf diese Weise war ein rund um geschützter Lagerplatz geschaffen worden.
Eisenauge hielt das Pferd an, betrachtete den Unter grund. »Pferde. Viele.« »Santos«, stieß Philip hervor. »Sie waren vor höchstens einem halben Tag hier. Sie sind völlig überstürzt aufgebro chen. Schau da. Die Pferde sind erschreckt worden.« Wachsam spähte Eisenauge an den Felswänden des Tals hinauf. »Ich wünschte, wir hätten diese Dinger zum Wärmesehen, von denen Rita sagte, die ST hätten sie.« »Bestimmt wären sie besser als deine scheelen Augen«, meinte Philip. »Vielleicht ist es keine gute Idee«, äußerte Rita, »das Lager Gessali aufzusuchen.« »Ich glaube«, sagte Leeta trübsinnig, »ich würde lieber wieder frieren als tot sein.« »Sie lernen dazu, Doktor.« Rita kaute auf den Lippen, während sie die Felswände der Schlucht beobachtete; sie hielt das Gewehr schußbereit in den Händen. Sie umrundeten eine Biegung und machten eine grausi ge Entdeckung. In der kühlen Luft dampfte noch gespen stisch ein Brandfleck auf massivem Fels. Teile dreier Pferde lagen verstreut umher. Leeta sah einen mensch lichen Arm, einen Fuß und einen geschwärzten Schädel. »Was hat das bewirkt?« Eisenauge blickte auf, während er vorsichtig den erhitzten, glasierten Fels betastete. »ST-Blaster.« Ritas Stimme klang gefühllos. »Ich ver mute, wir haben gefunden, auf was sie geschossen haben.« »Santos.« Philip gab dem einzelnen Arm einen Tritt, so daß Leeta zusammenzuckte. »Seht ihr die Verzierung? Das sind Farben der Santos.« »Aber... es hätten genausogut wir sein können.« Leeta spürte, wie ihre Furcht wuchs. Beim Gestank der ver brannten Pferde- und Menschenreste drohte sich ihr der Magen umzudrehen. Es kostete sie Mühe, sich nicht zu erbrechen. »Es können überall in der Umgebung welche sein«, sagte Eisenauge. »Wahrscheinlich hat der Blasterschuß sie
auseinandergejagt. Ich komme mir hier vor wie eine Zielscheibe.« Hinter der nächsten Biegung liefen sie, ehe sie sich richtig versahen, den Santos in die Arme. Fünfzehn Mann sprangen auf die Beine. »Ajaaaaaah!« brüllte John Smith, riß das Gewehr hoch und schoß auf einen Santos, der sich aufrichtete, in rasen der Hast das Gewehr anzulegen versuchte. Dann brach ein wahnsinniger Wirrwarr aus. Männer liefen umher, riefen, schossen. Rita hatte Philips Wallach vorwärtsgetrieben, als hätte sie es schon tausendmal getan. Leeta sah, wie sie einen Mann niederschoß, die Kugel traf ihn in den Hinterkopf, zertrümmerte ihm die Hirnschale. Auch Philip hatte gefeu ert, stürzte sich nun in den Kampf, drosch mit dem Gewehrkolben zu. Die Santos schrien, rannten wie verrückt durcheinander, wichen zurück. Ihre aufgerissenen Augen spiegelten Furcht, Verstörung und Demoralisiertheit, sie ergriffen die Flucht, flohen zu der Handvoll Pferde, die sie weiter hin ten in der Schlucht angebunden hatten. Damit war es schon so gut wie vorbei, die Santos feuerten noch ein paar Schüsse ab, Rita und Philip setzten ihnen nach, schrien und erwiderten das Gewehrfeuer. Leeta rang mühevoll um Atem, während die ganze irr sinnige Horde außer Sicht verschwand. Sie schaute hinü ber zu Eisenauge, der breitbeinig in ihrer Nähe stand. Wieso ist er nicht dabei? wunderte sie sich, fühlte sich durch seinen Mangel an Initiative seltsam betroffen. Er drehte sich um, Stolz im Gesicht, und sah sie an. »Hast du sie laufen sehen? Wir vier allein haben sie alle in die Flucht geschlagen.« Sein Gesicht strahlte freudig, während er mit dem Gesicht in den Matsch fiel. Erschrocken saß Leeta eine Sekunde lang reglos auf dem Pferd. Dann sprang sie ab, wälzte Eisenauge auf den Rücken, betrachtete den roten Fleck, der sich oberhalb sei
nes Magens stetig ausbreitete. »Mein Gott«, entfuhr es Leeta halblaut, als sie das zer fetzte Lederhemd hochschob. Eisenauge starrte sie an, als hätte er den Eindruck, sie sei weit entfernt. »Ich habe ... ehrenvoll gekämpft... nicht wahr?« fragte er, als wäre er tief in Gedanken. »Ja«, bestätigte Leeta und schniefte, weil ihr die Tränen kamen. »Du hast sehr tapfer gekämpft.« Sie wischte ihm Schlamm aus dem Gesicht. »Bist du auf mich stolz, Sternenfrau?« wollte er wis sen.. »Ja, das bin ich«, antwortete Leeta, und während sie es sagte, merkte sie, daß es stimmte. Eisenauges Kopf sank zur Seite. Eilig fühlte Leeta ihm den Puls. Er lebte. Sie zog das lange, schauderhafte Messer aus seinem Gürtel und fing an, sein Hemd in Streifen zu schneiden. Sie mußte sich gehörig anstrengen, um die Leder streifen unter seinen muskulösen Rücken zu schieben. Die Wunde klaffte in seinen Rippen, direkt unter den Brustmuskeln. Plötzlich stellte er das Atmen ein. Trauma des Solarplexus? Leeta unternahm Wiederbe lebungsanstrengungen, bis er weiteratmete. Durch Splitter zerschossener Rippen quoll noch immer Blut. Leeta ver band ihm, indem sie die Lederstreifen stramm anzog, den Brustkorb. Sie keuchte und schluchzte pausenlos, war praktisch in hysterischer Verfassung. Neue Schüsse hallten durch die Schlucht. Während Leeta Eisenauges Stirn streichelte, halblaut vor sich hin weinte, verlor er das Bewußtsein. Sie hörte nicht, wie der Mann sich hinter ihr anschlich. Sie bemerkte ihn erst, als er kraftvolle Finger in ihr Haar krallte, mit einem Ruck ihren Kopf zurückbog. Vor Schmerz und Furcht schrie sie auf, blickte in die Glutaugen eines Santoskriegers. Sie sah, wie er den langen Lauf seines Gewehrs an ihr vorbeischob, die Mündung auf Eisenauges Stirn richtete.
»Nein!« kreischte sie in tierischer Furcht. Ihre Haare rissen, als sie sich gegen die Gestalt des Santos warf. Der Gewehrschuß knallte — er schien Leetas Welt in Stücke zu bersten —, und da spürte sie, daß sie noch das Messer in der Hand hielt. Ein roter Schleier schien ihr Blickfeld zu trüben, als sie aufheulte und —schrie, auf den Mann ein stach. Sie biß die Zähne in sein Fleisch, trat gleichzeitig wuchtig nach seinem Unterleib. Sie schwang das Messer rückwärts, rammte es ihm immer wieder in den Leib, wäh rend er ihr die Fäuste ins Gesicht hieb. Sie lagen beide auf dem Erdboden, traten und schlugen um sich, da wurde das Messer auf einmal ihrer Faust ent wunden. Vor Wut, Furcht und Verzweiflung brabbelte sie, zerkratzte dem Santos das Gesicht, fühlte ihre Finger sich in seine Augenhöhlen bohren. Panik und Adrenalin verlie hen ihr ungeahnten Kräfte. Sie zermalmte ihm die Augäpfel und ließ die Finger in sein Fleisch gegraben, ver spürte den Schmerz der abgebrochenen Nägel. Es dauerte lange, bis sie begriff, daß er tot war. Erschöpft kroch sie zu Eisenauge. Tränen und Blut beeinträchtigten ihre Sicht. Sie senkte den Kopf auf sein Gesicht und verfiel in Krämpfe hysterischen Schluch zens. Vollkommen ausgelaugt hob sie den Kopf, wischte sich die Augen und starrte in Eisenauges blutiges Gesicht.
12
Die besonders ausgesuchten Sturmtransporter-Kapitäne, die Majorin Antonia Reary zu sammengerufen hatte, saßen aufrecht da und hörten auf merksam zu, während sie ihre Darlegungen von sich gab. »Damen Ree, wird nicht immer Kommandant der Projektil bleiben, meine Damen und Herren. Ich habe je den von Ihnen nach den potentiellen Fähigkeiten ausge wählt ... und nach dem politischen Ehrgeiz. Verstehen Sie mich?« Mehrere lächelten grimmig, ein oder zwei nickten; alle zeigten ernste Mienen. »Ausgezeichnet«, konstatierte Antonia, legte ihre Finger zu einem Giebel aneinander. »Sie werden die verschwundenen Frauen suchen. Dabei besteht die offizielle Vorgehensweise darin, bei ersten Zeichen der Aggression rücksichtsvoll zu reagieren. Ihre Kameraden werden Rees Anordnung aufs Wort befolgen. Ich dagegen erwarte von Ihnen, daß Sie, sobald die Romananer Widerstand leisten, eine gewisse ... ah ... Initiative ergreifen. Haben Sie Fragen?« Einem nach dem anderen der Anwesenden blickte sie in die stahlharten Augen, erkannte darin Entschlossenheit. Selbstverständlich hatte niemand irgendwelche Fragen. Antonia schlang ihre dünnen Finger um den Kaffee becher. »Sehr gut. Ich habe gewußt, jedem von Ihnen würde sofort klar sein, daß bei dieser Aktion ein Debakel mit der Konsequenz einer Ablösung Rees und seiner Günstlinge automatisch Ihre Beförderung nach sich ziehen wird.« Hauptmann Gen Tabson hob einen Finger. Antonia wölbte die Brauen. »Ja?« »Welches Verfahren hält die Majorin für angebracht,
falls die entführten Frauen in der Gewalt feindseliger Romananer angetroffen werden?« Antonia schenkte ihm ein dünnes Lächeln. »Gegenwehr wird nicht geduldet, Gen. Sie haben an erster und wichtig ster Stelle sich und Ihren ST zu verteidigen.« Und der Verlust einer Anthropologin sowie einer eventuellen Konkurrentin wie Sarsa mußten Damen Ree in äußerste Verlegenheit bringen und konnten Antonias Ambitionen nur förderlich sein. »Na schön, Leute«, beendete Antonia die Einsatzbe sprechung. »Wegtreten!« Mit nachdenklichen Mienen verließen die Kapitäne nacheinander den Raum und machten sich auf den Weg zu ihren startbereiten STs. * * * Der Sturm brachte das Airmobil ins Schwanken, beschwor die Gefahr eines Überschlagens herauf. Ree stieß ein Knurren hilfloser Wut aus, als der Himmel barst, wolken bruchartiger Regen herabzuprasseln anfing. »Landen!« befahl Ree, als er sah, wie Raschids Airmobil, durch eine Bö gut fünfzig Meter vom Kurs abgelenkt, beinahe abschmierte. Auch am Boden stürmte der Wind unbarmherzig auf die Flugapparate ein. Die Plexikanzel zitterte und ratterte unter den Windstößen. Ree atmete tief durch und machte eine Lagemeldung an die Projektil. »Wir brauchen die ST, aber pronto!« brummte er in die Kommu. Die Airmobile waren in unregelmäßiger Reihe gelan det. Ree musterte die fünf Gefangenen, die er an Bord sei nes Airmobils hatte: Vier Santos und einen Spinnen krieger. Die Romananer ließen sich keine Sekunde lang aus den Augen. Ohne den Patrouillensoldaten, der mit einem Blaster Wache stand, wären sie sich längst gegen seitig an die Gurgel gesprungen. Weil er nichts anderes zu tun hatte, nahm Ree den
Translator zur Hand. »Also nun mal raus mit der Spra che«, begann er, und der Translator übertrug es ins Ro mananische. »Um was dreht sich euer Krieg?« Der Spinnenkrieger warf ihm einen kurzen Blick zu, sagte jedoch nichts. »Wir werden das Spinnenvolk und seine falschen Propheten vernichten«, schnob ein Santos. »Es sind Schwächlinge ... Ihre Kadaver werden wir den Felsen egeln überlassen. Ihre Weiber werden in unseren Dörfern ihre Klage heulen, während starke Söhne der Santos ihre Leiber zum Schwellen bringen.« »Ihr bekämpft euch also nicht wegen irgendeiner Be leidigung oder eines Vergehens«, schlußfolgerte Ree. »Ich nehme an, es handelt sich um eine klassische Form bluti ger territorialer Auseinandersetzung.« »Die Santos wollen die Funkgeräte, damit sie die Sobjets vom Himmel rufen und uns von ihnen bezwingen lassen können.« Der Spinnenkrieger redete in anmaßendem Ton. »Ihr falscher Prophet hat ihnen verkündet, das wäre der ein zige Weg, wie es ihnen möglich sei, unser Volk zu unterwer fen. Falls die Sobjets jemals kommen, werden wir sie ver nichten. Die da« — höhnisch wies er mit dem Kinn auf die Santos — »trinken die Pisse ihrer Väter.« Ein Santos röhrte einen Wutschrei hervor und ging auf ihn los. Der unablässig wachsame Patrouillensoldat streckte ihn mit einem schwachen Blasterschuß nieder. Der Santos brach zusammen, stellenweise platzte seine sofort schwärzlich und blasig gewordene Haut, während er sich in fürchterlichen Schmerzen auf dem Boden krümmte. Ree war aufgesprungen. »So was dulde ich nicht!« brüllte er die Gefangenen an. »Es ist euch vorher gesagt worden!« Erbitterte starrte er sie an, deutete mit dem Zeigefinger nacheinander in ihre Gesichter. »Ihr seid Gefangene des Direktorats! Von jetzt an ist euer Krieg vor bei!«
Kein Romananer zuckte nur mit den Wimpern. Sie sahen ihn an, als wäre er lediglich ein geringfügiges Är gernis, das man nicht ernstzunehmen brauchte. »Ihr glaubt mir nicht, hä?« fragte Ree beherrscht. »Laßt mich euch den Sachverhalt erklären.« Er richtete sich zu voller Körpergröße auf und versuchte, die Kerle mit sei nem strengsten Blick einzuschüchtern. »Von dem Moment an, als die Santos Direktoratsbürgerinnen zum Zwecke der sexuellen Belästigung und Notzucht verschleppten, haben sie sich außerhalb der Regeln der Zivilisation gestellt. Eine der Frauen haben wir gefunden, und sie ist vergewal tigt worden. Zwei sind noch irgendwo da draußen, hört ihr? Und ich trage für sie die Verantwortung!« Unverändert gleichgültig erwiderten die Männer seinen Blick. »Ich möchte es einmal so formulieren.« Ree lehnte sich ans Instrumentenbrett. »Ich bin so was wie ein großer Kriegshäuptling, kapiert? Ich befehlige mehr Krieger, als die Santos, das Spinnenvolk und sämtliche übrigen Räuberbanden zusammengenommen aufbringen.« Damit erregte er endlich ihre Aufmerksamkeit. »Von jetzt an werden alle Feindseligkeiten zwischen euch von meinen Soldaten beendet, sie werden es jedem heimzahlen, der den Frieden bricht, verstanden?« Eindringlich sah Ree jedem einzelnen Romananer ins Gesicht, während der Mann auf dem Boden vor sich hin stöhnte. »Von nun werde ich in jedem solchen Fall die Dörfer niederbrennen lassen.« Rees Lippen zuckten. »Schluß mit dem Krieg!« Der Spinnenkrieger hob den Blick; seine Miene spie gelte Belustigung wider. »Darüber entscheidest doch nicht du, Sternenmann. Die Entscheidung liegt bei Spinne.« Ree widerstand dem Drang, ihm den Handrücken ins Gesicht zu klatschen. Seit er Unteroffizier gewesen war, hatte niemand mehr in diesem Tonfall mit ihm gespro chen. »Sag mir, wo ich diesen Knaben namens Spinne finde, und ich schlage ihn kurz und klein.« Ree verkniff
die Augen, als er sah, wie sich die Belustigung des Krie gers zu regelrechter Heiterkeit steigerte. »Was ist daran so komisch?« fuhr Ree ihn an. »Spinne ist Gott, Sternenmann. Das möchte ich gerne sehen, wie du Gott verprügelst.« Unverhohlen lachte er Ree aus. Da wurde der Oberst zum Berserker. Plötzlich stand er vor dem Spinnenkrieger, seine Fäuste taten die Arbeit, für die er sich sogar in seinem fortgeschrittenen Alter noch fit hielt. Der Spinnenkrieger versuchte sich zu wehren, stemmte sich vom Sitz hoch. Ree tötete ihn sauber und schnell. Den Santos ließ sich eine wölfische Genugtuung an merken, als der Spinnenkrieger über den Verwundeten auf dem Boden sackte. Selbst die erloschenen Augen des Spinnenkriegers verrieten noch etwas von dem Kampfgeist, der vorher in ihnen gefunkelt hatte. Ree schöpfte tief Atem, rang um Beherrschung. Er hatte die Nerven verloren! Seit der Militärakademie hatte er nicht mehr die Selbstbeherrschung verloren. Es verhielt sich noch schlimmer: Er hatte den Spinnenkrieger umge bracht — aber wirklich besiegt hatte er ihn nicht. Die Santos betrachteten ihn nun, anstatt eingeschüchtert zu sein, abschätzig wie ein hirnloses Stück Fleisch. Während Ree sie rasch musterte, sah er nichts als herausfordernden Trotz in ihren Blicken; nicht einmal der Wächter mit sei nem Blaster beeindruckte sie mehr sonderlich. Verdammte Idioten, ist ihnen nicht klar, daß er sie alle töten kann? Wer sind diese Leute? Was ist ihre Motivation? »Haben Sie irgendwas Ungewöhnliches gesehen?« fragte Ree ganz ruhig, indem er sich an den Wächter wandte. »Nein, Sir«, antwortete der Mann kaltschnäuzig. »Ich glaube, ein Gefangener ist vom Sitz gefallen, Sir. Wahr scheinlich sollte er auf Herzversagen untersucht werden. Oder er braucht nur frische Luft, und wir können ihn viel
leicht später zu sich bringen, Sir.« Ree kramte aus den Bordvorräten eine Flasche Wasser und trank einen Schluck. Möglicherweise würde er sich, wenn er die Frauen nicht fand, einer Untersuchungs kommission stellen müssen. Das Töten hatte seine Auf merksamkeit auf die ganze Tragweite des Problems ge lenkt. Und obendrein habe ich durchgedreht! Er verband sich mit der Kommu und gab einen Bericht durch, an dessen Anfang er darauf hinwies, die Si cherheitsvorkehrungen seien auf ausdrücklichen Wunsch Professor Chems und Dr. Dobras gering gehalten worden. Die Forscher hätten ausdrücklich verlangt, bei den Romananern quasi als Privatleute aufzutreten. Er hätte sich, weil sie die Experten waren, ihren Wünschen gefügt. Sobald er Anlaß zu ernsten Befürchtungen sah, hätte er Dobra und ihr Team zurückzurufen versucht, jedoch habe Dobra ihn nicht zu Wort kommen lassen. Bei dem Versuch, eine Rettungsaktion innerhalb der von den Anthropologen beschriebenen Parameter durchzuführen, wäre schlechtes Wetter ein großes Hindernis gewesen. Ree lächelte, während er seine nächsten Maßnahmen durchdachte und per Kommu protokollierte. »In Anbe tracht der aufsässigen Natur der Romananer leite ich nun mehr Schritte zur Gewährleistung der Sicherheit sämt licher auf Atlantis befindlicher Direktoratsbürger ein. Dabei verfolge ich das Ziel, Direktoratsbürger und Einheimische gleichermaßen unter den Schutz des Ge setzes zu stellen. Zu diesem Zweck verkünde ich die Beendigung aller Feindseligkeiten. Ich befehle die Rück gabe des gesamten entwendeten Eigentums und die un verzügliche, vollzählige Freilassung der Geiseln. Außer dem wird jeder Verkehr zwischen den hiesigen Dörfern bis auf weiteres verboten. Für die Ausübung der Freizügigkeit bedürfen Romananer vorläufig der Genehmigung der Militärverwaltung. Individuen und Gruppen, die gegen
diesen Erlaß verstoßen, unterliegen bei Zuwi derhandlungen der Militärgerichtsbarkeit. Hiermit setze ich ein entsprechendes Militärtribunal mit Hauptmann Neal Iverson als Vorsitzendem und Leutnant Mosche Raschid als seinem Stellvertreter ein. Alle Stellungnahmen und Mitteilungen zu diesem Bericht und den ergangenen Anordnungen sind an den kommandierenden Offizier, Oberst Damen Ree, zu richten.« Er lächelte boshaft. »Das müßte fürs erste genügen.« Zufrieden blickte er sich über die Schulter um, sah Pa trouillensoldaten den Leichnam des toten Spinnenkriegers in den Regen hinauswerfen. Als die ST vom Himmel herabdröhnten und landeten, war die Luft in den Airmobils stickig geworden. In ge besserter Laune stieg Ree aus dem Airmobil; ein Leutnant salutierte vor ihm. Jetzt werde ich die Sache selber in die Hand nehmen und so abwickeln, wie ich es für richtig hal te ... So wie es von Anfang an hätte sein sollen. »Fliegen Sie uns zum Basislager«, befahl Ree. »Eta blieren Sie dort einen Perimeter zur Internierung solcher Personen, bei denen die befehlshabenden Offiziere eine Sicherheitsverwahrung als erforderlich erachten.« »Jawohl, Sir.« Der Mann salutierte, und Ree machte sich auf den Weg in die ST-Zentrale. Innerhalb weniger als einer Minute landeten sie beim Basislager. Rund um die Anlage waren bereits energetische Bar rieren errichtet worden. Ree konnte den Regen von den Distorsionsfeldern abprallen sehen. Patrouillensoldaten trieben die ersten Romananer in das Areal, wo sie erstaunt beobachteten, wie der Regen gegen das scheinbare Nichts prasselte. Einer versuchte die Barriere mit einem Sprung zu durchqueren und brach sich fast das Genick, als sie ihn ebenso schnell zurückschleuderte. Sollen sie ihre Aggressivität ruhig auf diese Weise austoben! »Hauptmann Iverson?« rief Ree in die Kommu. »Oberst?« ertönte Neals Stimme.
»Sie fliegen zum Wrack der Nikolai Romanan weiter. Dort richten Sie einen Verteidigungsperimeter ein und geben den Dorfbewohnern meine Erlässe bekannt. Ra schid?« »Hier, Sir«, erklang die vertraute Stimme des Leut nants. »Sie fliegen zum Hauptdorf der Santos und verfahren dort genauso. Von diesem Moment an herrscht auf Atlan tis Frieden. Zusätzliche Anweisungen: Dr. Leeta Do-bra und Leutnant Rita Sarsa müssen gefunden werden. Ich will schnellstens Erfolge sehen. Es ist mir egal, wenn Sie Himmel und Erde umstülpen müssen. Jede Einheit, die nicht an der Pazifizierung beteiligt ist, nimmt an der Suche teil.« Ree lehnte sich zurück, versuchte etwaige Probleme vorauszusehen. »Neal, ich möchte, daß Sie die Nikolai Romanan beset zen. Rechnen Sie mit bewaffneter Gegenwehr. Sie brau chen aber wohl nichts Wirksameres als primitive Bleige schosse zu befürchten. Unterbinden Sie auf jeden Fall den Funkverkehr. Senden Sie statt dessen meine Proklamation und versichern Sie der einheimischen Bevölkerung, daß ab sofort Ruhe und Ordnung herrscht. Teilen Sie mit, daß alle gegenwärtig in Gefangenschaft befindlichen Verwandten in Kürze mit ihrem gesamten Eigentum heim kehren dürfen.« »Oberst?« meldete sich Adam Chung zu Wort. »Ja?« »Ich bitte um Aufschluß, mit welchen Mitteln bei Wi derstand der Einheimischen dagegen vorgegangen werden soll, Sir. Welche Optionen geben Sie uns frei?« »Sie dürfen nach Belieben vorgehen, Adam. Wir sind hier, um einen Planeten zu befrieden, nicht um Spielchen zu treiben.« Ree lächelte sardonisch. »Sonst irgend etwas?« Es kamen keine weiteren Rückfragen. Ree schaute den ST nach, wie sie an den grauen Him
mel aufstiegen. Er schaltete auf eine Geheimfrequenz um und ergänzte seine Anweisungen. »Vermeiden Sie es, die Forscher auf die militärischen Erlässe hinzuweisen. Versuchen Sie besonders zu verhindern, daß Dr. Chem irgendwelchen Wirbel veranstaltet. Informieren Sie ihn, daß Dr. Dobra bei den Romananern als Geisel festgehalten wird.« Das sollte reichen, um dem alten Trottel das Maul zu stopfen. »Prioritätsfax, Oberst Ree«, drang es aus der Kommu. »Der Text ist ausschließlich für Sie bestimmt.« Damen Ree kniff die Augen zusammen. Er gab seine Identifikation ein und sah auf dem Bildschirm Zeilen er scheinen. Dies war einer der seltenen Anlässe im Leben eines Raumschiffskommandanten der Patrouille, bei de nen die Augen der Großen und Mächtigen auf ihm ruhten. Ree schluckte schwer, als er das Signum des Direktors sah, und bestätigte den Empfang der Nachricht. Der Gedanke an die Maßnahmen, die er inzwischen getroffen hatte, erschütterte ihn innerlich ein wenig; aber wenn er es genau überlegte, stimmten sie tatsächlich weit gehend mit der Linie überein, die der Direktor mit den übermittelten Instruktionen eingeschlagen hatte. Auch die angekündigte Verstärkung durch zwei Schlachtschiffe war keine nachteilige Entwicklung. Falls die Wissenschaftler sich querlegten, hatte er alle Asse in seinem Blatt. Oder nicht? Wie oft hatte er seine Untergebenen über die ewige Langeweile während der endlosen Patrouil lenflüge entlang ungefährdeter Grenzen nörgeln gehört? Ich werde nicht jünger. Eine zweite Chance, um eine hi storische Leistung zu vollbringen, wird es für mich nicht geben. Wie lange mochte es noch dauern, bis Reary seinen Posten übernahm? Wie lange, bis man ihm das Kom mando über die Projektil entzog? Der Direktor hatte den ganzen Planeten zur Verbotenen Zone erklärt. Ree schaltete die Kommu zu und speicherte die Anordnungen des Direktors. »Mitteilung an das
Personal der Kommandobrücke der Projektil. Auf unmittelbare Anweisung des Direktors wird der Planet Atlantis zur Verbotenen Zone erklärt. Ich wiederhole: Der Planet Atlantis gilt ab sofort als Verbotene Zone. Sämtliche Raumfahrzeuge mit Kurs Atlantis, die keine Sondererlaubnis der Patrouille besitzen, sind abzufangen und zur Umkehr zu veranlassen. Jedes Raumfahrzeug, das sich den erforderlichen Weisungen widersetzt, gilt als Gesetzesbrecher und ist aufzubringen. Zudem ist jede Kommunikation zwischen dem Planeten und Raumschiffen oder anderen Welten, Kolonien sowie Stationen ohne ausdrückliche Genehmigung durch Oberst Damen Ree oder dessen Vorgesetzte untersagt. Jeder Verstoß gegen diese Anordnung wird als Verrat am Direktorat bewertet und dementsprechend geahndet.« Ree grinste vor sich hin. »Oberst«, quäkte die Kommu, »Mr. Marty Bruk möch te über die Situation informiert werden. Wollen Sie mit ihm reden?« Ree kratzte sich einen Augenblick lang am Kinn, ehe er einen Entschluß traf. Er schaltete sich zu und sah gleich darauf auf dem Bildschirm das Gesicht des jungen Anthropologen. »Guten Tag, Marty. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?« * * * Marty Bruk und Bella Vola hatten mitangesehen, wie rings um den Kuppelbau des Basislagers die Sturm transporter landeten. »Da draußen muß irgend was wirklich total schiefge laufen sein«, mutmaßte Marty. »Du warst ja dabei, als die Ergebnisse der Verneh mungen besprochen worden sind«, sagte Bella. »Leeta oder der Leutnant sind noch immer nicht gefunden wor den. Ich glaube, mittlerweile sind die Spielregeln samt und sonders über den Haufen geworfen worden.«
»Und was heißt das?« fragte Marty. »Ich meine, wie wirkt es sich auf uns aus?« Bella biß sich auf die Lippe und nahm, einen Becher Kaffee in der Hand, auf einer Packkiste Platz. »Weißt du, wie das Militär solche Fälle handhabt?« fragte sie. Marty schüttelte den Kopf. »Sie reißen die Sache vollständig an sich. Das bedeutet, wir dürfen nichts mehr ohne Einwilligung der Patrouille machen.« »Na, und was wird aus der wissenschaftlichen For schung? Wir haben hier doch Arbeit zu erledigen. Ein wahrer Riesenschatz an Informationen ist zu erschließen. Ist dir das eigentlich klar? Man kann uns ja wohl nicht ein fach wegschieben!« Marty begann sich zu erregen. »Darauf kannst du wetten, daß sie’s können«, schnob Bella. »Du mußt mal deinen Verstand gebrauchen. Ich habe mit so ‘ner Möglichkeit gerechnet und glaube, wir können uns dran vorbeipfuschen, aber dazu braucht’s Gehirn, keine emotionalen Ausbrüche. Die Militärs wer den uns tun lassen, was uns paßt, solange wir ihnen« — sie hob einen Finger — »nicht in die Quere kommen und sie den Eindruck haben, daß das, was wir machen, harm los ist — oder, was ihnen noch lieber wäre, zu ihrem Vorteil.« Also rief Marty Oberst Ree an. »Ich würde gerne zweierlei wissen, Sir.« Marty mu sterte Ree mit tief sorgenvollem Blick. »Erstens wüßte ich gerne, was zur Zeit eigentlich los ist. Zweitens bin ich außerordentlich daran interessiert« — das betonte er stark —, »mich mit den Romananern zu befassen, die Sie da hinten interniert halten.« Ree lächelte ihm freundlich zu. »Bedauerlicherweise ist Ärger mit den Romananern entstanden. Sie haben Dr. Dobra und eine meiner Untergebenen als Geiseln genom men.« »Netta ist gefunden worden?« Marty brauchte seine Erleichterung nicht vorzutäuschen.
»Leider ist sie nicht... ah ... Mr. Bruk, man hat sie miß handelt und vergewaltigt. Wir schicken sie zur psy chologischen Untersuchung rauf zur Projektil, Offenbar ist es ein sehr traumatisches Erlebnis für sie gewesen. Sicherlich verstehen Sie, daß ich deshalb hinsichtlich Dr. Dobras Schicksal sehr beunruhigt bin.« Tatsächlich wirk te Ree besorgt. »Vollkommen, Oberst«, beteuerte Marty, der sich trotz dem noch immer erleichtert fühlte. »Hören Sie, könnten wir Ihnen irgendwie helfen? Wir möchten Ihnen nicht etwa zur Last fallen. Sie waren so verständnisvoll, uns unsere Tätigkeit völlig eigenständig ausführen zu lassen. Wäre es für Sie problematisch, wenn wir unsere Forschungsarbeit fortsetzen? Vielleicht erfahren wir etwas, das Ihnen beim Umgang mit den Romananern von Nutzen ist. Ich wüßte liebend gern von Ihnen, ob wir irgend etwas Nützliches tun können, statt nur untätig hier rumzuhocken ... Aber jetzt sind Sie ja der Experte.« Ein wirklich raffinierter Trick, dachte sich Marty, Rees eige nes Argument bei ihm anzuwenden. Nun erregte Ree den Eindruck, erleichtert zu sein. »Ich bin Ihnen für Ihr Angebot sehr dankbar, Marty.« Der Oberst benutzte beharrlich seinen Vornamen. Oho! »Ich habe Maßnahmen veranlaßt, die manche Leute vielleicht als übertrieben betrachten. Ich gebe zu, daß ich ein biß chen befürchtet habe, das wissenschaftliche Personal könnte an den notwendigen Realitäten Anstoß nehmen. Unsere vordringliche Sorge gilt natürlich Dr. Dobra.« »Das ist völlig einsichtig.« Marty nickte. »Wir stehen hundertprozentig hinter Ihnen, Oberst. Tun Sie, was Sie für Leetas Schutz als erforderlich erachten. Trotz allem wäre es mir angenehm, Oberst, wenn Sie mir eine Gele genheit zu Forschungen bei den Gefangenen geben wür den, die Sie hier haben. Bella könnte versuchen, neue Informationen zu erlangen. Vielleicht fällt uns dabei was auf, das Sie bisher außer acht gelassen haben.«
»Ausgezeichnet, Marty. Richten Sie dem zuständigen Unteroffizier aus, daß Sie für Ihr Vorgehen meine Er laubnis und Billigung haben.« Ree lächelte. »Vielen Dank, Sir. Und würden Sie uns wohl, falls es Ihnen nicht zu lästig ist, auf dem laufenden halten? Wir möchten Ihnen keinesfalls irgendwelche Umstände ver ursachen. Ich glaube, das ist angesichts der Lage das min deste, was wir tun sollten.« Wohlwollend nickte Ree. »Ich werd’s tun, Marty. Be sten Dank für Ihr Verständnis. Wenn Sie mich jetzt ent schuldigen — ich muß mich um einige Angelegenheiten kümmern.« »Danke, Oberst.« Der Bildschirm erlosch. »Na?« frag te Marty, wandte sich Bella zu. »Gut.« Sie nickte ernst. »Professionell sachlich und ohne Aufdringlichkeit. Gleichzeitig volle ehrliche An teilnahme ohne den geringsten kriecherischen Ton. Du könntest dich noch auf eine Karriere als Politiker verle gen.« »Und wo stehen wir jetzt?« überlegte Marty. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich Ree uneingeschränkt trauen kann. Das Ge fangenenlager, das er da eingerichtet hat, macht mich ir gendwie argwöhnisch. Sollen wir ihm glauben, daß Netta vergewaltigt worden ist? Was glauben wir ihm in bezug auf Leeta? Bist du der Meinung, sie wird wirklich als Geisel festgehalten?« Bella warf die Hände in die Höhe. »Ich ... ich weiß es doch auch nicht. Aber auf jeden Fall sind wir nun we nigstens dazu imstande, es irgendwann herauszufinden. Ich habe keine Ahnung, was Chem tun wird, wenn er von alldem erfährt, aber was Ree betrifft, ist es uns gelungen, von ihm als Verbündete anerkannt zu werden. Laß uns jetzt mal hören, was wir ermitteln können. Such dir den Unteroffizier, er soll uns ‘n paar Romananer vor führen.«
Leeta raffte sich hoch, wischte sich Tränen aus den Au gen. Rita und Philip hätten längst zurück sein müssen. Sie betastete ihr hart verquollenes Gesicht, das schmerzhafte Blutergüsse aufwies, wo der Krieger sie geschlagen hatte. Ihr Blick fiel auf das geronnene Blut in Eisenauges Miene. Ihre wunden Finger rieben das Blut fort, sie suchte das Einschußloch. Blut, Dreck und Grus verklebten ihm das Haar. Pulverpartikel hatten sich seiner Haut eingebrannt. Als sie seinen Kopf zur Seite drehte, sah sie die lok kere Erde und einen kleinen Trichter an der Stelle, wo die Kugel sich in den Untergrund gebohrt hatte. Sie hatte ihn nur um wenige Zentimeter verfehlt. Es war ihr Blut in sei nem Gesicht! Sie hatte ihm das Leben gerettet! Voller Freude stand sie auf und lief zu der Rappenstute, zog das Tier zu Ei senauge. Mit Wasser aus seiner Feldflasche machte sie das Leder des Hemds naß und wusch ihm das Gesicht. Seine Brust hob und senkte sich nun gleichmäßig. »Eisenauge«, rief sie, tätschelte ihm mit taub gewor dener Hand die Wangen. »John!« Seine Lider zuckten. »Wir müssen weg.« Er schaute sie an und schluckte. »Was? Wo ...?« »Ich habe ihn umgebracht, John!« Fast schrie Leeta. »Komm, womöglich kehren die Santos zurück. Steh auf! Du nennst dich doch Krieger. Hilf mir, verdammt noch mal! Ich habe keine Lust, hier zu verrecken!« Er zitterte, während er sich aufzurichten versuchte. Obwohl er sich bemühte, einen Aufschrei zu unterdrük ken, drang er ihm über die Lippen. Leeta kauerte sich hinter ihn, hob ihn an, schob ihn auf wärts, sich dessen bewußt, daß die zerschmetterten Rippen ihm furchtbare Schmerzen verursachen mußten. Zu ihrer Überraschung torkelte er auf die Beine, verschaffte sich am Sattel Halt, wankte hin und her. »Stütz dich auf meine Hand, John. Ich muß dich ir gendwie auf das Pferd bringen.« Eindringlich redete sie
auf ihn ein. »Laufen kannst du nicht.« Andeutungsweise nickte er, Schmerz verzerrte sein Gesicht, machte seine Augen glasig. Als er sich ab stemmte, meinte Leeta, das Rückgrat müßte ihr wie ein dünnes Ästchen entzweibrechen. Er kam bäuchlings in den Sattel und schrie auf — hörbar ein Laut grausamer Qual —, aber er schwang ein Bein hinüber zur anderen Flanke der Stute. »Gewehr«, röchelte er. »Messer und Gewehr.« Leeta hob das lange Gewehr auf und klopfte den Sand ab. Spontan entnahm sie dem Gurt eine Patrone, ruckte den Abzugsbügel nach unten, wie sie es Eisenauge tun gesehen hatte, und die leere Patronenhülse flog heraus. Sie füllte die neue Patrone in die Geschoßkammer. »Coup«, forderte Eisenauge durch zusammengebissene Zähne. »Ich will den Coup.« »Verflucht noch mal, du bist halb tot!« schimpfte Leeta in seine starrsinnige Miene. »Wir können hier jeden Moment abgemurkst werden. »Unsere einzige Chance, am Leben zu bleiben, besteht aus Abhauen.« »Meinen Coup«, keuchte er. »Kriegercoup. Du sagst, du hast getötet. Nimm auch deinen Coup.« »Nein!« schrie Leeta, verspürte wachsende Hysterie. »Tu’s!« knirschte Eisenauge. »Tu’s ... oder ich mach’s selber.« Pein entstellte seine Gesichtszüge. »Du bist ein blöder Kerl, John Smith Eisenauge!« Sie riß das Messer aus den Rippen des Toten und stapfte zu dem Mann, den Eisenauge vor ihren Augen erschossen hatte. Ungeschickt schnitt sie, während ihr Magen re bellierte, die schlüpfrige Kopfhaut los. Mit ungnädigem Blick händigte sie Eisenauge den Skalp aus. »Und deinen«, knurrte er. »Deinen Coup. Deine Ehre. Mach mich stolz.« Er krampfte sich vor Schmerzen zu sammen. Indem sie ein Wimmern unterdrückte, ging sie zu dem Mann, der von ihr getötet worden war, zwang sich zum
Anschauen der Verwüstungen, die sie in seinem Gesicht angerichtet hatte. Unversehens schwoll Zorn in ihr empor, sie bückte sich in einer plötzlichen Anwandlung von Rachsucht, dachte an die Art und Weise, wie der Santos Eisenauge hatte erschießen wollen. Sie ergriff das Haar und fuhr mit der Klinge rings um den Schädel, zog ihm den Skalp ab und hielt ihn im kühlen Nieselregen vor sich in die Höhe. Ihr Coup! Sie senkte den Blick auf den starren Leichnam, bevor sie zu Eisenauge zurückkehrte. »Mein Coup«, keuchte sie, empfand abstoßenden Stolz. »Und jetzt sieh zu, daß du mir zuliebe am Leben bleibst!« Sie nahm die Zügel, wie sie es bei ihm beobachtet hatte, und führte das Pferd zurück zum Lager Gessali. Schartige Steine im Flußbett bereiteten ihren Füßen, die gerade erst zu heilen angefangen hatten, üble Be schwerden, während sie durchs Wasser stolperte. Und was nun? Eisenauge hat einen Schuß abgekriegt. Ich habe ei nen Menschen umgebracht. Erstochen habe ich ihn. Ich habe ihm die Augen zermantscht. Sie betrachtete das Blut, das an ihren Armen getrocknet war; ihre Haut sah dadurch wie marmoriert aus. Hinter ihr schwankte Eisenauge im Sattel, klammerte sich allein durch seinen Instinkt noch an das Pferd. Leeta biß sich auf die Lippe, bis sie Blut schmeckte. Der Regen war ganz allmählich stärker geworden, aber als sie an den Überbleibseln der von Blastern zerfetzten Pferde und Menschen vorbeikam, fielen endlich dicke Tropfen vom Himmel. Bis zum Lager Gessali waren es nur noch einige hundert Meter. Leeta konnte schon den Felsüberhang erkennen. »Komm, John«, knurrte sie leise, das schwere Gewehr unterm Arm, während sie sich mühsam die Geröllhalde hin auf schleppte, die den Zugang zu der Höhle verbarg. »Du mußt durchhalten«, flehte sie, während die Rappenstute den steilen Hang in kurzen Sprüngen erkletterte.
Als sie die höchste Stelle des Geröllhügels erreichte, erkannte sie, daß sie sich — aus Sorge, sie könnte seine vom Pferd gefallene Leiche verkrümmt auf dem Hang lie gen sehen — vor dem Umschauen gefürchtet hatte. Aber er hielt sich nach wie vor auf dem Tier fest, bewegte die Lippen, als führte er ein lautloses Selbstgespräch. Leeta umrundete die Stute, die gehörig schnaufte und prustete, ergriff Eisenauges Arm. »Es ist alles gut. Stütz dich auf mich. Wir sind hier in Sicherheit. Komm, John, hilf mir ‘n bißchen.« Er sank auf sie. Mit Mühe verhinderte sie, daß er doch noch aus dem Sattel stürzte, ließ ihn sich, auf sie gelehnt, vorsichtig neben dem Tier auf die Beine stellen, sah Blut aus dem um seine Brust gewundenen, ledernen Verband sickern. Erschrocken zog sie die Lederstreifen wieder stramm an. Nachdem sie endlich den komplizierten Knoten gelöst hatte, der die Gurte zusammenhielt, konnte sie der Stute den Sattel abnehmen. Sie schleifte ihn mitsamt den Satteltaschen in den Winkel, wo sich John auf dem Boden ausgestreckt hatte, rückte alles neben ihn. Schließlich schaute sie sich vor Erschöpfung zwinkernd in dem Unterschlupf um. Im Düstern sah sie schwärzliche Umrisse. Sie blinzelte ins Halbdunkel und ging darauf zu. Der Anblick, der sich ihr bot, brachte sie nun nicht mehr aus der Fassung. Es handelte sich um sechs Santoskrieger; alle waren tot. Ihre gräßlichen Verbrennungen konnten nur von Blasterschüssen stammen. Die Toten lagen rund um eine Feuerstelle, in deren Asche noch Glut schwelte. Zweifellos waren die Männer als Schwerverwundete hier zurückgelassen worden, damit sie es warm hätten. Die Santos mußten von einem ST unter Beschüß genommen worden sein. Sie waren in die Schlucht geflohen, jedoch verfolgt, weiter beschossen und durch die Schlucht gejagt worden. Kein Wunder, daß sie
beim Auftauchen des Grüppchens gleich die Flucht ergrif fen hatten. Die Santos waren schon dermaßen demorali siert gewesen, daß jeder zusätzliche Schreck sie weit über forderte. Leeta schob die Finger in die Glutasche, suchte nach Kohlen. Da. Sie klaubte sie heraus, obwohl es weh tat. Sie fand noch mehrere glühende Kohlen. »Gütiger Gott, hilf mir, damit mir was Gescheites einfällt«, murmelte sie, betrachtete das verrußte Felsgestein der Höhle. Die Darstellung einer Spinne — grob in den Ruß gekratzt — erregte ihre Aufmerksamkeit. »Spinne, steh mir bei«, rief sie, hatte dabei den Eindruck, halb von Sinnen zu sein. »Er ist dein Krieger. Ich tu’s für ihn, für sein Volk. Hilf mir!« Irgendwo in ihrem verstörten Geist sah sie ein Erin nerungsbild Philips, wie er Reisig in rote Glut hielt und hineinblies. Ihre Finger schmerzten zu heftig, um die klei neren Zweige von dem dicken Ast abzubrechen, den sie bei der Feuerstelle entdeckte, darum benutzte sie die Zähne; das blutige Messer in ihrem Gürtel hatte sie längst vergessen. Sie schichtete die Ästchen ordentlich auf die Kohlen und begann achtsam zu pusten. Wenig später kräu selte aus dem Holz Rauch empor. Ein Flämmchen züngel te auf, und Leeta stieß einen Triumphschrei aus, sah mit aufgesperrten Augen zu, wie der Qualm zu der Spinnenabbildung aufwallte. »Spinne ist Gott«, flüsterte sie. »Eisenauge wird leben.« Sie wandte sich zu den scheußlich verunstalteten Leichen um, die in der Höhle lagen. »Hört ihr, ihr San-toslumpen?!« Sie kicherte irr, als ihr Blick auf die besudelte Kleidung fiel, die sie trug. Neben dem blutverschmierten Messer steckte der Skalp des Santos in ihrem Gürtel. Das blonde Haar hing ihr in verfilzten Strähnen ums schmutzi ge, geschwollene Gesicht. Nach und nach schob sie Zweig um Zweig ins Feuer, schürte es immer nachhaltiger. »Spinne ist Gott«, flüsterte sie nochmals. »Er wird Ei senauge am Leben lassen.« Wo waren Rita und Philip?
Hatten die Santos sie umgebracht? In der Schlucht wa ren zahlreiche Schüsse zu hören gewesen. Wenn die Santos nun in die Höhle zurückkehrten? Ruckartig lenkte sie den Blick in die Regenschleier hinaus, die unun terbrochen herabrauschten. Was für eine dumme Person war sie doch! Sie hatte nur Eisenauges Gewehr. Zwei andere Gewehre hatte sie auf dem Kampfplatz bei den toten Santos zurückgelassen. Dabei konnte sie sie womöglich gut gebrauchen. Hastig lief sie zu Eisenauge. »John! John, ich muß die Gewehre der Santos holen. Ich bin bald wieder da, verstanden?« Sie plapperte regelrecht auf ihn ein. Schwächlich bewegte er die Lippen, und sie nickte. »Spinne wird auf dich achtge ben.« Dann eilte sie ins Freie, lief durch den Regen, ohne sich um den Schmerz zu scheren, der in ihren Füßen brannte. Als sie zu den Leichen gelangte, floß schon Wasser durch die Sohle der Gessali-Schlucht. Sie barg das erste Gewehr aus dem Schlamm und nahm dem Toten sämtliche Munition ab. Sie starrte den Mann an, den sie getötet hatte, sah Regen sich in seinen leeren Augenhöhlen sammeln. Das zerfetzte Gewebe hatte durch die Nässe eine hellrosa Färbung angenommen. Der Santos war einmal ein gutaus sehender Mann gewesen. Sie taumelte durch den Schlick der steilen Geröllhalde hinauf zum Unterschlupf. Drinnen warf sie die Gewehre neben die Toten, deren verzerrte Fratzen sie anzugrinsen schienen, legte Holz nach und blies in die Glut, bis neue Flammen lohten. »Ich hab’s geschafft, hah!« fuhr sie die toten Santos an. »Auf ‘m Rückweg stand mir ‘s Wasser bis zu ‘n Knien. Ich bin jetzt stärker. Ich habe Eisenauge in Sicherheit gebracht.« Sie ging zu ihm und sah sich seinen Zustand an, schob die Decke unter seinen fiebrigen Leib und zog ihn ans Feuer, wo er es wärmer hatte.
Die toten Santoskrieger ruhten auf Taschen und Beuteln. Leeta zerrte die Leichen beiseite, durchwühlte alles und fand Nahrung, Dörrfleisch. Sie schnupperte daran. Grüner-Schnitter-Fleisch war es jedenfalls nicht. Ein Ranzen enthielt einen kleinen Metalltopf und ein Beutelchen mit krümeligen Blättern. Leeta vermutete, daß es sich um Tee handelte. Sie ließ von dem Regenwasser, das am Höhleneingang herabtroff, eine ausreichende Menge in den Topf rinnen und kochte mit dem zerschnip selten Dörrfleisch eine Brühe. Mit einiger Mühe gelang es ihr, Eisenauge soweit zur Besinnung zu bringen, daß er davon etwas trank. Sie war selbst völlig ausgehungert, bereitete sich ein üppiges Mahl zu und stopfte sich den Magen voll, bis sie Bauchschmerzen bekam. Von Zeit zu Zeit schweifte ihr Blick ängstlich zum Höhleneingang. Es war inzwischen Nacht. Sie hatte Eisenauges Gewehr auf dem Schoß lie gen, während sie die zwei erbeuteten Waffen besah. Jedes hatte ein anderes Kaliber. Die Stirn vor Konzentration gerunzelt nahm sie die Gewehre auseinander und verwen dete, wie sie es ebenfalls schon bei Eisenauge gesehen hatte, die daran befestigte, abnehmbare, dünne Stange, um die Waffen von Schlamm und Sandkörnern zu reinigen. Während dieser anstrengenden, weil ungewohnten Tätigkeit wurden ihr die Lider schwer. Gelegentlich warf sie noch ein Stück Holz ins Feuer; Brennmaterial war erfreulicherweise genug vorhanden, jemand hatte auf den benachbarten, mit hohen, baumartigen Säulenpflanzen bewachsenen Hängen welches geschlagen und einen beträchtlichen Vorrat an Brennstoff gelagert. Leeta strek kte sich der Länge nach aus und gestattete sich einen tie fen Seufzer der Erleichterung. Sie schaute hinüber zu Eisenauge, der unruhig schlief, und trank aus dem Becher dampfenden Tee. Über ihrem Kopf war das Spinnenbild. Sie hatte einen schauderhaften Traum. In einer Station hetzten Männer sie durch einen engen Korridor. Sie trug
Jeffray auf der Schulter, Eisenauge lief verwundet vor ihr her, hinterließ auf dem Fußboden Blutschmierer. Sie dreh te sich um, wollte schießen, konnte aber das schwere Gewehr mit nur einer Hand nicht schnell genug anheben. Sie schrie vor Furcht, richtete die Mündung geradeaus und drückte ab, doch nichts geschah. Rohe Fäuste packten sie, entwanden ihr Jeffray, hielten sie nieder, während man einen Psychingapparat auf ihren Kopf senkte. Da war sie urplötzlich wach, blickte an die geschwärz te Höhlendecke empor, Schweiß rann ihr über Stirn und Lippen, juckte auf ihrer Haut. Es erwies sich als Strapaze, sich aufzusetzen. Sie spähte nach draußen und sah in der Schlucht gräuliches Morgenlicht. Es regnete immer noch. Sie hörte ein sonderbares Geräusch, ein Brausen, das sie nicht einzuordnen verstand. Sie gähnte, sah nach Eisenauge, der schlief, sein Brustkorb hob und senkte sich ohne sichtbare Be schwerden. Sie latschte zum Höhleneingang, zog die Hose runter und kauerte sich hin, um zu urinieren. Während sie spürte, wie ihre Blase sich vom Druck wohltuend entleer te, schaute sie umher, forschte nach dem Ursprung des Geräuschs. Ein gewaltiger Strom brauste nun durch die Gessali-Schlucht. Fasziniert stand sie auf und zog die lederne Reithose hoch; der Anblick flößte ihr regelrechte Ehrfurcht ein. Die braunen Wassermassen, die durch die Schlucht donnerten, ähnelten einem riesigen, braunhäutigen Glied, an dem sich — wo Wasser über überflutete Felsen dahinschoß — ana tomisch unmögliche Muskelstränge zu spannen schienen. Wasser rauschte gegen verwitterten, aber unnachgiebigen Fels und brachte den Untergrund selbst zum Beben. Leeta schüttelte den Kopf, dachte daran, was aus Eisenauge geworden wäre, hätte sie ihn nicht in die Höhle befördert. Es kostete sie Mühe, den Blick von dem Naturschau spiel abzuwenden. Sogar mit geschlossenen Augen war sie die Kraft des angeschwollenen Stroms zu spüren im
stande. Indem sie noch einmal den Kopf schüttelte, schau te sie ins Innere des Unterschlupfs. Das Feuer brannte hell. Sie konnte die Rappenstute am Hang Gras knabbern sehen. Sie kehrte in die Höhle zurück und begann sich ein Frühstück zuzubereiten. Sie aß, schlief noch eine Weile, schürte von neuem das Lagerfeuer und betrachtete die toten Santos. Einer war schon ziemlich aufgedunsen. Verwesung! In äußerster Faszination sah sie sich den Vorgang genauer an. Der Mann hatte auf einer Körperseite sehr schwere Verbren nungen erlitten. Wahrscheinlich war er, als man ihn in den Schlupfwinkel schaffte, schon tot gewesen. Leeta schnup perte, roch den deutlichen Geruch. Sie kicherte vor sich hin. In Stationen gab es keine solchen Gerüche. Die Hydroponien erhielten Leichen — wie beispielsweise Jeffray — zur Verwertung geliefert, lange bevor die Verwesungsprozesse einsetzten. Resigniert packte Leeta den Toten an einem steifen Arm und zerrte ihn durch den Staub zum Ausgang. Schwerarbeit war es nicht, ihn die vom Matsch rutschig gewordene Geröllhalde hinunterzubefördern. Die Tatsache, daß ihm die erstarrten Gliedmaßen in den selt samsten Winkeln vom Leib abstanden, machte es anschließend allerdings schwieriger, ihn ins Brodeln der braunen, schaumig-gischtigen Fluten zu wälzen. Als sie in die Höhle zurückkehrte, war sie durchnäßt. Eisenauge murmelte vor sich hin, stöhnte wie in einem schau derhaften Alptraum, der kein Ende nehmen wollte. In einer der Taschen fand sie ein Stück Tuch und wusch ihm mit abgekochtem Wasser das Gesicht. Die verkruste te Schußwunde war mit dem Leder verklebt; erst nachdem sie zufällig etwas Wasser verschüttet hatte, bemerkte sie, daß das Material sich aufweichen und dadurch ablösen ließ. Darunter befand sich ein unregelmäßiges, entzündetes, rotes Loch. Aus dem fleckig verquollenen Fleisch drang
abscheulicher Gestank. Leeta spürte, wie es sie würgte, und sie erbrach, ehe sie es verhindern konnte. Sie rang um Luft, ging auf Abstand, atmete tief durch. »Er wird sterben«, flüsterte sie zu sich selbst. »Wenn ich die Entzündung nicht behebe, muß er sterben.« Sie kramte nochmals in den Taschen und Beuteln, entdeckte schließlich in einem Behältnis Nähzeug, eine Nadel mit Faden; in einer anderen Tasche fand sie irgendeine Art von Stoff. Schließlich stieß sie auf einen Schlauch mit einer Flüssigkeit. Neugierig goß sie ein wenig in den Topf und stellte durch Riechen fest, daß es sich um etwas Al koholhaltiges handelte. Sie bot alle Courage auf und desinfizierte die lange Messerklinge im Feuer. Sobald die Schneide abgekühlt war, ging sie damit zu Eisenauge. Nach einem letzten Blick hinauf zu dem Spinnenbild biß sie die Zähne zu sammen und machte sich daran, mit der Messerspitze den Eiter aus der Wunde zu schaben. Mit dem durch Abkochen sterilisierten Tuch tupfte sie die Verletzung fortwährend ab, achtete dabei darauf, sie nicht aufzureißen. Gleichzeitig träufelte sie wiederholt Whiskey auf die gesäuberten Bereiche der Wunde. Mit dem Messer stocherte sie ein Klümpchen geronnenen, mit Eiter vermischten Bluts heraus und hörte auf einmal ein hohl-dumpfes Rasseln. Mit einem Aufwinseln begriff sie, daß das Geräusch von der Auf- und Abbewe-gung des Zwerchfells stammte, das sich ständig am Einschußloch in Eisenauges Brust festsaugte. Leeta schluckte schwer, nahm Nadel und Faden, tränk te beide in Whiskey und versuchte die Wunde zuzunähen. Wenigstens pfiff und fauchte das Loch sie nicht mehr an. Ungefähr eine Stunde später wurde sie fertig. Sie zitterte, war wieder völlig ausgelaugt, aber drehte sich nach ihrer gruseligen Gesellschaft um. »Ich wette«, höhnte sie, »ihr habt gedacht, ich schaff’s nicht, hä?« Ihre Hände stanken nach Eiter. Sie wusch sie in einem
Rinnsal Regenwasser, das die Klippe herunterrann und am Tropfrand des Felsüberhangs herabrieselte. Danach klei dete sie sich aus und säuberte Arme, Gesicht und Körper von Blut und Dreck. Was sollte sie mit ihrem Haar machen? Wasser hindurchlaufen lassen? Diese Methode bewährte sich, das Wasser war sauber, hinterließ fast kei nen Schlick oder Grus. Leeta schlotterte, als sie mit einem Armvoll schmutzi ger Kleidungsstücke ans Feuer zurückkehrte. In der Hitze der Flammen massierte sie ihr bleiches Fleisch, hörte ihre Zähne klappern, während sie auf der Stelle hüpfte, um die Durchblutung ihrer Füße zu verbessern. Ihre Brustwarzen glichen harten, braunen Knubbeln, an den Armen hatte sie Gänsehaut. Die Wärme des Feuers fühlte sich auf ihrem Bauch und den Schenkeln wunderbar wohlig an, während sie ihr Haar ausschüttelte, mit den Fingern daran zupfte, um es zu lockern, damit es rascher trocknete. Zu ihrer eigenen Überraschung war ihr unglaublich lebendig zumute. Sie schaute sich in ihrer Behausung um und empfand ein erregendes Gefühl der Unabhängigkeit. Ihr Blick streifte die Leichen. Es wäre besser, überlegte sie, sie alle in den Fluß zu werfen. Was hatte Rita über das Leben für den Augenblick gesagt? Sie grinste die Toten an. Wer war sie jetzt? Was war sie jetzt? Dr. phil. Leeta Dobra — wer war das? Flüchtige Erinnerungen kamen ihr: Weiße Wände, Jeffrays gönnerhafte Miene, Veld Ar stongs breite Gesichtszüge, ihre Nervosität, wenn Chem sein Räuspern ausstieß und sie ansah. Plötzlich verdrängte eine andere Erinnerung alles übri ge: Ihr verzweifelter Kampf ums Leben. Noch einmal spürte sie, wie die biegsame Klinge des Messers an den Rippen des Santos schabte, wie warmes Blut auf ihre Hand spritzte; spürte, wie die Augäpfel des Mannes unter ihren Fingernägeln nachgaben, hörte den Todesschrei aus seiner Kehle.
Sie ließ den Kopf in den Nacken sinken, ballte an den Seiten die Hände zu Fäusten, atmete tief die verräucherte Luft ein. Sie spannte die Muskeln an, genoß die hin reißende Empfindung des Lebendigseins, das ihren Körper durchströmte. Nachdem sie die blonden Haare auf die Schultern zurückgestrichen hatte, kitzelten sie die Löckchen, wenn sie den Kopf hin- und herdrehte, im Nacken und auf dem Rücken. Leben! Was für ein herrliches Erlebnis! Tief in ihrer Kehle begann ein dunkles Knurren. »Wäre ich doch besser bei Kräften ...« Eisenauges schwache Stimme erschreckte sie nicht. Sie öffnete die Augen und musterte ihn. Er leckte sich die Lippen und starrte sie voller Begierde an. »Ich glaube, du mußt erst einmal überleben, bevor du dir diesen Coup holen kannst, Krieger«, spöttelte sie, langte nach ihrer Kleidung und begann sich anzuziehen. Angesichts der unverkennbaren Wollust, die sie in seinen Augen sah, ver spürte sie satte Befriedigung. Er war dem Tode nah — sein Leben hing praktisch am seidenen Fädchen — und trotz dem dazu fähig, an Sexuelles zu denken? Das war endlich ein Mann, vor dem sie Respekt haben konnte! Als sie ihre Gürtelschnalle schloß, war er wieder eingeschlafen. Zärtlich küßte sie ihn auf die Stirn.
13
Zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit haben wir die fabelhafte Gelegenheit, ein primitives Volk durch vorsichtige synkretische Ak-kulturation der Hauptströmung der zivilisierten Kultur zuzufüh ren«, erklärte Chem voller Begeisterung, schwang eine knorrige Faust, um seine Aussage zu unterstreichen. Die Gesichter rings um den Tisch beobachteten ihn nachdenklich. Netta Solare saß mit gefalteten Händen da und zappelte an ihrem Platz; sie hatte gerade ihr Psyching hinter sich gebracht. Sie wirkte reserviert, nervös und ruhelos, ihr Blick huschte umher, als fragte sie sich, was ihre Vorgesetzten von ihr dachten. »Die Vergangenheit« — mit einem Krächzen räusperte sich Chem — »strotzt von Beispielen, wie ökonomische Ausbeutung, religiöse Unterdrückung und militärische Repressalien eigenständige Kulturen mit großer Grausamkeit und mit unendlichem Leid für die Bevöl kerung zerstört haben. Wir sehen darin die Erniedrigung des edlen menschlichen Geistes um des schäbigen Profits willen. Welchen Wert haben Kredits, frage ich Sie, im Vergleich zum vollen Spektrum des Leids, der Seuchen, soziokulturellen Fehlentwicklungen, Drogensucht und Selbstmordwellen? Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen vor Entscheidungen, wie man sie seit dem zwan zigsten Jahrhundert auf der Erde nicht mehr mit solcher Tragweite hat treffen müssen. Wir sehen uns der größten Aufgabe gegenüber, die die praktische Anthropologie in der bisherigen Menschheitsgeschichte zu bewältigen hatte. Wir müssen sie als heilige Mission einstufen — eine Mission der Ethik und Moral, die uns unsere Zivilisiertheit diktiert. In der Tat ist es eine Mission des Sieges der
Intelligenz über die Unwissenheit.« Chems alte Augen glänzten, während sein Blick von Gesicht zu Gesicht glitt. S. Montaldo lehnte sich in seinen Stuhl und trank Kaffee. Ein ironisches Lächeln ergänzte seine gelang weilte Miene, als er eine Zwischenbemerkung äußerte. »Aber noch haben sie Leeta Dobra.« Chem hatte Luft geholt, um danach weiterzuspre chen, doch seine nächsten Worte blieben ungesagt; statt dessen sah er Montaldo gereizt an. »Ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren, daß Sie mir nicht zuge hört haben.« »Das habe ich sehr wohl, Dr. Chem. Bitte beachten Sie, daß ich es war, der die anfängliche Gesamtbegut achtung des Planeten fertiggestellt hat. In der Gegend des Nordpols liegt eine immense Toron-Ablagerung. Ich habe jedes einzelne Wort gehört, das Sie gesagt haben, frage mich allerdings, wie wichtig das Direktorat ein paar Viehhirten nehmen wird, die auch noch Direktoratsbürger verschleppen, wenn es um meh rere Milliarden ...« »Dr. Montaldo«, unterbrach ihn Chem, dessen Ge sicht rot anlief, »ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß Sie ein dermaßen arroganter Ignorant sind. Wir reden hier über Menschen, die die gleichen Gefühle wie Sie und ich kennen. Außerdem haben sie etwas Einzigartiges. Damit meine ich natürlich eine nirgendwo im Universum duplizierte Form von Kultur. Sie haben eine einmalige, wertvolle Besonderheit, die es aus Rücksicht auf ihre Zukunft und zu unserer Erbauung zu erforschen, zu för dern und zu schützen gilt. Ich spreche von ihrem Erbe, ihrer Überlieferung, die für sie solche Bedeutung hat, wie sie für uns die Erde, die Sobjets, die Konföderation und das Direktorat besitzen.« Chem breitete die Hände aus, als hätte er vor, alle seine Zuhörer zu umarmen. »Wir reden über ...« »Das alles hat im Vergleich zur Macht von Investoren
kein Gewicht, Dr. Chem.« Mit Nachdruck hob Montaldo die Schultern. »Ich bezweifle, daß Sie über die Grenzen Ihres Fachgebiets hinaussehen. Ich bin sicher, daß das Direktorat, was die Romananer angeht, unzumutbare Härten vermeiden wird, aber für meine Begriffe reden Sie eindeutig an der Realität vorbei. Allein der Fund des Torons dürfte die wirtschaftliche Erschließung des Pla neten rechtfertigen. Und denken Sie doch nur einmal daran, über was für eine phänomenale Gabe Chester ver fügt.« Er wies auf Garcia. »Sie können nicht erwarten, daß er für Sie in einem kleinen Privatprojekt mitspielt.« »Ich würde nie ...« »Und außerdem, wieso sind Sie eine Erschließung des Planeten durch andere so schnell zu verurteilen bereit, während Sie selber daraus gern eine abgesonderte kleine anthropologische Enklave machen möchten? Sind Ihre Rechte höher als meine zu bewerten, oder als die Rechte sonstiger Gruppierungen, die an Atlantis Interesse haben könnten? Mein Gott, Mann, es gibt dort ganze Kontinente, auf die noch kein Romananer ‘n Fuß gesetzt...« »Ich werde nicht dulden, daß man sie für den Profit in den Untergang stürzt!« brauste Chem auf, knallte seine knochige Faust auf den Tisch. »Ich weigere mich zu ...« »Sie weigern sich?« rief Montaldo und sprang auf. »Sie haben ja noch nicht einmal die Romananer gefragt, was sie eigentlich wollen!« Er blickte Chem hitzig an. »Es geht hier um einiges mehr als Anthropologie, Dr. Chem. Außerhalb Atlantis’ mit seinen Horden zerstrittener Primitiver gibt es im Universum genügend echte Probleme. Es existiert ein sehr realer Mangel an Toron. Was glauben Sie, wodurch Raumschiffe funktionieren? Denken Sie, Toron liegt einfach überall rum, so wie die periodischen Elemente? Nein, das ist eben nicht der Fall!« Montaldo trat zurück, erwiderte die Blicke der Frauen und Männer, die ihn anstarrten. »Toron ist ein einmaliger Kristall. Er wächst im Innern von Novae. Wissen
schaftliche Hypothesen, die auf den besten möglichen mathematischen Modellen beruhen, nehmen an, daß sie den Inhalt von Neutronensternen bilden. Zum Entstehen dieses Kristalls ist kolossaler Druck erforderlich, buch stäblich Milliarden Tonnen pro Quadratmillimeter. Die so geformten Atome sind derartig schwer, daß sie als anomal betrachtet werden. Und bisher ist Toron noch nie auf einem gewöhnlichen Planeten gefunden worden. Die speziellen Eigenschaften des Torons ermöglichen es ihm, Belastungen zu ertragen, die die Belastungsfähigkeit von allem, was Menschen produzieren können, weit überfor dern.« Er wandte sich wieder Chem zu. »Toron hat die einzige bekannte Struktur, die dazu imstande ist, Materie-Antimaterie-Reaktionen zu kanalisieren — und daß dort unten unterm Nordpol eine Riesenmenge davon liegt, macht den Planeten zu einem beispiellosen Schatz.« »Aber verstehen Sie denn nicht?« fragte Chem. »Wenn Sie diese Welt dem Bergbau preisgeben«, argumentierte er, »braucht es dafür die geeigneten Anlagen und Einrichtungen, Wohnraum, Vergnügungsmöglichkeiten, den üblichen Kommerz, Ansiedlungen. Schließlich wird irgendwer doch den Romananern über den Weg laufen, und sobald’s dazu kommt, wird jemand Schaden nehmen. Wir müssen ...« »Und was spräche dagegen, sie alle einzusammeln und zu Psychinginstituten zu schicken, damit sie auf die Integration in den Rest der Menschheit konditioniert wer den?« fragte Montaldo. »Was soll an unserer Lebensart denn falsch sein? Warum sollen sie anders sein? Wir über fallen wenigstens nicht gegenseitig unsere Stationen und Planeten.« »Weil sie eben nun einmal anders sind!« stieß Chem gepreßt hervor, tat einen Schritt rückwärts, schüttelte den Kopf. »Weil wir Anthropologen glauben, daß es letzten Endes die Menschen sind, die zählen. Wir haben gesehen,
was während eines Akkulturationsprozesses passieren kann.« »Wie lautet deine Meinung, Chester?« Montaldo sah den Romananer an. »Schau dich um. Du hast unser Raumschiff kennengelernt. Du hast die Bordklinik gese hen, die Shuttles, alles. Du weißt, daß wir zwischen den Sternen umherfliegen. Was meinst du? Möchtest du das gleiche für dein Volk?« Chester faltete vor sich auf dem Tisch die Hände. Er wirkte, als wäre ihm der Stuhl unbequem. »Dann könnten wir«, lautete seine schlichte Antwort, »zu den Sternen flie gen.« »Da hören Sie’s.« Montaldo ließ sich selbstgefälligen Triumph anmerken. »Mein Gott!« Netta Solare keuchte, als ob sie zu er sticken drohte. Verspätet wurde ihr bewußt, daß sie eine laute Äußerung getan hatte, sie hob eine Hand vor den Mund, ihre Augen spiegelten Scham und Schrecken. »Netta?« In plötzlicher Beunruhigung schaute Chem sie an. »Verzeihung, Doktor.« Netta hielt den Blick gesenkt. »Leider habe ich keine ganz unvoreingenommene Ein stellung mehr zu den Romananern.« »Ich begreife Sie nicht.« Chem musterte sie. »Sie begreifen nicht?« schrie Netta. »Es sind Wilde! Sicher, ein Spinnenkrieger hat mich gerettet. Er hat mich aus dem Dorf gescheucht, nachdem er den ... den... Mann getötet hatte, von dem ich...« Sie schnaufte und wischte sich die Nase. »Aber sie sind allesamt scheußliche Bestien!« Sie warf Chester einen vorwurfsvollen Blick zu. »Sie haben nicht mitangesehen, wie sie Menschen die Kopfhaut abschneiden! Sie haben nicht gesehen, wie sie schießen ... und schreien ... und mit ihren Messer Leute aufschlitzen. Sie sind nicht entkleidet, vergewaltigt und gedemütigt worden! O nein, Sie nicht, Doktor, Sie sitzen hier, wo Sie in Sicherheit sind! Sie betreiben Forschung
mit Chester und seiner wunderbaren Gabe. Aber wagen Sie’s nicht, diese Tiere auf die Galaxis loszulassen, sonst werden Sie jeden einzelnen als gemeingefährlichen Kriminellen jagen und zur Strecke bringen müssen!« Mit tränenüberströmtem Gesicht stand sie auf und lief blind lings aus dem Konferenzraum, in dem nun Stille herrsch te. »Meine Güte«, brach Chem schließlich halblaut das Schweigen. »Ich wußte nicht, daß sie so verdreht ist. Und dabei war sie immer eine gute, solide Studentin.« Seine Stimme klang nach Kummer. »So ...« Montaldo sprach jetzt in gemäßigterem Ton. »Das wäre noch etwas, das wir berücksichtigen sollten. Sind Sie der Ansicht, daß Dr. Dobra und Leutnant Sarsa sich bei Ihren hochgeschätzten Studienpersonen in guten Händen befinden?« Er wölbte seine Brauen. »Wird das Direktorat Ihre Auffassung ...« »Natürlich!« Ungeduldig winkte Chem ab. »Wahr scheinlich ist Solare irgendein dummer Fehler unterlau fen. Vielleicht hat sie unwissentlich eine Handlung be gangen, die bei den Romananern als Einladung zu sexu ellen Aktivitäten verstanden wird. Es könnte sich« — er begann versonnen zu wirken — »so ähnlich wie auf Rykland verhalten. Dort darf man einer Frau keine Komplimente machen, sonst wird erwartet, daß man sie besteigt.« »Ich wage zu bezweifeln«, maulte Montaldo, »daß Netta dermaßen naiv vorgegangen ist.« »Was? Ach so... Man weiß nie.« Chem hatte den Vorfall schon vergessen. »Sehen Sie mal, es können vielerlei Dinge eine falsche Entwicklung nehmen. Aus diesem Grund müssen wir ein Programm ausarbeiten, das diesen Menschen garantiert, Herren über ihr Schicksal, ihre Kultur und ihre Werte zu bleiben, während sie gleichzeitig vollintegrierte Bürger des Direktorats sind. Dabei ist es sehr wesentlich, daß ...«
»Haben Sie überhaupt schon einmal daran gedacht, wie die Medien darüber berichten werden?« Montaldo maß Chem verwunderten Blicks. »Sie weigern sich einfach anzuerkennen, daß es rund um uns ein ganzes, riesiges Universum gibt, Doktor. Sie haben sich zu lange in Ihrem Laboratorium eingesperrt. Was wird nach Ihrer Meinung das Direktorat wohl mit Chester anstellen? Alle und jeder werden ‘n Vorteil von einem Mann haben wollen, der die Zukunft sehen kann!« Montaldo fing wieder zu schreien an. »Denken Sie mal an die Auswirkungen auf Politik, Geschäftsleben, Investitionen, Medizin, militärische Praxis, Produktion, Glücksspiel oder irgend etwas ande res, das mit gewissen Risiken verbunden ist!« »Wissen Sie«, sagte Chem, indem er vor sich hin nickte, als sähe auch er schon alles in seinem Kopf voraus, »wir können uns gegenseitig von Nutzen sein, aber die Angelegenheit muß mit Feingefühl angegangen werden. Es gibt seit langem bewährte anthropologische Prinzipien, dank deren es ...« Montaldo stöhnte laut auf. »Es bleibt doch gar keine Zeit mehr! Von dem Moment an, als Chester in das Ba sislager kam und ich das Toron gefunden hatte, war die gesamte Sache geplatzt. Sogar auf Range ist inzwischen ein gewisser Populationsdruck zu spüren, ‘und hier züch tet man Vieh. Netta ist vergewaltigt worden. Vergewaltigt, Chem! Dobra und Sarsa sind Gefangene der Ro-mananer. Ihre Kultur befindet sich in diametralem Gegensatz zu sämtlichen vom Direktorat etablierten Wertvorstellungen. Sie kommen mit Ihren Prinzipien zu spät, Doktor! Finden Sie sich damit...« »Es ist nie zu spät! Diesmal werden wir keine Fehler begehen. Wir haben Richtlinien, die es uns ermöglichen, die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Wissen schaftler haben diese Fragen jahrhundertelang erforscht. Reservationen, militärische Okkupation, Separatismus und Sezession, nativistische Bewegungen, Selbstmorde,
das alles resultiert aus falsch durchgeführten Kontakten, wir nennen so etwas negative Akkulturation. Dergleichen darf nie wieder vorkommen ...« »Wird es aber«, erwiderte Montaldo wütend, setzte sich hin und starrte Chem aus verkniffenen Augen an. Chem sah hinüber zu Chester. »Hast du das verstan den?« fragte er. »Wir werden so bald wie möglich zu den Sternen flie gen, Doktor. Ich bin schon da. Es ist zum Wohle des Vol kes, es schnell zu tun. Ich weiß es aus der Vision.« Che ster sprach mit völlig gleichmäßiger Stimme. »Na klar.« Montaldo lachte auf und feixte. »Weißt du denn auch, was das bedeutet?« Chem beugte sich vor und blickte dem Romananer ins Gesicht. »Bald wäre Spinne vergessen. Euer Volk wäre bloß noch ein Teil der viel, viel größeren Bevölkerung der Galaxis. Es würde Unheil geben ... Euer Planet würde verschandelt. Krankheiten kämen zu euch. Euer Volk würde sich selbst nicht mehr kennen.« »Vielleicht wird es so sein«, entgegnete Chester. »Aber... es hat ohnehin schon angefangen. Bald muß ich fort und mich mit dem Mann treffen, den ihr Direktor nennt. Dem Mann, der in der Luft schwebt und das Dasein eurer Menschen lenkt.« »Was soll das heißen, >schon angefangen^ Bis jetzt hat der Kontakt lediglich geringen Umfang, und Leeta führt ohne Zweifel, auch wenn sie eine Gefangene ist, die Forschungen weiter.« Ein finsterer Ausdruck zerfurchte Chems Gesichtszüge. »Du weißt nicht Bescheid?« Fast erstaunt hob Chester den Blick. »Eure Krieger haben das Dorf unseres Volkes erobert. Eine andere eurer kleineren Flugmaschinen ist im großen Santosdorf gelandet, es ist ebenfalls besetzt wor den, genauso wie die Wohnstätten anderer Räuberbanden. Meine Welt, die ihr Atlantis nennt, ist von eurem Direktor zum Tabu erklärt worden. Ohne Erlaubnis Oberst Rees
dürfen keinerlei Reisen stattfinden. Männer sind getötet worden. Es herrscht Krieg.« »Atlantis ist Verbotene Zone!« schnob Montaldo. »Ich würde sagen, von jetzt an sind alle Diskussionen rein aka demischer Natur, Doktor.« Er schaute Chem in die Augen, in denen Ungläubigkeit stand. »Nein!« stöhnte Chem. »Ree würde doch nicht unsere Forschungen gefährden ...! Mein Gott! Er ... er weiß es doch besser.« Unvermittelt richtete er sich kerzengerade auf, sein Gesicht wurde von Schmerz bleich und spitz, er griff sich an die linke Brustseite und zog die Schultern hoch. »Ich muß unverzüglich mit dem Direktor sprechen«, rief er. »Es ist klüger, ihr ruft jetzt die Ärzte«, meinte Chester gelassen zu Montaldo. »Wenn wir zu lange warten, wird er sterben.« »Sterben?« wiederholte Montaldo. »Es ist sein Herz. Ich hätte es ihm wohl nicht so offen sagen sollen, aber auf diese Weise war es besser.« Montaldo wandte sich schon per Kontaktron an die Kommu. Chem sank in einen Sessel, seine Schar Gra duierter wurde nun auf seine Beschwerden aufmerksam, drängte sich um ihn. Durcheinander herrschte, als ein Medizinisches Team mit einer Antigrav-Bahre eintraf, die Studenten zur Seite schob. Binnen zehn Minuten war alles erledigt, Chem in die Bordklinik abtransportiert worden. Die Mehrzahl der Studenten ging, unterhielt sich in aufgeregtem Ge schnatter über Solare, Chem und die kriegerischen Er eignisse. Montaldo nahm wieder Platz und starrte miß mutig in seinen kalt gewordenen Kaffee. Chester Armijo Garcia gab ein mattes, gedämpftes Seufzen von sich und rückte sich erneut auf seinem Stuhl zurecht. »Du hast’s vorher gewußt, nicht wahr?« fragte Mon taldo zerstreut. »Warum hast du den alten Knaben die
Herzattacke kriegen lassen? Weshalb hast du’s nicht so hingebogen, daß er nicht zu leiden brauchte?« »Andernfalls wäre er in Arrest genommen worden. Das hätte ihm auf lange Sicht schwerer geschadet. Er ist ein guter Mensch.« Chesters Stimme bezeugte Bedauern. »Ich wollte nicht, daß er leidet.« »Ich habe noch nie einen Herzanfall gehabt.« Montal dos Stimme klang spröde. »Wie ich gehört habe, ist so was schmerzhaft.« »Er verursacht tatsächlich Schmerzen, Dr. Montaldo. Trotzdem zählen sie zu den geringeren Unannehmlich keiten, die ein Mensch erleiden kann.« Skeptisch hob Montaldo den Blick; er wirkte nun re gelrecht argwöhnisch. »Du machst nicht den Eindruck, als ob dir der Vorfall schrecklichen Kummer machte.« Ratlos breitete Chester die Arme aus. »Verglichen mit dem, was bevorsteht, ist er ein Nichts. Es ist schwer, ein Prophet zu sein.« »Was steht denn bevor?« Montaldo musterte ihn ver drossen. »Wie sind die Aussichten, Chester? Wenn du wirklich die Zukunft siehst, was wird geschehen? Und was unternimmst du, um es abzuwenden?« »Nichts«, antwortete Chester. »Ehrgeiz verursacht Veränderung. Veränderung führt zu Leid. Aus Leid ent stehen Konflikte. Konflikte fördern Wachstum. Wachstum bringt Wissen. Wissen schürt Ehrgeiz.« »Kann sein.« Montaldo runzelte die Stirn. »Und wei ter?« »Kennt man im Direktorat noch Ehrgeiz, Dr. Montaldo? Du bist ein großer Zweifler. Du betrachtest die Welt als ein in ununterbrochener Gärung befindliches Chaos. Weshalb bist du so zynisch? Deine Persönlichkeit ist mit Gott und dem Universum nicht im Gleichgewicht.« Montaldo stieß ein mürrisches Brummen aus. »Kann auch sein. Und?« »Spinne webt sein Netz für Menschen wie dich. Be
werte es als ein Gleichnis, um den Menschen ständig daran zu erinnern, daß alles im Gleichgewicht sein muß. Ein Netz ist etwas Schönes, jeder Faden trägt zum Bestand des Ganzen bei. Netze sind kunstvoll gewobene, feine und doch widerstandsfähige Werke. Aus einem schlecht gesponnenen Netz — oder ohne jedes Netz — könnte Spinne ins Nichts stürzen, müßte in alle Ewigkeit fallen. Du siehst, Doktor, Spinnes Netz ist wie dein Leben. Das Dasein will gleichermaßen kunstvoll, mit Feingefühl, Kraft und Gleichgewicht bewältigt werden. Sonst mußt du scheitern.« Die Patrouillensoldaten, die auf Chester achteten, schluckten nervös und sahen einander voller Unbehagen an. Geistesabwesend trank Montaldo seinen kalten Kaffee und fragte sich, aus welchem Grund die Äußerungen des Propheten ihm Sorgen bereiteten. * * * Als John Smith Eisenauge seinen Kriegsruf ausstieß und schoß, durchfuhr Ritas Herz ein Ruck. Die Kondi-tionierung des Synchronisationstrainings setzte ein. In stinktiv trieb sie den Wallach mitten zwischen die über raschten Santoskrieger. Sie legte das Gewehr an und feu erte. Der Rückstoß der Waffe machte sie beinahe be sinnungslos, und sie bekam nicht mit, welche Wirkung ihr Schuß hatte. Als sie hinschaute, lag der Mann, auf den sie gezielt hatte, auf dem Erdboden, sein Kopf glich einem blutigen Klumpen. Die Santos suchten das Weite! Sie hörte einen wilden Schrei aus ihrer Kehle dringen, während sie mit dem Gewehrlauf zustieß, dem Kolben zuschlug. Ein wohliger Schauder der Erregung lief ihr über den Rücken, als sie hörte, wie der Schädel eines Santos zerbarst, als wäre er eine Eierschale. Schon waren sie durch die Biegung der Schlucht, galoppierten den Santos nach, die auf ihre
Pferde gesprungen waren und in hellem Entsetzen flüchte ten. Rita riß den Verschlußblock auf und lud eine neue Pa trone nach. Sie ließ das Pferd laufen, konzentrierte sich auf Kimme und Korn, schoß ein zweites Mal. Diesmal empfand sie den Rückstoß nicht als so stark, glaubte al lerdings zunächst, ihr Ziel verfehlt zu haben. Der Mann ritt weiter, entfernte sich auf seinem Pferd rasch. Dann jedoch sank er langsam im Sattel vornüber, bevor er hin abfiel, sein Fuß verhakte sich im Steigbügel. Das Pferd scheute, trat nach dem schlaffen Körper, den es nach schleifte. Rita jauchzte laut und schob noch eine Patrone in die Geschoßkammer. Sie sprengte den Santos dichtauf hin terdrein, schoß auf einen weiteren Flüchtigen. Dieses Mal warf das Ziel die Arme in die Höhe und flog nahezu aus dem Sattel, prallte mit einem widerwärtigen Klatschen zwischen die Felsen neben dem Pfad. Als sie den Verschluß des Gewehrs erneut aufzerrte, schaute einer der Männer sich um, sah niemanden außer Rita hart nachsetzen. Insgesamt waren noch vier Santos übrig. Rita konnte nicht hören, was der Kerl rief, aber ein zweiter Santos drehte sich um und verlangsamte sein Pferd. Rita packte die Zügel und brachte den Wallach zum Stehen. Das Tier schleuderte sie fast über seinen Kopf hin weg, als es nach einem Schlittern schließlich stand. Die Santos ritten langsamer, feuerten über die Schulter. Kugel pfiffen an Ritas Ohren vorbei. Ruhig legte sie, sobald der Wallach stillhielt, das Gewehr an. Als der hin terste Reiter so langsam geworden war, daß sie genau zie len konnte, schoß sie ihn ohne alle Hast aus dem Sattel, dann wendete sie den Wallach und trieb ihn im Galopp zurück die Schlucht hinauf. Damit blieben nur noch drei Santos übrig. Wie weit war sie geritten? Einen Kilometer? Über den Hals des Pferds geduckt, lud sie das Gewehr nach, be
merkte dabei, daß der Patronengurt lediglich noch etwa ein Dutzend Patronen enthielt. Irgendwo voraus mußte Philip sein. Sie mußte ihn und Eisenauge warnen. Der Wallach zählte, hatte sie festgestellt, durchaus zu den schnelleren Pferden. Das drahtige Tier hatte die an deren Pferde auf der wilden Hetzjagd durch die Schlucht fast eingeholt. Konnte es sie umgekehrt auf der Steigung abhängen? Adrenalin raste wie Elektrizität durch Ritas Adern. Vor ihr schlug eine Kugel Gesteinsstaub und Steinsplitter aus der Felswand. Rita spähte über die Schulter nach hinten, hob dank der Kraft, die ihr die Furcht verlieh, das Gewehr mit nur einer Hand an und schoß auf den vordersten Verfolger. Anscheinend verfehlte sie ihn nur knapp, denn er zog den Kopf ein und verringerte das Tempo seines Tiers. Zweihundert Meter weiter aufwärts in der Schlucht stand Philip bei einem Toten. Rita rief ihm eine Warnung zu, er griff sich sein Gewehr und rannte ihr entgegen. Beim Nachladen des Gewehrs ging sie zu hastig vor, die Patrone entfiel ihren Fingern. Sie entnahm dem Gurt eine andere Patrone, lud das Gewehr, während der Wallach an Philip vorübergaloppierte. Sie zügelte das Tier und sprang aus dem Sattel. Philips Gewehr knallte, ein Pferd wieherte schrill, schleuderte sei nen Reiter kopfüber in den Schmutz. Das nächste Pferd folgt zu dicht dahinter, es stolperte über die Beine, mit denen das gestürzte Tier zappelte, und warf seinen Reiter gleichfalls ab. »In die Felsen!« schrie Philip, lud im Laufen die Waffe. Rita kletterte eilig durchs Geröll aufwärts, eine Kugel schlug neben ihr ein, zertrümmerte den Felsbrocken, auf den sie sich gerade mit der Hand stützte, bespritzte sie mit geschmolzenem Blei, Felssplittern und Staubkörnern. Rita zwängte sich in eine Felsspalte, drehte sich müh selig um, hielt das große Gewehr bereit. Hätte sie nur ihren Blaster dabei! Mit der wunderbaren IR-Optik ihrer
Pistole hätte sie den Kerlen aus zweihundert Metern Abstand die Augen aussengen können. Der eine Mann hatte hinter dem toten Pferd Deckung genommen, sein Gewehr ruhte auf der Flanke des Tiers, während er umherspähte, Philip suchte. Aus ihrem Ver steck konnte Rita seine Beine hinterm Pferd hervorragen sehen. Sie kroch so weit vorwärts, wie sie es sich erlauben konnte, ohne sich zu gefährden, stützte den Gewehrlauf auf das Gestein und feuerte einen Schuß ab. Zu ihrer Bestürzung traf er zu kurz, streifte jedoch als Querschläger beide Beine des Santos. Natürlich! Infolge der Schwerkraft sank das Geschoß auf seiner Flugbahn abwärts. Wie trafen diese Leute überhaupt einmal etwas auf größere Entfernung? Außerdem flog die Kugel nicht mit Lichtgeschwindigkeit, so daß man bei beweglichen Zielen deren Verhalten zu berücksichtigen hatte. Und mußte nicht auch der Wind die Zielgenauigkeit be einflussen? Nervös spie Rita aus. Was für ein primitives Mistding! Sie lud das Gewehr neu, während sie beobachtete, wie der Verwundete auf den Ellbogen fortzurobben versuchte. Sie legte an, schätzte den Fallwinkel der Kugel. Diesmal traf sie ihn mitten in den Rücken. Beim abermaligen Laden sah sie, wie der Santos, der als erster aus dem Sattel geworfen worden war, sich zu regen begann. Philips Gewehr knallte, und Rita sah die Kugel auf der anderen Seite der Schlucht von einem Felsklotz abprallen. Jemand schoß zurück. Der Abge worfene rührte sich nochmals, stöhnte, erschlaffte wieder. Rita behielt ihn unter Beobachtung, während sie nach dem letzten Santos ausschaute. Er und der Mann, der dort im Dreck lag, mußten die einzigen Überlebenden sein. Es fing zu regnen an. Große, kühle Regentropfen fielen rings um Rita auf die Felsen. Behutsam klaubte sie sich Steinsplitter und Bleispritzer aus der Haut. Bei jedem Rupfen quollen winzige Blutstropfen hervor.
