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Tana French
TOTENGLEICH
Kriminalroman Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
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Tana French
TOTENGLEICH
Kriminalroman Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
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Covergestaltung: HildenDesign, München Coverabbildung: Hildendesign, Shutterstock Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »The Likeness« im Verlag Hodder & Stoughton, London © Tana French 2008 Für die deutsche Ausgabe: © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2009 Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400105-0
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Für Anthony, aus unzähligen Gründen
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PROLOG Manchmal nachts, wenn ich allein schlafe, träume ich noch immer vom Whitethorn House. Im Traum ist es stets Frühling, kühles, zart dunstiges Spätnachmittagslicht. Ich steige die abgetretenen Steinstufen hoch und klopfe an die Tür – der prächtige Messingklopfer ist schwarz angelaufen und so schwer, dass man jedes Mal erschrickt –, und eine alte Frau mit Schürze und einem bauernschlauen, harten Gesicht lässt mich herein. Dann hängt sie den großen, rostigen Schlüssel wieder an ihren Gürtel und geht die Einfahrt hinunter davon, unter den fallenden Kirschblüten hindurch, und ich schließe die Tür hinter ihr. Das Haus ist immer leer. Die Schlafzimmer sind kahl und hell, nur meine Schritte hallen von den Dielenbrettern, kreiseln durch die Sonne und die Staubkörnchen hinauf bis zur hohen Decke. Es riecht nach wilden Hyazinthen, deren Duft durch die weit offenen Fenster hereinweht, und nach 5
Bienenwachspolitur. Weiße Farbflocken blättern von den Schiebefenstern ab, und eine Efeuranke ragt schwankend über die Fensterbank. Waldtauben, träge irgendwo draußen. Im Wohnzimmer ist das Klavier aufgeklappt, kastanienfarben schimmerndes Holz, in den Sonnenstreifen fast blendend hell, leichter Wind, der die vergilbten Notenblätter bewegt wie ein Finger. Der Tisch ist für fünf Personen gedeckt, für uns – die Knochenporzellanteller und die langstieligen Weingläser, frisch geschnittenes Waldgeißblatt quillt aus einer Kristallschale –, aber das Tafelsilber ist matt angelaufen, und die dicken Damastservietten sind wattig vor Staub. Daniels Zigarettenetui liegt an seinem Platz am Kopfende des Tisches, offen und leer bis auf ein abgebranntes Streichholz. Irgendwo im Haus, schwach wie ein Fingernagelklicken, sind Geräusche: ein Schlurfen, Flüstern. Mir bleibt fast das Herz stehen. Die anderen sind gar nicht fort, irgendwie hab ich das alles nur 6
falsch verstanden. Sie verstecken sich bloß; sie sind noch da, für alle Zeit. Ich folge den winzigen Geräuschen Zimmer für Zimmer durchs Haus, verharre nach jedem Schritt, um zu lauschen, aber ich bin nie schnell genug: Sie entgleiten stets wie Trugbilder, hinter die nächste Tür oder weiter die Treppe hinauf. Ein spitziges Kichern, augenblicklich gedämpft, das Knarren von Holz. Ich lasse Kleiderschranktüren weit aufschwingen, ich nehme drei Stufen auf einmal, ich wirbele oben um den Treppenpfosten herum und erhasche aus dem Augenwinkel noch eine rasche Bewegung: der fleckige alte Spiegel am Ende des Korridors, mein Gesicht darin, lachend.
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I Dies ist Lexie Madisons Geschichte, nicht meine. Ich würde Ihnen gern die eine erzählen, ohne in die andere hineinzugeraten, aber das funktioniert nicht. Früher dachte ich, ich hätte uns eigenhändig an den Rändern zusammengenäht, den Faden festgezurrt, und ich könnte die Naht jederzeit wieder auftrennen, ganz nach Belieben. Jetzt denke ich, dass sie schon immer tiefer reichte und weiter, dass sie unterirdisch verlief, außer Sichtweite und völlig außerhalb meiner Kontrolle. Mein Anteil ist jedoch klar: alles, was ich getan habe. Frank macht ausschließlich die anderen verantwortlich, in erster Linie Daniel, wohingegen Sam offenbar meint, es wäre auf seltsam spiegelverzerrte Weise Lexies Schuld. Wenn ich sage, dass es nicht so war, werfen sie mir einen Seitenblick zu und wechseln das Thema – ich habe allmählich das Gefühl, dass Frank denkt, ich hätte irgendeine schleichende Variante des Stockholm8
Syndroms. So etwas kommt bei verdeckten Ermittlern tatsächlich vor, aber in diesem Fall nicht. Ich will niemanden schützen, es ist niemand mehr da, der geschützt werden könnte. Lexie und die anderen werden nie erfahren, dass man ihnen die Schuld gibt, und wenn, wäre es ihnen egal. Aber unterschätzen Sie mich nicht. Mag sein, dass jemand anderer die Karten ausgeteilt hat, aber ich habe sie vom Tisch genommen, ich habe jede Karte gespielt, und ich hatte meine Gründe. Über Alexandra Madison müssen Sie vor allem eines wissen: Sie hat nie existiert. Frank Mackey und ich haben sie erfunden, vor langer Zeit, an einem strahlenden Sommernachmittag in seinem staubigen Büro auf der Harcourt Street. Er wollte Leute in einen Drogenring am University College Dublin, dem UCD, einschleusen. Ich wollte den Job, vielleicht mehr, als ich je irgendetwas im Leben gewollt hatte. Er war eine Legende: Frank Mackey, noch nicht mal vierzig und bereits Leiter von verdeckten 9
Operationen. Der beste Undercovercop, den Irland je hatte, hieß es, verwegen und furchtlos, ein Seiltänzer ohne Netz, niemals. Er schlenderte in IRAZellen und Verbrecherbanden hinein wie in seine Stammkneipe. Man hatte mir die Geschichte erzählt: Als »die Schlange« – ein Berufsgangster und Oberirrer, der einmal einen seiner eigenen Leute zum Krüppel geschlagen hatte, weil der ihm kein Bier spendieren wollte – misstrauisch wurde und drohte, ihm die Hand mit einer Nagelpistole zu durchschießen, sah Frank ihm kaltblütig in die Augen und bluffte, bis die Schlange ihm auf den Rücken klopfte und zur Entschuldigung eine nachgemachte Rolex schenkte. Frank trägt sie noch heute. Ich war eine blutige Anfängerin, hatte die Polizeiakademie Templemore erst vor einem Jahr abgeschlossen. Als Frank ein paar Tage zuvor in einem internen Rundschreiben nach Cops suchte, die studiert hatten und für Anfang zwanzig durchgingen, trug ich eine neongelbe Weste, die mir zu 10
weit war, und lief Streife in einer Kleinstadt im County Sligo, wo die meisten Einheimischen beängstigend ähnlich aussahen. Ich hätte seinetwegen nervös sein müssen, aber ich war es nicht, nicht im Geringsten. Ich wollte den Job zu sehr, um noch Platz für irgendetwas anderes zu haben. Seine Bürotür stand auf, er saß auf der Kante seines Schreibtisches, in Jeans und einem verschossenen blauen T-Shirt, und blätterte in meiner Akte. Das Büro war klein und sah unordentlich aus, als würde er es hauptsächlich als Lagerraum nutzen. Der Schreibtisch war leer, nicht einmal ein Familienfoto. Auf den Regalen lagen außer Unterlagen Blues-CDs, Boulevardblätter, ein PokerSpiel und eine rosa Frauenstrickjacke, an der noch das Etikett hing. Ich beschloss, dass ich den Typ mochte. »Cassandra Maddox«, sagte er und blickte auf. »Ja, Sir«, sagte ich. Er war mittelgroß, stämmig, aber fit, mit breiten Schultern und kurz geschnittenem braunen Haar. Ich hatte jemanden Un11
scheinbaren erwartet, der praktisch unsichtbar wäre, wie der »Krebskandidat« aus Akte X, aber dieser Bursche hatte ein raues, offenes Gesicht und eine Präsenz, die ein Hitzeflirren in der Luft zurückließ. Er war nicht mein Typ, aber ich war ziemlich sicher, dass er bei Frauen gut ankam. »Frank. ›Sir‹ ist was für Schreibtischhengste.« Er sprach klassisch Dubliner Akzent, dezent, aber mit Vorsatz, wie eine Herausforderung. Er rutschte vom Schreibtisch und streckte die Hand aus. »Cassie«, sagte ich und schüttelte sie. Er deutete auf einen Stuhl und setzte sich wieder auf die Schreibtischkante. »Hier steht«, sagte er und tippte auf meine Akte, »Sie sind gut unter Druck.« Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was er meinte. Als ich noch in der Ausbildung in einem heruntergekommenen Viertel von Cork stationiert war, hatte ich einmal einen schizophrenen Teenager beruhigt, der in Panik geraten war und sich mit dem Rasiermesser seines Großvaters die 12
Kehle durchschneiden wollte. Ich hatte die Geschichte schon fast vergessen. Erst in dem Moment wurde mir klar, dass ich wahrscheinlich deshalb für den Job in die engere Wahl gekommen war. »Ich hoffe«, sagte ich. »Sie sind, wie alt – siebenundzwanzig?« »Sechsundzwanzig.« Das Licht, das durchs Fenster fiel, schien mir ins Gesicht, und er musterte mich mit einem langen, prüfenden Blick. »Sie könnten für einundzwanzig durchgehen, kein Problem. Hier steht, Sie haben drei Jahre studiert. Wo?« »Trinity. Psychologie.« Seine Augenbrauen schnellten hoch, gespielt beeindruckt. »Aha, ein Profi. Warum haben Sie keinen Abschluss gemacht?« »Ich hab eine bislang unerforschte Allergie gegen angloirische Akzente entwickelt«, erklärte ich. Das gefiel ihm. »Würden Sie am UCD Ausschlag kriegen?« 13
»Dann nehme ich meine Antihistamine.« Frank hüpfte von seinem Schreibtisch und ging zum Fenster, winkte mir, ihm zu folgen. »Okay«, sagte er. »Sehen Sie das Pärchen da unten?« Ein junger Mann und eine junge Frau kamen plaudernd die Straße hoch. Sie kramte einen Schlüssel hervor und schloss die Tür zu einem tristen Mietshaus auf, in dem sie verschwanden. »Erzählen Sie mir was über die beiden«, sagte Frank. Er lehnte sich gegen das Fenster, hakte die Daumen in seinen Gürtel und sah mich an. »Beides Studenten«, sagte ich. »Büchertaschen. Sie waren im Supermarkt einkaufen – die Einkaufstüten von Dunne’s. Sie hat mehr Geld als er, ihre Jacke war teuer, aber er hat einen Flicken auf der Jeans, und zwar nicht aus modischen Gründen.« »Sind sie ein Paar? Befreundet? WGMitbewohner?«
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»Ein Paar. Sie sind enger nebeneinander hergegangen, als Freunde das tun würden, die Köpfe enger zusammen.« »Sind sie schon lange zusammen?« Mir gefiel das, die neue Art, wie mein Verstand funktionierte. »Eine Weile, ja«, sagte ich. Frank zog fragend eine Braue hoch, und einen Moment lang war ich mir nicht sicher, woher ich das wusste, dann machte es klick. »Sie haben sich beim Sprechen nicht angesehen. Frische Pärchen sehen sich ständig an. Ältere müssen sich nicht mehr so oft vergewissern.« »Wohnen sie zusammen?« »Nein, sonst hätte er automatisch auch nach seinen Schlüsseln gesucht. Das da ist ihre Wohnung. Sie teilt sie sich aber mit wenigstens einer Person. Sie haben beide zu einem Fenster hochgeschaut, wollten nachsehen, ob die Vorhänge auf waren.« »Wie ist ihre Beziehung?«
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»Gut. Sie hat ihn zum Lachen gebracht – Männer lachen meistens nicht über die Scherze von Frauen, außer sie sind noch in der verliebten Phase. Er hat beide Einkaufstüten getragen, und sie hat ihm die Tür aufgehalten, bevor sie rein ist: Sie gehen fürsorglich miteinander um.« Frank nickte. »Sehr gut. Undercoverarbeit ist zur Hälfte Intuition – und ich meine nicht irgendwelchen Hellsehermist. Ich meine, Sachen wahrnehmen und analysieren, ehe du überhaupt merkst, dass du es tust. Der Rest ist Schnelligkeit und Mumm. Wenn du etwas sagen willst oder tun willst, dann tust du es schnell und mit völliger Überzeugungskraft. Wer aus Unsicherheit zögert, ist geliefert, womöglich tot. Sie werden die nächsten ein, zwei Jahre überwiegend keine Kontakte haben. Haben Sie Familie?« »Tante und Onkel«, sagte ich. »Freund?« »Ja.«
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»Sie werden sie kontaktieren können, aber nicht umgekehrt. Meinen Sie, die kommen damit klar?« »Das werden sie müssen«, sagte ich. Er lehnte noch immer lässig am Fensterrahmen, aber ich bemerkte ein stechendes blaues Funkeln: Er beobachtete mich genau. »Hier geht’s nicht gerade um ein kolumbianisches Kartell, und Sie werden hauptsächlich mit den untersten Chargen zu tun haben – jedenfalls am Anfang, aber Sie müssen sich darüber klar sein, dass der Job gefährlich ist. Die eine Hälfte dieser Leute ist die meiste Zeit zugeknallt, und die andere Hälfte nimmt ihr Geschäft sehr ernst, was bedeutet, dass keiner von denen ein Problem damit hätte, Sie zu töten. Macht Sie das nervös?« »Nein«, sagte ich, und das meinte ich auch so. »Überhaupt nicht.« »Wunderbar«, sagte Frank. »Holen wir uns Kaffee und fangen wir an.« Ich brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass das alles war: Ich war dabei. Ich hatte ein 17
dreistündiges Einstellungsgespräch und einen Haufen bizarrer Tests mit Tintenklecksen und Fragen über meine Mutter erwartet, aber so arbeitet Frank nicht. Ich weiß bis heute nicht, wann genau er die Entscheidung getroffen hat. Lange Zeit habe ich auf den passenden Moment gewartet, um ihn danach zu fragen. Jetzt bin ich nicht mehr sicher, ob ich überhaupt wissen will, was er in mir gesehen hat, was ihm verraten hat, dass ich dafür geeignet war. Wir holten uns angebrannt schmeckenden Kaffee und eine Packung Schokokekse aus der Kantine und verbrachten den Rest des Tages damit, Alexandra Madison zu erfinden. Ich dachte mir den Namen aus – »So behalten Sie ihn besser«, sagte Frank. Madison, weil er ähnlich klingt wie mein eigener Nachname, so dass ich mich umdrehen würde, wenn ich ihn hörte, und Lexie, weil meine Phantasieschwester so hieß, als ich klein war. Frank nahm ein großes Blatt Papier und entwarf ihren Lebenslauf für mich. »Sie wurden am 18
ersten März 1979 im Holles Street Hospital geboren. Vater, Sean Madison, im diplomatischen Dienst, stationiert in Kanada – so können wir Sie rasch abziehen, falls nötig: ein Notfall in der Familie, und weg sind Sie. Außerdem bedeutet das, dass Sie in Ihrer Kindheit viel durch die Weltgeschichte gereist sind, als Erklärung dafür, warum keiner Sie kennt.« Irland ist klein; die Freundin von irgendeinem Cousin von egal wem ist unweigerlich mit einem zur Schule gegangen. »Wir könnten eine Ausländerin aus Ihnen machen, aber dann müssten Sie sich mit einem Akzent rumschlagen, und das will ich nicht. Mutter, Caroline Kelly Madison. Ist sie berufstätig?« »Krankenschwester.« »Vorsicht. Denken Sie schneller, achten Sie auf mögliche Konsequenzen. Krankenschwestern brauchen in jedem Land eine neue Zulassung. Sie hat in dem Beruf gearbeitet, aber aufgehört, als Sie sieben waren und Ihre Familie Irland verlassen hat. Möchten Sie Geschwister?« 19
»Klar, warum nicht?«, sagte ich. »Ich hab einen Bruder.« Das Ganze hatte etwas Berauschendes an sich. Ich hätte die ganze Zeit lachen können, vor lauter verschwenderischer, schwindelerregender Freiheit: Angehörige und Länder und Möglichkeiten breiteten sich vor mir aus, und ich konnte mir aussuchen, was ich wollte, ich konnte in einem Palast in Bhutan mit siebzehn Geschwistern und eigenem Chauffeur aufgewachsen sein, wenn mir danach war. Ich stopfte mir noch einen Keks in den Mund, damit Frank mich nicht lächeln sah und womöglich dachte, ich würde die Sache nicht ernst nehmen. »Ganz wie Sie wollen. Er ist sechs Jahre jünger, also ist er in Kanada bei Ihren Eltern. Wie heißt er?« »Stephen.« Mein imaginärer Bruder. Ich hatte eine lebhafte Phantasie als Kind. »Verstehen Sie sich mit ihm? Wie ist er? Schneller«, sagte Frank, als ich Atem holte.
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»Er ist ein kleiner Klugscheißer. Fußballverrückt. Hat dauernd Krach mit unseren Eltern, weil er fünfzehn ist, aber er spricht noch mit mir … « Die Sonne fiel schräg über das verschrammte Holz der Schreibtischplatte. Frank roch sauber, nach Seife und Leder. Er war ein guter Lehrer, ein wunderbarer Lehrer. Sein schwarzer Kuli kritzelte Daten und Orte und Ereignisse nieder, und Lexie Madison entwickelte sich aus dem Nichts wie ein Polaroid, sie löste sich von dem Blatt Papier und schwebte in der Luft wie Weihrauch, eine junge Frau mit meinem Gesicht und einem Leben aus einem halbvergessenen Traum. Wann hatten Sie Ihren ersten Freund? Wo haben Sie da gewohnt? Wie hieß er? Wer hat mit wem Schluss gemacht? Warum? Frank holte einen Aschenbecher, schnippte für mich eine Player’s aus seiner Packung. Als die Sonnenstrahlen vom Schreibtisch glitten und der Himmel draußen vor dem Fenster langsam trüb wurde, drehte er sich mit seinem Stuhl herum, nahm eine Flasche Whiskey aus ei21
nem Regal und goss uns einen Schuss in den Kaffee. »Haben wir uns verdient«, sagte er. »Cheers.« Wir machten aus Lexie eine Ruhelose: intelligent und gebildet, ihr Leben lang ein braves Mädchen, aber eines, das aufgewachsen war, ohne sich je irgendwo niederzulassen, und es auch nie gelernt hatte. Ein bisschen naiv vielleicht, ein bisschen unbedacht, allzu bereit, einem ohne nachzudenken alles zu verraten, was man wissen wollte. »Sie ist ein Köder«, sagte Frank unverblümt, »und sie muss der richtige Köder sein, damit die Dealer anbeißen. Sie muss so unschuldig wirken, dass sie sie nicht für eine Bedrohung halten, so unbescholten, dass sie ihnen nützen kann, und so rebellisch, dass sie sich nicht fragen, warum sie mitspielen will.« Es war dunkel, als wir fertig waren. »Gute Arbeit«, sagte Frank, faltete den Lebenslauf zusammen und gab ihn mir. »In zehn Tagen beginnt ein Detective-Lehrgang, zu dem melde ich Sie an. Danach kommen Sie wieder her, und ich arbeite 22
eine Weile mit Ihnen. Wenn die Uni im Oktober wieder anfängt, sind Sie immatrikuliert.« Er angelte eine Lederjacke von der Regalecke, schaltete das Licht aus und schloss die Tür des dunklen, kleinen Büros. Auf dem Weg zur Bushaltestelle war ich wie in Trance, eingehüllt in Magie, ich trieb inmitten eines Geheimnisses und einer funkelnagelneuen Welt, während der Lebenslauf in der Tasche meiner Uniformjacke leise knisterte. Es ging so schnell, und es kam mir so einfach vor.
Ich werde nicht ausführlich auf die lange, verhedderte Kette von Ereignissen eingehen, die mich von der Undercoverarbeit ins DHG, das Dezernat für häusliche Gewalt, verschlug. Die Kurzversion: Der führende Amphetamin-Süchtige am UCD wurde paranoid und stach mit einem Messer auf mich ein, nach meiner Genesung hatte ich als im Dienst Verwundete einen Wunsch frei und ging 23
zum Morddezernat, das Morddezernat entpuppte sich als zu große Nervenbelastung, ich stieg aus. Ich hatte seit Jahren nicht mehr an Lexie und ihr kurzes, schattenhaftes Leben gedacht. Ich bin nicht der Typ, der ständig über die Schulter nach hinten blickt, zumindest bemühe ich mich nach Kräften. Vorbei ist vorbei, sich etwas anderes vorzumachen ist Zeitverschwendung. Aber jetzt denke ich, ich habe immer gewusst, dass Lexie Madison Konsequenzen haben würde. Man kann nicht eine ganze Person erfinden, einen Menschen mit einem ersten Kuss und mit Humor und einem Lieblingssandwich, und dann erwarten, dass diese Person sich auflöst und wieder zu den Notizen und dem Kaffee mit einem Schuss Whiskey wird, wenn sie ausgedient hat. Ich glaube, ich habe immer gewusst, dass Lexie wiederkommen und nach mir suchen würde, eines Tages. Sie brauchte vier Jahre. Sie suchte sich den Augenblick mit Bedacht aus. Sie trat an einem frühen Morgen im April wieder in mein Leben, einige 24
Monate nach meinem Abschied vom Morddezernat, als ich gerade auf dem Schießstand war. Unser Schießstand liegt unterirdisch mitten in der Stadt, tief unter dem Dubliner Straßenverkehr und einer dicken Schicht Smog. Ich hätte nicht dort sein müssen – ich war immer eine gute Schützin, und bis zu meinem nächsten Befähigungstest waren es noch Monate –, aber in letzter Zeit war ich morgens immer zu früh wach, um schon zur Arbeit zu gehen, und viel zu ruhelos für irgendetwas anderes, und ich hatte festgestellt, dass Zielschießen das Einzige war, was gegen die Nervosität wirkte. Ich ließ mir viel Zeit beim Aufsetzen der Ohrenschützer und beim Überprüfen meiner Pistole, wartete, bis alle anderen sich auf ihre eigenen Ziele konzentrierten, damit keiner sah, dass ich bei den ersten Schüssen schlotterte wie eine unter Strom gesetzte Zeichentrickfigur. Nervenbündel entwickeln besondere Strategien, unauffällige Tricks, damit niemand etwas merkt. Wer schnell lernt, schafft es schon bald, den gan25
zen Tag hindurch fast wie ein normaler Mensch zu wirken. Ich war vorher nie so gewesen. Ich dachte immer, ein schwaches Nervenkostüm hätten nur Jane-Austen-Figuren und Mädchen mit Heliumstimmen, die ihre Drinks nie selbst bezahlen. In einer Krisensituation zittrig zu werden war für mich ebenso abwegig, wie mit einem Riechsalzfläschchen durch die Gegend zu laufen. Von dem Drogenboss der UCD niedergestochen zu werden hatte mich nicht aus der Bahn geworfen. Der Polizeipsychologe versuchte wochenlang, mich davon zu überzeugen, dass ich schwer traumatisiert war, bis er schließlich aufgeben und eingestehen musste, dass es mir gutging (mit leichtem Bedauern; er hat nicht oft Gelegenheit, mit niedergestochenen Cops herumzuexperimentieren, ich glaube, er hatte gehofft, bei mir irgendeinen ausgefallenen Komplex feststellen zu können), und mich wieder zur Arbeit gehen ließ.
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Der Fall, der mich dann umhaute, war peinlicherweise kein spektakulärer Massenmord oder eine schlecht ausgegangene Geiselnahme oder ein netter, stiller Typ mit menschlichen Organen in Tupperdosen. Mein letzter Fall im Morddezernat war so simpel, nicht viel anders als Dutzende andere auch, nichts, was uns hätte vorwarnen können: Bloß ein kleines Mädchen, das an einem Sommermorgen tot aufgefunden wurde, und mein Partner und ich alberten im Büro herum, als die Meldung kam. Von außen betrachtet, lief es sogar gut. Offiziell lösten wir den Fall in knapp einem Monat, die Gesellschaft wurde von einem Übeltäter befreit, in den Medien und der Jahresstatistik nahm sich alles prächtig aus. Es gab keine dramatischen Verfolgungsjagden, keine Schießereien, nichts dergleichen. Ich war diejenige, die es noch am schlimmsten erwischt hatte, zumindest physisch, und ich war mit ein paar Kratzern im Gesicht davongekommen. Es waren nicht mal Nar-
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ben zurückgeblieben. Ein richtiges Happy End, allenthalben. Unter der Oberfläche jedoch – SOKO »Vestalin« oder Knocknaree-Fall: Wer einen vom Morddezernat darauf anspricht, selbst jetzt noch, selbst einen von den Jungs, die nicht die ganze Geschichte kennen, erntet sofort diesen Blick, Hände und Augenbrauen gehen vielsagend hoch, während der Angesprochene sich von dem Desaster und dem Kollateralschaden distanziert. In jeder entscheidenden Hinsicht haben wir verloren, und zwar absolut. Manche Leute sind kleine Tschernobyls, in ihnen glimmert ein lautloses, unaufhaltsames Gift: Komm ihnen zu nahe, und jeder Atemzug zerstört dich mehr und mehr. Einige Fälle – da können Sie jeden Cop fragen – sind heimtückisch und unheilbar, verschlingen alles, was mit ihnen in Berührung kommt. Ich zeigte danach eine ganze Palette von Symptomen, bei denen der Psychologe in seinen kleinen Ledersandalen begeistert auf- und abgehüpft wäre, 28
doch Gott sei Dank kam keiner auf die Idee, mich wegen ein paar Kratzern im Gesicht zur Therapie zu schicken. Es waren Traumasymptome wie aus dem Lehrbuch – zittern, nichts essen können, zu Tode erschrecken, wenn es an der Tür schellte oder das Telefon klingelte –, mit ein paar individuellen Beilagen. Meine Koordination schlug Kapriolen. Zum ersten Mal im Leben stolperte ich dauernd über meine eigenen Füße, lief gegen Türrahmen, stieß mir den Kopf an Schränken. Und ich hörte auf zu träumen. Früher hatte ich immer in großartigen, wilden Bilderfluten geträumt, Feuersäulen, die über dunkle Berge hinwegwirbelten, Kletterpflanzen, die massiven Backstein durchbrachen, Hirsche, die von Lichtbändern umhüllt in langen Sätzen den Strand von Sandymount entlangliefen; jetzt fiel ich in einen dumpfen, schwarzen Schlaf, der mich wie ein Hammer traf, kaum dass mein Kopf das Kissen berührte. Sam – mein Freund, obwohl mich dieser Gedanke mitunter noch immer verblüffte – sagte, ich solle mich 29
gedulden, das würde sich irgendwann geben. Als ich erwiderte, ich hätte da meine Zweifel, nickte er sanft und sagte, auch das würde sich geben. Ab und zu konnte Sam mir ganz schön auf den Wecker gehen. Ich zog die herkömmliche Cop-Lösung in Erwägung – Alkohol –, aber ich fürchtete, dann würde ich irgendwann um drei Uhr morgens die falschen Leute anrufen, um ihnen mein Herz auszuschütten, und außerdem stellte ich fest, dass Schießübungen mich fast ebenso wirkungsvoll betäubten, und zwar ohne irgendwelche unschönen Nebenwirkungen. Angesichts meiner sonstigen Reaktion auf laute Geräusche war das eigentlich völlig unlogisch, aber das kümmerte mich nicht. Nach den ersten paar Schüssen brannte bei mir im Hinterkopf eine Sicherung durch, und der Rest der Welt rückte irgendwo in nebulöse Ferne, meine Hände schlossen sich bombenfest um die Pistole, und dann waren da nur noch ich und die Pappfigur, der strenge vertraute Geruch nach Schießpul30
ver in der Luft und mein Rücken, der sich gegen den Rückstoß stemmte. Hinterher war ich ruhig und benommen, wie unter Valium. Bis die Wirkung nachließ, hatte ich wieder einen Tag auf der Arbeit überstanden und konnte mir den Kopf an spitzen Ecken innerhalb meiner geschützten vier Wände stoßen. Irgendwann war ich so gut geworden, dass ich von zehn Schüssen neun Kopfschüsse aus vierzig Metern Entfernung schaffte, und der verschrumpelte kleine Mann, der den Schießstand leitete, hatte angefangen, mich mit dem Blick eines Pferdetrainers zu mustern und das Thema Polizeimeisterschaften anzusprechen. An dem Morgen hatte ich gegen sieben mit dem Schießen aufgehört. Ich war in der Umkleide dabei, meine Pistole zu reinigen, und versuchte, mit zwei Kollegen von der Sitte Smalltalk zu machen, ohne bei ihnen den Eindruck zu erwecken, ich würde mit ihnen frühstücken wollen, als mein Handy klingelte.
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»Ach, du Schande«, sagte einer der beiden. »Du bist doch beim DHG, nicht? Wer hat denn die Energie, seine Frau schon so früh am Morgen zu verdreschen?« »Für die wirklich wichtigen Dinge im Leben ist immer Zeit«, sagte ich und holte meinen Spindschlüssel aus der Tasche. »Vielleicht ist es das Spezialeinsatzkommando«, sagte der Jüngere der beiden und grinste mich an. »Die brauchen Scharfschützen.« Er war groß und rothaarig, und er fand mich süß. Er präsentierte seine Muskeln möglichst vorteilhaft, und ich hatte ihn bei einem prüfenden Blick auf meinen Ringfinger ertappt. »Die haben wahrscheinlich gehört, dass wir gerade keine Zeit haben«, sagte sein Kumpel. Ich fischte das klingelnde Telefon aus meinem Spind. Auf dem Display stand Sam O’Neill, und das Symbol für entgangene Anrufe blinkte mich aus einer Ecke an. »Hi«, sagte ich. »Was gibt’s?« 32
»Cassie«, sagte Sam. Er klang schrecklich: atemlos und krank, als hätte ihn jemand zusammengeschlagen. »Alles in Ordnung mit dir?« Ich drehte den Jungs von der Sitte den Rücken zu und verzog mich in eine Ecke. »Mir geht’s gut. Wieso? Was ist los?« »Menschenskind«, sagte Sam. Er gab einen harten, kleinen Laut von sich, als wäre seine Kehle zu eng. »Ich hab dich viermal angerufen. Ich wollte schon jemanden zu dir in die Wohnung schicken. Wieso bist du nicht an dein scheiß Handy gegangen?« Das sah Sam gar nicht ähnlich. Er ist der sanftmütigste Mann, der mir je begegnet ist. »Ich bin am Schießstand«, sagte ich. »Es war in meinem Spind. Was ist denn passiert?« »Tut mir leid. Ich wollte nicht … tut mir leid.« Er machte wieder dieses schroffe kleine Geräusch. »Ich bin rausgerufen worden. Zu einem Fall.« Mein Herz machte einen gewaltigen Satz gegen den Brustkorb. Sam ist im Morddezernat. Ich 33
wusste, dass ich mich wahrscheinlich besser hinsetzen sollte, aber ich konnte die Knie nicht beugen. Stattdessen lehnte ich mich gegen die Spinde. »Wer ist es?«, fragte ich. »Was? Nein – um Gottes willen, nein, es ist nicht … ich meine, es ist niemand, den wir kennen. Das heißt, ich glaube jedenfalls nicht … Hör mal, kannst du herkommen?« Mein Atem war wieder da. »Sam«, sagte ich. »Was zum Teufel ist los?« »Ich … kannst du nicht einfach herkommen? Wir sind in Wicklow, außerhalb von Glenskehy. Kennst du doch, oder? Folg der Beschilderung bis Glenskehy, durch das Dorf durch und halt dich dann in südlicher Richtung. Nach etwa einer Dreiviertelmeile geht rechts ein kleiner Weg ab – da siehst du schon das Absperrband. Wir warten da auf dich.« Die Jungs von der Sitte blickten jetzt interessiert. »Mein Dienst fängt in einer Stunde an«, sag-
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te ich. »So lange brauche ich allein, um da rauszufahren.« »Ich rufe bei dir im Dezernat an. Ich sag denen, wir brauchen dich.« »Das lässt du schön bleiben. Ich bin nicht mehr im Morddezernat, Sam. Wenn es um einen Mord geht, hab ich nichts damit zu tun.« Die Stimme eines Mannes im Hintergrund: entschieden, lässig gedehnt, schwer zu überhören. Sie kam mir bekannt vor, aber ich wusste nicht, wo ich sie hintun sollte. »Moment«, sagte Sam. Ich klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter und fing an, meine Pistole wieder zusammenzusetzen. Wenn es niemand war, den wir kannten, dann musste es ein übler Fall sein, so wie Sam sich anhörte, sehr übel. Tötungsdelikte in Irland sind nach wie vor überwiegend ziemlich simple Angelegenheiten: Kämpfe im Drogenmilieu, Einbrüche, bei denen etwas schiefgeht, Ehedramen oder diese komplizierte Familienfehde in Limerick, die seit Jahrzehnten die Statistik ver35
saut. Wir hatten noch nie solche Alptraumorgien wie in anderen Ländern: die Serienkiller, die raffinierten Folterungen, die Keller, in denen die Leichen wie Herbstlaub liegen. Aber bis dahin ist es nur noch eine Frage der Zeit. Seit zehn Jahren verändert sich Dublin so schnell, dass unser Verstand nicht mehr nachkommt. Das irische Wirtschaftswunder hat uns zu viele Leute mit Hubschraubern beschert und zu viele, die in kakerlakenverseuchte, heruntergekommene Wohnungen abgestürzt sind, viel zu viele, die ihr Dasein in neonhellen Bürowaben verachten, es mit dem Gedanken ans Wochenende ertragen, um dann wieder von vorn anzufangen, und allmählich brechen wir unter dem Gewicht zusammen. Gegen Ende meiner Zeit im Morddezernat spürte ich es nahen: spürte das hohe Singen des Wahnsinns in der Luft, die Stadt, die sich duckte und zuckte wie ein tollwütiger Hund, ehe er anfängt, um sich zu beißen. Früher oder später musste jemand den ersten Horrorfall erwischen. 36
Wir haben keine offiziellen Profiler, aber die Leute vom Morddezernat, die meist nicht aufs College gegangen sind und von meinem abgebrochenen Psychologiestudium beeindruckter waren, als sie es hätten sein sollen, schoben mir gern diese Rolle zu. Und ich spielte sie nicht mal schlecht. Ich las in der Freizeit viele Lehrbücher und Statistiken, um auf dem Laufenden zu bleiben. Sams Cop-Instinkte könnten seine beschützerischen verdrängt haben, so dass er mich hinzuziehen wollte, weil er es für nötig erachtete, weil er an einem Tatort etwas so Schlimmes vorgefunden hatte, dass er das für gerechtfertigt hielt. »Moment mal«, sagte der Rothaarige. Er hatte den Muskelprotzmodus abgeschaltet und saß jetzt kerzengerade auf seiner Bank. »Du warst im Morddezernat?« Genau aus dem Grund hatte ich jede Kumpelhaftigkeit vermeiden wollen. Diesen begeisterten Tonfall hatte ich in den letzten paar Monaten viel zu oft gehört.
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»Vor einer halben Ewigkeit«, sagte ich, während ich ihn mit meinem süßesten Lächeln und meinem Frag-bloß-nicht-weiter-Blick bedachte. Rotschopfs Neugier und seine Libido lieferten sich ein kurzes Duell. Offenbar rechnete er sich aus, dass die Chancen seiner Libido ohnehin gleich null waren, denn seine Neugier gewann. »Du bist die, die diesen einen Fall bearbeitet hat, nicht?«, sagte er und rutschte ein paar Spinde näher. »Das tote Mädchen. Wie war das denn nun wirklich?« »Alle Gerüchte stimmen«, erwiderte ich. Am anderen Ende des Telefons hatte Sam eine gedämpfte Auseinandersetzung, kurze gereizte Fragen, die von der lässigen Stimme unterbrochen wurden, und ich wusste, wenn der Rothaarige nur mal kurz die Klappe halten würde, käme ich dahinter, wer da sprach. »Ich hab gehört, dein Partner ist durchgedreht und mit einer Verdächtigen in die Kiste gestiegen«, informierte Rotschopf mich netterweise. 38
»Das wäre mir neu«, sagte ich, während ich versuchte, mich aus der kugelsicheren Weste zu befreien, ohne das Handy zu verlieren. Mein erster Impuls war – noch immer –, ihm zu sagen, er solle doch einfach ein bisschen kreativ an sich rumspielen, aber weder der psychische Zustand meines Expartners noch sein Liebesleben waren mein Problem, nicht mehr. Als Sam wieder ans Telefon kam, klang er noch angespannter und erschütterter. »Kannst du eine Sonnenbrille aufsetzen und eine Kapuze oder Mütze oder so?« Ich verharrte mit der Weste halb über dem Kopf. »Hast du sie noch alle?« »Bitte, Cassie«, sagte Sam, und er klang fast bis zum Zerreißen angespannt. »Bitte.«
Ich fahre eine alte, klapprige Vespa, was in einer Stadt, wo du bist, was du ausgibst, ganz schön uncool ist, aber auch seine Vorzüge hat. Im Stadt39
verkehr komme ich damit viermal schneller voran als der durchschnittliche Geländewagen, ich finde immer einen Parkplatz, und sie ist auch in sozialer Hinsicht praktisch, da ich auf Anhieb weiß, dass jeder, der sie mit einem schnöseligen Blick bedenkt, wahrscheinlich nicht mein neuer bester Freund werden wird. Sobald ich die Stadt hinter mir gelassen hatte, war es ideales Motorrollerwetter. Es hatte die ganze Nacht geregnet, stürmischer Graupelregen, der gegen mein Fenster geklatscht war, aber im Morgengrauen hatte er sich bereits verzogen, und der Tag war klar und blau, der erste in diesem Beinahe-Frühling. Früher war ich, wenn es morgens so war wie jetzt, raus aufs Land gefahren und hatte laut in den Wind gesungen, immer am Rande des Tempolimits. Glenskehy liegt nicht weit von Dublin, versteckt und gottverlassen in den Wicklow-Bergen. Ich hatte mein halbes Leben in Wicklow gewohnt und das Kaff nur insofern zur Kenntnis genommen, als gelegentlich ein Straßenschild in die 40
Richtung wies. Es war genau, wie ich erwartet hatte: eine Handvoll Häuser, die um eine Kirche mit Gottesdienst einmal im Monat und einen Pub und einen Kramladen herum alt wurden, so klein und abgelegen, dass es selbst von der Generation, die verzweifelt auf dem Land nach erschwinglichen Häusern sucht, übersehen worden war. Acht Uhr am Donnerstagmorgen, und die Hauptstraße – eine etwas hochtrabende Bezeichnung – war das perfekte Postkartenidyll und leer, bloß eine alte Frau zog ein Einkaufswägelchen an einem verwitterten Granitdenkmal vorbei irgendwohin, hinter ihr dichtgedrängt kleine schiefe Zuckerbäckerhäuser, und über allem ragten grün und braun und teilnahmslos die Hügel auf. Ich konnte mir vorstellen, dass hier jemand ermordet wurde, zum Beispiel ein Farmer in einem generationenalten Streit um einen Grundstückszaun, eine Frau, deren besoffener Gatte durch Hüttenkoller brutal geworden war, ein Mann, der vierzig Jahre zu lange mit seinem Bruder unter einem Dach gelebt hatte: tief 41
verwurzelte, banale Verbrechen, so alt wie Irland, aber nichts, was bewirken würde, dass ein erfahrener Detective wie Sam sich so anhörte. Und die andere Stimme am Telefon ließ mir noch immer keine Ruhe. Sam ist der einzige Detective, den ich kenne, der keinen Partner hat. Er liebt Alleinflüge, bei jedem neuen Fall mit einem anderen Team zu arbeiten – Kollegen in Uniform, die die Hilfe eines Experten anfordern, Partner aus dem Morddezernat, die bei einem großen Fall einen dritten Mann brauchen. Sam kommt mit allen gut aus, er ist die ideale Verstärkung, und ich war neugierig, für welche Leute, mit denen ich früher gearbeitet hatte, er diesmal die Verstärkung abgab. Außerhalb des Dorfes wurde die Straße schmaler, wand sich zwischen leuchtenden Ginsterbüschen bergauf, und die Felder wurden kleiner und steiniger. Auf der Kuppe des Hügels standen zwei Männer. Sam, blond und stämmig und angespannt, die Füße breitbeinig fest auf dem Boden und die Hände in den Jackentaschen; und dicht neben ihm 42
jemand, der sich mit erhobenem Kopf nach hinten gegen den steifen Wind lehnte. Die Sonne stand noch tief am Himmel, und die langen Schatten der beiden ließen sie riesig und unheilvoll erscheinen. Ihre Silhouetten hoben sich vor den dahinjagenden Wolken ab, fast zu hell, um sie anzuschauen, wie zwei Boten, die aus der Sonne kommend die schimmernde Straße hinuntergingen. Hinter ihnen flatterte und peitschte Polizeiabsperrband. Sam hob die Hand, als ich winkte. Der andere Typ legte den Kopf schief, ein rasches Abkippen, wie ein Blinzeln, und ich wusste, wer er war. »Ich glaub, ich spinne«, sagte ich, noch ehe ich von der Vespa gestiegen war. »Frankie. Wo kommst du denn her?« Frank schlang einen Arm um mich und hob mich in die Luft. Vier Jahre hatten es nicht geschafft, ihn auch nur ein kleines bisschen zu verändern. Ich war mir ziemlich sicher, dass er sogar noch dieselbe abgewetzte Lederjacke trug. »Cassie Maddox«, sagte er. »Die beste falsche Studen43
tin der Welt. Wie geht’s dir? Du beim Dezernat für häusliche Gewalt, wieso denn das?« »Ich rette die Welt. Die haben mir ein Lichtschwert gegeben und alles, was dazugehört.« Ich bemerkte Sams verwundertes Stirnrunzeln aus dem Augenwinkel – ich rede nicht viel über meine Undercoverzeit, ich bin nicht mal sicher, ob er von mir je Franks Namen gehört hatte –, aber erst als ich mich ihm zuwandte, erkannte ich, dass er entsetzlich aussah, weiß um den Mund und die Augen zu weit aufgerissen. Etwas in mir verkrampfte sich: ein Horrorfall. »Wie geht’s dir?«, fragte ich ihn und nahm den Helm ab. »Super«, sagte Sam. Er versuchte ein Lächeln, aber es verrutschte ihm. »Oho«, sagte Frank gespielt tuntig, während er mich auf Armeslänge von sich weghielt und musterte. »Lass dich mal anschauen. So was tragen also gutgekleidete Detectives heutzutage?« Als er mich das letzte Mal gesehen hatte, trug ich eine 44
Cargohose und ein T-Shirt mit der Aufschrift »Miss Kitty’s House of Fun Wants you«. »Leck mich, Frank«, erwiderte ich. »Wenigstens hab ich mein Outfit in den letzten paar Jahren ein- oder zweimal gewechselt.« »Nein, nein, nein, ich bin beeindruckt. Sehr businesslike.« Er wollte mich herumdrehen. Ich schlug seine Hand weg. Nur damit das klar ist, ich war nicht angezogen wie Hillary Clinton. Ich trug meine Arbeitskleidung – schwarzer Hosenanzug, weiße Bluse – und fand diese Garderobe auch nicht berauschend, aber als ich ins Dezernat für häusliche Gewalt wechselte, lag mir mein neuer Vorgesetzter andauernd damit in den Ohren, wie wichtig es sei, nach außen hin ein präsentables einheitliches Bild zu vermitteln und in der Öffentlichkeit Vertrauen aufzubauen, was anscheinend in Jeans und T-Shirt unmöglich ist, und ich hatte nicht die Energie zur Gegenwehr. »Hast du eine Sonnenbrille und eine Mütze oder so dabei?«, fragte Frank. »Würde stilistisch prima passen.« 45
»Habt ihr mich herkommen lassen, um mit mir über meinen Klamottenstil zu diskutieren?«, fragte ich. Ich kramte eine uralte rote Baskenmütze aus meinem Rucksack heraus und wedelte damit vor seiner Nase. »Nein, darauf kommen wir ein andermal zurück. Hier, setz die auf.« Frank holte eine Sonnenbrille aus seiner Tasche, so eine abscheuliche verspiegelte à la Don Johnson 1985, und gab sie mir. »Wenn ich wie ein Vollidiot mit dem Ding auf der Nase herumlaufen soll«, sagte ich und nahm sie beide ins Visier, »dann habt ihr hoffentlich eine gute Erklärung.« »Dazu kommen wir gleich. Wenn sie dir nicht gefällt, kannst du auch den Helm wieder aufsetzen.« Frank wartete, bis ich die Achseln zuckte und die idiotische Verkleidung anzog. Die Aufregung, ihn zu sehen, war verflogen, und mein Rücken verkrampfte sich wieder. Sam, der krank aussah, Frank, der hier war und nicht wollte, dass ich am Tatort gesehen wurde: Das alles sah ganz 46
danach aus, als ob ein Undercovercop das Opfer war. »Hinreißend wie immer«, sagte Frank. Er hob das Absperrband an, damit ich mich darunter herduckte, und das war so vertraut, ich hatte diese rasche, mühelose Bewegung so oft gemacht, dass ich für den Bruchteil einer Sekunde das Gefühl hatte, nach Hause zu kommen. Ich rückte automatisch meine Pistole am Gürtel zurecht und sah mich nach meinem Partner um, als wäre das hier mein Fall, ehe ich mich wieder erinnerte. »Bislang wissen wir Folgendes«, sagte Sam. »Gegen Viertel nach sechs heute Morgen ging ein Bursche namens Richard Doyle auf diesem Weg hier mit seinem Hund spazieren. Er ließ ihn von der Leine, damit er ein bisschen herumlaufen konnte. Nicht weit vom Weg steht ein verfallenes Haus. Der Hund ist da rein und kam einfach nicht wieder raus. Schließlich musste Doyle hinterher. Als er reinkam, schnüffelte der Hund an der Lei-
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che einer Frau herum. Doyle packte den Hund, nahm die Beine in die Hand und rief die Polizei.« Ich entspannte mich ein wenig: Ich kannte keine anderen Frauen aus meiner Undercoverzeit. »Und wieso bin ich hier?«, fragte ich. »Ganz zu schweigen von dir, mein Alter. Bis du ins Morddezernat gewechselt, und keiner hat’s mir erzählt?« »Wirst du gleich verstehen«, sagte Frank. Ich ging hinter ihm den Weg hinunter und konnte nur seinen Hinterkopf sehen. »Glaub mir, hundertpro.« Ich blickte über die Schulter zu Sam. »Keine Sorge«, sagte er leise. Seine Gesichtsfarbe kehrte zurück, in leuchtenden, ungleichmäßigen Klecksen. »Du machst das schon.« Der leicht ansteigende Weg war zu schmal, um zu zweit nebeneinander zu gehen, bloß ein matschiger Pfad mit struppigen, breit wuchernden Weißdornhecken auf beiden Seiten. Wo sich zwischen ihnen eine Lücke auftat, ähnelte der Hang einer Steppdecke aus ungleichmäßigen grünen 48
Feldern, auf denen verstreut Schafe grasten – ein ganz junges Lamm blökte irgendwo in der Ferne. Die Luft war kalt und zum Trinken feucht, und die Sonne fiel lang und golden durch den Weißdorn. Mir kam der Gedanke, einfach weiterzugehen, über die Hügelkuppe und immer weiter, und Sam und Frank den brodelnden dunklen Fleck zu überlassen, der da im Morgenlicht auf uns wartete. »Da wären wir«, sagte Frank. Die Hecke ging in eine zerfallende Steinmauer über, die ein vergrastes Feld begrenzte. Das Haus stand dreißig oder vierzig Schritte vom Weg entfernt und war eins von diesen Cottages, wie man sie überall in Irland findet. Sie stehen seit der großen Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts leer, weil die Bewohner gestorben oder ausgewandert sind und danach niemand mehr Besitzansprüche erhoben hat. Ein Blick genügte, um mein Gefühl zu verstärken, dass ich ganz weit wegwollte von dem, was mich hier erwartete. Das gesamte Feld hätte eigentlich wimmeln müssen vor konzentrier49
ter, bedächtiger Aktivität – Uniformierte, die Köpfe gesenkt, die sich durchs Gras bewegen, Leute von der Spurensicherung in weißen Overalls, die mit Kameras und Linealen und Fingerabdruckpinseln hantieren, Männer von der Gerichtsmedizin, die eine Trage ausladen. Stattdessen sah ich rechts und links der Cottagetür zwei Uniformierte stehen, die von einem Bein aufs andere traten und leicht hilflos wirkten, während zwei Rotkehlchen auf dem Dach herumhüpften und empört durch die Gegend krakeelten. »Wo sind denn alle?«, fragte ich. Ich hatte Sam angesprochen, aber Frank sagte: »Cooper war schon hier und ist wieder weg.« Cooper ist der Pathologe. »Hab ihn gleich kommen lassen, damit er sie sich ansieht, wegen des Todeszeitpunkts. Die Kriminaltechnik kann warten. Den Spuren passiert ja nichts.« »Quatsch«, sagte ich. »Klar passiert ihnen was, wenn wir da reingehen. Sam, hast du schon mal einen Doppelmord bearbeitet?« 50
Frank hob eine Augenbraue. »Gibt’s noch eine Leiche?« »Deine, sobald die Kriminaltechniker da sind. Sechs Leute, die an einem Tatort herumtrampeln, ehe sie ihn freigegeben haben? Die drehen dir den Hals um.« »Das Risiko geh ich ein«, sagte Frank munter und schwang ein Bein über die Mauer. »Ich wollte die Sache eine Weile unter Verschluss halten, und das ist schwierig, wenn hier überall die Spurensicherung herumwuselt. Die fallen nur auf.« Irgendetwas war hier oberfaul. Es war Sams Fall, nicht Franks. Eigentlich hätte Sam die Entscheidung treffen müssen, wie mit den Spuren zu verfahren war und wer wann gerufen wurde. Was immer da in dem Cottage war, es hatte ihn heftig aus der Fassung gebracht, sonst hätte Frank ihn wohl kaum derartig überrennen und zur Seite drängen können, um den Fall prompt und wirkungsvoll genau so anzugehen, wie es ihm in den Kram passte. Ich suchte Sams Blick, aber er hievte 51
sich gerade über die Mauer, ohne einen von uns beiden anzusehen. »Kannst du in dem Aufzug über Mauern klettern«, fragte Frank süßlich, »oder soll ich dir behilflich sein?« Ich streckte ihm die Zunge raus und schwang mich rüber auf die Wiese, landete knöcheltief in langem, nassem Gras und Löwenzahn. Das Cottage hatte zwei Räume gehabt, irgendwann, vor langer Zeit. Einer von ihnen sah noch immer einigermaßen intakt aus – sogar ein Großteil des Daches war erhalten –, der andere jedoch bestand nur noch aus Mauerresten und Fensterlöchern unter freiem Himmel. Ackerwinden und Moos und kleine, hängende blaue Blumen hatten in den Rissen Wurzeln geschlagen. Irgendwer hatte neben der Tür den Namen SHAZ aufgesprüht, nicht sehr künstlerisch, aber das Haus war selbst als Treffpunkt für Jugendliche ungeeignet. Sich selbst überlassen, verfiel es langsam und würde irgendwann einstürzen.
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»Detective Cassie Maddox«, sagte Frank, »Sergeant Noel Byrne und Garda Joe Doherty, Polizeiwache Rathowen. Glenskehy gehört zu ihrem Revier.« »Eine Strafe Gottes«, sagte Byrne. Er klang, als meinte er es ernst. Er war irgendetwas über fünfzig, mit rundem Rücken und wässrigen blauen Augen, und er roch nach nasser Uniform und Verlierer. Doherty war ein schlaksiger junger Mann mit unvorteilhaften Ohren, und als ich ihm die Hand hinstreckte, glotzte er so überrascht wie eine Zeichentrickfigur. Ich konnte förmlich hören, wie seine Augäpfel ploppmachten, als sie wieder zurückflutschten. Weiß der Himmel, was er über mich gehört hatte – die Gerüchteküche bei Cops funktioniert besser als in jedem Bingoclub –, aber ich hatte keine Zeit, mir deswegen Gedanken zu machen. Ich packte mein strahlendstes Lächeln aus, und er murmelte etwas und ließ meine Hand fallen, als hätte er sich daran verbrannt. 53
»Wir haben Detective Maddox gebeten, einen Blick auf unser Opfer zu werfen«, sagte Frank. »Schon klar, hätt ich auch gemacht«, sagte Byrne, der mich angaffte. Ich war mir nicht sicher, ob er es so meinte, wie es sich anhörte; so forsch kam er mir eigentlich nicht vor. Doherty kicherte nervös. »Bereit?«, frage Sam mich leise. »Ich komm um vor Spannung«, sagte ich. Es kam mir etwas rotziger über die Lippen als beabsichtigt. Frank verschwand bereits im Cottage und zog den Vorhang aus Brombeerranken beiseite, der vor der Tür des inneren Raumes hing. »Ladies first«, sagte er schwungvoll. Ich hakte mir die Machobrille mit einem Bügel vorn in die Bluse, holte Luft und trat ein. Es hätte ein friedlicher, trauriger kleiner Raum sein können. Lange Streifen Sonnenlicht fielen schräg durch Löcher im Dach und schienen durch das Netz aus Zweigen vor den Fenstern, flirrend wie Licht auf Wasser; eine Kochstelle, seit hun54
dert Jahren erkaltet, darauf Reste von Vogelnestern, die durch den Kamin herabgefallen waren, und der verrostete Eisenhaken für den Kochtopf hing noch immer einsatzbereit da. Eine Waldtaube gurrte zufrieden irgendwo in der Nähe. Aber wer schon einmal eine Leiche gesehen hat, weiß, wie sie die Luft verändert: Die gewaltige Stille, das Nichtvorhandensein, so eindringlich wie ein schwarzes Loch, die Zeit ist stehengeblieben, und die Moleküle sind um das reglose Etwas erstarrt, das das letzte Geheimnis erfahren hat, das es nie verraten kann. Meistens sind Tote das Einzige im Raum. Bei Mordopfern ist es anders; sie kommen nicht allein. Die Stille schwillt zu einem ohrenbetäubenden Schrei an, die Luft ist bewegt und trägt eine Handschrift, von der Leiche steigt der Qualm des Brandmals auf, das die andere Person hinterlassen hat, die dich genauso fest packt: der Mörder. An diesem Tatort fiel mir jedoch als Erstes auf, wie zart der Stempel war, den der Mörder hinter55
lassen hatte. Ich hatte mich innerlich gegen Dinge gewappnet, die ich mir nicht vorstellen wollte – nackt und breitbeinig, brutale dunkle Wunden, zu dicht, um sie zu zählen, verstreut herumliegende Körperteile –, aber diese Frau sah aus, als hätte sie sich bewusst auf dem Boden in Pose gelegt und danach ihren letzten Atemzug mit einem langen, ruhigen Seufzer ausgehaucht, Ort und Zeit selbst gewählt, ohne dabei irgendwelche fremde Hilfe zu benötigen. Sie lag im Schatten vor der Feuerstelle auf dem Rücken, akkurat, die Füße geschlossen und die Arme am Körper. Sie trug eine marineblaue Wolljacke, offen, darunter eine blaue Jeans – hochgezogen, Reißverschluss geschlossen –, Sneakers und ein blaues Top mit einem dunklen gebatikten Stern vorne drauf. Das einzig Ungewöhnliche waren ihre Hände, die zu festen Fäusten geballt waren. Frank und Sam waren neben mich getreten, und ich warf Frank einen verwunderten Blick zu – Ja und? –, aber er sah mich nur an, ohne dass sein Gesicht irgendetwas preisgab. 56
Sie war mittelgroß, hatte die gleiche Statur wie ich, kompakt und knabenhaft. Ihr Gesicht war von uns weg zur hinteren Wand gedreht, und in dem dämmrigen Licht konnte ich nur kurze schwarze Locken und ein Stück Weiß sehen: die hohe rundliche Wölbung einer Wange, die Spitze eines kleinen Kinns. »Hier«, sagte Frank. Er knipste eine winzige starke Taschenlampe an und beleuchtete ihr Gesicht mit einem scharfen kleinen Heiligenschein. Einen Moment lang war ich verwirrt – Sam hat gelogen? –, denn ich kannte sie von irgendwoher, ich hatte das Gesicht schon tausendmal gesehen. Dann trat ich einen Schritt vor, um genauer hinzuschauen, und die ganze Welt verstummte, gefror, während Dunkelheit von allen Seiten herantobte und in der Mitte gleißend weiß nur das Gesicht der jungen Frau blieb, denn das war ich. Der Winkel der Nase, der weite Schwung der Augenbrauen, jede noch so winzige Rundung und Linie klar wie Eis: Das war ich, blaulippig und reglos, mit Schat57
ten wie dunkle Blutergüsse unter den Augen. Ich konnte meine Hände nicht spüren, die Füße, konnte nicht spüren, wie ich atmete. Eine Sekunde lang meinte ich zu schweben, abgeschnitten von mir selbst, und Luftströmungen trügen mich davon. »Kennst du sie?«, fragte Frank irgendwo. »Vielleicht Verwandtschaft?« Es war, als würde ich blind; meine Augen konnten sie nicht richtig erfassen. Sie war ein Ding der Unmöglichkeit: eine Fieberhalluzination, ein irrer Riss durch alle Gesetze der Natur. Ich merkte, dass ich stocksteif auf den Fußballen stand, eine Hand fast an der Pistole, jeder Muskel bereit, diese Tote bis in den Tod hinein zu bekämpfen. »Nein«, sagte ich. Meine Stimme klang falsch, irgendwo außerhalb von mir. »Nie gesehen.« »Bist du adoptiert?« Sam riss den Kopf herum, erschrocken, aber die Unverblümtheit war gut, sie wirkte wie ein Kneifen. »Nein«, sagte ich. Einen schrecklichen, schwankenden Moment lang fragte ich mich das 58
tatsächlich. Aber ich habe Fotos gesehen, meine Mutter müde und lächelnd in einem Krankenhausbett, ich neugeboren an ihrer Brust. Nein. »Welcher Elternseite siehst du ähnlicher?« »Was?« Ich brauchte eine Sekunde. Ich konnte den Blick nicht von der Frau abwenden. Ich musste mich zwingen zu blinzeln. Kein Wunder, dass Doherty, der Ohrenmann, so verblüfft gestiert hatte. »Nein. Meiner Mutter. Aber mein Vater ist nicht fremdgegangen, und das hier ist … Nein.« Frank zuckte die Achseln. »Hätte ja sein können.« »Angeblich hat jeder einen Doppelgänger, irgendwo«, sagte Sam leise neben mir. Er war mir zu nah. Erst nach einem Moment Verzögerung begriff ich, dass er bereitstand, um mich aufzufangen, im Notfall. Ich falle nicht leicht in Ohnmacht. Ich biss mir fest und schnell innen auf die Lippe; der jähe Schmerz verschaffte mir wieder einen klaren Kopf. »Hat sie keinen Ausweis?« 59
Das winzige Zögern, bevor einer von ihnen antwortete, verriet mir, dass irgendetwas im Busch war. Scheiße, dachte ich mit einem erneuten dumpfen Schlag im Magen: Identitätsklau. Ich wusste nicht genau, wie so etwas funktionierte, aber ein Blick auf mich und eine kreative Ader hätten vermutlich genügt, und die Frau hätte den gleichen Pass wie ich bekommen und sich auf meine Kosten BMWs kaufen können. »Sie hatte eine Studentenkarte bei sich«, sagte Frank. »Schlüsselbund in der linken Jackentasche, Maglite in der rechten, Portemonnaie in der vorderen rechten Jeanstasche. Zwölf Euro plus Kleingeld, eine Kontokarte, zwei alte Quittungen und das hier.« Er zog einen durchsichtigen Beweismittelbeutel aus einem Haufen an der Tür und klatschte ihn mir in die Hand. Es war ein Ausweis vom Trinity College, glänzend und digitalisiert, nicht die laminierten bunten Papierdinger, die wir gehabt hatten. Die junge Frau auf dem Foto sah zehn Jahre jünger aus als 60
das weiße, eingefallene Gesicht in der Ecke. Sie lächelte mit meinem eigenen Lächeln zu mir hoch und trug eine gestreifte, zur Seite gedrehte Ballonmütze, und eine Sekunde lang ging mein Verstand mit mir durch: Aber ich hatte doch nie so eine gestreifte, wann hab ich – ich tat so, als würde ich den Ausweis ins Licht halten, während ich das Kleingedruckte las, damit ich den anderen die Schulter zudrehen konnte. Madison, Alexandra J. Einen schwindeligen Moment lang begriff ich vollkommen: Frank und ich hatten das hier zu verantworten. Wir hatten Lexie Madison Knochen für Knochen und Faser für Faser erschaffen, wir hatten sie getauft, und einige Monate lang hatten wir ihr ein Gesicht und einen Körper gegeben, und als wir sie wegwarfen, wollte sie mehr. Vier Jahre hatte sie gebraucht, um sich selbst neu zusammenzusetzen, aus dunkler Erde und Nachtwind, und dann hatte sie uns hierhergerufen, damit wir sahen, was wir getan hatten.
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»Verdammt, das kann nicht sein«, sagte ich, sobald ich wieder atmen konnte. »Als die Kollegen von der Streife ihren Namen durch den Computer laufen ließen«, sagte Frank und nahm mir den Beutel aus der Hand, »stellte sich raus, dass sie einen Vermerk hatte: Wenn dieser Frau was passiert, umgehend mich verständigen. Ich hab sie damals nicht aus dem System genommen, weil ich dachte, wir könnten sie vielleicht noch mal brauchen, früher oder später. Man weiß ja nie.« »Ja«, sagte ich. »Das kannst du laut sagen.»Ich starrte auf die Leiche und rief mich zur Ordnung: Das da war kein Golem, das war eine tote Frau im richtigen Leben, Paradox inklusive. »Sam«, sagte ich. »Was haben wir?« Sam warf mir einen raschen, forschenden Blick zu. Als er sicher war, dass ich nicht in Ohnmacht fallen oder loskreischen würde oder was immer er befürchtet hatte, nickte er. Er sah schon wieder ein bisschen mehr wie er selbst aus. »Weiblich, Haut62
farbe weiß«, sagte er, »Mitte zwanzig bis Anfang dreißig, eine Stichwunde in der Brust. Cooper sagt, sie starb gegen Mitternacht, plus minus eine Stunde. Genauer kann er es nicht sagen: Schock, schwankende Umgebungstemperatur, eventuelle körperliche Aktivität kurz vor dem Todeszeitpunkt und so weiter.« Anders als die meisten Leute komme ich gut mit Cooper klar, aber ich war froh, dass ich ihn verpasst hatte. Das kleine Cottage kam mir zu voll vor, voller trampelnder Füße und sich bewegender Menschen und auf mich gerichteter Blicke. »Wurde sie hier erstochen?«, fragte ich. Sam schüttelte den Kopf. »Schwer zu sagen. Wir müssen abwarten, was die Kriminaltechnik sagt, aber der Dauerregen letzte Nacht hat viele Spuren vernichtet – wir werden keine Fußabdrücke da draußen auf dem Feldweg finden, keine Blutspur, nichts dergleichen. Aber ich würde sagen, das hier ist nicht der Tatort. Sie war noch mindestens eine Weile auf den Beinen, nachdem 63
sie verwundet wurde. Siehst du da? Das Blut ist geradlinig an ihrer Jeans runtergelaufen.« Frank richtete den Taschenlampenstrahl gehorsam darauf. »Und sie hat Dreck an beiden Knien und einen Riss an einem, als wäre sie gerannt und hingefallen.« »Auf der Flucht«, sagte ich. Das Bild wallte in mir auf wie etwas aus jedem vergessenen Alptraum: der Weg, der sich in die Dunkelheit hineinschlängelt, und sie, die verzweifelt rennt, Füße, die hilflos auf Kieseln wegrutschen, ihr Atem wild in den Ohren. Ich konnte spüren, wie Frank vorsichtig zurücktrat, wortlos, beobachtend. »Könnte sein«, sagte Sam. »Vielleicht war der Mörder hinter ihr her, oder sie hat es geglaubt. Sie könnte sogar von seiner Haustür aus eine Spur hinterlassen haben, aber die ist natürlich längst verschwunden.« Ich wollte etwas mit den Händen machen, mir durchs Haar fahren, über den Mund, irgendwas. Ich stopfte sie in die Taschen, um sie ruhig zu hal64
ten. »Sie ist also hier rein und zusammengebrochen.« »Nicht ganz. Ich glaube, sie ist da drüben gestorben.»Sam zog die Brombeerzweige beiseite und deutete mit dem Kinn auf eine Ecke des vorderen Raumes. »Da haben wir eine ziemlich große Blutlache. Schwer zu sagen, wie viel Blut das genau ist – vielleicht kann das Labor uns da behilflich sein –, aber wenn nach einer solchen Nacht noch so viel vorhanden ist, würde ich tippen, dass sie eine ordentliche Menge verloren hat. Vermutlich hat sie aufrecht sitzend an der Wand gelehnt – das meiste Blut ist vorn auf ihrem Top und auf dem Schoß und am Hosenboden ihrer Jeans. Wenn sie gelegen hätte, wäre es an den Seiten runtergelaufen. Siehst du?« Er zeigte auf das Top der jungen Frau, und der Groschen fiel bei mir mit einem Knall: keine Batikfarbe. »Sie hat den Stoff vorn zusammengedreht und auf die Wunde gepresst, um die Blutung zu stoppen.« 65
Tief in der Ecke da zusammengekauert; rauschender Regen, Blut, das ihr warm durch die Finger quillt. »Und wie ist sie dann hier rübergekommen?«, fragte ich. »Unser Mann hat sie am Ende eingeholt«, sagte Frank. »Irgendjemand auf jeden Fall.« Er bückte sich, hob einen Fuß der Frau am Schnürsenkel an – ein Zucken schoss mir durch den Nacken, als er sie berührte – und richtete die Taschenlampe auf die Ferse ihres Sportschuhs: abgewetzt und braun, mit tief eingegrabener Erde. »Sie wurde hergeschleift. Da war sie schon tot, denn unter dem Körper ist keine Lache: Sie hat also nicht mehr geblutet. Der Typ, der sie gefunden hat, schwört, er hat sie nicht angerührt, und ich glaube ihm. Er sah aus, als würde er sich gleich die Seele aus dem Leib kotzen. Der ist todsicher keinen Zentimeter näher ran als nötig. Jedenfalls, sie wurde relativ kurz nach Eintritt des Todes bewegt. Cooper sagt, die Leichenstarre hatte noch nicht eingesetzt, und es sind keine sekundären Leichenflecke vorhanden 66
– und sie war auch nicht lange draußen im Regen. Sie ist kaum feucht. Wäre sie die ganze Nacht im Freien gewesen, wäre sie klatschnass.« Ganz allmählich, als würden sich meine Augen jetzt erst an das dämmerige Licht gewöhnen, wurde mir klar, dass all die dunklen Kleckse und Tupfen, die ich für Schatten und Regenwasser gehalten hatte, in Wahrheit Blut waren. Es war überall: streifte den Boden, tränkte die Jeans der Frau. Verkrustete ihre Hände bis zu den Gelenken. Ich wollte nicht in ihr Gesicht sehen, wollte niemandem ins Gesicht sehen. Ich hielt den Blick auf ihr Top gerichtet, unfokussiert, so dass der dunkle Stern verschwamm und diffus wurde. »Fußabdrücke?« »Null«, sagte Frank. »Nicht mal von ihr. Sollte man nicht meinen, bei dem Erdboden, aber wie Sam schon gesagt hat, der Regen. Nebenan haben wir jede Menge Matsch, mit Abdrücken von dem Typen, der die Polizei verständigt hat, und von seinem Hund – das war mit ein Grund, warum ich 67
keine großen Bedenken hatte, mit dir hier reinzumarschieren. Das Gleiche gilt für den Weg zum Cottage. Und hier drin … « Er bewegte den Taschenlampenstrahl am Rand des Fußbodens entlang, tauchte ihn in Ecken: breite, leere Erdflächen, viel zu glatt. »So sah es überall aus, als wir ankamen. Die Abdrücke, die du um den Leichnam herum siehst, die sind von uns und Cooper und den Uniformierten. Wer immer die Tote bewegt hat, er hat anschließend hinter sich saubergemacht. Mitten auf der Wiese liegt ein abgebrochener Ast Ginster, wahrscheinlich von dem großen Strauch an der Tür. Ich schätze, er hat damit den Boden glattgefegt, bevor er ging. Wir lassen ihn im Labor auf Blut oder Abdrücke untersuchen. Und ohne Fußabdrücke … « Er reichte mir einen anderen Beweismittelbeutel. »Fällt dir daran was auf?« Es war ein Portemonnaie, weißes Lederimitat, bestickt mit einem silbernen Schmetterling und mit schwachen Blutspuren darauf. »Es ist zu sau68
ber«, sagte ich. »Du hast gesagt, es hat vorn in der Jeanstasche gesteckt, und das Blut ist ihr in den Schoß gelaufen. Dann müsste das Portemonnaie voller Blut sein.« »Exakt. Die Tasche ist steif vor Blut, völlig durchtränkt, aber das hier hat kaum was abbekommen. Das Gleiche bei der Taschenlampe und den Schlüsseln: kein Tropfen Blut, nur ein paar Schmierflecken. Sieht so aus, als hätte unser Killer ihre Taschen durchsucht und alles abgewischt, ehe er es zurückgesteckt hat. Wir lassen alles auf Fingerabdrücke untersuchen, was lange genug stillhält, aber ich rechne ehrlich gesagt nicht damit, dass was dabei rauskommt. Hier war jemand sehr, sehr vorsichtig.« »Irgendwelche Anzeichen von Vergewaltigung?«, fragte ich. Sam zuckte zusammen. Ich hatte das Stadium längst hinter mir. »Cooper will erst die Obduktion abwarten, aber vorläufig deutet nichts in diese Richtung. Wenn wir Glück haben, finden wir fremdes Blut an ihr»– 69
viele Messerstecher verletzen sich selbst –, »aber im Grunde rechne ich nicht mit DNA.« Mein erster Eindruck – der unsichtbare Killer, der keine Spuren hinterlässt – war gar nicht so falsch gewesen. Nach ein paar Monaten im Morddezernat riechst du aus einer Meile Entfernung, wenn du es mit so einem Fall zu tun hast. Mit dem letzten klaren Fetzen meines Verstandes rief ich mir in Erinnerung, dass dieser Fall, ganz gleich, wie er sich darstellte, nicht mein Problem war. »Na toll«, sagte ich. »Was habt ihr denn überhaupt? Wisst ihr irgendwas über sie, außer dass sie am Trinity eingeschrieben ist und einen falschen Namen hat?« »Sergeant Byrne sagt, sie wohnt hier in der Gegend«, sagte Sam. »In Whitethorn House, gut eine Meile von hier, zusammen mit ein paar anderen Studenten. Mehr weiß er nicht über sie. Ich hab mit den Mitbewohnern noch nicht gesprochen, weil … »Er deutete auf Frank.
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»Weil ich ihn gebeten hab, noch damit zu warten«, sagte Frank nahtlos. »Ich hab da so eine kleine Idee, die ich mit euch beiden besprechen wollte, ehe die Ermittlungen richtig anlaufen. »Er blickte mit einer hochgezogenen Augenbraue in Richtung Tür und der beiden Polizisten. »Vielleicht sollten wir ein paar Schritte gehen.« »Von mir aus«, sagte ich. Die Leiche der Frau machte irgendetwas Seltsames mit der Luft hier drin, ließ sie zittern, wie das nadeldünne Winseln eines auf stumm geschalteten Fernsehers. Es war schwierig, klar zu denken. »Wenn wir zu lange im selben Raum bleiben, könnte sich das Universum in Antimaterie verwandeln.« Ich gab Frank seinen Beweismittelbeutel zurück und wischte mir die Hände an der Hose ab. Ehe wir durch die Tür nach draußen gingen, drehte ich im letzten Moment den Kopf und warf über die Schulter einen Blick auf die Tote. Frank hatte seine Taschenlampe ausgemacht, doch als er die Brombeerzweige beiseiteschob, strömte die 71
Frühlingssonne herein, und für den Bruchteil einer Sekunde, ehe mein Schatten das Licht wieder verdunkelte, leuchtete die junge Frau im Dunkeln auf, das Kinn zur Seite geneigt und eine Faust geballt und der Hals wild gebogen, grell und blutig und unerbittlich wie mein eigener, gequälter Geist. Das war das letzte Mal, dass ich sie sah. Damals dachte ich nicht daran – ich hatte weiß Gott anderes im Kopf –, und heute kommt es mir unmöglich vor, aber diese zehn Minuten, scharfkantig wie eine Bügelfalte mitten durch mein Leben: Nur dieses eine Mal waren wir je zusammen.
Die uniformierten Kollegen flankierten noch immer schlaff die Tür, wie zwei Sitzsäcke. Byrne starrte blicklos in einer Art katatonischem Zustand vor sich hin, Doherty inspizierte einen Finger so, als hätte er in der Nase gebohrt. »Nun denn«, sagte Byrne, sobald er aus seiner Trance erwachte und merkte, dass wir wieder da 72
waren. »Wir sind dann mal weg. Sie gehört Ihnen.« Manchmal sind die Dorfpolizisten Gold wert – wissen Details über jeden im Umkreis von einigen Meilen, präsentieren dir eine Liste mit einem halben Dutzend möglicher Motive, servieren dir einen Hauptverdächtigen auf dem Silbertablett. Andere Male wollen sie bloß möglichst wenig Arbeit haben und schnell wieder Karten spielen gehen. Diesmal war offensichtlich Letzteres der Fall. »Wir brauchen Sie noch eine Weile hier«, sagte Sam, was ich als gutes Zeichen auffasste – es machte mich langsam nervös, in welchem Maße Frank den Fall an sich gerissen hatte. »Könnte sein, dass die Spurensicherung Ihre Hilfe bei der Suche braucht, und ich möchte von Ihnen noch möglichst viele Informationen über die Gegend hier bekommen.« »Von hier ist die nicht, das ist sicher«, sagte Doherty, der sich den Finger an der Hosennaht abwischte. Er starrte mich wieder an. »Die da 73
oben in Whitethorn House, das sind Zugezogene. Die haben mit Glenskehy nichts zu tun.« »Glückspilze«, murmelte Byrne in seinen Bart. »Sie hat aber hier gewohnt«, sagte Sam geduldig, »und sie ist hier gestorben. Das heißt, wir müssen die ganze Gegend durchkämmen. Wäre gut, wenn Sie uns dabei behilflich wären, weil Sie sich ja offenbar gut auskennen.« Byrnes Kopf sank noch tiefer zwischen die Schultern. »Die Leute hier sind Irre«, sagte er mürrisch. »Alle, wie sie da sind. Mehr braucht man nicht zu wissen.« »Einige meiner besten Freunde sind Irre«, sagte Frank fröhlich. »Betrachten Sie es als Herausforderung.« Er winkte zum Abschied und ging durch die Wiese davon, und seine Füße rauschten durchs nasse Gras. Sam und ich folgten ihm. Auch ohne hinzusehen, konnte ich die kleine Sorgenfalte zwischen Sams Augenbrauen fühlen, aber ich brachte nicht die Energie auf, ihn zu beruhigen. Jetzt, wo ich 74
aus dem Cottage raus war, spürte ich nichts als Empörung, schlicht und ergreifend. Mein Gesicht und mein alter Name: Es war, als würdest du eines Abends nach Hause kommen und eine andere Frau in deiner Küche antreffen, wo sie das Essen macht, deine bequemste Jeans trägt und ein Lied von deiner Lieblings-CD trällert. Ich war so wütend, dass ich kaum Luft bekam. Ich dachte an dieses Foto, und ich verspürte eine unbändige Lust, ihr mein Lächeln aus dem Gesicht zu schlagen. »Na«, sagte ich, als wir Frank oben auf dem Feld einholten, »das hat Spaß gemacht. Kann ich jetzt zur Arbeit?« »Beim DHG ist es anscheinend unterhaltsamer, als ich dachte«, sagte Frank und tat beeindruckt, »wenn du es so eilig hast. Sonnenbrille.« Ich ließ die Brille, wo sie war. »Sofern die Tote kein Opfer häuslicher Gewalt ist, und ich sehe nichts, was darauf hindeutet, geht sie mich einen
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feuchten Kehricht an. Also, warum genau hast du mich extra herkommen lassen?« »He, du hast mir gefehlt, Kleines. Da war mir jeder Vorwand recht.« Frank sah mich grinsend an, ich reagierte mit einem angewiderten Blick. »Denkst du etwa im Ernst, sie geht dich einen feuchten Kehricht an? Mal sehen, ob du das auch noch sagst, wenn wir ihr Foto veröffentlichen, um sie zu identifizieren, und alle, die je mit dir zu tun hatten, einen Heidenschreck kriegen und anrufen, um uns zu sagen, wie du heißt.« Die ganze Wut in mir löste sich in Luft auf, und zurück blieb nur ein scheußliches Loch in der Magengrube. Frank, dieser kleine Arsch, hatte recht. Sobald die Zeitungen ein Foto der Frau mit der Bitte um sachdienliche Hinweise brachten, würde eine Flut von Leuten, die mich als Lexie, sie als Lexie, mich als mich kannten, wissen wollen, wer tot war und wer wir beide gewesen waren, wenn nicht Lexie Madison, und es gäbe ein gewaltiges spiegelkabinettartiges Chaos. Ob Sie’s glauben 76
oder nicht, da erst wurde mir klar, dass die Sache nicht einfach aus der Welt zu schaffen war, indem ich sagte: Ich kenne sie nicht, ich will sie nicht kennen, danke für den vertanen Morgen, bis dann mal. »Sam«, sagte ich. »Kannst du mit der Veröffentlichung des Fotos vielleicht ein, zwei Tage warten? Nur bis ich ein paar Leute vorgewarnt habe.« Ich hatte keine Ahnung, wie ich das formulieren sollte. Weißt du, Tante Louisa, wir haben da eine tote Frau gefunden, und … »Apropos«, sagte Frank, »das passt interessanterweise wunderbar zu meiner kleinen Idee.« In einer Ecke des Feldes lagen ein paar moosbewachsene Felsbrocken herum. Frank zog sich rückwärts auf einen drauf, blieb sitzen und baumelte mit einem Bein. Ich kannte dieses Funkeln in seinen Augen. Es bedeutete stets, dass er gleich eindrucksvoll beiläufig mit etwas völlig Haarsträubendem herausrücken würde. »Was, Frank?«, sagte ich. 77
»Na ja«, setzte Frank an, lehnte sich bequem gegen den Felsen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, »wir haben doch hier eine einmalige Gelegenheit, oder? Wäre jammerschade, die zu vertun.« »Ach ja?«, sagte Sam. »Wir?«, sagte ich. »Aber ja. Menschenskind, ja.« Das riskante Grinsen umspielte bereits Franks Mundwinkel. »Wir haben die Chance«, sagte er ganz gemächlich, »wir haben die Chance, die Ermittlung in einem Mordfall von innen heraus zu führen. Wir haben die Chance, eine erfahrene Undercoverbeamtin direkt mitten hinein in das Leben eines Mordopfers zu schicken.« Wir starrten ihn beide an. »Wann hast du so was schon mal erlebt? Es ist wunderbar, Cassie. Es ist absolut genial.« »Absolut bescheuert trifft es besser«, sagte ich. »Was zum Henker hast du vor, Frankie?«
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Frank breitete die Arme aus, als wäre es das Einleuchtendste von der Welt. »Also. Du warst schon einmal Lexie Madison, stimmt’s? Du kannst sie wieder sein. Du kannst – nein, warte, lass mich ausreden –, wenn sie nicht tot ist, bloß verletzt, ja? Du kannst schnurstracks zurück in ihr Leben spazieren und da weitermachen, wo sie aufgehört hat.« »Ach, du Schande«, sagte ich. »Deshalb keine Spurensicherung und keine Gerichtsmedizin? Deshalb sollte ich mich so dämlich verkleiden? Damit keiner merkt, dass du ein Double hast?« Ich zog mir die Mütze vom Kopf und stopfte sie zurück in den Rucksack. Das war selbst für Frank eine Blitzreaktion gewesen. Binnen Sekunden nach Eintreffen vor Ort musste ihm die Idee gekommen sein. »Du kriegst Zugang zu Informationen, die kein Cop je bekommen würde, du kannst ganz dicht an jeden ran, dem sie nah war, du kannst Verdächtige identifizieren –« 79
»Sie wollen sie als Lockvogel benutzen«, sagte Sam allzu ruhig. »Ich will sie als Detective benutzen, Mann«, sagte Frank. »Was sie schließlich auch ist, wenn ich mich nicht irre.« »Sie wollen sie da reinschicken, damit der Täter zurückkommt und die Sache endgültig zu Ende bringt. Das nenne ich einen Lockvogel.« »Na und? Alle Undercovercops sind Lockvögel. Ich verlange nichts von ihr, was ich nicht selbst machen würde, ohne eine Sekunde zu zögern, wenn –« »Nein«, sagte Sam. »Kommt nicht in Frage.« Frank hob eine Augenbraue. »Was sind Sie, Ihre Ma?« »Ich bin der leitende Ermittler in diesem Fall, und ich sage, kommt nicht in Frage.« »Vielleicht sollten Sie doch lieber noch ein bisschen länger darüber nachdenken, ehe Sie –« Es war, als wäre ich gar nicht vorhanden. »Hallo?«, sagte ich. 80
Sie drehten sich um und starrten mich an. »’tschuldige«, sagte Sam, irgendwo zwischen verlegen und trotzig. »Hi«, sagte Frank und grinste mich an. »Frank«, sagte ich, »das ist offiziell die irrsinnigste Idee, die ich je in meinem Leben gehört habe. Du bist nicht ganz dicht. Du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank. Du bist –« »Was ist daran irrsinnig?«, fragte Frank gekränkt. »Herrgott«, sagte ich. Ich fuhr mir mit den Händen durchs Haar und drehte mich einmal im Kreis, während ich überlegte, wo ich anfangen sollte. Hügel, Felder, weggetretene Dorfpolizisten, Cottage mit toter Frau: Das war kein beschissener Traum. »Okay, erstens, es ist unmöglich. Ich hab noch nie von irgendwas Vergleichbarem auch nur gehört.« »Aber das ist ja gerade das Schöne an der Sache«, erklärte Frank.
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»Wenn du als jemand, der wirklich existiert, undercover gehst, dann höchstens für eine halbe Stunde, und dann, um etwas ganz Bestimmtes zu tun. Zum Beispiel eine Übergabe oder eine Abholung oder so was, von einem Fremden. Du redest davon, dass ich mitten in das Leben dieser Frau springen soll, bloß weil ich ihr ein bisschen ähnlich sehe –« »Ein bisschen?« »Weißt du überhaupt, welche Farbe ihre Augen haben? Was, wenn sie blau sind oder –?« »Du könntest mir mehr zutrauen, Kleines. Sie sind braun.« »Oder was, wenn sie Computer programmiert oder Tennis spielt? Was, wenn sie Linkshänderin ist? Es ist einfach nicht machbar. Ich würde in weniger als einer Stunde auffliegen.« Frank zog eine zerdrückte Schachtel Zigaretten aus seiner Jackentasche und fischte eine heraus. Er hatte wieder dieses Funkeln in den Augen. Er liebt
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Herausforderungen. »Ich habe volles Vertrauen in dich. Willst du eine?« »Nein«, sagte ich, obwohl ich Lust auf eine Zigarette hatte. Ich konnte nicht stillstehen, tigerte auf dem Stück hohem Gras zwischen uns auf und ab und im Kreis. Ich kann sie nicht mal leiden, wollte ich sagen, was weder Hand noch Fuß hatte. Frank zuckte die Achseln und zündete seine Zigarette an. »Die Frage, ob es möglich ist, kannst du mir überlassen. Vielleicht nicht, zugegeben, aber das finde ich noch raus. Was noch?« Sam blickte woandershin, die Hände tief in den Taschen vergraben, überließ mir die Sache. »Ich finde«, sagte ich, »das Ganze absolut unmoralisch. Die junge Frau hat ganz bestimmt Eltern, Freunde. Willst du denen etwa erzählen, sie ist wohlauf und muss nur ein bisschen genäht werden, während sie auf einem Tisch in der Pathologie liegt und von Cooper aufgeschnitten wird? Herrgott, Frank.« »Sie lebt unter einem falschen Namen, Cass«, sagte Frank vernünftigerweise. »Glaubst du wirk83
lich, sie hat Kontakt zu ihren Eltern? Bis wir die aufgespürt haben, ist die Sache vorbei. Sie werden den Unterschied nie erfahren.« »Und was ist mit ihren Mitbewohnern? Die Polizisten haben gesagt, sie lebt nicht allein. Was, wenn sie einen Freund hat?« »Die Leute, denen was an ihr liegt«, sagte Frank, »werden wollen, dass wir denjenigen finden, der ihr das angetan hat. Um jeden Preis. Ich würde das jedenfalls wollen.« Er pustete Rauch gen Himmel. Sams Schultern bewegten sich. Er hielt Frank bloß für einen Wichtigtuer. Aber Sam hat keine Undercovererfahrung, er konnte es nicht wissen: Undercovercops sind anders. Sie würden einfach alles tun, selbst wenn es auf ihre Kosten oder die eines anderen geht, um eine Zielperson dingfest zu machen. Sich mit Frank deshalb anzulegen war müßig, weil es ihm vollkommen ernst war mit seiner Behauptung: Wenn sein Kind ermordet würde und jemand würde es ihm verschweigen, um den 84
Täter zu schnappen, würde er das widerspruchslos hinnehmen. Einer der stärksten Reize der Undercoverarbeit ist die Rücksichtslosigkeit, das Fehlen von Grenzen; starker Tobak, so stark, dass es dir den Atem verschlägt. Das ist einer der Gründe, warum ich damit aufgehört habe. »Und was dann?«, sagte ich. »Wenn es vorbei ist. Sagst du ihnen dann, ›Ach, übrigens, was wir noch sagen wollten, das ist eine Doppelgängerin. Eure Freundin ist vor drei Wochen gestorben‹? Oder spiele ich weiter Lexie Madison, bis ich an Altersschwäche sterbe?« Frank blinzelte in die Sonne, während er darüber nachdachte. »Deine Wunde kann sich infizieren«, sagte er, und seine Miene hellte sich auf. »Du kommst auf die Intensivstation, und die Ärzte versuchen alles, was die moderne Medizin zu bieten hat, aber vergeblich.« »Du hast sie nicht alle«, sagte ich. Ich hatte das Gefühl, den ganzen Morgen nichts anderes gesagt
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zu haben. »Wieso in aller Welt bis du nur so überzeugt von deiner Idee?« »Nächster Einwand«, sagte Frank. »Na los, lass hören.« »Der nächste Einwand«, sagte Sam, der noch immer den Weg hinunterblickte, »es ist verdammt gefährlich.« Frank zog eine Augenbraue hoch, neigte den Kopf in Sams Richtung und schenkte mir ein verschmitztes, vertrauliches Grinsen. Eine fahrlässige Sekunde lange musste ich mich bremsen, nicht zurückzugrinsen. »Nächster Einwand«, sagte ich, »es ist ohnehin zu spät. Byrne und Doherty und Mr. Soundso mit dem Hund wissen, dass da drin eine tote Frau liegt. Willst du mir weismachen, du kriegst alle drei dazu, den Mund zu halten, nur weil es dir ins Konzept passt? Mr. Soundso hat es vermutlich schon in halb Wicklow rumerzählt.« »Mr. Soundso heißt Richard Doyle, und ich habe nicht vor, ihn dazu zu bringen, den Mund zu 86
halten. Sobald wir hier fertig sind, gratuliere ich ihm dazu, das Leben dieser jungen Frau gerettet zu haben. Wenn er nicht so geistesgegenwärtig gewesen wäre, uns unverzüglich zu verständigen, hätte die Sache tragisch ausgehen können. Er ist ein Held, und er kann es so vielen Leuten erzählen, wie er lustig ist. Und du hast Byrne gesehen, Cass. Er ist kein glückliches Mitglied unserer glorreichen Zunft. Wenn ich andeute, es wäre vielleicht eine Versetzung für ihn drin, hält er nicht nur den Mund, sondern sorgt auch dafür, dass Doherty ihn hält. Nächster Einwand.« »Nächster Einwand«, sagte ich, »es ist überflüssig. Sam hat in Dutzenden Mordfällen ermittelt, Frank, und er hat die meisten aufgeklärt, ohne so eine bescheuerte Nummer abzuziehen. Du würdest allein Wochen für die Vorbereitung brauchen –« »Tage, höchstens«, korrigierte Frank. »– und bis dahin hat er längst einen Verdächtigen. Zumindest dann, wenn du ihm nicht die Ermittlungen vermasselst, indem du von allen ver87
langst, so zu tun, als gäbe es überhaupt keinen Mord. Damit verschwendest du bloß deine Zeit und meine und die von allen anderen.« »Würde es Ihnen die Ermittlungen vermasseln?«, fragte Frank Sam. »Jetzt mal rein hypothetisch. Wenn Sie die Meldung an die Öffentlichkeit geben würden – sagen wir, nur für ein paar Tage – , dass die Frau überfallen wurde, nicht ermordet. Ja?« Schließlich seufzte Sam. »Nein«, sagte er. »Eigentlich nicht, nein. Die Ermittlungen in einem versuchten Mord und einem richtigen Mord unterscheiden sich nicht wesentlich. Und wie Cassie gesagt hat, wir müssen uns in der Sache ohnehin ein paar Tage bedeckt halten, bis wir wissen, wer das Opfer ist, um nicht zu viel Chaos anzurichten. Aber darum geht es nicht.« »Okay«, sagte Frank. »Dann schlage ich Folgendes vor. In den meisten Fällen habt ihr innerhalb von zweiundsiebzig Stunden einen Verdächtigen, richtig?« 88
Sam sagte nichts. »Richtig?« »Richtig«, sagte Sam. »Und es besteht kein Grund, warum das diesmal anders sein sollte.« »Nicht der geringste Grund«, pflichtete Frank freundlich bei. »Heute ist Donnerstag. Nur bis übers Wochenende halten wir uns alle Möglichkeiten offen. Kein Zivilist erfährt, dass es sich um Mord handelt. Cassie bleibt zu Hause, so besteht keine Gefahr, dass der Mörder sie zufällig zu Gesicht kriegt, und wir haben unseren Trumpf im Ärmel, für den Fall, dass wir beschließen, ihn auszuspielen. Ich finde so viel ich kann über die Tote heraus, nur für alle Fälle – das muss ja sowieso gemacht werden, hab ich recht? Ich komme Ihnen nicht in die Quere, darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Wie Sie schon sagten, bis Sonntagabend haben Sie sehr wahrscheinlich jemanden im Visier. Falls ja, zieh ich mich zurück, Cassie macht brav beim DHG weiter, alles läuft wie gehabt, es ist nichts passiert. Sollten Sie aber vielleicht doch 89
keinen Verdächtigen haben, tja, dann haben wir noch immer alle Möglichkeiten.« Keiner von uns erwiderte etwas. »Ich bitte euch nur um drei Tage, Leute«, sagte Frank. »Ohne jede Verpflichtung. Was kann da schon groß passieren?« Sam sah aus, als wäre er ansatzweise beruhigt, aber ich war es nicht, weil ich wusste, wie Frank arbeitet: eine Abfolge von winzig kleinen Schritten, von denen jeder absolut sicher und harmlos wirkt, bis du mit einem Schlag, wumm, mitten in irgendetwas drinsteckst, womit du lieber nichts zu tun hättest. »Aber warum, Frank?«, fragte ich. »Beantworte mir das, und ja, okay, dann bleibe ich ein wunderbares Frühlingswochenende in meiner Wohnung vor der blöden Glotze hocken, statt mit meinem Freund auszugehen wie ein normaler Mensch. Du willst einen Riesenzeit- und Personalaufwand für eine Sache betreiben, die sich als völliger Schuss in den Ofen entpuppen könnte. Warum?« 90
Frank riss eine Hand hoch, um seine Augen abzuschirmen, damit er mich anblicken konnte. »Warum?«,wiederholte er. »Mensch, Cassie! Weil wir es können. Weil noch niemand in der Polizeigeschichte je die Chance dazu hatte. Weil es verdammt toll wäre. Siehst du das denn nicht? Was ist denn bloß los mit dir? Bist du etwa’n Schreibtischhengst geworden?« Mir war, als hätte er ausgeholt und mir in den Magen geschlagen. Ich blieb abrupt stehen und wandte mich ab, blickte über den Hang, weg von Frank und Sam und von den Uniformierten, die den Kopf drehten und ins Cottage spähten, um mein nasses totes Ich anzugaffen. Nach einem Moment sagte Frank hinter mir, sanfter: »Tschuldige, Cass. Ich hab einfach nicht damit gerechnet. Bei den Leuten vom Morddezernat, klar, aber doch nicht bei dir. Ich hätte nicht gedacht, dass du das ernst – Ich hab gedacht, du wolltest nur alles Wichtige abklären. Das war mir nicht klar.« 91
Er klang ehrlich perplex. Ich wusste genau, dass das Taktik war, und ich hätte jedes Mittel aufzählen können, das er einsetzte, aber es spielte keine Rolle, weil er recht hatte. Fünf Jahre zuvor, ein Jahr zuvor, hätte ich mich um dieses tolle, unvergleichbare Abenteuer an seiner Seite gerissen, hätte längst in dem Cottage nachgesehen, ob die Tote Ohrlöcher hatte und wie sie den Scheitel trug. Ich blickte über die Felder und dachte sehr klar und distanziert, Was zum Teufel ist aus mir geworden? »Okay«, sagte ich schließlich. »Was ihr der Presse erzählt, ist nicht mein Problem. Das macht ihr zwei unter euch aus. Ich gehe das Wochenende über nicht vor die Tür. Aber, Frank, ich verspreche dir gar nichts. Egal, ob Sam einen Verdächtigen findet oder nicht. Das heißt also nicht, dass ich es mache. Ist das klar?« »So kenn ich dich«, sagte Frank. Ich konnte das Grinsen in seiner Stimme hören. »Einen Moment lang dachte ich, die Aliens hätten dir einen Chip ins Hirn gepflanzt.« 92
»Leck mich, Frank«, sagte ich und drehte mich um. Sam sah nicht glücklich aus, aber darum konnte ich mir in dem Moment keine Gedanken machen. Ich musste weg und in Ruhe nachdenken. »Ich habe noch nicht ja gesagt«, sagte Sam. »Die Entscheidung liegt natürlich bei Ihnen«, sagte Frank. Er wirkte nicht sonderlich besorgt. Ich wusste, dass er es mit einem härteren Brocken zu tun haben könnte, als er ahnte. Sam ist ein umgänglicher Mensch, aber ab und an setzt er seine Grenzen, und wer dann versucht, seine Meinung zu ändern, könnte genauso gut versuchen, ein Haus aus dem Weg zu schieben. »Aber entscheiden Sie schnell. Wenn wir die Sache machen wollen, vorläufig jedenfalls, brauchen wir möglichst schnell einen Krankenwagen hier vor Ort.« »Gib mir Bescheid, wenn du dich entschieden hast«, sagte ich zu Sam. »Ich fahr nach Hause. Sehen wir uns heute Abend?« Franks Augenbrauen schossen hoch. Undercovercops haben eine ganz eigene, beeindruckende 93
Gerüchteküche, aber sie halten sich meistens aus dem allgemeinen Klatsch und Tratsch raus, auf eine leicht ostentative Art, und Sam und ich hatten uns, was uns beide anging, ziemlich diskret verhalten. Frank warf mir einen belustigt vielsagenden Blick zu. Ich achtete nicht auf ihn. »Ich weiß nicht, wann ich heute fertig werde«, sagte Sam. Ich zuckte die Achseln. »Ich bin ja zu Hause.« »Bis bald, Kleines«, sagte Frank fröhlich, die nächste Zigarette im Mund, und winkte zum Abschied. Sam begleitete mich zurück über das Feld, so dicht neben mir, dass seine Schulter beschützend meine streifte. Mir schien, er wollte vermeiden, dass ich noch einmal allein an der Toten vorbeimusste. In Wirklichkeit hätte ich sie mir gern noch einmal angesehen, am liebsten allein und eine ganze, stille Weile lang, aber ich spürte Franks Augen im Rücken, daher wandte ich nicht einmal den Kopf, als wir am Cottage vorbeikamen. 94
»Ich wollte dich vorwarnen«, sagte Sam unvermittelt. »Mackey war strikt dagegen, und ich konnte einfach keinen klaren Gedanken fassen … ich hätte es dir sagen sollen. Es tut mir leid.« Offenbar waren Frank, wie jedem anderen in meinem verdammten Universum, Gerüchte über die SOKO Vestalin und den Knocknaree-Fall zu Ohren gekommen. »Er wollte sehen, wie ich reagiere«, sagte ich. »Meine Nervenstärke testen. Und er weiß, wie er kriegt, was er will. Mach dir keine Gedanken.« »Dieser Mackey. Ist er ein guter Cop?« Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Eine Formulierung wie »guter Cop« geht uns nicht so ohne weiteres über die Lippen. Sie ist ungeheuer komplex, weil so viele Dinge hineinspielen, die bei jedem Beamten anders sein können. Ich war mir ganz und gar nicht sicher, ob Frank in Sams Definition hineinpasste oder gar, wenn ich es recht überlegte, in meine. »Er ist verdammt
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clever«, sagte ich schließlich, »und er erreicht sein Ziel. Irgendwie. Gibst du ihm seine drei Tage?« Sam seufzte. »Wenn es dir nichts ausmacht, das ganze Wochenende zu Hause zu bleiben, ja, dann soll er sie von mir aus haben. Es kann ja auch eigentlich nicht schaden, uns in dem Fall so lange bedeckt zu halten, bis wir irgendwas in der Hand haben – eine Identifizierung, einen Verdächtigen, irgendwas. So hält sich die Verwirrung in Grenzen. Mir ist nicht wohl dabei, den Freunden der Toten falsche Hoffnungen zu machen, aber vielleicht mildert es ja auch den Schock – ich meine, wenn sie ein paar Tage haben, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie vielleicht nicht durchkommt … « Es sah ganz so aus, als würde es ein wunderschöner Tag werden. Die Sonne trocknete das Gras, und es war so still, dass ich die winzigen Insekten hören konnte, die um die Wildblumen schwirrten. Irgendetwas an den grünen Hügeln machte mich nervös, irgendetwas Hartnäckiges 96
und Verstohlenes, als würde einem der Rücken zugedreht. Ich brauchte einen Moment, um zu ergründen, was es war: Sie waren menschenleer. Aus ganz Glenskehy war nicht ein einziger Mensch hergekommen, um zu sehen, was los war. Sobald wir auf dem Weg waren, durch Bäume und Hecken vor den anderen abgeschirmt, zog Sam mich an sich. »Ich hab gedacht, du bist es«, sagte er in mein Haar. Seine Stimme war tief und zittrig. »Ich hab gedacht, du bist es.«
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2 Die nächsten drei Tage hockte ich nicht die ganze Zeit vor der Glotze, wie ich zu Frank gesagt hatte. Ich kann sowieso nicht gut stillsitzen, und wenn ich nervös bin, muss ich mich bewegen. Also – ich habe mich ja für den Job entschieden, weil er so aufregend ist – machte ich sauber. Ich schrubbte, staubsaugte und wienerte jeden Quadratzentimeter meiner Wohnung, einschließlich Fußleisten und Backofen. Ich nahm die Vorhänge ab, wusch sie in der Wanne und hängte sie zum Trocknen an die Feuerleiter. Ich legte meine Bettdecke über die Fensterbank und klopfte mit einem Pfannenwender den Staub heraus. Ich hätte die Wände neu gestrichen, wenn ich Farbe gehabt hätte. Ich spielte sogar mit dem Gedanken, meine bescheuerte Verkleidung überzuziehen und den nächsten Baumarkt aufzusuchen, aber ich hatte Frank versprochen, nicht vor die Tür zu gehen, also putzte ich stattdessen die Rückseite des Spülkastens. 98
Und ich dachte darüber nach, was Frank zu mir gesagt hatte: aber doch nicht bei dir … Nach dem Knocknaree-Fall hatte ich mich versetzen lassen. Im Vergleich zum Morddezernat ist das Dezernat für häusliche Gewalt zwar keine große Herausforderung, aber bei Gott, es ist friedlich, so seltsam die Wortwahl vielleicht auch anmutet, ich weiß. Entweder hat einer einen anderen geschlagen oder nicht, so einfach ist das, und es geht nur darum herauszufinden, wer es war und wie er in Zukunft daran gehindert werden kann. Das DHG ist unkompliziert, und es ist unzweifelhaft nützlich, und genau das brauchte ich, dringend. Ich war hohe Risiken und moralische Dilemmas und Komplikationen so verdammt satt. Aber doch nicht bei dir; bist du etwa’n Schreibtischhengst geworden? Mein hübsches Arbeitskostüm, das gebügelt und für Montag anziehbereit an der Kleiderschranktür hing, bereitete mir ein mulmiges Gefühl. Schließlich konnte ich es nicht
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mehr sehen. Ich warf es in den Schrank und knallte die Tür zu. Und natürlich musste ich die ganze Zeit, bei allem, was ich gerade tat, an die Tote denken. Ich hatte das Gefühl, in ihrem Gesicht hätte es irgendeinen Anhaltspunkt geben müssen, irgendeine geheime Botschaft in einem Code, den ich allein hätte entschlüsseln können, wenn ich nur einen klaren Kopf behalten oder die Zeit gehabt hätte, ihn zu entdecken. Wäre ich noch im Morddezernat gewesen, hätte ich mir eine Fotografie vom Tatort oder eine Kopie vom Studentenausweis unter den Nagel gerissen, um sie mir zu Hause in Ruhe anzuschauen. Sam hätte mir eine vorbeigebracht, wenn ich drum gebeten hätte, aber das tat ich nicht. Irgendwo da draußen, irgendwann in diesen drei Tagen würde Cooper die Obduktion vornehmen. Der Gedanke machte mich kirre. Ich war noch nie jemandem begegnet, der mir auch nur annähernd ähnlich sah. In Dublin wim100
melt es nur so von unheimlichen Frauen, die in Wahrheit, das schwöre ich hoch und heilig, ein und dieselbe Person sind oder zumindest das Produkt derselben Selbstbräunertube. Ich dagegen bin vielleicht keine Fünfsternefrau, aber dafür bin ich unverwechselbar. Der Vater meiner Mutter war Franzose, und irgendwie hat die Kombination aus Französisch und Irisch etwas Spezielles und ziemlich Markantes hervorgebracht. Ich habe keine Geschwister; was ich vor allem habe, sind Tanten, Onkel und eine große, fröhliche Schar Cousins und Cousinen, und von denen hat niemand auch nur die geringste Ähnlichkeit mit mir. Meine Eltern starben, als ich fünf war. Meine Mutter war Varietésängerin, er war Journalist, er fuhr sie in einer nassen Dezembernacht nach Hause, und sie kamen auf einem Stück rutschiger Fahrbahn von der Straße ab. Ihr Auto überschlug sich dreimal – er war vermutlich viel zu schnell gefahren – und blieb mit dem Dach nach unten auf einem Feld liegen, bis ein Farmer die Scheinwer101
fer bemerkte und nachsehen ging. Mein Vater starb am Tag darauf, meine Mutter noch im Rettungswagen. Ich erzähle die Sache möglichst früh, wenn ich neue Leute kennenlerne, um sie aus dem Weg zu haben. Alle, die es erfahren, kriegen entweder kein Wort mehr raus oder werden unerträglich sentimental (»Sie fehlen dir bestimmt ganz schrecklich«), und je besser wir uns kennen, desto länger muss das sentimentale Stadium ihrer Meinung nach dauern. Ich weiß nie, was ich darauf antworten soll, zumal ich damals erst fünf war und es über fünfundzwanzig Jahre her ist. Ich glaube, ich darf von mir behaupten, mehr oder weniger darüber hinweg zu sein. Ich wünschte, ich könnte mich noch gut genug an sie erinnern, um sie zu vermissen, aber im Grunde kann ich nur die Vorstellung vermissen, und manchmal auch noch die Lieder, die meine Mutter mir vorgesungen hat, und davon erzähle ich anderen nichts. Ich hatte Glück. Tausende andere Kinder in so einer Situation fallen durch das soziale Netz, lan102
den in Pflegefamilien oder in horrormäßigen Heimen. Aber auf dem Weg zu dem Auftritt meiner Mutter hatten meine Eltern mich nach Wicklow zur Schwester meines Vaters und ihrem Mann gebracht, wo ich übernachten sollte. Ich erinnere mich noch an Telefonklingeln mitten in der Nacht, schnelle Schritte auf der Treppe und beschwörendes Tuscheln in der Diele, ein Auto, das losfuhr, an das Kommen und Gehen von Leuten in den Tagen danach, und dann nahm Tante Louisa mich mit ins dämmrige Wohnzimmer und erklärte mir, dass ich noch eine Weile länger bei ihnen bleiben würde, weil meine Eltern nicht wiederkommen würden. Sie war deutlich älter als mein Vater, und sie und Onkel Gerard haben keine Kinder. Er ist Historiker. Sie spielen gern Bridge. Ich glaube, sie konnten sich nie so richtig daran gewöhnen, dass ich fortan bei ihnen lebte – sie gaben mir das Gästezimmer mit Doppelbett und kleinen zerbrechlichen Nippsachen und einem wenig kindgerechten 103
Kunstdruck der Geburt der Venus und blickten leicht besorgt, als ich in das Alter kam, wo ich eigene Poster aufhängen wollte. Aber zwölfeinhalb Jahre lang ernährten sie mich, schickten mich zur Schule und in Gymnastikkurse und zum Musikunterricht, tätschelten mir jedes Mal, wenn ich in Reichweite kam, vage, aber liebevoll den Kopf und ließen mich in Ruhe. Im Gegenzug achtete ich darauf, dass sie es nicht erfuhren, wenn ich die Schule schwänzte, von irgendwas runterfiel, wo ich gar nicht hätte draufklettern sollen, nachsitzen musste oder mit dem Rauchen anfing. Ich hatte – das scheint dann alle noch mal zu schockieren – eine glückliche Kindheit. In den ersten paar Monaten verkroch ich mich, sooft es ging, hinten im Garten, heulte, bis ich brechen musste, und beschimpfte die Kinder aus der Nachbarschaft, wenn sie sich mit mir anfreunden wollten. Aber Kinder sind pragmatisch, sie überstehen gesund und munter noch erheblich schlimmere Sachen als das Schicksal, Waisenkind zu 104
werden, und auch ich konnte nur eine begrenzte Zeit Widerstand gegen die Einsicht leisten, dass nichts meine Eltern zurückbringen würde, und gegen die zahllosen lebendigen Dinge um mich herum, wie Emma von nebenan, die sich über die Mauer hängte, und mein neues Fahrrad, das rot in der Sonne funkelte, und die halbwilden Kätzchen im Gartenschuppen, die unaufhörlich in Bewegung waren, während sie darauf warteten, dass ich wach wurde und rauskam, um mit ihnen zu spielen. Ich kam früh dahinter, dass du dein Leben wegwerfen kannst, wenn du immer nur Verlorenem nachtrauerst. Ich entwöhnte mich mittels einer Sehnsucht, die wie Methadon wirkte (macht nicht so abhängig, ist nicht so offensichtlich, und man wird nicht so leicht verrückt davon): Ich vermisste das, was ich nie gehabt hatte. Wenn meine neuen Freundinnen und ich am Kiosk Schokoriegel kauften, verwahrte ich immer die Hälfte von meinem für meine imaginäre Schwester (ich versteckte sie unten in mei105
nem Schrank, wo sie sich in klebrige Pfützen verwandelten und in meine Schuhe tropften). Ich ließ im Doppelbett Platz für sie, wenn nicht Emma oder jemand anders bei mir schlief. Wenn der fiese Billy MacIntyre, der in der Schule hinter mir saß, Rotze in meine Zöpfe schmierte, verprügelte mein imaginärer Bruder ihn, bis ich lernte, das selbst zu erledigen. In meiner Phantasie schauten Erwachsene uns an, drei identische dunkle Köpfe nebeneinander, und sagten: Na, dass das Geschwister sind, erkennt man aber auf den ersten Blick, sie sehen sich zum Verwechseln ähnlich, nicht? Ich war dabei nicht auf Zuneigung aus, nein. Ich wollte einfach zu jemandem gehören, zweifelsfrei und unbestreitbar, zu jemandem, bei dem jeder Blick eine Garantie, ein zuverlässiger Beweis dafür war, dass wir ein Leben lang aneinander gebunden waren. Auf Fotos kann ich eine Ähnlichkeit mit meiner Mutter erkennen, zu sonst niemandem. Ich weiß nicht, ob Sie sich das vor106
stellen können. Alle meine Schulfreundinnen hatten die Familiennase oder die Haare ihres Vaters oder die gleichen Augen wie ihre Schwestern. Selbst Jenny Bailey, die adoptiert war, sah aus, als wäre sie die Cousine vom Rest der Klasse – das waren die Achtziger, alle in Irland waren auf die eine oder andere Art miteinander verwandt. Ohne das aufzuwachsen, war für mich als Kind, auf der Suche nach Dingen, die mir Angst machten, gleichsam, als hätte ich kein Spiegelbild. Es gab keinen Beweis dafür, dass ich das Recht hatte, überhaupt da zu sein. Ich hätte Gott weiß woher kommen können, abgeworfen von Außerirdischen, ausgetauscht von Elfen, von der CIA in der Retorte kreiert, und wenn sie eines Tages auftauchten, um mich zurückzuholen, gäbe es nichts auf der Welt, um mich hier zu halten. Wenn diese mysteriöse junge Frau eines Morgens in meine Klasse spaziert wäre, damals, hätte mich das zum glücklichsten Menschen auf Erden gemacht. Da sie das aber nicht tat, wurde ich er107
wachsen, riss mich am Riemen und dachte nicht mehr drüber nach. Jetzt hatte ich mit einem Mal das allerbeste Spiegelbild von allen, und es gefiel mir absolut nicht. Ich hatte mich daran gewöhnt, einfach nur ich zu sein, ohne Verbindung zu irgendwem. Diese Frau war eine Verbindung wie eine Handschelle, die mir aus heiterem Himmel angelegt worden war und so eng saß, dass sie mir bis auf den Knochen schnitt. Und ich wusste, wie sie sich die LexieMadison-Identität zugelegt hatte. Ich hatte es vor Augen, klar und hart wie gebrochenes Glas, so deutlich, als wäre es mir selbst passiert, und auch das gefiel mir nicht. Irgendwo in der Stadt, an der Theke in einem überfüllten Pub oder beim Durchsehen von Klamotten in einem Laden, und plötzlich hinter ihr: Lexie? Lexie Madison? Mein Gott, wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen! Und danach ging es dann nur noch darum, behutsam vorzugehen und die richtigen beiläufigen Fragen zu stellen (Es ist schon so lange her, 108
ich weiß nicht mal mehr genau, was ich damals gemacht hab, als wir uns zuletzt gesehen haben, du?), sich feinfühlig an alles ranzutasten, was sie wissen musste. Sie war kein Dummkopf gewesen, diese junge Frau. Viele Mordfälle entwickeln sich zu erbitterten, ermüdenden geistigen Wettkämpfen, aber diesmal war es anders. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass mein eigentlicher Gegner nicht der Mörder war, sondern die Tote: trotzig, mit aller Kraft ihre Geheimnisse festhaltend und mir in jeder Beziehung ebenbürtig, praktisch Kopf an Kopf. Gegen Mittag am Samstag hatte ich mich selbst so verrückt gemacht, dass ich schließlich auf die Arbeitsplatte in der Küche kletterte, den Schuhkarton mit meinem offiziellen Kram vom Schrank holte, den Inhalt auf den Boden kippte und meine Geburtsurkunde hervorkramte. Maddox, Cassandra Jeanne, weiblich, dreitausendvier Gramm. Art der Geburt: Einzelgeburt. 109
»Du Idiot«, sagte ich laut und kletterte wieder auf die Arbeitsplatte.
