Nikki Benjamin
Tage voller Zärtlichkeit
Es ist das Ereignis des Jahres in New York: der Ball zu Ehren des Bürgermeist...
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Nikki Benjamin
Tage voller Zärtlichkeit
Es ist das Ereignis des Jahres in New York: der Ball zu Ehren des Bürgermeisters! Mit äußerst zwiespältigen Gefühlen nimmt Eloise Vale die Einladung an, an der Seite von Bürgermeister Bill Harper das Fest zu eröffnen. Vor vielen Jahren waren sie ein Paar, aber jetzt sind sie Gegner! Eloises Krankenhaus ist von den Subventionen der Stadt abhängig – und genau die sollen gestrichen werden. Doch als sie in Bills Armen über das Parkett schwebt, zählt all dies nicht mehr. Denn sie hat nie aufgehört, Bill zu lieben. Als er sie einlädt, das Wochenende mit ihm am Meer zu verbringen, stimmt Eloise spontan zu…
2003 by Harlequin Books S.A.
Originaltitel: „Prince Of The City“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
in der Reihe: SPECIAL EDITION
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V. Amsterdam
Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA
Band 1426 (16/1) 2004 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Patrick Hansen
Fotos: Corbis GmbH
1. KAPITEL Eloise Vale blieb ein letztes Mal vor dem Spiegel in ihrem Schlafzimmer stehen und musterte sich kritisch. Das schlichte, aber elegante Abendkleid aus schwarzer Seide war knöchellang. Es war am Rücken tief ausgeschnitten und brachte ihre schlanke Figur zur Geltung. Das aschblonde Haar reichte bis zum Kinn und umspielte ihre zarten Gesichtszüge, die durch ein etwas kräftiger als sonst aufgetragenes Makeup betont wurden. Der Schmuck, nicht mehr als funkelnde Brillanten an den Ohren und ein dazu passendes Armband, verlieh ihrer Erscheinung einen Hauch von Glamour. Nicht schlecht für eine reife Frau von zweiundvierzig und die Mutter dreizehn Jahre alter Drillingssöhne, dachte sie lächelnd. Sie sah kühler, ruhiger und mondäner aus, als sie sich eigentlich fühlte. Es war erstaunlich, wie sehr Äußerlichkeiten über den inneren Zustand eines Menschen hinwegtäuschen konnten. Und das war gut so. Denn sie durfte sich unter keinen Umständen anmerken lassen, wie nervös sie schon seit Stunden war. Erst am Nachmittag war ihr klar geworden, worauf sie sich eingelassen hatte. Auf den Ball des Bürgermeisters zu gehen – das herausragende gesellschaftliche Ereignis von New York City –, das war für Eloise keine neue Erfahrung. Vor seinem Tod vor drei Jahren hatte ihr Mann Walter Vale, ein wohlhabender Investmentbanker, sie regelmäßig dorthin begleitet. Aber heute Abend würde sie mit Bill Harper, dem Bürgermeister persönlich, erscheinen. Mit dem Mann, den sie vor siebzehn Jahren geliebt, aber nicht geheiratet hatte. „Vergiss das nicht“, murmelte Eloise und drohte ihrem Spiegelbild mit erhobenem Zeigefinger. In den letzten Monaten hatte Bill Harper bewiesen, dass er kein Freund von ihr oder von Manhattan Multiples war. Er hatte sie vermutlich nur eingeladen, ihn auf den Ball zu begleiten, weil er allen beweisen wollte, wie unvoreingenommen er war. Und sie hatte seine Einladung lediglich angenommen, um die Gelegenheit zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Die aufgebrachten Anrufe in seinem Büro, das Interview, das sie der New York Times gegeben hatte, sowie die anonymen Leserbriefe, die sie an verschiedene andere Zeitungen geschickt hatte, schienen ihn nicht sonderlich beeindruckt zu haben. Also würde sie es von Angesicht zu Angesicht versuchen und dabei auch noch um öffentliche Unterstützung kämpfen. Trotzig hob Eloise das Kinn, nickte sich zu und dachte daran, was sie sich geschworen hatte. Sie würde alles tun, um Manhattan Multiples, das von ihr gegründete Beratungszentrum für Mehrlingsmütter, vor der Schließung zu bewahren. Selbst wenn sie dazu einen ganzen Abend an Bürgermeister Harpers Seite verbringen musste. Eloise war geistreich und unterhaltsam, und als Ehefrau eines wichtigen New Yorker Geschäftsmanns hatte sie gelernt, sich auch im Kreise von Prominenten gelassen zu bewegen. Sie konnte also das Beste aus ihrem heutigen Auftritt machen. Und das würde sie auch tun. Doch genau das hatte Bürgermeister Harper vermutlich ebenfalls vor. Sie zweifelte nicht daran, dass seine Einladung, ihn auf den Ball zu begleiten, rein politische Gründe hatte. Eloise war nicht naiv genug zu glauben, dass er dort weitermachen wollte, wo sie vor siebzehn Jahren aufgehört hatten. Und sie wollte es auch nicht. Obwohl sie inzwischen verwitwet und er geschieden war. Sie hatte seinen Heiratsantrag
damals abgelehnt, und auch heute stand sie zu ihrer Entscheidung. Sicher, sie beide hatten sich in all den Jahren geändert, aber Bill Harper war noch immer der, der er damals gewesen war – ein Mensch, der in erster Linie für die Politik lebte. Und das würde er immer bleiben. Er würde auch diesen Abend nutzen, um sein Image zu verbessern. Denn sein Vorhaben, die Zuschüsse an wohltätige Organisationen zu streichen und dadurch den Haushalt der Stadt zu sanieren, war nicht auf die erhoffte Begeisterung gestoßen. Indem er sich öffentlich mit ihr zeigte* konnte er den Eindruck erwecken, er hätte die Unterstützung einer der lautstärksten Gegnerinnen seines Sparprogramms gewonnen. Doch auch sie konnte diesen öffentlichen Auftritt für ihre eigenen Zwecke nutzen. Wenn sie geschickt vorging, konnte sie den Eindruck erwecken, als wären ihm Zweifel an seiner Haushaltspolitik gekommen. Und solange es so aussah, als würde der Bürgermeister ihr wenigstens zuhören, konnte sie in ihrem Kampf gegen die Kürzungen bei wohltätigen Organisationen wie Manhattan Multiples Verbündete finden. Eloise kehrte dem Spiegel den Rücken zu, nahm die Abendtasche vom Bett und legte sich den langen schwarzen Seidenmantel, der sie vor der Novemberkälte schützen würde, über den Arm. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass ihre Verabredung erst in einigen Minuten eintreffen würde. Nein, nicht meine Verabredung, korrigierte sie sich. Denn das klang romantischer, als sie und sicher auch Bürgermeister Harper sich diesen Abend vorstellten. Begleiter – das war eine wesentlich sachlichere und angemessenere Bezeichnung. Ihre Nervosität legte sich ein wenig, als sie über den Flur ging. Sie wagte es nicht, im Vorbeigehen einen Blick durch die offen stehenden Türen ihrer Söhne zu werfen. Die Verantwortung für die Kinderzimmer hatte sie Mrs. Kazinsky abgetreten. Die stämmige, grauhaarige Haushälterin kam zwei Mal in der Woche und versuchte, den drei Jungs mit liebevoller Strenge so etwas wie Ordnung beizubringen. Im Durchgang zum großen Wohnzimmer blieb Eloise stehen und schaute auf die Uhr, die auf dem Kaminsims stand. In nicht ganz fünf Minuten würde es an der Tür zum Penthouse läuten. Bill Harper war die Pünktlichkeit in Person. Er stand in dem Ruf, niemals jemanden warten zu lassen, weder die Presse noch politische Rivalen – und erst recht keine Lady. Ihr Blick wanderte zu ihren Söhnen, die vor dem Fernseher saßen, umgeben von leer gegessenen Pizzaschachteln, einem Milchkarton, ausgetrunken Gläsern und zerknüllten Servietten. Wenigstens haben sie Gläser genommen, dachte Eloise lächelnd. Seit ihrer Geburt hielten die Drillinge ihre Mutter auf Trab. Und sie waren der Hauptgrund dafür gewesen, dass Eloise die Organisation Manhattan Multiples ins Leben gerufen hatte. „Wow, Mom, siehst du gut aus“, rief Carl, der einige Minuten älter war als seine Brüder. Mit einem Auge auf einen Boxkampf im Fernsehen schielend, strahlte er Eloise an. John, ihr mittlerer Sohn, betrachtete sie von Kopf bis Fuß und stieß einen lauten Pfiff aus, der Eloise zum Erröten brachte. „Wirklich, Mom, du siehst echt toll aus.“ Henry, der jüngste ihrer Söhne, sprang von der Couch. „Wer sind Sie, und was haben Sie mit unserer Mutter gemacht? Zuletzt wurde sie in ausgebeulten Jeans und einem schlabberigen Sweatshirt gesehen.“ „Hey, Jungs, ihr habt mich doch schon mal in einem Abendkleid gesehen, oder? Obwohl ich zugeben muss, dass es eine Weile her ist“, fügte sie hinzu und
versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie sich über die Komplimente
freute.
„Stimmt. Und du bist noch nie zu einem Date mit irgendeinem wildfremden Mann
gegangen“, erwiderte Carl, der als Ältester die Beschützerrolle übernahm.
„Es ist kein Date, jedenfalls kein richtiges, sondern eher eine… geschäftliche
Verabredung. Wir treffen uns eben nur auf einer Party statt im Büro. Und Bill
Harper ist kein Fremder. Er ist der Bürgermeister von New York und außerdem
ein alter Freund von mir“, protestierte Eloise, bevor ihr einfiel, dass sie diese
Tatsache noch nie erwähnt hatte.
„Ein alter Freund?“ John, der ernsteste der drei Jungs, runzelte besorgt die Stirn.
„Das wird ja immer spannender.“ Henry rieb sich erwartungsvoll die Hände.
„Mom und der Bürgermeister… einst alte Freunde, jetzt bittere Feinde.“
„Wir sind keine Feinde, weder bitter noch sonst wie. Wir haben einfach nur
gegensätzliche Auffassungen“, erklärte Eloise geduldig.
„Also seid ihr Gegner“, folgerte Carl triumphierend.
„Der arme Kerl… Er hat keine Chance, oder?“ vermutete Henry.
„Nicht mit Mom als Gegnerin“, bestätigte John.
Zur Erleichterung von Eloise läutete es, und ihr blieb es erspart, von ihren
Söhnen über ihre Beziehung zu Bill Harper ausgefragt zu werden.
Sie warf den dreien einen warnenden Blick zu, ging zur Sprechanlage und erfuhr
vom Türsteher des Apartmenthauses, dass Bill Harper eingetroffen war.
„Schicken Sie ihn bitte herauf.“
Die Schmetterlinge in ihrem Bauch flatterten aufgeregt, als sie sich zu ihren
Söhnen umdrehte, die inzwischen jedes Interesse an dem Boxkampf verloren
hatten.
„Muss ich euch daran erinnern, dass ihr euch benehmen sollt?“
„Nein, Ma’am“, antworteten die drei im Chor, aber ihre blauen Augen glitzerten
schelmisch.
„Habt ihr eure Hausaufgaben gemacht?“
„Ja, Ma’am.“
„Kann ich mich darauf verlassen, dass ihr das Wohnzimmer aufräumt, bevor ihr
zu Bett geht?“
„Ja, Ma’am.“
„Spätestens um zehn seid ihr im Bett, klar? Ihr wisst, ihr habt morgen Schule.“
„Ach, Mom…“
Ein kurzes, aber energisches Klopfen schnitt den Widerspruch ihres Zweitältesten
Sohnes ab. Die drei Jungen wechselten verschwörerische Blicke, dann lächelten
sie ihre Mutter an.
„Mom, die Tür“, drängte Carl, als sie nicht auf das Klopfen reagierte.
„Ja, Mom, die Tür“, wiederholte Henry.
„Soll ich aufmachen?“ John machte einen Schritt nach vorn.
„Ich gehe schon“, versicherte Eloise hastig und mit ungewohnt atemloser
Stimme. Schließlich setzte sie sich in Bewegung, und ihre Söhne folgten ihr wie
selbstverständlich.
„He, es ist doch nur ein alter Freund mit einer gegensätzlichen Ansicht“, meinte
Carl aufmunternd, als sie zögerte, die Hand schon am Türknauf.
„Richtig“, murmelte sie und warf ihm einen dankbaren Blick zu.
„Du siehst großartig aus, Mom.“ Henry strich ihr über die Schulter.
„Und du bist klug“, fügte John hinzu.
Eloise atmete tief durch und riss die Tür auf.
Danach stand sie wie versteinert da, starrte Bill Harper an und brachte kein auch
noch so kleines Wort heraus.
Sie hatte geglaubt, darauf vorbereitet zu sein, ihm zum ersten Mal nach siebzehn Jahren wieder gegenüberzustehen. Schließlich hatte sie ihn oft genug in der Zeitung oder im Fernsehen gesehen. Aber das war eine sichere Entfernung gewesen. Sicher genug, um sich der Wirkung des markanten, ausdrucksvollen Gesichts, der darin funkelnden blauen Augen und der kräftigen, hoch gewachsenen Gestalt zu entziehen. Doch jetzt stand er vor ihr, in einem eleganten Smoking, das kurze, ergrauende Haar sorgfältig gekämmt, der Blick offen und direkt, ein warmes Lächeln um den Mund. Aus dieser Nähe war er einfach atemberaubend, und urplötzlich durchströmte sie eine Flut von Erinnerungen. Sie schaute ihm in die Augen, und die Jahre schmolzen dahin, als sich in ihr eine angenehme Wärme ausbreitete – und eine Sehnsucht, die sie vollkommen unerwartet traf. Erst sah sie in ihm nur den alten Freund, den besten, liebsten Freund, den sie hätte heiraten können. Den sie geheiratet hätte, wenn… Doch dann, nur einen Herzschlag lang, malte sie sich aus, wie es wäre, ihn in die Arme zu schließen, sich an ihn zu schmiegen und von ihm gehalten zu werden. Als Eloise jedoch bewusst wurde, dass ihre Söhne hinter ihr standen und die Szene aufmerksam beobachteten, gab sie sich einen Ruck. Bill Harper war einst ihr Freund gewesen. Jetzt jedoch war er, wie ihr Sohn es treffend ausgedrückt hatte, ihr Gegner. Und als solcher konnte er alles, wofür sie so hart gearbeitet hatte, mit einem bürgermeisterlichen Federstrich zunichte machen. „Herr Bürgermeister“, begrüßte sie ihn höflich und gab ihm lächelnd die Hand. „Kommen Sie herein, und lernen Sie meine Söhne kennen.“ „Bitte, Eloise, mein Name ist Bill“, erwiderte er, während er ihre Hand mit seiner umschloss und eine Sekunde länger als nötig festhielt. „Natürlich… Bill.“ Sie fühlte, wie ihre Wangen sich erwärmten, und zog die Hand zurück, um auf ihre Söhne zu zeigen. „Carl, John und Henry.“ „Guten Abend, Herr Bürgermeister“, sagte jeder von ihnen, als er ihnen die Hand schüttelte. „Jungs, ich freue mich, euch kennen zu lernen.“ Er sah Eloise an. „Wie um alles in der Welt kann man sie bloß auseinander halten?“ „Es ist nicht immer einfach“, gab sie zu. „Aber ich habe da so meine Tricks.“ „Das glaube ich.“ Bills Lächeln wurde breiter. „Sie ist nicht leicht hereinzulegen, was?“ fragte er ihre Söhne. „Nein, Sir, ganz und gar nicht“, erwiderte Carl. „Gut zu wissen, dass manche Dinge sich nie ändern.“ Bill bedachte Eloise mit einem Blick, der ihr allzu vertraut und irgendwie wissend erschien. Dann schaute er auf seine goldene Uhr. „Ich denke, wir sollten gehen. Wir wollen meine Wähler doch nicht warten lassen, oder?“ „Nicht heute Abend“, stimmte Eloise ihm zu und versuchte, ihre Nervosität zu ignorieren. „Ich mache das“, bot er an, als sie ihren Mantel anziehen wollte, und half ihr hinein. „Danke.“ Sie war sehr aufgeregt, und ihre Finger zitterten zu sehr, um den Mantel zuzuknöpfen. Er legte eine große Hand um ihre Schulter und drückte sie. Es war zugleich beruhigend und erregend, und sie verstand nicht, wie sie etwas so Widersprüchliches empfinden konnte. Eloise zügelte ihre außer Kontrolle geratenen Emotionen, machte einen Schritt von ihm fort und wandte sich ihren Söhnen zu, die gebannt die Szene beobachteten. „Um zehn ins Bett“, befahl sie. „Ja, Ma’am“, antworteten sie wie aus einem Munde.
„Falls ihr mich braucht, ich habe das Handy in der Tasche.“ „Werden wir nicht“, versicherte Carl. „Ich glaube nicht, dass es sehr spät werden wird.“ „Hoffentlich, Mom. Du musst morgen zur Arbeit, und wir wissen alle, wie übellaunig du bist, wenn du nicht ausgeschlafen hast“, erwiderte John mit übertrieben strenger Miene. „Aha, also braucht die Lady noch immer acht Stunden Schlaf, um zu funktionieren“, stellte Bill mit einem Lachen in der Stimme fest. „Das werde ich mir merken.“ Er gab ihren Söhnen die Hand und öffnete die Tür. „Eloise…“ Sie rang sich ein – wie sie hoffte – souveränes Lächeln ab. „Danke, Bill.“ Eloise wusste nicht mehr, wie sie sich diesen Abend vorgestellt hatte, aber sie war schon jetzt nicht mehr sicher, ob sie die Situation im Griff hatte. Bill führte sie zum Fahrstuhl. Auf dem Weg nach unten schwieg er, und zu ihrem Erstaunen fand sie die Stille keineswegs angespannt. Kurz darauf öffnete der Chauffeur ihr die Tür der langen, schwarzen Limousine, und Bill half ihr hinein. Als sie beide auf dem weichen Lederpolster saßen und die Tür sich mit dumpfem Laut schloss, schlug Eloises Herz plötzlich schneller. Sie waren allein. Und Bürgermeister Harper – Bill Harper, ihr einstiger Freund und Liebhaber, jetzt der Mann, dessen Politik alles zunichte machen konnte, wofür sie zwölf Jahre lang gekämpft hatte – nahm ihre schmale, kalte Hand und legte seine große, warme darum. „Habe ich dir eigentlich schon gesagt, wie schön es ist, dich wieder zu sehen, Eloise? Es ist wirklich gut. Nein, nicht nur gut, sondern großartig, wirklich großartig…“, flüsterte er mit jener sanften, tiefen und unglaublich erotischen Stimme, die sie noch heute bis in so manchen Traum verfolgte. Sie wusste, dass sie ihm eine kurze, ironische Antwort geben sollte. Stattdessen ließ sie ihre Hand in seiner, und es gelang ihr nicht, ihre wahren Gefühle zu unterdrücken. Sie hatte Bill Harper geliebt, und diese Liebe war nie völlig erloschen. Aber sie war einfach zu ehrlich, um so zu tun, als würde sie nichts mehr für ihn empfinden. „Ja, ich finde es auch schön, dich wieder zu sehen, Bill“, gestand sie schließlich. „Wirklich, wirklich gut.“
2. KAPITEL Bis zu dem Moment, in dem Eloise Vale im Fond seiner Dienstlimousine den Kopf hob, ihn ansah und zugab, dass sie froh war, ihn wieder zu sehen, war Bill Harper nervös und unsicher gewesen. Siebzehn Jahre waren vergangen, seit sie seinen Heiratsantrag abgelehnt hatte. Er hatte nicht zu hoffen gewagt, dass sie sich auch nur einen Hauch ihrer einstigen Gefühle für ihn bewahrt haben könnte. Zudem hatte ihre unverhohlene, öffentlich geäußerte Kritik an seinem Sparprogramm ihn befürchten lassen, dass sie ihm unfreundlich begegnen würde. Bill wusste selbst nicht genau, warum er Eloise eingeladen hatte, ihn auf den Ball des Bürgermeisters zu begleiten. Wochenlang hatte er gezögert. Aber irgendwann war ihm klar geworden, dass er es nicht ertrug, von ihr als Feind angesehen zu werden. Er wollte, dass sie ihn als Freund akzeptierte. Natürlich war er ehrlich genug, sich einzugestehen, dass er sich nach weit mehr als nach Freundschaft sehnte. Und wenn es auch nur die geringste Chance gab, ihre Zuneigung zurückzugewinnen, so musste er schnell handeln. Er hatte erwartet, dass Eloise seine Einladung höflich, aber bestimmt ablehnen würde. Und selbst nachdem sie ihm geantwortet hatte, hatte er noch mit einer weiteren Nachricht gerechnet, in der sie wieder absagte. Aber das hatte sie nicht getan. Eloise Vale war eine Frau, die stets ihr Wort hielt – etwas, was Bill aus eigener Erfahrung wusste. Schließlich hatte sie vor siebzehn Jahren ihr Versprechen gehalten, Walter Vale zu heiraten. Und obwohl er sehr darunter gelitten hatte, hatte er ihre Loyalität bewundert. Das tat er auch jetzt noch, obwohl ihm im Grunde klar war, dass sie ihn nur auf den Ball begleitete, um etwas für ihre Organisation Manhattan Multiples zu tun. Einige Mitarbeiter hatten ihn davor gewarnt, sie und ihren Protest gegen seine Politik aufzuwerten, indem er sich mit ihr in der Öffentlichkeit zeigte. Doch als er jetzt neben ihr im Wagen saß, atmete er den frischen Duft ihres Parfüms ein, sah die Wärme in ihren hellgrauen Augen und spürte, dass sie wirklich froh war, ihn wieder zu sehen. „Darf ich dir sagen, dass du heute Abend sehr schön aussiehst?“ fragte Bill. Er war jetzt endlich sicher, dass seine Entscheidung richtig gewesen war, also nahm er sich vor, die kurze Fahrt zum Hotel zu nutzen. Er wollte versuchen, den politischen Streit zwischen ihnen in den Hintergrund zu drängen. Er wollte, dass Eloise und er an diesem Abend zwei ganz normale Menschen waren, eine Frau und ein Mann, die zusammen auf einen Ball gingen und sich zum zweiten Mal in ihrem Leben kennen lernten. Und er wollte glauben, dass auch Eloise die Anziehung zwischen ihnen gespürt hatte, als er ihr in den Mantel half. „Nur, wenn du es wirklich meinst“, erwiderte sie lächelnd. „Sonst hätte ich es nicht gesagt.“ „Danke.“ Sie senkte kurz den Blick und wirkte fast ein wenig verlegen, bevor sie ihn wieder ansah. „Sie selbst sehen auch sehr gut aus, Herr Bürgermeister. Sehr elegant und würdevoll.“ „Ich weiß das Kompliment zu schätzen, Eloise. Aber sei bitte nicht so förmlich“, tadelte er sanft, um nicht zuzulassen, dass sie auch nur die kleinste Barriere zwischen ihnen errichtete. „Vielleicht wäre es besser“, erwiderte sie. „Du hast dir den Titel redlich verdient und solltest ihn genießen.“ Ihre Augen blitzten, und plötzlich stockte ihm der Atem. Er hatte ganz vergessen,
was für eine hervorragende Gesprächspartnerin sie sein konnte – geistreich, schlagfertig und voller Humor. Oft hatte er sie küssen müssen, um ihre Wortgefechte zu beenden. Das durfte er jetzt natürlich nicht wagen. Aber er konnte versuchen, das Thema zu wechseln. „Ich habe mich gefreut, deine Söhne kennen zu lernen. Du musst sehr stolz auf sie sein.“ „Das bin ich auch. Sehr, sehr stolz sogar. Manchmal können sie allerdings ein wenig anstrengend sein. Da sie gerade erst ins Teenageralter gekommen sind, stehen mir vermutlich ein paar harte Jahre bevor. Aber die drei sind gute Jungs und scheinen meistens zu verstehen, wie sehr ich mich seit dem Tod ihres Vaters auf sie verlassen muss.“ „Das mit Walter tut mir sehr Leid.“ „Ihn so zu verlieren war für uns alle sehr schwer“, gab Eloise zu. „Er war immer völlig gesund gewesen und hatte sich gerade gründlich untersuchen lassen. Der Arzt hat mir versichert, dass die Ergebnisse sämtlicher Tests negativ gewesen waren. Es gab keinen Grund, mit einem Herzinfarkt zu rechnen.“ „Ich wünschte, ich hätte zur Beerdigung kommen können“, sagte Bill. Er hatte allerdings im Norden des Staates in einem Schneesturm festgesessen. „Ich habe erst von seinem Tod erfahren, als es zu spät war.“ „Die Blumen, die du geschickt hast, waren wunderschön, und deine Karte hat mir viel bedeutet.“ Sie zögerte einen Augenblick. „Walter hat immer viel von dir gehalten. Er hat deine Arbeit ehrlich bewundert.“ „Ich habe auch immer viel von Walter gehalten. Und von dir, Eloise…“ Zaghaft nahm er ihre Hand und drückte sie. Zu seiner Überraschung ließ sie es geschehen. Fast schien es, als wäre sie dankbar für die Berührung. „Auch in deinem Leben gab es Höhen und Tiefen“, erwiderte sie. „Es tat mir sehr Leid, als ich las, dass deine Ehe mit Marnie Hartwell geschieden wurde.“ „Sie ist eine wunderbare Frau, hat wieder geheiratet und bekommt gerade ihr drittes Baby. Wir haben uns in Freundschaft getrennt.“ Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um Eloise mehr als die geschönte, für die Öffentlichkeit formulierte Version der Ereignisse zu geben. Nicht, dass es irgendwelche dunklen Geheimnisse gab, aber hoffentlich würde er ihr eines Tages erzählen können, woran seine so lange glückliche Ehe gescheitert war. „Und seitdem bist du überzeugter Junggeselle geblieben, was?“ fuhr Eloise fort und zog eine Augenbraue hoch. „Obwohl du bei wichtigen gesellschaftlichen Anlässen immer eine attraktive Frau am Arm zu haben scheinst.“ „Du verfolgst meine Auftritte, Eloise? Ich bin geschmeichelt.“ „Dazu hast du absolut keinen Grund. Dein Foto ist ständig in sämtlichen Zeitungen. Jeder in der Stadt kann deine Auftritte verfolgen, ob er es will oder nicht.“ „Stimmt, aber ich bin nun mal der Bürgermeister.“ Er drückte ihre Hand ein zweites Mal, als die Limousine vor dem Waldorf Astoria Hotel hielt und die wartenden Fotografen ihre Kameras hoben. „Und heute Abend habe ich die attraktivste Frau, die ich kenne, an meinem Arm. Ich kann dir nicht sagen, wie stolz und glücklich ich mich fühle.“ Er nutzte ihr verblüfftes Schweigen, beugte sich zu ihr und küsste sie leicht auf die Wange. „Mrs. Vale, es ist mir eine Ehre, Sie auf den Ball zu begleiten.“ „Ich wette, das sagen sie zu allen Frauen, Herr Bürgermeister“, erwiderte sie trocken. „Zu keiner anderen, Eloise. Das schwöre ich.“ „Dann danke… Herr Bürgermeister.“ Er warf ihr einen enttäuschten Blick zu. Sie wich ihm nicht aus, schwieg aber.
„Okay, wie du willst“, sagte er lächelnd, als der Chauffeur die Tür öffnete. „Bist du bereit?“ „Ja, das bin ich“, erwiderte sie und hielt seine Hand fest, während er ihr aus dem Wagen half und um sie herum Blitzlichter aufflackerten. Bill legte den Arm um ihre Schultern und lächelte selbstsicher in die Kameras. Neben ihm Wirkte Eloise kein bisschen nervös. Im Gegenteil – sie schenkte den Reportern ihr strahlendstes Lächeln. Und auf diese Weise ließ sie ihren Begleiter wissen, dass er sie nicht unterschätzen durfte. Obwohl sie nicht zu ihrem Vergnügen auf den Ball zu Ehren des Bürgermeisters gegangen war, konnte Eloise sich nicht erinnern, jemals so viel Spaß gehabt zu haben. Sie hatte mit ihrem Mann an vielen gesellschaftlichen Ereignissen teilgenommen, sich jedes Mal darauf gefreut und war stets enttäuscht worden. Doch seit sie Bill Harper die Tür zu ihrem Apartment geöffnet hatte, schien sich vor ihr eine Welt voller überraschender Möglichkeiten zu erstrecken – nicht nur an diesem Abend, sondern auch in der nächsten Zukunft. Der Bürgermeister wirkte in ihrer Gegenwart vollkommen entspannt, und sie teilten so viele schöne Erinnerungen, dass ihre Versuche, zu ihm eine förmliche Distanz zu wahren, ihr zunehmend alberner vorkamen. Und je länger sie mit Bill Harper zusammen war, desto schwerer wurde es, in ihm einen erbitterten Gegner zu sehen. Irgendwann gab sie auf und beschloss, den Abend einfach nur zu genießen. Er schien wirklich stolz darauf zu sein, mit ihr gesehen zu werden, und ließ sich gern mit ihr fotografieren. Nicht nur vor dem Hotel, sondern auch in dem großen, festlich geschmückten Ballsaal. Natürlich profitierte er vom Interesse der Medien an diesem Auftritt, aber das galt auch für sie. Denn es würde ihr erleichtern, die öffentliche Meinung für Manhattan Multiples und andere wohltätige Organisationen einzunehmen. Je mehr sie sich jedoch vom Glamour und der Aufregung anstecken ließ, desto mehr rückte der eigentliche Grund ihrer Anwesenheit in den Hintergrund. Denn sie war zu sehr damit beschäftigt, sich in Bill Harpers liebevoller Aufmerksamkeit zu sonnen. Vielleicht war es genau das, was er wollte, aber auch er schien sich zu amüsieren. Nachdem Bill ihr aus dem schwarzen Seidenmantel geholfen und ihn für sie an der Garderobe abgegeben hatte, nahm er zwei Gläser mit Champagner vom Tablett eines Kellners und führte sie durch den Ballsaal, in dem sich die einflussreichsten Männer und Frauen der Stadt drängten. Alle waren sie höchst elegant gekleidet und eifrig darauf bedacht, vom Bürgermeister wahrgenommen zu werden. Bill begrüßte jeden gleich freundlich und versäumte es nie, Eloise vorzustellen. Als seine liebste Freundin. Und wenn er das sagte, lag in seinem Lächeln eine Wärme, die ihr ans Herz ging und sie glauben ließ, dass es keine leere Floskel war. Manche Leute schienen überrascht, andere schienen irgendwie bestürzt zu sein, aber die meisten reagierten einfach nur erfreut. Schließlich war es durchaus möglich, dass zwei Menschen trotz ihrer gegensätzlichen Meinungen Freunde waren. Und obwohl nur wenige es wussten, hatten Eloise und Bill eine enge Beziehung gehabt, lange bevor es zwischen ihnen zum Streit um die Sparmaßnahmen der Stadt gekommen war. Schließlich hatte er seine Pflicht als Ehrengast des Balls erfüllt und führte Eloise zum Büffet, wo er verlockende Leckerbissen auf einen Teller häufte. Dann ging er mit ihr in das für sie beide reservierte Separee, wo ein für zwei Personen gedeckter Tisch sie erwartete.
