Runa Moore
Tempel der Hexengöttin Irrlicht Band 411
Vivian konnte nicht mehr unterscheiden, ob das noch Spiel oder s...
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Runa Moore
Tempel der Hexengöttin Irrlicht Band 411
Vivian konnte nicht mehr unterscheiden, ob das noch Spiel oder schon Wirklichkeit war. Wie erstarrt saß sie auf ihrem Klappstuhl und befürchtete jeden Augenblick, selbst in Trance zu fallen. Ein innerer Frost ließ sie erzittern, und sie konnte deutlich das leise Klappern ihrer Zähne vernehmen. Mit höchstem Erstaunen beobachtete sie, wie die Rangda den Dolchstößen auswich, die von allen Seiten auf sie zukamen. Doch plötzlich kehrten die Männer die Messer gegen sich selbst. Wie konnte das geschehen? War das die Zauberkraft der bösen Hexe? Vivian hatte das Gefühl, als fielen ihr gleich die Augen zu. Es war wie damals, als sie beim Klang der Trommel in Trance gefallen war…
Eine nachtschwarze Wolke schob sich vor die helle Frühlingssonne. Gebannt beobachtete Vivian Hall von dem Fenster ihrer Wohnung aus, wie der Schatten der Wolke langsam über die Bäume und Menschen glitt und den letzten Rest Sonnenlicht auffraß. Sie fühlte sich niedergeschlagen, und das trübe Londoner Aprilwetter paßte zu ihrer Stimmung. Vor einem Monat hatte sie ihren Job als Reiseleiterin verloren, weil das Unternehmen pleite gemacht hatte. Und vor genau drei Tagen hatte George ihr mitgeteilt, daß es aus sei. Endgültig. Vivian hatte schon seit Wochen gespürt, daß ihr Freund sich anders verhielt. Er hatte Verabredungen abgesagt, war jedem Gespräch ausgewichen und schließlich überhaupt nicht mehr aufgetaucht. Vivian hatte es nicht wahrhaben wollen – bis zu dem Telefongespräch, wo er ihr mit heiserer Stimme gesagt hatte, daß es ihm leid täte, aber er habe eine andere kennengelernt. Vivian seufzte tief, während sie auf die Schatten starrte, die über das helle Grün des Parks hinschossen. Seit sie vor einem Jahr ihr Völkerkunde-Studium abgebrochen hatte, schien alles wie verhext. Was würde ihr wohl als nächstes widerfahren? »Suche Reisebegleiter! Reisebegleiterin ins Land der Dämonen und Götter«, drang die Stimme ihrer Freundin Judy Powell an ihr Ohr, ohne daß sie verstand, was die Worte bedeuteten. »Vivian, wo bist du?« rief Judy in einem Singsang, mit dem man verirrte Kinder im Wald suchte. Vivian zuckte zusammen. »Ja, was ist?« »Hast du gehört, was ich vorgelesen habe?« »Nein, was ist… warum? Entschuldige, ich war in Gedanken.« Vivian drehte sich um und starrte auf ihre
Freundin, die, in der Hand eine Zeitung schwenkend, ins Wohnzimmer trat. »Also, noch mal!« begann Judy von neuem und setzte sich auf den Korbstuhl an dem großen runden lisch. »Hier ist die Anzeige eines Professors der Völkerkunde von der University of London. Sie hat eine wirklich interessante Überschrift: Suche Reisebegleiter oder Reisebegleiterin ins Land der Götter und Dämonen. Was sagst du dazu?« »Hört sich irgendwie finster und bedrückend an. Warum liest du mir das vor?« »Aber das ist doch ganz klar.« Judy blickte erstaunt hoch. »Du suchst doch seit einem Monat eine neue Arbeit. Das ist doch die Chance für dich.« »Für mich? Eine Chance? Eine Reise ins Land der Dämonen? Nein, danke!« Staunend betrachtete Vivian ihre Freundin, wie sie nüchternkühl mit der Zeitung dasaß. Judy Powell war so ganz anders als sie, nicht nur äußerlich. Mittelgroß, braune Augen und braunes Haar mit einem wunderschönen kupferfarbenen Schimmer. Sie, Vivian, war groß, schlank, blond und blauäugig. Judy war praktisch eingestellt und hatte sich zusätzlich zu ihrem Beruf als Arzthelferin viele psychologische Kenntnisse angeeignet, während sie sich in das Studium der Sitten fremder Völker vergrübelt hatte. Vivian war überzeugt, daß sie Judy wohl nie getroffen hätte, wenn sie nicht als Studentin ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft gesucht hätte. Nicht auszudenken. Dann hätte sie ihre beste Freundin nie kennengelernt. »Nun hör doch erst mal, wie die Anzeige weitergeht«, fuhr Judy unbeirrt fort. »Für meine Expedition nach Bali suche ich völkerkundlich interessierte Person oder jemanden mit
Ausbildung im Fach Völkerkunde.« Judy sah auf. »Du hast doch Völkerkunde studiert.« »Ja, ein paar Semester, und dann habe ich es abgebrochen.« Vivian versuchte, die aufkommende Erinnerung zu unterdrücken. Zu unheimlich war das Erlebnis gewesen, das zum Abbruch ihres Studiums geführt hatte. »Das macht doch nichts, daß du abgebrochen hast«, erklärte Judy fröhlich. »Das wird Professor Walker kaum stören. Es geht ihm doch nur darum, daß jemand etwas Ahnung und Interesse an fremden Völkern hat.« »Ja, das mag schon sein, aber ich möchte nicht nach Bali reisen.« »Warum nicht?« Judy beugte sich vor und sah Vivian aus ihren braunen Augen an. »Ist es wegen deiner Eltern?« fragte sie mitfühlend. »Nein, das glaube ich nicht. Meine Eltern sind zwar vor zwölf Jahren bei einer Expedition in Australien verschollen und das war schlimm für mich, aber das ist nicht der Grund. Ich habe dir doch schon mal gesagt, daß ich damals dieses grauenhafte, unheimliche Erlebnis hatte, und…« »Du meinst das Erlebnis, bei dem du in Trance gefallen bist, als dieser Zauberer sein Trommelspiel vorgeführt hat?« Vivian nickte. »Aber das ist doch schon so lange her. Und was war eigentlich Schlimmes dabei? Du hast ja nie davon gesprochen. Erzähl doch mal!« »Ich möchte nicht.« »Ach, komm! Mir, deiner besten Freundin, kannst du das schon erzählen.« Judy nahm Vivians Hand. Vivian spürte die Wärme von Judys Hand und atmete tief durch. »Ich weiß, Judy. Aber ich glaube nicht, daß du verstehen kannst, welche Wirkung das alles auf mich hatte. Es… es war
einfach unglaublich… bedrohlich… Niemand wird mir glauben, wie… wie schrecklich das war.« Vivian merkte, wie sie zu zittern begann. »Auch du nicht, Judy«, fügte sie mit leiser Stimme hinzu. »Du kannst es doch wenigstens versuchen«, erwiderte Judy und sah ihre Freundin bittend an, während sie ihr beruhigend über das lange blonde Haar strich. »Vielleicht tut es dir gut, wenn du darüber sprichst.« Vivian schwieg und sah zum Fenster, durch das plötzlich wieder die helle Aprilsonne hereinschien. Dann begann sie unvermittelt zu sprechen. »Ich war damals im dritten Semester, und wir hatten eine Veranstaltung, bei der ein Schamane, eine Art Zauberer aus Nepal, seine Trommel vorführte. Es war wirklich seltsam. Kaum hatte der Mann angefangen zu trommeln, als ich mich in eine andere Welt versetzt fand. Sie hatte nichts von einem Traum. Sie war so wirklich wie diese…« »Und was war so schlimm daran?« fragte Judy. »Das Schlimmste war, daß ich bei irgendeinem finsteren Ritus geopfert werden sollte. Maskierte Männer führten mich die Stufen einer Pyramide zu einem Altar hinauf und banden mich fest. Dann kam aus einer hohen Tür eine seltsame, unheimliche Frau mit wild abstehendem blutrotem Haar und grünen Augen. Sie trat auf mich zu und riß mit der Rechten die Sichel des Mondes vom dunkelblauen Himmel… und dann…« Vivian schlug die Hände vors Gesicht. »Nein, ich kann nicht weiter… es ist zuviel…«, stieß sie hervor. »Was ist zuviel?« flüsterte Judy. »Du mußt es mir sagen, bitte!« »Ich… ich kann nicht. Sie wollte…« »Was wollte sie?«
Vivian nahm die Hände vom Gesicht. »Sie wollte mir das Herz herausschneiden«, sagte sie mit tonloser Stimme und starrem Blick. »Mein Gott«, sagte Judy und schüttelte sich. »Verstehst du jetzt, warum ich keine Reise ins Land der Dämonen und Götter machen kann, Judy?« Judy stützte ihr Kinn auf die rechte Hand und sah Vivian einen Augenblick lang nachdenklich an. »Nein, im Gegenteil.« Einen Augenblick verschlug es Vivian die Sprache. »Was hast du gesagt?« brachte sie dann langsam hervor. »Ich meine, du solltest deinen Ängsten nicht ausweichen, sondern sie Schritt für Schritt beseitigen. Und eine Reise in ein unbekanntes, fremdes Land könnte dir dabei helfen. Und außerdem hättest du dann auch noch einen Job, den du schon seit langem suchst.« »Meinst du wirklich?« Vivian spürte, wie die Erstarrung langsam aus ihrem Körper wich. »Ja, wirklich. Ich glaube auch, daß du den Mut dazu hast. Ich gebe dir jetzt nur den kleinen freundschaftlichen Anstoß, der nötig ist. Tu es…« »Vielleicht hast du ja recht.« Vivian erhob sich, ging einmal um den lisch herum und trat an Judys Seite. »Zeig mal die Anzeige her.« Judy reichte ihr die Zeitung. Vivian las und ließ kurz darauf die Zeitung sinken. »Es sind ja nur noch ein paar Tage Frist für die Bewerbung. Ich glaube, das schaffe ich gar nicht mehr.« »Vivian! Mach jetzt bloß keinen Rückzieher!« Lächelnd hob Judy den Zeigefinger. »Ich helfe dir und paß auf, du bekommst den Job.«
Am nächsten Morgen gegen elf Uhr betrat Vivian den langen Gang im Universitätsgebäude, in dem Professor Walkers Büro liegen sollte. Sie fühlte sich in einem seltsamen Zwiespalt. Sollte sie einfach umkehren und so tun, als habe sie die Anzeige nie gesehen und auch keinen Termin mit dem Professor ausgemacht? Die kahlen, nüchternen weißen Wände und der gewachste Holzboden riefen unangenehme Erinnerungen an andere öffentliche Gebäude in ihr wach. Langsam ging Vivian vorwärts. Vor der Tür mit der Nummer 23 blieb sie stehen. Auf einem kleinen messingfarbenen Täfelchen war Professor Walkers Name eingraviert. Sie zögerte. Eine Stimme in ihrem Innern drängte sie davonzulaufen. Doch dann hörte sie die Stimme ihrer Freundin, die ihr wieder Mut machte. Es kam ihr vor, als poche ihr Herz lauter als ihre Finger, die gegen das braune Holz der Tür klopften. Sie wartete einen Augenblick. Nichts! Vielleicht war Professor Walker verhindert, oder er hatte sich schon für jemand entschieden. Sie wollte sich gerade zum Gehen wenden, als eine junge Frau freundlich lächelnd auf sie zutrat. »Kann ich Ihnen ein wenig behilflich sein?« Die freundliche Stimme tat Vivian wohl. »Ja. Ich möchte zu Professor Walker. Ich habe eine Verabredung mit ihm. Er scheint aber nicht dazusein.« »Oh, er wird wohl gleich kommen.« Vivian vernahm hinter sich Schritte und die Frau neben ihr wandte sich um. »Ah, da ist er ja schon.« Ein etwa fünfzigjähriger mittelgroßer Mann mit dunklem Haar und dunklen Augen stand vor ihnen. Zu seinen hellblauen Jeans trug er ein dunkles elegantes Jackett. Seine Krawatte war leicht gelockert. Er lächelte und war Vivian auf Anhieb sympathisch.
»Die Dame möchte zu Ihnen, Mr. Walker.« Damit verschwand die junge Frau hinter einer der nächsten Türen und Professor Walker reichte Vivian die Hand. Vivian spürte einen festen Händedruck, der ihr Vertrauen weckte. »Professor Walker«, stellte er sich vor, wobei sein Lächeln anhielt. »Ich nehme an, Sie kommen wegen der Stelle als Reisebegleiterin.« »So ist es.« Vivian nickte und sah den Professor an. An wen erinnerte er sie nur mit dem warmen, freundlichen Blick aus den dunklen Augen? Auch seine Stimme kam ihr bekannt vor. »Die Vorlesung hat heute ein wenig länger gedauert. Kommen Sie doch zunächst einmal herein.« Er öffnete die Tür und ließ ihr den Vortritt. Vivian hielt den Atem an. Trotz seiner sachlich wirkenden Möbel stand das Arbeitszimmer von Professor Walker in einem starken Gegensatz zu dem nüchternen Flur. Vivian hatte das Gefühl, mit einem Schlag in eine andere Welt versetzt zu werden. Überall hingen Landkarten und Bilder oder standen exotische Kunstgegenstände. Sogar auf dem Sessel des Professors lag ein merkwürdig geschnitzter bunter Gegenstand. »Nehmen Sie bitte Platz!« Der Professor wies auf einen bequemen Sessel vor dem riesigen Schreibtisch und nahm mit einem Lächeln die Holzfigur aus seinem Ohrensessel aus Großvaters Zeiten, bevor er sich setzte. Er beugte sich vor, legte beide Hände wie zum Beten unter seiner Nasenspitze zusammen und sah sie aus seinen dunklen Augen an. Vivian zuckte zusammen, als sie ihn so sitzen sah. An wen erinnert er mich bloß? dachte sie verwirrt. Dann wußte sie es plötzlich. Professor Walker erinnerte sie an ihren Vater! Der gütige Blick, die warme Stimme, die Geste, wie er die Hände zusammenlegte. Genau wie ihr Vater.
Sie war zehn Jahre alt gewesen, als ihre Eltern nicht zurückkehrten, doch die Stimme und den Blick ihres Vaters würde sie nie vergessen. Vivian spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie räusperte sich und rückte auf dem Sessel hin und her. Dann hatte sie sich gefangen. Professor Walker saß noch immer regungslos und schweigend hinter dem Schreibtisch und sah die junge Frau ganz aufmerksam an. Vivian überlegte, ob sie das Gespräch beginnen sollte und starrte auf die Verzierungen des Tisches. Er schien aus dem vorigen Jahrhundert zu stammen. Durch seine helle Farbe hob er sich deutlich von der übrigen Einrichtung ab. Riesige Folianten, aufgeschlagene Bücher und Bücher, aus denen lange Zettel hingen, türmten sich auf. Über all dem waren auch noch Landkarten ausgebreitet. Unter einer Karte entdeckte Vivian eine dämonische Fratze, die sie anzuglotzen schien. Erschrocken fuhr sie zusammen, zwang sich jedoch, sogleich noch einmal hinzusehen. Der bunt bemalte Kopf war wohl aus Holz geschnitzt und hatte die Zähne gefletscht. Von unten kreuzten sich zwei dolchartige Riesenzähne mit zwei Reißzähnen, die aus den oberen Ecken des Rachens hervorstießen. Professor Walkers Augen folgten ihrem Blick zu dem hölzernen Dämonenbild. »Das ist ein guter Geist. Er heißt Barong und ist der Oberherr der guten balinesischen Dämonen. Vor dem brauchen Sie keine Angst zu haben.« Wieder erschien das gütige Lächeln auf seinem Gesicht. »Wenn so die guten aussehen, wie sehen dann die bösen Dämonen aus?« Vivian versuchte ihrer Stimme einen leicht amüsierten Unterton zu geben. Aber es gelang ihr nicht ganz. »Oh«, meinte der Professor. »Sie unterscheiden sich tatsächlich auf den ersten Blick nicht besonders von den bösen. So haben zum Beispiel alle Dämonen, ob gut oder böse, diese
dolchartigen Giftzähne. Man muß sie schon näher kennenlernen, um sie wirklich voneinander unterscheiden zu können.« Er wies mit der rechten Hand auf einen Aktenschrank, auf dem eine etwa dreißig Zentimeter große, bunt bemalte Holzstatue stand. »Das da ist die böse Gegenspielerin des Barong, die Hexe Rangda.« Vivian betrachtete das schreckliche und zugleich merkwürdig anziehende Schnitzwerk näher und es wurde ihr ganz unheimlich zumute. Etwas an der Gestalt kam ihr außerdem merkwürdig vertraut vor. Eine Frauenfigur mit nacktem Oberkörper hatte den rechten Fuß auf den Kopf eines Mannes gesetzt, so als habe sie ihn besiegt. Eine lange Zunge wand sich schlangengleich bis zum Bauchnabel. Über dem giftzahnbleckenden Maul blähten sich Nüstern bis an die kugelförmigen hervorquellenden Augen. Drei rote Ringe umgaben die tief schwarzen Augäpfel. Dann fiel Vivians Blick auf einen schlangenförmig gewundenen Dolch unmittelbar hinter der Hexenkönigin. Einen Augenblick schien es so, als verwandle er sich in eine halbmondförmige Sichel. Vivian stockte der Atem. Voll Entsetzen fiel ihr der Alptraum ein. Sie holte tief Luft und dachte an den Zettel, den ihr Judy am Morgen hinterlassen hatte. Judy hatte geschrieben: Zuerst mußt du immer Ruhe bewahren. Dann wirst du es schaffen, deine Ängste zu besiegen. Sie atmete tief durch. »Aus welchen Gründen haben Sie denn Ihr Studium abgebrochen, wenn ich fragen darf?« Der Professor sah sie freundlich lächelnd an, während er einen Bleistift zwischen seinen Fingern fein und herdrehte. Vivian blickte zu Boden. »Aus privaten Gründen«, sagte sie schnell. Judy hatte ihr geraten, möglichst allgemein zu bleiben. Professor Walker legte den Bleistift hin und erhob sich. »Nun gut. Das war’s eigentlich schon, was ich noch von Ihnen
wissen wollte. Ihre Aufgabe wird es vor allem sein, alle wichtigen Stationen unserer Reise schriftlich festzuhalten. Sie können sich als eingestellt betrachten, wenn Sie die Stelle haben wollen.« Vivian räusperte sich. »Ja, eigentlich schon.« »Oder haben Sie es sich inzwischen anders überlegt, nachdem Sie die Bekanntschaft mit den Dämonen gemacht haben?« Der Professor sah erst auf die Holzfiguren und darin auf Vivian. Sie spürte, wie eine Welle der Sympathie und des Vertrauens sie erfaßte. »Nein. Es ist alles ganz in Ordnung. Ich werde Sie in das Land der Dämonen und Götter begleiten.« »Das freut mich«, erwiderte der Professor und schüttelte ihr die Hand. »Ich hoffe, daß Sie mir etwas länger erhalten bleiben als Ihre Vorgängerin. Meine frühere Mitarbeiterin hat geheiratet und damit keine Zeit mehr für so interessante Arbeit wie Expeditionen in fremde Länder.« »Das wird bei mir nicht geschehen«, sagte Vivian spontan und dachte an George. So schnell würde sie sich auf keine neue Beziehung einlassen! »Sind Sie sich da sicher?« fragte der Professor mit einem Schmunzeln und begleitete Vivian zur Tür. »Ganz sicher!« »Für alle weiteren Formalitäten wenden Sie sich doch bitte an die freundliche Dame, der Sie vorhin im Gang begegnet sind, ich sehe Sie dann am nächsten Montag auf dem Flughafen Heathrow. Auf Wiedersehen.« Der Professor reichte ihr noch einmal die Hand und kurz darauf stand sie vor der Tür. Sie konnte es noch gar nicht richtig fassen. Einerseits freute sie sich. Es war ihr gelungen,
die Stelle zu bekommen. Und der Professor gefiel ihr außerordentlich gut. Er gab ihr inmitten all der dämonischen Figuren und Masken und ihrer eigenen Ängste ein Gefühl des Geborgenseins und der Wärme. Wie ein Vater! Nur im hintersten Winkel steckte noch so ein merkwürdiges, unheimliches Gefühl, das ihr zu sagen schien: Warte es nur ab, du wirst schon sehen, was noch an Finsterem auf dich zukommen wird! Doch Vivian hörte nicht auf diese Stimme. Sie beeilte sich, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen und Judy alles zu erzählen.
Neugierig steckte Judy ihren Kopf ins Zimmer. »Und wie war’s?« »Komm schnell rein, ich erzähle dir alles sofort.« Vivian goß sich gerade eine Tasse frischen Kaffee ein. Judy schloß die Tür hinter sich und ließ sich am Kaffeetisch nieder. »Hm, riecht gut. Also, hast du die Stelle?« »Ja, ich habe die Stelle. Auch eine Tasse?« »Aber sicher. Das müssen wir doch feiern. Und? Was habe ich dir gesagt?« »Ja, du hast recht gehabt. Es hat alles so geklappt, wie du es gesagt hast, aber…« »Aber was? Du machst ja ein Gesicht, als seien dir alle Fälle davongeschwommen.« Vivian hob ihre Tasse zum Mund und nahm einen Schluck. »Ich werde trotz allem das Gefühl nicht los, mich auf noch mehr Unheil zuzubewegen.« »Aber Vivian, das ist doch Quatsch. Denk an das, was ich dir auf den Zettel geschrieben habe und alles wird gut. Zuerst Ruhe bewahren und dann überlegen.« »Ja, du hast gut reden. Du hast das ja alles nicht erlebt.«
»Nein, Vivian, ich glaube dir, wie schrecklich dein Erlebnis damals war, aber du wirst es überwinden. Ich bin ganz sicher. Wie geht es denn nun weiter?« »Wie ich inzwischen von der Sekretärin erfahren habe, geht es darum, daß eine neue Art Tempel entdeckt worden ist, wie man sie in Bali bisher noch nicht gefunden hat. Der Professor ist ganz begierig darauf, ihn als erster zu untersuchen und damit eine bedeutende Entdeckung zu machen. Aber zunächst fliegen wir noch nach Amsterdam und besuchen den Mann, der dem Professor den Auftrag vermittelt hat.« »Na wunderbar! So kommst du endlich auf andere Gedanken. Wie ist denn der Professor? Ich meine, was ist er für ein Mensch?« Vivian schwieg einen Augenblick. Dann sagte sie: »Ich finde ihn unheimlich sympathisch. Er erinnert mich an meinen Vater. Wenn er nicht so nett gewesen wäre, hätte ich wohl doch einen Rückzieher gemacht.« »Wieso denn?« fragte Judy erstaunt und blickte Vivian über den Rand ihrer Kaffeetasse an. »Weil sein Arbeitszimmer voller gruseliger Dämonenbilder ist.« »Ach so. Aber das gehört doch zu einem Professor der Völkerkunde, Vivian. Wann geht’s denn nun los?« »In drei Tagen. Der Professor ist, glaube ich, sehr ehrgeizig. Er will den neuen Tempel so schnell wie möglich untersuchen.« »Verständlich. Du fliegst also am Montag. Ich freue mich für dich, Vivian.« Judy stand auf und umarmte ihre Freundin. »Bringst du mich zum Flughafen?« »Das ist doch selbstverständlich!« Judy nahm noch einen Schluck aus ihrer Tasse. »Ich werde jetzt noch eine gute Flasche Wein für heute abend einkaufen und dann feiern wir noch. Also, bis später.«
Vivian blieb alleine am Kaffeetisch zurück. Was würde sie ohne das aufheiternde Wesen Judys machen, ganz allein auf sich gestellt in einer völlig fremden Umgebung? Ein Frösteln überlief sie.
