SEEWÖLFE
BAND 520
Roy Palmer
Standrecht
Seeabenteuer-Roman
Alonzo de Escobedo war ein wandlungsfähiger Mann. V...
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SEEWÖLFE
BAND 520
Roy Palmer
Standrecht
Seeabenteuer-Roman
Alonzo de Escobedo war ein wandlungsfähiger Mann. Vor kurzer Zeit hatte er noch im Kerker von Havanna gehockt - in der Gewißheit, am Halse langgezogen zu werden. Jetzt war er ein freier Mann. Dann, am 10. Juli, hatte er gedacht, die Niederlage nicht ertragen zu können - sein heroischer Sturm auf das Gefängnis war von dem Hundesohn Jose Campora und dessen Wächtern zurückgeschlagen worden. Kein Mann hatte mehr für de Escobedo kämpfen wollen. Doch jetzt, in der Nacht vom 12. auf den 13. Juli, sah wieder alles ganz anders aus. De Escobedo durfte sich bereits als Sieger fühlen. War es nicht phantastisch, wie alles klappte? De Escobedo rieb sich die Hände und lachte in sich hinein. Endlich hatte er die Gelegenheit seines Lebens, allen zu zeigen, was für ein hervorragender Stratege er war.
1.
Er war ein Mann der ersten Linie, ein Offizier von der eisenharten Sorte. Nichts vermochte ihn zu beeindrucken oder gar zum Zaudern zu bringen. Die Belagerung der Residenz war in vollem Gange. Es war nur noch eine Frage der Zeit, dann würde er, de Escobedo, als neuer Regent den Gouverneurspalast beziehen. Ein großes, quadratisches Haus mit Fensterläden stand an der Plaza von Havanna, ganz aus wuchtigen Quadersteinen errichtet. Vor wenigen Tagen hatten hier noch die Besitzer - reiche Bürger - gewohnt. Jetzt hatte de Escobedo das Gebäude als „provisorische Residenz“ ausgewählt. Hier hatte er sein Hauptquartier und seinen Befehlsstand eingerichtet. Er thronte auf einem wertvollen geschnitzten Holzgestühl im Saal des Hauses und hatte vor sich auf einer riesigen Eichenholztafel Pergamentrollen ausgebreitet. Über ihm waren mit Ornamenten verzierte Deckenbalken, von den Wänden blickte eine auf Ölgemälden festgehaltene Verwandtengalerie auf ihn herunter. Als mit der Belagerung begonnen worden war, hatte Alonzo de Escobedo seinen Stand noch direkt unter den Kerlen gehabt, mitten zwischen den Barrikaden. Inzwischen war das nicht mehr erforderlich. Er brauchte den Angriff nicht mehr aus nächster Nähe zu leiten. Es genügte, hin und wieder eine Inspektions- und Kontrollrunde zu unternehmen. Die Kerle - mehr als hundert Mann, allesamt Galgenstricke und Lumpenhunde wußten, was sie zu tun hatten. Hin und wieder wurde mit Drehbassen auf die Residenz gefeuert. Das gehörte zur Taktik. Es galt, die Gegner, die sich hinter den dicken Mauern des Palastes verschanzt hatten, weichzukochen und auszuhungern. Viel hatten die Eingeschlossenen sicherlich nicht mehr zu beißen - und auch am erforderlichen Wasser würde es ihnen sehr bald mangeln. Hinzu kam, daß Bastida Ochsen und Ferkel an Kochstellen rund um die Plaza zubereiten ließ. Der Duft wehte natürlich bis zur Residenz. Ganz gehörig mußte dem „Pack“, das dort Zuflucht gesucht hatte, mittlerweile der Magen knurren. De Escobedos Truppe hatte indessen satt zu essen und reichlich zu trinken. Der Wein floß in Strömen. Und es mangelte auch sonst an nichts. Bastidas „Schnepfen“, die nun sozusagen als Marketenderinnen eingesetzt wurden, versorgten die Kerle mit käuflicher Liebe. Zur Zeit waren die Preise besonders niedrig - ein Sonderangebot des schlauen Bastida. Überhaupt, dieser Gonzalo Bastida! De Escobedo war froh, sich mit ihm verbündet zu haben. Der dicke Kaschemmenwirt war seine letzte Rettung gewesen. Ohne Bastida hätte de Escobedo niemals wieder eine Streitmacht auf die Beine gestellt. Mit Gewalt hatte der Dicke die Kerle rekrutieren lassen. Bastida verfügte über die erforderlichen Mittel, die Macht und die Handlanger dafür. Seine vier Leibwächter Cuchillo, Gayo, Rio ja und Sancho sowie die „Soldados“ eine Schlägertruppe - hatten an allen Ecken und Enden der Stadt das üble Gelichter zusammengetrieben. Cuchillo und Gayo hatten nur ein paar Exempel zu statuieren brauchen, und schon war der Rest der Plünderer von Havanna mit fliegenden Fahnen zu Gonzalo Bastida übergelaufen. Daß sie es nicht schlecht hatten, das war den Kerlen inzwischen klargeworden. Keiner dachte auch nur im Traum daran, abzuhauen. War das nicht ein feines Leben? Man aß und soff, und so ganz nebenbei wurde dabei die Residenz vereinnahmt. Zwischendurch war sogar noch Zeit zum Herumhuren. Und wenn die Verteidiger der Residenz endlich die Fahne strichen, würde man den Palast mit Hurra und Gebrüll stürmen, die Frauen vergewaltigen und die Schatzkammern plündern.
So einfach war das. Havanna gehörte dem Mob. De Escobedo und Bastida würden die neuen Herrscher der Stadt sein - de Escobedo offiziell als neuer Gouverneur, Bastida als graue Eminenz und Fadenzieher im Hintergrund. Mit Havanna gehörte ihnen auch Kuba. Spanien und der König waren weit weg. Man konnte leben wie die Made im Speck. De Escobedo betrachtete lächelnd seine Aufzeichnungen. Mal öffnete er die eine Pergamentrolle, dann die andere. Er hatte verschiedene Pläne entworfen, wie die Kerle beim Sturm in die Residenz eindringen und sogleich die neuralgischen Punkte besetzen sollten. Des weiteren hatte er über einen Um- und Ausbau des Palastes nachgedacht. Ideen waren genug vorhanden. De Escobedo hatte sich fest vorgenommen, sie alle in die Tat umzusetzen. Bastida sollte ruhig glauben, daß er später auch seine Position als Chef der Unterwelt von Havanna behalten würde. De Escobedo beließ ihn bei dieser Annahme. Später würde er dem Dicken schon zeigen, wer hier die Nummer eins war. Irgendwann würde Bastida verschwinden. Im Dschungel. Von wilden Tieren zerfetzt, von einer giftigen Schlange gebissen. Oder im Meer. Bei einem Bootsausflug verunglückt. Oder im Kerker der Residenz. Bastida würde nicht der erste sein, der in dem Gewölbe jämmerlich verreckte. Don Antonio de Quintanilla hatte es ja schließlich vorexerziert, wie man mit lästigen Mitwissern oder Frechlingen umsprang. Sie hatten kein sehr langes Leben. Doch vorläufig war dies noch Zukunftsmusik. De Escobedo mußte mit den Wölfen heulen. Bastida und dessen Bande waren ihm Mittel zum Zweck. Alonzo de Escobedo klatschte in die Hände. Sofort erschien eine der „Marketenderinnen“. Sie hieß Maria Dolores und war eins von Bastidas besten „Pferdchen im Stall“. Maria Dolores trug ein tief ausgeschnittenes Kleid. Ihre Hüften wippten aufreizend bei jedem Schritt. Dicht vor der Tafel blieb sie stehen. „Senor Kommandant wünschen?“ „Wein“, sagte de Escobedo. Maria Dolores nickte und holte einen Kristallkelch und einen Krug. Lächelnd füllte sie den Kelch mit schwerem dunkelrotem Wein und setzte ihn de Escobedo vor. De Escobedo trank. Er schnalzte mit der Zunge und sagte: „Ein wirklich vorzüglicher Tropfen.“ „Soll ich nachschenken?“ fragte Maria Dolores. „Nur zu.“ Maria Dolores ließ den Wein erneut in den Kelch plätschern. Am liebsten hätte sie ihn dem eingebildeten, arroganten Laffen ins Gesicht gekippt. Aber sie hütete sich, auch nur etwas von dem Widerwillen durchblicken zu lassen, den sie diesem Mann gegenüber empfand. Schließlich hatte man ja so etwas wie eine Berufsehre. Und Maria Dolores war gut in ihrem Fach. „Zum Wohl“, sagte sie. De Escobedo leerte den Kelch, setzte ihn auf dem Tisch ab und zog die Hure zu sich heran. „Wann gehst du eigentlich zu Bett, Schätzchen?“ fragte er grinsend. „Wenn du es befiehlst, Senor Kommandant.“ „Sehr gut. Mit wem?“ „Mit wem du befiehlst, Senor Kommandant.“ „Ausgezeichnet.“ De Escobedo erhob sich. „Ich kontrolliere jetzt die Posten. Halte dich zu meiner Verfügung.“ „Zu Befehl.“
„Jede Zuwiderhandlung wird streng bestraft“, sagte de Escobedo. „Wer nicht pariert, empfängt die Peitsche.“ „Oh, wie schrecklich“, hauchte Maria Dolores. „Ich habe richtig Angst.“ De Escobedo lachte rauh und verpaßte der Frau einen derben Hieb aufs Hinterteil. Sie kreischte und nahm Reißaus - de Escobedo ging zur Tür und trat auf den Flur. Draußen donnerte gerade wieder eine Drehbasse. Die Kugel flog über die Außenmauer der Residenz und knallte in eins der Fenster des Hauptgebäudes, das noch heil geblieben war. Klirrend zerbrach das Bleiglas. Wütende Rufe ertönten aus dem Palast. Irgendwo begann ein Kind zu weinen. Die Belagerer lachten roh und stießen höhnische Pfiffe aus. Mit erhobenem Kopf begab sich Alonzo de Escobedo ins Freie, ganz Feldherr und überlegener Potentat.. Am liebsten hätte er eine zündende Ansprache an seine „Armee“ gehalten. Es mußte der Wein sein, der ihm zu Kopf gestiegen war. Seine Siegeseuphorie steigerte sich immer mehr. Mit hämischem Grinsen blickte er zur Residenz und dachte: Bald seid ihr reif. „Senor?“ sagte einer der beiden Posten vor der Eingangstür. De Escobedo drehte sich langsam um und musterte die Kerle. Der eine, ein Riese mit großem Kopf und winzigen Augen, hieß Boldrago, soviel war ihm bekannt. Und der andere? Richtig - sein Name war Soto. Soto fiel durch sein wüstes schwarzes Bartgestrüpp auf, das ihm bis auf die Brust reichte. In einer regulären Truppe wäre Soto bei der Rekrutierung unverzüglich rasiert worden. Aber es handelte sich nun mal um eine Meute von Hundesöhnen, und Äußerlichkeiten wie diese mußte de Escobedo hinnehmen. Es blieb ihm nichts anderes übrig. „Alles in Ordnung hier draußen?“ fragte de Escobedo überflüssigerweise. „Bestens in Ordnung, Senor Kommandant“, antwortete Boldrago, der Sprecher von vorher. „Weitermachen“, sagte de Escobedo. Er stieg die Treppe hinunter und schritt von Barrikade zu Barrikade, um die „Stellungen“ zu überprüfen. Boldrago und Soto warfen sich indessen einen Blick zu. „So ein Blödian“, sagte Soto. „Wozu brauchen wir den eigentlich?“ „Er ist der Gouverneur“, brummte Boldrago. „Noch nicht.“ „Er wird's aber“, entgegnete der Riese. „Und Bastida ist damit einverstanden. Das darfst du nicht vergessen.“ „Ich denke daran“, sagte Soto grimmig. „Aber in meinen Augen ist er trotzdem ein Blödian.“ Keiner konnte Alonzo de Escobedo so recht leiden. Auch Gonzalo Bastida empfand für seinen Verbündeten keinen Funken Sympathie. Im Gegenteil. Der dicke Wirt verachtete de Escobedo. Irgendwann, so hatte sich Bastida bereits vorgenommen, würde er de Escobedo vom Gouverneurssessel stoßen und sich selbst auf den Thron setzen. Davon aber konnte de Escobedo, dieser Narr, nichts wissen. Weder Alonzo de Escobedo noch Gonzalo Bastida ahnten zu diesem Zeitpunkt, daß ihnen Unheil drohte - von der Faktorei des deutschen Handelsherren Arne von Manteuffel. Eine Jolle war am Kai gelandet. Vier Männer hatten sich heimlich in die Faktorei begeben. Bastida fühlte sich viel zu sicher. Er hätte Wachtposten aufstellen sollen. Welchen groben Fehler er durch diese Unterlassung begangen hatte, sollte er noch erfahren. *
Osvaldo, der Dieb, schreckte plötzlich von seinem Lager hoch. Er kroch zu El Sordo, dem Taubstummen, und rüttelte an dessen Schulter. Sofort schlug auch der Kumpan die Augen auf. „Geräusche!“ zischte Osvaldo. „Da ist jemand!“ El Sordo bewegte aufgeregt die Hände. Es war zu dunkel. Er konnte die Worte nicht von Osvaldos Lippen ablesen. Osvaldo begriff und begann, in der Zeichensprache, die sie beide kannten, zu gestikulieren. El Sordo zückte sein Messer. Geduckt schlich er zur Tür. Osvaldo war hinter ihm. Auch er zog das Messer aus dem Gurt. Sie öffneten die Tür spaltbreit und spähten auf den Flur. Nichts regte sich. Und doch hörte Osvaldo es genau in diesem Moment wieder: etwas schepperte verhalten. Der Laut schien aus dem Raum zu kommen, in dem Maria schlief. Das Haus, in dem die beiden Diebe und das Mädchen ihre Lager aufgeschlagen hatten, stand nur wenige Schritte von der Plaza entfernt. Es war eins der Gebäude, das von seinen Bewohnern geräumt worden war, als die große Plünderung in Havanna begonnen hatte. Im Hof wurden Ochsen und Ferkel am Spieß gebraten Osvaldos, El Sordos und Marias Aufgabe, die zu de Escobedos „Versorgungstruppe“ gehörten. Die vierte im Bunde war Juanita, eine von Bastidas Huren. Man hatte Freundschaft geschlossen und paßte irgendwie gut zusammen. So war auch der Plan des Quartetts gereift, gemeinsam aus Havanna zu verschwinden, bevor es zu spät dazu war. Das eigentliche Problem aber war Maria. Die Dreizehnjährige hatte sich als Junge verkleidet. Sie hatte Angst davor, von den Kerlen mißhandelt zu werden. Im Hause ihres ehemaligen Dienstherrn Don Felipe hatte sie schlechte Erfahrungen gesammelt. Osvaldo und El Sordo hingegen hatten sie aus einem Kellerverlies befreit, in dem sie wie ein Tier dahinvegetiert hatte. Die beiden hatten sie anständig behandelt. Maria würde ihnen dies nie vergessen. Das waren eben „anständige Diebe“. Cuchillo, Bastidas gefährlichster Leibwächter, schien allerdings den Verdacht zu hegen, daß der vermeintliche Mario kein richtiger Junge war. Cuchillo hatte es auf das Mädchen abgesehen. Man mußte ständig damit rechnen, daß er auftauchte, um sich näher mit ihr zu befassen. Aus diesem Grund hatten Osvaldo und El Sordo in der Kammer neben der Treppe Posten bezogen. Marias Kammer befand sich weiter hinten. Man mußte also an den beiden vorbei, um das Zimmer des Mädchens zu erreichen. Jetzt schien sich herauszustellen, daß Osvaldos Rechnung nicht aufging. Er konnte nicht ständig auf der Hut sein. Er hatte so tief und fest wie ein Bär geschlafen. Und El Sordo hörte sowieso nichts. Ein Eindringling befand sich im Haus - sie hatten ihn nicht bemerkt. Er bedrohte Maria! Osvaldo und El Sordo schlichen nebeneinander über den Flur zu der Kammer des Mädchens. Osvaldo war als erster an der Tür. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen. Cuchillo war ein blitzschneller, gewandter Messerkämpfer. Es würde nicht leicht sein, ihn zu überrumpeln. Aber - immerhin waren sie ja zu zweit. Mit einem Ruck öffnete Osvaldo die Tür. Dann blieb er wie erstarrt stehen. El Sordo sah ihm über die Schulter und gab einen dumpfen Laut von sich, der wie ein verblüfftes Grunzen klang. Im Schein einer Öllampe hockten Maria und Juanita nebeneinander auf dem Bett. Die Fensterläden hatten sie verdunkelt. Sie schauten auf, winkten den Männern zu und lachten leise. „He“, sagte Osvaldo. „Was macht ihr denn da?“
„Huuu?“ stieß El Sordo fragend hervor. „Kommt rein“, sagte Juanita. „Wollt ihr die ganze Bande aufwecken?“ Osvaldo und El Sordo traten ein. Ziemlich verdattert blieben sie vor der Frau und dem Mädchen stehen. Osvaldo räusperte sich. „Wir dachten, Cuchillo sei hier“, sagte er leise. „Quatsch“, erwiderte Juanita. Plötzlich zog sie einen spitzen Dolch unter der Bettdecke hervor. „Er soll nur erscheinen. Dann rechne ich mit ihm ab. Er ist ein brutales, gemeines Schwein.“ „Um Gottes willen, nein“, sagte Osvaldo. „Beruhige dich“, sagte Maria. „Juanita hat das nicht wirklich vor. Wir haben uns nur zusammengesetzt und ein wenig geplaudert. Wir finden, daß diese Nacht günstig für unser Vorhaben ist.“ „Hokuspokus“, sagte Juanita. Sie schlug die Bettdecke zurück. Ein kleiner Berg Münzen erschien darunter - Dukaten, Reales, Piaster, Silberlinge. „Ich habe jetzt genug zusammengespart und verdient“, erklärte sie. „Das reicht mir. Hauen wir ab und schlagen wir uns zur Südküste von Kuba durch. Wir werden dort einen eigenen Laden eröffnen, vielleicht eine Kneipe.“ Ihre Augen verengten sich. „Es bleibt doch dabei, oder?“ „Klar“, antwortete Osvaldo. „Wir haben von Anfang an vorgehabt, Havanna den Rücken zu kehren, das weißt du. Dabei bleibt es.“ „Aber aufgepaßt!“ Juanita war gedankenschnell auf den Beinen und richtete die Spitze ihres Dolches auf El Sordos Gurgel. „Wenn ihr versucht, mich reinzulegen und mir mein Geld abzunehmen, könnt ihr schon jetzt euer letztes Gebet sprechen!“ El Sordo wich langsam zurück. Dieses Weib war ihm nicht ganz geheuer. Osvaldo hob die Hand. „Laß das, Juanita. Wir haben unser eigenes Geld. Es ist nicht sehr viel, aber wir geben uns damit zufrieden.“ „Bevor wir fliehen, sollten wir aber Don Felipes Villa noch einen Besuch abstatten“, sagte Maria. „Wegen des Geheimversteckes“, sagte Osvaldo. „Vielleicht ist noch Geld darin.“ El Sordo nickte eifrig dazu. „Meinetwegen.“ Juanita steckte ihren Dolch wieder weg, „Mir geht es nur darum, klare Fronten zu schaffen. Wir legen unser Geld zusammen. Aber das soll euch nicht dazu verleiten, mich auszubooten.“ „Natürlich nicht, Juanita“, sagte Maria. „Auf unsere beiden Freunde kannst du dich wirklich verlassen.“ „Ich hab' schon die verrücktesten Sachen erlebt“, erwiderte die Frau. „Warum gehst du nicht allein fort, wenn du so mißtrauisch bist?“ fragte Osvaldo. Die Hure maß ihn mit einem scharfen Blick. „Das habe ich euch schon mal erklärt. Alleine habe ich Angst.“ „Du und Angst?“ Osvaldo mußte unwillkürlich lachen. „Das kann ich mir nicht vorstellen!“ „Und doch ist es so“, entgegnete Juanita. „Denk darüber, wie du willst. Wenn im Dschungel Wegelagerer oder Wilde über mich herfallen, habe ich keine Chance. Außerdem kann ich an der Südküste, ganz gleich, ob in Batabano oder anderswo, allein wenig ausrichten. Ich könnte höchstens wieder in einer Kneipe zu arbeiten anfangen. Aber ich will mich selbständig machen.“ „Gut, gut“, sagte Osvaldo. „Langer Rede kurzer Sinn: ich gehe jetzt unser Geld holen. Wir stecken alles in einen Beutel. Maria wird den Beutel verwalten. Einverstanden?“ „Jawohl“, erwiderte die Hure. Sie grinste jetzt. „Und dann packen wir unsere Klamotten und kratzen die Kurve.“