Am selben Nachmittag kam Frank mich besuchen. Zu dem Zeitpunkt fiel mir bereits die Decke auf den Kopf – meine Wohnung ist klein, ich hatte alles geputzt, was sich putzen ließ –, so dass ich tatsächlich froh war, seine Stimme über die Gegensprechanlage zu hören. »Welches Jahr haben wir?«, fragte ich, als er oben an der Treppe war. »Wer ist Präsident?« »Hör auf zu jammern«, sagte er und umarmte mich ungelenk. »Du hast diese ganze, wunderhübsche Wohnung zum Spielen. Du könntest ein Scharfschütze sein, der in einem Versteck auf der Lauer liegt, tagelang keinen Muskel bewegen darf und in eine Flasche pinkeln muss. Und ich hab dir Verpflegung mitgebracht.« Er reichte mir eine Einkaufstüte. Lauter Grundnahrungsmittel: Schokokekse, Zigaretten, Kaffee110
pulver und zwei Flaschen Wein. »Du bist ein Juwel, Frank«, sagte ich. »Du kennst mich zu gut.« Das stimmte auch; nach vier Jahren wusste er immer noch, dass ich Lucky Strike Lights rauchte. Das Gefühl war nicht gerade beruhigend, aber das war auch nicht seine Absicht gewesen. Frank hob unverbindlich eine Augenbraue. »Hast du einen Korkenzieher?« Meine Antennen fuhren aus, aber ich kann einiges an Alkohol vertragen, und Frank wusste ja wohl, dass ich nicht so blöd war, mich mit ihm zusammen zu betrinken. Ich warf ihm einen Korkenzieher zu und kramte nach Gläsern. »Nette Bude hast du hier«, sagte er, während er an der ersten Flasche herumhantierte. »Ich hatte schon befürchtet, du wohnst jetzt in so einer Schickimicki-Hochglanzwohnung.« »Mit meinem Polizistengehalt?« Die Immobilienpreise in Dublin sind fast so wie in New York, nur dass du in New York für dein Geld obendrein New York kriegst. Meine Wohnung ist ein mit111
telgroßer Raum im obersten Stock eines großen, umgebauten Jahrhundertwendehauses. Sie hat noch den originalen schmiedeeisernen Kamin, genügend Platz für einen Futon und ein Sofa und alle meine Bücher, einen Fußboden, der in einer Ecke so schief ist, dass einem schwindelig wird, eine Eulenfamilie unter dem Dach und Blick auf den Strand von Sandymount. Mir gefällt sie. »Mit den Gehältern von zwei Polizisten. Bist du nicht mit diesem Sammy-Boy zusammen?« Ich setzte mich auf den Futon und hielt ihm die Gläser zum Einschenken hin. »Erst seit ein paar Monaten. Das In-Sünde-Leben war bis jetzt noch kein Thema.« »Ich hätte gedacht, länger. Er kam mir am Donnerstag ganz schön beschützerisch vor. Ist es wahre Liebe?« »Das geht dich nichts an«, sagte ich und stieß mit ihm an. »Zum Wohl. Also: Was machst du hier?«
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Frank blickte gekränkt. »Ich hab gedacht, du könntest Gesellschaft gebrauchen. Ich hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen, weil ich dich hier eingesperrt habe, so ganz allein … « Ich warf ihm einen bösen Blick zu. Er merkte, dass das bei mir nicht zog, und grinste. »Du bist cleverer, als dir guttut, weißt du das? Ich wollte nicht, dass du Hunger kriegst oder dich langweilst oder nach Zigaretten gierst und dann die Wohnung verlässt, um einkaufen zu gehen. Die Chance, dass dich jemand sieht, der unser Mädel kennt, liegt zwar bei eins zu tausend, aber warum das Risiko eingehen?« Das klang durchaus plausibel, aber Frank hatte schon immer die Art, in alle Richtungen gleichzeitig Köder auszuwerfen, um dich von dem Haken in der Mitte abzulenken. »Ich hab noch immer nicht vor, es zu tun, Frankie«, sagte ich. »In Ordnung«, sagte Frank ungerührt. Er trank einen kräftigen Schluck Wein und machte es sich auf dem Sofa bequem. »Ich hatte übrigens eine 113
Unterhaltung mit den hohen Tieren, und der Fall ist jetzt offiziell eine gemeinschaftliche Ermittlung: Morddezernat und Undercover. Aber das hat dir dein Freund ja wahrscheinlich schon erzählt.« Hatte er nicht. Sam hatte die letzten zwei Nächte in seiner eigenen Wohnung geschlafen (»Ich muss um sechs aufstehen, ich würde dich nur wach machen. Es sei denn, du hättest gern, dass ich bei dir bin. Kommst du allein klar?«). Ich hatte ihn seit unserem Treffen am Tatort nicht mehr gesehen. »Ich bin sicher, alle sind begeistert«, sagte ich. Gemeinschaftliche Ermittlungen sind ein einziges Kreuz. Sie bleiben unvermeidlich in endlosen, sinnlosen Testosteronrangeleien stecken. Frank zuckte die Achseln. »Sie werden drüber wegkommen. Willst du hören, was wir bisher über die Tote wissen?« Natürlich wollte ich. Ich wollte es so sehr, wie ein Alkoholiker Schnaps will: dringend genug, um das knallharte Wissen zu verdrängen, dass das ei-
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ne wahrhaft saumäßige Idee war. »Würde sich anbieten«, sagte ich. »Wo du schon mal da bist.« »Wunderbar«, sagte Frank, während er in der Einkaufstüte nach den Zigaretten stöberte. »Also: Sie taucht erstmals im Februar 2002 auf, als sie sich eine Geburtsurkunde auf den Namen Alexandra Madison verschafft und damit ein Bankkonto eröffnet. Mit der Geburtsurkunde, dem Kontobeleg und ihrem Gesicht verschafft sie sich deine alten Studienunterlagen vom UCD und schreibt sich damit am Trinity ein, um in Anglistik zu promovieren.« »Raffiniert«, sagte ich. »Allerdings. Raffiniert, kreativ und überzeugend. Sie hat das alles mit links hingekriegt; ich hätte es nicht besser machen können. Sie hat sich nie arbeitslos gemeldet, was clever war. Hat dafür den Sommer über in einem Café gekellnert, dann im Oktober am Trinity angefangen. Das Thema ihrer Dissertation lautet – das wird dir gefallen – ›Andere Stimmen: Identität, Täuschung und 115
Wahrheit‹. Es geht um Frauen, die unter Pseudonym geschrieben haben.« »Allerliebst«, sagte ich. »Sie hatte also Humor.« Frank sah mich fragend an. »Wir müssen sie nicht mögen, Cass«, sagte er nach einem Moment. »Wir müssen bloß rausfinden, wer sie ermordet hat.« »Du musst das. Ich nicht. Hast du noch mehr?« Er klemmte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und griff nach seinem Feuerzeug. »Okay, sie ist also am Trinity. Sie freundet sich mit vier anderen Doktoranden der Anglistik an, ist fast ausschließlich mit ihnen zusammen. Letzten September erbt einer von ihnen ein Haus von seinem Großonkel, und sie ziehen alle zusammen da ein. Whitethorn House, so heißt es. Liegt bei Glenskehy, eine gute halbe Meile von dem Cottage entfernt, wo sie gefunden wurde. Am Mittwochabend geht sie spazieren und kommt nicht zurück. Die anderen vier geben sich gegenseitig ein Alibi.« 116
»Was du mir alles auch am Telefon hättest erzählen können«, sagte ich. »Tja«, sagte Frank und kramte in seiner Jackentasche, »aber dann hätte ich dir die hier nicht zeigen können. Voilà: die Fantastischen Vier. Ihre Mitbewohner.« Er holte eine Handvoll Fotos hervor und breitete sie auf dem Tisch aus. Eines davon war ein Schnappschuss, entstanden an einem Wintertag, blassgrauer Himmel und ein Hauch Schnee auf der Erde: fünf junge Leute vor einem großen Herrenhaus, die Köpfe zusammengeneigt und die Haare vom wirbelnden Wind zur Seite geweht. Lexie stand in der Mitte, eingepackt in derselben Wolljacke und lachend, und mein Verstand machte wieder diesen wilden Schlenker: Wann war ich … ? Frank beobachtete mich wie ein Jagdhund. Ich legte das Foto wieder hin. Die anderen Aufnahmen waren Standbilder von einem Privatvideo – so sahen sie jedenfalls aus, verschwommene Ränder, wenn Personen sich bewegten –, die im Morddezernat ausgedruckt wor117
den waren: Der Drucker hinterlässt immer einen Streifen quer über die rechte obere Ecke. Vier Ganzkörperfotos, vier vergrößerte Porträts, alle in demselben Raum vor derselben schäbigen, gestreiften Blümchentapete. Auf zwei der Fotos war in der Ecke ein großer, ungeschmückter Tannenbaum zu sehen: kurz vor Weihnachten. »Daniel March«, sagte Frank und zeigte auf ein Foto. »Nicht Dan oder gar Danny. Nein: Daniel. Er hat das Haus geerbt. Einzelkind, verwaist, aus einer alten angloirischen Familie. Der Großvater hat in den Fünfzigern fast das ganze Familienvermögen mit riskanten Geschäften verloren, aber es ist noch genug da, um Danny-Boy ein kleines Einkommen zu sichern. Er hat ein Stipendium, muss also keine Studiengebühren zahlen. Er schreibt seine Diss über, jetzt halt dich fest, ›Das leblose Objekt als Erzähler in der Epik des frühen Mittelalters‹.« »Offenbar kein Idiot«, sagte ich. Daniel war ein kräftiger Typ, gut über eins achtzig und entspre118
chend gebaut, mit glänzendem dunklen Haar und kantiger Kinnpartie. Er saß in einem Lehnsessel, hob gerade vorsichtig eine Glaskugel aus einer Schachtel und blickte hoch in die Kamera. Seine Kleidung – weißes Hemd, schwarze Hose, weicher grauer Pullover – sah teuer aus. In der Nahaufnahme waren seine Augen hinter der Nickelbrille grau und kalt wie Stein. »Eindeutig kein Idiot. Sind sie alle nicht, aber er ganz besonders. Bei dem musst du aufpassen.« Ich überging die Bemerkung. »Justin Mannering«, sagte Frank beim nächsten Foto. Justin hatte sich in einer Weihnachtslichterkette verheddert und starrte hilflos auf das Chaos. Auch er war groß gewachsen, aber auf eine schmale, verfrüht professorale Art: kurzes mausbraunes Haar, schon mit Ansatz zur Stirnglatze, kleine randlose Brille, langes, sanftes Gesicht. »Aus Belfast. Promoviert über ›Sakrale und profane Liebe in der Literatur der Renaissance‹, was immer unter ›profaner Liebe‹ auch zu verstehen ist. Klingt für mich, als 119
würde sie ein paar Euro die Minute kosten. Mutter gestorben, als er sieben war, Vater wieder verheiratet, zwei Halbbrüder, Justin fährt nicht oft nach Hause. Aber Daddy – Daddy ist Anwalt – zahlt ihm noch immer die Studiengebühren und schickt ihm jeden Monat Geld. Manche haben ein Schwein, was?« »Sie können nichts dafür, wenn ihre Eltern Geld haben«, sagte ich nachdenklich. »Sie könnten sich schließlich einen Job besorgen, oder nicht? Lexie hat Tutorenkurse gegeben, Hausarbeiten korrigiert, bei Klausuren Aufsicht geführt – sie hat gekellnert, bis sie raus nach Glenskehy gezogen sind und die Fahrerei zu kompliziert wurde. Hast du während des Studiums gejobbt?« »Ich hab auch gekellnert, in einer Bar, und es war ätzend. Ich hätte es nie im Leben gemacht, wenn ich nicht gemusst hätte. Dir von betrunkenen Steuerberatern in den Hintern kneifen zu las-
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sen macht dich nicht unbedingt zu einem besseren Menschen.« Frank zuckte die Achseln. »Ich kann Leute nicht leiden, die alles geschenkt kriegen. Apropos: Raphael Hyland, genannt Rafe. Sarkastischer kleiner Scheißer. Daddy ist Banker, ursprünglich aus Dublin, in den Siebzigern nach London gezogen. Mummy ist eine Gesellschaftstussi. Sie haben sich scheiden lassen, als Sohnemann sechs war, haben ihn schnurstracks ins Internat abgeschoben, alle zwei Jahre auf ein besseres, wenn Daddy mal wieder eine Gehaltserhöhung kriegte. Rafe lebt von seinem Treuhandfonds. Schreibt seine Diss über ›Die Figur des Unzufriedenen im jakobinischen Drama‹.« Rafe lag wunderbar dekorativ ausgestreckt auf einem Sofa, in der Hand ein Glas Wein und auf dem Kopf eine Weihnachtsmannmütze. Er war geradezu lächerlich schön, und zwar auf die Art, die bei vielen Männern den panischen Drang auslöst, mit betont tiefer Stimme abfällige Bemerkungen 121
von sich zu geben. Er hatte die gleiche Größe und Statur wie Justin, aber sein Gesicht bestand aus lauter Knochen und markanten Winkeln, und er war von Kopf bis Fuß golden: dichtes, dunkelblondes Haar, so ein Teint, der immer leicht gebräunt aussieht, Augen von einer Farbe wie dunkler Eistee und stechend wie die eines Habichts. Ich musste an eine Maske aus dem Grab eines ägyptischen Fürsten denken. »Wow«, sagte ich. »Mit einem Mal kommt mir der Fall um einiges verlockender vor.« »Wenn du brav bist, erfährt dein Freund von mir nicht, dass du das gesagt hast. Der Typ ist wahrscheinlich sowieso eine Schwuchtel«, sagte Frank entsetzlich vorhersehbar. »Zu guter Letzt: Abigail Stone. Genannt Abby.« Abby war nicht direkt hübsch – klein, mit schulterlangem braunen Haar und einer Stupsnase –, aber ihr Gesicht hatte etwas: Der Schwung ihrer Augenbrauen und ein gewisser Zug um den Mund verliehen ihr eine besondere Ausstrahlung, die ei122
nen zweimal hinschauen ließ. Sie saß vor dem Kamin, in dem ein Torffeuer brannte, und fädelte Girlanden aus Popcorn auf, doch sie warf der Person mit der Kamera – Lexie vermutlich – einen schiefen Blick zu, und da ihre freie Hand verschwommen war, nahm ich an, dass sie gerade ein Popcorn in Richtung Kamera geworfen hatte. »Bei ihr sieht die Sache ganz anders aus«, sagte Frank. »Aus Dublin, Vater nie in Erscheinung getreten, Mutter hat sie in eine Pflegefamilie abgeschoben, als sie zehn war. Abby hat ein Eins-aAbschlusszeugnis gemacht, einen Studienplatz am Trinity ergattert, sich krummgelegt und ein Bombenexamen geschafft. Jetzt promoviert sie über die Klassengesellschaft in der viktorianischen Literatur. Hat ihr Studium mit Putzjobs und Nachhilfe finanziert. Jetzt, wo sie keine Miete zahlen muss – Daniel verlangt keine –, verdient sie sich mit Tutorenkursen am College was dazu und mit Recherchen für ihren Professor. Ihr werdet euch gut verstehen.« 123
Selbst auf diesen spontanen Schnappschüssen hatten alle vier etwas an sich, das einen dazu brachte, sie länger anschauen zu wollen. Zum Teil lag das an der Bilderbuchidylle des Ganzen – ich konnte fast die Zimtsterne im Backofen riechen und Sternsinger im Hintergrund hören, sie waren praktisch nur einen Tannenzweig von einer Weihnachtskarte entfernt. Zum Teil war es die Art, wie sie gekleidet waren, schmucklos, fast puritanisch: die Hemden der Männer blendend weiß, messerscharfe Bügelfalten in ihren Hosen, Abbys langer Wollrock, den sie züchtig unter die Knie geklemmt hatte, nicht ein Logo oder ein Slogan in Sicht. Zu meiner Studienzeit sahen unsere Klamotten immer so aus, als wären sie einmal zu oft in einem schmierigen Waschsalon mit billigem Waschmittel gewaschen worden, was auch der Fall war. Diese vier waren so makellos, dass es beinahe unheimlich war. Einzeln betrachtet, hätten sie vielleicht unauffällig gewirkt, ja langweilig, inmitten der Dubliner Designerlabel124
Selbstdarstellungsorgie, aber gemeinsam hatten sie einen kühlen, herausfordernden Viererblick, der sie nicht nur exzentrisch machte, sondern fremdartig, wie aus einem anderen Jahrhundert, entrückt und beeindruckend. Wie die meisten Detectives – und das wusste Frank, natürlich wusste er das – war ich noch nie imstande, die Augen von etwas abzuwenden, worauf ich mir keinen Reim machen kann. »Interessante Truppe«, sagte ich. »Eine merkwürdige Truppe, das sind sie, nach dem, was ihre Kommilitonen so sagen. Die vier haben sich gleich zu Anfang des Studiums kennengelernt, vor gut sieben Jahren. Seitdem sind sie unzertrennlich, keine Zeit für andere Leute. Sie sind nicht besonders beliebt an der Fakultät – die anderen Studenten halten sie für arrogant, Überraschung. Aber irgendwie hat unser Mädel bei ihnen Anschluss gefunden, gleich nachdem sie am Trinity angefangen hat. Es haben auch andere versucht,
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sich mit ihr anzufreunden, aber sie war nicht interessiert. Sie hatte es auf die vier da abgesehen.« Ich konnte verstehen, warum, und das machte sie mir sympathischer, ein kleines bisschen. Wie sie auch sonst gewesen sein mochte, sie hatte einen guten Geschmack gehabt. »Was hast du ihnen erzählt?« Frank grinste. »Nachdem sie in dem Cottage das Bewusstsein verloren hatte, ist sie vor Schock und Kälte in ein hypothermisches Koma gefallen. Die Folge war eine Verlangsamung des Herzschlags – so dass man sie leicht für tot hätte halten können, richtig? –, was übermäßigen Blutverlust und Organschädigung verhinderte. Cooper meint, das ist ›medizinisch haarsträubend, aber für jemanden ohne medizinische Kenntnisse möglicherweise glaubhaft‹, womit ich gut leben kann. Bisher hat anscheinend keiner ein Problem damit.« Er zündete sich eine Zigarette an und blies Rauchkringel an die Decke. »Sie ist noch immer 126
ohne Bewusstsein, und es steht auf Messers Schneide, aber sie hat eine Chance. Man kann nie wissen.« Ich ging nicht darauf ein. »Sie werden sie sehen wollen«, sagte ich. »Sie haben schon darum gebeten. Leider können wir aus Sicherheitsgründen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht verraten, in welchem Krankenhaus sie liegt.« Die Sache machte ihm sichtlich Spaß. »Wie haben sie es aufgenommen?«, fragte ich. Frank überlegte einen Moment, den Kopf gegen die Sofalehne gelegt, bedächtig rauchend. »Sie waren fix und fertig«, sagte er schließlich, »verständlicherweise. Allerdings bleibt offen, ob sie alle vier so fertig sind, weil sie niedergestochen wurde, oder ob einer von ihnen so fertig ist, weil sie durchkommen und uns erzählen könnte, was passiert ist. Sie sind äußerst kooperativ, beantworten alle unsere Fragen, kein Zögern, nichts dergleichen. Erst im Nachhinein merkst du dann, dass 127
sie dir eigentlich gar nicht viel erzählt haben. Sie sind wirklich eine seltsame Truppe, Cass, schwer zu durchschauen. Ich würde zu gern wissen, was du von ihnen hältst.« Ich schob die Fotos zusammen und gab sie Frank zurück. »Okay«, sagte ich. »Warum hast du es noch mal für nötig befunden, herzukommen und mir die Fotos zu zeigen?« Er zuckte die Achseln, machte große unschuldige blaue Augen. »Um herauszufinden, ob du vielleicht einen von ihnen wiedererkennst. Das könnte einen ganz neuen Ermittlungsansatz –« »Tu ich nicht. Spuck’s aus, Frankie. Was willst du?« Frank seufzte. Er richtete den Stapel exakt bündig aus und schob ihn wieder in seine Jackentasche. »Ich will wissen«, sagte er leise, »ob ich hier meine Zeit vergeude. Ich muss wissen, ob du hundertprozentig sicher bist, dass du am Montagmor-
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gen wieder ins DHG gehen und das hier vergessen willst.« Das Lachen und die Fassade waren komplett aus seiner Stimme verschwunden, und ich kannte Frank gut genug, um zu wissen, dass er dann am gefährlichsten war. »Ich bin nicht sicher, ob ich die Wahl habe, es zu vergessen«, sagte ich vorsichtig. »Die Sache hat mich aus der Bahn geworfen. Sie gefällt mir nicht, und ich will nicht da reingezogen werden.« »Bist du sicher? Ich hab mir nämlich die letzten zwei Tage den Arsch aufgerissen, jeden, der mir über den Weg gelaufen ist, nach Lexie Madison ausgefragt –« »Was ohnehin getan werden musste. Hör auf, mir ein schlechtes Gewissen einzureden.« »– und wenn du absolut sicher bist, dann bringt es nichts, noch mehr von deiner und meiner Zeit zu vergeuden, indem du mich weiter bloß bei Laune hältst.«
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»Ich sollte dich doch bei Laune halten«, stellte ich klar. »Nur drei Tage, ohne jede Verpflichtung, blablabla.« Er nickte nachdenklich. »Und was anderes machst du auch nicht, du hältst mich bei Laune. Du bist glücklich und zufrieden im DHG. Du bist dir sicher.« Die Wahrheit ist, dass Frank – er hat ein Talent dafür – einen Nerv getroffen hatte. Vielleicht lag es an dem Wiedersehen mit ihm, an seinem Grinsen und dem flotten Rhythmus seiner Stimme, dass ich mich schlagartig zurückversetzt fühlte in die Zeit, als dieser Job mir so glänzend und toll erschien, dass ich einfach nur Anlauf nehmen und mich mitten hineinstürzen wollte. Vielleicht lag es auch an dem Frühlingsprickeln in der Luft, das an mir zupfte, vielleicht einfach nur daran, dass ich noch nie gut darin war, längere Zeit unglücklich zu sein. Aber warum auch immer, zum ersten Mal seit Monaten fühlte ich mich wieder hellwach, und plötzlich fand ich den Gedanken, am Montag wie130
der im DHG an meinem Schreibtisch zu sitzen – obwohl ich nicht die Absicht hatte, Frank das zu verraten –, völlig unerträglich. Ich teilte mir ein Büro mit einem Kollegen aus Kerry namens Maher, der Golfpullover trug und jeden nichtirischen Akzent für eine Quelle endloser Belustigung hielt und durch den Mund atmete, wenn er tippte, und auf einmal wusste ich nicht, ob ich auch nur eine einzige Stunde mehr in seiner Gesellschaft durchstehen könnte, ohne ihm meinen Tacker an den Kopf zu werfen. »Was hat das mit diesem Fall zu tun?«, fragte ich. Frank zuckte die Achseln, drückte seine Zigarette aus. »Ich wundere mich nur. Die Cassie Maddox, die ich kannte, wäre nicht mit einem sicheren Bürojob von neun bis fünf zufrieden gewesen, den sie im Schlaf erledigen kann. Das ist alles.« Plötzlich verspürte ich den heftigen Wunsch, Frank aus meiner Wohnung zu haben. Sie kam mir 131
zu klein vor, übervoll und gefährlich. »Tja«, sagte ich, nahm die Weingläser und brachte sie zur Spüle. »Lange nicht gesehen.« »Cassie«, sagte Frank hinter mir mit seiner sanftesten Stimme. »Was ist denn passiert?« »Ich habe in Jesus Christus meinen persönlichen Retter und Heiland gefunden«, sagte ich und knallte die Gläser in die Spüle, »und er hält nichts davon, mit anderen Menschen Psychospielchen zu treiben. Ich hatte eine Gehirntransplantation, ich hatte Rinderwahnsinn, ich bin niedergestochen worden, und ich bin älter geworden, und ich bin zu Verstand gekommen, du kannst es nennen, wie du willst, ich weiß nicht, was passiert ist, Frank. Ich weiß nur, dass ich mir zur Abwechslung mal ein bisschen Ruhe und Frieden im Leben wünsche, und dieser beschissene Fall und deine beschissene Idee werden mir das aller Wahrscheinlichkeit nicht geben. Okay?« »He, in Ordnung«, sagte Frank so gleichmütig, dass ich mir wie ein Idiot vorkam. »Es ist deine 132
Entscheidung. Aber wenn ich verspreche, nicht wieder von dem Fall anzufangen, kann ich dann noch ein Glas Wein haben?« Meine Hände zitterten. Ich drehte den Wasserhahn weit auf und antwortete nicht. »Wir können ein bisschen quatschen. Wie du gesagt hast, wir haben uns lange nicht gesehen. Wir meckern übers Wetter, ich zeig dir ein paar Fotos von meinem Kind, und du kannst mir alles über deinen neuen Freund erzählen. Was ist denn aus dem Typen geworden, den du davor hattest, diesem Anwalt? Ich fand ihn ja immer ein bisschen spießig für dich.« Aidan war mit meiner Undercoverarbeit nicht klargekommen. Er machte Schluss mit mir, weil ich immer wieder Verabredungen absagte, ohne ihm zu erklären, warum, und ohne ihm zu sagen, was ich den lieben langen Tag so machte. Er meinte, mein Job sei mir wichtiger als er. Ich spülte die Gläser aus und stellte sie aufs Abtropfgestell. 133
»Es sei denn, du willst lieber allein sein, um gründlich drüber nachzudenken«, fügte Frank fürsorglich hinzu. »Kann ich verstehen. Ist schließlich eine wichtige Entscheidung.« Ich konnte nicht anders: Nach einer Sekunde lachte ich los. Frank kann ein richtiges Schlitzohr sein, wenn er will. Wenn ich ihn jetzt vor die Tür setzte, wäre das wie ein Eingeständnis, dass ich über seine hirnrissige Idee nachdachte. »Okay«, sagte ich. »Schön. Trink so viel Wein, wie du möchtest. Aber wenn du den Fall noch ein einziges Mal erwähnst, verdreh ich dir den Arm, bis er taub ist. Klar?« »Wunderbar«, sagte Frank fröhlich. »Für so was muss ich normalerweise bezahlen.« »Für dich mach ich es jederzeit gratis.« Ich warf ihm die Gläser nacheinander zu. Er trocknete sie an seinem Hemd ab und griff nach der Weinflasche. »Also«, sagte er. »Wie ist der gute Sammy denn so in der Kiste?« 134
Wir leerten die erste Flasche und öffneten die zweite. Frank erzählte mir den Klatsch und Tratsch der Undercoverabteilung, Sachen, die andere Dezernate nie zu hören kriegen. Ich wusste genau, was er damit bezweckte, aber es tat trotzdem gut, die Namen wiederzuhören, den Jargon, die Insiderwitze und die schnellen, verkürzten professionellen Codes. Wir spielten Weißt-du-noch: zum Beispiel, als ich auf einer Party war und Frank mir eine Info zukommen lassen musste, also schickte er einen Undercoverkollegen, der den abservierten Lover spielte und unter dem Fenster den Stanley Kowalski mimte (»Lexiiiiiie!«), bis ich rauskam. Oder als wir uns auf einer Bank am Merrion Square getroffen hatten, um Infos auszutauschen, und ich jemanden vom College in unsere Richtung kommen sah, da beschimpfte ich ihn aus vollem Halse als alten Perverso und marschierte davon. Mir wurde klar, dass ich es allen Einwänden zum Trotz schön fand, Frank bei mir zu haben. Früher hatte ich ständig Besuch gehabt – 135
Freunde, mein alter Polizeipartner, sie lümmelten sich auf dem Sofa und blieben viel zu lange, Musik im Hintergrund und alle ein bisschen beschwipst –, aber es war lange her, seit jemand außer Sam in meiner Wohnung gewesen war, noch länger, seit ich so gelacht hatte wie jetzt, und es tat gut. »Weißt du«, sagte Frank wesentlich später versonnen und blinzelte in sein Glas, »du hast noch immer nicht nein gesagt.« Ich hatte nicht mehr die Energie, sauer zu werden. »Hab ich irgendwas gesagt, was sich auch nur im Entferntesten wie ja anhört?«, wollte ich wissen. Er schnippte mit den Fingern. »Mensch, ich hab eine Idee. Morgen Abend findet eine Fallbesprechung statt. Wie wär’s, wenn du auch kommst? Das könnte dir bei der Entscheidung helfen, ob du mitmachen willst.« Und zack, da war er: der Haken mitten zwischen den Ködern, das eigentliche Ziel hinter den 136
Schokokeksen und Infos und der Sorge um mein emotionales Wohl. »Verdammt, Frank«, sagte ich. »Merkst du eigentlich, wie durchschaubar du bist?« Frank grinste, nicht im Mindesten beschämt. »Ein Versuch kann nicht schaden. Im Ernst, du solltest kommen. Die Fahnder fangen erst Montagmorgen an, es sind also im Grunde nur ich und Sam da und quatschen über den Stand der Dinge. Bist du nicht neugierig?« Natürlich war ich das. Franks sämtliche Informationen hatten mir nicht verraten, was ich wirklich wissen wollte: wie die Frau gewesen war. Ich lehnte den Kopf gegen den Futon und zündete mir noch eine Zigarette an. »Glaubst du ernsthaft, wir könnten das durchziehen?«, fragte ich. Frank dachte darüber nach. Er goss sich noch ein Glas Wein ein und schwenkte mit der Flasche in meine Richtung. Ich schüttelte den Kopf. »Unter normalen Umständen«, sagte er schließlich und setzte sich auf dem Sofa zurück, »würde ich sa137
gen, vermutlich nicht. Aber das hier sind keine normalen Umstände, und außer dem offensichtlichen haben wir noch ein paar andere Vorteile. Erstens, die Frau hat praktisch nur drei Jahre existiert. Du müsstest dich also nicht mit einer ganzen Lebensgeschichte rumschlagen. Du musst weder Eltern noch Geschwister überzeugen, du wirst keiner alten Freundin aus Kindertagen über den Weg laufen, kein Mensch wird dich fragen, ob du dich an deine erste Schulparty erinnerst. Außerdem war ihr Lebensradius in diesen drei Jahren anscheinend ziemlich überschaubar: Sie war privat mit einer kleinen Gruppe von Leuten zusammen, sie hat an einer kleinen Fakultät studiert, hatte einen einzigen Job. Du musst dich nicht in einem großen Kreis von Angehörigen und Freunden und Kollegen bewegen.« »Sie wollte in englischer Literatur promovieren«, gab ich zu bedenken. »Ich hab keinen Schimmer von englischer Literatur, Frank. Schön,
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ich hatte eine Eins im Abschlusszeugnis, aber das war’s. Ich beherrsche den Fachjargon nicht.« Frank zuckte die Achseln. »Lexie auch nicht, soweit wir wissen, und sie hat es hingekriegt. Wenn sie das kann, kannst du es auch. Eigentlich haben wir da schon wieder Glück: Sie hätte Pharmazie studieren können oder Maschinenbau. Und wenn du mit ihrer Diss kein bisschen weiterkommst, he, was sollen sie erwarten? Makabrerweise kommt uns da die Stichwunde gelegen: Wir könnten dir ein posttraumatisches Stresssyndrom verpassen, Amnesie, ganz wie wir wollen.« »Hat sie einen Freund?« Ich bin ja bereit, viel für einen Job zu tun, aber nicht alles. »Nein, deine Tugend ist nicht in Gefahr. Und da ist noch was, was wir nützen können. Du hast ja die Fotos gesehen. Unser Mädel hatte ein Videohandy, und offenbar haben die fünf es als gemeinsamen Camcorder benutzt. Die Bildqualität ist nicht überragend, aber die Speicherkarte ist gigantisch und voll mit Clips – sie und ihre Freunde bei 139
netten Abenden, beim Picknicken, beim Einzug ins neue Haus, beim Renovieren, alles. Du hast also eine praktische Anleitung für ihre Stimme, ihre Körpersprache, Eigenheiten, ihren Umgang mit den anderen – alles, was dein Herz begehrt. Und du bist gut, Cassie. Du bist undercover sogar erste Sahne. Wenn man das alles zusammennimmt, würde ich sagen, wir haben eine ziemlich gute Chance, das Ding durchzuziehen.« Er kippte sein Glas steil nach oben, um die letzten Tropfen zu erwischen, und griff dann nach seiner Jacke. »War schön, mit dir zu quatschen, Kleines. Du hast meine Handynummer. Sag mir Bescheid, wenn du dich wegen morgen Abend entschieden hast.« Und er ging. Erst als sich die Tür hinter ihm schloss, wurde mir klar, was für Fragen mir rausgerutscht waren, zu ihrer Promotion, ob sie einen Freund hatte, als würde ich den Plan auf Schwachstellen überprüfen; als würde ich mit dem Gedanken spielen, es zu tun. 140
Frank hatte schon immer die Gabe, genau zu wissen, wann er eine Sache erst mal ruhen lassen sollte. Nachdem er gegangen war, saß ich lange auf der Fensterbank, starrte hinaus über die Dächer, ohne sie zu sehen. Erst als ich aufstand, um mir noch ein Glas Wein zu holen, sah ich, dass er etwas auf meinem Couchtisch liegen gelassen hatte. Es war das Foto von Lexie und ihren Freunden vor Whitethorn House. Ich stand da, die Weinflasche in der einen Hand, das Glas in der anderen, und erwog, es umzudrehen und liegen zu lassen, bis Frank aufgab und es wieder abholte; erwog für einen Moment, es im Aschenbecher zu verbrennen. Dann nahm ich es und ging damit zur Fensterbank. Sie hätte mein Alter haben können. Sie hatte sich als Sechsundzwanzigjährige ausgegeben, aber sie hätte auch neunzehn sein können oder dreißig. Sie hatte keinen einzigen Makel im Gesicht, keine 141
Falte oder Narbe, keinen Pickel. Was immer das Leben ihr beschert hatte, ehe Lexie Madison ihr in den Schoß gefallen war, es war über sie hinweggerollt und verflogen wie Dunst, und sie war unangetastet und makellos geblieben, versiegelt ohne einen Riss. Ich sah älter aus als sie: Der Knocknaree-Fall hatte mir meine ersten Falten um die Augen beschert und Schatten darunter, die auch dann nicht weggingen, wenn ich gut geschlafen hatte. Ich konnte Frank förmlich hören: Du hast jede Menge Blut verloren und tagelang im Koma gelegen, die Ringe unter den Augen sind perfekt, benutz bloß keine Nachtcreme. Ihre Mitbewohner rechts und links von ihr betrachteten mich, gelassen und lächelnd, lange, dunkle, wallende Mäntel, Rafes Schal ein knallroter Fleck. Die Aufnahme war leicht schief. Sie hatten die Kamera auf irgendetwas draufgestellt, den Selbstauslöser benutzt. Auf der anderen Seite stand kein Fotograf, der sie aufforderte zu lachen. Das Lächeln auf ihren Lippen war etwas ganz Pri142
vates, nur füreinander bestimmt, für ihr zukünftiges Selbst, wenn sie sich auf dem Foto sahen, für mich. Und hinter ihnen, fast das ganze Foto ausfüllend, Whitethorn House. Es war ein schlichtes Haus: breit und grau, im Stil der Jahrhundertwende, dreigeschossig, mit Schiebefenstern, die nach oben hin kleiner wurden, um die Illusion von noch mehr Höhe zu erzeugen. Die Tür war tiefblau, die Farbe blätterte großflächig ab. Steintreppen führten von beiden Seiten zu ihr hinauf. Drei gerade Reihen Schornsteine, dicke Efeuranken, die sich an den Mauern bis fast zum Dach hinaufreckten. Die Tür hatte kannelierte Säulen und ein Oberlicht in Form eines Pfauenrads, aber abgesehen davon gab es keine Verzierungen – bloß das Haus. Die Leidenschaft dieses Landes für Haus- und Grundbesitz steckt den Menschen tief im Blut, eine Triebkraft so gewaltig und ursprünglich wie Begierde. Wer jahrhundertelang hilflos den Launen von Vermietern ausgeliefert war und auf die 143
Straße gesetzt wurde, hat gelernt, dass das Wichtigste im Leben die eigenen vier Wände sind. Aus diesem Grund sind die Hauspreise auch so, wie sie sind: Immobilieninvestoren wissen, dass sie Unsummen für eine verkommene Zweizimmerwohnung verlangen können. Wenn sie sich zusammenschließen und dafür sorgen, dass es keine Alternative gibt, verkaufen die Iren notfalls eine Niere, schuften hundert Stunden die Woche und bezahlen. Irgendwie – vielleicht weil in meinen Adern auch französisches Blut fließt – fehlt mir dieses Gen. Der Gedanke, eine Hypothek am Hals zu haben, macht mich nervös. Ich bin froh, dass meine Wohnung gemietet ist, vier Wochen Kündigungsfrist und ein paar Mülltüten, und ich bin weg, wann ich will. Aber wenn ich je ein Haus hätte haben wollen, dann so eins wie das auf dem Foto. Es hatte nichts gemein mit den charakterlosen Möchtegernhäusern, die alle meine Freunde sich kauften, mickrige Schuhkartons irgendwo am Arsch der Welt, die 144
mit hochtrabenden Euphemismen angepriesen werden (»Individuelles ArchitektenEinfamilienhaus in topmoderner Luxuswohnlage«), das Zwanzigfache deines Jahreseinkommens kosten und gerade mal so lange halten, bis der Makler sie losgeworden ist. Das Haus hier war etwas Reelles, ein solides Ich-versteh-keinenSpaß-Haus, mit so viel Stärke und Stolz und Anmut, dass es jeden überdauern würde, der es sah. Winzige tanzende Schneeflocken verschleierten den Efeu und hingen in den dunklen Fenstern, und die Stille, die es verströmte, war so immens, dass ich das Gefühl hatte, die Hand einfach durch die glänzende Oberfläche des Fotos und hinein in seine kühlen Tiefen stecken zu können. Ich könnte herausbekommen, wer die Frau war und was mit ihr passiert war, ohne das Haus je zu betreten. Sam würde es mir erzählen, wenn sie sie identifiziert hatten oder jemanden als Täter verdächtigten. Wahrscheinlich würde er mich sogar beim Verhör zuschauen lassen. Aber ganz tief in 145
meinem Innern wusste ich, dass er eben nur das je finden würde, ihren Namen und den Mörder, und dass ich mir über alles andere bis an mein Lebensende den Kopf zerbrechen würde. Das Haus schimmerte in meinen Gedanken wie ein Feenschloss, das einem nur ein einziges Mal im Leben erschien, betörend und verheißungsvoll, mit diesen vier coolen Gestalten als Wächter und mit verborgenen Geheimnissen, die zu nebelhaft waren, um sie benennen zu können. Mein Gesicht war der einzige Passierschein, der die Tür entriegeln konnte. Whitethorn House wartete nur darauf, sich in Windeseile in nichts aufzulösen, sobald ich nein sagte. Ich merkte, dass das Foto nicht mal zehn Zentimeter vor meiner Nase war. Es wurde dunkel, so lange saß ich schon da, und die Eulen machten ihre Aufwärmübungen über der Decke. Ich trank den Wein aus und sah das Meer gewittergrau werden, das Blinken des Leuchtturms fern am Horizont. Als ich meinte, betrunken genug zu sein, um 146
mir nichts aus seiner hämischen Freude zu machen, simste ich Frank: Wie viel Uhr ist die Besprechung? Mein Handy piepste zehn Sekunden später: Punkt 7, bis dahin. Er hatte sein Handy griffbereit gehabt, auf mein Ja gewartet. Am Abend stritten Sam und ich uns zum ersten Mal. Wahrscheinlich war das überfällig, schließlich hatten wir in den drei Monaten, die wir zusammen waren, nicht mal eine harmlose Meinungsverschiedenheit gehabt, aber der Zeitpunkt hätte übler nicht sein können. Die Beziehung zwischen Sam und mir begann ein paar Monate nachdem ich das Morddezernat verlassen hatte. Ich weiß nicht genau, wie das passierte. Ich kann mich an vieles aus dieser Zeit nicht mehr erinnern. Offenbar hatte ich mir ein paar richtig triste Pullover gekauft, so welche, die man nur trägt, wenn man sich im Grunde bloß für einige Tage im Bett verkriechen will, was mich gelegentlich zu der Frage brachte, wie klug eine 147
Beziehung sein konnte, die ich im selben Zeitraum eingegangen war. Sam und ich waren uns in der SOKO Vestalin nähergekommen, blieben uns nahe, nachdem die Mauern eingestürzt waren – solche Alptraumfälle bewirken das bei einem, das oder das Gegenteil –, und ehe der Fall zu Ende war, hatte ich längst erkannt, dass Sam Gold wert war, aber eine Beziehung, egal, mit wem, war das Letzte, was ich im Sinn hatte. Er kam gegen neun. »Hi, du«, sagte er, gab mir einen Kuss und umarmte mich fest. Seine Wange war kalt vom Wind draußen. »Was riecht denn hier so gut?« Die Wohnung roch nach Tomaten und Knoblauch und Kräutern. Eine komplizierte Soße köchelte auf dem Herd, und ich hatte Wasser aufgesetzt und eine Packung Ravioli bereitgelegt, getreu dem Prinzip, an das sich Frauen seit Anbeginn der Zeit halten: Wenn du ihm etwas zu sagen hast, was er nicht hören will, sorge für Essen. »Ich spie-
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le Hausfrau«, sagte ich zu ihm. »Ich hab geputzt und alles. Hi, Schatz, wie war dein Tag?« »Ah, klar«, sagte Sam vage. »Irgendwann kommen wir noch dahin.« Als er seinen Mantel auszog, fiel sein Blick auf den Couchtisch: Weinflaschen, Korken, Gläser. »Kriegst du hinter meinem Rücken Herrenbesuch?« »Frank«, sagte ich. »Alles andere als ein feiner Herr.« Das Lachen wich aus Sams Gesicht. »Oh«, sagte er. »Was wollte er?« Ich hatte gehofft, bis nach dem Essen damit warten zu können. Dafür, dass ich Detective bin, lässt mein Spurenbeseitigungsgeschick sehr zu wünschen übrig. »Er möchte, dass ich morgen Abend zu eurer Fallbesprechung komme«, sagte ich, so beiläufig ich konnte, während ich zur Kochnische ging, um nach dem Knoblauchbrot zu sehen. »Er ist nicht gleich mit der Sprache rausgerückt, aber darum ging’s ihm.«
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Langsam faltete Sam seinen Mantel zusammen, legte ihn über die Rückenlehne des Sofas. »Was hast du gesagt?« »Ich habe gründlich drüber nachgedacht«, sagte ich. »Ich möchte hingehen.« »Er hatte kein Recht dazu«, sagte Sam leise. Oben an seinen Wangenknochen verfärbte sich die Haut rot. »Hinter meinem Rücken herzukommen, Druck auf dich auszuüben, wo ich nicht da war, um –« »Ich hätte mich genauso entschieden, wenn du hier gewesen wärest«, sagte ich. »Ich bin schon groß, Sam. Ich muss nicht beschützt werden.« »Ich mag den Burschen nicht«, sagte Sam scharf. »Ich mag seine Denkweise nicht, und ich mag seine Arbeitsweise nicht.« Ich knallte die Backofenklappe zu. »Er will diesen Fall lösen. Mag ja sein, dass dir seine Methoden nicht passen –« Sam strich sich eine Haarsträhne aus den Augen, heftig, mit dem Unterarm. »Nein«, sagte er. 150
»Nein, darum geht’s ihm nicht. Es geht ihm nicht darum, den Fall zu lösen. Der Fall geht diesen Mackey absolut nichts an, genau wie jeder andere Mordfall, an dem ich je gearbeitet habe, und wenn ich mich recht entsinne, ist er bei keinem von denen aufgetaucht und hat links und rechts die Fäden gezogen, um mit von der Partie zu sein. Er ist hier, weil es ihn reizt, deshalb. Er denkt, das wird ein Riesenspaß – dich mitten in eine Gruppe von Mordverdächtigen einzuschleusen, nur weil er es kann, und dann abzuwarten, was passiert. Der Mann ist völlig irre.« Ich nahm Teller aus dem Schrank. »Und wenn schon. Ich geh doch nur zu einer Besprechung. Was ist denn daran so schlimm?« »Dass der Spinner dich benutzt, das ist so schlimm. Du bist nicht mehr du selbst seit der Sache letztes Jahr –« Bei den Worten durchfuhr mich etwas, wie ein schneller, heftiger Stromstoß, als hätte ich an einen Elektrozaun gefasst. Ich wirbelte zu ihm he151
rum, vergaß völlig das Essen, hätte Sam die Teller am liebsten an den Kopf geworfen. »Oh nein. Lass das, Sam. Bring das jetzt nicht mit ins Spiel.« »Das hat dein Freund Mackey längst getan. Ein Blick auf dich hat genügt, und er wusste, dass irgendwas im Busch war, hat sich gedacht, dass er kein Problem haben würde, dich dazu zu bringen, bei seiner wahnsinnigen Idee mitzumachen –« Besitzergreifender ging es wohl nicht, wie er so dastand, mitten in meiner Wohnung, breitbeinig und die Fäuste wütend in die Taschen gerammt: mein Fall, meine Frau. Ich knallte die Teller auf die Arbeitsplatte. »Es interessiert mich einen Scheißdreck, was er sich gedacht hat oder nicht, und ich lasse mich von ihm zu gar nichts bringen. Das hier hat nichts damit zu tun, was Frank will – es hat nichts mit Frank zu tun, basta. Klar hat er versucht, mich zu bedrängen. Ich hab ihm eine Abfuhr erteilt.« »Du machst genau, was er von dir will. Ihm eine Abfuhr erteilen sieht ja wohl anders aus.« 152
Eine verrückte Sekunde lang fragte ich mich, ob er tatsächlich eifersüchtig auf Frank sein könnte, und falls ja, was zum Teufel ich dagegen tun sollte. »Und wenn ich nicht zu der Besprechung gehe, mache ich genau, was du von mir willst. Heißt das dann, dass ich mich von dir manipulieren lasse? Ich habe beschlossen, da morgen hinzugehen. Glaubst du, ich kann das nicht allein entscheiden? Herrgott nochmal, Sam, die Sache letztes Jahr hat mich nicht hirnamputiert!« »Das hab ich auch nicht gesagt. Ich sage bloß, du bist nicht mehr du selbst seit –« »Das hier bin ich selbst, Sam. Sieh genau hin: Das hier bin ich selbst, verdammt nochmal. Ich war schon Jahrevor dem Knocknaree-Fall undercover. Also halt den da raus.« Wir starrten uns an. Nach einem Moment sagte Sam leise: »Ja. Ja, hast ja recht.« Er ließ sich aufs Sofa fallen und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Plötzlich sah er völlig geschafft aus, und bei dem Gedanken, wie sein 153
Tag gewesen war, empfand ich einen schmerzlichen Stich. »Tut mir leid«, sagte er. »Dass ich davon angefangen habe.« »Ich will nicht mit dir streiten«, sagte ich. Mir zitterten die Knie, und ich hatte keine Ahnung, wie wir darüber hatten in Streit geraten können, wo wir doch eigentlich auf derselben Seite standen. »Lass es … einfach gut sein, okay? Bitte, Sam, tu mir den Gefallen.« »Cassie«, sagte Sam. Sein rundes, freundliches Gesicht hatte einen gequälten Ausdruck, der nicht dahingehörte. »Ich schaff das nicht. Was, wenn … Gott. Wenn dir was passiert? In einem Fall, für den ich zuständig bin, mit dem du nichts zu tun hattest? Weil ich den Täter nicht schnappen konnte. Damit kann ich nicht leben. Ich kann nicht.« Er klang atemlos, erschöpft. Ich wusste nicht, ob ich ihn in die Arme nehmen oder treten sollte. »Wie kommst du darauf, dass diese Sache nichts mit mir zu tun hat?«, fragte ich. »Die Frau ist meine Doppelgängerin, Sam. Die Frau ist mit 154
meinem Gesicht herumspaziert, Menschenskind. Woher willst du wissen, dass der Täter die Richtige erwischt hat? Überleg doch mal. Eine Doktorandin, die sich alles von Charlotte Brontë reinzieht, oder eine Polizistin, die zig Leute in den Knast gebracht hat: Bei welcher von beiden ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass irgendwer sie umbringen will?« Schweigen entstand. Sam war auch in der SOKO Vestalin gewesen. Wir beide kannten wenigstens eine Person, die mich liebend gern und ohne mit der Wimper zu zucken hätte umbringen lassen und der durchaus zuzutrauen war, dass sie die Sache in die Wege leitete. Ich spürte mein Herz klopfen, hart und hoch unter den Rippen. Sam sagte: »Glaubst du etwa –« »Es geht hier nicht um einzelne Fälle«, sagte ich zu schroff. »Es geht darum, dass ich längst bis zum Hals in der Sache drinstecken könnte. Und ich will nicht für den Rest meines Lebens ständig hinter mich gucken. Damit kann ich nicht leben.« 155
Er zuckte zusammen. »Es wäre nicht für den Rest deines Lebens«, sagte er. »Ich hoffe, wenigstens das kann ich dir versprechen. Ich habe nämlich vor, den Täter zu schnappen, weißt du.« Ich lehnte mich gegen die Arbeitsplatte und holte Luft. »Ich weiß, Sam«, sagte ich. »Tut mir leid. So hab ich das nicht gemeint.« »Falls er es, Gott bewahre, auf dich abgesehen hat, dann solltest du dich erst recht raushalten und mir die Sache überlassen.« Der freundliche Essensduft hatte eine beißende, gefährliche Note angenommen: Irgendetwas war angebrannt. Ich stellte den Herd aus, schob die Töpfe nach hinten – uns beiden war ohnehin erst mal der Appetit vergangen – und setzte mich im Schneidersitz aufs Sofa, Sam zugewandt. »Du behandelst mich wie deine Freundin, Sam«, sagte ich. »Ich bin nicht deine Freundin, nicht in so einer Situation. Da bin ich Detective wie alle anderen.«
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Er schenkte mir ein trauriges, schiefes kleines Lächeln. »Könntest du nicht beides sein?« »Ich hoffe es«, sagte ich. Ich wünschte, ich hätte den Wein nicht ausgetrunken. Dieser Mann brauchte etwas Alkoholisches. »Ich hoffe es wirklich. Aber nicht so.« Nach einer Weile atmete Sam lange aus, ließ den Kopf nach hinten gegen die Lehne sinken. »Du willst also mitmachen«, sagte er. »Bei Mackeys Plan.« »Nein«, sagte ich. »Ich will bloß mehr über diese Tote wissen. Deshalb hab ich gesagt, dass ich zu der Besprechung komme. Das hat nichts mit Frank und seiner spinnerten Idee zu tun. Ich will einfach mehr über sie erfahren.« »Wieso?«, fragte Sam. Er setzte sich auf und nahm meine beiden Hände, zwang mich, ihn anzusehen. Seine Stimme klang rau, irgendwie frustriert und fast flehend. »Was hat sie mit dir zu tun? Sie ist nicht mit dir verwandt, keine Freundin von dir, nichts. Sie ist purer Zufall, mehr nicht, Cassie. 157
Irgendeine junge Frau, die auf der Suche nach einem neuen Leben war und der sich zufällig die perfekte Chance bot.« »Ich weiß«, sagte ich. »Ich weiß, Sam. Sie scheint nicht mal besonders sympathisch gewesen zu sein. Wenn wir uns kennengelernt hätten, hätte ich sie wahrscheinlich nicht leiden können. Genau darum geht’s. Ich will nicht, dass sie mir im Kopf herumspukt. Ich will mir keine Gedanken über sie machen. Ich hoffe, wenn ich genug über sie herausfinde, kann ich die ganze Sache abhaken und vergessen, dass es sie je gegeben hat.« »Ich habe einen Doppelgänger«, sagte Sam. »Er lebt in Wexford, er ist Ingenieur, und mehr weiß ich nicht über den Mann. Etwa einmal im Jahr quatscht mich irgendeiner an und sagt, ich wäre ihm zum Verwechseln ähnlich – die Hälfte von denen nennt mich sogar Brendan. Dann lachen wir, manchmal macht einer mit seinem Handy ein Foto von mir, um es ihm zu zeigen, und damit hat es sich.« 158
Ich schüttelte den Kopf. »Das ist was anderes.« »Inwiefern?« »Er wurde zum Beispiel nicht ermordet.« »Ich wünsch dem Mann nichts Böses«, sagte Sam, »aber es wär mir egal, wenn er ermordet würde. Solange ich nicht mit dem Fall betraut würde, wäre er nicht mein Problem.« »Die Tote ist mein Problem«, sagte ich. Sams Hände um meine waren groß und warm und fest, und die Haare fielen ihm in die Stirn wie immer, wenn er besorgt war. Es war ein Samstagabend im Frühling; eigentlich hätten wir an irgendeinem Strand spazieren gehen sollen, umgeben von Dunkelheit und Wellen und Brachvögeln, oder irgendein neues Rezept zum Abendessen kochen und die Musik zu laut aufdrehen oder in einer stillen Ecke in einem dieser seltenen, abgelegenen Pubs sitzen, wo die Gäste nach der Sperrstunde noch Balladen singen. »Ich wünschte, sie wäre es nicht, aber sie ist es.«
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»Irgendwas an der Sache«, sagte Sam, »will mir einfach nicht in den Kopf.« Er hatte unsere Hände auf meine Knie sinken lassen und blickte mit finsterer Miene darauf, während er in einem stetigen, automatischen Rhythmus mit dem Daumen um meine Knöchel fuhr. »Ich sehe da nichts anderes als einen stinknormalen Mordfall, verbunden mit einem Zufall, der jedem passieren könnte. Klar, ich war auch geschockt, als ich die Tote sah, aber nur weil ich dachte, du wärst es. Sobald das geklärt war, dachte ich, jetzt geht alles wieder seinen normalen Gang. Aber du und Mackey führt euch beide auf, als würde die Frau euch irgendwas bedeuten, als wäre es was Persönliches. Was entgeht mir da?« »In gewisser Weise«, sagte ich, »ist es was Persönliches, ja. Für Frank ist es teilweise genau das, was du vermutest – er hält das Ganze für ein großes, tolles Abenteuer. Aber das ist nicht alles. Lexie Madison war am Anfang seine Verantwortung, sie war in den acht Monaten, die ich undercover 160
war, seine Verantwortung, sie ist jetzt seine Verantwortung.« »Aber die Frau ist nicht Lexie Madison. Sie ist eine Identitätsdiebin. Ich könnte morgen früh ins Betrugsdezernat gehen und würde zig mehr von ihrer Sorte finden. Es gibt keine Lexie Madison. Du und Mackey habt sie erfunden.« Seine Hände schlossen sich fester um meine. »Ich weiß«, sagte ich. »Darum geht’s ja eigentlich.« Sams Mundwinkel zuckte. »Ich sag’s ja. Der Mann ist irre.« Ich sah das nicht unbedingt anders als er. In meinen Augen lag Franks legendäre Furchtlosigkeit auch darin begründet, dass es ihm eigentlich nie richtig gelungen war, einen Bezug zur Realität herzustellen. Für ihn ist jede Operation wie eine von diesen Kriegsspielchen des Pentagons, nur noch cooler, weil mehr auf dem Spiel steht und die Ergebnisse greifbar und nachhaltig sind. Weil die Bruchlinie so dünn ist und weil er so clever ist, 161
kommt sie nie deutlich zum Vorschein. Aber obwohl er jeden Aspekt abdeckt und jede Situation wunderbar und eiskalt unter Kontrolle behält, glaubt ein Teil von ihm im Grunde, dass er von Sean Connery gespielt wird. Ich sah das, weil ich es wiedererkannte. Mein eigener Grenzzaun zwischen real und nicht real war nie besonders gut. Meine Freundin Emma, bei der Dinge immer einen klaren Sinn ergeben müssen, meint, das liege daran, dass ich beim Tod meiner Eltern noch zu klein war, um es richtig zu begreifen: Sie waren von einem auf den anderen Tag nicht mehr da, krachten mit solcher Wucht und so schnell durch diesen Zaun, dass das Holz für immer gesplittert blieb. Als ich acht Monate lang Lexie Madison war, wurde sie für mich zu einer realen Person, einer Schwester, die ich verloren oder unterwegs zurückgelassen hatte; ein Schatten irgendwo in mir, wie die Schatten von verlorenen Zwillingen, die ganz selten mal auf den Röntgenbildern von Leuten auftauchen. Noch ehe 162
sie zurückkam, um mich zu finden, wusste ich, dass ich ihr etwas schuldete, weil ich diejenige war, die lebte. So etwas wollte Sam wahrscheinlich nicht hören; er musste schon genug Verrücktes verdauen, da wollte ich ihm nicht noch mehr auftischen. Stattdessen – etwas Besseres fiel mir nicht ein – versuchte ich, ihm von der Undercoverarbeit zu erzählen. Ich erzählte ihm, dass deine Sinne nie wieder ganz dieselben sind, dass Farben so grell werden, dass sie sich einbrennen, und die Luft hell und rauschhaft schmeckt, wie dieser Likör, in dem winzige Goldblättchen schwimmen; dass dein Gang sich verändert, dein Gleichgewichtssinn fein austariert wird wie bei einem Surfer, wenn du jede Sekunde auf dem rasenden Grat einer gefährlichen Welle verbringst. Ich erzählte ihm, dass ich danach nie wieder mit meinen Freunden einen Joint geraucht oder in einem Club Ecstasy genommen hatte, weil kein Rausch je daran heranreichte. Ich erzählte ihm, wie verdammt gut ich gewesen war, 163
ein Naturtalent, besser, als ich im DHG in einer Million Jahre sein würde. Als ich fertig war, blickte Sam mich mit einer besorgten kleinen Furche zwischen den Augenbrauen an. »Was willst du damit sagen?«, fragte er. »Willst du damit sagen, dass du vorhast, dich wieder zur Undercoverarbeit versetzen zu lassen?« Er hatte die Hände von meinen genommen. Ich sah ihn an, wie er da am anderen Ende des Sofas saß, die Haare an einer Seite zerzaust, und mich forschend anstarrte. »Nein«, sagte ich, »will ich nicht«, und konnte zusehen, wie sich sein Gesicht erleichtert entspannte. »Absolut nicht.«
Aber ich habe Sam nicht alles erzählt: Undercovercops passieren schlimme Dinge. Einige werden getötet. Die meisten verlieren Freunde, Ehepartner, Beziehungspartner. Ein paar verwildern sozusagen, wechseln ganz allmählich die Seiten und merken es erst, wenn es zu spät ist, bis sie schließ164
lich diskret in den Vorruhestand geschickt werden. Manche, und nie diejenigen, bei denen man es erwarten würde, verlieren die Nerven – ohne Vorwarnung, sie wachen einfach eines Morgens auf und begreifen mit einem Schlag, was sie da machen, und sie erstarren wie Seiltänzer, die nach unten geschaut haben. Zum Beispiel ein gewisser McMall: Er war in eine Splittergruppe der IRA eingeschleust worden, und kein Mensch hätte gedacht, dass er überhaupt wusste, was Angst ist, bis er eines Abends aus einer Gasse neben einem Pub anrief. Er könne nicht mehr da reingehen, sagte er, und er könne auch nicht weggehen, weil seine Beine zu stark schlotterten. Er weinte. Kommt mich holen, sagte er, ich will nach Hause. Als ich ihn kennenlernte, arbeitete er im Archiv. Und einige schlagen den anderen Weg ein, den tödlichsten Weg von allen: Wenn der Druck zu groß wird, verlieren sie nicht die Nerven, sondern jede Furcht. Sie können keine Angst mehr empfinden, nicht mal dann, wenn sie sollten. Diese Menschen 165
können nie wieder nach Hause. Sie sind wie jene Flieger im Ersten Weltkrieg, die besten, strahlende Draufgänger und unbesiegbar, die nach Hause kamen und feststellen mussten, dass es dort keinen Raum gab für das, was sie geworden waren. Manche Menschen sind Undercovercops bis ins innerste Mark; der Job hat von ihnen Besitz ergriffen. Ich hatte nie Angst davor, getötet zu werden, und ich hatte nie Angst davor, die Nerven zu verlieren. Meine Art von Mut ist am verlässlichsten, wenn es richtig brenzlig wird. Es sind andere Gefahren, kompliziertere und heimtückischere, die mich erschüttern. Aber die anderen Möglichkeiten, die machten mir Sorgen. Frank hat einmal zu mir gesagt – und ich weiß nicht, ob er recht hat oder nicht, und auch das habe ich Sam nicht erzählt –, dass die besten Undercovercops alle einen dunklen Faden in sich eingewebt haben, irgendwo.
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3 Am Sonntagabend fuhren Sam und ich also zur Dubliner Burg, um bei Franks Kriegsrat dabei zu sein. In der Dubliner Burg ist das Morddezernat untergebracht. Ich hatte meinen Schreibtisch dort im Herbst an einem anderen langen kühlen Abend geräumt, hatte meine Unterlagen ordentlich gestapelt und jeden Stapel mit einem Post-it etikettiert, hatte die Cartoons, die an meinem Computer klebten, ebenso weggeworfen wie die angekauten Stifte und alten Weihnachtskarten und muffig gewordenen M&Ms in meinem Schreibtisch, hatte das Licht ausgemacht und die Tür hinter mir geschlossen. Sam holte mich ab. Er war sehr still. Am Morgen war er früh aufgestanden und zur Arbeit gefahren, so früh, dass es in der Wohnung noch dunkel war, als er sich zu mir beugte, um mir zum Abschied einen Kuss zu geben. Ich fragte ihn nicht nach dem Fall. Wenn er irgendetwas Gutes 167
gefunden hätte, selbst die schwächste Spur, hätte er es mir erzählt. »Lass dich von Mackey bloß nicht drängen«, sagte er im Auto. »Zu irgendwas, was du nicht willst.« »Ach komm«, sagte ich. »Wann hab ich mich je von irgendwem zu irgendwas drängen lassen?« Sam stellte den Rückspiegel ein, bedächtig. »Ja«, sagte er. »Ich weiß.« Als er die Tür öffnete, schlug mir der Geruch des Gebäudes entgegen wie ein Schrei: ein alter, schwer fassbarer Geruch, Feuchtigkeit und Rauch und Zitrone, kein Vergleich zu dem aseptisch riechenden DHG in dem neuen Gebäude im Phoenix Park. Ich hasse Nostalgie, sie ist für mich Faulheit mit hübscherem Beiwerk, aber bei jedem Schritt traf mich irgendetwas mitten in den Bauch: Ich, wie ich mit einem Packen Akten in jeder Hand und einem Apfel zwischen den Zähnen die Treppe heruntergelaufen komme; mein Partner und ich, wie wir uns draußen vor der Tür des Verhörraums 168
abklatschen, nachdem wir unser erstes Geständnis bekommen haben; wir beide, wie wir auf dem Flur mit vereinten Kräften auf den Superintendent einreden, jeder in ein Ohr, uns doch bitte mehr Überstunden zu genehmigen. Mir schien, die Gänge hätten von Escher sein können, alle Wände neigten sich fast unmerklich, schwindelerregend, aber wie genau, konnte ich nicht sagen, weil ich meine Augen einfach nicht richtig klar bekam. »Wie fühlst du dich?«, fragte Sam leise. »Ausgehungert«, sagte ich. »Wessen Idee war das, sich zur Abendessenszeit zu treffen?« Sam schmunzelte erleichtert und drückte kurz meine Hand. »Wir haben noch keinen SOKORaum«, sagte er. »Bis wir entschieden haben … na, wie wir die Sache machen, von wo aus wir arbeiten.« Dann öffnete er die Tür zum Großraumbüro des Morddezernats. Frank saß rittlings auf einem Stuhl am Ende des Raumes, vor der großen Tafel, und alle seine Beteuerungen, es ginge nur um einen zwanglosen 169
Plausch zwischen ihm und mir und Sam, entpuppten sich als blanker Unfug. Cooper, der Gerichtsmediziner, und O'Kelly, der Superintendent des Morddezernats, saßen auf gegenüberliegenden Seiten des Raumes an Schreibtischen, die Arme verschränkt, beide mit identischer gereizter Miene. Normalerweise hätte ich das lustig gefunden – Cooper sieht aus wie ein Reiher und O'Kelly wie eine Bulldogge mit überkämmter Halbglatze –, doch stattdessen beschlich mich ein sehr ungutes Gefühl. Cooper und O'Kelly können einander nicht ausstehen. Um sie für noch so kurze Zeit in ein und denselben Raum zu kriegen, sind eine gehörige Portion Überredungskunst und etliche Flaschen ziemlich guten Weins vonnöten. Frank hatte sämtliche Register gezogen, um beide herzulocken. Sam warf mir einen misstrauischen, warnenden Blick zu. Damit hatte auch er nicht gerechnet. »Maddox«, sagte O'Kelly, und es gelang ihm, es gekränkt klingen zu lassen. O'Kelly hatte nie 170
etwas mit mir anfangen können, als ich noch im Morddezernat war, aber kaum hatte ich die Versetzung beantragt, verwandelte ich mich irgendwie in den undankbaren Schützling, der Jahre aufopfernder Förderung verächtlich von sich wies und sich ins DHG verkrümelte. »Wie ist das Leben in der zweiten Liga?« »Das Paradies ist nichts dagegen, Sir«, sagte ich. Wenn ich angespannt bin, werde ich schnippisch. »Abend, Dr. Cooper.« »Immer ein Vergnügen, Detective Maddox«, sagte Cooper. Er ignorierte Sam. Cooper kann auch Sam nicht ausstehen und so gut wie jeden anderen. Bisher hatte ich bei ihm noch einen Stein im Brett, aber wenn er dahinterkam, dass ich mit Sam liiert war, würde ich mit Lichtgeschwindigkeit auf seiner Weihnachtskartenliste nach unten sausen. »Im Morddezernat«, sagte O'Kelly und bedachte meine kaputte Jeans mit einem angewiderten Blick – aus irgendeinem Grund hatte ich mich 171
nicht durchringen können, meine hübschen neuen Präsentables-Image-Klamotten anzuziehen, nicht hierfür – »können sich zumindest die meisten eine anständige Garderobe leisten. Wie geht’s Ryan?« Ich war nicht sicher, ob die Frage gehässig gemeint war. Rob Ryan war mein Partner gewesen, im Morddezernat. Ich hatte ihn länger nicht gesehen. Ich hatte auch O'Kelly oder Cooper länger nicht gesehen, nicht mehr seit meiner Versetzung. Das ging mir hier alles zu schnell und unkontrolliert. »Schickt Gruß und Kuss«, sagte ich. »Hab ich mir irgendwie gedacht«, sagte O'Kelly und kicherte in Sams Richtung, der den Blick abwandte. Das Großraumbüro bietet zwanzig Leuten Platz, aber es herrschte Sonntagabendleere: Computer ausgeschaltet, Schreibtische übersät mit Papierkram und Imbisspackungen – die Putzkolonne kommt erst Montagmorgen. Ganz hinten in der Ecke am Fenster standen die Schreibtische, an denen Rob und ich gesessen hatten, noch immer im 172
rechten Winkel zueinander, so, wie wir es mochten, um Schulter an Schulter arbeiten zu können. Irgendein anderes Team, vielleicht die Neulinge, die uns ersetzten, hatte sie übernommen. Wer immer jetzt an meinem Schreibtisch saß, hatte ein Kind – ein kleiner Junge mit fehlenden Vorderzähnen grinste auf einem Foto in Silberrahmen –, und auf dem Tisch lag ein Stapel Zeugenaussagen, über den die Sonne fiel. Sie hatte mir immer in die Augen geschienen, um diese Tageszeit. Ich hatte Mühe zu atmen: Die Luft kam mir zu zäh vor, beinahe fest. Eine von den Neonröhren war kurz davor, den Geist aufzugeben, was dem Raum eine flimmernde, epileptische Atmosphäre verlieh, wie aus einem Fiebertraum. Einige von den dicken Ordnern, die auf den Aktenschränken aufgereiht waren, trugen noch immer meine Handschrift auf den Rückenschildern. Sam zog seinen Stuhl an seinen Schreibtisch und blickte mich mit einer schwachen Furche zwischen den Brauen an, aber er sagte nichts, wofür ich dankbar war. Ich 173
konzentrierte mich auf Franks Gesicht. Er hatte Ringe unter den Augen, und er hatte sich beim Rasieren geschnitten, doch er wirkte hellwach, aufmerksam und energiegeladen. Er freute sich sichtlich auf die Besprechung. Er sah, dass ich ihn beobachtete. »Froh, wieder hier zu sein?« »Ganz verzückt«, sagte ich. Ich fragte mich plötzlich, ob er mich mit Absicht in diesen Raum gelockt hatte, weil er wusste, dass es mir an die Nieren gehen könnte. Ich warf meinen Rucksack auf einen Schreibtisch – den von Costello, ich erkannte die Handschrift auf den Unterlagen –, lehnte mich an die Wand und schob die Hände in die Jackentaschen. »So gesellig unsere Runde auch sein mag«, sagte Cooper und rückte noch ein Stückchen weiter von O'Kelly weg, »ich für meinen Teil wäre hocherfreut, wenn wir zur Sache kommen könnten.«
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»In Ordnung«, sagte Frank. »Der Fall Madison – das heißt, der Fall Unbekannte alias Madison. Wie heißt der offiziell?« »SOKO Spiegel«, sagte Sam. Offenbar hatte es sich bis ins Präsidium rumgesprochen, wie das Opfer aussah. Na toll. Ich fragte mich, ob es zu spät war, meine Meinung zu ändern, nach Hause zu fahren und eine Pizza zu bestellen. Frank nickte. »Dann also SOKO Spiegel. Es sind drei Tage vergangen, und wir haben keine Verdächtigen, keine Spuren und keine Identifizierung. Wie Sie alle wissen, ist es meiner Meinung nach Zeit, einen anderen Kurs einzuschlagen –« »Immer langsam mit den jungen Pferden«, sagte O'Kelly. »Zu Ihrem ›anderen Kurs‹ kommen wir gleich, keine Bange. Aber vorher habe ich eine Frage.« »Schießen Sie los«, sagte Frank großzügig, mit einer entsprechend ausladenden Geste. O'Kelly warf ihm einen bösen Blick zu. Es zirkulierte eine unangenehme Menge Testosteron im 175
Raum. »Sofern mir da nicht irgendwas entgangen ist«, sagte er, »wurde die Frau doch ermordet. Korrigieren Sie mich, wenn ich mich täusche, Mackey, aber ich sehe keinerlei Hinweis auf häusliche Gewalt, und ich sehe nichts, was besagt, dass sie undercover war. Wieso wollt ihr zwei« – er deutete ruckartig mit dem Kinn auf mich und Frank – »überhaupt bei diesem Fall mitmischen?« »Will ich gar nicht«, sagte ich. »Das Opfer hat eine Identität benutzt, die ich für eine Mitarbeiterin von mir geschaffen habe«, sagte Frank, »und das nehme ich ziemlich persönlich. Sie haben mich also am Hals. Kann sein, dass Sie auch noch Detective Maddox am Hals haben. Das zu klären, sind wir hier.« »Das kann ich auch gleich klarstellen«, schaltete ich mich ein. »Moment noch«, sagte Frank. »Lass mich erst zu Ende reden. Sobald ich fertig bin, kannst du mir nach Herzenslust eine Abfuhr erteilen, und ich sage kein Wort. Klingt das nicht verlockend?« 176
Ich gab auf. Auch das ist eine Kunst, die Frank beherrscht: die Fähigkeit, so zu klingen, als würde er ein Riesenzugeständnis machen, so dass du wie eine unverschämte Ziege dastehst, wenn du nicht bereit bist, ihm entgegenzukommen. »Klingt traumhaft«, sagte ich. »Alles klar?«, fragte Frank an alle gerichtet. »Wenn ihr mir nach unserer Besprechung sagt, ich soll wieder zurück in meine Kiste klettern, erwähne ich meine kleine Idee nie wieder. Aber lasst mich erst zu Ende reden. Alle einverstanden?« O'Kelly brummte unverbindlich. Cooper zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen, nicht mein Problem. Sam nickte nach kurzem Zögern. Mich beschlich das unverkennbare Gefühl von drohendem Unheil à la Frank. »Und bevor wir uns zu weit verrennen«, sagte Frank, »sollten wir uns vergewissern, ob die Ähnlichkeit auch bei genauerem Hinsehen standhält. Wenn nicht, können wir uns hier jeden Streit darüber ersparen, nicht?« 177
Niemand antwortete. Er schwang sich vom Stuhl, zog eine Handvoll Fotos aus seiner Akte und heftete sie nacheinander an die Tafel. Das Foto vom Studentenausweis, vergrößert auf 18 x 25,; das Gesicht der Toten im Profil, Auge geschlossen und bläulich; eine Ganzkörperaufnahme von ihr auf dem Obduktionstisch – noch bekleidet, Gott sei Dank – mit den geballten Fäusten oben auf dem dunklen Stern aus Blut; eine Nahaufnahme von ihren Händen, geöffnet und bräunlich schwarz getüpfelt, mit silbernen Nagellackstreifen, die durch das Blut zum Vorschein kamen. »Cassie, wärst du wohl so lieb und stellst dich kurz hier hin?« Du Arschloch, dachte ich. Ich löste mich von der Wand, ging zur Tafel und stellte mich davor, als sollte von mir ein Polizeifoto gemacht werden. Ich hätte eine ganze Stange Geld darauf verwettet, dass Frank sich längst meine Personalakte besorgt und das Foto darin unter einer Lupe mit denen hier
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verglichen hatte. Er stellt vorzugsweise Fragen, auf die er die Antworten schon kennt. »Am besten wäre es, wir würden hierfür den Leichnam verwenden«, sagte Frank in heiterem Tonfall und biss ein Stück Klebeband halb durch, »aber ich hab mir gedacht, das könnte doch ein bisschen gruselig werden.« »Gott bewahre«, sagte O'Kelly. Ich wollte Rob hierhaben, verdammt. Ich hatte diesen Gedanken bis dahin noch nie zugelassen, nicht ein einziges Mal in all den Monaten, seit wir keinen Kontakt mehr hatten, egal, wie müde ich war oder wie spätnachts es war. Am Anfang wollte ich ihn nach Strich und Faden vermöbeln, so sehr, dass es mich ganz verrückt machte. Bei mir zu Hause warf ich mit schöner Regelmäßigkeit Sachen an die Wand. Also hörte ich auf, überhaupt noch an ihn zu denken. Aber das Büro hier um mich herum und die vier, die mich so eindringlich anglotzten, als wäre ich ein exotisches forensisches Beweisstück, und die Fotos so dicht 179
an meiner Wange, dass ich sie spüren konnte: Das LSD-Trip-Gefühl, das ich schon die ganze Woche gehabt hatte, schwoll zu einer wilden, schwindelerregenden Welle an, und irgendwo unter dem Brustbein tat es weh. Ich hätte einen Arm oder ein Bein dafür verkauft, Rob nur für einen Augenblick hierzuhaben, wie er hinter O'Kellys Rücken ironisch eine Augenbraue hochzog und ganz sanft darauf hinwies, dass der Tausch niemals klappen würde, weil die Tote hübsch gewesen sei. Eine grausame Sekunde lang hätte ich schwören können, dass ich sein Aftershave roch. »Augenbrauen«, sagte Frank und tippte auf das Ausweisfoto – ich musste mich beherrschen, um nicht zusammenzuzucken –, »Augenbrauen sind gut. Augen sind gut. Lexies Pony ist kürzer, du wirst deinen stutzen lassen müssen. Davon abgesehen sind die Haare gut. Ohren – drehst du dich mal kurz zur Seite? –, Ohren sind gut. Hast du Ohrlöcher?« »Drei«, sagte ich. 180
»Sie hatte nur zwei. Lass mal sehen … « Frank beugte sich näher ran. »Dürfte kein Problem sein. Ich kann sie nicht mal sehen, wenn ich nicht genau drauf achte. Nase gut. Mund gut. Kinn gut. Kinnpartie gut.« Bei jedem gutblinzelte Sam schnell, als würde er zusammenzucken. »Ihre Wangen- und Schlüsselbeinknochen wirken ausgeprägter als die des Opfers«, sagte Cooper und studierte mich mit leicht schaurigem professionellen Interesse. »Darf ich fragen, wie viel Sie wiegen?« Ich wiege mich nie. »Etwas über fünfzig Kilo. Zweiundfünfzig? Dreiundfünfzig?« »Du bist ein bisschen dünner, als sie es war«, sagte Frank. »Kein Problem; ist eben die Folge von ein oder zwei Wochen Krankenhausessen. Ihre Konfektionsgröße ist 36, Jeansweite 29, BHGröße 75B, Schuhgröße 38. Kommt das alles hin?« »So ungefähr«, sagte ich. Ich fragte mich, wie zum Henker ich hier gelandet war. Ich hätte gern 181
einen Zauberknopf gehabt, der mich mit Lichtgeschwindigkeit zurückspulen würde, bis ich mich glücklich und zufrieden da hinten in der Ecke lümmeln und Rob jedes Mal ans Schienbein treten könnte, wenn O'Kelly eine Floskel zum Besten gab, anstatt hier wie ein Depp zu stehen und Leuten meine Ohren zu zeigen und das Beben in meiner Stimme zu unterdrücken, während wir erörterten, ob mir der BH einer Toten passen würde. »Eine nagelneue Garderobe«, sagte Frank grinsend zu mir. »Da soll noch mal einer behaupten, in diesem Job gäb’s keine Vergünstigungen.« »Die hat sie auch nötig«, sagte O'Kelly bissig. Frank wandte sich jetzt dem Ganzkörperfoto zu, fuhr mit einem Finger von den Schultern zu den Füßen, wobei er immer wieder auf mich schaute. »Die Statur ist insgesamt gut, plus minus die paar Pfunde.« Sein Finger erzeugte ein langgezogenes Quietschen. Sam nahm jäh auf seinem Stuhl eine andere Haltung an. »Schulterbreite sieht gut aus, Verhältnis Taille zur Hüfte sieht gut aus – wir 182
können vorsichtshalber nachmessen, aber der Gewichtsunterschied gibt uns hier ein bisschen Spielraum. Beinlänge sieht gut aus.« Er tippte auf die Nahaufnahme. »Die hier sind wichtig. Leute achten auf Hände. Können wir deine mal sehen, Cassie?« Ich hielt ihm die Hände hin, als wollte er mir Handschellen anlegen. Ich konnte mich nicht durchringen, das Foto anzuschauen. Ich konnte kaum atmen. Auf diese eine Frage konnte Frank die Antwort nicht schon wissen. Vielleicht war es das: der entscheidende Unterschied, der mich von der Toten trennen, die Verbindung mit einem einzigen harten Schlag kappen und mich nach Hause gehen lassen würde. »Das hier«, sagte Frank anerkennend, nach einem langen Blick, »sind vielleicht die hübschesten Hände, die ich je gesehen habe.« »Bemerkenswert«, sagte Cooper genüsslich, während er sich vorbeugte, um mich und die große Unbekannte über seine Brille hinweg zu beäugen. 183
»Die Wahrscheinlichkeit steht mindestens eins zu einer Million.« »Sieht jemand irgendwelche Unterschiede?«, fragte Frank in den Raum. Niemand sagte etwas. Sams Kiefermuskulatur war angespannt. »Gentlemen«, sagte Frank mit einer effektvollen Armbewegung, »wir haben eine Übereinstimmung.« »Was nicht unbedingt bedeutet, dass wir was damit anfangen müssen«, sagte Sam. O'Kelly klatschte sarkastisch langsam. »Gratulation, Mackey. Das gibt einen tollen Partytrick ab. Wo wir jetzt alle wissen, wie Maddox aussieht, könnten wir da wieder auf den Fall zurückkommen?« »Und kann ich aufhören, hier rumzustehen?«, fragte ich. Meine Beine zitterten, als wäre ich gerannt, und ich war stinksauer auf alle im Raum, mich eingeschlossen. »Es sei denn, du brauchst mich noch als Inspiration.« 184
»Ja klar, kannst du«, sagte Frank und nahm einen Marker für die Tafel. »Also, wir haben Folgendes. Alexandra Janet Madison, genannt Lexie, wurde laut Geburtsurkunde am ersten März 1979 in Dublin geboren, und ich muss es wissen, schließlich hab ich die Urkunde selbst ausgestellt. Im Oktober 2000« – er begann, den Ablauf zu skizzieren, schnelle gerade Striche – »fing sie als Doktorandin in Psychologie am UCD an. Im Mai 2001 brach sie das Studium wegen stressbedingter Krankheit ab und fuhr zur Erholung zu ihren Eltern nach Kanada, und das hätte normalerweise das Aus ihrer –« »Moment mal. Du hast mir einen Nervenzusammenbruch angehängt?«, fragte ich. »Deine Dissertation war eine Nummer zu groß für dich«, erwiderte Frank grinsend. »Die akademische Welt ist alt, aber zäh. Das war dir alles zu viel geworden, du wolltest nicht mehr. Irgendwie musste ich dich ja loswerden.«
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Ich lehnte mich wieder gegen meine Wand und schnitt ihm eine Grimasse. Er zwinkerte mir zu. Er hatte der Unbekannten direkt in die Hände gearbeitet, lange bevor sie überhaupt auf der Bildfläche erschien. Jeder Schnitzer, der ihr unterlief, nachdem sie einen alten Bekannten wiedergetroffen hatte und anfing, nach Infos zu fischen, jedes unpassende Stocken, jede Zurückhaltung, sich erneut zu treffen: Na ja, sie hatte ja schließlich einen Nervenzusammenbruch … »Im Februar 2002 allerdings«, sagte Frank und tauschte den blauen Marker gegen einen roten, »ist Alexandra Madison wieder da. Sie erschleicht sich mit Hilfe ihrer UCD-Unterlagen den Zugang ans Trinity, um in Anglistik zu promovieren. Wir haben keinen Schimmer, wer die Frau eigentlich ist, was sie vorher gemacht hat oder wie sie an die Identität von Lexie Madison gelangt ist. Wir haben ihre Fingerabdrücke durch den Computer laufen lassen: Sie ist nicht erfasst.«
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»Ihr solltet die Suche erweitern«, sagte ich. »Könnte gut sein, dass sie keine Irin ist.« Frank blickte mich scharf an. »Wieso?« »Wenn Iren sich verstecken wollen, bleiben sie nicht hier. Sie gehen ins Ausland. Wenn sie Irin gewesen wäre, hätte ihr binnen einer Woche jemand aus dem Bingoclub ihrer Mutter über den Weg laufen können.« »Nicht unbedingt. Sie hat ziemlich abgeschieden gelebt.« »Außerdem«, sagte ich mit bemüht ruhiger Stimme, »schlage ich nach der französischen Seite. Kein Mensch hält mich für eine Irin, bis ich den Mund aufmache. Wenn ich mein Aussehen nicht von hier habe, dann sie wahrscheinlich auch nicht.« »Na toll«, sagte O'Kelly düster. »Undercover, DHG, Einwanderungsbehörde, die Briten, Interpol, das FBI. Will vielleicht sonst noch jemand mitmachen? Der irische Landfrauenverband? Die Caritas?« 187
»Besteht die Chance, sie anhand der Zähne zu identifizieren?«, fragte Sam. »Oder wenigstens das Land? Kann man nicht feststellen, wo irgendwelche Zahnbehandlungen vorgenommen wurden?« »Die fragliche junge Frau hatte erstklassige Zähne«, sagte Cooper. »Ich bin natürlich kein Spezialist auf dem Gebiet, aber sie hatte keine Füllungen, Kronen, Zahnlücken oder Sonstiges, was sich zur Identifizierung eignen würde.« Frank blickte mich mit einer fragend hochgezogenen Augenbraue an. Ich schenkte ihm meinen besten verwirrten Blick. »Die beiden unteren Vorderzähne überlappen einander leicht«, sagte Cooper, »und ein oberer Backenzahn ist deutlich schief gewachsen, was darauf schließen lässt, dass sie als Kind nicht beim Kieferorthopäden war. Ich würde sagen, die Möglichkeit einer dentalen Identifizierung tendiert praktisch gegen null.« Sam schüttelte den Kopf,
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frustriert, und widmete sich wieder seinem Notizbuch. Frank beäugte mich noch immer, und es ging mir auf die Nerven. Ich stieß mich von der Wand ab, machte den Mund weit auf und deutete auf meine Zähne. Cooper und O'Kelly betrachteten mich mit einem identischen erschrockenen Blick. »Nein, ich habe keine Füllungen«, sagte ich zu Frank. »Siehst du? Nicht dass es überhaupt eine Rolle spielt.« »Braves Mädchen«, sagte Frank anerkennend. »Schön weiter Zähne putzen.« »Wirklich nett, Maddox«, sagte O'Kelly. »Danke für die Information. Also, im Herbst 2002 fängt Alexandra Madison am Trinity an, und im April 2005 wird sie außerhalb von Glenskehy tot aufgefunden. Wissen wir, was sie in der Zeit dazwischen gemacht hat?« Sam hob den Kopf und sah auf, legte seinen Stift hin. »Überwiegend an ihrer Dissertation gearbeitet«, sagte er. »Irgendwas über Schriftstel189
lerinnen und Pseudonyme, hab ich nicht richtig verstanden. Sie war sehr gut, sagt ihr Doktorvater – ein bisschen hinter dem Zeitplan, aber was sie vorgelegt hat, war gut. Bis September wohnte sie in einem möblierten Zimmer in einer Seitenstraße der South Circular Road. Finanziert hat sie sich mit Studentendarlehen, Stipendien und durch Jobs an der anglistischen Fakultät und im Caffeine, in der Stadt. Sie war polizeilich nicht erfasst, hatte keine Schulden bis auf das Darlehen für die Studiengebühren, keine verdächtigen Kontobewegungen, keine Suchtkrankheiten, keinen Freund oder Exfreund« – Cooper hob eine Augenbraue –, »keine Feinde und keine Streitigkeiten in jüngster Zeit.« »Also kein Motiv«, sagte Frank nachdenklich mit dem Gesicht zur Tafel, »und keine Verdächtigen.« »Kontakt hatte sie hauptsächlich«, fuhr Sam ruhig fort, »zu einer Gruppe anderer Doktoranden:
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Daniel March, Abigail Stone, Justin Mannering und Raphael Hyland.« »Verdammt alberner Name«, sagte O'Kelly. »Schwuchtel oder Brite?« Cooper schloss ganz kurz angewidert die Augen, wie eine Katze. »Er ist halber Engländer«, sagte Sam; O'Kelly gab ein knappes selbstgefälliges Knurren von sich. »Daniel hat zwei Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens, Justin einen, abgesehen davon sind sie alle blitzsauber. Sie wissen nicht, dass Lexie einen falschen Namen benutzte – oder falls doch, haben sie jedenfalls nichts gesagt. Sie meinten, sie hätte sich mit ihrer Familie zerstritten und würde nicht gern über ihre Vergangenheit sprechen. Sie wissen nicht mal, woher sie stammt. Abby glaubt, womöglich aus Galway, Justin glaubt aus Dublin, Daniel hat mich abfällig angesehen und gesagt, das sei für ihn ›eigentlich nicht von Interesse‹. Was Lexies Familie angeht, ist es das gleiche Bild. Justin meint, ihre Eltern sind tot, Rafe sagt
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geschieden, Abby sagt, sie sei ein uneheliches Kind … « »Oder vielleicht nichts von alldem«, sagte Frank. »Wir wissen bereits, dass unsere Unbekannte durchaus zu kleinen Notlügen gegriffen hat.« Sam nickte. »Im September erbte Daniel Whitethorn House bei Glenskehy von seinem Großonkel Simon March, und sie sind alle dort eingezogen. Letzten Mittwochabend waren alle fünf zu Hause und haben Poker gespielt. Lexie schied als Erste aus und ging gegen halb zwölf spazieren – sie machte regelmäßig spätabends einen Spaziergang, die Gegend ist sicher, es hatte noch nicht angefangen zu regnen, die anderen haben sich nichts dabei gedacht. Sie hörten kurz nach Mitternacht auf und gingen ins Bett. Sie alle schildern die Pokerrunde in etwa gleich, wer wie viel mit welchem Blatt gewonnen hatte – bis auf kleine Unterschiede hier und da, aber das ist ganz normal. Wir haben alle mehrmals befragt, und sie sind kein bisschen von 192
ihrer jeweiligen Version abgewichen. Entweder sie sind unschuldig, oder sie haben sich genau abgesprochen.« »Und am nächsten Morgen«, sagte Frank und komplettierte seine Zeitachse mit einer schwungvollen Bewegung, »wird sie tot aufgefunden.« Sam zog eine Handvoll Papiere aus dem Stapel auf seinem Schreibtisch, ging zur Tafel und befestigte ein Blatt in einer Ecke: eine topographische Karte von einer ländlichen Gegend, auf der jedes Haus und jeder Zaun zu erkennen war und mit farbigem Textmarker säuberliche Xe und Kreise eingezeichnet waren. »Das hier ist das Dorf Glenskehy. Whitethorn House liegt nur eine Meile südlich davon. Hier, etwa auf halbem Wege dazwischen und ein wenig östlich, befindet sich das verfallene Cottage, wo die Tote gefunden wurde. Ich habe alle Routen markiert, die sie am ehesten gegangen sein könnte, um zum Cottage zu gelangen. Die Spurensicherung und die örtliche Polizei sind noch dabei, alles abzusuchen: bislang ohne 193
Ergebnis. Laut ihren Mitbewohnern ist sie immer hintenraus, wenn sie spazieren ging. Sie ist dann gut eine Stunde über die kleinen Wege gegangen – es ist ein verschlungenes Gewirr da in der Umgebung – und entweder durch die Vorder- oder Hintertür wieder reingekommen, je nachdem, welche Route sie gerade genommen hatte.« »Mitten in der Nacht?«, wollte O'Kelly wissen. »War die übergeschnappt oder was?« »Sie hatte immer die Taschenlampe dabei, die wir bei ihr gefunden haben«, sagte Sam, »es sei denn, die Nacht war hell genug, um auch ohne zu sehen. Sie war eine fanatische Spaziergängerin, ist fast jeden Abend los. Selbst bei strömendem Regen hat sie sich meistens einfach warm eingepackt und ist losgestapft. Ich glaube nicht, dass es ihr um die Bewegung ging, eher um Ungestörtheit – auf so engem Raum mit den anderen vier war das die einzige Zeit, die sie für sich allein hatte. Die anderen wissen nicht, ob sie je zum Cottage spaziert ist, aber sie hat mal gesagt, es würde ihr ge194
fallen. Kurz nach dem Einzug sind die fünf einen Tag lang in der Umgebung von Glenskehy herumgestreift, um die Gegend zu erkunden. Als sie das Cottage entdeckten, wollte Lexie erst weiter, nachdem sie reingegangen und es sich angesehen hatte, obwohl die anderen sie warnten, der Farmer würde wahrscheinlich jeden Augenblick mit einer Schrotflinte auftauchen. Es gefiel ihr, dass es da noch stand, obwohl keiner es benutzte – Daniel meinte, sie ›mag Ineffizienz‹, was immer das heißen soll. Daher können wir nicht ausschließen, dass das Cottage eine regelmäßige Station auf ihren Spaziergängen war.« Also eindeutig keine Irin, oder zumindest nicht hier aufgewachsen. Verlassene Cottages aus der Zeit der großen Hungersnot stehen hier überall in der Landschaft rum, wir nehmen sie kaum noch wahr. Nur Touristen – und überwiegend Touristen aus jüngeren Ländern, Amerika, Australien – schauen sie lange genug an, um ihr Gewicht zu spüren. 195
Sam heftete ein weiteres Blatt Papier an die Tafel: ein Grundriss vom Cottage, mit einem säuberlichen, winzigen Maßstab unten am Rand. »Wie immer sie auch dort hingelangt ist«, sagte er und drückte die letzte Ecke fest, »dort ist sie gestorben – im Sitzen an diese Wand gelehnt in dem Raum, den wir den vorderen Raum nennen. Irgendwann nach Eintritt des Todes und vor Einsetzen der Leichenstarre wurde sie in den hinteren Raum verfrachtet. Dort wurde sie gefunden, früh am Donnerstagmorgen.« Er deutete auf Cooper. Cooper hatte ins Leere gestarrt, in erhabener Trance. Er ließ sich Zeit: räusperte sich geziert, vergewisserte sich mit einem Blick in die Runde, dass er auch die volle Aufmerksamkeit aller Anwesenden hatte. »Das Opfer«, sagte er, »war eine gesunde weiße Frau, hundertfünfundsechzig Zentimeter groß, fünfundfünfzig Kilo schwer. Keine Narben, Tätowierungen oder sonstige Erkennungszeichen. Sie hatte einen Blutalkoholgehalt 196
von 0,3 Promille, was drei oder vier Gläsern Wein entspricht, die einige Stunden zuvor konsumiert wurden. Das toxikologische Screening ergab keinerlei Hinweise auf sonstige Substanzen – das Opfer hatte kurz vor Eintritt des Todes keine Drogen, Toxine oder Medikamente konsumiert. Alle Organe bewegten sich im Rahmen des Normalen. Ich habe keinerlei Defekte oder Krankheitsanzeichen festgestellt. Die Epiphysen der langen Knochen sind vollständig verschmolzen, und die Suturen, das heißt die inneren Nahtstellen der Schädelknochen, zeigen erste Anzeichen von Verschmelzung, womit das Alter der Frau bei Ende zwanzig anzusiedeln ist. Das Becken verrät eindeutig, dass sie nie ein Kind zur Welt gebracht hat.« Er griff nach seinem Wasserglas und trank einen bedächtigen Schluck, aber ich wusste, dass er noch nicht fertig war. Er machte eine Kunstpause. Cooper hatte noch etwas in petto. Er stellte das Glas hin, richtete es säuberlich in der Ecke des Schreibtisches aus. »Sie war aller197
dings«, sagte er, »im frühen Stadium einer Schwangerschaft.« Er lehnte sich zurück und beobachtete die Wirkung. »Ach du Schande«, sagte Sam leise. Frank lehnte sich gegen die Wand und pfiff, einen langen, leisen Ton. O'Kelly verdrehte die Augen. Das hatte diesem Fall gerade noch gefehlt. Ich wünschte, ich wäre so klug gewesen, mich hinzusetzen. »Hat irgendwer von ihren Mitbewohnern das erwähnt?«, fragte ich. »Nicht einer«, sagte Frank, und Sam schüttelte den Kopf. »Unser Mädel hatte offenbar Geheimnisse vor ihren engsten Freunden.« »Vielleicht hat sie es selbst noch nicht gewusst«, sagte ich. »Falls ihr Zyklus unregelmäßig war –« »Menschenskind, Maddox!«, sagte O'Kelly entsetzt. »Verschonen Sie uns doch mit so was. Schreiben Sie das in Ihren Bericht oder so.« »Besteht die Chance, den Vater anhand von DNA zu bestimmen?«, fragte Sam. 198
»Ich wüsste nicht, was dagegen spräche«, sagte Cooper, »wenn eine Probe vom mutmaßlichen Vater vorliegt. Der Embryo war etwa vier Wochen alt, knapp unter einem halben Zentimeter lang und –« »Himmelherrgott!«, sagte O'Kelly. Cooper grinste. »Lassen Sie die verdammten Einzelheiten weg und kommen Sie zum Punkt. Wie ist sie gestorben?« Cooper machte eine betont lange Pause, um allen zu zeigen, dass er sich von O'Kelly nichts sagen ließ. »Irgendwann am Mittwochabend«, sagte er, als er fand, dass er seinen Standpunkt klargemacht hatte, »erhielt sie einen einzigen Messerstich rechts in den Brustkorb. Der Angriff erfolgte höchstwahrscheinlich von vorn: Der Winkel und die Eintrittsstelle wären von hinten schwierig zu bewerkstelligen. Ich habe an beiden Handflächen und an einem Knie leichte Hautabschürfungen festgestellt, vermutlich die Folge eines Aufpralls auf harten Boden, aber keine Abwehrverletzun199
gen. Der Stich erfolgte mit einer mindestens sieben Zentimeter langen, spitzen, einschneidigen Klinge ohne irgendwelche Besonderheiten – es könnte ein herkömmliches größeres Taschenmesser gewesen sein oder auch ein scharfes Küchenmesser. Die Klinge drang in mittlerer Schlüsselbeinlinie auf Höhe der achten Rippe in einem Aufwärtswinkel ein und verletzte die Lunge, was zu einem Spannungspneumothorax führte. Möglichst einfach formuliert« – er warf O'Kelly einen vielsagenden Seitenblick zu –, »schuf die Klinge ein Klappenventil in der Lunge. Jedes Mal, wenn sie einatmete, entwich Luft aus der Lunge in die Pleurahöhle. Wenn sie ausatmete, schloss sich das Ventil, und die Luft blieb eingeschlossen. Durch sofortige ärztliche Hilfe hätte sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerettet werden können. So jedoch gelangte immer mehr Luft in den Brustraum, was die anderen Organe zusammenpresste. Irgendwann war das Herz nicht mehr imstande, sich mit Blut zu füllen, und sie starb.« 200
Ganz kurz trat Stille ein, nur das leise Summen der Neonröhren war zu hören. Ich stellte mir die Frau in diesem kalten zerfallenen Haus vor, über ihr das Klagen der Nachtvögel und um sie herum sanfter Regen, wie sie am Atmen starb. »Wie lang hat das gedauert?«, fragte Frank. »Der Verlauf wird von einer Reihe von Faktoren bestimmt worden sein«, sagte Cooper. »Wenn das Opfer beispielsweise nach der Stichverletzung eine gewisse Strecke gerannt ist, wird es schneller und tiefer geatmet haben, was die Entstehung des Spannungspneumothorax beschleunigt. Die Klinge hat überdies eine der Hauptadern der Brust gestreift. Der so entstandene kleine Schnitt wurde durch die Bewegung größer, und das Opfer muss immer stärker geblutet haben. Vorsichtig geschätzt, würde ich sagen, sie verlor etwa zwanzig bis dreißig Minuten nach dem Messerstich das Bewusstsein und starb zehn oder fünfzehn Minuten später.«
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»Wie weit«, fragte Sam, »könnte sie in dieser halben Stunde gekommen sein?« »Ich bin kein Hellseher, Detective«, sagte Cooper süffisant. »Adrenalin kann faszinierende Auswirkungen auf den menschlichen Körper haben, und es gibt Anzeichen dafür, dass das Opfer sich in einem emotional ungemein aufgewühlten Zustand befand. Das Vorhandensein von kataleptischer Totenstarre – in diesem Fall kontrahierten die Hände im Augenblick des Todes zu Fäusten und blieben während der Leichenstarre geballt – wird im Allgemeinen mit extremem emotionalen Stress in Verbindung gebracht. Wenn die Frau hinlänglich motiviert war, was ich mir unter den gegebenen Umständen gut vorstellen kann, wäre eine Meile oder etwas mehr nicht auszuschließen. Andererseits könnte sie natürlich auch schon nach einigen Schritten zusammengebrochen sein.« »Okay«, sagte Sam. Er nahm sich von irgendeinem Schreibtisch einen Textmarker und malte um das Cottage auf der Karte einen weiten Kreis, der 202
das Dorf und Whitethorn House und eine große leere Hügelfläche mit einschloss. »Unser Tatort könnte demnach irgendwo innerhalb dieses Kreises liegen.« »Hatte sie denn nicht zu große Schmerzen, um weit zu kommen?«, fragte ich. Ich spürte, wie Franks Augen zu mir huschten. Wir fragen nicht, ob Opfer gelitten haben. Sofern sie nicht eindeutig gefoltert wurden, müssen wir es nicht wissen: Emotionale Betroffenheit trübt lediglich deine Objektivität und beschert dir Alpträume, und den Angehörigen erzählen wir ohnehin, dass das Opfer nicht leiden musste. »Zügeln Sie Ihre Phantasie, Detective Maddox«, sagte Cooper zu mir. »Ein Spannungspneumothorax ist häufig relativ schmerzlos. Sie wird gemerkt haben, dass sie zunehmend kurzatmig wurde und ihre Herzfrequenz sich beschleunigte. Mit Beginn des Schockzustandes wurde ihre Haut wahrscheinlich kalt und klamm, und ihr wird schwindelig geworden sein, aber es besteht kein 203
Grund zu der Annahme, dass sie qualvolle Schmerzen hatte.« »Mit wie viel Kraft wurde der Messerstich ausgeführt?«, fragte Sam. »Wäre jeder dazu körperlich in der Lage gewesen oder nur ein großer, starker Mann?« Cooper seufzte. Wir fragen immer: Wäre ein schwächlicher Mann körperlich dazu in der Lage gewesen? Eine Frau? Ein Jugendlicher? Wie kräftig müsste ein Jugendlicher sein? »Die Form der Wunde im Querschnitt«, sagte er, »sowie die Tatsache, dass die Haut an der Eintrittsstelle nicht gerissen ist, deutet auf eine Klinge mit einer ziemlich scharfen Spitze hin. Sie traf weder auf Knochen noch auf Knorpel. Wenn wir von einem ziemlich schwungvollen Stoß ausgehen, würde ich sagen, diese Verletzung könnte dem Opfer von einem großen Mann zugefügt worden sein oder von einem kleinen Mann oder von einer großen Frau oder einer kleinen Frau oder einem kräftigen Kind in der Pubertät. Beantwortet das Ihre Frage?« 204
Sam sagte nichts mehr. »Todeszeitpunkt?«, fragte O'Kelly. »Zwischen dreiundzwanzig und ein Uhr«, sagte Cooper und inspizierte die Nagelhaut an einem Finger. »Wie es auch in meinem vorläufigen Bericht steht, wenn ich mich nicht irre.« »Wir können den Zeitpunkt noch ein bisschen weiter eingrenzen«, sagte Sam. Er nahm einen Marker und begann eine neue Zeitachse unter der von Frank. »Etwa um zehn Minuten nach Mitternacht setzte in der Gegend Regen ein, und anhand des Feuchtigkeitsgrades der Kleidung schätzt das Kriminallabor, dass sie maximal fünfzehn oder zwanzig Minuten draußen im Regen war. Sie wurde also gegen halb eins ins Trockene geschafft. Und da war sie bereits tot. Unter Berücksichtigung von dem, was Dr. Cooper sagt, wurde die Stichwunde daher nicht später als Mitternacht zugefügt, vermutlich früher – ich würde sagen, sie war schon fast bewusstlos, als der Regen einsetzte, sonst hätte sie irgendwo Schutz gesucht. Wenn die 205
Mitbewohner die Wahrheit sagen und sie tatsächlich um halb zwölf unverletzt das Haus verlassen hat, dann gibt uns das ein Zeitfenster von einer halben Stunde für den Messerangriff. Wenn sie lügen oder sich irren, könnte die Tat irgendwann zwischen zehn und zwölf passiert sein.« »Und das«, sagte Frank und schwang ein Bein über seinen Stuhl, »ist alles, was wir haben. Keine Fußabdrücke und keine Blutspur – der Regen hat alles vernichtet. Keine Fingerabdrücke: Irgendwer hat alles, was sie in den Taschen hatte, abgewischt. Nichts Verwertbares unter ihren Fingernägeln, sagt das Labor. Anscheinend ist sie nicht dazu gekommen, sich gegen den Mörder zu wehren. Sie untersuchen die Spuren noch immer, aber nach vorläufiger Einschätzung ist nichts Hervorstechendes dabei. Sämtliche Haare und Fasern stammen offenbar von ihr selbst, ihren Wohngenossen oder von diversen Sachen im Haus, sie bringen uns also nicht weiter. Wir durchkämmen noch immer die Gegend, aber bislang haben wir keine 206
Spur von der Mordwaffe und keine Anzeichen dafür, wo jemand sie überfallen oder ein Kampf stattgefunden haben könnte. Im Grunde haben wir eine Tote und mehr nicht.« »Wunderbar«, sagte O'Kelly düster. »Schon wieder einer von der Sorte. Wie machen Sie das, Maddox, tragen Sie einen Magnet für beschissene Fälle im BH?« »Das ist nicht mein Fall, Sir«, rief ich ihm in Erinnerung. »Und trotzdem sind Sie hier. Welche Ermittlungsansätze gibt es?« Sam legte den Marker zurück und hielt den Daumen hoch. »Erstens: ein wahlloser Überfall.« Beim Morddezernat gewöhnst du dir an, Dinge aufzuzählen, weil das O'Kelly glücklich macht. »Sie war spazieren, und irgendwer hat sie angegriffen – um sie auszurauben oder zu vergewaltigen oder dergleichen.« »Wenn es Anzeichen für eine versuchte Vergewaltigung gäbe«, sagte Cooper müde zu seinen 207
Fingernägeln, »hätte ich das inzwischen erwähnt, glaube ich. Aber ich habe nichts festgestellt, was auf irgendeine Form von sexuellem Kontakt kurz vor Eintritt des Todes hindeutet.« Sam nickte. »Auch keine Anzeichen für Raubmord – sie hatte ihr Portemonnaie noch bei sich, mit Bargeld drin, sie hatte keine Kreditkarte, und sie hatte ihr Handy zu Hause gelassen. Aber damit ist nicht ausgeschlossen, dass das trotzdem das Motiv war. Vielleicht wehrt sie sich, er sticht zu, sie läuft davon, er verfolgt sie und gerät dann in Panik, als er merkt, was er getan hat … « Er warf mir einen kurzen fragenden Blick zu. O'Kelly hat eindeutige Standpunkte in Sachen Psychologie, und er tut gern so, als hätte er keine Ahnung vom Profiling. Ich musste feinfühlig vorgehen. »Glaubst du?«, sagte ich. »Ich weiß nicht, ich dachte eher … ich meine, sie wurde ins Trockene geschafft, nachdem sie gestorben war, richtig? Wenn es eine halbe Stunde gedauert hat, bis sie tot war, dann hat der Täter entweder die ganze 208
Zeit nach ihr gesucht – und warum sollte ein Räuber oder ein Vergewaltiger das tun? –, oder jemand anders hat sie später gefunden, ins Trockene geschafft und es nicht für nötig befunden, uns anzurufen. Beides ist möglich, denke ich, aber ich halte nichts davon für wahrscheinlich.« »Glücklicherweise, Maddox«, giftete O'Kelly, »ist Ihre Meinung nicht länger unser Problem. Wie Sie selbst bereits feststellten, haben Sie mit diesem Fall nichts zu tun.« »Noch nicht«, sagte Frank in den Raum. »Das Szenario mit dem Fremden als Täter ist auch noch in anderer Hinsicht problematisch«, sagte Sam. »Die Gegend ist schon tagsüber ziemlich einsam und nachts erst recht. Wenn jemand Böses im Schilde führt, wieso sollte er sich da auf einem Feldweg mitten in der Pampa auf die Lauer legen, nur auf die vage Chance hin, ein Opfer könnte vorbeispaziert kommen? Wieso versucht er es nicht in der Stadt, in Wicklow oder Rathowen, oder wenigstens im Dorf Glenskehy?« 209
»Irgendwelche ähnlichen Fälle in der Gegend?«, fragte O'Kelly. »Keine Raubüberfälle mit Messern oder Vergewaltigungen durch Fremde«, sagte Sam. »Glenskehy ist nun mal ein kleines Dorf. Die zwei Hauptdelikte sind Alkoholgenuss nach der Sperrstunde und dann mit dem Auto nach Hause fahren. Die einzige Messerstecherei im letzten Jahr ging auf das Konto von einer Gruppe junger Burschen, die sich betrunken in die Haare geraten sind. Falls kein ähnlicher Fall auftaucht, würde ich sagen, wir legen den fremden Täter vorläufig auf Eis.« »Ganz in meinem Sinne«, sagte Frank und grinste mich an. Eine Zufallstat durch einen fremden Täter würde bedeuten, dass es im privaten Umfeld des Opfers keine Informationen, keine Beweismittel und kein Motiv zu finden gab, dass kein Anlass bestand, mich verdeckt ermitteln zu lassen.
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»Von mir aus«, sagte O'Kelly. »Wenn es eine Zufallstat war, sind wir ohnehin im Eimer: Entweder wir haben Glück oder keins.« »Okay, also. Zweitens« – Sam hielt Daumen und Zeigefinger hoch –, »ein aktueller Feind. Ich meine, jemand, der sie als Lexie Madison kannte. Sie hat sich in einem ziemlich engen Kreis bewegt, es dürfte also nicht allzu schwierig sein herauszufinden, ob jemand irgendwelche Probleme mit ihr hatte. Wir fangen mit ihren Mitbewohnern an und arbeiten uns nach außen vor – das Personal am Trinity, Studenten –« »Bisher ergebnislos«, sagte Frank zu niemand Bestimmtem. »Wir sind noch ganz am Anfang«, sagte Sam mit fester Stimme. »Wir sind erst bei den Vorbefragungen. Und jetzt, wo wir wissen, dass sie schwanger war, haben wir einen ganz neuen Ermittlungsansatz. Wir müssen den Vater finden.« O'Kelly schnaubte. »Na dann, viel Glück. Bei den jungen Frauen heutzutage, wahrscheinlich hat 211
sie irgendeinen Typen in einer Disco kennengelernt und es mit ihm im Hinterhof getrieben.« Ich spürte eine jähe verwirrte Empörung in mir aufsteigen. So eine war Lexie nicht. Ich rief mir in Erinnerung, dass meine Informationen veraltet waren, nicht auszuschließen, dass die neue Version eine Edelschlampe gewesen war. »Discos sind zusammen mit dem Rechenschieber ausgestorben, Sir«, sagte ich zuckersüß. »Selbst wenn er eine Club-Bekanntschaft ist«, sagte Sam, »müssen wir ihn trotzdem finden, um ihn als Verdächtigen ausschließen zu können. Es könnte eine ganze Weile dauern, aber wir finden ihn.« Er blickte Frank an, der ernst nickte. »Ich werde die Männer im Haus um eine DNA-Probe bitten, für den Anfang.« »Vielleicht sollten wir damit lieber noch ein Weilchen warten«, sagte Frank aalglatt, »je nachdem, natürlich. Falls ihre Bekannten eventuell den Eindruck gewinnen sollen, dass sie gesund und munter ist, wollen wir sie doch nicht nervös ma212
chen. Sie sollen entspannt sein, unachtsam, sollen meinen, die Ermittlungen wurden runtergefahren. Die DNA ist in ein paar Wochen auch noch da.« Sam zuckte die Achseln. Er wurde schon wieder angespannt. »Das klären wir noch. Drittens: ein Feind aus ihrem früheren Leben, jemand, der noch eine Rechnung mit ihr offen hatte und sie ausfindig gemacht hat.« »Also, das ist die Variante, die für mich am plausibelsten klingt«, sagte Frank und richtete sich auf. »Wir haben keinen Anhaltspunkt für irgendwelche Probleme in ihrem Leben als Lexie Madison, stimmt’s? Aber wo immer sie vorher war, irgendwas ist offenbar schiefgelaufen. Sie hat sich ja wohl kaum nur zum Spaß einen falschen Namen zugelegt. Entweder sie war auf der Flucht vor der Polizei, oder sie war auf der Flucht vor jemand anderem. Ich tippe auf jemand anderen.« »Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte ich. Zum Teufel mit O'Kelly. Ich konnte genau sehen, worauf Frank hinauswollte, und ich lasse mich nicht 213
gern überrollen. »Die Tat ist völlig ungeplant: eine Stichwunde, die nicht einmal hätte tödlich sein müssen, und dann – statt ihr den Rest zu geben oder sie wenigstens festzuhalten, damit sie keine Hilfe suchen und ihn verraten kann – lässt er sie entwischen, so dass er eine halbe Stunde braucht, um sie wiederzufinden. Für mich heißt das, kein Vorsatz, vielleicht nicht mal eine Tötungsabsicht.« O'Kelly verzog angewidert das Gesicht. »Jemand hat der Frau ein Messer in die Brust gerammt, Maddox. Ich würde sagen, er hat es durchaus für möglich gehalten, dass sie daran sterben könnte.« Ich habe Jahre Übung darin, O'Kelly an mir abprallen zu lassen. »Für möglich gehalten, ja. Aber wenn jemand jahrelang daran gedacht hat, sie umzubringen, hätte er das bis ins Kleinste geplant. Er hätte alles bedacht, er hätte ein Drehbuch gehabt, und er hätte sich daran gehalten.« »Ja, vielleicht hatte er tatsächlich ein Drehbuch«, sagte Frank, »aber darin kam nichts Ge214
walttätiges vor. Mal angenommen, er verfolgt sie nicht, weil er noch eine Rechnung mit ihr offen hat, sondern weil er in sie verliebt ist. Er hat sich in den Kopf gesetzt, sie wären Seelenverwandte, er plant ein romantisches Wiedersehen mit anschließendem Glück zu zweit bis an ihr seliges Ende, und stattdessen lässt sie ihn abblitzen. Sie ist es, die vom Drehbuch abweicht, und damit wird er nicht fertig.« »Stalker rasten schon mal aus«, sagte ich, »ja. Aber sie machen das wesentlich gründlicher. Dann hätten wir es mit einem Gewaltrausch zu tun: jede Menge Stiche, das Gesicht entstellt, totale Vernichtung. Stattdessen haben wir einen einzigen Stich, kaum tief genug, um sie zu töten. Das passt einfach nicht.« »Vielleicht ist er nicht mehr dazu gekommen«, sagte Sam. »Er sticht einmal zu, sie läuft weg, und als er sie einholt, ist sie bereits tot.« »Trotzdem«, sagte ich. »Es müsste jemand sein, der so besessen ist, dass er Jahre gewartet hat und 215
sie Gott weiß wie weit verfolgt hat. Wenn derart angestaute Emotionen schließlich ein Ventil finden, verpuffen sie nicht einfach, weil das Ziel tot ist. Im Gegenteil, es hätte ihn wahrscheinlich noch wütender gemacht, dass sie ihm wieder entwischt ist. Es hätte mindestens ein paar Messerstiche mehr geben müssen, obendrein ein paar Tritte ins Gesicht, so was in der Art.« Es war ein gutes Gefühl, so in den Fall hineingezogen zu werden, als wäre ich wieder im Morddezernat und die Tote ein Opfer wie jedes andere. Es durchströmte mich stark und süß und wohltuend wie heißer Whiskey nach einem langen Tag in Wind und Wetter. Frank lümmelte sich lässig auf seinem Stuhl, aber ich konnte spüren, dass er mich beobachtete, und ich wusste, dass ich mich langsam zu interessiert anhörte. Ich zuckte die Achseln, lehnte den Kopf nach hinten gegen die Wand und blickte an die Decke. »Der springende Punkt ist folgender«, sagte Frank prompt, »wenn sie Ausländerin ist und er 216
ihr bis hierher gefolgt ist, aus welchem Grund auch immer, dann verschwindet er in Windeseile wieder außer Landes, sobald er erfährt, dass er die Sache erledigt hat. Wir können ihn nur schnappen, wenn er hierbleibt, und dazu muss er glauben, dass sie noch lebt.« Ein kurzes lastendes Schweigen. »Wir können überprüfen lassen, wer alles das Land verlässt«, sagte Sam. »Nach welchen Kriterien?«, frage Frank. »Wir haben keinen Schimmer, nach wem wir suchen, wo er oder sie hinwill, nichts. Das bringt nichts, solange wir die Tote nicht identifiziert haben.« »Daran arbeiten wir. Wie schon gesagt. Wenn die Frau sich als Irin ausgeben konnte, dann war Englisch sehr wahrscheinlich ihre Muttersprache. Wir fangen mit England an, dann die USA, Kanada –« Frank schüttelte den Kopf. »Das kostet Zeit. Wir müssen unseren Täter – oder unsere Täterin – im Land halten, bis wir wissen, wen wir überhaupt 217
suchen. Und dazu fällt mir nur eine einzige Möglichkeit ein.« »Viertens«, sagte Sam mit Nachdruck. Er hielt vier Finger hoch, und für einen Sekundenbruchteil huschten seine Augen zu mir, glitten dann wieder weg. »Eine Verwechslung.« Wieder trat kurzes Schweigen ein. Cooper erwachte aus seiner Trance und blickte plötzlich ausgesprochen interessiert. Mein Gesicht fühlte sich auf einmal an, als wäre es peinlich auffällig, wie zu dick aufgetragener Lidschatten oder ein zu tief ausgeschnittenes Top, irgendwas, was ich besser nicht getragen hätte. »Irgendwen in letzter Zeit sauer gemacht?«, fragte O'Kelly mich. »Mehr als sonst?« »Etwa einhundert prügelnde Männer und zwei Dutzend prügelnde Frauen«, sagte ich. »Davon hebt sich niemand besonders ab, aber ich werde die Fallakten rüberschicken, die von der übelsten Sorte markieren.«
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»Was ist mit deiner Undercoverzeit?«, fragte Sam. »Könnte irgendwer sich an Lexie Madison rächen wollen?« »Abgesehen von dem Idioten, der mich niedergestochen hat?«, sagte ich. »Nicht dass ich wüsste.« »Der sitzt seit einem Jahr im Knast«, sagte Frank. »Drogenbesitz und Drogenhandel. Wollte ich dir schon die ganze Zeit gesagt haben. Jedenfalls, sein Verstand ist so benebelt, der würde dich nicht mal bei einer Gegenüberstellung erkennen. Und ich bin alle unsere Informationen aus dem Zeitraum durchgegangen: nirgendwo auch nur ein einziger Warnhinweis. Detective Maddox ist niemandem auf den Schlips getreten, nichts lässt vermuten, dass irgendwer je den Verdacht hatte, sie wäre ein Cop, und als sie verletzt wurde, haben wir sie rausgeholt und jemand Neues reingeschickt, um von vorn anzufangen. Niemand wurde als direkte Folge ihrer Arbeit verhaftet, und sie
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musste nie als Zeugin aussagen. An und für sich hätte niemand einen Grund, ihren Tod zu wollen.« »Hat der Idiot keine Freunde?«, wollte Sam wissen. Frank zuckte die Achseln. »Vermutlich, aber noch mal, ich wüsste nicht, warum er sie auf Detective Maddox hetzen sollte. Er wurde ja nicht mal wegen des Angriffs auf sie angeklagt. Wir haben ihn einkassiert, er hat uns irgendeinen Schwachsinn von wegen Notwehr erzählt, wir haben so getan, als würden wir ihm glauben, und ihn laufenlassen. Er war draußen für uns wesentlich nützlicher als drinnen.« Sams Kopf schnellte hoch, und er setzte an, etwas zu sagen, doch dann biss er sich auf die Lippe und konzentrierte sich darauf, einen Fleck von der Tafel zu wischen. Egal, was er von einem Kollegen hielt, der einen potentiellen Polizistenkiller wieder auf freien Fuß setzen ließ, er und Frank hatten sich gegenseitig am Hals. Das würde eine lange Ermittlung werden. 220
»Und aus deiner Zeit im Morddezernat?«, fragte Sam mich. »Hast du dir da irgendwelche Feinde gemacht?« O'Kelly stieß ein bitteres leises Lachen aus. »Alle, die ich überführt habe, sitzen noch«, sagte ich, »aber sie könnten natürlich Freunde haben, Angehörige, Komplizen. Und dann sind da noch Verdächtige, die wir nicht überführen konnten.« Das Sonnenlicht war von meinem alten Schreibtisch geglitten, und unsere Ecke lag jetzt im Dunkeln. Der Raum kam mir plötzlich kälter und leerer vor, durchweht von einem beharrlichen, traurigen Wind. »Das erledige ich«, sagte Sam. »Ich überprüf sie.« »Falls jemand es auf Cassie abgesehen hat«, sagte Frank hilfreicherweise, »ist sie in Whitethorn House erheblich sicherer, als sie es ganz allein in ihrer Wohnung wäre.« »Ich kann bei ihr bleiben«, sagte Sam, ohne ihn anzusehen. Wir würden nicht darauf hinweisen, 221
dass er sowieso die Hälfte der Zeit bei mir wohnte, und das wusste Frank. Frank hob eine amüsierte Augenbraue. »Die ganze Woche rund um die Uhr? Wenn sie undercover geht, trägt sie ein Mikro, und jemand hört Tag und Nacht mit –« »Aber nicht von meinem Budget«, sagte O'Kelly zu ihm. »Kein Problem, das läuft über unseres. Wir schlagen unser Hauptquartier im Polizeirevier von Rathowen auf. Sobald ihr jemand gefährlich wird, sind wir Minuten später bei ihr. Hätte sie diese Sicherheit auch zu Hause?« »Wenn wir davon ausgehen, dass jemand eine Kollegin umbringen will«, sagte Sam, »dann sollten wir ihr diese Sicherheit verdammt nochmal auch zu Hause bieten.« Seine Stimme klang gepresst. »In Ordnung. Ist in Ihrem Budget was für Personenschutz rund um die Uhr vorgesehen?«, wollte Frank von O'Kelly wissen. 222
»Kommt nicht in Frage«, sagte O'Kelly. »Sie ist Detective im DHG, sie ist das Problem vom DHG.« Frank breitete die Hände aus und grinste Sam an. Cooper amüsierte sich köstlich. »Ich brauche keinen Personenschutz rund um die Uhr«, sagte ich. »Wenn der Täter von mir besessen wäre, hätte er nicht nach einem Messerstich aufgehört, und auch nicht, wenn er von Lexie besessen wäre. Also bitte, beruhigen wir uns.« »Na gut«, sagte Sam nach einem Moment. Er klang nicht gerade glücklich. »Ich glaube, das wäre alles von meiner Seite.« Er setzte sich abrupt, und rückte mit seinem Stuhl an seinen Schreibtisch. »Jedenfalls ging es bei der Tat nicht um Geld«, sagte Frank. »Die fünf schmeißen das meiste von ihren Finanzen zusammen – von jedem hundert Euro die Woche in eine gemeinsame Kasse für Lebensmittel, Sprit, Rechnungen, Reparaturen am Haus, was alles so anfällt. Bei ihrem monatlichen
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Einkommen blieb da nicht viel übrig. Sie hatte achtundachtzig Euro auf ihrem Konto.« »Was denkst du?«, fragte Sam mich. Er meinte, aus Profiler-Sicht. Profiling ist alles andere als narrensicher, und im Grunde verstehe ich auch gar nicht so viel davon, aber soweit ich das sagen konnte, deutete alles darauf hin, dass sie von jemandem getötet worden war, den sie gekannt hatte, von jemandem mit einem auf brausenden Temperament, nicht mit langgehegten Rachegelüsten. Die Person, die am ehesten in Frage kam, war entweder der Kindsvater oder irgendeiner von den Mitbewohnern oder sowohl als auch. Aber wenn ich das sagte, war die Besprechung vorbei, zumindest was mich betraf. Sam würde an die Decke gehen bei dem Gedanken, dass ich mit den nächstliegenden Verdächtigen zusammen unter einem Dach wohnen würde. Und das wollte ich nicht. Weil, wie ich mir einzureden versuchte, ich die Entscheidung selbst treffen und sie mir nicht von Sam aus der Hand nehmen lassen wollte, aber 224
ich wusste: Die Situation hatte ihre Wirkung auf mich, dieser Raum und diese Leute und dieses Gespräch, ich wurde fast unmerklich in eine Richtung gedrängt, und genau das hatte Frank gewusst. Nichts auf der Welt geht dir mehr ins Blut als ein Mordfall, nichts fordert dich, Körper und Verstand, mit einer so gewaltigen und schreienden und unwiderstehlichen Stimme. Es war Monate her, seit ich zuletzt so gearbeitet hatte, so konzentriert auf das Zusammenfügen von Indizien und Mustern und Theorien, und auf einmal kam es mir vor, als wären Jahre vergangen. »Ich tippe auf Möglichkeit zwei«, sagte ich schließlich. »Jemand, der sie als Lexie Madison kannte.« »Wenn wir uns darauf konzentrieren«, sagte Sam, »dann standen ihre Mitbewohner ihr am nächsten, und sie haben sie zuletzt lebend gesehen. Damit rücken sie an vorderste Front.« Frank schüttelte den Kopf. »Da bin ich mir nicht so sicher. Sie hatte ihre Jacke an, und die 225
wurde ihr nicht angezogen, als sie schon tot war – vorne rechts ist ein Schlitz, der haargenau zu der Wunde passt. Für mich heißt das, sie war außerhalb des Hauses, weg von den Wohngenossen, als sie angegriffen wurde.« »Ich schließe die Mitbewohner trotzdem noch nicht aus«, sagte Sam. »Ich weiß nicht, wieso einer von ihnen sie erstochen haben sollte, ich weiß nicht, warum außerhalb des Hauses, ich weiß nur, in unserem Job ist die nächstliegende Antwort auch meist die, nach der wir suchen – und die Mitbewohner sind und bleiben nun mal die nächstliegende Antwort. Und solange wir keinen Zeugen finden, der die Frau nach Verlassen des Hauses lebend gesehen hat, bleiben sie für mich verdächtig.« Frank zuckte die Achseln. »In Ordnung. Angenommen, einer von denen war’s: Die halten zusammen wie Pech und Schwefel, sie sind stundenlang vernommen worden, ohne mit der Wimper zu zucken, die Chance, dass wir sie knacken, ist prak226
tisch gleich null. Oder angenommen, es ist ein Außenstehender. Wir haben nicht den leisesten Schimmer, wer er ist, woher er Lexie kannte oder wo wir anfangen sollen, nach ihm zu suchen. Manche Fälle lassen sich von außen einfach nicht lösen. Deshalb gibt es ja die Undercoverabteilung. Womit ich auch schon wieder bei meinem Alternativkurs wäre.« »Eine Kollegin mitten unter einen Haufen Mordverdächtige zu schicken«, sagte Sam. »Nur mal ganz grundsätzlich«, sagte Frank zu ihm und zog dabei amüsiert eine Augenbraue leicht hoch, »wir schicken Undercoverleute nicht los, um tugendhafte Unschuldige auszukundschaften. In der Regel haben wir es bei unserer Arbeit mit Kriminellen zu tun.« »Und zwar Kriminelle à la IRA, Gangster, Dealer«, sagte O'Kelly. »Hier geht es um eine Handvoll Studenten, Mensch. Mit denen würde wahrscheinlich sogar Maddox fertig.«
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»Genau«, sagte Sam. »Genau. Die Undercoverabteilung ermittelt im Milieu organisierter Kriminalität: Drogen, Banden. Sie wird nicht in einem Nullachtfünfzehn-Mord aktiv. Wieso brauchen wir sie bei diesem Fall?« »Aus dem Mund eines Detectives vom Morddezernat«, sagte Frank besorgt, »erstaunt mich das. Wollen Sie damit sagen, das Leben unserer Unbekannten ist weniger wert als ein Kilo Heroin?« »Nein«, sagte Sam unbeirrt. »Ich will damit sagen, es gibt andere Möglichkeiten, in einem Mordfall zu ermitteln.« »Zum Beispiel?«, fragte Frank und holte zum Vernichtungsschlag aus. »Was für andere Möglichkeiten haben Sie in diesem speziellen Mordfall? Sie haben keine Identifizierung des Opfers« – er beugte sich in Richtung Sam, zählte schnell an den Fingern ab –, »keinen Verdächtigen, kein Motiv, keine Tatwaffe, keinen Tatort, keinen Fingerabdruck, keinen Zeugen, keine Faserspur oder 228
auch nur einen einzigen guten Hinweis. Hab ich recht?« »Wir ermitteln erst seit drei Tagen«, sagte Sam. »Wer weiß, was wir –« »Und jetzt schauen wir uns mal an, was Sie haben.« Frank hielt einen Finger hoch. »Eine erstklassige, ausgebildete, erfahrene UndercoverErmittlerin, die dem Opfer wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Also. Irgendeinen Grund, warum Sie das nicht nutzen wollen?« Sam lachte, ein zorniger kleiner Laut, und kippelte seinen Stuhl auf die Hinterbeine. »Warum ich sie nicht ins Haifischbecken werfen will?« »Sie ist Detective«, sagte Frank, sehr sanft. »Ja«, sagte Sam nach einem langen Moment. Er ließ die Vorderbeine seines Stuhls wieder nach unten, ganz behutsam. »Das ist sie.« Sein Blick glitt weg von Frank, durch den Raum: leere Schreibtische in halbdunklen Ecken, die Explosion von Gekritzel und Karten und Lexie auf der Tafel, ich.
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»Schauen Sie nicht mich an«, sagte O'Kelly. »Ihr Fall, Ihre Entscheidung.« Wenn diese Sache in die Hose ging, und damit rechnete er offenbar, wollte er möglichst weit aus der Schusslinie sein. Alle drei gingen mir allmählich gehörig auf den Wecker. »Ich bin auch noch da«, warf ich ein. »Du solltest versuchen, mich zu überzeugen, Frank, ich finde nämlich, ich hab da auch noch ein Wörtchen mitzureden.« »Sie gehen dahin, wohin man Sie schickt«, sagte O'Kelly. »Natürlich hast du das«, sagte Frank vorwurfsvoll zu mir. »Moment noch. Ich dachte, es wäre höflich, die Sache erst mit Detective O'Neill zu besprechen, schließlich ist das hier ja eine gemeinsame Ermittlung. Oder seh ich das falsch?« Genau deshalb sind gemeinsame Ermittlungen so furchtbar: Keiner weiß genau, wer eigentlich das Sagen hat, und keiner will es herausfinden. Offiziell sollten Sam und Frank alle wichtigen Entscheidungen einvernehmlich treffen, aber 230
wenn es hart auf hart ging, lag die Entscheidung in Sachen Undercover bei Frank. Sam hätte sich wahrscheinlich durchsetzen können, weil es ja zunächst sein Fall gewesen war, aber nicht ohne einen verdammt guten Grund und ohne Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen. Frank sorgte dafür – ich dachte, es wäre höflich –, dass Sam das nicht vergaß. »Völlig richtig«, sagte ich. »Aber denk dran, du musst die Sache auch mit mir besprechen. Bislang habe ich noch nichts gehört, was mich wirklich überzeugt hätte.« »Für wie lange wäre es?«, fragte Sam. Er fragte Frank, doch seine Augen waren auf mich gerichtet, und der Ausdruck darin erschreckte mich: eindringlich und sehr ernst, fast traurig. In dieser Sekunde wurde mir klar, dass Sam ja sagen würde. Auch Frank sah es. Seine Stimme veränderte sich nicht, aber sein Rücken war jetzt ganz gerade, und in seinem Gesicht lag ein neues Leuchten, etwas Waches und Raubtierhaftes. »Nicht lange. Ein Monat, höchstens. Schließlich ist es keine Ermitt231
lung im Umfeld des organisierten Verbrechens, wo wir jemanden brauchen, der uns über Jahre hinweg mit Infos versorgt. Wenn der Einsatz in den ersten paar Wochen nichts bringt, dann bringt er auch später nichts mehr.« »Sie wäre abgesichert.« »Rund um die Uhr.« »Wenn es irgendein Anzeichen für Gefahr gibt –« »Ziehen wir sie auf der Stelle ab oder gehen rein und holen sie raus, falls nötig. Ebenso, wenn Sie an Informationen gelangen, die ihren Einsatz nicht länger erforderlich machen: Dann holen wir sie noch am selben Tag raus.« »Dann sollte ich mich beeilen«, sagte Sam leise mit einem tiefen Ausatmen. »Okay: Wenn Detective Maddox es machen will, dann machen wir’s. Unter der Bedingung, dass ich über alle Entwicklungen auf dem Laufenden gehalten werde. Ausnahmslos.«
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»Wunderbar«, sagte Frank und rutschte rasch von seinem Stuhl, ehe Sam es sich anders überlegen konnte. »Sie werden es nicht bereuen. Moment noch, Cassie – bevor du irgendwas sagst, will ich dir was zeigen. Ich hab dir Videos versprochen, und ich bin ein Ehrenmann, der sein Wort hält.« O'Kelly stieß ein Schnauben aus und ließ natürlich irgendeine Bemerkung über Amateurpornos vom Stapel, doch ich hörte kaum hin. Frank kramte in seinem großen schwarzen Rucksack herum, schwenkte eine beschriftete DVD in meine Richtung und schob sie in den Billig-DVD-Player des Morddezernats. »Laut Datumsanzeige ist es der zwölfte September letzten Jahres«, sagte er und schaltete den Monitor ein. »Daniel hat die Schlüssel zum Haus am zehnten bekommen. Er und Justin sind am Nachmittag hingefahren, um sich zu vergewissern, dass das Dach nicht eingestürzt war oder so, am elften haben alle fünf ihre Sachen gepackt, und am 233
zwölften haben sie alle ihre Wohnungsschlüssel abgegeben und sind mit Sack und Pack in Whitethorn House eingezogen. Die fünf machen Nägel mit Köpfen.« Er hievte sich auf Costellos Schreibtisch, neben mir, und drückte die Play-Taste der Fernbedienung. Dunkelheit. Ein Klicken und Klirren, wie ein alter Schlüssel, der sich dreht. Polternde Füße auf Holz. »Ach du Schande«, sagte jemand. Eine fein modulierte Stimme mit Belfaster Färbung: Justin. »Der Geruch.« »Weshalb bist du so schockiert?«, fragte eine tiefere Stimme, kühl und fast ohne dialektalen Einschlag. (»Das ist Daniel«, sagte Frank neben mir.) »Du hast doch gewusst, was dich erwartet.« »Ich hatte es verdrängt.« »Läuft das Ding?«, fragte eine Frau. »Rafe, kannst du das sehen?« »Das ist unser Mädel«, sagte Frank leise, aber ich wusste es schon. Sie klang heller als ich, eine
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sehr klare Altstimme, und die erste Silbe traf mich genau im Nacken, oben an der Wirbelsäule. »Ich glaub’s nicht«, sagte eine männliche Stimme mit englischem Akzent, amüsiert: Rafe. »Du filmst das?« »Na klar. Unser neues Zuhause. Ich weiß nur nicht, ob das Ding überhaupt funktioniert, weil ich nur Schwarz aufnehme. Gibt’s hier Strom?« Wieder Fußgetrappel. Türenknarren. »Das müsste die Küche sein«, sagte Daniel. »Soweit ich mich erinnere.« »Wo ist der Schalter?« »Ich hab ein Feuerzeug«, sagte eine andere Frauenstimme. Abigail. Abby. »Ihr müsst jetzt ganz stark sein«, sagte Justin. Eine winzige Flamme flackerte in der Mitte des Bildschirms. Ich konnte nur eine Seite von Abbys Gesicht sehen, Augenbraue hochgezogen, Mund leicht geöffnet. »Heiliger Strohsack, Daniel«, sagte Rafe. »Ich hab euch gewarnt«, sagte Justin. 235
»Stimmt, das hat er«, sagte Abby. »Wenn ich mich recht entsinne, hat er gesagt, es wäre eine Mischung aus archäologischer Ausgrabungsstätte und den gruseligen Stellen bei Stephen King.« »Ich weiß, aber ich hab gedacht, er übertreibt wie immer. Dass er untertreibt, hab ich nicht erwartet.« Irgendwer – Daniel – nahm Abby das Feuerzeug ab und hielt die Hand schützend um eine Zigarette. Von irgendwoher zog es. Sein Gesicht in dem wackeligen Bild war entspannt, gelassen. Er blickte über die Flamme und zwinkerte Lexie seelenruhig zu. Vielleicht lag es daran, dass ich mir das Foto so lange angesehen hatte, aber irgendwie hatte es für mich etwas Erstaunliches, sie alle in Aktion zu sehen. Als wäre ich eines von diesen Kindern in Büchern, die eine magische Lupe finden, durch die sie in das geheime Leben von irgendeinem alten Gemälde gelangen, packend und abenteuerlich.
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»Nicht«, sagte Justin, nahm das Feuerzeug und stieß damit vorsichtig gegen irgendetwas auf einem wackeligen Regal. »Wenn du rauchen willst, dann draußen.« »Wieso?«, fragte Daniel. »Weil sonst die Tapeten vergilben oder die Vorhänge anfangen zu müffeln?« »Das ist ein Argument«, sagte Abby. »Was seid ihr bloß für Weicheier«, sagte Lexie. »Ich find’s hier super. Ich komm mir vor wie in einem Fünf-Freunde-Buch.« »Fünf Freunde finden eine prähistorische Ruine«, sagte Daniel. »Fünf Freunde finden den Schimmelplaneten«, sagte Rafe. »Einfach grandios.« »Wir sollten Ingwerkuchen und Büchsenfleisch essen«, sagte Lexie. »Beides zusammen?«, fragte Rafe. »Und Sardinen«, sagte Lexie. »Was für Büchsenfleisch?« »Schmalzfleisch«, erwiderte Abby. 237
»Igitt.« Justin ging zur Spüle, hielt das Feuerzeug dicht darüber und drehte die Wasserhähne auf. Einer von ihnen stotterte, spotzte und stieß schließlich einen dünnen Wasserstrahl aus. »Mmm«, sagte Abby. »Typhus-Tee, möchte jemand?« »Ich will George sein«, sagte Lexie. »Die war toll.« »Mir egal, solange ich nicht Anne bin«, sagte Abby. »Die wurde immer verdonnert, den Abwasch zu machen, nur weil sie ein Mädchen war.« »Was soll daran falsch sein?«, fragte Rafe. »Du kannst Timmy der Hund sein«, sagte Lexie zu ihm. Der Rhythmus ihrer Unterhaltung war schneller, als ich erwartet hatte, pfiffig und schlagfertig, und ich konnte mir vorstellen, wieso sie an der Uni als arrogant galten. Gespräche mit ihnen mussten unmöglich sein; diese knappen, geschliffenen Synkopen ließen keinen Raum für andere. 238
Doch irgendwie war es Lexie gelungen, sich da hineinzuschieben, indem sie sich selbst angepasst oder die anderen behutsam neu sortiert hatte, bis Platz für sie da war und sie Teil von ihnen wurde, nahtlos. Was immer die Frau für ein Spiel gespielt hatte, sie war gut darin gewesen. Eine leise klare Stimme in meinem Hinterkopf sagte: Genau wie ich gut in meinem bin. Wie durch Zauberhand wurde der Bildschirm hell, mehr oder weniger, als an der Decke eine Vierzig-Watt-Birne anging: Abby hatte den Lichtschalter gefunden, in einer abwegigen Ecke an einem fettverkrusteten Herd. »Gut gemacht, Abby«, sagte Lexie mit einem Schwenk. »Ich weiß nicht recht«, sagte Abby. »Jetzt kommt mir alles noch schlimmer vor, wo ich es sehen kann.« Sie hatte recht. Die Wände waren offenbar irgendwann mal tapeziert gewesen, doch grünlicher Schimmel hatte einen Putsch gestartet, rückte aus allen Ecken vor und hatte sich schon fast in der 239
Mitte getroffen. Spektakuläre Spinnweben hingen wie eine Halloween-Dekoration von der Decke, schwankten sacht in der Zugluft. Das Linoleum war grau und wellig, durchzogen mit bedenklichen dunklen Streifen. Eine Glasvase auf dem Tisch enthielt einen Strauß sehr toter Blumen, die mit geknickten Stängeln in bizarren Winkeln schlaff herabhingen. Auf allem lag fingerdicker Staub. Abby wirkte zutiefst skeptisch; Rafe wirkte amüsiert und entsetzt zugleich; Daniel wirkte leicht fasziniert; Justin wirkte, als müsste er gleich brechen. »Da soll ich wohnen?«, sagte ich zu Frank. »So sieht es doch jetzt nicht mehr aus«, sagte er vorwurfsvoll. »Die fünf haben ordentlich was dran gemacht.« »Haben sie es abgerissen und neu gebaut?« »Es ist schön geworden. Es wird dir gefallen. Schsch.« »Hier«, sagte Lexie. Die Kamera ruckelte und schwang wild herum, fing fadenscheinige Vor240
hänge mit grässlich orangerot verwirbeltem Siebziger-Jahre-Muster ein. »Übernimm mal. Ich will mich umschauen.« »Ich hoffe, du hast deine Impfungen auffrischen lassen«, sagte Rafe. »Was soll ich denn damit anstellen?« »Nerv mich nicht«, erwiderte Lexie und sprang ins Bild, steuerte auf die Schränke zu. Sie bewegte sich leichter als ich, kleine wippende Schritte, und mädchenhafter: Ihre Rundungen waren nicht ausgeprägter als meine, natürlich nicht, aber durch ihren tänzelnden kleinen Schwung fielen sie ins Auge. Ihr Haar war da noch länger gewesen, gerade lang genug, um es zu zwei lockigen Rattenschwänzen über den Ohren zu binden, und sie trug Jeans und einen engen cremefarbenen Pullover, der so ähnlich aussah wie einer, den ich mal gehabt hatte. Ich wusste noch immer nicht, ob wir uns sympathisch gewesen wären, wenn wir die Chance gehabt hätten, uns kennenzulernen – wahrscheinlich nicht –, aber das tat 241
nichts zur Sache, war so irrelevant, dass ich nicht mal wusste, wie ich darüber nachdenken sollte. »Du liebe Zeit«, sagte Lexie, die in einen der Schränke spähte. »Was ist das denn? Lebt das?« »Hat es vielleicht mal«, sagte Daniel nach einem Blick über ihre Schulter. »Vor sehr langer Zeit.« »Ich glaube, umgekehrt wird ein Schuh draus«, sagte Abby. »Es hat nicht gelebt, aber es lebt jetzt. Hat es schon opponierbare Daumen entwickelt?« »Ich will wieder nach Hause«, sagte Justin traurig aus sicherer Entfernung. »Willst du nicht«, sagte Lexie zu ihm. »Deine Wohnung war ein Meter im Quadrat und aus recycelter Pappe, und du fandest sie scheußlich.« »Meine Wohnung war jedenfalls frei von unbekannten Lebensformen.« »Wie hieß noch gleich der Typ über dir mit der bombastischen Stereoanlage, der sich für Bob Marley gehalten hat?«
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»Ich glaub, das ist irgendein Pilz«, sagte Daniel mit interessiert forschendem Blick in den Schrank. »Das reicht«, sagte Rafe. »Ich nehm das nicht auf. Wenn wir alt und grau sind und uns verklärter Nostalgie hingeben, sollten sich unsere ersten Erinnerungen an dieses Haus nicht um Pilzbefall drehen. Wie geht das Ding hier aus?« Eine Sekunde Linoleum, dann wurde der Bildschirm schwarz. »Wir haben zweiundvierzig solcher Clips«, sagte Frank, während er Knöpfe drückte, »alle zwischen gut einer Minute und fünf Minuten lang. Mit diesem Anschauungsmaterial und noch einer guten Woche intensiver Gespräche mit ihren vier Mitbewohnern haben wir mit Sicherheit genug Informationen, um uns eine Lexie Madison Marke Eigenbau zusammenzubasteln. Vorausgesetzt natürlich, du willst es machen.« Er stoppte den Film bei einem Bild von Lexie. Sie blickte über die Schulter, um etwas zu sagen, die Augen strahlend und der Mund halb zu einem 243
Lächeln geöffnet. Ich betrachtete sie, weichgezeichnet und flimmernd, als würde sie jede Sekunde vom Bildschirm davonfliegen, und ich dachte: So war ich auch mal. Selbstsicher und unverwundbar, zu allem bereit, was sich ergab. Noch vor wenigen Monaten war ich so. »Cassie«, sagte Frank leise. »Deine Entscheidung.« Scheinbar endlos lange war ich drauf und dran, nein zu sagen. Zurück ins DHG: die übliche Montagsernte nach dem Wochenende, zu viele Blutergüsse und Pullover mit hohem Rollkragen und Sonnenbrillen im Haus, die Stammkundinnen, die ihre Freunde anzeigten und die Anzeige am Dienstagabend schon wieder zurückzogen, Maher, der neben mir saß wie ein dicker rosa Schinken im Pullover und unvermeidlich jedes Mal kicherte, wenn wir einen Fall mit ausländischen Namen reinkriegten. Wenn ich am nächsten Morgen dahin zurückging, würde ich nie mehr dort wegkommen. Ich 244
wusste es so klar wie eine Faust im Magen. Diese Frau war wie eine Herausforderung, die mir mit Vehemenz und tödlicher Präzision entgegengeschleudert wurde: eine einmalige Chance, schnapp sie dir, wenn du kannst. O'Kelly streckte die Beine aus und seufzte demonstrativ. Cooper begutachtete die Risse in der Decke. Die Reglosigkeit von Sams Schultern verriet mir, dass er nicht atmete. Nur Frank sah mich an, seine Augen unverwandt und starr. Die Luft im Raum brannte überall, wo sie mich berührte. Lexie in mattgoldenem Licht auf dem Bildschirm war ein dunkler See, in den ich mich kopfüber hineinstürzen konnte, sie war ein Fluss mit dünnem Eis, auf dem ich mit Schlittschuhen davongleiten konnte, sie war ein Langstreckenflugzeug, das jetzt startete. »Sagt mir, dass die Frau geraucht hat«, sagte ich. Meine Rippen öffneten sich wie Fenster, ich hatte vergessen, dass es möglich war, so tief einzuatmen. 245
»Meine Fresse, haben Sie sich Zeit gelassen«, sagte O'Kelly, wuchtete sich aus dem Stuhl und zog sich die Hose höher über den Bauch. »Ich denke, Sie sind echt unzurechnungsfähig, aber das ist ja nichts Neues. Wenn Sie umgebracht werden, kommen Sie bloß nicht heulend zu mir gerannt.« »Faszinierend«, sagte Cooper, der mich forschend beäugte. Offenbar kalkulierte er bereits die Chancen durch, dass ich irgendwann auf seinem Tisch landen würde. »Halten Sie mich unbedingt auf dem Laufenden.« Sam strich fest mit einer Hand über den Mund, und ich sah, wie sein Hals sich neigte. »Marlboro Lights«, sagte Frank, drückte die Auswurftaste, und ein breites Grinsen malte sich langsam auf seinem Gesicht ab. »So kenn ich dich.«
Früher dachte ich mal, naiv und gutgläubig, wie ich war, dass ich den beraubten Toten etwas zu 246
bieten hatte. Nicht Rache – keine Rache der Welt könnte ihnen auch nur einen winzigen Bruchteil dessen zurückgeben, was sie verloren haben – und auch nicht Gerechtigkeit, was immer das heißt, sondern das Einzige, was ihnen noch gegeben werden kann: die Wahrheit. Darin war ich gut. Ich hatte zumindest eine der Eigenschaften, die einen richtig guten Detective ausmachen: den Instinkt für Wahrheit, den inneren Magneten, der dir zweifelsfrei verrät, was Schlacke, was Legierung und was das reine, ungeschliffene Metall ist. Ich grub die Goldklumpen aus, auch wenn sie mir die Finger aufschnitten, und trug sie in hohlen Händen, um sie auf Gräber zu legen, bis ich merkte – schon wieder der Knocknaree-Fall –, wie glitschig sie waren, wie leicht sie zerbröselten, wie tief sie einschnitten, und schließlich, wie wenig sie wert waren. Wenn du im Dezernat für häusliche Gewalt nur eine einzige grün und blau geprügelte Frau dazu bringen kannst, Anzeige zu erstatten oder ins 247
Frauenhaus zu gehen, dann wird ihr Freund sie wenigstens einen Abend nicht schlagen. Sicherheit ist eine kleine, minderwertige Währung, Kupfermünzen im Vergleich zu dem Gold, hinter dem ich im Morddezernat her war, aber sie behält den Wert, den sie hat. Und mittlerweile hatte ich gelernt, das nicht leichtfertig abzutun. Ein paar sichere Stunden und ein Blatt mit Telefonnummern, die man anrufen kann: So viel hatte ich niemals auch nur einem einzigen Mordopfer bieten können. Ich hatte keine Ahnung, was für eine Währung ich Lexie Madison zu bieten hatte – Sicherheit natürlich nicht, und Wahrheit hatte für sie anscheinend auch keine so große Rolle gespielt –, aber sie hatte nach mir gesucht, als Lebende und als Tote war sie auf leisen Füßen näher getappt, bis sie mit einem spektakulären Knall vor meiner Tür stand: Sie wollte irgendetwas. Was ich im Gegenzug von ihr wollte – und zu der Zeit glaubte ich das wirklich – war einfach: Ich wollte sie verdammt 248
nochmal aus meinem Leben raushaben. Ich wusste, sie würde hart verhandeln, aber damit kam ich gut klar; ich hatte Erfahrung damit. Ich erzähle das niemandem, weil es keinen was angeht, aber der Job ist für mich fast so etwas wie Religion. Der Gott eines Detectives ist die Wahrheit, etwas Höheres und Skrupelloseres gibt es kaum. Du opferst, zumindest im Morddezernat und bei der Undercoverarbeit – und woanders wollte ich nie sein, wieso auf verdünnte Versionen aus sein, wenn du das atemberaubende Ganze haben kannst? –, alles, was du hast, deine Zeit, deine Träume, deine Ehe, deinen Verstand, dein Leben. Es ist die kälteste und launischste Gottheit von allen, und wenn sie dich in ihren Diensten akzeptiert, dann nimmt sie nicht, was du anbieten möchtest, sondern was sie will. Die Undercoverarbeit hatte sich meine Aufrichtigkeit ausgesucht. Ich hätte es kommen sehen müssen, aber irgendwie hatte mich die betörende Bedingungslosigkeit des Jobs derart gefangen, 249
dass ich schaffte, das Offensichtlichste daran zu übersehen: Du lügst von morgens bis abends. Ich mag keine Lügen, lüge nicht gern, mag Leute nicht, die lügen, und ich fand es total daneben, auf der Suche nach der Wahrheit zur Lügnerin zu werden. Monatelang wurstelte ich mich mit irgendwelchen Ausflüchten und Hinhaltetaktiken durch, schmeichelte mich bei diesem Klein-Dealer ein, machte Witze und sarkastische Bemerkungen, um ihn mit echten Wahrheiten zu täuschen. Eines Tages dann schloss er seine zwei Gehirnzellen mit Speed kurz, bedrohte mich mit einem Messer und fragte, ob ich ihn nur benutzen würde, um an seinen Lieferanten ranzukommen. Ich wich ihm eine halbe Ewigkeit lang aus – Reg dich ab, was hast du für ein Problem, wie kommst du plötzlich darauf, dass ich dich bescheißen will? –, spielte auf Zeit und hoffte inständig, dass Frank über das Mikro, das ich trug, mithörte. Dealer-Boy drückte mir das Messer an die Rippen und schrie mir ins Gesicht, Na los, sag schon, sag schon. Erzähl mir 250
bloß keinen Scheiß. Ja oder nein? Als ich zögerte – denn natürlich wollte ich genau das, wenn auch nicht aus dem Grund, den er vermutete, und dieser Augenblick war ja wohl zu kritisch, um zu lügen – , stach er zu. Dann brach er in Tränen aus, und irgendwann war Frank da und schaffte mich unauffällig ins nächste Krankenhaus. Aber ich wusste es. Das Opfer war gefordert worden, und ich hatte es verweigert. Die dreißig Stiche, mit denen ich genäht werden musste, waren mir eine Warnung: Tu das nie wieder. Ich war gut im Morddezernat. Rob erzählte mir mal, dass er während der Arbeit an seinem ersten Fall die ganze Zeit detaillierte Visionen hatte, wie er irgendwie Mist bauen würde: auf DNABeweise niesen, einen Verdächtigen fröhlich laufenlassen, der sich gerade mit einer rausgerutschten Bemerkung verraten hatte, an jedem noch so deutlichen Indiz blicklos vorbeistolpern. Mir ging das nie so. Mein erster Mordfall war so ungefähr das Banalste und Deprimierendste, was man sich 251
vorstellen kann – ein junger Junkie, erstochen im Treppenhaus einer trostlosen Mietskaserne, die schmuddeligen Stufen unterhalb von ihm mit Blut beschmiert und neugierige Augen hinter verriegelten Türen und der Pissegestank allgegenwärtig. Ich stand auf dem Treppenabsatz, die Hände in den Taschen, damit ich nichts aus Versehen anfasste, schaute zu dem Opfer hoch, das ausgestreckt auf den Stufen lag, die Trainingshose halb runtergerutscht durch den Sturz oder den Kampf, und ich dachte: Da bin ich also. Das war die ganze Zeit mein Ziel. Ich erinnere mich noch an das Gesicht des Junkies: zu dünn, ein Flaum heller Bartstoppeln, der Mund leicht geöffnet, als hätte ihn das alles völlig verstört. Er hatte einen schiefen Vorderzahn. Obwohl die Chance verschwindend gering war und trotz O'Kellys finsteren Prophezeiungen lösten wir den Fall. In dem Knocknaree-Fall hatte der Gott des Morddezernats meinen besten Freund und meine 252
Aufrichtigkeit gefordert und mir im Gegenzug nichts dafür gegeben. Ich ließ mich versetzen, obwohl ich wusste, dass ich für die Fahnenflucht einen Preis würde bezahlen müssen. Im Hinterkopf rechnete ich damit, dass meine Erfolgsrate abstürzen, jeder brutale Typ mich krankenhausreif schlagen, jede tobsüchtige Frau mir die Augen auskratzen würde. Ich hatte keine Angst: Ich freute mich darauf, dass es vorbei wäre. Aber als nichts geschah, schwante mir, wie eine langsam ansteigende kalte Flut, dass das die Strafe war: freigelassen zu werden, eigene Wege gehen zu können. Ohne meinen Schutzgott auskommen zu müssen. Und dann rief Sam an, und Frank wartete oben auf dem Hügel, und starke, unerbittliche Hände zogen mich wieder zurück. Sie können das alles einem Hang zum Aberglauben zuschreiben, wenn das die einfachste Erklärung ist, oder dem intensiven, geheimen Leben, wie es viele Waisen oder Einzelkinder führen. Von mir aus. Aber vielleicht 253
erklärt es ja in gewisser Weise, warum ich zur SOKO Spiegel ja sagte und warum ich, als es dann losging, durchaus mit der Möglichkeit rechnete, getötet zu werden.