Vivian Hall blickte nach links aus dem kleinen Fenster des Flugzeugs hinaus auf die riesigen Wolkenberge, die sich unglaublich weiß von dem strahlenden Blau des Himmels abhoben. Sie fühlte sich heiter und gelöst und zugleich freudig erregt. Sie konnte sich ihre Stimmung selbst nicht erklären. Ob es das Glas Champagner nach dem guten Essen war? Oder einfach nur das Gefühl, frei und unbeschwert hoch oben über der Erde zu schweben? Sie dachte nicht weiter nach. Wozu überhaupt ständig über Kommendes grübeln? Judy hatte recht. Neben sich hörte sie das Geräusch von raschelnden Papieren. Professor Walker blätterte die Seiten in einem dicken Buch um. Sie wandte sich ihm zu. »Daß Sie während des Fluges arbeiten können. Ich bin viel zu aufgeregt dazu.« »Ich bin schon öfter diese Strecke geflogen. Für Sie scheint sie neu zu sein. Wie fühlen Sie sich denn?« »Oh, mir geht es wunderbar. Ich hätte nicht gedacht, daß Fliegen so schön sein könnte.« Der Professor schmunzelte. »Sie haben also keine Angst vorm Fliegen?« »Im Gegenteil. Es macht mir Freude. Ich glaube fast, ich habe mehr Angst auf der Erde. Ist das nicht seltsam?« Der Professor sah sie nachdenklich an. »Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Für einen gläubigen Balinesen wäre die Erklärung jedenfalls kein Problem.«
»Wie meinen Sie das?« »Oh, ganz einfach. Nach dem Weltbild der Balinesen kommen aus dem Meer und der Erde die bösen Dämonen, während die guten Götter von oben, von den Bergen kommen und sich nur zeitweilig auf ihren Sitzen in den Tempeln niederlassen. Da wir uns zur Zeit in der Region der Götter aufhalten, muß es Ihnen ganz einfach gut gehen.« Er lächelte hintergründig. »Sie scherzen.« »Nicht ganz. Aber vielleicht liegt es ja auch nur an der unglaublich schönen Wolkenlandschaft da draußen, an den überirdisch weißen Wolken und dem überwirklichen Blau des Himmels.« »Ja, das könnte sein. Sie sehen aus, wie die heiteren Wohnungen der Götter, die ganz hoch über allen irdischen Sorgen schweben. Vielleicht lebten die olympischen Götter auf solchen Wolkenbergen.« Der Professor ordnete einen Teil seiner Papiere und verstaute sie in seiner Aktentasche. »Auf Bergen lebten sie auf jeden Fall. Wie auch die Götter in Bali. Zwar sind die Berge auf Bali auch von Wolken umgeben. Aber die Berge sind nicht so harmlos. Es sind nämlich Vulkane.« Ein Schatten legte sich auf Vivians heitere Stimmung. Bei dem Wort Vulkane sah sie, wie vor einem finsteren Himmel sich rote Lavamassen auf menschliche Behausungen zuwälzten und entsetzte Menschen die Flucht ergriffen. Sie schüttelte sich. »Sind die Vulkane noch tätig?« »Allerdings. Der letzte Vulkanausbruch war 1961.« Er kramte in seinen Papieren und reichte Vivian eine schmale Broschüre. »Hier habe ich eine kleine Schrift für Sie, aus der Sie einiges über Bali, über Land und Leute, Götter und Dämonen erfahren können.«
»Danke.« »Der neue Tempel liegt übrigens auf einem dieser Vulkanberge.« »Ist das nicht zu gefährlich, sich in diese Gegend zu begeben?« »Nein, das glaube ich kaum. Aber es könnte Schwierigkeiten anderer Art geben.« »Schwierigkeiten ganz anderer Art?« »Nun, der Tempel liegt in einem Gebiet, in das sich die Ureinwohner zurückgezogen haben. Den Gott, an den sie glauben, darf niemand sehen, sonst ist er entweiht. Wenn dieser Gott in dem neuentdeckten Tempel wohnt, dann…« »Was dann?« »Dann könnten sie uns vielleicht Schwierigkeiten machen.« Vivian stutzte. Auf was hatte sie sich da eigentlich eingelassen? Sie hätte sich doch ausführlicher mit dem Professor unterhalten müssen. Sie würde vielleicht einen Vulkanausbruch erleben oder auf finstere Ureinwohner treffen. »Wenn das alles so schwierig werden kann, warum fliegen wir dann eigentlich hin?« entfuhr es ihr ungewollt. Der Professor lächelte und sah sie mit seinen dunklen Augen fest an. »Schwierigkeiten sind da, um überwunden zu werden. Und außerdem: Bedenken Sie die Bedeutung einer wirklich neuen Entdeckung. Es wäre eine Sensation, wenn es wirklich ein neuer Tempel ist!« Vivian sah den Professor staunend an. Seine Begeisterung wirkte ansteckend. Sie wollte gerade aus dem winzigen Fenster schauen, als sie plötzlich den Blick eines Mannes auf sich spürte. Er saß zwei Reihen hinter ihr und starrte sie aus seinen blauen Augen an. Schnell wandte sie sich wieder dem Professor zu.
»Was… was ist eigentlich neu an diesem Tempel?« fragte sie, obwohl sie eigentlich ja gar nicht mehr über dieses Thema reden wollte. »Alle balinesischen Tempel sind oben offen. Der Tempel, den wir untersuchen werden, aber hat eine Decke. Das ist ganz ungewöhnlich. Auf Bali…« Professor Walker redete immer weiter, aber Vivian hörte nicht mehr zu. Verstohlen warf sie einen Blick nach hinten. Aber sie sah nur noch den blonden Haarschopf des Mannes, der sie so intensivangestarrt hatte. Warum hatte er sie so angesehen? Galt sein Interesse dem Professor? Oder…? Sie sah aus dem Fenster auf die riesigen Wolkenberge. Der Professor redete immer noch. Er hat wirkliches Interesse an der Wissenschaft, sagte sich Vivian. Und das habe ich wohl nie gehabt. Es wird wohl so sein, wie ich es auch schon vermutete. Ich hätte niemals Ethnologie studiert, wenn nicht meine Eltern in Australien bei einer Reise in das Gebiet der Ureinwohner spurlos verschwunden wären. Vorsichtig drehte Vivian ihren Kopf noch einmal nach hinten und zuckte zusammen. Der blonde Mann mit den strahlend blauen Augen schien nur darauf gewartet zu haben. Vivian spürte, wie sie rot wurde, konnte aber ihren Blick nicht abwenden. Dann begann der Mann zu lächeln. Vivian konnte nicht anders. Sie lächelte zurück.
Nach vielen Stunden Flug traten sie durch Gate D1 in die Empfangshalle des Flughafens. »Wir werden abgeholt«, sagte Professor Walker. Vivian blickte sich neugierig suchend um. Frauen, Männer und Kinder liefen hin und her, aber niemand kam auf sie zu.
Enttäuscht wandte sie sich an den Professor. »Man scheint uns vergessen zu haben.« Der Professor setzte seinen Handkoffer ab. »Ich glaube, Sie müssen sich noch ein wenig an die asiatische Zeitauffassung gewöhnen.« Vivian sah den Professor an. »Was meinen Sie damit?« »Das werden Sie noch erleben. Aber seien Sie ganz beruhigt, wir werden noch abgeholt. Kommen Sie, setzen wir uns doch solange.« Er machte Anstalten, sich auf eine Sitzreihe hinzubewegen, als plötzlich der blonde Mann aus dem Flugzeug vor ihnen stand. Überrascht stellte Vivian fest, daß eine kleine, freudige Welle des Wiedererkennens in ihr aufsprang. Er mußte über ein Meter neunzig groß sein, denn er überragte Vivian um mindestens eine Kopflänge. Seine hochgewachsene sportlich wirkende Gestalt steckte in heller Tropenkleidung. Zusammen mit dem hellbonden schulterlangen Haar, das er hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, wirkte er auf Vivian äußerst attraktiv. Seine ganze Erscheinung stand in starkem Gegensatz zu dem Aussehen der meisten Menschen in der Halle, die mittelgroß oder klein waren und schwarzes oder blauschwarzes Haar über hellbrauner Gesichtsfarbe hatten. »Mein Name ist Wim van der Heidt«, stellte er sich vor. »Kann ich Ihnen vielleicht helfen?« Vivian gefiel die wohlklingende, tiefe Stimme des Mannes. »Ich weiß nicht…« Sie zögerte und sah den Professor an. »Nein, danke, das ist sehr freundlich von Ihnen«, sprang der Professor ein. Der blonde Riese lächelte Vivian an. Ihr entging nicht der leichte Ausdruck der Besorgnis in seinen Augen und sie fühlte sich etwas erleichtert.
»Nun ja«, sagte Wim van der Heidt. »Die junge Dame sah etwas verwirrt und enttäuscht aus und es schien mir, als hätten Sie jemanden verpaßt.« »Nochmals vielen Dank für Ihre Hilfsbereitschaft.« Der Professor verneigte sich ein wenig. »Aber wir warten nur auf jemanden, der uns hier abholen wird. Wir haben wirklich kein Problem.« »Wenn Sie vielleicht doch noch einmal Hilfe brauchen sollten. Hier ist meine Karte. Ich bin schon vor einigen Jahren einmal hier gewesen und kenne mich ein wenig aus. Ich wohne übrigens im Bali Beach Hotel in Sanur.« Er reichte ihnen die Hand, wandte sich um und ging. Bedauernd sah Vivian der hohen Gestalt hinterher. Er kam ihr vor wir ein Stück Vertrautheit in der Fremde. »Ein netter Mann«, sagte der Professor und sah Vivian nachdenklich an. Sie setzten sich auf zwei der modernen Plastiksitze. Vivian ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, als sie plötzlich innehielt. An einer der Säulen in der Empfangshalle ihr direkt gegenüber lehnte ein Mann mit dunkler Gesichtsfarbe und großen schrägen Augen. Seine Kleidung war eine Mischung aus europäischen und balinesischen Kleidungsstücken. Um seinen Hals hing ein blinkendes Etwas, und er starrte unentwegt zu ihr herüber. Vivian erschrak. Was ist nur mit mir los? Leide ich an Verfolgungswahn? Sie löste ihren Blick von dem dunklen Mann und blickte nach rechts, konnte es aber nicht lassen, gleich darauf zu dem Mann zurückzusehen. Sie konnte gerade noch erkennen, wie er schnell wegblickte. Sie war sich sicher, daß der Mann sie beobachtete. War er der Mann, der sie abholen sollte? Sie stieß den Professor an, der in ein Buch vertieft war. »Mr. Walker…«, flüsterte sie.
»Ja, bitte!« Der Professor sah auf. Vivian beugte sich etwas vor und sagte leise: »Ich glaube, da drüben an der Säule der Mann beobachtet uns. Vielleicht ist er unser Chauffeur?« »An der Säule?« »Ja.« »Da steht niemand.« Vivian sah zur Seite. Da stand tatsächlich niemand. Der Mann war verschwunden, stellte sie erschrocken fest. War sie am Phantasieren, oder warum war der Mann so schnell verschwunden? Irgend etwas stimmte nicht. Unruhe ergriff sie. »Seien Sie nicht so ungeduldig, Miss Hall, wir werden noch früh genug abgeholt«, meinte der Professor und vertiefte sich wieder in sein Buch. Doch Vivian wurde das Gefühl einer unbekannten Drohung nicht los. Woher kam dieses Gefühl? Der dunkelhäutige Unheimliche hatte sie so prüfend angesehen, wie der Zollbeamte, als er ihr Paßfoto mit ihrem Gesicht verglich. Sie kam ins Grübeln und wurde immer unruhiger. Der Professor neben ihr war die Ruhe selbst und ganz in sein Buch versunken. Schließlich erinnerte sie sich an die guten Ratschläge ihrer Freundin, immer zuerst die Ruhe wiederzugewinnen. Sie schob die dunklen Gedanken beiseite, und so gut es ging, entspannte sie sich auf dem harten Plastiksitz. Da fiel ihr Wim von der Heidt ein. Schade, daß er nicht mehr da war. Sie nahm seine Karte heraus und studierte sie. Unter seinem Namen stand als Berufsbezeichnung: Maler und Fotograf. Was ihn wohl nach Bali geführt hatte? Sie sah auf die große Uhr über der Anzeigetafel. Es war bereits eine ganze Stunde seit ihrer Ankunft vergangen. Der große Zeiger ruckte gerade wieder ein Stück weiter, als sie aus
den Augenwinkeln jemanden auf sie zu schreiten sah. Der Mann schien sich zu beeilen, lief aber nicht. Wenige Schritte vor ihnen blieb er stehen und verneigte sich. »Entschuldigen Sie, Sir, daß es etwas länger gedauert hat«, wandte er sich an Professor Walker. Einen Augenblick zögerte er. »Sie sind doch Professor Walker aus London?« »Ja, der bin ich.« Der Gelehrte erhob sich. »Ich bin Pak Tugur, Ihr vom Ministerium zugeteilter Chauffeur und Reisebegleiter. Ich konnte leider nicht früher kommen, weil…« Der Mann räusperte sich. »Nun, es hat noch einige Änderungen gegeben.« »Welche Änderungen?« fragte der Professor unwillig. »Darüber kann ich Ihnen nichts sagen. Minister Ida Bagus Pura wird Sie heute nicht empfangen können. Und morgen auch nicht. Der Minister wird sich bei Ihnen melden und mit Ihnen über den weiteren Verlauf Ihres Besuches bei uns sprechen.« »Aber so war das doch alles nicht geplant!« entfuhr es dem Professor. Er begann, nervös auf- und abzulaufen. Der Chauffeur stand drei Meter entfernt von ihnen mit seiner hellen Uniformmütze in seinen dunklen Händen und tat so, als habe er nichts gehört. Dann sagte er höflich und distanziert: »Ich werde Sie auf Geheiß des Ministers heute in ein Dorf südlich der Hauptstadt abseits der Touristenstrände bringen und Ihnen morgen dort den Markt zeigen.« »Das ist äußerst merkwürdig«, murmelte der Professor vor sich hin und eine tiefe Falte des. Unmuts bildete sich zwischen seinen schwarzen Augenbrauen. Erfreut stellte Vivian fest, daß auch der Professor ungeduldig werden konnte und nicht der ruhige Buddha war, als der er meistens erschien.
Kurze Zeit später ruckelte der Jeep über die Straßen in Richtung Denpasar, der elf Kilometer entfernten Hauptstadt von Bali. Vivian saß allein auf dem Rücksitz und hing ihren Gedanken nach. Sie fühlte sich müde und erschöpft. Außerdem wurde sie das Gefühl nicht los, daß irgend etwas nicht stimmte. Da war dieser unheimliche Mann mit der blinkenden Halskette, der sie genau beobachtet hatte. Und jetzt diese unerwarteten Änderungen ihres Besuchsprogramms. Sie versuchte, die dunklen Gedanken zu verscheuchen, die sie wie lästige Insekten umkreisten. Mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck steuerte Pak Tugur den Jeep durch Denpasar, durch ein wildes Gewühl aller möglichen Fahrzeuge. Professor Walker saß schweigend neben dem Balinesen. Nach zwei Stunden Fahrt hielt der Jeep schließlich in der Nähe eines kleinen Dorfes bei Sanur, außerhalb des eigentlichen Tourismusgebietes, vor zwei schönen grasgedeckten Bungalows. Vivian stieg aus. Weißer Strand breitete sich vor dem türkisfarbenen Meer aus, auf dem die bunten Segel von Auslegerbooten kreuzten. Große Palmenwipfel wiegten sich im sanften Wind, der die Hitze erträglicher machte. Der Professor trat an Vivians Seite. »Nun, wie finden Sie’s?« »Oh, es ist einfach wunderbar.« Ihre dunklen Gedanken über den unheimlichen Mann, der sie beobachtet hatte, erschienen ihr ganz unwirklich und wie ferne Träume angesichts des hellen Sonnenlichts, das sich glitzernd auf den Kämmen der Wellen brach. Sie löste ihren Blick von dem funkelnden Geflimmer und trat in den dämmrigen Bungalow. Eine angenehme Kühle lag in den niedrigen Räumen. Sie packte ihren Koffer aus und machte es sich auf dem breiten, flachen Bett gemütlich. Der Professor
brauchte sie nicht mehr, und sie war froh darüber, sich ein wenig ausruhen zu können. Sie nahm eine exotisch aussehende Frucht aus einer großen Schale, schnupperte daran und biß hinein. Sie schmeckte köstlich. Dann griff sie nach dem schmalen Bändchen über Bali, das ihr der Professor überlassen hatte, und schlug das Kapitel Über den Kampf zwischen guten und bösen Dämonen auf. Fasziniert begann sie zu lesen. Überall tauchte der Name Rangda auf. Als böse Urhexe war sie Herrin über Hunderte verschiedener Spukgestalten und wurde von jenen Menschen angerufen, die schwarze Magie betrieben. Ihr bevorzugter Platz war der Friedhof. Der Barong, der gute Geist und Fürst der Wälder, betrieb weiße Magie und schützte Dorf und Friedhof. Er kämpfte als Herr aller Rechtschaffenen gegen die böse Hexengöttin Rangda. Vivian hatte den Eindruck, daß die hohen Götter sich wenig in das Leben der Menschen einmischten, daß man aber ständig auf der Hut war vor den Angriffen böser Dämonen und Menschen, die als Hexen schwarze Magie ausübten. Nach einer Weile wurde ihr ganz schwindlig und unheimlich von der ungeheuren Vielzahl von Gespenstern, Göttern und Dämonen und ihren seltsamen Vermischungen. Sie schienen Legionen zu sein, die sich unbegrenzt vermehrten. Schließlich legte Vivian das Buch zur Seite und trat noch einmal vor die Tür ihres Bungalows, um den Sonnenuntergang zu genießen. Dabei hätte sie beinahe ein kleines, aus Bambusblättern geflochtenes Körbchen umgestoßen. Es duftete nach Hibiskus und Tjempakablumen. Aus dem Büchlein wußte sie, daß dies ein Opfer für die bösen Dämonen war, das wie alle Opfer für die Unterirdischen auf den Fußboden gestellt werden mußte.
Erstaunt darüber, daß die Menschen noch immer solche Bräuche ausübten, gab sie sich ganz dem Zauber der hereinbrechenden Nacht hin. Kein Mensch war mehr zu sehen, denn die Nacht war ja voller Lajaks, voll böser Geister, denen niemand begegnen wollte. Als die Sonne im Meer verlosch und die Schwärze der Nacht sich ausbreitete, schien das Zirpen der Grillen und Zikaden zuzunehmen. Nachtvögel stießen seltsame Schreie aus. Um die schwarzen Palmenstämme glühten die Lichter der Leuchtkäfer wie Warnzeichen. Vivian dachte an Judy im fernen, kühlen grauen Norden. Sollte sie noch rasch einen Brief schreiben und ihr von all den seltsamen Geschehnissen und Eindrücken berichten? Sie sah zum Bungalow des Professors hinüber, aus dem ein schwaches Licht herüberdrang. Er saß wohl immer noch über seinen Büchern. Vivian trat in ihre Behausung zurück. Schlagartig überfiel sie eine große Müdigkeit. Sie kleidete sich rasch aus und legte sich schlafen. Der Brief an Judy würde noch eine Weile warten müssen.
