MICHAEL SHAARA
STERNENGESICHT
Kurzgeschichten
Deutsche Erstveröffentlichung
Wilhelm Goldmann Verlag
Aus dem Ameri...
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MICHAEL SHAARA
STERNENGESICHT
Kurzgeschichten
Deutsche Erstveröffentlichung
Wilhelm Goldmann Verlag
Aus dem Amerikanischen übertragen von Wolfgang E. Hohlbein und Dieter Winkler Titel der Originalausgabe: Soldier Boy Originalverlag: Timescape/Pocket Books, New York
Made in Germany • 4/84 • 1. Auflage -1110 © der Originalausgabe 1982 by Michael Shaara All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form This edition published by arrangement with the original publisher, Pocket Books, New York © der deutschsprachigen Ausgabe 1984 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlagentwurf: Design Team München Umschlagillustration: Klaus Holitzka, Mossautal Satz: Fotosatz Glücker, Würzburg Druck: Elsnerdruck GmbH, Berlin Verlagsnummer: 8404 Lektorat: Werner Morawetz/Peter Wilfert Herstellung: Peter Papenbrok ISBN 3-442-08404-0
Autor: Michael Shaara schreibt seit den 50er Jahren utopische Literatur. Er blieb stets bei der kurzen Form, wandte sich Ende der 50er Jahre wieder von der SF ab und hinterließ auf diesem Gebiet nur wenige, dafür aber um so reizvollere Geschichten. In der allgemeinen Literatur hatte Shaara dann seine großen Erfolge. Literaturpreis: Pulitzer-Preis für Literatur Buch: Besiedlung fremder Planeten, Kontakt mit Außerirdischen, Wasserplaneten, Dunkelwolken, Zeitmaschinen, Todesboten, Roboter – also durchaus gewohnte Themen. Aber wie das gemacht ist, zeigt Shaaras Meisterschaft: atmosphärische Dichte, stilistisch stimmungsvoll, fesselnde Handlung…
Vorwort
Am vergangenen Wochenende war ich mit einigen Mitgliedern des COLORADO-Schriftstellerverbandes zum Essen. Wir unterhielten uns natürlich über technische Dinge, und einer fragte mich, nachdem er meine Vorstellungen gehört hatte: Denken Sie denn nie an den Leser? Ich antwortete, das täte ich nicht. Er glaubte es nicht, und so versuchte ich, es ihm zu erklären. Ich schreibe seit vielen Jahren, und es hat mir immer Spaß bereitet, denn immer, wenn ich eine Geschichte niederschreibe, dann wartet diese Geschichte eigentlich bereits darauf, geschrieben zu werden. Geschrieben – gesehen, erzählt zu werden. Und es sind vor allem Szenen wie: Chamberlain auf dem Hügel vor Little Round Top, oder McLain, wenn er mit Dover Brown in den Ring steigt, Nielsen, der Maas tötet, oder die Gedanken des Roboters, wenn er seinen Schöpfer nahen sieht. All diese Welten sind real, und wenn ich sie wieder lese, dann kann ich manchmal sogar dorthin zurückkehren. Schreiben hat für mich immer bedeutet: Begib dich für eine Weile in eine andere, reale Zeit. Wenn mich jemand fragt, denken Sie nie an den Leser, dann kann ich nicht sagen, daß ich es tue oder jemals getan hätte. Aber wenn mir der Leser erzählt, daß er ebenfalls auf dieser Welt war, daß er in Der dunkle Engel den Jungen fest im Arm gehalten hat, mit Wainer am Strand entlangwanderte, wenn all dies für ihn real ist, dann ist das für mich ein Augenblick des Verbundenseins mit ihm, der das gleiche gesehen und gefühlt hat, und so haben wir etwas gemeinsam, der Leser und ich, und dies sind – nach dem Schreiben – die schönsten Augenblicke im Leben eines Schriftstellers: Zu sehen, daß ein anderer das gleiche gesehen
hat, gefühlt hat, was man in dieser Welt fühlt – oder vielleicht in dieser anderen Welt dort draußen, irgendwo jenseits des unbegreiflichen Durcheinanders, in dem ich lebe. Vielleicht ist das überhaupt der entscheidende Punkt: Schaffe dir deine eigene Welt. Ich habe es oft getan. Willkommen.
Die einsame Welt der dienenden Roboter
Captain Stevens stand auf dem Hügel und zählte die Gebäude. Elf. Nein, zwölf. Er fragte sich, ob die Zahl irgendeine Bedeutung hatte. Ihm sagte sie nichts. Sie befanden sich auf dem vierten Planeten der Sonne Tyban in der Region des Kohlensack-Nebels. Es war eine tote Welt. »Was hältst du davon?« fragte er. Der Exekutiv-Offizier seines Schiffes versuchte sich am Kopf zu kratzen, als ihm einfiel, daß er ja einen Raumanzug trug. »Sieht aus wie ein Camp«, antwortete Ball. »Ein paar Gebäude, alle aus einheimischem Material erbaut, dem einzig verfügbaren Stoff. Vielleicht Schiffbrüchige?« Stevens schritt, ohne darauf etwas zu erwidern, die Anhöhe hinauf. Der flache, verwitterte Stein ragte aus dem Sand vor ihm empor. »Keine Inschrift«, stellte er fest. »Vielleicht sind sie weggewaschen worden. Siehst du die Windfurchen? Auf dem ganzen verdammten Planeten gibt es kein anderes Gebäude. Das kann man nicht gerade eine Zivilisation nennen.« »Du glaubst nicht, daß es Eingeborene waren?« Ball sagte, daß er genau das nicht vermutete. Stevens nickte. Während er reglos dastand und den Stein betrachtete, fühlte er eine tiefe Ehrfurcht vor dem Alter. Er hatte eine intuitive Ahnung, daß dieser Gegenstand alt war, sehr alt. Zu alt. Er streckte seine behandschuhte Hand aus und ließ sie sanft über die Erhebungen auf der Wand gleiten. Obwohl die Atmosphäre sehr dünn war, hatten die Gebäude keine Schleusen.
Balls Stimme erklang in seinem Helm. »Willst du der Sache nachgehen, Skipper?« Stevens antwortete erst nach einer Weile. »Nur, wenn du meinst, daß es Sinn hat.« »Das kann man vorher nie wissen. Ausgrabungen haben oft nicht viel Sinn. Die Dinger hier sind auf einer Felsformation gebaut, die der Wind freigewaschen hat, und man sieht, daß der Fels selbst von hier aus – « Er deutete auf die Felsbank zu ihren Füßen » – vor langer Zeit herausgeschnitten worden ist.« »Wie lange?« Ball scharrte nachdenklich mit den Füßen im Sand. »So aus dem Handgelenk kann man das nicht sagen.« »Nur eine ungefähre Schätzung.« Ball sah den Captain an und wußte, was er dachte. Er lächelte trocken und meinte: »Fünftausend Jahre? Zehntausend? Ich weiß es nicht.« Stevens pfiff durch die Zähne. Ball deutete auf die Wand. »Sieh dir die Streifen hier an. Man kann alles aus ihnen schließen. Selbst der Wind auf der Erde würde ein paar Jahrtausende benötigen, um so tiefe Furchen zu schneiden. Und der Wind hier hat nur einen Bruchteil seiner Kraft.« Die beiden Männer standen eine Zeitlang schweigend da. Die Menschheit betrieb seit dreihundert Jahren interstellare Raumfahrt, und dies war der erste brauchbare Hinweis auf eine fortschrittliche, raumfahrende Rasse. Es war ein historischer Augenblick. Aber keiner von ihnen dachte an die Geschichte. Die Menschheit war nun dreihundert Jahre im Weltraum, aber wer auch immer dies hier gebaut hatte, war bereits seit Jahrtausenden dort. Was ihnen eigentlich, dachte Stevens unbehaglich, einen verdammt guten Vorsprung verschafft haben sollte.
Während das Ausgrabungsteam stetig arbeitete und nichts zutage förderte, blieb Stevens allein zwischen den Gebäuden. Ball kam nach einer Weile zu ihm, starrte die zerfurchten Wände säuerlich an und sagte: »Wer auch immer sie waren – wir haben nie von ihnen gehört.« »Nein? Wie kannst du da sicher sein?« murmelte Stevens. »Eine auf den Sternen geborene Rasse kann in diesem Teil der Galaxis bereits herumgestreift sein, als sich die Menschen noch mit Speeren bekämpften. Lange genug ist es her. Und dieser Planet liegt nur ein Parsec von Varius entfernt, eine Welt, deren Zivilisation so alt wie die der Erde ist. Sind die, die das hier gebaut haben, zum Varius gegangen? Oder zur Erde? Woher willst du das wissen?« Er scharrte verwirrt mit den Füßen im Sand. »Und was viel wichtiger ist – wo sind sie jetzt? Eine Rasse, die Tausende von Jahren alt ist…« »Fünfzehntausend«, berichtigte Ball. Als Stevens aufsah, fügte er hinzu: »Das sagen jedenfalls die Jungens von der biologischen Abteilung. Mindestens fünfzehntausend.« Stevens starrte unglücklich auf die Häuser. »Aber warum Gebäude?« fragte er. »Warum haben sie in Stein gebaut? Irgend etwas stimmt hier nicht. Sie hätten nicht so bauen müssen, wenn sie keine Schiffbrüchigen gewesen wären. Und Schiffbrüchige hätten irgend etwas zurückgelassen. Der einzige Grund, ein solches Camp zu errichten, ist – « »Wenn das Schiff startet und einige zurückbleiben.« Stevens nickte. »Aber dann hätte das Schiff zurückkommen müssen. Wohin ist es geflogen?« Er starrte in den blauschwarzen Himmel hinauf. »Wir werden es wohl nie erfahren.« »Was ist mit den anderen Planeten?« fragte Ball.
»Die Berichte sind negativ. Die inneren sind zu heiß, die äußeren zu schwer und zu kalt. Der dritte ist der einzige Planet mit einer erträglichen Temperatur. Aber er hat eine CO2Atmosphäre.« »Was ist mit den Monden?« Stevens zuckte mit den Schultern. »Wir können nur versuchen, es herauszufinden.«
Der dritte Planet war ein blanker, schimmernder Ball, aber als sie näher kamen, löste sich die Schwärze in brodelnde Wolken auf, durch die gelegentlich die Oberfläche hindurchschimmerte. Das Schiff tauchte durch die Wolkendecke hindurch und bremste auf dem letzten Stück scharf ab. Sie drangen in eine Atmosphäre aus dunstigem Gas ein und bewegten sich langsam durch die Zwielichtzone. Die Untersuchung der Monde hatte nichts ergeben. Der dritte Planet, eine heiße, schwere Welt mit sehr wenig freiem Sauerstoff, eine Welt, die den Monitoren wenig mehr als brodelndes Grau bot, war alles, was jetzt noch übrig war. Stevens glaubte nicht mehr an einen Erfolg ihrer Suche. Aber sie mußten es wenigstens versuchen. Das Schiff schwenkte in die langsame, flache Spirale, die für die Schiffe des Kartographenteams typisch war, um den Planeten ein. Unter ihm zogen die schwachen, dunklen Umrisse nackter Felsen und flacher Hügel dahin. Stevens drehte an den Schaltern der Außenvergrößerung und beobachtete die Welt, ohne etwas zu sagen. Und nach einer Weile sah er die Stadt. Er hatte das Bild auf dem Hauptschirm, und so sah es die gesamte Mannschaft. Einer machte mit einem Ausruf darauf aufmerksam, und sie alle starrten auf den Schirm. Stevens
verlangte hastig nach mehr Höhe, bis er bemerkte, daß die Stadt unter ihnen tot war. Er starrte hinunter auf zersplitterte Wände, zerborstene, sich in milchigen Wolken auftürmende Trümmer, ein zerschmettertes Chaos der Vernichtung. In der Nähe des ehemaligen Stadtkerns gähnte ein gigantischer Krater von mindestens drei Kilometern Durchmesser. Und in all dem Schutt war nicht die geringste Bewegung auszumachen. Stevens ging noch tiefer hinunter, um sich Gewißheit zu verschaffen, dann schwenkte er das Schiff herum und steuerte den Hauptkontinent an, der im hellen Tageslicht lag. Die Felsen glitten unter ihnen hinweg. Es gab keine Vegetation, aber sie entdeckten weitere Städte – alle in düsterem Schwarz, das die Konturen miteinander verschmelzen ließ. Auf dem Schiff sprach niemand. Keiner von ihnen hatte je einen Krieg erlebt, weil es auf der Erde und in ihrer Umgebung in den letzten dreihundert Jahren keinen Krieg mehr gegeben hatte. Das Schiff umrundete die Nachtseite des Planeten. Als sie sich der Oberfläche bis auf wenige Kilometer genähert hatten, sprachen die Geigerzähler an. Nach den Werten auf ihren Skalen konnte dort unten keinerlei Leben existieren. Nach einer Weile sagte Ball in die Stille hinein: »Nun, was soll das alles noch? Waren das unsere Freunde vom vierten Planeten, oder hat sich die Bevölkerung selbst ausgerottet?« Stevens wendete seinen Blick nicht von dem Schirm ab. Das Schiff erreichte erneut die Tagesseite. »Wir gehen runter und werden nach der Antwort suchen«, entschied er. »Macht die Strahlungsanzüge fertig.« Er versuchte einen Sinn hinter allem zu entdecken. Wenn die Wesen, deren Spuren sie auf dem vierten Planeten gefunden hatten, nicht von diesem Planeten stammten, dann mußten sie aus den Tiefen des Kosmos gekommen sein, denn auf den
übrigen Planeten dieses Systems war kein Leben möglich. Sie hatten Sternenschiffe und waren kriegerisch. Und das alles vor Tausenden von Jahren. Er begann zu ahnen, wie wichtig es war, eine Antwort auf Balls Frage zu finden. Das Schiff ging tiefer und suchte nach einem Landeplatz. Stevens stand noch immer am Schirm. Und dann bemerkte er eine Bewegung. Tief unter ihnen war ein schwarzer Schatten aufgetaucht, der sich bewegt hatte. Stevens lief ein Frösteln über den Rücken. Selbst aus dieser Entfernung erkannte er, daß es ein Roboter war. Kompakt und schwarz, eine Masse von Armen und Beinen, schob er sich eine Anhöhe hinauf. Für eine Sekunde sah Stevens deutlich den runden schwarzen Ball seines Kopfes, der sich nach oben drehte und dem Schiff folgte, dann lag der Hügel hinter ihnen. Stevens verlangte sofort nach mehr Höhe. Das Schiff bebte und schoß dann steil nach oben; ein paar Mannschaftsmitglieder prallten bei dem abrupten Manöver gegen die Bordwände. Stevens blieb am Schirm und vergrößerte den Bildausschnitt, als das Schiff wegzog. Und dann sah er noch einen, dann zwei, schließlich eine schwarze, gleitende Gruppe, alle mit einem ganzen Bündel pendelnder Arme ausgestattet. Hier leben nur Roboter, dachte er. Roboter. So schnell er konnte, verstellte er den Bildausschnitt, um eine Detailaufnahme auf dem Bildschirm einzufangen. Hinter sich hörte er ein Mannschaftsmitglied vor Erstaunen keuchen. Über den Kopf jedes Roboters zog sich ein Band aus durchsichtigem Kunststoff – eine Art Auge, ein Auge, das nach allen Seiten gleichzeitig sehen konnte –, und ein weiterer Fleck des gleichen Materials war direkt oben auf dem Schädel. Ansonsten war er aus schwarzem Metall, das fugenlos mit dem
Plastik verbunden war. Der Sichtwinkel des Roboters mußte dreihundertsechzig Grad betragen. Stevens konnte wenig vom Körper und den Armen sehen, die am Rumpf befestigt waren, aber was er sah, das genügte. Es waren die perfektesten Roboter, die er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Das Schiff zog weiter seine Bahn. Stevens wußte nicht, was er tun sollte. Das plötzliche Auftauchen dieser Roboter hatte ihn beunruhigt. Er hatte bereits den Alarmknopf gedrückt und die Schutzschirme aktiviert, und nun blieb ihm nichts mehr zu tun. Er versuchte sich zu erinnern, was die Vorschriften der Liga in diesem Fall vorschrieben. Die Anordnungen waren ihm in diesem Fall keine große Hilfe. Der Kontakt mit einer planetenbewohnenden Rasse war unter allen Umständen untersagt. Aber konnte eine Gruppe von Robotern eine Rasse genannt werden? Das Gesetz berücksichtigte keine Roboter, weil die Menschen nicht über solche verfügten. Die Konstruktion von eigenständig denkenden Robotern war ausdrücklich verboten. Aber auf jeden Fall, dachte Stevens, hatten sie soeben Sichtkontakt gehabt. Während er verwirrt vor dem großen Schirm stand, tauchte Ball auf. Er humpelte leicht. Aus der Prellung an seinem Kopf schloß Stevens, daß ihn der Aufstieg überrascht hatte. Der Leutnant war blaß vor Überraschung und Schrecken. »Was ist das?« fragte er. »Mein Gott – die sehen ja aus wie Roboter!« »Genau das sind sie.« Ball starrte verärgert auf den Schirm. Die Roboter waren nicht mehr als ferne Punkte im Nebel. »Beinahe menschlich«, sagte Stevens, »aber doch nicht ganz.« Ball versuchte die Situation zu begreifen. Er drehte sich um und sah Stevens fragend an.
»Und was tun wir jetzt?« Stevens zuckte mit den Schultern. »Sie haben uns gesehen. Wir können jetzt verschwinden, aber dann werden sie sicherlich… es wird eine Legende um unseren Besuch geben. Oder wir gehen runter und versuchen, etwas über die Gebäude auf Tyban Vier herauszubekommen.« »Können wir runtergehen?« »Legal? Ich weiß es nicht. Wenn sie Roboter sind, dann ja. Roboter stellen wohl kaum eine eigenständige Rasse dar. Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit.« Er tippte nervös mit dem Finger auf den Schirm. »Es muß sich ja nicht um Roboter handeln. Es können genausogut Eingeborene sein.« Ball verschluckte sich fast. »Ich fürchte, ich kann dir nicht ganz folgen.« »Sie könnten die ursprünglichen Eingeborenen dieses Planeten sein – zumindest deren Gehirne, durch strahlungssicheres Metall geschützt. Sei es, wie es sei«, fügte er hinzu, »es sind die besten Maschinengeschöpfe, die ich jemals gesehen habe.« Ball schüttelte den Kopf und setzte sich abrupt hin. Stevens wandte sich von dem Schirm ab und ging nervös auf dem Deck auf und ab. Theoretisch war alles, was er zu tun hatte, eine Ungefähr-Untersuchung unerforschter Systeme: nachprüfen, ob es Leben gibt und Möglichkeiten zur Besiedlung. Eine Untersuchung, nichts weiter. Aber es war auch klar, daß er Schwierigkeiten zu erwarten hatte, wenn er zum Sirius zurückkehrte, ohne diese Roboter-Welt genauer untersucht zu haben – entweder, weil er gegen das Gesetz verstoßen und Kontakt hergestellt hatte, oder wegen Pflichtverletzung. Und außerdem gab es noch die Möglichkeit, daß die Roboter nur darauf warteten, ihn und sein Schiff in die Luft zu sprengen.
Er blieb abrupt stehen, als ein neuer Gedanke in ihm Gestalt gewann. Wenn diese Roboter bewaffnet waren und darauf warteten – konnte es ein Außenposten sein? Ein Außenposten! Er fuhr herum und hastete zur Brücke zurück. Wenn er herunterging und landete, würde die Liga nicht rechtzeitig von der möglichen Gefahr informiert. Wenn er herunterging und es Ärger gab… Der Gedanke war plötzlich wie weggeblasen. Die Stimme drang in seine Gedanken ein, eine tiefe, ruhige Stimme, die zu sagen schien: Seid gegrüßt. Erschreckt nicht. Unser Wunsch ist nur, zu dienen…
Gegrüßt! Seid gegrüßt! dachte Ball verständnislos. Alle Besatzungsmitglieder auf diesem Schiff hatten die Stimme gehört, aber als sie erneut sprach, war sich Stevens nicht einmal sicher, ob es nur eine Stimme war. »Wir haben eure Ankunft erwartet. Unser Wunsch ist nur, zu dienen«, sagte sie feierlich. Und dann schickten die Roboter ein Bild. So perfekt und klar wie eine Holografie tauchte eine rechteckige Plattform in Stevens’ Geist auf. Auf der Plattform, gegen einen Hintergrund aus rotem und braunem Gestein, stand einer der Roboter. Mit einer langsamen, vorsichtigen Bewegung hob er einen seiner hängenden Arme – einen seiner rechten Arme – und streckte ihn Stevens entgegen; die Geste einer offen dargebotenen Hand. Stevens fühlte einen eigenartigen Zwang, diese Hand zu ergreifen. Er bemerkte gerade noch rechtzeitig, daß es nicht sein eigener Wille war, die Hand zu schütteln. Es war der Wille des Roboters.
Als das Bild verschwunden war, wußte er, daß die anderen das gleiche gesehen hatten. Er wartete einen Moment. Es kam zu keinem weiteren Kontakt, aber das Gefühl des Zwanges beherrschte noch immer sein Inneres. Er konnte sich vorstellen, daß die Roboter seinen Geist absolut kontrollieren konnten, wenn sie es wirklich beabsichtigten. Aber als nichts weiter geschah, ließ allmählich seine Angst nach. Stevens versuchte sich zu erinnern, während die Mannschaft fasziniert auf den Schirm starrte. Er konzentrierte sich darauf, was er gesagt hatte, wiederholte die Worte des Roboters und hielt die Hand in der Geste des Händeschüttelns, wie es die Maschine getan hatte. »Seid gegrüßt«, sagte er, weil es genau das war, was sie gesprochen hatten, und erklärte: »Wir kommen von den Sternen.« Es war eine dramatische Geste, aber sie wurde der Situation gerecht. Er fragte sich verwirrt, ob er die Angelegenheit nicht der Abteilung für Fremdrassenkontakt überlassen sollte. Er kam sich wie ein Narr vor, so dazustehen und eine Botschaft zu denken. Nein. Er mußte die Sache zu Ende bringen. »Wir erwarten voller Respekt«, fuhr er fort, »daß uns die Landung auf diesem Planeten gestattet wird.
Stevens hatte nicht geahnt, daß ihrer so viele waren. Sie waren zusammengeströmt, als sie das Schiff zum erstenmal gesichtet hatten, und nun hatten sich Hunderte auf dem Hügel versammelt. Einige von ihnen kamen gerade an, als das Schiff landete; sie glitten mit phantastischer Leichtigkeit über den felsigen Hügel, und Stevens fühlte erneut Angst in sich aufsteigen. Die meisten der Roboter standen mit der Unbeweglichkeit von Maschinen da. Andere versuchten sich
den Weg in die vorderste Reihe zu bahnen und kamen dicht an das Schiff heran, aber keiner von ihnen berührte es, und als Stevens hinaustrat, traten sie zur Seite und machten ihm Platz. Einer der näher stehenden Roboter kam allein auf ihn zu. Er bewegte sich, wie Stevens jetzt erkannte, auf einer Anzahl kurzer, unglaublich starker Beine. Das schwarze Ding hielt vor ihm und streckte ihm die Hand entgegen, so, wie er es auf dem Bild getan hatte. Stevens drückte sie, wie er hoffte, fest – er fühlte die Kraft des Metalls durch den Handschuh hindurch. »Willkommen«, sagte der Roboter in seinem Geist. Und diesmal entdeckte Stevens eine Veränderung in seinem Tonfall. Er war weniger freundlich, weniger – Stevens konnte es sich nicht erklären – interessiert, als ob der Roboter jemand anderen erwartet hätte. »Danke«, entgegnete Stevens. »Wir sind euch zu großem Dank verpflichtet, daß wir landen durften.« »Unser Wunsch«, wiederholte der Roboter automatisch, »ist nur zu dienen.« Plötzlich fühlte sich Stevens sehr allein, nur von Maschinen umgeben. Er versuchte den Gedanken abzuschütteln, weil er wußte, daß sie nicht menschlich waren, nicht menschlich sein konnten. Aber… »Werden die anderen auch herauskommen?« fragte der Roboter in unverändertem Tonfall. Stevens fühlte sich verwirrt. Das Schiff lag im Nebel über ihm. »Sie müssen im Schiff bleiben«, antwortete er laut und hoffte, daß der Roboter nicht fragen würde, weshalb. Aber vielleicht brauchte er ihn auch nicht zu fragen. Er konnte seine Gedanken lesen. Eine ganze Weile sprach keiner von ihnen, lange genug, daß Stevens sich unwohl zu fühlen begann. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, und da der Roboter offensichtlich auf
irgend etwas wartete, fiel ihm nichts anderes ein, als die anderen Männer des Aliencon aus dem Schiff zu befehlen. Der Ring der Roboter weitete sich, als die Männer das Schiff verließen. Stevens hörte, wie der Roboter erneut sprach. Die Stimme klang jetzt wieder freundlicher. »Wir hoffen, daß ihr uns vergebt, daß wir in eure Gedanken eingedrungen sind. Es ist unser… Brauch, keinen Kontakt herzustellen, bevor wir gerufen werden, aber als wir bemerkten, daß ihr unsere wahre Natur nicht erkanntet – und daß ihr im Begriff wart, unseren Planeten wieder zu verlassen –, haben wir uns entschlossen, gegen unsere Gewohnheiten zu handeln, so daß ihr eure Entscheidungen auf die richtigen Daten stützen konntet.« Stevens antwortete zögernd, daß er ihre Handlungsweise verstehe. »Wir nehmen an«, fuhr der Roboter fort, »daß ihr euch nicht bewußt seid, wie vollkommen wir in euren Geist eindringen können, und daß ihr vielleicht ungehalten seid, wenn ihr erfahrt, daß wir alle notwendigen Informationen aus eurem Geist entnommen haben. Wir müssen uns – entschuldigen. Unser einziges Ziel war es, mit euch in Kontakt zu treten. Nur die Informationen, die dazu notwendig waren, haben wir euch entnommen. Wir werden jetzt nur noch in euren Geist eindringen, wenn ihr damit einverstanden seid.« Stevens reagierte nicht auf die Neuigkeit. Nichtsdestoweniger war es ein Schock für ihn, und er blieb reglos stehen, während die Männer des Aliencon mit der Arbeit begannen. Der Roboter, der das Wort an ihn gerichtet hatte, schien sich in keiner Weise von den anderen zu unterscheiden. Stevens nahm an, daß sie nur einen Wortführer vorgeschickt hatten, um sich den Menschen anzupassen. Das Bild einer ausgestreckten Hand, das typische Händeschütteln eines Erdenmenschen, war sicher aus dem gleichen Grund gewählt worden. Sie wollten es
ihm und den anderen leichter machen. Der seltsame Unterton des Roboters war eine Entgleisung. Ein paar unerklärliche Sekunden lang schien das Ding regelrecht enttäuscht gewesen zu sein. Stevens gab es auf, sich darüber Gedanken zu machen, und betrachtete den Aufbau des Roboters, der vor ihm stand. Er war nicht groß; kleiner als ein normaler Mensch. Das Auffallendste an ihm war – außer dem Plastikband um den Kopf – eine Anzahl von Symbolen, die in seine Brust eingraviert waren. Gleichmäßig aufgereihte Symbole – wahrscheinlich Zahlen –, die in Höhe der Arme begannen und die gesamte Vorderseite einnahmen. Wenn es Zahlen waren, dachte Stevens, dann nach einem sehr komplizierten System. Er bemerkte, daß alle Roboter diese Zeichen trugen, und sie waren – soweit er es beurteilen konnte – alle gleich. Er kam zu dem Schluß, daß diese Symbole reine Dekoration waren, und beließ es dabei. Aber gleichzeitig kam ihm der Gedanke auch wieder unlogisch vor. Erst als er wieder auf dem Weg zurück zum Schiff war, erinnerte er sich wieder an die Symbole, und erst dann begriff er, was sie wirklich bedeuteten.
Erst nach einer ganzen Weile, als Stevens zu der Überzeugung gekommen war, daß wirklich keine Gefahr bestand, erlaubte er der Mannschaft, das Schiff zu verlassen. Sie wurde von den Robotern empfangen, und beinahe augenblicklich hatte jeder von ihnen eine der Maschinen an der Seite, die begierig darauf wartete, dienen zu können. Es waren mehrere tausend Roboter erschienen. Der größte Teil stand abseits, unbeweglich auf einer Ebene in der Nähe des Schiffs, ein gigantisches Feld von metallischem, schwarzem Weizen. Sie waren erschaffen worden, um zu dienen. Stevens begann ihre Freude über ihre Anwesenheit regelrecht zu fühlen. Sie
waren wie eifrige Kinder, obwohl sie nur dastanden und warteten. Wer auch immer sie gebaut hatte, dachte Stevens bewundernd, hatte dies perfekt getan. Ball gesellte sich zu ihm und starrte mit weit aufgerissenen Augen durch die klare Plastikscheibe seines Helms auf die Roboter herunter. Eine der Maschinen löste sich aus der Menge und glitt zu ihnen herüber. Der, welcher zu Anfang mit Stevens gesprochen hatte, war bei ihm geblieben. Die Tatsache, daß die Roboter jedes ihrer Worte verstehen konnten, beunruhigte Ball für eine Weile. Aber das Gefühl des Irrealen, das Gefühl, hier zu stehen und mit einem gigantischen Haufen aus intelligentem Metall zu reden, das Gefühl des Unechten verging allmählich. Sie hatten irgend etwas Entspannendes und Freundliches an sich. Auch daran hatten ihre Erbauer gedacht, ging es Stevens durch den Kopf. »Sie werden uns nichts antun«, sagte Ball überzeugt. Mittlerweile war es ihm gleichgültig, ob die Roboter seine Gedanken lasen. »Sie scheinen nur froh darüber zu sein, daß wir hier sind. Mein Gott – wer hat jemals davon gehört, daß ein Roboter froh sein könnte.« Stevens wandte sich verwirrt an das nächste Maschinenwesen: »Ich hoffe, du wirst uns unsere Neugierde vergeben, aber – ihr seid eine bemerkenswerte Rasse. Noch nie zuvor hatten wir Kontakt mit Wesen wie euch.« Er sprach stockend, aber es war das beste, was er hervorbrachte. Der Roboter machte eine Bewegung, die an ein Kopfnicken erinnerte. »Ich nehme an, daß die Natur unserer Konstruktion sehr ungewöhnlich für euch ist. Ihr werdet wissen wollen, ob wir vollkommen mechanisch sind. Ich bin nicht sicher, was das Wort mechanisch alles einschließt. Dazu hätte ich zu tief in eure Gedanken eindringen müssen. Aber ich glaube, es gibt
grundsätzliche Parallelen zwischen dem Aufbau eurer Rasse und uns.« Der Roboter machte eine Pause. Stevens fühlte erneut ein Gefühl der Beunruhigung. »Ich muß gestehen«, fuhr das Ding fort, »daß wir neugierig sind.« Er brach abrupt ab, als ob er nach einem Wort suchte, um sich verständlich zu machen. Stevens wartete voller Interesse. »Wir kennen nur zwei Lebensformen. Unsere, die hauptsächlich metallisch ist, und die der Erbauer, die eher an die eure erinnert. Ich bin kein Doktor, und deswegen kann ich nichts über die Struktur der Erbauer sagen, aber wenn ihr euch dafür interessiert, kann ich nach unserem Biologen schicken lassen. Er wird erfreut sein, euch Auskunft geben zu können.« Stevens fühlte sich ernsthaft verwirrt, und der Roboter wartete geduldig, während Ball und die zweite Maschine sich interessiert ansahen. Die Doktoren, entschied Stevens, waren wahrscheinlich nichts anderes als Arztroboter, speziell dafür konstruiert, die Erbauer ›medizinisch‹ zu versorgen. Die Fähigkeiten der Roboter erschreckten ihn noch immer. Aber die Frage, welche die ganze Zeit in ihm gewesen war, brach nun plötzlich und mit Macht hervor. »Kannst du uns sagen, wer die Erbauer waren?« Beide Roboter verharrten reglos. Stevens konnte nicht mit Sicherheit sagen, welcher von beiden sprach. Die Stimme klang stockend und angestrengt. »Die Erbauer… sind nicht hier.« Stevens starrte das Maschinenwesen verwirrt an. Der Roboter schien seine Verwirrung zu spüren und fuhr fort: »Die Erbauer sind fortgegangen. Sie sind vor langer Zeit gegangen.« War da so etwas wie Schmerz in seiner Stimme? fragte sich Stevens. Plötzlich mußte er wieder an die Ruinenstädte denken.
Krieg. Die Erbauer waren in einem Krieg vernichtet worden. Nicht so ihre Geschöpfe. Er versuchte es zu verstehen, aber er vermochte es nicht. Diese Roboter lebten in einer Strahlung, in der nichts, aber auch gar nichts Organisches existieren konnte; Roboter auf einem toten Planeten mit einer Kohlendioxydatmosphäre. Das Kohlendioxyd brachte ihn auf einen neuen Gedanken. Wenn hier irgendwann einmal Leben existiert hatte, dann hatte es auch Sauerstoff gegeben. Und wenn der Krieg so lange her war, daß der freie Sauerstoff aus der Atmosphäre verschwunden war – großer Gott, wie alt waren dann die Roboter? Stevens starrte zuerst Ball an, dann die noch immer schweigenden Roboter, dann das Feld, wo die übrigen standen. Der schwarze Weizen. Stevens fröstelte. Waren sie unsterblich?
»Wollen Sie jetzt mit dem Doktor sprechen?« Stevens zuckte bei den Worten zusammen. Dann erst begriff er, worauf sich die Frage des Roboters bezog. »Nein«, erwiderte er rasch. »Jetzt nicht. Vielen Dank.« Er schluckte hart, und der Roboter wartete geduldig. »Kannst du mir sagen«, fuhr er schließlich fort, »wie alt du bist? Du als Individuum?« »Nach eurer Zeitrechnung«, antwortete der Roboter und machte eine Pause, um nachzudenken, »bin ich vierundvierzig Jahre, sieben Monate und achtzehn Tage alt. Ich werde noch zehn Jahre und schätzungsweise neun Monate leben.« Stevens versuchte seine Worte zu verstehen. »Es wird wahrscheinlich unsere Konversation erleichtern«, sagte der Roboter, »wenn Sie mir einen Namen geben, wie es bei euch Brauch ist. Wenn man die ersten… Buchstaben
meiner Bestimmung verwendet, könnte man meinen Namen mit ELB übersetzen.« »Freut mich«, murmelte Stevens. »Sie werden Steve genannt«, sagte der Roboter. Dann deutete er mit einem Arm auf den Maschinenmenschen neben Ball und sagte: »Das Alter von PEB ist siebzehn Jahre, vier Monate und einen Tag. Danach bleiben ihm noch achtunddreißig Jahre.« Offensichtlich betrug ihre Lebenserwartung ungefähr fünfundfünfzig Jahre. Aber die Städte und das Kohlendioxyd. Der Roboter hatte ihm gesagt, daß die Erbauer den Menschen ähnlich waren, und danach hatte es Sauerstoff und Vegetation geben müssen. Es sei denn… Er erinnerte sich an die Gebäude auf Typ an Vier. Es sei denn, die Erbauer waren gar nicht von diesem Planeten gekommen. Er fühlte sich von dieser Vorstellung überfordert. Es war schließlich Ball, der eine Frage stellte, die ihnen weiterhalf. »Baut ihr euch selbst?« fragte der Leutnant. PEB antwortete schnell. Man spürte, daß er froh war, eine Gelegenheit zu haben, etwas zu sagen. »Nein. Wir bauen uns nicht selbst. Wir werden – « Er suchte nach einem Wort. » – in der Fabrik gefertigt.« »Fabrik?« »Ja. Sie wurde von den Erbauern errichtet. Wollen Sie sie sehen?« Die beiden Menschen nickten wie betäubt. »Möchten Sie Ihr Schiff benutzen? Die Entfernung ist nicht gering.«
Selbst mit dem Beiboot war es eine weite Strecke. Ein paar Männer des Aliencon begleiteten sie. Sie flogen fast um den halben Planeten, bevor sich die Umrisse der Fabrik aus dem
düsteren Licht der Schattenzone herausschälten. Es war ein riesiger, phantastischer Block aus grauem Metall, der wie aus einem Stück gegossen in einem Tal zwischen zwei Bergen lag. Stevens ließ das Boot in das Tal hineingleiten und starrte das gigantische Gebäude voller Verwunderung an. Aus seinem Inneren strömten Roboter, wie kleine, schwarze Flecken aus der Entfernung wirkend, und sie bewegten sich von ihrem Geburtsort weg.
Die Menschen blieben einige Wochen. Während dieser Zeit wurde Stevens normalerweise von ELB begleitet, mit dem er sich sehr angeregt unterhielt, und die Männer des Aliencon streiften frei auf dem Planeten umher und untersuchten die sicherlich fremdartigste Kultur, die sie jemals entdeckt hatten. Aber das Rätsel um die Gebäude auf Tyban Vier blieb ungelöst; ebenso wie die Frage nach dem Ursprung der Roboter. Doch diese Fragen mußten geklärt werden, bevor sie abreisen konnten. Überraschenderweise dachte Stevens nicht ernsthaft über ihre Zukunft nach. Wann immer er sich einem Roboter näherte, fühlte er sich auf angenehme Weise entspannt, und er war so sehr damit beschäftigt, die Maschinenwesen zu beobachten, daß er kaum zum Nachdenken kam. Etwas, was er zu Anfang nicht begriffen hatte, war nämlich, daß er den Robotern ebenso ungewöhnlich und fremd erschien wie sie ihm. Nach und nach wurde ihm klar, daß keiner der Roboter je zuvor ein lebendes Wesen gesehen hatte. Kein Insekt, keinen Wurm, kein Blatt. Sie wußten überhaupt nicht, was ein Lebewesen war. Vielleicht hatten die Doktoren eine Vorstellung davon, aber auch sie begriffen nicht wirklich, was es hieß, natürlichem Ursprungs zu sein. Sie hatten lange Zeit gebraucht, bis sie herausgefunden hatten, daß die Menschen
Raumanzüge trugen, die nicht Teil ihres Körpers waren. Und es war sehr schwer für sie, zu begreifen, wozu sie diese Anzüge überhaupt brauchten. Aber als sie es verstanden, taten sie etwas sehr Überraschendes. Anfänglich hatte keiner der Menschen lange außerhalb des Schiffes bleiben können, weil die Strahlung so stark war, daß selbst die Anzüge nur für eine gewisse Zeit Schutz boten. Und eines Morgens, als Stevens das Schiff verließ, entdeckte er, daß Hunderte von Robotern die ganze Nacht gearbeitet hatten, um das Gebiet um das Schiff zu entstrahlen. An diesem Tage fragte Stevens, wie viele Roboter es eigentlich gab. Er erfuhr, daß es mehr als neun Millionen waren. Die meisten von ihnen waren weit vom Schiff entfernt, verstreut über den ganzen Planeten. Wahrscheinlich, weil sie selbst hoch radioaktiv verseucht waren. Mittlerweile erlaubte Stevens ELB, in seinen Geist einzudringen. Der Roboter erfuhr alles, was Stevens wußte. Eine Zeitlang grübelte er darüber nach und versuchte es zu verarbeiten, bevor er es den anderen Robotern mitteilte. Es mußte ihm schwerfallen, so wie es Stevens schwerfiel, sich den Geist eines Maschinenwesens vorzustellen, das noch nie mit einem lebenden Individuum zusammengetroffen war. Er hatte eine ungefähre Vorstellung von der Geschichte der Roboter. Vielleicht wußte er sogar mehr als sie selbst; aber er vermied es, sich eine feste Meinung zu bilden, bevor der Rapport des Aliencon vorlag. Was ihn faszinierte, war ELBs erschreckende Philosophie, um so mehr, als es die einzige war, über die ein Roboter überhaupt verfügen konnte. »Was tut ihr?« fragte Stevens. ELB antwortete schnell, mit der charakteristischen Einfachheit. »Wir können nur sehr wenig tun. Ein Großteil
unseres Wissens ist uns von Geburt an durch die Erbauer mitgegeben worden. Den größten Teil unserer Zeit verbringen wir damit, dieses Wissen zu erweitern. Wir haben beträchtliche Fortschritte in Naturwissenschaften und Mathematik gemacht. Der Sinn unseres Lebens ist es, den Erbauern zu dienen. Alles, was wir lernen, kann uns helfen, besser zu dienen, wenn sie zurückkehren.« Wenn sie zurückkehren… Bisher war es Stevens nicht so vorgekommen, als ob die Roboter dies wirklich erwarten würden. ELB betrachtete ihn mit seinem durchsichtigen Plastikauge. »Ich begreife. Ihr glaubt, die Erbauer werden nicht zurückkehren.« Wenn der Roboter fähig gewesen wäre zu lachen, dachte Stevens, dann hätte er es jetzt getan. Aber er stand nur bewegungslos da, und der Klang seiner Stimme blieb, obwohl er sichtlich bewegt war, höflich. »Wir glauben, daß die Erbauer zurückkehren werden. Warum sonst hätten sie uns erschaffen sollen?« Stevens erwartete, daß der Roboter noch weitere Erläuterungen vorbringen würde, aber er tat es nicht. Diese Frage war für ELB keine Frage. Obwohl Stevens wahrscheinlich mehr wußte, als der Roboter sich je an Wissen würde aneignen können – daß die Erbauer fortgegangen waren und nie wiederkehren würden –, brauchte er lange, um es zu verstehen. Aber er bemühte sich, diesen Gedanken tief in seinem Inneren zu vergraben, um ihn vor ELB zu verbergen. Er wollte seinen Glauben nicht zerstören. Aber es gab noch mehr Probleme. Er hatte damit begonnen, ELB die Struktur der menschlichen Gesellschaft zu erklären. Eines Tages erwähnte er Gott. »Gott?« wiederholte der Roboter verständnislos. »Was ist das?«
Stevens erklärte es, und der Roboter antwortete, daß dies eine Angelegenheit sei, die ihn beunruhige. »Zunächst nahmen wir an, ihr wäret die Erbauer, die zurückgekehrt sind« – Stevens erinnerte sich der kurzen Entgleisung, der spürbaren Enttäuschung – »Aber als wir in eure Gedanken eindrangen und herausfanden, daß ihr eine andere Lebensform seid, weder wie die Erbauer noch wie wir… Ihr seid nicht einmal – « ELB schien sich sichtlich zusammenzureißen –, »Ihr scheint keine Telepathen zu sein. Wir entdeckten das Wort Schöpfer in eurer Theologie, aber es schien eine besondere…« – ELB machte eine lange Pause –, »eine unantastbare, immaterielle Bedeutung zu haben, und zudem löst es bei jedem einzelnen von euch andere Empfindungen, einen anderen Unterton, aus.« Stevens begriff, was der Roboter meinte. Er nickte. Die Schöpfer waren der Gott der Roboter, waren alles, was sie an einem Wesen wie Gott brauchten. Die Schöpfer hatten sie gebaut, diesen Planeten und das Universum. Wenn er sie fragen würde, wer die Schöpfer geschaffen hatte, dann wäre das so, als würde man ihn fragen, wer Gott geschaffen hat. Es war eine ironische Parallele, und er lächelte still in sich hinein. Es war das letzte Mal, daß er auf dieser Welt lächelte.
Der Bericht war in der fünften Woche abgeschlossen. Ball brachte ihn in Stevens’ Kabine und legte ihn vor ihm auf den Tisch. »Ein starkes Stück«, knurrte er mit einer Geste auf das Dokument. Man sah ihm an, daß er gereizt war. »Ich habe etwas in dieser Art befürchtet, aber ich nahm nicht an, daß es so schlimm sein würde.« Stevens blickte überrascht auf. »Man versteht es nicht«, sagte Ball. »Lies.« Er drehte sich abrupt um und verließ den Raum.
Stevens sah ihm nach und wandte seine Aufmerksamkeit dann dem Dokument zu. Er erinnerte sich plötzlich der Vermutungen, die er über die Geschichte der Roboter angestellt hatte. Nervös nahm er den Bericht zur Hand und begann zu lesen. Die Geschichte war objektiv erzählt. Klar und kalt, wie formale Berichte zu sein hatten. Und trotzdem steckte noch Gefühl darin. Selbst die Männer des Aliencon hatten es nicht vermeiden können. Die Schöpfer waren beinahe menschliche Wesen gewesen. Beinahe, aber es hatte doch einige gravierende Unterschiede gegeben. Sie waren Telepathen, und sie waren mit einem zweiten Armpaar ausgerüstet gewesen. Die Arztroboter hatten umfassende Angaben über ihre Körperchemie machen können. Sie war denen der Erdmenschen sehr ähnlich. Ein weiteres Dokument beschrieb die Soziologie, Angaben, die aus dem Schutt der Städte herausgelesen worden waren. Stevens legte es nach einem flüchtigen Blick aus der Hand. Er würde es später lesen. Es hatte andere Fabriken gegeben. Ihre Reste waren überall gefunden worden. Man hatte sie kurz vor dem Krieg gebaut, aber nur eine hatte ihn überstanden. Und das, obwohl die Erbauer, wie Stevens annahm, kein kriegerisches Volk gewesen waren. Sie waren Telepathen und fähig, tief in den Geist anderer vorzudringen, Ideen auszutauschen. Ihr Wille zum Frieden war bemerkenswert gewesen, verglichen mit dem der Erdmenschen. Und trotzdem war es zu einem Krieg gekommen, warum, das hatte Aliencon bisher nicht herausfinden können; ein Krieg, der augenscheinlich außer Kontrolle geraten war. Strahlung und Bakterien vernichteten die Erbauer. Alles Leben wurde ausgelöscht. Sie benutzten Viren und Bomben und tödliche Strahlen. Zum Schluß war buchstäblich alles
zerstört – alles bis auf eine einzige Fabrik. Irgendein unerklärlicher Zufall hatte sie den Krieg überstehen lassen. Und natürlich produzierte sie weiterhin Roboter. Sie wurde durch einen Atomreaktor gespeist und konnte praktisch bis in alle Ewigkeiten weiterarbeiten. Der ganze Prozeß lief vollautomatisch ab. Jahr für Jahr kamen die Roboter heraus, ein stetiger, nie abreißender Strom. Ungebildet, ohne Instruktionen versammelten sie sich vor der Fabrik und warteten, kommunizierten nur sehr wenig miteinander. Die Erinnerung an den Krieg, an das Leben – an alles, was vor ihrer Geburt geschehen war –, hatten sie eingebüßt. Immer und immer weiter kamen sie hervor, und die Schar der Wartenden wuchs. Aber das Robotgehirn, das Komplizierteste, was die Erbauer jemals geschaffen hatten, war sehr anpassungsfähig. Es gab weder Genies noch Schwachsinnige, und trotzdem variierten die Hirne sehr. Innerhalb vieler Jahre begannen die Intelligentesten von ihnen miteinander zu reden und sich Fragen zu stellen und schließlich das Gebiet um die Fabrik zu verlassen, um auf die Suche zu gehen. Sie hielten nach jemandem Ausschau, dem sie dienen konnten, aber natürlich fanden sie niemanden. Die Erbauer waren tot, aber das war nicht das einzige Verbrechen, das an ihnen begangen worden war. Denn als die Roboter erschaffen worden waren, hatten die Schöpfer folgendes getan: Als die Schöpfer das erste funktionstüchtige Robotgehirn gebaut hatten, hatten sie die Notwendigkeit eingesehen, eine Maschine zu konstruieren, die sich niemals gegen ihre Herren stellen konnte. Das jetzige Robotgehirn war das Resultat dieser Überlegungen. Wie Stevens bereits vermutet hatte, konnte das Robotgehirn Schmerz empfinden. Nicht Schmerz, der durch eine körperliche Verletzung hervorgerufen wurde – denn die
metallenen Körper waren nicht mit Nerven ausgestattet worden –, aber Schmerz durch Frustration, durch emotionale Störungen. Seelischer Schmerz. Die Schöpfer hatten ein einziges, primäres Gesetz in den Robotern verankert: Sie konnten nur zufrieden und frei von Schmerzen sein, solange sie dienten. Die Roboter mußten für die Schöpfer arbeiten, mußten dauernd damit beschäftigt sein, ihre Wünsche zu erfüllen, oder sie würden eine langsam wachsende Unruhe spüren, Ruhelosigkeit und das Gefühl des Unwohlseins, schließlich Schmerz, der sich von Tag zu Tag steigerte. Und es gab niemanden mehr, dem sie dienen konnten. Der Schmerz war unerträglich. Die Schöpfer waren sich selbst nicht sicher gewesen, was das Robotgehirn leisten konnte, und sie hatten nichts riskiert. So stieg der Druck auf ein unerträgliches Maß, stieg ein ganzes Roboterleben lang an, fünfundfünfzig Jahre, von denen sie jeden einzelnen Tag mit unerträglicher Klarheit spürten. Und immer neue Roboter kamen hinzu. Ein Jahrtausend verging, während dessen sich die Roboter über den Planeten auszubreiten begannen und über sich selbst nachdachten. Und irgendwann entdeckten sie einen Weg, zu dienen. Der Atomreaktor, der die Fabrik mit Energie versorgte, war nach fünftausend Jahren ausgebrannt; der Strom versiegte. Die Fabrik hörte auf zu arbeiten. Es war das erste Ereignis in der Geschichte der Roboter. Niemals zuvor war irgend etwas geschehen, was sie ändern mußten. Sie hatten nichts gekannt außer dem wechselnden Wetter und dem stets gleichbleibenden Schmerz. Und nun hatten sie zum erstenmal eine Aufgabe. Da sie sahen, daß keine Roboter mehr produziert wurden und sie sich nicht sicher waren, ob die Schöpfer dies angeordnet
hatten oder nicht, kamen sie auf eine neue Idee. Wenn der Sinn ihres Lebens darin lag, zu dienen, würden sie diesen Sinn verfehlen, wenn sie ausstarben. So begannen sie, den Atomreaktor wieder aufzuladen. Es war nicht schwer. Das Wissen, das dazu nötig war, besaßen sie bereits; es war ihnen von Geburt an mitgegeben. Das Außergewöhnliche war die Tatsache, daß die Roboter zum erstenmal aus eigener Initiative heraus handelten. Das linderte den Schmerz ein wenig. Aber als der Generator repariert war, kehrte der Schmerz zurück, und sie versuchten, einen neuen Weg zu finden, auf dem sie dienen konnten. Eine große Zahl der Maschinen untersuchte die Fabrik und fand heraus, daß es möglich war, die Konstruktion ihrer Körper zu verbessern, so daß sie in der Lage waren, den Schöpfern besser zu dienen, wenn sie zurückkehrten. Und so arbeiteten sie in der Fabrik, verbesserten sich selbst – obgleich das Gehirn nicht zu verbessern war –, und sie begannen jetzt, als sie die Fabrik verließen, über mathematische und physikalische Fragen nachzudenken. Es war nicht schwer, ein primitives Sternenschiff zu bauen, denn die Schöpfer waren dicht vor der Entdeckung des interstellaren Raumfluges gewesen, und hoffnungsvoll hatten sie das Sonnensystem abgesucht, um nach den Erbauern Ausschau zu halten. Natürlich fanden sie nichts, aber sie ließen die Gebäude auf Tyban Vier zurück, ein sehnsüchtiges Monument, das den Schöpfern, sollten sie zurückkehren, als Hinweis und Unterschlupf dienen sollte. Jahrtausende vergingen. Der Atomreaktor brach wieder zusammen und wurde wieder reaktiviert, und so wiederholte sich der Zyklus. In winzigen Schritten lernten die Roboter und gaben das Erlernte an die nächsten Generationen weiter. Irgendwann erreichten sie die Grenzen ihrer Kapazität.
Der Schmerz kehrte zurück und verließ sie nie wieder.
Stevens stand auf, ging zum Schirm und lehnte sich dagegen. Eine Zeitlang stand er da, starrte in die kohlendioxydgesättigte Luft hinaus, sah die Roboter, die bemitleidenswerten, loyalen Maschinenwesen, die sich um das Schiff drängten. Er fühlte den verzweifelten Wunsch, den Zyklus zu durchbrechen, ihnen zu helfen, irgendwie. Aber er konnte es nicht. Ball kehrte zurück und sah Stevens in die Augen. Selbst er wirkte mitgenommen. »Fünfundzwanzigtausend Jahre«, sagte er. »So lange ist das her. Fünfundzwanzigtausend Jahre…« Stevens war blaß und suchte vergeblich nach Worten. Die Masse der Roboter stand unbeweglich draußen. Ein Teil eines alten Gedichtes kam Stevens in den Sinn: Sie dienen auch dann, wenn sie nur dastehen und warten… Er hatte sich seit seiner Jugend nie wieder so tief bewegt gefühlt wie jetzt. Jetzt ist alles vorbei, dachte er. Zur Hölle mit dem, was war. Wir werden sie mitnehmen und dienen lassen, und, bei Gott… Er zitterte. Aber die Aussicht auf das, was getan werden konnte, gab ihm Mut. Die Menschen würden in ihren Schiffen kommen und die Roboter mit sich fortnehmen. Es würde eine Weile dauern, aber nach all diesen Jahren war das weniger als nichts. Er dachte an die Dinge, welche die Roboter verrichten konnten. Extreme Temperaturen machten ihnen nichts aus, sie konnten auf fast jeder Welt landen, Bergbau treiben, aufbauen, entwickeln… Und das wäre dann das Ende. Die Roboter würden den Menschen dienen.
Stevens atmete tief ein. Ohne ein Wort an Ball zu richten, verließ er den Raum, trat an einen der Spinde und nahm einen Anzug heraus. Einen Augenblick später stand er in der Schleuse. Es blieb noch eine Sache zu tun, und es war die schwerwiegendste und auch bewegendste Arbeit, die er je getan hatte. Er mußte es den Robotern sagen. Er mußte hinausgehen und ihnen ins Gesicht sagen, daß all die Jahrhunderte voll Schmerz sinnlos gewesen waren, daß die Schöpfer tot waren und niemals zurückkehren würden und daß all die Roboter, die in den letzten fünfundzwanzigtausend Jahren erschaffen worden waren, vergebens gelebt hatten. Und dennoch – er wäre sonst nicht in der Lage gewesen, auch dies zusagen –, dennoch konnte er ihnen sagen, daß all diese sinnlosen Jahre nun vorüber waren und ein neues Zeitalter begann. Als er sich von der Schleuse entfernte, sah er ELB, der unbeweglich dastand. In den wenigen Sekunden, bevor er ihn erreichte, wußte er plötzlich, was zu tun war. Er streckte die Hand aus, berührte ELBs Arm und sagte sanft: »Elb, mein Freund, du mußt in meine Gedanken schauen.« Und wie immer gehorchte der Roboter.