Eine Kugel sauste dicht an ihr vorbei. Sie peitschte durch ihr Haar und schwirrte hinter ihr zwischen den Felsen umher. »He, paß doch auf«, johlte Rita durch die Schlucht. »Sonst ballerst du noch wem ‘n Auge aus.« »Das ist meine Absicht, Spinnenbub«, höhnte der Santos. »Zum erstenmal auf dem Kriegspfad, und schon wirst du den Tod finden. Die jungen Weiber werden dei nen Namen beweinen.« »Du irrst dich in allen drei Punkten, Santos«, rief Rita quietschvergnügt. »Erstens gehöre ich nicht zum Spin nenvolk, zweitens werde ich nicht sterben, und drittens würden die jungen Frauen mich nicht einmal anschauen, Bruder.« Sie benutzte die weibliche Form der Anrede. Einen Moment lang blieb es still. »Wer bist du?« woll te der Santos schließlich wissen. »Rita Sarsa«, antwortete Rita, schmunzelte vor sich hin. »Die Sternenfrau, die vorhin fünf eurer Krieger getötet hat. Das ergibt fünf Coups bei nur einem Kampf. Nicht übel, hä? Damit mache ich fast John Smith Eisenauge Konkurrenz.« Sie verspürte ein Aufwallen von Erregung. »Du lügst.« In der Stimme des Santos klang gelang weilte Ungläubigkeit mit. »Wenn du von den Sternen kommst, wo ist dann deine Blitzwaffe? Du sprichst wie jemand vom Spinnenvolk. Du bist bloß ‘n junger Bursche mit schwärmerischer Einbildungskraft.« Umsichtig stützte Rita das Gewehr auf die Felsen, be merkte währenddessen eine schwache Bewegung. Neben dem Santos lag schräg angelehnt ein flacher Stein. Der Fehlschuß, der dem anderen Santos in die Beine gefahren war, hatte Rita etwas gelehrt. Sorgfältig zielte sie auf die Vorderseite der Steinplatte und drückte ab. Staub stob hoch, und sie hörte ein plötzliches Japsen. Der Mann zuckte, als Philips Gewehr krachte. Er fiel auf die Seite, sein Gewehr klapperte zwischen den Fels. »Noch mehr da?« fragte Rita. »Nein.« Philip war aufgesprungen, lief wachsam, das
Gewehr im Anschlag, auf den Santos zu, der im Sterben lag. Rita blieb, wo sie war, um ihm notfalls Feuerschutz geben zu können, beobachtete die benachbarten Hänge. Philip besah sich den Santos. Rita hörte, daß er etwas zu ihm sagte, während er irgend etwas mit seinem Messer verrichtete. Gab er ihm den Gnadenstoß? Rita stand auf und ging zum letzten überlebenden Santos, der sich wieder zu bewegen angefangen hatte. Auf der Sohle der Schlucht hatte inzwischen Wasser zu fließen begonnen. Am Kragen schleifte Rita den Mann auf höhe ren Untergrund, nahm sein Messer an sich. Der Santos blinzelte sie an, schüttelte den Kopf. Sie merkte ihm an, daß es ihm Schwierigkeiten bereitete, etwas zu erkennen. Philip eilte im Laufschritt zu dem Mann, neben dem er gestanden hatte, als Rita durch die Biegung der Schlucht auf ihn zusprengte. Er beugte sich über ihn und brachte ihm rund um den Schädel einen Schnitt bei. Rita begriff, was er tat. »Ich habe ihm gesagt, daß du nicht gelogen hast. Soll er dies Wissen zu Herrjesses mitnehmen. Die Hälfte gehört dir.« Er streckte Rita ein blutiges Bündel Haare entgegen. Rita spürte, wie ihr Gaumen trocken wurde. Sie ver mochte sich nicht zum Zufassen zu überwinden. Aus sei nen klugen Augen schaute Philip sie an. »Was gegen wärtig geschieht, ist das Schwerste, was du je durchstehen mußtest, nicht wahr?« meinte er; seine Stimme klang so gleichmäßig wie das Rauschen des Regens, der auf sie herabprasselte, ihnen in kleinen Rinnsalen übers Gesicht sickerte. »Du kannst noch immer umkehren«, fügte er hinzu. Rita schöpfte tief Atem, besah sich nochmals die schau rige Trophäe. »Es ist meine Entscheidung, oder?« entgeg nete sie mit rauher Stimme. »Weißt du eigentlich, was du mir da nahelegst?« Sie merkte, wie ihre Finger zulangten und durch das lange, nasse Haar strichen. »Es wäre Verrat«, sagte sie ganz einfach. Das Regenwasser
umströmte sie nun knöchelhoch. Der benommene Santos setzte sich mühsam auf, stierte aus geweiteten Augen in die Gegend, als versuchte er das Vorgefallene zu verste hen. Knapp nickte Philip. »Vielleicht wäre es so zu be trachten. Wir brauchen dich. Du warst Bestandteil der Vision ... einer der Cusps. Du gibst den Ausschlag — in der einen oder anderen Hinsicht. Du, John, Leeta, Che-ster und ich, wir sind die maßgeblichen Personen.« »Warum keine Frauen eures Volkes?« Ruckartig blickte Rita auf. »Wieso keine Männer aus dem All?« »Wegen des Gleichgewichts.« Philips Tonfall zeugte von Gewißheit. »Mann und Weib, Himmel und Erde. Das ist ein sehr altes Prinzip. Die Erde war die Mutter, der Himmel der Vater. Nun haben wir’s umgekehrt. Die Ordnung des alten Prinzips muß verändert werden. Das Gleichgewicht wechselt. Wir brauchen euch. Ich brauche dich. Ich liebe dich, Kriegerin von den Sternen, die du mehr Coups als ich hast.« Er sprach tiefernst, der Wahrheitsgehalt seiner Worte brachte seine Augen zum Glänzen. Ritas Finger streichelten noch immer den Skalp, wäh rend das Wasser bereits ihre Waden umspülte. Der Santos war aus dem Nassen gekrochen und kauerte auf der Böschung. Sie fühlte, wie ihre Finger Philips warme Haut berührten, nahm ihm den Coup vorsichtig aus der Hand. Es gruselte ihr, als sie das feuchtkalte Blut spürte, es flöß te ihr ein Gefühl von Tod und Bestimmung ein. »Du mußt auch vom Rest die Coups nehmen, Spin-nenkriegerin«, sagte Philip leidenschaftslos. »Es ist deine Pflicht. Töte diesen Santos und laß uns deine Coups ein sammeln.« »Nein.« Rita warf ihm einen strengen Blick zu. »Ihn lassen wir am Leben. Er wird uns noch nützlich sein.« Sie bückte sich, versuchte sich vorzustellen, wie man je manden skalpierte.
»Es geht so«, erklärte Philip und zeigte es ihr an dem von ihm erschossenen Reiter. Sie ahmte sein Beispiel nach, packte eine Handvoll Haar, ritzte mit dem Messer rundherum die Kopfhaut ein und zog. Sie riß und zerrte den Skalp los, schüttelte anschließend, so wie Philip es gemacht hatte, das Blut ab. Unterdessen fesselte Philip den Santos in den Sattel eines Pferds und schnallte die Gewehre sorgsam auf ein anderes erbeutetes Reittier. Das Wasser stand nahezu kniehoch, als sie durch die Schlucht zu reiten begannen. Die Leichen der durch Rita Getöteten waren von der Flut schon ziemlich weit weg gespült worden. Den letzten Toten fanden sie in der Astgabel eines Baums. Mittlerweile machte das Skalpie ren Rita nichts mehr aus. Inzwischen hatte sie Übung darin. »Wir beeilen uns lieber zurück und sehen nach, was aus John und Leeta geworden ist«, rief sie, ihr war in der wachsenden Dunkelheit kühl, und sie fühlte sich müde. »Der Faulenzer Eisenauge ruht wahrscheinlich im La ger Gessali an einem warmen Feuerchen aus«, meinte Philip. Sie wendeten die Pferde und ritten flußaufwärts. Die Strömung rauschte wild gegen die Beine der Pferde, verängstigte die Tiere. »Wir lassen’s besser sein«, rief Philip schließlich. »Es fließt zu schnell. Wir könnten eines der Pferde verlieren.« »Aber was ist mit John und Leeta?« wandte Rita ein. »Bestimmt sind sie wohlauf. Wenn der Regen aufhört, werden sie zum Vorschein kommen. Während der Regenfälle sind die Schluchten unsicher. Daran hätten wir denken sollen. Folge mir, es sind nur wenige Stunden bis zu einem trockenen Lagerplatz. Vielleicht werden wir erst Santos mit dem Gewehr hinaustreiben müssen, aber der Platz ist da. Wir nennen’s das Lager im Nabel.« Philip drehte den Kopf, widmete dem Santos einen Blick des Unwillens. Der Mann hatte sich weit genug erholt, um sei
nen Blick erbittert zu erwidern. »Weshalb hast du ihm das Leben geschenkt?« erkundig te sich Philip, während sie auf den Reittieren durch den immer breiteren Flußlauf platschten. Obwohl die Schlucht sich ständig erweiterte, behielt das Wasser die gleiche Höhe bei, floß lediglich langsamer. Einer der toten Santos trieb an ihnen vorüber. »Ich bin ja bei dir, mein Lieber.« Rita grinste Philip zu, während sie, weil die nasse Lederkleidung ihr am Leib klebte, vor sich hinschlotterte. »Du hast gar keine Ahnung, wie schlecht die Lage für uns aussieht. Ich wohl. Es ist höchste Zeit, daß die Santos, das Spinnenvolk und alle übrigen Romananer damit Schluß machen, aufeinander zu schießen.« »Dafür wünsche ich dir Glück.« Philip zog eine grim mige Miene. »Freut mich zu hören.« Rita nickte, Wasser tropfte ihr vom Kinn. »Wir werden auch verdammt viel Glück nötig haben.« »Wenn John aus der Schlucht zurückkehrt, werden wir zum Dorf heimreiten«, erwiderte Philip. »Dann können wir mit dem Funkgerät eine Versammlung einberufen.« »Das dürfte überhaupt nichts nutzen«, befand Rita. »He du, Santos, wie ist dein Name?« »Ich heiße Jose Grita Weißer Adler, Weib«, lautete die verdrossene Antwort. Rita störte sich nicht an seinem Ton. »Na schön, sperr die Ohren auf, Weißer Adler. Der Angriff der ST sagt mir was. Ree hat zu den härtesten Mitteln gegriffen. Er hat den Planeten generalstabsmäßig okkupiert und ihn unter Kriegsrecht gestellt.« Der Santos reagierte nur mit ver ständnislosen Blicken. »Der Oberst hat wahrscheinlich in jeder größeren Ortschaft einen ST landen lassen. Vermutlich hat er auch ‘ne Ausgangssperre verhängt. Eure Funkgeräte sind bestimmt längst im Gewahrsam von Patrouillensoldaten.
Die Patrouille hält alles vom Himmel aus unter Beobachtung. Streitigkeiten zwischen Santos und Spinnenvolk werden umgehend Strafaktionen nach sich ziehen.« Sie mußte Philip und Jose gewisse Begriffe, wie beispielsweise Ausgangssperre, erst erklären. »Sie haben sich also nicht mit dem Spinnenvolk ver bündet?« fragte Jose plötzlich mit lebhaftem Interesse. »Wozu sollten sie’s?« Rita bibberte nach wie vor. »Das Spinnenvolk spielt eine untergeordnete Rolle. Es gibt auf eurem Planeten einen seltenen, für die Fernraumfahrt unentbehrlichen Kristall. Er ist sehr viel wert, ähnlich wie Pferde für euch. Außerdem ist da der Prophet, Garcia. Man ist sicherlich daran interessiert herauszufinden, wie er seine Visionen bekommt. Wir alle sind jetzt Gefangene.« »Dieses Raumschiff, die Projektil«, fragte Philip, »ist es wirklich mächtig genug, um den gesamten Planeten zu vernichten?« »Ree kann diese ganze Welt buchstäblich in Plasma verwandeln. Das ist, damit ihr mich richtig versteht ... äh ... heißes, glühendes Gas. Über physikalische Einzelheiten braucht ihr euch keine Gedanken zu machen. Die ST sind nichts Besonderes, man könnte sie, setzt man einmal die Projektil mit den beiden Kanonen in eurem Hauptdorf gleich, im Verhältnis dazu mit Steinewerfen vergleichen.« Wieder brachte die Kühle sie zum Schaudern. »Pferde«, sagte Philip leise, sobald sein Blick auf den Eingang noch einer der anscheinmäßig allgegenwärtigen Höhlen fiel, die überall die Berge durchlöcherten. »Dort ist das Lager im Nabel. Ich sehe ein Dutzend Pferde. Wessen, frage ich mich? Jose, kennst du welche von den Tieren?« Der Santos schüttelte den Kopf. »Aus meinem Dorf sind sie nicht. Wir haben keinen so großen Braunen.« Am Himmel flackerten Blitze. »Was soll’s?« meinte Rita. »Es ist Zeit, um dem Ge baller ein Ende zu machen. Vielleicht können wir’s ihnen
ausreden. Wenn ich noch länger auf dem Gaul sitze, werde ich ... Ich glaube, ich werde in diesem Regen schmelzen.« Sie trieb ihr Pferd vorwärts. »Aha«, rief Philip, während sich die Pferde umherbe wegten. »Die rotbraune Stute dort kenne ich, es ist das Pferd Freitag Garcia Gelbes Beins.« Kaum hatte er das letzte Wort gesprochen, verließ ein Mann die Höhle, schaute ihnen entgegen. »Philip Smith Eisenauge, bist du’s?« »O ja, du nichtswürdigster aller Freunde«, grölte Philip fröhlich, lenkte sein von den Santos erbeutetes Pferd auf ihn zu. Während auch Rita hinüberritt, dabei den Santos im Auge behielt, beging Philip ein stürmisches Wiedersehen mit gegenseitigem Drücken, Schulterklopfen und Gejohle. Endlich gelangte sie aus dem Regen ins Trockene einer offenbar geräumigen Höhle. Aus dem Innern kamen weitere Spinnenkrieger gelaufen, näherten sich jedoch langsamer und tasteten nach ihren Messern, als sie zuerst Ritas rote Haare sahen, hoben dann, sobald sie den Santos bemerkten, ihre Gewehre an. »Ein Santos!« Ein verwegen aussehender Mann mit kurzen Zöpfen feixte wüst. »Meine Freunde, heute abend werden wir den Spaß erleben, wie wir ihm das Gehirn im Schädel rösten.« Rita blieb auf dem Wallach, hielt für alle Fälle, weil die Mienen der Spinnenkrieger immer wölfischer wurden, das Gewehr bereit. Philip bemerkte das gespannte Schweigen und hob den Blick. »Wer sind diese Personen?« fragte Gelbes Bein. Der Mann mit den kurzen Zöpfen ging auf den Santos zu und zog das Messer aus dem Gürtel. »Laß ‘s fallen, oder du bist tot!« fauchte Rita ihn an, hatte die Waffe plötzlich auf den Bauch des Kriegers ge richtet. »Auf Weiber höre ich nicht«, knirschte er durch die Zähne. In seinen Augen wuchs ein Ausdruck des Wi
derwillen. Schnell fuhr er herum und grapschte sich sein Gewehr. »Halt!« schnauzte Philip, schlug dem Mann den Ge wehrlauf nach unten. »Auf diese Frau wirst du hören, Pferdefänger. Sie ist eine Kriegerin, die heute, an einem einzigen Tag, schon fünf Coups errungen und einen Santos lebend gefangengenommen hat.« Philip schaute dem Mann fest in die Augen, bis er den Blick senkte. »Das glaube ich nicht. Keine Frau ist eine Kriegerin.« Pferdefänger wandte sich nach seinen Kameraden um, als wäre ihm an ihrem Rückhalt gelegen. »Du wirst es glauben«, sagte Rita zu ihm, sprang vom Pferd und reichte ihr Gewehr Philip. »Wenn’s dir gelingt, mir mit ‘m Messer das Hinterteil zu verhauen, will ich gerne den Mund halten, Pferdefänger. Bloß wirst du’s nicht schaffen, mich nur mit ‘m Finger ...« »Dergleichen mag ich nicht einmal hören!« Pferdefän ger wirkte tiefbetroffen. »Ich kämpfe nicht mit Weibern — ich nehme sie mir.« »Versuch’s ruhig«, spottete Rita. »Ein Versuch kann dir ja wohl nicht schaden, oder? Und wenn ich mich irre, wie sollte ‘n kleiner Freundschaftskampf von Nachteil sein?« Sie übergab auch ihr Messer und die Skalpe Philip, amü sierte sich über die aufgerissenen Augen und fassungslo sen Blicke der Krieger. »Nein!« Pferdefänger schüttelte den Kopf. Rita ver paßte ihm ein paar heftige Ohrfeigen, und die anderen Spinnenkrieger schnappten vor Schreck laut nach Luft. Grita, der noch steif auf dem Pferd saß, beobachtete das Geschehen mit immer deutlicherer Faszination. »Na komm schon!« rief Rita ihm zu. »Ich werde hier überhaupt nichts ausrichten können, solange ihr keinen Respekt vor mir gelernt habt.« Pferdefänger blinzelte völlig entgeistert und trat um einen Schritt rückwärts, sah die Verachtung, die sich seine Kameraden zunehmend unverhohlener anmerken ließen.
Er stieß ein Brüllen aus und griff an. Mühelos duckte Rita sich unter seinen ausgestreckten, dicken Armen hinweg, vollführte eine Drehung um die eigene Achse und trat ihn in die Magengrube. Wütend brüllte Pferdefänger noch einmal auf, fing sie, nun achtsa mer, zu umkreisen an. Rita stand lediglich mit verschränk ten Armen da und sah geringschätzig auf ihn herab. Er versuchte es mit einer Finte, sprang vor, und Rita streckte ihm einen Arm entgegen. Er packte zu, schrak jedoch zurück, als sie lachte. Als seine Faust sich um ihr Handgelenk schloß, tänzelte sie schwungvoll gegen seine Gestalt, stieß sich von ihm ab und riß sich los, huschte beiseite und trat ihn dabei noch einmal in den Leib. »Du kannst ‘ne Frau nicht festhalten, was?« höhnte sie, stand nun wieder mehrere Schritte von ihm entfernt. »Mann, das muß aber ein Handicap bei dei nem Liebesleben sein.« Das hämische Gelächter der umstehenden Männer stachelte Pferdefänger zu äußerstem Jähzorn an. Sie ließ ihn heranstürmen, erhaschte seinen ausge streckten Arm, ruckte daran, ließ los und schleuderte auf diese Weise Pferdefänger wuchtig in den Staub. Wiederholt griff er sie an, keuchte, brüllte und schrie, er schäumte vor Blindwütigkeit, nicht mehr damit zufrieden, sie zu demütigen, sondern dazu entschlossen, sie umzu bringen. Jedesmal schmiß sie ihn ohne Umstände in den Dreck, stand dann wieder in einigem Abstand da und war tete auf seine nächsten Versuche. Trotz seiner Verwirrung erinnerte er sich zuletzt an sein Messer, zog es. Männer stürzten vor, um seinen Arm zu umklammern, doch Philip hielt sie mit einem raschen Befehl zurück. Sobald Pferdefänger Rita mit dem Dolch attackierte, schlug sie ihm die Klinge aus der Hand und versetzte ihm einen besonders kraftvollen Tritt in den Bauch. Als Pferdefänger sich vornüber zu sammenkrümmte, gab sie ihm einen Hieb gegen den seit
lichen Halsansatz und rammte ihm ein Knie in den Brustkorb. Er brach vollends zusammen, blieb röchelnd und japsend liegen. Schließlich hob er den Blick der von Schmerz gezeich neten Augen, versuchte sich aufzuraffen. »Es reicht, Pferdefänger«, stellte Rita klar. »Ich habe verdeutlicht, auf was ‘s mir ankam.« Sie atmete nicht ein mal schneller. Ihr Blick glitt von Gesicht zu Gesicht. Nur Philips Lippen zeigten ein Lächeln. Ritas Stimme durch drang die Stille voller Autorität. »Wie viele von euch haben vor, sich der Patrouille zu ergeben — den Sternenmenschen?« Lider verengten sich, Lippen wurden zusammenge preßt. Die Mienen der Männer spiegelten bei dem Ge danken an Kapitulation tiefste Abneigung wider. »Das habe ich mir gedacht.« Rita verzog die Lippen zu einem rebellischen Grinsen. »Und wie viele von euch würden für einen Sieg kämpfen?« Eine Andeutung von Interesse begann sich in den Gesichtern abzuzeichnen, gefolgt von Mienen des Ver-stehens. »Genau das meine ich«, bestätigte Rita in ernstem Ton. »Ich kann euch einiges beibringen, damit ihr wenigstens gegen ST und Blaster ‘ne Chance habt.« Sie deutete hinü ber zu Pferdefänger, der sie aus Augen anstierte, in denen mörderischer Haß glomm. »Es war nicht meine Absicht, Pferdefänger zu ernied rigen«, erklärte Rita mit allem Nachdruck. »Ich habe le diglich meine Fähigkeiten als Kämpferin demonstriert. Die Sternenmenschen kennen jede Menge Tricks, die euch unbekannt sind. Sie haben zahlreiche Waffen, die gegen wärtig noch außerhalb eures Begriffsvermögens liegen.« Sie nahm von Philip ihre Coups entgegen. »Pferdefänger«, rief sie im Befehlston, streckte ihm eine Hand hinab. Sie erwiderte gelassen seinen haßerfüllten Blick, hielt ihm
stand, bis er ihre Hand faßte. Als sie ihn hochzog, schnauf te sie, hatte zum erstenmal Probleme mit seinem Gewicht. »Freitag, hol den Santos vom Pferd.« Philips Stimme hallte durch die Höhle. »Wir haben viel Arbeit vor uns.« In ihrer Verdutztheit zögerten die Männer. »Ihr habt gehört, was er gesagt hat.« Ritas energischer Tonfall scheuchte sie in Bewegung. »Von jetzt an seid ihr für mich oder gegen mich. Und ich, liebe Leute, bin eure einzige Hoffnung.« »Sieh mal an ...« Philip schmunzelte ihr zu. »Das ist wohl die Gründung einer Befreiungsarmee.« »Glaubst du, wir können’s schaffen?« fragte sie ihn ganz sachlich, sah den Haß, den man den Spinnenkriegern anmerken konnte, während sie den Santos — keineswegs allzu behutsam — vom Pferd hoben. »Hast du eigentlich eine Vorstellung davon, wie sehr wir im Hintertreffen sind?« Er nickte. »Die Vision hat mir nur Teile offenbart, Liebste.« Er zuckte die Achseln. »Ich habe nicht gesehen, ob wir gewinnen oder verlieren. Vielleicht ist es für Spinnes Pläne unwichtig. Ich bin damit zufrieden, heute zu kämpfen. Wer weiß, ob wir morgen sterben? Schon in dieser Betrachtungsweise allein liegt Kraft.« »Weißt du, Philip Smith, deine Art gefällt mir.« Rita nahm seinen Arm, zwinkerte Philip zu und lächelte ihn an, empfand eine von Herzen kommende Liebe zu diesem fremdartigen, starken Mann. Was sie beabsichtigten, war eine Verzweiflungstat, darüber war sie sich vollkommen im klaren. Doch es war ein Versuch, der sich schon auf grund seiner Großartigkeit lohnte. Sie klammerte ihre Finger in Philips Hand, und ihr Herz schlug lebhafter, während die Spinnenkrieger zu dem Lager im Nabel genannten Unterschlupf weiterzogen.
14
Der Regen ließ nach. Leeta seufzte schwer und schaute sich im düsteren Innern des Lagers Gessali um. Von dem Fleck aus, an dem sie saß, konnte sie Eisenauge hören. Mit nuscheliger Stimme faselte er unab lässig vor sich hin, redete mit Jenny, Philip und anderen Personen, die sie nicht kannte. Ihr war, als müßte sie davon noch irrsinnig werden. Gestern war sein Fieber schlimmer gewesen, sie hatte ihn ganz entkleidet und seinen Körper mit dem kühlen Wasser gewaschen, das an der Klippe hinabrann, um seine Temperatur zu senken. In der Nacht hatte er Schüttelfrost gehabt, und bei ihren Bemühungen, ihn zu wärmen, hatte sie ihm fast am Feuer die Haare weggebrannt. Schließlich war sie, da sie nur eine einzige andere Wärmequelle wußte, zu ihm unter die Decke gekrochen, ihn in den Armen und so am Leben gehalten. Der Nahrungsvorrat schwand. In dem von den San-tos zurückgelassenen Gepäck war nicht sonderlich viel gewe sen. Sie hatte viel davon gegessen und mit dem Rest Eisenauge gefüttert, wann immer er einen Moment geisti ger Klarheit gehabt hatte. Die schwarze Stute hatte die merkwürdige Vegetation auf den Abhängen rings um das Lager so gut wie abgefressen. Zum Glück wuchs sie so schnell nach, wie das Tier fraß. Droben in den Wolken rumpelte wieder ein hohl dumpfer Donnerschlag. Gelangweilt erhob sich Leeta — ein bißchen kalt war es ihr auch geworden — und zog sich in den Unterschlupf zurück. Sie beugte sich vor und legte eine Hand auf Eisenauges Stirn. War es nur ihre Phantasie, oder fühlte sein Gesicht sich wirklich ein wenig kühler an? Obendrein war auch nicht mehr viel Holz übrig. Der
Stapel dürrer Äste war so gut wie aufgebraucht. Sehn süchtig schaute sie zu der Stelle hinüber, wo der Leich nam, der von ihr Georg getauft worden war, gesessen hatte. Georg hatte als letzter der toten Santos am Vortag zu sehr zu stinken angefangen. Sie hatte ihn hinauszerren und in den Fluß wälzen müssen. Wie einsam sie sich jetzt fühlte! Diese Erkenntnis schockierte sie. Die entstellten Gesichter der Toten hat ten für sie tatsächlich so etwas wie Gesellschaft bedeu tet. Georg war am interessantesten gewesen. Er hatte einen Ausdruck interessierten Staunens in den Ge sichtszügen gehabt, und sein Kopf hatte auf der Schulter geruht, als hätte er allem aufmerksam zugehört, was sie sagte. Eisenauge murmelte im Delirium unausgesetzt vor sich hin, drehte den Kopf von der einen zur anderen Seite. Wenn sie zu ihm gesprochen hatte, stellte er sein unverständliches Geschwafel ein und äußerte Dinge zwar deutlich, jedoch ohne jeden Bezug zu dem, wovon sie redete. Die Verletzung eiterte nicht mehr. Der Geruch reizte Leeta nicht länger zum Erbrechen. Mehrere Tage gedul diger Anstrengungen waren erforderlich gewesen, doch sie hatte die meisten gebrochenen Rippen in die richtige Lage zurückgebracht. Als sie das letzte Stückchen Faden zum Nähen der Wunde verwendete, hatte sie gleichzeitig auch den letzten Tropfen Whiskey verbraucht. Nun waren alle Möglichkeiten zur Bekämpfung der Infektion dahin. Leeta schloß die Augen und spitzte den Mund, als sie sich erinnerte, wie er zum ersten Mal gekotet hatte. Was war denn anderes zu erwarten gewesen? Die Erinnerung an ihren Schrecken rang ihr ein Lachen ab. Das Lager Gessali war eben keine moderne Klinik, wo Katheder sol che Angelegenheiten erledigten. Wie war es ihr eigentlich gelungen, sich zu der Aufgabe zu zwingen, ihn zu pflegen? Sie schloß die Augen und
schüttelte den Kopf, wunderte sich selber darüber, es geschafft zu haben. So vieles hatte sich geändert. Ihr Leben würde nie wieder wie vorher sein. »Ach, Jeffray ...!« Sie lachte. »Könntest du mich jetzt sehen ...« Mit den Fingern strich sie über den Coup, den sie sich abgeschnit ten hatte, weil Eisenauge darauf bestanden hatte, daß sie ihn sich aneignete. Sie legte die restlichen Zweige ins niedergebrannte Feuer und sah nach Eisenauge. Die provisorische Windel, die sie aus Tüchern genäht hatte, war wieder voll. Leeta merkte es schon am Geruch. Sie öffnete seine Hose und zog ihm den Fetzen unterm Hintern heraus. Nachdem sie den Stoff im Wasser des Gessalis ausge waschen hatte, kletterte sie den steilen, schlüpfrigen Abhang hinauf und kehrte in die Düsternis der Höhle zurück. Sie trocknete die Windel, so gut es unter den gegebenen Umständen ging, und wandte sich Eisenauge zu, um sie ihm wieder anzulegen. Da bemerkte sie, daß er sie anblickte. »Bist du wach?« fragte sie, rechnete jedoch nur halb mit einer Antwort. »Wo bin ich?« Er versuchte die Stirn zu runzeln. »Sternenfrau, bist du’s?« Sie bückte sich, schob die Windel unter sein Gesäß. »Ja, ich«, bestätigte Leeta. »Wie fühlst du dich?« »Was tust du?« rief er, als er plötzlich ihre Hände spür te. Er wollte sich aufsetzen, aber der Schmerz entpreßte ihm einen jähen Aufschrei, und er ließ sich mit kalkwei ßem Gesicht zurücksinken. Leeta kauerte sich auf die Fersen und musterte ihn. »Ich lege dir ‘n Lappen unter den Arsch. Bei sehr hohem Fieber verliert man die Kontrolle über die Körperfunktionen.« Sie sprach in barschem Ton. »Jetzt halt die Klappe und laß mich die Arbeit machen.« Sie beeilte sich mit der Erledigung, schnallte ihm zum Schluß den Gürtel zu. »Das ist nicht recht«, beschwerte sich Eisenauge.
»Das ist die Pflicht der Männer eines Clans ... Keiner Fremden, schon gar nicht von Frauen.« Vor Scham stöhn te er laut. Leeta dachte darüber nach, schüttelte schließlich den Kopf und setzte sich neben Eisenauge. »Tut mir leid«, sagte sie sarkastisch. »Hätte ich dich lieber krepieren las sen sollen? Vielleicht bin ich bloß ‘ne Sternenfrau, aber ich habe dir mehr als einmal das Leben gerettet. Habe ich dadurch nicht das eine oder andere Vorrecht erworben?« »Mag sein.« Kläglich schluckte Eisenauge. »Wo sind wir?« »Im Lager Gessali. Es hat eine Woche lang pausenlos geregnet. Niemand kann in die Schlucht oder hinaus, der Wasserstand ist zu hoch.« Sie rieb sich im Nacken und bemerkte, wie schmutzig und filzig ihr Haar inzwischen wieder geworden war. »Wo ist Philip?« Eisenauge schaute sie an. »Ich möch te mit ihm sprechen.« »Ich habe keine Ahnung.« Sie blickte ihm in die auf einmal sorgenvollen Augen. »Er und Rita haben die Santos verfolgt, nachdem du verwundet worden warst. Erinnerst du dich?« Er betrachtete sie. »Zurückgekommen sind sie nicht?« fragte er. »Die Sternenfrau und Philip ... sind sie tot?« Leeta spürte, wie seine Hand fest ihre Finger umschloß. »Keine Ahnung«, wiederholte sie. »In der Schlucht sind viele Schüsse gefallen. Der Fluß ist so schnell ange schwollen, daß ich vermute, sie haben zwar versucht, uns zu erreichen, es aber nicht mehr schaffen können.« Eisenauge nickte. »Der Regen ist zu Ende, sagst du?« »Weitgehend, es sieht fast so aus, als wollten sich die Wolken verziehen. Ich hoff’s, wir haben nämlich nichts mehr zu essen, und das Brennholz ist verheizt.« Sie hörte, daß es ihr nicht gelang, einen Anklang von Sorge in ihrem Tonfall zu vermeiden. »Dann müssen wir fort. Hier werden wir keine Nahrung
finden. Bis zur Reife der Melonennüsse sind’s noch meh rere Wochen. Wäre es schon soweit, könnten wir lange hier bleiben. Korkstrauchrinde ist eßbar, schmeckt aber bitter.« Er überlegte angestrengt, sein Gesicht spiegelte die Konzentration wider. »Ich muß reiten.« »Das kannst du nicht.« Leeta schaute ihm in die Augen, beantwortete die stumme Frage, die darin stand. »Die Kugel hat dir mehrere Rippen gebrochen. Sie brauchen Zeit zum Heilen. Wenn du zu reiten versuchst, fällst du bloß innerhalb weniger Minuten ohnmächtig vom Pferd. Der Whiskey, mit dem ich die Wundinfektion eingedämmt habe, ist auch alle. Du kannst unmöglich reiten, wir müs sen uns was anderes ausdenken.« »Ist in dem Packzeug ein Rad?« fragte Eisenauge. »Ein Rad?« Leeta hob die Brauen. »Für einen Karren, den das Pferd ziehen kann«, erklär te er, forschte in Leetas Miene, um sich davon zu überzeu gen, daß sie ihn verstand. »So was wie ‘ne Travois?« fragte Leeta. Seine Augen verrieten, daß er nicht wußte, was sie meinte. »Wir brau chen kein Rad, wir bauen eine Schleppbahre«, rief Rita plötzlich, sprang auf, ihre Augen leuchteten. »Was ist das, Weib?« Skeptisch musterte Eisenauge sie. »Etwas aus der Vergangenheit eures Volks, Eisenauge.« Leeta grinste triumphierend. »Ich bringe dich hier weg. Da soll noch mal jemand behaupten, Anthropologie hätte keinen praktischen Nutzen.« Sie nahm Eisenauges Messer an sich und lief hinaus. Die Bäume, die am vielversprechendsten aussahen, waren eigentlich keine richtigen Bäume, sondern zählten zu einer Gattung, die die Romananer als Säulengewächse bezeichneten. Sie hatten mehr Ähnlichkeit mit einem rie sigen Seeigel; wie eine enorme Bürste ragten zahlreiche holzige Pfahlgebilde in die Höhe. Die Borke war wie Haifischhaut, auf einer Seite glatt, auf der anderen Seite grob wie Schmirgelpapier. Naturgemäß wuchsen die
dicksten Stücke in der Mitte der Pflanze. Zielstrebig begann Leeta mit dem schweren Kriegsdolch an einem ersten Gewächs zu sägen. Trotz zerschrammter, blutiger Haut und wunden Fin gern schleifte sie nacheinander eine Anzahl Säulenglieder das Geröll hinauf unter den Felsüberhang. Wenig später sah sie sich vor einer neuen Schwierigkeit. Die Stangen bogen sich durch, wenn ein Gewicht sie belastete; Leeta ging in die Höhle und unterbreitete das Problem Eisenauge. »Trockne sie am Feuer«, empfahl er. »Nach zwei Wo chen Regen sind sie mit Wasser vollgesaugt. Trocken sind sie steinhart.« Leeta verbrannte die Gepäckstücke der Santos, um die erforderliche Hitze zu erzeugen. Es war ohnehin nicht viel übrig, das das Aufheben gelohnt hätte. Die Stangen kni sterten und vertroffen über den qualmigen Flammen Nässe, während Leeta und Eisenauge sich zuversichtlich anlächelten. Als Leeta am folgenden Morgen aufwachte, war es kalt. Ihr Atem blies in weißlichen Wölkchen in die Luft, die außerhalb der Decke, im Dunkeln der Höhle, leicht sicht bar waren, und sie schmiegte sich dichter an John, wünschte sich, nicht aufstehen zu müssen. Beim Zusammenbinden der Schleppbahre verlor sie bei nahe die Nerven, bis Eisenauge ihr zeigte, wie man Knoten machte. Das Knotenknüpfen war offensichtlich eine nützli che Fertigkeit — aber im Direktorat, wo alles Befestigungen und Verschlüsse hatte, in Vergessenheit geraten. Leeta trat zurück und besah ihr Werk. Ebenso wie sie war auch die Stute nicht besonders begeistert, aber sie paßte zwischen die Stangen, und auf Eisenauges Anregung polsterte sie sie, damit das Tier sich nicht das Fell aufscheuerte. »Ich muß dir wohl dabei helfen, dich auf das Ding zu legen«, meinte Leeta schließlich. Die Stute stampfte mit den Hufen und stand wie lendenlahm da; sie war sichtlich
mit der ungewohnten Last unzufrieden. Leeta stellte fest, daß das Wasser im Gessali kaum noch dreißig Zentimeter hoch floß. »Halt den Rücken beim Hinsetzen gerade«, sagte sie halblaut, sorgte sich wegen der Schmerzen, die er zwei fellos würde leiden müssen. »Ich bin dir beim Aufstehen behilflich. Bis zu der Schleppbahre sind’s nur ‘n paar Schritte.« Eisenauge nickte, versuchte möglichst flach zu atmen, krampfte sich zusammen, während er sich aufrichtete. Leeta stützte einen Großteil seines Körpergewichts, sah ihm im Gesicht Schweiß ausbrechen, während er den Beschwerden trotzte. Eisenauge stolperte. Leeta schrie auf, ließ ihn auf sich fallen, hielt seinen Körper gerade, fing den Sturz ab. Leise, gepreßte Laute drangen aus seiner Kehle, während er sich noch einmal aufraffte. »Alles klar?« fragte Leeta, als sie merkte, daß er nicht mehr atmete; sie war sich seiner Qual grausam bewußt, ihr Herz schlug vor Furcht schneller. »Schmerzt«, keuchte er. »Verzeihung ... War unge schickt.« Sie rappelte sich hoch und brachte ihn zur Schlepp bahre. Sobald er sich auf die Stangen niederließ, die die Unterlage bildeten, auf der er transportiert werden sollte, bekam er noch einen heftigen Ruck ab. Während er sich auf dem Gestell ausstreckte, versuchte er tief zu atmen, ohne den Brustkorb zu bewegen. Leeta sah, wie Pein sein Gesicht verzerrte. Glücklicherweise schwand ihm gleich darauf die Besinnung. Leeta schnaufte, während sie die noch übrigen Stricke verwendete, so gut sie es verstand, um die Gewehre und den Rest der nötigen Vorräte festzubinden. Zu guter Letzt ergriff sie die Zügel und zog die Stute hinaus, sah wie Eisenauges Kopf auf dem Sattel, der als Kopfkissen dien te, hin- und hergeworfen wurde.
Vor dem Weg den Hang hinab grauste es ihr am mei sten, doch die Stute stemmte sich rückwärts gegen das Gewicht der Schleppbahre, als wäre ihr das Problemati sche des Abstiegs einsichtig. Sobald sie im Flußbett stan den, lief Leeta nach hinten, um nach dem Rechten zu sehen. Bis jetzt war alles gutgegangen. Sie steckte sich das Messer in den Gürtel, schulterte das Gewehr und begann die Rappenstute die durchflutete Schlucht abwärtszuführen. Seltsamerweise sah sie keine Leichen; überhaupt nichts war zurückgeblieben, aus dem man hätte schließen kön nen, daß ein blutiger Kampf stattgefunden hatte. So ver hielt es sich auf der gesamten Strecke; sie entdeckte keine Spur, die darauf hinwies, daß sich hier jemals Menschen aufgehalten hatten. Sie blieb auf der linken Seite der Schlucht, dicht an den Felsen, weil sie sich dachte, daß man sie da weniger leicht sehen könnte, als wenn sie mitten durchs Flußbett wan derte. Was war das? Sie stoppte die Stute, beschattete die Augen gegen das immer hellere Tageslicht mit der Hand. Ein Mensch! Ein Reiter. Philip? Rita? Oder ein Santos? Sollte sie rufen? In ihrer Unentschlossenheit blieb sie reglos stehen, hielt auch die Stute still und hoffte, daß der Reiter sie nicht bemerkte. Spuren! Hatte sie eine Fährte hinterlassen? Nein, der Schlitten war die ganze Zeit lang durchs Flußbett geschleift worden. Nur vor dem Lager Gessali gab es Spuren, sie verliefen jedoch lediglich bis ans untere Ende der Geröllhalde; von dort aus konnte sie sich fluß auf- oder -abwärts gewandt haben. Der Reiter überquerte eine Hügelkuppe und ritt in die Schlucht herunter, schlug den flußaufwärtigen Verlauf ein. Leeta packte wieder die Zügel und zerrte die Stute eiliger hinter sich her, entfernte sich aus der Richtung, woher der Reiter gekommen sein mußte. Sie überprüfte das Gewehr,
überzeugte sich davon, daß eine Patrone in der Geschoßkammer stak, besah sich die Zielvorrichtung, wog die schwere Waffe in den Händen. Sie betrachtete ihr Gewehr voller Stolz. Es war ein schönes Exemplar. Ins Holz waren Darstellungen der Tiere geschnitzt, die von den Romananern Bären genannt wurden. Ins dunkle Metall des Laufs hatte man Abbildungen von Kriegern, Pferden und Frauen geätzt. Ihr Gewehr! Sie hatte die Waffe von einem toten San tos. Ihre Finger glitten über das glatte Metall und Holz des Gewehrschafts. Sie war der Meinung, allen Grund zum Stolz zu haben. Nicht jeder erbeutete eine Waffe im Kampf. Die Macht, die sie verkörperte — die Fähigkeit zu töten —, war hart verdient worden. Leeta empfand eine Anwandlung ehrfürchtigen Staunens und ein unrealisti sches Überlegenheitsgefühl. Waffen hatten ihre Vorfahren einst über den Rest der terranischen Fauna erhoben. Waffen hatten den Menschen Sicherheit gegeben, es den Männern ermöglicht, ihre Familien zu schützen, Essen auf den Tisch gebracht und Reichtum in die Taschen. Das Direktorat ließ derartige Realitäten vollkommen außer acht. Sicherlich hatte Ree den richtigen Durchblick. Und seine Soldaten hatten ihn wohl auch. Aber welche Bedeutung kam Soldaten zu, wenn sie nur ordentlich in Reih und Glied sowie in ununterbrochenem Frieden lebten? Pah! Leeta hob das Gewehr und richtete es auf die entfernten Anhöhen, schwenkte das Korn in die schmale Kimme der Zielvorrichtung. Diesmal zitterte die Mündung nicht, anders als beim ersten Mal, als ihre schlappen Muskeln den Lauf noch gar nicht hatten geradehalten können. Sie hatte an körperlicher Kraft gewonnen. Sie hatte das Gewehr tagaus, tagein bei sich getragen, weil sie ständig befürchtete, jeden Moment könnten Santoskrieger in die Höhle gestürmt kommen, und ihre Hände waren inzwischen an die Waffe gewöhnt. Sie waren
praktisch mit dem Holz eins geworden. Falls Gefahr droh te, würde sie dazu imstande sein, sich und Eisenauge zu verteidigen. Sie war dazu fähig. Und vor allem war sie auch fest dazu entschlossen. Am Abend glitzerten Sterne am Himmel, während Leeta in einem Dickicht am Hang einer Schlucht ein Versteck herrichtete. Sie erkundete die Umgebung, ließ unterdessen die Stute niedrige, grüne Pflänzchen vom Untergrund abgrasen. Nachdem sie sich die Gegend an gesehen hatte, entfachte sie ein kleines Feuer. Im Lager Gessali hatte sie auch das Feuermachen geübt und darin ausreichende Erfahrung erworben. Das Feuer qualmte stark von den feuchten Stengeln, die sie hineinschob. Sie scharrte das abgestorbene Unterholz mit dem Dolch unter dem Dickicht hervor. Beim ersten mal hatte sie es mit den Fingern aufgesammelt, sich dabei jedoch an messerscharfem Laub geschnitten. Wie sie zu spät erkannt hatte, bestand das Dickicht aus Klingenbüschen. Eisenauge hatte die Augen offen, beobachtete Leeta. »Willst du essen?« erkundigte sich Leeta, bot ihm den Topf voll warmer Fleischbrühe an. Er aß bedächtig, stellte danach den leeren Topf beiseite. »Bist du übern Berg?« fragte Leeta. Er nickte. »Deine Schleppbahre bewährt sich gut, Sternenfrau.« Er musterte sie mit auffälligem Glanz in den Augen. »Kann das Feuer gesehen werden?« »Ich habe darauf geachtet«, versicherte Leeta, ver suchte Anklänge von Stolz aus ihrem Ton fernzuhalten. »Am Nachmittag habe ich einen Reiter beobachtet. Ich wußte nicht, wer’s war, darum habe ich beschlossen, daß wir außer Sicht bleiben.« »Ist man zwischen den Sternen allgemein so vorsich tig?« wollte Eisenauge wissen; seine Miene zeigte einen Ausdruck gelassener Akzeptanz. »I wo.« Leeta schüttelte den Kopf. »Im Laufe des Tages
habe ich darüber nachgedacht. Dort sind sie wie das liebe Vieh. Sie halten den Kopf im Gras und mampfen zufrie den, was es zu futtern gibt. Man kennt kein Räubertum, John. Sie sind ...« — Leeta schwieg, überlegte — »sie sind zahm.« Sie schaute hoch, blickte in seine scharfen Augen. »Und trotzdem wären sie dazu fähig, uns zu vernich ten?« Eisenauges Lippen zuckten kaum merklich. »Sie müssen’s.« Leeta begriff erst in diesem Moment, daß stimmte, was sie sagte. Ein Schreck durchfuhr sie, brachte ihr Herz zum Hämmern. »Sie können Menschen wie euch nicht mehr verstehen. Die Romananer sind frei, John. Das Direktorat kann keine Freiheit tolerieren, John. Leute wie ihr gefährden das innere Gleichgewicht und die Vorhersehbarkeit gesellschaftlicher Entwicklungen. Die Menschen wagen es nicht mehr, irgendwelche Herausforderungen anzunehmen.« Ein kaltes Schaudern rann ihr das Rückgrat hinab. »Und trauen sie sich doch, sind immer noch die Psychingteams da, sind ständig in Bereitschaft.« Einige Zeit lang schwiegen sie beide, hingen ihren Gedanken nach. »Wohin willst du?« fragte Eisenauge schließlich. Ratlos sah Leeta ihn an. »Ich weiß es nicht. Aber am besten beeilen wir uns. Wir haben nur noch Dörrfleisch für eine Mahlzeit.« »Welche Richtung haben wir heute eingeschlagen?« Eisenauge betrachtete sie. »Durch die Schlucht, nach der Seite, wo sie breiter wird. Ich habe mich an der Nordseite am Abhang gehalten, weil ich dachte, falls jemand uns sieht, könnte ich in den Felsen Deckung finden und schießen. Wir waren den gan zen Tag hindurch unterwegs, bis Sonnenuntergang, und dann habe ich uns dies Versteck hier gesucht. In der Nähe befindet sich ein hoher, massiger Felsturm, der aus der Schlucht aufragt. Ist dir das bei der Orientierung ‘ne Hilfe?«
Eisenauge nickte. »Das Lager im Nabel liegt ein Stück weiter südlich. Möglicherweise ist der Reiter von dort gekommen. Wir haben uns im Bogen von der Siedelei ent fernt. Das Raumschiff und mein Volk sind in dieser Richtung.« Er deutete mit dem Finger. »Wir werden versuchen, uns dorthin durchzuschlagen. Ich muß dafür sorgen, daß du eine bessere medizinische Behandlung erhältst, John. Gesund bist du noch nicht. Es besteht immer noch die Gefahr, daß du mir unter den Händen wegstirbst.« Ihr fiel auf, daß sie seine Hand hielt. Die Vorstellung, er könnte sterben, beunruhigte sie zutiefst. Liebe? fragte sie sich. »Gib auf Bären acht«, riet er. »Hier sind sie häufig. Dort drüben, hinter den Hügeln, weiden Herden meines Volks. Die Bären überfallen gelegentlich verirrte Tiere. Wenn du eine Kuh siehst, schieße sie. Dann werden wir Nahrung haben ... Dinge, die ich brauche, wie Leber und Hirn. Ich werde dir zeigen, wie man ein Rind ausnimmt.« »Und wenn mir ‘n Bär begegnet? Was soll ich dann machen, John? Ich habe Philip prahlen hören, du hättest einen mit deinem Messer getötet. Wo muß ich hinste chen?« Sie spürte, wie sich ihr Gesicht, obwohl sie in nerlich eisige Beklommenheit empfand, zu einem Lächeln verzog. Eisenauge versuchte, sein verhaltenes Lachen zu un terdrücken, weil es ihm Schmerzen bereitete. »Ziel mit dem Gewehr auf die Stelle, wo die beiden Fangarme mit den Saugnäpfen vom Körper abzweigen. Die einzige Möglichkeit, um einen Bären sofort zu töten, ist ein Schuß direkt ins Gehirn.« Er zeichnete neben sich die Umrisse eines Bären in den Sand. »Da.« Er zeigte auf die beschrie bene Körperstelle. Danach zeichnete er eine Seitenansicht. »Da ist es?« fragte Leeta, besah sich die Darstellung. Ernst und eindringlichen Blicks nickte Eisenauge. »Allerdings mußt du ihm für so einen Schuß nah sein. Unsere Gewehre sind so groß und schwer, weil die Kugeln
tief in den Leib eines Bären eindringen müssen. Nur aus dem Grund, weil es Spinnes Wille war, habe ich einen Bären mit dem Dolch erlegen können. Ohne Gottes Beistand kann nur ein schweres Gewehr so ein Tier töten.« »Was heißt in diesem Fall >nah?<« erkundigte sich Leeta, prägte sich seine Erklärungen genau ein. »So nah, wie du hinzugelangen kannst, ohne unruhig zu werden.« Eisenauge beobachtete Leetas Mienenspiel. »Je weiter du Abstand hältst, um so geringer ist die Durchschlagskraft der Kugel. Dann ist es vielleicht we niger gefährlich, aber es ist schwieriger, das Hirn zu tref fen. Je näher du bist, um so größer ist die Chance, daß du ihn tötest — oder er dich tötet. Verstehst du?« Leeta nickte, merkte sich seine Erläuterungen, ver suchte sich eine derartige Situation auszumalen, stellte sich vor, wie sie wäre, wie sie die Körperstelle des Bären, die Eisenauge ihr auf den Zeichnungen gezeigt hatte, mit dem Gewehr aufs Korn nahm. »Ich bin eine Zumutung für dich gewesen«, meinte Eisenauge nach einer Weile. »Gerade mußte ich dran den ken, wie ich dich anderntags gescholten habe. Ich hatte den Coup an deinem Gürtel vergessen. Du bist kein Weib, sondern eine Kriegerin.« Seine Worte irritierten Leeta. War der Abend, als sie nackt am Feuer stand, seinem Gedächtnis entfallen? »Hast du irgendwo zwischen den Sternen einen Mann?« fragte er plötzlich. Verlegen senkte Leeta den Blick. »Nein.« Eisenauge schüttelte den Kopf. »Das begreife ich nicht. Du bist eine sehr schöne Frau. Du hast Mut und Kraft, und gleichzeitig bist du sanftmütig und freundlich. Du bist sehr gescheit und lernst schnell. Du verstehst mit Männern zu reden. Wieso hat kein Mann dich in seine Arme genom men und ist mit dir fortgegangen? Bei meinem Volk würde ein Mann, der dich nicht anders für sich gewinnen könnte, entführen.«
Leeta erinnerte sich an Jeffray und lachte. »Was für ein Unterschied...! Der letzte Mann, den ich hatte, brachte sich um, weil ich ihn verlassen hatte.« Sie hörte den Kummer und den Sarkasmus in ihrer Stimme. Auf einmal spürte sie Beklemmung, fragte sich, weshalb sie diesen wilden, gewalttätigen Mann in eine so heikle Angelegenheit einweihte. Furchtsam schaute sie ihn an. Würde er es ausnutzen? »Das kann ich nicht verstehen.« Er sprach mit leiser Stimme. »Du hast ihn verlassen, und er hat sich umge bracht?« Also erzählte sie ihm von Jeffray, seinem Psyching, wie sie ihn umsorgt und was er von ihr verlangt hatte. Sie gestand, nie Zeit für Männer gehabt zu haben. Eines führ te zum anderen, während sie ihm ihre ganze Geschichte anvertraute, dabei abwechselnd Furcht und Erleichterung fühlte. »Dann sind nicht alle Sternenfrauen so wie du und Rita?« Er wirkte etwas beruhigt. »Keineswegs.« Leeta lachte. »Wir zwei sind absolute Ausnahmen, Sonderfälle. Die meisten Frauen möchten bloß daheim rumsitzen und Kinder aufziehen, oder sie kümmern sich ausschließlich um ihre Karriere. So was wie hier würden sie gar nicht mal sehen wollen. Sie sind zu schwach. Sie scheuen Risiken.« Sie schüttelte den Kopf. »Wie Vieh, hast du gesagt? Auch die Krieger, solche wie Rita?« Eisenauge dachte nach. »Die Krieger nicht«, stellte Leeta mit unmißverständ lichem Nachdruck klar. »Sie darfst du nie unterschätzen. Sie sind vielleicht die tüchtigsten Soldaten der Menschheit, die je gelebt haben. Sie üben ständig. Ihr ein ziges Problem ist der Mangel an Kriegen, um einmal rich tig kämpfen zu können. Das Direktorat wählt unter den Soldaten sorgfältig aus und steckt die besten Leute in die Patrouille. Sie tun ihren Dienst gern, so wie Rita.«
»Aber Kriege gibt’s nicht?« Eisenauge machte einen versonnenen Eindruck. »Das könnte ihre große Schwäche sein.« »Ich weiß nicht, was du meinst.« Seine Augen glommen auf. »Unser Volk wird andau ernd auf die Bewährungsprobe gestellt. Alle jungen Männer kämpfen gegen die Räuber. Bei unserem Volk — und ebenso bei den Räubern — gilt es als große Ehre, das Leben für den Stamm zu lassen. Ist das bei den Sternenmenschen auch so?« »Überhaupt nicht.« Leeta schnitt eine ärgerliche Miene, schob mit ihren Santosstiefeln Brennholz ins Lagerfeuer. »Dann sehen sie in einer Niederlage nicht das Ende ihres Volks.« »Ich kapiere nicht richtig, wie das gemeint ist.« Leeta versuchte seine Gedankengänge zu erraten. »Die ST haben die Santos zusammengeschossen, nicht wahr?« Im Feuerschein glitzerten seine Augen. »Das bedeutet, auch unser Volk schwrebt in großer Gefahr. Euer Ree will uns vernichten. Du selbst hast gesagt, daß das Direktorat uns nicht zu dulden bereit sein wird. Du hast mir von den Psychingteams und ihrer Arbeitsweise erzählt. Unser Volk müßte unterliegen. Der Prophet hat es angekündigt, und ich erkenne jetzt, wie es dazu kommen soll.« Er nickte. »Wir müssen die Sternenmenschen besie gen.« Leeta spürte, wie sie ein spitzes Gesicht bekam. »Wie kannst du so etwas derartig blauäugig daherreden? Du hast ja gar keine Ahnung! Das Raumschiff kann euren Planeten in Stücke schießen. Die Patrouillensoldaten sind unbesieg bar. Ihre Schutzpanzer wehren sogar Bla-sterschüsse ab. Kugeln würden sie nicht mal spüren. Reiter können doch nicht gegen Sturmtransporter kämpfen! Mein Gott, ihr könnt nicht einmal ein Heer aufstellen, ohne daß die elektronische Überwachung es beobachtet.« Eisenauge nickte. »Ja, so ist es in der Tat. Nur ...« »Du
bist ja total naiv«, rief Leeta, rang die Hände. »Für solche Abenteuer habt ihr doch viel zuviel zu verlieren, John. Viele Menschen kämen ums Leben, und wofür? So wie diese Santos ...« »Du hast selber gesagt, daß unser Volk sowieso un terliegen muß«, hielt Eisenauge ihr entgegen. »Welchen Sinn hat das Leben, wenn das, was du für das Richtige hältst, vor deinen Augen zerstört und zertreten wird? Ich kann nicht, wie du’s nennst, zahm werden. Ich will lieber tot sein, als etwas ... vor dem ich keine Achtung hätte. Du siehst, daß wir, selbst wenn der Krieg schon vorbei sein sollte, in Wirklichkeit nichts zu verlieren haben. Wenn wir infolge der Eroberung durch die Sternenmenschen ohne hin sterben müssen, warum dann nicht bei unserer Verteidigung?« »Aber...« Eisenauge winkte ab. »Es gibt kein Aber. Sicher werden viele sterben, der Preis wird schrecklich hoch sein, doch wenn das Opfer der Spinnenkrieger uns den Sieg bringt, dann ist der Einsatz es wert. Unsere Krieger würden lieber sterben, als so wie dein Jeffray zu werden. Mögen sie ihre Seelen aus freiem Willen und in Ehren zu Spinne empor senden. Außerdem haben wir etwas, über das die Sternenmenschen nicht verfügen. Die Ster...« »Ja, Mumm!« schnob Leeta. »Hilft euch ja auch ge waltig weiter, wenn ‘n Blaster euch brät! Entsinnst du dich nicht mehr an die Santos im Lager Gessali?« In seinen Augen war Herzlichkeit, als er sie anlächelte. »Gewiß, wir haben auch Mumm. Die Sternenmenschen haben Flugmaschinen und die Macht, um diesen ganzen Planeten zu Asche zu verbrennen, aber wir haben etwas, dem sie nichts entgegensetzen können. Wir haben Propheten.« Verdutzt lehnte Leeta sich zurück, erinnerte sich an Chester Armijo Garcia. Konnte er tatsächlich die Zukunft sehen? Es grauste ihr, als sie sich daran erinnerte, was
alles er bis in Einzelheiten richtig vorausgesagt hatte. »Na, dann viel Vergnügen«, erwiderte sie. »Ihr seid bis zum letzten Mann allesamt übergeschnappt.« »Die Sternenmenschen glauben nicht, daß jemand sie bezwingen kann. Das wird für uns ein Vorteil sein. Che ster Armijo Garcia befindet sich auf dem Raumschiff Projektil. Das wäre mir ein Anlaß zu starker Beunruhi gung, wäre ich Ree. Wir sind also Primitive, wir Spin nenkrieger, wir verstehen nichts von ST und Blastern.« Er schenkte Leeta ein gerissenes Grinsen. »Aber wir können’s lernen. Und dann ist da das Direktorat, das noch nie eine Niederlage erlebt hat. Es kann ja auch etwas Neues lernen. Und die Soldaten? Werden sie geschlagen, brau chen sie keinen vollständigen Untergang zu befürchten. Auch das ist ein Vorteil für die Spinnenkrieger.« Eisenauge faßte seine Einschätzung der Lage zusammen. »Es ist alles völlig egal, es steht viel zuviel gegen euch, ‘s kann euch jederzeit auf euch runterfahren!« Leeta stell te sich vor, wie Feuerbahnen vom Himmel herabschossen, dachte an verbrutzelte Leichen in ausgebrannten Hütten, an glasige Schlacke, wo vorher Menschen gelebt hatten. »Wird das ganze Spinnenvolk zum Kampf bereit sein?« fragte sie beim Gedanken an die Frauen und kleinen Kinder. »Ja, es wird vollzählig kämpfen.« Eisenauges leise Stimme klang entrückt. »Spinne hat es so gelehrt. Spinne hat sich an ein hölzernes Kreuz nageln lassen und starb unter Qualen, damit die Menschen frei sein können. Wenn Gott das für uns getan hat, können wir dann selber weni ger für uns tun?« Leeta überlegte. Sie erinnerte sich an den SpinneMythos, wie Garcia ihn Netta Solare geschildert hatte. Das Spinnenvolk war wirklich zu einem solchen Vorgehen imstande. Es würde sich lieber ausrotten lassen, als zu kapitulieren. »Ihr benötigt Unterstützung von unserer Seite.« Ihre
Stimme bekam einen ausdruckslosen Klang. »Allein wer det ihr’s nicht schaffen.« In ihrem Geist entstand ein Alptraumgebilde, ein großer Psychingapparat, senkte sich auf ihren Schädel... Sie mahlte mit den Zähnen und schüt telte den Kopf, verscheuchte so die scheußliche Vorstellung. Was hatte Eisenauge gesagt? Nichts zu verlieren? Auf sie wartete allemal nur der Psychingapparat. Ihrem klaren Verstand, ihrer Fähigkeit zu selbständigem Denken, droh te die Eliminierung. Eisenauges Blick ruhte auf ihr. »Ich wollte, wir hätten solchen Beistand«, sagte er mit einem Unterton von Hoffnung in der Stimme. »Ich schulde dir schon viel... aber von dir zu verlangen, daß du dich von deinem Volk abwendest, brächte ich niemals fertig.« Leeta seufzte und faßte seine Hand. »Wer ist denn mein Volk?« fragte sie, kuschelte sich an ihn. »Ich kann nicht zurück. Eigentlich wollte ich’s nicht zugeben, aber es stimmt. Ich kann nicht zurück, Eisenauge. Man würde mir den Verstand kaputtmachen.« Sie zog eine Grimasse. »Weißt du, es ist leichter, dem Tod ins Auge zu blicken, als sich mit der Aussicht auf das abscheuliche Psychen abzu finden.« Er strich mit den Fingern durch ihr Haar, während sie weitersprach. »Was würde passieren? Beim ersten Mal, wenn jemand wie Chem mir gegenüber ‘ne dumme Be merkung macht, würde ich ihn gleich umbringen wollen.« Sie biß sich auf die Fingerknöchel und schaute zu Eisenauge auf, dessen Gesicht sich im Profil gegen den Feuerschein abhob. »Weißt du, und dann würden die Psychingteams mir ihre Apparate auf den Kopf stülpen, und binnen weniger Tage wäre ich wieder, wie ich mal war, ich würde alles völlig beschissen finden, was zwischendurch gewesen ist, und denken, wie entsetzlich es von mir war, den Santos getötet zu haben ... Falls ich überhaupt noch denken
kann!« »Du wärst, wenn du uns hilfst, in großer Gefahr«, rief Eisenauge ihr in Erinnerung. »Du könntest einfach gehen und nach einem ST Ausschau halten. Sag ihnen, du hättest fliehen können ...« »Nein«, flüsterte Leeta. »John, ich will nicht zurück. Ich bin stolz auf mich. Ich habe alles allein durchgehalten ... aus eigener Kraft. Ich habe dich am Leben erhalten. Ich habe einen Mann umgebracht, der dich ermorden wollte, das Unwetter ausgestanden, eigenhändig eine Schleppbahre gebaut, mir ein Gewehr erbeutet, die toten Santos in den Fluß geschmissen. Das alles habe ich ganz auf mich allein gestellt geleistet. Du konntest mir nicht helfen. Das verdammte Direktorat war nicht da, um mir behilflich zu sein. Ich habe es selber getan!« Sie ballte eine Hand zur Faust, spürte in ihrem Innern die Wärme hitziger Erregung aufwallen. »Du bist also dazu bereit, Sternenmenschen zu töten?« fragte Eisenauge mit gedämpfter Stimme. »Das könntest du tun?« Diese Frage nach sachlichen Eventualitäten ernüchterte Leeta. »Ich ... ich weiß es nicht.« So weit hatte sie noch nicht vorausgedacht. Konnte es zu so einer Konfrontation kommen? »Ich ... ich glaube nicht«, wisperte sie in plötz lich niedergedrückter Stimmung. »Dann tu’s nicht.« Eisenauge hob die Schultern, zuckte zusammen. »Du hast gesagt, wir könnten Hilfe auf eurer Seite gebrauchen. Die kannst du uns geben. Du kennst die Sternenmenschen, du weißt, wie sie unter diesen und jenen Umständen reagieren, was sie tun werden. Wir müs sen im Kampf mehr als bloß Gewehre verwenden. Genauso müssen wir mit Wissen kämpfen. Bist du dazu fähig, uns in dieser Art von Kampf anzuleiten?« Sie spür te, wie er den Kopf drehte, so daß er ihr auf den Scheitel sehen konnte. »Das kann ich«, beteuerte Leeta in jähem Zorn. Soviel
konnte sie ihm versprechen. »Dann werden wir siegen.« Freude wurde in Eisenau ges Stimme hörbar. Leeta schüttelte den Kopf. War denn nicht klar, daß sie es mit einem Koloß zu tun hatten? Propheten, Mut und Tapferkeit, Konspiration zugunsten der Romananer — schön und gut, aber sie begriffen einfach nicht, auf was sie sich einließen. Wie konnte man einem Kind Massenvernichtung erklären? Unter Leetas Herz entstand ein Gefühl der Leere. »Eisenauge«, flüsterte sie, stützte sich auf die Ellbogen. »Küß mich. Ich brauche es jetzt, daß jemand mich in den Armen hält.« Sein Arm zog sie an seinen Körper, und seine Lippen berührten sachte ihre Stirn. Das war nicht ganz das, was sie sich vorstellte. Als die Sonne sich über den Bärenbergen zu strahlen dem Rosa verfärbte, raffte sich Leeta auf und stapfte von neuem der Stute voraus. Sie hatte ihn begehrt! Ihr Leib hatte nach ihm gelechzt! Die gesamte Nacht hindurch hatte sie wundervolle ero tische Träume gehabt. Noch immer sehnte sie sich danach, seine Arme um sich zu haben, seinen harten Brustkorb an ihren Brüsten zu spüren, ihn in sich zu fühlen. Sie holte tief Atem und legte das Gewehr in die Arm beuge. Die Realität, befand sie, sah weniger wunderbar aus. Hielt er sie überhaupt für attraktiv? Sicher, sie hatte ihn gepflegt — ihm mehrere Male das Leben gerettet —, aber mußte das zwangsläufig bedeuten, daß er sich aus ihr etwas machte? An dem Abend in der Höhle, da hatte er sie gewollt. Soviel stand fest; und Männer konnten durch visuelle Reize, wenn die Stimmung richtig war, erregt werden, ganz egal, durch welche Frau. Oder hatte es nur am Fieber gelegen? Er liebte noch seine verdammte Jenny! Leeta empfand angesichts der Aussicht, mit einem Geist konkurrieren zu sollen, erbitterten Frust. »Verflucht noch mal!« schimpfte
sie, stieß mit dem Gewehr nach einer imaginären Frau. Es könnte, sah sie schließlich ein, viel schlimmer sein. Jenny könnte noch leben und im Dorf des Spinnenvolks auf Eisenauge warten. Leetas Lippen zuckten. Es war schlichtweg alles unfair. Wirklich? Genau genommen hatte sie eine Halbe-halbe-Chance. Entweder schaffte sie es, seine Aufmerk samkeit auf sich zu lenken und ihn für sich zu gewinnen, oder es gelang ihr nicht. Jenney war tot. Dahin und ver scharrt. Diese Geschichte war aus und vorbei... Abgesehen davon, daß der gutaussehende, edle Trottel Jenny noch immer liebte. Wenigstens respektierte Eisenauge sie. Das war ein Anfang. Also zum Teufel mit den Zweifeln. Sie konnte alles weitere darauf aufbauen. Sie könnte ... Die Stute schnaubte und blieb stehen, zitterte. »Komm schon, Mädchen«, versuchte Leeta sie zu lok ken, zog an den Zügeln, um stärkerem Bocken vorzu beugen. Während sie den Kopf der Stute entschlossen fest hielt, spähte sie in die Richtung, in die das Tier stierte. Über einen Hügel schob sich ein riesiges Vieh. »John!« schrie sie. »Dort im Osten? Was ist das?« Doch sie wußte es. Nur eine Kreatur auf Atlantis wurde so groß. Der Bär kam auf seinen dicken Beinen erstaunlich rasch heran. Leeta vermochte an den Fangarmen, mit denen er fuchtelte, schon die beiden Saugteller zu erkennen. Die Stute drehte durch. Aus Verzweiflung drosch Leeta dem Pferd den Gewehrlauf auf die Nase und band das halbbetäubte Tier an einen niedrigen Strauch. Sie schluk kte schwer, entnahm dem Gurt drei der langen Messingpatronen und lief dem Bären entgegen. Sobald das Wesen sie sich im Laufschritt nähern sah, hielt es ruckartig an. War ihr Verhalten ihm unheimlich? Der Bär begann nach rechts auszuweichen. Leeta änderte ihre Richtung, blieb zwischen dem Raubtier und der Stute. Falls der Bär an ihr vorübergelangte, mußten die
Rappenstute und John ihm eine leichte Beute werden. Sie ließ sich nicht täuschen; die Bestie konnte unglaublich schnell sein. Leeta blickte sich kurz über die Schulter um und sah, daß Eisenauge sich auf der Schleppbahre aufgesetzt und sein Gewehr schußbereit hatte. Mühsam versuchte er auf zustehen, während der Bär sich erneut bewegte, wieder Leetas Aufmerksamkeit beanspruchte. Sie rannte ein Stück weit, um den Umgehungsversuch des Bären zu ver eiteln. »Hau ab!« schrie sie. »Verschwinde! Ich habe gar keine Lust, dich kaltzumachen.« Sie schwang bedrohlich das geladene Gewehr in der Hoffnung, daß der Bär wußte, um was es sich bei der Waffe handelte. Nochmals wollte das Geschöpf an ihr vorbei, und Leeta merkte, daß es sie zurückdrängte, sie auf die Stute zutrieb. Warum? Damit das Pferd weglief und später aufgespürt werden konnte. Der Bär war ein schlaues Biest. Leeta nickte. Also mußte es sein. Eilig kniete sie nieder, legte das Gewehr ruhig an und zielte auf den Bären. Sie konnte sehen, wie seine Stielaugen sie beobachteten, als das Gewehr ein Mündungsfeuer spie und der Rückstoß gegen ihre Schulter wumste. Leeta fühlte ihr Herz wie rasend schlagen, lud hastig das Gewehr nach; der Bär hatte seine volle Beachtung wieder auf sie verlegt. Hatte sie ihn tödlich getroffen? Sie hob das Gewehr zum zweitenmal, sah den Lauf wackeln, weil ihr vor Furcht die Arme bebten. Nochmals nahm sie das riesenhafte Ungetüm, als es sich umdrehte und auf sie zulief, aufs Korn. Es streckte die Fangarme aus, bewegte sie in der Luft umher, beschrieb damit Kreise und Spiralen. Um sie abzulenken? Vielleicht. Leeta schluchzte, versuchte ihren Herzschlag zu bän digen, bemühte sich um Beibehaltung ihrer Gewalt über Lungen, Nerven und Muskeln. Guter Gott! Wie ßink war das Vieh denn bloß?