„Wie schön“, schwärmte Eloise, als sie saßen. „Wie hast du das geschafft?“ „Nun ja, immerhin bin ich der Bürgermeister.“ „Und der Mittelpunkt eines Balls, der dir zu Ehren gegeben wird. Ich hätte nicht gedacht, dass es zulässig ist, sich bei einem solchen Ereignis zurückzuziehen.“ Sie nahm sich eine winzige Quiche und biss hinein. „Selbst der Bürgermeister von New York braucht hin und wieder eine Erholungspause. Oder sollte ich sagen, gerade er.“ Auch Bill nahm sich eine der Köstlichkeiten. „Vermutlich geht es dir bei deinen vielen Wohltätigkeitsveranstaltungen auch oft so.“ „Manchmal möchte ich lieber allein zu Hause sein, in bequemen Klamotten, auf der Couch, mit einem guten Buch und einer Tasse Tee“, gestand sie. „Ich hoffe, dies ist kein Abend, den du lieber zu Hause verbringen würdest.“ „Nein, ganz sicher nicht“, erwiderte sie und versuchte gar nicht erst, ihre Begeisterung vor ihm zu verbergen. „Zu meiner Überraschung macht mir dieser Abend großen Spaß.“ „Weißt du, mir auch“, gab Bill zu und klang selbst ein wenig verwundert. „Ich kann mich nicht erinnern, wann das zuletzt der Fall war. Es muss an unserer Gesellschaft liegen, was?“ „Muss wohl“, stimmte sie ihm lächelnd zu, während sie sich das letzte Appetithäppchen nahm. „Hast du genug gegessen, oder soll ich einen zweiten Vorstoß ans Büffet unternehmen?“ „Im Moment nicht, aber du könntest mich nachher mit einem sündhaft leckeren Dessert in Versuchung führen.“ „Wie wäre es dann mit einem Tanz?“ schlug Bill vor, da das Orchester gerade eine sanfte, erotische Ballade anstimmte, die Eloise immer besonders gemocht hatte. „Ein Tanz wäre nett.“ Sie erinnerte sich an eine Nacht vor vielen Jahren, in der sie sich in einem verrauchten Club irgendwo in Greenwich Village eng aneinander geschmiegt zu einem ähnlich langsamen Rhythmus gedreht hatten – Welten vom Ballsaal des Waldorf Astoria entfernt. „Es ist eine ganze Weile her“, bemerkte er leise und schien ebenfalls an ihren letzten Tanz zu denken. Dann stand er auf und nahm ihre Hand. „Ich habe mir sagen lassen, dass Tanzen wie Radfahren ist“, scherzte sie. „Man vergisst nicht, wie es geht.“ „Es gibt viele Dinge, die ich nicht vergessen habe, Eloise“, murmelte Bill, als sie die Tanzfläche erreichten und er sie in seine Arme zog. „Dich so zu halten steht auf der Liste ganz oben.“ Wortlos und mit klopfendem Herzen schmiegte Eloise sich an ihn und ließ sich führen. Sie hatte ebenfalls nie vergessen, wie es sich in seinen Armen anfühlte, auch wenn sie es manchmal verzweifelt versucht hatte. Und jetzt, während er mit seinem großen, schlanken Körper ihre kleine, zarte Gestalt schützend zu umschließen schien, fühlte sie seine Wärme und atmete den frischen, klaren Duft seines After Shaves ein. Plötzlich spürte sie tief in sich ein Glück und einen Frieden, von denen sie gar nicht gewusst hatte, dass sie sie vermisst hatte. Es war so gut, so richtig, sich von Bill Harper halten zu lassen. Und obwohl ihr bewusst war, dass dieser Moment nur flüchtig sein konnte, schloss sie die Augen und tat so, als würde er nie enden. Nach dem dritten langsamen Stück, zu dem sie schweigend tanzten, ging das Orchester zu einem Rhythmus aus alten DiscoZeiten über. „Die schnelleren Schrittfolgen kann ich noch immer nicht so gut“, gab Bill mit
offensichtlichem Bedauern zu. „Ich auch nicht“, sagte Eloise. Sie löste sich aus seinen Armen, zog die Hand jedoch nicht aus seiner, als er sie nicht losließ. „Wie wäre es mit einem zweiten Glas Champagner?“ schlug er vor, während sie die Tanzfläche verließen. „Oder mit einem Dessert?“ Bevor Eloise antworten konnte, wurden sie von einem Investmentbanker, einem Geschäftspartner ihres verstorbenen Mannes, und seiner mit Juwelen behängten Frau aufgehalten. Während sie sich mit ihnen unterhielt, winkte Bill einem Kellner und ließ sich zwei Gläser mit Champagner geben. Danach tauchten noch andere, später eingetroffene Gäste auf, die sich dem Ehrengast und seiner hübschen Begleiterin präsentieren wollten. Als sie endlich wieder allein waren, führte Bill Eloise zu dem Büffet, wo eine Vielfalt von Torten und Süßspeisen auf die Gäste wartete, und half ihr, eine kleine, aber ausgewählte Kollektion zusammenzustellen. . Dieses Mal gelang es ihnen jedoch nicht, sich unbemerkt zurückzuziehen. Stattdessen wurden sie eingeladen, sich an einen Tisch zu gesellen, an dem diverse Wirtschaftsgrößen saßen. Beide waren sie klug genug, sich diese Gelegenheit nicht entgehen zu lassen. Dies waren die Personen, von deren großzügigen Spenden wohltätige Organisationen wie Manhattan Multiples abhingen. Natürlich waren sie auch diejenigen, denen die Sparmaßnahmen des Bürgermeisters sympathisch waren, weil sie bedeuteten, dass ihre Unternehmen keine höheren Steuern zahlen mussten. Zum Glück war niemand so taktlos, das Thema anzusprechen. Dennoch spürte Eloise, wie erstaunt alle waren, sie an Bill Harpers Seite zu sehen. Denn jeder wusste, dass sie und er zu diesem äußerst brisanten Thema völlig gegensätzliche Meinungen vertraten. „Wie wäre es mit einem letzten Tanz… für heute Abend?“ fragte Bill, als das höfliche Gespräch am Tisch ins Stocken geriet und das Orchester mit einer langsamen Melodie begann. „Ja, bitte.“ Obwohl ihr Herz schneller schlug, bemerkte sie die nach oben gezogenen Augenbrauen der anderen Frauen, als sie beide aufstanden und er ihre Hand nahm. Offenbar waren auch den anderen die Worte „für heute Abend“ nicht entgangen. Im Unterschied zu ihnen wusste Eloise allerdings, dass Bill nur charmant sein wollte. Nach diesem Abend würden sie beide keine Zeit mehr miteinander verbringen, es sei denn, einer von ihnen wechselte seinen politischen Standpunkt. Und es war höchst unwahrscheinlich, dass das geschah. „Entschuldigen Sie uns“, sagte Bill in die Runde, bevor er sie hastig auf die Tanzfläche und in seine ausgebreiteten Arme zog. „Tut mir Leid, dass ich es so eilig hatte“, sagte er kurz darauf. „Aber es ist schon spät, und ich wollte noch mal mit dir tanzen, bevor wir aufbrechen.“ „Kein Problem“, versicherte sie ihm lächelnd. „Gut.“ Er zog sie noch fester an sich, und seine Wange streifte ihr Haar. Plötzlich konnte Eloise sich vorstellen, wie Aschenputtel sich gefühlt haben musste, als Mitternacht und die Rückkehr in die raue Wirklichkeit immer näher rückten. Bald würde auch ihr Ball vorbei sein. Und am Morgen danach würde sie sich wieder ihrer eigenen Realität stellen müssen. Sie hatte mehrere Stunden mit Bürgermeister Harper verbracht und mehr als nur eine Gelegenheit gehabt, mit ihm über seine Sparmaßnahmen zu sprechen. Aber sie hatte es nicht getan und würde es auch jetzt nicht mehr tun. Nicht während sie ein letztes Mal miteinander tanzten. Und nicht auf der kurzen
Fahrt zu ihrem Apartmenthaus, im Fond seiner luxuriösen Limousine. Doch auch sie hatte sich eine Atempause verdient. Und es war ihr gutes Recht, eine solche Pause mit einem alten und sehr lieben Freund zu verbringen und eine Bekanntschaft zu erneuern, die ihr und damit auch Manhattan Multiples nützen würde. Jedenfalls sagte sie sich das, während ihr Kopf an Bills Schulter lag und sie ihre Hand in seiner ließ. Auch er schien die Harmonie zwischen ihnen nicht gefährden zu wollen, denn im Wagen und im Fahrstuhl zu ihrem Penthouse schwieg er. Aber er ließ ihre Hand nicht los. Für beides war sie ihm dankbar. Es war für sie ein ganz besonderer Abend gewesen, einer, den sie nie vergessen würde. Doch wie Aschenputtel wusste sie, dass er bald enden musste. „Es war ein wirklich schöner Abend“, brach Bill das Schweigen, als die Fahrstuhltür aufglitt. Langsam gingen sie über den von Wandlampen im ArtdecoStil in mildes Licht getauchten Korridor. „Das finde ich auch“, antwortete Eloise und wagte es, ihn anzusehen, als sie vor ihrer Tür stehen blieben. Ihre Blicke trafen sich, und sofort wusste sie, dass sie einen großen Fehler begangen hatte. Sie wusste auch, was jetzt kommen würde und dass sie die Pflicht hatte, es zu verhindern. Aber das Verlangen in seinen Augen, gepaart mit einem fast jungenhaften Schalk, machte es ihr unmöglich, etwas so Vernünftiges zu tun. Also stand sie einfach nur stumm da und wartete auf den unausweichlichen Moment, auf den sie beide sich den ganzen Abend lang hinbewegt hatten. „Ich bin so froh, dass wir uns endlich wieder gesehen haben“, fuhr er ein wenig leiser fort und lächelte gewinnend, als wäre er sich seiner Sache viel zu sicher. „Ja“, erwiderte sie. Seine Zuversicht hatte sie jäh auf die Erde zurückgeholt. „Ich auch.“ Sie streckte die Hand aus. „Danke für den schönen Abend, Bill.“ „Ich danke dir, Eloise.“ .Sein Lächeln wurde noch breiter. „Du hast ihn viel mehr als schön gemacht.“ Bevor sie auch nur daran denken konnte, ihn abzuweisen, senkte er den Kopf und legte seine Lippen mit sanftem Druck auf ihre. Eloise hatte vergessen, wie herrlich selbst der schlichteste Kuss sein konnte. Zumal wenn sie ihn von einem begehrenswerten Mann wie Bill Harper bekam. Nicht, dass die Erinnerung an ihn jemals ihr Eheglück gestört hätte, und sie war auch nie verrückt nach ihm gewesen. Aber es hatte eine Zeit gegeben, in der Bill ihr sehr, sehr viel bedeutet hatte. Also war es keineswegs erstaunlich, dass die Anziehung überlebt hatte, sicher verborgen in den hintersten Winkeln der Erinnerung an ihre gemeinsame Zeit. Und daher überraschte es sie nicht, dass sie seinen Kuss mit einer Leidenschaft erwiderte, die sie sich bei keinem anderen Mann gestattet hätte. Eine innere Stimme mahnte sie zur Vernunft, aber Eloise wollte jetzt nicht mehr vernünftig sein und wehrte sich nicht, als er den Kuss noch vertiefte. Seufzend schmiegte sie sich an ihn und kam seiner tastenden Zunge mit ihrer entgegen. Er legte seine Arme immer fester, fast besitzergreifend um sie, und Eloise stellte sich auf die Zehenspitzen, um noch mehr von ihm zu fühlen. Sie sehnte sich so sehr nach der erregenden Wärme, die von seinem Körper ausging, dass sie sich beherrschen musste, um nicht an seiner Kleidung zu zerren und seine bloße Haut zu ertasten. Plötzlich verspürte sie einen Luftzug, der nur von einer aufgerissenen Tür stammen konnte. Doch Bills Kuss war einfach zu berauschend, und sie reagierte
nicht annähernd so schnell, wie sie es hätte tun sollen. Daher erwischten ihre
Söhne sie in flagranti.
„He, Mom“, sagte ihr Jüngster, „du kommst spät.“
„Genau, Mom, ganz schön spät“, tadelte der Mittlere. „Wir haben dich schon vor
Stunden erwartet.“
„Hast du eine Ahnung, was für Sorgen wir uns gemacht haben?“ fragte Carl, der
Älteste der drei, in einem Ton, den sie selbst oft genug den Jungen gegenüber
verwendet hatte. „Ab jetzt hast du Ausgehverbot“, fügte er belustigt hinzu.
„Striktes Ausgehverbot“, ergänzten Henry und John und hatten Mühe, ein Lachen
zu unterdrücken.
Entsetzt löste sie sich aus Bills Armen.
„Sieht aus, als hätten wir Publikum“, murmelte Bill schmunzelnd. Ohne den Arm
von ihren Schultern zu nehmen, drehte er sich mit ihr zu ihren Söhnen um, die
sich in der offenen Wohnungstür drängten.
„Tut mir Leid, Jungs, es ist meine Schuld, dass eure Mom so spät nach Hause
kommt. Wir hatten so viel Spaß zusammen, dass wir gar nicht an die Zeit
gedacht haben.“
„Klingt glaubwürdig“, erwiderte Carl grimmig, aber seine Augen funkelten
belustigt, genau wie die seiner Brüder.
„Ihr drei solltet spätestens um zehn im Bett sein“, ging Eloise zum Gegenangriff
über.
Ihre Sohne sahen in ihren roten Trainingshosen und dünnen TShirts, die sie
statt Schlafanzügen trugen, so süß aus, dass Eloise sie am liebsten in die Arme
genommen hätte.
„Gut, dass wir es nicht waren“, erwiderte John ernst. „Wer weiß, was hier
draußen auf dem Flur sonst noch passiert wäre?“
„Ja, Mom, wer weiß?“ wiederholte Henry.
„Keine Angst, bei mir ist sie sicher“, konterte Bill. „Aber ich muss zugeben, die
Versuchung, ihr einen kleinen Gutenachtkuss abzuluchsen, war einfach zu groß.“
Er wechselte ein verschwörerisches Lächeln mit ihren drei Söhnen, bevor er
Eloise wieder ansah. „Danke für einen wunderbaren Abend, Mrs. Vale.“
„Es war mir ein Vergnügen, Herr Bürgermeister“, murmelte sie und wich seinem
Blick aus.
Er küsste sie auf die Wange. „Ich rufe dich an“, flüsterte er und drückte ihre
Schulter.
Dann wandte er sich wieder ihren Söhnen zu und salutierte. „Gentlemen, seien
Sie nicht zu streng mit ihr.“
„Werden wir nicht“, antwortete Carl für sie alle.
„Und du nicht zu ihnen“, bat er Eloise, bevor er sich lächelnd umdrehte und zum
Fahrstuhl ging.
„Ja, Mom, sei nicht zu streng zu uns“, verlangte Henry belustigt, während sie die
drei hastig in die Wohnung scheuchte.
„Wir haben nur auf dich aufgepasst, Mom“, meinte John.
„Weil wir dich lieb haben“, fügte Carl hinzu.
„Ihr werdet morgen früh nicht aus dem Bett kommen“, sagte sie mit gespielter
Strenge. „Ich bezahle doch nicht so viel Geld für eine Privatschule, damit ihr im
Unterricht einschlaft.“
„He, wir könnten doch einfach aufbleiben“, schlug Henry vor.
„Ganz bestimmt nicht. Ihr geht jetzt sofort zu Bett, und ich will kein Gejammer
hören, wenn eure Wecker um sechs Uhr klingeln.“
„Als ob du dann überhaupt schon auf bist“, murmelte Carl auf dem Weg in sein
Zimmer.
„Oh, ich werde auf sein.“ Eloise dachte an den langen Arbeitstag, der ihr bevorstand. Und daran, dass sie an diesem Abend nichts für Manhattan Multiples getan hatte. „Und ich werde ein wenig missmutig sein.“ „Nein, bitte, nicht missmutig, Mom“, flehte Henry scherzhaft, als er davoneilte. „Das ist die Höchststrafe“, erklärte John und folgte seinen Brüdern. „Gute Nacht, Jungs“, rief sie und steuerte ihr eigenes Schlafzimmer an. „Gute Nacht, Mom“, antworteten sie im Chor. Es sind tolle Kinder, dachte sie, während sie den Mantel auszog und ihn in den Schrank hängte. Aber sie hätten um zehn zu Bett gehen sollen. Obwohl John vielleicht Recht hatte und es besser war, dass sie nicht gehorcht hatten. Wer konnte wissen, was Bill und sie vor ihrer Tür noch alles getan hätten, wenn sie nicht gestört worden wären? Vielleicht hätte sie ihn sogar auf einen Gutenachtdrink eingeladen. Allein die Vorstellung ließ ihr Gesicht warm werden, während sie die Pumps abstreifte und am Rücken nach dem Reißverschluss tastete. Der Kuss auf dem Korridor ließ vermuten, dass sie nicht sehr lange nebeneinander auf der Couch gesessen und an ihren Drinks genippt hätten. Das Problem, an dem sich ihr Streit entzündet hatte, war im Laufe des Abends verblasst. Aber kein Wunschdenken und kein noch so leidenschaftlicher Kuss änderte etwas daran, dass sie sich wieder darum kümmern musste, sobald sie morgen früh in ihrem Büro eintraf. Auch wenn Bill Harper und sie keine Erzfeinde waren, sie konnten nicht wirklich Freunde werden, und erst recht kein Liebespaar. Nicht, wenn er die Macht besitzt, alles zu zerstören, was ich in den letzten zwölf Jahren aufgebaut habe, dachte sie grimmig, während sie sich wusch und kurz darauf unter die Decke schlüpfte. Zwar verstand sie, warum der Bürgermeister die Zuschüsse an wohltätige Organisationen streichen wollte, aber eine persönliche Beziehung mit ihm kam unter diesen Umständen nicht infrage. Von ihr und Manhattan Multiples hingen einfach zu viele gute und engagierte Menschen ab. Sie hatte sich eine Atempause gegönnt und sie gründlich genossen. Aber morgen früh begann wieder der Alltag, und sie musste alles unternehmen, um das Beratungszentrum für Mehrlingsmütter zu retten. Auch wenn das bedeutete, dass sie sich in Zukunft von Bürgermeister Harper fern halten musste. Und das würde sie tun. Wirklich. Ab morgen früh. Doch jetzt, mit geschlossenen Augen, unter der warmen Decke, die Arme um ihr weiches Daunenkissen gelegt, durchlebte sie noch mal den leidenschaftlichen Kuss und malte sich beim Einschlafen aus, was daraus hätte werden können.
3. KAPITEL Das gedämpfte, aber monotone Summen eines Staubsaugers holte Eloise langsam aus dem Schlaf. Zu ihrem größten Bedauern verblassten die letzten Bilder eines äußerst angenehmen Traums, als sie widerwillig die Augen öffnete und in die Sonnenstrahlen blinzelte, die durch die Jalousien drangen. Am liebsten wäre sie liegen geblieben, aber Mrs. Kazinsky, die mittwochs und freitags pünktlich um neun im Penthouse eintraf, war bereits fleißig. Das wiederum bedeutete, dass Eloise um mindestens drei Stunden verschlafen hatte! Offenbar hatte sie vergessen, den Wecker zu stellen. Wütend auf sich selbst schlug sie die Decke zurück und setzte sich auf, um einen Blick auf die zwar sehr dekorative, aber leider nicht voll automatische Uhr auf dem Nachttisch zu werfen. Viertel nach zehn! Das konnte nicht wahr sein. Leider doch, dachte sie auf dem Weg zum Badezimmer, aber dann blieb sie wie angewurzelt stehen, machte kehrt und eilte auf den Flur. Sie war dafür verantwortlich, dass Carl, John und Henry jeden Morgen pünktlich zur Schule aufbrachen. Diese Aufgabe nahm sie sehr ernst, und egal, wie spät sie am Abend nach Hause kam, noch nie hatte sie versäumt, die drei rechtzeitig zu wecken. Bis jetzt. Als sie über den Flur hastete, sah sie Mrs. Kazinsky rückwärts aus Carls Zimmer kommen, eine Hand am Staubsauger, die andere am Kabel. Die Haushälterin schaute über die Schulter, lächelte freundlich und schaltete den Sauger aus. „Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt, Mrs. Vale. Aber ich musste mit den Kinderzimmern anfangen.“ „Das war gut so, denn sonst hätte ich wahrscheinlich bis Mittag geschlafen“, erwiderte Eloise. „In der Küche ist frischer Kaffee, und ich habe Ihnen etwas aus der polnischen Bäckerei in meiner Nachbarschaft mitgebracht.“ „Klingt wunderbar, Mrs. Kazinsky.“ Eloise lächelte dankbar. „Wie es aussieht, sind die Jungs allein aufgestanden und zur Schule gegangen.“ „Sie waren weg, als ich ankam, und im Becken stehen Schüsseln und Gläser, alle gespült. Es sind prima Jungs, Mrs. Vale.“ „Ja, das sind sie.“ Voller Vorfreude auf den starken Kaffee von Mrs. Kazinsky und eins der ungemein leckeren Zimtbrötchen ging Eloise in die Küche. Sie hätte wissen müssen, dass Carl, John und Henry inzwischen selbstständig genug waren und nicht mehr zur Schule gescheucht werden mussten. Schließlich passte auch abends kein Erwachsener auf sie auf, wenn ihre Mutter einen Termin hatte. Sie werden groß, dachte sie mit einem Anflug von Wehmut, während sie mit ihrem Frühstück ins Schlafzimmer zurückkehrte. Sie war stolz auf ihre Söhne und wusste, dass sie ihnen vertrauen konnte. Was würde sie tun, wenn die drei sie nicht mehr brauchten? Wenn sie dann vielleicht nicht mal mehr Manhattan Multiples hatte? Die Vorstellung, nicht nur allein, sondern ohne ihre geliebte Arbeit zu leben, behagte ihr absolut nicht. Eine Sekunde lang dachte sie an den Kuss vor ihrer Wohnungstür – und daran, dass sie nicht unbedingt allein bleiben musste. Aber sie konnte sich nicht guten Gewissens auf eine Beziehung mit dem Mann einlassen, der vielleicht dafür verantwortlich sein würde, dass das Beratungszentrum die Türen schließen musste. Noch war der Kampf jedoch nicht verloren. Vorausgesetzt, sie kam endlich in die Gänge, zog sich an und machte sich auf den Weg ins Büro.
Wenn der schlimmste Fall eintraf und sie die drei Stockwerke an der Madison Avenue aufgeben musste, würde sie Manhattan Multiples notfalls von ihrem Penthouse aus weiterbetreiben. Das Netzwerk aus Ärzten, Krankenschwestern, Hebammen, Psychologen und anderen Kräften, die rein ehrenamtlich vielen werdenden und frisch gebackenen Mehrlingsmüttern halfen, ließ sich auch von dort aus organisieren. Das Geld, das sie bereits gesammelt hatte, würde ausreichen, um für eine Weile andere, billigere Räume zu mieten. Nach einer heißen Dusche, einer zweiten Tasse Kaffee und einem weiteren Zimtbrötchen bürstete Eloise ihr Haar und legte ein dezentes Makeup auf. Dann zog sie eine graue Hose, einen schwarzen Kaschmirpullover und flache, schwarze Stiefel an. Eine schlichte Perlenkette und passende Ohrringe komplettierten das Outfit. Obwohl der Wetterbericht Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt gemeldet hatte, entschied sie sich, den kurzen Weg zu ihrem Büro zu Fuß zurückzulegen. Die frische Luft und der helle Sonnenschein würden ihr helfen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Sie hatte heute viel zu tun und musste in Topform sein. „Guten Morgen, Mrs. Vale“, begrüßte Tony Martino, der Wachmann von Manhattan Multiples, sie und hielt ihr die Eingangstür auf. Sie hatte ihn eingestellt, nachdem sie anonyme Drohbriefe bekommen hatte. Sein Zwillingsbruder Frank würde ihn später ablösen und die Nachtschicht übernehmen, was Eloise immer wieder amüsierte. „Guten Morgen, Tony. Obwohl ich wohl eher Guten Tag sagen sollte. Ich bin heute spät dran.“ „Kein Problem, Mrs. Vale. Sie sind die Chefin. Niemand wird Sie zur Rede stellen“, erwiderte er lächelnd. „Und falls doch, sagen Sie es mir, ich kümmere mich darum.“ „Danke, Tony, das werde ich.“ Ihre Laune wurde noch besser, als sie Josie Dunnigan, die Empfangssekretärin, und Allison Baker Perez, ihre Assistentin, zusammen lachen hörte. Josie, frisch verheiratet mit Michael Dunnigan, einem Feuerwehrmann, würde bald Mutter werden. Auch Allison, die den bekannten Staatsanwalt Jorge Perez geheiratet hatte, war schwanger. Seit mehreren Monaten lag bei Manhattan Multiples Liebe in der Luft, und Eloise freute sich von ganzem Herzen für ihre Mitarbeiterinnen. Die beiden arbeiteten unermüdlich für das Wohl anderer Mütter und hatten es verdient, selbst Mutter zu werden. Romantisch, wie sie nun mal war, hatte Eloise sich eingestanden, dass auch sie sich nach so einem Glück sehnte. Vielleicht war das der Grund dafür, dass sie Bill Harper am Abend zuvor so anziehend gefunden hatte. „Tut mir Leid, dass ich so spät komme“, sagte sie zu den beiden jungen Frauen. „Es hätte mich gewundert, wenn Sie heute pünktlich gewesen wären“, erwiderte Allison lächelnd. „Mich auch“, pflichtete Josie ihrer Kollegin bei. Eloise schaute in ihre strahlenden Gesichter und fragte sich, warum die beiden so vergnügt waren. Sie bekam eine Antwort, als sie sich vorbeugte, um ihre Nachrichten von Josies Schreibtisch zu nehmen, und ihr Blick dabei auf die Zeitungen fiel. Alle waren sie aufgeschlagen, und die Fotos vom Ball des Bürgermeisters waren nicht zu übersehen. Jedes einzelne davon zeigte Bill und sie – beim Eintreffen vor dem Hotel, im Ballsaal und sogar auf der Tanzfläche. Die Bilder bewiesen, wie viel Spaß der
Ehrengast und seine Begleiterin gehabt hatten. Aber nicht nur das. Was Eloise in ihren Gesichtern wahrnahm, ließ sie bis zu den Wurzeln ihrer aschblonden Haare erröten. „Oh, nein…“, murmelte sie, und ihre Hände zitterten, als sie den Ausdruck in Bills und ihren eigenen Augen registrierte. Er berührte gerade ihr Champagnerglas mit seinem, und sie lächelte ihn an. Genauso verräterisch war ein Foto, das sie eng aneinander geschmiegt auf der Tanzfläche zeigte. Eloise konnte nicht glauben, dass zwei erwachsene Menschen, für die Auftritte in der Öffentlichkeit nichts Ungewöhnliches waren, so sorglos und leichtsinnig gewesen waren. Sie wusste nicht, wie Bill es sah, sie jedenfalls hatte ihre Gefühle nicht so offen zur Schau tragen wollen. Vor ihr und ganz New York City lag der unumstößliche Beweis, dass sie noch immer in Bill Harper verliebt war. Und wenn sie sich nicht sehr täuschte, beruhte das auf Gegenseitigkeit. Offenbar waren auch diejenigen, die die Überschriften verfasst hatten, zu diesem Ergebnis gekommen. Der Bürgermeister und die Wohltäterin – keine Feinde mehr? lautete eine Titelzeile. Mrs. Vale kontra Bürgermeister – Kriegsbeil begraben? stand unter einem anderen Foto. Eloise wagte kaum, die Artikel zu lesen. „Sie sehen auf den Fotos wunderschön aus“, bemerkte Allison, als würde sie spüren, dass ihre Chefin dringend ein wenig Aufmunterung brauchte. „Und die Artikel, die ich gelesen habe, sind sich uneins, wer von Ihnen beiden die Seite gewechselt hat.“ „Nun ja, das ist ein schwacher Trost“, erwiderte Eloise und überflog den ersten Bericht, in dem behauptet wurde, dass sie jetzt mit den Sparplänen des Bürgermeisters einverstanden war. Der nächste Artikel deutete an, dass Bill Harper ihrem Charme erlegen war und seine Meinung geändert hatte. „So, wie ich auf den Fotos aussehe, müssen doch alle annehmen, dass ich diejenige bin, die umgefallen ist.“ „Sie sehen aus wie eine verliebte Frau“, entgegnete Josie. „Und Bürgermeister Harper scheint das Gefühl durchaus zu erwidern. Das kann uns doch nur nützen, oder?“ „Bürgermeister Harper ist nicht der Typ, der sich in seiner Politik von persönlichen Beziehungen beeinflussen lässt“, erwiderte Eloise. Das hatte sie vor siebzehn Jahren auf schmerzliche Weise erfahren müssen. Damals war ihm seine politische Karriere wichtiger gewesen als alles andere. „Vielleicht hatte er nur noch nicht die Richtige getroffen“, meinte Allison mit einem wissenden Lächeln. „Ich bezweifle, dass das Leuchten in seinen Augen etwas mit Zuneigung zu tun hat“, wehrte Eloise ab. „Er genießt es, mit einer Kontrahentin zu tanzen und dadurch zu beweisen, wie fair und tolerant er ist.“ Da sie am Abend zuvor nicht über ihre Differenzen gesprochen hatten, tat sie ihm vielleicht Unrecht. Aber sie wollte nicht, dass bei Manhattan Multiples über eine sich anbahnende Romanze zwischen Bill Harper und ihr spekuliert wurde. „Also glauben Sie nicht, dass Sie ihn dazu gebracht haben, seine Sparmaßnahmen noch mal zu überdenken?“ fragte Allison besorgt. „Nein“, antwortete Eloise ehrlich und hoffte, dass ihre Wangen nicht so rot waren, wie sie sich anfühlten. Was würden Allison und Josie denken, wenn sie wüssten, dass ihre Chefin sich mit dem Bürgermeister amüsiert hatte, anstatt ihn zur Rede zur stellen? Die beiden jungen Frauen brauchten nicht nur das Geld, sondern auch die Hilfe, die das Beratungszentrum ihnen bot. Ebenso wie viele andere Frauen.
„Wenigstens scheinen eine Menge Leute es zu glauben.“ Josie zeigte auf die Zeitungen. „Man traut Ihnen viel zu, sonst hätte Ihr Auftritt mit Bürgermeister Harper nicht solche Wellen geschlagen.“ „Und das sollte ich ausnutzen, bevor er eine endgültige Entscheidung trifft.“ Eloise schob die Zeitungen zur Seite und nahm die pinkfarbenen Notizzettel mit den Nachrichten, die Anrufer für sie hinterlassen hatten. „Allison, besorgen Sie mir für heute Nachmittag einen Termin beim Bürgermeister. Wie es so schön heißt, muss man das Eisen schmieden, solange es heiß ist.“ „Sofort“, erwiderte Allison. Sie schlug die Zeitungen zu, klemmte sie sich unter den Arm und folgte Eloise über den Korridor. In ihrem Büro begann Eloise damit, so viele Anrufe wie möglich zu erwidern. Am frühen Nachmittag bekam sie Besuch von Leah Simpson, der jungen Obdachlosen, der das Personal von Manhattan Multiples während der letzten Monate geholfen hatte. Leah hatte jetzt eine kleine Wohnung und arbeitete als Sekretärin im Beratungszentrum. Im Moment war sie jedoch im bezahlten Mutterschaftsurlaub und kümmerte sich um ihre neugeborenen Drillingstöchter, denen sie aus Dankbarkeit die Namen Eloise, Allison und Josie gegeben hatte. Die Babys saßen in dem dreisitzigen Buggy, den Eloise ihr geschenkt hatte, und strahlten vor Gesundheit. Auch ihrer Mutter schien es gut zu gehen, obwohl sie verständlicherweise müde war. Endlich war Leah selbstbewusst genug, um die Versöhnungsversuche ihres alkoholabhängigen und gewalttätigen Ehemanns zurückzuweisen. Der einzige Wermutstropfen an diesem Tag kam in Gestalt eines weiteren Drohbriefs. Der anonyme Absender warf Eloise und Manhattan Multiples vor, eine Familie zerstört zu haben. Vermutlich handelte es sich um den Ehemann einer Klientin. Ein Mal mehr war Eloise froh, Tony und Frank eingestellt zu haben. Sie wollte ihre Mitarbeiterinnen nicht in Panik versetzen, aber sie würde ein paar diskrete Nachforschungen anstellen müssen. Vielleicht kannte jemand von ihnen eine Schwangere oder eine junge Mutter, die von Problemen mit ihrem Partner erzählt hatte. Als sie mit ihrer Post fertig war, knabberte sie an einem Tunfischsandwich und schaute auf die Uhr. Es war schon nach drei. Überrascht, wie schnell die Zeit verflogen war, lehnte sie sich zurück. Plötzlich fiel ihr wieder ein, worum sie Allison gebeten hatte. Sie wollte gerade auf den Knopf der Sprechanlage drücken, da ging die Tür auf, und ihre Assistentin kam herein. „Ich weiß, ich weiß. Ich sollte für Sie einen Termin bei Bürgermeister Harper arrangieren“, begann Allison und setzte sich in einen der beiden Lehnstühle vor dem Schreibtisch. „Kein Glück gehabt?“ „Ich habe stundenlang versucht, seinen Stabschef zu erreichen, wurde aber immer wieder in die Warteschleife gesteckt. Als Wally Phillips sich endlich dazu herabließ, mit mir zu sprechen, erklärte er mir, dass der Bürgermeister komplett ausgebucht sei. Nicht nur heute, sondern auch die nächsten zwei Wochen. Es tut mir Leid, Eloise, aber ich weiß nicht, was ich noch tun kann.“ „Mir fällt auch nichts ein“, erwiderte Eloise. „Aber danke für den Versuch.“ Entschlossen stieß sie sich von der Schreibtischkante ab. „Ich werde die Sache wohl selbst in die Hand nehmen müssen.“ „Wie wollen Sie das tun?“ fragte ihre Assistentin erstaunt. „Termin oder nicht, ich gehe jetzt zum Büro des Bürgermeisters. Und dort werde ich dafür sorgen, dass sämtliche Reporter und Fotografen, die im Rathaus herumhängen, es mitbekommen. Bill Harper wird mich empfangen müssen, sonst nützen ihm all die hübschen Fotos in den Zeitungen gar nichts mehr. Ich glaube
nicht, dass eine Schlagzeile wie ,Sitzen gelassene Ballbegleiterin verlangt
aufgebracht Audienz beim Bürgermeister’ bei seinen Wählern gut ankommen
würde.“
„Nein, ganz sicher nicht“, antwortete Allison lachend.
„Soll ich Ihnen eine Limousine bestellen?“
„Gute Idee“, meinte Eloise. „Zu Fuß wäre ich wahrscheinlich schneller da, aber
dann würde ich nicht annähernd so viel Aufsehen erregen, nicht wahr?“
„Stimmt.“ Noch immer lachend, stemmte ihre Assistentin sich ein wenig
schwerfällig hoch.
„Zwillinge“, meinte Eloise.
Allison blieb in der Tür stehen. „Ja, Zwillinge“, bestätigte Allison mit besorgtem
Blick. „Dabei weiß ich nicht mal, wie ich mit einem Baby zurechtkommen soll.“
„Sie werden viel Hilfe bekommen. Dazu habe ich Manhattan Multiples schließlich
gegründet. Und deshalb werde ich dafür kämpfen, dass unsere Türen offen
bleiben – um Frauen wie Sie zu unterstützen. Aber erst werde ich mir den
Bürgermeister vorknöpfen.“
„Ich rufe den LimousinenService an.“ Allison war ein wenig grün im Gesicht
geworden. Sie verdrehte die Augen und eilte davon.
Mit einem fröhlichen Lachen sah Eloise ihr nach.