Das Buch
Beauclaire erhielt sein erstes Kommando über ein Schiff auf dem Sirius. Er wurde in der schwülen Hitze des Nachmittags zum Kommandanten beordert und stand mit schlecht unterdrückter Vorfreude auf dem abgewetzten Teppich und scharrte aufgeregt mit den Füßen. Er war fünfundzwanzig Jahre alt und hatte die Akademie erst vor drei Monaten verlassen. Der Kommandant hieß ihn Platz zu nehmen und ließ seinen Blick eine Weile schweigend auf ihm ruhen. Er war ein alter Mann mit tiefen Falten im Gesicht, alt, verbraucht, müde. Der Kommandant wirkte irritiert. Er hatte ein Alter erreicht, in dem es ihn aus der Fassung brachte, mit einem jungen Mann zu sprechen, einem Mann, der einen kräftigen und so selbstsicheren Eindruck machte und doch gar nichts wußte. »Okay«, begann der Kommandant endlich. »Es gibt da noch ein paar Dinge, die ich Ihnen mitteilen muß. Wissen Sie, welche Aufgabe auf Sie wartet?« »Nein, Sir«, antwortete Beauclaire diensteifrig. »Nun gut«, fuhr der Kommandant fort. »Ich werde es Ihnen erklären. Sie fliegen in das Loch von Cygnus. Sie haben davon gehört? Gut. Dann wissen Sie ja, daß das Loch eine kosmische Staubwolke ist, Durchmesser etwa zehn Lichtjahre. Wir sind bisher aus verschiedenen Gründen dort noch nicht hineingeflogen. Die Wolke war zu dicht, um sich darin mit Überlichtgeschwindigkeit bewegen zu können, und wir verfügen nicht gerade über zu viele Scoutschiffe. Also haben wir bisher auch nicht wissen können, ob der Aufwand sich
lohnen würde. Wir sind, wie gesagt, niemals dort gewesen. Ihr Schiff wird das erste sein.« Beauclaires Augen leuchteten auf. »Jawohl, Sir.« »Vor ein paar Wochen«, erläuterte der Kommandant weiter, »hat irgendein Amateur das Loch mit seinem Teleskop betrachtet. Er entdeckte einen schwachen Schimmer. Wir sind der Sache nachgegangen und haben festgestellt, daß ein schwacher Lichtschein von dem Loch ausgestrahlt wird. Möglicherweise befindet sich ein Stern im Inneren der Wolke, gerade tief genug, um nahezu unsichtbar zu sein. Der Teufel weiß, wie lange er schon da ist, aber wir wissen, daß es die erste Spur ist, auf die wir stoßen. Wahrscheinlich bewegt sich der Stern auf einer Kreisbahn und befindet sich nun auf dem Weg nach draußen. Er hat mittlerweile den Rand der Wolke erreicht. Können Sie mir folgen?« »Jawohl, Sir«, antwortete Beauclaire. »Ihre Aufgabe ist folgende: Sie werden die Sonne nach Planeten und eventuellen Formen von Zivilisation absuchen. Wenn Sie irgend etwas finden – was allerdings unwahrscheinlich erscheint –, werden Sie versuchen, die Sprache der betreffenden zivilisierten Lebewesen zu entziffern und sofort zurückkehren. Das Psychoteam wird alles Weitere unternehmen. Wenn dort intelligente Wesen leben, dann dürften sie die Sterne nie gesehen haben. Es ist von Interesse zu erfahren, welche Auswirkungen ein Himmel ohne Sterne auf eine Kultur hat.« Der Kommandant beugte sich vor. Er wirkte angespannt. »Nun, das ist eine wichtige Aufgabe. Es standen keine Linguisten zur Verfügung. Wir haben eine ganze Anzahl in Frage kommender Männer überprüft, aber wir haben Sie ausgewählt. Überschätzen Sie sich und Ihre Ausbildung nicht. Sie ist nichts Besonderes. Aber das Kommando über das Schiff
liegt von jetzt an bei Ihnen, für immer. Haben Sie das verstanden?« Der junge Mann nickte und konnte seine begeisterte Freude nicht verhehlen. »Da ist noch etwas«, begann der Kommandant wieder nach einer Pause. Er blickte Beauclaire durchdringend an, beinahe fixierend, die steife graue Uniform, das jugendhafte Gesicht. Und seine Gedanken waren bei dem Loch von Cygnus, das er, ein müder, alter Mann, niemals mehr sehen würde. Aber dann riß er sich zusammen, wichtig war nur, diese Sache erfolgreich abzuschließen. Er mußte alle Eventualitäten bedenken. »Also«, setzte er wieder an, und seine Stimme klang ungewöhnlich hart. Beauclaire blinzelte. »Sie treten an die Stelle eines unserer erfahrensten Männer, eines unserer besten Männer. Sein Name ist Billy Wyatt. Er – war sehr lange bei uns.« Der Kommandant brach erneut ab und nahm den Bericht zur Hand, der vor ihm lag. »Man hat Ihnen auf der Akademie eine Menge beigebracht. Alles wichtige Dinge. Aber ich möchte, daß Sie etwas verstehen. Die Arbeit eines Kartographen ist ein sehr anstrengendes Geschäft. Nur wenige Männer halten es lange durch, und auch die sind zum Schluß verbraucht, das wissen Sie. Nun gut, ich möchte, daß Sie zurückhaltend sind, wenn Sie es Wyatt erzählen, und ich möchte, daß Sie auf seinen Rat hören, weil er länger dabei ist als jeder andere. Wir entbinden ihn seiner Pflichten, weil er kurz davorsteht, zusammenzubrechen. Er hat keinen Nutzen mehr für uns, und er fängt an Fehler zu machen. Er hat das Gefühl verloren, das ein Mann haben muß, um diesen Job zu erledigen.« Der Kommandant erhob sich und begann vor Beauclaire auf und ab zu gehen. »Wenn Sie Wyatt ablösen, dann behandeln Sie ihn mit Respekt. Er war weiter draußen und hat mehr gesehen als jeder
andere Mann, dem Sie je begegnen werden. Ich möchte nicht, daß es zu einem Krach kommt, aber ich will auch kein Mitleid für ihn. Denn, mein Junge, früher oder später wird dir dasselbe passieren. Es ist alles zu gewaltig – « Der Kommandant machte eine hilflose Geste – »Alles so verdammt gewaltig. Unsere Entdeckungen sind niemals so groß, als daß der Weltraum nicht noch größer sein könnte. Wenn Sie lange genug Ihre Aufgabe erfüllen, wird er zum Schluß immer größer werden, so groß, daß es keinen Sinn mehr ergibt, und Sie werden beginnen, nachzudenken. Sie werden sich fragen, warum es keinen Sinn ergibt. Und genau an diesem Tag werden wir Sie Ihres Kommandos entheben und Sie hinter irgendeinen Schreibtisch setzen. Denn wenn wir Sie dann noch weitermachen lassen würden, würden Sie Ihr Schiff verlieren und das Leben anderer Männer aufs Spiel setzen. Wenn einem der Raum zu übermächtig erscheint, kann man nichts dagegen tun. Man wird wehrlos. Und genau das ist mit Wyatt geschehen, so wie es eines Tages auch Ihnen passieren wird. Verstehen Sie das?« Der junge Mann nickte unsicher. »Das«, endete der Kommandant müde, »ist alles für heute. Nehmen Sie Ihr Schiff in die Hand. Wyatt wird Sie beim ersten Flug noch begleiten, um Sie einzuweisen. Nehmen Sie sich zu Herzen, was er Ihnen beibringt – es wird alles einen Sinn haben. Und es gibt noch einen zweiten Mann auf dem Schiff, einen Mann namens Cooper. Sie werden auch weiter mit ihm zusammenarbeiten. Halten Sie die Ohren steif, die Augen offen und den Mund geschlossen, außer Sie wollen Fragen stellen. Und riskieren Sie nichts. Das ist alles.« Beauclaire erhob sich und salutierte. »Wenn Sie Wyatt sehen«, sagte der Kommandant noch, »dann erklären Sie ihm, daß ich nicht mit ihm sprechen konnte, bevor Sie aufbrechen. Ich bin zu beschäftigt. Habe mehr von
diesem verdammten Papierkrieg als mein Chef Magengeschwüre hat.« Der junge Mann blieb unschlüssig stehen. »Das«, schloß der Kommandant, »ist alles. Viel Glück.«
Wyatt sah den Brief bereits, als der junge Mann noch ein gutes Stück entfernt war. Seine Pupillen verengten sich, und er beobachtete ihn eine Weile verständnislos. Und dann bemerkte er die neue grüne Ausrüstung auf seinem Rücken, den Ausdruck auf seinem Gesicht, als er die Leiter heraufkletterte, und für einen Augenblick stockte ihm der Atem. Mich? dachte er, während er reglos in den Himmel hinaufstarrte. Mich? Beauclaire erreichte die Plattform und stellte seine Ausrüstung ab. Er hatte das Gefühl, auf die denkbar ungünstigste Weise seine Karriere zu beginnen. Wyatt nickte ihm zu, schwieg aber beharrlich. Er nahm den Brief entgegen, riß den Umschlag auf und las. Er war ein kleiner, kraftvoller Mann, dem man seine ungeheure Energie ansah. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, während er den Brief las. »Nun gut«, meinte er leichthin. »Vielen Dank.« Eine Zeitlang schwiegen sie beide. Schließlich fragte Wyatt: »Wird der Kommandant kommen?« »Nein, Sir. Er ist zu beschäftigt. Er läßt Ihnen die besten Wünsche ausrichten.« »Das ist nett«, murmelte Wyatt. Danach hüllten sich beide in Schweigen. Wyatt zeigte dem neuen Mann die Kabine und wünschte ihm Glück. Dann ging er in sein eigenes Quartier zurück und überdachte seine Lage.
Nach achtundzwanzig Jahren Dienst im Kartographenamt war er notwendigerweise gefeit gegen jede Art von Überraschungen. Er war sich augenblicklich klar darüber, was geschehen war, aber es würde eine Weile dauern, bis er in der Lage war, zu verstehen und zu reagieren. »Nun gut«, sagte er zu sich selbst. Aber es würde eine geraume Zeit dauern, bis er sich wirklich so fühlte, es akzeptierte. Warum? fragte er sich immer wieder, während er vor Nervosität eine Zigarette zerbröselte. In dem Brief war kein Grund genannt worden. Vielleicht war er bei den psychologisch-medizinischen Tests durchgefallen. Immer ein guter Grund. Er war siebenundvierzig Jahre alt, und es war ein unerbittliches Geschäft. Er fühlte sich immer noch stark und den Anforderungen gewachsen, und er wußte, daß er keine Angst hatte. Er hatte das Gefühl, daß er noch jahrelang hätte weitermachen können… Aber offensichtlich war dem nicht so. Und, dachte er. Was nun? Er sann darüber nach. Es gab keinen Platz, wo er hätte hingehen können. Er war auf relativ leichte Weise in dieses Geschäft eingestiegen, er hatte gewußt, was er wollte – ganz einfach unterwegs sein, zuhören, zusehen, und das Abenteuer hatte ihn gereizt. Aber das war nicht alles. Da war noch etwas, das er nicht definieren konnte, etwas, das sein Leben ausmachte. Er mußte einfach weitermachen, sehen, beobachten… und verstehen. Aber es war zu Ende. Seine Zeit war abgelaufen. Es war unwichtig, was der wirkliche Grund war. Der einzig entscheidende Punkt war, daß er abgeschoben worden war, daß er nach Hause gehen mußte, ohne ein Zuhause zu haben. Am Abend saß er noch immer grübelnd in seinem Zimmer. Er hatte sich Mühe gegeben, die Tatsachen zu akzeptieren, hatte nach einer anderen Möglichkeit gesucht und war zu dem Schluß gelangt, daß er nichts tun konnte. Wenn es noch irgend
etwas im Weltall gab, das er nicht gefunden hatte, jetzt würde er es auch nicht mehr entdecken. Er stand auf und ging hinüber in den Kontrollraum.
Cooper erwartete ihn bereits. Cooper war ein schlanker Mann mit wild wucherndem Bartwuchs. Er hatte ein aufbrausendes Temperament und ein großes Herz, und er vertrug keinen Alkohol. Er war allein, als Wyatt eintrat. Der Raum lag im Dunkel bis auf den perlgrünen Schimmer der Instrumente. Cooper saß weit zurückgelehnt im Pilotensessel und hatte die Füße auf das Kontrollbord gelegt. Er hatte die Schuhe ausgezogen und tastete mit den großen Zehen auf den Kontrollen herum. Das erste, was Wyatt bemerkte, als er eintrat, war der gespenstisch grün erleuchtete Fuß. Tief im Inneren des Schiffes konnte er das Summen der Generatoren vernehmen. Wyatt lächelte. Aus dem Zehenspiel Coopers und seiner Haltung schloß er, daß Cooper betrunken war. Normalerweise war er immer betrunken, wenn sie im Hafen lagen. Er war ein liebenswerter, sympathischer Mann ohne Hemmungen und gekünsteltes Benehmen, ein typisches Mitglied des Kartographenteams. »Was ’n los, Billy?« murmelte Cooper aus den Tiefen seines Sitzes. Wyatt setzte sich. »Wo warst du?« »Im Hafen. Habe in diesem gottverdammten Hafen einen Schluck zur Brust genommen. Heiße Sache.« »Hast du was mitgebracht?« Coopers Arm begann hin und her zu pendeln. »Sieh dich hier um.« Ein paar Flaschen lagen verstreut neben der Tür. Wyatt nahm sich eine und setzte sich wieder. In dem grün erleuchteten
Raum war es ruhig und warm. Die beiden Männer kannten sich lange genug, um ohne ein belangloses Gespräch auszukommen, und in dem grünen Glanz saßen sie ruhig und nachdenklich da. Wyatt nahm einen langen, betäubenden Schluck und schloß die Augen. Cooper bewegte sich nicht. Als Wyatt glaubte, daß Cooper nun endgültig eingeschlafen war, murmelte er: »Habe von deiner Entlassung gehört.« Wyatt sah auf. »Habe es heute nachmittag erfahren«, brummte Cooper. »Von diesem gottverdammten Kommandanten.« Wyatt schloß wieder die Augen. »Was wirst du jetzt machen?« fragte Cooper. Wyatt schüttelte den Kopf. »Phantastischer Beruf.« »Hast du irgendwelche Pläne?« »Nein.« Cooper fluchte. »Werde dich nicht allein lassen«, murmelte er niedergeschlagen. »Diese Bastarde.« Er fuhr plötzlich aus seinem Sessel hoch und deutete mit einem streichholzdünnen Finger auf Wyatt. »Hör mal zu, Billy«, sagte er entschlossen. »Du bist ein guter Mann, weißt du das? Zur Hölle, du bist ein verdammt guter Mann.« Wyatt nahm wieder einen langen Schluck, nickte und lächelte. »Du sagst es«, bestätigte er ironisch. »Ich bin mit einer Menge guter Männer zusammengewesen, wirklich guter Männer«, sagte Cooper bestimmt. »Aber es war keiner dabei, der dir das Wasser reichen könnte. Keiner.« »Ich bin schon Klasse«, höhnte Wyatt. »Und dann werfen sie dich raus. Und mich behalten sie. Aber dich werfen sie raus. Sie haben kein Gehirn.« Wyatt lehnte sich zurück und überließ sich ganz der Wirkung des Alkohols, glitt schmerzlos in eine friedliche, sanfte Welt
hinüber. Es war ein großartiges Gefühl, das Schiff um sich herum zu spüren. Dunkel und pochend wie der Schoß einer Frau. Fast wie eine Gebärmutter, dachte er. »Hör mal«, begann Cooper wieder betrunken-dümmlich, während er sich erneut aufrichtete. »Ich glaube, ich schmeiße alles hin. Wozu, zum Teufel, soll ich jetzt noch bei dem Haufen bleiben?« Wyatt starrte beunruhigt zu ihm hinüber. Wenn Cooper betrunken war, dann war er nicht nur ein bißchen betrunken. Er war vollkommen hinüber, und er konnte sehr aufsässig werden. Wyatt erkannte, daß Cooper jetzt tief unten war und immer tiefer sank, daß ihn diese Ablösung viel zu sehr beschäftigte, mehr, als Wyatt erwartet hatte. In ihrem Team war er, Wyatt, der Führer gewesen, obwohl Cooper selten wirklich einen Führer gebraucht hatte. Er hatte niemals darüber nachgedacht. Aber nun fing er langsam an zu begreifen, daß Cooper allein sehr schlecht dran war. Wenn dieser neue Mann nun wirklich etwas taugte und schnell den Job lernte, dann würde Cooper sich wahrscheinlich umbringen. Seine Ablösung erschien ihm immer absurder. Aber um Coopers willen warf er hastig ein: »Vergiß es, Mann. Du bist das Rückgrat des Schiffes. Du siehst dem Schiff sogar schon ähnlich. Du bist ein ausgezeichneter Bugmann.« Cooper schwieg, und Wyatt fuhr leiser fort: »Coop – nimm’s nicht schwer. Wir werden um Mitternacht starten. Soll ich die Kiste hochbringen?« »Nee.« Cooper wandte sich abrupt zu ihm um und schüttelte den Kopf. »Zur Hölle mit dir. Verreck doch.« Sein hageres Gesicht glänzte im Schein der grünen Instrumentenbeleuchtung. Aber als er weitersprach, klang seine Stimme traurig. »Zur Hölle, Billy«, sagte er fest. »Es macht keinen Spaß mehr.«
Wyatt ließ ihn allein das Schiff hochbringen. Es hatte keinen Sinn, länger mit ihm zu streiten. Er war betrunken und unansprechbar. Um Mitternacht ging ein Ruck durch das Schiff, und es schoß in den Himmel hinauf. Wyatt lehnte sich an einen Türpfosten und beobachtete, wie die Lichter des Hafens verblaßten und die Sterne an Leuchtkraft gewannen. Sie ließen schnell die letzten Wolken hinter sich und waren dann allein in der tiefen Nacht. In dem gleißenden Glanz und der tiefen Schwärze und dem Dunkel, in dem er stand, wartete er wie immer darauf, daß irgend etwas passierte, daß sich die große, einsame Schönheit dort draußen auflöste, sich zu erkennen gab, daß er verstand. Aber, wie immer, es geschah nichts. Um sie herum war nichts als das Weltall, ein unbegreifliches Etwas, in dem Dinge existierten und in dem sich irgendwelche Substanzen fortbewegten. Von den Sternen ging eisige Kälte aus. Endlich, als er das Gefühl hatte, zerbrechen zu müssen, ging er ins Bett.
Beauclaires erste Tage auf dem Schiff vergingen wie im Fluge. Er verbrachte sie mit gründlichen Studien, unterzog die verborgensten Winkel des Schiffes einer Überprüfung, betrachtete und berührte alles mit liebevollen, freundschaftlichen Gefühlen. Das Schiff war für ihn wie eine Frau, und diese ersten Tage waren die Hochzeitsreise. Es gab keinen einsameren Job als den seinen, aber so wie ihm erging es fast allen Männern des Kartographenteams auf ihrer ersten Reise. Wyatt und Cooper ließen ihn gewähren. Sie suchten nicht seine Nähe, und die wenigen Male, die er mit ihnen zusammentraf, fühlte er ihren Widerstand. Wyatt begegnete ihm immer freundlich. Cooper dagegen nicht. Keiner von
beiden schien ihm irgend etwas sagen oder zeigen zu wollen, und er war klug genug, es dabei zu belassen. Beauclaire hatte den größten Teil seines Lebens mit Büchern und dem Studium längst versunkener Sprachen verbracht. Er war von Natur aus ein Einzelgänger, und so bereitete es ihm keine Schwierigkeiten, auf sich allein gestellt zu sein. Ein paar Wochen nach dem Start suchte Wyatt ihn auf. Er fand ihn in einem Schacht zwischen den Hauptgeneratoren, wo er mit ölverschmiertem Gesicht herumhantierte. Sie gingen zusammen in den Astrodom. Im Schutz der massiven Kristallkuppel starrten sie hinaus in die Unendlichkeit des Nichts, und Beauclaire wurde von einer Schönheit und Majestät ergriffen, an die er sich zeit seines Lebens erinnern würde. Das Schiff näherte sich dem Loch im Cygnus. Auf der dem Zentrum der Galaxis zugeneigten Seite war es fast flach, wie eine Wand, und das Schiff trieb in einiger Entfernung vor der Wand entlang. Die Mauer war gewaltig, unbeschreiblich. Beauclaire stand wie betäubt da. Sie nahm zehn Lichtjahre über ihnen ihren Anfang, erstreckte sich in schwarzer, gewaltiger Ruhe Millionen und Abermillionen Kilometer, zog sich unendlich dahin, so unendlich, so riesig, daß nichts anderes als diese Wand zu existieren schien. Wären nicht die Sterne auf der anderen Seite der Kuppel gewesen, Beauclaire hätte das Gefühl gehabt, nur die Hand ausstrecken zu müssen, um die Wand zu berühren. Über ihr lag ein schwach reflektierender Schleier ausgebreitet, so daß es den Eindruck erweckte, als sei sie gefaltet und zu Wülsten aufgeworfen, im unendlichen Raum schwebend. Beauclaire versuchte mit seinem Blick den Windungen zu folgen, gebannt und fasziniert. Nach einer Weile deutete Wyatt ruhig nach unten. Beauclaire starrte in den Raum zwischen den Falten, bemerkte den
dünnen, gelblichen Glanz, der sich auf sie zu bewegte. Er war so klein und verloren in der Weite der massiven Wand, daß man ihn leicht aus den Augen verlieren konnte. »Es ist nicht sehr tief im Inneren«, meinte Wyatt schließlich. »Wir drosseln bald die Geschwindigkeit und dringen in die Wolke ein. Es wird einige Tage dauern.« Beauclaire nickte. »Ich dachte nur, das würde Sie interessieren«, murmelte Wyatt. »Danke«, erwiderte Beauclaire leise. In diesem Moment verspürte er wirklich nichts als ergriffene Dankbarkeit. Und unfähig, irgend etwas anderes zu tun oder zu sagen, schüttelte er den Kopf und keuchte: »O mein Gott!« Wyatt lächelte. »Es ist ein überwältigender Anblick.« Später erinnerte sich Beauclaire der Worte, die der Kommandant über Wyatt gesagt hatte. Aber er vermochte das alles nicht ganz zu verstehen. Sicher – irgend etwas an dem Loch war unbegreiflich. Es ergab keinen Sinn – aber was machte das schon aus? Was von so überwältigender Faszination war, dachte Beauclaire, das mußte keinen Sinn haben.
Sie bewegten sich langsam auf die Wolke zu. Das umgebende Gas der Wolke war nach dem allgemeinen Standard nicht sonderlich dicht – vielleicht ein Atom pro Kubikmeter –, aber für ein normales Raumschiff war die Dichte beinahe zu groß. Bei normaler Reisegeschwindigkeit wäre das Schiff wie gegen eine Wand geprallt. Deshalb drosselten sie die Geschwindigkeit weiter, und schließlich schwenkten sie in die Umlaufbahn der großen, gelben Sonne ein. Sie entdeckten den Planeten augenblicklich. Während sie sich auf ihn zu bewegten, galt die Aufmerksamkeit weiteren Welten, aber sie konnten keine entdecken.
Das All um sie herum wirkte seltsam fremdartig. Es war nichts zu sehen außer einem schwachen Schimmer. Sie befanden sich inzwischen im Inneren der Wolke und konnten daher keine Sterne mehr ausmachen. Es schien nichts mehr außer der gelben Sonne und dem schwachen grünen Punkt des Planeten unter ihnen zu existieren. Aus sicherer Entfernung nahmen Wyatt und Cooper die Standarduntersuchungen vor, während Beauclaire sich ganz dem Gefühl der Großartigkeit überlassen konnte. Sie suchten nach Radiosignalen, fingen aber keine auf. Das Spektrum des Planeten verriet einen relativ großen Anteil an Sauerstoff und Wasserstoff, aber überraschend wenig Stickstoff. Obwohl die Durchschnittstemperaturen recht niedrig lagen, schienen sie für Menschen erträglich. Es mußte demnach ein bewohnbarer Planet sein. »Volltreffer«, triumphierte Cooper fröhlich. »Bei der Atmosphäre muß es einfach Leben geben.« Wyatt schwieg. Er saß im Pilotensessel, seine riesigen Hände ruhten auf den Kontrollkonsolen, während er das Schiff in eine langgestreckte, flache Spirale brachte, die sie zu dem Planeten hinunterbringen würde. Er dachte an Vergangenes, an viele vorausgegangene Landungen. Er erinnerte sich an den Säureozean auf Lupus und die Fäulnis auf Altair. An all die dunklen, bösartigen und gefährlichen Dinge, auf die er im Laufe seiner Jahre gestoßen war. … so viele Jahre, daß er plötzlich begriff, daß es zu viele gewesen waren. Es war alles zu Ende. Wyatts Knöchel färbten sich weiß, als er sich am Cockpit festklammerte. Schweißperlen traten auf seine Stirn, rannen in seine Augen. Er blinzelte. Plötzlich spürte er, daß er am ganzen Körper schweißnaß war. Für einen Augenblick schien er zu erstarren, war unfähig sich zu bewegen.
Es war wohl das Schlimmste, was einem Mann auf seiner letzten Reise widerfahren konnte, dachte er. Er müßte noch tiefer heruntergehen. Statt dessen saß er da und starrte auf seine Hände. Langsam, vorsichtig und mit übermenschlicher Anstrengung löste er die Finger vom Steuerknüppel und erhob sich, durchdrungen von einem Gefühl der Trauer. »Coop«, bat er, »übernimm.« Cooper blickte zu ihm hinüber, und dann sah er es. Wyatts Gesicht war weiß und glänzte, die Hände in einer seltsam hölzern wirkenden Haltung verkrampft. »Sicher«, erwiderte Cooper rasch. »Sofort.« Wyatt trat zur Seite, und Cooper glitt in den Pilotensessel. Sie haben mich gerade zur richtigen Zeit erwischt, dachte Wyatt, während er noch immer auf seine steifen, verkrampften Finger starrte. Er sah auf und begegnete dem Blick aus Beauclaires weit aufgerissenen Augen, erkannte das Mitleid darin und wandte sich ab. Cooper schluckte hart und beugte sich über das Instrumentenpult. Wyatt begann lautlos und unbemerkt zu weinen. Schwerfällig verließ er den Raum, hielt die Hände wie alte, nutzlose graue Werkzeuge von sich gestreckt; ausgebrannt und nutzlos, Hände, die ihren Dienst versagten.
Das Schiff zog automatisch gesteuert seine Bahn durch die Nacht. Die Crew schlief oder versuchte zumindest zu schlafen. Am nächsten Morgen machten sie sich mit frischer Energie an die Arbeit. Es gab Menschen auf diesem Planeten. Sie lebten in kleinen Dörfern. Es gab keine Städte und offensichtlich keine hochentwickelte Wissenschaft oder Technik, so daß Cooper das Schiff herunterbringen konnte.
Die Umgebung wirkte unwirklich. Für einen Moment konnte keiner von ihnen das Gefühl der Irrealität unterdrücken, Wyatt am allerwenigsten. Er blieb auf dem Schiff zurück und betrank sich. Aber als er wieder auftauchte, wirkte er frisch und ausgeruht wie immer. Coopers Gesicht war grau, und er war unansprechbar. Nur Beauclaire betrachtete den Planeten mit distanzierter Klarheit. Und während sie die neue Welt beobachteten, beobachteten die Eingeborenen das Schiff. Irgend etwas war merkwürdig, schon vom ersten Augenblick an. Den Eingeborenen war nicht entgangen, wie das Schiff den Planeten überflog und zur Landung ansetzte, aber sie waren nicht geflohen. Im Gegenteil – sie hatten sich in kleinen Gruppen gesammelt und beobachteten das Schiff. Als es gelandet war, kamen sie aus den Wäldern hervor, umringten es, und ein paar von ihnen kamen nahe genug heran, um es mit den Fingern zu berühren und sanft über den Stahl des Rumpfes zu streicheln. Und sie waren menschliche Wesen. Soweit Beauclaire es beurteilen konnte, gab es keinen Unterschied zwischen den Eingeborenen dieser Welt und einem Menschen. Nicht, daß diese Feststellung eine besondere Überraschung gewesen wäre – unter gleichen Bedingungen mußte sich auch das Leben gleichgeartet entwickeln. Aber irgend etwas an diesen Männern und Frauen wirkte fremdartig, majestätisch. Sie waren von anmutigem Wuchs. Bronzefarbenes Haar. Vor allem die Frauen waren von bemerkenswerter Schönheit. Ihre Kleidung war aus bunter Wolle gefertigt und machte einen irgendwie exotischen Eindruck, aber an ihnen selbst war nichts, was diesen Eindruck unterstrichen hätte. Keiner von ihnen trug eine Waffe. Sie sagten nichts, regten sich kaum und standen einfach da und beobachteten. Aber dennoch schienen
sie nicht besonders neugierig zu sein. Die Menschentraube um das Schiff wurde nicht größer, obwohl immer wieder einige Leute dazukamen. Aber andere gingen auch wieder. Nur die Kinder waren aufgeregt. Beauclaire stand am Sichtschirm. Gelegentlich gesellte sich Cooper zu ihm und blickte ohne sonderliches Interesse hinaus. Dann sah er die Frau. Es war ein Mädchen mit schattigen braunen Augen und einem wohlproportionierten Körperwuchs. Cooper grinste breit und drehte am Bildausschnitt, bis der Schirm nur noch das Mädchen zeigte. Er beobachtete es voller Bewunderung und gab ein paar bewundernde Kommentare von sich, als Wyatt eintrat. »Schau dir das an, Billy!« Cooper grunzte vor Vergnügen und deutete auf den Schirm. »Mann, hier sind wir zu Hause!« Wyatt lächelte säuerlich und verstellte rasch den Bildausschnitt, bis er die ganze Umgebung beobachten konnte. »Irgendwelchen Ärger?« »Nein«, antwortete Cooper. »Die Luft ist gut. Dünn zwar, aber praktisch reiner Sauerstoff. Wer geht zuerst hinaus?« »Ich«, entschied Wyatt. Ihn würde man am wenigsten vermissen, sollte ihm etwas zustoßen. Niemand erhob Einspruch. Cooper lächelte, als Wyatt seine Waffen anlegte. Dann warnte er ihn scherzhaft, das niedliche kleine Mädchen besonders im Auge zu behalten. Wyatt verließ die Geborgenheit des Schiffes und trat hinaus. Die Luft war kühl und klar. Eine schwache Brise rauschte durch die Blätter der Bäume, und Wyatt lauschte einen Herzschlag lang auf das entfernte Zwitschern der Vögel. Es war das letzte Mal, daß er so nach draußen ging, eine unbekannte, neue Welt betrat. Er blieb eine Weile vor der Schleuse stehen, bevor er weiterging. Die Eingeborenen verharrten regungslos, als er sich ihnen näherte. Er hielt die Hand erhoben, so, wie es das
Kartographenteam schon vor langer Zeit als universelle Geste des Friedens erkannt hatte. Er blieb vor einem schmächtigen Mann in grauer Kleidung stehen und beugte sich leicht vor. »Hallo«, grüßte er unbeholfen. Vom Schiff aus beobachtete Beauclaire atemlos durch die Optik seines Zielfernrohres, wie er mit der Pantomime der Begrüßung fortfuhr. Bis auf diesen Mann rührte sich niemand. Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah eindeutig amüsiert aus. Wyatt verbeugte sich noch einmal, als die Pantomime beendet war, und der Fremde lächelte breit. Dann verbeugte er sich ebenfalls. Und nacheinander begannen auch die anderen zu lächeln und sich zu verbeugen. Wyatt wandte sich um und kehrte zum Schiff zurück, und Beauclaire legte sein Gewehr zur Seite und lächelte erleichtert. »Das war ein hoffnungsvoller Auftakt!«
Am nächsten Morgen verließ Wyatt allein das Schiff. Er ging im Sonnenschein unter den Bäumen spazieren, und dabei traf er das Mädchen, das sie schon vom Schiff aus gesehen hatten. Es saß allein an einem Bach und planschte mit den Füßen im Wasser. Wyatt ließ sich neben ihm nieder. Es sah ohne Überraschung zu ihm auf, aus strahlenden, wie aus Perlen geschnitzt wirkenden Augen. Dann verbeugte sich das Mädchen. Wyatt lächelte und verbeugte sich ebenfalls. Er zog die Stiefel aus und ließ die Füße ins Wasser gleiten. Es war eiskalt. Das Mädchen lächelte ihm zu. Dann begann es leise zu summen, eine schöne, einfache Melodie, deren Harmonien ihm schon nach wenigen Augenblicken eingingen, und er summte sie mit. Das Mädchen lachte, und er fiel in ihr Lachen ein und fühlte sich wieder sehr jung.
Und so etwas passiert mir auf meine alten Tage, dachte er und lachte wieder. Plötzlich bemächtigte sich seiner eine tiefe Zufriedenheit, einfach da zu sitzen und zu schweigen. Und ihr herrlicher Körper verstärkte nur dieses Gefühl, und für einen Augenblick wunderte er sich über sich selbst. Das Mädchen nahm einen seiner Stiefel in die Hand und untersuchte ihn prüfend, wobei es mit der Zunge schnalzte. Wyatt zeigte ihm, wie die Schnalle funktionierte, und es klatschte vor Begeisterung in die Hände. Er zog noch andere Dinge aus seinen Taschen hervor. Nacheinander begutachtete es sie alle. Das einzige, was sie zu verwirren schien, war das Bild auf seiner ID-Karte. Das Mädchen betrachtete zunächst das Bild, dann ihn, dann schüttelte es den Kopf, runzelte die Stirn und gab es ihm mit einer entschiedenen Bewegung zurück. Das Mädchen schien es für ein sehr schlechtes Kunstwerk zu halten. Der Tag verging rasch, und die Sonne begann zu verblassen. Wyatt fiel erst später auf, wie wenig Neugierde es an den Tag gelegt hatte. Die ganze Zeit über sprachen sie kein Wort. Das Mädchen hatte kein Interesse an seiner Sprache und an seinem Namen gezeigt, und seltsamerweise hatte er den ganzen Nachmittag über das Gefühl, daß Sprechen vollkommen unnötig war. Es war ein außergewöhnlicher Tag. Sie redeten nur, als sie sich voneinander verabschiedeten. Wyatt war sehr mit sich selbst beschäftigt, als er schweren Herzens zum Schiff zurückkehrte. In der ersten Woche verbrachte Beauclaire jeden Morgen eine Stunde damit, die Sprache dieses Volkes zu erlernen. Von Anfang an hatten ihn diese Menschen seltsam berührt. Sie waren außergewöhnlich. Obwohl sie sich nicht im geringsten von den Menschen unterschieden, handelten sie nicht, wie man es von Menschen erwartete. Sie ließen jeden Sinn für Ehrfurcht oder auch nur Neugierde vermissen. Nur die Kinder schienen
überrascht gewesen zu sein, als das Schiff landete, und nur die Kinder untersuchten es. Fast alle anderen gingen wieder ihren alltäglichen Geschäften nach – die ausschließlich in der Landwirtschaft zu bestehen schienen –, und Beauclaire fand bei seinen Versuchen, ihre Sprache zu erlernen, nur sehr wenige Leute, die ihm dabei helfen wollten. Aber sie waren alle mehr oder weniger höflich, und er begann – wenn auch unter großer Mühe – sich in ihre Sprache einzuarbeiten. An dem Tag, an dem Wyatt das braunäugige Mädchen getroffen hatte, erzählte Beauclaire ihm von seinen Fortschritten. »Es ist eine schöne Sprache«, sagte er, als Wyatt hereinkam. »Erstaunlich weit entwickelt. Ähnlich unserem Latein – der gleiche Aufbau, aber weicher und flexibler. Ich habe versucht, ihr Buch zu lesen.« Wyatt ließ sich gedankenverloren nieder und zündete sich eine Zigarette an. »Was für ein Buch?« fragte er. »Sie haben zwar jede Menge Bücher, aber jeder besitzt dieses eine Buch – sie bewahren es an einem Ehrenplatz in ihren Häusern auf. Ich habe versucht, herauszufinden, was es ist – ich glaube, es ist eine Art Bibel –, aber sie haben sich nicht die Mühe gemacht, es mir zu erklären.« Wyatt fröstelte. Seine Gedanken bewegten sich im Kreis. »Ich verstehe sie einfach nicht«, fuhr Beauclaire fort, froh, jemanden gefunden zu haben, mit dem er reden konnte. »Ich werde nicht schlau aus ihnen. Sie fassen schnell auf, sind intelligent – aber sie entwickeln nicht die geringste Spur von Neugierde, keiner von ihnen. Mein Gott, sie kennen nicht einmal einen gemütlichen Klatsch!« Wyatt paffte gedankenverloren vor sich hin. »Vielleicht hat es etwas damit zu tun, daß sie die Sterne nicht sehen können. Es wird die Entwicklung von Physik und Mathematik beeinträchtigt haben.«
Beauclaire schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist… seltsam. Irgend etwas anderes. Ist dir nicht aufgefallen, daß der Boden aufgerissen und zerklüftet ist, ganz gleich, wohin man blickt? Als ob es hier irgendwann einmal einen Krieg gegeben hätte. Und doch schwören die Eingeborenen, daß kein Krieg stattgefunden hat, so lange sie sich erinnern können. Aber da sie keine Geschichtsschreibung kennen, kann man das nicht definitiv herausfinden.« Als Wyatt darauf nicht antwortete, fuhr er fort: »Ich kann da keinen Bezug zu den Sternen sehen. Nicht bei diesen Leuten. Es ist vollkommen egal, ob man das Haus sieht, in dem man lebt, man muß sich trotzdem ein gewisses Maß an Neugierde bewahren, wenn man am Leben bleiben will. Aber davon haben diese Leute hier verdammt gar nichts. Das Schiff landete, erinnerst du dich? Aus dem Himmel kamen die Götter wie Donner hernieder…« Wyatt lächelte. Zu einem anderen Zeitpunkt wäre er an solchen Dingen interessiert gewesen, aber jetzt war es anders. Er fühlte sich selbst… abwesend. Irgendwie erging es ihm wie diesen Bewohnern. Er fühlte kein Interesse. Aber Beauclaire, der noch jung und wissensdurstig war, überall nach Gründen zu suchen, belastete es. Und auch Cooper beschäftigte sich damit. »Verdammt«, murmelte Cooper, als er in den Raum gestampft kam. »Da bist du ja, Billy. Ich habe mich zu Tode gelangweilt. Hab’ die ganze verdammte Gegend nach dir abgesucht. Wo warst du denn?« Er warf sich in einen Sessel und strich sich mit den Fingern durch das lange schwarze Haar. »Ein Kartenspiel gefällig?« Wyatt lehnte sich entspannt zurück. »Im Moment nicht, Coop«, antwortete er. Cooper grunzte. »Überhaupt nichts zu tun. Aber auch gar nichts.« Er drehte sich zu Beauclaire um. »Was denkst du
darüber? Wann verschwinden wir wieder von hier? Als ob die ganze Zeit Sonntag wäre.« Beauclaire, wie immer bereit, über sein Problem zu reden, erklärte es Cooper. Wyatt hatte das Gefühl, immer müder zu werden, während er zuhörte. Es gab nur diesen einen Kontinent, erklärte Beauclaire, nur diese eine Nation, und alle sprächen dieselbe Sprache. Keine Regierung. Keine Polizei. Keine Gesetze, soweit er das hatte herausfinden können. Noch nicht einmal so etwas wie die Ehe. Man konnte es eigentlich noch nicht einmal eine Gesellschaft nennen, verdammt noch mal, aber sie existierte. Beauclaire hatte nicht die geringsten Anzeichen für Kriminalität entdecken können, keinen Mord, Diebstahl, Gewalt. Die Menschen hier, erklärte er, leben einfach vor sich hin. »Du sagst es«, murrte Cooper. »Meiner Meinung nach sind sie alle bescheuert.« »Aber glücklich«, warf Wyatt plötzlich ein. »Man kann es sehen, daß sie glücklich sind.« »Natürlich sind sie glücklich«, schnappte Cooper giftig. »Das sind taube Nüsse. Sie haben einen verdächtig glücklichen Ausdruck in den Augen. Die glücklichsten Typen, die ich kenne, sind so verrückt wie – « Das Geräusch, das ihn unterbrach, schien im Bruchteil eines Augenblickes alles zu erklären. Es begann, zu leise, als daß man es wirklich hören konnte, schwoll an, wurde von einem leisen Rauschen zu einem wahnwitzigen, explosionsartigen Krachen. Sie sprangen alle gleichzeitig auf und gingen, von einer gewaltigen Explosionswelle herumgeschleudert, gleichzeitig zu Boden. Der Boden bebte. Das Schiff erzitterte in allen Fugen. Das Zischen verdrängter Luft hallte in ihren Ohren, ein Getöse wie ein Weltuntergang, das sie entsetzt den Atem anhalten ließ.
Als es vorbei war, hörten sie in weiter Entfernung erneute Explosionen. Gewaltige, unglaublich gewaltige Detonationen. Obwohl es nicht länger als vielleicht fünf Sekunden gedauert hatte, war es das Schlimmste, was sie je gehört hatten, und die Erde schien noch Minuten danach wie ein verwundetes Tier zu zittern. Wyatt war zuerst aus dem Schiff gestürzt. Er schüttelte den Kopf, um den Druck von seinen Ohren loszuwerden. Über den grüngelben Bäumen im Westen stieg eine gewaltige schwarze Rauchwolke auf, mehrere hundert Meter hoch. Und in diesem Augenblick, als er dastand und hinüberstarrte und versuchte, auf der noch immer schwankenden Erde festen Halt zu gewinnen, begriff er. Meteore. Er hatte schon einmal das Niedergehen von Meteoren erlebt, aber es war zu lange her, auf irgendeiner Welt des Aldebaran. Er spürte den scharfen, brennenden Geruch, fühlte, wie der Wind in heißen Strömen nach Westen wirbelte, dorthin, wo die Meteore aufgeschlagen waren. Er dachte an das Mädchen, und obwohl es ihm nichts bedeutete – letzten Endes bedeutete ihm keiner dieser Menschen wirklich etwas –, begann er nach Westen zu rennen, so schnell er konnte. Hinter ihm hasteten Beauclaire und Cooper aus dem Schiff. Auf ihren schreckensbleichen Gesichtern spiegelte sich Entsetzen. Als Wyatt die Anhöhe erreichte, bedeckte die schwarze Rauchwolke das ganze Tal unter ihm. Im Wald zu seiner Rechten brannte es, und aus der Position des Rauchpilzes konnte er unschwer erkennen, daß das Dorf der Eingeborenen aufgehört hatte zu existieren. Er lief auf die Rauchschwaden zu, versuchte den Bäumen auszuweichen und kam an dem Bach vorüber, an dem er mit dem Mädchen gesessen hatte. Für eine Weile verlor er die
Orientierung, stolperte über Felsbrocken und entwurzelte Bäume. Schließlich begann sich der Rauch zu lichten. Er traf auf einige der Eingeborenen. Plötzlich wünschte er sich, ihre Sprache zu sprechen. Sie wanderten ruhig aus den Trümmern ihres Dorfes heraus. Keiner blickte zurück. Wyatt erkannte, daß viele von ihnen tot waren, aber er hatte keine Zeit, sich um sie zu kümmern oder sich darüber Gedanken zu machen. In der einsetzenden Abenddämmerung dankte er im stillen Gott, daß er eine Taschenlampe bei sich hatte; noch lange, nachdem die Nacht hereingebrochen war, setzte er in der klaffenden Wunde, die der Meteor gerissen hatte, seine Suche fort.
Für Beauclaire war alles beängstigend klar. Er sprach mit den Eingeborenen und begann langsam zu verstehen. Die Meteore fielen seit dem Anbeginn der Zeit, erklärten die Eingeborenen. Vielleicht lag das an der großen Wolke, durch die sich der Planet bewegte, vielleicht daran, daß dies nicht immer nur ein Ein-Planeten-System gewesen war: Einige zerstörte Welten, zerrissen durch Gravitationskräfte oder eine kosmische Katastrophe –, konnten lange genug für einen Meteorregen sorgen, und da die Lufthülle des Planeten sehr dünn war, gab es keinen natürlichen Schutz wie auf der Erde. Seit undenklichen Zeiten fielen die Meteore wie Steine aus der Hand Gottes. Sie fielen vom Anbeginn der Zeit an. Aber es schien die Eingeborenen nicht sonderlich zu bewegen. Und das war der erste sichere Anhaltspunkt für Beauclaire. Und er folgte der Spur bis zu ihrem Anfang, erschreckt und aufgewühlt, wie er war. In der Zwischenzeit versorgte Wyatt das Mädchen. Es war nicht schwer verletzt und erholte sich rasch. Aber die meisten ihrer Familienmitglieder und Freunde waren tot.
Allmählich erlernte auch Wyatt ihre Sprache. Der Name des Mädchens klang lächerlich, wenn man ihn auf englisch aussprach, und so nannte er sie Donna, was ihrem wirklichen Namen am ehesten glich. Es wirkte wie alle Eingeborenen ungerührt angesichts der Meteore und des Todes ihrer Angehörigen und wirkte sogar außergewöhnlich fröhlich. Die Züge des Mädchens waren klassisch – die Wangen schmal, ständig von einem leisen Lächeln umspielt. Die Zähne makellos. Und Wyatt spürte jeden Tag von neuem, was er gefühlt hatte, als die Meteore niedergegangen waren. Liebe. Es war etwas Neues für ihn. Er war sich nicht sicher, ob er sie wirklich liebte oder nicht, aber das änderte nichts. Er wußte, daß er das Mädchen brauchte, sich in seiner Umgebung wohlfühlte, mit ihm reden konnte, seinen Gang beobachten und genießen konnte, wie schön es war. Und allmählich begann ein tiefer Frieden Besitz von ihm zu ergreifen. Als sich das Mädchen erholt hatte, hatte Beauclaire das Buch zur Hälfte übersetzt. Während seine Arbeit voranschritt, begann sich ein stetiger Wandel an ihm abzuzeichnen. Er verbrachte viel Zeit allein draußen und beobachtete den schwachen Glanz des Himmels, durch den er bald die ersten Sterne erkennen würde. Er versuchte Wyatt zu erklären, was er fühlte, aber Wyatt fand dafür keine Zeit. »Siehst du nicht, was in diesen Menschen vorgeht?« fragte er. »Siehst du nicht, wie sie leben?« Wyatt nickte, aber sein Blick war unverwandt auf das Mädchen gerichtet. »Sie erwarten solche Katastrophen jeden Tag«, sagte Beauclaire. »Sie haben nicht die leiseste Vorstellung davon, was die Meteore sein könnten. Sie wissen nicht, daß es außer ihrem Planeten und der Sonne noch ein Universum gibt. Sie denken, daß das alles wäre. Sie wissen nicht, warum sie hier
sind. Aber wenn die Meteore weiterhin so niedergehen, dann…« Wyatt wandte sich von dem Mädchen ab und lächelte abwesend. Nichts von dem, was Beauclaire erklärte, konnte ihn berühren. Er hatte die Ordnung und die Schönheit des Weltalls gesehen, die unglaubliche Perfektion des Universums, und es hatte ihn so tief berührt, daß er fest an eine Absicht, eine ordnende Macht, einen Plan glaubte. Als sein Vater an einem Insektenstich auf Oberon gestorben war, hatte er geglaubt, daß auch das einen Sinn hatte. Als sein Copilot in einen Säureozean auf Alcestis gestürzt war, hatte er geglaubt, daß es einen Sinn hatte, so wie er jedesmal, wenn jemand gestorben war, irgendwo, auf irgendeiner kalten, feindlichen Welt, an einen Sinn geglaubt hatte. Und nun, am Ende, als er endlich begann zu begreifen, sah es so aus, als ob nichts einen Sinn hätten. Zumindest war es jetzt unwichtig. Es waren so viele Dinge geschehen, daß er die Fähigkeit, allen Aufmerksamkeit zu schenken, verloren hatte. Er war nicht mehr jung. Alles, was er wollte, war Ruhe. Und alles, was er suchte, konnte er bei diesem Mädchen finden. Aber Beauclaire schien es, daß auf dieser Welt etwas Ungerechtes geschah, und je mehr er darüber nachdachte, desto verwirrter und verärgerter wurde er. Er ging hinaus und betrachtete die schrecklichen Wunden auf der Oberfläche des Planeten, dachte an all die wundervollen Dinge, die vernichtet worden waren und nie mehr wiederkehren würden, und es endete damit, daß er fluchend ins Schiff zurückkehrte und an der Übersetzung des Buches weiterarbeitete. Er näherte sich dem Schlußkapitel, und während er innerlich noch immer aufgewühlt und verwirrt war, las er es immer und immer wieder. Als die Sonne zu einem neuen Tag heraufstieg, hatte er die Arbeit beendet.
»Es gab hier einen Mann«, erzählte er Wyatt, »der ein begnadeter Schriftsteller war. Er schrieb ein Buch, das die Leute hier wie eine Bibel benutzen. In einigen Teilen ähnelt es unserer Bibel auch, aber an sich ist es das genaue Gegenteil. Seine Aussage ist, daß es nichts gibt, was man anbeten soll. Soll ich dir etwas daraus vorlesen?« Wyatt war abgelenkt gewesen, aber er hörte zu, während er mit Beauclaire, der noch einen so langen Weg vor sich hatte, Mitleid empfand. Seine Gedanken weilten bei Donna, die allein nach draußen gegangen war, um ihrer Welt Lebewohl zu sagen. Bald würde er ihr folgen und sie zum Schiff zurückholen, und sie würde vielleicht ein paar Tränen vergießen, aber sie würde mit ihm kommen, gleichgültig, wohin er ging. »Ich habe es so gut übersetzt, wie ich konnte«, sagte Beauclaire. »Aber bedenke eines – dieser Mann konnte schreiben. So gut wie Shakespeare und Voltaire und all die anderen zusammen. Ich kann keine ebenbürtige Übersetzung liefern, so sehr ich mich auch bemüht habe. Aber bitte höre zu und versuche zu verstehen, was er meinte.« »Dann schieß mal los«, meinte Wyatt.
Beauclaire ließ eine geraume Zeit verstreichen, bevor er begann. Während er las, nahm seine Stimme zunehmend einen kraftvollen Klang an. Sie verriet seine innere Bewegung, seine Anteilnahme. Und während Wyatt zuhörte, fühlte er sein Interesse erwachen und wie die letzten Spuren von Furcht und Trauer von ihm abfielen. Er nickte lächelnd. Und das sind die Worte, die Beauclaire aus dem Buch übersetzt hatte und nun vortrug:
Erhebe dich lächelnd und komme mit mir. Erhebe dich, dein Körper sei deine Rüstung, und was geschehen wird, wird dich deine Angst vergessen machen. Wandle unter gelben Hügeln, denn sie sind dein. Laß deine Füße in den weichen Grund einsinken; am Ende, wenn alles getan ist, wird es dir wohl tun. Die Erde wird dich aufnehmen, und auf dem schwarzen Lager wirst du deinen Frieden finden. In deiner dünnen Rüstung, höre meine Stimme. In deiner dünnen Rüstung, höre. Was immer du auch tust, dein Freund und dein Bruder und deine Frau werden dich betrügen. Was auch immer du deinen Pflanzen angedeihen läßt, das Unkraut und die Jahreszeiten werden dich verspotten. Wo immer du auch hingehst, der Himmel wird auf dich niederfallen. Wann immer Menschen in Freundschaft zu dir kommen, verfluche sie. Wisse, daß die Götter dir keine Achtung zollen. Wisse, daß du Leben sein sollst, und daß auf immer der Schmerz dein Begleiter sein wird, obwohl die Jahre endlos und die Tage ohne Schlaf sein werden; gleichförmig und ewigwährend. Und wisse dies, in deiner dünnen Rüstung: Derart sollst du dich erheben. Rot, glühend und fest sei dein Herz, ein Eisen, das in deiner Brust geschmiedet wird. Was kann dich nun noch verletzen? Du in deiner steinernen Feste, was vermag dich noch zu treffen? Du sollst nur sterben. Suche keine Vergebung und keine Sühne für deine Sünden, denn wisse, daß du nie gesündigt hast. Laß die Götter zu DIR kommen. Als er geendet hatte, schwieg Wyatt nachdenklich. Beauclaire beobachtete ihn aufmerksam. Wyatt nickte. »Ich verstehe«, murmelte er endlich.
»Sie bitten um und für nichts«, erklärte Beauclaire. »Keine Unsterblichkeit, keine Vergebung, kein Glück. Sie nehmen, was sie bekommen, und sie sind nicht begierig auf das, was in der Zukunft liegt.« Wyatt erhob sich lächelnd. Er betrachtete Beauclaire eine Weile und versuchte an etwas zu denken, was er hätte aussprechen können, aber es gab nichts zu sagen. Wenn der junge Mann das glauben konnte, hier und jetzt, dann würde er sich einen langen und schmerzvollen Weg ersparen. Aber Wyatt konnte nicht darüber sprechen. Nicht jetzt. Er schlug Beauclaire leicht auf die Schulter. Dann verließ er das Schiff und ging hinaus in die gelben Hügel, zu dem Mädchen, das ihn liebte und dort auf ihn wartete.
Was werden sie tun? fragte sich Beauclaire. Was werden sie tun, wenn sie die Sterne sehen? Wenn es etwas gibt, wohin man gehen kann, werden dann auch diese Menschen anfangen zu suchen? Sie würden. Mit Bedauern fühlte er, daß es so sein würde. Weil irgend etwas in jedem Lebewesen verborgen lag, was sich von den Sternen angezogen fühlte, was immer weiter hinaus wollte, hinaus in die Unendlichkeit, solange es irgendeinen Menschen gab und irgendeinen Platz, wo er noch nicht gewesen war. Und was hatte das alles zu bedeuten? Wir sind so, und so müssen wir leben. Beauclaire blickte gen Himmel. Schwach wie das Auge eines Gottes begann ein einzelner Stern durch den silbernen Nebel zu leuchten.
Phönix
Auf dem Schirm hing der glühende rote Ball einer Sonne. Jansen drehte an einem Schalter. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war müde, abgespannt. Die Sonne begann nach rechts aus dem Schirm zu wandern, wurde durch das lebende, mit Millionen von Lichtpunkten durchsetzte Schwarz des Weltraumes ersetzt. Einen Augenblick später wanderte die Sonne noch einmal über den Schirm und verschwand nach links. Wieder gab es nichts als Sterne und leeren Raum. »Versuchen Sie es noch einmal?« fragte Cohn. »Nein. Sinnlos«, murmelte Jansen. Er fluchte heftig. »Nichts. Überall nichts. Nicht das winzigste Ding!« Cohn unterdrückte ein Seufzen und begann, die Kontrollen zu justieren. Sie waren beide von dem gleichen, bitteren Gedanken erfüllt, daß ihnen nur noch ein einziger Versuch blieb, bevor sie nach Hause zurückkehren mußten. Und sie hatten einen zu langen Weg hinter sich, um mit leeren Händen zurückzukehren. Als die Steuerung justiert war, blieb nichts mehr zu tun. Die beiden Männer gingen langsam in den Gefrierraum. Sie kletterten mühsam auf die harten Stahlplatten ihrer Lager, legten sich zurück und warteten darauf, daß die Automatik ihre Arbeit aufnahm und der Gefriervorgang einsetzte. Das Raumschiff steuerte nach einer langen, geschwungenen Kurve in die Leere des Raumes hinaus. Seine Schleusen waren geöffnet, und es gewann rasch an Tempo, während die glühende rote Sonne hinter ihm zurückblieb.
Das Scoutschiff sichtete das Objekt auf der letzten Etappe seines Fluges, weit hinter der Grenze der großen Randwüste. Es tauchte als schwacher Blip auf den Massedetektoren auf und wurde sofort an Roymer gemeldet. »Meldung«, sagte er knapp, und Goladan – ein junger, ein wenig aufgeblasen wirkender Higiandianer – gab das higiandianische Äquivalent eines Hüsteins von sich und erstattete Meldung. »Ein Meteor ist es jedenfalls nicht«, sagte Leutnant Goladan. »Dafür ist es zu schnell.« Roymer nickte geduldig. »Aber die Geschwindigkeit nimmt ab«, fuhr er nach einem Blick auf seine Notizen fort, »und zwar vierundzwanzig Dines je Segment. Da ihn sein Kurs direkt auf den Stern Mina führt und die Fahrtverringerung offensichtlich von willkürlicher Größe ist, bleibt nur ein logischer Schluß – daß es sich um ein Raumschiff handelt.« Roymer lächelte. »Sehr gut, Leutnant.« Roymer schien – wie eine kleine Nova – zuerst aufzuglühen und dann zu wachsen. Ein guter Mann, dachte Roymer. Ein guter Mann aus einer guten Rasse. Sein Volk hat zwei Millionen Jahre benötigt, um die Raumfahrt zu erlernen; man muß Verständnis haben. »Rufen Sie die Bewußtseinssucher, bitte«, bat er. Goladan eilte davon, um gleich darauf mit Trian zurückzukehren, dem großköpfigen, nichtmenschlichen Leiter der Bewußtseinssucher. Trian drehte etwas, das entfernt an ein Auge erinnerte, zu Roymer. »Kommandant?« Seine Rasse verfügte nicht über einen Stimmapparat. Sie hatte in ihrer äonenlangen Geschichte nie etwas derartiges gebraucht.