Voller Angst zerrte Vivian an den Fesseln, die ihr ins Fleisch schnitten, doch sie kam nicht los und starrte entsetzt auf eine hohe Tür ihr gegenüber. Wo war sie nur? Dann fiel ihr Blick auf die vielen Stufen, die zu dem Altar hinaufführten. Jetzt wußte sie, daß gleich wieder die Hexe erscheinen und alles wieder so ablaufen würde, wie schon so oft. Ein höllisch roter Schein drang durch die Ritzen der hohen Tür, und als sie sich öffnete, überflutete das blutrote Licht das finstere Steinverlies. In dem roten Licht schritt die Hexe mit
den grünen Augen langsam auf sie zu. Sie erhob die Hand mit der Mondsichelwaffe. Gleich würde sie zustoßen! Vivian zerrte in Todesangst an ihren Fesseln. Ihr Mund formte sich zu einem entsetzlichen Schrei. In diesem Augenblick verwandelte sich die Sichel in einen schlangenförmig gekrümmten Dolch. Aufs äußerste verwundert, erstarrte sie mitten in der Bewegung. Das ist ein Kris, ein balinesischer Dolch, schoß es Vivian durch den Kopf. Ihre Angst und Panik drohten sie zu verschlingen und über ihr zusammenzuschlagen wie riesige Wellen des Weltmeers. Dann sah sie voll entsetztem Erstaunen, daß sich die Hexe verwandelte. Die Augen der Hexe traten hervor und wurden tiefschwarz. Unter riesigen Hauern schlängelte sich eine breite Zunge bis zum Nabel. Die Finger- und Fußnägel bogen sich zu Klauen. Das war ja Rangda, die Herrin aller Hexen und Schwarzmagier, die Beherrscherin aller Lejaks, aller bösen Geister! Da ertönte von irgendwoher ein silberner Ton und eine überirdische Musik erklang. Im selben Augenblick löste sich das Hexenwesen in Luft auf. Vivian öffnete die Augen. Die ersten Sonnenstrahlen drangen golden durch die Ritzen der Tür. Sie setzte sich auf und wischte sich die letzten Reste des Alptraums aus den Augen, der sie ganz zerschlagen zurückgelassen hatte. Aber da erklang immer noch der verhaltene Silberklang aus ihrem Traum. Sie sprang auf, zog sich schnell ein helles Leinenkleid über und öffnete die Tür. Die Musik kam vom Strand genau gegenüber. Hinter Männern mit Lanzen, deren Spitzen im Sonnenlicht blitzten, marschierten Musiker und andere Menschen. Sie boten einen farbenprächtigen Anblick in ihren tomatenroten, türkisfarbenen und taubenblauen Jacken. Manche waren auch ganz in Weiß gekleidet und trugen hohe Schirme. An der Spitze des
seltsamen farbenfrohen Zuges konnte Vivian reich Verzierte Schreine erkennen, die in der Sonne glitzerten und funkelten. Jetzt schlug ein Musiker auf einen riesigen Gong. Der Klang des Instruments durchfuhr Vivians ganzen Körper. Die Wirkung erinnerte sie an die Schamanentrommel. Sie spürte, wir ihr Zwerchfell vibrierte. Gebannt starrte Vivian auf das seltsame Schauspiel. Zum Schluß schienen junge Männer irgendwelche thronartigen Gebilde ins Wasser zu stoßen. Und dann stürzten sich zu Vivians ganz großer Überraschung alle mit lautem Gelächter in die blauen Fluten des Meeres. Vivian wollte gerade in den Bungalow zurückkehren, als sie von der Seite die Stimme des Professors vernahm. »Guten Morgen, Miss Vivian. Schön, nicht wahr?« »Guten Morgen, Herr Professor.« Sie freute sich, seine Stimme zu hören. »Ja, das war sehr schön, aber was hat das ganze zu bedeuten?« »Das war eine sogenannte Mukur-Zeremonie. Die Asche der Toten wird den Fluten übergeben.« »Aber die Leute lachen alle und sind froh!« »Ja, die Verbrennung der eigenen Leiche und das eigene Totenfest ist das fröhlichste Fest im Leben eines jeden Balinesen, denn bald kann er ja nach der Läuterung in den Flammen möglichst in besserer Gestalt wiedergeboren werden.« »Sonderbar!« »Es gibt noch einiges mehr an seltsamen Dingen auf Bali und unser Freund, der Minister Ida Bagus Pura, will uns, wie er mir schon heute morgen am Telefon mitteilte, diese Dinge zeigen lassen und uns so die Wartezeit verkürzen.« »Wird es noch lange dauern, bis wir zu dem Tempel aufbrechen können?«
»Er weiß leider auch noch nicht, wann wir uns auf den Weg in den Norden machen können. Es scheint da noch einige Schwierigkeiten zu geben.« »Was für Schwierigkeiten?« »Das habe ich ihn auch gefragt. Er ist mir ausgewichen. Er hat nur gemeint, wir aus dem Westen hätten es immer zu eilig.« »Und? Haben Sie es eilig?« Der Professor sah Vivian lächelnd an. »Ich wollte Ihnen eigentlich nur sagen, daß unser Marktbesuch heute morgen stattfindet.«
Zwei Stunden später parkte Pak Tugur den Geländewagen vor einem großen Dorfmarktplatz. Der Professor und Vivian stiegen aus und gingen auf den Markplatz zu. Nachdenklich blieb Vivian stehen. »Was haben Sie?« fragte der Professor besorgt. »Ist Ihnen schon zu heiß?« »Nein, es geht mir ausgezeichnet. Es ist etwas anderes. Dieser Anblick…« »Was ist mit dem Anblick?« Vivian wußte selbst nicht genau, wie sie es beschreiben sollte. Es kam ihr vor, als bewegten sich alle Leute wie in Zeitlupe, als vollführten sie irgendeine Art geheimen Tanzes. »Diese Farben und Bewegungen sind so anders als bei uns auf den Märkten. Es geschieht alles so ohne Hast.« »Ja, das ist das asiatische Zeitmaß. Ich habe Ihnen doch schon davon erzählt. Ah, da drüben sehe ich gerade einen Holzschnitzer, mit seinen Werken. Ich werde mir seine Sachen etwas näher ansehen. Wir treffen uns am Ausgang des Marktes wieder.« Schon war der Professor verschwunden. Er hat es doch noch ziemlich eilig, dachte Vivian. Sie blieb einen Augenblick in den Anblick des farbenprächtigen
Treibens versunken. Frauen balancierten auf ihren Köpfen Körbe mit Früchten oder orangerote Plastikeimer mit kleinen Teppichen oder Haushaltsgeräten darin. Eine junge Frau hielt mit der linken Hand den Korb auf ihrem rosaroten Tuchring, der ihren Kopf umschlang, und mit der rechten Hand ein kleines Kind auf die Hüfte gestützt. Das Kind trug einen kleinen roten Hut mit blauer Schnur, dessen Saum gelb leuchtete. Dunkelgrüne, hellrosa und violette Hemdjacken leuchteten über geblümten Batik-Sarongs. Und bei dem Gedränge gab es doch keine Hast oder kein Anrempeln. Die Menschen schritten eher, als daß sie gingen. Vivian gefiel diese Gangart und sie ließ sich ohne bestimmtes Ziel von dem Menschengewoge aufnehmen. So kam sie bald in den Schatten eines großen Waringinbaumes, zwischen dessen vielen grauen Luftwurzeln ein paar Frauen ihre Früchte anboten. Neben roten Mangofrüchten lagen grüngelbe Srikaya, Rosenäpfel und andere Früchte, deren Namen sie nicht einmal kannte. Sie überlegte gerade, ob sie einige Früchte einkaufen und kosten solle, als sie aus den Augenwinkeln links von sich eine Gruppe Männer sah, die verdächtig auf sie wirkte. Vorsichtig drehte sie den Kopf und erkannte erschrocken den Mann vom Flughafen, der sie so angestarrt hatte. Sie war ganz sicher, daß er es war, denn dasselbe Medaillon blitzte an seinem Hals. Sie verharrte noch einen Augenblick. Der Mann redete auf zwei weitere Männer ein und wies dann mit dem Kopf in ihre Richtung. Kein Zweifel, er hatte auf sie gezeigt. Schnell wandte sie nun den Kopf um und blickte geradeaus in die Richtung der unheimlichen Männer. Im selben Augenblick drehten sie ihr den Rücken zu und verschwanden dann in der Menge.
Was hatte das zu bedeuten? Wer waren diese Männer, die sie offensichtlich verfolgten? Und was wollten sie von ihr? Oder galt ihre Aufmerksamkeit eher dem Professor? Wo war der Professor eigentlich? Plötzlich hatte sie es sehr eilig. Sie wollte schnell zum Professor und ihm alles mitteilen. Sie fuhr herum und stieß mit einer Frau zusammen, die sie ganz erstaunt ansah. Die Gemächlichkeit, mit der die Menge sich über den Platz schob, machte sie jetzt beinahe verrückt. Sie wollte schnell zu dem Platz des Holzschnitzers, mußte sich aber dem Tempo ihrer Umgebung anpassen. Drei Minuten später kam sie dort an. Weder der Professor noch der Schnitzer waren zu sehen. Nur seine Schnitzwerke und Masken lagen ausgebreitet auf einem bunten Tuch auf der Erde. Was war geschehen? Sie mußte unbedingt zurück zu Pak Tugur. Vielleicht war ja der Professor entführt worden, schoß es ihr durch den Kopf. Bei dem Gedanken lief es ihr trotz der Hitze eiskalt den Rücken hinunter. Vielleicht wollte jemand mit allen Mitteln ihren Aufbruch zu dem Tempel verhindern. Wieso gab es aus irgendwelchen mysteriösen Gründen Verschiebungen ihrer Expedition? Und warum war der fremde Mann vom Flughafen nun schon zum zweiten Mal aufgetaucht? Ganz außer Atem kam sie beim Geländewagen an. Auch hier kein Professor. Pak Tugur saß auf dem Fahrersitz, den Kopf auf die Lehne gelegt und die Chauffeurmütze auf dem Gesicht. Er schien zu schlafen. »Tugur! Tugur!« Sie rüttelte ihn. »Der Professor. Haben Sie ihn gesehen?« Pak Tugur schreckte hoch und starrte sie verständnislos an. »Was ist mit dem Professor?« »Er ist nicht da. Vielleicht ist er entführt worden.«
»Wie kommen Sie denn darauf, Miss Hall?« Er hatte sich sofort wieder in der Gewalt und war ganz höflicher Diener. »Das spielt jetzt keine Rolle. Wir müssen sofort etwas unternehmen.« Pak Tugur blieb ruhig und gelassen und sagte höflich und ganz beiläufig: »Aber da kommt er doch, Miss Hall!« Vivian drehte sich um. Tatsächlich kam da der Professor ganz langsam auf sie zu, als wäre nichts gewesen. Erleichtert atmete sie auf.
Auf der Fahrt zurück zeigte ihr der Professor begeistert sein neu erworbenes Schnitz werk, eine kleine tanzende Barongfigur. Vivian war zurückhaltend bis wortkarg. Irgend etwas hielt sie davon ab, von den Männern auf dem Markt zu berichten, die sie beobachtet hatten. Als sie bei ihrem Bungalow ankamen, entließ Professor Walker Tugur für diesen Tag und bestellte Vivian zu sich. Und so saß sie eine Stunde später unter dem großen Schirm aus Along-Alonggras vor dem Bungalow des Professors. Sie sah hinaus auf das türkisblaue Meer. Kein Boot war zu sehen. Sie tupfte sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Sie überlegte gerade, daß ein erfrischendes Getränk jetzt genau das Richtige wäre, als sie hinter sich das einladende Klirren und Klingen von Flaschen und Gläsern vernahm. Sie drehte sich um und sah, wie der Professor ein ganzes Tablett mit Flaschen und Gläsern balancierend auf sie zukam. Seufzend setzte er das Tablett auf den etwas wackligen runden Tisch. »So, ich glaube, das haben wir uns verdient. Eine ordentliche Erfrischung nach dem anstrengenden Marktbesuch. Er war doch anstrengend, oder?«
Vivian war etwas peinlich berührt. Eigentlich wäre es ja ihre Aufgabe gewesen, für Erfrischungen zu sorgen. »Ja, teilweise schon«, stammelte sie befangen. »Aber hätten Sie mich nicht beauftragen können, für die Getränke zu sorgen?« »Ach das!« Der Professor machte eine wegwerfende Handbewegung und nahm Platz. »Nehmen Sie’s nicht so wichtig. Wir sind doch Europäer und haben kein Kastensystem. Wenn Sie meine Mitarbeiterin sind, müssen Sie nicht auch meine Dienerin sein. Bei Tugur ist das schon anders. Da muß man aufpassen, wie man sich verhält.« Er sah sie direkt an. »Habe ich etwas falsch gemacht?« fragte sie leise. Der Professor zögerte. »Nehmen Sie erst einmal einen Schluck!« Er schob ihr ein Glas hin und goß ihr ein. Dann füllte er sich selbst ein Glas und prostete ihr zu. Vivian tat die kühle Limonade gut. Der Professor zeichnete feuchte Ringe mit seinem Glas auf den lisch. »Man sollte einige Regeln einhalten und mir scheint, Sie haben eine davon gebrochen oder waren zumindest nahe daran.« »Was für Regeln?« Der Professor sah hinaus aufs Meer. »Sie müssen wohl etwas aufgeregt gewesen sein, sonst hätten Sie Pak Tugur wohl kaum am Arm gefaßt. Das ist für einen Balinesen ein noch stärkeres Eindringen in die Privatsphäre als bei einem Europäer.« »Aber ich habe ihn doch nur geweckt, weil er schlief und…« »Ich möchte Ihnen ein weiteres Beispiel geben. Wenn Sie einem Balinesen die Hand auf die Schulter legen, so ist das ein sehr starker Freundschaftsbeweis, der weit über das hinausgeht, was wir damit verbinden. Aber vor einem möchte ich Sie besonders warnen. Legen Sie niemals einem Balinesen die Hand aufs Haupt! Das erzeugt eine ungeheure Aufregung. Der Betroffene kann ganz fürchterlich in Zorn geraten, denn da
der Kopf als Sitz der Seele und des Geistes gilt, ist auch zugleich Magie im Spiel.« »Ist das wirklich alles so schlimm?« »Ja. Sie würden diesem Menschen wirklich einen sehr großen Schmerz zufügen. Im übrigen sollten Sie auch niemals etwas mit der linken Hand annehmen oder reichen. Das ist Tabu. Es ruft die bösen Dämonen herbei.« Vivian wurde unheimlich zumute. Hier schien alles und jedes mit dem Einfluß böser Dämonen zu tun zu haben. Das helle Sonnenlicht erschien ihr weniger hell als zuvor. Aber hatte der Professor sie deshalb bestellt, um sie darüber aufzuklären? Sollte sie ihm jetzt nicht besser sagen, warum sie Pak Tugur wachgerüttelt hatte? Sie setzte gerade dazu an, als der Professor fortfuhr: »Pak Tugur hat mir berichtet, daß Sie aufgeregt nach mir gefragt hätten, weil ich nicht am verabredeten Ort gewesen sei.« »Ja, das stimmt. Ich…« »Nun gut. Vergessen wir es. Ich wollte Ihnen nämlich etwas ganz anderes mitteilen. Unser Bekannter vom Flughafen, Wim van der Heidt, hat sich bei Tugur nach unseren Plänen erkundigt. Ich finde das etwas seltsam. Ich vermute allerdings…« Die Stimme des Professors wurde etwas leiser. »Ich vermute, daß sein ganz besonderes Interesse Ihnen gilt, Miss Vivian.« Vivian stieß gegen ihr Limonadenglas. »Sollte Ihnen Herr van der Heidt Schwierigkeiten machen oder sein Interesse für Sie sogar lästig werden, sagen Sie es mir bitte. Sie können auf meine Hilfe zählen.« Vivian schwieg. Professor Walker fühlte sich anscheinend verantwortlich für sie wie ein Vater. »Vielen Dank«, sagte sie. »Aber ich glaube, das ist nicht nötig.«
Interessierte sich der Maler wirklich für sie? Oder ging es ihm um ganz etwas anderes? Nachdenklich trank sie ihre Limonade aus. »Haben Sie ihn vielleicht auf dem Markt gesehen?« fragte der Professor. Vivian war ganz überrascht über diesen Gedanken. Wim van der Heidt hatte sich nach ihr erkundigt, und der Professor vermutete ihn auf dem Markt. Konnte es sein, daß er etwas mit den Männern auf dem Markt zu tun hatte? Markwürdig war es schon, daß kurz nach ihm dieser dunkle Balinese am Flughafen aufgetaucht war. Steckte er mit diesen Leuten unter einer Decke? Sollte sie dem Professor doch von den Ereignissen erzählen? Nein, ihr Widerstand dagegen war noch stärker geworden. Sie wußte selbst nicht, warum. »Für heute nachmittag gebe ich Ihnen frei«, fuhr Professor Walker fort. »Heute abend steht allerdings ein wichtiger Termin an. Der gastfreundliche Ida Bagus Pura hat uns den Besuch einer Rangda-Zeremonie ermöglicht.« Unwillkürlich zuckte Vivian zusammen, als der Professor den Namen Rangda erwähnte. Der Alptraum der letzten Nacht fiel ihr wieder ein. »Diese Zeremonie dürfen wir auf keinen Fall versäumen«, sagte Walker. »Spannen Sie aus, Vivian. Machen Sie etwas Urlaub auf Bali. Ich glaube bestimmt, das tut Ihnen gut.« Vivian lächelte den Professor dankbar an. Wäre da nicht seine freundliche, väterliche Art gewesen, sie wäre vielleicht zum Flughafen gefahren und hätte die nächste Maschine nach England genommen. Zu viele seltsame Ereignisse widerfuhren ihr, es gab zu viele Dinge, die sie sich nicht erklären konnte. Sie ging in ihren Bungalow zurück. Der Gedanke an die schauerliche Rangda-Zeremonie ließ ihr keine Ruhe. Ein kalter Schauer rann ihr trotz tropischer Hitze den Rücken hinunter. Dann hielt sie es nicht länger in ihrem
Bungalow aus. Sie mußte laufen, sich bewegen, sonst platzte ihr noch der Kopf. Sie setzte ihren großen Strohhut mit dem orangefarbenen Band auf und trat nach draußen.
Hinter den Palmwipfeln schimmerte das Meer, und es klang wie fernes Donnergrollen. Das helle Sonnenlicht und die bunten Segel der Auslegerboote heiterten ihre Stimmung etwas auf. Sie bog nach links auf den Strand und schlenderte auf der endlos lang geschwungenen Sichel des weißen Strandes entlang. Gelegentlich ging ihr Blick auf die Brandung nach rechts neben ihr. Breit und behäbig hoben sich die Wogen empor, richteten sich immer höher und höher auf, wuchsen bis zu einem Scheitelpunkt, auf dem ihnen der Wind die Gischtfahnen wegriß. Dann fielen sie donnernd und grollend in sich zusammen und schlugen in dumpfem Gebrodel gegen den Sand. Gebannt beobachtete sie einige Surfer, die auf den Kämmen der riesigen Wellenwände ritten und manchmal von ihnen begraben wurden. Sie war vielleicht eine Viertelstunde gegangen, als sie durch die Palmwipfel hindurch die Umrisse eines riesigen Gebäudes erkannte. Auf seiner Vorderfront prangte in großen geschwungenen Lettern der Name Samur Beach Hotel. Das war doch das Hotel, in dem Wim van der Heidt wohnte. Unschlüssig blieb sie stehen. Sollte sie wieder umkehren? Sie verwarf diesen Gedanken und näherte sich dem Hotel. Auf der breiten Terrasse flatterten die bunten Sonnenschirme im Wind. Sie ging etwas langsamer und betrachtete die Menschen unter den blauen und gelben Schirmen aus sicherer Entfernung.
Sie wollte sich gerade wieder dem Meer zuwenden, als ein Mann unter einem der Schirme hervortrat und ihr zuwinkte. War das nicht Wim van der Heidt? Er hob beide Hände an den Mund. »Miss Hall!« hörte sie ihn rufen. Was sollte sie tun? Einfach weitergehen, als habe sie nichts gehört? Nein, das ging nicht. Warum auch? Warum sollte sie ihn nicht begrüßen und sich nach seinem Befinden erkundigen? Sie hob den Arm und winkte zurück. Sie war noch auf der kleinen Treppe, die zur Terrasse hinaufführte, da sah sie schon die Frau an van der Heidts Tisch. Ihr rötliches Haar glänzte in der Sonne ebenso wie ihr grünes enganliegendes Kleid, das bei jeder Bewegung glitzerte und funkelte wie eine Schlangenhaut. Vivian spürte zu ihrer eigenen Verwunderung einen kleinen Stich in der Herzgegend. Doch was ging es sie an, mit was für Frauen Herr van der Heidt Umgang hatte? Sie hatte den Tisch erreicht. Vivian verspürte beim Anblick der Frau sofort eine starke Abneigung. Sie sieht ja fast so aus wie die Hexe aus meinem Alptraum, ging es ihr durch den Sinn. Gleich, darauf fühlte sie sich jedoch schon schuldig wegen dieses Gedankens und sagte sich, sie müsse sich vor Vorurteilen hüten. Van der Heidt erhob sich und wies mit der Hand auf die Frau am Tisch. »Darf ich vorstellen, Miss Hall, Miss Jane Collins.« Jane Collins blieb sitzen und reichte Vivian die Hand. »Sehr erfreut.« »Ebenso«, erwiderte diese kühl und distanziert. Sie spürte eine starke Abneigung gegen die Frau. In ihren grünen Augen, die genau zu der Farbe des Kleides paßten, lag etwas, das Vivian abstieß. »Nehmen Sie doch bitte Platz, Miss Hall«, wandte sich van der Heidt an Vivian. »Was möchten Sie trinken?«
»Ein kühles Mineralwasser, bitte.« »Ich kann Ihnen diesen Longdrink sehr empfehlen«, sagte er und hob sein Glas. »Er besteht aus Arrak mit Limonensaft mit Honig gesüßt.« »Arrak? Das ist doch Alkohol? Nein, vielen Dank.« Alkohol konnte sie überhaupt nicht gebrauchen. Sie brauchte einen klaren Kopf. »Also gut, ein Mineralwasser.« Vivian betrachtete van der Heidt. Er trug einen hellen Tropenanzug. Sein blondes Haar und seine hellblauen Augen sahen in dieser Umgebung fast exotisch aus. Er ist sympathisch, mußte sie sich eingestehen. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß er irgend etwas mit jenen Männern zu tun hatte, die sie verfolgten. »Sind Sie schon lange hier?« wandte sich Jane Collins an Vivian. »Nein, erst ein paar Tage. Aber es kommt mir viel länger vor.« Sie bemühte sich, besonders freundlich zu sein. Sie wollte Jane Collins auf keinen Fall merken lassen, welchen unsympathischen Eindruck sie von ihr hatte. »Oh, das geht wohl jedem Fremden auf Bali zuerst so. Es gibt so viel Neues, das man erst verarbeiten muß.« Sie ist also keine Touristin, dachte Vivian. »Wie lange leben Sie schon hier?« fragte sie. »Oh, ich glaube, beinahe sieben Jahre. Ich arbeite als Sekretärin bei einer Export-Import-Firma in Singaraja.« »Singaraja? Wo ist das?« »Singaraja ist eine Hafenstadt im Norden, eine Stadt aus der Kolonialzeit der Holländer. Aber über diese Stadt müßte Ihnen eigentlich jetzt Mr. van der Heidt alles erzählen können. Er will nämlich demnächst dorthin und hat mir auch schon Löcher in den Bauch gefragt.«
Van der Heidt lächelte. »Ja, aber ich weiß immer noch nicht genug über diesen interessanten Ort.« Jane Collins lächelte zurück. »Interessant ist er schon, aber es gibt so viel Interessantes und Schönes auf Bali, daß man gar nicht weiß, wo man zuerst anfangen soll.« Ein kleiner Lichtblitz blendete Vivian für einen Augenblick. Am Nachbartisch hatte ein junger Balinese seine lange Mähne plötzlich herumgeworfen, und er trug eine spiegelnde Sonnenbrille. Er legte gerade einer viel älteren Europäerin die Hand auf den Arm. »Aber viele sagen, der Zauber Balis sei längst vergangen und der Tourismus habe so Überhand genommen, daß er die alten paradiesischen Verhältnisse zerstöre«, warf der Maler ein. »Ja, das ist sicherlich für bestimmte Gegenden zutreffend. Ich habe auch am Anfang geglaubt, ganz Bali bestehe nur aus Bierbuden, Souvenirläden und billigen Absteigen. Aber etwas weiter nördlich finden Sie kaum noch einen Touristen.« »Und da kann man noch das unverfälschte Bali kennenlernen?« fragte van der Heidt. Vivian horchte auf. Hatte van der Heidt bei ihrer ersten Begegnung nicht behauptet, er sei schon einmal auf Bali gewesen und kenne sich sehr gut aus? Merkwürdig. »Ja, da kann man Bali noch kennenlernen. Man muß allerdings sehr vorsichtig sein«, sagte Jane Collins und sah dann aufs Meer hinaus. »Vorsichtig?« fragte Vivian. »Wieso?« Jane Collins sah Vivian aus ihren grünen Augen an. »Zum Beispiel sind die Vulkane im Norden nicht ungefährlich. Aber auch hier drohen Gefahren. Man muß sich vor den bösen Dämonen in acht nehmen, die aus der Erde kommen, oder…« Sie deutete mit ihrem Glas aufs Meer hinaus, »… aus den Tiefen des Meeres.«
Vivian wandte ihren Blick von Jane Collins ab und betrachtete van der Heidts regloses Gesicht. Glaubte er etwa, was diese Frau erzählte? »Daß man sich vor Vulkanen vorsehen muß, verstehe ich ja«, sagte Vivian, »aber vor bösen Dämonen? Wie meinen Sie das? Glauben Sie denn selbst an die Existenz böser Geister?« »Ja, das tue ich.« In den grünen Augen von Jane Collins blitzte es auf. Wim van der Heidt rückte seinen Stuhl ein wenig näher an den Tisch heran. »Aber Miss Collins! Sie wollen doch nicht im Ernst behaupten…« »Doch, ich habe sogar schon selbst solche Geistererscheinungen erlebt.« Nun konnte Vivian in den Augen des Malers den reinen Unglauben sehen. »Nein, das ist nicht möglich. Sie wollen uns einen Bären aufbinden«, sagte er. »Keineswegs. Die meisten Balinesen haben schon solche Erlebnisse mit bösen Dämonen oder Hexen aus dem Gefolge der Rangda gehabt.« Da ist er wieder, dieser Name Rangda, der mich schon die ganze Zeit verfolgt, dachte Vivian. Und heute abend soll ich auch noch eine Aufführung mit diesem Hexenwesen besuchen. »Ist das nicht die Todesgöttin, die auch Leichen frißt?« hörte sie van der Heidt sagen. »Ja, das tut sie auch. Sie hat viele Seiten. Sie ist wahrscheinlich noch älter als die Menschenfresserei auf Bali.« Vivian begann zu frösteln. »Menschenfresserei? Auf Bali?« »Ja, sicher. Bevor die Hindureligion sich verbreitete, gab es hier Menschenfresser, Kopfjäger wie auf Borneo. Und in gewissem Sinne gibt es auch heute noch die Menschenfresserei.« »Wie meinen Sie das?« Vivian wurde es ganz unheimlich zumute bei diesen ungeheuerlichen Behauptungen.