Sie hörte ein Klatschen und eine halbe Sekunde später den Knall eines Gewehrs. John hatte gefeuert, wohl gehofft, aus seinem Schußwinkel einen entscheidenden Treffer anbringen zu können. Es beruhigte Leeta, zu wissen, daß er wenigstens ei nigermaßen handlungsfähig war, egal was aus ihr wurde; wenn der Bär sie getötet hatte, konnte er sich zumindest noch selbst verteidigen. Das also war der Tod. Dies klotzi ge Monster würde sie töten und fressen. Sie stellte einen ironischen Vergleich an. Ihre Todesart konnte jedenfalls als origineller gelten als der seelische Tod unterm Psychingapparat. Plötzlich fühlte sie sich amüsiert. Die Situation war lachhaft. Von nichts im Universum wurden noch Men schen aufgefressen. Ruhe überkam sie. Ihre Welt schrumpfte auf den Anblick des Bären zusammen. »Je näher, um so besser«, flüsterte sie, erinnerte sich an Johns Erläuterungen. »Komm her, verdammt noch mal, und ich verpaß dir was!« knirschte sie, fühlte ihr Kinn den Gewehrschaft streifen. Der Bär breitete die Fangarme weit aus, und Leeta schoß. Diesmal warf der Rückstoß sie zurück, sie geriet aus dem Gleichgewicht, kippte auf die Seite, während sie am Gewehr das Verschlußstück aufriß und die letzte Patrone einführte. Als sie den Mechanismus zurammte und sich aufzurappeln versuchte, traf etwas sie an der Seite und warf sie über den Haufen. Irgendwie behielt sie das Gewehr in den Fäusten und den Überblick, wirbelte auf dem Gesäß zu dem Bären herum. Er stampfte, indem er hin- und herschaukelte, auf sie zu, der Saugnapf schwang ein zweites Mal herüber. Verzweifelt wälzte Leeta sich unter ihm hindurch, spürte den Luftzug, mit dem der große Saugteller über sie hin wegsauste. Leeta riß das Gewehr hoch und tat rasch einen tiefen Atemzug, sie zielte mit felsenfester Genauigkeit, obwohl
sie wußte, daß nun der andere Saugnapf auf sie zuschnell te. Sie richtete Kimme und Korn auf das Ziel. Ihr Finger krümmte sich langsam um den Abzug, sie wollte diesmal auf keinen Fall danebentreffen. Sie konzentrierte sich so stark darauf, das Gewehr geradezuhalten, daß sie den Schuß kaum hörte. Heftig erzitterte der Bär, und der Saugnapf, plötzlich von der Beute abgelenkt, schwang an Leeta vorüber. Sie rannte los, bot alle Kraft auf, um schleunigst außer Reichweite zu gelangen. Über die Schulter sah sie, daß der Bär noch an derselben Stelle stand, die Verfolgung noch nicht aufgenommen hatte. Sie hatte noch eine Patrone! Leeta fuhr herum, zerrte den Verschluß des Gewehrs auf, schob das Geschoß hin ein. Wieder kniete sie hin. Werde ich das verdammte Vieh denn nie erlegen ? Einmal muß ich es doch richtig erwi schen. Wenn man oft genug feuerte, mußte man einfach irgendwann das Gehirn treffen. Es mußte irgendwo zwi schen den Fangarmen sitzen. Natürlich war eine in den Sand gemalte Zeichnung eine Sache; der wütende Fleischberg, der da vor ihr emporragte, war eine völlig andere Angelegenheit. »Ruhig!« befahl Leeta sich selbst. »Laß dir Zeit!« Ihre unregelmäßige Atmung erschwerte ihr das Zielen. »Langsam und sorgfältig...« Der Lauf schwankte so beträchtlich, daß ihr das Ziel immer wieder aus dem Visier geriet. »Gleichmäßig«, ermahnte sie sich im Flüsterton, be mühte sich ums Stillhalten der Arme. »Locker. Tief durch atmen ...!« Unablässig versuchte sie den Lauf des angeleg ten Gewehrs auszurichten. Jedesmal, wenn ihr Herz schlug, ruckte die Mündung leicht. Laut tat Leeta tiefe Atemzüge, wartete, fragte sich, wieso der Bär nicht angriff. Sie fing an ruhiger zu werden, während sie abwartete, sie wußte, in wenigen Augenblicken würde sie gefaßt
genug zum Schießen sein. Der Lauf bebte weit weniger stark, ihr Herzschlag verlangsamte sich, jeweils eine Sekunde verstrich, ehe sie wieder Atem holen mußte. Sobald Kimme und Korn ruhig blieben, zielte sie ganz genau, sie wollte sicher sein, keinen weiteren Fehlschuß zu tun. Diesmal vielleicht etwas tiefer? Oder vielleicht mehr nach rechts oder links? Plötzlich wuchs ihre Unentschiedenheit. Wohin sollte sie zielen? Sie überlegte, die Unsicherheit wirkte sich als immer hinderlicherer Hemmschuh aus. Der letzte Schuß hatte dem Bären Schwierigkeiten bereitet. Dieser Schuß mußte ihm den Rest geben. Leeta zielte ein wenig tiefer als vorher auf seine Mitte und drückte den Abzug durch. Als der Rückstoß sie ins Wanken brachte, begann der Bär schwerfällig zusammenzusinken. Träge knickten die sechs massigen Beine ein, das enorme Fleischgebirge er bebte, während die kleinen Stielaugen Leeta im Blick behielten. Ein wüster Schwall Atem wallte ihr entgegen, und die Fangarme peitschten das Erdreich auf. Leeta schlotterte plötzlich hemmungslos; sie drehte sich um und kehrte zu Eisenauge zurück, der am Erdboden kauerte, die Mündung des Gewehrs nutzlos vor sich in den feuchten Untergrund gebohrt. Seine Augen waren vom Schmerz glasig, als sie zu ihm trat. »Ich hab ihn erwischt!« Leeta kicherte hysterisch. »Ich hab’s so gemacht, wie du’s gesagt hast, und ihn er schossen. Vier Schüsse waren nötig, beim letzten Mal hab ich tiefer gezielt. O Mann, hatte ich ‘n Schiß!« Das Pfeifen in ihren Ohren mußte vom letzten Ausatmen des Ungeheuers gestammt haben. »Ich glaube«, flüsterte Eisenauge, »ich sterbe.« Leeta sah einen roten Fleck sich auf seiner Brust aus breiten. Durch den Rückstoß seines Gewehrs mußte die Wunde aufgeplatzt sein. »Waaas is das?« fragte er, wies benommen mit dem Kinn an Leeta vorbei.
Sie schaute in die Richtung, die er meinte. In der Nähe senkte sich ein langgestreckter, weißer Flugapparat herab. Nervös tänzelte die Stute und verdrehte dabei die Augen. »Ein ST«, brummte Leeta, als die Luke aufglitt. Pa trouillensoldaten in Schutzpanzern sprangen heraus. »Nun kommst du wenigstens doch noch mit dem Leben davon, Eisenauge«, fügte Leeta grimmig hinzu.
15
Leeta sah Eisenauge rasch ins Gesicht. »Ich habe keine Zeit, um’s dir zu erklären, aber du bist gerade ‘n Exemplar einer Spezies geworden. Wenn du den Eindruck hast, daß ich mich sonderbar verhalte, mußt du mir ganz einfach vertrauen, John. Ich muß total raffiniert vorgehen. Ich weiß nicht, was dabei rauskom men wird, aber ich werde mein Bestes tun. Denk dran, ich bin auf deiner Seite.« Sie richtete sich auf, das Gewehr in der Hand, um den Männern entgegenzugehen. »Achtung!« dröhnte es auf romananisch aus einem Lautsprecher. »Ihr verstoßt gegen den Erlaß der Militär verwaltung. Kehrt unverzüglich zu eurem Dorf um. An dernfalls werdet ihr festgenommen, und euer Eigentum wird beschlagnahmt. Laßt sofort die Waffen fallen und nennt den Grund eurer Reise.« Inzwischen hatten die Patrouillensoldaten sie mit ge senkten Blastern umstellt. »Laßt die Waffen fallen!« hall te es aus dem Lautsprecher. »Ich wiederhole. Die Waffen fallen lassen!« Leeta schüttelte andeutungsweise den Kopf, während sie die Gestalten rund um sie musterte, deren Schutz panzer im Sonnenschein schimmerten. »Oder was, Un teroffizier?« schrie sie auf Standard. »Wenn ich nicht ge horche, wollen Sie mich dann wegblastern?« »Ganz recht!« ertönte die grobe Antwort — auch auf Standard, was dem Unteroffizier anscheinend gar nicht auffiel. »Hören Sie zu, Freundchen!« rief Leeta, überspielte damit ihre Aufregung, aufgrund der ihr Herz wie ein Hammerwerk klopfte. »Ich will hier faire und klare Ver hältnisse, also lecken Sie mich am Arsch. Außerdem kön
nen Sie in Ihrem Bericht an den Oberst erwähnen, daß Sie persönlich Dr. Leeta Dobra weggeputzt haben. Wieso haben Sie und Ihre Pfeifen eigentlich so lange gebraucht, um hier aufzukreuzen, verflucht noch mal?« Währenddessen ging sie schnurstracks auf den Unterof fizier zu. Ein paar Schritte vor dem Mann blieb sie stehen, sah hinter dem Reflektor des Helms seine erschreckte Miene. »Desaktivieren Sie den Sichtschutz und sehen Sie mich an, Patrouillensoldat!« schnauzte sie. »Ich rede ungern mit ‘m Spiegel.« Die Reflektorfunktion verflimmerte, und Leetas Blick fiel ins Gesicht eines hellhäutigen jungen Manns. Er schluckte, hatte vor Bestürzung die blauen Augen weit aufgerissen. »Es wäre mir lieber gewesen, Sie wären früher ge kommen. Ich hatte verflucht viel Ärger mit dem Vieh da.« Mit dem Daumen deutete sie auf den toten Bären. »Sie!« Leeta zeigte auf zwei Soldaten, die gleichfalls ihre Reflektoren desaktiviert hatten. »Bringen Sie den Mann an Bord.« Sie wies auf Eisenauge. »Wenn er Schaden nimmt, werde ich persönlich dafür sorgen, daß Ihnen der Arsch aufgerissen wird, kapiert?« Die beiden Männer nickten knapp und liefen zu John, klappten unterwegs eine tragbare Antigrav-Bahre aus einander. »D-Dr. Do-Dobra?« stammelte der Unteroffizier. »Entschuldigen Sie, Gnädigste ... Wir ... haben nicht geahnt, daß Sie’s sind. Ich meine, hätten wir’s gewußt, hätten wir dem Ungeheuer da gleich ‘n Blasterschuß ver paßt.« »Gleich?« wiederholte Leeta entgeistert. »Sie meinen, Sie haben da oben auf Ihrem Arsch gesessen und zuge schaut, wie das Biest mich fast...« Sie war außerstande, den Satz zu beenden. »Aber Gnädigste ...« Betroffen starrte der Unteroffizier
sie aus geweiteten Augen an. Leetas Blickfeld schrumpfte. Sie sah nichts mehr außer dem Unteroffizier. »Verbinden Sie mich mit Oberst Ree!« fauchte sie giftig. »Und zwar augenblicklich! Schalten Sie sofort durch! Ich bin ‘n Fall für höchste Priorität, will ich mal behaupten, also machen Sie ‘n bißchen flott, oder Sie müssen mich braten, wo ich stehe, denn sonst werde ich, so wahr das Vakuum leer ist, über Sie ‘ne Beschwerde ein reichen, egal wie!« »Haben Sie’s gehört, Leutnant?« rief der Unteroffizier kläglich in sein Helmmikrofon. »Ja, Verbindung kommt«, konnte man eine leise Stimme aus dem Helmfunk antworten hören. Der Unteroffizier drohte unter Leetas vernichtendem Blick zusammenzubrechen. Sie spürte, wie ihr Mund vor Wut zuckte. »Hier Ree«, meldete sich aus dem Helmlautsprecher eine Blechstimme. Leeta beugte sich vor. »Wie ist Ihr Name, Unteroffizier?« fragte sie so laut, daß das Helmmikrofon es bestimmt übertrug. »Hans Yeagar, Unteroffizier im Oberfeldwebelsrang, ST Elf, Gnädigste.« Er salutierte zackig. »Hören Sie mich, Oberst?« rief Leeta. »Ja, wer ist dort?« Rees Stimme klang, als wäre er völ lig perplex. »Dr. Leeta Dobra«, antwortete Leeta laut und deutlich. »Ich bin jetzt in Sicherheit, aber das ist leider nicht Ihren strahlenden Helden hier zu verdanken. Gott sei Dank, daß Sie mir Rita Sarsa zugeteilt hatten. Das ist eine tüchtige Frau! Ich komme, so schnell der ST fliegen kann, Oberst, und wenn ich dort bin, will ich, daß diese Burschen zusammengestaucht werden. Ich will, daß sie mir die Füße küssen! Verstanden?« Sie wandte sich ab und stapf te zu der Luke, durch die man inzwischen Eisenauge an Bord geschafft hatte. »Holen Sie das Pferd«, rief sie über die Schulter. »Die
Maschine müßte ein Tier dieser Größe befördern können.« »Jawohl, Gnädigste!« Die Männer salutierten und eilten auf das Pferd zu. Die ohnehin nervöse Rappenstute sah sie näherlaufen und scheute. Sie riß sich vom Gesträuch los und galoppierte in die Ebene davon. Leeta gönnte sich ein gemeines Lächeln. Der ST war ein weltraumtüchtiger Flugapparat; man erkannte es schon am durch und durch weißen Inneren. Am Einstieg nahm ein Soldat vor Leeta Haltung an. »Wohin ist der Einheimische gebracht worden?« fragte sie. »Bitte mir nach, Gnädigste.« Leeta erwiderte seine Ehrenbezeugung. »Der Kapitän läßt bitten, Gnädigste«, fügte er aalglatt hinzu. Mit den Wölfen heulen ... War das nicht eine Redensart, die die Anthropologen längst zu beherzigen hätten lernen müssen? Man stellte sie Militärpersonal gleich? Na, warum denn nicht? »Der Kapitän kann mich mal«, schnob Leeta in der besten Imitation Rita Sarsas, deren sie fähig war, sich des sen bewußt, daß Monitoren alles erfaßten. Der ST-Kapitän biß sich bestimmt inzwischen in den Arsch. Von dem Moment an, als sie den Unteroffizier zur Sau machte, hatte Ree zweifellos alles aufzeichnen lassen. Eisenauge ruhte auf einem Bett und beobachtete feind selig die MedTechs. Dick und träge tropfte Blut auf das weiße Laken. Er warf ihr einen erleichterten Blick zu. Leeta wich seinem Blick aus. »Ich wünsche, daß dieser Mann wiederhergestellt wird«, sagte sie im Befehlston zu den MedTechs. »Ich will mich nicht wiederholen müssen. Er ist äußerst wichtig für die Befriedung dieses Planeten. Ist das klar?« Der zuständige Sanitätsoffizier nickte. »Gut. Die verbundenen Rippen haben ein schweres Trauma erlitten. Der Schwertfortsatz und das untere Ende des Brustbeins sind gesplittert. Eine Bauchfellentzündung ist nicht ausgeschlossen. Die Erstbehandlung ist unter
außerordentlich primitiven Umständen erfolgt ... Ich weiß also nicht, wie viele der Schäden, die Sie beheben müssen, auf meine Pfuscherei zurückzuführen ist.« Sie drehte sich John Smith Eisenauge zu und machte eine tiefe Verbeugung. »Es tut mir leid, Spinnenkrieger. Du kannst diesen Leuten vertrauen. Sie werden dich her vorragend behandeln. Ich schätze, daß du in vierzehn Tagen dazu imstande sein wirst, zu deinem Volk heimzu kehren. Wenn du irgendwelche Fragen hast, werden diese Männer mich umgehend verständigen.« Sie schaute den Sanitätsoffizier an. »Ich habe verstanden, Sternenfrau«, erklärte Eisenauge würdevoll. »Ich möchte dir nochmals für die Rettung mei nes Lebens danken.« »Und ich danke dir dafür, daß du mein Leben gerettet hast, Kriegshäuptling.« Leeta wandte sich an einen Pa trouillensoldaten, während man Eisenauge in die Laza rettstation schob. »Bringen Sie mich in die Zentrale.« In der ST-Zentrale wimmelte es von Personen, die bei Leetas Erscheinen auf einmal Wichtigeres zu tun hatten. Auf einem Monitor sah man einen halbes Dutzend Männer in Schutzpanzern, die wie Besessene durchs Flachland der Rappenstute nachjagten. »Dr. Dobra.« Ein hochgewachsener Mann verbeugte sich, ohne zu salutieren. »Erlauben Sie mir, mich vorzu stellen. Ich bin Sturmtransporter-Kapitän Arf Helstead. Zu Ihren Diensten, Gnädigste.« Leeta salutierte forsch. »Das habe ich gemerkt, Kapitän. Glänzendes Timing. Wäre ich gefuttert worden, wäre ich natürlich auf Nimmerwiedersehen verschwunden gewe sen, hm?« Sie sah seinen Mund halb offen und sprach sofort weiter. »Darf ich Sie daran erinnern, Kapitän, daß wir uns mitten in einer sehr ernsten Situation befinden? Wir haben keine Zeit für Dösigkeit und Bummelei. Auf diesem Planeten bahnt sich eine knallharte Revolte an, und Sie bringen’s fertig, am Himmel rumzuhängen und
zuzuschauen, wie die beiden Personen, die die Lage maß geblich stabilisieren könnten, von so einem verdammten Bären gefressen werden! Stellen Sie ‘ne Verbindung zu meinen Mitarbeitern im Basislager her.« Der Kapitän schielte sie verunsichert an, befolgte die Weisung. Ein Techniker kommunizierte per Kontaktron. »Vorher möchte Oberst Ree mit Ihnen reden«, sagte er. Leeta nahm das angebotene Kontaktron. »Oberst?« Vor ihren Augen entstand sein Abbild. »Dr. Dobra, Sie machen sich ja gar keine Vorstellung davon, wie besorgt ich um Sie gewesen bin.« Ree gab sich höchst jovial. »Nicht halb so besorgt wie ich, Oberst. Wir müssen uns über eine ganze Menge unterhalten, Sir. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich’s gerne woanders tun. Ich stel le Ihre Handlungsweise nicht in Frage, aber es gibt hin sichtlich der gegenwärtigen Situation und in be-zug auf die Romananer gewisse Dinge, die wir ... ah ... unter poli tischen Gesichtspunkten noch einmal diskutieren sollten.« »Ich verstehe.« Ree legte die Nasenwurzel in Falten. »Dr. Dobra, es wäre mir sehr lieb, wenn Sie einsehen wür den, daß ich dazu gezwungen gewesen bin, bestimmte Schritte zu ...« Leeta winkte ab. »Dafür habe ich vollstes Verständnis, Sir. Ich halte eine vollständige Neueinschätzung der Romananer für angebracht. Ich habe hier vieles erfahren. Ich bin der Meinung, daß ich Ihnen bei Ihren An strengungen und dem Direktorat in beträchtlichem Um fang dienlich sein kann. Ich werde Sie später informieren. Wie haben sich meine Mitarbeiter verhalten? Waren sie kooperativ?« Sie verkniff die Augen und wartete. Vieles hing von seiner Antwort ab. Hoffentlich hatten Chem und Marty keinen Mist gebaut. Ree nickte. »Ihr Basislagerteam hat sich rundum hilfs bereit gezeigt. Wir haben eine Anzahl Einheimischer in Gewahrsam nehmen müssen, darunter auch die Santos
und Spinnenleute, von denen Sie verschleppt worden sind.« »Ausgezeichnet. Freut mich zu hören, daß meine Kol legen sich nicht von zweitrangigen Erwägungen haben irreleiten lassen.« Leeta schenkte Ree ein aufrichtiges Lächeln. »Dr. Chem allerdings ...« Ree zögerte. »Er ist ein bedeutender Forscher, Oberst. Ich glaube, das erklärt manches ... Nachdem ich so lange mit ihm zusammengearbeitet habe ... Tja, ich bin sicher, die letzte Zeit ist für ihn besonders stressig gewesen.« Diesmal lächelte sie Ree vertraulich zu. »Anscheinend sind Sie in vorzüglicher Stimmung, Doktor. Ich nehme an, daß Sie nichts Schlimmes abbe kommen haben. Nachdem wir Miss Solare gefunden hat ten, waren wir Ihretwegen in großer Sorge. Wissen Sie zufällig, wo wir Leutnant Sarsa finden könnten?« Ree hob die Brauen. »Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, Oberst, war sie gerade dabei, in einer Schlucht auf Santos zu schießen. Was nach den Regenfällen aus ihr geworden ist, weiß ich nicht. Falls sie noch lebt, ist sie sicherlich in guter Verfassung. Sie ist ein ganz herausragender Offizier, Oberst. Ich ... ich würde empfehlen, sie zu belobigen, soll te sie lebend auftauchen.« Leeta ließ ihre Stimme vor Bewunderung beben. »Na gut.« Ree wirkte erleichtert. »Ich vermute, Sie brauchen erst mal ‘n bißchen Zeit, um sich zu sammeln. Wir treffen uns irgendwann im Laufe des Abends in Ihrem Basislager.« »Erst wünsche ich mir von Ihnen ‘ne Gefälligkeit, Sir.« Leeta beobachtete seine Reaktion. Ree musterte sie aufmerksam, seine Lider verengten sich. »Ja, Doktor?« »Falls Sie keine Einwände haben, hätte ich die Besat zung dieses ST bis auf weiteres zu meiner Verfügung.« Sie
hob den Kopf leicht an. Rees Augen glitzerten. »Soll das ‘ne Art von Vergeltung werden, Doktor?« »Gewissermaßen, Sir.« Sie erwiderte sein Grinsen. »Also gut. Ich unterstelle, Kapitän Helstead ist anwe send. Er wird Ihre Anweisungen befolgen, solange sie im Rahmen seiner allgemeinen Befehle bleiben.« Rees Bild erlosch. Leeta drehte den Kopf und sah Helstaed an. »Vermut lich haben Sie ‘ne Holo-Aufzeichnung meines Kampfs mit dem Bären?« fragte sie. »Jawohl, Gnädigste.« Er zog eine Miene, als hätte er eine Granate verschluckt. »Prächtig. Ich möchte sie haben. Irgendwann werde ich sie bestimmt mal meinen Enkeln zeigen wollen. So, und wie flott können Sie mich ins Basislager befördern?« »In weniger als drei Minuten, Gnädigste.« Diesmal salutierte er. »Aber erst müssen wir das Pferd einfangen.« Die Rappenstute hatte sich mittlerweile durch die halbe Ebene entfernt, während die Patrouillensoldaten in ihren glänzenden Schutzpanzern sich erfolglos abstrampelten, um sie zu umzingeln, sie ihnen jedoch immer wieder aus riß. * * * Marty Bruk sah, wie sich außerhalb der großen Kuppel der über hundert Meter lange, weiße Rumpf eines ST auf den matschigen Landeplatz herabsenkte. Während der vergangenen Wochen hatte er sich an diesen Anblick gewöhnen können. Das mußte die Maschine sein, die Leeta brachte. Er schlenderte hinaus, und Bella Vola lief ihm nach. »In welchem Zustand wird Leeta wohl sein?« fragte Bella, hakte sich bei ihm unter. »Im schlimmsten Fall kann’s um sie so stehen wie um Netta.« Marty zuckte die Achseln. »Schwer zu sagen. Es ist ‘ne
Sache der natürlichen Auslese. Manche halten durch, andere gehen kaputt.« »Aber ich glaube, wir haben’s richtig gemacht. Sie hat unser Bemühen gutgeheißen, mit dem Militär gute Beziehungen beizubehalten.« Bella schaute sich nach den Patrouillensoldaten um, die die Umgebung bewach ten. »Ich glaube, alles ist gut unter Kontrolle.« Sie konn te die auf sie gerichteten Lauschmikrofone geradezu spüren. »Jedenfalls ist’s dufte, daß sie wieder da ist. Ein paar unserer Arbeitsergebnisse werden sie bestimmt überra schen.« Marty fing halbherzig über angeblich von ihm gemachte, einzigartige genetische Entdeckungen zu schwätzen an. Eine Luke öffnete sich, und eine Einheimische sprang heraus, ein Gewehr in der Hand. Eine Abteilung Sturm truppen folgte ihr. Gleichzeitig ging eine zweite Luke auf; die Romananerin ging hinüber und führte ein schwarzes Pferd ins Freie. Die Soldaten stellten sich beiderseits eines hölzernen Gebildes auf und trugen es fort. Marty blieb stehen, als die scheinbare Einheimische mit dem Pferd auf ihn und Bella zukam. »Ich glaub’s nicht! Dobra? Bist du’s?« Sie trat näher, den Blick auf ihn geheftet, musterte ihn wachsam. »Sie ist nicht mehr dieselbe Frau«, flüsterte Bella trotz der Mikrofone, »die kürzlich von hier abgeflo gen ist.« »Hallo, Marty. Hallo, Bella.« Leeta grinste die beiden an. »Oberst Ree sagt, ihr habt das Fort während meiner Feldtätigkeit tapfer gehalten. Unteroffizier?« Das letzte Wort sagte sie in scharfem Ton. Ein Mann im Schutzpanzer lief herüber und salutierte. »Gnädigste?« »Kümmern Sie sich um das Pferd. Sorgen Sie dafür, daß es Wasser, Futter und Bewegung hat.« Der Soldat nahm die Zügel mit sichtlichem Zögern und offenkundiger
Abneigung. »Ach ja, Unteroffizier«, rief Leeta, »und noch was ...« »Gnädigste?« meinte er halblaut, schaute sie ängstlich an. »Verpatzen Sie diesmal nichts.« Leetas Stimme klang unterkühlt. Knapp nickte der Mann, ehe er die Stute wegbrachte. Leetas Augen funkelten vor Spaß. Sie drückte Bella an sich. »Sprich laut irgend was«, flüsterte sie, »während ich Marty umarme.« »Wir haben uns riesig Sorge um dich gemacht«, begann Bella. Leeta schlang die Arme um Marty. »Ist irgendwo ‘n Raum, wo wir uns ohne Lauscher unterhalten können?« »Keine Ahnung«, flüsterte Marty. »Dürfte ungefähr ‘ne halbe Stunde dauern, ‘s rauszufinden.« »Gut. Am besten benehmt ihr euch ganz normal. Seid ihr noch ‘n Paar?« Der Glanz in Martys Augen genügte ihr als Antwort. »Komm, ich kann’s kaum erwarten, dir zu zeigen, was wir alles entdeckt haben«, schwadronierte Brak, während seine Gedanken wie rasend kreisten. »Ich möchte, daß du dir mal die Resultate unserer Untersuchung der DNSStränge ansiehst.« Er hatte eine Idee. »Da gibt’s ‘ne wirk lich unerhört wichtige Valinsubstitu-tion. Und übrigens, weißt du schon, daß die planetaren Pflanzen alle nötigen Aminosäuren liefern, die Fauna dagegen überhaupt keine? Bei ausschließlicher Ernährung durch hiesiges Fleisch müßte man innerhalb weniger Monate verhungern.« Er und Bella begleiteten Leeta zu dem Tisch neben der elektronischen Meßdetektoranlage, zogen sie beiseite, ohne auf die Tatsache zu achten, daß sie nach Qualm stank. »Hier«, schwatzte Marty. »Schau dir mal die Kur ven der Anthropometrie an.« Gleichzeitig aktivierte er, während auf dem großen Monitor Zahlen und Holos auf glommen, den Bildschirm seines Computers.
Was ist los ? tippte er. Wir müssen uns besprechen, antwortete Leeta auf die gleiche Weise. Es ist nicht alles so, wie es zu sein scheint. Dabei machte sie lautstark Bemerkungen über die Daten auf der großen Mattscheibe. Dachten wir uns, tippte Bella. Ree kommt am Abend zwecks Konferenz. Vielleicht muß ich dann komisches Zeug reden. Vertraut mir. Es geht um eine wirklich bedeutende Sache. Was ist Chems Problem? Währenddessen kommentierte Leeta fortgesetzt die oste ologischen Informationen über die Romananer. Unbekannt, teilte Marty mit. Keine Kommunikation zwischen uns und Schiff vorhanden. Nachrichtensperre? erkundigte sich Leeta. Klar, tippte Bella. Haben aber mit Ree Informations austausch vereinbart. Wie ist deine Meinung? Sind wir richtig vorgegangen ? Vollkommen richtig, tippte Leeta zur Antwort. Wir dachten uns gleich, daß irgendwas Verdächtiges in Gang ist, gab Bruk ein. Wir machen bei allem mit, was Spaß, Gefahr und Aufregung verspricht. Wie das Militär die Sache handhabt, paßt uns gar nicht. Es werden zuviel Romananer mit Blasterverbrennungen eingeliefert. Läßt sich nicht vertuschen. Ihr werdet später alles von mir erfahren, tippte Leeta. Erstklassiger Typ von Romananer wird gerade im ST zusammengeflickt. Er wird anschließend hergeschickt. Bitte lA-Be-handlung. Wichtiger Mann. Kann ich mich auf Euch zwei verlassen? Ich brauche Leute, die unbedingt zu mir halten. Sie nuschelte etwas über die romananische Statur, während sie Marty und Bella eindringlich musterte. »Und das ist längst nicht alles«, sagte Marty mit einem andeutungsweisen Lächeln auf den Lippen, indem er nik kte. »Ich glaube, wir haben noch viel mehr zu bieten, es dürfte deine kühnsten Hoffnungen übertreffen.« »Amen«, ergänzte Bella ihn; ihre Augen verrieten ihre Erregung.
»Ist ja toll«, sagte Leeta mit einem Aufseufzen. Sie tippte: Seid um Gottes willen VORSICHTIG. Es dreht sich hier um eine viel gefährlichere Angelegenheit, als Ihr beide es Euch momentan vorstellen könnt. Es geht um Menschenleben!!! Sie blinzelte, löschte den gesamten Text aus Mar-tys Computer. »Meine Abenteuer werde ich euch später erzählen. Es wird ‘ne Weile dauern, und am besten gönnen wir uns dabei ‘n Bier. Aber jetzt will ich erst ein mal unter die Dusche.« * * * Damen Ree las Leeta Dobras Bericht. Er war vorläufi ger Natur, überwiegend detaillierte er lediglich, wo sie ge wesen war und was sie erlebt hatte. Am Schluß stand eine Reihe von Empfehlungen, die er beinahe überlesen hätte. Anfangs las er sie zerstreut, am Ende hatten sie ihn in Erstaunen versetzt. Während sein ST neben der Maschine landete, die er auf Leeta Dobras Wunsch für sie abkommandiert hatte, war er tief in Gedanken versunken. Dobras Empfehlungen haftete fast etwas Militärisches an. Sie waren auf eine Besatzungstruppe zugeschnitten, deren höchstes Ziel dar aus bestand, Konflikte zu vermeiden. Aber was taugten sie in der Praxis? Und weshalb legte sie sie überhaupt vor? Ree furchte die Stirn, während er über die Ausstiegsrampe in den Sonnenschein schritt. Im Sammellager standen Gefangene Schlange. Es wur den zu schnell zu viele. Spinnenkrieger, Santos und Angehörige der kleineren Gruppen von Räubernomaden, die an ihrer Peripherie lebten. Die Internierten zählten zu dem Schlag Leute, der erst einmal auf alles schoß. Durchschnittlich jede halbe Stunde kam ein ST und brach te Neue. Ree schnitt eine unzufriedene Miene. Auf jeden ge fangengenommenen Romananer mußte man zwei oder mehr tote Romananer rechnen. Im Lager befanden sich
über dreitausendfünfhundert Mann. Eine ungute Ent wicklung. Wer sollte ihm glauben, falls es je zu einer Untersuchung der Vorgänge kam, daß die lediglich mit Gewehren bewaffneten Romananer sich seiner weit über legenen Truppe nicht ergeben hatten? Ree stieß ein Brummen aus. Die ganze Sache lief völlig schief. Marty Bruk geleitete ihn in den großen Kuppelbau. Nachlässig erwiderte Ree seine Ehrenbezeugung. Wieso, zum Teufel, sind diese Wissenschaftler jetzt so aufs Salutieren versessen? Nervös und unbehaglich folgte er Marty in den Kon ferenzraum. Leeta Dobra, die normale Zivilkleidung trug, stand auf und salutierte ebenfalls. »Kommen Sie, Doktor, nun hören Sie aber mal auf!« Ree geriet aus der Fassung. »Sie gehören doch nicht dem Militär an. Was soll das bedeuten?« Leeta lächelte. Hatte sie einen etwas energischeren Blick als vorher? Sie hatte abgenommen. Nicht daß sie viel Gewicht zu verlieren gehabt hätte. Sie war sehniger und wirkte irgendwie zäher. Insgesamt erweckte sie einen Eindruck von Kraft und Unabhängigkeit. »Wir sind ein Teil des Systems, Oberst«, antwortete sie. »Ich bin mir nicht sicher, welchen Platz Sie uns zu weisen würden, aber ich glaube, angesichts der Situa tion sollten wir als funktionales Kader zusammenarbei ten.« Woher kommt meine Überzeugung, überlegte Ree, an der Nase herumgeführt zu werden ? »Leeta, ich weiß wirklich nicht, ob das sein muß.« Ree nahm Platz, bemerkte beiläufig, daß die Forscher sich erst setzten, nachdem er es getan hatte. »Also, ich habe vorhin Ihren Bericht gelesen, Doktor. Die Empfehlungen, die Sie geben, haben mein Interesse erregt. Aber erzählen Sie mir doch erst einmal alles ganz inoffiziell und persönlich.« Leeta wiederholte mündlich, was im Bericht stand, beschrieb die Rettung durch die Spinnenkrieger, schil
derte Ritas Tapferkeit, Solares schlappe Haltung, die Flucht in die Hügel, Regen, Kälte und den Edelmut der Spinnenkrieger. »Als wir den Santos begegnet sind, blieb uns nichts anderes übrig, als zu versuchen, die Initiative zu behalten. Rita und Philip verfolgten sie, als die Santos Reißaus nah men und sich verdünnisieren wollten. Eisenauge war ver wundet worden, und ich bin nun mal kein Soldat.« Sie warf Ree einen Blick der Ratlosigkeit zu. »Deshalb bin ich im Hintergrund geblieben und habe mich um Eisenauge gekümmert, ihn ins Trockene gebracht. Ich glaube, die Meds in dem ST können Ihnen über seine Verletzung am vollständigsten berichten. Danach ist dann durch die Regenfälle in der Schlucht der Fluß geschwollen, so daß Leutnant Sarsa und Philip — mal angenommen, sie lebten noch — nicht mehr zu uns stoßen konnten. Was ihr weite res Schicksal betrifft, dazu kann ich nichts sagen, Oberst. Als ich gestern die Stute durch die Schlucht geführt habe, waren keine Leichen zu sehen gewesen — aber was heißt das schon bei so starker Strömung? Man hat nicht mal noch erkennen können, daß dort überhaupt je Menschen gewesen waren.« Ree lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und betastete sich das Kinn. »Ich hatte befürchtet, Sie würden die Maßnahmen, die ich eingeleitet habe, nicht verstehen. Dr. Chem fühlte sich jedenfalls nicht dazu fähig. Aber Sie müssen berücksichtigen, es war Gefahr für Menschen im Verzug. Aufgrund der... äh ... Neigungen dieses Chester Armijo Garcia war ich sogar besonders mißtrauisch. Ich habe getan, was ich für richtig hielt.« Ree hob die Brauen, während er Leeta betrachtete. Eine äußerst anregende Frau, befand er, vor allem mit dieser neuen Eindrucksstärke. »Sie tragen die Verantwortung für Sicherheit und Schutz des Personals und sämtlicher Direktoratsbürger, Oberst.« Dobra nickte nachdrücklich. »An Ihrer Stelle
hätte ich das gleiche getan. Bezüglich des bedauerlichen Schicksals Netta Solares habe ich meine Mitarbeiter auf klärend informiert. Mir wär’s genauso ergangen, wäre nicht Leutnant Sarsa gewesen. Die Spinnenkrieger, die uns gerettet haben, sind für Netta knapp zu spät ge kommen. Rita hat nicht auf Rettung gewartet, sondern gehandelt. Was Ihre Verfügungen angeht...« Belustigt blickt sie hoch. »Ich wette, die Einheimischen mißachten sie.« »Das ist eine Untertreibung«, gab Ree ironisch zur Antwort. »Mir ist in diesem Zusammenhang eine in Ihren Empfehlungen enthaltene Bemerkung aufgefallen. Könnten Sie mir erklären, wie Sie zu solchen Schlußfol gerungen gelangt sind, während Sie bei Regen in einer Höhle in den Bergen gesessen und abgewartet haben?« »Sie nennen so was Verhör. Bei uns heißt das Perso nenbefragung. Den Mann, den ich aus den Bergen mit gebracht habe, benötigen wir dringendst. Er ist, soweit der Vergleich paßt, so was wie ein Häuptling des Spin nenvolks, die mächtigste Einzelperson mit Ausnahme der Propheten, aber die scheren sich ja nicht allzuviel um die alltägliche Welt.« »So, nicht?« Ree empfand plötzlich große Erleichte rung. »Nein, ihre Domäne ist die Zukunft, Oberst. Mit dem Alltagsleben befassen sie sich nur ungern. Es macht sie nervös. Sie sehen einfach zuviel. Zum Beispiel würden sie sehen, daß kleine Kinder, die sie kennen und gern haben, in wenigen Monaten an Schwindsucht sterben ... Solche und ähnliche Sachen eben.« »Leuchtet mir ein«, sagte Ree. »Aber warum kapitu lieren die Romananer trotz unserer gewaltigen Überle genheit nicht?« Damit stellte er die Frage, die ihn am mei sten beschäftigte. »Kein militärisches Axiom, das ich kenne, verleiht einem derartigen Verhalten einen Sinn. Darauf geben Sie mir ‘ne Antwort, Doktor!«
»Gottes Wille«, entgegnete Dobra gelassen. »Außer dem habe ich mit eigenen Augen unbegründete ST-Angriffe beobachtet.« »Hä? Ist das bei denen so wie früher bei den Moslems?« Ree verzog das Gesicht, dachte an Selbstmordattacken, Bombenanschläge und Terrorismus. Unbegründete STAngriffe? »Zumindest sehr ähnlich.« Dobra winkte und ließ sich einen Becher Kaffee reichen. »Darum lautet meine erste Empfehlung, ihnen alle erwünschten religiösen Handlungen zu gestatten. Wissen Sie, nach ihrem Glauben ist Gott — bei ihnen wird er Spinne genannt — an ein höl zernes Kreuz genagelt worden, damit die Menschen frei sind, kommen und gehen können, wie sie wollen. Wenn nun Sie versuchen, ihnen das Reisen zu verbieten, müssen sie sich natürlich fragen, wer sie denn eigentlich sind, daß sie dem Willen Gottes zuwiderhandeln sollten. Er hat ihnen den richtigen Weg gewiesen. Folgen sie ihm nicht, wird er sich von ihnen abwenden.« Anscheinend schmek kte der Kaffee ihr bestens. Ree runzelte die Stirn. »Und falls ich ihnen den reli giösen Kult und das Reisen nicht erlaube?« Er musterte Dobra, während sich in seinen Gedanken ein Verdacht abzeichnete. »Dann müssen Sie alle und jeden von ihnen umbrin gen.« Leeta sah ihn mit festem Blick an. Das war zuviel. »Nun machen Sie mal ‘n Punkt, Dok tor! Alle umbringen? Das ist doch Wahnsinn. Niemand würde zuschauen, wie sein gesamtes Volk einer nach dem anderen ausgerottet wird.« Ungläubig schüttelte Ree den Kopf. »Doktor, ‘s muß der Stress sein, weshalb Sie so was daherreden.« Das war die Erklärung. Die ar me Frau hatte sich zu lang unter diesen Wilden aufge halten. Lee sah seinen Verdacht bestätigt. Es war am rat samsten, sie ins Raumschiff hinaufzubringen. Sie brauchte, so wie Solare, eine ...
»Oberst, wie hoch sind die Verlustzahlen der Einge borenen?« fragte Dobra, ohne im geringsten beeindruckt zu sein. Damit verunsicherte sie Ree wieder gehörig. »Sie haben unsere Erwartungen weit überschritten.« Unbegründete ST-Angriffe? War das damit gemeint, wenn Raschid davon sprach, ganze Gruppen von Romananern seien durch Blasterbeschuß zersprengt worden? Betrieb da etwa irgendein Element unter seinen Offizieren eine Extratour? Wer? Antonia Reary! Sie will mich diskreditieren — mich abservieren! »Es verhält sich sogar noch schlimmer.« Leeta begann ihm einzuheizen. »Ihre Männer verfügen gar nicht über so was wie zuverlässige Verlustmeldungen. Ich habe mir die Freiheit genommen, den Vorfall in der Gessali-Schlucht zu untersuchen. Ihnen sind drei Gefangene, drei tote Pferde und sechs tote Romananer gemeldet worden. Darüber hin aus habe ich aber eigenhändig sechs weitere Tote aus dem Lager Gessali geworfen. Das macht zusammen neun, Oberst.« Ree fummelte an seinem kurzen Bart. Reary will das Kommando über mein Raumschiff! Brauchte er womög lich neue Verbündete? »Unseren verläßlichsten Schätzungen zufolge leben annähernd eine dreiviertel Million Romananer auf diesem Planeten«, fügte Dobra hinzu. »Alles in allem haben Sie bis jetzt vielleicht viertausend gefangengenommen. Das läuft auf zwölftausend gezählte Getötete hinaus. Nach nie driger Schätzung dürften im Hinterland nochmals fün fundzwanzigtausend Menschen umgekommen sein. Und haben Sie mit alldem auch nur ein Mindestmaß an Kooperation erreicht?« Ree lehnte sich zurück. Das verdammte Weibsbild war jetzt richtig in Fahrt. Was sollte er unternehmen? Er hatte nichts anderes getan, als solide militärische Okku
pationstaktik angewendet. Reary wartete nur darauf, daß es zu einem Fehlschlag kam. Zweifellos verfaßte sie schon ihren Bericht für Kimianjui — und Skor Robinson. Welcher Ausweg bot sich an? Ein zeitweiliger Pakt mit Dobra? »Und was würden Sie empfehlen, Doktor?« »Sie haben meine wichtigsten Empfehlungen gelesen.« Leeta musterte ihn. »Oberst, wir beide stehen auf dersel ben Seite. Die Lage hat sich längst von der ruhigen, fröh lichen, wissenschaftlichen Durchführung eines Forschungsprojekts wegentwickelt. Sie und ich, wir wis sen das. Es handelt sich jetzt um eine militärische Operation. Falls sie mißlingt, ist’s zu Ihrem Nachteil. Es geht um Ihre Karriere, aber um meine auch.« Da habe ich also meine Verbündete. Aber wohin wird das führen ? Verstohlen lächelte Ree. Und ich finde sie attraktiv. Wie könnten wir eine gemeinsame Zukunft haben, sie und ich? Momentan bot sie ihm einen Kompromiß an, mutete ihm weder eine Verurteilung zu, noch jubelte sie ihn hoch, sondern es ging ihr um einen Kompromiß, der dabei hel fen sollte, eine immer untragbarere Situation zu retten. Und was sollte nach Atlantis werden? »Vielleicht können wir zu einer zweckmäßigen Lösung gelangen. Ich habe Ihre Empfehlungen sorgfältig gelesen. Sie meinen, die Romananer sollten im großen und ganzen sich selbst überlassen werden, man sollte ihnen beschränkten Reiseverkehr zwischen den verschiedenen Gruppierungen gestatten, die Fortsetzung der Forschungstätigkeit Ihres Teams genehmigen, Verstöße gegen den Landfrieden bestrafen, in allen größeren Dörfern Militärstützpunkte einrichten und ein Programm zur Anpassung der Romananer an die Direktoratswerte in die Wege leiten.« Leeta schwieg, die Arme verschränkt, den Blick in Rees Augen gerichtet.
»Außerdem raten Sie zur Modifizierung des sozio-ökonomischen Systems bei gleichzeitigem Import von Gebrauchsgütern sowie hier lebensfähigem Vieh und anbaubarer Nutzpflanzen. Sie empfehlen, beim Direktorat wegen geeigneter Ernährungsgrundlagen anzufragen, und die anderen Kontinente unverzüglich für die Besiedlung zu erschließen. Ich glaube, das sind ganz sinnvolle Vorschläge.« Wie weit kann ich gehen ? »Und was ist mit Ihrem Kollegen Dr. Chem?« Ree beugte sich vor, ließ sich seine Neugier offen anmerken. Zu seiner Überraschung antwortete Dr. Dobra ohne zu zögern. »Dr. Chem hat seine Aufgaben. Ich würde nahele gen, die wesentlichen Bekanntmachungen im Hinblick auf die Romananer unter seinem Namen zu verbreiten, wäh rend individuelle Verdienste den jeweiligen Forschern zufallen, etwa hier unserem Marty Bruk. Dadurch erhalten wir bei unserem Vorgehen die professionelle Anerkennung, die wir seitens der Akademiker brauchen. Ferner setzen wir — als Bestandteil der Gesamtstrategie natürlich — unsere Forschungen fort und sammeln weiter Daten über die Romananer. Dadurch halten wir die Stimmungslage unter Beobachtung und können hoffent lich eventuellen negativen Tendenzen entgegenwirken, bevor sie in Gewalt umschlagen. Mit Ihrem Muskelspiel und unserem Grips wird’s vielleicht doch noch möglich sein, alles zum Besten zu wenden.« Allem Anschein nach wußte sie für alles eine Lösung. »Sie haben die Lage gut durchdacht, Doktor. Ich muß zugeben, daß Ihre Argumente mich beeindrucken. Wie verhält es sich mit dem verletzten Einheimischen? Sie sagen, er sei ein sehr wichtiger Mann. Weshalb?« »Er gilt als größter Krieger des Spinnenstamms.« Leeta zögerte nicht im geringsten. »Beachten Sie die hiesige Kultur, Oberst. Die Menschen hören hier auf Kämpfer, die Coups errungen haben — das sind, nebenbei erwähnt,
menschliche Skalps. Dieser Eisenauge hat davon mehrere Dutzend. Deswegen ist er ‘n ganz hohes Tier. Die meisten Männer gelangen im Laufe ihres Lebens bloß an drei oder vier Coups. Das Spinnenvolk wird auf ihn hören, und er hat gute Kontakte zu den Propheten. Sie haben ihn als Volksretter ausgeguckt.« »Und die Santos?« fragte Ree. »Kennen Sie dort auch so einen Krieger?« »Wir werden schon einen finden.« Leeta Dobra wirkte, als wäre sie ihrer Sache in jeder Beziehung völlig sicher. War das die Frau, die fast einen Nervenzusammenbruch erlitt, nachdem ihr Geliebter Suizid begangen hatte? Es war kaum zu glauben. Aber andererseits brauchte sie viel leicht einen barbarischen Typ von Mann. Ree schaltete sich am Kommunikator an seinem Gürtel der Kommu zu. Neugierig las er auf dem Mini-Bildschirm Dobras Gesundheitsdaten. Sie war einer kurzen medizinischen Untersuchung unterzogen worden. Man hatte keine Samenspuren in ihrem Vaginalbereich festgestellt. So nah war sie also doch keinem Einheimischen gekommen. Er lehnte sich wieder zurück. Bruk und Vola hatten zu allem, was Dobra gesagt hatte, zustimmend genickt. Falls sie sich nicht in die Wilden vergafft hatte, mußte man ihr Betragen als nüchtern professionell einstufen, war sie sich darüber im klaren, daß sie Atlantis, falls aus der militäri schen Intervention eine Katastrophe wurde, als Studienobjekt abschreiben und Ree seinen Abschied neh men konnte. »Könnte ich wohl mit Ihnen allein sprechen, Doktor?« fragte Ree, lächelte Bruk und Vola zu. Die beiden standen auf und gingen mit seinen Stabsoffizieren hinaus. Per Kommu ließ er die Lauschmikrofone und Monitoren des aktivieren. »Warum?« wollte er wissen, sobald sich die Tür ge schlossen hatte. »Weshalb sind Sie so stark an Abma chungen mit mir interessiert?«
Sie schüttelte ihr Haar, lockerte es, stützte sich auf die Tischkante. »Weil ich einen Erfolg brauche!« Ihr Blick bohrte sich in Rees Augen. »Es gibt ‘ne Menge Leute, die behauptet haben, aus mir würde nie was. >Anthropologie?< rufen sie. >Wie soll denn so was Zukunft haben?< « Sie stieß ein bitteres Lachen aus. »Sie haben gehandelt, Oberst, wie es Ihrer Ausbildung ent spricht. Ich bin mit Rita unterwegs gewesen. Sie haben so reagiert, wie sie es auch getan hätte. Volle Pulle und durch bis zum Sieg. Das ist was Gutes. Ich habe gesehen, daß ‘s unter den Gesichtspunkten von Strategie und Taktik ‘n zweckdienliches Prinzip ist.« Ree nickte. »So? Warum verlangen Sie nicht von mir, daß ich wegen Überflüssigkeit von ‘m Berg springe? Ich kann den Planeten durch meine militärische Taktik un- . terwerfen. Was ist der Unterschied zwischen Ihrem und * meinem Plan?« »Schlechte Aufnahme in den Medien, Oberst, miserable Reputation. Auch das Direktorat ist nicht für die Ewigkeit gemacht. Haben Sie mal von einem General namens Westmoreland gehört? Nein? Er war ‘n General, der alle Vorteile auf seiner Seite hatte, die Sie haben — und trotz dem hat er verloren. Ist Ihnen ‘n Feldherr mit Namen Hitler ‘n Begriff? Er versuchte ein ganzes Volk auszurot ten. Er hat ebenfalls verloren. Ich bin hier, weil ich das einzige Spiel, das gegenwärtig läuft, gewinnen will. Eine solche Chance werde ich kein zweites Mal kriegen. Dies ist das erste Mal seit sechshundert Jahren, daß eine Gruppe Primitiver lebend studiert werden kann. Ich will die Gelegenheit wahrnehmen, meinen Namen in der Fachliteratur unvergeßlich zu machen — so wie Sie sich nachsagen können möchten, Sie hätten ‘n Planeten erobert. Das erklärt, kurz gesagt, das Warum.« Ree stand auf und fing an umherzuschlendern, trat nahe vor Dobra. »Machen wir’s zusammen?« fragte er leise, hob die Brauen.
Sie lächelte versonnen. »Sie sind zwar nicht mein Typ, Oberst, aber ich fühle mich geschmeichelt, und unter anderen Umständen könnte ich durchaus Interesse haben. Aber unter den gegenwärtigen Bedingungen hätte es für uns, käm’s heraus, äußerst nachteilige Folgen. Meine Empfehlungen gälten plötzlich als suspekt, Ihre Autorität und Befehlsgewalt würden geschwächt. Es gäbe zuviel Gequassel. Es geht um die Verteilung eines Planeten. Außer denen, die wir wohl zwangsläufig sowieso machen werden, dürfen wir uns keine weiteren Fehler leisten.« »Ich wäre kein Jeffray.« Er wartete, während sie über legte. Zu dumm, offenbar ist sie von dem Fall kuriert. Das war kein Ansatzpunkt mehr. »So, Sie haben also nachgeforscht, hm?« Sie betrach tete ihn scharfen Blicks. »Das wird Sie was kosten, Oberst. Ich hätte zwar das gleiche getan, aber übel nehme ich’s Ihnen trotzdem. Zur Entschädigung will ich, daß mein Kader Ihnen direkt untersteht. Ich reiche meine Berichte ausschließlich Ihnen ein, und solche Dussel wie dieser Helstead dürfen mir nichts zu sagen haben. Vielmehr wünsche ich, daß er mir unterstellt wird.« Reingefallen! Verdammt noch mal! Ree zwang sich zu einem Lächeln. »Tut mir sehr leid. Ich bin vorwitzig ge wesen, weil ich wissen wollte, durch was Sie so einen Kummer gehabt haben. Bitte halten Sie mich deswegen nicht für einen totalen Flegel. Sie sollen Ihr Kader haben. Ich werde die erforderlichen Befehle erteilen.« Zu viele Fehler. Werde ich alt? Er entfernte sich ans an dere Ende des Konferenzraums. »Ich bin Soldat, Doktor.« Er faltetet die Hände auf dem Rücken, drehte sich Dobra zu, erkannte Neugier in ihren blauen Augen. »Ich kann mein Raumschiff durch ein kom plettes Geschwader von Schlachtschiffen lenken, ohne daß mir ein Fehler unterläuft.« Er winkte. »Ich kann jedes Lebewesen auf diesem Planeten eliminieren. Dazu wäre ich genausogut imstande, und hätte er eine so gute
Verteidigung wie Arpeggio zur Zeit der Konföderation. Aber wir haben’s hier mit Kerlen zu tun, die auf Pferden reiten, mit primitiven Schießgewehren ballern und schlichtweg nicht kapitulieren wollen. Ich bin ein Kommandeur, der den Ruhm sucht, Leeta. Ich möchte ein Cäsar sein, dem Direktorat besiegte Nationen einverlei ben. Statt dessen könnte es mir passieren, daß ich nichts als Tausende von toten Barbaren vorzuweisen habe ... und in den Ruf gelange, ein Ungeheuer zu sein.« Er zögerte, seufzte auf, senkte den Blick auf seine Kampfstiefel. »Ja, wir sind uns einig. Sie und ich werden uns diese Welt teilen.« Er zögerte nochmals. »Erhöbe sie sich mit modernen Waffen ... stieße sie ins Direktorat vor, raubte, plünderte und kämpfte wie ein zivilisiertes Imperium, würde ich sie zerschmettern wie eine Glaskugel.« Wieder wandte er sich Dobra zu. »Weshalb kämpft nie mand noch so wie sie? Diese Romananer haben echten Kriegergeist. Sie haben Mut, sind tapfer ... aber keine Möglichkeit, zu gleichen Voraussetzungen gegen mich anzutreten. Endlich habe ich einen würdigen Gegner gefun den, aber es ist ihm unmöglich, so gegen mich zu kämpfen, daß es eine echte Herausforderung für mich wäre.« Dobra zuckte die Achseln; Schweigen folgte. »Nun bin ich an der Reihe«, meinte sie schließlich. Sie neigte den Kopf. »Unter uns beiden ... Warum sind Sie zu dem Handel bereit? Sie hätten eigentlich nicht darauf ein gehen müssen« — ihr Lächeln fiel leicht spöttisch aus —, »und Sie haben’s nicht getan, bloß um sich sexuelle Gunsterweise zu erschleichen. Sie sind ein viel durchtrie benerer Knabe. Sie brauchen mich. Wieso?« Ree verengte die Lider. »Dr. Dobra, irgend etwas hat Sie völlig verwandelt.« Zerstreut hob er eine Hand, ließ die nächste Bombe platzen. »Ich weiß jetzt, weshalb das Gesundheitsministerium Sie zum Psychen schicken will. Sie sind gefährlich.«
Ihre harte Miene blieb unverändert. »Sie haben das Vorrecht der Wahl, Oberst. Brauchen Sie mein Gehirn intakt... oder zermantscht?« Belustigt lachte Ree, fühlte sich mit seiner Bundesge nossin zufrieden — und sah gleichzeitig allen Anlaß, vor ihr auf der Hut zu sein. »Na schön, Sie haben mich durchschaut.« Soll ich es ihr verraten? »Dr. Dobra, ich weiß von den Ereignissen, die Sie als unbegründete ST-Angriffe< bezeichnen. Es handelt sich dabei um klare Verstöße gegen meine Befehle, die man mit dem Ziel verübt hat, mir Schwierigkeiten zu machen und letztendlich das Kommando über die Projektil zu entwinden. Aber eins, Doktor, lassen Sie sich sagen ... Mein Raumschiff wird mir niemand wegnehmen!« In grimmiger Entschlossenheit ballte er seine Hände zu knotigen Fäusten. Leeta biß sich auf die Lippe, senkte nachdenklich den Kopf. »Und wie weit werden Sie gehen, um Ihr Schiff zu behalten, Oberst?« erkundigte sie sich mit nach unten gerichtetem Blick. Ree kannte, als er antwortete, kein Zögern. »So weit ich gehen muß.«
16
Voller Staunen starrte Rita Sarsa ins endlos tiefe Schwarz der Höhle. »Der Nabel! Natür lich! Genau das Richtige, Philip. Wie weit reicht er in den Fels?« »Das weiß niemand«, entgegnete Philip. »Ist Platz ge nug?« fragte er. »Ich habe das Gefühl, man könnte die ganze Projektil drin verstecken.« »Von der Projektil kann nicht im entferntesten die Rede sein«, widersprach Rita. »Aber ein ST? Ja sicher, paßt hin ein. Der Rest unseres Vorhabens wird allerdings Probleme bereiten. Wir brauchten ausgebildete Techniker, um die Sensoren zu überlisten. Elektronisch kann ich so eine Maschine nicht verstecken. Diese Sachen liegen außerhalb meiner Spezialkenntnisse.« »Wie wollen wir’s also anfangen?« fragte Philip, ver suchte im Fackelschein die Höhlendecke zu erspähen. »Keine Ahnung.« Rita stöhnte auf. »Das ist der eine Punkt, zu dem mir nichts einfällt. Patrouillenfahrzeuge werden so fabriziert, daß man sie nicht stehlen kann.« Diese bittere Pille des Zurücksteckens schmeckte ihr über haupt nicht. Philip spürte ihre Niedergeschlagenheit. »Trotzdem können wir hier unsere Krieger verbergen.« »Das stimmt. Für Trainingszwecke ist hier überreich lich Platz. Am besten fangen wir umgehend mit dem Abklappern der Siedelei und dem Rekrutieren an. Ich glaube, in ein paar Tagen wird Jose auch zum Losziehen bereit sein.« Sie verstummte, schauderte in der kühlen Luft zusammen, die aus den abgründigen Tiefen der Höhle emporstieg. »Du bist wirklich der Ansicht, was wir planen, ist ‘ne reine Verzweiflungstat, nicht wahr?« Philip zog sie auf
einen unregelmäßig geformten Felsklotz nieder, setzte sich gleichfalls darauf. Mit den Händen streichelte er ih re Schultern, massierte die Verkrampfung aus den Mus keln. »Wir haben nicht die kleinste Chance, Philip«, sagte Rita mit unumwundener Ehrlichkeit. »Du hast die ST gesehen. Aber was sie anrichten können, wenn sie ihre sämtlichen Mittel einsetzen, davon hast du nicht die ge ringste Vorstellung. Ree geht relativ rücksichtsvoll vor. Er möchte nicht, daß ‘s zu einem regelrechten Blutbad kommt. Ich wünschte, Dr. Dobra wäre bei uns.« »Sie und Eisenauge leben«, wiederholte Philip nicht das erste Mal. »Den zurückgebliebenen Spuren zufolge muß Eisenauge verwundet worden sein. Leeta wird ihn wäh rend fast des gesamten Unwetters gepflegt haben. Als das Wasser sank, hat das Pferd etwas hinter sich hergezogen, und darauf hat wohl, was es auch war, Eisenauge gelegen. Eine andere Fährte habe ich nicht gefunden. Das Feuer hat noch geschwelt. Beinahe hätte ich sie noch angetroffen.« »Könnte sein, Dr. Dobra sähe was, das ich übersehe. Sie ist sehr gescheit, aber leider ‘n bißchen zickig. Gott steh uns bei, sollten wir sie mal brauchen, um jemanden zu kil len.« Man merkte Rita ernste Besorgnis an. »Morgen werden wir zu der Siedelei reiten«, sagte Philip. »Man wird doch nicht auf uns schießen, wenn wir zu einer Ortschaft unterwegs sind, oder?« fragte er. »Das hängt vom Inhalt der Proklamation ab.« Unter Philips Fingern hatte Rita sich entkrampft. »Ich begleite dich.« »Aber dich wird man erkennen«, wandte Philip ein. »Was soll werden, falls sie dich aufgreifen?« »Dann melde ich mich eben zum Dienst zurück.« Rita hob die Schultern. »Später hau ich ab und schlage mich hierher durch. Vielleicht wäre es so auf lange Sicht sogar günstiger. Dann bekäme ich ein besseres Gespür dafür,
was Ree plant und macht. Und wäre über seine Sicherheit svorkehrungen auf dem laufenden.« Philip senkte den Blick. »Ich weiß nicht, ob mir das recht wäre.« Rita schaute ihn an. »Würde ich dir fehlen, hm?« »Ja, ich würde dich vermissen.« Er holte tief Atem, at mete langsam aus, lauschte auf die merkwürdigen Echos des Nabels. »Für Frauen hatte ich nie Zeit. Ich hatte immer Echos in meinem Kopf — solche wie wir hier hören. Zu sonderbar, zu still. Ich machte mir auf dem Kriegspfad einen Namen und errang, wie man es von mir erwartete, meine Coups. Noch immer gab es die Stimmen und ihre Echos in meinem Kopf. Dann kam der Tag, an dem der Prophet sagte, wir sollten ihm in die Bärenberge folgen. Einem Propheten schlägt niemand etwas ab. Ich hörte die Stimmen ... und sah eine Zukunft, die ich nicht verkraften konnte. Also entzog ich mich dem Geschehen. Ich habe einfach ... Ich habe John Smith Eisenauge die Entscheidung treffen lassen, die er zu fällen hatte. Ich blieb am Leben, obwohl ich hätte sterben können ... und bin dir begegnet. Vieles hat sich verändert. Meine Rippen werden nie wieder wie vorher sein. Aber es hat noch mehr damit auf sich. Ich erinnere mich an den Kampf mit dir, daß ich mich fragte, wie eine Frau so stark sein könnte. Dann lagerten wir uns. Ich entfachte das Feuer und sah dich an ... und da hat sich in mir etwas für immer geändert. Wo zuvor nur Kälte war, herrschte auf einmal Wärme. Wo Gleichgültigkeit war, empfand ich plötzlich Verlangen. Ich wurde geheilt.« Herzhaft küßte er Rita. »Nein, ich möchte nicht, daß du fortgehst.« Die Fackel loderte auf, Schatten tanzten über die von Wasser ausgewaschenen Felsen. »Ich bin mal verheiratet gewesen.« Rita wartete auf eine Reaktion. Keine erfolgte. »Mit einem anständigen Mann, der eine Realität lebte und Träume wollte. Du hat
test Träume und wolltest Realität. Ich möchte Träume zur Realität machen. Das soll mal jemand verstehen!« »Haben auf dem Raumschiff viele Männer deinen Weg gekreuzt?« fragte Philip. »Schön wie du bist, muß es wohl schwierig gewesen sein, die vielen Verehrer voneinander zu unterscheiden.« Rita hob die Schultern. »Philip, du warst ‘ne männliche Jungfrau, ehe ich aufgetaucht bin. Auf Raumschiffen geht’s nun mal anders zu. Du solltest dir wohl besser darüber im klaren sein, daß ich nicht gerade ein unberührtes Blümchen bin.« Sie forschte in seiner Miene, um sicher zu sein, daß er sie verstand. Ein leichtes Runzeln furchte seine Stirn. »Und wenn du zurück auf dem Schiff bist, wirst du dann wieder eine Blume für viele Hände sein?« Rita sah, daß diese Frage ihn ernsthaft beschäftigte. »Nein, das nicht.« Sie zögerte, lenkte ihren Blick in die Finsternis über ihren Köpfen. »Ich habe meinen Ehe mann sehr geliebt. Wir hatten eine richtig nette Bezie hung. Ich hatte mich dafür entschieden, Kinder zu krie gen, Hausfrau und Mutter zu sein, nebenbei zu studieren und später ‘ne Laufbahn auf ‘m Teilzeitposten ein zuschlagen. Dann kam aber alles ganz anders. Sein Traum hat meinen Mann zugrundegerichtet. Aber ich hatte daraus gelernt. Sein Tod bedeutete für mich eine sehr nützliche Lektion. Also trat ich in die Patrouille ein und wurde verdammt gut in dem, was ich zu tun hatte. Ich dachte, ich hätte die optimale Lösung für mich ge funden. Männer kamen und gingen. Bei einigen meinte ich, sie möglicherweise lieben zu können ... Mit anderen habe ich mich bloß zum Vergnügen abgegeben. Keiner von ihnen hatte diesen entscheidenden Funken an Besonderheit. Sie kannten das Leben nicht richtig, seine Tragik, sie wußten nicht, wie dünn der Boden der Exi stenz ist. Irgendwie waren sie einfach bloß unwirkliche
Figuren. Ich glaube, es lag daran, daß sie keinen Tief gang hatten.« Sie verklammerte ihre in seine Finger. »Schließlich bin ich mit Dr. Dobra auf euren kleinen Planeten geraten. Zum erstenmal konnte ich mich nützlich machen. Ich war nicht bloß gut. Verstehst du? Ich war ... Ich meine, man kann gut sein, ohne nützlich zu sein. Wir kamen in Schwierigkeiten, und da brauchte Dr. Dobra mich plötzlich. Ich habe uns aus der Patsche gebracht... Na, jedenfalls fast. Ich glaube, eure Rettungsaktion hat mir richtig gefallen.« Philips Zähne glänzten, als er erheitert grinste. »Und da warst auf einmal du mit deinem Lächeln und deinem Lachen, und alles authentisch! Du hast dich um nichts geschert als ums Auskosten des vollen Lebens. Du bist freundlich, verwegen, gutaussehend und intelligent gewesen. Damit hast du in mir etwas ausgelöst, Philip. Du hast mehr vom Leben gesehen, als dir lieb war. Du bist ein ganz außergewöhnlicher Mann.« Leidenschaftlich küßte sie ihn, nahm seinen Kopf zwi schen ihre Hände, fühlte sein warmes Fleisch und die Festigkeit seines Schädels. »Um deine Frage eindeutig zu beantworten: Nein! Ich bin deine Rita, bis du jemand Besseres findest. Ich bin wahnsinnig und hoffnungslos in dich verliebt. Wir werden bei der Ausführung unseres vollkommen irrsinnigen Plans in den Tod gehen, aber wenigstens werde ich als glückliche Frau sterben.« »Sprich nicht so leichtsinnig über den Tod«, schalt Philip. »Ich habe einmal meinen Tod gesehen. Nicht bloß einen ausgedachten Tod, sondern einen wirklichen, voll ständigen und endgültigen Tod. Trotz seiner begrenzten Klugheit hat Eisenauge richtig entschieden, so daß ich den Traum nicht erleben mußte. Sollte der Tod kommen, laß ihn kommen, aber gewähre ihm die Würde des recht gewählten Zeitpunkts, Rita. Und was deine Bemerkung angeht, ich könnte jemand Besseres finden ...« Er hob die Schultern. »Die Frauen unseres Volkes sind keine
Kriegerinnen. Du dagegen hältst mich in deinem Bann. Nach allem, was ich höre, tun unsere Frauen mit dem Stab eines Mannes keine solchen Dinge, wie du sie kennst. Wenn du deine Beine um mich klammerst, habe ich ein Gefühl, als nähme ich mir einen Coup. Du weißt über das Leben Bescheid, Rita. Spinne hat uns auf seinen Weg geleitet. Er hat uns der Zukunft geweiht, und wir sind in sein Netz eingewoben.« Rita schloß die Lider, ihre Finger strichen über Philips Körper. »Du wirst ‘ne Chance kriegen, um deinen Wert zu beweisen, Liebster. Nur ein Held, ein Irrer oder ein Schwachkopf kann die Stirn haben, sich gegen die Pa trouille zu stellen.« »Ich brauche mich nicht zu beweisen.« Philips Antwort drang unbekümmert über seine Lippen. »Ich habe mich innerlich und äußerlich gesehen. Ich bin nicht mehr, als ich eben bin. Spinne muß es so gewollt haben.« Er schwieg einen Moment lang, zog eine etwas düstere Miene. »Andere Krieger wüßten dich nicht zu schätzen, Rita. Sie hätten vor deiner Kraft und deinen Fähigkeiten Furcht und könnten sich nicht mit dir auf dies kühne Abenteuer einlassen. Aber mein Leben hast du in ein Licht verwandelt, das sogar hier in der Höhle des Nabels leuch tet. Ich werde dich niemals für ein anderes Weib versto ßen.« Er küßte sie, ließ seine Hände an ihrer Gestalt hinab gleiten, fühlte die weichen, weiblichen Kurven ihrer Taille und Hüften. Er schob die Finger unter den Jagdrock, den sie trug, seine Hände umkreisten ihre Brüste, streichelten die Brustwarzen, bis sie sich erhärteten. Worte waren überflüssig, während sie gemeinsam von dem Felsbrocken langsam auf den Untergrund rutschten, weil sie nun die vollkommenere Sprache der Liebe sprachen. *
*
*
Marty nickte Leeta ein letztes Mal zu, indem er die Tür schloß. An einem Monitor, den er an einem Gürtelclip hängen hatte, blinkte es. »Alles klar«, sagte Marty. Bisher hatten sie keine Zeit für eine Zusammenkunft gehabt. Leeta hatte eine gute Woche lang mit Rees Leuten zusammengearbeitet. Immerhin war es ihr gleichzeitig möglich gewesen, Marty hinsichtlich seiner Gefühle aus zuhorchen. Bella Vola hatte sich mit Eisenauge befaßt und das romananische Vokabular erweitert. Zu guter Letzt war es Marty gelungen, sämtliche geheimen Monitoren und Abhörmikrofone aufzuspüren. Die wenigsten davon befanden sich in der Dusche. Diese Ob-servationsgeräte hatte er an eine Computerschleife gekoppelt, um eine überwachungsfreie Zone zu schaffen. «Tut mir leid, daß wir bis jetzt keine Zeit für uns gehabt haben. Die Terminplanung ist noch immer eng, also muß ich alles auf eine Karte setzen.« Leeta betrachtete Marty Bruk und Bella Vola. Eisenauge hockte belustigt an der Tür und rang mit seinem neuen, per Synch-Unterricht erlernten Standard Wortschatz. »Inwiefern das?« fragte Marty mit skeptischem Blick. »Wir haben’s geschafft, unsere Forschungstätigkeit im großen und ganzen bisher ungehindert fortsetzen zu dür fen.« »So wird’s aber nicht bleiben.« Ungehalten musterte Leeta ihn. »Gebrauche mal deinen Verstand, Marty! Wir haben sozusagen ‘n Pflaster auf ‘n Leck im Raumschiff geklebt. Oder man könnte sagen, wir versuchen, ‘ne Su pernova mit ‘ner Taschenlampe zu überbieten. Der gan ze Planet wird zweifellos ein ernster Krisenherd wer den.« Marty musterte sie mit einem Blick begriffstutziger Zurückhaltung. Bella schlang eine Hand um seinen Arm und schob ihn beiseite. »Manchmal muß man ihn erst mit der Nase drauf stoßen. Er ist ‘n schlaues Köpfchen, wenn’s sich um seine elektronischen Apparate dreht, mit
denen er Menschen ins Innere gucken kann, aber sobald’s auf menschliche Motivation ankommt, verlangsamt sich sein Denken. Er hat...« »Ach...!« Marty wollte widersprechen, doch Leeta winkte ab. Sie schenkte Bella einen halbherzigen Blick des Danks und schöpfte tief Atem. »Ehe ich auf Einzelheiten einge he, muß ich wissen, in welchem Verhältnis ihr zu den Romananern steht. Gebt mir eine klare Auskunft. Wenn ihr ihre Kultur retten könntet, würdet ihr’s tun? Und wieviel wärt ihr dafür zu opfern bereit? Habt ihr ... Ich meine ... Wie sehr kann ich mich auf euch verlassen? Euch vertrau en?« Sie versuchte, ihren Mitarbeitern in die Seelen zu schauen. Marty schluckte hörbar. Bella zog eine Miene der Be troffenheit. »Es ist alles ziemlich ernst, was?« erkundigte sie sich mit gedämpfter Stimme. Leeta nickte. »Sehr ernst. Mit euch beiden nehme ich ein entscheidendes Risiko auf mich. Wenn ihr zu mir hal ten wollt, muß es auf Dauer sein. Das ist keine bloße Redensart. Ihr werdet keinen Rückzieher machen können. Ihr müßt euch jetzt sofort entschließen. Ich kann euch keine Zeit zum Überlegen lassen. Macht ihr mit, oder nicht?« Ihr Blick ruckte zwischen ihren Gesichtern hin und her. »Leeta ...« Martys Miene spiegelte sein ganzes Unbe hagen. »Sie denken doch nicht an ... äh .. irgend was Verbotenes, oder?« Nochmals schluckte er. »An viel Schlimmeres, Marty«, antwortete Leeta. »In einem Szenario der nachteiligsten Folgen würden uns beruflicher Ruin und wahrscheinlich Haftstrafen erwarten. Möglicherweise kann die Sache euch das Leben kosten. Ich selbst bin längst vom Gesundheitsministerium fürs Psyching vorgesehen, habe also nichts zu verlieren.« Sie sah dem Paar Schrecken und Ungläubigkeit an. »Ich bin so oder so geliefert«, betonte Leeta.