»Halten Sie sich bitte bereit?« sagte Roymer. Er betätigte einen Knopf und wandte sich über die Bordsprechanlage an die Mannschaft. »Bereithalten für Fremdkontakt.« Der plötzliche Kurswechsel machte sich nun auch auf den Sichtschirmen bemerkbar. Die Sterne begannen lautlos vorbeizugleiten, als das Scoutschiff herumschwenkte, einen weiten Bogen beschrieb und tiefer in die Wüste eindrang, parallel zu dem fremden Schiff, wobei es eine Distanz von etwa einem Lichtjahr beibehielt. Die Taster erfaßten das Objekt sofort. Goladan lächelte erfreut. Es war ein Raumschiff. Ein fremdes Raumschiff. Und ohne Zweifel eine primitive Rasse. Er teilte Roymer seine Schlußfolgerung mit. Der Kommandant starrte das kleine, geschoßähnliche Fahrzeug an. »Ja«, meinte er. »Ein recht primitiver Typ. Ich frage mich, was sie hier in der Wüste suchen.« Goladans Gesicht nahm einen wißbegierigen Ausdruck an. »Trian«, bat Roymer freundlich. »Würden Sie bitte versuchen, Kontakt aufzunehmen?« Der riesige Kopf hob und senkte sich einmal. Einen Augenblick lang herrschte absolutes Schweigen. Dann wandte Trian sich um und starrte Roymer an. In seinen Augen war ein absolut menschliches Gefühl zu erkennen. »Nichts«, sagten seine Gedanken. »Ich kann keine Präsenz ausmachen.« Roymer hob eine Augenbraue. »Eine Sperre?« »Nein.« Trian hatte sich wieder zum Bildschirm umgewandt. »Ich kann keine Sperre ausmachen. Da ist überhaupt nichts. Es gibt an Bord dieses Schiffes nichts, was denkt.« Roymer war tief enttäuscht. Trians Worte waren endgültig. Ein Raumschiff, auf dem kein Leben herrschte… ein Wrack. Aber warum dann das Bremsmanöver? Ein Automat? Möglich,
aber warum sollte jemand, der ein Schiff aufgab, dafür sorgen, daß… Trians Gedanke unterbrach ihn. »Darf ich in mein Quartier zurückkehren? Dort drüben ist nichts.« Roymer nickte dankend, und Trian entfernte sich. »Wollen wir uns darauf vorbereiten, an Bord des fremden Schiffes zu gehen, Sir?« fragte Goladan. »Ja.« Goladan ging, um die notwendigen Befehle zu erteilen. Roymer fuhr fort, das seltsame Fahrzeug auf den Schirmen zu betrachten. Es war immer sehr interessant, auf Wracks fremder Schiffe zu stoßen. Es waren lautlose Gräber, die vielleicht schon seit Jahrmillionen durch das weite Meer des Weltalls trieben, angefüllt mit Geschichten. Zu Beginn hatte Roymer gehofft, das Schiff wäre bemannt. Aber Kontakte mit einer fremden, isolierten Rasse waren selten. Er würde sich damit zufriedengeben müssen, ein leeres altes Schiff aufzubringen. Und dann drehte sich das vermeintlich leere Schiff einmal um seine Achse und jagte zu Roymers maßlosem Erstaunen auf einem neuen Kurs davon.
Jansen lag eine Weile reglos auf dem stählernen Tisch, nachdem die Defroster angesprungen waren und ihn geweckt hatten. Er blinzelte. Wie jedesmal nach dem Gefrieren fiel es ihm schwer, sich zurechtzufinden. Es war wie ein rasches Lidzucken, nicht mehr, und dann lag man da und fühlte sich genauso, dachte vielleicht sogar den gleichen Gedanken wie vor dem Einschlafen. Allenfalls eine leichte Benommenheit. Und doch machte die Zeit während dieses Lidzuckens einen gewaltigen Sprung, und die Monate zogen – Jansen lächelte bei dem Vergleich – wie Zaunlatten vorüber.
Träge hob er den Blick zu der roten Birne unter der Decke. Aus. Er seufzte. Der Gefriervorgang war beendet. Er fühlte sich auf schwer zu beschreibende Art betrogen. Er kletterte vom Tisch und bemerkte, daß Cohn bereits in die Steuerkabine gegangen war. Sie würden sich jetzt bereits einer neuen Sonne nähern, der letzten auf ihrer Reise, wie ihm plötzlich wieder einfiel. Bald konnten sie nach Hause zurückkehren. Jansen hoffte, daß sie wenigstens hier Planeten finden würden. Sie waren schon lange unterwegs, elf Jahre von zu Hause fort, und doch hatten sie nichts gefunden… Ein sanfter Ruck ging durch das Schiff und riß ihn aus seinen Gedanken. Wahrscheinlich hatte Cohn den Autopiloten abgeschaltet. Sie würden jetzt näher gehen, die Teleskope ausfahren und doch wieder nichts sehen. Er schlurfte müde über das Metalldeck und stieg zur Steuerkanzel hinauf. Anfangs waren sie voller Hoffnung gewesen, aber das war längst vorbei. Sie waren seit dreihundert Jahren voller Hoffnung, und sie würden weiter hoffen, eine kurze Zeit noch. Aber irgendwann würden sie – trotz der Gefrieranlagen – keine Piloten mehr finden, und dann würden die Sternenschiffe nicht mehr hinausfliegen. Und der Mensch wird für den Rest seiner Tage gefangen sein, gefangen in seinem eigenen Sonnensystem. Deshalb hoffte er voller Inbrunst, Planeten zu finden. Oben, in der Steuerkanzel, beugte sich Cohn über die Armaturen und regulierte die Energiezufuhr. Als Jansen eintrat, sah er auf und nickte knapp. Für sie waren nicht mehr als fünf Minuten vergangen. »Sind schon alle heiß?« fragte Jansen. »Noch nicht.« Das Schiff war mit offenen Luken durch den Tiefraum geflogen. Die absolute Kälte des Raumes war bis zu seinem
Kern vorgedrungen. Es dauerte immer eine Zeitlang, bis das Schiff wieder ganz seinen Schöpfern gehörte. Auch jetzt war in der Luft noch eine Spur der scharfen, durchdringenden Kälte zu spüren. Jansen setzte sich. »Letzte Runde, schätze ich.« »Ja«, erwiderte Cohn, zögerte einen Moment und fügte dann hinzu: »Ich wollte, Weizsäcker wäre hier.« Jansen grinste. Weizsäcker, der gute, alte Weizsäcker. Er war schon lange tot. Aber vielleicht war das auch gut so. Er war einer der meistverspotteten Menschen im Sonnensystem. Hundert Jahre lang war seine Theorie – sie besagte, daß jede Sonne notwendigerweise mindestens einen Satelliten besitzen mußte – ein unbestrittener Teil des menschlichen Wissens gewesen. Bis der Raumflug möglich geworden war. Jansen lächelte schief. Jetzt, zweihundert Jahre und tausend Sterne später, hatte man gerade vier Planeten entdeckt: ein unfruchtbarer, vereister Splitter, nicht viel größer als der Mond beim Alpha Centauri, drei tote Brocken aus kaltem Felsgestein und Eisen beim Pollux. Keiner der anderen Sterne hatte einen Planeten. Nicht einmal einen einzigen. Für Weizsäcker wäre es ein harter Tiefschlag gewesen. Ein Summton riß Jansen aus seinen Gedanken. Das Teleskop war ausgefahren worden. Auf dem Bildschirm wurde es hell. Er stand schnell auf, trotz der Hoffnungslosigkeit in seinem Inneren. Er fühlte ein nervöses Kribbeln in den Armen. Es gibt immer eine Chance, dachte er, immer. Wir haben erst tausend Sonnen untersucht, und in der Galaxis sind tausend Sonnen nichts. Es gibt immer eine Chance. Cohn arbeitete ruhig und sicher am Radargerät. Langsam nahm das Bild des Sterns Konturen an. Er hing da, gigantisch und gelb, grell strahlend und mit Protuberanzen, die seine Umrisse verschwimmen ließen. Das Schiff war ganz dicht heran, und durch die vorgeschalteten Filter waren die
Sterne dahinter unsichtbar. Auf dem Schirm war nichts als die eine große Sonne zu sehen. Jansen begann mit der Feinabstimmung. Die Untersuchung war kurz. Sie betrachteten die fremde Sonne einen Augenblick, bevor sie die Tests einleiteten. Sie waren die ersten ihrer Rasse, die hierhergekommen waren, und für eine Weile hielt sie der uralte, tiefe Zauber des Raumes und des Unbekannten gefangen. Sie blickten gebannt auf den Bildschirm, und dann schob sich eine kleine, schwarze Scheibe in ihr Gesichtsfeld, begann den flimmernden Ball der Sonne zu durchdringen. Er bewegte sich stetig, vom Rand weg, direkt auf das Zentrum zu. Ohne jeden Zweifel ein Planetendurchgang.
Roymer war verwirrt, als sich das fremde Schiff plötzlich bewegte. Er wußte, daß es dort drüben kein Leben gab. Das Ergebnis einer Bewußtseinssuche war nicht in Frage zu stellen. Deshalb konnte er die Bewegung des Schiffes nur auf das Funktionieren irgendwelcher Automaten zurückführen. Der Gedanke beruhigte ihn ein wenig. Trotzdem blieb ein Problem. An Bord des Schiffes zu gehen, würde nicht leicht sein, nicht, wenn das Ding dazu neigte, sich einfach so davonzumachen, ganz ohne Warnung. Zweihundert Jahre Ausbildung hatten ihn gelehrt, sein Schiff und seine Mannschaft keiner unnötigen Gefahr auszusetzen. Und unberechenbare, unstete Raumschiffe stellten ohne Zweifel eine Gefahr dar. Sie würden das Schiff erst bewegungsunfähig machen müssen. Mit einem leichten Gefühl des Bedauerns nahm er mit der Feuerkontrolle Verbindung auf. Er übergab die Operation
dem zuständigen Offizier und lehnte sich dann zurück, um die weitere Entwicklung zu beobachten. Und das fremde Schiff bewegte sich erneut. Nicht plötzlich, wie beim erstenmal, sondern vollkommen zielsicher. Das Schiff bog von seinem Kurs ab, und die Geschwindigkeit sank erneut. Es flog noch immer in Richtung Mina, aber seine Bahn verlief jetzt tangential, nicht länger direkt. Roymer schaltete den Bildschirm auf stärkere Vergrößerung und bemerkte, wie das Schiff beidrehte. Sein Blick erfaßte einen kleinen, kegelförmigen Vorsprung, der sich aus dem Schiff herausgeschoben hatte und sich nun auf Mina richtete. Roymer war verblüfft, handelte aber sofort. Der Befehl an die Feuerkontrolle wurde widerrufen, die Schutzschirme wieder aufgebaut, und das Streifenschiff zog sich rasch in den Schutz des Tiefraumes zurück. Roymer zweifelte jetzt nicht mehr daran, daß die Bewegungen des Fremden nicht durch irgendeine Automatik, sondern durch intelligentes Leben verursacht wurden. Aber er zweifelte ebensowenig daran, daß es dort drüben kein lebendes Geschöpf gab. Ein akutes Problem. Roymer spürte ein Prickeln auf seinem haarlosen Schädel. In der Geschichte der Galaxis hatte man fünf nicht-menschliche Rassen entdeckt, aber es war keine darunter, die nicht von einem Telepathen erkannt werden konnte. Roymer konnte sich einfach kein Volk vorstellen, das so fremdartig war, daß nicht einmal die Struktur ihres Denkens erfaßt werden konnte. Extragalaktiker? Er beobachtete das Schiff aufmerksam und schüttelte dann den Kopf. Nein. Dieses Schiff kam nicht aus einer anderen Galaxis. Dafür war es zu primitiv. Extraspazial? Wieder spürte er das Prickeln im Schädel.
Roymer war jetzt total verunsichert; er nahm erneut Verbindung mit der Bewußtseinssuche auf und verlangte, Trian zu sehen. Vor Trian betrat ein vollkommen verwirrter Goladan seine Kabine. Die widersprüchlichen Anweisungen an Fremdkontakt, Feuerkontrolle und schließlich Bewußtseinssuche hatten ihn verunsichert. Er war ein Mann, der an einen logischen – und eher behäbigen – Fortlauf der Geschehnisse gewöhnt war. Er wartete gespannt, daß Roymer eine Erklärung abgab. Roymer war jedoch im Moment damit beschäftigt, den Kurs des fremden Schiffes zu bestimmen. Ein Orbit um Mina, stellte er fest, ein kegelförmiger Vorsprung am Schiff, der auf den Stern gerichtet war – Meßinstrument oder Waffe? Als Trian erschien, bat er ihn, einen neuerlichen Kontaktversuch zu unternehmen. Trian schwieg, aber als er sich erneut an Roymer wandte, bebten seine Gedanken vor Überraschung. »Das verstehe ich nicht. Dort drüben ist jetzt Leben!« Roymer war erleichtert, aber Goladan blinzelte verwirrt. Trian beobachtete wieder den Schirm und fuhr fort: »Sehr bemerkenswert. Zwei Lebewesen. Menschlich. Ihre Präsenz ist sehr klar. Es sind…« Er hielt kurz inne »… Forscher, wie es aussieht. Aber sie waren vorher nicht da. In hohem Maße verwirrend.« Ja, dachte Roymer. In der Tat. »Haben sie uns wahrgenommen?« fragte er. »Nein. Ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf den Stern. Soll ich kontaktieren?« »Noch nicht. Ich will sie zuerst beobachten.« Das fremde Schiff bewegte sich in einem langsamen Orbit um die Sonne Mina.
Sieben. Es waren sieben. Sieben Planeten, und mindestens drei von ihnen waren von einer Atmosphäre eingehüllt. Zwei konnten sogar bewohnbar sein. Jansen hüpfte vor Aufregung in der Steuerkanzel hin und her. Cohn tat gar nichts. Er grinste nur breit. »Sieben!« schrie Jansen. »Die alte, gute Sieben!« Sie begannen – ebenso schnell wie nervös – spektrographische Analysen der sieben Planeten anzufertigen. Sie fingen mit den mittleren Planeten an und arbeiteten sich von der günstigsten Temperaturzone nach außen. Aus einem Grund, der so sentimental wie naheliegend war, begannen sie mit dem dritten Planeten. Er hatte eine dünne Atmosphäre, dünner noch als die des Mars, und keinen Sauerstoff. Schweigend nahmen sie sich den vierten vor. Er war zu kalt und zu schwer, vielleicht doppelt so schwer wie die Erde, mit einer dichten Hülle aus giftigen Gasen. Sie erkannten mit wachsender Furcht, daß es auch dort keine Hoffnung auf Leben gab, und wandten ihre Aufmerksamkeit nach innen, der wärmeren Zone näher bei der Sonne zu. Auf dem zweiten Planeten zogen sie – wie Jansen es nannte – das große Los. Es war eine warme, grüne Welt von erdähnlicher Größe und Atmosphäre; die Analyse ergab deutliche Linien von Sauerstoff und Wasserdampf. Jansen grinste wieder. »Es scheint alles zu passen.« Cohn nickte, stand vom Bildschirm auf und trat an die Steuerung. »Fliegen wir hin und sehen nach.« »Zuerst ein Radio-Check.« Jansen hatte sich tausendmal ausgemalt, wie es sein würde. Er schaltete den Empfänger ein, wartete, bis das Gerät bereit war und suchte dann die verschiedenen Wellenbereiche ab. Er lauschte gebannt, während sie sich dem Planeten näherten, ging alle Wellenlängen durch, wartete auf irgendein Geräusch. Aber da war nichts, nur das lautlose Rauschen des Raumes.
»Nun«, sagte er, als der grüne Planet auf den Schirmen auftauchte. »Wenn er bewohnt ist, so haben sie das Radio noch nicht erfunden.« Cohn war sichtlich erleichtert. »Es könnte sich um eine junge Zivilisation handeln.« »Oder eine, die so hoch entwickelt ist, daß sie kein Radio brauchen.« Aber Jansens Entdeckerfreude war trotz allem ungebrochen. Es war unmöglich, vorauszusagen, was sie finden würden. Es war wie damals, vor dreihundert Jahren, als sich das erste Schiff von der Erde aus dem Mars näherte. Und es wird immer so sein, dachte Jansen, in jedem neuen System, das wir anfliegen. Wir können nicht wissen, was uns erwartet. Es gibt nichts, keine Parallelen, nichts, woraus wir irgendwelche Schlüsse ziehen könnten. Wir können nur hoffen. Der Planet stand wie ein wunderschöner, grüner Ball auf dem Schirm.
Trians Gedanken waren von Erleichterung erfüllt. »Ich begreife jetzt, wie sie es gemacht haben. Sie haben eine völlige Stasis erzielt, einen perfekten Zustand der Ruhe. Sie erzeugen ihn durch eine geradezu geniale Nutzung der Weltraumkälte. So kommt es, daß ihr Bewußtsein – wenn sie ›gefroren‹ sind – nicht funktioniert und ihr Leben nicht aufzuspüren ist. Sie haben sich gerade erst wiederbelebt und lenken jetzt das Schiff.« Roymer brauchte eine Zeitlang, um die Information zu verarbeiten. Was für eine Rasse mochte das sein? Ein erstaunliches Volk, jedenfalls – sie flogen in primitiven Raumschiffen, und doch hatten sie eines der größten Probleme der galaktischen Geschichte gelöst, ein Problem, an dem die Galaktiker Millionen Jahre gearbeitet hatten.
Roymer beunruhigte diese Erkenntnis. »Sehr geschickt«, fuhr Trian fort. »Sie verändern mit dieser Anlage die subjektive Zeit, die sie für ihre Reisen benötigen. Ihr Raumschiff ist nicht sehr schnell. Ohne dieses – ›Gefrieren‹ – würde die Reise einen Großteil ihres Lebens beanspruchen.« »Können Sie den Bewußtseinstyp klassifizieren?« fragte Roymer besorgt. Trian überlegte eine Weile. »Ja«, sagte er schließlich, »obwohl es ein sehr ungewöhnlicher Typ ist. Ich bin noch nie auf etwas Derartiges gestoßen. Intelligenz vier, würde ich sagen, zumindest nach der allgemeinen Klassifizierung. Aber bei genauerer Betrachtung könnte es auch Klasse neun sein.« Roymer fuhr auf. »Neun?!« »Ja. Wie gesagt – sehr ungewöhnlich.« Roymers Sorge wuchs. Er wandte sich abrupt um und begann in der Kabine auf und ab zu gehen. Dann verließ er rasch den Raum und ging ins Archiv hinüber. Er blieb lange dort, während Goladan unruhig auf und ab ging und Trian fortfuhr, dem Bewußtsein der Fremden quer durch den Raum Informationen zu entziehen. Endlich kam Roymer zurück. »Was tun sie jetzt?« »Sie nähern sich dem zweiten Planeten. Sie prüfen, ob sie dort eine Kolonie errichten können.« Roymer erteilte der Navigation bedächtig ein paar Anweisungen. Das Streifenschiff setzte sich in Bewegung und raste auf den zweiten Planeten zu. Es gab einen einzigen, gewaltigen Ozean, der eine ganze Hemisphäre der neuen Welt bedeckte. Der Rest war Dschungel, jung, feucht und grün und bar von jeglicher Art intelligenten Lebens, aber überquellend vor merkwürdigen grünen und orangefarbenen Gewächsen. Sie umkreisten den Planeten in einer Höhe von etwa tausend Metern, aber sie
gewahrten kein einziges lebendes Geschöpf. Keinen Vogel und auch keinen Hasen – oder deren Äquivalente –, tatsächlich gar nichts, was nach einem Tier aussah. Und so starrten sie gleichermaßen fasziniert wie glücklich durch die Luken. »Wir haben es geschafft«, murmelte Jansen wieder. »Was meinst du«, fragte Cohn geistesabwesend. »Wie sollen wir ihn nennen? Neue Erde? Utopia?« Gemeinsam beobachteten sie, wie das Gelände unter ihnen dahinglitt. »Überhaupt keine Bewohner. Er gehört uns.« Und nach einer Weile meinte Jansen: »Neue Erde. Das ist ein guter Name.« Cohn musterte den Boden nachdenklich. »Fällt dir nicht auf, daß diese Bergketten alle irgendwie… rund aussehen? Beinahe so wie auf dem Mond, aber erodiert und überwuchert. Perfekte Kreise, fast alle.« Jansen löste sich widerwillig aus seinen Tagträumen von neuen Kolonien und versuchte, das Bild unter sich nüchtern zu betrachten. Ja, stellte er mit leiser Überraschung fest – sie waren rund wie Mondkrater. »Eigenartig«, murmelte Cohn. »Ich glaube nicht, daß so etwas natürlichen Ursprungs ist. Das kann nicht sein. Meteore sind in dieser dichten Lufthülle auch kaum zu erwarten. Was in…« »Da!« Jansen fuhr zusammen. »Ein kreisrunder See!« In der Nähe des Nordpols entdeckten sie einen See, der einen perfekten Kreis darstellte. Es gab nicht eine Unregelmäßigkeit an seinem Rand, keinen Bruch, abgesehen von einem schmalen Fluß, der sich von Norden her hinein ergoß. »Das ist nicht natürlich«, sagte Cohn bestimmt. »Das hat jemand gebaut.« Sie bewegten sich nun über die Nachtseite des Planeten, und Cohn schwenkte das Schiff herum. Das Gefühl der Freude war noch so stark in ihnen, daß sie sich eine Zeitlang daran
festklammerten, aber die immer öfter auftauchenden Kreise, willkürlich wie die stummen Zeugen mächtiger Einschläge über die Oberfläche des Planeten verteilt, beunruhigten sie. Schließlich entdeckten sie einen besonderen Krater, ein gewaltiges, kahles Loch inmitten einer weiten, roten Wüste. Der Anblick erinnerte Jansen an etwas. »Ein Krieg! Hier hat ein Krieg stattgefunden. Das sieht aus wie der Explosionskrater einer Fusionsbombe!« Cohn starrte hinaus und hob die Brauen. »Ich fürchte, du hast recht.« »Es ist ein Bombenkrater. Siehst du den Wall und…« Plötzlich stieg ein furchtbarer Gedanke in Jansen auf. Radioaktivität. Ob es hier Radioaktivität gab? Während Cohn das Schiff in niedrigem Flug über die Wüste steuerte, versuchte er Jansen zu beruhigen. »Es kann nicht viel sein. Sieh dir die Pflanzen an. Überall Dschungel. Beruhige dich.« »Aber es gibt auf dem ganzen Planeten nicht ein einziges lebendes Wesen! Es gibt nur diese Erklärung! Krieg! Ein Krieg, der ihrer Kontrolle entglitten ist. Die Radioaktivität hat alles Leben vernichtet. Erinnere dich – beinahe wäre es auf der Erde genauso gekommen.« Das Schiff glitt über die flache Leere der Wüste, und plötzlich begann der Geigerzähler wie wild auszuschlagen. »Da ist es«, begann Jansen, als wäre damit alles erklärt. »Immer noch aktiv. Vielleicht ist es noch gar nicht lange her.« »Oder ein paar Millionen Jahre. Woher sollen wir das wissen?« »Anscheinend sind die meisten Landstriche ungefährlich. Aber wir müssen alles genau untersuchen, bevor wir landen.« Cohn pfiff durch die Zähne. »Glaubst du, daß es wirklich keine Lebewesen mehr gibt? Ich meine, keine Insekten, nicht
einmal mehr Bakterien oder Viren? Eine völlig reine, neue Welt?« Sein Blick hing wie gebannt am Bildschirm. Sie begannen mit den Vorbereitungen für den Landeanflug. In wenigen Augenblicken würden sie das Schiff verlassen und in den ersten Tag auf einer neuen Welt hinaustreten. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl hatte die beiden Männer ergriffen. Sie waren Erdmenschen, für immer befreit von der drangvollen Enge des Sonnensystems. Erdmenschen, die zu den Sternen hinaufgeflogen waren und auf der ersten Welt ihres zukünftigen Reiches landeten. Cohn konnte sich nicht mehr beherrschen. »Was glaubst du?« fragte er begeistert. »Müssen wir eine Flagge aufstellen? Oder wie nehmen wir diese Welt in Besitz?« »Indem wir einfach landen, Mann!« rief Jansen. Cohn lachte leise in sich hinein. »O gute neue Welt«, sagte er, »die keine Menschen hat.«
»Aber warum müssen wir Kontakt mit ihnen aufnehmen?« fragte Goladan ungeduldig. »Reicht es denn nicht, wenn wir…« »Das Gesetz verlangt, daß wir zunächst Kontakt aufnehmen, bevor wir irgend etwas unternehmen«, unterbrach ihn Roymer. »Es wäre ein barbarischer Akt.« Goladan schwieg und starrte brütend vor sich hin. Das Patrouillenschiff hing über der Nachtseite und verfolgte das Schiff der Fremden mit seinen Spürgeräten. Der Fremde wollte auf der Tagseite landen. Trian kam mit den anderen Mitgliedern der Kontaktmannschaft nach vorne. »Die Fremden sind gelandet.«
»Lassen wir ihnen etwas Zeit«, entschied Roymer. »Glauben Sie, daß die Übertragung Schwierigkeiten machen wird, Trian?« »Nein. Die Unterhaltung wird nicht schwierig sein. Obwohl ihre wirre Art zu denken ihre Reaktionen ein wenig obskur erscheinen läßt. Aber ich glaube kaum, daß es ernstzunehmende Probleme geben wird.« »Gut. Sie bleiben also hier und übermitteln die Botschaft.« »Ja.« Das Schiff jagte zum Nordpol und schwang in einer weiten Schleife herum, umkreiste den Äquator und die Stelle, an der das Schiff der Fremden gelandet war. Roymer landete das Patrouillenschiff lautlos etwa zwei Kilometer östlich der Fremden in einem Gehölz. Die Galaktiker blieben noch eine Weile in ihrem Schiff, während Trian nach weiteren Informationen suchte. Als die Kontaktmannschaft schließlich ausstieg, bildeten Roymer und Goladan die Spitze. Der Rest der Mannschaft tauchte lautlos im Dschungel unter. Roymer betrachtete die Welt, die sie umgab, während er durch den jungen, orangefarbenen Busch seinen Weg bahnte. Wie bereit zur Wiederbevölkerung, dachte er. Noch hundert Jahre, und die Strahlung wird verschwunden sein, und wir werden zurückkommen. Eine nach der anderen werden die Welten des Krieges wieder bevölkert werden. Er fühlte Trians Gedanken. »Sie nähern sich ihnen jetzt. Seien Sie vorsichtig! Sie sind hinter der nächsten Anhöhe. Ich glaube, Sie sollten warten. Die Fremden halten sich ganz dicht bei ihrem Schiff auf.« Roymer sandte ein lautloses ›Ja‹ zurück. Er gab Goladan Zeichen, sich ruhig zu verhalten und führte sie die letzte Anhöhe hinauf. Im Dschungel rechts und links von ihnen bewegte sich lautlos die Mannschaft.
Die Atmosphäre war ideal. Es gab keine Strahlung. Abgesehen von der grell orangefarbenen Färbung der Vegetation hätte dies ebensogut der Garten Eden sein können. Jansen spürte instinktiv, daß hier keine Gefahren lauerten, keine Viren, keine Krankheiten, die ihnen gefährlich werden konnten. Es drängte ihn danach, seinen Raumanzug abzustreifen, frei umherzulaufen, zu atmen – aber das war verboten. Nicht auf der ersten Fahrt. Es würde später möglich sein, nachdem alle Tests und Experimente abgeschlossen und diese Welt gründlich klassifiziert worden war. Eine der ersten Handlungen Jansens bestand jedesmal darin, den Recorder herauszuholen und diesen Planeten feierlich für die Förderation in Besitz zu nehmen. Dann blieben er und Cohn eine Weile in der Luftschleuse stehen und sahen sich diese gleichzeitig fremde und vertraut wirkende Welt an. »Später suchen wir nach Ruinen«, sagte Cohn. »Paß auf, ob sich etwas bewegt. Es ist immerhin möglich, daß noch welche von denen da sind. Wer weiß, wie sie aussehen. Möglicherweise Mutanten mit fünf Köpfen. Also sei vorsichtig.« »Sicher.« Jansen begann, Proben von Boden, Laubwerk und Luft einzusammeln. Der Humus glich dem Humus auf der Erde, es gab keinen Unterschied. Er beugte sich vor und zerrieb die weiche, feuchte Erde zwischen den Fingern. Vielleicht waren die Blumen ein wenig seltsam – wahrscheinlich mutiert –, aber die Erde war gute ehrliche Erde, und die Luft atmete sich wie zu Hause. Er richtete sich auf und starrte in das klare, offene Blau des Himmels, und wieder spürte er den fast übermächtigen Drang, seinen Helm herunterzureißen und frei zu atmen. Und während er zum Himmel hinaufschaute und hinüber zu den grün- und
orangefarbenen Hügeln, kam plötzlich, nur ein kurzes Stück entfernt, ein kleiner, alter Mann über den Hügel geschlendert. Sie standen da und starrten einander an. Roymers Gesicht war alt, es lächelte; Jansen erwiderte seinen Blick mit grenzenloser Verblüffung. Nach einer kurzen Pause erreichte Roymer, von Goladan gefolgt, die Lichtung. Jansen griff nach seiner Waffe. »Cohn!« rief er mit lauter, brüchiger Stimme. »Cohn!« Und als Cohn sich herumdrehte und wie er erstarrte, da hörte Jansen Worte in seinem Gehirn. Worte, die von dem kleinen, alten Mann kamen. »Bitte, schießen Sie nicht.« Doch die Lippen des Alten bewegten sich nicht. »Nein. Nicht schießen«, sagte Cohn schnell. »Warte!« Aber auch seine Hand lag am Hitzestrahler. Roymer lächelte. Für die Begriffe der beiden Erdenmenschen wirkte sein Gesicht unglaublich alt, weise und sanft. Er dachte: Wäre ich jetzt nicht in der Gestalt eines Menschen erschienen, sie hätten mich getötet. Er schickte seinen Gedanken zu Trian zurück. Der Bewußtseinssucher nahm ihn auf, lenkte ihn in die Gehirne der Erdenmenschen, so daß sie die Worte in der Sprache der Erde vernahmen. »Danke«, sagte er sanft. Jansen hielt die Hitzepistole weiter auf Roymers Brust gerichtet. Er starrte ihn an, ohne zu wissen, was er sagen sollte. »Bleiben Sie stehen, wo Sie sind!« Cohns Stimme war hart. Roymer blieb gehorsam stehen. Goladan hielt sich dicht hinter ihm und musterte die Erdenmenschen mit einer Mischung aus Furcht und Neugierde. Der Anblick seiner Furcht erleichterte Jansen sehr. »Wer… sind… Sie?« fragte Cohn mühsam. Zwischen den einzelnen Worten lagen hörbare Pausen.
Roymer verschränkte die Arme vor der Brust. Er lächelte noch immer. »Wenn Sie erlauben, werde ich unsere Anwesenheit erklären.« Cohn starrte ihn wortlos an. »Es wird nicht einfach sein. Dürfen wir uns setzen?« Die Sonne der neuen Welt ging unter, und sie redeten noch immer. Die meiste Zeit sprach Roymer. Die beiden Menschen von der Erde lauschten gebannt. Die Geschichte der Erde und der Menschheit schien zu verblassen, tauchte unter, während Roymer sprach. Sie hörten von großen Rassen und Welten ohne Zahl, von unzähligen Planeten, deren Regierung die Galaktische Föderation war. Die Märchen, die Legenden, die Träume von Tausenden von Jahren waren von einem Moment auf den anderen Wahrheit geworden in Gestalt eines kleinen alten Mannes, der nicht von der Erde kam. Es gab viel für sie zu lernen, mehr, als sie an einem einzigen Nachmittag bewältigen konnten. Aber es war ebenso neu und wirklich für sie, daß sie einen unbewohnten, fruchtbaren Planeten entdeckt hatten, den ersten, den der Mensch überhaupt gefunden hatte. Und sie schreckten plötzlich vor dem Gedanken zurück, daß der Planet möglicherweise das Eigentum anderer war – daß die Galaktiker alles besaßen, was es irgendwie wert war, in Besitz genommen zu werden. Der Gedanke war unerträglich. »Wie weit«, fragte Cohn, dem plötzlich ein Kloß in der Kehle saß, »erstreckt sich das Gebiet der Galaktischen Liga?« Roymers Stimme klang ruhig. »Sie erfaßt nur die zentralen Regionen der Galaxis. Es gibt Millionen von Sternen draußen am Rand, die noch nicht erforscht sind.«
Cohn entspannte sich, beugte sich leicht nach vorne. Es gab also Raum für die Menschen. »Dieser Planet hier – ist er Teil der Föderation?« »Ja«, erwiderte Roymer, und Cohn versuchte, seine Gedanken zu verbergen. Er war zornig, aber er hoffte, daß der Fremde seine Gedanken nicht so gut zu lesen verstand, wie er sie sprach. So weit gekommen zu sein, um dann… »Es gab hier einmal eine Rasse«, fuhr Roymer fort. »Eine humanoide Rasse, die vom Krieg fast völlig ausgelöscht wurde. Dieser Planet ist sehr lange unbewohnbar gewesen. Einige seiner Bewohner, die zum Zeitpunkt des Angriffs im Weltraum waren, sind verschont geblieben. Die Föderation hat sie anderenorts untergebracht. Wenn sich der Planet vollkommen erholt hat, wird man ihre Nachkommen hierherbringen. Es ist ihr Zuhause.« Keiner der beiden Erdenmenschen sagte etwas. »Es ist überraschend«, begann Roymer wieder, »daß Ihre Heimatwelt in der Wüste liegt. Wir nahmen nicht an, daß es dort bewohnbare Welten gibt…« »Die Wüste?« »Ja. Die Region der Galaxis, aus der Sie gekommen sind, wird von uns die Wüste genannt. Es ist ein Gebiet, in dem es so gut wie keine Planeten gibt. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu sagen, von welchem Stern Sie kommen?« Cohn fuhr zusammen. »Ich fürchte, ich kann keine Informationen in bezug auf unser Volk preisgeben.« »Wie Sie wünschen. Es tut mir leid, wenn Sie beunruhigt sind. Ich hätte nur gerne gewußt…« Roymer machte eine wegwerfende Handbewegung, um anzudeuten, daß die Information nicht wichtig war. Wir werden es später erfahren, dachte er, wenn wir ihre Karten entziffern. Das Ende der Zusammenkunft nahte. Er schickte
sich an, das zu sagen, was er sagen mußte, das, weshalb er einzig gekommen war. »Ohne Zweifel haben Sie die Sterne in der näheren Umgebung Ihrer Sonne erforscht.« Die beiden Menschen nickten. Wäre die Frage nach ihrer Heimatsonne nicht gestellt worden, sie hätten jedes Mißtrauen gegenüber diesem alten, freundlichen Mann und seinem stummen großäugigen Begleiter längst verloren. »Vielleicht möchten Sie gerne wissen«, fuhr Roymer fort, »warum dieses Gebiet eine Wüste ist.« Plötzlich waren Jansen und Cohn ganz gebannte Aufmerksamkeit. Das war es, das Ende von dreihundert Jahren des Suchens. Sie würden mit der Antwort nach Hause zurückkehren. »Vor nicht allzu langer Zeit«, begann Roymer, »etwa dreißigtausend Jahre nach Ihrer Zeitrechnung, beherrschte eine große Rasse die Wüste, eine Rasse, die man die Antha nannte. Damals war es noch keine Wüste. Die Antha regierten Hunderte von Welten. Sie waren vielleicht die größte Rasse von allen galaktischen Völkern; jedenfalls hat die Galaxis nie ein so brillantes Volk gesehen. Aber sie waren keine gute Rasse. Als sie noch jung waren, versuchten wir jahrhundertelang, sie in die Föderation einzugliedern. Sie weigerten sich, und wir übten natürlich keinen Zwang aus. Aber während die Jahre verstrichen, wuchs ihr Wissen in erstaunlichem Maße; binnen kurzer Zeit waren sie jeder anderen Rasse in der Galaxis ebenbürtig, zumindest in technischer Hinsicht. Und dann begann eine Ära imperialistischer Expansion. Sie waren überlegen, das wußten sie, und sie waren stolz. Und so verdrängten und eroberten sie die Rassen und Welten des Gebietes, das heute als Wüste bekannt ist. Ihre Herrschaft
war tyrannisch wie nie eine zuvor in der bekannten Geschichte der Galaxis.« Die Erdmenschen verharrten regungslos, und Roymer fuhr fort. »Aber die Antha gehörten der Föderation nicht an und waren daher nicht für ihre Taten zur Verantwortung zu ziehen. Wir konnten nur zusehen, wie sie ihre Schreckensherrschaft von einer Welt zur anderen trugen. Sie waren unglaublich rücksichtslos. Als Beispiel werde ich Ihnen schildern, welches Verbrechen sie an den Apectanern begingen. Der Planet Apectus leistete den Antha nicht nur Widerstand, sondern schaffte es auch, sich ihren Angriffen mehrere Jahre lang zu widersetzen. Aber schließlich siegten die Antha doch, und als Vergeltung für den Widerstand der Apectaner führten sie das brutalste ihrer Experimente durch. Sie waren, wie gesagt, ein geniales Volk. Sie hatten mit Genen experimentiert, und sie fanden die Möglichkeit, die Gene der Apectaner zu verändern. Es waren Humanoiden wie sie, und sie führten das Experiment in großem Maßstab durch. Sie rotteten die Rasse nicht aus – ihre Rache war schlimmer. Jeder Apectaner, der seit der Antha-Invasion geboren wurde, ist mit nur einem Arm zur Welt gekommen.« Jansen hielt den Atem an. Es war schrecklich, so etwas zu hören. Aber dann drängte sich ihm eine Erinnerung auf. Cäsar hat das getan, dachte er. Er hat seinen Gegnern in Gallien die rechte Hand abschlagen lassen. Seltsamer Zufall. Jansen wurde plötzlich unruhig. Roymer schwieg einen Augenblick. »Die Nachricht vom Schicksal des apectanischen Volkes rief die Galaktiker zu den Waffen. Aber erst, als die Antha eine Welt der Föderation angriffen, griffen wir ein und handelten.
Es brach der größte Krieg in der Geschichte der Milchstraße aus. Sie werden vielleicht begreifen, was für ein großes Volk die Antha waren, wenn ich Ihnen sage, daß sie allein, ohne Hilfe, auf ihre eigenen Ressourcen angewiesen, gegen den Rest der Galaktiker kämpften und ihren Angriff fast zum Stillstand brachten. Und die schrecklichen Jahre reihten sich aneinander, in denen wir ganze Rassen und Planeten verloren – wie diesen hier, es war einer, den die Antha vernichteten –, und doch konnten wir sie nicht besiegen. Erst nach vielen Jahren, als ein Galaktiker die gefährlichste Waffe, die es je gab, entwickelte, siegten wir. Diese Erfindung versetzte uns in die Lage, die Sonnen der Antha auf große Distanz in Novae zu verwandeln. Wir vernichteten die AnthaWelten eine nach der anderen. Zum erstenmal in der Geschichte der Föderation brachten wir Tod, Tod für ein ganzes Volk. Schließlich existierten da, wo die Antha einst gewesen waren, keine bewohnbaren Welten mehr. Wir verbrannten ihre Welten und jagten sie durch den Raum. Vor dreißigtausend Jahren ging die Zivilisation der Antha unter.« Roymer war zum Schluß gekommen. Er blickte die beiden Menschen aus ernsten, müden Augen an. Cohn starrte ihn fasziniert und mit offenem Mund an. Aber Jansen lief plötzlich ein eisiger Schauer über den Rücken, ohne daß er hätte sagen können, weshalb. Die Geschichte Cäsars ging ihm nicht aus dem Sinn. Und plötzlich drängte sich ihm ein schrecklicher Verdacht auf. »Sind Sie sicher, daß Sie sie alle vernichtet haben?« »Nein. Es müssen einige entkommen sein. Es waren zu viele im Weltraum, und das All hat keine Grenzen.« »Hat man seitdem von irgendeinem von ihnen gehört?« Roymer lächelte noch immer. »Nein. Bis jetzt nicht.«
Es verblieben jetzt nur noch ein paar Sekunden. Er gab ihnen Zeit, zu verstehen. Er konnte nicht anders, er mußte es ihnen sagen, mußte ihnen sagen, daß es ihm leid tat. Er entschuldigte sich sogar. Und dann schickte er den gedanklichen Befehl hinaus. Die Antha starben schnell und schmerzlos.
Nur dreißigtausend Jahre, dachte Roymer. Dreißigtausend Jahre, und schon kehren sie zu den Sternen zurück. Sie wissen nicht mehr, was sie waren oder was sie getan haben. Sie haben wieder von vorne begonnen, die alte Geschichte ihrer Rasse ist vergessen, und in dreißigtausend Jahren haben sie den Weg wieder von seinem Anfang beschritten. Roymer schüttelte den Kopf. Staunen und so etwas wie Ehrfurcht erfüllten ihn. Das brillanteste Volk, das je gelebt hatte. Goladan kam lautlos mit den letzten Berichten heran. »Es gibt keine Karten«, meldete er. »Überhaupt keine Aufzeichnungen. Wir werden ihren Heimatstern nicht finden.« Roymer wußte nicht, ob er nun enttäuscht oder erleichtert sein sollte. Wir können sie jetzt nicht vernichten, dachte er. Nicht gleich. Vielleicht gibt es diesmal einen Weg. Vielleicht wird man sie nicht vernichten müssen, vielleicht… Er erinnerte sich an das Edikt, das Edikt des Todes. Die Antha hatten es sich selbst geschmiedet, und es war gerecht. Er begriff, daß nicht viel Hoffnung bestand. Die Berichte lagen auf seinem Schreibtisch, und er las sie mit einem gequälten Lächeln. Sie hatten wirklich keine Chance, deren Heimatwelt aufzuspüren. Sie hatten keine Karten gefunden, nur eine Serie von Kurskoordinaten, die sie nicht entziffern konnten. Selbst in diesem Stadium ihrer Zivilisation hatten die anderen bereits die Möglichkeit eingeplant, daß ihr
Schiff Fremden in die Hände fallen könnte. Und dies, obwohl sie in der Wüste lebten. Goladans Frage riß ihn aus seinen Gedanken. »Was können wir tun?« Roymer blieb stumm. Wir können warten, dachte er. Allmählich werden sie einer nach dem anderen aus der Wüste hervorkommen. Wenn sie kommen, werden wir sie erwarten. Vielleicht werden wir eines Tages einen von ihnen zurückverfolgen und ihre Welt vernichten, aber vielleicht finden wir vorher auch eine Möglichkeit, sie zu retten. Und dann, ganz plötzlich, während seine Gedanken sich noch mit dem Bericht befaßten, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag, drängte sich ihm eine dritte Möglichkeit auf. Vielleicht, dachte er ruhig, weil er ein Philosoph war, vielleicht werden sie hervorbrechen und bereits darauf vorbereitet sein, die Galaxis zu beherrschen.
William Wainer – der Beginn der Evolution
Der Mann in der purpurfarbenen Robe war zu alt und zu schwach, um noch aus eigener Kraft gehen oder aufrecht stehen zu können. Sie erwarteten ihn im Inneren eines prachtvoll ausgestatteten Raumes. Er war ein alter Mann, und sie brachten ihm viel Respekt entgegen. Trotzdem fühlte er sich unsicher. Ihre Fremdartigkeit irritierte ihn, und er sprach ständig so, als müsse er sich rechtfertigen. Der alte Mann war der letzte, der einzige, der übriggeblieben war. Er war der Letzte und der Älteste, aber das machte nichts aus. Alte Menschen sind nicht wichtig wegen ihres eigenen Wissens oder ihrer Weisheit, sondern erhalten ihre Bedeutung nur durch diejenigen, die sie gekannt haben, durch deren Erinnerungen. Der alte Mann hatte Wainer gekannt. Das war der Grund, der ihn hierher geführt hatte. Und sie, die nichtmenschlichen Wesen, saßen still da und hörten ihm zu…
»William Wainer«, begann der alte Mann, »starb vor mehr als tausend Jahren. Irgend jemand hat einmal gesagt, das Leben eines Menschen gleiche einer Meereswoge. Es steigt auf, breitet sich aus und fällt wieder in sich zusammen, und wenn diese Welle gegen den Strand spült, verändert sie das Gesicht der Welt für einen kurzen Augenblick, und trotzdem erinnert nichts an sie. Das ist die Wahrheit. Es ist nichts Besonderes, daß man Wainer vergessen hatte – schon zu seiner eigenen Zeit galt er nichts. Er hat einfach vor sich hingelebt, und die gewaltige Kraft, die in ihm schlummerte und die er der Welt
bringen sollte, war niemals erkannt worden. Aber die Geschichte seines Lebens ist wahrscheinlich die großartigste, die ich jemals gehört habe. Er war der Beginn von euch. Ich wünschte nur, ich hätte es damals schon gewußt. Niemand hat sich je um Wainer gekümmert, von seiner frühesten Kindheit an. Sein Vater war einer der letzten Priester gewesen. Kurz vor Wainers Geburt im Jahre 2430 verabschiedete die Regierung eines unserer bedeutendsten Gesetze, das ›Wir-tragen-keine-Grenzen-in-den-Raumhinaus‹-Edikt, und jede Art von religiösen Missionaren wurde von den Sternen verbannt. Wainers Vater erholte sich niemals von diesem Schlag. Seine Welt brach zusammen, und am Schluß glaubte er wohl, die Erde sei nun endgültig in die Hand des Antichrist gefallen. Er wurde zu einem mürrischen alten Mann, der sich wenig um seinen Jungen kümmerte. Wainer wuchs allein auf. Wie jeder andere auch, wurde er mit fünf Jahren der Operation unterzogen, aber es stellte sich heraus, daß er untauglich war. Natürlich kümmerte sich auch darum niemand. Seine Mutter sagte im nachhinein, daß sie sogar froh darüber gewesen war, seinen Kopf nicht durch den Aufsatz entstellt zu sehen. Natürlich wußte Wainer, daß er weder Arzt noch Pilot oder Techniker werden konnte, aber er war damals erst fünf Jahre alt, und einem Kind in diesem Alter erscheint keine Entscheidung endgültig. Er behielt diesen jugendlichen Optimismus sein ganzes Leben lang, und er brauchte ihn auch. Ihr müßt verstehen, daß die Welt, in der Wainer aufwuchs, eine gute, eine anständige Welt war. Vielleicht die beste, die es je gegeben hatte. (Einige von ›ihnen‹ lächelten verstohlen. Der alte Mann war verlegen.)
Ihr müßt versuchen, das zu verstehen. Wir alle glaubten an diese Welt, auch ich. Ich werde es so gut erklären, wie ich kann. Vielleicht versteht ihr dann besser. Als man herausfand – das war lange vor Wainers Geburt –, daß ein Elektronengehirn mit einem lebenden menschlichen Hirn gekoppelt werden konnte, schien dies die größte Entdeckung aller Zeiten zu sein. Heute kann sich kaum noch jemand vorstellen, was das Gehirn eines Menschen vorher gewesen war. Gott steh ihnen bei – diese armen Kreaturen lebten ihr ganzes Leben, ohne sich selbst kontrollieren zu können. Gefangen in sich selbst, hilflos ausgeliefert und ständig überschüttet mit Worten, Träumen, unzusammenhängenden Erinnerungsfetzen. Eine schreckliche Art von Leben. Die ›Clerks‹ veränderten alles. Sie befreiten die Menschheit von Verwirrung und Chaos: Sie machten sie logisch. Man brauchte sein Gedächtnis nicht mehr länger mit einer Unzahl von Dingen zu belasten, weil die Gehirne jede beliebige Menge von Informationen speichern konnten. Sie vergaßen nichts, machten selten Fehler und arbeiteten mit übermenschlicher Präzision. Ein Mann mit einem Gehirn – einem Clerk, wie sie nach ihrem Erfinder LeClerq genannt wurden – wußte alles, tatsächlich alles, was er in seinem Beruf wissen mußte. Und wenn irgendwo Neues entdeckt wurde, neues Wissen auftauchte, war es sofort und für jeden verfügbar. Die Menschheit begann klarer zu denken als je zuvor. Eine Zeitlang schien es, als ob wir auf dem Weg zu etwas Gottähnlichem gewesen wären. Schwer war es – natürlich besonders am Anfang – nur für die Untauglichen. Auf je tausend Personen kam jemand wie Wainer, jemand, dessen Gehirn den Clerk nicht annahm, für den er nicht mehr bedeutete als ein lästiger Hut. Selbst nach hundert Jahren
Forschungsarbeit wußten die Wissenschaftler nicht, warum das so war. Viele hervorragende Geister waren ruiniert worden, weil man sie operiert hatte, ihre Gedächtnissektoren entfernt und ihre Hirne mit einem Clerk gekoppelt hatte, auf den sie nicht reagierten. Dann ging man dazu über, einen Test einzuführen. Doch das Problem selbst war nicht zu lösen. Jahr für Jahr wurden es mehr Untaugliche. Sie sonderten sich ab, und schließlich gab es zwei Gruppen – die Untauglichen und die, die einen Clerk besaßen, die Rashes; ein Slangausdruck für ›Rationale‹. Es war das Zeitalter der Rashes und der Untauglichen. Aber die Untauglichen hatten keine Chancen, sich in einer Welt, deren Technik von Rashes ersonnen und beherrscht wurde, zu behaupten. Sie besaßen kein ausreichendes Erinnerungsvermögen, konnten keine komplizierten Berechnungen im Kopf durchführen wie die Rashes. Selbst der schlechteste Rash-Arzt wußte mehr als der begabteste Untaugliche, der schlechteste Chemiker mehr über Chemie, und Berufe wie Raumpilot waren von vornherein tabu für einen Untauglichen. Das Ergebnis war, daß die verschiedensten Memotechniken eine nie gekannte Blüte erlebten. Man lehrte den Untauglichen, auf natürliche Art mehr Wissen zu speichern, als dies vorher überhaupt für möglich gehalten wurde. Als Wainer erwachsen war, war sein Geist disziplinierter, sein Gedächtnis exakter als das jedes Menschen, der ein Jahrhundert vor ihm gelebt hatte. Aber er blieb ein Untauglicher. Es gab nicht sehr viel, was er auf seiner Welt tun konnte. Ich glaube, er begann es zu begreifen, als er ungefähr fünfzehn war. Er hatte immer hinaus gewollt in den Raum, und er war mehr als enttäuscht, als ihm klar wurde, daß selbst der einfachste Job auf einem Raumschiff seine Fähigkeiten bei weitem überstieg. Er erzählte es mir irgendwann einmal,
später, als er darüber reden konnte. Seither sind tausend Jahre vergangen, und ich habe bis heute nicht aufgehört zu bedauern, daß sie ihn nicht gehen ließen, als noch Zeit war, sondern erst in seinen letzten Tagen. Sie hätten es gekonnt. Es wäre eine Kleinigkeit für sie gewesen. Ich begegnete Wainer, als er achtzehn Jahre alt war. Zu dieser Zeit hatte er noch nicht begonnen, zu arbeiten. Wir trafen uns in einem dieser Musik-Clubs, die es damals in New York gab, einem verräucherten, hoffnungslos überfüllten, winzigen Raum, in dem sich Untaugliche trafen, wo sie unter sich waren, ihre eigene Luft atmen, abseits der (wie sie sie nannten) ›Klumpenköpfe‹. Ich erinnere mich sehr deutlich an Wainer. Er war ein beeindruckender Mann, größer selbst als ihr, mit riesigen Armen und Händen und einer gigantischen, ungezügelten Fülle braunen Haares. Allein seine Größe ließ ihn selbst unter uns zu einer Art Außenseiter werden, aber ich glaube, das hat ihm niemals etwas ausgemacht. Obwohl er sehr unbeholfen war, lachte niemand über ihn. Ich weiß nicht, wie ich ihn genau beschreiben soll – außer, daß er sehr groß war, beinahe gigantisch – und daß er eine unglaubliche Stärke ausstrahlte. Er sprach nicht viel; meistens saß er ruhig mit uns zusammen und trank, lauschte der Musik oder hörte unseren Gesprächen zu und lächelte von Zeit zu Zeit. Er war ein sehr sympathischer Mann. Ich glaube, er fühlte sich zu mir hingezogen, weil ich ein erfolgreicher Untauglicher war – zu dieser Zeit war ich gerade auf dem Weg, ein anerkannter Chirurg zu werden. Ich dachte damals ernsthaft, daß er mich beneiden würde. Jedenfalls unterhielt er sich immer gerne mit mir. Anfangs versuchte ich ihn zu einer Arbeit anzuleiten, aber er hat es niemals wirklich gewollt. Er hatte nur seine Kunst, versteht ihr, und auch sie gefiel ihm nie wirklich.