»Nun, Genaues weiß man da nicht. Aber die Abgründe im Inneren der Insel sind nicht nur die Höllenschlünde der Vulkane«, sagte Jane Collins bedeutsam und lehnte sich gemütlich in ihrem Stuhl zurück. Wim van der Heidt beugte sich vor. »Können Sie uns mehr darüber erzählen?« »Nein, das möchte ich nicht.« »Aber was waren das für Geister, die Sie selbst erlebt haben?« fuhr der Maler fort. »Das waren Hexen, die sich in Lejaks, böse Geister verwandelt hatten und die sich nachts herumtreiben und Unheil verbreiten.« »Und wie sehen solche bösen Geister aus?« »Nun, eigentlich können sie fast jede Gestalt annehmen. Oft zeigen sie sich als feurige Kugeln, die zu atmen scheinen und seltsam schwebend in der Nacht herumspuken.« Vivian konnte nicht glauben, was sie da hörte. Ihr Mund war ganz trocken. Sie führte ihr Glas an die Lippen und blickte an Jane Collins vorbei. Und da sah sie ihn. Vor dem Hoteleingang, neben den leuchtenden Hibiskuspflanzen. Sein Auftauchen versetzte ihr einen ebenso großen Schrecken, wie es eine Geistererscheinung getan hätte. Es war der Mann mit dem Medaillon. Für einen Augenblick starrte er zu ihnen herüber, dann verschwand er im Hotel. Es war, als habe er sich aufgelöst wie ein Gespenst am hellichten Tag. Das Glas entglitt ihren Fingern und zerschellte klirrend auf dem Steinboden. »Miss Hall!« Vivian hörte die Stimme Wim van der Heidts und spürte seine Hand auf ihrem Arm. »Miss Hall, geht es Ihnen gut?«
Wie aus tiefer Benommenheit kam Vivian wieder zu sich. »O ja, danke. Es ist nichts weiter, nur eine Ungeschicklichkeit. Ich bin vielleicht etwas überanstrengt.« »Ich hoffe, meine Schilderungen von den Dämonen haben Sie nicht zu sehr aufgeregt«, sagte Jane Collins besorgt. »O nein. Das hat nichts damit zu tun. Es ist wirklich nicht schlimm.« »Dann sind wir ja beruhigt«, meinte Wim van der Heidt. Wir hat er gesagt, dachte Vivian. Er schien sich also mit Jane Collins irgendwie verbunden zu fühlen. Das machte sie etwas traurig. »Aber wenn Sie wirklich noch so überanstrengt von der Reise sind und überwältigt von den neuen Eindrücken«, fuhr van der Heidt fort, »dann müssen Sie einfach noch ein wenig Urlaub machen, bevor Sie auf Ihre Expedition gehen. Wie wär’s, wenn Sie morgen früh mit mir im Auslegerboot auf dem Meer herumschipperten? Sie haben doch Zeit, oder?« Vivian zögerte. »Ja, Zeit habe ich schon.« »Aber?« Hatte Jane Collins nicht gesagt, daß die Dämonen aus den Tiefen des Meeres kamen? Aber der Ger danke kam ihr plötzlich lächerlich vor. »Ja gut, warum nicht«, sagte sie so entschlossen, daß sie selbst überrascht war. Die Möglichkeit, daß van der Heidt mit den Männern auf dem Markt unter einer Decke steckte, verbannte sie in den hintersten Winkel ihres Bewußtseins. Und die dunklen Ahnungen hatten sicherlich nichts zu bedeuten. Daß sie manchmal den Unterschied zwischen Leben und Tod markierten, sollte sie bald erfahren.
Es war schon dunkel, und der fahle Vollmond hing über den schwarzen Umrissen der Palmen, die sich deutlich von dem
graublauen Nachthimmel abhoben, als sich Vivian auf den Weg zur Rangda-Aufführung machte. Sie traf den Professor vor seinem Bungalow. »Gut, daß Sie einen Mantel angezogen haben«, sagte der Walker und musterte sie wohlgefällig. »Es kann nachts manchmal sehr kühl werden in der Nähe des Meeres. Wir geht es Ihnen?« »Danke. Es geht mir gut.« Ihre Stimme war wie von selbst etwas leiser in der Dunkelheit. Sie überlegte kurz, dann sagte sie: »Ich habe zufällig Wim van der Heidt getroffen und er hat mich für morgen früh eingeladen, mit ihm in einem Auslegerboot zu segeln. Geht das in Ordnung oder haben Sie Arbeit für mich?« Sie sah, wie der Professor die Stirn runzelte. »Von mir aus. Wenn es Ihnen Spaß macht, sich mit Herrn van der Heidt zu treffen. Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß…« »Ja, ich weiß«, sagte Vivian schnell. »Aber ich glaube, ein kleiner Ausflug wird mir guttun.« »Einverstanden. Morgen abend allerdings müßten Sie sich für mich freihalten. Der Minister hat ein Treffen verabredet, bei dem Ihre Anwesenheit notwendig ist. Übrigens hat er vorgeschlagen, sich im hiesigen Wantilan, der Halle für die Hahnenkämpfe, zu treffen. Ich weiß zwar auch nicht, warum er uns nicht schlicht in seinem Ministerium empfängt, aber was sollen wir machen? Alles läuft ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe. Möchten Sie sich gerne einen richtigen Hahnenkampf ansehen?« Vivian schauderte. »Richtige balinesische Hahnenkämpfe, bei denen sich die Hähne gegenseitig mit den messerscharfen Sporen an den Füßen zerfleischen? Nein, überhaupt nicht. Gibt es denn keinen anderen möglichen Treffpunkt?« »Das habe ich ihn auch schon gefragt. Ich konnte mir nämlich nicht vorstellen, daß Sie Lust darauf hätten, einer
solch blutigen Veranstaltung beizuwohnen. Er wäre allenfalls geneigt, einen möglichen Treffpunkt in der Nähe des wantilan auszumachen.« »Das wäre mir schon lieber. Aber finden Sie es nicht auch merkwürdig, daß wir uns nur in der Nähe eines solchen schaurigen Ortes treffen können?« »Nun, ich finde inzwischen einiges merkwürdig. Aber wie dem auch sei. Bei der Veranstaltung heute ist Ihre Anwesenheit unbedingt nötig. Das hat mir der Minister noch einmal eingeschärft, sonst können Sie nicht an der Expedition teilnehmen, was ich sehr schade fände. Allerdings möchte ich Sie zu nichts zwingen.« »Ich komme mit.« Sie gingen langsam durch die kühle Nacht in Richtung Dorf. »Wissen Sie Näheres über diese Vorführung, die uns erwartet?« fragte Vivian. Sie wollte das Gefühl der Beklemmung loswerden, das sie beschlich, je näher sie dem Dorf kamen. »Was Sie heute abend erleben werden, ist ein Trance-TanzDrama, das den Kampf zwischen der bösen Hexe Rangda und den guten Kräften des Barong darstellt.« Bei dem Wort ›Trance‹ zuckte Vivian innerlich zusammen. Panik erfaßte sie und drohte sie zu überschwemmen. Was wäre, wenn sie bei dieser Vorführung selbst in Trance fiel? Wie damals, als das Trommeln einsetzte. Sie schob den Gedanken an das entsetzliche Erlebnis schnell beiseite. »Herr Professor, ich habe noch eine Frage. Fallen die Darsteller wirklich in Trance oder tun sie nur so?« »Das ist eine gute Frage. Die Trance ist wohl bei den verschiedenen Tänzern unterschiedlich stark. Die meisten fallen allerdings wirklich in tiefe Trance.«
Inzwischen waren sie auf einem freien Platz am Ende des Dorfes angelangt. Im Lichte vieler Fackeln und anderer Leuchten konnte Vivian das gespaltete Tor des Tempels sehen. »Das ist der Todestempel des Ortes«, raunte der Professor ihr zu. Eiskalte Schauer überliefen Vivian. Beim Näherkommen glitt ihr Blick über die beiden Hälften des oben offenen Tores. Dabei kam es ihr vor, als würden die steinernen Dämonenfratzen lebendig. Sie verdrehten die Augen und fletschten die Giftzähne. Vivian hatte das Gefühl, als vermehrten sie sich unter ihren Blicken. Denn immer wieder starrte ihr noch eine Fratze aus dem schattenhaften Dunkel entgegen und immer aufs neue hob das Licht der Fackeln die bedrohlichen Reiß- und Fangzähne aus der dämonischen Finsternis. Gedämpft drangen die Klänge einer wilden Janitscharenmusik an ihr Ohr. Sie war erleichtert, als sie neben sich die Stimme von Professor Walker vernahm. »Kommen Sie«, sagte er leise, faßte sie um linken Arm und führte sie die Treppe hinauf, auf der auch links und rechts von ihnen noch steinerne Dämonen Böses ausbrütend hockten. »Wir werden von einem Priester erwartet.« Als sie oben angekommen waren, glitt eine Gestalt in Weiß auf sie zu. Der Professor flüsterte kurz mit dem Priester, dann folgten sie dem Mann bis zu einer Stelle, wo zwei Klappstühle für sie aufgebaut waren. Wortlos sah der Professor Vivian an und deutete auf einen der beiden Stühle. Vivian nickte und nahm Platz. Die wilde, leidenschaftliche Musik war so laut geworden, daß ein Gespräch unmöglich war. Die Musik wurde von einem Gamelanorchester hervorgebracht, das halblinks von ihnen saß. Es waren etwa
fünfzig Balinesen, die ihren Schlaginstrumenten immer wildere Rhythmen entlockten. Als die Musik eine solche Höhe der Leidenschaft erreichte, daß Vivian sich nicht mehr vorstellen konnte, wie diese überboten werden könnte, stürmten plötzlich acht Männer in den Innenhof des Tempels. Sie hatten die Augen geschlossen und schwangen in ihren Händen die langen schlangenförmigen Messer, die Vivian als Kris kannte. Als die Männer sich kurz darauf paarweise gegeneinander wendeten, hatte Vivian den Eindruck, als folgten sie einer unheimlichen und vielleicht tödlichen Choreographie. Plötzlich zuckten sie die Dolche gegeneinander. Vivian erschrak zutiefst. Wie giftige Schlangen blitzten die Dolche vor dem finsteren Hintergrund des Nachthimmels auf und der Mond schien noch bleicher zu werden. Als sie zustießen, hielt Vivian die Luft an. Doch keiner der Kämpfer ging zu Boden. Dann sah sie genauer hin. Es floß auch kein Blut aus den Wunden. Was ging hier vor? Hatte der eine den anderen verletzt oder nicht? Wenn nicht, wie konnten die Tänzer die kraftvoll geführten Bewegungen so genau aufeinander abstimmen, daß sie einander nicht verletzten? Vivian war wie gebannt. Dann lösten sich zwei der Kämpfer aus der Reihe und kamen auf ihre Plätze zu. Die Menge der Zuschauer wich schon zur Seite. Gleich würden die mit den scharfen Dolchen bewaffneten Männer vor ihren Stühlen herumwirbeln. Vivian hatte sich schon halb aus ihrem Sitz erhoben. Da trat ein Priester in Weiß an die beiden heran und führte sie vorsichtig zurück in die Mitte des Tempelhofs. Erleichtert atmete Vivian auf. Nicht auszudenken, wenn diese TranceTänzer außer Kontrolle gerieten. Das wäre Amok gewesen.
Dann wurde alles ganz still. Als sie wieder auf den Platz sah, kämpften mehrere weiß gekleidete Priester mit einem der Trancetänzer, der besonders schwer aus der Trance zurückfand. Dann wurden die wieder in die Wirklichkeit zurückgekehrten Männer abgeführt. Eine ruhige, friedliche Musik erklang. Im hinteren Teil des Innenhofs wurden einige weitere Lichter angezündet und vor einer Kulisse, die wohl einen Wald darstellen sollte, tanzten zwei Gestalten. Von links hörte Vivian den Professor flüstern: »Jetzt begegnet der Prinz der Tochter der Hexe Rangda.« Plötzlich wurde die friedliche Idylle von einem ungeheuren Wutgeheul unterbrochen, das Vivian durch Mark und Bein ging. Die Oberhexe Rangda betrat die Szene. Wirkliches Entsetzen erfüllte das Rund des Tempelhofes. Vivian hörte die Menschen links und rechts von sich aufstöhnen. Als die Rangda, eine weiße Fahne schwingend, weiter vorrückte, verstummte die Musik des Orchesters und Vivian sah mit angstvoll geweiteten Augen, wie alle Musiker die Augen schlossen, nach hinten fielen und wie betäubt liegenblieben. Die Rangda schritt immer weiter. Die Entsetzensschreie im Publikum nahmen zu. Da sprang die Hexe von der Seite plötzlich ein seltsames Wesen an. Vivian erkannte den Barong, den Herrn der guten Dämonen. Der Barong versuchte, seine riesigen Fangzähne in die Rangda zu schlagen, doch vergebens. Die Rangda schwenkte ihre weiße Fahne, die offenbar mit großer Zauberkraft ausgestattet war, und der Barong sank leblos zu Boden. Kaum hatte der Barong den Boden berührt, da sprang ein Dutzend Männer auf, stürzte sich mit gezückten Dolchen in Richtung Rangda und stieß auf sie ein.
Vivian konnte nicht mehr unterscheiden, ob das noch Spiel oder schon Wirklichkeit war. Wie erstarrt saß sie auf ihrem Klappstuhl und befürchtete jeden Augenblick, selbst in Trance zu fallen. Ein innerer Frost ließ sie erzittern und sie konnte deutlich das leise Klappern ihrer Zähne vernehmen. Mit höchstem Erstaunen beobachtete sie jedoch gleichzeitig, mit welch geschickten Bewegungen die Rangda den Dolchstößen auswich, die von allen Seiten auf sie zukamen. Doch plötzlich kehrten die Männer die Messer gegen sich selbst. Wie konnte das geschehen? War das die Zauberkraft der bösen Hexe? Vivian hatte das Gefühl, als fielen ihr gleich die Augen zu. Es war wie damals, als sie beim Klang der Trommel in Trance gefallen war. Mit aller Kraft kämpfte sie dagegen an. Auf einmal fiel ihr Judy Powell ein. Was hatte sie noch gesagt? Nicht anstrengen, ganz ruhig bleiben. Sei ganz ruhig, sagte sie zu sich selbst. In diesem Augenblick sprang einer der Kämpfer die Rangda so fest an, daß ihm die Maske vom Gesicht fiel. In den Gesichtern der immer noch miteinander Kämpfenden stand die nackte Wut. Vivian hatte das Gefühl, als ergösse sich ein ganzer Eimer kalten Wassers über sie. Mit einem Schlag war sie wieder ganz hellwach. Ja, das war doch nur ein Spiel. Ein Spiel, aufgeführt von Schauspielern und Tänzern. Nicht Wirklichkeit. Dann beobachtete sie, wie ein Kämpfer nach dem anderen von Priestern in Weiß entwaffnet wurde und aus der Trance zurückkehrte. Einige wehrten sich mit ungeheurer Kraft und es bedurfte manchmal mehrerer Männer, um sie zu bändigen. Aber schließlich war alles vorbei. Vivian überkam eine merkwürdige Ruhe und Gelassenheit und zugleich fühlte sie sich so müde, als habe sie Schwerstarbeit verrichtet. »Wir können jetzt gehen. Pak Tugur wird uns zurückfahren«, sagte der Professor mit ruhiger Stimme.
Zehn Minuten später wünschte er ihr vor ihrem Bungalow eine gute Nacht, dann war sie allein. Kurz darauf ging sie zu Bett und fiel erschöpft in einen tiefen Schlaf.
Am nächsten Morgen erwachte Vivian aus traumlosem Schlaf und fühlte sich frisch wie lange nicht mehr. Als sie beim Frühstück noch einmal den vergangenen Abend an ihrem geistigen Auge vorüberziehen ließ, fragte sie sich, ob sie nicht vielleicht doch in Trance gefallen wäre, wenn nicht gerade in dem Augenblick der Schauspieler seine Maske verloren hätte. Was wäre ihr dann wohl widerfahren? Doch sie schob alle diese düsteren Gedanken beiseite und freute sich auf ihre Bootsfahrt mit Wim van der Heidi. Der Tag war wunderschön. Die Farben der Segel, des weißen Sandes und des türkisblauen Meeres schienen ihr noch stärker und reiner zu leuchten als gestern. Sie war in Hochstimmung und als sie von weitem Wim van der Heidt an einem Auslegerboot mit orangefarben gestreiftem Segel sah, winkte sie überschwenglich und begann zulaufen. »Na, Sie sind aber gut gelaunt heute morgen«, begrüßte er sie und reichte ihr die Hand. »Freuen Sie sich so auf unsere Bootsfahrt?« »Vielleicht.« Van der Heidt verzog in gespieltem Beleidigtsein sein Gesicht. »Nur vielleicht?« Vivian mußte lachen. »Ich will natürlich alles versuchen, um Ihre Stimmung noch etwas zu heben«, sagte er lächelnd und schob das Boot ins Wasser. »Setzen Sie sich doch gleich rein.«
Während sie in das Boot stieg, fragte Vivian: »Ist es nicht sehr gefährlich, hier mit dem Boot zu fahren? An einigen Stellen soll es sehr starke Strömungen geben.« »Gefährlich? Mit diesem Boot kaum. Um das Boot gegen das Kentern zu sichern, hat es ja diese beiden Auslegerbalken.« Van der Heidt deutete auf die beiden weißen Balken, die rechts und links von dem Boot an einem Gestänge befestigt waren. »Aha«, sagte Vivian hur. »Deshalb heißt es wohl auch Auslegerboot. Seien Sie mir nicht böse, wenn ich so dumme Fragen stelle. Ich verstehe nämlich überhaupt nichts von Booten. Ich hoffe, Sie verstehen dafür um so mehr.« Wim van der Heidt hatte sie schon mit einigen starken Ruderbewegungen weit vom Strand entfernt. »Keine Sorge. Ich bin an der holländischen Küste mit Booten aufgewachsen.« Als sich nun der Strand weiter und immer weiter entfernte und der Wind zunahm, wurde Vivian von einer leichten Unruhe gepackt. Sie wußte ja kaum etwas von Wim van der Heidt. Aber wie sollte sie es anstellen, ihn auszuhorchen und herauszufinden, ob er vielleicht etwas mit dem Mann auf dem Flughafen und seinen Begleitern auf dem Markt zu tun hatte? Sie konnte ihn doch nicht einfach fragen. Das Segel knatterte so laut im Wind, daß Vivian beinahe schreien mußte. »Sie waren schon einmal auf Bali, wann war das?« »Wie bitte?« »Sie waren schon einmal auf Bali.« »Ja, das ist schon lange her. Im Augenblick möchte ich aber nicht darüber reden.« Der Wellengang wurde stärker. Vivian hatte ein Gefühl im Magen wie auf der Achterbahn. »Ist es nicht besser umzukehren?« »Wie Sie wollen.« Wie auf Befehl wendete Wim van der Heidt das Boot.