»Andererseits steht es euch frei, einen Entschluß auf aus schließlich moralischer Grundlage zu fällen. Ich habe nicht vor, euch als unwissende Handlanger zu mißbrau chen. Ihr habt also die Wahl — aber trefft sie jetzt.« »Welche Wahl, Leeta?« fragte Bella; das Zittern ihrer Oberlippe zeigte an, welcher Belastung sie sich ausgesetzt fühlte. »Was könnte mieser sein als ein Konzentra tionslager und verbrannte Einheimische? Wir haben hier einige äußerst ungewöhnliche Vorgänge mitanschauen müssen.« Leeta hob die Schultern. »Ich rede von der Ausrottung der Romananer. Das Direktorat kann ihnen keine Freiheit und Freizügigkeit gewähren. Bedenkt, was ihr hier gese hen habt. Ihr wißt, wie viele Schwerverletzte in den Medizinischen Abteilungen behandelt werden. Ihr wißt, wieviel ST auf dem Planeten sind. Also könnt ihr euch leicht vorstellen, wie das Direktorat erst reagieren würde, sollte eine Ausbreitung der romananischen Kultur über den Planeten hinaus drohen.« Leeta spürte, wie ihre Emotionen hochkochten. Sie verstummte, holte mühsam Atem. »Mit Psychingteams?« meinte Marty. Leeta warf ihm einen kühlen Blick zu. »In der vergan genen Woche hat Ree dreißig Gefangene zur vollständigen psychologischen Persönlichkeitsrestrukturierung zur Projektil rauf geschickt. Bei sieben Individuen hat sie geklappt, elf wurden irrsinnig und kamen auf gräßliche Weise ums Leben ... und zwölf sind, soweit die Psy chingteams es feststellen konnten, völlig unbeeinflußt geblieben.« »Ich habe doch deutlich gesagt«, rief Marty, »daß ihre Gehirne verschieden sind. Es ist eine ganze Bandbreite von Variationen erkennbar, angefangen bei geringfügigen Abweichungen von der menschlichen Norm bis hin zu einer gänzlich anderen Art von Gehirn, Chester Armijo Garcia zum Beispiel verkörpert ein Exemplar dieses letz
teren Typus. Ich wette, es besteht eine Eins-zu-einsKorrelation zwischen ihrer Hirnmorphologie und der PsychingVerträglichkeit.« »Kann sein, Marty«, räumte Leeta ein. »Tatsache ist, die Romananer, die nicht als Normalfälle gelten, müssen entweder eingesperrt oder liquidiert werden.« »Wäre das nicht etwas extrem?« Bella schnitt eine trüb sinnige Miene. »Das verstieße doch gegen die Di rektoratspolitik.« »Dagegen verstößt auch das Abfackeln von Einheimi schen mit Blastern«, stellte Leeta klar. »Genauso wie das Erklären eines Planeten zur Verbotszone, wie Stop der Übermittlung wissenschaftlicher Daten, wie Kon zentrationslager und Kriegsrecht. Trotzdem müssen wir hier alle drei Dinge mitansehen. Worte und Taten des Direktorats klaffen auseinander. Wie sehr werden wir — wir als Individuen — eigentlich zum Narren gehalten?« Die beiden mußten eine lebenslange Indoktrination abstreifen. Waren sie dazu fähig, konnten sie es schaffen, hinter die Kulissen zu blicken? »Seht mal her!« Leeta setzte ihren überzeugungskräf tigsten Gesichtsausdruck auf. »Das Direktorat hat eine Gruppe von Barbaren entdeckt, die sie nicht ummodeln, nicht zum Stillsitzen zwingen und deren Verhalten es nicht vorhersehen kann. Garcia kann in die Zukunft schauen! Und er ist nicht der Einzige mit dieser Begabung. Was ist denn das grundlegende Prinzip, auf das sich das gesamte Direktorat stützt, hm? Sicherheit und Berechenbarkeit, oder nicht? Also?« Sie nickten. »Und was wird aus der Sicherheit, sobald Männer, die Räuberei und Kriegspfad als unveräußerliche Bestandteile ihrer Lebensführung erachten, das Recht einfordern, danach zu leben? Was heißt Sicherheit noch, wenn ein Schamane dazu fähig ist, die Zukunft vorauszusehen? Kann es dann noch mit Risiken verbundene Unternehmungen geben? Denkt man genauer drüber nach,
wird völlig klar, daß das Direktorat solche Menschen nie mals in Freiheit dulden kann. Sie sind eine Gefahr für alles, wofür das Direktorat steht. Und das ist noch nicht alles. Nach meinem Geschmack ist das gesamte Direktorat sowieso in Stagnation abgesunken und müßte einmal ordentlich aufgerüttelt werden!« Leeta klatschte eine Faust in die andere Handfläche. Bella verkniff die Lider. Martys Gesicht hatte sich zu einer Miene tiefster Besorgnis zerfurcht, seine Augen stierten ins Leere, während er die erhaltenen Informa tionen durchdachte. »Ihr seht also«, faßte Leeta zusammen, »letzten Endes gibt es nur eine Methode, um das Romananerproblem zu beseitigen: Sie müssen auf die eine oder andere Weise ver nichtet werden. Ich habe Ree weisgemacht, wir könnten sie im Laufe einer gewissen Zeitspanne akkulturieren. Aber wir können’s nicht. Psychen funktioniert nicht. Sie wollen lieber sterben, als zu kapitulieren. Chester hat den Planeten verlassen, und bald danach ist er zur Verbotenen Zone erklärt worden. Die Romananer können die Zukunft erkennen. Sie wissen Bescheid! Und ebenso wissen sie, daß sie nichts zu verlieren haben — darum kämpfen sie, damit ihr Volk vielleicht — vielleicht — überlebt ...« Marty schüttelte den Kopf. »Man kann doch nicht ein fach ein ganzes Volk ausrot...« »Darauf läuft’s aber hinaus, betrachtet man die we sentlichen Faktoren«, unterbrach Leeta ihn. »Ich wüßte nicht, in welchen anderen Begriffen als von der Überle bensfrage eines Volks ich davon reden sollte. Dies ist der erste Krieg seit vierhundert Jahren — und wir stekken mit tendrin. Deshalb fordere ich euch nun auf, Partei zu ergrei fen.« »Ich nehme an, du stehst auf der Seite der Romananer?« fragte Marty. »Ganz recht«, antwortete Leeta entschieden. »Ich kann nicht zuschauen, wie man sie eliminiert. Ich glaube, sie
haben etwas, das der Rest der Menschheit gerade jetzt dringend benötigt.« »Wenn alles so passiert, wie du’s behauptest, werden die von mir erarbeiteten Daten wahrscheinlich einmal Verbreitung finden«, sagte Bella. »Aber was ist mit Mar tys Arbeit?« »Seine Texte werden schon beschlagnahmt, wenn sie aus dem Drucker kommen. Ihr glaubt, die Kommu leitet sie der Projektil zu, und von dort funkt man sie zur Uni versität. Aber das geschieht überhaupt nicht.« »Was?« schrie Marty; seine Miene wurde beklommen. »Woher weißt du das?« wollte er erfahren, während ihm am Hals die Adern hervortraten. Leeta schaute weg. »Ree hat’s mir gesagt. Er will ver meiden, daß ihr die Arbeit einstellt. Er glaubt, ihr könntet vielleicht irgendeine Art von biologischer Lösung finden, die ihm zum Sieg über die Romananer verhilft. Einen Virus oder andere Ansteckungsmöglichkeiten will er erst einsetzen, wenn ihm gar nichts anderes mehr übrig bleibt, noch hofft er, es ließe sich ein anderer Weg gehen, um dem Direktorat ein unterwürfiges Völkchen anzuschließen, das nach Herzenslust ausgebeutet werden kann. Außerdem müßte das Abwarten der Dekontamination die Kolonisierung des Planeten verzögern.« »Du meine Güte!« entfuhr es Marty. »Es ist wirklich al les dein voller Ernst! Und ich werde für dumm verkauft.« Er begann in dem kleinen Raum hin- und herzustapfen, blieb schließlich am einen Ende stehen, drosch mit der Faust an die Wand. »Wie gesagt«, meinte Leeta in nachdrücklichem Ton, »wir sind mitten im Krieg. Wenn es um viel geht, wird das Spiel schmutzig. Das Schicksal eines Planeten und seiner Bevölkerung stehen auf dem Spiel. Der Direktor will Atlantis fürs Direktorat, aber er will ihn mit friedlichen, zufriedenen Romananern, die nicht in die Zukunft sehen. Er will keine Propheten und keine kriegerischen
Skalpjäger. Ree führt aus, was ihm befohlen worden ist, nicht mehr, nicht weniger. Er ist die Marionette des Di rektors. Damen Ree tanzt nach der Pfeife Skor Robin sons.« »Ich bin dabei«, rief Marty mit Hingabe. »Mich kann man nicht an Drähten tanzen lassen. Ich werde denen kei nen einzigen Satz Daten mehr liefern.« »Zweierlei...!« Leeta hob eine Hand, den Blick fest auf Bruk geheftet. »Erstens und wichtigstens: Es existieren Pläne, von denen du nichts weißt. Daß es um große Ziele geht, habe ich schon erwähnt. Es ist Krieg, Marty, und ich bin der General. Bist du dazu bereit, mir vollkommenen Gehorsam zu schwören?« Leetas Stimme wurde eindring lich, klang nun gepreßt. »Falls nicht ... Wenn du’s nicht tust... kann es sein ... daß ich dich töten muß.« Vor Schreck sackte Bruk das Kinn herab. »Zweitens werden wir ihnen soviel an Daten zukom men lassen, wie überhaupt möglich. Unter Umständen werden wir besondere Details und wichtige Informationen verschweigen, aber Daten sollen sie haben. Wir werden geduldet, weil Ree sich davon verspricht, eine Handhabe zu erhalten, dank der er aus einem Chaos einen Erfolg fabrizieren kann. Habt ihr verstanden? Das ist es, was unsere Handlungsfreiheit garantiert. Wir spielen das Spiel mit!« Marty sank in der Ecke auf die Fersen, schaute fas sungslos hoch. »Du würdest mich umbringen?« Langsam schüttelte er den Kopf. »Na, ich glaube, das ist wirklich Krieg. Es kommt mir so ... unwirklich vor. Ich habe noch nie gesehen, wie jemand, den ich kannte, gestorben ist.« Beklommenen Blicks betrachtete er seine Hände. »Ich mache mit, Leeta«, flüsterte Bella Vola. »Ich ver stehe die Situation. Ich denke mir, wenn du’s kannst, halte ich auch durch. Was ist mit Netta?« »Für sie ist so was nichts. Ich habe sie in dem Dorf er lebt. Professionell gesehen, bleibt sie natürlich Mitglied
des Teams. Wißt ihr, ich verlasse mich darauf, daß ihr nach euren besten Fähigkeiten schauspielert. Sollte Ree auch nur den geringsten Verdacht schöpfen, daß wir nicht hun dertprozentig auf seiner Seite sind, werden wir kaltge stellt...« Sie behielt einen gleichmäßigen Tonfall bei »Und der Gewinner heißt Ree.« »Marty und ich haben schon ein ähnliches Spielchen angefangen, bloß wußten wir nicht, welche Tragweite es hat«, versicherte Bella rasch. »Wie steht’s mit den Stu denten? Sollen wir sie einbeziehen?« »Nein!« antwortete Leeta mit scharfem Nachdruck. »Niemanden sonst. Ich wiederhole, sonst niemanden. Ihr beide müßt euch völlig unauffällig betragen, kapiert? Jede Psychosondierung könnte alles auffliegen lassen, und wir enden im Knast.« Marty hatte sich aufgerichtet. »Ich mache ebenfalls mit, Leeta. Ich blicke jetzt durch. Gibt’s einen Eid oder so was, den man in solchen Augenblicken schwört?« Leeta grinste mürrisch. »Kann sein, aber ich bin selber Neuling in diesem Spiel.« Sie schaute Eisenauge an. »Hast du alles mitbekommen?« erkundigte sie sich auf Standard. »Meistenteils«, sagte er. »Und?« fragte Leeta. »Sind die zwei dir recht? Akzep tierst du sie?« Eisenauges Blick maß Bella Vola. Dann nickte er knapp. Bei Marty Bruk zögerte er. »Du hast noch nie den Tod gesehen?« Marty hob die Schultern. »Ich habe schon ‘ne Menge Leichen zerschnippelt. Und menschliche Schädel habe ich mehr vermessen, als du jemals zu sehen kriegen wirst. Tote sind mir viele unter die Augen gekommen. Bloß ster ben habe ich noch keinen Menschen gesehen.« Eisenauge blickte auf. »Ehrlich ist er wenigstens ... Aber er ist unser schwächstes Glied.« »Na, was Leeta und Bella können«, brauste Marty auf, »kann ich auch!«
»Kannst du auch töten? Dr. Dobra hat’s getan. Sie hat eigenhändig einen Mann getötet. Ich war dabei, als sie den Coup nahm. Kannst du das gleiche tun?« Unerbittlich hielt Eisenauge seinen feuersteinharten Blick auf Bruk gerichtet. Der Anthropologe rang um Atem, schluckte, nickte zögerlich. »Ich will mal sagen, wenn’s unbedingt nötig ist ... kann ich ... kann ich durchaus ... aus ‘m Lebenden ‘ne Leiche machen.« »Es ist vorstellbar, daß er durchhält.« Eisenauge sah Leeta an. »In den letzten Tagen hat er mir viel über die natürliche Selektion erzählt. Vielleicht wird die Selektion ihn in einen Krieger verwandeln, vielleicht nicht ... Aber er ist ehrlich.« »Sieht aus, als kämt ihr beide mit dem Leben davon«, sagte Leeta und trat zur Tür. »Hm?« Marty war offenkundige Erleichterung anzu sehen. Leeta nickte hinüber zu Eisenauge, der eine Injek tionsspritze in die Höhe hob. »Dr. Dobra sagt, durch das hier hättet ihr vergessen, was geschehen ist.« Seine Stimme klang fest. »Aber ich wollte lieber ein Messer ver wenden.« Schockiert blickte Marty zwischen ihm und Leeta hin und her. »Wir haben in ungefähr einer halben Stunde einen Termin im Hauptdorf des Spinnenvolks. Ich schlage vor, du nimmst ‘n Beruhigungsmittel, wenn du nervös bist, Marty. In fünfzehn Minuten mußt du zu guten schau spielerischen Leistungen imstande sein.« Leetas Hand lag auf dem Türknopf. »Nein-nein«, entgegnete Bruk halblaut. »Wenn Bella es ohne so was schafft, kann ich’s genauso.« Sicheren Schritts ging er hinaus, pfiff schon vor sich hin. »Ich trage mit den beiden ‘n höllisch hohes Risiko«, brummte Leeta, während Eisenauge langsam aufstand und dabei infolge der Anstrengung und Beschwerden das
Gesicht verzerrte. Er rieb sich den noch nicht ganz verheil ten Brustkorb. »Wir brauchen sie«, lautete seine schlichte Antwort. Eine halbe Stunde später betrachtete Leeta das Lan degebiet, während Helstead den ST in der Nähe des Wracks der Nikolai Romanan nach unten senkte. Ihr Blick ruhte mit gemischten Gefühlen auf dem Monitorbild schirm. Im Laufe der Zeit war die Legierung des Raum schiffsrumpfs rostig geworden. Das Wrack hatte nun eine gräulich-braune Färbung und war zum Teil in die Schwemmlandebene eingesunken; der Rumpf ragte aus dem Boden wie der Panzer einer gigantischen Schildkröte. »Da hat alles angefangen«, sagte Leeta leise. Dorfbewohner liefen zusammen, um die Landung zu beobachten. Wie Leeta erzählt worden war, taten sie es jedesmal, wenn eine Flugmaschine landete. »Marty?« rief Leeta in die Kommu, schaute über die Ortschaft aus, die Eisenauge immer nur >Siedelei< nann te. Zu sehen gab es wenig. Hütten, ein paar Pferche für unentbehrliches Vieh, eine Anzahl größerer Bauten, die als Lager dienten, und die Nikolai Romanan. »Hier, Chefin«, quäkte Martys Stimme. »Ist John Smith Eisenauge fertig?« fragte Leeta. »Er guckt in Richtung Monitor. Er hat einen Blick, als wollte er jetzt zum Pferdestehlen.« »Dann gehen wir«, sagte Leeta. Bruk hielt sich tapfer. »Der ST bleibt in Startbereitschaft«, wies Leeta Kapitän Helstead an, der zerstreut salutierte, die Anzeigen der Scanner im Augenmerk hatte, zweifellos auf jede feindse lige Handlung eingestellt war — und nur darauf wartete, daß etwas geschah. An der Luke stieß Leeta zu ihren Mitarbeitern; beim Aussteigen ließ sie Eisenauge den Vortritt. Sobald sie ihn erkannten, traten die Ansässigen zurück, tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Leeta sah zahlreiche verbotene Gewehre.
Als erstes hatte Ree Schußwaffen verboten. Anschlie ßend hatte er allerdings bemerkt, daß er jeden Romana-ner einzeln entwaffnen mußte, um sein Verbot durchzusetzen. Um das zu tun, mußte er ihn entweder erschießen oder ihm mit dem Blaster so schwere Brandwunden beibringen, daß er keinen Widerstand mehr leisten konnte. Sein Erlaß hatte zwar Gesetzeskraft, doch es war damit so wie mit vielen Erlässen von Rees Proklamation; die Befolgung wäre nur mit Blastern zu erzwingen gewesen. Eiseriauge schaute weder nach links noch nach rechts, während er auf die Nikolai Romanan zuschritt. Das Schiff, wie er es nannte, gab beim Spinnenvolk den Mit telpunkt der Welt ab. Als sie die Hauptschleuse betraten, sah Leeta von Blasterschüssen zurückgebliebene, dunkle Streifen. Ree hatte die fünf Krieger getötet, die sich ihm in den Weg stellten. Für die wichtigste Bastion des Spinnenvolks war das eine schwache Verteidigung gewe sen. Die anderen Krieger waren von den Propheten fern gehalten worden. Es überraschte Leeta, daß der Fußboden aus Erde be stand, bis sie begriff, daß es sich bei dieser Schicht um den Schmutz von Jahrhunderten handelte, der hinein geschleppt worden war und den man nie hinausgefegt hatte. An den Wänden ließen sich noch alte kyrillische Beschriftungen erkennen. Fackeln erhellten die Gänge. Dagegen brannte im Versammlungssaal elektrisches Licht, betrieben durch die noch vorhandenen Solarbat terien. Die alten Leuchtkörper, die schon so viele Jahr hunderte durchgestanden hatten, erzeugten noch trübe Helligkeit. Die Vier Alten saßen am hinteren Ende des Saals. »Wenn man die Zukunft sieht, hat man den Vorteil«, hörte Leeta ihren Kollegen Bruk flüstern, »daß sich keine Probleme mit verspäteten Besuchern ergeben.« John Smith Eisenauge blieb wenige Meter vor den Propheten stehen, senkte nun den Blick. Leeta trat neben
ihn, musterte die pergamentartig verhutzelten Gesichter der Greise. »Wir sind da, Großväter«, sagte Eisenauge auf rorna nanisch. »Gibt’s hier elektronische Abhörgeräte?« fragte Leeta. »Es gibt welche.« Einer der Greise erhob sich. »Sie sind im Ehrensaal der Ahnen, wo gegenwärtig Kinder laute Spiele treiben. Diesen Saal hingegen haben die Sternenmenschen nicht betreten. Er ist ihnen von uns ver borgen worden, damit wir einen Ort haben, an dem wir unbelauscht sprechen können.« Er heftete den Blick auf Eisenauge, lachte verhalten auf. »Hast du in letzter Zeit einen Bären erlegt, John Smith Eisenauge?« Eisenauge ließ den Blick auf den Boden gerichtet, wo man unter den Erdkrumen stellenweise Metall sehen konnte. »Nein, aber dies Weib — diese Kriegerin — hat einen Bären getötet. Zudem hat sie einen Coup errungen. Sie hat sich das Recht verdient, hier das Wort ergreifen zu dürfen.« Der Greis winkte mit der Hand ab. »Die Zeiten des Kämpfens um Ehre sind vorüber, John Smith Eisenauge. Wir haben deine Ankunft vorhergesehen. Wir wissen, was du wünschst, und es soll dir gewährt sein.« Leicht die Stirn gerunzelt, sah Leeta den Greis an. »Großvater«, sagte sie mit gedämpfter Stimme, »ich komme von den Sternen. Ich kann die Zukunft nicht se hen. Darf ich fragen, ob es tatsächlich so sein wird?« Das Greisengesicht verzog sich zu tausend Fältchen und einem zahnlosen Lachen. »Ja, Leeta Dobra, wir wer den unseren Einfluß aufbieten und es den jungen Männern untersagen, auf den Kriegspfad zu gehen, auf Sternenschiffe und Sternenmenschen zu schießen. Wir werden versuchen, uns in so vielerlei Weise den Sitten und Bräuchen der Sternenvölker anzupassen, wie es uns wäh rend der Zeit deiner Anwesenheit bei uns möglich ist. Eine große Zahl junger Männer wird dir helfen. Etliche befin
den sich schon im Nabel. Rotschopf Viele Coups wird dir nachher das Nähere erklären. Ich kann dir den Ausgang eures Kampfes nicht sagen. Zahlreiche Cusps stehen bevor, Entscheidungen, die erst noch gefällt werden müs sen. Bisher ist Chester Armijo Garcia nicht zum Herrn der Sterne gerufen worden. So viele Cusps ... Spinne schützt den freien Willen der Menschen. Auf die Fragen, die dei nen Geist beschäftigen, gibt es keine Antworten, die ganze Lösung besteht darin, daß du an Gott glauben mußt.« Stumm schaute der Greis Marty Bruk an, ehe er Bella Vola zunickte. »Übersetze meine Worte. Der junge Mann spricht die Sprache des Volkes nicht.« Bella begann leise für Marty zu dolmetschen. »Ja, es gibt vieles, das unsere beiden Völker einander bieten können. Seht euch Eisenauge an, der tot wäre, hätten nicht die Ster nenmenschen seinen Körper geheilt. Euer Volk hat keinen Lebensgeist mehr. Es verschwendet sein Dasein mit Fressen und Unfug. Es ist schwach geworden. Unser Volk besteht aus mageren, jungen Wölfen — euer Volk aus fet ten, alten Hunden. Daraus ist eine Lehre zu ziehen. Wer ist listiger? Die jungen Wölfe, die sich gegenseitig wegen eingebildeter Kränkungen an die Kehle fahren, oder die alten Köter, die hungern, das Essen in der Schale faulen lassen, aus Sorge, einer könnte den anderen, indem er ißt, vielleicht reizen.« Der Alte nickte, lächelte, seine Glitzeraugen ruhten nach wie vor auf Marty. »Versteht mich recht...! Es wird seinen Preis haben. In der Tat wird es Blut und Tote geben. Das ist das Geburtsrecht des Menschen, Gelehrter. Es ist schwierig, junge Wölfe zu lehren, nicht zuzuschnappen, und alte Hunde wieder zum Beißen zu ermutigen. Man muß den Wölfen Maulkörbe anlegen und den Hunden den rechten Gebrauch ihrer Zähne beibringen. Das Vorrecht des Wissens, Gelehrter, besteht darin, daß keine Änderung geschenkt wird.« Wohlwollend nickte der Alte Leeta zu, die sprachlos
zuhörte, dann sah er Bella Vola an. »Die Antwort auf deine Frage lautet, junges Weib, daß Wahrheit keinen Anfang und kein Ende hat. Es gibt Wahrheit, so wie Liebe, Krieg, Leben und Tod. Doch sie kann nicht mit Worten erläutert werden. Es zu versuchen, ist so närrisch, als wollte man einen Fluß durchs Wunschdenken eindämmen. Wahrheit erkennen heißt: Wahrheit erleben. Nichts anderes kann dir zu ihrem Erkennen verhelfen.« Einen Moment lang schwieg er, dann wurde sein Ge sicht fröhlich. »Ach so ...! Nein, du irrst dich. Am Ende bedeutet nichts einen Unterschied. Die Taten der Men schen üben auf Gott keinen Einfluß aus. Müßten morgen alle Menschen sterben, würde Spinne ein wenig ärmer, aber es gibt im Universum andere Geschöpfe, von denen er lernen kann. Ja, Wissen ist der Ursprung, ist das Wesen der Wahrheit.« Bella Vola schluckte schnell hintereinander, während der Prophet ihr gutmütig zulächelte. Marty Bruk hing tief versonnen, die Augen geschlossen, seinen Gedanken nach. Die gesamte Atmosphäre hatte sich gewandelt. Niemand brachte ein Wort heraus. »Das ist fürs erste genug. Andere kommen. Wir werden tun, was wir können.« Gleich darauf trat durch eine Nebentür geduckt eine Gruppe Krieger ein. Bis auf zwei senkten sie die Blicke und nickten in die Richtung der Propheten. Beim Anblick ihrer Kleidung funkelten feindselige Augen Leeta an. »Philip«, rief Eisenauge plötzlich, streckte einem der hereingekommenen Männer die Arme entgegen. Un willkürlich wiederholte Leeta den Ausruf, sprang vor, sah John und seinen Vetter sich umarmen. Eine Hand packte Leetas Schulter und riß sie herum. »Doktor, wie habe ich Sie vermißt!« Ritas humorige Stimme erzeugte einen Kloß in Leetas Kehle. »Sie leben!« Leeta drückte den Leutnant an den Busen. »Ich habe Sie auch vermißt, Sarsa. Guter Gott, wie froh ich bin, daß Sie wieder da sind! Sie müssen mir dabei hel
fen, mit Ree fertigzuwerden. Ich tauge weniger fürs Kriegsspielen.« »Sie haben sich also der Revolution angeschlossen?« Rita wölbte die Brauen. Ihre Kleidung war eine hervor ragende Tarnung. Sie sah wie jeder andere Krieger aus, abgesehen von den vielen Skalpen, die sie am Gürtel trug. Nur Eisenauge hatte mehr an seinem Gürtel. »Widerwillig, aber ich hab’s.« Leeta lachte. »Ahm ... Wissen Sie noch, wie wir vor längerem an der Universität in der Bar saßen? Tja, hm ... Ich glaube, Rebellentum ist ansteckend ... Jedenfalls hat sich davon ganz schön was auf mich übertragen.« Ritas Augen leuchteten. »Offenbar hatte ich ‘n gutes Gespür, als ich in den Dateien des Gesundheitsamts rum gepfuscht habe.« Sie boxte Leetas Schulter. »Was haben Sie sich denn ausgedacht?« Leeta fuhr zurück, rieb sich die Schulter, bevor sie grin ste. »Ich habe grundlegende Vorbereitungsarbeit geleistet, während Sie ja mit Philip rumpoussieren mußten. Tolle Hilfe waren Sie! Die ganze Mühe haben Sie mir überlas sen.« Ritas Lippen zuckten. »Was glauben Sie wohl, wer die Truppe ausgebildet, im Regen versteckt, die braven Bürger aufgewiegelt und für dies Palaver vorausgeplant hat? Ich habe keine Zeit, ‘n Häufchen Wissenschaftler auf ‘m Planeten rumzukutschieren. Ich muß mir überlegen, wie, zum Teufel, wir ‘n ST klauen können. Und danach muß ich ‘n Weg finden, woher wir Techs kriegen, die ihn uns verstecken.« Rita wirkte hochgradig erregt. »Mein Gott, und ich habe Ree gesagt, Sie wären eine tüchtige Person!« spottete Leeta, schüttelte den Kopf. »Ich habe Sie sogar zur Belobigung vorgeschlagen1. Wie dumm bin ich doch gewesen!« »Hä?« Rita schob das Kinn nach vorn, stemmte die Hände in die Hüften. »Soll ich Ihnen mal ‘n Arm ausku geln, Doktor?«
»Tun Sie’s, und Sie kriegen Ihren ST nicht«, höhnte Leeta mit Genugtuung. Sie genoß es, wie Rita die Augen aufsperrte. »Welchen ST?« fragte Rita im Flüsterton; ihr Gesicht war blaß geworden. »Den Ree mir zur Verfügung gestellt hat.« Leeta zeigte unverhohlen ihren Triumph. Lange durfte sie ihn nicht auskosten. Rita schlug sie in die Magengrube, nicht fest, aber genug, um ihr die Luft aus dem Brustkorb zu stoßen. »Sie bumsen also mit Ree?« rief Rita. »Einen anderen Weg kann ich mir nicht denken, wie man ihn bei seiner militärischen Untadeligkeit zu so etwas verleiten könnte.« Ihre Stimme klang scharf. Leeta japste, schaute zu der Rothaarigen auf. »Das werde ich Ihnen noch heimzahlen.« Leetas Augen brann ten, als sie sich straffte. Rita trat einen Schritt zurück. »Na gut, Doktor, ich ent schuldige mich.« Aufmerksamen Blicks musterte sie Leeta. »Sie haben sich verändert, Doktor. Tut mir wirklich leid. Wenn Blicke töten könnten, würden Sie mich damit auf der Stelle umbringen. Sie sind härter geworden. Finde ich gut. Also, wie sind Sie an den ST gelangt?« »Jawohl, ich habe mich verändert«, knurrte Leeta bis sig. »Ree hat Probleme.« Sie machte sich daran, den Inhalt der mit Ree geführten Gespräche und die ergriffenen Maßnahmen zu erläutern. Während des Redens rieb sie sich den Bauch. Sarsa stieß einen leisen Pfiff aus. »Das haben Sie aus gezeichnet gemacht, Doktor. Echt ‘ne reife Leistung. Ich hätte ihm nicht so den Teppich unter den Füßen wegziehen können. Also fast viertausend Mann hält er beim Basislager fest?« »Hm-hm.« Leeta nickte. »John hat mit Bellas Unter stützung Anhänger für unsere Sache zu gewinnen ver sucht. Wir geben uns Mühe, die Stammesfehden zu über winden. Einige Fortschritte haben wir erzielt, aber es
gelingt uns nicht, die Leute mit entsprechenden Mit teilungen nach Hause zu schicken. Zu viele unterschied liche Gemüter sind in dem Lager zusammengepfercht. Alles was wir tun, verläuft sich irgendwie im Sand.« Jetzt war es an Rita, ein Grinsen des Triumphs aufzusetzen. »In dieser Beziehung stehen wir wiede rum kurz vor dem Erfolg. Jedenfalls sind die Aussichten gut, solange Ree nicht auf die Idee kommt, wieder den Reiseverkehr zwischen den Dörfern zu behindern. Wir haben ...« »Wird er nicht«, unterbrach Leeta sie. »Er hält sich an die von mir vorgeschlagene Politik.« »Gut. Die führenden Santoskrieger werden uns ‘n Be such abstatten.« Rita zögerte. »Es ist alles nicht so einfach, Doktor. Der Führer, den wir weichklopfen müssen, ist Großer Mann. John hat geschworen, ihn zu töten, weil er sein Liebchen vergewaltigt hat. Wissen Sie, was ‘ne Blutrache ist?« »Verdammt noch mal!« Unterdrückt fluchte Leeta. »Wenn er John über den Weg läuft, ist alles aus ...« Sie seufzte. »Ich werde sehen, was ich tun kann.« Rita feixte boshaft. »Strengen Sie Ihren Grips bloß rich tig an, Doktor. Sie sind hier diejenige mit dem su perschlauen Köpfchen. Wenn er nicht zur Vernunft kommt, treten Sie ihn in den Arsch. Oder hat man Ihnen so was beim Studium der Anthropologie nicht beigebracht?« »Sarsa, manchmal kann ich mich über Sie nur wun dern«, grummelte Leeta, schaute zu John hinüber, der sich lebhaft mit Philip unterhielt. »Na schön.« Rita streckte die Hände empor. »Hören Sie, tun Sie ganz einfach, was in bezug auf John getan werden muß. Ein anderes Problem ist, daß wir jede Menge Vorsorgungsgüter benötigen. Sie haben den ST, können Sie uns in der Nähe des Nabels ‘ne Ladung Ver pflegungsrationen abwerfen? Übrigens ist unser Standort sozusagen ne Geheiminformation. Wie wir ‘n paar
Tausend Krieger ernähren wollen, muß noch geklärt wer den. Wir müssen uns mit einer unglaublichen Logistik rumärgern. Philips Krieger haben noch viel zu lernen.« »Wie soll ich das machen? Helstead hält direkte dienst liche Verbindung zu Ree. Sicher, ich darf in dem ST durch die Gegend fliegen, aber er ist mir gewissermaßen zur Entschädigung gegeben worden, weil die Besatzung taten los zugesehen hat, wie ich beinahe ums Leben gekommen wäre. Ich reibe den Kerlen ihr Versagen ständig unter die Nase, also bin ich nicht gerade der Liebling von Helsteads Untergebenen.« Leeta faltete die Hände auf dem Rücken und ging hin und her. »Es muß doch eine Möglichkeit geben, wie wir das zu unseren Gunsten ausnutzen können.« Sarsa hob den Blick. »Hat Oberst Ree gegen Sie irgendeinen Verdacht?« »Ich habe keine Ahnung.« Leeta schüttelte den Kopf. »Selbst wenn er nicht annimmt, daß ich irgendwelche Absichten verfolge, behält er mich bestimmt im Auge, weil das schlichtweg seine Art ist.« Rita nickte. »Er ist kein Mann, der sich ohne weiteres übertölpeln läßt.« Sie blinzelte, überlegte angestrengt. »Die gesamte Sache ist eine politisch hochbrisante Ge schichte, nicht wahr?« Nachdenklich sah sie Leeta an. »Der Direktor steckt bis über die Augen drin«, bestä tigte Leeta, vollführte eine Gebärde mit dem Arm. »Auf Anordnung des alten Aasgeiers sind nicht wenige Verstöße gegen die Direktoratspolitik begangen worden. Ree hat deswegen gehöriges Muffensausen. Wieso?« »Vielleicht können wir einen tauglichen Plan aushek ken«, antwortete Rita. »Möglicherweise gelingt’s uns, Ree dahin zu verleiten, daß er an den Observationsanla-gen was verändert. Es müßte ‘n wirklich guten Grund haben, irgend etwas, das nicht offiziell bekanntwerden darf, Haben Sie ‘ne Idee?« »Momentan nicht.« Leeta runzelte die Stirn. »Wozu wollen Sie eigentlich unbedingt einen ST haben? Welchen
Nutzen soll uns so ein Ding bringen? Jedenfalls können wir mit meinem ST nicht die anderen zerstören. Nicht ein mal, wenn wir Helstead zum Mitmachen überreden könn ten.« Rita grinste. »Zur Hölle mit den anderen ST. Ich brau che nur einen, aber den um jeden Preis. Parkt das Shuttle noch im Basislager?« »Ja.« Leeta schob einen Finger unter Ritas Kinn und hob es an, damit sie ihr in die tiefen, grünen Augen blik ken konnte. »Welche Sorte Verrücktheit brüten Sie denn nun aus?« Mit diabolischem Irrlichtern in den Augen zuckte Rita die Achseln. »Der Krieg läßt sich nicht gewinnen, wenn wir nicht aufs Ganze gehen. Ich habe vor, die Projektil zu kapern.« Leeta spürte, wie ihr das Kinn nach unten sackte. Bei allen ... Das war ja ... Wie konnte Rita etwas derartiges so gelassen aussprechen? »Sie sind ja vollkommen übergeschnappt, Leutnant!«
17
Rita spie in den Dreck, während sie die Reiterkolonne beobachtete, die die Ebene durchquerte. »Ich will, daß wir die Sache richtig durchziehen. Wenn sie schiefgeht, denkt an das, was ich euch gesagt habe. Jeder von euch hat ein bestimmtes Ziel.« Sie wandte sich um, sah gerade noch, wo sich die Männer zwischen den Felsen versteckten, Köpfe nicken. Jose, der neben dem riesigen Krieger ritt, den Rita nie vergessen sollte, winkte herüber; Rita hatte erfahren, daß sein Name Gary Andojar Sena lautete, doch rief man ihn bei seinem Volk nur Großer Mann. Ein passender Name, befand Rita, als sie sich an seine klotzige Gestalt entsann. Philip trat vor und hob die Hände, zeigte sie leer vor; Jose war, ein Lächeln auf dem Gesicht, schon vom Pferd gestiegen. »Da seht ihr«, rief er, »ich habe sie mitge bracht.« Rita wich zurück in die Schatten, froh darüber, ihr Haar umwickelt zu haben. Philip legte eine Hand auf Joses Schulter. »Gut ge macht. Geh hinein und iß was.« Er gab ihm einen Klaps, und Jose ging an ihm vorbei. Rita musterte Großer Mann. Der Wind blies ihm durch Bart und Kleidung. Seine Augen kamen nicht zur Ruhe, während sie den Eingang zum Lager im Nabel absuchten. Er war wachsam, innerlich angespannt wie eine aufge drehte Stahlfeder. Auch seine Begleiter hielten die Augen offen, die Hände an den Gewehren, die Finger an den Abzugsbügeln. »Kommt«, rief Philip. »Eßt mit uns. Wrir haben ein Mahl zubereitet, ein ganzes Rind brät am Spieß. Außer Tee haben wir ein neues Getränk namens Kaffee.« »Keinen Whiskey?« fragte Großer Mann, sprach damit
sein erstes Wort. Rita verkniff sich eine gemeine Be merkung. »Jetzt ist nicht die Zeit für Whiskey«, erwiderte Philip schlagfertig. »Wir brauchen scharfen Verstand und klugen Geist. Nachdem wir die Sternenmenschen von unserem Himmel vertrieben und unseren Weg zu neuen Welten erkämpft haben, werden wir zur Feier Whiskey trinken.« Dazu schwieg Großer Mann. Er spähte ein letztes Mal umher, saß dann bedächtig von seinem übergroßen Pferd ab. Anfangs hatte Rita sich mit Pferden nicht ausgekannt. Jetzt war ihr einsichtig, was für ein großes, starkes Reittier er brauchte. Die übrigen Santos sprangen, die Gewehre bereit, geschmeidig aus den Sätteln. »Wo sind deine Männer?« fragte Großer Mann. »Du bist sehr mutig — oder sehr dumm —, wenn du uns so allein gegenübertrittst.« Er verengte die Lider, während er vor Philip aufragte. »Genau wie du« — Philip lächelte — »neige ich nicht zur Unvorsichtigkeit. Zahlreiche Gewehre sind auf euch gerichtet. Aber warum willst du unter den gegenwärtigen Umständen aus Furcht vor Hinterlist übertrieben mißtrau isch sein? Es geht um unsere Völker und unsere Welt. Du und ich, wir werden Geschichte machen.« Philip drehte sich um und strebte auf den Eingang der gewaltigen Höhle zu. Knapp winkte Großer Mann mit der Hand, und seine Begleiter, die Gewehre in verkrampften Armen, folgten ihm, als er sich Philip anschloß, jede Richtung wurde von jeweils mehreren unter Beobachtung gehalten. Rita blieb abseits. Ihr Blick fiel auf etwas Weißglänzendes am Gürtel Großer Manns. Es war ihr Blaster. Philip bot den Santos Plätze am Feuer an, das unter dem Braten prasselte. Das Fleisch zischte, Fett tropfte in die Flammen, erzeugte Qualm. Der Duft gerösteten Rindfleischs durchzog die Luft. Großer Mann und ein Begleiter setzten sich, während die anderen ins Zwielicht
der Höhle starrten, nervös auf den Helligkeitsschein ach teten, der sich tiefer im Innern des Nabels unterscheiden ließ. »Du würdest also das Spinnenvolk und die Santos zu Verbündeten machen wollen?« fragte Großer Mann, als Philip ihm einen Becher Kaffee reichte. »Es ist nötig, Gary Andojar Sena.« Philip maß ihn mit einem kurzen, eindringlichen Blick. »Ich behaupte nicht, daß es leicht sein wird — zuviel Blut und Tod stehen zwi schen unseren Völkern —, aber es ist notwendig.« »Warum?« fragte Großer Mann, besah sich argwöh nisch seinen Kaffee. Er gab den Becher Philip zurück. »Trink!« Rita fühlte ihre Muskeln sich spannen. Sie sah die Augen der Santoskrieger glänzen, während sie zusahen, wie Philip den aufmerksamen Blick Großer Manns erwiderte und den Becher nahm und trank. Er mußte sich an der fast kochendheißen Flüssigkeit die Zunge verbrü hen. Rita spürte, wie sich ihre Lippen zu einem Zähneblecken verzogen, während sie das Geschehen mit zusammengekniffenen Augen beobachtete. Großer Mann zuckte mit keiner Wimper. Er trank eben falls einen tüchtigen Schluck vom Kaffee. »Ich möchte mehr von diesem Getränk«, brummte er. Philip schenkte ihm nach und hob den Blick. »Wir kön nen die Sterne nicht erobern, wenn wir nicht gemeinsam handeln. Deshalb brauchen wir eure Unterstützung. Wenn wir siegen, werdet ihr mit uns zu den Sternen reisen. Unterliegen wir, bedeutet’s keinen Unterschied, weil unse re Völker ohnehin untergehen werden.« Großer Mann hielt den Becher zwischen seinen dik-ken Fingern und schaute nachdenklich in die Flammen. »Du weißt einen Weg, wie wir diese Sternenmenschen schla gen können?« erkundigte er sich. »Gewissen Über lieferungen zufolge sollten die Sobjets wiederkommen. Wie sollen wir mit unseren Pferden und Gewehren gegen
die Blitzwaffen und Himmelsflieger kämpfen? Kannst du mir das sagen, hä?« »Wir rauben ihnen ihre Himmelsflieger«, entgegnete Philip fest. »Wenn’s uns gelingt, das große Raumschiff mit Namen Projektil zu erbeuten, das über dem Himmel um unsere Welt kreist, ist es uns möglich, von den Ster nenmenschen unsere Freiheit zu erzwingen.« Großer Mann hockte am Feuer und schnitt eine ver sonnene Miene. »Sie bewohnen andere Welten, die voller Menschen sind. Sie haben viele wunderbare Dinge, durch die die Santos reich werden könnten. Das Haar ihrer Weiber hat vielerlei verschiedene Farben, und ich würde mich zu gerne mit ihnen ver gnügen.« Er blickte auf, hatte ein Schimmern der Vorfreude in den Augen. Rita bekam Sodbrennen, als sie sah, wie sich Großer Manns Lippen teilten und die Zunge über seine Zähne leckte. Sie malte sich das Schicksal aus, das sie und Lee ta in seinen Händen erlitten hätten. Sie erinnerte sich an Philips Beschreibung der Leiche Jennys, die Verfassung, in der sie sich, nachdem diese Bestie mit ihr fertig gewe sen war, befunden hatte. Kälte machte ihr die Brust beklommen, sie betastete ihren Kriegsdolch. »Daher dürfte ein Bündnis eine gute Idee sein«, fügte Großer Mann hinzu. »Unser Prophet hat mir geraten, eure Einladung anzunehmen und euch aufzusuchen. Er hat gesagt, daß unser Volk nur durch das Zusammenwirken mit euch die Sterne erreichen kann.« Großer Mann legte den Kopf in den Nacken. »Und wer weiß, was später wird?« Er zeigte mit dem Finger auf Philip. »Aber sag mir eins, Spinnenkrieger. Wie zähmen wir den Haß zwischen deinen und meinen Kriegern? Blutrache ist geschworen. Wer wird verhüten, daß Blut vergossen wird?« Philip legte über seinem Kaffeebecher die Fingerspitzen zu einem Giebel aneinander. »Gary Andojar Sena, wir beabsichtigen gemeinsam auf den
Kriegspfad zu ziehen, oder nicht? Welcher Mann, ob Santos oder Spinnenkrieger, wird den Kriegsschwur brechen? Sobald unsere Völker zusammen auf den Kriegspfad gehen, müssen Blutrache und Messerfehden ein Ende haben ...« Großer Mann lachte. »Ein Ende? Blutrache? Santos vergessen das Unrecht der Vergangenheit nicht, Spin nenkrieger.« »Das gleiche gilt für mein Volk«, erklärte Philip. »Trotzdem muß die Feindschaft ruhen, bis wir die Ster nenmenschen von unserem Himmel gejagt haben. Wenn sie bezwungen sind, werden Blutrache und die Messerfehden wiederaufgenommen, bis auf beiden Seiten die Ehre wiederhergestellt ist.« »Also gut, wir wollen es so machen. Zusammen. Spinnenvolk und Santos werden Seite an Seite zu den Sternen reisen, was, Philip Eisenauge?« Herzhaft lachte Großer Mann. »Ich spreche für die Santos, wenn ich sage, wir ziehen auf den Kriegspfad. Als Kriegshäuptling ver künde ich, daß das Ausüben von Blutrache und das Austragen von Messerfehden von nun an verboten sind.« »Dann haben wir eine Chance, zu siegen«, sagte Philip halblaut und mit Erleichterung. »Du verkörperst einen der Cusps, Großer Mann. Ohne dich wäre unser Kampf noch verzweifelter.« Großer Mann grinste, als er das hörte, ein breites Grinsen, das viele Zähne entblößte und sein wachsendes Selbstbewußtsein anzeigte. »Ich werde ihn für euch gewinnen, Spinnenkrieger.« Er lachte gedämpft. »Aber laß uns über die Beute verhandeln. Sobald wir bei den Sternenmenschen unsere Coups errungen haben, will ich zwei ihrer Weiber. Eins hat rote Haare und den Geist eines Bären im Leib. Das andere hat gelbes Haar, es ähnelt dem Sonnenschein auf dem Herbstgras. Ich will beide für mich. Sie waren mir als Gattinnen zugefallen. Bevor ich ihre Schönheit genießen und mit ihnen Söhne zeugen konnte,
sind sie mir entlaufen. Ich will sie wiederhaben.« Philip behielt die Nerven. Er zeigte keine Regung. »Wir werden ... dir diese Frauen übergeben. Nachdem wir die Coups der Sternenmenschen gewonnen haben, soll es so sein, wie du’s sagst.« Rita zog sich, von Großer Manns Eskorte mit Miß trauen angegafft, in die Schatten zurück. Lautlos trat sie zu Freitag Gelbes Bein, der in der Nähe stand, auf sein Gewehr gestützt, und zusah, wie zwei Männer unter Schnaufen und Ächzen das gebratene Rind aus der Gluthitze der Kohlen hoben. »Gib auf Großer Mann acht, Freitag. Falls er sich ir gendwelche Hinterlisten ausgedacht hat, wirst du’s wahr scheinlich früher als ich merken. Ich habe ihn in schlech ter Erinnerung, und gerade habe ich einen noch schlechte ren Eindruck von ihm bekommen.« Rita betrachtete Großer Manns Umrisse und sah, was für ein schönes Ziel er momentan abgab. »Geht klar«, flüsterte Freitag. »Wo bist du, falls Philip dich sucht?« »Hinten. Ich will die Bereitschaft der übrigen Truppe überprüfen. Ruf mich, wenn du mich brauchst.« Sie schäumte innerlich vor Wut, während sie sich umdrehte und entfernte. Sie erwachte, als sie Philips kühle Haut an ihrem Kör per spürte. Eigentlich hatte sie, dachte sie sich, gar nicht richtig geschlafen. Ihr Gehirn hatte sehr rege gearbeitet. »Sieht ziemlich gut aus«, sagte Philip. »Sicher, ich kann’s gar nicht erwarten, diesem Huren sohn ausgeliefert zu werden«, murrte Rita. »Was ist das für ein Wort? Sohn wovon?« Rita hörte seiner Stimme Verwunderung an. »Hure«, sagte säe. »Gemeint ist eine käufliche weibli che Person. Die Zusammensetzung >Hurensohn< ver wendet man für Ekeltypen wie ihn.« »Wär’s dir lieber gewesen, ich hätte seinen Wunsch
rundheraus abgelehnt? Ihm für etwas so wichtiges wie ein Bündnis zwei Frauen zu verweigern, wäre sehr nachteilig gewesen.« Philips Tonfall verriet Sorge. »Die Hälfte von dem, was er fordert, bin ich!« Ritas Stimme klang gepreßt. »Die andere Hälfte ist Leeta. Wir zwei machen einen Großteil eurer Stärke aus, falls du das vergessen haben solltest, Freundchen.« Philip lehnte sich zurück und seufzte ungezwungen; anscheinend störte Ritas scharfer, zänkischer Ton ihn nicht. »Ich habe geahnt, daß du in deinen Gefühlen ge kränkt bist.« »Gefühlen?« Es kostete Rita Mühe, die Lautstärke ihrer Stimme in Maßen zu halten. »Hätte ich nicht mein Haar versteckt, hätte er heute abend bestimmt versucht, über mich herzufallen.« »Beruhige dich, Rotschopf Viele Coups.« Philip lachte. »Noch haben wir nicht gesiegt. Außerdem kann noch so manches passieren. Unser Handel ist auf der Grundlage seiner Bündniszusage abgeschlossen worden. Hält er sie nicht ein, kann er dich und Leeta nicht beanspruchen. Sein Stolz und seine Ehre stehen auf dem Spiel.« »Eher sein Leben, würde ich sagen«, fauchte Rita er bittert. »Du weißt, ich würde ihn kaltmachen. Wenn er mich anfaßt — ganz davon zu schweigen, mich verge waltigt —, bringe ich ihn um!« »Errege dich nicht.« Philip sprach mit Nachdruck. »Ich verschachere dich doch keineswegs. Um was ich feilsche, ist Zeit. Würdest du nicht alles so gefühlvoll und vor schnell beurteilen, könntest du erkennen, daß ich nur getan habe, was ich tun mußte, um die Unterstützung der Santos auszuhandeln. Ich habe ebensowenig vor, dich ihm zu überlassen, wie ich gewillt wäre, den Coup von einem Propheten zu nehmen. Benutze dein Hirn für mehr als Weibertrotz.« Rita ballte eine Hand zur Faust, verharrte, lockerte sie. »Du hast recht«, gestand sie widerwillig ein. »Was werden
wir also machen, wenn wir gesiegt haben?« »Ich werde Großer Mann töten«, sagte Philip leichthin. »Ist er tot, kann er weder dich haben, noch Leeta.« »Das müßte wieder zu offener Feindschaft zwischen dem Spinnenvolk und den Santos führen«, gab Rita zu bedenken. »Andererseits haben die Propheten uns angekündigt, daß viele Menschen für die Freiheit des Volkes sterben werden. Vielleicht auch Großer Mann? Du oder Leeta? Möglicherweise werden, wenn alles vorbei ist, so viele Sternenfrauen als Beute vorhanden sein, daß er euch gar nicht mehr haben will. Wer weiß?« Philip zuckte die Achseln, strich mit einer Hand über Ritas Leib. »Diese Propheten ...!« meinte sie mißmutig, begann sich dank seiner zärtlichen Berührungen jedoch allmählich zu entspannen. »Was sie sagen, ist wahr.« Philip lächelte freundlich. »Währenddessen lerne ich eure Sternenmenschentricks, damit ich ihn, falls es sein muß, töten kann.« »Ich bin mir nicht sicher, ob dir das gelingt.« Rita schwieg, sie fühlte, wie die verspielten Berührungen sei ner Finger sie innerlich erwärmten. Es fiel ihr zusehends schwerer, sich zu konzentrieren. »Was ist mit meinem Blaster? Kannst du ihn mir besorgen?« »Er wäre nutzlos. Großer Mann hat ihn leergeschossen, während er lernte, wie er funktioniert. Nachdem er gemerkt hatte, daß er bei maximaler Einstellung Fels brocken damit zerschießen konnte, ist’s bloß ‘ne Frage der Zeit gewesen, bis er die Ladung verbraucht hatte.« Philip blieb vor Lachen die Luft weg. »Wahrscheinlich hat er dadurch sein Ansehen be trächtlich erhöht.« Ritas Stimme klang zerstreut, während sie sich in Philips Armen zu winden begann. »Stimmt.« Philip fing sie mit dem Mund zu kosen an. »Ich frage mich, wie Leeta wohl mit Oberst Ree zurecht kommt.«
»Wen interessiert denn jetzt das?« Rita stöhnte auf und biß Philip in die Schulter, bewegte sich hin und her, wäh ren sie sein Glied sich in ihren Fingern versteifen fühlte. »Wen interessiert... was?« flüsterte Philip und drang behutsam in sie ein. * * * »... eine Eingeborenenpolizei«, sagte Leeta mit einem Lächeln. »Wie gründlich haben Sie in den alten Anthro pologiebüchern geschmökert? Können Sie sich erinnern, ob Sie vielleicht was über die Stammespolizei der Sioux gelesen haben? Sie bildete eine Fortsetzung der Kriegerkaste, die davor die Befehle der Häuptlinge durch setzte, nur tat sie’s für die Weißen. Sie war enorm effektiv, ein starkes Akkulturationsinstrument.« Neben ihr spazierte Ree, betrachtete den dunklen Himmel. Hinter ihnen leuchteten die Lichter des Basis lagers. Unter ihren Füßen raschelte das feuchte Gras. »Sie sagen, Sie haben da eine Gruppe, die diese Auf gabe erfüllen könnte? Was wäre denn dafür unsererseits zu leisten?« Rees Stimme bezeugte Interesse. Leeta spürte seinen Blick. »Wir versorgen sie mit Nahrungsmitteln, Uniformen sowie vielleicht Blastern und Schutzpanzern. Transportiert werden sie in ST, oder wir überlassen ihnen Airmobile.« »Weshalb sollten wir so einen Aufwand betreiben?« fragte Ree. »Und kämen sie dadurch nicht hinter einige unserer Geheimnisse?« »Erstens gäben wir ihnen einen höheren Status, Damen. Wenn sie durch die Luft schweben, genau wie wir, erken nen die normalen Leutchen sie als überlegen an. Gleichzeitig setzen die Menschen sich hin und machen sich Gedanken. >Wißt ihr noch<, sagen sie, >wie Damen Ree Andojar ‘n kleiner Bub war? Er war so ein nettes Kerlchen. Jetzt fliegt er am Himmel rum. Vielleicht haben die Sternenmenschen ja doch was zu bieten. < Man muß
auch auf die Meinung der Nachbarn und Bekannten Einfluß nehmen, Oberst. Zweitens. Sicherlich werden sie ‘n paar unserer Geheimnisse erfahren. Aber zur gleichen Zeit fliegen sie durch die Luft und haben einen höheren Status. Stößt uns irgend etwas zu, verlieren sie diesen Status. Schlimmer noch, sie werden Parias. Also haben sie, wie Sie sehen, ein Eigeninteresse an unserem Erfolg. Unsere Ziele werden zu ihren Zielen. Drittens — und die ser Aspekt hängt mit dem zweiten eng zusammen — bekommen sie ein Verständnis für das Vernich tungspotential unserer Waffen, die für die Romananer, das werden Sie zugeben, etwas ganz Erstaunliches sind. Dabei stehen sie dauernd in direktem Kontakt mit Personal der Projektil. Sie schließen Bekanntschaften, und auf einmal sind wir Menschen wie sie, wie alle anderen auch, und schau da, einige Romananer mögen ihre neuen Freunde wirklich gern und möchten genauso wie sie sein. Und schon nimmt die Akkulturation ihren Lauf.« Leeta klatschte die Hände zusammen, als ob sie sie abklopfte. »Diese Konzeption gefällt mir.« Ree wirkte erfreut. »Haben Sie lange daran gearbeitet?« »Ungefähr zwei Wochen.« Leeta reckte den Hals, um etwas gegen die leichten Kopfschmerzen zu tun, an denen sie litt. Ihre Gedanken kreisten hartnäckig um das, was sie noch zu erledigen, noch zu lernen hatte. »Hm-hn«, brummte Ree. »Zwei Wochen. Sagen Sie mal, diese Romananer sind nicht zufällig in der Gegend anzutreffen, wo wir Sie gefunden haben?« »Genau den Haufen meine ich.« Leeta wandte sich dem Oberst zu, als wäre sie überrascht. »Woher wissen Sie das? Ich bin der Ansicht, daß es die geeignetsten Leute für so was sind. Da ich schon Kontakt mit ihnen gehabt hatte, bin ich noch einmal mit ihnen in Verbindung getreten und habe sie ausgehorcht. Ich habe ihnen meinen Einfall vor sichtig präsentiert und als Anreiz ein paar Kisten Vorräte hinterlassen. Dann bin ich nach einigen Tagen Bedenkzeit
nochmals hin. Sie sind alle dafür. Güter von den Sternen und die Aussicht auf erhöhten Kriegerstatus wirken bei diesen Männern Wunder.« »Und Sie haben sich gedacht«, fragte Ree versonnen, »ich würde ja sagen?« »Natürlich. Sie haben dadurch doch nichts zu verlieren. Sollte der Versuch aus irgendeinem Grund, den ich nicht voraussehen kann, ‘ne Pleite werden, stehen wir nicht schlechter als vorher da. Interesse haben die Romananer — und ich hatte fast befürchtet, gebe ich zu, sie hätten keins. Der Einsatz einheimischer Miliz ist nach Prüfung aller historischen Vorbilder und nach anthropologischen Kriterien eine vernünftige Sache. Falls er mißlingt, habe ich dabei wenigstens was über die hiesigen Menschen gelernt. Schlimmstenfalls kommt es zu Streitigkeiten zwi schen einigen Tausend Leuten.« Sie hob die Schultern. Ree lachte unterdrückt auf. »Sie haben mir ‘n bißchen Sorge gemacht, Doktor.« »Sorge?« Leeta schlug die Richtung zurück zum Ba sislager ein. »Mir ist gemeldet worden, Sie würden dem Gegner Hilfsmittel und Nachschubgüter zuschanzen.« Man konn te Rees Stimme Belustigung anhören. »Ach, bestimmt von Helstead!« Unvermittelt lachte Leeta. »Ich wette, dieser kleingeistige Leuteschinder be hauptet in seinen Meldungen, ich hätte vor, die Projektil abzuschießen. Er würde mir wirklich gerne schwer eins auswischen, was?« »Sie sind nicht gerade seine liebste Zeitgenossin.« Ree neigte den Kopf seitwärts. »Soll ich Ihnen einen anderen ST unterstellen?« »Um nichts in der Welt, Oberst! Mich kümmert’s kei nen Pfifferling, was er über mich meldet.« Ausgezeichnet! Insgeheim schwelgte Leeta ein Gefühl tiefer Zufriedenheit aus, das sie hinter einer nachdenklichen Miene verbarg. »Ich werde ihn für sein Versagen so hart und so lange
büßen lassen, wie ich nur kann. Vielleicht kann ich ihn zu offenem Ungehorsam reizen. Dann mache ich die arrogan te Schweinebacke restlos zur Schnecke.« »Hassen Sie ihn denn dermaßen?« Rees Stimme klang honigsüß. »Ich muß Sie daran erinnern, daß Sie keinen offiziellen militärischen Rang haben. Sie können ihn nicht vors Militärgericht bringen.« Leeta nickte. »Zweifellos haben Sie sich die Aufnah men meines Kampfs mit dem Bären angeschaut. Es ist eins, so was aus sicherer Höhe mitanzusehen. Es ist was anderes, sich mit nichts als einem primitiven Schießge wehr gegen so eine Bestie wehren zu müssen. Daß er mir das zugemutet hat, werde ich niemals vergessen.« Sie ver lieh ihrer Stimme einen bösartigen Tonfall. »Ich muß gestehen, daß Helsteads Meldungen daran grenzen, Sie des Verrats zu beschuldigen.« Ree drehte sich Leeta zu. »Jetzt blicke ich besser durch. Sie und er haben’s einer auf den anderen abgesehen. Ich wünsche, daß dieser kleine Zank nicht die Arbeit beeinträchtigt, die wir alle zu leisten haben. Ist das klar?« »Vollkommen, Oberst«, sagte Leeta umgänglich. »Muß ich daraus schließen, daß aus den bisherigen Mißverständnissen zwischen mir und Helstead schon der artige Beeinträchtigungen entstanden sind?« Sie ließ in ihrer Stimme ein gewisses Bedauern anklingen. Langsam näherten sie sich dem Basislager. »Nicht unbedingt.« Ree lächelte. »Ich bin wegen seines Berichts über Ihre Aktivitäten hier.« Leeta blieb stehen, sah Ree an. »Sie meinen, Sie haben geglaubt, ich hätte ...« Sie sah ihn mit gespielter Entgeisterung an. »So ein Halunke!« Sie knirschte mit den Zähnen. Ree hob eine Hand und schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln. »Kommen Sie, Doktor, was würden Sie von mei nen Fähigkeiten als Kommandeur halten, wenn ich solchen Dingen nicht nachginge? Habe ich Sie gezwungen, mir zu
erzählen, was Sie mit den Einheimischen machen? Nein, Sie haben mich ja regelrecht mit der Darstellung Ihrer Errungenschaften und Ihres Plans zur Gründung einer romananischen Polizeitruppe überfallen. Es ist doch nicht so, daß Sie versucht hätten, etwas zu verheimlichen.« Oder doch ? Was für ein Spiel treibst du, Doktorchen ? Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich bitte Sie! Ich sehe in Ihrem Blick, wie verärgert Sie sind. Aber für mich war es schlichtweg eine Routinenachforschung. Kapitän Helstead hatte einige sehr schwere Vorwürfe gegen Sie erhoben. Sie hätten in meiner Situation das glei che getan. Ich hatte einfach keine Vorstellung davon, daß zwischen Ihnen und ihm ein ... sagen wir mal, ein so feind seliges Verhältnis existiert.« »Ich glaube, >feindselig< ist genau die passende Be zeichnung«, stimmte Leeta zu, setzte den Weg in die Richtung des Basislagers fort. »Glauben Sie im Ernst, ich ließe zu, daß ein kleiner Privatstreit meine Arbeit stört? Mal ehrlich, Damen.« Für ein Weilchen blieb er stumm, während sie beide weitergingen. »Nein, Doktor. Nicht im mindesten. Ich habe die Holos Ihres Verhaltens in der ST-Zentrale ge sichtet. Ich habe auch die Resultate ihrer Einflußnahme auf die Einheimischen überprüft. Obwohl Sie nie höflich zu Arf Helstead oder seiner Crew gewesen sind, haben Sie nie versucht, sie zu Vorschriftswidrigkeiten zu verleiten. Ich bin der Meinung, ich sollte Ihnen tatsächlich einen anderen ST zuteilen.« »Nein«, sagte Leeta mit aller Entschiedenheit. »Damen, betrachten Sie’s doch mal so: Ich halte Helstead für inkompetent. Es ist meine letztendliche Absicht, ihn aus dem Dienst schmeißen zu lassen. Ich brauche mir keiner lei Mühe zu geben, damit er besonders schlecht dasteht. Das ist gar nicht erforderlich. Ich bin der Auffassung, daß er sich irgendwann selber ‘ne Grube gräbt.« Und du wirst von dem, was er meldet, kein Wort glauben.
Inzwischen hatten sie das erleuchtete Umfeld des Ba sislagers betreten. »Wissen Sie, Helstead unterscheidet sich nicht von meinen anderen Offizieren. Er hat lediglich die die Romananer betreffenden Befehle befolgt.« »Ich habe eine Flasche sehr guten zionischen Weins, Damen«, sagte Leeta. »Möchten Sie«, fragte sie, »ein Glas mit mir trinken?« »Mit Vergnügen, Doktor«, antwortete Ree versonnen. »Ich dachte nicht, daß ich ... äh ... sagen wir mal, zu Ihren Freunden zähle.« Leeta ergriff seinen Arm und lachte heiter. »Tut mir leid, daß ich diesen Eindruck bei Ihnen erweckt habe. Ich schätze unsere >berufliche Beziehung< sehr. Sie haben Dinge getan, die ich nicht billige. Das leugne ich nicht. Wir hatten uns eben auf zwei verschiedene Methoden ver legt, um dasselbe Ziel zu erreichen. Tatsache ist, wir brau chen uns gegenseitig. Ich brauche Sie für meine Studien und um di^se Menschen am Leben zu erhalten. Sie brau chen mich, um eine ernste Krise zu verhindern, damit das Direktorat Sie nicht des Kommandos enthebt.« Ree seufzte. »Sie bringen mich immer wieder zum Staunen, Doktor. Sind Sie etwa empathisch begabt? Haben Sie ‘ne psychische Fähigkeit, die auf Gedankenlesen hin ausläuft? Sind Sie vielleicht selber eine romana-nische Schamanin?« »Nein, Damen, aber wäre ich eine Empathin, was würde Ihnen das über Helstead sagen?« Leetas Brauen rutschten hoch. »Ich sollte Sie zwei wahrhaftig trennen«, überlegte Ree nochmals. »Auf lange Sicht wäre das sowieso nutzlos. Irgendwann wird er doch Probleme verursachen. Solang ich dabei bin, kann er kein Grüppchen Romananer wegen irgendwel cher, obendrein eingebildeter Belanglosigkeiten zusammenblastern. Ohne meine Anwesenheit könnte er rasch übereifrig oder übermütig werden und einen
Zwischenfall anzetteln, der unsere gesamte Arbeit schließ lich zunichte macht.« »Da wir gerade von so was reden ...« Am Rande des Basislagers blieb Ree stehen. »Mir liegen zahlreiche Meldungen über Disziplinverstöße unter meinen Leuten vor.« Leeta senkte den Kopf auf die Schulter. »Wieder mal Reary?« Rees Schmunzeln fiel grimmig aus. »Es wäre mir äu ßerst zuwider, Sie zur Gegenspielerin zu haben. Ihre Befähigung, aus gesonderten Datengruppen eine Wahr scheinlichkeit zu konstruieren, beeindruckt mich jedesmal enorm. Aber nein, in diesem Fall ist es so, daß ich von Gewalttätigkeiten zwischen Romananern und meinen Patrouillensoldaten erfahren habe.« »Das hört sich nicht an, als wär’s etwas, das mein ...« Ree winkte ab. »Trotzdem könnte es sein, Doktor. Es kommt aus dem denkbar blödesten Anlaß dazu — wegen Coups« Leeta runzelte die Stirn. »Coups?« »Jawohl. Die Romananer verachten meine Soldaten, weil sie keine Coups nehmen. Für die Einheimischen ist das ‘n Zeichen der Schwäche, bei ihnen hat jeder Krieger, der sein Geld wert ist, seine Coups. Die naheliegende Folge ist ...« »Daß Ihre Patrouillensoldaten sich minderwertig füh len«, beendete Leeta, die inzwischen verstanden hatte, um was es ging, an Rees Stelle den Satz. »Sie stehen als Krieger da, die noch nie mit einem Feind zusammenge prallt sind, nie einen bewaffneten Gegner getötet haben, deren Mut und Ehre von Männern angezweifelt wird, und die sie in Sekundenschnelle einäschern können.« Ree spitzte die Lippen und hob die Schultern. »Ich habe nicht weniger als fünf Offiziere in Arrest nehmen müssen, weil sie ...« Er zögerte. »... selber Coups genommen haben.«
Leeta lachte. »Sie haben doch auch meinen Skalp ge sehen, Oberst.« »Und ich habe Ihnen verschwiegen, was ich davon halte.« »Lassen Sie’s Ihren Soldaten einfach durchgehen.« Einen Moment lang sagte Leeta nichts. »Wissen Sie, Akkulturation funktioniert nach beiden Seiten.« »Darüber muß ich erst einmal nachdenken«, entgegnete Ree barsch. »Schließlich besteht die Patrouille ja nicht aus einer Horde Wilder, die ...« »Verlangen Sie von Ihren Leuten Zuverlässigkeit, Da men ... oder hätten Sie lieber Mißstimmung?« Ree schnitt ein finsteres Gesicht und überlegte ange strengt. Leeta öffnete die Tür zu ihrer Unterkunft und holte den Wein heraus, während Ree es sich in einem Sessel bequem machte. Sie drehte sich um und schenkte Wein in zwei Gläser. »Auf Atlantis.« Ree prostete Leeta zu. »Hoffentlich können wir den Planeten dem Direktorat mit möglichst geringen Schwierigkeiten anschließen.« Leeta trank, musterte Ree neugierig. Sie fing einen Tropfen ab, der vom Rand ihres Glases hinabrann, kauerte sich aufs Bett, klemmte die Beine unter sich und lehnte sich an die Wand. »Sie haben, wie Sie ja wissen, komplet te Informationen darüber, wer ich bin. Aber wie verhält’s sich mit Ihnen? Es gibt... Wie viele? Gibt’s nicht ein Dutzend Raumschiffe wie die Projektil? Wie wird jemand, ob Mann, ob Frau, Kommandant so eines Kriegsschiffs?« »Das Direktorat hat elf Schlachtschiffe«, berichtigte Ree sie mit einem Lächeln und zuckte die Achseln. »Ich war jung. Ich wollte in den Weltraum. Sobald ich zum Studium zugelassen worden war, habe ich mich auch bei der Patrouille beworben. Es werden bestimmte Aus leseprogramme angewendet, müssen Sie wissen. Schafft man es auf der akademischen Ebene, behalten sie einen,
wenn nicht, kann man gehen, und die künftige Ausbildung bezahlt zum Teil die ...« »Ganz so einfach ist’s ja wohl nicht, Damen«, wider sprach Leeta. »Denken Sie daran, daß ich selbst von der Universität komme. Vielleicht zwei Prozent stehen die ersten vier Jahre durch.« Rees Augen funkelten. »Ich bin an die Akademie ge schickt worden und habe offenbar auch dort einen pas sablen Eindruck hinterlassen. Unter den hundert Besten habe ich meinen Abschluß an dreiundsechzigster Stelle gemacht.« Er lächelte. »Ich glaube, dadurch bin ich zu mehr Fleiß angespornt worden. Ich habe mit knapper Not ein Pöstchen an Bord der Projektil ergattert.« »Und wie ist Ihnen dabei zumute gewesen?« fragte Leeta. »Ich meine, wußten Sie sofort, kaum daß Sie das erste Mal ‘n Fuß auf Deck gesetzt hatten, daß das Schiff sozusagen für immer Ihrs ist?« Rees Augen hatten einen verträumten Ausdruck. Er bewegte das Glas zwischen seinen Fingern, so daß der Wein darin quirlte, betrachtete das Getränk. »Wissen Sie, an dem Tag habe ich mich unsterblich in die Projek til verliebt. Ich entsinne mich noch an meinen Orientie rungsgang, es war, glaube ich, wie der Anfang einer Ehe. Wochen habe ich damit zugebracht, ihre Launen, ihre Vorlieben, ihre Stärken und Schwächen kennenzulernen. Sie wurde mein Lebensinhalt, mein Ehrgeiz und meine Liebe. Sie ist noch heute ...« Er schmatzte mit den Lippen. »Vielleicht haben Sie mit der Zeit davon ein bißchen Abstand gewonnen?« meinte Leeta, die seinen verklärten Blick sah. Unbekümmert lachte Ree. »Kann sein, es ist albern von mir, aber jeden Morgen, ob ich an Bord bin oder hier auf dem Planeten, rufe ich die Kommu an und lasse das Schiff gründlich checken. Das habe ich seit dem Tag, als ich sie zum erstenmal betreten habe, jeden Morgen gemacht.