(Der alte Mann spürte so etwas wie Überraschung unter ›ihnen‹. Er nickte.) Es stimmt schon. Er wollte niemals ein Künstler werden. Er verspürte einen starken Drang, etwas zu tun, wirklich zu tun. Er wollte kein einsamer Mann werden. Aber die Rashes ließen ihm keine Wahl. Sie selbst hatten sehr wenig Talent. Ich weiß nicht, warum das so war. Vielleicht war dies der Preis, den sie für ihre präzise Art zu denken zahlen mußten, vielleicht waren wir Untauglichen auch untauglich, weil wir Talent hatten. Das Ergebnis wäre vorausberechenbar gewesen. Die Untauglichen übernahmen die Künste, jedes Gebiet, auf dem Talent vonnöten war; ich selbst hatte sichere Hände und wurde Chirurg, ein sehr guter Chirurg, obwohl ich niemals ohne einen Rash an meiner Seite operiert habe. Die Rashes und die Untauglichen ergänzten sich und machten die Welt perfekt, schufen ein perfekt funktionierendes Ganzes. Und es gab so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit: Die Untauglichen waren weniger perfekt, weniger präzise, aber vielleicht übten sie gerade deshalb eine größere Anziehungskraft auf Frauen aus. Untaugliche Männer hatten immer eine beträchtliche Anzahl von Frauen um sich, und untaugliche Frauen waren bei den Männern sehr beliebt. Aber letzten Endes verfügten die Rashes doch wohl über alles, was wirklich zählt. Nun gut, es gab also nur eine beschränkte Art von Arbeiten, die ein Untauglicher verrichten konnte. Aber nichts davon zog Wainer an. Er versuchte sich in fast allen Kunstrichtungen, bevor er sich endgültig für die Musik entschied, etwas, das für ihn etwas Weites, Elementares zu bedeuten schien; er konnte daraus etwas formen, etwas schaffen. Er fing an zu lernen, aber er leistete wenig wirkliche Arbeit. In den ersten Jahren konnte man ihn bei fast jedem Musikfestival antreffen oder – wenn er nicht bei irgendeiner Veranstaltung war – unten am Fluß. Er
wanderte oft dort umher, die gigantischen Hände zu Fäusten geballt, begierig, irgend etwas zu tun, und einen stets fragenden Ausdruck auf dem Gesicht, fragend, warum er untauglich war. Das erste, was er schrieb, war die Pavanne, ein Stück, das nach dem Ende seiner ersten großen Liebe entstand. Ich kann mich nicht mehr an das Mädchen erinnern, aber die Musik hat die tausend Jahre überlebt. Wahrscheinlich verblüfft es euch, aber die Pavanne war ein kommerzieller Erfolg. Wainer überraschte es ebenfalls. Sein Publikum waren die Rashes mit ihrem logischen und rationalen Geschmack. Die meisten von ihnen mochten Bach und Mozart, Beethoven und Green, aber nicht etwas Emotionales und Obskures. Die Pavanne war ein Erfolg, weil sie von der Liebe handelte, wundervoll warm und freundlich und offen. Wainer war ein solcher Erfolg nie mehr beschieden. Das war auch die einzige Zeit, daß er über Geld verfügte. Er bekam die regelmäßige Unterstützung und darüber hinaus noch eine hübsche Summe, aber es reichte trotzdem nicht für eine Reise in den Raum. Er vertrank alles. Ich glaube, für kurze Zeit war er glücklich. Er kehrte in die Clubs zurück, und man sah ihn nicht mehr am Strand. Aber er arbeitete nicht mehr. Kurz darauf verliebte er sich erneut. Diesmal in seine eigene Mutter. Die Langlebigkeit war noch relativ neu; niemand hatte daran gedacht, daß die Männer heranwachsen würden, während ihre Mütter jung blieben, jung und frisch wie Schulmädchen. Und ein Mann steht keiner Frau so nahe wie seiner eigenen Mutter. Es gab sehr viele, die sich auf diese Art verliebten, und Wainer war einer von ihnen. Seine Mutter bemerkte nicht einmal etwas davon, aber für ihn muß es die Hölle gewesen sein. Es dauerte lange, bis er es überwand, und noch länger, bis er darüber
sprechen konnte. Er war dreißig, bevor er wieder anfing, Musik zu komponieren. Es folgte eine Reihe von unbedeutenderen Werken, und dann schuf er die erste Symphonie. Jetzt, mit dem Abstand von Jahrhunderten, erscheint es unverständlich, daß sie eine solche Kontroverse hervorrief. Die Rashes verrissen sie einmütig, aber die Untauglichen hielten sie fast ebenso einmütig für ein geniales Meisterwerk. Ich für meinen Teil begann, als ich sie hörte, zum erstenmal zu spüren, daß Wainer ein bedeutender Mann war. Wainer machte etwas Geld mit seiner Symphonie, aber das Ergebnis war, daß er nun ein weiteres Jahr nicht arbeitete. Einige der Motive aus der ersten Symphonie tauchten in allen von Wainers späteren Werken wieder auf; etwas Hungriges, Unfertiges, etwas von unglaublicher Kraft. Ich glaube, er wußte es. Er wußte, daß alles, was er schreiben würde, der ersten Symphonie gleichen mußte, und er schreckte wohl davor zurück, alles noch einmal durchmachen zu müssen. Man sah ihn jetzt wieder häufig an den Stränden. Er hatte etwas, was man in diesen Tagen nur noch selten antraf – eine Vorliebe für das Meer. Vielleicht war es sein Ersatz für den Raum, der ihm verschlossen war. Sein nächstes Werk war ein wildes, aufwühlendes, unbeherrschtes Stück; die Wassermusik. Ich weiß, daß er es von all seinen Werken am meisten liebte, mit Ausnahme vielleicht der zehnten Symphonie. Aber es wurde kein Erfolg. Die einzigen, welche der Wassermusik Aufmerksamkeit zollten, waren die Untauglichen. Und die zählten nicht für ihn. Wäre Wainer ein wirklich begnadeter Komponist gewesen, hätte er weitergemacht, ganz gleich, ob jemand seine Werke beachtete oder nicht. Aber er war kein Künstler, nicht wirklich. Seine Musik bedeutete ihm nichts. Er hatte das Gefühl, ein Fremder zu sein, jemand, der, obwohl auf der Erde geboren, in
den Raum hinausgehörte; er war jemand, der einen beinahe unerträglichen Drang verspürte, etwas zu tun, etwas, das er sich selbst nicht erklären konnte, etwas Fremdes, über das er sich das Hirn zermarterte und für das er doch keine Erklärung fand. Als ich ihn wieder traf, war er bereits vierzig. Ich kam vom Altair zurück, und er sah aus – ich entleihe mir das Zitat – wie ein Mann aus einem Land, in dem niemand lebt. Er hatte keine Musik mehr geschrieben und lebte jetzt nur noch von der Sozialfürsorge. Er hatte eine Wohnung, Kleidung und Essen, aber das wenige Geld, das ihm blieb, vertrank er. Selbst die Untauglichen mieden ihn. Ich tat, was ich für ihn tun konnte, aber es war nicht viel. Meistens hielt ich ihn betrunken. Zu dieser Zeit erzählte er mir zum erstenmal von seiner Sehnsucht nach dem freien Raum. Ich erinnere mich noch gut an seine Worte: Ich werde irgendwann in den Raum hinausgehen. Es ist beinahe so, als ob ich dort geboren wäre. Kurz danach begann der Husten. Aber er trat selten auf und schien nichts zu bedeuten. Es gab schon lange keine wirklichen Krankheiten mehr; weder er noch ich dachten uns etwas dabei, außer daß er sich ein paar Pillen holte und sie nahm. Für lange Zeit – wenigstens dafür müssen wir dankbar sein – halfen sie. Und so vergingen die Jahre. Als er zweiundvierzig war, traf er das Mädchen. Es hieß Lila, eine Rash, Memotechnikerin und Lehrerin. Ich erinnere mich nur noch an ihre Augen, tiefbraune, freundliche Augen in einem warmen Gesicht. Sie war – mit Ausnahme seiner Mutter – die einzige Frau, die Wainer jemals wirklich geliebt hat. Und er beschloß, ein Kind mit ihr zu haben. Sie gebar ihm ein Kind, aber obwohl er sehr glücklich war, verlor er jedes Interesse an ihm, als sich herausstellte, daß es ein Rash war. Er war um die Fünfzig, und der Zusammenbruch begann sich bereits abzuzeichnen. Er schrieb viel in dieser Zeit, alle
Symphonien von der zweiten bis zur neunten, aber der Zustand seiner Lungen verschlimmerte sich. Alles, was er schrieb, war kommerziell. Es füllte ihn nicht aus, und ich weiß nicht, was er mit seinen anderen Fähigkeiten anfing. Ich kann ihn fast vor mir sehen, diesen hageren, nutzlosen Mann, seine muskulösen Hände, die den Stift umklammern, seine kräftigen, langen Beine, die er immer unter die Kante des Schreibpultes klemmte… Zehn Jahre lang sahen wir uns nicht. Er verließ – wahrscheinlich zum erstenmal in seinem Leben – New York und begann ins Landesinnere zu wandern. Ich hörte gelegentlich von ihm, und in einem seiner Briefe erwähnte er zum erstenmal wieder seine Schmerzen. Ich weiß nicht, was er in diesen Jahren tat oder wovon er lebte. Vielleicht ging er in die Wälder und arbeitete dort, vielleicht wanderte er auch nur ziellos umher. Er war wohl zu dieser Zeit schon nicht mehr ganz normal, und er wurde es auch nie wieder. Irgendwie erinnerte er mich an eine Maschine, die zu lange nicht mehr gelaufen war – die Zahnräder waren verrostet und brüchig. (Der alte Mann hielt einen Moment erschöpft inne. Tränen rannen über sein Gesicht. Keiner von ›ihnen‹ rührte sich. Nach einer Weile fuhr er fort.) Am Ende dieser zehn Jahre schickte er mir ein Päckchen. Es enthielt einen Brief und das Manuskript seiner ›Raumsturmouvertüre‹. Er wollte, daß ich das Werk registrieren und mir die Unterstützung auszahlen ließ, und er bat mich um den ersten und einzigen Gefallen, um den er mich je ersucht hatte – daß ich das Geld für ihn annahm, weil er in den Raum gehen wolle. Einige Wochen später kehrte er zu Fuß zurück. Ich hatte das Geld bekommen, und es war genug. Er brachte Lila mit und buchte den Flug. Soweit ich weiß, wollte er nur bis zum Alpha Centauri.
Aber es war zu spät. Sie untersuchten ihn, wie sie es schon vor langer Zeit hätten tun sollen. Vielleicht hätten sie es getan, wenn er sie je darum gebeten hätte. Aber es machte keinen Unterschied mehr. Sie untersuchten ihn, und sie fanden heraus, was mit seinen Lungen los war. Zuerst weigerte ich mich, es zu glauben. Es gab keine Krankheiten mehr. Die Menschen wurden einfach nicht mehr krank und starben. Die Leute starben einfach nicht! Jedenfalls dachte ich das. Aber ich war nur ein Chirurg, kein Arzt. Kein Rash hatte mir je zuvor berichtet, daß es noch immer Krankheit und Tod gab. Ich hörte zum erstenmal von Wainer selbst davon. Seine Lungen verkümmerten. Sie starben einfach ab. Niemand wußte warum, und niemand konnte es aufhalten. Sicher, er konnte für eine Zeit ohne Lungen am Leben erhalten werden, für eine lange Zeit sogar. Ich schlug eine Transplantation vor. Wir hätten einen menschlichen Spender gebraucht, aber es waren nur sehr wenige verfügbar. Menschliches Lungengewebe konnte noch immer nicht künstlich gezüchtet werden, und im Zeitalter der Langlebigkeit waren nur wenige Organe verfügbar. Natürlich waren diese wenigen Organspender für wirklich wichtige Leute reserviert. Und Wainer war nicht wichtig. Lila, ich und viele andere Untaugliche erboten sich freiwillig, einen Lungenflügel zu spenden. Eine Zeitlang hegten wir wieder Hoffnung. Erst als ich selbst Wainers Lungen sah, wußte ich, daß es keine Chance mehr gab. So viel war einfach anders, so viel in seinem Inneren durcheinander und fremdartig, daß ich kaum verstand, wie er überhaupt noch am Leben sein konnte. Er war nicht der einzige Fall dieser Art. Und man hatte noch keinem helfen können.
Wainer ging nicht in den Raum. Statt dessen kehrte er in seine Wohnung zurück und wartete, wartete, während sich die kalte Welt um ihn herum weiterentwickelte, während die Städte und ihre Bewohner wuchsen und in irgendeinem anonymen Büro ein Dokument vorbereitet wurde, das die Geburt eines Kindes erlaubte, sobald Wainer tot war. Ich weiß nicht, was er gedacht hat, dieser große, einsame Mann, ich weiß nicht, was er fühlte, wenn er an seinem Fenster saß und die Welt dort draußen beobachtete, wenn er nachts erwachte und zu den Sternen aufsah, wenn er sich betrank oder die kalte Morgenluft atmete. Er hatte ein Leben, ein einziges, wie jeder andere Mensch auch, ein einziges Leben, das er auf der Erde verbracht hatte und das nun im Nichts enden würde. Ein Stück Einsamkeit und Schmerzen und Leere. Er hatte nichts von dem erreicht, was er hatte tun wollen, und nun würde er, so grundlos wie er gelebt hatte, grundlos sterben, einsam, leer und ungebraucht. Und wieder kehrte er zu den Stränden zurück. Sein Aussehen veränderte sich erschreckend. Die Leute wußten, was geschehen war. Sie starrten ihn an, begafften das Wunder eines Menschen, der krank war, starb. Deshalb floh er, kehrte zu den Stränden und ihrer Einsamkeit zurück und wartete auf den Tod. Zuletzt sagten sie es mir, weil ich Wainer kannte. Und weil sie ihn brauchten. Sie zögerten, es mir zu sagen, aber als ich die Wahrheit wußte, eilte ich sofort zu ihm und erzählte es ihm. Im ersten Moment hörte er nicht zu, und ich mußte es mehrmals wiederholen. Er stand schweratmend da, der Sonne zugewandt, und blickte über die behäbig ausrollende See. Die Rashes hatten mir folgendes berichtet: Die Verkümmerung der Lungen war nicht alles, was geschah. Und er war nicht der einzige, und es befiel nur Untaugliche.
Zuerst hatte man geglaubt, es sei eine Krankheit, aber das stimmte nicht. Es war Evolution. Die Rashes hatten jahrzehntelang versucht, den Grund für das Vorhandensein der Untauglichen herauszufinden, und sie fanden ihn heraus. Aber sie hielten das Ergebnis geheim. Es gab eine Abweichung in den Gehirnen der Untauglichen, irgendeinen simplen, aber unüberwindlichen Unterschied zu den Gehirnen der Rashes. Das gleiche galt für ihre Lungen und auch für andere Körperteile. Aber es war keine Krankheit. Es war Evolution. Ich erzählte es Wainer, und während ich sprach, begann sich ein Ausdruck von Frieden auf seinen zerfurchten Zügen auszubreiten. Es war die Natur selbst, das Gesetz des Lebens: Wachsen, sich ausbreiten, anpassen. Die ersten Zellen waren im Meer entstanden, hatten dann das Land, später die Luft erobert. Nun war die letzte Hürde zu nehmen. Jetzt, jetzt endlich, wußten wir, was Wainer war, er und die anderen Untauglichen. Ich glaube, es bedeutete mehr für ihn, als ich jemals begreifen werde. Er war ein Bindeglied, unvollständig und unfertig – aber ein Bindeglied. Nach allem, was er durchgemacht hatte, war seinem Leben doch noch ein Sinn geschenkt worden. Er war zu einem Wesen mit einer Heimat geworden. Er war ein Teil des Universums, mehr als jeder andere zuvor Teil jener unendlichen Welt dort draußen, jener Welt, die nur ihr verstehen könnt. Er war ein Anfang, eine Grundlage. All die Jahre waren nicht verschwendet. Der Schmerz in seinen Lungen wurde zu Schall und Rauch. Wainer sah mich an, und ich habe diesen Blick nie mehr vergessen. Er war ein Mann, der seinen Frieden gefunden hatte. (Weil ›sie‹ mehr wußten als der alte Mann je hatte wissen können, lauschten ›sie‹ schweigend seinen Worten. Der alte Mann war müde geworden und schloß die Augen, während
›sie‹ – nicht atmend, unsterblich, telepathisch und, mehr noch – die unbegreifliche nächste Stufe der menschlichen Evolution – zuhörten und verstanden.) Er lebte noch sechs Monate. Lange genug, um an den Experimenten teilzunehmen, welche die Rash für ihn ersonnen hatten, und lange genug, um die zehnte Symphonie zu schreiben. Nicht einmal die Rashes konnten seine letzte Arbeit ignorieren. Es war Wainers Abschiedsgruß, eine sublimierte, triumphierende Vision der Hoffnung, für die Zukunft der Menschheit geboren und mehr als Musik: Es war eine gigantisch komplexe Darstellung des Universums. Es war Wainers Seele. Er lebte nicht mehr lange genug, um sie zu hören, um zu erleben, daß er berühmt wurde. Es war wohl auch nicht mehr wichtig für ihn. Wir hätten ihn noch eine Weile am Leben erhalten können, aber obwohl ich mich für ihn und seine Frau einsetzte, obwohl ich alles in meiner Macht Stehende tat, spürte er, daß sein Leben zu Ende ging, daß sein Ende kurz bevorstand. Er ging doch noch in den Raum hinaus, in die süße, schwarze Leere, die Heimat zwischen den Sternen, bewegte sich dem einzigen großen Augenblick entgegen, den er jemals hatte. Die Rashes wollten untersuchen, wie seine Lungen in einer außerirdischen Atmosphäre arbeiteten. Nicht in einem Laboratorium – Wainer weigerte sich –, aber unter einer fremden Sonne, auf einer fremden Welt. Er wanderte auf einem Dutzend vergifteter Planeten, öffnete seinen Helm, atmete, lebte. Er lebte. Er lebte in Methan und Kohlendioxyd, in Nitrogen und Propan. Er lebte eine unglaublich lange Zeit ohne Luft, lebte, wie er nie zuvor gelebt hatte, voller Wunder, voller Aufregung.
Und dann kam die Welt mit der zersetzenden Atmosphäre. Sie brachte ihn um. Aber Wainer lächelte noch immer, hielt sich aufrecht und lächelte noch immer demütig und wartete. Und als niemand kam, um seinen Helm zu schließen, starb er.«
Eine lange Zeit herrschte Stille. Sie sahen ihn mit tiefem Mitleid an, einem Mitleid, zu dem seine eigene Rasse niemals fähig gewesen wäre. Einer von ihnen erhob sich und sprach. »Und nun bist du der letzte deiner Art, so allein, wie Wainer damals war. Wir fühlen mit dir.« Es war keine Bitterkeit in der Stimme des alten Mannes. »Das braucht ihr nicht. Wainer war zufrieden damit, zu sterben, weil er wußte, daß er das Bindeglied zwischen uns und euch war. Weder er noch ihr würdet existieren, wenn es uns nicht gegeben hätte, unseren Platz im endlosen Fluß der Geschichte. Wir waren Wainers Eltern und eure Großeltern. Und ich bin stolz auf die Kinder der Menschheit.«
Groß waren die Antha, so las man im Buch der Geschichte, größer als jedes andere galaktische Volk, und sie waren brillant und gerecht, und ihre Regierungszeit währte lang. Sie waren großartig und stolz – selbst in ihrer Art, zu sterben. Vorwort zu: Loab – Geschichte der Meisterrasse
Wahltag im Jahre 2066
Professor Larkin hatte den Fluß am frühen Nachmittag in Richtung Washington überschritten; etwas, was er an jedem Wahltag tat, und nun saß er schon eine ganze Zeitlang im Wahllokal. Es wurde immer noch so genannt, selbst jetzt, im Jahre 2066 a. D. obwohl das, was darin vorging, nichts mehr mit den Wahlen gemein hatte, wie sie in der frühen amerikanischen Geschichte abgehalten wurden. Das jetzige Wahllokal war ein riesiges, einsam gelegenes Gebäude, das sich auf den grünen Ebenen des ehemaligen PentagonGeländes erhob. Es war das einzige Gebäude seiner Art in Washington, so, wie es in jedem der fünfzig Bundesstaaten nur jeweils ein einziges Wahllokal gab. Aber da sie nur selten aufgesucht wurden, reichte ihre Anzahl vollkommen aus. Im Foyer des Gebäudes war eine große Halle für Besucher reserviert worden. Dort konnte man Platz nehmen und dem Tanzen und Flackern der vielfarbigen Lichter auf der riesigen Schalttafel zusehen, konnte dem sonderbar beruhigenden Summen des Zentralcomputers lauschen. Professor Larkin wählte einen fließend-weichen Sessel neben einer der Wahlkabinen aus und ließ sich darin nieder. Er saß lange dort, rauchte seine Pfeife und beobachtete den gespannten, ängstlichen Ausdruck auf den Gesichtern der ein und aus gehenden Leute. Professor Larkin war ein Mann in den späten Vierzigern, der trotz seiner vorgebeugten Art zu gehen noch jugendlich wirkte. Die Pfeife in seiner Hand ließ ihn seriöser und gesetzter erscheinen, als er sich selbst normalerweise fühlte. Es beunruhigte ihn, daß die meisten Leute in der Lage waren, seinen Beruf auf Anhieb zu erraten.
Er hatte eine vage Vorstellung davon, nicht unbedingt wie ein Collegeprofessor aussehen zu wollen, und er versuchte, sein Äußeres dementsprechend zu verändern – etwa durch eine grelle Krawatte oder einen Sportmantel –, aber seine Bemühungen schienen erfolglos zu sein. Er blieb, was er war – Professor Harry Lloyd Larkin Ph. D. Dekan der Politischen Wissenschaften an einem kleinen, aber kompetenten College in der Nähe Washingtons. Sein Interesse an den Politischen Wissenschaften zog ihn regelmäßig zu den Wahllokalen hin. Er konnte stundenlang hier sitzen und den Hauch der amerikanischen Geschichte einatmen, so wie jetzt, als er die hartnäckigen Kandidaten für das Präsidentschaftsamt an sich vorüberziehen sah. Lächelnd beobachtete er eine alte Dame, die – eingezwängt in ein pinkfarbenes, viel zu enges Kostümaufgeregt von Wahlkabine zu Wahlkabine lief. Augenscheinlich waren ihre Testergebnisse nicht sehr gut gewesen. Sie hielt ihre Papiere fest in der schwarzbehandschuhten Hand, und auf ihrem Gesicht stand ein Ausdruck großer Verwunderung. Sie wußte, wie man dieses Land führen mußte. Und eines Tages würde sie Präsident sein. Harry Larkin lachte leise in sich hinein. Aber seine Beobachtung bewies, daß der große amerikanische Traum noch da war. Die Tests waren jedermann zugänglich. Und jedermann hatte die Chance, Präsident der Vereinigten Staaten zu werden. Harry Larkin ließ sich in seinen Sessel zurücksinken und erinnerte sich an die Zeit, als die große Schlacht begonnen hatte. Für alles und jedes mußte man ein Examen ablegen, damals. Man konnte nicht mal einen Job bei der Straßenreinigung ergattern, ohne einen Eignungstest zu bestehen – außer, man strebte ein öffentliches Amt an. Dafür benötigte man keinerlei Qualifikation. Und erst die Psychologen und später die Zeitungen hatten auf diesen
Umstand aufmerksam gemacht und ihn eine nationale Schande genannt. Und es war eine nationale Schande, wenn man sich das Kaliber einiger der Männer in gehobenen politischen Stellungen betrachtete. Die psychologischen Tests wurden genauer, entwickelten sich zu einer exakten Wissenschaft, die es erlaubte, einen Menschen durchzuchecken, sein Wissen, seine Begabung, seine Persönlichkeit; alles. Und von diesem Moment an war es nur noch ein kurzer – wenn auch erbitterter Kampf, bis SAM geboren wurde. SAM. Onkel SAM, wie es ursprünglich genannt wurde, das größte und leistungsfähigste aller elektronischen Gehirne. Harry Larkin sah mit unverhohlener Ehrfurcht auf die gigantische Batterie von Lichtern, die über ihm flackerte. Was er sah, war nur ein Teil von SAM. Er erstreckte sich über mehr als dieses oder die anderen neunundvierzig Gebäude, ein gigantisches Netzwerk elektronischer Zellen, das keinen festen Sitz hatte, seine elektronischen Fühler aber buchstäblich überallhin schickte. Ein unglaublich komplexer, analytischer Computer, der einen Kandidaten härter und gründlicher beurteilte, als es die amerikanische Öffentlichkeit je vermocht hätte. In seinen Speichern befand sich das Wissen der gesamten Menschheit. Manche bezeichneten ihn als ein Monster, aber Larkin konnte sich dieser Meinung nicht anschließen. Die dreißig Jahre, seit denen SAM am Werk war, waren die glücklichsten in der amerikanischen Geschichte gewesen. In einer durch Kriege und Unruhen zerrissenen, von Diktatoren und Marionettenregierungen beherrschten Welt begann man dem amerikanischen Präsidenten Respekt entgegenzubringen. Nicht für sein Amt, sondern für das, was er war: der bestmögliche Mann für diesen Job. Und es gab gar keinen Zweifel, daß er der Beste war. Nur ein wirklich bemerkenswerter Mann hatte die Chance, dieses Amt zu
bekleiden. Die Tage, an denen einfach irgend jemand Präsident werden konnte, waren endgültig vorüber. Ein ganzes Jahrhundert lang waren Männer an ihrer Berufung gestorben, im besten Mannesalter von der Last eines Amtes niedergeworfen, das viel zu schwer für sie war, aber auch das war jetzt vorbei. Harry Larkin schauderte bei dem Gedanken, was Amerika passieren würde, wenn sie nicht das System des ›bestqualifizierten Mannes‹ hätten. Präsident Creighton lag in diesem Moment in seinem Bett im Weißen Haus und erholte sich von einem Gehirnschlag, ein Mann mit nur einer Amtsperiode, aber ein sehr, sehr alter Mann. Die ganze Welt wartete an diesem Nachmittag auf Nachrichten aus Amerika, auf die ruhigen und vertrauenerweckenden Worte eines neuen Präsidenten. Seit Creightons Schlaganfall hatte es in Amerika keinen wirklich Verantwortlichen mehr gegeben. Seine Worte hatten vielen anderen Völkern mehr bedeutet als die ihrer eigenen Führer. Die Regierungen der anderen Länder kämpften um Macht, kauften, stahlen sie sich, aber sie verdienten sie nur sehr selten. Der Mann an der Spitze der Vereinigten Staaten stand für Ehrlichkeit, Intelligenz und für den Wunsch nach Frieden. Der ›alte Onkel SAM‹ würde niemanden wählen, der diese Qualifikationen nicht mitbrachte. Als sich Harry Larkin am späten Nachmittag erhob, um zu gehen, war der neue Präsident wahrscheinlich bereits gewählt. Morgen würde die Welt wieder einen Führer haben, der ihren Bewohnern Frieden und Sicherheit brachte. Er blieb noch einmal an der Tür stehen, um dem beruhigenden Summen der großen Maschine zu lauschen. Erst dann ging er beruhigt und rasch nach Hause, um sich über das zukünftige Schicksal der Erde zu informieren.
»Mein Name ist Reddington. Sie kennen mich?« Harry Larkin lächelte unsicher in den Bildschirm. »Nun, ich… wenn ich mich nicht irre, sind Sie der Direktor des Wahlbüros.« »Korrekt«, antwortete die Stimme rasch, unterbrochen von einem Knacken in der Leitung. »Man bezeichnet Sie als eine Autorität auf dem Gebiet der Politischen Wissenschaften, nicht wahr?« »Bezeichnet?« Larkin blinzelte. »Nun, es ist möglich, daß – « »Schon gut«, fiel ihm Reddington ungeduldig ins Wort. »Wir haben keine Zeit für Höflichkeiten. Hören Sie zu, Larkin. Es geht um eine Angelegenheit von höchstem nationalem Interesse. Vor Ihrer Tür wird gleich ein Wagen anhalten – wahrscheinlich ist er schon da, wenn unser Gespräch beendet ist –, ich möchte, daß Sie ihn nehmen und herkommen, so schnell Sie können. Mehr kann ich Ihnen im Moment nicht sagen. Fragen Sie mich nicht, bitte. Kommen Sie einfach.« Das Gespräch endete mit einem leisen Klicken. Larkin starrte verstört auf den Sichtschirm und hörte auch schon im selben Moment ein Klopfen an der Tür. Er war allein, aber trotzdem wartete er eine Zeitlang, bis er antwortete. Er mochte es nicht, wenn man ihn bedrängte. Und er fühlte sich überfahren. Nationales Interesse… Was, zum Teufel –? Der Mann an der Tür trug die Uniform eines Majors der Army. Er wurde von zwei jungen Sergeanten begleitet. Sie identifizierten Larkin und eskortierten ihn dann freundlich, aber bestimmt die Treppe hinab zu dem wartenden Stabswagen. Larkin fühlte so etwas wie Wut in sich aufsteigen. Er kam sich entführt vor. Aber dann erinnerte er sich wieder an Reddingtons Worte, und so nahm er gehorsam auf dem Rücksitz des Wagens Platz und beschränkte seinen Protest auf ein gelegentliches Brummen.
Er wurde nach Washington zurückgefahren. Sie brachten ihn zu einem kleinen, aber teuer aussehenden Appartementhaus, eskortierten ihn zum Lift und gingen so wortlos, wie sie gekommen waren, als sie das gewählte Stockwerk erreicht und er die Kabine verlassen hatte. Larkin begann langsam die Ruhe zu verlieren. Einen Augenblick lang stand er reglos in der großen Halle und betrachtete die Grünpflanzen. Vor ihm war eine Schiebetür. Sie war geschlossen, aber er konnte trotzdem hören, daß auf der anderen Seite eine heftige Diskussion im Gange war. Ein paarmal vernahm er das Wort SAM, einmal sogar einen vollständigen Satz: »Regiert durch eine Maschine! Das kann ich nicht akzeptieren!« Aber bevor er mehr verstehen konnte, glitt die Tür zur Seite, und ein kleiner, untersetzter Mann mit grauen Haaren kam auf ihn zu. Er erkannte ihn sofort. Reddington. »Larkin«, sagte er. »Ich bin froh, daß Sie hier sind.« Die Anspannung auf seinem Gesicht schlug sich auch in seiner Stimme nieder. »Das macht uns komplett. Kommen Sie rein, und setzen Sie sich.« Er machte kehrt und ging zurück in das Zimmer hinter der Schiebetür. Larkin folgte ihm widerstrebend. »Es tut mir leid, daß alles so überstürzt geschehen mußte«, fuhr Reddington fort, als er Platz genommen hatte, »aber es mußte sein. Sie werden mich verstehen. Aber lassen Sie mich Ihnen zunächst die anderen der Runde vorstellen.« Larkin sah sich mit unverhohlener Bewunderung um. Er war es gewohnt, hier und da einem wichtigen Mann zu begegnen, aber nie so vielen auf einmal und nie auf so engem Raum. Da waren Kell vom Landwirtschaftsministerium, Wachsmuth vom Handel, General Vines, der Stabschef, und eine große Anzahl anderer; Männer von solchem Respekt, daß Larkin der Mund vor Staunen offenstand.
Reddington stellte ihn der Reihe nach vor. Alle, die hier versammelt waren, machten einen ernsten und angespannten Eindruck. Niemand sprach ein Wort. Larkin spürte, wie er einen langen, schweigenden Moment lang gründlich gemustert wurde. Er errötete, blieb aber ruhig und mit gefalteten Händen sitzen. Nach einer Weile atmete Reddington hörbar ein. »Doktor Larkin«, begann er sanft. »Das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, werden Sie mit ins Grab nehmen. Darüber darf kein Zweifel bestehen. Wir können es uns nicht leisten, daß auch nur ein Wort über dieses Treffen irgend jemandem zu Ohren kommt, der jetzt nicht in diesem Zimmer anwesend ist. Niemandem. Weder Ihren Verwandten noch Ihren Freunden – niemandem. Bevor ich fortfahre, müssen Sie sich mit diesem Gedanken vertraut machen. Es handelt sich um eine Angelegenheit von allergrößter nationaler Sicherheit. Werden Sie das, was Sie hier erfahren, bis an Ihr Lebensende geheimhalten?« »Wenn die nationalen Interessen…«, begann Larkin, brach dann ab und sagte knapp: »Natürlich.« Reddington lächelte flüchtig. »Gut. Ich vertraue Ihnen. Aber ich muß hinzufügen, daß allein schon Ihre Anwesenheit hier bedeutet, daß Sie jetzt nicht mehr umkehren können… Gut. Lassen wir das. Dafür ist jetzt keine Zeit. Kommen wir zur Sache.« Er machte eine Pause und sah sich im Raum um. Die Männer waren näher herangetreten. Larkin fühlte eine immer stärker werdende Nervosität in sich aufsteigen, aber das Ungewöhnliche seiner Situation ließ ihn seine Befürchtungen vergessen. Er wandte sich wieder Reddington zu. »Die Wahllokale werden heute abend um acht Uhr schließen.« Reddington sah auf die Uhr. »Es ist jetzt achtzehn Minuten nach sechs. Ich muß mich kurz fassen, Doktor.
Erinnern Sie sich an den ersten Grundsatz, der SAM eingegeben, als er gebaut wurde?« »Ich denke schon«, antwortete Larkin leise. »Gut. Dann wissen Sie, daß es einen Primärbefehl gibt. SAM wurde programmiert, den bestqualifizierten Mann ausfindig zu machen. Soweit das Zitat. Unnötig, Ihnen weitere Umstände zu erklären, wie Religionszugehörigkeit, Rasse und so weiter. Die Anordnung ist eindeutig – der bestqualifizierte Mann. Dieser Satz ist weltberühmt geworden. Aber unglücklicherweise – « Er blickte kurz zu den Männern auf, die ihn und Larkin umgaben » – war diese Anordnung ein Fehler. Wessen Fehler, spielt jetzt keine Rolle mehr, vielleicht lag er sogar bei uns allen. Was wichtig ist, ist das: SAM wird keinen Präsidenten wählen.« Larkins Verstand weigerte sich für einen Moment, das Gehörte zu akzeptieren. Reddington beugte sich in seinem Sessel nach vorn. »Hören Sie jetzt genau zu. Auch wir haben es erst heute nachmittag begriffen. Wir wußten natürlich, daß es nur sehr wenige Menschen in diesem Land gibt, die eine echte Chance auf das Präsidentschaftsamt hatten. Daß diese Menschen von ihrer Kindheit an dazu ausersehen sind und dazu ausgebildet werden. Wir haben sie ständig unter Beobachtung, und der Secret Service wacht über ihre Sicherheit. Es sind nur wenige. Seit der letzten Wahl haben wir nicht mehr als fünfzig gefunden. Und all diese Menschen haben sich heute morgen den Tests unterzogen. Keiner von ihnen ist gewählt worden.« Er legte eine Pause ein, um Larkins Reaktion abzuwarten. Larkin bewegte sich nicht. »Beginnen Sie zu begreifen, was ich meine, Larkin? Es gibt keinen qualifizierten Mann!« Larkins Augen weiteten sich. Er saß aufrecht und wie erstarrt da.
»Nun, ich kann mir vorstellen, was Sie jetzt fühlen. Wenn es keiner von diesen Leuten heute morgen geschafft hat, wird es auch kein anderer schaffen. Was jetzt noch übrig ist, ist Ausschuß. Unbrauchbar. Sie dürfen an den Tests teilnehmen, aber das ist auch alles. SAM wird niemanden wählen. Irgendwann während der letzten vier Jahre hat das Amt die Grenze menschlicher Leistungsfähigkeit endgültig überschritten. Es gibt auf der ganzen Welt keinen lebenden Menschen mehr, der SAMs Anforderungen entsprechen würde.« »Ich…«, unterbrach ihn Larkin, »ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen folgen kann. Bedeutet nicht der Befehl, den bestqualifizierten Mann zu nehmen, daß wir den besten Mann wählen, den wir kriegen können?« Reddington lächelte nachsichtig und schüttelte den Kopf. »Nein. Gerade das war unser Fehler. Niemand hat daran gedacht, daß der Job eines Tages die menschliche Leistungsfähigkeit übersteigen könnte. Nicht damals, nicht vor dreißig Jahren. Und niemand hat daran gedacht, daß SAM trotz allem nur eine Maschine ist. Er führt den Befehl so aus, wie er ihm eingegeben wurde. Den bestqualifizierten Mann. Aber sehen Sie, es gibt keinen qualifizierten Menschen, und so kann SAM auch nicht den besten davon auswählen. Er wird niemanden bestimmen. Morgen wird dieses Land ohne Präsident sein. Und das könnte Krieg bedeuten.« Larkin saß noch immer wie erstarrt in seinem Sessel. Aber er begann allmählich zu verstehen. »Das sind die Fakten«, fuhr Reddington müde fort. »Wir können nichts tun. Präsident Creighton noch einmal zu wählen, ist unmöglich. Sein Gehirnschlag hat ihn niedergeworfen. Er hat wahrscheinlich nur noch ein paar Wochen zu leben. Und es gibt keine Möglichkeit, mit SAM zu handeln oder gar sein Programm zu ändern. Er ist narrensicher – er muß es ja sein.
Seine Schaltkreise sind auf fünfzig Staaten verteilt, und wer die Programmierung der Maschine ändern will, muß dies im ganzen Land und gleichzeitig tun. Wir schaffen das nicht. Nicht in der kurzen Zeit. Und wir können nicht riskieren, daß die Welt erfährt, in welcher Lage wir uns befinden. Wir haben lange überlegt, was wir tun können. Wir sind zu einer Lösung gekommen – ich werde sie Ihnen erläutern. Das Präsidentschaftsamt SAM selbst zu übertragen – « Einer der Männer unterbrach ihn ärgerlich. »Ich sagte bereits, Reddington, daß ich einer Regierung durch eine Maschine nicht zustimme – « »Aber welche Wahl bleibt uns denn?« fuhr Reddington auf. Seine Augen blitzten. Er schien kurz vor der Explosion zu stehen. »Wer sonst kennt alle Antworten? Wer kann in zwei Sekunden die Steuerrate von Mississippi ausrechnen oder den voraussichtlichen Ernteertrag im nächsten Jahr oder die Wahrscheinlichkeit für ein militärisches Eingreifen? Wer außer SAM! Warum haben wir es nicht schon lange getan – ihm die Probleme überlassen – statt einen großen Mann nach dem anderen damit umzubringen. Creighton liegt jetzt am Sterben, weil Leute wie Sie – « Er brach abrupt ab und senkte den Kopf. Für einen Moment war es totenstill im Zimmer. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf. Seine Stimme klang rauh, als er weitersprach: »Gentlemen, es tut mir leid. Es ist einfach zu viel.« Er wandte sich wieder an Larkin. Auch Larkin begann den Druck zu spüren, der auf ihnen allen lastete. Aber die Anwesenheit all dieser Männer und Reddingtons Ernsthaftigkeit beruhigten ihn. Creighton war ein großer Präsident gewesen, und er hatte sich mit den besten Männern des Landes umgeben. Solange diese Männer verfügbar waren, gab es vielleicht noch einen winzigen Hoffnungsschimmer, die kritischsten Stunden der amerikanischen Geschichte zu überstehen, irgendwie. Und es
war mehr als kritisch. Larkin wußte so gut wie jeder der anderen, was das Fehlen eines Präsidenten – was das Fehlen seiner beruhigenden Worte, seiner Hoffnung und Sicherheit – bedeuten würde. Er wartete ab, was Reddington sagen würde. »Nun, wir haben einen Plan. Vielleicht funktioniert er, vielleicht werden wir auch alle erschossen. Wir sind auf Sie verfallen, Larkin, und wir hoffen, daß Sie der Aufgabe gewachsen sind.« Larkin wartete. »Der Plan«, fuhr Reddington fort, wobei er sich um eine langsame, vorsichtige Aussprache bemühte, »sieht folgendermaßen aus: SAM hat eine schwache Stelle. Wir können nicht mit ihm diskutieren, aber wir können ihn austricksen. Er kann einen Menschen testen, aber es ist ihm nicht möglich, ihn zu identifizieren. Das besorgen wir. Wenn ein Mann namens Jo Smith sich dem Persönlichkeitstest unterzieht und ein anderer Jo Smith den Test in Politischen Wissenschaften absolviert, dann kann die Maschine sie nicht auseinanderhalten. Beide Resultate werden Jo Smith zugesprochen, wenn niemand SAM auf den Unterschied aufmerksam macht. Das Bedienungspersonal stellt kein Problem dar. Das können wir klären. Schwieriger ist es schon, acht Menschen zu finden, welche die acht Tests bestehen.« Larkin nickte. Er verstand. »Acht Spezialisten«, sagte Reddington. »General Vines übernimmt das Militärische. Bürden Psychologie, Wachsmuth die Wirtschaft und so weiter. Und Sie die Politischen Wissenschaften. Wir können nur hoffen, daß jeder einzelne von ihnen mit einem so günstigen Resultat abschneidet, daß die Ergebnisse – zusammengezählt – unseren angeblichen Kandidaten qualifizieren. Können Sie mir folgen?« Larkin nickte verwirrt. »Ich denke schon. Aber – « »Es müßte klappen. Es muß einfach klappen.«
»Ja«, murmelte Larkin. »Das sehe ich auch so. Aber wer – wer wird denn nun wirklich – « »Präsident?« Reddington lächelte und erhob sich. »Das war die schwierigste Frage. Zuerst sah es so aus, als würde der ganze Plan daran scheitern. Unser Präsident muß so viele verschiedene Dinge… beachten. Ein Präsident aus dem Nichts heraus gelangt geradewegs auf den wichtigsten Stuhl der Erde. Jedes Magazin, jede Zeitung im Land wird sofort damit beginnen, ihn unter die Lupe zu nehmen. Sie werden seinen Hintergrund durchleuchten, seine Lebensgeschichte, Zitate und Anekdoten zusammenstellen und so weiter. Auch ein groß angelegter Betrug würde nicht lange unentdeckt bleiben. Das Problem ist die Glaubwürdigkeit. Unser neuer Präsident muß glaubwürdig sein. Er muß einen aufrechten Charakter haben, überdurchschnittlich intelligent sein, und sein Vorleben muß eine ganze Reihe von Bedingungen erfüllen: Er muß sowohl die Zeit als auch die Persönlichkeit gehabt haben, sich auf das Amt vorzubereiten. Sie begreifen, was das bedeutet? Damit sind die meisten Geschäftsleute aus dem Spiel. Sie sind zu sehr eingespannt – sie hätten gar nicht die Zeit gehabt. Aus dem gleichen Grund scheiden die Mitglieder der bisherigen Regierung und das meiste Militärpersonal aus. Jemand aus dem Wahlgremium wäre von vornherein verdächtig. Nein. Sie verstehen das Problem – eine Zeitlang dachten wir, wir würden es nicht schaffen. Die Zeit war zu knapp und das Risiko zu gewaltig. Aber dann kamen wir auf die einzige Lösung. Die einzige Chance, die wir noch hatten. Die einzige glaubwürdige Person war – ein Professor. Jemand, dessen Leben ernst, aber ohne Streß war. Der seine Zeit damit verbrachte, zu lehren und zu forschen und der gleichzeitig isoliert war. Kein Wissenschaftler – ein solcher Mann würde alles zu sehr in eine Richtung auslegen. Nein; ein Professor. Am besten auf einem Feld wie Politische
Wissenschaften, ein Mann, dessen einzige Tätigkeit darin bestand, zu unterrichten. Der behaupten kann, in seiner Freizeit studiert zu haben, der niemals ernsthaft damit gerechnet hat, die Tests zu bestehen, ein bescheidener Mann, der…« »Politische Wissenschaften«, sagte Larkin. Reddington beobachtete ihn scharf. Die anderen hörten angespannt zu. »Verstehen Sie jetzt?« sagte er sanft. »Es ist unsere einzige Hoffnung. Ihr Name ist weithin bekannt. Sie sind jung genug, Ihr Ruf ist tadellos. Sie sind glaubwürdig. Und nun, nachdem ich Sie kennengelernt habe – « Wieder warf er einen raschen Blick in die Runde » – ich bin bereit, es mit Ihnen zu riskieren.« Larkin saß sprachlos da, während die anderen Reddington einer nach dem anderen beinahe feierlich zustimmten. Er fühlte sich taub, gelähmt von der Gewaltigkeit des Augenblicks. Wie aus weiter Ferne hörte er Reddington fortfahren. »Ich weiß, was ich verlange, Doktor. Aber es bleibt keine Zeit mehr. Die Wahllokale schließen um acht. Und es ist fast sieben.« Larkin schloß die Augen und stützte den Kopf auf die Hände. Über ihm fuhr Reddington unbeeindruckt fort. »Sie denken daran, was geschieht, wenn wir damit durchkommen und Sie ohne Anfechtungen akzeptiert werden, nicht? Was dann? Nun, es wird einfach das alte System sein. Sie werden auf keinen Fall schlechter als einer der Präsidenten aus der Zeit vor SAM sein. Sogar besser. Sie werden sich mit allen Problemen an SAM wenden können. Er wird Ihnen ständig zur Seite stehen. Und Sie haben unseren Rat. Den des Kabinetts, des Militärischen Stabes. Wir werden Sie in jeder erdenklichen Weise unterstützen. Einige von uns werden bei jeder Konferenz dabeisein. Und Sie haben ein
Allgemeinwissen, über das kaum einer von uns verfügt. Sie haben Politik studiert, Ihr ganzes Leben lang. Aber das, was später geschieht, ist jetzt nicht wichtig. Nicht jetzt. Wenn wir die nächsten Tage überstehen, wird sich alles andere von selbst erledigen. Vielleicht gelingt es uns sogar, SAMs Programm zu ändern. Aber morgen müssen wir einen neuen Präsidenten haben. Sie sind unsere letzte Hoffnung, Larkin. Sie können es schaffen. Wir wissen, daß Sie es schaffen können. Sie müssen es, weil es zu spät ist, noch irgend etwas anderes zu tun. Doktor – « Er legte die Hand auf Larkins Schulter – »wollen wir jetzt zur Wahl schreiten?« Larkin nahm kaum wahr, was um ihn herum geschah. Später, wenn er an diese Nacht zurückdachte, wurde ihm klar, daß es an der Tragweite der Entscheidung lag, der Größe der Verantwortung, der Last, die plötzlich auf seine Schultern gelegt worden war, aber in diesem Moment spürte er nichts, nichts von all den Zweifeln, die ihn immer wieder überkommen sollten, den schlaflosen Nächten, der tiefsitzenden Angst. Aber in diesem Moment dachte er nur, daß es sein Land war, Larkins Amerika. Daß Reddington recht hatte. Es war ihre einzige Chance. Er erhob sich schwerfällig. Dann schritten sie zu den Wahlkabinen.
Um 9.30 Uhr an diesem Abend saß Larkin zusammen mit Reddington in seinem Appartement, betrachtete das Gesicht des Nachrichtensprechers auf dem Bildschirm und hörte ihn seinen eigenen Namen als den des neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika aussprechen. Reddington lag erschöpft in seinem Sessel. Eine lange, lange Zeit sagte keiner von ihnen etwas. Sie waren allein nach Hause gekommen, so, wie sie allein zu den Wahlkabinen gegangen
waren, um kein Aufsehen zu erregen. Schließlich stand Reddington auf, schaltete den Fernseher ab und straffte sich. »Gut«, sagte er kurzatmig. »Gott helfe uns. Den ersten Schritt haben wir getan.« Larkin griff zögernd nach seiner ausgestreckten Hand und drückte sie. Mit einem Male fühlte er sich schwach, müde. Er setzte sich auf und wollte etwas sagen, aber in diesem Moment begann das Telefon zu läuten. Reddington lächelte. »Ich habe diese Nummer nur einer Handvoll meiner engsten Vertrauten verraten«, meinte er achselzuckend. »Aber jedesmal, wenn etwas Außergewöhnliches geschieht… Gut«, murmelte er, noch immer lächelnd. »Dann wollen wir mal sehen, wie es läuft.« Er griff nach dem Hörer und schien plötzlich ein ganz anderer zu sein. Die Verwandlung ging erschreckend schnell vor sich. Mit einem Male schien er nichts als Höflichkeit und Freude zu empfinden. »Ob ich ihn kenne? Natürlich kenne ich ihn. Ich habe ihn schon seit Monaten im Auge gehabt. Netter Junge – warte, bis du ihn kennenlernst… Collegeprofessor, Politische Wissenschaften. Hat eine Menge Bücher geschrieben… Muß mehr auf dem Kasten haben als nur sein Fachgebiet. Wahrscheinlich hat er seine ganze Freizeit damit zugebracht… na ja, diese Lehrer… du weißt ja, wie das ist… sie werden schlecht bezahlt, aber die ganze freie Zeit… verheiratet? Nein, nicht daß ich wüßte…« Larkin registrierte beinahe bewundernd, wie leicht Reddington die Worte über die Lippen gekommen waren. Er selbst würde noch eine ganze Weile brauchen, bis er so reden konnte. Er würde noch viel zuhören müssen. Reddington beendete sein Gespräch und kam zurück, bereits mit Hut und Mantel bekleidet.
»Wir werden noch eine Menge Fragen beantworten müssen«, sagte er kurz. »Ich hoffe, es hat ganz normal geklungen. Sie ziehen sich besser auch an.« »Anziehen? Warum?« »Haben Sie es schon vergessen?« Reddington lächelte. »Sie werden im Weißen Haus erwartet. Wahrscheinlich sucht der Secret Service bereits die ganze Stadt nach Ihnen ab. Wir müssen auf der Hut sein. Ich hoffe, es geht nichts mehr schief.« Larkin fühlte sich noch immer wie betäubt, als er seinen Mantel überzog. Es ging los. Es war schon losgegangen. Er war müde, aber darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Wahrscheinlich würde er nie wieder Rücksicht darauf nehmen können, daß er müde war. Er atmete tief ein, blickte Reddington an und straffte die Schultern.
Der Secret Service griff sie auf halbem Wege auf. Daß sie wußten, wo er war – wer er war –, erschreckte ihn. Sie passierten die Auffahrt zum Weißen Haus und hielten vor der Tür an. Sie wurde vor ihnen geöffnet. Er fuhr zusammen, als plötzlich überall Blitzlichter aufflammten. Reddington ergriff fest seinen Arm. Larkin ließ sich dankbar von ihm führen, unfähig, etwas zu denken, etwas anderes zu hören als das Gemurmel der Menge und die Fragen der Reporter. Im Inneren des Weißen Hauses war es wieder still, vollkommen und angenehm still und dunkel. Automatisch nahm er den Hut ab. Er war schon einmal hier gewesen, aber diesmal war es etwas anderes. Diese Hallen und Zimmer würden von nun an sein Heim sein. Reddington stellte ihn schnell einigen Leuten vor, Leuten, deren Gesichter er nicht kannte und deren Namen ihm nichts sagten. Eine Frau lächelte ihn an. Larkin lächelte angestrengt
zurück, und Reddington ergriff ihn am Arm und führte ihn weg. Überall waren Menschen, aber sie verhielten sich ruhig, und er bemerkte den Respekt auf ihren Gesichtern. Ein eigenartiges Gefühl ergriff von ihm Besitz. »Der Präsident ist in Lincolns Zimmer«, flüsterte Reddington. »Er möchte Sie sehen. Wie fühlen Sie sich?« »Gut.« »Hören Sie zu.« »Ja.« »Sie waren gut, sehr gut. Behalten Sie diesen Ausdruck bei.« »Ich… werde es versuchen.« »Gut. Sehr gut.« Reddington stockte, sah ihn an und lächelte. »Es ist getan, Larkin. Ich habe gehofft, daß es klappen würde, aber sicher war ich nicht. Wissen Sie, daß dieser Moment immer gleich ist? Ein Mann kommt hier herein – und es ist vollkommen egal, was er vorher war und was er sein wird, wenn er wieder herauskommt – und er fühlt es. Fühlen Sie es auch? Wissen Sie, was ich meine?« »Ja. Es ist wie…« »Was?« Reddington lächelte. Larkin fühlte den Druck seines Armes. Sie blieben vor der Tür des Lincoln-Raumes stehen. Die beiden Männer vom Secret Service, die davor Wache hielten, öffneten ihnen. Sie gingen hinein, während die Posten draußen zurückblieben. Larkins Blick wanderte durch das Zimmer zu dem großen, altertümlichen Bett. Während sie über den weichen Teppich auf den alten Mann zugingen, begann er sich sehr klein und unbedeutend zu fühlen. »Hallo?« sagte der alte Mann schwach. Larkin war verwirrt. Er blickte in das breite, dünn lächelnde Gesicht, sah das berühmte weiße Haar, die von Fältchen umgebenen Augen.
»Mister Präsident.« »Ihr Name ist Larkin, nicht?« Die Stimme des alten Mannes war erstaunlich stark, aber als er sprach, bemerkte Larkin, daß seine linke Gesichtshälfte gelähmt war. »Ein guter Name für einen Präsidenten. Läßt auf eine Menge Humor schließen. Sie werden Humor brauchen. Reddington – wie geht’s?« »Gut, Sir.« Reddington warf Larkin einen raschen Blick zu. »Der Präsident weiß Bescheid. Wir hätten es nicht ohne sein Okay getan. Wahrscheinlich hat er uns den Secret Service auf den Hals gehetzt.« »Da haben Sie recht«, sagte der alte Mann ruhig. »Die Jungs verstehen ihr Geschäft. Sie kehren das Unterste zuoberst. Und außerdem, wenn ich sie nicht informiert hätte, hätten sie Larkin – « Er brach abrupt ab, schloß die Augen und tat einen tiefen Atemzug. »Mister Larkin?« »Ja, Sir?« »Ich möchte Ihnen noch ein paar Dinge sagen.« »Natürlich.« »Ich habe nicht mehr… nicht mehr viel Zeit. Es gibt vieles, was ich nicht mehr klären konnte. Es gab so viel zu tun.« Er brach erneut ab und schwieg einen Moment. »Es wird jetzt Ihre Aufgabe sein, mein Sohn. Die Präsidentschaft… das Amt… muß erhalten bleiben. Man wird Ihnen jetzt erzählen, daß es nur noch einen Weg gibt, nämlich den, daß SAM die Regierung übernimmt. Jeder wird Ihnen das erzählen, auch Reddington.« Der alte Mann öffnete die Augen und betrachtete Reddington mit einem traurigen, langen Blick. »Natürlich wird er Ihnen das gleich erzählen. Aber glauben Sie ihm nicht. SAM kennt alle Antworten. Fragen Sie ihn, wonach Sie wollen. Er wird die Antwort fast augenblicklich ausspucken. Sie werden versuchen, Ihnen das schmackhaft zu machen.
Ihnen erklären, wie leicht es wäre, SAM die Arbeit machen zu lassen. Sie müssen eines verstehen, Mister Larkin. SAM ist wie ein Buch, ein gigantisches Buch. Er weiß Antworten, alle Antworten. Aber er kennt nur die Antworten, die wir ihm bereits genannt haben. Er ist nicht kreativ, so wenig, wie ein Buch kreativ ist. Beide sind nur das Produkt kreativer Geister. Sicher kann SAM dieses Land zusammenhalten, aber es wird kein Wachstum mehr geben, kein Vorwärts. Keine neuen Ideen, neue Lösungen, Veränderungen, Weiterentwicklungen. Und Amerika muß weiter wachsen, muß sich entwickeln – « Er hielt erschöpft inne. Reddington beugte sich zu ihm hinab. Larkin fühlte ein Gefühl seltsamer Kälte in sich, begleitet von einer außergewöhnlichen Klarheit des Denkens. »Mister President«, sagte er bedächtig. »Wenn das Amt zu viel ist für einen Mann, dann können wir nichts anderes tun, als SAM die Macht zu übergeben.« »Sehen Sie«, sagte der alte Mann schwach. »Da liegt der Hase im Pfeffer. Ihm was übergeben? Wenn Sie Ihre Steuererklärung unterschreiben, Junge, dann müssen Sie genug von Steuern verstehen, um zu wissen, daß sie in Ordnung ist, nicht? Wenn Sie eine Polizeiaktion billigen, dann müssen Sie sicher sein, daß sie vernünftig ist. Wenn Sie über Agrarpreise nachdenken… verstehen Sie, was ich meine? Das Amt ist verantwortlich für seine Entscheidungen. Es muß verantwortlich sein. Sie können sich nicht einfach auf irgend jemanden – oder irgend etwas – verlassen. Sie müssen Ihre eigenen Entscheidungen treffen. Sie werden es sein, dem man die Rechnung präsentiert, später.« »Und was… schlagen Sie vor?« Der alte Mann lächelte erneut mit der einen Hälfte seines Gesichtes. Früh, viel zu früh gebrochen, nur noch Stunden von seinem Tod entfernt, ein sehr, sehr alter Mann, dessen Arbeit
noch nicht getan war und vermutlich nie ganz getan werden konnte. »Kommen Sie näher, mein Sohn. Nehmen Sie meine Hand. Ich… kann sie nicht selbst heben.« Larkin kniete neben dem Bett nieder, nahm die kalte, hager gewordene Hand in die seine und hielt sie fest. »Gott stehe Ihnen bei, Mister Larkin«, sagte der Präsident. »Tun Sie, was Sie können. Geben Sie Verantwortung ab, wo immer es möglich ist. Meinetwegen halbieren Sie das Amt, aber lassen Sie es menschlich bleiben – lassen Sie uns unsere Veränderung, unsere Fehler. Lassen Sie uns leben.« Seine Stimme begann zu schwanken. Seine Augen waren wieder geschlossen. »Ich bin müde, sehr müde. Gott stehe Ihnen bei, mein Junge.« Larkin legte seine Hand vorsichtig auf das Laken zurück. Einen langen, schweigenden Moment lang stand er da und sah auf die schmale Gestalt hinunter. Dann verließ er zusammen mit Reddington den Raum. Er wartete, bis sie außer Hörweite der beiden Männer vom Secret Service waren, bevor er sich wieder an Reddington wandte. »Ihre Pläne bezüglich SAM – was wird nun damit?« Reddington blinzelte. »Ich… sehe keinen Ausweg.« »Aber wie geht es weiter? Ich muß es wissen.« »Ich weiß nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Aber… lassen Sie mich Ihnen noch etwas sagen…« »Ja.« »Was auch immer ich Ihnen von jetzt an raten werde – es ist nur ein Rat. Sie müssen ihn nicht befolgen. Begreifen Sie eines: Wie auch immer Sie in das Amt hineingekommen sind, Sie sind der Präsident. Sie sind gewählt worden. Vielleicht nicht durch das Volk oder SAM, aber Sie sind der Präsident.