Im selben Augenblick hörte Vivian das Knacken. Die kalte Hand des Entsetzens griff nach ihr. Und dann geschah alles sehr schnell. Sie sah, wie der Mast des Segels abbrach und mit dem Segel über Bord ging. Dann hörte sie ein Gluckern und Plätschern. Wasser im Boot! Es stieg und stieg. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Vivian auf ihre Beine, die schon bis zu den Knien im Wasser standen. »Nehmen Sie den Rettungsring!« brüllte van der Heidt und warf ihr einen weiß-rot gestreiften Ring durch das auf gischtende Wasser zu. Hastig zog sie sich den Ring über den Kopf und ihre Hände verkrallten sich verzweifelt hinein. Eine wolkenkratzerhohe Welle stürzte auf sie zu, riß das Boot in die Höhe und bohrte es gleich darauf in einen Abgrund tosenden Wassers. Kaum war sie halb bewußtlos und Wasser spuckend wieder aufgetaucht, da rollte schon die nächste berghohe Welle über sie hinweg. Als sie erneut auftauchte, sah sie sich wild stierend nach allen Seiten in diesem tosenden Inferno um. Wo war van der Heidt? Sie konnte ihn nicht mehr sehen. Entsetzen und Panik wuchsen ins Unermeßliche. Was sollte sie tun? Sie sah schon ihr sicheres Ende voraus und die wildesten Bilder gaukelten vor ihren Augen. In den wirbelnden Wassern schien die Rangda einen wilden Tanz zu tanzen. Ein irres Gelächter gellte in ihren Ohren, immer wieder unterbrochen von einem einzigen Satz: Dämonen aus den Tiefen des Meeres. Verzweifelt schlug sie mit Armen und Beinen um sich. Sie spürte den Sog einer mächtigen Unterströmung, die sie weiter ins Meer hinauszog. Wasser spuckend, nach Luft ringend tauchte sie wieder auf, als eine feste Hand um ihren linken Arm griff. »Halten Sie sich an dem Balken fest!« brüllte van der Heidt unmittelbar an ihrem Ohr. Sie ergriff den Auslegerbalken, den auch van der Heidt umklammerte.
»Wir reiten auf der nächsten Welle ans Ufer!« schrie er durch den Lärm der tosenden Wasser. Später wußte sie nicht mehr, wie sie an Land gekommen waren. Keuchend und nach Luft ringend wie ein Fisch auf dem Trockenen, lag sie schließlich neben dem schwer atmenden Wim van der Heidt auf dem weißen warmen Strand. »Es ist alles gut«, hörte sie ihn dicht an ihrem Ohr flüstern. Sie schloß die Augen.
»Dieser Ausflug aufs Meer hätte Ihnen ja das Leben kosten können. Wie geht es Ihnen, Vivian?« Der Professor zog einen Stuhl heran und setzte sich neben die Liege, auf der Vivian unter einer Baumwolldecke lag. Sie sah den Professor an und versuchte ein Lächeln. »Danke. Es geht schon wieder. Nur ein paar Kratzer.« Der Professor betrachtete eingehend seinen Tropenhelm, den er in beiden Händen vor sich hielt. »Sie hätten vielleicht doch besser auf mich gehört und wären Herrn van der Heidt nicht zu nahe gekommen.« Vivian spürte eine ungewohnte Empörung in sich aufsteigen. »Aber Herr Professor! Was kann denn van der Heidt dazu, daß das Boot den Wellen nicht standgehalten hat? Es war doch ein Unfall.« Der Professor sah sie mitleidig lächelnd an. »Ein Unfall. Ja, das habe ich zunächst auch geglaubt, bis mich die Polizei eines Besseren belehrt hat. Die Teile des Bootes, die an Land gespült wurden, weisen eindeutige Spuren einer besonderen Behandlung auf. Sie waren präpariert. Das Boot sollte untergehen.« Mit ungläubigen Augen sah ihn Vivian an. »Nein! Das kann nicht sein.« »Leider doch. Es besteht kein Zweifel daran.«
Vivian erinnerte sich, daß sie nur durch van der Heidts Kaltblütigkeit und Besonnenheit mit dem Leben davongekommen war. Sie meinte in diesem Augenblick, seine starke und feste Hand um ihren linken Arm greifend, zu spüren. Er war ihr Retter und sie war ihm dankbar dafür. Die Bemerkungen des Professors gefielen ihr nicht. »Aber Sie glauben doch nicht, daß er selbst das Boot so präpariert hat. Wim van der Heidt ist doch kein Selbstmörder. Und er hat das auch nicht alles bloß inszeniert, um den Retter für mich zu spielen«, sagte sie heftig. Der Professor lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Nein, das glaube ich auch nicht. Ich kann auch verstehen, daß Sie dem netten jungen Mann nicht zutrauen, in zwielichtige Machenschaften verwickelt zu sein. Ich hielt ihn ja zunächst auch nur für einen freundlichen und netten Menschen. Aber die wirklichen Teufel tragen keine Hörner, Miss Vivian, oder da wir uns in Bali befinden, könnte man auch sagen, die wirklichen Bösewichte haben keine Reißzähne.« »Ja, aber. Wer könnte denn…«, stammelte Vivian. Der Professor zuckte die Achseln. »Wer weiß, was Herrn van der Heidt nach Bali führt und worin er verwickelt ist. Vielleicht hat er Feinde, die ihm nach dem Leben trachten. Ist Ihnen nichts Besonderes in seiner Umgebung aufgefallen? Etwas Seltsames?« Vivian fiel der Mann ein, der sie zum dritten Mal auf der Veranda des Hotels beobachtet hatte. Wahrscheinlich würde der Professor sie nur für überreizt oder gar verrückt halten, wenn sie ihm das erzählte. »Nein«, sagte Vivian, »es ist mir nichts Besonderes aufgefallen. Aber wie kommen Sie auf den Gedanken, Wim van der Heidt sei in dunkle Geschäfte verwickelt? Dafür müssen Sie doch Gründe haben.«
Der Professor legte den Tropenhelm neben sich auf den Tisch und beugte sich dann vor. »Das will ich Ihnen gerne sagen. Ich habe ein paar Nachforschungen anstellen lassen von einigen meiner Freunde.« »Was haben Ihre Freunde herausgefunden?« fragte Vivian gespannt. »Seien Sie nicht ungeduldig, Vivian. Das Ergebnis war, daß Wim van der Heidt eigentlich Wim van der Hoop heißt.« Vivian war wie vor den Kopf geschlagen. »Er hat also einen falschen Namen.« In ihrer Stimme lag Erstaunen und der große Wunsch, nicht richtig gehört zu haben. »Ja«, sagte der Professor, »und jetzt können Sie sich fragen, wozu er sich eine andere Identität zugelegt hat.« Vivian sah zum Fenster ihres Bungalows hinaus. Draußen kreuzten wieder Auslegerboote mit bunten Segeln auf dem türkisblauen Meer, als sei nichts geschehen. War es möglich, daß sie sich so in einem Menschen täuschen konnte? War Wim van der Heidt… sie berichtigte sich erschrocken. War Wim van der Hoop ein Gangster? Ein Schmuggler vielleicht? Hatte das Ganze etwas mit ihrer Expedition zu tun? Versuchte er deshalb, sich mit ihr zu treffen? In Vivians Kopf überschlugen sich die Gedanken. Der Professor erhob sich. »Ich möchte Sie bitten, niemandem etwas über die wahre Identität van der Heidts zu sagen, solange wir nicht wissen, warum er sich in Bali aufhält. Es ist ja sogar möglich, daß er etwas mit den Verzögerungen unserer Expedition zu tun hat. Einverstanden?« »Ja«, sagte Vivian mit eigentümlich flacher und tonloser Stimme. »Gut. Dann möchte ich Sie noch fragen, ob Sie trotz des Schreckens und der Aufregung heute abend an dem Treffen mit dem Minister Ida Bagus Pura teilnehmen können. Ida
Bagus Pura wird Verständnis dafür haben, wenn Sie sich nach diesem… Unfall noch ausruhen möchten.« »Nein, das ist überhaupt nicht nötig«, wehrte Vivian ab. »Ich werde natürlich daran teilnehmen. Es sind ja noch mindestens drei Stunden bis dahin.« Als der Professor gegangen war, sank Vivian in ihr Kissen zurück und starrte an die weiße Decke. Wer war Wim van Hoop alias Wim van der Heidt? Und welche Rolle spielte Jane Collins? War sie seine Geliebte? Er ein Gangster und sie seine Komplicin? Die Gedanken und Bilder überstürzten sich. Sie sah Jane Collins auf der Terrasse des Hotels stehen und hörte ihr gellendes Gelächter, während sie in den Wellen mit den Dämonen kämpfte. Eine ungeheure Erschöpfung überfiel sie. Sie tastete nach ihrem Reisewecker. Dann sank sie zurück in ihr Kissen, schloß die Augen und schlief ein.
Für einen Balinesen war Ida Bagus Pura sehr groß und sehr hellhäutig. Er hatte nur die Andeutung schräger Augen und sein Nasenrücken war höher als der der meisten seiner Landsleute. Er trug einen hellbeigen europäisch geschnittenen Anzug. Vivian hatte den Eindruck, daß er ein höflicher, intelligenter Mann war. Der Minister verneigte sich. »Zunächst einmal möchte ich Sie recht herzlich persönlich begrüßen und insbesondere Ihnen, Miss Hall, gute Erholung auf Bali wünschen. Ich hoffe, Sie haben die Nachwirkungen des Bootsunglücks gut überstanden. Ich kann kaum glauben, daß es sich dabei um einen verbrecherischen Anschlag auf Ihr Leben handeln soll, denn Bali ist eine friedliche Insel. Was die Kriminalität angeht, so können Sie in unseren Dörfern einen Koffer tagelang am Straßenrand stehen lassen und ihn auch dort wieder abholen.«
Der Lärm von dem halboffenen Wantilan, der Halle, in der die Hahnenkämpfe des Ortes stattfanden, drang gedämpft an Vivians Ohr. Heisere, erregte Schreie und das Geflatter von Flügeln, wenn die Schreie verstummten. »Ich habe mir erlaubt, Ihnen wieder ein paar Klappstühle aufstellen zu lassen, da Sie ja den Wantilan nicht betreten wollen. Größere Annehmlichkeiten kann ich Ihnen hier draußen leider nicht bieten. Leider bin ich gezwungen, Sie hier zu empfangen.« Der Minister beugte sich wieder leicht nach vorn, als wolle er sich erneut vor seinen Gästen verneigen. »Im Ministerium ist es nicht sicher genug«, flüsterte er. Vivian war plötzlich hellwach und beobachtete gespannt den Professor. Sie konnte sehen, wie sich auf der vorher glatten Stirn ihres Chefs eine tiefe senkrechte Falte bildete. »Wie meinen Sie das? Nicht sicher genug?« fragte Walker. »Nun«, begann Ida Bagus Pura, unterbrach sich aber sogleich und wies mit der rechten Hand auf die Klappstühle, »nehmen Sie doch erst einmal Platz.« Sie ließen sich alle drei im Schatten des großen Waringinbaumes mit Blick auf die Hahnenkampfhalle nieder. »Nun«, begann Ida Bagus Pura erneut, nachdem er sich nach allen Seiten umgeschaut hatte. »Ich habe Grund zu der Annahme, daß es einen Spitzel in unserer Abteilung gibt. Es sind vor kurzem Unterlagen, die mit dem neuen Tempel zu tun haben, verschwunden und es gibt auch noch andere Merkwürdigkeiten in diesem Zusammenhang.« Vivian sah, wie sich der Professor gespannt an den links neben ihm sitzenden Ida Bagus Pura wendete. »Papiere, die mit dem Tempel zu tun hatten, sind verschwunden? Und Sie sind ganz sicher, daß Sie wegen des Tempels ausspioniert werden?« »So ist es.«
»Für wen könnten denn solche Papiere von Interesse sein?« überlegte Vivian laut. Walker zögerte und blickte vor sich hin. »Es ist natürlich möglich, daß ich einen Konkurrenten habe, der vor mir den Tempel erforschen möchte. Das würde die Steche erklären. Das bringt mich übrigens darauf, Sie zu fragen, warum Sie gerade mich und nicht einen einheimischen Experten mit der Erforschung des Tempels beauftragt haben.« Vivian konnte deutliche Anzeichen von Nervosität bei dem bisher so kühlen Ida Bagus Pura feststellen. Er rutschte auf seinem Stuhl herum und rieb sich verlegen das Kinn. »Um Ihnen das zu erklären, muß ich etwas weiter ausholen. Vor etwa einem Jahr erreichten uns zugleich mehrere Nachrichten aus der Gegend der beiden Vulkane Batur und Agung. Es war darin die Rede von einem neuartigen Tempel, den man gesehen haben wollte. Kurz darauf verschwanden zwei Männer und eine Frau spurlos in dieser Gegend. Dann hieß es, die Oberhexe Rangda sei in der Gegend mehrmals erschienen.« Vivian war wie elektrisiert. Da war sie wieder die Hexengöttin, die sie schon seit Anfang der Expedition zu verfolgen schien. »Ich habe Sie übrigens deswegen gebeten, sich unbedingt die Rangda-Aufführung anzusehen, damit Sie ermessen können, welche Wirkung ihre Erscheinung in der Bevölkerung hat.« Vivian sah die Gesichter der Menschen während der Aufführung vor sich. Zweifellos hatten die Bewohner große Angst vor Rangda! »Und was haben Sie dann unternommen?« fragte der Professor gespannt. »Gar nichts.« »Gar nichts«, wiederholte der Professor erstaunt. »Wieso denn das?«
»Hier auf Bali versucht die Dorfgemeinschaft zunächst immer, alles selbst zu regeln, bevor sie sich an die Behörden wendet. Soweit es nur geht, vermeiden die Dorfbewohner es, Hilfe von außen zu beanspruchen. Nach dem Erscheinen der Rangda war außerdem das ganze Gebiet mit schwerer magischer Unreinheit geschlagen und kein Balinese wagt es, seinen Fuß in ein solches Gebiet zu setzen. Und als dritter sehr schwerwiegender Grund kam hinzu, daß alle diese Vorkommnisse sich in einem Grenzgebiet zwischen den Ureinwohnern und den hinduistischen Balinesen abspielten.« »Die Ureinwohner in den Bergen haben sich doch ihren steinzeitlichen Glauben bewahrt. Sie verehren einen Gott, den kein Außenstehender sehen darf. Das haben Sie mir doch bereits im Flugzeug erklärt«, sagte Vivian. Der Professor nickte. Vivian erinnerte sich genau an das Gespräch. Der Professor hatte ihr da bereits gesagt, daß es Schwierigkeiten geben könne, wenn die Bergstämme in die Angelegenheit verwickelt wären. »Könnte dieser neue Tempel etwas mit dem Glauben der Ureinwohner zu tun haben?« fragte sie besorgt. »Nein, eigentlich nicht«, sagte der Professor. »Auf Bali sind normalerweise alle Tempel ohne Dach gebaut.« »Aber wer könnte dann diesen offenen Tempel erbaut haben und wie erklärt man sich das Verschwinden von Menschen in seiner Nähe und das Auftreten der Rangda?« fragte Vivian beunruhigt weiter. Der Professor sah Ida Bagus Pura an, so als erwarte er von ihm eine Antwort. Aber der zuckte nur mit den Schultern. Walker blickte zu Boden und sagte sehr langsam: »Wenn es wirklich ein geschlossener Tempel ist, besteht die Möglichkeit, daß es sich hier um die Gründung eines echten indischen Tempels auf Bali handelt und dann…« Er verstummte. »Und was dann?« fragte Vivian gespannt.
»Dann könnte es sich um einen Kult der Todesgöttin Kali handeln, die…« Vivian erschrak. »Kali? Das ist doch die Göttin, die in Indien besonders von einer Mördersekte verehrt wurde?« stieß sie atemlos hervor. »Kali, diese schreckliche Göttin mit dem schwarzen Gesicht und der langen blutroten Zunge, um deren Hals sich eine Kette aus menschlichen Schädeln windet!« Einen Augenblick waren die drei Menschen unter dem Waringinbaum ganz still. Vivian hörte wieder das Geschrei der Männer in der Hahnenkampfhalle. Dann sah sie einen Mann aus der Halle heraustreten, der einen schönen weißen Hahn vor sich hertrug, aus dessen Hals das Blut zu Boden tropfte. Der Professor unterbrach das Schweigen. »Und aus diesen Gründen haben Sie mich beauftragt?« »Ja, ich habe von einem holländischen Freund erfahren, daß Sie auch in solchen Fällen, in denen Dämonen, Geister oder andere Grenzerscheinungen eine Rolle spielten, sehr erfolgreich sind. Er hat mir versichert, daß Sie ein Fachmann auf dem Gebiet der Parapsychologie sind. Deshalb habe ich mich für Sie entschieden.« Vivian erfaßte maßloses Erstaunen. Der Professor war nicht nur ein gewöhnlicher Ethnologe, sondern offenbar eine Art Spezialist für übersinnliche dämonische Erscheinungen. Ihr wurde unheimlich zumute. »Sie haben mir gar nichts davon gesagt, daß Sie…«, stammelte Vivian erschrocken. »Daß ich es auch gelegentlich mit übersinnlichen oder dämonischen Erscheinungen zu tun habe…« Der Professor lächelte. »Warum hätte ich das tun sollen? Der Auftrag, den ich erhielt, sah nicht danach aus. Warum hätte ich Sie dann unnötig erschrecken sollen? Ich war ja bis eben selbst in dem Glauben, eine ganz normale Forschungsreise anzutreten.« Er wandte sich an Ida Bagus Pura. »Sie haben mich über den
wahren Sachverhalt im Dunkeln gelassen, wenn ich das so sagen darf.« Ida Bagus Pura rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Nun ja. Es ist… äh… Ich hatte nur wenige verläßliche Nachrichten. Dann schien sich auch alles wieder beruhigt zu haben. Bis zu ihrer Ankunft jedenfalls war die Rangda nicht mehr gesehen worden. Da war ich mir auch gar nicht mehr so sicher, ob diese Vorkommnisse überhaupt mit der Entdeckung dieses Tempels zu tun hatten.« »Seit unserer Ankunft erscheint die Rangda wieder. Gibt es noch andere Ereignisse, die mit unserer Ankunft begannen?« fragte der Professor. »Ja, gerade in den letzten Tagen ist ein Tourist in diesem Gebiet spurlos verschwunden, die Rangda wurde wieder gesehen und die schon erwähnten Papiere verschwanden aus meinem Büro. Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum sich alles etwas verzögerte, und warum ich Sie erst jetzt vollständig darüber ins Bild setzen konnte.« Nach einer kurzen Pause fügte er dann hinzu: »Ich hoffe, Sie nehmen den Auftrag noch immer an, selbst wenn er etwas anders für Sie aussieht.« Gespannt beobachtete Vivian den Professor. Er antwortete nicht sofort, sondern richtete seinen Blick in die Ferne und rieb sich nachdenklich das Kinn. Dann sagte er: »Wenn Sie mir noch einige Einheimische aus der betreffenden Gegend zur Verfügung stellen können, werde ich weitermachen. Ich kann allerdings nicht für Miss Hall sprechen. Sie hat meines Erachtens auch das Recht sich noch anders zu entscheiden.« Vivian sah, wie sich das Gesicht von Ida Bagus Pura aufhellte. Erleichtert sagte er: »Diese Unterstützung können Sie haben. Ich komme gerade von einer Besprechung mit dem Ältestenrat des! Dorfes, der dem Tempel am nächsten gelegen
ist. Sie sind bereit, Ihre Expedition zu unterstützen. Der Priester wird einige besondere Zeremonien vornehmen, damit die Leute Ihnen helfen, und dann ist der Weg für Sie frei. Schon Morgen können Sie aufbrechen.« Der Professor erhob sich. »Gut, dann wollen wir keine Zeit verlieren und gleich mit unseren Vorbereitungen beginnen.« Ida Bagus Pura erhob sich ebenfalls und trat dicht neben den Professor. »Nur nichts überstürzen. Vielleicht sollten Sie noch mit mir zusammen die Hahnenkämpfe ansehen. Bei uns wird vor jedem wichtigen religiösen Ritual ein Hahnenkampf angesetzt. Er ist ein Blutopfer für die Dämonen, damit sie ihren Durst stillen können und dann die folgenden heiligen Zeremonien nicht stören. Vielleicht täte das Ihrer Expedition auch ganz gut.« »Nun gut«, sagte der Professor, »dann werde ich das tun.« Walker wandte sich an Vivian. »Was ist mit Ihnen? Werden Sie mich weiter bei meiner Expedition begleiten, oder…« Vivian sah den Professor an. »Ich habe großes Vertrauen zu Ihnen und wenn Ihnen meine Mitarbeit wichtig ist…« »Daran besteht kein Zweifel. Überlegen Sie in aller Ruhe, was Sie tun möchten. Bis morgen früh haben Sie Zeit, Ihre Entscheidung zu treffen.« Vivian nickte. »Das ist eine gute Idee.« »Lassen Sie sich von Pak Tugur zurückfahren. Es sei denn, Sie haben es sich anders überlegt und wollen sich doch noch die Hahnenkämpfe ansehen.« »Nein, auf keinen Fall«, beeilte sich Vivian zu sagen. »Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht«, sagte der Professor. Vivian verabschiedete sich von Ida Bagus Pura und stieg in den Jeep, der sie in ihren Bungalow zurückbrachte.