4. KAPITEL „Ja, James, ich verstehe, wie wichtig es ist, in dieser Frage hart zu bleiben. Ich hätte die Kürzung der Zuschüsse für wohltätige Organisationen nicht in Betracht gezogen, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass sie im Interesse der ganzen Stadt liegt.“ Der Bürgermeister lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und unterdrückte nur knapp einen Seufzer. James Hargrove, Vorstandschef von Power Industries – einem Konzern, der von einer Belebung der Konjunktur enorm profitieren würde –, wirkte besänftigt. „Nun ja, ich mache mir eben Sorgen, Herr Bürgermeister“, erwiderte der Anrufer. „Sie und Eloise Vale schienen sich auf dem Ball gestern Abend ziemlich gut zu verstehen. Ich bin bestimmt nicht der Einzige, der sich fragt, ob sie es geschafft hat, Sie auf ihre Seite zu ziehen. Die kleine Lady kann verdammt energisch sein. Und sie hat kein Hehl daraus gemacht, was sie von den geplanten Sparmaßnahmen hält.“ „Ich verstehe Ihre Besorgnis, James. Ich gebe zu, Mrs. Vales Gesellschaft war äußerst vergnüglich. Und ja, sie kann sehr charmant und überzeugend sein. Aber ich versichere Ihnen, meine Einstellung zu den städtischen Ausgaben hat sich durch unseren gemeinsamen Ballbesuch nicht geändert. So gut müssten Sie mich inzwischen kennen.“ „Natürlich, Herr Bürgermeister.“ „Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen, James, und halten Sie mich auf dem Laufenden.“ „Das werde ich, Herr Bürgermeister.“ Bill beugte sich vor, legte den Hörer auf und erlaubte sich den Seufzer, den er seit Stunden unterdrückt hatte. Sein Arbeitstag hatte um kurz nach sechs begonnen – nach einer kurzen Nacht, in der er kaum ein Auge zugetan hatte, weil er Eloise Vale nicht aus seinem Kopf bekam. Kurz vor Morgengrauen hatte er schließlich aufgegeben und war aufgestanden. Die Zeit mit ihr – von dem Moment, in dem sie ihm die Tür geöffnet hatte, bis zu dem Kuss, den ihre Söhne unterbrochen hatten – war wirklich wunderbar gewesen. Er hatte mit einem kühlen, distanzierten Empfang gerechnet, sich jedoch schnell von seiner Überraschung erholt und ihre offene, warmherzige und entspannte Art genossen. Eloise hätte sich entschließen können, ihre gemeinsamen guten Zeiten zu vergessen. Doch sie schien sich ebenso gern wie er daran zu erinnern. Fast kam es ihm vor, als würde sie ihre eingeschlafene Freundschaft wieder beleben wollen. Und zu seinem größten Erstaunen hatte sie den Abend nicht genutzt, um mit ihm über seine Sparpolitik zu diskutieren. Im Gegenteil, sie hatte sich nur zu gern an das erinnern lassen, was sie beide einst geteilt hatten. Als er dann später allein in seinem Bett lag, hatte er daran gedacht, wie leidenschaftlich sie seinen Kuss erwidert hatte, bevor ihre Söhne ihn unterbrochen hatten. Sie hatte ihn nicht nur so sehr genossen wie er, sondern auch offensichtlich bedauert, dass nicht mehr daraus werden konnte. Die Vorstellung, wozu der Kuss hätte führen können, nahm ihm die letzte Hoffnung auf Schlaf. Also stand er auf, zog sich an und spazierte durch die noch leeren Straßen von Manhattan zum Rathaus. Dort angekommen, überflog er die Zeitungsberichte über den Ball im Waldorf
Astoria. Sie waren ausgewogen. Nur in jedem zweiten Artikel wurde vermutet, er hätte sich von Eloise überreden lassen, von seinen Sparmaßnahmen abzurücken. Die andere Hälfte spekulierte darüber, ob er Eloise von der Notwendigkeit seiner Politik überzeugt hatte. Die Fotos, die sie beide zusammen zeigten, waren dagegen so verräterisch, dass ihm etwas passierte, was er seit vielen Jahren nicht mehr erlebt hatte: Er spürte, wie er errötete. Auf jedem einzelnen Bild schien er seine Gefühle wie auf dem Präsentierteller zu offenbaren. Er hatte geglaubt, sie geschickt verbergen zu können, jedenfalls in der Öffentlichkeit. Aber am vergangenen Abend hatte seine sorgfältig gepflegte Fassade tiefe Risse bekommen. Er hatte die Gesellschaft von Eloise so sehr genossen, dass er gar nicht auf die Idee gekommen war, es zu verheimlichen. Nachdem Bill die neugierigen Fragen seiner nacheinander eintreffenden Mitarbeiter und der zahlreichen Anrufer abgewehrt hatte, lehnte er sich erschöpft zurück und atmete tief durch. Doch die kurze Erholungspause dauerte nicht lange. Als die Sprechanlage beharrlich summte, schaute er auf die Uhr. Es war bereits nach vier. Er hatte einen Zehnstundentag hinter sich und wusste nicht, ob er die Geduld aufbringen würde, noch einen besorgten Parteifreund zu besänftigen. „Was gibt es?“ fragte er gereizt. „Tut mir Leid, Sie schon wieder zu stören, Sir“, begann Wally Phillips, sein Stabschef. „Schon gut, Wally. Was ist denn?“ „Ich habe Frances Wegner, den Präsidenten von Construction Services, auf Leitung eins. Er will mit Ihnen über die Haushaltspolitik reden. Große Überraschung, was? Und Charles Goodwin, ein Reporter vom Daily Express, möchte einen Termin für ein Interview. Ich könnte ihn für den nächsten Montag eintragen. Ich finde, Sie sollten mit ihm sprechen. Er war uns gegenüber immer fair.“ „Okay. Montagmorgen. Sagen Sie dagegen Wegner, dass ich nicht da bin. Ich rufe ihn morgen zurück.“ „Sind Sie…“ „Ich bin sicher, Wally.“ „Also gut, Sir.“ Sein Stabschef zögerte, und Bill versuchte, ruhig zu bleiben. „Gibt es noch etwas?“ „Nun ja, Mrs. Vale ist hier“, erwiderte Wally nervös. „Hier?“ wiederholte Bill und setzte sich auf, während sein Herz spürbar einen Satz machte. „Ja, Sir. Hier und jetzt. Ihre Sekretärin hatte mehrfach angerufen, um einen Termin für sie zu vereinbaren. Ich habe ihr gesagt, dass in den nächsten zwei Wochen keiner frei ist. Das stimmt zwar nicht ganz, aber wir wissen ja längst, was sie von Ihren Sparplänen hält. Außerdem waren Sie beide erst gestern Abend zusammen.“ „In der Tat, das waren wir“, murmelte Bill. „Und dann taucht Mrs. Vale persönlich hier auf und verlangt, Sie zu sprechen. Sie ist ziemlich aufgebracht und gibt sich keinerlei Mühe, es zu verbergen. Für die Reporter ist das natürlich ein gefundenes Fressen. Sie lässt sich fotografieren und gibt ein Interview nach dem anderen. Vielleicht sollten Sie sie ein wenig beruhigen und danach mit ihr vor die Presse treten – mit glücklichen Gesichtern. Wie gestern Abend.“ Das Letzte, was Bill jetzt wollte, war eine weitere Konfrontation, schon gar nicht
mit Eloise. Er hatte sich den ganzen Tag anhören müssen, dass er ein viel zu weiches Herz hatte. Jetzt sollte er sich von ihr vorwerfen lassen, dass er ein gefühlloser Hardliner war. Dabei ging es ihm einzig und allein darum, die Stadt aus der wirtschaftlichen Krise zu manövrieren. Er wusste, wie wichtig ihr Manhattan Multiples war. Aber ihm war es genauso wichtig, New York City den dringend benötigten Aufschwung zu ermöglichen. Wäre dies ein privater Besuch, hätte er Eloise allerdings mit offenen Armen in seinem Büro willkommen geheißen. „Sir? Sind Sie noch da?“ fragte Wally. „Natürlich. Obwohl ich im Moment lieber ganz woanders wäre“, entgegnete Bill und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. „Ich auch, Sir“, gab sein Stabschef zu. „Aber…“ „Aber wir sind beide hier. Führen Sie Mrs. Vale herein, und ich werde tun, was ich kann, um sie glücklich zu machen.“ Bill bezweifelte stark, dass ihm das gelingen würde. Als Wally sie hereinbegleitete und er ihre blitzenden Augen und die schmalen Lippen sah, ahnte er, dass jeder Versuch sinnlos war. „Eloise, wie schön, dich wieder zu sehen.“ Er stand auf, streckte die Hand über die Papierstapel hinweg aus und schenkte ihr sein charmantestes Lächeln. „Ich wollte dich nachher anrufen.“ Sie musterte ihn lange und gründlich, unbeeindruckt von der herzlichen Begrüßung. Dann ignorierte sie seine Hand, zog ihren Mantel aus, warf ihn über einen der Ledersessel vor seinem Schreibtisch und setzte sich in den anderen. Wütend war sie fast so hübsch wie am Abend zuvor, aber er war klug genug, das nicht auszusprechen. „Wie ich sehe, hast du die Presse von heute gelesen“, begann sie und zeigte auf die Zeitungen auf dem Schreibtisch. „Ja, das habe ich. Viele Fotos von uns. Wir sehen aus, als hätten wir einen angenehmen Abend miteinander verbracht“, erwiderte er mit sanfter Stimme und einem aufmunternden Lächeln. „Ich habe mich jedenfalls so amüsiert wie schon sehr lange nicht mehr. Der Abend mit dir war wirklich wunderschön, Eloise.“ Bill wusste, dass er sich auf dünnem Eis bewegte. Aber er musste sie daran erinnern, dass auch sie Spaß gehabt hatte. Und dass die Anziehung zwischen ihnen so gewaltig gewesen war wie vor siebzehn Jahren. Ihre Augen weiteten sich, ihre grimmige Miene wurde sanfter und die schmalen Lippen voller. Doch sie riss sich zusammen. „Zugegeben, es war ein schöner Abend. Nicht so schön war allerdings die Nachwirkung. Ich musste mich den ganzen Tag hindurch mit besorgten Menschen auseinander setzen, die die Fotos in den Zeitungen gesehen haben. Sie alle glaubten, ich wäre in dein Lager übergelaufen, und wir wissen beide, dass das nicht wahr ist.“ „Genau solche Anrufe habe ich auch bekommen. Aber das bedeutet doch nicht, dass wir nicht Freunde sein können“, erwiderte er. „Es gibt viele prominente Paare, bei denen der eine Republikaner und der andere Demokrat ist und die trotzdem glücklich verheiratet sind.“ „Genau das ist der Punkt, Bill. Politisch liegen wir gar nicht so weit auseinander. Jedenfalls bis jetzt nicht. Ich habe dich jedes Mal gewählt, wenn du dich im Staat New York um ein Amt beworben hast“, entgegnete Eloise aufgebracht. „Und was die städtischen Zuschüsse angeht, brauchen wir auch keine Gegner zu sein. Du weißt, wie viel wohltätige Organisationen wie Manhattan Multiples für die Menschen dieser Stadt tun. Wir bieten Arbeitsstellen und Dienstleistungen, die es ohne uns nicht geben würde. Aber ohne die finanzielle Hilfe werden wir nicht weiterarbeiten können.“
„Das ist mir klar, Eloise, wirklich. Aber mein Ziel ist es, die Stadt als Ganzes aus dem wirtschaftlichen Tief zu holen und damit für einen besseren Lebensstandard aller Bürger zu sorgen.“ „Selbst wenn du dadurch alles zunichte machst, was ich in den letzten zwölf Jahren aufgebaut habe?“ fuhr Eloise ihn mit funkelnden Augen an. „Ich will gar nichts zunichte machen. Erst recht nicht etwas, was dir am Herzen liegt“, beteuerte Bill. „So ein Unmensch bin ich nicht. Und ich finde nicht, dass ich mich vor dir rechtfertigen muss. Aber als Bürgermeister muss ich nun mal entscheiden, wofür die Steuergelder ausgegeben werden, und im Moment habe ich keine andere Wahl. Wie ich es sehe, sollte eine Organisation, die drei Stockwerke in einem teuren Bürogebäude an der Madison Avenue einnimmt, durchaus in der Lage sein, den Wegfall städtischer Zuschüsse durch eigene Einsparungen auszugleichen.“ Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, wusste er, dass er zu weit gegangen war. Eloises Gesicht spiegelte erst Enttäuschung, dann unverhohlene Empörung wider. „Unterstellst du mir, dass ich den Kontakt zu normalen Menschen mit wirklichen Problemen verloren habe, weil Manhattan Multiples zufällig an der Madison Avenue liegt?“ Sie stand auf, machte einen Schritt auf ihn zu und blieb stehen, als sie die Schreibtischkante erreichte. Dann beugte sie sich vor und wedelte mit dem Zeigefinger. „Eins kann ich dir sagen, Bill Harper. Ich weiß genau so viel über normale Menschen mit wirklichen Problemen wie du. Vielleicht sogar mehr, weil ich ihnen jeden Tag begegne, während du in deinem eleganten Büro sitzt und Memos diktierst…“ Bill konnte nicht anders. Er sprang auf, packte ihren ausgestreckten Zeigefinger, beugte sich ebenfalls vor und brachte sie mit einem Kuss zum Schweigen. Und es war keine flüchtige Berührung der Lippen, denn wenn er sich schon eine Ohrfeige einhandelte, sollte es sich wenigstens gelohnt haben. Eloise erstarrte und legte die freie Hand auf seine Schulter, schob ihn jedoch nicht von sich. Als sie seine Zunge an ihren Lippen spürte, schnappte sie nach Luft, bevor sie sich ein wenig entspannte und seiner Zunge mit ihrer entgegenkam. Dabei festigte sie den Griff um seine Schulter, was ihn nur noch mehr ermutigte. Er schob die Finger in ihr Haar und drängte ihren Kopf behutsam nach hinten, um den Kuss etwas zu vertiefen. Wieder ließ Eloise es nur geschehen. Bill war nicht überrascht. Sie war immer eine leidenschaftliche Frau gewesen – auch im Einsatz für die Ziele, die ihr wichtig waren, und für die Menschen, die ihr etwas bedeuteten. Und nie war sie jemand gewesen, der seine Gefühle versteckte. Sie verstellte sich nicht mal dann, wenn es ihr genützt hätte. Dazu war sie viel zu ehrlich. Die Sprechanlage summte. Augenblicklich löste Eloise sich von ihm und wich zurück. Er wollte um den Schreibtisch herumgehen, sie in den Arm nehmen und ihr versprechen, dass alles gut werden würde. Doch er wagte es nicht. Stattdessen schob er eine Hand in die Tasche und drückte auf eine Taste. „Was gibt es, Wally?“ erkundigte er sich ein wenig unwirsch. „Tut mir Leid, Sie zu stören, Herr Bürgermeister, aber es ist nach fünf. Sie müssen los, um das Basketballspiel zwischen der Feuerwehr und der Polizei zu eröffnen. Die Limousine steht in fünf Minuten bereit.“ „Danke, Wally. Das hatte ich ganz vergessen.“ „Dazu bin ich da, Sir.“
Während Bill mit seinem Stabschef sprach, hatte Eloise ihren Mantel und die
Tasche genommen. Jetzt hielt sie sich beides vor die Brust und starrte auf einen
Punkt über seiner linken Schulter.
„Danke für deine Zeit“, sagte sie förmlich. „Ich hoffe, du denkst noch mal über
deine…“
„He, Eloise, hast du nicht Lust auf ein Basketballspiel?“ unterbrach er sie. „Wir
werden die besten Plätze der ganzen Halle haben. Ich spendiere dir sogar einen
Hot Dog und ein Bier.“
„Oh, wirklich, das kann ich nicht“, begann sie, und ihr Blick war misstrauisch, als
sie ihn wieder ansah. „Die Jungs…“
„Können gern mitkommen“, unterbrach er sie fröhlich. „Wir könnten sie abholen.
Sie mögen Basketball doch, oder?“
„Ja, das tun sie“, gab Eloise zu. „Und seit einer Woche hören sie einen lokalen
Radiosender, um Tickets zu gewinnen, da das Spiel gleich nach Beginn des
Vorverkaufs ausverkauft war.“
„Na, dann ist heute ihr Glücksabend. Und meiner, wenn du die Einladung
annimmst“, erwiderte Bill und ging nun doch um den Schreibtisch herum. Er
legte eine Hand an ihre Wange und schob ihr eine Strähne hinters Ohr. „Komm
schon, Eloise, wir werden Spaß haben. Und“, fügte er lächelnd hinzu, „du
verschaffst deiner Sache noch mehr Öffentlichkeit.“
„Genau das brauche ich – noch einen Tag voller besorgter Anrufe.“
„Außerdem vergiss nicht, wie du bei deinen Söhnen ankommen wirst.“
„Stimmt. Sie würden es mir nie verzeihen, wenn ich deine Einladung ablehne.“
„Dann solltest du es auch nicht tun.“
„Na gut, wir kommen mit.“
„So gefällst du mir.“
Begeistert zog Bill Eloise an sich. Er wollte sie gerade wieder küssen, als es
erneut summte.
„Komme schon, Wally“, murmelte er und ließ Eloise los, um Jackett und Mantel
vom Garderobenständer in der Ecke zu nehmen.
„Ich rufe die Jungs an und sage ihnen, dass wir unterwegs sind.“ Eloise holte ihr
Handy heraus. „Dann können sie unten vor dem Haus auf uns warten.“
„Gute Idee.“ Hastig zog er den Mantel an.
Ihr freudiges, aufgeregtes Lächeln ließ sein Herz schneller schlagen, und als sie
beim Hinausgehen wie selbstverständlich seinen Arm nahm, fühlte er eine
wohltuende Wärme in sich aufsteigen.
Oft hatte er sich bei öffentlichen Auftritten einsam gefühlt, selbst inmitten seiner
glühendsten Anhänger und engsten politischen Freunde. Aber nicht heute Abend,
dachte er. Heute Abend würde er Eloise und ihre Söhne bei sich haben. Und für
eine kurze Zeit würde er sich einbilden können, sie wären so zusammen, wie er
es sich am sehnlichsten wünschte.
5. KAPITEL „Gemeinsam können wir fortfahren, unsere großartige Stadt wieder aufzubauen, aber nur, wenn wir die Steuergelder unserer Bürger anders ausgeben. Das Wohl der gesamten Bevölkerung muss wichtiger sein als das von Interessengruppen, so verdienstvoll ihre Arbeit auch sein mag.“ Bill machte eine Pause, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, und ließ seinen Blick durch die voll besetzte Halle wandern. Wie alle anderen Zuschauer, so saß auch Eloise ruhig und konzentriert da. Er war ein erfahrener Redner, verzichtete auf Notizen und stand vollkommen entspannt hinter den zahlreichen Mikrofonen. Er biederte sich nie bei seinem Publikum an, aber er strahlte eine Wärme und Einfühlsamkeit aus, der selbst Eloise sich in diesem Moment nicht entziehen konnte. Als könnte er ihre Gedanken lesen, sah Bill sie an und lächelte aufmunternd. Vertrau mir, schien sein Blick zu sagen. Vertrau mir einfach, und alles wird gut. Und wie sehr wünschte Eloise, sie könnte genau das tun. Aber wenn sie sich auf seine ehrenwerten Absichten verließ und sich in ihm täuschte, wäre der Preis zu hoch. Und sie wäre nicht die Einzige, die ihn zahlen musste. Viele unschuldige Menschen würden es ebenfalls tun müssen. „He, Mom, ich glaube, er mag dich“, flüsterte Carl und stieß sie an. Neben ihm auf der Bank direkt am Spielfeld grinsten auch Henry und John. Eloise fühlte, wie ihre Wangen sich erwärmten. Sie warf ihren Söhnen einen warnenden Blick zu und drehte sich wieder zu Bill hin. „Mein Ziel ist nicht, dass die wohltätigen Organisationen dieser Stadt ihre Türen schließen müssen. Dazu ist ihre Arbeit zu wichtig. Aber ich bin überzeugt, dass sie mit Hilfe privater und Firmenspenden sowie der Umstrukturierung ihrer eigenen Haushalte auch weiterhin dringend benötigte Dienstleistungen für unsere Bürger erbringen können. Wenn wir alle an das Gemeinwohl denken, werden wir alle Gewinner sein“, fuhr der Bürgermeister fort. Bill räusperte sich kurz. „Das gilt auch für die beiden Mannschaften des heutigen Abends. Durch die Teilnahme an dieser ganz besonderen Veranstaltung wird jeder Spieler, egal ob Feuerwehrmann oder Polizist, zum Gewinner. Natürlich wird ein Team Sieger sein und den Pokal erringen, aber alle bleiben sie Kameraden, die an jedem Tag ihr Leben für einander und für die Menschen dieser Stadt einsetzen. Folgen wir also alle dem Beispiel dieser Männer und Frauen. Arbeiten wir zusammen für das Wohl unserer Mitmenschen und unserer wunderbaren Stadt.“ Um Eloise herum brandete Applaus auf, als Bill das Podium verließ. Er winkte den Zuschauern zu, die wie ein Mann aufgestanden waren, um ihrem Bürgermeister zuzujubeln. Auch Eloise sprang auf und klatschte, zusammen mit ihren Söhnen, die auch noch begeisterte Pfiffe von sich gaben und „weiter so“ riefen. Widerwillig gestand sie sich ein, dass Bill nicht ganz Unrecht hatte. Unternehmen und reiche Privatleute unterstützen Manhattan Multiples schon jetzt mit großzügigen Spenden, und das Beratungszentrum musste nicht unbedingt an der Madison Avenue residieren, um auch weiterhin Bedürftigen zu helfen. Dennoch, ohne die städtischen Zuschüsse würde das Zentrum sich erheblich einschränken müssen und viel weniger erreichen können, als sie sich für die Zukunft vorgenommen hatte. Als Bill wieder neben ihr stand, sah sie ihn an. Er war so verdammt attraktiv, charmant und sexy. Und es war so schwer, ihm zu widerstehen. „Wie wäre es mit einem Waffenstillstand?“ hatte er vorgeschlagen, als sie im
Rathaus nach unten fuhren, wo die Limousine auf sie wartete.
„Nur für heute Abend.“
„Und wer wird das Spiel gewinnen?“ hatte er auf der kurzen Fahrt zu ihrem
Apartmenthaus gefragt, wo sie ihre Söhne abholen würden.
„Die Feuerwehrleute“, hatte sie ohne Zögern geantwortet.
„Warum?“
„Weil sie keine Burger essen“, erwiderte sie fröhlich.
„Die armen Polizisten müssen sich dauernd ihre Essgewohnheiten vorhalten
lassen.“
„Die Wachmänner bei Manhattan Multiples sind ehemalige Polizisten und bringen
uns auch dauernd Burger mit“, erwiderte Eloise lächelnd.
„Ihr habt Wachmänner?“ fragte er mit plötzlicher Besorgnis. „Gab es etwa
Probleme?“
„Ich habe sie nur als Vorsichtsmaßnahme eingestellt“, wich sie aus, weil sie Bill
nicht von den Drohbriefen erzählen wollte. Stattdessen schaute sie zu ihren
Söhnen hinüber, die sichtlich aufgeregt vor dem Eingang des Apartmenthauses
warteten. „Sie scheinen sich auf den Abend zu freuen.“
„Damit sind wir schon zu viert“, erwiderte er und warf ihr einen fragenden Blick
zu.
„Zu fünft“, verbesserte sie und drückte seinen Arm.
„Also zu fünft.“ Bill hatte erleichtert gelächelt und die Tür der Limousine geöffnet.
„Hallo, Jungs, rein mit euch“, hatte er gut gelaunt gerufen, und lachend hatten
die drei um die allerbesten Sitze gerungen.
„Tolle Rede“, bemerkte Carl jetzt und holte Bill in die Gegenwart zurück.
„Ja, großartig, Sir“, meinten John und Henry und beugten sich vor, um ihm die
Hand zu schütteln.
„Danke, Carl. Und euch, John und Henry, auch“, erwiderte Bill und schaffte es zu
ihrer Verblüffung, die Drillinge auseinander zu halten.
„Wie hast du das gemacht?“ murmelte Eloise.
„Was? Meine Rede?“ fragte Bill, während sie ihre Plätze wieder einnahmen.
„Nein. Du hast ihre Namen auseinander gehalten.“
„Sie tragen die gleichen Hemden, aber jeder in einer anderen Farbe“, erklärte er
nicht ohne Stolz. „Und meine Rede… Wie fandst du sie?“
„Gut. Sie… hat mich nachdenklich gestimmt“, gab Eloise zu.
„Das freut mich.“ Er legte den Arm um ihre Schultern. „Ich versuche immer,
möglichst viele Leute zum Nachdenken anzuregen.“
„Und warum überrascht mich das nicht?“ Sie zog eine Augenbraue hoch.
„Weil du mich zu gut kennst.“
„Nicht wirklich“, widersprach sie, denn nach siebzehn Jahren Trennung waren sie
einander in vielerlei Hinsicht fremd.
„Dann werden wir das ändern müssen, nicht wahr?“
Eloise war nicht sicher, was sie darauf antworten sollte. Auf privater Ebene wollte
sie Bill Harper intim kennen lernen. Aber auf beruflicher Ebene wäre es besser,
zu Bürgermeister Harper diskreten Abstand zu wahren.
Doch was immer sie erwidert hätte, es wäre im Jubel der Menge untergegangen.
Denn zu den Klängen einer Blaskapelle betraten die Teams das Spielfeld. Die
Spieler hatten sich bereits aufgewärmt, und die Nationalhymne war schon vor
Bills Rede angestimmt worden, also konnte das Match sofort beginnen.
Obwohl Eloise für die Feuerwehrleute war, beklatschte sie wie Bill und ihre Söhne
jeden erfolgreichen Korbwurf auf beiden Seiten. Den Spielern so nahe zu sein
machte das Match für sie noch aufregender. Und das Ereignis mit Bill und ihren
Söhnen zu erleben gab ihr ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das sie seit Walters
Tod nicht mehr empfunden hatte.
Wie auf dem Ball sorgte Bill auch hier dafür, dass es ihr und den Jungs an nichts
fehlte. Eloise war hungriger, als sie erwartet hatte, und aß gleich zwei Hot Dogs.
Sie gönnte sich sogar ein eiskaltes Bier dazu.
In den Spielpausen ging Bill seinen bürgermeisterlichen Pflichten nach und
begrüßte die zahlreich erschienene Prominenz, wobei er Eloise und ihre Söhne
allerdings stets vorstellte.
Carl, John und Henry zeigten sich von ihrer besten Seite, schüttelten lächelnd die
vielen Hände und gaben ihrer Mutter allen Grund, stolz zu sein. Natürlich
strahlten sie in jede Kamera, aber wenigstens zogen sie keine Grimassen.
Am nächsten Tag würden die Fotos in den Zeitungen erscheinen. Darüber war
Eloise nicht gerade begeistert, aber es ließ sich wohl nicht vermeiden. Außerdem
war es ein kleiner Preis für all den Spaß, den sie zusammen hatten.
Wie sie vorhergesagt hatte, gewann die Feuerwehr. Unter donnerndem Applaus
übergab Bill dem Mannschaftskapitän den Pokal.
Danach leerten sich die Ränge, und ‘Bill, Eloise und ihre Söhne wurden zur
wartenden Limousine geführt.
„Hat jemand Lust auf Eiscreme?“ fragte Bill und nahm die Hand von Eloise,
während ein Streifenwagen sie durch den dichten Verkehr eskortierte.
Die Jungs jubelten, und Eloise widersprach nicht.
Bill bat den Chauffeur, sie vor einem Cafe in Little Italy, dem italienischen Viertel
von New York City, abzusetzen. Da es schon spät und mitten in der Woche war,
brauchten sie nicht auf einen Tisch zu warten. Natürlich erkannten die anderen
Gäste den Bürgermeister, aber niemand störte die harmonische Atmosphäre der
fünf Besucher.
Die Jungs bestellten sich riesige Eisbecher, Bill nahm eine Scheibe Fürst Pückler
und einen Kaffee, Eloise eine Portion Sorbet und einen Cappuccino. Während sie
es sich schmecken ließen, sprachen sie angeregt über das Spiel, die besten
Korbwürfe und die schlimmsten Fehlpässe. Alle waren sich einig, dass es eins der
spannendsten Basketballspiele gewesen war, die sie seit langem gesehen hatten.
Ihre Becher waren längst leer, als die Jungs zu gähnen begannen.
„Zeit, euch Burschen nach Hause zu bringen“, meinte Bill und steckte seine
Kreditkarte ein.
„Ja, das ist es“, stimmte Eloise ihm zu. „Sie müssen morgen zur Schule, und dies
ist für sie der zweite lange Abend hintereinander.“
„Ach, Mom, es ist ja noch nicht mal Mitternacht“, meinte Carl.
„Stimmt, aber es wird sogar noch später sein, bis wir nach Hause kommen“,
erwiderte Eloise gelassen.
„He, wir waren es doch nicht, die heute verschlafen haben. Außerdem waren wir
rechtzeitig in der Schule“, warf John ein.
„Und keiner von uns ist im Unterricht eingenickt“, versicherte Henry.
„Alles schön und gut, aber ihr braucht euren Schlaf. Ihr habt ein anstrengendes
Wochenende vor euch. Ihr wollt doch nicht schon erschöpft sein, bevor ihr
aufbrecht.“
„Wir werden gar nicht erst aufbrechen, wenn du die Erlaubnis nicht endlich
unterschreibst“, beschwerte Carl sich. „Morgen ist Abgabeschluss.“
„Oh, habe ich das gestern Abend schon wieder vergessen?“ Eloise warf ihren
Söhnen einen entschuldigenden Blick zu, während Bill sie zu seiner Limousine
führte.
„Wohin fahrt ihr denn?“ erkundigte er sich, als sie im Fond saßen.
„Washington D.C. Am Freitagnachmittag geht es von der Schule aus los. Wir
wollen ins Smithsonian und uns so viel ansehen, wie wir an einem Wochenende
schaffen können“, antwortete Carl. „Es ist ein riesiges Museum. Ich weiß noch, wie überwältigt ich bei meinem ersten Besuch war“, sagte Bill. „Fährst du mit?“ fragte er Eloise. „Nein. Ich habe im September das Essen für die freiwilligen Schulhelfer organisiert“, erklärte sie. „Also habe ich für dieses Semester meine elterlichen Pflichten erfüllt.“ „Dann wirst du am Wochenende allein sein.“ „Ja, das werde ich…“ Erst jetzt dachte Eloise daran, wie es sein würde, ein komplettes Wochenende ohne ihre Söhne zu verbringen. Hin und wieder übernachteten sie bei Freunden, aber da sie zu dritt waren, fanden die Pyjamapartys meistens bei ihr zu Hause statt. Und Eloise mochte den Trubel. Jetzt bereute sie es plötzlich, dass sie sich nicht als Begleiterin für den Schulausflug eingetragen hatte. Andererseits waren ihre Söhne vermutlich froh, der Obhut ihrer Mutter mal für eine Weile zu entkommen. Sie würde also die Zeit nutzen, um ihren Papierkram aufzuarbeiten. Davon hatte sich jede Menge angesammelt. „Hast du Pläne?“ wollte Bill jetzt wissen. „Oh, ich habe viel zu tun“, erwiderte Eloise rasch und wich seinem forschenden Blick aus. „Sehr viel sogar.“ „Hm, das kann ich mir vorstellen.“ Seine Stimme hörte sich an, als würde er ihr nicht recht glauben. „Ihr könntet euch doch zu einem Date oder so treffen“, schlug Henry mit einem schelmischen Lächeln vor. „Oh, ich glaube nicht“, wehrte Eloise ab. „Keine schlechte Idee“, meinte Bill dagegen. „Ein Date ,oder so’ hört sich viel versprechend an.“ Eloise wollte erwidern, dass es absolut keine gute Idee war, aber ihr fiel keine Begründung ein. Zum Glück hielt der Wagen gerade vor ihrem Haus, und sie brauchte nicht zu antworten. Bill hatte alle Hände voll zu tun, ihre Söhne aus der Limousine, ins Gebäude und in den Fahrstuhl zu scheuchen, und sie hoffte, dass er in der Hektik Henrys Vorschlag vergessen würde. Er musste doch wissen, dass sie beide sich nicht als Paar in der Öffentlichkeit zeigen durften. Ihre Differenzen in der Frage um die städtischen Zuschüsse waren einfach zu groß, um sie zu ignorieren. Noch gab es in New York City viele Leute, deren wohltätige Arbeit von dieser finanziellen Unterstützung abhing. Sie war deren Sprachrohr und ihnen damit verpflichtet. Eloise war so vertieft in ihre Überlegungen, dass sie gar nicht bemerkte, wie ihre Söhne sie und Bill vor der Wohnungstür zurückließen. Erst die plötzliche Stille ließ sie aufsehen. „Sie hätten sich wenigstens bedanken und dir eine gute Nacht wünschen können“, murmelte sie. „Das haben sie“, versicherte Bill lächelnd. „Alle drei. Du warst nur ein wenig abgelenkt.“ „Ja, das stimmt“, gab Eloise verlegen zu. Sie standen auf dem Korridor genau wie am Abend zuvor. Gestern hatte er sie geküsst. Würde er es auch jetzt wieder versuchen? Und wollte sie das? Aber noch wichtiger, würde sie es zulassen? „Du wirkst schon wieder abgelenkt“, bemerkte Bill mit einem belustigten Glitzern in den Augen. „Was beschäftigt dich so sehr? Ich hoffe, es ist etwas Gutes, aber ich bin sehr gespannt.“
„Ich denke, dass ich auf keinen Fall vergessen darf, die Erlaubnis zu unterschreiben“, wählte sie die erste Ausrede, die ihr in den Sinn kam. „Ich habe das Gefühl, dass die drei dir das Formular hinhalten werden, sobald du die Wohnung betrittst.“ „Vermutlich hast du Recht. Und ich sollte es gleich tun.“ Sie machte einen Schritt von ihm weg. „Es war ein schöner Abend.“ „Für mich auch. Wir könnten ein ebenso schönes Wochenende haben. Nur wir zwei“, fuhr er fort. „Ich habe ein Haus in den Hamptons. Es ist klein, liegt aber direkt am Meer. Und sehr einsam. Nur wenige wissen davon – und niemand bei der Presse. Ich könnte dich am Freitagabend abholen“, schlug er vor. „Es ist keine lange Fahrt, und um diese Jahreszeit gibt es kaum Verkehr in die Richtung. Wir könnten unbeobachtet sein, uns von den letzten siebzehn Jahren erzählen und wieder Freunde werden. So gute Freunde, wie wir es mal waren.“ Bill legte eine Hand an ihre Wange. „Komm mit, Eloise“, drängte er sanft. „Ich verspreche, du wirst es nicht bereuen.“ Sie zögerte. Ihr erster Impuls war, Ja zu sagen, aber sie gab ihm nicht nach. Sie hatte ihn einst geliebt und könnte sich allzu leicht erneut in ihn verlieben. Aber das wäre genauso leichtsinnig wie damals. Noch immer stand für ihn seine politische Karriere an erster Stelle. „Ich denke wirklich…“, begann sie und wich seinem durchdringenden Blick aus. „Du denkst viel zu viel“, unterbrach er sie. „Und ich habe das Gefühl, dass du an Dinge denkst, die nichts mit unserem Privatleben zu tun haben. Können wir denn nicht einfach zwei normale Menschen sein? Ein Mann und eine Frau, die zusammen ein schönes Wochenende verbringen?“ „Ich bin nicht sicher, dass wir das können“, gestand Eloise. „Na, dann brenn doch einfach mit mir durch, damit wir es herausfinden“, schmeichelte er. „Oh, Bill, ich…“ „Du musst dich nicht jetzt entscheiden. Überleg es dir einfach, ja? Ich fahre auf jeden Fall am Freitag. Ich komme um sieben bei dir vorbei. Wenn du mitkommst, okay. Wenn nicht, auch okay.“ Sie wollte protestieren, wollte ihm sagen, dass er sich keine Hoffnungen machen sollte, doch bevor sie den Mund aufmachen konnte, zog er sie an sich und küsste sie so stürmisch wie in seinem Büro. Und wie dort, so schmiegte sie sich in seine Arme und hieß seine tastende Zunge mit einem leisen, lustvollen Seufzer willkommen. Sie wusste nicht, warum sie in seinen Händen zu Wachs wurde, aber sie wurde es. Jedes Mal. Seine Küsse hatten etwas Forderndes, dem sie nicht widerstehen konnte. Sie versprachen so viel von dem, was sie in ihrem Leben brauchte und haben wollte. Und von dem sie geglaubt hatte, dass sie es nie wieder erleben würde. Sie fühlte sich einfach nur einsam, und eigentlich hätte doch jeder anständige, respektable Single ihr reichen müssen. Aber von den infrage kommenden Männern, denen sie in letzter Zeit begegnet war, hatte sie keinen küssen wollen. Nur Bill… So wie jetzt. „Mom, komm schon, du musst die Erlaubnis unterschreiben“, bat Carl, der die Tür geöffnet hatte. „Vorher gehen wir nicht zu Bett.“ „Was habe ich dir gesagt? Sie stehen hinter der Tür und warten auf dich. Du hättest dir um deine Unterschrift keine Sorgen zu machen brauchen“, murmelte Bill, als sie den Kuss beenden mussten. „Offenbar nicht“, murmelte sie zurück. „Wir sehen uns am Freitagabend“, fuhr er leise fort. Dann zwinkerte er Carl zu.
„Viel Spaß in D.C.“
„Den werden wir haben, Sir. Und nochmals danke für heute Abend.“
„Ja, danke für heute Abend“, wiederholte Eloise völlig benommen, ohne Bill
anzusehen.
„Es war mir ein Vergnügen.“
Er gab ihr einen letzten, freundschaftlichen Kuss auf die Wange, winkte ihren
Söhnen zu und ging zum Fahrstuhl.
„Und? Habt ihr nun ein Date am Wochenende?“ fragte Carl fröhlich und
verschwand in der Wohnung, als Eloise ihm einen strengen Blick zuwarf.
„Das geht euch nichts an. Wo ist denn nun diese Erlaubnis?“
„Hier.“ Henry schwenkte sie über dem Kopf.
„Zu schade, dass ihr nur ein Wochenende fort sein werdet.“
„Mann, du würdest uns schrecklich vermissen, wenn wir länger weg wären.“
„Im Moment denke ich, dass eine Militärschule doch keine so schlechte Idee
wäre. Manchmal macht ihr mich wirklich verrückt“, bemerkte Eloise
kopfschüttelnd.
„Halt, das ist unser Job. Wir sind deine Kinder.“
Das scheint auch Bills Job zu sein, dachte Eloise, während sie das Formular
unterschrieb und ihre Jungs ins Bett scheuchte.
Sie konnte nicht mit ihm in sein Haus fahren. Nun, sie konnte, aber sie sollte es
nicht tun.
Na ja, sie sollte nicht, aber sie…
Eloise nahm sich vor, darüber nachzudenken, wenn sie nicht mehr unter dem
berauschenden Einfluss seines Kusses stand. Und dann würde sie eine
vernünftige Entscheidung treffen.
Es sei denn, sie ginge ins Risiko und entschied sich, wenigstens dieses eine Mal
in ihrem Leben ihr Gefühl über den Verstand siegen zu lassen.