Das allein zählt. Von diesem Augenblick an werden Sie für jeden Menschen auf der Welt der Präsident der Vereinigten Staaten sein. Denken Sie niemals, daß Sie nur ein Betrüger sind, das stimmt nicht. Sie haben Creightons Worte gehört. Von jetzt an sind Sie Amerika.« Larkin blickte ihn lange und schweigend an. Dann nickte er. »Gut.« »Und noch eines.« »Ja?« »Ich… muß es Ihnen sagen. Ich habe heute nachmittag nicht gewußt, was ich tat. Nicht wirklich. Ich dachte… ja… ich dachte, daß wir auf eine Krise zusteuern. Sie hatten keine Zeit zum Nachdenken. Man sollte einen Mann nicht in so eine Sache hineinziehen, ohne ihm Zeit zu geben. Der alte Mann hat mich gelehrt, daß man seine eigenen Entscheidungen treffen muß. Ich werde Sie die Ihren treffen lassen.« »Das ist gut.« »Nein«, widersprach Reddington, »das ist es nicht. Erinnern Sie sich, wie er daliegt. Genauso werden auch Sie in vier Jahren daliegen. Vielleicht schon früher.« Diesmal war es Larkin, der Reddingtons Arm ergriff. »Auch das ist in Ordnung«, sagte er. Reddington antwortete nicht sofort, aber Larkin spürte, wie bewegt er war, als er schließlich sprach. »Wir haben viel Glück gehabt«, sagte er nachdenklich. »Trotz allem haben wir den besten Mann gefunden.« »Nun«, sagte Larkin rasch, »vielleicht gehen wir jetzt besser an die Arbeit. Wir müssen eine Rede für morgen vorbereiten, und das Problem mit SAM, und… es gibt genug zu tun.« Er wandte sich um und ging in die Halle zurück. Reddington zögerte einen Augenblick, bevor er ihm folgte. Er dachte kurz daran, daß er den letzten menschlichen Präsidenten der
Vereinigten Staaten vor sich hatte. Dann straffte er die Schultern. »Ja, Sir«, sagte er. »Mister President.«
Tod des Bürgers Jell
Mister Jell war kein Mensch, aber er war trotz allem ein sehr friedlicher und gewöhnlicher alter Mann. Er war auf einer Welt geboren, die so überbevölkert war, daß sich eine gigantische Stadt von einem Pol zum anderen ausbreitete. Es war ein Planet, auf dem ein Mann den freien Himmel nur sehen konnte, wenn er auf die Dächer emporstieg und wo ein Stückchen freies, unbebautes Land ein Beweis unglaublichen Reichtums war. Mister Jell hatte den größten Teil seines Lebens unter unbeschreiblichen Bedingungen verbracht – entweder in winzigen Raumschiffen oder in unglaublich kleinen, erdrückenden Räumen. Irgendwann einmal während einer lange zurückliegenden Reise hatte er die Erde entdeckt, und er hatte sofort erkannt, daß dies der Planet war, von dem er immer geträumt hatte. Er hatte sehr, sehr vorsichtig sein müssen, aber als die Zeit für seinen Ruhestand kam, gelang es ihm zu fliehen. Die Sprachen der Erde waren bereits gespeichert; es bedeutete keine Schwierigkeit für ihn, sie zu erlernen, ebensowenig wie es schwierig war, eine kleine Hütte an einem Fluß zu kaufen, in einer wundervollen, warmen Gegend, die in der Sprache der Erde Florida genannt wurde. Er setzte sich zur Ruhe, ein alter Mann von einhundertfünfundachtzig Jahren, der den besten Tagen seines Lebens entgegensah. Und die Erde, so stellte es sich heraus, war noch weitaus wunderbarer, als er sich in all seinen kühnen Träumen vorzustellen vermocht hätte. Er fand heraus, daß eine große Neigung zum Fischen in ihm geschlummert hatte, obwohl seine Jagdinstinkte nahezu erloschen waren. Lange Zeit konnte
er sich nicht überwinden, irgend etwas zu töten, und so beschränkte er sich darauf, in den weiten, offenen Wäldern zu wandern, in diesem unglaublichen, unbebauten Raum, in dem Tiere in einem wirklichen Wald in freier Wildbahn lebten, wo man durch die Kronen der Bäume hindurch das Blau des Himmels sehen konnte – und es waren echte Bäume, wie Jell sie kaum je zuvor gesehen hatte –, und für eine lange, lange Zeit war Mister Jell wahrscheinlich der glücklichste Mensch auf der Erde. Er stand morgens sehr früh auf, um den Sonnenaufgang zu genießen. Danach ging er entweder fischen, oder er saß bei schlechtem Wetter zu Hause, um dem Rauschen des Regens zu lauschen und die mächtigen dunklen Wolken zu beobachten. Später am Nachmittag ging er dann am Fluß spazieren und wartete, daß die Schule beendet war und er einige Zeit mit den Kindern verbringen konnte. Er sah immer nach den Kindern – jeden Tag. Ein Leben mit zu vielen Menschen dichtgedrängt um sich herum hatte das Bedürfnis nach menschlicher Nähe in ihm absterben lassen, aber er hatte Kinder schon immer geliebt, und sie bereicherten sein Leben am Fluß. Sie glaubten und vertrauten ihm. Er konnte ihnen ohne Furcht aus seinem Leben erzählen. Es war etwas Besonderes, ein Geheimnis mit Kindern zu teilen, mit Freunden. Einem oder zwei von ihnen, denen er am meisten gewogen war, erlaubte er sogar, die Box zu sehen. Nun war die Box wirklich etwas Außergewöhnliches, selbst für einen Mann wie Mister Jell. Es war ein Gerät, das Gegenstände analysierte, speicherte und dann duplizierte. Die Box konnte alles vervielfältigen. Wenn Mister Jell zum Beispiel einen Laib Brot in die Box tat und einen Knopf drückte, dann hatte er plötzlich zwei Brotlaibe, jeder Atom für Atom identisch mit dem anderen. Niemand hätte sie
auseinanderhalten können. Das war der Weg, auf dem er zum Großteil seiner Nahrungsmittel und zu seinem ganzen Geld kam. Irgendwann hatte er eine Dollarnote bekommen, und die Box hatte sie von da an vervielfältigt – und Brot und Fleisch und Kartoffeln; alles was sich Mister Jell wünschte, war auf einen Knopfdruck hin verfügbar. Wenn die Box jemals etwas dupliziert hatte, dann brauchte sie das Original nicht länger. Sie speicherte Daten in ihrem elektronischen Gedächtnis, und Mister Jell mußte nur noch eine Nummer eintippen, um beispielsweise Brot zu erhalten. Sie brauchte keinen bestimmten Treibstoff – Schmutz, Blätter, abgestorbene Äste, irgend etwas, was aus Atomen aufgebaut war, war genug. Das meiste davon wurde in Brot und Fleisch oder was Mister Jell auch immer benötigte umgeformt, und der Rest diente als Energiequelle. Die Box machte Mister Jell vollkommen unabhängig. Aber sie tat noch mehr als das; sie hatte einen weiteren, bemerkenswerten Vorteil. Man konnte sie als Sender und Empfänger benutzen. Tatsächlich war sie in Mister Jells Heimat so eine Art Kaufhauskatalog, ein Katalog mit eingebautem Lieferservice. Wenn es irgendeinen Artikel gab, den Mister Jell benötigte – einfach irgendeinen Artikel auf irgendeiner Welt, auf der Mister Jells Volk lebte –, konnte er ihn bestellen, und die Box würde ihn in wenigen Augenblicken ausspucken. Die Hersteller der Box waren stolz auf die Schnelligkeit der Lieferungen, die Leichtigkeit, mit der jeder beliebige Gegenstand über Lichtjahre hinweg transportiert werden konnte. Aber Mister Jell konnte die Box nicht benutzen. Denn wenn er etwas bestellte, dann mußte er es auch bezahlen, und natürlich würde die Box die Verfolger zur Erde locken. Dieses Risiko konnte Jell nicht eingehen.
Nein, er mußte sich mit dem begnügen, was auf der Erde verfügbar war. Er konnte das Angebot des Katalogs nicht ausnutzen. Und er brauchte es auch nicht. Zumindest nicht im ersten Jahr. Es war das schönste seines Lebens. Er lebte in vollkommenem Frieden, in steter Freude, einfach glücklich. Er schloß Freundschaft mit dem fünfjährigen Charlie, mit Linda, die vier Jahre alt war, und mit dem sechsjährigen Sam. Er verbrachte einen großen Teil seiner Zeit mit seinen jungen Freunden. Und auch ihre Eltern hatten nichts dagegen einzuwenden. Sie waren froh, in ihm einen kostenlosen Babysitter zu haben. Es war in seinem zweiten Jahr auf der Erde. Insekten. So sehr er es auch versuchte, er konnte sich einfach nicht an Insekten gewöhnen. Seine antiseptische, saubere, geruchlose Heimat kannte keine Insekten. Er hatte nie gelernt, mit irgendeiner Art von Insekten auszukommen, und er war zu alt, um es noch zu lernen. Aber er hatte sich einen unglücklichen Platz ausgesucht – der Staat Florida war geradezu ein Paradies für Insekten. Wahrscheinlich gab es keinen anderen Platz auf der Erde, auf der eine derartige Vielfalt von Insekten lebte – große und kleine, geflügelte und stechende, und ein guter Teil von ihnen fand seinen Weg in Mister Jells friedliches Leben. Er war nicht in der Lage, auch nur sein eigenes Haus zu säubern – geschweige denn die endlosen Moskitoschwärme, welche die Ufer des Flusses bevölkerten, zu vernichten – und die Insekten bereiteten ihm eine Reihe sehr unangenehmer Momente. Dabei war er der einzige Mensch auf der Erde, welcher der Insektenplage hätte Herr werden können. Eines der bestverkauften Geräte auf Mister Jells Heimatwelt war ein winziger Insekten-Vernichter, ein kleiner, fliegender Kasten, so konstruiert, daß er jedes Insekt auf jeder Welt, mit
der Mister Jells Leute Handel trieben, vernichten konnte. Mister Jell war Techniker, und er hätte den Vernichter vielleicht nicht einmal bestellen müssen, aber es gab noch andere Probleme. Mister Jells Volk hatte das Gesetz der Nichteinmischung nicht aus einer Laune heraus erlassen. Jells Insektenvernichter hätte zwar die Insekten vernichtet, aber zweifellos würde er gleichzeitig das biologische Gleichgewicht der Erde stören. Die Vögel, die sich von diesen Insekten ernährten, würden Mangel leiden, dann die Tiere, die wiederum die Vögel jagten, und so weiter, bis schließlich alles zusammenbrach. Schon einer dieser kleinen Vernichter würde ein Loch in die Ökologie reißen; er konnte ihn weder zurückholen noch abschalten, wenn er ihn einmal in die Wälder hinausgeschickt hatte. Er würde jahrelang arbeiten und das biologische Gleichgewicht der Gegend zerstören. Nein – Mister Jell faßte den tapferen Entschluß, die schmerzhaften Stiche auf seinen Armen für den Rest seiner Tage zu erdulden. Aber dies war nur die erste Versuchung. Kurz darauf lockte eine andere, größere und ernstere. Mister Jell hatte sich lange gegen den Gedanken gewehrt, aber er begann langsam zu begreifen, daß sein Volk mehr im Recht war, als er glaubte. Er sah sich in der unangenehmen Lage eines Mannes, der fast alles hätte tun können und nichts tun durfte. Ein Zauberer, der nicht zaubern durfte. Die zweite Versuchung war der Regen. In der Mitte von Mister Jells zweitem Jahr auf der Erde setzte eine Dürre ein, eine Dürre, die ganz Florida heimsuchte. Tag für Tag saß er hilflos da und mußte zusehen, wie das Wasser in seinem geliebten Fluß fiel und die Fische nach Luft schnappend in kleinen Pfützen verendeten. Teiche und Tümpel im ganzen Land waren ausgetrocknet, Farmen und Plantagen verdorrten,
die Wälder wurden von Waldbränden zerstört, und die Vögel und Tiere verendeten qualvoll zu Tausenden. Und während der ganzen Zeit hätte Mister Jell leicht Regen machen können. Eine Kleinigkeit – aber auch diesmal würde die Box Material bestellen müssen. Wenn er es tat, würden sie kommen. Er tröstete sich damit, daß er sich einredete, er habe kein Recht, Regen zu machen. Außerdem würde der Regen nicht kontrollierbar sein. Es würde für viele Tage ununterbrochen regnen, und was würde geschehen, wenn die normale Regenzeit einsetzte und Seen und Flüsse schon bis zum Rand angefüllt waren? Mister Jell schreckte vor dem Gedanken zurück, daß er trotz seiner guten Absichten eine Überschwemmung verursachen könnte, und widerstand auch der zweiten Versuchung. Aber das war noch verhältnismäßig leicht. Die dritte Versuchung stellte sich als viel schwerwiegender heraus. Der kleine Charly war gerade fünf Jahre alt, und er besaß einen Hund – einen großen, sanften, eifrigen Hund namens Oskar. Eines Morgens wurde Oskar von einem Lastwagen überfahren. Charly lud den toten Hund auf und brachte ihn weinend, aber voller Hoffnung, zu Mister Jell, der alles in Ordnung bringen konnte. Und sicherlich hätte Mister Jell Oskar wieder herstellen können. Schon vor einigen Monaten hatte er eine »Aufnahme« des Hundes gemacht, in der Hoffnung, auf alles vorbereitet zu sein. Die Box hatte Oskar untersucht und seine Atomstruktur gespeichert, und Mister Jell hätte nur eine Nummer einzutippen brauchen, um einen neuen Oskar herzustellen. Einen lebenden Oskar, groß und unauffällig und sanft, Atom für Atom identisch mit dem Oskar, der jetzt tot war. Aber die Eltern des kleinen Charly, die nicht in der Lage gewesen waren, den Jungen zu trösten, kamen mit zu Mister Jell. Und Mister Jell stand nun da, traurig und mit rotem Kopf,
und er mußte abstreiten, daß er etwas tun konnte. Und als er in die Augen des Jungen blickte, Augen, die dunkel vor Schmerz wurden, und als der Junge dann weinend davonlief, fühlte er sich der größten aller bisherigen Versuchungen ausgesetzt. Jedenfalls dachte er so in diesem Augenblick. Er konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, daß ihm die schlimmste Versuchung noch bevorstand. Danach widerstand er tapfer und erfolgreich einer großen Anzahl von Versuchungen. Aber ganz sacht begannen sich Zweifel in ihm einzunisten. Er schwor sich selbst, daß er dieses Leben niemals aufgeben würde. Hier unten am Fluß – so trocken und insektenverseucht er auch sein mochte, war der wundervollste Platz, den er jemals gesehen hatte. Er war ein alter Mann und sich der Tatsache bewußt, daß die Zeit unaufhaltsam verstrich. Irgendwann würde er sterben, aber er wollte hier, an diesem Ort, seine letzte Ruhe finden. Aber die Versuchungen rissen nicht ab. Zuerst war es die Rote Flut, eine fischtötende Krankheit, die sich an den Küsten Floridas ausbreitete und die Fische zu Millionen umbrachte. Er hätte ihr Einhalt gebieten können, aber dafür hätte er Chemikalien bestellen müssen. Die nächste Katastrophe war eine Ausbreitung der Mittelmeerfruchtfliege, ein Insekt, das die meisten von Floridas Zitrusfrüchten bedrohte und beinahe den Vater der kleinen Linda wirtschaftlich ruinierte. Es gab einen Zerstörer, der nur diese Art von Insekt vernichtete, aber er hätte ihn bestellen müssen. So mußte Lindas Vater den Großteil seiner Ersparnisse opfern, um seine Familie am Leben zu erhalten. Kurz darauf besuchte er Mister und Misses Riodge. Er wollte ihren kleinen Sohn sprechen, aber er geriet mitten in einen fürchterlichen Streit. Mister Riodge beharrte auf dem Standpunkt, daß diese Welt zu schrecklich war, um darin zu
leben und Kinder in ihr aufwachsen zu lassen. Mister Jell war versucht zu erzählen, daß er selbst siebenundvierzig andere Welten gesehen hatte und keine mit der Erde vergleichbar war. Er hielt sich zurück, aber er war überrascht, wie schwer es ihm wurde. Wie nahe er darangewesen war, zu sprechen. Und dann brach die letzte Versuchung über ihn herein. Linda wurde ernsthaft krank. Mister Jell erfuhr zu seinem Entsetzen, daß sie an einer Krankheit litt, die auf der Erde unheilbar war. Er hatte keine Wahl mehr. Er wußte es im gleichen Augenblick, in dem er von Lindas Krankheit hörte. Linda würde sterben, wenn er dem Fortschreiten der Krankheit nicht Einhalt gebot. Und er begriff plötzlich, daß ein Mann nichts wert war, wenn er seinem Nachbarn helfen konnte und es nicht tat. Er ging zum Fluß hinunter und dachte den ganzen Nachmittag darüber nach, aber damit zögerte er die Entscheidung nur hinaus. Er wußte, daß er weder hier noch irgendwo anders mit dem Gedanken würde leben können, daß es hier ein kleines Grab gab, für das er verantwortlich war. Er wußte, daß Linda ihm diesen Moment, diesen letzten Nachmittag nicht gönnen konnte. Er wartete, sah die Sonne untergehen und ging dann ins Haus zurück, um den Katalog durchzusehen und das Serum zu bestellen. Es erschien in weniger als einer Minute. Er nahm es aus der Box und betrachtete es, und der Gedanke an das Leben, das es Linda zurückbringen würde, löschte die Verzweiflung in seinen Gedanken aus. Es war ein Universalserum; es würde sie bis ans Ende ihres Lebens vor jeder Krankheit schützen. Sie würden jetzt bald kommen, aber er hatte noch Zeit, vielleicht sogar einen ganzen Tag. Es hatte keinen Sinn, sich zu verstecken. Er war zu alt, um noch davonzulaufen.
Er saß einen Moment nachdenklich da, um zu überlegen, wie er das Serum überbringen konnte, aber das war kein Problem. Ihre Eltern würden ihr jetzt alles geben, wonach Linda verlangte. Er buk einen Kuchen und injizierte das Serum, und plötzlich hatte er eine wundervolle Idee. Er gab den Kuchen in die Box und ließ ihn eine ganze Zeitlang duplizieren, bis er einige Schachteln voll produziert hatte. Als diese Arbeit getan war, besuchte er alle Leute, die er kannte, und ließ Kuchen für sie und ihre Kinder zurück. Er wußte, daß er das nicht hätte tun dürfen, aber er wußte auch, daß er keinen wirklichen Schaden anrichtete. Es waren nur ein paar Leben auf einer ganzen Welt. Aber der Gedanke löste eine neue Idee in ihm aus. Er arbeitete die Nacht hindurch und begann immer mehr Vergnügen an seinem Tun zu finden. Er bestellte einen Spezial-Insektenvernichter, der nur eine Spezies ausrottete – die Fruchtfliege –, und schickte ihn glücklich die Straße hinunter. Danach duplizierte er Oskar und schickte den bellenden Hund mit einer Notiz am Halsband fort. Als er auch das beendet hatte, bestellte er eine ganze Anzahl von Chemikalien, einige Tonnen, und er schüttete sie in den Fluß, der sie ins Meer tragen und die Rote Flut beenden würde. Am Ende war er sehr müde. Er war die ganze Nacht nicht untätig gewesen. Er wußte nicht, wie er den Streit mit Mister Riodge beilegen sollte. Aber es gab noch etwas zu tun. Er betete, daß er ihm nicht außer Kontrolle geriete, und dann machte er Regen. Doch dadurch beraubte er sich seines letzten Sonnenaufgangs. Er sah nichts als grauen Nebel und Sturm, als er an diesem Morgen zum Fluß hinunterging. Aber davon spürte er kaum etwas. Die frische Luft und der Regen auf seinem Gesicht waren sein ganzes Lebewohl. Er saß im nassen Gras und fragte sich, warum es nicht mehr Menschen gab, die
bemerkten, was für eine schöne Welt die Erde war. Dann hörte er eine Stimme hinter sich seinen Namen rufen. Sie war tief und fest. »Bürger Jell«, rief sie. »Ich komme«, antwortete er. »Ich komme.«
Sie nannten ihn Soldier Boy
In den Nordlanden schläft der Krieger, tief in einer großen Höhle vergraben, neben einem nie verlöschenden Feuer. Es ist die Zeit des Friedens, die Zeit der Ruhe, und sie soll währen für tausend Jahre. Doch sind wir in Not und Sorge, meine Kinder, werden wir ihn rufen, und er wird kommen. Aus dem Norden wird er kommen, so oft unser Ruf erschallt, heraus aus Dunkelheit und Kälte, mit Feuer in der Hand. Skandinavische Legende
Während der Nacht hatten sich im Norden schwere Wolken aufgetürmt; der Morgen war neblig und kalt. Gegen acht hatte eine feuchte, nach Schnee riechende Brise eingesetzt. Die Kolonisten hatten das letzte Getreide eingebracht und die Wintersaat bestellt und zogen es nun vor, in ihren Häusern zu bleiben und heißen Kaffee aufzubrühen. Der Wind blies beständig aus dem Norden. Die Temperaturen waren bis nahe an den Gefrierpunkt gesunken, als ein Kriegsschiff, irgendwann nach neun, auf dem freien Feld nahe der Siedlung landete. Für einen Augenblick trat Stille ein. Die Zeit, in der die Kolonisten so handeln und fühlen konnten, wie sie es gewohnt waren, neigte sich dem Ende zu. Keiner von ihnen war erfreut über die Ankunft des Schiffes, niemand wollte etwas mit den Soldaten zu schaffen haben. Diejenigen Soldaten, die am Fenster saßen, blickten unglücklich und mit milder Verwunderung hinaus, aber niemand kam, um sie zu empfangen und zu begrüßen.
Nach einer Weile trat ein hochgewachsener, zerbrechlich wirkender Mann aus dem Schiff heraus und blieb auf dem hartgefrorenen Boden stehen; steif, das Gesicht aus dem Wind gedreht. Offensichtlich beabsichtigte er nicht, näher zu kommen, sei es aus Stolz oder einfach aus Bequemlichkeit. »Nein, sowas!« sagte eine Frau. »Aber warum steht er nur da?« wunderte sich eine andere. Und sie alle dachten das gleiche: Weiß Gott, was im Kopf eines Soldaten vorgeht. Manche von ihnen hielten ihn schlicht für betrunken. Die Saat des Friedens wurzelte tief in diesen Menschen, sehr, sehr tief. Es war ihnen zur Natur geworden, den Krieg zu hassen, und ebenso – beinahe zwangsläufig – die Soldaten zu verachten. Der einsame Mann stand weiter frierend im Wind. Schließlich – auch ein Soldat kann klein und verloren und bedauernswert aussehen – entschloß sich Bob Rössel, sein warmes und gemütliches Bett zu verlassen und in die erbärmliche Kälte hinauszugehen. Der Soldat salutierte. Wie die meisten Soldaten schien er nicht übermäßig sauber und ordentlich, und seine Art, zu grüßen, war eher salopp. Obwohl er größer war als Rossel, wirkte er nicht so. Die Kälte hatte Tränen in seine Augen getrieben. »Captain Dylan, Sir.« Seine Stimme klang flach und niedergeschlagen und trug nur wenige Schritte weit. »Ich habe eine Nachricht vom Flottenhauptquartier. Sind Sie hier verantwortlich?« »Niemand ist hier verantwortlich«, brummte Rossel, ein schlanker, nüchterner Mann. »Wenn Sie mit jemandem reden wollen, dann tun Sie’s. Was gibt’s denn?« Der Captain blickte ihn kurz aus seinen fahlblauen, ausdruckslosen Augen an. Dann zog er einen amtlichen Briefumschlag aus der Innentasche seines Uniformrocks und
gab ihn Rossel, der ihn unschlüssig in der Hand wog. Er wollte erneut fragen, was eigentlich los sei, als die Luftschleuse des schwebenden Schiffes knarrend aufschwang und ein unsicher wirkender, bulliger junger Mann unter dem Ausgang erschien. »Kann ich verschwinden, Jim?« rief er zu Dylan hinab. Dylan wandte sich um und nickte. »Ich hole dich heute abend ab«, rief der junge Mann. Dann grinste er, rief »Fang!« und warf eine Flasche hinunter. Der Captain fing sie auf und ließ sie unter Rossels mißbilligenden Blicken in der Tasche verschwinden. Einen Augenblick später schloß sich die Luftschleuse wieder, und im Schiff begannen die Startvorbereitungen. »Ist er betrunken?« murrte Rossel verärgert. »Und was soll überhaupt diese Flasche?« Der Soldat betrachtete ihn gelassen, beinahe kalt. Er deutete auf den Umschlag in Rossels Hand. »Besser, Sie lesen das und setzen sich in Bewegung. Wir haben nicht viel Zeit.« Er wandte sich um und ging auf die Häuser zu, so daß Rossel gezwungen war, ihm zu folgen. Als Rossel sich den Gebäuden näherte, konnten die anderen Kolonisten erkennen, wie sich seine Lippen lautlos bewegten. Dann startete das Schiff, und die Blicke der Kolonisten wandten sich von Rossel ab und verfolgten die Bahn des Schiffes, bis es rot und funkensprühend in grauen Wolken und Kälte verschwunden war. Nach einer Weile war das Schiff außer Sicht. Niemand sah es je wieder. Der erste Kontakt zwischen Menschen und einer intelligenten Fremdrasse ereignete sich an einem unwirklichen, einsamen Ort irgendwo in der Tiefe des Raums. Gegen Ende des Jahres 2360 – das genaue Datum blieb unbekannt – griff eine fremde Macht die Kolonie auf Lupus V an und vernichtete sie. Ein Postschiff fand die Trümmer und alarmierte die Flotte.
Als die Armee eintraf, konnte sie nur noch den Tod von einunddreißig der siebzig registrierten Kolonisten feststellen. Die anderen, unter ihnen auch Frauen und Kinder, waren verschollen. Mit ihnen verschwunden waren sämtliche technischen Einrichtungen, Radios, Waffen, Maschinen und auch Bücher. Die Gebäude lagen in Schutt und Asche, die Toten waren verbrannt worden. Die Fremden verfügten offenbar über eine Art Hitzestrahl. Nichts, was sonst noch auf sie hingewiesen hätte. Erst nach tagelanger Suche stieß ein Soldat in der verbrannten Asche auf die erste Spur. Aus Sicherheitsgründen hatte – wie im Zentrum jeder Kolonie – unter einem der Hauptgebäude eine Bombe gelegen. Im Falle eines Angriffes sahen die Sicherheitsvorschriften vor, lieber eine ganze Stadt in die Luft zu sprengen, als einem Fremden wichtige Erkenntnisse über die menschliche Technologie und seine Körperchemie in die Hände fallen zu lassen. Es hatte auch auf Lupus V eine solche Bombe existiert, aber obwohl sie ausgelöst worden war, war sie nicht explodiert. Jemand mußte den Zündkontakt unterbrochen haben. Im Herzen des Camps, verborgen unter dreißig Zentimeter Erdreich, war der Draht aufgespürt und gekappt worden. Aber der Armee blieb keine Zeit, das Rätsel zu lösen. Nach fünfhundert Jahren Frieden und Anti-Kriegs-Konditionierung war sie zahlenmäßig klein, ungenügend ausgerüstet und ohne Einfluß. Alles, was sie tun konnte, war die schreckliche Nachricht zu verbreiten und tatenlos zuzusehen, wie die Menschen kopflos die Flucht ergriffen. Sie flüchteten in einem ungeordneten, hastigen Strom von den Sternen, die sie sich hart erkämpft hatten, sprengten ihre Heime hinter sich, betäubt und verdammt. Die meisten entkamen rechtzeitig. Manche, diejenigen, welche am weitesten draußen im Raum gelebt hatten, die Einsamsten,
kamen im Feuer der Fremden um, bevor die Armee sie warnen konnte. Und nun ruhte auf den Männern in den Kriegsschiffen – haltlose Trinker und Spieler, Veteranen einer Zeit, die sie selbst nie erlebt hatten, der Abschaum einer Gesellschaft, die sich längst über sie hinausgewachsen glaubte – die einzige Hoffnung der Erde. Dies war die Botschaft, die Captain Dylan überbracht hatte, der Mann, der mit einer Flasche in der Hand von der Erde gekommen war.
Einen geradezu schon unanständig heiteren Ausdruck in seinem hageren, nicht sonderlich glattrasierten Gesicht, setzte sich Captain Dylan auf die Tischkante und ließ seine langen, gestiefelten Beine herunterbaumeln. Die Kolonisten begannen einer nach dem anderen zu begreifen. Krieg ist immer ein entsetzliches Ereignis, und er bricht immer plötzlich aus und immer scheinbar ohne Grund. Dylan mußte ihnen Zeit geben, die Neuigkeit zu verarbeiten und darauf zu reagieren. Dylan wartete. Die Menschen hier schienen die Nachricht gefaßter aufzunehmen als die in den Städten. Aber schließlich waren sie Pioniere. Dylan grinste. Pioniere. Bevor man einen Planeten besiedelte, wurde er durch und durch gecheckt und von allen möglichen Gefahren gereinigt. Dann beginnt man langsam mit der Kolonisierung und baut vorgefertigte, gehärtete, warme, uneinnehmbare Kunststoffhäuser auf, setzt vollautomatische Pflanzen- und Erntemaschinen ein, baut automatische Fabriken, die aus Unrat Kaffee produzierten, ohne daß man auch nur einen Finger rühren mußte. Und so hat man allmählich die Wildnis gezähmt, sich ein Heim geschaffen und ist Pionier geworden.
Dylan grinste erneut. Aber letztlich waren sie immer noch besser als die Menschen in den großen Städten. Trotz dieser Art zu denken war Dylan selbst keine Kämpfernatur. Nicht einmal ein richtiger Mann, seiner Selbsteinschätzung nach. Er dachte so, weil er Soldat und ein Außenseiter war; es ist für einen ständig betrunkenen Mann eine Genugtuung, einen Nüchternen fallen zu sehen. Er bewegte sich ruhelos. Währenddessen hatten die Kolonisten eingesehen, daß es nicht viel zu sagen gab. »Lupus – Lupus«, murmelte eine große, attraktive Frau. »Heißt das nicht Wolf oder so ähnlich?« Dylan feixte. Sie kamen langsam in Bewegung, diese Pioniere. Es war möglich, daß die Fremden schon bald hier auftauchten, und sie hatten keine Zeit für weitere Diskussionen. Es blieb nur noch eines zu tun – so rasch wie möglich zu verschwinden, schnell und ohne Argumente. Sie begannen es langsam zu verstehen. Der Angst folgte der Widerstand. Ein paar Frauen sammelten sich um Dylan und luden ihren Ärger auf ihn ab. Dann drängte sich Rossel zu ihm durch und redete erregt auf ihn ein. »Sieh dich um, Soldat. Das ist unser Planet. Unsere Heimat. Wir erwarten Hilfe von der Flotte. Bei Gott – wir haben lange genug für euch gezahlt –, jetzt ist es Zeit, daß ihr die Rechnung begleicht. Wir erwarten…« Dylan ließ die Erregung der Leute an sich abbranden, während er auf die Uhr sah und wartete. Er hoffte, dem bald ein Ende setzen zu können. Ein breitschultriger, kräftiger Mann baute sich vor ihm auf und spie ihm den abfälligen Begriff Soldier Boy ins Gesicht. Er wollte wissen, wo die Flotte stand. »Es gibt keine Flotte. Nur noch ein paar Hundert schrottreife Schiffe, die bereits veraltet waren, bevor Sie geboren wurden.
Bis auf vier oder fünf neue Einheiten für die Regierung. Das ist die Flotte.« Dylan hätte sie gern daran erinnert, daß sie es selbst gewesen waren, welche die Armee nicht gewollt und dafür gesorgt hatten, daß die Flotte kleiner und immer kleiner geworden war… Aber es war nicht der richtige Augenblick dafür. Die Zeit verstrich, und die verdammten Fremden waren wahrscheinlich längst im Begriff, anzurücken. Schon vor langer Zeit hatte er erkannt, daß in der Geschichte der Erde keine der friedliebenden Nationen stark geblieben war, und obwohl Frieden ein edler Traum war, nun war er zu Ende, und es war an der Zeit, etwas zu unternehmen. »Wir gehen jetzt besser«, sagte er endlich, und es trat augenblicklich Stille ein. »Leutnant Bossio ist auf dem Weg zu Ihrer Schwesterkolonie auf dem dritten Planeten dieses Systems. Er wird gegen Abend wieder zurück sein, und ich habe Order, bis dahin die Evakuierung abgeschlossen zu haben.« Sie blieben schier eine Ewigkeit wie erstarrt stehen. Schließlich setzte sich ein Mann abrupt in Bewegung, und die übrigen folgten ihm schnell. Ein paar blieben noch zurück, um sich über die Flotte zu beschweren, und einer verlangte Gewehre und sagte, daß er diesen Planeten nicht freiwillig verlassen würde. Dylan atmete erleichtert auf, als auch sie den anderen gefolgt waren. Froh, der Untätigkeit entronnen zu sein, machte er sich auf den Weg, um die beschädigte Bombe zu überprüfen. Der größte Teil der Arbeit mußte im Freien erledigt werden. Mit seinem Meßgerät peilte er Metall an, und er begann auf der Spur des Kabels im gefrorenen Erdreich zu graben. Es war seit Wochen das erste Mal, daß er etwas mit seinen Händen tun mußte, und er tat es gerne.
Dylan war damals in einer Bar aufgelesen worden – er und Bossio –, und man hatte ihnen erzählt, was geschehen war. Während der letzten drei Wochen hatten sie vier Kolonien evakuiert. Dies hier würde die letzte sein, und er begann die Anspannung zu spüren. Nachdem er während der letzten dreißig Jahre herumgehangen und sich wie ein Säufer aufgeführt hatte, konnten sie nicht von ihm verlangen, daß er hinauszog und in die Bresche sprang, nicht so ohne weiteres zumindest. So etwas brauchte seine Zeit. Er machte eine Pause, schwitzend von der ungewohnten Arbeit, und nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. Bevor sie ihm den Auftrag gegeben hatten, war er noch schnell zum Captain befördert worden. Gut, das war in Ordnung. Nach dreißig Jahren war er nun Captain. Dreißig Jahre lang war er durch das Weltall gezogen, hatte seinen Dienst an den äußersten Grenzen des menschlichen Einflußgebietes getan, hatte gewartet, patrouilliert, war ständig betrunken, wartete ständig darauf, daß irgend etwas geschah. Es gab eine Menge Dinge, die man tun konnte, wenn man wartete, und er hatte sie alle getan. Irgendwann einmal hatte er sogar militärische Taktik studiert. Er konnte sich – selbst jetzt nicht – das Lachen verkneifen. Verdammt noch mal, er war noch grün hinter den Ohren gewesen. Aber er war erst neunzehn, als sein Vater starb – an einem Bruch, an einer so blödsinnigen Sache wie einem Bruch, daran war er gestorben, weil er zu lange und zu schwer auf einer Welt mit hoher Gravitation gearbeitet hatte, und damals war die Antikriegskonditionierung noch nicht so gründlich wie heute gewesen. Sie erzählten ihm etwas von Grenzpatrouillen. Sie bekamen ihn und ein paar andere Kinder und einen zusammengebrochenen Arzt. Und… Nun war er Captain.
Sein Rücken begann furchtbar zu schmerzen, während er tiefer in das Erdreich vordrang. Er stieß auf das Kabel und versuchte vergeblich einen klaren Gedanken zu fassen, als es schließlich lose in seinen Händen lag. Obwohl er es in seiner kindischen Art halbwegs erwartet hatte, verschlug es ihm dennoch für einen Moment die Sprache. Das abgerissene Ende war sauber und frei von Frost. Das Kabel war erst vor kurzem durchtrennt worden. Dylan saß eine Weile unschlüssig da, das Kabel lose in der Hand. Fast automatisch griff er nach der Flasche, die an seiner Hüfte befestigt war, aber zum erstenmal verzichtete er auf den Alkohol und zog die Hand wieder zurück. Dies hier war die Wirklichkeit, und es blieb keine Zeit für so etwas. Als Rossel schließlich auf ihn zugestürzt kam, saß Dylan noch immer so da. »Hören Sie, Soldat – wie viele Menschen kann Ihr Schiff transportieren?« Dylan blickte ihn fragend an. »Es verfügt über zwei Betten und kann keinesfalls mehr als zehn Mann befördern. Warum?« Rossel starrte ihn aus weit aufgerissenen, starren Augen an und lehnte sich gegen das Meßgerät. »Wir sind überladen. Wir sind sechzig, und unser Schiff kann nicht mehr als vierzig aufnehmen. Wir sind in Gruppen hier angekommen, und wir dachten nicht…« Dylan schloß die Augen. »Sind Sie sicher? Ohne Gepäck, ohne eiserne Rationen – Sie können nicht mehr mitnehmen?« »Auf keinen Fall. Es ist nur ein kleines Schiff mit einem einzigen Deck – das war alles, was wir uns leisten konnten.« Dylan pfiff durch die Zähne. Er begann sich langsam unbehaglich zu fühlen. »Sieht so aus, als würden ein paar Ihrer Jungs die Fremden aus der Nähe kennenlernen.« Es war das Falscheste, was er sagen konnte, und er wußte es. »Okay«, fuhr er rasch fort, während er noch immer auf das durchtrennte Kabel starrte, »wir werden tun, was wir können. Vielleicht hat
die dritte Kolonie noch Platz. Ich werde Bossio anrufen und mit ihm reden.« Der Kolonist blickte mitleidheischend auf die Gebäude und die aufgescheucht durcheinander hastenden Menschen. »Sind denn keine anderen Schiffe der Flotte in Reichweite der Funkgeräte?« Dylan schüttelte den Kopf. »Die Flotte ist in alle Himmelsrichtungen verstreut.« Er sagte es so freundlich wie er konnte. »Alle sind unterwegs. Wir lassen niemanden im Stich, ganz egal, wo er ist.« In diesem Moment bemerkte Rossel den blanken, durchgetrennten Draht und fragte, was passiert sei. Dylan zeigte ihm die glatten Enden. »Jemand hat es ausgegraben, durchgeschnitten und anschließend wieder säuberlich eingegraben.« »Dieser verdammte Narr!« explodierte Rossel. »Wer?« »Nun, einer… einer von uns, natürlich. Natürlich lebt niemand gern auf einer Bombe, aber…« »Sie glauben, einer Ihrer Leute hat das getan?« Rossel starrte ihn an. »Ist das denn nicht klar?« »Weshalb?« »Nun, einer wird gedacht haben, es sei doch verdammt gefährlich und noch dazu dumm, so wie die meisten Vorschriften der Regierung. Oder eines von den Kindern…« Dylan erzählte ihm von dem Draht auf Lupus V. Rossel schwieg betroffen. Verwirrt starrte er in den Himmel hinauf, dann meinte er unsicher: »Vielleicht ein Tier?« Dylan schüttelte den Kopf. »So etwas tut kein Tier. Es würde ihn wahrscheinlich gar nicht finden und noch weniger wieder eingraben. Der Draht auf Lupus V wurde gekappt, bevor der Angriff begann, und jetzt ist dieser hier zerschnitten – und zwar vor kurzer Zeit.«
Der Kolonist schlug die Hand vor den Mund. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Irgend jemand«, fuhr Dylan fort, »weiß genug über dieses Camp und daß hier eine Bombe eingegraben ist und aus welchem Grund. Und dieser Jemand möchte nicht, daß das Camp zerstört wird. Also kam er her, suchte den Draht und zerschnitt ihn. Und dann ist er wieder gegangen.« »Hören Sie«, meinte Rossel, »ich werde jeden einzeln danach fragen.« Er wollte sich abwenden, aber Dylan ergriff ihn am Arm. »Geben Sie Waffen aus«, ordnete er an. »Und verhindern Sie, daß die Leute in Panik geraten. Ich komme nach, sobald ich den Draht gespleißt habe.« Rossel nickte und rannte los. Dylan knetete die losen Metallenden in den Händen. Er begann die Kälte empfindlicher zu spüren. Es wäre besser, wenn er in eine der Hütten gehen würde, aber er mußte den Draht reparieren. Vielleicht war es das Wichtigste, was er jemals tun würde, diesen Draht zu spleißen. Also, fragte er sich zum tausendsten Mal, wer kann es getan haben? Und wie? Telepathie? Haben sie schon einen von uns unter Kontrolle? Nein. Wenn sie in der Lage wären, einen zu kontrollieren, könnten sie alle kontrollieren, und es gäbe keinen Grund mehr für einen Angriff. Aber er wußte es nicht, er wußte es nicht wirklich. Waren sie klein. Kleine Tiere? Unwahrscheinlich. Die Biologen hatten bewiesen, daß wirklich intelligente Lebewesen über ein gewisses Hirnvolumen verfügen müssen. Die Fremden konnten nicht kleiner als ein Hund sein. Und jede Lebensform auf diesem Planeten war gründlich untersucht worden, lange bevor der erste Kolonist seinen Fuß darauf gesetzt hatte. Wäre plötzlich
irgendwo ein neues Tier aufgetaucht, Rossel hätte davon gewußt. Er mußte Rossel fragen. Er mußte sich überzeugen. Er beendete die Reparatur des Drahtes und legte ihn in die Grube zurück. Dann füllte er sie sorgfältig mit Erdreich auf, bevor er in die Funkstation zurückging. Er zog seine Pistole, überprüfte sie und versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal damit geschossen hatte. Nie. Er hatte noch nie mit einer Pistole geschossen. Kurz vor Mittag begann es zu schneien. Hügel und Bäume versanken unter einer weißen, kalten Decke, und es war, als gäbe es auf dem Planeten nichts weiter als die wenigen, verloren daliegenden Gebäude mit ihren warmen Lichtern. Gegen eins war die Sicht auf Null herabgesunken, und Dylan versuchte, Kontakt mit Bossio aufzunehmen, um ihn zur Eile anzutreiben. Aber Bossio antwortete nicht. Dylan starrte lange und besorgt aus dem Fenster in das Schneetreiben hinaus, betrachtete die grauen Schatten der Büsche und Bäume, die mehr und mehr bedrohlich auf ihn zu wirken begannen. Bossio mußte betrunken sein – vielleicht schlief er irgendwo seinen Rausch aus, bevor er auf dem dritten Planeten landete. Dylan beneidete ihn nicht um diese Aufgabe. Bossio war fast noch ein Kind, und er war allein. Es gehörte eine besondere Art von Mut dazu, ein Schiff allein durch den Raum zu steuern, wenn dort draußen irgend etwas Unbekanntes lauerte… Ein junges Mädchen, frisch und gut aussehend in ihrer gefütterten Pelzjacke, stürmte in die Funkkabine und erzählte ihm aufgeregt, daß ihr Vater, Mister Rush, Wachtposten aufstellen ließ. Dylan hatte noch nicht darüber nachgedacht, aber er stimmte zu. Er begann sich gleichermaßen irritiert wie herausgefordert zu fühlen. Die Dinge fingen an, sich zu überstürzen.
Dylan trat wieder in die Kälte hinaus und suchte nach Rossel. Der Schnee allein war schlimm genug, aber wenn sie nicht bis Sonnenuntergang gestartet waren, hatten sie kaum noch eine Chance. Der Großteil der Kolonisten war bereits damit beschäftigt, das Schiff für den Start vorzubereiten, aber es würde eine Weile dauern, bis sie fertig waren. Er wunderte sich, daß Rossel noch nicht auf den Gedanken gekommen war, Kontakt mit der Kolonie auf dem dritten Planeten aufzunehmen, um sie um Hilfe zu bitten. Aber vielleicht wußte Rossel auch, daß es sinnlos war, und er versuchte nur, der Wahrheit so lange wie möglich auszuweichen. Er konnte es ihm nicht einmal verübeln. Rossel hielt sich zusammen mit dem breitschultrigen Mann, der nach den Wachen gefragt hatte, in seiner Kabine auf. Rush polierte geduldig eine altmodische Jagdflinte. Man konnte ihm ansehen, daß er noch hoffte. »Hören Sie – es gibt da ein Postschiff. Es war erst gestern hier. Wir könnten es zurückrufen. Es kann den Rest unserer Leute aufnehmen.« Dylan verneinte. »Zählen Sie nicht darauf.« »Aber wir haben einen Vertrag!« Der Soldat lachte abfällig. Der große Mann, Rush, überging das hoffnungslose Lächeln. »Wer hat den Draht gekappt, Captain?« fragte er ruhig. Dylan wandte sich langsam um und blickte ihn an. »Soweit ich das beurteilen kann – ein Fremder.« Rush schüttelte den Kopf. »Nein. Es gibt keine Fremden in der Nähe, und auch keine unbekannten Tiere. Wir haben ein planetenumspannendes Radarsystem, und es ist nicht ein unidentifiziertes Schiff gelandet, seit wir hier sind. Seit Jahren nicht.« Er hob das Gewehr und sah prüfend durch den Lauf. »Das war einer von uns.«
Der Mann hatte sich offenbar Gedanken darüber gemacht. Und er kannte den Planeten. »Telepathie?« fragte Dylan. »Möglich.« »Aber ich glaube nicht daran. Ihre Leute leben zu dicht beieinander; sie würden rechtzeitig spüren, wenn irgendwer… nicht mehr er selbst wäre. Und wenn die einen beeinflussen könnten – warum dann nicht uns alle?« Rush nahm – so bedächtig wie er alles tat – seine Pfeife zur Hand. Plötzlich trat ein strenger, starker Zug an diesem Mann hervor, etwas, das Dylan bisher nicht bemerkt hatte. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Aber sie sind Fremde, Mister. Und solange ich nicht genau Bescheid weiß, werde ich ein wachsames Auge auf meine Nachbarn werfen.« Er schenkte Rossel einen vieldeutigen Blick. Plötzlich sprang Rossel auf. »Mein Gott!« Dylan ging rasch zu ihm hinüber. »Überlegen Sie – gibt es irgendein Tier in der Nähe des Camps, das größer ist als ein Hund?« Rush antwortete erst nach einer Weile. »Ja, eines. Der Viggel. So eine Art Affe, mit vier Beinen. Wir haben ihn untersucht, nachdem wir gelandet waren. Wir haben einen abgeschossen, und der Rest ist geflüchtet.« Er bewegte sich langsam, das Gewehr unter den rechten Arm geklemmt. »Ich denke, es wird Zeit, Posten aufzustellen.« Dylan hätte sich gern noch mit ihm unterhalten, aber es gab nichts mehr zu sagen. Rossel begleitete ihn bis zur Funkstation, um mit der Kolonie auf Planet drei zu reden. Er wirkte besorgt. Nachdem er gegangen war, wandte sich Rush an Dylan. »Wo wollen Sie die Posten aufstellen, Captain? Ich denke, wir können auf Walt Haloran und Web Eggers und sechs oder sieben andere zählen.«
Dylan blieb stehen und blickte unschlüssig in die treibenden Schneewolken. »Sie kennen die Gegend besser als ich. Postieren Sie die Männer in einem Kreis, weit auseinandergezogen, aber noch in Rufweite. Sie sollen sich alle fünf Minuten melden. Ich werde Ihren Leuten beim Schiff helfen.« Der große Mann nickte und schlug sich den Schnee von den Schultern. »Ein schöner Tag zum Jagen«, sagte er. Er ging, und der Schnee deckte seine Fußspuren zu.
Der Fremde lag lauernd in seinem elektrischen Kokon, eingegraben in einer dunklen, warmen Höhle dicht unter einer Baumwurzel. Der Baum selbst diente ihm als Antenne; verwundert beobachtete er auf seinem Schirm, wie die Menschen ihr Lager verließen. Er sah sie ausschwärmen, acht von ihnen, beobachtete, wie sie sich in den Schnee sinken ließen. Und er sah, daß sie bewaffnet waren. Er war besorgt. Seit dem Morgen, als das zweite Schiff angekommen war, beobachtete er das Lager ununterbrochen. Alles sprach dafür, daß die Menschen die Gefahr erkannt hatten, in der sie schwebten. Sie schienen ihre Flucht vorzubereiten. Der Fremde war nicht sonderlich glücklich darüber. Der Angriff konnte nicht vor dem späten Abend beginnen. Aber Flexibilität, erinnerte er sich, ist das oberste Prinzip einer erfolgreichen Kriegsführung. Er mußte seinen Plan ändern. Er drückte einen Knopf auf einem Kasten vor sich. Ein heller Leuchtpunkt auf seinen Anzeigen zeigte ihm, daß der Angriff auf den dritten Planeten bereits begonnen hatte. Der Fremde fühlte eine schwache Hoffnung in sich aufkeimen. Er lag reglos, beobachtete die winzigen, hell erleuchteten Fenster hinter dem dichten Schneetreiben und
dankte im stillen dafür, daß er hier sicher und geborgen liegen konnte und nicht in die mörderische Kälte hinaus mußte. Plötzlich schreckte ihn ein alarmierender Gedanke hoch. Die Menschen bewegten sich mit einer Hast, die intelligenten, denkenden Kreaturen unwürdig war. Plötzlich war er sich sicher, daß sie noch vor Mitternacht ihren Planeten verlassen haben würden. Er würde keine Chance haben. Er drehte hastig an Schaltern und drückte einen einzelnen Knopf herunter, dann legte er sich zurück, entspannt, warm, und beobachtete das Schiff auf seinem Schirm.
Der dritte Planet antwortete nicht. Rossel starrte nervös hinaus in das immer dichter werdende Schneetreiben und versuchte krampfhaft, an etwas anderes zu denken, bevor er noch einmal den Planeten drei rief. Dann, mit der Wucht einer Explosion, wurde ihm klar, was geschehen war. Planet Drei hatte bisher immer geantwortet. Alles, was sie tun mußten, war in die Funkstation zu gehen und Hallo zu sagen. Das war alles. Er versuchte es wieder und wieder, aber niemand antwortete. Es gab kein statisches Rauschen, keine Interferenzen, nichts. Er checkte die Frequenzen durch, überprüfte seine Geräte und versuchte es wieder, aber der Äther war so tot wie der freie Raum. Schließlich ging er hinaus, um Dylan die Nachricht zu bringen. Dylan nahm es gelassen hin. Er hatte keinen von den Leuten auf dem dritten Planeten gekannt, aber er fühlte plötzlich noch mehr Eile, von hier wegzukommen. Er sagte Rossel ein paar aufmunternde Worte und ging dann wieder zum Schiff, um den Kolonisten zu helfen. Er kannte sich gut genug mit Schiffen aus, um ihnen sagen zu können, was entbehrlich war und was nicht. Aber selbst dann, wenn sie nur das Allernotwendigste an Bord nahmen, um den Planeten noch verlassen zu können,
würde es nicht alle Bewohner fassen. Als ihm dies klar wurde, wußte er auch, daß er einer von denen sein würde, die zurückblieben. Die Kolonie auf dem dritten Planeten war tot. Bossio war vor einiger Zeit dort gelandet, und wenn die Kolonie tot war, dann war er es auch. Für einen endlos langen Augenblick stand Dylan wie angewurzelt im Schnee. Schlimmer als der Gedanke, daß er hierbleiben würde, traf ihn die Vorstellung, daß Bossio tot war. Er konnte es einfach nicht glauben. Bossio war der einzige Freund gewesen, den er jemals gehabt hatte. In diesem ganzen verdammten Universum war Bossio sein einziger Freund und seine einzige Stütze gewesen. Er ließ das Schiff hinter sich zurück und suchte die Siedlung auf. Die Kolonisten waren schweigsam geworden, und ein paar der Frauen weinten. Dylan begriff allmählich, daß sie ihn als ihren Retter ansahen, daß er ihre letzte Hoffnung war. Und er würde sie nicht enttäuschen, das schwor er sich. Bossio – das große, ständig lächelnde Kind ohne Eltern, ohne Feinde und Neider –, Bossio war tot, weil er hierher gekommen war, um diesen Menschen zu helfen. Menschen, die ihn sein Leben lang getreten oder bestenfalls ignoriert hatten. Und bald schon würde er selbst hier zurückbleiben und vermutlich sterben, um diese Menschen in Sicherheit zu bringen, Menschen, die er vor vierundzwanzig Stunden nicht einmal gekannt hatte. Jetzt, als es zu spät war, viel zu spät, riefen sie die Army um Hilfe. Aber letztlich konnte er keinen Haß auf diese Menschen empfinden. Alles, was sie sich wünschten, war Frieden, und so, wie sie niemals verstehen würden, daß dieses Universum bedrohlich und geheimnisvoll war, würden sie niemals aufhören, vom Frieden zu träumen. Wenn Frieden ohne
Soldaten nicht möglich war, dann war das etwas, was sie noch lernen mußten. Nein – er konnte sie nicht hassen. Aber er konnte ihnen auch nicht helfen, und so zog er sich in die Funkbaracke zurück. Die Dämmerung war hereingebrochen, und er wollte nicht mit ansehen, wie Frauen ihre Männer oder Söhne zurücklassen mußten, wie entschieden wurde, wer auf dem Schiff einen Platz erhielt und wer nicht. So versuchte er ein letztes Mal, mit Bossio Kontakt aufzunehmen. Nach einer Weile kam eine alte Frau und brachte ihm Kaffee. Es war eine nette Geste, in einem Moment wie diesem an ihn zu denken, mehr nicht, aber er empfand plötzlich eine tiefe Dankbarkeit. Die Frau meinte, daß er doch in der dünnen Army-Uniform frieren müsse und sie ihm einen Pullover bringen werde. Dann schenkte sie ihm Kaffee ein und ließ ihn mit sich und seinen Gedanken allein. Sie dachten jetzt an ihn, so, wie sie an jeden dachten, der zurückbleiben würde. Gib dem Hund einen Knochen. Verdammt, so hatte er es nicht gewollt. Er hatte den ganzen Tag nichts gegessen, und der Kaffee war heiß und stark. Er trank ihn aus und begab sich dann wieder zum Schiff zurück.