Als Vivian dort ankam, war sie immer noch ganz aufgewühlt von den Neuigkeiten über den Rangda-Tempel. Aber einen besonderen Schlag hatte ihr die Tatsache versetzt, daß Professor Walker sehr oft an Fällen gearbeitet hatte, in denen übersinnliche Phänomene eine große Rolle spielten. Sie setzte sich auf die Liege in ihrem Wohnzimmer. Sollte sie weiterhin an der Expedition teilnehmen oder nicht? Sie stand auf und lief im Zimmer auf und ab. Vielleicht half ihr das, ihre innere Ruhe wiederzufinden. Wenn doch Judy da wäre! dachte Vivian seufzend. Nach ein paar Minuten war sie tatsächlich etwas ruhiger. Sie legte sich hin, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die weiße Decke. War ihr Erlebnis während ihrer Trance vielleicht eine Vorausdeutung auf die Zukunft, die sie erwartete? Erwartete sie der Tod im Tempel der Oberhexe? Sie hatte Judy ja gar nicht alles erzählt. Das Schrecklichste hatte sie selbst ihr verschwiegen. In ihrem Alptraum hatte ihr die Hexe das Herz bei lebendigem Leibe herausgerissen. Vivian schauderte noch jetzt bei der Erinnerung daran. Schattenhafte Wesen hatten angefangen, sie Stück für Stück aufzufressen, ohne daß sie ihr Bewußtsein verlor. Vielleicht waren die Erlebnisse weitere Hinweise auf ihren bevorstehenden Tod. Bei der Rangda-Aufführung war sie nur knapp einer drohenden Trance und damit dem äußersten Entsetzen entgangen. Wenn es stimmte, daß die Dämonen auch aus den Tiefen des Meeres kamen, so war das Bootsunglück vielleicht als ein weiterer drohender Hinweis zu verstehen. Konnte sie unter diesen Umständen an der Erforschung des Rangda-Tempels teilnehmen? Oder waren das alles nur Hirngespinste? Ruhelos drehte sich Vivian von einer Seite auf die andere. Plötzlich meinte sie aus weiter Ferne eine Stimme zu hören. Es war Judys Stimme, die
sagte: »Weiche deinen Ängsten nicht aus. Nimm weiter teil an der Expedition.« Vivian vergrub ihren Kopf in den Kissen. Dann fielen ihr vor Erschöpfung die Augen zu. Aber sie fand keine Ruhe! Wilde und grausige Träume suchten sie heim, und am Ende jeder Folge der schrecklichen Bilder erschien immer wieder die Oberhexe Rangda oder die Todesgöttin Kali. Dann lag sie plötzlich gefesselt auf dem Altar im Tempel der Todesgöttin und der Dolch in der Hand der Rangda blitzte unmittelbar über ihr auf. Vivian schrie laut auf. Sie hörte ihren eigenen Schrei. Aber dann ertönte plötzlich ein Gong. Sie riß die Augen auf und war plötzlich hellwach. Das Zimmer war noch immer erleuchtet. Sie erinnerte sich, daß sie das Licht nicht ausgeschaltet hatte. Sie war auch in ihren Kleidern eingeschlafen. Aber was war das für ein Geräusch? Vor ihrem Fenster rumpelte und polterte es dumpf. Langsam erhob sie sich und schob sich von der Seite an das Fenster heran. Dann hielt sie den Atem an und zog langsam, ganz langsam den Vorhang ein Stück zur Seite. Sie spähte hinaus in die mondhelle Nacht. Da war nichts! Nichts als die schwarzen Schatten, welche die Palmen warfen. Plötzlich hörte sie dasselbe dumpfe Poltern unmittelbar vor ihrer Tür. Erschrocken preßte sie sich gegen die Wand. Lauerte da irgendein Ungeheuer, ein Dämon, unmittelbar vor ihrer Schwelle? Eine Weile blieb sie wie erstarrt gegen die Wand gepreßt stehen. Dann näherte sie sich vorsichtig der Tür. Sollte sie die Tür öffnen? Sie legte ihr Ohr an die Türfüllung und lauschte. Da war nichts mehr zu hören. Langsam öffnete die junge Frau die Tür. Zuerst fiel ihr Blick auf die oberste Stufe der kleinen Treppe. Da fehlte doch etwas. Richtig! Da fehlte das kleine Körbchen aus Bananenblättern und Blumen, das Opfer für die Dämonen. Irgend jemand oder
irgend etwas hatte sich hier zu schaffen gemacht. Eine Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen. Dann ging ihr Blick höher und in die Ferne. Wie erstarrt blieb Vivian stehen. Zwischen den schwarzen Stämmen der Palmen bewegte sich seltsam gleitend, schwebend und pulsierend eine goldene Lichtkugel, und daneben stand die Rangda. Vivians Herzschlag setzte für einen Augenblick aus. Sie wurde von kaltem Entsetzen gepackt und war wie gelähmt. Dann verschwanden beide Erscheinungen, tauchten aber kurz darauf ein Stück weiter links auf. Was hatte das alles zu bedeuten? Schnell schloß sie die Tür und lehnte sich, tief Luft holend, mit dem Rücken dagegen. Sie hatte das Gefühl, ihre Knie seien so weich wie Gummi. Sie zitterte am ganzen Körper. Gleich werde ich einfach zu Boden gleiten und liegen bleiben, dachte sie voller Verzweiflung. Doch sie raffte sich auf. Sie mußte jemanden rufen, der ihr Zeuge war für diese Erscheinungen. Sie konnte nicht immer alles alleine tragen mit dem zusätzlichen Zweifel, daß es vielleicht nur ihre Einbildung war. Das war einfach unerträglich. Sie mußte den Professor wecken. Ohne zu zögern lief sie zu ihrem rückwärtigen Fenster, stieg hinaus und klopfte wenig später an das Fenster des Professors. Noch atemlos von dem schnellen, geduckten Lauf lehnte sie sich gegen die Wand des Bungalows. Der Mond schien hell und die Palmwipfel hoben sich tief schwarz von dem silbriggrauen Himmel ab. Die Häuser und Gegenstände warfen schwarze Schatten, und auf ihren Armen spürte Vivian die Kühle der Nacht und den Tau des kommenden Morgens. Sie wollte gerade noch einmal klopfen, als sich das Fenster langsam öffnete. »Wer ist da?« flüsterte der Professor.
»Ich bin es, Vivian. Ich muß Ihnen etwas Wichtiges zeigen«, flüsterte sie zurück. »In Ordnung.« Wenig später trat die Gestalt des Professors neben sie. Sie konnte in dem silberhellen Mondlicht erkennen, daß seine nackten Beine in nicht gebundenen Schuhen steckten und unter seinem schnell übergeworfenen Mantel gestreifte Pyjamahosen hervorsahen. Aber das machte ihr jetzt gar nichts aus. »Was gibt es?« flüsterte der Professor. »Kommen Sie!« Vivian ging voraus, bis zu der Ecke ihres Hauses, von wo aus sie die Stelle sehen konnte, an der die Erscheinung aufgetreten waren. Überrascht blieb sie stehen. Vor ihr lag der Palmenhain mit seinen schwarzen Stämmen. Sonst nichts! »Es ist nicht mehr da«, sagte Vivian verzweifelt. »Oder können Sie noch etwas sehen?« »Ich kann nichts Besonderes sehen. Was sollte ich denn sehen, Miss Vivian?« Die Stimme des Professors klang besorgt. »Die golden pulsierende Kugel und die Rangda.« »Die Rangda?« »Ja, ich habe sie dort drüben gesehen.« Sie deutete mit dem Zeigefinger in die Richtung, »und ich wollte, daß Sie sie auch sehen, damit ich sicher sein kann, daß ich nicht geträumt habe. Jetzt glauben Sie vielleicht, daß ich verrückt bin, aber ich habe sie wirklich gesehen.« Der Professor sah sie lange nachdenklich an. »Keine Angst, Miss Hall, ich glaube Ihnen sogar, daß Sie die Erscheinungen gesehen haben.« »Sie glauben mir wirklich?« fragte Vivian fassungslos. »Ja«, erwiderte der Professor und legte behutsam seinen Arm um Vivians Schulter. »Aber es ist besser, wir sprechen
darüber, wenn es heller Tag ist. Versuchen Sie, sich noch etwas auszuruhen.« Der Professor begleitete Vivian bis zu ihrem Bungalow. »Ich habe mich übrigens schon entschieden«, sagte Vivian leise, als sie vor der Tür angekommen waren. »Inwiefern?« fragte der Professor. »Ich habe großes Vertrauen zu Ihnen. Ich werde an der Expedition weiter teilnehmen.« »Ich glaube, das ist eine gute Entscheidung, Miss Vivian. Ich freue mich. Und jetzt schlafen Sie gut. Wir haben einen anstrengenden Tag vor uns.«
Am liebsten wäre Vivian einfach ausgestiegen, um in diese Symphonie aus Grün einzutauchen. Doch Pak Tugur hießt nicht an, sondern fuhr zügig, ohne den Blick nach rechts oder links in die Landschaft gleiten zu lassen, in Richtung der Vulkanberge Batur und Agung im Norden der Insel. Die vielen Grünabstufungen tagten Vivians Augen wohl und beruhigten sie gleichzeitig. Noch nie hatte sie ein so strahlendes Smaragdgrün gesehen wie das der Reisfelder. Der Wind bewegte die Halme in sanften Wogen und brachte immer wieder neue Schattierungen von Grün hervor. Und das alles vor dem dämmereigen Blaugrün der Waldränder, dem Dunkelgrün der Königs- und Kokospalmen und dem fahlen Gelbgrün des reifen Korns. Eine tiefe, friedliche Ruhe ging von der ganzen Landschaft aus. Die letzte Nacht mit ihren gespenstischen Erscheinungen schien Vivian einem anderen Leben anzugehören. Sie fuhren durch kleine Dörfer mit Lehmhäusern, in denen Kinder auf der Straße spielten. Ein alter Mann schlurfte über die staubige Dorfstraße und trieb seine Enten vor sich her.
Der Professor hatte sie auf später vertröstet, als sie ihn um seine Meinung zu ihren nächtlichen Erlebnissen gebeten hatte. Jetzt saß er neben ihr, blickte nur ab und zu aus dem offenen Jeep in die grüne Landschaft und steckte dann aber gleich wieder die Nase in sein Buch. Sie nahm sich ein Herz. »Professor Walker, ich hoffe, ich störe Sie jetzt nicht allzu sehr.« Der Professor hob seinen Blick vom Buch und sah sie freundlich an. »Nein, überhaupt nicht. Was gibt es denn?« »Ich kann mir nicht helfen. Ich werde die Gedanken an mein nächtliches Erlebnis mit der Rangda nicht los. Und Sie wollten mir doch einiges dazu sagen.« »Selbstverständlich. Was wollen Sie denn wissen?« »Am meisten beunruhigt mich die Frage, ob ich mir das nicht alles nur eingebildet habe.« »Das muß durchaus nicht sein, Miss Hall.« »Sie meinen, es könnte wirklich eine Erscheinung der Rangda gewesen sein und nicht nur mein Hirngespinst?« »Ja«, antwortete der Professor ruhig und gelassen. »Aber was ist es denn dann gewesen? Wie kann man das alles erklären?« »Das ist nicht einfach. Haben Sie früher schon einmal ähnliche Erlebnisse gehabt?« Vivian zögerte. Sollte sie dem Professor von ihrem TranceErlebnis erzählen? Der Gelehrte schien ihre Gedanken zu erraten. »Sie müssen mir nicht alles erzählen, Miss Hall. Sie brauchen es mir lediglich zu bestätigen. Ich werde es auch nicht weitererzählen. Da können Sie ganz sicher sein.« Vivian empfand wieder großes Vertrauen zu dem Mann an ihrer Seite. Sie hatte das sichere Gefühl, mit ihm sprechen zu können wie mit einem richtigen Vater. Langsam sagte sie: »Ja,
ich hatte einmal vor längerer Zeit eine ähnliche Erscheinung, als ich ganz zufällig in Trance fiel.« »Aha!« Der Professor legte für einen Augenblick den rechten Zeigefinger auf seine geschürzten Lippen. »Dann sieht das alles schon ganz anders aus.« »Wie meinen Sie das?« »Es ist durchaus möglich, daß Sie mit besonderen medialen Fähigkeiten begabt sind. Ich habe mich das übrigens auch schon gefragt.« »Warum?« Der Professor schmunzelte. »Nun, damit sind Sie mir als meine Mitarbeiterin noch wertvoller geworden.« Vivian erschrak. Vielleicht hätte sie doch besser geschwiegen. Jetzt war es zu spät. Sie sah sich schon im Geist als eine Art Lockvogel für böse Dämonen. »Sehen Sie mich nicht so furchtsam an. Ich werde Sie nicht den bösen Dämonen ausliefern. Wenn Sie wirklich mediale Fähigkeiten haben, dann werden Sie von ganz alleine von diesen Erscheinungen heimgesucht.« »Das ist ja nicht sehr beruhigend«, seufzte Vivian und dachte an all die Schrecknisse, die ihr noch bevorstehen könnten. In diesem Augenblick kam der Jeep mit einem heftigen Ruck zum Stehen. Der Professor beugte sich vor. »Was ist los, Pak Tugur?« »Der Stamm einer Palme liegt quer über der Straße. Ich kann nicht weiter, Mr. Walker«, rief Pak Tugur, ohne sich umzudrehen. »Und was machen wir jetzt?« »Vielleicht können wir ihn von der Straße ziehen. Ich werde einmal nachsehen.« Pak Tugur rutschte von seinem Sitz, trat auf die Straße und ging auf den Stamm zu.
»Warten Sie bitte einen Augenblick«, sagte der Professor zu Vivian, stieg ebenfalls aus und trat neben Pak Tugur. Vivian konnte die Rücken der beiden Männer sehen und ihre Gesten, aber nicht hören, was sie sagten. Sie sprang aus dem Jeep. Gerade wollte sie um das Heck des Jeeps biegen, als ein wildkriegerisches Brüllen und Schreien sie zusammenzucken ließ. Vor ihr sprangen vier Männer aus dem Unterholz. Sie trugen braune Strumpfmasken über ihren Gesichtern und eine Art grünbraunen Tarnanzug. Drei von ihnen rasten an der Schnauze des Jeeps vorbei in Richtung Professor und Pak Tugur. Der vierte kam genau auf sie zu. Mit weit aufgerissenen Augen preßte sie sich mit dem Rücken gegen den Jeep. Vor Schreck konnte sie sich nicht vom Fleck rühren. Gerade hatte sie die Herrschaft über ihre Glieder wiedererlangt und wollte sich zur Seite wenden, da ergriffen zwei rauhe Hände ihren Arm und drehten ihn um. Schmerzerfüllt schrie sie auf. Im selben Augenblick hörte sie Motorengeräusche. Sie sah, wie wenige Meter vor ihr ein Motorrad hielt. Ein großer Mann sprang herunter und kam mit riesigen Sätzen auf sie zu. »Hände hoch oder ich schieße!« brüllte er. Sofort ließ der Angreifer ihren Arm sinken und rannte in Richtung Unterholz. Die drei anderen folgten ihm. »Sind Sie verletzt?« fragte der Mann. Vivian stutzte. Diese Stimme kannte sie doch! Sie sah den Motorradfahrer an, aber sie konnte seine Augen nicht erkennen. Die Motorradbrille war über und über mit kleinen schwarzen Moskitoleichen bedeckt. Da schob der Mann die Brille zurück auf die Stirn. Da erkannte sie ihn sofort. Es war Wim van der Heidt oder Wim
van der Hoop, wie sie in Gedanken hinzufügte. In diesem Augenblick war es ihr gleichgültig. Sie freute sich nur, ihn hier wiederzusehen. »Was machen Sie denn hier?« stieß sie noch immer atemlos hervor. »Das erkläre ich Ihnen später«, sagte er nur. »Sie sind doch nicht etwa allein hier?« »Nein. Der Professor und Pak Tugur sind dort vorne, bei dem Baumstamm.« »Kommen Sie!« Wim van der Heidt faßte sie am Arm und ging mit ihr um den Jeep. Vivian erschrak und lehnte sich an Wim van Hoop. Pak Tugur lag flach auf dem Boden, das Gesicht nach unten, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Der Professor setzte sich gerade auf und betupfte mit einem weißen Taschentuch eine blutende Wunde auf seinem Kopf. »Sind Sie schwer verletzt, Herr Professor? Kann ich irgend etwas tun?« Wim van der Hoop löste sich von Vivian, die noch immer an ihn gelehnt dastand, und trat auf den Professor zu. »Ah, Herr van Heidt, da kommen Sie ja gerade rechtzeitig. Was führt Sie hierher?« fragte Professor Walker erstaunt. »Der reine Zufall. Ich bin auf dem Weg nach Singajara.« Der Professor faltete sein blutiges Taschentuch sorgfältig zusammen und hielt es in der rechten Hand. »Mir fehlt weiter nichts. Nur eine Beule. Wie geht es Ihnen, Vivian?« »Danke, gut.« »Was ist mit Pak Tugur?« fragte Wim. Vivian sah, wie Pak Tugur vorsichtig unter einem Arm hervorblinzelte und sich dann langsam aufrichtete. Offenbar war er nicht gerade einer der mutigsten. »Mit mir ist alles in Ordnung. Keine Sorge«, sagte der Balinese verschämt und richtete sich auf.
Der Professor wandte sich an seinen Fahrer. »Vielleicht können Sie uns ja sagen, was wir von alledem zu halten haben.« »Ich?« Pak Tugur wies verdattert mit dem Finger auf sich. »Warum ich?« »Na, Sie sind doch Balinese und kennen sich in ihrem Heimatland aus.« »Ich kann Ihnen leider gar nichts sagen, Mr. Walker.« »Na schön. Jedenfalls scheint Bali doch nicht ganz die von aller Kriminalität freie Idylle zu sein, als die sie uns Ida Bagus Pura geschildert hat. Was meinen Sie denn dazu, Herr van der Heidt?« »Ich kann Ihnen da auch nichts sagen.« Van der Heidt rückte seine Brille zurecht. Vivian bemerkte, wie sich wieder die steile senkrechte Falte auf der Stirn des Professors bildete. Der Professor sah van der Heidt scharf an. »Aber vielleicht können Sie mir verraten, warum Sie bei Unglücken und Überfällen, die mich und meine Assistentin betreffen, nicht weit entfernt sind.« Van der Heidts Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen. »Was wollen Sie damit andeuten?« »Gar nichts. Ich wundere mich nur. Haben Sie sich das denn noch nicht selbst gefragt?« Van der Heidt zuckte mit den Schultern. »Gefragt habe ich mich einiges. Aber was sollen diese ungenauen Spekulationen und Verdächtigungen? Mit noch mehr Berechtigung könnte ich Sie fragen, was Sie davon halten, daß Miss Vivian immer in diese Vorfälle verwickelt ist. Wissen Sie es vielleicht, Miss Vivian?« Vivian war ganz erschrocken. Was sollte sie mit diesem Überfall zu tun haben? Wollte van der Heidt auf diese Weise von sich ablenken? Doch sie konnte es sich überhaupt nicht mehr vorstellen, daß van der Heidt in undurchsichtige
Machenschaften verwickelt war. Ihr Herz fing an heftig zu klopfen, wenn sie daran dachte, wie zärtlich und fürsorglich er noch vor wenigen Minuten seinen Arm um sie gelegt hatte. »Ich kann dazu überhaupt nichts sagen«, meinte sie und starrte in das helle Grün um sich herum. »Da sehen Sie’s, Herr Professor. Keiner weiß irgend etwas darüber. Also sollten wir unsere Spekulationen auch einstellen.« »Ich gebe Ihnen recht«, räumte Walker ein. »Wir sollten versuchen, den Baum von der Straße zu räumen«, schlug van der Heidt vor. »Mit vereinten Kräften werden wir es schaffen. Anschließend fahre ich mit meinem Motorrad als eine Art Eskorte voraus, bis zu der Kreuzung, an der es nach Singaraja abgeht. Sind Sie einverstanden?« Der Professor stimmte zu und eine Viertelstunde später saßen sie alle wieder im Jeep und fuhren hinter van der Heidts Motorrad hinterher. Vivian war nicht wohl zumute. Sie achtete nicht mehr auf die schöne Landschaft. Das Geschrei der sie überfallenden Männer gellte noch in ihren Ohren. Ihr Arm schmerzte doch noch sehr heftig. »Haben Sie gesehen, wie er verlegen wurde?« »Wer? Was?« Vivian fuhr aus ihren Gedanken auf. »Van der Heidt. Er rückte ganz verlegen an seiner Brille herum, als ich ihm sagte, daß ich es sonderbar fände, daß sowohl bei dem Bootsunglück als auch bei dem Überfall er immer in der Nähe sei.« Vivian konnte sich noch genau erinnern. »Ja, das schien mir auch so. Aber er hat doch auch gesagt, daß der Überfall und der Mordversuch vielleicht mir galten.« »Das ist richtig.« »Aber wie erklären Sie sich das, Mr. Walker?«
»Oh, das ist nicht schwierig. Vielleicht sind die Verbrecher, die ihn verfolgen oder mit denen er zu tun hat, der Meinung, Sie spielten aus irgendeinem Grund für ihn eine wichtige Rolle.« Vivian hatte daran noch gar nicht gedacht. Das war wirklich eine ganz andere Sicht der Singe. Sie erschrak erneut. »Dann wäre ich also auch noch dadurch in Gefahr?« »Ja, so könnte man es sagen.« Der Rest der Fahrt verlief in tiefem Schweigen. Vivian starrte auf den Rücken van der Heidts, der vor ihnen auf der Straße fuhr. Sie war ganz einfach nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Schließlich erreichten sie die Kreuzung, van der Heidt hob wie verabredet den linken Arm und fuhr links weiter, während sie den Weg zu dem kleinen Bergdorf einschlugen. Als sie in das Dorf fuhren, lag die Straße menschenleer und verlassen vor ihnen. Vivian sah nicht einmal ein paar Kinder, keine alten Leute. Kein lebendes Wesen weit und breit. Der Ort wirkte wie ausgestorben, und die Lehmmauern der Gehöfte strömten etwas Abweisendes, Feindlich-Unheimliches aus. Vivian fröstelte und sie zog ihre Jacke enger um sich. »Sie sollten sich hier wärmer anziehen«, sagte der Professor ruhig. »In den Bergen ist es durchschnittlich zehn Grad kühler als in der Ebene.« »Das stimmt, aber hier herrscht noch eine andere Kälte. Ich glaube, sie kommt daher, daß kein Mensch zu sehen ist. Das kommt mir sehr merkwürdig vor.« Der Professor sah sie kurz an, dann sagte er energisch: »Halten Sie an, Pak Tugur!« Kurz darauf stand das Auto. Der Professor stieg aus und sah sich um. Ängstlich beobachtete Vivian sein angespanntes Gesicht. Bisher hatte der
Professor immer wie die Ruhe selbst gewirkt, aber jetzt lag echte Besorgnis in seinen Zügen. Er kam zum Jeep zurück. »Sie haben recht, Vivian. Das ist sonderbar. Es ist wie am Tag der Njepi, wenn der Himmel von allen Dämonen gesäubert wird und die Dämonen auf die Erde herniederkommen. Da bleiben auch alle in ihren Häusern, weil keiner ein Opfer der Dämonen werden will.« Er machte eine Pause. »Oder es ist so, daß…« Er brachte den Satz nicht zu Ende, sondern schwang sich in den Jeep. »Fahren Sie weiter, Tugur. Wir werden sehen.« Pak Tugur ließ den Motor an, und sie rollten langsam die Dorfstraße hinunter. Sie fuhren um eine Biegung, und vor ihnen öffnete sich ein großer Platz, auf dem es plötzlich von Menschen wimmelte. Vivian sah ganz erleichtert, wie die Anspannung aus dem Gesicht des Professors wich. »Da sind sie also alle«, sagte er jetzt aufatmend. Als sie langsam weiterrollten, wichen die Menschen links und rechts zur Seite. Gebannt las Vivian in ihren Gesichtern die Zeichen von Furcht und Erstaunen, die sich auf seltsame Weise mit Bewunderung und Ehrfurcht mischten. »Die Leute haben uns offensichtlich erwartet«, meinte der Professor. Pak Tugur hielt vor einem großen, hallenartigen Gebäude, das mit rotbraunen Ziegeln gedeckt war. Er wandte sich zum Professor um. »Das ist die große Bale, das Versammlungsgebäude des Dorfes. Hier wird wohl Ihre Begrüßung durch den Balian, den Dorfpriester, stattfinden.« Tatsächlich kamen jetzt zwei Männer auf den Jeep zu, verneigten sich vor Pak Tugur und sprachen kurz mit ihm. Vivian verstand kein Wort und fragte sich, was die Menschen von ihnen erwarteten, daß sie so in Ehrfurcht vor ihnen erstarrten.