6. KAPITEL „Also haben Sie noch immer vor, heute Abend zu Ihrem Haus in den Hamptons zu fahren?“ fragte Wally Phillips. Der Stabschef klang missbilligend, denn er würde mehrere Auftritte des Bürgermeisters absagen müssen. Und Wally hasste es, schlechte Nachrichten zu überbringen. Darauf konnte Bill jedoch keine Rücksicht nehmen. Er hatte schon am Mittwochabend beschlossen, dass nur eine Naturkatastrophe ihn dazu bringen würde, seine Pläne für das Wochenende zu ändern. „Ja, Wally, genau das werde ich tun.“ Bill sah auf die Uhr. „In etwa dreißig Minuten. Selbst der Bürgermeister von New York City hat ein wenig Freizeit verdient.“ „Das ist mir klar, Sir. Aber bisher haben wir Ihre Kurzurlaube immer lange im Voraus terminiert, um Probleme zu vermeiden“, erwiderte sein Stabschef und gestattete sich einen leicht verärgerten Unterton. „Und ich habe mich in den letzten zwei Jahren sklavisch an diese Abmachung gehalten. Seit meiner Wahl stehen meine Amtspflichten für mich an erster Stelle, das wissen Sie. Jetzt nehme ich mir ein Wochenende frei – ein einziges Wochenende. Und ja, einige Leute werden enttäuscht sein, weil ich nicht zu ihren Veranstaltungen erscheine, aber ich weigere mich, deswegen ein schlechtes Gewissen zu haben.“ Bill mochte kurzfristige Absagen ebenso wenig wie Wally und wollte niemanden enttäuschen, aber die Wahl zwischen ein paar unwichtigen Auftritten und einem ungestörten Wochenende mit Eloise war leicht zu treffen. Nicht, dass er davon ausgehen konnte, dass sie mit gepackter Tasche auf ihn wartete, wenn er in weniger als einer Stunde an ihrer Tür klopfen würde. Aber noch hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben. Und so wie er es ihr nach dem Kuss am Mittwochabend gesagt hatte, würde er auf jeden Fall fahren, auch ohne sie. „Das Wetter soll miserabel werden“, warnte Wally. „Wolkig, kalt und vielleicht sogar verregnet. Für die Nacht von Samstag auf Sonntag wird sogar mit Schnee gerechnet. Was, wenn Sie dort draußen festsitzen?“ „Umso besser“, erwiderte Bill lächelnd. „Für Sie vielleicht“, murrte Wally und stand auf. „Am Montagmorgen kommt Charles Goodwin, der Reporter vom Daily Express, um Sie zu interviewen. Und am Nachmittag haben Sie ein Treffen mit Francis Wegner, dem Präsidenten von Construction Services.“ „Keiner der beiden wird etwas gegen eine Verschiebung haben, falls ich wegen des Wetters nicht rechtzeitig zurück bin.“ Bill erhob sich ebenfalls und reichte Wally die Briefe, die er während des Gesprächs unterschrieben hatte. „Und ich möchte nicht, dass Sie das ganze Wochenende im Büro verbringen.“ Er zog sich das Jackett an. „Gönnen Sie sich zur Abwechslung mal etwas Spaß.“ „Ja, sicher.“ Wally lächelte matt. In diesem Moment erinnerte der Stabschef Bill daran, wie er selbst in dem Alter gewesen war. Er hatte Tag und Nacht und an jedem Wochenende an seiner politischen Karriere gearbeitet und in seinem Leben wenig Energie oder Zeit für etwas anderes gelassen. Hätte er damals gewusst, was er jetzt wusste, hätte er einiges anders gemacht. „Im Ernst, Wally, Sie müssen mal raus hier. Treffen Sie sich mit Freunden, oder besuchen Sie Ihre Familie.“ „Fahren Sie deshalb weg? Um sich mit Freunden zu treffen, genauer gesagt, mit einer ganz bestimmten Freundin?“ fragte Wally. „Mit Mrs. Vale vielleicht?“
Bill runzelte die Stirn. „Ich bin nicht sicher, ob Sie das etwas angeht.“ „Das wird es, wenn irgendein Fotograf Sie beide zusammen entdeckt und sein Foto auf den Titelseiten der Boulevardpresse landet. Ich sehe die vieldeutigen Schlagzeilen schon vor mir.“ „Keine Angst, Wally. Sie werden weder Fotos noch anzügliche Überschriften sehen. Ich mag der Bürgermeister sein, aber ich kann meine Privatsphäre schützen, wenn es nötig ist. Und jetzt lassen Sie uns von hier verschwinden und ein wenig Spaß haben.“ „Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen, Sir. Sehen wir uns am Montag?“ „Ja, wir sehen uns am Montag. Wenn das Wetter es zulässt.“ Froh, endlich wegzukommen, zumal er spät dran war, fuhr Bill nach unten. Er hatte den Chauffeur gebeten, den Geländewagen aus der Garage von Gracie Mansion, der Residenz des New Yorker Bürgermeisters, zu holen und spätestens um sechs vor dem Rathaus zu parken. Jetzt war es fast halb sieben, dabei hatte er Eloise versprochen, um sieben bei ihr zu sein. Er würde sich beeilen müssen. „Hallo, Ray. Tut mir Leid, dass Sie so lange warten mussten“, begrüßte er seinen Fahrer, der ihm die Tür des Geländewagens aufhielt. „Ich bin wie immer zu spät.“ „Kein Problem, Sir. Der Tank ist voll, der Reifendruck geprüft. Ihr Koch hat eine Kühlbox mit Sandwichs und Getränken mitgeschickt, damit Sie unterwegs nicht anhalten müssen, um zu essen.“ „Großartig. Kann ich Sie irgendwo absetzen?“ „Nein, Sir. Ich bin mit Freunden zum Essen in Chinatown verabredet. Das Restaurant ist nur ein paar Blocks von hier. Und ich kann etwas Bewegung gut gebrauchen.“ Lächelnd klopfte Ray sich auf seinen üppigen Bauch. „Dann viel Spaß. Und nochmals danke, dass Sie so geduldig waren.“ „Es war mir ein Vergnügen, Sir. Genießen Sie das Wochenende.“ „Das werde ich. Wir sehen uns am Montag.“ Ray schlenderte davon. Bill stieg in den Wagen und startete den Motor. Endlich allein, lenkte er den Vierradantrieb durch den Verkehr, der nicht so dicht wie befürchtet war, und überlegte sich, ob Eloise ihn begleiten würde. Seit seiner spontanen Einladung am Mittwoch hatte er nicht über seine Motive nachgedacht. Und erst recht nicht über die Gründe, aus denen sie – natürlich höflich – ablehnen würde. Bisher hatte er selten, wenn überhaupt, aus seinen Gefühlen heraus gehandelt. Erst jetzt wurde ihm klar, was für ein Fehler das gewesen war. Doch außer Eloise hatte noch keine Frau ein so heftiges Verlangen in ihm geweckt, und sie hatte sich vor siebzehn Jahren entschlossen, einen anderen Mann zu heiraten. Jetzt jedoch war sie frei, genau wie er. Sie waren älter geworden, und er zumindest wusste, dass jemanden zu brauchen etwas anderes war, als jemanden zu begehren. In einer perfekten Welt hätte er sich mehr Zeit gelassen, ihre Zuneigung zurückzugewinnen, und sie erst dann zu einem gemeinsamen Wochenende eingeladen. Aber sie lebten nicht in einer perfekten Welt. Sie hatten beide eine Menge unaufschiebbarer Verpflichtungen. Eloise hatte drei Söhne, die einen Großteil ihrer Zeit und Aufmerksamkeit beanspruchten. Es würde nicht viele Gelegenheiten geben, mit ihr allein zu sein. Eine davon zu verpassen wäre ein großer Fehler. Eloise hatte ihn nicht angerufen und abgesagt, also bestand durchaus die Möglichkeit, dass sie mit gepackter Tasche auf ihn wartete. Und sich vermutlich fragte, wo zum Teufel er blieb. Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war fast zehn nach sieben. Er konnte sein Handy herausholen und sie anrufen. Aber in zehn Minuten würde
er ohnehin bei ihr sein. Und ihm war es lieber, von ihr weggeschickt zu werden, als übers Telefon zu hören, dass er gar nicht erst vorbeizukommen brauchte. Um genau zwanzig nach sieben hielt Bill vor dem Apartmentgebäude, in dem Eloise wohnte. Er nahm das amtliche Schild mit der Aufschrift „Dienstfahrzeug im Einsatz“ aus dem Handschuhfach und legte es aufs Armaturenbrett. Das Letzte, was er brauchen konnte, war ein Strafzettel, auf dem ihre Adresse stand. Er holte tief Luft, öffnete die Tür und stieg aus. Ein feuchtkalter Windstoß ließ ihn frösteln, als er zu der gläsernen Flügeltür rannte. Ein Portier hielt sie ihm auf. Bill gab dem eisigen Wetter die Schuld daran, dass seine Hände zitterten. Er war schon lange nicht mehr nervös gewesen, aber vielleicht hatte er jetzt einen wirklichen Grund dazu. Langsam ging Eloise von einem Ende des Wohnzimmers zum anderen. Das tat sie bereits seit fast dreißig Minuten. Bei Manhattan Multiples war am Donnerstag und Freitag ungewöhnlich viel los gewesen, und am Donnerstagabend hatte sie ihren Söhnen beim Packen geholfen. Sie hatte gar keine Zeit gehabt, nervös zu sein. Das holte sie jetzt nach. Ihre eigene Reisetasche stand neben der Wohnungstür, zusammen mit der marineblauen Daunenjacke, passenden Handschuhen und einem Kaschmirschal. Nach einer kurzen Dusche hatte sie ihr Makeup erneuert, sich das Haar gebürstet und saubere Jeans, ein TShirt, einen schwarzen Wollpullover mit V Ausschnitt, warme Socken und hohe Schnürstiefel mit flachen Absätzen angezogen. Hoffentlich das richtige Outfit für ein entspanntes Winterwochenende am Meer, dachte sie und warf einen kritischen Blick in den Spiegel. Ob ihr überhaupt ein entspanntes Winterwochenende am Meer bevorstand? Die Uhr auf dem Kaminsims zeigte fast Viertel nach sieben – spät, aber nicht zu spät. Außer, dass Bill Harper eigentlich immer pünktlich war. Was vielleicht bedeutete, dass er gar nicht kommen würde. Ihr Mund wurde trocken, und sie eilte in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Eloise wusste nicht, welcher Gedanke sie nervöser machte. Dass er sie gleich abholen würde. Oder dass er ihre Worte am Mittwoch ernst genommen und das gemeinsame Wochenende längst abgeschrieben hatte. Das Läuten des Telefons ließ Eloise zusammenzucken, fast hätte sie das Glas in die Spüle fallen lassen. Ein Anruf wegen ihrer Söhne würde übers Handy kommen, denn dessen Nummer hatte sie in der Schule angegeben. Also war es vermutlich Bill, der ihr sagen wollte, dass sie nicht auf ihn zu warten brauchte. Enttäuscht stellte sie das Glas hin, nahm den Hörer des Wandapparats ab und bemühte sich, einen fröhlichen Ton anzuschlagen. „Oh, gut. Sie sind zu Hause“, sagte Allison Baker Perez, ihre Assistentin. „Allison? Ist etwas nicht in Ordnung?“ Die Erleichterung darüber, dass es nicht Bill war, wich der Besorgnis um die junge Frau. Allison hatte sie noch nie an einem Freitagabend zu Hause angerufen. „Ganz im Gegenteil. Jorge und ich haben überlegt, ob Sie vielleicht mit uns essen möchten. Falls Sie noch nichts vorhaben. Wir könnten Sie in zwanzig Minuten abholen. Nichts Besonderes – Pizza oder chinesisch oder ein Burger mit Pommes frites. Suchen Sie sich etwas aus. Ich dachte mir nur, Sie sind das ganze Wochenende allein und fühlen sich vielleicht einsam, weil die Jungs weg sind…“ „Allison, wie nett von Ihnen und Jorge“, erwiderte Eloise, und ihr wurde warm ums Herz. Spontan entschied sie sich, die Einladung anzunehmen. „Ich würde sehr gern…“, begann sie und brach ab, als der Summer der Sprechanlage ertönte. „Bleiben Sie einen Moment dran, Allison?“
„Natürlich.“
Eloise schaltete ihre Assistentin weg, bevor sie mit dem Portier sprach. „Ja,
Carlton?“
„Mrs. Vale, Bürgermeister Harper ist da. Soll ich ihn nach oben schicken?“
„Ja… ja, natürlich“, antwortete sie, während die Nervosität sie wieder überkam.
Er war tatsächlich gekommen. Er hielt sein Versprechen.
Sie schaltete Allison wieder zurück und versuchte, sich die Aufregung nicht
anmerken zu lassen. „Wie gesagt, ich würde sehr gern mit Ihnen und Jorge
essen gehen, aber ich habe schon etwas vor. Vielleicht ein anderes Mal?“
„Oh ja, ganz bestimmt“, erwiderte Allison sofort. „Vielleicht nach meiner
nächsten Ultraschalluntersuchung .;.“
„Die ist am nächsten Donnerstag, richtig?“
„Ja. Dann werden wir wissen, ob mit den Zwillingen alles in Ordnung ist, nicht
wahr?“
„Ich bin mir da völlig sicher, Schätzchen. Machen Sie sich keine Sorgen, Allison.“
„Eloise, was würde ich ohne Sie und Manhattan Multiples bloß tun?“
„Sie würden es auch ohne uns schaffen, meine Liebe, aber ich freue mich, dass
ich Ihnen eine Hilfe sein kann.“
„Eine Hilfe? Sie sind viel mehr als das. Sie sind mir eine wunderbare Freundin“,
sagte Allison.
„Danke. Sie sind mir auch eine wunderbare Freundin und eine echte
Bereicherung für Manhattan Multiples. Ich könnte mir keine bessere Assistentin
wünschen.“ Eloise lächelte, obwohl die Aufregung sich noch steigerte, als es an
der Tür läutete. „Ich muss jetzt Schluss machen. Bis Montag.“
„Es sei denn, wir sind eingeschneit.“
„Eingeschneit?“ Eloise hatte seit Tagen keinen Wetterbericht mehr gesehen.
„Für das Wochenende ist Schnee angekündigt.“
„Oh…“
„Viel Spaß heute Abend, Eloise. Bis dann.“
„Bis dann…“
Eloise starrte eine Sekunde auf den Hörer in ihrer Hand, bevor sie auflegte und
zur Tür eilte. Plötzlich schossen ihr mindestens ein halbes Dutzend Gründe durch
den Kopf, warum es doch keine so gute Idee war, mit Bill Harper in die Hamptons
zu fahren.
Ganz oben rangierte die Möglichkeit, dass sie vielleicht am Sonntagabend nicht in
die Stadt zurückkehren konnten. Was würde dann geschehen?
Ihre Stirn lag in Falten, als sie die Tür öffnete und ihr Blick Bills begegnete. Seine
Augen leuchteten, und sein jungenhaftes Lächeln ging ihr ans Herz. Doch sofort
wurde seine Miene besorgt.
„Stimmt etwas nicht? Abgesehen davon, dass ich fast eine halbe Stunde zu spät
bin?“ fragte er. „Was mir übrigens sehr Leid tut.“
„Ich wusste nicht, dass es an diesem Wochenende schneien soll“, erwiderte sie.
„Und was deine Verspätung betrifft, du bist sonst immer pünktlich, also habe ich
schon fast nicht mehr mit dir gerechnet.“
„Aber was davon erklärt das Stirnrunzeln, mit dem du mir geöffnet hast?“
„Beides“, erwiderte sie, und er lachte.
„Wie gesagt, die Verspätung tut mir Leid. Ich musste geradezu darum betteln,
dass mein Stabschef mir das Wochenende freigibt, und das hat ein wenig länger
gedauert, als ich erwartet hatte. Mach dir aber wegen des Schnees keine Sorgen.
Unsere örtlichen Wetterleute rechnen immer mit dem Schlimmsten, damit man
ihnen hinterher nicht vorwerfen kann, sie hätten uns nicht gewarnt. Vermutlich
gibt es nur ein paar Flocken, und da mein Geländewagen einen Allradantrieb hat,
werden wir notfalls auch mit mehr Schnee fertig.“
„Ich möchte nur zu Hause sein, bevor die Jungs von ihrer Fahrt nach D.C.
zurückkommen.“
„Das kann ich dir fast garantieren. Aber wenn es anders kommen sollte, werde
ich dafür sorgen, dass sie gut betreut werden, bis du wieder da bist. Wie klingt
das?“
„Beruhigend“, gab sie zu.
„Heißt das, du willst also mit mir durchbrennen?“
„Ich weiß, ich hätte dich anrufen sollen, aber ich habe mich erst vor einer Stunde
entschieden. Und ich habe schon gepackt und bin bereit.“ Sie zeigte auf ihre
Reisetasche und nahm sich die Jacke.
„Kein Problem“, scherzte er, und sein Lächeln wurde immer breiter, während er
ihr in die Jacke half. „Hin und wieder genieße ich es, eine schlaflose Nacht zu
haben.“
„Sehr komisch.“ Sie warf ihm einen tadelnden Blick zu. „Ich bin gleich zurück. Ich
muss nur noch nachsehen, ob die Timer für die Lampen gestellt sind.“
Mit einer geradezu mädchenhaften Vorfreude, wie Eloise sie seit Jahren nicht
mehr empfunden hatte, machte sie eine letzte Runde durch das Penthouse. Als
sie zu Bill zurückkehrte, hatte er eine Hand um den Griff ihrer Tasche, die andere
im Mantel.
Sein Blick war ebenso fragend wie sein Lächeln, und das ließ ihn fast ein wenig
verlegen wirken. An jemandem, der ihr immer so selbstsicher erschienen war,
fand sie diesen neuen Charakterzug äußerst liebenswert.
Er mochte der Bürgermeister von New York sein, aber offenbar war er genauso
nervös wie sie. Aus irgendeinem Grund fand sie das beruhigend.
„Können wir?“ fragte er nach einem kurzen Schweigen.
„Ja.“ Sie nahm Handtasche, Schlüssel, Schal und Handschuhe vom Tisch.
Und auf dem Weg zum Fahrstuhl verspürte sie plötzlich so etwas wie freudige
Erwartung.
7. KAPITEL Nachdem Eloise auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, ging Bill um den Geländewagen herum. Erst in diesem Moment wurde ihm klar, dass er die einzige Frau, die er je geliebt hatte, zwei Tage und zwei Nächte ganz für sich allein haben würde. Was er während dieser Zeit sagte und tat, würde sich entscheidend auf den Rest seines Lebens auswirken. Doch zum ersten Mal in seinem Leben hatte er keinen ausgefeilten Plan geschmiedet. Natürlich hatte er dafür gesorgt, dass die Betten in beiden Schlafzimmern gelüftet und der Kühlschrank gefüllt sein würde. Aber er hatte sich nicht überlegt, was er Eloise sagen wollte, weil er nicht sicher gewesen war, ob er die Chance bekommen würde, seine Gedanken und Gefühle mit ihr zu teilen. Dieses Wochenende würde sie beide entweder einander näher bringen oder sie für immer trennen. Er konnte jede Menge Fehler begehen, die ihre Beziehung vielleicht beendete, bevor sie richtig begonnen hatte. Als er die Fahrertür öffnete, bemerkte er erneut, dass seine Hand leicht zitterte. Er hatte sich nur entspannen und das Wochenende mit Eloise genießen wollen, aber plötzlich ließ die Nervosität, die ihn befallen hatte, dieses Vorhaben unrealistisch erscheinen. Er setzte sich ans Steuer, startete den Motor und sah Eloise an. Ihre Blicke trafen sich, doch ihr Lächeln wirkte noch zaghafter als zuvor. Fragte auch sie sich, worauf sie sich eingelassen hatte? Bereute sie ihre Entscheidung etwa schon? Wünschte sie, sie könnte aussteigen, bevor er losfuhr? Obwohl Bill es nicht fertig brachte, diese Fragen laut auszusprechen, legte er keinen Gang ein, sondern zog seine Handschuhe aus und warf sie zusammen mit dem Schal auf die Rückbank. Das Schweigen war kaum noch auszuhalten. Er legte die Hände aufs Lenkrad, starrte einige Sekunden lang nach vorn und warf Eloise wieder einen Blick zu. Sie sah angespannt auf ihre eigenen Handschuhe, die auf dem sorgsam gefalteten Schal in ihrem Schoß lagen, und strich sie immer wieder glatt, als würde es sie beruhigen. Verunsichert wandte er sich ab und bemerkte dabei die Kühlbox. „Hast du Hunger?“ fragte er und sprach weiter, bevor sie antworten konnte. „Denn Ray, mein Chauffeur, hat erzählt, dass Dennis, mein Koch, uns Sandwichs und etwas zu trinken eingepackt hat. Nichts Besonderes, da bin ich sicher. Vermutlich Hühnchensalat in Fladenbrot. Dennis weiß, dass das mein Lieblingssnack ist.“ Nach kurzem Zögern lächelte Eloise erleichtert. „Ehrlich gesagt, ich habe tatsächlich Hunger. Und ich liebe Hühnchensalat in Fladenbrot.“ „Stört es dich, wenn wir essen, während ich fahre?“ „Überhaupt nicht.“ Bill erwiderte ihr Lächeln. Dann nahm er die Kühlbox vom Rücksitz und stellte sie auf die Konsole zwischen ihnen. Darin fand er unter zwei Stoffservietten nicht nur ein Sandwich und eine Saftpackung für jeden, sondern auch ein halbes Dutzend einzeln eingewickelter Schokoladenkuchen in einem Frischebeutel. „Toll, das sieht lecker aus“, rief Eloise, als sie ihr gefülltes Fladenbrot vorsichtig auswickelte. „Es ist immer wieder verblüffend, was Dennis aus wenigen Zutaten zaubert“, meinte Bill. Er stellte ihre Säfte in die Becherhalter und legte sein Sandwich auf die Konsole, während Eloise die Box vor sich in den Fußraum stellte.
„Hm, du hast Recht“, schwärmte sie nach dem ersten Bissen.
„Warte, bis du den Kuchen probiert hast“, sagte er und fuhr endlich los. Nachdem
er den Geländewagen in den fließenden Verkehr eingefädelt hatte, biss auch er in
sein Sandwich.
Schweigend aßen sie. Als sie Manhattan hinter sich hatten, holte Eloise die
Kuchen heraus. Sie nahm sich einen, und ihr genießerisches Seufzen brachte Bill
zum Lachen.
„Hab ich doch gesagt“, meinte er.
„Hast du“, bestätigte sie und lächelte. „Und jetzt erzähl mir von deinem Haus.“
„Was willst du wissen?“ fragte er und nahm sich ebenfalls einen Kuchen.
„Alles, was du mir erzählen möchtest.“
„Also, erst mal die Fakten.“
„Okay, die Fakten.“
„Eigentlich ist es eher ein Cottage. Ein richtig altmodisches Cottage. Keins von
diesen aufgeblähten Dingern mit mehreren Ebenen, die von Neureichen als
Cottage bezeichnet werden. Es gibt einen großen Raum, der die Küche, die
Essecke und den Wohnbereich umfasst. Die Wand zum Meer hin besteht aus
großen, vom Boden bis zur Decke reichenden Fenstern und der Tür zur hölzernen
Terrasse. Oben sind zwei etwa gleich große Schlafzimmer, jedes mit einem
kleinen Bad.“
„Oh, Bill, das hört sich hübsch an.“
„Ich finde es jedenfalls“, gab er zu. „Obwohl es in ziemlich schlechtem Zustand
war, als ich es vor fünfzehn Jahren gekauft habe. Ich habe bei jeder Gelegenheit
daran gearbeitet, und jetzt ist es bewohnbar. Die Küche ist klein, aber modern.
Die Badezimmer sind komplett renoviert, mit heißem Wasser rund um die Uhr.
Die Böden sind geschliffen und poliert, die Wände frisch gestrichen.“
Er lächelte. „Die Möblierung ist etwas spärlich, aber es gibt genügend Stühle,
Tische, Betten und sogar eine große Ledercouch vor dem Kamin. Ich habe
allerdings nicht sehr oft Gäste dort, aber ich finde es gemütlich und hoffe, dass
du dich wohl fühlen wirst.“
„Bestimmt“, versicherte sie ihm. „Ich brauche nicht viel. Ich bin nicht gerade im
Luxus aufgewachsen, weißt du.“ Sie zog eine Augenbraue hoch. „Wir haben
übrigens kaum über unser Leben vor New York gesprochen.“
„Du hast mir nur erzählt, dass du aus einem Vorort von St. Louis stammst“,
erinnerte er sich.
„Stimmt. Als ich nach New York umzog, habe ich nicht im Traum damit
gerechnet, dass ich mal in einem Penthouse an der Park Avenue wohnen würde.
Zugegeben, es ist schön, aber ich würde auch mit weniger glücklich sein. Obwohl
das wohl nie passieren wird, denn Walter hat dafür gesorgt, dass unsere Söhne
und ich immer in finanzieller Sicherheit leben können.“
„Das freut mich“, bemerkte Bill, während er von der Schnellstraße abfuhr. „Ich
wollte nur, dass du weißt, dass mein Cottage wirklich nur ein Cottage ist.“
Er drückte ihre Hand, und sie lächelte ihm dankbar zu.
„Meinetwegen kann es eine Bruchbude mit nur einem Raum sein. Hauptsache, es
ist warm und trocken.“
„Erstaunlich“, murmelte er.
„Was?“
„Wie friedlich du sein kannst.“
„Natürlich kann ich friedlich sein. In mancher Hinsicht“, fügte sie spitz hinzu.
Bill hob eine Hand. „He, das sollte kein Vorwurf sein. Ich habe nur gemeint, dass
du keine überzogenen Ansprüche an mein bescheidenes Wochenendhaus stellst.“
„Ach so…“ Sie zuckte mit den Schultern und warf ihm einen Blick zu.
„Gut.“
Wieder griff er nach ihrer Hand und drückte sie. Zu seiner Erleichterung
erwiderte sie die zärtliche Geste, und ihre Miene entspannte sich.
„Könnten wir uns an diesem Wochenende, was bestimmte Meinungsunterschiede
betrifft, auf einen Waffenstillstand einigen?“ schlug sie nach einem kurzen
Schweigen vor.
„Natürlich“, erwiderte er und war froh, dass sie ausgesprochen hatte, worauf er
gehofft hatte.
„Bist du häufig in deinem Cottage?“
„Leider nicht häufig genug“, sagte Bill. „Jedenfalls nicht seit meiner Wahl zum
Bürgermeister. Kaum jemand weiß, dass ich ein Haus in den Hamptons habe.
Und da ich will, dass das auch so bleibt, kann ich in der Hochsaison nicht dorthin.
Meistens fahre ich nur raus, wenn jeder vernünftige Mensch in der Stadt bleibt.“
„Zum Beispiel an einem verregneten Novemberwochenende, an dem auch noch
Schnee in der Luft liegt?“
„Genau.“ Er schaltete den Scheibenwischer ein, als die ersten Tropfen fielen.
Sie schwiegen ein paar Minuten, dann schnitt er ein neues Thema an. „Deine
Söhne sind wirklich drei gestandene junge Männer“, begann er. „Du hast gute
Arbeit geleistet.“
„Warten wir es ab.“
„Wie dumm, ich habe gar nicht daran gedacht, dir die Telefonnummer des
Cottages zu geben, damit du im Notfall erreichbar bist.“
„Kein Problem. Die Schule hat meine Handynummer. Aber erinnere mich daran,
es aufzuladen, sobald wir angekommen sind.“
„Das müsste in höchstens fünf Minuten sein.“
Er bog von der zweispurigen Landstraße auf einen Schotterweg ab, der gerade
breit genug für den Geländewagen war. Etwa eine halbe Meile vor ihnen drang
Licht durch die dicht stehenden Bäume.
„Du hast gesagt, dass es einsam liegt“, sagte Eloise. „Das war offenbar nicht
übertrieben. Obwohl es gar nicht so weit von der kleinen Stadt ist, durch die wir
gerade gekommen sind.“
„Etwa fünfzehn Minuten. Höchstens zwanzig an einem Abend wie diesem.“
Als er auf einer Lichtung hielt, starrte Eloise mit großen Augen auf das Cottage.
„Oh, Bill. Das ist ja… wunderschön“, murmelte sie.
„Na ja, nichts Ungewöhnliches. Weißes Holz mit schwarzen Fensterläden und rot
gestrichener Tür. Die Veranda führt ums ganze Haus, erweitert sich aber auf der
Meerseite zu einer Terrasse.“
„Ich kann kaum abwarten, es. bei Tageslicht zu sehen. Aber dann ist es vielleicht
schon unter Schnee begraben“, scherzte sie.
„Ich glaube, dazu ist es noch nicht kalt genug. Aber wenn doch, machen wir es
uns drinnen gemütlich. Ich beschäftige ein Ehepaar, das hier nach dem Rechten
schaut. Gestern habe ich die beiden angerufen. Die Schlafzimmer sind gelüftet,
die Heizung an, der Kühlschrank gefüllt, und die Timer müssten die Lampen
eingeschaltet haben, damit wir nicht über unsere eigenen Füße stolpern.“
„Perfekt geplant.“ Hastig wich sie seinem Blick aus.
Bill fragte sich, ob er etwas Falsches gesagt hatte, aber was sollte das gewesen
sein? Vermutlich war Eloise einfach nur müde. Bestimmt hatte sie einen ebenso
langen und harten Tag hinter sich wie er. Und dann noch die Fahrt durch den
winterlichen Abend.
„Ich bringe dich erst mal hinein. Dann hole ich die Taschen. Wie klingt das?“
fragte er.
„Gute Idee“, erwiderte sie matt.
Bill hoffte, dass ihr plötzlicher Stimmungsabfall tatsächlich nur an ihrer
Erschöpfung lag. Er stellte den Motor ab und griff nach dem Regenschirm, der
neben dem Fahrersitz lag.
„Warte mit dem Aussteigen, bis ich den hier aufgespannt habe.“
„Stets der Gentleman“, murmelte sie.
„Ich gebe mir die größte Mühe…“
Unter dem Schirm und seinem schützend um ihre Schulter gelegten Arm
gelangte sie auf die Veranda, ohne allzu nass zu werden. Kaum hatte er jedoch
die Tür aufgeschlossen, machte sie einen Schritt von ihm weg.
Er warf ihr einen fragenden Blick
die Sohlen ihrer Stiefel an dem bunten Läufer abwischte. Dann hob sie den Kopf
und schnappte überrascht nach Luft.
„Es ist schön, Bill. Wirklich, wirklich schön.“
„Ich habe gehofft, dass es dir gefallen würde.“
„Oh, das tut es. Ganz bestimmt.“
Neugierig sah sie sich um, während sie durch den großen Raum ging, und blieb
erst stehen, als sie die Glastür auf der anderen Seite erreichte. Sie schaute
hindurch, aber er wusste, dass in der Dunkelheit kaum etwas zu erkennen war.
„Das Haus steht auf einer kleinen Anhöhe oberhalb der Dünen“, erklärte er. „Die
Terrasse endet am Hang, und eine kurze Treppe führt zu dem Holzweg, an
dessen Ende der Strand liegt.“
„Am Tag muss die Aussicht herrlich sein.“
„Ja. Selbst an grauen und wolkigen Tagen. Es ist gemütlicher, wenn ein Feuer
brennt. Ich könnte den Kamin anmachen“, schlug er vor.
Wieder spürte er ihr Zögern. Einen unerwarteten Rückzug hinter die Mauer, die
sie in der kurzen Zeit aufgerichtet hatte, seit er vor dem Cottage gehalten hatte.
„Ich bin ziemlich müde“, antwortete sie und zupfte nervös am Reißverschluss
ihrer Jacke, während sie überallhin schaute, nur nicht zu ihm.
Langsam dämmerte ihm, warum sie plötzlich so anders war. Sie fragte sich, wo
sie schlafen würden. Zusammen oder in getrennten Zimmern. Dabei hatte er
ohnehin angenommen, dass sie heute – und vielleicht auch morgen Nacht – ein
Bett für sich allein haben wollte.
Er hatte sie nicht hergebracht, um sie zu verführen. Er wollte die Freundschaft
auffrischen, die sie vor siebzehn Jahren für eine viel zu kurze Zeit geteilt hatten.
„Weißt du, jetzt, wo wir hier sind, bin ich auch müde“, log er. „Das muss am
Wetter liegen.“
„Muss wohl.“
Sie lächelte flüchtig und starrte wieder auf den Reißverschluss. Obwohl es warm
war, hatte sie noch keine Anstalten gemacht, ihre Daunenjacke auszuziehen.
„Mach’s dir ein paar Minuten bequem, während ich die Taschen hole. Dann zeige
ich dir das Gästezimmer.“
Erst jetzt sah sie ihn an, und Bill war nicht sicher, ob der Ausdruck in ihren
Augen erleichtert oder enttäuscht war. Vielleicht beides, dachte er und lächelte
ihr aufmunternd zu, bevor er wieder nach draußen ging.
Als er mit den Taschen zurückkam, hatte sie die Jacke ausgezogen, hielt sie
jedoch zusammen mit ihrer Handtasche, den Handschuhen und dem Schal an die
Brust gepresst, während sie das Bücherregal neben dem Kamin betrachtete.
„Das Wetter ist wirklich miserabel“, bemerkte er und stellte die Taschen ab, um
seinen Mantel an den Garderobenständer neben der Tür zu hängen.
„Regnet es noch?“
„Ja, aber es ist nicht kälter geworden.“ Er zeigte zur Küche hinüber. „Möchtest du
eine Tasse Tee, Kaffee oder Kakao, bevor wir nach oben gehen?“
„Nein, danke.“
„Dann komm. Ich bringe dich in dein Zimmer.“
Er nahm die Taschen und ging zu der schmalen Treppe am anderen Ende des
Wohnzimmers. Eloise folgte ihm wortlos.
Oben angekommen, zeigte er mit der Schulter auf die erste offene Tür. „Mein
Zimmer“, sagte er und stellte seine Tasche hinein, bevor er weiterging. „Und
deins.“
Er trat ein, deponierte ihre Tasche und sah sich um. Eloise blieb neben ihm
stehen.
„Was meinst du? Wird es gehen?“
„Sehr schön, danke“, antwortete sie. „Die Überdecke gefällt mir.“
„Darunter ist ein Federbett, also müsstest du es warm haben.“ Er zeigte auf eine
offene Tür. „Dort ist das Badezimmer. Mit frischen Handtüchern. Ich hoffe, du
kommst zurecht.“
„Bestimmt.“
Sie trat an eins der Fenster und schaute durch einen Spalt in der Jalousie.
„Es geht aufs Meer hinaus“, erklärte er. „Der Sonnenaufgang kann spektakulär
sein, obwohl ich mich nicht darauf verlassen würde, dass das morgen früh auch
so sein wird.“
„Vielleicht lässt der Regen ja nach.“
„Ja, vielleicht.“
Bill zögerte. In ihm rangen der Wunsch, sie zu küssen, und das Wissen, dass ein
Kuss ihm nicht genügen würde, miteinander. Er würde nicht aufhören können.
Und das Letzte, was er wollte, war, sie zu verschrecken und ihnen beiden das
Wochenende zu verderben. Also blieb er in der Tür stehen und wünschte ihr eine
gute Nacht.
„Schlaf du auch gut, Bill“, erwiderte sie leise und warf ihm einen schüchternen
Blick zu, den er nur schwer deuten konnte.
Erneut spürte er ihre Zerrissenheit. Einerseits war sie erleichtert über seine
Zurückhaltung, andererseits enttäuscht. Vielleicht war es falsch, sich nicht zu
trauen. Immerhin hatte er sie schon zwei Mal geküsst, und sie hatte nichts
dagegen gehabt. Aber da waren sie nicht ganz allein gewesen, und aus den
Küssen hatte nicht mehr werden können. Außerdem war er viel zu sehr
Gentleman, um eine Frau zu etwas zu drängen.
„Ich bin Frühaufsteher, aber du kannst natürlich länger schlafen, wenn du
möchtest“, sagte er.
„Okay.“
„Dann sehen wir uns morgen.“
„Ja, bis morgen, Bill.“
„Und denk daran, dein Handy aufzuladen.“
„Danke für die Erinnerung. Das werde ich tun.“
Er ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Ihr Lächeln ging ihm nicht aus
dem Kopf, während er die Haustür abschloss und das Licht im Wohnzimmer
ausschaltete.
Er war ein intelligenter, gebildeter Mann, ein erfahrener Politiker, der mit jeder
Situation fertig wurde. Doch als er in der Küche ein Glas und eine Flasche Brandy
aus den Schränken nahm, fühlte er sich wie ein unbeholfener Teenager, der zum
ersten Mal verliebt war.
Unbeholfen war er nicht. Aber verliebt… Ja, das traf zu. Eloise war die erste Liebe
seines Lebens gewesen, und auch siebzehn Jahre später war sie noch immer die
einzige Frau, die er jemals wirklich geliebt hatte.
Vielleicht würde er dieses Mal alles richtig machen und es schaffen, dass sie
seine Liebe erwiderte.
8. KAPITEL Eloise erwachte langsam aus tiefem, friedlichem Schlaf. Lockender Duft von Kaffee und Schinken hing in der Luft. Ihr Magen knurrte, als sie die Augen aufschlug und in das Tageslicht blinzelte, das durch die Jalousie drang. Sie hatte sie am Vorabend ein wenig geöffnet – in der Hoffnung, dass am Morgen allen Vorhersagen zum Trotz die Sonne scheinen würde. Aber jetzt war es schon acht und das Gästezimmer noch so dunkel, dass der Himmel nur grau sein konnte. Wenigstens hatte es aufgehört zu regnen. Jedenfalls prasselten keine Tropfen mehr gegen die Fensterscheibe. Ihr Magen knurrte erneut, und sie musste lächeln, als sie aufstand und ins Bad ging. Offenbar kannte Bill sich in der Küche aus und war sich nicht zu schade, für sie beide das Frühstück zu machen. Bestimmt wusste er, dass es jeder Frau gut tat, ein wenig verwöhnt zu werden. Plötzlich und unerwartet meldete sich ihre Abenteuerlust zurück. Eloise beeilte sich beim Duschen. Was immer an diesem Wochenende zwischen Bill und ihr passieren würde, es würde gut sein, daran glaubte sie tief in ihrem Herzen. Sie zog die Jeans wieder an, dazu eine weiße Baumwollbluse, legte ein wenig Makeup auf und bändigte ihr Haar mit der Bürste. Danach machte sie das Bett und hörte ihre Mailbox ab. Zum Glück hatte niemand eine Nachricht hinterlassen. Endlich mal frei von drückenden Sorgen, eilte sie zur Treppe. Sie war versucht, einen Blick in Bills Schlafzimmer zu werfen, ging jedoch mit geradem Blick daran vorbei. Wenn er wollte, dass sie das Zimmer sah, würde er sie dorthin einladen. Als sie die letzte Stufe erreichte, blieb sie stehen. Trotz des grauen Himmels wirkte Bills Wohnzimmer hell, warm und gemütlich. Im Kamin brannte ein Feuer. Links und rechts des bequem aussehenden Ledersofas verströmten Lampen mildes Licht, und der kleine Tisch in der Essecke war mit altmodischer Töpferware in Orange, Gelb und Grün gedeckt. Der Tag mochte trüb sein, aber in Bills Cottage herrschte eine Atmosphäre, die einen das Wetter vergessen ließ. „Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt“, sagte er. „Mir ist ein Topf heruntergefallen, das war keine Absicht, sondern einfach nur ungeschickt von mir.“ Er stand am Herd, ein leuchtend gelbes Geschirrtuch über der Schulter, einen dampfenden Becher in der Hand, ein jungenhaftes Lächeln auf dem attraktiven Gesicht. In alten Jeans und einem alten, ausgeblichenen schwarzen TShirt sah er lässiger und viel zugänglicher aus, als Eloise ihn je erlebt hatte. Hier brauchte er keine öffentliche Person zu sein, und sie auch nicht. Hier konnten sie beide sie selbst sein, ohne befürchten zu müssen, dass jemand daran Anstoß nahm. Ein wenig zaghaft erwiderte sie sein Lächeln und trat zu ihm in die Küche. „Es war der leckere Duft von Kaffee und Schinken“, gab sie zu. „Ich habe auch frisch gepressten Orangensaft und Rührei. Ich frühstücke gern ausgiebig, aber ich war mir nicht sicher, ob du das auch tust.“ „Heute Morgen ja“, versicherte sie ihm. „Gut.“ Sein Lächeln wurde breiter. „Erst Kaffee oder erst Saft?“ „Saft und dann Kaffee, sobald das Essen fertig ist.“ „Toast zu den Eiern mit Schinken?“ fragte er, während er den Saft eingoss und ihr ein Glas reichte. „Ja, bitte.“
Sie nippte am Saft und beobachtete, wie er die Gasflamme unter der Pfanne
entzündete.