Es war von allem Überflüssigen geräumt worden, und die Kolonisten begannen langsam, an Bord zu gehen. Voller Verwunderung bemerkte er eine Gruppe, die inmitten des fallenden Schnees stand und sich der Kleider entledigte. Dann begriff er. Die Kleidung von vierzig Menschen wog genug, um statt dessen noch einige mehr an Bord zu nehmen. Es gab kein Gerangel um die Plätze. Ein paar Frauen waren hysterisch und in den Kabinen eingesperrt worden, aber im großen und ganzen ging es sehr diszipliniert zu. Zuerst kamen die Kinder,
dann die Frauen und die jüngeren Männer. Ein paar der Älteren liefen um das Schiff herum, stampften mit den Füßen auf oder schlangen die Arme um die Körper, um sich warm zu halten. Schließlich faßte das Schiff sechsundvierzig Menschen. Rossel war auch einer von denen, die zurückblieben. Dylan entdeckte ihn in der Nähe der Schleuse. Er hielt seine Frau umarmt, das Gesicht in ihrem weichen braunen Haar vergraben. Der Anblick löste ein Gefühl von tiefer Sympathie in Dylan aus, ein Empfinden, das ihn ein wenig für die letzten dreißig Jahre entschädigte. Das waren seine Leute. Etwas, was er bisher nicht verstanden hatte. Er stand da, wartete, sah zu, bis die halbnackten Kolonisten in dem Schiff verschwunden waren und die Schleuse geschlossen wurde. Aber als das Schiff zu starten versuchte, erfolgte nichts weiter als ein sich verbreitender, scharfer, brennender Geruch. Es hob nicht vom Boden ab. Rush hockte voll dunkler Vorahnungen im Schnee, das Gewehr über die Knie gelegt. Er war in dicke, weiße Kleider gehüllt, und Dylan wäre beinahe über ihn gestolpert, wenn er ihn nicht vor sich hinmurmeln gehört hätte. Er zog seine Pistole und setzte sich neben ihn. »Was ist los?« fragte Rush. »Die Düsen sind ausgebrannt. Sie reparieren sie.« »Schwierig?« Dylan schüttelte den Kopf. »Wie lange werden sie brauchen?« »Fünf… vier Stunden.« »Bis dahin ist es dunkel.« Rush zögerte. »Verdammt.« »Es sieht so aus, als könnten sie es schaffen. Vielleicht greifen sie erst gegen Morgen an.« »Ich hoffe es. Vielleicht haben sie nicht viele Schiffe.«
»Vielleicht greifen sie auch nachts an, weil sie dann besser sehen. Oder sie sind langsam. Oder sie haben gar kein System.« Rush schwieg. Der Schnee legte sich sanft auf sein Gesicht, seine Augenbrauen und Wimpern und begann zu gefrieren. Schließlich fragte er: »Glauben Sie, daß es… Sabotage war?« Dylan schüttelte erneut den Kopf. »Niemand hat etwas gesehen – oder jemanden. Aber sie waren alle durcheinander. Ihre Theorie, daß es einer von uns war, beginnt mich allmählich zu überzeugen.« Der Kolonist zog seine Handschuhe aus und zog eine Zigarette hervor. Dylan dachte an die Glut, die man weithin sehen würde, aber er sagte nichts. Es machte keinen großen Unterschied mehr. Die Fremden wußten auch so, wo sie waren. »Wissen Sie«, sagte er plötzlich, mehr zu sich selbst als zu Rush, »ich bin seit dreißig Jahren in der Army, und dies ist mein erster Kampf. Einmal haben wir Schmuggler gejagt – wir haben nie einen erwischt, ihre Schiffe waren schneller als unsere –, ein andermal haben wir nach unregistrierten Schiffen Ausschau gehalten… Dinge wie diese. Aber ich habe niemals wirklich gekämpft. Ich habe nie auf jemanden geschossen.« Rush starrte zum Wald hinüber. »Vielleicht kommt das Postschiff doch noch rechtzeitig.« Dylan nickte. »Es muß doch noch eine Gerechtigkeit geben, verdammt noch mal, nach all der Zeit, die wir hier waren.« Als Dylan nicht antwortete, fuhr er fort: »Manche von ihnen würden barfuß durch die Hölle gehen, wenn sie dadurch ihre Heimat retten könnten.« »Sicher«, meinte Dylan. Warum sollte er ihn entmutigen? Sie hatten vier lange Stunden vor sich. »Es wird kalt«, murmelte Rush nach einer Weile. »Ich verstehe allmählich, warum Sie eine Flasche bei sich haben.«
Dylan zog sie hervor und reichte sie Rush. Der Kolonist trank dankbar und sagte, halb ernst, halb im Scherz: »Einen für den Weg.« Der Planet zog weiter seine Bahn, und die Nacht brach herein. Sie warteten, sprachen leise miteinander, während die unsichtbare Sonne langsam hinter dem Horizont versank. Und schließlich, endlich, hörten sie ein letztes, machtvolles Röhren durch den Schnee. Ein Schiff raste über sie hinweg, sie hatten ihre Waffen griffbereit in Händen, als sie es erkannten. Es war das Postschiff. Es landete auf einem Feld in der Nähe des Camps. Rush ergriff Dylans Arm. »Sie nehmen uns mit!« schrie er aufgeregt. »Sie nehmen uns alle mit!« Auch Dylan lachte. Und dann sah er das Ding. Schlank und schemenhaft, weiß, beinahe unsichtbar, brach es aus dem Wald hervor und stürzte auf sie zu. Das Ding hatte vier Arme und lief direkt auf ihn zu, und Dylan feuerte instinktiv. Er traf, aber es sprang sofort wieder auf und schleppte sich hastig in den Wald zurück. Es war verschwunden, bevor Dylan noch einmal schießen konnte. Dylan und Rush lagen halb vergraben im Schnee. Aus dem Camp drang nicht der leiseste Laut herüber. »Konnten Sie etwas erkennen?« Rush murrte. »Sparen Sie sich Ihre Munition, Soldat. Sah aus wie einer von diesen Affen.« Aber irgend etwas war nicht so, wie es sein sollte. Da war etwas, etwas, was Dylan nicht genau bezeichnen konnte, aber das falsch war, sehr falsch sogar. »Verdammt«, murmelte er, »das war kein Affe!« »Langsam – « »Ich habe es getroffen. Ich habe es voll erwischt, und… es hat ein Geräusch gemacht.«
Rush starrte ihn an. »Haben Sie es nicht gehört?« »Nein. Ich hatte Ihre Waffe am Ohr.« Plötzlich sprang Dylan auf und rannte durch den tiefen Schnee zu der Stelle, wo das Ding gestürzt war. Irgend etwas war von ihm abgebrochen, als er es getroffen hatte. Er bückte sich, hob eine Pfote auf und brachte sie zu Rush zurück. Es war kein Blut daran, die Haut war echt und lebendig, aber es gab kein Blut, weil seine Muskeln Federn, der Knochen Stahl und das ganze Ding ein Roboter war.
Der Fremde schrak plötzlich von seinem Lager auf. Als das Schiff sich genähert hatte, war seine ganze Aufmerksamkeit darauf gerichtet, und einer von diesen verdammten Robotern war den Menschen direkt in die Arme gestolpert. Für eine Weile klammerte er sich noch an die Hoffnung, daß die Humanoiden ihn übersehen hatten oder für ein Tier halten würden, obwohl sie darauf geschossen hatten, aber als er die Maschine durchcheckte, stellte er fest, daß eines ihrer Teile fehlte, und er wußte, daß es die Humanoiden gefunden hatten. Nun, dachte er unglücklich, jetzt gab es keine Möglichkeit mehr, auch das andere Schiff am Start zu hindern. Die Humanoiden würden nichts mehr in seine Nähe vordringen lassen. Und deshalb – denn er war, trotz allem, noch immer sehr flexibel – mußte er auf eine andere Vorgehensweise ausweichen. Die Siedlung würde explodieren. Er mußte sein Versteck verlassen und in die grimmige Kälte hinausgehen, um einen anderen, weiter entfernteren und sichereren Unterschlupf aufzusuchen. Schließlich wollte er sich nicht mit seiner eigenen Bombe in die Luft jagen. Aber da war noch immer diese grausame Kälte.
Mit einem leisen Gefühl des Bedauerns steuerte er seinen Sitz aus der Höhle und hinaus in den Schnee. Seine Gesichtsplatte schnappte, nach dem ersten Schwall eisiger Kälte, herunter und begann sich augenblicklich mit einem dünnen Film aus Schnee- und Eiskristallen zu überziehen. Aber das hatte er erwartet. Nun, das machte nichts. Er gab die Koordinaten des Bunkers in die Automatik ein. Das Gefährt würde seinen Weg allein finden. Kein Grund zur Besorgnis. Die Ausführung seines Plans näherte sich der Vollendung. Bei dem Gedanken an seinen – wenn auch nur kurzfristigen – Rückzug begann er zu zittern. Sein Plan war perfekt vorbereitet, aber er ging trotzdem noch einmal alle Einzelheiten durch. Seit man die Humanoiden zum erstenmal entdeckt hatte, war viel darüber nachgedacht worden, wie man sie und ihre Technologie am besten kennenlernen konnte, ohne selbst entdeckt zu werden. Es bestand wenig Hoffnung, die Humanoiden auszulöschen, wenn man nicht so viel wie möglich über sie wußte. Das Leben war manchmal ein sehr bemerkenswerter Vorgang – eine unbedeutende Kleinigkeit genügte, um das Schicksal ganzer Rassen zu bestimmen – so oder so. Aber sie hatten aus allem gelernt, und sie hatten die Roboter ersonnen. Der Plan war gut. Ausgefallen und elegant. Den Fremden überfiel erneut ein leichtes Schaudern. Die Humanoiden erweiterten ihren Lebensraum, weit über ihre Grenzen hinaus; ihre Basis lag irgendwo hinter Centaurus. Aus diesem Grunde war ein Verteidigungsring errichtet worden, Basen auf den Welten, auf die sie aller Wahrscheinlichkeit nach zuerst vordringen würden. Und sie kamen, einer nach dem anderen. Und niemand bemerkte, daß die Verteidiger sie bereits erwarteten. Oh, der Plan war genial.
Die Fremden sammelten Tiere von den Welten, wohin die Menschen kommen würden, und konstruierten Duplikate. Roboter, die sie auf den gefährdeten Welten absetzten, und die warteten… warteten, daß die Menschen kamen. Natürlich prüften die Humanoiden jede neue Welt gründlich, bevor sie eine Kolonie errichteten. Und natürlich untersuchten sie ihre Tiere. Aber ebenso natürlich fiel ihnen nie eines der RobotDuplikate in die Hände, und sie fanden auch nicht einen der sicher vergrabenen Verteidiger. Nach einiger Zeit ließ die Vorsicht der Humanoiden nach. Sie begannen sich einzuleben, ohne zu ahnen, daß die Tiere, die sie sahen, Roboter waren, daß unter all den reglosen Bäumen in ihrer Umgebung beständig einer lauerte, der sie beobachtete, nicht aus den Augen ließ. Keiner der Humanoiden schenkte den affenähnlichen Tieren Aufmerksamkeit oder dem kleinen, weißen Kaninchen, das in Wirklichkeit ein Kameraauge war, Ratten, die chemische Proben nahmen, oder Eidechsen, die Drähte kappen konnten. Der Fremde zog weiter seinen Weg durch den Schnee. Er zitterte jetzt so heftig, daß der Sitz unter ihm erbebte. Er hielt an, bevor er das Gleichgewicht verlieren konnte, und wartete, bis er sich beruhigt hatte. Noch etwas Zeit – sehr wenig Zeit –, und er hatte allen Grund, vor Erregung zu erbeben.
»Sie müssen schon seit Sonnenuntergang hier sein«, stellte Rush beunruhigt fest. »Und wir haben von all dem nichts bemerkt.« »Ich frage mich, wieviel sie herausgefunden haben«, antwortete Dylan. Rush betrachtete die Pfote prüfend. »Eine verdammt gute Arbeit. Und sie haben garantiert nicht nur diese Art Affen hergestellt. Es kann buchstäblich alles und
jedes sein… wir sollten ins Camp gehen und die anderen warnen.« Dylan erhob sich langsam auf die Knie und blinzelte verwirrt in das Schneetreiben. Seine Gedanken überschlugen sich, wirbelten im Kreis wie eine Roulettkugel. Aber in all dem Chaos tauchte ein klarer Gedanke auf, der stärker und stärker wurde – etwas, das schon immer in ihm geschlummert hatte, vielleicht die letzten dreißig Jahre. »Warten Sie«, sagte er. Rush hatte sich ebenfalls auf die Füße erhoben und Dylans Arm ergriffen, aber jetzt hielt er abrupt inne. Durch die wild treibenden Schneeflocken versuchte er in Dylans Augen zu sehen. Der Soldat starrte wie gebannt in den Wald hinüber. Seine Stimme zitterte und war kaum zu verstehen. »Sie wissen alles über uns, aber wir wissen nichts über sie. Vielleicht sitzen sie gerade jetzt dort draußen, hinter diesen Bäumen, und vielleicht warten sie nur darauf, daß wir gehen.« Er brach ab und flüsterte dann: »Wenn ich nur einen von ihnen erwischen könnte.« Der plötzliche Gedanke kam überraschend, sowohl für Dylan als auch für Rush. Die Zeit dafür war ungenutzt vorüber, schon lange, und für eine Ewigkeit schienen beide den Sinn seiner Worte nicht zu begreifen. »Kommen Sie«, forderte Rush schließlich. Dylan schüttelte verneinend den Kopf, doch war er verwundert über sich selbst. »Ich komme bald nach.« Rush blickte ihn fragend an. »Hören Sie«, flüsterte Dylan aufgeregt. »Wir brauchen nur einen. Wenn wir nur einen einzigen von ihnen in unseren Labors untersuchen könnten, wüßten wir, wer sie sind. Doch wir wissen absolut nichts. Wir können uns nicht einfach umdrehen und verschwinden.« Er schauderte bei den
unvertrauten, fremd klingenden Worten. »Wir werden kämpfen.« Er entfernte sich von Rush und stützte sich mit den Ellbogen im Schnee auf. Der Anblick der weiten, weißen Fläche vor ihm ließ sein Herz schneller schlagen. Er hatte keine Zeit, der Ruhe zu lauschen, und er war froh darüber. Es war keine Sache von Leben oder Tod, dachte er, sondern nur, ob er es tat. Früher oder später mußte jeder Mann seine Entscheidung treffen, die sein Leben veränderte, oder es war kein wirkliches Leben mehr. Er würde als Mann diesen Planeten hier verlassen… oder gar nicht. Rush ließ sich wieder neben ihm nieder. Er begann zu verstehen. Er war ein alter Mann, und er hatte, wie alle Menschen der Erde, niemals gekämpft. Er hatte den Kampf nicht aufgenommen gegen das Land selbst, gegen Fluten oder Unwetter oder irgendein Unrecht, gegen die ein Mann kämpfen konnte, aber er begann zu begreifen, daß er etwas unterlassen hatte. Jetzt, mit der zerstörten Pfote des Roboters – des Feindes – in der Hand, begann er zu ahnen, daß er nie wie ein Mann gehandelt hatte. Er war bereit zum Kampf, aber es war zu spät, und er wußte es. »Was kann ich tun?« fragte er. Dylan schüttelte den Kopf. »Gehen Sie zurück und erzählen Sie den anderen von den Robotern, und wenn das Schiff repariert und startbereit ist, bevor ich zurück bin – nun, dann viel Glück.« Er begann auf Knien und Ellbogen vorwärts zu kriechen, aber Rush hielt ihn noch einmal zurück. »Hören Sie«, mahnte er. »Sie schulden niemandem etwas.« Dylan blickte ihn befremdet an. »Ich weiß«, erwiderte er. Dann kroch er weiter über die Lichtung auf die Schwärze des Waldes zu.
Alles, was er jetzt brauchte, war Glück. Nichts weiter als gutes, altes Glück. Er wußte nicht, wo sie waren oder wie viele es waren oder wer oder was sie überhaupt waren, und es war möglich, daß sie ihn gerade in diesem Augenblick genau beobachteten. Er robbte langsam und vorsichtig weiter, den Blick angestrengt auf den Waldrand gerichtet. Der Schnee fiel in schweren, feuchten Flocken auf ihn nieder und tarnte das Schwarz seiner Kleidung, und je weniger er auffiel, desto besser. Trotzdem, er brauchte Glück. Es wurde rasch dunkler. Vielleicht hatte er doch eine winzige Chance. Vorsichtig nahm er den schweren Helm ab und setzte die Nachtbrille auf. Es war überlebenswichtig für ihn, seine Umgebung genau beobachten zu können. Um ihn herum war nichts als Schnee und tödliches Schweigen und die weißen Stämme der Bäume. Er kroch zwischen ihnen hindurch, bewegte sich auf Knien und Ellbogen, die Pistole schußbereit in der Rechten. Sein Arm streifte über einen Felsen. Es schmerzte höllisch, und sein Gesicht begann allmählich vor Kälte steif zu werden. Einmal hielt er inne, um sich den Schnee aus den Augen zu wischen. Dann war er zwischen den Bäumen am Waldrand hindurch und blieb für einen Augenblick reglos liegen. Wenn dort vorne irgend etwas seiner harrte, dann würde es ihn aus genau dieser Richtung erwarten. Es war daher besser, er schlug einen Bogen und näherte sich von der anderen Seite. Mit größter Vorsicht zog er sich an einem Felsen hoch und blickte sich sichernd um. Weshalb hatten sie ihn noch nicht entdeckt? Waren sie ihm bereits auf der Spur? Er sah sich rasch um, aber die Dunkelheit war undurchdringlich geworden, und er konnte kaum noch etwas erkennen. Aber er blickte sich dennoch um, immer und immer wieder. Vorsichtig bewegte er sich in eine enge Schlucht hinein. Mächtige Bäume umgaben ihn, und er war dankbar für ihren
Schutz. Und dann, plötzlich, vernahm er in der grauen klirrenden Kälte über sich ein Geräusch. Er ließ sich in den Schnee fallen, lauschte angestrengt. Irgendwo zwischen den Bäumen vor ihm bewegte sich etwas. Es kam nicht auf ihn zu. Er richtete sich auf, konnte aber nichts erkennen. Er kroch weiter, noch langsamer und behutsamer als zuvor. Das Ding bewegte sich auf der rechten Seite der Schlucht, und es kam aus der Richtung, die er umgangen hatte. Es bewegte sich ohne erkennbare Vorsicht. Dylan brauchte sich nicht zu sorgen, es aus den Augen zu verlieren. Auf Händen und Knien kriechend, bewegte er sich weiter. Eisiger Schnee drang durch seine Kleidung und ließ ihn frösteln. Er wechselte die Pistole in die andere Hand und hauchte seinen Atem warm über die Finger der Rechten, während er weiterkroch. Er sah das Ding, als er das andere Ende der Schlucht erreicht hatte. Es war ein großes, schwarzes Gebilde auf einer Plattform, einer Plattform mit Beinen. Es kam den Hügelkamm herunter und umrundete die Schlucht, und es sah ihn nicht. Hätte Dylan sich nicht geduckt und gleichzeitig die Waffe hochgerissen, der Affe hätte ihn vielleicht ebenfalls übersehen, aber er hatte keine Zeit zu überlegen. Der Affe befand sich wenige Meter neben der Plattform, und er begann zu laufen. Über den Schnee direkt auf ihn zu. Sein erster Schuß traf ihn in den Kopf, genau zwischen die Augen. Ein greller Blitz zuckte auf, als das Ding zusammenbrach, und etwas schrammte über seine Schulter und die linke Seite seines Gesichtes. Er warf sich zur Seite, bemüht etwas zu erkennen, die Waffe auf Armeslänge von sich gehalten, und das Ding auf der Plattform sprang auf ihn zu. Er schoß. Drei Schüsse trafen den schwarzen Klumpen, der vierte riß ein Bein von der Plattform weg, und das ganze Ding brach zusammen.
Dylan kroch schmerzerfüllt hinter einen Felsen. Sein linker Arm war zerschmettert. Stille kehrte wieder ein. Er wartete, aber der Fremde regte sich nicht mehr. Nichts in seiner Umgebung regte sich. Er hielt das Gesicht in den lautlos fallenden Schnee, kühlte die verbrannte, rußgeschwärzte Wunde an seiner linken Seite. Nach einer Weile näherte er sich vorsichtig dem Affen. Er war in einer sitzenden Position erstarrt, und er rührte sich nicht mehr. Seine Funktionen waren erloschen, als Dylan das riesige, unförmige Gebilde getroffen hatte. Trotz der Schmerzen und der vor Kälte starren Glieder fühlte er ein Gefühl des Glücks in sich aufsteigen. Der Führer. Er hatte den Anführer getötet. Er brauchte jetzt keine Vorsicht mehr walten zu lassen. Vielleicht waren ein paar der anderen Roboter noch intakt und fähig, selbständig zu handeln, aber auch die würden sie zerstören. Er ging zu dem toten Ding hinüber und starrte es gefühllos an. Durch eines der Löcher konnte er einen schwarzen, teigigen Leib erkennen. Es war zu groß, um es fortzuschleppen, aber er wollte etwas haben, was er mit zurücknehmen konnte. Er ging zurück, ergriff den Affen bei einem seiner starren Arme und begann, ihn in Richtung auf die Stadt zu schleifen. Es war mittlerweile tiefste Nacht, und er fühlte sich unsagbar müde. Aber er ging einem neuen Zeitalter entgegen. Die Tage, die nun kamen, waren Tage voller Leben. Er würde mit hoch erhobenem Haupt einhergehen, und er würde eine Antwort auf die Frage wissen, ob der Mensch zu Hause am Feuer bleiben oder hinausgehen konnte. Es war etwas Großes, Machtvolles, was Dylan erfahren hatte, und er war nicht sicher, ob er es wirklich begriff. Aber er wußte es trotzdem, wußte es, ohne es verstehen zu müssen. Und so ging er nach Hause, zu seinen Leuten.
Sie würden es lernen, einer nach dem anderen, in allen dunklen, einsamen Ecken des Universums. Der Schnee fiel, und der Planet zog weiter seine Umlaufbahn, aber es war ein neuer Frühling. Dylan hatte den Kampf gewagt, und die Menschen waren bereit, zu den Sternen zurückzukehren.
Das Ende der Zeitmaschine
Es war ungewöhnlich warm für November. Ein grauer Dunstschleier lag über dem See, durchdrungen von warmem, orangerotem Sonnenlicht. Ich wartete in der stauenden Hitze der Veranda, starrte abwesend auf den See hinunter und spürte den warmen Wind fächelnd im Gesicht. Zehn Minuten. Zwanzig. Ich sah auf die Uhr. Er mußte bald auftauchen. Ich schluckte und fühlte einen Schauer kalter Erregung. Er konnte jederzeit zurückkehren. Pell konnte es. Jederzeit. Ich wartete. Und dann kam er. Plötzlich stand er auf der Veranda, aufgetaucht wie aus dem Nichts. Seine Augen strahlten. Er lachte. Er hielt eine Zeitung in der Hand. Eine ganze Zeitlang stand er so da, sah mich lächelnd an, und ich stand da, lächelte zurück und fühlte eine tiefe Ehrfurcht, aber auch Spannung und Erleichterung. »Wo warst du?« fragte ich. »Neunzehnhundertachtunddreißig.«
Nun war es also geschehen. Unwiderruflich geschehen. Wir saßen schweigend da, und ich spürte nicht einmal mehr die Hitze. Es war ein großer Augenblick, aber er war auch verwirrend. Nichts ergab mehr einen Sinn. Wir waren da, wo wir angefangen hatten.
Ich hatte eine Flasche bereitgestellt. Wir prosteten uns zu, tranken auf uns und auf die Zukunft. »Wie lange war ich weg?« fragte er. »Vierunddreißig Minuten.« Er nickte, blickte auf seine Uhr. »Exakt. Ich hatte gerade genug Zeit, in die Stadt zu gehen und eine Zeitung zu kaufen.« Er warf sie mir über den Tisch zu. Ich las: 30. Oktober 1938. Ich grinste. »Kein besonders bemerkenswerter Gegenstand.« Pell zuckte mit den Schultern. »Der erste Versuch. Das nächste Mal werde ich etwas Eindrucksvolleres mitbringen. Vielleicht Kleopatras Gürtel.« Er lachte, aber ich bemerkte, wie sich seine Augen weiteten. »Mein Gott, Tom – es ist unglaublich! Ich habe sie gesehen. All die Kinder und die Toten, die Nachbarn, die ich kannte. Ich… sprach mit ihnen! Und niemand erkannte mich. Ich hätte noch viel länger bleiben können, aber ich war zu schwach, zu aufgeregt… es ist… es ist… unglaublich!« Er starrte über den See und schüttelte langsam den Kopf. Wir schwiegen beide für eine lange Zeit. Und dann holte uns die Frage wieder ein. Zumindest Pell. Ich selbst fühlte mich zu verwirrt, zu erschöpft. Wir hatten gearbeitet und geredet und gedacht, aber keiner von uns hatte je wirklich geglaubt, daß ein Mensch in der Zeit reisen könnte. Und nun hatte Pell genau das getan. Und wir waren wieder zu der Frage zurückgekehrt, die uns die ganze Zeit begleitet hatte. »Nun«, sagte Pell schließlich. »Soweit zur Vergangenheit. Und was ist mit der Zukunft?« Ich stellte mein Glas zurück. Plötzlich fühlte ich mich schwach. »Zur Hölle damit. Laß sie kommen.« »Aber sie ist schon da.« Pell lehnte sich in seinem Sessel zurück, lächelte still und hielt sein Glas gegen das Licht. »Die Zukunft existiert«, stellte
er fest. »Sie existiert jetzt, Tom. Genauso wie die Vergangenheit jetzt existiert. Wir haben es bewiesen.« Ich nahm einen langen, tiefen Schluck. »Aber wenn wir die Zeitreise haben«, fuhr Pell fort, »dann haben sie die Menschen in der Zukunft auch. Sie müssen in der Lage sein… sind in der Lage, zurückzureisen.« Er brach ab und spielte abwesend mit seinem Glas. »Tom«, sagte er nach einer Weile. »Wo sind sie?«
Ich versuchte die Frage zu vergessen, die warme Sonne und das Gefühl des Triumphes zu genießen, aber ich vermochte es nicht. Da war ein Gefühl des Vagen, des beängstigend Falschen. Jahrelang hatten Pell und ich an dem Problem der Zeitreise gearbeitet, und während all dieser Jahre hatten wir nach einem Beweis – irgendeinem Beweis, daß sie möglich war – gesucht. Daß Menschen wirklich in der Zeit reisen konnten. Denn wenn sie es konnten, dann war es bereits schon einmal geschehen. Wir fanden nie etwas. Nirgendwo in der Geschichte – und wir suchten Jahre – war auch nur ein einziger, glaubhafter Anhaltspunkt für einen Besucher aus einer anderen Zeit zu finden. Es gab ein paar unerklärliche Dinge – wie zum Beispiel die berühmten Frauen in den Tuillerien –, aber nichts von alledem ließ auf einen Besucher aus der Zukunft schließen. Aber jetzt hatten wir die Zeitreise, und wenn wir sie hatten, hatte sie die Zukunft auch. Aber… wo waren sie? »Nun«, sagte ich in die Stille hinein, »offenbar haben sie uns all die Jahre besucht, ohne daß wir es bemerkt haben.« Pell schüttelte entschieden den Kopf. »Nein«, widersprach er. »Unmöglich. Die Sache ist zu groß. Es sind zu viele Jahre, zu viele Millionen Jahre. Irgendwann, irgendwo hätten sie sich verraten müssen.«
Ich rutschte unruhig in meinem Sessel hin und her. Die Sache war beinahe zu komplex, zu kompliziert, um sie wirklich zu verstehen. Und irgendwo darin, gefangen wie eine Fliege in einem Spinnennetz, lauerte ein Gedanke, ein unangenehmes Gefühl, das ich mir nicht erklären konnte. Gott, dachte ich, heute ist vielleicht der großartigste Tag, den die Welt je erlebt hat, und wir sitzen hier und grübeln. Ich sprang mit einem Satz auf die Füße. »Gott, vergiß es!« rief ich. Ich nahm die Zeitung auf, wedelte damit vor Pells Gesicht. »Wir haben es geschafft, nach all diesen Jahren! Mann, wir haben die Zeit erobert!« Die Erkenntnis, was wir erreicht hatten, begann erst jetzt wirklich Besitz von mir zu ergreifen. Sie alle warteten, warteten auf uns! Wie viele warteten auf uns! Mein Bruder, der im Krieg gefallen war. Meine Mutter, jung und schön, bevor ihre Krankheit begann… Ich dachte daran, überlegte mir die Worte, die ich sprechen würde, die Orte, die ich besuchen würde… »Hör zu«, meinte Pell abrupt. Etwas im Klang seiner Stimme riß mich aus meinen Gedanken. Ich blickte ihn an. Er war blaß, verstört. Er starrte über den See, wo die Maschine im Licht der Nachmittagssonne glänzte. »Wir können sie nicht benutzen«, sagte er. Ich begriff nicht. Er wandte sich um und ging langsam zur Tür. »Wir müssen sie zerstören«, murmelte er leise, stockend. Ich war zu schockiert, um mich bewegen zu können. Ich begann zu stottern, aber Pell unterbrach mich. »Tom! Kein Mensch ist jemals aus der Zukunft gekommen. Nicht einmal wir, Tom! Niemand! Es gibt nur eine Erklärung dafür. Begreifst du?« Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort.
»Es ist nie jemand aus der Zukunft gekommen, weil es keine Zukunft gibt.« Nach einer Ewigkeit setzte ich mich wieder. Meine Finger zerknitterten die Zeitung. Ich begann zu begreifen, zu begreifen, daß es dieses Gefühl war, die Fliege im Spinnennetz, die ich gespürt hatte, das Wissen, das die ganze Zeit vorhanden gewesen war, und das ich nicht hatte wahrhaben wollen. Aber es war so. Ich wußte es. »Irgendwann«, sagte Pell, »irgendwann in naher Zukunft wird die Menschheit aufhören zu existieren. Sehr bald. Es muß so – « Er hielt inne, schüttelte den Kopf und trat auf mich zu. »Während der ganzen Zeit, die wir an der Maschine gebaut haben, all die Jahre, die wir geträumt haben – warum haben wir nie daran gedacht, was sie wirklich ist? Die Zeitmaschine – eine Waffe! Die letzte, kompromißlose Waffe! Du kannst sie nicht ausmachen, du kannst dich nicht gegen sie wehren. Ihr Besitzer kontrolliert Raum und Zeit, das ganze Universum! Wenn wir sie nicht vernichten, wird es diese Maschine auch in der Zukunft geben. In einer Zukunft, aus der niemand zurückkehrt!« Er brach ab und schwieg eine lange Zeit. »Woher willst du wissen, daß es an der Maschine liegt«, fragte ich nach einer Weile. »Es kann ein großer Krieg sein. Ein – ein…« Ich sah auf, starrte in die Sonne. »Die Sonne kann zur Nova werden.« Pell nahm sein Glas auf. Das Eis darin war längst geschmolzen. »Wir wissen es nicht. Alles, was wir wissen, ist, daß nie jemand aus einer Zukunft zurückkam, in der die Zeitreise bekannt war. Vielleicht gibt es eine Zukunft, aber dann eine Zukunft ohne Zeitmaschinen. Vielleicht sind sie sicher. Der Menschheit bleiben noch Millionen Jahre. Wir dürfen die Maschine nicht benutzen.«
»Aber all die Arbeit, all die Jahre…« »Vergebens«, bedauerte Pell. Seine Stimme war leise, aber sehr fest. »Wenn ich mich irre, so trifft es nur uns. Wenn ich recht habe… andere werden die gleiche Erfindung machen – sie haben sie schon gemacht, irgendwann, irgendwer in irgendeinem Zeitalter, das vielleicht noch kommt…« Pell schüttelte sich. »Der Tag ist zu schön, um der letzte der Welt zu sein.« Er ging rasch die Treppe hinunter und durch das hohe Gras auf die Maschine zu. Anmerkung des Autors: Das ursprünglich geplante Ende der Geschichte sagte einfach, daß die beiden Männer einander verstehend anblickten und wußten, daß die Zeitreise unmöglich war, weil noch nie jemand zurückgekommen war. Und dann, als sie den Sonnenuntergang betrachteten, wußten sie warum. Die Sonne wuchs. Sie wurde zur Nova. Pell sagte: »Natürlich. Niemand kam je zurück aus der Zukunft…« Er hob sein Glas und trank der wachsenden Sonne zu, »… weil es keine gibt.« Mein Redakteur mochte das Ende nicht, und so schrieb er – mit meiner widerstrebenden Einwilligung – dieses. Er machte es hübsch und menschlich und nichtssagend. »Der Tag ist zu schön, um der letzte der Welt zu sein.« – Das war niemals meine Intention.
Grenvilles Planet
Wisher war allein hinten im Heck, und so sah er den Glanz nicht. Er saß entspannt und gedankenverloren in dem ruhig dahingleitenden Schiff und fühlte weder Langeweile noch besonderes Interesse an irgend etwas. Nach vierzehn Jahren Dienst im Kartographenteam waren auch die fremdartigsten Welten für ihn zur Routine geworden, und das bißchen Vorstellungskraft, das ihm noch verblieben war, konzentrierte sich auf eine Farm, die er auf der südlichen Hemisphäre von Wega 7 entdeckt hatte. Der Glanz, den er noch immer nicht sah, verstärkte sich. Grenville, ein blasser junger Mann und neben Wisher das einzige Mitglied der Besatzung, beobachtete ihn eine ganze Weile abwesend. Er schreckte erst auf, als der Glanz an Stärke zunahm und ein blendender Lichtreflex über die Schirme lief. Einen Moment lang starrte er verwirrt auf den Schirm, bis er umständlich daranging, die Distanz zu überprüfen. Obwohl der Planet noch einige Lichtminuten entfernt vor ihnen lag, erschien er ihm ungewöhnlich hell. Erregt beobachtete Grenville, wie die Welt auf den Schirmen immer näher heranwuchs. Langsam tauchten die Monde auf; vier an der Zahl, die wie Perlen auf einer gigantischen Halskette aufgereiht waren. Grenville war tief beeindruckt. Der blaue Glanz flutete herein. Es war das phantastischste Bild, das er je gesehen hatte. Aufgeregt betätigte er den Summer. Aber Wisher meldete sich nicht. Grenvilles Erstaunen wuchs, während er das Schiff näher an diese Welt heransteuerte. Der Planet schimmerte wie eine
gigantische Facette aus poliertem Glas. Das Blau verstärkte sich mehr und mehr, und noch bevor das Schiff die ersten Ausläufer der treibenden Wolken berührte, wußte Grenville, woher dieses geheimnisvolle Leuchten stammte. Er betätigte noch einmal den Summer. Endlich meldete sich Wisher. Er stoppte unvermittelt, als er das Wasser auf dem Bildschirm sah. »Verdammt!« stieß er hervor. Bis auf ein paar Wolkenfetzen war alles blau. Die ganze Welt war blau. Bis auf das Weiß der Wolken und der vereisten Polkappen, war alles blau. Wasser… Grenville lächelte kindlich staunend. »Eine Wasserwelt!« »Ist das etwa nichts?« begeisterte er sich. »Eins zu einer Million, nicht wahr? Ich wette, du hast so etwas noch nie gesehen.« Wisher schüttelte den Kopf und starrte weiter gebannt auf den Schirm. Schließlich riß er sich los und ging eilig zu den Kontrollschirmen hinüber, um einen gründlichen Check vorzubereiten. Das Scoutschiff umkreiste den Planeten in einer langsamen, spiralförmigen Umlaufbahn und tastete die Nachtseite mit seinen Radargeräten ab. Als sie die Umkreisung beendet hatten, waren sie sicher. Es gab kein Land auf dieser Welt. Wie gewöhnlich stand Grenvilles Mund nicht still. »Nun ja«, schwatzte er drauflos, »natürlich. Früher oder später mußte es ja einmal passieren. Wenn man an die Erde denkt, auf der die Landmasse nur ein Viertel ausmacht…« »Tja…« Wisher nickte. »… und wenn man weiter bedenkt, wie viele Welten wir schon besucht haben… Früher oder später mußten wir auf einen Planeten stoßen, auf dem es überhaupt kein Land gibt.« Wisher ging zum Bildschirm zurück. »Laß uns runtergehen«, sagte er. Grenville blickte ihn verwundert an.
»Und wo?« »Irgendwo. Ich möchte wissen, ob es irgendeine Lebensform im Ozean gibt.«
Wisher hatte sich schon vor langer Zeit dafür entschieden, den Regeln ohne Widerspruch zu folgen. Jede Welt, auf die sie stießen, war etwas Neues und Einzigartiges, so daß ihre Erfahrung ihnen nur wenig nutzen konnte. Ohne strikte Einhaltung der Regeln wäre die Arbeit beim Kartographenteam nichts als ein besseres Himmelfahrtskommando gewesen. Nirgends im Universum war die Notwendigkeit, sich an vorgegebene Verhaltensmuster und Vorsichtsmaßnahmen zu halten, so lebensnotwendig wie hier draußen an der Grenze. Die Regeln waren komplex und wirkungsvoll; allumfassend. Der Einhaltung der Regeln verdankten die Männer des Kartographenteams ihr Leben, und der Rest der Menschheit verdankte ihr die Eroberung des Raums. Aber es ließ sich ganz offensichtlich nicht ändern, daß man hin und wieder auf Dinge stieß, die man nicht vorhersagen konnte, für die es keine Regeln gab. Auch Wisher wußte das. Aber er machte sich keine Gedanken darüber. Streng nach Plan stießen sie in die Stratosphäre hinab, tauchten durch die Wolkenschicht und hielten sich in der vorgeschriebenen Höhe. Unter ihnen rollte die See unablässig, bis sie irgendwo mit dem Horizont verschmolz. Trotz der ungeheuren Wassermenge unter ihnen konnten sie kaum Anzeichen für Leben irgendeiner Form erkennen, keine Fischschwärme, keine Tang- oder Algenfelder – nichts als dunkle Schatten und gelegentlich größere Gruppen winziger Organismen.
Wisher ging noch einmal um etwa hundert Meter tiefer. Auf einer Welt, auf der die Evolution unter Wasser stattgefunden hatte, war es vielleicht besser, Abstand von der Wasseroberfläche zu halten. Aber tausend Meter, dachte er, waren eine sichere Distanz. Schließlich entdeckten sie die Insel. Sie war schmal, zu schmal, um sie aus größerer Höhe entdecken zu können, etwa fünf Kilometer lang und vielleicht zwei Kilometer breit. Der Anblick erinnerte Wisher an eine kleine braune Zigarre, die sich in das grünblaue Naß des Ozeans verirrt hatte. Grenville begann erst flüchtig zu lächeln, dann lachte er laut auf. Der Anblick dieses einsamen braunen Felsens in der unendlichen Wasserwüste schien ihn zu amüsieren. »Warte mal, was für Gesichter die Jungs machen werden, wenn sie die Aufnahmen sehen«, gluckste er. Er fühlte Stolz in sich aufsteigen. Nach allem, was geschehen war, war der Planet seine Entdeckung. Er würde den Bericht schreiben, dachte er, über seine Entdeckung. Sein Atem beschleunigte sich vor Erregung. Vielleicht würden sie die Welt sogar nach ihm benennen. Es gab bereits eine ganze Anzahl Welten, die nach Männern des Kartographenteams benannt worden waren. Später einmal würden Touristen auf Grenvilles Planet landen, auf einem der größten Wunder des Universums. Wisher hatte das Schiff mittlerweile eingeschwenkt und hielt es behutsam über der Insel in der Schwebe. Sie war mit einem bräunlichen Geflecht überzogen. Er spielte mit dem Gedanken, hinunterzugehen und nach Tieren oder anderen Lebewesen Ausschau zu halten, entschloß sich dann aber, zunächst nach weiteren Inseln zu suchen.
In einer Höhe von etwa tausend Metern begannen sie den Planeten zu umkreisen. Sie selbst bemerkten die zweite Insel nicht, aber das Radar ortete sie. Sie war größer als die erste, und südlich von ihr lag noch eine weitere dritte Insel. Sie waren beide genauso schmal, von der gleichen, zigarrenartigen Form wie die zuerst entdeckte, und von gelblich-bräunlicher Vegetation überzogen. Grenville war beinahe enttäuscht, als sie die Inseln entdeckten. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn es nur diese eine Insel gegeben hätte. Aber er gewann seinen Enthusiasmus rasch zurück, als er daran dachte, daß die Touristen trotzdem kommen würden. Und daß sie dann wenigstens ein Land hatten, auf dem sie niedergehen konnten. Sie setzten ihre Erkundung auf der Nachtseite fort, entdeckten aber keine weiteren Inseln. Als sie wieder ins Tageslicht zurückkehrten, entschied sich Wisher zu landen.
»Eigenartig«, murmelte Wisher mit einer weit ausholenden Geste auf den hügeligen Strand. »Was ist?« Grenville starrte ihn durch die Fischaugen seines Helmes fragend an. »Ich weiß nicht…« Wisher machte langsam kehrt und betrachtete die struppige, krautartige Vegetation. »Irgend etwas stimmt hier nicht.« Grenville konnte seine Beunruhigung nicht teilen. Es gab nichts auf der Insel, was bedrohlich schien, sie angreifen oder verletzen konnte. Sie waren ungefährdet. Die Tests hatten das zahlreiche Vorkommen vierfüßiger Tiere angezeigt, aber es gab nur einen Typus, der größer als ein Hund war, und er war zu langsam und zu laut, um eine Gefahr zu bedeuten. »Wir müssen auf Schlangen achten«, meinte Wisher abwesend und zitierte die Regeln über den Umgang mit
Schlangen und Insekten, obwohl es im Grunde überflüssig war. Es gab keine Insekten. Die beiden Männer hielten sich ganz in der Nähe des Schiffes auf, wie es die Vorschrift verlangte. Bevor man nicht hundertprozentig sicher war, durfte man die unmittelbare Umgebung des Schiffes nicht verlassen. Und aus irgendeinem unerfindlichen Grund war sich Wisher bis jetzt nicht hundertprozentig sicher. »Was sagt der Lufttest?« Grenville las die Instrumente ab und schwieg einen Augenblick. »In Ordnung.« Wisher öffnete erleichtert seinen Helm und tat einen tiefen Atemzug. Die klare Luft erfrischte ihn. Er schraubte den Helm vollends ab und blickte sich um. Das Schiff war am oberen Ende des Strandes niedergegangen, ein gutes Stück vom Meer entfernt, und stand nun in dem dünnen, rötlich schimmernden Sand. Im Norden verlor sich sein Blick in der offenen See, im Süden entdeckte er das breitflächige Gewächs, das er schon aus der Höhe gesehen hatte. Es war kein Dschungel – die einzelnen Pflanzen wuchsen zu aufrecht und zu genau ausgerichtet. Selbst die größten waren nicht mehr als mannshoch. Es war diese exakte Geradlinigkeit, die vollkommene Regelmäßigkeit, die Wisher zu denken gab. Doch die frische, kalte Seeluft wehte seine Bedenken hinweg. Sie trugen ihre Gewehre bei sich, und sie hatten das Schiff mit seinem Alarmsystem. Es gab hier eigentlich nichts, was sie bedrohen konnte. Grenville brachte ein paar Klappsitze aus dem Schiff. Sie ließen sich darauf nieder und redeten, bis die Dämmerung hereinbrach. Kurz vor Sonnenuntergang erschienen zwei der vier Monde am Himmel. »Monde«, meinte Wisher plötzlich. »Was?«
»Ich dachte nur gerade darüber nach«, erklärte Wisher. »Was ist mit den Monden?« »Ich habe nicht wirklich über sie nachgedacht, sondern über die Gezeiten. Vier Monde in Konjunktion stehend, können eine beachtliche Flut hervorrufen.« Grenville lehnte sich zurück und schloß die Augen. »So?« »Auf diese Weise ist vermutlich das Land versunken.« Grenville war viel zu sehr mit seinen Träumen vom Ruhm als Entdecker von Grenvilles Planet beschäftigt, um sich den Kopf über Gezeiten und Monde zu zerbrechen. »Laß das mal die Eierköpfe machen«, brummte er desinteressiert. Aber Wisher ließ der Gedanke keine Ruhe. Die Gezeiten konnten sehr wohl der Grund für das Versinken des Landes sein. Wenn die vier Monde in Konjunktion standen, würden sie mit ihrer Gravitation eine geradezu teuflische Menge Wasser anziehen, eine wahnsinnige Kraft bedeuten, die riesige Stücke aus den Kontinenten herausreißen konnte, mehr, als es jede Erosion vermocht hätte. Und wenn sich dieser Vorgang über Millionen Jahre wiederholte… aber dann fiel Wisher etwas Seltsames über die Inseln ein. Wenn die Gezeiten mächtig genug waren, um ganze Kontinente von der Oberfläche des Planeten wegzuspülen – dann durften diese Inseln eigentlich gar nicht existieren. Nur eine einzige Gezeit dieser Monde würde die Inseln für immer fortspülen. Nun gut, dachte er. Vielleicht war die letzte Flutwelle vor Jahrhunderten über diese Welt hereingebrochen. Er starrte angestrengt in den Himmel hinauf. Die beiden Monde waren beruhigend weit entfernt. Er wandte seinen Blick von den Monden ab und ließ ihn über die beständig anrollende See gleiten. Und dann fiel ihm wieder ein, welche Gedanken dieser Planet in ihm hervorgerufen
hatte; seine Gedanken und das unangenehme Gefühl, das dieses Stückchen Land in ihm ausgelöst hatte. Evolution. Eine Million Jahre unter der Wasseroberfläche. Kein Land, das die sich entwickelnden Säugetiere hätte aufnehmen können. Was geschah am Grunde des Meeres? Was ging dort unten vor, tief unter der rollenden Oberfläche der See? Es war ein erschreckender Gedanke. Als er an diesem Abend das Innere des Schiffes aufsuchte, hätte es der Vorschriften nicht bedurft, um die Schleuse zu versiegeln und das Alarmsystem zu aktivieren und einzuschalten.
Der Alarm schrillte mitten in der Nacht. Und er erschreckte Wisher fast zu Tode, bevor er bemerkte, daß es nur ein Tier war, das ihn ausgelöst hatte. Es war eines von den großen, ein unheimliches, sprottenähnliches Lebewesen mit einem vorgeneigten, mächtigen Körper. Es verschwand wieder, bevor sie es genauer betrachten konnten, aber die automatische Kamera hatte wenigstens ein paar brauchbare Bilder von ihm schießen können. Wisher fand danach nur schwer wieder Schlaf, und sein erster Gedanke am nächsten Morgen war, daß sie nunmehr einen Stern anfliegen mußten, bevor sie zur Basis zurückkehren konnten. Aber die Regeln verlangten, daß sie von jedem Planeten, der für eine menschliche Besiedlung geeignet schien, Lebewesen mit zurückbringen mußten, vorausgesetzt, es bestand nicht das geringste Anzeichen für irgendeine Gefahr. Sie würden daher auch hier so lange bleiben, bis sie ein paar Proben von Flora und Fauna dieser Welt eingesammelt hatten.
Grenville war genauso begierig darauf, zur Basis zurückzufliegen, wenn auch aus anderen Gründen. Grenville – so stellte er sich vor – würde ein berühmter Name werden. Früh am Morgen stiegen sie wieder auf und umrundeten den Planeten noch einmal. Als der Kartograph die Umrisse der Inseln aufgenommen hatte, gingen sie wieder herunter, um die Proben zu sammeln. Wie schon nach der ersten Landung fanden sie nur wenig. Sie stießen auf diese unheimlichen Lebewesen und – wie Wisher erwartet hatte – auf eine große Anzahl von Schlangen und Eidechsen. Sie konnten nur wenige Fische beobachten, und Vögel lebten hier offenbar gar nicht. Sie landeten auf der gleichen Insel, von der sie am Morgen aufgestiegen waren. Grenville hatte mittlerweile auch einen Namen für sie gefunden. Da eine der anderen Inseln im Süden in der Nähe lag, nannte er sie Süd-Grenville, und folglich hieß die andere natürlich Nord-Grenville. Grenville kicherte eine ganze Zeitlang still über diesen Einfall in sich hinein. »Geh nicht zu nahe ans Wasser.« »Ja doch, Papi«, feixte Grenville grinsend. »Ich werde mir ein Stück von den Pflanzen dort drüben holen.« »Laß das Gewehr hier und nimm die Pistole. Sie ist handlicher.« Grenville nickte und verließ mit dem Probebehälter das Schiff. Wisher wandte sich wieder dem Wasser zu. Das ist unnatürlich, dachte er, daß ein derart warmer Ozean so wenig Leben hervorgebracht haben soll, wo der Quell des Lebens doch gerade im Wasser liegt. Wie in einer blitzartigen Vision sah er eine Herde schleimiger, unbeschreiblich bösartiger Ungeheuer, welche die See beherbergte, und die für die unnatürliche Sterilität verantwortlich waren. Als er sich der Schaumkrone der ersten Wellen näherte, bewegte er sich sehr vorsichtig.
Das erste, was ihm auffiel, war das Fehlen der Küstenfische. Und nicht nur das. Er entdeckte überhaupt kein Leben, weder Krabben noch Schlangen. Nicht das winzigste Seelebewesen, nichts. Der Strand war nichts als ein nackter, toter Sandstreifen. Er stand einige Meter von den anrollenden Wellen entfernt reglos am Strand. Er war sich so gut wie sicher, daß irgendwo eine unsichtbare Gefahr lauerte. Die Küsten, die er bisher auf seinen Flügen erkundet hatte – alle Küsten auf allen Planeten, gleichgültig ob auf Deneb oder der Erde –, hatten nur so von Leben gewimmelt. Überall hatten sie Muscheln und Fischgräten, die Reste irgendwelcher Organismen, Schnecken, Würmer, Insekten und Reste von Fischen, Tentakel, winzige Lebewesen jeder nur denkbaren Art gefunden. Aber hier gab es nichts. Nur Sand und Wasser. Es kostete ihn große Überwindung, sich den Wellen zu nähern, obwohl das Wasser hier sehr seicht war. Er nahm rasch eine Probe und eilte zum Schiff zurück. Wisher ließ sich im Schatten des Schiffes nieder und starrte wütend auf den Ozean hinaus. Das Wasser glich dem der Erde, soviel die Instrumente feststellen konnten. Es war nichts Außergewöhnliches, und es gab nicht viel Lebendiges in ihm. Als Grenville mit den Pflanzenproben zurückkam, erzählte er ihm ruhig von dem Fehlen irgendwelcher Küstenfauna. »Ach, zum Teufel damit«, schimpfte Grenville. »Vielleicht mögen sie die Gegend hier nicht.« Er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. »Sie werden ihre Gründe dafür haben«, murmelte Wisher, mehr zu sich selbst als zu Grenville. »Der Computer hat jedenfalls die Umlaufbahnen der Monde nachgerechnet«, fügte er lauter hinzu. »So?«
»Sie stehen alle einhundertzwölf Jahre in Konjunktion. Die Flut steigt dann knapp zweihundert Meter hoch.« Grenville schien ihm nicht ganz folgen zu können. »Die Flut«, wiederholte Wisher mit einem sanften Lächeln, »ist damit beträchtlich höher als jede der Inseln.« Grenville blinzelte verwirrt, und Wisher stampfte wütend mit dem Fuß in den Sand. »Und wo, zum Teufel, glaubst du, kommen die Tiere her?« »Sie… müßten ertrinken«, meinte Grenville langsam. »Richtig, es sei denn, sie wären Amphibien. Aber das sind sie nicht. Oder sie müßten alle hundert Jahre die komplette Evolution durchlaufen.« Grenville ließ sich im Sand nieder, um über das Problem nachzudenken. »Das ergibt nicht viel Sinn«, erklärte er nach einer Weile. Wisher schüttelte den Kopf, wandte sich ab und ging langsam den Strand entlang. Einen Strand, den es eigentlich gar nicht geben dürfte. Ebensowenig wie diese Inseln. Künstlich. Das Wort hallte ein paarmal in seinen Gedanken wider. Das war es. Es war unglaublich, aber es war die einzige Erklärung. So mußte es einfach sein. Die Inseln waren künstlich angelegt. Sie waren immer wieder aufgebaut worden. Von den Wesen, die irgendwo unter dem Wasser lebten.
Grenville beobachtete nervös das unablässige Anrollen der Wellen. Seine Finger spielten am Griff der Pistole in seinem Gürtel, während er auf Wishers Anweisungen wartete. Wisher lehnte am Schiff, dicht bei der Schleuse. Es tat ihm beinahe leid, Grenville enttäuschen zu müssen. »Wir können jetzt noch nicht starten«, sagte er leise. »Wir haben keine
Beweise für unsere Vermutung. Außerdem gibt es nicht das geringste Anzeichen für irgendeine Gefahr.« »Für mich sind Beweise genug da«, warf Grenville schnell ein. Wisher nickte abwesend. »Dabei ist es nicht einmal schwer zu verstehen«, murmelte er. »Die Evolution paßt sich immer den äußeren Umständen an. Als die Säugetiere an Land kamen, wurden sie von der Flut wieder fortgespült, alle hundert Jahre aufs neue, so lange, bis auch die Kontinente selbst im Meer versanken. Aber die Evolution läßt sich durch nichts aufhalten. Sie müssen sich unter Wasser weiterentwickelt haben. Und wahrscheinlich kamen sie in Form einer intelligenten Rasse wieder an Land. Der Teufel weiß, wie sie aussehen und in welche Richtung sie sich entwickelt haben. Sie müssen einen erstaunlichen technischen und kulturellen Stand erreicht haben, oder sie hätten so etwas wie diese Inseln nicht schaffen können…« Er brach ab, als ihm klar wurde, daß das Vorhandensein der Inseln allein kein Beweis für seine Theorie war. Die alten Ägypter auf der Erde hatten die Pyramiden gebaut. Es war kein Beweis, um daraus auf den technologischen Stand der Rasse zu schließen. Und schon gar nicht auf die Gründe, aus denen sie es getan hatten. Auch das war ein Rätsel, daß sie niemanden zu Gesicht bekommen hatten. Es erschien Wisher unwahrscheinlich, daß man eine solche Insel unbeobachtet sich selbst überlassen würde. Sie mußten die Ankunft ihres Schiffes wahrgenommen haben. Es konnten keine fischähnlichen Kreaturen sein, diese Lebewesen. Sie mußten… Hände haben. Oder Tentakel. Er stellte sich so etwas wie einen intelligenten Tintenfisch vor. Bei dem Gedanken sträubten sich ihm die Haare. Er wandte sich wieder Grenville zu.
»Hast du auch Tierproben?« Grenville verneinte. »Nur Pflanzen. Und eine von den kleinen Eidechsen.« Wishers Gesicht verriet Besorgnis. »Wir müssen eins von den Viechern erwischen, die den Alarm ausgelöst haben. Zum Teufel mit den anderen. Sollen sich doch die im Hauptquartier den Kopf darüber zerbrechen.« Er betrat die Luftschleuse und ging ins Schiff zurück. »Ich packe ein«, sagte er, »und du holst das Ding.« Grenville wandte sich gehorsam um und machte sich auf den Weg. Doch er sollte nie zurückkehren.