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4 Die Woche danach verbrachten Frank und ich damit, Lexie Madison Version 3.0 auszuarbeiten. Tagsüber quetschte er Leute nach Informationen über sie aus, ihre Gewohnheiten, ihre Stimmungen, ihre Beziehungen, dann kam er zu mir in die Wohnung und bläute mir den ganzen Abend lang die Ausbeute des Tages ein. Ich hatte vergessen, wie gut er darin war, wie methodisch und gründlich und wie sehr er von mir erwartete, sein Tempo mitzugehen. Bevor wir an jenem Sonntagabend das Büro im Morddezernat verließen, drückte er mir Lexies Wochenplan und einen Stoß Fotokopien von ihrem Dissertationsmaterial in die Hand. Am Montag kam er mit einer dicken Akte über ihre BKs – bekannte Kontakte – samt Fotos und Stimmenaufnahmen und Hintergrundinfos und schlaumeierischen Kommentaren – Stoff, den ich auswendig lernen sollte. Am Dienstag brachte er eine Luftbildkarte von der Gegend um Glenskehy 255
mit, und ich musste mir jedes Detail einprägen, bis ich die Karte aus dem Gedächtnis zeichnen konnte, dann arbeiteten wir uns bis Whitethorn House vor, von dem er mir Etagenpläne und Fotos vorlegte. Den ganzen Kram zu besorgen hatte Zeit gekostet. Frank, dieses Arschloch, hatte lange vor Sonntagabend gewusst, dass ich ja sagen würde. Wir sahen uns wieder und wieder die Handyvideos an, wobei Frank alle paar Sekunden auf Pause drückte, um fingerschnippend auf irgendeine Einzelheit zu zeigen: »Siehst du das? Wie sie den Kopf nach rechts neigt, wenn sie lacht? Mach mal nach … Siehst du, wie sie Rafe anschaut, und da, Justin? Mit denen flirtet sie. Daniel und Abby schaut sie direkt an, aber die beiden Jungs seitlich und aufwärts. Merk dir das … Und siehst du, was sie mit der Zigarette macht? Sie klemmt sie nicht rechts zwischen die Lippen, so wie du. Ihre rechte Hand greift rüber, und die Kippe geht links rein. Zeig mal, wie das bei dir aussieht … Hast du das gesehen? Justin ist dabei, sich über den Schimmel 256
aufzuregen, und sofort ist da der kleine Blick zwischen Abby und Lexie, und sie fangen von den hübschen Fliesen an, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Die beiden sind eingespielt … « Ich sah mir die Clips so häufig an, dass sie, wenn ich schließlich ins Bett ging – meistens um fünf Uhr morgens, und Frank schlief in seinen Klamotten auf dem Sofa –, noch durch meine Träume glitten wie ein ständiger Sog, und an mir zerrten: Daniels schroffe, schneidende Stimme im Gegensatz zu Justins hellem Oberton, die Muster der Tapete, Abbys sattes, perlendes Lachen. Sie lebten nach einem genau geregelten Ablauf, der mich erstaunte. In meiner Studentenzeit fanden ständig bei irgendwem spontane Feten statt, oder wir büffelten wie besessen die ganze Nacht durch, ohne richtige Mahlzeiten, höchstens mal ein Sandwich zwischendurch. Aber die fünf: Die beiden Frauen machten jeden Morgen um halb acht das Frühstück, gegen zehn waren alle an der Uni – Daniel und Justin hatten jeder ein Auto, also 257
fuhren sie die anderen –, egal, ob sie Tutorenkurse gaben oder nicht, etwa halb sieben waren sie wieder zu Hause, und die Männer machten das Abendessen. Am Wochenende arbeiteten sie am Haus. Bei schönem Wetter machten sie hin und wieder irgendwo ein Picknick. Sogar ihre Freizeitgestaltung war beeindruckend: Da spielte Rafe auf dem Klavier, oder Daniel las laut Dante vor, und Abby restaurierte einen bestickten Fußhocker aus dem achtzehnten Jahrhundert. Sie hatten keinen Fernseher, geschweige denn einen Computer – Daniel und Justin benutzten gemeinsam eine mechanische Schreibmaschine, die anderen drei hatten immerhin noch so viel Kontakt zum einundzwanzigsten Jahrhundert, dass sie die Computer an der Uni benutzten. Sie waren wie Spione von einem anderen Planeten, die bei ihren Recherchen einen Fehler gemacht und zur Vorbereitung Edith Wharton gelesen und Wiederholungen von Unsere kleine Farm gesehen hatten. Frank
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musste im Internet nachsehen, wie man Piquet spielt, und es mir beibringen. Das alles ging Frank natürlich gehörig gegen den Strich und inspirierte ihn zu immer kreativeren Lästereien (»Ich glaube, die sind irgend so eine spinnerte Sekte, die moderne Technologie für Teufelswerk hält und bei Vollmond die Grünpflanzen besingt. Keine Bange, wenn sie Vorbereitungen für eine Orgie treffen, hol ich dich raus. So wie die aussehen, kann ich mir nicht vorstellen, dass du Spaß dran hättest. Wer zum Henker hat denn keinen Fernseher?«) Ich sagte ihm das nicht, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto weniger exzentrisch kam mir ihr Leben vor und desto stärker war ich von ihnen fasziniert. Dublin ist eine schnelle Stadt geworden, sie ist übervoll und hektisch, alle haben Panik davor, zurückgelassen zu werden, und machen sich immer lauter bemerkbar, um ja nicht unterzugehen. Auch ich war seit dem Knocknaree-Fall schnell unterwegs gewesen, verbissen immer stur voran, um bloß nicht 259
anzuhalten, und zunächst war die schamlose, elegante Muße dieser vier – Stickerei, meine Fresse – so schockierend wie eine Ohrfeige. Ich hatte sogar vergessen, wie das überhaupt ging, etwas Langsames zu wollen, etwas Sanftes, etwas mit weitem Raum und eigenen sicheren, wiegenden Rhythmen. Dieses Haus mitsamt dem Leben darin schwebte in meinen Gedanken kühl wie Brunnenwasser, kühl wie der Schatten unter einer Eiche an einem heißen Nachmittag. Tagsüber übte ich: Lexies Handschrift, ihren Gang, ihre sprachliche Färbung – zum Glück für mich war es nur ein leichter, etwas altmodischer Einschlag, als käme sie aus dem County Dublin, den sie vermutlich von irgendeinem Fernsehoder Radiomoderator übernommen hatte, und gar nicht so viel anders als meiner –, ihren Tonfall, ihr Lachen. Als ich es zum ersten Mal richtig hinkriegte – ein begeistertes, haltlos perlendes Lachen, die Tonleiter rauf, wie bei einem Kind, das gekitzelt wird –, erschrak ich zu Tode. 260
Ihre Version von Lexie Madison war beruhigenderweise ein bisschen anders gewesen als meine. Damals am UCD spielte ich Lexie fröhlich, unbekümmert, leutselig, am glücklichsten, wenn sie mitten im Geschehen stand. Sie hatte nichts Unberechenbares an sich, keine dunklen Seiten, nichts, was Dealer oder Käufer veranlassen konnte, in ihr ein Risiko zu sehen. Zumindest am Anfang sahen Frank und ich in ihr ein speziell angefertigtes Präzisionswerkzeug, das unseren Bedürfnissen zu dienen und nach unserer Pfeife zu tanzen hatte, mit einem ganz bestimmten Ziel im Kopf. Die Lexie der Unbekannten war unberechenbarer gewesen, sprunghafter, eigenwilliger, launischer. Sie hatte sich eine Frau mit zwei Gesichtern ausgedacht, im Umgang mit ihren Freunden ausgelassen und plappernd mit gelegentlichen mutwilligen Ausbrüchen, im Umgang mit Außenstehenden reserviert und eiskalt, und es wurmte mich, dass ich diesen Faden nicht zurückverfolgen konnte, um herauszufinden, was ihr Ziel ge261
wesen war, auf was für eine Aufgabe sie dieses neue Ich zugeschnitten hatte. Ich zog durchaus die Möglichkeit in Erwägung, dass ich alles komplizierter machte als nötig und sie überhaupt kein Ziel gehabt hatte, dass sie, zumindest was ihre Persönlichkeit anging, einfach sie selbst gewesen war. Es ist schließlich nicht einfach, monatelang in der Haut eines anderen Menschen zu stecken. Ich weiß, wovon ich rede. Aber der Gedanke, ihr diese Persönlichkeit einfach zu glauben, machte mich nervös. Irgendetwas sagte mir, dass es ein Riesenfehler wäre, diese Frau zu unterschätzen.
Am Dienstagabend saßen Frank und ich bei mir zu Hause auf dem Fußboden. Es gab Essen vom Chinesen, und wir aßen von der lädierten Holztruhe, die mir als Couchtisch dient und auf der Karten und Fotos ausgebreitet waren. Es war eine stürmische Nacht, der Wind warf sich in unregelmäßigen 262
Abständen mit gewaltiger Wucht gegen das Fenster, wie ein blindwütiger Angreifer, und wir waren beide kribbelig. Ich hatte mir den ganzen Tag BKInfos eingeprägt und so viel überschüssige Energie aufgestaut, dass ich, als Frank eintraf, gerade Handstand machte, um nicht an die Decke zu gehen. Frank war hereingerauscht gekommen, hatte unablässig redend Sachen vom Tisch gefegt, um Platz für Karten und Imbisspackungen zu schaffen, und ich überlegte – ihn zu fragen hätte nichts gebracht –, ob da irgendwo in den geheimen Winkeln dieser Playstation, die er Gehirn nennt, etwas vor sich ging, was er mir nicht erzählte. Die Kombination von Geographie und Essen beruhigte uns beide ein wenig – das war wahrscheinlich der Grund, warum Frank sich für Chinesisch entschieden hatte. Es ist schwer, nervös zu sein, wenn du den Mund voll mit Zitronenhähnchen hast. »Und das da«, sagte Frank, während er mit einer Hand die letzten Reiskörner auf die Gabel lud und mit der anderen zeigte, »ist die Tank263
stelle auf der Straße nach Rathowen. Geöffnet von sieben Uhr morgens bis drei Uhr nachts, hauptsächlich, um Kippen und Sprit an Einheimische zu verkaufen, die sich beides eigentlich nicht leisten können. Du gehst manchmal da Zigaretten kaufen. Willst du noch was essen?« »Gott, nein«, sagte ich. Ich war selbst verblüfft, was für einen Bärenhunger ich gehabt hatte – normalerweise esse ich wie ein Scheunendrescher, Rob war immer ganz fasziniert gewesen, wie viel ich verdrücken konnte, aber der Knocknaree-Fall hatte meinen Appetit gewissermaßen zur Strecke gebracht. »Kaffee?« Ich hatte schon eine Kanne aufgesetzt. Die Ringe unter Franks Augen näherten sich dem Punkt, wo sie kleinen Kindern Angst einjagen würden. »Jede Menge. Es wartet allerhand Arbeit auf uns. Wird wieder eine lange Nacht, Kleines.« »Öfter mal was Neues«, sagte ich. »Was sagt Olivia eigentlich dazu, dass du bei mir übernachtest?« 264
Es war ein Schuss ins Blaue, und die minimale Pause, die Frank einlegte, um seinen Teller wegzuschieben, verriet mir, dass meine Ahnung richtig gewesen war: Die Undercoverarbeit forderte wieder ihren Tribut. »Tut mir leid«, sagte ich. »Ich wollte nicht –« »Doch, wolltest du. Olivia ist vernünftig geworden und hat mich letztes Jahr abserviert. Ich kriege Holly an einem Wochenende im Monat und zwei Wochen im Sommer. Was hält dein Sammy denn davon, dass ich bei dir übernachte?« Seine Augen waren kühl und starr, und er klang nicht verärgert, bloß sachlich, aber die Botschaft war klar:Halt dich zurück. »Er hat kein Problem damit«, sagte ich und stand auf, um nach dem Kaffee zu sehen. »Alles für den Job.« »Meinst du? Am Sonntag hatte ich nicht den Eindruck, dass der Job für ihn an erster Stelle steht.« Ich änderte meine Meinung: Er war sauer auf mich wegen meiner Frage nach Olivia. Eine Ent265
schuldigung würde alles nur noch schlimmer machen. Ehe mir irgendetwas Sinnvolles einfiel, was ich sagen könnte, klingelte es unten an der Haustür. Ich schaffte es, so wenig wie möglich zusammenzuzucken, stieß mir auf dem Weg zur Tür an der Sofaecke ordentlich das Schienbein à la Inspektor Clouseau und bekam gerade noch Franks scharfen, neugierigen Blick mit. Es war Sam. »Und da hast du die Antwort«, sagte Frank grinsend und stemmte sich vom Fußboden auf die Beine. »Sein Vertrauen zu dir ist ungebrochen, aber mich möchte er im Auge behalten. Ich kümmere mich um den Kaffee, geh du ruhig knutschen.« Sam war erschöpft. Ich spürte es am Gewicht seines Körpers, als er mich küsste, an der Art, wie er den Atem mit einem fast erleichterten Seufzen ausströmen ließ. »Gott, tut das gut, dich zu sehen«, sagte er, und dann, als er Frank von der Küche aus winken sah: »Oh.«
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»Willkommen im Lexie-Labor«, sagte Frank fröhlich. »Kaffee? Schweinefleisch süß-sauer? Hummerchips?« »Ja.« Sam blinzelte. »Ich meine, nein. Bloß Kaffee, danke. Ich bleibe nicht lange, wenn ihr arbeiten müsst. Ich wollte bloß … Stör ich?« »Nein, nein«, beruhigte ich ihn. »Wir haben gerade gegessen. Hast du wirklich keinen Hunger?« »Wirklich nicht«, sagte Sam, warf seine Tasche auf den Boden und kämpfte sich aus dem Mantel. »Hast du einen Moment Zeit? Wenn ihr wirklich noch nicht angefangen habt.« Er richtete die Frage an mich, aber Frank sagte überschwänglich: »Ja klar. Setzen Sie sich, setzen Sie sich«, und winkte ihn zum Futon. »Milch? Zucker?« »Keine Milch, zwei Stück Zucker«, sagte Sam und ließ sich auf den Futon fallen. »Danke.« Ich war mir ziemlich sicher, dass er ausgehungert war, dass er nichts anrühren würde, was Frank gekauft hatte, dass die Tasche, die er mitgebracht hatte, 267
sämtliche Zutaten für etwas wesentlich Feineres als Zitronenhähnchen enthielt und dass ich, wenn ich bloß meine Hände auf seine Schultern legen könnte, die Anspannung in höchstens fünf Minuten wegmassiert hätte. Undercover zu gehen kam mir langsam wie die leichtere Übung vor. Ich setzte mich neben Sam, so nah es ging, ohne ihn zu berühren. »Wie läuft’s?«, fragte ich. Er drückte kurz meine Hand, langte dann nach seinem Mantel, der über der Rückenlehne des Futons hing, und fischte sein Notizbuch heraus. »Tja, ganz gut, glaub ich. Sind überwiegend noch beim Ausschließen. Richard Doyle, der Mann, der die Tote gefunden hat, sein Alibi ist wasserdicht. Von denen in den DHG-Akten, die du markiert hast, kommt auch keiner in Frage. Wir arbeiten noch den Rest durch und deine Mordfälle, aber bisher null.« Die Vorstellung, wie die Kollegen im Morddezernat meine Akten durchkämmten, während ihnen Gerüchte durch den Kopf schwirrten und das Opfer mein Gesicht trug, löste bei mir ein 268
unangenehmes kleines Zucken zwischen den Schulterblättern aus. »Sieht nicht so aus, als wäre sie je im Internet gewesen – keine InternetAktivitäten unter ihrem Log-in auf den UniComputern, keine MySpace-Seite oder irgendwas in der Art, die E-Mail-Adresse, die sie am Trinity bekommen hat, ist kein einziges Mal benutzt worden – also auch in der Richtung keine Anhaltspunkte. Und nicht die Spur von irgendwelchen Konflikten an der Uni – dabei ist die anglistische Fakultät die reinste Gerüchteküche. Wenn sie mit jemandem Probleme gehabt hätte, hätten wir das erfahren.« »Ich sag ja nur ungern, hab ich doch gleich gesagt«, bemerkte Frank süffisant und brachte die Tassen, »aber manchmal müssen wir im Leben auch Dinge tun, die uns unangenehm sind.« »Ja«, sagte Sam geistesabwesend. Frank machte förmlich einen Diener, um ihm seine Tasse zu reichen, und zwinkerte mir hinter Sams Rücken zu. Ich ignorierte ihn. Sam streitet sich grundsätzlich 269
nie mit Kollegen, die am selben Fall arbeiten, aber es gibt immer wieder Leute wie Frank, die glauben, er wäre einfach zu einfältig, um zu merken, wenn ihm jemand blöd kommt. »Deshalb hab ich gedacht, Cassie … Die Sache ist die, das Ausschließen könnte eine Ewigkeit dauern, aber solange ich kein Motiv und keine Anhaltspunkte habe, bleibt mir nichts anderes übrig. Ich weiß aber nicht, wo ich anfangen soll. Ich dachte, wenn ich nur irgendeine Idee hätte, wonach ich suche … Könntest du mir vielleicht beim Profiling helfen?« Eine Sekunde lang war mir, als wäre die Luft im Raum vor purer Traurigkeit dunkel geworden, beißend und unauslöschlich wie Rauch. Bei jedem Mordfall, mit dem ich je betraut worden war, hatte ich genau hier in meiner Wohnung versucht, ein Profil des Täters zu entwickeln: lange Nächte, Whiskey, Rob, der ausgestreckt auf dem Sofa mit einem Gummiband spielte und alles, was ich mir einfallen ließ, auf Schwachstellen abklopfte. Für den Knocknaree-Fall hatten wir Sam mit ins Boot 270
geholt, Sam, der mich schüchtern anlächelte, während Musik und Motten gegen die Fensterscheibe wirbelten, und mein einziger Gedanke war, wie glücklich wir drei gewesen waren, trotz allem, und wie fatal, wie verheerend arglos. Diese angespannte, überfüllte Wohnung – der Geruch nach fettigem, kaltem chinesischen Essen, mein Schienbein, das höllisch weh tat, Frank, der amüsiert aus den Augenwinkeln zusah –, das war nicht das Gleiche, es war wie ein höhnisch verzerrtes Spiegelbild in einem unheimlichen Vexierspiegel, und mein einziger Gedanke war aberwitzigerweise, ich will nach Hause. Sam schob einen Stoß Karten zur Seite – behutsam, mit einem Blick zu uns, um sich zu vergewissern, dass er auch nichts durcheinanderbrachte – und stellte seine Tasse ab. Frank rutschte ganz an den Rand des Sofas, stützte das Kinn auf die verschränkten Finger und tat fasziniert. Ich hielt die Augen gesenkt, damit sie den Ausdruck in meinem Gesicht nicht sehen konnten. Auf dem 271
Tisch lag ein Foto von Lexie, halb versteckt unter einem Reiskarton. Lexie auf einer Leiter in der Küche von Whitethorn House, in Latzhose und Männerhemd und mit weißer Farbe bekleckert. Zum allerersten Mal tat mir ihr Anblick gut: ein Handschellenruck am Gelenk, der mich wieder auf die Erde riss, ein Schwall kaltes Wasser ins Gesicht, der alles andere aus meinem Kopf verjagte. Fast hätte ich den Arm ausgestreckt und meine Hand auf das Foto gepresst. »Ja, klar mach ich ein Profil«, sagte ich. »Aber du weißt, dass ich dir nicht viel liefern kann, oder? Nicht bei einer einzigen Tat.« Als Profiler braucht man ein Muster. Bei einer einzelnen Tat kannst du unmöglich sagen, was purer Zufall und was ein Anhaltspunkt ist, für den die Begrenzungen im Leben des Täters oder die verborgenen kantigen Umrisse seines Denkens die Schablone liefern. Ein Mord an einem Mittwochabend verrät dir noch nicht sehr viel; drei weitere zur gleichen Zeit am gleichen Wochentag besagen, dass der Täter 272
an dem Abend freihat, und du solltest zweimal hinschauen, wenn du einen Verdächtigen findest, dessen Gattin mittwochs zum Bingo geht. Ein bestimmtes Wort, das bei einer Vergewaltigung ausgesprochen wird, könnte nichts besagen; fällt es aber bei drei weiteren, wird es zu einem Erkennungszeichen, das eine Freundin oder Ehefrau oder Expartnerin irgendwo wiedererkennen wird. »Egal was«, sagte Sam. Er klappte das Notizbuch auf, zückte seinen Stift und beugte sich vor, die Augen auf mich gerichtet, bereit. »Hauptsache überhaupt was.« »Okay«, sagte ich. Ich brauchte nicht einmal die Akte. Ich hatte schon mehr als genug über die Sache nachgedacht, während Frank wie ein Weltmeister auf dem Sofa schnarchte und mein Fenster sich von Schwarz in Grau in Gold verfärbte. »Erstens, es ist vermutlich ein Mann. Eine Frau können wir zwar nicht definitiv ausschließen – wenn eine Frau als Verdächtige in Frage kommt, ignorier sie nicht –, aber statistisch gesehen, sind es 273
meistens Männer, die mit dem Messer töten. Vorläufig gehen wir von einem Mann aus.« Sam nickte. »Hab ich mir auch schon gedacht. Irgendeine Idee, wie alt er sein könnte?« »Es ist kein Teenager, dazu ist er zu methodisch und zu beherrscht. Aber es handelt sich auch nicht um einen alten Mann. Er muss kein Sportler sein, aber auf jeden Fall einigermaßen fit – laufen auf den Feldwegen, über Mauern klettern, einen Körper schleppen. Ich würde auf fünfundzwanzig bis vierzig tippen, mehr oder weniger.« »Und ich glaube«, sagte Sam, während er eifrig schrieb, »er kennt sich in der Gegend aus.« »Oh ja«, sagte ich. »Entweder er stammt von dort, oder er hat viel Zeit in der Umgebung von Glenskehy verbracht, so oder so. Er ist mit der Gegend gut vertraut. Er hat sich nach der Tat noch elend lange dort aufgehalten. Täter, die sich nicht auskennen, werden meist nervös und hauen ab, so schnell sie können. Und wie die Karten zeigen, sind die Feldwege da der reinste Irrgarten, aber er 274
hat sie gefunden – mitten in der Nacht, ohne Straßenlampen –, nachdem sie ihm entwischt war.« Aus irgendeinem Grund fand ich es diesmal schwieriger als sonst. Ich war alles, was wir hatten, bis zum Gehtnichtmehr durchgegangen, lehrbuchmäßig, aber es gelang mir einfach nicht, den Täter greifbar zu machen. Jedes Mal, wenn ich die Hand nach ihm ausstreckte, strömte er mir durch die Finger wie Rauch, um über den Horizont zu entgleiten, und die einzige Silhouette, auf die ich starrte, war die von Lexie. Ich versuchte, mich damit zu beruhigen, dass das Erstellen von Täterprofilen eine Fertigkeit ist wie jede andere auch, wie ein Rückwärtssalto, wie Fahrradfahren: Wenn du aus der Übung kommst, rostet dein Instinkt ein, aber das muss nicht heißen, dass er für immer verloren ist. Ich griff nach meinen Zigaretten – ich kann besser denken, wenn meine Hände beschäftigt sind. »Er kennt Glenskehy, darin sind wir uns einig, und sehr wahrscheinlich kannte er die Tote. 275
Dafür spricht erstens einmal die Positionierung der Leiche: Ihr Gesicht war weggedreht, zur Wand. Jede Art von Konzentration auf das Gesicht des Opfers – es zudecken, es entstellen, es wegdrehen – ist normalerweise ein Hinweis auf eine persönliche Beziehung. Täter und Opfer kannten sich.« »Oder«, sagte Frank, schwang die Beine aufs Sofa und stellte sich seine Tasse auf den Bauch, »es ist purer Zufall, dass sie einfach so gelandet ist, als er sie hingelegt hat.« »Vielleicht«, sagte ich. »Aber wir wissen auch, dass er sie gefunden hat. Das Cottage ist ein gutes Stück vom Weg entfernt. Wer nicht weiß, dass es da steht, würde es im Dunkeln nicht mal sehen. Der zeitliche Abstand verrät, dass er ihr nicht unbedingt dicht auf den Fersen war, ich bezweifle daher, dass er sie hat reingehen sehen, und sobald sie auf der Erde saß, verdeckt durch die Mauer, war sie von der Straße aus erst recht nicht zu sehen. Es sei denn, sie hatte die Taschenlampe an, 276
und der Täter hat das Licht bemerkt – und warum sollte jemand, der sich vor einem mörderischen Irren verstecken will, eine Taschenlampe anmachen? –, dann hätte er einen Grund gehabt, dort nachzusehen. Ich glaube, er wusste, dass sie das Cottage mochte.« »Nichts von dem besagt, dass sie ihn kannte«, sagte Frank. »Nur dass er sie kannte. Mal angenommen, er war ein Stalker, hatte sie schon eine ganze Weile belauert, eine persönliche Verbindung zu ihr gespürt, dann wusste er womöglich gut über ihre Gewohnheiten Bescheid.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich schließe einen Stalker nicht gänzlich aus, aber wenn es einer war, dann war er zumindest ein Bekannter von ihr. Vergiss nicht, sie wurde von vorne niedergestochen. Sie war nicht auf der Flucht vor ihm, und sie wurde nicht von hinten angegriffen. Sie standen einander vis à vis gegenüber, sie wusste, dass er da war, vielleicht haben sie sich sogar eine Weile unterhalten. Und sie hatte keinerlei Abwehrverlet277
zungen. Für mich heißt das, sie war nicht auf der Hut. Der Täter war ganz nah, und sie hatte keine Angst vor ihm, bis zu dem Moment, wo er zustach. Ich wäre nicht so entspannt, wenn um diese Uhrzeit mitten in der Pampa ein Wildfremder auftauchen würde.« »Das alles wird uns wesentlich mehr nützen«, sagte Frank, »sobald wir ungefähr wissen, wen die Frau alles gekannt hat.« »Noch irgendwas, wonach ich suchen kann?«, fragte Sam, ohne auf Franks Bemerkung einzugehen – ich sah ihm an, wie viel Mühe es ihn kostete. »Würdest du sagen, er ist polizeilich erfasst?« »Er hat vermutlich irgendwelche kriminellen Erfahrungen«, sagte ich. »Er hat gründlich hinter sich saubergemacht. Gut möglich, dass er nie geschnappt wurde, wenn er so vorsichtig ist, aber vielleicht hat er doch irgendwann Lehrgeld zahlen müssen. Wenn du die Akten durchgehst, solltest du auf so Sachen achten wie Autodiebstahl, Einbruch, Brandstiftung – irgendwas, wo man gründ278
lich saubermachen muss, ohne direkten Kontakt mit Opfern zu haben. Keine Körperverletzung, auch nicht Vergewaltigung. Er ist so ungeschickt im Töten von Leuten, dass er keine Erfahrung mit Gewalttaten haben dürfte, zumindest so gut wie keine.« »So ungeschickt ist er nun auch wieder nicht«, sagte Sam leise. »Er hat’s immerhin geschafft.« »Ganz knapp«, sagte ich. »Und bloß durch unverschämtes Glück. Außerdem glaube ich nicht, dass er gekommen war, um zu töten. Bestimmte Elemente der Tat ergeben einfach keinen Sinn. Wie ich schon am Sonntag sagte, der Messerstich wirkt ungeplant, spontan, aber alles andere sieht erheblich mehr nach Planung aus. Der Täter wusste, wo er sie finden konnte – ich glaube nicht, dass er ihr zufällig über den Weg gelaufen ist, um Mitternacht auf irgendeinem Feldweg mitten in der Walachei. Entweder er kannte ihre Gewohnheiten, oder sie waren verabredet. Und nach der Tat behielt er einen kühlen Kopf und ließ sich Zeit: Er 279
spürte sie auf, durchsuchte sie, beseitigte seine Fußspuren und wischte die Sachen sauber, die sie bei sich hatte – und das heißt, er hatte keine Handschuhe an. Was wiederum heißt, er hatte keinen Mord geplant.« »Er hatte ein Messer dabei«, wandte Frank ein. »Was hatte er denn damit geplant, schnitzen?« Ich zuckte die Achseln. »Ihr drohen, vielleicht. Ihr Angst einjagen, ihr imponieren, was weiß ich. Aber wenn einer, der so gründlich ist wie er, die Absicht gehabt hätte, sie zu töten, hätte er sich nicht so blöd angestellt. Der Angriff kam aus heiterem Himmel, sie muss einen Moment lang perplex gewesen sein über das, was da passiert war. Wenn er sie hätte erledigen wollen, hätte er das tun können. Stattdessen reagiert sie als Erste – sie läuft davon und hat schon einen ordentlichen Vorsprung, ehe er schaltet. Deshalb glaube ich, dass er fast genauso perplex war wie sie. Ich glaube, sie hatten sich zu einem ganz anderen Zweck getroffen, und dann ist irgendwas schiefgelaufen.« 280
»Wieso ist er hinter ihr her?«, fragte Sam. »Nachdem er zugestochen hatte. Warum ist er nicht abgehauen?« »Als er sie eingeholt hatte«, sagte ich, »stellte er fest, dass sie tot war, schaffte sie in den hinteren Raum und durchsuchte ihre Taschen. Daher würde ich drauf wetten, dass irgendwas in ihren Taschen der Grund war, warum er hinter ihr her war. Er hat den Leichnam weder versteckt noch irgendwo gut sichtbar hingelegt, und keiner würde eine halbe Stunde nach jemandem suchen, bloß um ihn einfach ein paar Meter weiterzuschleifen, daher vermute ich, dass das eher nebensächlich war. Er hat sie ins Trockene gebracht, damit von draußen kein Taschenlampenlicht zu sehen war oder um raus aus dem Regen zu kommen, aber sein eigentliches Ziel war ein anderes: entweder sicherstellen, dass sie auch wirklich tot war, oder aber sie durchsuchen.« »Wenn du damit richtigliegst, dass er sie kannte«, sagte Sam, »und dass er sie nicht töten wollte, 281
könnte es dann nicht auch sein, dass er sie in den hinteren Raum gebracht hat, weil er sie mochte? Er hatte schon genug Schuldgefühle und wollte sie nicht auch noch draußen im Regen liegen lassen …« »Das ist mir auch durch den Kopf gegangen. Aber dieser Typ ist clever, er denkt voraus, und er will auf keinen Fall geschnappt werden. Er hat sie in den anderen Raum geschafft, obwohl er dabei Gefahr lief, sich mit ihrem Blut zu beschmieren, noch mehr Fußspuren zu hinterlassen, Haare oder Fasern auf sie zu übertragen, und obwohl er noch mehr Zeit verlor … Ich kann mir nicht vorstellen, dass er so ein zusätzliches Risiko aus Sentimentalität eingehen würde. Er muss einen handfesten Grund gehabt haben. Sich zu vergewissern, dass sie tot war, wird nicht lange gedauert haben – jedenfalls kürzer, als sie rüberzuschaffen –, daher vermute ich, er ist ihr gefolgt und hat sie in den anderen Raum geschafft, weil er sie durchsuchen musste.« 282
»Weshalb?«, fragte Sam. »Wir wissen, dass er es nicht auf Geld abgesehen hat.« »Mir fallen nur drei Gründe ein«, sagte ich. »Erstens, er wollte nachsehen, ob sie irgendwas dabeihatte, was ihn verraten könnte – ein Tagebuch, in dem sie die Verabredung vielleicht erwähnt hatte, ihr Handy, in dem seine Nummer gespeichert war, so was eben.« »Sie hatte kein Tagebuch«, sagte Frank zur Decke. »Ich hab die Fantastischen Vier gefragt.« »Und ihr Handy hatte sie zu Hause auf dem Küchentisch liegen lassen«, sagte Sam. »Die Mitbewohner sagen, das sei normal. Sie wollte es zwar immer mit auf ihre Spaziergänge nehmen, hat es aber meistens vergessen. Wir sind dabei, es zu untersuchen. Bisher nichts Verdächtiges.« »Das wusste er aber nicht unbedingt«, sagte ich. »Er könnte auch nach etwas Speziellerem gesucht haben. Vielleicht sollte sie ihm irgendwas geben, und das ist dann schiefgelaufen: Sie hat es sich
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anders überlegt … Entweder er hat es ihrer Leiche abgenommen, oder sie hatte es gar nicht bei sich.« »Eine Schatzkarte?«, fragte Frank eifrig. »Die Kronjuwelen?« »Das Haus ist voll mit altem Zeug«, sagte Sam. »Wenn da irgendwas Wertvolles dabei wäre … Wurde eigentlich ein Inventarverzeichnis erstellt, für den Erben?« »Ha«, sagte Frank. »Sie haben es doch gesehen. Wie soll da einer Inventur machen? In Simon Marchs Testament sind nur die guten Sachen aufgeführt – vor allem antike Möbel, ein paar Gemälde –, aber das ist alles nicht mehr da. Die Erbschaftssteuer war horrend. Um die zu bezahlen, musste alles, was mehr als ein paar Euro wert war, versilbert werden. Nach dem, was ich gesehen hab, ist nur noch Gerümpel übrig.« »Die andere Möglichkeit«, sagte ich, »ist die, dass er nach irgendwas gesucht hat, was ihm verraten würde, wer sie ist. Die Verwirrung um die Identität der Frau ist weiß Gott groß genug. Mal 284
angenommen, er hat gedacht, er würde mit mir sprechen, und ist dann misstrauisch geworden, oder mal angenommen, sie hat eine Andeutung gemacht, dass Lexie Madison gar nicht ihr richtiger Name ist. Möglich, dass er dann nach einem Ausweis oder so gesucht hat, um herauszufinden, wen er da erstochen hat.« »Deine Szenarien lassen sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen«, sagte Frank. Er lag zurückgelehnt da, die Arme hinterm Kopf verschränkt, und beobachtete uns, und das Funkeln in seinen Augen war noch dreister geworden. »Der Täter wollte sich einmal mit ihr treffen, was bedeutet, er könnte sich durchaus noch einmal mit ihr treffen wollen, wenn er die Gelegenheit hat. Er hatte nicht vor, sie zu töten, was bedeutet, es ist äußerst unwahrscheinlich, dass irgendeine weitere Gefahr besteht. Und er wohnt nicht in Whitethorn House.« »Nicht unbedingt«, sagte Sam. »Wenn es einer von den Mitbewohnern war, könnte er – oder sie – 285
der toten Lexie das Handy abgenommen haben, um sicherzugehen, dass sie nicht den Notruf gewählt oder irgendwas aufgenommen hatte. Wir wissen, sie hat andauernd mit dem Handy gefilmt. Gut möglich, dass der Täter befürchtet hat, sie könnte ihn darauf festgehalten haben.« »Sind die Abdrücke auf dem Handy schon ausgewertet?«, fragte ich. »Seit heute Nachmittag«, sagte Frank. »Lexie und Abigail. Abby und Daniel sagen beide, Abby hätte Lexie ihr Handy an dem Morgen gegeben, als sie das Haus verließen, um zur Uni zu fahren, und die Abdrücke bestätigen das. Die von Lexie überlagern die von Abby an mindestens zwei Stellen: Sie hat das Handy nach Abby angefasst. Niemand hat der toten Lexie das Handy abgenommen. Es lag zu Hause auf dem Küchentisch, als sie starb, und jeder im Haus hätte es finden können, ohne ihr hinterherlaufen zu müssen.«
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»Sie hätten auch ihr Tagebuch an sich nehmen können«, sagte Sam. »Wir haben nur die Aussage der vier, dass Lexie keins hatte.« Frank verdrehte die Augen. »Wenn Sie so anfangen, haben auch wir nur die Aussage der vier, dass sie überhaupt da gewohnt hat. Nach allem, was wir wissen, könnte sie mit ihnen vor einem Monat einen Streit gehabt haben und als Geliebte eines saudischen Prinzen in ein Dubliner Penthouse gezogen sein, nur dass nicht der Hauch eines Beweises in diese Richtung deutet. Die Geschichten der vier stimmen tadellos überein, wir haben keinen von ihnen bei einer Lüge ertappt, sie wurde außerhalb des Hauses erstochen –« »Was denkst du?« Sam fiel Frank ins Wort. »Passen sie ins Profil?« »Ja, Cassie«, sagte Frank zuckersüß. »Was denkst du?« Sam wollte so sehr, dass es einer von ihnen war. Einen Moment lang wünschte ich tatsächlich, ich könnte ihm den Gefallen tun, egal, was das für die 287
Ermittlungen bedeuten würde, nur um zu sehen, dass der erschöpfte Ausdruck aus seinem Gesicht verschwand, wieder Leben in seine Augen trat. »Statistisch gesehen«, sagte ich, »klar, durchaus. Das Alter stimmt, sie kennen die Gegend, sie sind clever, sie kannten sie – nicht nur das: Sie kannten sie am besten, und im engeren Umfeld findet man meistens den Mörder. Keiner von ihnen ist polizeibekannt, aber wie gesagt, einer von ihnen könnte irgendwann mal irgendwas gemacht haben, wovon wir nichts wissen. Am Anfang hab ich sie deswegen in die engere Wahl genommen, ja. Aber je mehr ich höre … « Ich fuhr mir mit den Händen durchs Haar und überlegte, wie ich es ausdrücken sollte. »Es gibt eine Sache, bei der ich mich ungern nur auf ihre Aussagen verlassen würde: Haben wir irgendeine unabhängige Bestätigung dafür, dass sie tatsächlich regelmäßig allein spazieren gegangen ist? Dass keiner von den anderen sie begleitet hat?«
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»Ja«, sagte Frank und tastete auf dem Fußboden nach seinen Zigaretten, »die haben wir. Eine englische Doktorandin namens Brenda Grealey hat denselben Doktorvater wie Lexie.« Brenda Grealey stand auf der BK-Liste: dicklich, Froschaugen, Pausbacken, die schon leicht schlaff wirkten, und eine kupferrote Lockenmähne. »Sie ist von der neugierigen Sorte. Nachdem die fünf zusammengezogen waren, hat sie Lexie gefragt, ob sie überhaupt mal ungestört sein kann, bei den ganzen Typen im Haus. Ich hab den Eindruck, Brenda meinte das zweideutig, sie wollte wohl irgendwelche pikanten Sexgeschichten hören, aber Lexie hat sie anscheinend nur verständnislos angeguckt und gesagt, sie würde jeden Abend allein einen langen Spaziergang machen, und mehr Ungestörtheit bräuchte sie nicht, danke, sie würde sich ja nicht mit Leuten abgeben, die ihr nichts brächten. Dann ist sie gegangen. Ich bin nicht mal sicher, ob die gute Brenda überhaupt kapiert hat, dass das gegen sie ging.« 289
»Okay«, sagte ich. »In dem Fall weiß ich wirklich nicht, wie einer aus dem Haus es gewesen sein soll. Überlegen wir mal, wie das hätte ablaufen müssen. Einer von ihnen muss mit Lexie unter vier Augen sprechen, über irgendwas Wichtiges. Also, statt es unauffällig anzustellen, zum Beispiel mit ihr in der Uni einen Kaffee trinken zu gehen oder so, begleitet er sie auf ihrem Spaziergang oder folgt ihr. So oder so, er durchbricht den gewohnten Ablauf – und alle fünf sind Gewohnheitstiere – und sagt damit allen, einschließlich Lexie, laut und deutlich, dass irgendwas im Busch ist. Und dann nimmt er ein Messer mit. Wir haben es hier mit netten Mittelschichtsintellektuellen zu tun –« »Sie meint, das sind alles Weicheier«, klärte Frank Sam auf, während er sein Feuerzeug klicken ließ. »Ach komm«, sagte Sam und legte seinen Stift hin. »Moment mal. Du kannst sie nicht ausschließen, nur weil sie aus der Mittelschicht kommen. 290
Wie viele Fälle hatten wir nicht schon, wo ein netter, angesehener –« »Tu ich ja gar nicht, Sam«, sagte ich. »Das Töten ist nicht das Problem. Wenn sie erwürgt worden wäre oder man ihren Kopf gegen eine Mauer geschlagen hätte, dann käme einer aus dem Haus für mich durchaus als Täter in Frage. Ich könnte mir sogar gut vorstellen, dass einer von ihnen sie erstochen hat, falls er zufällig ein Messer in der Hand gehabt hätte. Ich meine nur, dass er erst gar kein Messer dabeigehabt hätte – es sei denn, er hatte wirklich geplant, sie umzubringen, und das passt, wie gesagt, nicht ins Profil. Ich würde meine Ersparnisse darauf verwetten, dass die vier normalerweise kein Messer dabeihaben, und wenn sie bloß jemanden bedrohen oder einschüchtern wollten, würden sie nicht mal auf die Idee kommen, dafür ein Messer zu benutzen. In so einer Welt leben die nicht. Wenn sie sich für einen großen Kampf rüsten, überlegen sie sich Argumente, die suchen sich keine Messer aus.« 291
»Ja«, sagte Sam nach kurzem Zögern. Er atmete tief ein und nahm wieder seinen Stift, verharrte damit über der Seite, als hätte er vergessen, was er schreiben wollte. »Schätze, du hast recht.« »Selbst wenn wir die Möglichkeit durchspielen, dass einer von ihnen ihr gefolgt ist«, sagte ich, »und ein Messer mitgenommen hat, um ihr aus irgendeinem Grund Angst einzujagen, was hat er gedacht, was passieren würde? Hat er ernsthaft erwartet, ungeschoren davonzukommen? Sie gehören demselben Freundeskreis an. Einem kleinen, intimen Kreis. Sie hätte doch nur zu allem, was er von ihr wollte, ja und amen sagen müssen, und wäre dann schnurstracks nach Hause, um den anderen drei brühwarm zu erzählen, was passiert ist. Prompt gibt es große Bestürzung und Entsetzen, und sehr wahrscheinlich wäre unser Messerheld – es sei denn, es ist Daniel – aus Whitethorn House rausgeschmissen worden. Das sind clevere Leute, Sam. So etwas Krasses hätten sie nicht übergehen können.« 292
»Fairerweise muss man zugeben«, sagte Frank hilfsbereit und wechselte die Seiten, »dass clevere Leute andauernd blöde Sachen machen.« »Aber nicht so was«, sagte Sam. Er legte seinen Stift quer über das Notizbuch und drückte zwei Finger in die Augenwinkel. »Blöde Sachen, ja, klar. Aber nichts, was überhaupt keinen Sinn ergibt.« Für den Ausdruck in seinem Gesicht war ich verantwortlich, und ich fühlte mich beschissen. »Nehmen sie Drogen?«, fragte ich. »Auf Koks zum Beispiel können die wenigsten klar denken.« Frank schnaubte Rauch aus. »Kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Sam, ohne aufzublicken. »Die sind brav und anständig. Sie trinken schon mal was, das ja, aber so wie sie aussehen, würde ich sagen, die rauchen nicht mal Joints und nehmen erst recht keine harten Drogen. Und das toxikologische Screening der Toten war ja auch blitzsauber.«
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Der Wind warf sich wummernd und klappernd gegen das Fenster, wich wieder zurück. »Dann kommen sie nicht in Frage«, sagte ich, »es sei denn, wir haben irgendwas Großes übersehen.« Nach einem Augenblick sagte Sam: »Ja.« Er schloss bedächtig sein Notizbuch, hakte den Stift daran fest. »Also muss ich wohl anfangen, nach was Großem zu suchen.« »Kann ich Sie was fragen?«, sagte Frank. »Wieso sind Sie dermaßen scharf auf die vier?« Sam rieb sich mit den Händen übers Gesicht und blinzelte schnell, als versuchte er, wieder klarer zu sehen. »Weil sie da sind«, sagte er nach einem Moment. »Und sonst niemand, zumindest soweit wir wissen. Und wenn es keiner von ihnen war, was haben wir dann?« »Sie haben jetzt das schöne Täterprofil«, rief Frank ihm in Erinnerung. »Ich weiß«, sagte Sam dunkel. »Und dafür danke ich dir, Cassie, ehrlich. Aber im Augenblick hab ich niemanden, auf den es passt. Ich hab jede 294
Menge Männer und auch Frauen aus der Gegend in der richtigen Altersgruppe, ein paar von denen sind vorbestraft, und ich würde sagen, eine ganze Reihe ist clever und fähig, aber es deutet nichts darauf hin, dass einer von ihnen das Opfer kannte. Ich hab eine Menge Uni-Kontakte der Toten, und ein paar von denen erfüllen so gut wie alle Kriterien des Profils, leider ist offenbar keiner dabei, der je auch nur in der Nähe von Glenskehy war, geschweige denn, sich in der Gegend auskennt. Es gibt also keinen, der hundertprozentig passt.« Frank zog eine Augenbraue hoch. »Ich will ja nicht drauf rumreiten«, sagte er, »aber genau den werden Detective Maddox und ich suchen.« »Ja«, sagte Sam, ohne ihn anzusehen. »Und wenn ich ihn schnell genug finde, könnt ihr die Sache abblasen.« »Dann sollten Sie sich sputen«, sagte Frank. Er lag noch immer auf dem Sofa, beobachtete Sam mit halb zusammengekniffenen Augen durch die
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Rauchkringel hindurch. »Sonntag soll’s nämlich losgehen.« Eine Sekunde lang trat absolute Stille ein. Sogar der Wind draußen schien jäh verstummt zu sein. Frank hatte bisher keinen genauen Termin genannt. Am äußeren Rand meines Gesichtsfeldes zuckten und kristallisierten sich die Karten und Fotos, entfalteten sich zu sonnenglänzenden Blättern, geriffeltem Glas, glattgewetztem Stein, wurden real. »Diesen Sonntag?«, sagte ich. »Guck mich nicht so fassungslos an«, sagte Frank zu mir. »Du machst das schon, Kleines. Und sieh es mal so: Du musst meine hässliche Visage nicht mehr sehen.« In diesem Moment kam mir das wirklich wie ein ziemlich großes Plus vor. »Klar«, sagte Sam. Er trank seinen Kaffee in langen Schlucken und verzog das Gesicht. »Dann mach ich mich mal auf den Weg.« Er stand auf und klopfte geistesabwesend seine Taschen ab.
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Sam wohnt in einer von diesen schaurigen Siedlungen am Arsch der Welt, er war zum Umfallen müde, und der Wind nahm wieder zu, riss an den Dachpfannen. »Sam, fahr jetzt nicht die weite Strecke«, sagte ich. »Nicht bei dem Wetter. Bleib hier. Wir arbeiten bestimmt bis spät in die Nacht, aber –« »Ja, bleiben Sie bei uns«, sagte Frank, breitete die Arme aus und grinste zu ihm hoch. »Wir machen eine Pyjamaparty. Rösten Marshmallows. Spielen ›Ich sehe was, was du nicht siehst‹.« Sam nahm seinen Mantel von der Futonlehne und starrte darauf, als wüsste er nicht genau, was er damit machen sollte. »Äh, nein; ich fahr nicht nach Hause, bestimmt nicht. Ich will noch mal ins Büro, ein paar Akten durchgehen. Ich komm schon klar.« »Na gut«, sagte Frank munter und winkte zum Abschied. »Viel Spaß. Aber rufen Sie uns gleich an, wenn Sie einen Hauptverdächtigen gefunden haben.« 297
Ich brachte Sam nach unten und gab ihm an der Haustür einen Abschiedskuss, und er stapfte verbissen zu seinem Wagen, die Hände in den Taschen und den Kopf tief gegen den Wind gebeugt. Vielleicht lag es bloß an der Böe, die mich die Treppe hoch verfolgte, aber ohne ihn kam mir meine Wohnung irgendwie kälter vor, trostloser, die Luft schneidend. »Er wäre sowieso gegangen, Frank«, sagte ich. »Auch wenn du dich nicht wie der letzte Wichser aufgeführt hättest.« »Vielleicht«, sagte Frank, schwang sich in die Vertikale und fing an, die Imbisspackungen zu stapeln. »Aber soweit ich das von den Handyfilmen her sagen kann, hat Lexie das Wort ›Wichser‹ nicht benutzt. In den entsprechenden Situationen hat sie ›Blödmann‹ gesagt – gelegentlich auch ›Trottel‹ oder ›Arschloch‹. Solltest du dir vielleicht merken. Ich mach den Abwasch, wenn du mir ohne nachzusehen sagen kannst, wie du vom Haus zum Cottage kommst.«
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Sam machte danach keinen Versuch mehr, abends für mich zu kochen. Er kam zu unregelmäßigen Zeiten, schlief bei sich zu Hause und sagte nichts, wenn er Frank auf meinem Sofa liegen sah. Meistens blieb er nur gerade lang genug, um mir einen Kuss und eine Tüte mit Einkäufen zu geben und mich rasch auf den neuesten Stand zu bringen. Viel hatte er nicht zu berichten. Die Spurensicherung und die Sonderfahnder hatten jeden Quadratzentimeter auf den Wegen abgesucht, wo Lexie spätabends immer spazieren gegangen war: keine Blutspur, keine identifizierbaren Fußabdrücke, keine Anzeichen für einen Kampf oder ein Versteck – sie machten den Regen dafür verantwortlich – und keine Waffe. Sam und Frank hatten ein paar Beziehungen spielen lassen, damit die Medien sich nicht auf die Sache stürzten. Sie gaben der Presse einen sorgsam allgemeingehaltenen Bericht über einen tätlichen Angriff in Glenskehy, machten vage Andeutungen, dass das Opfer ins Wicklow Hospital gebracht worden war, und lie299
ßen das Krankenhaus diskret überwachen, aber niemand kam, um Lexie zu besuchen, nicht mal ihre Mitbewohner. Die Informationen der Telefongesellschaft zu Lexies Handy waren unergiebig. Die Zeugenbefragungen im Dorf erbrachten unverbindliches Schulterzucken, nicht überprüfbare Alibis (»und nach CSI sind meine Frau und ich gleich ins Bett«), ein paar abfällige Bemerkungen über die reichen Snobs in Whitethorn House, extrem viele abfällige Bemerkungen über Byrne und Doherty und ihr plötzliches Interesse an Glenskehy und nicht einen einzigen nützlichen Hinweis. Angesichts ihrer Beziehung zu den Einheimischen und der allgemeinen Begeisterung, die sie an den Tag legten, waren Doherty und Byrne dazu verdonnert worden, sich zig Bänder mit Aufnahmen von Überwachungskameras daraufhin anzusehen, ob irgendwelche Unbekannten wiederholt in Glenskehy aufgetaucht waren, aber die Standorte der Kameras waren für diesen Zweck wenig geeignet, daher fanden sie bloß heraus, dass in der 300
Mordnacht zwischen zehn und zwei Uhr höchstwahrscheinlich niemand auf direktem Weg in das Dorf hinein- oder hinausgefahren war. Prompt fing Sam wieder von den Mitbewohnern an, woraufhin Frank die mannigfachen Möglichkeiten aufzählte, wie jemand nach Glenskehy gelangt sein konnte, ohne von einer Überwachungskamera erfasst zu werden, woraufhin Byrne schnippische Bemerkungen über Schlipsträger fallen ließ, die aus Dublin angegondelt kämen und anderer Leute Zeit mit sinnloser Fleißarbeit vergeudeten. Ich hatte den Eindruck, dass eine dichte, elektrisch geladene Wolke aus Sackgassen und Revierkämpfen und einem scheußlichen unguten Gefühl den SOKO-Raum verhüllte. Frank hatte den Mitbewohnern gesagt, dass Lexie nach Hause käme. Sie hatten ihr Sachen geschickt: eine Karte mit Genesungswünschen und ein halbes Dutzend Schokoriegel, einen hellblauen Pyjama, Kleidung für die Fahrt nach Hause, Feuchtigkeitscreme – die war bestimmt von Abby 301
–, zwei Bücher von Barbara Kingsolver, einen Walkman und einen Haufen selbst aufgenommene Kassetten. Mal ganz abgesehen davon, dass ich solche Kassetten nicht mehr gesehen hatte, seit ich zwanzig war, konnte ich den Musikgeschmack nicht so richtig einordnen – Stücke von Tom Waits und Bruce Springsteen, Musik für Autofahrten nachts auf langen Highways, kunterbunt gemischt mit Edith Piaf und den Guillemots und einer Frau namens Amalia Rodrigues, die ein kehliges Portugiesisch sang. Zumindest gefiel mir alles ganz gut. Wenn was von Eminem dabei gewesen wäre, hätte ich alles abblasen müssen. Auf der Karte stand »Alles Liebe«, gefolgt von den vier Namen, sonst nichts, und diese Kürze verlieh ihr etwas Geheimnisvolles, als wären Botschaften darin verborgen, die ich nicht deuten konnte. Die Schokoriegel aß Frank. Die offizielle Darstellung lautete, dass Lexie im Koma das Kurzzeitgedächtnis verloren hätte: Sie konnte sich an den Angriff auf sie gar nicht mehr 302
erinnern und an ganz wenig aus den Tagen davor. »Was durchaus Vorteile hat«, stellte Frank klar. »Wenn du irgendwas durcheinanderbringst, kannst du einfach bestürzt aus der Wäsche gucken und irgendwas Hilfloses über das Koma murmeln, und keiner wird sich trauen, dich zu bedrängen.« Ich hatte inzwischen meiner Tante und meinem Onkel und meinen Freunden erzählt, ich würde verreisen, um eine Fortbildung zu machen – ich drückte mich vage aus –, und käme erst in einigen Wochen zurück. Sam hatte meine längere Abwesenheit von der Arbeit plausibel gemacht, indem er Quigley, der größten Plaudertasche im Morddezernat, ganz im Vertrauen erzählte, ich würde mich für einige Zeit beurlauben lassen, um meinen Uni-Abschluss nachzumachen, was auch eine gute Erklärung für den Fall der Fälle lieferte, dass mich irgendwer in der Stadt sah und sich über mein Studentenoutfit wunderte. Quigley besteht hauptsächlich aus einem breiten Hintern und einem großen Mund, und er konnte mich nie besonders 303
leiden. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden würde sich meine Beurlaubung herumgesprochen haben, vermutlich gewürzt mit ein paar reißerischen Zugaben (Schwangerschaft, Psychose, Cracksucht). Am Donnerstag bombardierte Frank mich bereits mit Fragen: Wo sitzt du beim Frühstück? Wo steht das Salz? Wer nimmt dich mittwochmorgens mit zur Uni? In welchem Raum ist das Büro deines Doktorvaters? Wenn ich etwas nicht wusste, schoss er sich auf den Bereich ein, bearbeitete ihn mit Hilfe von allem, was ihm zur Verfügung stand – Fotos, Anekdoten, Handyfilme, Audiomitschnitte von Vernehmungen –, bis ich das Gefühl hatte, es wären meine eigenen Erinnerungen, und mir die Antwort ganz automatisch über die Lippen kam. Dann setzte er das Trommelfeuer aus Fragen fort: Wo hast du vorletztes Jahr Weihnachten gefeiert? An welchem Wochentag bist du mit Einkaufen dran? Es war, als säße eine menschliche Tennisballmaschine bei mir auf dem Sofa. 304
Ich sagte es Sam nicht – ich hatte deshalb irgendwie ein schlechtes Gewissen –, aber ich genoss diese Woche in vollen Zügen. Ich liebe Herausforderungen. Hin und wieder kam mir schon der Gedanke, dass ich mich in einer total bizarren Situation befand, die aller Voraussicht nach nur noch bizarrer werden würde. Dieser Fall hatte so sehr etwas von einem Möbiusband, dass es schwierig war, den Überblick zu behalten: überall lauter Lexies, die an den Rändern ineinanderflossen, bis man nicht mehr wusste, über welche man eigentlich sprach. Ab und an musste ich mich bremsen, Frank zu fragen, wie es ihr ging.
Franks Schwester Jackie war Friseurin, und am Freitagabend brachte er sie mit zu mir, damit sie mir die Haare schnitt. Jackie war spindeldürr, wasserstoffblond und völlig unbeeindruckt von ihrem großen Bruder. Ich mochte sie.
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»Ah ja, da muss wirklich was runter«, stellte sie fest und fuhr mir professionell mit langen lila Fingernägeln durch den Pony. »Wie hätten Sie’s denn gern?« »Moment«, sagte Frank, fischte ein Tatortfoto hervor und gab es ihr. »Kriegst du das genauso hin?« Jackie hielt das Foto zwischen Daumen und Zeigefingerspitze und betrachtete es misstrauisch. »Moment«, sagte sie. »Ist die Frau etwa tot?« »Das ist vertraulich«, sagte Frank. »Vertraulich, von wegen. Ist das Ihre Schwester, Liebes?« »Sehen Sie mich nicht so an«, sagte ich. »Das war alles Franks Idee. Ich bin gar nicht gefragt worden.« »Hören Sie bloß nicht auf den. Moment –« Sie warf wieder einen Blick auf das Foto und hielt es Frank mit ausgestrecktem Arm hin. »Gott, ist das widerlich. Kannst du nicht endlich mal was Anständiges machen, Francis? Den Verkehr regeln, 306
irgendwas Nützliches. Ich hab zwei Stunden bis in die Stadt gebraucht –« »Würdest du bitte einfach nur schneiden, Jackie?«, sagte Frank und zerwühlte sich genervt die Haare, so dass sie in Büscheln hochstanden. »Und aufhören, mich kirre zu machen?« Jackie warf mir einen Seitenblick zu, und wir wechselten ein kleines, schadenfrohes Frauenschmunzeln. »Und vergiss nicht«, sagte Frank streitlustig, als er es mitbekam, »kein Wort über die Sache hier, zu niemandem. Klar? Das ist ganz wichtig.« »Ja, klar«, sagte Jackie und zog Kamm und Schere aus ihrer Tasche. »Ganz wichtig. Los, mach uns eine Tasse Tee, ja? Das heißt, wenn Sie nichts dagegen haben, Liebes«, fügte sie an mich gerichtet hinzu. Frank schüttelte den Kopf und trottete zur Spüle. Jackie kämmte mir die Haare über die Augen und zwinkerte mir zu. Als sie fertig war, sah ich anders aus. Ich hatte mir den Pony noch nie so kurz schneiden lassen; 307
es war eine kleine Veränderung, aber es machte mein Gesicht jünger und nackter, verlieh ihm die großäugige, trügerische Unschuld eines Models. Je länger ich an dem Abend vor dem Schlafengehen in den Badezimmerspiegel starrte, desto weniger sah ich aus wie ich. Als ich schließlich an den Punkt kam, wo ich mich nicht mehr erinnern konnte, wie ich mal ausgesehen hatte, gab ich auf, zeigte dem Spiegel den Stinkefinger und ging ins Bett.
Am Samstagnachmittag sagte Frank: »Ich glaube, wir sind so weit, es kann losgehen.« Ich lag auf dem Sofa, die Beine über die Armlehne gehängt, und ging ein letztes Mal die Fotos von Lexies Tutorenkursen durch, bemüht, einen möglichst gleichgültigen Eindruck zu machen. Frank tigerte auf und ab: Je näher eine Operation rückt, desto weniger sitzt er.
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»Morgen«, sagte ich. Das Wort brannte mir im Mund, ein wildes, sauberes Brennen wie Schnee, das mir den Atem nahm. »Morgen Nachmittag – du fängst mit einem halben Tag an, lässt es schön langsam angehen. Ich sag den vier heute Abend Bescheid, damit sie auch alle da sind und dich herzlich willkommen heißen. Meinst du, du bist bereit?« Ich hatte keine Vorstellung davon, was bei einer Operation wie dieser das Wort »bereit« überhaupt bedeuten sollte. »So bereit, wie ich nur sein kann«, sagte ich. »Lass noch mal hören: Welches Ziel hast du in Woche eins?« »Nicht erwischt werden, hauptsächlich«, sagte ich. »Und nicht getötet werden.« »Nicht hauptsächlich, ausschließlich.« Frank schnippte im Vorbeigehen mit den Fingern vor meinen Augen. »He. Konzentrier dich. Das ist wichtig.«
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Ich legte die Fotos auf meinen Bauch. »Ich konzentrier mich. Was ist denn?« »Wenn dir jemand auf die Schliche kommt, dann in den ersten paar Tagen, während du noch dabei bist, Fuß zu fassen, und alle dich beobachten. Also, in Woche eins machst du nichts anderes als dich allmählich einleben. Das ist harte Arbeit, es wird dich am Anfang schlauchen, und wenn du es übertreibst, machst du Fehler – und ein Fehler genügt. Also immer schön piano. Zieh dich zurück, wenn du kannst: Geh früh ins Bett, lies ein Buch, wenn die anderen Karten spielen. Wenn du es bis zum nächsten Wochenende schaffst, weißt du, wie der Hase läuft, alle anderen haben sich dran gewöhnt, dass du wieder da bist, sie werden nicht mehr groß auf dich achten, und du hast wesentlich mehr Spielraum. Aber bis dahin, Kopf runter: keine Risiken, kein Rumschnüffeln, nichts, was irgendwen stutzig machen könnte. Denk nicht mal an den Fall. Es ist mir völlig egal, wenn du heute in einer Woche noch keine einzige nützliche 310
Info für mich hast, solange du noch in dem Haus bist. Falls ja, schätzen wir die Lage neu ein, und dann sehen wir weiter.« »Aber du glaubst im Grunde nicht, dass ich dann noch in dem Haus bin«, sagte ich. »Oder?« Frank blieb stehen und bedachte mich mit einem langen, ruhigen Blick. »Würde ich dich da reinschicken«, fragte er, »wenn ich nicht glauben würde, dass es machbar ist?« »Klar würdest du«, sagte ich. »Solange du denkst, die Ergebnisse könnten so oder so interessant sein, würdest du nicht mit der Wimper zucken.« Er lehnte sich gegen den Fensterrahmen und schien darüber nachzudenken. Das Licht war hinter ihm, und ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht sehen. »Möglich«, sagte er, »aber irrelevant. Ja, sicher, es ist verflucht riskant. Das wusstest du von Anfang an. Aber es ist machbar, solange du vorsichtig bist, nicht die Nerven verlierst und nicht ungeduldig wirst. Weißt du noch, was ich 311
beim letzten Mal gesagt hab, was das Fragen anging?« »Klar«, sagte ich. »Spiel die Unschuldige und frag so viel wie möglich.« »Diesmal ist es anders. Du musst genau das Gegenteil machen: Stell überhaupt keine Fragen, es sei denn, du bist absolut sicher, dass du die Antwort nicht schon kennen müsstest. Was im Grunde heißt, dass du niemanden irgendwas fragen darfst.« »Was soll ich denn dann machen, wenn ich keine Fragen stellen kann?« Ich hatte mir auch schon Gedanken darüber gemacht. Frank durchquerte den Raum mit schnellen Schritten, schob Papiere vom Couchtisch und setzte sich, dann beugte er sich zu mir, die blauen Augen beschwörend auf mir. »Du hältst Augen und Ohren weit offen. Das Hauptproblem bei dieser Ermittlung ist, dass wir keinen Verdächtigen haben. Deine Aufgabe ist es, einen zu benennen. Denk dran, egal, was du rausfindest, es wird vor 312
Gericht ohnehin nicht zulässig sein, da du die Verdächtigen ja wohl schlecht über ihre Rechte aufklären kannst, wir sind also nicht auf ein Geständnis oder so aus. Den Teil kannst du mir und unserem Sammy überlassen. Wir besorgen die Beweise, wenn du uns einfach nur in die richtige Richtung lenkst. Finde raus, ob da draußen jemand ist, der es bisher geschafft hat, nicht auf unserem Radarschirm aufzutauchen – entweder jemand aus der Vergangenheit der Frau oder jemand, den sie noch nicht so lange kannte und den sie verschwiegen hat. Wenn irgendwelche Leute Kontakt zu dir aufnehmen, die nicht auf der BK-Liste stehen – telefonisch, persönlich, wie auch immer –, gehst du drauf ein, findest raus, wer sie sind und in welchem Verhältnis sie zu dem Opfer standen, und versuchst, Telefonnummern und vollständige Namen rauszukriegen.« »Verstehe«, sagte ich. »Dein großer Unbekannter.« Es klang alles ganz plausibel, aber andererseits klingt Frank immer so. Ich war mir nach wie 313
vor ziemlich sicher, dass Sam recht hatte und Frank die Sache nicht bloß durchziehen wollte, weil er dachte, sie hätte auch nur den Hauch einer Chance, sondern vor allem, weil sie eine so umwerfende, waghalsige, absurde, einmalige Gelegenheit darstellte. Ich beschloss, dass es mir egal war. »Genau. Passend zu unserer großen Unbekannten. Außerdem behältst du die Mitbewohner im Auge und bringst sie zum Reden. Ich stufe sie nicht als Verdächtige ein – ich weiß, dein Sammy hat es sich in den Kopf gesetzt, dass es einer von ihnen war, aber ich seh das wie du, sie passen nicht ins Profil –, ich bin mir aber ziemlich sicher, dass sie uns nicht alles erzählen. Du wirst verstehen, was ich meine, wenn du sie kennenlernst. Auch wenn es was völlig Irrelevantes ist, vielleicht dass sie bei Klausuren geschummelt haben oder Schnaps im Garten brennen oder wissen, wer der Daddy ist, aber ich möchte selbst entscheiden, was davon relevant ist und was nicht. Über so was 314
würden sie niemals mit der Polizei reden, aber wenn du’s richtig anstellst, reden sie vielleicht mit dir. Zerbrich dir nicht den Kopf wegen ihrer anderen BKs – wir haben nichts, was auf einen von ihnen hindeutet, und Sammy und ich bleiben ohnehin an ihnen dran –, aber wenn sich einer auch nur ansatzweise verdächtig benimmt, sagst du mir natürlich Bescheid. Verstanden?« »Verstanden«, sagte ich. »Noch eine letzte Sache«, sagte Frank. Er stand vom Tisch auf, nahm unsere Kaffeetassen und brachte sie zur Kochnische. Wir waren an dem Punkt angelangt, wo zu jeder Tagesund Nachtzeit eine große Kanne starker Kaffee auf der Warmhalteplatte stand. Noch eine Woche länger, und wir hätten das Pulver wahrscheinlich direkt mit dem Löffel aus der Packung gegessen. »Ich wollte schon länger mit dir drüber reden.« Damit hatte ich schon seit Tagen gerechnet. Ich blätterte die Fotos wie Karteikarten durch und konzentrierte mich so gut ich konnte darauf, die 315
Namen im Kopf aufzusagen: Cillian Wall, Chloe Nelligan, Martina Lawlor … »Schieß los«, sagte ich. Frank stellte die Tassen ab und fing an, mit meinem Salzstreuer zu spielen, drehte ihn vorsichtig zwischen den Fingern. »Ich sprech das nur ungern an«, sagte er, »aber was will man machen, das Leben ist manchmal zum Kotzen. Du weißt selbst, dass du – wie soll ich sagen – in letzter Zeit ein wenig schreckhaft bist, ja?« »Ja«, sagte ich, die Augen weiter auf die Fotos gerichtet. Isabella Smythe, Brian Ryan – seine Eltern waren entweder nicht ganz klar im Kopf, oder sie hatten einen verschrobenen Sinn für Humor –, Mark O'Leary … »weiß ich.« »Ich weiß nicht, ob das mit diesem Fall zusammenhängt oder ob du vorher schon so warst, und das muss ich auch nicht wissen. Wenn es bloß Lampenfieber ist, kann es gut sein, dass es verschwindet, sobald du im Haus bist. Aber eines wollte ich dir sagen: Wenn es nicht verschwin316
det, keine Panik. Fang nicht an, dich selbst in Frage zu stellen, sonst bringst du dich so weit, dass du die Nerven verlierst, und versuch auch nicht, es zu verbergen. Nutze es. Lexie hat schließlich allen Grund, ein wenig zittrig zu sein, und das solltest du für deine Zwecke einsetzen. Nutze, was du hast, selbst wenn du es dir nicht unbedingt ausgesucht hättest. Alles ist eine Waffe, Cass. Alles.« »Ich werd’s mir merken«, sagte ich. Der Gedanke, dass mir der Knocknaree-Fall tatsächlich noch zugutekommen würde, löste etwas Verworrenes in meiner Brust aus, machte das Atmen schwer. Ich wusste, wenn ich mit der Wimper zuckte, würde Frank es merken. »Glaubst du, du schaffst das?« Lexie, dachte ich, Lexie würde ihm nicht sagen, er soll sich um seinen eigenen Kram kümmern und sie ihren machen lassen, was ich instinktiv sagen wollte, und sie würde ihm garantiert nicht antworten. Lexie würde ihm ins Gesicht gähnen oder ihm sagen, er solle aufhören mit seinen großmütterli317
chen Nörgeleien und Belehrungen, oder ein Eis verlangen. »Die Kekse sind alle«, sagte ich und reckte mich – die Fotos rutschten mir vom Bauch und verteilten sich auf dem Boden. »Los, geh welche kaufen. Mit Zitronencreme«, und dann lachte ich laut auf über den Ausdruck in Franks Gesicht.
Frank gab mir gnädigerweise den Samstagabend frei – ein Herz aus Gold hat er, unser Frankie –, damit Sam und ich uns voneinander verabschieden konnten. Sam kochte ein Hähnchen-Tikka. Ich versuchte, zum Nachtisch ein dazu unpassendes Tiramisu hinzukriegen, das beunruhigend aussah, aber ganz gut schmeckte. Wir sprachen über Belangloses, unwichtiges Zeug, fassten uns quer über den Tisch an den Händen und tauschten die kleinen Geschichten aus, die frische Pärchen einander erzählen und aufbewahren wie Strandfunde: Anekdoten aus unserer Kindheit, die größten Dummheiten, die wir als Jugendliche angestellt 318
hatten. Lexies Sachen, die an der Kleiderschranktür hingen, schimmerten in der Ecke wie grelle Sonne auf Sand, aber wir erwähnten sie nicht, kein einziges Mal. Nach dem Essen kuschelten wir auf dem Sofa. Ich hatte den Kamin angemacht, Sam hatte eine CD aufgelegt. Es hätte ein ganz normaler Abend sein können, er hätte allein uns gehören können, wenn da nicht diese wartenden Klamotten und mein schneller, einsatzbereiter Pulsschlag gewesen wären. »Wie fühlst du dich?«, fragte Sam. Ich hatte schon gehofft, wir würden den Abend durchstehen, ohne über morgen zu reden, aber realistisch gesehen war das wahrscheinlich zu viel verlangt. »Einigermaßen«, sagte ich. »Bist du nervös?« Ich überlegte. Die ganze Situation war wahrscheinlich auf zig Arten total meschugge. Eigentlich hätte ich vor Angst wie gelähmt sein müssen. »Nein«, sagte ich. »Aufgeregt.« 319
Ich spürte Sam nicken, oben gegen meinen Kopf. Er strich mir mit einer Hand in einem langsamen, beruhigenden Rhythmus über die Haare, aber seine Brust fühlte sich an meiner bretthart an, als würde er die Luft anhalten. »Du bist immer noch dagegen, stimmt’s?«, sagte ich. »Ja«, sagte Sam leise. »Stimmt.« »Wieso hast du es dann nicht verhindert? Du leitest die Ermittlung. Du hättest dich querstellen können, jederzeit.« Sams Hand stockte. »Willst du das?« »Nein«, sagte ich. Wenigstens das wusste ich ganz sicher. »Auf gar keinen Fall.« »Es wäre nicht leicht, zu diesem Zeitpunkt. Jetzt, wo der Undercover-Einsatz losgeht, ist Mackey verantwortlich. Da hab ich keinerlei Befugnis. Aber wenn du es dir anders überlegt hast, finde ich einen Weg –«
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»Hab ich nicht, Sam. Ehrlich. Ich hab mich bloß gefragt, warum du am Anfang überhaupt dein O.K. gegeben hast.« Er zuckte die Achseln. »Mackey hat nicht ganz unrecht: Wir haben nichts in der Hand. Das ist vielleicht die einzige Möglichkeit, den Fall zu lösen.« Sam hat eine Reihe ungelöster Fälle zu verantworten, wie jeder Detective, und ich war ziemlich sicher, dass er einen weiteren verkraftet hätte, solange er sicher war, dass der Täter es nicht auf mich abgesehen hatte. »Letzten Samstag hattet ihr auch noch nichts in der Hand«, sagte ich, »und da warst du strikt dagegen.« Seine Hand setzte sich wieder in Bewegung. »An dem ersten Tag«, sagte er nach einer Weile. »Als du zum Tatort gekommen bist. Da hast du mit Mackey rumgekabbelt, weißt du noch? Er hat über deine Klamotten gelästert, und du hast zurückgelästert, wie du es damals immer gemacht hast mit … als du im Morddezernat warst.« 321
Er meinte mit Rob. Rob war wahrscheinlich der engste Freund, den ich je gehabt hatte, aber dann hatten wir diesen riesigen, komplizierten, bösen Krach, und unsere Freundschaft war zu Ende gewesen. Ich drehte mich um und stützte mich auf Sams Brust auf, damit ich ihn ansehen konnte, aber er blickte zur Decke. »Ich hatte dich schon lange nicht mehr so erlebt«, sagte er. »So voller Schwung.« »Ich war bestimmt ganz schön unerträglich in den letzten paar Monaten«, sagte ich. Er lächelte, nur ein bisschen. »Ich beklag mich nicht.« Ich versuchte, mich zu erinnern, wann Sam sich je über etwas beklagt hatte. »Nein«, sagte ich. »Ich weiß.« »Dann Samstag«, sagte er. »Ich weiß, wir haben uns gestritten und so« – er drückte mich kurz, gab mir einen Kuss auf die Stirn –, »aber trotzdem. Hinterher ist mir klargeworden: Wir haben uns gestritten, weil wir beide schon richtig drin waren, in 322
dem Fall, meine ich. Weil du engagiert warst. Es war wie … « Er schüttelte den Kopf, suchte nach den Worten. »Das DHG ist nicht so«, sagte er, »oder doch?« Ich hatte nie viel über das DHG erzählt. Bis zu diesem Moment war mir nie der Gedanke gekommen, dass mein Schweigen wahrscheinlich Bände gesprochen hatte, auf andere Art. »Die Arbeit muss auch gemacht werden«, sagte ich. »Nichts ist so wie das Morddezernat, aber das DHG ist in Ordnung.« Sam nickte, und eine Sekunde lang schlossen sich seine Arme fester um mich. »Und die Besprechung«, sagte er. »Bis dahin hatte ich noch mit dem Gedanken gespielt, meine Autorität raushängen zu lassen und Mackey zu sagen, er soll abhauen. Die Sache war ein Fall fürs Morddezernat, ich bin der leitende Detective, wenn ich nein gesagt hätte … Aber so wie du geredet hast, hellwach, Gedanken weitergeführt hast … da hab ich bloß
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noch gedacht, warum soll ich mich dem in den Weg stellen?« Damit hatte ich nicht gerechnet. Sam hat so ein Gesicht, von dem du dich täuschen lässt, auch wenn du es eigentlich besser weißt: das Gesicht eines Menschen vom Lande, rote Wangen und klare graue Augen und erste Lachfältchen, so einfach und offen, dass sich dahinter unmöglich etwas verbergen kann. »Danke, Sam«, sagte ich. »Danke.« Ich spürte, wie seine Brust sich hob und senkte, als er seufzte. »Vielleicht kommt ja was Gutes dabei raus, bei diesem Fall. Man kann nie wissen.« »Aber du wünschst dir noch immer, dass die Frau sich doch bloß irgendeine andere Gegend ausgesucht hätte, um sich umbringen zu lassen«, sagte ich. Sam überlegte kurz, drehte sachte einen Finger um eine Locke in meinem Haar. »Ja«, sagte er, »tu ich, klar. Aber die Wünscherei bringt nichts.
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Wenn du eine Sache erst mal am Hals hast, musst du das Beste draus machen.« Er blickte mich an. Er lächelte noch immer, aber da war noch etwas anderes, fast Trauriges um seine Augen. »Du hast glücklich ausgesehen, diese Woche«, sagte er nur. »Es ist schön, dich wieder glücklich zu sehen.« Ich fragte mich, wie der Mann mich bloß aushielt. »Und außerdem hast du gewusst, dass ich dir die Hölle heiß machen würde, wenn du angefangen hättest, für mich Entscheidungen zu treffen«, sagte ich. Sam grinste und tippte mir mit dem Finger auf die Nasenspitze. »Das auch«, sagte er, »du kleine Xanthippe«, aber noch immer war dieser Schatten hinter seinen Augen.
Nach den zehn langen Tagen verstrich die Zeit am Sonntag schnell, schnell wie eine Flutwelle, die sich bis zum höchsten Punkt aufbaut und schließ325
lich niederkracht. Frank wollte um drei bei mir sein, um mich zu verdrahten und um halb fünf zum Whitethorn House zu bringen. Während Sam und ich uns verhielten, als wäre es ein ganz normaler Sonntag – gemütlich im Bett Zeitung lesen und Tee trinken, duschen, Toast mit Eiern und Speck –, schwebte das die ganze Zeit über unseren Köpfen, ein riesiger tickender Wecker, der darauf wartete, schlagartig zum Leben zu erwachen. Irgendwo da draußen bereiteten sich Lexies Mitbewohner auf ihre Ankunft vor. Nach dem Brunch zog ich die Sachen an. Ich ging dafür ins Bad. Sam war noch da, und ich wollte dabei ungestört sein. Ich hatte das Gefühl, als zöge ich mehr als nur Kleidungsstücke an: ein feines Kettenhemd, handgemacht für mich, oder Gewänder, die für eine zutiefst geheime Zeremonie bereitgelegt worden waren. Meine Handflächen begannen zu kribbeln, als ich die Sachen berührte.
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Schlichte weiße Baumwollunterwäsche mit den Etiketten noch dran; verwaschene Jeans, weichgetragen und mit ausgefransten Säumen; braune Socken, braune Stiefeletten; ein langärmeliges TShirt; eine hellblaue Wildlederjacke, abgetragen, aber sauber. Der Kragen der Jacke roch nach Maiglöckchen und noch etwas anderem, eine warme Note, fast zu schwach, um sie wahrzunehmen: Lexies Haut. In einer Tasche steckte eine Supermarktquittung von vor einigen Wochen, für Hähnchenfilets, Shampoo, Butter und eine Flasche Ginger Ale. Als ich fertig angezogen war, musterte ich mich im großen Spiegel an der Rückseite der Tür. Eine Sekunde lang wusste ich nicht, was ich da sah. Dann hätte ich am liebsten losgelacht. Weil es so absurd war: Monatelang hatte ich mich als BüroBarbie verkleidet, und jetzt, wo ich in die Haut einer anderen schlüpfte, ging ich endlich wieder in einem Aufzug zur Arbeit, der mir wesentlich mehr entsprach. »Du siehst nett aus«, sagte Sam mit ei327
nem schwachen Lächeln, als ich herauskam. »Als würdest du dich drin wohlfühlen.« Meine Sachen waren gepackt und standen an der Tür bereit, als wollte ich verreisen. Ich hatte das Gefühl, ich sollte nachsehen, ob ich meinen Pass und meine Tickets eingesteckt hatte. Frank hatte mir einen neuen Reisekoffer besorgt, so ein Hartschalending, und er hatte eine unauffällige Verstärkung und ein wuchtiges Zahlenschloss, so dass man schon Safeknacker sein musste, um ihn aufzubekommen. Darin waren Lexies Sachen – Portemonnaie, Schlüssel, Handy, alles Kopien der echten Sachen; die Geschenke von den Mitbewohnern; eine Plastikdose Vitamin-C-Tabletten mit der Aufschrift AMOXICILLIN DREIMAL TÄGLICH EINE TABLETTE auf einem Apothekenetikett, die ich irgendwo gut sichtbar hinstellen sollte. Meine Ausrüstung war in einem separaten Fach: Latexhandschuhe, mein Handy, Ersatzbatterien für das Mikro, ein Vorrat an künstlerisch befleckten Verbänden, die jeden Morgen und Abend 328
im Badezimmermülleimer landen sollten, mein Notizbuch, mein Ausweis und meine neue Pistole – Frank hatte mir einen kurzläufigen.38er Revolver besorgt, der gut in der Hand lag und erheblich einfacher zu verstecken war als meine reguläre Smith & Wesson. Außerdem hatte ich einen Hüfthalter dabei – kein Witz –, eins von diesen Dingern aus superfestem Material, die einem im kleinen Schwarzen zur schlanken Silhouette verhelfen sollen. Viele Undercovercops benutzen so was als Holster. Es ist nicht bequem – nach ein oder zwei Stunden hast du das Gefühl, eine pistolenförmige Delle in der Leber zu haben –, aber es kaschiert wunderbar die Umrisse. Allein für die Vorstellung, wie Frank in die Damenwäscheabteilung von Marks & Spencer spaziert und so ein Teil aussucht, hatte sich die ganze Sache schon gelohnt. »Du siehst aus wie ausgekotzt«, sagte er, als er vor meiner Wohnungstür stand und mich anerkennend inspizierte. Er trug mit beiden Armen einen ganzen Haufen James-Bondmäßiger schwarzer 329
Geräte, Kabel und Lautsprecher und weiß Gott was noch: alles für meine Verdrahtung. »Deine Augenringe sind zum Verlieben.« »Sie hatte die letzten Nächte höchstens drei Stunden Schlaf«, sagte Sam schroff hinter mir. »Genau wie Sie und ich. Und wir sehen auch nicht gerade toll aus.« »He, ich will ihr doch gar nichts«, beruhigte Frank ihn, marschierte an uns vorbei und kippte seine Ladung auf den Couchtisch. »Ich bin ganz begeistert. Sie sieht genauso aus, als hätte sie zehn Tage Intensivstation hinter sich. Hi, Kleines.« Das Mikro war winzig, so groß wie ein Hemdsknopf. Es wurde zwischen meinen Brüsten am BH festgeklemmt: »Zum Glück ist unsere Lexie nicht tief ausgeschnitten rumgelaufen«, sagte Frank mit kurzem Blick auf die Uhr. »Beug dich mal vor dem Spiegel vor und guck nach, ob man was sieht.« Die Akkus kamen an die Stelle, wo die Stichwunde gewesen wäre, mit Pflaster seitlich am Körper unter einem dicken Verband befestigt, 330
knapp unterhalb der Narbe, die Dealer-Boy bei Lexie Madison der Ersten hinterlassen hatte. Die Tonqualität war kristallklar, nachdem Frank rasch noch ein paar komplizierte Sachen mit der Apparatur angestellt hatte: »Für dich nur das Beste, Kleines. Der Übertragungsradius beträgt rund sieben Meilen unter normalen Bedingungen. Wir haben Empfangsgeräte im Polizeirevier von Rathowen und im Morddezernat, du bist also zu Hause und im Trinity zu empfangen. Nur während der Fahrt in die Stadt und zurück haben wir keinen Empfang, aber ich geh nicht davon aus, dass dich jemand aus einem fahrenden Auto werfen wird. Visuelle Überwachung ist nicht möglich, du musst uns also mündlich über alles informieren, was wir wissen sollten. Sollte es für dich brenzlig werden und du unauffällig um Hilfe rufen müssen, sagst du, ›Ich hab Halsschmerzen‹, und innerhalb von Minuten ist die Kavallerie bei dir – aber pass auf, dass du keine richtige Mandelentzündung kriegst, oder falls doch, behalt es für dich. Du musst dich 331
so oft wie möglich bei mir melden, am besten jeden Tag.« »Und bei mir«, sagte Sam, ohne sich von der Spüle umzudrehen. Frank, der in die Hocke gegangen war und auf irgendeine Anzeige am Empfänger spähte, warf mir nicht einmal einen spöttischen Blick zu. Sam war mit dem Abwasch fertig und fing an, das Geschirr allzu gründlich abzutrocknen. Ich brachte das Lexie-Material in eine gewisse Ordnung – das nervöse Gefühl kurz vor der entscheidenden Prüfung, wenn man seine Notizen endlich zusammenräumt, wenn ich es jetzt noch nicht kann –, packte es stapelweise in Plastiktüten, die in Franks Wagen bleiben würden. »Und das«, sagte Frank und zog die Lautsprecherstecker schwungvoll heraus, »wär’s dann wohl. Können wir?« »Ich bin so weit«, sagte ich und nahm die Plastiktüten. Frank klemmte sich seine Ausrüstung un-
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ter einen Arm, nahm meinen Koffer und ging zur Tür. »Den nehm ich«, sagte Sam barsch. »Sie haben schon genug zu tragen.« Er nahm Frank den Koffer aus der Hand und ging vor uns die Treppe hinunter, und die Rollen knallten mit harten dumpfen Schlägen auf jeder Stufe auf. Auf dem Treppenabsatz drehte Frank sich um und blickte wartend über die Schulter zu mir hoch. Ich hatte eine Hand am Türknauf, als mich für eine kurze Sekunde wie aus dem Nichts Panik überfiel, blau lodernde Panik, die durch mich hindurchstürzte wie ein scharfkantiger schwarzer Stein. Ich hatte das schon öfter erlebt, in den Schwebemomenten, bevor ich aus dem Haus meiner Tante auszog, meine Jungfräulichkeit verlor, den Eid als Polizistin ablegte: die Augenblicke, wenn das Unwiderrufliche, das du dir so herbeigesehnt hast, plötzlich real und konkret wird, ganz nah ist und auf dich zurast, ein unergründlicher, anschwellender Fluss, und es gibt kein Zurück, 333
sobald du ihn überquert hast. Ich musste mich beherrschen, um nicht wie ein kleines Kind, das in Angst versinkt, loszubrüllen, Ich will das nicht mehr. In so einem Moment kannst du nichts anderes tun als die Zähne zusammenbeißen und abwarten, bis er vorüber ist. Der Gedanke daran, was Frank sagen würde, wenn ich jetzt tatsächlich einen Rückzieher machte, war eine große Hilfe. Ich warf einen letzten Blick in meine Wohnung – Licht aus, Heizung aus, Abfalleimer leer, Fenster geschlossen. Der Raum schloss sich bereits in sich, Stille drang überallhin, wo wir gewesen waren, schwebte auf wie Staub in den Ecken. Dann zog ich die Tür zu.
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5 Die Fahrt nach Glenskehy dauerte fast eine Stunde, obwohl kaum Verkehr war und Frank am Steuer saß, und eigentlich hätte sie unerträglich sein müssen. Sam saß wie ein Häufchen Elend auf der Rückbank, neben dem ganzen Technikkram. Um die Stimmung aufzuheitern, drehte Frank die Musik im Radio laut auf, pfiff und wippte mit dem Kopf und trommelte den Rhythmus auf dem Lenkrad mit. Ich nahm sie beide kaum wahr. Es war ein wunderschöner Nachmittag, sonnig und frisch, ich war nach einer vollen Woche das erste Mal wieder aus meiner Wohnung raus, und ich hatte das Fenster ganz runtergedreht und ließ mir den Wind durchs Haar pusten. Der harte schwarze Panikstein hatte sich in dem Moment aufgelöst, als Frank den Wagen anließ, und verwandelte sich in etwas Süßes und Zitronengelbes und wild Berauschendes.
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»So«, sagte Frank, als wir nach Glenskehy kamen, »jetzt zeig uns mal, wie gut du in Erdkunde aufgepasst hast. Sag mir, wo’s langgeht.« »Geradeaus durchs Dorf, vierte Straße rechts, eine ganz schmale, kein Wunder, dass die Autos von Daniel und Justin aussehen, als würden sie Dragsterrennen fahren, da ist mir das gute alte, dreckige Dublin tausendmal lieber«, sagte ich zu ihm, äffte seinen Akzent dabei nach. »Nach Hause, James.« Ich war aufgekratzt. Die Jacke hatte mich den ganzen Nachmittag verrückt gemacht – wegen des Maiglöckchengeruchs, so nah, dass ich mich andauernd umgesehen hatte, ob jemand hinter mir stand –, und die Tatsache, dass ich von einer Jacke Gänsehaut bekam, wie in einem Kinderbuch von Dr. Seuss, hatte mich in eine alberne Kicherstimmung versetzt. Selbst als wir die Abzweigung zu dem Cottage passierten, wo ich Frank und Sam am ersten Tag getroffen hatte, wurde ich nicht wieder ernst.
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Die Straße war ein unbefestigter Weg voller Schlaglöcher. Bäume, so mit Efeu behangen, dass sie unförmig wirkten, Heckenzweige, die an den Seiten des Wagens entlangratschten und in mein Fenster griffen, und dann ein wuchtiges schmiedeeisernes Tor mit abblätterndem Rost und trunken in den Angeln hängend. Die Steinpfeiler waren halb in wild wucherndem Weißdorn versunken. »Hier rein«, sagte ich. Frank nickte und bog durch das Tor, und wir blickten eine endlose, anmutig geschwungene Allee hinunter, gesäumt von Kirschbäumen in üppiger Blütenpracht. »Wow«, sagte ich. »Was hat mich eigentlich je an der Sache gestört? Kann ich Sam im Koffer mit reinschmuggeln, und dann leben wir hier bis ans Ende unserer Tage?« »Komm wieder runter«, sagte Frank. »Wenn wir an der Tür sind, musst du völlig unbeeindruckt wirken. Außerdem ist das Haus noch immer ganz schön verwahrlost, du kannst dich also wieder abregen.« 337
»Du hast mir erzählt, sie hätten es renoviert. Ich erwarte Kaschmirvorhänge und weiße Rosen in meinem Ankleidezimmer, sonst rufe ich meinen Agenten an.« »Ich hab gesagt, sie sind dabei, es zu renovieren. Ich hab nicht gesagt, dass sie zaubern können.« Dann machte die Allee eine kleine Biegung und verbreiterte sich in eine große, halbrunde Zufahrt, die mit Unkraut und Gänseblümchen übersät war, und ich sah Whitethorn House zum ersten Mal. Die Fotos waren ihm nicht gerecht geworden. Dublin ist voll mit Häusern aus der Zeit der Jahrhundertwende, die größtenteils in Bürogebäude umgewandelt wurden und durch deren Fenster deprimierende Neonbeleuchtung zu sehen ist, aber das hier war etwas Besonderes. Sämtliche Proportionen waren so vollkommen aufeinander abgestimmt, dass das Haus aussah, als wäre es dort gewachsen, fest verwurzelt mit den Bergen dahinter und der satten, sanft abfallenden Landschaft 338
davor, als schwebte es zwischen dem hellen Halbrund der Zufahrt und den verschwommenen, dunkelgrün geschwungenen Hügeln, wie ein Schatz, der einem mit offener Hand dargeboten wurde. Ich hörte, wie Sam schnell und hart die Luft einsog. »Trautes Heim, Glück allein«, sagte Frank und stellte das Radio aus. Sie warteten vor der Tür auf mich, oben an der Treppe. Im Geist sehe ich sie noch immer so, von der Abendsonne in Gold getaucht und strahlend wie eine Vision, jede Falte ihrer Kleidung und jede Rundung in ihren Gesichtern makellos und schmerzlich klar. Rafe lehnte an dem Geländer, die Hände in den Jeanstaschen; Abby in der Mitte, leicht schwankend auf den Zehenspitzen, einen Arm gehoben, um die Augen zu beschatten; Justin, die Füße akkurat nebeneinander und die Hände auf dem Rücken verschränkt, und hinter ihnen Daniel, umrahmt von den Säulen der Tür, sein erhobener Kopf und seine Brille, die Lichtblitze warf. 339
Keiner von ihnen bewegte sich, als Frank vorfuhr und bremste, mit hochspritzendem Kies. Sie sahen aus wie Figuren auf einem mittelalterlichen Fries, in sich geschlossen, geheimnisvoll, als stellten sie eine Botschaft in irgendeinem untergegangenen und obskuren Code dar. Nur Abbys Rock flatterte unbeständig in der Brise. Frank warf mir einen Seitenblick zu. »Bereit?« »Ja.« »Braves Mädchen«, sagte er. »Viel Glück. Und los geht’s.« Er stieg aus dem Wagen und ging zum Kofferraum, um mein Gepäck herauszuholen. »Pass auf dich auf«, sagte Sam. Er sah mich nicht an. »Ich liebe dich.« »Ich bin bald wieder zu Hause«, sagte ich. Unter all den starrenden Augen war es unmöglich, ihn auch nur am Arm zu berühren. »Ich versuch, dich morgen anzurufen.« Er nickte. Frank knallte den Kofferraumdeckel zu – das Geräusch war unbändig, überlaut, prallte
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von der Hausfassade ab, scheuchte Krähen aus den Bäumen auf – und öffnete mir die Tür. Ich stieg aus, fasste mir beim Aufrichten kurz an die Seite. »Danke, Detective«, sagte ich zu Frank. »Danke für alles.« Wir schüttelten uns die Hand. »Gern geschehen«, sagte Frank. »Und keine Sorge, Miss Madison: Wir kriegen den Kerl.« Er zog den Koffergriff mit einem scharfen Klack heraus und reichte ihn mir, und ich zog ihn über den Kies auf die Treppe und die anderen zu. Noch immer rührte sich keiner. Als ich näher kam, änderte sich mein Blickwinkel, und ich registrierte schlagartig die geraden Rücken, die erhobenen Köpfe: Zwischen den vieren herrschte eine Spannung, so straff, dass sie in der Stille schrill summte. Die Rollen meines Koffers, die über den Kies knirschten, klangen wie lautes Maschinengewehrfeuer. »Hi«, sagte ich am Fuß der Treppe und blickte zu ihnen hinauf. 341
Eine Sekunde lang dachte ich, sie würden nicht reagieren, sie hätten mich bereits durchschaut, und ich fragte mich hektisch, was ich jetzt bloß tun sollte. Dann trat Daniel einen Schritt vor, und das Bild flackerte und brach auseinander. Ein Lächeln machte sich auf Justins Gesicht breit, Rafe nahm Haltung an und winkte mit einer Hand, und Abby kam die Stufen heruntergerannt und umarmte mich fest. »He, du«, sagte sie lachend, »willkommen zu Haus.« Ihr Haar roch nach Kamille. Ich ließ den Koffer los und erwiderte die Umarmung. Es war ein seltsames Gefühl, als würde ich jemanden aus einem alten Gemälde berühren, erstaunt, dass ihre Schulterblätter so warm und fest waren wie meine. Daniel nickte mir über ihren Kopf hinweg ernst zu und wuschelte mir durchs Haar, Rafe schnappte sich meinen Koffer und zog ihn holpernd die Stufen hoch zur Tür, Justin tätschelte mir wieder und wieder den Rücken, und auch ich lachte, und ich
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hörte nicht mal, dass Frank den Wagen anließ und davonfuhr.
Mein erster Gedanke, als ich Whitethorn House betrat, war: Hier bin ich schon mal gewesen. Er zischte glatt durch mich hindurch, riss meine Wirbelsäule gerade wie ein Beckenschlag. Eigentlich war es kein Wunder, dass mir alles so vertraut vorkam, schließlich hatte ich mir stundenlang Fotos und Videoclips angesehen, aber es war mehr als das. Es war der Geruch, altes Holz und Teeblätter und ein schwacher Hauch getrockneter Lavendel; es war das Licht, wie es über die verschrammten Dielenbretter fiel; es war der Hall unserer Schritte, der die Treppe hinaufflog und oben leise durch die Flure klang. Ich hatte ein Gefühl – und man könnte denken, es hätte mir gefallen, aber dem war nicht so, es blitzte mir warnschildrot durch den Kopf –, als würde ich nach Hause kommen. 343
Ab da ist fast der ganze Abend verschwommen wie ein Karussell, Farben und Bilder und Stimmen wirbelten zu einem wirren Bild ineinander, so intensiv, dass es beinahe weh tat. Eine Deckenrosette und eine gesprungene Porzellanvase, ein Klavierhocker und eine Schüssel mit Orangen, laufende Füße auf Treppen und ein anschwellendes Lachen. Abbys Finger klein und stark um mein Handgelenk, als sie mich auf die geflieste Terrasse hinter dem Haus führt, verschnörkelte Eisenstühle, eine alte Korbschaukel, die in der leichten würzigen Brise schwankt; eine weite Grasfläche, die sich bis zu hohen, in Bäumen und Efeu verborgenen Steinmauern erstreckt, ein Vogelschatten, der über die Pflastersteine huscht. Daniel, der mir eine Zigarette anzündet, eine Hand schützend um das Streichholz und sein gebeugter Kopf nur wenige Zentimeter von meinem. Der volle Klang ihrer Stimmen traf mich wie ein Schock, nachdem sie sich auf den Videoclips fast tonlos angehört hatten, und ihre Augen waren so klar, dass sie mir auf 344
der Haut brannten. Noch immer habe ich manchmal beim Aufwachen eine ihrer Stimmen nah und deutlich im Ohr, direkt aus jenem Tag gefallen: Komm her, ruft Justin, komm raus, der Abend ist herrlich; oder Abby sagt, Wir müssen uns überlegen, was wir mit dem Kräutergarten machen, aber wir haben auf dich gewartet, was meinst du – und ich bin wach, und sie sind fort. Ich muss auch geredet haben, irgendwo da mittendrin, aber ich kann mich kaum noch erinnern, was ich gesagt habe. Ich weiß nur noch, dass ich versucht habe, mein Gewicht vorn auf die Fußballen zu legen, wie Lexie das getan hat, höher zu sprechen, in ihrer Stimmlage, Augen und Schultern und Zigaretten im richtigen Winkel zu halten, bemüht, mich nicht zu viel umzusehen und mich nicht zu schnell zu bewegen, ohne vor Schmerz das Gesicht zu verziehen, und nichts Idiotisches zu sagen und nicht gegen die Möbel zu stoßen. Und Gott, wieder der Geschmack der Undercoverarbeit auf der Zunge, ihre Berührung, die mir 345
über die Härchen auf den Armen strich. Ich hatte gedacht, ich würde mich daran erinnern, wie es war, an jede Einzelheit, aber ich hatte mich getäuscht: Erinnerungen sind nichts, sind weich wie Gaze auf der mitleidslosen Rasiermesserschärfe dieser Schneide, wunderschön und tödlich, ein winziger Ausrutscher, und sie schneidet bis auf den Knochen. Er raubte mir den Atem, jener Abend. Wer schon mal im Traum in sein Lieblingsbuch oder seinen Lieblingsfilm oder seine Lieblingsfernsehserie hineinspaziert ist, kann sich vielleicht ungefähr vorstellen, was das für ein Gefühl war: wenn alles um dich herum lebendig wird, seltsam und neu und ungemein vertraut zugleich; dein stolpernder Herzschlag, wenn du dich durch die Räume bewegst, die in deinen Gedanken ein so plastisches, unberührbares Leben hatten, wenn deine Füße den Teppichboden tatsächlich berühren, wenn du diese Luft atmest. Das sonderbare, heimliche warme Gefühl, wenn diese Leute, die du so 346
lange und aus so großer Ferne beobachtet hast, ihren Kreis öffnen und dich hereinziehen. Abby und ich ließen die Korbschaukel träge schwingen. Die Jungs machten Abendessen und kamen immer mal wieder durch die Terrassentür mit den kleinen Scheiben aus der Küche zu uns nach draußen – Bratkartoffelduft, brutzelndes Fleisch, auf einmal hatte ich einen Bärenhunger – oder riefen uns irgendetwas zu. Rafe kam heraus und stützte sich zwischen uns auf die Rückenlehne, um einen Zug von Abbys Zigarette zu nehmen. Der dunkelnde, rosig goldene Himmel und große duftige Wolken, langsam treibend wie der Rauch eines Lagerfeuers in der Ferne, kühle Luft, erfüllt mit Gras und Erde und wachsenden Dingen. »Essen kommen!«, rief Justin über das Klappern von Geschirr hinweg. Der lange, reichgedeckte Tisch, makellos mit dem schweren roten Damasttuch, den schneeweißen Servietten; die Kerzenständer, umrankt mit Efeu, Flammen, die in Miniaturformat in den Wölbungen der Gläser schillerten, sich im Silber 347
spiegelten, in den dunkler werdenden Fenstern wie Irrlichter winkten. Und die vier, wie sie hochlehnige Stühle heranzogen, die Haut glatt und die Augen in dem verwirrenden goldenen Licht umschattet: Daniel am Kopf- und Abby am Fußende, Rafe neben mir und Justin gegenüber. In natura war die feierliche Atmosphäre, die ich auf den Videos und in Franks Notizen wahrgenommen hatte, so stark wie Weihrauch. Es war, als würden wir uns zu einem Festbankett zusammensetzen, zu einem Kriegsrat, zu einer Partie russisches Roulette, hoch oben in einem einsamen Turm. Sie waren so schön. Rafe war der Einzige, der als wirklich gutaussehend hätte bezeichnet werden können, aber dennoch, wenn ich an sie zurückdenke, muss ich immerzu an diese Schönheit denken. Justin verteilte Steak Diane auf Teller und ließ sie herumreichen – »Extra für dich«, sagte er mit einem schwachen Lächeln zu mir. Rafe gab Röstkartoffeln auf jeden Teller, der bei ihm vorbeikam. 348
Daniel schenkte Rotwein in nicht zueinander passende Weingläser. Dieser Abend nahm jede Gehirnzelle, die ich hatte, in Anspruch. Ich durfte auf gar keinen Fall betrunken werden. »Ich soll keinen Alkohol trinken«, sagte ich. »Die Antibiotika.« Das war das erste Mal, dass einer von uns den Messerangriff zur Sprache brachte, wenn auch nur indirekt. Für den Bruchteil einer Sekunde – oder vielleicht bildete ich es mir bloß ein – erstarb jede Bewegung im Raum, die Flasche verharrte halb geneigt, Hände stockten mitten in Gesten. Dann goss Daniel weiter ein, mit einer geschickten Drehung des Handgelenks, so dass knapp ein Fingerbreit ins Glas kam. »Da«, sagte er gelassen. »Ein Schlückchen wird dir schon nicht schaden. Nur zum Anstoßen.« Er reichte mir mein Glas und füllte seins. »Auf deine Heimkehr«, sagte er. In dem Augenblick, als das Glas von seiner Hand in meine wechselte, ließ irgendetwas einen 349
hohen wilden Warnschrei in meinem Hinterkopf gellen. Persephones verhängnisvolle Granatapfelkerne, Nimm nie Essbares von Fremden an; alte Geschichten, in denen ein einziger Schluck oder Bissen die Zauberwand für immer verschließt, die Straße nach Hause in Nebel auflösen und vom Wind wegwehen lässt. Und dann, eindringlicher:Wenn sie es doch waren, und der Wein vergiftet ist; Mannomann, was für ein Abgang. Und dann begriff ich mit einem Schauer wie von einem Stromstoß, dass es ihnen durchaus zuzutrauen wäre. Das reglose Quartett, das an der Tür auf mich gewartet hatte, jeder mit stocksteifem Rücken und kühlen, wachsamen Augen: Sie waren absolut imstande, das Spiel den ganzen Abend durchzuhalten, um mit einwandfreier Selbstbeherrschung und ohne einen einzigen Fehler auf den richtigen Augenblick zu warten. Aber sie lächelten mich alle an, die Gläser erhoben, und ich hatte keine andere Wahl. »Auf uns«, sagte ich und beugte mich über den Tisch, 350
um zwischen Efeu und Kerzenflammen mit ihnen anzustoßen: Justin, Rafe, Abby, Daniel. Ich trank einen Schluck von dem Wein – er war warm und schwer und weich, Honig und Sommerbeeren, und ich spürte ihn bis in die Fingerspitzen –, und dann nahm ich mein Besteck und schnitt in mein Steak. Vielleicht brauchte ich einfach nur etwas zu essen – das Steak war köstlich, und mein Appetit war mit einem Schlag wieder da, als wollte er verlorene Zeit aufholen, aber leider hatte keiner erwähnt, ob Lexie essen konnte wie ein Scheunendrescher, daher würde ich mir keinen Nachschlag geben lassen –, jedenfalls fing ich während dieses Dinners an, sie immer klarer zu sehen. Ab diesem Moment reihen sich die Erinnerungen aneinander, wie Glasperlen an einer Schnur, und der Abend verwandelt sich von einem blauen, verschwommenen Fleck in etwas Reales und Überschaubares. »Abby hat jetzt eine Puppe«, sagte Rafe, während er Kartoffeln auf seinen Teller schaufelte. »Wir wollten sie schon als Hexe verbrennen, aber dann 351
haben wir beschlossen zu warten, bis du wieder da bist, um demokratisch abzustimmen.« »Abby verbrennen oder die Puppe?«, fragte ich. »Beide.« »Es ist nicht irgendeine Puppe«, sagte Abby und schnippte Rafe gegen den Arm. »Es ist eine spätviktorianische Puppe, und Lexie wird sie gefallen, weil sie keine Banausin ist.« »An deiner Stelle würde ich sie aus sicherer Entfernung bewundern«, sagte Justin zu mir. »Ich glaube, sie ist besessen. Ihre Augen verfolgen mich.« »Leg sie doch hin. Dann gehen die Augen zu.« »Ich rühr sie nicht an. Nachher beißt sie mich noch. Dann muss ich bis in alle Ewigkeit das Reich der Finsternis durchwandern, auf der Suche nach meiner Seele –« »Gott, hast du mir gefehlt«, sagte Abby zu mir. »War gar nicht leicht für mich, nur diese drei Weicheier zum Quatschen zu haben. Es ist nur ein klitzekleines Püppchen, Justin.« 352
»Eine ausgewachsene Puppe«, sagte Rafe, Kartoffeln kauend. »Im Ernst. Sie ist aus einer geopferten Ziege gemacht.« »Nicht mit vollem Mund«, sagte Abby zu ihm. Zu mir: »Sie ist aus Ziegenleder. Der Kopf ist aus Porzellan. Ich hab sie in einer Hutschachtel in dem Zimmer gegenüber von meinem gefunden. Die Kleidung ist hinüber, und ich bin mit der Fußbank fertig, da dachte ich, ich könnte eine neue Garderobe für sie machen. Ich hab einen ganzen Haufen alte Stoffreste gefunden –« »Und erst ihre Haare«, sagte Justin und schob das Gemüse zu mir rüber. »Vergiss die Haare nicht. Die sind schrecklich.« »Sie trägt die Haare einer Toten«, klärte Rafe mich auf. »Wenn du eine Nadel in sie reinsteckst, kannst du Schreie vom Friedhof hören. Versuch’s mal.« »Verstehst du, was ich meine?«, sagte Abby, an mich gerichtet. »Weicheier. Sie hat echtes Haar. Wieso er glaubt, von einer Toten –« 353
»Weil deine Puppe ungefähr 1890 hergestellt wurde, und ich kann rechnen.« »Und was für ein Friedhof? Hier gibt's keinen Friedhof.« »Irgendwo gibt’s einen. Irgendwo da draußen, jedes Mal, wenn du die Puppe berührst, zuckt eine Tote in ihrem Grab zusammen.« »Solange du nicht dieses Kopfdings verschwinden lässt«, sagte Abby würdevoll, »hast du keinen Grund, meine Puppe als gruselig abzutun.« »Das kann man überhaupt nicht vergleichen. Das Kopfdings ist ein wertvolles wissenschaftliches Hilfsmittel.« »Ich mag das Kopfdings«, sagte Daniel und blickte überrascht auf. »Was ist daran auszusetzen?« »Es sieht aus wie etwas, an dem Aleister Crowley seine helle Freude hätte, das ist daran auszusetzen. Komm, Lex, sag, dass ich recht habe.« Frank und Sam hatten mir das Wichtigste an diesen vier nicht erzählt, vielleicht weil sie es 354
nicht richtig erkannt hatten, nämlich wie nah sie sich waren. Die Handyvideos hatten die Macht dessen nicht einfangen können, genauso wenig, wie sie dem Haus gerecht geworden waren. Es war wie ein Schimmer in der Luft zwischen ihnen, wie glänzende spinnwebfeine Fäden, die hin und her und raus und rein geworfen wurden, bis jede Bewegung oder jedes Wort durch die ganze Gruppe vibrierte: Rafe, der Abby ihre Zigaretten reichte, noch fast bevor sie danach suchte, Daniel, der sich mit ausgestreckten Händen umdrehte, um den Steakteller genau in der Sekunde entgegenzunehmen, wenn Justin damit durch die Tür hereinkam, Sätze, die sie sich gegenseitig zuwarfen wie Spielkarten ohne auch nur die geringste Verzögerung. Rob und ich waren so gewesen: nahtlos. Mein Hauptgefühl war, dass ich geliefert war. Diese vier hatten so enge Harmonien wie der eingespielteste A-capella-Chor der Welt, und ich musste bei der Jamsession meinen Einsatz finden, ohne einen einzigen Takt zu verpassen. Ein wenig 355
Spielraum verschafften mir mein geschwächter Zustand und die Medikamente und das Trauma überhaupt – im Augenblick waren sie einfach froh, dass ich zu Hause war und redete, was ich genau sagte, war nebensächlich –, aber das würde auf Dauer nicht reichen, und niemand hatte mir irgendwas von einem »Kopfdings« erzählt. So zuversichtlich Frank auch gewesen war, ich war mir ziemlich sicher, dass im SOKO-Raum eine Wette lief – hinter Sams Rücken, nicht unbedingt hinter Franks –, wie lange es dauern würde, bis ich in einem spektakulären Feuerball unterging, und dass die meisten auf unter drei Tage gesetzt hatten. Ich nahm es ihnen nicht übel. Ich hätte mitwetten sollen: einen Zehner auf vierundzwanzig Stunden. »Ich will hören, was es Neues gibt«, sagte ich. »Was war so los? Hat jemand nach mir gefragt? Habe ich Genesungskarten gekriegt?« »Du hast scheußliche Blumen gekriegt«, sagte Rafe, »von den Anglisten. So riesige mutierte
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Gänseblümchen, schaurig künstliche Farben. Sie sind verwelkt, Gott sei Dank.« »Vier-Titten-Brenda hat versucht, Rafe zu trösten«, sagte Abby mit einem schiefen Grinsen. »In seiner Stunde der Not.« »Oh Gott«, sagte Rafe entsetzt, ließ sein Besteck fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Justin kicherte. »Hat sie wirklich. Sie und ihr Atombusen haben mich im Kopierraum abgefangen und mich gefragt, wie ich mich fühle.« Das musste Brenda Grealey sein. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie Rafes Typ war. Auch ich lachte – sie gaben sich alle Mühe, für gute Stimmung zu sorgen, und Brenda schien ohnehin eine ziemliche Tussi zu sein. »Ich glaube, er hat es genossen, tief im Innern«, sagte Justin sachlich. »Als er wieder rauskam, hat er nach billigem Parfüm gerochen.« »Ich wär fast erstickt. Sie hat mich gegen den Kopierer gedrückt –«
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»Irgendwelche Fummelmusik im Hintergrund?«, fragte ich. Es war schwach, aber ich tat, was ich konnte, und ich nahm Abbys rasches, schiefes Lächeln wahr, den erleichterten Ausdruck, der über Justins Gesicht huschte. »Was zum Teufel hast du dir bloß im Krankenhaus in der Glotze angeguckt?«, wollte Daniel wissen. »– und sie hat auf mich draufgeatmet«, sagte Rafe. »Feucht. Ich hatte das Gefühl, ein Walross, das in Lufterfrischer gebadet hat, will mir an die Wäsche.« »Das Innere deines Kopfes ist ein schrecklicher Ort«, sagte Justin. »Sie wollte mich zum Bier einladen, um mal über alles zu reden. Sie meinte, ich müsste mich öffnen. Was heißt das überhaupt?« »Hört sich an, als wäre sie es, die sich mal öffnen wollte«, sagte Abby. »Sozusagen.« Rafe gab ein Würgegeräusch von sich. »Du bist auch zum Kotzen«, sagte Justin. 358
»Gott sei Dank habt ihr ja mich«, sagte ich. Ich fühlte mich wie auf Glatteis, wenn ich etwas sagte. »Ich bin hier die Kultivierte.« »Na«, sagte Justin mit einem kleinen verhaltenen Lächeln zu mir. »Träum weiter. Aber wir lieben dich trotzdem. Nimm noch was von dem Steak. Du isst wie ein Vögelchen. Schmeckt's dir nicht?« Halleluja: Anscheinend hatten Lexie und ich den gleichen Stoffwechsel, wie wir uns auch sonst in allem ähnlich waren. »Quatsch, es schmeckt super«, sagte ich. »Aber ich hab noch nicht wieder so richtig Appetit.« »Ja, dann.« Justin beugte sich über den Tisch und legte mir noch ein Steak auf den Teller. »Du musst was tun, um wieder zu Kräften zu kommen.« »Justin«, sagte ich, »du bist und bleibst mir der Liebste.« Er wurde rot bis zum Haaransatz, und ehe er sich hinter seinem Glas verstecken konnte, sah ich 359
etwas Gequältes – was, konnte ich nicht sagen – über sein Gesicht zucken. »Sei nicht albern«, sagte er. »Du hast uns gefehlt.« »Ihr mir auch«, sagte ich und grinste ihn keck an. »Vor allem, wenn das Krankenhausessen kam.« »Typisch«, sagte Rafe. Einen Moment lang war ich sicher, dass Justin noch etwas sagen wollte, aber dann griff Daniel nach der Flasche, um nachzuschenken, und Justin blinzelte, die Röte verschwand aus seinem Gesicht, und er nahm wieder sein Besteck. Eine zufriedene, tiefe Stille trat ein, wie häufig bei gutem Essen. Irgendetwas ging um den Tisch: ein Lockern, eine Beruhigung, ein langes Seufzen, zu leise, um es hören zu können. Un ange passe, hätte mein französischer Großvater gesagt: Ein Engel geht vorbei. Irgendwo oben im Haus hörte ich den schwachen, verträumten Klang einer schlagenden Uhr.
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Daniel warf Abby einen Seitenblick zu, so unauffällig, dass ich es fast übersehen hätte. Er hatte bisher am wenigsten gesagt, den ganzen Abend. Er war auch auf den Handyvideos meist still gewesen, aber das hier hatte irgendwie einen anderen Beigeschmack, eine konzentrierte Intensität, und ich war nicht sicher, ob sich die einfach nicht so gut auf eine Kamera übertrug oder ob sie neu war. »Also«, sagte Abby. »Wie fühlst du dich, Lex?« Sie hatten alle aufgehört zu essen. »Ganz gut«, sagte ich. »Ich soll ein paar Wochen lang nichts Schweres heben.« »Hast du Schmerzen?«, fragte Daniel. Ich zuckte die Achseln. »Sie haben mir hammerharte Schmerzmittel gegeben, aber die brauche ich meist nicht. Ich hab nicht mal eine fette Narbe. Innen mussten sie mir alles zusammennähen, aber außen hab ich nur sechs Stiche.« »Lass mal sehen«, sagte Rafe.
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»Himmel«, sagte Justin und legte seine Gabel hin. Er sah aus, als wollte er jeden Moment vom Tisch aufstehen. »Du bist ja pervers. Ich hab keinerlei Bedarf, die Narbe zu sehen, vielen herzlichen Dank.« »Ich will sie ganz bestimmt nicht beim Essen sehen«, sagte Abby. »Nichts für ungut.« »Die kriegt keiner nirgendwo zu sehen«, sagte ich und blickte Rafe mit zusammengekniffenen Augen an – darauf war ich vorbereitet. »Die haben die ganze Woche an mir rumgefummelt und getastet, und wer meiner Narbe noch mal zu nahe kommt, dem beiß ich die Finger ab.« Daniel musterte mich noch immer nachdenklich. »Jawohl, zeig’s ihnen«, sagte Abby. »Tut dir wirklich nichts mehr weh?« Justin hatte einen verkniffenen, weißen Zug um Mund und Nase, als wäre schon der Gedanke für ihn unerträglich. »Das muss doch total weh getan haben, am Anfang. War’s schlimm?«
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»Ihr geht’s gut«, sagte Abby. »Hat sie doch eben gesagt.« »Ich frag ja nur. Die Polizei hat immer gesagt – « »Nun lass gut sein.« »Was?«, fragte ich. »Was hat die Polizei immer gesagt?« »Ich finde«, sagte Daniel ruhig, aber abschließend, und drehte sich auf seinem Stuhl zu Justin um, »wir sollten es gut sein lassen.« Wieder Stille, diesmal weniger entspannt. Rafes Messer quietschte auf seinem Teller; Justin verzog das Gesicht; Abby griff nach dem Pfefferstreuer, klopfte einmal fest damit auf den Tisch und schüttelte ihn forsch. »Die wollten wissen«, sagte Daniel plötzlich und sah mich über sein Glas hinweg an, »ob du ein Tagebuch oder einen Terminkalender hast, irgendwas in der Art. Ich hielt es für das Beste, dass wir nein sagen.« Also doch ein Tagebuch? 363
»Gut so«, sagte ich. »Ich will nicht, dass die in meinen Sachen rumwühlen.« »Haben sie schon«, sagte Abby. »Tut mir leid. Sie haben dein Zimmer durchsucht.« »Ach Scheiße«, sagte ich empört. »Wieso habt ihr sie nicht dran gehindert?« »Wir hatten nicht den Eindruck, dass wir eine Wahl haben«, sagte Rafe trocken. »Und wenn ich Liebesbriefe hätte oder – oder harte Pornos oder was Privates?« »Wahrscheinlich haben sie genau danach gesucht.« »Eigentlich waren sie ganz faszinierend«, sagte Daniel. »Die von der Polizei. Die meisten von ihnen wirkten total desinteressiert: reine Routine. Ich hätte ihnen gern bei der Durchsuchung zugesehen, aber ich glaube, es wäre keine gute Idee gewesen, sie drum zu bitten.« »Jedenfalls haben sie nicht gefunden, was sie gesucht haben«, sagte ich zufrieden. »Wo ist es, Daniel?« 364
»Keine Ahnung«, sagte Daniel leicht überrascht. »Da, wo du es hingetan hast, nehme ich an«, und damit widmete er sich wieder seinem Steak.
Die Jungs räumten die Teller ab. Abby und ich blieben am Tisch sitzen und rauchten in einer Stille, die mir allmählich gesellig vorkam. Ich hörte jemanden im Wohnzimmer hantieren, verborgen hinter einer breiten Schiebedoppeltür, und der Geruch von Holzrauch drang nach draußen zu uns. »Machen wir heute’nen ruhigen?«, fragte Abby und sah mich über ihre Zigarette hinweg an. »Nur lesen?« Nach dem Essen war für alle Freizeit: Kartenspielen, Musik, Lesen, Reden, das Haus weiter auf Vordermann bringen. Lesen schien mir die weitaus einfachste Möglichkeit zu sein. »Perfekt«, sagte ich. »Ich muss ganz schön was aufholen für meine Diss.« 365
»Mach mal halblang«, sagte Abby – wieder mit dem kleinen, schiefen Lächeln. »Du bist doch gerade erst wieder zu Haus. Du hast alle Zeit der Welt.« Sie drückte die Zigarette aus und öffnete mit Schwung die Schiebetüren. Das Wohnzimmer war riesengroß und überraschenderweise wunderbar. Die Fotos hatten nur die Schäbigkeit eingefangen und nichts von der Atmosphäre. Hohe Decke mit Stuckverzierungen an den Rändern, breite Dielen, unlackiert und uneben, scheußliche Blümchentapete, die sich stellenweise löste und die alten Schichten darunter sehen ließ – zartrote und goldene Streifen, ein matter cremefarbener Schimmer wie Seide. Die Möbel waren bunt gemischt und alt: ein verkratzter Kartentisch mit Rosenholzintarsien, verblichene Brokatsessel, ein langes, unbequem aussehendes Sofa, Bücherregale voll mit zerfledderten Lederausgaben und bunten Taschenbüchern. Es gab kein Deckenlicht, nur Stehlampen und ein Feuer, das in einem wuchtigen schmiedeeisernen Kamin 366
knisterte und wilde Schatten warf, die zwischen den Spinnweben hoch oben in den Ecken herumjagten. Der Raum war chaotisch, und ich verliebte mich in ihn, noch ehe ich ganz durch die Tür war. Die Sessel sahen gemütlich aus, und ich wollte schon auf einen von ihnen zusteuern, als mein Verstand voll in die Bremsen stieg. Ich konnte mein Herz hören. Ich hatte keine Ahnung, wo mein üblicher Platz war. Mein Kopf war leer. Das Essen, die Frotzeleien, die behagliche Stille mit Abby: Ich hatte mich entspannt. »Bin gleich wieder da«, sagte ich und verkroch mich im Bad, damit die anderen inzwischen hoffentlich die Auswahl begrenzten, indem sie sich auf ihre Plätze setzten, und damit meine zitternden Beine sich beruhigten. Als ich wieder normal atmen konnte, war mein Verstand wieder angesprungen, und ich wusste, wo mein Platz war: ein niedriger, viktorianischer Stillsessel auf einer Seite des Kamins. Frank hatte mir haufenweise Fotos gezeigt. Eigentlich wusste ich das. 367
Es wäre so einfach gewesen: im falschen Sessel Platz nehmen. Gerade mal vier Stunden. Justin blickte mit einer leichten Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen hoch, als ich ins Wohnzimmer kam, aber niemand sagte etwas. Meine Bücher lagen verteilt auf einem niedrigen Tisch neben meinem Sessel: dicke historische Nachschlagewerke, eine eselsohrige Ausgabe von Jane Eyre, aufgeklappt und mit den Seiten nach unten auf einem linierten Notizblock, ein vergilbter Thriller mit dem Titel Mord im Cocktailkleid von Rip Corelli – vermutlich nicht promotionsbezogen, aber vielleicht ja doch –, das Cover zeigte eine vollbusige Frau in einem geschlitzten Kleid und mit einer Pistole im Strumpfband (»Sie lockte die Männer an wie Honig die Bienen … und dann schlug sie zu!«). Mein Stift – ein blauer Kuli, das Ende sichtlich angenagt – lag noch da, wo ich ihn mitten im Satz hingelegt hatte, an diesem Mittwochabend.
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Ich beobachtete die anderen über mein Buch hinweg, suchte nach irgendwelchen Anzeichen für Nervosität, aber sie hatten sich alle mit augenblicklicher, geschulter Konzentration in ihre jeweilige Lektüre vertieft. Abby in einem Sessel, die Füße auf einer kleinen bestickten Fußbank – ihr Restaurationsprojekt vermutlich. Sie blätterte zügig Seiten um und zwirbelte sich eine Haarlocke um den Finger. Rafe saß mir am Kamin gegenüber in dem anderen Sessel. Hin und wieder legte er sein Buch hin und beugte sich vor, um im Feuer zu stochern oder ein Holzscheit nachzulegen. Justin lag auf dem Sofa, seinen Notizblock auf der Brust abgestützt, kritzelte, murmelte dann und wann etwas vor sich hin oder schnaubte oder schnalzte missbilligend mit der Zunge. Hinter ihm an der Wand hing ein ausgefranster Bildteppich mit einer Jagdszene. Er hätte eigentlich unpassend dazu aussehen müssen, mit der Cordhose und der kleinen randlosen Brille, aber irgendwie tat er das nicht, überhaupt nicht. Daniel saß am Kartentisch, 369
den dunklen Kopf im Licht einer hohen Lampe gebeugt, und bewegte sich nur, um bedächtig in aller Ruhe eine Seite umzublättern. Die schweren grünen Samtvorhänge waren geöffnet, und ich stellte mir vor, wie wir wohl aussehen würden für jemanden, der vom dunklen Garten aus hereinschaute, so sicher eingehüllt in unseren Feuerschein und voller Konzentration, so hell und friedlich, wie etwas aus einem Traum. Eine jähe schwindelerregende Sekunde lang beneidete ich Lexie Madison. Daniel spürte, dass ich ihn beobachtete: Er hob den Kopf und lächelte mich über den Tisch hinweg an. Es war das erste Mal, dass ich ihn lächeln sah, und es lag eine ungeheure, ernste Sanftheit darin. Dann beugte er den Kopf wieder über sein Buch. Ich ging früh zu Bett, gegen zehn, teils um meiner Rolle gerecht zu werden und teils weil Frank recht behalten hatte, ich war völlig erledigt. Mein Gehirn fühlte sich an, als hätte es einen Triathlon 370
hinter sich. Ich schloss die Tür von Lexies Zimmer (Maiglöckchengeruch, ein feiner leichter Hauch wirbelte an meiner Schulter hoch und rund um den Ausschnitt meines T-Shirts, neugierig und wachsam) und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Eine Sekunde lang dachte ich, ich würde es nicht bis zum Bett schaffen, würde einfach an der Tür runterrutschen und schon einschlafen, ehe ich auf dem Teppichboden landete. Der Job war anstrengender, als ich in Erinnerung hatte, und ganz bestimmt nicht, weil ich alt wurde oder mein Fingerspitzengefühl verlor oder irgendeine von den anderen reizvollen Möglichkeiten, die O'Kelly gemutmaßt hätte. Beim letzten Mal hatte ich das Heft in der Hand, konnte selbst entscheiden, mit wem ich Kontakt haben sollte, für wie lange, wie eng der Kontakt zu sein hatte. Diesmal hatte Lexie sie alle für mich herbestellt, und mir blieb keine Wahl: Ich musste haargenau nach ihren Regeln spielen, aufmerksam und unentwegt lauschen, als würde sie über einen schwachen, knisternden 371
Ohrhörer zu mir sprechen, und mich von ihr lenken lassen. Ich hatte dieses Gefühl schon öfters gehabt, bei meinen unerfreulichsten Ermittlungen: Jemand anderer diktiert, wo’s langgeht. Die meisten davon waren nicht gut ausgegangen. Aber da war der andere immer der Mörder gewesen, der uns stets drei hochnäsige Schritte voraus war. Ich hatte noch nie einen Fall gehabt, wo dieser andere das Opfer war. Eines war allerdings einfacher. Bei meinem letzten Undercovereinsatz am UCD hatte jedes Wort aus meinem Munde einen fiesen Nachgeschmack, schmeckte irgendwie verdorben und falsch, wie verschimmeltes Brot. Ich sagte ja schon, dass ich nicht gern lüge. Diesmal jedoch hinterließ alles, was ich gesagt hatte, lediglich den blitzsauberen Geschmack von Wahrheit. Als mögliche Erklärung fiel mir dazu nur ein, dass ich mir selbst im großen Stil etwas vormachte – Rationalisieren gehört zum Undercoverhandwerk – oder 372
dass ich irgendwie auf eine schräge Art, die tiefer und sicherer war als harte Fakten, gar nicht log. Solange ich die Sache hier richtig machte, war fast alles, was ich sagte, die Wahrheit, nur eben Lexies, nicht meine. Ich befand, dass es wahrscheinlich ein kluger Schritt wäre, mich von der Tür loszueisen und ins Bett zu gehen, ehe ich anfing, über eine der beiden Möglichkeiten allzu lange nachzudenken. Ihr Zimmer lag im obersten Stock, nach hinten raus, gegenüber von Daniels und über Justins. Es war mittelgroß, hatte eine niedrige Decke, schlichte weiße Vorhänge und ein wackeliges schmiedeeisernes Einzelbett, das wie eine alte Wäschemangel quietschte, als ich mich draufsetzte – wenn Lexie es geschafft hatte, in dem Ding schwanger zu werden, alle Achtung. Der Bettbezug war blau und frisch gebügelt. Jemand hatte mein Bett frisch bezogen. Viele Möbel hatte sie nicht: ein Bücherregal, einen schmalen Holzschrank mit praktischen Streifen aus Silberfolie auf den Regalbret373
tern, wo draufstand, was wo hinkam (MÜTZEN, STRÜMPFE), eine abscheuliche Plastiklampe auf einem abscheulichen Nachttisch und eine Frisierkommode mit verstaubten Schneckenverzierungen und einem dreiteiligen Spiegel, der mein Gesicht in verwirrenden Winkeln reflektierte und mir einen eiskalten Schauder über den Rücken jagte. Ich erwog, ihn mit einem Laken oder so zu verhängen, aber das hätte ich erklären müssen, und außerdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass mein Spiegelbild dann trotzdem dahinter weiter sein Spiel treiben würde. Ich schloss meinen Koffer auf, horchte mit gespitzten Ohren auf irgendwelche Geräusche auf der Treppe und holte dann meinen neuen Revolver und die Rolle Pflaster für meine Verbände hervor. Selbst zu Hause schlafe ich nicht, ohne meine Pistole griffbereit zu haben – eine alte Gewohnheit, mit der ich nicht gerade jetzt brechen wollte. Ich klebte die Waffe hinten an den Nachttisch, außer Sicht, aber in Reichweite. Keine Spinnweben, 374
nicht einmal ein Staubfilm auf der Rückwand des Nachttisches: Die Spurensicherung war vor mir da gewesen. Bevor ich mir Lexies blauen Pyjama anzog, riss ich den falschen Verband ab, löste das Mikro und verstaute den ganzen Kram unten in meinem Koffer. Irgendwo bekam Frank deswegen einen ausgewachsenen Wutanfall, aber das war mir egal; ich hatte meine Gründe. Am ersten Abend eines Undercovereinsatzes schlafen zu gehen ist etwas, das du niemals vergisst. Den ganzen Tag über warst du pure, konzentrierte Kontrolle, hast dich selbst genauso scharf und schonungslos beobachtet, wie alles und jeden um dich herum, aber sobald du am Abend allein auf einer fremden Matratze in einem Zimmer liegst, dessen Luft anders riecht, bleibt dir nichts anderes übrig, als die Hände zu öffnen und loszulassen, dich in den Schlaf und in das Leben eines anderen Menschen fallen zu lassen wie ein Kieselstein, der durch kühles, grünes Wasser 375
sinkt. Selbst beim ersten Mal weißt du, dass genau in dieser Sekunde etwas Unwiderrufliches einsetzt, dass du am nächsten Morgen verändert aufwachen wirst. Ich musste nackt in diese Veränderung hineingehen, mit nichts aus meinem eigenen Leben am Körper, so wie die Kinder von Holzfällern in Märchen nur schutzlos das Zauberschloss betreten können, so wie die Geweihten in alten Religionen nackt in ihre Initiationsriten gingen. Ich fand eine schöne, illustrierte, mürbe alte Ausgabe von Grimms Märchen im Bücherregal und nahm sie mit ins Bett. Die anderen hatten sie Lexie letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt: auf dem Vorsatzblatt stand mit Tinte in schräger, fließender Schrift – Justins, wie ich mir fast sicher war – »1 / 3/04. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Du junges Mädchen (wann wirst Du endlich erwachsen??). Alles Liebe«, und die vier Namen. Ich setzte mich ins Bett, das Buch auf den Knien, aber ich konnte nicht lesen. Ab und an 376
drangen die schnellen, gedämpften Gesprächsrhythmen aus dem Wohnzimmer nach oben, und draußen vor meinem Fenster war der Garten lebendig: Wind in den Blättern, ein bellender Fuchs und eine Eule auf der Jagd, überall Geraschel und Rufe und Gewühle. Ich saß da, blickte mich in Lexies fremdem Zimmer um und lauschte. Kurz vor Mitternacht knarrte die Treppe, und es klopfte leise an meiner Tür. Ich sprang fast an die Decke, griff nach meinem Koffer, um mich zu vergewissern, dass der Reißverschluss ganz zu war, und rief: »Herein.« »Ich bin’s«, sagte Daniel oder Rafe oder Justin, dicht hinter der Tür, so leise, dass ich nicht sagen konnte, wer von den dreien. »Wollte nur gute Nacht sagen. Wir gehen jetzt schlafen.« Mein Herz hämmerte. »Nacht«, rief ich. »Schlaft gut.« Stimmen flogen die langen Treppen rauf und runter, ohne Herkunft, und verschwammen wie ein Zikadenchor, sanft wie Finger in meinem 377
Haar. Nacht, sagten sie, gute Nacht, schlaf gut. Willkommen zu Haus, Lexie. Ja, willkommen zu Haus. Gute Nacht. Träum was Schönes.