„Du magst doch Rührei, oder?“
„Sehr gern sogar“, erwiderte sie. „Kann ich helfen?“
„Ich glaube, ich habe alles im Griff.“ Er steckte zwei Scheiben in den Toaster,
goss das Eigelb in die Pfanne und sah nach dem Schinken im Ofen. „Nimm dir
Kaffee, wenn du möchtest.“ Er zeigte auf einen leeren Becher. „In der Dose ist
Zucker. Sahne ist im Kühlschrank.“
„Danke.“
„Trinkst du deinen Kaffee mit Zucker und Sahne?“ fragte er und warf ihr einen
neugierigen Blick zu.
„Nur, wenn er so stark ist, dass der Löffel darin steht.“
„Meiner ist stark, aber nicht so stark.“ Er lächelte ihr noch mal zu und
konzentrierte sich darauf, das Eigelb zu rühren. „Mir wird erst jetzt klar, dass ich
kaum etwas über dich weiß, Eloise. Und das kommt mir so seltsam vor, weil ich
das Gefühl habe, dich schon immer zu kennen.“
„So geht es mir auch“, gab sie zu. „Ist es nicht eigenartig, dass wir uns in vieler
Hinsicht eigentlich fremd sind?“
„Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich hoffe, dass wir das an diesem
Wochenende ändern können. Es gibt so viele Dinge, die ich über dich erfahren
möchte.“
„Und ich über dich.“ Sie stellte das Glas ab, füllte den Becher mit Kaffee und warf
ihm einen belustigten Blick zu. „Aber ich würde sagen, wir haben schon damit
angefangen. Ich weiß jetzt zum Beispiel, dass du kochen kannst.“
„Und ich weiß, dass du deinen Kaffee schwarz trinkst und richtig frühstückst,
wenn es Rührei gibt“, erwiderte er und löffelte das Rührei in eine Schüssel.
„Vergiss den Weizentoast nicht“, erwiderte sie und nahm die beiden Scheiben
heraus, als sie fertig waren. Sie legte sie auf einen orangefarbenen Teller und
stellte ihn auf den Tisch. „Sieht aus, als wäre alles fertig.“
„Dann lass uns essen.“
Sie genossen das Frühstück und tauschten dabei Informationen übereinander
aus. Seine Lieblingsfarbe war Rot, ihre Grün. Bill schlug scherzend vor, sich über
ihre Garderobe abzustimmen, bevor sie zusammen ausgingen, weil sie sonst
vermutlich weihnachtlich aussehen würden.
Und sie stellten fest, dass sie beide gern in Italien Urlaub machten. Vor allem in
Venedig. Eloise fragte sich laut, warum sie einander nie dort begegnet waren.
„Schlechtes Timing auf meiner Seite“, murmelte er.
„Oder auf meiner“, erwiderte sie. „Meine letzte Reise ist allerdings mehrere Jahre
her. Walter und ich sind nach Venedig gefahren, als die Jungs acht waren. Aber
sie fanden die Museen und Kirchen langweilig und wollten unbedingt von den
Brücken in die Kanäle springen.“
„Das haben sie doch nicht getan, oder?“ fragte Bill mit gespieltem Entsetzen.
„Nein, aber sie haben es versucht. Wir haben den Urlaub damit verbracht, unsere
Söhne von Brückengeländern zu zerren.“
„Und was ist dein Lieblingsziel in den Vereinigten Staaten?“
„Das ist einfach – San Francisco.“ Eloise quittierte seinen überraschten Blick mit
einem Lächeln. „Ich bin ein Großstadtkind. Ich liebe den Trubel, nette Hotels,
gute Restaurants, Museen, Shopping.“
Lachend schüttelte er den Kopf.
„Also werde ich dich nicht in die Wildnis von, sagen wir mal, Montana locken
können?“
„Um meilenweit durch Wälder zu wandern, über einem Lagerfeuer zu kochen und
in einem Zelt zu schlafen?“ „Nur, wenn du willst. Ansonsten gibt es viele gute einfache Unterkünfte, in denen du aber jeden Komfort genießen kannst, während ich mit deinen Söhnen ein paar Tage lang Abenteuerurlaub mache.“ „Ich frage mich; ob sie an so etwas Spaß finden würden“, sagte sie, während sie ihren Teller zur Seite schob und sich mit dem Kaffeebecher in der Hand zurücklehnte. „Würde es für dich infrage kommen, wenn sie interessiert wären?“ „Aber nur, wenn ich einigermaßen komfortabel wohnen könnte?“ „Versprochen. Und Montana ist gar nicht so weit von San Francisco entfernt. Wir könnten nach der Wildnis ein wenig Kultur tanken“, schlug er vor. „Das könnten wir“, erwiderte sie, während ihre Blicke sich trafen. Wie einfach es ist, mit ihm Pläne zu schmieden, dachte sie. Aber noch kam eine gemeinsame Reise mit ihren Söhnen nicht infrage. Im Moment waren sie nur Freunde, die zusammen frühstückten. Bill deutete ihre unschlüssige Miene richtig. „Vielleicht können wir ja im Sommer ernsthafter darüber nachdenken“, schlug er vor. „Vorläufig müssen wir uns nur entscheiden, wann wir einen Spaziergang am Strand machen – bevor oder nachdem ich die Küche aufräume. Du hast die Wahl.“ Er stand auf, und zusammen trugen sie das Geschirr in die Küche. „Vielleicht, nachdem wir beide gemeinsam aufgeräumt haben“, bot sie an. „Obwohl ich es allein tun sollte, schließlich hast du das Frühstück gemacht. Und das sehr gut, wie ich hinzufügen muss.“ „Danke für das Angebot, aber du bist mein Gast. Natürlich nehme ich deine Hilfe gern an. Danke auch für das Kompliment. Warten wir ab, wie du meine Kochkünste nach den weiteren Mahlzeiten einschätzt. Das Mittagessen wird keine große Herausforderung, denn im Kühlschrank sind Schinken, Truthahn und Käse für Sandwichs. Aber was ich mit den Lachsfilets mache, erfordert schon etwas mehr Überlegung. Zumal es zu kalt und zu nass ist, um den Grill auf der Terrasse anzuwerfen. Du magst doch Lachs, oder?“ „Oh, ja. Ich mache ihn meistens im Ofen. Mit Kräutern, ein wenig Zitronensaft und etwas Weißwein in Alufolie, dann ist er in einer halben Stunde fertig.“ „Ausgezeichnete Idee.“ Bill hatte den Geschirrspüler beladen und ging zu der kleinen Speisekammer hinüber. „Hier sind genug Kräuter und Gewürze“, sagte er und zeigte auf ein Regal, in dem mindestens zwei Dutzend beschrifteter Gläser standen. „Und im Kühlschrank sind Zitronen und ein paar Flaschen Weißwein.“ „Na, dann haben wir ja alles.“ Eloise legte das Tuch zusammen, mit dem sie sich die Hände abgetrocknet hatte. Es war erstaunlich, wie entspannt und harmonisch sie zusammen die Küchenarbeit erledigten. Für einen Außenstehenden musste es aussehen, als hätten sie das Cottage schon viele Jahre und nicht erst wenige Stunden geteilt. Hier konnte sie einfach sie selbst sein, und er offenbar auch. Sie mochten einander nicht nur, sie vertrauten einander auch. „Wir müssen nicht spazieren gehen, weißt du“, meinte Bill, und sein Lächeln erschien ihr auf unaufdringliche Weise verführerisch. „Wir könnten es uns vor dem Kamin bequem machen und faulenzen.“ Einen Moment lang war Eloise versucht, den Vorschlag anzunehmen. Aber noch war die Nähe zu neu und ungewohnt, um sie so intim werden zu lassen. „Warum gehen wir nicht spazieren, solange wir können?“ schlug sie vor. „Später regnet es vielleicht.“
„Du hast Recht. Aber pack dich warm ein. Ich möchte nicht, dass du dich erkältest.“ „Bin gleich wieder da.“ Im Gästezimmer zog sie einen dicken Pullover unter ihrer Jacke an, nahm die Wollmütze aus der Tasche und Schal und Handschuhe vom Stuhl. Als sie wieder nach unten kam, stand Bill in einer schwarzen Lederjacke in der Terrassentür. Auf dem Kopf hatte er eine rote Mütze, um den Hals einen dazu passenden Schal. Die eisige Luft verschlug ihr den Atem. „Möchtest du doch lieber im Cottage bleiben?“ fragte er. „Ich gebe zu, es ist kälter, als ich erwartet habe. Aber es regnet nicht, und der Wind ist nicht zu heftig. Wenn wir erst unterwegs sind, wird mir sicher warm werden.“ „Vermutlich.“ Er nahm ihre Hand und ging mit ihr die Stufen hinunter zu dem Weg, der sich durch die Dünen schlängelte. Das Meer war überraschend ruhig, trotz der Windstöße, die hin und wieder ihre Schals flattern ließen. Unter ihren Stiefeln knirschte der nasse Sand im Rhythmus ihrer Schritte. Zwischen ihnen herrschte ein entspanntes Schweigen. Nur zwei Mal begegneten sie anderen Spaziergängern – einem älteren Paar mit einem wohlerzogenen Hund und zwei jungen Frauen mit lebhaften Kleinkindern. In Mützen und Schals gehüllt, waren die Gesichter kaum zu erkennen, und die in der Luft kreisenden Möwen übertönten ihre Stimmen, als sie einander kurz, aber freundlich grüßten. Irgendwann ließ Bill Eloises Hand los und legte den Arm um ihre Schultern. Dankbar für den Schutz, den sein Körper ihr bot, schmiegte sie sich an ihn und umfasste seine Taille. Sie war nicht sicher, wie lange und wie weit sie gegangen waren, als er vorschlug, zum Cottage zurückzukehren. Erwärmt von seiner körperlichen und emotionalen Nähe hätte Eloise noch meilenweit laufen können, aber Bill schien ihr nicht zu viel zumuten zu wollen. Und tatsächlich spürte sie die Erschöpfung, als sein Haus wieder in Sicht kam. „Gehen wir rein?“ fragte er, „oder möchtest du noch ein Stück in die andere Richtung gehen?“ „Nicht unbedingt“, gab sie zu. „Was ist mit dir?“ „Meinetwegen können wir gern hineingehen.“ Wie zur Bestätigung, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatten, begann es zu nieseln. „Perfektes Timing“, rief Eloise lachend, als sie die Treppe hinauf und über die Terrasse eilten. „Glück gehabt, was?“ Bill strahlte sie an, während er die Tür aufschloss, und Eloise ließ sich davon anstecken. Die Zeit schien stillzustehen, als ihre Blicke miteinander verschmolzen. Langsam, fast zaghaft berührte er ihre Wange. Sein Lächeln verblasste und wurde durch eine unausgesprochene Frage abgelöst. Ja… ja, bitte, dachte sie. Wortlos senkte er den Kopf und küsste sie voller Zärtlichkeit, seine Lippen erst kalt, dann erregend heiß an ihren. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm noch näher zu sein. Mit einem leisen Stöhnen vertiefte er den Kuss, aber nur einen Moment lang. Verwirrt blinzelte Eloise. „Lass uns hineingehen“, schlug er vor. „Im Haus sind wir wirklich allein.“
9. KAPITEL Bill hätte damit rechnen müssen, dass Eloise wieder auf Distanz ging, sobald sie
das Haus betraten. Denn nach genau diesem Muster handelte sie, seit sie
zusammen auf dem Ball des Bürgermeisters gewesen waren.
Sie schien eine engere Beziehung zu wollen, doch jedes Mal, wenn er einen
Schritt in diese Richtung machte, zog sie sich hinter eine Fassade aus Höflichkeit
und perfekten Umgangsformen zurück.
Als er sie gerade eben auf der Terrasse geküsst hatte, war er allerdings
überzeugt gewesen, dass er eine Bresche in ihre Festungsmauer geschlagen
hatte. Auf dem Spaziergang war sie ihm unbeschwert, fast glücklich erschienen.
Und sie hatte ihm in die Augen gesehen, als er die Tür öffnete.
Er war so sicher gewesen, dass sie ihm endlich zu vertrauen begann.
Doch kaum hatte er die Tür hinter ihnen geschlossen, war sie durchs
Wohnzimmer geeilt, hatte Mütze, Schal, Handschuhe und nahezu widerwillig auch
die Jacke ausgezogen und sich vor den Kamin gestellt.
Sie kehrte ihm den Rücken zu und hielt die freie Hand an das flackernde Feuer.
Verwirrt und auch ein wenig verärgert, stopfte Bill seine Mütze, den Schal und
die Handschuhe in die Manteltaschen und hängte den Mantel an den Ständer.
Dann stand er einfach nur da, schaute zu Eloise hinüber und überlegte, was er zu
ihr sagen sollte.
Er entschied sich, offen zu sein. „Hast du Angst vor mir?“ fragte er.
Erstaunt drehte sie sich zu ihm um. „Oh, Bill, nein… natürlich nicht.“ Sie machte
einen Schritt auf ihn zu. Ihr Gesicht spiegelte Verwirrung und tiefe Betroffenheit
wider. „Wie kommst du darauf?“
„Du scheinst dich in meiner Nähe manchmal unwohl zu fühlen. Jetzt zum
Beispiel. Du hast dich eben auf der Terrasse nicht nur küssen lassen, du hast
meinen Kuss auch erwidert. Aber dann, kaum sind wir im Haus, gehst du auf
Distanz. Du weißt doch, dass ich mich dir nie aufdrängen würde, oder? Ich würde
dir nicht zu nahe treten. Dazu bedeutest du mir zu viel.“
„Das weiß ich, Bill. Wirklich. Du hast dich stets wie ein Gentleman benommen.
Sonst wäre ich nicht mit dir hierher gefahren.“
„Hätte ich dich nicht küssen dürfen?“ fragte er, denn er wollte, er musste es
wissen. „Wenn es dir zu weit geht, werde ich es nicht wieder tun. Obwohl ich
zugebe, dass es mir nicht leicht fallen wird. Du bist manchmal so verdammt
reizvoll, dass es mir fast unmöglich ist, mich zu beherrschen. Aber wenn du es
willst, werde ich es tun.“
Er zögerte und lächelte entschuldigend, als er sah, wie ihre Wangen sich röteten.
„Wie du selbst gesagt hast, habe ich den Kuss erwidert. Und es war sehr schön,
dich zu küssen…“
„Aber?“ unterbrach er sie.
„Aber ich bin nicht sicher, dass es gut wäre, eine Beziehung zu beginnen…
jedenfalls keine intime.“ Sie wich seinem Blick aus.
„Du hast doch keine Beziehung mit einem anderen Mann, oder?“
„Oh, nein. Ganz bestimmt nicht.“
„Und ich habe keine mit einer anderen Frau. Also sind wir beide frei und können
zusammen sein, wenn wir wollen, nicht wahr?“
„Ja.“
„Und ich nehme an, du willst heute und hier mit mir zusammen sein, habe ich
Recht?“ fragte er mit einem ermutigenden Lächeln.
„Ja…“
„Gut.“ Er nickte. „Ich nämlich auch.“
Sie sah ihn wieder an und lächelte zaghaft.
„Wir fühlen uns also miteinander wohl, oder?“ fuhr er fort.
„Ja…“
„Und wenn ich irgendetwas tue oder sage, was dir nicht gefällt, möchte ich, dass
du es mir sagst.“
„Ja, natürlich.“
„Du wirst nicht mehr plötzlich und ohne Erklärung auf Abstand gehen?“
„Nein“, versicherte sie und schüttelte den Kopf.
„Es macht nämlich keinen Spaß, dauernd befürchten zu müssen, dass ich etwas
Falsches gesagt oder getan habe, und nicht zu wissen, was es gewesen sein
könnte.“
„Ich werde versuchen, mich zu bessern“, versprach sie.
„Mehr verlange ich nicht.“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Darf ich dir jetzt
helfen, deine Jacke aufzuhängen, damit du dich entspannen kannst?“
„Ich glaube, das schaffe ich allein.“ Sie ging zum Garderobenständer.
„Eine unabhängige kleine Lady, was?“
„Eine unabhängige Lady“, verbesserte sie. „Und vergiss das nicht.“
„Glaub mir, das werde ich nicht“, murmelte er und ging in die Küche. „Hunger?“
„Nach dem ausgiebigen Frühstück gestehe ich es nur ungern zu, aber ja, ich bin
hungrig.“
„Das liegt an dem langen Spaziergang in der frischen Luft“, sagte Bill, während
er den Schinken, das Truthahnfleisch und den Käse aus dem Kühlschrank holte
und auf die Arbeitsfläche legte.
Zusammen machten sie Sandwichs und fügten noch Senf, Salatblätter und
Tomatenscheiben hinzu. Bill beschrieb Eloise, wo sie eine Tüte Chips finden
würde, und öffnete eine Flasche Weißwein.
Während sie alles auf den Couchtisch stellte, legte er Holz auf die Glut im Kamin,
und bald brannte wieder ein wärmendes Feuer.
„Es ist eine Schande, dass du nicht häufiger hier sein kannst“, fand Eloise,
nachdem sie sich das Sandwich hatte schmecken lassen. „So entspannt wie hier
habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt.“
„Ich weiß, was du meinst“, erwiderte Bill. „Ich würde gern öfter hierher flüchten,
aber dann stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn die Medien von meinem Versteck
erfahren. Irgendwie wäre es nicht besonders entspannend, wenn in der Zufahrt
Übertragungswagen parken.“
„Stimmt.“ Sie warf ihm einen fragenden Blick zu. „Natürlich könntest du nach
Ablauf deiner zweiten Amtszeit wieder ein normales, ungestörtes Leben führen.
Es sei denn, du willst für ein anderes politisches Amt kandidieren. Gouverneur,
zum Beispiel, oder Senator.“
„Du gehst davon aus, dass ich wieder gewählt werde“, wandte er ein. „Wer weiß,
vielleicht bin ich schon in meiner letzten Amtsperiode.“
„Nur, wenn du nicht wieder antrittst.“
„Danke für deine Zuversicht.“ Lächelnd hob er sein Weinglas.
„Willst du denn wieder kandidieren?“
Bill ließ sich mit der Antwort Zeit. „Ja, wenn nichts Gravierendes
dazwischenkommt, werde ich mich erneut um das Amt des Bürgermeisters
bewerben“, sagte er nach einer Weile und sah ihr dabei ins Gesicht.
Sie erwiderte seinen Blick mit einem Ausdruck, den er nicht deuten konnte, dann
wandte sie den Kopf und starrte in die Flammen.
„Und dann weiter in die Residenz des Gouverneurs, den Senat und irgendwann
ins Weiße Haus?“ fragte sie, und ihr unbeschwerter Tonfall klang nicht ganz echt.
„Das hängt von vielen Faktoren ab, vor allem davon, wie mein Leben in einigen
Jahren aussieht. Die Zukunft lässt sich nicht vorhersagen. Ich will nichts
ausschließen. Aber ich gebe zu, in letzter Zeit habe ich mir oft ausgemalt, wie
schön ein privateres, weniger politisches Leben wäre.“
Bill nahm ihr den leeren Teller ab und stellte ihn auf den Tisch, dann füllte er ihre
Weingläser, lehnte sich zurück und nahm ihre Hand.
„Aber was würdest du tun, wenn du dich ganz aus der Politik zurückziehst?“
fragte sie.
„Als Rechtsanwalt arbeiten oder an einer Universität lehren, vielleicht sogar eine
wohltätige Organisation leiten“, erwiderte er lächelnd.
„Was nicht so einfach ist, wie du es dir vorstellst. Jedenfalls nicht in New York
City, zumal in den letzten Monaten“, entgegnete Eloise. „Ich kann gern in allen
Einzelheiten erklären, mit was für Hürden wir zu kämpfen…“
„Leider haben wir dieses Thema für das ganze Wochenende zum Tabu erklärt“,
unterbrach er sie hastig.
„Dein Glück.“
„Großes Glück sogar“, bestätigte er und drückte ihre Hand. Zu seiner
Erleichterung erwiderte sie die zärtliche Geste. „Ich könnte auch mehr Zeit hier
verbringen.“
„Aber vielleicht würdest du dich langweilen.“
„Nicht, wenn mir die richtige Person Gesellschaft leistet und mich auf Trab hält.
Hättest du Lust, dich um die Stelle zu bewerben?“ Obwohl er die Frage lächelnd
und ohne jeden Ernst in der Stimme gestellt hatte, wartete er gespannt auf ihre
Antwort.
Eloise drehte ihr Weinglas zwischen den Fingern und betrachtete den Inhalt.
Schließlich warf sie ihm einen belustigten Blick zu. „Vielleicht“, sagte sie.
„Natürlich hängt es von den Umständen ab.“
„Natürlich.“
Kein definitives Ja, aber auch keine strikte Weigerung, auch nur darüber
nachzudenken, tröstete er sich, während er ihre Teller in die Küche brachte. „Soll
ich noch eine Flasche Wein aufmachen?“
„Gern“, erwiderte Eloise und beugte sich vor, um die Stiefel aufzuschnüren.
Er ersetzte die leere Flasche durch eine volle und ging zu dem antiken Schrank
neben dem Kamin. Er öffnete die Tür, und zum Vorschein kamen ein CDPlayer
und ein kleiner Fernseher. Er legte eine CD ein und drückte auf eine Taste.
Sanfte Klaviermusik perlte durch den Raum.
Eloise zog ihre Stiefel aus und legte die Füße auf den Couchtisch. „Die Musik
passt zu diesem Tag.“
„Finde ich auch“, erwiderte er und entledigte sich ebenfalls seiner Stiefel, um die
Füße neben ihre zu legen.
„Hört sich an, als hätte es wieder zu regnen begonnen.“
„Ist es nicht schön, vor einem flackernden Kamin zu sitzen und dem Prasseln an
den Scheiben zu lauschen?“
„Herrlich.“
Sie sah ihn an. Ihre Augen waren schläfrig, und er dachte daran, sie zu küssen.
Aber er hielt sich zurück, als ihre Mundwinkel leicht zuckten.
„Stimmt etwas nicht?“ fragte er besorgt.
„Ich frage mich…“
„Was?“
„Eigentlich geht es mich nichts an.“ Sie hob die Schultern und ließ sie wieder
sinken.
„Wenn es mit mir zu tun hat, möchte ich, dass du es mir sagst.“
„Na gut. Also ich frage mich, ob du oft mit… Marnie hier warst“, begann sie nach
einem kurzen Schweigen. „Marnie?“ wiederholte er überrascht. Seine zehnjährige Ehe mit Marnie Hartwell war etwas, worüber er so gut wie gar nicht sprach. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Eloise das Thema anschneiden würde, zumal Marnie und er sich vor sieben Jahren in Freundschaft getrennt hatten. Aber natürlich verstand er, warum sie ihn danach fragte. Schließlich hatte er selbst angedeutet, wie gern er auch in Zukunft mit Eloise herkommen würde. Es war ganz natürlich, dass sie wissen wollte, ob er wirklich mit seiner Vergangenheit abgeschlossen hatte. Darin ähnelte sie Marnie. Es war ihm nie gelungen, seine Exfrau davon zu überzeugen, dass er keine Gefühle mehr für Eloise Vale hatte. Denn er hatte immer gewusst, dass er Eloise niemals vergessen konnte. Irgendwann hatte Marnie sich nicht mehr damit abgefunden, dass er sie nicht so sehr liebte, wie sie es zu Recht erwartete, und sich von ihm scheiden lassen. Danach hatte sie das Glück, das sie verdiente, mit einem anderen Mann gefunden, und Bill freute sich für sie. „Ich wusste, dass es ein Fehler sein würde, dich nach ihr zu fragen“, murmelte Eloise. „Keineswegs“, widersprach er und legte einen Arm um ihre Schultern. „Deine Frage hat mich nur überrascht. Wie gesagt, es ist schön, jemanden zu haben, der mich auf Trab hält. Nein, Marnie war nicht oft hier. Das Haus war in ziemlich schlechtem Zustand. Ich wollte es selbst renovieren, daher habe ich nicht zugelassen, dass sie eine Firma damit beauftragt. Inzwischen ist mir klar, dass ich damals lieber allein herkommen wollte.“ „Aber wenn du sie genug geliebt hast, um sie zu heiraten, warum wolltest du ohne sie hier sein?“ Bill fragte sich, was sie über seine Ehe und die Scheidung wohl gehört hatte. Vermutlich wenig, denn Marnie hatte das Rampenlicht immer gescheut. Als er für das Amt des Bürgermeisters kandidiert hatte, war er seit längerem wieder Junggeselle gewesen, und niemand hatte sich für seine gescheiterte Ehe interessiert. Marnie würde immer einen Platz in seinem Herzen einnehmen, aber sie war nie die Liebe seines Lebens gewesen. „Als ich sie kennen lernte, war ich auf einem Tiefpunkt“, erzählte er. „Du hattest meinen Antrag abgelehnt und Walter geheiratet. Ich hatte mich zurückgezogen, und ein paar Freunde schleiften mich auf eine Party. Dort traf ich Marnie. Sie hatte gerade eine Beziehung hinter sich und fühlte sich einsam. Eins führte zum anderen, und wir schienen genügend Gemeinsamkeiten zu haben, um eine funktionierende Ehe aufzubauen. Sie war genauso ehrgeizig wie ich und hat an ihrer eigene Karriere im Verlagswesen gebastelt, also waren wir oft getrennt.“ Er lächelte wehmütig. „Aber irgendwann wollte sie mehr als einen hochkarätigen Job, ein Apartment in der Innenstadt und die Partys und Empfänge, auf die sie als Ehefrau eines aufstrebenden Politikers immerzu gehen musste. Sie wollte kündigen, ein Haus im Grünen kaufen und Kinder großziehen. Ich habe sie vertröstet und gesagt, es sei noch nicht der richtige Zeitpunkt. Irgendwann begriff sie, dass dieser Zeitpunkt niemals kommen würde. Als sie mir das ganz direkt sagte, stimmte ich ihr zu. Wir hatten uns einfach auseinander entwickelt, also beschlossen wir, uns scheiden zu lassen.“ „Tut es dir jetzt Leid, dass du nicht versucht hast, deine Ehe zu retten? Vielleicht, wenn ihr ein Kind bekommen hättet…“ Eloises Blick war traurig, als sie ihn ansah. „Nein, ein Kind hätte unsere Probleme nicht gelöst. Es hätte die Trennung nur viel schmerzhafter gemacht. Ich habe Marnie nicht so geliebt, wie sie es
verdiente. Ein Kind zu bekommen, wäre verantwortungslos gewesen.“ „Das tut mir so Leid, Bill“, flüsterte Eloise. „Mir auch. Es war ein Fehler, Marnie zu heiraten. Aber nachdem du mich abgewiesen hattest, glaubte ich, nichts mehr zu verlieren zu haben. Ich habe nie daran gedacht, was Marnie alles zu verlieren hatte, und das werde ich für immer bereuen. Aber es tröstet mich, dass sie jetzt einen wundervollen Ehemann, ein hübsches Haus in Connecticut und zwei, bald sogar drei, prächtige Kinder hat.“ „Seid ihr noch in Verbindung?“ „Nicht regelmäßig. Wir haben gemeinsame Freunde und . schicken uns Weihnachtskarten.“ Seufzend legte Eloise den Kopf an seine Schulter, aber Bill spürte, wie angespannt sie war. Hatte er zu viel über seine Ehe erzählt? Vielleicht war er zu ehrlich gewesen. „Als du Marnie geheiratet hast, dachte ich, dass ich dir doch nicht so viel bedeutet hatte“, gestand sie nach einer Weile. „Dass du einfach weiterleben wolltest, nachdem ich das Versprechen, das ich Walter gegeben hatte, nicht brechen konnte.“ „Mir blieb nichts anderes übrig“, entgegnete er ohne jeden Vorwurf. „Du hattest kein Hehl aus deinen Gefühlen gemacht. Genauer gesagt, aus deinem Mangel an Gefühlen für mich. Obwohl ich damals hätte schwören können, dass du mich ebenso sehr liebtest wie ich dich.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber dann, an dem Abend, als ich dir einen Antrag machte, gingst du davon, ohne dich noch mal umzusehen. Also sagte ich mir, dass ich mir alles nur eingebildet haben musste. Schließlich hatten wir uns nur ein paar Mal leidenschaftlich geküsst – sehr leidenschaftlich, aber es waren eben nur Küsse gewesen. Andererseits konnte ich nicht glauben, dass ich mich so sehr in dir getäuscht hatte. Tief in mir wusste ich, dass wir zusammengehörten. Und die Art, wie du mich in der letzten Woche geküsst hast, hat mich darin bestätigt. Deshalb…“ Er verstummte. „Ja?“ Ihre Augen waren groß. „Erste Frage: Warum hast du dir damals nicht eingestanden, was du für mich fühltest? Zweite Frage: Kannst du dich wenigstens jetzt dazu bekennen? Ich war ehrlich zu dir, Eloise. Ich habe alle deine Fragen beantwortet. Ich finde, du schuldest mir auch ein paar Antworten. Und Ehrlichkeit.“
10. KAPITEL Wortlos starrte Eloise in die züngelnden Flammen im Kamin und zupfte nervös an ihren Jeans. Sie war selbst schuld an dem Verlauf, den das Gespräch genommen hatte. Sie hatte von Bills Privatleben angefangen. Und er hatte alle ihre Fragen aufrichtig beantwortet. Dass er jetzt erwartete, sie solle ebenso ehrlich sein, konnte sie gut verstehen. Doch das hieß noch lange nicht, dass es ihr leicht fiel. In den vergangenen siebzehn Jahren hatte Eloise oft an Bill denken müssen, nicht nur voller Verlangen, sondern auch voller Reue. Aber jedes Mal hatte sie sich gezwungen, die Erinnerungen und die unweigerlich damit einhergehenden Gefühle zu unterdrücken. Sie hatte geglaubt, den Mann, dem sie die Ehe versprochen hatte, nicht enttäuschen zu dürfen. Und sie hatte ihr Bestes getan, um Walter Vale nicht merken zu lassen, dass sie ihn nur aus einer moralischen Verpflichtung heraus geheiratet hatte. Nicht, dass es ihr schwer gefallen war, ihm eine gute, liebende und treue Ehefrau zu sein – absolut nicht. Ihre Zuneigung zu ihm war tief und beständig gewesen. Wie Marnie, so hatte auch sie ihren zukünftigen Mann auf einem Tiefpunkt ihres Lebens kennen gelernt. Nach dem unerwarteten Tod erst ihrer Mutter, dann ihres Vaters hatte sie sich verloren und in einer sehr einsamen Welt gefühlt. Walter war zwanzig Jahre älter als sie gewesen und hatte eine äußerst schmerzhafte Lücke geschlossen. Er hatte sie wieder zum Lachen gebracht, hatte ihr Hoffnung geschenkt, und dafür war sie ihm zutiefst dankbar gewesen. Seine Küsse hatten sie nicht so erregt wie Bills Küsse, aber Leidenschaft konnte allzu flüchtig sein. Und vor siebzehn Jahren hatte Bills wahre Leidenschaft seiner politischen Karriere gegolten. Walter dagegen war schon ein erfolgreicher Bankier gewesen und hatte sich seiner Frau und Familie widmen können. Und genau diese liebevolle Zuwendung hatte Eloise damals mehr als alles andere gebraucht. Deshalb hatte sie sich für ihn entschieden und mit ihm die Familie gegründet, von der sie immer geträumt hatte. Und mit dem Aufbau von Manhattan Multiples hatte sie ihrem Leben dann eine eigenständige Richtung gegeben. Dafür konnte – und wollte – sie sich nicht bei Bill entschuldigen. Aber sie konnte es ihm erklären und versichern, dass sie ihm niemals hatte wehtun wollen. Er legte eine Hand über ihre rastlosen Finger. Eloise hob den Kopf und schaute in seine Augen. „Ist es so schwer, mit mir zu reden?“ fragte er leise. „Ich möchte so ehrlich sein, wie du es warst.“ „Und?“ Er drückte ihre Hand. „Was deine erste Frage angeht – du hast damals etwas in mir ausgelöst, was mir Angst machte. Weil ich es nicht kontrollieren konnte. Wir hatten uns gerade erst kennen gelernt, und ich war unsicher, wie lange unsere Verliebtheit anhalten würde. Außerdem war ich mit Walter verlobt, und ich liebte ihn. Zugegeben, meine Gefühle für ihn waren nicht so leidenschaftlich wie für dich, aber er erschien mir einfach verlässlicher.“ Eloise senkte den Blick. „Ich wusste nicht, wie sehr es dich treffen musste, als ich deinen Antrag ablehnte. Und ob eine Ehe zwischen uns von Dauer gewesen wäre…“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich schätze, das werden wir nie wissen.“ „Nein, das werden wir nicht“, bestätigte Bill mit einem traurigen Unterton. „Bitte denk nichts dass ich dich damals leichtfertig verlassen habe“, fuhr sie fort
und sah ihn an. „Deinen Heiratsantrag abzulehnen war das Schwerste, was ich je getan hatte. Aber Walter verdiente meine Loyalität ebenso sehr wie meine Liebe. Und er hat mir in all den Jahren unserer Ehe nie einen Grund gegeben, daran zu zweifeln.“ „Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich dir ein besserer Ehemann gewesen wäre, als ich es für Marnie war“, sagte Bill und schob seine Finger zwischen ihre. „Aber die Wahrheit ist, dass meine politischen Ambitionen für mich an absolut erster Stelle standen. Ich hatte kaum Zeit für etwas anderes. Ich hätte dich gern an meiner Seite gehabt, während ich meine Träume verwirklichte. Aber jetzt weiß ich, dass ich damals keine Rücksicht auf deine Träume genommen habe. Ich bin einfach davon ausgegangen, dass du sie automatisch an meine anpassen würdest.“ „Typisch Mann“, meinte sie mit einem halb spöttischen, halb traurigen Lächeln. „Aber danke, dass du so ehrlich bist.“ „Ich war vor siebzehn Jahren ein wenig egoistisch. War“, wiederholte er. „Jetzt bin ich anders, hoffe ich. Aber du hast meine zweite Frage noch nicht beantwortet.“ Er ließ seine Lippen von ihrer Schläfe zu einem Mundwinkel gleiten. „Falls du es vergessen hast, ich habe gefragt, ob du endlich zu dem stehen kannst, was du für mich fühlst.“ Der zarte Druck seiner Lippen an ihren weckte tiefes Verlangen in ihr, und sie wollte ihn an sich ziehen und richtig küssen. Doch sie zögerte, denn sie ahnte, dass ein Kuss nur das Vorspiel zu etwas Intensiverem, Intimerem sein würde. Und sie war nicht sicher, ob sie dazu bereit war. „Kein gutes Zeichen“, murmelte Bill nach einem Moment. Sie sah ihn an. „Warum sagst du das?“ fragte sie, obwohl sie die Antwort kannte. „Ich hatte auf eine spontanere, vielleicht sogar positive Reaktion gehofft. Ja, ich liebe dich wahnsinnig’, zum Beispiel. Aber offenbar musst du erst eine Weile darüber nachdenken, und das stimmt mich nicht gerade optimistisch.“ „Ich wünschte, es wäre so einfach“, gestand Eloise und hielt seinem forschenden Blick stand. „Wären wir ein ganz normales Paar ohne größere Verantwortung für andere Menschen…“ Sie zuckte mit den Schultern. „Doch das sind wir nicht.“ „Was ist mit der Verantwortung, die wir für uns selbst und einander haben? Haben wir beide nicht auch ein Recht darauf, glücklich zu sein? Aber vielleicht täusche ich mich ja. Vielleicht bin ich der Einzige, dem unsere Küsse nicht nur unter die Haut, sondern auch ans Herz gehen. Wenn es so ist, sag es bitte, bevor ich mich vollkommen lächerlich mache.“ Er ließ ihre Hand los und nahm den Arm von ihren Schultern. Dann rückte er von ihr ab und drehte sich zu ihr. Er wirkte nicht aufgebracht oder zornig, nur resigniert. Er hat Recht, dachte Eloise. Auch sie beide hatten ein wenig Glück verdient, und es gab niemanden, mit dem sie es lieber teilen wollte als mit Bill Harper. „Natürlich geht es mir so wie dir, wenn wir uns küssen.“ Behutsam umschloss sie sein Gesicht mit den Händen und küsste ihn auf die Lippen. „Und ich fühle es auch, wenn du einen Raum betrittst und unsere Blicke sich treffen. Ich fühle es, wenn du mir zulächelst, wenn wir zusammen lachen und sogar wenn du mich bei einer Diskussion anfunkelst. Hier und jetzt, Bill Harper, bin ich verrückt nach dir. Und ich entschuldige mich dafür, dass ich den Eindruck gemacht habe, als wäre ich es nicht.“ Er strahlte übers ganze Gesicht, und Eloise spürte seine Erleichterung. „Entschuldigung angenommen“, sagte er mit sanfter, tiefer Stimme und zog sie mit beiden Armen an sich. „Ich schlage vor, wir besiegeln unsere Versöhnung mit einem Kuss.“
„Das ist eine gute Idee“, erwiderte sie und begegnete seinem Mund mit ihren Lippen. Sie ließ ihrem Verlangen freien Lauf. Schließlich war sie eine erwachsene Frau mit normalen Wünschen und Bedürfnissen, und sie wollte, ja, sie brauchte Bill Harper auf eine Weise, die sie sich erst jetzt gestattete. Die Hemmungen, die sie gehabt hatte, fielen von ihr ab, und sie erwiderte seinen Kuss voller Leidenschaft. Als würde er spüren, dass die alten Grenzen zwischen ihnen gefallen waren, strich Bill mit den Händen über Eloises Körper und vertiefte den Kuss. Er schien sie überall berühren zu wollen, am Rücken, den Brüsten, den Hüften. Auch sie sehnte sich nach mehr und erkundete ihn, bis ihre Finger seinen Gürtel ertasteten. Ohne lange nachzudenken, zerrte sie daran, zog das TShirt aus den Jeans und legte die Hände an seine Haut. Bill hob den Kopf und brach den Kuss ab. Als sie murmelnd protestierte, strich er ihr übers Haar. „Ich dachte nur…“, begann er. „Ja?“ „Dass wir es oben bequemer hätten… in meinem Schlafzimmer… in meinem Bett“, antwortete er zwischen kurzen, schnellen Küssen. „Aber wir können uns auch Zeit lassen.“ „Nicht zu viel. Schließlich haben wir schon siebzehn Jahre gewartet.“ „Ganz meine Meinung, aber ich war nicht sicher, wie du es siehst.“ „Wie gesagt, ich bin verrückt nach dir, Bill Harper, und will es nicht länger unterdrücken.“ „Und ich nach dir, Eloise Vale. Und ich möchte nichts lieber, als es dir zeigen.“ Er stand auf und zog sie mit sich hoch. „Lass mich mit dir schlafen…“ „Ja, bitte…“ Hand in Hand stiegen sie die schmale Treppe hinauf. Die CD war längst zu Ende, und das einzige Geräusch war das Prasseln des Regens an den Scheiben. Der Himmel war noch grauer geworden, und ohne Licht erschien Bills Schlafzimmer Eloise wie eine dunkle, aber ungemein einladende Höhle. Er ließ ihre Hand los, um die kleine Lampe auf der altmodischen Kommode einzuschalten. Ihr Blick fiel auf den Kamin, in dem das Holz schon perfekt aufgeschichtet war. „Wie schön“, entfuhr es ihr, während er eine Streichholzschachtel vom Sims nahm. „Jetzt, da du hier bist, ist es noch schöner“, sagte er und machte ein Feuer, das schon Sekunden später den Raum in warmes Licht tauchte. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie oft ich mir vorgestellt habe, so mit dir zusammen zu sein“, fuhr er fort, während er aufstand, sie an sich zog und ihr in die Augen schaute. „Das habe ich auch oft getan, aber einen so perfekten Ort dafür habe ich mir nie ausgemalt“, gab sie zu und rieb ihre Wange an seiner Brust. „Du hast uns beide wohl im Clinch auf meinem Schreibtisch im Rathaus gesehen?“ „Eigentlich stehe ich mehr auf Fahrstühle“, scherzte sie und verpasste ihm einen spielerischen Rippenstoß. „Das werde ich mir merken, aber vorläufig…“ Mühelos hob er ihren anmutigen Körper auf die Arme, war mit wenigen Schritten an seinem Bett und legte sie vorsichtig auf die grünblaue Tagesdecke. „… will ich dich genau hier haben. Es sein denn, du hast Bedenken.“ „Niemals“, antwortete sie und breitete die Arme aus, als er sich zu ihr legte. „Ich bin genau dort, wo ich sein will.“
Er musterte sie, um sicher zu sein, dass sie ihre Worte ernst meinte, dann
stöhnte er auf, drückte sie an sich und küsste sie.