Nachdem Grenville schon drei Stunden überfällig war, begann Wisher unruhig zu werden, ging zum Waffenschrank und nahm ein schweres Gewehr heraus. Er verfluchte die Tatsache, keinen Scoutschlitten an Bord zu haben. Das Schiff war ihm keine Hilfe, es war zu groß und in geringen Höhen zu unbeweglich. Das Risiko, es zu beschädigen, durfte er nicht eingehen. Es war das erste Mal, daß er die Vorschriften brach. Da Grenville nicht zurückgekehrt war, mußte er annehmen, daß ihm etwas zugestoßen war, und es wäre seine Pflicht gewesen, den Planeten ohne ihn zu verlassen. Eine Spezialeinheit würde später nach Grenville suchen, nach ihm oder schlimmstenfalls nach seiner Leiche. Wisher kannte die Regeln sehr genau. Während er sein Gewehr lud, dachte er an den Eid, den er abgelegt hatte. Er wußte, daß er keine große Chance hatte. Wenn er Grenville nicht sofort fand, würde er zum Schiff zurückkehren und starten. Er würde die Vorschriften brechen… aber gleichzeitig wußte er, daß er nicht anders handeln konnte. Er war noch nie zuvor mit einer derartigen
Situation konfrontiert worden, und es war die einzige Regel, die er immer wieder brechen würde. Für einen schmächtigen jungen Dummkopf wie Grenville und für jeden anderen. Bevor er aufbrach, nahm er noch die Routineprogrammierung vor. Die Automatik würde alles fernhalten, was sich dem Schiff näher als zweihundert Meter annäherte. Sollte Grenville vor ihm zurückkommen, würde sich die Schaltung automatisch desaktivieren. Und sollte auch er nicht zurückkehren, dann würde das Schiff automatisch in die Luft gesprengt werden. Der Strand zog sich öde und verlassen vor ihm dahin. Es war nicht schwer, Grenvilles Fußspuren zu folgen. Die starren Ausläufer der Vegetation gaben im Wind kratzende und scharrende Geräusche von sich. Wisher folgte Grenvilles Spur. Er wollte nach ihm rufen, unterließ es aber dann. Nur keine Aufmerksamkeit erregen. Er durfte keinen unnötigen Lärm machen. Jetzt ist Schluß, dachte er. Wenn ich diesmal auf die Basis zurückkehre, mache ich endgültig Schluß. Die Fußspur lief in einem weiten Bogen auf den bizarren Wald zu. Wisher ging noch ein paar Schritte weiter, drehte sich um und begann vorsichtig die Stelle zu umkreisen, wo Grenville den Wald betreten hatte. Die Umgebung war sumpfig und leblos. Es bewegte sich nichts. Plötzlich schreckte ihn ein scharfer, lauter Knall auf. Wisher zuckte zusammen, als der Donner der Explosion durch die Stille brach. Das Schiff. Irgend etwas mußte am Schiff passiert sein. Er unterdrückte den Impuls, zu fliehen und zum Schiff zurückzulaufen, und blieb ruhig stehen, das Gewehr im Anschlag. Das Schiff konnte sich durch die Automatik selbst schützen. Er ging vorsichtig weiter und stürzte. Er war durch eine dünne, aus Ästen und Zweigen geflochtene Matte in eine Grube eingebrochen. Eine Falle schnappte
knirschend zu, und er fühlte, wie sich ein Metallband in seine Beine grub, seine Knochen durchschlug. Der stechende Schmerz zog sich bis in die Schulter hinauf. Eine Tierfalle. Er versuchte, an sein Gewehr heranzukommen, aber die Waffe lag hinter ihm, durch den Sturz seinen Händen entglitten. Unerreichbar. Seine Beine, seine Beine… Die Schmerzen wurden unerträglich, als er versuchte, sich zu bewegen. Er zog die Pistole aus dem Gürtel und wartete, geschüttelt von Schmerzen und gefangen von den unbarmherzigen Stahlkiefern der Falle. Er fühlte keine Angst. Er hatte die Vorschriften gebrochen, und er hatte gewußt, wie gefährlich das sein konnte. Er wartete. Aber es geschah nichts. Warum? Genau das gleiche Mißgeschick war auch Grenville passiert, das ahnte er. Aber warum? Einen Moment lang fragte er sich, weshalb ihn keine Panik ergriff, weshalb er eigentlich nur… neugierig war. Er blickte an sich hinunter in die Grube, in die er bis zur Hüfte eingebrochen war, sah eine Lache seines eigenen Blutes und wußte, daß er sterben würde. Ihm würde nicht mehr viel Zeit bleiben. Aber dennoch hatte er Hoffnung. Vielleicht würde irgend jemand oder irgend etwas auftauchen, und er würde diese Wesen wenigstens noch zu Gesicht bekommen. Er wünschte sich nichts so sehnlich, als daß sie erscheinen würden… Weshalb? dachte er, während sein Bewußtsein langsam in einen roten undurchdringlichen Nebel eintauchte. Und dann fragte er sich noch, ob er sich noch zur Wehr setzen würde, wenn sie kamen. Dann starb er.
Die Fallen waren in der Nacht aufgestellt worden. Die Wesen waren aus dem Meer aufgetaucht und hatten sie in den Naturschutzgebieten – denn nichts anderes waren die Inseln – aufgebaut, und dann waren sie in ihr Element zurückgekehrt und hatten gewartet. Das Schiff war von Anfang an beobachtet, seine Absichten durchschaut worden. Pie intelligentesten Wesen des Meeres hatten sich zusammengefunden und den Plan gefaßt, sich des Schiffes und seiner Besatzung zu bemächtigen. Sie hatten schnell erkannt, daß man die Erdenmenschen von ihrem Schiff trennen mußte. Deshalb hatte Wisher sterben müssen. Aber zum großen Erstaunen dieser gigantischen tintenfischähnlichen Wesen lebte das Schiff noch immer. Es stand ruhig und verlassen auf dem Strand, tickte vor sich hin und wehrte selbständig alle Attacken ab. Die Überreste derjenigen, die ihm zu nahe gekommen waren, bedeckten den blutgetränkten Sand in seiner Umgebung. Aber für die intelligenten Tintenfischwesen besaß die Zeit keine Bedeutung. Sie hatten den Kampf schon vor Beginn so gut wie gewonnen und konnten warten, warten und triumphieren. Ihre Technologie blieb weit hinter der der Menschen zurück, aber die Beherrschung des Raumes lag in ihren Händen. Im Inneren des Schiffes tickte die Uhr unbarmherzig weiter. Das Schiff würde sich selbst in die Luft jagen, und mit sich die Insel und einen großen Teil seiner Umgebung. Aber das konnten die Wesen dort draußen nicht ahnen. Für sie war das Schiff fremd, fremd und unbekannt, und ebensowenig wie Wisher die wahre Natur des Planeten erkannt hatte, erkannten sie die wahre Natur des Schiffes.
Der Kreis begann sich zu schließen. Sekunde um Sekunde tickte die Uhr mit unaufhaltsamer, tödlicher Präzision. Die Wellen schlugen weiß und schäumend gegen den Strand. Die Zahl der wartenden, unerkannt bleibenden Wesen wuchs.
Der dunkle Engel
Als die Sonne unterging, war der Junge allein auf der Rückseite der Veranda. Er war so vertieft in sein Spiel, daß er die Dunkelheit erst bemerkte, als sie hereingebrochen war, überall um ihn herum, so plötzlich, als ob sich jemand angeschlichen hätte, um ihn zu erschrecken. Er saß aufrecht und fröstelnd da. Auf seinen Armen erschienen kleine Flecken. Die Sonne war untergegangen. Es schimmerte noch fahles Licht am Himmel – ein grauer Glanz zwischen den Bäumen, aber die Nacht kam; die endlose Dunkelheit. Der Junge saß sehr ruhig da und beobachtete das schwächer werdende Licht. Ein Alptraum. Der dunkle Engel wartete, wartete mit Zähnen wie Messern. Der Junge begann seine Soldaten einzuräumen. Er konnte die Stimme seiner Großmutter in der Küche hören. Sie sprach mit seinem Vater, und ihre Stimme klang scharf und befehlend wie immer. Sie sagte, daß es höchste Zeit sei, daß ein Junge seines Alters längst zur Sonntagsschule gehen müsse. Ein acht Jahre alter Junge, der nicht in die Kirche ging – was würden da die Leute sagen? Der Junge hielt mit dem Einräumen seiner Soldaten inne und lauschte, aber sein Vater antwortete nicht. Der Junge spähte durch den Türspalt in die Küche. Sein Vater saß hinter seiner Zeitung vergraben, und Großmutter redete noch immer drauflos. Sie sprach eine ganze Zeitlang über die Kirche und die Sonntagsschule, und der Junge konnte spüren, wie sie seinen Vater damit langsam immer nervöser machte. Nach einer Weile sah er, wie er die Zeitung sinken ließ, sehr langsam, und der Junge bückte sich instinktiv. Sein Vater war
groß, unvorstellbar groß, ein Hüne mit eisernen Händen. Der Junge liebte ihn, liebte ihn mit der absoluten, niemals fragenden Hingebung, die nur ein kleiner Junge in einer einsamen und unverständlichen Welt aufzubringen vermochte. Er wollte nicht, daß sein Vater ärgerlich wurde. Aber sein Vater schwieg. Er blickte die Frau nur für einen Moment an, und ihr Redeschwall brach ab, so als ob ihr der Atem abgeschnitten worden sei. Dann sprach sein Vater, langsam, und in einem kalten, eisigen Flüsterton, der den Raum zum Gefrieren zu bringen schien. »Hast du mit ihm über Gott gesprochen?« »Nein«, flüsterte die Frau, und der Junge spürte, wie ängstlich sie war. Sie hob zu einer Erklärung an, aber sein Vater fuhr in dem gleichen, eiskalten Tonfall fort: »Es wird nichts mehr dergleichen geben. Ich habe nun endgültig genug davon. Sie hatten ihn letztes Jahr in den Klauen, und sie haben ihm diesen ganzen Schwachsinn über die Hölle erzählt. In der Hölle zu verbrennen – einen kleinen Jungen in der Hölle verbrennen! Ich kann dir garantieren, daß es so etwas nicht mehr geben wird.« Sein Vater wandte sich um und sah das schmale Gesicht des Jungen durch den Türspalt lugen. Der Junge wußte nicht, was geschehen würde, aber der Ausdruck des Ärgers verschwand plötzlich vom Gesicht seines Vaters, und er sah ihn mit jenem eigenartigen Blick an, der für ihn das Wichtigste in seinem Leben war. »Hallo«, sagte der Vater. Er lächelte. Der Junge trat ins Zimmer, aber erst, nachdem er vorsichtig zur Großmutter hinübergesehen hatte. Sie zog sich weiter in die Küche zurück. Sein Vater breitete die Arme aus, und der Junge ging auf ihn zu, um sich von seiner großen Kraft halten zu lassen und den Tabak zu riechen. Dann tippte ihn sein Vater auf die Schulter
und hieß ihn, sich zu waschen. Der Junge eilte davon und vergaß für einen Moment sogar die Angst vor der Dunkelheit. Aber als er das Badezimmer erreichte, war das hohe Fenster schwarz, und er konnte bereits die Sterne sehen. Der Engel war schon nahe. Ich werde es meinem Vater erzählen, dachte der Junge, aber er betrachtete sein eigenes blasses Gesicht im Spiegel und wußte, daß er es nicht tun würde. Sein Vater hielt nichts von solchen Dingen – von Kirche und Engeln. Beim Abendbrot war seine Großmutter noch immer ärgerlich, und keiner von ihnen sprach ein Wort. Der Junge aß vorsichtig und hoffte, daß nichts geschehen sei. Nach einer Weile sagte sein Vater lächelnd: »Es ist nicht gerade der Teufel, der dich holen wird, wenn du unartig bist. Aber vor mir solltest du Angst haben.« Seine Großmutter verschluckte sich beinahe und schaufelte noch mehr Kartoffeln auf ihren Teller, bevor sie sich darüber beschwerte, daß er nicht genug essen würde. »Laß ihn zufrieden«, sagte sein Vater. »Es wäre besser, du würdest dich mehr darum kümmern, was in seinem Kopf geschieht, als in seinem Magen.« Seine Großmutter antwortete, daß sie gerade das tun würde. Wieder verfielen sie in dieses angespannte Schweigen. Der Junge war froh, als die Großmutter nach Hause gehen mußte. Sie hatte sein Bett bereits gerichtet und das Bad eingelassen. Der Junge beobachtete, wie sie seinem Vater etwas zuflüsterte. »Du brauchst nicht zu flüstern«, erwiderte sein Vater. »Er weiß, daß ich gehe.« »Gut. Ich dachte, daß wenigstens… ist alles fertig?« »Es ist nur eine Woche«, sagte sein Vater. »Natürlich. Aber ich möchte sichergehen, daß er alles hat, was er braucht.« »Er braucht nicht viel. Achte darauf, daß er die richtigen Spielsachen nimmt.«
»Aber es könnte sein, daß du für längere Zeit fort bist – « »Hör zu«, meinte sein Vater dann. »Könntest du nicht einfach hierbleiben, solange ich weg bin? Es wäre besser für ihn, in seinem eigenen Bett zu schlafen.« »Nein. Das ist nicht möglich. Warum kann er nicht zu mir nach Hause kommen? Es ist näher am Krankenhaus. Es wäre einfacher für ihn, wenn er dich besuchen will.« »Ich will in der ersten Zeit keine Besuche. Ich will nicht, daß er mich sieht, bevor ich wieder in Ordnung bin. Er würde zu sehr erschrecken. Als er seine Mutter das letzte Mal sah, war es im gleichen Krankenhaus…« Der Junge hörte zu, aber die Stimme schien an ihm vorbeizuschwimmen. Er fühlte die Angst, die ihn wie eine erstickende Decke einhüllte. Aber es war noch Zeit. Und er mußte nicht gleich zu Bett gehen. Es war noch genug Zeit, eine Weile dazusitzen und mit seinem Vater fernzusehen und vielleicht über die Welt und alles mögliche mit ihm zu reden. Sie taten das oft; es waren die schönsten Stunden des Tages für den Jungen. Aber als er die Badewanne verließ und die Stufen zur Veranda hinaufstieg, erkannte er an der Art, wie sein Vater dasaß und ins Nichts starrte, daß er heute nicht mit ihm reden würde. Es gab nichts zu tun außer noch etwas zu spielen und abzuwarten. Er wünschte, er könnte mit irgend jemandem reden. Aber als sein Vater ihn zu Bett brachte, war sein Gesichtsausdruck abweisend – er dachte über irgend etwas Trauriges und Fremdes nach –, und der Junge konnte nichts sagen und wollte auch nicht zeigen, daß er Angst hatte. Er bat seinen Vater, das Licht in der Halle brennen zu lassen. Das half ein wenig. Seine Großmutter hätte das nicht getan – sie haßte es, das Licht nicht zu löschen. Sie würde nicht das Licht brennen lassen, wenn er bei ihr war, während sein Vater im Krankenhaus lag. Er… versuchte, seine Großmutter zu mögen,
aber sie machte sich nicht wirklich etwas aus ihm. Er bedeutete nur eine Pflicht für sie. Sie machte viel Wirbel um ihn, aber er wußte, daß es nicht echt war, und so konnte er nicht wirklich mit ihr reden. Er dachte an seine Mutter. Wenn die Engel sie nicht schon vor so langer Zeit mitgenommen hätten, dachte er, vor so langer Zeit, daß sie ihm nicht einmal mehr als jemals real erschien, nur noch ein Name, ein Ausdruck in den Augen seines Vaters, der den Jungen schweigen und frieren ließ, könnte ich es ihr erzählen?
Der Engel stieg herab. Es war die schlimmste Nacht von allen. Der Engel war ein großes, schwarzes, schlampiges Ding, grinsend, glucksend, flatternd, und der Junge war nicht mehr als ein kleines ängstliches Kind, auf das der Engel herunterstieß und grinste und schluckte, mit Zähnen wie Messern, mit schwarzen, rollenden Schwingen flatterte, und der Junge schrie und erwachte. Er saß aufrecht im Bett, schluchzend und mit klopfendem Herzen, und sah entsetzt auf, versuchte irgend etwas Vertrautes zu entdecken. Aber der Raum war voller wogender Schatten. Er stand weinend auf und ging ins Badezimmer, um Licht zu machen, das gesegnete, rettende weiße Licht. Es flammte auf und schob die Finsternis hinweg, und eine Weile stand er zitternd da und spürte die kalten Fliesen unter seinen Füßen. Dann sah er sich selbst im Spiegel – die leuchtenden Sommersprossen, die Tränen in den blauen Augen. Der Anblick beruhigte ihn etwas. Er sah so lebendig aus in dem dunklen, ruhigen Badezimmer. Für eine Weile stand er so da und blickte aus dem Fenster, beobachtete die treibenden Schatten der Wolken draußen auf dem Rasen. Er wußte nicht, wie spät es war. Die Nacht umschloß seine weiße Lichtinsel,
erstreckte sich hinaus in schwarze Unendlichkeit und hüllte alles in Finsternis. Die Angst wich langsam von ihm; er begann müde zu werden. Aber er konnte nicht zurück ins Bett. Langsam verließ er das Badezimmer und ging zum Wohnraum hinüber, um den warmen Teppich unter den Füßen zu fühlen. Als er in die Halle trat, sah er warmes Licht von der Veranda hereinscheinen. Er fühlte eine Woge der Erleichterung in sich aufsteigen und lief quer durch das Haus nach hinten, hielt vor der Tür inne und betrachtete seinen Vater, seinen riesenhaften Vater. Er saß eingehüllt in die blaue Dunstwolke seiner Zigarette da und starrte den bleichen Mond an. »Hallo«, sagte der Junge leise. Sein Vater wandte sich um, sah überrascht auf und lächelte zögernd, und der Junge fühlte sich auf wunderbare Weise beruhigt. Er ging auf ihn zu, setzte sich auf die Fußbank, steckte die Hände zwischen die Knie und drückte sie fest zusammen. Lächelte vor Erleichterung und Freude. Sein Vater beugte sich zu ihm herab, strich ihm übers Haar und ließ seine große Hand auf seiner schmalen Schulter ruhen. »Weshalb bist du wach?« »Oh…« Der Junge hob die Schultern und drückte die Hände noch fester zusammen. »Ich hatte einen schrecklichen Traum.« Der Mann lächelte wieder. »Und was war es?« »Oh, fast nichts.« »Hat es dich erschreckt?« »Natürlich hat es das.« »Aber jetzt ist wieder alles in Ordnung?« »Ich bin froh, daß du noch wach bist. Muß ich wieder zurück ins Bett?« Der Mann sah ihn aus ruhigen, sicheren Augen an. »Bald. Aber nicht gleich.«
»Kann ich… aufbleiben?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich geh^ selbst gleich zu Bett.« »Oh.« »Es ist ein schöner, heller Mond heute nacht.« »Hm?« machte der Junge. Es hörte sich traurig an. »Was ist los mit dir? Der Traum?« »Ja. Aber… es war ja nur ein Traum.« »Willst du ihn mir nicht erzählen?« »Ja. Aber du wirst ärgerlich werden.« Das Herz des Jungen schlug plötzlich hart und pochend. »Ärgerlich?« Sein Vater sah zu ihm herunter. Seine Hand lag noch immer beruhigend auf seiner Schulter. »Warum sollte ich ärgerlich sein?« Der Junge zuckte hilflos mit den Schultern. Er wollte nichts verderben. Er fühlte sich sicher und glücklich, und er wollte nichts mehr darüber sagen. Aber der Mann wartete. Der Junge kam sich wie in einer Falle gefangen vor. »Du magst keine Engel und so schlimme Sachen«, sagte der Junge. Er gestikulierte mit den Händen. »Hast du von Engeln geträumt?« Das Gesicht des Mannes strahlte sehr viel Geduld aus. Der Junge nickte. »Was war das mit den Engeln? Waren es schlechte Engel?« Der Junge nickte wiederum. Der Mann wirkte sehr interessiert, aber nicht im geringsten ärgerlich. Der Junge suchte in seinem Blick nach einer Spur von Zorn, aber er fand nichts als ruhige Aufmerksamkeit. »Mach weiter und erzähl es mir, bitte. Ich verspreche, daß ich nicht ärgerlich werde.« Der Junge tat einen tiefen Atemzug, blickte in das Gesicht seines Vaters auf und begann zu erzählen, stotternd und ängstlich, während er im Gesicht seines Vaters nach einem Anzeichen von Ungeduld oder Zorn suchte, verlor sich dann in
seiner Erzählung und bekam wieder Angst. Es floß aus ihm heraus. Er warf es ab wie ein großes, belastendes Gewicht – alles über den dunklen Engel und die anderen Träume –, und sein Vater lauschte ernsthaft und mit einem seltsam fremdartigen Ausdruck auf dem Gesicht. Der Junge kam zum Ende, starrte seinen Vater an und faltete ängstlich die Hände im Schoß. »Bist du nicht… böse?« »Nein.« Der Mann lächelte ein seltsam sanftes Lächeln. »Der dunkle Engel«, fragte er nach einer Weile. »Wo hast du von ihm gehört?« »Ich weiß es nicht.« Der Junge schüttelte den Kopf. »Aber irgendwo mußt du es gehört haben.« »Ich erinnere mich nicht. Aber es war nicht Großmutter. Sie erzählt von Engeln, aber sie hat nie von einem dunklen Engel erzählt.« »Nun gut.« Sein Vater sah noch immer mit diesem seltsam freundlichen Ausdruck auf ihn herab. »Warum hast du dann solche Angst, es mit mir zu besprechen?« Der Junge bewegte nervös die Hände. »Du… du magst Engel nicht und all die Dinge über Gott und…« »Gott?« wiederholte sein Vater. Er streckte die Hand aus und zog den Jungen näher an sich heran. »Glaubst du an Gott?« »Wenn auch du es tust«, erwiderte der Junge. Der Mann schöpfte tief und hörbar nach Atem. Er hörte auf zu lächeln. »Nun – hoffst du, daß ich an Gott glaube?« fragte er. Der Junge war verwirrt. »Hast du jemals gebetet?« Der Junge saß kerzengerade aufgerichtet da. »Nein«, gestand er leise. Noch immer sah sein Vater zu ihm herab. Der Junge fürchtete, irgend etwas Falsches gesagt zu haben. »Ich
wünsche«, begann sein Vater, sprach dann den Satz aber nicht zu Ende. Der Junge wartete und hoffte, es zu verstehen. »Es bedeutet nichts«, meinte sein Vater schließlich. Er hielt erneut inne und sah zur Seite. »Das Schlimme ist«, sagte der Junge, und mit einem Male füllten sich seine Augen mit Tränen, obwohl er dagegen ankämpfte, »daß der dunkle Engel hinter dir her ist.« Der Mann schloß ihn fest in die Arme. Nach einer Weile gab er ihn wieder frei. Er schien sehr unsicher zu sein. Der Junge verstand das nicht. Noch immer wirkte das Gesicht seines Vaters seltsam sanft. »Was du von mir hören willst«, sagte er langsam, »ist, daß ich an Gott glaube. Ich soll dir von ihm erzählen.« Der Junge wartete verwirrt. Der Mann sah ihn nicht an. Erst nach einer Weile fuhr er stockend fort: »Ich wünschte… ich dachte immer, es wäre besser, zu warten, aber…« Er suchte nach Worten, dann schüttelte er hilflos den Kopf und zuckte mit den Schultern. »Ich kann es nicht. Ich wünschte beim Himmel, ich könnte es. Aber ich kann dir nicht von etwas erzählen, woran ich selbst nicht glaube. Ich kann es einfach nicht.« Der Junge verstand nicht. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Der Mann ergriff ihn wieder bei den Schultern und sah ihn mit diesem merkwürdigen, traurigen, abwesenden Ausdruck an. Der Junge begann am ganzen Leibe zu zittern. »Ich habe mein ganzes Leben lang gekämpft«, gestand der Mann langsam. »Für einen Glauben – « Er hielt abrupt inne und schüttelte erneut den Kopf. »Nein, es geht nicht. Ich muß warten, bis du älter bist.« »Sicher«, sagte der Junge. Er wußte, daß dieser große, warmherzige Mann krank war und wegen einer Operation ins Krankenhaus mußte, und er wollte ihn auf keinen Fall beunruhigen – er wollte nur für eine Weile hier sitzen und
geborgen und sicher sein. Er fragte sich, ob er vielleicht bis zur Morgendämmerung hier sitzen könne und hielt den Arm seines Vaters umklammert. Aber nach einer Weile mußte er gehen. Sein Vater nahm ihn bei der Hand und führte ihn zurück ins Schlafzimmer, zurück in Schwärze und hilflose Ängste. Was dann aus ihm herausbrach, war etwas, das er nicht begriff und nicht kontrollieren konnte, etwas, das gegen seinen und dennoch mit einem eigenen Willen aus ihm hervorströmte, von dem er nicht gewußt hatte, daß es hervorfluten würde, daß es überhaupt vorhanden gewesen war. »Vater?« Er hielt die Hand seines Vaters fest umklammert. »Ja?« »Wenn du ins Krankenhaus gehst und dir irgend etwas passiert, etwas Schlimmes passiert – werde… werde ich dich jemals wiedersehen? Jemals?« Sein Vater straffte sich sichtlich. Der Junge konnte sein Gesicht nicht sehen. Er wartete mit einem Gefühl tiefen Unbehagens. Er hörte seinen Vater seufzen. Dann kniete er neben dem Bett nieder und nahm ihn fest in die Arme. »Ja, das wirst du«, flüsterte der große Mann voller Zärtlichkeit. »Natürlich wirst du das. Du wirst mich immer sehen.« Und so war alles wahr. Denn natürlich hätte sein Vater dies nicht gesagt, wenn es nicht wahr wäre. Und so verlor sich seine Angst, und der Junge schlang die Arme um den Nacken seines Vaters, und der große Mann hielt ihn fest und strich ihm zärtlich übers Haar. Dann brachte er den Jungen ins Bett zurück. Unter das Fenster, durch welches das Mondlicht ins Zimmer fiel. Deckte ihn zu und ließ ihn allein, um zu seinem Platz auf der Veranda zurückzukehren. Und der Junge lag lange wach und konnte nicht einschlafen, weil der dunkle Engel noch immer in der
Fensternische unter dem Fenster wartete, mit Zähnen, die wie furchtbare Messer blitzten. Und dann, nach einer Weile, verließ der Junge sein Bett, kniete nieder und faltete die Hände in der Art, von der er wußte, daß es die Leute taten, wenn sie beteten. Und auch er begann zu beten.
Sternengesicht
Montag, den 8. März Sie kam heute nach Hause. Sie war – es gibt keinen anderen Ausdruck – erstaunlich. Ich stand einfach da. Staunend. Sie ist inzwischen größer geworden. Sie ist aufgeblüht. Ihre Figur ist phantastisch, ja, aber zerbrechlicher als vorher. Ihre Brüste sind jetzt kleiner, aber gerade so, irgendwie… oh… unbeschreiblich. Dieses Gesicht. Mein Mädchen. Und jetzt schwarzes Haar. Sehr dunkel. Nicht mehr dieses Blond. Und dunkle Augen, die glühen, und eine scharf betonte Nase – wenn man sie im Profil sieht, aber es dauerte nicht lange, wir hatten keine Zeit für das Profil. Wir lagen im Bett, ich mit dieser schlanken, lieblichen, dunkelhaarigen Puppe – vollkommen schön, und das war immer noch Myra, meine Myra, und alles, was noch an die alte Myra erinnerte, war die dunkle, volle Stimme, und so lagen wir Seite an Seite, während wir uns unterhielten. Eine veränderte Frau. Aber nur äußerlich. Dieselbe Stimme. In der Dunkelheit war es die gleiche sanfte, freundliche Stimme, aber selbst im Dunkeln waren es nicht mehr ihre vollen Brüste, und das machte mich nervös. Das muß ich eingestehen. Ich liebte meine Frau, aber – in der Dunkelheit – liebte ich gleichermaßen diese neuen und lieblichen Brüste. Oh, es war saubere Arbeit. Sie betrachtete sich selbst im Spiegel und bewunderte sich; sie schien jetzt glücklicher zu sein, verwirrt, die Chirurgie hatte gute Arbeit geleistet, und das Ergebnis war beachtlich. Sie war nicht wirklich sehr verschieden – nicht wirklich. Es ist immer noch die gleiche Myra – nun, zumindest teilweise, innerlich, meine ich –, und was getan worden war, war nur sehr gute
Chirurgenarbeit im Gesicht. Und mehr sorgfältige Arbeit an den Beinen und Brüsten und so weiter, und nichts von alledem veränderte Myra. Nicht wirklich. Es sind nur die Körperteile – Myras Werkzeuge, wie sie sagen –, und es ist sehr angenehm, daran zu denken, daß jetzt jeder so verändert werden kann wie er will, es in der Hand hat, sich total zu ändern; Lungen dieses Jahr, Nieren im nächsten – und sogar das Gesicht und das Haar. Aber ich bin etwas altmodisch, ich habe mich nie verändern lassen – nun gut, ja, irgendwann einmal eine neue Hand, vor langer Zeit, ich habe es beinahe schon vergessen, aber niemals etwas anderes – mein Gesicht.
Laß einem Mann seine Ruhe. Die Frauen tun das jetzt alle, und sie sehen alle gleich aus. Aber meine Myra ist nun anders. Als ich neben dem großen, dunklen, strahlenden Mädchen aufwachte – gut, das mußte ich sein. Altmodisch. Der ruhige Mann. Aber – sie war wundervoll. Und wir krochen gleich wieder ins Bett zurück. Aber da war etwas – im hellen Tageslicht –, an das ich mich gewöhnen mußte. Sie war nicht – dieser Körper. Nicht so. Gut, nichts hatte sich wirklich verändert. Aber ich lag im Bett und betrachtete sie. Sie bewegte sich auf eine andere Art. Ich sah zu – irgendwie fremd. Gut. Erinnere dich. Es ist – aufregend. In einigen Wochen werden wir uns daran gewöhnt haben. Ich muß erst den Schock überwinden. Du bist ein Oldie-Typ. Vielleicht ist es das dunkle Haar? Nun gut. Kleinigkeiten. Wir werden sehen.
Samstag, 13. März Sie ist mit einem anderen auf und davon. Für die Nacht. Auch gut. Schreib es nieder. Wir waren immer flexibel in dieser
Sache, aber sie sagt, daß es eine neue Welt sei. Ich dachte, es wäre nur ein neues Gesicht. Aber sie sagt, Gott sei Dank, daß sie sich ›neugeboren‹ fühlt. Ich frage mich, ob diese neue Welt auch mich einschließt. Zum Teufel. Ein Ausbruch. All diese Mädchen – ihr Leben hängt so sehr davon ab, wie sie aussehen. Aber Myra? Nein, nicht möglich. Nicht nach all den Jahren. Sie ist ausgeflogen und wird zurückkommen. Ich warte. Und wir kümmern uns um alles. Um Zukunft. Gegenwart.
Montag 15. März Kam nicht zurück. Kein Telefonanruf. Nun gut. Nichts. Ausgeflogen für ein paar Tage. Die Männer erzählen ihr immer wieder, wie schön sie ist. Heutzutage sind alle Mädchen liebenswert. Nichts Besonderes. Wenn sie das Gesicht nicht mögen, warum es nicht verändern? Aber sie verändern doch nicht das Mädchen – können es doch nicht…
Freitag 19. März Myra ist heute für immer gegangen. Wird mit dem anderen Kerl zusammenleben. Ich weiß nicht, wie er heißt. Sie kam, um mir Lebewohl zu sagen. Sie nannte mich ›Liebling‹, als ob sie zu einem kleinen Jungen spräche. Aber jetzt ruft der neue Mann nach ihr. Name John irgendwas. Liebe auf den ersten Blick. Sie sagte, daß es wahr sei – und daß es wirklich Liebe auf den ersten Blick sei. Und sie ging – in eine andere Welt hinein. Sie sagte: Hör mal, ich bin nicht mehr die Gleiche. Es ist irgendwie… anders. Die Leute behandeln mich… nun… sie sehen mich an. Ich dachte, es sei nur wegen des neuen Gesichts. Aber nein, verstehst du? Leute – nicht nur
Freunde –, die ich nie gekannt habe, wollen mich besser kennenlernen. Dieser Mann – er sagt, er sah mich an, und er und ich waren plötzlich – das Wichtigste der Welt. Fluchte innerlich. Worte. Natürlich. Nichts als Worte. Aber – kann nichts sagen. Es bedeutet nichts. Es ist nur – zeitweilig. Vielleicht ist es nur begrenzt. Eines von diesen Strohfeuern. Dauert nicht lange. Eine kurze Flamme. Kenne das. Aber ich weiß auch – sie wird nicht zurückkommen. Niemals. Und… ach was. Ich bin der ruhige Mann. Ha.
Donnerstag 8. April Okay – warum nicht? Warum nicht, zum Teufel? Sah einen von diesen Typen. Werde keine Seiten mehr zerreißen. Nicht mehr schwitzen. Ruhiger Mann. Zähnefletschen.
Freitag 9. April Ein großer Kerl. Beeindruckend. Sieht nicht aus wie ein Mediziner. Schon gar nicht wie ein Chirurg. Ich frage ihn, ob man viel an ihm verändert hat. An seinem Gesicht, meine ich. Und er sagte fröhlich ja, aber nichts, was man sehen könne. Von irgendeinem wirklichen Künstler. Und das, was ich brauche, ist ein wirklicher Künstler. Künstler? Aber er sprach überzeugend und machte einen kompetenten Eindruck. Ich vertraute ihm. Schon jetzt. Aber er verbrachte viel Zeit damit, dazusitzen und mich zu beobachten. Seite für
Seite. Dann schloß er die Augen und sagte kein Wort. Dann fuhr er fort, sah wieder hin. Machte eines dieser Holofotos von meinem Kopf. Ließ mich aufstehen und mich wieder hinsetzen. Aber der ruhige Mann (ich) war praktisch. Kosten? Er sagte, nicht viel. Wußte wirklich nicht, was ich erwarten sollte – ich glaube, ich bin meiner selbst müde. Das ist die Wahrheit. Ich bin ein Individuum. Bin ich immer gewesen. Chirurgie macht keinen großen Unterschied. Zur Hölle, ich will kein Einheitsgesicht – aber irgend etwas muß passieren. Gott weiß das. Vielleicht wache ich sogar auf. So. Ich habe nicht herausgefunden, wie ich aussehen will. Er hat nicht rausfinden wollen, wie ich aussehen will. Schien sich nicht darum zu kümmern. Nannte keinen Preis. Und versuchte nichts zu verkaufen. Oder irgend etwas zu versprechen. Sagte, er bräuchte einige Zeit. Er braucht Zeit. Und so sitze ich hier. Und warte. Worauf?
Dienstag 13. April Sah Dr. Amstell heute wieder. Er sagte, er müsse mich studieren. Er schien in einer merkwürdigen Art interessiert zu sein. Fröhlich? Glaube ich nicht. Unterschätz diesen Typ nicht. Ich ging hauptsächlich zu ihm, weil er neu ist. Noch relativ billig, aber schon vertraut mit den neuen Techniken. Und das wenige, was ich von ihm hörte, war gut. Er tut, so sagen sie, wunderbare Dinge. Sie nennen ihn den neuen Meister. Nun gut. Er scheint zu wissen, was, zum Teufel, er damit anfangen soll, und ich kapierte das, nachdem ich nur ein paar Minuten bei dem Typ war. Gutes Gefühl. Sein normales Gesicht? Frage mich, ob er irgendwas an seinem eigenen Gesicht verändert hat. Sicher ist, daß er – fröhlich ist. Machen Sie es bei sich selber?
Ich habe gesehen, wie die Leute im allgemeinen aussahen, in den alten Tagen, wie sie ›normal‹ waren. Schluck.
Mittwoch 14. April Amstell: Wir fangen Freitag an. Ich: Okay. Vom Preis sagte er folgendes: Sie bezahlen, wenn ich fertig bin. Aber nur, wenn Sie es mögen. Wenn Sie es nicht mögen, brauchen Sie nichts zu bezahlen, und ich werde Ihnen das Gesicht wieder zurückgeben, das Sie jetzt haben. Das verwirrt mich ein bißchen. Die Gebühren sind normalerweise festgelegt, und natürlich können sich die Leute wieder zurückbehandeln lassen. Aber er will mir nicht zeigen, was er vorhat. So frage ich mich – Experiment? Er sagte ja. Ich sagte, was, zum Teufel, bedeutet das? Und er sagte in seiner seltsam geduldigen Art: Sir, es ist etwas Einzigartiges in der Struktur Ihres Gesichtes. Etwas Inspirierendes. Ich kann es nicht erklären – außer, wenn ich es Ihnen zeige. Und genau das habe ich vor. Wenn es fertig ist und Sie nicht mit dem Gesicht einverstanden sind, das ich Ihnen gebe, dann können Sie sich natürlich sofort zurückbehandeln lassen. Oder zu irgend etwas anderem, was Sie sich wünschen. Es kostet nichts. Aber ich habe dann etwas gehabt. Ich muß sagen – und seine Augen leuchteten –, ich habe eine fesselnde Zeit gehabt. Lassen Sie mich an die Arbeit gehen, Sir, und Sie werden sehen. Seine Worte ließen mich ein wenig frösteln. Aber ich vertraute dem Typen. Ich weiß nicht, warum, zum Teufel damit. Kann wieder zurückverwandelt werden. Und der alte Individualist werden. Ich selbst. Habe ich Freunde? Nein. Der ruhige Mann. Wer wird mich vermissen? Wenn ich in den Spiegel sehe, was ich jetzt immer wieder tue, weiß ich, daß nicht einmal ich selbst mich vermissen
werde. Leb wohl, alter Junge. Werde mich nicht mehr wiedersehen.
Dienstag 21. April Ich kann sehen! So: Kann ein bißchen schreiben. Aber selbst jetzt – es ist nur ein Auge frei. Sie behaupten, daß das andere in Ordnung ist. Juchhe!! Aber Amstell hat offensichtlich die Position der Augen verändert – was sehr selten gemacht wird. Aber er sagt, daß das Auge, das er versetzt hat – das rechte Auge –, schlecht war, aber daß es keine Probleme geben wird und daß es sogar besser wird als das ursprüngliche. Vielleicht spare ich sogar die Kosten für eine Augenoperation. Wer, zum Teufel, soll das wissen? Und so sitze ich hier – einäugig –, und es ist sehr seltsam. Ich fühle mich anders. Alles Geistige okay? Sogar mit einem neuen Auge. Nichts hat sich verändert… Hm-mmm.
Sonntag 2. Mai Heute kamen die Dinger runter. Aber ich sehe nichts. Noch kein Spiegel. Bah. Da kommt Amstell. Ich könnte etwas Training brauchen. So. Habe trainiert. Bin ganz schön fertig. Jetzt. Werde schlafen. Und jetzt kam einer von diesen bemerkenswerten Träumen.
Montag 3. Mai Wieder trainiert. Amstell, sage ich dir, ist beängstigend. Er sagt, alle sagen, es sei ein Meisterwerk. Ich fühle mich… betäubt.
Mittwoch 5. Mai Amstell sagte, wann wollen Sie sich selbst sehen? Ich sagte: »Warum fragen Sie?« Er sagte: »Mit jedem Tag, der vergeht, wird es besser. So. Je später Sie es sehen, um so besser wird es sein. Aber wenn Sie Ihr Gesicht sehen müssen, können Sie es jetzt.« Ich sagte: »Das heißt, daß es keine Probleme geben wird?« Er sagte: »Nein.« »Aber Sie wollen, daß ich warte?« »Ja.« »Nun gut. Wie lange?« »Nicht lange. Drei Tage.« »Ich habe seltsame Träume.« »Mein Freund – haben Sie keine Angst. Sie sind… ein Meisterwerk.« »Verarschen Sie mich nicht«, sagte ich, aber er sagt, das tue er nicht. Die Schwestern kamen vorbei, um mich anzusehen. Eine von ihnen nannte mich Starface. Mann… bin ich müde.
Freitag Und heute war ich mit Leib und Seele dabei, als ich mich selbst sah. Das bin nicht ich. Hallo, du da draußen. Großer Kerl. Diese Augen. Ich sah mich wieder an, aber das bin nicht ich; da im Spiegel. Es ist ein Mann mit breiter Stirn und großen, dunklen Augen. Einem größeren Mund und größeren Zähnen und irgendwie – angenehm in allem. Gut. Das bin also ich. Sympathischer Typ. Da draußen. Mir gegenüber. Fröhlich? Ich scheine – ernst zu sein. Aber nicht gefährlich. Und nicht – der ruhige Mann.
Nicht mehr. Du. Wer bin ich? Werde darüber nachdenken.
Irgendwann mittwochs Heute bin ich gegangen. Sie sind alle gekommen, um mir auf Wiedersehen zu sagen. Es war eine gute Zeit mit guten Leuten. Werde euch vermissen… Maryann, die liebenswerte Krankenschwester, kam heute zum Dinner und blieb über Nacht, und sie war – ah – herrlich. Sie schläft jetzt, während ich das hier schreibe. Sie nannte mich wieder Starface. Aber diese Art, in der sie mit mir spricht, in der alle mit mir sprechen – sie öffnete sich schnell. Amstell sagte eines: »Sie waren immer ein ruhiger Mann, jawohl. Sie hatten immer eine sanfte Sprache. Nun tun Sie folgendes: Bleiben Sie ruhig. Reden Sie jetzt nicht zu viel, weil Ihr Gesicht jetzt ein rätselhaftes Gesicht ist. Viele Leute werden neugierig sein. Verstehen Sie?« Und er hatte recht. Und er sagte: »Ich möchte, daß Sie lernen, auf das zu reagieren, was Sie draußen erwartet, wie es auf Sie reagiert. Warten Sie, mein Freund. Beobachten Sie, und hören Sie zu. Und lernen Sie.« Und so bin ich wieder in meiner eigenen Art der ruhige Mann. Aber ich war es immer deswegen, weil sich niemand für mich interessiert hat. Oder? Nun scheinen sich die Leute von mir angezogen zu fühlen. Sie kommen. Sie sehen mich an – mit leuchtenden Augen. Starface. Amstell sagte wiederholt, daß ich sein Meisterwerk bin und daß er von diesem Tage an als großer Künstler gilt. Nun gut. Heute im Krankenhaus. Als ich es verließ, applaudierten sie mir. Und irgendwie – verdammt – ist es lächerlich. Ich bin – beschenkt.
Montag Keine Zeit mehr. Der Traum wird vielleicht Wirklichkeit. Meine Anwesenheit ist jetzt bedeutend. Wo ich jetzt bin, werde ich als Amstells erste große Arbeit bekannt sein. Und ich bin dankbar. Aber jetzt gehe ich, wie es Myra tat, hinaus in diese tapfere neue Welt. Ich habe nie geahnt, wie sehr das Leben von der Form des Gesichts abhängt, von den Augen. Weil ich mich verändert habe, hat sich die Welt um mich herum verändert – sie sollte lächeln. Dieser magnetische Charme ist weithin spürbar. Ich bin jetzt etwas Wertvolles. Wie unbedeutend auch immer – ich sehe es in ihren Augen – und ich werde jetzt diesen Job für immer aufgeben und – ins Büro gehen? Wohin, Starface?
Mein ganzes Leben habe ich in dieses Buch geschrieben. Mit mir selbst geredet. Ein sehr kleines Tagebuch, aber nun ist es zu Ende. Heute bin ich verdammt fertig, weil es jetzt eine Welt da draußen gibt. So, auf Wiedersehen, altes Buch. Aber kein Lebewohl. Irgendwann werde ich zu dir zurückkehren.
Tod eines Jägers
Nielson kauerte in der Deckung eines Busches, mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen. Wenige Schritte hinter seinem Rücken öffnete sich der Wald, wo er von einem Strom durchschnitten wurde. Auf der anderen Seite des Flusses erstreckte sich eine unbewachsene, nackte Anhöhe, die sich nach oben zu einem schmalen Plateau öffnete. Auf dem Plateau stand eine Gruppe von Männern. Hätte Nielson aufgeblickt, hätte er sie entdeckt. Er hätte gesehen, wie sie zwischen den Steinen auf der Anhöhe saßen. Aber er brauchte nicht einmal hinzusehen, um zu wissen, daß sie da waren. Auf der anderen Seite des Waldes waren andere Männer, die sich in seine Richtung bewegten. Sie feuerten in die Büsche, und gelegentlich konnte er das Zurückschnappen der Hähne ihrer Gewehre hören. Es war später Nachmittag. Nielson lugte aus halb geschlossenen Augen in den Himmel hinauf. Keine Spur von Regen. Den ganzen Tag hatte er gehofft, daß es regnen würde. Nun war es später Nachmittag, und wenn sich die Männer weiter so vorsichtig bewegten, war es möglich, daß sie ihn nicht vor Sonnenuntergang erreichten. Sein Kopf ruhte auf seiner Brust. Er atmete tief und heftig. Drei Tage hatte er nichts gegessen. Er hatte keine Zeit gehabt, etwas zu jagen. Außerdem war er durstig. Er dachte an den Fluß, der nur wenige Fuß von ihm entfernt träge dahinfloß, spürte den brennenden Durst in der Kehle und den festgeklebten Dreck auf seinem Gesicht. Dann dachte er daran, wie schön es jetzt wäre, schwimmen zu gehen. Aber das war unmöglich. Er war sehr müde. Er fragte sich, ob sie an ihm vorübergehen würden, wenn er jetzt
hier einschlief. Und dann würde er mitten in der Nacht aufwachen, mit den friedlichen Sternen am Himmel über sich, und er würde allein sein und schwimmen gehen…
Der Psychologe saß auf einem Felsen oben auf dem Plateau und starrte in den Wald hinunter. Er war ein junger Mann in Straßenkleidung, mit buschigen Haaren und nervösem Gesichtsausdruck. Er war unbewaffnet. Wenn die Jäger dort unten den Mann fingen und wenn er dann noch eine Weile leben würde, würde es seine Aufgabe sein herauszufinden, warum der Mann das war, was er war. Aber die Chance, seiner lebend habhaft zu werden, war zu gering, und der Lärm, den die Männer dort unten veranstalteten, zu gewaltig, so daß der Psychologe nicht nur nervös, sondern allmählich auch schwermütig wurde. Neben ihm auf dem Boden kauerte der Jagdführer, ein älterer Mann in Jagdkleidung, schwer bewaffnet. Er hieß Walter George. Sein Hut lag neben ihm, und sein silbernes Haar schimmerte in der Sonne. Er hatte ein tragbares Funkgerät bei sich, in das er von Zeit zu Zeit ein paar Worte sprach, aber die meiste Zeit verbrachte er damit, von der Sonne zur Uhr und dann wieder in Richtung Wald zu blicken. Auch er war nervös. »Wie lange ist es noch hell?« fragte der Psychologe. »Ungefähr anderthalb Stunden.« »Wie sieht es aus?« »Wir haben ihn bald.« »Und wenn sie ihn nicht vor Anbruch der Dämmerung fassen?« »Dann werden wir den Wald anstrahlen, so gut es geht. Und bis zum Morgen warten. Er wird versuchen, während der Nacht durchzubrechen. Wir werden uns sehr ruhig verhalten müssen.«
Der Psychologe wurde immer nervöser. »Keine Aussichten, daß er aufgibt, nehme ich an.« Der ältere Mann zuckte mit den Schultern. »Sind Sie sicher, daß alle wissen, daß wir ihn lebend haben wollen?« »Immer mit der Ruhe«, sagte George. »Sie wissen es alle, aber wir erwarten es nicht. Wenn sie ihn lebend fangen, dann ist es in Ordnung so. Wenn nicht, dann eben nicht. Ich selbst bin jetzt schon drei Jahre hinter ihm her.« »Und nun gewinnt es auch noch politische Bedeutung«, warf der Psychologe ein. »Drei Jahre, um einen einzelnen Mann zu fangen.« »Der Kontinent ist groß«, entgegnete der ältere Mann sehr ruhig. »Und er ist ein außergewöhnlicher Mann.« »Sie sagen es«, murmelte der Psychologe. »Je länger man darüber nachdenkt, um so merkwürdiger erscheint es. Wissen Sie, wie viele Männer wir hier draußen haben?« Er wies mit dem Arm über die Wälder. »Mehr als zehntausend. Zehntausend Mann, die über eine fünfzehn Kilometer breite Front aufgezogen sind. Fast tausend Mann pro Kilometer. In den letzten drei Jahren hatten wir manchmal sogar noch mehr, und Hubschrauber und Hunde… Trotzdem tötete er siebenundzwanzig von uns, und bis jetzt ist es noch keinem gelungen, ihn auch nur zu Gesicht zu bekommen. Nach einer so langen Zeit wird man abergläubisch.« »Es ist nur ein Mann.« »Das ist wahr. Aber ein Mann kann eine ganz bemerkenswerte Sache sein.« Der Psychologe sah stirnrunzelnd auf. Dann blickte er wieder hinunter in die dunklen Schatten des Waldes. »Das Dumme ist, daß seine Motive mit ihm sterben werden. Wie können wir seinesgleichen auslöschen, wenn wir ihre Beweggründe nicht kennen?«
»Ich frage mich, ob er sie selbst kennt«, sagte der ältere Mann zweifelnd. »Trotzdem«, beharrte der Psychologe. »Sie haben mir im Basislager gesagt, daß Sie mir vielleicht etwas erzählen könnten.« George sah ihn ausdruckslos an. »Sie haben wenigstens ein- oder zweimal mit ihm gesprochen. Mehr als jeder andere hier.« »Ja«, gab George zu. Er atmete tief ein und blinzelte in die Sonne. »Es könnte sein, daß ich Ihnen etwas erzählen kann.« Der Psychologe nahm ein schmales, schwarzes Notizbuch zur Hand. »Was ist Ihr Eindruck von ihm? Hat er irgendwelche besonderen Gewohnheiten?« Der alte Mann begann zu erzählen, als ob er die Frage nicht gehört hätte. »Es könnte wirklich sein, daß ich Ihnen etwas erzählen kann. Sicher – irgendwann muß ich es ja einmal tun. Wie es auch sein mag – wenn wir hier den ganzen Nachmittag sitzen, können wir wohl nicht anders, als an den Kerl da unten zu denken, nicht wahr? Dann ist es wohl besser, ich erzähle Ihnen etwas über ihn. Könnte helfen, die Zeit zu vertreiben.« Er lehnte sich bequem zurück, faltete die Arme über seinem Gewehr und ignorierte den überraschten Blick des Psychologen. Selbst jetzt war er sich nicht sicher, wieviel er erzählen sollte, aber, so sagte er sich, nach all der Zeit mußte es wohl einmal geschehen. »Nun gut«, begann George wieder. »Wenn Ihnen die Tatsachen genügen, dann habe ich wohl eine ganze Menge zu erzählen. Was für eine Art Mann ist Nielson? Der Sohn eines Regierungsangestellten. Ein schmächtiger, melancholisch wirkender Vater, der Briefmarken sammelte und sich mit seiner Familie für zwanzig Jahre in die unteren Stockwerke
New Yorks zurückgezogen hatte. Man sagte ihm nach, daß er in seinem ganzen Leben kein lebendes Blatt gesehen hat oder auch nur einmal den Himmel erblickt hätte. Aber er hat es wohl auch nicht gewollt. Er verbrachte seine Zeit damit, philosophische Bücher zu lesen und sich mit der Geschichte zu beschäftigen. So hat er seinen Sohn – unbeabsichtigt, wohlgemerkt – zu einem Sonderling werden lassen. Ein Mann, der eine tiefe Leere in sich fühlte, so daß der junge Mann später in die Wälder ging, sich der Natur zuwandte, wie eine Blume sich der Sonne zuwendet. Er wurde ein Waldmensch, ein professioneller Jäger. Es ist ein langer und komplizierter Weg, der ihn in die Wälder geführt hat, in denen er nun da unten sitzt. Er ist ein Jäger, ein Mann, der es zu seinem Beruf gewählt hat, zu töten. Ein Mann, der allein leben will.« »Wie kam er nach Morgan? Warum?« »Nun – dies sind die Tatsachen: Er kam im ersten Jahr nach Morgan, als hier alles noch neu war, gerade nachdem der Planet entdeckt worden war und die ersten Kolonisten landeten. Als er ankam, gab es nur ein paar tausend Männer auf dem Planeten, ein buntgemischter Haufen, der die erste Stadt aufbaute, ein paar wissenschaftliche Teams voller Enthusiasmus und ein etwas befremdlicher professioneller Jäger – und natürlich die Morgans. Sie haben eine ganze Anzahl von uns getötet und uns eine Zeitlang ernsthaft in Sorge versetzt, sie könnten intelligent sein. Aber gottlob hat sich dieser Verdacht nicht bestätigt, als der Bericht kam. In diesem Moment kam Nielson, zu einer Zeit, als Morgan noch neu und wild war und wo jemand wie er diese Welt noch als Lebensraum akzeptieren konnte. Warum kam er nun? Gut, Direktor Maas sagt, er kam, um umsonst zu jagen, daß er seine Hilfe anbot, um einen Blick auf die Morgans werfen zu können – was natürlich lächerlich war, weil die Männer von der Jagdkontrolle nicht für nichts
arbeiten. Sein Kommen mußte andere Gründe haben, aber niemand wußte sie, nicht einmal Nielson selber, glaube ich. Er dachte, er sei gekommen, um einem Freund zu helfen. Was ihn nach Morgan brachte, kann wohl nur als Schicksal bezeichnet werden. Aber ich sehe, daß ich Sie verwirre. Also lassen wir das – « »Und wie sah er aus?« »Geprägt durch seine Herkunft. Ein Schwede von der Gestalt eines Baumstammes. Muskeln, die durch unzählige Kilometer regelmäßiger Bewegung gestählt waren. Eigentlich ein außergewöhnlicher Anblick für einen Waldmenschen – nicht mager, sondern eher wie ein Hüne. Blondes Haar, ein bulliger Kopf – glattrasiert und irgend etwas Schwarzes in seinem Schwedenblut, weil seine Augen schwarz waren. Die Muskeln wirkten irgendwie überproportioniert, die Art von Mann, neben der man sich unbewußt spannt, ein Mann, der einen automatisch zurückspringen ließ, wenn er sich unversehens bewegte. Trotz dieses stählernen Ausdrucks war er ein fast fröhlicher Mann. Trotz allem nur ein Junge, noch keine dreißig, mit rosigem, glattem Gesicht, in dem nur diese schwarzen Augen irgendwie fremd wirkten. Ein Mann, an den man sich erinnert und über den man nachdenkt – wenn man der Typ zum Nachdenken ist, der Sie zweifellos sind –, und doch nur ein Junge, dieser Nielson, ausgestattet mit einer großen Zufriedenheit, nur am Leben zu sein, und einer aufbrausenden Wut gegen alle Gleichmacherei und einem ungebrochenen Willen, seinen eigenen Weg zu gehen. Und wahrscheinlich ein Mörder.« »Und die Ereignisse?« »Nun, er kam nach Morgan, um zu jagen, und Maas rief mich und ließ mich ihn zu dem anderen Jäger – Woke – fliegen, quer über den halben Kontinent. Gleich im Flugzeug fiel er in einen tiefen Schlaf, und so kam es zu keinem Gespräch. Als
wir das Camp erreichten, bewaffnete er sich und ging in die Wäder, ohne zu wissen, wo Woke war, ohne mehr über die Morgans zu wissen, als daß ihre Gefährlichkeit in ihrer Fähigkeit lag, sich anschleichen und aus einer Entfernung von fünfzig Metern durch einen Steinwurf töten zu können. Aber er hatte keine Angst davor, daß sich irgend etwas an ihn anschleichen konnte. Nicht an ihn. Er war ein Profi, und die Jagd ist heutzutage fast eine Wissenschaft. So ging er. Und so begann es, obwohl ich es zu diesem Zeitpunkt noch nicht wußte und ihm zusah, wie er zwischen den Bäumen verschwand, um zu jagen, einfach aus dem Grund, einem Freund zu helfen. Er bewegte sich dabei so leise, daß die Vögel in den Bäumen rings um ihn noch weitersangen.« »Aha«, meinte der Psychologe steif. Er war verwirrt. »Gehen Sie es langsam an«, sagte George. »Man braucht Zeit, aber die ist es auch wert. Sie erfahren jetzt mehr, als Sie auf einmal verkraften können.« »Aha«, wiederholte der junge Psychologe vorsichtig. »Sie erwähnten, daß er nicht nur kam, um zu jagen?« »Natürlich nicht. Wir hatten ja schon die Jäger, die uns die Jagdkontrolle gesandt hatte. Woke und Maas mußten wissen, daß es vom ethischen Standpunkt aus nicht richtig war, Nielson hereinzulassen. Maas ging normalerweise recht streng mit den Bestimmungen um, bevor ein Planet freigegeben wurde, aber er ließ Nielson trotzdem herein, was ungewöhnlich für ihn war. Aber Nielson war ja auch etwas Besonderes. Wahrscheinlich wollte Maas die Sache nur möglichst schnell erledigen.« »Nun mal langsam«, unterbrach der Psychologe. »Erklären Sie das etwas genauer. Wie meinen Sie das?« »Gut. Betrachten wir es oberflächlich – der junge Jäger kam aus eigenen Beweggründen nach Morgan. Warum? Um einem Freund zu helfen. Der Direktor gab ihm die Erlaubnis. Aber
das sieht dem Direktor nicht ähnlich. Warum er das tat? Jetzt kommen wir zum entscheidenden Punkt. Fragen Sie mich jetzt über die Morgans aus.« Der Psychologe blinzelte. »Was ist mit den Morgans?« »Ich bin froh, daß Sie mich fragen. Als man den Planeten entdeckte, wissen Sie, entdeckte man natürlich auch die Morgans – obwohl wir sie lieber übersehen hätten. Bösartige Kreaturen sind das – schlanke, vorgeneigte, affenähnliche Wesen von erstaunlicher Schlauheit. Sie mochten uns nicht und töteten so viele von uns, wie sie nur konnten, was nur natürlich war, da wir das gleiche mit ihnen taten. Nach den Gesetzen der Jagdkontrolle sind ein paar Exemplare zu fangen und alle anderen zu vernichten, so daß der ganze Planet sicher für Parks und Ähnliches wird. Dann werden diese Exemplare genommen und in ein großes Reservat gesteckt, das so belassen wird, wie der Planet war, bevor wir ihn entdeckten. Genauso sollte es auch mit den Morgans sein, aber es stellte sich als schwierig heraus. Sie brachten es erstaunlich schnell fertig, unsere Fallen und unser Gift zu vermeiden und unsere Männer mit ihren Steinen zu töten, wann immer sie unvorsichtig waren. Sie waren wahllos. Sie töteten nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder. Die Jagdkontrolle schickte einen Mann herunter, um mit ihnen aufzuräumen. Er leistete gute Arbeit, fing ein paar und befreite die Gegend bis auf ein paar Dutzend von ihnen. Aber dann, eines Tages, kriegten sie ihn zu fassen und rissen ihn in Stücke. Sein Nachfolger war Woke, aber Woke war nicht gut. Er war ein liebenswerter und fröhlicher Mann, nicht wirklich ein guter Jäger, nur einfach ein Mann, der das Leben in der freien Natur liebte, und der wegen seiner fröhlichen Natur sehr beliebt war. Er hatte eine Frau und zwei Kinder. Er nahm den Job bei der Jagdkontrolle an, weil er Geld brauchte – und er konnte damit ein Schweinegeld verdienen. Aber die Morgans
hatten schon eine ganze Menge gelernt, als er kam. Und die wenigen, die noch übrig waren, machten ihm das Leben schwer genug. Und das, verstehen Sie, ist der Grund, aus dem Nielson dann kam. Woke versagte, und wenn er versagte, würde er nicht bezahlt werden. Sein Ruf würde leiden, er würde keine guten Jobs mehr kriegen und die Wälder verlassen müssen. So schrieb er um Hilfe an den einzigen guten Jäger, den er kannte, und von dem er wußte, daß er begriff, was es für ihn bedeutete, Jäger zu bleiben. Und Nielson kam. Sein Besuch war inoffiziell. Maas ließ ihn kommen, verstehen Sie, weil er ängstlich darum besorgt war, alle Morgans vernichtet zu wissen. Er wollte diese häßliche Geschichte endlich zu Ende bringen. Er war wohl mehr als nur besorgt; eher ernsthaft beunruhigt. Er unterstützte Nielsons Besuch, um sich von den Morgans zu befreien. Und nun, verstehen Sie, kommen wir zu dem entscheidenden Punkt. Er dachte, daß die Morgans intelligent sind.« Die Augen des Psychologen weiteten sich. »Ja«, sagte der ältere Mann, merkwürdig lächelnd. »Das ist der entscheidende Punkt. Die Frage ist nie beantwortet worden. Nicht wirklich, nicht wissenschaftlich, verstehen Sie? Die Sache ist die, daß die Morgans nicht intelligent sein konnten. Morgan war ein so schöner Planet, und wir brauchten ihn so dringend. Es gab keine Anzeichen für eine Kultur. Sie bauten keine Wohnungen, sie hatten keine Werkzeuge, keine Güter. Sie reagierten nicht auf Tests. Wenn wir sie fingen, dann saßen sie einfach da, starrten uns an und ignorierten die Tests. Sie konnten nicht intelligent sein. All das Land, verstehen Sie, all dieser Lebensraum, diese wilden, sprühenden, erzreichen Ebenen würden wir verlieren, wenn sie intelligent wären. Das Gesetz schreibt vor, daß wir ein intelligentes Volk nicht enteignen können, ganz egal, wie hoch sein kultureller Stand
ist. Deswegen war Maas erleichtert, waren wir alle erleichtert, als der Bericht des Psychologen eintraf und uns erklärte, daß die Morgans trotz allem nur mutierte Tiere waren.« Der Psychologe starrte ihn mit wachsender Verwirrung an. »Aber was meinen Sie damit?« »Ich weiß es nicht«, sagte George, immer noch lächelnd. »Niemand weiß es oder wird es je wissen. Es gab jemanden an autorisierter Stelle, der die ganz praktische Wahrheit im richtigen Moment in Worte fassen konnte, nämlich die, daß die Morgans nicht intelligent waren. Und außerdem – wem schadeten wir schon? Hier gab es genug Bodenschätze und Platz, Land und Sonnenlicht für Kinder, hier war ein Heim für zehn Millionen Leute und ein Sprungbrett für weiter entfernte Sterne. Was bedeuteten da die Ansprüche von ein paar Tausend nackter Biester?« »Aber wer war der Psychologe? Sie müssen Ihre Vorwürfe beweisen.« »Ich mache keine Vorwürfe«, protestierte George sanft. »Ich klage nicht an. Sie wollten die Geschichte hören. Ich erzähle sie Ihnen so, wie sie war. Niemand kann mit Sicherheit sagen, ob die Morgans intelligent waren. Wenn es überhaupt jemand gekonnt hätte, dann Maas und Woke und mit Sicherheit später Nielson. Das ist es, was die Sache so interessant macht. Versuchen Sie sich vorzustellen, was in diesem Wald mit Woke und Nielson passiert ist. Wenn die Morgans intelligent waren und Woke es wußte, dann mußten die Geschehnisse sehr interessant werden. Da war Woke – ein netter, zurückhaltender, freundlicher Mann, der Nielson freundlich aufnahm, den Mann, der über Lichtjahre hinweg gekommen war, um ihm zu helfen. Was also würde Woke sagen? O ja, verdammt, würde er sagen, vielen Dank für alles… ich bin dir ja so dankbar… und er würde abbrechen, weil es keinen Grund gab, es auszusprechen.