Ich habe einen leichten Schlaf, und ich habe gute Ohren. Irgendwann in der Nacht wurde ich wach, schlagartig und vollständig. Auf der anderen Seite des Flurs, in Daniels Zimmer, flüsterte jemand. Ich hielt den Atem an, aber die Türen waren dick, und das Einzige, was ich ausmachen konnte, war Gezischel im Dunkeln. Keine Worte, keine Stimmen. Ich schob den Arm unter der Bettdecke hervor, ganz vorsichtig, und tastete nach Lexies Handy auf dem Nachtisch: 3.17 Uhr. Lange Zeit folgte ich der schwachen doppelten Flüsterspur, die sich zwischen den schrillen Fledermausrufen und dem Rauschen des Windes hindurchwand. Es war zehn Minuten vor vier, als ich das langsame Knarzen eines Türknaufs hörte, der gedreht wurde, und dann das leise Klicken, als 378
Daniels Tür sich schloss. Der Hauch eines Geräusches auf dem Flur, kaum wahrnehmbar, wie ein Schatten, der sich im Dunkeln bewegt, dann nichts.
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6 Schritte weckten mich, die nach unten polterten. Ich hatte geträumt, irgendetwas Düsteres und Chaotisches, und ich brauchte eine hektische Sekunde, bis ich meine Gedanken entwirrt hatte und wusste, wo ich war. Ich wollte nach meiner Pistole greifen, doch sie lag nicht neben meinem Bett, und ich geriet in Panik, als es mir einfiel. Ich setzte mich auf. Offenbar war doch nichts vergiftet gewesen; ich fühlte mich gut. Der Duft von Gebratenem drang unter der Tür hindurch, und ich konnte den flotten Morgenrhythmus von Stimmen hören, irgendwo weit unten. Verdammt: Ich hatte nicht mitgeholfen, Frühstück zu machen. Es war so lange her, seit ich es geschafft hatte, länger als bis sechs zu schlafen, dass ich Lexies Wecker gar nicht erst gestellt hatte. Ich klebte mir Mikro und Verband wieder an, schlüpfte in Jeans und ein T-Shirt und einen Mammutpullover, der
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aussah, als hätte er mal einem von den Jungs gehört – die Luft war eiskalt –, und ging nach unten. Die Küche lag nach hinten raus, und sie hatte sich seit Lexies Gruselfilm deutlich verbessert. Keine Spur mehr von Schimmel und Spinnweben und dem schäbigen Linoleum. Stattdessen Fliesenboden, ein gescheuerter Holztisch, ein Topf mit struppigen Geranien auf der Fensterbank vor der Spüle. Abby, in einem roten Flanellmorgenmantel mit hochgezogener Kapuze, wendete Schinkenspeck und Würstchen. Daniel saß am Tisch, fertig angezogen, las ein Buch, das er unter den Rand seines Tellers geklemmt hatte, und aß Spiegeleier mit methodischem Genuss. Justin schnitt seinen Toast in Dreiecke und jammerte. »Ehrlich, so was hab ich noch nicht erlebt. Letzte Woche hatten nur ganze zwei von ihnen die Lektüre vorbereitet. Der Rest hockte bloß da, starrte vor sich hin und kaute Kaugummi, wie eine Herde Kühe. Willst du wirklich nicht tauschen,
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nur heute? Du kriegst vielleicht mehr aus ihnen raus –« »Nein«, sagte Daniel, ohne aufzublicken. »Aber deine machen die Sonette. Ich kenn die Sonette. Ich bin gut in den Sonetten.« »Nein.« »Morgen«, sagte ich von der Tür aus. Daniel nickte mir ernst zu und widmete sich wieder seinem Buch. Abby winkte mit dem Pfannenwender. »Morgen, du.« »Hallo, Schätzchen«, sagte Justin. »Komm her. Lass dich anschauen. Wie fühlst du dich?« »Prima«, sagte ich. »Tut mir leid, Abby. Ich hab total verschlafen. Komm, gib mir das Ding –« Ich griff nach dem Pfannenwender, aber sie riss ihn weg. »Nein, ist schon in Ordnung. Du giltst noch als Verwundete. Morgen komm ich hoch und schmeiß dich aus dem Bett. Hinsetzen.« Wieder dieser Sekundenbruchteil – Verwundete: Daniel und Justin schienen zu erstarren, mitten in der Kaubewegung. Dann setzte ich 382
mich an den Tisch, Justin griff nach einer weiteren Scheibe Toast, und Daniel blätterte eine Seite um und schob eine rote Emaillekanne zu mir rüber. Abby beförderte drei Speckscheiben und zwei Spiegeleier auf einen Teller, kam rüber und stellte ihn, ohne zu fragen, vor mich hin. »Brrr, ist das kalt«, sagte sie und eilte zurück zum Herd. »Mensch, Daniel, ich weiß, du hast was gegen Doppelverglasung, aber im Ernst, wir sollten zumindest mal drüber nachdenken –« »Doppelverglasung ist die Ausgeburt des Satans. Einfach grässlich.« »Ja, aber warm. Wenn wir hier unten schon keine Teppichböden kriegen –« Justin knabberte an seinem Toast, Kinn in der Hand, und betrachtete mich so eindringlich, dass ich nervös wurde. Ich konzentrierte mich aufs Essen. »Du siehst blass aus. Du kommst doch heute nicht mit zur Uni, oder?« »Ich denke nicht«, sagte ich. Ich fühlte mich nicht für einen ganzen Tag in meiner Rolle bereit, 383
noch nicht. Und außerdem wollte ich eine Gelegenheit, das Haus in aller Ruhe unter die Lupe nehmen zu können. Ich wollte das Tagebuch oder den Terminkalender oder was immer es war finden. »Ich soll es in den ersten Tagen langsam angehen lassen. Aber da fällt mir ein: Was ist eigentlich mit meinen Tutorenkursen?« Die Tutorenkurse enden zu den Osterferien, aber ein paar ziehen sich aus irgendwelchen Gründen bis ins Sommersemester. Ich hatte noch zwei Kurse, einen dienstags und einen donnerstags. Ich freute mich weiß Gott nicht auf sie. »Wir haben dich vertreten«, sagte Abby, lud sich einen Teller voll und setzte sich zu uns an den Tisch, »mehr oder weniger. Daniel hat mit deiner Donnerstagsgruppe Beowulf gelesen. Im Original.« »Super«, sagte ich. »Wie haben sie reagiert?« »Eigentlich nicht schlecht«, sagte Daniel. »Zuerst waren sie fassungslos, aber irgendwann haben
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ein paar von ihnen ganz intelligente Sachen dazu gesagt. Es war ziemlich interessant.« Rafe kam hereingestolpert, die Haare ungekämmt, in T-Shirt und einer gestreiften Pyjamahose, und sah aus, als wäre er radargesteuert. Er winkte in die Runde, tastete nach einer Tasse, goss sich viel schwarzen Kaffee ein, klaute eine Hälfte Toast von Justins Teller und verschwand wieder. »Zwanzig Minuten!«, rief Justin hinter ihm her. »Ich warte nicht auf dich!« Rafe winkte bloß mit einer Hand über der Schulter ab und ging weiter. »Die Schreierei kannst du dir eigentlich sparen«, sagte Abby, die ein Würstchen zerteilte. »In fünf Minuten kann er sich nicht mal erinnern, dass er dich gesehen hat. Nach dem Kaffee. Bei Rafe immer erst nach dem Kaffee.« »Ja, aber dann meckert er, ich hätte ihm nicht genug Zeit gegeben, sich fertig zu machen. Im Ernst, diesmal fahr ich ohne ihn, und wenn er zu spät kommt, dann ist das sein Problem. Soll er
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sich doch selbst ein Auto zulegen oder von mir aus zu Fuß gehen. Ist mir egal –« »Jeden Morgen«, sagte Abby zu mir über Justin hinweg, der wütend mit seinem Buttermesser hantierte. Ich verdrehte die Augen. Draußen vor der Terrassentür hinter Abbys Kopf mümmelte ein Kaninchen auf dem Rasen, hinterließ kleine dunkle Muster von Pfotenabdrücken im weißen Tau.
Eine halbe Stunde später brachen Rafe und Justin auf – Justin fuhr seinen Wagen vors Haus und wartete, hupend und unverständlich aus dem Fenster schimpfend, bis Rafe schließlich in die Küche gestürzt kam, den Mantel halb angezogen, in einer Hand seinen Rucksack, der wild hin und her pendelte, sich noch eine Scheibe Toast schnappte, sie zwischen die Zähne schob, wieder davonsprintete und die Haustür so laut zuknallte, dass die Wände wackelten. Abby machte den Abwasch und sang 386
dabei leise in ihrer warmen Altstimme vor sich hin. Daniel rauchte eine filterlose Zigarette, dünne Rauchkringel schwebten in den hellen Sonnenstrahlen, die durchs Fenster hereinfielen. Sie hatten sich in meiner Gegenwart entspannt; ich war drin. Ich hätte mich deshalb wesentlich besser fühlen sollen, als es der Fall war. Ich war gar nicht auf die Idee gekommen, dass ich die vier mögen könnte. Bei Daniel und Rafe war ich mir noch nicht sicher, aber Justin hatte eine Herzlichkeit, die umso einnehmender war, als sie so übereifrig und unbeholfen wirkte, und was Abby betraf, da hatte Frank richtiggelegen: Unter anderen Umständen hätte ich sie gern als Freundin gehabt. Sie hatten jemanden aus ihrer Mitte verloren, und sie wussten es nicht einmal, und es bestand immer noch die Möglichkeit, dass ich der Grund dafür war. Und ich saß hier in ihrer Küche, frühstückte mit ihnen und machte ihnen was vor. Das Misstrauen vom Vorabend – Schierlingssteak, du 387
liebe Zeit – kam mir auf einmal so albern und überkandidelt vor, dass ich am liebsten im Boden versunken wäre. »Daniel, wir müssen langsam los«, sagte Abby schließlich mit einem Blick auf die Uhr an der Wand und wischte sich die Hände am Geschirrtuch ab. »Brauchst du irgendwas aus der Welt da draußen, Lex?« »Zigaretten«, sagte ich. »Meine sind fast alle.« Sie fischte eine Packung Marlboro Lights aus der Tasche ihres Morgenmantels und warf sie mir zu. »Nimm die. Ich kauf unterwegs neue. Was hast du heute vor?« »Faul auf dem Sofa liegen und lesen und essen. Sind noch Kekse da?« »Die mit Vanillecreme, die du so magst, in der Keksdose und Schokoplätzchen im Gefrierfach.« Sie faltete das Geschirrtuch ordentlich zusammen und hängte es über die Stange am Herd. »Wär dir nicht doch lieber, wenn einer von uns hier bei dir bleibt?« 388
Justin hatte mich bestimmt schon ein halbes Dutzend Mal gefragt. Ich schlug die Augen zur Decke. »Na-hein.« Ich sah den kurzen Blick, den Abby Daniel über meinen Kopf hinweg zuwarf, aber er blätterte eine Seite um und achtete gar nicht auf uns. »Na gut«, sagte sie. »Fall bloß nicht auf der Treppe in Ohnmacht oder so. Fünf Minuten, Daniel?« Daniel nickte, ohne aufzublicken. Abby lief flink auf Socken die Treppe hoch. Ich hörte, wie sie Schubladen öffnete und schloss und gleich darauf wieder anfing, vor sich hin zu singen. Lexie rauchte mehr als ich, eine Packung am Tag, und sie fing nach dem Frühstück an. Ich nahm Daniels Streichhölzer und zündete mir eine Zigarette an. Daniel sah auf die Seitenzahl seines Buches, klappte es zu und legte es beiseite. »Solltest du wirklich rauchen?«, fragte er. »Unter den Umständen.«
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»Nee«, sagte ich kess und blies einen Rauchstrahl über den Tisch zu ihm rüber. »Du denn?« Er musste schmunzeln. »Du siehst heute Morgen besser aus«, sagte er. »Gestern Abend hast du sehr müde gewirkt und ein bisschen verloren, fand ich. Was ja auch kein Wunder ist, denke ich, aber es ist schön, dass deine Energie langsam wiederkommt.« Ich nahm mir vor, meinen Vitalitätslevel in den nächsten Tagen nach und nach zu erhöhen. »Die Ärzte haben gesagt, es würde eine Weile dauern und ich sollte nichts überstürzen«, sagte ich, »aber die können mir den Buckel runterrutschen. Ich hab’s satt, krank zu sein.« Das Schmunzeln wurde breiter. »Kann ich mir gut vorstellen. Du warst bestimmt eine Traumpatientin.« Er beugte sich zum Herd, neigte die Kaffeekanne, um nachzusehen, ob noch etwas drin war. »Kannst du dich eigentlich noch an irgendwas von dem Vorfall erinnern?«
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Er goss sich den letzten Rest Kaffee ein und beobachtete mich. Sein Gesicht war gelassen, interessiert, gelöst. »Null«, sagte ich. »Der ganze Tag ist futsch und Teile von davor auch. Ich dachte, die Bullen hätten euch das erzählt.« »Haben sie auch«, sagte Daniel, »aber das musste ja nicht unbedingt stimmen. Könnte ja sein, dass du Gründe hattest, ihnen was vorzumachen.« Ich blickte verständnislos. »Zum Beispiel?« »Keine Ahnung«, sagte Daniel und stellte die Kaffeekanne vorsichtig zurück auf den Herd. »Ich hoffe aber, wenn du dich tatsächlich an was erinnerst und einfach unsicher bist, ob du es der Polizei erzählen sollst, dass du nicht meinst, du musst allein damit klarkommen. Dass du mit mir drüber redest oder mit Abby. Machst du das?« Er trank seinen Kaffee, einen Fußknöchel lässig über das andere Knie gelegt, und betrachtete mich seelenruhig. Ich begriff langsam, was Frank damit gemeint hatte, dass die vier nur sehr wenig preis391
gaben. Daniels Miene verriet nichts. Er hätte gerade von einer Chorprobe zurückgekommen sein können oder ein Dutzend Waisenkinder mit der Axt erschlagen haben. »Ähm, ja, klar«, sagte ich. »Aber ich weiß nur noch, dass ich am Dienstagabend von der Uni nach Hause gekommen bin, und als Nächstes, dass ich mich übelst in eine Bettpfanne erbrochen hab, und das habe ich alles schon der Polizei erzählt.« »Hmm«, sagte Daniel. Er schob den Aschenbecher auf meine Seite des Tisches. »Das Gedächtnis ist schon eine seltsame Sache. Ich möchte dich was fragen: Wenn du –« Doch in dem Augenblick kam Abby, noch immer singend, die Treppe heruntergetrappelt, und er schüttelte den Kopf und stand auf und klopfte seine Taschen ab.
Ich winkte von oben auf der Vordertreppe, während Daniel mit gekonntem Schwung aus der Einfahrt rollte und der Wagen zwischen den Kirsch392
bäumen verschwand. Als sie ganz sicher weg waren, schloss ich die Tür und blieb in der Diele stehen, lauschte auf das leere Haus. Ich konnte spüren, wie es zur Ruhe kam, ein langgezogenes Wispern wie treibender Sand, und abwartete, was ich jetzt machen würde. Ich setzte mich unten auf die Treppe. Der Treppenläufer war entfernt worden, aber weiter waren sie noch nicht gekommen; ein breiter unlackierter Streifen zog sich über jede Stufe, staubig und in der Mitte abgetreten von Generationen von Füßen. Ich lehnte mich gegen den Treppenpfosten, suchte nach der richtigen Position, bis mein Rücken es bequem hatte, und dachte über das Tagebuch nach. Wenn es in Lexies Zimmer gewesen wäre, hätte die Spurensicherung es gefunden. Damit blieb der Rest des Hauses, der ganze Garten und die Frage, was darin stand, dass sie es sogar vor ihren besten Freunden hatte verbergen wollen. Eine Sekunde lang hörte ich wieder Franks Stimme bei der 393
Besprechung im Morddezernat:… hatte offenbar Geheimnisse vor ihren engsten Freunden. Die andere Möglichkeit war, dass Lexie es immer bei sich gehabt hatte, dass sie es in der Tasche hatte, als sie starb, und der Mörder es an sich genommen hatte. Das wäre die Erklärung, warum er die Zeit investiert hatte und das Risiko eingegangen war, ihr zu folgen (sie ins Trockene schleifen, schwarze Dunkelheit, seine Hände, die rasch über ihren schlaffen Körper gleiten, Taschen abtasten, glänzend von Regen und Blut): falls er dieses Tagebuch unbedingt hatte haben wollen. Durchaus denkbar, aber praktisch hätte das bedeutet, dass es ein ziemlich kleines Tagebuch sein musste, wenn es in eine Hosen- oder Jackentasche passte, und sie hätte es jedes Mal umstecken müssen, wenn sie andere Sachen anzog. Ein gutes Versteck wäre einfacher und sicherer gewesen. Irgendein Ort, wo es vor Regen geschützt war und nicht per Zufall gefunden werden konnte. Irgendein Ort, wo sie ungestört war, selbst mit vier an394
deren Leuten im Haus. Irgendein Ort, wo sie jederzeit hinkonnte, ohne dass sich jemand wundern würde; nicht ihr Zimmer. Im Erdgeschoss war eine Toilette und im ersten Stock ein richtiges Badezimmer. Ich überprüfte zuerst das Klo, aber der Raum war klein und eng, und nachdem ich im Spülkasten nachgesehen hatte, waren so gut wie alle Möglichkeiten erschöpft. Das Badezimmer war groß: Dreißiger-JahreFliesen mit schwarz-weißer Bordüre, Wanne aus angeschlagener Emaille, Glasfenster mit zerfledderten Gardinen. Die Tür ließ sich verriegeln. Nichts im Spülkasten oder dahinter. Ich setzte mich auf den Boden und zog die Holzverkleidung der Wanne ab. Es ging mühelos. Ein schabendes Geräusch, aber so leise, dass es sich ohne weiteres mit laufendem Wasser oder der Klospülung übertönen ließe. Dahinter waren Spinnweben, Mäusekot, Fingerspuren im Staub und versteckt in einer Ecke ein winziges rotes Notizbuch.
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Mein Atem ging, als wäre ich gerannt. Das gefiel mir nicht. Es gefiel mir nicht, dass ich in diesem riesigen Haus zielstrebig auf Lexies Versteck zugesteuert war, als hätte ich keine andere Wahl gehabt. Es kam mir so vor, als wäre das Haus um mich herum enger geworden und näher gerückt, als würde es sich über meine Schulter beugen, zuschauen, aufpassen. Ich ging nach oben in mein Zimmer – Lexies Zimmer – und holte meine Handschuhe und eine Nagelfeile. Dann hockte ich mich wieder auf den Badezimmerboden, fasste das Notizbuch ganz vorsichtig am Rand an und zog es heraus. Mit der Nagelfeile blätterte ich die Seiten um. Früher oder später würde das Labor es auf Fingerabdrücke untersuchen müssen. Ich hatte ein Schütte-dein-Herz-aus-Tagebuch erhofft, aber ich hätte es besser wissen müssen. Das hier war nur ein Terminkalender, Umschlag aus rotem Lederimitat, eine Seite für jeden Tag. Die ersten Monate waren voll mit Terminen und 396
Gedächtnisstützen in einer raschen, runden Schrift: Kopfsalat, Brie, Knoblauchsalz; 11 Tut R 3017; Stromrechn; D fragen wg. OvidBuch?? Normales, harmloses Zeug, und beim Lesen fühlte ich mich unwohler als je zuvor. Als Detective gewöhnst du dich daran, auf jede erdenkliche Weise in die Privatsphäre anderer Leute einzudringen, ich hatte in Lexies Bett geschlafen, und ich trug ihre Sachen, aber das hier, das hier waren die kleinen, alltäglichen Überbleibsel ihres Lebens, es war allein für sie bestimmt gewesen, und ich hatte kein Recht dazu. In den letzten paar Märztagen jedoch veränderte sich etwas. Die Einkaufslisten und Tutorentermine verschwanden, und die Seiten wurden leer. Es gab nur drei Einträge, in einer harten, hingeworfenen Schrift. Am letzten Tag im März: 10.30 N. Am fünften April: 11.30 N. Und am elften, zwei Tage vor ihrem Tod: 11 N. Kein N im Januar oder Februar; keine Erwähnung bis zu dem Termin am letzten Märztag. Die 397
Liste mit Lexies BKs war nicht lang, und soweit ich mich entsinnen konnte, war keiner dabei, der mit N anfing. Ein Spitzname? Ein Ort? Ein Café? Irgendwer aus ihrem alten Leben, wie Frank gesagt hatte, jemand, der aus dem Nichts wieder aufgetaucht war und den Rest ihrer Welt leergewischt hatte? Quer über die letzten zwei Tage war eine Liste mit Buchstaben und Zahlen, in dem gleichen furiosen Gekritzel. ams 79, lhr 34, edi 49, cdg 59, alc 104. Der Punktestand von irgendeinem Spiel, Geldsummen, die sie sich geliehen oder jemandem geborgt hatte? Abbys Initialen lauteten AMS – Abigail Marie Stone –, aber die anderen passten zu keinem auf der BK-Liste. Ich starrte sie lange an, doch das Einzige, woran sie mich erinnerten, waren die Nummernschilder von Oldtimern, und ich konnte mir Lexie beim besten Willen nicht als eingefleischten Oldtimerfan vorstellen, und falls doch, wieso sie daraus so ein Staatsgeheimnis hätte machen sollen. 398
Niemand hatte mit irgendeinem Wort erwähnt, dass sie sich in den letzten Wochen nervöser oder anders als sonst verhalten hatte. Es ging ihr anscheinend gut, wie alle, die von Frank und Sam vernommen worden waren, versichert hatten. Sie hatte fröhlich gewirkt. Sie hatte genau wie immer gewirkt. In dem letzten Videoclip, der drei Tage vor ihrem Tod aufgenommen worden war, kam sie eine Leiter vom Dachboden heruntergeklettert, ein rotes Halstuch um die Haare gebunden und über und über mit grauem Staub bedeckt, niesend und lachend, und hielt etwas in der freien Hand: »Nein, guck doch, Rafe, guck doch mal! Das ist« – Niesexplosion – »das ist ein Opernglas, ich glaube, aus Perlmutt, ist das nicht wunderschön?« Was immer ihr Geheimnis war, sie hatte es gut versteckt. Zu gut. Der Rest des Kalenders war leer, bis auf den zweiundzwanzigsten August: Dads Gtag. Also doch kein Feenkind, keine kollektive Halluzination. Sie hatte einen Vater, irgendwo da 399
draußen, und sie hatte seinen Geburtstag nicht vergessen wollen. Sie hatte wenigstens eine dünne Verbindung zu ihrem früheren Leben bewahrt. Ich ging die Seiten noch einmal durch, diesmal langsamer, überprüfte, ob mir irgendetwas entgangen war. Zu Anfang waren hier und da ein paar Daten umkringelt: 2. Januar, 29. Januar, 25. Februar. Auf der ersten Seite war ein winziger Kalender für Dezember 2004 abgedruckt, und wie zu erwarten war der sechste umkringelt. Jeweils siebenundzwanzig Tage Abstand. Lexies Periode kam auf den Tag genau, und sie hatte gewissenhaft Buch geführt. Der vierundzwanzigste März dagegen war nicht umkringelt, und sie musste den Verdacht gehabt haben, schwanger zu sein. Irgendwo – nicht zu Hause, im Trinity oder in einem Café, wo niemand die Packung im Mülleimer bemerken und stutzen könnte – hatte sie einen Schwangerschaftstest gemacht, und etwas hatte sich verändert. Aus ihrem Terminkalender war
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ein brennendes Geheimnis geworden, N hatte Einzug gehalten, und alles andere war weggefallen. N. Ein Gynäkologe? Eine Klinik? Der Vater des Babys? »Was zum Teufel hattest du vor?«, sagte ich leise in den leeren Raum. Hinter mir erklang ein Flüstern, und ich schreckte zusammen, doch es war nur der Wind, der die Gardinen aufplusterte.
Ich überlegte, den Terminkalender mit in mein Zimmer zu nehmen, entschied mich aber dann dagegen, da Lexie vermutlich Gründe gehabt hatte, ihn nicht in ihrem Zimmer aufzubewahren, und das Versteck hatte offenbar bislang gute Dienste getan. Ich schrieb die wichtigsten Einträge in mein eigenes Notizbuch ab, verstaute ihres wieder unter der Wanne und brachte die Abdeckung an. Dann ging ich durchs Haus, um es genauer kennenzulernen und gleichzeitig eine rasche, nicht allzu gründliche Durchsuchung vorzunehmen. Frank 401
würde bestimmt hören wollen, dass ich etwas Nützliches mit meinem Tag angefangen hatte, und ich wusste bereits, dass ich ihm von meiner Entdeckung des Terminkalenders nichts erzählen würde, wenigstens vorläufig. Ich fing unten an und arbeitete mich nach oben. Sollte ich etwas Brauchbares finden, hätten wir ein gewaltiges Problem, es als Beweismittel zugelassen zu bekommen. Ich war Hausbewohnerin, was bedeutete, dass ich mich in den Gemeinschaftsräumen nach Lust und Laune umsehen konnte, die Zimmer der anderen aber tabu waren, und überhaupt, ich hatte mir unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Einlass verschafft. Mit so etwas verdienen Anwälte sich ihren neuen Porsche. Doch sobald du weißt, wonach du suchst, kannst du fast immer einen legalen Weg finden, es in die Hände zu bekommen. Das Haus hatte irgendwie eine leicht phantastische Atmosphäre, wie aus einem Märchen – die ganze Zeit war ich darauf gefasst, eine geheime 402
Treppe runterzufallen oder durch einen Raum in einen völlig neuen Korridor zu geraten, der nur jeden zweiten Montag existierte. Ich arbeitete schnell: Ich schaffte es nicht, mir mehr Zeit zu nehmen, wurde einfach das Gefühl nicht los, dass irgendwo auf dem Dachboden eine riesige Uhr ablief, die Sekunden eimerweise davonflossen. Im Erdgeschoss lagen das Wohn- und Esszimmer, die Küche, die Toilette und Rafes Zimmer. Rafes Zimmer war ein Schlachtfeld – überall Berge von Kleidungsstücken in Kartons, klebrige Gläser und Stapel von Papier –, aber auf eine organisierte Art. Man hatte das Gefühl, dass er im Großen und Ganzen wusste, wo alles war, auch wenn sonst niemand da durchsteigen konnte. An einer Wand hatte er mit Zeichenkohle herumgekritzelt, schnelle und ziemlich beeindruckende Skizzen für eine Art Wandbild, mit einer Birke, einem Irish Setter und einem Mann mit Zylinderhut. Auf dem Kaminsims stand – Heureka! – das Kopfdings: eine Phrenologiebüste aus Porzellan 403
mit ihren eingezeichneten Hirnarealen. Über Lexies rotes Halstuch hinweg starrte sie erhaben vor sich hin. Rafe wurde mir langsam sympathisch. Im ersten Stock lagen Abbys Zimmer und das Badezimmer nach vorne raus, Justins Zimmer und ein Gästezimmer nach hinten raus – entweder war es zu kompliziert gewesen, das Gästezimmer zu entrümpeln, oder Rafe fühlte sich unten ganz wohl so allein. Ich fing mit dem Gästezimmer an. Bei dem Gedanken, in ein Zimmer der anderen zu gehen, spürte ich einen absurd unangenehmen Geschmack im Mund. Großonkel Simon hatte offenbar nie, niemals etwas weggeworfen. Das Zimmer bot einen schizophrenen, traumähnlichen Anblick, eine Art verschollene Gerümpelkammer des Verstandes: drei Kupferkessel mit Löchern drin, ein verschimmelter Zylinderhut, ein zerbrochenes Steckenpferd, das mich anschielte wie der Pferdekopf im ersten Teil vom Paten, etwas, das aussah wie ein halbes Akkordeon. Ich verstehe nichts von Antiquitäten, 404
aber nichts von alldem sah wertvoll aus, jedenfalls nicht wertvoll genug, um dafür zu töten. Es sah eher aus wie Kram, den man draußen vors Gartentor stellen würde in der Hoffnung, betrunkene Studenten mit einem Kitschfimmel würden es mit nach Hause nehmen. Abby und Justin waren beide ordentlich, auf ganz unterschiedliche Weise. Abby hatte eine Schwäche für Nippsachen – eine winzige Alabastervase mit einer Handvoll Veilchen drin, ein Kerzenleuchter aus Bleikristall, eine alte Bonbondose mit dem Bild einer rotlippigen jungen Frau in grotesker ägyptischer Aufmachung auf dem Deckel, alles glänzend sauber und auf so gut wie jeder Abstellfläche akkurat angeordnet. Und sie liebte Farben – die Vorhänge bestanden aus zusammengenähten alten Stoffstreifen, roter Damast, Baumwolle mit Glockenblumenmuster, hauchdünne Spitze, und sie hatte Stoffflicken über die kahlen Stellen in der verschlissenen Tapete geklebt. Der Raum wirkte gemütlich und verschroben und ein 405
bisschen unwirklich, wie die Höhle eines Waldgeschöpfes aus einem Kinderbuch, das eine Rüschenmütze trägt und Marmeladentörtchen backt. Justin hatte zu meinem Erstaunen einen minimalistischen Geschmack. Neben seinem Nachttisch sah ich ein Nest aus Büchern und Fotokopien und beschriebenen Blättern, und die Rückseite seiner Tür war bedeckt mit Fotos von allen im Haus – symmetrisch angeordnet in offenbar chronologischer Reihenfolge und mit einer Art Klarsichtfixierung darüber –, aber alles andere war spartanisch und sauber und funktional: weiße Bettwäsche, weiße wehende Vorhänge, dunkle, glänzend polierte Holzmöbel, ordentliche Reihen zusammengehöriger Socken in den Schubladen und auf Hochglanz geputzte Schuhe unten im Kleiderschrank. Das Zimmer roch ganz schwach nach Zypresse und maskulin. Ich konnte nichts Verdächtiges in den Zimmern feststellen, aber irgendetwas an allen dreien ließ mir keine Ruhe. Es dauerte eine Weile, bis ich 406
wusste, was es war. Ich kniete gerade auf Justins Boden und lugte unter sein Bett wie ein Einbrecher (nichts, nicht mal Wollmäuse), als der Groschen fiel: Sie hatten etwas Dauerhaftes an sich. Ich hatte noch nie irgendwo gewohnt, wo ich an der Tapete herummachen oder Sachen ankleben konnte – meine Tante und mein Onkel hätten sicher nichts dagegen gehabt, aber in ihrem Haus herrschte eine Zehenspitzenatmosphäre, so dass mir so etwas wie hier gar nicht erst in den Sinn gekommen wäre, und alle meine Vermieter waren anscheinend dem Glauben verfallen, dass sie mir ein architektonisches Juwel vermieteten. Es hatte mich Monate gekostet, den Besitzer meiner derzeitigen vier Wände davon zu überzeugen, dass der Wert seiner Immobilie nicht in den Keller stürzen würde, wenn ich die Wände weiß strich statt bananen-kotzgelb und den LSD-TripTeppichboden in den Gartenschuppen verbannte. Das alles hatte mich bisher nicht gestört, doch hier, in diesem Haus voll fröhlichem, ungezwun407
genem Besitzerstolz – ich hätte auch gern ein Wandbild gehabt; Sam kann malen – kam es mir auf einmal äußerst seltsam vor, mit Duldung irgendeines Fremden zu wohnen, um Erlaubnis fragen zu müssen wie ein kleines Kind, ehe ich irgendeine Spur hinterließ. Der obere Stock: mein Zimmer, das von Daniel, zwei weitere Räume. Der neben Daniels war voll mit alten Möbeln, die sich kunterbunt türmten, wie nach einem Erdbeben: diese gräulichen, viel zu kleinen Stühle, die eigentlich nie benutzt werden, ein Vitrinenschrank, der aussah, als hätte sich das gesamte Rokoko darauf übergeben, und so gut wie alles dazwischen. Das ein oder andere war offensichtlich herausgeholt worden – Schleifspuren, Leerstellen –, vermutlich, um die Räume zu möblieren, als die fünf einzogen. Was zurückgeblieben war lag unter zentimetertiefem klebrigen Staub. Der Raum neben meinem enthielt noch mehr Gerümpel (eine gesprungene steinerne Wärmflasche, lehmverkrustete grüne Gummistiefel, ein von 408
Mäusen angefressenes Gobelinkissen mit Hirschund Blumenmotiv) und bedrohlich wankende Stapel Kartons und alte Lederkoffer. Irgendwer hatte vor nicht allzu langer Zeit angefangen, den ganzen Plunder durchzusehen: etliche helle Fingerabdrücke auf einigen Kofferdeckeln, einer sogar halb saubergewischt, rätselhafte Umrisse in Ecken und auf Kisten, wo Sachen weggenommen worden waren. Auf den verstaubten Dielen war ein Wirrwarr von schwachen Schuhabdrücken. Um irgendetwas zu verstecken – eine Mordwaffe oder irgendein Beweismittel oder irgendeine kleine, unbezahlbare antike Kostbarkeit –, wäre dieser Raum ganz gut geeignet. Ich sah in allen Kisten nach, die geöffnet worden waren, und hielt mich dabei von den Fingerabdrücken fern, nur für alle Fälle, aber sie waren bis oben vollgestopft mit Seiten über Seiten, auf denen nur krakeliges Federhaltergekritzel war. Soweit ich das erkennen konnte, hatte irgendwer, vermutlich Großonkel Simon, an einer Geschichte der Familie March 409
über mehrere Jahrhunderte hinweg gearbeitet. Die Marches lebten schon eine ganze Weile in der Gegend – die frühste Erwähnung stammte aus dem Jahr 1734, als das Haus gebaut worden war –, aber sie hatten anscheinend nichts Interessanteres zustande gebracht, als zu heiraten, das eine oder andere Pferd zu kaufen und nach und nach fast ihren ganzen Besitz zu verlieren. Daniels Zimmer war abgeschlossen. Zu den lebenswichtigen Fertigkeiten, die ich von Frank gelernt hatte, gehörte das Knacken von Schlössern, und das hier sah ziemlich einfach aus, aber ich war schon kribbelig wegen des Terminkalenders, und die Tür da machte mich noch nervöser. Ich hatte keine Ahnung, ob Daniel sein Zimmer immer abschloss oder nur meinetwegen. Ich war mit einem Mal sicher, dass er irgendeine Falle gelegt hatte – ein Haar auf dem Rahmen, ein Glas Wasser gleich hinter der Tür –, die mich verraten würde, wenn ich das Zimmer betrat. Ich ließ es.
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Zum Schluss nahm ich mir Lexies Zimmer vor – es war bereits durchsucht worden, aber ich wollte es selbst tun. Anders als Onkel Simon hatte Lexie so gut wie nichts aufbewahrt. Das Zimmer war nicht unbedingt ordentlich zu nennen – die Bücher auf den Regalen sahen aus wie hineingestopft, nicht wie aufgestellt, die Klamotten waren größtenteils in Haufen auf dem Schrankboden verteilt; unter dem Bett lagen drei leere Zigarettenpackungen, ein halber Schokoriegel und ein zerknülltes Blatt mit Notizen über Villette von Charlotte Brontë –, aber es war zu spärlich eingerichtet, um chaotisch zu sein. Keine Dekosachen, keine alten abgerissenen Kinokarten oder Geburtstagskarten oder getrocknete Blumen, keine Fotos. Die einzigen Andenken, die sie gewollt hatte, waren die Handyvideos. Ich blätterte jedes Buch durch und stülpte jede Tasche nach außen, aber das Zimmer offenbarte mir nichts. Es hatte allerdings die gleiche Aura von Dauerhaftigkeit. An der Wand neben ihrem Bett hatte 411
Lexie Anstrichfarben ausprobiert, mit breiten, schnellen Strichen: Ocker, Altrosa, Kobaltblau. Wieder verspürte ich einen neidischen Stich. Du kannst mich mal, sagte ich im Kopf zu Lexie, du hast länger hier gewohnt, okay, aber ich werd dafür bezahlt. Ich setzte mich auf den Boden, kramte mein Handy aus dem Koffer und rief Frank an. »Hey, Kleines«, sagte er beim zweiten Klingeln. »Schon aufgeflogen, ja?« Er war gut gelaunt. »Stimmt«, sagte ich. »Tut mir echt leid. Komm mich abholen.« Frank lachte. »Wie läuft’s?« Ich stellte ihn auf Freisprechfunktion, legte das Handy neben mich auf den Boden und verstaute Handschuhe und Notizbuch wieder im Koffer. »Ganz gut, schätz ich. Ich glaube nicht, dass einer von ihnen Verdacht geschöpft hat.« »Warum auch? Kein vernünftiger Mensch würde so was Unwahrscheinliches für möglich halten. Hast du was Schönes für mich?« 412
»Sie sind alle an der Uni, deshalb hab ich mich schnell mal im Haus umgesehen. Kein blutiges Messer, keine blutigen Klamotten, keine Renoirs, keine unterschriebenen Geständnisse. Nicht mal ein Beutelchen Gras oder ein Pornoheft. Die sind ganz schön brav, für Studenten.« Meine Verbände waren in durchnummerierten Päckchen so angeordnet, dass die Flecken heller werden würden, je mehr die angebliche Wunde heilte, nur falls jemand die Abartigkeit besaß, den Abfalleimer zu kontrollieren – in diesem Job kalkuliert man immer ein gewisses Maß an Abartigkeit mit ein. Ich fand den Verband mit der Nummer 2 und entfernte die Verpackung. Wer auch immer die Flecken eingefärbt hatte, er liebte seine Arbeit. »Irgendeine Spur von dem Tagebuch?«, fragte Frank. »Das berühmte Tagebuch, das Daniel netterweise dir gegenüber erwähnt hat, aber nicht uns gegenüber.« Ich lehnte mich nach hinten gegen das Bücherregal, schob mein Oberteil ein Stück hoch und zog 413
den alten Verband ab. »Wenn es im Haus ist«, sagte ich, »dann ist es jedenfalls gut versteckt.« Ein unverbindlicher Laut von Frank. »Oder aber du hattest recht, und der Mörder hat es ihrer Leiche abgenommen. So oder so, es ist interessant, dass Daniel und Co. es für nötig befunden haben, deshalb zu lügen. Verhält sich irgendwer verdächtig?« »Nein. Sie waren am Anfang etwas gehemmt im Umgang mit mir, aber kein Wunder. Grundsätzlich hab ich aber den Eindruck, dass sie froh sind, Lexie wiederzuhaben.« »Den Eindruck hatte ich auch übers Mikro. Apropos«, sagte Frank. »Was war denn gestern Abend los, nachdem du rauf in dein Zimmer gegangen bist? Ich hab dich reden hören, aber ich konnte kaum was verstehen.« Seine Stimme hatte einen anderen Ton angenommen, und keinen guten. Ich hörte auf, die Ränder des neuen Verbandes glattzustreichen. »Nichts. Alle haben gute Nacht gesagt.« 414
»Wie süß«, sagte Frank. »Ganz wie bei den Waltons. Schade, dass ich es nicht mitgekriegt hab. Wo war dein Mikro?« »Im Koffer. Die Akkus drücken beim Schlafen.« »Dann schlaf eben auf dem Rücken. Deine Tür lässt sich nicht abschließen.« »Ich hab einen Stuhl davorgestellt.« »Ach so, na dann. Das müsste dicke als Sicherheitsvorkehrung reichen. Du hast sie wohl nicht alle, Cassie!« Ich konnte förmlich sehen, wie er hin und her tigerte und sich mit einer Hand wild durchs Haar fuhr. »Was regst du dich so auf, Frank? Beim letzten Mal hab ich das Mikro überhaupt nur benutzt, wenn ich wirklich was Interessantes gemacht habe. Ob ich im Schlaf rede, ist für diesen Fall nicht entscheidend.« »Beim letzten Mal hast du nicht mit Verdächtigen zusammengewohnt. Auch wenn die vier nicht ganz oben auf unserer Liste stehen, wir haben sie 415
noch lange nicht gestrichen. Das Mikro bleibt schön an deinem Körper, außer du stehst unter der Dusche. Und wo du schon von deinem letzten Einsatz sprichst? Wenn du da das Mikroim Koffer gehabt hättest, wo wir dich nicht hätten hören können, wärst du jetzt tot. Du wärst verblutet, ehe wir bei dir gewesen wären.« »Ja, ja, ja«, sagte ich. »Ist ja schon gut.« »Dann sind wir uns einig? Die ganze Zeit am Körper. Ohne Ausnahme.« »Jaja.« »Schön«, sagte Frank und wurde wieder ruhiger. »Ich hab ein kleines Geschenk für dich.« In seinen Worten schwang ein Grinsen mit: Er hatte sich etwas Gutes aufgespart, für nach der Standpauke. »Ich hab alle deine BKs von unserer ersten Lexie-Madison-Ausgabe aufgespürt. Erinnerst du dich an eine gewisse Victoria Harding?« Ich biss ein Stück Wundpflaster ab. »Sollte ich?«
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»Ziemlich groß, schlank, lange blonde Haare? Redet wie ein Wasserfall? Blinzelt nicht?« »Oh Gott«, sagte ich und klebte den Verband fest. »Vicky die Klette. Ein echter Schatten der Vergangenheit.« Vicky die Klette war mit mir am UCD gewesen, studierte irgendwas Schwammiges. Sie hatte glasige blaue Augen, jede Menge passende Accessoires und eine verzweifelte, grenzenlose Gabe, sich an jedem festzusaugen, der ihr nützlich sein könnte, vor allem reiche Typen und Partygirls. Aus irgendeinem Grund hatte sie mich für so cool befunden, dass ich ihr die Mühe wert war, oder vielleicht hatte sie sich bloß Gratisdrogen erhofft. »Genau die. Wann hast du zuletzt mit ihr gesprochen?« Ich schloss den Koffer und schob ihn unters Bett, während ich überlegte. Vicky gehörte nicht zu der Sorte Mensch, die einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt. »Vielleicht ein paar Tage bevor ich abgezogen wurde? Ich hab sie danach ein 417
paarmal in der Stadt gesehen, bin aber immer rechtzeitig abgetaucht.« »Eigenartig«, sagte Frank, und dieses wölfische Grinsen griff auf seine Stimme über, »weil sie nämlich eine ganze Ecke später mit dir geredet hat. Genaugenommen hattet ihr zwei Anfang Januar 2002 einen netten, langen Plausch – sie kann sich an den Zeitpunkt erinnern, weil sie da gerade beim Winterschlussverkauf gewesen war und so einen edlen Designermantel ergattert hatte, den sie dir gezeigt hat. Offenbar war das Ding aus, ich zitiere, ›einem absolut spitzenmäßigen TaupeWildleder‹, was immer Taupe auch für eine Tiergattung sein mag. Klingelt’s jetzt bei dir?« »Nein«, sagte ich. Mein Herz schlug langsam und fest. Ich konnte es bis in die Fußsohlen spüren. »Das war ich nicht.« »Hab ich mir irgendwie gedacht. Vicky erinnert sich dagegen lebhaft an das Gespräch, fast Wort für Wort – die Frau hat ein Gedächtnis wie ein Elefant, sie gibt eine traumhafte Zeugin ab, falls 418
es je so weit kommen sollte. Willst du hören, worüber ihr gesprochen habt?« Vickys Verstand arbeitete tatsächlich so: Da in ihrem Kopf im Grunde genommen keinerlei Aktivität stattfand, kamen Gespräche, die hineingingen, praktisch unberührt wieder heraus. Das war einer der Hauptgründe, warum ich überhaupt Kontakt zu ihr gehalten hatte. »Hilf mir auf die Sprünge«, sagte ich. »Ihr habt euch zufällig auf der Grafton Street getroffen. Sie sagt, du wärst ›irgendwie total weggetreten‹ gewesen, hättest dich anfänglich gar nicht an sie erinnern können, nicht gewusst, wann ihr euch zuletzt gesehen hattet. Du hast behauptet, du hättest einen üblen Kater, aber sie hat es sich mit dem schrecklichen Nervenzusammenbruch erklärt, von dem sie gehört hatte.« Frank genoss das: Seine Stimme hatte einen schnellen, konzentrierten Rhythmus, wie ein Raubtier auf der Jagd. Ich dagegen amüsierte mich deutlich weniger. Ich hatte ja gewusst, dass so etwas passiert sein musste, 419
nur die Einzelheiten hatten noch gefehlt, und recht zu behalten war längst nicht so befriedigend, wie man meinen könnte. »Doch sobald du wieder wusstest, wer sie war, warst du sehr freundlich. Du hast sogar vorgeschlagen, einen Kaffee trinken zu gehen, um zu quatschen. Wer immer unser Mädel war, Nerven hatte sie.« »Ja«, sagte ich. Ich merkte, dass ich in die Hocke gegangen war, wie ein Sprinter kurz vor dem Start. Lexies Zimmer um mich herum kam mir spöttisch und verschlagen vor, als wimmelte es von geheimen Schubladen und falschen Dielenbrettern und Schnappfallen. »Das kann man wohl sagen.« »Ihr seid in das Café im Brown Thomas gegangen, sie hat dir ihre Schnäppchen gezeigt, und ihr beide habt eine Weile Weißt-du-noch? gespielt. Du warst erstaunlicherweise ziemlich still. Aber jetzt kommt’s: Irgendwann hat Vicky dich gefragt, ob du inzwischen am Trinity wärst. Offenbar hattest du ihr nicht lange vor deinem Nervenzusam420
menbruch erzählt, du wärst das UCD leid. Du würdest überlegen, die Uni zu wechseln, vielleicht ans Trinity zu gehen, vielleicht ins Ausland. Kommt dir das bekannt vor?« »Ja«, sagte ich. Ich setzte mich vorsichtig auf Lexies Bett. »Ja, tut es.« Das war gegen Semesterende. Frank hatte mir nicht erzählt, ob die Operation nach den Sommerferien weitergehen würde, und ich wollte eine Ausstiegsgeschichte vorbereiten, falls ich eine brauchte. Vickys andere Eigenschaft: Sie verbreitete Klatsch und Tratsch in Windeseile an der ganzen Uni, und darauf war hundertprozentig Verlass. Mir drehte sich der Kopf, seltsam geformte Puzzlesteine ordneten sich neu und rasteten mit leisen Klickgeräuschen woanders wieder ein. Diesen Zufall mit dem Trinity – dass die Unbekannte schnurstracks auf meine alte Uni zugesteuert war, da weitergemacht hatte, wo ich aufgehört hatte –, den fand ich schon die ganze Zeit gruselig, aber 421
das hier war fast schlimmer. Der einzige Zufall war, dass zwei junge Frauen einander über den Weg liefen, in einer kleinen Großstadt, und Vicky die Klette hängt ohnehin fast ständig in der Stadt herum in der Hoffnung, irgendwelchen nützlichen Leuten über den Weg zu laufen. Lexie war nicht per Zufall am Trinity gelandet oder weil sie aufgrund irgendeiner dunklen magnetischen Anziehungskraft nicht anders konnte, als meinem Schatten zu folgen, sich in meine Ecken zu drängen. Ich hatte es ihr vorgeschlagen. Wir hatten nahtlos zusammengearbeitet, sie und ich. Ich hatte sie in dieses Haus gelockt, dieses Leben, in jeder Hinsicht genauso klar und sicher, wie sie mich gelockt hatte. Frank redete unverdrossen weiter. »Unser Mädel hat gesagt, nein, sie wäre zurzeit nicht an der Uni, sie wäre länger verreist gewesen. Wo genau sie war, hat sie nicht gesagt – Vicky vermutete, in der Klapsmühle. Aber jetzt wird’s interessant: Vicky tippte auf eine Klapsmühle in Amerika oder 422
vielleicht Kanada. Zum Teil, weil ihr einfiel, dass deine erfundene Familie in Kanada lebte, aber vor allem, weil du dir in der Zwischenzeit einen ziemlich eindeutigen amerikanischen Akzent angewöhnt hattest. Wir wissen also nicht nur, wie unser Mädel an Lexie Madisons Identität gekommen ist und wo, sondern wir haben jetzt auch eine ziemlich gute Vorstellung, wo wir mit der Suche nach ihr anfangen können. Ich denke, wir sind Vicky der Klette ein oder zwei Cocktails schuldig.« »Eher du als ich«, sagte ich. Ich wusste, dass meine Stimme merkwürdig klang, aber so aufgekratzt, wie Frank war, fiel es ihm nicht auf. »Ich hab die Jungs vom FBI angerufen und maile ihnen gleich Fingerabdrücke und Fotos. Gut möglich, dass unsere Unbekannte wegen irgendwas auf der Flucht war. Könnte also durchaus sein, dass die was über sie haben.« Lexies Gesicht beobachtete mich argwöhnisch in dreifacher Ausgabe aus dem Kommodenspie-
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gel. »Halt mich auf dem Laufenden, ja?«, sagte ich. »Egal, was du hast.« »Mach ich. Willst du mit deinem Freund sprechen? Er ist hier.« Sam und Frank zusammen in einem SOKORaum. Auch das noch. »Ich ruf ihn später an«, sagte ich. Das tiefe Murmeln von Sams Stimme im Hintergrund, und für den Bruchteil einer Sekunde war der Wunsch, mit ihm zu sprechen, so heftig und jäh wie ein Schlag in die Magengrube. »Er sagt, er ist mit deinen letzten sechs Monaten im Morddezernat durch«, sagte Frank, »und von all den Leuten, die sauer auf dich sein könnten, kommt absolut niemand in Frage. Er nimmt sich jetzt peu à peu die älteren Fälle vor und hält dich auf dem Laufenden.« Mit anderen Worten, die Sache hier hatte nichts mit dem Knocknaree-Fall zu tun. Himmel, Sam. Indirekt und aus der Ferne versuchte er, mich zu beruhigen: Leise und verbissen konzentrierte er 424
sich auf die einzige Bedrohung, die er sich vorstellen konnte. Ich fragte mich, wie viel er letzte Nacht geschlafen hatte. »Danke«, sagte ich. »Sag ihm danke, Frank. Sag ihm, ich melde mich bald bei ihm.«
Ich musste nach draußen – einerseits wegen der optischen Reizüberflutung, all die vielen seltsamen staubigen Gegenstände, und andererseits, weil das Haus anfing, sich auf meinen Nacken auszuwirken. Die Luft um mich herum fühlte sich zu intim und zu wissend an, wie eine hochschnellende Augenbraue bei jemandem, den du niemals zum Narren halten könntest. Ich ging zum Kühlschrank, machte mir ein Putenwurstsandwich – die vier legten Wert auf guten Senf –, eins mit Marmelade und eine Thermoskanne Kaffee und nahm alles mit auf einen langen Spaziergang. Irgendwann in nächster Zeit würde ich mich im Dunkeln durch Glenskehy bewegen, möglicherweise beo425
bachtet von einem Mörder, der die Gegend kannte wie seine Westentasche. Ich fand es ratsam, mir einen Überblick zu verschaffen. Die Gegend war der reinste Irrgarten, Dutzende von schmalen Wegen, die sich zwischen Hecken und Wiesen und Wald hindurchwanden, scheinbar nirgends anfingen und nirgends endeten, aber wie sich herausstellte, fand ich mich besser zurecht, als ich gedacht hatte. Ich verirrte mich nur zweimal. Ich fing an, Frank auf einer ganz neuen Ebene schätzen zu lernen. Als ich Hunger bekam, setzte ich mich auf eine Mauer, trank Kaffee und aß die Sandwichs, blickte dabei über die Berghänge und hob im Geist den Mittelfinger in Richtung DHG und Maher mit seinem Mundgeruchsproblem. Es war ein sonniger, frischer Tag, Schleierwolken hoch oben an einem kühlen, blauen Himmel, aber ich war auf dem ganzen Weg keiner Menschenseele begegnet. Irgendwo weit weg bellte ein Hund, und jemand pfiff nach ihm, aber das war’s auch schon. Ich entwickelte die Theorie, 426
dass Glenskehy durch einen MillenniumTodesstrahl ausgelöscht worden war und keiner etwas gemerkt hatte. Auf dem Rückweg erkundete ich eine Weile das zu Whitethorn House gehörende Grundstück. Die Marchs mochten ja ihren Besitz größtenteils verloren haben, aber auch der Rest war noch immer ganz schön beeindruckend. Steinmauern höher als mein Kopf, gesäumt von Bäumen – überwiegend Weißdorn, nach dem das Haus benannt worden war, aber ich sah auch Eichen, Eschen, einen Apfelbaum, dessen Blüten sich gerade öffneten. Ein halbverfallener Stall, diskret außer Riechweite des Hauses, in dem Daniel und Justin ihre Autos unterstellten. Er musste sechs Pferden Platz geboten haben, damals vor langer Zeit. Jetzt enthielt er haufenweise verstaubtes Werkzeug und Planen, aber nichts sah so aus, als wäre es in letzter Zeit angefasst worden, daher ersparte ich mir eine genauere Inspektion.
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Auf der Rückseite des Hauses erstreckte sich die weite Grasfläche, die gut hundert Meter lang war, begrenzt von dichtem Baumbestand und Steinmauern und Efeu. Am Ende war ein rostiges Eisentor – das Tor, durch das Lexie in jener Nacht gegangen war, als sie sich zur letzten Grenze ihres Lebens aufmachte – und versteckt in einer Ecke ein breites, halbangelegtes Beet mit kleinen Sträuchern. Ich erkannte Rosmarin und Lorbeer: der Kräutergarten, den Abby am Vorabend erwähnt hatte. Es kam mir bereits so vor, als wäre das Monate her. Aus der Entfernung sah das Haus zart und entrückt aus, wie etwas aus einem alten Aquarell. Dann drückte ein flinker, kleiner Wind das Gras nieder, hob die langen Efeuranken an, und die Wiese sackte mir unter den Füßen weg. An einer der Seitenmauern, nur zwanzig oder dreißig Schritte von mir entfernt, war jemand hinter dem Efeu; jemand, der schmächtig und dunkel wie ein
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Schatten auf einem Thron saß. Meine Nackenhaare sträubten sich, eine langsame Welle. Mein Revolver klebte noch immer an der Rückseite von Lexies Nachttisch. Ich biss mir fest auf die Lippe und hob einen dicken, abgefallenen Ast aus dem Kräutergarten auf, ohne die Augen von dem Efeu zu nehmen, der jetzt wieder harmlos herabhing wie zuvor – die Brise hatte sich gelegt, der Garten war still und sonnig wie ein Traum. Ich ging an der Mauer entlang, lässig, aber schnell, drückte mich schließlich flach dagegen, umfasste meinen Ast fest und schlug den Efeu mit einer jähen Bewegung hoch. Es war niemand da. Die Baumstämme und überwucherten Zweige und Efeuranken formten eine Nische an der Mauer, eine kleine sonnenbesprenkelte Blase. Darin standen zwei Steinbänke, und zwischen ihnen rieselte ein Rinnsal Wasser durch ein Loch in der Mauer und an flachen Stufen hinab in einen kleinen, trüben Tümpel; sonst nichts. Schatten flossen ineinander, und für 429
einen kurzen Moment nahm ich die Illusion erneut wahr, die Bänke bekamen hohe Rückenlehnen und streckten sich, die schlanke Gestalt saß aufrecht da. Dann ließ ich den Efeu fallen, und sie war fort. Anscheinend hatte nicht bloß das Haus eine ganz eigene Persönlichkeit. Sobald ich wieder ruhig atmen konnte, sah ich mir die Nische genauer an. Auf der Sitzfläche der Bänke hatte sich in den Ritzen Moos gebildet, das aber überwiegend weggekratzt worden war: Irgendwer kannte diesen Platz. Er eignete sich vorzüglich als Treffpunkt für ein Rendezvous, wie ich fand, aber er lag zu nah am Haus, um Fremde aus der Gegend anzulocken, und die dichte Matte aus Blättern und Zweigen um den kleinen Teich herum sah aus, als wäre schon länger keiner mehr hier gewesen. Ich wühlte sie mit dem Fuß ein wenig auf, und zum Vorschein kamen große, glatte Steinplatten. Metall funkelte in der Erde, und mein Herz machte einen Sprung – Messer –, aber dafür war es zu klein. Ein Knopf: Löwe und Einhorn, verkratzt und eingedrückt. 430
Jemand, vor langer Zeit, war in der britischen Armee gewesen. Das Loch in der Gartenmauer, durch das das Wasser floss, war mit Dreck verstopft. Ich steckte den Knopf in die Tasche, kniete mich auf die Steinplatten und machte das Loch mit dem Ast und mit bloßen Händen frei. Es dauerte eine Weile; die Mauer war dick. Als ich es geschafft hatte, murmelte ein Miniwasserfall fröhlich vor sich hin, und meine Hände rochen nach Erde und vermodertem Laub. Ich spülte sie ab und setzte mich eine Weile auf eine der Bänke, rauchte und lauschte dem Wasser. Es war schön da drin, warm und still und verborgen, wie die Höhle eines Tieres oder das Versteck eines Kindes. Der Teich füllte sich, winzige Insekten schwebten über der Oberfläche. Das überschüssige Wasser lief durch einen kleinen Abfluss in den Boden. Ich fischte schwimmende Blätter heraus, und nach einer Weile war der Teich so
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klar, dass ich mein sich kräuselndes Spiegelbild darin sehen konnte. Nach Lexies Uhr war es halb fünf. Ich hatte vierundzwanzig Stunden überstanden, womit vermutlich eine ganze Reihe von Leuten im SOKO-Raum ihre Wette verloren hatten. Ich steckte meinen Zigarettenstummel zurück in die Packung, tauchte unter dem Efeu her nach draußen und ging ins Haus, um mich ein wenig in die Dissertationsunterlagen einzulesen. Die Haustür öffnete sich widerstandslos, als ich den Schlüssel drehte, die Luft in der Diele regte sich, als ich eintrat, und sie fühlte sich nicht mehr übermäßig intim an. Sie fühlte sich an wie ein leises Lächeln und eine kühle, kurze Berührung der Wange, als würde sie mich willkommen heißen.
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7 In derselben Nacht machte ich meinen Spaziergang. Ich musste Sam anrufen, und außerdem hatten Frank und ich einhellig entschieden, dass es besser für mich war, wenn Lexie so schnell wie möglich ihren gewohnten Trott wiederaufnahm, nicht allzu oft die Trauma-Karte spielte, zumindest noch nicht. Kleine Unterschiede waren ohnehin unvermeidlich, und mit etwas Glück würden die anderen sie mit dem Messerangriff auf mich erklären. Aber je mehr ich die Sache in den Vordergrund rückte, desto eher würde irgendwer auf den Gedanken kommen,Meine Güte, Lexie ist ja ein total anderer Mensch geworden. Wir saßen im Wohnzimmer, nach dem Essen. Daniel und Justin und ich lasen, Rafe spielte Klavier, eine getragene Mozart-Fantasie. Manchmal brach er ab, um eine Phrase, die er mochte oder beim ersten Mal nicht hingekriegt hatte, zu wiederholen. Abby verzierte einen neuen Petticoat für 433
ihre Puppe mit alter Lochstickerei, den Kopf gebeugt, die Stiche so winzig, dass sie fast unsichtbar waren. Ich fand die Puppe eigentlich gar nicht gruselig – endlich mal eine, die nicht aussah wie eine aufgedunsene, entstellte Erwachsene. Sie hatte einen langen dunklen Zopf und ein wehmütiges, verträumtes Gesicht mit einer Stupsnase und ruhigen, braunen Augen. Aber ich konnte gut nachvollziehen, was die Jungs meinten. Diese großen, traurigen Augen, die mich von einer würdelosen Position auf Abbys Schoß aus anstarrten, lösten diffuse Schuldgefühle in mir aus, und ihre frische, federnde Lockenpracht hatte etwas Verstörendes. Gegen elf ging ich in die Diele zum Garderobenschrank, um meine Sportschuhe zu holen – ich hatte mich schon vor dem Essen in meinen supersexy Hüfthalter gequetscht und mein Handy darin verstaut, damit ich nicht von der Gewohnheit abweichen und nach oben in mein Zimmer musste. Frank wäre stolz auf mich. Ich verzog das Gesicht und stieß ein leises »Aua« aus, als ich mich auf 434
den Kaminvorleger setzte, und Justins Kopf schnellte hoch. »Alles in Ordnung? Brauchst du deine Schmerztabletten?« »Nee«, sagte ich, während ich meinen Schnürsenkel auseinanderfummelte. »Ich hab mich bloß blöd hingesetzt.« »Spaziergang?«, fragte Abby und blickte von der Puppe hoch. »Genau«, sagte ich und zog einen Schuh an. Die Form von Lexies Fuß, einen Tick schmaler als meiner, war in die Innensohle eingedrückt. Wieder machte sich diese winzige Spannung im Raum breit, wie angehaltener Atem. Rafes Hände ließen einen Akkord in der Luft hängen. »Ist das klug?«, fragte Daniel und schob einen Finger in sein Buch, um die Seite nicht zu verschlagen. »Mir geht’s gut«, sagte ich. »Die Naht tut nur noch weh, wenn ich mich zur Seite drehe. Die verkraftet einen Spaziergang.« »Das hab ich nicht gemeint«, sagte Daniel. »Hast du keine Angst?« 435
Sie starrten mich alle an, ein nicht zu deutender, vierfacher Blick mit der Kraft eines Traktorstrahls. Ich zuckte die Achseln, zog an einem Schnürsenkel. »Nein.« »Warum nicht? Wenn ich fragen darf.« Rafe bewegte sich, spielte einen schnellen Triller in den oberen Oktaven des Klaviers. Justin zuckte zusammen. »Darum«, sagte ich. »Ich hab einfach keine.« »Solltest du nicht besser Angst haben? Wenn du doch nicht mehr weißt –« »Daniel«, sagte Rafe fast im Flüsterton. »Lass sie in Frieden.« »Mir wäre es lieber, du würdest nicht da rausgehen«, sagte Justin. Er sah aus, als hätte er Bauchschmerzen. »Im Ernst.« »Wir machen uns Sorgen, Lex«, sagte Abby leise. »Auch wenn du dir keine machst.« Der Triller hielt noch an, wie eine Alarmglocke. »Rafe«, sagte Justin und drückte sich eine Hand aufs Ohr. »Hör auf.« 436
Rafe achtete nicht auf ihn. »Sie ist auch so schon melodramatisch genug, ohne dass ihr drei sie darin unterstützt –« Daniel schien gar nicht hinzuhören. »Findest du das nicht verständlich?«, fragte er. »Dann müsst ihr euch wohl einfach Sorgen machen«, sagte ich und schob den anderen Fuß in den zweiten Schuh. »Ist mir egal. Wenn ich jetzt nervös werde, dann werd ich es immer sein, und darauf hab ich keinen Bock.« »Na dann, gratuliere«, sagte Rafe und beendete den Triller mit einem sauberen Akkord. »Nimm deine Taschenlampe mit. Bis später.« Er wandte sich wieder dem Klavier zu und fing an, Seiten umzublättern. »Und dein Handy«, sagte Justin. »Falls du dich plötzlich schwach fühlst oder … « Seine Stimme verlor sich. »Der Regen hat anscheinend aufgehört«, sagte Daniel mit einem Blick zum Fenster, »könnte aber noch kalt sein. Willst du die Jacke anziehen?« 437
Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete. Dieser Spaziergang erreichte planungstechnisch allmählich das Niveau von Operation Desert Storm. »Ich komm schon klar«, sagte ich. »Hmmm«, sagte Daniel, während er mich betrachtete. »Vielleicht sollte ich mitkommen.« »Nein«, sagte Rafe unvermittelt. »Ich geh mit. Du arbeitest.« Er knallte den Klavierdeckel zu und stand auf. »Verdammt nochmal!«, fauchte ich, warf die Hände hoch und bedachte alle vier mit einem wütenden Blick. »Ich geh spazieren. Ich mach das andauernd. Ich ziehe keine Schutzweste an, ich nehme keine Leuchtpistole mit und ganz bestimmt keinen Bodyguard. Könnt ihr alle damit leben?« Der Gedanke, unter vier Augen mit Rafe oder Daniel zu sprechen, war interessant, aber dazu würde es irgendwann später auch noch Gelegenheit geben. Falls jemand irgendwo da draußen auf den Wegen auf mich wartete, wollte ich ihn ganz bestimmt nicht verscheuchen. 438
»So kenn ich dich«, sagte Justin und lächelte mich zaghaft an. »Du kommst wirklich klar, nicht?« »Dann nimm aber wenigstens«, sagte Daniel beharrlich, »eine andere Strecke als die, die du neulich Abend gegangen bist. Machst du das?« Er sah mich milde an, den Finger noch immer zwischen den Buchseiten. In seinem Gesicht lag nichts außer leichter Sorge. »Würde ich ja gern«, erwiderte ich, »wenn ich noch wüsste, welche das war. Aber da ich keine Ahnung habe, muss ich es wohl drauf ankommen lassen, was?« »Ah«, sagte Daniel. »Natürlich. Tut mir leid. Ruf an, wenn einer von uns kommen soll.« Er widmete sich wieder seinem Buch. Rafe ließ sich auf den Klavierhocker plumpsen und begann furios mit dem Rondo alla turca. Es war eine helle Nacht, und der Mond hoch an einem klaren, kalten Himmel riss weiße Schnipsel aus den dunklen Weißdornblättern. Ich knöpfte Lexies Wildlederjacke bis zum Hals zu. Der Ta439
schenlampenstrahl erhellte das schmale Band eines Trampelpfades, und die unsichtbaren Felder um mich herum kamen mir auf einmal riesig vor. Mit der Lampe fühlte ich mich angreifbar und nicht sehr clever, aber ich ließ sie an. Falls mir jemand auflauerte, musste er wissen, wo ich zu finden war. Niemand kam. Irgendetwas bewegte sich seitlich von mir, irgendetwas Schweres, aber als ich die Taschenlampe herumriss, war es eine Kuh, die mich mit großen, bekümmerten Augen anglotzte. Ich ging weiter, schön langsam wie ein prima Ziel, und dachte über den Wortwechsel vorhin im Wohnzimmer nach. Ich fragte mich, was Frank wohl davon hielt. Vielleicht hatte Daniel nur versucht, meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, vielleicht hatte er aber auch äußerst gute Gründe, überprüfen zu wollen, ob meine Amnesie echt war, und ich hatte keine Ahnung, was von beidem zutraf.
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Ich merkte erst, dass ich auf das verfallene Cottage zusteuerte, als es vor mir aufragte, ein tieferes Dunkel vor dem Himmel, Sterne, die wie Altarlichter in den Fensterhöhlen flackerten. Ich knipste die Taschenlampe aus: Ich würde auch ohne sie über das Feld finden, und ein Licht im Cottage würde die Nachbarn wahrscheinlich sehr nervös machen, womöglich so nervös, dass sie ihm auf den Grund gehen wollten. Das lange Gras strich mir mit einem leisen, gleichmäßigen Geräusch um die Knöchel. Ich hob die Hand und berührte den steinernen Türsturz wie zum Gruß, ehe ich eintrat. Die Stille im Innern hatte eine andere Qualität: tiefer und so dicht, dass ich sie sanft auf mich eindrängen spürte. Ein dünner Strahl Mondlicht fiel auf den schiefen Stein der Kochstelle im hinteren Raum. Von der Ecke aus, wo Lexie zusammengekauert gestorben war, verlief eine schartige Mauer schräg nach unten, und ich hievte mich auf sie drauf und lehnte den Rücken gegen das Giebelende. Eigent441
lich hätte ich es hier mit der Angst bekommen müssen – ich war ihrem Sterben so nah, ich hätte mich über zehn Tage hinweg nach unten beugen und ihr Haar berühren können –, aber dem war nicht so. Das Cottage hatte anderthalb Jahrhunderte seiner eigenen Stille gespeichert, Lexie hatte nur einen winzigen Augenblick in Anspruch genommen. Die Stille hatte sie bereits aufgesaugt und sich über der Stelle geschlossen, wo sie gewesen war. Ich dachte anders über sie nach, in jener Nacht. Davor war sie ein Eindringling gewesen oder eine Herausforderung, stets etwas, was meinen Rücken erstarren ließ und mein Adrenalin in Wallung brachte. Aber ich war es gewesen, die urplötzlich in ihr Leben eingedrungen war, aus heiterem Himmel, mit Vicky der Klette als Spielball und einer verrückten Warumeigentlich-nicht-Chance an den ausgestreckten Fingerspitzen. Ich war die Herausforderung, die sie angenommen hatte, Jahre bevor die Kehrseite der Medaille vor meinen Fü442
ßen gelandet war. Der Mond kreiste langsam über den Himmel, und ich stellte mir mein Gesicht blaugrau und leer auf Stahl in der Leichenhalle vor, das lange Gleiten und Scheppern der Schublade, die sie im Dunkeln einschloss, allein. Ich stellte mir vor, wie sie genau auf diesem Stück Mauer gesessen hatte, in anderen, verlorenen Nächten, und ich fühlte mich so warm und robust, festes bewegliches Fleisch, das ihren schwachen silbrigen Abdruck überlagerte, dass es mir fast das Herz brach. Ich wollte ihr Dinge erzählen, die sie hätte wissen sollen, wie ihre Tutorengruppe mit Beowulf klarkam und was die Jungs zum Abendessen gekocht hatten, wie der Himmel heute Nacht aussah. Dinge, die ich für sie aufbewahrte. In den ersten Monaten nach dem KnocknareeFall hatte ich viel daran gedacht wegzugehen. Es erschien mir paradoxerweise als die einzige Möglichkeit, mich je wieder wie ich selbst fühlen zu können: meinen Pass und ein paar Klamotten einpacken, einen Zettel schreiben (»An alle, ich bin 443
weg. Liebe Grüße, Cassie«) und den nächsten Flug egal wohin nehmen, alles zurücklassen, was mich in jemanden verändert hatte, den ich nicht wiedererkannte. Irgendwo da drin, in welchem Augenblick genau konnte ich nicht sagen, war mir mein Leben aus den Händen geglitten und in tausend Stücke zerschellt. Alles, was ich hatte – meine Arbeit, meine Freunde, meine Wohnung, meine Klamotten, mein Spiegelbild –, schien irgendwie einer anderen zu gehören, irgendeiner klarsichtigen jungen Frau mit Rückgrat, die ich nicht wiederfinden konnte. Ich war ein kaputtes Wrack, beschmiert mit dunklen Fingerabdrücken und gespickt mit Alptraumscherben, und ich hatte dort nichts mehr zu suchen. Ich bewegte mich durch mein verlorenes Leben wie ein Geist, stets bemüht, nichts mit meinen blutenden Händen anzufassen, und träumte davon, Segeln zu lernen, irgendwo, wo es warm ist, Bermuda oder Sydney, und den Menschen süße sanfte Lügen über meine Vergangenheit aufzutischen. 444
Ich weiß nicht, warum ich blieb. Sam hätte es vermutlich mit Mut erklärt – er versucht immer, alles möglichst positiv zu sehen –, und Rob hätte von purer Sturheit gesprochen, aber ich bilde mir nicht ein, dass es eins von beidem war. Du kannst für dein Verhalten keine Anerkennung verlangen, wenn du mit dem Rücken zur Wand stehst. Es ist Instinkt, mehr nicht, auf das zurückzugreifen, womit du dich am besten auskennst. Ich glaube, ich bin geblieben, weil weglaufen mir einfach zu fremd und zu kompliziert erschien. Ich konnte nur eines, nämlich auf Bekanntes zurückgreifen, mir festen Boden suchen und dann in Kampfstellung gehen, um von vorn anzufangen. Lexie war weggelaufen. Als sich ihr das Exil aus heiterem Himmel als rettende Lösung anbot, kämpfte sie nicht dagegen an wie ich: Sie griff mit beiden Händen zu, nahm es ganz in sich auf und machte es sich zu eigen. Sie hatte den Verstand und den Mut gehabt, ihr kaputtes altes Ich loszulassen und ganz einfach wegzugehen, von vorn 445
anzufangen, einen Neuanfang zu machen, so frisch und sauber wie der Morgen. Und dann, nach all dem, war jemand auf sie zumarschiert und hatte ihr dieses hart erkämpfte neue Leben entrissen, so beiläufig, als würde er ein Gänseblümchen pflücken. Plötzlich durchfuhr mich ein jäher Zorn – nicht auf sie, sondern zum ersten Mal ihretwegen. »Was immer du auch willst«, sagte ich leise in das dunkle Cottage hinein, »ich bin hier. Du hast mich.« Die Luft um mich herum veränderte sich fast unmerklich, leichter als ein Atemhauch. Geheimnisvoll. Erfreut.
Es war dunkel, große Wolkenbänke verdeckten den Mond, aber ich kannte den Feldweg inzwischen so gut, dass ich die Taschenlampe kaum brauchte, und meine Hand fand ohne langes Herumtasten gleich den Riegel des hinteren Tors. Im 446
Undercover-Einsatz arbeitet die Zeit anders. Ich hatte Mühe, mir in Erinnerung zu rufen, dass ich erst anderthalb Tage hier wohnte. Das Haus war schwarz vor Schwarz, nur eine schwache gekrümmte Linie Sterne, wo das Dach aufhörte und der Himmel begann. Es kam mir größer und ungreifbar vor, an den Rändern verschwommen, bereit, sich in nichts aufzulösen, wenn man zu nahe kam. Die erhellten Fenster wirkten zu warm und golden, um real zu sein, winzige Bilder, lockend wie eine alte Guckkastenschau: glänzende Kupferpfannen, die in der Küche hingen, Daniel und Abby Seite an Seite auf dem Sofa, die Köpfe über irgendein riesiges altes Buch gebeugt. Dann glitt eine Wolke vom Mond weg, und ich sah Rafe am Rand der Terrasse sitzen, einen Arm um die Knie und in der anderen Hand ein langes Glas. Mein Adrenalinspiegel schnellte hoch. Er konnte mir unmöglich gefolgt sein, ohne dass ich ihn gesehen hätte, und ich hatte ohnehin nichts 447
Verdächtiges getan, aber dennoch, sein Anblick machte mich nervös. Die Art, wie er dasaß, mit erhobenem Kopf und abrufbereit am Rand der großen Grasfläche: Er wartete auf mich. Ich blieb unter dem Weißdornbaum am Tor stehen und beobachtete ihn. Irgendetwas, das bei mir im Hinterkopf erste Konturen angenommen hatte, war jetzt klar zu erkennen. Seine Bemerkung, ich sei melodramatisch, war der Auslöser gewesen: der abfällige Unterton in seiner Stimme, das gereizte Augenverdrehen. Wenn ich recht darüber nachdachte, hatte Rafe seit meiner Ankunft kaum ein Wort zu mir gesagt, außer »Reich mir mal die Sauce« oder »Gute Nacht«. Er sprach um mich herum, über mich hinweg, in meine allgemeine Richtung, niemals mit mir. Am Tag zuvor hatte er mich als Einziger nicht zur Begrüßung berührt, bloß meinen Koffer genommen und ins Haus getragen. Er wollte es sich nicht anmerken lassen, ließ es nicht offen durchblicken, aber aus irgendeinem Grund war Rafe stinksauer auf mich. 448
Er sah mich, sobald ich unter dem Weißdorn hervortrat. Er hob den Arm – das Licht von den Fenstern ließ lange, verwirrende Schatten über das Gras auf mich zufliegen – und schaute bewegungslos zu, wie ich den Rasen überquerte und mich neben ihn setzte. Es erschien mir am einfachsten, die Sache direkt anzusprechen. »Bist du sauer auf mich?«, fragte ich. Rafe wandte den Kopf mit einem angewiderten Ruck ab und blickte über das Gras. »›Sauer auf mich‹«, sagte er. »Du meine Güte, Lexie, du bist doch kein Teenager.« »Na schön«, sagte ich. »Bist du wütend auf mich?« Er streckte die Beine vor sich aus und inspizierte die Spitzen seiner Sportschuhe. »Bist du überhaupt mal auf die Idee gekommen«, sagte er, »dich zu fragen, wie die letzte Woche für uns war?«
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Ich dachte einen Moment darüber nach. Es hörte sich ganz so an, als würde er es Lexie übelnehmen, dass sie sich hatte niederstechen lassen. Soweit ich das beurteilen konnte, war das entweder höchst verdächtig oder höchst befremdlich. Bei diesen vier war der Unterschied schwer zu erkennen. »Ich hab mich auch nicht gerade amüsiert, weißt du«, sagte ich. Er lachte. »Du hast nicht mal drüber nachgedacht, stimmt’s?« Ich starrte ihn an. »Bist du deshalb stinkig? Weil ich verletzt wurde? Oder weil ich nicht gefragt habe, wie das für euch war?« Er warf mir einen Seitenblick zu, der alles hätte bedeuten können. »Menschenskind, Rafe. Ich war auch nicht scharf drauf, dass das passiert. Wieso benimmst du dich deshalb so bescheuert?« Rafe nahm einen langen fahrigen Schluck von seinem Drink – Gin-Tonic, ich konnte es riechen. »Vergiss es«, sagte er. »Schon gut. Geh einfach rein.« 450
»Rafe«, sagte ich verletzt, und das war nicht komplett gespielt: Der eisige Unterton in seiner Stimme hatte mich zusammenzucken lassen. »Bitte nicht.« Er reagierte nicht. Ich legte eine Hand auf seinen Arm – er war muskulöser, als ich erwartet hatte, und fühlte sich durch sein Hemd hindurch warm an, fast fiebrig. Sein Mund bildete eine lange, harte Linie, aber Rafe rührte sich nicht. »Erzähl mir, wie es für euch war«, sagte ich. »Bitte. Ich will es wissen, ehrlich. Ich hab mich bloß nicht getraut zu fragen.« Rafe zog seinen Arm weg. »Na schön«, sagte er. »Wie du willst. Es war der Horror schlechthin. Beantwortet das deine Frage?« Ich wartete. »Wir waren alle hysterisch«, sagte er unwirsch, nach einem Moment. »Wir waren Wracks. Nicht Daniel, klar, wegen so was die Fassung zu verlieren wäre ihm zu würdelos, er hat bloß die Nase in ein Buch gesteckt und ab und an ein blödes alt451
nordisches Zitat zum Besten gegeben, irgendwas von starken Armen in schweren Zeiten oder so. Aber ich bin ziemlich sicher, dass er die ganze Woche kein Auge zugetan hat. Egal, wann ich nachts aufgestanden bin, bei ihm brannte immer Licht. Und wir Übrigen … Nur damit du’s weißt, wir haben praktisch auch kein Auge zugetan. Wir hatten alle Alpträume – das Ganze war die reinste Farce, jedes Mal, wenn man es geschafft hatte einzuschlafen, ist irgendeiner schreiend aufgewacht und hat natürlich alle anderen geweckt … Unser Zeitgefühl war völlig durcheinander. Die halbe Zeit wusste ich nicht mal, welcher Tag war. Ich konnte nichts essen, wenn ich Essen auch nur gerochen hab, musste ich schon würgen. Und Abby hat ohne Ende gebacken – sie hat gesagt, sie muss sich irgendwie abreagieren, aber es war Wahnsinn, im ganzen Haus türmten sich klebrige Schokodinger und Fleischpasteten … Wir hatten deshalb einen Mordskrach, Abby und ich. Sie hat eine Gabel nach mir geworfen. Ich habe die ganze 452
Zeit getrunken, damit mir von dem Geruch nicht schlecht wird, und natürlich hat Daniel mich dann dafür angemacht … Schließlich haben wir die Schokodinger in den Tutorenkursen verteilt. Die Fleischpasteten sind im Gefrierfach, falls du eine möchtest. Von uns anderen rührt die bestimmt keiner an.« Sie waren fix und fertig, hatte Frank gesagt, aber von so einer Hysterie hatte keiner was verlauten lassen. Jetzt, wo Rafe angefangen hatte zu reden, konnte er nicht mehr aufhören. Die Worte schossen so heftig und unwillkürlich heraus wie Erbrochenes. »Und Justin erst«, sagte er. »Mein Gott. Der war mit Abstand am schlimmsten dran. Er hat nur noch gezittert, ich meine, richtig gezittert – irgend so ein kleiner Klugscheißer aus dem ersten Semester hat ihn gefragt, ob er Parkinson hätte. Es hört sich vielleicht halb so schlimm an, aber es war unglaublich nervig. Jedes Mal, wenn man ihn angeguckt hat, nur für eine Sekunde, hat einen das völlig nervös gemacht. Und ständig hat 453
er irgendwas fallen lassen, und uns anderen ist jedes Mal fast das Herz stehengeblieben. Wenn Abby und ich ihn dann angeschnauzt haben, hat er losgeheult, als ob das irgendwas geholfen hätte. Abby wollte ihm schon Valium oder so besorgen, aber Daniel fand das lächerlich, Justin müsste lernen, mit der Situation fertig zu werden, wie wir anderen auch – was natürlich völliger Schwachsinn war, weil wir selbst ja auch nicht mit der Situation fertig wurden. Nicht mal der größte Optimist der Welt hätte behaupten können, dass wir mit der Situation fertig wurden. Abby ist schlafgewandelt – einmal hat sie sich um vier Uhr morgens ein Bad einlaufen lassen und ist im Pyjama in die Wanne gestiegen, im Tiefschlaf. Wenn Daniel sie nicht gefunden hätte, wäre sie glatt ertrunken.« »Es tut mir leid«, sagte ich. Meine Stimme klang seltsam, hoch und zittrig. Jedes Wort von ihm hatte mich mitten im Magen getroffen wie ein Pferdetritt. Ich hatte mit Frank über diesen Punkt diskutiert und auch mit Sam darüber gesprochen, 454
ich hatte geglaubt, ich hätte das durchdacht, doch erst in diesem Augenblick wurde mir so richtig klar, was ich diesen Menschen antat. »Gott, Rafe, es tut mir so leid.« Rafe bedachte mich mit einem langen, dunklen, unergründlichen Blick. »Und dann die Polizei«, sagte er. Er nahm wieder einen Schluck aus seinem Glas, verzog das Gesicht, als würde der Drink bitter schmecken. »Hast du schon mal mit den Bullen zu tun gehabt?« »Nicht so«, sagte ich. Ich klang noch immer falsch, atemlos, aber er schien es nicht zu bemerken. »Die haben uns richtig Angst eingejagt. Das waren keine kleinen Dorfpolizisten, das waren Detectives. Die haben die besten Pokergesichter, die ich je gesehen habe, du hast keinen Schimmer, was sie denken oder was sie von dir wollen, und sie haben uns ordentlich in die Mangel genommen. Stundenlang verhört, fast jeden Tag. Und selbst die harmloseste Frage – wie spät 455
gehen Sie normalerweise ins Bett? – klingt aus ihrem Mund nach Falle, als würden sie nur drauf warten, die Handschellen zu zücken, wenn du die falsche Antwort gibst. Du hast das Gefühl, du musst auf der Hut sein, jede Sekunde, das ist tierisch anstrengend – und wir waren ohnehin schon fix und alle. Der Typ, der dich hergebracht hat, dieser Mackey, der war der Schlimmste. Hat immerzu gelächelt und einen auf mitfühlend gemacht, dabei war von Anfang an klar, dass er uns nicht leiden konnte.« »Zu mir war er nett«, sagte ich. »Er hat mir Schokokekse gebracht.« »Hach, wie reizend«, sagte Rafe. »Ich wette, damit hat er dein Herz erobert. Zwischendurch ist er zu jeder Tages- und Nachtzeit hier aufgekreuzt und hat uns mit Fragen zu deinem Leben gelöchert und immer mal wieder blöde Bemerkungen abgelassen, über die oberen Zehntausend und so, was natürlich totaler Schwachsinn ist. Bloß weil wir das Haus haben und studieren … Der Typ hat an456
scheinend Riesenkomplexe. Der hätte echt gern einen Grund gehabt, uns alle einzulochen. Und das hat Justin natürlich noch hysterischer gemacht, er war überzeugt, wir würden alle jeden Moment verhaftet. Daniel hat ihm gesagt, das sei Blödsinn, und er solle sich gefälligst am Riemen reißen, aber eine große Hilfe war Daniel wirklich nicht, wo er doch gedacht hat … « Er verstummte und blickte hinaus in den Garten, die Augen halb zusammengekniffen. »Wenn du nicht durchgekommen wärst«, sagte er, »ich glaub, wir wären uns gegenseitig an die Gurgel gegangen.« Ich streckte einen Finger aus und berührte seinen Handrücken, nur ganz kurz. »Es tut mir leid«, sagte ich. »Wirklich, Rafe. Ich weiß nicht, wie ich es sonst sagen soll. Es tut mir so leid.« »Klar«, sagte Rafe, aber die Wut war aus seiner Stimme gewichen, und er klang einfach nur unglaublich müde. »Tja.«
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»Was hat Daniel gedacht?«, fragte ich, nach einem Moment. »Frag mich nicht«, sagte Rafe. Er kippte fast seinen ganzen Drink mit einer gekonnten Drehung des Handgelenks in sich hinein. »Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass wir in den meisten Fällen besser dran sind, wenn wir es nicht wissen.« »Nein, du hast gesagt, Daniel hat zu Justin gesagt, er soll sich zusammenreißen, dass er aber keine große Hilfe war, weil er irgendwas gedacht hat. Was hat er gedacht?« Rafe schüttelte sein Glas und sah zu, wie die Eiswürfel klimpernd gegen die Seiten schlugen. Er hatte offenbar nicht vor zu antworten, aber Schweigen ist der älteste Vernehmungstrick, der im Buche steht, und ich bin darin noch besser als die meisten. Ich stützte das Kinn auf die Arme, beobachtete ihn und wartete. Im Wohnzimmerfenster hinter seinem Kopf zeigte Abby auf irgendetwas in dem Buch, und sie und Daniel lachten auf, schwach und klar durch die Scheibe. 458
»Irgendwann«, sagte Rafe endlich. Er blickte mich noch immer nicht an. Das Mondlicht versilberte sein Profil und umschmeichelte seine Wangenknochen, verwandelte ihn in etwas wie von einer alten Münze. »Zwei Tage danach … Es könnte Samstag gewesen sein, ich weiß nicht mehr genau. Ich bin nach draußen auf die Terrasse und hab mich auf die Schaukel gesetzt und dem Regen zugehört. Ich hab gedacht, ich könnte danach besser einschlafen, aus irgendeinem Grund, aber es hat nicht geklappt. Ich hab gehört, wie eine Eule etwas getötet hat – eine Maus vermutlich. Es war schrecklich; die Maus hat geschrien. Man konnte die Sekunde hören, als sie starb.« Er verstummte. Ich fragte mich, ob das vielleicht das Ende der Geschichte war. »Eulen müssen auch was essen«, sagte ich schließlich. Rafe warf mir einen raschen Seitenblick zu. »Dann«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie spät es war, es wurde schon hell, hab ich deine Stimme gehört,
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durch den Regen. Sie klang, als wärst du gleich da oben, würdest dich rauslehnen.« Er drehte sich um und zeigte auf mein dunkles Fenster über uns. »Du hast gesagt: ›Rafe, ich bin auf dem Weg nach Hause. Warte auf mich.‹ Es klang nicht gruselig oder so, bloß sachlich, irgendwie gehetzt. Wie als du mich mal angerufen hast, weil du deine Schlüssel vergessen hattest. Erinnerst du dich?« »Ja, sagte ich. »Ich erinnere mich.« Ein leichter, kühler Windhauch strich mir übers Haar, und ich fröstelte, ein rasches, unkontrollierbares Zucken. Eigentlich glaube ich nicht an Gespenster, aber diese Geschichte war etwas anderes, drückte wie eine kalte Messerklinge gegen meine Haut. Es war viel zu spät, über eine Woche zu spät, um mir darüber Gedanken zu machen, welches Unheil ich diesen vieren zufügte. »›Ich bin auf dem Weg nach Hause‹«, sagte Rafe. »›Warte auf mich.‹« Er blickte auf den Boden
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seines Glases. Ich merkte, dass er vermutlich ganz schön betrunken war. »Was hast du gemacht?«, fragte ich. Er schüttelte den Kopf. »Echo, ich richte nicht das Wort an dich«, deklamierte er mit einem schwachen, schiefen Lächeln, »denn du bist ein leblos Ding.« Der Windhauch war den Garten hinuntergeglitten, durchstreifte das Laub und befingerte vorsichtig den Efeu. Im Mondlicht sah das Gras weich und weiß aus wie Nebel, als könntest du glatt hindurchgreifen. Wieder durchlief mich das Frösteln. »Warum?«, fragte ich. »Hat dir das nicht gesagt, dass ich durchkommen würde?« »Nein«, sagte Rafe. »Weiß Gott nicht, nein. Ich war sicher, dass du gerade gestorben warst, genau in der Sekunde. Lach von mir aus drüber, aber ich hab dir ja erzählt, in was für einer Verfassung wir alle waren. Den ganzen nächsten Tag hab ich damit gerechnet, dass Mackey vor der Tür steht, ernst und mitfühlend, und uns mitteilt, dass die 461
Ärzte alles in ihrer Macht Stehende getan hätten, aber leider bla, bla, bla. Als er dann am Montag mit einem breiten Grinsen im Gesicht erschienen ist und uns erzählt hat, du wärst wieder bei Bewusstsein, hab ich ihm zuerst nicht geglaubt.« »Das war’s, was Daniel gedacht hat, nicht?«, sagte ich. Mir war nicht klar, wieso ich das wusste, aber ich hatte nicht den geringsten Zweifel. »Er hat gedacht, ich wäre tot.« Nach einem Moment seufzte Rafe. »Ja«, sagte er. »Ja, genau. Gleich von Anfang an. Er hat gedacht, du hättest es nicht mal bis ins Krankenhaus geschafft.« Bei dem musst du aufpassen, hatte Frank gesagt. Entweder war Daniel erheblich cleverer, als mir lieb war – der kleine Wortwechsel vor meinem Spaziergang bereitete mir erneut Kopfzerbrechen –, oder er hatte eigene Gründe dafür gehabt zu glauben, dass Lexie nicht wiederkommen würde. »Wieso?«, fragte ich und tat gekränkt. »Ich bin
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doch kein Weichei. So ein kleiner Ritzer genügt nicht, um mich loszuwerden.« Ich spürte, wie Rafe zusammenfuhr, ein winziges, halb verstecktes Zucken. »Was weiß ich«, sagte er. »Er hatte so eine abenteuerliche, verschwurbelte Theorie, die Bullen würden nur behaupten, du wärst noch am Leben, um alle zu verwirren – ich kann mich im Einzelnen nicht erinnern, ich wollte das nicht hören, und er war sowieso ziemlich kryptisch.« Er zuckte die Achseln. »Daniel eben.« Aus mehreren Gründen fand ich, dass es Zeit war, den Ton dieser Unterhaltung zu ändern. »Hmm ... Verschwörungstheorien«, sagte ich. »Wir sollten ihm einen Hut aus Silberfolie basteln, für den Fall, dass die Bullen versuchen, seine Gehirnwellen zu stören.« Ich hatte Rafe überrumpelt: Unwillkürlich stieß er ein verblüfft prustendes Lachen aus. »Er ist wirklich leicht paranoid, nicht?«, sagte er. »Weißt du noch, wie wir die Gasmaske gefunden haben? 463
Wie er sie nachdenklich angeguckt und gesagt hat: ›Ob die wohl auch gegen die Vogelgrippe schützt?‹« Ich hatte auch angefangen zu lachen. »Die würde super zu dem Silberfolienhut passen. Er kann beides zusammen aufsetzen, wenn er zur Uni fährt –« »Wir besorgen ihm einen Bio-Schutzanzug –« »Abby kann hübsche Muster draufsticken –« Eigentlich war es gar nicht so umwerfend lustig, aber wir kriegten uns nicht mehr ein, lachten wie zwei alberne Teenager. »Oh Mann«, sagte Rafe und wischte sich über die Augen. »Weißt du, die ganze Sache wäre wahrscheinlich zum Brüllen komisch gewesen, wenn sie nicht so schrecklich gewesen wäre. Ich kam mir vor wie in einem von diesen furchtbaren Stücken, die unsere Möchtegern-Ionescos in den Tutorenkursen so gern schreiben: haufenweise Fleischpasteten, die aus dem Nichts auftauchen, Justin, der sie überall fallen lässt, ich irgendwo würgend in der Ecke, Abby 464
schlafend im Pyjama in der Badewanne wie eine postmoderne Ophelia, Daniel, der auftritt, um uns zu sagen, was Chaucer über uns alle denkt, und dann wieder verschwindet, dein Freund Officer Krupke, der alle zehn Minuten vor der Tür steht und wissen will, welche Farbe du bei M&Ms am liebsten magst … « Er ließ einen langen zittrigen Atemzug entweichen, irgendwo zwischen Lachen und Schluchzen. Ohne mich anzusehen, streckte er einen Arm zu mir aus und wuschelte mir durchs Haar. »Wir haben dich vermisst, du Dussel«, sagte er fast grob. »Wir wollen dich nicht verlieren.« »Na, hier bin ich«, sagte ich. »Und ich geh nirgendwohin.« Ich sagte es in heiterem Tonfall, doch in dem großen dunklen Garten war es, als würden die Worte ein Eigenleben entwickeln, über die Wiese davonflattern und zwischen den Bäumen verschwinden. Rafes Gesicht wandte sich mir langsam zu. Das Licht vom Wohnzimmer war hinter 465
ihm, und ich konnte seinen Ausdruck nicht sehen, nur ein blassweißes Mondglitzern in seinen Augen. »Nein?«, fragte er. »Nein«, sagte ich. »Es gefällt mir hier.« Rafes Silhouette bewegte sich kurz, als er nickte. »Gut«, sagte er. Völlig überraschend für mich hob er die Hand und strich mir mit der Rückseite der Finger sanft und bedächtig über die Wange. Das Mondlicht ließ den Hauch eines Lächelns erkennen. Eines der Wohnzimmerfenster wurde hochgerissen, und Justins Kopf tauchte auf. »Worüber lacht ihr zwei denn da?« Rafes Hand fiel herab. »Nichts«, riefen wir, wie aus einem Munde. »Wenn ihr noch länger da draußen in der Kälte hockt, kriegt ihr beide noch Ohrenschmerzen. Kommt rein und seht euch an, was wir hier haben.«
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Sie hatten irgendwo ein altes Fotoalbum gefunden: die Familie March, Daniels Vorfahren, angefangen um 1860 herum, mit Schnürkorsetts und Zylindern und bierernsten Mienen. Ich quetschte mich neben Daniel aufs Sofa – eng, mit Körperkontakt, und eine Sekunde lang wäre ich fast zurückgezuckt, bis mir einfiel, dass ich Mikro und Handy auf der anderen Seite hatte. Rafe setzte sich neben mich auf die Armlehne, und Justin verschwand in der Küche und kam mit hohen Gläsern heißem Portwein zurück, fest mit dicken weichen Servietten umwickelt, damit wir uns nicht die Hände verbrannten. »Damit du dir nicht den Tod holst«, sagte er zu mir. »Du musst auf dich aufpassen. So in der Kälte rumzulaufen … « »Seht euch die Klamotten an«, sagte Abby. Das Album hatte einen rissigen braunen Ledereinband und war so groß, dass es ihren und Daniels Schoß zusammen bedeckte. Die Fotos steckten in kleinen Papierecken, waren fleckig und an den Rändern
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braun verfärbt. »Ich will den Hut da haben. Ich glaube, ich bin verliebt in den Hut.« Es war ein turmartiges Gebilde mit Fransen und krönte eine beleibte Lady mit Monobusen und einem fischartigen Starrblick. »Ist das nicht der Lampenschirm im Esszimmer?«, sagte ich. »Ich montier ihn für dich ab, wenn du versprichst, ihn morgen zur Uni aufzusetzen.« »Großer Gott«, sagte Justin, der sich auf die andere Armlehne des Sofas gehockt hatte und über Abbys Schulter spähte, »die sehen ja alle total deprimiert aus, nicht? Du hast mit keinem von denen die geringste Ähnlichkeit, Daniel.« »Lasst uns dankbar sein für kleine Gaben«, sagte Rafe. Er pustete auf seinen heißen Portwein, den freien Arm quer über meinen Rücken gelegt. Er hatte mir anscheinend verziehen, was immer ich, genauer gesagt Lexie, getan hatte. »Ich hab noch nie so viele Glupschaugen auf einmal gesehen. Vielleicht hatten sie’s alle an der Schilddrüse und sehen deshalb so deprimiert aus.« 468
»Tatsächlich«, sagte Daniel, »sind hervorquellende Augen und finstere Mienen ein typisches Merkmal für Fotografien aus der Zeit. Ich frage mich, ob das mit den langen Belichtungszeiten zusammenhing. Die viktorianische Kamera –« Rafe simulierte einen Schlafanfall an meiner Schulter, Justin gähnte ausgiebig, und Abby und ich – ich nur eine Sekunde später als sie – hielten uns die Ohren zu und fingen an zu singen. »Schon gut, schon gut«, sagte Daniel und schmunzelte. Ich war ihm noch nie so nah gewesen. Er roch gut, Zedernholz und saubere Wolle. »Ich nehme ja nur meine Ahnen in Schutz. Jedenfalls, ich finde wohl, dass ich mit einem von ihnen Ähnlichkeit habe – wo ist er? Der da.« Der Kleidung nach war das Foto etwa vor hundert Jahren aufgenommen worden. Der Mann war jünger als Daniel, höchstens zwanzig, und stand auf den Eingangsstufen eines jüngeren, leuchtenderen Whitethorn House – kein Efeu an den Mauern, glänzende neue Farbe an der Tür und den 469
Geländern, die Steinstufen scharfkantiger und hell geschrubbt. Eine Ähnlichkeit war durchaus vorhanden – er hatte Daniels markante Kinnpartie und breite Stirn, obwohl seine noch breiter wirkte, da das dunkle Haar mit Pomade glatt nach hinten gekämmt war, und den gleichen gerade geschnittenen Mund. Doch die träge, provozierende Lässigkeit, mit der der junge Mann an dem Geländer lehnte, war kein Vergleich zu Daniels akkurater symmetrischer Haltung, und in seinen weit auseinanderstehenden Augen lag ein anderer Ausdruck, etwas Ruheloses und Gehetztes. »Wow«, sagte ich. Die Ähnlichkeit, das Gesicht, das ein Jahrhundert überbrückte, löste etwas Eigenartiges in mir aus. Ich hätte Daniel beneidet, auf eine irrationale Art, wenn Lexie nicht gewesen wäre. »Du siehst wirklich so aus wie er.« »Nur nicht ganz so verkorkst«, sagte Abby. »Das ist kein glücklicher Mann.« »Aber seht euch das Haus an«, sagte Justin leise. »Ist es nicht wunderschön?« 470
»Oh ja«, sagte Daniel und betrachtete es lächelnd. »Das ist es wirklich. Wir kriegen es wieder so hin.« Abby schob einen Fingernagel unter das Foto, schnippte es aus den Ecken und drehte es um. Auf der Rückseite stand mit wässriger Tinte »William, Mai 1914«. »Das war kurz vor dem Ersten Weltkrieg«, sagte ich ruhig. »Vielleicht ist er gefallen.« »Nein«, sagte Daniel, nahm Abby das Foto aus der Hand und betrachtete es genauer, »das glaub ich nicht. Donnerwetter. Wenn das derselbe William ist – und es kann gut sein, dass er es nicht ist, was Namen anging, war meine Familie schon immer unglaublich einfallslos –, dann hab ich was über ihn gehört. Mein Vater und meine Tanten haben ihn ab und an erwähnt, als ich klein war. Er ist der Onkel meines Großvaters, glaub ich, obwohl ich mich da vielleicht vertue. William war – na ja, nicht gerade das schwarze Schaf der Familie, eher so was wie die Leiche im Keller.« 471
»Eindeutig eine Ähnlichkeit«, sagte Rafe, und dann: »Aua!«, als Abby rübergriff und ihn auf den Arm schlug. »Er war tatsächlich im Krieg«, sagte Daniel, »kam aber irgendwie versehrt wieder. Was er genau hatte, wurde nie erwähnt, weshalb ich vermute, dass es nichts Körperliches war, sondern eher ein psychischer Knacks. Es gab irgendeinen Skandal – Genaueres weiß ich nicht, es wurde ein ziemliches Geheimnis aus der Sache gemacht, aber er war eine Zeitlang in irgendeinem Sanatorium, was damals auch eine diskrete Umschreibung für eine Irrenanstalt gewesen sein kann.« »Vielleicht hatte er eine leidenschaftliche Affäre mit Wilfried Owen«, schlug Justin vor, »im Schützengraben.« Rafe seufzte geräuschvoll. »Ich hatte eher den Eindruck, dass er einen Selbstmordversuch gemacht hat«, sagte Daniel. »Als er entlassen wurde, ist er ausgewandert, glaube ich. Er ist ziemlich alt geworden – als er starb, war ich schon auf der Welt –, aber trotzdem, 472
nicht unbedingt der Vorfahr, mit dem man gern Ähnlichkeit hätte. Du hast recht, Abby: kein glücklicher Mann.« Er steckte das Foto wieder fest und berührte es sanft, mit einer langen kantigen Fingerspitze, ehe er die Seite umblätterte. Der heiße Portwein war stark und süß, mit Zitronenvierteln darin, die mit Gewürznelken gespickt waren, und Daniels Arm lag warm und fest an meinem. Er blätterte langsam weiter: Schnurrbärte so groß wie Haustiere, gepflegte Männer, die im blühenden Kräutergarten umherschlenderten (»Großer Gott«, sagte Abby mit einem langen Atemzug, »genauso müsste er aussehen«), junge Frauen mit sorgsam heruntergenommenen Schultern. Ein paar Leute hatten eine ähnliche Statur wie Daniel und William – groß und robust, mit Wangenknochen, die den Männern besser standen als den Frauen –, aber die meisten waren klein und kerzengerade und bestanden überwiegend aus scharfen Winkeln, spitzen Kinnen und Ellenbogen
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und Nasen. »Das Album ist genial«, sagte ich. »Wo habt ihr das gefunden?« Jähes, erschrockenes Schweigen. Oh Gott, dachte ich, oh Gott, nicht jetzt, nicht, wo ich gerade anfing – »Aberdu hast es doch gefunden«, sagte Justin und stellte sich sein Glas aufs Knie. »Im Gästezimmer oben. Weißt du das denn … « Er ließ den Satz verklingen. Niemand führte ihn zu Ende. Merk dir, hatte Frank mir eingeschärft, mach niemals einen Rückzieher. Wenn dir ein Patzer unterläuft, schieb es auf das Koma, auf PMS, den Vollmond, was du willst, bleib einfach bei dem, was du gesagt hast. »Nein«, sagte ich. »Ich würde mich erinnern, wenn ich es schon mal gesehen hätte.« Sie blickten mich alle an. Daniels Augen, nur wenige Zentimeter entfernt, waren konzentriert und neugierig und übergroß hinter seiner Brille. Ich wusste, ich war weiß geworden, das konnte er nicht übersehen. Er hat gedacht, du hättest es 474
nicht mal bis ins Krankenhaus geschafft. Er hatte so eine abenteuerliche, verschwurbelte Theorie – »Hast du aber, Lexie«, sagte Abby behutsam und beugte sich vor, damit sie mich sehen konnte. »Zusammen mit Justin. Ihr habt oben herumgestöbert, nach dem Abendessen, und dabei habt ihr es entdeckt. Das war in derselben Nacht, in der … « Sie machte eine kleine, uneindeutige Geste, warf Daniel einen raschen Blick zu. »Es war bloß ein paar Stunden vor dem Vorfall«, sagte Daniel. Ich meinte zu spüren, wie sich irgendetwas durch seinen Körper bewegte, eine Art winziges, unterdrücktes Frösteln, aber sicher war ich mir nicht. Ich war selbst zu sehr damit beschäftigt, mir nicht anmerken zu lassen, wie mich pure Erleichterung durchströmte. »Kein Wunder, dass du dich nicht erinnern kannst.« »Tja«, sagte Rafe, eine Spur zu laut und zu kräftig, »da siehst du.« »Aber das nervt«, sagte ich. »Jetzt komm ich mir vor wie ein Idiot. Dass ich die schlimmen Sa475
chen nicht mehr weiß, macht mir nichts, aber ich hab keinen Bock darauf, mich ständig zu fragen, was mir noch alles entfallen ist. Wer weiß, vielleicht hab ich sechs Richtige im Lotto getippt und den Schein irgendwo versteckt?« »Schsch«, sagte Daniel. Er lächelte mich an, dieses außergewöhnliche Lächeln. »Mach dir nichts draus. Das mit dem Album hatten wir auch alle vergessen, bis heute Abend. Wir hatten nicht mal einen Blick reingeworfen.« Er nahm meine Hand, öffnete sanft meine Finger – ich hatte nicht gemerkt, dass ich die Hände zu Fäusten geballt hatte – und zog sie durch seine Armbeuge. »Ich bin froh, dass du’s gefunden hast. Dieses Haus ist vollgestopft mit Geschichte. Das sollte nicht verlorengehen. Seht euch das an: die Kirschbäume, frisch gepflanzt.« »Und guckt euch den an«, sagte Abby und zeigte auf einen Mann, der in voller Jagdmontur neben dem vorderen Tor auf einem geschmeidigen Pferd saß, einem Fuchs. »Der würde vor Entsetzen aus 476
dem Sattel kippen, wenn er wüsste, dass wir in seinem Stall Motorfahrzeuge unterstellen.« Ihre Stimme klang gut – locker, fröhlich, ohne auch nur im Geringsten zu stocken –, doch ihre Augen, die über Daniel hinweg zu mir herüberhuschten, blickten ängstlich. »Wenn mich nicht alles täuscht«, sagte Daniel, »ist das unser Wohltäter.« Er zog das Foto heraus und sah auf der Rückseite nach. »Ja: ›Simon auf Highwayman, November 1949.‹ Da muss er etwa einundzwanzig gewesen sein.« Onkel Simon war vom Haupt-Ast des Familienstammbaums: klein und drahtig, mit einer arroganten Nase und einem grimmigen Blick. »Noch so ein unglücklicher Mann«, sagte Daniel. »Seine Frau ist jung gestorben, und anscheinend hat er das nie verwunden. Da hat er mit dem Trinken angefangen. Justin hat recht, keine fröhliche Sippschaft.« Er war dabei, das Foto wieder in die Ecken zu schieben, als Abby sagte: »Nein«, und es ihm aus 477
der Hand nahm. Sie reichte Daniel ihr Glas, ging zum Kamin und stellte das Bild mitten auf den Sims. »Dahin.« »Wieso?«, wollte Rafe wissen. »Weil«, sagte Abby, »wir ihm zu Dank verpflichtet sind. Er hätte das Haus auch dem Reiterverein stiften können, dann würde ich noch immer in einer schauerlichen Kellerwohnung ohne Fenster wohnen und hoffen, dass der Spinner von oben nicht irgendwann auf die Idee kommt, nachts bei mir einzubrechen. Ich finde, der Mann hat einen Ehrenplatz verdient.« »Ach Abby, Schätzchen«, sagte Justin und streckte einen Arm aus. »Komm her.« Abby schob einen Kerzenständer davor, damit das Foto nicht umfiel. »So«, sagte sie und ging zu Justin. Er schlang den Arm um sie und zog sie an sich, so dass sie mit dem Rücken an seiner Brust lehnte. Sie nahm ihr Glas aus Daniels Hand. »Auf Onkel Simon«, sagte sie.
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Onkel Simon bedachte uns alle mit einem unheilvollen, herablassenden Blick. »Wieso nicht«, sagte Rafe und hob sein Glas. »Onkel Simon.« Der Portwein, der tief und kräftig wie Blut leuchtete, ich, gemütlich zwischen Daniels und Rafes Armen, ein Windstoß, der die Fenster klappern ließ und die Spinnweben hoch oben in den Ecken ins Schwingen brachte. »Auf Onkel Simon«, sagten wir alle zusammen.
Später, in meinem Zimmer, saß ich auf der Fensterbank und ging in Gedanken durch, was ich inzwischen Neues in Erfahrung gebracht hatte. Alle vier Mitbewohner hatten gezielt verborgen, wie aufgewühlt sie gewesen waren, und zwar gekonnt. Abby warf mit Küchenutensilien, wenn sie richtig wütend wurde. Rafe zumindest verübelte es Lexie irgendwie, dass sie niedergestochen worden war. Justin war sicher gewesen, sie würden verhaftet. Daniel war auf die Koma-Geschichte nicht he479
reingefallen. Und Rafe hatte Lexie sagen hören, sie würde nach Hause kommen, am Tag bevor ich eingewilligt hatte. Zu den verstörendsten Aspekten an der Arbeit im Morddezernat zählt, wie wenig du über den Menschen nachdenkst, der ermordet wurde. Manche setzen sich in deinem Kopf fest – Kinder, erschlagene Rentner, junge Mädchen, die hoffnungsfroh und quirlig durch die Clubs zogen und in einem Abflusskanal endeten –, aber meistens ist das Opfer nur dein Ausgangspunkt. Das Gold am Ende des Regenbogens ist der Mörder. Erschreckend leicht gerätst du an den Punkt, wo das Opfer nebensächlich wird, tagelang halb vergessen, bloß eine Requisite, die für den Prolog auf die Bühne gerollt wird, damit die eigentliche Show anfangen kann. Rob und ich hefteten immer ein Foto mitten an die Tafel, bei jedem Fall – kein Foto vom Tatort oder ein gestelltes Porträt; einen Schnappschuss, die am wenigsten gestellte Aufnahme, die wir auftreiben konnten, einen unbe480
schwerten Ausschnitt aus der Zeit, als dieser Mensch mehr war als ein Mordopfer –, um das nie zu vergessen. Das geschieht nicht aus Gefühllosigkeit oder Selbstschutz. Es ist nun mal eine nackte Tatsache, dass es in jedem Mordfall, in dem ich ermittelte, um den Mörder ging. Das Opfer – und stellen Sie sich vor, Sie sollen das einer Familie erklären, der nichts geblieben ist als die Hoffnung auf einen Grund –, das Opfer war lediglich die Person, die zufällig in die Schusslinie spaziert ist, als die Pistole geladen und gespannt wurde. Der Kontrollfreak war darauf geeicht, seine Frau umzubringen, wenn sie sich seinen Befehlen erstmals widersetzte; zufällig war Ihre Tochter die Frau, die ihn geheiratet hat. Der Straßenräuber hatte sich mit einem Messer auf die Lauer gelegt, und Ihr Mann kam zufällig als Erster vorbei. Wir durchstöbern das Leben der Opfer, aber nicht, um mehr über sie zu erfahren, sondern über den Mörder: Wenn wir uns ausrechnen können, an welchem Punkt genau 481
jemand dem Mörder ins Fadenkreuz gelaufen ist, dann können wir mit unserer dunklen, blutigen Geometrie ans Werk gehen und eine Linie ziehen, die schnurstracks zum Lauf der Pistole führt. Das Opfer kann uns sagen, wie, aber fast nie, warum. Der einzige Grund, der Anfang und das Ende, der geschlossene Kreis, ist der Mörder. Dieser Fall war vom ersten Moment an anders gewesen. Ich lief niemals Gefahr, Lexie zu vergessen. Und das nicht bloß, weil ich das Erinnerungsfoto mit mir herumtrug, das ich jedes Mal vor Augen hatte, wenn ich mir die Zähne putzte oder die Hände wusch. Von der ersten Sekunde an, als ich das Cottage betrat, noch ehe ich ihr Gesicht überhaupt gesehen hatte, war es um sie gegangen. Zum allerersten Mal war der Mörder die Person, die ich immer wieder vergaß. Die Möglichkeit traf mich mit der Wucht einer Abrissbirne: Selbstmord. Ich hatte das Gefühl, von der Fensterbank gefallen zu sein, durch die Scheibe hindurch und in die kalte Luft hinein. Wenn 482
dieser Mörder bislang so unsichtbar geblieben war, wenn Lexie die ganze Zeit im Zentrum des Falles gestanden hatte, dann vielleicht deshalb, weil es gar keinen Mörder gab: nur sie allein. In dem Sekundenbruchteil sah ich es so deutlich, als würde es sich auf dem dunklen Rasen unter mir in all seinem trägen, abscheulichen Schrecken entfalten. Die anderen, wie sie die Karten weglegten und sich streckten, Wo bleibt Lexie denn bloß? Und dann die Sorge, die immer unerträglicher wurde, bis sie sich schließlich Mäntel überzogen und hinaus in die Nacht gingen, um nach ihr zu suchen, Taschenlampen, windgepeitschter Regen, Lexie! Lex! Alle vier, dichtgedrängt in dem verfallenen Cottage, nach Luft schnappend. Zitternde Hände, die nach einem Puls fühlten, härter zudrückten; sie in den überdachten Raum trugen und behutsam hinlegten, das Messer nahmen, ihre Taschen nach irgendeinem Abschiedsbrief durchsuchten, irgendeiner Erklärung, irgendeinem
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Wort. Vielleicht – Herrgott – vielleicht hatten sie sogar etwas gefunden. Einen Augenblick später war ich natürlich wieder klar im Kopf, meine Atmung kam zurück, und ich wusste, dass das Unfug war. Es würde einiges erklären – Rafes Frustanfall, Daniels Misstrauen, Justins Nervosität, die transportierte Leiche, die durchsuchten Taschen –, und jeder von uns hat schon von Fällen gehört, wo Leute alles Mögliche inszeniert haben, von unwahrscheinlichen Unfällen bis hin zu Morden, nur damit ihre Lieben nicht als Selbstmörder gebrandmarkt werden. Aber mir fiel kein einziger Grund ein, warum sie sie die ganze Nacht dort hätten liegen lassen sollen, bis irgendwer sie fand, und außerdem rammen sich Frauen, die Selbstmord begehen wollen, normalerweise kein Messer in die Brust. Und vor allen Dingen war da die unverrückbare Tatsache, dass Lexie – selbst wenn das, was auch immer im März passiert war, das alles hier für sie irgendwie kaputtgemacht hatte, dieses Haus, diese Freunde, 484
dieses Leben – der letzte Mensch auf Erden war, der sich umgebracht hätte. Selbstmörder sind Menschen, die keinen anderen Ausweg mehr sehen. Nach dem, was wir inzwischen über sie wussten, hatte Lexie kein Problem damit gehabt, einen Fluchtweg zu finden, wenn sie einen brauchte. Unten summte Abby vor sich hin. Justin nieste, eine Kette von kleinen gezierten Jaulern. Irgendjemand knallte eine Schublade zu. Ich lag im Bett und war schon fast eingeschlafen, als es mir einfiel: Ich hatte völlig vergessen, Sam anzurufen.