Von diesem Moment an aber ließ er sich Zeit, wechselte von Zärtlichkeit zu
Leidenschaft und wieder zurück, während er ihren Hals, die Wangen und die
Ohrläppchen liebkoste, bis sie lustvoll seufzte.
Ungeduldig zerrte sie an seiner Kleidung, öffnete mit zitternden Fingern seinen
Gürtel und zog das TShirt aus den Jeans. Mit beiden Handflächen strich sie über
seine heiße, nackte Haut, erst an seinem muskulösen Brustkorb, dann hinab zum
Bauch, bis er ihre Handgelenke umschloss und sie auf den Rücken drehte.
Lächelnd sah sie zu ihm hoch und zupfte an seinem Sweatshirt.
„Zieh es aus… bitte…“
„Noch nicht.“
Er hielt ihre Unterarme mit einer Hand fest, schob die andere unter ihr Hemd und
legte sie um eine Brust.
„He, das ist nicht fair“, murmelte sie und bog sich ihm entgegen. „Ich will dich
auch berühren.“
„Aber ich will dich beobachten, während ich dich berühre, und es würde mich zu
sehr ablenken.“
Wie um seine Worte zu unterstreichen, rieb er mit dem Daumen über ihre
Brustspitze, bis sie den Kopf nach hinten warf und leise aufstöhnte.
„Du bist so schön“, flüsterte er und ließ die Hand an ihr hinabwandern, um ihre
Jeans aufzuknöpfen.
Eloise hob ihm die Hüften entgegen, und er schob die Finger in ihren Slip.
Mit einem zufriedenen Schmunzeln zog er die Hand wieder fort und ließ ihre
Handgelenke los.
„Wie wäre es, wenn du alles ausziehst?“ schlug er vor und strich mit den Lippen
über ihren Hals.
„Wie wäre es, wenn du das auch tust?“ erwiderte sie und zog eine Augenbraue
hoch.
Er lachte. „Gut, abgemacht“, sagte er, bevor er sich auf die Bettkante setzte und
sich das Sweatshirt und das TShirt über den Kopf zog. Eloise richtete sich auf,
den Blick auf seinen nackten, vom Sommer noch leicht gebräunten Oberkörper
gerichtet.
„Was denn?“ fragte er lächelnd.
„Es ist nur… dich so zu sehen… macht mir eine Gänsehaut.“
„Komm her“, flüsterte er und zog sie zu sich. Sie kniete vor ihm hin, schlang die
Arme um seine Taille und kostete es aus, seine nackte Haut zu fühlen, als er sie
an sich presste. „Jetzt“, murmelte er und packte den Saum ihres Pullovers. „Weg
damit.“ Er streifte ihn ihr über den Kopf. „Und damit…“ Hastig knöpfte er ihr die
Bluse auf. „Und damit natürlich auch.“ Er schob einen Finger unter den Träger
ihres BHs.
„Okay, okay.“ Sie lachte und fühlte sich plötzlich jung, sexy und begehrenswert.
Gemeinsam zogen sie ihr auch den Rest aus. Danach wurde Bill plötzlich ernst. Er
schlug die Decke zurück, und Eloise schlüpfte darunter. Aus der Schublade seines
Nachttischs holte er eine Schachtel Kondome, doch obwohl er längst bereit war,
stellte er sie zur Seite.
„Ich komme mir vor wie ein Teenager“, gestand er und zog sie wieder an sich.
„Ich weiß, was du meinst. Ich fühle mich so jung und unbeschwert und bin so
froh, dass ich auf mein Herz gehört habe.“
„Ich auch.“
Bill küsste Eloise auf den Mund, ließ seine Lippen an ihrem Körper hinabwandern
und strich mit der Zunge über ihre Brustspitzen. Dann liebkoste er den
Bauchnabel und legte die Hände um ihre Hüften. Sie wand sich unter ihm und
verlor fast die Beherrschung, als er sich mit der Zunge noch weiter nach unten
tastete.
Als sie glaubte, es nicht länger aushalten zu können, richtete er sich auf, streifte
sich ein Kondom über und legte einen Arm um ihre Taille.
„Ich begehre dich so sehr, Eloise… dich und nur dich. Lass mich dich lieben…
jetzt… bitte…“
„Oh, ja… jetzt, bitte“, keuchte sie und öffnete ihm Körper und Seele.
Kraftvoll drang er in sie ein, doch dann wartete er, bis sie die Hüften anhob und
seinen Namen murmelte.
Nun begann Bill, sich in ihr zu bewegen, und bescherte ihnen beiden eine
Erfüllung, die Eloise die Tränen in die Augen trieb.
Nie hätte sie erwartet, sich jemals wieder so begehrt und geliebt zu fühlen. Und
obwohl sie wusste, dass es kein Versprechen für die Zukunft war, änderte es
nichts an der Tiefe ihres Erlebens.
Sie schmiegte sich an ihn, ihr Blick zuckte zum Feuer, sie glich ihre Atemzüge
seinen an und spürte, wie ein neues, ungekanntes Gefühl von Frieden sich in ihr
ausbreitete. Und obwohl ihr klar war, dass es nicht für immer anhalten würde,
wünschte sie, es würde nie vorübergehen.
11. KAPITEL Mit Eloise zu schlafen war alles gewesen, was Bill sich erträumt hatte – und mehr
als das. So viel mehr, dass er danach, als sie in seinen Armen lag, nicht sicher
war, was er zu ihr sagen sollte. Er wollte die gerade erst gewonnene Nähe
zwischen ihnen nicht gefährden, wozu vielleicht schon ein falsches Wort
ausgereicht hätte.
Zusammen in seinem Bett waren sie zwei normale Menschen, die einander
gezeigt hatten, wie wichtig sie sich waren. Sie hatten alle anderen Probleme und
Verantwortlichkeiten zur Seite geschoben und sich auf ihre eigenen Wünsche und
Bedürfnisse konzentriert. Und das Ergebnis war wundervoll gewesen.
Bill wusste jedoch, dass es unmöglich war, sich diesem Luxus auch über dieses
Wochenende hinaus hinzugeben. Sobald sie wieder in New York City waren,
würde die Realität mit ihren Zwängen und Anforderungen sie einholen und
auseinander bringen.
Er konnte von Eloise nicht erwarten, dass sie ihre Position aufgab. Und dasselbe
galt anders herum.
„Du bist schrecklich still“, murmelte sie plötzlich und schaute ihn fragend an. Im
Schein der Lampe und des Feuers waren ihre Augen groß, die Lippen leicht
geschwollen und das Haar zerzaust. Sie sah unglaublich sexy aus, aber auch so
verletzlich, dass es ihm ans Herz ging.
„Ich habe nur versucht, das hier… festzuhalten“, gestand er und zog sie noch
fester an sich. „Ich hatte Angst, dass ich es mir nur eingebildet habe, dass ich die
Augen aufmache und du… bist fort.“
„Oh, ich kann dir versichern, dass ich sehr real bin und nicht weggehen werde.
Jedenfalls nicht freiwillig.“ Schläfrig lächelte sie ihn an und küsste ihn auf den
Hals.
Er stöhnte leise auf. „Du glaubst nicht, wie glücklich mich das macht“, flüsterte
er, bevor er eine Hand um ihr Gesicht legte und sie so leidenschaftlich küsste,
dass sie sich an ihn schmiegte und ein Bein über seine Schenkel schob. Erneut
stieg das Verlangen in ihm auf, und er fühlte sich um Jahre jünger.
Trotzdem brach er den Kuss ab, um ihr übers Haar zu streichen und sich von ihr
zu lösen. „Bleib hier, ja? Ich bin gleich zurück.“
„Beeil dich“, bat sie ihn, als er aufstand und ins Bad ging. „Ohne dich ist es
einsam.“
Er wusch sich rasch und legte Holz nach. Draußen war es dunkel geworden, und
es regnete noch immer, aber er hätte sich nicht wohler fühlen können.
Eloise empfing ihn mit ausgebreiteten Armen. „Ich hoffe, du hast nicht gefroren.“
„Nur ein wenig, aber mir wird schon wieder warm.“
„Das ist gut…“
Sie drehte sich auf den Rücken und zog ihn auf sich.
„Ich sehne mich nach dir, Bill Harper“, murmelte sie, und es klang, als wäre sie
über ihre Offenheit erstaunt.
„Schon wieder?“ scherzte er. „Wie gierig Sie sind, Mrs. Vale.“
„Nur bei äußerst seltenen Gelegenheiten“, erwiderte sie und schob eine Hand
zwischen ihre Körper.
„Ich muss sagen, wenn dies eine davon ist, finde ich dein Timing…
hervorragend“, murmelte er atemlos.
„Könnte ich bitte etwas aus der Schachtel auf dem Nachttisch haben?“ fragte sie
lächelnd.
„Sehr gern sogar“, erwiderte er und rollte sich auf den Rücken.
Eloise beeilte sich, und schon bald war Bill ihr wehrlos, aber glücklich
ausgeliefert. In einer marineblauen Hose und einem elfenbeinfarbenen Pullover stand Eloise am frühen Sonntagnachmittag am Fenster und schaute auf den Strand hinaus. Nach einer Weile seufzte sie leise und nahm einen Schluck Kaffee aus dem grünen Becher, den sie in der Hand hielt. Sie konnte nicht glauben, wie schnell die Zeit vergangen war. Eigentlich wollte sie sich nicht damit abfinden, dass ihr Wochenende mit Bill schon zu Ende ging. Und das Wetter – der einzige Grund, weswegen sie noch eine Nacht im Cottage bleiben könnte – spielte nicht mit. Es schneite zwar, aber nicht heftig genug, um sie an der Rückfahrt in die Stadt zu hindern. Nicht, dass Eloise nicht zu Hause sein wollte, wenn ihre Söhne wiederkamen. Und eine weitere Nacht am Meer würde die unausweichliche Trennung von Bill nur hinausschieben. Dabei kam es ihr vor, als hätten sie gerade erst begonnen, einander richtig kennen zu lernen und vollkommen entspannt mit der neuen Intimität zwischen ihnen umzugehen. Mit Bill zu schlafen, die Nacht in seinem Bett zu verbringen und gemeinsam zu duschen, all das hatte sie Überwindung gekostet. Drei Jahre lang war sie allein gewesen. Die einzigen männlichen Eigenheiten, an die sie sich hatte gewöhnen müssen, waren die ihrer Söhne gewesen. Sie musste lächeln. Nein, Bills Eigenheiten störten sie nicht im Geringsten. Wenn er schnarchte, stieß sie ihn einfach nur an, bis er sich auf den Bauch drehte. Und sie ging eben erst dann zu ihm unter die Dusche, wenn er mit seiner Kneippkur, nämlich dem eiskalten Wasser, fertig war. Aber jetzt würden sie wieder ihrer eigenen Wege gehen müssen. Und sie würden auf der Hut sein müssen, wenn sie einander in der Öffentlichkeit begegneten. An diesem Vormittag hatten sie zum vierten Mal miteinander geschlafen und waren danach hastig aufgestanden. Sie hatten gefrühstückt, und anschließend hatte Bill sie nach oben geschickt, damit sie duschen und sich anziehen konnte, während er die Küche aufräumte. Jetzt dagegen war er oben, aber die Dusche lief bereits nicht mehr. Widerwillig trank Eloise ihren Kaffee aus und ging in die Küche, um den Geschirrspüler anzustellen. „Du siehst recht nachdenklich aus“, meinte Bill, als er kurz darauf nach unten kam. Seine Stimme war sanft und beruhigend, dennoch zuckte sie zusammen. „Du denkst doch nichts Unglückliches, oder?“ „Ich versuche, es nicht zu tun“, erwiderte sie ausweichend und rang sich ein mattes Lächeln ab. Noch blieben ihnen ein paar gemeinsame Stunden, und Eloise wollte sie ihnen nicht mit Sorgen verderben, für die sie morgen noch genug Zeit haben würden. Sie hatte Bill genug vertraut, um mit ihm intim zu sein, und er war ein aufmerksamer, liebevoller und ungemein zärtlicher Liebhaber gewesen. Bestimmt konnte sie sich darauf verlassen, dass er auch im Hinblick auf Manhattan Multiples so rücksichtsvoll und einfühlsam sein würde. „Ich muss zugeben, heute Morgen fühle ich mich auch nicht gerade großartig.“ Er stellte den Ascheimer auf den Kaminsims und griff nach der kleinen Schaufel, die am Ständer mit dem Kamingeschirr hing. „Dauernd zerbreche ich mir den Kopf darüber, wie wir beide für eine Woche oder sogar einen Monat untertauchen könnten. Aber dann fällt mir wieder ein, dass du drei Söhne hast und dass ich Bürgermeister von New York City bin. Vermutlich würden sie Suchtrupps nach uns ausschicken, noch bevor wir die Staatsgrenze überschritten haben.“
„Seltsam, dass du das sagst. Denn genau daran habe ich auch gedacht“, gab sie zu und ging zu ihm, um sich ebenfalls vor dem Kamin niederzuknien. „Es war ein wunderschönes Wochenende. Mit dir hier zu sein war wie ein Traum, der wahr geworden ist. Aber wie alle Träume scheint er zu enden, bevor er richtig begonnen hat.“ „Das finde ich auch. Wir hatten nicht mal zwei ganze Tage zusammen“, murmelte Bill betrübt. „Und wer weiß, wann wir wieder dazu kommen, ein solches Wochenende zu verbringen? Obwohl ich daran gedacht habe, zu Thanksgiving für ein paar Tage mit den Jungs herzufahren.“ Er warf ihr einen hoffnungsvollen Blick zu. „Zu Thanksgiving?“ Die finanziellen Sorgen ihres Beratungszentrums und die Beziehung zu Bill hatten sie so sehr in Anspruch genommen, dass sie den bevorstehenden Feiertag völlig vergessen hatte. „Meistens mache ich einen großen Truthahn“, erzählte sie. „Wir essen spät, damit wir uns die Parade ansehen können.“ „Na, dann fahre ich auf einem der Wagen mit“, erwiderte er lächelnd, bevor er sich wieder darauf konzentrierte, den Kamin sauber zu machen. Eloise erwiderte sein Lächeln. „Und was machst du danach? Hast du schon Pläne?“ „Nein, keine Pläne. Und falls du daran denkst, mich zum Essen einzuladen, betrachte deine Einladung als angenommen.“ , Sie war sicher gewesen, dass er schon etwas vorhatte. Aber Thanksgiving war ein Festtag, den man mit seiner Familie verbrachte. Sie hatte ihre Söhne, er hatte niemanden, denn wie sie war er Einzelkind, und seine Eltern waren schon vor Jahren gestorben. „Ja“, bestätigte sie lachend, „ich wollte dich gerade einladen. Wir würden uns sehr freuen, unseren Truthahn mit dir zu teilen.“ „Dann komme ich gern.“ Er beugte sich vor und küsste sie auf den Mund, als würde er die Abmachung besiegeln wollen. Dann stand er auf und streckte die Hand aus, um ihr aufzuhelfen. „Ich entsorge schnell die Asche, dann können wir aufbrechen. Hast du schon gepackt und bist bereit?“ „Gepackt ja, bereit nein. Ich bin gern mit dir hier.“ „Wir kommen wieder. Wenn nicht zu Thanksgiving, dann ein anderes Mal. Denn ich bin auch gern mit dir hier.“ Als Bill sie dieses Mal küsste, war daran nichts Flüchtiges. Er ließ sich Zeit, und seine Zärtlichkeit war wie ein Versprechen für die Zukunft. Als er sich wieder abwandte und nach dem Ascheimer griff, musste sie sich zwingen, ihn loszulassen. Sie würden das Cottage nie verlassen und erst recht nicht nach New York City zurückfahren, wenn sie sich nicht zusammenriss. Aber schließlich waren sie reif und erwachsen, keine verantwortungslosen Teenager. Obwohl Eloise sich eingestehen musste, dass sie sich in Bills Armen nicht wie die über vierzig Jahre alte Frau fühlte, die sie war. Und sie war überzeugt, dass sie keinen besseren Partner finden würde als Bill Harper, ob er nun der Bürgermeister von New York City war oder nicht. Während er kontrollierte, ob die Terrassentür verschlossen und das Feuer im Kamin erloschen war, goss sie den restlichen Kaffee in eine Thermoskanne, um ihn mit auf die Fahrt zu nehmen. „Können wir?“ fragte Bill. „Ja“, erwiderte sie und lächelte tapfer. Es schneite, als sie sich an die Rückfahrt in die Stadt machten. Doch wie Eloise
vorhergesehen hatte, bereitete ihnen das Wetter keine Probleme. Selbst als
wenig später eisiger Regen einsetzte, brauchte Bill nur langsamer zu fahren.
Die Söhne von Eloise würden erst zwischen sechs und sieben eintreffen. Als Bill
vor ihrem Apartmenthaus hielt, war es erst vier, und da sie sich noch nicht von
ihm trennen wollte, lud sie ihn ein, für eine Weile mit nach oben zu kommen.
„Gern“, erwiderte er und legte die städtische Parkplakette aufs Armaturenbrett,
während der Portier mit einem Regenschirm zur Beifahrertür eilte.
In ihrer Wohnung nahm Bill ihre Hand, zog sie an sich und küsste sie voller
Leidenschaft.
Sie hatte nicht vorgehabt, ihn ins Schlafzimmer zu führen… bis zu dem Kuss. Und
auch auf die Idee, sich auszuziehen und mit ihm aufs Bett zu fallen, war sie nicht
gekommen… bis zu dem Kuss.
Natürlich war sie nicht süchtig danach, mit Bill Harper zu schlafen, nach der Lust,
die er ihr bereitete. Es war nur, dass sie so… gut zusammen waren. Und wer
wusste schon, wann sich wieder eine Gelegenheit ergeben würde?
Hinterher schmiegte Eloise sich atemlos in seine Arme.
„Das war… unglaublich“, murmelte Bill. „Du bist unglaublich… die unglaublichste
Frau, der ich je begegnet bin.“
„Ehrlich; ich wollte das hier eigentlich gar nicht“, erwiderte sie schmunzelnd.
„Nun, Liebling, dann bin ich gespannt, wie es wird, wenn du es willst“, gab er
zurück. „Obwohl ich dann wahrscheinlich Sauerstoff brauche, bevor du mit mir
fertig bist.“
„Nein, nein“, protestierte sie. „Ich habe dich nicht hierher eingeladen, um dich zu
verführen, das wollte ich sagen.“
„Dann ist es ein Glück, dass ich dich verführt habe, nicht wahr? Stell dir vor, was
wir verpasst hätten.“ Er küsste ihre Schulter und den Hals, als würde er sie daran
erinnern wollen, was sie gerade erlebt hatten.
„Du sollst nur nicht denken, dass ich… unersättlich bin“, flüsterte sie.
Er lachte leise und tief, und sie lächelte verlegen.
„Wäre das so schlimm?“ fragte er und legte einen Finger unter ihr Kinn, bis sie
ihn ansah.
„Nein, wohl nicht.“
„Ich gelobe feierlich, dass es unser Geheimnis bleiben wird“, erwiderte er
zufrieden. „Aber ich werde nicht vergessen, dass sich unter den
maßgeschneiderten Kostümen, den flachen Schuhen und den Perlen, die du
immer trägst, eine sehr aufregende kleine Lady verbirgt.“
„Ich freue mich, dass du mich aufregend findest, aber gegen ,klein’ lege ich auch
dieses Mal Widerspruch ein.“
„Oh, Eloise… du hast ja keine Ahnung, wie sehr…“
Es fiel ihnen schwer, sich anzuziehen und ins Wohnzimmer zurückzukehren.
Eloise stellte den CDPlayer an, schaltete den Gasbrenner im Kamin ein und
sagte Bill, wo er in der Küche Wein, Gläser und den Korkenzieher finden würde.
„Was steht für morgen auf deinem Terminkalender?“ fragte er, nachdem sie es
sich auf der Couch bequem gemacht hatten.
„Ich bin nicht sicher“, wich sie aus, weil sie jedes heikle Thema vermeiden wollte.
„Meistens haben wir am Montagmorgen eine Personalbesprechung. Und du?“
„Ebenso.“ Er drehte sein Glas, und der rubinrote Wein funkelte im Schein des
Kamins. Bill starrte in die Flammen, als würde er wissen, was für ein gefährliches
Thema er angeschnitten hatte.
Die Stimmung zwischen ihnen war friedlich und harmonisch, bis sie über ihre
Arbeit sprachen. Erst dann war der Konflikt zwischen seiner Politik und ihren
Idealen nicht mehr zu ignorieren. Ebenso wenig wie die Folgen, die dieser Streit
für ihre gemeinsame Zukunft haben konnte. Auch wenn wir so tun, wir sind nun mal kein seit langem verheiratetes Paar, dachte Eloise. Was immer in ihrem Terminkalender stand, es konnte Bills Planung durcheinander bringen – und umgekehrt. Und war das eine Grundlage, auf der sie eine dauerhafte Beziehung aufbauen konnten? Wohl kaum, dachte sie traurig, während das Schweigen zwischen ihnen immer drückender wurde. „Na ja…“, begann Bill nach einer Weile. Er leerte sein Glas mit einem einzigen Schluck und stellte es ab. „Eigentlich wollte ich noch bleiben, um deine Söhne zu begrüßen, aber vielleicht sollte ich jetzt lieber gehen.“ Eloise wusste, dass Carl, John und Henry sich freuen würden, ihn anzutreffen. Sie könnte Pizza oder etwas Chinesisches bestellten, und sie beide würden sich beim Essen erzählen lassen, was die drei in Washington D.C. erlebt hatten. Aber sie brachte kein Wort heraus, als er aufstand und die Hände in die Taschen seiner Jeans schob. Stattdessen erhob sie sich ebenfalls und holte seinen Mantel von der Garderobe. So gern sie mit ihm zusammen war, hier in New York City waren ihre Arbeit und der Konflikt zwischen ihnen einfach zu nahe. „Das Wochenende war wirklich wunderschön“, sagte sie, als er sich anzog. „Für mich auch, Eloise“, erwiderte er, während er Handschuhe und Schlüssel herausnahm. „Das freut mich.“ Sie wollte ihm zum Abschied die Hand geben, doch er ließ eine so unpersönliche Geste nicht zu. Sein Aufstöhnen klang fast verzweifelt, als er Eloise an sich zog und sie voller Verlangen küsste. Eloise versuchte, sich dagegen zu wehren, schaffte es jedoch nicht. Und dann, als sie ihre Entscheidung, ihn fortzuschicken, zu bereuen begann, ließ er sie los, drehte sich auf dem Absatz um und ging wortlos hinaus. Na schön, dachte sie und presste die Fingerspitzen auf ihre geschwollenen Lippen. Geh ruhig. Ich werde dich nicht zurückhalten. Aber genau das hätte sie am liebsten getan, als sie in der plötzlichen Stille ihres Apartments stand. Auch allein war sie hier mal glücklich gewesen, aber jetzt sehnte sie sich nur nach dem, was sie höchstwahrscheinlich nie bekommen würde. So sehr sie es sich auch wünschte, eine gemeinsame Zukunft würde es mit Bill Harper wohl nicht geben. Sie waren kein normales Paar mit normalen Problemen. Er war der Bürgermeister von New York City, sie eine prominente Persönlichkeit des gesellschaftlichen Lebens, und sie führten eine heftige öffentliche Auseinandersetzung. Sie hatten vollkommen unterschiedliche Ziele, die nicht so leicht miteinander zu vereinbaren waren. Aber er hätte die Macht, und wenn er die gegen sie einsetzte, würde sie ihm niemals wieder vertrauen können.
12. KAPITEL Am Montagvormittag nach dem Wochenende mit Eloise fiel es Bill ungeheuer schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Das lag zum größten Teil am Schlafmangel. Die Erinnerungen an das, was sie zusammen erlebt hatten, waren einfach zu frisch, um sie zu unterdrücken – selbst wenn er es während der langen, rastlosen Nacht gewollt hätte. Aber das hatte er nicht. Er hatte jeden Moment erneut durchlebt und vor seinem geistigen Auge ablaufen lassen. Alles. Wie sie geredet, einen Spaziergang am Strand gemacht und die schlichten Mahlzeiten geteilt hatten. Und sein Bett. Selbst jetzt raubte ihm die Erinnerung daran noch den Atem. Sie hatten sämtliche Hemmungen abgelegt und nichts voreinander verheimlicht. Sie hatten gegeben und genommen und auf eine Weise zueinander gefunden, die bewies, dass nicht nur ihre Herzen, sondern auch ihre Seelen miteinander verschmolzen waren. Aber dann hatte die harte Realität sich zwischen sie gedrängt. Es musste doch einen Weg geben, den Graben, der sie politisch trennte, zu überwinden und einen Kompromiss zu finden. Einen, der es ihnen erlaubte, an ihren Überzeugungen festzuhalten und trotzdem als Paar zusammen zu sein. Deshalb hatte er Wally Phillips beauftragt, Unterlagen darüber zusammenzustellen, welche wohltätigen Organisationen von den beabsichtigten Streichungen am meisten betroffen sein und wie viele Menschen unter ihrer möglichen Auflösung leiden würden. Mittags waren die ersten Akten auf seinem Schreibtisch aufgetaucht, und seitdem wurden die Stapel immer höher. Nach dem Gespräch mit Frances Wegner war er bereit, sich an die Arbeit zu machen. Aber vorher erkundigte er sich telefonisch, ob die Blumen, die er für Eloise bestellt hatte, auch geliefert worden waren. Die Floristin versicherte ihm, dass die Kristallschale mit gelben Rosen und winzigen weißen Nelken bestimmt schon überbracht worden war. Sie versprach, ihn anzurufen, sobald der Fahrer von seiner Tour zurück wäre. Würde Eloise die Geste trotz der handschriftlichen Karte, die er mitgeschickt hatte, unpersönlich finden? Vielleicht hätte er sich doch lieber bei ihr melden sollen. Glaubte sie, dass er nach siebzehn Jahren endlich das von ihr bekommen hatte, was er wollte, und jetzt weitermachte, als wäre nichts geschehen? Bill stand auf, ging ans Fenster und starrte auf den grauen Himmel. Er kam sich vor, als würde er sich in einem Minenfeld befinden, in dem jeder falsche Schritt ihn jäh und für immer aus Eloises Leben befördern konnte. „So, Sir, hier sind die letzten Berichte über die Organisationen, die von den Kürzungen betroffen wären.“ Ohne anzuklopfen, hatte sein Stabschef das Büro betreten und deponierte einen Stapel Akten auf der letzten freien Fläche auf dem Schreibtisch. „Ich habe sie sortiert.“ Wally tippte auf einen Stapel. „Das sind die, die in Schwierigkeiten geratene Familien betreuen.“ Er legte eine Hand auf einen anderen Stapel. „Hier sind die, die in der Suchtberatung aktiv sind. Suppenküchen und Nahrungsmittelprogramme finden sie ganz links, diverse andere Gruppen rechts. Sind Sie sicher, dass sie alles allein durchgehen wollen? Ich könnte ein paar Mitarbeiter darum bitten.“ „Ich weiß, aber ich bin derjenige, der entscheiden muss“, lehnte Bill ab. „Ich will selbst herausfinden, wen die Streichungen am härtesten treffen und wen ich schonen muss.“
„Sie wollen die Sparmaßnahmen spätestens in der ersten Dezemberwoche bekannt geben“, erinnerte der Stabschef ihn. „Keine Sorge, Wally. Ich habe vor, mein Versprechen zu halten. Also lassen Sie mich jetzt anfangen, okay.“ „Natürlich, Sir.“ „Und keine Anrufe.“ „Ausnahmslos?“ „Sie können Mrs. Vale durchstellen.“ „Das hätte ich auch so getan.“ Wally warf ihm ein wissendes Lächeln zu. „Die notwendigen Informationen über Manhattan Multiples finden Sie in dem Stapel auf der rechten Seite.“ Bill murmelte ein nicht druckreifes Wort, und der Stabschef zog sich hastig zurück. Es wunderte Bill nicht, dass sein engster Mitarbeiter ahnte, was hinter dem plötzlichen Interesse seines Chefs an den betroffenen Organisationen steckte. Aber Wally musste auch wissen, dass er als Bürgermeister fair und gerecht sein wollte. Und nicht nur als Bürgermeister. Ja, Eloise war ihm wichtig, und wenn er Manhattan Multiples und anderen Organisationen helfen konnte, trotz der Kürzungen zu überleben, dann würde er es tun. Aber er würde ihr Beratungszentrum nicht bevorzugen, nur um ihr einen Gefallen zu tun. Das würde allem widersprechen, wofür er als Politiker je gekämpft hatte. Was immer Eloise Vale ihm bedeutete, er wollte auch weiterhin an jedem Morgen in den Spiegel schauen können. Denn wenn er das nicht konnte, wäre er für niemanden mehr gut – auch für sie nicht. „Eine Lieferung für Mrs. Eloise Vale“, verkündete Allison. Ihre Stimme klang aufgeregt und fröhlich, als sie an diesem trüben Montagnachmittag das Büro ihrer Chefin betrat. Unsanft aus ihren Gedanken gerissen, wirbelte Eloise auf dem Drehstuhl herum und warf ihrer Assistentin einen ärgerlichen Blick zu. Sie hatte den größten Teil des Tages damit verbracht, missmutig auf die grauen Wolken und den Nieselregen zu starren. Normalerweise wäre sie für jede Ablenkung dankbar gewesen, aber irgendwie hatte sie sich in ihrem Selbstmitleid verloren. „Oh, Entschuldigung…“ Allison blieb mitten im Gehen stehen. „Ich wollte Sie nicht stören, aber diese Blumen sind gerade abgegeben worden, und ich dachte mir, Sie würden sie vielleicht sofort haben wollen. Ich weiß, ich hätte erst über die Sprechanlage…“ „Allison, meine Liebe, Sie müssen sich nicht entschuldigen“, unterbrach Eloise sie lächelnd. „Ich weiß, Sie sind schon den ganzen Tag in Gedanken“, fuhr ihre Assistentin fort. „Ja, das stimmt wohl.“ Eloise wedelte mit der Hand. „Aber das ist noch lange kein Grund, meine schlechte Laune an…“ Ihr Blick fiel auf die kleine Kristallschale voller gelber Rosen und weißer Nelken in Allisons Hand. Sie wusste sofort, wer ihr dieses wunderschöne Arrangement geschickt hatte. Eloises Lächeln verblasste, und ihre Wangen wurden warm. Niemand wusste, dass sie das Wochenende mit Bill Harper verbracht hatte, nicht mal ihre Söhne. Und erst recht wusste keiner, wie sehr ihre Beziehung zu ihm sich in den letzten zwei Tagen verändert hatte. Aber dass er ihr Blumen schickte, konnte leicht Verdacht erregen.
Der Umschlag in Allisons Hand war allerdings verschlossen. Außer ihr selbst und der hoffentlich diskreten Floristin konnte niemand wissen, wessen Name auf der Karte stand. Plötzlich und unerwartet brannten Tränen in ihren Augen. Sie war so sicher gewesen, dass Bill am Abend zuvor ihre Botschaft verstanden hatte. So, wie sie sich benommen hatte, hätte es sie nicht überrascht, wenn, er jeden Kontakt zu ihr abgebrochen hätte. Erst hatte sie sich im Bett an ihn geschmiegt, im nächsten Moment – bildlich gesprochen – hatte sie ihm kühl und abweisend die Hand entgegengestreckt. Und damit hatte sie nicht nur ihn verleugnet, sondern alles, was sie miteinander geteilt hatten. Jetzt blieb ihr nur der Kuss, den er ihr an der Wohnungstür gegeben hatte. Ein Kuss, der nach Abschied und Trennung geschmeckt hatte. Sie hatte erwartet, dass Bill sie am Sonntagabend anrufen würde, konnte jedoch verstehen, dass er es nicht getan hatte. Jedes Mal, wenn Allison einen Anrufer ankündigte, war Eloise zusammengezuckt und hatte gehofft, dass Bill endlich sein Schweigen brechen würde. Aber schließlich hatte sie sich damit abgefunden, dass sie ihn ein Mal zu oft zurückgewiesen hatte. „Soll ich die Blumen auf Ihren Schreibtisch stellen?“ fragte Allison zögernd. „Ja, bitte.“ Eloise schob Papierstapel zur Seite, um Platz zu schaffen. „Es gibt auch eine Karte“, sagte ihre Assistentin und legte einen Umschlag neben die Kristallschale. „Danke, Allison.“ Eloise holte tief Luft und rang sich ein aufmunterndes Lächeln ab. „Und ich entschuldige mich dafür, dass ich so kurz angebunden war.“ „Das verstehe ich doch. Es muss schwer sein, das nächste Jahr zu planen, wenn man nicht weiß, wie sehr wir von den Streichungen betroffen sein werden.“ „Es ist nahezu unmöglich“, gab Eloise zu. „Wie es im Moment aussieht, kann ich die Miete und die Gehälter zahlen und etwa die Hälfte von dem fortführen, was wir für unsere . Klientinnen tun. Der Mietvertrag läuft im März aus. Ich hoffe, dass ich bis dahin kostengünstigere Räume für uns finde. Notfalls werde ich Manhattan Multiples von meiner Wohnung aus führen. Dort haben wir vor dreizehn Jahren angefangen, und es wäre immer noch besser, als ganz aufzuhören.“ „Manhattan Multiples ist mehr als ein Ort, Eloise. Das Zentrum besteht aus Menschen. Wir alle wissen, wie viel Energie Sie hineingesteckt haben, und stehen hundertprozentig hinter Ihnen. Wir alle haben Wohnungen, die wir nutzen können, um auch weiterhin für die Frauen da zu sein.“ Eloise ließ sich von der Zuversicht ihrer Assistentin anstecken. „Wenn wir alle zusammenhalten, werden wir es schaffen.“ „So denken wir alle, Eloise. Wir haben schon so viel durchgemacht, und was immer Bürgermeister Harper uns zumutet, wir werden auch das überleben. Wir sind Frauen, und wir sind stark“, erklärte Allison stolz. „Das sind wir“, bestätigte Eloise. „So, jetzt sollte ich aber wieder an die Arbeit gehen. Ich muss noch jede Menge Briefe an mögliche Spendengeber schreiben.“ Als sie wieder allein war, zog Eloise den elfenbeinfarbenen Umschlag mit einer Fingerspitze zu sich heran. Es gab keine Garantie, dass auf Bills Karte das stand, was sie lesen wollte. Vielleicht hatte er die Blumen nur geschickt, um das Ende ihrer kurzen Beziehung zu besiegeln. Schließlich waren es keine roten Rosen – das Symbol der Liebe. Aber standen gelbe Rosen nicht für die Hoffnung?