Finden Sie mich deswegen merkwürdig, Doktor?« Er lächelte ihr zu. »Sie ist eben Ihr Traum, Damen. Für seinen Traum soll te man sich niemals entschuldigen. Sie sind einer der wenigen glücklichen Menschen, sie sind entschlossen genug gewesen, um ihren Traum zu verwirklichen.« Er wirkte ein wenig traurig, als er ihren Blick erwiderte. »Ich muß sagen«, gab er zu, »ich habe dafür alles andere geo pfert. Ich habe nie geheiratet. Nicht einmal meine Eltern habe ich vor ihrem Tod wiedergesehen. Ich hatte niemals für irgend etwas anderes als mein Raumschiff Zeit. Habe ich womöglich meine Seele verkauft?« »Sie haben Ihren Traum in die Tat umgesetzt. Das haben Sie geschafft. Haben Sie denn deshalb das Gefühl, als hätten Sie Ihre Seele verkauft?« »Mein Schiff ist meine Seele.« Ree lächelte schuldbe wußt. »Stieße der Projektil etwas zu, wüßte ich keinen Grund mehr zum Weiterleben. Ich habe in diese Röhre voller Luft mein Leben gesteckt. Sie ist alles, das mir et was bedeutet.« »Das muß schwierig sein«, erwiderte Leeta mitfühlend. »Und der Direktor hat die Macht, sie Ihnen weg zunehmen?« Ree schluckte, wirkte plötzlich nervöser, als Leeta ihn je zuvor gesehen hatte. »Hat er. Und die Lage auf Atlantis hängt am seidenen Faden.« »Aus dem wir vielleicht ein dickes Seil machen kön nen«, sagte Leeta, schaute hinauf zur Decke. Er betrachtete sie, sein eisenhartes Äußeres wurde wei cher. »Ich habe Alpträume. Ich sehe mich auf der Kommandobrücke. Die Blaster schießen diesen ver fluchten Planeten in Trümmer. Da übermittelt die Kom mu plötzlich ein Holo Skor Robinsons, und er befiehlt mir, das Kommando an Majorin Reary abzutreten. Mein Herz bleibt stehen, und ich schreie vor Furcht auf.« Er schloß die Lider und lehnte sich zurück. »Ich will mich weigern,
aber die Offiziere ziehen die Waffen und nötigen mich zum Verlassen der Kommandobrücke. Ich will mich weh ren, Widerstand leisten, aber meine Arme bewegen sich nicht. Auch meine Beine sind gelähmt. Ich sehe, wie die Besatzung mich verächtlich anstarrt, sie spuckt mich an. Warum? Ich habe doch immer soviel für sie getan. Man schleift mich zur unteren Schleuse hinab, wirft mich hin ein. Ich brülle und tobe, hämmere mit den Fäusten gegen die Luke. Ich wüte wie ein Irrer, bin außer mir vor Zorn, ich gehe auf die Schalttafel los, aber weder meine Drohungen noch mein Flehen werden beachtet. Da öffnet sich die Außenluke, ich stürze ins Schwarze hinaus, trude le auf spiralenförmiger Bahn, auf der ich in alle Ewigkeit bleiben werde, von der Projektil fort. Ich schreie und schreie, weil ich höre, wie das Raumschiff nach mir ruft.« Ree saß still da, tief in die Erinnerung an seinen Traum versunken. Nach längerem Schweigen blickte er hoch. »Und dann wache ich auf « Leeta senkte den Kopf. »All die Zeit, die Sie investiert haben, all diese Hingabe, und Skor Robinson könnte Ihr ganzes Leben einfach so, pffft!« — sie pustete auf ihren Handteller — »hinfällig machen?« Ree unterstrich sein Nicken mit einem verzerrten Lä cheln. »Stimmt genau. Einfach so.« Er hob den Blick, stählerne Entschlossenheit kehrte in seine Miene zurück. »Darum kann ich mir hier keine Schlappe erlauben, Doktor. Und darum werde ich an Atlantis nicht schei tern!« Leeta füllte sein Glas noch einmal. »Ich sitze mit Ihnen im selben Boot. Das habe ich schon klargestellt, als wir unsere Übereinkunft eingegangen sind. Ich darf mir genausowenig einen Fehlschlag gestatten. Aber ich glau be, jetzt verstehe ich besser, um was es für Sie geht. Haben Sie deshalb ‘n Groll gegen den Direktor? Ich meine, weil er allein ‘ne so unerhörte Macht besitzt? Er ist so weit weg, so unpersönlich.«
»Sicherlich paßt er mir nicht, aber was soll ich tun, Doktor? Ich habe einen Eid zur Aufrechterhaltung des Direktorats geschworen. Unsere Treue zum Direktorat ist eine der festesten Devisen der Patrouille. Sie ist ein ehren volles Erbe, auf das wir stolz sind. Seit dem Entstehen der Konföderation vor fünfhundert Jahren ist die Patrouille immer ein Instrument der Zivilisation gewesen. Sehen Sie doch nur, was wir aufgebaut haben.« »Wir?« fragte Leeta. »Wir!« bekräftigte Ree. »Wie weit wären die Politiker denn ohne uns gelangt? Das Blut und die Ehre der Pa trouille hat ihnen Zeit erkämpft, Doktor. Ich bin ein Teil dieses Erbes. Jahrhundertelang haben wir zwischen der Barbarei und der Zivilisation gestanden. Dafür haben wir Opfer gebracht, unser Blut, unser Leben, unsere Raumschiffe ... aber es ist uns gelungen, alles zusam menzuhalten.« Sein Gesicht glänzte. »Freilich ödet das Direktorat mich an, aber es hat uns vierhundert Jahre lang Krieg erspart. Aggressionen auf Welten oder Stationen? Wir zeigen uns, und die erhitzten Gemüter kühlen ab. Wir sind der letzte Notanker.« Ree nickte bedächtig. »Solange Sie die Raumschiffe haben«, schränkte Leeta ein. »Das ist richtig, Doktor.« »Damen, sagen Sie ruhig Leeta zu mir, wenn wir allein sind.« Sie füllte ihm nochmals das Glas. »Leeta ... Was für ein hübscher, gefälliger Name.« Seine Augen bekamen einen wärmeren Ausdruck. »Haben Sie vielleicht einige meiner anfänglichen Vorschläge neu durchdacht?« Typisch Mann! Gibt man ihm einen Finger, will er die ganze Hand. »Nein, Damen. Es würde uns mehr schaden als guttun. Das war mein Ernst. Und Sie wissen, daß ich recht habe.« Sie schwieg für einen Moment, furchte die Stirn, sich dessen bewußt, daß er sie aufmerksam beobachtete. »Wissen Sie, wir gäben ein gräßliches Liebespaar ab.«
»Sind Sie sicher?« Seine offene Miene verdutzte Leeta, bis sie begriff, daß sein Aufgelockertsein vom Wein verur sacht worden sein mußte. »Ganz sicher.« Sie trank ein Schlückchen. »Zuerst mal wäre ich nicht dazu imstande, Sie mit Ihrem Raumschiff zu teilen. Außerdem sind wir beide dominante Typen. Es käme dahin, daß jeder von uns herauszufinden versucht, wer der Stärkere ist, der Zähere, Schlauere. Diese Konkurrenz müßte uns zum Schluß in erbitterte Feinde verwandeln. Für ungefähr ein Jahr brauchen wir uns gegenseitig ganz dringend. Sie brauchen meine Fachkenntnisse, ich muß Ihren Rückhalt haben. Wir müs sen ein unschlagbares Team sein. Wenn wir beide nicht wie eine gutgeölte Maschine bei Null Schwerkraft funk tionieren, wird’s nicht klappen. Es ist alles so heikel, Damen, so unwahrscheinlich heikel.« »Bis jetzt läuft anscheinend alles ziemlich gut.« Ree trank Wein. »Ich dachte, wir könnten’s innerhalb eines Monats abwickeln?« Er schaute Leeta an, als er die Frage stellte. Leeta erlaubte sich ein schallendes Lachen. »Eines Monats?! Damen, wir sind dabei, eine Gesellschaft um zukrempeln. In so mancher Hinsicht ist es das gleiche wie die Veränderung einer Ökologie. Eliminiert man die Raubtiere, nehmen die Pflanzenfresser überhand, eins beeinflußt im System das andere. Es ist, wie die Roma naner es ausdrücken, ‘n Spinnennetz. Zerschneidet man einen Faden, sieht man dem Netz die Schwächung seiner Stabilität vielleicht nicht an, aber wenn sich die Spinne bewegt, sackt es zusammen. Wir zerschneiden viele Fäden gleichzeitig. Wir müssen zur Stelle sein und reparieren, sobald ein Zusammenbruch droht.« »Und wenn uns dafür keine Zeit mehr bleibt?« fragte Ree mit gepreßter Stimme. »Es ist ja nicht mehr so, daß sich bei Ihnen tote Krieger bis unters Dach stapeln«, sagte Leeta. »Die Romananer
schießen nicht auf die Patrouillensoldaten. Wir machen die Leute mit Waren aus m Weltraum bekannt und begrün den damit eine künftige Abhängigkeit vom Handel. Wir haben Lehrgänge in Direktoratspolitik zu veranstalten angefangen. Das sind sicher deutliche Fortschritte.« »Es sind noch andere Dinge zu berücksichtigen.« Irri tiert winkte Ree ab. »Wir können nicht auf Dauer drei Kriegsschiffe über diesem Planeten stationiert halten.« »Drei Kriegsschiffe?« wiederholte Leeta bestürzt. »Drei. Binnen eines Monats werden zwei weitere Schiffe hier eintreffen. Garcias Begabung hat Robinson einen mörderischen Schrecken eingejagt. Er hat ‘n Nachschubfrachter umgeleitet, der Garcia nach Arctu-rus fliegen soll, damit er ihn sich persönlich vorknöpfen kann. Verfluchter Wasserkopf!« Ree merkte, was er gesagt hatte, blickte sich plötzlich wachsam um. »Zwei weitere Schiffe?« meinte Leeta nachdenklich. »Schlachtschiffe?«-’ »Die Viktoria unter dem Kommando von Obristin Maya ben Achmad — eine boshafte alte Krähe ist das! — und die Bruderschaft unter dem Kommando von Obristin Sheila Rostostiew. Mit ihr bin ich auch nie sonderlich gut zurechtgekommen. Ich glaube, ihr wär’s recht, wenn ich hier alles verpatze. Sie war meine einzige Mitbewerberin ums Kommando über die Projektil Nach meiner Beförderung zum Oberst ist sie versetzt worden.« Damen Ree stieß ein Seufzen aus. »Nominell unterstehen sie, soll te die Situation ihr Eingreifen erfordern, meinem Befehl.« »Ich dachte, der Projektil allein wäre es schon möglich, den Planeten auseinanderzunehmen«, sagte Leeta besorgt. »Wozu dann noch zwei Kriegsschiffe?« »Ach, seien Sie völlig beruhigt, die Projektil bietet aus reichenden Schutz für einen gesamten Raumsektor«, ver sicherte Ree. »Die beiden anderen Schiffe dienen nur zur Rückversicherung. Etwa für den Fall, daß ich überlaufe. Oder die Romananer unterschätzt habe. Gott weiß woge
gen. Aber wenn nun was Unvorhergesehenes passiert...« Er schmunzelte. »Sie sehen, Robinson hat wirklich Bange bekommen.« Leeta goß den restlichen Wein in Rees Glas, warf die leere Flasche in den Abfallbehälter und entnahm dem Spind eine neue. »Es muß wegen der Hellsichtigkeit sein«, sagte sie. »Er befürchtet, daß überall im Direktorat Propheten aktiv werden könnten.« »Malen Sie sich nur die Konsequenzen aus, falls es dazu käme.« Ree schaute nachdenklich in den Wein, ehe er davon trank. »Denken Sie bloß mal nach! Alles stünde Kopf. Die Geschäftswelt geriete in Panik. Versiche rungen? Wer würde noch Versicherungen abschließen? Die Leute würden Romananer bezahlen. Es ist zum Ver rücktwerden, sich so was vorzustellen.« Leeta schüttelte den Kopf. »Aber so funktioniert das mit den Propheten doch gar nicht. Hat man denn meinen Bericht nicht zur Kenntnis genommen? Ich meine, Sie hät ten gesagt, nachdem Sie ihn gelesen hatten, er hätte Priorität?« »Ich habe ihn übermittelt, Leeta.« Sein Blick zeigte, daß er es wirklich getan hatte. »Ich glaube, Robinson ist mit nichts mehr zufrieden, was sich nicht mit dem Schlimmstmöglichen befaßt.« »Er geht auf Nummer Sicher«, erwiderte Leeta. »Ge nauso wie der gesamte Rest der Gesellschaft. In keiner Hinsicht wird ein Risiko geduldet. Keine Risiken, keine Gefahren, keine Verantwortung! Ich bin der Ansicht, das stinkt alles verdammt zum Himmel!« »Fast wünscht man sich alte Zeiten zurück.« Ree be gann für das Thema Interesse zu entwickeln. »Früher gab’s noch Helden. Es galt für das Richtige zu kämpfen und das Falsche auszumerzen. Die Menschen konnten noch an sich glauben.« Sein Blick fiel auf den Skalp an Leetas Wand. »Wir könnten mit unseren Coups prahlen.« Rees Augen glänzten.
»Haben Sie schon mal daran gedacht, einfach alles hin zuschmeißen?« fragte Leeta, beobachtete ihn grüblerisch. Die erste Flasche hatte er fast ganz allein getrunken. »Heiliges Kanonenrohr!« Er grinste. »Wer hätte nicht schon gelegentlich mit diesem Gedanken gespielt? Ein fach mal über den Außensektor hinauszufliegen, um zu sehen, was dort ist...! Das würde ‘ne Menge Aufregung verursachen. Im Direktorat ist alles so vollkommen ausge wogen eingerichtet.« Er verstummte, hing wortlos seinen Gedanken nach. »Sie meinen stagnierend«, sagte Leeta. »Aber ich könnt’s nicht tun«, erklärte Ree. »Ich bin für die Projektil verantwortlich. Ich habe dem Direktorat ‘n Eid geleistet. Ich stehe in der Tradition der Patrouille. Ich könnt’s nicht, Leeta. Es wäre mir unmöglich, die Pa trouille im Stich zu lassen. Wir vertreten die Zivilisation. Was soll denn werden, wenn die Patrouille ihre Pflicht nicht erfüllt? Wer sollte die Sicherheit der Menschheit garantieren?« Er warf ihr einen kläglichen Blick zu. »Wegen des anderen alles aufzugeben ... zu so was bin ich nicht fähig. Zu viele verlassen sich auf mich ... auf uns ... auf die Projektil« Leeta füllte erneut sein Glas. »Damen, ich bin froh, daß Sie ein so fähiger Offizier sind. Wie um Gottes willen soll te ich das alles ohne Sie bloß schaffen? Aber lassen Sie mich mal ‘ne hypothetische Frage stellen. Was wäre, wenn Sie sich zwischen Skor Robinson und der Projektil ent scheiden müßten?« »Zwischen dem Raumschiff und der Ehre?« fragte Ree. »Was ist ‘n Mann ohne Ehre? Die Patrouille kann auf ‘ne stolze Tradition zurückblicken. Wir sind die Zivilisation!« Sein Kopf wackelte. »Ich habe zuviel Wein getrunken, Leeta.« Er blinzelte. »Ich gebe Ihnen Kaffee.« Leeta tippte auf die Tasten des Automaten, füllte zwei Becher. »Und was wäre mit dem Raumschiff?«
»O Gott...!« seufzte Ree. »Ich hoffe, ich werde nie vor diese Wahl gestellt. Ob auf die eine oder die andere Weise, ‘s wäre mein Untergang.« Leeta sah zu, wie er mühsam aufstand und in die kleine Toilette ging. »Es steht ungeheuer viel auf dem Spiel, mein lieber Oberst«, flüsterte sie. »Wer weiß, vielleicht bedeutet’s für uns alle den Untergang.« Und sie fragte sich, weshalb auch sie sich so elend fühlte. * * * Chester Armijo Garcia blieb stehen und schüttelte S. Montaldo die Hand. »Es war mir eine Freude, mich mit dir zu unterhalten, Doktor.« Er nickte. »Du wirst bald ein sehr wichtiger Mann sein. Wenn die Ereignisse eintreten, die dich dazu machen, denke an deine Menschlichkeit — und bewahre den Glauben an Gott. Du verkörperst einen Cusp, Doktor. Spinne wird sich nicht von dir abwenden.« Chester lächelte und betrat den Schleusentunnel, um in den Nachschubfrachter überzuwechseln. Seine un vermeidliche Eskorte von Patrouillensoldaten begleitete ihn; aus Unbehagen hatten die Männer die Hände ständig an den Blastern. Zum Donnenvetter, dachte Montaldo ver ärgert, seinetwegen brauchen sie die Dinger doch über haupt nicht. »Na, was soll denn das wohl heißen?« brum melte er laut. »Was ist ein Cusp? Ereignisse? Welche Ereignisse?« Er wandte sich ab. »Garcia, du verfluchter Schlaumeier!« Montaldo fühlte sich ernsthaft beunruhigt. Er setzte sich in die Observationskuppel und beobachtete, wie der Nachschubfrachter von der Projektil abkoppelte. Der Frachter hatte zwei Geleiteinheiten dabei. Ein greller Lichtstrahl flammte auf, als der Nachschubfrachter be schleunigte und Kurs auf Arcturus nahm. Montaldos Miene spiegelte Verdruß. Chester hatte ein weiches Gemüt. Was für ein Empfang erwartete ihn, sobald er das Raumschiff verließ und in die Klauen Skor
Robinsons geriet? Es graute Montaldo, als er an die zahl losen Sonden, Monitoren und Tests, all das Bohren und Stochern dachte, die einen unabwendbaren Bestandteil von Chester Garcias Schicksal abgaben. Er mußte es schon vorher gewußt haben. »Ein mutiger kleiner Kerl«, murmelte Montaldo. »Leb wohl, Chester. Du wirst mir fehlen ... obwohl ich dich beim Schach nie schlagen konnte.« Seltsam war, daß Garcia, ehe er an Bord der Projektil kam, noch nie ein Schachbrett gesehen gehabt hatte — und trotzdem hatte er das Spiel sogar gegen die Computer gewonnen. Montaldo spitzte die Lippen. Beiläufig fragte er sich, ob Direktor Skor Robinson jemals Schach gespielt haben mochte.
18
John Smith Eisenauge schloß die Augen und nahm einen tiefen Atemzug. »Warum?« fragte er, versuchte beherrscht zu sprechen. Sam Andojar Smith verschränkte harten Blicks die Arme auf der Brust. »Ehre«, lautete seine schlichte Ant wort. Eisenauge biß sich auf die Lippe, warf dem Alten, der mit gesenktem Kopf dasaß, als schliefe er, hutzelig wie eine Mumie, gehüllt in eine ölschwarze Decke, einen kur zen Blick zu. Eisenauge ordnete seine Gedanken. »Du weißt, daß das Volk sich auf dem Kriegspfad be findet. Wir haben mit den Santos Frieden, bis die Ster nenmenschen besiegt sind. Den Santos Pferde zu steh len ...« »Du hast’s mir nicht zu verbieten, John Smith Eisen auge!« brauste Sam auf, das Gesicht vor Zorn dunkel-rot. »Ich habe mit den Santos keine Vereinbarungen ge troffen!« Während er die Worte bösartig hervorstieß, huschte sein Blick wiederholt hinüber zu dem Alten. »Kein Einzelner kann bestimmen, was ein Krieger des Volkes zu tun oder nicht zu tun hat.« Eisenauge nickte; er konnte Sams Einstellung und Empfinden nachvollziehen. »Das galt vor der Ankunft der Sternenmenschen. Heute stehen wir in einem anderen Krieg, als wir ihn zuvor gegen die Santos geführt haben. Wir kämpfen um das Ganze. Wir kämpfen um unsere gesamte Welt, für Spinne, für alles, an was wir glauben. Für die Frauen ...« »Das haben wir immer getan«, entgegnete Sam. »Ich will nicht hören, daß ich diese Pferde, die ich bei den Santos mit soviel List und Geschicklichkeit erbeutet habe, zurückge ...«
»Früher haben wir nicht gegen die Waffen von Sternen menschen kämpfen müssen!« donnerte Eisenauge ihn an. Er wies hinauf an das blaue Himmelsgewölbe. »Dort oben, Sam, haben sie ein Raumschiff, das größer als sämt liche ST zusammen ist! Mit ihren Waffen können sie die Siedelei so leicht vernichten, wie’s uns möglich ist, einen Felsenegel mit einer Kanone zu erlegen.« Die Stimme des Alten klang, als er, unter seiner schmuddeligen Decke zusammengekauert, das Wort er griff, leise und piepsig. »Sam Andojar Smith, du bist an einem Cusp angelangt. Du mußt hier und jetzt eine Ent scheidung treffen und mit deiner ganzen Kriegerehre für sie einstehen.« Sam schluckte, senkte gewohnheitsmäßig den Blick zu Boden. Eisenauge sah, wie das Zornrot aus seinen Wangen wich, als verwehte Staub im Wind. * * * »Ja, Großvater?« »Die Wahl liegt bei dir, Sam Andojar Smith«, sagte der Greis, ohne sich zu rühren. »Entscheidest du dich dafür, dem Volk zu helfen — oder willst du bei deinem Begriff von Ehre bleiben? Entscheidest du dich für den Weg dei ner Väter ... oder den Weg in die Zukunft? Diese Wege schließen einander nicht vollständig aus. Aber die Frage ist: Was wirst du jetzt tun?« Sam trat auf der Stelle, seine Schultern sanken herab, er rang die Hände, überlegte angestrengt. »Ich ... Großvater, ich bitte dich um Rat. Sag mir, was ich tun soll. Es soll so sein, wie du’s wünschst.« Der Greis fing langsam vor- und zurückzuschaukeln an. »Ich kann nicht für dich sehen, mein Kind. Ich sehe dich, wie ich dich dein Leben lang gekannt habe. Ich sehe das Kind, das du gewesen bist, nackt und ohne Manieren, wie du umherrennst und spielst... und deinen Frohsinn. Ich sehe dich auf deinem ersten Pferd ... und deinen Stolz. Ich
sehe dich, nachdem dein Vater bei einem Beutezug von den Santos getötet worden war ... und deine Trauer. Ich sehe dich tapfer auf einen ST schießen ... und deinen Mut. Nun sehe ich dich unsicher vor mir stehen. In der Zukunft sehe ich für dich zwei Wege. Nicht ich wähle zwischen ihnen. Spinne schützt den freien Willen. Für welchen Weg entscheidest du dich, Sam?« Nervös wechselte Andojar Smith von einem mit Leder bekleideten Fuß auf den anderen, schielte unter gesenkten Lidern hervor Eisenauge an. »Ich ... ich entscheide mich für das Volk, Großvater.« Der Prophet nickte mit seinem Greisenschädel. »Also gut, Sam Andojar Smith. Du hast deine Ehre zurückge stellt. Gehorche Eisenauge. Tu was er sagt. Er ist der Retter des Volkes. Folge seinem Weg. Spinne behütet deine Seele.« Sam füllte die Lungen mit Luft, das Gesicht vor Stau nen regelrecht verzerrt. Er wollte eine Hand heben, hielt still, atmete aus. Eisenauge beobachtete das Mienenspiel seiner gemischten Gefühle. Argwohn mischte sich mit Unglauben. Kaum merklich schüttelte der Mann den Kopf. »Ich habe nichts anderes vor, als den Weg zu gehen, den Spinne mir gewiesen hat«, erklärte Eisenauge; sein Tonfall brachte Freundschaftlichkeit und Verständnis zum Ausdruck. »Dieser neue Weg gefällt mir nicht. Ich tue nur, was ich tun muß.« Sam dachte über seine Worte nach, bis das Feindseli ge in seinen Augen einer gewissen Umgänglichkeit wich. »Vielleicht ist es so, John Smith Eisenauge.« Er zuckte die Achseln und seufzte laut. »Ich werde die Pferde den Santos zurückbringen. Aber was dann? Was soll ein Krieger heutzutage anfangen? Mein Vieh hüten meine Weiber. Soll ich auf dem Hintern hocken und zuschauen, wie die Welt sich dreht? Wo soll ich jetzt noch Ehre erringen?«
Eisenauge deutete in den Osten, in die Richtung der zer klüfteten, düsteren Gebirgskette der Bärenberge. »Dort. Dort ist das Lager im Nabel. Geh dorthin. Rotschopf Viele Coups und Philip werden dir zeigen, wie du dem Volk die nen kannst. Dort liegt die Ehre, Sam. Dort liegt die Zukunft.« Sam senkte, als er sich an den Propheten wandte, wie der den Kopf. »Ich gehe, Großvater. Ich danke dir.« Er drehte sich um, maß Eisenauge mit einem letzten Blick und entfernte sich im Laufschritt. Eisenauge setzte sich auf eirr zusammengerolltes Bündel eingesalzener Häute. »Jeden Tag werden es mehr, die sich an diesem von den Sternenmenschen er zwungenen Frieden stören. Erst wollte man nicht glauben, daß wir Frieden haben, Nun hecken sie Listen aus, wie man die Santos übertölpeln könnte. Andere haben zu aus giebig und zu bitter über vergangenes Unrecht nachzugrü beln begonnen. Großvater, wie lange kann ich mein Volk noch im Zaum halten? Jeden Tag fühle ich mich dem Scheitern näher. Alle meine Kraft muß ich darauf verwen den, daß Zwist und Blutrache zwischen uns und den Santos ruhen bleiben. Wären nicht deine gütigen Worte ...« Beunruhigt rieb er seine Hände aneinander, die Augen an den fernen Horizont gerichtet. »Spinne hat dem Volk den Weg nie leicht gemacht, Kriegshäuptling.« Eisenauge stutzte. »Kriegshäuptling, Großvater?« »Eines Tages wird man dich so nennen ... falls du deine Leidenschaft meisterst und dich als würdig erweist. Vorerst denk an das, was ich gesagt habe. Du kannst aus meinen Worten etwas lernen.« Eisenauge spähte über die staubige Plaza zu dem ST hinüber, der darauf geparkt stand, die Sturmrampe aus gefahren; geruhsam hielten Patrouillensoldaten davor Wache. Auf der ganzen Länge von über einhundert Me tern unterbrachen nur die bulligen Umrisse der Materie
Antimaterie-Triebwerke am Heck des ST die stromli nienförmige Silhouette. In stromliniengeformten Türmen waren schwere Blaster installiert. Der gepanzerte Bug mündete in eine aus einer Graphitstahllegierung fabri zierten Nadelspitze, die den Zweck hatte, den Rumpf eines Raumschiffs aufzubohren, bevor der Sturmtrupp es enterte. »Ein leichter Weg führt zu Schwäche.« Eisenauge nickte vor sich hin. »Ein schwerer Weg führt zu Stärke.« »Wie stark bist du, Eisenauge?« fragte der Prophet, rührte sich; seine geröteten Augen spiegelten Neugierde wider. Sein Greisengesicht wirkte, als wäre es aus verwit tertem Holz geschnitzt, so zerfurcht, knorrig und zeitlos sah es aus. Im Sonnenschein schimmerte das zu langen Zöpfen geflochtene, graue Haar wie Silber. John Smith Eisenauge betrachtete die langgestreckten, schnittigen Umrisse des ST. Das leuchtende Weiß hob sich grell von den lehmigen Farbtönen der Plaza sowie der romananischen Hütten ab. Es gleißte in der Sonne, stand in ihrer Mitte wie ein Symbol für die Macht des Direktorats — ein Hinweis auf die Bedrohung, die über ihnen schwebte, unmittelbar hinterm Blau des Himmels außer Sicht. »Ich weiß es nicht, Großvater.« »Viele Dinge müssen sich ändern, Eisenauge.« Aus der Decke schob sich eine welke Hand und vollführte eines Gebärde des Umfassens. »Alles, was wir wissen, glauben und für richtig halten, wird in Frage gestellt... vorausge setzt, wir überleben.« »Und du kannst unseren Weg nicht vorhersehen?« Ei senauge versuchte zu verhindern, daß seine heimliche Hoffnung in seiner Stimme anklang. Der Alte überraschte Eisenauge mit einem lustigen Auflachen. »Nein, Eisenauge. So weit werde ich nicht in die Zukunft schauen. Noch müssen zu viele Cusps ent schieden werden. Wenn ich in die Zukunft blicke, sehe ich
so viele Schicksale ... Jedes wird durch den freien Willen der Person entschieden.« Ein längeres Schweigen schloß sich an, während Ei senauges Gedankengänge der Richtung folgten, die ihm die Worte des Alten vorgegeben hatten. »Aber wenn wir überleben, mein Sohn«, krächzte die Stimme des Alten schließlich, »wird unser Volk anders sein. Unsere Lebensweise, unsere Gesetze und unser Selbstverständnis werden sich geändert, in etwas Neues umgewandelt haben, ähnlich wie naß über einen Sattel gebreitetes Rohleder. Nie wieder werden wir sein, was wir sind ... oder einmal waren. Das ist Spinnes Weg ... sich zu wandeln ... zu lernen.« »Ist das gut oder schlecht, Großvater?« Eisenauge be obachtete einen Staubwirbel, der über die Plaza sauste; er kreiselte und tanzte, bog sich, huschte mal hier-, mal dahin, erinnerte damit Eisenauge an die eigene, gequälte Seele. »Das hängt vom Volk ab — und von Spinne. Spinne ist das Gute, und Spinne ist das Böse. Nur die Art des Denkens unterscheidet gut und böse.« Mit einem Rasseln füllte der Greis Atem in seine alten Lungen und ließ das graue Haupt sinken. »Nun werde ich schlafen, mein Sohn.« Eisenauge lächelte dem Alten zu und stand auf. Aus den Abzugslöchern in den rundgewölbten Lederdächern der Hütten kräuselten sich unregelmäßige Rauchsäulen empor. Frauen schabten Häute sauber, schnitten Gemüse für die Suppe in kochgerechte Schnipsel, riefen nach den Kindern, die in ihrer Winterkleidung umherflitzten. In baufälligen Pferchen standen Pferde angekoppelt, und ein Kreis Männer genoß die Nachmittagssonne, während sie sich gegenseitig über Coups, entführte Weiber und rassige Pferde übertrumpften. Er ließ die Eindrücke des Daseins in der Siedelei auf sich einwirken und sich bis ins Mark dringen, fühlte rund
um das Leben und Treiben seines Volks. Ein Kind quäkte, weil seine Mutter es mit scharfer Stimme schalt. Vom Waffenschmied hallten Hammerschläge herüber, während er wieder ein Stück des Raumschiffs zu einem Gewehr verarbeitete. Entfernt muhten Rinder, und in der Nähe brach hinter einem Türvorhang Gelächter aus. »Und was wird die Zukunft bringen?« fragte sich Ei senauge, nickte einer jungen Frau zu. Sie lächelte ihn an, einen Packen Brennholz, gehauen von Säulenpflanzen, unter dem Arm, ihre Augen blitzten. Vielleicht schwang sie im Vorübergehen die Hüfte etwas deutlicher, sprachen verführerische Verlockung und geheime Verheißung aus ihren Bewegungen. Oder vielleicht beeinflußte ganz ein fach seine Liebe zum Volk seine Wahrnehmungen. Eisenauge spitzte die Lippen. Etwas hatte sich verän dert. In seine Heimat und sein Volk hatte sich eine fremd artige Vorsichtigkeit eingeschlichen. Die Menschen warte ten auf das Kommende, empfanden Mißvergnügen wegen des Sturmtransporters auf der Plaza, waren sich der Worte der Propheten und der Ungewißheit des Künftigen bewußt, soweit es über den nächsten Sonnenuntergang hinausreichte. Wie es von den Alten angekündigt worden war, hatte das Leben jedes einzelnen sich geändert. Trotzdem befaßte jeder Mann, jede Frau, jedes Kind sich mit den üblichen Aufgaben und Tätigkeiten, erledigte in einer kraß gewandelten Welt das Gewohnte. Da und dort waren Trauerstellen aufgestellt worden. Auf dem schau derhaften Totengerüst am Rande der Plaza lagen ein, zwei Tote, wurden dort von ihren Verwandten beweint. Jeder kannte wenigstens ein paar Krieger, die als Gefangene — als Geiseln — im Basislager festsaßen. Hinter der Fassade des Gelächters und des Alltäglichen brodelte es unter dem Volk, es wartete ab, dazu bereit, sich schlagartig in hitzige Erregung hineinzusteigern. Und Leeta hat mich damit beauftragt, dafür zu sorgen, daß das nicht geschieht. Er schnupperte in der Luft,
erfreute sich an den altvertrauten Gerüchen nach Mist, Abfällen, Gerbstoffen, Rauch und Tieren. Sogar von der Schießpulverfabrik wehte der Wind die Andeutung eines bitteren Dufts herüber. »He«, rief eine Stimme in der Standardsprache der Sternenmenschen. Eisenauge drehte sich um. Die junge Patrouillensol datin hatte schwarze Haut und dichtes, tintenschwarzes Haar. »Ja?« fragte Eisenauge auf Standard. An weibliche Krieger würde er sich nie gewöhnen können. In so etwas wohnte für sein Empfinden eine innere Verkehrtheit. Die Patrouillensoldatin kaute auf ihrer Lippe, senkte den Blick. »Dufte, du sprichst Standard. Äh ... Hör mal, du hast ‘ne Masse Coups am Gürtel. Ahm ... Also ... Was war so ‘n Ding dir wert? Weißt du, ich meine, könnt ich eins gegen irgendwas eintauschen? Oder kaufen?« Eisenauge behielt nur mit knapper Not die Selbstbe herrschung. Hatte er wirklich so dicht davor gestanden, die Soldatin niederzuschlagen? Er tat einen tiefen Atemzug mit beruhigender Wirkung. »Weib, darf ich dir eine Gefälligkeit erweisen?« Eifrig nickte die Soldatin, ihre Augen fingen zu leuch ten an. »Klar, Mann, verkauf mir ‘n Coup.« Eisenauge schüttelte den Kopf. Die Frau konnte nichts dafür; sie wußte es nicht besser. »Hör zu. Meine Gefälligkeit besteht aus diesem Rat: Frage nie — niemals! — einen Romananer, ob er seinen Coup verkaufen will.« Eisenauge rang sich ein Lächeln ab, indem er auf einen jungen Krieger deutete, der auf einem Braunen über die Plaza ritt. »Hättest du zum Beispiel ihn gefragt, er hätte dir für diese Beleidigung sofort die Kehle durchgeschnitten.« Die Patrouillensoldatin sperrte die Augen auf. »Ui, das wußte ich nicht. Aber ... äh ... Na, die Dinger werden mit drei Monatssolds gehandelt.« Eisenauge betastete sein Kinn. »Für uns haben sie den Wert eines Menschenlebens.« Er schwieg einen Au
genblick lang. »Was macht sie denn für die Patrouillen krieger so wichtig?« In den Augen der Soldatin funkelte es. »Mann, ‘n Coup zeigt, daß man ‘n kampferprobter, harter Typ ist! Weißt du, nicht bloß so ‘n ...« »Ich glaube, ich verstehe, was du meinst.« Eisenauge nickte, faltete die Hände auf dem Rücken, scharrte mit dem Zeh im Sand. Sie meinen, sie können Ehre kaufen? Was ist das für eine Art von Menschen? »Sieh’s einmal so, Kriegerin. Würdest du deine Seele verkaufen? Oder dei nen Körper? Was wäre dann mit deiner Selbstachtung? Deiner Ehre?« »Ahm ... Nein. Ich meine, natürlich nicht! So was kann man nicht verkaufen, ‘s ...« »Ebensowenig verkauft ein Romananer einen Coup. Aus den gleichen Gründen. Begreifst du, was ich sage?« Eisenauge erwiderte den Blick der verwirrten jungen Frau. Die Soldatin befeuchtete sich mit der Zunge die Lippen und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Äh ... Ja sicher, ich glaub schon.« Sie schaute hinüber zum ST. »Ahm ... Hör mal, uns war nicht klar, daß ihr Jungs das so seht.« Eisenauge schenkte ihr ein grimmiges Lächeln. »Es ist aber so.« Die Patrouillensoldatin betrachtete, das Gesicht zu ei ner ausdrucksvollen Schmollmiene verzogen, den Erd boden. »Tja, also ... Äh ... Sag mal, für was würdest du dein Gewehr verkaufen?« Eisenauge lachte. Mit einem muskulösen Arm zeigte er auf die Schmiede. »Siehst du das flache Haus dort? Das Gebäude, aus dem am einen Ende Rauch aufsteigt. Dort werden Gewehre hergestellt.« Plötzlich kam ihm eine Idee. Versonnen musterte er die Patrouillensoldatin. »Es ist aber besser, du beeilst dich.« »Wieso?« Der Glanz in den Augen der Frau beein druckte Eisenauge. Sie war eine hübsche Person, kräftig gebaut und attraktiv.
Eisenauge hob die Schultern. »Nun ja, erstens mußt du schnell handeln. Du wirst mit diesem Einfall nicht allein bleiben, bald werden auch andere ihre Bestellungen aufge ben. Du mußt zur Bezahlung Rationen, Gerät, Ho-los oder sonst irgendwas anbieten, das der Schmied zum Tauschhandel mit anderen Romananern verwenden kann. Kredits nehmen wir nicht. So was hat bei uns keinen Wert. Aber das ist nicht der Hauptgrund, weshalb ich dir Eile empfehle.« Die Soldatin nickte, offenbar kannte sie sich im Feil schen gut aus. »Sondern warum?« Eisenauge vollführte mit den Händen eine Geste der Sinnlosigkeit. »Tja, es ist so, daß das Direktorat uns für eine Gefahr hält. Es ist jederzeit möglich, daß Skor Ro binson der Projektil befiehlt, unseren Planeten zu ver nichten. Dann wird dein Gewehr vielleicht nicht mehr fer tig. Dann gibt’s keine Romananer mehr, keine Coups, nichts.« Der Soldatin sank das Kinn herunter. »Ja wie, Mann, das könnte passieren, hä?!« Sie kniff die Lider zusammen, war von der Tragweite dieser Möglichkeit sichtlich betrof fen. »Und wie denkt ihr darüber, du und die anderen Pa trouillenkrieger?« fragte Eisenauge. »Ohne uns«, fügte er mit regelrechtem Bedauern hinzu, »müßt ihr wieder auf langweilige Patrouillenflüge zwischen den Sternen zurückkehren, was?« Die junge Frau nickte. »Wahrscheinlich.« Ihrem Tonfall nach begeisterte diese Aussicht sie nicht. »Du meinst, wir kriegen den Befehl, hier von Dorf zu Dorf zu fliegen und euch allesamt abzuknallen?« Eisenauge schüttelte den Kopf. »Nicht nach dem, was ich vom Oberst weiß. Er wird euch vom Planeten zu rückziehen und ihn aus dem Weltraum vernichten. Er sagt, euer Raumschiff kann den ganzen Planeten zertrümmern, ohne daß es euch viel Zeit kostet.«
»Ja, stimmt, die Projektil kann den Planeten total zu Asche zerpulvern.« Nun schüttelte die Soldatin den Kopf. »Echt ey, dann sind keine Gewehre und keine Coups mehr drin, wie?« »Nein«, bestätigte Eisenauge unumwunden. »Alle diese Menschen« — er wies auf die Greise, die im Son nenschein hockten, die Frauen, die Häute schabten, und die Kinder, die umhertollten — »würden in den roten Strahlen eurer Blaster sterben.« Eisenauge neigte den Kopf. »Hat das Direktorat denn solche Furcht vor unseren Gewehren?« Die Patrouillensoldatin fing zu lachen an, nahm sich dann jedoch zusammen. »Ahm... Weißt du, ich kann mir nicht denken, daß ... Verdammich, das war doch nicht gerade anständig, oder?« Ihre dunklen Augen forschten in Eisenauges Miene. »Das hängt davon ab, was ihr Patrouillenkrieger unter Ehre versteht«, meinte Eisenauge ernst. »Bedeutet es für euch das gleiche wie einen Coup, wenn Frauen und kleine Kinder verbrannt werden?« »Nein«, antwortete die Frau mit großer Entschieden heit. Eisenauge nickte. »Dann schlage ich vor, daß du und deine Patrouillenkameraden euch unters Volk mischt. Nehmt einen Übersetzungsapparat mit. Setzt euch zu den Menschen und hört ihnen zu. Diskutiert mit ihnen über Ehre, findet heraus, wer sie sind, bevor Skor Robinson sie zu verbrennen befiehlt. Vielleicht werdet ihr die einzigen Menschen sein, die uns Romananer je kennenlernen. Dann müßt ihr unser einziges Erbteil für die Zukunft der Menschheit sein. Lauscht den Geschichten über...« »Äh, Moment mal.« Das Gesicht der Soldatin zeigte äußerst lebhaftes Interesse. »Ich meine, du willst doch nicht sagen, sie würden uns erlauben, einfach in ihre Hütten zu gehen, uns zu ihnen zu setzen und mit ihnen zu reden?«
Mit einem herzlichen Lächeln auf den Lippen nickte Eisenauge. »Natürlich würden sie’s. Sie werden euch mit offenen Armen willkommen heißen. Behandelt sie mit Respekt und beweist ihnen eure Kriegerehre. Du mußt bedenken, wir sind Menschen, Leute wie ihr, die lieben und leben und auch alle anderen menschlichen Gefühle haben. Sagt ihnen, daß ihr sie kennenlernen möchtet. Aber vor allem sagt, daß Spinne euch zu ihnen schickt.« *
*
*
»Verflucht noch mal, ja! Ich habe die Aushändigung ge nehmigt.« Ree verpreßte die Lippen und starrte Antonia Reary durch zu Schlitzen verengte Lider an. »Dr. Dobra wünschte für die Einheimischen Computer und Versor gungsgüter — und ich habe die Übergabe erlaubt.« »Ausrüstung für die Romananer, Damen? Unterstüt zung und Beistand für den Gegner? Diesmal sind Sie zu weit gegangen!« Reary drosch die Hand auf die weiße Dura-Tischplatte. Ihre braunen Augen schienen zu glühen. »Ich habe Skor Robinson darüber einen Bericht zu geleitet.« Hämisch feixte Damen Ree. »Ich weiß, daß Sie das getan haben, Majorin.« Rearys langes Gesicht zog sich zusammen, als hätte sie in etwas Saures gebissen, um ihren zu dünnen Mund bil deten sich Falten des Ärgers. »Dann nehme ich an, Damen, daß Ihre Tage als Kommandant der Projektil gezählt sind. Nicht einmal in meinen schlimmsten Alp träumen könnte ich sehen, wie die Belieferung eines Volks in einer Verbotszone, das der Direktor als Sicher heitsgefährdung einstuft, Ihrer Position förderlich sein soll.« Damen Ree hob die Schultern. »Wahrscheinlich haben Sie recht, Antonia«, meinte er. »Andererseits habe ich mir
inzwischen die persönliche Erlaubnis des Direktors für die Weitergabe von Material an die Romananer besorgt. In der Tat ist...« »Sie haben was?« Ruckartig sprang Reary auf, ihr Ge sicht lief vor Wut rot an. Ree winkte ab, um sie zu beschwichtigen. »Setzen Sie sich, Antonia. Kommen Sie, nehmen Sie wieder Platz. Ja, so ist es besser.« Er langte nach seinem Kaffee, um ihr Zeit zum Beruhigen zuzugestehen. Sie kniff die Augen zusam men, und Damen lächelte. »Selbstverständlich hat er seine Erlaubnis gegeben. Das Direktorat will Klarheit über die Fähigkeiten der Romananer haben. Eine komplette Serie von Experimenten ist ausgearbeitet worden, um festzustel len, wie schnell sie lernen, wie rasch sie sich dem Umgang mit der modernen Kommunikation anpassen und ...« »Na gut, Oberst. Was haben Sie gemacht?« Rearys Stimme bebte von mühsam unterdrückter Wut. »Sie hatten kein Recht, meine Berichte zu zensieren.« »Das habe ich auch gar nicht.« »Aber Sie haben Ihre Spitzel, die Ihnen erzählen, was ich funke!« fauchte Reary gehässig. »Antonia, Sie sind ziemlich gerissen.« Ree behielt Ru he und professionelle Sachlichkeit bei. »Allerdings müs sen Sie noch ‘n bißchen dazulernen, was Politik und Führung betrifft — und darum sind Sie nicht reif zur Über nahme meines Postens.« »Reden Sie nicht so hochgestochen daher, Damen«, maulte Reary in bösem Tonfall. »Nein, keineswegs, Antonia.« Ree lächelte flüchtig. »Ich mein’s ernst. Sie besitzen noch nicht die erforderliche Reife zur Übernahme des Kommandos über ein Schlachtschiff. Sie haben eine grundsätzliche Voraus setzung nicht begriffen, die entscheidende Bedeutung für die Ausübung des Kommandos hat.« Reary schnaubte und hob das Kinn. »Und die wäre?« »Treue, Antonia.« Ree drehte den Kaffeebecher zwi
schen den Fingern, betrachtete ihn nachdenklich. »Wissen Sie, während der letzten paar hundert Jahre haben wir die Patrouille zum Sauhaufen degradiert. Wir bilden kein Gemeinschaft mehr. Es heißt nicht mehr: Wir gegen die anderen. Das meine ich. Statt dessen mißbrauchen wir die Befehlsstruktur gegen uns selber. Und die Ergebnisse ...« »Ich habe keine Lust, mir Ihr Moralisieren anzuhören, Damen!« An Rearys Armen spannten sich Muskeln. »Es existiert eine Realität, Oberst. Sie haben sich von diesen blutgierigen Wilden dort unten zu stark beeindrucken las sen. Welchen Zweck hat irgendein schwammiger Idealismus für uns? Für einen Patrouillenoffizier ist Macht das Ein und Alles. Kommen Sie, Damen, hören Sie auf! Leben Sie in der Gegenwart!« Bitter lachte Ree. »Beeindruckt? Von den Romana nern? Nun bleiben Sie aber mal auf ‘m Teppich, Majorin!« Er schüttelte den Kopf. »Nein, meine Teure, ich lebe sehr wohl in der Gegenwart. Ich denke lediglich an die Art und Weise, wie Sie Ihre Kumpanei dazu verleitet haben, drun ten wahllos Romananer zusammenzubla-stern. Das war schlecht durchgeführt. Sie sind übereilt vorgegangen. Nicht nur das, Sie haben mir auch in die Hände gearbeitet, sobald es um die Befriedung des ...« »Trotzdem kommen Sie damit nicht durch, es ...« »Und Sie haben mich dadurch rechtzeitig gewarnt«, sagte Ree. »Wissen Sie, ich habe Gegenmaßnahmen ver anlaßt. Deshalb habe ich von Ihrem Bericht erfahren, noch ehe Robinson ihn zur Kenntnis erhielt. Von da an habe ich Maßnahmen getroffen, um Ihr Vorgehen zu neutralisieren und die Verläßlichkeit Ihrer Kumpane zu unterminieren. Nicht daß ich nichts besseres zu tun gehabt hätte, aber man muß manchmal...« »Sie... Sie Schuft!« Wütend stierte Reary ihn an. »Noch haben Sie nicht gewonnen.« Er hob die Finger von der Tischplatte. »Nein, das nicht.« Er hob den Kopf. »Aber jetzt halte ich die Augen
offen. Ist Ihnen eigentlich klar, wie geschwächt wir sind? Bis jetzt hatte ich nie über die Konsequenzen für die Patrouille nachgedacht. Überlegen Sie mal, Antonia. Wenn Sie Furcht haben, sind Sie weniger tüchtig, als ich von Ihnen angenommen habe.« Ausdruckslos betrachtete Reary ihn. »Kommen Sie zur Sache, Damen.« Seine Lippen zuckten. »Zum erstenmal haben wir Kontakt zu einem Volk, das nicht unserer Kontrolle un tersteht. Potentielle Gegner. Darüber sind wir uns einig. Wie finden Sie es, daß wir die erste Herausforderung seit Hunderten von Jahren zum Anlaß nehmen, um uns zu zer streiten? Sie, eine Majorin der Patrouille, suchen sich aus gerechnet diesen Zeitpunkt aus, um meine Position zu schwächen. Was besagt das über unser System? Über unsere Fähigkeit zur Verteidigung des ...« »Gegen halbnackte Wilde?« Reary prustete vor Heiter keit. »Ach, Damen, Sie sind ja völlig verdreht.« Ree musterte sie, sah ihr an, wie ihr Verstand intensiv arbeitete, sich nicht mit dem auseinandersetzte, was er gesagt hatte, sondern mit der Frage, was sie davon gegen ihn ausnutzen könnte. Was ist nur aus uns geworden? Sind wir inzwischen alle wie Antonia? Er begann in seinem Magen Rumoren zu spüren. Ree erinnerte sich an Eisenauge, den Romananer, seine Gelassenheit und Beherrschung, seinen Stolz darauf, jederzeit zu wissen, was er war und wer. Gegenwärtig bot unten auf Atlantis Eisenauge seine Ehre und sein Ansehen als Krieger auf, um zu verhindern, daß Romananer mit den bloßen Fäusten ST anzugreifen versuchten — eine Aufgabe, um die er den armen Kerl nicht beneidete. Antonia dagegen versuchte ihren eigenen Kameraden in den Rücken zu fallen, ohne sich um die Folgen zu scheren. »Abtreten, Antonia. Gehen Sie.« Er winkte mit der Hand, schaute zu, wie sie aufstand und schroff hinaus ging. Sein Magen war jetzt gehörig übersäuert, und er
hatte einen widerlichen Geschmack im Gaumen. Wir sind eine Grube voller Schlangen, die einander bei ßen. Früher einmal zeichnete die Patrouille sich durch Stolz, Kompetenz und Entschlossenheit aus, aber heute sind wir innerlich marode, gehen uns gegenseitig an die Gurgel. Das darf auf keinen Fall so bleiben. * * * Direktor Skor Robinson schwebte im ewigen bläulichen Glimmen über den zentralen Computerkonsolen des GigaVerbunds und lenkte die Aufmerksamkeit seines vernetz ten Verstands wieder auf das Romananerproblem. Er befaßte sich mit Oberst Damen Rees neuem Report. Allem Anschein nach fügten die Romananer sich der Patrouillenverwaltung ganz ordentlich. Er sichtete die von Leeta Dobra eingereichte Dokumentation des Ak-kulturationsprogramms, bemerkte dabei die unter durchschnittliche Begabung auf dem Gebiet der Com puter. Ausschließlich Männer im Erwachsenenalter? Kein Wunder. Wirkliche Computerkompatibilität ergab sich nur durchs gleichzeitige Zusammenwachsen von Gehirn und Kommunikationseinheit. Haben Sie die neuen Daten über die Romananer zur Kenntnis genommen? erkundigte sich Nawtow. Ich bin gerade bei der Sichtung. Besteht eine Möglichkeit, diese Menschen ins Direktorat einzugliedern ? Vielleicht indem wir gegebenenfalls ihre angebliche Gabe zur Hellsichtigkeit eliminieren? Ihre Religion refor mieren und ihre kriegerischen Gewohnheiten abbauen? Nawtow hatte eine unmißverständliche Antwort bereit. Ich bin der Meinung, wir sollten den Planeten unverzüg lich sterilisieren lassen. Er verursacht schon jetzt zuviel Reibungen im Direktorat. Vandalismus, Unzufriedenheit und gegen die Gesellschaft gerichtete Kriminalität haben sich in der Statistik um zwei Punkte gesteigert. Die
Ablehnung der Direktoratspolitik im Siriussystem hat mit zweiundzwanzig Komma sechs Prozent einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Unabhängigkeitspartei ist durch eine anonyme Spende erheblich gestärkt worden. Wir fahnden noch nach dem Spender, um ihn der nötigen Korrekturtherapie zu unterziehen. Direktor Robinson, gegenwärtig ist nicht die Zeit für irgendwelche Risiken. Wir empfehlen einmütig die Sterilisierung des Planeten Atlantis. Skor Robinson verdrängte alles Ablenkende aus seinem Verstand. Er erkannte die Vernünftigkeit von Naw-tows Vorschlag. Er textete einen Militärbefehl zur Vernichtung der Romananer und leitete Nawtow eine Kopie zu. Ich stimme zu, übermittelte er ihm gleichzeitig mit dem Text. Robinson nahm noch einige kleinere Abänderungen im Wortlaut des Befehls vor. Er zögerte, bevor er ihn zur Ausführung durch die Patrouille in den Giga-Verbund ein speiste. Sein Zögern, fiel ihm nachträglich auf, beruhte auf einer inneren Regung, wie er sie seit langem nicht mehr verspürt hatte: Auf Neugier. Was wußten sie bis jetzt tatsächlich über die Romananer? Den Berichten zufolge machte Dr. Dobra bei der Akkulturation Fortschritte. Die erlangten Informationen faszinierten Robinson wegen ihrer eventuell daraus ziehbaren Schlußfolgerungen für die künftige Steuerung der gesellschaftlichen Prozesse auf anderen Welten. War es richtig, das Projekt vor der Beendigung vorzeitig zu stoppen, wenn die Methoden, die Dr. Dobra entwickelte, für die gesellschaftliche und soziale Einflußnahme so wertvoll sein mochten? Natürlich mußten die Romananer letzten Endes liqui diert werden. Aber hatten sie schon alle erhältlichen Informationen aus ihnen herausgeholt? Sie zu beseiti gen, bevor sie ihren Nutzen vollständig erschöpft hat ten, wäre Ineffektivität.
Gefährlich waren sie ohne Zweifel. Robinson dachte noch einmal über den Sterilisationsbefehl nach. Sämtliche Informationen, die die Existenz der Romananer betrafen, liefen ihm zu — und er war ihre Endstation. Nur wenn sie sich als Allgemeinwissen verbreiteten, würde aus ihnen eine Gefahr entstehen. Ein kalter Schauder rann Robinson über den Rücken. Es mußte unbedingt verhütet werden, daß Normalbürger von diesem charismatischen Völkchen erfuhren, von Menschen, deren Kämpfertum ihre Imagination anheizen mochte und sie womöglich von ihren sorgfältig ge steuerten Lebenswegen abirren ließ. Phantasterei und Träume waren die Wurzeln des Chaos. Und den Berichten nach befand die Patrouille sich nicht zum Eingreifen imstande. Rees Untergebene zankten um die Nachfolge im Kommando über die Projektil. Wie geni al, überlegte Robinson, waren doch seine Vorgänger gewe sen, als sie die Patrouille so hierarchisch konzipierten und sie damit zur Zahnlosigkeit verurteilten. Weil interne Zwietracht sie neutralisierte, verkörperte sie für die Direktoratspolitik keine Bedrohung. Skor Robinson las den Sterilisationsbefehl ein letztes Mal durch. Und was sollte aus dem sogenannten Pro pheten werden, diesem Chester Armijo Garcia? Konnte man ihn als eine Art von Joker einstufen? Welche Ver wendung könnte ein Direktor für so einen Mann haben? Nein, bevor man die Romananer vernichtete, gebot die Vernunft wenigstens eine Untersuchung dieser vorgeb lichen Hellsichtigkeit. Falls es sich um eine Tatsache han delte ... Nein, unmöglich! Nachdem er seinen Entschluß gefällt hatte, speicherte Skor Robinson seinen Befehl und fing sich dem Problem der Überproduktion im Ambrosius-Sektor zu widmen an. Auch weiterhin war alles vollkommen berechenbar. Die Romananer bedeuteten keine Gefahr, mit der er nicht fer tigwerden könnte. *
*
*
»Hier ist ein Holo eines meiner Soldaten«, sagte Ree zu Leeta, rieb sich müde Gesicht und Augen. Er sah eindeu tig so aus, als vertrüge er wieder einmal eine gut durch schlafene Nacht. Leeta nahm den Kubus und betrachtete ihn. »Ja, sieht aus wie ‘n Patrouillensoldat.« »Hervorragend, Doktor«, entgegnete Ree spöttisch. »Ihre Beobachtungsgabe verblüfft mich. Schauen Sie sich mal seine Brust an.« Leeta tat es. Die Spinnendarstellung war winzig, aber erkennbar. »Haben Sie damit Probleme, Oberst?« Ree hatte die Lippen zusammengepreßt. Leeta be merkte die Eingesunkenheit seiner Augen. »Verbrüderung mit dem Feind, Verstoß gegen die Uniformvorschriften und möglicherweise Schwarzmarkthandel.« »Damen, Sie sehen nicht besonders gut aus.« Leeta reichte ihm einen Becher Kaffee und bot ihm einen Sitz platz an. Nachträglich schloß sie die Tür ihres kleinen Büroraums. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?« »Wie kommen Sie auf die Idee, ich sähe nicht gut aus?« fragte Ree nervös. »Soll ich mir Sorgen machen, bloß weil ich mit dem Hintern auf der heißesten politischen Supernova der Galaxis hocke?« »Und Reary verbrennt mehr Wasserstoff, als ihr zusteht, hm?« mutmaßte Leeta, stützte ihr Kinn in die Hände. »Wenn ich meines Kommandos enthoben werde, kön nen Sie hier Ihren Kram packen, das ist Ihnen ja wohl klar, Doktor.« Ree blinzelte, langte nach dem Kaffeebecher. »Unter uns, Sie haben irgend was vor, stimmt’s? Ich beob achte, wie die Unterschiede zwischen meinen Patrouillensoldaten und den Romananern allmählich ver schwimmen.« »Das ist eben Akkulturation«, beteuerte Leeta. »Wenn die Unterschiede langsam so vollständig verschwinden, daß niemand sie mehr bemerkt, bedeutet das den vollen Erfolg.«
Ree probierte den Kaffee, schnitt eine Grimasse und trank einen größeren Schluck. »Mir stellt sich dabei nur eine Frage, Doktor. Wer akkulturiert da wen?« Leeta hob die Hände. »Also, herkömmlich läuft es so ab, daß die primitivere von der technisch höherentwik kelten Gesellschaft absorbiert wird. Naja, es lassen sich ein paar Ausnahmebeispiele dafür anführen, daß fun damentalistische Bewegungen zeitweilig an die Macht gelangen können, aber derartige, in der Anthropologie als nativistisch oder revitalistisch bezeichnete Bewegun gen stufen wir als negative Akkulturation ein. In unserer ...« Ree richtete einen dicken Finger auf sie. »Sie weichen mir aus. Wie ein Politiker drücken Sie sich durch Drum herumgerede um eine Antwort. Meine Mannschaft ist gespalten, Doktor. Eine Fraktion hört auf Reary, aber dem habe ich, weil das mein Fachgebiet ist, Riegel vor geschoben. Ein anderer Teil entwickelt eine immer stär kere Vorliebe für die Romananer, stellt Urlaubsanträge, um auf Bärenjagd zu gehen, Reiten zu lernen oder Pro pheten Besuche abzustatten. Solche Sachen haben die Leute auf einmal im Kopf. Sie haben Romananer dazu gebracht Standard zu sprechen, an Computern zu üben und sich mit Technik vertraut zu machen. Jetzt lungern Patrouillensoldaten mit Spinnen auf den Schutzpanzern in romananischen Dörfern herum und erschachern sich mit geklauten Patrouillenmaterialien einheimischen Tinnef.« »Sie haben doch wohl viel wichtigere Probleme, Da men«, sagte Leeta in vorwurfsvollem Ton. »Ich verlange von Ihnen einen Rat in Patrouillenange legenheiten, Doktor!« schnauzte Ree. Leeta knallte die Hand auf den Tisch. »Verflucht noch mal, Damen! Zum Teufel, was erwarten Sie denn, mit wem die Soldaten sympathisieren, Oberst? Mit Skor Robinson? Solchen Plastinauten wie Jeffray oder Em manuel Chem? Sie sind Kriegern begegnet. Richtigen
Kriegern! Männern, die wirklich erlebt haben, wofür Ihre Leute jahrelang nur ausgebildet worden sind. Sie sehen, wie ihre Art von ...« »Und die Disziplin meiner Truppe wird beeinträchtigt!« brüllte Ree. In seinen Augen glomm Zorn, während er Leetas Blick erwiderte. »Und das, während die Ankunft eines anderen Schlachtschiffs der Patrouille kurz bevor steht. Die Bruderschaft trifft in vier Tagen ein. Die Situa tion zu erkennen und mich abzuservieren wird für Ro-stostiew eins sein. In einer Woche hat Reary das Kommando über die Projektil.« Er sank im Sessel zurück, drehte ner vös den Kaffeebecher zwischen den Fingern. Leeta krampfte sich zusammen. Vier Tage? Ver dammtes Pech! »Was man zu sehen bekommen wird, ist das geradezu mustergültige Modell einer planetaren Be friedung. Wie lange wird es — nach normaler Zeitrech nung — noch dauern, bis Chester den Arcturus erreicht?« Ree überlegte. »Acht Tage, schätze ich.« Er ließ sie nicht aus den Augen, die seine innere Aufgewühltheit widerspiegelten. »Was haben Sie vor, Doktor? Mir ist, als wäre ich in die Enge getrieben. Mir gefällt’s nicht, mich an die Wand gedrängt zu fühlen. Mein Leben lang habe ich die Ereignisse immer unter Kontrolle gehabt. Jetzt habe ich das Empfinden, als ob die Geschehnisse mich mitrissen. Wenn Sie kurz davor sind, mir ‘n Tep pich unter den Füßen wegzuziehen ... dann sagen Sie’s mir lieber, Doktor, weil ich der einzige Freund bin, den Sie haben!« Leeta zwang sich zu einem Grinsen, das ihn be schwichtigen sollte, während ihre Gedanken wild kreisten. »Damen, Sie brauchen nichts anderes zu tun, als sich ganz einfach in Bereitschaft zu halten. Ich verspreche Ihnen, wenn die Bruderschaft im Orbit ist, herrschen auf dem Planeten in der wunderschönsten Weise Ruhe und Frieden.« Sie senkte den Blick. »Nur eine Frage.« »Ja?« Er trank den Rest des Kaffees aus.
»Wie verläßlich sind Ihre Männer? Sie müßten viel leicht einmal darüber nachdenken, wie Sie diejenigen, die Ihnen unter Umständen in den Rücken fallen würden... unschädlich machen könnten.« Sie wartete, rechnete halb mit einem Wutanfall. Statt dessen wurde sein Gesicht aschfahl. »Wie ist bloß alles so mies geworden? Hätte ich den Planeten vielleicht doch lieber sofort in Stücke schießen sollen?« Leeta schüttelte den Kopf. »Dafür hätten Sie sich Ihr gesamtes restliches Leben,hindurch selber verabscheut. Sie sind ein wirklich ehrbarer Mensch, Oberst. In Anbe tracht der Direktoratspolitik bedeutet Atlantis — oder Welt, wie Romananer ihren Planeten schlicht nennen — einfach eine Situation, in der es keinen einseitigen Sieg geben kann. Wir sind ...« »Direktoratspolitik?« Erstaunt zwinkerte Ree. »Heili ges Kanonenrohr, welche Alternative sähen Sie denn darin, freischwebend im Abseits zu existieren? Vergessen Sie nicht, daß wir selber im Rahmen der Direktoratspoli tik leben. Sie ist unser System der Zivilisation.« »Zumindest haben wir im Spannungsfeld zwischen den Realitäten Welts und eben dieser Politik eigene Lösungen zustandegebracht. Die Zukunft liegt nicht mehr in unseren Händen.« Ree reagierte mit einem Grinsen, bei dem es Leeta gru selte. »Ich glaube, ein Cusp, wie Chester es genannt hätte, steht bevor, Doktor. O ja, ich durchschaue, was Sie an der Verläßlichkeit meiner Truppe so interessiert. Vielleicht muß ich sie zwischen mir und Reary wählen lassen.« »Bis dahin werde ich alles tun, was ich kann, um Ihnen hier unten soviel Zeit herauszuschinden, wie überhaupt möglich«, sagte Leeta. »An der Direktoratspolitik kann ich nichts ändern — aber jedenfalls kann ich alles Erdenkliche unternehmen, um sicherzustellen, daß At lantis einen musterhaften Eindruck hinterläßt.« Ree nickte. »Ich ... ich wünschte, Sarsa wäre nicht bei
der Überschwemmung ertrunken.« Er schwieg für einen Moment und erhob sich, verengte die Lider. »Es besteht keine Aussicht, daß sie noch irgendwo zu finden ist? Vielleicht als Bestandteil Ihrer >Akkulturation?<« Mit ausdrucksloser Miene schüttelte Leeta den Kopf. »Völlig ausgeschlossen, Oberst.« Ree faßte den Türgriff, blieb stehen. »Sollte sie doch noch aufkreuzen, Doktor, und ich stecke in ernsten Schwierigkeiten, sagen Sie ihr, der Sicherheitscode ist in Regga Grün umgeändert worden. Sie wird wissen, was das heißt.« »Damen«, rief Leeta ihm in plötzlicher Beunruhigung nach. »Weshalb verraten Sie mir das?« Er lächelte ihr zu; seine hageren Gesichtszüge wirkten verhärmt. »Weil ich der Überzeugung bin, Doktor, daß Sie nicht gegen mich sind. Und weil ich, um ehrlich zu sein, nicht mehr weiß, was richtig ist.« Er senkte den Blick und rieb sich im Nacken. »Und weil ich zum erstenmal am eigenen Leibe die menschliche Vergänglichkeit spüre. Wer weiß, vielleicht können Sie, falls man mich kascht, noch etwas tun, um mir das Schlimmste zu ersparen.«
19
Mit John Smith Eisenauge an der Seite verließ Leeta den ST. Sie sah noch den wutent brannten Gesichtsausdruck Kapitän Arf Helsteads vor sich. Er hatte unzweideutig zu verstehen gegeben, daß er gegen die Anwesenheit barbarischer Romananer in seiner ST-Zentrale eine Abneigung hatte. »John?« fragte Leeta. »Würdest du bitte mal mit mir dort hinüberkommen? Wir müssen uns unterhalten.« Sie führte ihn aus der Sichtweite des ST. »Seit dem Aufenthalt im Lager Gessali ist das das erste Mal, daß wir allein sind.« »Leider müssen wir über andere Dinge reden«, sagte Leeta mit leiser Stimme. »Nun gut.« Seine Stimmung wechselte den Tonfall, als er die Beunruhigung in ihren Augen bemerkte. Leeta nahm, während sie weiterschlenderten, seine warme Hand. »Du weißt, daß wir versucht haben, einen Pakt zwischen dem Spinnenvolk und den Santos zu schlie ßen.« »Mit schlechten Ergebnissen«, konstatierte Eisenauge und stieß ein Stöhnen aus, paßte seine Schritte Leeta an. »Soviel Blut ist geflossen, es gibt so viele Verschie denheiten zwischen Herrjesses und Spinne. Soviel Raub und Krieg kann nicht so schnell vergessen werden. Erwarte keine Wunder. Wir Romananer hassen uns gegen seitig mehr, als wir die Sternenmenschen hassen. Wenn Ree uns nicht umbringt, werden wir’s selber erledigen.« »Vielleicht auch nicht.« Leeta blieb stehen, schwang sich zu ihm herum, umarmte ihn und schaute zu ihm auf, in seine Augen. »Rita und Philip haben zu den Santos eine gewisse Kommunikation hergestellt. Rita bildet seit fast
einem Monat außer Spinnenkriegern auch eine Anzahl Santos aus.« »Was?« rief John, hob sie von den Füßen. »Ausgezeich net! Warum hast du mir nichts erzählt?« »Es ist, muß ich zugeben, eine brüchige Beziehung. Rita hat andauernd Probleme, aber nach und nach werden die Dinge ...« Sie verstummte, schüttelte den Kopf, forschte grimmig in seiner Miene. »John, es ist nicht ganz so einfach. Ich muß dir etwas sagen. Es war unum gänglich. Verdammt, es ist etwas, das ich ...« Sie schloß die Lider. Seine Hände ruhten warm und tröstlich auf ihren Schultern. »Du traust den Santos nicht? Geht’s darum? Das kann ich dir nicht verübeln, aber es ist ein Fortschritt. Wir können nicht siegen, ohne ...« »John ...« Leeta drückte ihn fester an sich, schluckte schwer. »Philip und Rita ... mußten die Abmachungen mit dem Santoskrieger aushandeln, den du zu töten ge schworen hast. Dem deine Blutrache gilt... Jetzt muß sie warten. Falls du Großer Mann tötest, sobald du ihn das nächste Mal siehst, wird das Bündnis sofort zerfallen. Offener Krieg zwischen Santos und Spinnenvolk wäre das Resultat. Verstehst du mich jetzt? Davor habe ich die größ te Furcht.« Sein Blick war kalt geworden. Rund um seinen Mund zuckten die Muskeln. Leeta sah ihm an, daß seine Seele zu Eis gefror. »John, es gab keine andere Möglichkeit!« versicherte sie flehentlich. »Glaubst du, das wäre leicht für Rita gewe sen, oder für mich? Oder Philip? Es kotzt mich an, daß wir uns mit so einem Halunken abgeben müssen, Aber es ging nicht anders! Es mußte schlichtweg sein!« Von Großer Manns Beuteforderung werde ich ihm lieber erst später erzählen. Eisenauge bog den Kopf in den Nacken und füllte seine Lungen mit Atem, seine ganze Gestalt hatte sich starr ver
krampft, er hatte die Hände zu Fäusten geballt, sein Gesicht war zu einer Fratze verzerrt. Leeta klammerte sich an ihn, fühlte unter seiner Haut die Muskeln vor Zorn beben und schwellen. Die Wut machte ihn zum Denken unfähig, seine At mung stockte, als drohte er zu ersticken. Blinzelnd un terdrückte er Tränen erbitterten Grimms. »Warum?« fragte seine plötzlich gepreßte Stimme den bewölkten Himmel. »Du verhöhnst mich, Spinne! Du schlägst mir den Rat, den ich anderen erteile, ins Gesicht! Weshalb soll ich diesen Dreckfresser und Übeltäter nie zur Rechenschaft ziehen dürfen? Wieso muß ich ihn jetzt einen Freund nennen? NIEMALS!« Seine Stimme donner te das letzte Wort. »Wenn nicht, zerstörst du den Frieden«, drang Leetas Stimme von irgendwo außerhalb seiner Qual an sein Ohr. Warum spielte Spinne auf diese Weise mit ihm? Was soll te aus seiner Ehre werden — was aus seiner Pflicht und Schuldigkeit? Unterbewußt meinte er Jennys Geist ein jämmerliches Heulen ausstoßen zu hören. Niedergeschlagen heftete er den Blick auf Leeta, be wunderte ihre Augenfarbe, die man bei seinem Volk nicht kannte. Diese Sternenfrau hatte ihm das Leben gerettet. Ihr bin ihr genausoviel schuldig wie Jenny — sogar mehr. Sie hatte ihn gegen einen bewaffneten Santos verteidigt. Jetzt kämpfte sie für das Volk. Darum muß ich mich nun noch einmal entscheiden. Für Leeta. Für das Volk. Tür meine eigenen Worte, die ich anderen so eindringlich predige. Wie um es zu verhindern, erschien in seinen Gedanken die grausame Erinnerung an Jennys sanfte Gesichtszüge. Aber wäre sie soviel für ihn zu tun imstande gewesen? Hätte sie es fertiggebracht, seine Wunden zu waschen, ihn zu pflegen, ihn aus der Schlucht zu befördern, einen Bären zu erlegen? Zur Antwort hallte hohl ein Nein durch sein Gemüt.