Sie grinsten jetzt alle vier. „Aber wir dürfen Burrito nicht vergessen“, gab Maria zu bedenken. El Sordo gestikulierte heftig. Die Frau und das Mädchen schauten zu ihm. Sie schüttelten die Köpfe und blickten zu Osvaldo. „Er meint, das sei doch selbstverständlich. Niemals würde er Havanna ohne unser Maultier verlassen.“ „Klarer Fall“, sagte Juanita. „Ich sehe, wir sind uns wirklich einig.“ Osvaldo wischte sich den Schweiß ab, der sich auf seiner Stirn gebildet hatte. „Ja. Aber ihr beiden habt uns eben einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Könnt ihr uns das nächste Mal, wenn ihr das Geld zählt, nicht vorher Bescheid sagen?“ „Ihr habt so schön geschlafen“, versetzte Maria lachend. „Da wollten wir euch nicht stören.“ „Wegen Cuchillo braucht ihr euch nicht zu sorgen“, sagte Juanita. „Es ist jetzt die dritte Nacht, in der Bastida mit seinen Kerlen feiert. Die Hunde erscheinen hier erst wieder, wenn die Residenz erobert ist. Und dann sind wir längst weg.“ Ihre Worte waren von solch unwiderlegbarer Logik, daß Osvaldo, El Sordo und Maria nichts darauf zu erwidern hatten. * Capitän Don Luis Marcelo, der Kommandant der Stadtgarde, gab ein schwaches Stöhnen von sich. Dann öffnete er die Augen. Der schwerverletzte Mann hatte Schwierigkeiten, zu begreifen, wo er sich befand. Allmählich aber ging es ihm wieder auf. Nach den Straßenkämpfen, bei denen er verwundet worden war, hatte man ihn in die Residenz gebracht. Hier lag er nun und konnte sich kaum rühren. Die Schmerzen setzten ihm gewaltig zu. Nur undeutlich vermochte Marcelo die Gestalten zu erkennen, die an den Seiten und am Fußende seines Lagers standen und miteinander tuschelten. Was wollen die? fragte er sich gequält. Warten die auf mein Ende? Ist der Priester schon da, um die Letzte Ölung vorzunehmen? Wut stieg in Marcelo auf. Er war nie eine große Leuchte gewesen. Sein schlimmstes Laster war der Wein. Aber jetzt zeigte sich eine Reaktion in ihm. Nein, er wollte nicht so einfach sterben! Vielmehr wollte er dem verdammten Teufel von der Schippe springen, solange noch ein Fünkchen Leben, Geist und Verstand in ihm waren! Der Zorn gipfelte in einem saftigen Fluch. Sofort ertönte eine Stimme über Marcelo. „Capitän, Sie dürfen sich nicht aufregen.“ Es war die Stimme des Arztes, Marcelo erkannte sie wieder. Don Luis Marcelo riß die Augen so weit wie möglich auf. Jetzt konnte er die Gestalten endlich erkennen - den Arzt, einen Assistenten, mehrere Soldaten. Ein Priester war nirgends im Raum zu entdecken. Aha, dachte der Capitän grimmig, es ist also doch noch nicht soweit. Draußen ertönte das Donnern einer Drehbasse. Eine Kugel heulte heran und krachte gegen die Außenmauer. Ein Beben ging durch den Raum. Wieder stieß Marcelo eine tüchtige Verwünschung aus. „Aber, aber, Senor“, sagte der Arzt besorgt. „Ich bitte Sie...“ „Und ich gebe Ihnen einen Befehl“, sagte Marcelo frostig. „Rufen Sie sofort meinen Stellvertreter, den Primer Teniente Echeverria.“ „Sie dürfen jetzt nicht sprechen“, warnte der Arzt. Marcelo blickte ihn aus funkelnden Augen an. „Es ist ein Befehl, haben Sie nicht verstanden?“
„Doch - jawohl.“ Der Arzt gab einem der Soldaten ein Zeichen. Der Soldat verschwand, um Echeverria zu holen. Marcelo war über sich selbst erstaunt. Er hatte große Schmerzen, aber die Schmerzen kümmerten ihn in diesem Moment einen Dreck. Was noch verwunderlicher war: er verspürte nicht das geringste Verlangen nach Wein. Vielmehr fühlte er eine neue Art der Verantwortung und war von dem Wunsch beseelt, sofort etwas gegen das Gesindel zu unternehmen, das Havanna in eine Stadt des Terrors verwandelt hatte. Der Primer Teniente Echeverria erschien mit dem Soldaten, der ihn geholt hatte, und salutierte vor dem Krankenbett seines Kommandanten. „Teniente“, sagte der Capitän, „die Hunde haben mich übel zugerichtet. Aber ich kratze noch nicht ab.“ „Ich bin darüber sehr erfreut und wünsche Ihnen, daß Sie schnell wieder auf die Beine kommen, Senor Capitän“, erwiderte Echeverria. „Danke.“ Marcelo glaubte es ihm. Echeverria war ein ehrlicher Mann. Ein guter Offizier und Soldat. Einer der wenigen, die ihn - trotz seines Trink-Lasters - wirklich schätzten. „Schildern Sie mir die Lage mit wenigen Worten, Teniente“, sagte Marcelo heiser. Das tat Echeverria. Es sah übel aus für die Bewohner der Residenz. Der Palast war vom Pöbel umzingelt, keine Maus konnte heraus. Die Kerle feierten bereits ihren Sieg. Rädelsführer waren de Escobedo und Bastida. Die Stadt - bis auf das Gefängnis und die Residenz - gehörte ihnen. Viel schlimmer aber war in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß bei den Eingeschlossenen Uneinigkeit herrschte. „Uneinigkeit?“ fragte Marcelo. „Etwa zwischen Militär und Zivilisten?“ „So ist es“, antwortete Echeverria. „Das hätte ich mir denken können“, flüsterte Marcelo. „Senor Capitän“, sagte der Arzt. „Ich muß Ihnen verbieten, weiter mit dem Teniente zu reden. Ich...“ „Ach, scheren Sie sich doch zum Teufel!“ fuhr Marcelo den Mann an. Entrüstet verließ der Arzt daraufhin den Raum. Marcelo grinste schwach. „So, jetzt sind wir wenigstens ungestört.“ „Sie sollten auf den Rat des Arztes hören“, sagte der Primer Teniente. „Ja, schon gut. Wenn ich richtig verstanden habe, verteidigen Sie mit der Garde und der Miliz die Residenz?“ „Ja. Wir tun unsere Pflicht.“ „Wie sieht es mit der Munition aus?“ „Sie ist knapp bemessen.“ „Proviant?“ „Er geht zur Neige“, erwiderte Echeverria. „Auch am Trinkwasser wird es uns bald mangeln. Die vielen Bürger, die hier Schutz gesucht haben, haben die Vorräte kaum rationiert.“ „Und wer ist der Sprecher der Bürger?“ „Don Alfonso Cortes y Menacha.“ Marcelo murmelte wieder einen Fluch. „Ausgerechnet der. Das hat uns gefehlt. Aber auch das habe ich mir ausmalen können.“ Don Alfonso Cortes y Menacha war einer der Magistratsbeamten von Havanna. Ein behäbiger, zum Fettansatz neigender Mensch, der im Grunde seines Herzens alles andere als ein Kämpfer war. Sicherlich hatte er mächtige Angst vor den Kerlen, die die Residenz mit Drehbassen beschossen. „Don Alfonso würde sicherlich gern kapitulieren, wie?“ fragte Marcelo. „Ich könnte es mir jedenfalls vorstellen.“
„Ja“, bestätigte Echeverria. „Aber genau das wollen die Belagerer ja erreichen.“ „Fein haben sie sich das ausgedacht“, sagte Marcelo erbittert. „Don Cortes y Menacha weist immer wieder darauf hin, daß die Frauen und Kinder am meisten gefährdet seien“, erklärte der Primer Teniente. „Seiner Ansicht nach müßte es unser aller Bestreben sein, sie vor weiteren Entbehrungen zu bewahren.“ Der Capitän hustete. „Und was erwartet unsere Frauen und Kinder Ihrer Meinung nach, wenn wir die Flagge streichen?“ „Ich bin überzeugt, daß de Escobedo und seine ominöse Streitmacht keinen schonen werden“, erwiderte Echeverria ernst. „Ganz im Gegenteil. Sie werden wie die Teufel hausen, wenn wir aufgeben.“ „Weitere Details können Sie sich sparen.“ „Ja, Senor.“ „Teniente“, sagte Marcelo. „Würden Sie sich zutrauen, mit einem Trupp ihrer besten Soldaten einen Ausfall gegen die Kerle zu unternehmen?“ „Ja, Senor Capitän.“ „Bedenken Sie, daß es ein Himmelfahrtskommando wäre.“ „Ich weiß Bescheid“, entgegnete Echeverria. „Aber das schreckt mich nicht ab. Wenn Sie mir den Befehl geben, stelle ich sofort eine Einsatzgruppe zusammen.“ Marcelo lauschte. Wieder ertönte das Krachen eines Schwenkgeschützes auf der Plaza. Die Kugel prallte hart gegen die Mauer. Der Capitän betrachtete den schwankenden Kronleuchter seines Raumes und blickte zu dem bereits von früheren Schüssen zertrümmerten Fenster. „Eigentlich können wir froh sein, daß es Sommer ist“, sagte er zu seinem Stellvertreter. „Sonst wäre es hier jetzt lausig kalt.“ Echeverria mußte nun doch grinsen - trotz der prekären Lage, in der sie sich befanden. „Es freut mich, daß Sie Ihren Humor nicht verloren haben, Senor Capitän“, sagte er. „Die Kerle trinken also Wein?“ fragte Marcelo. „Das haben Sie doch eben gesagt, nicht wahr?“ „Ja. Bastida läßt sich nicht lumpen.“ „Je mehr Wein sie saufen, desto besser“, sagte Marcelo nachdenklich. „Warten Sie noch ein wenig ab, Teniente. Wenn die Hunde so richtig im Tran sind, können Sie es versuchen. Holen Sie sich aber vorher von mir die Bestätigung des Befehls.“ „Jawohl, Capitän.“ Echeverria zeigte klar. Er war jetzt richtig stolz auf seinen Kommandanten. Himmel, Marcelo war ja wie umgewandelt! Capitän Don Luis Marcelo grübelte herum, nachdem Echeverria das Zimmer verlassen hatte. Welche Möglichkeiten gab es noch, den Belagerern ein Schnippchen zu schlagen? Offensichtlich keine. Anders wäre es gewesen, wenn man in der Residenz haufenweise Munition zur Verfügung gehabt hätte. Man hätte ein Zielschießen auf diejenigen Kerle durchführen können, die ihre Nase zu weit vorstreckten. Aber das hatte bei der Situation, in der die Eingeschlossenen waren, auch keinen Sinn. Zu leicht konnte der letzte Rest an Pulver und Kugeln vergeudet werden. Wenn ich doch bloß schon aufstehen könnte, dachte Marcelo immer wieder. Herrgott, wie lange muß ich hier noch liegen? Keiner wollte ihm eine Antwort auf diese Frage geben. Schon gar nicht der Arzt. Marcelo aber wußte zumindest das eine: etwas hatte sein Leben grundlegend verändert. Es mußte der Tod gewesen sein, den er so nah vor Augen gehabt hatte. Das wirkte sich auf die Geisteshaltung aus. Wenn ich es überstehe, dachte der Kommandant der Stadtgarde, fange ich ganz von vorn an.
2.
Wie Verschwörer hockten im Kontor der Faktorei von Manteuffel sieben Männer und eine junge Frau zusammen. Es war eine Stunde vor Mitternacht vom 12. auf den 13. Juli 1595. Sie hielten Kriegsrat - Philip Hasard Killigrew, genannt der Seewolf, Jean Ribault, Dan O'Flynn, Edwin Carberry, Arne von Manteuffel, Jörgen Bruhn, Jussuf und Isabella Fuentes. Hasard, Ribault, Dan und der Profos waren gerade erst mit einer Jolle gelandet. Draußen, auf der Reede vor der Hafeneinfahrt, ankerten ihre Schiffe: die „Isabella IX.“, die „Le Griffon“, die „Golden Hen“ und die „Empress of Sea II.“. Keiner hatte den Seewolf und dessen drei Begleiter bemerkt, als sie über den Kai gehuscht und im Handelshaus verschwunden waren. Bastidas Kaschemme war zu weit entfernt und stand außerhalb des Bereichs der Faktorei. Die vier Gäste hatten den Bericht von Arne und Jussuf vernommen. Sie wußten über die Lage in der Stadt Bescheid. Es mußte etwas geschehen - ganz klar. Die Situation hätte schlimmer nicht sein können, und sie würde in einer Katastrophe enden, wenn die Residenz fiel. Sei es durch Übergabe, sei es, daß man sie stürmt, dachte Hasard, es wird böse ausgehen. Laut sagte er: „Es geht jetzt darum, daß wir die richtige Entscheidung treffen. Wo sollen wir ansetzen - bei diesem Gonzalo Bastida oder bei Alonzo de Escobedo?“ „Für mich gibt es da nicht viel zu diskutieren“, sagte Carberry. „De Escobedo ist gefährlicher als ein Sack voll Schlangen. Ihm müssen wir als erstem das Handwerk legen.“ „Moment“, sagte Jean Ribault. „Jussuf, wenn ich dich eben richtig verstanden habe, ist nach deinen Erkundungen der eigentliche Drahtzieher dieser Kneipenwirt.“ „Er ist der Spiritus rector“, sagte Arne. „Was das heißt, weiß ich nicht“, sagte der Profos. „Aber daß Bastida ein ausgekochtes, hinterhältiges Schlitzohr ist, ist mir natürlich auch aufgegangen.“ „Stimmt“, sagte Arne. „Bastida ist ein Dunkelmann. Er ist mit allen Wassern gewaschen. Er agiert aus dem Hintergrund und beherrscht offenbar die gesamte Unterwelt von Havanna.“ „Nicht nur offenbar“, sagte Jussuf. „Er ist der Häuptling aller Langfinger, Buschklepper, Räuber, Schieber und Mörder. Er schreckt vor nichts zurück. Auch nicht vor Mord.“ „Immerhin hat er es geschafft, die Plünderungen zu unterbinden“, sagte der Seewolf. „Ein beachtliches Stück Arbeit, wenn man so will. Logisch, daß er es nicht aus Menschenfreundlichkeit getan hat. Er hatte nur das eine im Sinn: seine Privatarmee zu rekrutieren.“ „So ist es“, bestätigte Arne. „Und diese Hundesöhne belagern jetzt die Residenz. De Escobedo und Bastida sehen die einmalige Chance, die Stadt vollständig in ihren Griff zu bekommen. Wenn sie die Residenz vereinnahmt haben, gibt es keinen mehr, der ihnen Einhalt gebieten kann.“ „Wie sieht es mit dem Gefängnisdirektor aus, diesem Jose Campora?“ erkundigte sich Dan O'Flynn. „Der ist ein harter Knochen“, erwiderte Jussuf, „wie er ja im Kampf gegen de Escobedo bewiesen hat. Aber wenn de Escobedo wieder Gouverneur ist, kann Campora nur noch das Weite suchen. Dann geht es nämlich auch ihm an den Kragen. Die Übermacht, die er dann gegen sich hat, ist zu groß.“ „Er kann sich also nicht mehr halten“, sagte Jean Ribault. „Warum greift er jetzt nicht ein?“
„Um die Kerle in die Zange zu nehmen“, sagte Carberry. „Wenn gleichzeitig die Verteidiger der Residenz einen Ausfall unternehmen, können sie immerhin einige Belagerer niederschießen.“ „Erstens hat Campora nur an die fünfzehn Mann“, erklärte Arne. „Die reichen aus, solange er das Gefängnis gegen eine Handvoll betrunkener Plünderer zu verteidigen hat. Wenn er aber ausrücken muß, ist er mit seinen Wächtern von vornherein zum Scheitern verurteilt. Zweitens kann er seine Aktion nicht mit Marcelo, dem Kommandanten der Garde, abstimmen. Und Marcelo ist schwer verletzt.“ „Ich verstehe“, sagte Hasard. „Auch die mutigste Tat würde zu diesem Zeitpunkt nichts nützen. Sie würde nur die Zahl der Verteidiger weiter verringern.“ „Was nicht im Sinne der Sache ist“, sagte Dan. „Also ran“, sagte der Profos drängend. „Räumen wir ein bißchen auf.“ Er lauschte dem Kanonendonner, der von der Plaza herüberwehte. „Wir sollten nicht zu lange warten.“ „Das wollen wir auch nicht“, entgegnete der Seewolf. Er blickte seinen Vetter an. „Bastida hat also vier Leibwächter und eine Schlägertruppe?“ „Ja.“ „Die Leibwächter heißen Cuchillo, Gayo, Rioja und Sancho.“ „Richtig“, bestätigte Arne. „Und die Schläger werden Soldados genannt.“ „Bei allen sitzt das Messer locker“, sagte der Seewolf. „Und wenn Bastida es ihnen befiehlt, schneiden sie sämtlichen Bürgern von Havanna - einschließlich der Frauen und Kinder - die Gurgeln durch.“ „Damit ist zu rechnen“, sagte Jussuf seufzend. „Die Kerle sind skrupellos und brutal. Mit ihrer Hilfe setzt der Dicke alle seine Pläne rigoros durch.“ „Also gut“, sagte Hasard. „Wir nehmen Bastida hopp.“ Carberry grinste. „Zuerst ihn? Mir soll's recht sein.“ „Ja, eine solche Aktion ist auch nach meinem Geschmack“, meinte Jean Ribault grinsend. „He!“ sagte Jörgen Brunn. „Ihr wollt doch wohl nicht gleich losrücken? Ich meine, wir gehen natürlich mit, aber...“ „Wir packen die Sache anders an“, sagte der Seewolf. „Zu was haben wir unsere Besatzungen? Wichtig ist, daß Bastida und die Schlägertruppe uns nicht entwischen. Wenn dem wüsten Haufen der Kopf fehlt, gibt es keinen Zusammenhalt mehr. Eine alte Erfahrung, wie ihr alle wißt. Sind die Kerle kopflos, verzetteln sie sich. Je größer die Verwirrung ist, desto geringer werden ihre Chancen, die Residenz zu vereinnahmen.“ „Rein in die Kaschemme und alles kurz und klein hauen“, sagte der Profos. „Und anschließend wenden wir uns de Escobedo zu, nicht wahr?“ „Ja“, antwortete Hasard schlicht. „Jussuf, bist du sicher, daß de Escobedo seinen Befehlsstand immer noch in dem Haus an der Plaza gegenüber der Residenz hat?“ fragte Arne. „Ganz sicher“, erwiderte Jussuf. „Ich bin heute abend noch einmal bei meinen neuen Freunden Osvaldo, El Sordo, Juanita und Maria gewesen, wie du weißt, und sie haben es mir bestätigt Ich habe auch einen Blick auf das Haus werfen können, in dem de Escobedo sich einquartiert hat. Es ist ein sehr schönes Haus.“ Mit fast salbungsvoller Stimme fügte er noch hinzu: „Und eine schöne Frau leistet ihm dort Gesellschaft. Sie heißt Maria Dolores. Leider hat sie einen schlechten Ruf.“ Isabella mußte unwillkürlich lachen. „Jussuf, du brauchst dich nicht so gedrechselt auszudrücken. Ich weiß ja wohl, was eine Hure ist Ich bin ein aufgeklärtes Mädchen.“
„Allah schütze dich“, sagte Jussuf. „Havanna ist eine Stadt des Lasters, ein Sündenpfuhl. Am besten wäre, du würdest nur mit verbundenen Augen herumlaufen.“ „Und verschleiert wie im Orient, was?“ Carberry schüttelte heftig den Kopf. „Nein. Solche Sitten sind hier fehl am Platze. Du lieber Himmel, das wäre ja furchtbar.“ Er warf Isabella einen Blick mit viel Schmelz zu. „Was denn?“ fragte Jussuf. „Wenn man so ein hübsches Gesicht verstecken würde“, antwortete der Profos und räusperte sich. Hasard, Dan, Ribault, Arne und Jörgen grinsten ihn über den Tisch hinweg an. „Danke für das Kompliment“, sagte Isabella. Carberry grinste nun ebenfalls. „Ach, das ist kein Kompliment Es ist die Wahrheit.“ Hasard griff ein. „Hör auf, Süßholz zu raspeln, Ed“, sagte er. „Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun.“ „Das weiß ich“, brummte der Profos. „Und ich warte schon einige Zeit darauf, daß es richtig losgeht.“ „Wir werden de Escobedo in dem Haus an der Plaza ausheben, wenn wir mit Bastida fertig sind“, sagte der Seewolf. „Was sind das für Freunde, von denen du gesprochen hast, Jussuf?“ Jussuf lächelte. „Ich habe sie per Zufall kennengelernt. Sie halten mich für einen alten Streuner und nennen mich Jose. Osvaldo und El Sordo sind Strolche, aber sie gehören nicht zu der üblen Sorte. Maria ist eine Halbwüchsige, die als Dienerin in einem Bürgerhaus gearbeitet hat und geflohen ist. Juanita ist eine Vertreterin des äh - Gunstgewerbes.“ Er warf Isabella, die schon wieder kicherte, einen raschen Blick zu. „Alle vier machen nur gezwungenermaßen bei der Belagerung mit. Sie haben vor, das Weite zu suchen, bevor es zu spät ist. Irgendwie ahnen sie, daß alles nicht so klappt, wie de Escobedo und Bastida es sich vorstellen.“ „Sehr gescheit“, sagte Jean Ribault. „Wir wissen zwar auch noch nicht, ob unser Unternehmen so glückt, wie wir es uns ausmalen. Aber wir setzen alles daran, den Wirt und unseren Freund de Escobedo zu erwischen.“ Hasard erhob sich als erster. Er leerte noch rasch sein Glas, dann begab er sich mit Arne, der ebenfalls aufgestanden war, auf das Dach der Faktorei. Jussuf und Jörgen gesellten sich zu ihnen, und kurz darauf gaben die Männer den Mannschaften an Bord der vier Schiffe draußen auf der Reede Blinkzeichen. Ben Brighton ließ von Bord der „Isabella“ aus signalisieren, daß sie verstanden hatten. So segelten die „Isabella“, die „Golden Hen“, die „Le Griffen“ und die „Empress“ wenig später durch die Hafeneinfahrt in die Bucht von Havanna - vorbei am Castillo de la Punta und am Castillo del Morro, die völlig verlassen dastanden. Die letzten Bewacher hatten die beiden Forts vor Tagen geräumt. Sie waren in die Stadt abgerückt, um die Verteidiger der Residenz zu unterstützen. Von der See, so glaubte man, würde es vorläufig keine Bedrohung geben. Das dachten auch Alonzo de Escobedo und Gonzalo Bastida. Wer sollte schon auftauchen? Kriegsschiffe etwa? Sie hielten es für ausgeschlossen. Auch das war ein Fehler. Aus Sicherheitsgründen gingen die vier Schiffe des Bundes der Korsaren nicht an die Piers, sondern ankerten in der Bucht. Dann kehrten der Seewolf, Ribault Dan und der Profos an Bord zurück. Hasard und Ribault berichteten, was sie von Arne und Jussuf vernommen hatten. In der Kapitänskammer der „Isabella“ fand eine große Beratung statt, an der natürlich auch Old O'Flynn und Edmond Bayeux teilnahmen. „Bevor wir unsere Kampfgruppe zusammenstellen, habe ich etwas vorzubringen“, sagte Ribault. „Hasard, es ist nicht ratsam, daß du an dem Unternehmen teilnimmst. Vergiß nicht, wie sehr du Arne ähnelst. Das könnte deinem Vetter Ärger bereiten.“