»Wir sollen jetzt in die große Bale kommen, wo uns der Dorfälteste und Dorfpriester erwartet«, sagte Pak Tugur. Vivian stieg mit dem Professor aus. Sie folgten Pak Tugur in das große Gebäude. Es roch nach Weihrauch. Weiße feine Nebel von Weihrauch und anderem Räucherwerk erfüllten die Luft. Im letzten Licht des Tages, das durch die mittelgroßen Fenster fiel, konnte Vivian im Halbdämmer zunächst nur schattenhafte Umrisse und Bruchstücke erkennen. Dann sah sie einen uralten, hageren Mann mit einer hohen kronenartigen blausamtenen Kopfbedeckung, auf der goldene Schnüre blitzten. Der alte Mann saß auf einer Art Podest. Sein Gesicht war so abgemagert, als habe er schon wochenlang nichts zu sich genommen. Irgend jemand führte sie an eine Stelle, wo Stühle für sie aufgestellt waren und sie setzten sich. Nach vielen langwierigen Verneigungen und Begrüßungszeremonien kam der Professor zur Sache. »Sind Sie bereit, morgen früh mit mir in die Berge aufzubrechen, um das Geheimnis des Rangda-Tempels zu lösen?« Vivian sah, wie der alte Mann seine großen dunklen Augen schloß und beinahe eine ganze Minute lang schweigend dasaß. Dann öffneten sich die großen Augen, und eine dünne, aber klare Stimme sprach schleppend: »Wir sind dazu bereit, aber wir müssen zuvor noch einige Maßnahmen ergreifen. Wir werden noch einmal die Götter befragen. Und wir müssen den Baron, den Fürsten der Wälder, anrufen, denn ohne seine Hilfe sind wir verloren. Schreiten wir also nun zur Befragung der Götter.« Der alte Mann erhob sich und mit ihm eine ganze Gruppe von Männern. An der Tür hielt einer von ihnen einen Hoheitsschirm über den Priester und so schritt die ganze Prozession durch die Menge. Es war schon dunkel, Fackeln erhellten den Weg der Prozession.
Als sie vor dem gespalteten Tor des Dorftempels ankamen, fiel Vivian die Rangda-Aufführung ein. Wie damals zuckte unruhiges Licht von Fackeln über steinerne Gesichter zähnefletschender Dämonen, die auf beiden Seiten des gespaltenen Tores zu einem gespenstischen Leben zu erwachen schienen. Im Tempelhof begannen die Menschen, seltsame Lieder zu singen. Auf einer Erhöhung unter einem Schirm konnte Vivian eine Gruppe von drei Frauen erkennen. Im Hintergrund spielte ein Gamelan-Orchester. In einem Gefäß neben den Frauen blinkte Wasser auf. Vivian roch den Rauch von Harz und Sandelholz, über den sich die jüngere Frau beugte. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen da und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. Die beiden älteren Frauen hinter ihr schienen sie zu stützen. Dann sanken die Arme der Frau zur Seite und ihr Kopf mit geschlossenen Augen nach vorne. Vivian sah den feinen Schweißfilm auf dem Gesicht im Fackellicht glänzen. Dann begann die Frau zu zucken und sank in die Arme der hinter ihr sitzenden Frauen. Im selben Augenblick verstummte die Musik des Gamelanorchesters und der Gesang der Menschen. Eine unheimliche Stille breitete sich aus. Gebannt starrte Vivian auf das Gesicht der jungen Frau. Plötzlich begannen sich ihre Lippen zu bewegen und sie fing an, in seltsam tiefer und fremder Stimme zu sprechen. Vivian hatte den Eindruck, daß die Menge sie nicht verstand. Dennoch waren die Menschen ganz still. Hier und da fielen auch noch andere in Trance und begannen zu reden. Vivian wurde es immer unheimlicher und ihr Blick irrte im Rund des Tempelhofs umher wie der eines Tieres auf der Flucht. Gerade hatte sie das Tempeltor im Blick, da sah sie ihn. Ein heftiger Schrecken durchfuhr ihre Glieder. Sie fühlte sich
plötzlich schwach und elend. Dort neben der rechten Hälfte des Tores stand der unheimliche Balinese, der sie seit ihrer Ankunft auf dem Flughafen schon drei Mal beobachtet hatte. Um seinen Hals lag wieder die blinkende Kette. Mit starrem Blick sah er zu ihnen hinüber. Vivian hatte das Gefühl, in einer Falle zu stecken. Plötzlich hatte sie die Vorstellung, nie wieder aus diesem Tempelhof herauszukommen. Dieser Mann würde ihr den Weg versperren und sie festhalten. Die Angst, auch bald in Trance zu versinken und dann der Rangda-Hexe hilflos ausgeliefert zu sein, stieg in ihr auf. Sie wußte gar nicht mehr, wie lange sie so in Angst erstarrt dagesessen hatte, als der Professor sie anstieß. Er schien nichts von ihrer Erstarrung bemerkt zu haben. »Wir können gehen, Miss Vivian«, ließ er sie wissen. »Die Botschaft der Götter ist positiv ausgefallen. Wir sind als Helfer der guten Geister unter der Führung des Barong anerkannt worden. Offenbar erfüllen wir sogar irgendeine Prophezeiung.« Vivian sah hinüber zu der jungen Frau, deren Lippen sich wieder stumm geschlossen hatten. Sie hing nur bleich und mit immer noch starrem, leerem Gesicht in den Armen der beiden älteren Frauen. Da trat der alte Priester an sie heran, tauchte seine Finger ins Wasser und besprengte sie damit. Kurz darauf ging eine Veränderung im Gesicht der Frau vor sich. Es wurde wieder lebendig und sie schlug die Augen auf. Vivian wagte es, ihren Blick wieder in Richtung des Ausgangs schweifen zu lassen. Der unheimliche Verfolger war verschwunden. Aufatmend erhob sie sich und folgte dem Professor. Vivian war so erschöpft, daß sie sofort einschlief und die ganze Nacht fest durchschlief. Gegen Morgen hatte sie wirre Träume von Dämonenkämpfen und hörte panisch erschrecktes Geschrei und zornerfüllte Stimmen. Noch im Traum sagte sie
sich, das ist nur ein Traum. Dann wachte sie auf. Aber die Stimmen waren immer noch da. Es waren die Stimmen von Menschen auf dem Hof, die so erschreckt und zornig klangen. Sie setzte sich auf und sah auf ihren Reisewecker. Es war erst Viertel vor sechs. Was ging auf dem Hof ihrer Gastgeber vor? Sie zog sich schnell an und trat vor ihren Schlafraum. Zwei Männer kamen gerade vom Hauptgebäude und gingen auf die Mauer zu, die das Gehöft umgrenzte. Vivian folgte den heftig gestikulierenden Männern mit ihrem Blick. Eine große Menschenmenge bewegte sich aufgeregt vor der Mauer hin und her. Vivian lief über den Hof. Als sie noch etwa zehn Meter von den sich zornig gebärdenden Männern entfernt war, konnte sie den Grund ihrer Aufregung erkennen. In der Umgrenzungsmauer des Gehöfts gähnte ein kreisrundes Loch. Es war so groß, daß ein erwachsener Mann bequem hindurchsteigen konnte. Wer hatte wohl dieses Loch in die Mauer gerissen? Vivian fiel sofort die pulsierende goldene Kugel ein, die sie in der letzten Nacht vor ihrem Bungalow gesehen hatte. Sie hatte ungefähr die Größe des Loches in der Steinmauer. Sollte etwa eine solche dämonische Kugel, die Gestalt eines bösen dämonischen Geistes, dieses Loch in die Mauer gerissen haben? Sie sah Pak Tugur im Gespräch mit dem Sohn ihres Gastgebers und ging auf ihn zu. »Was ist denn hier geschehen, Pak Tugur? Warum sind diese Menschen so ungeheuer erregt?« Pak Tugur trat einen Schritt zurück und verneigte sich halb. »Guten Morgen, Miss Hall, ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.« Vivian war über diese Umständlichkeit und Höflichkeit befremdet, aber es fiel ihr noch rechtzeitig ein, daß dies hier
gar nicht unüblich sein mochte. Vielleicht war auch der Schock über das Ereignis so groß, daß Pak Tugur die konventionelle Höflichkeit und Weitschweifigkeit brauchte, um seine Fassung zu bewahren. Sie bremste daher ihre Ungeduld. »Ja, danke. Aber was ist denn nun eigentlich passiert?« »Etwas sehr Schlimmes. Es ist ein Loch in die Mauer gebrochen worden.« »Das sehe ich auch. Aber von wem?« In Pak Tugurs Augen flackerte die Angst. »Das weiß man nicht genau. Die Leute meinen, es sei das Werk böser Dämonen.« »Das Werk böser Dämonen?« echote Vivian und konnte kaum glauben, was sie da hörte. Aber als sie auf das kreisrunde Loch sah und an ihre eigene Vermutung über die dämonisch lebendige Kugel dachte, kam es ihr auf einmal fast ganz natürlich vor. Was sonst sollte es gewesen sein? Ein wenig war sie noch erstaunt darüber, wie schnell sie schon selbst in den Glaubensbahnen der Eingeborenen dachte. »Und was tut man jetzt dagegen?« »Die Leute beratschlagen, welche zusätzlichen Opfer sie den bösen Dämonen bringen müssen, damit sie wieder Ruhe vor ihnen haben. Manche glauben auch, daß unser Auftauchen hier der Grund für diese Zerstörung ist. Sie meinen, die Rangda beginne sich bereits gegen das Eindringen des Professors zur Wehr zu setzen.« »Das ist nun wirklich eine besonders elegante Auslegung«, hörte Vivian die ärgerliche Stimme des Professors hinter sich sagen. Sie drehte sich um und war überrascht über den Anblick, den der Professor bot. In der kühlen, noch leicht nebligen Luft sah er so bleich aus, wie sie ihn bisher noch nie gesehen hatte. War
das noch die morgendliche Müdigkeit oder war der Professor wirklich wütend? »Ich glaube nicht an diese Deutung. Ich tippe da auf eine ganz andere Sorte Täter«, sagte der Professor laut und heftig. Vivian war erstaunt. »Was meinen Sie denn, wer es war?« Der Professor hob den Kopf, und sein Blick ging nach links oben. »Ich glaube, daß es dieselben Leute waren, die uns auch gestern überfallen haben.« »Wie kommen Sie darauf?« »Das werden Sie sehr viel besser verstehen, wenn ich Ihnen die wirklich schlimme Nachricht mitteile, Miss Hall. Ich komme gerade aus dem Haus, in dem unsere Expeditionsausrüstung lagerte. Sie vollständig verschwunden.« Vivian starrte den Professor ungläubig an. »Nein!« »Doch. Leider. Sie haben hoffentlich Ihre persönlichen Sachen in Ihrer Nähe gehabt.« »Oh, mir fehlt nichts.« »Das ist gut. Das Schlimme ist nur, daß unsere Expedition damit so gut wie gescheitert ist. Es ist völlig aussichtslos, ohne geschlossene feste Schuhe und warme Kleidung loszugehen.« Pak Tugur hob die Hand. »Mr. Walker, darf ich Sie unterbrechen? Sie werden wohl überhaupt keine Ausrüstung mehr brauchen, denn wie mir eben Patu Satabu mitgeteilt hat, wollen die Leute aus dem Dorf Sie nicht mehr zum Tempel der Rangda begleiten.« »Und warum nicht?« »Wegen der noch stärkeren dämonischen Verunreinigung, die jetzt durch das Loch in der Mauer entstanden ist. Sie überlege, welche zusätzlichen Opfer sie erbringen müssen, um die Dämonen zu versöhnen.« Der Professor rieb sich nachdenklich das Kinn. »Das hat uns ja gerade noch gefehlt. Ich bin sicher, daß es keine Dämonen waren, die für diesen Einbruch verantwortlich sind. Irgend
jemand versucht, uns und unserer Expedition zu schaden. Das müssen wir den Leuten unbedingt klarmachen. Haben Sie irgend etwas bemerkt, was uns dabei helfen könnte?« Pak Tugur schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts bemerkt.« »Schade«, sagte der Professor. »Dann gehen Sie jetzt und schauen nach, ob mit dem Jeep wenigstens alles in Ordnung ist. So schnell gebe ich nicht auf, so kurz vor dem Ziel.« Pak Tugur verbeugte sich. Vivian sah dem Fahrer nach, wie er zwischen den Gebäuden verschwand. »Und Sie?« fragte der Professor eindringlich. »Haben Sie irgend etwas bemerkt, das uns als Beweis gegen die Dämonentheorie dienen könnte? Wenn wir die Leute von meiner Ansicht überzeugen könnten, würden Sie uns sicher wieder helfen. Überlegen Sie also ganz genau. Der geringste Hinweis könnte von großer Bedeutung sein.« Vivian wurde unruhig. Sie trat von einem Fuß auf den anderen. Sollte sie dem Professor jetzt von jenem unheimlichen Mann erzählen, der sie immer wieder beobachtete? »Ich weiß nicht, ob es damit zusammenhängt«, begann sie stockend, »aber gestern abend im Tempel habe ich wieder den Mann gesehen, der uns schon im Flughafen beobachtet hat.« »Und das sagen Sie mir erst jetzt?« Vivian hatte den Eindruck, der Professor war so erregt wie ein Spürhund auf der Fährte. »Ich wußte ja nicht, daß es von Bedeutung sein könnte. Ich habe ihn übrigens noch zweimal gesehen. Einmal im Hotel von Wim van der Heidt und vorher schon einmal auf dem Markt.« Der Professor schien fassungslos. »Aber warum haben Sie mir nichts davon gesagt?« Ja, warum eigentlich nicht? Vivian konnte sich noch sehr gut erinnern, wie der Professor ihre Beobachtung das erste Mal als
überängstlich abgetan hatte. »Ich weiß nicht mehr genau. Ich war in dem Glauben, daß Sie mich für ängstlich und paranoid gehalten hätten.« »Haben Sie sonst noch etwas bemerkt?« »Nein.« »Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, daß jemand versucht, unsere Expedition zu stoppen und uns zum Aufgeben zu zwingen. Wenn ich nur wüßte, ob van der Heidt da mit drin steckt.« Er starrte auf den Boden und rieb den Zeigefinger zwischen Nase und Oberlippe. »Aber ich verschiebe das Unternehmen nicht noch einmal. Wenn die Leute aus dem Dorf nicht zu überzeugen sind, dann gehen wir eben ohne sie.« »Und was ist mit der Ausrüstung?« »Wir werden gleich nach Singaraja fahren und uns eine neue Ausrüstung kaufen. Und heute nachmittag brechen wir auf. Sind Sie einverstanden?« Vivian zögerte einen Augenblick. »Ja, ich bin einverstanden«, sagte sie schließlich. Sie verschwieg dem Professor, daß er sie in seiner Besessenheit an Kapitän Ahab erinnerte, der seine Jagd auf den weißen Wal nicht aufgeben konnte und am Ende mit Mann und Maus unterging. Zum ersten Mal zweifelte sie daran, ob die Entscheidung des Professors richtig war.
Am Nachmittag brachen sie auf, eine völlig neue Ausrüstung an Zelten, Kochgeschirr und warmer Kleidung im Wagen. Die Leute aus dem Dorf standen am Straßenrand, sahen sie mitleidig an oder wichen ihnen furchtsam aus. Vivian konnte sich gut vorstellen, was in ihren Köpfen vorging. Sie hielten die Fremden wahrscheinlich für Götter oder Wahnsinnige. Oder beides zusammen. Denn kein Sterblicher und
Vernünftiger würde es wagen, in ein derart von bösen Dämonen beherrschtes Gebiet einzudringen. Als Vivian neben dem Professor im Jeep saß, machte sie noch einen halbherzigen Versuch, ihn umzustimmen. »Mr. Walker, wäre es nicht besser, noch bis morgen zu warten? Es wird doch sowieso bald alles in Nebelwolken versinken, und wir werden kaum vorankommen.« »Nein, Miss Hall, wir müssen ohnehin mindestens einmal im Zelt übernachten. Und dann ist es ganz gut, wenn wir uns schon etwas an die neue Umgebung gewöhnt haben. Fahren Sie also, Pak Tugur.« Pak Tugur zündete den Motor und schwieg. Er war schon die ganze Zeit auffallend schweigsam. Dann fuhren sie an den Leuten vorbei, die links und rechts am Straßenrand mit seltsam beklommenen und faszinierten Gesichtern sie anstarrten. Bald lag das ängstlich geduckte Dorf hinter ihnen und sie näherten sich immer mehr dem Vulkan Batur. Kein sanftes Grün beruhigte die Augen, kein Blau lud zum Träumen ein. Vivians Blick ging über eine kümmerlich bewachsene Lavasteppe, in der riesige graue Felsbrocken verstreut waren. Schließlich kamen sie ans Ende der Straße. Sie mußten den Jeep zurücklassen und zu Fuß weitergehen. Es gab keinen Weg mehr, nur noch Asche und Geröll. Vivian stieß gegen Steinbrocken, knickte beinahe mit ihrem rechten Fuß um und kam ins Schwitzen unter der Last ihres Rucksacks. Sie mochten etwa zwei Stunden unterwegs sein, als die Nebelschwaden immer dichter wurden und sie die feinen, kühlen Tropfen der Wolken auf ihrem Gesicht spürte. Manchmal konnte sie den Professor, der an der Spitze marschierte, nicht mehr sehen. Für Augenblicke verschwand er in einem Nebelschwaden, so als habe er sich aufgelöst. Die Füße begannen sie immer stärker zu schmerzen, und immer
häufiger stieß sie an große Steine. Sie hatte das Gefühl, es nicht mehr lange aushalten zu können. Sie kam sich unheimlich verloren vor in diesem gespenstischen milchweißen Nichts, in dem sie überhaupt keine Anhaltspunkte mehr fand. Wie konnte der Professor sich hier noch orientieren? Sie war so in Gedanken versunken, daß sie auf den vor ihr marschierenden Pak Tugur auflief. »Entschuldigung«, murmelte sie. »Was ist passiert?« Der Professor stand unmittelbar neben ihnen. »Wir werden hier Halt machen und unser Lager für die Nacht aufschlagen. Dann werden wir morgen mittag in der Nähe des Tempels ankommen.« Sie schlugen ihre Zelte auf, aßen am Lagerfeuer Bohnen aus der Dose und verkrochen sich bald darauf in ihre Schlafsäcke. Vivian lag noch eine Weile wach und sah auf die dreieckige Öffnung ihres Zeltes. Dunkle Schatten und Nebelschwaden war alles, was sie sah. Doch der anstrengende Marsch hatte sie so ermüdet, daß ihr kurz darauf die Augen zufielen. Ein paar Stunden später ließ sie das Geräusch eines Gongs auffahren. Das war doch nicht möglich! War das wirklich ein Gong? Sie schälte sich aus ihrem Schlafsack und sah zum Zelt hinaus. Da war es wieder, das Geräusch. Es war eine Art balinesische Musik. Nun konnte sie auch ferne Flöten vernehmen. Vivian sah zu den Zelten des Professors und Pak Tugurs. Sie lagen reglos wie schwache Schemen in der Nebelnacht. Die beiden schienen nichts gehört zu haben. Vorsichtig trat sie vor ihr Zelt. Aber von wo in dieser weißen Ödnis, in diesem wabernden Nebelmeer kam die Musik? Vielleicht von links? Sie wandte ihren Kopf in diese Richtung. Und da sah sie Rangda! Wieder stand sie neben einer schwach leuchtenden und pulsierenden Kugel. Beinahe
genauso wie in Sanur, dachte Vivian, nur war die Farbe nicht so leuchtend und die Umrisse verschwommener in dem milchigweißen Nebel. Wie gebannt starrte sie auf die Gestalt, die vor ihr einen seltsamen Tanz aufführte, wobei sie die Hände mit den langen Nägeln drohend nach ihr ausstreckte, die riesigen Fangzähne bleckte und dann wie vom Nebel verschluckt plötzlich wieder verschwand. Vivian rannte zum Zelt des Professors und rüttelte ihn wach. »Was ist?« Der Professor stand kurz darauf in seinem Trainingsanzug vor seinem Zelt. »Die Rangda ist wieder da. Ich habe sie deutlich gesehen.« Vivian deutete nach links in das Nebelmeer, mit dem Gefühl der Vergeblichkeit. Was bedeutete hier links und rechts, vorne und hinten in diesem wogenden Wolkenmeer, im Ungewissen Licht eines schwachen Mondes? »Sind Sie sicher?« »Ganz sicher.« »Das ist ein gutes Zeichen.« »Ein gutes Zeichen?« »Ja, dann werden wir wohl bald an ihrem Tempel sein. Legen Sie sich noch etwas hin. Wir brechen morgen frühzeitig auf.« Vivian war erstaunt über die Kaltblütigkeit des Professors. Sie tat kein Auge mehr zu, bis das Licht der Morgensonne die dunstigen Nebelschwaden vertrieb. Doch dann übermannte sie noch einmal die Müdigkeit. Vivian vernahm hinter sich ein Knacken und fuhr erschrocken herum. Als sie den Professor sah, wie er Zweige für das morgendliche Kaffeefeuer zerbrach, atmete sie erleichtert auf. »Keine Angst! Das bin nur ich und nicht die Rangda. Wie geht es Ihnen nach der neuerlichen Begegnung mit der finsteren Hexengöttin?«
Vivian war etwas betroffen über die scherzhafte Redeweise. »Es geht, danke. Sie machen sich doch nicht etwa lustig über mich?« »Wie käme ich dazu? Nein, ich möchte Sie nur ein wenig aufheitern, bevor wir heute im Tempel der Todesgöttin eintreffen. Fühlen Sie sich fit genug, den letzten Teil unserer kleinen Expedition mitzumachen? Oder bereuen Sie Ihren Entschluß bereits?« »Nein, ich bereue ihn wirklich nicht und es geht mir auch ganz gut«, log Vivian mutig. Wenn sie ihm gesagt hätte, wie zerschlagen sie sich fühlte, daß ihr jeder Muskel schmerzte und daß sie ein wachsendes Gefühl der Bedrohung verspürte, dann hätte er sie womöglich gar nicht weiter mitgenommen. »Na, großartig!« Der Professor zündete die trockenen Zweige an und hängte die Kaffeekanne über das Feuer. Pak Tugur hockte ein wenig abseits des Feuers und starrte schweigend vor sich hin. Eine ganze Weile sagte niemand ein Wort. Vivian fröstelte und zog ihren warmen Pullover fester um sich. Sie ließ ihre Blicke über die Täler und die schroffen Schrunden des Vulkans gleiten. Noch immer hingen einige Nebelfetzen in den niedrigen Sträuchern der Steinwüste. Die Sonne vertrieb sie nur nach und nach. Und irgendwo in dieser schrecklich wilden Landschaft wartete der Tempel der Todesgöttin auf sie. Vivian sehnte sich plötzlich nach dem türkisblauen Meer, den sich sanft im Wind wiegenden Palmen und dem weißen Strand im Süden der Insel. Sie dachte an Wim van der Heidt und wünschte sich plötzlich, daß er wieder auftauchen und sie aus dieser nebligen Steinwüste herausholen würde. Doch das würde nicht geschehen. Sie würde alles bis zum Ende durchstehen müssen, gleichgültig, was ihr an Schrecken und Grauen noch bevorstand.