Schon bei der Vorstellung, mit einem Mann, der für sie tabu war, allein sein zu müssen, wäre Jenny vor Angst wie gelähmt gewesen. Sie hätte ihn eher sterben lassen, als sei nen irdischen Körper anzurühren. Sie wäre es gewesen, die hinter ihm auf der Schleppbahre gelegen hätte, und sie hätte erwartet, daß er seine Mannespflicht erfüllte und den Bären tötete. Mein Volk, was haben wir uns angetan ? Zunehmend vermischte sich diffuse Trauer mit seiner wütenden Empörung, beides verschmolz zu kummer vollem, wirrem Unverständnis. Nichts war noch da, das man bisher als selbstverständlich erachtet hatte. Ein Kosmos vertrauter Konturen weichte auf, zerlief. »Für dich kann ich es tun«, sagte Eisenauge trübselig zu Leeta. »Für dich bin ich zu allem fähig.« Trotz des Irrgartens, in den seine Empfindungen sich verwandelt hatten, schenkte er ihr ein Lächeln des Triumphs. Ihre Augen leuchteten auf. »Ich wußte, daß du’s kannst«, flüsterte sie. »Ich mache mir um dich Sorgen, Eisenauge. Du bist so stark. Es wundert mich, daß du soviel verkraften können sollst, ohne dadurch beein trächtigt zu werden und irgendwann zusammenzuklap pen.« »Es muß an der Kraft liegen, die du mir einflößt. Ich möchte dich nie verlieren.« Die Äußerungen kamen zu schnell, zu unvermutet, über seine Lippen, und ihm wurde beklommen ums Herz. 0 Jenny, fragte er sich, habe ich jetzt unrecht an dir gehandelt? Da zog Leeta seinen Kopf hinab. Freude brachte sein ganzes Innenleben in Wallung, und sein Herz schlug der maßen laut, daß er befürchtete, sie könnte es hören. Sie befanden sich außerhalb der Sicht des ST, der hinter einem Höhenrücken stand. Trotzdem wich er zurück, obwohl er sie begehrte, weil es ihm, sollte er sie weiter berühren, vor den eigenen Reaktionen bangte. Leetas Haut verfärbte sich rosarötlich, ihre Atemzüge
beschleunigten sich; in ihren Augen glomm Erregung. »Wir haben auf unserem gemeinsamen Weg schon reich lich Zeit vergeudet, Eisenauge«, sagte sie versonnen. »Ich hätte nicht gedacht, daß ich dich so lieben könnte.« Er setzte sich wieder in die Richtung des Lagers im Nabel in Bewegung. »Warum mich, Sternenfrau? Oberst Ree fühlt sich sehr zu dir hingezogen. Du könntest unter den Sternenmännern die freie Auswahl treffen. Warum einen primitiven Krieger mit dem Blut so vieler Menschen an den Händen? Ich bin unwissend, nur mit Krieg, Pferden und Gewehren kenne ich mich aus. Ich kann nicht einmal lesen.« Sein Blick forschte in ihren Augen. Leeta spitzte die Lippen. »Weil du stark bist, Eisenau ge. Ich habe schon zu viele Männer kennengelernt, die nicht an sich selbst glaubten, nicht ans Leben, an Ehre, an die Zukunft. Du bist auf eine besondere Weise einzigartig, die mich fasziniert. Außer hier bist du nirgends gewesen, aber trotzdem weißt du den Sinn des Lebens.« Sie neigte den Kopf seitwärts, schaute Eisenauge von schräg unten an. »Du kannst also nicht lesen. Dann lern’s.« Er sah die Herausforderung in ihren Augen. Standard hatte er bereits gelernt. Die suggestopädischen, mit der Schlafsynchronisation koppelbaren Unterrichtskassetten machten das Lernen leicht. Konnte das Lesen denn so schwer sein? »Ich werde lesen lernen«, sagte er, nickte zur Bekräftigung. Leeta runzelte die Stirn. »Jetzt ist’s an mir, dir was bei zubringen, hm?« Behutsam schlang er einen Arm um ihre Schultern. »Das Direktorat kann meinem Volk viel geben. Euer Wissen ist uns überlegen.« »Du wirst noch merken, was es wirklich mit dem Di rektorat auf sich hat«, warnte Leeta ihn. »Es stagniert. In jedem Lebensbereich steckt der Wurm. Jeder selbständige Gedanke und jede Initiative werden abgewürgt. Ich bin zu der Einsicht gelangt, daß das Leben im günstigsten Fall
eine unsichere Sache ist und Menschen mehr Mühe auf wenden, herausfinden müssen, wer und was sie sind. Ich kenne Leute, die sind wie Maden, weich und schwammig, sie leben faul und feist im modrigen Fleisch einer abge storbenen Gesellschaft. Ich bin auch mal so gewesen.« Nachdenklich schmunzelte sie, ihre Hand strich über den Skalp, den sie zu Helsteads Verdruß und zum Neid seiner Untergebenen an ihrem Gürtel befestigt hatte. »Du sagst also deinem eigenen Volk den Kampf an, Sternenfrau? Wieso?« Diese Frage hatte Eisenauge sich in den vergangenen Wochen oft gestellt. »Aber wenn wir unsere Freiheit errungen haben, wer könnte uns dann noch aufhalten?« »Es ist zu seinem eigenen Nutzen«, erklärte Leeta mit allem Nachdruck. »Hier auf Atlantis sind Dinge vorhan den, die meinem Volk fehlen. Wir sind von unserem Weg abgeirrt, haben unseren Gott, haben Sinn und Zweck unse res Daseins vergessen. Vielleicht wird Spinne uns alles wiedergeben.« Leidenschaftlichen Blicks sah Leeta ihn an. »Es kann sein, daß wir vernichtet werden, bevor wir zu den Sternen aufbrechen können«, rief Eisenauge ihr ernst in Erinnerung. »Dazu könnte es kommen«, stimmte Leeta zu. »Nach unserer Besprechung werden wir ‘n besseren Durchblick haben. Jedenfalls hast du Ree glänzend getäuscht. Als >Direktor< des Spinnenvolks hast du Ruhe und Ordnung garantiert. Ree ist der Meinung, daß ich in der Welt neben Null-G-Kaffee am wichtigsten bin. Wir haben Zeit rausgeschunden, Ängste zerstreut und die Pa trouillensoldaten eingelullt. Aber leider geht die Zeit für uns jetzt aus.« Ein Posten hielt sie per Zuruf an, sprang danach von einem Felsen herunter. Eisenauge kannte ihn nicht. Er trug die Farben eines Santos. Der Mann sah Leetas Haar und salutierte unverzüglich. Zu Johns Überraschung grüßte er
in der Standardsprache und ließ sie beide mit einem Wink passieren. »Standard?« fragte John erstaunt. »Natürlich.« Leetas triumphierendes Lächeln verschlug ihm den Atem. »Zu den ersten Sachen, die wir einge schmuggelt haben, gehörten Unterrichtskassetten. Alles mögliche ist schon unterrichtet worden. Standard werden die Männer ganz dringend brauchen. Übrigens können die meisten inzwischen lesen. Du bist zu sehr davon bean sprucht worden, die romananische Gesellschaft zusammenzuhalten — Programme zu institutionalisieren, die Menschen abzuwiegeln, zu sichern, daß nicht durch Unruhe alles gefährdet wird. Dein Einfluß in dieser Hinsicht war wichtiger.« Sie drückte seine Hand. »Du wirst noch Gelegenheit zum Nachholen haben. « Als sie die Höhle betraten, gerieten sie in eine unun terbrochene Geräuschkulisse pausenloser Aktivitäten. Überall wimmelte es von Männern, und Eisenauge traute kaum seinen Augen, als er den Unterschied zwischen dem früheren Lager im Nabel und dieser völlig neuartigen Konzentration von Menschen und Maschinen sah. Er äußerte sich entsprechend zu Leeta. »Das ist noch gar nichts. Das Beste ist unter der Erde ... Ganz tief unten im Nabel. Hier oben das lasse ich die Patrouillensoldaten jederzeit inspizieren, wann sie wol len.« John war überrascht, als sie schwarze Vorhänge durch querten, die die elektrische Beleuchtung im Innern der rie senhaften Höhle tarnte. Dahinter existierte eine völlig andere Welt. »Woher habt ihr denn die Computer?« fragte er fassungslos. »Ich habe sie Ree abgeschwatzt«, antwortete Leeta fröhlich. »Wir müßten testen, ob die Romananer den Umgang damit zu lernen fähig seien, habe ich ihm ein geredet. Sie müßten ja schließlich damit klarkommen, wenn sie ins Direktorat integriert werden sollten. Wie ich
gestehen muß, sind die Resultate nicht so erfreulich, wie wir sie gerne gehabt hätten. Aber wir versuchen den Rückstand beschleunigt aufzuholen, indem wir zwischen Santos und Spinnenkriegern Wettbewerbe veranstalten. Bis jetzt liegen die Spinnenkrieger vorn, aber die Santos legen zu.« Eisenauge schaute sich in der Höhle um. »Was machen sie dort?« Er wies auf eine Gruppe Gestalten, die um sich traten und schlugen, umhersprangen und -hüpften und sich zwischendurch über den Boden wälzten. »Sie lernen Nahkampf, John. Die Tricks wissenschaft lich begründeter Kampfmethoden. Noch sind die Pa trouillensoldaten darin besser. Das da ist bloß ‘n Schnellkursus in Sachen Überleben. Trotzdem könnten diese Kenntnisse uns im Notfall einen entscheidenden Vorteil verleihen.« Durch eine recht wackelig aufgetürmte Ansammlung von Computern zwängte sich Philip. Er jauchzte und warf sich Eisenauge in die Arme. »John!« rief er. »Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Monate müssen vergangen sein! Schau dir das an! Wir werden zu den Sternen flie gen!« Leeta umarmte Philip ebenfalls, flüsterte ihm dabei etwas ins Ohr. Ernst nickte er und entfernte sich im Laufschritt. »Komm!« Leeta nahm Eisenauges Hand. Er sah ihr an, daß ihr Triumphgefühl gewichen war, wieder Sorge sie beherrschte. Sie führte ihn in eine kleine, aus der seitlichen Fels wand der Höhle gehauenen Kammer. Die gesamte Ein richtung umfaßte einen rohen Holztisch und einige Sitzbänke. Leeta ließ ihn sich neben sie setzen. »Na, wie ist deine Meinung?« »Davon hatte ich keine Ahnung. Die Propheten haben zu allem, was ich vorschlug, bloß genickt... Ein schon für sich bemerkenswerter Vorgang. Das alles hier überfordert mich vollständig.« Seine Gedanken jagten sich, liefen
kreuz und quer durcheinander, während er zu begreifen versuchte, was er gesehen hatte. Schweißfeucht führte Rita Philip herein, den Gürtel mit ihren Coups auf der Schulter. Offenbar war sie es, schluß folgerte Eisenauge, die den Nahkampfunterricht erteilte. Wenige Sekunden später kam ein Jugendlicher mit einer Kanne Kaffee und dünnen Scheiben Fleisch, mit denen man Brot belegen konnte. Rita schenkte John ein kurzes Lächeln und trank Kaf fee. Leeta holte tief Luft und eröffnete die Besprechung. »Wie geht’s voran?« »Gut«, antwortete Rita mit vollem Mund. Sie wirkte ausgelaugt, müde vom Mangel an Schlaf. »Einige von den Jungs haben wir jetzt soweit, glaube ich, daß sie ‘n ST steuern können, wenn’s sein muß. Im Lesen und Schreiben sind sie der Planung voraus. Was militärische Taktik und Strategie betrifft, übertreffen sie manche unserer Erwartungen, die Kriegsführung im Weltraum ist ihnen verständlich. Nahkampfmäßig sind sie sehr auf fassungsfähig. Die Ausbildung am Blaster steht so halb und halb ... Offensichtlich fällt’s ihnen schwer, sich darauf einzustellen, daß keine Flugbahnabsenkung und kein Seitenwind berücksichtigt zu werden brauchen. Das sind die guten Neuigkeiten.« Rita schluckte, trank noch einen tüchtigen Schluck Kaffee. »Schlecht ist, daß unser Null-G-Training, gelinde gesagt, miserabel ist. Wir haben zum Üben nichts anderes zur Verfügung als ‘n Höhlensee drunten im Nabel und zwei Schutzanzüge, die zum Eingewöhnen abwechselnd benutzt werden müssen. Sollte es oben Schwierigkeiten mit der Grav geben, stecken wir in der Scheiße.« »Und die Disziplin?« Leetas Brauen rutschten hoch. »Ungefähr drei gewalttätige Auseinandersetzungen täg lich«, erteilte Rita halblaut Auskunft. »Bisher fünf Morde aufgrund alter Blutrache. Wir haben alle öffentlich hinge richtet, die gegen den gemeinsamen Kriegsschwur versto
ßen haben, wie’s der Ehrencodex verlangt. Die Lage hat sich etwas beruhigt, aber der Haß ist noch da. Er schmort bloß auf kleinem Feuer.« Leeta seufzte, tätschelte Eisenauges Knie, als sie den Ausdruck des Mißmuts in seiner Miene sah. »Gleichzeitig gelingt’s uns allmählich«, erzählte Rita, ehe sie weiteraß, »die Santos auf unsere Seite zu ziehen. Wir gelten bei ihnen als pro Spinne ... Und vielleicht haben sie damit gar nicht so unrecht. Andererseits haben wir Computer und bieten die Gelegenheit zu Coups. Das bedeutet ‘n wesentlichen Unterschied. Großer ...« Ihr Blick streifte Eisenauge. »Äh ... Das Oberhaupt der Santos ...« »Ich hab’s ihm gesagt«, bemerkte Leeta leise. Rita nickte, kaute hastig. »Großer Mann hat an Einfluß verloren. Er faulenzt hauptsächlich in seinem Heimatdorf rum. Er hat seine sämtlichen Frauen um sich, und sie flö ßen ihm soviel Whiskey ein, wie er saufen kann. Mit jeder Flasche nimmt seine Autorität ab. Die anderen Santos sind ja nicht blöd. Sie befolgen unsere Befehle, werden anstän dig behandelt, lernen die Bedienung von Blastern und neue Methoden der Kriegsführung. « »Wir kontrollieren den Zugang zu allem Begehrten.« Leeta wirkte nachdenklich. »Das muß ihren Propheten doch verrückt machen.« »Ältere Krieger kommen mit Computern leider unter durchschnittlich schlecht klar«, sagte Rita, »während jün gere Männer mittelmäßige Leistungen bringen. Ich glau be, mit mehr Zeit — etwa drei Jahre — könnten sie auch in dieser Beziehung besser werden. Auf dieser Grundlage habe ich die Kurse gesplittet, ich lasse die besonders Begabten sich spezialisieren. Um’s kurz zu machen, noch sechs Monate, und ich hätte das Gefühl, wir hätten ‘ne halbe Erfolgschance.« Ritas grüne Augen blickten verson nen. »Uns bleiben keine sechs Monate mehr.« Gefaßt legte
Leeta die Fingerkuppen aneinander. »Chester dürfte jetzt auf halbem Weg zu Skor Robinson sein. Rostostiew und die Bruderschaft werden allerdings schon in drei Tagen hier sein.« Leeta ließ Rita einen Moment Zeit, um sich mit dieser Mitteilung erst einmal abzufinden. »Sie wissen, was das heißt.« »Ich kann nicht beurteilen, wie stark das unsere Er folgsaussichten schmälert.« Rita zuckte die Achseln. »Kann sein, sie sind dadurch gleich Null.« Leeta nickte. »Wir müssen unverzüglich zuschlagen. Morgen. Sind Sie dazu in der Lage?« Ritas Blick irrte unsicher umher. »Bleibt uns denn ‘ne Wahl?« John sah um ihren Mund straffe Falten sich bil den. »Wie wollen wir die Projektil kapern? Sie haben ‘n Monat lang darüber nachdenken können. Wie sollen wir vorgehen?« Rita hob den Blick. »Haben Sie irgend was über Ree rausgekriegt? Was ist seine schwache Stelle?« »Das Raumschiff.« Leeta verspürte bei dieser Antwort Gewissensbisse. Sofort merkte Rita es ihr an. »Was ist, Doktor?« fragte sie. Nervös zuckte Leeta die Achseln. »Ich habe bloß das Gefühl, seine menschliche Schwäche auszunutzen.« Sie seufzte. »Es wird so ähnlich sein, um ‘n Begriff davon zu geben, als nähme man jemandes Familie als Geiseln.« »Wenn wir diesen Trumpf ausspielen müssen, Doktor ...« Sarsas Stimme klang kühl. Eisenauge spürte seinen Magen sich zusammenziehen, während er zuhörte, wie die beiden Frauen Pläne schmiedeten, die über das Schicksal Welts und seines Volks entschieden. Leeta nickte. »Krieg ist die Hölle, was? Haben Sie ‘ne Idee, was die Projektil angeht?« Erwartungsvoll musterte sie Sarsa. »Wir werden wohl als erstes den ST in Besitz nehmen
müssen. Hoffentlich klappt’s, bevor die Besatzung Alarm gibt. Und wir können nur hoffen, daß unsere Verluste gering und uns genug Männer bleiben, um die Schleuse der Projektil zu stürmen — vorausgesetzt, wir werden nicht vorher wegen ungenehmigten Anflugs ab geschossen. Anschließend besetzen wir den Reaktor.« Leeta lächelte trübsinnig. »Ich glaube, ich habe ein paar Vorschläge zur Verbesserung ihres Plans.« Rita hob die Brauen. »Ich bin ganz Ohr, Doktor.« »Sie denken allzu militärisch, Leutnant.« Leeta lachte, weil Sarsa ihr einen bösen Blick zuwarf. »Wie wär’s, wenn ich morgen Ree zu uns bringe?« Rita wirkte schok kiert. »Sagen wir mal... um ihm eine Übung zur Aufruhrbekämpfung vorzuführen. Sie wissen ja, die Manöver, die mit dem ST gemacht werden. Selbstver ständlich kennt Ree die Information und entsprechende Aufnahmen längst von Helstead, aber ich hab’s mir zur Gewohnheit gemacht, Ree nach Helsteads Berichten im mer mit persönlichen Eindrücken zu konfrontieren.« In plötzlichem Schweigen runzelte Leeta angestrengt die Stirn, das intensive Überlegen furchte ihre Gesichtszüge. Bedächtig begann sie zu nicken. »Und da, während die Truppe an Bord geht, kippt Ree, würde ich sagen, auf ein mal um. Verdacht auf Schlaganfall.« Leetas Augen fingen zu schimmern an. »Und wir... Nein .,. Äh ... Was passiert, wenn im ST die Lazarettstation ausfällt? Was würde man am günstigsten tun, wenn der Oberst in Lebensgefahr schwebt?« »Ihn in die Bordklink der Projektil hinaufbefördern.« Ritas wölfische Miene zeigte unverhohlen Bewunderung. »Die Sache hat bloß einen Haken, Doktor. ST-La-zarettstationen fallen nie aus.« »Doch, natürlich.« Leeta wirkte überrascht. »Vor allem wenn jemand mit solchen Kenntnissen biomedizinischer Technik wie Marty Bruk ... die Apparate gerade lahmge legt hat.«
»Doktor, Sie sind mir heute erheblich sympathischer als am Anfang unserer Bekanntschaft«, rief Rita fröhlich. Ihre Begeisterung steckte an, so daß Philip froh die Lippen ver zog. »Und was muß ich dabei tun?« erkundigte sich plötz lich John. Insgeheim störte es ihn, daß seinerseits bisher nichts anderes geleistet worden war, als das Stillhalten des Spinnenvolks durchzusetzen. Leeta schenkte ihm ein herzliches Lächeln hoffnungs voller Verheißung. »Du bist der neue Direktor Welts, John. Du kommst erst zum Zug, wenn wir das unsere getan haben. Weder Rita noch ich können für Atlantis als Sprecherinnen auftreten. Das kannst nur du. Du bist Direktor des Spinnenvolks gewesen, nun wirst du Direk tor des gesamten Planeten sein. Dafür hast du das Zeug, John. Auf dich wird das Volk hören. Es achtet dich. Du bist ein Held.« »Warum nicht Philip?« fragte John Smith Eisenauge. »Er weiß mehr als ich.« »Ich habe weniger Coups als du, Bruder.« Philips Au gen spiegelten seine ganze Sanftmut wider. »Ich bin kein Held . . und wünsche auch keiner zu sein.« »Ich will tun, was ich kann ... Für mein Volk.« Trotz sei nes Unbehagens willigte John ein. Was sollte er Nützliches tun können? Er war von sehr vielem ausge schlossen gewesen. Die Pläne waren für ihn nur Worte. »John, das Volk kennt dich«, versuchte Leeta ihn zu ermutigen, als hätte sie seine Empfindungen durchschaut. »Monatelang bist du der maßgebliche Führer gewesen. Es hat sich daran gewöhnt, dir zuzuhören. Du bist für das Spinnenvolk ein Symbol der Hoffnung geworden. Großer Mann verkörperte die Hoffnung der Santos. Wir brauchen euch beide. Ihr seid das Bindeglied zum Volk.« »Großer Mann?« Mürrisch lächelte John, fühlte wieder seinen Haß erwachen. »Leider.« Philip schaute seinen Bruder betrübt an. »Er
war ihr erfolgreichster Krieger. Jemand anderes kam nicht in Frage.« »Wir werden tun, was wir zu tun haben«, versicherte Eisenauge mit Resignation in der Stimme. Er bewahrte eine ruhige Miene, obwohl sich sein Magen zu einem har ten Klumpen zusammenkrampfte. »Im Zweifelsfall dürfte Ree mich wohl erkennen«, meinte Rita. »Er wird die Truppe besichtigen wollen. Außerdem wird Helstead bestimmt die Projektil über die Anwesenheit von Einheimischenmiliz an Bord seines ST informieren. Dann wird man an den Hangars verschärfte Sicherheitsvorkehrungen treffen.« »Moment mal«, sagte Leeta. »Ree hat erwähnt, der Code wäre auf Regga Grün geändert worden. Können Sie damit was ...?« »Verdammt, ja. Es heißt, daß es besser ist, ich fliege nicht im ST mit.« Rita überlegte. »Parkt das Shuttle noch im Basislager?« Leeta nickte. »Dann fliege ich mit dem Shuttle hinauf«, entschied Rita. »Ich verstehe den Grund nicht.« Leeta machte ein ern stes Gesicht. »Sie könnten sich doch ohne weiteres mit der Truppe in den ST einschleichen.« »Aber Sie wären ohne mich nicht die Sicherheitskon trollen der Projektil zu täuschen imstande«, stellte Rita klar. »Ree hat mich mit gewissen bevorzugten Kompetenzen aus gestattet, als ich den Auftrag bekam, Ihre Forschergruppe nach Atlantis zu begleiten. Mit Regga Grün gelange ich an Bord der Projektil, ohne daß man mich mit Fragen belästigt. Ich kenne in der Kommu ‘n Burschen, der auch mich gut kennt und deshalb sicher mal für mich ‘ne Taste drückt, sobald er — wenn ich mich durch den richtigen Code aus weise — von meinem Wiederauftauchen hört.« Leeta schnitt eine berechnende Miene. »Ich zähle zu Rees engstem Bekanntenkreis. Wenn ich bei ihm bleibe, während man ihn ins Raumschiff bringt, was wird man dann sagen?«
»Nichts.« Rita durchdachte das Szenario. »Helstead wird möglichst nah bei der Bordklinik andocken. Das ist nicht weit von den Maschinenräumen. Der Reaktor ist praktisch nebenan. Vielleicht entsinnen Sie sich noch an Ihren Orientierungsrundgang, Doktor.« »Gut. Wenn ich bei ihm bin, kann ich nämlich in der kritischen Situation, die ihm bevorsteht, auf ihn einwir ken.« Leeta lächelte. »Du kommst mit mir, Eisenauge. Du bist der Chefunterhändler. Am besten fängst du jetzt an, dir darüber Gedanken zu machen, welche Forderungen du für dein Volk stellen willst.« »Wissen wir auch wirklich, was wir tun?« fragte Philip unvermutet. »Ich meine, wir werden ja keine zweite Gelegenheit erhalten, nicht wahr?« Rita hatte die Lippen fest zusammengepreßt, ihr Ge sicht war bleich geworden, so daß sich die Sommer sprossen überdeutlich abzeichneten. Leeta betrachtete mit ausdrucksloser Miene das fleckige Holz der Tischplatte. Behutsam hob Philip seinen Kaffeebecher und trank. »Wir weben Spinnes Netz«, sagte Eisenauge mit leiser Stimme, tatschte unter dem Tisch die Hand der Frau, die er liebte. Von nun an lenkte Spinne ihre verschiedenen Schicksalswege. * * * Marty Bruk wünschte, sein Herz würde mit den Faxen aufhören. Leeta Dobra mußte verrückt geworden sein! »Wie sind wir als erwachsene, intelligente Menschen bloß in so einen Schlamassel geraten?« fragte er, betrachtete die Frau, die vor ihm stand. Leetas Blick blieb unterkühlt. »Weil wir gar keine an dere Wahl haben, Marty. Morgen trifft ein anderes Schlachtschiff ein. Hat Robinson erst einmal ehester ken nengelernt, wird er genauso entsetzt sein, wie wir’s am Anfang gewesen sind — und dann wird er den
Patrouillenschiffen befehlen, die Romananer auszulö schen .. und vielleicht uns gleich mit. Wir wissen zuviel. Es wäre vorteilhaft für seine Argumentation, könnte er behaupten, wir seien von den Einheimischen mas sakriert worden, und er hätte nur einen Vergeltungs schlag angeordnet. Ich bin zu jung, um als Märtyrerin zu sterben.« Mühsam versuchte Marty zu schlucken. Wann hatte seine früher so gutmütige Kollegin wie eine Tarantel zu denken gelernt? Er sah die Kaltblütigkeit in ihren Augen, und einen Moment lang konnte er beinahe ernstnehmen, was sie redete. Doch die Enkulturation seiner Erziehung bestand darauf, daß das Direktorat so etwas unmöglich lebenden Menschen antat. »Du glaubst mir noch immer nicht, Marty?« Man hätte meinen können, Leeta läse seine Gedanken. »Ach, Leeta, es ist ganz einfach schwierig, sich zu ver gegenwärtigen, daß so was richtige Wirklichkeit sein soll.« Er schüttelte den Kopf. »Erinnerst du dich noch, daß du versprochen hast, meine Anweisungen zu befolgen, egal um was es sich dreht?« Leeta hatte die Brauen gehoben. »Ja doch«, antwortete Marty, der sich sehr wohl daran erinnerte. »Ach, was soll die Diskussion, es geht ja nur darum, der Lazarettstation ‘n Schabernack zu spielen, der niemanden das Leben kostet. Nimm das hier.« Er reichte Leeta eine Feldflasche. »Dadurch wird sein Nervensystem wenigstens für ‘n paar Stunden angegriffen. Es handelt sich um ‘n sauberes neues Protein, das ich aus Bärenspeichel isoliert habe. Echt geschädigt kann er nicht werden, und die tragbaren Scanner stellen’s nicht fest. Er muß an ‘ne Medizinische Einheit, damit es erkannt und neutralisiert werden kann.« »Wieviel?« fragte Leeta, maß ihn aufmerksamen Blicks, forschte in seinen Augen. »Bei seiner Statur nicht mehr als fünf Kubikzentimeter,
würde ich sagen.« Marty füllte, was er für eine gute Dosis hielt, in eine Kapsel. »Noch fünf Minuten«, konstatierte Leeta. »Es ist so weit. Ich sehe durchs Fenster Rees ST landen. Hier, Marty, das ist für dich.« Sie händigte ihm einen langen romanani schen Kriegsdolch aus. Er nahm ihn, sein Blick glitt über den glänzenden Stahl. Konnte er es, wenn der Moment da war, wirklich tun ? Sein Herz wummerte ihm gegen die Rippen, erschwer te ihm das Schlucken. Sein Gaumen war trocken gewor den, und er hatte den Eindruck, daß ihm der Schweiß aus brach, übers Gesicht rann. Marty Bruk fürchtete sich wie noch nie vorher im Leben. Er erinnerte sich an den uner schütterlichen Blick des Propheten. An die Zwiespältigkeit, mit der John Smith Eisenauge ihn gemu stert hatte. Alle wußten, er war im Grunde seines Herzens ein Feigling. Weshalb nahm er das alles eigentlich auf sich? Wenig später strebten sie auf den ST zu, und er spürte den warmen Sonnenschein auf der Haut. Er bemerkte, wie Ree Leetas Arm nahm. Das oberflächliche Geplauder drang kaum zu ihm durch. Wenn er Oberst Ree auf die Schulter tippte und ihn bei seite zog, könnte er ihm Dr. Dobras abweichendes Verhalten vielleicht als geistige Verirrung erklären. Dann wäre unter die ganze verdammte Geschichte einfach ein Schlußstrich gemacht. Er spürte, wie Erleichterung seinen Herzschlag beruhigte. Ja, Leeta war nur ein bißchen über spannt. Zuviel Stress. Eine Neurose. Ihre Phantasie flü sterte ihr mehr ein, als die Realität rechtfertigte. Er ging schon auf Ree zu, da kamen ihm die Propheten in den Sinn. Sie hatten auch alles gewußt. Sie waren der gleichen Meinung wie Leeta gewesen. Zukünftige Tatsachen? Unschlüssig zögerte er, betrachtete Rees brei ten Rücken, während der ST abhob. Noch immer unter hielt der Oberst sich lebhaft mit Leeta.
Marty merkte, daß Bella ihn beobachtete. Wenn er sei nen Einfall in die Tat umsetzte, brächte er die Zukunft in Unordnung. Was wäre die Reaktion? Zwei weitere Kriegsschiffe befanden sich im Anflug auf Atlantis; eines traf morgen ein. War so etwas richtig? Martys Finger strichen über den Messergriff. Wo stan den Wahrheit und Recht? Er dachte an die durch Blasterverbrennungen verletzten Romananer. Er entsann sich der Worte der Propheten, die sie geäußert hatten, wäh rend er ihnen in die klugen, weisen Augen schaute. Seine ungestellte Frage erhielt eine Antwort. Er hatte wissen wollen, ob die Sache den eventuellen Verlust von Menschenleben wert sei, wenn sie schon nicht ohne Tote ablaufen konnte. Marty sparte sich jeden weiteren Gedanken, als er die schwere Klinge gegen seinen Unterarm drückte. Es tat nicht sonderlich weh. »Verdammt«, sagte er fast gleich mütig. »Ich habe mich geschnitten. Leeta, du solltest dir angewöhnen, mir nichts Scharfes in die Pfoten zu geben.« »Bringen Sie den Mann ins Bordlazarett«, ordnete Ree an, sobald er das Blut auf Martys Arm sah. Marty schob das Messer in die Scheide an seinem Gürtel, während ein weibliches Crewmitglied ihn zügig einen Niedergang hinab zur Lazerettstation führte. Dort wurde er innerhalb weniger Sekunden verarztet. Der MedTech schloß die Wunde mit einem Pflaster und sprühte über beides einen Sprayverband. »Ich glaube, es empfiehlt sich«, sagte er, »daß Sie sich ‘ne Zeitlang ausru hen, wenn Sie’s gerade einrichten können.« Es schauderte Marty. »Ich wage gar nicht dran zu den ken, was passiert wäre, hätte ich mir mit dem Ding den Leib aufgeschlitzt.« »Da haben Sie wohl recht«, stimmte der MedTech zu. »Legen Sie sich einfach ‘n bißchen hin. Ich sehe mir die Vorführung an. Melden Sie sich per Kommu, falls Sie mich wegen irgendwas brauchen.«
Marty nickte und streckte sich auf der Liege aus, atmete tief. Mit einem holperigen Ruck landete der ST. Luken dröhnten, Füße trampelten und scharrten; dann war es still. Bruk schlotterte praktisch von Kopf bis Fuß, als er auf stand. Die Verschlüsse der Med-Einheit ließen sich ohne Umstände öffnen, und er klappte die Anlage auf. Sie hatte große Ähnlichkeit mit einer CEMD. Er grinste, während er sich nervös, aber schnell an die Arbeit machte. Der Instrumententasche an seinem Gürtel entnahm er eine kleine Kapsel und setzte mit Hilfe zweier Drähte die mit zahlreichen Transistoren bestückte Schalttafel unter elek trische Spannung. Das Schaltbrett waagerecht auf den Knien, hielt er die Kapsel an die Stelle, die er dafür ausgesucht hatte, und trennte sie sorgfältig in Hälften. Ein Tropfen salzigen Wassers sickerte heraus, gefolgt vom Kadaver einer er trunkenen Fliege. Mit der Fingerspitze schob Marty die Fliege an den richtigen Fleck und schaltete den Strom ein. Ein Rauchfähnchen stieg auf, als die Fliege festbuk, und das Salzwasser verursachte einen Kurzschluß der gesam ten Schafttafel. Bruk seufzte erleichtert und entfernte die beiden Drähte und steckte sie zurück in die Gürteltasche. Er schaltete die Med-Einheit ab, brachte das Schaltbrett wieder an seinem Platz an und schloß sorgsam die Verschlüsse der Abdeckung. Nur um ganz sicher sein zu können, aktivier te er die Einheit nochmals und versuchte seinen Blutdruck zu messen. Nichts geschah. Er hatte es geschafft! Marty Bruk schwang sich zurück auf die Liege und stieß einen Seufzer tiefster Erleichterung hervor. Ein Psycho-Verhör könnte er nie durchstehen. Man konnte mit einer Psychsonde alles über seine Tat aus ihm herausholen Aber, verdammt noch mal, wenigstens war er nicht dabei ertappt worden! *
*
*
Leeta sah das einheimische Eliteregiment Haltung an nehmen. Die Männer sprühten geradezu vor angestautem Tatendrang. Ree stapfte mit einem Lächeln im Gesicht die Phalanx entlang, nickte gelegentlich. Er besah sich die Männer von unten bis oben, wobei die Coups an ihren Gürteln bei ihm offenkundiges Mißfallen auslösten. Am Ende der Reihe entbot er den Kriegern den üblichen Salut. Philip befahl seinen Männern auf roma-nanisch, den Gruß zu erwidern. Schneidig fuhren die Hände hoch, wurden zackig gesenkt. »Na, Oberst?« fragte Leeta und ließ sich ihren Stolz anmerken. »Prächtig.« Ree grinste. »Es ist eine abgedroschene Formulierung, Doktor, aber mir fällt nichts Besseres ein, ich muß sagen, Ihre Leute übertreffen meine kühnsten Erwartungen.« »Das freut uns sehr.« Leeta lächelte. »Philip, jetzt bitte die geplante Übung!« Philip rief markig einen Befehl, und die Truppe bildete eine Kolonne. Mit exaktem Marschtritt zogen die ro mananischen Krieger im Laufschritt zur offenen Haupt luke des ST. Die Gewehre hatten sie geschultert, und die Kolonne bewegte sich, jeder Mann genau im Takt, wie eine Maschine. Innerhalb weniger Minuten befanden sich alle vierhundert Krieger an Bord des ST. Leeta nahm die Feldflasche vom Gürtel und trank einen Schluck, sich dessen bewußt, daß Ree es bemerkte. Als sie gleich darauf die Feldflasche dem Oberst reichte, zer drückte sie die von Marty Bruk erhaltene Kapsel am Rand der Trinköffnung, sah zufrieden die Flüssigkeit hineinrin nen. »Kommen Sie, ich möchte Ihnen zeigen, wie gut die Truppe im Anschnallen ist.« Leeta zog an Rees Arm. Er lächelte, gab ihr die Feldflasche zurück. Während sie Ree die Einstiegsrampe hinauffolgte, ließ Leeta die Feld flasche ins Gras fallen. An der Luke standen zwei Pa
trouillensoldaten; sie salutierten, als Ree den ST betrat. Wie lange dauert es, bis das Zeug wirkt? Leeta spürte plötzlich, wie sie in Panik zu geraten drohte, und ihr Magen reagierte wieder einmal sehr gereizt. Ree setzte die Inspektion fort, überzeugte sich per sönlich bei jedem einzelnen Mann davon, daß er richtig angeschnallt auf dem Druckpolster lag. Nur bei einem Romananer stellte er einen Gurt nach. »Sagen Sie ihm, das hätte weh tun können«, sagte er halblaut zu Leeta, und sie dolmetschte. Freitag Gelbes Bein zuckte mit keiner Wimper seiner dunklen Wolfsaugen, als er zur Bestätigung nickte. »Wissen Sie was, Doktor?« meinte Ree. »Obwohl die se Leute sich auf unsere Seite geschlagen haben, kann ich mich irgendwie nicht des Eindrucks erwehren, sie würden mich am liebsten in Stücke reißen. Man hat unwillkürlich das Gefühl, möchte ich fast sagen, unter Raubtiere gefal len zu sein...« Plötzlich verkrampfte sich Ree, faßte nach seinem Leib. »Sie da, schnell her!« befahl Leeta. »Schließen Sie die Luke und helfen Sie mir! Oberst Ree hat ‘n Kollaps.« Sie winkte zwei Posten heran. Einer hieb die Handfläche auf den Lukenmechanismus, ehe er angelaufen kam. Zu dritt schleppten sie Ree die Treppe hinauf und in die Lazarettstation, wo sich Marty Bruk noch auf der Liege ausruhte. Er warf Leeta einen vielsagenden Blick zu, als sie in die Station stolperte, und nickte kaum merklich. »Was ist passiert?« fragte er, sich darüber im klaren, daß die Kommu von nun an jede seiner Bewegungen beobachtete. »Keine Ahnung « Leeta verbarg ihre tatsächliche Auf regung nicht im geringsten. »Er ist da unten einfach umge fallen.« Der Sanitätsoffizier drängte sich in die auf einmal über füllte Station. »Machen Sie hier mal ‘n bißchen Platz!« ordnete er an, schickte die Soldaten hinaus. Sie warteten
im Gang, schauten durch die offene Tür dem weiteren Geschehen besorgt zu. Leeta schöpfte tief Atem. Jetzt veranlaßte Philip die Männer zum Bereitmachen. Falls sie in zweihundert Se kunden nicht starteten, würde er den Versuch unterneh men, den ST in ihre Gewalt zu bringen. Leeta vermochte sich vorzustellen, wie die Krieger schon die Hände an den Schnellöffnern der Gurte hatten. Man konnte nur zu Spinne beten, daß sie die Befehle abwarteten. »Die Med-Einheit ist defekt!« schrie auf einmal der MedTech. »Kapitän Helstead! Die Med-Einheit ist ka putt!« »Dann reparieren Sie sie«, befahl Helstaeds herbe Stimme aus der Kommu. »Los, Mann, machen Sie schon!« befahl Leeta. Sie hob den Blick zur Kommu. »Kapitän, starten Sie! Falls es etwas Ernstes ist, benötigt der Oberst dringend ärztlichen Beistand. Geben Sie der Projektil Bescheid und fliegen Sie sofort hinauf! Wenn dem Oberst was zustößt, werde ich hier jeden skalpieren, so wahr mir Gott helfe!« Sie hörte das vor Starts obligatorische Warnsignal. Im nächsten Moment hatte der ST abgehoben, die GravoAbsorber glichen den Andruck aus. Leeta setzte sich auf eine Liege, während der MedTech fahrig an der Abdek kung der Medizinischen Einheit fummelte. Er kontrol lierte eine Schalttafel nach der anderen, zog schließlich eine heraus und stierte sie an. Bruk beugte sich über seine Schulter. »Allmächtiger Gott! Eine elende Fliege! Wegen so was hätte Dr. Chem mich im Handumdrehen aus seinem Labor gefeuert. Wie kommt ihr Sanitätsmilitärs bloß zu euren dauernden Beförderungen?« »Eine Fliege?« keuchte Leeta. »Hier? In der Med-Einheit? Ich dachte, diese Apparate wären versiegelt.« Das Gesicht des MedTechs verfärbte sich blaßgrau. »Ich ... begreife das ... einfach nicht.« Glasigen Blicks
glotzte er das Malheur an. Schließlich schaute er be klommen in die Optik der Kommu. »Kapitän, ich habe keinen Schimmer, wie’s dazu kommen konnte. Wir pfle gen und warten die Anlage mit aller Sorgfalt, genau nach Vorschrift.« »Bringen Sie sie in Ordnung!« Auch Helstaeds Stimme zeugte von Anwandlungen der Panik. »Verflucht noch mal, Mensch, sehen Sie zu, daß Sie das Ding wieder hin kriegen!« »Davon wird der Oberst erfahren«, sagte Leeta mehr mals halblaut vor sich hin. »Gott gebe, daß er am Leben bleibt.« Sie wandte sich der Kommu zu, bemühte sich um einen ruhigen Tonfall; der Streß war ihrer Stimme deutlich genug anzuhören. »Wie lange dauert’s bis zur Projektil?Haben Sie Kontakt aufgenommen?« »Fünf Minuten, Gnädigste.« Helsteads Stimme klang nach Niedergeschlagenheit, als beschäftigte er sich in Gedanken schon mit seinem Militärgerichtsverfahren. »Es tut mir außerordentlich leid, Gnädigste. Etwas Derartiges hat es unter meinem Kommando noch nie gegeben«, beteuerte er kläglich. Das Bedürfnis, hysterisch zu kichern, rang in Leetas Innerem mit dem Flattern ihrer Nerven, als sie wieder den Blick hob. »Eine kleine Fliege, Kapitän ...! Na, da muß man wohl Verständnis aufbringen. Wahrscheinlich könnte so was jedem passieren. Ich werde mein Bestes für Sie tun.« Sie hoffte, daß sie jeden Satz richtig betont hatte. Helstead wußte, daß sie seine Zukunft in den Händen hielt. »Vielen Dank, Doktor. Wenn ich Ihnen künftig ir gendwie behilflich sein kann, wenden Sie sich vertrau ensvoll an mich oder meine Untergebenen.« Leeta sah seine verzerrte Miene. In diesem Augenblick hätte er seine Seele verkauft. Sie widmete Spinne ein lautloses Stoßgebet: Hoffentlich mußten sie sich den Zutritt ins Raumschiff nicht freischießen.
Auf dem Bildschirm der Kommu erschien die Projek til, Mittlerweile hatte der ST die planetare Atmosphäre verlassen. »Ist alles vorbereitet?« fragte Leeta, sah nach Ree, der krampfhaft zitterte. Ein MedTech hatte eine trag bare Med-Einheit hereingebracht, las laut, offenbar in direkter Verbindung mit der Bordklinik der Projektil, die Meßwerte ab, während der andere MedTech wie rasend versuchte, die Kommu zuzuschalten, jedoch ohne Ergebnis, weil er dazu die defekte Medizinische Einheit brauchte. »Zwei Minuten bis zum Andocken«, ertönte Helsteads Stimme aus dem Lautsprecher. Leeta behielt das Raumschiff unter Beobachtung, ihre nervliche Anspannung wuchs immer stärker, während der Rumpf der Projektil rasch den Bildschirm ausfüllte. Wie verschieden war diese Situation von dem Moment, als sie das Kriegsschiff zum erstenmal gesehen hatte! Rees Zähne klapperten. Marty stand mit seinem Ta schenscanner über ihn gebeugt. Sein Verhalten entlockte Leeta ein Kichern. Sogar jetzt, inmitten der ernstesten Krise seines Lebens, fühlte er sich dazu gehalten — wahr scheinlich konnte er nicht anders —, Daten über ein von ihm verabreichtes Gift zu sammeln. Leetas Blick fiel wieder auf den Monitor. Helstead zähl te die Sekunden des Countdowns bis zum Anlegen. Leeta wandte sich ab und verließ die Lazarettstation, lief in die Zentrale. Die Bildschirme zeigten den Kriegern jetzt die furchterregenden Ausmaße der Projektil. Leet fragte sich, was ihnen dabei wohl durch den Kopf gehen mochte. In der Zentrale sah sie, wie der Sturmtransporter in eine Andockbucht schwebte. »Sind wir in der Nähe der Bordklinik?« erkundigte sie sich. »So nahe wie möglich«, antwortete Helstead mit ge preßter Stimme. Metallisch klirrten Greifarme. »Sie!« Leeta deutete auf Unteroffizier Hans Yeager. »Bleiben Sie hier an der Kommu. Der Rest kommt mit
mir. Ich muß den Romananern diesen Vorfall erklären.« »Ach, verflucht!« entfuhr es Helstead. »Die Kerle habe ich völlig vergessen.« Er rannte in den Gang. Leeta und die anderen Crewmitglieder folgten ihm im Laufschritt. Sobald Leeta sich hinter Helstead zu den Kriegern hin eindrängte, zog sie einem Soldaten hinterrücks den Bla ster aus dem Gürtelhalfter. Sie kippte den Sicherungs hebel, so wie Rita es ihr gezeigt hatte, trat beiseite und hob die schußbereite Waffe. »Alles klar, Philip, laß sie fesseln. Jetzt wollen wir bei Gott bloß hoffen, daß Rita sich bereithält.« Eisenauge stürmte vorwärts, das Lächeln im Gesicht, das er stets vor dem Kampf aufsetzte. Leeta drehte sich um, legte die Handfläche auf den Sensorschalter der Schleuse, gerade als die MedTechs Ree auf einer Antigrav-Bahre aus der Lazarettstation brachten. »Für Spinne«, raunte sie, als sich die Luke öffnete.
20
Rita Sarsa bibberte in der eiskalten Dunkelheit kurz vor Anbruch des Morgengrauens. Ge mächlich verließ sie den Schatten des Basislager-Kuppelbaus und schlenderte auf das Shuttle zu. So früh am Morgen befand sich niemand an Bord. Rita trat in den Wirkungskreis des Antigrav-Lifts und drückte den Daumen auf die Taste, die den Lift aktivierte. Schwaches Glimmen zeigte die Funktionsaufnahme an, und im selben Augenblick spürte Rita, wie sie em porschwebte. Am Einstieg nannte sie Namen, Rang, Dienstnummer und den Code, den Oberst Ree Dr. Do-bra anvertraut hatte. Unverzüglich öffnete sich die Luke. Im Innern des Shuttle schaltete sie den Lift ab und akti vierte statt dessen die Kommunikationsanlage. Sie stülpte sich das Kontaktron auf und sichtete in aller Eile die gespeicherten Informationen. Nach allem, was sie daraus ersehen konnte, stand die Sache gut. Sie entdeckte in den Speicherbänken keinen Hinweis auf ihre verrückte Eskapade. Sie unterdrückte ein Gähnen und lehnte sich in den bequemen Sessel. Die vergangene Nacht war für sie gräß lich ungemütlich gewesen. Zwar hatte Leeta sie zum Basislager befördern können — angeblich für eines der Experimente Marty Bruks —, doch hatte sie es verlassen müssen, bevor man für die Nacht wieder den Si cherheitsperimeter einrichtete. Folglich hatte sie eine lange, kalte Nacht im Gras zugebracht. Sie merkte nicht, daß sie eindöste. Stimmen aus der Kommu rissen sie aus bruchstückhaften Träumen, schlagartig war sie wieder wach. Auf freier Fläche landete neben der Kuppel im Sonnenschein Rees ST.
Rita gähnte, räkelte sich und warf den Antrieb des Shuttle an. Jetzt kam die heikle Phase. Wenn das Shuttle einfach startete, würde das Basislager bestimmt Ree verständigen und er sich denken, daß irgendeine Unregelmäßigkeit ablief. Dann wäre er auf der Hut. Rita aß Konzen tratnahrung, während sie beobachtete, wie Dobra, ihre Romananerabteilung und der Oberst zu Leetas ST hin übergingen. Rees Sturmtransporter schwebte an den Himmel hinauf und schoß in den Norden davon, ohne Zweifel, um die routinemäßige Überwachung der Ro mananer wiederaufzunehmen. Rita sagte ins Kommu. »Guten Morgen, Basislager. Hier ist Projektil-Shuttle Drei, Spezialidentifikation Alpha Eins-eins-fünf. Erbitte auf Grundlage dieser besonderen Identifikation Starterlaubnis. Bitte bestätigen.« »Guten Morgen. Sie haben uns aber überrascht! Er bitten Abfertigungscode.« Auf dem Bildschirm ergänzte die Miene eines verdutzten Patrouillensoldaten die Stimme aus der Kommu. »Abfertigungscode Zero«, antwortete Rita, das Gesicht der Optik zugewandt. Die Frage nach einem Ab fertigungscode erfolgte lediglich zur nochmaligen Über prüfung für den Fall, daß irgendwer, etwa feindliche Agenten, dem Anrufer einen Blaster in den Rücken hiel ten. Dadurch sollte dagegen vorgebeugt werden, daß Unbefugte das Shuttle kaperten. »Ich habe einen Son derauftrag. Auf Befehl Oberst Rees muß ich dringend zur Projektil fliegen.« Der Soldat nickte. »Kapiert. Diese Frequenz ist ver schlüsselt. Sie haben Starterlaubnis. Müssen wir« — sein Tonfall wurde ernst — »wegen irgendwas Sorgen haben?« »Es ist alles in bester Ordnung. Weitermachen, Ge freiter.« Rita begann Hebel umzulegen, spürte unter sich die Motoren des Shuttles anlaufen. Der Start geriet ein wenig rauher, als er hätte sein dür
fen. Es ist schon eine Weile her, daß ich die letzten Übungsstunden hatte. Aber was soll das jetzt? Die Beschleunigung drückte sie in den Kontrollsitz, sie sah, wie der Himmel, nachdem sie eine dünne Wolkendecke durchstoßen hatte, die Farbe wechselte, sein Blau sich immer dunkler verfärbte. »Projektil-Bordkontrolle, Shuttle Drei erbittet auto matische Kurskorrektur zwecks Rendezvous«, sagte sie munter ins Mikrofon der Kommu. »Shuttle Drei, wir funken Kurskorrektur«, meldete sich eine Stimme. »Wo hast du gesteckt, Rita?« Rita schaltete die Automatik ein und spürte, wie das Flugverhalten des Shuttle sich beim Vollzug der Kurs korrektur änderte. »Sonderauftrag des Obersten. Ist ‘ne lange Geschichte. Er hat mich jetzt mal lange genug für ‘ne Dusche und ‘ne anständige Mahlzeit gehen lassen. Bist du das, Anthony?« »Verstanden, Shuttle Drei. Wenn du wieder Zeit hast, geb ich dir einen aus. Hier ist’s unheimlich langweilig. Wäre froh, wenn du mir ‘ne >lange Geschichte< erzählen könntest.« »Ist gebongt, Tony. Shuttle Drei Ende.« Sobald sie sein >Verstanden< hörte, trennte Rita die Verbindung. Auf den Bildschirmen kam die Projektil hin ter dem Rund des Planeten zum Vorschein und rasch in volle Sicht. Rita fühlte, wie das Shuttle in eine höhere Umlaufbahn aufstieg, während das Raumschiff immer größer wurde; die Projektil schien auf sie herabzufallen, selbst den Abstand zu verringern. Dieser fälschliche Eindruck hatte Rita seit eh und je in Erstaunen versetzt. Das Shuttle beendete die Beschleunigung, und Rita konnte für einige Zeit Nullschwerkraft genießen. Inzwi schen füllte das gewaltige Raumschiff die Bildflächen voll aus. Steuerdüsen lenkten das Shuttle seitwärts, und mit lediglich kaum spürbarer Erschütterung schob es sich in die Andockbucht. Während sie die Gurte öffnete, spürte
Rita die Schwerkraft wiederkehren. Sie holte die große Tasche, die ihr Gewehr, den Gürtel mit den Coups und ihre Messer enthielt. Als sie aus dem Shuttle trat, richteten sich sofort alle Blicke auf sie — ihre Lederkluft erregte zwangsläufig Aufmerksamkeit —, die Unterhaltung verstummte. Im Laufschritt näherte sich Wachpersonal. Rita lachte und sprang anmutig hinab aufs Deck. Die Hände in die Hüften gestemmt, schüttelte sie den Kopf. »Was ist los? Habt ihr noch nie ‘ne Barbarin ‘n Shuttle fliegen sehen?« Sie sah Grinsen um sich und hörte das eine oder andere Auflachen, während die Crewmitglieder zurück an die Arbeit gingen. Gut. An Bord der Projektil herrschte nach wie vor eine Atmosphäre der Gelangweiltheit. Auf dem Shuttledeck nahm man an, daß sie, wenn sie hatte anlegen dürfen, dazu die Erlaubnis bekommen hatte. Die drei Mitglieder des Wachpersonals näherten sich, beschränkten sich jedoch, als Rita Code Regga Grün in das Commu-Terminal getippt hatte, aufs Salutieren. Sie eilte zum Lift und fuhr zu dem Deck hinauf, in dem sie ihr Quartier hatte, mußte ein paar Minuten lang untätig warten, während der Lift sie durchs Raumschiff beförder te. Vom Lift bis zu ihrer Unterkunft waren es nur ein paar hundert Meter; sie begegnete unterwegs niemandem. Mit Bedauern streifte sie die Lederkleidung ab, an die sie sich so sehr gewöhnt hatte, und betrat die Dusche. Eines mußte man der Zivilisation zugestehen: Seit zehn Jahrhunderten war und blieb die Dusche ihre beste Erfindung. In Uniform suchte sie das Bordarsenal auf, versah sich mit einem Blastergewehr — einer Waffe, die wirklich schwere Schäden anrichten konnte — und legte einen Schutzpanzer an. Mit dieser Ausstattung zog sie auf dem Weg zur Kommu gelegentlich Blicke auf sich. Dort saß Anthony, den Rücken an der Wand, mit einem anderen Besatzungsmitglied zusammen, das sie nicht kannte.
Verdutzt hob er den Blick. »Ich habe ne Sondererlaubnis, Tony«, sagte Rita in ernstem Ton, lehnte den Blaster in die Ecke. Sie gab der Kommu die Zahlenreihe ihrer Spezialidentifikation ein; Tony nickte, als die Bestätigung durch die Sicherheitsabteilung erfolgte. »Wie kann ich behilflich sein, Leutnant?« Interessiert schaute Anthony sie an. »Wart’s ab, Tony. Ree und ich befassen uns mit,.. äh ... einem bestimmten Szenario. Du weißt ja, die Bruderschaft ist im Anflug. Ree ist wegen der Disziplin in Sorge. Er ist der Auffassung, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um sie zu testen. Kannst du mir, bevor Mitteilungen durchs System gehen, ‘ne Vorlaufzeit einrichten?« »Kein Problem.« Anthony wies auf einen Sitz und lud über sein Kontaktron ein Programm. »Vermutlich weißt du schon, daß Majorin Reary an Oberst Rees Stuhl sägt? Ich konnte das Weibsstück noch nie leiden. Wir legen dem Oberst ihre Funksprüche zur Genehmigung vor, ehe wir sie absenden.« Rita nickte, merkte sich diese Information. »Ree hat gesagt, du hättest den richtigen Durchblick«, behauptete sie, zwinkerte ihm verschwörerisch zu. Sie mußten nicht lange warten. »ST Elf an Projektil«, rief eine hektische Stimme. »Jetzt geht’s los.« Rita verlieh ihrer Stimme einen ru higen Tonfall. »Nimm den Anruf an, Tony.« Arf Helsteads aufgeregte Meldung von Rees Zusam menbruch und dem Ausfall der Medizinischen Einheit krächzte durch die Kommunikationszentrale. »Ist es das?« Anthony blickte auf. »Daß der Oberst umgekippt sein soll?« »Was denkst denn du?« Selbstgefällig sah Rita ihn an. »Dort unten spielt sich auch nicht viel ab. Woher soll er wissen, daß ihr hier oben noch auf Zack seid? Wie oft fällt denn schon ‘ne Med-Einheit aus?« Anthony verband die Bordklinik mit der Lazarettstation
des ST. Rita wartete. Die Kopflosigkeit, die aus Helsteads Stimme sprach, amüsierte sie. Er hatte Leetas Treiben machtlos gegenübergestanden, und jetzt war auch noch seine Med-Einheit defekt. Rita grinste und wünschte sich, sie könnte seinen Gesichtsausdruck sehen. Er war sowie so immer ein mieser Fatzke gewesen. »Keine Minute mehr bis zum Andocken.« Seine Frage unausgesprochen im Blick, schaute Anthony hoch. »Ich müßte die Sicherheit verständigen.« »Nein, nicht. Der Oberst will ‘ne Paniksituation.« Rita sah aufs Chronometer. »Ich muß gleich hinunter und die Reaktionszeit messen. Falls irgendwas bezüglich der Sicherheit anliegt, mußt du’s stoppen, eh’s durch die Kommu läuft. Das gehört zur Planung. Der Oberst will alles völlig realistisch durchziehen. Wenn’s richtig reali stisch wirkt, muß Helstead glauben, der Alte sei tat sächlich krank.« Sie lief zur Tür, nahm den Blaster. »Vergiß nicht: Jeder Alarm der Sicherheit ist zu negie ren.« »Alles kapiert, Rita. Viel Spaß! Wir schauen uns von hier aus alles an. Bist du sicher, daß wir nicht auch gete stet werden? Mißachtung eines Sicherheitsalarms ist ‘n ziemlich schweres Dienstvergehen.« Besorgt sah er Rita nach. »Ich möchte es lieber dokumentiert sehen, daß wir reagiert haben. Ich will nicht, daß der Oberst mich am Schlafittchen packt, weil .,.« »Ach was, verlaß dich auf mich. Es war ‘n echtes Ver gnügen, uns diese Aktion auszudenken.« Rita grinste. »Laß einfach alles laufen, wie’s kommt. Der Oberst legt Wert darauf, zu erfahren, wie lang’s dauert, bis das Durcheinander behoben ist.« »Gut, wir bleiben einfach hier sitzen und tun überhaupt nichts«, versprach Anthony; allerdings wirkte er nervös. Rita rannte durch den Korridor. Sie sprang in eine Liftkabine und nannte als Ziel Dock 25. Unterwegs ramm te sie eine Batterie in den Blaster. Als die Lifttür aufglitt,
gelangte Rita in eine fast leere Schleuse. Ein Team der Bordklinik stand schon bereit. Rita schlich sich hinter zwei Männer des Wachperso nals und beobachtete, wie der ST in die Andockbucht schwebte. Sie bemerkte das schwache Rumsen von Me tall, hörte die Greifarme zupacken. Sie stellte sich genau hinter einen der Männer und lähmte ihn mit einer Mini malentladung. Sie wartete, bis der zweite Mann sich umdrehte, dann setz te sie ihn auf gleiche Weise außer Gefecht. Die Meds wandten sich um und gafften; der Anblick des Blasters schüchterte sie jedoch ein. Wie lange würde Anthony das Spielchen mitma chen? Ruhelos knirschte Rita mit den Zähnen, durchdachte noch einmal den Weg, den sie zu den Maschinenräumen neh men mußten. Waren sie erst einmal dort — falls sie es schaff ten —, konnte nichts mehr mißlingen. Die Luke öffnete sich. Rita hob den schweren Blaster. Meds kamen — mit Ree auf einer Antigrav-Bahre — aus dem ST gehastet. Flüchtig schielte Rita hinüber zu den Kommu-Optiken, sie wußte, daß Anthony und sein Ka merad alles aufmerksam mitansahen. Leeta begleitete die Antigrav-Bahre. Eisenauge und Philip folgten. »Schnell, bringen Sie den Oberst in die Bordklinik!« befahl Rita. »Los, los!« Die Meds eilten mit Ree davon, Leeta gab Rita ein Zeichen, als wollte sie sie vor Unbesonnenheit warnen, und schloß sich an, die Romananerabteilung und Eisenauge trabten im Laufschritt hinterdrein. »Vorwärts, Philip!« schrie Rita, malte sich die Verblüf fung in Anthonys Miene aus, während er sah, wie rei henweise in Leder gekleidete Krieger aus dem ST stürm ten. Mit dem Blaster zerschoß Rita die Kontrolltafel der Bordschleuse, der zerstörte Schaltschrank sprang auf, ver sprühte Funken, Rauch quoll hervor. Sie rannte in den Gang voraus. »Wie hat’s geklappt?« rief sie auf romananisch über die Schulter.
»Es gab keine Probleme. Großer Mann hält mit der Mehrzahl der Krieger den ST und die Schleuse besetzt. Leeta und John kümmern sich um Ree.« Er grinste, ver suchte im Laufen alles gleichzeitig zu sehen, woran er vor überlief. Überrascht trat ein Mann in den Korridor. Sofort strek kte Rita ihn mit einer Minimalentladung nieder. Die Schwerkraft nahm ab, und sie fühlte sich leicht auf den Füßen. »Vorsicht«, rief sie nach hinten. Ihre Mahnung fand jedoch keine Beachtung. Die Krieger drängten schleunigst durch den Gang, obwohl sie mit ihrem eigenen Schwung zusehends Schwierigkeiten bekamen, häufig gegen die Wände prallten. Ritas Gürtelkommunikator piepste, und sie drückte die Ein-Taste. »Ja?« meldete sie sich. »Leutnant, hat das alles wirklich seine Richtigkeit?« Anthonys Stimme klang höchst beunruhigt. »Liegen schon Alarmmeldungen vor?« fragte Rita. Sie begann leicht zu schnaufen. »Nur aus der verdammten Schleuse«, ertönte Anthonys Stimme. »Ich habe das Identifikationsprogramm laufen. Das sind keine Patrouillensoldaten.« »Nein, ‘ne Einheimischentruppe. Ausgezeichnet be obachtet, Tony. Ich werde dich in meinem Bericht lobend erwähnen.« Sie schaltete den Kommunikator ab und bog um die Ecke, hinter der der letzte Abschnitt des Gangs zum Reaktorraum lag. Wieder piepste der Gür telkommunikator. Rita schaltete ihn ein. »Tony, ich bin beschäftigt«, schnauzte sie. »Leutnant Sarsa?« Diesmal meldete sich eine Frauen stimme. »Hier spricht Majorin Reary. Was, zum Teufel, geht da unten eigentlich vor?« »Ernstfallübung, Majorin!« brummte Rita patzig. »Auf Anordnung Oberst Rees werden die Reaktionszeiten in Paniksituationen getestet.« Sie schaltete das Gerät aus.
Mehr ließ sich durch die Kommu nicht mehr erreichen. Und sie hatte mehr bewirkt, als sie als möglich erachtet hätte. Es stimmte, jeder hielt das Raumschiff für unan greifbar. Nur noch einhundert Meter. Der große Eingang stand offen. Davor lümmelten sich faul die beiden vorge schriebenen Posten. Wachestehen vorm Reaktorraum galt als der denkbar ödeste Dienst. Rita hatte ihn selber oft tun müssen. Er war ihr genauso zuwider wie jedem anderen Mannschaftsmitglied. »Ich bin Leutnant Sarsa«, rief sie den Posten zu. »Spezialidentifikation Alpha Eins-einsfünf.« Ein Posten drehte sich um und tippte die Angaben in ein Terminal. Gerade wollte er salutieren, da erscholl Majorin Rearys Gegenbefehl aus der Kommu. Hinter Rita stauten sich die Romananer. Es blieb keine Zeit. Rita rammte dem einen Posten das Blastergewehr in den Leib und trat dem anderen gegen den Brustkorb. Zu spät fing die Tür sich zu schließen an. Rita drückte die Offnungstaste. Der Code hatte ihr den Weg geebnet. Die schwere Pforte stoppte und schwang dann an ihren großen Scharnieren langsam wie der zurück. Rita stürmte durch und lief ins Steuerzentrum des Reaktors. Verdutzt blickten Techniker auf, und Rita heulte einen Siegesschrei . Rauhe Krieger keuchten, hielten sich unmittelbar hinter ihr, scharten sich dichtgedrängt, die Augen geweitet, um Philip, blickten erstaunt umher, ihre Gewehre zeigten nach allen Seiten. Den Blaster in Hüfthöhe, eilte Rita vorwärts, traf Major Glick hinter seinem Pult an; er starrte ihr entge gen, das Kinn begann ihm herabzusinken. »Gelbes Bein«, rief Rita. »Erschieß jeden, der den Kommu-Apparat anrührt, und nimm seinen Coup!« Sie wechselte in die Standardsprache über. »Männer!« Sie richtete den Blaster auf die Reaktorbedienung. »Haltet das Schiff im Normalstatus. Auf Befehl Oberst Rees will ich volle Reaktormasse haben.« Sie trat vor. »Philip, siehst du
diese Skala? Wenn die Anzeige unter die rote Markierung sinkt, erschieße jemanden. Major Glick, das ist kein Späßchen. Wir handeln aus Verzweiflung.« »Sarsa?« Glick kam auf sie zu, seine Miene spiegelte absolute Ungläubigkeit. »Was soll denn das bedeuten?« Rita schwenkte die Blastermündung auf seinen Bauch. Er blieb stehen. »Major, im Namen der Romana-ner haben wir soeben dieses Raumschiff in Besitz genommen.« »Leutnant!« ächzte Glick, als hätte ihn ein Blitz getrof fen. »In Besitz ge ...? Wissen Sie überhaupt, was Sie da reden? Sie haben ...« »O ja, Major!« Rita lachte. »Ist Ihnen klar, daß damit zum erstenmal in der Geschichte ein Kriegsschiff der Patrouille ohne einen Schuß besiegt worden ist? Ich habe das zustandegebracht, Major. Es ist Zeit für eine neue Ordnung.« »Sie haben den Verstand verloren, Sarsa.« Glick schüt telte den Kopf. »Philip«, rief Rita. »Siehst du das große Pult? Es dient zur Reaktorsteuerung. Falls mir etwas zustößt oder ich sonstwie handlungsunfähig gemacht werde, haut es in Stücke.« »Nein!« schrie Glick. »Dann kämen wir alle um!« Sei ne Augen verrieten seine Wildentschlossenheit eine Se kunde, bevor er sich auf Rita stürzte. Ehe einer der Krie ger reagieren konnte, hatte sie das Blastergewehr umge dreht und den Major niedergeschlagen. Ein Santos hatte seinen Dolch gezückt und beugte sich jetzt über ihn, um den Coup zu nehmen. »Noch nicht«, befahl Philip; der Mann hob den Blick, zögerte und wich zurück. »Ich verstehe. Dies Gerät be herrscht das große Feuer, hm?« »Ganz genau.« Auf dem Kommu-Bildschirm sah man das Gesicht Majorin Rearys, die alles beobachtete. Rita wandte sich an sie. »Sie haben gehört, was ich zu Glick gesagt habe?
Wir gehen tatsächlich aus Verzweiflung so vor. Bis hier sind wir gekommen. Sobald der Oberst zu Gesprächen imstande ist, werden wir in Verhandlungen eintreten. Bis dahin: Kein Gas, keine Gravitationstricks, kein Sturm auf den Reaktorraum. Falls Sie sich nicht danach richten, benutze ich dies Ding« — sie zeigte auf den Bla-ster — »gegen das da.« Mit dem Finger deutete sie auf das Steuerpult des Materie-Antimaterie-Reaktors. »Was verlangen Sie, Sarsa?« erkundigte Reary sich starren Gesichts. »Die Übergabe des Raumschiffs an die Romananer, Majorin.« Rita hob die Hand, als sie die Bestürzung in Rearys Miene sah. »Bitte, Majorin, die Entscheidung liegt nicht bei Ihnen. Der Oberst ist an Bord. Er kennt die pla netaren Verhältnisse. Es hängt zuviel von konstruktiven Verhandlungen ab. Tun Sie nichts, das uns unter Zeitdruck setzt.« Glick stöhnte vor sich hin, und die Techniker begannen sich langsam den ersten Schrecken zu überwinden. Einer versuchte in den Gang zu fliehen. Sofort schoß ein Krieger ihn nieder. Entsetztes Patrouillenpersonal sah, wie der Romamaner sich bückte und ihn skalpierte. »Tragt ihn hinaus«, erteilte Rita Anweisung. Sie hob den Blick zum Kommu-Monitor. »Schicken Sie Meds run ter und lassen Sie den Mann abholen. Das sind primitive Waffen. Wenn Sie schnell sind, können Sie ihn vielleicht noch retten.« Philip rief laut Befehle, und der Mann wurde hinausgeschafft. Zu viele Krieger. Fast einhundert Krieger waren im Reaktorraum. Der gesamte Rest befand sich noch im ST — hatte dort die Kontrollen bemannt — oder bewachte die Schleuse. »Schick Jose Weißer Adler und zwanzig Mann ans andere Ende des Korridors zurück. Sie sollen sich dort bis zum Erhalt weiterer Befehle festsetzen. Was uns und die übrigen Krieger angeht, glaube ich, müssen wir die Sache wohl hier aussitzen.«
Philip stapfte umher und gab Weisungen. Die allgemei ne Spannung begann nachzulassen. Das Vorhaben war gelungen. Betroffen sahen die Techs allem zu. Man fessel te Glick und setzte ihn in einen Sessel. Von nun an hing das Schicksal der Projektil — und der Romananer — von anderen Personen ab. Rita ließ sich in einen Sessel sacken, ignorierte Antonia Reary und ihre dauernden Forderungen nach Erklärungen. Freitag Gelbes Bein starrte, den Kopf zur Seite geneigt, über sein Gewehr hinweg Antonia Reary trotzig an. »Meine Freunde, wenn die anderen Sternenweiber alle so aussehen, ziehe ich die Gesellschaft von Bären vor.« Gelächter hallte durch den Reaktorraum. * * * Mühsam schlug Damen Ree die Augen auf und ver suchte zu blinzeln. Er sah nur verschwommene Bilder, als hätte jemand seine Netzhäute mit Gelatine verschmiert. Seine Zunge bewegte sich schwerfällig, und er hatte Schwierigkeiten mit dem Schlucken. »Was ist passiert?« röchelte er; seine Stimme kratzte. Er wälzte den Kopf zur Seite und erkannte das Raum fahrtweiß; es verhieß Sicherheit. Er fühlte sich völlig aus gelaugt. »Oberst?« Eine vertraute Stimme drang ihm ans Gehör. Jetzt rüttelte ihn jemand. Etwas stach in seinen Arm, und seine Sicht begann sich zu klären. »Das dürfte wirken. Unter Berücksichtigung der Natur des Proteins müßte er in wenigen Minuten wieder bei sich sein.« Eine weißgekleidete Gestalt entfernte sich aus Rees Blickfeld. »Oberst?« Endlich ordnete sein Verstand die bekannte Stimme einer bestimmten Person zu. »Reary?« Ree schnitt eine ungnädige Miene. Die Ma jorin hatte doch oben im Raumschiff zu sein! »Hier, Oberst. Sind Sie zur Wiederausübung des
Kommandos imstande?« Irgend etwas in Rearys Stimme flößte Ree Beunruhigung ein, so daß er seine An strengungen verstärkte, zu geistiger Klarheit zurückzu finden. Er merkte, wie die Wahrnehmungstrübung mit jeder Sekunde wich. Jemand hielt ihm einen Becher an die Lippen, und er trank ein Stimulans. Aus seinem Bauch ver breitete sich Wärme in seine bleischweren Arme und Beine. »Was ist passiert?« wiederholte er seine Frage. »Wir haben Sie betäubt«, antwortete Leeta Dobras Stimme. »Betäubt?« Er drehte den Kopf, suchte ihr Gesicht. Grimmig erwiderte sie seinen Blick. Hinter ihr standen zwei Patrouillensoldaten, hielten Blaster auf sie gerichtet. »Warum?« fragte er. »Wir haben die Projektil gekapert«, entgegnete Dobra mit fester Stimme. »Das Raumschiff... gekapert?« Ree raffte sich fast gewaltsam hoch. Ringsum schwankte der Raum. Die Bordklinik! Er war an Bord der Projektil! Umständlich schilderte Majorin Reary die Situation im Reaktorraum. Ree bemühte sich, die Zerfahrenheit seiner Gedankengänge zu überwinden, zu begreifen, was er zu hören bekam. »Aber warum?« wollte er wissen, während er bemerk te, wie sein Geist mit jeder Sekunde wieder besser funk tionierte. »Um den Planeten zu retten, Damen.« Leeta Dobra wirkte unbesorgt, beachtete die Blaster in ihrem Rücken gar nicht. »Ich dachte, das wäre sowieso unsere Absicht gewe sen«, antwortete er erbittert. Und Sarsa lebte? »Wir haben Schritte in die richtige Richtung getan, Damen, aber Skor Robinson wird seine Vernichtung an ordnen.« Anscheinend war Leeta Dobra ihrer Sache voll kommen sicher.
»Wie haben Sie’s hingekriegt, das Schiff zu kapern?« Verdrossen betrachtete er sie, rieb sich mit schweißiger Handfläche den Hinterkopf. Gütiger Gott! Wieso fühlte er sich nur derartig schwach? »Rita Sarsa und Krieger der romananischen Hilfs-truppe haben den Reaktorraum besetzt. Sollte es nicht nach unseren Vorstellungen weitergehen, verwandeln sie uns alle in Plasma.« Noch immer konnte man bei Leeta Dobra keine Nervosität feststellen. Hinter ihr stand der große Romananer, den sie aus den Bergen mitgebracht hatte; anscheinend war er zur Verstärkung dabei. Eisenauge lau tete sein Name. Mit stummer Frage im Blick schaute Ree Majorin Rea ry an. Sie nickte bloß; in ihren Augen funkelten Haß und Wut. Ree atmete tief ein und versuchte aufzustehen. Einen Moment lang taumelte er, dann kehrte das Gleichgewichtsgefühl zurück. »Doktor, wie lange dauert’s noch, bis ich in normalem Zustand bin?« Er blinzelte noch einmal, und plötzlich konnte er wieder deutlich sehen. »Vielleicht fünf Minuten, Oberst. Sie müssen etwas essen.« Der Oberstabsarzt trat beiseite. »Die Antikörper, die wir Ihnen injiziert haben, wirken schnell. An erster Stelle benötigen Sie Nahrung. Sie haben ziemlich viel Energie verbraucht. Nach einem tüchtigen Bissen werden Sie sich entschieden wohler fühlen.« Ree nickte. Er hob den Blick zu Dobra. »Und wenn Sie das Kommando übers Schiff haben? Was dann? Wie wol len Sie dem Direktorat entgehen? Wo wollen Sie hin? Was haben Sie vor?« Dr. Dobra zuckte die Achseln. »Kommen Sie, Damen, ich schlage vor, wir setzen uns unten in den Konferenz saal. Sie sollten was essen. Wir müssen das ganze Problem nicht hier und jetzt lösen.« Ree nickte. Er hatte ihrerseits den Eindruck ehrlicher Anteilnahme. Von ihr hatte er nicht das Empfinden, sie als Feindin einstufen zu müssen.