„Stimmt genau“, pflichtete Old O'Flynn ihm bei. „Dein öffentliches Auftreten in Havanna würde mit Arne in Verbindung gebracht werden.“ Der Seewolf sah seine Kameraden der Reihe nach an. „Mit anderen Worten, ich soll hierbleiben und Däumchen drehen, wie?“ „Es wäre nur klug, wenn du auf die Teilnahme verzichten würdest“, hob Jean Ribault noch einmal hervor. „Keine Sorge, wir schaffen es schon, was wir uns in den Kopf gesetzt haben.“ „Ich kneife nicht gern“, sagte der Seewolf. Bayeux protestierte: „Das hat doch mit Kneifen nichts zu tun. Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme.“ „Wir alle wissen, wie wichtig die Faktorei für den Bund ist“, sagte Jean Ribault. „Deshalb dürfen wir jetzt keinen Fehler begehen. Das weißt du selbst am besten. Himmel, niemand kann dir etwas vorwerfen, wenn du dieses Mal nicht dabei bist.“ Hasard grinste schwach. „Sicher. Trotzdem wurmt es mich, nicht teilhaben zu können. Nun ja. Was nicht sein kann, soll nicht sein.“ Etwas später waren sie sich einig. Hasard schied als Anführer des Landtrupps aus. Jean Ribault übernahm das Kommando der Mannen, die Einzug in Gonzalo Bastidas Kaschemme halten sollten. * Kurz nach Mitternacht - es war jetzt der 13. Juli - stieg die Aktion der Männer des Bundes der Korsaren. Der Kampftrupp setzte von den Schiffen an Land über. Die Männer enterten den Kai und brachen zur Kaschemme auf. Jean Ribault befand sich an der Spitze. Als er den Lärm hörte, der ihnen aus der Kneipe entgegendrang, mußte er grinsen. Ihr werdet euch wundern, dachte er. Bei Ribault waren Edmond Bayoux mit acht seiner normannischen Schrats, darunter auch Bootsmann Marc Alderney, der „Petit Bouchon“ genannt wurde „Stöpselchen“. Ferner zählten zu der Truppe natürlich Ed Carberry, Ferris Tucker, Big Old Shane, Batuti, Matt Davies, Pete Ballie und Sam Roskill von der Mannschaft der „Isabella IX.“ sowie Jan Ranse, Piet Straaten, Roger Lutz, Fred Finley, Mel Ferrow und Eric Winlow von den „Le Vengeurs“. Insgesamt hatte Jean Ribault also zweiundzwanzig Mann unter sich. Von diesen Männern konnte es jeder mit mehreren Gegnern zugleich aufnehmen. Damit rechneten sie auch von vornherein. Nur so konnte es ihnen gelingen, die Kaschemme auseinanderzunehmen. Jussuf war zunächst mit von der Partie. Er führte den Trupp bis zur Kaschemme. „Da wären wir“, sagte er. „Jetzt könnt ihr den Laden nicht mehr verfehlen.“ Ribault lachte verhalten. „Allerdings nicht. Danke für die Hilfe, Jussuf.“ „Soll ich mit reinkommen?“ „Nein.“ „Ich habe wirklich keine Angst“, sagte Jussuf. „Es wäre mir ein Vergnügen.“ „Das glaube ich“, erwiderte Ribault. „Aber vergiß nicht deine Aufgabe. Es ist wichtiger, daß du deine Arbeit als Kundschafter fortsetzt und an der Plaza herumspionierst.“ „Sehr wohl, Senor“, sagte Jussuf voll Würde und deutete eine Verneigung an. „Allah sei euch gnädig und lenke eure Fäuste.“ Mit diesen frommen Worten verschwand er wie ein Spuk. Selbstverständlich hatte es Jussuf nicht versäumt, Ribault und dessen Mitstreitern den Kaschemmenwirt sowie die vier Leibwächter Cuchillo, Gayo, Rio ja und Sancho
genau zu beschreiben. Die dreiundzwanzig Männer wußten also, an wen sie sich „zu halten“ hatten, wenn sie die Kneipe betraten. Jussuf hatte, als die Beratung in der Faktorei stattgefunden hatte, auch berichtet, wie Sancho ihn in der Nacht vom 10. auf den 11. Juli vor der Kaschemme einfach abgewiesen hatte. Ribault nahm also an, daß sich wieder ein Wachtposten vor der Tür aufhalten würde. Das war aber nicht der Fall. Die Kerle, die im Inneren lärmten und grölten, fühlten sich offenbar ausgesprochen sicher. Nichts konnte sie beunruhigen oder beeindrucken. Daß die Residenz in Kürze fallen würde, war für sie sonnenklar. Wer sollte ihnen dann noch Paroli bieten? Jose Campora etwa, der Gefängnisdirektor, mit seinen wenigen Mannen? Bastida und seine Kumpane konnten darüber nur lachen. Ribault nickte seinen Männern aufmunternd zu. Dann stieß er die Tür der Kaschemme auf und trat als erster ein. Hatte er mit einem Aufpasser hinter der Tür gerechnet, so hatte er sich auch dieses Mal getäuscht. Kein Mensch behelligte die Mannen. Ungehindert gelangten sie in den Schankraum. Hier herrschte starker Betrieb. „Volle Bude“, sagte Carberry mit hohlem Grinsen. „Ist das nicht herrlich? Die haben uns noch gar nicht bemerkt.“ In der Tat schienen die lärmenden Zecher erst jetzt zu registrieren, daß sich eine große Gruppe zu ihnen gesellt hatte. In einer Mischung aus Erstaunen und Verblüffung blickten sie zu den Männern, die sich da grinsend auf sie zuschoben. Gonzalo Bastida stand in dieser Nacht selbst hinter der Theke. Plünderbeute gab es zur Zeit ja nicht zu kaufen. Also hatte er genug Zeit, sich seinen Gästen zu widmen. Er hatte sogar seine Spendierhosen an. Eine Runde für alle hatte er bereits ausgegeben - und die hatte die Kerle so richtig angeheizt. Sie gaben das Doppelte und Dreifache aus und soffen sich gegenseitig unter den Tisch. So kassierte der Dicke seinen „Einsatz“ wieder ein. Es waren jene Vögel und Galgenstricke anwesend, die mit Bastida gut standen, mit ihm in Kumpanei verbunden waren oder zu seiner sogenannten Hausmacht gehörten. Man war also unter sich. Eine richtige Familie. Es herrschten eitel Wohlgefallen und beste Stimmung. Aber jetzt so was! Bastida hob den Kopf. Seine Augen verengten sich. Feindselig musterte er die Männer. Sofort spürte er, daß die Anwesenheit dieser Fremden nicht ins Bild paßte. Woher, zum Teufel, kamen diese Hundesöhne? Cuchillo wischte sich mit dem Handrücken Bierschaum vom Mund und knallte seinen leeren Humpen auf den Tisch. „Na, das ist vielleicht eine Überraschung“, sagte er zu seinem Nebenmann Gayo. „Kennst du die Burschen?“ „Nie gesehen“, erwiderte Gayo. Cuchillo sah zum Nebentisch, wo Sancho und Rio ja in Begleitung von zwei „Senoritas“ heftig am Zechen waren. Er wiederholte seine Frage. Rio ja und Sancho hoben die Schultern und ließen sie wieder sinken. Nein, keiner hatte eine Ahnung, wer diese zwei Dutzend Kerle waren, die die Frechheit aufbrachten, die gemütliche Runde zu stören. Gonzalo Bastida stieß einen unwilligen, knurrenden Laut aus. Zahlende Gäste waren ihm sonst immer willkommen. Aber heute nacht wollte er seine Ruhe haben beziehungsweise nur mit seinen Kerlen feiern. Er hatte die deutliche Ahnung, daß de Escobedo und seine Streitmacht es noch in dieser Nacht schafften, die Residenz zu stürmen. Es war soweit. Der Palast würde ihnen in den Schoß fallen wie eine reife Pflaume. So pflegte Bastida sich auszudrücken. Der Rest war dann ein Kinderspiel.
Danach würde das Gefängnis „ausgeräumt“ werden. Campora und seine fünfzehn Hurensöhne, die Wächter, würde man am nächsten Baum zum Zappeln aufhängen. Anschließend war die Faktorei an der Reihe. Auch so ein Bollwerk inmitten der von den Aufrührern beherrschten Stadt. Der deutsche Kaufherr würde es bereuen, jemals auf die Welt gekommen zu sein. Seine wenigen Helfer würde man über die Klinge springen lassen. Was Bastida besonders interessierte: in der Faktorei sollte es auch ein Mädchen geben. De Escobedo hatte es ihm erzählt. Auf dieses Mädchen war Bastida scharf. Sie sollte hübsch sein. Er würde sie zuerst zu sich ins Bett holen und dann in die Garde seiner „Schnepfen“ einreihen. Sicherlich ließen sich mit einem jungen, knackigen Weib beste Geschäfte tätigen. Dies waren die Überlegungen Gonzalo Bastidas, die schon den ganzen Abend seinen Geist beschäftigten. Jetzt aber sah er sich gestört. Er grunzte böse und winkte Cuchillo zu sich. Cuchillo sah die Geste. Er stand sofort auf und trat zu seinem Chef an die Theke. Fragend musterte er ihn. „Schmeißt diese Narren raus“, sagte Bastida verärgert. Cuchillo grinste. „Mit Vergnügen.“ „Wir wollen hier unter uns sein.“ „Klarer Fall.“ „Ich hätte wohl doch besser die Tür zuriegeln sollen“, sagte der Dicke. „Aber ab und zu muß ja mal einer raus. Außerdem kapiere ich nicht, wie diese Fremden hier so plötzlich auftauchen können. Das sind doch Seeleute, was?“ „So sehen sie jedenfalls aus“, entgegnete Cuchillo. „Es ist auch ein Schwarzer dabei.“ „Ja“, sagte Bastida verächtlich. „Ein dreckiger, stinkender Nigger. Pfui Teufel!“ „Sie müssen mit einem Schiff eingelaufen sein“, meinte Cuchillo. „Kluges Kerlchen“, sagte Bastida spöttisch. „Das hast du aber schnell begriffen. Na ja, die beiden Forts sind nicht mehr besetzt. Da kann so ein Schiff schnell und ohne Formalitäten in den Hafen segeln. Aber genauso flink wird es auch wieder verschwinden.“ „Vielleicht sind die Kerle Piraten“, sagte Cuchillo. „Na und?“ erwiderte der Dicke. „Was kümmert mich das? Sie haben zu verschwinden. Wenn sie nicht parieren, kriegen sie was aufs Maul. Wenn das noch nicht genügt, dann legt ein paar von ihnen um und befördert die anderen ins Hafenwasser.“ „Und wir versenken ihr Schiff?“ fragte Cuchillo. „Das brauchen sie zum Abhauen.“ „Richtig. Schade.“ „Los, halt keine langen Reden“, sagte der Dicke, „beeil dich! Die Kerle rücken bereits an.“ „Gibt es hier keinen Wein?“ fragte Jean Ribault laut. Er drängelte sich durch und trat an die Theke. „Was ist denn das hier für ein lausiger Laden?“ Er war einem Kerl „versehentlich“ auf die Zehen gestiegen. Der Kerl stieß einen wüsten Fluch aus und wollte Jean Ribault von hinten treten, aber ein Riese mit einem wilden Narbengesicht tauchte neben ihm auf und legte ihm schwer die Pranke auf die Schulter. „Laß das lieber sein“, sagte er grollend. „So was mag ich nämlich überhaupt nicht.“ „Eh?“ stieß der Kerl aus. Aber dann sah er sich den Profos genauer an und hielt es für gesünder, sich ein Stück zurückzuziehen. Cuchillo schob sich von links neben Jean Ribault.
„He, du Klugscheißer“, sagte er. „Das beste ist, du haust mit deiner Bande von verlausten Affen gleich wieder ab. Ihr habt hier nämlich nichts zu suchen.“ „Wie hat der uns genannt?“ fragte „Stöpselchen“ drohend. Bayeux grinste ihm zu. „Verlauste Affen. Aber warte mal einen Moment“ Jean Ribault musterte Cuchillo ungeniert von oben bis unten. „Bist du der Wirt?“ „Nein.“ „Dann hast du nichts zu melden.“ Jean Ribault richtete seinen Finger auf Gonzalo Bastida. „Schenkst du nun Wein für uns aus, Dicker, oder ist hier Selbstbedienung?“ Cuchillo war für einen Augenblick sprachlos. Dann hatte er sich wieder in der Gewalt. Gayo, Rioja, Sancho und mehrere „Soldados“ rückten näher. Sie wirkten wie Wölfe, die Blut gewittert haben. Ganz offensichtlich war der Fremde mit der großen Klappe darauf aus, hier Rabatz zu veranstalten. „Das hier ist eine geschlossene Gesellschaft“, sagte Cuchillo. „Wir wollen unter uns sein, kapiert?“ „Das hier ist eine öffentliche Kneipe“, entgegnete Jean Ribault. „Nicht mehr.“ „Dann hängt ein Schild raus“, sagte Jean Ribault ungerührt. „Wir sind schließlich keine Hellseher.“ „Fremde sind hier unerwünscht“, sagte Cuchillo scharf. Ribault lachte. „Wir sind keine Fremden. Wir sind früher schon mal in Havanna gewesen.“ „Wann?“ wollte Bastida wissen. „Oh, vor ein paar Jahren.“ „Wir kennen euch nicht“, sagte Cuchillo. „Ihr kriegt hier nichts zu saufen.“ „Wer seid ihr eigentlich?“ fragte Gayo, der es für angebracht hielt, jetzt ebenfalls eine geistreiche Frage zu stellen. „Ich bin der Meister aller Sargtischler und das sind meine Gesellen“, erklärte Jean Ribault mit dumpfer Stimme. „Der Rothaarige dort frißt am liebsten rostige Nägel. Der Narbenmann fängt Haie mit bloßen Händen. Der schwarze Mann verspeist jeden Tag ein zartes Kind mit Haut und Haaren. Die anderen sind auch keine schlechten Kerlchen.“ „Hu-hu!“ tönte Carberry hinter seinem Rücken. „Die Särge stehen bereit, passend für jeden, für Dicke und Dünne, Große und Kleine!“ „Bastida“, sagte Sancho, der sich weiter auf die Theke zugeschoben hatte. „Ich glaube, diese Hurensöhne wollen uns verarschen.“ „Raus mit ihnen!“ schrie einer der Zecher. „Verschwindet“, sagte Cuchillo zu Ribault. „Es ist die letzte Aufforderung. Wir bestimmen hier selbst, wer was trinken darf und wer nicht. Ihr seid unerwünscht. Legt euch selbst in eure Särge, oder wir helfen nach.“ „Sie sind für euch reserviert“, sagte Ferris Tucker. „Deiner hat Astlöcher, damit dich die Regenwürmer besuchen können.“ Bevor Cuchillo explodieren konnte, forderte Jean Ribault noch einmal lautstark Wein. Plötzlich rissen die Bastida-Kerle die Augen weit auf. Ribault griff in die Jacke und knallte als Bezahlung einen Goldbarren auf die Theke. „Da!“ schrie er den Dicken an. „Wenn du Angst hast, daß wir bei dir die Zeche prellen - das ist die Anzahlung!“ Gonzalo Bastida hätte sich um ein Haar verschluckt. Er röchelte ein wenig, stierte den Barren an, und seine Augen weiteten sich bedenklich. Sie schienen ihm aus den Höhlen zu quellen. Er wirkte wie eine große, fette Kröte, die im Begriff ist, eine dicke Fliege zu verschlingen. Jean Ribault und seine Mannen genossen die langen Hälse und die funkelnden Augen der Kerle. Es war der richtige Auftakt für die Aktion. Bastida und seine
Lumpenbande waren erbost und verdutzt zugleich. Ein dreistes Pack hatte sich eingeschlichen - aber das Pack hatte Gold. Was tun? Den Kerlen die Messer zu spüren geben? Gonzalo Bastida war ein Mann der schnellen Entscheidungen. Er wußte jetzt, was er zu tun hatte. Mit dünnem Grinsen fixierte er den Franzosen. „Wein?“ fragte er säuselnd. „Wein!“ rief Ribault. Blitzartig ließ Bastida den Goldbarren von der Theke verschwinden. Keiner der Anwesenden vermochte der Bewegung mit dem Blick zu folgen. Der Dicke sah wieder zu Jean Ribault, lachte höhnisch und herausfordernd und sagte: „Verschwindet, ihr Witzfiguren! Hier gibt's keinen Wein!“ Ribault hieb mit der Faust auf die Theke. „Das ist ja wohl die Höhe!“ schrie er in gespielter Empörung. „Und mein Goldbarren?“ „Welcher Barren?“ fragte Bastida mit öliger Stimme. „Rück ihn sofort wieder raus!“ rief Bayeux. Er mußte sich aber ein wieherndes Lachen mit aller Macht verkneifen. Gonzalo Bastida blickte seine Kerle an. „Habt ihr einen Barren gesehen, womöglich noch aus Gold?“ fragte er. „Nein!“ tönte die Meute. Der Dicke zuckte mit den Schultern. „Du hast es gehört“, sagte er zu Jean Ribault. „Und jetzt zieh ab, bevor es zu spät ist.“ Ribault hieb wieder auf die Theke und rollte wild mit den Augen. „Wenn es sein muß, hole ich mir meinen Barren selbst zurück!“ Bastida winkte lässig seinen vier Gorillas zu. Die sollten die Sache in die Hand nehmen. Der Dicke war es leid, sich von diesem Fremden anbrüllen zu lassen. Cuchillo, Gayo, Rioja und Sancho stemmten die Fäuste in die Seiten. Cuchillo stieß Jean Ribault mit dem Ellenbogen an. Das war die Kriegserklärung. Die anderen Zecher verfolgten mit gierigen Blicken, was nun geschah. Die vier Leibwächter, so schien es, würden die Fremden auf die gewohnte Art „abräumen“. Wenn die Fremden Widerstand leisteten, wurde ganz einfach ein Exempel statuiert. Nur einer von ihnen brauchte vom Messer getroffen zusammenzusacken und schon würden die anderen die Beine in die Hand nehmen und schleunigst die Flucht ergreifen. Logisch. Alles schien vorherbestimmt zu sein. Brauchten Cuchillo und die drei anderen Gorillas etwa Verstärkung, würden die Soldados und die übrigen Zecher mit eingreifen. Ganz klarer Fall. Und doch entwickelte sich die Situation völlig anders. Plötzlich schien eine Batterie von Siebzehnpfündern in Bastidas Kneipe zu explodieren - und der Teufel war los.
3.
Cuchillo sah im Geist bereits vor sich, wie der großschnäuzige Kerl mit dem Oberlippenbart vor ihm auf die Bretter krachte. Cuchillo holte zu einem gemeinen Hieb aus. Doch der Fremde war verschwunden. Blitzschnell tauchte er weg. Dann war er wieder da - links von Cuchillo. Eine eisenharte Faust knallte gegen Cuchillos Brust - der Leibwächter keuchte vor Schmerz und Entsetzen. Bevor Cuchillo zur Gegenwehr übergehen konnte, war Jean Ribault wieder weg. Er flankte über die Theke - auf Gonzalo Bastida zu. Der Dicke stieß einen zornigen Laut aus. Er duckte sich und griff nach der nächsten Waffe, die er in die Finger bekam - dem Goldbarren. Ferris Tucker, Carberry, Edmond Bayeux und Bootsmann Marc Alderney „Stöpselchen“ - hatten sich unterdessen bereits still geeinigt, wer welchen von den vier Leibwächtern zur Brust nehmen sollte. Jetzt gingen sie zur Aktion über. Sie langten zu – und legten die vier Gorillas im Handumdrehen flach. Petit Bouchon - „Stöpselchen“ -war mit einem Schritt bei Cuchillo. Bayeux griff sich Gayo. Sancho wollte Cuchillo und Gayo zu Hilfe eilen, wurde jedoch vom Profos gestoppt. Ferris Tucker packte Rioja am Hemd und zerrte ihn zu sich heran, ehe sich dieser mit seinem Messer auf Bayeux stürzen konnte. Cuchillo stieß einen heiseren Schrei aus und zückte sein Messer. Petit Bouchon war darauf vorbereitet. Mit einem brettharten Hieb fegte er dem Leibwächter die Waffe aus der Hand. Cuchillo stöhnte auf. Er hatte das Gefühl, ein Hammer habe seinen Arm getroffen. Gayo gelang es, Bayeux die Faust in den Leib zu rammen. Aber der Kapitän der „Le Griffon“ grinste nur und quittierte den Schlag mit einem Haken unter Gayos Kinn. Dann setzte er sofort mit der anderen Faust nach und hämmerte sie kurz und knapp dem Kerl von oben auf den Kopf. Gayo verdrehte die Augen. Seine Knie schienen zu Brei zu werden. Er konnte sich nicht mehr halten. Petit Bouchon deckte Cuchillo mit ein paar blitzschnellen Hieben ein. Cuchillo war zu verblüfft und entsetzt, um rasch genug reagieren zu können. Außerdem brachte ihn der Verlust seines Messers aus der Fassung. Es war ihm noch nie passiert, daß ein Gegner ihn seiner wichtigsten Waffe beraubt hatte. Cuchillo war ein Meister im Umgang mit dem Messer. Noch keinem Kerl war es gelungen, ihn zu besiegen - und jetzt dies! Vor Bastida und der ganzen Meute! Größer hätte die Schmach nicht sein können! Ehe Cuchillo richtig Luft geholt hatte, hob Petit Bouchon die Faust zum Hammerschlag von oben. Cuchillo ging in die Knie. Plötzlich brach er ganz zusammen. Schlaff sackte er neben Gayo zu Boden. So hatten Bayeux und Petit Bouchon ihr Vorhaben, die Kerle „unangespitzt in die Dielen zu rammen“, verwirklicht - mit jeweils einem letzten harten „Hammer“ von oben. Carberry befaßte sich indes mit dem bulligen Sancho. Sancho wollte so richtig loslegen. Aber da hatte er die Rechnung ohne den Profos gemacht Schneller, als Sancho es seinem Gegner zutraute, holte dieser zu einem gewaltigen Schwinger aus. Carberrys Faust flog unter Sanchos Kinnlade. Der Hieb beförderte den Gorilla quer durch die Kaschemme bis zum Ausgang. Unter den betroffenen, verständnislosen Blicken der Bastida-Bande krachte Sancho auf die Bretter. Eric Winlow beugte sich über Sancho. Seine Miene drückte Besorgnis aus, er schien sich um den Schläger kümmern zu wollen. Sancho gab unverständliche Laute von sich. Er war benommen. Ihm war höllisch elend zumute, aber richtig bewußtlos war er noch nicht. „Na, komm schon“, sagte Eric Winlow.