Und dann würde er Nielson vielleicht über die Morgans erzählen, irgendwo an einem geschützten Platz, von wo aus sie alles beobachten konnten, ohne selbst gesehen zu werden. Er würde natürlich sagen, daß sie zu schlau für ihn waren, und noch anderes. Er würde behaupten, daß die Jagd nicht allzu schwer werden konnte, weil sie bis auf ein kleines Waldgebiet im Norden bereits ausgerottet waren. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund verließen sie dieses Gebiet nie, vielleicht, weil sie einfach nichts anderes kannten. Deshalb wußte man immer, wo man sie finden konnte. Aber man kam nicht an sie heran. Egal, wie leise man sich zu bewegen versuchte. Man mußte immer ein Auge im Rücken haben, vor allem in der Nacht. Es war nicht schwer, sie zu töten, aber wenn man schoß, dann mußte man sehr genau zielen, weil man keine zweite Gelegenheit bekam. Dies würde Woke sagen, irgend etwas in dieser Art. Und was dann? Würden sie über die Familie sprechen? Seine Frau? Das Wetter? Sprachen sie über seine Lieblingstheorie, daß die Saurier von der Erde verschwunden waren, weil sie irgendwann einmal ausgerottet wurden? Sprachen sie über den letzten Kunden, mit dessen Frau er geschlafen hatte? Es war klar, daß – wenn es irgend jemand außer Maas wußte – es Woke war. Aber konnte er es erwähnen? Was war wichtiger? Die Frau, der Job oder der Freund? Und nach allem – interessierte es Nielson überhaupt? Es ist alles sehr kompliziert. Ich weiß es wirklich nicht. Aber sicher ist, daß Nielson auf die eine oder andere Weise davon erfuhr. Spätestens in den Wäldern im Norden, in der gleichen Nacht…« Der alte Mann unterbrach seine Grübeleien und fuhr mit der Geschichte fort, erzählte nun mit geschlossenen Augen, als ob er sich zu verlieren begann, erzählte in vielen Details und war sich darüber im klaren, daß er es sagen mußte.
»In dieser Nacht entschlossen sie sich, so bald wie möglich aufzubrechen, bevor die Morgans wußten, daß ein zweiter Jäger angekommen war. Woke war natürlich überfroh, daß Nielson da war. Und das gedachte er zu feiern. Er ging in der Dämmerung hinaus und schoß vier rebhuhnartige Vögel, und sie aßen bis weit in die Nacht hinein auf einem Hügel und knabberten die Knochen ab. Sie mögen so zwei oder drei Stunden geredet haben, bevor sie schließlich aufbrachen. Sie müssen bedenken, daß sie sehr gut ausgerüstet waren, denn die Jagd ist heutzutage eine Wissenschaft. Sie trugen weiche, eng anliegende Jagdkleidung, in der sich nichts verfangen konnte und die ihnen ein Maximum an Bewegungsfreiheit bot, eine Creme, die den Körpergeruch neutralisierte, Nachtbrillen und Pillen, die sie aufputschten und gleichzeitig ihre Sinne sensitiver machten. Jeder von ihnen hatte zwei Waffen – ein normales Gewehr und eine elektronische Handfeuerwaffe. Wie die meisten Jäger zog Nielson das herkömmliche Gewehr vor; er erklärte mir einmal, daß der Blaster zu rasch Feuer verursache, und obwohl er riesige Löcher in alles, was er traf, reiße, habe er nicht den gleichen Schockeffekt, die stoppende Macht einer Kugel. Deshalb hatte Nielson eine 300er H & H Magnum in seinem Gepäck. Aber vor allem hatte Nielson eine Fähigkeit, über die nur sehr wenige Männer verfügen – mit Sicherheit hatte Woke sie nicht –, die Fähigkeit, sich schnell und nahezu unsichtbar zu bewegen, lautlos und geschickt. Woke hatte eine Gruppe von Morgans in einem Tal im Norden entdeckt. Er machte Nielson auf die Gefahren der Gegend aufmerksam, und dann zogen sie los. Der Weg, den Woke gewählt hatte, war eine schmale Schlucht, die in das Tal hineinführte – nicht wirklich hindurch, sondern an den Seiten entlang. Als sie die Schlucht erreichten, teilten sie sich. Jeder nahm – nachdem sie einen Treffpunkt und eine Zeit vereinbart
hatten – eine Seite. Der Himmel war klar, aber Nielson mußte bei der Orientierung trotzdem sehr vorsichtig sein. Es war eine kalte, dunkle Herbstnacht, da Morgan keinen Mond hat. Und nun, verstehen Sie, stellt sich die erste Frage. Warum hat Woke einen so offensichtlich gefährlichen Weg gewählt? Das ist merkwürdig – er hatte die Morgans nur vier Monate lang mit sehr wenig Erfolg gejagt, und plötzlich hatte er so wenig Respekt vor ihrer Verschlagenheit, daß er den gefährlichsten Weg ins Tal hinein wählte. Während sie an den Seiten der Schlucht entlangschlichen, die Gewehre im Anschlag – was hätten sie tun können, wenn die Morgans sie überfallen hätten? Sie mußten gewußt haben, daß sie hilflos waren. Vielleicht war Woke durch Nielsons Anwesenheit so ermutigt, daß er leichtsinnig zu werden begann. Oder vielleicht – und das ist wahrscheinlicher – wollte Woke nicht, daß Nielson sah, welch großen Respekt er vor den Morgans empfand. Und deshalb nahm er den schnellsten und einfachsten Weg nach unten. Aber trotzdem ist da irgend etwas, das geplant aussieht, und ich sage das, obwohl ich Woke kannte und weiß, daß er kein Mann war, der an Selbstmord gedacht hätte. Sie waren ungefähr eine halbe Stunde unterwegs und hatten fast das Ende der Schlucht erreicht, als Nielson irgend etwas in den Wäldern unter sich bemerkte – etwas Ruhiges, aber Lebendes, das auf sie wartete. Er sah es nicht, hörte es nicht, roch es nicht, aber er wußte, daß es da war. Fassen Sie es auf, wie Sie wollen, aber genau so hat er es mir erzählt. Er fühlte so etwas. In dieser Nacht wußte er, daß da etwas war, zweifelte nicht daran, und so ließ er sich in einen Spalt zwischen zwei Felsen gleiten und wartete regungslos. Er war sicher, daß das Ding da vor ihm groß und gefährlich war, weil er so etwas einfach immer wußte. Und er war sich außerdem sicher, daß das Ding nicht wußte, daß er da war.
Dann hörte er ein schwaches Geräusch, so, als ob sich etwas bewegte, seine Position veränderte. Er war sicher, daß das Ding vor ihm ein Morgan war. Für einen Moment dachte er, er würde schlafen, aber dann bemerkte er, daß noch mehr da waren – um ihn herum, in den Büschen, den Bäumen; eine große Zahl von ihnen. Und sie warteten auf sie. Vielleicht wußten sie sogar schon, daß er da war. Aber Nielson hatte keine andere Wahl mehr, als hinunterzugehen, obwohl es auf dem Grund der Schlucht keinen Schutz gab. Er begann zu begreifen, daß sie praktisch in der Falle saßen. Er überlegte, ob er Woke warnen sollte, aber er wollte kein Geräusch machen, denn auf der anderen Seite der Schlucht wartete wahrscheinlich auch eine ganze Anzahl von ihnen. Vielleicht wußte es Woke ja auch bereits. Und vielleicht hatte man ihn ja auch noch nicht entdeckt. Aber das spielte schon im nächsten Augenblick keine Rolle mehr. Aus der Dunkelheit über ihm kam ein bösartiger, krachender, schrecklicher dumpfer Schlag. Die Blätter raschelten, dann hörte Nielson einen schrecklichen, unmenschlichen Schrei und wußte, daß Woke getroffen worden war. Sie töteten mit ihren Steinen auf fünfzig Meter Entfernung, auch das wußte Nielson. Und dann hörte er, wie sie sich auf ihn zubewegten, und er brach rücksichtslos durch die Büsche in die Richtung, in der Woke sein mußte. Er legte sein Gewehr zur Seite, zog Pistole und Messer und kroch, angespannt und mit einem boshaften Verlangen zum Töten erfüllt, vorwärts. Aber dann hörte er, wie sie auf der anderen Seite die Schlucht hinunterrannten, sieben, vielleicht acht von ihnen, und er wußte, daß sie ihn bis jetzt noch nicht entdeckt hatten. Aber sie suchten jetzt nach Woke, der vielleicht noch am Leben war, um ihr Werk zu vollenden. Und dann wußte er alles – daß er nicht durch die Felsschlucht entkommen konnte, daß mindestens ein Dutzend von ihnen
über ihm war und auf ihn wartete, wußte, daß Woke wahrscheinlich schon tot war oder sterben würde, bevor er den Rest vertrieben und ihn über den halben Kontinent zur Stadt gebracht hatte, und er sprang trotzdem aus seinem Versteck hervor, stieß einen Kampfschrei aus, der die Morgans, die über ihm in Richtung Woke krochen, erschrocken aufspringen ließ, jagte über den Rand der Felsschlucht hinauf, brach wie eine große, schwarze Kampfmaschine durch die Büsche, hinüber zu dem Platz, wo Woke lag, das Messer in der einen, die Pistole in der anderen Hand, die Lippen zurückgezogen wie ein Affe, ein angespannter Körper aus gegliedertem Stahl, rannte einen Morgan über den Haufen, sprang durch ein Dickicht, fetzte mit Kopf und Schultern Äste herunter, sprang in das laubbedeckte Tal hinunter und tötete den Morgan, der über Woke gebeugt dastand, um sich dann niederzukauern und die anderen zu erwarten. Sie hätten ihn natürlich einfach überrennen oder mit ihren Steinen erledigen können, aber wieder taten sie es nicht. Bei der herrschenden Dunkelheit scheint keiner von ihnen so richtig gemerkt zu haben, was überhaupt passiert war. Sie hatten das Blitzen seiner Pistole gesehen, einer oder zwei mochten auch einen heranstürmenden Schatten wahrgenommen haben, aber sie hatten keine Vorstellung, mit wie vielen Gegnern sie es nun wirklich zu tun hatten, und so zogen sie sich in den Schutz der Büsche zurück und gaben Nielson Zeit, Woke in Deckung zu zerren und sich wieder etwas zu beruhigen. Er hatte Glück gehabt, wie sich herausstellte. Sie waren über ihm, weil sie bereits gelernt hatten, daß ihr Geruch verräterisch sein konnte. Nielson tötete einen mit einem Blitz aus seinem Blaster. Der Rest floh. Es gab zu diesem Zeitpunkt nicht mehr viel von ihnen, nicht mehr als fünfzehn oder zwanzig auf dem ganzen Planeten, und sie dachten nur an ihre eigene Sicherheit.
Nur zwei blieben zurück, einer auf der Anhöhe über Nielson und der andere auf halbem Wege zwischen ihm und der Felsschlucht. Vielleicht waren sie verbitterter als die anderen, vielleicht auch nur eigensinniger oder einfach mutiger. Es war merkwürdig, daß sie blieben, aber die Morgans waren ja ohnehin sehr ungewöhnliche Wesen. Bleiben zwei Wölfe zurück, wenn der Rest des Rudels flieht? Es war noch viel Zeit bis zum Morgen. Nielson versuchte, Wokes Blutung zu stillen, ließ die beiden Morgans jedoch nicht eine Sekunde aus den Augen. Von Zeit zu Zeit sauste mit schrecklicher Wucht ein Stein über ihm durch die Luft, zerfetzte Blätter und Äste, zerbarst an einem Felsblock oder grub sich tief in einen Baumstamm. Dann, als dem Morgan über ihnen klar wurde, daß sie sicher versteckt waren, begann er größere Gesteinsbrocken loszubrechen und auf sie herabzuwerfen. Nielson begriff, daß sie in großer Gefahr schwebten. Er konzentrierte sich auf den Morgan über ihnen und ging bewußt das Risiko ein, den anderen aus den Augen zu lassen. Als der Morgan erneut einen Stein hochhievte und sein Arm wie eine vorschnellende Schlange über dem Fels sichtbar wurde, schoß er. Zu dieser Zeit war Woke bereits tot. Er war verblutet, genau wie der Morgan, ebenso ruhig wie er, eine gejagte Kreatur wie er. Und so verbrachte Nielson die Nacht auf dem Boden neben dem toten Woke. Sie können sich vorstellen, was er über die Morgans dachte. Kurz vor Morgengrauen floh auch der letzte Morgan, denn im Gegensatz zu Nielson konnte er nicht einfach die Nachtbrille herunternehmen und am Tage genausogut oder besser sehen. Nielson sah, wie er floh, aber er blieb trotzdem, bis die Sonne ganz aufgegangen war. Dann lud er sich den kleinen Woke auf die Schultern, nahm sein Gewehr auf und ging zum Camp zurück.«
Die Sonne war weitergewandert, und der alte Mann bewegte sich, wich dem wandernden Schatten aus. Der Psychologe sah ihn an, ohne sich zu bewegen. »Wenn Sie Woke gekannt hätten – « Der alte Mann unterbrach sich und zuckte mit den Schultern, sah auf die Uhr. Es war noch eine Stunde bis Sonnenuntergang. »Wir machen besser weiter«, sagte er. »Ich werde Ihnen über Maas erzählen.« »Aber – « »Ich bin kein Geschichtenerzähler, aber sehen Sie, Maas ist der wichtigste Mann nach Nielson. Wahrscheinlich werden Sie auch etwas über Nielson lernen. Kommen Sie nicht auf den Gedanken – aber ich glaube, Sie sind schon darauf gekommen –, daß Maas der Bösewicht in diesem Stück ist. Das ist keine Geschichte vom noblen wilden Mann, der von dem Stadtmenschen reingelegt wird. Maas war ein sehr wertvoller Mensch. Für das, was er tat, bezahlte er. Er litt darunter. Trotzdem dachte er, daß es richtig gewesen sei. Das ist es, was es so schwer macht, ein Urteil zu fällen. Maas, verstehen Sie, war ein Mann aus einer ausgezeichneten Familie, hervorragend ausgebildet in den besten Schulen, der besten Umgebung – dem Besten von überhaupt allem. Und er war ein wirklicher Idealist. Er glaubte an die Menschheit, an eine vorbestimmte Zukunft der menschlichen Rasse. Er setzte wohl – in einer Art Kleinkinderglaube – Menschheit mit Gott gleich. Jedenfalls spiegelte sein Benehmen seine Worte wider. Man war der Meinung, daß er der richtige Mann für diese Art von Arbeit war. Er sah gut aus und war eigentlich ein sehr sanfter Mann. Zynische Menschen hielten ihn für charmant. Er hegte den großen Wunsch, alle Planeten für die Menschen zu erobern, auch die weitesten Sterne zu erreichen. Er war ein
effektiver Mann. Ein Gewinner. Er war noch sehr jung, als er zum Direktor ernannt wurde und nach Morgan kam, und ich bin ehrlich überzeugt, daß er die Entwicklung, die ihm schließlich selbst zum Verhängnis wurde, mit den besten Absichten in Gang setzte. Er war ein Mann, der wirklich daran glaubte, daß die menschliche Rasse das höchste Gut der Galaxis ist, und man muß diese Philosophie im Auge haben, wenn man verstehen will, weshalb er so handelte, wie er es tat. Wie leicht es für ihn gewesen sein muß, den Bericht über die Morgans zu übersehen. Er hat ihn nicht verfälscht, sondern ihn nur nicht beschleunigt, die Dinge ihren natürlichen, schwerfälligen Gang gehen lassen. Wie Sie sich erinnern, haben die Morgans niemals auf irgendwelche Tests reagiert. War wirklich etwas falsch an dem, was er tat? Belastete es ihn? Und was – so mochte er sich gefragt haben – bedeutete schon das Schicksal der Morgans aus dem Gesichtspunkt von Jahrtausenden betrachtet?« »Und Nielson«, sagte der Psychologe, »war das andere Extrem? ›Ich glaube, ich kann nur mit Tieren leben. Sie sind so sauber und anständig…‹ Diese Art von Mensch?« »Nein, so nicht. Was Nielson wirklich war, dessen bin ich mir nicht sicher, aber er war weder eine Art Naturfanatiker noch ein Menschenhasser. Und da gibt es immer noch etwas, was Sie nicht wissen. Wir machen besser weiter. Als Nielson mit dem toten Woke über der Schulter zurückkehrte, bewegten ihn bestimmt ernsthaftere Dinge. Aber er konnte sich noch nicht sicher sein, nicht zu diesem Zeitpunkt. Und es blieb die Frage, was mit Jen Woke und ihren beiden Kindern geschehen sollte. Woke hatte eine Lebensversicherung abgeschlossen, weil er ein professioneller Jäger war, und aus dem gleichen Grund hatte er ein wenig Geld auf der Bank liegen. Aber es hätte nur gereicht, Jen zur
Erde zurückzubringen, und so entschloß sich Nielson, in die Wälder zurückzukehren. Wenn Wokes Arbeit beendet war, wenn der letzte Morgan tot war, mußte das ein paar Tausender bringen. Und wahrscheinlich gab es da noch so etwas wie eine Ehrenschuld für Nielson zu begleichen. Aber er konnte nicht sofort losziehen. Er beerdigte Woke – das Geld reichte nicht, um ihn zur Erde zu überführen –, und dann kümmerte er sich eine Weile um Jen. Sie war eine gute Frau. Schmächtig und freundlich, mit dickem, schwarzem Haar und so feurig wie liebenswürdig – vielleicht eine Frau, die nicht zu Woke gepaßt hatte, aber eine gute Frau, und Nielson wußte das. Natürlich wurde darüber geredet – Sie kennen ja die Leute. Aber nie Nielson direkt gegenüber. Es gab eine Menge Männer bei uns, die redeten, aber niemand verspottete Nielson offen oder machte ihm Vorwürfe, und wahrscheinlich verstanden ihn die meisten auch. Für Jen bedeutete Nielson eine große Hilfe. Obwohl er alles andere als ein häuslicher Typ war, war er ohne jeden Zweifel stark, ganz egal, wie man es betrachtete. Und er war gut zu den Kindern. Er erzählte ihnen Geschichten von Löwen und Tigern und tobte mit ihnen herum. Er war ein guter, ein ernsthafter Mann, und er half allein dadurch, daß er anwesend war. Ich nehme an, das Gefühl, gebraucht zu werden, war für ihn neu. Später erfuhr ich, daß er sich mehrmals gefragt hatte, ob er ihr einen Heiratsantrag machen solle, und er erzählte mir einmal, daß er sie brauche und es nicht nur aus Sentimentalität beabsichtige. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das die Wahrheit war. Vielleicht wußte er selbst nicht, was er wirklich fühlte. Eigentlich war er ein Mann, der seinen Weg allein ging. Aber er blieb.
Nun, kurz nachdem Woke beerdigt worden war, kam Nielson zu mir und bat darum, sich die gefangenen Morgans ansehen zu dürfen. Ich begleitete ihn. Maas kam kurz nach uns und beobachtete uns von der Tür aus. Im Biotank waren elf Morgans – sieben männliche und vier weibliche. Der Biotank war ein gigantisches Stahlgehäuse mit Plastikfenstern, ein Standardmodell, das nahezu jede Lebensform aufnehmen konnte. Druck, Atmosphäre und Temperatur wurden von außen gesteuert. Er hatte Einwegfenster – man konnte hinein-, aber nicht hinaussehen. Es war das erstemal, daß Nielson die Morgans wirklich sah. Elf von ihnen saßen in dem Tank, ohne sich zu bewegen, ohne sich zu kratzen oder einen Laut von sich zu geben, sahen nicht einmal hinaus, beinahe so, als ob sie schliefen oder sich ausruhten. Sie saßen einfach da, die Arme in verschiedenen Haltungen gefaltet, manche mit geschlossenen Augen, wie Statuen. Gelegentlich streckte sich einer von ihnen, und ein Schauer lief durch ihre Körper, aber sonst regten sie sich nicht. Vielleicht wirkten sie gerade deshalb so fremdartig. Sie waren nicht sehr groß, wogen etwa zweihundert Pfund, vorgebeugt, mit grauem Fell und langen, peitschenden Armen. Ein kurzer Pelz, der manchmal fast silbern zu schimmern schien. Sie hatten flachnasige, runde Gesichter, und der Pelz auf ihren Köpfen war nicht länger als am übrigen Körper. Sie hatten keine Brauen oder Wimpern, aber das Auffälligste an ihnen – neben den langen Peitschenarmen – waren die Augen. Sie lagen tief in den Höhlen und wirkten in dem silbergrauen Fell wie schwarze, pupillenlose Gummibälle. Der Blick dieser Augen konnte einen noch lange verfolgen. Noch sehr lange. Als sich Nielson herumdrehte, sah ich, daß er grinste. Dann entdeckte er Maas, und sein Grinsen wurde noch breiter. Auch Maas lächelte, vielleicht vorsichtiger und ein bißchen verängstigt. Aber ich spürte bereits, daß Nielson anfing zu
verstehen und sich wohl fragte, inwieweit sein Verdacht berechtigt war. ›Welchen Wert erreichen sie auf der Intelligenzskala?‹ fragte er, während er auf die Morgans deutete. ›Mehr als die meisten Tiere‹, antwortete Maas höflich – obwohl er hätte wissen müssen, daß Nielson ein fundiertes biologisches Wissen besaß. Deshalb wirkte seine Überraschung auch etwas eigenartig, als Nielson die exakte Zahl verlangte. Aber er lächelte noch immer als er sagte, daß der Wert ungefähr mit dem eines Hundes übereinstimme. Nielson schwieg eine ganze Weile und starrte ihn nur an, aber er fragte sich wohl zum erstenmal ernsthaft, ob man ihn verschaukeln wollte. ›Irgend jemand sagt hier nicht die Wahrheit‹, sagte er und wandte sich um, um zu gehen. Aber Maas hielt ihn zurück. ›Was meinen Sie damit?‹ Nielson hörte, gleichermaßen überrascht wie verwirrt, auf zu lächeln. ›Sie sind verdammt intelligenter als Hunde.‹ Und Maas sagte: ›Glauben Sie, daß man einen Fehler gemacht hat?‹ ›Sieht man das nicht auf den ersten Blick?‹ gab Nielson etwas freundlicher zurück. ›Nein. Ich fürchte, ich kann es nichts‹, antwortete Maas. ›Aber ich habe auch nicht Ihre Sensibilität gegenüber Tieren.‹ Nielson schüttelte den Kopf, verärgert über sich selbst, daß er das so Offensichtliche zum Gesprächsthema gemacht hatte und damit in die Sache hineingezogen worden war, ob er wollte oder nicht. Er sah mich an, als ob er wünsche, daß ich etwas dazu sagte, aber ich war bis zu diesem Moment noch nicht neugierig genug, und ich muß gestehen, daß ich noch nicht intensiv über dieses Thema nachgedacht hatte. ›Der Mann, der sie untersucht hat‹, sagte Maas, ›hat einen sehr guten Ruf, Mister Nielson.‹
Worauf Nielson steif antwortete: ›Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Vergessen Sie, was ich gesagt habe.‹ Er drehte sich erneut um, um zu gehen, aber Maas hielt ihn wieder zurück. ›Das ist ein sehr ernsthaftes Geschäft, Mister Nielson.‹ ›Nicht für mich‹, antwortete Nielson. ›Nicht, solange es legal ist.‹ Damit ließ er Maas stehen und kam wieder zu mir herüber. ›Was halten Sie davon?‹ fragte er. Ich drehte mich nervös zu den Morgans um. Ich zweifelte zu diesem Augenblick noch nicht an Maas’ Urteil, aber als ich in diese schwarzen Gummiaugen starrte, kam mir zum erstenmal der Verdacht, ein Verdacht, der mich bis heute nicht losläßt. Maas sagte dann unsicher, daß er nicht gerade glücklich über diese Entwicklung sei, daß er wisse, daß es Gerüchte gäbe, aber sie nie beachtet habe, weil diese Gerüchte immer wieder auftauchten, auf jeder neuen Welt, und überdies war da der Bericht des Psychologen, eines Mannes von einwandfreiem Ruf. Er forderte mich heraus, aber ich glaube, er hat gespürt, was ich in diesem Moment dachte. Und er ließ sich zu der Bemerkung hinreißen, daß es trotz allem das gute Recht der menschlichen Rasse sei, auf diesem Planeten zu leben. Das Recht der Menschheit, sagte er, und deshalb mußten die Morgans von dieser Welt verschwinden. Er sagte, daß vielleicht schon an Bord der nächsten Rakete ein qualifizierter Mann sei, und wenn nicht, würden wir nach einem schicken. Ich stimmte zu, weil ich immer noch an ihn glaubte. Aber innerlich bewegte mich die Frage, wie Nielson behaupten konnte, die Morgans seien intelligent, und gleichzeitig hinausging, um sie zu töten.« »Und so kommen wir zu den letzten, entscheidenden Tagen. Den Tagen, an denen ich alles herausfand, was ich über Nielson weiß, und an denen auch er eine Menge über sich selbst erfuhr. Ich suchte ihn auf und lud ihn ein, mit mir etwas
zu trinken – was für ihn sicher nicht leicht war, da er Alkohol verabscheute –, aber als er die Schulterstücke des KZT auf meiner Uniform sah, schien sein Respekt vor der Jagdkontrolle die Oberhand zu behalten, und er kam mit, vielleicht um seine eigene Neugier zu befriedigen. Aber bald redete er nur noch über sich. Der Alkohol lockerte seine Zunge. Ich fragte ihn, warum er die Morgans immer noch töten wollte, obwohl er sie für intelligent hielt. Ich bin kein Moralist, aber Fragen wie diese interessieren mich. Und er beantwortete sie ohne Umschweife. ›Zur Hölle‹, sagte er. ›Es ist das Gesetz der Natur. Alles frißt und wird gefressen. Alles was lebt, wird früher oder später gefressen. Die großen Tiere dürfen vielleicht etwas älter werden, aber zum Schluß ist es doch das gleiche. Der einzige Unterschied zwischen Tier und Mensch ist doch der, daß der Mensch erst eingegraben wird und dann gefressen.‹ Beginnen Sie ihn nun zu verstehen? Er ist sehr ernst, aber noch jung. Kein Narr, aber noch sehr jung. Er hatte viel über diese Angelegenheit nachgedacht, das konnte ich erkennen, denn als ich ihn fragte, ob er wirklich an das glaube, was er sage, antwortete er: ›Der springende Punkt ist – manchmal kann der Mensch ein wunderbares Lebewesen sein, aber das gilt auch für jedes Tier. Nicht für alle Menschen und nicht für alle Tiere. Aber eine große Anzahl von Lebewesen ist in ihrer Art bewundernswert, so wie ein Berg bewundernswert ist, ein Wasserfall oder ein Sturm. Was mich daran aufregt, ist diese gottverdammte Blindheit. Der Sturm weiß nichts von den Schiffen, die er versenkt. Ein Tiger ist sich nicht bewußt, was er da in sich hineinfrißt. Du kannst von irgend etwas getötet werden, das dir überhaupt keine Beachtung schenkt. Wenn ich sterbe, dann will ich wissen, daß irgend jemand einen guten Grund dafür hat, mich umzubringen.‹
Das war Nielson, der Philosoph. Vielleicht war alles, was er geredet hat, Unsinn, na gut. Es ist drei Jahre her, aber ich erinnere mich an jedes Wort. Und ich erzähle es Ihnen, weil Sie ihn sonst nicht verstehen könnten, nicht wirklich. Die Geschichte erfährt zum Schluß eine seltsame Wendung. Nielson, der Waldmensch, wird zynisch. Und Maas, der Stadtmensch, wird zum Idealisten. Aber vielleicht ist diese Deutung auch zu einfach. Denn tief, tief in Nielson war noch etwas, etwas, dessen er sich selbst nicht bewußt war. Irgend etwas…«
»Aber ich fange an zu philosophieren«, murmelte George schwermütig. »Ich sollte lieber weitermachen. Hören Sie zu. Die Sonne geht bald unter, und wir werden ihn töten. Ich möchte, daß Sie alles wissen, bevor er stirbt. Hören Sie zu, was geschah, und erklären Sie mir, warum es geschah. Die Rakete landete, und Nielson ging in die Wälder zurück. Es war kein qualifizierter Mann auf dem Schiff, der die Morgans hätte untersuchen können, und so ließ Maas nach jemandem schicken, und gleichzeitig ließ er Nielson hinausgehen und die letzten Morgans töten. Als Nielson eine Woche weg war, geschah etwas Merkwürdiges. Irgendwie schien es der Moment zu sein, daß so etwas geschehen mußte, weil Nielson zu diesem Zeitpunkt schon einige tote Morgans mit dem Flugzeug geschickt hatte und uns mitteilen ließ, daß nur noch zwei übrig waren und er sie bis Ende der nächsten Woche zu fassen kriegen würde. Am Abend des gleichen Tages wurde die Luft im Tank mit den elf Morgans ausgetauscht. Aber irgend jemand machte einen dummen Fehler und verwechselte Chlor mit Sauerstoff. Die Morgans erstickten. Alle elf. Keiner von ihnen versuchte auch nur, sich bemerkbar zu machen, und so wurde es erst am
nächsten Morgen bemerkt. Natürlich war es viel zu spät, um auch nur einen von ihnen zu retten. Maas war sehr betroffen, als er davon hörte – immerhin ist Völkermord eine sehr ernstzunehmende Sache –, und er ließ sofort nach Nielson schicken, um zu verhindern, daß er die letzten beiden auch noch erledigte. Aber Nielson war einen halben Kontinent entfernt. Er erschoß einen von ihnen noch am selben Abend, als er zum Fluß kam, um zu trinken. Er hatte in einem Dickicht auf einer Anhöhe auf der Lauer gelegen, drei Tage lang. Er hatte sich kaum bewegt und mit übermenschlicher Geduld auf die beiden Morgans gewartet. Sie wußten nicht, daß er da war, und zum Schluß müssen sie wohl angenommen haben, daß er die Gegend verlassen hatte. So wagten sie sich aus ihrem Versteck, um zu trinken, und Nielson erwischte einen von ihnen. Aber er schoß aus großer Entfernung, und die Morgans waren trotz allem vorsichtig gewesen, so daß der Schuß nicht tödlich war. Der Morgan floh, so rasch es seine Verwundung zuließ, und der andere schien ihm zu helfen. Nielson verließ sein Versteck und folgte ihnen. Die beiden Morgans blieben zusammen. Aus irgendeinem Grund ärgerte sich Nielson darüber. Der unverletzte Morgan hätte leicht fliehen können, während er den anderen verfolgte. Er hätte sogar versuchen können, in seinen Rücken zu gelangen, um ihn aus dem Hinterhalt heraus zu erwischen. Aber sie blieben zusammen und machten es ihm leicht. Sie bewegten sich in nördlicher Richtung, und Morgan fragte sich, wohin sie wollten. Das einzige, wirklich sichere Versteck – ein Sumpfgebiet im Westen – lag hinter ihm, und sie würden an ihm vorüberschleichen, um dorthin zu gelangen. Es wurde bereits dunkel, so daß er die Nachtlinsen aufsetzte und alle anderen Gedanken bis auf die an die Jagd aus seinem Kopf verbannte. Er fragte sich, wie schwer verletzt der eine Morgan
war. Er fand eine Blutspur, und dann wußte er, daß es ihn schwer erwischt haben mußte. Wenn er weiter floh, würde er verbluten. Nun, am nächsten Morgen würde es ein Ende haben. Und dann würde er diesen Planeten verlassen und irgendwohin gehen, wo er schleimige Dinger mit Tentakeln jagen konnte. Vielleicht würde er auch eine Zeitlang gar nicht jagen. Oder Jen Woke heiraten. Er brauchte ein Heim, in das er zurückkehren konnte, jemanden, der ihn brauchte, mit dem er reden konnte… Die ganze Nacht über flohen die Morgans nach Norden. Nielson war ihnen dicht auf den Fersen. In den frühen Morgenstunden erreichten sie die ersten Ausläufer des Gebirges. Sie mußten klettern. Nielson wurde klar, daß sie versuchten, ein höhergelegenes Gebiet zu erreichen. Er beschleunigte seine Schritte, orientierte sich an den leisen Geräuschen, die sie verursachten, und arbeitete sich an ihnen vorbei. Als die Sonne aufging, befand er sich bereits ein schönes Stück über ihnen. Er begann sich müde zu fühlen, und gleichzeitig fragte er sich, wie der verwundete Morgan durchhalten konnte. Gegen acht fand er einen geeigneten Platz für einen Hinterhalt – einen schmalen Spalt zwischen zwei Blöcken, direkt neben dem Weg, den sie nehmen mußten. Er drängte sich hinein. Es war kalt, und er hatte nicht die richtige Kleidung für diese Temperaturen. Eine ganze Zeitlang saß er so da, die Hände unter den Achselhöhlen verborgen, um die Finger warm und geschmeidig zu halten. Und dann hörte er sie kommen. Der verwundete Morgan atmete schwer. Nielson hörte es schon von weitem. Dann gab es ein furchtbares Krachen, und für einen Moment glaubte er, daß sie ihn gesehen hatten.
Aber die beiden waren nicht mehr als fünfzig Meter von ihm entfernt, und sie hatten ihn noch nicht bemerkt. Der Verwundete war gestürzt und lag auf dem Rücken, und der andere beugte sich über ihn und redete ihm zu. Schnell und ohne zu denken riß er das Gewehr von der Schulter, zielte und drückte ab. Aber der Abzug klemmte. Er war plötzlich unsicher, wütend auf sich selbst. Aber er überwand sich, zwang seine Hand, den Abzug durchzudrücken. Und das Gewehr feuerte. Der knieende Morgan fuhr hoch und stürzte dann über den anderen. Obwohl Nielsons Hände gezittert hatten, er hatte sauber getroffen. Beide Morgans waren tot, als er bei ihnen anlangte. Er stand eine Weile da, sah auf sie hinunter und fühlte sich sehr merkwürdig. Gleichzeitig ruhig und verwirrt. Der letzte, den er getötet hatte, war weiblich, und Nielson hatte für einen Augenblick das Gefühl, als ob eine eiskalte Hand durch sein Gehirn striche, als er sah, daß das Weibchen trächtig war. Er setzte sich auf einen Felsen und stützte den Kopf in die Hände. Als es zu schneien begann, hob er die Hände und beobachtete eine Weile, wie die Schneeflocken darauf schmolzen. Der Schnee begann die Morgans zu bedecken. Aber Nielson war erst fähig, zu gehen, als sie vollkommen von einer weißen Decke eingehüllt waren. Er ließ sie liegen, wo sie waren. Er wollte nur irgendwohin und sich waschen.« »O mein Gott«, stöhnte der Psychologe. »Ja«, sagte George. »Er kam zurück, und sie waren alle tot. Alle Morgans. Rassenmord. Aber selbst bevor er es erfuhr, war er schon verdammt. Er erzählte es mir selbst, im Flugzeug. Er schämte sich nicht. Wie kann man ein Gesetz brechen, sagte er, wenn es kein Gesetz gibt? Vielleicht fühlte er etwas von dem, was ihm in seiner Kindheit vorenthalten worden war. Irgend etwas Naives, Tugendhaftes. Und ich mußte ihm das
über die anderen Morgans berichten, die toten Morgans. Er hörte schweigend zu, nur seine Hände begannen zu zittern, und als wir in der Stadt waren, verließ er mich, ging zu Maas und erwürgte ihn mit bloßen Händen.« Der Psychologe neigte den Kopf. »So schob er die Schuld Maas zu. Irgend jemanden mußte er verantwortlich machen. Er wußte, daß er und Maas es gemeinsam getan hatten, und indem er Maas tötete, bestrafte er sich selbst. Er wußte, daß wir ihn verfolgen und ebenfalls töten würden. Aber er konnte sich seiner eigenen Schuld nicht stellen, und so tötete er Maas und ging in die Wälder zurück. Natürlich verfolgten wir ihn, und er wehrte sich. Vielleicht glaubte er, irgendwie die Morgans ersetzen zu müssen. Oder er war kalt und realistisch genug, um einzusehen, daß ihm keine andere Wahl mehr blieb. Aber der springende Punkt war, daß er sich nicht eingestehen konnte, was er getan hatte. Alles, was geschehen war, war Schuld seiner Eltern, Maas oder Gottweiß-wem, aber es war nicht seine Schuld. Und immer, wenn er auf der Flucht vor uns war, wenn er rannte und um sein Leben lief, dann wußte er, daß es falsch war. Und in diesem Wissen wird er wohl auch sterben. Wenn es falsch war vor Gott und den Menschen, dann war der ganze Weg falsch, sein ganzes Leben, der ganze blutige Weg bis zur letzten sinnlosen Sekunde seines Daseins. Es war heroisch – verdammt heroisch, ganz egal, wie man es betrachtete –, sich mit dem ganzen Planeten anzulegen, ohne die Aussicht, auch gewinnen zu können, mit dem Wissen, sterben zu müssen, ein Ende durch eine Kugel oder einen Strahl aus dem Blaster…«
Die beiden Männer saßen im roten Licht der untergehenden Sonne. Ein einzelner Schuß hallte von den Felsen wider, und
jemand rief: »Wir haben ihn!« Dann das Geräusch eiliger Schritte vom Fluß herauf. George und der Psychologe erhoben sich und gingen nach unten. Sie fanden Nielson mit dem Gesicht im Wasser liegend, das blonde Haar lang, schmutzig und blutverschmiert. Sein nackter Rücken hatte eine violette Färbung angenommen. Er war schon tot. Aber selbst im Tod wirkte er noch sehr, sehr groß.
Nachwort des Autors
Im Frühjahr ’51 war ich Student bei Hutgers, und ich nahm an einem Kursus für »kreatives Schreiben« teil. Ich erinnere mich sehr deutlich daran, daß ich Phönix schrieb, während ich die ganze Nacht in meiner kleinen Küche saß, die Füße unter die Kühlschranktür geklemmt hatte und in ein Notizbuch auf meinem Schoß kritzelte. Ich schrieb es mit echter Aufregung und wanderte in der neuen Welt. Ich übergab es dem Professor – einem älteren Mann namens Twiss –, und drei Wochen später gab er es mir zurück, blickte traurig auf mich herunter und sagte: »Bitte schreiben Sie nicht so etwas. Schreiben Sie Literatur.« Ich las die Geschichte noch einmal, veränderte ein paar Formulierungen und schickte sie an Astounding. Am 29. Mai 1951 kam ich vom Unterricht nach Hause zurück und fand einen Brief von John W. Campbell im Briefkasten, in dem er mir die gigantische Summe von 209,70 $ anbot. Ich flog an diesem Tag die Treppen hinauf, ein Tag, an den ich mich heute noch erinnere. Fünfundzwanzig Jahre später kam ich zufällig an einem Buchgeschäft in Capetown, Südafrika, vorbei und fand dort eine Hardcover-Anthologie von Brian W. Aldiss. Und dort sah ich – fünfundzwanzig Jahre später – Phönix. Diese Geschichte hat mir einige nette Überraschungen beschert. In dieser Zeit traf ich einen jungen SF-Autor, der gerade mit dem Schreiben anfing. Sein wichtigster Grundsatz lautete: Schreibe jede Woche eine Geschichte.
Eine pro Woche. Wenn sie nichts taugt, wirf sie weg. Und genauso verfuhr er. Wenigstens eine Zeitlang schrieb er eine Geschichte pro Woche. Das könnte ich nicht. Ich verfalle auf eine Geschichte, indem ich eine Zeitlang darüber nachdenke; für einige Zeit sind sie nur Fragmente, Handlungsfetzen und kurze Dialoge. Dann, eines Tages, öffnet sich eine Tür, und ich trete ein – glücklich, muß ich sagen, glücklich –, und ich finde dort die lebendige Welt dieser Geschichte vor, in der ich mich aufhalte, bis ich sie geschrieben habe. Ich habe im Laufe der Jahre viele Ideen gehabt, die immer noch dort hinter der Tür verschlossen sind. So geht es mir jedesmal – wenn die Idee da ist, dann folgt der Schmerz der Arbeit daran. Aber wenn sie noch nicht fertig ist, hat es keinen Sinn. Das Resultat: Ich habe nie viel Geld verdient, konnte durch das Schreiben nicht meinen Lebensunterhalt bestreiten. Ich denke auch nicht, daß ich das jemals schaffen werde. Eines Tages schwatzte ich mit ein paar Freunden in der Schule über die Gezeiten, die vom Mond verursacht werden. Die Springflut in der Bay von Fundi sei riesig, die in Maine viel höher als in Florida und so weiter. An diesem Tag habe ich über die Monde des Jupiter gelesen und mich gefragt, welche Gezeiten es dort gab. Mit all diesen Monden – ein Dutzend –, was würde passieren, wenn sie in Konjunktion stünden? Mann, was für eine teuflische Flutwelle. So schweifte ich ab, und plötzlich war der Planet mit seinen vier riesigen Monden da, einem Ozean und einer Konjunktion. Eine gigantische Flutwelle und die entsprechende Evolution ergaben Grenvilles Planet. Es stellte sich heraus, daß es die wahrscheinlich populärste SF-Geschichte ist, die ich je geschrieben habe. Sie wurde immer wieder gedruckt, und es war eine meiner besten Ideen. Die einsame Welt der dienenden Roboter. Ich kann nicht erklären, wie diese Geschichte entstand. Vielleicht durch
meine eigene Philosophie über das Leben – wie es Nietzsche ausgedrückt hat: Gott ist tot. In diesem Fall ist er es wirklich. Problem: Wie kann man es diesen armen metallischen, denkenden Wesen am Ende erklären. Mußte das so lassen. Hat kein Ende, nehme ich an. Hatte auch keine Charakterisierung. Aber es war erst die zweite Geschichte, die ich geschrieben habe, und ich muß gestehen, daß ich zu diesem Zeitpunkt nicht viel von Charakterisierungen verstand – oder von etwas anderem. Es machte Spaß, Sie nannten ihn SOLDIER BOY zu schreiben. Wirklich. Den Tag, an dem ich mich in die Gedankenwelt des Fremden einfühlte, werde ich nie vergessen. Ich war das Ding aus den Tiefen des Alls. Oh, ein bemerkenswerter Tag. Wirklich bemerkenswert, ihn am Ende umzulegen. Nach den ROBOTERN war das der reine Spaß. Dann gab es noch Das Buch. Es war das einzige Mal in den dreißig Jahren, die ich schreibe, daß ich ein wenig betrunken war. Du beginnst zu verstehen, Freund, daß ich über Irre schreibe? Aber von allem, was ich in dreißig Jahren geschrieben habe, erinnere ich mich am besten an die Worte aus der Bibel: Suche keine Erlösung, wenn du nicht gesündigt hast. Und laß Gott zu dir kommen. Und so lebte ich schuldlos. Aber… Gott kam niemals. William Wainer – der Beginn der Evolution. Evolution und Genetik und die Gleichheit der Menschheit. Mein ganzes Leben lang stolperte ich eigentlich ohne eigene Meinung dahin, und hinter jedem Tag ist ein Gefühl der Vorbestimmung, eines Pfades, der irgendwohin führt, zu irgend etwas, an das ich immer geglaubt habe. Wainer war Hoffnung, nehme ich an. Tod des Bürgers Jell Ein Freund erzählte mir wütend, daß er eines Tages die gleiche Story im Fernsehen gesehen hat, obwohl man sie mir niemals abgekauft oder mich auch nur
gefragt hätte. Sie haben nur das Ende geändert. Wo Jell gesagt wird, daß er zurückkehren soll zu einem Ort, an dem er König gewesen ist. Kein Plagiat, natürlich. Nicht, wenn er König ist. Totaler Unterschied, wenn er König ist… Ich bin dem Typ, der es gestohlen hat, niemals begegnet. Schätze, er hat Glück gehabt. Tod eines Jägers. Diese eine Geschichte war wirkliche Arbeit. Ich ging mit Nielson in diese Welt und blieb eine ganze Weile dort. Es begann mit einer vagen Idee über die Entwicklung sicherer Berufe in der Zukunft. Ich kam auf die Jagd, und so wurde die Jagdkontrolle geboren. Plötzlich war es die Jagdkontrolle auf einer fremden Welt, und plötzlich war die gejagte Rasse intelligent. Sehr wenig von dem, was ich geschrieben habe, hat mir so viel Lob eingebracht wie die Szene in den Bergen, in der Nielson die beiden tötet. Ich schickte die Story an H. L. Gold von Galaxy, und er schickte sie mit einer Entschuldigung zurück. Er sagte, daß diese Art von Geschichten nichts für seine Leser sei. Zu ernst und zu schwer. Ich erinnere mich daran, daß mich das etwas schockte. Ich bekam sie von Campbell zurück und dann von F&SF, ohne Kommentar. Ich erinnere mich daran, daß ich dachte, dies wäre die beste Geschichte, die ich je geschrieben habe. Aber niemand nahm sie, und schließlich verkaufte ich sie an Fantastic Universe für ganze 75 $. Im Laufe des Jahres fühlte sich H. L. Gold wohl etwas schuldig. Er schrieb mir, daß er 2000 $ für jede SF-Geschichte zahlen würde, die ich im Kopf hatte, ganz egal, was für eine Idee es war. Aber ich begann mich von der SF wegzubewegen und schrieb keine Geschichte, weil ich keine hatte. Der dunkle Engel – der Titel stammt aus Worten, die mein Sohn in dieser Situation gebrauchte. Es war eine zu religiöse Idee, und niemand wollte sie zuerst drucken. Das war der
Hauptgrund, weshalb ich mich von den Magazinen zurückzog, gerade, als Tod eines Jägers mich aus der SF herauswarf. Selbst nach dem Pulitzer gab ich sie Redbook, und sie wollten sie umändern, um dem Leser zu erklären, was mit dem Vater falsch sei, so daß der Leser nicht zu sehr geängstigt würde. Und gerade das, so dachte ich, würde die mysteriöse, schreckliche Welt des kleinen Jungen zerstören. Außerdem verlangten sie das Recht, den Titel zu ändern, und ich fand es damals an der Zeit, so etwas zu unterbinden. Der Titel kam außerdem in einem Gedicht von Ernest Dowson vor, das um 1880 geschrieben wurde, und ist praktisch Teil des öffentlichen Wortschatzes. Aber Redbook wollte sich nicht beugen, und so sagte ich, zur Hölle damit, und weigerte mich, sie zu verkaufen. Zum erstenmal werde ich jetzt ein reizbarer alter Mann. Aber ich mag es sehr, wie es jetzt läuft. Ich brauche die Magazine nicht mehr. Sternengesicht – ich arbeitete an Shakespeare und an der Welt des Schauspiels – die ganze Welt ist eine Bühne – und aus vielerlei Gründen begann ich die Welt um mich herum aufmerksamer zu beobachten. Ich begann langsam zu begreifen, als ich auf ein Mädchen traf, das »genommen« werden wollte. Die Frage, was sie war und wie sie war und was sie zu sein schien, beschäftigte mich eine Zeitlang sehr. Es war auf dem Weg vom Kap der Guten Hoffnung nach Hause, als ich einen Chirurgen traf, der einen Freund von mir behandelt hatte. Da kam ich auf die Idee, daß eine Änderung des Gesichts auch das Wesen eines Menschen an sich ändern konnte. Irgendwie bereitete mir die Idee so viel Vergnügen, daß ich die Reise unterbrach und in einem Straßencafe – dem Pavillon von Seapoint – diese Geschichte in mein Notizbuch schrieb.
Hauptgrund, weshalb ich mich von den Magazinen zurückzog, gerade, als Tod eines Jägers mich aus der SF herauswarf. Selbst nach dem Pulitzer gab ich sie Redbook, und sie wollten sie umändern, um dem Leser zu erklären, was mit dem Vater falsch sei, so daß der Leser nicht zu sehr geängstigt würde. Und gerade das, so dachte ich, würde die mysteriöse, schreckliche Welt des kleinen Jungen zerstören. Außerdem verlangten sie das Recht, den Titel zu ändern, und ich fand es damals an der Zeit, so etwas zu unterbinden. Der Titel kam außerdem in einem Gedicht von Ernest Dowson vor, das um 1880 geschrieben wurde, und ist praktisch Teil des öffentlichen Wortschatzes. Aber Redbook wollte sich nicht beugen, und so sagte ich, zur Hölle damit, und weigerte mich, sie zu verkaufen. Zum erstenmal werde ich jetzt ein reizbarer alter Mann. Aber ich mag es sehr, wie es jetzt läuft. Ich brauche die Magazine nicht mehr. Sternengesicht – ich arbeitete an Shakespeare und an der Welt des Schauspiels – die ganze Welt ist eine Bühne – und aus vielerlei Gründen begann ich die Welt um mich herum aufmerksamer zu beobachten. Ich begann langsam zu begreifen, als ich auf ein Mädchen traf, das »genommen« werden wollte. Die Frage, was sie war und wie sie war und was sie zu sein schien, beschäftigte mich eine Zeitlang sehr. Es war auf dem Weg vom Kap der Guten Hoffnung nach Hause, als ich einen Chirurgen traf, der einen Freund von mir behandelt hatte. Da kam ich auf die Idee, daß eine Änderung des Gesichts auch das Wesen eines Menschen an sich ändern konnte. Irgendwie bereitete mir die Idee so viel Vergnügen, daß ich die Reise unterbrach und in einem Straßencafe – dem Pavillon von Seapoint – diese Geschichte in mein Notizbuch schrieb.