»Oberst Ree!« brauste Antonia Reary auf. »Sie können die Situation doch nicht einfach ...« »Abtreten, Majorin!« fuhr Ree sie an. Er mußte Zeit zum Überlegen haben. Rearys strengem Gesicht war Mißbilligung anzusehen. »Ach, lassen Sie’s doch erst mal gut sein, Majorin. Wir werden schon ‘n Weg finden, um zu vermeiden, daß Menschen zu Schaden kommen.« Während er den Korridor entlangeilte, wandte er sich an die Kommu. »Ich will ein Psychoprofil Leutnant Rita Sarsas haben«, befahl er. »Nehmen Sie dazu Stellung, ob sie tatsächlich dazu fähig wäre, das Raumschiff zur Explosion zu bringen.« Im Lift wurde es eng. Außer Ree zwängten sich Leeta, Eisenauge, Reary und die beiden Soldaten hinein. Ree erfuhr, daß man das übrige Anthropologenteam ins Bordgefängnis gesperrt hatte. »Warum Sie zwei nicht?« fragte er Dr. Dobra. »Dann hätte Rita die Antimaterie fliegen lassen.« Dobra hob die Schultern. »Und weshalb ist er hier?« Mit dem Daumen wies Ree auf Eisenauge. »Ich bin hier«, erklärte Eisenauge in Standard mit star kem Akzent, »um für mein Volk zu sprechen.« Auf dem Weg den Niedergang hinunter begann Ree immer tiefer ins Grübeln zu versinken. Sobald er am Konferenztisch Platz genommen hatte, orderte er ein dik kes Steak und Wein. Er sah sich Sarsas Psychoprofil an. Das abschließende Urteil? Sie würde es tun. Er ließ Bruk und Vola aus dem Bordgefängnis holen und rief auch die restlichen Wissenschaftler zusammen. Er wartete, wäh rend der Konferenzsaal sich füllte. Er sah Rita Sarsa auf dem Bildschirm, sie war per Kommu zugeschaltet und beobachtete die Versammlung; höflichkeitshalber nickte er ihr zu. Das Steak wurde gebracht, und schlagartig spürte er, daß sein Bauch sich wie ein Vakuum anfühlte. Er schnitt
ein Stück ab und heftete den Blick auf Dr. Dobra. »Also gut, Leeta, dann erzählen Sie mir mal, weshalb Sie und Sarsa sich das ausgedacht haben.« »Wir mußten ganz einfach etwas unternehmen!« Lee tas Augen blitzten. »Wir dürfen nicht zulassen, daß das Direktorat die Romananer vernichtet.« Versonnen kaute Ree. »Wie kommen Sie darauf, daß es so was vorhat?« »Oberst, Sie denken immer nur in Begriffen von mili tärischer Strategie und Taktik. Nun versuchen Sie bitte mal in sozioökonomischen Begriffen zu denken. Die Ro mananer sind hellsichtig. Die Propheten sehen die Zu kunft. Denken Sie an Chester Armijo Garcia. Er ist eine Bedrohung für alles, was wir für normal halten. Und nicht bloß das, da unten existiert eine Gruppe Menschen, die sich beschießen und aufeinander Überfälle verüben. Glauben Sie vielleicht, Skor Robinson wird Ihnen gestat ten, sich unter zivilisierte Leute zu mischen?« »Damen, es ist ein Skandal!« schimpfte Reary unbe herrscht. »Das reicht, Majorin!« Ree warf Antonia Reary einen bösen Blick zu, ehe er Leeta mit einem Wink zum Wei tersprechen aufforderte. »Und wenn Sie ‘n endgültigen Beweis brauchen — warum trifft morgen die Bruderschaft ein, und bald auch die Viktoria? Robinson hat Furcht. Er würde doch keinen sol chen Aufwand betreiben, hätte er nicht den Zweck, hundert prozentig sicherzustellen, daß den Romananern keine Chance bleibt. Er ist wegen der Hellsichtigkeit so besorgt, daß man nicht mal vermuten kann, welche Befehle er den Kriegsschiffen erteilt hat.« Leeta hob die Hände, ließ sie sinken. »Was hätten wir anderes tun sollen?« Berechtigte Frage, stimmte Ree in Gedanken zu. Und er wäre wohl nicht unglücklich gewesen, hätte ich sie gleich zu Asche verbrannt. »Und Sie sind dazu bereit«, fragte er, »für diese Romananer zu sterben?«
Eisenauge meldete sich zu Wort. »Ich habe ein neues Wort eurer Standardsprache gelernt. Es heißt Sünde. Wir — mein Spinnenvolk und die Santos — kennen nur eine Sünde. Für uns ist es Sünde, zu kapitulieren oder ohne Freiheit zu leben. Auf dieser Voraussetzung beruht unsere Religion. Ein anderes Erbe haben wir nicht. Nach unserem Glauben hat Gott vorsätzlich schreckliches Leid erduldet, damit die Menschen frei sein können. Das haben wir Dr. Dobra und Rita Sarsa gelehrt. Sie haben daraus gelernt und darin etwas Wahres erkannt. Wie ich und mein gesam tes Volk sind sie für diese Wahrheit zu sterben bereit. Bist du nicht von gleicher Art? Hast du dein Leben nicht dem gewidmet, was du für Wahrheit hältst?« Aufrecht saß Eisenauge da und sah Ree gleichmäßigen Blicks in die Augen. »Und wenn ich sage, meine Wahrheit ist das Direkto rat?« Ree neigte den Kopf zur Seite. »Ist es so?« Eisenauges Blick schien ihn zu durchdrin gen. »Ich glaube nicht, daß es sich so verhält, Damen.« Leeta unterbrach Rees Grübeln. »Ich entsinne mich an etwas, das Sie mir kürzlich, an einem Abend, erzählt haben. Ich erinnere mich an Ihre Liebe zu diesem Schiff. Aber, Damen ... Es ist unter Anthropologen einmal eine sehr heftige Debatte um das Thema ausgefochten worden, ob zur Definition der Menschlichkeit die Fähigkeit zählte, Symbole entwickeln zu können.« Sie hob den Kopf. »Was symbolisiert die Projektil für Sie?« »Freiheit«, hörte Ree sich halblaut antworten. Er blickte hoch, bemerkte nachdenklich den Triumph in Leeta Dobras Augen, die Bestürzung in Rearys Blick. Er sah die Majorin sich an die Kommu wenden. Warum? Um seine Enthebung vom Kommando über die Projektil in die Wege zu leiten? »Aber es gibt auch eine Pflicht«, fügte er hinzu. »An dem Abend habe ich auch vom stolzen Erbe der Patrouil
le gesprochen. Ich habe eine Pflicht gegenüber den Völkern der Galaxis, Doktor. Wenn die Romananer für sie eine Gefahr bedeuten, steht die Menschheit ohne sie viel leicht besser da.« »Und was, wenn die größte Gefahr für die Menschheit das Direktorat selbst ist?« fragte Rita Sarsa aus dem Reaktorraum. »Oberst, wann ist das letzte Mal eine wich tige Forschungsexpedition geplant und über die Direktoratsgrenzen hinausgeschickt worden? Man sagt uns, Forschungsexpeditionen seien gefährlich. Was ist denn das Leben ohne gelegentliche Risiken? Im Laufe der gesamten Menschheitsgeschichte haben sich Menschen gemeinsam Risiken zugemutet. Heute gibt’s so was nicht. Deshalb kennen wir auch keinen Fortschritt mehr. Wann haben wir zuletzt vor richtigen Herausforderungen gestan den? Man könnte meinen, die gesamte Menschheit hockt auf dem Arsch und bohrt in der Nase. Beachten Sie bloß mal, wie erheblich die Bewerbungen für die Patrouille zurückgegangen sind.« Ree betrachtete den Bildschirm. »Und Sie glauben, die Romananer könnten eine gegenläufige Entwicklung auslö sen? Und wenn sie nun dem zivilisierten Weltraum den Krieg zurückbringen? Nehmen wir mal an, ich überlasse ihnen das Raumschiff. Wenn sie nun damit anfangen, Arcturus, Frontier, die Erde und die Stationen zu überfal len? Was wäre dann unser Vermächtnis? Das frage ich Sie.« Wütend schaute Rita ihn an. »Ich bin’s satt, bloß ‘n Schaf zu sein!« erklärte sie mit leidenschaftlichem Nachdruck. Leeta Dobra schüttelte den Kopf. »Damen, so wird’s nicht kommen. Die Romananer würden genauso verän dert, tatsächlich sogar der umfangreichsten Akkultu-ration unterzogen. Wir sind die dominierende Gruppe, müssen Sie beachten. Wir haben Wesentlicheres als sie anzubieten. Was Rita, John und ich uns davon versprechen, ist die Möglichkeit, daß das Faszinierende dieser atavistischen
Krieger im übrigen Direktorat den Wunsch fördert, über das hinauszugehen, was gegenwärtig als normales Dasein gilt. Gleichzeitig werden wir den Ro-mananern unsere Kultur bringen. Dank der Propheten haben sie eine besse re Chance zu überleben, als andere primitive Gruppen, die je unter den Einfluß einer überlegenen Kultur geraten sind. Als Gegenleistung werden wir die Fähigkeit zum Träumen wiedergewinnen.« Ree aß das Steak auf, lehnte sich zurück und trank den restlichen Wein. «Sagen wir mal, ich lehne ab. Der Leutnant läßt die Reaktormasse instabil werden, und die Projektil wird vernichtet. Wo stehen die Romananer dann? Morgen trifft Sheila ein, entdeckt Wracktrümmer, ein paar ST auf dem Planeten und versengt den ganzen Kontinent, den wir Stern nennen. Erledigt ist das Problem.« Ree hob die Hände an, zuckte die Achseln. »Vielleicht wäre das wirklich die beste Lösung«, brummte S. Montaldo. Bedächtig faltete Eisenauge die Hände. »Kein Mensch lebt ewig, Oberst. Während des letzten Monats habe ich allerhand Neues erfahren. Marty Bruk hat mir viel über die Menschen erzählt. Daß wir alle von der Erde abstammen. Daß wir erst Affen waren, die Werkzeug zu verwenden verstanden, danach das Jagen und Sammeln und uns durch Abänderung der Umwelt zu schützen gelernt haben. Aber heute gibt es diese frühen Menschen nicht mehr. Ich sehe hier unter uns keine solche Person, wie die Holos sie zei gen. Vielleicht ist es Spin-nes Wunsch, daß auch unser Volk verschwindet. Vielleicht soll das, was wir zu bieten haben, nicht sein. Es ist möglich, daß Spinne den Untergang unseres Volkes mitansehen und dadurch etwas über die Natur des Menschen lernen wird. Wir haben jetzt unsere Chance, Oberst. Verlieren wir, ergeht es uns nicht schlimmer als vorher. Euer Direktor kann uns ausrotten. Doch wenigstens bewahren wir Hoffnung. Wir nehmen das Risiko auf uns. Was tätest du?«
»So leicht fiele dir das Sterben?« fragte Ree. »Du könn test zuschauen, wie dein Volk weggebrannt wird, eine gigantische Explosion seine Existenz beendet?« John Smith Eisenauge schüttelte den Kopf. »Das werde ich keineswegs müssen. Meine Seele wird zu Spinne gegangen sein, lange bevor eure großen Blaster mein Volk in Feuer und Blut tauchen. Ich kämpfe auf die eine oder andere Weise für mein Volk, Oberst. Sollte Rita dieses Raumschiff aus irgendeinem Grund nicht zur Explosion bringen können, werde ich mit meinen Händen, meinem Mut und meiner Ehre kämpfen und so den Tod finden.« Seine Worte rührten an etwas tief in Ree, und auf ein mal musterte er Eisenauge mit ganz neuem Respekt. Der Mann war ein echter Krieger. Aber waren die Ro-mananer nicht alle Krieger? Er erinnerte sich an den Spinnenkrieger, den er vor geraumer Zeit in dem Airmobil getötet hatte. Er entsann sich an den Kampfgeist, den seine Augen selbst im Erlöschen noch ausgestrahlt hatten. Dieser Mann war vom gleichen Kaliber. »Wieviel Bedenkzeit erhalte ich zugestanden, Rita?« fragte er, hob den Blick zum Monitor. »Doktor, was meinen Sie?« Sarsa schaute Dobra an. »Fünf Stunden«, entschied Leeta. »Diese Frist dürfte Ihnen genügen, um die Situation von allen Seiten zu durch denken. Rita? Oder wird Ihre Lage dadurch gefährlicher?« »Gar nicht.« Der Leutnant grinste. »Ich werde einfach hier herumsitzen und mit Philip plaudern. Falls ich das Bewußtsein verliere, werde ich dazu außerstande sein, dies Gummiband hier noch länger auf Abstand vom Abzug des Blasters zu halten. Wenn jemand uns zu übertölpeln versucht, müssen wir alle sterben.« »Wir lassen Sie in Ruhe, Rita. Ich werde gründlich überlegen und versuchen, einen Ausweg zu finden.« Ree stand auf. »Die Sitzung ist zu Ende«, sagte er nach drücklich, verbeugte sich mit pedantischer Förmlichkeit und verließ den Konferenzsaal.
Kaum hatte er sein Quartier betreten, da verlangte auch schon Majorin Reary Einlaß. »Damen, was werden Sie unternehmen?« wollte sie erfahren. Unverkennbar zer furchte Sorge ihr hartes Gesicht. Es war eine Schande, sann Ree zerstreut. Antonia Reary war eine jener Frauen, die mit übertriebener Krampfhaftigkeit professionell zu sein versuchten. Sie gestattete sich keine Anzeichen von Weiblichkeit; dabei hätte sie es sich ohne weiteres leisten können, ohne ihre Persönlichkeit und Autorität zu beeinträchtigen. Irgendwie verurteilte dieser Mangel sie zu einer Art von Un vollständigkeit. Ein schwerer Makel, befand Ree, dachte an Leeta Dobra. »Wissen Sie, Eisenauge hat recht.« Ree holte tief Atem und klaubte eine seiner klassischen terranischen Zigarren aus dem speziellen Feuchthaltebehälter. Er bot Antonia eine an, und sie nickte, strich die Zigarre unter der Nase entlang. Ree entzündete die Zigarren und ließ sich in sei nen Sessel sinken, schaute die romananischen Gewehre und Kriegsdolche an, die er an die Wand zu hängen befoh len hatte. Versonnen betrachtete er sie. »Recht?« wiederholte Reary. »Inwiefern?« fragte sie. »Sie lassen sich nur durch den Tod aufhalten. Wir stek ken in der Klemme, Majorin. Entweder eliminieren wir sie, oder wir lassen sie weitermachen.« Ree zog eine fin stere Miene, während er die zarten Rauchkringel be trachtete, die zu den Abzugsöffnungen der Ventilation emporwallten. »Also geben wir ihnen ‘ne Zusage, daß sie ihre Freiheit haben sollen.« Reary schnitt eine Grimasse. »Wenn Sarsa den Reaktorraum verlassen hat, schießen wir mit den Blastern alle zusammen.« »Stehen Sie mit der planetaren Oberfläche in Verbin dung?« Ree lächelte nachsichtig. »Nur durch Helsteads ST. Wir haben vor einer Weile einen versuchsweisen Vorstoß gegen die Schleuse un
ternommen, und sie haben mit diesen lächerlichen Gewehren auf die Soldaten geschossen. Mit einem ernst haften Angriff kommen wir jederzeit durch.« Rearys Augen spiegelten Abneigung. »Oder haben Sie nicht bloß das Kommando, sondern auch allen Mumm verloren, Damen?« Ree schmauchte die Zigarre, paffte eine Qualmwolke aus. »Egal was wir tun, wir werden’s uns nicht anders überlegen können, Antonia. So oder so wird’s kein Zurück geben. Die Verbindung zur Oberfläche besteht zu ihren verfluchten Propheten. Durch den ST hat Sarsa Kontakt nach unten, stimmt’s?« »Ja.« »Dann wären wir erledigt, wenn wir sie anlügen.« Mit konzentrierter Miene dachte Ree über einen Ausweg nach. »Die Propheten würden Sarsa von unserer List verständi gen, und sie würde das Steuerpult des Reaktors zerbla stern.« »Wenn sie die Zukunft kennen, warum haben sie’s noch nicht getan?« Der Hohn gab Rearys Miene ein knitteriges Aussehen. Ree widmete ihr einen gereizten Blick. »Wegen des freien Willens, Majorin. Wir alle verkörpern etwas, das sie Cusps nennen. Wir haben eine gewisse Entschei dungsfreiheit, durch die verändert werden kann, was sie voraussehen.« »Also können sie gar nicht wirklich in die Zukunft schauen?« Reary musterte ihn mürrischen Blicks. »Doch, sie können’s ganz gut. Sie sind bloß nicht vor herzusagen fähig, welche Zukunft wir erleben werden. Die Hellsichtigen, die die Zukunft im Interesse persönlicher Ziele zu beeinflussen versuchen, werden wahnsinnig. Deshalb legen die Propheten sich mit Leuten, die Cusps bedeuten, nicht an.« Ree schloß die Lider; es wäre ihm am liebsten gewesen, die ganze verfahrene Angelegenheit ließe sich durch Wunschdenken bereinigen.
»Damen, mein Entschluß steht fest.« Antonia stand auf. »Ich werde kämpfen, egal was geschieht. Das ist eine Frage der Patrouillenehre. Sie haben uns alle im Stich gelassen. Ihr Raumschiff schwebt in Gefahr. Entscheiden Sie sich von mir aus, wie’s Ihnen paßt, ich schwöre, daß sie dieses Schiff nicht haben sollen. Und Sie sind entwe der für oder gegen mich. Legen Sie sich fest, Oberst.« Ree öffnete die Augen und sah den Blaster in Rearys Faust. »Das ist Meuterei gegen Ihren Kommandanten, Majorin. Ist Ihnen klar, daß das in vierhundert Jahren Patrouillengeschichte erst der zweite Vorfall dieser Art ist? Bedauerlicherweise haben sich beide innerhalb we niger Stunden auf ausgerechnet meinem Raumschiff er eignet.« »Soll’s sein, wie’s ist. Ich bin der Überzeugung, daß das Militärgericht mich freisprechen wird. Ich bezweifle sehr, daß Sie noch zur Ausübung des Kommandos fähig sind, Damen.« Rearys Stimme klang gleichmütig, sie hatte sie völlig unter Beherrschung. Damen Ree beobachtete sie durch verengte Lider. »Na gut, Antonia.« Er aktivierte die Kommu. »Schicken Sie Dr. Dobra und John Smith Eisenauge herein.« Also das war mein Cusp. Die Entscheidung war weniger herzzerreißend, als ich es befürchtet hatte. »Ich bin froh, daß Sie sich der Vernunft beugen.« Rea ry lächelte. »Ja, es war tatsächlich die Vernunft, die den Ausschlag gegeben hat«, entgegnete Ree zerstreut. »Vernunft und Erfahrung.« Er blickte hoch, als die Tür aufging und Leeta eintrat, gefolgt von John Smith Eisenauge. Leeta verstand die Situation sofort und blieb stehen. Eisenauge verzog leicht die Lippen. Geduckt wie eine Großkatze behielt er Reary im Auge. Ree heftete den Blick auf den romananischen Krieger. »Die Majorin hat mir einen sehr schwerwiegenden Grund zur Ablehnung eurer Forderung geliefert, Eisenauge.«
Ree lächelte. »Die Lage beschränkt mich erheblich in meinen Optionen. Begreifst du mich?« Reary kniff die Augen zusammen, und Ree sah, wie die Muskeln ihres Arms sich straffer spannten. Sie hat tat sächlich vor, mich umzubringen. Hatte er sich so durch schaubar verhalten? Das weitere geschah zu schnell, als daß Ree es mitzu verfolgen vermocht hätte. Blitzartig und kraftvoll schlug Eisenauge zu, als Reary schoß. Ree warf sich zur Seite, und der Blasterstrahl fuhr durch die Polsterung seines Sessels. Die Waffe klirrte auf den Fußboden und kreiselte wild beiseite, während Reary auf den Romananer zu sprang. Sie verließ sich auf ihren Instinkt, nicht das Training. Eisenauge grapschte nach oben, riß einen Dolch von der Wand und schlitzte die Majorin auf vom Scham- bis zum Brustbein. Ree haschte nach dem Blaster, wälzte sich herum und gelangte in Schußposition. Eisenauge wischte das Messer an Rearys Uniform ab. Dann umklammerte er eine Handvoll ihres Haars und schnitt die Kopfhaut kreisrund ein, zerrte den Skalp vom Schädel. Ree spürte, wie sein Magen sich aufbäumte, als er die herausgequollenen Windungen rosiger, blau-brauner Eingeweide und den rotgestreiften Schimmer von Rearys Schädeldecke sah. Eisenauge hängte den Dolch zurück an die Wand. »Du meine Güte«, flüsterte Ree und hob den Blick zu Eisenauge, wobei er vorsichtshalber den Blaster mitten auf seinen Leib richtete. »Alles geklärt, Oberst«, sagte Eisenauge halblaut, ver schränkte die Arme auf dem wuchtigen Brustkorb. »Ich glaube, jetzt stehen dir wieder alle Optionen offen. Kann ich dir sonst noch behilflich sein?«
21
Tief in Gedanken stieg S. Montaldo den breiten Niedergang hinab. Leutnant Sarsa hatte also den großen Schiffsreaktor besetzt? Falls sie ein uner wartetes Muskelzucken bekam — ein Blasterschuß ins Steuerpult mußte sie alle in Plasma verwandeln —, blieb von ihm nicht mehr als heiße atomare Partikel übrig. Seine Überlegungen begannen sich mit Chester Garcia zu befassen; er bog in einen der Mannschaftsaufent haltsräume ein und betrachtete auf dem Großbildschirm die schöne Kugel des Planeten mit seinen weißen Wolken, braunen Kontinenten und dem blauen Wasser. Dort unten lag ein riesiger Schatz an Toron, zufälliges Ergebnis einer Supernova-Explosion. Ein Teil hatte sich in der Kruste dieses Planeten abgelagert und brachte nun das Leben von Menschen durcheinander. Wie viele Millionen von Jahren waren verstrichen, während die schweren Kristalle darauf warteten, daß die Menschheit ihrem Vorhandensein eine Bestimmung gab? Was bedeuteten Menschenleben? Wie konnte ein Pla netologe sich einen Sinn aus dem Wert zusammenreimen, der einer so amorphen Konzeption wie dem menschlichen Leben beigemessen werden sollte? Toron, Uran, Metalle, organische Materie ließen sich alle in ihrem Wert schät zen, wiegen, mit Preisen versehen, es war möglich, Entschlüsse über ihre gewinnträchtige Ausbeutung zu fäl len. Er hatte Leeta Dobra von kulturellen Werten reden hören. Doch was genau war ein kultureller Wert? Konnte man damit Geld verdienen? Brachte er irgendwem Essen auf den Tisch? Montaldo kaute auf seiner Lippe und ver suchte sich Durchblick zu verschaffen. In seiner bisheri
gen Laufbahn hatte er über dreißig Planeten kartografiert, ihre Bodenschätze dem Wert nach eingestuft und eine Gesamtstellungnahme ausgearbeitet. Keiner dieser Planeten war vor seiner Errechnung des Werts besiedelt worden. Warum existierte hier ein Unterschied? Chester hatte diesen Unterschied herbeigeführt. Der kleine Mann mit den gemütvollen Augen hatte auf dieser Welt die Gewichte verschoben. Aber Atlantis war noch immer eine unverhoffte Gewinnquelle. Ihre Nutzung würde das Direktorat beträchtlich bereichern. Die hiesi gen Toronkristalle waren groß, frei von Sprüngen und ungesplittert, eindeutig genau von der Qualität, die der Betrieb von Raumschiffen erforderte. Nur die Romananer standen der Torongewinnung auf Atlantis im Weg. Das war ihr Pech. Sie mußten weg. Auf die eine oder andere Weise. Das Stampfen von Stiefeln im Gang lenkte seine Auf merksamkeit vom Monitor ab. Während er sich einen Becher mit Kaffee füllte, sah er bewaffnete Patrouillen soldaten vorbeilaufen, ihre weißen Schutzpanzer leuch teten. Neugierig nahm er den Kaffee und schloß sich ihnen eilig an. Einige Äußerungen, die sie unterwegs hervorstießen, verwiesen darauf, daß ein Gefecht bevorstand. Montal dos Puls schlug schneller. Wie aufregend! Er hatte sich schon immer gefragt, welche Empfindungen Menschen haben mochten, wenn sie dem Tod durch die Hand an derer Menschen entgegengingen. In seiner Jugend hatte diese Frage seine Phantasie stark beschäftigt, Was für ein Gefühl mußte es sein, mit dem Blaster auf einen Mitmenschen zu zielen, zu wissen, daß man töten oder getötet werden mußte? Vielleicht konnte er jetzt hier ei ne solche Erfahrungswelt wenigstens am Rande miter leben. Der Bestimmungsort des Trupps überraschte ihn nicht: Dock 25. Er holte die Patrouillensoldaten gerade rechtzei
tig ein, um zu sehen, wie sie sich im Korridor bereitstell ten. In der Nähe befand sich die schwere Schleusentür, die Sarsa durchs Zerstören der Kontrolltafel außer Funktion gesetzt hatte. Aus Erregung hämmerte S. Montaldos Herz. Wenn er sie nur nach ihren Empfindungen fragen könnte! Er hörte nicht, wie der Befehl gegeben wurde, aber zum plötzlichen Knattern von Blasterschüssen gingen die Soldaten zum Angriff über, stürmten auf die Schleuse zu. Eine schnelle Folge von Knallen mußte, mutmaßte Montaldo, das Gewehrfeuer der Romananer sein. Etwas klatschte neben seinem Kopf an die Wand und sirrte hinter ihm davon. Eine Kugel? Hier hinter der Ek ke? Ein Querschläger, er erinnerte sich plötzlich an das Wort. Rufe, Schreie, Geheul und ein Krachen erschollen. Rauch quoll in Montaldos Richtung. Er schlich sich, seine Neugier zu unterdrücken außerstande, weiter nach vorn. Der erste Leichnam, den er sah, war fast entzweigerissen worden. Montaldos Magen wollte sich umstülpen. Trotz des Gestanks konnte er irgendwie vermeiden, daß er sich erbrach. Es hatte längst mehr als einen Toten gegeben. An einer Stelle lagen tote Romananer kreuz und quer übereinander. Sie mußten geradewegs ins Blasterfeuer geraten sein. Fassungslos schüttelte Montaldo den Kopf. Eine zweite Kugel schwirrte durch den Gang, prallte gegen ein Schott, fiel verformt und abgeplattet auf den Fußboden. Fast ver gnügt langte Montaldo zu und klaubte sie auf. Er ließ sie sofort wieder fallen und lutschte an den versengten Fingern. Kugeln wurden heiß! Vor ihm knatterte erneut eine Salve Blasterschüsse. Montaldo lief hin, um etwas sehen zu können. Die Pa trouillensoldaten wichen zurück. Die Nachzügler schleif ten verwundete Kameraden aus der Gefahrenzone. Montaldo erstarrte. Einem Mann war ein Bein wegge
brannt worden. Die Romananer hatten gleichfalls Blaster eingesetzt! Woher? Aus dem ST natürlich! Die Druckwelle einer Detonation schleuderte Montaldo beinahe von den Füßen. Er huschte aus dem Weg der auf dem Rückzug befindlichen Patrouillensoldaten. Was war geschehen? Wie konnten sie zum Zurückweichen gezwun gen werden? So gut bewaffnet und ausgerüstet, wie sie waren, konnten sie doch unmöglich von Leuten, die bloß Wilde waren, zurückgedrängt worden sein? »Was ist passiert?« fragte Montaldo, als ein Soldat sich neben ihm niederduckte. »Hätte nicht gedacht, daß sie die ST-Blaster so anzu wenden verstehen«, rief der Mann sichtlich bestürzt. »Sie haben einen der schweren Bordblaster demontiert und direkt in der Schleuse in Stellung gebracht. Uns regelrecht zu überrennen haben sie versucht, bis sie das Ding hoch gepowert hatten.« »Sie meinen, Sie sind von denen geschlagen worden?« Montaldo vermochte es nicht zu glauben. »Verdammt richtig!« Der Patrouillensoldat schüttelte den Kopf. »Von oben ist ‘n Rückzugsbefehl gekommen. Keine Sekunde zu früh. Sie hätten uns da drin alle gekillt. Majorin Reary hat den Angriff befohlen. Sie hat allerdings nicht erwähnt, daß sie mit ‘m gottverdammten ST-Blaster auf uns schießen könnten.« Eine heftige Detonation erschütterte die Schleuse, und Montaldo duckte sich. Den Großteil der Druckwelle bekam der Soldat ab, Metallsplitter hagelten auf seine Panzerkleidung. »Zurück!« schrie er. »Ich gebe Ihnen Deckung!« Grim mig nickte Montaldo und lief los. Rings um ihn prallten Kugeln von den Wänden ab, und er erinnerte sich an das heiße Stückchen Kupfer, das er so einfältig hatte aufheben wollen. Die Vorstellung, so ein Stück erhitzten Metalls könnte sich in sein Fleisch bohren, flößte ihm Entsetzen ein.
Eine weitere, von einem heißen Luftschwall begleitete Detonation stieß ihm die Atemluft aus den Lungen, warf ihn auf Hände und Knie. Blut rann ihm aus der Nase. Durch das Ohrensausen, das er plötzlich hatte, hörte er den Patrouillensoldaten aufschreien. Montaldo blickte in seine Richtung. Der Mann war gestürzt, ihm trotz des Schutzpanzers der gesamte Rücken völlig aufgerissen worden. Montaldo kroch zu ihm, suchte hinter dem Haufen toter romananischer Krieger Deckung, der schon vorhin seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Dann sah er fasziniert zu, wie der Patrouillensoldat starb. Szchinzki Montaldo hatte noch niemanden aus nächster Nähe sterben sehen. Noch nie war das Sterben für alle seine Sinne so anschaulich gewesen. Ein Blaster-strahl fuhr über seinem Kopf ins Metall, überschüttete ihn mit glutheißen Funken. Jetzt hielten die Patrouillensoldaten stand. Montaldo lugte über die Leichen hinweg und sah sie um die Ecken feuern. Der Rückzug war zum Stillstand gekommen. Montaldo wartete, saugte vom Qualm bittere Luft in seine Lungen. Inzwischen zitterte er vor Furcht — tiefer Furcht —, rang mit Anfällen von Übelkeit. Eine Stimme sprach ihn in einer ihm unbekannten Sprache an. Montaldo zuckte erschrocken zusammen und wäre fast aufgesprungen, um fortzurennen, doch ein neuer Hagel von Kugeln, die von den W’änden abprallten, hielt ihn zurück. »Wer ist das?« fragte er, spähte furchtsam über den Leichenhaufen. Eine Hand berührte sein Bein, und Montaldo schrie ent setzt auf, schrak zurück. Nur langsam zwang er sich dazu, die Augen auf die Hand zu richten, deren Finger sich schwächlich in den Stoff seiner Hose zu klammern ver suchten. Er neigte sich vor, sein Blick glitt an einem Arm entlang zu einem Oberkörper und fiel zuletzt in ein Gesicht.
Von Schmerz glasig getrübte Augen sahen ihn fle hentlich an. Die Lippen bewegten sich, aber die Worte, die sie hervorbrachten, blieben für Montaldo nur Kau derwelsch. »Du mußt Standard sprechen!« schrie Mon taldo durch eine neue, diesmal schwächere Explosion. »Wasser«, krächzte die Stimme. »Kann ich bitte... Wasser haben?« Das Flehen schreckte Montaldo aus seiner Benom menheit, er stierte den Becher Kaffee an, den er mittler weile fast in der Faust zerdrückt hatte. Seine Finger beb ten, während er den Becher wieder rundpreßte; er schaute hinein und sah darin nur noch einen Schluck Kaffee. Er stützte dem Mann mit einer Hand den Kopf und träufelte ihm dann den Rest des Getränks auf die Zunge. Gräßliche Schreie hallten durch den Korridor. MedTechs stolperten mit verletzten Patrouillensoldaten hinaus. »Hier«, rief Montaldo heiser, fuchtelte mit den Armen. »Hier lebt noch einer!« Ein MedTech kam angehastet, zog den Kopf ein, als ein Blasterstrahl noch einen Abschnitt der Wand zerstörte. »Ach, Scheiße! Das ist doch einer von den Wilden!« Abscheu stand dem Mann im Gesicht. Er lief zurück in Gegenrichtung. »Den Wilden?« Montaldo hockte sich auf die Fersen, vergaß für den Moment den grauenhaften Krach. Er starr te dem MedTech nach. »Er ist ‘n Mensch wie Sie und ich, verflucht noch mall« schrie er und schüttelte dem Mann die Faust hinterdrein. »Wasser«, flüsterte der Verwundete rauh. »Mehr Wasser...« »Keins da.« Montaldo beugte sich nah über das Ge sicht. »Keins da, verstehst du? Ich muß dich in die Bord klinik bringen.« Er betrachtete den wirren Stapel Toter. Auf dem Verletzten lagen mindestens fünf verkohlte Leichen. Wie, um Himmels willen, war er bloß vor dem Verkokein bewahrt geblieben?
Wie besessen schob und zerrte Montaldo an den Lei chen, gab dabei schließlich völlig seine Deckung auf. Ein Blasterstrahl zerfetzte eine Leiche, die neben ihm lag, und ihn traf ein Schwall von Hitze und Rauch. Er heulte vor Wut, sah einen Romananer um die Ecke springen. Sofort wurde ihm ein Bein abgeschossen. Als der Mann fortzu robben versuchte, zielte ein Patrouillensoldat auf ihn und brannte ihm den Kopf weg. Nur ein Leichnam störte noch, und Montaldo schubste ihn zur Seite. Etwas verursachte ihm einen Stich im Arm, der dabei haltlos am Schultergelenk schlingerte. Montaldo ließ sich fallen, sah betroffen seine Hand an, die sich nicht bewegen wollte. Dicht überm Ellbogen quoll Blut aus dem Ärmel. »Es ... schmerzt...«, flüsterte der verwundete Roma naner, die glasigen Augen ins Nichts gerichtet. Ich bin angeschossen. Diese Einsicht kam Montaldo nur langsam. Kein regelrechter Schmerz zu spüren, nur ein Brennen, vielleicht wie von einem Wespenstich. Und ein Gefühl der Taubheit, das in seiner Schulter ein Kribbeln auslöste. Er biß die Zähne zusammen, zog den Romananer zwischen den Toten hervor, unterdrückte ein Wimmern, als er das andere Bein sowie den anderen Arm des Ver letzten sah — beide hingen in Fetzen, bestanden nur noch aus verschmortem Fleisch und verkohlten Knochen. Die Hitze hatte die Wunden kauterisiert, so daß sie nicht blu teten. Trotzdem mußten die Nervenenden quasi glühen. Indem er mühsam die unversehrte Hand verwendete, hob Montaldo sich den Romananer auf die Schulter, hörte den Mann furchtbare Schreie ausstoßen, die ihm bis ins Mark gingen. »Entschuldigung«, raunte Montaldo. »Ich bring dich in Sicherheit. Halt durch!« Er verdrehte die Augen und blickte an die geschwärzten, gekräuselten Deckenplatten über seinem Kopf. »Lieber Gott, hilf mir! Laß mich diesen einen retten. Wenn schon keine anderen, dann wenigstens diesen einen. Nur diesen einen!«
Er raffte sich hoch, sich undeutlich dessen bewußt, daß er nicht so stark war, wie er hätte sein müssen. Während Kugeln ihn umsausten und Blasterschüssen an ihm, vor beizischten, gelangte er bis zur innersten Ek-ke des Bereichs vor der Schleuse. An beiden Wänden kauerten Patrouillensoldaten, stierten vor sich hin. Unbeachtet lagen drei oder vier Tote herum. »Wo geht’s zur Bordklinik?« erkundigte sich Montal do. Ein MedTech deutete vage in die Richtung, in die sich gerade eine Antigrav-Bahre entfernte. Montaldo taumelte ihr nach. Während er an den Patrouillensoldaten vorüber wankte, bemerkte er, daß einige von ihnen frische Skalpe an den Gürteln hängen hatten. »Und das hat Chester vorausgesehen?« fragte sich Montaldo, während er alle seine Kräfte aufbot, um Atem rang, ihm war, als würde seine Last mit jedem Schritt schwerer. »Du mußt durchhalten, Mann«, schalt er mit dem Romananer. »Wir schaffen’s schon, du und ich.« Plötzlich übergab er sich, stürzte beinahe ins Erbrochene. Der Gang schien zu wanken, und Montaldo mußte anhalten; er lehnte sich an die Wand, sein ganzer Körper fühlte sich heiß an. Er keuchte, sah durch den Schleier vor seinen Augen eine Antigrav-Bahre sich nähern. Zwei MedTechs eilten zu ihm, nahmen ihm den Romananer von der Schulter. »Retten Sie ihn!« knirschte Montaldo. »Retten Sie ihn, oder Sie werden’s mir büßen, das schwöre ich bei Gott!« Die Verwaschenheit seiner Sicht stammte von Tränen. Weinen? Er? Der eine MedTech war schon mit der Antigrav-Bahre und dem Romananer zur Bordklinik unterwegs. »Stützen Sie sich auf mich«, sagte der andere MedTech in aufmun terndem Ton zu Montaldo. »Den Arm flicken wir ganz leicht zusammen. Dauert nicht mehr als ‘n paar Stunden. Der Knochen ist gebrochen, und Sie haben ‘ne Menge Blut verloren. Wir kriegen Sie ohne Umstände wieder hin.«
Montaldo nickte, torkelte vorwärts; die letzten hundert Meter zur Klinik mußte der MedTech ihn beinahe tragen. Während eine Med-Einheit seinen Arm zu behandeln anfing, konnte Montaldo sehen, wie man den Romananer in eine gelbliche Brühe von fettigem Aussehen tauchte. »Wird er durchkommen?« fragte Montaldo. Der MedTech, der die Messungen der Anlage beob achtete, nahm den Blick nicht von der Bildfläche. »Mit knapper Not, Sir. Ich glaube, Sie haben ihn gerade noch rechtzeitig hergebracht.« Montaldo schloß die Lider, fühlte die Med-Einheit unter der Haut seines Arms arbeiten. »Gott, ich hab’s geschafft. Ich habe ihn am Leben gehalten.« Montaldos Erleichterung ähnelte fast körperlicher Ekstase, er brach in heiße Freudentränen aus, die ihm die Wangen hinab rannen. »Was also ist der Wert des menschlichen Lebens?« mur melte er. »Wie kann man ihn messen, wiegen, seinen inne ren Wert bestimmen? Hä, Szchinzki?« * * * »Können Sie sich eigentlich vorstellen, wie viele Berichte ich auszuarbeiten haben werde, Eisenauge?« Oberst Ree blickte auf, seine Augen spiegelten Resignation wider. »Damen, die Zeit wird knapp.« Leeta Dobra blieb ste hen. Ihr Herz wummerte noch immer. »Die Entscheidung liegt bei Ihnen. Was sollen wir tun?« Grimmig lächelte Ree. »Tun? Sie haben mich in diese Lage gebracht, Leeta. Wie kann ich denn argumentieren, die Romananer seien wehrlos, wenn sie mein Raumschiff gekapert, meinen Zweiten Offizier getötet und Gott weiß was noch für Unheil angestellt haben?« »Werde einer von uns, Oberst.« Eisenauge hatte an scheinend den Blaster vergessen und trat einen Schritt vor.
»Du bist ein echter Krieger. Ich erkenn’s in deinen Augen. Du bist ein Mann der Hingabe. Ist jetzt nicht die richtige Zeit zu wahrer Hingabe an eine Sache? Weshalb bist du so lang auf unserem Planeten geblieben? Warum hast du diese Sammlung von Gewehren und Dolchen an der Wand? Welche Bedeutung hat sie für dich?« Er forschte in Rees Augen, suchte darin eine Antwort. Zerstreut schob Ree den Blaster ins Gürtelhalfter, nahm den Blick von Eisenauge. »Ich habe vor langem einen Eid geschworen. Außerdem habe ich die Angelegenheit wahr scheinlich nicht mehr in der Hand. Robinson hat’s mir freigestellt, die Romananer zu vernichten, sobald der Eindruck entsteht, daß sie Probleme verursachen könnten. Sheila dürfte die gleiche Vollmacht erhalten haben. Vielleicht entschließt sie sich, falls sie der Ansicht ist, die Situation sei nicht mehr beeinflußbar, sogar zur Vernichtung der Projektil.« Er stand auf, die Zigarre noch zwischen den Lippen. »Und was Skor Robinson betrifft, wer weiß? Warum hat er die beiden Raumschiffe geschickt? Ich will’s Ihnen sa gen.« Harten Blicks erwiderte er die Blicke seiner Ge sprächspartner. »Zwei Schlachtschiffe haben eine Chance, mit der Projektil fertigzuwerden. Eins allein, Bruderschaft oder Viktoria, könnte dazu außerstande sein. Zusammen dagegen könnten sie uns — wenn sie überraschend angrei fen — erfolgreich in die Zange nehmen. Doktor, ich habe Ihnen gegenüber mal geprahlt, ich hätte auf Atlantis keine ebenbürtigen Gegner, erinnern Sie sich? Jetzt verhält es sich umgekehrt. Gegen diese beiden Raumschiffe habe ich, schlicht gesagt, keine Chance.« Seine harten Augen glommen, als er sich die Niederlage ausmalte. »Warum lassen Sie’s dann nicht einfach sein?« meinte Leeta. Man sah ihrer Miene den Stress an. Sie drehte sich um und verließ den Raum, ohne daß die zwei Männer es bemerkten. Plötzlich schlug Ree eine Faust gegen die Wand, so daß
die daran aufgehängten Bilder und Waffen wackelten. Er war sichtlich aufgewühlt, als er wieder den Blick hob. »Weil ich dem Direktorat einen Treueschwur geleistet habe! Ich habe geschworen, die Völker der Galaxis zu schützen. Wie kann man von mir erwarten, auf meine Kameraden zu schießen?« Sein Gesichtsausdruck verriet das Maß seiner Zermürbung. »Es muß wie mit einem Clan sein.« Eisenauge nickte. Er streckte einen Arm aus und drückte Damen Rees Schulter, versuchte ihm verständnisvolles Mitgefühl zu vermitteln. »Ich begreife deinen Zwiespalt, Oberst.« Bei der Berührung wandte Ree sich um; angesichts der Einfühlsamkeit in Johns Miene trat ein Ausdruck der Ungläubigkeit in seine Augen. »Tja ...« Er zögerte. »Wahrscheinlich ...« »Leeta ist fort.« Eisenauge runzelte die Stirn. Ree zuckte die Achseln, sein Gesicht zeigte gegen sätzliche Empfindungen. Er füllte zwei Gläser mit Brandy, reichte eines Eisenauge. »Ich sympathisiere ja durchaus mit euch.« Er lächelte andeutungsweise. »Ich habe unten einen deiner Spinnenkrieger getötet. Weil ich die Beherrschung verlor... So was war mir jahrelang nicht pas siert. Er ließ sich nicht einschüchtern, deshalb fiel mir nichts besseres ein, als ihn umzubringen. Das war für mich eine Lektion, die ich vorübergehend vergessen habe.« Aufmerksam hörte Eisenauge zu, während Ree wei tersprach. »Ich entsinne mich daran, als ich noch ‘n Kind war, damals dachte ich, ich würde immer unbesiegbar sein. Unbesiegbarkeit war auch mein erster Eindruck von der Patrouille. Irgendwann im Laufe der Jahre hat sich wohl die Überzeugung von ihrer Unbezwingbarkeit ver schlissen. Als ich den Mann umgebracht hatte, bekam ich erst mal ‘n Schreck. Dann habe ich mir darüber Gedanken gemacht. Ich sah die Art und Weise, wie sich Leeta Dobra, nachdem sie drunten mit Ihnen umhergezogen war, verändert hatte. Ich habe euer Problem zu durchden
ken angefangen. Dadurch habe ich neue innere Kraft gefunden.« »Spinne hat vieles zu lehren«, stimmte Eisenauge zu. »Er hat mich gelehrt, nicht um mein Leben zu fürchten. Er hat mir die Rolle gezeigt, die ich spielen muß. Ich habe sie schon einmal gespielt. Nur ist diesmal das Direktorat der Bär. Ich setze mein Leben für die Existenz des Volkes ein.« Ree hörte den Kommu-Apparat knistern, der Bild schirm flackerte, als er den Betrieb aufnahm. Auf der Bildfläche erschien die erbitterte Miene Rita Sarsas. »Lassen Sie das Feuer einstellen, Oberst!« rief sie erregt. »Was?« fragte Ree. Eisenauge merkte ihm Ratlosigkeit an. »Den Angriff! Verdammt noch mal, pfeifen Sie die Männer zurück! Ich lasse Ihnen fünf Sekunden, sonst ist das Steuerpult bloß noch Schrott!« »Welchen Angriff? Wir haben eine Bedenkzeit von fünf Stunden vereinbart. Ich habe dem unmißverständlich zugestimmt.« Ree wurde wütend. »Kriegerin«, rief Eisenauge auf romananisch. »Was ist das für ein Angriff? Sprich!« »Die Patrouillensoldaten greifen die Schleuse an. Sie wollen den ST zurückerobern. Wenn es ihnen gelingt, hät ten wir keine Verbindung mehr zu den Propheten. Wir hät ten auch keine Aussicht mehr, im Notfall den Rückzug antreten zu können, und es wird viele Tote geben. Wir sind belogen worden! Ich schieße das Ding zu Klump.« Sie drehte sich dem Steuerpult zu, Entschlossenheit in den Augen, und hob den Blaster. »Als dein Kriegshäuptling befehle ich dir, es nicht zu tun«, sagte Eisenauge halblaut. »Sonst bereitest du uns Schande.« Rita wandte sich um, Belustigung im Blick. »Als mein Kriegshäuptling? Sieh mal an! Wieso Schande?« »Dieser Mann« — Eisenauge zeigte auf Ree, der asch
fahl geworden war, als er Rita den Blaster auf das Kontrollpult anlegen sah — »hat keinen Angriff befoh len.« »Reary!« Ree verzog das Gesicht. »Verfluchtes Weib!« Er drosch eine Faust in die andere Hand. »Dahinter muß sie stecken. Sie hat einen Zeitpunkt für den Angriff fest gesetzt, und die Soldaten haben ihn eingehalten.« »Wo ist sie?« Rita war noch nicht von seiner Ehrlichkeit überzeugt. Eisenauge lächelte. »Ich habe bei ihr Coup genommen, Rotschopf Viele Coups. Du brauchst neue Coups, um mich wieder zu übertreffen.« Ree erweiterte den Erfassungsbereich der KommuOptiken, bis Rita den Leichnam auf dem Fußboden sehen konnte. Langsam senkte sie den Blaster. »Verzeihung, Oberst. Ich bin wohl ‘n bißchen nervös.« »Ich rufe den Stoßtrupp zurück.« Ree ließ die Verbin dung zu Rita bestehen, während er mit dem Befehlshaber des Stoßtrupps Kontakt aufnahm und den Rückzugsbefehl erteilte. Aus weit aufgerissenen Augen sah Rita zu, wie der Mann inmitten des Feuergefechts nickte, sich in der näch sten Sekunde in Deckung duckte. Auch Eisenauge beobachtete fasziniert auf dem Mo nitor das Kampfgeschehen in den Gängen bei Dock 25. Der Befehlshabende der Soldaten ordnete den Rückzug an, und der Befehl wurde tadellos ausgeführt. Ein greller Blitz gleißte über die Bildfläche, dann sah man darauf nichts mehr. »Schalten Sie mich durch!« brüllte Ree den Apparat an. Sein Blick fiel auf Ritas Abbild. »Stehen Sie in Kontakt zu Ihrem ST? Wenn ja, bremsen Sie Ihre Leute. Bis jetzt haben wir noch kein Leck, aber diese Irren können jeder zeit ein Loch in den Rumpf blastern.« Rita drehte sich einem anderen Kommu-Apparat zu, ließ durch Philip Anweisungen weitergeben. Eisenauge übersetzte sie für Ree, während der Oberst den Rückzug
der Soldaten überwachte. Es dauerte gut fünfzehn Mi nuten, die schießwütigen Kombattanten zu trennen. Eisenauge lächelte Ree zu, als ein Patrouillensoldat auf dem Bildschirm vorbeieilte. »Das war ein guter Kampf. Deine Krieger haben Coups genommen.« Er deutete auf den Skalp, der am Gürtel des Soldaten baumelte. Ree rümpfte die Nase. »Es wird Mode. Meine Soldaten beweisen damit deinen Männern, daß sie richtige Krieger geworden sind.« Er trank Brandy und warf Rita einen ern sten Blick zu. »Wir müssen uns in Kürze gründlich aus sprechen, Leutnant. Legen Sie den Blaster weg. Ich bin nicht mehr Ihr Gegner. Wir müssen uns darüber im klaren werden, wie wir zwei Schlachtschiffe der Patrouille abwimmeln.« Er schaltete die Kommu ab und prostete Eisenauge zu. »Wann hast du dich so entschieden, Oberst?« fragte John. »Was gab den Ausschlag, während unsere Männer sich gegenseitig töteten und der Ausgang des Gefechts so oder so hätte verlaufen können?« Ree hob den Blick. »Es war die Schleuse, Häuptling. Eine Schleuse ist ein sehr heikler Bereich eines Raum schiffs. Ich weiß nicht, was deine Krieger dort veranstaltet haben, aber sie hätten alle, Patrouillensoldaten wie Romananer, ums Leben kommen können, und wer weiß wie viele außer ihnen. Weißt du, Leeta hatte recht, was mich angeht. Ich kann mein Schiff einfach nicht wegen solchen Blödsinns riskieren.« »Aber gegen eure Patrouille und das Direktorat kannst du es?« fragte Eisenauge. »Nicht eben von Herzen gern«, räumte Ree ein. »Sähe ich auf eurer Seite nicht ein mindestens gleichrangi-ges Recht, ließe ich zu, daß Rita uns alle zur Hölle schickt.« Er zuckte die Achseln, während er die Statusdaten der Schadenskontrolle ablas. »Recht — oder Wahrheit, wie du sagen würdest — ist eine interessante Konzeption. Wenn du der Überzeugung wärst, dein Clan sei im
Unrecht, was tätest du, Eisenauge? Wie würdest du damit umgehen?« John Smith stellte sein Glas ab. »Ich weiß es nicht. Ich würde versuchen, ihn über seinen Irrtum aufzuklären, aber es gäbe ja immer noch die Propheten.« Ree zog eine grimmige Miene. »Ja, die Propheten. Leider hat das Direktorat keine.« Rees Augen begannen zu leuchten. »Wäre vielleicht einer eurer Propheten zu uns raufzukommen bereit? Das könnte uns gegen die Bruderschaft, wenn sie eintrifft, ‘n Vorteil verleihen.« »Du kannst darum ersuchen. Die Alten entscheiden sich nach dem, was sie voraussehen. Das begründet ihre Weisheit. Verstehst du mich?« Eisenauge forschte in Rees Gesicht, um festzustellen, ob der Oberst begriff. »Ich werde einen ST in der Nähe der Nikolai Romanan landen lassen, und der Kapitän soll ein ... äh ... Ersuchen vortragen.« Ree lächelte Eisenauge zu. »Oberst?« fragte eine Stimme aus der Kommu. »Hier.« Gespannt heftete Ree den Blick auf den Bild schirm. Auf der Mattscheibe zeigte sich Anthonys bleiches Gesicht. Hinter ihm stand Leeta und hatte eines von Rees romanani sehen Gewehren auf seinen Kopf gerichtet. »Damen, ich habe gerade per Subraum-Transduktion einen Funkspruch an das Direktorat abgesetzt. Er enthält unter anderem die gesamten Aufzeichnungen über unsere Zusammenarbeit. Alle Informationen Martys, sämtliche Vermutungen, alle Observationen, alles ist komplett an die Universität und jeden abgegangen, der ‘n Empfänger lau fen hat, wenn die Nachricht eintrifft.« Boshaft lachte Leeta auf. »Und wie Sie sehen, ist dieser Mann daran unschuldig. Ich habe ihn gezwungen, meinen Willen aus zuführen.« Ree rang um Selbstbeherrschung. »Die Knarre ist doch gar nicht geladen!« »Aber das wußte er nicht.« Leeta grinste und senkte jetzt zu Anthonys unermeßlicher Erleichterung die Waffe.
Ree hatte die Augen geschlossen, atmete trübsinnig durch. »Ich wollte«, sagte er leise, »Sie hätten das nicht getan.« »Warum?« Leetas Brauen rutschten hoch. »Weil Eisenauge und ich, während Sie den Funkspruch abgeschickt haben, zu einer Übereinkunft gelangt sind. Nun ist die Wahrscheinlichkeit hoch, daß die Bruderschaft, wenn sie im System eintrifft, schon in der Absicht anfliegt, uns zu vernichten.« Ree machte ein übel launiges Gesicht. »Wie haben Sie den Mann zum Absetzen des Funkspruchs gebracht, ohne daß er durch die Kommu Alarm gegeben hat? Er brauchte doch nur einen einzigen Knopf zu drücken.« Leetas zunächst von Triumph erfüllte Miene war in zwischen nüchterner geworden. »Habe ich Ihnen nie davon erzählt? Ich habe von Jeffray so gut wie alles über Transduktionskommunikation gelernt. Ich habe den Funkspruch selber gesendet.« »Oberst?« drang es aus der Kommu. »Was jetzt?« Ree schaltete auf eine andere Leitung um. Auf der Bildfläche erschien das Gesicht eines ST-Kapitäns. »Wir sind auf dem Flug nach oben, Oberst.« Der Mann machte ein verkniffenes Gesicht. »Das war ‘ne komische Sache, Sir. Wir landen, und da kommen diese zwei alten Knaben an und steigen zu, kaum daß wir die Sturmrampe ausgeklappt haben. Ich vermute, es sind die richtigen Männer. Sie sagen nichts. Sie lächeln den Translator bloß an. Wir versuchen ihnen dauernd zu er klären, daß wir ‘n Propheten brauchen. Ich gehe davon aus ... Äh ... Könnten Sie irgendwie eine Identifizierung vor nehmen?« Der ST-Kapitän wirkte etwas verwirrt. Matt schüttelte Ree den Kopf. »Ich glaube, das ist über flüssig, Kapitän. Wenn sie auf Sie gewartet haben, beant wortet das Ihre Frage. Geben Sie ihnen alles, was sie wol len.« Ree schaltete alle Bildschirme ab und ließ nur die
Verbindung zu Rita bestehen. »Sind Sie zufrieden, Leut nant?« »Ich glaube, ja, Sir.« Rita hatte den Blaster mit dem Kolben nach unten in die Ecke gelehnt. »Dann lassen Sie, wenn’s Ihnen nichts ausmacht, Major Glick frei. Ich bin sicher, daß er es angesichts der Umstände versteht, wenn ich befehle, den Energiepegel auf Gefechtsniveau hochzusteuern. Ich bezweifle, daß die Reaktorbedienung bei ihrer Arbeit Bestleistungen erbrin gen kann, solange Ihre Gewehre auf sie gerichtet sind.« »Alles klar, Sir!« Rita salutierte zackig, indem sie Phi lip wölfisch zugrinste. Der Bildschirm erlosch. »Ich denke mir, ich habe jetzt der Besatzung eine Erklärung abzugeben«, sagte Ree. »Sie muß ja nun wirk lich erfahren, daß wir jetzt auf derselben Seite stehen.« *
*
*
»Bedaure sehr, Oberst. Ich kann nicht gegen meinen dem Direktorat geschworenen Eid verstoßen.« Der junge Kapitän salutierte zackig und stapfte schroff zur ST-Luke. Die restliche Reihe war nicht mehr so lang. Ernst nahm Ree Gruß um Gruß entgegen. In Abständen musterte er den einen Mann oder die andere Frau genauer, während seine Lippen leicht zuck ten. Die hochmütige Haltung zu seinem Entschluß zeugte von Stolz und Schmerz. Leeta beobachtete, wie die Spaltung quer durch die Mannschaft der Projektil ihrer Vollendung entgegenging. Unsicher drückte man sich die Hände, wünschte sich gegenseitig Glück, alte Bekannte salutierten voreinander, brummelten gedämpft Worte des Zuspruchs. Alle schauten sich um, als wollten sie wissen, wer zusah, fragten sich wohl, wer ihre Entscheidung ver urteilen mochte. Überzeugung und Pflicht trennten die Besatzung, manche hielten zu ihrem Raumschiff und dem
Oberst; andere blieben ihrem Glauben an das Direktorat treu. Eine geschlossene Kolonne von Soldaten marschierte vorbei; die Männer grüßten vorschriftsmäßig, doch ge senkten Blicks. Ree salutierte ein letztes Mal und sah zu, wie Männer den letzten ST füllten. Die Stationsgebürtigen unter den Besatzungsmitgliedern würden auf Rendezvouskurs zu den angekündigten Patrouillen schiffen gehen. Die Planetengeborenen sollten zwischen den romananischen Ortschaften abgesetzt werden. Damen Ree fuhr sich mit dem Handteller übers müde Gesicht. »Das Ende einer Mannschaft«, konstatierte er leise. »So war es doch zu erwarten, Damen.« Leeta lehnte sich an Eisenauge, während die Monitoren das Ablegen der ST übertrugen. »Aber daß so viele abgesprungen sind ...?« Ree fühlte sich offensichtlich gekränkt. »Ich habe immer mein Bestes für sie getan. Wissen Sie, ich habe die ganze Zeit hindurch weniger Versetzungsanträge als jeder andere Oberst der Flotte vorgelegt gekriegt. Wahrscheinlich habe ich einfach unterstellt, sie würden alle zu mir halten.« »Sie müssen alle ihren eigenen richtigen oder falschen Weg gehen.« Eisenauge schlang seinen Arm fester um Leeta. »Es war ein sehr kluger Einfall von dir, Oberst, sie drunten beim Volk abzusetzen. Es kann sein, daß diese Maßnahme zahlreiche Leben rettet.« Ree schnob bitter. »Ich bin kein Heiliger, Eisenauge. Ich ... ich fühle mich verraten. Ich lasse sie dort hinbrin gen, damit sie Gelegenheit zum Nachdenken erhalten. Teilweise ist das bloße menschliche Gemeinheit meiner seits. Ich bin nicht sicher, ob dadurch Leben gerettet wer den. Sie haben mich im Stich gelassen, statt zu mir zu ste hen, obwohl ich in der Vergangenheit oft für sie bis zum äußersten gegangen bin. Wenn sie sich nun lieber aufs Direktorat verlassen wollen, sollen sie ihren Willen haben.
Vielleicht wird die Bruderschaß sie ja tatsächlich nicht einfach mitbraten. Wahrscheinlich fangen sie jetzt schon an, sich deswegen ein bißchen Sorgen zu machen.« Zu Rees Staunen nickte Eisenauge. »Jeder Mensch muß für seine Taten und Überzeugungen die Verantwortung tra gen.« »Wir haben zwei zusätzliche Tage Frist erhalten.« Am Kommu-Apparat beobachtete Leeta, wie Rita die Ein weisung der Romananer vornahm, die für ausgefallenes Patrouillenpersonal einzuspringen beabsichtigten. Feh lende Qualifikation konnten sie schwerlich ersetzen, doch sie waren durchaus dazu fähig, der Schadenskontrolle zuzuarbeiten, die Antigrav-Bahren der Bordklinik und leichte Kommu-Funktionen zu bedienen sowie Hilfsdienste zu erledigen. Die beiden Tage Fristverlängerung resultierten aus ei nem plötzlichen Zögern der Bruderschaft, Nach dem Ab gang von Leetas Subraum-Funkspruch war die Bruder schaft vom Kurs abgewichen und in eine entfernte Kreis bahn gegangen, offenbar um die Ankunft der Viktoria abzuwarten. Die Propheten hatten vorausgesagt, die Patrouillenschiffe kämen als Feinde. Mehr sagten sie nicht. Ree rieb sich mit einer Faust die Handfläche. Die ver fluchten alten Säcke mochten nicht den kleinsten Hinweis auf den letztendlichen Ausgang der Konfrontation geben. Sie lächelten nur auf ihre klugscheißerische Weise und erklärten gelassen, es stünden noch zwei bedeutsame Cusps bevor. Montaldo kam vorbei, er schob auf einer AntigravBahre einen verbundenen Romananer. Er winkte, und der Krieger, offenbar tief beeindruckt von allem, was er sah, schaute in Rees Richtung; er drehte den Kopf und sagte etwas zu Montaldo. Der Planetologe lenkte die Bahre her über. »Ist das der Mann, den sie gerettet haben?« fragte Ree,
berührte zum Gruß die Finger der verbliebenen Hand des Kriegers. Wo sich der linke Arm befunden hatte, war ein verdrahteter Stumpf. Elektrostimulationsdrähte hatten bereits das Nachwachsen eines neuen Arms und Beins ein geleitet. Ein Jahr würde es dauern, bis der Mann damit beginnen konnte, das Laufen neu zu lernen. »Ja.« Montaldo nickte. »Das ist Pepe Sanchez Grita. Er meint, er hätte uns was zu erzählen.« »Ich höre, Krieger.« Eisenauge ging in die Hocke, um mit dem Gesicht ungefähr in gleicher Höhe wie die Bahre zu sein. »Gepriesen sei Herrjesses, Kriegshäuptling des Spin nenvolks.« Grita nickte ihm zu. »Es ist davon die Rede, daß Großer Mann Spinne für nicht besonders mächtig hält. Es kann dahin kommen, daß er Verdruß bereitet, oder viel leicht nicht. Ich glaube, es könnte günstig sein, du hast ihn im Augenmerk.« Eisenauge runzelte die Stirn. »Gepriesen sei Herrjes ses.« Er bekreuzigte sich nach dem Brauch der Santos. Als er das sah, entfuhr dem Santoskrieger beinahe ein Japsen. Seit Menschengedenken war so etwas noch nicht vorge kommen. »Ich danke dir, Krieger. Sage den Santos, daß Spinne ein Name Gottes ist und Herrjesses ein anderer. Spinne wünscht nicht, daß sein Volk wegen des Namens, mit dem die Menschen Gott rufen, untergehen muß. Sage ihnen, daß die Spinnenkrieger vor dem Kampf gemeinsam mit den Santos beten werden, wenn die Santos dazu bereit sind, mit den Spinnenkriegern zu beten. Wollen wir über leben, müssen wir nun durch Duldsamkeit zueinanderfin den.« »Ich werde es den Santos sagen.« Der Mann nickte nachdrücklich. »Ich bin nur ein Einzelner, aber ich werd’s ihnen sagen.« »Worum ging’s?« erkundigte sich Ree. Er hatte bisher keine Zeit gehabt, um die romananische Sprache zu ler nen.
»Es könnte sein, daß Großer Mann Unruhe stiftet. Um festzustellen, ob’s damit wirklich was auf sich hat, ist’s noch zu früh.« Eisenauge hob die Schultern. »Ich glaube, noch haben wir alles im Griff.« »Nominell hat er noch den Befehl über Helsteads ST.« Ree überlegte. »Ich bezweifle, daß er in dieser Position größeren Ärger verursachen kann. Ich vermute, er stört sich daran, daß ein Spinnenkrieger Kriegshäuptling ist. Daß alles so kompliziert sein könnte, habe ich nicht ge ahnt.« Ree schnitt eine bittere Miene. Er blickte hinauf zu den Bildschirmen, betrachtete die Leuchtpünktchen, die die Positionen von Bruderschaft und Viktoria anzeig ten. »Anscheinend sind Sie kein Zyniker mehr, Montaldo«, meinte Leeta, musterte den Planetologen. »Was ist pas siert?« Versonnen schmunzelte er ihr zu. »Ich glaube, während des Gefechts im Schleusengang habe ich den Sinn des Lebens erkannt. Vielleicht hat Atlantis so eine Wirkung auf Menschen, Doktor.« »Sie hätten mit den anderen nach unten fliegen kön nen«, sagte Ree leise. »Möglicherweise haben sich meine persönlichen Prio ritäten verschoben, Oberst. Vielleicht komme ich mit Ih nen um. Aber ich könnte auch drunten den Tod finden. Alles liegt bei Herrjesses.« Montaldo zuckte die Achseln. »Hä?« Ree furchte die Stirn. »Bei Gott, Oberst.« Montaldo lächelte, »Chester hat mir empfohlen, an mein Menschsein zu denken und den Glauben an Gott zu bewahren. Wer weiß, vielleicht beauf tragen mich die Romananer, falls wir das ganze Abenteuer lebend überstehen, mit der Aufgabe, die To-ronschürfrechte für sie zu managen. Das würde verhindern, daß man sie übers Ohr haut.« Die Kommu meldete sich. »Oberst Damen Ree!« Auf einem Bildschirm wurde das Gesicht einer Frau erkenn
bar. Leeta sah, daß sie einmal schön gewesen sein mußte. Sie hatte einen passablen Knochenbau, doch einen Ausdruck von Verhärmtheit um die Augen. »Am Apparat.« Beim Klang der Stimme blinzelte Ree den Monitor an. »Hier ist Patrouillenraumschiff Bruderschaft, Kom mandantin Obristin Sheila Rostostiew spricht. Auf An weisung des Direktors haben Sie das Kommando über Ihr Raumschiff unverzüglich abzugeben. Haben Sie mich ver standen, Oberst? Sie sind des Kommandos enthoben und bei nächster Gelegenheit in Arrest zu nehmen.« »Und wenn ich mich weigere, Sheila?« Ree stellte die Frage in amüsiertem Ton. »Für den Fall habe ich Befehl zur Vernichtung Ihres Schiffs, Oberst.« Erwartungsvoll lächelte die Obristin. Ein schweres Aufseufzen drang über Rees Lippen. »Ihnen dürfte wohl klar sein, daß wir Geschichte machen. Es wird das erste Mal sein, daß Patrouillenschiffe aufein ander schießen. Sicherlich können wir uns aber vorher noch Zeit lassen, um unsere Standpunkte auszutauschen, damit Sie erfahren, um was es uns hier geht.« »Im Gegensatz zu Ihnen« — Sheilas Stimme bekam einen spitzen Klang — »nehme ich Befehle ernst, Damen. Entweder betrachten Sie sich als unter Arrest gestellt und ermöglichen es uns, Ihr Schiff zu betreten, oder wir wer den die Projektil vernichten. Sie haben die Wahl, Damen.« Sie lächelte süffisant. »Sie sind nie sonderlich beweglich gewesen.« Ree schmunzelte matt. »Weder im Bett, noch in der Ausübung Ihres Kommandos, noch hinsichtlich Ihrer Intelligenz. Es wundert mich, daß Sie zur Kommandantin der Bruderschaft befördert worden sind. Man muß eine jäm merliche Auswahl gehabt haben.« »Damen«, fauchte Sheila, »dieses ausweichende Ge wäsch wird Ihnen nicht helfen. Soll ich das als Antwort auffassen?«
Langsam und betrübten Blicks nickte Ree. »Ja, Sheila. Aber sagen Sie mir, sind Sie wirklich der Meinung, daß diese Sache so etwas wert ist? Sie kennen mich und mein Schiff, meine Teure. Wird die Menge der absehbaren Toten und Verwundeten eine schlechte Entscheidung sei tens des Direktors noch rechtfertigen? Soll in der Patrouille vergossenes Blut die richtige Methode sein, um den Mord an einer halben Million Menschen zu vertu schen? Werden wir dadurch nicht als nützliche Idioten mißbraucht?« »Sie sind auf Sendung!« Ungläubig sperrte Sheila die Augen auf. »Ihre Äußerungen verstoßen gegen sämtliche Vorschriften, Damen! Verfluchter Schurke!» »Richtig, Sheila. Ich will, daß das gesamte Direktorat genau erfährt, warum das hier geschieht. Sehen Sie, meine Teure, ich bin nicht zum Verräter an meinem Eid gewor den. Ich habe geschworen, das Direktorat und seine Bevölkerung zu schützen. Von einer Verteidigung Skor Robinsons oder einer Politik, die im Widerspruch zu den besten Interessen der Menschheit steht, war in dem Eid keine Rede.« Der Bildschirm wurde dunkel. Ree wandte sich an Leeta und Eisenauge. »Sieht so aus, als wären die Würfel gefallen. Jetzt ist unsere letzte Chance dahin, Blut vergießen zu vermeiden.« Mit unterschiedlichen Emotionen beobachteten sie die Bildschirme. Die beiden weißen Punkte bedeuteten für man che den Tod, für andere Schmerzen, ein gebrochenes Herz oder Vernichtung. Selbst die Romananer, die sich in einer vollständig fremdartigen Umgebung bei ihren Aufgaben zu bewähren versuchten, spürten die wachsende Spannung. »Noch zwei Stunden bis zum Erreichen der maximalen Schußentfernung«, teilte die Kommu mit. Leeta streckte sich und flüsterte in Eisenauges Ohr. »Komm, uns bleibt noch mindestens eine Stunde. Laß uns in meine Kabine gehen und die Frist gut nutzen.«
Ohne daß jemand es bemerkte, führte sie Eisenauge von der Kommandobrücke. Rita beendete die letzten Tests an ihrem Feuerleitpult. Sie widmete dem Blinken der grünen Lämpchen einen letzten Blick, hob dann die Augen zu Philip, der neben ihr stand, mit sichtlichem Unbehagen ein Kontaktron auf dem Kopf trug. »Rotschopf Viele Coups, seit jener Nacht, als ich dir die Luft abwürgen mußte, habe ich mit dir ein ereignis reiches Leben gehabt.« Er grinste sie an und rieb sich die Rippen. »Philip ...« Rita spitzte die Lippen. »Hast du dir für den Fall, daß wir dank irgendeines Denkfehlers Spinnes mit dem Leben davonkommen, schon einmal überlegt, was wir anschließend miteinander anfangen sollen?« Er neigte den Kopf. »Nein, Leutnant, habe ich nicht.« »Was ist die männliche Seite deines Clans, Smith oder Eisenauge?« An der Stelle, wo der Rand des Kontaktrons ihre roten Locken plattdrückte, rieb sie sich an der Stirn. »Smith.« Philips Augen verrieten in bezug auf ihre Absichten Argwohn. »Dann gründen wir nach diesem Kampf am besten einen neuen Clan. Den Smith-Sarsa-Clan. Klingt doch gut, oder nicht?« Neugierig sah sie Philip an. »Ein Krieger kann unmöglich ein Weib zur Frau neh men, das mehr Coups als er hat«, rief Philip mit gespiel tem Schrecken. »Andererseits natürlich dürften unsere Kinder mit einem Gewehr in der einen und einem Bla-ster in der anderen Hand geboren werden.« Er dachte nach und nickte zustimmend. Marty Bruk checkte noch einmal die Kommu-Systeme, nur um seine Nerven zu beruhigen. Bellas kühle Finger streichelten seinen erhitzten Nacken. »Schade um Netta. Eigentlich hat einiges in ihr gesteckt.« »Schlechte Gene. Weißt du, das ist eben die natürliche Selektion. Atlantis hat ihr das Rückgrat gebrochen.«
Er schaute hoch; das Kontaktron saß schief auf seinem Kopf. »Es war verrückt von Ree, mir diese ganze Anlagen anzuvertrauen.« »Du bist derjenige, der sich mit technischen Apparaten am gründlichsten auskennt. Ich bin die beste Linguistin, die wir haben ... und die einzige, muß ich sagen. Wer soll te sich besser mit der Kommu zurechtfinden können?« Bella schenkte ihm ein Lächeln, während Marty zusah, wie die Computer alle Vorgänge im Innern des Raumschiffs erfaßten. »Komisch«, meinte er schließlich. »Ich bin sicher, daß ich sterben werde, aber ich habe gar keine Furcht.« Er blickte Bella mit einem leichten Lächeln auf den Lippen an. »Gut, Marty«, entgegnete sie herzlich, »denn ich fürch te mich diesmal schier zu Tode.« Sie schauderte zusam men, und Marty drückte sie an sich. * * * Großer Mann beobachtete, wie seine Männer sich auf die Andruckpolster des ST schnallten. Bald sollten entscheidende Ereignisse geschehen. Sein Lächeln wurde breiter. An Bord gab es Frauen, die sein werden sollten. Die Gelbhaarige, die allem Anschein nach soviel Macht hatte, und die Rothaarige mit den vielen Coups. Wer hätte gedacht, daß sie eine so große Kriegerin war — aber wer sonst hätte ihn so leicht niederschlagen können? Nur einmal, meine Liebe. Er grinste. Ein Cusp stand bevor. Er nickte dem SantosPropheten zu, der hinter ihm saß. In Kürze war die Zeit da. Großer Mann betrachtete Helsteads Hinterkopf. Sehr bald. * * * Damen Ree ließ seine Sinneswahrnehmungen mit der Projektil eins werden. Er fühlte sich in jede Platte,
Schraube, Energiequelle, Schaltung, in jede Strebe und das Blei hinein. Sein Leben umpulste ihn. In diesem Moment lebte er wirklich. Vielleicht mußte er sterben. Sollte das sein Schicksal sein, geschah es für eine würdige Sache. Er stürbe zusammen mit ihr — mit der Projektil — , die ihn noch nie im Stich gelassen hatte. Ihre Besatzung bestand jetzt nur noch aus einem zu sammengewürfelten Haufen. Mit den Finessen der bis ins feinste ausgefeilten Hochleistungsfähigkeit war es vorbei, doch möglicherweise verfügte sie nun über eine andere Art von Stärken — über Eigenschaften, die sie weniger anfällig machten. Sie konnte es durchstehen. Maya und Sheila sollten zur Hölle fahren. Der Ruhm der Projektil würde strahlen, und sei es in Form von Plasma. Im Innersten des Raumschiffs blickten zwei Greise sich an und nickten, während Damen Ree die beiden Licht pünktchen beobachtete, die Bestimmung, Tod und Zu kunft bedeuteten.
22
Chester Armijo Garcia empfand das Fehlen jeder Art von Schwerkraft als Grund zu außerge wöhnlicher Beunruhigung. Zum Glück hatten die Pa trouillen- und Direktoratsleute sein Unbehagen sofort bemerkt. Sie hatten ihm einen Gravitationsapparat zur Verfügung gestellt, der ihm das Gefühl bereitete, schwer zu sein; allerdings beeinträchtigte er seinen Gleichgewichtssinn, so daß er dabei Schwierigkeiten hatte, die Balance zu halten. Das unaufhörliche Zumuten immer neuer Untersu chungen und Tests, Feststellungen seiner Fähigkeiten sowie fortwährenden Scannens durch Geräte, die sein Begriffsvermögen überstiegen, hatte ihn, zumal es be trächtliche Zeit erforderte, erheblich geschwächt. Man hatte ihn gestochen, in ihm gestochert, ihm elektrische Schocks beigebracht, Haut abgekratzt, das Haar gescho ren, den Samen gemolken, die Ohren gewaschen, ihn ver schiedenerlei Arten von Licht ausgesetzt, gewogen, gemessen, ihm Sonden in den Darm und in den Rachen geschoben und sich geradezu gierig jedes Gramm seiner Körperausscheidungen angeeignet. Unterdessen bewahrte Chester unentwegt eine freundli che Haltung. Er lächelte den Medizinern zu; dabei blieb es auch, wenn ihre Untersuchungen völlig ins Lächerliche gerieten. Er wußte, weshalb die Propheten ihn auf den Weg geschickt hatten. Keiner der Alten hätte solche kör perlichen Belastungen mehr verkraften können. Nicht daß die Wissenschaftler vorsätzlich grob gewesen wären; sie betrachteten Chester einfach nicht als Menschen. Heute war der große Tag. Nach langem Warten durfte er nun endlich seine Pflicht am Volk erfüllen. Das Dasein
war für ihn zur Trance geworden. Nun stand der Cusp zu guter Letzt kurz bevor. Heute würde es Aufregung, Veränderung, Ungewißheit geben, Chester lächelte der Eskorte aus Wachpersonal zu, die ihn holen kam. Das Wunderbare der zahllosen neuen Eindrücke hatte sich inzwischen abgestumpft; er machte sich nicht einmal noch die Mühe, die Ängste des Oberfeldwebels zu zerstreuen. Anstatt ihn in seinen Gravitationsapparat einzuhän gen, schnallte man ihn diesmal auf ein schlittenartiges, mit einem Sesselsitz ausgestattetes Gefährt und durch querte mit ihm in aller Eile hell erleuchtete, weiße Korri dore. Voller Faszination sah er vor seinen Augen den Traum erst Realität, dann Geschichte werden. Es verlieh einem Menschen ein Gefühl des Erleuchtetseins, wenn er mitanschaute, wie Zukunft, Gegenwart und Vergan genheit sich in aktivem Zusammenwirken ineinanderf lochten. Er passierte Kontrollstelle um Kontrollstelle, und im mer wieder prüften Detektoren seine Gestalt auf ver steckte Waffen. Jedesmal orteten sie einen Metallsplitter, den er sich als Junge einmal in den Arm gebohrt hatte. Schließlich verwendete ein Techniker zur Entfernung des Metalls ein Gerät, das den von Hornhaut abgekapselten Splitter aus dem Fleisch zog. Chester lächelte, als der Tech medizinisches Plastikspray auf die geringfügige Wunde sprühte. Endlich salutierten die Wachsoldaten und öffneten die letzte Tür. Der Gravo-Schlitten beförderte ihn in einen Raum, in dem verwaschenes blaues Licht glomm. Himmelblau schien aus Boden, Decke und Wänden zu sickern, Chester erkannte, daß es kein oben und kein unten gab, doch seine Ohren vermittelten ihm wieder ein Empfinden, als ob er stürzte; und er klammerte sich, als wäre diese Reaktion ein Tribut an seine Menschlichkeit, an den Sitz seines Gefährts, nutzte es, um eine ei nigermaßen würdige Haltung einzunehmen.