„Was? Arghhh“, gurgelte Sancho.
„Auf die Beine“, sagte der glatzköpfige Koch der „Vengeurs“. „Da-anke“, brummelte Sancho. Eric half ihm hoch. Sancho wollte den Kopf wenden und feststellen, wer ihm da so hilfsbereit unter die Arme gegriffen hatte, aber dazu hatte er keine Gelegenheit mehr. Eric schlug zu. Sancho setzte seinen Flug fort. Wie vom Katapult geschossen, raste er nach draußen und landete auf den Katzenköpfen vor der Kneipe. Diesmal verlor er die Besinnung. Das war gut so. Was in der Kaschemme vor sich ging, war für seinen Verstand ohnehin nicht mehr faßbar. Ungeheuerlich - die ganze Welt schien kopfzustehen. In Gonzalo Bastidas Kneipe fand die Keilerei ihre Fortsetzung. Sie fing jetzt erst richtig an. Rioja versuchte mit haßerfülltem Gesicht, Ferris Tucker ein Messer in den Leib zu rammen. Der Stoß ging daneben. Der rothaarige Riese hatte Riojas Arm gepackt und „abgeleitet“. Jetzt drehte er ihn mit einem Ruck um. Das Messer klirrte zu Boden. Rioja jaulte auf. „Maul halten!“ befahl Ferris. Ein trockener Haken schloß Riojas Kinnlade. Um ein Haar hätte sich der Kerl die Zungenspitze abgebissen. Riojas Zähne knackten und knirschten. In seinem Schädel blitzte und donnerte es. Trotzdem wollte er sich auf den Gegner stürzen, doch da raste Ferris' Faust schon wieder auf ihn zu. Es war geradezu unheimlich, wie diese Fremden zuschlagen konnten! Wer, zur Hölle, waren sie? Welcher Satan hatte sie ausgerechnet nach Havanna geschickt? Rioja hatte keine Zeit mehr, entsprechende Fragen zu stellen oder die Sache näher zu erörtern. Ferris' Schlag warf ihn zurück. Rioja flog, eine Schneise durch die Menge brechend, unter einen Tisch. Eine der Huren kreischte. Die Kerle fluchten. Rioja hörte es wie durch dicke Pfropfen Kabelgarn. Die Stimmen schienen aus weiter Ferne zu erklingen. Doch seine Leidenszeit war noch nicht zu Ende. Pete Ballie bückte sich und holte den Kerl mit einem Ruck wieder auf die Füße. Sekunden später erschien im Blickfeld Riojas eine Faust vom Format einer Ankerklüse. Er wollte noch abwehrend die Hände heben. Zu spät. Die Ankerklüse prallte ihm auf die Nase. Der Gorilla hatte das Gefühl, mit dem Kopf in einem explodierenden Pulverfaß zu stecken. Petes nächster Schlag klatschte Rioja an die Kneipenwand. Rioja stöhnte, sein Kopf wackelte. Es knallte dumpf, als er gegen die Wand prallte. Der Putz löste sich und rieselte zu Boden. Rioja sank schlaff an der Wand hinunter. Wieder schrie eine „Senorita“. Eine andere versuchte, sich zu einem der Hinterzimmer in Sicherheit zu bringen. Sie stolperte über einen der Kerle und landete mit flatternden Röcken auf dem Boden. Zwei aufgebrachte Galgenstricke stiegen über ihren Allerwertesten weg. Sie hatten die Messer in den Fäusten und rückten auf Batuti zu, der ihnen am nächsten stand. Plötzlich klatschte es zweimal heftig. Die Kerle kippten neben der „Senorita“ zu Boden. Reglos blieben sie liegen. Der Gambia-Mann hatte zugeschlagen. Die Hure drosch mit ihren Fäusten auf die Bewußtlosen ein. „Ihr Flaschen!“ kreischte sie. „Ihr Schlappschwänze!“ Jean Ribault war unterdessen neben Gonzalo Bastida gelandet. Der Dicke wollte ihm den Goldbarren an die Schläfe donnern. Aber er hatte nicht mit Ribaults Reaktionsvermögen gerechnet. Ribault wich aus. Der Barren krachte auf die Theke. Ribault schlug mit der Faust auf Bastidas fette Hand. Der Dicke gab einen quietschenden Laut von sich, ließ den Barren los und zog hastig die Hand zurück. Jean Ribault steckte den Barren in seine Tasche. Dann rückte er auf den Wirt zu. Bastida versuchte, an eine seiner Waffen zu gelangen. Pistole und Messer hatte er unter der Theke versteckt. Aber er schaffte es nicht mehr. Ribault war wieder
schneller. Und nun geschah etwas, was die Strolche und Huren in höchstes Erstaunen versetzte. Jean Ribault hob den Dicken mit eleganter Kraft einfach aus. Er stemmte ihn hoch und hing ihn mit dem Leibriemen an einen Mauerhaken. Bastida heulte auf und wehrte sich verzweifelt. Aber der Gegner verfügte über immense Kräfte. Ehe Bastida es sich versah, baumelte er brüllend und zappelnd etwa sechs Fuß hoch über den Dielen - ohne etwas unternehmen zu können. „Ich will runter!“ brüllte Bastida. Ribault grinste ihn an. „Vielleicht später.“ „Du Hurensohn!“ „Danke, gleichfalls“, sagte Ribault. Er wandte sich neuen Zielen zu. Drei Strolche hatten das Ende der Theke umrundet und marschierten auf ihn los. Zwei hatten ein Messer, der dritte eine Pistole. Der Kerl mit der Pistole wollte auf Jean abdrücken, aber da wirbelte eine Flasche durch die Luft. Sie zerplatzte am Kopf des Kerls. Mit einem jammernden Laut brach er zusammen. Roger Lutz hatte die Flasche geworfen. Er lachte, als er sah, wie der Kerl in die Knie ging. Der nächste Halunke stolperte über seinen Kumpan. Der dritte stürzte sich fluchend mit erhobenem Messer auf Jean Ribault. Der trat mit dem rechten Fuß zu. Der Kerl flog zurück und prallte mit seinem Spießgesellen zusammen. Während sie noch gemeinsam fluchten und wetterten, tauchte Ribault direkt neben ihnen auf. Er packte die Köpfe der Kerle und klatschte sie zusammen. Die Kerle sanken zu Boden. Wieder waren zwei Galgenstricke jenseits von Gut und Böse. Wüst tobte der Kampf in Bastidas Kaschemme. Die Hure, die auf den Dielen lag, entriß einem der ohnmächtigen Kerle das Messer. Sie sprang auf und wollte sich auf Batuti stürzen. „Du dreckiger Nigger!“ heulte sie. Batuti schlug nur leicht zu - und das Messer flog in hohem Bogen durch die Luft. Er schnappte sich die „Senorita“, klemmte sie sich unter den Arm und schleppte sie zu einem der hinteren Tische - vorbei an Jan Ranse, Matt Davies und Fred Finley sowie zwei normannischen Schrats, die es jeweils mit zwei, drei Gegner gleichzeitig aufnahmen. Der Gambia-Mann schlug der Hure ein paarmal auf den Po, dann wuchtete er sie auf einen Stuhl. „Sitzenbleiben“, sagte er grinsend. „Nachher unterhalten wir uns. Ich hab' dich zum Beißen gern.“ Sie stöhnte auf. Wenig später ergriff sie die Flucht. Auch die anderen Damen - von Bastida jovial auch „Schnepfen“ genannt - nahmen Reißaus zu den Hinterzimmern. Keiner hinderte sie daran. Warum auch? In der Kneipe ging das große Aufräumen weiter. „Horrido!“ brüllte Carberry begeistert. „Immer feste drauf!“ Fast gemächlich drehte er sich zu zwei Kerlen um, die mit ihren Fäusten auf ihn eintrommelten. „Was soll das denn, ihr Hüpfer?“ fragte er. Mit einem deftigen Aufwärtshaken hob er den einen aus den Stiefeln. Der Kerl flog ein paar Yards durch die Luft, riß eine Öllampe mit, die von einem Deckenbalken hing, und krachte zu Boden. Die Flamme der Lampe sengte seine Kleidung an. Er schrie auf. Dann erlosch das Licht. Noch elf andere Lampen brannten in Bastidas Kaschemme. Sie erhellten die Szene, die sich nun abspielte. Die Seewölfe, die normannischen Schrats und die „Le Vengeurs“ zeigten den Strolchen so richtig, wo es langging. Es waren immer noch an
die fünfunddreißig Kerle, die den Kampf mit den „Sargtischlern“ aufnahmen. Doch Jean Ribault und sein wehrhafter Trupp sahen sich von der Übermacht nicht sonderlich beeindruckt. Gonzalo Bastida zappelte und strampelte. Er schrie, jammerte und fluchte. Aber es nutzte alles nichts. Er hing fest an dem Mauerhaken. Der Haken brach auch nicht aus. Man hatte ihn besonders fest in die Wand gerammt Bastida verfluchte Gott und die Welt. Er hantierte an seinem Leibgurt und versuchte, ihn zu lösen. Aussichtslos. Sein Körpergewicht straffte den Riemen derart, daß er die Schnalle nicht öffnen konnte. Aus schreckgeweiteten Augen verfolgte der Dicke, was in seiner Gassenschenke geschah. Es war die Hölle. Ein Hurrikan schien durch die Kaschemme zu rasen. Nichts blieb heil - am allerwenigsten Bastidas Horde. Reihenweise sanken die „Soldados“ auf die Dielen und streckten Arme und Beine von sich. Keiner rappelte sich aus eigener Kraft wieder auf. Diese Fremden, das mußte man ihnen lassen, hatten eine saubere Handschrift. Nie hatte die Kaschemme Vergleichbares erlebt. Es ist das Ende, dachte Bastida. Schon jetzt zeichnete sich der Ausgang des Kampfes ab: eine totale Niederlage für die Bande. Nicht zu fassen - und das passierte ihnen hier, in ihrer eigenen Höhle! Hatten die Kerle bisher in Havanna mit Schrecken und Terror gewütet, so kehrte sich jetzt alles gegen sie - mit einer Härte und Wucht, wie sie es noch nie erlebt hatten. Was hatte dieser Überfall auf die Kaschemme zu bedeuten? Bastida hatte plötzlich den Verdacht, daß es sich um keinen Zufall handelte. Diese dreiundzwanzig Fremden waren nicht einfach so in die Kneipe geschneit. Jemand hatte sie geschickt. Wer? Wer war der Auftraggeber dieser fürchterlichen Kämpfer? * In ohnmächtiger Wut mußte Gonzalo Bastida beobachten, wie auch die letzten seiner Kerle unter den mörderischen Hieben der Gegner zu Boden sanken. Ruhe trat ein. Der Hurrikan war vorüber - er ließ ein Schlachtfeld zurück, das von Trümmern und Opfern übersät war. Mehr als drei Dutzend Bewußtlose lagen auf den Dielen. Der Rest - Kerle wie Sancho - befand sich draußen. Die Huren hatten sich in den hinteren Kammern verkrochen. Sie wagten nicht, auch nur die Nasenspitze zu zeigen. Jean Ribault und Carberry traten auf den dicken Wirt zu. „So, jetzt darfst du wieder runter“, sagte Ribault grinsend. Sie hoben Bastida von dem Mauerhaken. Der Dicke atmete heftig und unregelmäßig. „Wer seid ihr?“ flüsterte er. „Wer schickt euch?“ „Allah“, erwiderte der Profos. „Wer?“ Bastida war jetzt restlos verwirrt. „Ach, das kapierst du nicht“, sagte Carberry. Er zog einen Fetzen Tuch aus der Tasche und verband Bastida die Augen. Ribault gab Mel Ferrow einen Wink. Mel nahte mit ein paar Lederriemen. Die Männer banden Bastida die Hände auf dem Rücken zusammen. Dann führten sie ihn durch die zerstörte Kneipe zur Tür. „Was habt ihr mit mir vor?“ fragte der Dicke. „Das wirst du schon merken“, entgegnete Carberry. „Laßt doch mit euch reden“, jammerte Bastida. „Wir werden uns schon einig.“
„Aha“, sagte Bayeux. „Er hat die Hosen voll. Er glaubt, wir wollen ihn im Hafenwasser ertränken.“ „Wie eine fette Ratte“, sagte „Stöpselchen“. „Tut es nicht!“ flehte Bastida. „Das dürft ihr nicht!“ „Paß mal auf“, sagte Carberry, während er den Kerl vor sich herdirigierte. Sie traten nach draußen und gingen an Sancho und einigen anderen Bewußtlosen vorbei. „Was wir dürfen, das bestimmen wir“, fuhr er fort. „Klar?“ „Ja, ja!“ stieß Bastida hastig hervor. „Aber - ihr seid doch sicher Piraten, nicht wahr?“ „Und wenn wir welche sind, was dann?“ fragte Jean Ribault. „Ihr seid auf Beute scharf.“ „Na sicher“, entgegnete Bayeux. „Hast du welche? Ist bei dir was zu holen?“ „Bei mir nicht“, erwiderte der Dicke hastig. „Lügen tut er auch noch“, sagte Ferris Tucker grimmig. „Aber in der Residenz gibt es reichlich was zu holen“, sagte Gonzalo Bastida, wohlweislich überhörend, was der rothaarige Riese eingeworfen hatte. „Wenn ihr wollt, zeige ich euch den Weg dorthin. Ich weiß auch, wie man reinkommt.“ „Das wissen wir selber“, sagte Jean Ribault. „Wir könnten uns zusammentun“, sagte der Dicke. „Mein Freund de Escobedo belagert mit hundert Mann die Residenz. Mit seiner Hilfe stürmt ihr den Palast. Das wäre doch ein toller Erfolg für euch.“ „Wann will de Escobedo denn stürmen?“ fragte Ribault. „Bestimmt heute nacht noch.“ „Dann sollten wir uns beeilen“, sagte Bayeux. „Wir sind uns also einig?“ fragte Bastida voll Hoffnung. Carberry versetzte ihm einen Stoß gegen die Schulter. „Halt’s Maul!“ befahl er barsch. „Marschiere!“ Gonzalo Bastida kriegte es mächtig mit der Angst zu tun. Etwas schnürte ihm plötzlich die Kehle zu. Der kalte Schweiß brach ihm aus. Diese Kerle - sie waren unberechenbar. Was wollten sie tun? Ihn wirklich ersäufen? Ihn aufhängen? Oder hatten sie vor, ihn dem peinlichen Verhör zu unterziehen? Aber - das hätten sie auch in der Kaschemme tun können. Sicherlich wollten sie herausfinden, wo er seine Raubbeute versteckt hatte. Und sein Geld. Allmächtiger, dachte der Dicke, nur das nicht! Warum führten diese Kerle ihn fort? Wollten sie ihn verschleppen, an Bord ihres Schiffes? Bastida wagte nicht, sich auszumalen, was dort mit ihm geschehen würde. Er keuchte vor Angst. Plötzlich lief er los. Trotz der Fesseln und der verbundenen Augen versuchte er, sich in eine der dunklen Gassen abzusetzen. Schließlich kannte er sich hier besser aus als diese Hurensöhne. Es war seine letzte Chance. Er mußte sie wahrnehmen. Carberry holte ihn jedoch mit ein paar Sätzen ein und packte ihn. Bastida zappelte und jammerte. „Was bist du doch für ein Würstchen“, sagte der Profos verächtlich. „Na gut, ich kühle dich ein bißchen ab.“ Er schleppte den Dicken zur Kaimauer und fierte ihn an seinen Fesseln ein Stückchen nach unten ab. Bastida tauchte unter - allerdings nur ein bißchen. „Hilfe!“ stieß er prustend und keuchend hervor. „Genug?“ fragte Carberry. „Ja! Genug!“ „Du spielst mit dem Feuer“, sagte der Profos, als er ihn wieder hochhievte. „Noch so eine Sauerei, und ich versenke dich mit einem Klotz am Bein im Hafenwasser.“
„Bitte nicht“, sagte der Dicke winselnd. „Ich will nicht sterben.“ „Wer will das schon?“ fragte Jean Ribault kalt. „Los, weiter.“ Sie führten Gonzalo Bastida bis zur Faktorei. Der Trupp war jetzt wieder komplett alle Mannen schritten hinter Ribault, Carberry, Ferris, Bayeux und Petit Bouchon her. Sie scherzten und lachten. Einige von ihnen hatten ein paar Schrammen aus der Schlacht davongetragen, doch die waren nicht der Rede wert. Vor dem Handelshaus verharrte die Mannschaft. Hasard und Arne, die auf dem Dach ihre Beobachterposter bezogen hatten, hatten die Gruppe bereits nahen sehen. Jörgen Brunn stand unten an der Tür. Er öffnete sie und ließ die „Abordnung“ herein. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er den jammernden Dicken hereinstolpern sah. „Na, hat alles geklappt?“ fragte Jörgen. „Bestens“, erwiderte Jean Ribault. „Soll ich euch verarzten?“ fragte Isabella Fuentes. Sie tauchte in diesem Augenblick im Flur auf. „O ja, gern“, sagte Matt Davies grinsend. „Ich habe hier eine Riesenblessur - am Arm.“ Carberry drehte sich zu ihm um. „Hier wird nichts verarztet“, sagte er grob. „Wir ziehen jetzt gleich ein paar Häuser weiter, hast du das vergessen?“ „Nein. Aber...“ „Kein Aber“, unterbrach ihn der Profos. „Die Nacht ist nicht mehr allzu lang, und wir haben noch eine Menge vor.“ Hasard und Arne traten zu ihren Kameraden. „Das habt ihr wirklich großartig erledigt“, sagte der Seewolf. „Meine Hochachtung.“ „Wo bin ich hier?“ flüsterte Bastida. „Wer seid ihr?“ „Das erfährst du noch früh genug“, erwiderte Arne. Er wandte sich an die Männer. „Am besten bringt ihr ihn jetzt nach unten.“ Bastida stöhnte und greinte. Aber es nutzte ihm nichts. Keiner hatte Mitleid mit ihm. Batuti und Mel Ferrow schleppten ihn in den Keller der Faktorei. Hier landete der Dicke in einem ausbruchssicheren Raum. Die Tür knallte hinter ihm zu. Bastida sank jammernd zu Boden. Aus, dachte er, aus! Und Alonzo de Escobedo ahnte von alledem nichts! Dieser Hund! Er würde die Residenz vereinnahmen und sich einen Dreck um ihn, Gonzalo Bastida, seinen Helfer und Förderer, kümmern. Das war der Dank der Welt! Bastida wünschte de Escobedo, daß er zur Hölle fahren möge. Und Cuchillo, Gayo, Rio ja und Sancho sollte ebenfalls der Teufel holen! Diese Versager! Alle sollten es erwischen. Havanna sollte in Schutt und Asche versinken. Dieses Drecknest, dachte der Wirt. * Gegen ein Uhr morgens verließ der Trupp unter Jean Ribaults Leitung wieder die Faktorei und setzte sich in Richtung auf die Plaza von Havanna in Marsch Die Zusammensetzung der Gruppe war wieder dieselbe. Dieses Mal aber hatte Hasard seinen Kameraden noch zusätzliche zehn Mannen als Verstärkung mitgegeben. Bei der Stärke der Streitmacht, die Alonzo de Escobedo um sich versammelt hatte, schien dies nur angebracht zu sein. Die Männer des Bundes der Korsaren mußten damit rechnen, unterwegs von einzelnen Kerlen aufgehalten zu werden. Doch sie hatten Glück. Niemand behelligte sie. Auf dem halben Weg zur Plaza trat nur eine bekannte Gestalt aus einer winzigen Gasse auf sie zu - Jussuf. Er hatte sich wieder als „Jose“ verkleidet. Die Zeit über, in der die Mannen in der Kaschemme „aufgeräumt“ hatten, hatte er sich an der Plaza herumgetrieben und
ausspioniert, wo die Wachtposten aufgestellt waren. Die Drehbassen schwiegen inzwischen. Es herrschte Ruhe in der Stadt. Doch es war die Ruhe vor dem Sturm. „Du hast uns vielleicht einen Schrecken eingejagt“, sagte Jean Ribault grinsend zu Jussuf. „Fast hätten wir dich über den Haufen geschossen“, fügte Carberry hinzu. Jussuf blieb vor ihnen stehen und lächelte. „Das hätte Allahs Diener sehr traurig gestimmt“, erklärte er. „Aber wie ich sehe, seid ihr noch vollzählig. Bei Bastida ist also alles gelaufen?“ „Ja“, entgegnete Ribault. Dann berichtete er in kurzen Zügen, was sich in der Kneipe zugetragen hatte. Jussuf kicherte. „Großartig. Einfach wunderbar. Das haben die Kerle verdient. Ein Jammer, daß ich nicht mit zusehen konnte. Es muß ein schönes Schauspiel gewesen sein.“ „Jetzt folgt der nächste Akt“, sagte Bayeux. „Wie ist die Lage an der Plaza?“ „Die meisten Kerle schlafen“, erwiderte Jussuf. „Sie haben genug Wein und Bier getrunken. Aber hinter den Barrikaden und vor dem Haus, in dem de Escobedo seinen Befehlsstand hat, sind noch insgesamt zehn Wächter plaziert.“ „Du kennst die genauen Standorte?“ fragte Jean Ribault. „Ja. Ich führe euch hin.“ „De Escobedo ist in dem Haus?“ erkundigte sich Carberry. „Ja“, erwiderte Jussuf. „Und die schöne Maria Dolores leistet ihm Gesellschaft.“ „Fein“, sagte Ferris Tucker. „Leider müssen wir sie bei ihrem Schäferstündchen stören. Was hast du sonst noch rausgekriegt, Jussuf?“ „Gegen vier Uhr morgens will de Escobedo eine neue Offensive gegen den Gouverneurspalast starten“, entgegnete Jussuf. „Das habe ich von Maria und Juanita erfahren. De Escobedo will die Eingeschlossenen noch einmal richtig in Angst und Schrecken versetzen. Dann stellt er dem Stellvertreter von Marcelo, dem Kommandanten der Garde, ein Ultimatum. De Escobedo ist sicher, daß die Leute noch vor Sonnenaufgang kapitulieren. Wie es scheint, geht ihre Munition zu Ende.“ „Wir sind zum richtigen Zeitpunkt erschienen“, sagte Jean Ribault. „Also los - auf geht's. Spiel du den Lotsen, Jussuf.“ Keiner war dieser Aufgabe besser gewachsen als Jussuf. Er führte die Männer in die Gasse, die durch den Maultierkarren abgeriegelt war. Burrito, das treue Grautier, kannte Jussuf ja bereits. Burrito schnaubte nicht einmal, als Jussuf neben ihm auftauchte und ihm den Hals kraulte. Grinsend beobachteten Ribault und die Mannen, wie Jussuf leise auf das Tier einsprach. Dann gab Jussuf ihnen einen Wink. Einer nach dem anderen schlüpften sie an dem Karren vorbei. Eine lange Prozession begann. Im Gänsemarsch pirschten die Männer durch die Gasse auf die Plaza zu. Plötzlich löste sich aus dem Eingang eines Hauses eine Gestalt und bewegte sich auf Jussuf zu. Ribault, Carberry, Ferris, Bayeux und Petit Bouchon, die ersten in dieser langen Kolonne, griffen sofort zu den Waffen. Aber sie hielten in der Geste inne, als sich ihnen die Gestalt als eine Frau entpuppte. „Jose!“ zischte die Frau. „Was geht hier vor?“ „Das sind meine Freunde“, flüsterte Jose. „Wer ist das?“ fragte Carberry. „Juanita“, erwiderte Jussuf. Jean Ribault deutete eine Verbeugung vor Juanita an. „Einen schönen guten Morgen wünsche ich, Madam.“ Juanita legte den Kopf etwas schief, stemmte die Fäuste in die Hüften und betrachtete ihn. „He! Willst du mich auf den Arm nehmen?“ „Keineswegs“, entgegnete Jean Ribault. „Jose hat uns von dir erzählt, Juanita.“
Roger Lutz trat vor. „Es freut uns aufrichtig, dich kennenzulernen, Juanita.“
Juanita lächelte spöttisch. Sie war von diesen Männern aber doch beeindruckt.