Langsam öffnete Eloise den Umschlag und nahm die schlichte Karte heraus. In
Bills eigenwilliger Handschrift und mit dicker schwarzer Tinte standen wenige,
aber sehr bedeutungsvolle Worte.
„Damals, jetzt und für immer – Bill“, las sie murmelnd.
Erneut kamen Eloise die Tränen, als eine gewaltige Erleichterung in ihr aufstieg.
Erst in diesem Moment wurde ihr bewusst, wie sehr sie befürchtet hatte, ihn
verloren zu haben.
Wenn sie ihm so wichtig war, wie sein kurzer Gruß zu verraten schien, bestand
Hoffnung, dass sie ihn doch noch davon überzeugte, wie nötig Manhattan
Multiples die städtischen Zuschüsse brauchte. Sie brauchte ihn nur anzurufen und
ihm zu sagen, dass sie seine Nachricht bekommen hatte und sich darüber freute.
Hastig suchte sie nach der Durchwahlnummer, die sie ohne Umwege mit Bills
Büro im Rathaus verbinden würde. Eloise wählte die Nummer selbst, damit
Allison nicht auf die Idee kam, die Kristallschale mit dem Bürgermeister in
Zusammenhang zu bringen. Außerdem war die Chance, Bill zu erreichen, größer,
wenn sie sich nicht über zwei Vorzimmer mit ihm verbinden ließ.
„Bürgermeister Harpers Büro. Ich bin Wally Phillips. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Eloise brauchte einen Moment, um sich von der Überraschung zu erholen. Aber
natürlich musste jemand den Anruf entgegennehmen, wenn Bill auf einer
anderen Leitung telefonierte oder beschäftigt war.
„Hallo, Mr. Phillips. Hier ist Eloise Vale. Könnte ich Bürgermeister Harper
sprechen, wenn er nicht gerade zu tun hat?“ fragte sie höflich, aber
selbstbewusst.
„Natürlich, Mrs. Vale. Wenn Sie einen Moment warten wollen, sage ich ihm, dass
Sie in der Leitung sind.“
Es dauerte keine Minute, bis Bills tiefe Stimme an ihr Ohr drang. Er klang erfreut,
und ihr Herz schlug schneller.
„Eloise! Hallo. Wie schön, von dir zu hören“, begann er. Dann zögerte er, als
würde er sich vor dem Grund ihres Anrufs fürchten. „Ich habe den ganzen Tag an
dich gedacht“, gestand er schließlich.
„Ich auch an dich, Bill.“
„Gute Gedanken, hoffe ich.“
„Überwiegend ja“, erwiderte sie und fragte sich, ob er das Lächeln in ihrer
Stimme wohl hören konnte. „Ich habe gerade deine Blumenschale bekommen.
Sie sind wunderschön.
Vielen Dank.“
„Ich war mir nicht sicher, ob du gelbe Rosen magst, aber ich dachte mir, sie
bringen auf jeden Fall etwas Farbe in deinen Tag. Zumal es draußen noch immer
so bedeckt und grau ist.“
„Ich liebe gelbe Rosen, und du hast Recht – sie hellen meinen Tag auf. In mehr
als nur einer Hinsicht“, gab sie zu.
„Hast du meine Karte erhalten?“ fragte er.
„Ja, habe ich. Und ich danke dir für die Nachricht.“
„Sie ist ernst gemeint, Eloise. Ich hoffe, du kannst es glauben. Wir sind nicht in
allem einer Meinung, aber können wir uns wenigstens darauf einigen, dass wir
einander etwas bedeuten? Und kannst du mir glauben, dass nichts, was ich getan
habe oder tun werde, dir absichtlich wehtun soll?“
„Ich glaube dir, Bill. Und ich entschuldige mich für mein Verhalten gestern
Abend. Ich habe genau das getan, was ich nie wieder tun wollte. Ich habe mich
ohne jede Erklärung von dir zurückgezogen und dir das Gefühl gegeben, dass du
etwas falsch gemacht hast. Dabei hast du mich nur nach meinen Plänen für heute
gefragt.“
„Aber genau das war vermutlich nicht gerade geschickt von mir“, erwiderte er
schmunzelnd. „Ich habe nicht daran gedacht, dass du einen Großteil deiner
Arbeitszeit darauf verwendest, mich zu bekämpfen.“
„Nicht dich persönlich, sondern deine Politik“, versicherte sie ihm. „Und auch nur
einen gewissen Teil davon.“
„Das verstehe ich gut“, sagte er. „Und ich hoffe, du weißt, dass meine Sparpläne
nicht dir persönlich gelten.“
„Das weiß ich, aber sie zwingen mich, einige sehr schmerzhafte Entscheidungen
zu treffen.“
„Bitte tu noch nichts Drastisches, okay?“
„Okay“, stimmte sie nach kurzem Zögern zu.
„Es gibt noch keine konkreten Beschlüsse, was die Einsparungen angeht. Die
werde ich erst nach Thanksgiving bekannt geben. Mir sind da ein paar Ideen
gekommen, die vielleicht zu einer Lösung führen, mit der wir beide leben
können. Natürlich kann ich dir nichts versprechen, Eloise. Aber wie immer ich
mich entscheide, ich werde versuchen, so fair wie irgend möglich zu sein.
Glaubst du mir auch das?“
„Ja“, antwortete sie und war plötzlich so optimistisch wie seit fast einem Jahr
nicht mehr.
Im Grunde hatte sie Bill immer vertraut. Nur wenn die Angst um ihre geliebte
Organisation überhand nahm, ließ sie das eine Enttäuschung spüren, zu der er
ihr bis jetzt keinen Anlass gegeben hatte.
„Erinnerst du dich an unseren Waffenstillstand am Wochenende?“ fragte er.
„Sehr gut sogar. Und ich habe ihn genossen.“
„Ich auch.“ Er schmunzelte, und obwohl sie in ihrem Büro allein war, errötete sie.
„Besteht die Chance, dass wir in nächster Zeit wieder einen Waffenstillstand
schließen?“
„Eine sehr große sogar, wenn du es möchtest“, versicherte sie und versuchte gar
nicht erst, ihre Begeisterung vor ihm zu verbergen.
„Das möchte ich sehr gern, und zwar mehr als ein Mal.“
„Dann ist unser Waffenstillstand ab sofort wieder in Kraft“, erwiderte sie. „Was
möchtest du noch tun?“
„Dich so bald wie möglich wieder sehen.“
„Du bist an Thanksgiving zum Essen eingeladen“, erinnerte sie ihn.
„Bis dahin sind es fast zwei Wochen. Können wir uns nicht vorher treffen? Wir
könnten mit deinen Söhnen essen und ins Kino gehen“, schlug er vor.
„Kannst du das denn, ohne von deinen treuen Anhängern angegriffen zu
werden?“ scherzte sie.
„Natürlich. Wie wäre es mit Samstagabend?“ schlug er kurz entschlossen vor.
„Ich habe Zeit. Und die Jungs sicher auch.“
„Also haben wir eine feste Verabredung?“
„Einverstanden.“ Eloise strahlte über das ganze Gesicht.
„Ich rufe dich an, dann können wir die Einzelheiten besprechen.“
„Klingt gut.“
„Heute Abend?“
„Ja, bitte…“
„Bis dann, Eloise.“
„Bis dann, Bill.“
Sie hatte gerade aufgelegt und lächelte noch immer, als Allison und Josie
hereinkamen. Beide Frauen hatten ernste, besorgte, wenn nicht gar ängstliche
Gesichter.
„Was ist los?“ Eloise stand auf. Weder Allison noch Josie war jemand, der aus
einer Mücke einen Elefanten machte. Die beiden mussten einen gewichtigen
Grund haben.
„Wir haben gerade eine Eilsendung bekommen. Sie ist an uns drei – Sie, Josie
und mich – adressiert“, erklärte Allison. „Wie alle Post für Sie habe ich sie
aufgemacht. Sie enthält drei Umschläge wie diesen, einen für jeden von uns.“
Allison trat an den Schreibtisch und gab Eloise einen Umschlag, auf dem in
Druckbuchstaben ihr Name stand.
„Wir haben unsere geöffnet, und die Briefe waren identisch“, berichtete Josie.
„Also bedroht unser geisteskranker Briefschreiber jetzt auch Sie beide“,
murmelte Eloise wütend, während sie den Umschlag aufmachte und einen auf der
Schreibmaschine verfassten Brief herauszog.
Wenn Ihr reichen Zicken nicht endlich meine Frau in Ruhe lasst, werde ich dafür sorgen, dass Ihr nie wieder jemandem Ärger macht. Dies ist meine letzte Warnung. Hört auf, Euch in meine Angelegenheiten einzumischen. Ich habe eine Waffe und kann damit umgehen. Natürlich war der Brief nicht unterschrieben. Das machte ihn noch unheimlicher. Er konnte von jedem stammen. „Ich habe sofort bei der Post nachgefragt. Er wurde gestern Morgen mit Marken versehen in einen Briefkasten in Upper Manhattan geworfen. Die Absenderadresse gehört zu einem leeren Grundstück in East Harlem“, berichtete Allison. „Also gibt es keine Möglichkeit, den Schreiber zu ermitteln?“ fragte Eloise. „Nicht mit dem wenigen, was wir haben“, bestätigte ihre Assistentin. „Und wir haben keine Klientinnen, die in letzter Zeit über ernste Eheprobleme oder einen gewalttätigen Partner geklagt haben?“ „Die Einzige, die ein schweres Problem mit ihrem Partner hatte, war Leah Simpson. Soweit ich weiß, hat sie nicht mehr von ihm gesprochen, seit ihre Babys auf der Welt sind“, meinte Allison. „Ich habe am Freitagnachmittag mit ihr gesprochen“, fügte Josie hinzu. „Sie hat nur gesagt, dass sie am Montag nach Thanksgiving wieder zur Arbeit kommen möchte, wenn es Ihnen recht ist.“ „Natürlich“, erwiderte Eloise. Leah Simpson würde alles an Berufserfahrung brauchen, sollte sie sich wegen der fehlenden Zuschüsse bei Manhattan Multiples einen neuen Arbeitsplatz suchen müssen. Eloise warf einen Blick auf den Brief, den sie mit spitzen Fingern hielt, und beschloss, ihre Sorgen um Leah und die anderen Kolleginnen zu vertagen. Im Moment hatte sie es mit einem anonymen Wahnsinnigen zu tun – einem Mann, der offenbar kein harmloser Spinner war, sondern eine echte Gefahr darstellte. Vor allem, wenn er tatsächlich eine Waffe besaß und entschlossen war, sie auch zu benutzen. „Was diesen Unsinn angeht“, begann sie so unbeschwert wie möglich, um Allison und Josie ein wenig zu beruhigen. „Ich werde die Polizei davon verständigen und mich mit den MartinoBrüdern unterhalten. Gleich morgen früh werde ich das Personal informieren. Ich möchte, dass ab jetzt jeder von uns noch wachsamer ist. Und wer etwas Verdächtiges bemerkt, soll es sofort Frank oder Tony melden und die Polizei rufen. Wir dürfen kein Risiko eingehen. Außerdem möchte ich, dass ihr beide nicht mehr früher kommt oder länger bleibt. Verstanden?“ „Ja, natürlich“, antworteten Josie und Allison wie aus einem Munde. „Aber Sie machen auch keine Überstunden mehr, hören Sie?“ warnte Allison ihre Chefin. „Nein, ich auch nicht“, versprach Eloise ihnen. „Jetzt lasst mich die Polizei anrufen, und schickt Tony zu mir, ja?“ „In Ordnung, Chefin“, erwiderte Josie lächelnd. „Hübsche Blumen. Haben Sie
einen heimlichen Verehrer?“ Eloises Blick fiel auf die gelben Rosen und weißen Nelken. „So ähnlich“, antwortete sie ausweichend. Sie wollte die beiden nicht anlügen, aber noch war sie nicht bereit, ihnen von Bill zu erzählen. „Ich muss jetzt telefonieren.“ Zu ihrer Erleichterung gingen die beiden hinaus, ohne nachzufragen. Sie hörte sie allerdings auf dem Korridor flüstern und kichern. Eloise lächelte kurz, wurde jedoch sofort wieder ernst. Sie musste die Polizei informieren, mit Tony reden, und danach wollte sie nach Hause, um ein wenig Zeit mit ihren Söhnen zu verbringen. Und sie würde auf Bills Anruf warten. Sie hatte nicht vor, ihm von dem Drohbrief zu erzählen. Er hatte im Moment genügend eigene Probleme, und sie war daran nicht ganz schuldlos. Daher wollte sie nicht, dass er sich auch noch um ihre Sicherheit sorgen musste. Sie freute sich darauf, seine ruhige und äußerst erotische Stimme zu hören. Und sie wusste, dass sie bei ihm Geborgenheit finden würde, wenn sie sie brauchte. Dazu musste sie ihm nur vertrauen. Und das tat sie.
13, KAPITEL „Bis dann, Mom.“ „Bis dann, Mom.“ „Bis dann, Mom.“ Die fröhlichen Stimmen ihrer drei Söhne ließen Eloise lächeln, während sie und Bill ihnen nachsahen, als sie winkend im Eingang eines eleganten Apartmenthauses an der Lexington Avenue verschwanden. Wäre sie auf sich selbst gestellt gewesen, hätte sie sich nicht halb so sehr darüber gefreut, dass die Jungs die Nacht nach Thanksgiving bei einem Freund verbringen wollten. Aber da sie es kaum abwarten konnte, mit Bill allein zu sein, hatte sie Carl, John und Henry sofort erlaubt, die Einladung anzunehmen. „Bist du sicher, dass du sie nicht nach oben begleiten willst?“ fragte Bill. „Es macht mir nichts aus, hier draußen auf dich zu warten.“ „Ich habe mit Suzie Shaw telefoniert. Die Jungs sind alt genug, um mit dem Fahrstuhl zu fahren. Dauernd erinnern sie mich daran, dass sie schon dreizehn sind und ich viel fürsorglicher bin als die Eltern ihrer Freunde.“ Eloise nahm seinen Arm, und zusammen machten sie sich auf den Rückweg zu ihrem Apartmenthaus. „Ich finde, du machst es sehr gut“, lobte er und legte seine Hand auf ihre. „Ich auch. Sie sind trotz ihres Alters noch Kinder, und ich bin schließlich für sie verantwortlich.“ Sie schlenderten durch die Straßen von Manhattan und genossen die Stille. Die Temperatur lag knapp über dem Gefrierpunkt, aber die Regenwolken, die zwei Wochen lang über der Stadt gehangen hatten, waren aufs Meer hinaus geweht worden. Jetzt war der Himmel klar, und über den Hochhäusern schien der Vollmond. Es war ein hektischer Tag gewesen, und in den vergangenen zwei Wochen hatten sie beide viel zu tun gehabt. Daher hatten sie nur wenig Zeit zusammen verbracht und schon gar nicht allein. Zwei Mal waren sie mit den Söhnen von Eloise essen gewesen, in kleinen, stillen Restaurants, in denen man Bill erkannt, begrüßt, dann aber in Ruhe gelassen hatte. Am Sonntag zuvor war er zum Brunch zu Eloise gekommen, und zu viert hatten sie den langen, verregneten Nachmittag damit verbracht, sich ausgeliehene Filme anzusehen. Sie und Bill hatten jeden Abend telefoniert, manchmal so lange, dass ihr am nächsten Morgen das Aufstehen schwer gefallen war. Sie waren sich einig gewesen, Bills Sparmaßnahmen nicht anzusprechen, aber die geplanten Einschnitte warfen ihre Schatten voraus. Eloise hatte sich beherrschen müssen, um ihn nicht zu fragen. Dennoch war sie sicher, dass er sie über seine Entscheidung informieren würde, bevor er sie auf einer Pressekonferenz am Dienstag verkünden würde. „Kalt?“ fragte er jetzt, bevor er den Arm um ihre Schultern legte und sie an sich drückte. „Nein, seltsamerweise nicht.“ Lächelnd schaute sie zu ihm hoch. „Was ist mit dir?“ „Niemals, solange du bei mir bist.“ Er beugte sich hinab und küsste sie. „Du wärmst an Herz und Seele.“ „Schmeichler“, entgegnete sie, noch während sie sich fester an ihn schmiegte. Erst an der nächsten Straßenecke brach Bill erneut das entspannte Schweigen. „Und müde? Du hast einen anstrengenden Tag hinter dir.“ „Ja, ein wenig“, gab Eloise zu. „Die Jungs haben mich schon im Morgengrauen
geweckt, weil sie einen guten Platz an der Strecke der Parade haben wollten. Möglichst nahe am Ausgangspunkt, damit wir keinen Wagen verpassen sollten und trotzdem rechtzeitig zu Hause wären, um den Truthahn in die Röhre zu schieben.“ „Ich kann kaum fassen, dass ich euch drei in der Menschenmenge entdeckt habe“, erinnerte sich Bill. „Aber ihr wart ja auch ganz vorn, und die Jungs waren so lebhaft, dass sie mir aufgefallen sind.“ „Sehr höflich ausgedrückt. Sie sind wie Verrückte gehopst und haben gepfiffen, gerufen und mit beiden Händen gewedelt, als du vorbeikamst.“ Lächelnd erinnerte sie sich daran, wie aufgeregt ihre Söhne gewesen waren. Sie hatten es sich so sehr gewünscht, dass der Bürgermeister ihnen von seinem eigenen Festwagen zuwinkte. Sie selbst natürlich auch, obwohl sie gehofft hatte, dass es in dem Trubel niemand außer ihnen bemerken würde. „Ich bin froh, dass sie es getan haben. Euch drei zusammen zu sehen, das war für mich der Höhepunkt des Tages. Und als du mir dann auch noch zugelächelt hast…“ Wieder zog er sie an sich, um sie zu küssen. „Und ich dachte, mein Truthahn wäre der Höhepunkt gewesen“, erwiderte sie und zog einen verführerischen Schmollmund. „Lass es mich so formulieren: Euch bei der Parade zu sehen, war der Höhepunkt des Vormittags, dein leckeres Essen der Höhepunkt des Nachmittags.“ „Also gibt es nichts mehr, womit ich dich beglücken könnte?“ fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen, als sie sich dem Eingang ihres Apartmenthauses näherten. „Oh, das würde ich nicht sagen. Mrs. Vale.“ Er senkte die Stimme und gab ihr einen so heiseren Unterton, dass es in Eloises Bauch zu kribbeln begann. „Meiner Meinung nach kommt das Beste erst noch.“ „Sie scheinen sich da ja ziemlich sicher zu sein, Bürgermeister Harper.“ „Ich denke, ich habe Grund dazu, Mrs. Vale.“ Sie begrüßten den Türsteher, der sie im Gebäude willkommen hieß. Dann warteten sie schweigend darauf, dass einer der beiden Fahrstühle ins Erdgeschoss zurückkehrte. Als er ankam und die Tür aufglitt, stieg ein älteres Paar aus, das Eloise nicht kannte. Kaum hatten Bill und sie die Kabine betreten, presste er sie an sich und küsste sie voller Leidenschaft, noch bevor die Tür sich ganz geschlossen hatte. Er zog die Handschuhe aus, knöpfte ihren Mantel auf und schob die Hände unter ihren roten Pullover. „Weißt du was?“ murmelte er ihr ins Ohr. „Was denn?“ flüsterte sie zurück und lächelte fragend. „Wir sind nicht nur allein, wir sind allein in einem Fahrstuhl. Und alles, woran ich denken kann, ist deine kleine Fantasie, die du an dem Wochenende im Cottage erwähnt hast.“ Er senkte den Kopf und knabberte an ihrem Hals. „Soll ich auf den Halteknopf drücken?“ „Nur, wenn du es schaffst, die Überwachungskamera außer Betrieb zu setzen, ohne dass der Wachmann misstrauisch wird“, erwiderte sie und musste über seinen entsetzten Gesichtsausdruck lachen. „Überwachungskamera?“ Hastig wich er zurück und knöpfte ihren Mantel wieder zu. „Warum hast du mir das nicht früher erzählt?“ „Es war irgendwie schwer, etwas zu sagen, bis du schließlich aufgehört hast, mich zu küssen“, antwortete sie mit einem schelmischen Lächeln. „Oh, Eloise, ich bin noch lange nicht damit fertig, dich zu küssen. Obwohl ich warten werde, bis wir in deiner Wohnung sind. Und dann werde ich Taten
sprechen lassen.“
„Gute Idee.“
Als die Fahrstuhltür im obersten Geschoss aufging, nahm Bill ihre Hand und eilte
mit ihr zu ihrer Wohnungstür. Dort nahm er ihren Schlüssel und schloss die
Wohnung auf. Kaum waren ihre Mäntel auf der Bank im Eingangsbereich
gelandet, zog er Eloise ins Schlafzimmer.
„Ich kann dir gar nicht sagen, wie lang und einsam die letzten beiden Wochen
ohne dich waren“, flüsterte er, als sie nackt und aneinander geschmiegt unter
der Decke lagen.
„Ich habe dich auch vermisst“, erwiderte sie und bedeckte seine Brust mit
Küssen. „Aber wir haben beide Pflichten, die wir nicht vernachlässigen dürfen.
Vielleicht wird sich das irgendwann ändern, und wir können…“
Unsicher, was nach seiner Pressekonferenz aus ihrer Beziehung werden würde,
verstummte sie.
„Einfach nur zusammen sein“, beendete Bill den Satz für sie. „Und für immer
glücklich.“
„Was für ein Romantiker du bist“, meinte sie unbeschwerter, als sie sich
eigentlich fühlte. Sie wollte genau das, aber sie zwang sich, realistisch zu sein.
„Nur, wenn es um dich geht“, erwiderte er und küsste sie auf die Stirn. „Bei dir
fühle ich mich wie ein edler Ritter. Jetzt muss ich mir nur noch einfallen lassen,
wie ich die Dame meines Herzens retten kann.“
„Ich bin nicht sicher, ob ich einen Retter brauche. Bisher habe ich selbst ganz gut
auf mich aufgepasst.“
„He, nur weil wir deine Fahrstuhlfantasie nicht ausleben konnten, heißt das noch
lange nicht, dass ich meine aufgeben muss.“
„Okay, okay, dann rette mich bitte!“ scherzte Eloise.
„Aber hier bist du nicht in Gefahr.“
„Dann lass mich dich retten, denn was du gerade tust, ist ziemlich gefährlich.“
„Was tue ich denn?“ fragte er verblüfft.
„Du redest zu viel. Dabei wolltest du Taten sprechen lassen.“
„Du willst Action, ja? Die kannst du haben.“
„Leere Versprechung“, murmelte Eloise lächelnd.
Doch dann stockte ihr der Atem, als Bills Kopf unter der Decke verschwand und
sie seine Lippen an ihrer Haut fühlte.
Als Bill früh am nächsten Morgen neben Eloise erwachte, Wollte er an nichts
anderes denken als daran, wie dankbar er war, bei ihr zu sein.
Er wollte sich nicht an den Schmerz erinnern, den es ihm damals bereitet hatte,
sie zu verlieren. Und er wollte sich auch nicht den Kopf über die Entscheidungen
zerbrechen, die er schon bald treffen musste.
Andererseits, die Zeit lief ihm davon. In wenigen Tagen würde er öffentlich
verkünden müssen, welche Zuschüsse in Zukunft wegfallen würden. Und noch
hatte er keinen Weg gefunden, wie er sein Versprechen an die Bürger von New
York halten und zugleich Eloise zeigen konnte, wie wichtig sie und damit auch
Manhattan Multiples ihm war.
Alle wohltätigen Organisationen^ deren Unterlagen er während der letzten Tage
studiert hatte, taten etwas für Menschen, die wirklich Hilfe brauchten. Und jede
von ihnen hatte das gleiche Recht auf städtische Gelder wie Manhattan Multiples.
Eine zu bevorzugen wäre höchst ungerecht.
Er hatte Eloise gebeten, ihm zu vertrauen, und sie hatte es getan. Jetzt fragte er
sich, wie sie reagieren würde, wenn er sie dann doch enttäuschen musste.
Würde sie wie vor siebzehn Jahren glauben, dass sie ihm nicht so viel bedeutete
wie seine politische Karriere?
Vermutlich. Und er würde es ihr nicht mal übel nehmen. Schließlich hatte er ihr
selbst versichert, dass Taten mehr* sagten als Worte.
„Bist du wach?“ murmelte Eloise plötzlich und rekelte sich seufzend in seinen
Armen.
„Ja.“
„Möchtest du aufstehen?“ fragte sie und küsste seinen Hals.
„Nur, wenn du es auch tust.“
Er strich über ihre Brüste und rieb mit dem Daumen über eine Spitze, bevor er
die Hand an ihr nach unten gleiten ließ.
„Nein, noch lange nicht“, erwiderte sie und öffnete einladend die Beine.
„Ich habe gehofft, dass du das sagen würdest.“
Sie stöhnte leise auf. „Hm, und ich habe gehofft, dass du… genau das tun
würdest.“ Sie keuchte, als er eine Brustspitze mit den Lippen umschloss. „Und
das… und… oh, ja… das auch…“
Eine ganze Weile später, als ihr Atem wieder ruhiger ging und der Sonnenschein
durch die Jalousien drang, stützte Eloise sich auf einen Arm.
„Du hast gesagt, dass du am Wochenende arbeiten musst. Heißt das, auch
heute?“ fragte sie.
Bill dachte an den neuen Stapel Unterlagen, der auf dem Schreibtisch in seiner
Residenz auf ihn wartete, und seufzte innerlich. Doch dann malte er sich aus, wie
Eloise und er die nächsten acht oder zehn Stunden verbrachten – bis ihre Söhne
heimkehrten.
„Nein, heute nicht. Heute gehöre ich ganz dir, es sei denn, du hast andere
Pläne.“
„Keinen einzigen.“ Sie lächelte erwartungsvoll. „Was würdest du gern tun?“
„Mit der Fähre nach Staten Island und zurück fahren“, erwiderte er, ohne zu
zögern. „Und danach könnten wir uns die Weihnachtsdekoration in den großen
Kaufhäusern ansehen.“
„Mit anderen Worten, uns wie Touristen benehmen?“
„Genau.“
„Es ist ewig lange her, dass ich so etwas gemacht habe“, gestand sie.
„Bei mir auch. Also, machst du mit?“
„Einverstanden.“
Sie verbrachten einen herrlichen Tag – einen Tag voller Liebe und Lachen, den
Bill niemals vergessen würde.
Sie duschten zusammen, zogen sich an und brachen auf. Unterwegs kauften sie
Kaffee und Kekse, die sie sich schmecken ließen, während sie sich in der kalten,
klaren Luft die Sonne in die Gesichter scheinen ließen.
Zuerst fuhren sie mit der Fähre und standen Arm in Arm am Geländer des
Oberdecks. Danach schlossen sie sich den vielen Personen an, die den Freitag
nach Thanksgiving zum Shopping nutzten.
Auf einer Parkbank aßen sie Hot Dogs, die an der frischen Luft noch leckerer
waren als sonst. Die Sonne ging bereits unter, als sie in Eloises Apartment
zurückkehrten. Spätestens in einer Stunde würden ihre Söhne eintreffen, und so
gern Bill auch geblieben wäre, seine Amtspflichten riefen ihn immer lauter und
waren nicht mehr zu ignorieren.
„Es hat wirklich riesigen Spaß gemacht“, sagte Eloise, als sie im Fahrstuhl nach
oben fuhren.
Anders als am Abend zuvor blieb Bill auf Distanz. Denn er wusste, dass er es nur
so schaffen würde, sich vor ihrer Wohnungstür von ihr zu verabschieden.
„Manchmal können die Leute sehr rücksichtsvoll sein“, erwiderte er, als sie die
Kabine verließen. „Oder sie waren zu sehr mit ihren Geschenken beschäftigt, um
auf uns zu achten. Meistens, habe ich nicht so viel Glück.“
„Ich bin froh darüber.“ Sie standen vor ihrer Tür, und Eloise fischte den Schlüssel
aus der Tasche. „Möchtest du noch auf ein Glas Wein hereinkommen? Die Jungs
müssten bald kommen. Ich könnte uns Truthahnsandwichs machen…“
„Nichts lieber als das. Aber ich fürchte, ich habe mich lange genug vor der Arbeit
gedrückt.“
Eloises Lächeln verblasste kurz, doch dann setzte sie wieder ein glückliches
Gesicht auf. „Kein Problem. Das verstehe ich. Danke für gestern und heute, Bill.“
„Ich möchte mehr davon. Mehr Zeit mit dir, meine ich.“
„Ich auch.“
„Ich rufe dich an, okay? Heute Abend.“
„Ja, heute Abend.“
Als sie ihn dieses Mal anlächelte, lag in ihrem Blick ein Anflug von Traurigkeit. Er
wusste, dass sie sich alle Mühe gab, an ihn zu glauben. Aber sie schien zu
spüren, dass er selbst daran zweifelte, ob er ihr Vertrauen rechtfertigen konnte.
Es muss eine Lösung geben, sagte er sich, als er sie ein letztes Mal küsste und
zum Fahrstuhl ging.
Und er war fest entschlossen, diese Lösung zu finden, damit er nicht nur einen
oder zwei Tage, sondern den Rest seines Lebens mit Eloise verbringen konnte.
14. KAPITEL Die Fotos auf den Titelseiten der drei großen Sonntagszeitungen hätten Eloise
eigentlich nicht überraschen dürfen. Im Gegenteil, nachdem der erste Schock
vorüber war, wurde ihr klar, dass sie sogar damit hätte rechnen müssen.
Sie hatten den ganzen Freitag in der Öffentlichkeit verbracht, und Bill war nun
mal der sehr beliebte Bürgermeister der Stadt, durch die sie zusammen gestreift
waren. Die meisten Leute waren so höflich gewesen, sie in Ruhe zu lassen. Und
offenbar waren sie beide so sehr miteinander beschäftigt gewesen, dass sie die
Fotografen, die sie verfolgten, nicht bemerkt hatten.
Wenigstens waren die Fotos geschmackvoll. Eins davon zeigte sie auf dem
Oberdeck der StatenIslandFähre, Bills Arm um Eloises Schultern. Auf einem
anderen aßen sie gerade Hot Dogs auf der Parkbank.
Die Artikel dazu waren nicht besonders aufregend. Sie beschrieben ihre Tour
durch Manhattan, machten ein paar Andeutungen, was ihre Beziehung betraf,
und fragten abschließend, wie diese Beziehung sich auf die geplanten
Streichungen auswirken würde.
Eloise war versucht, Bill anzurufen, aber sie hatte den Jungs versprochen, mit
ihnen auf die Eisbahn im Rockefeller Center zu gehen. Das taten sie in jedem
Jahr nach Thanksgiving, und die drei wollten hin, bevor es dort zu voll wurde.
Aber da Bill und sie sich angewöhnt hatten, jeden Abend zu telefonieren, konnte
sie auch später mit ihm über die Zeitungsberichte sprechen.
Nach dem Eislaufen lud sie Carl, John und Henry in E.J.’s Luncheonette ein, wo
es die besten Pfannkuchen der Stadt gab. Wieder zu Hause, verschwanden ihre
Söhne in ihren Zimmern, um Hausaufgaben zu machen.
In ihrem Schlafzimmer sah Eloise, dass der Anrufbeantworter blinkte. Sie hörte
ihn ab. Bills ruhige, leise Stimme bat sie, ihn anzurufen. Sie wählte die Nummer
seines privaten Anschlusses in Gracie Mansion, und er meldete sich nach dem
zweiten Läuten.
„Hallo, ich bin’s“, begrüßte sie ihn. „Ich habe gerade deine Nachricht
bekommen.“
„Hallo. Ich hatte ganz vergessen, dass du mit den Jungs auf der Eisbahn warst.
Hattet ihr eine schöne Zeit?“
„Sehr schön. Aber bestimmt werde ich morgen Muskelkater haben“, erwiderte sie
lachend.
„Nehmen Sie zwei Schmerztabletten, und rufen Sie mich morgen früh wieder an“,
scherzte er.
„Danke für den Rat, Dr. Harper.“
„Ich würde dich viel lieber besuchen und dir eine Massage verpassen, aber leider
ist das unmöglich.“
„Schade. Eine Massage wäre herrlich.“ Sie wurde ernst. „Ich nehme an, du hast
die Zeitungen gesehen?“
„Oh, ja, das habe ich. Ich vermute, unter all den Touristen mit Kameras sind uns
die Reporter nicht aufgefallen.“
„Zumal wir nur Augen für einander hatten“, bemerkte sie lächelnd.
„Stimmt.“
Auch Bill schien zu lächeln, jedenfalls hörte er sich so an. Doch als er
weitersprach, war er wieder ernst.
„In den Artikeln werden ein paar brisante Fragen gestellt.“
„Die du am Dienstag beantworten wirst, nicht wahr?“ entgegnete sie und
versuchte, gelassen zu klingen.
„Richtig. Am Dienstag“, bestätigte er und hörte sich plötzlich erschöpft an.