Nach dem Frühstück trat der Professor auf Pak Tugur und Vivian zu, in jeder Hand eine Pistole haltend. Er sah Vivian ernst an. »Können Sie mit einer Waffe umgehen?« Vivian starrte auf den blauen Stahl in der Hand des Professors. »Nein! Wozu brauchen wir denn die Waffen?« »Ich möchte für alle Fälle gerüstet sein. Wer weiß, auf wen wir stoßen! Ich bin immer noch der Ansicht, daß jemand versucht, uns von dem Tempel fernzuhalten. Aber wenn Sie die Pistole nicht wollen, gebe ich nur Pak Tugur eine. Halten Sie sich aber immer in seiner Nähe.« Pak Tugur nahm die Pistole wortlos entgegen. Vivians Unbehagen wuchs. Kurz darauf brachen sie schweigend auf. Ein Schweigen wie bei einem Trauermarsch, dachte Vivian, oder in Erwartung eines ungeheuer grauenvollen Ereignisses. Nach drei Stunden Fußmarsch spürte Vivian die ersten Anzeichen der Ermüdung. Ihre Füße schmerzten, ihr Gesicht war bedeckt mit einer Schmutzschicht aus Schweiß und grauem Staub. Sie überlegte gerade, ob sie den Professor bitten solle, eine Rast einzulegen, als dieser stehenblieb. Sie schleppte sich langsam und keuchend noch das Stück bergauf, bis sie neben ihm stand und den Grund für sein Innehalten erkannte. Vor ihnen, von niedrigem Gebüsch überwachsen, öffnete sich dunkel ein gespaltenes Tempeltor. Eine ungeheure Menge unheimlicher Dämonenfratzen bleckte die Fangzähne und rollte die großen Augen auf den beiden Torpfeilern, zu denen wenige Treppenstufen emporführten. Vivian spürte unbestimmte Angst und gleichzeitig starke Erregung in sich aufsteigen. »Ist er das?« fragte sie leise.
»Ja, das ist er wohl.« Der Professor ließ die Augen nicht von dem Bauwerk. »Ja, das muß der Tempel der Todesgöttin sein.« Vivian beobachtete das angespannte Gesicht des Professors und sah, wie sich eine steile Falte zwischen seinen dunklen Brauen bildete. »Stimmt etwas nicht?« Professor Walker schien sie nicht zu hören. Noch immer hing sein Blick wie gebannt an dem Tempel vor ihnen. Vivians Erregung steigerte sich noch. »Was stimmt denn nicht, Herr Professor?« »Ich bin überrascht. Sehen Sie selbst! Der Tempel hat eigentlich gar keine Decke, wie behauptet. Jedenfalls ist keine zu sehen. Was sich da über ihn hinzieht, könnte auch Lavagestein sein. Nun, das werden wir bald genauer wissen.« Der Professor sah sie an. »Wollen Sie immer noch in den Tempel?« »Ja«, hörte sich Vivian sagen. »Dann folgen Sie mir jetzt. Und halten Sie Ihre Taschenlampe bereit.« Darauf wandte er sich noch zu Pak Tugur um. »Halten Sie sich immer in der Nähe von Miss Hall, und geben Sie einen Warnschuß ab, falls irgendeine größere Gefahr droht.« Pak Tugur nickte nur. Dann stiegen sie Stufe für Stufe hinauf zu dem dunklen Tor, das Vivian wie der riesige Rachen eines Ungeheuers vorkam. Als sie den ersten Schritt in die Finsternis des Höllenrachens taten, knipsten sie ihre Taschenlampen an. Vivian ging drei Schritte hinter dem Professor. Der Professor ließ den Schein seiner Taschenlampe nach links und rechts, nach oben und wieder nach vorne schwenken. Vivian konnte nichts erkennen außer einem unebenen Boden. Doch dann riß der Strahl der Taschenlampe eine ungeheuerliche Dämonenfratze aus dem Dunkel. Die Augenbrauen drohten so bösartig über wild rollenden Augen,
daß Vivian erschrocken zusammenfuhr und beinahe ihre Taschenlampe hätte fallen lassen. »Was ist das?« Sie trat neben den Professor. »Nur ein zweites Tor«, sagte er ruhig und leise. Dann ließ er den Strahl seiner Taschenlampe über das zweite Tor gleiten. Vivian erschienen diese Fratzen noch schrecklicher als die ersten, und sie spürte den Drang, einfach umzukehren. Doch dann folgte sie dem Professor weiter in die Dunkelheit und war froh, die unheimlichen Gesichter hinter sich zu haben. Was würde ihr wohl als nächstes aus der Dunkelheit entgegenspringen? Ein Schauder lief ihr den Rücken hinunter. Plötzlich wurde es hell vor ihr, und nach wenigen Schritten stand sie neben dem Professor in einem weiten Rasenrund, da sie an eine antike Arena erinnerte. Sie ertappte sich bei der Vorstellung, daß im nächsten Augenblick aus den dunklen Schattenlöchern ringsum wilde Tiere auf sie einstürzen und sie zerreißen würden. Der Professor blieb stehen, starrte wie gebannt auf einen kleinen gemauerten Turm in der Mitte des Runds. »Merkwürdig«, murmelte er, »so etwas habe ich allerdings noch nie in einem Tempel gesehen. Ein merkwürdiger Stupa!« »Ein Stupa?« fragte Vivian. »Ja, eine jener Tempeltürmchen, wie man sie in Hinterindien findet. Aber dafür hat er eine zu ungewöhnliche Form.« Der gemauerte kleine Turm lief nach oben konisch und war abgeflacht. Der Professor wollte sich gerade in Richtung des Turms in Bewegung setzen, als eine Nebelwand vor ihnen aus dem Boden schoß und alles einhüllte. Unwillkürlich wich Vivian einige Schritte zurück. Im selben Augenblick hörte sie auch wieder die seltsame unheimliche Musik von Gongs und Flöten wie in der vorhergehenden Nacht. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie blickte wie
rasend umher. Weder der Professor noch Pak Tugur waren zu sehen. Und da tauchte sie wieder vor ihr auf, die Todesgöttin und Oberhexe Rangda. Langsam und bedrohlich schob sie sich näher. Ihre krallenartigen, messerscharfen Klauen würden sie gleich ergreifen und zerreißen. In diesem Augenblick schossen Vivian die Bilder des Kampfes gegen die Rangda durch den Kopf. Sie erinnerte sich ganz deutlich daran, wie einer der Kämpfer die Rangda in wilder Entschlossenheit angegriffen hatte. Ein heftiger Ruck ging durch ihren Körper. Sie wurde von plötzlicher Kampfeswut ergriffen und nach vorne geschnellt, genau auf die Rangda zu. Ohne zu überlegen, riß und zerrte sie mit aller Gewalt an ihr herum und plötzlich hatte sie – wie der Kämpfer in der Arena – eine Maske zu Boden gerissen. Erstaunt über sich selbst und über die Maske starrte sie auf einen dunkelhäutigen Mann mit rotem Kopftuch, der schnell im Nebel verschwand. Die Musik verstummte, und der Nebel löste sich allmählich auf. Als sich die Schwaden verzogen hatten, fühlte sich Vivian wie neu geboren. Ein tonnenschwerer Druck war von ihr gewichen, die Angst vor jener Hexe ihres Alptraums und der Oberhexe Rangda war wie weggeblasen. Verwundert sah sie sich um. Der Professor stand noch immer wenige Meter vor ihr. Er sah sie besorgt an. »Ist alles in Ordnung?« Sie ergriff die Rangda-Maske und ging auf ihn zu. »Ja, es geht mir gut, so gut, wie lange nicht mehr. Ich fühle mich wie von einem Spuk befreit. Sehen Sie die Rangda-Maske hier. Irgendjemand wollte mir ungeheure Angst einjagen. Ich habe sie gerade einem Mann vom Gesicht gerissen. Wer das wohl ist und was er damit bezweckt?«
»Die Fragen können wir dir jetzt beantworten, du kleines Dummerchen«, ertönte plötzlich eine helle Stimme. Vivian zuckte zusammen. Ihr Blick ging in Richtung der Stimme. Das war doch nicht möglich. Vor dem kleinen Turm stand Jane Collins mit einem großen schwarzhaarigen Europäer im Tropenanzug. Und daneben der Mann mit dem roten Kopftuch. »Was machen Sie denn hier, Miss Collins?« entfuhr es Vivian unwillkürlich und sie verstummte, als sie die Maschinenpistole in den Händen des großen Mannes erkannte, die auf sie, den Professor und Pak Tugur gerichtet war. Vivian fröstelte bei dem Anblick dieses finsteren Mannes. Seine dichten Augenbrauen und seine freien Unterarme waren beinah schwarz von dichtem Haar. In seinen Augen lag ein bösartiges Glitzern. »Hände hoch und keine Bewegung!« befahl er mit schneidender Stimme. Vivian hob die Hände und sah, wie auch der Professor seine Hände in den Himmel steckte. Dann starrte sie mit angstvoll aufgerissenen Augen in die schwarze Mündungshöhlung der Maschinenpistole. »Da Sie sich nun bald von dieser Welt verabschieden werden, will ich nicht kleinlich sein und ihren Wissensdurst stillen, der Sie soweit hat kommen lassen. Dummerweise ließen Sie sich ja durch keine meiner Maßnahmen davon abhalten. Zunächst einmal zu Ihnen, Miss Hall, dies ist meine Frau Jane Goris, die Sie allerdings unter dem Namen Collins kennengelernt haben. Sie hätten sich ihre Ratschläge über die finsteren Dämonen Balis besser zu Herzen nehmen sollen, dann wäre ich jetzt nicht gezwungen, Sie zu töten. Aber Sie wollten es ja unbedingt wissen. Und auch Sie, liebes Professorchen, waren von allzu großen Ehrgeiz und Wissensdurst besessen und ließen sich nicht aufhalten.«
Vivian sah den Professor von der Seite an. Sein Gesicht war reglos, als er sagte: »Das bin ich immer noch. Ich hätte zum Beispiel sehr gern gewußt, was für eine Art Stupa das ist, vor dem Sie stehen.« Der schwarze Riese verzog seine dünnen Lippen zu einem höhnischen Grinsen. »Das will ich Ihnen sagen, Professorchen. Das ist kein Stupa, sondern ein Wachturm unseres Lagers, das unter dem Tempel liegt. Da haben wir nämlich unsere Ware gelagert. Beute wäre vielleicht genauer. Kurz, all die schönen Sachen, die unsere Geschäftspartner, die Seeräuber, aus dieser Ecke der Weltmeere, uns liefern und die wir so gewinnbringend weiterverkaufen. Von den hiesigen Seeräubern und ihren gar nicht zimperlichen Methoden haben Sie doch schon mal gehört, Professorchen, oder?« »Doch, doch. Und deshalb haben Sie also den faulen Zauber mit den Rangda-Erscheinungen veranstaltet?« »Sehr richtig. Genauso ist es. Kluges Köpfchen, unser Professorchen. Und es hätte auch noch eine ganze Weile funktioniert, wenn Sie nicht aufgetaucht wären, denn die Einheimischen sind ja so abergläubisch, daß sie nicht mehr einen Fuß in die Richtung dieses Tempels gesetzt hätten. Das haben Sie ja wohl selbst erlebt, als wir das schöne Loch in die Mauer gemacht hatten. Und deshalb kam ja auch der oberschlaue Ida Bagus Pura auf die glänzende Idee, Sie heranzuziehen. Ich hoffe, es wird Ihnen nicht allzu schwer fallen, im Dienste der Wissenschaft zu sterben, wenn Sie auch nur einen ganz gewöhnlichen von Lava verschütteten Tempel wiederentdeckt haben.« Er lachte höhnisch auf. »Aber es kommt ja letztlich nur auf den mutigen Versuch an. Darin erweist sich ja die wahre Größe. Nun muß ich Sie aber leider bitten, zur Exekution näherzutreten. Vielleicht hilft es Ihnen ja, wenn ich Ihnen sage, daß Ihre Erschießung nicht persönlich gemeint ist. Im Gegenteil, in gewissem Sinne bewundere ich
sogar Ihre Ausdauer. Das gilt insbesondere für Miss Hall. Aber jetzt ist es Zeit.« Vivian war ganz übel und sie fürchtete, daß sie jeden Augenblick einfach umkippen könnte. In diesem Augenblick schrie eine männliche Stimme von rechts aus den dunklen Schatten des Tempels. »Hände hoch und Waffe fallenlassen! Jetzt ist es wirklich Zeit, Goris, nämlich Zeit mit Ihnen abzurechnen.« Vivian durchfuhr ein freudiger Schrecken. Das war doch die Stimme von van der Heidt. Was hatte er hier zu suchen? War er ein mit Goris rivalisierender Gangster? Sie beobachtete, wie Goris langsam die Maschinenpistole niederlegte und ein paar Schritte zur Seite ging. Sie war überrascht, wie schnell sich Goris in sein Schicksal ergab. Dann sah sie Wim van der Heidt, eigentlich van der Hoop, aus dem Schatten treten, ein Gewehr im Anschlag. Mit großen Schritten und dennoch langsam bewegte sich van der Heidt auf Goris zu. »Sie werden dafür bezahlen, was Sie den Menschen hier angetan haben und Sie werden auch für den Mord an meinem Bruder büßen. Wie Sie sehen, ist es Ihnen nicht gelungen, diesen feigen, hinterlistigen Mord zu vertuschen. Die Andeutungen in den Briefen meines Bruders und meine Nachforschungen hier haben für mich zweifelsfrei ergeben, daß Sie für seinen Jod verantwortlich sind.« Vivian war trotz aller Anspannung plötzlich sehr erfreut. Der Professor hatte unrecht gehabt. Van der Heidt oder van der Hoop war also kein Verbrecher. Ihr tiefstes inneres Gefühl hatte sie nicht getrogen. »Na und?« Goris hob verächtlich sein Gesicht und zog die Mundwinkel herunter. »Ihr Bruder war ein ganz dummer Kerl. Er war selber schuld. Er war ein genauso dummer Kerl wie Sie. Er hätte ja noch leben können, aber er wollte einfach nicht einsehen, daß heutzutage mit Kopra und Kaffee nicht mehr das
große Geld zu machen ist. Das war sein Fehler. Und als er auch noch einiges über meine Geschäftsbeziehungen zu den Piraten herausfand…« Goris zuckte mit den Schultern. »Was blieb mir übrig?« Van der Heidt machte einen weiteren Schritt auf Goris zu. »Was sind Sie doch für ein menschenverachtendes, bösartiges Ungeheuer!« Vivian sah zum Professor hinüber, der gerade Pak Tugur heranrief. »Helfen Sie ihm, Pak Tugur! Holen Sie die Maschinenpistole!« Pak Tugur rannte zu Wim van der Hoop, die Pistole in der Hand. Vivian war ganz überrascht über den plötzlichen Mut Pak Tugurs. Doch dann traute sie ihren Augen nicht. Pak Tugur stieß Wim van der Hoop die Pistole in den Rücken und zischte böse: »Waffe fallen lassen. Hände hoch!« Vivian starrte entsetzt auf die Gruppe vor dem Turm. Nun schien alles verloren. Pak Tugur war ein Verräter! Ihr Ende war besiegelt. Der strahlende Retter van der Hoop war durch bösartige Tücke überlistet worden. Ihre Knie wurden schwach und Tränen traten in ihre Augen. Zu allem Überfluß verhöhnte sie Pak Tugur jetzt auch noch. »Ist das nicht eine schöne Überraschung, Miss Hall?« Goris lachte zynisch auf und machte eine übertrieben höfliche Handbewegung in Richtung Pak Tugur. »Darf ich vorstellen, Herr Professor, Pak Tugur, unser Mann im Ministerium, der uns über alle Unternehmungen von Ida Bagus Pura auf dem laufenden hielt, und unser zusätzliches As im Ärmel. Und damit dürften Sie das Spiel wohl wirklich endgültig verloren haben.« Vivian war wie betäubt vor Anspannung und Angst. Ihr Herz raste. Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn. Sie zitterte am ganzen Leib, schluchzte auf und sank nach vorne in die Knie.
Durch Tränen hindurch blickte sie zum Professor hinüber. Gab es nicht doch noch einen Ausweg? Der Professor starrte auf den gegenüberliegenden Rand der Lavadecke. Was war mit dem Professor? Hatte er den Verstand verloren? Warum tat er nichts? Sie folgte seinem Blick. Im selben Augenblick, als sie es zwischen den Büschen aufblitzen sah, donnerten zwei Gewehrschüsse los. Dann ging alles gleichzeitig in Sekundenbruchteilen. Goris, der gerade nach der Maschinenpistole greifen wollte, sank in sich zusammen und blieb reglos liegen. Gleichzeitig sank Pak Tugur zur Seite. Wim van der Hoop entriß ihm noch im Fallen die Pistole. Gleich darauf erhoben sich auf der gegenüberliegenden Seite des Rasenrunds auf der Decke über dem Tempel eine ganze Reihe balinesischer Männer, mit Gewehren im Anschlag. Der Vorderste hatte ein hell blinkendes Etwas um den Hals. Vivian erkannte zu ihrem allergrößten Erstaunen den Mann, der sie vom ersten Tag ihres Besuches an beschattet hatte. Ihre Angst schlug in hellste Freude um. Sie warf die Arme hoch und rannte auf Wim van der Hoop zu, der sie fest an seine breite Brust drückte, so, als wolle er sie nie mehr loslassen. Dann hörte sie ihren einstigen Verfolger und jetzigen Retter sagen: »Nun ist es wirklich aus mit Ihnen, Goris. Der Spuk hat ein Ende. Wir, die Mönche von der Bruderschaft des Barong, werden diesen Tempel wieder seiner wirklichen Bestimmung übergeben.«
Vivian sah am Professor vorbei. Hinter der Scheibe des Flughafencafes stieg gerade wieder ein Flugzeug heiter blinkend im hellen Sonnenlicht in den seidigblauen Himmel
Balis auf. Sie mußte an ihre Ankunft auf dem Flughafen denken und wie Wim sie angesprochen hatte. Jetzt saß er neben ihr und sie würden noch ein paar Wochen auf Bali verbringen. Dann fiel ihr der Anführer der Barongbrüderschaft, der Mann mit dem Medaillon, ein, und sie wandte sich an den Professor. »Eines ist mir immer noch nicht ganz klar. Wie konnten die Baronganhänger so genau wissen, wann wir ankamen und wer wir waren?« Der Professor nahm einen Schluck von seinem Kaffee und sah sie lächelnd an. »Aber ich habe Ihnen doch schon gesagt, die Tochter des Dorfpriesters – Sie haben die junge Frau doch selbst auch in Trance gesehen – sie hat den Männern alles vorausgesagt.« »Ja, schon.« Vivian sah Wim an. »Hat sie vielleicht auch meine Begegnung mit dir vorausgesehen, Wim?« Wim van der Hoop sah Vivian lächelnd an und sagte vergnügt: »Vielleicht. Warum nicht?« Vivian wandte sich wieder an den Professor. »Aber ist denn so was möglich?« Der Professor betrachtete das Innere seiner Kaffeetasse. »Ja, das habe ich in meiner Praxis schon erlebt. Aber es wäre wirklich sehr schwierig, das im einzelnen darzustellen. Auf dem Gebiet der außersinnlichen Wahrnehmung wird noch sehr intensiv geforscht.« »Sie glauben also, daß diese Frau in Trance bis in alle Einzelheiten unsere Ankunft und unsere Personen beschrieben hat.« »Ja, ich bin sicher. Sie hatten ja die allgemeine Botschaft, daß ihnen Hilfe von außen zuteil werden würde. Besonders genau konnten die Männer Sie beschreiben, Vivian. Sie müssen irgendeine geheime Beziehung zu dem Problem dieser Leute gehabt haben.«
»Da wird es mir ja nachträglich noch ganz unheimlich«, sagte Vivian. Der Professor lächelte. »Das muß nicht sein, denn sehen Sie, selbst ich hatte ja bereits eine Vorahnung.« »Welche?« fragte Vivian ungläubig. »Nun, als Sie zum Anstellungsgespräch bei mir waren, hatte ich die Vorahnung, daß ich bald wieder eine Annonce wegen einer Mitarbeiterin aufgeben würde. Eine so reizende Dame wie Sie würde wohl kaum sehr lange ledig bleiben.« Vivian spürte den Druck von Wims Hand auf der ihrigen und ein großes Glücksgefühl durchschoß sie von den Sohlen bis zu den Haarspitzen. Eine weibliche Lautsprecherstimme forderte die Passagiere für den Flug nach Sydney auf, sich fertig zu machen. »Das ist meine Maschine.« Der Professor erhob sich und reichte erst Vivian und dann Wim die Hand. »Wenn Sie in London sind, besuchen Sie mich. Ich wünsche Ihnen beiden viel Glück.« Wenig später standen Vivian und Wim an der Glasfront des Cafes und winkten dem Professor ein letztes Mal zu, als er sich kurz vor der Einstiegsluke noch einmal umdrehte und zurückwinkte. Als das Flugzeug abhob, sah Vivian Wim tief in die himmelblauen Augen, aus denen ihr das Glück der Liebe entgegenstrahlte.
»Na, wie war’s?« Judy Powell streckte ihren Kopf durch die Tür. Vivian stand am Fenster und schaute hinaus in den wolkenverhangenen Londoner Himmel. Sie drehte sich um. »Komm herein, ich erzähle dir alles! Hast du übrigens heute abend Zeit?«
»Ja, natürlich«, erwiderte Judy. »Gibst du eine Party?« »So etwas Ähnliches. Ich möchte dir Wim vorstellen.« »Wim? Wer ist Wim?« fragte Judy erstaunt. Vivian sah zum Fenster hinaus. Durch das trübe Grau der Wolken schoß plötzlich ein heller Sonnenstrahl. Sie drehte sich um und sah Judy mit strahlenden Augen an. »Mein zukünftiger Mann!«