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8 Gott, diese erste Woche! Wenn ich nur daran denke, möchte ich in sie hineinbeißen wie in den rotbackigsten Apfel der Welt. Mitten in einer auf Hochtouren laufenden Mordermittlung, während Sam sich akribisch durch diverse Schattierungen von Abschaum hindurcharbeitete und Frank sich alle Mühe gab, dem FBI unsere Situation zu erklären, ohne sich wie ein Spinner anzuhören, hatte ich nichts anderes zu tun, als Lexies Leben zu leben. Es erfüllte mich bis in die Zehenspitzen mit einem schadenfrohen, faulen, tollkühnen Gefühl, wie wenn du an einem wunderschönen Frühlingstag die Schule schwänzt und genau weißt, dass deine Klasse heute Frösche sezieren muss. Am Dienstag ging ich wieder zur Uni. Trotz der zahllosen neuen Möglichkeiten, die ganze Sache in den Sand zu setzen, freute ich mich darauf. Ich fand das Trinity wunderbar. Es besteht noch immer aus jahrhundertealtem, elegantem grauen Na486
turstein, roten Ziegeln, Pflastersteinen. Du kannst förmlich spüren, wie Generationen um Generationen von Studenten neben dir über den Front Square strömen, wie dein Abdruck der Luft hinzugefügt wird, archiviert, aufbewahrt. Wenn nicht jemand beschlossen hätte, mir das College zu vergraulen, wäre aus mir vielleicht auch ein ewiger Student geworden, wie meine vier Mitbewohner. Stattdessen – und vermutlich auch wegen der betreffenden Person – wurde ich Detective. Mir gefiel der Gedanke, dass sich mit diesem Fall für mich ein Kreis schloss, dass ich den Platz, den ich verloren hatte, wieder einnahm. Es kam mir vor wie ein seltsamer, verspäteter Sieg, wie etwas, das allen lächerlichen Widrigkeiten zum Trotz für mich aufbewahrt worden war. »Stell dich darauf ein, dass die Gerüchteküche überkocht«, sagte Abby im Auto. »Da ist die Rede von einem Koksdealer, dem du das Geschäft vermasselt hast, oder von einem illegalen Einwanderer – du hast ihn wegen Geld geheiratet und dann 487
erpresst –, oder aber es war ein brutaler Exfreund, der im Knast war, weil er dich verprügelt hat, und gerade erst entlassen worden ist. Mach dich auf was gefasst!« »Oder aber, so vermute ich«, sagte Daniel und manövrierte sich an einem Ford Explorer vorbei, der zwei Spuren blockierte, »wir alle waren es, einzeln oder in diversen Kombinationen und mit diversen Motiven. Es hat uns zwar noch keiner ins Gesicht gesagt, klar, aber die Schlussfolgerung liegt nahe.« Er bog in die Einfahrt zum TrinityParkplatz und hielt dem Wachmann seinen Ausweis hin. »Wenn die Leute dir Fragen stellen, was willst du sagen?« »Weiß ich noch nicht«, sagte ich. »Ich dachte, ich sag, ich bin die verschollene Erbin irgendeines Throns, und eine rivalisierende Gruppe wollte mich ausschalten, aber mir ist noch kein passender Thron eingefallen. Seh ich aus wie eine Romanow?«
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»Und wie«, sagte Rafe. »Die Romanows waren ein Haufen willensschwacher Spinner. Das haut hin.« »Sei nett zu mir, sonst sag ich allen, du wärst im Drogenrausch mit einem Hackebeil auf mich losgegangen.« »Das ist nicht lustig«, sagte Justin. Er hatte sein Auto stehen lassen – ich hatte den Verdacht, sie wollten im Augenblick alle beieinanderbleiben – und saß hinten bei mir und Rafe, rieb Schmutz von der Fensterscheibe und wischte sich die Finger an seinem Taschentuch ab. »Na ja«, sagte Abby, »letzte Woche war es wirklich nicht lustig, nein. Aber jetzt, wo du wieder da bist … « Sie drehte den Kopf und grinste mich über die Schulter an. »Vier-Titten-Brenda hat mich gefragt – du kennst ja diesen fiesen vertraulichen Flüsterton? –, ob vielleicht ›bei einem von den Spielchen was schiefgelaufen ist‹. Ich hab sie nur mit Schweigen bestraft, aber jetzt denk ich, ich hätte ihr den Tag versüßen können.« 489
»Mich wundert ja«, sagte Daniel und öffnete seine Tür, »dass sie so fest entschlossen ist, uns für wahnsinnig interessant zu halten. Wenn die wüsste.« Sobald wir aus dem Wagen gestiegen waren, bekam ich zum ersten Mal einen richtigen Eindruck von dem, was Frank gesagt hatte, wie die vier auf Außenstehende wirkten. Als wir den langen Weg zwischen den Sportplätzen entlanggingen, geschah etwas, eine Veränderung, so unmerklich und eindeutig, wie Wasser zu Eis wird: Sie rückten näher zueinander, Schulter an Schulter und im Gleichschritt, machten den Rücken gerade, hoben den Kopf, setzten eine ausdruckslose Miene auf. Die Fassade war vollkommen, noch ehe wir das Gebäude der Geisteswissenschaften erreichten, eine so undurchdringliche Barrikade, dass sie beinahe sichtbar war, kühl und funkelnd wie ein Diamant. Wenn irgendwer im Laufe dieser ersten Woche am College versuchte, einen besseren Blick auf mich zu bekommen – an den Biblio490
theksregalen entlang zu der Ecke schlich, wo wir unsere Arbeitsplätze hatten, in der Cafeteria um eine Zeitung herumschielte –, schwenkte diese Barrikade herum wie eine römische Schildformation, konfrontierte die aufdringliche Person mit vier teilnahmslosen, starren Augenpaaren, bis sie den Rückzug antrat. Es würde schwierig werden, Klatschgeschichten zu sammeln. Sogar VierTitten-Brenda verschlug es die Sprache, als sie sich vor meinem Schreibtisch herumdrückte, und dann fragte sie bloß, ob ich ihr einen Stift borgen könnte. Lexies Dissertation entpuppte sich als unterhaltsamer, als ich gedacht hatte. Das wenige, was Frank mir gegeben hatte, handelte überwiegend von den Brontës, Currer Bell als die Verrückte in der Dachkammer, die sich von der spröden Charlotte freimachte, Wahrheit im Pseudonym. Nicht gerade angenehme Lektüre unter den gegebenen Umständen, aber mehr oder weniger zu erwarten. Woran sie kurz vor ihrem Tod gearbeitet hatte, 491
war erheblich peppiger: Rip Corelli, Autor von Mord im Cocktailkleid, entpuppte sich als Bernice Matlock, eine Bibliothekarin aus Ohio, die ein tadelloses Leben geführt und in ihrer Freizeit blutrünstige Bücher geschrieben hatte. Ich fand Gefallen daran, wie Lexies Verstand gearbeitet hatte. Ich hatte mir Sorgen gemacht, ihr Doktorvater würde von mir bald erste wissenschaftlich fundierte Früchte erwarten – was Lexie zu Papier gebracht hatte, war ja intelligent und originell und gut durchdacht, und ich war seit Jahren aus der Übung. Ich hatte mir überhaupt wegen ihres Doktorvaters Sorgen gemacht. Die Studenten in ihren Tutorenkursen würden den Unterschied nicht merken – für Achtzehnjährige sind die meisten Leute über fünfundzwanzig bloß allgemeines erwachsenes weißes Rauschen –, aber jemand, der sie in seinen Sprechstunden bestimmt gut kennengelernt hatte, war etwas ganz anderes. Ein einziges Gespräch mit ihm beruhigte mich. Er war ein kno492
chiger, sanftmütiger, zerstreuter Typ, den der ganze »unselige Vorfall« dermaßen gelähmt hatte, dass er mir kaum in die Augen blicken konnte, und er sagte, ich könne mir so viel Genesungszeit wie nötig nehmen und solle mir wegen irgendwelcher Termine bloß keine Gedanken machen. Ich schätzte, es war aushaltbar, ein paar Wochen in der Bibliothek zu hocken und etwas über hartgesottene Privatdetektive und Frauen zu lesen, die immer bloß Ärger brachten. Und am Abend kümmerten wir uns ums Haus. Wir steckten fast jeden Tag etwas Zeit in die Renovierung, manchmal ein oder zwei Stunden, manchmal nur zwanzig Minuten: die Treppe abschleifen, eine Kiste mit Onkel Simons Plunder durchsehen, abwechselnd die Stehleiter hochsteigen, um die uralten, brüchigen Lampenfassungen auszutauschen. Für die miesesten Arbeiten – Flecken von den Klos schrubben – wurde genauso viel Zeit und Sorgfalt eingesetzt wie für die interessanten. Die vier behandelten das Haus wie ein 493
kostbares Musikinstrument – eine Stradivari oder einen Bösendorfer –, das sie wiedergefunden hatten, nachdem es lange verloren war, und mit geduldiger, verzückter, bedingungsloser Liebe restaurierten. Ich glaube, ich habe Daniel nie entspannter gesehen als in einer abgetragenen alten Hose und im karierten Hemd flach auf dem Bauch liegend, die Fußleisten streichend und über irgendeine Geschichte lachend, die Rafe gerade erzählte, während Abby sich über ihn beugte, um ihren Pinsel einzutauchen, während ihr Pferdeschwanz ihm einen Farbstrich über die Wange zog. Sie waren sich körperlich ausgesprochen nah, alle vier. An der Uni fassten wir einander nie an, aber zu Hause berührte irgendwer ständig irgendwen: Daniels Hand auf Abbys Kopf, wenn er hinter ihrem Stuhl vorbeiging, Rafes Arm auf Justins Schulter, wenn sie irgendeinen Gästezimmerfund zusammen studierten, Abby, die sich auf der Terrassenschaukel quer über meinen und Justins Schoß ausstreckte, Rafe, der die Füße über Kreuz 494
auf meine legte, wenn wir am Kamin saßen und lasen. Frank machte vorhersehbare blöde Bemerkungen über Homosexualität und Orgien, aber ich hatte die Antennen ausgefahren, ob irgendwelche sexuellen Schwingungen wahrzunehmen waren – das Baby –, aber ich empfing keine. Es war seltsamer und stärker als das: Sie hatten keine Grenzen, nicht untereinander, nicht so wie die meisten Menschen. In Wohngemeinschaften werden normalerweise hitzige Revierkämpfe ausgefochten – nervöse Verhandlungen über die Fernbedienung, Diskussionen, ob Brot für alle da ist oder jeder sein eigenes kauft, Robs Mitbewohnerin war immer drei Tage lang nicht ansprechbar gewesen, wenn er mal was von ihrer Butter genommen hatte. Aber die vier: Soweit ich das sagen konnte, gehörte allen alles, bis auf die Unterwäsche, Gott sei Dank. Die Jungs holten sich willkürlich Klamotten aus der Wäschekammer, egal, was, Hauptsache, es passte. Ich bin nie dahintergekommen, welche Tops offiziell Lexie gehörten und welche Abby. 495
Sie rissen sich gegenseitig Blätter aus den Notizblöcken, aßen Toast vom nächstbesten Teller, tranken von jedem Glas, das gerade in Reichweite stand. Ich erwähnte das Frank gegenüber nicht – er hätte nur statt seiner üblichen Orgiensprüche düstere Warnungen über Kommunismus ausgestoßen, und mir gefielen die verschwommenen Grenzen. Sie erinnerten mich an etwas Warmes und Stabiles, das ich nicht genau benennen konnte. Im Garderobenschrank, der noch von Onkel Simon stammte, hing eine weite, grüne Wachsjacke, die jedem gehörte, der hinaus in den Regen ging – willst du die Jacke anziehen? Als ich sie das erste Mal zu meinem Spaziergang überzog, durchlief mich ein seltsamer, berauschender, kleiner Schauder, als würde ich zum allerersten Mal mit einem Jungen Händchen halten. Es war Donnerstag, als ich endlich dahinterkam, was das für ein Gefühl war. Die Tage wurden langsam länger, je näher der Sommer rückte, 496
und es war ein klarer, warmer, wunderschöner Abend. Nach dem Essen nahmen wir eine Flasche Wein und einen Biskuitkuchen mit nach draußen auf den Rasen. Ich hatte eine Gänseblümchenkette geflochten und versuchte, sie mir ums Handgelenk zu binden. Inzwischen hatte ich das mit der Alkoholabstinenz aufgegeben – es passte irgendwie nicht zu mir, die anderen wurden dadurch nur an meine Stichverletzung erinnert und verkrampften sich, und außerdem waren die Folgen von Antibiotika in Verbindung mit Alkohol eine gute Möglichkeit, mich notfalls aus der Gefahrenzone zu bringen –, daher war ich leicht angeheitert. »Noch ein Stück Kuchen«, verlangte Rafe und stupste mich mit dem Fuß an. »Hol’s dir selbst. Ich bin beschäftigt.« Ich hatte es aufgegeben, mir die Kette mit einer Hand umzubinden, und legte sie stattdessen gerade Justin an. »Du bist ein faules Subjekt, weißt du das?«
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»Musst du gerade sagen.« Ich klemmte mir einen Fuß in den Nacken – da ich als Kind gern geturnt habe, bin ich gelenkig – und streckte Rafe unter meinem Knie her die Zunge raus. »Ich bin aktiv und gesund, guck’s dir an.« Rafe zog langsam eine Augenbraue hoch. »Ich bin erregt.« »Du bist pervers«, erwiderte ich mit so viel Würde, wie das in der Position möglich war. »Lass den Quatsch«, sagte Abby. »Sonst reißt deine OP-Naht, und wir sind alle zu betrunken, um dich ins Krankenhaus zu fahren.« Ich hatte meine imaginäre Naht vollkommen vergessen. Eine Sekunde lang überlegte ich, darüber beunruhigt zu sein, aber ich entschied mich dagegen. Die lange Abendsonne und das Barfußsein und das kitzelige Gras und vermutlich der Wein machten mich unbeschwert und albern. Ich hatte mich seit einer Ewigkeit nicht mehr so gefühlt, und es gefiel mir. Ich manövrierte den Kopf
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herum und guckte Abby von der Seite an. »Der Naht geht’s gut. Sie tut nicht mal mehr weh.« »Weil du dich bis jetzt auch nicht so verknotet hast«, sagte Daniel. »Sei brav.« Normalerweise reagiere ich allergisch, wenn jemand mich herumkommandieren will, aber irgendwie war es ein gutes Gefühl, wohltuend. »Ja, Dad«, sagte ich und nahm mein Bein runter, wodurch ich das Gleichgewicht verlor und auf Justin kippte. »Aua, runter von mir«, sagte er und gab mir einen leichten Klaps. »Mensch, wie viel Tonnen wiegst du eigentlich?« Ich rutschte in eine bequeme Position und blieb mit dem Kopf auf seinem Schoß liegen, blinzelte in den Sonnenuntergang. Justin kitzelte meine Nase mit einem Grashalm. Ich gab mich entspannt, zumindest hoffte ich das, aber meine Gedanken überschlugen sich. Mir war gerade bewusst geworden – Ja, Dad –, woran mich die ganze Situation hier erinnerte: an eine Familie. Vielleicht keine richtige Familie, obwohl, 499
was verstand ich schon davon, aber an eine Familie aus zig Kinderbuchreihen und alten Fernsehserien, die tröstliche Sorte, die jahrelang läuft, ohne dass einer älter wird, bis du dich irgendwann fragst, wie es um den Hormonspiegel der Schauspieler bestellt ist. Die fünf hier deckten alles ab: Daniel, der distanzierte, aber liebevolle Vater, Justin und Abby, die abwechselnd in die Rolle der beschützenden Mummy und des überheblichen ältesten Sprosses schlüpften, Rafe, das launische mittlere Kind im Teenageralter, und Lexie, das Nesthäkchen, die kapriziöse kleine Schwester, die mal verwöhnt und mal gehänselt wird. Sie hatten vermutlich nicht mehr Ahnung von richtigen Familien als ich. Ich hätte gleich zu Anfang erkennen müssen, dass das eines der Dinge war, die sie gemeinsam hatten – Daniel verwaist, Abby in Pflege gegeben, Justin und Rafe verbannt, Lexie Gott weiß was, aber ihren Eltern nicht gerade nah. Ich war darüber hinweggegangen, weil es auch mein Standardmodus war. Bewusst oder un500
terbewusst hatten sie jedes papierdünne Stückchen, das sie finden konnten, zu einem eigenen behelfsmäßigen Bild von einer Familie zusammengefügt, und dann hatten sie sich selbst dazu gemacht. Die vier waren erst etwa achtzehn gewesen, als sie sich kennengelernt hatten. Ich betrachtete sie unter meinen Wimpern hindurch – Daniel, der die Flasche gegen das Licht hielt, um zu sehen, ob noch Wein drin war, Abby, die Ameisen vom Kuchenteller schnippte –, und ich fragte mich, was aus ihnen geworden wäre, wenn sie einander unterwegs verfehlt hätten. Das löste eine ganze Menge Gedanken in mir aus, aber sie waren diffus und zu schnell, und ich fand, dass ich mich einfach viel zu wohl fühlte, um sie jetzt in irgendeine Form bringen zu wollen. Die konnten noch ein paar Stunden warten, bis zu meinem Spaziergang. »Ich auch«, sagte ich zu Daniel und hielt ihm mein Glas hin, damit er mir Wein nachschenkte. 501
»Bist du betrunken?«, wollte Frank wissen, als ich ihn anrief. »Du hast dich vorhin ganz schön angeschickert angehört.« »Entspann dich, Frankie«, sagte ich. »Ein paar Gläschen Wein beim Essen. Davon werd ich nicht betrunken.« »Hoffentlich. Es mag dir vorkommen wie Urlaub, aber ich will nicht, dass du es wie Urlaub behandelst. Bleib wachsam.« Ich trödelte über einen mit Schlaglöchern übersäten Weg oberhalb des Cottages. Ich hatte viel darüber nachgedacht, wie Lexie in dem Cottage gelandet war. Wir alle waren selbstverständlich davon ausgegangen, dass sie Schutz gesucht und es nicht bis Whitethorn House oder ins Dorf geschafft hatte, entweder weil der Mörder ihr den Weg versperrte oder weil ihre Kräfte zu schnell schwanden, so dass sie das nächste Versteck angesteuert hatte, das sie kannte. N veränderte diese 502
Theorie. Angenommen, N war eine Person, kein Pub oder eine Radiosendung oder ein Pokerspiel, dann hatten sie sich irgendwo treffen müssen, und die Tatsache, dass in dem Terminkalender keine Orte erwähnt waren, besagte, dass sie jedes Mal denselben Treffpunkt gehabt hatten. Und wenn sie sich nachts getroffen hatten, dann bot sich das Cottage geradezu an: abgeschieden, praktisch, wind- und wettergeschützt und so gelegen, dass sich unmöglich jemand unbemerkt anschleichen konnte. Denkbar, dass sie an dem Abend ohnehin auf dem Weg dorthin war, noch vor dem Überfall, und dann einfach weiterging – vielleicht wie auf Autopilot, nachdem N sie verwundet hatte; vielleicht weil sie hoffte, dass N dort wäre, um ihr zu helfen. Es war nicht gerade eine Spur, von der Detectives träumen, aber es war so ziemlich das Beste, was ich hatte, daher trieb ich mich auf meinen Spaziergängen viel in der näheren Umgebung des Cottages herum und hoffte, N wäre so nett, eines 503
Nachts dort aufzutauchen. Ich hatte mir auf dem Feldweg einen Abschnitt ausgesucht, der vorteilhaft war: Von dort konnte ich das Cottage einigermaßen gut im Auge behalten, während ich mit Frank oder Sam telefonierte. »Ich bin wachsam«, sagte ich. »Und ich muss dich was fragen. Hab ich das richtig in Erinnerung, dass Daniels Großonkel im September gestorben ist?« Ich hörte, wie Frank herumkramte, Seiten umblätterte. Entweder hatte er die Akte mit nach Hause genommen, oder er war noch im Büro. »Am dritten Februar. Daniel hat die Schlüssel zum Haus am zehnten September erhalten. Die Testamentsabwicklung hat wohl ein Weilchen gedauert. Wieso?« »Kannst du rausfinden, woran der Großonkel gestorben ist und wo die fünf an dem Tag waren? Und warum die Testamentsabwicklung so lange gedauert hat? Als meine Großmutter mir einen Tausender vermacht hat, hab ich den sechs Wochen später gekriegt.« 504
Frank stieß einen Pfiff aus. »Du denkst, sie haben Großonkel Simon abserviert, um an das Haus zu kommen? Und dann hat Lexie die Nerven verloren?« Ich seufzte und fuhr mir mit einer Hand durchs Haar, überlegte, wie ich es am besten erklären sollte. »Nicht direkt. Das heißt, eigentlich gar nicht. Aber sie benehmen sich seltsam, was das Haus angeht, Frank. Alle vier. Sie reden darüber, als würde es ihnen zusammen gehören, nicht bloß Daniel – ›Wir sollten Fenster mit Doppelverglasung einbauen lassen, wir müssen uns überlegen, was wir mit dem Kräutergarten machen, wir … ‹ Und sie benehmen sich alle so, als wäre die Wohnsituation was Dauerhaftes, als hätten sie Jahre Zeit, das Haus auf Vordermann zu bringen, weil sie alle für immer drin wohnen bleiben.« »Ach, sie sind einfach jung«, sagte Frank nachsichtig. »In dem Alter denkt jeder, Studienfreunde und Wohngemeinschaften halten ewig. Wart’s ab, in ein paar Jahren wohnt jeder von ihnen in einer 505
Doppelhaushälfte am Stadtrand und kauft am Wochenende Fertigparkett im Baumarkt.« »So jung sind sie nun auch nicht mehr. Und du hast sie doch selbst gehört: Sie sind viel zu sehr miteinander und mit dem Haus verquickt. Sonst gibt es nichts in ihrem Leben. Ich glaube eigentlich nicht, dass sie den Großonkel aus dem Weg geräumt haben, aber ich tappe hier im Dunkeln. Wir haben doch immer gedacht, dass sie irgendwas verbergen. Also kann es nichts schaden, wenn wir alles überprüfen, was uns irgendwie seltsam vorkommt.« »Stimmt«, sagte Frank. »Ich kümmer mich drum. Willst du hören, was ich den lieben langen Tag gemacht hab?« Dieser aufgeregte Unterton in seiner Stimme: Nur sehr wenige Dinge können bei Frank so eine Reaktion bewirken. »Und ob«, sagte ich. Der Unterton löste sich in ein so breites Grinsen auf, dass ich es hören konnte. »Das FBI hat einen
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Treffer für die Fingerabdrücke von unserer Unbekannten.« »Was? So schnell?« Die Typen vom FBI sind immer behilflich, wenn wir sie brauchen, aber normalerweise dauert es tierisch lange. »Ich hab Freunde in den niederen Rängen.« »Okay«, sagte ich. »Wer ist sie?« Aus irgendeinem Grund waren mir die Knie weich geworden. Ich lehnte mich gegen einen Baum. »May-Ruth Thibodeaux, geboren 1975 in North Carolina, im Oktober 2000 vermisst gemeldet und wegen Autodiebstahls gesucht. Sowohl die Abdrücke als auch das Foto stimmen überein.« Mein Atem entwich mit einem kleinen Zischen. »Cassie?«, sagte Frank nach einem Augenblick. Ich hörte, wie er an einer Zigarette zog. »Bist du noch da?« »Ja. May-Ruth Thibodeaux.« Als ich es aussprach, lief mir ein Kribbeln über den Rücken. »Was wissen wir über sie?«
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»Nicht viel. Bis 1997 liegt gar nichts vor. Da ist sie von irgendwo am Arsch der Welt nach Raleigh gezogen, hat eine schäbige Wohnung in einer miesen Gegend gemietet und einen Job als Kellnerin in einem Diner angenommen. Irgendwann muss sie wohl an eine ganz anständige Bildung gekommen sein, schließlich hat sie den direkten Sprung in einen Promotionsstudiengang am Trinity geschafft, aber wie es aussieht, war sie Autodidaktin, oder sie wurde zu Hause unterrichtet. Sie taucht in keiner College- oder Highschoolkartei in den Staaten auf. Keine Vorstrafen.« Frank blies Rauch aus. »Am Abend des zehnten Oktober 2000 lieh sie sich von ihrem Verlobten den Wagen, um zur Arbeit zu fahren, aber sie kam nie dort an. Zwei Tage später hat er sie als vermisst gemeldet. Die Cops haben die Sache nicht ernst genommen. Sie haben gedacht, sie wäre abgehauen. Sie haben dem Verlobten ein bisschen auf den Zahn gefühlt, nur für den Fall, dass er sie umgebracht und irgendwo verbuddelt hatte, aber sein Alibi war was508
serdicht. Das Auto wurde im Dezember 2000 in New York entdeckt, auf einem Langzeitparkplatz am Kennedy Airport.« Er war überaus zufrieden mit sich. »Nicht schlecht, Frank«, sagte ich automatisch. »Gute Arbeit.« »Stets zu Diensten«, sagte Frank, bemüht, bescheiden zu klingen. Sie war also doch nur ein Jahr jünger als ich gewesen. Während ich bei Nieselregen in einem Garten in Wicklow mit Murmeln gespielt hatte, war sie in irgendeiner heißen Kleinstadt aufgewachsen, hatte sich barfuß eine Limo gekauft und sich auf der Ladefläche eines über Landstraßen brausenden Pick-ups durchrütteln lassen, bis sie sich eines schönen Tages in ein Auto gesetzt hatte und einfach losgefahren war, weiter und weiter. »Cassie?« »Ja.« »Mein Kontaktmann stöbert noch etwas weiter, vielleicht hat sie sich ja irgendwann Feinde ge509
macht – Leute, die sie hier aufgespürt haben könnten.« »Klingt gut«, sagte ich, während ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. »So was würde mich brennend interessieren. Wie hieß der Verlobte?« »Brad, Chad, Chet, irgendwas Amerikanisches … « Papierrascheln. »Mein Kontakt hat ein bisschen rumtelefoniert, und der Typ hat in den letzten Monaten auf der Arbeit keinen Tag gefehlt. Er kann also unmöglich über den Teich gehüpft sein, um die Ex umzulegen. Chad Andrew Mitchell. Wieso?« Kein N. »Nur so.« Frank wartete, aber ich bin gut in dem Spiel. »In Ordnung«, sagte er schließlich. »Ich halt dich auf dem Laufenden. Die Identifizierung bringt uns vielleicht nicht weiter, aber trotzdem, es ist gut, etwas mehr über sie zu wissen. Macht es dir bestimmt leichter, dich mit ihr abzufinden, oder?« »Oh ja«, sagte ich. »Und ob.« 510
Es stimmte nicht. Nachdem Frank aufgelegt hatte, stand ich noch lange da, gegen den Baum gelehnt, schaute zu, wie die verwitterten Umrisse des Cottages verschwanden und wieder auftauchten, während die Wolken sich am Mond vorbeischoben, und dachte über May-Ruth Thibodeaux nach. Jetzt, da sie ihren Namen zurückbekommen hatte, ihre Heimatstadt, ihre Geschichte, wurde es mir irgendwie erst richtig klar: Sie war real gewesen, nicht bloß ein Schatten, den Franks und meine Vorstellungskraft geworfen hatte. Sie hatte gelebt. Dreißig Jahre lang hätten wir einander begegnen können. Plötzlich schien mir, dass ich es hätte wissen müssen. Ein Ozean zwischen uns, aber mir war, als hätte ich sie die ganze Zeit dort drüben spüren müssen, als hätte ich ab und an von meinen Murmeln oder meinem Schulbuch oder meinem Fallbericht aufschauen müssen, weil ich meinte, jemand hätte meinen Namen gerufen. Sie war die Tausende von Meilen hergekommen, nah genug, 511
um sich meinen alten Namen überzustreifen wie einen Pullover, aus dem die große Schwester rausgewachsen ist. Sie hatte ihren Weg hierhergefunden wie eine Kompassnadel, und sie hatte es fast geschafft. Sie war nur eine Autostunde weit weg gewesen, und ich hätte es wissen müssen. Ich hätte es wissen müssen, rechtzeitig, um den letzten Schritt zu tun und sie zu finden. Die einzigen Schatten in dieser Woche kamen von draußen. Am Freitagabend spielten wir Poker – sie spielten oft Karten, bis spät in die Nacht; überwiegend Texas Hold’em oder Draw, manchmal Piquet, wenn nur zwei Leute Lust hatten. Die Einsätze bestanden lediglich aus angelaufenen Zehn-Cent-Münzen aus einem großen Glas, das jemand auf dem Dachboden gefunden hatte, aber sie nahmen es trotzdem ernst: Jeder fing mit derselben Anzahl Münzen an, und wer pleite war, war draußen und durfte sich nichts von der Bank borgen. Lexie war wie ich eine ganz anständige Kartenspielerin gewesen. Ihre Ansagen hatten 512
nicht immer Hand und Fuß gehabt, aber sie hatte offenbar gelernt, sich das Unvorhersehbare zunutze zu machen, besonders wenn sie ein gutes Blatt auf der Hand hatte. Wer gewann, durfte entscheiden, was es am nächsten Tag zum Abendessen gab. An dem Abend hatten wir eine Schallplatte von Louis Armstrong aufgelegt, und Daniel hatte zur Freude aller eine Riesentüte Doritos gekauft, dazu drei verschiedene Dips. Wir ließen diverse angeschlagene Schälchen kreisen und versuchten, uns mit den Chips gegenseitig abzulenken – bei Justin funktionierte das am besten, weil er sich überhaupt nicht mehr konzentrieren konnte, wenn er fürchtete, der Mahagonitisch würde Salsa abbekommen. Gerade hatte ich Rafe, der als Einziger von den anderen noch im Spiel war, den Pot vor der Nase weggeschnappt – wenn er ein schwaches Blatt auf der Hand hatte, kleckerte er mit den Dips herum, bei guten Karten schaufelte er sich die Doritos haufenweise direkt in den Mund; pokern Sie 513
nie mit einem Detective –, und ich freute mich hämisch, als sein Handy klingelte. Er kippelte seinen Stuhl nach hinten und nahm das Telefon von einem Bücherregal. »Hallo«, sagte er und zeigte mir den Mittelfinger. Dann senkte sein Stuhl sich wieder, und sein Gesicht veränderte sich. Es erstarrte zu der arroganten, undurchschaubaren Maske, die er an der Uni und im Umgang mit Außenstehenden trug. »Dad«, sagte er. Von jetzt auf gleich rückten die anderen näher um ihn herum. Es war in der Luft spürbar, als würde sie straffer, dichter, während sich alle um seine Schultern schlossen. Ich saß neben ihm und kam in den vollen Genuss des Gebrülls aus dem Hörer: » … Stelle frei geworden … Fuß in der Tür … dir anders überlegt … ?« Rafes Nasenflügel zuckten, als hätte er etwas Widerliches gerochen. »Kein Interesse«, sagte er. Er schloss die Augen, als die Schimpfkanonade lauter wurde. Ich schnappte einiges auf in dem 514
Tenor, Theaterstücke lesen sei was für Weichlinge, und jemand namens Bradbury habe gerade seine erste Million zusammen, und Rafe sei überhaupt der totale Versager. Er hielt das Handy zwischen Daumen und Zeigefinger, einige Zentimeter von seinem Ohr weg. »Menschenskind, leg auf«, flüsterte Justin. Er hatte das Gesicht unbewusst zu einer gequälten Grimasse verzogen. »Leg einfach auf.« »Er kann nicht«, sagte Daniel leise. »Er sollte, klar, aber … Irgendwann.« Abby zuckte die Achseln. »Na denn … «, sagte sie. Sie ließ die Karten mit einem raschen, frechen Schwung bogenförmig von Hand zu Hand sausen und teilte für jeden fünf Karten aus. Daniel lächelte sie an und rückte seinen Stuhl an den Tisch, bereit. Das Handy bellte noch immer. Das Wort »Arsch« fiel regelmäßig, in etlichen Kontexten. Rafe hatte das Kinn angezogen, als wappnete er sich gegen einen stürmischen Wind. Justin berühr515
te ihn am Arm; Rafe riss die Augen weit auf und blickte uns an, wurde rot bis zum Haaransatz. Wir Übrigen hatten bereits unseren Einsatz auf den Tisch geworfen. Ich hatte ein denkbar schlechtes Blatt – eine Sieben und eine Neun, nicht mal von einer Farbe –, aber ich wusste genau, was die anderen machten. Sie holten Rafe zurück, und bei dem Gedanken, zu ihnen zu gehören, durchfuhr mich etwas Berauschendes, etwas so Schönes, dass es weh tat. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich daran, wie Rob immer einen Fuß um meinen Knöchel gehakt hatte, unter unseren Schreibtischen, wenn O'Kelly mich mal wieder zur Schnecke machte. Ich hob meine Karten in Rafes Richtung und hauchte: »Dein Einsatz.« Er blinzelte. Ich zog eine Augenbraue hoch, setzte mein bestes Lexie-Grinsen auf und flüsterte: »Es sei denn, du hast Schiss, ich spiel dich wieder in Grund und Boden.« Der erstarrte Blick löste sich, ein klein wenig. Er sah sich seine Karten an. Dann legte er das 516
Handy auf das Bücherregal neben sich, ganz vorsichtig, und warf zehn Pence in die Mitte. »Weil ich glücklich bin, so wie ich lebe«, sagte er zu dem Handy. Seine Stimme klang fast normal, aber sein Gesicht war noch immer zornesrot. Abby lächelte ihm knapp zu, fächerte gekonnt drei Karten auf dem Tisch auf und drehte sie um. »Lexie hat gleich einen Straight auf der Hand«, sagte Justin und blickte mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Den Blick kenn ich.« Das Handy hatte anscheinend ein Vermögen für Rafe ausgegeben und wollte nicht tatenlos zusehen, wie die Investition den Bach runterging. »Hat sie nicht«, sagte Daniel. »Sie hat vielleicht was Gutes auf der Hand, aber für einen Straight reicht es nicht. Ich geh mit.« Ich war weit von einem Straight entfernt, aber darum ging es nicht. Keiner von uns würde aussteigen, solange Rafe nicht auflegte. Das Handy hielt ein lautstarkes Plädoyer für einen richtigen Job. »Mit anderen Worten, einen 517
Bürojob«, informierte Rafe uns. Die Steifheit wich allmählich aus seinem Rückgrat. »Ja, vielleicht hab ich dann eines Tages, wenn ich das Spiel mitspiele und über den Tellerrand hinausschaue und nicht bloß hartarbeite, sondern smart, sogar ein Büro mit Fenster. Oder will ich da zu hoch hinaus?«, fragte er das Handy. »Was meinst du?« Er signalisierte Justin pantomimisch, Ich erhöhe deinen Einsatz um zwei. Das Handy – es wusste offenbar, dass es beleidigt wurde, auch wenn es nicht ganz sicher war, wie – sagte etwas Streitlustiges über Ehrgeiz und dass Rafe verdammt nochmal endlich erwachsen werden und anfangen sollte, in der realen Welt zu leben. »Ha«, sagte Daniel und blickte auf. »Das ist eine Vorstellung, die mich schon immer fasziniert hat: die reale Welt. Nur eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen benutzt diesen Begriff, ist euch das schon mal aufgefallen? Für mich versteht sich von selbst, dass jeder in der realen Welt lebt – 518
wir alle atmen realen Sauerstoff, essen reale Lebensmittel, die Erde unter unseren Füßen fühlt sich für uns alle fest an. Aber anscheinend haben diese Menschen eine enger gefasste Definition von Realität, die sich meinem Verständnis entzieht, und noch dazu ein fast pathologisch brennendes Bedürfnis, andere auf diese Definition einzuschwören.« »Purer Neid«, sagte Justin mit Blick auf seine Karten und warf noch zwei Münzen in die Mitte. »Kirschen in Nachbars Garten.« »Niemand«, sagte Rafe zum Handy und wedelte mit der Hand, damit wir leiser sprachen. »Das Fernsehen. Ich gucke von morgens bis abends Seifenopern, esse Pralinen und plane den Untergang der Gesellschaft.« Die letzte Karte, die ich aufdeckte, war eine Neun, womit ich immerhin ein Paar hatte. »Na, in manchen Fällen ist Neid ganz sicher ein Faktor«, sagte Daniel, »aber Rafes Vater, wenn nur die Hälfte stimmt von dem, was er sagt, könnte er sich 519
jedes Leben leisten, das er gern hätte, unseres eingeschlossen. Worauf soll er neidisch sein? Nein, ich glaube, die Denkweise hat ihren Ursprung im puritanischen Moralkodex: Wo es darum geht, sich in eine strenge hierarchische Ordnung einzufügen, wo Selbstverachtung eine Rolle spielt, wo alles, was Spaß macht oder mit Kunst zu tun hat oder nicht reglementiert ist, Ängste auslöst … Aber ich hab mich schon immer gefragt, wie dieses Paradigma zu einer Begrenzung nicht bloß der Tugend, sondern der Realität selbst werden konnte. Stellst du bitte auf Freisprechen, Rafe? Es würde mich interessieren, was er zu sagen hat.« Rafe starrte ihn mit großen Augen an, als wollte er sagen, hast du sie noch alle?, und schüttelte den Kopf. Daniel blickte leicht verwundert. Wir Übrigen waren kurz vor einem Lachanfall. »Natürlich«, sagte Daniel höflich, »wenn du nicht willst … Was ist so lustig, Lexie?« »Irre«, sagte Rafe mit leiser, aber beschwörender Stimme Richtung Decke, breitete die Arme in 520
einer Geste aus, die das Handy und Daniel und uns andere umfasste, die wir uns inzwischen mit beiden Händen den Mund zuhielten. »Ich bin umgeben von Irren. Womit hab ich das verdient? Hab ich in einem früheren Leben Notleidende schikaniert?« Das Handy, das offenbar auf ein großes Finale hinsteuerte, informierte Rafe, dass er einen Lifestyle haben könnte. »Champagner in der City schlürfen«, übersetzte Rafe für uns, »und meine Sekretärin vögeln.« »Was gibt’s denn daran auszusetzen?«, brüllte das Handy, so laut, dass Daniel zusammenfuhr und sich mit einem Ausdruck tiefster Entrüstung im Gesicht zurücklehnte. Justin prustete mit einem Geräusch los, das irgendwo zwischen Schnauben und Jaulen lag. Abby hing über der Rückenlehne ihres Stuhls, die Fingerknöchel in den Mund gepresst, und ich musste mit dem Kopf unter den Tisch tauchen, weil ich mich vor Lachen nicht mehr halten konnte. 521
Das Handy bezeichnete uns alle unter krasser Missachtung elementarer anatomischer Unterschiede als einen Haufen schlappschwänziger Hippies. Als ich mich endlich einkriegte und wieder hochkam, um nach Luft zu schnappen, hatte Rafe ein Buben-Paar präsentiert und strich den Gewinn ein. Er reckte triumphierend eine Faust in die Luft und grinste übers ganze Gesicht. Dann fiel mir etwas auf. Rafes Handy hatte nur einen halben Meter von meinem Ohr entfernt geklingelt, und ich hatte nicht mal mit der Wimper gezuckt.
»Wisst ihr was?«, sagte Abby aus heiterem Himmel, ein paar Runden später. »Das liegt an der Zufriedenheit.« »Wer wie was wo?«, fragte Rafe und schielte auf Daniels Münzvorrat. Er hatte sein Handy ausgeschaltet. »Die Reale-Welt-Sache.« Sie beugte sich schräg über mich, um den Aschenbecher ranzu522
ziehen. Justin hatte Debussy aufgelegt, der schön zu dem leisen Rauschen des Regens draußen auf dem Gras passte. »Unsere ganze Gesellschaft basiert auf Unzufriedenheit: Die Leute wollen mehr und mehr und mehr, sind ständig unzufrieden mit ihrem Zuhause, ihrem Körper, ihrer Einrichtung, ihren Klamotten, allem. Halten es für selbstverständlich, dass es im Leben allein darum geht, niemals zufrieden zu sein. Wenn du völlig zufrieden bist mit dem, was du hast – erst recht, wenn das, was du hast, noch nicht mal besonders toll ist –, dann bist du gefährlich. Du verstößt gegen alle Regeln, du untergräbst das heilige Wirtschaftssystem, du stellst die Grundsätze in Frage, auf denen unsere Gesellschaft aufgebaut ist. Deshalb kriegt Rafes Dad auch jedes Mal einen Koller, wenn Rafe sagt, dass er glücklich ist, so wie er lebt. In seinen Augen sind wir alle subversiv. Verräter.« »Ich glaube, da ist was dran«, sagte Daniel. »Also doch kein Neid: Angst. Eine faszinierende Entwicklung. Die ganze Geschichte hindurch – 523
noch vor hundert Jahren oder auch nur fünfzig – galt Unzufriedenheit als Bedrohung der Gesellschaft, als Missachtung der Naturgesetze, als eine Gefahr, die um jeden Preis beseitigt werden musste. Heute ist es die Zufriedenheit. Was für eine merkwürdige Wendung.« »Wir sind Revolutionäre«, sagte Justin fröhlich, tunkte ein Dorito ins Salsaglas und sah dabei ausgesprochen unrevolutionär aus. »Ich hab gar nicht gewusst, dass es so einfach ist.« »Im Grunde sind wir getarnte Guerilleros«, sagte ich mit Begeisterung. »Im Grunde bist du ein getarnter Schimpanse«, sagte Rafe zu mir und warf drei Münzen in die Mitte. »Ja, aber ein zufriedener«, sagte Daniel und lächelte mich an. »Nicht wahr?« »Wenn Rafe mir wenigstens ein bisschen von dem Knoblauchdip übrig lassen würde, wäre ich der zufriedenste getarnte Schimpanse in ganz Irland.« 524
»Gut«, sagte Daniel mit einem leichten Nicken. »Das hör ich gern.«
Sam fragte nie nach. »Wie läuft’s?«, erkundigte er sich bei unseren nächtlichen Telefonaten, und wenn ich sagte, »Ganz gut«, fing er von etwas anderem an. Am Anfang erzählte er von seinen eigenen Ermittlungen – er ging meine alten Fälle durch, überprüfte polizeibekannte Unruhestifter in der Gegend, Lexies Studenten und Professoren. Doch je länger er erfolglos blieb, desto weniger sprach er darüber. Stattdessen erzählte er mir andere Sachen, kleine private Dinge. Er war ein paarmal in meiner Wohnung gewesen, um durchzulüften und damit sie nicht zu auffällig leer wirkte. Die Katze von nebenan hatte hinten im Garten Junge bekommen, sagte er, und Mrs Moloney, die Schreckschraube von unten, hatte ihm einen unverschämten Zettel hinter den Scheibenwischer seines Autos geklemmt, mit dem Hinweis, auf der 525
Straße dürften nur Anwohner parken. Ich sagte es ihm nicht, aber das alles kam mir vor, als wäre es Millionen Meilen weit weg, in irgendeiner längst vergangenen Welt, die so chaotisch war, dass mich schon allein der Gedanke daran ermüdete. Manchmal brauchte ich einen Moment, um mich zu erinnern, über wen er da eigentlich redete. Nur einmal, am Samstagabend, fragte er nach den anderen. Ich war mal wieder auf meinem Beobachtungsfeldweg und stand etwas versteckt an einer Weißdornhecke. Um das Mikro hatte ich einen Kniestrumpf von Lexie gewickelt, so dass ich aussah, als hätte ich drei Brüste. Der Vorteil war, dass Frank und sein Team so nur etwa zehn Prozent des Telefonats mitbekamen. Ich sprach ohnehin schon mit möglichst leiser Stimme. Seit ich das Gartentor hinter mir geschlossen hatte, wurde ich das Gefühl nicht los, dass mir jemand folgte. Nichts Konkretes, nichts, wofür es nicht eine harmlose Erklärung gäbe wie Wind und Mondschatten und typische Nachtge526
räusche auf dem Lande. Bloß der leichte Kriechstrom im Nacken, wo Schädel und Wirbelsäule zusammentreffen, etwas, das nur die Augen eines anderen auslösen können. Es kostete mich viel Willenskraft, nicht herumzuwirbeln, aber falls tatsächlich jemand irgendwo da draußen war, sollte er nicht wissen, dass ich Verdacht geschöpft hatte, nicht solange ich nicht entschieden hatte, was ich diesbezüglich machen wollte. »Geht ihr denn nie mal zusammen was trinken?«, fragte Sam. Mir war unklar, worauf er hinauswollte. Sam wusste haargenau, wie ich meine Zeit verbrachte. Laut Frank war er jeden Morgen um sechs im Büro und ging die Bänder durch. Irgendwie war mir das unangenehm, irritierte mich leicht, aber der Gedanke, ihn darauf anzusprechen, war noch unangenehmer. »Rafe und Justin und ich waren Dienstag zusammen in der Mensa, nach den Tutorenkursen«, sagte ich. »Weißt du nicht mehr?«
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»Ich meinte in den Pub, bei euch im Dorf – wie heißt der nochmal, Regan’s. Gehen die nie da hin?« Wir kamen immer mit dem Auto am Regan’s vorbei, auf dem Weg zur Uni und zurück: eine heruntergekommene kleine Dorfkneipe, eingeklemmt zwischen dem Metzger und dem Zeitschriftenladen, wo abends Fahrräder an der Mauer lehnten. Noch nie hatte einer vorgeschlagen, dort hinzugehen. »Es ist einfacher, zu Hause was zu trinken, wenn wir wollen«, sagte ich. »Es ist ein gutes Stück zu Fuß, und außer Justin rauchen wir alle.« Pubs waren immer das Herz des gesellschaftlichen Lebens in Irland, doch seit dem Rauchverbot trinken viele Leute ihr Bier lieber zu Hause. Das Verbot stört mich nicht, obwohl mich der Gedanke verwirrt, in einen Pub zu gehen, ohne irgendwas zu tun, was schlecht für einen ist, nein, was mich stört, ist das Maß an Gehorsam. Die Iren haben Vorschriften stets als Herausforderung betrachtet 528
– mal sehen, wer die beste Idee hat, wie man sie umgehen kann –, und dieses plötzliche Umschalten auf Herdentriebmodus lässt mich befürchten, dass wir im Begriff sind, anders zu werden, möglicherweise wie die Schweizer. Sam lachte. »Du lebst schon zu lange in der großen Stadt. Ich wette, im Regan’s wird keinem das Rauchen verboten. Und über die kleinen Wege ist es ein Katzensprung. Findest du es nicht sonderbar, dass sie nie hingehen?« Ich zuckte die Achseln. »Sie sind sonderbar. Sie sind nicht besonders kontaktfreudig, falls du das noch nicht gemerkt hast. Und vielleicht ist das Regan’s die letzte Kaschemme.« »Vielleicht«, sagte Sam, aber er klang nicht überzeugt. »Du warst bei Dunne’s im Stephen’s Green Centre einkaufen, als du an der Reihe warst, stimmt’s? Wo gehen die anderen einkaufen?« »Woher soll ich das wissen? Justin war gestern bei Marks & Sparks. Keine Ahnung, wo die ande-
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ren hingehen. Frank hat gesagt, Lexie ist zu Dunne’s gegangen, also geh ich auch zu Dunne’s.« »Was ist mit dem Zeitschriftenladen im Dorf? War da schon mal einer?« Ich überlegte. Rafe war einmal abends Zigaretten holen gegangen, aber er war hinten raus, in Richtung Tankstelle an der Straße nach Rathowen, nicht Richtung Glenskehy. »Nicht, seit ich hier bin. Wieso?« »Ich hab mich bloß gefragt«, sagte Sam langsam. »Na ja, es ist ein Dorf. Ihr wohnt da in dem Herrenhaus. Daniel stammt aus der Herrenhausfamilie. In den meisten Gegenden spielt so was keine Rolle mehr, aber ab und zu, je nachdem, was in der Vergangenheit war … ich hab mich bloß gefragt, ob es da vielleicht irgendwelche unguten Gefühle gibt.« Seit Menschengedenken hatten die Briten in Irland nach dem Feudalsystem geherrscht: Sie vergaben Dörfer an angloirische Familien und überließen es ihnen, über das Land und die Bewohner 530
nach Gutdünken zu verfügen, was oftmals weidlich ausgenutzt wurde, wie man sich denken kann. Mit der Unabhängigkeit brach das System zusammen. Ein paar welke, alte Exzentriker haben sich noch gehalten, leben überwiegend in vier Räumen und öffnen den Rest des Anwesens für die Öffentlichkeit, um anfallende Reparaturen bezahlen zu können, doch ein großer Teil der Herrenhäuser ist von Konzernen aufgekauft und in Hotels oder Wellness-Einrichtungen oder was auch immer umgewandelt worden, und alle haben schon fast vergessen, was sie einmal waren. Doch hier und da, wo die Geschichte in einer Gegend tiefere Narben hinterlassen hat als in den meisten, erinnern sich die Leute. Und das hier war Wicklow. Über Jahrhunderte hinweg waren höchstens einen Tagesmarsch von der Stelle entfernt, an der ich stand, Aufstände geplant worden. In diesen Hügeln hatten die Menschen auf seiten der Partisanen gekämpft, sie vor Soldaten versteckt, die durch dunkle Nächte irrten. 531
Cottages wie das von Lexie waren leer und blutig zurückgelassen worden, wenn die Briten jeden erschossen, der ihnen über den Weg lief, bis sie den einen versteckten Rebellen fanden, den sie suchten. Jede Familie hat ihre Geschichten. Sam hatte recht, ich war schon viel zu lange in der großen Stadt. Dublin ist so modern, dass es fast an Hysterie grenzt, und alles vor dem Breitband wird als peinlicher kleiner Witz betrachtet. Ich hatte sogar vergessen, wie es war, an einem Ort zu leben, der Erinnerungen hatte. Sam stammt vom Lande, aus Galway. Er weiß noch, wie das ist. Die letzten Fenster des Cottages waren vom Mondschein erhellt, und es sah aus wie ein Geisterhaus, geheimnisvoll und wachsam. »Könnte sein«, sagte ich. »Aber ich wüsste nicht, was das mit unserem Fall zu tun haben soll. Vielleicht guckt manch einer die jungen Leute aus dem Herrenhaus im Zeitschriftenladen schief an, bis sie nicht mehr kommen, aber das heißt noch lange nicht, dass er auf eine von ihnen mit dem 532
Messer losgehen würde, weil der Gutsherr 1848 seine Urgroßmutter mies behandelt hat.« »Wahrscheinlich. Ich überprüfe das trotzdem mal, nur für alle Fälle. Man kann ja nie wissen.« Ich drückte mich tiefer in die Hecke, spürte eine rasche Vibration durch die Zweige, als irgendetwas davonhuschte. »Ach, hör doch auf. Für wie verrückt hältst du die Leute hier?« Kurzes Schweigen. »Ich sage nicht, dass sie verrückt sind«, stellte Sam schließlich klar. »Du sagst aber, einer von ihnen könnte Lexie wegen etwas ermordet haben, das eine Familie, die absolut nichts mit ihr zu tun hat, vor hundert Jahren getan hat. Und ich sage, dieser jemand sollte zumindest mehr unter Leute gehen und sich eine Freundin suchen, die nicht jeden Sommer geschoren werden muss.« Ich wusste nicht, warum mir die Vorstellung so gegen den Strich ging, oder auch, warum ich mich so zickig aufführte. Es hatte irgendetwas mit dem Haus zu tun, glaube ich. Ich hatte schon kräftig bei der Renovierung mitgehol533
fen – den halben Abend hatten wir die schimmelige Tapete im Wohnzimmer abgerissen –, und es wuchs mir immer mehr ans Herz. Die Vorstellung, es könnte Ziel eines derart konzentrierten Hasses sein, ließ etwas Heißes in meinem Bauch auflodern. »Da, wo ich aufgewachsen bin, lebt eine Familie«, sagte Sam. »Die Purcells. Ihr Urgroßvater oder so war damals Mieteintreiber. Einer von der ganz miesen Sorte – hat an Familien Geld verliehen, die die Miete nicht aufbringen konnten, dann von den Ehefrauen und Töchtern Zinsen in Naturalien verlangt und schließlich alle zusammen auf die Straße gesetzt, sobald er das Interesse verlor. Kevin Purcell ist zusammen mit uns aufgewachsen, hatte nie Ärger, war niemandem ein Dorn im Auge. Aber als wir alle etwas älter waren und er mit einem Mädchen aus der Gegend ausging, lauerten ein paar Jungs ihm auf und vermöbelten ihn nach Strich und Faden. Die waren nicht verrückt, Cassie. Sie hatten gar nichts gegen Kevin. 534
Er war ein netter Kerl, hat dem Mädchen nie irgendwas getan. Bloß … manche Sachen sind nicht in Ordnung, egal, wie lange sie her sind. Manche Sachen werden nie vergessen.« Die Blätter der Hecke piksten und drückten gegen meinen Rücken, als würde sich darin irgendetwas bewegen, aber als ich herumfuhr, war alles reglos wie ein Bild. »Das ist was anderes, Sam. Dieser Kevin hat den ersten Schritt gemacht: Er ist mit dem Mädchen ausgegangen. Die fünf haben aber nichts gemacht. Die wohneneinfach nur in dem Haus.« Wieder eine Pause. »Und das kann schon ausreichen, je nachdem. Ich mein ja bloß.« In seiner Stimme lag ein verwirrter Unterton. »In Ordnung«, sagte ich ruhiger. »Du hast recht, eine Überprüfung kann nicht schaden – wir haben ja gesagt, der Täter ist wahrscheinlich aus der Gegend. Tut mir leid, dass ich so pampig war.« »Ich wünschte, du wärst hier«, sagte Sam übergangslos, leise. »Am Telefon bringt man schnell 535
was durcheinander. Kriegt Sachen in den falschen Hals.« »Ich weiß, Sam«, sagte ich. »Ich vermisse dich auch.« Es stimmte. Ich wehrte mich dagegen – so etwas lenkt nur ab, und Ablenkung ist schlecht, kann den Fall ruinieren oder dich sogar das Leben kosten –, aber wenn ich allein und müde war, nach einem langen Tag im Bett lag und versuchte, noch etwas zu lesen, wurde es schwierig. »Nur noch ein paar Wochen.« Sam seufzte. »Weniger, wenn ich irgendwas finde. Ich rede mit Doherty und Byrne, mal sehen, was die mir sagen können. In der Zwischenzeit … pass bloß gut auf dich auf, ja? Nur für alle Fälle.« »Mach ich«, sagte ich. »Du kannst mich morgen auf den neusten Stand bringen. Schlaf schön.« »Du auch. Ich liebe dich.« Das Gefühl, beobachtet zu werden, zwickte mich noch immer im Nacken, diesmal stärker, näher. Vielleicht ging mir nur das Gespräch mit Sam noch nach, aber auf einmal wollte ich auf Nummer 536
sicher gehen. Diese elektrischen Schwingungen von irgendwoher in der Dunkelheit, Sams Geschichten, Rafes Vater, all die Dinge, die von allen Seiten auf uns eindrangen, nach Schwachstellen suchten, auf den richtigen Moment zum Angriff warteten: Eine Sekunde lang vergaß ich, dass ich selbst zu den Eindringlingen gehörte, wollte einfach nur brüllen: Lasst uns in Ruhe. Ich wickelte den Strumpf vom Mikro und steckte ihn zusammen mit dem Handy in den Hüfthalter. Dann knipste ich die Taschenlampe an, um möglichst viel sehen zu können, und spazierte mit munteren flotten Schritten los, Richtung Whitethorn House. Ich kenne etliche Tricks, um einen Verfolger abzuschütteln, ihn zu enttarnen oder den Spieß umzudrehen. Die meisten sind nur für die Stadt gedacht, nicht für die freie Natur, aber sie lassen sich anpassen. Ich hielt die Augen geradeaus und erhöhte das Tempo, bis niemand mehr in der Lage wäre, mir auf den Fersen zu bleiben, ohne seine Deckung aufzugeben oder einen ziemlichen Krach 537
im Unterholz zu machen. Dann bog ich jäh in einen Querweg, knipste die Taschenlampe aus, rannte fünfzehn oder zwanzig Schritte und zwängte mich, so leise ich konnte, durch eine Hecke auf ein verwildertes Feld. Ich verharrte reglos, tief gegen die Büsche geduckt, und wartete. Zwanzig Minuten lang nichts, nicht einmal ein knirschender Kieselstein, kein raschelndes Blatt. Wenn mich tatsächlich jemand verfolgte, dann war er gerissen und geduldig: kein schöner Gedanke. Schließlich kroch ich wieder zurück durch die Hecke. Auf dem Weg war in beiden Richtungen, soweit ich sehen konnte, keine Menschenseele. Ich zupfte die Blätter und Halme von meiner Kleidung und ging nach Hause, schnell. Lexies Spaziergänge hatten im Durchschnitt eine Stunde gedauert: nicht mehr lange, und die anderen würden sich Sorgen machen. Über die Hecken hinweg konnte ich einen Schimmer vor dem Himmel sehen: das Licht von Whitethorn House, schwach
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und golden und durchsetzt mit Holzrauch wie Nebel.
Als ich später im Bett noch ein wenig las, klopfte Abby an meine Tür. Sie trug einen rot-weiß karierten Flanellpyjama, das Gesicht frisch gewaschen und die Haare locker auf den Schultern. Sie sah aus wie etwa zwölf. Sie schloss die Tür hinter sich und setzte sich im Schneidersitz ans Fußende meines Bettes, klemmte die nackten Füße in die Kniebeugen, um sie zu wärmen. »Darf ich dich was fragen?«, sagte sie. »Klar«, sagte ich und hoffte inständig, dass ich die Antwort wusste. »Okay.« Abby strich sich die Haare hinter die Ohren, warf einen kurzen Blick zur Tür. »Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, deshalb frag ich einfach rundheraus, und du kannst es mir ruhig sagen, wenn du findest, dass es mich nichts angeht. Ist mit dem Baby alles in Ordnung?« 539
Ich muss völlig baff aus der Wäsche geguckt haben. Einer ihrer Mundwinkel zog sich zu einem schiefen kleinen Lächeln nach oben. »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht schocken. Ich hab’s mir gedacht. Wir sind immer auf einer Wellenlinie, aber letzten Monat hast du keine Schokolade mehr gekauft … und dann neulich musstest du dich übergeben, da ist der Groschen gefallen.« Meine Gedanken überschlugen sich. »Wissen die Jungs Bescheid?« Abby zuckte die Achseln, ein kurzes Heben einer Schulter. »Ich glaub nicht. Jedenfalls haben sie nichts gesagt.« Damit war nicht völlig ausgeschlossen, dass einer von ihnen es doch wusste, dass Lexie es dem Vater erzählt hatte – entweder dass sie schwanger war oder dass sie abtreiben wollte – und er ausgeflippt war, aber es wurde unwahrscheinlicher: Abby entging nicht viel. Sie wartete, beobachtete mich. »Das Baby hat es nicht geschafft«, sagte ich, was schließlich die Wahrheit war. 540
Abby nickte. »Das tut mir leid«, sagte sie. »Es tut mir ehrlich leid, Lexie. Oder … ?« Sie hob dezent eine Augenbraue. »Ist schon gut«, sagte ich. »Ich wusste sowieso nicht genau, wie ich mich entschieden hätte. Das macht die Sache irgendwie leichter.« Sie nickte wieder, und ich merkte, dass ich richtig reagiert hatte: Sie war nicht überrascht. »Willst du es den Jungs sagen? Weil, ich kann es machen, wenn du willst.« »Nein«, sagte ich. »Ich will nicht, dass sie es wissen.« Informationen sind Munition, wie Frank immer sagte. Diese Schwangerschaft könnte sich irgendwann als nützlich erweisen. Ich wollte die Chance nicht vertun. Ich glaube, erst in diesem Augenblick, in dem Augenblick, als mir bewusst wurde, dass ich ein totes Baby in der Hinterhand halten wollte wie eine Handgranate, begriff ich, in was ich mich da hineingeritten hatte. »In Ordnung.« Abby stand auf und zog ihre Pyjamahose ein Stückchen hoch. »Wenn du mal drü541
ber reden willst oder so, du weißt ja, wo du mich findest.« »Willst du mich nicht fragen, wer der Vater war?«, sagte ich. Wenn allgemein bekannt war, mit wem Lexie ins Bett ging, dann steckte ich in großen Schwierigkeiten, aber irgendwie glaubte ich das nicht. Lexie hatte anscheinend meist nur so viel wie nötig von ihrem Leben preisgegeben. Aber wenn irgendwer es erraten hätte, dann Abby. Sie drehte sich an der Tür um und zuckte wieder mit einer Schulter. »Ich schätze«, sagte sie mit betont neutraler Stimme, »wenn du es mir sagen willst, wirst du es tun.«
Als sie fort war – ein flinkes Arpeggio nackter Füße, fast geräuschlos, die Treppe hinunter –, ließ ich mein Buch, wo es war, und lauschte auf die anderen, die sich bereit machten, ins Bett zu gehen: Irgendwer ließ Wasser im Badezimmer laufen, Justin sang unter mir unmelodisch vor sich 542
hin (»Gooooldfinger … «), das Knarren von Dielen, als Daniel sich leise in seinem Zimmer bewegte. Ganz allmählich ließen die Geräusche nach, wurden leiser und sporadischer, verklangen schließlich ganz. Ich schaltete meine Nachttischlampe aus: Daniel würde das Licht unter seiner Tür sehen, wenn ich sie anließ, und ich hatte für einen Abend genug vertrauliche Gespräche gehabt. Selbst als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte ich nichts anderes sehen als die aufragende Masse des Kleiderschranks, die gedrungene Silhouette der Frisierkommode, das kaum merkliche Flackern im Spiegel, wenn ich mich bewegte. Ich hatte mir redlich Mühe gegeben, nicht an das Baby zu denken, Lexies Baby. Vier Wochen, hatte Cooper gesagt, nicht mal einen Zentimeter groß: ein winziger Edelstein, ein einzelner Farbfunke, der dir durch die Finger rutscht und durch die Ritzen und weg. Ein Herz von der Größe eines Glitterflöckchens, das schwirrt wie ein Kolibri, 543
unzählige Dinge verheißend, die jetzt niemals geschehen würden. Und dann neulich musstest du dich übergeben … Ein eigensinniges Baby, das hellwach war und nicht ignoriert werden wollte, bereits winzige Finger ausstreckte, um an ihr zu ziehen. Aus irgendeinem Grund stellte ich mir kein sanftes Neugeborenes vor, sondern ein Kleinkind, kompakt und nackt, mit einem dunklen Lockenkopf, gesichtslos, das an einem Sommertag auf dem Rasen vor mir davonlief, ein gellendes Lachen hinter sich herzog. Vielleicht hatte sie noch vor wenigen Wochen in diesem Bett gesessen und sich das Gleiche ausgemalt. Vielleicht aber auch nicht. Ich hatte allmählich den Eindruck, dass Lexie sturer gewesen war als ich und einen obsidianharten Willen gehabt hatte, für Widerstand ausgelegt, nicht für Kampf. Wenn sie sich das Baby nicht hatte vorstellen wollen, dann war dieser winzige schillernde Komet auch
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nicht für eine Sekunde vor ihrem geistigen Auge aufgeblitzt. Ich wollte furchtbar gern wissen, mit einer Intensität, als läge darin der Schlüssel, der die ganze Geschichte aufschließen würde, ob sie es hatte behalten wollen. Unser Abtreibungsverbot ändert nichts daran, dass Jahr für Jahr eine lange, schweigende Prozession von Frauen mit der Fähre oder dem Flugzeug nach England reist und wieder zu Hause ist, ehe irgendjemand merkt, dass sie fort waren. Niemand auf der Welt konnte mir sagen, was Lexie vorgehabt hatte. Wahrscheinlich war sie sich selbst nicht mal sicher gewesen. Fast wäre ich aufgestanden und nach unten geschlichen, um mir ihren Terminkalender noch einmal anzusehen, nur für den Fall, dass ich irgendetwas übersehen hatte – einen winzigen Punkt, versteckt in einer Ecke im Dezember, am errechneten Geburtstermin –, aber das wäre unvorsichtig gewesen, und außerdem wusste ich bereits, dass da nichts zu finden war. Ich saß sehr lange im Dun545
keln im Bett, die Arme um die Knie, lauschte dem Regen und spürte an der Stelle, wo die Stichwunde hätte sein müssen, den Druck der Akkus, die sich in mich hineingruben.
Da war dieser eine Abend, am Sonntag, glaube ich. Die Jungs hatten im Wohnzimmer die Möbel beiseitegeschoben und rückten dem Fußboden mit Schleifgerät und Poliermaschinen und einem gewissen Maß an Machismo zu Leibe, daher hatten Abby und ich uns nach oben verdünnisiert, um in dem Gästezimmer neben meinem die letzten Reste von Onkel Simons Schätzen zu sichten. Ich saß auf dem Fußboden, halb begraben unter alten Stoffresten, und sortierte alles aus, was nicht hauptsächlich aus Mottenlöchern bestand. Abby ging einen Riesenberg potthässlicher Vorhänge durch und murmelte vor sich hin: »Müll, Müll, Müll – die könnte man nochmal waschen –, Müll, Müll, Müll, ach du Schande, Müll, wer hat diesen 546
Plunder bloß gekauft?« Das Schleifgerät machte unten einen Höllenlärm, und im Haus herrschte eine geschäftige und doch entspannte Stimmung, die mich an das Morddezernat an einem ruhigen Tag erinnerte. »Hoppla«, sagte Abby plötzlich und hockte sich auf die Fersen. »Sieh dir das mal an.« Sie hielt ein Kleid hoch: taubenblau mit weißen Punkten und weißem Kragen und weißer Schärpe. Kleine Flügelärmel und ein Tellerrock, der hochfliegen musste, wenn man sich drehte, Lindy Hop in Reinkultur. »Wow«, sagte ich, befreite mich aus dem Stoffwust und ging hin, um mir das Kleid genauer anzusehen. »Meinst du, es hat Onkel Simon gehört?« »Ich glaub nicht, dass er die Figur dafür hatte, aber wir sehen mal im Fotoalbum nach.« Abby hielt das Kleid auf Armeslänge und begutachtete es. »Willst du es mal anprobieren? Ich glaub nicht, dass Motten drin sind.« »Zieh du es an. Du hast es gefunden.« 547
»Das passt mir nie im Leben. Sieh mal –« Abby stand auf und hielt sich das Kleid vor den Körper. »Das ist zu groß für mich. Die Taille hängt mir ja um den Hintern.« Abby war höchstens eins sechzig, aber das vergaß ich andauernd. Es fiel schwer, sie als klein wahrzunehmen. »Aber für mich ist es viel zu eng«, sagte ich und hielt es mir probeweise vor die Taille, »es sei denn, ich trag ein richtiges Korsett. Sonst platzen die Nähte.« »Vielleicht nicht. Du hast im Krankenhaus abgenommen.« Abby warf mir das Kleid über die Schulter. »Anprobieren.« Sie warf mir einen fragenden Blick zu, als ich zum Umziehen in mein Zimmer ging. Anscheinend war das ungewöhnlich, aber ich hatte keine andere Wahl, ich konnte nur hoffen, dass sie es sich mit Verlegenheit wegen des Verbandes oder so erklärte. Das Kleid passte tatsächlich, mehr oder weniger – es war so eng, dass sich der Verband abzeichnete, aber daran war ja nichts Ver548
dächtiges. Ich vergewisserte mich rasch, dass der Draht nicht hervorlugte. Im Spiegel sah ich atemlos und übermütig und verwegen aus, zu allem bereit. »Hab ich doch gesagt«, sagte Abby, als ich herauskam. Sie wirbelte mich herum, band dann die Schärpe neu, damit die Schleife größer wirkte. »Komm, wir zeigen dich den Jungs, das wird sie umhauen.« Schon auf der Treppe riefen wir: »He, seht mal, was wir gefunden haben!«, und als wir ins Wohnzimmer kamen, war das Schleifgerät aus, und die Jungs warteten auf uns. »Oh, seht sie euch an!«, rief Justin. »Unser kleines Jazz-Baby!« »Perfekt«, sagte Daniel und lächelte mich an. »Einfach perfekt.« Rafe schwang ein Bein über die Klavierbank und ließ einen Finger schwungvoll über die Oktaven gleiten. Dann fing er an zu spielen, etwas Träges und Verführerisches mit leicht schrägem Swing. Abby lachte. Sie zog die Schleife meiner 549
Schärpe noch einmal fest, ging dann zum Klavier und fing an zu singen. »Of all the boys I’ve known and I’ve known some, until I first met you I was lonesome … « Ich hatte Abby schon öfter singen hören, nur für sich allein, wenn sie dachte, es würde niemand zuhören, aber so noch nie. Diese Stimme: So eine hört man heutzutage nicht mehr, ein hinreißender, voller Alt wie aus klassischen Kriegsfilmen, eine Stimme wie geschaffen für verräucherte Nachtklubs und ondulierte Haare, knallroten Lippenstift und ein melancholisches Saxophon. Justin legte das Schleifgerät weg, knallte schneidig die Hacken zusammen und hielt mir seine Hand hin. »Darf ich um diesen Tanz bitten?«, fragte er. Eine Sekunde lang war ich unsicher. Was, wenn Lexie nun zwei linke Füße gehabt hatte, was, wenn sie alles andere als zwei linke Füße gehabt hatte und meine Unbeholfenheit mich verriet, was, wenn er mich zu eng an sich drückte und die Akkus unter dem Verband spürte … Aber ich hab 550
immer gern getanzt, und es war so lange her, seit ich zuletzt getanzt oder auch nur den Wunsch danach gehabt hatte, dass ich mich schon nicht mehr erinnern konnte, wann das war. Abby zwinkerte mir zu, ohne aus dem Takt zu kommen, und Rafe spielte eine kleine Riffeinlage, und ich ergriff Justins Hand und ließ mich ins freigeräumte Wohnzimmer ziehen. Er war gut: geschmeidige Schritte und seine Hand fest in meiner, während er mich in langsamen Kreisen durch den Raum dirigierte, die Dielen weich und warm und staubig unter meinen Füßen. Und ich hatte doch noch nichts verlernt, ich trat Justin nicht auf die Füße und stolperte auch nicht über meine eigenen. Mein Körper wiegte sich so sicher und biegsam mit seinem, als wäre ich noch nie im Leben gegen irgendeinen Stuhl gestoßen. Ich hätte nicht einen Fuß falsch setzen können, selbst wenn ich gewollt hätte. Sonnenlichtstreifen flirrten mir vor den Augen, Daniel lehnte an der Wand und lächelte, ein zerknautsch551
tes Stück Schleifpapier vergessen in der Hand, mein Rock wirbelte hoch wie eine Glocke, während Justin mich von sich wegschwang und wieder zurückholte. »And so I rack my brain trying to explain all the things that you do to me … « Geruch von Poliermittel, und das Sägemehl, das träge durch die langen Lichtsäulen wogte. Abby, eine offene Hand erhoben und den Kopf nach hinten geworfen, den Hals gereckt, während der Song aufflog, durch die leeren Räume und die ramponierten Decken hinaus, dem ganzen leuchtenden Sonnenuntergangshimmel entgegen. Plötzlich fiel mir wieder ein, wann ich zuletzt so getanzt hatte: Rob und ich, auf dem Dach des Anbaus unter meiner Wohnung, an dem Abend, bevor alles furchtbar aus dem Ruder gelaufen war. Irgendwie tat es nicht mal weh. Es war so weit weg. Ich war fest zugeknöpft und unberührbar in meinem blauen Kleid, und es war etwas Süßes und Trauriges, das irgendeiner anderen Frau passiert war, vor langer Zeit. Rafe beschleunigte den 552
Rhythmus, und Abby wiegte sich schneller, schnippte mit den Fingern: »I could say bella, bella, even saywunderbar, each language only helps me to tell you how grand you are … « Justin umfasste meine Taille und hob mich in einer ausladenden, schwungvollen Drehung vom Boden, sein Gesicht gerötet und lachend dicht vor meinem. Der weite leere Raum warf Abbys Stimme hin und her, als würde in jeder Ecke jemand mitsingen, und unsere Schritte schallten und hallten, bis es klang, als wäre der Raum voller Tänzer, als hätte das Haus all die Menschen herbeigerufen, die hier über die Jahrhunderte hinweg an Frühlingsabenden getanzt hatten, galante junge Frauen mit galanten jungen Männern, die am nächsten Tag in den Krieg zogen, alte Männer und alte Frauen, den Rücken kerzengerade, während draußen ihre Welt zusammenbrach und die neue bereits an die Tür hämmerte, alle beschädigt und alle lachend, uns in ihrer langen Ahnenreihe willkommen heißend.
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9 »Schön, schön, schön«, sagte Frank am selben Abend. »Du weißt, was heute für ein Tag ist, nicht?« Ich hatte keinen Schimmer. Ich war in Gedanken noch halb in Whitethorn House. Nach dem Essen hatte Rafe ein zerfleddertes, vergilbtes Liederbuch aus der Klavierbank hervorgeholt und weitere Songs aus den dreißiger und vierziger Jahren gespielt, Abby sang vom Gästezimmer aus mit – »Oh Johnny, how can you love« –, während sie erneut herumstöberte und Daniel und Justin den Abwasch machten, und der Rhythmus hatte mir auf dem ganzen Weg über den Rasen bis zum Tor hinaus in den Fersen gefedert, süß und schmissig und verlockend. Einen Moment lang hatte ich sogar mit dem Gedanken gespielt, einfach zu Hause zu bleiben, Frank und Sam und das mysteriöse Augenpaar einen Abend sich selbst zu überlassen. Schließlich hatten mich diese Ausflüge bisher kein 554
bisschen weitergebracht. Es waren Wolken aufgezogen, nadelfeiner Nieselregen besprühte die Gemeinschaftsjacke, und ich ließ beim Telefonieren nicht gern die Taschenlampe an. Ich konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Ein ganzes Rudel messerschwingender Stalker hätte um das Cottage herum Polonaise tanzen können, und ich hätte nichts gemerkt. »Falls du Geburtstag hast«, sagte ich, »musst du noch ein Weilchen auf dein Geschenk warten.« »Sehr witzig. Es ist Sonntag, Kleines. Und wenn ich mich nicht total irre, bist du noch immer in Whitethorn House, als würdest du nirgendwo sonst hingehören. Was bedeutet, wir haben unsere erste Schlacht gewonnen. Du hast die ganze Woche durchgestanden, ohne erwischt zu werden. Glückwunsch, Detective. Du bist drin.« »Sieht ganz so aus«, sagte ich. Ich hatte irgendwann zwischendurch aufgehört, die Tage zu zählen. Ich beschloss, das als gutes Zeichen zu sehen. 555
»Also«, sagte Frank. Ich konnte hören, wie er es sich gemütlicher machte, das Radio im Hintergrund mit der aufgebrachten Stimme eines Anrufers leiser stellte: Er war zu Hause, wo immer das sein mochte, seit Olivia ihn rausgeschmissen hatte. »Dann fassen wir Woche eins mal zusammen.« Ich zog mich auf eine Mauer und ließ mir einen Augenblick Zeit, um einen klaren Kopf zu bekommen, ehe ich antwortete. Bei all seiner lässigen Art ist Frank doch durch und durch Profi: Er will Berichte wie jeder andere Boss, und er will sie klar, gründlich und knapp haben. »Woche eins«, sagte ich. »Ich habe mich in Alexandra Madisons privates Umfeld und in ihr Umfeld an der Uni eingeschleust, offenbar erfolgreich, da niemand Anzeichen von Misstrauen zeigt. Ich habe Whitethorn House, soweit es mir möglich war, durchsucht, aber nichts gefunden, was uns in eine bestimmte Richtung lenken könnte.« Das entsprach im Kern der Wahrheit. Der Terminkalender deutete vermutlich irgendwohin, 556
aber bislang hatte ich keine Ahnung, wohin. »Ich habe, sooft es ging, Zugang zu mir ermöglicht – für bekannte Kontakte, indem ich versucht habe, bei regelmäßigen Gelegenheiten tagsüber und abends allein zu sein, und für Unbekannte, indem ich auf meinen Spaziergängen bewusst sichtbar bleibe. Bislang ist niemand auf mich zugekommen, den wir noch nicht auf dem Radar hatten, aber das schließt zu diesem Zeitpunkt einen Unbekannten als Täter nicht aus. Möglicherweise wartet er auf einen günstigen Augenblick. Ich wurde verschiedentlich auf die Tat angesprochen von sämtlichen Mitbewohnern und einer Reihe Studenten und Dozenten, aber alle schienen in erster Linie wissen zu wollen, wie es mir geht, so was eben – Brenda Grealey war auffällig an Einzelheiten interessiert, aber ich glaube, das ist bloße Sensationsgier. Keine der Reaktionen auf die Tat oder Lexies Rückkehr wirkte suspekt. Die Mitbewohner scheinen das ganze Ausmaß ihres Schocks vor den Ermittlungsbeamten verborgen gehalten 557
zu haben, aber bei ihnen halte ich das nicht für verdächtig. Sie sind gegenüber Außenstehenden ausgesprochen zurückhaltend.« »Wem sagst du das«, sagte Frank. »Was hast du für ein Gefühl?« Ich rutschte hin und her, suchte eine bequemere Stelle auf der Mauer, wo sich mir nichts in den Hintern bohrte. Die Frage war schwieriger, als sie es hätte sein müssen, da ich noch nicht vorhatte, ihm oder Sam von dem Terminkalender zu erzählen, auch nicht von meinem Gefühl, dass mir jemand folgte. »Ich glaube, wir übersehen da irgendwas«, sagte ich schließlich. »Irgendwas Wichtiges. Ich weiß nicht, was es ist, vielleicht dein großer Unbekannter, vielleicht ein Motiv, vielleicht … ich weiß nicht. Ich hab einfach den starken Verdacht, dass hier irgendwas noch nicht an die Oberfläche gekommen ist. Dauernd meine ich, kurz davor zu sein, aber … « »Hat es mit den Mitbewohnern zu tun? Der Uni? Dem Baby? Der May-Ruth-Sache?« 558
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ehrlich nicht.« Sofafedern quietschten, als Frank nach irgendetwas griff – etwas zu trinken; ich hörte ihn schlucken. »Eins kann ich dir jedenfalls sagen: Mit dem Großonkel hat es nichts zu tun. Da hast du gewaltig danebengelegen. Der ist an Zirrhose gestorben. Hat dreißig oder vierzig Jahre in dem Haus gehockt und gesoffen, dann sechs Monate im Hospiz im Sterben gelegen. Keiner von den fünf hat ihn besucht. Genauer gesagt, er und Daniel hatten sich nicht gesehen, seit Daniel ein Kind war, nach allem, was ich rausfinden konnte.« Selten war ich so froh darüber gewesen, mich geirrt zu haben, aber wieder überkam mich das Gefühl, nach Trugbildern zu greifen, wie ich es schon die ganze Woche hatte. »Wieso hat er Daniel dann das Haus vermacht?« »Die Auswahl war nicht sehr groß. In der Familie sterben alle jung. Die einzigen noch lebenden Angehörigen waren Daniel und sein Cousin Edward Hanrahan, der Sohn der Tochter vom alten 559
Simon. Eddie ist ein richtiger kleiner Yuppie, arbeitet bei einer Immobilienagentur. Anscheinend dachte Simon sich, Danny-Boy wäre das kleinere von zwei Übeln. Vielleicht hatte er mehr für Akademiker übrig als für Yuppies, oder vielleicht wollte er, dass das Haus mit dem Familiennamen verbunden bleibt.« Gut für Simon. »Das muss Eddie ganz schön gestunken haben.« »Und ob. Er stand dem Großvater nicht näher als Daniel, aber er hat das Testament angefochten, mit der Begründung, der Alkohol hätte Simon den Verstand geraubt. Deshalb hat auch die Testamentsvollstreckung so lange gedauert. Es war idiotisch, aber anscheinend ist unser Eddie keine besondere Geistesgröße. Simons Arzt hat bestätigt, dass er Alkoholiker war und ein grässlicher alter Mann, aber völlig zurechnungsfähig, und damit war die Sache vom Tisch. Nichts Verdächtiges in der Richtung.«
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Ich sank auf der Mauer in mich zusammen. Ich hatte keinen Grund, frustriert zu sein, schließlich hatte ich nie ernsthaft geglaubt, dass die fünf Belladonna in Onkel Simons Gebisskleber gemischt hatten, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass um Whitethorn House irgendetwas Entscheidendes vor sich ging, irgendetwas, das ich nicht zu fassen bekam, obwohl es direkt vor meiner Nase war. »Tja«, sagte ich. »War auch nur so ein Gedanke. Tut mir leid, dass ich deine Zeit verschwendet hab.« Frank seufzte. »Hast du nicht. Es muss immer alles überprüft werden.« Wenn ich diesen oder einen ähnlichen Satz noch einmal hörte, würde ich selbst jemanden umbringen. »Wenn du glaubst, sie benehmen sich verdächtig, dann ist da vermutlich auch was dran. Nur eben nicht deshalb.« »Ich hab nie gesagt, dass ich glaube, sie benehmen sich verdächtig.«
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»Vor ein paar Tagen hast du noch geglaubt, die hätten Onkel Simon ein Kissen aufs Gesicht gedrückt.« Ich zog die Kapuze tiefer in die Stirn – der Regen wurde stärker, feine kleine Nadelstiche, und ich wollte nur noch nach Hause. Ich hätte nicht sagen können, was hier sinnloser war, diese nächtliche Beobachtungsmission oder dieses Gespräch. »Das hab ich nicht geglaubt. Ich hab dich bloß gebeten, die Sache zu überprüfen, für alle Fälle. Ich seh sie nicht als Mörderbande.« »Hmm«, sagte Frank. »Und das nicht bloß, weil sie so nett sind, hoffe ich.« Ich konnte nicht heraushören, ob er mich nerven oder auf die Probe stellen wollte – da Frank nun mal Frank ist, war es wahrscheinlich ein bisschen von beidem. »Ach komm, Frank, du solltest mich besser kennen. Du hast mich nach meinem Gefühl gefragt, und genau das sagt es mir. Ich bin jetzt seit einer Woche praktisch jede wache Sekunde mit den vieren zusammen, und ich habe 562
keine Spur eines Motivs entdeckt, keinen Anhaltspunkt für irgendwelche Schuldgefühle – und wie wir schon gesagt haben, wenn es einer von ihnen war, dann müssen die anderen drei Bescheid wissen. Irgendwer hätte sich inzwischen garantiert verraten, und wenn nur für eine Sekunde. Ich glaube, du hast vollkommen recht damit, dass sie irgendwas verbergen, aber nicht das, niemals.« »In Ordnung«, sagte Frank unverbindlich. »Du hast also zwei Aufgaben für Woche zwei. Erstens, dahinterkommen, was genau deinen sechsten Sinn zum Kribbeln bringt. Zweitens, bei den Mitbewohnern ein bisschen Druck machen, rausfinden, was sie dir vorenthalten. Bisher haben wir die Zügel locker gelassen – was auch gut war, so hatten wir’s ja geplant, aber jetzt sollten wir sie langsam anziehen. Und dabei solltest du eines nicht vergessen. Erinnerst du dich noch an deinen Plausch unter Frauen, gestern Nacht?« »Ja klar«, sagte ich. Bei dem Gedanken, dass Frank das Gespräch mitgehört hatte, durchlief 563
mich ein ganz eigenartiges Flackern. Fast so etwas wie Empörung. Ich hätte ihn am liebsten angefaucht: Das war privat. »Gelobt sei die Pyjamaparty. Ich hab dir gesagt, sie ist clever. Was meinst du: Weiß Abby, wer der Daddy ist?« Darüber war ich mir noch nicht klargeworden. »Sie hat womöglich eine starke Vermutung, aber ich glaube nicht, dass sie sich sicher ist. Und sie wird mir nicht sagen, was sie vermutet.« »Behalt sie im Auge«, sagte Frank und nahm wieder einen Schluck von seinem Drink. »Sie ist ein bisschen zu wachsam für meinen Geschmack. Meinst du, sie erzählt es den Jungs?« »Nein«, sagte ich. Darüber musste ich nicht lange nachdenken. »Ich hab den Eindruck, Abby ist gut darin, sich um ihren eigenen Kram zu kümmern und andere Leute in Ruhe ihre eigenen Dramen ausleben zu lassen. Sie hat das Baby zur Sprache gebracht, damit ich nicht allein damit klarkommen muss, wenn ich nicht will, aber so564
bald sie das signalisiert hatte, war sie auch schon wieder weg – keine Andeutungen, kein Nachbohren. Sie wird nichts sagen. Und Frank – hast du vor, die vier noch mal zu vernehmen?« »Ich weiß nicht«, sagte Frank. Seine Stimme hatte einen argwöhnischen Beiklang. Er lässt sich nicht gern festnageln. »Wieso?« »Falls ja, erwähn das Baby nicht. Okay? Damit will ich sie selbst überraschen. Bei dir sind sie auf der Hut. Du würdest nur ihre halbe Reaktion kriegen. Ich kriege die ganze.« »Meinetwegen«, sagte Frank nach einem Augenblick. Es sollte so klingen, als würde er mir einen Gefallen tun, aber der zufriedene Unterton entging mir nicht: Er mochte die Art, wie ich dachte. Schön zu wissen, dass das wenigstens einer tat. »Aber warte einen günstigen Zeitpunkt ab. Wenn sie betrunken sind oder so.« »Sie sind eigentlich nie richtig betrunken, bloß beschwipst. Ich werde den günstigen Zeitpunkt schon erkennen, wenn er da ist.« 565
»In Ordnung. Aber noch mal: Pass auf. Das mit dem Baby ist eine Sache, die Abby für sich behalten hat, und nicht bloß uns gegenüber – sie hat sie auch vor Lexie geheim gehalten, und sie hält sie noch immer vor den Jungs geheim. Wir reden die ganze Zeit über die vier, als wären sie eine große Einheit mit einem einzigen großen Geheimnis, aber so einfach ist das nicht. Da gibt es Risse. Kann sein, dass sie alle ein und dasselbe Geheimnis hüten, kann sein, dass jeder von ihnen ein eigenes Geheimnis hat, oder beides. Such nach den Rissen. Und halt mich auf dem Laufenden.« Er wollte schon auflegen. »Irgendwas Neues über unsere Unbekannte?«, fragte ich. May-Ruth. Irgendwie konnte ich den Namen nicht aussprechen. Schon sie zur Sprache zu bringen fühlte sich jetzt seltsam an, wie ein Stromstoß. Aber wenn er noch irgendetwas über sie herausgefunden hatte, wollte ich es wissen. Frank schnaubte. »Schon mal versucht, dem FBI Beine zu machen? Die haben da ganze Wa566
genladungen von hausgemachten Monsterkillern. Der kleine Mordfall von jemand anderem steht nicht gerade ganz oben auf ihrer Liste. Vergiss die. Die melden sich, wenn sie sich melden. Konzentrier du dich einfach darauf, mir ein paar Antworten zu beschaffen.«
Frank hatte recht, ich glaube, am Anfang hatte ich die vier als eine geschlossene Einheit gesehen: die Hausgenossen, Schulter an Schulter, anmutig und untrennbar wie eine Gruppe auf einem Gemälde, und auf allen der gleiche, feine Lichthauch, wie der Glanz von altem, mit Bienenwachs behandeltem Holz. Erst im Verlauf der ersten Woche waren sie für mich real geworden, hatten sie sich als Individuen mit ihren eigenen kleinen Macken und Schwächen herauskristallisiert. Ich wusste, dass es Risse geben musste. So eine Freundschaft entsteht nicht einfach am Ende des Regenbogens im Weichzeichner-Hollywood-Dunst. Dass sie so 567
lange und auf so engem Raum gehalten hatte, dazu war ein gehöriges Maß an Arbeit vonnöten. Jeder Eiskunstläufer oder Balletttänzer oder Turnierreiter, ja jeder, der davon lebt, Schönheit in Bewegung zu setzen, weiß: Nichts kostet so viel Arbeit wie Mühelosigkeit. Kleine Risse zunächst: verschwommen wie Nebel, nichts, worauf du den Finger legen konntest. Montagmorgen waren wir in der Küche beim Frühstück. Rafe hatte seinen üblichen Neandertaler-will-Kaffee-Auftritt hingelegt und war wieder verschwunden, um richtig wach zu werden. Justin schnitt seine Spiegeleier in säuberliche Streifen, Daniel aß Würstchen mit einer Hand, während er sich an den Rändern der Fotokopie eines altnordischen Textes Notizen machte, Abby blätterte in einer mehrere Tage alten Zeitung, die sie bei den Geisteswissenschaftlern gefunden hatte, und ich plauderte mit niemand Bestimmtem über nichts Besonderes. Ich hatte den Energiepegel peu à peu nach oben geschraubt. Das war schwieriger, als es 568
klingt. Je mehr ich redete, desto mehr lief ich Gefahr, mich zu verplappern. Aber wenn ich diesen vier irgendetwas Brauchbares entlocken wollte, mussten sie in meinem Beisein entspannt sein, und das würde nur passieren, wenn alles wieder normal lief, und mit Lexie hatte es kaum eine stille Minute gegeben. Ich erzählte der Küche von den vier furchtbaren Studentinnen in meinem Tutorenkurs am Donnerstag, ein Thema, das ich für einigermaßen sicher hielt. »Meiner Meinung nach sind die in Wahrheit ein und dieselbe Person. Sie heißen alle Orla oder Fiona oder Aoife oder so, und sie näseln alle, als hätten sie sich die Nebenhöhlen wegoperieren lassen, und sie haben alle diese künstlich geglätteten, künstlich blondierten Haare, und nicht eine von ihnen war bisher auch nur einmal vorbereitet. Ich weiß nicht, was die überhaupt an der Uni wollen.« »Reiche Jungs kennenlernen«, sagte Abby, ohne aufzublicken.
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»Zumindest eine von ihnen ist fündig geworden. Sieht aus wie ein Rugby-Spieler. Letzte Woche nach dem Kurs hat er auf sie gewartet, und ich schwöre, als die vier Tussis aus dem Raum kamen, hat er ganz panisch geguckt und prompt der falschen die Hand hingehalten, ehe die richtige auf ihn zugehechtet ist. Der kann sie auch nicht auseinanderhalten.« »Da geht’s aber jemandem schon wieder deutlich besser«, sagte Daniel und lächelte mich an. »Quasselstrippe«, sagte Justin und legte noch eine Scheibe Toast auf meinen Teller. »Nur aus Neugier, bist du je im Leben länger als fünf Minuten an einem Stück still gewesen?« »Und ob. Ich hatte mal eine Kehlkopfentzündung, als ich neun war, und da hab ich fünf Tage lang kein einziges Wort rausgebracht. Das war die Hölle. Andauernd kriegte ich Hühnersuppe und Comic-Heftchen und langweiligen Kram gebracht, und ich hab immer nur beteuert, dass ich mich völlig gesund fühlte und aufstehen wollte, aber es 570
hieß jedes Mal, ich sollte still sein und meinen Hals schonen. Als ihr klein wart, habt ihr da schon mal –« »Mist«, sagte Abby plötzlich und blickte von ihrer Zeitung auf. »Die Kirschen. Die sind gestern abgelaufen. Hat einer noch Hunger? Wir könnten sie in Pfannkuchen tun oder so.« »Ich hab noch nie von Kirschpfannkuchen gehört«, sagte Justin. »Klingt widerlich.« »Wieso? Es gibt ja auch Blaubeerpfannkuchen –« »Und Kirschtorte«, warf ich mit vollem Mund ein und kaute auf einem Bissen Toast. »Das ist was anderes«, sagte Daniel. »Dazu nimmt man Kirschen aus dem Glas. Die sind –« »Probieren wir’s einfach. Die Kirschen haben ein Vermögen gekostet. Die lass ich auf keinen Fall vergammeln.« »Ich esse alles«, sagte ich hilfsbereit. »Auch Kirschpfannkuchen.«
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»Nee, Leute, bitte nicht«, sagte Justin mit einem kleinen Ekelschaudern. »Lasst uns die Kirschen mit zur Uni nehmen und in der Mittagspause essen.« »Rafe kriegt keine«, sagte Abby, legte die Zeitung hin und ging zum Kühlschrank. »Wisst ihr noch, wie seine Tasche gemüffelt hat? Da hat er eine halbe Banane ins Innenfach gesteckt und dann völlig vergessen. Von nun an kriegt er von uns nur noch was zu essen, wenn er es vor unseren Augen verspeist. Lex, hilfst du mir, die Kirschen einzupacken?« Es war so reibungslos gegangen, dass ich es nicht mal mitbekam. Abby und ich teilten die Kirschen in vier Portionen auf und packten sie zu den Sandwichs, Rafe aß am Ende fast alle auf, und ich vergaß die ganze Sache, bis zum nächsten Abend. Wir hatten ein paar von den nicht ganz so hässlichen Vorhängen gewaschen und brachten sie in den Gästezimmern an, eher als Wärmedämmung als aus ästhetischen Gründen – wir hatten einen 572
einzigen Nachtspeicherofen und den Kamin für das ganze Haus, im Winter mussten arktische Temperaturen geherrscht haben. Justin und Daniel hängten im Gästezimmer im ersten Stock Vorhänge auf, wir drei anderen in denen ganz oben. Abby und ich waren dabei, die Ringe einzuhaken, damit Rafe die Vorhänge auf die Stange schieben konnte, als wir unter uns ein lautes Poltern hörten, gefolgt von einem Aufschrei von Justin. Dann rief Daniel: »Keine Sorge, nichts passiert.« »Was war das?«, sagte Rafe. Er balancierte bedenklich auf der Fensterbank und hielt sich mit einer Hand an der Vorhangstange fest. »Irgendjemand ist irgendwo runtergefallen«, sagte Abby, den Mund voller Vorhangringe, »oder über irgendwas drüber. Ich glaube, er hat’s überlebt.« Plötzlich drang ein leiser überraschter Laut durch die Dielenbretter, und Justin rief: »Lexie, Abby, Rafe, kommt mal schnell! Das müsst ihr euch ansehen!« 573
Wir rannten nach unten. Daniel und Justin knieten auf dem Boden, mitten in einem Wust von merkwürdigen alten Gegenständen, und eine Sekunde lang dachte ich, es hätte sich doch jemand verletzt. Dann sah ich, worauf sie blickten. Auf dem Boden zwischen ihnen lag ein steifer, fleckiger Lederbeutel, und Daniel hielt einen Revolver in der Hand. »Daniel ist von der Leiter gefallen«, sagte Justin, »und hat eine Kiste umgestoßen, dabei ist das ganze Zeug hier rausgekippt und das Ding da direkt vor seinen Füßen gelandet. Möchte nicht wissen, was hier noch so alles versteckt ist.« Es war ein Webley, ein wunderschönes Exemplar, mit schimmernder Patina zwischen verkrustetem Dreck. »Ach du Schande«, sagte Rafe, ließ sich neben Daniel auf die Knie fallen und berührte den Lauf der Waffe. »Das ist ein Webley Mark Six, noch dazu ein alter. Das war der offizielle Armeerevolver im Ersten Weltkrieg. Der Typ, dem du ähnlich siehst, Daniel, dieser verrückte 574
Großonkel, oder was war er noch mal, dem könnte das Ding gehört haben.« Daniel nickte. Er studierte den Revolver kurz, klappte ihn dann auf: ungeladen. »William«, sagte er. »Das könnte seiner gewesen sein, ja.« Er schloss die Trommel wieder, legte dann die Hand ganz vorsichtig, sanft, um den Griff. »Ganz schön verdreckt«, sagte Rafe, »aber das ist kein Problem. Ein paar Tage in einem guten Lösungsmittel einweichen und dann mit einer Bürste bearbeiten. Ich vermute, Munition wäre zu viel verlangt.« Daniel lächelte ihn an, ein rasches, unerwartetes Grinsen. Er drehte den Lederbeutel um, und eine verblichene Pappschachtel Patronen fiel heraus. »Oh, wunderbar«, sagte Rafe, nahm die Schachtel und rüttelte sie. Das Klappern verriet mir, dass sie fast voll war, mit etwa neun oder zehn Patronen. »Der ist bald wieder wie neu. Ich besorg das Lösungsmittel.«
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»Lass lieber die Finger von dem Ding, wenn du dich nicht damit auskennst«, sagte Abby. Sie hatte sich als Einzige nicht auf den Boden gesetzt, um sich die Waffe genauer anzusehen, und sie klang nicht gerade begeistert von der ganzen Idee. Ich war mir auch nicht sicher, was ich davon hielt. Der Webley war ein Prachtstück, und ich hätte ihn für mein Leben gern ausprobiert, aber ein Undercovereinsatz bekommt eine ganz andere Qualität, wenn irgendwo eine Schusswaffe im Spiel ist. Sam würde das überhaupt nicht gefallen. Rafe verdrehte die Augen. »Wie kommst du darauf? Mein Vater hat mich jedes Jahr mit auf die Jagd genommen, seit ich sieben war. Ich kann einen fliegenden Fasan aus der Luft holen, von fünf Schüssen treffen drei. Einmal sind wir rauf nach Schottland –« »Ist das überhaupt legal, so ein Ding zu haben?«, wollte Abby wissen. »Brauchen wir dafür nicht einen Waffenschein oder so?«
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»Aber das ist ein Erbstück«, sagte Justin. »Wir haben es nicht gekauft, wie haben es geerbt.« Wieder dieses wir. »Ein Waffenschein ist nicht für den Kauf einer Schusswaffe, Doofi«, sagte ich. »Sondern für den Besitz.« Ich hatte bereits beschlossen, dass Frank Sam erklären sollte, warum wir den Revolver, auch wenn es dafür wahrscheinlich nie einen Waffenschein gegeben hatte, nicht konfiszieren würden. Rafe hob die Augenbrauen. »Wollt ihr das nicht hören? Ich erzähle euch hier eine rührende Geschichte von einer zärtlichen Vater-SohnBeziehung, und ihr denkt bloß an bürokratische Vorschriften. Als mein Vater gemerkt hat, was für ein guter Schütze ich bin, hat er mich jedes Jahr zu Beginn der Jagdsaison für eine Woche von der Schule beurlauben lassen. Das waren die einzigen Gelegenheiten in meinem Leben, bei denen er mich nicht als wandelnde Werbung für Empfängnisverhütung behandelt hat. Zu meinem sechzehnten Geburtstag hat er mir –« 577
»Ich bin ziemlich sicher, dass wir einen Waffenschein brauchen«, fiel Daniel ihm ins Wort, »aber ich denke, das lassen wir bleiben, zumindest vorläufig. Ich hab erst mal genug von der Polizei. Wann meinst du, kannst du das Lösungsmittel besorgen, Rafe?« Seine Augen waren auf Rafe gerichtet, eisgrau und unverwandt. Eine Sekunde lang starrte Rafe zurück, doch dann zuckte er die Achseln und nahm Daniel den Revolver aus der Hand. »Irgendwann diese Woche, wahrscheinlich. Ich muss einen Laden finden, wo es das Zeug gibt.« Er öffnete die Waffe, wesentlich gekonnter als Daniel, und spähte in den Lauf. Plötzlich musste ich an die Kirschen denken, als ich die ganze Zeit geplappert hatte und Abby mir ins Wort fiel. Es war der Ton in Daniels Stimme, der die Erinnerung auslöste: die gleiche ruhige, unbewegliche Festigkeit, wie eine sich schließende Tür. Ich brauchte eine Sekunde, um mich zu erinnern, worüber ich geredet hatte, ehe die ande578
ren geschickt das Thema gewechselt hatten. Dass ich als Kind mal eine Kehlkopfentzündung gehabt hatte und tagelang im Bett bleiben musste. Ich stellte meine neue Theorie später am Abend auf die Probe, als Daniel den Revolver weggelegt hatte, wir mit den Vorhängen fertig waren und gemütlich im Wohnzimmer saßen. Abby hatte den Petticoat für die Puppe vollendet und fing mit einem Kleid an. Auf dem Schoß hatte sie den Haufen Stoffreste liegen, die ich am Sonntag aussortiert hatte. »Ich hatte viele Puppen, als ich klein war«, sagte ich. Wenn meine Theorie stimmte, ging ich kein großes Risiko ein, weil die anderen dann nämlich nicht allzu viel übers Lexies Kindheit gehört hatten. »Ich hatte eine Sammlung –« »Du?«, sagte Justin und lächelte mich verwundert an. »Du sammelst doch nur Schokolade.« »Apropos«, sagte Abby zu mir, »hast du welche da? Eine mit Nüssen?«
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Sofort der Ablenkungsversuch. »Ich hatte wirklich eine Sammlung«, sagte ich. »Ich hatte alle vier Schwestern aus Betty und ihre Schwestern. Die Mutter gab’s auch zu kaufen, aber die war so eine scheinheilige Kuh, dass ich sie nicht in meiner Nähe haben wollte. Die anderen wollte ich eigentlich auch nicht, aber eine Tante von mir –« »Wieso kaufst du dir nicht solche Puppen?«, wollte Justin wehleidig von Abby wissen. »Und lässt deine Gruseltante da verschwinden?« »Wenn du nicht endlich aufhörst, über meine Puppe zu lästern, liegt sie eines schönen Morgens, wenn du die Augen aufschlägst, auf deinem Kopfkissen und starrt dich an, das schwöre ich dir.« Rafe beobachtete mich, halb gesenkte goldene Augen über seinen Patience-Karten. »Ich hab versucht, ihr klarzumachen, dass ich überhaupt keine Puppen wollte«, sagte ich über Justins Entsetzenslaute hinweg, »aber sie hat’s einfach nicht kapiert. Sie –«
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Daniel blickte von seinem Buch auf. »Keine Vergangenheit«, sagte er. Der Tonfall, die Endgültigkeit, verriet mir, dass er das nicht zum ersten Mal sagte. Eine lange, leicht beklommene Stille trat ein. Das Feuer spie Funken den Kamin hoch. Abby hielt ihrer Puppe weiter Stoffreste vor. Rafe beobachtete mich noch immer. Ich hatte den Kopf über mein Buch gesenkt (Rip Corelli, Gatten bevorzugt), aber ich spürte seinen Blick auf mir. Aus irgendeinem Grund war die Vergangenheit – die Vergangenheit jedes Einzelnen von uns – absolut tabu, ähnlich wie bei den unheimlichen Kaninchen in Unten am Fluss, die keine WoFragen beantworten. Und noch etwas: Rafe wusste das. Er hatte dieses Gebot absichtlich übertreten. Ich war mir nicht sicher, wen er damit hatte reizen wollen oder warum – vielleicht alle, vielleicht war er einfach in so einer Stimmung –, aber es war ein Haarriss in dieser vollkommenen Oberfläche. 581
Franks FBI-Kumpel meldete sich am Mittwoch bei ihm. Als ich Franks Stimme am Telefon hörte, wusste ich sofort, dass etwas passiert war, etwas Wichtiges. »Wo bist du?«, fragte er. »Auf irgendeinem Feldweg, ich weiß nicht. Wieso?« Eine Eule schrie dicht hinter mir. Ich wirbelte herum und sah gerade noch, wie sie nur wenige Meter entfernt mit ausgebreiteten Schwingen in die Bäume tauchte, leicht wie Asche. »Was war das?«, fragte Frank scharf. »Bloß eine Eule. Einatmen, Frank.« »Hast du deinen Revolver dabei?« Hatte ich nicht. Ich war gedanklich nur noch mit Lexie und den Fantastischen Vier beschäftigt und hatte völlig vergessen, dass sich das, hinter dem ich eigentlich her war, außerhalb von Whitethorn House befand und sehr wahrscheinlich auch 582
hinter mir her war. Dieser Fehler, mehr noch als der Ton in Franks Stimme, bewirkte, dass sich mein Magen zur Warnung schmerzhaft verkrampfte: Bleib konzentriert. Frank bemerkte mein kurzes Zögern und reagierte sofort. »Geh nach Hause. Auf der Stelle.« »Ich bin erst zehn Minuten weg. Die anderen werden sich wundern –« »Die sollen sich so viel wundern, wie sie wollen. Du läufst mir nicht unbewaffnet durch die Gegend.« Ich machte kehrt und ging zurück den Weg hoch, unter der Eule hindurch, die auf einem Ast schwankte, die Silhouette ihrer spitzen Ohren vor dem Himmel. Ich bog ab, um mich dem Haus von vorne zu nähern – die Wege dort waren breiter, boten weniger Deckung für einen Hinterhalt. »Was ist passiert?« »Gehst du nach Hause?« »Ja. Was ist passiert?«
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Frank atmete laut aus. »Mach dich auf eine Überraschung gefasst, Kleines. Mein Kumpel in den Staaten hat die Eltern von May-Ruth Thibodeaux aufgespürt. Sie wohnen in irgendeinem gottverlassenen Kaff in den Bergen von North Carolina, haben nicht mal Telefon. Er hat jemanden hingeschickt, der ihnen die traurige Nachricht überbringen und sie ein bisschen ausfragen sollte. Und rate mal, was er erfahren hat.« Ich wollte ihm sagen, er solle mit den Spielchen aufhören und auf den Punkt kommen, doch da wusste ich es plötzlich. »Sie ist es nicht.« »Volltreffer. May-Ruth Thibodeaux starb im Alter von vier Jahren an Meningitis. Den Eltern wurde das Foto von dem Ausweis gezeigt. Sie hatten die Frau noch nie gesehen.« Es traf mich wie ein tiefer Atemzug reinen, wilden Sauerstoffs. Ich spürte ein so heftiges Verlangen loszulachen, dass mir fast schwindelig wurde, wie ein verliebter Teenager. Sie hatte mich nach Strich und Faden getäuscht – Pick-ups und barfuß 584
Limo kaufen, von wegen –, und ich konnte nur denken, alle Achtung, Mädchen.Da hatte ich mir eingebildet, ein Leben auf dünnem Eis zu führen, und mit einem Mal kam mir das vor wie ein pubertäres Spielchen, als wäre ich eine Tochter aus reichem Hause, die auf arm macht, während der Treuhandfonds immer dicker wird, wohingegen diese Frau ernst gemacht hatte. Sie hatte ihr ganzes Leben, alles, was sie war, mit so leichter Hand gehalten wie eine Wildblume im Haar, um es jederzeit einfach wieder wegzuwerfen, wenn sie sich auf und davon machte, mit Vollgas den Highway hinunter. Was mir nicht ein einziges Mal gelungen war, war ihr so leichtgefallen wie Zähneputzen. Niemand, nicht meine Freunde, nicht meine Verwandten, nicht Sam oder sonst ein Mann, hatte mich je so gepackt. Ich wollte spüren, wie mir dieses Feuer durch die Knochen jagte, ich wollte, dass mir der Sturm die Haut sauberschmirgelte, ich wollte wissen, ob so eine Freiheit nach
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Ozon roch oder nach Gewittern oder nach Schießpulver. »Großer Gott«, sagte ich. »Wie oft hat sie das gemacht?« »Mich interessiert eher, warum. Das alles bestätigt meine Theorie: Irgendwer war hinter ihr her, und er hat nicht aufgegeben. Sie stößt irgendwo auf die May-Ruth-Identität – ein Friedhof vielleicht oder eine Todesanzeige in einer Zeitung – und fängt an. Er spürt sie auf, und sie haut wieder ab, diesmal verlässt sie das Land. So was machst du nur, wenn du richtig Angst hast. Aber am Ende hat er sie doch erwischt.« Ich hatte das vordere Tor erreicht, lehnte mich mit dem Rücken gegen einen Torpfosten und atmete tief durch. Im Mondschein sah die Einfahrt fremdartig aus, Kirschblüten und Schatten bildeten in Weiß und Schwarz einen so dichten Teppich, dass die Erde nahtlos mit den Bäumen verschmolz, ein einziger großer gemusterter Tunnel. »Ja«, sagte ich. »Am Ende hat er sie doch erwischt.« 586
»Und ich will nicht, dass er dich erwischt«, seufzte Frank. »Ich gebe es nur ungern zu, aber unser Sammy könnte recht gehabt haben, Cass. Wenn du aussteigen willst, kannst du heute Abend anfangen, einen auf krank zu machen, und morgen früh bist du raus.« Es war eine stille Nacht, nicht einmal ein Lufthauch in den Kirschbäumen. Ein leiser Klang kam die Einfahrt herabgeweht, sehr schwach und sehr zart: der Gesang einer Frauenstimme. »The steed my true love rides on … « Ein Kribbeln lief mir die Arme hoch. Ich fragte mich in dem Moment und ich frage mich bis heute, ob Frank bluffte. Ob er tatsächlich bereit war, mich abzuziehen, oder ob er wusste, noch ehe er es anbot, dass es zu diesem Zeitpunkt eigentlich nur eine Antwort geben konnte. »Nein«, sagte ich. »Ich komm schon klar. Ich bleibe.« »With silver he is shod before … «
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»In Ordnung«, sagte Frank, und er klang nicht die Spur überrascht. »Nimm immer schön den Revolver mit und halt die Augen auf. Wenn sich irgendwas ergibt, egal, was, sag ich dir Bescheid.« »Danke, Frank. Ich melde mich morgen wieder. Selbe Zeit, selber Ort.« Es war Abby, die da sang. Im Fenster ihres Zimmers schimmerte sanftes Lampenlicht, und sie bürstete sich das Haar, mit langsamen versunkenen Bewegungen. »In yon green hill do dwell … « Im Esszimmer räumten die Jungs den Tisch ab, Daniels Ärmel waren säuberlich bis zu den Ellbogen aufgerollt, Rafe schwenkte eine Gabel, um irgendeinen Standpunkt zu unterstreichen, Justin schüttelte den Kopf. Ich lehnte mich gegen den breiten Stamm eines Kirschbaums und lauschte Abbys Stimme, die aus dem halbgeöffneten Fenster drang, hinauf in den gewaltigen, schwarzen Himmel. Gott allein wusste, wie viele Leben diese Frau hinter sich gelassen hatte, um hierherzufinden, 588
nach Hause.Ich kann da reingehen, dachte ich. Wann immer ich will, ich kann die Stufen da hochlaufen und diese Tür öffnen und eintreten.
Kleine Risse. Am Dienstagabend waren wir wieder draußen im Garten, nach dem Essen – Riesenmengen Schweinebraten und Röstkartoffeln und Gemüse und dann warmer Apfelkuchen, kein Wunder, dass Lexie mehr als ich gewogen hatte. Wir tranken Wein und versuchten, die Energie für irgendetwas Nützliches aufzubringen. Das Armband meiner Uhr hatte sich gelöst, und ich saß auf dem Gras und versuchte, es wieder zu befestigen, mit Hilfe von Lexies Nagelfeile, dieselbe, mit der ich die Seiten ihres Terminkalenders umgeblättert hatte. Der kleine Metallbolzen sprang immer wieder raus. »Verdammte, mistige Arschfickerei«, sagte ich.
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»Was soll denn das heißen?«, sagte Justin träge von der Terrassenschaukel. »Und außerdem, was hast du gegen Arschficken?« Meine Antennen fuhren aus. Ich hatte mich schon gefragt, ob Justin schwul sein könnte, aber Franks Recherchen hatten weder das eine noch andere ergeben – keine Beziehungen zu Männern oder Frauen –, und es war durchaus möglich, dass er einfach ein netter, sensibler Hetero mit einer häuslichen Ader war. Falls er schwul war, konnte ich wenigstens einen von der Baby-Daddy-Liste streichen. »Mensch, Justin, gib nicht so an«, sagte Rafe. Er lag auf dem Rücken im Gras, die Augen geschlossen und die Arme hinter dem Kopf verschränkt. »Du bist dermaßen homophob«, entgegnete Justin. »Wenn ich sagen würde, ›Verfickte Scheiße‹, und Lexie würde fragen, ›Was hast du gegen Ficken?‹, würdest du ihr nicht vorwerfen, dass sie dick aufträgt.« 590
»Ich schon«, sagte Abby, die neben Rafe saß. »Ich würde ihr vorwerfen, mit ihrem Sexleben anzugeben, wo der Rest von uns keins hat.« »Da schließ ich mich aus«, sagte Rafe. »Ach du«, erwiderte Abby. »Du giltst nicht. Du erzählst uns doch nie was. Du könntest eine heiße Affäre mit dem ganzen Frauen-Hockeyteam der Uni haben, ohne dass einer von uns je was davon erfährt.« »Ich hatte noch nie eine Affäre mit einer aus dem Frauen-Hockeyteam der Uni«, sagte Rafe förmlich. »Die Uni hat ein Frauen-Hockeyteam?«, wollte Daniel wissen. »Komm nicht auf dumme Gedanken«, sagte Abby zu ihm. »Ich glaube, das ist Rafes kleines Geheimnis«, schaltete ich mich ein. »Na ja, weil er sich so bedeckt hält, haben wir alle von ihm das Bild, dass er hinter unserem Rücken unsägliche Sachen anstellt. Ich glaube, er erzählt deshalb nie was, weil er 591
einfach nichts zu erzählen hat: In seinem Liebesleben passiert noch weniger als in unserem.« Rafes Augen glitten zur Seite, und er schenkte mir ein winziges, rätselhaftes Grinsen. »Kaum möglich«, sagte Abby. »Und nach meiner heißen Affäre mit dem Männer-Hockeyteam fragt keiner?«, sagte Justin. »Nein«, sagte Rafe. »Auch nicht nach irgendeiner anderen von deinen heißen Affären, denn erstens erfahren wir es sowieso, und zweitens sind sie todlangweilig.« »Na«, sagte Justin nach einem Augenblick. »Jetzt hast du’s mir aber gezeigt. Obwohl das ausgerechnet aus deinem Munde … « »Was?«, fragte Rafe, stützte sich auf die Ellbogen und starrte Justin kalt an. »Was soll das heißen, ausgerechnet aus meinem Munde?« Niemand sagte etwas. Justin nahm seine Brille ab und putzte sie mit dem Hemdszipfel, zu gründlich. Rafe zündete sich eine Zigarette an.
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Abby warf mir einen Blick zu, wie ein Stichwort. Ich musste an die Videos denken: Die beiden sind eingespielt, hatte Frank gesagt. Das war Lexies Aufgabe: angespannte Situationen auflösen, eine schnoddrige Bemerkung von sich geben, damit alle die Augen verdrehen und lachen und weitermachen konnten. »Ach, verdammter sexuell undefinierter Mist«, sagte ich, als der Bolzen wieder heraussprang und ins Gras fiel. »Können damit alle leben?« Sogar Justin musste lachen, und selbst der verärgerte Rafe gab sich einen Ruck, legte seine Kippe am Rand der Terrasse ab und half mir bei der Suche nach dem Metallbolzen. Ein Glücksschauder durchlief mich: Ich hatte es geschafft.
»Dieser Detective hat nach meinem Tutorenkurs vor dem Seminarraum auf mich gewartet«, sagte Abby am Freitagabend im Auto. Justin war früher nach Hause gefahren – er hatte den ganzen Tag 593
über Kopfschmerzen geklagt, aber ich hatte eher den Eindruck, als wäre er sauer, und zwar auf Rafe –, deshalb saßen wir Übrigen bei Daniel im Wagen, im Stau auf der Schnellstraße, zusammen mit Tausenden lebensmüde aussehenden Büroangestellten und minderbestückten Blödmännern in protzigen Geländewagen. Ich hauchte gegen mein Fenster und spielte auf der beschlagenen Scheibe Schiffeversenken gegen mich selbst. »Welcher?«, fragte Daniel. »O'Neill.« »Hmm«, sagte Daniel. »Was wollte er denn diesmal?« Abby nahm ihm die Zigarette aus den Fingern und zündete ihre damit an. »Er wollte wissen, warum wir nicht ins Dorf gehen«, sagte sie. »Weil da nur sechszehige Schwachköpfe hausen«, sagte Rafe zum Fenster. Er saß neben mir, tief in den Sitz gedrückt und wippte mit dem Knie in Abbys Rücken. Staus machten Rafe wahnsinnig, aber seine ungewöhnlich schlechte Laune be594
stärkte mich in dem Verdacht, dass da irgendetwas zwischen ihm und Justin im Busch war. »Und was hast du gesagt?«, fragte Daniel, reckte den Hals und fädelte langsam in die Nebenspur ein. Wir kamen ungefähr zehn Zentimeter weiter. Abby zuckte die Achseln. »Die Wahrheit. Dass wir einmal im Pub waren, dass die Leute uns die kalte Schulter gezeigt haben, dass wir nie wieder hin sind.« »Interessant«, sagte Daniel. »Ich glaube, wir haben Detective O'Neill unterschätzt. Lex, hast du mit ihm irgendwann über das Dorf geredet?« »Auf die Idee wäre ich nie gekommen.« Ich gewann mein Spiel, streckte die Fäuste in die Luft und schüttelte sie triumphierend. Rafe warf mir einen mürrischen Blick zu. »Na«, sagte Daniel, »da haben wir’s. Ich muss zugeben, ich hab O'Neill nicht ganz ernst genommen, aber wenn er von allein drauf gekommen ist, ist er scharfsinniger, als er aussieht. Ich frage mich, ob … hm.« 595
»Er ist nerviger, als er aussieht«, sagte Rafe. »Zumindest hat Mackey nichts mehr von sich hören lassen. Wann lassen die uns endlich in Ruhe?« »Ich wurde niedergestochen, verdammt nochmal«, sagte ich gekränkt. »Ich hätte sterben können. Die wollen wissen, wer das war. Und ich auch übrigens. Ihr etwa nicht?« Rafe zuckte die Achseln und blickte wieder böse in den Verkehr. »Hast du ihm von den Schmierereien erzählt?«, fragte Daniel mit Blick auf Abby. »Oder den Einbrüchen?« Abby schüttelte den Kopf. »Er hat nicht danach gefragt, ich hab’s nicht von mir aus gesagt. Glaubst du … ? Ich könnte ihn anrufen und es ihm sagen.« Niemand hatte irgendwas von Schmierereien und Einbrüchen gesagt. »Glaubt ihr, jemand aus dem Dorf hat mich niedergestochen?«, sagte ich und beugte mich nach vorn zwischen die Sitze. »Ernsthaft?« 596
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Daniel. Ich wusste nicht genau, ob er mir oder Abby antwortete. »Ich muss die Möglichkeiten durchdenken. Ich denke, vorläufig ist es am besten, wir halten uns bedeckt. Wenn Detective O'Neill die Spannungen gespürt hat, findet er den Rest auch allein raus. Es besteht kein Grund, ihn mit der Nase draufzustoßen.« »Mann, Rafe«, sagte Abby, griff mit einem Arm hinter ihren Sitz und schlug Rafe aufs Knie. »Lass das.« Rafe seufzte geräuschvoll und riss seine Beine Richtung Tür. Der Stau hatte sich aufgelöst. Daniel steuerte auf die Abbiegespur, fuhr in einem weiten Bogen zügig von der Schnellstraße und gab Gas.
Als ich Sam am späten Abend von dem Feldweg aus anrief, wusste er bereits von den Schmierereien und den Einbrüchen. Er hatte in den letzten paar Tagen auf der Polizeiwache von Rathowen 597
die Akten nach irgendwelchen Delikten im Zusammenhang mit Whitethorn House durchforstet. »Irgendwas ist da im Busch, das steht fest. Das Haus taucht x-mal in den Akten auf.« Sams Stimme hatte den eifrigen konzentrierten Tonfall, den sie immer annimmt, wenn er eine gute Fährte hat – Rob sagte früher immer, man könnte förmlich sehen, wie er mit der Nase über den Boden schnüffelt. Zum ersten Mal, seit Lexie Madison mit einem Knall mitten in unser Leben geplatzt war, hörte er sich positiv an. »Die Kriminalitätsrate in Glenskehy ist gleich null, aber in den letzten drei Jahren hat es in Whitethorn House vier Einbrüche gegeben – einer 2002, wieder einer 2003, zwei, während der alte Simon im Hospiz lag.« »Wurde irgendwas gestohlen? Das Haus durchwühlt?« Ich hatte Sams Idee, dass Lexie wegen einer kleinen kostbaren Antiquität ermordet worden war, mehr oder weniger verworfen, nachdem ich gesehen hatte, was für einen Plunder On-
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kel Simon gehortet hatte, aber wenn irgendetwas in dem Haus vier Einbrüche wert gewesen war … »Nein. Bei keinem der Einbrüche wurde etwas entwendet, soweit Simon March das sagen konnte – Byrne meint allerdings, das Haus sei eine einzige Müllhalde gewesen. Der alte Simon hätte wahrscheinlich gar nicht gemerkt, wenn was gefehlt hat. Die Einbrecher haben in der Hintertür eine Scheibe eingeschlagen, sind rein und haben Chaos angerichtet: beim ersten Mal ein paar Vorhänge aufgeschlitzt und aufs Sofa gepinkelt, beim zweiten Mal jede Menge Geschirr zerdeppert, so was eben. Das waren keine Diebe. Da war jemand stinksauer.« Das Haus … Der Gedanke, dass irgend so eine miese Type wie ein Vandale durch die Räume gezogen war und schließlich seinen Schniedel rausgeholt und aufs Sofa gepinkelt hatte, löste in mir eine so wilde Wut aus, dass ich erschrak. Am liebsten hätte ich auf irgendetwas eingeschlagen. »Allerliebst«, sagte ich. »Sicher, dass es nicht 599
bloß irgendwelche Jugendlichen waren, die sich mal austoben wollten? Samstagsabends ist in Glenskehy ja bestimmt nicht gerade der Bär los.« »Moment«, sagte Sam. »Das ist noch nicht alles. Vier Jahre lang, ehe Lexie und Co. eingezogen sind, wurde das Haus jeden Monat Ziel von Vandalismus. Backsteine wurden durch die Fenster geschmissen, Flaschen gegen die Hauswand, eine Ratte durch den Briefschlitz geschoben – und Schmierereien. Manche davon mit dem Wortlaut« – Umblättern von Notizbuchseiten – »BRITEN RAUS, TOD DEN GROSSGRUNDBESITZERN, ES LEBE DIE IRA –« »Du denkst, die IRA hat Lexie Madison erstochen?« Zugegeben, der Fall war so seltsam, dass ich fast alles für möglich hielt, aber diese Theorie schien mir doch die abwegigste von allen zu sein, die ich bisher gehört hatte. Sam lachte, ein offenes, fröhliches Lachen. »Du liebe Zeit, nein. Das ist wohl kaum ihr Stil. Aber irgendwer in der Umgebung von Glenskehy hat in 600
der Familie March noch immer die Briten gesehen, Großgrundbesitzer, und war nicht unbedingt begeistert von ihnen. Und hör dir das an: zwei separate Schmierereien, eine 2001 und eine 2003, lauteten BABY-MÖRDER RAUS.« »Baby-Mörder?«, sagte ich völlig verdattert – eine verrückte Sekunde lang brachte ich die Chronologie durcheinander und dachte an Lexies kurze, heimliche Schwangerschaft. »Was zum Kuckuck soll das bedeuten? Was hat diese Sache denn plötzlich mit einem Baby zu tun?« »Keine Ahnung, aber ich finde es raus. Irgendwer hat eine ganz spezielle Wut – nicht auf Lexie und ihre Freunde, dafür reicht die Sache schon viel zu lange zurück, und auch nicht auf den alten Simon. ›Briten‹, ›Baby-Mörder‹, Plural – die reden nicht von einem alten Knacker. Die haben mit der ganzen Familie ein Problem: Whitethorn House und alle, die drin leben.« Der Feldweg wirkte abweisend und feindselig, zu viele Schattenformen, Erinnerungen an zu viele 601
alte Dinge, die irgendwo zwischen seinen Windungen geschehen waren. Ich trat in den Schatten eines Baumes und lehnte mich mit dem Rücken gegen den Stamm. »Wieso haben wir vorher nichts davon erfahren?« »Wir haben nicht gefragt. Für uns war allein Lexie, oder wer immer sie war, das Ziel. Wir haben gar nicht in Erwägung gezogen, sie könnte – wie heißt es doch so schön? – ein Kollateralschaden sein. Byrne und Doherty trifft keine Schuld. Die haben noch nie an einem Mordfall mitgearbeitet und wissen gar nicht, was es da alles zu bedenken gilt. Die sind nicht mal auf die Idee gekommen, das könnte für uns interessant sein.« »Und was sagen sie zu der Geschichte?« Sam atmete laut aus. »Nicht viel. Sie haben für keinen Einzigen der Vorfälle auch nur einen Verdächtigen, und über irgendein totes Baby wissen sie gar nichts, und sie haben mir viel Glück für meine Befragungen im Ort gewünscht. Beide sagen, sie wissen nach wie vor nicht mehr über 602
Glenskehy als am Tag ihrer Ankunft. Die Einwohner bleiben unter sich, mögen keine Polizei, mögen keine Auswärtigen. Wenn mal eine Straftat begangen wird, hat keiner was gesehen, keiner was gehört, und sie klären die Sache auf ihre Art, privat. Laut Byrne und Doherty halten sogar die anderen Dörfer in der Gegend die Leute von Glenskehy für komplett bescheuert.« »Also haben sie den Vandalismus einfach ignoriert?«, sagte ich. Ich konnte die nervöse Anspannung in meiner Stimme hören. »Haben die Anzeige aufgenommen und gesagt, ›Tja, da können wir leider nichts machen‹, und seelenruhig zugesehen, wie irgendwer Whitethorn House immer wieder aufs Korn genommen hat.« »Sie haben ihr Bestes getan«, sagte Sam prompt und mit Nachdruck – alle Kollegen, selbst Kollegen wie Doherty und Byrne, gelten für Sam als Familie. »Nach den ersten Einbrüchen haben sie Simon March geraten, sich einen Hund anzuschaffen oder eine Alarmanlage. Er hat gesagt, er könn603
te Hunde nicht ausstehen, Alarmanlagen wären was für Schwuchteln und er könnte gut selbst auf sich aufpassen, vielen herzlichen Dank. Byrne und Doherty hatten irgendwie das Gefühl, er hätte eine Schusswaffe – das wird die sein, die ihr gefunden habt. Sie waren nicht begeistert davon, zumal er die meiste Zeit betrunken war, aber sie konnten nichts machen. Als sie ihn rundheraus fragten, hat er es abgestritten. Sie konnten ihn ja wohl kaum gegen seinen Willen zwingen, sich eine Alarmanlage anzuschaffen.« »Und als er dann im Hospiz lag? Sie wussten doch, dass das Haus leer stand, das muss jeder in der Gegend gewusst haben, sie wussten, dass es ein schutzloses Ziel war –« »Sie haben jeden Abend auf ihrer Runde nach dem Rechten gesehen, klar«, sagte Sam. »Was hätten sie sonst noch machen sollen?« Er klang verblüfft, und ich merkte, dass meine Stimme laut geworden war. »Du hast gesagt, ›bis
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Lexie und Co. eingezogen sind‹«, sagte ich leiser. »Was war dann?« »Die Vandalismusvorfälle hörten nicht auf, gingen aber deutlich zurück. Byrne hat dem Haus einen Besuch abgestattet und mit Daniel gesprochen, hat ihm erzählt, was alles so passiert war, aber Daniel hat das nicht sonderlich beunruhigt. Seitdem hat es nur zwei Vorfälle gegeben: ein Stein durchs Fenster im Oktober und noch einmal eine Wandschmiererei im Dezember – AUSLÄNDER VERPISST EUCH. Für Byrne und Doherty war das alles Schnee von gestern, auch deshalb haben sie es uns gegenüber nicht erwähnt.« »Dann war es also vielleicht bloß ein Rachefeldzug gegen Onkel Simon.« »Könnte sein, glaub ich aber nicht. Ich tippe eher auf ein zeitliches Problem, sozusagen.« In Sams Stimme lag ein Grinsen: Etwas Handfestes zu haben hatte ihm Auftrieb gegeben. »In sechzehn Berichten ist angegeben, um welche Uhrzeit das jeweilige Delikt begangen wurde, und die liegt 605
ausnahmslos zwischen halb zwölf und ein Uhr nachts. Das ist kein Zufall. Wer auch immer Whitethorn House auf dem Kieker hat, das ist das Zeitfenster.« »Sperrstunde«, sagte ich. Er lachte. »Zwei Doofe, ein Gedanke. Ich tippe auf ein paar Typen, die zusammen ihr Bierchen trinken, und ab und an schauen sie ein bisschen zu tief ins Glas, trinken sich ein bisschen Mut an, und wenn der Wirt sie rausschmeißt, heißt es, auf zum Whitethorn House, mit ein paar Backsteinen oder einer Dose Sprühfarbe oder was sie gerade zur Hand haben. Die Lebensweise des alten Simon kam ihnen wunderbar entgegen: Um halb zwölf war der meistens entweder bewusstlos – das sind die Berichte ohne Zeitangabe, weil er den Vorfall erst am nächsten Morgen gemeldet hat, als er wieder nüchtern war – oder wenigstens zu betrunken, um ihnen gefährlich zu werden. Bei den ersten beiden Einbrüchen war er zu Hause, im Tiefschlaf, so dass er rein gar nichts mitgekriegt hat. Er kann 606
von Glück sagen, dass er ein gutes Schloss an der Schlafzimmertür hatte, sonst hätte noch Gott weiß was passieren können.« »Aber dann sind wir eingezogen«, sagte ich. Eine Sekunde zu spät hörte ich mich selbst – sind sie eingezogen, nicht wir –, aber Sam hatte offenbar nichts gemerkt. »Jetzt sind zwischen halb zwölf und eins fünf Leute hellwach und auf den Beinen. Das Haus zu demolieren macht anscheinend nicht so viel Spaß, wenn drei große starke Jungs einen erwischen und windelweich schlagen könnten.« »Und zwei große starke Frauen«, sagte Sam, und wieder hörte ich das Grinsen heraus. »Ich wette, du und Abby, ihr hättet einen ordentlichen Schlag am Leib. Bei der Sache mit dem Stein durchs Fenster wäre das auch fast passiert. Die fünf saßen zusammen im Wohnzimmer, kurz vor Mitternacht, als der Stein in die Küche flog. Sobald sie begriffen, was passiert war, sind alle zur Hintertür raus, um sich den Typen zu schnappen. 607
Aber da sie nicht in der Küche gewesen waren, hatten sie durch die Schrecksekunde Zeit verloren, und ehe sie kapierten, was los war, hatte der Typ längst das Weite gesucht. Da hat er noch mal Schwein gehabt, meint Byrne. Erst fünfundvierzig Minuten später haben sie die Polizei gerufen – und da schäumten sie immer noch vor Wut. Dieser Rafe hat zu Byrne gesagt, wenn er den Burschen je in die Finger kriegt, würde seine eigene Mummy ihn danach nicht wiedererkennen. Lexie meinte, sie würde ihm, ich zitiere, ›so fest in die Eier treten, dass sie ihm im Hals stecken bleiben‹.« »Nicht schlecht«, sagte ich. Sam lachte. »Ja, hab mir gedacht, dass dir das gefallen wird. Die anderen haben sich derlei Drohungen im Beisein eines Beamten lieber verkniffen, aber Byrne meint, gedacht haben sie es mit Sicherheit. Er hat ihnen dringend davon abgeraten, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen, aber er ist sich nicht sicher, ob das richtig bei ihnen angekommen ist.« 608
»Verstehen kann ich das«, sagte ich. »So hilfreich waren die Cops ja nun auch wieder nicht. Was ist mit den Schmierereien?« »Da waren Lexie und Co. nicht zu Hause. Es war Sonntagabend, und sie waren essen gegangen und anschließend ins Kino. Sie kamen erst kurz nach Mitternacht nach Hause, und da war die Schweinerei schon da, quer über die Hausfassade. Es war das erste Mal seit ihrem Einzug, dass sie so spät nach Hause gekommen waren. Könnte ein Zufall sein, aber das glaube ich nicht. Die Sache mit dem Stein hat dem Vandalen einigen Respekt eingejagt, aber entweder hat er das Haus beobachtet, oder er hat den Wagen durchs Dorf fahren und nicht wiederkommen sehen. Er hat seine Chance erkannt und sie ergriffen.« »Du denkst also, das ist doch kein Krieg des ganzen Dorfes gegen das Herrenhaus?«, sagte ich. »Nur die Privatfehde eines Einzelnen?«
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Sam gab einen unverbindlichen Laut von sich. »Nicht unbedingt. Hast du gehört, was passiert ist, als Lexie und Co. mal im Regan’s waren?« »Ja, Abby hat erzählt, dass du sie darauf angesprochen hast. Sie hat gesagt, die Leute im Pub hätten ihnen die kalte Schulter gezeigt, aber sie ist nicht ins Detail gegangen.« »Das war ein paar Tage nach ihrem Einzug. Alle fünf gehen am Abend in den Pub, setzen sich an einen Tisch, Daniel geht an die Theke, um was zu trinken zu holen, und der Wirt ignoriert ihn. Geschlagene zehn Minuten, keine zwei Meter entfernt, obwohl kaum Gäste da sind, bis Daniel sagt, ›Entschuldigung, ich hätte gern zwei Guinness und … ‹ Der Wirt steht bloß da, poliert ein Glas und guckt Fernsehen. Schließlich gibt Daniel auf, geht zurück zu den anderen, sie beratschlagen leise und kommen zu dem Schluss, dass Onkel Simon vielleicht schon zu oft aus dem Pub geworfen wurde und die Marchs nicht sonderlich beliebt sind. Also schicken sie Abby zur Theke – sie den610
ken sich, sie hat vermutlich bessere Chancen als der Engländer oder der Junge aus dem Norden. Wieder das Gleiche. Unterdessen spricht Lexie die alten Männer am Nebentisch an, um rauszufinden, was denn eigentlich los ist. Keiner antwortet ihr, keiner würdigt sie auch nur eines Blickes. Alle drehen ihr bloß den Rücken zu und unterhalten sich weiter.« »Du liebe Zeit«, sagte ich. Es ist gar nicht so einfach, wie es klingt, fünf Leute zu ignorieren, die deine Aufmerksamkeit wollen. Es verlangt einiges an Konzentration, sich über die eigenen Instinkte dermaßen hinwegzusetzen, und dazu ist ein Grund erforderlich, etwas Hartes und Kaltes wie Felsgestein. Ich versuchte, den Feldweg in beiden Richtungen gleichzeitig im Auge zu behalten. »Justin regt sich auf und will gehen, Rafe wird stinksauer und will bleiben, Lexie legt sich mehr und mehr ins Zeug, die Leute zum Reden zu bringen – bietet ihnen Schokolade an, erzählt Witze –, und eine Gruppe jüngerer Typen in einer Ecke 611
fängt an, böse Blicke rüberzuwerfen. Abby hatte zwar auch keine große Lust, einen Rückzieher zu machen, aber sie und Daniel meinten beide, die Situation könnte jeden Augenblick außer Kontrolle geraten. Sie haben die anderen geschnappt und sind gegangen, und sie haben sich nie wieder blicken lassen.« Ein leichter Wind brachte die Blätter zum Rascheln, wehte den Feldweg hoch auf mich zu. »Ganz Glenskehy hegt also Animositäten gegen die fünf«, sagte ich, »aber nur ein oder zwei Leute gehen einen Schritt weiter.« »Genau das glaube ich. Und die ausfindig zu machen wird spaßig werden. Glenskehy hat nämlich rund vierhundert Einwohner, die Farmen ringsherum mitgezählt, und keiner von denen ist bereit, mir bei der Eingrenzung möglicher Verdächtiger behilflich zu sein.« »Dabei könnte ich dir helfen«, sagte ich. »Na ja, mit einem Profil. Ich kann’s jedenfalls versuchen. Über Vandalen werden leider nicht so viele psy612
chologische Daten gesammelt wie über Serienkiller, daher wird das meiste Spekulation sein, aber zumindest gibt es ein halbwegs erkennbares Muster, so dass ich dir ein paar Sachen sagen kann.« »Ich bin auch mit Spekulationen zufrieden«, sagte Sam munter. Ich hörte Seiten rascheln, Knistern, als er das Telefon zwischen Ohr und Schulter klemmte, um besser schreiben zu können. »Ich nehm alles, klar. Schieß los.« »Okay«, sagte ich. »Du suchst nach jemandem aus der Gegend, natürlich – in Glenskehy geboren und aufgewachsen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit männlich. Ich glaube, es ist eher ein Einzeltäter, keine Gruppe: Bei spontanem Vandalismus ist meistens eine Gruppe beteiligt, aber geplante Hasskampagnen wie in diesem Fall sind in der Regel eher privater Natur.« »Kannst du mir irgendwas über ihn sagen?« Sams Stimme klang undeutlich, weil ihm der Hörer beim Schreiben verrutscht war.
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»Wenn die Sache vor vier Jahren angefangen hat, dann ist er vermutlich Mitte zwanzig bis Anfang dreißig – Vandalismus wird für gewöhnlich von jungen Männern verübt, aber dieser Täter geht für einen Jugendlichen zu systematisch vor. Schulbildung – höchstens Abitur, aber kein Studium. Er lebt mit jemandem zusammen, entweder seinen Eltern oder einer Ehefrau oder Freundin: Keine Angriffe nach ein Uhr nachts, jemand erwartet, dass er zu einer bestimmten Zeit zu Hause ist. Er geht einer regelmäßigen Arbeit nach, von morgens bis abends die ganze Woche, sonst hätte es auch tagsüber Vorfälle gegeben, wenn wir alle an der Uni sind und die Luft rein ist. Der Arbeitsplatz ist auch hier in der Gegend, er pendelt nicht nach Dublin oder woandershin; das Maß an Obsession besagt, dass Glenskehy seine ganze Welt ausmacht. Und er ist nicht zufrieden damit. Seine Arbeit entspricht bei weitem nicht seinen intellektuellen Fähigkeiten oder seinem Bildungsniveau, zumindest glaubt er das. Und er hatte vermutlich 614
schon vorher immer wieder Probleme mit anderen Menschen, Nachbarn, Exfreundinnen, vielleicht Arbeitgebern. Dieser Typ kommt nicht gut mit Autorität klar. Es könnte sich lohnen, bei Byrne und Doherty nachzufragen, ob ihnen irgendwelche alten Streitigkeiten zwischen Einheimischen bekannt sind oder jemand Anzeige wegen Belästigung erstattet hat.« »Wenn der Bursche, den ich suche, Leute aus Glenskehy belästigt hat«, sagte Sam grimmig, »dann werden die nie und nimmer zur Polizei gehen. Die würden ihre Kumpel zusammentrommeln und ihn irgendwann abends vermöbeln, ganz klar. Und er würde dann auch nicht zur Polizei gehen.« »Nein«, sagte ich, »wahrscheinlich nicht.« Ein Huschen auf der Wiese neben dem Feldweg, ein dunkler Strich durchs Gras. Es war zu klein für einen Menschen, aber ich wich trotzdem tiefer in den Schatten des Baumes. »Zweite Möglichkeit. Auslöser für die Kampagne gegen Whitethorn House könnte irgendein Streit mit Simon March 615
gewesen sein – er scheint ein grantiger alter Mistkerl gewesen zu sein, gut möglich, dass er einigen Leuten gehörig auf den Senkel gegangen ist –, aber im Kopf des Burschen, den du suchst, geht die Sache wesentlich tiefer. Für ihn geht es um ein totes Baby. Und davon wissen Byrne und Doherty absolut nichts, stimmt’s? Wie lange sind sie schon hier?« »Doherty erst zwei Jahre, aber Byrne schon seit 1997. Er sagt, letztes Frühjahr hat es im Dorf einen Fall von plötzlichem Kindstod gegeben, und vor ein paar Jahren ist ein kleines Mädchen auf einer Farm in eine Jauchegrube gefallen und ertrunken, aber das war auch schon alles. Beide Todesfälle völlig unverdächtig und keinerlei Verbindung zu Whitethorn House. Und auch der Computer hat keine weiteren Fälle aus der Gegend ausgespuckt.« »Dann suchen wir nach etwas, das länger zurückliegt«, sagte ich, »genau wie du dir gedacht hast. Weiß Gott wie lange. Weißt du noch, was du 616
mir über die Purcells erzählt hast, aus deiner Gegend?« Eine Pause. »Dann finden wir es nie raus. Das Zentralarchiv, klar.« Die meisten Behördenakten Irlands gingen 1921 im Bürgerkrieg bei einem Brand in Flammen auf. »Du brauchst keine Akten. Die Leute hier wissen von der Sache, das garantier ich dir. Wann immer das Baby auch gestorben ist, der Typ, den du suchst, hat davon nicht aus einer alten Zeitung erfahren. Dafür ist er viel zu besessen davon. Für ihn ist das keine alte Geschichte. Er empfindet einen realen, frischen Hass, und er sinnt auf Rache.« »Willst du damit sagen, er ist verrückt?« »Nein«, erwiderte ich. »Nicht so, wie du es meinst. Er ist viel zu vorsichtig – wartet stets auf den sicheren Zeitpunkt, tritt den Rückzug an, wenn er gejagt wird … Wäre er, sagen wir, schizophren oder bipolar, hätte er nicht so viel Kontrolle über sich. Er hat keine psychische Störung. Aber seine Obsession ist so stark, dass man ihn 617
wohl als ziemlich unausgeglichen bezeichnen muss.« »Könnte er gewalttätig werden? Gegen Menschen, meine ich, nicht bloß gegen Sachen.« Sams Stimme war wieder klarer, er hatte sich aufrecht hingesetzt. »Da bin ich mir nicht sicher«, sagte ich vorsichtig. »Scheint nicht sein Stil zu sein – ich meine, er hätte die Schlafzimmertür vom alten Simon aufbrechen und ihm eins mit dem Schürhaken überbraten können, wenn er gewollt hätte, aber das hat er nicht. Aber da er immer nur dann aktiv wird, wenn er betrunken ist, glaube ich, dass er ein ungesundes Verhältnis zu Alkohol hat – einer von den Typen, die nach vier oder fünf Bier eine ganz neue Persönlichkeit entwickeln, und keine besonders nette. Sobald Alkohol im Spiel ist, wird alles unberechenbarer. Und wie gesagt, er ist von der Sache besessen. Wenn er den Eindruck bekommen hat, dass der Feind den Konflikt verschärft – zum Beispiel, indem er ihn nach dem Steinwurf durchs 618
Küchenfenster verfolgt hat –, könnte es gut sein, dass er härtere Saiten aufgezogen hat.« »Du weißt, wonach sich das anhört«, sagte Sam nach einer Pause, »nicht? Gleiches Alter, aus der Gegend, clever, beherrscht, kriminelle Erfahrung, aber nicht gewalttätig … « Das Profil, das ich ihm noch in meiner Wohnung geliefert hatte, das Profil des Killers. »Ja«, sagte ich. »Ich weiß.« »Im Grunde sagst du gerade, er könnte unser Täter sein. Lexies Mörder.« Der Schattenstrich war wieder da, flink und lautlos durch Gras und Mondlicht: ein Fuchs vielleicht, der eine Feldmaus jagte. »Er könnte es sein«, sagte ich. »Wir können ihn nicht ausschließen.« »Wenn eine Familienfehde hinter der Sache steckt«, sagte Sam, »dann war Lexie nicht das konkrete Ziel, dann hatte ihr Leben nichts damit zu tun, und du musst nicht mehr dableiben. Du kannst nach Hause kommen.« 619
Die Hoffnung in seiner Stimme ließ mich zusammenzucken. »Ja«, sagte ich, »vielleicht. Aber ich glaube nicht, dass wir jetzt schon so weit sind. Wir haben keine konkrete Verbindung zwischen dem Vandalismus und dem Mord. Gut möglich, dass das eine absolut nichts mit dem anderen zu tun hat. Und wenn wir die Sache erst einmal beendet haben, können wir nicht zurück.« Eine ganz kurze Pause. Dann: »In Ordnung. Also such ich weiter nach der Verbindung. Und, Cassie … « Seine Stimme klang düsterer, angespannt. »Ich bin vorsichtig«, sagte ich. »Ich bin die ganze Zeit vorsichtig.« »Halb zwölf bis ein Uhr. Das ist genau die Uhrzeit, in der Lexie erstochen wurde.« »Ich weiß. Ich hab unterwegs keinen Verdächtigen herumlungern sehen.« »Hast du deinen Revolver dabei?« »Immer wenn ich das Haus verlasse. Frank hat mir deshalb schon die Leviten gelesen.« 620
»Frank«, sagte Sam, und ich hörte die plötzliche Reserviertheit in seiner Stimme. »Richtig.« Nachdem wir aufgelegt hatten, wartete ich noch lange im Schatten des Baumes. Ich hörte etwas durchs hohe Gras springen und den dünnen Schrei, als das Raubtier da draußen schließlich zuschlug. Als das Geraschel in der Dunkelheit verklungen war und sich nur noch kleines Getier bewegte, trat ich rasch auf den Feldweg und ging nach Hause. Ich verharrte am hinteren Tor und schaukelte eine Weile darauf, lauschte dem langsamen Quietschen der Scharniere und blickte den langen Garten hoch zum Haus. Es wirkte anders in jener Nacht. Der graue Stein der Rückseite war glatt und wehrhaft wie eine Burgmauer, und der goldene Schein, der aus den Fenstern fiel, kam mir nicht mehr anheimelnd vor. Er hatte etwas Trotziges angenommen, etwas Warnendes, wie ein kleines Lagerfeuer in einem wilden Wald. Das weiße Mondlicht verwandelte den Rasen in ein weites, 621
unruhiges Meer, mit dem Haus groß und reglos in der Mitte, auf allen Seiten ungeschützt. Belagert.