Die Person, die seitlich vor ihm schwebte, gab besten falls ein armseliges Zerrbild des menschlichen Äußeren ab. Chesters Vision hatte nicht getrogen. Das massige, mit Haut bedeckte Rund des Schädels wirkte seltsamerweise durch die an einer Seite vorhandene Morphologie eines Gesichts regelrecht verformt. Die Kontakthaube war nach hinten gerückt, so daß Skor Robinson ihn, Chester, sowohl mit den eigenen Augen wie auch denen des Computers betrachten konnte. »Meinen Gruß, Direktor.« Chester verbeugte sich, so weit die Gurte es zuließen. »Ich habe die Berichte gründlich gelesen. Du und dei nesgleichen habt ein Chaos ausgelöst.« Skors Stimme klang unpersönlich, kraftlos, als hätte er den Gebrauch der Stimmbänder oder eine richtige Betonung nie so recht gelernt, als würden seine Worte digital erzeugt. »Vielleicht solltest du warten«, sagte Chester, »ehe du befiehlst, mich zu töten.« »Warum?« Anscheinend verursachte Robinsons Kinn ihm Beschwerden, wenn er es bewegte. »Du bist ein Cusp, Direktor, Wenn du die Berichte ge lesen hast, weißt du ja, was das bedeutet.« Bedächtig neig te Chester den Kopf. »Mein Entschluß in bezug auf dein Volk steht fest. Ihr wärt ein Krebsgeschwür im Körper der Menschheit. Ihr bringt nur Unordnung.« Robinsons blaue Augen wirkten winzig, die Nase schien an dem riesigen Schädel nicht mehr als ein Pickel zu sein. Chester wußte, daß der Eindruck täuschte; trotzdem sah der Direktor für ihn sonderbar nichtmenschlich aus. »Direktor«, sagte Chester ernst, »du irrst dich. Wir sind kein Krebsgeschwür. Wir sind ein Teil des allgemeinen Gleichgewichts, genau wie du.« Robinsons Gesichtszüge bebten, als ob er versuchte, eine Grimasse zu schneiden. »Euresgleichen würde über all nichts als Störungen anrichten. Ihr benehmt euch unlo
gisch. Gerade deshalb seid ihr eine so große Gefahr für die Menschheit.« Die kleinen, blauen Äuglein hefteten ihren Blick in Chesters Gesicht. »Ich bin nicht unlogisch, Direktor. Ich bin ein Prophet.« Chester behielt seine freundliche Miene bei. »Propheten sind Lehrer, Direktor, darum rate ich dir nun, dich ans Lernen zu machen. Mit Vergnügen habe ich von euren Unterrichtsmaschinen das Lesen gelernt. In deinen weit verzweigten Computersystemen müßte sich ein Verweis auf Arnold Toynbees Der Gang der Weltgeschichte finden. Das Buch enthält stellenweise Fehler, aber ich glaube, du wirst die zugrundeliegenden Wahrheiten als für unsere Diskussion wertvoll anerkennen.« Robinson zögerte keine volle Sekunde lang mit der Antwort. »Ich ersehe darin nur veraltete Gesellschafts theorie«, erklärte er mit seiner ausdruckslosen Stimme. »Die Annahme von Herausforderungen, um Verände rungen zu vollziehen, ist für die Menschheit kein gang bares Verhalten.« Chester nickte. »Du gehst davon aus, daß jeder Wechsel reibungslos vonstatten gehen müßte, Direktor, Aber so einfach läßt Gott uns nicht davonkommen. Ich bin sicher, daß du bei genauer Betrachtung in der gesamten Geschichte der menschlichen Rasse immer zwei Kräfte in gegenseitiger Konfrontation entdecken wirst — das Streben nach Ordnung, wie dein Direktorat es repräsen tiert, und den ständigen Gärungsprozeß, dem Wissens durst, Neugierde, Experimentierlust und Erfindungs trächtigkeit entspringen. Ich wiederhole mich, aber ich muß hervorheben, daß beide Kräfte ein immerwährendes Gleichgewicht bilden.« »Dein Volk wird vernichtet. Ich habe kein Interesse an alten Gesellschaftstheorien.« Robinsons milchig-blaue Augen verrieten keine Emotion. »Wozu versuchst du dar auf zu bestehen, von mir geschaffene Tatsachen ab zuändern? Das ist zwecklose Mühe.«
Chester schüttelte den Kopf. »Ich ändere nichts. Im Gegenteil, ich schaffe die Voraussetzungen für das, was geschehen wird. Du brauchst bestimmte Sätze Daten zur Formulierung deiner bevorstehenden Entscheidungen.« »Welche Entscheidungen?« Skor Robinsons Brauen verzogen sich wahrhaftig, indem sie leicht zuckten, zur Andeutung eines Stirnrunzeins. Chester ließ die Frage unbeachtet. »Wie ich den Prozeß, den Dr. Chem mir erläutert hat, verstanden habe, sind wir, du und ich, Bestandteile der menschlichen Evolution. Die Spezies sprengt nun endgültig alle Grenzen. Während Anpassung früher an die Bedingungen eines räumlich begrenzten Planeten mit seiner spezifischen Atmosphäre, Schwerkraft, seinen Elementen, Lichtverhältnissen, sei nem Wasser und so weiter stattfand, findet die Selektion heute auf sehr unterschiedliche Weise statt. Wir sind beide Versuche der Spezies, eine Balance zu erlangen. Du exi stierst, um für Ordnung zu sorgen, ich um die Zukunftsängste zu lindern. Jeder von uns verkörpert eine Reaktion auf Ungewißheiten im Universum, das uns umgibt. Vielleicht sind wir beide aus Vorsehung an einem kritischen Zeitpunkt da, an dem die Spezies zu wanken beginnt.« Chester verlor sich in seinen Gedanken. »Das reicht. Du kannst gehen.« Skors Kontakthaube senkte sich zurück über die Stirn. »Nicht so hastig, Direktor.« Chester hob, als der Gravo-Sitz anruckte, die Hand. Skors Helm rutschte wieder nach oben. »Nie hat mir je irgendwer widersprochen.« Die tonlose Stimme deutete beinahe eine Spur von Verärgerung an. »Auch dadurch ist deine Menschlichkeit verkümmert.« Chester empfand Befriedigung. »Aber das ist nicht der Grund meines Zögerns. Ich möchte, daß du weißt, ich kann dir bei den kommenden Schwierigkeiten Mittel und Wege zeigen, um die Ordnung zu sichern. Die künftige Politik wird dich die Gemütsruhe kosten — aber das dürf
te weit weniger schlimm sein als der völlige Zerfall des von dir bevorzugten ökonomischen Systems. Um es in Begriffen eurer marktwirtschaftlichen Gesellschaft auszu drücken, Direktor, du wirst einen Bedarf und ich werde eine Dienstleistung zu bieten haben.« »Dein Gerede ist nichts als Unsinn.« Die blauen Augen zuckten mit keiner Wimper. »Wie schwer’s auch fällt, es zu glauben, in deiner emotionalen Struktur bist du noch menschlich.« ehester lachte gedämpft. »Du wirst bald auf den Arsch fallen. Ich frage mich, wie du dich wohl entscheiden wirst? Es ist dein Cusp. Bist du dazu bereit, dich durch deine eige ne Eitelkeit ins Unheil zu stürzen, oder fähig, um der Menschheit willen Kompromisse einzugehen?« ehester spitzte die Lippen. »Ich habe alles gesagt, was ich sagen muß. Du kannst dir eine erhebliche Zeitvergeudung spa ren, wenn du mich nicht zur Universität zurück schickst.« Skor hörte nicht auf ihn. Nach dem Ausbruch der Krise verstrichen drei weitere Stunden, bevor Wachper-sonal Chester schleunigst wieder in den verwaschen-blauen Raum brachte. Es schien, als hätte Skor Robinson nicht einmal die Position verändert, doch in seinen unheim lichen blauen Augen stand jetzt Furcht. »Heraus mit der Sprache!« forderte Robinson. »In welcher Beziehung?« fragte Chester, lauschte auf die Worte, die er sprechen würde, ihm aus seiner Zukunft entgegentrieben. Skors Miene spiegelte andeutungsweise die Nachwir kung eines starken Erschreckens wider. »Eine Revolution ist ausgebrochen. Die Sirianer haben in der plane-taren Direktoratsverwaltung eine Sprengladung gezündet. Sie haben Raumschiffe gekapert und sind gegenwärtig dabei, sie zu bemannen. Es ist Krieg ...« Chester unterbrach ihn. »Ehe du viele überflüssige Worte redest, Direktor, möchte ich darauf hinweisen, daß
noch ungefähr zwanzig Minuten bleiben, bis die Patrouillenflotte um drei Raumschiffe verringert wird. Oberst Ree ist zum äußersten entschlossen. Er wird in einem letzten Verzweiflungsakt alle drei in die Kreisbahn um Atlantis gegangenen Kriegsschiffe vernichten. Du mußt dich jetzt entscheiden. Der Moment deines Cusps ist da. Du kannst mit dem Volk verhandeln, das ihr Romananer nennt, sowie dich mit den sirianischen Revolutionären verständigen. Jede dieser Vorgehens weisen mündet in eine andere Zukunft.« Chester hob die Schultern. »Du feilschst nur um dein Leben.« Skor versuchte höh nisch zu sein. »Mein Leben ist bedeutungslos. Ich habe schon viele Male meinen Tod gesehen, Direktor. Im Laufe meines Schicksals hat er vielerlei verschiedene Gestalt gehabt, an zahlreichen verschiedenen Orten eintreten können. Es ist belanglos, ob ich morgen an Gift sterbe, wie du es ein zurichten beabsichtigst, oder — abhängig von künftigen Cusps — in vierzig Jahren durchs Aussetzen meines Herzens. Gott existiert. Die Seele existiert. Der Tod ist für uns alle lediglich die Sache eines bestimmten Zeitpunkts. Ob er heute kommt oder in tausend Jahren, das Resultat ist das gleiche. Wir sind Werkzeuge für Gottes Pläne.« »Was wird geschehen, wenn ich mich für euch Romananer entscheide?« In der Null Schwerkraft der Kammer bewegten sich schwach Skors skeletthafte Gliedmaßen, während er ungeduldig auf Chesters Antwort wartete. »Ein Prophet ist, wie ich sagte, ein Lehrer. Mein Dienst wird dich eine Lektion lehren.« Chester sah Skor Gereiztheit an, kümmerte sich jedoch nicht darum. »Mit den Romananern ist das Direktorat zum Untergang ver urteilt. Es wird binnen der nächsten sechzig Jahre zer bröckeln. Entscheidest du dich für die Sirianer, erfolgt die
Vernichtung des Direktorats innerhalb von nur sechs Monaten. Die daraus zu ziehende Lehre lautet — wie du leicht ersiehst —, daß nichts für die Ewigkeit geschaffen ist. Du mußt wählen. Auf die eine Weise verwandelt deine Methode der ökonomischen Lenkung sich all mählich in etwas anderes um. Auf die andere Weise wird sich die Umwandlung schnell und gewaltsam vollziehen. In beiden Fällen werden einige davon einen Nutzen haben, andere Schaden nehmen. Leid läßt sich nicht ver meiden. Du hast das Problem, als du Kriegsschiffe aus gesandt hast, um unser Volk und euer eigenes Raumschiff Projektil zu vernichten, selber verursacht. Du hast zugelassen, daß andere durch die SiriusProblematik abgelenkt wurden, während du dich auf das konzentriert hast, was für dich das größere Übel war, und nun mußt du entscheiden, wie du mit der durch dich her beigeführten Situation leben willst. Denn tatsächlich ist es so, daß deine menschliche Schwäche — wie sehr du sie auch leugnen magst —, Zwietracht und Unordnung ausgelöst hat. Ich frage mich, ob du wirklich soviel bes ser als ich oder mein Volk bist.« »Und was hast du mir zu sagen?« fragte Skor. »Wie sollte ich mich entscheiden?« »Darauf wird kein Prophet dir je antworten. Du mußt begreifen, daß wir trotz deiner Sorgen keinesfalls die Zukunft zu beeinflussen versuchen werden. Wir werden dir die Optionen und die Aussichten mitteilen, aber keinen Finger rühren. Kein Mensch darf den freien Willen beschränken, Gott wacht zu achtsam darüber. So, jetzt hast du etwas gelernt.« »Du bist ein Scheusal!« In Skors ausdruckslosen Augen war nur noch Leere zu erkennen. »Ich bin immer für die Menschheit tätig gewesen.« »Kann sein.« Chester hob die Schultern. »Du mußt nun deinen Entschluß fassen. Oder nichts tun, was ge wissermaßen auch eine Entscheidung ist.«
Skors Augen wirkten plötzlich, als blickten sie tat sächlich härter drein. »Also gut«, sagte Chester. Er sah Blut, Tod und Krieg voraus. Und Schmerz; Schmerz auch für sich. * * * Blasterschüsse bestanden aus Energiestrahlen, hochgra dig geladenen Partikeln, die im Schwarz des Weltraums blendend-grelle Lichtbahnen erzeugen konnten. Über große Entfernungen hinweg zerfächerten Blasterstrah-len stark. Die Partikel reagierten aufeinander, stießen sich gegenseitig ab, kollidierten, veränderten sich im Rahmen der komplizierten Physik ihrer Existenz. Die Bruderschaft feuerte aus zu weitem Abstand. Ihre Schüsse verfehlten das Ziel um mehrere hundert Meter. Rees Kanoniere peilten sofort den Vektor an, verfolgten die Schußbahnen zurück, beobachteten die Rotverschie bung und erwiderten das Feuer mit höherer Treffsicherheit — und wahrscheinlich auch größerer Wirkung. »Laßt sie näher rankommen«, befahl Ree. Das war ein aufschlußreiches Vorzeichen gewesen. Sheila hatte zuerst gefeuert und danebengeschossen. Die Projektil hatte zurückgeschossen und getroffen. Leider war die Entfer nung noch groß. Trotzdem mußte Sheilas Ehrgeiz dadurch beträchtlich gebremst werden. * * * »Es ist vollbracht«, sagte Eisenauge leise. Die gesamte romananische Abteilung hatte gemeinsam im Stehen zu ihrem Gott gebetet, so wie sie ihn jeweils verstanden. Laut hatten Spinnenkrieger den Namen Herrjesses’ gepriesen, während Santos im Chor ihre Hoffnungen Spinne zuraun ten. Ein neuer Balken war in eine noch wackelige Brücke gefügt worden. *
*
*
Quer durch das stark besetzte Kasino stierte Großer Mann hinüber zu Eisenauge. Dieser Mann und seine Spinnenkrieger waren das Gespräch der romananischen Welt geworden. Wer entsann sich heute noch an Großer Mann? Man sprach davon, wie Eisenauge und Rotschopf Viele Coups das Volk gerettet hätten. Niemand erwähnte Großer Mann. Seine Krieger hatten sich von ihm abge wandt, als wären sie Sandkörner, die der Wind verwehte. Er mußte neue Coups haben. Großer Mann drehte den Kopf und betrachtete den ver schrumpelten Greis an seiner Seite. Der Alte starrte selbst vergessen in den Saal, den Blick auf die beiden Propheten des Spinnenvolks geheftet, die zurückstarrten. Nicht nur die Spinnenkrieger waren dazu fähig, zu eigenen Bedingungen mit den Sternenmenschen zu ver handeln. Großer Mann kaute auf der Lippe, verengte die Lider zu Schlitzen, während er Rotschopf Viele Coups musterte. Dann machte er sich auf den Weg zu seinem ST. * * * Die Viktoria wartete noch fünfzehn Minuten, bis sie feuerte. Einer der Strahlen flackerte flüchtig über die Schutzschirme und verglomm. »Maya hat die bessere Disziplin«, murmelte Ree vor sich hin. »Man dürfte drü ben reichlich Zweifel haben. Ich wette, die Leutchen sind nicht besonders wild drauf, uns zu beschießen. Dadurch haben wir die günstigere Reaktionszeit. Es ist ‘n schwar zer Tag, wenn Patrouillenschiffe sich gegenseitig vernich ten wollen.« »Die ST sind startbereit, Oberst«, meldete die Kom»Starten!« Rees Stimme blieb fest, als die ST ins All kata pultiert wurden und davonrasten, um ihren Part in diesem Gefecht zu übernehmen. Eisenauge beobachtete, wie die ST in einem kompli
zierten Manöver ausschwärmten, das den Zweck ver folgte, die gegnerischen Kanoniere zu verwirren. Sie ver teilten sich, verlegten den anderen Raumschiffen Angriffskurse, versuchten in ihrer Abwehr Schwachstellen zu finden. Die Projektil wechselte den Kurs, wich einer Reihe violetter Blasterstrahlen aus, die die Bruderschaft ver schoß. »Wie Spinnenfäden«, sagte Eisenauge gedämpft. »Sie werden verschleudert, haben eine Zeitlang den Zweck, Opfer zu finden, und vergehen.« Leeta schauderte es; sie fühlte sich im Schutzpanzer unwohl. Weil sie sich in der Art von Kampf, wie er jetzt stattfand, nutzlos vorkam, außerstande behilflich zu sein, war sie der Panik nahe. Sie nahm einen Stift, flüsterte Eisenauge etwas ins Ohr, und als er sie hochgehoben hatte, malte sie ein Spinnenbild an die Decke, das dem ähnelte, das sie an dem rußigen Felsgewölbe im Lager Gessali gesehen hatte. »So gefällt’s mir hier besser«, rief sie, als Eisenauge sie absetzte. Ein paar Crewmitglieder, die in der Nähe standen, schmunzelten beim Anblick der Spinnendarstellung, und zwei oder drei von ihnen steckten Stifte ein, um sie mit hinauszunehmen. Eisenauge nickte. Die Projektil war kein reines Patrouillenraumschiff mehr, sie hatte angefangen, sich in ein Spinnenraumschiff zu verwan deln. Zuerst bemerkte Ree eine auf die Vorderseite des Schutzpanzers eines Patrouillensoldaten gemalte Spinne. Später sah er Santos-Kreuze an den weißen Wänden, auf den hellweißen Brustpanzern der Soldaten, auf den Seiten von Blastern. Diese Erscheinungen rangen dem Obersten ein Lächeln ab. Tatsächlich, die Männer wurden gehärtet, sie überwanden ihre Gebrechen. Die Besatzung verwan delte sich in etwas anderes, etwas Neues, Starkes.
»Oberst!« Aus der Kommu drang Bruks Stimme. »Ich habe vorhin auf der Frequenz der Bruderschaft den fol genden Funkspruch aufgefangen. Er sollte wohl direk-tionalisiert sein, ich vermute aber, Großer Mann hat’s ver patzt.« »Was?« Ree beugte sich über den Kommu-Apparat. Als er den Namen seines Todfeinds hörte, trat Eisen auge näher. Den Anfang des Texts verpaßte er. »... im Anflug. Wir haben diesen ST übernommen und möchten zu euch überlaufen. Mit eurer Unterstützung kann ich meine Krieger aufrufen, die Spinnenkrieger zu töten, und euch so zum Sieg über Oberst Ree verhelfen.« Ree hob seinen kühlen Blick. »Was kann ich dagegen unternehmen?« Zum erstenmal ließ sich seinem Tonfall eine Andeutung von Verzweiflung anhören. »Es sind über all im Schiff Santos.« Eisenauge biß sich auf die Lippe. Im Geiste sah er Jennys leere Augenhöhlen vor sich. In der Erinnerung hallte sein Racheschwur ihm durchs Hirn. Er entsann sich, wie in seiner Vision der hünenhafte Krieger ihm getrotzt hatte. »Unternimm noch nichts. Wir brauchen jetzt Jose Grita Weißer Adler.« Es dauerte keine fünf Minuten, Grita aus der Bordklinik zu holen und auf die Kommandobrücke zu bringen. Ein Prophet folgte Grita, als er im Schutzpanzer hereinkam. Über die Schulter warf Grita dem Greis, der immer nur lächelte, einen nervösen Blick zu. Auf die Spin nenzeichnung auf der Brust der Panzerkleidung hatte der Krieger ein Kreuz gemalt. »Spielt ihm Großer Manns Worte vor«, sagte Eisen auge, den Blick auf Weißer Adler gerichtet, während er sich bemühte, den Propheten nicht weiter zu beachten. »Er will uns hintergehen?« fragte Weißer Adler, nach dem er den Text gehört hatte. »Er weiß, daß wir in einem Kampf auf Leben und Tod stehen — und trotzdem will er von uns abfallen?«
»Erklär’s der Besatzung«, sagte Leeta leise. »Wenn du an das glaubst, wofür wir sterben werden, sag’s ihr.« Ein leichtes Zischeln ihrer Stimme verriet ihre tiefe Be unruhigung. »Es muß ein Santos sein, der es bekanntgibt.« Jose setzte sich vor den Kommu-Kameras zurecht, wie er es bei den ursprünglichen Besatzungsmitgliedern gese hen hatte, und nickte Ree zu. »Meine Freunde«, begann er, sprach Romananisch, »so wie die Patrouillenkrieger unter ihresgleichen Männer hatten, die nicht für uns kämpfen mochten, so sind wir durch einen der unseren verraten worden.« Er spielte die Aufnahme von Großer Manns hinterlistigem Angebot vor. Eisenauge bemerkte auf den Monitoren, wie unter den Kriegern die Empörung wuchs, während Jose eine leidenschaftliche Ansprache hielt. Die Santos wirkten fassungslos, und die Spinnenkrieger schielten ihre neuen Verbündeten mißtrauisch an. Der Prophet winkte Eisenauge, Ree und Leeta beiseite, während Grita sprach. »Es ist, wie es sein soll. In der Flugmaschine, die ihr einen ST nennt, haben die Santos einen Propheten sitzen. Dieser Mann wartete ab, um zu sehen, wie die Cusp entschieden werden. Großer Manns Verrat könnte die Santos retten — auf Kosten des Spinnenvolks —, falls der Willen eures Direktors sich gegen uns richtet. Durch Jose Grita Weißer Adlers werden zahlreiche Cusps entschieden. Das hast du bewirkt, Eisenauge.« Danach ging der Greis bedächtig hinaus; Ree machte eine grimmige Miene, Eisenauge schluckte ner vös. »Welches Schicksal gebührt Verrätern?« schrie Weißer Adler in die Kommu. »Es ist gegen den Kriegsschwur ver stoßen worden.« »Tod!« Die Santos brüllten genauso laut wie die Spin nenkrieger. Der einmütige Ruf hallte durchs ganze Raumschiff. Eisenauge trat neben Jose. »Spinnenkrieger und Santos sind ein Volk. Unsere Clans haben sich vermischt. Ich
erkläre Großer Mann, der dies neuentstandene Volk an den Feind verkaufen will, die Messerfehde. Er will unseren neuen Stamm, den Bund der Projektil-Män-ner, an den Gegner verschachern. Er hat uns alle entehrt!« Sogar ohne Kontaktron konnte Leeta das Beifallsgeheul hören. Wieder war eine Hürde genommen worden. »Erlaubnis zum Zerblastern des ST, Sir?« Rita Sarsa stell te die Frage in bitterem Tonfall. »Feuer!« befahl Ree. Blasterlicht durchgleißte die Umgebung des ST. Großer Mann hatte Glück. Dann funkte Jose Grita Weißer Adler die Stellungnahme der Santos hinüber. Zunächst erfolgte keine Entgegnung. Doch bald darauf wurde tatsächlich erneut ein Cusps ent schieden, und ein Antwortfunkspruch teilte mit, daß Großer Mann überwältigt worden war und man ihn ein gesperrt hatte. Nach dem Ende der Rebellion widmete Ree wieder seine volle Aufmerksamkeit den Bildschirmen. Seine flin ken Augen beobachteten wachsam, wie Bruderschaft und Viktoria die Position wechselten. Leeta konnte beinahe mitansehen, wie die allgemeine Spannung sich steigerte. Korrekturmanöver zur Änderung der Kreisbahnhöhe brachten die Projektil ins Beben, die Schutzschirme waberten, reflektierten den zusammengefaßten Beschüß durch Viktoria und Bruderschaft. »Anruf von der Viktoria«, gab Bruk durch. Auf einer Bildfläche erschien das Abbild einer dunkelhäutigen Frau. »Oberst Ree? Möchten Sie nicht lieber nachgeben und diesen Irrsinn beenden? Es ist doch alles nur eine Frage der Zeit. Weshalb wollen Sie Ihr Schiff und Ihre Mann schaft opfern?« Sie erweckte einen aufrichtig besorgten Eindruck. »Obristin ben Achmad, es ist alles längst zu weit eska liert.« Ree lächelte, verbarg plötzlich seine Ange spanntheit vollkommen. »Jeder von uns muß wenigstens
einmal im Leben eine bedeutsame Entscheidung fällen. Ich werde nie wieder eine Gelegenheit erhalten, um mit meinem Raumschiff ein wirkliches Gefecht auszutragen. Die jetzige Besatzung steht auf meiner Seite. Wir haben ein völlig neuartiges Bündnis geschlossen. Wir werden unsere Freundschaft auf die Probe stellen und uns für ein besseres Leben in einem veränderten Direktorat einsetzen. Wie einer meiner Leutnants es ausgedrückt hat: Wir haben nichts zu verlieren.« Maya nickte. »Nun gut, Damen. Ich wünschte, ich müßte nicht so handeln, aber ich habe meine Befehle. Ich respektiere Ihren Entschluß. Falls Sie sich doch noch für Ihre Rettung entscheiden, rufen Sie mich an. Dann würde ich Ihnen Sheila vom Hals halten.« Der Bildschirm erlosch. Ree schaltete sich wieder der bordinternen Kommu nikation zu, ohne einen Atemzug zuviel getan zu haben, seine Konzentration war durch das Gespräch nicht im geringsten vermindert worden. Schließlich straffte er sich. »Ich glaube, ich hab’s«, erklärte er mit einer schwungvol len Gebärde. »Voraus liegen zwei Monde auf Kurs, wir beschleunigen, um so bald wie möglich dazwischen zu passieren. Nach den Vektoren geurteilt, können wir dann entweder hinter dem einen oder dem anderen Deckung nehmen, je nach Situation und danach, wer uns gerade am nahsten ist und uns braten will.« »So wie wenn man Grüner Schnitter und Bär spielt?« fragte Eisenauge, der den von Ree vorgeschlagenen, ver wundenen Kurs zwischen den beiden Monden als Computerdarstellung betrachtete. »Viel Schutz bieten sie nicht, aber ‘s ist günstiger als gar nichts.« Ree zuckte die Achseln. »Der Schlachtplan ist aus der Kommu abrufbar. Wir haben in Vorbereitung auf diese Konfrontation unser Bestes geleistet. Wenn sie uns bei diesem Durchflug nicht erledigen, müssen sie vom Delta-Vektor divergieren und neu anfliegen. Dann haben
wir Zeit, um Reparaturen auszuführen und uns auf den nächsten Schlagabtausch einzustellen.« »Ich dachte«, meinte Leeta, »Weltraumkämpfe wären ‘ne Sache von zehn Minuten, in denen es ununterbrochen blitzt und strahlt.« Ree schüttelte den Kopf. »Das kann noch tagelang dau ern. Denken Sie nur mal an unsere Geschwindigkeit. Drüben hoffen sie, ihr Feuer konzentrieren und dank ihrer Schnelligkeit schwerer getroffen werden zu können. Das ist eine Möglichkeit. Wir fliegen mit erheblich geringerer Geschwindigkeit, sind aber rascher zu manövrieren imstande. Sie sind schneller, aber wenn wir sie erst einmal anvisiert haben, können sie nicht so leicht ausweichen. Wenn sie’s mit ‘m Wechsel des Vektors versuchen, wech seln wir ihn ebenfalls. Egal was sie tun, auf jeden Fall erreichen wir die Monde früh genug. Dann sind wir dazu in der Lage, uns in deren Schatten zu halten.« Das Vorgehen bewährte sich. Ree rettete das Raum schiff bis auf weiteres, während die Projektil wenigstens einen wirkungsvollen Treffer auf der Bruderschaft erziel te, der auf dem Geschützdeck Jubel auslöste. Einen Tag später hatten die beiden anderen Patrouil lenschiffe verlangsamt und kehrten zurück. Die ganze Zeit hindurch hatte Ree an der Kommu gearbeitet, die Computer hart gefordert, sich Szenarios ausgedacht und durchgespielt. Als er aufblickte, sah Leeta in rot umrän derte, ermüdete Augen. »Ich weiß, welche Absicht sie haben.« Ruckartig sprang er auf. »Wir können nicht abhauen. Wir müssen den Planeten schützen. Sie haben vor, uns erst zu neu tralisieren, danach die Welt zu zerblastern, bis auf dem Kontinent kein Leben mehr existiert, und uns zum Schluß zu vernichten. Sie fliegen keine Manöver mehr, sondern direkt auf uns zu. Leeta, nun haben Sie ihre lustige kurze Raumschlacht. Man will uns aus der Nähe unter Beschüß nehmen und’s auskämpfen.«
»Was werden wir also machen?« fragte Leeta. »Unsere ST sind zahlenmäßig im Verhältnis zwei zu eins unterlegen. Das gleiche gilt für die Truppenstärke. Wir werden versuchen, ein paar ST durchs Abwehrfeuer zu fliegen und sie zu entern. Gleichzeitig werden wir uns bemühen, lange genug durchzuhalten, um auf eine Seite beider Schiffe zu gelangen.« »Wir werden wohl einiges einstecken müssen, was?« Leeta spürte, wie ihr Herz einen Schlag ausließ. »Einfache Geometrie besagt, daß zwischen zwei be liebigen Punkten eine gerade Linie vorhanden ist. Wenn wir’s schaffen, uns auf dieser Linie zu halten, können wir den Kampf mit einem Schiff nach dem andern aufnehmen. Das ist unsere einzige Chance, auch wenn sie ‘n bißchen heikel ist.« Drei Stunden später wurde der Projektil das erste Loch in den Rumpf gebrannt. Berücksichtigte man, daß es ihr erstes Weltraumabenteuer war, handhabte die jetzt über wiegend romananische Katastrophenschutz-mannschaft den Ernstfall gut. Leeta beobachtete die Schutzschirme und das Feuer der Projektil. Sie erkannte eindeutig, daß Ree den Großteil der Schüsse auf die Bruderschaft abgab. Aus Rache? Plötzlich fuhr ein grelles Aufgleißen aus Sheila Rostostiews Schiff, dann trudelte es auf die Viktoria zu. »Ha, verdammt!« schrie Ree, schwang die Fäuste überm Kopf. »Wir haben ihr was in die Reaktorkontrollen verpaßt! Jetzt treibt sie zu nah an die Viktoria. Kurs wechsel, beidrehen! Wir gehen jetzt hinter der Bruder schaft in Deckung, das ist unsere Chance. Die Viktoria kann nicht durch sie hindurchschießen.« Während Rees Befehl zum Kurswechsel durchs Schiff ging, richtete Rita Sarsa die ihr unterstellten Geschütz batterien neu. Sie begriff jetzt, was der Oberst im Sinne hatte. Sie stimmte sich mit dem Feuerleitzentrum ab und be obachtete, wie ihre Batterien ihr Feuer zusammenfaßten
und einen dünnen Strahl grell-violetten Lichts in die Schutzschirme der Bruderschaft schössen. Von ihrem Platz aus sah sie auf den Monitoren, wie die Viktoria kurz hinter der Bruderschaft zum Vorschein kam und feuerte, bevor Ree die Projektil wieder auf eine Linie mit ihr brachte. Mit einem Krachen und Rattern erbebte das Geschützdeck, sämtliche Systeme fielen aus. Funken sprühten wie ein Feuerwerk durch die Dunkelheit, ihr gespenstisches Glitzern durchflimmerte den Qualm. »Was ist das, Rita?« rief Philip. »Da stimmt doch was nicht.« »Wir sind getroffen worden, Liebster«, teilte Rita ihm mit, stieß gegen den unsichtbar gewordenen Feind einige Flüche aus. Sie spürte, wie die Schwerkraft fluktuierte, indem die Gravo-Kompensatoren die G-Verhältnisse zu normalisieren versuchten. »Beruhige die Truppe, Philip!« Rita winkte in die Richtung eines Grüppchen niedergeduckter Romananer. Sie eilte von Kommu-Terminal zu Kommu-Terminal, bis sie ein Gerät entdeckte, das noch funktionierte. »Verbindung zu Oberst Ree!« befahl sie, hustete Rauch aus ihren Lungen, als sein Gesicht auf der Bildfläche erschien. »Es hat uns steuerbords ziemlich schwer erwischt, Sir. Alle Batterien sind ausgefallen.« »Druck?« fragte Ree mit ausdrucksloser Miene. Rita las eine Anzeige ab. »Sinkt, Sir. Sie müssen uns in die Hauptenergieleitung getroffen haben. Licht haben wir bloß noch durch Brandherde.« »Retten Sie so viele Leute wie möglich, Leutnant.« Rees Bemühung, seine Verzweiflung zu verhehlen, aber überzeugte wenig. Rita salutierte, drehte sich zu der Hölle um, in die ihr Geschützdeck sich verwandelt hatte. »Ihr da!« schrie sie zwei Patrouillensoldaten an, die sich an einem durchge schmorten Generator zu schaffen machten. »Führt die Männer hinter die Schotts! Bringt sie überall hin, wo sich
der Druck aufrechterhalten läßt.« Sie wiederholte die Weisungen auf romananisch, und mit Philips Hilfe gelang eine geordnete Räumung des Geschützdecks. Ein weiterer Treffer warf sie alle von den Füßen. Er schütterungen durchdröhnten das Deck, es bäumte sich auf und sackte ab, die Überlebenden wurden in die Luft geschleudert, zerstreut wie Spreu im Sturmwind. Rita tat einen wilden Satz auf Philip zu, bekam ihn am Fuß zu fas sen. Ein blendend greller, sengendheißer Lichtstrahl durch schnitt das Dunkel. Rita blinzelte, als könnte sie dadurch die Nachbilder verscheuchen, die in ihrer Sicht tanzten, aktivierte mit dem Daumen den Polarisierungseffekt ihres Helmvisiers, zog Philip an sich; sie spürte, daß er zitterte. »Was ist los?« rief er. »Ich glaube, wir werden gleich sterben«, antwortete Rita ernst. »Setz deinen Helm auf! Hörst du das schrille Kratzgeräusch? Es stammt von Metall, das nach draußen geblasen wird. Eine Dekompression steht bevor.« »Ich habe keinen Helm.« Erneut kam es zu einer Rei he von feuerwerksähnlichen Flacker- und Leuchter scheinungen, indem weitere elektrische Anlagen ausfie len. Rita erkannte in seinen Augen sinnige Humorig keit. »Verdammter Idiot!« fuhr Rita ihn an. »Wo ist dein Helm? Wir müssen ihn finden. Es bleibt kaum noch Zeit!« »Ich habe ihn einem Santos gegeben. Er hatte keinen.« Halb hysterisch lachte Philip. Rita fühlte die Druckveränderung sich in ihren Ohren ankündigen, während sie sich energisch bemühte, Philip nach hinten zu zerren. Vielleicht konnte sie ihn in eine der Druckkammern schaffen, bevor ... Ein Schwuppen war die einzige Warnung. Dann er scholl ein Bersten. Ein Rauschen ertönte, in Ritas Ohren stach es, ihre Lungen dehnten sich aus, sie aktivierte den
Helm und befestigte den Karabinerhaken ihrer am Gürtel befestigten Sicherheitsleine an einem Abschnitt einer Rohrleitung. Es kostete sie alle Kraft, Philip festzuhalten. Sie hörte sich vor Furcht schreien. Weiße Helligkeit durchdrang die Finsternis. Sonnenlicht schien durchs Leck herein. Rita sah, wie Leichen, Apparaturen, Trümmer und pulverige Eiskristalle durch das Einschußloch im Rumpf hinaussau sten. Sie wimmerte, während sie in Philips hervorgequollene Augen blickte. Er hatte bis zur letzten Sekunde die Luft angehalten. Blut rann ihm aus Nase und Mund und kristal lisierte. Rita vermochte kaum zu glauben, daß das gequäl te Heulen, das sie hörte, wirklich aus ihrer eigenen Brust kam. Oberst Damen Rees Gesicht verfärbte sich grau wie Stein, nachdem er Sarsas Meldung zur Kenntnis ge nommen hatte. Leeta vermutete, daß das Raumschiff schwer getroffen worden war; sie sah, wie Rees Blick zu den Monitoren hinüberruckte, auf denen man nun mit verfolgen konnte, wie die Viktoria sich hinter der Bruderschaft hervorschob. Als die Projektil ein Manöver einleitete, um ihre übriggebliebenen Geschützbatterien in Schußposition zu bringen, erteilte Ree leise einen weiteren Befehl, und das Schlachtschiff beschleunigte vorwärts, steuerte auf die zwei anderen Patrouillen schif fe zu. »Was haben Sie vor, Damen?« rief Leeta, bemerkte eine völlig neue Art von Entschlossenheit in Rees Miene. »Den Feind zu vernichten, Doktor.« Seine Lippen zeig ten einen seltsam verpreßten Ausdruck. »Ich glaube, hauptsächlich will ich Zeit gewinnen.« »Wie?« fragte Leeta, die das Empfinden hatte, als ver wandelte sich in ihren Adern das Blut in Eis. Wollte der verfluchte alte Narr den Gegner vielleicht rammen? »Wir werden uns zu ihnen durchschießen, ehe sie ‘ne
Gelegenheit haben, um voneinander auf Abstand zu ge hen. Sobald sich alle drei Raumschiffe innerhalb eines Radius von dreihundert Kilometern befinden, werden wir die Antimaterie detonieren lassen. Dadurch nehmen wir sie mit in den Untergang.« »Damen!« kreischte Leeta. »Das ist doch Wahnsinn! Was soll aus Atlantis werden? Wer außer uns soll den Planeten verteidigen?« Ree zwinkerte pfiffig. »Wir sind auf Sendung. Wir ge winnen den Romananern Zeit, Doktor. Irgendwer im Direktorat wird die unausweichliche Frage stellen, die sich daraus ergibt: Weshalb haben wir für eine kleine Gruppe Menschen alles geopfert? Es wird lange dauern — mehrere Monate —, bis Skor Robinson aus einem anderen Raumsektor ein Schlachtschiff abgezogen hat und es hier eintrifft, um diese Welt zu vernichten. Bis dahin kann es durchaus dazu kommen, daß die öffentliche Meinung eine genaue Untersuchung der Vorgänge verlangt. Wenn wir die zwei Schiffe nicht zusammen mit der Projektil zerstö ren, ist dagegen alles verloren.« Leeta schüttelte den Kopf. »Wissen Sie was, Damen?« meinte sie mit trockenem Gaumen. »In Ihrem Herzen sind Sie ein waschechter Romananer. Sie haben tatsächlich zu sich selbst gefunden. Ich gehe mich um meine Kollegen kümmern. Bestimmt können sie jetzt jeden Zuspruch ver tragen.« Mit stummer Frage im Blick schaute Ree hinüber zu Eisenauge, der mit einigen seiner Krieger sprach. »Bevor das Ende da ist, bin ich zurück.« Leeta hob die Schultern; sie fühlte sich nun, angesichts des nahen Todes, sonderbar gefaßt. Ernst nickte Ree, während Leeta die Kommandobrük ke verließ. »Ich wünschte nur, drüben könnten sie uns in die Augen sehen, dann wäre ihnen klar, daß sie uns in den Tod treiben, aber daß sie uns — bei Spinne! — nicht besiegt haben!« Ree murmelte ein Gebet für die Seele
eines toten Spinnenkriegers, während er beobachtete, wie die Projektil mit immer stärkerem Schub auf die beiden gegnerischen Schlachtschiffe zuhielt. Leeta hatte sich beeilt, sie würde bald zurückkehren. Ihnen blieben noch ... Vielleicht zehn Minuten? Bis dahin konnte sie wieder da sein. Sie hatte ihre Mitarbeiter zu informieren. Sie mußte es persönlich tun. Es gehörte sich einfach so. Hier also sollte alles ein Ende nehmen? Leeta lachte vor sich hin. Durch den Geheimbefehl des Direktors war sie, ein Kind des Friedens und der Bildung, in den Dreck getreten worden. Was hinterließ sie? Einen Planeten? Ein Volk? Ein Ideal? Unter ihren Füßen schlingerte das Raumschiff. Ihr gan zes Leben lang hatte sie nach einer anderen Art von Freiheit gestrebt. Dadurch war sie an Bücher geraten, in denen Wissenswertes über seit langem tote Menschen stand. Dann hatte sie ihre Bestimmung gefunden — und nun erwartete sie ein verfrühter Tod. Und was lag jenseits dieser Schwelle? Zumindest durfte sie behaupten, daß sie auf eine Weise gelernt hatte, was das Leben wirklich bedeutete, wer diese Menschen tatsächlich waren, wie sie durch Bücher niemals vermittelt werden konnte. Genau wie an dem Tag im Lager Gessali fühlte sie sich ausgerechnet in diesem Moment wahrhaft und mit alles durchdringender Intensität lebendig! Ihr kribbelte jeder Nerv, ihre Muskeln waren straff, ihre Schritte zeugten von Stolz, ihr Herz war voller Liebe. Qualm durchwehte den Niedergang, während Leeta sich gebückt an aufgetürmten Trümmern vorüberschob. Sie hatte einen Unterschied bewirkt. Wie viele Dummchen der heutigen Menschheit konnten sich so etwas nachsa gen? Leeta zog leicht die Nase, als sie an Jeffray dachte ... und Veld. Es war wirklich gelungen, sich ... Sie hatte kaum Gelegenheit, um die Hitze zu spüren. Irgendwo wurde ein Energiekabel zertrennt, die
Schutzschirme waberten, setzten für einen kurzen Mo ment aus, und Plasma schoß durch den Niedergang. Metall verwandelte sich explosiv in Energie. Ebenso plötzlich schloß sich eine Notschaltung, aktivierte die Schutzschirme wieder. Atome jagten in den schwarzen Abgrund des Weltalls hinaus, Leere blieb zurück, wo sich vorher ein Deck und Luft befunden hatten. In einem Gewirr knisternder Kabel hing der zerschmetterte, ver sengte Leichnam Leeta Dobras. * * * Ohne davon etwas zu ahnen, nahm Damen Ree noch mals mit den Kommandantinnen der zwei anderen Pa trouillenraumschiff Funkkontakt auf. »Ree«, rief Sheila. »Heiliges Kanonenrohr, was haben Sie eigentlich vor?!« »Wir werden alle sterben. Es sei denn, versteht sich, Sie geben nach.« Oberst Damen Ree genoß diesen Au genblick. Er hatte einen ruhmvollen Schicksalsweg ge funden, den Weg eines Soldaten. »Sie wollen Ihr Schiff vernichten, um uns zu töten?« Maya ben Achmad schüttelte den Kopf. »Dadurch wird der Planet für einige Zeit gerettet. Vielleicht haben dann vernünftigere Menschen die Aus sicht, den Befehl des Direktors rückgängig zu machen.« Ree hob einen Becher Kaffee an die Lippen. »Aber wissen Sie, auf jeden Fall werde ich erst einmal verhindern, daß Sie die Romananer vernichten. Ich werde diesen Kampf gewinnen, während Sie alle das Leben für gar nichts ver lieren.« Er lachte das herzhafte Lachen eines Siegers und konnte dabei sehen, wie die zwei Frauen sich gegenseitig ungläubig anschauten. »Sie können nicht entwischen, ehe ich die Reaktion einleite. Wir sind zu nah zusammen.« Er holte tief Atem. »0 Gott, nein!« Sheila drehte durch, schrie ihm Belei digungen und Beschimpfungen zu. Wenig später übertrug die Kommu, wie plötzlich zwei Patrouillensoldaten zu
Obristin Sheila Rostostiew kamen und sie von der Kommandobrücke schleiften. »Das darf doch nicht wahr sein!« stieß Maya ben Ach mad halblaut hervor. »Der alten Fregatte haben die Nerven versagt.« »Noch fünf Minuten, Obristin«, sagte Ree, sah Maya in gelassenem Ernst an. »Möchten Sie Ihrer Transduk-tionsnachricht ans Direktorat noch etwas hinzufügen? Wir sen den auf einer allgemein zugänglichen Frequenz. Man empfängt uns überall im von Menschen bewohnten Weltraum ... Wahrscheinlich sogar darüber hinaus.« »Sie alter Gauner...!« Maya schüttelte den Kopf. »Wir hätten mehr von Ihrem Schlag gebrauchen können, Damen.« »Wollen Sie nicht doch nachgeben? Noch gibt’s ‘ne Chance, Maya.« Ree neigte den Kopf seitwärts. Die Obristin biß sich auf die Lippe und schüttelte noch mals den Kopf. »Ich kann nicht, Damen. Es besteht eine geringe Aussicht, daß Sie bluffen, und dann käme ich mir wie ‘ne Idiotin vor. So wie Sie sich für das entschieden haben, was Sie für das Richtige halten, muß ich meine Befehle befolgen. Das ist eben meine Überzeugung, ver stehen Sie?« Sie lächelte mit allen Anzeichen der Resignation. »Wir sind viel zu prächtige Leute für diesen Robinson, ist Ihnen das eigentlich klar?« Ree salutierte, klappte das Fach mit der Notfall Schaltung auf, packte den Schalter, mit dem sich die Stasisfelder desaktivieren ließen, die die Materie von der Antimaterie trennten. May-as Blick wurde härter, ihr Gesicht bleich. Und da unterbrach die Kommu den Vorgang. Offensichtlich empfing Maya dieselbe Mitteilung. Sie blickte auf, in ihren Augen glitzerte es, sie gab per Kon taktron interne Befehle. »Sieht so aus, als wäre unser Krieg vorbei, Damen«, sagte sie. »Anscheinend haben Sie gewonnen. Ich habe Anweisung bekommen, die
Kampfhandlungen einzustellen und statt dessen Sie in jeder Hinsicht zu unterstützen. Ihre Funkerei hat wohl einen wunden Punkt getroffen. Im Siriussystem ist eine Revolte ausgebrochen. Ich vermute, daß eine Schwächung der Flotte Skor Robinson in dieser Situation sehr unrecht gewesen wäre.« Sie lachte zynisch. »Feuer einstellen!« ordnete Ree an. »Alle Batterien unverzüglich das Feuer einstellen. Die Kampfhandlungen sind beendet, wir haben bis auf weiteres gesiegt.« Er hörte Rufe und Geschrei aus dem ganzen Raumschiff. »Oberst«, rief ein Offizier. »Viktoria und Bruderschaft haben das Feuer eingestellt und die Schutzschirme ab geschaltet.« »Sagen Sie mal, Damen«, meinte Maya, die Augen hart wie Feuerstein, »hätten Sie die Projektil tatsächlich zur Explosion gebracht? Ich will’s wirklich wissen, Damen.« Die Fältchen rings um Rees Mund strafften sich. »Ja, Maya. Ich hätte Sie mit in den Untergang gerissen — das gesamte Direktorat, hätte ich’s gekonnt. Die Projektil ist immer mein Leben gewesen. Und welchen Sinn hat ein Leben ohne einen Zweck? Das erklären Sie mir mal. Es wäre ein herrlicher Sieg geworden.« Eisenauge hob den Blick, als er den Lärm hörte, reckte sich, stand auf, informierte sich über die neue Lage. Sein strahlendes Lächeln zeugte von Triumph, Genugtuung und Erfüllung. Sein Blick schweifte durch die Kommandobrücke, suchte die Frau, die er liebte. Damen Ree grinste froh, er betrachtete die Spinnen zeichnung, die über seinem Kopf die Verkleidung schmückte. O ja, es war verdammt schön zu leben! Ge priesen sei Spinne!
23
Und was habe ich nun bewirkt, Prophet?« In dem verwaschenen Blau seines Kontroll zentrums rotierte Skor Robinson ganz langsam um seine Achse. Mit ausdruckloser Miene saß ehester in einem Gra-voSessel. »Ich sehe die Zukunft sich entwickeln, Direktor. “Ein Damm ist gebrochen, stürmisch entfaltet sich das Künftige. So vieles ...« »Und ihr Barbaren plündert Stationen und Planeten, während wir hier diskutieren?« Skors sonst so tonlose Stimme hatte sich einen Anflug von Bitterkeit angewöhnt. »Nein, Direktor, nicht in der Weise, wie du es dir vor stellst.« Schweigen. »Und was wird aus meinen Sorgen, Prophet? Du be hauptest, die Zukunft zu erkennen, also äußere dich ge fälligst konkret zu meinen schlimmsten Befürchtungen.« Chester hob eine Schulter. »Es wird nicht so kommen. Es werden keine Romananer durchs Direktorat schwär men und sich mit Blastern einen Weg bahnen, um zu rau ben, zu morden und Frauen zu verschleppen.« Chester lächelte und schöpfte tief Atem. »Du mußt beachten, Skor, daß wir vom Geschehen nicht unbeeinflußt oder unverän dert bleiben. Indem wir uns retten, liefern wir uns aus.« Chester wartete, bis Robinsons andeutungsweises Stirnrunzeln sich geglättet hatte. »Ihr liefert euch aus? Wem oder was, Barbar?« »Ich biete dir an, abermals aus den Ereignissen eine Lehre zu ziehen, Direktor. Du ...«
»Ich habe deine Belehrungen satt! Ich will nichts mehr hören von deinen ...« »Ein Prophet ist ein Lehrmeister«, erinnerte Chester ihn. »Daraus besteht Spinnes einem Propheten auferlegte Berufung. Das Lernen ist der Daseinszweck der Seele. Uns alle treiben ...« »Ich kann jederzeit befehlen, dich zu holen und ...« »Du wirst es nicht tun.« »Warum nicht?« »Weil du die Neugier entdeckt hast. Dein Leben hat eine neue Dimension erlangt. Du bist Risiken ausgesetzt gewesen — kleinen Risiken, gewiß, aber jedenfalls Risi ken. Ein Risiko ist mit Furcht verbunden ... Und diese Emotion möchtest du genauer ausloten.« »Aha. Also ... worüber willst du mich belehren, Pro phet?« Skor blinzelte, schnitt seine bislang dramatischste Miene. »Daß Freiheit die stärkste Form des Ausgeliefertseins ist, denn sind wir frei, lernen wir vom Universum. Das ist der Preis, den wir zahlen — doch niemand außer den Propheten weiß es. Hättest du Welt vernichten lassen, wären wir alle umgekommen. Aber nun haben wir die Freiheit des Weiterlebens — und damit die Möglichkeit, zu lernen und zu den Sternen zu fliegen. Für diese Freiheit wird mein Volk alles opfern, was es heute noch schätzt. Ihr braucht uns unse rer Kraft wegen, aber indem wir sie euch verfügbar machen, werden wir langsam, aber sicher die Einzigartigkeit ablegen, die uns diese Kraft verleiht. Auf Welt werden neue Gewohnheiten Einzug halten. Neue Menschen werden ihr Blut und ihre Ideale unter uns mischen. Wir sind dazu verur teilt, andere Lebensweisen kennenzulernen, und viele wer den wir uns aneignen. Schon jetzt ersehnt eine junge Romananerin den Ruhm eines Kriegers ...« »Was ist mit den Cusps?« fragte Skor. »Es gibt doch sicherlich verschiedene Möglichkeiten, was das Schicksal deines Volks betrifft?«
»Du weißt, daß ein Prophet zahllose Zukünfte sieht. In einer davon wird Spinne ins Weltall vorstoßen, und die Romananer werden aufgesaugt, verschlungen, ergänzen das, was das Menschliche ausmacht, um ihren Mut und ihre Philosophie. In einer anderen Zukunft ist Welt zerbla stert und steril, die Oberfläche zerschmolzen und rissig. Weder weiß ich, welche Zukunft wirklich kommen wird, noch weiß es Spinne.« »Und das beunruhigt dich nicht?« wollte Skor mit merklichem Unbehagen erfahren. Chester lächelte und spreizte die Hände. »Nein, Di rektor. Spinnes Universum ist ein unsicherer Ort. Nur die romananische Tapferkeit, die Entschlossenheit der Patrouille und ein besonderer Gottesbegriff stehen zwi schen der Menschheit und völliger Sklaverei. Aus deiner Sicht ist das vielleicht eine gräßliche Perspektive. Für Gott bedeutet es nicht mehr als ein kleineres Ärgernis ... ein mißlungenes Experiment.« »Weshalb höre ich dir bloß zu?« Skor wandte sich sei nen Computerkonsolen zu, zog seine Kathederschläuche hinter sich her. »Weil du nicht anders kannst. Ich habe deine Fragen beantwortet. Ich habe dir etwas zum Nachdenken gege ben. Der Sirius erfordert unverzüglich deine Aufmerk samkeit. Die Bedrohung, die von dort ausgeht, stellt jede Gefahr weit in den Schatten, die mein Volk sein könnte. Ngen Van Chow festigt seine Position. Täglich wächst seine Macht und wird gesichert.« »Und was siehst du im Zusammenhang mit Ngen Van Chow voraus, Prophet?« Chester verzog das Gesicht zu einer furchigen Miene. »Ich sehe ausschließlich Leid und Tod, Direktor. In jeder möglichen Zukunft sind, egal wie die Cusps entschieden werden, nur Blut, Schmerz und Tragik sein Vermächtnis.« »Wie entscheide ich mich, Prophet?« fragte Skor; seihe Nuschelstimme klang nun auffällig sanft.
»Das liegt bei dir, Direktor. Es ist dein Cusp. Ich werde jetzt gehen.« »Warte! Sage mir, was ...« »Ich gehe.« Chester wendete seinen Gravo-Sessel. Robinson drehte den Kopf, wechselte inmitten des bläu lichen Lichts seine Haltung. »Aber ich ... Was hast du denn vor?« Unbekümmert lenkte Chester den Gravo-Sessel auf den Ausgang zu. »Ich habe lesen gelernt. Dabei habe ich die bisher wunderbarste Entdeckung meines Lebens gemacht. Man nennt’s ein Buch. Stell dir vor, eine Geschichte, die nie endet! Worte ... So wie Menschen sie vor viertausend Jahren geschrieben haben. Ich kann mich in die Gedanken Platos, Meister Eckharts, Nagarjunas und Sartres hinein denken! Ich wußte, daß Spinne mich aus einem bestimm ten Grund hierhergeschickt hat.« * * * John Smith Eisenauge ließ die Rappenstute tüchtig die Beine werfen, während sie in den Wind sprengte. Die Zeit war da, in der die Frühjahrssonne dem vom Regen durch tränkten Untergrund neue Gewächse zu entlok-ken anfing. Die Stute zeigte ihre Frühlingslaune und galoppierte mit wahrer Lust dahin, versuchte eine graue Wolke zu überflü geln, die vom Meer landeinwärts wehte und einen früh linghaften Regenschauer ankündigte. Voraus lag das Lager im Nabel. Die Stute konnte die Strecke in guter Zeit schaffen, deshalb mäßigte Eisenauge ihre Geschwindigkeit, spürte das ungewohnte Gewicht des Blasters an seiner Hüfte, wenn er in der Gangart des Pferds im Sattel schaukelte. Am Abend zuvor hatte er ein Gespräch mit Chester gehabt. Der Prophet hatte irgendwie heiter-gelassen ge wirkt, ein Zustand, den man von seinem sonst eher schwermütigen Vetter weniger kannte. Chester hatte Zufriedenheit gezeigt und angesichts der Aussichten im
Siriussystem lediglich gelächelt, einen Ausdruck von Trauer in den klugen Augen. Die Sirianer hatten die vollständige Kontrolle über ih ren Planeten errungen und bewiesen gegenüber dem Direktorat offenen, herausfordernden Trotz. Agenten mel deten den schnellen Umbau von Handelsraumschiffen, denn Krieg war eine tägliche Vierundzwanzig-StundenBeschäftigung. In den Straßen drillte man Bürgerwehren, und die nicht unbeträchtlichen industriellen Kapazitäten des Planeten produzierten nun Blaster und Schutzpanzer. Der Einschätzung des Direktorats zufolge konnte der Sirius allerdings erst in sechs Monaten zur ernsthaften Bedrohung werden. Bis dahin sollte Zersetzungspropaganda des Direktorats den Sirius überschwemmen. Ihr Hauptinhalt galt der Tatsache, daß Kriegswirtschaft viele Opfer abverlangte — eine erhebliche Zumutung, während sich, trotz aller Schreckensmeldungen der Revolutionsregierung Ngen Van Chows, am Himmel kein Feind blicken ließ. Es blieb ausreichende Zeit zum Training, bevor John Smith seine Romananer gegen die Sirianer führen sollte. Patrouillenveteranen bildeten romananische Krieger aus. Man wickelte die Übergangsphase möglichst rei bungslos ab. Die überwiegend in wirklichem Kampf un erfahrenen Patrouillensoldaten waren neidisch auf die Coups, die an den Gürteln der Krieger glänzten. Die hö heren Offiziere der beiden vor kurzem eingetroffenen Patrouillenraumschiffe verurteilten den Brauch des Skalpierens — Ree dagegen unternahm in dieser Bezie hung nichts mehr, er hatte erkannt, daß er die Moral seiner neuen Mannschaft erhöhte. Die Leute der Projektil trugen auf ihrer Panzerkleidung alle Arten von Spinnenvolk- und Santos- Symbolen. Das würde sich mit Sicherheit bald auch auf den anderen Raumschiffen durchsetzen. Konnte man etwas anderes erwarten, wenn Männer und Frauen, die sich als Soldaten
bezeichneten, anderen Männern begegneten, die ihr Leben mit Beutezügen und auf dem Kriegspfad zugebracht hat ten? Trotz der im allgemeinen erfolgreichen Tendenz kam es in der Übergangsphase zu durch Mißgunst ausgelösten Zwischenfällen. Rees verzweifelter Plan hatte den Patrouillenmitgliedern Ehrfurcht eingeflößt. Noch jetzt schüttelten sie den Kopf über dies Maß an Verwegenheit, die Absicht, den Sieg durch den eigenen Untergang zu erzwingen. Die Mannschaftsmitglieder der Projektil traten reichlich großspurig auf, und infolgedessen ereigneten sich Gewalttätigkeiten. Zwei Matrosen der Projektil hatten drei Männer der Bruderschaft zusammengeschlagen — und sie skalpiert. Die Matrosen von der Projektil saßen in Arrest, während die Soldaten von der Bruderschaft sich in der Bordklinik befanden und die Kopfhaut nachwachsen ließen. Es würden noch mehr Wachstumsbeschwerden auftreten. Leeta war das alles vorher klar gewesen. Der Gedanke an sie betäubte Eisenauges Gemüt. Bis zu seinem To destag würde er ihre verbrannten Gesichtszüge vor sich sehen. Das blonde Flaar war auf ihrem Schädel zu einer stinkigen, glasigen Haube geschmolzen worden. Die Haut war schwarz verkohlt gewesen, aus Rissen waren Körperflüssigkeiten gesickert. Die explosive Dekom-pression hatte sie fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Ihre Augen, die ihn zuvor mit ihrem sanften Blau angeschaut hatten, waren weiß geronnen und schwärzlich versengt gewesen. Der letzte Anblick von Leeta Dobras Leichnam hatte seiner Seele unauslöschliche Pein eingeätzt. Aus seinem Universum war jeder Sinn verschwunden. Welchen Grund hatte er noch zum Weitermachen? Sein Leben bestand nur aus Schmerz. Erst war Jenny seiner Zukunft entrissen worden. Leeta hatte ihre Stelle einge nommen und den Geist verdrängt, der ihm in seiner Vision die Freiheit geschenkt hatte. Leeta war hinter seinen
Zielen die Antriebskraft geworden, die alles miteinander verband. Sie hatte ihn geliebt. Immer wieder erinnerte Eisenauge sich an das Bild, wie sich ihre Gestalt im Lager Gessali gegen den Feuerschein abgehoben hatte. Im Flackern des gelblichen Lichts sah er ihren geschmeidigen, verführeri schen Leib. Er entsann sich an das Gefühl ihrer Haut, wie er es während ihrer Zärtlichkeiten vor dem Kampf gegen die zwei Raumschiffe gespürt hatte. In leidenschaftlichem Ausdruck der Liebe und des Lebens hatte sie ihn fest an sich gedrückt. Konnte auch sie ihm nun für immer verloren sein? Er hob den Blick der vom Leid stumpfen Augen und betrachtete den grauen Himmel. Warum dieser Hohn, Spinne? Hat mein Glück so große Bedeutung? Welchen Zweck hat meine Qual? In tiefem Gram erstickte er einen heiseren Aufschrei in seiner Kehle und zügelte die Stute. Er saß ab. Er fühlte sich ausgelaugt, empfand nichts als Sinnlosigkeit. Sobald er den Schatten der Felsen betrat, sah er dort die Versammlung warten. Gut, alles war so, wie es sein sollte. Alles mußte ganz formell ablaufen. Die Clans waren ver einigt, das Volk stark. Das Gesetz mußte aufrechterhalten werden. Es galt eine Messerfehde auszutragen. Sein Leid sicherte ihm das Recht auf Vergeltung. Vielleicht ließ Spinne ihm wenigstens das. Jemand zerschnitt die Fesseln an Großer Manns Handgelenken, und Eisenauge übergab seinen Blaster Rita Sarsa. Wie es bei den Sternenmenschen Sitte war, trug sie zum Zeichen ihrer Trauer um Philip Schwarz. Sie erwider te Eisenauges Blick, für einen Moment teilten sie ihren Schmerz auf einer Ebene, die nur sie beide nachvollziehen konnten. »Du hast dein Volk verraten«, wandte Eisenauge sich in förmlichem Ton an Großer Mann, der ihn hämisch anfeix te. »Du hast gegen den Kriegspakt verstoßen und die Santos ...«
»Sie sind wie Wasser geworden, Spinnenkrieger. Wenn ich dich getötet habe, werde ich mir dieses Sternenweib da nehmen, und dein Coup wird meinen Gürtel zieren.« Er lachte. »Ich werde auf deinen Kadaver pissen.« Rita schüttelte knapp den Kopf, aus schmalen Lidern musterte sie Großer Mann, während sie den Griff des Messers betastete, das an ihrem Gürtel hing. »Du bist ein Mensch ohne Ehre, Großer Mann. Herr-jesses verabscheut dich.« John Smith Eisenauge erhob, sich auf die Zehen, verlagerte das Gewicht auf die Ballen seiner Füße. Der lange Kriegsdolch paßte in sein« Hand wie ein alter Freund. Die Klinge maß dreißig Zentimeter und hatte eine rasiermesserscharfe Schneide. In der trüben Helligkeit gleißte die Kante, die polierte Querstange aus Messing glänzte. Der dicke Ledergriff füllte Eisenauges Faust. Plötzlich griff Großer Mann an, stach mit gefährlicher Bösartigkeit mit seinem Dolch nach Eisenauge, der zu rückwich und zur Seite sprang. Der hünenhafte Santos fuhr herum und stieß zum zweitenmal zu, die Klinge streifte Eisenauges Schulter. Eisenauge duckte sich zu sammen und wälzte sich beiseite, kam gerade rechtzei-tig wieder hoch, um einem schwungvollen Zuhacken Großer Manns entgehen zu können. Der riesige Krieger warf sich, wobei er vor Wut knurr te, erneut auf Eisenauge. Wiederholt wich John aus. Sein Kriegslied begann über seine Lippen zu strömen, während er nach der inneren Kraft suchte, die ihm in der Vergangenheit gegen alles geholfen hatte. Er sah Jennys und Leetas Gesicht vor sich. Einem Ab grund der Leere mitten in seiner Seele entrang sich ein Schrei der Furcht und Einsamkeit. Er wich einem neuen Dolchstoß aus und stach tief zu, indem er vorsprang, wäh rend Großer Mann im Gleichgewicht zu bleiben versuch te. Die Klinge traf einen harten Muskel, der Santos heulte auf und tat einen Satz rückwärts, und das Messer wurde Eisenauges Fingern entwunden.
Eisenauge sprang nochmals vor, versuchte den Dolch an der Griffschlaufe herauszuzerren. Ihm blieb zuwenig Zeit. Als der Riese sich ihm entzog, verdrehte sich der Riemen und riß, Eisenauge hatte das Messer verloren. Großer Mann lachte. Wäre der Tod denn so übel? über legte Eisenauge. Was gab es noch, für das es sich zu leben lohnte? Vor der Höhle spritzte ein Regentropfen auf das feuchte Erdreich. Es gelang Eisenauge, einem weiteren Angriff auszuweichen. In der Ferne jaulte ein ST, der zu einem der Patrouil lenraumschiffe aufstieg. Eisenauge fing zu keuchen an, während er wachsam einen Kreis beschrieb. Großer Mann duckte sich, machte sich bereit, um abermals auf ihn loszugehen. Eisenauge wollte zur Seite huschen. Sein Fuß rutschte über ein Holzscheit einer Säulenpflanze, und er stolperte. Er hörte Aufschreie aus der Zuschauermenge. Noch im Fallen grapschte er mit ra sender Hast nach dem dicken Handgelenk Großer Manns, begann daran zu drehen. Der lange Dolch, abwärtsgewuchtet durch das hohe Gewicht des massigen Santos, bohrte sich dicht neben Eisenauges Ohr ins Holz. »Für Jenny!« schrie Eisenau ge, als er dem Mann ein Knie in den Leib rammte. Gro ßer Mann japste gedämpft, mit der freien Hand tastete Eisenauge nach den Augen des Santos und stieß zu, fühlte weiches Gewebe unter seinen Fingern nachge ben. Der Santoskrieger gab ein Heulen von sich, wälzte sich von Eisenauge, ließ den Dolch in dem Stück Holz stecken. Eisenauge trat ihn gegen die Schläfe, hörte befriedigt das Ächzen, das Großer Mann entfuhr. Doch obwohl er nichts sehen konnte und angeschlagen war, rollte der riesige Krieger sich Eisenauges nächstem Tritt entgegen, warf ihn nieder. Eisenauge spürte, wie Großer Manns enorme Arme ihn umschlangen und der Santos zu quetschen begann. Die
Luft wurde ihm aus den Lungen gepreßt, Gurgeln und Schnaufen röchelten aus seiner Brust. Verzweifelt stach Eisenauge erneut mit dem Finger nach den Augen des Santos, krallte ihn hinein. Die starken Arme gaben Eisenauge frei, hastig kroch er durch den Staub, japste nach Atem. Er zwinkerte gegen das Grau an, das seine Sicht verdüsterte, sah das Messer, sprang darauf zu, eine kraftvolle Hand umklammerte seinen Fußknöchel und zerrte ihn in die gewaltigen Arme zurück. Draußen waren die Sterne. Sie hatten Leeta soviel be deutet. Inzwischen wollte die Patrouille die Spinnen krieger in ihren Reihen haben, sie alle, damit sie sich im Siriussystem als Krieger ehrenhaft auszeichneten. Es hatte bereits so viele Tote gegeben. Leetas Geist mahnte. Fern im Grasland konnte er einen Bären erkennen. Wartete er auf ihn, so wie in seiner Vision? Er mußte die Sterne kennenlernen. So war es nur recht. Leeta verlangte es von ihm. Er wirbelte herum, bemühte sich um Beibehaltung kla ren Sinns, als Großer Mann, noch zum Sehen außerstande, der Messerspitze entgegenfiel, die John in geballter Faust aufwärtsstieß. Warm schoß Blut auf sein Handgelenk und den Unterarm, während er die Klinge drehte und in die Eingeweide bohrte. Der Riese keuchte, sein Atem rasselte John Smith’ ins Gesicht, besprühte es mit blutigem Schaum. Krampfartige Zuckungen schüttelten den Santos, und Eisenauge löste sich mit Tritten aus der Umklammerung der Hünengestalt. Er rang nach Luft, während Rita Sarsa einen Krug Wasser an seine Lippen hob. »War ‘n spannender Kampf, Eisenauge. Ein paarmal dachte ich, er würde dich killen.« Mühsam füllte Eisenauge seine Lungen mit Atem. »Es hat nur ‘ne Zeitlang gedauert, wieder leben zu lernen. Jennys Geist mußte befreit werden. Ich durfte Leeta nicht im Stich lassen. Der Bär mußte erfahren, daß ich würdig bin.« Er lachte auf, schaute sich über die Schulter um. Das
Tier war fort, verschwunden, als wäre es nie zugegen gewesen. Die Männer der verschiedenen Clans kamen, um Ei senauge die Hand zu drücken und ihm auf den Rücken zu klopfen, während er seinen Coup nahm. Jeder einzelne Muskel in seinem Körper schmerzte, als er sich aufrichte te. Einige Krieger hatten schon ihre Pferde bestiegen, um trotz des Regens zu ihren Lagern zurückzureiten. Andere hatten sich in Airmobile gezwängt und die Kanzeln geschlossen, sausten übers Gras in die Richtung ihrer Dörfer. Er sah, wie mehrere Patrouillensoldaten der Projektil mit Spinnen oder Kreuzen auf ihren Uniformen sich mit Männern, die von den beiden anderen Kriegsschiffen stammen mußten, lebhaft über den Zweikampf unterhielten. Rita setzte sich auf einen großen Gesteinsbrocken, der vor Äonen aus dem Felsüberhang des Höhleneingangs gestürzt war, neigte den Kopf zur Seite. Sie verschränkte die Arme, der Wind wehte ihr Strähnen des roten Haars auf Schultern und Brüste. »Wir lassen hier soviel zurück, Eisenauge.« Sie blickte ins Dunkel. »Wir haben hier eine Zeit der Hoffnung erlebt ... eine Zeit der Herausforderungen. Was für Narren sind wir doch gewesen, zu glauben, wir könnten das alles durchziehen, ohne Verluste zu erleiden.« »Das Leben ist für Narren gemacht«, sagte Eisenauge, lehnte sich neben ihr an die Felswand. Mit tauben Fingern befestigte er den blutigen Skalp an seinem Gürtel; sein Blick ruhte ausdruckslos auf dem Leichnam. Großer Manns Verwandte waren nicht gekommen, um ihn mitzu nehmen — ein Zeichen der Schande, die sein Verrat ihnen verursacht hatte. Auf dem Gesicht des Toten gerann das Blut, als wollte es zu einer Maske trocknen. »Verdammt noch mal!« schrie Rita plötzlich. »Warum sie? Das war der letzte Schuß, der abgefeuert wurde. Herrgott, erst Philip ... dann sie.« Sie schüttelte den Kopf,
Tränen auf den Wangen. »Weshalb hat er sich nicht die Zeit genommen, um einmal in die eigene Zukunft zu sehen?« »Er hätte einen möglichen Tod gesehen«, antwortete Eisenauge, legte den Arm um Ritas Schulter. »Wolltest du den Moment deines Todes wissen?« »Nein. Ich glaube nicht.« Rita schüttelte den Kopf Ein paar Augenblicke später schaute sie hoch, wischte sich die Tränen weg. »Ich hab’s bloß satt, Menschen zu verlieren, die ich zu lieben gelernt habe! Ist das viel leicht höhere Gerechtigkeit? Begeht man denn ‘ne Sünde, wenn man jemanden liebt?« Sie schloß die Augen und atmete tief ein. Eisenauges Lachen klang hitzig und nachtragend »Ich nehm’s an. Spinne hat mir Jenny genommen. Er hatte sie mir schon vorenthalten, ehe dieser Lump sie umbrachte.« Mit dem Zeh stieß er die Leiche des Santos an. »Und nachdem ich wieder Liebe, Leben und einen Sinn gefun den hatte, hat er mir auch Leeta entrissen.« Er sprach leise. »Was soll ich daraus lernen?« »Vielleicht daß die Sterne nicht billig zu haben sind?« Rita musterte ihn abschätzend. »Und was nun, John Smith Eisenauge? Gehst du mit uns? Es wird sicher schwere Kämpfe gegen die Sirianer geben.« »Ich will die Sterne sehen.« Er nickte. »Ich habe ein paar Versprechen einzuhalten. Ich beabsichtige lesen zu lernen. Ich will wissen, wie der Weg beschaffen ist, den zu erschließen ich meinem Volk geholfen habe. Philip würde es so wollen ... und Leeta auch.« Er fühlte, wie unter sei nem Herzen Schmerz anschwoll, eine schwarze, endlose Leere bildete. »Im Unterrichten bin ich nie gut gewesen«, sagte Rita halblaut. »Und ich bin nie Schüler gewesen.« Eisenauge hob die Schultern. Rita strich mit der Hand über ihre Coups. »Ohne Philip
wird es nicht das gleiche sein. Ich hatte vorher nie einen Mann wie ihn gekannt.« »Ich bin immer einsam gewesen. Mein Leben war stets voller Kummer.« Eisenauges Stimme verklang, während er sich seinen Erinnerungen hingab. »Aber du kommst mir recht zäh vor, Rotschopf Viele Coups«, meinte er schließ lich. »Ich wüßte nicht, wieso du nicht damit zu leben ler nen solltest.« »Aber warum?« fragte sie, den Blick der kühlen, grü nen Augen auf seine Miene geheftet. »Es ist Spinnes Wille.« Eisenauge hob die Schultern. »Willst du behaupten, du könntest Gottes Pläne durch schauen?« »Nein, aber wenn ich dem Halunken je begegne, werde ich ihn in den Arsch treten«, murrte Rita. »Glaubst du, Spinne macht sich was aus Lästerungen?« Eisenauge lachte. »Wer weiß? Es hat mich immer ge wundert, daß die Santos sich vor Herrjesses im Schmutz wälzen. Weshalb sollte Gott darauf Wert legen, daß ich wie ein unterwürfiger Sklave zu ihm gekrochen komme? Mir wär’s lieber, er sähe mich voller Stolz und Mut. Mir wäre es angenehmer, als wahrer Mann vor ihm zu stehen. Wenn du Gott aufrecht zur Rede stellst, weil dich zornig macht, was du für Unrecht hältst, mit Glut in den Augen eine Erklärung forderst, verübst du keine Lästerung. Einem Gott müßtest du dadurch Ehre erweisen.« Über der Weite der Ebene erzeugte erneut ein ST einen hellen Streifen, während er an den Himmel emporschoß. Ritas Blick folgte der Maschine aufwärts. »Den Sirius kenne ich noch nicht.« »Ich auch nicht«, sagte Eisenauge, sah Ritas sarkasti sches Lächeln breiter werden. Er ging zu der schwarzen Stute, nahm unterwegs auch die Zügel von Philips Wal lach. Er half Rita in den Sattel und schwang sich auf die Stute. Bis zum neuen romananischen Raumhafen war es ein langer Weg — und noch weiter war es zum Sirius.