„Ihr werdet schon eure Gründe haben, mir Honig ums Maul zu schmieren“, sagte
sie. „Ihr habt hier wohl was vor, wie? Na, mir soll es recht sein. Ich koche mein eigenes Süppchen. Wollte nur mal eben nachschauen, ob die Luft rein sei.“ „Sie wird bald ganz rein sein“, erklärte Ribault. „De Escobedo und Konsorten werden sie nicht mehr verpesten.“ „Seid ihr verrückt?“ Juanita blickte zu den anderen Mannen. „Beim Henker“, raunte sie verblüfft. „Ihr seid ja eine ganze Truppe. Jose, du Satansbraten, wo hast du die bloß hergeholt?“ „Sie sind mit Schiffen gekommen“, erwiderte Jussuf.
Juanita nickte. „Klar. Und du bist ein ganz ausgekochter Hund. Aber ich weiß von
nichts. Ich bin blind und so stumm und so taub wie El Sordo.“ „Wir verstehen uns“, sagte Roger Lutz. „Das habe ich auch anders nicht erwartet.“ Juanita trat ganz dicht vor ihn hin. „Wenn ihr mit eurem Unternehmen fertig seid, habt ihr nicht noch ein bißchen Zeit, was?“ „Vielleicht“, antwortete Roger. „Ach“, sagte die Hure seufzend. „Daraus wird wohl doch nichts. Wie ich die Lage sehe, wird's höchste Zeit, Havanna zu verlassen. Na dann - viel Glück, Freunde.“ Sie drehte sich um und verschwand wieder in dem Haus. „Bist du sicher, daß sie uns nicht verrät?“ flüsterte Jean Ribault Jussuf zu.
„Ich lege meine Hand für sie ins Feuer“, raunte Jussuf.
„Gut.“ Ribault gab den Mannen einen Wink. Sie setzten ihren Weg fort. Wenig
später erreichten sie die Plaza und umstellten, ohne daß es auffiel, das Haus, in dem de Escobedo seinen Befehlsstand eingerichtet hatte. Gleichzeitig wurden in der Umgebung des Hauses still und leise die Kerle ausgeschaltet, die da und dort als Belagerer hinter Barrikaden, Sandsäcken oder sonstigen Verschanzungen hockten. Völlig lautlos passierte das. Die Betroffenen waren viel zu überrascht, um reagieren zu können. Die Männer des Bundes überrumpelten sie und setzten sie außer Gefecht.
4.
Boldrago und Soto, die Wächter vor dem Haus des zukünftigen Gouverneurs von Havanna, Alonzo de Escobedo, hatten es sich so gemütlich eingerichtet, wie es unter den herrschenden Umständen möglich war. Sie standen jetzt nicht mehr, sie saßen auf den Stufen vor der Eingangstür. Soto hatte, nachdem sich de Escobedo zur Ruhe begeben hatte, eine dickbauchige Flasche Wein besorgt. Die führten die Kerle sich jetzt zu Gemüte. Der Wein gluckerte in der Flasche, als Boldrago sie an die Lippen setzte. Das Geräusch wirkte überlaut. Es war still geworden - fast zu still. Kein Schuß fiel mehr, nirgends regte sich etwas. Langeweile machte sich bemerkbar. „Hölle und Teufel“, sagte Soto. „Hoffentlich passiert bald wieder was. Ich penne gleich ein.“ Boldrago setzte die Flasche ab. Mit dem Handrücken wischte er sich die Lippen ab, reichte die Flasche seinem Kumpan und sagte: „Das liegt am Wein.“ „Nein. Mir ist es zu ruhig.“ „Hast du so große Lust zum Kämpfen?“ „Zum Plündern.“ Boldrago deutete mit dem Daumen auf das Haus, das sie bewachten. „Mir war's lieber, mit Maria Dolores in der Falle zu liegen.“ „Auch das“, erwiderte Soto grinsend. „Na, wenn wir die Residenz haben, gibt's Frauen genug für uns“, sagte Boldrago. „Es sind ja genug dort drin. Beim Donner, das wird ein Fest.“ „Wenn die Nacht bloß schon herum wäre.“ „Ja, Mann, du hast recht. Die Nacht ist viel zu lang.“ Sie bemerkten nicht, wie hinter den Barrikaden hier und dort Gestalten zusammensackten, sahen nicht die Gestalten, die von Stellung zu Stellung huschten. Boldrago und Soto fühlten sich sicher - wie alle anderen Kerle auch. Und de Escobedo, der in seiner „Befehlskammer“ mit Maria Dolores das Bett teilte, fühlte sich in seinen Träumen als strahlender Sieger. Mit einemmal fuhr Boldrago aber doch zusammen. Er stieß Soto an. Dieser verschüttete vor Schreck etwas von dem Wein. „He!“ zischte er. „Bist du verrückt?“ „Quatsch“, brummte Boldrago. „Da kommt jemand.“ Sie versteckten die Flasche, richteten sich auf, griffen nach ihren Musketen und nahmen ihre Posten wieder ein. Fünf Männer waren es, die sich dem Befehlsstand zügig näherten: Jean Ribault, Carberry, Ferris Tucker, Edmond Bayeux und „Stöpselchen“. Zielstrebig hielten sie auf das Haus zu. Es ging darum, die beiden Posten zu narren. Nur eine entschlossene Handlung führte zum Erfolg. Von hinten oder von den Seiten konnte man in das Haus nicht eindringen. Die Fenster waren vergittert. Weglocken konnten die Mannen des Bundes die Wächter auch nicht. Also blieb ihnen nur der frontale Angriff. „Wer da?“ fragte Boldrago. „Cuchillo“, erwiderte Jean Ribault. Soto kniff die Augen zusammen. „Ich sehe Cuchillo nicht“, sagte er. „Was sind das für Kerle?“ „Wer seid ihr?“ fragte Boldrago. Nur noch wenige Schritte trennten die Mannen von den Posten. „Cuchillos Soldados“, erwiderte Ribault. „Cuchillo schickt uns. Mit einem Auftrag von Gonzalo Bastida.“ „Wir haben euch hier noch nie gesehen“, sagte Soto.
Jean Ribault stieg mit seinem Stoßtrupp die Treppe hoch. „Das könnt ihr auch nicht Wir waren die ganze Zeit in der Kaschemme.“ „Wir waren vorher auch in der Kaschemme“, sagte Soto, dessen Mißtrauen wuchs. „Aber da habe ich eure Gesichter nicht gesehen.“ Ribault wendete einen Trick an. Er blieb vor Soto stehen und zischte: „Laß das bloß Cuchillo nicht erfahren. Der wird fuchsteufelswild, wenn er solche Sprüche hört.“ „Wo ist Cuchillo?“ fragte Boldrago. „Was habt ihr für einen Auftrag?“ wollte Soto von Ribault wissen. „Wir sollen Alonzo de Escobedo eine dringende Meldung von Bastida überbringen“, erklärte Jean Ribault. Er gab Carberry einen Wink. „Zeig mal die Depesche vor.“ Carberry zerrte einen Lappen aus der Tasche. Boldrago starrte wie gebannt darauf. Carberry drehte und wendete den Fetzen in den Fingern. Boldrago wurde nicht schlau daraus, was für eine seltsame Art von „Depesche“ er da vor sich hatte. Auch Soto reckte den Hals. Jean Ribault lächelte ihm freundlich zu. Petit Bouchon war mit einem Schritt hinter Sotos Rücken. Blitzschnell hieb er zu. Seine Faust traf Sotos Nacken. Der Kerl brach zusammen, ohne einen Laut von sich zu geben. Boldrago registrierte das nicht. Er blickte immer noch starr auf die vermeintliche Botschaft. Aber Carberry sah, wie Soto auf die Stufen sackte. Da riß er seine Faust hoch. Er verfehlte das Ziel nicht. Die Knöchel knallten Boldrago genau unter das Kinn. Der Kerl krachte auf die Stufen und streckte alle viere von sich. „Gute Arbeit“, flüsterte Jean Ribault. Dann drang er mit Carberry, Ferris und Bayeux in das Haus ein. Petit Bouchon blieb bei den bewußtlosen Posten zurück. Er zerrte sie von den Stufen, verfrachtete sie in eine dunkle Ecke und fesselte und knebelte sie. Dann kehrte er zu der Eingangstreppe zurück. Aufmerksam hielt er nach allen Seiten Ausschau. Doch es nahte niemand, der die Aktion störte. Alonzo de Escobedo lag schnarchend auf dem Rücken und ahnte von alledem nichts. Neben ihm - unter dem gewaltigen Baldachin eines Himmelbettes - bewegte sich Maria Dolores im Schlaf. Als die Tür der Kammer aufgestoßen wurde, riß sie als erste die Augen auf. Entsetzt stöhnte sie auf, als sie die bewaffneten Fremden eintreten sah. Instinktiv begriff sie sofort, daß diese vier Männer keine freundschaftlichen Absichten hatten. Jean Ribault erwies sich wie üblich als perfekter Kavalier. „Madam“, sagte er. „Darf ich dich bitten, das Zimmer zu räumen?“ „Ich bin nackt“, erklärte Maria Dolores schlicht. „Oh, ich habe schon mehr als eine unbekleidete Dame gesehen“, erwiderte Ribault. Carberry nickte. „Stimmt. Ich auch.“ „Wir ebenfalls“, sagten Bayeux und Ferris Tucker wie aus einem Munde. „Na dann“, sagte Maria Dolores, stieg aus den Federn, hastete zu einem Stuhl, raffte ihre dort liegenden Sachen zusammen und lief auf den Flur hinaus. Carberry, der rothaarige Riese und Edmond Bayeux warfen ihr entsagungsvolle Blicke nach. „Schade drum“, murmelte der Profos. „Ja, ein Jammer“, pflichtete Bayeux ihm bei. „Gentlemen“, sagte Ribault. „Wir wollen doch seriös bleiben, nicht wahr?“ „Natürlich“, entgegnete Ferris Tucker. „Was denn sonst? Weckst du ihn auf, oder soll ich es tun?“ Ribault tippte de Escobedo mit dem Finger gegen die Schulter. Der Spanier hörte auf zu schnarchen, gab jedoch einen blubbernden Laut von sich. Im Traum räumte er soeben eine der geheimen Schatzkammern des Don Antonio de Quintanilla aus. Das hatte er ja auch an der Bucht bei Batabano getan - aber dann war alles
schiefgegangen. Nun, ein solches Mißgeschick sollte ihm nicht mehr widerfahren, das hatte er sich ein für allemal vorgenommen. „So leicht ist der nicht wach zu kriegen“, brummte Carberry. Er beugte sich über de Escobedo, griff nach dessen Schultern und schüttelte ihn ein bißchen. Das wirkte. De Escobedo klapperte mit den Zähnen und öffnete die Augen. „Was?“ murmelte er. „Wo...“ „Aufstehen und mitkommen“, sagte Jean Ribault. De Escobedo schien nicht zu verstehen. Dann aber regte er sich. Er sprang aus dem Bett und wollte die Flucht ergreifen. Verrat, hämmerte es in seinem Hirn, Verrat, Verrat! Aber es gelang ihm nicht, weitere Überlegungen anzustellen. Carberry und Ferris Tucker packten ihn. Als de Escobedo wie ein Wilder um sich zu schlagen begann, bändigte der Profos ihn mit einem kräftigen Hieb. De Escobedo verharrte benommen. Er war jetzt wie gelähmt. Ferris zog dem Senor die Beinkleider über, Ribault reichte ihnen das Hemd de Escobedos. Dann war der zukünftige Gouverneur zum Ausgang bereit. Die Mannen verbanden auch ihm die Augen und fesselten ihm die Hände auf den Rücken, wie sie es bei Gonzalo Bastida getan hatten. Anschließend führten sie de Escobedo nach draußen. „Stöpselchen“ sprang auf und gesellte sich wieder zu ihnen. „Hier ist eine Nackte rausgestürmt“, erklärte er. „Sie ist da drüben zwischen den Häusern verschwunden. Na, die hatte vielleicht einen Hintern!“ „Vergiß sie“, sagte Bayeux. Petit Bouchon grinste. „Leider.“ Der Stoßtrupp überquerte mit dem Gefangenen die Plaza. Hinter den Barrikaden schoben sich Gestalten hoch, aus Gassen und Hauseingängen, aus Hofeinfahrten und Fenstern spähten die Kameraden. Big Old Shane trat hinter einer der Verschanzungen hervor, betrachtete zufrieden de Escobedo und sagte: „Wir haben's im Griff.“ „Hat es noch irgendwelche Zwischenfälle gegeben?“ erkundigte sich Jean Ribault. „Keine“, erwiderte der ehemalige Schmied von Arwenack. „Alles schläft ruhig und friedlich.“ Alles - das waren die „Soldaten“ der „Armee“ de Escobedo. Die einen schlummerten voll des süßen Weines neben ihren Waffen, die anderen lagen in tiefer Bewußtlosigkeit. Das Erwachen würde für sie einigermaßen schmerzlich ausfallen. Und wenn sie merkten, daß ihnen der „Kopf fehlte, würde sich große Ratlosigkeit ausbreiten. Alonzo de Escobedo taumelte vor seinen Bewachern her. Immer wieder fragte er sich, wieso seine Posten nicht reagierten. Warum knallten sie diese fremden Hundesöhne nicht einfach ab? Was hinderte sie, was hielt sie zurück? Nichts geschah. Kein tapferer Soldat raffte sich auf, seinen Heerführer zu befreien. De Escobedo begriff überhaupt nichts mehr. Was ging hier vor? Waren die Soldaten alle desertiert? Diese Schakale, diese Drecksäcke, dachte er. Aber warum sollten sie fahnenflüchtig geworden sein? Lag ein besonderer Grund dafür vor? Wenn doch bloß die Augenbinde nicht gewesen wäre! Hätte er doch etwas sehen können! Aber ein düsterer Schleier der Ungewißheit und des Geheimnisses senkte sich auf alles. Er, de Escobedo, war aus seinem Befehlsstand entführt worden. Wohin die Banditen ihn brachten, war ungewiß. O Himmel, dachte de Escobedo, steh mir bei. Diese Kerle - wer mochten sie sein? Ihre Stimmen - kannte er sie? Vage Gedanken zu den Ereignissen an der Bucht bei Batabano stiegen in de Escobedo auf, dunkle Ahnungen beschlichen ihn. Aber er war sich nicht sicher, ob es sich um dieselben
Kerle handelte. Bildete er sich alles nur ein? Auch das war möglich. Oder träumte er vielleicht nur? Nein - er war wach. Alles, was vorging, war grauenvolle Wirklichkeit. Osvaldo hatte es vom Fenster der Kammer, in der er mit El Sordo schlief, deutlich verfolgen können. Da waren zwei Männer auf eine der Barrikaden zugepirscht. Der eine hatte eine Hakenhand. Der andere war pechschwarz - ein Neger. Wie der Blitz hatten die Männer zwei der Wachtposten überwältigt. Die Posten lagen wie tot da und rührten sich nicht mehr. „Ich hab's ja geahnt“, murmelte Osvaldo. „Es geht nicht alles glatt.“ El Sordo trat zu ihm. Osvaldo setzte ihm mit Gebärden auseinander, was er gesehen hatte. Der Taubstumme warf ebenfalls einen Blick aus dem Fenster und nickte. Wer immer da unten tätig war - für die Belagerer waren schlechte Zeiten angebrochen. El Sordo stieß seinen Kumpan mit dem Ellenbogen an. Da - jetzt bemerkte auch Osvaldo die kleine Gruppe Männer, die einen gefesselten Mann über die Plaza führte. Im Mondlicht erkannten die beiden Diebe, daß es sich bei dem Gefangenen um Alonzo de Escobedo handelte. „Soweit ist es also schon“, sagte Osvaldo. „Na, dann wird hier sicher bald der Teufel los sein.“ Seit dem Gespräch mit Maria und Juanita hatten die beiden kein Auge mehr zugetan. Sie hatten ihre Sachen gepackt - die wenigen Habseligkeiten, die sie besaßen. Jetzt schulterten sie ihre Bündel und verließen die Kammer. Auf dem Flur stießen sie fast mit der Frau und dem Mädchen zusammen. Juanita grinste. „Auf geht's, was?“ „Was läuft hier eigentlich?“ fragte Osvaldo. „Es gibt Ärger“, entgegnete die Schwarzhaarige. „Und zwar nicht zu knapp. Aber uns soll das nicht mehr stören.“ „Hast du eine Ahnung, wer die Kerle sind, die de Escobedo gefangengenommen und die Posten überwältigt haben?“ wollte Osvaldo wissen. Juanita schüttelte den Kopf. Ich weiß von nichts.“ „Jose scheint irgendwie mit den Fremden in Verbindung zu stehen“, erklärte Maria. „Juanita hat ihn vorhin unten mit ihnen angetroffen.“ „Na und?“ Die Hure grinste. „Ich schätze, die Burschen sind Piraten. Sie sind auf jeden Fall besser als diese Lumpenhunde. Ich gönne es ihnen, daß sie gewinnen. Und es geschieht de Escobedo und dem Gesindel recht, daß sie was auf die Köpfe kriegen.“ „Ich begreife nicht, warum Bastidas Truppe nicht eingreift“, sagte Osvaldo. „Die hätten inzwischen doch was merken müssen.“ „Wie denn?“ fragte Maria. „Eben“, sagte Juanita. „Nicht unbedingt. Aber ich habe so den Verdacht, daß diese Kerlchen auch schon bei Bastida kräftig aufgeräumt haben. Ich müßte mich schwer täuschen, wenn's nicht so wäre.“ El Sordo zupfte Osvaldo am Hemdsärmel. Osvaldo erklärte ihm, was die Hure gesagt hatte. El Sordo kicherte. Er fand es großartig, daß man de Escobedo und Bastida ganz offenbar das Handwerk legte. „Auf, Leute“, sagte Juanita. „Packen wir's, ehe es zu spät ist. Ich habe keine Lust, mir hier noch irgendwas zu versengen.“ Gesagt, getan: kurze Zeit darauf befanden sich die vier in der Gasse, in der Burrito geduldig mit dem Karren wartete. Maria gab dem Grauen noch rasch zu fressen. Osvaldo, der Taubstumme und Juanita verstauten ihre Sachen auf der Ladefläche. „Da schaut mal“, raunte Osvaldo plötzlich seinen Begleitern zu.