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10 Wenn du einen Riss findest, drückst du darauf und stellst fest, ob er nachgibt. Ich hatte ungefähr anderthalb Stunden gebraucht, um mir zu überlegen, dass Justin mein bester Ansatzpunkt war, falls es etwas gab, was die vier mir nicht erzählten. Jeder Detective mit ein paar Jahren Berufserfahrung kann dir sagen, wer zuerst die Nerven verlieren wird. Ich hab mal erlebt, dass Costello, der seit den achtziger Jahren zum Morddezernat gehört wie das Mobiliar, bei einer Gruppe von Verdächtigen auf Anhieb den schwächsten herauspickte, nachdem er bloß bei ihrer erkennungsdienstlichen Behandlung zugesehen hatte. Das ist unsere Version vonErkennen Sie die Melodie. Bei Daniel und Abby wäre es zwecklos: Sie waren beide zu beherrscht und zu konzentriert, fast unmöglich abzulenken oder auf dem falschen Fuß zu erwischen – ich hatte ein paarmal versucht, Abby zu entlocken, wen sie für den Kindsvater 623
hielt, aber nur einen kühlen, ausdruckslosen Blick geerntet. Rafe war leichter zu beeinflussen, und ich wusste, dass ich notfalls etwas aus ihm herausholen könnte, aber es würde schwierig werden. Er war zu aufbrausend und widersprüchlich, möglich, dass er mir erzählen würde, was ich wissen wollte, aber er könnte auch ebenso gut wutentbrannt davonstürzen. Justin, der sanfte, phantasievolle, schnell beunruhigte Justin, der immer wollte, dass alle glücklich sind, war schon fast der Traumkandidat eines Vernehmers. Nur dass ich nie allein mit ihm war. In der ersten Woche hatte ich das nicht registriert, aber jetzt, wo ich nach einer Gelegenheit suchte, fiel es mir rückblickend auf. Daniel und ich fuhren mehrmals pro Woche zusammen zur Uni, und ich war oft mit Abby zusammen – beim Frühstückmachen, nach dem Abendessen, wenn die Jungs abwuschen, manchmal klopfte sie noch spätabends an meine Tür, setzte sich mit einer Packung Kekse zu mir aufs Bett, und wir unterhielten uns, bis wir 624
müde wurden. Aber wenn ich mal länger als fünf Minuten mit Rafe oder Justin allein war, kam unweigerlich einer von den anderen dazu oder rief uns, und sogleich wurden wir wieder mühelos, unmerklich von der Gruppe umfangen. Vielleicht war das ganz normal. Die fünf verbrachten nun mal furchtbar viel Zeit zusammen, und Gruppen unterteilen sich meist in feine Untergruppen, Zweierkonstellationen, die nie zu eng werden, weil sie nur als Teil des Ganzen harmonieren. Aber ich fragte mich doch, ob jemand, vermutlich Daniel, die vier mit dem taxierenden Blick eines Vernehmers eingeschätzt hatte und zu derselben Schlussfolgerung gelangt war wie ich. Am Montagmorgen dann bekam ich meine Chance. Wir waren an der Uni. Daniel unterrichtete seinen Tutorenkurs, und Abby hatte einen Termin bei ihrem Doktorvater, daher waren Rafe, Justin und ich allein in unserer Ecke der Bibliothek. Als Rafe aufstand und irgendwo hinging, vermutlich zum Klo, zählte ich bis zwanzig und schob 625
dann den Kopf über die Trennwand an Justins Arbeitsplatz. »Hallo, du«, sagte er und blickte von einer säuberlich beschriebenen Seite auf. Auf jedem Quadratzentimeter seines Schreibtischs häuften sich Bücher und lose Blätter und Fotokopien mit markierten Passagen. Justin konnte nur arbeiten, wenn er alles in bequemer Reichweite hatte, was er möglicherweise brauchen würde. »Mir ist langweilig, und die Sonne scheint«, sagte ich. »Lass uns Mittagspause machen.« Er sah auf die Uhr. »Ist doch erst zwanzig vor eins.« »Lebe wild und gefährlich«, sagte ich. Justin blickte unsicher. »Und Rafe?« »Der ist groß und hässlich genug, um auf sich selbst aufzupassen. Er kann ja auf Abby und Daniel warten.« Für eine Entscheidung dieser Größenordnung sah Justin noch viel zu verunsichert aus, und ich schätzte, dass mir noch etwa eine Minute blieb, um ihn von hier wegzulocken, ehe Ra626
fe zurückkam. »Och, Justin, nun komm schon. Sonst mach ich die ganze Zeit das hier.« Ich fing an, mit den Fingernägeln einen nervigen Rhythmus auf die Trennwand zu trommeln. »Oh Gott«, sagte Justin und legte seinen Stift hin. »Die chinesische Geräuschfolter. Ich ergebe mich.« Der nächstliegende Ort für ein Pausenpicknick war am Rand vom New Square, aber das war von der Bibliothek aus einsehbar, also schleifte ich Justin rüber zum Kricketfeld, wo Rafe uns nicht so schnell finden würde. Es war ein heller, kalter Tag, der Himmel hoch und blau und die Luft wie Eiswasser. Weiter unten vor dem Pavillon stellten einige Kricketspieler ernsthafte, streng stilisierte Sachen miteinander an, und in unserer Nähe spielten vier Jungs Frisbee, wobei sie geflissentlich den Eindruck zu erwecken versuchten, als wollten sie damit nicht den drei handelsüblich zurechtgemachten Mädchen auf einer Bank imponieren, die
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sich ihrerseits bemühten, so zu tun, als sähen sie nicht hin. Balzverhalten: Es war Frühling. »Und?«, sagte Justin, nachdem wir uns im Gras niedergelassen hatten. »Wie kommst du mit dem Kapitel voran?« »Gar nicht«, sagte ich und kramte in meiner Büchertasche nach einem Sandwich. »Ich hab noch kein einziges Wort geschrieben, seit ich zurück bin. Ich kann mich nicht konzentrieren.« »Na ja«, sagte Justin nach einem Moment. »Das ist bestimmt ganz normal. In der ersten Zeit.« Ich zuckte die Achseln, ohne ihn anzusehen. »Das gibt sich wieder. Ganz bestimmt. Jetzt, wo du zu Hause bist und alles wieder normal läuft.« »Ja. Kann sein.« Ich fand mein Sandwich, betrachtete es angewidert und warf es ins Gras: Nur wenige Dinge bekümmerten Justin so sehr, wie wenn Leute nicht aßen. »Es ist einfach ätzend, dass ich nicht weiß, was passiert ist. Es ist total ätzend. Es geht mir nicht aus dem Kopf … die Bullen haben so Andeutungen gemacht, sie hätten 628
Spuren und so, aber sie haben mir nichts verraten. Verdammt nochmal, ich bin schließlich niedergestochen worden. Wenn einer das Recht hat, was zu erfahren, dann doch wohl ich.« »Aber ich hab gedacht, du fühlst dich besser. Du hast gesagt, es geht dir gut.« »Ja, hab ich. Ach, egal.« »Wir haben gedacht … Ich meine, ich hätte nicht gedacht, dass du so verstört bist. Dass du ständig dran denkst. Das sieht dir gar nicht ähnlich.« Ich schielte zu ihm rüber, aber er sah nicht misstrauisch aus, nur besorgt. »Tja«, sagte ich. »Ich bin vorher ja auch noch nie niedergestochen worden.« »Nein«, sagte Justin. »Wohl wahr.« Er baute seinen Lunch im Gras auf: eine Flasche Orangensaft auf der einen Seite, eine Banane auf der anderen, ein Sandwich in der Mitte. Er kaute auf der Lippe.
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»Weißt du, woran ich immer denken muss?«, sagte ich unvermittelt. »An meine Eltern.« Schon allein es auszusprechen löste ein kurzes, unvermutetes, kleines Prickeln aus. Justins Kopf fuhr hoch, und er starrte mich an. »Was ist denn mit ihnen?« »Vielleicht sollte ich mich bei ihnen melden. Ihnen erzählen, was passiert ist.« »Keine Vergangenheit«, sagte Justin augenblicklich, wie eine Formel zum Schutz gegen Unglück. »Das haben wir abgemacht.« Ich zuckte die Achseln. »Na und? Ihr habt gut reden.« »So leicht ist das nun auch nicht.« Als ich nicht antwortete: »Lexie? Ist das dein Ernst?« Ich zuckte gereizt mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.« »Aber ich dachte, du kannst sie nicht ausstehen. Du hast gesagt, du wolltest nie wieder ein Wort mit ihnen reden.«
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»Darum geht’s nicht.« Ich wickelte mir den Riemen meiner Büchertasche um den Finger und zog ihn zu einer langen Spirale auseinander. »Mir geht bloß dauernd durch den Kopf … Ich hätte hier sterben können. Könnte jetzt tot sein. Und meine Eltern hätten es nicht mal erfahren.« »Wenn mir was passiert«, sagte Justin, »will ich nicht, dass meine Eltern verständigt werden. Ich will sie nicht dahaben. Ich will nicht, dass sie es erfahren.« »Warum nicht?« Er fummelte am Verschluss seiner Saftflasche herum, den Kopf gesenkt. »Justin?« »Ach, egal. Ich wollte jetzt nicht von mir anfangen.« »Nein. Erzähl’s mir, Justin. Warum nicht?« Nach einem Moment sagte Justin: »In unserem ersten Jahr als Doktoranden bin ich über Weihnachten nach Hause gefahren, nach Belfast. Das war kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten. Weißt du noch?« 631
»Ja«, sagte ich. Er sah mich nicht an. Er starrte blinzelnd zu den Kricketspielern hinüber, die sich weiß und feierlich wie Gespenster gegen das Grün abhoben. Das Knallen des Schlägers trieb verspätet und fast verträumt zu uns herüber. »Ich hab meinem Vater und meiner Stiefmutter gesagt, dass ich schwul bin. An Heiligabend.« Ein kleines, humorlos schnaubendes Lachen. »Gott steh mir bei, ich glaube, ich hab gedacht, die Weihnachtsstimmung – Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen … Und ihr vier hattet es so völlig locker aufgenommen. Weißt du, wie Daniel reagiert hat, als ich es ihm erzählte? Er hat ein paar Minuten überlegt und dann erklärt, homo und hetero seien Konstruktionen der Moderne und die Haltung zur Sexualität sei bis in die Renaissance hinein sehr viel fließender gewesen. Und Abby hat die Augen verdreht und mich gefragt, ob sie jetzt überrascht tun soll. Bei Rafe war ich am unsichersten – wieso, weiß ich auch nicht –, aber er hat bloß gegrinst und gesagt: ›Weniger Konkur632
renz für mich.‹ Was wirklich nett von ihm war. Schließlich war ich nie eine echte Konkurrenz für ihn … Das war für mich alles eine große Erleichterung, verstehst du? Und wahrscheinlich hat mich das auf die Idee gebracht, dass es vielleicht doch nicht so schlimm wäre, es meiner Familie zu sagen.« »Mir war nicht klar, dass du es ihnen gesagt hast«, warf ich ein. »Hast du nie erzählt.« »Na ja«, sagte Justin. Er zupfte behutsam die Frischhaltefolie von seinem Sandwich, um keinen Senf auf die Finger zu bekommen. »Meine Stiefmutter ist eine furchtbare Frau, weißt du. Wirklich furchtbar. Ihr Vater ist Zimmermann, aber sie erzählt allen, er wäre Kunsthandwerker, was auch immer sie sich darunter vorstellen mag, und sie lädt ihn nie zu irgendwelchen Festen ein. Alles an ihr ist durch und durch Mittelschicht – wie sie spricht, die Klamotten, die Frisur, das Porzellandekor, als hätte sie sich selbst im Katalog bestellt –, aber man merkt ihr förmlich an, was sie das al633
les für eine Riesenanstrengung kostet. Ihren Boss zu heiraten muss für sie so ähnlich gewesen sein, wie den Heiligen Gral zu finden. Ich will nicht behaupten, dass mein Vater mein Schwulsein akzeptiert hätte, wenn sie nicht gewesen wäre – er sah aus, als würde ihm gleich schlecht –, aber sie hat alles noch viel, viel schlimmer gemacht. Sie war regelrecht hysterisch. Sie hat zu meinem Vater gesagt, sie will mich aus dem Haus haben, auf der Stelle. Und zwar für immer.« »Mein Gott, Justin.« »Sie guckt dauernd diese Trashserien im Fernsehen«, sagte Justin. »Da werden alle naslang irgendwelche sündigen Söhne davongejagt. Sie hat rumgekreischt, richtig rumgekreischt: ›Denk doch an die Jungs!‹ – sie meinte meine Halbbrüder. Ich weiß nicht, ob sie Angst hatte, ich würde sie ans andere Ufer locken oder mich an ihnen vergehen oder was, aber ich hab gesagt – und das war ziemlich gemein, aber du kannst dir vorstellen, wie aufgebracht ich war –, ich hab gesagt, sie bräuchte 634
sich keine Sorgen zu machen, weil nämlich kein Schwuler, der was auf sich hält, diese hässlichen kleinen Monster auch nur mit der Kneifzange anfassen würde. Und dann ist die Situation eskaliert. Sie hat mit Sachen geschmissen, ich hab rumgeschimpft, die Monster haben sogar ihre PlayStation mal für einen Moment verlassen, um nachzusehen, was los war. Sie wollte sie aus dem Zimmer zerren – wahrscheinlich, damit ich nicht gleich an Ort und Stelle über sie herfiel –, und prompt fingen sie auch noch an zu kreischen … Schließlich hat mein Vater gesagt, es wäre besser, ich würde gehen und ›vorläufig‹ nicht wiederkommen, aber wir wussten beide, was er meinte. Er hat mich zum Bahnhof gefahren und mir hundert Euro in die Hand gedrückt. Zu Weihnachten.« Er zog die Frischhaltefolie glatt und legte sie aufs Gras, das Sandwich genau in die Mitte. »Was hast du dann gemacht?«, fragte ich leise. »Über Weihnachten? Bin überwiegend in meiner Wohnung geblieben. Hab mir eine richtig teu635
re Flasche Whiskey gekauft. Mich in Selbstmitleid gesuhlt.« Er lächelte mich matt an. »Ich weiß: Ich hätte euch sagen sollen, dass ich wieder zurück war. Aber … tja, Stolz, denke ich. Es war eine der demütigendsten Erfahrungen meines Lebens. Ich weiß, keiner von euch hätte Fragen gestellt, aber ihr hättet euch doch gewundert, und ihr seid nun mal alle cleverer, als die Polizei erlaubt. Einer von euch wäre draufgekommen.« So wie er dasaß – die Knie angezogen, die Füße akkurat nebeneinander –, waren seine Hosenbeine hochgerutscht. Er trug graue Socken, die vom vielen Waschen dünn geworden waren, und seine Knöchel waren zart und mager wie die eines kleinen Jungen. Ich streckte den Arm aus und legte meine Hand auf einen Knöchel. Er war warm und fest, und meine Finger hätten mühelos fast ganz drum herumgreifen können. »Nein, ist schon gut«, sagte Justin, und als ich aufblickte, sah ich, dass er mich anlächelte, diesmal richtig. »Ganz ehrlich, ist es wirklich. Zuerst 636
hat es mich ziemlich fertiggemacht. Ich hab mich verwaist gefühlt, heimatlos – ich schwöre, wenn du mitbekommen hättest, was ich mir für einen melodramatischen Quatsch zurechtgedacht habe … Aber jetzt denke ich nicht mehr dran, seit dem Haus nicht mehr. Ich weiß nicht mal, warum ich davon angefangen hab.« »Meine Schuld«, sagte ich. »Tut mir leid.« »Muss es nicht.« Er strich leicht mit der Fingerspitze über meine Hand. »Wenn du wirklich Kontakt zu deinen Eltern aufnehmen willst, dann … tja, das geht mich nichts an, oder? Ich meine bloß, vergiss nicht: Wir haben alle unsere Gründe, warum wir beschlossen haben, keine Vergangenheit. Das gilt nicht nur für mich. Rafe … tja, du hast ja seinen Vater gehört.« Ich nickte. »Was für ein Kotzbrocken.« »Solange ich Rafe kenne, kriegt er immer wieder genau den gleichen Anruf: Du bist jämmerlich, du bist ein Versager, ich schäme mich, dich meinen Freunden gegenüber zu erwähnen. Ich bin 637
ziemlich sicher, dass seine ganze Kindheit so war. Sein Vater hat ihn vom Tag seiner Geburt an abgelehnt – so was kommt vor, weißt du. Er wollte einen richtigen Macho von Sohn, einen, der Rugby spielt und seine Sekretärin angrapscht und sich draußen vor Striplokalen die Seele aus dem Leib kotzt, und stattdessen hat er Rafe gekriegt. Er hat ihm das Leben zur Hölle gemacht. Du hast Rafe nicht erlebt, als wir hier an der Uni anfingen: dieser dürre, bissige Kerl, so aggressiv, dass er dir schon bei der kleinsten Frotzelei an den Kragen wollte. Am Anfang wusste ich nicht mal so genau, ob ich ihn überhaupt leiden konnte. Ich hab mich bloß mit ihm abgefunden, weil ich Abby und Daniel mochte und die beiden ihn offenbar in Ordnung fanden.« »Er ist immer noch dürr«, sagte ich. »Und bissig ist er auch. Er kann ein kleines Arschloch sein, wenn er will.« Justin schüttelte den Kopf. »Er hat sich schon tausendfach gebessert. Und allein deshalb, weil er 638
sich keine Gedanken mehr über seine grässlichen Eltern machen muss. Und Daniel … Hast du je mitbekommen, dass er auch nur ein einziges Wort über seine Kindheit verloren hat?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich auch nicht. Ich weiß, dass seine Eltern gestorben sind, aber ich weiß nicht, wann oder wie oder was danach mit ihm passiert ist – wo er gelebt hat, mit wem, nichts. Abby und ich waren mal einen Abend heillos betrunken und haben angefangen, rumzualbern und uns Kindheiten für Daniel auszudenken: Er wurde als Kind ausgesetzt und von Hamstern großgezogen, er wuchs in einem Bordell in Istanbul auf, seine Eltern waren Schläfer der CIA, die vom KGB ausgeschaltet wurden, und er hat überlebt, weil er sich in der Waschmaschine versteckt hat … Wir fanden das lustig, aber Tatsache ist, seine Kindheit kann nicht besonders angenehm gewesen sein, wenn er so ein Geheimnis draus macht, oder? Du bist ja schon extrem … « Justin warf mir einen raschen Blick 639
zu. »Aber ich weiß immerhin, dass du Windpocken hattest und reiten kannst. Von Daniel weiß ich nichts. Gar nichts.« Ich hoffte inständig, dass sich ja keine Situation ergeben würde, in der ich meine reiterlichen Fähigkeiten unter Beweis stellen musste. »Und dann Abby«, fuhr Justin fort. »Hat Abby dir je was über ihre Mutter erzählt?« »Dies und das«, sagte ich. »Ich kann mir einigermaßen ein Bild machen.« »Es ist schlimmer, als sie es darstellt. Ich hab die Frau nämlich mal kennengelernt – da warst du noch nicht hier, damals im dritten Jahr. Eines Abends waren wir alle bei Abby zu Hause, und plötzlich tauchte ihre Mutter auf, hämmerte regelrecht gegen die Tür. Sie war … Gott. Wie sie angezogen war – ich weiß nicht, ob sie wirklich eine Prostituierte war oder bloß … egal. Und sie war offensichtlich total neben der Spur. Sie hat Abby die ganze Zeit angebrüllt, aber ich hab kaum ein Wort verstanden. Abby hat ihr irgendwas in die 640
Hand gedrückt – bestimmt Geld, und du weißt ja, wie pleite Abby immer war –, und dann hat sie sie förmlich rausgeschmissen. Sie war weiß wie ein Gespenst, Abby, mein ich. Ich dachte, sie würde jede Sekunde umkippen.« Justin sah mich ängstlich an und schob seine Brille höher auf die Nase. »Sag ihr nicht, dass ich dir das erzählt hab.« »Versprochen.« »Sie hat die Sache danach nie wieder erwähnt, und ich glaub nicht, dass sie inzwischen drüber reden will. Ist jedenfalls mein Eindruck. Du hast mit Sicherheit auch deine Gründe, warum du die Keine-Vergangenheit-Absprache für eine gute Idee gehalten hast. Vielleicht siehst du das ja mittlerweile anders, nach dem, was dir passiert ist, keine Ahnung, aber … vergiss nicht, du bist im Augenblick noch geschwächt. Lass dir noch ein bisschen Zeit, ehe du irgendwas Unwiderrufliches tust. Und falls du dann beschließt, dich bei deinen Eltern zu melden, wäre es vielleicht besser, den
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anderen nichts davon zu erzählen. Das würde … Na ja. Das würde ihnen weh tun.« Ich sah ihn verwundert an. »Im Ernst?« »Ja klar. Wir sind … « Er fummelte noch immer an der Klarsichtfolie rum. Ein schwacher rosa Hauch stieg in seine Wangen. »Wir lieben dich, weißt du. Was uns betrifft, wir sind jetzt deine Familie. Sind für einander die einzige Familie, die wir haben – ich meine, das stimmt natürlich nicht ganz, aber du weißt, was ich meine … « Ich beugte mich vor und küsste ihn rasch auf die Wange. »Klar weiß ich das«, sagte ich. »Ich weiß genau, was du meinst.« Justins Handy piepste. »Das ist bestimmt Rafe«, sagte er und fischte es aus der Tasche. »Ja. Er will wissen, wo wir sind.« Er fing an, Rafe eine Antwort zu simsen, wobei er kurzsichtig auf die Handytasten spähte, und hob den Arm, um mit der freien Hand meine Schulter zu drücken. »Denk einfach noch mal drüber nach«, sagte er. »Und iss dein Sandwich.« 642
»Wie ich sehe, spielst du Wer-ist-der-Daddy«, sagte Frank am selben Abend. Er aß irgendwas – vielleicht einen Hamburger, ich hörte Papier rascheln. »Und Justin ist ja wohl eindeutig aus dem Rennen. Es werden noch Wetten angenommen: Danny-Boy oder Pretty-Boy?« »Oder keiner von beiden«, sagte ich. Ich war unterwegs zu meinem Lauerposten. In letzter Zeit rief ich Frank immer schon an, sobald ich durch das hintere Tor war, anstatt auch nur ein paar Minuten abzuwarten, weil ich darauf brannte zu hören, ob er irgendetwas Neues über Lexie erfahren hatte. »Vergiss nicht, unser Mörder hat sie gekannt, und wir wissen nicht, wie gut. Und außerdem war das nicht die Frage, um die es mir ging. Ich wollte dieser Keine-Vergangenheit-Sache auf den Grund gehen, um rauszufinden, was die vier verschweigen.«
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»Und herausgekommen ist dabei nur eine Sammlung von tränenrührigen Geschichten. Zugegeben, dieses Getue von wegen keine Vergangenheit ist ziemlich bescheuert, aber wir wussten ja sowieso schon, dass sie ein Haufen Spinner sind. Keine neue Erkenntnis.« »Mmm«, sagte ich. Ich war weniger überzeugt, dass der Nachmittag nichts erbracht hatte, obwohl ich noch nicht wusste, wie ich ihn einordnen sollte. »Ich werde weiter herumbohren.« »Der ganz Tag war schon so frustig«, sagte Frank mit vollem Mund. »Ich hab Lexies Spur zurückverfolgt, ohne Ergebnis. Wahrscheinlich ist dir auch schon aufgefallen, dass es in ihrer Geschichte eine Lücke von anderthalb Jahren gibt. Sie legt die May-Ruth-Identität Ende 2000 ab, taucht aber Anfang 2002 als Lexie wieder auf. Ich will rausfinden, wo und wer sie in der Zwischenzeit war. Dass sie nach Hause zurückgekehrt ist, wo auch immer das sein mag, kann ich mir zwar nicht vorstellen, ist aber immerhin möglich. Und 644
selbst wenn nicht, hat sie uns vielleicht trotzdem unterwegs den ein oder anderen Hinweis hinterlassen.« »Ich würde mich auf europäische Länder konzentrieren«, sagte ich. »Nach dem 11. September sind die Sicherheitsmaßnahmen an Flughäfen wesentlich verschärft worden, da wäre sie mit einem falschen Pass nicht mehr aus den USA raus- und nach Irland reingekommen. Sie muss also vorher schon auf dieser Seite des Atlantiks gewesen sein.« »Klar, aber ich weiß nicht, nach welchem Namen ich suchen soll. Es gibt keinen Beleg, dass May-Ruth Thibodeaux je einen Pass beantragt hat. Ich vermute, sie hat ihre eigene Identität wieder angenommen oder sich in New York eine neue gekauft, ist damit von JFK abgeflogen, hat dann die Identität erneut gewechselt, sobald sie dort angekommen war, wo sie hinwollte –« JFK – Frank redete weiter, aber ich war wie angewurzelt mitten auf dem Weg stehen geblieben, 645
hatte einfach vergessen weiterzugehen, weil diese rätselhafte Seite in Lexies Terminkalender mit einem blitzartigen Schlag in meinem Kopf aufstrahlte wie eine Silvesterrakete. CDG 59 … Ich war zigmal am Flughafen Charles de Gaulle gelandet, um den Sommer bei meinen französischen Cousins zu verbringen, und 59 Euro wäre so ungefähr der Preis für ein Hinflugticket. AMS: nicht Abigail Marie Stone, sondern Amsterdam. LHR: London Heathrow. Die anderen hatte ich nicht mehr im Kopf, aber ich wusste so sicher wie das Amen in der Kirche, dass es sich auch bei ihnen um Flughafenabkürzungen handelte. Lexie hatte Flugpreise notiert. Wenn sie bloß hätte abtreiben wollen, wäre sie nach England geflogen und hätte sich nicht um Amsterdam oder Paris gekümmert. Und es waren alles die Preise für Hinflugtickets, ohne Rückflug. Sie hatte Vorbereitungen getroffen, erneut zu verschwinden, wieder eine Reise ins Ungewisse zu wagen. 646
Warum? In ihren letzten paar Wochen hatten sich drei Dinge verändert: Sie hatte herausgefunden, dass sie schwanger war, N war aufgetaucht, und sie hatte angefangen, ihren Absprung zu planen. Ich glaube nicht an Zufälle. Es war unmöglich zu sagen, in welcher Reihenfolge diese drei Dinge geschehen waren, aber ich war sicher, dass eines davon auf welch verschlungenen Wegen auch immer zu den beiden anderen geführt hatte. Irgendwo war da ein Muster: quälend nah, tauchte kurz auf und war gleich wieder weg, wie eins von diesen Bildern, für die man schielen muss, um sie erkennen zu können, plötzlich da, aber zu rasch wieder verschwunden, um es fassen zu können. Bis zu diesem Abend hatte ich nicht viel von Franks geheimnisvollem Stalker gehalten. Nur ganz wenige Menschen sind bereit, ihr ganzes Leben aufzugeben, um eine Frau über Jahre rund um den Globus zu verfolgen, weil sie sauer auf sie sind. Frank neigt dazu, einer wahrscheinlichen 647
Theorie weniger abzugewinnen als einer interessanten, und in diesem Fall hatte ich Letztere irgendwo zwischen Außenseiterchance und reinem Hollywoodmelodram eingestuft. Aber nun war mindestens schon zum dritten Mal irgendetwas seitlich in ihr Leben gekracht, hatte einen Totalschaden verursacht, irreparabel. Es gab mir einen Stich ins Herz. »Hallo? Bodenkontrolle an Cassie?« »Ja«, sagte ich. »Frank, kannst du was für mich tun? Ich möchte wissen, ob in ihrem May-RuthLeben während des letzten Monats vor ihrem Verschwinden irgendetwas Außergewöhnliches passiert ist – lieber noch während der letzten zwei Monate, nur um sicherzugehen.« Auf der Flucht vor N? Auf der Flucht mit N, um irgendwo ein ganz neues Leben anzufangen, er und sie und ihr gemeinsames Baby? »Du unterschätzt mich, Kleines. Schon geschehen. Keine ungewöhnlichen Besucher oder Anru-
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fe, kein Streit mit niemandem, kein unerklärliches Verhalten, nichts.« »So was hab ich nicht gemeint. Ich will alles wissen, wirklich alles: Ob sie den Job gewechselt hat oder den Freund, ob sie umgezogen ist, krank war, irgendeinen Kurs belegt hat. Nichts Bedrohliches, bloß alltäglicher Kram.« Frank überlegte eine Weile, mampfte dabei seinen Burger oder was immer. »Warum?«, fragte er schließlich. »Wenn ich meinen FBI-Freund um noch einen Gefallen bitte, muss ich ihm einen Grund liefern.« »Denk dir was aus. Ich hab keinen besonderen Grund. Intuition, weißt du, was das ist?« »Okay«, sagte Frank. Er klang besorgniserregend so, als würde er sich zwischen den Zähnen herumpulen. »Ich mach’s. Wenn du im Gegenzug auch was für mich tust.« Ich hatte mich wieder in Bewegung gesetzt, automatisch, Richtung Cottage. »Schieß los.«
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»Werd nicht zu locker. Du hörst dich für meinen Geschmack schon viel zu sehr danach an, als würdest du dich bei denen sauwohl fühlen.« Ich seufzte. »Ich Frau, Frank. Frauen Multitasker, will heißen, wir können mehrere Dinge gleichzeitig. Ich kann meine Arbeit machen und dabei Spaß haben.« »Schön für dich. Ich weiß nur eins, Undercoverarbeit plus Entspannung gleich Riesenproblem. Irgendwo da draußen ist ein Mörder, wahrscheinlich keine Meile von deiner jetzigen Position entfernt. Du sollst ihn aufspüren und nicht mit den Fantastischen Vier glückliche Familie spielen.« Glückliche Familie. Ich war davon ausgegangen, dass sie ihr Notizbuch versteckt hatte, damit keiner von ihren Verabredungen mit diesem ominösen N erfuhr. Aber jetzt: Sie hatte ein ganz anderes Geheimnis zu schützen. Wenn die anderen herausgefunden hätten, dass Lexie kurz davor war, sich aus ihrer eng verflochtenen Welt herauszuschneiden, sie abzustreifen, wie eine Libelle aus 650
ihrer Larve schlüpft und bloß die vollkommene Form ihrer Abwesenheit zurücklässt, wären sie am Boden zerstört gewesen. Auf einmal war ich fast trunken vor Erleichterung, dass ich Frank nichts von dem Terminkalender erzählt hatte. »Ich bin ganz bei der Sache, Frank«, sagte ich. »Gut. Bleib das auch.« Papier wurde zusammengeknüllt – er hatte seinen Hamburger auf –, dann ein Klicken, als er auflegte. Ich war fast an meinem Beobachtungsposten. Abschnitte von Hecke und Gras und Erde erwachten im blassen Kreis des Taschenlampenstrahls zum Leben und waren im nächsten Moment verschwunden. Ich dachte an sie, wie sie wild denselben Weg entlanggelaufen war, wie derselbe schwache Lichtkreis heftig auf und ab wippte, die solide Tür zur Geborgenheit für immer in der Dunkelheit hinter ihr verloren und nichts vor ihr außer diesem kalten Cottage. Diese Farbstriche an der Wand in ihrem Zimmer: Sie hatte hier eine Zukunft geplant, in diesem Haus, mit diesen Men651
schen, genau bis zu dem Moment, als die Bombe platzte. Wir sind jetzt deine Familie, hatte Justin gesagt, sind füreinander die einzige Familie, die wir haben, und ich war lange genug in Whitethorn House gewesen, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie ehrlich er das meinte und wie viel das bedeutete.Was zum Teufel, dachte ich, was zum Teufel konnte stark genug gewesen sein, das alles einfach hinwegzufegen?
Jetzt, wo ich darauf achtete, zeigten sich immer mehr Risse. Ich hätte nicht sagen können, ob sie schon die ganze Zeit da gewesen waren oder ob sie sich vor meinen Augen auftaten. In derselben Nacht las ich noch im Bett, als ich draußen unter meinem Fenster Stimmen hörte. Rafe war schon vor mir ins Bett gegangen, und ich konnte hören, dass Justin sich unten fertig machte, um schlafen zu gehen – Summen, Rumhantieren, dann und wann ein unerklärliches 652
Rumpeln. Blieben also noch Daniel und Abby. Ich ging am Fenster auf die Knie, hielt den Atem an und lauschte, aber sie waren drei Stockwerke tiefer, und über Justins gutgelaunten Oberton hinweg konnte ich nur leises, rasches Gemurmel hören. »Nein«, sagte Abby, lauter und frustriert. »Daniel, darum geht es doch gar nicht … « Ihre Stimme wurde wieder unhörbar. »Moooon river«, sang Justin vor sich hin und baute noch einen fröhlichen Schlenker mit ein. Ich tat, was neugierige Kinder seit Anbeginn der Zeit tun: Ich beschloss, mir ganz leise einen Schluck Wasser zu holen. Justin hörte nicht auf zu summen, als ich an seiner Tür vorbeischlich. Im Erdgeschoss war kein Licht mehr unter Rafes Tür. Ich tastete mich an den Wänden entlang und schlüpfte in die Küche. Die Terrassentür stand offen, nur eine Handbreit. Ich ging zur Spüle – langsam, nicht mal mein Schlafanzug raschelte – und hielt ein Glas unter den Hahn, bereit, das Wasser aufzudrehen, sobald mich jemand entdeckte. 653
Sie waren in der Korbschaukel. Die Terrasse lag hell im Mondlicht. Sie konnten mich unmöglich sehen, hinter Glas in der dunklen Küche. Abby seitlich, den Rücken gegen die Armlehne gedrückt und die Füße auf Daniels Schoß. Er hielt ein Glas in einer Hand und hatte die andere entspannt über ihre Knöchel gelegt. Das Mondlicht strömte über Abbys Haar, malte die weiche Rundung ihrer Wange weiß und sammelte sich in den Falten von Daniels Hemd. Etwas Schnelles und Nadelfeines jagte durch mich hindurch, ein Schuss reiner, destillierter Schmerz. Rob und ich hatten oft noch spätnachts so zusammen auf meinem Sofa gesessen. Der Boden war eiskalt an meinen Füßen, und die Küche war so still, dass es mir in den Ohren weh tat. »Für immer«, sagte Abby. Ihre Stimme hatte einen hellen, fassungslosen Klang. »Einfach so weitermachen, für immer. So tun, als wäre nichts geschehen.«
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»Ich sehe keine andere Möglichkeit für uns«, sagte Daniel. »Du etwa?« »Herrgott, Daniel!« Abby fuhr sich mit den Händen durchs Haar, Kopf in den Nacken, helles Aufblitzen des Halses. »Das soll eine Möglichkeit sein? Das ist Irrsinn. Ist das wirklich dein Ernst? Du willst, dass wir den Rest unseres Lebens so weitermachen?« Daniel wandte sich ihr zu und sah sie an. Ich konnte nur seinen Hinterkopf sehen. »In einer idealen Welt«, sagte er sanft, »nein. Ich hätte manches gern anders, vieles.« »Meine Güte«, sagte Abby und rieb sich die Augenbrauen, als bahnten sich bei ihr Kopfschmerzen an. »Fang bloß nicht so an.« »Man kann nicht alles haben, weißt du«, sagte Daniel. »Wir wussten gleich am Anfang, als wir beschlossen haben, hier zu leben, dass das nicht ohne Opfer abgehen würde. Damit haben wir gerechnet.«
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»Opfer ja«, sagte Abby. »Das hier nein. Das hab ich nicht kommen sehen, Daniel, nein. Nichts davon.« »Nein?«, fragte Daniel überrascht. »Ich schon.« Abbys Kopf fuhr herum, und sie starrte ihn an. »Was? Ach, hör doch auf. Das hier hast du kommen sehen? Lexie, und –« »Na ja, Lexie nicht«, sagte Daniel. »Wohl kaum. Obwohl, vielleicht … « Er brach ab, seufzte. »Aber den ganzen Rest: Ja, den hab ich durchaus für möglich gehalten. Die menschliche Natur ist nun mal, wie sie ist. Ich dachte, du hättest das zumindest in Betracht gezogen.« Niemand hatte mir erzählt, dass es noch mehr gab, geschweige denn Opfer. Ich merkte, wie mir schwindelig wurde, weil ich schon so lange die Luft anhielt. Ich atmete vorsichtig aus. »Nein«, sagte Abby müde in den Himmel. »Vielleicht bin ich ja naiv.« »Das würde ich nie behaupten«, sagte Daniel und lächelte wehmütig Richtung Garten. »Ich bin 656
nun wahrhaftig der Letzte, der das Recht hat, dir vorzuwerfen, das Offensichtliche übersehen zu haben.« Er nahm einen Schluck von seinem Drink – ein blass bernsteinfarbenes Glitzern, als er das Glas hob –, und in diesem Moment erkannte ich etwas, sah es in seinen hängenden Schultern und in der Art, wie sich seine Augen schlossen, als er schluckte. Die vier waren für mich sicher und geborgen in ihrer verzauberten Festung gewesen, mit allem, was sie sich wünschten, zum Greifen nah. Diese Vorstellung hatte mir gefallen, sehr gefallen. Aber irgendetwas hatte Abby unvorbereitet getroffen, und aus irgendeinem Grund gewöhnte Daniel sich daran, schrecklich unglücklich zu sein, immerzu. »Was für einen Eindruck hast du von Lexie?«, fragte er. Abby nahm eine von Daniels Zigaretten und schnippte heftig mit dem Feuerzeug. »Einen ganz guten. Sie ist ein bisschen still, und sie hat abgenommen, aber damit war ja wohl zu rechnen.« 657
»Meinst du, es geht ihr gut?« »Sie isst. Sie nimmt ihre Antibiotika.« »Das hab ich nicht gemeint.« »Ich glaube nicht, dass du dir um Lexie Sorgen machen musst«, sagte Abby. »Sie kommt mir ziemlich gelassen vor. Soweit ich das beurteilen kann, hat sie die ganze Sache im Prinzip vergessen.« »Genau das«, sagte Daniel, »gibt mir ja zu denken. Ich befürchte, dass sie alles in sich aufstaut und irgendwann explodiert. Und was dann?« Abby betrachtete ihn, Rauch kringelte sich langsam im Mondlicht. »In mancherlei Hinsicht«, sagte sie bedächtig, »wäre es vielleicht nicht das Ende der Welt, wenn Lexie tatsächlich explodieren würde.« Daniel dachte darüber nach, drehte versonnen sein Glas und blickte über den Rasen. »Das hängt stark davon ab, welche Form diese Explosion annimmt«, sagte er schließlich. »Ich glaube, wir sollten darauf vorbereitet sein.« 658
»Lexie ist das kleinste unserer Probleme«, sagte Abby. »Justin – ich meine, das war doch klar, ich wusste, dass Justin Schwierigkeiten haben würde, aber er hält sich viel schlechter, als ich dachte. Und Rafe tut sein Übriges. Wenn er nicht bald aufhört, so ein Arschloch zu sein, weiß ich nicht, was … « Ich sah, wie sie die Lippen zusammenpresste und schluckte. »Und dann ist da noch was. Mir fällt es nicht gerade leicht hier, Daniel, und die Tatsache, dass dir das anscheinend scheißegal ist, trägt nicht dazu bei, dass ich mich besser fühle.« »Es ist mir nicht scheißegal«, sagte Daniel. »Ganz im Gegenteil. Ich dachte, das wüsstest du. Ich seh im Augenblick bloß nicht, was wir ändern könnten.« »Ich könnte weggehen«, sagte Abby. Sie beobachtete Daniel aufmerksam, mit runden und sehr ernsten Augen. »Wir könnten weggehen.« Ich kämpfte den Impuls nieder, eine Hand über das Mikro zu halten. Ich verstand nicht genau, was 659
hier vor sich ging, aber falls Frank mithörte, würde er sicher vermuten, dass die vier eine dramatische Flucht planten und ich in nächster Zukunft gefesselt und geknebelt im Kleiderschrank landen würde, während die anderen das nächste Flugzeug nach Mexiko bestiegen. Ich wünschte, ich wäre so vorausblickend gewesen, die exakte Reichweite des Mikros zu testen. Daniel sah Abby nicht an, aber seine Hand schloss sich fester um ihre Knöchel. »Das könntest du, ja«, sagte er schließlich. »Und ich könnte dich nicht dran hindern. Aber das hier ist mein Zuhause, weißt du. Wie es hoffentlich … « Er atmete tief durch. »Wie es hoffentlich auch deins ist. Ich kann nicht von hier weg.« Abby ließ den Kopf nach hinten gegen die Stange der Schaukel fallen. »Ja«, sagte sie. »Ich weiß. Ich kann es auch nicht. Ich denke nur … Gott, Daniel. Was sollen wir tun?« »Wir warten ab«, sagte Daniel ruhig. »Wir vertrauen darauf, dass sich mit der Zeit alles wieder 660
beruhigt. Wir vertrauen einander. Wir tun unser Bestes.« Ein Luftzug strich mir über die Schulter, und ich fuhr herum, den Mund schon zu meiner EinSchluck-Wasser-Geschichte geöffnet. Das Glas stieß gegen den Hahn und fiel mir aus der Hand in die Spüle. Das Klirren klang laut genug, um ganz Glenskehy aus dem Schlaf zu reißen. Hinter mir war niemand. Daniel und Abby waren hochgefahren, hatten die Gesichter erschrocken zum Haus gewandt. »Hallo«, sagte ich, stieß die Tür auf und trat auf die Terrasse hinaus. Mein Herz raste. »Ich hab’s mir anders überlegt: Ich bin doch noch nicht müde. Bleibt ihr noch auf?« »Nein«, sagte Abby. »Ich wollte gerade ins Bett gehen.« Sie schwang die Füße von Daniels Schoß und schob sich an mir vorbei ins Haus. Einen Moment später hörte ich sie die Treppe hochlaufen, ohne darauf zu achten, die knarrende Stufe zu überspringen. 661
Ich ging zu Daniel und setzte mich neben seinen Beinen auf die Terrasse, den Rücken gegen die Schaukel gelehnt. Irgendwie wollte ich nicht neben ihm sitzen. Es hätte sich plump angefühlt, als würde ich Vertraulichkeiten von ihm hören wollen. Nach einem Moment streckte er eine Hand aus und legte sie leicht auf meinen Kopf. Seine Hand war so groß, dass sie meinen Schädel umfasste wie den eines Kindes. »Tja«, sagte er leise, fast zu sich selbst. Sein Glas stand auf dem Boden neben ihm, und ich trank einen Schluck: Whiskey on the rocks, das Eis fast geschmolzen. »Hattet ihr beide Streit?«, fragte ich. »Nein«, sagte Daniel. Sein Daumen bewegte sich ein ganz kleines bisschen über mein Haar. »Alles in Ordnung.« Wir blieben eine Weile so sitzen. Es war eine stille Nacht, kaum ein Lufthauch glitt über das Gras, der Mond schwebte wie eine alte Silbermünze hoch am Himmel. Der kalte Stein der Ter662
rasse durch meinen Schlafanzug und der warme Geruch von Daniels filterloser Zigarette waren irgendwie tröstlich, beruhigend. Ich drückte meinen Rücken ganz leicht gegen den Schaukelsitz, wiegte ihn in einem sanften, gleichmäßigen Rhythmus. »Riech mal«, sagte Daniel leise. »Riechst du das?« Der erste schwache Rosmarinduft wehte vom Kräutergarten herüber, ein kaum wahrnehmbarer Hauch in der Luft. »Rosmarin, das steht für Erinnerung«, sagte er. »Bald haben wir auch Thymian und Zitronenmelisse und Minze und Gänsefingerkraut und irgendwas, ich glaube Ysop – ist aus dem Buch schwer zu sagen, im Winter. Dieses Jahr ist da natürlich noch alles durcheinander, aber wir werden alles wieder in Form schneiden und wo nötig neu pflanzen. Mit Hilfe der alten Fotos. Auf denen sieht man die ursprüngliche Anordnung, was wohin gehört. Die Kräuter sind alle winterfest, sie wurden also nicht nur ausgesucht,
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um sie zu ernten, sondern auch, weil sie widerstandskräftig sind. Im nächsten Jahr … « Er erzählte von alten Kräutergärten: wie sorgfältig sie angelegt wurden, damit auch wirklich jede Pflanze alles hatte, was sie zum Gedeihen brauchte, wie wunderbar ausgewogen sie waren hinsichtlich Anblick und Duft und Verwendung, Nutzen und Schönheit, ohne je das eine auf Kosten des anderen zu gefährden. Ysop löste Bronchitis und linderte Zahnschmerzen, sagte er, Kamillenwickel heilten Entzündungen, und Kamillentee schützte vor Alpträumen, Lavendel und Zitronenmelisse sorgten im Haus für Wohlgeruch, Weinraute und Pimpinelle kamen in den Salat. »Das müssen wir mal ausprobieren«, sagte er, »einen Shakespeare’schen Salat. Gänsefingerkraut schmeckt wie Pfeffer, wusstest du das? Ich dachte, es wäre längst abgestorben, so braun und dürr war es, aber dann hab ich es bis auf die Wurzeln zurückgeschnitten, und auf einmal war da ein Hauch von Grün. Das wird jetzt schön wiederkommen. 664
Es ist erstaunlich, wie hartnäckig Dinge auch unter widrigsten Umständen überleben. Wie unwiderstehlich stark er doch ist, dieser Drang zu leben und zu wachsen … « Der Rhythmus seiner Stimme spülte über mich hinweg, ruhig und gleichmäßig wie Wellenrauschen. Ich nahm die Worte kaum noch wahr. Ich glaube, irgendwann sagte er hinter mir etwas über Zeit, was genau weiß ich nicht mehr, aber ein Satz ist mir in Erinnerung geblieben: »Die Zeit arbeitet so hart für uns, wenn wir es nur zulassen können.«
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11 Eines übersehen die Leute leicht bei Sam, dass er nämlich die höchste Aufklärungsquote im Morddezernat hat. Manchmal frage ich mich, ob das nicht einen ganz einfachen Grund hat: Er verschwendet keine Energie. Andere Detectives, mich eingeschlossen, nehmen es persönlich, wenn irgendetwas falschläuft, sie werden ungeduldig und frustriert und ärgern sich über sich selbst und die Spuren, die im Sande verlaufen, und überhaupt den ganzen verdammten Fall. Sam versucht sein Bestes, und dann sagt er mit einem Achselzucken »na ja«, und probiert etwas Neues. Im Verlauf der Woche hatte er sehr oft »na ja«, gesagt, wenn ich ihn fragte, wie es so lief, aber nicht auf seine übliche vage, diffuse Art. Diesmal klang er angespannt und gequält, jeden Tag einen Tick nervöser. Er hatte fast überall in Glenskehy an Haustüren geklopft und die Leute nach Whitethorn House befragt, war aber gegen eine glatte, 666
glitschige Wand aus Tee und Keksen und leeren Blicken gelaufen. Nette junge Leute da oben im Haus, bleiben viel für sich, benehmen sich anständig, da gibt’s doch keinen Ärger, wieso auch, Detective? Schrecklich, was der jungen Frau passiert ist, ich hab einen Rosenkranz für sie gebetet, war bestimmt irgend so ein Kerl, dem sie in Dublin begegnet ist … Ich kenne dieses Kleinstadtschweigen, ich hatte auch schon damit zu tun, unfassbar wie Rauch und undurchdringlich wie Stein. Wir haben es jahrhundertelang im Umgang mit den Briten verfeinert, und er ist tief verwurzelt, dieser Instinkt, dass sich alle verschließen, sobald die Polizei auftaucht. Manchmal ist es wirklich nur das, aber dieses Schweigen ist kraftvoll, dunkel und verschlagen und gesetzlos. Es verbirgt noch immer Knochen, die auf irgendwelchen Hügeln verscharrt wurden, Waffenlager versteckt in Schweineställen. Die Briten haben es unterschätzt, sind auf die dümmlichen Blicke herein-
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gefallen, aber ich und Sam, wir wussten beide: Es ist gefährlich. Erst Dienstagnacht nahm Sams Stimme wieder diesen konzentrierten Tonfall an. »Hätte ich mir auch gleich denken können«, sagte er munter. »Wenn die nicht mit den hiesigen Kollegen reden wollen, warum sollten sie es dann mit mir tun?« Er hatte die Taktik gewechselt, ein Taxi nach Rathowen genommen und einen Abend im Pub verbracht. »Byrne hatte gesagt, die Leute da halten nicht viel von den Glenskehy-Leuten, und ich hab mir gedacht, jeder lästert doch mal gern über seine Nachbarn, also … « Und er hatte recht gehabt. Die Stammgäste im Pub in Rathowen waren ganz anders drauf als die Leute in Glenskehy: Binnen dreißig Sekunden erkannten sie ihn als Cop (»Na, junger Mann, Sie sind bestimmt wegen dem Messerüberfall auf die junge Frau hier, was?«), und den Rest des Abends hatte er umringt von faszinierten Farmern verbracht, die ihm ein Bier nach dem anderen spen668
dierten und fröhlich versuchten, ihm irgendwelche vertraulichen Informationen über die Ermittlung zu entlocken. »Byrne hatte recht: Die Leute da finden, Glenskehy ist eine Irrenanstalt. Das hat zum Teil mit der üblichen Rivalität zwischen kleinen Orten zu tun – Rathowen ist einen Tick größer, hat immerhin eine Schule und eine Polizeiwache und ein paar Geschäfte, und für die Einheimischen ist Glenskehy ein ödes Provinzkaff. Aber hier steckt mehr dahinter. Die glauben ernsthaft, dass die aus Glenskehy nicht alle Tassen im Schrank haben. Einer hat gesagt, er würde keinen Fuß ins Regan’s setzen, nicht für Geld und gute Worte.« Ich saß auf einem Baum, trug meine Mikrosocke und rauchte eine. Seit ich von den Schmierereien gehört hatte, fühlte ich mich auf den nächtlichen Wegen unruhig, exponiert. Ich war nicht gern da unten, wenn ich telefonierte und meine Aufmerksamkeit abgelenkt war. Ich hatte mir einen Schlupfwinkel oben in einer großen Buche 669
gesucht, gleich dort, wo die Zweige anfingen und der Stamm sich aufspaltete. Mein Hintern passte genau in die Gabel, ich hatte in beide Richtungen freie Sicht auf den Weg und auf das Cottage weiter unten am Hang, und wenn ich die Beine hochzog, verschwand ich zwischen dem Laub. »Haben sie was über Whitethorn House gesagt?« Kurze Pause. »Ja«, sagte Sam. »Das Haus hat keinen guten Ruf, in Rathowen ebenso wenig wie in Glenskehy. Das hängt zum großen Teil mit Simon March zusammen – er war ein verrückter alter Sack, nach allem, was man so hört. Zwei von den Typen da haben gesagt, er hätte mal auf sie geschossen, als sie Kinder waren und sich aufs Whitethorn-Grundstück geschlichen hatten. Aber das ist nicht alles.« »Das tote Baby«, sagte ich. Bei den Worten glitt etwas Kaltes und Glattes mitten durch mich hindurch. »Wussten sie irgendwas darüber?« »Ein bisschen. Ich bin nicht sicher, ob sie alles bis ins Einzelne richtig wiedergegeben haben – du 670
wirst gleich sehen, was ich meine –, aber wenn es auch nur ansatzweise stimmt, ist es keine schöne Geschichte. Nicht gut für die Whitethorn-HouseLeute, meine ich.« Er legte eine Pause ein. »Na und?«, sagte ich. »Die vier sind nicht meine Familie, Sam. Und falls die Geschichte nicht irgendwann in den letzten sechs Monaten passiert ist, wovon ich nicht ausgehe, da wir sonst schon davon gehört hätten, kann sie mit keinem von ihnen zu tun haben. Ich bin bestimmt nicht tief gekränkt, weil Daniels Urgroßvater vor hundert Jahren irgendwas angestellt hat. Ehrenwort.« »Also gut«, sagte Sam. »Laut der RathowenVersion – es gibt ein paar Abweichungen, aber das ist der Kern des Ganzen – hatte ein junger Kerl aus Whitethorn House vor vielen, vielen Jahren eine Affäre mit einem Mädchen aus Glenskehy, und sie wurde schwanger. So was kam natürlich ziemlich oft vor. Das Problem war nur, dass dieses Mädchen nicht bereit war, in ein Kloster zu ver671
schwinden oder Hals über Kopf irgendeinen armen Tropf aus dem Dorf zu heiraten, ehe die Leute merkten, dass sie schwanger war.« »Eine Frau ganz nach meinem Geschmack«, sagte ich. Diese Geschichte konnte unmöglich gut ausgegangen sein. »Leider sah das der junge March anders. Er war wütend. Er sollte eine reiche Angloirin heiraten und sah seine Pläne in Gefahr. Er erklärte der jungen Frau also, er wollte nichts mehr mit ihr oder dem Kind zu tun haben. Sie war ohnehin schon ziemlich unbeliebt im Dorf: nicht bloß unverheiratet schwanger – obwohl das allein damals schon schlimm genug war –, sondern auch noch von einem March schwanger … Kurz darauf wurde sie tot aufgefunden. Sie hatte sich erhängt.« Derlei Geschichten haben sich in der Vergangenheit überall in Irland abgespielt. Die meisten sind so tief und still vergraben wie das Laub vergangener Jahre, haben längst Eingang in alte Balladen und Geschichten gefunden, die an Winter672
abenden erzählt werden. Ich stellte mir vor, wie diese über ein Jahrhundert hinweg oder noch länger verborgen gelegen hatte, keimend und wachsend wie ein langsamer dunkler Samen, um endlich mit Glasscherben und Messern und giftigen Beeren aus Blut entlang den Weißdornhecken zu erblühen. Mein Rücken am Baumstamm kribbelte. Ich drückte die Zigarette an meiner Schuhsohle aus und schob die Kippe zurück in die Packung. »Hast du irgendeinen eindeutigen Beleg dafür, dass die Sache tatsächlich passiert ist?«, fragte ich. »Und nicht bloß irgendeine Geschichte ist, die in Rathowen erzählt wird, als Abschreckung für die Kinder, damit sie sich von Whitethorn House fernhalten?« Sam atmete tief aus. »Nichts. Ich hab die Akten von ein paar Sonderfahndern durchforsten lassen, aber sie haben nichts gefunden. Und die Chance, dass mir irgendwer in Glenskehy was erzählt, ist gleich null. Die würden die Sache lieber für alle Zeit unter den Teppich kehren.« 673
»Aber irgendeiner hat sie nicht vergessen«, sagte ich. »In ein paar Tagen müsste ich in etwa wissen, wer das sein könnte – ich besorg mir sämtliche Informationen über die Leute in Glenskehy und gleiche sie mit deinem Profil ab. Aber ich wüsste gern genauer, was unser Freund für ein Problem hat, ehe ich ihn mir zur Brust nehme. Leider Gottes hab ich keine Ahnung, wo ich anfangen soll. Einer von den Typen in Rathowen hat gesagt, die Geschichte wäre zu Lebzeiten seiner Urgroßmutter passiert, was keine große Hilfe ist: Die Frau ist achtzig Jahre alt geworden. Ein anderer schwört, die Sache wäre schon im neunzehnten Jahrhundert gewesen, ›irgendwann nach der großen Hungersnot‹, aber ... ich weiß nicht. Ich glaub, der will sie einfach nur so weit in die Vergangenheit schieben wie möglich. Ich hab also einen Zeitraum von 1847 bis ungefähr 1950, und keiner will mir helfen, ihn einzugrenzen.«
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»Weißt du was«, sagte ich, »vielleicht kann ich dir ja helfen.« Auf einmal kam ich mir gemein vor, wie eine Verräterin. »Lass mir ein paar Tage Zeit, und ich seh mal, ob ich Genaueres rausfinden kann.« Eine kleine Pause, wie eine Frage, bis Sam einsah, dass ich nicht ins Detail gehen würde. »Das wäre super. Jede Kleinigkeit wäre hilfreich.« Dann, mit veränderter Stimme, fast schüchtern: »Hör mal, ich wollte dich schon länger was fragen, bevor das alles hier passiert ist. Ich hab mir gedacht … Ich bin noch nie in Urlaub gefahren, außer einmal nach Youghal, als kleiner Junge. Und du?« »Frankreich, in den Sommerferien.« »Ja, aber das waren eher Familienbesuche. Ich meinte eine richtige Urlaubsreise, wie im Fernsehen, mit Sandstrand und Schnorcheln und bunten Cocktails an einer Bar mit einer kitschigen Sängerin, die »I Will Survive« schmettert.«
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Ich wusste, worauf er hinauswollte. »Was zum Teufel hast du dir in der Glotze angesehen?« Sam lachte. »Ibiza Uncovered. Da siehst du mal, was mit meinem Geschmack passiert, wenn du nicht da bist.« »Du wolltest dir nur halbnackte Frauen ansehen«, sagte ich. »Emma und Susanna und ich wollten schon seit der Schule immer mal zusammen verreisen, aber wir haben’s nie geschafft. Vielleicht diesen Sommer.« »Aber jetzt haben beide ein Kind, nicht? Da wird’s schwierig werden, so eine Freundinnenreise zu machen. Ich hab mir gedacht … « Wieder dieser schüchterne Tonfall. »Ich hab mir im Reisebüro ein paar Kataloge besorgt. Italien hauptsächlich. Ich weiß ja, dass du dich für Archäologie interessierst. Meinst du, ich könnte dich zu einem Urlaub überreden, wenn das alles hier vorbei ist?« Ich hatte keine Ahnung, was ich davon hielt, und keinen Raum, mir darüber Gedanken zu machen. »Das klingt herrlich«, sagte ich, »und es ist 676
lieb von dir, daran zu denken. Können wir das entscheiden, wenn ich wieder zu Hause bin? Die Sache ist die, ich weiß nicht, wie lange das hier noch dauert.« Eine ganz kurze Stille trat ein, und ich verzog das Gesicht. Ich hasse es, Sams Gefühle zu verletzen. Das ist, wie einen Hund treten, der zu sanftmütig ist, um zurückzubeißen. »Es sind jetzt schon über zwei Wochen. Ich dachte, Mackey hätte von höchstens einem Monat gesprochen.« Frank sagt alles, was ihm im gegebenen Moment nützlich erscheint. Undercover-Ermittlungen können Jahre dauern. In diesem Fall ging ich zwar nicht davon aus – langfristige Einsätze empfehlen sich bei anhaltenden kriminellen Aktivitäten, nicht bei einmaligen Straftaten –, aber ich war ziemlich sicher, dass er sich den Monat bloß aus den Fingern gesogen hatte, damit Sam Ruhe gab. Für einen kurzen Augenblick hoffte ich es fast. Der Gedanke, wenn die Sache hier beendet war, wieder 677
zum DHG und dem hektischen Dublin und meiner adretten Berufskleidung zurückzukehren, war ungemein deprimierend. »Theoretisch, ja«, sagte ich, »aber bei so was kann man nie wissen. Es könnte auch schneller zu Ende sein – ich könnte praktisch täglich nach Hause kommen, wenn einer von uns etwas Handfestes findet. Aber falls ich auf eine gute Spur stoße und die weiterverfolgt werden muss, könnte es auch noch ein oder zwei Wochen länger dauern.« Sam stieß einen zornigen, frustrierten Laut aus. »Sollte ich jemals davon anfangen, mich wieder auf eine gemeinsame Ermittlung einlassen zu wollen, dann sperr mich bitte irgendwo ein, bis ich wieder bei Verstand bin. Ich brauche endlich einen Schlusstermin. Ich hab alles Mögliche aufgeschoben – zum Beispiel von den drei Typen DNAProben zu nehmen, um sie mit dem Baby abzugleichen … Solange du nicht da raus bist, kann ich nicht mal erwähnen, dass wir in einem Mordfall ermitteln. Ein, zwei Wochen, das geht ja noch –« 678
Ich hörte ihm nicht mehr zu. Irgendwo, weiter unten auf dem Weg oder tief zwischen den Bäumen, war ein Geräusch. Keiner der üblichen Laute, Nachtvögel und Blätter und kleine Tiere auf Beutejagd, die kannte ich inzwischen. Irgendetwas anderes. »Warte mal«, sagte ich leise mitten in Sams Satz hinein. Ich nahm das Handy vom Ohr und lauschte, hielt den Atem an. Es kam ein Stück weiter unten vom Weg her, aus Richtung Straße, schwach, aber näher kommend: ein langsames, rhythmisches Knirschen. Schritte auf Kies. »Ich muss Schluss machen« sagte ich beinahe flüsternd ins Handy. »Ich ruf wieder an, wenn ich kann.« Ich schaltete das Handy aus, stopfte es in die Tasche, zog die Beine hoch zwischen die Zweige und wartete. Die Schritte waren regelmäßig und kamen näher. Sie klangen schwer, nach einer kräftigen Person. An diesem Weg lag nichts außer Whitethorn 679
House. Ich zog meinen Pulloverkragen hoch, langsam, um die untere Hälfte meines Gesichts zu bedecken. Im Dunkeln verrät dich die helle Fläche. Die Nacht verändert den Sinn für Entfernungen, lässt Dinge näher klingen, als sie sind, und es schien endlos zu dauern, bis jemand in Sicht kam: zuerst bloß die Andeutung einer Bewegung, ein fleckiger Schatten, der langsam unter den Blättern vorbeizog. Ein Aufleuchten von hellem Haar, gespenstisch silbern in dem fahlen Licht. Ich musste den Impuls unterdrücken, den Kopf abzuwenden. Es war ein übler Ort, um darauf zu warten, dass etwas aus der Dunkelheit trat. Um mich herum waren zu viele unbekannte Dinge, die sich auf verstecken Pfaden zielstrebig ihren eigenen geheimen Angelegenheiten widmeten, und manche waren gewiss von der Art, die wir nicht ungestraft sehen sollen. Dann trat er in einen Flecken Mondlicht, und ich erkannte, dass es bloß ein Mann war, gebaut 680
wie ein Rugbyspieler und in einer designermäßig aussehenden Lederjacke. Er bewegte sich, als wäre er unsicher, zögernd, blickte immer wieder zwischen die Bäume auf beiden Seiten. Als er nur wenige Meter entfernt war, wandte er den Kopf und schaute genau auf meinen Baum, und in dem Moment, bevor ich die Augen schloss – auch das kann einen verraten, dieses Glitzern, wir sind alle darauf programmiert, beobachtende Augen zu entdecken –, sah ich sein Gesicht. Er war in meinem Alter, vielleicht etwas jünger, gutaussehend auf eine wenig einprägsame glatte Art, mit einem unsicheren, verblüfften Stirnrunzeln, und er stand nicht auf der BK-Liste. Ich hatte ihn noch nie gesehen. Er ging unter mir her, so nah, dass ich ihm ein Blatt auf den Kopf hätte werfen können, und verschwand den Weg hinunter. Ich blieb, wo ich war. Falls er jemanden besuchen wollte, würde ich lange hier oben ausharren müssen, aber das glaubte ich nicht. Das Zögern, die ratlosen Rundumblicke. 681
Er suchte nicht nach dem Haus. Er suchte nach etwas anderem – jemand anderem. Dreimal hatte Lexie sich in ihren letzten Wochen irgendwo mit N getroffen – oder zumindest geplant, sich mit N zu treffen. Und wenn die anderen vier die Wahrheit sagten, war sie in der Nacht, als sie starb, wie gewohnt zu ihrem Spaziergang aufgebrochen und ihrem Mörder begegnet. Mein Adrenalinausstoß war heftig, und es juckte mich, dem Kerl zu folgen oder ihn wenigstens auf seinem Rückweg abzufangen, aber ich wusste, dass das eine schlechte Idee war. Ich hatte keine Angst – ich war schließlich bewaffnet und trotz seines wuchtigen Körperbaus sah er nicht besonders angsteinflößend aus –, aber ich hatte nur diese eine Chance, und ich konnte es mir nicht leisten, mein Pulver zu verschießen, im übertragenen Sinne, solange ich noch komplett im Dunkeln tappte. Da ich kaum eine Möglichkeit hatte herauszufinden, ob es eine Verbindung zu Lexie gab und wenn ja, welche, würde ich improvisieren 682
müssen, aber es wäre auf jeden Fall besser, wenigstens seinen Namen zu kennen, ehe wir ins Gespräch kamen. Ich glitt in Zeitlupe vom Baum herunter – an der Rinde rutschte mein Top hoch, und fast wäre das Mikro abgerissen, Frank musste glauben, ich würde von einem Panzer überrollt – und stellte mich hinter den Stamm, um zu warten. Es kam mir vor wie Stunden, ehe der Kerl zurückkehrte. Er rieb sich den Hinterkopf und sah noch immer verwundert aus. Was auch immer er suchte, er hatte es nicht gefunden. Als er an mir vorbei war, zählte ich dreißig Schritte ab und folgte ihm dann. Ich ging an dem grasigen Rand entlang, setzte behutsam die Füße auf, hielt mich hinter Baumstämmen. Er hatte einen Angeberschlitten auf der Landstraße geparkt, einen bulligen schwarzen Geländewagen mit diesen unvermeidlichen getönten Scheiben. Der Wagen stand etwa fünfzig Meter von der Abzweigung entfernt, und die Straße war 683
von weiten offenen Flächen gesäumt – hohes Gras, zottelige Brennnesseln, ein alter, leicht schiefer Meilenstein –, daher gab es keine Deckung. Es wäre zu riskant, so nahe ranzugehen, bis ich das Nummernschild lesen konnte. Mein großer Unbekannter tätschelte die Motorhaube liebevoll, stieg ein, knallte die Tür zu laut zu – jähe, eisige Stille in den Bäumen um mich herum – und blieb eine Weile einfach sitzen, dachte über Dinge nach, über die Typen wie er so nachdenken, wahrscheinlich seine Frisur. Dann ließ er den Motor aufheulen und donnerte die Straße hinunter Richtung Dublin.
Als ich sicher war, dass er nicht zurückkam, kletterte ich wieder auf meinen Baum und ließ mir die Sache durch den Kopf gehen. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass dieser Kerl mich schon eine Weile beobachtet hatte, dass das elektrisierte Gefühl in meinem Nacken von ihm kam, aber das 684
bezweifelte ich. Was immer er gesucht hatte, er war nicht besonders verstohlen unterwegs gewesen, und ich hatte nicht den Eindruck gehabt, dass es zu seinen Fähigkeiten gehörte, lautlos durch die freie Natur zu pirschen. Was da auch immer knapp außerhalb meines Gesichtsfeldes lauerte, würde sich nicht so leicht zu erkennen geben. In einem war ich mir sicher: Weder Sam noch Frank mussten vorläufig von meinem Protzkarrenbesitzer erfahren, solange ich nichts Konkreteres vorzuweisen hatte. Sam würde einen Anfall kriegen, wenn er herausfand, dass ich mich auf derselben nächtlichen Route vor fremden Männern versteckte, auf der es Lexie nicht gelungen war, sich vor ihrem Mörder zu verstecken. Frank würde das überhaupt keine Kopfschmerzen bereiten – er war schon immer davon ausgegangen, dass ich sehr gut auf mich allein aufpassen kann –, aber wenn ich es ihm sagte, würde er die Sache in die Hand nehmen, er würde diesen Kerl aufspüren und ihn einkassieren und ihn knallhart verhören, 685
und das wollte ich nicht. Etwas in mir sagte, dass das der falsche Weg war. Und noch etwas anderes, tiefer in mir, sagte, dass es Frank eigentlich nichts anging. Er war per Zufall in den Fall hineingestolpert. Das hier war eine Sache zwischen Lexie und mir. Ich rief ihn trotzdem an. Wir hatten an dem Abend schon miteinander gesprochen, und es war spät, aber er meldete sich auf Anhieb. »Ja? Alles in Ordnung?« »Mir geht’s gut«, sagte ich. »Entschuldige, ich wollte dir keinen Schrecken einjagen. Ich wollte dich bloß was fragen, ehe ich es wieder vergesse. Seid ihr bei den Ermittlungen auf einen Typen gestoßen, eins achtzig, kräftig, Ende zwanzig, gutaussehend, helles Haar, modische Frisur, braune Edellederjacke?« Frank gähnte, was mir ein schlechtes Gewissen machte, aber mich auch ein wenig erleichterte: Gut zu wissen, dass er tatsächlich ab und an mal schlief. »Wieso?« 686
»Vor ein paar Tagen hat mich an der Uni ein Typ angelächelt und genickt, als würde er mich kennen. Er ist nicht auf der BK-Liste. Ist eigentlich nicht wichtig – schließlich hat er sich nicht so verhalten, als wären wir Busenfreunde oder so –, aber ich dachte, ich frag mal nach. Ich will nicht dumm dastehen, wenn wir uns noch mal über den Weg laufen.« Das stimmte übrigens, nur dass der fragliche Typ klein und mager und rothaarig gewesen war. Ich hatte mir zehn Minuten lang den Kopf zerbrochen, bis mir klar wurde, woher er mich kannte. Er saß immer in unserer Ecke der Bibliothek. Frank dachte nach. Ich hörte Bettwäsche rascheln, als er sich umdrehte. »Da klingelt nichts bei mir«, sagte er. »Der Einzige, der mir einfällt, wäre der doofe Eddie – Daniels Cousin. Er ist neunundzwanzig und trägt eine braune Lederjacke, und ich schätze, er könnte als gutaussehend durchgehen, wenn man auf groß und blöd steht.«
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»Nicht dein Typ?« Noch immer kein N. Warum zum Teufel sollte der doofe Eddie um Mitternacht in der Gegend von Glenskehy herumschleichen? »Ich steh auf etwas mehr Oberweite. Eddie sagt jedenfalls, er ist Lexie nie begegnet. Und ich wüsste auch nicht, wo und wie. Er und Daniel verstehen sich nämlich nicht. Höchst unwahrscheinlich, dass Eddie auf ein Tässchen Tee im Haus vorbeischauen oder mit der Truppe einen trinken gehen würde. Und er wohnt in Bray, arbeitet in Killiney. Ich wüsste keinen Grund, warum er an der Uni gewesen sein soll.« »Alles klar«, sagte ich. »Wahrscheinlich bloß irgendein Kommilitone. Schlaf weiter. Tut mir leid, dass ich dich geweckt hab.« »Macht nichts«, sagte Frank und gähnte erneut. »Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Sprich einen Bericht auf Band, mit der genauen Beschreibung – und wenn du ihn noch mal siehst, sag Bescheid.« Er schlief schon halb. »Mach ich. Nacht.« 688
Ich blieb noch ein paar Minuten ruhig in meinem Baum sitzen und lauschte auf irgendwelche ungewöhnlichen Geräusche. Nichts. Bloß die Büsche unter mir, die wie ein Ozean im Wind wogten, und dieses Prickeln, schwach und unmöglich zu ignorieren, oben an meiner Wirbelsäule. Ich sagte mir, wenn irgendetwas meine Phantasie überhitzen würde, dann wahrscheinlich die Geschichte, die Sam mir erzählt hatte: die junge Frau, die ihren Geliebten, ihre Familie, ihre Zukunft verloren hatte und die aus Verzweiflung, weil ihr und ihrem Baby nichts mehr geblieben war, einen Strick an einen dieser dunklen Äste geknotet hatte. Ich rief Sam an, ehe ich allzu lange darüber nachdenken konnte. Er war noch immer hellwach. »Was war denn los? Alles in Ordnung mit dir?« »Alles bestens«, sagte ich. »Tut mir echt leid. Ich dachte, ich hätte jemand kommen gehört. Ich hab mir schon Franks geheimnisvollen Stalker vorgestellt, mit Hockeymaske und Kettensäge, 689
aber leider nein.« Auch das stimmte natürlich, aber für Sam die Fakten zu verdrehen war etwas anderes, als sie für Frank zu verdrehen, und mir zog sich der Magen zusammen. Eine Sekunde Stille. »Ich hab Angst um dich«, sagte Sam leise. »Ich weiß, Sam«, sagte ich. »Ich weiß. Mir geht’s ehrlich gut. Ich bin bald wieder zu Hause.« Ich meinte, ihn seufzen zu hören, ein kurzes resigniertes Atmen, zu leise, um mir ganz sicher sein zu können. »Ja«, sagte er. »Dann können wir ja auch über den Urlaub sprechen.« Auf dem Nachhauseweg dachte ich über Sams Vandalen nach, über dieses Prickeln im Nacken und über den doofen Eddie. Über ihn wusste ich lediglich, dass er in einer Immobilienagentur arbeitete, er und Daniel nicht miteinander konnten, Frank ihn nicht gerade für einen hellen Kopf hielt und er seinen Großvater für verrückt erklärt hatte, weil er sich Whitethorn House unbedingt selbst unter den Nagel hatte reißen wollen. Ich spielte 690
ein paar Szenarien durch – ein blutrünstiger irrer Eddie, der die Bewohner von Whitethorn House nacheinander niedermeuchelt, Eddie, der Casanova, der eine gefährliche Liebschaft mit Lexie hat und ausflippt, als er von dem Baby erfährt –, aber alle schienen ziemlich weithergeholt, und überhaupt, ich hoffte doch, dass Lexie nicht so geschmacklos war, es mit irgendeinem blöden Yuppie auf der Rückbank eines Geländewagens zu treiben. Falls er nicht gefunden hatte, was er suchte, bestand die Aussicht, dass er zurückkommen würde – es sei denn, er hatte sich bloß ein letztes Mal das Haus, das er geliebt und verloren hatte, und die Umgebung anschauen wollen, und so sentimental kam er mir eigentlich nicht vor. Ich sortierte ihn unter »Dinge, über die ich ein anderes Mal nachdenke« ein. Im Augenblick belegte er auf meiner Liste keinen Spitzenplatz. Es gab etwas, was ich Sam nicht erzählte, etwas neues Dunkles, das allmählich irgendwo in meinem Hinterkopf flatternd 691
Gestalt annahm: Irgendjemand hegte einen erbitterten Groll gegen Whitethorn House; irgendjemand hatte sich auf diesen Feldwegen mit Lexie getroffen, jemand Gesichtsloses, der mit einem N anfing; und irgendjemand hatte mit ihr dieses Baby gemacht. Wenn diese drei ein und dieselbe Person waren … Sams Vandale hatte wahrscheinlich nicht alle Tassen im Schrank, aber er könnte durchaus clever genug sein – zumindest in nüchternem Zustand –, das zu verbergen. Er könnte attraktiv sein, charmant, alle möglichen anziehenden Eigenschaften haben, und wir wussten ja schon, dass Lexies Entscheidungsfindungsprozess anders ablief als bei den meisten Menschen. Vielleicht hatte sie eher auf düstere Typen gestanden. Ich dachte an eine zufällige Begegnung auf irgendeinem Feldweg, an lange Spaziergänge zu zweit unter einem hohen Wintermond und an filigran vereiste Zweige. An das Lächeln, das unter ihren Wimpern aufschien, an das verfallene Cottage und Schutz hinter dem Vorhang aus Brombeerranken. 692
Wenn der Mann, den ich mir vorstellte, die Chance gesehen hatte, ein Whitethorn-HouseMädchen zu schwängern, musste ihm das wie ein Gottesgeschenk erschienen sein, eine vollkommene blinde Symmetrie: ein goldener Ball, den Engel ihm zuspielten und der nicht verweigert werden durfte. Und er hätte sie getötet.
Am nächsten Morgen spuckte jemand auf unser Auto. Wir waren auf dem Weg zur Uni, Justin und Abby saßen vorne, Rafe und ich hinten – Daniel war schon früher gefahren, ohne Erklärung, als wir Übrigen noch beim Frühstück saßen. Es war ein kühler grauer Morgen, dämmrige Stille lag in der Luft, und feiner Nieselregen ließ die Fenster beschlagen; Abby blätterte irgendwelche Notizen durch, summte zu einer Mahler-CD und legte gelegentlich dramatische Oktavsprünge ein. Rafe hatte einen Schuh ausgezogen und versuchte, den chaotisch verknoteten Schnürsenkel zu entwirren. 693
Als wir durch Glenskehy kamen, bremste Justin vor dem Zeitschriftenladen, um jemanden über die Straße zu lassen: einen alten Mann, gebeugt und drahtig, in einem bäuerlichen, abgetragenen Tweedanzug, eine Schirmmütze auf dem Kopf. Er hob seinen Gehstock wie zum Gruß, als er vorbeischlurfte, und Justin winkte zurück. Dann fing der Mann Justins Blick auf. Er blieb mitten auf der Straße stehen und starrte uns durch die Windschutzscheibe an. Für den Bruchteil einer Sekunde verzog sich sein Gesicht zu einer Fratze der Wut und Verachtung. Dann schlug er mit seinem Stock auf die Motorhaube, und der dumpfe Knall riss den Morgen in Stücke. Wir fuhren alle hoch, aber ehe einer von uns etwas Vernünftiges tun konnte, räusperte sich der Alte, spuckte auf die Scheibe – genau vor Justins Gesicht – und humpelte in dem gleichen bedächtigen Tempo weiter über die Straße. »Was –«, sagte Justin tonlos. »Was sollte denn der Scheiß? Was war das?« 694
»Die mögen uns nicht«, sagte Abby ruhig und griff rüber, um die Scheibenwischer anzumachen. Die Straße war lang und verlassen, kleine pastellfarbene Häuser im Regen dicht zusammengedrängt, dahinter dunkle Hügelschatten. Nirgendwo rührte sich etwas, nur das langsame mechanische Schlurfen des Alten und etwas weiter die Straße runter das Beben einer Gardine. »Fahr weiter, Justin.« »So ein Arschloch«, sagte Rafe. Er hielt seinen Schuh wie eine Waffe umklammert, die Knöchel weiß. »Du hättest ihn über den Haufen fahren sollen, Justin. Du hättest sein Zwergenhirn auf der Straße verteilen sollen.« Er fing an, sein Fenster runterzukurbeln. »Rafe«, sagte Abby schneidend. »Mach das wieder zu. Los.« »Warum? Warum sollen wir uns das gefallen lassen?« »Weil«, sagte ich mit dünner Stimme, »ich heute Abend meinen Spaziergang machen will.« 695
Augenblicklich erstarrte Rafe, genau wie ich es erwartet hatte. Er sah mich an, eine Hand noch immer an der Fensterkurbel. Justin würgte den Motor mit einem grässlichen mahlenden Geräusch ab, ließ ihn hektisch wieder an und gab Vollgas. »Charmant«, sagte er. Seine Stimme klang gepresst: Gemeinheiten in jeder Form brachten ihn unweigerlich aus der Fassung. »Das war echt charmant. Ich meine, mir ist klar, dass sie uns nicht mögen, aber das war ja wohl absolut überflüssig. Ich hab dem Mann doch nichts getan. Ich hab angehalten, um ihn rüberzulassen. Wieso hat er das gemacht?« Ich war ziemlich sicher, die Antwort zu kennen. Sam hatte Glenskehy in den letzten Tagen unsicher gemacht. Da kommt ein Detective in seinem feschen Anzug aus Dublin angegondelt, spaziert in ihre Wohnzimmer und stellt Fragen, buddelt geduldig ihre begrabenen Geschichten wieder aus, und das alles, bloß weil ein Mädchen aus dem Herrenhaus ein Messer in den Bauch gekriegt hat. 696
Sam war bei seiner Arbeit bestimmt freundlich und geschickt vorgegangen, wie immer. Ihr Zorn würde sich nicht gegen ihn richten. »Nur so«, sagte Rafe. Er und ich hatten uns auf der Rückbank umgedreht und beobachteten den Alten, der vor dem Zeitschriftenladen auf dem Bürgersteig stand und hinter uns herstarrte. »Er hat es getan, weil er ein schwachsinniger Arsch ist und jeden hasst, der nicht gerade seine Frau oder seine Schwester oder beides ist. Das ist hier die reinste Inzesthölle.« »Weißt du was?«, sagt Abby kalt, ohne sich umzudrehen. »Deine Kolonialherrenattitüde geht mir echt auf den Geist. Bloß weil er nicht auf irgendein englisches Edelinternat gegangen ist, ist er noch lange nicht weniger wert als du. Und wenn Glenskehy dir nicht fein genug ist, dann musst du dir eben was Besseres suchen.« Rafe öffnete den Mund, zuckte dann angewidert die Achseln und klappte ihn wieder zu. Er zog mit
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einem heftigen Ruck an seinem Schnürsenkel, der prompt riss. Rafe stieß einen leisen Fluch aus. Wäre der Mann dreißig oder vierzig Jahre jünger gewesen, hätte ich seine Beschreibung an Sam weitergegeben. Die Tatsache, dass er als Verdächtiger ausgeschlossen war – er hätte unmöglich schneller laufen können als fünf fuchsteufelswilde Studenten –, löste ein unangenehmes kurzes Frösteln zwischen meinen Schulterblättern aus. Abby drehte die Musik lauter. Rafe schmiss seinen Schuh auf den Boden und hielt den Mittelfinger an die Heckscheibe. Das, dachte ich, gibt noch Ärger.
»Okay«, sagte Frank am selben Abend. »Ich hab meinen FBI-Freund überredet, seine Jungs noch ein bisschen rumschnüffeln zu lassen. Ich hab ihm gesagt, wir hätten Grund zu der Annahme, dass unsere Kleine abgehauen ist, weil sie einen Nervenzusammenbruch hatte, und dass wir deshalb nach Anzeichen und möglichen Gründen dafür su698
chen. Nur rein interessehalber, vermuten wir das wirklich?« »Ich hab keine Ahnung, was du vermutest, Frankie-Boy. Dein Verstand ist für mich ein schwarzes Loch.« Ich saß auf meinem Baum. Ich drückte den Rücken gegen einen Ast der Gabelung und stemmte einen Fuß gegen den anderen, so dass ich mein Notizbuch auf den Oberschenkel legen konnte. Das Mondlicht, das durch die Zweige drang, reichte gerade aus, um die Seite zu erkennen. »Momentchen.« Ich klemmte das Telefon unters Kinn und kramte nach meinem Stift. »Du klingst gutgelaunt«, sagte Frank argwöhnisch. »Ich hatte gerade ein köstliches Abendessen und viel Spaß. Da bin ich natürlich gutgelaunt.« Ich schaffte es, den Stift aus der Jackentasche zu fischen, ohne aus dem Baum zu fallen. »Okay, schieß los.« Frank stieß einen gereizten Ton aus. »Schön für dich. Werde nur nicht zu kumpelhaft. Könnte ja 699
sein, dass du einen von deinen prima Freunden irgendwann verhaften musst.« »Ich dachte, du hast mich auf den geheimnisvollen Fremden mit dem schwarzen Umhang angesetzt.« »Ich bleib nur für alles aufgeschlossen. Und der Umhang ist nicht zwingend erforderlich. Okay, Folgendes haben wir bis jetzt – denk dran, du hast gesagt, du wolltest ganz alltäglichen Kram, also beschwer dich nicht. Am sechzehnten August 2000 hat Lexie-May-Ruth ihren Telefonanbieter gewechselt, um billigere Ortsgespräche führen zu können. Am zweiundzwanzigsten hat sie im Diner eine Lohnerhöhung bekommen, fünfundsiebzig Cent mehr pro Stunde. Am achtundzwanzigsten hat Chad ihr einen Heiratsantrag gemacht, und sie hat ja gesagt. Am ersten Wochenende im September sind die zwei nach Virginia gefahren, damit sie Chads Eltern kennenlernt, die sie als sehr liebes Ding beschrieben, und haben ihnen eine Topfpflanze mitgebracht.« 700
»Der Verlobungsring«, sagte ich bemüht ruhig. In meinem Kopf prasselten die Ideen los wie Popcorn, aber ich wollte nicht, dass Frank das merkte. »Hat sie den mitgenommen, als sie verschwunden ist?« »Nein. Die Cops haben Chad damals danach gefragt. Sie hat ihn auf dem Nachttisch liegen lassen, aber das war normal. Sie hat ihn immer da hingelegt, wenn sie zur Arbeit ging, damit sie ihn nicht verliert oder aus Versehen in die Friteuse fallen lässt oder so. Das Ding war kein Riesenklunker. Chad ist Bassist in einer Grunge-Band, die sich Man From Nantucket nennt. Die Jungs warten noch auf ihren großen Durchbruch, und bis dahin arbeitet er als Zimmermann. Er ist ziemlich blank.« Aufgrund des schlechten Lichts und meiner nicht ganz bequemen Sitzposition gerieten meine Notizen kritzelig und total schief, aber ich konnte sie einigermaßen lesen. »Wie geht’s weiter?«
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»Am zwölften September haben sie und Chad auf einen gemeinsamen Kredit eine PlayStation gekauft. Ich vermute, das ist heutzutage auch schon so was wie ein Eheversprechen. Am achtzehnten hat sie ihr Auto verkauft, einen 86er Ford, für sechshundert Dollar – sie hat Chad erzählt, sie würde ja jetzt mehr Geld verdienen und wollte sich einen Wagen kaufen, der nicht ganz so schrottreif ist. Am siebenundzwanzigsten ist sie wegen einer Ohrenentzündung zum Arzt, hat sie sich wahrscheinlich beim Schwimmen zugezogen. Er hat ihr Antibiotika gegeben, die auch geholfen haben. Und am zehnten Oktober ist sie weg. Wolltest du so was haben?« »Ja«, sagte ich. »Das ist genau der Kram, der mir vorgeschwebt hat. Danke, Frank. Du bist ein Juwel.« »Ich hab so das Gefühl«, sagte er, »dass zwischen dem zwölften und achtzehnten September irgendwas passiert ist. Bis zum zwölften deutet alles darauf hin, dass sie bleiben will, wo sie ist: Sie 702
verlobt sich, sie lernt die Schwiegereltern kennen, sie und Chad machen Einkäufe für eine gemeinsame Zukunft. Aber am achtzehnten verkauft sie ihr Auto, was für mich heißt, dass sie sich Geld beschafft, um zu verschwinden. Denkst du das auch?« »Klingt logisch«, sagte ich, aber ich wusste, dass Frank falschlag. Das undeutliche Muster hatte sich mit einem leisen endgültigen Klicken scharfgestellt, und ich wusste, warum Lexie aus North Carolina geflüchtet war. Wusste es so klar, als ob sie schwerelos auf einem Ast neben mir säße, die Beine im Mondlicht baumeln ließ und mir ins Ohr flüsterte. Und ich wusste auch, warum sie kurz davor gewesen war, aus Whitethorn House zu flüchten. Jemand hatte versucht, sie festzuhalten. »Ich will versuchen, mehr über diese Woche rauszufinden. Vielleicht kann ja einer den guten alten Chad noch mal vernehmen. Wenn wir rauskriegen, warum sie ihre Pläne geändert hat, müssten 703
wir unserem geheimnisvollen Fremden ein Stück näher kommen.« »Klingt gut. Danke, Frank. Sag mir Bescheid, wie du vorankommst.« »Tu nichts, was ich nicht auch tun würde«, sagte er und legte auf. Ich hielt das Handydisplay so über die Seite, dass ich meine Notizen lesen konnte. Die PlayStation war bedeutungslos. Es ist leicht, irgendwas auf Kredit zu kaufen, wenn du nicht vorhast, ihn abzuzahlen, nicht vorhast, noch irgendwo greifbar zu sein. Der Wechsel des Telefonanbieters im August war das letzte verlässliche Indiz dafür, dass sie eigentlich bleiben wollte, wo sie war. Billigere Tarife sind nur dann attraktiv, wenn du auch die Absicht hast, sie zu nutzen. Am 16. August steckte sie noch mitten in ihrem May-Ruth-Leben, ohne irgendwelche Aufbruchsgedanken. Und dann, kaum zwei Wochen später, hatte der arme Grunge-Chad ihr einen Heiratsantrag gemacht. Danach sprach nichts mehr dafür, dass Le704
xie bleiben wollte. Sie hatte ja gesagt, gelächelt und abgewartet, bis sie das Geld zusammenhatte, und dann war sie so weit und so schnell weggelaufen, wie sie konnte, ohne sich noch ein einziges Mal umzudrehen. Es war nicht Franks geheimnisvoller Stalker gewesen, es war nicht irgendeine unheimliche Bedrohung gewesen, die mit glitzernder Klinge aus dem Schatten heranschlich. Es war einfach nur ein kleiner, billiger Ring gewesen. Und diesmal war es das Baby gewesen: eine lebenslange Bindung an irgendeinen Mann, irgendwo. Sie hätte es abtreiben können, genau wie sie Chads Antrag hätte ablehnen können, aber das war nicht das Entscheidende. Schon allein bei dem Gedanken an diese Bindung war sie so panisch geworden wie ein gefangener Vogel. Der fehlende Kringel in ihrem Terminkalender, weil ihre Periode ausgeblieben war, und die Flugpreise. Und irgendwo dazwischen N. N war entweder die Falle, die sie hier festhalten wollte, oder
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aber, auf irgendeine Weise, die ich herausfinden musste, ihr Ausweg.
Die anderen lagen im Wohnzimmer ausgestreckt vor dem Kamin auf dem Boden, wie Kinder, und stöberten in einem vergammelten Reisekoffer, den Justin irgendwo gefunden hatte. Rafe hatte die Beine vertraulich über Abbys gelegt – offenbar hatten sie sich wieder vertragen. Auf dem Teppich verteilt standen Tassen und ein Teller Ingwerplätzchen, inmitten eines Sammelsuriums von kleinen ramponierten Dingen: pockennarbige Murmeln, Bleisoldaten, eine halbe Tonpfeife. »Super«, sagte ich, warf meine Jacke aufs Sofa und ließ mich mit einem Plumps zwischen Daniel und Justin nieder. »Was haben wir denn da?« »Merkwürdige Merkwürdigkeiten«, sagte Rafe. »Hier. Für dich.« Er zog eine mottenzerfressene Spielzeugmaus auf und ließ sie über den Boden auf mich zuschnurren. Auf halber Strecke blieb sie 706
mit einem deprimierend schrammenden Geräusch liegen. »Nimm lieber hiervon«, sagte Justin, reckte sich und zog die Keksschale näher ran. »Die schmecken besser.« Ich nahm mir mit einer Hand einen Keks, griff mit der anderen in den Koffer und ertastete etwas Hartes und Schweres. Es war ein ramponiertes Holzkistchen. Auf dem Deckel hatte vor langer Zeit mal als Perlmuttintarsie »EM« gestanden, jetzt waren nur noch ein paar Bruchstücke davon übrig. »Sehr schön«, sagte ich und klappte den Deckel auf. »Das ist wie ein Glückstopfspiel, nur noch viel besser.« Es war eine Spieldose, angelaufene Zylinder und aufgeschlitztes blaues Seidenfutter, und nach sekundenlangem Surren begann sie, eine Melodie zu zupfen: »Greensleeves«, verrostet und zauberhaft. Rafe legte eine Hand über das Uhrwerk, das noch immer halbherzig vor sich hin summte. Es
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wurde ganz still, nur das Knistern des Feuers, während wir lauschten. »Wunderschön«, sagte Daniel und schloss die Spieldose, als die Melodie endete. »Wirklich wunderschön. Nächstes Weihnachten … « »Darf ich die mit auf mein Zimmer nehmen, zum Einschlafen?«, fragte ich. »Bis Weihnachten?« »Brauchst du jetzt schon Schlafliedchen?«, fragte Abby, aber sie grinste mich an. »Klar darfst du.« »Ich bin froh, dass wir sie nicht früher gefunden haben«, sagte Justin. »Sie ist bestimmt wertvoll. Wahrscheinlich wären wir gezwungen worden, sie zu verkaufen, für die Steuern.« »Nicht besonders wertvoll«, sagte Rafe, nahm mir die Spieldose aus der Hand und begutachtete sie. »Für einfache Exemplare wie das hier werden rund hundert Euro bezahlt – in diesem Zustand deutlich weniger. Meine Großmutter hat so welche gesammelt. Zig Stück davon, überall wo ein Plätz708
chen frei war, und wenn man bloß mal zu fest auftrat, fiel eins runter und ging kaputt, und sie bekam einen Anfall.« »Hör auf«, sagte Abby und trat ihm leicht gegen den Knöchel – keine Vergangenheit –, aber sie klang nicht ernsthaft verärgert. Irgendwie, vielleicht durch die seltsame Alchemie, die unter Freunden herrscht, schien die ganze Spannung der letzten Tage verflogen. Wir waren wieder glücklich miteinander, unsere Schultern berührten sich, Justin zog Abbys Pullover runter, der ihr hinten hochgerutscht war. »Aber früher oder später könnten wir in dem Chaos hier tatsächlich mal auf was Wertvolles stoßen.« »Was würdet ihr mit dem Geld machen?«, fragte Rafe und nahm sich einen Keks. »Sagen wir, ein paar tausend.« In dem Moment hörte ich Sams Stimme nah an meinem Ohr: Das Haus ist voll mit altem Zeug, wenn da irgendwas Wertvolles dabei wäre …
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»Einen AGA-Herd kaufen«, sagte Abby sofort. »Das ist ein anständiger Ofen zum Heizen und ein Herd, der nicht gleich vor Rost zerbröselt, wenn du ihn nur mal scharf anguckst. Zwei Fliegen mit einer Klappe.« »Welch wilde Phantasien«, sagte Justin. »Wie wär’s mit Designerkleidern und Wochenendtrips nach Monte Carlo?« »Ich bin schon zufrieden, wenn ich mir nicht mehr die Zehen abfrier.« Vielleicht sollte sie ihm irgendwas geben, hatte ich gesagt, und das ist dann schiefgelaufen: Sie hat es sich anders überlegt … Ich merkte, dass ich die Spieldose wieder an mich genommen hatte und so festhielt, als versuchte jemand, sie mir wegzunehmen. »Ich glaube, ich würde das Dach neu decken lassen, ehe es einstürzt«, sagte Daniel. »Es hält bestimmt auch so noch ein paar Jährchen, aber es wäre doch schön, es nicht drauf ankommen lassen zu müssen.« 710
»Du?«, fragte Rafe, der schmunzelnd zu ihm rüberschielte, während er meine Hand lockerte und die Spieldose wieder aufzog. »Ich hätte gedacht, du würdest nie was aus dem Haus verkaufen, egal was. Du würdest es lieber einrahmen und an die Wand hängen. Familienhistorie statt schnöder Mammon.« Daniel schüttelte den Kopf und streckte mir die Hand hin, damit ich ihm seine Kaffeetasse gab – ich hatte meinen Keks reingetunkt. »Was zählt, ist das Haus«, sagte er, trank einen Schluck und reichte mir die Tasse zurück. »All die anderen Sachen sind eigentlich bloß Zugabe. Ich mag sie, aber ich würde sie, ohne mit der Wimper zu zucken, verkaufen, wenn wir das Geld für das Dach oder andere Instandsetzungen bräuchten. Das Haus an sich hat schon genug Geschichte, und außerdem schreiben wir ja unsere eigene, jeden Tag.« »Was würdest du damit machen, Lexie?«, fragte Abby. 711
Das war natürlich die Eine-Million-Frage, die mir wie ein kleiner gemeiner Hammer im Kopf dröhnte. Sam und Frank waren der Idee mit dem gescheiterten Antiquitätenverkauf nicht weiter nachgegangen, weil im Grunde nichts darauf hindeutete. Für die Erbschaftssteuer waren alle Sachen von Wert draufgegangen, Lexie hatte keine Kontakte zu Antiquitätenhändlern oder Hehlern gehabt, und es hatte keinerlei Anhaltspunkte dafür gegeben, dass sie Geld brauchte. Bis jetzt. Es ist erstaunlich, wie preiswert man sein Leben ablegen und ein neues beginnen kann, wenn man keine hohen Ansprüche hat und bereit ist, jede Arbeit zu machen, die sich anbietet. Nach dem Knocknaree-Fall hatte ich viel schlaflose Zeit im Internet verbracht, mir die Preise für Unterkünfte und Stellenanzeigen in verschiedenen Sprachen angesehen und Berechnungen angestellt. Es gibt viele Städte, in denen man eine schäbige Wohnung für umgerechnet dreihundert Euro im Monat findet oder ein Bett für einen Zehner pro Nacht. 712
Rechnet man den Flug hinzu und genug Bargeld, um sich ein paar Wochen über Wasser zu halten, während man sich einen Job in einer Kneipe oder einem Fastfoodrestaurant oder beim Touribüro sucht, und ein nagelneues Leben ist schon zum Preis eines Gebrauchtwagens zu haben. Ich hatte zweitausend gespart – mehr als genug. Und Lexie wusste das alles besser als ich. Sie hatte es schon gemacht. Sie hätte keinen verschollenen Rembrandt hinten in ihrem Schrank finden müssen. Sie hätte lediglich irgendetwas gebraucht, was sich einigermaßen lukrativ verscherbeln ließ – ein schönes Schmuckstück, ein seltenes Porzellanteil, ich hab gehört, auch Teddybären können mehrere hundert bringen –, sowie den passenden Käufer. Und natürlich die Bereitschaft, Kleinigkeiten aus diesem Haus hinter dem Rücken der anderen zu verhökern. Sie war in Chads Auto abgehauen, aber ich hätte bedenkenlos auf alles geschworen, dass das et-
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was anderes gewesen war. Hier hatte sie ein Zuhause gehabt. »Ich würde uns allen neue Betten kaufen«, sagte ich. »In meinem spür ich die Sprungfedern schon durch die Matratze, wie die Prinzessin auf der Erbse, und ich höre jedes Mal, wenn Justin sich umdreht.« Damit klappte ich die Spieldose wieder auf, um das Gespräch zu beenden. Abby sang leise mit, während sie die Tonpfeife in den Händen drehte. »Greensleeves is all my joy, Greensleeves is my delight … « Rafe hantierte mit dem Uhrwerk und fing an, den Antrieb zu untersuchen. Justin schnippte eine von den Murmeln gekonnt gegen eine andere, die über den Boden kullerte und gegen Daniels Tasse klickte. Er blickte von einem Bleisoldaten auf, lächelnd, das Haar tief in der Stirn. Ich betrachtete die anderen und strich mit den Fingern über die alte Seide und hoffte inbrünstig, dass ich die Wahrheit gesagt hatte.
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12 Am nächsten Tag machte ich mich nach dem Abendessen daran, Onkel Simons episches Meisterwerk nach einer toten Frau aus Glenskehy zu durchforsten. Es wäre wesentlich leichter gewesen, wenn ich das allein hätte tun können, aber dann hätte ich mich krankstellen müssen, um die Uni zu schwänzen, und ich wollte die anderen nicht beunruhigen, solange es nicht unbedingt erforderlich war. Also setzten Rafe, Daniel und ich uns oben in eines der Gästezimmer und breiteten den Stammbaum der Familie March zwischen uns aus, während Abby und Justin unten Piquet spielten. Der Stammbaum war ein großes Blatt aus dickem ausgefransten Papier, auf dem allerlei Handschriften versammelt waren, von zarter, braun verfärbter Tinte ganz oben – James March, geb. ca. 1598, ehelichte Elizabeth Kempe 1619 – bis zu Onkel Simons Spinnengekrakel ganz unten: Ed715
ward Thomas Hanrahan, geb. 1975, und ganz zum Schluss Daniel James March, geb. 1979. »Das ist so ziemlich das Einzige hier im Raum, was halbwegs leserlich ist«, sagte Daniel und zupfte Spinnweben von einer Ecke, »wahrscheinlich, weil Simon es nicht selbst geschrieben hat. Der Rest … Wir können es ja versuchen, Lexie, wenn es dich wirklich so interessiert, aber ich hab den Eindruck, er hat das meiste im Vollrausch geschrieben.« »He«, sagte ich, beugte mich vor und deutete auf eine Stelle. »Da ist dein William. Das schwarze Schaf.« »William Edward March«, sagte Daniel und legte sacht einen Finger auf den Namen. »Geboren 1894, gestorben 1983. Ja, das ist er. Ich frage mich, wo er wohl am Ende abgeblieben ist.« William war einer der wenigen, die es geschafft hatten, über vierzig zu werden. Sam hatte recht gehabt, die Marchs starben jung.
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»Mal sehen, ob wir ihn hier drin finden«, sagte ich und zog eine Kiste näher an mich ran. »Der Bursche macht mich neugierig. Ich möchte wissen, was das für ein Riesenskandal war.« »Frauen«, sagte Rafe herablassend, »immer auf der Suche nach Klatsch und Tratsch«, aber er griff nach einer weiteren Kiste. Daniel hatte recht, der Großteil der Saga war nahezu unleserlich – Onkel Simon hatte einen Hang zu Mehrfachunterstreichungen und dichtgedrängten Zeilen, ziemlich viktorianisch. Aber ich musste es auch nicht richtig lesen. Ich überflog es bloß und suchte nach den hohen Schwüngen eines großen W oder M. Ich weiß nicht recht, was ich zu finden hoffte. Nichts, vielleicht; oder etwas, das die Rathowen-Geschichte über den Haufen warf, das belegte, dass die junge Frau mit ihrem Baby nach London gezogen war, wo sie erfolgreich einen Miederwarenladen eröffnete und glücklich und zufrieden bis an ihr seliges Ende lebte.
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Unten hörte ich Justin etwas sagen und Abby lachen, schwach und weit weg. Wir drei sprachen nicht. Das einzige Geräusch war das leise, stetige Rascheln von Papier. Das Zimmer war kühl und dämmrig, ein verschwommener Mond hing vor dem Fenster, und die Seiten hinterließen eine trockene Staubschicht an meinen Fingern. »Ha, hier steht was«, sagte Rafe plötzlich. »›William March wurde Opfer eines großen ungerechten und‹ – sensationslüsternen? – irgendwas, das ihn letztlich ›sowohl seine Gesundheit als auch‹ … ? Mannomann, Daniel. Dein Onkel muss hackevoll gewesen sein. Was ist das überhaupt für eine Sprache?« »Zeig mal«, sagte Daniel und beugte sich vor. »›Sowohl seine Gesundheit als auch seinen rechtmäßigen Platz in der Gesellschaft kostete‹, glaub ich.« Er nahm Rafe die Seiten weg und rückte seine Brille zurecht. »›Die Fakten‹«, las er langsam und fuhr dabei mit dem Finger an der Zeile entlang, »›von allem Geschwätz der Klatschmäuler 718
entkleidet, sind wie folgt: Von 1914 bis 1915 diente William March im Weltkriege, wo er sich‹ – das muss ›wacker‹ heißen – ›schlug und später wegen Tapferkeit vor dem Feind mit dem Military Cross ausgezeichnet wurde. Schon dies allein hätte alles gemeine Geschwätz‹ – irgendwas. ›Im Jahr 1915 wurde William March aus der Armee entlassen, nachdem er durch ein Schrapnell an der Schulter verwundet worden war und einen Schützengrabenschock erlitten hatte –‹« »Posttraumatischer Stress«, sagte Rafe. Er hatte sich gegen die Wand gelehnt und die Hände hinter dem Kopf verschränkt. »Armer Teufel.« »Die Passage kann ich nicht lesen«, sagte Daniel. »Es geht um das, was er im Krieg gesehen hat, vermute ich. Das da soll wohl ›grausam‹ heißen. Dann steht da: ›Er löste seine Verlobung mit Miss Alice West und nahm keinerlei Anteil an den Vergnügungen seiner Kreise, sondern zog es vor, seine Zeit mit den einfachen Menschen im Dorf Glenskehy zu verbringen, was beide Seiten mit 719
großer Sorge erfüllte. Allen Beteiligten war klar, diese‹ – unnatürliche, glaub ich – ›Verbindung konnte kein glückliches Ende nehmen.‹« »Snobs«, sagte Rafe. »Musst du gerade sagen«, konterte ich und rutschte über den Boden, um mein Kinn auf Daniels Schulter zu stützen und auf den Text zu starren. Bislang keine Überraschungen, aber ich wusste – konnte kein glückliches Ende nehmen –, das war’s. »›Etwa um diese Zeit‹«, las Daniel und hielt die Seite schräg, um besser sehen zu können, »›stellte eine junge Frau aus dem Dorf fest, dass sie in anderen Umständen war, und benannte William March als den Vater ihres ungeborenen Kindes. Ungeachtet dessen, ob dies der Wahrheit entsprach oder nicht, waren die Menschen in Glenskehy, die damals, anders als heutzutage, einer hohen Moral anhingen‹« – Moral war doppelt unterstrichen –, »›ob ihres losen Lebenswandels entsetzt. Das ganze Dorf war einhellig der festen‹ – 720
Überzeugung? –, ›dass die junge Frau ihre Schande aus ihrer Mitte entfernen und in ein Magdalenenkloster gehen sollte, und bis dies geschah, machten sie sie zu einer Ausgestoßenen unter ihnen.‹« Kein Happy End, kein kleiner Miederwarenladen in London. Manche Mädchen entkamen den Wäschereien der Magdalenen nie mehr. Sie blieben Sklavinnen – weil sie schwanger geworden waren, vergewaltigt worden waren, verwaist oder zu hübsch waren –, bis sie in namenlosen Gräbern verschwanden. Daniel las weiter, ruhig und einförmig. Ich spürte die Vibration seiner Stimme an meiner Schulter. »›Die junge Frau jedoch nahm sich das Leben, entweder weil sie an ihrem Seelenheil verzweifelte oder nicht bereit war, die verlangte Buße zu tun. William March ging dies sehr nahe – mag sein, dass er tatsächlich in Sünde mit ihr vereint gewesen war, mag sein, dass er bereits zu viel Blutvergießen erlebt hatte. Sein Gesundheitszu721
stand verschlechterte sich rapide, und als er sich wieder erholte, verließ er Familie, Freunde und Heimat, um irgendwo neu anzufangen. Über sein späteres Leben ist wenig bekannt. Diese Ereignisse mögen als Lehre verstanden werden, die uns vor den Gefahren der Begierde ebenso warnt wie vor dem Umgang mit Menschen außerhalb des Standes, dem wir angehören, ebenso wie … ‹« Daniel brach ab. »Den Rest kann ich nicht lesen. Aber das ist auch sowieso alles über William. Im nächsten Abschnitt geht’s um ein Rennpferd.« »Meine Güte«, sagte ich leise. Auf einmal kam das Zimmer mir kalt vor, kalt und zugig, als wäre hinter uns ein Fenster aufgestoßen worden. »Die haben sie wie eine Aussätzige behandelt, bis sie dran zerbrochen ist«, sagte Rafe. Er hatte ein nervöses kleines Zucken im Mundwinkel. »Und bis William einen Nervenzusammenbruch hatte und fortging. Dann ist Glenskehy also schon länger das reinste Irrenhaus.«
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Ich spürte ein leichtes Schaudern über Daniels Rücken laufen. »Das ist eine böse Geschichte. Wahrhaftig. Manchmal frage ich mich, ob ›keine Vergangenheit‹ nicht auch für das Haus gelten sollte. Obwohl … « Er schaute sich um, sah den Raum voller staubiger, abgenutzter Dinge, die in Fetzen hängende Tapete an der Wand, den dunkelfleckigen Spiegel im Flur, der unser Bild in Blautönen und Schatten durch die offene Tür zurückwarf. »Ich glaube nicht«, sagte er fast zu sich selbst, »dass das überhaupt möglich wäre.« Er klopfte die Ränder der Seiten bündig und legte den Packen sorgfältig wieder in die Kiste, schloss den Deckel. »Ich weiß nicht, wie ihr das seht«, sagte er, »aber ich habe für heute Abend genug. Gehen wir runter zu den anderen.«
»Ich glaub, ich hab jedes Blatt Papier in diesem Lande gesehen, auf dem irgendwo der Name Glenskehy vorkommt«, sagte Sam, als ich ihn spä723
ter anrief. Er klang kaputt und verschwommen – schreibtischmüde, den Tonfall kannte ich gut –, aber zufrieden. »Ich weiß jetzt viel mehr über das Dorf, als irgendwem guttut, und ich habe drei Typen, auf die dein Profil passt.« Ich hockte in meinem Baum, die Füße hochgezogen und gegen den Stamm gestützt. Das Gefühl, beobachtet zu werden, war inzwischen dermaßen stark geworden, dass ich mir tatsächlich wünschte, dieser Unbekannte würde mich überrumpeln, damit ich endlich wusste, woran ich war. Ich hatte Frank kein Wort davon erzählt, und erst recht nicht Sam. Soweit ich das einschätzen konnte, waren die wahrscheinlichsten Erklärungen meine blühende Phantasie, der Geist von Lexie Madison und ein mörderischer Stalker, dem es an Entschlusskraft mangelte, weshalb ich die Sache lieber noch für mich behielt. Tagsüber dachte ich meist, es sei meine Phantasie, vielleicht unterstützt von der hiesigen Tierwelt, aber nachts machte mir
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die Ungewissheit zu schaffen. »Bloß drei? Von vierhundert Leuten?« »Glenskehy stirbt aus«, sagte Sam lapidar. »Fast die Hälfte der Bevölkerung ist über fünfundsechzig. Sobald die jungen Leute alt genug sind, packen sie ihre Sachen und ziehen nach Dublin, Cork, Wicklow, irgendwohin, wo ein bisschen Leben herrscht. Die Einzigen, die hierbleiben, haben eine Farm oder irgendeinen Familienbetrieb, den sie weiterführen müssen. Es gibt weniger als dreißig Männer zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig. Ich hab alle ausgeschlossen, die auswärts arbeiten, keine Arbeit haben, allein leben oder tagsüber mal verschwinden könnten, wenn sie wollten. Am Ende sind drei übrig geblieben.« »Meine Güte«, sagte ich. Ich dachte an den alten Mann, der über eine leere Straße humpelte, die müden Häuser, wo sich nur eine einzige Gardine bewegt hatte. »Tja, die wunderbare Welt des Fortschritts. Aber wenigstens gibt es noch Arbeitsplätze, zu 725
denen sie fahren können.« Papierrascheln. »Also, das sind meine drei Freunde. Declan Bannon, einunddreißig, bewirtschaftet außerhalb von Glenskehy mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern eine Farm. John Naylor, neunundzwanzig, lebt bei seinen Eltern im Dorf und arbeitet auf der Farm eines anderen. Und Michael McArdle, sechsundzwanzig, wohnt bei seinen Eltern und hat die Tagschicht an der Tankstelle auf der Straße nach Rathowen. Bei keinem irgendwelche bekannten Verbindungen zu Whitethorn House. Sagen dir die Namen irgendwas?« »Auf Anhieb nein«, sagte ich, »leider.« Und dann wäre ich fast vom Baum gefallen. »Ja klar«, sagte Sam abgeklärt, »wär ja auch zu schön, um wahr zu sein«, aber ich hörte ihn kaum. John Naylor: Endlich, und das wurde auch verdammt nochmal Zeit, hatte ich jemanden, der mit N anfing. »Zu wem tendierst du?«, fragte ich. Ich gab mir Mühe, mich nicht zu verhaspeln. Von allen Detec726
tives, die ich kenne, kann Sam am besten so tun, als wäre ihm etwas entgangen. So was ist nützlicher, als man meinen sollte. »Ist noch zu früh zu sagen, aber vorläufig neige ich zu Bannon. Er ist der Einzige, der aktenkundig ist. Vor fünf Jahren haben zwei amerikanische Touristen eins von Bannons Toren zugeparkt und einen Spaziergang gemacht. Als Bannon deshalb seine Schafe nicht durch das Tor treiben konnte, hat er es mit der Wut gekriegt und eine dicke Beule ins Auto getreten. Sachbeschädigung und Feindseligkeit gegenüber Fremden. Diese Sachbeschädigung in Whitethorn House wäre ihm durchaus zuzutrauen.« »Die anderen sind sauber?« »Byrne sagt, er hat sie beide schon mal ziemlich besoffen gesehen, aber nicht so schlimm, dass er sie wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit hätte festnehmen müssen oder so. Jeder von ihnen könnte irgendwelche Sachen auf dem Kerbholz haben, von denen wir nichts wissen, wäre in 727
Glenskehy ohne weiteres möglich, aber auf den ersten Blick sind sie sauber, ja.« »Hast du schon mit ihnen gesprochen?« Irgendwie musste ich mir diesen John Naylor ansehen. Einfach in den Pub zu spazieren war natürlich ausgeschlossen, und ganz arglos auf der Farm aufzukreuzen, auf der er arbeitete, war wahrscheinlich keine gute Idee, aber wenn ich es irgendwie hinkriegen konnte, bei einer Vernehmung dabei zu sein – Sam lachte. »Lass mir Zeit. Ich hab mich erst heute Nachmittag auf die drei eingeschossen. Ich will mich morgen früh mit ihnen unterhalten. Und da wollte ich dich fragen – meinst du, du könnest vielleicht auf einen Sprung vorbeischauen? Nur um mal einen Blick auf sie zu werfen? Vielleicht fällt dir ja irgendwas auf.« Ich hätte ihn küssen können. »Äh, ja klar. Wo? Wann?« »Wusste ich’s doch, dass du dir gern selbst ein Bild machen würdest.« Er lächelte. »Ich dachte an 728
das Revier in Rathowen. Bei ihnen zu Hause wäre am besten, damit sie nicht gleich durchdrehen, aber da könnte ich dich ja wohl schlecht mit hinnehmen.« »Klingt gut«, sagte ich. »Klingt toll, ehrlich gesagt.« Das Lächeln in Sams Stimme vertiefte sich. »Finde ich auch. Kannst du dich von den anderen loseisen?« »Ich werd ihnen sagen, ich hab einen Termin im Krankenhaus, zur Kontrolle der Naht. Hätte ich sowieso schon längst machen sollen.« Der Gedanke an die anderen versetzte mir einen seltsamen kleinen Stich. Falls Sam irgendein handfestes Indiz gegen einen der drei Männer fand – selbst wenn es noch nicht für eine Festnahme ausreichte –, dann wäre es vorbei. Ich wäre raus, müsste zurück nach Dublin und ins DHG. »Die wollen dich doch bestimmt dahin begleiten?«
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»Wahrscheinlich, aber das werde ich verhindern. Ich lass mich von Justin oder Daniel am Krankenhaus in Wicklow absetzen. Kannst du mich da abholen, oder soll ich mir ein Taxi nach Rathowen nehmen?« Er lachte. »Meinst du, die Chance lass ich mir entgehen? Sagen wir halb zehn?« »Perfekt«, sagte ich. »Und Sam – ich weiß ja nicht, wie hart du die drei rannehmen willst, aber ehe du anfängst, mit ihnen zu reden, hab ich noch ein paar Informationen für dich. Über die Frau mit dem Baby.« Wieder erfasste mich dieses widerliche Verrätergefühl, aber ich rief mir in Erinnerung, dass Sam nicht wie Frank war, er würde nicht mit einem Durchsuchungsbeschluss und einem Haufen absichtlich unverschämter Fragen in Whitethorn House auftauchen. »Anscheinend ist die ganze Sache 1915 passiert. Name der Frau unbekannt, aber ihr Liebhaber war William March, geboren 1894.«
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Kurzes verblüfftes Schweigen. Dann: »Du bist ein Goldstück«, sagte Sam begeistert. »Wie hast du das angestellt?« Also hörte er doch nicht die Bänder von der Mikroübertragung ab – zumindest nicht alle. Es erschreckte mich selbst, wie erleichtert ich darüber war. »Onkel Simon hat eine Familienchronik geschrieben. Die Sache mit dem Baby ist darin erwähnt. Die Details stimmen nicht ganz überein, aber es ist dieselbe Geschichte, keine Frage.« »Moment«, sagte Sam. Ich hörte, wie er eine leere Seite in seinem Notizbuch suchte. »Fertig. Schieß los.« »Laut Onkel Simon wurde William 1914 Soldat im Ersten Weltkrieg. Ein Jahr später kam er als nervliches Wrack zurück. Er löste seine Verlobung mit irgendeiner netten standesgemäßen Lady, brach alle Kontakte zu alten Freunden ab und fing an, sich viel im Dorf aufzuhalten. Wenn man zwischen den Zeilen liest, spürt man, dass die
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Bewohner von Glenskehy nicht gerade begeistert darüber waren.« »Viel konnten sie nicht dagegen tun«, sagte Sam trocken. »Einer aus der Familie des Großgrundbesitzers … der konnte doch tun und lassen, was er wollte.« »Dann wurde diese junge Frau schwanger«, sagte ich. »Sie behauptete, William wäre der Vater – Simon scheint da skeptisch gewesen zu sein, aber wie dem auch sei, ganz Glenskehy war entsetzt. Sie behandelten sie wie den letzten Dreck. Die herrschende Meinung war, dass sie in eine Wäscherei bei den Magdalenen gehörte. Aber ehe sie weggeschickt werden konnte, nahm sie sich den Strick.« Ein Windstoß durch die Bäume, Regentröpfchen auf bebenden Blättern. »Also«, sagte Sam nach einem Moment, »laut Simons Version tragen nicht die Marchs die Schuld am Tod der jungen Frau, sondern die verrückten Bauern aus dem Dorf.« 732
Auf die jähe Wut, die in mir aufstieg, war ich nicht gefasst. Fast hätte ich ihn angeschnauzt. »William March ist auch nicht völlig ungeschoren davongekommen«, sagte ich und hörte die Aggression in meiner Stimme. »Er hatte eine Art Nervenzusammenbruch; Genaueres weiß ich nicht, aber er landete in einer Einrichtung, die sich stark nach Nervenklinik anhört. Und vielleicht war es noch nicht mal sein Kind.« Wieder Schweigen, diesmal länger. »Richtig«, sagte Sam. »Stimmt. Außerdem hab ich nicht vor, mich heute über irgendwas zu streiten. Dafür freu ich mich viel zu sehr darauf, dich wiederzusehen.« Ich schwöre, ich brauchte eine Sekunde, bis ich verstand, was er meinte. Ich war völlig auf meine Chance fixiert gewesen, diesen mysteriösen N zu sehen, und hatte gar nicht registriert, dass ich ja auch Sam sehen würde. »Keine zwölf Stunden mehr«, sagte ich. »Ich bin die Frau, die aussieht wie Lexie Madison und nichts anhat außer weißer Spitzenunterwäsche.« 733
»Ah, quäl mich nicht«, sagte Sam. »Das Treffen ist rein beruflich«, aber als wir auflegten, konnte ich noch immer das Schmunzeln in seiner Stimme hören.
Daniel saß in einem Sessel am Kamin und las T.S. Eliot, die anderen drei spielten Poker. »Uff«, sagte ich und ließ mich auf dem Kaminvorleger nieder. Der Griff meines Revolvers drückte genau unter meine Rippen, und ich versuchte nicht, das leise Aufstöhnen zu unterdrücken. »Wieso spielst du nicht mit? Du fliegst doch nie als Erster raus.« »Ich hab ihn fertiggemacht«, rief Abby herüber und hob ihr Weinglas. »Keine Häme bitte«, sagte Justin. Er klang, als würde er verlieren. »Die macht Menschen so unattraktiv.« »Hat sie aber wirklich«, sagte Daniel. »Sie blufft immer besser. Hast du wieder Schmerzen an der Naht?« 734
Ein ganz kurzes Verharren am Tisch, wo Rafe gerade seinen Vorrat an Münzen durch die Finger gleiten ließ. »Bloß, weil ich dran denke«, sagte ich. »Ich hab morgen einen Kontrolltermin, damit die Ärzte mich noch ein bisschen mehr begrapschen können, um mir dann zu sagen, dass alles bestens ist, was ich sowieso schon weiß. Fährst du mich hin?« »Klar«, sagte Daniel und legte sein Buch auf den Schoß. »Wann?« »Zehn Uhr im Krankenhaus Wicklow. Ich nehm dann hinterher den Zug zur Uni.« »Aber du kannst doch da nicht allein hin«, sagte Justin. Er hatte sich auf seinem Platz umgedreht, dachte gar nicht mehr an Poker. »Ich kann dich hinfahren. Hab morgen sonst nichts vor. Ich komme mit, und dann fahren wir zusammen zur Uni.« Er klang ehrlich besorgt. Falls ich ihn nicht loswurde, hätte ich ein Problem. »Ich will aber
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nicht, dass einer mitkommt«, sagte ich. »Ich will da allein hin.« »Aber Krankenhäuser sind schrecklich. Und die lassen einen stundenlang warten, wie Vieh, eingepfercht in diesen grässlichen Wartezimmern –« Ich hielt den Kopf gesenkt und kramte in meiner Jackentasche nach Zigaretten. »Dann nehm ich mir eben ein Buch mit. Es reicht, wenn ich da hinmuss, da brauch ich nicht noch jemanden, der mir die ganze Zeit auf der Pelle hängt. Ich will das einfach bloß hinter mich bringen und vergessen, okay? Meinst du, du kannst damit leben?« »Es ist ihre Entscheidung«, sagte Daniel. »Sag Bescheid, falls du es dir doch noch anders überlegst, Lexie.« »Tausend Dank«, sagte ich. »Ich bin schon erwachsen, wisst ihr. Ich kann schon ganz allein zum Onkel Doktor.« Justin zuckte die Achseln und drehte sich wieder zum Tisch um. Ich wusste, dass ich seine Gefühle verletzt hatte, aber das war nicht zu ändern. 736
Ich machte mir eine Zigarette an. Daniel reichte mir den Aschenbecher, der auf seiner Sessellehne gestanden hatte. »Rauchst du in letzter Zeit mehr?«, erkundigte er sich. Mein Gesicht war mit Sicherheit völlig ausdruckslos, aber mein Gehirn lief auf Hochtouren. Wenn überhaupt, hatte ich weniger geraucht, als ich hätte rauchen sollen – um die fünfzehn bis sechzehn am Tag, was die Mitte zwischen meinen üblichen zehn und Lexies zwanzig war –, und gehofft, sie würden sich die geringere Menge mit meinem noch angeschlagenen Zustand erklären. Mir war gar nicht in den Sinn gekommen, dass Frank sich bei diesen zwanzig Zigaretten am Tag nur auf die Aussage der anderen gestützt hatte. Daniel war nicht auf die Komageschichte hereingefallen. Gott allein wusste, was er sonst noch alles vermutete. Es wäre so einfach, so erschreckend einfach für ihn gewesen, bei seinen Gesprächen mit Frank bloß die ein oder andere Fehlinformation einzubauen, sich entspannt zurückzulehnen – 737
seine ruhigen grauen Augen ohne eine Spur von Ungeduld auf mich gerichtet – und abzuwarten, ob sie ihr Ziel erreichten. »Keine Ahnung«, sagte ich verwirrt. »Hab ich noch nicht drüber nachgedacht. Rauch ich echt mehr?« »Früher hast du keine Zigaretten mit auf deine Spaziergänge genommen«, sagte Daniel. »Vor dem Zwischenfall. Jetzt schon.« Die Erleichterung raubte mir fast den Atem. Ich hätte drauf kommen müssen – bei der Leiche waren keine Zigaretten gefunden worden –, aber eine Nachlässigkeit unsererseits war sehr viel leichter zu verkraften als der Gedanke, dass Daniel spielte, mit Unschuldsmiene, eine Handvoll Trümpfe in der Hand. »Wollte ich immer«, sagte ich. »Hab ich bloß dauernd vergessen. Jetzt, wo ihr mich ständig dran erinnert, mein Handy mitzunehmen, denk ich auch an meine Zigaretten. Und außerdem« – ich setzte mich auf und sah Daniel beleidigt an –, »wieso redest du mir ins Gewissen? Ra738
fe pafft mindestens zwei Packungen am Tag, und ihn lässt du in Ruhe.« »Ich rede dir nicht ins Gewissen«, sagte Daniel. Er lächelte mich über sein Buch hinweg an. »Ich finde bloß, man soll seine Laster genießen. Wozu hat man sie sonst? Wenn du aus Nervosität rauchst, dann genießt du es nicht.« »Ich bin nicht nervös«, entgegnete ich. Zum Beweis ließ ich mich nach hinten auf die Ellbogen sinken und stellte mir den Aschenbecher auf den Bauch. »Mir geht’s prima.« »Wenn du zurzeit nervös bist«, sagte Daniel, »ist das nur verständlich. Aber du solltest eine andere Form finden, Stress abzubauen, anstatt ein bewährtes Laster so zu verschwenden.« Wieder dieses angedeutete Lächeln. »Falls du das Bedürfnis hast, mit jemandem zu reden … « »Meinst du etwa, mit einem Therapeuten?«, fragte ich. »Igitt. Im Krankenhaus haben sie auch davon angefangen, aber ich hab gesagt, sie sollen mich bloß damit in Ruhe lassen.« 739
»Mhm, ja«, sagte Daniel. »Kann ich mir vorstellen. Ich glaube, das war eine gute Entscheidung. Ich hab noch nie verstanden, welche Logik dahintersteckt, einen fremden Menschen von fragwürdiger Intelligenz dafür zu bezahlen, dass er sich deine Probleme anhört. Für so was hat man doch Freunde. Falls du drüber reden willst, sind wir alle –« »Gott verdammt nochmal«, donnerte Rafe los. Er klatschte seine Karten auf den Tisch und schob sie weg. »Ich brauch gleich’ne Kotztüte. Magst du der Gruppe deine Gefühle erzählen? Lasst uns alle drüber reden! Hab ich da was nicht mitgekriegt? Sind wir auf einmal in Kalifornien, und keiner hat’s mir gesagt?« »Was hast du eigentlich für ein Scheißproblem?«, fragte Justin bissig. »Ich kann dieses Psychogetue nicht ab. Lexie geht’s gut. Gibt es irgendeinen bestimmten Grund, warum wir sie nicht einfach in Ruhe lassen können?« 740
Ich hatte mich aufgesetzt. Daniel hatte sein Buch hingelegt. »Das hast ja wohl nicht nur du zu entscheiden«, sagte Justin. »Wenn ich mir diesen Stuss anhören muss, dann doch, dann kann ich das entscheiden. Ich steig aus. Justin, hast gewonnen. Abby, neue Karten.« Rafe griff an Justin vorbei nach der Weinflasche. »Wo wir gerade von Lastern zur Stressbewältigung sprechen«, sagte Abby unterkühlt, »meinst du nicht, du hast für heute Abend genug intus?« »Nein«, erwiderte Rafe und sah sie an, »das mein ich ganz und gar nicht.« Er goss sich sein Glas so voll, dass ein Tropfen überschwappte und auf den Tisch lief. »Und ich erinnere mich nicht, dich um deinen Rat gebeten zu haben. Teil endlich die Karten aus.« »Du bist betrunken«, sagte Daniel kalt. »Und du benimmst dich unmöglich.« Rafe fuhr herum und starrte ihn an. Seine Hand umklammerte den Rand des Glases, und für eine 741
Sekunde dachte ich, er würde es werfen. »Ja«, sagte er leise und bedrohlich. »Ich bin tatsächlich betrunken. Und ich beabsichtige, noch sehr viel betrunkener zu werden. Möchtest du darüber reden, Daniel? Ja, möchtest du das? Möchtest du, dass wir alle uns mal so richtig ausquatschen?« Irgendetwas lag in seiner Stimme, etwas Beunruhigendes wie Benzingeruch, darauf lauernd, sich beim ersten Funken zu entzünden. »Mit jemandem in deinem Zustand zu diskutieren halte ich für sinnlos«, sagte Daniel. »Reiß dich zusammen, trink einen Kaffee und hör auf, dich wie ein verwöhntes Balg aufzuführen.« Er hob erneut sein Buch und drehte sich von den anderen weg. Ich war die Einzige, die sein Gesicht sehen konnte. Es war vollkommen ruhig, aber seine Augen bewegten sich nicht: Er las kein einziges Wort. Selbst mir war klar, dass er völlig falsch reagierte. Wenn Rafe sich erst mal in so eine Stimmung reingesteigert hatte, wusste er nicht, wie er 742
da wieder rauskommen sollte. Dann brauchte er jemanden, der ihm dabei half, der die Stimmung im Raum auf heiter umstellte oder auf friedlich oder sachlich, damit er sich dem anschließen konnte. Der Versuch, ihn rumzukommandieren, musste ihn nur noch mehr reizen, und bei dem Gedanken, dass Daniel einen so untypischen Fehler gemacht hatte, durchfuhr mich ein Ruck: Verwunderung und noch etwas anderes, Angst vielleicht oder Aufregung. Ich hätte Rafe im Handumdrehen beruhigen können (Oha, denkt ihr, ich hätte eine posttraumatische Belastungsstörung? Wie ein Vietnamveteran? Ruf doch mal einer »Granate«, dann seht ihr ja, ob ich in Deckung geh … ), und fast hätte ich es auch getan, es fiel mir schwer, mich zu bremsen. Aber ich wollte sehen, wie die Sache weiterging. Rafe holte Luft, als wollte er etwas sagen, aber dann überlegte er es sich anders, schüttelte angeekelt den Kopf und stieß heftig seinen Stuhl zurück. Er nahm sein Glas in die eine Hand, die Flasche in 743
die andere und stakste aus dem Raum. Einen Augenblick später knallte seine Tür. »Ach du Schande«, sagte ich nach einem Moment. »Ich glaub, ich geh doch noch zum Psychiater und erzähl ihm, dass ich mit lauter Spinnern zusammenwohne.« »Hör jetzt auf«, sagte Justin. »Hör bloß auf.« Seine Stimme zitterte. Abby legte die Karten hin, stand auf, rückte ihren Stuhl ordentlich unter den Tisch und verließ das Zimmer. Daniel rührte sich nicht. Ich hörte, dass Justin irgendwas umstieß und unflätige Flüche vor sich hin murmelte, aber ich schaute nicht auf.