Ein mulmiges Gefühl stieg in Eloise auf. Hätte er eine Lösung gefunden, die sie beide zufrieden stellte, würde er zuversichtlicher klingen und ihr vielleicht sogar davon erzählen. Trotzdem weigerte sie sich, die Hoffnung aufzugeben. Er hatte ihr gezeigt, wie viel sie ihm bedeutete. Er hatte sogar angedeutet, dass er sich eine Zukunft mit ihr wünschte. Sicher würde er alles unternehmen, was in seiner Macht stand, um sie ihnen nicht zu verbauen. „Ich vermute, dein Tag war nicht so schön wie meiner“, sagte sie. „Möchtest du herüberkommen? Ein Glas Wein trinken, fernsehen, ein Truthahnsandwich essen?“ „Nichts würde ich lieber tun, aber leider geht es nicht. Ich habe vor der Pressekonferenz am Dienstag noch viel zu tun, und morgen wird im Rathaus wahrscheinlich das reine Chaos herrschen. Können wir es verschieben?“ „Natürlich. Der Truthahn reicht noch für mindestens eine Woche“, antwortete sie so fröhlich, wie sie konnte. Doch insgeheim fragte sie sich, ob sie Bill wieder sehen würde, wenn er am Dienstag bei den geplanten Streichungen blieb. Sie würde ihn für seine Prinzipienfestigkeit bewundern, aber zugleich würde sie ihm übel nehmen, was er Manhattan Multiples antat. „Vielleicht am nächsten Wochenende“, schlug er hoffnungsvoll vor. „Ja, das wäre schön“, erwiderte sie, schaffte es jedoch nicht, eine Begeisterung vorzutäuschen, die sie nicht mehr empfand. Er schien es zu spüren, denn die Erschöpfung kehrte in seine Stimme zurück. „Ich fürchte, ich muss wieder an die Arbeit. Telefonieren wir morgen?“ „Ja. Gute Nacht, Bill.“ „Gute Nacht, Eloise.“ Sie hatte allerdings keine besonders gute Nacht. Seit zwei Wochen hatte sie sich eingeredet, dass ihr Vertrauen in Bill gerechtfertigt war, aber an diesem Sonntagabend meldeten sich die Zweifel und Sorgen mit aller Wucht zurück. Eloise hatte immer versucht, in der Realität zu leben, nicht in einer Fantasiewelt. Sie hoffte inständig, dass sie das am Dienstagmorgen auch so sehen würde. Aber so lange brauchte sie gar nicht zu warten. Die Stunde der Wahrheit kam schon am Montag. Auf der Personalbesprechung am Morgen hießen alle Leah Simpson wieder bei Manhattan Multiples willkommen. Eloise erinnerte sie und ihre Kolleginnen daran, auf verdächtige Besucher zu achten. Allison und Josie sprachen sie auf die Fotos in den Zeitungen an, und sie antwortete ausweichend. Natürlich war ihr klar, dass die beiden ihr nicht glaubten, aber sie war ihnen keine Erklärung schuldig – zumal ihre Beziehung zu Bill Harper vielleicht schon morgen beendet sein würde. In ihrem Büro machte Eloise sich daran, für das Frühjahr eine Veranstaltung zu planen, auf der sie um Spenden für das Beratungszentrum werben wollte. Danach rief sie eine Maklerin an, die Manhattan Multiples freundlich gesonnen war, und bat sie, sich nach erschwinglicheren Räumen umzusehen. In der Mittagspause kam Leah mit ihren Drillingen vorbei. Die Babys wurden im angeschlossenen Kinderhort betreut, während ihre Mutter arbeitete. Gegen Mittag aß Eloise gerade ein Sandwich, da meldete sich Allison über die Sprechanlage. „Sind Sie beschäftigt?“ fragte ihre Assistentin und klang ein wenig nervös. „Nicht wirklich. Warum?“ „Es gibt da etwas, was sie sich ansehen sollten. Ein Artikel in der heutigen Ausgabe des Daily Express. Ich bin gerade erst darauf gestoßen.“ „Würden Sie ihn mir bringen?“
„Sofort.“ Sekunden später erschien Allison in der Tür, in der Hand die Zeitung, auf dem Gesicht einen zutiefst besorgten Ausdruck. „Er steht ganz vorn im Wirtschaftsteil“, erklärte sie und schlug die entsprechende Seite auf. „Geschrieben hat ihn Charles Goodwin. Das ist der Reporter, der Bürgermeister Harper vor zwei Wochen schon mal interviewt hat. Dies hier ist offenbar ein Folgebericht.“ Eloise erinnerte sich an das Interview. Sie überflog den heutigen Artikel. Charles Goodwin behauptete, mit Bills Stabschef Wally Phillips über die Beziehung zwischen dem Bürgermeister und Mrs. Eloise Vale gesprochen zu haben. Angeblich hatte er ihn auch gefragt, ob Manhattan Multiples auf Grund ihrer Beziehung von den Streichungen verschont bleiben würde. Goodwin gab wieder, was er am Sonntagnachmittag von Wally Phillips erfahren haben wollte: Die für Manhattan Multiples vorgesehenen Zuschüsse sind von den geplanten Streichungen ebenso betroffen wie die an andere wohltätige Organisationen. Das genaue Ausmaß der Einsparungen wird der Bürgermeister auf seiner Pressekonferenz am Dienstagvormittag um zehn Uhr bekannt geben. Bürgermeister Harper hält an seinem Vorhaben fest, die Wirtschaftslage von New York City durch eine Umschichtung der städtischen Ausgaben zu beleben. Ihm ist klar, dass dies einige schwierige Entscheidungen erfordert, aber er ist bereit, sie zum Wohl der Stadt zu treffen. Eloise ließ die Zeitung sinken und sah Allison an, während ihr bewusst wurde, was das gerade Gelesene bedeutete. Offenbar hatte Bill sich entschieden – und zwar schon bevor er am Sonntagabend mit ihr telefoniert hatte. Trotzdem hatte er sie nicht vorgewarnt. Die für Manhattan Multiples vorgesehenen Zuschüsse sind von den geplanten Streichungen ebenso betroffen… ebenso betroffen… ebenso betroffen… Immer wieder gingen ihr diese Worte durch den Kopf. Bill hatte sie gebeten, ihm
zu vertrauen, und sie hatte es getan. Sie hatte gewusst, dass er seinem
Gewissen folgen würde. Aber er hätte so anständig sein können, ihr von seiner
Entscheidung zu erzählen, bevor er sie in der Öffentlichkeit verkündete.
Was hatte er sich davon erhofft? Ein paar heiße Nächte als Entschädigung für den
Schmerz, den sie ihm vor siebzehn Jahren bereitet hatte? Sie hätte nie gedacht,
dass er so grausam sein konnte. Aber wie gut hatte sie ihn denn überhaupt
gekannt?
Die wenigen Tage damals und jetzt hatten eben nicht ausgereicht, einen
Menschen zu durchschauen. Also hatte sie sich gründlich in Bill Harper getäuscht,
und das tat so weh, dass sie sich am liebsten irgendwo verkrochen hätte.
„Oh, Eloise, es tut mir so Leid“, murmelte Allison, als würde sie den Schmerz
ihrer Vorgesetzten spüren. „Ich lasse Sie jetzt besser…“
Sie machte einen zaghaften Schritt nach hinten, blieb jedoch stehen, als Eloise
die Hand hob.
„Nein, warten Sie, Allison… bitte.“
Eloise atmete tief durch. Sie hatte keine Zeit, um etwas zu trauern, was sie nie
wirklich besessen hatte. Es gab andere Menschen, an die sie denken musste.
Menschen wie Allison und Josie und Leah, deren Schicksal davon abhing, dass sie
Manhattan Multiples sicher durch diese Krise steuerte.
Sie hatte gehofft, dass Bill Harper ihr dabei helfen würde. Aber auf ihn konnte sie
jetzt nicht mehr zählen. Sie war wieder so allein, wie sie es lange gewesen war,
und musste sich auf ihre unerschütterliche Willenskraft besinnen.
Sie sah ihre Assistentin an und brachte ein aufmunterndes Lächeln zu Stande.
„Wie kann ich helfen?“ fragte Allison eifrig.
„Es wird nicht lange dauern, bis dieser Artikel sich herumspricht. Wir mussten
damit rechnen, dass die Sparmaßnahmen auch uns betreffen. Ich möchte nicht,
dass sich hier Panik breit macht. Also sagen Sie bitte allen, dass wir uns in einer
halben Stunde zu einer Besprechung treffen. Und wer dazu keine Zeit hat, soll
bei mir vorbeikommen, bevor er heute Abend nach Hause geht.“
„Besprechung in einer halben Stunde“, wiederholte Allison. „Ich kümmere mich
darum.“
Eloises Mitarbeiterinnen waren so ruhig und gefasst, wie sie erwartet hatte. Und
auch die Einzelgespräche verliefen gut. Natürlich war die Stimmung bei allen
gedrückt. Sie war nicht die Einzige gewesen, die insgeheim gehofft hatte, dass
Manhattan Multiples verschont bleiben würde. Aber sie versicherte allen, dass sie
noch lange nicht daran dachte, aufzugeben und die Türen des Zentrums zu
schließen.
Die Pressekonferenz des Bürgermeisters würde am nächsten Vormittag ab zehn
im Fernsehen übertragen werden, und Eloise schlug vor, dass alle sie sich
zusammen ansehen sollten.
Als sie später am Nachmittag einige Papiere in ihren Aktenkoffer schob,
versuchte sie, froh darüber zu sein, dass die Ungewissheit der vergangenen fünf
Monate endlich ein Ende hatte. Das Schlimmste war eingetreten, und sie war
bereit, sich zusammen mit ihrem loyalen Personal der neuen Situation zu stellen.
Als die Sprechanlage summte, zuckte sie so heftig zusammen, dass sie den
Aktenkoffer vom Schreibtisch stieß.
„Ja, Allison?“
„Ich weiß, Sie haben mich gebeten, keine Anrufe durchzustellen. Aber ich habe
Bürgermeister Harper in der Leitung, und er besteht darauf, Sie zu sprechen“,
sagte ihre Assistentin mit gedämpfter Stimme.
Eloise zögerte ganze dreißig Sekunden lang. Sie konnte mit ihm reden und ihr
allerletztes Gespräch hier und jetzt hinter sich bringen. Doch im Moment hatte
sie nicht die Kraft dazu. Sie wollte nach Hause, wollte sich in die Wanne legen,
etwas Bequemes anziehen, mit ihren Söhnen fernsehen und dabei etwas vom
Chinesen essen.
Für diesen Tag war sie stark genug gewesen. Bürgermeister Harper würde
warten müssen, bis sie ihre emotionalen Batterien wieder aufgeladen hatte.
„Haben Sie ihm gesagt, dass ich noch hier bin?“ fragte sie Allison.
„Nein.“
„Gut gemacht“, lobte Eloise. „Geben Sie mir kurz Zeit, mein Büro zu verlassen,
dann erklären Sie ihm, dass ich schon nach Hause gegangen bin.“
„Okay, Eloise.“
Sie hob den Aktenkoffer auf, schnappte sich ihren Mantel und die Handtasche
und eilte hinaus.
Dort hörte sie Allisons höfliche Stimme. „Es tut mir Leid, Mrs. Vale ist bereits
gegangen, Sir. Jedenfalls ist sie nicht in ihrem Büro. Kann ich ihr etwas
ausrichten?“
Es gab eine kurze Pause, während Allison lauschte.
„Das werde ich“, versicherte sie dann. „Danke, Sir.“
Die Assistentin legte auf und sah Eloise verwirrt an. „Er hat mich gebeten, Ihnen
zu sagen, dass Sie nicht alles glauben sollten, was Sie in der Zeitung lesen.“
„Es gibt so viel, was ich nicht hätte glauben dürfen“, gab Eloise mit müder
Stimme zurück. „Und jetzt lasst uns von hier verschwinden, bevor das Telefon
wieder läutet.“
Genau das tat es natürlich, als Eloise mit Allison und Josie den Ausgang
ansteuerte. „Überlassen Sie ihn dem Anrufbeantworter“, hielt sie Josie zurück, bevor die junge Frau zum Empfangstresen gehen konnte. „Ihr beide fahrt jetzt nach Hause. Macht euch mit euren Ehemännern einen schönen Abend. Und vor zehn Uhr morgen früh möchte ich eure hübschen Gesichter hier nicht wieder sehen, verstanden?“ „Verstanden“, erwiderten die beiden. „Bis morgen, Eloise.“ „Ja, bis dann“, meinte Eloise lächelnd und winkte den beiden nach. Bill hatte vermutet, dass Eloise sich verleugnen ließ. Und der Verdacht hatte sich bestätigt, als er eine Stunde später bei ihr zu Hause angerufen und einer ihrer Söhne das Gespräch angenommen hatte. Henry war sehr höflich gewesen, hatte sich auf die Suche nach seiner Mutter gemacht und ihm dann gesagt, dass sie momentan nicht an den Apparat kommen konnte. Bill hatte den Jungen gebeten, ihr auszurichten, dass sie ihn anrufen sollte, und die Nummer seines Privatanschlusses in Gracie Mansion hinterlassen. Danach hatte er zwei Stunden gewartet, ohne dass Eloise sich bei ihm gemeldet hatte. Natürlich kannte er den Grund für ihr Schweigen. Er hatte Charles Goodwins Artikel im Wirtschaftsteil des Daily Express gelesen. Und wahrscheinlich hatte Eloise jedes Wort darin geglaubt. Was sie jedoch nicht bedacht hatte, war die Tatsache, dass die in dem Bericht zitierten Äußerungen nicht von ihm selbst, sondern von seinen Stabschef stammten. Es war Wally Phillips gewesen, der gesagt hatte, dass Manhattan Multiples genau wie alle anderen Organisationen von den Einsparungen betroffen sein würde. Und am Sonntagabend war das auch richtig gewesen. Aber als Wally die Fragen des Journalisten beantwortet hatte, hatte Bill noch keine abschließende Entscheidung getroffen. Die würde er erst auf der Pressekonferenz am Dienstag verkünden. Der Stabschef hatte lediglich versucht, die Gerüchte über eine bevorstehende Ungleichbehandlung der wohltätigen Organisationen im Keim zu ersticken. Und die Anrufe, die Bill seitdem erhalten hatten, bewiesen, dass es ihm gelungen war. Doch offenbar hatte Eloise den Artikel falsch gedeutet und daraus voreilige Schlüsse gezogen. Und wie es aussah, hatte sie beschlossen, sich durch nichts von dieser Auffassung abbringen zu lassen. So einfach mache ich es dir nicht, dachte Bill und legte auf, nachdem er zum dritten Mal nur ihren Anrufbeantworter erreicht hatte. Als er nach Hause gekommen war, hatte er sich Jeans und einen Pullover angezogen, daher griff er jetzt nur noch nach Lederjacke, Schal und Handschuhen. Er nahm sich nicht die Zeit, den Chauffeur zu rufen, und war zu aufgewühlt, um selbst zu fahren, also ging er zu Fuß. Als er kurz darauf das Apartmentgebäude betrat, in dem Eloise wohnte, begrüßte ihn der Türsteher mit der gewohnten Höflichkeit. „Werden Sie von Mrs. Vale erwartet, Sir?“ „Ja“, log Bill. „Ich habe nur gefragt, weil Sie nicht auf der Gästeliste der Bewohner stehen.“ „Vermutlich hat Mrs. Vale nur vergessen, Sie zu informieren. Ah, da ist ja schon der Fahrstuhl. Ich fahre nach oben.“ „Natürlich, Sir. Ich sage nur rasch oben Bescheid, dass Sie…“ Die Tür schloss sich hinter ihm und schnitt den Satz des Portiers ab. Aber Bill wusste auch so, dass der Mann Eloise anrufen und vorwarnen würde. Wer in New York City in einem solchen Apartmenthaus arbeitete, besaß die Spürnase eines
erfahrenen Wachhunds.
Sie erwartete ihn nicht mit weit geöffneter Wohnungstür und einem einladenden
Lächeln auf dem Gesicht. Aber damit hatte er auch nicht gerechnet. Er konnte
nur hoffen, dass sie nicht den Sicherheitsdienst gerufen hatte, um ihn aus dem
Haus führen zu lassen.
Vor ihrem Apartment zögerte er und holte tief Luft, bevor er nach dem Türklopfer
aus Messing tastete. Eloise musste auf ihn gewartet haben, denn kaum war das
Klopfen verhallt, hörte er ihre Stimme durch das massive Holz hindurch.
„Geh weg.“
„Erst wenn wir geredet haben.“
„Es gibt nichts, worüber wir reden müssten.“
„Nicht durch eine geschlossene Tür. Lass mich herein, Eloise.“
„Nein.“
Bill musste sich beherrschen, um nicht gegen das Holz zu hämmern. Warum war
sie nach allem, was sie zusammen erlebt hatten, nicht bereit, ihm zu vertrauen?
Er fand, dass er mehr als das verdient hatte. Aber wenn ihr das noch nicht klar
war, würde sie es wohl nie begreifen. Und er hatte nicht vor, den Rest seines
Lebens damit zu verbringen, es ihr zu beweisen.
„Ich muss mit dir sprechen. Wirklich, Eloise… bitte.“
„Nein, Bill. Geh einfach nur weg.“
„Wenn du das willst, na gut. Aber ich komme nicht wieder.“
„Vermutlich ist es besser so.“
Bill gab auf und ging zum Fahrstuhl zurück. Kein Schlüssel, der sich im Schloss
drehte, kein verzweifelter Ausruf hielt ihn zurück.
Er betrat die Kabine, ohne sich umzudrehen.
Als er im Erdgeschoss ankam, setzte er eine unbeschwerte Miene auf, wünschte
dem Türsteher eine gute Nacht und machte sich auf den Rückweg zu seiner
Residenz.
Dort angekommen, wollte er noch mal den Entwurf seiner Rede durchlesen. Doch
dann fiel er ins Bett, obwohl er bezweifelte, dass er ein Auge würde schließen
können. Er wollte Eloise aus seinem Kopf und seinem Herzen vertreiben, aber
manche Dinge waren leichter gedacht und gesagt als getan.
15. KAPITEL Als es am Dienstagvormittag zehn Uhr wurde und sich die Mitarbeiterinnen im Empfangsbereich von Manhattan Multiples versammelten, lud Eloise alle ein, sich beim Kaffee oder Tee und den belegten Brötchen zu bedienen, die sie von einem nahe gelegenen Cafe hatte liefern lassen. Die Kameradschaft zu pflegen, die im Zentrum herrschte, stand heute ganz oben auf ihrer Prioritätenliste. Sie war entschlossener denn je, das Beste aus der schwierigen Situation zu machen, und sie würde sich auch durch die schlaflose Nacht, die hinter ihr lag, nicht davon abhalten lassen. Seltsamerweise war es nicht die Sorge um Manhattan Multiples gewesen, die sie bis zum Morgengrauen wach gehalten hatte. Sie hatte schon Pläne geschmiedet, wie sie den Betrieb bis Ende März aufrechterhalten konnte. Bis dahin wollte sie neue Räume gefunden und bei möglichen Spendern angefragt haben. Nein, nicht Manhattan Multiples hatte ihr den Schlaf geraubt, sondern die Erinnerung an Bills letzte Worte vor ihrer Wohnungstür. „Aber ich komme nicht wieder“, hatte er gesagt. Leise und ruhig, und Eloise hatte sofort gewusst, dass er es ernst meinte. Erst dann war ihr klar geworden, was sie getan hatte. Und seitdem fragte sie sich, ob sie denselben Fehler wie vor siebzehn Jahren begangen hatte: Bill zu verurteilen, ohne ihn vorher anzuhören. Aber was hätte er denn sagen können? Sicher, da war die rätselhafte Nachricht, die er bei Allison hinterlassen hatte. Glaub nicht alles, was du in der Zeitung liest, hatte ihre Assistentin ihr von ihm ausgerichtet. Doch warum sollte sein eigener Stabschef einem Reporter erklären, dass Manhattan Multiples von den Streichungen betroffen sein würde, wenn es nicht der Wahrheit entsprach? Schließlich stand für Wally Phillips seine eigene Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Und sein Job, wenn er es gewagt hatte, seinem Chef in den Rücken zu fallen. Es war schon nach Mitternacht gewesen, als Eloise den Artikel erneut überflogen hatte. Er hatte sich nicht anders gelesen als am Nachmittag. Doch dieses Mal deutete sie ihn anders. Wally Phillips hatte nicht behauptet, dass die Zuschüsse im Manhattan Multiples gestrichen waren, sondern nur, dass sie ähnlich betroffen sein würden wie die für andere wohltätige Organisationen. Einzelheiten hatte er nicht genannt. Und am Sonntagabend hatte Bill angedeutet, dass er an genau denen noch arbeitete – lange, nachdem Charles Goodwin seinen Stabschef interviewt hatte. Bestimmt war das der Grund, warum er sie unbedingt hatte sprechen wollen. Er hatte zu Recht angenommen, dass sie aus dem Artikel voreilige Schlüsse ziehen würde. Hätte sie seinen Anruf entgegengenommen, würde sie jetzt wissen, was er ihr hatte sagen wollen. Stattdessen hatte sie sich verleugnen lassen, als würde längst feststehen, dass er sie verraten hatte. Aber wenn er… „Eloise, die Pressekonferenz des Bürgermeisters fängt gleich an“, erinnerte Allison sie an die Fernsehübertragung. Eloise ließ sich von ihrer Assistentin dorthin führen, wo sich das Personal von Manhattan Multiples vor dem Fernseher versammelt hatte. Ein Ansager kündigte gerade an, dass der Lokalsender sein reguläres Programm unterbrechen würde, um Bills Harpers Erklärung live zu übertragen. Begleitet vom Blitzlichtgewitter der Fotografen, trat Bill kurz darauf vor die Mikrofone, die auf der Rathaustreppe aufgebaut waren. Er trug einen dunkelgrauen Nadelstreifenanzug, ein weißes Oberhemd und eine burgunderrote Krawatte. Er sah nicht nur atemberaubend attraktiv, sondern –
jedenfalls in Eloises Augen – auch unglaublich erschöpft aus. Bis er in die Kamera blickte und lächelte. In diesem Moment strahlte er plötzlich nur noch Vertrauen in sich selbst und in die schwierigen Entscheidungen aus, die er zum Wohl der Stadt und ihrer Bürger getroffen hatte. „Ladys und Gentlemen“, begann er mit warmer, zuversichtlicher Stimme. „Danke, dass Sie mir die Gelegenheit geben, Ihnen meinen Haushaltsentwurf für das nächste Jahr zu erläutern. Wie Sie wissen, ist das keine leichte Aufgabe, aber ich habe mich bemüht, allen Betroffenen gegenüber fair zu sein.“ Er machte eine kurze Pause. „Wie Sie ebenfalls wissen, war das Hauptziel meiner Politik immer die Wiederbelebung der angeschlagenen Wirtschaft zum Wohl aller Bürger. Zuerst war ich der Überzeugung, dass die dazu erforderlichen Mittel nur dadurch beschafft werden können, dass wir die Zuschüsse für verschiedene wohltätige Organisationen streichen und anders verwenden. Inzwischen ist mir jedoch klar geworden, dass diese Organisationen wertvolle und unverzichtbare Dienste leisten und dass es ein Fehler wäre, ihnen dringend benötigte Gelder vorzuenthalten.“ Ein Zwischenruf ertönte, und Bill hob eine Hand. „Ich bin jedoch zu dem Ergebnis gelangt, dass diese Aufgaben wesentlich kostengünstiger erfüllt werden könnten, wenn die Organisationen enger zusammenarbeiten und Überschneidungen vermeiden würden. Zum Beispiel gibt es mehrere Suppenküchen für bedürftige Bürger, die ihre Mahlzeiten nicht getrennt zubereiten müssen, sondern es gemeinsam und an einem zentralen Ort tun könnten. Dies würde die Kosten und damit die Höhe der benötigten Zuschüsse erheblich senken.“ Er warf einen Blick auf seine Notizen. „Ein anderes Beispiel ist Manhattan Multiples, eine Organisation, die werdenden Müttern von Mehrungen hilft. Mit ist bekannt, dass es in unserer Stadt eine ähnliche Organisation gibt, nämlich Brooklyn Babys. Würden beide Organisationen sich zusammenschließen und ihre Aktivitäten bündeln, würden sie nur halb so viele Zuschüsse brauchen. Das Gleiche gilt für viele Projekte im Bereich der Suchtberatung.“ Verblüfft starrte Eloise auf den Bildschirm. Bill hatte die Lösung gefunden, die es ihr erlauben würde, Manhattan Multiples weiterzuführen! Und es war eine Lösung, auf die sie selbst hätte kommen können, wenn sie nicht so sehr auf den Protest gegen Bills Sparmaßnahmen fixiert gewesen wäre. Natürlich kannte sie Brooklyn Babys. Es war eine Organisation, die sich um schwangere Frauen im Allgemeinen kümmerte, nicht nur um die, die mehr als ein Kind bekamen. Es wäre nicht nur machbar, mit dieser Organisation zusammenzuarbeiten, sondern sogar sehr sinnvoll. „Eloise, haben Sie gehört, was der Bürgermeister gesagt hat?“ fragte Allison aufgeregt. „Wir werden die städtischen Zuschüsse nicht verlieren, jedenfalls nicht ganz. Und ich habe von Brooklyn Babys gehört. Sie sind halb so groß wie wir, genießen jedoch einen ausgezeichneten Ruf.“ Um Eloise herum tauschten ihre Mitarbeiterinnen ähnlich begeisterte Kommentare aus. „Ja, Allison, ich habe es gehört. Keine Frage, er hat sich entschieden, uns und viele andere* wohltätige Organisationen nicht im Stich zu lassen.“ Genau wie er es mir versprochen hat, fügte sie in Gedanken hinzu. Das schlechte Gewissen drohte Eloise zu überwältigen. Sie hatte Bill vollkommen falsch eingeschätzt und ihn deshalb zurückgewiesen – wie vor siebzehn Jahren. Jetzt wünschte sie, sie hätte ihn am Abend zuvor nicht gehen lassen, noch dazu mit der Versicherung, dass er nie wiederkommen würde. Und er würde es halten, da war sie sicher. Er hatte sie mehrfach angerufen, und sie hatte sich geweigert, ihn anzuhören. Sie hatte das Schlimmste von ihm
angenommen und nicht gezögert, ihn das spüren zu lassen.
Natürlich konnte sie zu ihm gehen. Nein, sie musste es sogar. Und sei es auch
nur, um sich für die Lösung, die er gefunden hatte, zu bedanken und sich für ihr
unmögliches Benehmen am Abend zuvor zu entschuldigen.
Im Fernsehen stand Bill noch immer vor den Mikrofonen und erklärte, wie er im
nächsten Jahr den städtischen Haushalt umschichten wollte. Eloise war nicht
sicher, wie lange die Pressekonferenz dauern würde, aber wenn sie Glück hatte,
würde er anschließend in sein Büro im Rathaus gehen.
„Ich muss los“, sagte sie zu Allison und sprang auf.
„Wohin?“ fragte ihre Assistentin erstaunt.
„Ins Rathaus. Ich muss mit Bill… mit Bürgermeister Harper reden.“ Sie schob
Allisons Hand von ihrem Arm. „Ich komme zurück, sobald ich kann. Halten Sie
bis dahin für mich die Stellung, okay?“
„Okay.“ Spontan umarmte Allison ihre Chefin. „Jetzt wird doch alles gut, oder?“
„Ja, ganz sicher.“
Eloise eilte davon, um ihren Mantel und die Handtasche zu holen. Würde wirklich
alles gut werden? Für Manhattan Multiples bestimmt, aber auch für sie
persönlich?
In Gedanken war sie schon bei dem schwierigen Gespräch mit Bill, während sie
ihr Büro verließ, als im Eingangsbereich plötzlich eine Männerstimme ertönte.
„Keine Bewegung! Ich habe eine Waffe und keine Angst, sie zu benutzen.“
Irgendwo schrie jemand ängstlich auf, dann setzte Stille ein.
Wie angewurzelt blieb Eloise auf dem Korridor stehen. Schlagartig wurde ihr
bewusst, was geschehen war. Der Absender der anonymen Drohbriefe hatte sich
entschieden, aus der Deckung zu kommen.
Hastig holte sie ihr Handy heraus und wählte den Notruf. Ruhig und leise erklärte
sie der Frau in der Notrufzentrale, was los war.
„Wo ist sie?“ schrie der Mann, und es klang, als hätte er sich Mut angetrunken.
„Wo ist Eloise Vale, die alte Hexe, die sich in alles einmischt? Wenn sie glaubt,
sie kann einem Mann die Familie…“
„Darren, hör auf damit. Bitte leg die Waffe weg.“
Eloise erkannte die überraschend feste Stimme sofort. Es war Leah Simpson.
Über ihr Handy war sie noch immer mit der Polizei verbunden, als sie es wieder
einsteckte, tief Luft holte und nach vorn zum Empfang eilte. Sie durfte nicht
zulassen, dass ihren Mitarbeiterinnen etwas zustieß.
„Ich bin hier“, erklärte sie und wunderte sich darüber, wie ruhig ihre Stimme
klang. „Mr…. Simpson, nicht wahr?“
„Ja, richtig. Ich bin Darren Simpson, Leah Simpsons Ehemann. Und wer sind
Sie?“ fragte er.
„Eloise Vale, die Direktorin von Manhattan Multiples.“
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Tony Martino, der Wachmann, sich hinter
Darren Simpson postierte. „Womit kann ich Ihnen helfen, Sir?“
„Sie können endlich aufhören, meiner Frau einzureden, dass sie mich verlassen
soll.“
„Du hast mich verlassen, Darren“, erinnerte Leah ihn.
„Das musste ich tun. Ich hab dein Gejammer über all die unbezahlten
Rechnungen nicht mehr ertragen…“
Mit einem Satz stürzte sich Tony Martino auf Darren Simpson. Die Pistole entglitt
ihm und landete vor Eloise auf dem Boden. Sie hob sie auf, schüttelte den Kopf
und lächelte. Es war keine echte Waffe, sondern ein Spielzeug aus Plastik.
„Es tut mir Leid, Eloise“, entschuldigte sich Leah Simpson, die als Erste zu ihr
eilte, als Darren mit dem Gesicht nach unten und mit Handschellen gefesselt vor
dem Empfangstresen lag.
„Es ist nicht Ihre Schuld“, versicherte Eloise ihr. „Sie waren sehr tapfer und
haben keinen Grund, sich zu schämen.“
Sie umarmte die junge Frau und wandte sich den Polizisten zu, die gerade
eingetroffen waren und Darren abführten. Als sie fort waren, überzeugte Eloise
sich davon, dass ihre Mitarbeiterinnen den dramatischen Vorfall unbeschadet
überstanden hatten. Als die Runde sie für ihr mutiges Eingreifen lobte, winkte sie
ab.
„Das gehört zu meinem Job“, erwiderte sie und war froh, dass man ihr die Angst
nicht angesehen hatte.
Während sie sich Darren Simpson entgegengestellt hatte, war die
Pressekonferenz des Bürgermeisters zu Ende gegangen, und im Fernsehen lief
jetzt eine Quizsendung.
Würde sie Bill noch im Rathaus antreffen? Sie musste es zumindest versuchen,
denn sie war ihm eine Erklärung schuldig. Und die würde sie ihm geben, selbst
wenn sie dazu den Rest des Tages vor seinem Büro verbringen musste.
„Okay, ich verschwinde jetzt“, sagte sie zu Allison.
„Wollen Sie noch immer ins Rathaus?“
„Ja, aber ich komme wieder.“
„Oder auch nicht“, erwiderte ihre Assistentin lächelnd.
„Ich fürchte, mit Bürgermeister Harper habe ich es mir gründlich verdorben.“
„Wer weiß?“ Aufmunternd drückte Allison ihr den Arm. „Seien Sie einfach so süß
und unwiderstehlich wie immer.“
„Also das Gegenteil zu einer alten Hexe, die sich in alles einmischt?“
„Oh, Eloise, Sie sind nicht alt und erst recht keine Hexe“, protestierte Allison.
„Was ist mit dem Einmischen?“
„Nun, ich glaube, bei der Frage muss ich die Aussage verweigern“, antwortete sie
grinsend.
Überrascht starrte Eloise die junge Frau an.
„Ich… mische mich ein?“
„Gehen Sie zum Rathaus, Eloise, und danken Sie dem Bürgermeister in unser
aller Namen.“
„Wenn ich zurückkomme, müssen wir beide uns unterhalten.“
„Okay, okay, aber jetzt ab mit Ihnen.“
Sie mischte sich nicht ein. Oder doch? Nun ja, vielleicht ein wenig… hin und
wieder… für eine gute Sache.
Vor dem Gebäude hielt Eloise ein Taxi an, stieg ein und konzentrierte sich auf die
einzige Frage, die jetzt noch wichtig war. Wie konnte sie Bill klar machen, wie
Leid es ihr tat, dass sie sich so dumm benommen hatte?
„Und jetzt eine aktuelle Meldung“, sagte der Moderator des Lokalsenders, dessen
Programm im Fernseher in Bills Büro im Rathaus lief.
Wally und er hatten die Nachrichten eingeschaltet, um zu erfahren, wie seine
Pressekonferenz angekommen war.
„Vor weniger als einer Stunde wurde in den Räumen von Manhattan Multiples ein
bewaffneter Eindringling überwältigt und festgenommen. Darren Simpson, der
getrennt lebende Ehemann einer Mitarbeiterin, bedrohte das Personal mit einer
Pistole und verlangte, Eloise Vale zu sprechen. Mrs. Vale…“
Bill sprang auf und riss seinen Mantel vom Garderobenständer, ohne den Rest
der Meldung abzuwarten. Der Moderator hatte nichts, davon gesagt, dass jemand
verletzt worden war, aber Eloise musste schreckliche Angst gehabt haben.
Er wollte sich persönlich davon überzeugen, dass es ihr gut ging. Er wollte sie in
den Armen halten und sie trösten.
„Wohin gehen Sie?“ erkundigte Wally sich.
„Zu Manhattan Multiples. Ich will wissen, ob Eloise etwas passiert ist.“
„Der Sprecher hat gerade gesagt, dass niemand verletzt wurde.“
„Ich gehe trotzdem hin.“
„So kurz nach der Pressekonferenz ist das vielleicht keine so gute Idee. Nach
Ihrer Rede wurde vereinzelt davon gemurmelt, dass bestimmte Organisationen
bevorzugt werden“, meinte sein Stabschef.
„Das ist mir egal.“ Bill ging zur Tür. „Sagen Sie meinem Chauffeur, er soll den
Wagen vorfahren.“
„Wann sind Sie zurück?“
„Vielleicht nie“, erwiderte Bill und musste über Wallys entsetzten
Gesichtsausdruck lächeln.
Der Fahrstuhl brauchte ewig. Es fiel Bill schwer, ruhig darauf zu warten, aber ihm
blieb nichts anderes übrig, wenn er kein Aufsehen erregen wollte.
Endlich glitt die Tür auf. In der Kabine befand sich nur eine einzige Person –
Eloise Vale. Ihre Blicke trafen sich.
Ohne Zögern betrat Bill den Fahrstuhl und postierte sich so, dass niemand sich
ihnen anschließen konnte, bevor die Tür sich schloss. Dann drückte er wortlos auf
den Halteknopf, legte die Hände auf Eloises Schultern und küsste sie lange und
leidenschaftlich.
Sie schnappte nach Luft, als er sich von ihr löste, und sah ihn blinzelnd an. „Heißt
das, du vergibst mir?“ fragte sie nach einem kurzen Schweigen.
„Nein, das heißt es nicht. Es heißt, ich bin froh, dass ich nicht erst zu dir fahren
muss, um zu wissen, dass alles in Ordnung ist.“
„Du warst auf dem Weg zu mir?“
„Ich habe in den Nachrichten von dem Mann gehört, der dich mit einer Waffe
bedroht hat“, erklärte er.
„Er hatte nur eine Spielzeugpistole“, beruhigte sie ihn. „Ich war nie in
Lebensgefahr.“
„Dann ist es ja gut. Und warum bist du jetzt hier?“
„Ich wollte dir danken. Die Lösung, die du für Manhattan Multiples gefunden hast,
ist einfach brillant.“
„Schmeichlerin“, entgegnete er.
„Und ich wollte mich dafür entschuldigen, wie ich mich gestern Abend benommen
habe. Ich hätte dich anhören sollen, anstatt voreilige Schlüsse zu ziehen.“
„Ja, das hättest du.“
„Du solltest wissen, wie sehr ich es bereue. Deshalb bin ich hier. Du hast gesagt,
dass du nicht wiederkommst. Aber du warst auf dem Weg zu mir, nicht wahr?“
fragte sie.
„Hin und wieder ziehe auch ich falsche Schlüsse. Ich dachte, ich könnte dich aus
meinem Kopf und meinem Herzen verbannen und mich von dir fern halten,
nachdem du mich so behandelt hast. Doch das kann ich nicht“, gestand er. „Dazu
bedeutest du mir zu viel, Eloise. Aber du musst mir vertrauen.“
„Das tue ich, Bill. Gestern Abend war ich verletzt und verwirrt. Aber ich liebe
dich. Ich liebe dich sehr.“ Zaghaft berührte sie seine Wange. „Kannst du mir das
glauben?“
„Ja, ich glaube dir. Und ich liebe dich auch.“
Er zog sie an sich und küsste sie voller Zärtlichkeit. „Das heißt, ich verzeihe dir“,
sagte er heiser. „Und jetzt habe ich eine sehr wichtige Frage an dich. Lass dir mit
der Antwort Zeit. Du musst erst ganz sicher sein.“
„Los, frag mich“, drängte sie ihn mit einem scheuen Lächeln.
„Eloise Vale, Liebe meines Lebens, willst du mich heiraten?“
„Ja“, antwortete sie ohne das geringste Zögern. „O ja, ich will dich heiraten, Bill
Harper.“
Wieder küsste er sie – bis jemand gegen die Fahrstuhltür hämmerte.
„Bürgermeister Harper, sind Sie da drinnen?“ rief Wally Phillips. „Klopfen sie zwei
Mal an die Tür, wenn alles in Ordnung ist. Andernfalls rufe ich die Rettungskräfte.“ „Oh, verdammt…“ Bill ließ Eloise los, schlug zwei Mal mit der flachen Hand gegen die Tür und drückte erst auf den Halteknopf und dann auf den für das Erdgeschoss.
„Wohin wollen wir?“ murmelte Eloise.
„Wir machen eine Fahrt in meiner Limousine. Leider können wir deine Fantasie
nicht ausleben, weil es offenbar in jedem Fahrstuhl der Welt eine
Sicherheitskamera gibt. Aber wir können es mit meiner Fantasie probieren.“
„Und wie sieht die aus, Bürgermeister Harper?“ fragte sie lächelnd.
„Sie spielt im abgedunkelten Fond eines Dienstwagens.“
„Also wirklich, Herr Bürgermeister, wie ungezogen.“
„Oh, Mrs. Vale, Sie haben ja keine Ahnung… überhaupt keine.“
ENDE