Er schlug eine Plane zurück, und es erschienen die Fäßchen Wein und die Flaschen Schnaps, die die beiden Diebe bei Bastida eingekauft hatten, ehe man sie für den Sturm auf die Residenz „rekrutiert“ hatte. Die ganze Zeit über hatte kein anderer die „Wässerchen“ gefunden, so gut hatten Osvaldo und El Sordo die kleinen Fässer und die Flaschen auf dem Karren versteckt. El Sordo lächelte beglückt. Er gestikulierte - seiner Ansicht nach war es ein Wunder, daß ihnen keiner den flüssigen Proviant geklaut hatte. „Da hast du recht“, sagte Osvaldo. „Wie es scheint, ist uns das Glück hold. Komm, laß uns darauf einen trinken.“ „Ihr spinnt wohl!“ zischte Juanita. „Dazu ist jetzt keine Zeit! Ihr könnt nachher noch einen gluckern, wenn wir weit genug weg sind!“ Osvaldo verdrehte die Augen. „Was haben wir bloß verbrochen, daß wir dich gefunden haben.“ „Nicht meckern“, sagte Juanita und kletterte auf den Kutschbock. Maria kicherte leise. Osvaldo gesellte sich zu der Schwarzhaarigen und ließ sich neben ihr nieder. Maria und der Taubstumme nahmen auf der Ladefläche Platz. Juanita stieß Osvaldo ihren Ellenbogen in die Seite. „Ab durch die Mitte“, sagte sie. „Und wir schauen noch in Don Felipes Häuschen nach, ob es was zu holen gibt. Vergiß das nicht.“ „Zu Befehl“, sagte Osvaldo, griff nach den Zügeln und schnalzte mit der Zunge. Burrito gehorchte und setzte sich in Bewegung. Das Gefährt rollte an. * Alonzo de Escobedo hatte seine Schritte gezählt. Seiner Berechnung nach mußte er sich jetzt am Hafen befinden. Wo? Bei Bastidas Kneipe? War der Dicke etwa der Saboteur? Hatte er veranlaßt, daß man ihn, den Truppen-Kommandanten, aus dem Bett holte und verschleppte? Bastida war alles zuzutrauen. Dieser Hurensohn! In Gedanken stieß de Escobedo die übelsten Flüche gegen ihn aus. Zur Hölle mit dem Schweinehund! Die Pest sollte ihn zerfressen! Was, zum Teufel, hatte Bastida da ausgeheckt? Eine Tür öffnete sich mit verhaltenem Knarren. Die Bewacher murmelten etwas, das de Escobedo nicht verstand. Sie stießen ihn ein paar Stufen hoch, dirigierten ihn durch Räume. War das die Kaschemme? Irgendwie vermochte de Escobedo sich nicht zu orientieren. Hier roch es auch nicht nach Wein, Bier und Schnaps. Nein, das konnte doch nicht die Hafenkneipe sein. Aber wo war er dann? Etwa - in der Faktorei des Arne von Manteuffel? Hölle! Ein schlimmer Verdacht stieg in de Escobedo auf! Hatte der Deutsche, dieser Satansbraten, etwa die Hand im Spiel? Wenn das der Fall war, würde er noch schwer bereuen, was er getan hatte. Gonzalo Bastida würde zu diesem Zeitpunkt sicherlich schon wissen, was an der Plaza vorgefallen war. Der Dicke hatte seine Augen und Ohren überall. Wenn Bastida spitzkriegte, daß von Manteuffel den zukünftigen Senor Gouverneur entführt hatte, würde er alles daransetzen, um ihn, de Escobedo, wieder herauszuhauen. Klarer Fall. Vielleicht hatte Bastida seine Schlägertruppe schon in Marsch gesetzt. De Escobedo war nun etwas wohler zumute. Er stolperte die Stufen hinunter, die in den Keller der Faktorei führten. Hinter ihm waren mehrere Männer. De Escobedo bezweifelte nicht, daß sie ihre Waffen auf ihn gerichtet hielten. Es gab keine Fluchtchancen. Deswegen hatte er unterwegs, auf dem Weg von der Plaza hierher,
auch nicht den Versuch unternommen, zu flüchten. Es hatte ohnehin keinen Sinn. Er wollte leben, nicht sterben. Ja, Bastida, der würde ihm helfen. Schließlich hatten sie einen Pakt geschlossen. Es war ganz im Interesse des Dicken, daß Alonzo de Escobedo und kein anderer den Posten des Gouverneurs übernahm. Man kannte sich bestens und arbeitete zusammen. Eine Hand wusch die andere. Man konnte sich bereichern, ohne daß der eine dem anderen in die Quere geriet. Wieder wurde eine Tür geöffnet. De Escobedo wankte in den dahinter befindlichen Raum. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß. Schritte entfernten sich. De Escobedo war allein. Allein? Aber - da atmete doch jemand! Siedendheiß durchfuhr es den Spanier. Was war das? Wartete etwa ein Folterknecht auf ihn? Hatten sie sich vorgenommen, ihn richtig durch die Mangel zu drehen - weil er versucht hatte, die Faktorei zu vereinnahmen? „Wer da?“ fragte de Escobedo mit bebender Stimme.
„Fahr zur Hölle“, entgegnete der andere.
„Bastida?“
„Ja, ich bin's.“
„Was tust du hier?“
„Blöde Frage“, sagte der Dicke. „Und du?“
„Sie haben mich entführt“, erklärte de Escobedo.
Bastida schnaufte wütend. „Sie - wer, sie?“
„Fremde Bastarde. Ich weiß nicht, wer sie sind. Aber ich weiß, daß wir hier im
Keller der deutschen Faktorei sind.“ „Dann sind es wohl die Freunde des Deutschen.“ „Eine Handvoll Kerle.“ „Von wegen. Sie sind mit zwei Dutzend Hurensöhnen bei mir angerückt und haben alles kurz und klein geschlagen.“ De Escobedo war fassungslos. „Das kann nicht sein.“ „Es ist aber so“, erwiderte der Dicke. „Sie haben meine Leute ausgeschaltet und alles zerstört. Dann haben sie mir die Hände auf den Rücken gebunden und mich hierhergebracht. Die Augen haben sie mir auch verbunden.“ Daß Jean Ribault ihn an den Mauerhaken gehängt hatte, erwähnte er allerdings nicht. Auch die Episode am Kai ließ er weg. Unwichtig, dachte er. „Mir auch“, sagte de Escobedo. „Wir müssen hier raus.“ „Wie?“ „Hilf mir. Nimm mir die Augenbinde ab. Und die Fesseln. Dann befreie ich dich, und wir sehen weiter.“ Im Dunkeln schritten sie aufeinander zu - und knallten mit den Köpfen gegeneinander. „Au!“ stieß Bastida hervor. „Du blöder Hund! Kannst du nicht aufpassen?“ „Wie hast du mich genannt?“ zischte de Escobedo. „Ach, schon gut.“ „Nichts ist gut!“ „Hör mit dem Gequatsche auf“, sagte Gonzalo Bastida drohend. „Es könnte sonst sein, daß ich dir den Hals umdrehe, du Idiot.“ „Dazu mußt du erst mal die Hände frei haben.“ Bastida stieß de Escobedo mit seinem fetten Bauch gegen die Wand. „Wirklich?“ „Laß mich in Ruhe!“ keuchte de Escobedo. „Weißt du eigentlich, wie tief wir im Schlamassel sitzen?“ „Ja!“ „Und weißt du, warum von Manteuffel uns hopp genommen hat?“
„Ja, ja!“ schrie de Escobedo. „Er hält es mit denen in der Residenz! Er will sie befreien!“ „Wir müssen hier raus.“ „Warum hilfst du mir nicht?“ „Weil du dich so blöd anstellst“, sagte Bastida wutschnaubend. „Also los, hören wir auf, uns zu zanken. Ich knie mich hin, und du stellst dich hinter mich. Dann knotest du mir mit den Fingern die Augenbinde auf.“ „Warum ich? Hilf du mir doch!“ „Mann, kapierst du denn gar nichts?“ De Escobedo lachte wild. „Doch! Du willst als erster frei sein! Dann kriechst du irgendwo raus und läßt mich hier sitzen!“ „Du bist ja total verrückt!“ rief der Dicke. „Du hast mich von Anfang an reinlegen wollen!“ „Du wärst längst erledigt, wenn ich dir nicht geholfen hätte!“ brüllte der Kaschemmenwirt. „Ist das dein Dank?“ „Du hast mir das alles nur eingebrockt“, sagte de Escobedo mit ätzender Stimme. „Deine Kerle haben versagt. Sie haben sich in der Kaschemme zusammenschlagen lassen. Und auch an der Plaza haben sie sich überrumpeln lassen. Sie pennen mit offenen Augen, diese Nullen. Ist das deine wehrhafte Truppe? Daß ich nicht lache!“ Er lachte wirklich. Gonzalo Bastida rückte wieder auf de Escobedo zu. De Escobedo wich aus. Im Dunkeln versuchten sie, schwer atmend und fluchend, sich gegenseitig zu rammen. Aber es fiel ihnen nicht leicht. Sie waren blind und unfähig, ihre Hände zu bewegen. Wie die Besessenen taumelten sie hin und her, auf und ab. De Escobedo prallte gegen die Wand. Er stöhnte auf und sank zu Boden. Bastida orientierte sich an den Geräuschen. Plötzlich war er über seinem Kumpan und trat mit den Füßen auf ihn ein. „Aufhören!“ heulte de Escobedo. „Ich trample dich tot, du Schwein!“ brüllte der Dicke. „Du beleidigst mich nicht!“ De Escobedo kroch zur Seite weg. Bastida trat noch einmal zu – gegen die Mauer. Vor Schmerz stieß er einen schrillen Schrei aus. Dann fuhr er herum. „Warte!“ stieß er zornig aus. „Dich erwische ich schon noch!“ Schritte näherten sich. Shane und Batuti erschienen und öffneten die Tür. „Was ist hier los?“ fragte Big Old Shane. Batuti blickte auf die keuchenden, schwitzenden Gefangenen. „Sie wollen sich gegenseitig abmurksen.“ Shane holte de Escobedo aus dem Raum. Sie führten ihn in den Nebenraum. „Dann müssen wir euch eben trennen“, sagte der graubärtige Riese. Er zog sich zurück. Batuti warf die Tür zu und schob den Riegel vor. „Ihr Bastarde!“ brüllte Bastida. „Laßt mich raus! Ihr werdet noch schwer bereuen, was ihr getan habt!“ Shane und Batuti grinsten nur, dann gingen sie fort. Alonzo de Escobedo lauschte dem tobenden Wirt nach. Was nutzte das alles noch? Die Partie war verloren. Sie waren beide eingesperrt, also konnte keiner dem anderen helfen. Der Plan, dieses Kellerloch zu verlassen, war eine Illusion. Aus, dachte er. Alonzo de Escobedo ahnte, daß er nicht mehr lange zu leben hatte.
5.
Hatten de Escobedo und Bastida angenommen, man würde sie lange im Keller der Faktorei schmoren lassen, dann hatten sie sich getäuscht. Gegen zwei Uhr ertönten wieder Schritte. Sie näherten sich den beiden Räumen und verharrten. Schon wurden die Türen geöffnet. Männer traten ein, bückten sich nach den Gefangenen, die jetzt resigniert auf dem Boden hockten, und zerrten sie hoch. Shane und Ferris holten den dicken Kaschemmenwirt heraus. Dan und Batuti kümmerten sich fürsorglich um de Escobedo. Bastida stieß eine Serie lästerlicher Verwünschungen aus. Die Männer ignorierten sie. De Escobedo rief: „Manteuffel! Ich will von Manteuffel sprechen!“ „Hier bin ich“, sagte Arne. „Was fällt Ihnen ein?“ stieß de Escobedo keuchend hervor. „Lassen Sie uns sofort frei!“ „Ich denke nicht daran“, erwiderte Arne. „Sie haben kein Recht, uns...“ „Wir nehmen uns dieses Recht, Senor“, schnitt Arne ihm das Wort ab. „Sie sind aus dem Gefängnis ausgebrochen. Wir erlauben uns, Sie dorthin zurückzubringen.“ De Escobedo spürte, wie seine Knie weich wurden. „Ungeheuerlich! Sie sprechen mit dem Gouverneur von Havanna!“ „Mit dem ehemaligen Gouverneur“, korrigierte ihn Arne. „Sie wurden ja abgesetzt, wenn Sie sich recht erinnern. Und als Leiter einer Bande von Plünderern und Galgenstricken erwartet Sie die Strafe, die Ihnen zusteht.“ „Bastida!“ schrie de Escobedo. Er unternahm einen letzten Versuch, seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. „Er hat mich zu allem gezwungen! Er ist ein Anstifter! Der Rädelsführer!“ „Hurensohn!“ brüllte der Dicke. „Wer hat denn das Gefängnis stürmen wollen?“ „Und auf wessen Kommando hören die Banditen?“ stieß de Escobedo aus. „Der Teufel soll dich holen!“ schrie Bastida. „Schluß der Debatte“, sagte Arne. „Wir gehen.“ Kurz darauf verließen de Escobedo und Bastida, von einem Dutzend der Mannen bewacht, die Faktorei. Dieses Mal war es Arne von Manteuffel, der die Führung übernahm. Er setzte sich an die Spitze des Trupps und schritt voraus. Die Kameraden - unter ihnen Carberry, Shane, Dan, Ferris und Matt Davies - schlossen sich ihm an. Sie hatten die beiden Gefangenen in die Mitte genommen. Bastida ließ sich plötzlich wieder einen Trick einfallen. Stöhnend kippte er zu Boden. Er wand sich und jammerte: „Schmerzen! O Gott, diese Schmerzen! Ich sterbe!“ „Aufstehen“, sagte Shane barsch. „Ich kann nicht!“ Arne blieb stehen und wandte sich um. „Was ist los, Bastida? Wollen Sie uns hier Theater vorspielen?“ Der Dicke wälzte sich immer noch auf dem Pflaster. „Mir ist so furchtbar schlecht!“ wimmerte er. Aber da war Carberry zur Stelle. Er bückte sich und hob den Wirt auf. „Gut“, sagte er. „Ich werde dich versorgen, mein Dicker. Als Wundarzt bin ich nicht zu schlagen. Ich verstehe mich auf die besten Behandlungsmethoden.“ Gonzalo Bastida erkannte die Stimme des Profos' sofort wieder. Glühend durchfuhr ihn der Schreck. Dieser Kerl! Der Dicke gab sich einen Ruck. „Es geht schon wieder“, sagte er hastig. „Ich fühle mich einigermaßen wohl.“
„Keine Schmerzen mehr?“ fragte Carberry drohend. „N-nein.“ „Dann weiter.“ Der Profos stieß Bastida nur ganz leicht gegen die Schulter. Aber der Dicke stolperte gleich ein paar Schritte vorwärts. So setzte die Gruppe ihren Marsch fort - bis zum Gefängnis. De Escobedo mußte zuletzt geschleppt werden. Er wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen, zu Campora gebracht zu werden. Aber es nutzte ihm so wenig, wie Gonzalo Bastida das Täuschungsmanöver gelungen war. Die beiden Kerle wurden auf den Hof des Gefängnisses gezerrt. Arne blickte zu einem der Fenster des Gebäudes auf. Dort war das Gesicht eines Wächters erschienen. „Ich bin Arne von Manteuffel, der deutsche Handelsherr“, sagte Arne, „und möchte Jose Campora, den Senor Direktor, sprechen.“ „Einen Augenblick!“ rief der Wächter. Wenig später zeigte sich der Direktor. „Was kann ich für Sie tun, Senor de Manteuffel?“ fragte er. Arne deutete auf die beiden Gefangenen. Shane und Carberry nahmen ihnen in diesem Moment die Augenbinden ab. „Senor“, sagte Arne. „Ich bitte Sie, diese beiden Galgenvögel in Gewahrsam zu nehmen. Einer ist der entflohene Alonzo de Escobedo.“ „Und ob ich den wiedererkenne!“ stieß Campora grimmig hervor. „Der andere ist ein gewisser Gonzalo Bastida“, fuhr Arne fort. „Auch der ist kein Fremder für mich“, sagte der Gefängnisdirektor. „Beide sind die Rädelsführer“, erklärte Arne. „Sie sind verantwortlich für den Aufstand des Mobs in Havanna. Ein paar deutsche Freunde, beziehungsweise Männer meiner Handelsschiffe, die heute eingelaufen sind, haben es mir ermöglicht, die beiden Kerle zu schnappen.“ Jose Campora hatte das Gebäude verlassen und trat auf dem Hof auf die Gruppe zu. Vier seiner bewaffneten Wächter waren bei ihm. Campora blickte Arne an. „Diese Botschaft höre ich nur allzu gern, Senor.“ „Das freut mich.“ „Sie wissen nicht, welches Geschenk Sie uns machen.“ „Zum Wohle der Stadt, Senor“, sagte Arne. Campora und die Wächter nahmen die beiden Gefangenen in Empfang. Die Wächter beförderten de Escobedo und Bastida durch das offene Tor ins Hauptgebäude. Die beiden Kerle verhielten sich jetzt eher apathisch. Sie wagten nicht, Widerstand zu leisten und gaben keinen Laut mehr von sich. Campora streckte Arne die rechte Hand entgegen. Arne ergriff sie und drückte sie fest. „Ihnen, Senor, gebührt mein ganzer Dank“, sagte der Gefängnisdirektor. Er richtete seinen Blick auf die anderen Mannen. „Und Ihren deutschen Freunden natürlich auch.“ „Wir haben das getan, was wir für unsere Pflicht hielten“, entgegnete Arne. „Wenn jeder Bürger so denken würde, wäre es zu diesem Aufstand gar nicht erst gekommen“, sagte Campora. Er räusperte sich. „Zweifelsohne haben sie Havanna vor Gewalt, Mord und Terror bewahrt, Seniores.“ Arne wehrte ab. „Das ist doch nicht der Rede wert.“ „Oh, doch. Ich werde es Ihnen nicht vergessen.“ Arne warnte den Mann: „Bitte, seien Sie vorsichtig. Zwar sind die beiden Anführer jetzt ausgeschaltet. Aber mehr habe ich auch nicht tun können. Es ist immer noch mit den Belagerern der Residenz zu rechnen.“
„Selbstverständlich“, erwiderte Campora. „Mit denen befassen wir uns schon, keine Sorge.“ „Es wäre sicher besser, abzuwarten“, sagte Arne. „Es sind viele. Fast noch hundert.“ „Notfalls müssen wir nachhelfen“, sagte Campora. „Es werden sich schon Mittel und Wege finden. Wie ich die Plünderer kenne, werden sie schnell unsicher, sobald sie merken, daß sie keinen richtigen Anführer mehr haben. Das ist unser Vorteil.“ „Sie glauben, die Kerle geben auf?“ fragte Arne. „Da bin ich ziemlich sicher.“ „Ich kann es Ihnen nur wünschen“, erwiderte Arne. „Nochmals - besten Dank“, sagte Campora. „Gern geschehen.“ „Was werden Sie jetzt unternehmen?“ „Wir ziehen uns zu meiner Faktorei zurück“, antwortete Arne von Manteuffel. „Oder ist es Ihnen lieber, wenn wir uns zu Ihrer Verfügung halten?“ „Das wäre zuviel verlangt“, entgegnete der Direktor. „Und es ist auch nicht erforderlich. Alles Gute, Senor de Manteuffel.“ Die „Deutschen“ grüßten, dann verließen sie den Hof und kehrten zum Handelshaus zurück. Sie konnten mit sich zufrieden sein. Ihr Vorhaben hatte reibungslos geklappt. Jetzt hing alles davon ab, welche Initiativen die Spanier ergriffen. * Jose Campora dachte nicht erst lange nach - er handelte. Für ihn waren Bastida und de Escobedo mehrfache Mörder. Campora versammelte seine Wächter und sagte: „Ich vertrete die Ansicht, daß wir die beiden Kerle nach dem Standrecht aburteilen sollten. Hat jemand Einwände?“ Die Männer schüttelten die Köpfe. De Escobedo war für sie eine Ratte, die keine Gnade verdient hatte. Welche Machenschaften Gonzalo Bastida seit Jahren betrieb, war ihnen bekannt. „Gegenvorschläge?“ „Keine, Senor“, entgegnete einer der Wächter und bestimmte sich damit zum Wortführer der anderen. „Je früher diese Schurken hingerichtet werden, desto besser ist es.“ „Und desto schneller werden sich auch die anderen Ratten verkriechen“, sagte der Gefängnisdirektor. Kurze Zeit darauf führten die Wächter Alonzo de Escobedo und Gonzalo Bastida auf den Gefängnishof. Campora sprach nur wenige, knappe Worte. Tod durch Erhängen, lautete das Urteil, das sofort vollstreckt werden sollte. Je zwei Wärter hielten die Delinquenten fest. Ein Mann legte de Escobedo und dem Dicken Augenbinden um. Dann zerrten die Bewacher die beiden vor das aufgebrochene Außentor der Wehrmauer. Hier stand eine hohe Pinie mit starken Ästen. Ein Gefängniswächter hatte bereits die Schlinge für den Galgen geknüpft. Jetzt kletterte er an dem Stamm der Pinie hoch und warf den Strick über den dicksten der Äste. Langsam glitt die Schlinge nach unten. Der Wächter knotete den Strick fest und rutschte wieder nach unten. Ein anderer Wächter legte de Escobedo als erstem die Schlinge um den Hals. Ein dritter begann, mit Stöcken auf eine Trommel zu schlagen. De Escobedo sank auf
die Knie und gab einen wimmernden Laut von sich. „Gnade!“ flehte er. „Sterben Sie wie ein Mann, de Escobedo“, sagte Campora. Aber de Escobedo stöhnte und jammerte, bis das dumpfe Schlagen der Trommel erstarb und die Wächter ihn an der Pinie hochzogen. Er strampelte noch mit den Beinen, dann hing er still. Ein zweiter Strick wurde an dem Ast der Pinie befestigt. Die Schlinge baumelte über Bastidas Kopf und wurde dem Kerl um den Hals gelegt. Der Dicke wollte sich noch losreißen und auf seine Bewacher einschlagen, doch sie hielten ihn mit vier Mann fest. „Ihr Hunde!“ brüllte Bastida. „Ich will nicht sterben!“ Campora gab dem Trommler ein Zeichen. Wieder ertönten die dumpfen Laute. Noch einmal hob Campora die Hand, und der Trommler hielt inne. Fünf Wächter mußten am Strick ziehen, um den schweren Kaschemmenwirt hochzuhieven. Dann beendete der Dicke mit einem letzten gurgelnden Fluch sein Leben. Die Toten hingen wie große, schlaffe Bündel an der Pinie. Eine leichte Brise wehte vom Hafen herüber. Die Leichen schwankten ein bißchen hin und her - weithin sichtbar als Exempel und Drohung für alle, die glaubten, in Havanna ihr verbrecherisches Spiel treiben zu können. * Osvaldo, El Sordo, Juanita und Maria waren die ersten Zuschauer, die die Toten aus nächster Nähe sahen. Der Maultierkarren rollte mit leisem Knarren und Ächzen an der hohen Pinie vorbei. „Da, seht euch das an“, sagte Osvaldo betroffen. El Sordo bekreuzigte sich hastig. Juanita stieß einen leisen Pfiff aus. Maria gab einen entsetzten Laut von sich. Da baumelten de Escobedo und der dicke Bastida. Das Mondlicht erhellte fahl ihre Gestalten. „Denen haben sie's aber schnell besorgt“, flüsterte Osvaldo. „Donnerwetter“, raunte Juanita. „Alle Achtung.“ El Sordo spuckte in hohem Bogen aus. Er verschränkte die Arme vor der Brust und nickte verdrossen. Jawohl, verdient hatten sie's hundertfach, diese Mörder. Sie hatten den Teufel herausgefordert - jetzt hatte er ihnen die Rechnung präsentiert. „So enden alle Halunken“, sagte Juanita. „De Escobedo und Bastida sind zu weit gegangen. Das haben sie davon.“ „Es wird Zeit, daß wieder Recht und Ordnung in Havanna einkehren“, meinte Maria. „Nun fahr schon schneller!“ zischte Juanita Osvaldo zu. „Oder willst du, daß die Gefängniswärter uns schnappen und neben die Kerle hängen?“ „Wir haben nichts verbrochen“, murmelte Osvaldo. Er trieb Burrito aber doch mit den Zügeln an. Burrito schnaubte rebellisch. Aber etwas eiliger bewegte er sich. Die Nähe der Toten schien auch ihm nicht geheuer zu sein. Das Gefährt rollte zum Stadtrand, zurück zu Don Felipes Villa, wo Osvaldo und der Taubstumme auf Maria gestoßen waren, die sie anfangs für einen Jungen gehalten hatten. Die vier fuhren auf den Hof. Maria schloß das Tor. Sie betraten das Haus, und das Mädchen führte die beiden Männer und die Frau zu dem Geheimversteck, das sie kannte. Es befand sich auf dem Boden, hinter einer Bretterverkleidung, die sich zur Seite schieben ließ. Im Schein einer Öllampe blickten die vier interessiert in das quadratische Fach, das sich vor ihnen öffnete. Es schien leer zu sein - und doch sorgte Maria für eine Überraschung.