Das Frühstück am nächsten Morgen verlief in beklemmender Stille. Justin schwieg mich an. Abby bewegte sich mit einer kleinen Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen durch die Küche, bis wir mit dem Abwasch fertig waren und sie Rafe aus 744
seinem Zimmer geeist hatte und die drei zur Uni fuhren. Daniel saß am Tisch und blickte aus dem Fenster, ganz in seine eigene Welt versunken, während ich abtrocknete und alles wegräumte. Schließlich bewegte er sich und atmete tief durch. »Okay«, sagte er und blinzelte verwundert, als er die abgebrannte Zigarette zwischen seinen Fingern bemerkte. »Wir müssen dann mal los.« Auch auf der Fahrt zum Krankenhaus sagte er kein Wort. »Danke«, murmelte ich, als ich ausstieg. »Keine Ursache«, sagte er geistesabwesend. »Ruf mich auf jeden Fall an, wenn sich bei der Kontrolle rausstellt, dass irgendwas nicht stimmt, was ich aber nicht glaube. Oder wenn du deine Meinung änderst und doch gern jemanden dabeihättest.« Er winkte über die Schulter, als er davonfuhr. Als ich mich vergewissert hatte, dass er auch wirklich weg war, holte ich mir einen Styroporbe745
cher mit Muckefuck aus der Krankenhauscafeteria und lehnte mich draußen gegen die Wand, um auf Sam zu warten. Ich sah ihn, wie er einparkte und ausstieg, um den Parkplatz abzusuchen, ehe er mich erblickte. Für den Bruchteil einer Sekunde erkannte ich ihn nicht. Er sah müde aus und dicklich und alt, lächerlich alt, und in diesem kurzen Moment dachte ich bloß: Wer ist der Typ? Dann entdeckte er mich und lächelte, mein Verstand stellte sich wieder scharf ein, und Sam sah wieder aus wie er selbst. Ich sagte mir, dass Sam während einer größeren Ermittlung immer ein paar Pfund zulegt – zu viel Junkfood –, und da ich die letzte Zeit ständig mit Leuten unter dreißig zusammen gewesen war, musste ein Fünfunddreißigjähriger natürlich greisenhaft wirken. Ich warf meinen Becher in den Mülleimer und ging rüber. »Ah, Gott«, sagte Sam und drückte mich fest an sich, »tut das gut, dich zu sehen.« Sein Kuss war warm und stark und unvertraut. Sogar sein Geruch, Seife und frischgebügelte Baumwolle, kam 746
mir fremd vor. Ich brauchte eine Sekunde, ehe ich dahinterkam, wie sich das alles anfühlte: wie jener erste Abend in Whitethorn House, wo von mir erwartet worden war, dass ich alles um mich herum in- und auswendig kannte. »Hi«, sagte ich und lächelte zu ihm hoch. Er zog meinen Kopf an seine Schulter. »Gott«, seufzte er noch einmal. »Komm, wir vergessen diesen ganzen beknackten Fall und nehmen uns den Tag frei, ja?« »Das Treffen ist rein beruflich«, rief ich ihm in Erinnerung. »Schon vergessen? Du warst es, der mir verboten hat, die weiße Spitzenwäsche zu tragen.« »Ich hab’s mir anders überlegt.« Er ließ seine Hände über meine Arme gleiten. »Du siehst toll aus, weißt du das? Ganz entspannt und hellwach und längst nicht mehr so dünn. Der Fall tut dir gut.«
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»Landluft«, sagte ich. »Außerdem kocht Justin immer wie für zwölf. Wie geht’s denn jetzt weiter?« Sam seufzte noch einmal, ließ meine Hände los und lehnte sich gegen das Auto. »Meine drei Jungs kommen aufs Revier nach Rathowen, jeweils mit einer halben Stunde Abstand. Die Zeit müsste reichen. Vorläufig will ich nur ein Gefühl für sie kriegen, ohne sie aufzuscheuchen. Es gibt da keinen Beobachtungsraum, aber im Aufnahmebereich kannst du alles hören, was im Vernehmungszimmer passiert. Du kannst hinten warten, während ich sie reinführe, dich dann nach vorne zur Aufnahme schleichen und mithören.« »Ich würde auch gern einen Blick auf sie werfen«, sagte ich. »Lass mich doch einfach vorn rumsitzen. Könnte nicht schaden, wenn sie mich sehen. Wenn einer von ihnen unser Mann ist – für den Mord oder auch nur für die Sachbeschädigung –, dann wird er ziemlich heftig auf mich reagieren.« 748
Sam schüttelte den Kopf. »Das macht mir ja gerade Sorgen. Weißt du noch neulich Nacht, als wir telefoniert haben und du dachtest, du hättest jemanden gehört? Falls einer von denen dich verfolgt und dann denkt, du redest mit uns … Wir wissen sowieso schon, dass er ziemlich aufbrausend ist.« »Sam«, sagte ich sanft und schob meine Finger zwischen seine, »genau das ist meine Aufgabe. Dafür sorgen, dass wir näher an ihn rankommen. Wenn du mich das nicht machen lässt, bin ich völlig überflüssig, nur jemand, der dafür bezahlt wird, gut zu essen und Schundromane zu lesen.« Nach einem Moment lachte Sam, ein kurzes, widerwilliges Ausatmen. »Stimmt«, sagte er. »In Ordnung. Schau dir die Jungs an, wenn ich sie wieder rausbringe.« Er drückte sacht meine Finger und ließ los. »Ehe ich’s vergesse« – er griff in sein Jackett –, »Mackey schickt dir die hier.« Es war eine Tablettendose wie die, die ich mit ins Whitethorn House 749
gebracht hatte und auf der das Apothekenetikett unübersehbar verkündete, dass es sich um Amoxicillin handelte. »Ich soll dir von ihm bestellen, dass deine Wunde noch nicht ganz verheilt ist und der Arzt befürchtet, du könntest doch noch eine Infektion bekommen. Deshalb sollst du noch welche von denen hier nehmen.« »Na, wenigstens krieg ich genug Vitamin C«, sagte ich und steckte die Dose ein. Sie fühlte sich zu schwer an, zerrte seitlich an meiner Jacke. Der Arzt befürchtet … Frank bereitete langsam meinen Ausstieg vor.
Das Polizeirevier von Rathowen war trostlos. Ich hatte schon viele in der Art gesehen, in irgendwelchen abgelegenen Winkeln des Landes verteilt: kleine Reviere, die in einem Teufelskreis stecken, weil sie sowohl von den Leuten, die Gelder vergeben, mit Verachtung gestraft werden als auch von den Leuten, die Posten vergeben, und überdies 750
noch von jedem, der irgendwo im Universum eine andere Stellung ergattern kann. Der Aufnahmebereich bestand aus einem wackeligen Stuhl, einer Plakatwerbung für Fahrradhelme und einer Schaltertheke, hinter der Byrne stand, blicklos zur Tür hinausstarrte und Kaugummi kaute. Das Vernehmungszimmer diente offenbar gleichzeitig auch als Lagerraum: Es enthielt einen Tisch, zwei Stühle, einen Aktenschrank – nicht abschließbar –, einen Stapel mit Formularen für Zeugenaussagen und aus mir unerfindlichen Gründen in einer Ecke einen ramponierten Einsatzschild aus den achtziger Jahren. Der Bodenbelag war vergilbtes Linoleum, und an der Wand klebte eine zerquetschte Fliege. Kein Wunder, dass Byrne so aussah, wie er aussah. Ich blieb bei Byrne hinter dem Schalter, außer Sicht, während Sam versuchte, das Vernehmungszimmer ein bisschen auf Vordermann zu bringen. Byrne schob seinen Kaugummi in eine Backe und
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musterte mich mit einem langen, deprimierten Blick. »Das klappt nie«, erklärte er. Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, aber anscheinend war gar keine Antwort erforderlich. Byrne holte seinen Kaugummi aus der Backe hervor und glotzte wieder nach draußen. »Da kommt Bannon«, sagte er. »Dieser hässliche dicke Klotz.« Wenn Sam will, hat er eine angenehm leichte Hand bei Vernehmungen, und an dem Tag wollte er. Er führte sie wie eine lockere Unterhaltung, beiläufig, unangestrengt. Fällt Ihnen vielleicht irgendjemand ein, auch wenn es nur so ein Gefühl ist, der Miss Madison angegriffen haben könnte? Wie sind die denn so, die fünf oben im Whitethorn House? Haben Sie in letzter Zeit irgendjemanden in Glenskehy gesehen, den Sie nicht kannten? Er vermittelte den Eindruck, subtil, aber unmissverständlich, dass die Ermittlung allmählich im Sande verlief.
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Bannon antwortete hauptsächlich mit gereiztem Brummen. McArdle war weniger bärbeißig und dafür gelangweilter. Beide behaupteten, nicht die geringste Ahnung zu haben, von gar nichts. Ich hörte nur mit halbem Ohr hin. Falls es da irgendetwas gab, würde Sam es finden. Ich wollte bloß einen Blick auf John Naylor werfen und sein Gesicht sehen, wenn er mich erblickte. Ich ließ mich auf dem wackeligen Stuhl nieder, Beine ausgestreckt, versuchte so auszusehen, als wäre ich zu einer weiteren sinnlosen Befragung herzitiert worden, und wartete. Bannon war tatsächlich ein hässlicher dicker Klotz: beachtlicher Bierbauch, muskelbepackt und gekrönt von einem Kartoffelgesicht. Als Sam ihn aus dem Vernehmungszimmer führte und er mich sah, stutzte er und betrachtete mich mit einem bösen, angewiderten Grinsen. Oh ja, er wusste, wer Lexie Madison war, und er konnte sie nicht leiden. McArdle dagegen – er war ein langes, mageres Hemd mit einem zotteligen Möchtegernbart – 753
nickte mir halbherzig zu und trottete von dannen. Ich ging wieder hinter die Theke und wartete auf Naylor. Seine Vernehmung lief so ähnlich ab wie bei den beiden anderen: nichts gesehen, nichts gehört, nichts zu sagen. Er hatte eine nette Stimme, einen flotten Bariton mit diesem Glenskehy-Einschlag, der mir allmählich vertraut wurde – rauer als der von Wicklow, wilder – und einem angespannten Unterton. Dann kam Sam zum Schluss und öffnete die Tür. Naylor war mittelgroß, drahtig, trug Jeans und einen Schlabberpullover von unbestimmter Farbe. Er hatte volles rotbraunes Haar und ein markantes Gesicht: hohe Wangenknochen, breiter Mund, schmale grüne Augen unter buschigen Brauen. Ich wusste nicht, was für einen Männergeschmack Lexie gehabt hatte, aber dieser Bursche war gutaussehend, keine Frage. Dann bemerkte er mich. Seine Augen weiteten sich, und sein starrer Blick warf mich fast auf 754
meinem Stuhl nach hinten. Was für eine Intensität! Es hätte Hass sein können, Liebe, Wut, Entsetzen, alles auf einmal, jedenfalls war es nicht mit Bannons gehässiger Häme zu vergleichen. Das war Leidenschaft, hell und lodernd wie eine Leuchtfackel. »Was denkst du?«, fragte Sam, während er hinter Naylor herschaute, wie er die Straße überquerte und auf einen verdreckten’89er Ford zuging, der beim Schrotthändler mit etwas Glück noch fünfzig Euro bringen würde. Ich dachte vor allem, dass ich jetzt ziemlich sicher war, woher das Prickeln bei mir im Nacken rührte. »Falls McArdle kein Schauspieltalent besitzt«, sagte ich, »kannst du ihn auf deiner Liste nach ganz unten schieben, denke ich. Ich wette, er hatte keine Ahnung, wer ich bin – und dein Vandale hat das Haus gut beobachtet, selbst wenn er nicht unser Mann ist. Er würde mein Gesicht kennen.«
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»Was auf Bannon und Naylor auch zutrifft«, sagte Sam. »Und sie haben sich kein bisschen gefreut, dich zu sehen.« »Die sind aus Glenskehy«, sagte Byrne düster hinter uns. »Die freuen sich nie, irgendwen zu sehen, echt. Und es freut sich auch nie einer, sie zu sehen.« »Ich hab Hunger«, sagte Sam. »Gehen wir was essen?« Ich schüttelte den Kopf. »Geht nicht. Rafe hat mich schon angesimst und gefragt, ob alles in Ordnung ist. Ich hab geantwortet, ich wäre noch im Wartezimmer, aber wenn ich nicht bald zur Uni komme, fahren die bestimmt zum Krankenhaus und suchen mich.« Sam holte tief Luft, nahm die Schultern zurück. »Richtig«, sagte er. »Immerhin haben wir einen mehr oder weniger ausgeschlossen. Bleiben bloß noch zwei. Ich fahr dich in die Stadt.«
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Keiner stellte Fragen, als ich in die Bibliothek kam. Die anderen nickten mir zu, als hätte ich bloß eine Zigarettenpause gemacht. Meine genervte Reaktion auf Justin am Vorabend war bei allen angekommen. Er war noch immer sauer auf mich. Ich ignorierte ihn den ganzen Nachmittag. Das beleidigte Schweigen machte mir zu schaffen, aber Lexies Dickköpfigkeit wäre nicht angekratzt worden, höchstens ihre Konzentrationsfähigkeit. Erst beim Abendessen – Schmortopf, so dick, dass er kaum noch als Flüssigkeit gelten konnte – sagte ich etwas. Das ganze Haus duftete wunderbar, satt und warm. »Reicht’s noch für einen Nachschlag?«, fragte ich Justin. Er zuckte die Achseln, ohne mich anzusehen. »Primadonna«, sagte Rafe halblaut. »Justin«, sagte ich. »Bist du noch immer böse, weil ich gestern Abend so rumgezickt habe?«
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Wieder ein Achselzucken. Abby, die mir gerade die Schüssel hatte reichen wollen, stellte sie wieder hin. »Ich hatte Schiss, Justin. Ich hatte Angst, ich gehe heute dahin, und die Ärzte sagen mir, dass irgendwas nicht stimmt und ich nochmal operiert werden muss oder so.« Er schaute auf, ein kurzer, nervöser Blick, ehe er sich wieder darauf konzentrierte, sein Brot zu zerbröseln. »Ich bin nicht damit klargekommen, dass du auch Angst hast. Es tut mir ehrlich leid. Verzeihst du mir?« »Na ja«, sagte er nach kurzem Zögern mit einem ganz leisen Lächeln. »Ich glaub schon.« Er beugte sich vor und stellte die Schüssel neben meinen Teller. »Und jetzt. Iss das auf.« »Was haben die Ärzte denn nun gesagt?«, fragte Daniel. »Du musst doch nicht noch mal operiert werden, oder?« »Nein, nein«, sagte ich und lud meinen Teller voll. »Nur weiter Antibiotika nehmen. Die meinen, ich könnte immer noch eine Infektion be758
kommen.« Als ich es laut aussprach, durchzuckte mich etwas, irgendwo unter dem Mikro. »Haben sie irgendwelche Tests gemacht? Dich geröntgt?« Ich hatte keinen Schimmer, was Ärzte in meinem Fall getan hätten. »Mir geht’s gut«, sagte ich. »Können wir aufhören, darüber zu reden?« »Braves Mädchen«, sagte Justin und deutete mit dem Kinn auf meinen Teller. »Heißt das, wir dürfen jetzt öfter als bloß einmal im Jahr was mit Zwiebeln machen?« Auf einmal hatte ich das entsetzliche Gefühl, dass mir der Magen absackte. Ich starrte Justin verständnislos an. »Na ja, wenn du noch mal nachnimmst«, sagte er geziert, »wird dir wenigstens nicht mehr schlecht davon, oder?« Scheißescheißescheiße. Da ich selbst so ziemlich alles esse, war ich gar nicht auf die Idee gekommen, dass Lexie vielleicht bestimmte Sachen nicht mochte, und so etwas hätte Frank nicht un759
bedingt bei einem beiläufigen Gespräch herausfinden können. »Ich hab sie nicht mal rausgeschmeckt«, sagte ich. »Ich glaub, mein Geschmackssinn leidet unter den Antibiotika. Alles schmeckt gleich.« »Ich dachte, du magst die Konsistenz nicht«, sagte Daniel. Scheiße. »Ich mag den Gedanken nicht, Zwiebeln zu essen. Und jetzt, wo ich weiß, dass welche drin sind –« »Das ist meiner Oma passiert«, sagte Abby. »Die hat Antibiotika genommen und den Geruchssinn verloren. Darüber solltest du mit deinem Arzt sprechen.« »Um Gottes willen, nein«, sagte Rafe. »Jetzt, wo wir endlich was gefunden haben, damit sie nicht mehr über Zwiebeln meckert, sollten wir der Natur ihren Lauf lassen, finde ich. Nimmst du den Rest noch oder kann ich?«
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»Ich will meinen Geschmackssinn nicht verlieren und dann Zwiebeln essen«, sagte ich. »Da nehme ich lieber eine Infektion in Kauf.« »Gut. Dann her mit der Schüssel.« Daniel widmete sich wieder seinem Teller. Ich stocherte argwöhnisch auf meinem herum. Rafe verdrehte die Augen. Mein Herz raste. Früher oder später, dachte ich, unterläuft mir ein Fehler, aus dem ich mich nicht mehr rausreden kann.
»Gute Reaktion bei den Zwiebeln«, sagte Frank am selben Abend. »Und wenn es so weit ist, dich abzuziehen, ist alles bestens vorbereitet: Die Antibiotika machen deinen Geschmackssinn kaputt, du hörst auf, sie zu nehmen, und voilà, schon hast du eine Infektion. Hätte ich auch selbst draufkommen können.« Ich saß oben in meinem Baum, die Gemeinschaftsjacke um mich gewickelt – es war eine bewölkte Nacht, feiner Nieselregen besprühte die 761
Blätter und drohte, jeden Moment in einen richtigen Schauer überzugehen –, und lauschte angestrengt auf John Naylor. »Du hast mitgehört? Gehst du denn nie nach Hause?« »In letzter Zeit kaum. Wenn wir unseren Mann haben, kann ich noch lange genug schlafen. Apropos, mein Wochenende mit Holly ist demnächst. Deshalb wäre ich nicht traurig, wenn wir die Sache bald beenden könnten.« »Ich auch nicht«, sagte ich, »das kannst du mir glauben.« »Ach ja? Ich hatte so das Gefühl, dass du dich da pudelwohl fühlst.« Ich wusste seine Stimme nicht zu deuten, keiner kann so gleichmütig tun wie Frank. »Es könnte sehr viel schlimmer sein, klar«, sagte ich vorsichtig. »Aber das heute Abend war ein Weckruf. Ich kann das nicht ewig durchhalten. Hat sich bei dir irgendwas ergeben?« »Noch immer kein Hinweis, warum May-Ruth auf und davon ist. Chad und ihre Freunde erinnern 762
sich nicht, dass in dieser Woche irgendwas Ungewöhnliches passiert wäre. Aber das muss nicht unbedingt was heißen. Ist schließlich viereinhalb Jahre her.« Ich war nicht überrascht. »Na ja«, sagte ich. »War den Versuch wert.« »Aber wir haben was anderes rausgefunden«, sagte Frank. »Hat wahrscheinlich nichts mit unserem Fall zu tun, aber es ist eigenartig, und in dieser Phase sollten wir uns über alles Eigenartige Gedanken machen. Mal ganz vordergründig betrachtet, was für eine Persönlichkeit hatte Lexie, deiner Meinung nach?« Ich zuckte die Achseln, obwohl er mich nicht sehen konnte. Ich fand die Frage irgendwie unangenehm, als wollte er, dass ich mich selbst beschreibe. »Ich weiß nicht. Lebhaft, würde ich sagen. Fröhlich. Selbstbewusst. Voller Energie. Vielleicht ein bisschen kindlich.« »Genau. Sehe ich auch so. So wirkt sie auf den Videoclips und in den Darstellungen ihrer Mitbe763
wohner. Aber mein FBI-Kumpel hat von MayRuths Freunden eine ganz andere Beschreibung bekommen.« Etwas Kaltes glitt durch meinen Bauch. Ich stemmte die Füße höher gegen den Baum und fing an, an meinen Fingerknöcheln zu kauen. »Sie beschreiben sie als schüchtern, sehr still. Chad dachte, das käme daher, dass sie aus irgendeinem Kaff in den Appalachen stammte. Er hat gesagt, Raleigh wäre für sie ein Riesenabenteuer gewesen. Sie hätte gern dort gelebt, sich aber auch ein bisschen überfordert gefühlt. Sie war sanft, verträumt, liebte Tiere, hatte mit dem Gedanken gespielt, Sprechstundenhilfe in einer Tierarztpraxis zu werden. Jetzt frag ich dich: Klingt das auch nur annähernd nach unserer Lexie?« Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar und wünschte, ich hätte festen Boden unter den Füßen. Ich brauchte Bewegung. »Was willst du damit sagen? Denkst du, wir haben es mit zwei verschiedenen Frauen zu tun, die zufällig beide so ausse764
hen wie ich? Eins kann ich dir nämlich sagen, Frank, in diesem Fall ist mir der Appetit auf Zufälle vergangen.« Ich hatte die verrückte Vorstellung, dass immer mehr Doppelgängerinnen aus dem Nichts auftauchten, lauter identische Cassies, die überall auf dem Globus aus der Erde wuchsen, ein Ich in jedem Hafen. Das hab ich jetzt davon, dass ich mir als Kind eine Schwester gewünscht habe, dachte ich irre und unterdrückte ein hysterisches Kichern. Frank lachte. »Nein, nein. Du weißt, ich liebe dich, Kleines, aber zwei von euch sind mehr als genug. Außerdem stimmen die Fingerabdrücke von unserer Unbekannten mit denen von MayRuth überein. Ich finde es nur eigenartig. Kollegen von mir haben schon mal mit Leuten zu tun gehabt, die ihre Identität gewechselt haben – Menschen im Zeugenschutzprogramm, erwachsene Ausreißer, wie unsere Lexie –, und sie sagen alle das Gleiche: Diese Leute waren hinterher dieselben wie vorher. Ein neuer Name und ein neues 765
Leben sind nicht gleichbedeutend mit einer neuen Persönlichkeit. Selbst für einen gut ausgebildeten Undercovercop ist das eine Dauerbelastung. Du weißt selbst, wie es war, rund um die Uhr Lexie Madison sein zu müssen – und wie es jetzt ist, natürlich. Es ist nicht leicht.« »Ich komme klar«, sagte ich. Wieder hatte ich den wilden Drang loszulachen. Diese Frau, wer immer sie war, hätte eine großartige Undercoverbeamtin abgegeben. Vielleicht hätten wir unsere Leben schon früher tauschen sollen. »Das weiß ich doch«, sagte Frank sofort. »Aber unsere Unbekannte ist eben auch klargekommen, und da sollten wir mal nachhaken. Vielleicht war sie einfach ein Naturtalent, aber vielleicht ist sie auch irgendwo ausgebildet worden, für Undercovereinsätze oder als Schauspielerin. Ich bin dabei, mich umzuhören. Denk du mal drüber nach und achte drauf, ob du irgendwelche Hinweise in die eine oder andere Richtung findest. Was hältst du davon?« 766
»Klingt nicht schlecht«, sagte ich und lehnte mich langsam gegen den Stamm. »Gute Idee.« Mir war nicht mehr nach Lachen zumute. Plötzlich stand mir wieder jener erste Nachmittag in Franks Büro vor Augen, so klar, dass ich einen Moment lang Staub und Leder und Kaffee mit einem Schuss Whiskey roch, und zum ersten Mal beschlich mich der Verdacht, dass ich gar nicht richtig gemerkt hatte, was in diesem kleinen sonnendurchfluteten Raum passiert war. Dass ich unbekümmert und arglos an dem eigentlich entscheidenden Augenblick vorbeigehüpft war. Ich hatte stets angenommen, dass ich in den ersten paar Minuten geprüft worden war, mit dem Pärchen auf der Straße oder als Frank fragte, ob ich Angst hätte. Nie war ich auf die Idee gekommen, dass das lediglich die äußeren Tore gewesen waren und die wahre Herausforderung erst sehr viel später erfolgte, als ich schon glaubte, sicher drin zu sein. Dass der geheime Handschlag, mit dem ich die Sache besiegelte, ohne es zu wissen, die 767
Leichtigkeit war, mit der ich bei der Erfindung von Lexie Madison mitgeholfen hatte. »Weiß Chad Bescheid?«, fragte ich unvermittelt, als Frank schon auflegen wollte. »Dass MayRuth nicht May-Ruth war.« »Ja«, sagte Frank fröhlich. »Tut er. Ich hab ihm seine Illusionen gelassen, solange es ging, aber diese Woche hat einer von den FBIlern es ihm gesagt. Ich musste wissen, ob er noch was verschweigt, aus Loyalität oder sonst was. Offenbar hatte er nichts verschwiegen.« Der arme Teufel. »Wie hat er es aufgenommen?« »Er wird’s überleben«, sagte Frank. »Bis morgen.« Und damit legte er auf. Ich blieb noch lange in meinem Baum sitzen und kratzte mit dem Fingernagel Muster in die Rinde. Ich begann mich zu fragen, ob ich nicht den Mörder, sondern das Opfer unterschätzt hatte. Ich wollte diesen Gedanken nicht zu Ende denken, war davor zurückgeschreckt, aber ich wusste: Ir768
gendetwas hatte mit Lexie nicht gestimmt, irgendetwas tief in ihr. Ihre Härte, die Art, wie sie Chad ohne ein Wort zurückließ und lachte, wie sie Vorbereitungen traf, Whitethorn House zu verlassen, wie ein Tier, das seine eigene gefangene Pfote mit einem Biss und ohne Wimmern abbeißt, all das hätte pure Verzweiflung sein können. Das verstand ich, ganz und gar. Aber das jetzt, dieser nahtlose Übergang von der lieben, schüchternen May-Ruth zu der quirligen Spaßmacherin Lexie: Das war etwas anderes, etwas Falsches. Es gab keine Angst und keine Verzweiflung, die das erforderlich gemacht hätten. Sie hatte es getan, weil sie es wollte. Eine Frau mit so vielen Geheimnissen und so viel Dunklem in sich wäre durchaus fähig gewesen, bei anderen einen bodenlosen Zorn zu wecken. Es ist nicht leicht, hatte Frank gesagt. Aber das war es ja gerade: Für mich ist es immer leicht gewesen. Beide Male war mir die Rolle der Lexie Madison so leichtgefallen wie atmen. Ich war in 769
sie hineingeschlüpft wie in eine bequeme alte Jeans, und genau das hatte mir die ganze Zeit Angst gemacht.
Erst als ich mich in jener Nacht schlafen legte, erinnerte ich mich: Der Tag im Garten, als es plötzlich klick machte und ich die fünf als eine Familie sah, Lexie als die freche kleine Nachzüglerin. Lexies Verstand hatte sich auf denselben Gleisen bewegt wie meiner, nur tausendmal schneller. Ein Blick hatte genügt, und sie wusste, was die anderen waren und was ihnen fehlte, und dann hatte sie sich schnell wie ein Wimpernschlag dazu gemacht.
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13 Von dem Moment an, als Sam sagte, er wolle die drei Männer vorladen, die er der mutwilligen Sachbeschädigung verdächtigte, hatte ich gewusst, dass das Folgen haben würde. Falls unser Wandbesprüher mit dabei war, dann wäre er überhaupt nicht glücklich darüber, von den Bullen vernommen zu werden, er würde uns die ganze Sache in die Schuhe schieben, und es war so sicher wie das Amen in der Kirche, dass er das nicht auf sich beruhen lassen würde. Was ich nicht bedacht hatte war, wie schnell der Schlag erfolgen würde und wie hart. So sicher, wie ich mich in dem Haus fühlte, hatte ich vergessen, dass mir schon diese Tatsache an sich hätte eine Warnung sein müssen. Er brauchte bloß einen Tag. Wir waren im Wohnzimmer, Samstagabend, kurz vor Mitternacht. Abby und ich hatten uns mit Lexies silbernem Nagellack die Nägel lackiert, saßen auf dem Kaminvorleger und wedelten mit den Fingern, 771
damit der Lack schneller trocknete. Rafe und Daniel lieferten das Gegengewicht zu dieser Östrogenwelle, indem sie Onkel Simons Webley säuberten. Der Revolver hatte zwei Tage lang draußen auf der Terrasse in einer Auflaufform mit Lösungsmittel gelegen, und Rafe hatte beschlossen, jetzt könnten sie loslegen. Er und Daniel hatten den Tisch in ihre Waffenkammerzone umgewandelt – Werkzeugkasten, Geschirrtücher, Lappen – und waren emsig dabei, die Waffe mit alten Zahnbürsten zu putzen: Daniel attackierte die Dreckkruste an den Griffschalen, während Rafe sich den eigentlichen Revolver vornahm. Justin lag ausgestreckt auf dem Sofa, redete halblaut auf seine Arbeitsnotizen ein und aß dabei kaltes Popcorn aus einer Schüssel neben sich. Irgendwer hatte Purcell aufgelegt, eine friedliche Ouvertüre in Moll. Der ganze Raum roch nach Lösungsmittel und Rost, ein strenger, beruhigender, vertrauter Geruch.
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»Wisst ihr was?«, sagte Rafe, legte seine Zahnbürste weg und untersuchte den Revolver. »Unter dem ganzen Dreck ist er eigentlich noch in einem ganz passablen Zustand. Könnte durchaus sein, dass er wieder funktioniert.« Er griff über den Tisch nach der Patronenschachtel, legte ein paar Patronen ein und klappte die Trommel zu. »Irgendwer Lust auf eine kleine Partie russisches Roulette?« »Hör auf«, sagte Justin und schüttelte sich. »Das ist makaber.« »Gib her«, sagte Daniel, die Hand nach dem Revolver ausgestreckt. »Spiel nicht mit dem Ding rum.« »Das war ein Witz, Menschenskind«, sagte Rafe und reichte ihn rüber. »Ich teste nur, ob alles funktioniert. Morgen früh geh ich damit auf die Terrasse und schieß uns ein Kaninchen zum Abendessen.« »Nein«, sagte ich, fuhr hoch und sah ihn empört an. »Ich mag die Kaninchen. Lass sie in Frieden.« 773
»Wieso? Die machen doch nichts anderes als immer nur noch mehr Kaninchen und die Wiese vollkötteln. Die kleinen Biester wären als Frikassee oder Braten sehr viel nützlicher.« »Du bist abartig. Hast du denn nie Unten am Fluss gelesen?« »Du kannst dir nicht die Finger in die Ohren stecken, weil du sonst deine Maniküre ruinierst. Ich könnte dir ein Häschen au vin kochen, das –« »Du kommst garantiert in die Hölle, weißt du das?« »Ach, reg dich ab, Lex, das macht er sowieso nicht«, sagte Abby und pustete auf ihren Daumennagel. »Die Kaninchen kommen in aller Herrgottsfrühe raus. Und um die Zeit weilt Rafe noch längst nicht unter den Lebenden.« »Ich kann nichts Abstoßendes daran finden, Tiere zu erlegen«, sagte Daniel und klappte den Revolver behutsam auf, »vorausgesetzt, du verzehrst, was du tötest. Letzten Endes sind wir Raubtiere. In einer idealen Welt fände ich es gro774
ßartig, wenn wir völlig selbstgenügsam wären – von dem leben könnten, was wir anbauen und jagen, von niemandem abhängig. In der Realität wird das natürlich kaum zu erreichen sein, und ich würde auf jeden Fall nur ungern mit den Kaninchen anfangen. Die sind mir ans Herz gewachsen. Gehören irgendwie zum Haus.« »Siehst du?«, sagte ich zu Rafe. »Was soll ich sehen? Sei nicht so kindisch. Wie oft hab ich nicht schon erlebt, dass du dich mit Steaks vollstopfst oder –« Ich war auf den Beinen und in Schießhaltung, eine Hand dort, wo meine Waffe hätte sein sollen, ehe ich überhaupt begriff, dass wir ein lautes Krachen gehört hatten. Neben Abby und mir auf dem Kaminvorleger lag ein scharfkantiger Stein, als wäre er schon die ganze Zeit da gewesen, umgeben von hellen Glassplittern wie Eiskristalle. Abbys Mund war zu einem erschrockenen kleinen O geöffnet, und ein langer kalter Luftzug fegte durch
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das geborstene Fenster herein, blähte die Vorhänge auf. Dann fuhr Rafe aus seinem Sessel hoch und hechtete Richtung Küche. Ich war einen halben Schritt hinter ihm, mit Justins panischem Schrei – »Lexie, deine Wunde!« – in den Ohren. Irgendwo rief Daniel etwas, aber ich stürmte gleich hinter Rafe nach draußen, und als er mit wehenden Haaren von der Terrasse sprang, hörte ich das Tor hinten im Garten scheppern. Es schwang noch immer wie verrückt hin und her, als wir hindurchrannten. Auf dem Feldweg blieb Rafe abrupt stehen, den Kopf gereckt, und hielt mich mit einer Hand am Handgelenk fest: »Pssst.« Wir lauschten, atmeten nicht. Ich spürte etwas hinter mir aufragen und wirbelte herum, aber es war Daniel, flink und lautlos wie eine große Katze auf dem Gras.
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Wind in den Blättern. Dann rechts von uns, Richtung Glenskehy und nicht weit weg, das leise Knacken eines Zweiges. Das letzte Licht vom Haus her verschwand hinter uns, und wir flogen in der Dunkelheit den Weg hinunter, Blätter peitschten unter meinen Fingerspitzen, als ich eine Hand zur Hecke streckte, um mich zu orientieren, eine plötzliche Explosion rennender Füße vor uns und ein heiserer Triumphschrei von Rafe neben mir. Sie waren schnell, Rafe und Daniel, schneller, als ich für möglich gehalten hätte. Unser Atem klang mir wild in den Ohren, wie bei einem jagenden Rudel, das harte Schlagen unserer Füße und mein Puls wie Kriegstrommeln, die mich weitertrieben. Der Mond verschwand immer wieder hinter dahinjagenden Wolken, und ich sah ganz kurz etwas Schwarzes, nur zwanzig oder dreißig Meter vor uns, gebückt und grotesk in dem seltsamen weißen Licht und im schnellen Lauf. Für eine Sekunde sah ich Frank über seinen Schreibtisch gebeugt, die Hände auf 777
die Kopfhörer gepresst, und ich dachte so fest wie ein Faustschlag in seine Richtung: Wag es nicht, wag es bloß nicht, deine Gorillas loszuschicken, der hier gehört uns. Wir schwangen um einen Knick im Weg, fassten nach der Hecke, um das Gleichgewicht zu halten, und bremsten scharf an einer Kreuzung ab. Im Mondlicht verliefen die Wege in alle Richtungen, leer und unbestimmt, verrieten nichts. Steinhaufen duckten sich in den Feldern wie verzauberte Wächter. »Wo ist er hin?« Rafes Stimme war ein gebrochenes Flüstern. Er fuhr herum, witterte wie ein Jagdhund. »Wo ist das Schwein hin?« »So schnell kann er nicht verschwunden sein«, murmelte Daniel. »Er ist irgendwo in der Nähe. Versteckt sich.« »Scheiße!«, zischte Rafe. »Scheiße, so ein kleiner Wichser – so ein verdammter – Gott, ich bring ihn um –«
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Der Mond glitt wieder davon. Die Jungs rechts und links von mir waren kaum noch Schatten und verblassten immer mehr. »Taschenlampe?«, flüsterte ich, reckte mich dabei, um den Mund dicht an Daniels Ohr zu bringen, und sah sein rasches Kopfschütteln vor dem Himmel. Wer auch immer der Mann war, er kannte die Gegend wie seine Westentasche. Er könnte sich die ganze Nacht hier verkriechen, wenn er wollte, von einem Versteck zum nächsten huschen, wie Generationen seiner rebellischen Ahnen es vor ihm getan hatten, bloß schmale Augenschlitze, die aus dem Laub spähen und dann verschwunden sind. Aber er ließ nach. Uns diesen Stein durchs Fenster zu werfen, wo er doch wissen musste, dass wir ihn verfolgen würden: Seine Selbstbeherrschung geriet ins Wanken, zerbröselte unter Sams Fragen und dem unaufhörlichen harten Druck seines eigenen Zorns. Er konnte sich endlos lange
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verstecken, wenn er wollte, aber genau da lag der Haken: Er wollte nicht. Alle Detectives, überall auf der Welt, wissen, dass das unsere beste Waffe ist: die Begehrlichkeiten des Herzens. Heute, wo Daumenschrauben und glühende Zangen passé sind, haben wir keine Möglichkeit, jemanden zu zwingen, einen Mord zu gestehen, uns zu der Leiche zu führen, einen Freund zu verraten oder einen Verbrecherkönig zu verpfeifen, und dennoch tun Menschen das nach wie vor. Sie tun es, weil es irgendetwas gibt, was ihnen noch wichtiger ist als Sicherheit: ein reines Gewissen, die Chance zur Selbstdarstellung, das Ende der inneren Anspannung, ein Neuanfang, was auch immer, wir finden es. Wenn wir durchschauen, was du haben willst – insgeheim, so tief in dir verborgen, dass du selbst es vielleicht nie wahrgenommen hast –, und es dir vor die Nase halten, gibst du uns im Gegenzug alles, was wir wollen.
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Dieser Typ hatte die Nase gestrichen voll davon, sich auf seinem eigenen Territorium zu verstecken, mit Sprühfarbe und Steinen herumzuschleichen wie ein rotznäsiger Teenager, der Aufmerksamkeit braucht. Im tiefsten Innern seines Herzens wollte er eine Chance haben, mal richtig zuzuschlagen. »Nicht zu fassen, der versteckt sich«, sagte ich mit meinem besten hochnäsigen Yuppie-Tonfall heiter und klar und amüsiert in die weite wartende Nacht hinein. Rafe und Daniel packten mich gleichzeitig, aber ich fasste ihre Arme und kniff zu, fest. »Gott, wie erbärmlich. Aus sicherer Entfernung macht er einen auf großen starken Mann, aber sobald wir ihm auf die Pelle rücken, hockt er sich schlotternd unter irgendeine Hecke, wie ein verängstigtes Karnickel.« Daniels Hand um meinen Arm lockerte sich, und ich hörte ihn ausatmen, ein geisterhaftes Lachen – er war kaum außer Atem. »Ist auch besser so«, sagte er. »Der hat zwar nicht den Mumm zu 781
kämpfen, aber immerhin genug Grips, um zu wissen, wann was eine Nummer zu groß für ihn ist.« Ich griff blind nach Rafe und drückte erneut zu – wenn sich der Typ von irgendetwas aus der Deckung locken ließ, dann von dessen lässiger englischer Herablassung – und hörte ihn kurz und laut nach Luft schnappen, als der Groschen fiel. »Von Grips kann, glaube ich, keine Rede sein«, sagte er gedehnt. »Zu viele Schafe in der Ahnenreihe. Wahrscheinlich hat er uns schon vergessen und ist zu seiner Herde zurückgetrabt.« Ein Rascheln, so leise und zu schnell abgebrochen, um es orten zu können. Dann nichts. »Na komm, Miezekätzchen«, gurrte ich. »Na komm, Miez, Miez, Miez … «, und dann musste ich kichern. »Zu Lebzeiten meines Urgroßvaters«, sagte Daniel kühl, »da wusste unsereins noch, was man mit Bauern macht, die die Nase zu hoch tragen. Ein paar Schläge mit der Pferdepeitsche, und die kapierten wieder, wo sie hingehören.« 782
»Aber dein Urgroßvater hat einen Fehler gemacht«, erklärte Rafe. »Die haben sich nämlich damals vermehrt wie die Karnickel. Man hätte ihre Fortpflanzung kontrollieren sollen, macht man ja auch mit anderen Nutzviechern.« Wieder dieses Rascheln, lauter. Dann ein ganz kurzes deutliches Klicken, als würden Kieselsteine gegeneinanderstoßen, ganz nah. »Nützlich waren sie uns schon«, sagte Daniel. Seine Stimme hatte einen vagen zerstreuten Tonfall, wie wenn er in ein Buch vertieft war und irgendwer ihm eine Frage stellte. »Mag ja sein«, sagte Rafe, »aber jetzt sieh dir an, wohin das geführt hat. Die Evolution auf den Kopf gestellt. Das sumpfige Ende des Genpools. Ganze Horden von sabbernden, schwachsinnigen, halslosen, durch Inzucht entstandenen –« Etwas brach nur wenige Meter entfernt aus der Hecke, schoss so dicht an mir vorbei, dass ich den Wind auf den Armen spürte, und krachte wie eine Kanonenkugel in Rafe hinein. Er stürzte mit ei783
nem Knurren zu Boden und schlug so hart auf, dass die Erde bebte. Für den Bruchteil einer Sekunde hörte ich die Geräusche eines Handgemenges, wild röchelnder Atem, das widerwärtige Klatschen einer Faust, die ihr Ziel fand, dann hechtete ich mitten hinein. Wir wälzten uns in einem wirren Haufen, harte Erde unter meiner Schulter, Rafe, der nach Luft schnappte, Haare von irgendwem in meinem Mund, und ein Arm, der sich wie ein Stahlkabel aus meinem Griff wand. Der Kerl roch nach nassem Laub, er war stark und kämpfte mit allen Tricks, Finger, die nach meinen Augen tasteten, Füße, die hochschnellten und versuchten, sich in meinen Bauch zu bohren. Ich schlug zu, hörte jemanden Luft ausstoßen und spürte, dass seine Hand von meinem Gesicht glitt. Dann krachte jemand seitlich in uns hinein, hart wie eine Dampflok: Daniel. Sein Gewicht schleuderte uns alle vier in die Büsche, Zweige zerkratzten mir den Nacken, hei784
ßer Atem an meinen Wangen und irgendwo der schnelle, gnadenlose Rhythmus von Fäusten, die auf etwas Weiches trafen, wieder und wieder. Es war ein böser, gemeiner, hässlicher Kampf, überall Arme und Beine, Stöße von knochigen Teilen, fürchterliche erstickte Laute wie wilde Hunde, die an ihrer Beute zerren. Es war drei gegen einen, und wir waren genauso wütend wie er, aber die Dunkelheit verschaffte dem Kerl einen Vorteil. Wir konnten nicht sehen, auf wen wir einschlugen. Er dagegen musste sich darum keine Gedanken machen, jeder Schlag, den er landete, war ein guter Schlag. Und er nutzte seinen Vorteil, wand und schlängelte sich, rollte uns alle vier immer wieder herum, so dass wir uns unmöglich orientieren konnten. Ich war benommen und aus der Puste und schlug wie verrückt in die Luft. Ein Körper plumpste auf mich drauf, und ich landete einen Treffer mit dem Ellbogen, hörte einen Schmerzensschrei, der von Rafe hätte sein können. 785
Dann griffen die Finger wieder nach meinem Gesicht. Ich streckte die Hand aus, ertastete ein stoppeliges Kinn, bekam einen Arm frei und schlug mit aller Kraft zu. Etwas traf mich in die Rippen, fest, aber es tat nicht weh, nichts tat weh, der Kerl hätte mich aufschlitzen können, und ich hätte nichts gespürt, ich wollte bloß immer weiter zuschlagen. Eine dünne, kühle warnende Stimme irgendwo in meinem Hinterkopf: Ihr könntet ihn umbringen, ihr drei könntet ihn umbringen, aber das war mir egal. Meine Brust war ein großer blendend weißer Aufruhr, und ich sah die letzte verwegene Wölbung von Lexies Hals, ich sah das warme Licht des Wohnzimmers entweiht von diesem gezackten Scherbenregen, ich sah Robs Gesicht, kalt und verschlossen, und ich hätte in alle Ewigkeit weiterdreschen können, ich wollte, dass das Blut dieses Burschen meinen Mund füllte, ich wollte spüren, wie sein Gesicht unter meiner Faust zu Brei und Splittern zerplatzte, und immer noch weitermachen. 786
Er wand sich behände wie eine Katze, und meine Knöchel trafen auf Erde und Stein, ich konnte ihn nicht finden. Ich fasste ins Dunkle, erwischte irgendein Hemd und hörte es reißen, als er mich mit der Schulter wegstieß. Es gab ein verzweifeltes, wogendes Gerangel, Kiesel spritzten auseinander, ein dumpfer widerlicher Laut, als ein Fuß auf Fleisch traf, ein wütendes Tierfauchen, dann rennende Schritte, schnell und ungleichmäßig, schwächer werdend. »Wo –« Eine Faust riss an meinen Haaren. Ich schlug den Arm weg und tastete hektisch nach dem Gesicht, dem rauen Stoppelkinn, fand Stoff und heiße Haut und dann nichts. »Mann, runter –« Ein angestrengtes Ächzen, ein Gewicht, das sich von meinem Rücken hob, dann, jäh und ohrenbetäubend wie eine Explosion: Stille. »Wo –« Der Mond kam hinter den Wolken hervor, und wir starrten einander an: die Augen weit aufgerissen, dreckig, keuchend. Einen Moment lang er787
kannte ich die anderen kaum. Rafe rappelte sich hoch, mit gebleckten Zähnen und dunkel schimmerndem Blut unter der Nase. Daniel hingen die Haare ins Gesicht, und quer über seine Wangen zogen sich Streifen aus Dreck und Blut, wie eine Kriegsbemalung. Seine Augen waren schwarze Löcher in dem trügerischen grauen Licht, und beide sahen sie aus wie gefährliche Fremde, Geisterkrieger aus der letzten Schlacht eines untergegangenen wilden Stammes. »Wo ist er?«, flüsterte Rafe, ein langer, bedrohlicher Atemhauch. Nichts rührte sich. Bloß ein scheuer kleiner Lufthauch huschte durch den Weißdorn. Daniel und Rafe waren geduckt wie Kämpfer, die Hände locker zu Fäusten geballt und bereit, und ich merkte, dass ich ebenso dastand. In dem Moment hätten wir uns gegenseitig angreifen können. Dann verschwand der Mond wieder. Irgendetwas schien aus der Luft zu entweichen, eine Art Surren, zu hell, um es zu hören. Plötzlich waren meine Muskeln wie Wasser, das in der Erde versi788
ckert. Wenn ich mir nicht eine Handvoll Hecke gepackt hätte, wäre ich umgefallen. Von einem der Jungs kam ein langes, zittriges Ausatmen, wie ein Schluchzen. Schritte kamen hinter uns den Weg heraufgerannt – wir zuckten alle zusammen – und bremsten ein paar Meter von uns entfernt. »Daniel?«, flüstere Justin atemlos und ängstlich. »Lexie?« »Wir sind hier«, sagte ich. Ich zitterte am ganzen Körper, so heftig, als hätte ich einen Krampfanfall. Mein Herz flatterte mir so hoch im Hals, dass ich kurz meinte, ich müsste brechen. Irgendwo neben mir würgte Rafe, krümmte sich und spuckte aus. »Überall Dreck –« »Um Gottes willen. Seid ihr verletzt? Was ist passiert? Habt ihr ihn erwischt?« »Wir haben ihn erwischt«, sagte Daniel mit einem tiefen harten Keuchen, »aber wir konnten die Hand nicht vor Augen sehen, und in dem Durcheinander ist er wieder entwischt. Hat keinen Sinn,
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ihn zu verfolgen, der ist inzwischen schon fast in Glenskehy.« »Oh Gott. Hat er euch was getan? Lexie! Was ist mit deiner Naht?« Justin war kurz davor, in Panik zu geraten. »Mir geht’s prima«, sagte ich laut und deutlich, damit das auch ja über das Mikro ging. Ich hatte zwar höllische Schmerzen an den Rippen, aber ich konnte nicht riskieren, dass irgendwer einen Blick darauf werfen wollte. »Mir tun bloß die Hände weh. Ich hab ein paar Volltreffer gelandet.« »Ich glaub, einen davon hab ich abgekriegt, du Trottel«, sagte Rafe. Seine Stimme hatte einen überdrehten, albernen Ton angenommen. »Ich hoffe, deine Hände werden dick und blau.« »Ich knall dir noch eine, wenn du nicht aufpasst«, sagte ich. Ich tastete meine Rippen ab. Da meine Hand stark zitterte, war ich mir zwar nicht ganz sicher, aber ich glaubte nicht, dass eine gebrochen war. »Justin, du hättest Daniel hören sollen. Er war genial.« 790
»Ja, echt«, sagte Rafe und fing an zu lachen. »Ein paar Schläge mit der Pferdepeitsche? Wie bist du denn da drauf gekommen?« »Pferdepeitsche?«, fragte Justin bestürzt. »Wieso Pferdepeitsche? Wer hatte eine Pferdepeitsche?« Rafe und ich konnten nicht antworten vor Lachen. »Menschenskind«, brachte ich schließlich heraus. »›Zu Lebzeiten meines Urgroßvaters … ‹« »›Als die Bauern noch wussten, wo sie hingehören … ‹« »Welche Bauern? Wovon redet ihr denn?« »In dem Moment hatte das für mich Hand und Fuß«, sagte Daniel. »Wo ist Abby?« »Sie ist beim Tor geblieben, für den Fall, dass er zurückkommt und – oh Gott, das wird er doch wohl nicht gemacht haben, oder?« »Kann ich mir kaum vorstellen«, sagte Daniel. Auch in seiner Stimme klang ein Lachen an, das hervorbrechen wollte. Adrenalin: Wir knisterten
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förmlich davon. »Ich denke, dem reicht’s für heute. Alle unverletzt?« »Nein, und das geht auf das Konto von unserer kleinen Kampfmaschine hier«, sagte Rafe. Er wollte mich an den Haaren ziehen, erwischte aber mein Ohr. »Ich bin in Ordnung«, sagte ich und schlug Rafes Hand weg. Justin murmelte im Hintergrund noch immer: »Oh Gott, oh Gott, oh Gott … « »Gut«, sagte Daniel. »Gehen wir nach Hause.«
Am hinteren Tor war keine Spur von Abby. Nichts außer den bebenden Weißdornbüschen und dem langsamen, gespenstischen Quietschen der Angeln in dem leichten Wind. Justin fing schon an zu hyperventilieren, als Daniel »Abby, wir sind’s« in die Dunkelheit rief und sie wie aus dem Nichts auftauchte, ein weißes Oval und ein schwingender Rock und ein bronzefarbener Strich. Sie hielt den Schürhaken in beiden Händen. 792
»Habt ihr ihn erwischt?«, flüsterte sie, ein leises, leidenschaftliches Zischen. »Habt ihr ihn erwischt?« »Himmel, ich bin von wilden Kriegerinnen umgeben«, sagte Rafe. »Ich hoffe, ihr werdet niemals sauer auf mich.« Seine Stimme klang gedämpft, als würde er sich die Nase halten. »Johanna von Orléans und Boudicca«, sagte Daniel lächelnd. Ich spürte kurz seine Hand auf meiner Schulter und sah die andere über Abbys Haar streichen. »Im Kampf, um ihr Heim zu verteidigen. Wir haben ihn erwischt. Nur einen Moment lang, aber ich glaube, wir haben ihm klargemacht, was Sache ist.« »Ich hätte ihn am liebsten hergeschleift, um ihn ausgestopft über den Kamin zu hängen«, sagte ich, während ich versuchte, mit den Handgelenken Schmutz von meiner Jeans zu wischen, »aber er ist leider abgehauen.« »Dieser kleine Wichser«, sagte Abby. Sie stieß laut pustend die Luft aus und ließ den Schürhaken 793
sinken. »Ich hab ehrlich gehofft, dass er zurückkommt.« »Lasst uns reingehen«, sagte Justin mit einem Blick über die Schulter. »Was hat er eigentlich geworfen?«, wollte Rafe wissen. »Ich hab nicht mal hingesehen.« »Einen Stein«, sagte Abby. »Und irgendwas ist mit Klebeband dran befestigt.«
»Um Gottes willen«, sagte Justin entsetzt, sobald wir die Küche betraten. »Wie seht ihr drei denn bloß aus!« »Donnerwetter«, sagte Abby und zog die Augenbrauen hoch. »Beeindruckend. Ich würde zu gern sehen, wie euer Gegner aussieht.« Wir sahen fast so schlimm aus, wie ich erwartet hatte. Zittrig und mit fahrigem Blick, völlig verdreckt und verkratzt, große dramatische Blutflecke an unerwarteten Stellen. Daniel hinkte stark, und sein Hemd war zerfetzt, ein Ärmel hing lose he794
rab. Rafes Hose hatte an einem Knie einen Riss, durch das Loch war glänzendes Rot zu sehen, und er würde am nächsten Morgen ein prächtiges Veilchen haben. »Eure Kratzer müssen desinfiziert werden«, sagte Justin. »Weiß der Himmel, was man sich auf diesen Wegen alles einfangen kann. Der ganze Dreck, Kühe und Schafe und alle möglichen –« »Später«, sagte Daniel und schob sich die Haare aus den Augen. Dabei bekam er einen kleinen Zweig zwischen die Finger, betrachtete ihn verwundert und legte ihn sorgfältig auf den Küchentisch. »Ich finde, wir sollten erst mal nachsehen, was an dem Stein klebt.« Es war ein gefaltetes Stück Papier, liniert, wie aus einem Schulheft gerissen. »Wartet«, sagte Daniel – Rafe und ich waren beide darauf zugegangen. Er nahm zwei Kugelschreiber vom Tisch, ging vorsichtig über die Scherben zu dem Stein und löste mit den Stiften das Blatt ab.
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»Dann wollen wir uns den Schaden mal ansehen«, sagte Justin munter, eine Schüssel Wasser in der einen Hand, einen Lappen in der anderen. »Ladies first. Lexie, was ist mit deinen Händen?« »Gleich«, sagte ich. Daniel hatte das Stück Papier zum Tisch getragen und faltete es behutsam mit den Kugelschreiberspitzen auseinander. »Oh«, sagte Justin. »Oh.« Wir stellten uns um Daniel, Schulter an Schulter. Sein Gesicht blutete – eine Platzwunde auf seinem Wangenknochen, entweder von einer Faust oder dem Rand seiner Brille –, aber er schien es nicht zu merken. Es war eine Nachricht in wütenden Großbuchstaben, so kraftvoll geschrieben, dass der Stift sich an manchen Stellen durch das Papier gedrückt hatte. »WIR WERDEN EUCH AB-FACKELN.« Für einen Moment trat absolute Stille ein. »Mein lieber Mann«, sagte Rafe. Er ließ sich rückwärts aufs Sofa fallen und lachte laut auf.
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»Stark. Echte fackelschwingende Dorfbewohner. Was sagt man dazu?« Justin schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Idiotie«, sagte er. Jetzt, wo er wieder im Haus war, uns vier sicher in seiner Nähe hatte und etwas Sinnvolles tun konnte, hatte er sich beruhigt. »Lexie, deine Hände.« Ich hielt sie ihm hin. Sie waren übel zugerichtet, dreck- und blutverschmiert, die Knöchel aufgeplatzt und die Hälfte der Nägel abgebrochen – schade um den schönen Silbernagellack. Justin sog zischend die Luft ein. »Großer Gott, was habt ihr denn bloß mit dem armen Kerl angestellt? Aber verdient hat er’s natürlich. Komm her, damit ich was sehen kann.« Er bugsierte mich in Abbys Sessel unter der Stehlampe und kniete sich neben mir auf den Boden. Von der Schüssel stieg eine Dampfwolke auf, die nach Desinfektionsmittel roch, ein warmer, wohltuender Duft. »Sollen wir die Polizei anrufen?«, wollte Abby von Daniel wissen. 797
»Bloß nicht«, sagte Rafe, betupfte sich die Nase und sah dann nach, ob er Blut an den Fingern hatte. »Bist du verrückt geworden? Die ziehen doch wieder bloß ihre alte Masche ab: Danke, dass Sie das gemeldet haben, ausgeschlossen, dass wir den Täter je ausfindig machen, schaffen Sie sich einen Hund an, und tschüs. Könnte sogar sein, dass sie uns diesmal verhaften – ein Blick genügt, und die wissen, dass wir uns geprügelt haben. Denkst du etwa, Laurel und Hardy interessiert’s, wer angefangen hat? Justin, kann ich mal kurz den Lappen haben?« »Moment noch.« Justin drückte den feuchten Lappen so sanft auf meine Knöchel, dass ich kaum etwas spürte. »Brennt das?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich blute gleich das Sofa voll«, drohte Rafe. »Untersteh dich. Leg den Kopf in den Nacken und warte.« »Eigentlich«, sagte Daniel, der noch immer nachdenklich auf den Zettel starrte, »wäre es jetzt 798
vielleicht gar keine so schlechte Idee, die Polizei zu verständigen.« Rafe setzte sich auf, seine Nase war vergessen. »Daniel. Spinnst du? Die haben einen Heidenschiss vor diesen Halbaffen unten im Dorf. Die würden alles tun, um sich bei denen einzuschmeicheln, und uns wegen Körperverletzung einzubuchten, wäre ein großer Schritt in die richtige Richtung.« »Ehrlich gesagt, ich hab gar nicht an die hiesige Polizei gedacht«, sagte Daniel. »Nein. Ich dachte an Mackey oder O'Neill – einen von den beiden, je nachdem. Was meinst du?«, fragte er an Abby gewandt. »Daniel«, sagte Justin. Seine Hand hatte aufgehört, sich auf meiner zu bewegen, und der hohe, panische Tonfall kroch erneut in seine Stimme. »Nein. Ich will nicht – seit Lexie wieder hier ist, lassen sie uns doch in Ruhe –« Daniel betrachtete Justin einen Moment lang forschend über seine Brille hinweg. »Das stimmt, 799
ja«, sagte er. »Aber das heißt mit Sicherheit nicht, dass sie die Ermittlungen eingestellt haben. Ich denke, sie suchen weiterhin mit großem Energieaufwand nach einem Verdächtigen, weshalb ich mir gut vorstellen kann, dass sie sehr dran interessiert wären, von unserem Freund von vorhin zu erfahren. Ich finde daher, wir sind verpflichtet, es ihnen zu erzählen, ob uns das nun passt oder nicht.« »Ich will einfach, dass alles wieder normal wird.« Justins Stimme klang beinahe weinerlich. »Jaja, das wollen wir alle«, sagte Daniel leicht gereizt. Er verzog das Gesicht, massierte seinen Oberschenkel, verzog erneut das Gesicht. »Und je schneller das hier vorüber ist und jemand zur Verantwortung gezogen wird, desto schneller wird es auch wieder so werden. Lexie beispielsweise würde sich bestimmt um einiges wohler fühlen, wenn der Typ in Gewahrsam wäre. Hab ich recht, Lexie?«
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»Von wegen Gewahrsam, ich würde mich um einiges wohler fühlen, wenn uns das Arschloch nicht so schnell entwischt wäre«, sagte ich. »Das hat richtig Spaß gemacht.« Rafe grinste und beugte sich vor, um mit mir abzuklatschen. »Mal abgesehen von Lexie«, sagte Abby, »das hier ist eine echte Drohung. Ich weiß ja nicht, wie du das siehst, Justin, aber ich bin nicht besonders scharf drauf, abgefackelt zu werden.« »Ach Quatsch, das macht der nie im Leben«, sagte Rafe. »Brandstiftung erfordert ein gewisses Maß an Organisationstalent. Der würde sich selbst in die Luft jagen, ehe er auch nur in unsere Nähe kommt.« »Und wenn nicht, ist das Haus futsch. Willst du das riskieren?« Die Stimmung im Raum war umgeschlagen. Die überdrehte, fröhliche Verbundenheit war weg, mit einem bösartigen Zischen verpufft, wie Wasser auf einer heißen Kochplatte. Keiner amüsierte sich noch. 801
»Die Blödheit von diesem Kerl ist mir lieber als die Intelligenz der Bullen. Wir können sie nicht gebrauchen. Falls der Idiot wiederkommt – und das wird er nicht, nicht nach heute Abend –, dann werden wir allein mit ihm fertig.« »Weil wir ja bis jetzt«, sagte Abby schroff, »so wahnsinnig gut darin gewesen sind, unsere Probleme selbst zu lösen.« Sie schnappte sich mit einer knappen, wütenden Bewegung die Popcornschüssel vom Boden und hockte sich hin, um die Scherben aufzulesen. »Nein, lass das. Die Polizei wird alles so sehen wollen, wie es war«, sagte Daniel und ließ sich schwer in einen Sessel fallen. »Aua.« Er verzog das Gesicht, zog Onkel Simons Revolver aus der Gesäßtasche und legte ihn auf den Sofatisch. Justins Hand erstarrte mitten in der Bewegung. Abby, die gerade aufstand, wäre fast nach hinten gekippt. Bei jedem anderen hätte ich nicht mit der Wimper gezuckt. Aber Daniel: Etwas Kaltes rauschte 802
über meinen ganzen Körper wie Meerwasser, verschlug mir den Atem. Es war, wie wenn man seinen Vater im Vollrausch erlebt oder seine Mutter bei einem Nervenzusammenbruch: dieses Absacken des Magens, das Zerreißen der Kabel, ehe der Lift Hunderte von Stockwerken in die Tiefe saust, unaufhaltsam, schon verloren. »Das kann nicht dein Ernst sein«, sagte Rafe. Er war kurz vor einem neuen Lachanfall. »Was zum Henker«, fragte Abby sehr leise, »hattest du damit vor?« »Ehrlich«, sage Daniel und warf einen leicht verwunderten Blick auf die Waffe, »ich weiß es nicht. Ich hab ganz instinktiv danach gegriffen. Als wir draußen waren, war es natürlich viel zu dunkel und chaotisch, um irgendwas Sinnvolles damit anzustellen. Es wäre gefährlich gewesen.« »Ach nee«, sagte Rafe. »Hättest du das Ding benutzt?«, wollte Abby wissen. Sie starrte Daniel aus großen Augen an
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und hielt die Schüssel so, als wollte sie damit werfen. »Ich weiß nicht«, sagte Daniel. »Ich glaube, ich wollte ihn wohl damit bedrohen, damit er nicht wegläuft, aber ich schätze, wozu man fähig ist, weiß man immer erst, wenn man in die entsprechende Situation gerät.« Dieses Klicken, auf dem dunklen Feldweg. »Oh Gott«, flüsterte Justin, ein zittriger Atemhauch. »Was für ein Wahnsinn.« »Aber es hätte noch viel schlimmer kommen können«, stellte Rafe vergnügt klar, »ein richtiges Gemetzel, Blut und Gedärme, meine ich.« Er zog sich einen Schuh aus und schüttelte eine kleine Lawine aus Sand und Steinchen auf den Boden. Nicht mal Justin sah hin. »Halt die Klappe«, fauchte Abby. »Halt bloß die Klappe. Das ist kein Witz mehr. Das alles läuft völlig aus dem Ruder. Daniel –« »Alles in Ordnung, Abby«, sagte Daniel. »Ehrlich. Alles unter Kontrolle.« 804
Rafe sank auf dem Sofa zurück und lachte erneut auf. Es klang spitz und spröde, beinahe hysterisch. »Und du behauptest, das hier wäre kein Witz?«, fragte er Abby. »›Unter Kontrolle. ‹ Meinst du wirklich, die Formulierung passt, Daniel? Würdest du allen Ernstes sagen, wir haben die Situation unter Kontrolle?« »Das habe ich bereits gesagt«, erwiderte Daniel. Seine Augen ruhten auf Rafe, wachsam und sehr kalt. Abby knallte die Schüssel auf den Tisch, Popcorn spritzte. »Schwachsinn. Rafe führt sich bescheuert auf, aber er hat recht, Daniel. Wir haben das hier nicht mehr unter Kontrolle. Vorhin hätte jemand sterben können. Ihr drei rennt da raus in die Dunkelheit und jagt irgendeinem psychopathischen Brandstifter hinterher –« »Und als wir zurückkamen«, stellte Daniel fest, »hattest du den Schürhaken in der Hand.« »Das ist etwas völlig anderes. Der war nur zur Verteidigung gedacht, für den Fall, dass er zu805
rückkommt. Ich hab’s nicht drauf angelegt, wie ihr. Was wäre denn gewesen, wenn er dir das Ding irgendwie hätte entreißen können? Was dann?« Jeden Augenblick würde einer hier das Wort »Revolver« aussprechen. Und sobald Frank oder Sam spitzkriegten, dass Onkel Sams Revolver von einem kuriosen kleinen Familienerbstück zu Daniels Lieblingswaffe mutiert war, wären wir auf einer ganz neuen Ebene, einer Ebene, wo ein Sondereinsatzkommando mit kugelsicheren Westen und Sturmgewehren auf Abruf bereitstand. Bei dem Gedanken zog sich mir der Magen zusammen. »Möchte vielleicht irgendwer hören, was ich denke?«, warf ich ein und schlug auf die Armlehne meines Sessels. Abby fuhr herum und starrte mich an, als hätte sie vergessen, dass ich auch noch da war. »Ja klar«, sagte sie nach einem Moment dumpf. »Gott.« Sie setzte sich schwer auf den Boden zwischen die Glasscherben und verschränkte die Hände im Nacken. 806
»Ich denke, wir sollten auf jeden Fall die Polizei anrufen«, sagte ich. »Diesmal schnappen sie den Kerl vielleicht tatsächlich. Davor hatten sie nicht einen konkreten Anhaltspunkt, aber jetzt müssen sie bloß nach einem suchen, der aussieht, als wäre er durch den Fleischwolf gedreht worden.« »In diesem Kaff«, sagte Rafe, »grenzt das die Auswahl nicht unbedingt ein.« »Ausgezeichnetes Argument«, sagte Daniel zu mir. »Daran hatte ich nicht gedacht. Es wäre außerdem eine gute vorbeugende Maßnahme, für den Fall, dass der Typ auf die Idee kommt, uns wegen Körperverletzung anzuzeigen – was ich zwar für unwahrscheinlich halte, aber man kann nie wissen. Also, sind wir uns einig? Es bringt nicht viel, die Detectives um diese Uhrzeit noch herkommen zu lassen, aber morgen früh rufen wir sie an, ja?« Justin war wieder dabei, meine Hände zu säubern, aber sein Gesicht war angespannt und ver807
schlossen. »Von mir aus, Hauptsache wir bringen die Sache hinter uns«, sagte er gepresst. »Ich denke, du bist total irrsinnig«, sagte Rafe, »aber das denke ich ja schon eine ganze Weile. Und überhaupt, es spielt keine große Rolle, was ich denke, nicht? Du tust so oder so, was du willst.« Daniel ging nicht auf ihn ein. »Mackey oder O’Neill?« »Mackey«, sagte Abby, ohne vom Boden aufzuschauen. »Interessant«, sagte Daniel und griff nach seinen Zigaretten. »Ich hätte mich instinktiv für O’Neill entschieden, zumal er anscheinend derjenige ist, der untersucht, wie unser Verhältnis zu den Leuten im Dorf ist, aber vielleicht hast du recht. Hat einer Feuer?« »Darf ich einen Vorschlag machen?«, fragte Rafe zuckersüß. »Wenn wir mit unseren Freunden und Helfern plaudern, wäre es vielleicht ratsam,
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das Ding da unerwähnt zu lassen.« Er nickte Richtung Revolver. »Selbstverständlich«, sagte Daniel geistesabwesend. Er suchte noch immer nach einem Feuerzeug. Ich sah Abbys auf dem Tisch neben mir und warf es ihm zu. »Es spielt bei der Geschichte ja sowieso keine Rolle. Also kein Grund, davon anzufangen. Ich leg’s weg.« »Mach das«, sagte Abby tonlos zum Boden. »Und dann können wir alle so tun, als wäre es nie passiert.« Keiner sagte etwas darauf. Justin war mit meinen Händen fertig und klebte Pflaster auf die verletzten Knöchel, die Ränder genau parallel. Rafe schwang die Beine vom Sofa, ging in die Küche und kam mit einer Handvoll nasser Papiertücher zurück. Er rieb sich damit flüchtig die Nase ab und warf die Tücher in den Kamin. Abby rührte sich nicht. Daniel rauchte nachdenklich, während das Blut auf seiner Wange trocknete, und blickte irgendwo ins Leere. 809
Der Wind wurde stärker, rauschte unterm Dach und kam heulend den Kamin herab, wirbelte herum und fegte durchs Wohnzimmer wie ein längst erkalteter Geisterzug. Daniel drückte seine Zigarette aus, ging die Treppe hoch – Schritte oben, ein langgezogenes schabendes Geräusch, ein Knall – und kam mit einem verschrammten, schartigen Stück Holz wieder runter, vielleicht vom Kopfteil eines Bettes. Abby hielt es für ihn fest, während er es über das zerbrochene Fenster nagelte. Die Hammerschläge hallten scharf durchs Haus und hinaus in die Nacht.
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14 Am nächsten Morgen war Frank rasch da. Ich hatte das Gefühl, dass er seit Tagesanbruch mit den Autoschlüsseln in der Hand neben dem Telefon gewartet hatte, bereit, sich gleich auf den Weg zu machen, sobald wir anriefen. Er brachte Doherty mit, der sich in die Küche setzte und aufpasste, dass keiner lauschte, während Frank im Wohnzimmer nacheinander unsere Aussagen aufnahm. Doherty war sichtlich fasziniert. Er bekam den Mund gar nicht mehr zu, während er sich staunend alles ansah: die hohen Decken, die Wände mit teils halbabgerissener Tapete, die vier in ihrer makellosen altmodischen Kleidung, mich. Er hatte hier eigentlich nichts zu suchen. Das war Sams Teil der Ermittlungen, und außerdem wäre Sam im Handumdrehen da gewesen, wenn er geahnt hätte, dass ich in eine Prügelei verwickelt gewesen war. Frank hatte es ihm nicht gesagt. Ich war
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heilfroh, dass ich nicht im SOKO-Raum dabei sein musste, wenn das rauskam. Die anderen hielten sich großartig. Ihre glatte Fassade war schlagartig da gewesen, sobald wir die Reifen auf dem Kies in der Einfahrt knirschen hörten, aber diese Version unterschied sich leicht von der, die sie an der Uni benutzten: weniger unterkühlt, etwas einnehmender, vollkommen ausgewogen zwischen schockierten Opfern und höflichen Gästen. Abby schenkte Tee ein und stellte einen Teller mit sorgsam arrangierten Keksen hin, Daniel brachte für Doherty einen weiteren Stuhl in die Küche. Rafe machte selbstironische Witze über sich und sein blaues Auge. Allmählich konnte ich mir vorstellen, wie die Vernehmungen nach dem Mord an Lexie gelaufen waren und warum sie Frank so ungeheuer viel Nerven gekostet hatten. Er fing mit mir an. »Na«, sagte er, als sich die Wohnzimmertür hinter uns schloss und die Stimmen in der Küche zu einem angenehm gedämpften 812
Hintergeräusch verblassten. »Da war ja mal endlich was los hier.« »Wurde auch Zeit«, sagte ich. Ich rückte Stühle an den Kartentisch, doch Frank schüttelte den Kopf, sank aufs Sofa und winkte mich Richtung Sessel. »Machen wir’s uns gemütlich. Bist du heil?« »Der böse Mann hat mir den Nagellack ruiniert, aber ich werd’s überleben.« Ich griff in die Tasche meiner Cargohose und holte einige zerknitterte Notizbuchseiten hervor. »Ich hab gestern Nacht alles aufgeschrieben, im Bett. Ehe meine Erinnerung sich trübt.« Frank trank seinen Tee und las, ließ sich Zeit. »Gut«, sagte er schließlich und steckte die Seiten ein. »Das ist schön klar, oder so klar, wie’s zurzeit geht, bei dem ganzen Chaos.« Er stellte den Tee ab, nahm sein eigenes Notizbuch und zückte seinen Kugelschreiber. »Konntest du den Kerl identifizieren?«
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Ich schüttelte den Kopf. »Hab sein Gesicht nicht gesehen. Zu dunkel.« »Eine Taschenlampe wäre keine schlechte Idee gewesen.« »Dafür war keine Zeit. Wenn ich rumgetrödelt hätte, um nach irgendwelchen Taschenlampen zu suchen, wäre er über alle Berge gewesen. Ihr braucht sowieso keine Identifizierung. Sucht einfach nach einem Typen mit einem ramponierten Gesicht.« »Ha«, sagte Frank nachdenklich und nickte, »die Prügelei. Natürlich. Dazu kommen wir gleich. Nur für den Fall, dass unser Mann behauptet, er wäre die Treppe runtergefallen und hätte sich dabei die blauen Flecken geholt, wäre eine zusätzliche Beschreibung ganz nützlich.« »Ich kann nur sagen, wie er sich angefühlt hat«, sagte ich. »Falls es einer von Sams Verdächtigen war, ist Bannon definitiv aus dem Schneider: viel zu füllig. Dieser Typ war drahtig. Nicht sehr groß, aber stark. Ich glaube auch nicht, dass es McArdle 814
war. Ich hab dem Kerl irgendwann mitten ins Gesicht gefasst, und da hab ich keinen Bart gespürt, bloß Stoppeln. McArdle ist bärtig.« »Allerdings«, sagte Frank und machte sich eine Notiz. »Allerdings. Dann tippst du also auf Naylor?« »Er würde passen. Richtige Größe, richtige Statur, richtige Haare.« »Das muss reichen. Wir nehmen, was wir kriegen können.« Er studierte nachdenklich seine Notizbuchseite und klopfte sich dabei mit dem Kuli gegen die Zähne. »Apropos«, sagte er. »Als ihr drei losgaloppiert seid, um für die gute Sache zu kämpfen, was hat Danny-Boy da mitgenommen?« Darauf war ich vorbereitet. »Schraubenzieher«, sagte ich. »Ich hab nicht gesehen, wie er ihn eingesteckt hat, aber ich bin ja auch vor ihm aus dem Zimmer. Er hatte die Werkzeugkiste vor sich auf dem Tisch.«
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»Weil er und Rafe dabei waren, Onkel Simons Revolver zu putzen. Was für einer ist das eigentlich?« »Ein Webley, Armeerevolver aus dem Ersten Weltkrieg. Ziemlich lädiert und verrostet und alles, aber noch immer ein Prachtstück. Würde dir gefallen.« »Das glaub ich gern«, sagte Frank herzlich und machte einen Vermerk. »Mit ein bisschen Glück krieg ich ihn bestimmt irgendwann mal zu sehen. Also, Daniel will in aller Hast irgendwas als Waffe mitnehmen, und direkt vor seiner Nase liegt ein Revolver, aber er greift lieber zum Schraubenzieher?« »Ein ungeladener, aufgeklappter Revolver mit abgeschraubten Griffschalen. Und ich hab nicht den Eindruck, dass er was von Waffen versteht. Selbst wenn er die Griffschalen weggelassen hätte, hätte er einen Moment gebraucht, um damit klarzukommen.« Das Geräusch, wie jemand einen Revolver lädt, ist zwar unverkennbar, aber recht 816
leise, und ich war am anderen Ende des Raumes gewesen, als Rafe die Patronen einlegte. Außerdem war Musik gelaufen, es war also gut möglich, dass das Laden der Waffe über das Mikro nicht zu hören gewesen war. »Also nimmt er lieber den Schraubenzieher«, sagte Frank und nickte. »Klingt logisch. Aber aus irgendeinem Grund kommt er nicht mal auf die Idee, das Ding auch einzusetzen, als er den Kerl schließlich zwischen die Finger kriegt.« »Konnte er auch nicht. Das war das totale Chaos da draußen, Frank. Wir haben uns zu viert über den Boden gewälzt, überall Arme und Beine, und man konnte nicht erkennen, was zu wem gehört – ich bin ziemlich sicher, Rafes blaues Auge geht auf mein Konto. Wenn Daniel einen Schraubenzieher gezückt und angefangen hätte, damit um sich zu stechen, hätte er mit hoher Wahrscheinlichkeit einen von uns getroffen.« Frank nickte noch immer zustimmend und schrieb alles auf, aber er hatte einen gelangweilt amüsierten Ge817
sichtsausdruck, der mir nicht gefiel. »Was denn? Wär dir lieber gewesen, er hätte den Kerl niedergestochen?« »Es hätte mein Leben jedenfalls um einiges einfacher gemacht«, sagte Frank heiter und rätselhaft. »Und wo war denn nun dieser ominöse – was war’s noch mal –, dieser ominöse Schraubenzieher während der ganzen dramatischen Aktion?« »In Daniels Gesäßtasche. Wenigstens hat er ihn da rausgeholt, als wir wieder im Haus waren.« Frank hob ganz besorgt eine Augenbraue. »Da kann er aber von Glück sagen, dass er sich nicht selbst damit verletzt hat. Bei der ganzen Wälzerei hätte er sich leicht den ein oder anderen Stich zuziehen können.« Er hatte recht. Ich hätte lieber einen Schraubenschlüssel nehmen sollen. »Hat er vielleicht auch«, sagte ich achselzuckend. »Du kannst ihn ja bitten, dir seinen Hintern zu zeigen.« »Ich denke, darauf verzichte ich vorläufig.« Frank ließ seinen Kugelschreiber klicken, schob 818
ihn in die Tasche und lehnte sich entspannt auf dem Sofa zurück. »Was«, erkundigte er sich freundlich, »hast du dir dabei gedacht?« Eine Sekunde lang fasste ich das tatsächlich als Frage nach meinem Denkprozess auf und nicht als Auftakt für einen bombastischen Anschiss. Ich hatte damit gerechnet, dass Sam sauer sein würde, aber doch nicht Frank. Für ihn ist persönliche Sicherheit Glückssache, er hatte zum Auftakt dieser Ermittlung jede Regel gebrochen, die ihm unter die Finger kam, und wie ich selbst genau wusste, hatte er einmal einen Dealer so fest mit dem Kopf gerammt, dass der Mann ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, er könnte wegen so etwas sauer sein. »Der Typ wird unberechenbarer«, sagte ich. »Früher hat er sich auf Sachbeschädigung beschränkt. Er hat Simon March nie ein Haar gekrümmt, und als er das letzte Mal Steine geschmissen hat, hat er sich ein Zimmer ausgesucht, das, wie er durchs Fenster sehen konnte, leer war … Aber diesmal 819
hat der Stein Abby und mich nur um Zentimeter verfehlt – wer weiß, vielleicht hat er sogar auf eine von uns gezielt. Inzwischen richtet sich seine Gewalt nicht bloß gegen Sachen, sondern auch gegen Menschen. Er kommt mehr und mehr als Verdächtiger in Frage.« »Klar«, sagte Frank und schlug lässig die Beine übereinander. »Ein Verdächtiger. Genau das, wonach wir suchen. Also, denken wir die Sache doch mal bis zum Ende durch, ja? Mal angenommen, Sammy und ich fahren heute nach Glenskehy und schnappen uns die drei Knaben, und nur mal angenommen, wir holen aus einem von ihnen irgendwas raus, was für eine Festnahme und vielleicht sogar für einen Haftbefehl reicht. Was meinst du, was soll ich sagen, wenn sein Anwalt und die Staatsanwaltschaft und die Medien mich fragen, und damit rechne ich, wieso sein Gesicht aussieht wie Hackfleisch? Unter den gegebenen Umständen bleibt mir keine andere Wahl, als ihnen zu erklären, dass die Verletzungen von zwei 820
anderen Verdächtigen und einer Undercoverbeamtin von mir verursacht wurden. Und was meinst du, was dann passiert?« Ich hatte nie auch nur für einen Moment so weit im Voraus gedacht. »Du findest schon einen Ausweg.« »Mag sein«, sagte Frank noch immer mit dieser freundlich gelangweilten Stimme, »aber darum geht es jetzt nicht, oder? Eigentlich will ich wissen, was genau du vorhattest, als du da rausgerannt bist. Als Detective hätte es doch eigentlich dein Ziel sein müssen, den Verdächtigen ausfindig zu machen, ihn zu identifizieren und falls möglich festzuhalten oder zu beobachten, bis du eine Möglichkeit gefunden hättest, Verstärkung anzufordern. Hab ich irgendwas vergessen?« »Ja, allerdings. Du hast vergessen, dass es nicht so einfach –« »Weil dein Verhalten nämlich darauf hindeutet«, fuhr Frank fort, als hätte ich gar nichts gesagt, »dass es dir hauptsächlich darum ging, die821
sen Kerl windelweich zu schlagen. Und das wäre ja wohl eine Spur unprofessionell von dir gewesen.« Draußen in der Küche sagte Doherty etwas, das sich wie die Pointe eines Witzes anhörte, und alle lachten. Das Lachen war perfekt, ungezwungen und freundlich, und es ging mir furchtbar an die Nerven. »Ach, verdammt nochmal, Frank«, sagte ich. »Mir ging es darum, meinen Verdächtigen zu schnappen und dabei nicht meine Tarnung auffliegen zu lassen. Wie hätte ich das denn deiner Meinung nach anstellen sollen? Indem ich Daniel und Rafe von dem Kerl runterzerre, ihnen einen Vortrag über die korrekte Behandlung von Verdächtigen halte und gleichzeitig dich anrufe?« »Du hättest nicht selbst zuschlagen müssen.« Ich zuckte die Achseln. »Sam hat mir erzählt, als Lexie das letze Mal hinter dem Kerl her war, wollte sie ihm ordentlich die Eier polieren. So war sie nun mal. Wenn ich gezögert hätte und mich von den großen starken Jungs vor dem bösen 822
Mann hätte beschützen lassen, hätte sie das mit Sicherheit stutzig gemacht. Ich hatte keine Zeit, mir die ganzen Konsequenzen durch den Kopf gehen zu lassen. Ich musste schnell entscheiden, und ich hab mich so entschieden, wie es zu ihrer Persönlichkeit passt. Willst du ernsthaft behaupten, du hast dich nie geprügelt, wenn du undercover warst?« »Um Gottes willen, nein«, sagte Frank unbekümmert. »Wie käme ich dazu? Ich hab mich oft geprügelt, und sogar meistens gewonnen, wenn ich das in aller Bescheidenheit sagen darf. Aber es gibt einen Unterschied. Ich hab mich geprügelt, weil der andere mich zuerst angegriffen hat –« »So wie der Kerl uns angegriffen hat.« »Nachdem ihr ihn bewusst dazu angestachelt habt. Vergiss nicht, ich hab mitgehört.« »Wir hatten ihn verloren, Frank. Wenn wir ihn nicht dazu gebracht hätten, seine Deckung aufzugeben, wäre er einfach von dannen spaziert.«
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»Lass mich ausreden, Kleines. Ich habe mich geprügelt, weil der andere angefangen hat oder weil sonst meine Tarnung aufgeflogen wäre oder auch nur, um mir ein bisschen Respekt zu verschaffen, mich in der Hackordnung nach oben zu arbeiten. Aber ich kann getrost sagen, dass ich mich nie geschlagen habe, weil ich so emotional verstrickt war, dass ich den unbezähmbaren Wunsch hatte, jemanden grün und blau zu schlagen. Jedenfalls nicht im Rahmen meiner Arbeit. Kannst du dasselbe von dir behaupten?« Diese großen blauen Augen, liebenswürdig und beiläufig interessiert. Diese makellose, entwaffnende Kombination aus Offenheit und einem Hauch stählerner Härte. Meine Nervosität schwoll zu einem schreienden Alarmsignal an, wie die elektrische Warnung, die Tiere auffangen, ehe es donnert. Frank befragte mich, wie er einen Verdächtigen befragen würde. Ich war nur einen Fehltritt davon entfernt, von dem Fall abgezogen zu werden. 824
Ich zwang mich, mir Zeit zu lassen: zuckte leicht verlegen die Achseln, rutschte im Sessel hin und her. »Das war keine emotionale Verstrickung«, sagte ich schließlich mit Blick auf meine Finger, die sich in die Fransen eines Kissens geschoben hatten. »Jedenfalls nicht, wie du denkst. Es ist … Hör mal, Frank, ich weiß, du warst von Anfang an besorgt wegen meiner Nervenstärke. Und ich mach dir keinen Vorwurf.« »Ist nun mal so«, sagte Frank. Er lümmelte sich auf dem Sofa und beobachtete mich mit völlig ausdrucksloser Miene, aber er hörte mir zu. Ich hatte noch immer eine Chance. »Die Leute reden. Ein- oder zweimal ist die Rede auch auf den Knocknaree-Fall gekommen.« Ich verzog das Gesicht. »Kann ich mir vorstellen. Und ich kann mir auch vorstellen, was sie gesagt haben. Die meisten Leute hatten mich schon als Burn-out abgeschrieben, noch ehe ich meinen Schreibtisch geräumt hatte. Ich weiß, du bist mit meinem Einsatz hier ein Risiko eingegangen, 825
Frank. Ich weiß nicht, was du alles gehört hast … « »So dies und das.« »Aber du weißt bestimmt, dass wir die Ermittlung bombastisch in den Sand gesetzt haben, weshalb jetzt ein Mensch frei rumläuft, der eigentlich lebenslänglich in den Knast gehört.« Das jähe Stocken in meiner Stimme, ich musste es nicht spielen. »Und das ist zum Kotzen, Frank, ganz ehrlich. Ich wollte nicht, dass so was noch mal passiert, und ich wollte nicht, dass du denkst, ich hätte kein starkes Nervenkostüm mehr, weil das nicht stimmt. Ich dachte, wenn ich diesen Kerl erwische –« Frank schoss vom Sofa hoch wie von der Tarantel gestochen. »Diesen Kerl erwi– Herrgott, du bist nicht hier, um irgendwen zu erwischen, verdammt nochmal! Was hab ich dir gesagt, ganz am Anfang? Du hast nur eine einzige Aufgabe, nämlich mir und O’Neill die richtige Richtung zu zeigen, damit wir den Rest erledigen können. Hab ich 826
mich etwa nicht klar genug ausgedrückt? Hätte ich dir das schriftlich geben müssen? Ja?« Wären die anderen nicht im Nebenzimmer gewesen, hätte die Lautstärke jetzt schon die Scheiben zum Klirren gebracht – wenn Frank wütend ist, kriegt das jeder mit. Ich zuckte leicht zusammen und neigte den Kopf in einem angemessen unterwürfigen Winkel, aber insgeheim war ich heilfroh: Mich als ungehorsame Untergebene zusammenstauchen zu lassen war hundertmal besser, als wie eine Verdächtige von ihm in die Mangel genommen zu werden. Übereifer, das Bedürfnis, sich nach einem schlimmen Fehler neu zu beweisen, das waren Dinge, die Frank nachvollziehen konnte, Dinge, die andauernd vorkommen, und sie waren verzeihlich. »Tut mir leid«, sagte ich. »Frank, es tut mir wirklich leid. Ich hab mich hinreißen lassen, und es wird nicht wieder vorkommen, aber ich konnte den Gedanken nicht ertragen, meine Tarnung auffliegen zu lassen, und ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass du mit827
bekommst, wie er mir durch die Lappen geht, und Menschenskind, Frank, er war so nah, ich konnte ihn schmecken … « Frank starrte mich lange an, dann seufzte er, plumpste wieder aufs Sofa und dehnte den Hals, bis es knackte. »Hör mal«, sagte er, »du hast einen anderen Fall mit in diesen reingeschleppt. Ist jedem schon passiert. Und keiner, der halbwegs bei Verstand ist, macht so was ein zweites Mal. Tut mir leid für dich, dass du so einen üblen Fall hattest und so weiter, aber wenn du mir oder irgendwem sonst was beweisen willst, dann mach das bitte ab jetzt, indem du alte Fälle zu Hause lässt und diesen hier anständig bearbeitest.« Er glaubte mir. Von der ersten Minute dieses Falles an hatte Frank den anderen Fall wie ein Fragezeichen im Kopf gehabt. Ich musste ihn bloß im richtigen Winkel zurückspiegeln. Zum allerersten Mal war der Knocknaree-Fall mit seiner widerwärtigen dunklen Seele tatsächlich zu etwas gut. 828
»Ich weiß«, sagte ich und starrte nach unten auf meine Hände, die ich im Schoß verschränkt hatte. »Glaub mir, ich weiß.« »Du hättest uns den ganzen Fall versauen können, ist dir das klar?« »Bitte sag nicht, dass ich ihn endgültig in den Sand gesetzt hab«, flehte ich. »Knöpft ihr euch den Typen trotzdem vor?« Frank seufzte. »Ja, wahrscheinlich. Im Augenblick bleibt uns kaum was anderes übrig. Es wäre gut, wenn du bei der Vernehmung dabei sein könntest – vielleicht fällt dir auf der psychologischen Seite was Nützliches ein, und ich denke, es könnte was bringen, wenn wir den Burschen mit Lexie konfrontieren und abwarten, was dann passiert. Meinst du, du kriegst das hin, ohne über den Tisch zu hechten und ihm die Zähne einzuschlagen?« Ich blickte rasch auf, aber ein säuerliches Lächeln lag in seinen Mundwinkeln. »Sehr lustig«, sagte ich und hoffte, dass die Welle der Erleichte829
rung nicht bis in meine Stimme schwappte. »Ich werde mein Bestes tun. Aber besorg einen breiten Tisch, nur für alle Fälle.« »Mit deinem Nervenkostüm ist alles in Ordnung, weißt du«, sagte Frank, griff nach seinem Notizbuch und holte den Kuli wieder aus der Tasche. »Da passen drei rein. Geh mir aus den Augen, ehe du mich wieder auf die Palme bringst, und schick jemanden her, der mir keine grauen Haare beschert. Schick Abby.« Ich ging raus in die Küche und sagte Rafe, dass Frank ihn als Nächsten sprechen wollte, aus purer Dreistigkeit und um Frank zu zeigen, dass ich keine Angst vor ihm hatte, obwohl das nicht stimmte: Ich hatte welche, und wie.
»Tja«, sagte Daniel, als Frank seine Nummer durchgezogen und mit Doherty abgefahren war, vermutlich um Sam die gute Nachricht beizubringen. »Ich finde, das ist ganz gut gelaufen.« 830
Wir waren in der Küche, spülten die Teetassen und aßen die übriggebliebenen Kekse. »Jedenfalls war es nicht schlimm«, sagte Justin verwundert. »Ich hab gedacht, die würden sich wieder furchtbar aufspielen, aber Mackey war diesmal richtig nett.« »Aber dieser Dorfbulle«, sagte Abby und griff über mich hinweg nach einem weiteren Keks. »Die ganze Zeit hat er Lexie angeglotzt, habt ihr das gesehen? Kretin.« »Er ist kein Kretin«, sagte ich. Doherty hatte zu meinem Erstaunen ganze zwei Stunden durchgehalten, ohne mich mit »Detective« anzureden, daher war ich gnädig gestimmt. »Er hat nur Geschmack.« »Und ich behaupte noch immer, dass sie nichts tun werden«, sagte Rafe, aber nicht bissig. Ob es mit irgendetwas zu tun hatte, was Frank ihnen gesagt hatte, oder ob sie einfach nur erleichtert waren, den Besuch überstanden zu haben, jedenfalls sahen sie alle besser aus: lockerer, unbeschwerter. 831
Die schneidende Anspannung von letzter Nacht war abgeklungen, zumindest vorläufig. »Warten wir’s ab«, sagte Daniel und senkte den Kopf zu einem Streichholz, um seine Zigarette anzuzünden. »Wenigstens hast du Vier-TittenBrenda jetzt was zu erzählen, wenn sie dich das nächste Mal gegen den Kopierer drückt.« Sogar Rafe musste lachen.
An dem Abend tranken wir Wein und spielten Hundert und Zehn, als mein Handy klingelte. Ich erschrak zu Tode – schließlich wurde keiner von uns oft angerufen – und hätte den Anruf fast verpasst, weil ich mein Handy erst suchen musste. Es war im Garderobenschrank, noch immer in der Tasche der Gemeinschaftsjacke nach meinem Spaziergang vom Vorabend. »Hallo?«, sagte ich. »Miss Madison?«, sagte Sam. Er hörte sich unsicher an. »Hier spricht Detective O’Neill.«
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»Oh«, sagte ich. Ich war auf dem Rückweg ins Wohnzimmer gewesen, machte nun aber kehrt und lehnte mich gegen die Haustür, wo die anderen mich unmöglich hören konnten. »Hi.« »Kannst du sprechen?« »So einigermaßen.« »Bist du okay?« »Ja. Mir geht’s gut.« »Ehrlich?« »Ehrenwort.« »Menschenskind«, sagte Sam und atmete tief aus. »Gott sei Dank. Mackey, dieses Arschloch, hat sich die ganze Sache angehört, wusstest du das? Hat mich nicht angerufen, kein Wort gesagt, hat seelenruhig bis heute Morgen abgewartet und ist dann zu dir rausgefahren. Lässt mich da im SOKO-Raum rumsitzen wie einen Vollidioten. Verdammt, wenn der Fall nicht bald abgeschlossen wird, mach ich aus dem Wichser noch Hackfleisch.«
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Sam flucht fast nie, außer er ist wirklich fuchsteufelswild. »In Ordnung«, sagte ich. »Wundert mich nicht.« Kurzes Schweigen. »Die anderen sind da, stimmt’s?« »Mehr oder weniger.« »Dann fass ich mich kurz. Wir haben Byrne zu Naylors Haus geschickt, um einen Blick auf ihn zu werfen, wenn er von der Arbeit kommt, und das Gesicht von dem Burschen ist grün und blau – ihr drei habt’s ihm anscheinend richtig gegeben. Er ist es, keine Frage. Ich hol ihn morgen her – diesmal ins Morddezernat. Interessiert mich nicht mehr, ob ich ihn damit aufscheuche. Notfalls kann ich ihn wegen Einbruchs festhalten. Willst du herkommen und ihn dir ansehen?« »Klar«, sagte ich. Ein großer Teil von mir wollte kneifen, wollte morgen den Tag zusammen mit den anderen in der Bibliothek verbringen, in der Mensa essen und dem Regen draußen vor den Fenstern zusehen, ohne einen Gedanken daran zu 834
verschwenden, was demnächst passieren könnte, solange das noch ging. Doch was immer diese Vernehmung ergab, ich musste dabei sein. »Wann?« »Ich fang ihn ab, wenn er zur Arbeit will, und müsste gegen acht mit ihm hier sein. Komm, wann du möchtest. Macht es … Macht es dir was aus, ins Dezernat zu kommen?« Ich hatte vergessen, mir darüber überhaupt Gedanken zu machen. »Kein Problem.« »Er passt ins Profil, nicht? Haargenau.« »Kann sein«, sagte ich. »Ja.« Im Wohnzimmer stöhnte Rafe theatralisch auf – anscheinend hatte er gerade verloren –, und die anderen prusteten los. »Du Mistkerl«, sagte Rafe, aber auch er lachte, »du durchtriebener Mistkerl, und ich fall immer wieder drauf rein … « Sam hat eine gute Vernehmungstaktik. Falls aus Naylor irgendetwas rauszuholen war, würde er es wahrscheinlich schaffen.
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»Das könnte es jetzt sein«, sagte Sam. Die Hoffnung in seiner Stimme ließ mich zusammenfahren, so intensiv war sie. »Wenn ich morgen geschickt vorgehe, könnte es vorbei sein. Du könntest nach Hause kommen.« »Ja«, sagte ich. »Klingt gut. Bis morgen.« »Ich liebe dich«, sagte Sam mit leiser Stimme, kurz bevor er auflegte. Ich blieb noch einen langen Moment in dem kalten Flur stehen, kaute auf dem Daumennagel und lauschte auf die Geräusche aus dem Wohnzimmer – Stimmen und das Klatschen von Karten, Gläserklimpern, das Knistern und Prasseln des Feuers –, ehe ich wieder hineinging. »Wer war das?«, fragte Daniel und blickte von seinem Blatt auf. »Dieser Detective«, sagte ich. »Er will, dass ich zu ihnen komme.« »Welcher denn?« »Der süße Blonde. O’Neill.« »Wieso?«
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Alle sahen mich an, reglos, wie erschreckte Tiere. Abby verharrte mit einer Karte halb aus ihrem Blatt gezogen. »Die haben irgendeinen Typen gefunden«, sagte ich und schob mich auf meinen Stuhl. »Wegen letzter Nacht. Morgen wollen sie ihn vernehmen.« »Das gibt’s nicht«, sagte Abby. »So schnell?« »Na los, bringen wir’s hinter uns«, sagte Rafe zu Daniel. »Nun sag schon Hab ich euch doch gesagt. Ich weiß, es liegt dir auf der Zunge.« Daniel achtete gar nicht auf ihn. »Aber warum du? Was wollen sie von dir?« Ich zuckte die Achseln. »Ich soll ihn mir ansehen. Und O’Neill hat gefragt, ob mir noch was eingefallen ist, zu der Nacht. Ich glaube, er hofft, dass ich einen Blick auf den Kerl werfe, mit einem zittrigen Finger auf ihn zeige und schreie: ›Das ist er! Der Mann, der mich niedergestochen hat!‹« »Da hat jemand wohl zu viele HollywoodFilme gesehen«, sagte Rafe.
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»Und?«, fragte Daniel. »Ist dir noch was eingefallen?« »Absolut nichts«, sagte ich. Bildete ich mir das ein, oder hatte sich gerade eine haarfeine Anspannung in Luft aufgelöst? Abby beschloss, doch eine andere Karte zu spielen, und schob die zwischen ihren Fingern wieder zurück. Justin griff nach der Weinflasche. »Vielleicht holt er jemanden, der mich hypnotisieren soll – machen die das im wirklichen Leben?« »Sag ihm, er soll dich so programmieren, dass du ab und an mal konzentriert arbeitest«, sagte Rafe. »Im Ernst? Geht das? Kann der mich so programmieren, dass ich meine Diss schneller fertigkriege?« »Durchaus, aber ich glaub nicht, dass er das macht«, sagte Daniel. »Aussagen unter Hypnose sind vor Gericht bestimmt nicht zulässig. Wo bist du mit O’Neill verabredet?«
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»In seinem Büro«, sagte ich. »Ich hätte ja versuchen können, ihn zu einem Bier im Brogan’s zu überreden, aber ich glaub nicht, dass er ja gesagt hätte.« »Ich dachte, du kannst das Brogan’s nicht ausstehen«, sagte Daniel überrascht. Ich öffnete den Mund, um rasch zurückzurudern – Ja klar, war nur Quatsch … Was mich rettete, war nicht irgendeine Reaktion von Daniel, der mich über seine Karten hinweg nur mit ruhigen, unverwandten, eulenhaften Augen ansah. Es waren Justins Augenbrauen, die sich verwundert senkten, es war Abbys Kopf, der sich leicht neigte: Sie hatten keine Ahnung, wovon er redete. Irgendwas stimmte nicht. »Ich?«, sagte ich verwirrt. »Ich hab nichts gegen das Brogan’s. Es ist mir eigentlich schnurzegal. Ich dachte nur, weil es direkt gegenüber von seiner Arbeit liegt.« Daniel zuckte die Achseln. »Dann hab ich das wohl verwechselt«, sagte er. Er lächelte mich an, 839
dieses sanfte Lächeln, und wieder spürte ich es: das Nachlassen von Spannung, das Seufzen der Erleichterung. »Du und deine Launen, da verlier ich langsam den Überblick.« Ich streckte ihm die Zunge raus. »Was fällt dir überhaupt ein, mit Bullen zu flirten?«, wollte Rafe wissen. »So was macht man einfach nicht.« »Wieso? Er ist süß.« Mir zitterten die Hände. Ich traute mich nicht, meine Karten zu nehmen. Es hatte eine Sekunde gedauert, bis ich begriffen hatte: Daniel hatte versucht, mir eine Falle zu stellen. Ich war einen Sekundenbruchteil davon entfernt gewesen, ihm arglos auf den Leim zu gehen. »Du bist unverbesserlich«, sagte Justin und füllte mein Weinglas auf. »Außerdem ist der andere viel attraktiver, auf eine irgendwie grobe Art. Dieser Mackey.« »Igitt«, sagte ich. Diese verfluchten Zwiebeln – das Lächeln verriet mir, dass ich diesmal richtig reagiert hatte, aber ob das genügte, um Daniel zu 840
beruhigen? Bei ihm konnte man nie wissen … »Du hast sie ja nicht alle. Ich wette, der hat Haare auf dem Rücken. Was meinst du, Abby?« »Die Geschmäcker sind verschieden«, sagte Abby versöhnlich. »Und ihr seid beide unverbesserlich.« »Mackey ist ein Arsch«, sagte Rafe. »Und O’Neill ist ein Trottel. Und Karo wird gespielt, und Abby ist dran.« Ich schaffte es, meine Karten aufzuheben, obwohl ich noch eine ganze Weile brauchte, bis ich wieder wusste, was ich eigentlich damit anstellen sollte. Ich beobachtete Daniel unauffällig den ganzen Abend, aber er war wie immer: freundlich, höflich, distanziert, widmete mir nicht mehr Aufmerksamkeit als den anderen. Als ich an ihm vorbeiging, um noch eine Flasche Wein zu holen, und ihm eine Hand auf die Schulter legte, griff er nach oben, bedeckte meine Hand mit seiner und drückte sie fest.
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15 Am nächsten Morgen war ich erst kurz vor elf in der Dubliner Burg. Ich wollte den Tag möglichst normal angehen – Frühstück, die Fahrt in die Stadt, Arbeit in der Bibliothek. Ich dachte mir, das würde die anderen beruhigen und sie eher davon abhalten, mich begleiten zu wollen. Und es klappte. Als ich aufstand und anfing, meine Jacke anzuziehen, fragte Daniel zwar: »Soll ich zur moralischen Unterstützung mitkommen?«, aber als ich den Kopf schüttelte, nickte er nur und versenkte sich wieder in sein Buch. »Mach auf jeden Fall das mit dem zittrigen Finger«, riet Rafe mir. »Das wird O’Neill begeistern.« Vor dem Eingang zum Morddezernat bekam ich kalte Füße. Ich konnte einfach nicht da reingehen, mich wie eine Besucherin an der Aufnahme melden, quälend heiteren Smalltalk mit Bernadette, der Dezernatssekretärin, machen und unter den faszinierten Blicken der Vorübergehenden darauf 842
warten, dass irgendwer mich abholte und über die Flure führte, als wäre ich noch nie hier gewesen. Ich rief Frank und sagte, er sollte mich holen kommen. »Gutes Timing«, sagte er, als er den Kopf zur Tür heraussteckte. »Wir machen gerade ein Päuschen, um sozusagen die Situation neu einzuschätzen.« »Was neu einzuschätzen?«, fragte ich. Er hielt mir die Tür auf und trat beiseite. »Wirst du schon sehen. War ein rundum spaßiger Morgen. Ihr habt unseren Burschen ganz schön zugerichtet, was?« Er hatte recht. John Naylor saß mit verschränkten Armen am Tisch in einem Vernehmungsraum, trug denselben farblosen Schlabberpullover und eine alte Jeans, und er sah nicht mehr gut aus. Beide Augen waren fast zugeschwollen; eine Wange war ganz schief, lila verfärbt und dick. In der Unterlippe hatte er einen dunklen Riss, und sein Nasenrücken sah schrecklich eingedrückt aus. 843
Ich stellte mir vor, wie seine Finger nach meinen Augen griffen, seine Knie in meinem Bauch, aber ich konnte diese Erinnerungen nicht mit dem misshandelten Mann da in Verbindung bringen, der seinen Stuhl nach hinten gekippelt hatte und »The Rising of the Moon« vor sich hin summte. Sein Anblick, was wir ihm angetan hatten, schnürte mir die Kehle zu. Sam war im Beobachtungsraum, lehnte an der Einwegscheibe, die Hände tief in den Jackentaschen, und betrachtete Naylor. »Cassie«, sagte er und blinzelte. Er sah übermüdet aus. »Hi.« »Du liebe Güte«, sagte ich und nickte Richtung Naylor. »Das kann man wohl sagen. Er behauptet, er wäre mit dem Fahrrad gestürzt, Kopf voran gegen eine Mauer. Und mehr ist nicht aus ihm rauszukriegen.« »Ich hab Cassie gerade schon gesagt«, warf Frank ein, »dass wir hier ein kleines Problem haben.« 844
»Ja«, sagte Sam. Er rieb sich die Augen, als versuchte er, wach zu werden. »Ein Problem, ja. Wir haben Naylor so gegen acht hergeholt. Seitdem vernehmen wir ihn, und er liefert uns nichts. Glotzt bloß die Wand an und singt vor sich hin. Hauptsächlich Protestlieder.« »Bei mir hat er eine Ausnahme gemacht«, sagte Frank. »Hat sein Konzert unterbrochen und mich als dreckigen Dubliner Wichser bezeichnet, der sich schämen sollte, den Briten in den Arsch zu kriechen. Ich glaub, er mag mich. Aber jetzt kommt’s: Wir haben uns einen Durchsuchungsbeschluss für seine Bude besorgt, und die Spurensicherung hat ihre Funde gerade reingereicht. Natürlich hatten wir auf ein blutiges Messer oder blutige Kleidung oder so was gehofft, aber das wäre ja auch zu schön gewesen. Stattdessen … große Überraschung.« Er nahm ein paar Beweismittelbeutel von dem Tisch in der Ecke und hielt sie mir hin. »Sieh dir das an.« 845
Sie enthielten einen Satz Würfel aus Elfenbein, einen Handspiegel mit Schildpattrückseite, ein kleines stümperhaftes Aquarellgemälde von einer Landstraße und eine silberne Zuckerdose. Noch bevor ich die Dose umdrehte und das Monogramm sah – ein zartes, verschnörkeltes M –, wusste ich, woher die Sachen stammten. Ich kannte nur einen Ort, der ein solches Sammelsurium von Plunder aufzuweisen hatte: Onkel Simons Haus. »Das lag alles unter Naylors Bett«, sagte Frank, »hübsch verpackt in einem Schuhkarton. Ich garantiere dir, wenn du dich mal gründlich in Whitethorn House umsiehst, findest du ein passendes Milchkännchen. Womit wir bei der Frage wären: Wie kommt das Zeug in Naylors Schlafzimmer?« »Er ist eingebrochen«, sagte Sam. Er hatte sich wieder umgedreht und starrte Naylor an, der schlaff auf seinem Stuhl saß und zur Decke hochsah. »Vier Mal.« »Ohne irgendwas mitzunehmen.«
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»Das wissen wir nicht. Dafür haben wir nur Simon Marchs Angaben, aber der hat wie ein Schwein gelebt und war die meiste Zeit stockbetrunken. Naylor hätte kofferweise Zeug abschleppen können, ohne dass March irgendwas gemerkt hätte.« »Oder«, sagte Frank, »er könnte es Lexie abgekauft haben.« »Klar«, sagte Sam, »oder Daniel oder Abby oder Gott weiß wem oder auch dem alten Simon, nebenbei bemerkt. Nur, dass es nicht mal ansatzweise einen Beweis dafür gibt.« »Von denen wurde aber keiner eine halbe Meile von Naylors Haus entfernt erstochen und durchsucht aufgefunden.« Der Streit zwischen ihnen war anscheinend schon länger im Gange. Ihre Stimmen hatten diesen müden, gut einstudierten Rhythmus. Ich legte die Beweismittelbeutel zurück auf den Tisch, lehnte mich gegen die Wand und hielt mich schön raus. »Naylor arbeitet für einen Hungerlohn und 847
versorgt seine kranken Eltern«, sagte Sam. »Wo zum Teufel soll er das Geld herhaben, sich antiken Krempel zu kaufen? Und warum zum Teufel sollte er das überhaupt wollen?« »Gründe hätte er zur Genüge«, sagte Frank, »erstens, er hasst die Familie March und würde jede Gelegenheit nutzen, ihnen eins auszuwischen – und zweitens, wie Sie schon gesagt haben, er ist pleite. Er selbst hat vielleicht nicht das nötige Kleingeld, aber dafür andere Leute, und zwar reichlich.« Erst in diesem Moment wurde mir klar, worüber sie eigentlich stritten, warum diese aggressive, mühsam gezügelte Spannung im Raum knisterte. Kunst- und Antiquitätenraub, das mag sich nach einem Dezernat für Langeweiler anhören, für einen Haufen steifer Streberlinge mit Dienstmarke, aber ihre Arbeit ist alles andere als lustig. Der Schwarzmarkt expandiert weltweit, und er ist mit diversen anderen Spielarten des organisierten Verbrechens verquickt. In einem weitverzweigten 848
Tauschhandel, wo alles Mögliche versilbert wird, von Picassos über Kalaschnikows bis Heroin, kommen Menschen zu Schaden, werden Menschen getötet. Sam stieß ein wütendes, frustriertes Geräusch aus, schüttelte den Kopf und lehnte den Rücken gegen die Scheibe. »Ich will bloß rausfinden, ob der Bursche da ein Mörder ist, und wenn ja, ihn verhaften. Es interessiert mich einen feuchten Kehricht, was er ansonsten in seiner Freizeit getrieben hat. Von mir aus könnte er die Mona Lisa verhökert haben, und es wär mir schnurzegal. Wenn Sie ihn ernsthaft für einen Antiquitätenhehler halten, können wir ihn dem DKA übergeben, wenn wir mit ihm fertig sind, aber vorläufig ist er ein Mordverdächtiger. Sonst nichts.« Frank hob eine Augenbraue. »Sie gehen davon aus, dass es da keine Verbindung gibt. Aber sehen Sie sich doch mal das Muster an. Bis die fünf ins Haus eingezogen sind, hat Naylor nach Herzenslust Steine geschmissen und Hauswände besprüht. 849
Kaum sind sie da, macht er’s noch ein- oder zweimal und dann, einfach so« – er schnippte mit den Fingern –, »Schluss, aus, Sense. Was glauben Sie wohl, warum? Weil er die fünf irgendwie nett fand? Weil er gesehen hat, wie sie renoviert haben, und ihnen nicht den frischlackierten Dielenboden ruinieren wollte?« »Sie haben ihn verfolgt«, sagte Sam. Dieser Zug um seinen Mund: Er war ganz kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. »Er hatte keine Lust, sich vermöbeln zu lassen.« Frank lachte. »Sie meinen, so ein tiefer Groll löst sich über Nacht in Luft auf? Niemals. Naylor hatte irgendeinen anderen Weg gefunden, Whitethorn House zu schaden – sonst hätte er nicht mit seinen Attacken aufgehört, nicht in tausend Jahren. Und sehen Sie sich an, was passiert, sobald Lexie nicht mehr da ist, um ihm die Antiquitäten zuzuspielen. Er wartet ein paar Wochen, für den Fall, dass sie wieder Kontakt aufnimmt, und als er nichts von ihr hört, schmeißt er postwendend wie850
der Steine durchs Fenster. Neulich Nacht hatte er keine Angst davor, vermöbelt zu werden, oder?« »Sie wollen mir was über Muster erzählen? Ich seh da ein ganz anderes Muster. Nachdem die fünf ihm im Dezember hinterhergejagt sind, wird sein Hass nur noch größer. Er wird es nicht mit allen fünf gleichzeitig aufnehmen, aber er spioniert sie aus, stellt fest, dass eine von ihnen die Angewohnheit hat, spätnachts allein spazieren zu gehen. Er belauert sie eine Weile und tötet sie. Als er herausfindet, dass er noch nicht mal das richtig hingekriegt hat, baut sich seine Wut erneut auf, bis er schließlich eine Drohung, das Haus abzufackeln, durchs Fenster wirft. Was denken Sie, was die Schlägerei neulich bei ihm bewirkt hat? Wenn eine von den beiden Frauen aus dem Haus weiter nachts allein in der Gegend herumspaziert, was meinen Sie, was er dann mit ihr macht?« Frank ging nicht darauf ein. »Die Frage ist«, sagte er an mich gewandt, »was wir jetzt mit Johnny-Boy machen. Wir können ihn wegen Ein851
bruch, Sachbeschädigung, Diebstahl oder was uns sonst noch alles einfällt einbuchten und dann die Daumen drücken, dass er irgendwann sein Herz erleichtern will und den Mord gesteht. Oder wir können das Zeug hier wieder unter sein Bett schieben, uns höflich für seine Mithilfe bei unseren Ermittlungen bedanken, ihn nach Hause schicken und abwarten, was dabei rauskommt.« In gewisser Weise war dieser Streit von Anfang an unvermeidlich gewesen, von dem Moment an, als Frank und Sam am selben Tatort aufkreuzten. Detectives im Morddezernat haben nur ein Ziel, konzentrieren sich darauf, ihre Ermittlungen langsam und unaufhaltsam einzugrenzen, bis alles Nebensächliche ausgeschlossen ist und sie nur noch den Mörder im Visier haben. Undercoverleute achten auf Nebensächlichkeiten, sie sind nach allen Seiten offen und halten sich den Rücken frei: Man weiß nie, wo Nebenwege hinführen, welches Wild unerwartet den Kopf aus den Büschen reckt, wenn man etwas nur lange genug aus jedem er852
denklichen Blickwinkel betrachtet. Sie zünden alle Lunten an, die sie finden, und warten dann ab, wo es knallt. »Und was dann, Mackey?«, wollte Sam wissen. »Nehmen wir mal für einen Moment an, Sie haben recht, dass Lexie dem Mann Antiquitäten zugespielt hat, die er verkaufen sollte, und dass Cassie das kleine Geschäft wieder anleiert. Was dann?« »Dann«, sagte Frank, »unterhalte ich mich nett mit den Kollegen vom DKA, kaufe Cassie ein paar hübsche antike Stücke auf der Francis Street, und dann sehen wir weiter.« Er lächelte, aber er musterte Sam wachsam aus zusammengekniffen Augen. »Für wie lange?« »So lange wie nötig.« Das DKA setzt oft Undercoverleute ein, die als Käufer auftreten, als Hehler oder als Verkäufer mit dubiosen Lieferanten, und sich peu à peu an die großen Fische ranarbeiten. Ihre Operationen dauern Monate; sie dauern Jahre. 853
»Verdammt, ich ermittle hier in einem Mordfall«, sagte Sam. »Schon vergessen? Und ich kann niemanden wegen des Mordes verhaften, solange das Opfer putzmunter ist und silberne Zuckerdöschen verscherbelt.« »Na und? Sie schnappen ihn sich, wenn die verdeckte Antiquitätenermittlung abgeschlossen ist, so oder so. Bestenfalls finden wir ein Motiv und eine Verbindung zwischen ihm und dem Opfer, was wir beides nutzen könnten, um ihn zu einem Geständnis zu bringen. Schlimmstenfalls verlieren wir ein bisschen Zeit. Aber wir müssen uns ja auch keine Sorgen machen, dass die Verjährungsfrist abläuft.« Nie im Leben hatte Lexie die letzten drei Monate über nur so zum Spaß irgendwelche Sachen aus Whitethorn House an John Naylor verscherbelt. Nach dem positiven Schwangerschaftstest hätte sie egal was verkauft, um den Absprung zu schaffen, aber bis dahin: nein.