Ihre Finger tasteten den Boden des Verstecks ab. Sie fanden eine winzige Öse. Maria hakte mit dem kleinen Finger dahinter und zog eine kleine Klappe auf. Unter der Klappe befand sich ein Lederbeutel, prall mit Münzen gefüllt. „Den hat Don Felipe vor lauter Hast und Eile bei der Flucht vergessen“, sagte das Mädchen strahlend. Sie hielt den Beutel hoch und klimperte mit den Münzen. Juanita lachte. „Zählen“, sagte sie. Maria entleerte den Inhalt des Beutels auf den Boden. Gierig beugten sich alle über die Goldmünzen, die da herausrollten. Osvaldo zählte sie. „Vierzig Stück“, sagte er. „Dukaten und Piaster.“ „Jetzt haben wir einen schönen Batzen zusammen“, sagte Juanita. „Ich hab's ja gewußt“, sagte Maria. „Deswegen hielt ich es für richtig, noch einmal hierher zurückzukehren.“ El Sordo schüttelte dem Mädchen die Hand und nickte. Ja, das war eine gute Idee gewesen. Besser hätten sie es gar nicht treffen können. „So“, sagte Osvaldo. „Jetzt nehmen wir aber wirklich einen zur Brust.“ Juanita lachte. „Klar, wir haben uns einen ordentlichen Schluck redlich verdient.“ El Sordo holte Wein, und sie tranken aus großen Bechern. Sie beratschlagten, was sie mit dem Geld an der Südküste von Kuba unternehmen würden. Und wenn sie ein Schiff kauften? War das nicht besser als eine Kneipe? Mit einem Segler - nicht einmal sonderlich groß brauchte er zu sein - konnten sie allerlei aufstellen: von einem Hafen zum anderen segeln und Güter befördern. „Oder andere Schiffe entern“, sagte Juanita. „Na, wie wäre das?“ „Ich finde das nicht gut“, antwortete Maria. „Ich glaube nicht, daß ich das könnte.“ „Klar, wir spinnen“, sagte Osvaldo. „Auch ich bin zum Schnapphahn nicht geboren. Eher zum Kneipenwirt. Aber es muß ein feiner Laden sein. Nicht so eine Kaschemme wie die von Bastida.“ „Sicher“, sagte die Schwarzhaarige. „Vergeßt nicht, daß ich meinen alten Beruf an den Nagel hängen will. Davon habe ich die Nase voll. Ich werde ein ordentliches und anständiges Leben führen, vielleicht sogar heiraten.“ „Wer's glaubt, wird selig“, sagte Osvaldo frech. Juanita griff nach ihrem Dolch. „He, willst du mich beleidigen?“ „Oh, das soll nur ein Spaß sein.“ „Ich kann darüber nicht lachen.“ „Zankt euch nicht“, sagte Maria. „Die Hauptsache ist, daß wir Havanna endgültig den Rücken kehren und die Südküste wohlbehalten erreichen. Alles andere ergibt sich dann irgendwie.“ El Sordo hatte dem Mädchen die Worte von den Lippen abgelesen. Er grinste und beschrieb eine Gebärde. „Was meint er?“ fragte Juanita. „Daß Maria recht hat“, erwiderte Osvaldo. „Stimmt“, sagte die Schwarzhaarige. „Also, Freunde. Wir besorgen uns noch etwas Proviant und packen den Karren voll. Dann räumen wir das Feld. Ich habe keine Lust, mir noch mehr baumelnde Leichen anzusehen.“ Osvaldo, El Sordo und Maria hatten dem nichts entgegenzusetzen. Was immer in nächster Zukunft auch in Havanna geschehen mochte - es interessierte sie nicht mehr. * Noch in dieser Nacht verschwanden die „Isabella IX.“, die „Golden Hen“, die „Le Griffon“ und die „Empress of Sea II.“ wieder aus dem Hafen von Havanna. Hasard,
Ribault, Bayeux, Old O'Flynn und Arne hatten diese Entscheidung übereinstimmend getroffen. Sie waren sich einig: es wäre taktisch nicht klug gewesen, mit den vier Schiffen bis zum Anbruch des neuen Tages im Hafen zu bleiben. Es war nicht gut, wenn die Bewohner von Havanna die Merkmale der Schiffe studierten oder törichte Fragen stellten. Immerhin war die „Isabella“ ein zu auffallendes Schiff. Die „Le Griffon II.“ - ehemals „Chubasco“ - war eine in Fort St. Augustine stationierte spanische Kriegskaravelle gewesen. Seinerzeit, als die Männer des Bundes einen Raid in St. Augustine durchgeführt hatten, war das Schiff von ihnen „requiriert“ worden. Der Verband zog sich aber nicht ganz zurück. Die Schiffe blieben noch im Bereich von Havanna. Hasard und seine Kameraden wollten die weitere Entwicklung der Dinge abwarten. Bevor sie zum Stützpunkt an der Cherokee-Bucht, zurückkehrten, wollten sie ganz sicher sein, daß für die Faktorei und ihre Bewohner keinerlei Gefahr mehr bestand. So gingen sie westlich der Stadt in einer versteckten Bucht vor Anker. Diese Bucht kannten sie noch von ihren früheren Besuchen bei Arne von Manteuffel. Sie war geräumig und tief genug, um allen vier Seglern Platz zu bieten. Nahezu lautlos liefen die Schiffe in die Bucht ein. Die Segel wurden aufgegeit, die Anker fielen. Die Männer richteten sich auf eine Wartezeit ein, die mindestens noch den ganzen Tag über dauern würde. Eher würden sie Kuba nicht verlassen. Hasard, Jean Ribault, Edmond Bayeux und Old O'Flynn teilten auf ihren Schiffen die Wachen ein. Umschichtig konnten sich die Männer nun schlafen legen. Ein wenig Ruhe tat gut. Man konnte nie wissen, wozu man seine Energien noch brauchte. Arne von Manteuffel wußte natürlich, daß die Freunde in der Bucht zu erreichen waren - falls doch noch Gefahr drohen sollte. Sicher war sicher. Seit Campora de Escobedo und Bastida kurzerhand aufgehängt hatte, deuteten alle Zeichen darauf hin, daß sich die Lage wieder zum Guten wenden würde. Aber es gab noch viele Faktoren, die unberechenbar waren. Folglich empfahl es sich, auch weiterhin auf der Hut zu sein. Die Stunden verstrichen. Allmählich kündigte sich der junge Morgen durch im Osten heraufziehende graue Schleier an. In Kürze würde das erste blasse Licht den Hafen und die Stadt erhellen. Spätestens dann, so überlegte der Seewolf, merken die Soldaten in der Residenz, daß sich an der Plaza etwas verändert hat. Und sie werden hoffentlich entsprechend handeln. * Zwei Öllaternen brannten noch in der Hafenkaschemme des Gonzalo Bastida. Ihr dämmrig-rötliches Licht fiel auf die Gestalten, die am Boden lagen. Ein Bild der Verwüstung - kein Stuhl war heilgeblieben, keine Flasche stand mehr in den Regalen. Unter einem der umgekippten Tische stöhnte einer der Kerle. Die „Senoritas“, die sich in die hinteren Kammern zurückgezogen hatten, hatten einige Zeit überlegt, was sie tun sollten. Dann hatten sie beschlossen, nichts zu unternehmen. Unter den gegebenen Umständen schien es das klügste zu sein. Sollten die Kerle selbst sehen, wie sie zurechtkamen. Die Damen des horizontalen Gewerbes fühlten sich nicht berufen, sich als Krankenpflegerinnen zu betätigen. Sie waren schließlich zu nichts verpflichtet. Das gleiche galt auch für Gonzalo Bastida. Die Liebesdienerinnen zahlten ihm ihre Prozente - dafür vermietete er die Kammern an sie. Aber sie betrachteten sich nicht als sein Eigentum. Daß die „Piraten“ den Dicken mitgenommen hatten, war von den
Senoritas sehr wohl beobachtet worden. Doch wohin man Bastida verschleppt hatte, vermochten sie nicht festzustellen. Es interessierte sie auch nicht. Er würde sich schon wieder herauswinden. Ihm nachzueilen und ihn zu suchen, konnte nur zu neuen Schwierigkeiten führen. Und wer wollte schon Schwierigkeiten haben? Die Huren zuckten mit den Schultern und begaben sich zur Ruhe. Wichtig war jetzt erst einmal, richtig auszuschlafen. Was der neue Tag dann noch alles brachte, würde man schon sehen. In der total zertrümmerten Kneipe erlangte unterdessen Gayo das Bewußtsein wieder. Er bewegte seinen Kopf hin und her und gab grunzende und knurrende Laute von sich. Sein Schädel schmerzte höllisch. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er war sowieso noch nie ein schneller Denker gewesen. Das Denken übernahm meistens Cuchillo. Cuchillo - wo steckte der? Und überhaupt - was war geschehen? Gayo brummte und versuchte zu begreifen, wo er war und was vorgefallen war. Vorsichtig öffnete er die Augen. Über ihm hing eine Lampe. Etwas Öl tropfte auf seine Brust. Sein Hemd war fleckig. Es war ein Wunder, daß er sich an dem heißen Öl noch nicht versengt hatte. Balken. Gayo kannte diese Balken. Aha, jetzt fiel es ihm wieder ein: die gehörten zu der Kneipe. Bohrende Schmerzen plagten seinen Schädel, Es war schwer, sich an alles zu erinnern. Gleichzeitig war Gayo auch benommen, unter anderem wegen des vielen Weines, den er am Abend getrunken hatte. Richtig: man hatte tüchtig gefeiert. Jetzt war plötzlich alles wieder klar. Bastida hatte sogar eine Runde ausgegeben, sozusagen als Vorgeschmack auf den Sieg. Die Residenz sollte fallen. Plündern würde man den Palast, und in ganz Havanna würde der Pöbel ein einziges riesiges Fest feiern. Irgendwie hatte es damit nicht geklappt. Totenstille umgab Gayo, aber er konnte sich an den Lärm und das Chaos erinnern, die mit einemmal hier geherrscht hatten. Diese Bande von Piraten - sie war einfach hier eingedrungen. Man hätte sie gar nicht erst hereinlassen dürfen. Doch der Fehler ließ sich nicht mehr korrigieren. Die Hurensöhne hatten Bastida und Cuchillo provoziert. Dann hatten sie vom Leder gezogen. Alles war sehr schnell gegangen. Gayo wußte nur noch, daß ihm jemand ganz gewaltig die Fäuste auf den Schädel gedroschen hatte. Danach hatte ihn tiefste Nacht umgeben. O Mann, dachte Gayo. Er wollte sich aufrichten, aber die Schmerzen zwangen ihn wieder in Ruhestellung zurück. Alles drehte sich vor seinen Augen. Ihm wurde übel. Gräßlich war das.. Gayo atmete heftig. „Cuchillo“, murmelte er. Aber Cuchillo antwortete nicht. „Rioja. Sancho.“ Die beiden anderen Leibwächter meldeten sich ebenfalls nicht. Tot? Ein schrecklicher Verdacht befiel Gayo. Hatten die fremden Hundesöhne etwa alle umgebracht, ihnen die Gurgeln durchgeschnitten? War es deshalb so still? War er der einzige, der durch Zufall überlebt hatte? Er mußte es wissen. Wieder hob er ganz behutsam den Kopf. Diesmal ging es etwas besser. Gayo setzte sich auf und schaute sich im Raum um. Was er sah, entlockte ihm eine Reihe von Flüchen. Da war nichts mehr heil. Alles hatten die Bastarde zerschlagen, und mittendrin in dem Durcheinander lagen die Gestalten. Cuchillo und Rioja - und die anderen. Wo war Sancho? Er war nirgends zu entdecken. Und Bastida? Der war auch weg. Gayo kratzte sich am Kopf. Auch das tat weh. Mit einemmal befiel ihn Katzenjammer. Am liebsten hätte er laut losgeheult. Aber was wäre das für eine Schande gewesen? Nein, er mußte sich zusammenreißen.
Langsam erhob er sich. Er preßte beide Hände gegen den Kopf. Diese Schmerzen! Dieses Chaos! Gayo glaubte, den Verstand zu verlieren. Ich werde irre, dachte er. Dagegen gab es nur ein Mittel. Er mußte etwas trinken. Wein, Bier oder Schnaps. Am besten Rum. Wo gab es noch etwas zu holen? Hinter der Theke natürlich. Gayo stieg über die Gestalten der zerbeulten Kumpane hinweg. Waren sie tot? Nein, sie schienen noch zu leben. Das war ein Lichtblick. Wo aber war der dicke Häuptling? Na, vielleicht hatte er sich ja in seine Gemächer zurückgezogen. Oder er lag hinter der Theke, ebenfalls ramponiert. Schwankend erreichte Gayo die Theke und prallte mit der Hüfte dagegen. Stechende Schmerzen durchzuckten ihn. Hölle, was hatten sie bloß mit seinem Schädel gemacht? Richtig - draufgehauen hatten sie. Diese Hurensöhne! Wo steckten sie? Es wäre nicht gut gewesen, daß zu wissen. Und noch schlechter wäre es gewesen, wenn sie zurückgekehrt wären, um „nach dem Rechten zu sehen.“ Mit dieser Erkenntnis umrundete Gayo die Theke und forschte nach etwas Trinkbarem. Solange man unter sich war und diese wüsten Schläger nicht wiedererschienen, ging ja alles noch recht glimpflich ab. Jemand stöhnte. Gayo hob den Kopf und hielt Ausschau. Cuchillo! Eben hatte er sich bewegt. „Cuchillo“, sagte Gayo. Cuchillo antwortete nicht. Die Stimme des Kumpans schien ihn nicht zu erreichen. Na, und er hatte ganz schön was abgekriegt. Gayo glaubte sich jetzt zu entsinnen, daß die Kerle Cuchillo genauso auf dem Kopf herumgetrommelt hatten wie ihm. Fluchend arbeitete sich Gayo an der Rückseite der Theke entlang. Von Gonzalo Bastida keine Spur. Dafür lagen ein paar andere Kerle auf den Bohlen. Säcke, dachte Gayo. Daß er selbst bei dem Kampf kein besseres Bild abgegeben hatte als sie, hatte er in diesem Augenblick schon wieder vergessen. Sämtliche Flaschen waren zerschlagen. Gayo registrierte es und war schon wieder den Tränen nah. Dieser Schaden! Der schöne Rum und Branntwein! Und all das andere Zeug. Alles dahin! Doch in den Fässern hinter der Theke war noch Wein. Gayo angelte sich einen Krug. Er hockte sich unter ein Faß, öffnete den Zapfhahn und grinste, als der dunkelrote Wein herauslief. Gluckernd füllte sich der Krug. Gayo hob den Krug an die Lippen und ließ den Rebensaft in seine Kehle rinnen, ohne zu schlucken. Der Trunk erfrischte ihn. Er fühlte sich besser. Seine Lebensgeister erwachten. Der Wein war kühl und süffig. Nachdem er ihn halb geleert hatte, setzte Gayo den Krug wieder ab. Er gab einen satten, schmatzenden Laut der Genugtuung von sich. „Na also“, grunzte er. Auf der anderen Seite der Theke ertönte eine dumpfe Stimme. „Dreck, verdammter.“ „He?“ sagte Gayo. „Ho!“ „Wer da?“ „Ich bin's, du Arsch.“ „Cuchillo“, sagte Gayo. „Warte, ich komme.“ Er füllte wieder den Krug bis obenhin, dann rappelte er sich auf und wankte zu seinem Spießgesellen. Cuchillo schüttete den Wein gierig in sich hinein. Er betastete seinen Schädel und befühlte seine Beulen. Dann stand er auf. „Los!“ zischte er. „Wir müssen die anderen aufwecken! Wo ist Bastida?“. „Keine Ahnung.“ „Wir müssen ihn finden.“ „Ja.“
„Dann stellen wir eine Truppe zusammen und schnappen uns diese Schweinebande“, sagte Cuchillo. „Weit können die Bastarde noch nicht sein. Es ist ja noch dunkel.“ „Klar“, meinte Gayo. „Wir fassen sie, verlaß dich drauf“, sagte Cuchillo mit haßverzerrtem Gesicht. „Und dann stechen und knallen wir sie ab. Einige von ihnen ersäufen wir auch im Hafenwasser.“ „Wie war's, wenn wir ein paar aufhängen?“ fragte Gayo.
„Auch keine schlechte Idee.“
Gayo glaubte zwar nicht daran, daß sie in einem zweiten Kampf gegen die
„Bastarde“ den Sieg davontragen würden. Aber es war auf jeden Fall richtig, Cuchillo erst einmal zuzustimmen. Später konnte man immer noch sehen, was man tat. Das hing auch von Bastida ab. Den Dicken galt es zu finden - alles andere ergab sich.
6.
Ein Riesenschwall Wasser klatschte Sancho mitten ins Gesicht. Der Kerl klappte den Mund auf und zu wie ein Fisch, der auf dem Trockenen liegt. Wie durch einen Schleier sah er Gayo über sich. Gayo hielt den Kübel, mit dem er das Wasser geschöpft hatte, in seinen klobigen Händen. Er grinste. „Was fällt dir denn ein, du Bastard?“ fluchte Sancho los. „Was gibt es da zu grinsen?“ „Wir leben noch“, antwortete Gayo. „Was ist los?“ „Cuchillo und ich wecken gerade alle wieder auf“, erklärte Gayo. Sancho setzte sich auf und sah sich um. Richtig, jetzt fiel es ihm wieder ein: er lag auf den Katzenköpfen vor der Kaschemme. Hier und da waren im Dunkel noch einige andere Gestalten zu entdecken. Es war eine Riesenkeilerei gewesen, und die Gegner hatten es sich offenbar in den Kopf gesetzt, ihm, Sancho, das Fliegen beizubringen. Jetzt herrschte Ruhe. Nur in der Kneipe waren Rufe und Flüche zu vernehmen. Cuchillo kippte den Kerlen kaltes Wasser in die Gesichter oder holte sie mit derben Püffen und Knüffen in die Wirklichkeit zurück. „Wo sind sie?“ fragte Sancho.
„Wer?“ fragte Gayo zurück.
„Blödmann, die Schweinehunde natürlich.“
„Weg.“
Sancho blickte zu den Piers. Wenn die Fremden mit einem Schiff erschienen
waren, dann hatten sie tatsächlich das Weite gesucht. Nirgends entdeckte er ein Schiff, das er nicht schon kannte. „Und Bastida?“ erkundigte sich Sancho. „Wir suchen ihn noch“, erwiderte sein Kumpan. „Dabei mache ich mit“, sagte Sancho, erhob sich mit einigen Verwünschungen und wankte in die Kneipe. Gayo weckte die anderen Opfer auf, die vor dem Haus lagen. Im Inneren der Kaschemme bot sich Sancho ein befremdliches Bild. Die Kerle rieben sich die Köpfe und Knochen, hockten hier und da und wetterten und fluchten. Einige hatten sich Wein geholt und stärkten sich. Cuchillo schritt auf und ab und holte jene auf die Beine, die immer noch nicht wieder ins Dasein zurückgekehrt waren. Rioja taumelte auch quer durch die Kneipe. Sancho gesellte sich zu ihm.
„Wie sieht's denn aus?“ fragte er.
„Beschissen.“
„Bastida?“
„Weiß der Henker, wo der ist. Frag mich was Besseres.“
Gayo und die Kerle, die draußen genächtigt hatten, traten ein. Cuchillo zerrte
soeben den letzten Kerl von den Bohlen hoch und holte ihn mit zwei klatschenden Ohrfeigen aus der Ohnmacht Der Kerl gab winselnde Laute von sich. Cuchillo ließ ihn auf einen Stuhl krachen. Dann wandte er sich an Gayo, Rioja und Sancho. „Los - wir suchen Bastida! Danach ist Besprechung.“
„Gut“, brummten die drei Gorillas.
Sie schwärmten aus und durchstöberten die angrenzenden Räume. Cuchillo
schaute im Hinterzimmer nach, danach im geheimen Waffenkeller. Nichts - kein Bastida. Gayo suchte auf dem Dachboden. Hatte sich der Dicke hier verkrochen, als es zu heiß wurde? Nein - Irrtum. Auch hier war er nicht zu entdecken. Sancho und Rioja drangen in die Kammern der Senoritas ein.
„Wo ist der Chef?“ brüllte Sancho.
Die Gunstgewerblerinnen blickten ihn halb verschlafen, halb verblüfft an.
„Habt ihr den nicht gefunden?“ fragte eine von ihnen.
„Nein. Sonst würde ich nicht fragen“, erwiderte Sancho.
„Seid ihr sicher, daß er sich nicht unter einem eurer Betten versteckt hält?“ wollte
Rioja wissen. Die Damen krochen unter die Betten und sahen nach. Ohne Erfolg. Bastida blieb verschwunden. „So ein Mist“, sagte Sancho. „Ihr könnt jetzt rauskommen“, sagte Rioja zu den Huren. „Es besteht keine Gefahr mehr.“ „Wir haben Angst“, sagte jene, die eine Auseinandersetzung mit Batuti gehabt hatte. „Der Nigger wollte mich fressen.“ Rioja grinste verächtlich. „Fressen bestimmt nicht. Wenn schon, dann hatte er was anderes mit dir vor.“ „Du blödes Schwein“, sagte sie. Rioja wollte ihr einen Stoß versetzen, aber jetzt ertönte in der Kneipe Cuchillos Stimme. Cuchillo trommelte die Kerle zusammen. Alle fanden sich an der Theke ein. Bevor Cuchillo seine Entscheidungen kundtat, gab es noch einmal eine Runde Wein. Keiner wußte so recht, was los war. Cuchillo versuchte, es herauszufinden. „Wir werden Bastida suchen“, verkündete er. „Wer hat ihn zuletzt gesehen?“ „Ich“, erwiderte eine der Kerle. Er wurde das Wiesel genannt. „Wie kannst du da so sicher sein, Wiesel?“ fragte Cuchillo grob. „Ihr wart alle schon weg, da haben sie mich als einen der letzten umgenietet“, erwiderte das Wiesel. „Juarez kann's bezeugen.“ „Stimmt“, sagte Juarez. „Meinetwegen“, knurrte Cuchillo. „Und dann haben sie mich auch zusammengeschlagen“, erklärte Juarez. Cuchillo nickte. „Schon gut. Ihr habt also gesehen, was sie mit Bastida gemacht haben?“ „Sie haben ihn an die Wand gehängt“, entgegnete das Wiesel. „Du spinnst wohl?“ schrie Gayo. „Nein! Es ist die Wahrheit!“ Juarez deutete auf den Mauerhaken. „An den Haken da haben sie ihn gebaumelt!“ „Und dann?“ fragte Cuchillo ziemlich fassungslos. „Dann haben sie ihn erst mal hängen fassen“, erwiderte das Wiesel. „Was danach passiert ist, weiß ich nicht mehr. Ich hab' bloß noch gesehen, wie Bastida gezappelt hat.“ „Hölle und Teufel“, sagte Sancho. „So eine verfluchte Schande. Hat einer eine Ahnung, wer die Kerle sind?“ „Piraten!“ brüllte einer. „Egal“, sagte Rioja. „Was spielt das jetzt noch für eine Rolle?“ „Wir brauchen Verstärkung!“ rief Cuchillo. „Wir müssen Gonzalo Bastida suchen und finden. Dann schnappen wir uns die Bastarde, die sich vielleicht noch irgendwo in der Stadt rumtreiben!“ „Ich habe kein Schiff gesehen“, wandte Sancho ein. „Na und?“ fragte Cuchillo unwirsch. „Vielleicht ankern sie irgendwo anders. Nicht im Hafen. In einer Bucht, nicht weit von der Stadt entfernt.“ Sancho kratzte sich am Kinn. „Stimmt, das könnte sein.“ „Das steht jetzt auch gar nicht zur Debatte“, sagte Cuchillo. „Wiesel!“ „Ich höre!“
„Du läufst sofort zur Residenz!“ „Jawohl, wird erledigt“, erwiderte das Wiesel eilfertig. „Du benachrichtigst de Escobedo und sagst ihm, was hier passiert ist“, fuhr Cuchillo fort. „Vielleicht ist Bastida sogar bei ihm. Auf jeden Fall sollten wir uns aber vergewissern, ob de Escobedo schon Bescheid weiß oder nicht.“ „Ja, klar“, sagte das Wiesel. „Dann hau ab!“ brüllte Cuchillo. „Beeil dich gefälligst!“ Das Wiesel verließ die Kaschemme. Die anderen wandten sich wieder den Weinkrügen zu. Bevor Alonzo de Escobedo nicht informiert war und ihnen Verstärkung schickte, konnten sie nichts unternehmen. * Das Wiesel war ziemlich wütend. Während er durch die Gassen rannte, wünschte er Cuchillo die Pest, die Pocken und noch einige andere schlimme Krankheiten an den Leib. Wie der Hund ihn behandelt hatte! War er sein Untertan? Nein. Er, das Wiesel, war ein freier Mann. Cuchillo hatte ihm gar nichts zu befehlen. Diese Gorillas - wie die sich aufspielten! Das Wiesel verfluchte sie. Reichte ihnen die eine Lektion noch nicht? Hatten sie die Schnauze noch nicht voll? Jetzt wollten sie die Feinde finden und zur Rechenschaft ziehen. Dabei erschien ein solches Vorhaben von vornherein aussichtslos. Wer immer die Fremden sein mochten, sie waren Kämpfer und hatten Eisen in den Fäusten. Auch eine dreifache Übermacht konnte nichts gegen sie ausrichten. Aber Cuchillo, Gayo, Rio ja und Sancho wollten eben beweisen, was für Kerle sie waren. Die Schande, derart verprügelt worden zu sein, konnten sie nicht auf sich sitzen lassen. Sie mußten etwas unternehmen. Die Gassen, in die jetzt das erste graue Licht kroch, waren wie ausgestorben. Niemand begegnete dem Wiesel. Havanna schien eine tote, verlassene Stadt zu sein. Auch von der Residenz und der Plaza ertönten keine Schüsse mehr. Was hatte das zu bedeuten? Hatte de Escobedo den Palast des Gouverneurs etwa schon erobert? Weil die Soldaten der Garde und der Miliz kapituliert hatten? Möglich war alles. Plötzlich aber stoppte das Wiesel. Wie vom Donner gerührt blieb der kleine Kerl stehen. Er hatte das Gefängnis erreicht und wollte daran vorbeihasten, aber sein Blick fiel auf die große Pinie, die vor dem Tor stand. Da hingen sie und schaukelten leicht im frischen Morgenwind - wie überreife Früchte, die jeden Moment hinunterfallen konnten. Aber sie fielen nicht. Man hatte de Escobedo und Bastida schön säuberlich aufgeknüpft. Die Schlingen hatten ihnen die Hälse langgezogen. Die Stricke rissen bestimmt nicht. Wenn keiner die beiden Toten abschnitt, hingen sie auch in den nächsten Jahren noch dort, als Skelette. Das Wiesel schluckte. O Gott, dachte er. Hastig bekreuzigte er sich. Er war sonst kein frommer Mann alles andere als das. Aber der Anblick der beiden Leichen erschütterte ihn zutiefst. Angst vor dem Tod - der Sensenmann war ein Schreckgespenst. Ein Wächter trat aus dem Gefängnishof ins Freie. „He, du da!“ rief er. Das Wiesel wirbelte herum und verschwand wie der Blitz. Panik - wie eine Faust saß sie ihm im Nacken. Wollte man auch ihn verhaften, aburteilen und hängen? Er hatte ja am Sturm auf das Gefängnis teilgenommen. Sicherlich hatte der Posten ihn wiedererkannt. O Hölle, dachte der Kerl, jetzt bin ich dran!
Doch der Wächter verfolgte ihn nicht. Er hatte seine präzisen Anweisungen von Jose Campora. Abwarten. Man durfte sich keine Blöße geben. Der Anblick der Hingerichteten aber versetzte die Plünderer und all das Gesindel in höchste Verwirrung, wie der Gefängnisdirektor richtig vermutet hatte. Keuchend kehrte das Wiesel zur Kaschemme zurück. Er stieß die Tür auf, blieb stehen und lehnte sich japsend gegen die Wand. Gayo sah das Kerlchen als erster. Er lachte. „He! Was ist denn mit dir los? Hast du was vergessen?“ „Nein.“ „Hast du den Teufel gesehen?“ fragte Juarez. „Du siehst ja käsebleich aus.“ „Schlimmer.“ „Bist du etwa schon wieder von der Residenz zurück?“ fragte Cuchillo barsch und steuerte auf das Wiesel zu. „Du mußt ja geflogen sein. Oder? Nun rede schon. Was ist los?“ „Tot. Sie sind tot“, keuchte das Männchen. „Wer?“ fragte Rioja. „Bastida. Und de Escobedo. Alle beide.“ „Was?“ Cuchillos Augen verengten sich. „Ist das dein Ernst? Bist du sicher? Paß bloß auf, Freundchen. Erzähle jetzt keine blöden Witze.“ „Mir ist nicht danach zumute“, sagte das Wiesel. „Hat man sie - erschossen?“ wollte Sancho wissen. „Schlimmer.“ Cuchillo packte das Kerlchen an der Gurgel. „So sprich doch, du Dünnmann!“ „Aufgehängt“, röchelte das Wiesel. „Sie haben lange Hälse. An der Pinie. Vor dem Gefängnis.“ Cuchillo ließ ihn los. Das Wiesel ließ sich auf einen Stuhl fallen. Juarez reichte ihm mitfühlend einen Becher Wein. Das Wiesel verschüttete die Hälfte und kippte sich den Rest in den Rachen. „Aus dem Knast hätten sie noch fast auf mich geschossen“, fügte er gurgelnd seinem Bericht hinzu. „Und sie sind hinter mir hergelaufen, die Hunde. Die Wächter.“ Die Kerle waren starr vor Entsetzen. Ihre Gesichter wurden lang und länger. Keiner wußte so recht, was er jetzt tun sollte. Cuchillo, Gayo, Sancho und Rioja begriffen als erste, was die Glocke geschlagen hatte. Bastida tot? Schicksal. Pech für den Dicken. Nun ging es darum, daß man nicht als nächster an der Reihe war. Der Führer war erledigt, jeder war nun sein eigener Herr. De Escobedo? Um den war es nicht schade. Den hatte sowieso keiner leiden können. „Die Residenz können wir vergessen“, murmelte Rioja. „Die Piraten auch.“ „Scheiß drauf“, brummte Cuchillo. „Wir reißen uns unter den Nagel, was es zu holen gibt. Dann gehen wir stiften.“ Und was taten sie? Während die anderen Galgenstricke noch dastanden und mit finsteren Mienen darüber brüteten, was sie unternehmen sollten, entfernten sich die vier Leibwächter unauffällig. Sie zogen sich in Gonzalo Bastidas Privaträume zurück. Aber nicht, um zu trauern und zu meditieren, weil es ihren Häuptling erwischt hatte. Nein - sie hatten Wichtigeres vor. Schließlich wußten sie, wo der Verblichene seinen ganz privaten Schatz versteckt hatte. Cuchillo ging voran. Die drei folgten ihm dichtauf. Im Hinterzimmer hängte Cuchillo ein Bild von der Wand, denn brach er den Wandschrank auf, der sich dahinter verbarg. Kaum hatte er die Tür geöffnet, lachte er auch schon. „Da“, sagte er. „Seht euch das an!“
Der Schrank war gerammelt voll: Schmuck, Gold, Edelsteine und Geld lachten die vier Kerle an. Sie griffen zu und stopften sich die Taschen voll. Sie holten Säcke, um all den Reichtum verstauen zu können. „Wie er gehamstert hat, der dicke Hurensohn“, sagte Gayo. „Soviel Zeug. Wer hätte das gedacht?“ „Das Zeug gehört jetzt uns“, brummte Cuchillo. „Achtung“, sagte Rioja. „Da kommt jemand.“ Richtig - Schritte näherten sich aus dem Schankraum. Juarez, das Wiesel und ein paar andere Kerle schauten herein. „Was macht ihr denn hier?“ rief Juarez. Sancho lachte meckernd. „Siehst du das nicht? Bist du blind?“ „Die räumen ab“, sagte das Wiesel empört. „Verschwindet!“ brüllte Cuchillo. „Von wegen“, sagte Juarez erbost. „Ihr stoßt euch gesund, und wir glotzen in die Röhre, was? Na, das habt ihr euch aber fein ausgedacht, ihr Bastarde!“ Rioja hatte plötzlich sein Messer in der Hand. „Noch ein Wort, ihr Ratten, und ihr seid dran. Wir haben das Zeug hier verdient, wir sind Bastidas Erben.“ Das Wiesel lachte höhnisch. „Einen Scheiß seid ihr!“ Cuchillo, Gayo und Sancho packten hastig ein. Rioja schleuderte sein Messer, denn aus dem Schankraum drängten immer mehr Kerle nach. Das Messer wirbelte durch die Luft. Juarez stöhnte auf. Er sank nach hinten zusammen, fiel auf das Wiesel und ein paar andere Kerle. Das Heft des Messers ragte aus seiner Brust. „Mörder!“ schrie das Wiesel. „Packt diese Hunde! Macht sie fertig!“ Fluchend und lärmend drangen die Galgenstricke in das Hinterzimmer ein. Rioja warf sich ihnen entgegen. Sancho trat einem Kerl gegen den Bauch. Gayo rammte einem das Messer in den Leib. Cuchillo wehrte sich gegen drei Kerle und schlug sie zusammen. Dann stürzte er mit einem prall gefüllten Sack Beutegut zur Hintertür. „Laßt sie nicht entwischen!“ heulte einer der Kerle. Vier oder fünf warfen sich auf Rioja. Sie prügelten, traten und stachen auf ihn ein. Die anderen wollten Sancho und Gayo greifen, doch die wußten sich zu verteidigen. Sie rissen zwei Pistolen heraus, spannten die Hähne und drückten ab. Gurgelnd sackten zwei Gegner auf die Bohlen. Einige andere stolperten über sie. Die beiden Gorillas schleuderten ihre Messer - wieder wurden zwei Strolche getroffen. Dann zogen sich Gayo und Sancho zu Cuchillo zurück. In der Kneipe spielten sich ebenfalls die wüstesten Szenen ab. Die Kerle gingen aufeinander los. Jeder wollte in das Hinterzimmer, aber die Tür war viel zu schmal. Es herrschte dichtes Gedränge. Ein Kerl wurde halb zerquetscht, über einen anderen trampelten die Kerle hinweg. An der Theke und im Schankraum stachen die Halunken mit den Messern um sich - jeder kämpfte gegen jeden. Jeder wollte so schnell wie möglich etwas erraffen und damit verschwinden. Es gab keinen Kopf und keine Kontrolle mehr. Das Chaos war perfekt. Rioja brach unter mehreren Messerstichen zusammen. Ihr Strolche, dachte er noch, der Teufel soll euch holen. Dann hauchte er sein Leben aus. Sancho sah es, ehe er Cuchillo und Gayo an der Hintertür erreichte. Er wollte zu seinem Kumpan zurückkehren. Doch er begriff, daß es keinen Zweck mehr hatte. Und jeder war sich selbst der nächste. Es hatte keinen Sinn, noch gegen die Meute zu kämpfen. Nur Flucht war angebracht. Deshalb stürmten Cuchillo, Gayo und Sancho mit ihrem Beutegut ins Freie und hasteten davon.
* Bei den Belagerern auf der Plaza war man inzwischen auch wieder ins rauhe Dasein zurückgekehrt. Hier waren es Boldrago und Soto, die beiden Posten vor dem Befehlsstand, die als erste wieder die Initiative ergriffen. Sie suchten de Escobedo, konnten ihn aber nirgends entdecken. Die Kerle, die sich von den Barrikaden aufrichteten und sich die Köpfe rieben, begriffen nicht, was gespielt wurde. Aber Boldrago und Soto erschienen. Soto sagte: „Wo ist der Kommandant?“ „Wißt ihr das nicht?“ fragte einer der Belagerer zurück. „Er scheint sich in Luft aufgelöst zu haben“, erwiderte Boldrago. „Aber sein Bett ist ganz verwühlt.“ „Das hat seine Gründe“, meinte ein Kerl mit einem struppigen Bart. Maria Dolores erschien. „De Escobedo ist entführt worden“, sagte sie. „Von wem?“ fragte Soto. „Von Fremden“, antwortete sie. „Richtig“, sagte nun Boldrago. „Da waren doch diese fremden Burschen, die über uns hergefallen sind!“ „Über uns auch“, sagte ein Kerl, der eine der Drehbassen als Geschützführer bedient hatte. „Was sollte das?“ „Wir müssen sofort Bastida unterrichten“, sagte Boldrago. „Dann sehen wir weiter.“ Soto und er brachen sofort im Laufschritt zur Kaschemme auf. In der Kaschemme, so nahmen sie an, würden sie auch erfahren, was aus Alonzo de Escobedo geworden war. Aber sie erreichten das Gefängnis - und verharrten jäh, genauso erschüttert wie vor ihnen das Wiesel. De Escobedo und Bastida! Es erübrigte sich, nach ihnen zu suchen und zu fragen. Da war die Antwort. Der Dicke und der Kommandant baumelten an der Pinie. Sehr schnell kam wieder Bewegung in Boldrago und Soto. Schüsse knallten - aus dem Gefängnis wurde mit Musketen auf sie gefeuert. In panischem Entsetzen ergriffen sie die Flucht. Wie die Besessenen rannten sie zum Hafen. Als sie dann die Kaschemme betraten, stießen sie auf ein wüstes Durcheinander. Wild prügelten und stachen die Galgenvögel aufeinander ein. Zwei kämpften - nicht weit von Boldrago und Soto entfernt - um einen verzierten Teller. „Drauf“, sagte Boldrago. „Ja“, sagte sein Kumpan. So stürzten sie sich auf die Zankhähne. Boldrago entriß dem einen den Teller. Der andere wollte ihn von hinten erdolchen, aber Soto war schneller. Röchelnd brach der Kerl am Boden zusammen. Nun tobte das Handgemenge in der Kaschemme noch wilder. Jeder wollte fleddern - und Gonzalo Bastida war ja ein reicher Mann gewesen, ein Nabob gewissermaßen. Überall stieß man auf Verstecke, Gold, Schmuck und Münzen kamen zum Vorschein, Selbst die Huren ließen sich die Gelegenheit nicht entgehen. Sie stürzten aus ihren Kammern und mischten sich kreischend und kratzend unter die Kämpfenden. Kurze Zeit darauf löste sich der Belagerungsring um die Residenz auf. Es sprach sich rasend schnell herum, was passiert war. Bastida und de Escobedo tot. Wen verlangte danach, das gleiche Los zu finden? Keinen. Jetzt hieß es bei den Ratten: Rette sich, wer kann. Und erraffe, was du erraffen kannst! Im allgemeinen Durcheinander gelang es Cuchillo, Gayo und Sancho, sich abzusetzen. Keiner verfolgte sie, keiner stellte sich ihnen entgegen. In der Nähe des
Stadtrandes blieben sie stehen und verschnauften. Die Säcke, gefüllt mit Kostbarkeiten, lasteten ziemlich schwer auf ihren Schultern. „Wo ist Rioja?“ fragte Cuchillo. „Sie haben ihn erwischt.“ „Verdammt“, sagte Gayo. „Erstochen“, erläuterte Sancho. „Egal“, sagte Cuchillo. „Na und? Wen interessiert das jetzt noch?“ Ja, auch Sancho, der sich mit Rio ja recht gut verstanden hatte, war bereits dabei, den Kumpan zu vergessen. Im übrigen war Rio ja nicht der einzige Tote, den es bei dieser letzten Schlacht in der Kaschemme von Bastida gab. Fünfzehn Leichen lagen in der Kneipe. Als es an diesem 13. Juli 1595 jedoch endlich hell wurde in Havanna, herrschte wieder geisterhafte Stille. Die Ratten waren verschwunden. Nichts regte sich mehr. Doch wie lange würde dieser Zustand dauern? ENDE