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Ich hätte das sagen können, hätte das sagen sollen. Aber andererseits hatte Frank in einem Punkt recht: Naylor würde alles tun, um Whitethorn House zu schaden. Seine eigene Hilflosigkeit trieb ihn in den Wahnsinn wie eine gefangene Katze, so dass er es mit dem Haus aufnahm, das jahrhundertelange Macht verkörperte, obwohl er keine anderen Waffen hatte als Steine und Sprühdosen. Wenn jemand ihm ein paar Beutestücke aus Whitethorn House angeboten hatte, samt dem einen oder anderen Tipp, wo sich das Zeug zu Geld machen ließe, und dem Versprechen, Nachschub zu liefern, war es wahrscheinlich – nein, mehr als nur wahrscheinlich –, dass er dazu nicht hätte nein sagen können. »Ich mach Ihnen einen Vorschlag«, sagte Frank. »Nehmen Sie sich Naylor noch mal vor – diesmal Sie allein. Er und ich, das klappt einfach nicht. Lassen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen. Wenn er irgendwas zu dem Mord von sich gibt – egal was, und wenn es nur eine Andeutung 855
ist –, nehmen wir ihn fest, vergessen die Sache mit den Antiquitäten, holen Cassie da raus und schließen die Ermittlung ab. Wenn Sie nichts aus ihm rauskriegen … « »Was dann?«, fragte Sam. Frank zuckte die Achseln. »Wenn Ihre Methode nicht greift, kommen Sie wieder her, und wir unterhalten uns noch mal über meine Methode.« Sam sah ihn lange an. »Keine Tricks«, sagte er. »Was denn für Tricks?« »Reinkommen. An die Tür klopfen, wenn ich ihn fast so weit habe. So was in der Art.« Ich sah einen Muskel an Franks Kiefer zucken, aber er sagte bloß kühl: »Keine Tricks.« »Okay«, sagte Sam mit einem tiefen Atemzug. »Ich versuch’s.« Dann zu mir: »Kannst du noch eine Weile hierbleiben?« »Klar«, sagte ich. »Könnte sein, dass ich dich brauche – vielleicht ruf ich dich dazu. Je nachdem, wie’s läuft.« Seine Augen glitten zu Naylor, der jetzt angefangen hat856
te, »Follow Me Up to Carlow« zu singen, gerade so laut, dass es störte. »Drück mir die Daumen«, sagte er, richtete seine Krawatte und war weg. »Hat dein Freund mich gerade beleidigt?«, erkundigte sich Frank, nachdem die Tür des Beobachtungsraumes sich hinter Sam geschlossen hatte. »Du kannst ihn ja zum Duell fordern, wenn du willst«, sagte ich. »Ich spiele fair. Das weißt du.« »Das tun wir alle«, sagte ich. »Wir haben nur unterschiedliche Vorstellungen davon, was fair bedeutet. Und Sam ist nicht sicher, ob deine Vorstellungen sich mit seinen decken.« »Dann kann ich mir das mit der Blutsbrüderschaft wohl abschminken«, sagte Frank. »Ich werd’s überleben. Was hältst du von meiner kleinen Theorie?« Ich beobachtete Naylor durch die Scheibe, aber ich konnte Franks bohrenden Blick auf meinem Gesicht spüren. »Ich weiß noch nicht«, sagte ich. 857
»Ich hab den Kerl nicht lange genug gesehen, um mir eine Meinung zu bilden.« »Aber du hast genug von Lexie gesehen – aus zweiter Hand, aber trotzdem, du weißt so viel über sie wie kaum jemand sonst. Denkst du, sie wäre zu so was fähig gewesen?« Ich zuckte die Achseln. »Wer weiß? Das Entscheidende bei der Frau ist doch, dass keiner weiß, zu was sie fähig war.« »Du hast dich vorhin auffällig bedeckt gehalten. Ist sonst gar nicht deine Art, so lange keinen Piep zu sagen, jedenfalls nicht, wenn du eigentlich eine Meinung haben müsstest. Ich würde gern wissen, auf welcher Seite du stehst, wenn dein Freund mit nichts wieder rauskommt und wir unsere Debatte fortsetzen müssen.« Die Tür zum Vernehmungsraum öffnete sich, und Sam kam herein, balancierte in jeder Hand eine Tasse Tee und hielt die Tür mit der Schulter auf. Er sah hellwach aus, beinahe schwungvoll. Die Müdigkeit fällt von dir ab, sobald du es mit 858
einem Verdächtigen zu tun hast. »Psst«, sagte ich. »Ich will das sehen.« Sam setzte sich mit einem behaglichen Ächzen und schob eine Tasse über den Tisch zu Naylor rüber. »So«, sagte er. Sein ländlicher Tonfall war wie von Zauberhand stärker geworden: Wir gegen die Städter. »Ich hab Detective Mackey gesagt, er soll seinen Papierkram erledigen gehen. Er stört doch nur.« Naylor hörte auf zu singen und überlegte kurz. »Die ganze Art von dem passt mir nicht«, sagte er schließlich. Ich sah Sams Mundwinkel zucken. »Mir auch nicht, klar. Aber leider haben wir ihn am Hals.« Frank lachte leise neben mir und trat näher an die Scheibe. Naylor zuckte die Achseln. »Sie vielleicht. Ich nicht. Solange er hier ist, hab ich nichts zu sagen.« »Prima«, sagte Sam munter. »Er ist weg, und Sie sollen auch erst mal gar nichts sagen. Sie sollen bloß zuhören. Mir ist zu Ohren gekommen, 859
dass vor vielen Jahren in Glenskehy was passiert ist. Ich finde, es könnte eine Menge erklären. Und ich möchte von Ihnen bloß hören, ob es wahr ist.« Naylor beäugte ihn misstrauisch, fing aber nicht gleich wieder mit seinem Konzert an. »Also«, sagte Sam und trank einen kräftigen Schluck Tee. »Etwa um die Zeit des Ersten Weltkriegs lebte in Glenskehy eine junge Frau … « Die Geschichte, die er erzählte, war eine kunstvolle Mischung aus dem, was man ihm in Rathowen berichtet und was ich aus Onkel Simons Opus Magnum entnommen hatte, plus irgendwas mit Mary Pickford in der Hauptrolle. Er zog alle Register: Der Vater der jungen Frau hatte sie aus dem Haus geworfen, sie bettelte in den Straßen von Glenskehy, die Einheimischen spuckten sie im Vorbeigehen an, Kinder warfen mit Steinen … Der krönende Abschluss war eine dezente Andeutung, die Ärmste sei vielleicht von einem wütenden Mob aus dem Dorf gelyncht worden. An die-
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ser Stelle kam der Soundtrack nicht ohne einen schluchzenden Geigenteppich aus. Als er mit seinem Schmachtfetzen fertig war, wippte Naylor mit seinem Stuhl vor und zurück und musterte ihn mit einem versteinerten, angeekelten Blick. »Nein«, sagte er. »Gott, nein. Das ist der größte Bockmist, den ich in meinem Leben gehört hab. Wer hat Ihnen denn den Schwachsinn erzählt?« »Bis jetzt«, sagte Sam mit einem Schulterzucken, »hab ich nichts anderes gehört. Solange das keiner für mich richtigstellt, muss ich davon ausgehen, dass es stimmt.« Der Stuhl knarrte, ein monotones, nerviges Geräusch. »Verraten Sie mir mal was, Detective«, sagte Naylor. »Wieso interessieren Sie sich überhaupt für uns und unsere alten Geschichten? Wir in Glenskehy sind einfache Leute, wissen Sie. Wir sind es nicht gewohnt, dass so wichtige Leute wie Sie uns so viel Aufmerksamkeit schenken.«
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»Die Nummer hat er schon im Auto auf dem Weg hierher abgezogen«, warf Frank ein und lehnte sich bequem mit der Schulter an den Rand der Scheibe. »Der Junge leidet unter Verfolgungswahn.« »Psst.« »Oben in Whitethorn House hat’s einigen Ärger gegeben«, sagte Sam. »Aber das muss ich Ihnen ja nicht erzählen. Uns liegen Informationen vor, dass zwischen dem Haus und den Leuten von Glenskehy eine gewisse Abneigung herrscht. Ich muss die Sachlage klären, um abschätzen zu können, ob es da eine Verbindung gibt.« Naylor lachte, ein hartes, trockenes Bellen. »Abneigung«, sagte er. »So könnte man das auch nennen, ja. Haben die im Haus Ihnen das erzählt?« Sam zuckte die Achseln. »Die haben bloß erwähnt, dass sie im Pub nicht willkommen waren. Aber wieso auch? Schließlich sind sie keine Einheimischen.«
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»Diese Glückspilze. Da haben sie ein bisschen Ärger am Hals, und schon kreuzt eine Horde Detectives auf, um ihnen zu helfen. Aber wenn die Einheimischem Ärger haben, wo bleiben sie dann, die tollen Detectives? Wo wart ihr denn, als diese Frau aufgehängt wurde? Das habt ihr als Selbstmord zu den Akten gelegt, und dann ab in den Pub.« Sams Augenbrauen hoben sich. »Es war kein Selbstmord?« Naylor musterte ihn. Durch die verquollenen, halb geschlossenen Augen sah er düster aus, gefährlich. »Soll ich Ihnen erzählen, wie’s wirklich war?« Sam machte eine kleine, lockere Handbewegung: Ich höre. Nach einem Moment kippte Naylor seinen Stuhl nach vorne, streckte die Arme aus und schloss die Hände – abgebrochene Nägel, dunkler Schorf auf den Knöcheln – um seine Tasse. »Das Mädchen arbeitete als Dienstmagd oben in White863
thorn House«, sagte er. »Und einer von den jungen Burschen da, einer von den Marchs, verguckte sich in sie. Vielleicht war sie so dumm, dass sie geglaubt hat, er würde sie heiraten, vielleicht auch nicht, aber auf jeden Fall geriet sie in Schwierigkeiten.« Er sah Sam mit einem langen Raubvogelblick an, vergewisserte sich, dass er verstanden hatte. »Kein Mensch hat sie aus ihrem Elternhaus geworfen. Wahrscheinlich hat ihr Vater getobt, und wahrscheinlich hat er davon geredet, diesem March irgendwann nachts draußen aufzulauern, aber es wäre Wahnsinn gewesen, wenn er das gemacht hätte. Blanker Wahnsinn. Das war vor der Unabhängigkeit, klar? Den Marchs gehörte halb Glenskehy. Wer immer das Mädchen war, den Marchs gehörte das Haus ihres Vaters. Ein Wort zu viel, und seine Familie hätte auf der Straße gesessen. Also hat er nichts gemacht.« »Leicht ist ihm das bestimmt nicht gefallen«, sagte Sam. 864
»Leichter, als Sie denken. Damals wollten die meisten Leute so wenig wie möglich mit Whitethorn House zu tun haben. Es hatte einen schlechten Ruf. Der Weißdorn ist ein Trollbaum, verstehen Sie?« Ein grimmiges, hintersinniges Lächeln glitt über sein Gesicht. »Es gibt noch immer Leute, die nachts nicht unter einem Weißdorn hergehen würden, obwohl sie Ihnen den Grund dafür nicht erklären könnten. Heutzutage gibt es nur noch Reste von Aberglauben, aber damals war er weit verbreitet. Das hing mit der Dunkelheit zusammen: kein elektrischer Strom und die langen Winternächte, da beflügelten die Schatten schon mal die Phantasie. Viele glaubten, die Leute oben in Whitethorn House würden mit den Trollen im Bunde stehen oder mit dem Teufel, je nach Sichtweise.« Wieder dieser Anflug eines halbherzigen kalten Lächelns. »Was meinen Sie, Detective? Waren wir alle damals verrückte Primitivlinge?« Sam schüttelte den Kopf. »Auf der Farm von meinem Onkel gibt es einen Trollring«, sagte er 865
sachlich. »Er glaubt nicht an Trolle, hat er noch nie, aber er pflügt drum herum.« Naylor nickte. »Jedenfalls, als die junge Frau damals schwanger wurde, sagten die Leute in Glenskehy, sie hätte sich mit einem von den Trollmännern oben im Haus eingelassen und würde ein Trollkind bekommen. Und sie hätte es nicht besser verdient.« »Die Leute dachten, das Kind würde ein Wechselbalg?« »Achtung, Captain Kirk«, sagte Frank. »Unbekannte Lebensform genau vor uns.« Er bebte vor unterdrücktem Lachen. Ich hätte ihn am liebsten in den Hintern getreten. »Ja, das dachten sie«, sagte Naylor kalt. »Und sehen Sie mich nicht so an, Detective. Wir reden hier über meine Urgroßeltern, meine und Ihre. Können Sie schwören, dass Sie nicht dasselbe geglaubt hätten, wenn Sie damals geboren worden wären?«
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»Es waren andere Zeiten«, sagte Sam und nickte. »Nicht alle haben das gesagt. Nur ein paar, hauptsächlich die älteren Leute. Aber immerhin so viele, dass es diesem March irgendwann zu Ohren kam, dem Kindsvater. Entweder er hatte das Kind von Anfang an loswerden wollen und nur auf einen Vorwand gewartet, oder er war irgendwie nicht richtig im Kopf. Viele von denen oben im Haus waren immer ein bisschen merkwürdig. Vielleicht hat man ihnen deshalb nachgesagt, sie hätten Umgang mit Trollen. Jedenfalls, er hat es geglaubt. Er dachte, irgendwas würde mit ihm nicht stimmen, irgendwas in seinem Blut würde das Kind zugrunde richten.« Sein malträtierter Mund verzog sich. »Also verabredete er sich eines Nachts mit der Frau, vor der Geburt des Babys. Sie ging hin, ganz arglos: Er war schließlich ihr Geliebter. Sie dachte, er wollte Vorkehrungen treffen, damit sie und das Kind versorgt sind. Und stattdessen nahm er einen Strick 867
und knüpfte sie mitsamt ihrem Kind an einem Baum auf. Das ist die wahre Geschichte. Die kennt jeder in Glenskehy. Sie hat sich nicht umgebracht, und es hat sie auch keiner aus dem Dorf umgebracht. Der Kindsvater hat sie umgebracht, weil er Angst vor seinem eigenen Baby hatte.« »Diese blöden Dorfdeppen«, sagte Frank. »Ehrlich, fahr raus aus Dublin, und schon bist du in einem fremden Universum. Von so was kann Jerry Springer nur träumen.« »Mögen sie in Frieden ruhen«, sagte Sam leise. »Ja«, sagte Naylor. »Hoffentlich. Eure Leute haben die Sache als Selbstmord eingestuft, bloß um keinen von den feinen Pinkeln aus dem Herrenhaus einlochen zu müssen. Sie wurde in ungeweihter Erde begraben, sie und das Kind.« Vielleicht war es wahr. Jede Version, die wir gehört hatten, könnte die wahre sein, jede oder keine. Nach hundert Jahren war das nicht mehr festzustellen. Entscheidend war, dass Naylor glaubte, was er sagte, jedes Wort. Er verhielt sich 868
nicht wie ein Schuldiger, aber das hatte weniger zu sagen, als man meinen sollte. Er war so von Hass verzehrt – diese schneidende Eindringlichkeit in seiner Stimme –, dass er vielleicht glaubte, nichts Falsches getan zu haben. Mein Herz schlug schnell und schwer. Ich dachte an die anderen, die gesenkten Köpfe in der Bibliothek, die auf meine Rückkehr warteten. »Wieso hat mir das keiner im Dorf erzählt?«, fragte Sam. »Weil es Sie nichts angeht. Wir wollen nicht, dass man uns so kennt: das verrückte Dorf, wo ein Irrsinniger sein uneheliches Baby umgebracht hat, weil es ein Trollkind geworden wäre. Wir in Glenskehy sind anständige Leute. Wir sind einfache Leute, aber wir sind keine Wilden, und wir sind auch keine Idioten, und wir lassen uns von keinem zur Jahrmarktsattraktion machen, klar? Wir wollen einfach in Ruhe gelassen werden.« »Aber irgendwer gibt nun mal keine Ruhe«, stellte Sam fest. »Irgendwer hat BABY-MÖRDER 869
an die Fassade von Whitethorn House gesprüht, zweimal. Irgendwer hat vorgestern Nacht einen Stein durchs Fenster geworfen und sich mit den jungen Leuten geprügelt, als sie ihn verfolgt haben. Irgendwer will dieses Kind nicht in Frieden ruhen lassen.« Langes Schweigen. Naylor rutschte auf seinem Stuhl hin und her, berührte seine aufgeplatzte Lippe mit einem Finger und sah nach, ob Blut dran war. Sam wartete. »Es ging ja nicht bloß um das Baby«, sagte Naylor schließlich. »Das war schlimm genug, klar. Aber es hat nur gezeigt, wie diese ganze Familie ist. Ihre ganze Art. Ich wusste nicht, wie ich sonst drauf aufmerksam machen sollte.« Er war kurz davor, das mit den Schmierereien zuzugeben, aber Sam ging darüber hinweg. Er wollte mehr. »Wie ist sie denn?«, fragte er. Er saß zurückgelehnt da, balancierte seine Tasse auf einem Knie, locker und interessiert, wie ein Mann,
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der sich auf einen schönen langen Abend in seiner Stammkneipe einrichtet. Naylor betupfte sich wieder geistesabwesend die Lippe. Er überlegte angestrengt, suchte nach Worten. »Ihr Detectives habt euch doch so gründlich mit Glenskehy beschäftigt. Habt ihr auch was über seine Herkunft rausgefunden?« Sam grinste. »Mein Irisch ist ziemlich eingerostet. Irgendwas mit Weißdorn, glaub ich.« Naylor reagierte mit einem knappen ungeduldigen Kopfschütteln. »Nein, nein, nicht der Name. Der Ort. Das Dorf. Glenskehy, was meinen Sie, wie das entstanden ist?« Sam schüttelte den Kopf. »Die Marchs. Die haben es gegründet, weil sie es praktisch fanden. Als sie das Land bekamen und das Haus bauten, brauchten sie Leute, die für sie arbeiteten – Dienstmädchen, Gärtner, Stallburschen, Wildhüter … Sie wollten, dass die Bediensteten auf ihrem Grund und Boden lebten, unter ihrer Knute, um sie besser kontrollieren zu können, 871
aber zu dicht wollten sie sie auch nicht auf der Pelle haben. Sie wollten keine stinkenden Bauern riechen müssen.« Sein Mund hatte einen hämischen, angewiderten Zug angenommen. »Also bauten sie ein Dorf für ihr Gesinde. So wie andere einen Swimmingpool bauen lassen oder ein Gewächshaus oder einen Stall für ihre Ponys. Bloß ein bisschen Luxus, um das Leben angenehmer zu gestalten.« »So sollte man nicht mit Menschen umgehen«, pflichtete Sam bei. »Aber das ist lange her.« »Lange her, ja. Damals hatten die Marchs noch Verwendung für Glenskehy. Und jetzt, wo es ihrem Vergnügen nichts mehr nützt, warten sie ab und sehen zu, wie es stirbt.« In Naylors Stimme schwoll etwas an, etwas Unberechenbares und Gefährliches, und zum ersten Mal konnte ich eine Verbindung herstellen zwischen diesem Mann, der mit Sam über die Geschichte seiner Heimat sprach, und der wilden Kreatur, die auf dem dunklen Feldweg versucht hatte, mir die Augen aus872
zudrücken. »Das Dorf zerfällt. Noch ein paar Jahre, und es wird nicht mehr da sein. Die Einzigen, die noch bleiben, sind diejenigen, die nicht wegkönnen, so wie ich, während der Ort stirbt und irgendwann alle mit ihm. Wissen Sie, warum ich nicht auf die Uni gegangen bin?« Sam schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht blöd. Von meinen Noten her hätte ich das locker gepackt. Aber ich musste in Glenskehy bleiben und mich um meine Eltern kümmern, und da gibt es keine Arbeit, für die man eine gute Ausbildung braucht. Da gibt es bloß Farmen. Wozu studieren, wenn ich doch bloß auf irgendeiner Farm Mist schaufeln würde? Ich hab gleich nach der Schule damit angefangen. Ich hatte keine andere Wahl. Und Dutzenden anderen ist es genauso ergangen wie mir.« »Das ist aber nicht die Schuld der Familie March«, gab Sam zu bedenken. »Was hätten die denn dagegen tun können?«
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Wieder dieses harte, bellende Lachen. »Sie hätten einiges tun können. Einiges. Vor vier oder fünf Jahren hat sich im Dorf jemand umgesehen, der stammte aus Galway, wie Sie. War Immobilieninvestor. Er wollte Whitethorn House kaufen und in ein Luxushotel umwandeln, einen Golfplatz anlegen und so weiter. Er hatte große Pläne, dieser Bursche. Können Sie sich vorstellen, was das für Glenskehy bedeutet hätte?« Sam nickte: »Jede Menge Arbeitsplätze.« »Nicht nur das. Touristen und neue Dienstleistungsunternehmen. Menschen, die hergezogen wären, um für die neuen Unternehmen zu arbeiten. Junge Leute, die geblieben wären, anstatt nach Dublin zu verschwinden, sobald sie können. Neue Häuser und Straßen. Endlich wieder eine eigene Schule, anstatt unsere Kinder nach Rathowen schicken zu müssen. Arbeit für Lehrer, einen Arzt, vielleicht auch Immobilienmakler – für gebildete Menschen. Nicht alles auf einmal, wahrscheinlich hätte es Jahre gedauert, aber wenn die Sache erst 874
mal in Gang gekommen wäre … Mehr hätten wir gar nicht gebraucht: bloß diesen einen Anstoß. Diese eine Chance. Und Glenskehy hätte sich wieder erholt.« Vor vier oder fünf Jahren. Danach hatten die Angriffe auf Whitethorn House begonnen. Naylor entsprach einwandfrei meinem Profil, Stück für Stück. Whitethorn House als Hotel, bei der Vorstellung konnte ich den Anblick seines Gesichts schon besser ertragen, aber trotzdem: Irgendwie wurde man doch von der Leidenschaft in seiner Stimme mitgerissen, von dieser strahlenden Vision, die sein Herz höherschlagen ließ, das Dorf wieder geschäftig und hoffnungsfroh, lebendig. »Aber Simon March wollte nicht verkaufen?«, fragte Sam. Naylor schüttelte den Kopf, ein langsames, zorniges Wiegen, verzog das Gesicht, fasste sich an die geschwollene Kinnlade. »Ein einziger Mann, allein in einem Haus, in dem eine Großfamilie Platz hätte. Was hatte er davon? Aber er wollte 875
nicht verkaufen. Es hat immer nur Unglück gebracht, dieses Haus, von dem Tag an, als es gebaut wurde, und er hat verbissen daran festgehalten, anstatt zuzulassen, dass es einmal was Gutes bewirkt. Und dabei ist es geblieben, auch als er dann starb: Der junge Kerl war seit Ewigkeiten nicht mehr in Glenskehy gewesen, er hat keine Familie, er brauchte das Haus nicht, aber er hat daran festgehalten. So sind sie, diese Marchs. So sind sie schon immer gewesen. Sie behalten, was sie wollen, und der Rest der Welt kann vor die Hunde gehen.« »Es ist der Familienstammsitz«, wandte Sam ein. »Vielleicht hängen sie dran.« Naylors Kopf fuhr hoch, er starrte Sam an, und seine hellen Augen loderten zwischen den Schwellungen und den dunklen Blutergüssen. »Wenn ein Mann etwas erschafft«, sagte er, »hat er die Pflicht, sich drum zu kümmern. Jedenfalls, wenn er anständig ist. Wenn man ein Kind in die Welt setzt, dann hat man es zu versorgen, solange 876
es einen braucht. Man hat kein Recht, es zu töten, nur weil es einem nicht mehr in den Kram passt. Wenn man ein Dorf gründet, dann hat man sich drum zu kümmern und es mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln am Leben zu erhalten. Man hat kein Recht, einfach nur zuzusehen, wie es stirbt, bloß damit man ein Haus behalten kann.« »Da muss ich ihm tatsächlich recht geben«, sagte Frank neben mir. »Vielleicht sind wir uns ähnlicher, als ich gedacht hab.« Ich hörte ihn kaum. In einem Punkt war mein Profil doch falsch gewesen: Dieser Mann hätte Lexie nie und nimmer getötet, weil sie ein Kind von ihm erwartete oder auch nur, weil sie in Whitethorn House lebte. Ich hatte ihn für einen Rächer gehalten, von der Vergangenheit besessen, aber er war weit komplizierter und extremer. Er war von der Zukunft besessen, der Zukunft seiner Heimat, die wie Wasser versickerte. Die Vergangenheit war nur deren dunkler siamesischer Zwilling, der
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um diese Zukunft geschlungen war, sie dirigierte, sie formte. »War das alles, was Sie von den Marchs wollten?«, fragte Sam ruhig. »Dass sie sich anständig verhielten – das Haus verkauften, Glenskehy eine Chance gaben?« Nach längerem Zögern nickte Naylor, ein steifer, widerwilliger Ruck. »Und Sie dachten, das könnten Sie nur erreichen, indem Sie ihnen Angst einjagen.« Wieder ein Nicken. Frank stieß einen leisen tonlosen Pfiff aus. Ich hielt den Atem an. »Und wie könnte man ihnen besser Angst einjagen«, sagte Sam wohlüberlegt und sachlich, »als einer von ihnen eines Nachts ein bisschen mit dem Messer zu Leibe zu rücken. Nichts Ernstes, ihr soll nichts Schlimmes passieren. Die sollen bloß begreifen, dass sie nicht willkommen sind.« Naylors Tasse knallte auf den Tisch, er stieß seinen Stuhl zurück und verschränkte die Arme
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fest vor der Brust. »Ich hab keiner Menschenseele was getan. Niemals.« Sam zog die Stirn kraus. »In derselben Nacht, als Sie sich Ihre Prellungen eingehandelt haben, hat irgendwer drei Bewohner von Whitethorn House ziemlich übel zugerichtet.« »Das war ein Kampf. Ein ehrlicher Kampf – und die waren zu dritt gegen mich allein. Das ist ja wohl was anderes. Ich hätte Simon March x-mal töten können, wenn ich gewollt hätte. Ich hab ihm nie ein Haar gekrümmt.« »Aber Simon March war alt. Sie wussten, dass er nicht mehr lange leben würde, und Sie wussten, dass seine Erben das Haus vermutlich eher verkaufen würden als raus nach Glenskehy zu ziehen. Sie konnten es sich leisten abzuwarten.« Naylor wollte etwas sagen, aber Sam sprach weiter, bedächtig und unbeirrt, schnitt ihm das Wort ab. »Aber dann tauchte Daniel mit seinen Freunden auf, und auf einmal sah die Sache ganz anders aus. Die wollten bleiben, und sie ließen 879
sich nicht von ein paar Dosen Sprühfarbe verscheuchen. Also mussten sie den Einsatz erhöhen, nicht wahr?« »Nein. Ich hab nie –« »Sie mussten ihnen laut und deutlich sagen: Verschwindet, wenn ihr wisst, was gut für euch ist. Sie hatten Lexie Madison beobachtet, wenn sie spätabends spazieren ging – vielleicht waren Sie ihr auch schon mal gefolgt, hab ich recht?« »Ich –« »Sie kamen aus dem Pub. Sie waren betrunken. Sie hatten ein Messer dabei. Sie dachten an die Marchs und was sie Glenskehy angetan hatten, und Sie gingen zum Haus, um endlich eine Entscheidung herbeizuführen. Vielleicht wollten Sie ihr ja bloß drohen, war’s so?« »Nein –« »Wie ist es dann gewesen, John? Erzählen Sie’s mir. Wie?« Naylor schoss nach vorne, hob die Fäuste und verzog den Mund zu einem wütenden Knurren. Er 880
war ganz kurz davor, sich auf Sam zu stürzen. »Ihr kotzt mich an. Die oben im Haus brauchen nur zu pfeifen, und schon kommt ihr angerannt wie brave Hündchen. Die jammern euch irgendwas über den bösen Bauern vor, der nicht weiß, wo er hingehört, und schon schleppt ihr mich hierher und beschuldigt mich, eine von denen angegriffen zu haben. Das ist Scheiße. Ich will, dass sie aus Glenskehy verschwinden – und das werden sie auch, garantiert –, aber ich hab nicht im Traum dran gedacht, einem von denen was zu tun. Niemals. Das gönn ich denen nicht. Wenn die ihre Sachen packen und abhauen, will ich dabei sein und ihnen hinterherwinken.« Es hätte eine Enttäuschung sein müssen, aber es jagte wie Speed durch mein Blut, pochte oben im Hals, verschlug mir den Atem. Es war ein Gefühl – und ich lehnte mich gegen die Scheibe, hielt mein Gesicht so, dass Frank es nicht sehen konnte –, ein Gefühl, als wäre mir eine Gnadenfrist geschenkt worden. 881
Naylor war noch nicht fertig. »Diese verdammten Schweine benutzen euch, um mich in meine Schranken zu verweisen, so wie sie seit dreihundert Jahren die Obrigkeit und überhaupt jeden benutzen. Ich verrate Ihnen mal was, Detective, und das würde ich auch den Leuten sagen, die Ihnen diesen Quatsch mit dem Lynchmob erzählt haben. Sie können in Glenskehy rumschnüffeln, so viel Sie wollen, aber finden werden Sie nichts. Diese junge Frau ist von niemandem aus dem Dorf angegriffen worden. Ich weiß, es ist schwierig, gegen Reiche vorzugehen und nicht immer nur gegen die Armen, aber falls Sie einen Verbrecher schnappen wollen und nicht bloß einen Sündenbock, dann suchen Sie in Whitethorn House nach ihm. Bei mir zu Hause züchten wir nämlich keine.« Er verschränkte die Arme, kippelte seinen Stuhl wieder auf die Hinterbeine und begann »The Wind That Shakes the Barley« zu singen. Frank trat von der Scheibe weg und lachte leise in sich hinein. 882
Sam versuchte es noch über eine Stunde. Er zählte jeden einzelnen Vorfall von Sachbeschädigung der letzten viereinhalb Jahre auf, sämtliche Beweise, die Naylor mit dem Steinwurf und dem Kampf in Verbindung brachten. Manche waren echt – seine Prellungen, meine Beschreibung – und manche erfunden, Fingerabdrücke, Handschriftenanalyse. Er kam in den Beobachtungsraum, schnappte sich die Beweismittelbeutel, ohne Frank oder mich anzusehen, und warf sie vor Naylor auf den Tisch. Er drohte, ihn wegen Einbruchs festzunehmen, wegen Körperverletzung, alles außer Mord. Naylor revanchierte sich mit »The Croppy Boy«, »Four Green Fields« und, um mal den Rhythmus zu wechseln, »She Moved Through the Fair«. Schließlich musste Sam kapitulieren. Nachdem er Naylor im Vernehmungszimmer allein gelassen hatte, verging eine ganze Weile, ehe er wieder zu uns in den Beobachtungsraum kam, die Beweis883
mittelbeutel von einer Hand baumelnd und die Erschöpfung wieder ins Gesicht geschrieben, tiefer als je zuvor. »Ich fand, das ist prima gelaufen«, sagte Frank munter. »Sie hätten sogar ein Geständnis für die Sachbeschädigung kriegen können, wenn Sie nicht auf den Hauptgewinn geschielt hätten.« Sam ignorierte ihn. »Was meinst du?«, fragte er mich. Soweit ich das sagen konnte, gab es noch eine klitzekleine Möglichkeit, einen einzigen Anlass, der Naylor so aus der Bahn geworfen hätte, dass er mit dem Messer auf Lexie losgegangen wäre: falls er der Vater des Babys gewesen war und sie ihm gesagt hatte, dass sie abtreiben wollte. »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich weiß es wirklich nicht.« »Ich glaube nicht, dass er unser Mann ist«, sagte Sam. Er warf die Beweismittelbeutel auf den Tisch und lehnte sich schwer dagegen, legte den Kopf in den Nacken. 884
Frank tat erstaunt. »Sie wollen schon aufgeben, weil er einen Vormittag durchgehalten hat? In meinen Augen ist er ein ganz vielversprechender Kandidat: Motiv, Gelegenheit, Veranlagung … Bloß weil er Ihnen eine tolle Geschichte erzählt hat, wollen Sie ihn lediglich wegen Sachbeschädigung festnehmen und unsere Chance vertun, ihn wegen Mordes dranzukriegen?« »Ich weiß nicht«, sagte Sam. Er presste sich die Handballen auf die Augen. »Ich weiß nicht, was ich jetzt noch machen soll.« »Jetzt«, sagte Frank, »versuchen wir’s auf meine Art. Seien wir ehrlich: Ihre Methode hat nichts gebracht. Wir setzen Naylor auf freien Fuß, lassen Cassie versuchen, irgendwas über den Antiquitätenhandel aus ihm rauszukriegen, und warten ab, ob uns das in dem Mordfall irgendwie weiterbringt.« »Dem Mann geht es nicht um Geld«, sagte Sam, ohne Frank anzusehen. »Dem geht es um
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sein Dorf und um das, was Whitethorn House dem Dorf angetan hat.« »Also hat er ein Anliegen. Nichts auf der Welt ist gefährlicher als ein Fanatiker. Was glauben Sie, wie weit er für sein Anliegen gehen würde?« Darauf muss man gefasst sein, wenn man mit Frank streitet: Er verstellt die Torpfosten so schnell, dass du es gar nicht mitkriegst, und du verlierst ständig aus den Augen, was der eigentliche Anlass für die Diskussion war. Ich wusste nicht, ob er tatsächlich an diese Gaunerei mit den Antiquitäten glaubte oder ob er in dieser Phase einfach nur gewillt war, alles zu versuchen, um Sam auszubooten. Sam wirkte allmählich leicht benommen, wie ein Boxer, der zu viele Kopftreffer eingesteckt hat. »Ich glaube nicht, dass er ein Mörder ist«, sagte er beharrlich. »Und ich wüsste auch nicht, warum er ein Hehler sein sollte. Darauf deutet nichts hin.« »Fragen wir doch mal Cassie«, schlug Frank vor. Er beobachtete mich genau. Frank war schon 886
immer eine Spielernatur gewesen, aber ich hätte gern gewusst, was ihn bewog, auf dieses Pferd zu setzen. »Was meinst du, Kleines? Besteht die Chance, dass ich mit dieser Antiquitätenschieberei richtigliege?« In dieser Sekunde schossen mir tausend Dinge durch den Kopf. Der Beobachtungsraum, den ich wie meine Westentasche kannte, bis hin zu dem Flecken im Teppich, wo ich vor zwei Jahren einen Kaffeebecher hatte fallen lassen und in dem ich jetzt zur Besucherin geworden war. Die DetectiveBarbie-Klamotten, die in meinem Schrank hingen, Mahers feuchte Räusperorgie jeden Morgen. Die anderen, die in der Bibliothek auf mich warteten. Der kühle Maiglöckchenduft in meinem Zimmer in Whitethorn House, der mich hauchzart umfing. »Könnte sein«, sagte ich, »klar. Würde mich nicht wundern.« Sam, der zugegebenermaßen schon einen langen Tag hinter sich hatte, fuhr endlich aus der Haut. »Menschenskind, Cassie! Bist du verrückt 887
geworden? Diesen Schwachsinn kannst du doch nicht ernsthaft glauben. Auf welcher Seite stehst du eigentlich?« »Versuchen wir doch bitte, nicht in solchen Kategorien zu denken«, warf Frank tugendhaft ein. Er hatte sich bequem gegen die Wand gelehnt, Hände in den Taschen, um das Geschehen zu beobachten. »Wir stehen alle auf derselben Seite.« »Halt dich da raus, Frank«, sagte ich scharf, ehe Sam ihm eine verpassen konnte. »Und Sam, ich bin auf Lexies Seite. Nicht auf Franks, nicht auf deiner, nur auf ihrer. Okay?« »Genau das hab ich befürchtet.« Sam bemerkte meinen verblüfften Gesichtsausdruck. »Was denn? Hast du gedacht, ich mache mir nur wegen diesem Arschloch da« – Frank zeigte auf seine Brust und setzte eine gekränkte Miene auf – »Sorgen? Der ist schlimm genug, weiß Gott, aber ich kann ihn wenigstens im Auge behalten. Aber diese Lexie – auf ihrer Seite, das ist ein ganz, ganz schlechter Ort. Ihre Mitbewohner waren auch auf ihrer Seite, 888
und falls Mackey recht hat, hat Lexie sie allesamt verraten und verkauft, ohne mit der Wimper zu zucken. Ihr Freund drüben in Amerika, der war auch auf ihrer Seite, er hat sie geliebt, und sieh dir an, was sie mit ihm gemacht hat. Der arme Kerl ist ein Wrack. Hast du den Brief gelesen?« »Brief?«, sagte ich zu Frank. »Welchen Brief?« Er zuckte die Achseln. »Chad hat ihr einen Brief geschrieben, über meinen FBI-Freund. Sehr bewegend und so, aber ich hab ihn Wort für Wort durchleuchtet, und da steht nichts drin, was uns weiterhilft. Ich wollte dich nicht ablenken.« »Verdammt, Frank! Wenn du irgendwas hast, was mir mehr über sie verrät, egal was –« »Wir reden später drüber.« »Lies ihn«, sagte Sam. Seine Stimme klang fast wund, und sein Gesicht war weiß, so weiß wie an jenem ersten Tag am Tatort. »Lies den Brief – ich geb dir eine Kopie, falls Mackey es nicht tut. Dieser Chad ist am Boden zerstört. Viereinhalb Jahre ist es her, und er hat seitdem keine Freundin mehr 889
gehabt. Wahrscheinlich wird er nie wieder einer Frau vertrauen. Wie auch? Der ist eines Morgens aufgewacht, und sein ganzes Leben lag in Trümmern. Alles, wovon er geträumt hat, futsch, in Luft aufgelöst.« »Wenn Sie nicht wollen, dass ihr Superintendent angerannt kommt«, sagte Frank aalglatt, »sollten Sie sich etwas zurückhalten.« Sam hörte ihn gar nicht. »Und nicht zu vergessen, sie ist in North Carolina nicht vom Himmel gefallen. Davor war sie irgendwo anders, und davor vermutlich auch noch woanders. Irgendwo da draußen gibt es noch mehr Menschen – Gott allein weiß, wie viele –, die sich immer fragen werden, wo sie jetzt ist, ob sie irgendwo zerstückelt verscharrt wurde, ob sie aus dem Gleis geraten und auf der Straße gelandet ist, ob sie ihr überhaupt je was bedeutet haben, Menschen, deren Leben von einem Tag auf den anderen aus den Fugen geraten ist und die wissen wollen, was verdammt nochmal passiert ist. Die waren alle auf Lexies Seite, 890
und sieh dir an, was es ihnen gebracht hat. Jeder, der auf ihrer Seite war, hat am Ende zu leiden gehabt, Cassie, jeder, und dir wird es genauso gehen.« »Mir geht es gut, Sam«, sagte ich. Seine Stimme rollte über mich hinweg wie der zarte Saum eines morgendlichen Dunstschleiers, kaum da, kaum real. »Beantworte mir eine Frage. Deine letzte ernsthafte Beziehung war, kurz bevor du undercover gegangen bist, hab ich recht? Er hieß Aidan, nicht?« »Ja«, sagte ich. »Aidan O’Donovan.« Aidan war ein Glücksfall gewesen: intelligent, lebhaft, erfolgreich, mit einem schrägen Sinn für Humor, und er konnte mich zum Lachen bringen, ganz gleich, wie beschissen mein Tag gewesen war. Ich hatte schon lange nicht mehr an ihn gedacht. »Was ist aus ihm geworden?« »Wir haben uns getrennt«, sagte ich. »Während ich undercover war.« Für eine Sekunde sah ich 891
wieder Aidans Augen, an dem Abend, als er mit mir Schluss machte. Ich war in Eile, musste zurück in meine Wohnung, um mich noch in der Nacht mit dem Oberkokser zu treffen, der mich dann einige Monate später niederstechen würde. Aidan wartete an der Haltestelle mit mir, bis mein Bus kam, und ich glaube, als ich von der oberen Plattform zu ihm runtersah, hab ich geweint. »Weil du undercover warst. Weil genau das passiert.« Sam fuhr herum und sah Frank an: »Was ist mit Ihnen, Mackey? Haben Sie eine Frau? Eine Freundin? Irgendwas?« »Wollen Sie mich auf ein Date einladen?«, entgegnete Frank. Seine Stimme klang amüsiert, aber seine Augen waren schmal geworden. »Dann muss ich Sie nämlich warnen. Ich geh nur in Edelrestaurants.« »Also nein. Und das hab ich mir gedacht.« Sam fuhr wieder zu mir herum. »Gerade mal drei Wochen, Cassie, und sieh dir an, was mit uns passiert. Willst du das? Was meinst du, was aus uns wird, 892
wenn du für ein Jahr untertauchst, um dieser bescheuerten, absurden Idee nachzujagen?« »Versuchen wir’s mal so«, sagte Frank leise, noch immer an die Wand gelehnt. »Sie entscheiden, ob es auf Ihrer Seite der Ermittlungen ein Problem gibt, und ich entscheide, ob es auf meiner Seite ein Problem gibt. Einverstanden?« Der Blick in seinen Augen hatte schon Superintendents und Drogenbarone in die Flucht geschlagen, aber Sam schien ihn gar nicht wahrzunehmen. »Nein, verdammt, ich bin nicht einverstanden. Ihre Seite der Ermittlungen ist ein Scheißkatastrophengebiet, und wenn Sie das nicht sehen können, ich kann es Gott sei Dank noch. Ich habe nebenan einen Verdächtigen sitzen, ob er nun unser Mann ist oder nicht, und den habe ich durchPolizeiarbeit gefunden. Was haben Sie? Drei Wochen von diesem Irrsinn, und alles umsonst. Und anstatt den Schaden zu begrenzen, wollen Sie uns jetzt auch noch zwingen, den Einsatz zu erhöhen und etwas noch Irrsinnigeres anzuleiern –« 893
»Ich zwinge Sie zu gar nichts. Ich frage Cassie – die, wenn ich Sie daran erinnern darf, in diesem Fall als meine verdeckte Ermittlerin fungiert, nicht als Detective des Morddezernats –, ob sie bereit ist, ihren Einsatz auszuweiten.« Lange Sommernachmittage im Gras, das Summen von Bienen und das gemächliche Quietschen der Schaukel. Im Kräutergarten knien und ernten, weicher Regen und Herbstrauch in der Luft, der Duft von geschnittenem Rosmarin und Lavendel an meinen Händen. Weihnachtsgeschenke auf dem Boden in Lexies Zimmer einpacken, Schneeflocken vor meinem Fenster, während Rafe Weihnachtslieder auf dem Klavier spielt, Abby in ihrem Zimmer mitsingt und sich der Geruch von Lebkuchen unter meiner Tür hindurchwindet. Sam und Frank blickten mich an, starr. Beide waren verstummt. Die Stille im Raum war jäh und tief und friedlich. »Klar«, sagte ich. »Wieso nicht?«
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Naylor hatte inzwischen »Avondale« angestimmt, und hinten, am Ende des Flurs, regte sich Quigley über irgendwas auf. Ich musste daran denken, wie Rob und ich Verdächtige von diesem Beobachtungsraum aus studiert hatten, wie wir lachend Schulter an Schulter über diesen Flur gegangen waren, wie wir in der vergifteten Luft des Knocknaree-Falls in Stücke zerborsten waren wie ein Meteor, in Rauch und Flammen aufgegangen, und ich empfand absolut nichts, nichts, außer dass sich die Wände um mich herum öffneten und abfielen wie Blütenblätter. Sams Augen waren riesig und dunkel, als hätte ich ihn geohrfeigt, und Frank betrachtete mich mit einem Blick, der mir, wenn ich auch nur halbwegs bei Verstand gewesen wäre, eigentlich hätte Angst einjagen müssen, aber ich spürte nur, wie sich jeder Muskel in mir lockerte, als wäre ich acht Jahre alt und würde an irgendeinem grünen Hang Rad schlagen, bis mir schwindelig wird, als könnte ich tausend Meilen weit durch kühles blaues Wasser tauchen, ohne 895
einmal Luft holen zu müssen. Ich hatte recht gehabt: Freiheit roch nach Ozon und nach Gewittern und Schießpulver, alles zugleich, nach Schnee und Lagerfeuern und frisch gemähtem Gras, sie schmeckte nach Meerwasser und Orangen.
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16 Es war schon fast zu spät zum Mittagessen, als ich ins Trinity zurückkam, aber die anderen saßen noch immer in der Bibliothek. Sobald ich in den langen Gang zwischen den Bücherregalen einbog, der zu unserer Ecke führte, blickten sie auf, schnell und fast gleichzeitig, und legten die Stifte weg. »Gott sei Dank«, sagte Justin mit einem langen Seufzer der Erleichterung, als ich bei ihnen war. »Da bist du ja. Wurde auch Zeit.« »Menschenskind«, sagte Rafe. »Wieso hat das denn so lang gedauert? Justin dachte schon, du wärst verhaftet worden, aber ich hab gesagt, du bist wahrscheinlich bloß mit diesem O’Neill abgehauen.« Rafes Haare standen zu Berge, und Abby hatte einen Tintenfleck an der Wange, und sie hatten keine Ahnung, wie wunderschön sie für mich aussahen, wie nah wir davor gewesen waren, uns ge897
genseitig zu verlieren. Ich wollte sie alle vier berühren, wollte sie umarmen, ihre Hände fassen und mit aller Macht festhalten. »Die haben mich ewig warten lassen«, sagte ich. »Gehen wir essen? Ich komm um vor Hunger.« »Wie ist es gelaufen?«, fragte Daniel. »Hast du den Mann identifiziert?« »Nein«, sagte ich und beugte mich über Abby, um meine Tasche zu nehmen. »Aber es ist eindeutig der Typ von neulich Nacht. Ihr hättet sein Gesicht sehen sollen. Der sieht aus, als hätte er zehn Runden gegen Muhammad Ali geboxt.« Rafe lachte und hob eine Hand, damit ich mit ihm abklatschen konnte. »Was gibt’s da zu lachen?«, wollte Abby wissen. »Der Kerl könnte euch wegen Körperverletzung anzeigen, wenn er wollte. Justin hatte das schon befürchtet, Lex.« »Er will keine Anzeige erstatten. Er hat den Bullen erzählt, er wär mit dem Fahrrad gestürzt. Alles bestens.« 898
»Und deine Erinnerung, ist dir irgendwas eingefallen?«, erkundigte sich Daniel. »Nix.« Ich zog Justins Mantel von seinem Stuhl und schwenkte ihn. »Nun kommt schon. Können wir heute mal in die Mensa gehen? Ich brauch was Ordentliches zu essen. So ein Besuch bei den Bullen macht hungrig.« »Hast du irgendeine Ahnung, wie es jetzt weitergeht? Meinen die, er ist der Mann, der dich überfallen hat? Haben sie ihn verhaftet?« »Nein«, sagte ich. »Nicht genug Beweise oder so. Und sie glauben nicht, dass er mich niedergestochen hat.« Ich war ganz von dem Gedanken erfüllt gewesen, dass das eine gute Neuigkeit war, und hatte dabei vergessen, dass es sich aus den meisten anderen Perspektiven völlig anders darstellen könnte. Schlagartig trat eine schale Stille ein, jeder mied den Blick der anderen. Rafes Augen schlossen sich für eine Sekunde, wie im Schmerz.
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»Warum nicht?«, fragte Daniel. »Für mich sieht er wie ein logischer Verdächtiger aus.« Ich zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, was die sich so denken. Mehr haben sie mir jedenfalls nicht gesagt.« »Scheiße«, sagte Abby. In dem Neonlicht sah sie plötzlich blass und müde aus. »Tja, dann«, sagte Rafe, »war die ganze Übung ja wohl sinnlos. Und das Ganze geht wieder von vorne los.« »Das wissen wir noch nicht«, sagte Daniel. »Ich finde, das liegt auf der Hand. Auch wenn es pessimistisch klingt.« »Oh Gott«, sagte Justin leise. »Ich hatte so gehofft, die Sache wäre endlich vorbei.« Niemand antwortete ihm.
Wieder unterhielten sich Daniel und Abby spätabends auf der Terrasse. Diesmal musste ich mich nicht an der Küchenwand entlangtasten. Ich hätte 900
mich mit verbundenen Augen durchs Haus bewegen können, ohne einmal irgendwo gegenzustoßen, ohne auf eine knarrende Bodendiele zu treten. »Ich weiß nicht, wieso«, sagte Daniel. Sie saßen in der Korbschaukel, rauchten, berührten sich nicht. »Ich kann’s nicht benennen. Möglich, dass mein Urteilsvermögen unter der ganzen Anspannung leidet … Ich bin einfach nur besorgt.« »Sie hat eine schwere Zeit hinter sich«, sagte Abby behutsam. »Ich glaube, sie will nur zur Ruhe kommen und vergessen, dass es je passiert ist.« Daniel betrachtete sie. Das Mondlicht spiegelte sich in seiner Brille, verbarg seine Augen. »Was erzählst du mir nicht?«, fragte er. Das Baby. Ich biss mir auf die Lippe und betete inständig, dass Abby an Frauensolidarität glaubte. Sie schüttelte den Kopf. »In dem Fall musst du mir einfach vertrauen.« Daniel wandte den Blick ab, schaute über die Wiese, und ich sah ganz kurz etwas über sein Gesicht huschen – Mattigkeit oder Trauer. »Früher 901
haben wir uns alles erzählt«, sagte er. »Ist noch gar nicht so lange her, nicht? Oder hab ich das nur so in Erinnerung? Wir fünf gegen den Rest der Welt, und keine Geheimnisse, niemals.« Abbys Augenbrauen schnellten hoch. »War das so? Ich glaube nicht, dass irgendwer irgendwem alles erzählt. Ich zum Beispiel tu das nicht.« »Ich bilde mir ein«, sagte Daniel, »dass ich es versuche. Dass ich dir und den anderen alles erzähle, was wichtig ist, es sei denn, es gibt irgendeinen dringenden Grund, das nicht zu tun.« »Aber es gibt immer einen dringenden Grund, nicht wahr? Bei dir.« Abbys Gesicht war bleich und verschlossen. »Möglicherweise ja«, sagte Daniel leise seufzend. »Früher war das nicht so.« »Du und Lexie«, sagte Abby. »Habt ihr je … « Schweigen. Die beiden betrachteten einander, wachsam wie Feinde. »Weil das wichtig wäre.« »Ach ja? Warum?« 902
Wieder Schweigen. Der Mond verschwand, und ihre Gesichter verloren sich in der Nacht. »Nein«, sagte Daniel schließlich. »Haben wir nicht. Wahrscheinlich würde ich das so oder so sagen, weil ich eigentlich nicht finde, dass es von Bedeutung ist, also erwarte ich nicht, dass du mir glaubst. Aber, wenn es dir wichtig ist, nein, haben wir nicht.« Erneutes Schweigen. Der kleine rote Glutpunkt einer Zigarette, der einen Bogen durch die Dunkelheit beschrieb wie ein Meteor. Ich stand in der kalten Küche, beobachtete sie durch die Scheibe und wünschte, ich könnte ihnen sagen: Jetzt wird alles gut. Alle beruhigen sich; alles wird wieder so, wie es mal war, wir brauchen Zeit, und jetzt haben wir Zeit. Ich bleibe bei euch. Türenschlagen mitten in der Nacht. Schnelle, achtlos polternde Schritte auf Holz. Noch ein Knall, schwerer diesmal, die Haustür. Ich lauschte, setzte mich mit klopfendem Herzen im Bett auf. Im Haus verlagerte sich etwas, so 903
unmerklich, dass ich es eher spürte als hörte, eine Vibration durch die Wände und Dielenböden bis in meine Knochen: Jemand bewegte sich. Es hätte von irgendwoher kommen können. Die Nacht war still, kein Wind in den Bäumen, nur der kühle, trügerische Schrei einer Eule, die weit draußen auf den Wiesen jagte. Ich schob mein Kissen hoch gegen das Kopfende, machte es mir bequem und wartete. Ich hätte gern geraucht, aber ich hatte das sichere Gefühl, nicht die Einzige zu sein, die aufrecht dasaß, alle Antennen ausgefahren, um die kleinste Kleinigkeit wahrzunehmen. Das Klicken eines Feuerzeugs, den Geruch von Rauch, der durch die dunkle Luft waberte. Nach ungefähr zwanzig Minuten ging die Haustür auf und schloss sich wieder, sehr leise diesmal. Eine Pause. Dann schleichende, vorsichtige Schritte die Treppe hinauf in Justins Zimmer, das überlaute Quietschen von Bettfedern unter mir. Ich wartete noch fünf Minuten ab. Als nichts Interessantes geschah, schlüpfte ich aus dem Bett 904
und lief nach unten – der Versuch, leise zu sein, wäre sinnlos gewesen. »Oh«, sagte Justin, als ich um seine Tür herumlugte. »Du bist das.« Er saß auf der Bettkante, halb angezogen. Hose, Schuhe, aber keine Socken, sein Hemd herausgezogen und zur Hälfte aufgeknöpft. Er sah schrecklich aus. »Geht’s dir nicht gut?«, fragte ich. Justin fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht, und ich sah, dass sie zitterten. »Ja«, sagte er. »Könnte man so sagen.« »Was hast du denn?« Seine Hände sanken herab, und er starrte mich an, die Augen rot gerändert. »Geh schlafen«, sagte er. »Geh einfach schlafen, Lexie.« »Bist du sauer auf mich?« »Nicht alles in dieser Welt hat was mit dir zu tun, weißt du«, sagte Justin kalt. »Ob du’s glaubst oder nicht.« »Justin«, sagte ich nach kurzem Zögern. »Ich wollte doch bloß –« 905
»Wenn du wirklich was für mich tun willst«, sagte Justin, »dann lass mich in Ruhe.« Er stand auf, wandte mir den Rücken zu und machte sich am Bettlaken zu schaffen, zog es mit ruckartigen Bewegungen glatt. Als klar war, dass er nichts mehr sagen würde, schloss ich leise die Tür und ging wieder nach oben. Aus Daniels Zimmer fiel kein Licht, aber ich konnte ihn spüren, kaum einen Meter entfernt in der Dunkelheit, wie er lauschte und nachdachte.
Als ich am nächsten Tag aus meinem Fünf-UhrTutorenkurs kam, warteten Abby und Justin auf dem Flur. »Hast du Rafe gesehen?«, fragte Abby. »Seit dem Mittagessen nicht mehr«, sagte ich. Sie sahen aus, als kämen sie von draußen – Abby in ihrem langen grauen Mantel, Justin im zugeknöpften Tweedjackett –, und auf Schultern und Haaren glitzerten Regentropfen. »Er hatte doch heute sein Oberseminar?« 906
»Das hat er uns erzählt«, sagte Abby und trat zurück an die Wand, um einen Trupp lärmender Erstsemester vorbeizulassen, »aber Oberseminare dauern keine vier Stunden, und überhaupt, wir haben schon bei Armstrong nachgesehen. Seine Tür ist abgeschlossen. Er ist gar nicht da.« »Vielleicht ist er auf ein Bier in die Cafeteria«, schlug ich vor. Justin verzog das Gesicht. Wir wussten alle, dass Rafe in letzter Zeit mehr trank, als ihm guttat, aber keiner sagte etwas dazu, niemals. »Da haben wir auch schon nachgesehen«, sagte Abby. »Und in den Pavillon würde er nicht gehen. Er sagt, da wimmelt es von schwachsinnigen Rugbyspielern, und er kommt sich vor wie in seiner Internatszeit. Ich weiß nicht, wo wir sonst noch suchen sollen.« »Was ist los?«, fragte Daniel, der gerade aus seinem Tutorenkurs gegenüber kam. »Wir können Rafe nicht finden.«
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»Hmm«, sagte Daniel und schloss den Arm fester um seinen dicken Packen Bücher und Unterlagen. »Habt ihr versucht, ihn anzurufen?« »Dreimal«, sagte Abby. »Beim ersten Mal hat er den Anruf weggedrückt und dann das Handy ausgemacht.« »Sind seine Sachen noch in der Bibliothek?« »Nein«, sagte Justin, ließ sich gegen die Wand sinken und begann an der Nagelhaut eines Fingers zu zupfen. »Alles weg.« »Aber das ist doch ein gutes Zeichen«, sagte Daniel und sah ihn leicht verwundert an. »Das heißt, es ist ihm nichts Unerwartetes passiert. Er ist nicht überfahren worden oder musste wegen irgendeines anderen Notfalls ins Krankenhaus gebracht werden. Er ist bloß mal allein losgezogen.« »Ja, aber wohin?« Justins Stimme wurde lauter. »Und was sollen wir jetzt machen? Wie will er ohne uns nach Hause kommen? Und sollen wir ihn einfach hierlassen?«
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Daniel blickte den Gang hinunter, über das Gedränge von Köpfen hinweg. Die Luft roch nach nassem Teppich. Irgendwo um die Ecke herum kreischte ein Mädchen, schrill und durchdringend, und Justin und Abby und ich fuhren zusammen, ehe wir begriffen, dass sie nur entsetzt getan hatte und ihr Schrei bereits in lautes, flirtiges Schimpfen überging. Daniel biss sich nachdenklich auf die Lippe, schien nichts davon mitzubekommen. Nach einem Moment seufzte er und sagte mit einem raschen, ärgerlichen Kopfschütteln: »Rafe, also wirklich. Natürlich lassen wir ihn hier. Bleibt uns doch gar nichts anderes übrig. Wenn er nach Hause kommen will, kann er ja anrufen oder ein Taxi nehmen.« »Nach Glenskehy? Und ich fahr nicht noch mal die ganze Strecke zurück in die Stadt, bloß weil er sich unmöglich benimmt –« »Tja«, sagte Daniel, »er wird schon eine Lösung finden.« Er schob ein verirrtes Blatt Papier
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zurück in den Stapel unter seinem Arm. »Fahren wir nach Haus.«
Das Abendessen fiel bescheiden aus – Tiefkühlhähnchen, Reis, ein Schale mit Obst, mitten auf den Tisch geknallt –, und als wir fertig waren, hatte Rafe noch immer nicht angerufen. Er hatte sein Handy wieder eingeschaltet, ließ unsere Anrufe aber auf seine Mailbox gehen. »Das sieht ihm gar nicht ähnlich«, sagte Justin. Er kratzte unaufhörlich mit dem Daumen über das Randmuster seines Tellers. »Doch, doch«, sagte Abby mit Nachdruck. »Er hat was getrunken und irgendeine Frau abgeschleppt, genau wie damals, weißt du noch? Da ist er zwei Tage weggeblieben.« »Das war was anderes. Und wieso nickst du eigentlich?«, knurrte Justin mit Blick auf mich. »Du erinnerst dich nicht. Da warst du noch gar nicht bei uns.« 910
Mein Adrenalinpegel schnellte hoch, aber keiner sah misstrauisch aus. Sie waren alle zu sehr mit den Gedanken bei Rafe, um so einen kleinen Ausrutscher zu bemerken. »Ich nicke, weil ich davon gehört habe. Es gibt da was, das nennt sich Kommunikation, solltest du mal ausprobieren –« Alle waren gereizter Stimmung, mich eingeschlossen. Ich war nicht unbedingt halb verrückt vor Sorge um Rafe, aber die Tatsache, dass er nicht hier war, machte mich nervös, ebenso wie der Umstand, dass ich nicht wusste, ob das aus seriösen ermittlungstechnischen Gründen der Fall war – Franks geschätzte Intuition – oder weil das Gleichgewicht im Raum ohne ihn gestört war, irgendwie aus dem Lot geraten und labil. »Wieso war das was anderes?«, wollte Abby wissen. Justin zuckte die Achseln. »Da haben wir noch nicht zusammengewohnt.«
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»Na und? Ein Grund mehr. Was soll er denn machen, wenn er jemanden aufgabeln will? Seine Eroberung mitbringen?« »Er sollte uns anrufen. Oder wenigstens einen Zettel hinlegen.« »Um uns was mitzuteilen?«, fragte ich. Ich war dabei, einen Pfirsich in winzige Stücke zu hacken. »›He, Leute, ich bin weg, Frauen aufreißen. Wir sprechen uns morgen oder am späten Abend, falls ich doch keine abschleppen kann, oder um drei Uhr morgens, falls sie’ne Niete im Bett ist –‹« »Sei nicht so vulgär«, zischte Justin. »Und iss endlich diesen Scheißpfirsich oder hör auf, so eine Sauerei zu veranstalten.« »Ich bin nicht vulgär, ich meine ja bloß. Und ich ess ihn, wenn ich damit fertig bin. Ich schreib dir ja auch nicht vor, wie du zu essen hast.« »Wir sollten die Polizei anrufen«, sagte Justin. »Nein«, sagte Daniel und klopfte den Tabak einer Zigarette auf dem Handgelenk fest. »Das bringt im Moment sowieso nichts. Die Polizei 912
wartet bei Vermisstenmeldungen immer eine gewisse Zeit – vierundzwanzig Stunden, glaub ich, vielleicht auch länger –, ehe sie irgendwas unternehmen. Rafe ist erwachsen –« »Theoretisch«, warf Abby ein. »– und er hat ja wohl das Recht, über Nacht wegzubleiben.« »Aber was, wenn er irgendwas Dummes gemacht hat?« Justins Stimme klang schon fast weinerlich. »Ich hab was gegen Euphemismen«, sagte Daniel, schüttelte sein Streichholz aus und warf es gekonnt in den Aschenbecher, »und zwar deshalb, weil sie jede echte Kommunikation unmöglich machen. Ich denke, wir können davon ausgehen, dass Rafe tatsächlich irgendwas Dummes gemacht hat, aber das umfasst eine breite Palette von Möglichkeiten. Ich vermute, du hast Angst, er begeht gerade Selbstmord, was ich, offen gestanden, für extrem unwahrscheinlich halte.«
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Nach einem Moment sagte Justin, ohne aufzublicken: »Hat er euch mal erzählt, was er gemacht hat, als er sechzehn war? Als seine Eltern ihn zum zehnten Mal oder so gezwungen hatten, die Schule zu wechseln?« »Keine Vergangenheit«, sagte Daniel. »Er hat nicht versucht, sich umzubringen«, sagte Abby. »Er wollte, dass sein Arschloch von Vater ihn mal zur Kenntnis nahm, und es hat nicht geklappt.« »Ich habe gesagt, keine Vergangenheit.« »Ist ja gut. Ich sage nur, das hier ist nicht dasselbe, Justin. War Rafe in den letzten Monaten nicht völlig verändert? War er nicht wesentlich glücklicher?« »Die letzten Monate, ja«, sagte Justin. »Nicht in den letzten Wochen.« »Ja, okay«, sagte Abby und schnitt einen Apfel mit einem knackigen Ruck in zwei Hälften, »da waren wir alle nicht in Bestform. Trotzdem ist das nicht dasselbe. Rafe weiß, dass er ein Zuhause hat, 914
er weiß, dass es Leute gibt, denen er wichtig ist, er hat nicht vor, sich was anzutun. Er ist einfach nicht gut drauf, und er will sich volllaufen lassen und Frauen aufreißen. Wenn er sich abreagiert hat, taucht er wieder auf.« »Was, wenn er … « Justin stockte. »Ich hasse das, wisst ihr«, sagte er leise zu seinem Teller. »Ich hasse das.« »Das geht uns allen so«, sagte Daniel forsch. »Es war keine leichte Zeit, für keinen von uns. Wir müssen das akzeptieren und Geduld mit uns selbst und miteinander haben, während wir uns erholen.« »Du hast gesagt, dass es mit der Zeit besser werden würde. Aber es wird nicht besser, Daniel. Es wird schlimmer.« »Ich hab dabei an einen etwas längeren Zeitraum als drei Wochen gedacht«, sagte Daniel. »Wenn du das für unvernünftig hältst, dann bitte, erklär’s mir.«
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»Wie kannst du nur so ruhig sein?« Justin war den Tränen nahe. »Es geht hier um Rafe.« »Wo auch immer er gerade steckt«, sagte Daniel und wandte den Kopf, um den Zigarettenrauch rücksichtsvoll von uns Übrigen wegzupusten, »ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendwas nützen würde, wenn ich auch noch hysterisch werde.« »Ich bin nicht hysterisch. So reagieren normale Menschen, wenn einer ihrer Freunde verschwindet.« »Justin«, sagte Abby sanft, »alles wird gut«, aber Justin hörte nicht hin. »Bloß weil du ein Scheißroboter bist … Verdammt, Daniel, einmal, bloß ein einziges Mal möchte ich erleben, dass du dich so verhältst, als würden wir anderen dir wirklich was bedeuten, als würde dir überhaupt irgendwas –« »Ich denke«, unterbrach Daniel ihn kühl, »du hast allen Grund zu wissen, dass ihr vier mir sehr viel bedeutet.« 916
»Hab ich nicht. Welchen Grund denn? Ich hab allen Grund zu der Annahme, dass wir dich einen Scheißdreck interessieren –« Abby machte mit geöffneter Hand eine Geste, die den Raum um uns herum, die Decke, den Garten draußen umschloss. Irgendwas an der Bewegung, an der Art, wie ihre Hand danach in den Schoß sank, wirkte müde, fast resigniert. »Stimmt«, sagte Justin und sank auf seinem Stuhl in sich zusammen. Das Licht beleuchtete ihn in einem unbarmherzigen Winkel, höhlte seine Wangen aus und zog eine tiefe vertikale Furche zwischen seinen Brauen, und für eine Sekunde sah ich, wie er in fünfzig Jahren aussehen würde, als hätte sich ein Bild aus der Zukunft über sein Gesicht gelegt. »Klar, natürlich. Das Haus. Und seht euch an, was es uns gebracht hat.« Eine kurze, schneidende Stille trat ein. Dann sagte Daniel mit einer Stimme, in der eine bedrohliche Tiefe mitschwang, eine Emotion, die ich noch nie darin gehört hatte: »Ich behaupte kei917
neswegs, unfehlbar zu sein. Ich behaupte nur, dass ich versuche, so gut ich kann, das zu tun, was für uns fünf am besten ist. Wenn du der Meinung bist, dass ich darin versage, steht es dir frei, deine eigenen Entscheidungen zu treffen. Wenn du denkst, wir sollten nicht zusammenwohnen, dann zieh aus. Wenn du denkst, wir sollten Rafe als vermisst melden, dann greif zum Telefon.« Nach einem Moment zuckte Justin unglücklich mit den Schultern und fing wieder an, in seinem Essen rumzustochern. Daniel rauchte, mit leerem Blick. Abby aß ihren Apfel. Ich zermatschte meinen Pfirsich zu Püree. Lange Zeit sagte keiner ein Wort.
»Wie ich höre, vermisst ihr den Frauenhelden«, sagte Frank, als ich ihn von meinem Baum aus anrief. Anscheinend hatten wir ihn dazu inspiriert, zur Abwechslung mal etwas Gesundes zu essen: Er kaute irgendwas mit Kernen – ich konnte hö918
ren, wie er sie höchst attraktiv in die Hand spuckte oder sonst wohin. »Falls er tot aufgefunden wird, kaufen mir vielleicht endlich alle meinen geheimnisvollen Fremden ab. Ich hätte Geld darauf setzen sollen.« »Benimm dich nicht wie ein Kotzbrocken, Frankie«, sagte ich. Frank lachte. »Du machst dir doch nicht etwa Sorgen um ihn, oder? Ernsthaft?« Ich zuckte die Achseln. »Ich wüsste einfach nur gern, wo er ist.« »Entspann dich, Kleines. Heute Abend wollte eine zauberhafte junge Lady aus meinem Bekanntenkreis herausfinden, wo ihr Freund Martin ist, und hat aus Versehen die Nummer von unserem guten Rafe gewählt. Leider hat er nicht erwähnt, wo er sich aufhält, ehe das kleine Missverständnis ausgeräumt wurde, aber das Hintergrundgeräusch war aufschlussreich genug. Abby hat genau richtiggelegen: Euer Knabe ist in irgendeinem Pub, lässt sich volllaufen und baggert Frauen an. Ihr 919
kriegt ihn gesund und munter wieder zurück, bis auf einen erstklassigen Kater.« Also hatte auch Frank sich Sorgen gemacht. So sehr, dass er sich eine Sonderfahnderin mit sexy Stimme geschnappt hatte, damit sie bei Rafe anrief. Vielleicht war Naylor für Frank doch nicht bloß eine Gelegenheit gewesen, sich mit Sam anzulegen. Vielleicht nahm er ihn als Verdächtigen ernster, als ich gedacht hatte. Ich zog die Füße höher zwischen die Äste. »Toll«, sagte ich. »Gut zu wissen.« »Und wieso klingst du dann, als wäre dein Hund gerade gestorben?« »Es geht ihnen nicht gut«, sagte ich und war froh, dass Frank mein Gesicht nicht sehen konnte. Ich dachte, ich würde gleich vor purer Erschöpfung aus dem Baum kippen. Ich packte einen Ast und hielt mich daran fest. »Aus irgendeinem Grund – vielleicht weil sie den Überfall auf mich nicht verkraften oder weil sie uns irgendwas ver-
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schweigen und damit nicht klarkommen –, jedenfalls brechen sie allmählich zusammen.« Nach einem Moment sagte Frank ganz sanft: »Ich weiß, dass du dich gut mit ihnen verstehst, Kleines. Und das ist in Ordnung. Mein Geschmack sind sie nicht gerade, aber ich hab nichts dagegen, dass du das anders siehst, wenn es dir die Arbeit leichter macht. Aber sie sind nicht deine Freunde. Ihre Probleme sind nicht deine Probleme. Sie sind Gelegenheiten, die du nutzen sollst.« »Ich weiß«, sagte ich. »Ich weiß ja. Aber es ist trotzdem schwer, es mitanzusehen.« »Ein bisschen Mitgefühl kann nicht schaden«, sagte Frank munter und biss erneut kräftig in seinen Gesundheitssnack. »Solange es nicht überhandnimmt. Aber ich hab was, um dich von ihrem Elend abzulenken. Dieser Rafe ist nicht der Einzige, der vermisst wird.« »Wovon redest du?« Er spuckte Kerne aus. »Ich wollte Naylor aus sicherer Entfernung im Auge behalten – seinen 921
Tagesablauf beobachten, was für Kontakte er pflegt und so weiter. Damit du ein bisschen mehr Infos kriegst, mit denen du arbeiten kannst. Aber daraus wird nichts. Er ist heute nicht zur Arbeit erschienen. Seine Eltern haben ihn seit gestern Abend nicht gesehen, und sie sagen, das wäre ganz untypisch für ihn. Der Vater sitzt im Rollstuhl, und John würde seiner Mutter niemals zumuten, allein so schwer zu heben. Dein Sammy und ein paar Sonderfahnder observieren abwechselnd das Haus, und wir haben Byrne und Doherty gesagt, sie sollen die Augen offen halten. Auch wenn das wohl nicht viel bringt.« »Er kann nicht weit sein«, sagte ich. »Der Mann würde sich mit Händen und Füßen dagegen wehren, Glenskehy zu verlassen. Der taucht wieder auf.« »Ja, hab ich mir auch schon gedacht. In Bezug auf den Mord liefert uns das keine Anhaltspunkte. Es ist ein Ammenmärchen, dass nur schuldige Täter untertauchen. Aber eines weiß ich genau: Egal, 922
was der Grund für Naylors Flucht ist, Angst können wir ausschließen. Hat er auf dich einen verängstigten Eindruck gemacht?« »Nein«, sagte ich. »Keine Spur. Er sah wütend aus.« »Fand ich auch. Er war nicht gerade erfreut über die Vernehmung. Ich hab ihn hinterher weggehen sehen. Zwei Schritte von der Tür entfernt hat er sich umgedreht und sie angespuckt. Der Bursche ist stinksauer, Cassie, und wir wissen ja bereits, dass er zum Jähzorn neigt – und wie du schon gesagt hast, wahrscheinlich ist er noch in der Nähe. Ich weiß nicht, ob er verschwunden ist, weil er nicht wollte, dass wir ihn überwachen, oder weil er irgendwas vorhat oder so. Aber pass auf dich auf.« Und das tat ich. Auf dem ganzen Nachhauseweg hielt ich mich in der Mitte des Weges, meinen Revolver gespannt und entsichert in der Hand. Ich steckte ihn erst wieder in den Hüfthalter, als das Gartentor hinter mir zufiel und ich sicher im 923
Garten war, am Rand der hellen Lichtstreifen, die aus den Fenstern fielen. Ich hatte Sam nicht angerufen. Diesmal nicht, weil ich es vergessen hatte, sondern weil ich nicht wusste, ob er rangehen würde oder was wir uns zu sagen hätten, falls er es tat.
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17 Rafe tauchte am nächsten Vormittag in der Bibliothek auf, so gegen elf. Sein Mantel war falsch zugeknöpft, und sein Rucksack baumelte achtlos an einer Hand. Er stank nach Zigarrenrauch und schalem Guinness, und er war noch immer ziemlich unsicher auf den Beinen. »Na hallo«, sagte er, schwankte ein bisschen und starrte uns vier an. »Einen wunderschönen guten Morgen.« »Wo bist du gewesen?«, zischte Daniel. In seiner Stimme schwang angespannter Zorn mit, mühsam unterdrückt. Er war viel besorgter um Rafe gewesen, als er sich hatte anmerken lassen. »Hier und da«, erklärte Rafe. »Unterwegs. Wie geht’s denn so?« »Wir dachten, dir ist was passiert.« Justins Flüstern schlug um in etwas zu Lautes und zu Schneidendes. »Wieso hast du nicht angerufen? Oder wenigstens eine SMS geschickt?«
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Rafe wandte sich um und sah ihn an. »Ich war anderweitig beschäftigt«, sagte er nach kurzer Überlegung. »Und ich hatte keinen Bock drauf.« Einer von der Gorillatruppe, diese älteren Studenten, die sich unweigerlich selbst zur Bürgerwehr gegen Bibliotheksstörer erklären, spähte über seinen Stapel Philosophiebücher und machte »Schsch!«. »Dein Timing ist beschissen«, sagte Abby kalt. »Das war ein schlechter Augenblick, um abzuhauen und Frauen anzubaggern, und das hättest selbst du dir denken können.« Rafe wippte auf den Fußballen nach hinten und warf ihr einen bitterbösen Blick zu. »Leck mich«, sagte er laut und herablassend. »Ich entscheide, was ich tue und wann ich es tue.« »Hör auf, so mit ihr zu reden«, sagte auch Daniel jetzt ungeniert laut. Die gesamte Gorillatruppe machte gleichzeitig »Schsch!«. Ich zupfte Rafe am Ärmel. »Setz dich und sprich mit mir.« 926
»Lexie«, sagte Rafe und schaffte es, mich anzusehen. Seine Augen waren blutunterlaufen, und seine Haare hatten dringend eine Wäsche nötig. »Ich hätte dich nicht allein lassen sollen, was?« »Mir geht’s gut«, sagte ich. »Bin rundum zufrieden. Setz dich doch und erzähl, wie deine Nacht gelaufen ist.« Er streckte eine Hand aus. Seine Finger glitten über meine Wange zum Hals, strichen über den Ausschnitt meines Oberteils. Ich sah, wie sich hinter ihm Abbys Augen weiteten, hörte ein hastiges Rascheln von Justins Arbeitsplatz. »Gott, du bist so süß«, sagte Rafe. »Du bist gar nicht so zerbrechlich, wie du aussiehst, oder? Manchmal denke ich, bei uns anderen ist es umgekehrt.« Einer von der Gorillatruppe hatte Attila alarmiert, den aggressivsten Wachmann im bekannten Universum. Er hat seine Berufswahl offensichtlich in der Hoffnung getroffen, gefährlichen Gangstern den Schädel einschlagen zu können, aber da selbige in Universitätsbibliotheken relativ rar gesät 927
sind, begnügt er sich damit, verirrte Erstsemester zum Weinen zu bringen. »Belästigt Sie der Kerl?«, fragte er mich. Er versuchte, sich bedrohlich vor Rafe aufzubauen, was ihm aber aufgrund des Größenunterschiedes schwerfiel. Sofort war die Wand da. Daniel und Abby und Justin nahmen schlagartig eine lässig entspannte Haltung ein, sogar Rafe stellte sich aufrechter hin, riss seine Hand weg und schaffte es von jetzt auf gleich, mühelos nüchtern zu wirken. »Alles bestens«, sagte Abby. »Sie hab ich nicht gefragt«, entgegnete Attila. »Kennen Sie den Kerl?« Er sprach mit mir. Ich setzte ein engelhaftes Lächeln auf und sagte: »Und wie, Officer, das ist mein Mann. Ich hatte eine einstweilige Verfügung gegen ihn erwirkt, aber ich hab’s mir anders überlegt, und wir wollten gerade für einen Quickie auf die Damentoilette.« Rafe kicherte.
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»Männer dürfen nicht aufs Damenklo«, sagte Attila drohend. »Und was Sie hier machen, ist Ruhestörung.« »Schon gut«, sagte Daniel. Er stand auf und umfasste Rafes Oberarm – der Griff wirkte beiläufig, aber ich sah, dass die Finger fest zupackten. »Wir gehen schon. Wir alle.« »Loslassen«, fauchte Rafe und versuchte, Daniels Hand abzuschütteln. Daniel bugsierte ihn eilig an Attila vorbei und zwischen den langen Regalreihen hindurch, ohne sich umzusehen, ob wir anderen auch wirklich folgten.
Wir sammelten unsere Sachen ein, hasteten begleitet von Attilas finsteren Drohungen davon und fanden Daniel und Rafe im Foyer. Daniel ließ die Autoschlüssel an einem Finger baumeln, Rafe lehnte schief an einer Säule und schmollte. »Gut gemacht«, sagte Abby zu Rafe. »Ehrlich. Das war super.« 929
»Lass mich in Ruhe.« »Aber was machen wir denn jetzt?«, wollte Justin von Daniel wissen. Er schleppte Daniels Sachen und seine eigenen, und er sah besorgt und überlastet aus. »Wir können doch nicht einfach gehen.« »Warum nicht?« Ein kurzes verblüfftes Schweigen trat ein. Unser Tagesablauf war uns völlig in Fleisch und Blut übergegangen, und ich glaube, keiner von uns hatte daran gedacht, dass er ja kein Naturgesetz war, dass wir ihn auch durchbrechen konnten, wenn wir wollten. »Und was machen wir stattdessen?«, fragte ich. Daniel warf seine Autoschlüssel in die Luft und fing sie wieder auf. »Wir fahren nach Hause und streichen das Wohnzimmer«, sagte er. »Wir haben schon viel zu viel Zeit in dieser Bibliothek verbracht. Ein bisschen Werkeln am Haus wird uns allen guttun.«
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Für jeden Außenstehenden hätte das ziemlich merkwürdig geklungen – ich konnte Frank förmlich hören:Donnerlittchen, die vier leben ja echt wild und gefährlich. Kannst du da auf der Überholspur überhaupt noch mithalten? Aber alle nickten, nach einem Moment sogar Rafe. Ich hatte bereits erkannt, dass das Haus ihr sicherer Hafen war: Immer wenn sich Anspannung bemerkbar machte, lenkte einer von ihnen das Gespräch auf irgendetwas, das repariert oder umgeräumt werden musste, und prompt beruhigten sich alle wieder. Wir würden ernsthaft Probleme kriegen, wenn das Haus irgendwann ganz fertig war und wir Spachtelmasse und Holzbeize nicht mehr als Friedensstifter einsetzen konnten. Und es klappte. Alte Laken über Möbel gebreitet und kalte, helle Luft, die durch offene Fenster strömte, verdreckte Klamotten und harte Arbeit und der Geruch nach Farbe, Ragtime als Hintergrundmusik, die klammheimliche Freude, die Uni zu schwänzen, und das Haus, das sich wie eine zu931
friedene Katze unter all der Aufmerksamkeit rekelte: Genau das hatten wir gebraucht. Als wir mit dem Raum fertig waren, sah Rafe eher kleinlaut als streitlustig aus, Abby und Justin waren entspannt genug, um eine lange friedliche Diskussion darüber zu führen, ob Scott Joplin grottenschlecht war, und unser aller Stimmung hatte sich erheblich aufgehellt. »Ich darf zuerst unter die Dusche«, sagte ich. »Lass Rafe den Vortritt«, sagte Abby. »Immer der, der’s am nötigsten hat.« Rafe streckte ihr die Zunge raus. Wir lagen ausgestreckt auf den Abdecklaken, bewunderten unsere Arbeit und versuchten, die Energie aufzubringen, uns von der Stelle zu bewegen. »Wenn alles getrocknet ist«, sagte Daniel, »müssen wir entscheiden, ob wir was an die Wände hängen, und wenn ja, was.« »Ich hab oben in einem der Gästezimmer so richtig alte Blechschilder gesehen«, sagte Abby.
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»Ich wohne nicht in einem Achtziger-Pub«, sagte Rafe. Er war inzwischen nüchtern, oder aber wir anderen waren von den Farbdämpfen so high, dass wir das glaubten. »Gibt’s keine Gemälde oder irgendwas Normales?« »Die noch da sind, sind alle scheußlich«, sagte Daniel. Er lehnte mit dem Rücken an der Sofakante, weiße Farbspritzer im Haar und auf seinem alten karierten Hemd, und sah so glücklich und entspannt aus, wie ich ihn seit Tagen nicht mehr erlebt hatte. »›Landschaft mit röhrendem Hirsch‹ und so, und noch nicht mal besonders gut gemacht. Irgendeine Urgroßtante mit künstlerischen Ambitionen, glaub ich.« »Du hast kein Herz«, sagte Abby zu ihm. »Dinge mit sentimentalem Wert dürfen nicht auch noch einen künstlerischen Wert haben. Sie müssen schauerlich sein. Ansonsten ist es reine Angeberei.« »Wir könnten die alten Zeitungen nehmen«, sagte ich. Ich lag flach auf dem Rücken mitten im 933
Raum und reckte die Beine in die Luft, um die frischen Farbspritzer auf Lexies Blaumann zu inspizieren. »Die ganz alten, mit dem Artikel über die Dionne-Fünflinge und mit der Anzeige für das Zeug, von dem man zunimmt. Wir könnten sie auf die Wände verteilen und dann versiegeln, wie die Fotos an Justins Tür.« »Die sind in meinem Schlafzimmer«, sagte Justin. »Ein Wohnzimmer sollte Eleganz haben. Würde. Keine Anzeigen.« »Wisst ihr was?«, sagte Rafe aus heiterem Himmel und stützte sich auf einen Ellbogen. »Ich muss mich bei euch entschuldigen. Ich hätte nicht einfach so verschwinden sollen, ohne euch Bescheid zu sagen. Meine einzige Entschuldigung, und das ist keine besonders gute, ist die, dass ich stinksauer war, weil dieser Kerl ungestraft davonkommt. Es tut mir leid.« Er zeigte sich von seiner charmantesten Seite, und Rafe konnte richtig charmant sein, wenn er wollte. Daniel nickte ihm kurz und ernst zu. »Du 934
bist ein Idiot«, sagte er, »aber wir lieben dich trotzdem.« »Du bist ganz in Ordnung«, sagte Abby, während sie sich nach ihren Zigaretten auf dem Kartentisch reckte. »Ich find’s auch nicht besonders toll, dass der Kerl wieder frei rumläuft.« »Wisst ihr, was ich mich frage?«, sagte Rafe. »Ich frage mich, ob Ned ihn angeheuert hat, um uns zu verjagen.« Einen Moment lang herrschte absolute Stille, Abbys Hand verharrte mit der Zigarette halb aus der Packung, Justin, der sich gerade aufsetzen wollte, erstarrte mitten in der Bewegung. Daniel schnaubte. »Ich bezweifle ernsthaft, dass Ned die Intelligenz für etwas so Komplexes besitzt«, sagte er spitzzüngig. Ich hatte schon den Mund geöffnet, um zu fragen: Wer ist Ned?, ihn aber schnell wieder geschlossen. Nicht bloß, weil ich das natürlich hätte wissen müssen, sondern weil ich es wusste. Ich hätte mich in den Hintern beißen können, dass ich 935
nicht schon früher darauf gekommen war. Frank erfindet immer irgendwelche Spitznamen für Leute, die er nicht leiden kann – Danny-Boy, unser Sammy –, und ich Vollidiotin war gar nicht auf die Idee gekommen, dass er falsch getippt haben könnte. Sie sprachen über den doofen Eddie. Der doofe Eddie, der nachts über die Feldwege gestreift war und nach jemandem gesucht hatte, Eddie, der behauptet hatte, Lexie nie begegnet zu sein, war N. Ich war sicher, dass Frank mein Herzklopfen über das Mikro hören konnte. »Wahrscheinlich nicht«, sagte Rafe, stützte sich auf beide Ellbogen und betrachtete die Wände. »Wenn wir hier alles fertig haben, sollten wir ihn zum Essen einladen.« »Nur über meine Leiche«, sagte Abby. Ihre Stimme klang gepresst. »Du musstest dich nicht mit ihm rumschlagen. Wir schon.« »Und über meine«, sagte Justin. »Der Mann ist ein Banause. Den ganzen Abend hat er Heineken getrunken, klar, und dann hat er immer wieder ge936
rülpst und fand das natürlich zum Schreien komisch, jedes Mal. Und dann das ganze Gelaber über Einbauküchen und Steuerersparnisse und Förderungsmaßnahmen. Einmal hat gereicht, vielen herzlichen Dank.« »Ihr seid gefühllos«, erklärte Rafe. »Ned liebt dieses Haus. Das hat er doch auch dem Richter erzählt. Ich finde, wir sollten ihm die Gelegenheit geben, sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass der alte Familiensitz in guten Händen ist. Gib mal die Zigaretten rüber.« »Das Einzige, was Ned liebt«, sagte Daniel sehr schneidend, »ist die Vorstellung von sechs mit allem Zipp und Zapp ausgestatteten ›Luxuswohnungen in weitläufiger Umlage mit dem Potential zur weiteren Erschließung‹. Und die Chance, das je zu realisieren, kriegt er nur über meine Leiche.« Justin machte eine jähe, ruckartige Bewegung, die er überspielte, indem er nach dem Aschenbecher griff und ihn zu Abby rüberschob. Eine aufgeladene, angespannte Stille trat ein. Abby zünde937
te ihre Zigarette an, löschte das Streichholz und warf Rafe die Packung zu, der sie mit einer Hand auffing. Keiner sah den anderen an. Eine Hummel kam durchs Fenster hereingebrummt, schwebte kurz in einem Sonnenstreifen über dem Klavier und taumelte schließlich wieder nach draußen. Ich wollte etwas sagen – es war schließlich mein Part, Momente wie diesen zu entschärfen –, aber ich wusste, dass wir in irgendeinen heimtückischen und komplizierten Sumpf geraten waren, wo ein Fehltritt mich in große Schwierigkeiten bringen könnte. Ned hörte sich mehr und mehr nach einem echten Kotzbrocken an, doch das, was ich jetzt und hier spürte, war sehr viel weitreichender und dunkler. Abby beobachtete mich mit kühlen, forschenden Augen über ihre Zigarette hinweg. Ich warf ihr einen gequälten Blick zu, was mir nicht schwerfiel. Nach einem Moment griff sie nach dem Aschenbecher und sagte: »Wenn wir nichts Passendes für die Wände haben, könnten wir doch 938
was anderes ausprobieren. Rafe, wenn wir Fotos von alten Wandgemälden fänden, meinst du, so was würdest du hinkriegen?« Rafe zuckte die Achseln. Ein erster Anflug des streitlustigen Schiebt-mir-nicht-die-Schuld-in-dieSchuhe-Blicks schlich sich wieder in sein Gesicht. Die dunkle Gewitterwolke hatte sich wieder über den Raum gesenkt. Schweigen kam mir gerade recht. Meine Gedanken überschlugen sich – nicht bloß weil Lexie sich aus irgendeinem Grund mit dem Erzfeind eingelassen hatte, sondern auch weil das Thema Ned ganz offensichtlich tabu war. In den letzten drei Wochen war sein Name kein einziges Mal gefallen, bei seiner ersten Erwähnung drehten alle durch, und ich konnte mir einfach nicht erklären, wieso. Schließlich hatte er doch verloren. Das Haus gehörte Daniel, sowohl Onkel Simon als auch ein Richter hatten das verfügt, also hätte Ned höchstens ein Lachen und ein paar hämische Kommentare auslösen sollen. Ich hätte ein mit939
telgroßes Organ hergegeben, um dahinterzukommen, was zum Henker hier los war, aber ich würde den Teufel tun, danach zu fragen.
Wie sich herausstellte, musste ich das auch nicht. Franks Gedanken – und eigentlich fand ich diese Vorstellung irritierend – hatten sich parallel zu meinen bewegt, parallel und schnell. Ich brach so früh wie möglich zu meinem Spaziergang auf. Die Wolke hatte sich nicht aufgelöst. Wenn überhaupt, war sie dicker geworden, schob sich von Wänden und Decken immer näher heran. Das Abendessen war eine Qual gewesen. Justin und Abby und ich hatten unser Bestes getan, ein Gespräch in Gang zu halten, aber Rafe war in einer vorwurfsvoll düsteren Stimmung versunken, die man förmlich sehen konnte, und Daniel hatte sich in sich selbst zurückgezogen und gab nur einsilbige Antworten. Ich musste raus aus dem Haus und nachdenken. 940
Lexie hatte sich mindestens dreimal mit Ned getroffen, und sie hatte dafür viel Mühe auf sich genommen. Die vier klassischen Motive: Lust, Habgier, Hass und Liebe. Die Möglichkeit, dass es Lust gewesen sein könnte, löste bei mir einen Würgereflex aus. Je mehr ich über Ned erfuhr, desto mehr wollte ich glauben, dass Lexie ihn nicht mal mit der Kneifzange angefasst hätte. Aber Habgier … Sie hatte Geld gebraucht, schnell, und ein reicher Typ wie Ned wäre ein wesentlich zahlungskräftigerer Käufer gewesen als John Naylor mit seinem mickrigen Landarbeiterlohn. Falls sie sich mit Ned getroffen hatte, um zu besprechen, welche Sachen er aus Whitethorn House haben wollte, wie viel er bereit war zu zahlen, und dann war irgendwas schiefgelaufen … Es war eine sehr seltsame Nacht: riesig und dunkel und stürmisch, Windböen, die über die Felder tosten, eine Million hoher Sterne und kein Mond. Ich schob den Revolver zurück in den Hüfthalter, kletterte auf meinen Baum und hockte eine 941
ganze Weile da oben, beobachtete das schattenhafte dunkle Wogen der Büsche unter mir, lauschte angestrengt auf irgendwelche schwachen Laute, die nicht hierhergehörten. Dachte daran, Sam anzurufen. Letzten Endes rief ich Frank an. »Naylor ist noch nicht wieder aufgetaucht«, sagte er grußlos. »Passt du auch gut auf?« »Ja«, sagte ich. »Keine Spur von ihm.« »Gut, gut.« Seine Stimme hatte einen abgelenkten Beiklang, der mir verriet, dass auch er an etwas anderes dachte als an Naylor. »Schön. In der Zwischenzeit hab ich was, das dich interessieren könnte. Deine neuen Busenfreunde haben doch heute Nachmittag so nett über Vetter Eddie und seine Luxuswohnungen hergezogen.« Ein Ruck fuhr durch meinen Körper, weckte alle Muskeln, bis mir wieder einfiel, dass Frank ja nichts von N wusste. »Allerdings«, sagte ich. »Vetter Eddie scheint das reinste Juwel zu sein.«
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»Allerdings. Ein lupenreiner, hirntoter YuppieArsch, der in seinem Leben noch keinen Gedanken gefasst hat, der nicht entweder mit seinem Schwanz oder seiner Brieftasche zu tun hat.« »Meinst du, Rafe liegt richtig damit, dass er Naylor angeheuert hat?« »Niemals. Eddie verkehrt nicht mit dem gemeinen Volk. Du hättest sein Gesicht sehen sollen, als er meinen Dubliner Einschlag gehört hat. Ich glaube, er hatte Angst, ich würde ihn ausrauben. Aber heute Nachmittag ist mir was eingefallen. Weißt du noch, dass du gesagt hast, die Fantastischen Vier wären irgendwie komisch, was das Haus angeht? So stark daran gebunden?« »Ach so«, sagte ich, »ja.« Ehrlich gesagt, ich hatte es beinahe vergessen. »Ich glaub, da hab ich übertrieben. Wenn man so viel Arbeit in ein Haus steckt, dann wird es einem immer wichtiger. Und es ist ein schönes Haus.« »Oh ja, das ist es«, sagte Frank. In seinem Tonfall lag etwas, das meine Alarmglocken sacht in 943
Bewegung setzte, ein breites, süffisantes Grinsen. »Kann man wohl sagen. Ich hab mich heute gelangweilt – Naylor ist noch immer untergetaucht, und ich komm bei Lexie-May-Ruth-GroßfürstinAnastasia-Dingsbums einfach nicht weiter. Bis jetzt hab ich in vierzehn Ländern Nieten gezogen, und allmählich halte ich es für möglich, dass sie 1997 von verrückten Wissenschaftlern im Labor gezüchtet worden ist. Also hab ich, nur um meiner guten alten Cassie zu beweisen, dass ich ihren Instinkten traue, einen Kumpel von mir angerufen, der im Grundbuchamt arbeitet, und hab ihn um Informationen zu Whitethorn House gebeten. Wer hat dich lieb, Kleines?« »Du«, sagte ich. Frank hatte schon immer ein imposantes Spektrum von Freunden an den unwahrscheinlichsten Stellen: mein Kumpel unten an den Docks, mein Kumpel im Stadtrat, mein Kumpel mit dem SM-Laden. Damals, als wir diese ganze Lexie-Madison-Geschichte aus der Taufe gehoben hatten, sorgte Mein Kumpel vom Stande944
samt dafür, dass ich offiziell eingetragen wurde, nur für den Fall, dass irgendwer misstrauisch geworden wäre und angefangen hätte herumzuschnüffeln. Derweil half mir Mein Kumpel mit dem Lieferwagen, in Lexies Studentenbude einzuziehen. Ich will gar nicht wissen, was für ein kompliziertes Eine-Hand-wäscht-die-andereSystem dahintersteckt. »Das solltest du auch, nach alldem hier. Und?« »Und du hast auch gesagt, alle tun so, als würde ihnen das Haus gehören, weißt du noch?« »Ja. Kann sein.« »Dein Instinkt hat den Hauptgewinn gezogen, Kleines. Es ist tatsächlich ihr Haus. Und deins übrigens auch.« »Drück dich endlich klar aus, Frank«, sagte ich. Mein Herz pochte laut und langsam, und ein seltsamer dunkler Schauer lief durch die Hecken: Irgendetwas bahnte sich an. »Worum geht’s?« »Das Testament vom alten Simon wurde vollstreckt, und Daniel wurde am zehnten Sep945
tember Besitzer des Hauses. Am fünfzehnten Dezember wurde das Haus auf insgesamt fünf Namen überschrieben: Raphael Hyland, Alexandra Madison, Justin Mannering, Daniel March und Abigail Stone. Frohe Weihnachten.« Zuallererst schockierte mich der pure flammende Mut: Wie viel leidenschaftliches Vertrauen musst du haben, um deine Zukunft so total deinen Hoffnungen anzuvertrauen, keine halben Sachen, sie zu nehmen und so bewusst, so vorbehaltlos in die Hände der Menschen zu legen, die du liebst. Ich dachte an Daniel am Tisch, breitschultrig und gediegen in seinem frischen weißen Hemd, das präzise Beugen des Handgelenks, wenn er eine Seite umblätterte. An Abby, im Bademantel, wie sie Speckstreifen in der Pfanne wendete, Justin, der grottenfalsch vor sich hin sang, während er sich bettfertig machte, Rafe, ausgestreckt auf dem Rasen, in die Sonne blinzelnd. Und die ganze Zeit, unter alldem, das. Ich hatte sie schon zuvor in gewissen Augenblicken beneidet, aber das hier war 946
zu tief für Neid; das hier verdiente beinahe Ehrfurcht. Dann begriff ich. N, Flugpreise, Nur über meine Leiche kriegt Ned eine Chance. Und ich hatte mich mit Spieldosen und Bleisoldaten abgegeben und überlegt, wie viel ein normales Familienfotoalbum wohl einbringen mochte, hatte geglaubt, diesmal hätte sie nichts zu verkaufen gehabt. Falls sie mit Ned verhandelt hatte und die anderen dahintergekommen waren: heilige Scheiße. Kein Wunder, dass sein Name den Raum zu Eis hatte gefrieren lassen, an jenem Nachmittag. Ich bekam keine Luft mehr. Frank redete noch immer. Ich hörte ihn gehen, im Raum hin und her tigern, schnelle Schritte. »Der Papierkram für so was dauert Monate. Danny-Boy muss das praktisch an dem Tag angeleiert haben, als er die Schlüssel bekam. Ich weiß, du magst diese Leute, Cassie, aber du kannst mir nicht erzählen, dass sie nicht verdammt seltsam sind. Das Haus ist locker ein paar Millionen wert. 947
Was zum Teufel denkt er sich? Dass sie alle zusammen bis ans Ende ihrer Tage da leben wie eine glückliche Hippiekommune? Weißt du was, die Frage ist nicht, was er sich denkt, die Frage ist, was zum Teufel der Kerl raucht?« Er nahm es persönlich, weil er es übersehen hatte: Die ganze intensive Ermittlungsarbeit, und dann schaffen es diese bürgerlichen Studentenspießer irgendwie, ihm so etwas vorzuenthalten. »Ja«, sagte ich sehr zurückhaltend, »das ist seltsam. Sie sind seltsam, Frank. Und ja, irgendwann wird es schwierig werden, zum Beispiel, wenn einer heiraten will oder so. Aber, wie du selbst gesagt hast, sie sind jung. Sie denken noch nicht in solchen Kategorien.« »Nun ja, wenigstens der kleine Justin wird sobald nicht heiraten, jedenfalls nicht ohne eine größere Gesetzesänderung –« »Red nicht so’n Schwachsinn, Frank. Und überhaupt, wieso ist das so wichtig?« Es musste nicht bedeuten, dass es einer von den vieren gewe948
sen war, nicht unbedingt. Die Beweislage ließ noch immer vermuten, dass Lexie von jemandem erstochen worden war, den sie außerhalb des Hauses getroffen hatte. Es bedeutete auch nicht, dass sie tatsächlich verkaufen wollte. Falls sie mit Ned eine Absprache getroffen und es sich dann anders überlegt hatte, ihm gesagt hatte, dass sie aussteigt. Falls sie die ganze Zeit nur mit ihm gespielt hatte – Hass –, ihn gereizt hatte, aus Rache, weil er versucht hatte, sich das Haus unter den Nagel zu reißen … Er war so scharf auf Whitethorn House gewesen, dass er das Andenken seines Großvaters beschmutzt hatte. Was hätte er wohl getan, wenn Lexie ihm mit einem Anteil an dem Haus vor der Nase herumgewedelt und, ehe er zugreifen konnte, einen Rückzieher gemacht hätte? Ich versuchte, nicht an den Terminkalender zu denken: an die Daten, das erste N nur wenige Tage nach dem fehlenden Kringel; die Schrift so druckvoll, dass der Stift fast durchs Papier stieß, Anzeichen dafür, dass es ihr ernst war. 949
»Nun«, sagte Frank mit diesem trägen Klang in der Stimme, der verrät, dass er besonders gefährlich ist. »Wenn du mich fragst, hätten wir damit das Motiv, nach dem wir gesucht haben. Ich finde, das ist verdammt wichtig.« »Nein«, sagte ich prompt, vielleicht zu prompt, aber Frank sagte nichts dazu. »Absolut nicht. Wo soll denn da das Motiv sein? Falls sie alle verkaufen wollten und sie sich quergestellt hat, dann vielleicht, aber die vier würden sich lieber eigenhändig ohne Betäubung sämtliche Zähne ausreißen, als dieses Haus zu verkaufen. Was hätten sie davon gehabt, sie umzubringen?« »Wenn einer von ihnen stirbt, fällt sein – oder ihr – Anteil an die anderen vier. Vielleicht hat sich da jemand gedacht, ein Viertel von diesem hübschen großen Haus wäre noch netter als ein Fünftel. Danny-Boy ist damit mehr oder weniger aus dem Schneider – falls er das ganze Haus hätte haben wollen, hätte er es ja einfach behalten können. Bleiben die anderen drei kleinen Negerlein.« 950
Ich rutschte auf meinem Ast herum. Ich war heilfroh, dass Frank auf dem falschen Dampfer war, aber andererseits machte es mich sauer, wie wenig er kapierte. »Wozu denn? Ich hab doch schon gesagt, sie wollen es nicht verkaufen. Sie wollen drin leben. Und dafür spielt es keine Rolle, wie groß der Anteil des Einzelnen ist. Denkst du, einer von ihnen hat sie umgebracht, weil er ihr Zimmer schöner fand als sein eigenes?« »Oder ihr eigenes. Abby ist eine nette Person, aber ich schließe sie nicht aus. Vielleicht ging es zur Abwechslung ja auch mal nicht um Geld. Vielleicht hat Lexie einfach nur jemanden bis aufs Blut gereizt. Leute wohnen zusammen, Leute gehen sich gegenseitig auf den Senkel. Und vergiss nicht, durchaus möglich, dass sie mit einem der Burschen in der Kiste war, und wir wissen doch alle, wie kompliziert so was werden kann. Wenn man zur Miete wohnt, keine große Sache: ein bisschen Rumbrüllerei, ein paar Tränchen, eine Hausversammlung, zack, einer zieht aus. Aber 951
was, wenn es eine Mitbesitzerin ist? Sie können sie nicht rausschmeißen, ich glaube kaum, dass einer von ihnen das Geld hat, sie auszuzahlen –« »Klar«, sagte ich, »bloß, ich hab bisher nicht mal auch nur den Hauch irgendeiner gegen mich gerichteten Spannung gewittert. Rafe war zu Anfang sauer auf mich, weil ich nicht begriffen hab, wie erschüttert sie alle waren, aber mehr auch nicht. Falls Lexie bei irgendwem eine im wahrsten Sinne des Wortes mörderische Wut ausgelöst hätte, dann wär mir das nicht entgangen, ausgeschlossen. Diese Leute mögen sich, Frank. Das mag ja seltsam sein, aber sie sind gern zusammen seltsam.« »Warum haben sie dann nicht erzählt, dass ihnen das Haus gemeinsam gehört? Warum diese gottverdammte Geheimnistuerei, wenn sie nichts zu verbergen haben?« »Sie haben es nicht erzählt, weil du nicht danach gefragt hast. Wenn du an ihrer Stelle wärst, selbst wenn du unschuldig wie ein Baby wärst, 952
würdest du den Cops irgendwas ungefragt erzählen?« »Weißt du, wie du redest?«, sagte Frank nach einer Pause. Er war jetzt stehen geblieben. »Du redest wie ein Verteidiger vor Gericht.« Ich drehte mich wieder in die andere Richtung, hob die Füße und stemmte sie gegen einen anderen Ast. Es fiel mir schwer, still zu sitzen. »Ach, komm schon, Frank. Ich rede wie ein Detective. Und du redest, als hättest du eine fixe Idee. Wenn du die vier nicht leiden kannst, meinetwegen. Wenn bei ihnen deine Antennen ausfahren, von mir aus. Aber damit ist noch lange nicht jedes Fitzelchen, das du findest, gleich der Beweis dafür, dass sie eiskalte Killer sind.« »Ich finde nicht, dass ausgerechnet du meine Objektivität in Frage stellen solltest«, sagte Frank. Seine Stimme hatte wieder diesen trägen, schleppenden Tonfall angenommen, wodurch sich mein Rücken am Baumstamm verkrampfte. »Was zum Teufel soll das heißen?« 953
»Das heißt, dass ich die Perspektive von außen habe, während du bis zum Hals mittendrinsteckst, und das solltest du bitte schön nicht vergessen. Außerdem heißt es, ›Och, die sind bloß so niedlich exzentrisch‹ kann nur begrenzt als Entschuldigung dafür herhalten, sich regelrecht behämmert aufzuführen.« »Was soll das jetzt, Frank? Du hast sie von Anfang an ausgeschlossen, noch vor zwei Tagen hattest du dich auf Naylor eingeschossen –« »Und daran hat sich auch nichts geändert, wie du sehen wirst, sobald wir den kleinen Scheißer wiederhaben. Aber ich bewahre mir gern einen offenen Blick. Ich streiche bestimmt niemanden von der Liste, solange er nicht hundertprozentig ausgeschlossen werden kann. Und das gilt nicht für diese vier. Vergiss das nicht.« Es war allerhöchste Zeit für mich nachzugeben. »In Ordnung«, sagte ich. »Bis Naylor wieder auftaucht, konzentrier ich mich auf sie.«
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»Mach das. Ich werde das auch tun. Und sei weiter vorsichtig, Cassie. Nicht bloß außerhalb des Hauses, auch drinnen. Bis morgen.« Und weg war er. Das vierte klassische Motiv: Liebe. Plötzlich musste ich an die Handyclips denken: ein Picknick auf Bray Head im letzten Sommer, alle fünf auf einer Wiese, Wein aus Plastikbechern, Erdbeeren und eine entspannte Diskussion darüber, ob Elvis überbewertet ist. Daniel hatte einen langen selbstvergessenen Monolog über den soziokulturellen Kontext vom Stapel gelassen, bis Rafe und Lexie meinten, alles sei überbewertet außer Elvis und Schokolade, und anfingen, ihn mit Erdbeeren zu bewerfen. Sie hatten die Handykamera rumgereicht: Die Aufnahmen waren unzusammenhängend und verwackelt. Lexie mit dem Kopf in Justins Schoß, während er ihr ein Gänseblümchen hinters Ohr schiebt; Lexie und Abby Rücken an Rücken gelehnt, mit Blick aufs Meer, windzerzauste Haare, Schultern, die sich im gleichen 955
Atemrhythmus heben; Lexie, die hoch in Daniels Gesicht lacht, während sie ihm einen Marienkäfer aus den Haaren fischt, den sie dann hochhält, Daniels Kopf über ihre Hand gebeugt, lächelnd. Ich hatte das Video so oft gesehen, dass es sich anfühlte wie meine eigene Erinnerung, flackernd und süß. An diesem Tag waren sie glücklich gewesen, alle fünf. Da war Liebe gewesen. Sie hatte so greifbar und einfach gewirkt wie Brot, real. Und wir lebten real darin, ein warmes Element, durch das wir uns entspannt bewegten und das wir mit jedem Atemzug inhalierten. Aber Lexie war bereit und gewillt gewesen, das alles in tausend Stücke zu zerschlagen. Nicht bloß gewillt, wild entschlossen – diese wütende Schrift in dem Terminkalender, während der Handyclip sie zeigte, wie sie lachend und staubbedeckt vom Dachboden heruntergestiegen kommt. Hätte sie ein paar Wochen länger gelebt, hätten die anderen eines Morgens nach dem Aufstehen festgestellt, dass sie weg war, ohne Nach956
richt, ohne Abschied, ohne nachzudenken. Irgendwo im Hinterkopf kam mir der Gedanke, dass Lexie Madison unter dieser strahlenden Oberfläche gefährlich gewesen war und es vielleicht immer noch war.
Ich glitt von meinem Ast, baumelte an den Händen, ließ los und landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Weg. Ich stopfte die Hände in die Taschen und ging los – Bewegung hilft mir beim Denken. Der Wind zerrte an meiner Mütze und stieß mir ins Kreuz, hob mich fast von den Beinen. Ich musste mit Ned reden, und zwar schnell. Lexie hatte es versäumt, mir Instruktionen zu hinterlassen, wie die beiden Kontakt zueinander aufnahmen. Jedenfalls nicht übers Handy: Sam hatte als Erstes ihre Telefonverbindungen überprüft und keine unbekannten Nummern gefunden, die sie angerufen hatte oder von denen sie angerufen
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worden war. Brieftauben? Zettelchen in hohlen Bäumen? Rauchsignale? Mir blieb nicht viel Zeit. Frank hatte keine Ahnung, dass Lexie sich je mit Ned getroffen hatte, und keine Ahnung, dass sie Vorbereitungen getroffen hatte zu verschwinden – ich hatte gewusst, dass es irgendwann einen guten Grund geben würde, warum ich ihm diesen Terminkalender verschwiegen hatte. Genau wie er selbst immer sagt: Der Instinkt arbeitet schneller als der Verstand. Aber er würde die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Er würde sich darin verbeißen wie ein Pitbull, und früher oder später würde er auf dieselbe Möglichkeit kommen. Ich wusste nicht viel über Ned, aber doch genug, um einigermaßen sicher zu sein, dass er, sollte er in einem Vernehmungszimmer landen und Frank ihn sich vorknöpfen, binnen fünf Minuten singen würde wie ein Vögelchen. Ich kam gar nicht auf die Idee, nicht für eine Sekunde, einfach abzuwarten und das geschehen zu lassen. Was auch immer zwischen Le958
xie und ihm vorgegangen war, ich musste es herausfinden, ehe Frank dahinterkam. Wenn ich mich mit Ned verabreden wollte, ohne Gefahr zu laufen, dass die anderen es merkten, wie würde ich das anstellen? Nicht übers Telefon. Handys zeichnen Nummern auf, und die Rechnungen weisen die einzelnen Gespräche aus, so etwas hätte sie nicht im Haus haben wollen, und Whitethorn House hatte keinen Festnetzanschluss. Es gab keine Münztelefone in der Nähe, und die in der Uni waren zu riskant: In einer vorgetäuschten Pinkelpause konnte sie es höchstens bis zu einem Apparat in der Philosophischen Fakultät schaffen, und wenn einer von den anderen zufällig im falschen Moment vorbeikam, wäre sie aufgeflogen – aber so ein Wagnis wäre sie nicht eingegangen, dazu war die Sache zu wichtig. Sie hatte ihn auch nicht einfach aufsuchen können. Laut Frank wohnte Ned in Bray und arbeitete in Killiney. Den Hin- und Rückweg hätte sie unmöglich geschafft, ohne dass 959
die anderen sie vermisst hätten. Und Briefe oder E-Mails waren ausgeschlossen; sie hätte nie und nimmer eine Spur hinterlassen. »Verdammt, wie hast du’s angestellt?«, sagte ich leise in die Luft. Ich spürte sie wie ein Schimmern über meinem Schatten auf dem Feldweg, die Neigung ihres Kinns und das spöttische schiefe Blitzen ihrer Augen:Verrat ich nicht. Irgendwann im Laufe der Zeit hatte ich aufgehört wahrzunehmen, wie nahtlos diese fünf Leben doch miteinander verwoben waren. Zusammen zur Uni, den ganzen Tag gemeinsam in der Bibliothek, mittags Zigarettenpause mit Abby und um vier mit Rafe, um eins gemeinsam in die Mensa, zusammen nach Hause und Abendessen: Der Ablauf war so präzise und straff choreographiert wie eine Gavotte, nie eine unausgefüllte Minute und nie eine Minute für mich allein, außer – Außer jetzt. Eine Stunde am Abend löste ich mein Leben wie ein verzaubertes Mädchen im Märchen aus dem der anderen, und es gehörte 960
wieder ganz mir allein. Wenn ich Lexie wäre, wenn ich jemanden kontaktieren wollte, den ich nicht kontaktieren sollte, hätte ich meine nächtlichen Spaziergänge dazu genutzt. Nicht hätte: hatte. Seit Wochen nutzte ich sie, um Frank anzurufen, Sam anzurufen, meine Geheimnisse zu bewahren. Ein Fuchs huschte vor mir über den Weg und verschwand in der Hecke, Knochen und leuchtende Augen, und ein Frösteln lief mir über den Rücken. Da hatte ich geglaubt, das hier wäre mein ureigener brillanter Einfall gewesen, dass ich Schritt für Schritt und hellwach meinen eigenen Weg durch die Dunkelheit ging. Und erst jetzt, als ich mich umdrehte und zurückschaute, wurde mir klar, dass ich munter und blindlings meine Füße haargenau in Lexies Fußspuren gesetzt hatte, die ganze Zeit. »Na und?«, sagte ich laut, wie eine Kampfansage. »Was soll’s?« Frank hatte mich schließlich dafür hergeschickt, ich sollte mich dem Opfer annähern, in Lexies Leben schlüpfen, und – bitte sehr – 961
genau das tat ich. Ein gewisser Gruselfaktor war dabei nicht nur nebensächlich, sondern gehörte praktisch im Laufe einer Mordermittlung dazu. So etwas ist nun mal keine Lachnummer. Ich hatte mich einlullen lassen, all die schönen Dinner bei Kerzenlicht und die Bastelstunden, und als die Wirklichkeit sich wieder zu Wort meldete, wurde ich nervös. Eine Stunde, um Ned zu erreichen. Wie? Zettelchen in hohlen Bäumen … Ich hätte fast laut aufgelacht. Berufskrankheit: Da überlegst du dir die ausgefallensten Möglichkeiten und kommst erst nach einer Ewigkeit auf die nächstliegende. Je höher der Einsatz, hat Frank mir mal erklärt, desto primitiver die Methoden. Wenn du einen Kumpel zum Kaffee treffen willst, kannst du es dir leisten, dich mit ihm per SMS oder E-Mail zu verabreden. Wenn du aber denkst, dass die Polizei oder die Mafia oder die Illuminati hinter dir her sind, dann gibst du deiner Kontaktperson mit einem blauen Handtuch auf der Wäscheleine ein Zeichen. Für 962
Lexie, der die Zeit davonlief, während ihr bereits die morgendliche Schwangerschaftsübelkeit zu schaffen machte, musste es gleichsam um Leben und Tod gegangen sein. Ned wohnte in Bray, nur fünfzehn Autominuten entfernt. Wahrscheinlich hatte sie es doch riskiert, ihn von der Uni aus anzurufen, beim ersten Mal. Danach brauchte sie bloß einen toten Briefkasten, irgendwo auf diesen Wegen, den sie beide alle paar Tage kontrollieren konnten. Ich musste Dutzende Male daran vorbeispaziert sein. Wieder dieses Schimmern, am Rande meines Gesichtsfelds: ein verschmitztes Grinsen, da und trügerisch, und dann weg. In dem Cottage? Die Leute von der Spurensicherung hatten sich daraufgestürzt wie Fliegen auf einen Misthaufen, hatten jeden Zentimeter nach Fingerabdrücken abgesucht und nichts gefunden. Und Ned hatte nicht in der Nähe des Cottages geparkt, in der Nacht, als ich ihm gefolgt war. Selbst wenn man einkalkulierte, dass er sich tunlichst hü963
tete, mit seinem fetten Schlitten über Feldwege zu fahren, für die das Monster ja eigentlich gebaut worden war, so hätte er doch so nah wie möglich an dem toten Briefkasten geparkt. Er war auf der Landstraße nach Rathowen gewesen, weit weg von irgendeiner Abzweigung. Breite Randstreifen, hohes Gras und Gestrüpp, die dunkle Straße, die hinter der Hügelkuppe verschwand, und der Meilenstein, verwittert und schief wie ein kleines Grabmal. Ich merkte kaum, dass ich auf dem Absatz kehrtgemacht hatte und losgerannt war. Die anderen würden mich jeden Moment zurückerwarten, und wenn sie anfingen, sich Sorgen zu machen, würden sie noch auf die Idee kommen, nach mir zu suchen, aber das hier konnte nicht bis morgen Abend warten. Ich hatte keine hypothetische, grenzenlos dehnbare Frist mehr; mein Wettlauf gegen Franks Verstand und gegen Lexies hatte begonnen.
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Nach den schmalen Feldwegen kam mir der Randstreifen sehr breit und kahl und ungeschützt vor, aber die Straße war verlassen, aus beiden Richtungen keine nahenden Scheinwerferkegel. Als ich meine Taschenlampe herauszog, sprangen mich die Buchstaben auf dem Stein förmlich an, von Zeit und Wetter verwischt, warfen ihre eigenen verzerrten Schatten: Glenskehy 1828. Das Gras um ihn herum wirbelte und bog sich in dem starken Wind mit einem Geräusch wie ein langes zischendes Atmen. Ich klemmte die Taschenlampe unter den Arm und teilte das Gras mit beiden Händen. Es war nass und scharfkantig und leicht gezahnt und schien an meinen Fingern zu ziehen. Am Fuß des Steins funkelte etwas Rotes. Einen kurzen Moment lang konnte mein Verstand nicht erfassen, was ich da sah. Tief im Gras versunken, leuchteten Farben so strahlend wie Juwelen, und winzige Gestalten huschten vor dem Lichtschein davon: glänzende Pferdeflanke, flat965
ternder roter Reitrock, wirbelnde gepuderte Locken und ein Hund, der den Kopf herumriss, während er in Deckung sprang. Dann berührte meine Hand nasses, sandiges Metall, und die Gestalten erbebten und verharrten auf der Stelle, und ich lachte auf, ein kurzes Keuchen, das mir selbst fremd in den Ohren klang. Eine Zigarettendose, alt und rostig und wahrscheinlich aus Onkel Simons Haus geklaut. Eine satte, verbeulte Jagdszene, mit wimpernfeinem Pinsel gemalt. Spurensicherung und Sonderfahnder hatten im Umkreis von einer Meile um das Cottage jeden Quadratzentimeter abgesucht, aber das hier lag außerhalb dieses Bereichs. Lexie hatte sie ausgetrickst, hatte das hier für mich verwahrt. Die Nachricht stand auf einem linierten Blatt, das aus irgend so einem Terminplanerdings rausgerissen worden war. Die Handschrift sah aus wie die eines Zehnjährigen, und offenbar hatte Ned nicht entscheiden können, ob er einen Geschäftsbrief oder eine SMS schrieb. Liebe Lexie, hab 966
vers. dich zu erreichen, wg. der Sache, über die wir gredet haben. Bin immer noch sehr interessiert. Bitte um Nachricht, wann Gelegenheit günstig. Danke, Ned. Ich hätte wetten können, dass Ned auf eine sündhaft teure Privatschule gegangen war. Daddy hatte nicht gerade viel für sein Geld gekriegt. Liebe Lexie … Danke, Ned … Lexie hätte ihm bestimmt am liebsten dafür in den Hintern getreten, dass er so etwas hier rumliegen ließ, auch wenn es noch so gut versteckt war. Ich fischte mein Feuerzeug heraus, ging bis zur Straße und zündete das Blatt an. Als es Feuer fing, ließ ich es fallen, wartete ab, bis das kurze Aufflammen erstarb, und zertrat die Asche mit dem Fuß. Dann kramte ich meinen Kuli hervor und riss eine Seite aus meinem Notizbuch. Mittlerweile fiel mir Lexies Schrift leichter als meine eigene. Donnerstag 11. Ein raffinierter Köder war nicht mehr nötig: Die Arbeit hatte Lexie für mich erledigt, der Kerl hing schon fest am Ha967
ken. Die Dose schloss sich mit einem vernehmlichen, kleinen Klick, und als ich sie wieder tief in das hohe Gras schob, spürte ich, wie die Abdrücke meiner Finger sich vollkommen mit Lexies deckten, meine Füße auf genau denselben Stellen standen, wo ihre Fußabdrücke schon längst weggespült worden waren.
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18 Der folgende Tag dauerte ungefähr eine Woche. An der Uni war es zu heiß, trocken und stickig. Meine Tutorenkursgruppe war gelangweilt und unruhig. Es war ihre letzte Sitzung, sie hatten ihre Lektüre nicht vorbereitet und gaben sich nicht mal Mühe, so zu tun, als ob, und ich brachte nicht die Energie auf, so zu tun, als störte mich das. Ich musste immerzu an Ned denken: Ob er kommen würde, was ich sagen würde, falls er kam, was ich tun würde, falls nicht; wie viel Zeit mir noch blieb, ehe Frank uns einholte. Ich wusste, dass die Verabredung an diesem Abend ziemlich unrealistisch war. Selbst angenommen, ich lag richtig mit meiner Vermutung, dass das Cottage ihr Treffpunkt war, könnte Ned Lexie nach einem Monat ohne Nachricht schon längst abgeschrieben haben – er hatte seinen Zettel nicht datiert, vielleicht war der schon Wochen alt. Und selbst wenn er einer von der hartnäckigen 969
Sorte war, wieso sollte er den toten Briefkasten ausgerechnet jetzt kontrollieren und es rechtzeitig zum Treffpunkt schaffen? Ein großer Teil von mir hoffte sogar, dass er nicht kommen würde. Ich wollte zwar hören, was er zu sagen hatte, aber egal, was er sagte, Frank würde mithören. Ich war früher als verabredet am Cottage, gegen halb elf. Zu Hause haute Rafe stürmisch in die Tasten – Beethoven mit schrecklich viel Pedal –, Justin versuchte, mit den Fingern in den Ohren zu lesen, und so, wie alle von Minute zu Minute gereizter wurden, drohte das Ganze, in einen bösen Streit auszuarten. Es war erst das dritte Mal, dass ich das Cottage betrat. Ich hatte ein wenig Angst vor einem erbosten Farmer – das Feld musste ja schließlich irgendwem gehören, obwohl er offenbar nicht viel Wert darauf legte –, aber es war eine stille, helle Nacht, meilenweit rührte sich nichts, bloß blasse leere Felder und die Berge als schwarze Silhouette vor den Sternen. Ich versteckte mich in einer 970
dunklen Ecke, von wo aus ich das Feld und den Weg beobachten konnte, und wartete. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass Ned tatsächlich aufkreuzte, durfte ich mir keinen Fehler erlauben. Ich hatte nur einen Versuch. Ich musste ihm die Führung überlassen, nicht bloß bei allem, was ich sagte, sondern auch, wie ich es sagte. Was auch immer Lexie für ihn gewesen war, ich musste genau so sein. Nach dem Bild, das ich mir von ihr machte, kam da alles Mögliche in Frage – hauchiger Vamp, tapferes drangsaliertes Aschenputtel, rätselhafte Mata Hari –, und was immer Frank auch über Neds Intelligenz gesagt hatte, falls ich den falschen Ton traf, würde selbst er das wahrscheinlich merken. Mir blieb nur, mich zurückzuhalten und darauf zu hoffen, dass er mir irgendwelche Hinweise lieferte. Der Weg sah weiß und geheimnisvoll aus, wand sich hangabwärts und verschwand zwischen dunklen Hecken. Wenige Minuten vor elf war irgendwo ein Vibrieren zu spüren, zu tief und zu weit 971
weg, um es zu lokalisieren, nur ein Puckern irgendwo ganz am Rande meines Gehörs. Stille, dann das leise Knirschen von Schritten weiter unten. Ich drückte mich tiefer in die Ecke, schob eine Hand um meine Taschenlampe und die andere unter den Pullover, auf den Revolvergriff. Helles Haar leuchtete auf, bewegte sich zwischen den dunklen Hecken hindurch. Ned war also doch gekommen. Ich ließ meine Waffe los und sah zu, wie er sich ungelenk über die Mauer wuchtete, seine Hose nach Dreck absuchte, sich die Hände abbürstete und dann mit offensichtlichem Abscheu weiter über das Feld stakste. Ich wartete, bis er im Cottage war, nur wenige Schritte entfernt, ehe ich die Taschenlampe einschaltete. »Ey«, sage Ned gereizt und riss einen Arm hoch, um seine Augen abzuschirmen. »Mensch, was soll das, willst du, dass ich blind werde? Echt.«
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Und dieser eine Moment reichte echt aus, um mir alles zu verraten, was ich über Ned wissen musste. Ich war schon durch den Wind, weil ich eine Doppelgängerin hatte; er dagegen lief bestimmt an jeder Straßenecke im Süden von Dublin einem seiner Klone über den Weg. Er war in seiner Kategorie so ein Durchschnittstyp, dass er in der Masse seiner Spiegelbilder einfach unsichtbar wurde. Die modische Frisur, das gute Aussehen, die Rugbyspielerstatur, die überteuerten Designerklamotten: alles Standardausführung. Ein Blick genügte, und ich kannte seine ganze Lebensgeschichte. Ich hoffte inständig, dass ich ihn nie bei einer Gegenüberstellung würde identifizieren müssen. Lexie würde ihm geboten haben, was er sehen wollte, und ich war mir hundertprozentig sicher, dass Ned ein bestimmtes Frauenklischee bevorzugte: sexy nach Schema F, nicht von Natur aus, humorlos, nicht zu intelligent und hin und wieder ein bisschen zickig. Ein Jammer, dass ich nicht so973
lariumgebräunt war. »Meine Güte«, sagte ich ebenso angesäuert und mit demselben hochnäsigen Zickentonfall, mit dem ich Naylor aus seiner Hecke gelockt hatte. »Krieg dich wieder ein. Ist bloß eine Taschenlampe.« Es war ein nicht gerade herzlicher Auftakt, aber das war mir nur recht. In gewissen gesellschaftlichen Kreisen gelten gute Umgangsformen als Zeichen von Schwäche. »Wo hast du gesteckt?«, wollte Ned wissen. »Ich hab dir jeden zweiten Tag einen Zettel hingelegt, echt. Mensch, ich hab was Besseres zu tun, als andauernd hier raus in die Pampa zu fahren.« Falls Lexie mit dieser wandelnden Umweltverschmutzung ins Bett gegangen war, würde ich rüber zum Leichenschauhaus fahren und sie eigenhändig noch ein zweites Mal umbringen. Ich verdrehte die Augen. »Äh,hallo? Vielleicht bin ich niedergestochen worden? Vielleicht hab ich im Koma gelegen?« »Oh«, sagte Ned. »Ach ja. Stimmt.« Er sah mich mit blassblauen, leicht verärgerten Augen 974
an, als hätte ich mir eine Geschmacklosigkeit geleistet. »Trotzdem. Du hättest dich melden können. Hier geht’s ums Geschäft.« Endlich mal eine gute Nachricht. »Komm, reg dich ab«, sagte ich. »Ich hab mich ja jetzt gemeldet, oder?« »Dieser prollige Detective war bei mir und hat Fragen gestellt«, sagte Ned, als fiele ihm auf einmal alles wieder ein. Er sah so empört aus, wie es möglich ist, ohne den Gesichtsausdruck zu verändern. »Als wäre ich verdächtig oder so. Ich hab ihm gesagt, das wäre echt nicht mein Problem. Ich bin doch kein Aso. Ich stech nicht auf Leute ein.« Ich musste Frank recht geben: Ned war tatsächlich kein Intelligenzbolzen. Er gehörte zu der Sorte, die im Grunde aus einer einzigen geballten Ansammlung von erlernten Reflexen besteht, ohne eigenes Denkvermögen. Ich hätte eine Stange Geld darauf verwettet, dass er mit Kunden aus der Arbeiterschicht sprach, als wären sie behindert, und jede Asiatin, die ihm begegnete, augenzwin975
kernd nach Sushi-Rezepten fragte. »Hast du ihm hiervon erzählt?«, fragte ich und setzte mich auf ein bröckeliges Mauerstück. Er sah mich entsetzt an. »Ich bin doch nicht bescheuert. Dann hätte ich ihn auf der Pelle gehabt, und ich hatte echt keinen Bock, ihm die ganze Sache erklären zu müssen. Ich will das hier bloß über die Bühne bringen, okay?« Und noch dazu jemand mit Gemeinschaftssinn – nicht, dass ich etwas dagegen gehabt hätte. »Gut«, sagte ich. »Ich meine, das hier hat doch nichts damit zu tun, was mir passiert ist, richtig?« Dazu schien Ned keine Meinung zu haben. Er wollte sich gegen die Mauer lehnen, inspizierte sie argwöhnisch und überlegte es sich anders. »Also, können wir jetzt weitermachen?«, wollte er wissen. Ich senkte den Kopf und warf ihm einen bewimperten Icharmes-kleines-Ding-Seitenblick zu. »Durch das Koma ist mein Gedächtnis ziemlich
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im Eimer. Also musst du mir sagen, wie weit wir waren und so.« Ned starrte mich an. Dieser teilnahmslose, vollkommen ausdruckslose Blick, der nichts verriet: Zum ersten Mal sah ich eine Ähnlichkeit mit Daniel, auch wenn es ein Daniel nach Frontallobotomie war. »Wir waren bei einhundert«, sagte er nach einem Moment. »Cash.« Hundert Euro für irgendein Familienerbstück, hundert Riesen für einen Anteil am Haus? Ich musste nicht wissen, worum es ging, um mir sicher zu sein, dass er log. »Mhm, glaub ich nicht«, sagte ich mit einem koketten Lächeln, um die Kränkung zu mildern, von einer Frau durchschaut zu werden. »Das Koma hat mein Gedächtnis angegriffen, nicht mein Gehirn.« Ned lachte, völlig verlegen, rammte die Hände in die Taschen und wippte auf den Fußballen nach hinten. »Tja, hey, man wird es ja wohl mal versuchen dürfen, oder?«
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Ich lächelte weiter, weil ihm das offenbar gefiel. »Versuch’s noch einmal.« »Okay«, sagte Ned, wurde sachlich und setzte eine geschäftsmäßige Miene auf. »Im Ernst. Ich hatte hundertachtzig geboten, ja? Und du hast gesagt, das wär dir zu wenig, hast knallhart verhandelt, echt, aber in Ordnung, und gesagt, ich soll mich wieder melden. Also hab ich dir eine Nachricht hingelegt, dass wir über zweihundert Riesen reden können, aber dann bist du … « Ein unbehagliches Schulterzucken. »Du weißt schon.« Zweihundert Riesen. Eine Sekunde lang spürte ich nur noch die grellweiße Euphorie des Triumphes, die jeder Detective kennt, wenn die Karten aufgedeckt werden und du siehst, dass alle deine Mutmaßungen genau ins Schwarze getroffen haben, dass du im Blindflug schnurstracks den Weg nach Hause gefunden hast. Und dann begriff ich. Ich hatte angenommen, dass Ned derjenige war, der die Dinge verzögert hatte, der Dokumente aufsetzen und die Finanzierung klarmachen musste. 978
Lexie hatte noch nie viel Geld gebraucht, um abzuhauen. In North Carolina war sie mit der Kaution für ein billiges Apartment angekommen und hatte es mit dem Erlös aus dem Verkauf eines alten Autos verlassen; sie hatte nie mehr gebraucht als eine offene Straße und ein paar Stunden Vorsprung. Diesmal hatte sie mit Ned um sechsstellige Summen gefeilscht. Nicht bloß, weil sie es konnte. Mit dem Baby im Bauch und Abbys scharfen Augen im Rücken und einem Angebot dieser Größenordnung auf dem Tisch, warum hätte sie da wegen ein paar tausend Euro noch wochenlang warten sollen? Sie hätte auf der gepunkteten Linie unterschrieben, um Auszahlung in kleinen Scheinen gebeten und wäre weg gewesen, es sei denn, sie brauchte jeden Penny, den sie kriegen konnte. Je mehr ich über Lexie erfahren hatte, desto mehr war ich davon ausgegangen, dass sie abtreiben wollte, sobald sie an ihrem nächsten Ziel angekommen wäre, wo auch immer das war. Abby – 979
und Abby hatte sie so gut gekannt, wie das überhaupt möglich war – hatte schließlich dasselbe gedacht. Aber eine Abtreibung in England kostete nur ein paar hundert Pfund. Das Geld hätte Lexie längst durch ihren Job zusammensparen können, sie hätte es eines Nachts aus der Haushaltskasse klauen können, sie hätte ein Darlehen aufnehmen können, um es nie zurückzuzahlen; es bestand keine Notwendigkeit, sich überhaupt mit Ned einzulassen. Ein Kind großzuziehen kostet sehr viel mehr. Die Prinzessin des Niemandslandes, die Königin über tausend Schlösser zwischen den Welten, war übergelaufen. Sie war bereit gewesen, die Hände zu öffnen und die größte Bindung von allen anzunehmen. Ich hatte das Gefühl, als würde die Mauer unter mir zu Wasser werden. Anscheinend hatte ich ihn angestarrt, als wäre er ein Gespenst. »Ehrlich«, sagte Ned leicht angesäuert, weil er meinen Blick falsch verstanden hatte. »Ich erzähl keinen Scheiß. Zweihundert Riesen 980
ist mein absolutes Topangebot. Ich meine, ich geh immerhin ein Mordsrisiko ein. Wenn wir uns einig werden, muss ich noch mindestens zwei von deinen Freunden rumkriegen. Ich schaff das schon, irgendwie, wenn ich erst mal einen Fuß in der Tür hab, aber trotzdem, das könnte Monate dauern und ein schönes Stück Arbeit werden.« Ich presste meine freie Hand nach unten auf die Mauer, fest, spürte, wie sich das raue Mauerwerk in meine Handfläche grub, bis mein Kopf wieder klar war. »Glaubst du wirklich?« Seine hellen Augen weiteten sich. »Und ob, Mann. Ich weiß echt nicht, was die für einen Schaden haben. Ich weiß, es sind deine Freunde, und Daniel ist mein Cousin und alles, aber, mal ehrlich, haben die sie noch alle? Schon bei dem Vorschlag, was aus dem Haus zu machen, kreischen sie los wie ein Haufen Nonnen, die einen Exhibitionisten sehen.« Ich zuckte die Achseln. »Sie hängen an dem Haus.« 981
»Wieso? Ich meine, es ist total runtergekommen, hat nicht mal eine Heizung, und die tun so, als wäre es der reinste Palast. Ist denen denn nicht klar, was sie rausschlagen könnten, wenn sie mit in die Sache einsteigen würden? In dem Haus steckt Potential.« Luxuswohnungen in weitläufiger Umlage mit dem Potential zur weiteren Erschließung … Einen kurzen Moment verachtete ich sowohl Lexie als auch mich dafür, dass wir mit diesem Schleimscheißer verhandelten, weil es unseren Zwecken diente. »Ich bin die Schlaue von uns fünf«, sagte ich. »Wenn du das Haus hast, was machst du dann mit dem ganzen Potential?« Ned sah mich verdutzt an. Vermutlich hatten Lexie und er schon darüber geredet. Ich blickte ausdruckslos, und anscheinend gab ihm das ein trautes Gefühl. »Kommt auf die Baugenehmigung an. Ich meine, im Idealfall wird’s ein Golfclub oder ein Wellnesshotel, so was in der Art. Das bringt langfristig die größten Gewinne, vor allem, 982
wenn ich einen Hubschrauberlandeplatz durchkriege. Ansonsten schwebt mir eine Superluxusapartmentanlage vor.« Ich dachte daran, ihm einen Tritt in die Eier zu verpassen und wegzulaufen. Ich war darauf gefasst gewesen, dass sich der Kerl als Kotzbrocken entpuppen würde, und er hatte mich nicht enttäuscht. Ned ging es nicht um Whitethorn House, das war ihm scheißegal, egal, was er vor Gericht behauptet hatte. Ihm lief das Wasser im Munde zusammen, wenn er sich vorstellte, das Haus auszuschlachten, ihm die Seele herauszureißen, sein Gerippe freizulegen und auch noch den letzten Blutstropfen aufzuschlürfen. John Naylors Gesicht blitzte vor mir auf, geschwollen und verfärbt, erhellt von diesen visionären Augen. Können Sie sich vorstellen, was das für Glenskehy bedeutet hätte? Im tiefsten Grund, tiefer und machtvoller als die Tatsache, dass sie sich gegenseitig bis aufs Blut hassen würden, waren er und Ned zwei Seiten derselben Medaille. Wenn die ihre Sachen pa983
cken und abhauen, hatte Naylor gesagt, will ich dabei sein und ihnen hinterherwinken. Wenigstens war er bereit gewesen, für das, was er wollte, seinen Kopf hinzuhalten, nicht bloß sein Bankkonto. »Genial«, sagte ich. »Ich meine, es ist total wichtig, ein Haus nicht einfach so rumstehen und bewohnen zu lassen.« Der Sarkasmus entging Ned. »Natürlich braucht man jede Menge Investmentkapital, um so was hochzuziehen«, sagte er hastig, damit ich meine Forderung nicht noch höher schraubte. »Deshalb sind mehr als zweihundert echt nicht drin. Sind wir uns da einig? Kann ich die Papiere aufsetzen lassen?« Ich spitzte die Lippen und tat so, als ließe ich mir das durch den Kopf gehen. »Muss ich drüber nachdenken.« »Ach Scheiße, Mensch.« Ned fuhr sich frustriert mit den Fingern durch seinen Designerhaarschnitt, strich ihn dann sorgsam wieder glatt.
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»Jetzt komm. Das zieht sich nun schon ewig hin, echt.« »’tschuldigung«, sagte ich achselzuckend. »Wenn es dir so unter den Nägeln brennt, hättest du gleich von Anfang an ein anständiges Angebot machen können.« »Tu ich ja jetzt, okay? Ich hab Investoren an der Hand, die stehen förmlich Schlange, aber ewig warten die auch nicht. Das sind echte Großinvestoren. Die können ihr Geld auch echt anders anlegen.« Ich grinste ihn an und legte noch ein zickiges kleines Naserümpfen obendrauf. »Dann sag ich dir echt Bescheid, exakt in der Sekunde, in der ich mich entschieden hab. Okay?« Dann winkte ich, als wäre er entlassen. Ned blieb noch einen Moment stehen, trat von einem Bein aufs andere und sah stinksauer aus, aber ich grinste ungerührt weiter. »Gut«, sagte er schließlich. »In Ordnung. Wie du willst. Sag Bescheid.« 985
An der Tür drehte er sich noch einmal effektvoll um. »Das könnte für mich sozusagen der Einstieg werden, echt. Ich käme endlich auf Augenhöhe mit den richtig großen Jungs. Also lass uns die Sache nicht vermasseln, okay?« Er wollte einen dramatischen Abgang hinlegen, aber er vertat seine Chance, weil er ins Stolpern geriet, als er sich umdrehte, um von dannen zu marschieren. In dem Versuch, die kleine Unbeholfenheit zu überspielen, fiel er in einen flotten Trab quer übers Feld, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich schaltete die Taschenlampe aus und wartete im Cottage, während Ned durchs Gras stapfte, in seinen Machoschlitten stieg und Richtung Zivilisation davondonnerte, das Dröhnen des Geländewagens mickrig und bedeutungslos vor der gewaltigen nächtlichen Landschaft. Dann lehnte ich mich gegen die Wand im vorderen Raum und spürte mein Herz schlagen, wo Lexies seinen letzten Schlag getan hatte. Die Luft war weich und 986
warm wie Sahne. Meine Beine schliefen ein, winzige Motten umtanzten mich wie Blütenblätter. Neben mir wuchsen Dinge aus der Erde, in die ihr Blut geflossen war, ein blasses Büschel Glockenblumen, ein kleiner Schössling, der aussah wie Weißdorn: Dinge, die aus ihr entstanden waren. Selbst wenn Frank die Live-Vorstellung verpasst hatte, würde er sich die Unterhaltung schon in wenigen Stunden anhören, sobald er am nächsten Morgen zur Arbeit kam. Ich hätte ihn oder Sam oder beide anrufen sollen, um mit ihnen gemeinsam zu überlegen, wie wir diese Entwicklung am besten nutzen könnten, aber ich hatte das Gefühl, wenn ich versuchen würde, mich zu bewegen oder zu sprechen oder auch nur tief zu atmen, würde mein Verstand überlaufen und im hohen Gras versickern. Ich war mir meiner Sache so sicher gewesen. Und das aus gutem Grund. Diese junge Frau, die sich wie eine Wildkatze lieber die eigenen Glieder abbiss, als sich einsperren zu lassen. Ich hatte fest 987
geglaubt, die Worte für immer würden ihr nie über die Lippen kommen. Ich versuchte, mir einzureden, dass sie vielleicht vorgehabt hatte, das Baby zur Adoption freizugeben, sich aus dem Krankenhaus zu schleichen, sobald sie nach der Geburt wieder aufstehen konnte und gleich vom Parkplatz weg ins nächste Gelobte Land zu entschwinden, aber ich wusste: Die Zahlen, mit denen sie da in ihren Verhandlungen mit Ned jongliert hatte, waren für kein Krankenhaus, ganz gleich wie nobel. Sie waren für ein Leben, für zwei Leben. Genau wie sie sich von den anderen behutsam, unmerklich zu der kleinen Schwester hatte machen lassen, die ihre seltsame Familie vervollständigte, genau wie sie sich von Ned in das einzige Klischee hatte drängen lassen, das er verstand, so hatte sie sich von mir zu dem formen lassen, was ich unbedingt hatte sehen wollen. Ein Generalschlüssel für jede zuknallende Tür, eine endlose Schnellstraße zu tausend Neuanfängen. So etwas gibt es nicht. Selbst diese Frau, die ein Leben nach 988
dem anderen hinter sich ließ wie eine Raststätte, hatte am Ende ihre Ausfahrt gefunden und war bereit gewesen, sie zu nehmen. Ich blieb lange in dem Cottage sitzen, die Finger um den Schössling geschlossen – sachte, er war so neu, ich wollte ihn nicht zerdrücken. Ich weiß nicht, wann ich mich endlich aufraffen konnte. An den Fußweg nach Hause erinnere ich mich kaum. Ein Teil von mir hoffte tatsächlich, John Naylor würde aus einer Hecke hervorspringen, beseelt von seiner Sache und auf der Suche nach einem lautstarken Wortgefecht oder einer handfesten Rauferei, nur damit ich etwas hätte, gegen das ich mich wehren könnte.
Das Haus war hell erleuchtet wie ein Weihnachtsbaum, jedes Fenster strahlte, Silhouetten huschten, und Stimmengewirr strömte heraus, und einen Moment lang konnte ich es mir nicht erklären: War etwas Schlimmes passiert, lag jemand im 989
Sterben, war das Haus in Schieflage geraten und hatte ein fröhliches, längst vergangenes Fest ans Licht befördert, wenn ich auf die Wiese trat, würde ich dann ins Jahr 1910 stolpern? Doch dann fiel das Tor scheppernd hinter mir zu, und Abby riss die Terrassentür auf, rief: »Lexie!«, und kam über das Gras angelaufen, wobei ihr langer weißer Rock flatterte. »Ich hab nach dir Ausschau gehalten«, sagte sie. Sie war atemlos und gerötet, ihre Augen blitzten, und ihr Haar löste sich aus den Klammern. Sie hatte offensichtlich getrunken. »Wir sind heute Abend dekadent. Rafe und Justin haben so einen Punsch gemacht, mit Cognac und Rum, und ich weiß nicht, was sonst noch alles drin ist, aber das Zeug ist tödlich, und morgen hat keiner irgendwelche Tutorien oder so, deshalb, scheiß drauf, fahren wir nicht zur Uni, bleiben die ganze Nacht auf und lassen so richtig die Sau raus. Hört sich das gut an?«
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»Das hört sich prima an«, sagte ich. Meine Stimme klang fremd, körperlos – ich brauchte eine Weile, um mich zusammenzureißen und auf sie einzustellen –, aber Abby schien es nicht zu merken. »Findest du? Zuerst fand ich die Idee nämlich nicht so toll. Aber Rafe und Justin hatten schon mit dem Punsch angefangen – Rafe hat irgendwas Hochprozentiges angezündet, absichtlich, hoff ich –, und sie haben mich angeschrien, weil ich immer so negativ bin. Und ich meine, wenigstens meckern sie mal nicht aneinander rum, nicht? Also hab ich mir gedacht, ach, was soll’s, tut uns bestimmt gut. Nach den letzten paar Tagen – Gott, nach den letzten paar Wochen. Wir sind alle halb verrückt geworden, hast du das gemerkt? Die Sache neulich Nacht, mit dem Stein und der Schlägerei und … Mann.« Etwas glitt über ihr Gesicht, wie ein rascher Schatten, aber ehe ich es benennen konnte, war es weg, und diese unbesonnene, beschwipste Heiter991
keit war wieder da. »Also hab ich mir gedacht, wir toben uns mal eine Nacht richtig aus und lassen alles raus, und dann können wir uns vielleicht entspannen und wieder normal werden. Was meinst du?« So angeheitert wirkte sie viel jünger. Irgendwo in Franks Kriegsspieleverstand wurden sie und ihre drei besten Freunde in einer Reihe aufgestellt und begutachtet, einer nach dem anderen, Zentimeter für Zentimeter. Er taxierte sie, kühl wie ein Chirurg oder Folterer, überlegte, wo er den ersten Testschnitt ansetzen, die erste empfindliche Sonde einführen sollte. »Ich find’s super«, sagte ich. »Absolut super.« »Wir haben schon ohne dich angefangen«, sagte Abby und wich ein Stückchen zurück, um mich unsicher zu mustern. »Du bist doch nicht böse, oder? Dass wir nicht auf dich gewartet haben?« »Natürlich nicht«, sagte ich. »Hauptsache, es ist noch was da.« Weit hinter ihr überschnitten sich Schatten an der Wohnzimmerwand. Rafe bückte 992
sich mit einem Glas in der Hand, sein Haar golden wie eine Fata Morgana vor den dunklen Vorhängen, und Josephine Baker drang aus den offenen Fenstern, lieblich und verkratzt und betörend: »Mon rêve c'était vous ...« In meinem ganzen Leben hatte ich mir selten etwas so verzweifelt gewünscht, wie ich mir jetzt wünschte, dort drin zu sein, den Revolver und das Mikro und das Handy loszuwerden, zu trinken und zu tanzen, bis mir im Kopf eine Sicherung durchknallte und es nichts anderes auf der Welt gab als die Musik und das strahlende Licht und die vier um mich herum, lachend, hinreißend, unberührbar. »Na klar ist noch was da. Für wen hältst du uns?« Sie fasste mein Handgelenk und eilte zurück zum Haus, zog mich hinter sich her, während sie mit der freien Hand ihren Rock über das Gras hob. »Bei Daniel musst du mir helfen. Er hat ein großes Glas, aber er nippt immer nur. Heute Abend wird nicht genippt, heute Abend wird gesoffen! Ich meine, ich weiß, er hat auch schon 993
leicht einen sitzen, weil er auf einmal angefangen hat, eine lange Rede über das Labyrinth und den Minotaurus und irgendwas mit Zettel aus dem Sommernachtstraum vom Stapel zu lassen, also kann er nicht mehr nüchtern sein. Aber trotzdem.« »Na dann los«, sagte ich lachend – ich brannte darauf, Daniel mal richtig betrunken zu erleben –, »worauf warten wir?«, und wir rannten zusammen über die Wiese und stürmten Hand in Hand in die Küche. Justin stand am Küchentisch, eine Schöpfkelle in der einen und ein Glas in der anderen Hand, und beugte sich über eine große Obstschüssel voll mit einer Flüssigkeit, die rot und gefährlich aussah. »Gott, seid ihr beide süß«, sagte er zu uns. »Ihr seht aus wie zwei Waldnymphen, genau das tut ihr.« »Sie sind schön«, lächelte Daniel von der Tür her. »Gib ihnen ordentlich Punsch, damit sie uns auch schön finden.« 994
»Wir finden euch immer schön«, erklärte Abby und schnappte sich ein Glas vom Tisch. »Aber wir brauchen trotzdem Punsch. Lexie braucht reichlich Punsch, damit sie uns einholt.« »Ich bin auch schön!«, rief Rafe aus dem Wohnzimmer über Josephine hinweg. »Kommt rein und sagt mir, dass ich schön bin!« »Du bist schön!«, brüllten Abby und ich aus vollem Halse, und Justin drückte mir ein Glas in die Hand, und wir gingen alle ins Wohnzimmer, ließen unsere Schuhe in der Diele stehen, leckten den Punsch ab, der uns über die Finger schwappte, und lachten.
Daniel machte es sich in einem Sessel bequem, Justin lag auf dem Sofa, und Rafe und Abby und ich landeten ausgestreckt auf dem Boden, weil Sessel irgendwie zu kompliziert waren. Abby hatte recht gehabt, der Punsch war tödlich: süßes, trügerisches Zeug, das so mühelos durch die Keh995
le floss wie frischer Orangensaft und sich dann in eine köstliche, wilde Leichtigkeit verwandelte, die sich wie Helium in alle Glieder ausbreitete. Ich wusste, die Sache würde sich schlagartig ändern, wenn ich etwas Dummes versuchte, wie zum Beispiel aufstehen. Irgendwo im Hinterkopf hörte ich Frank mahnend irgendetwas von Kontrolle erzählen, wie die Nonnen in der Schule, die dauernd vor dem Dämon Alkohol gewarnt hatten, aber ich hatte Frank so verdammt satt, ihn und seine neunmalklugen Sprüche, und ich hatte es satt, ständig die Kontrolle zu wahren. »Mehr«, verlangte ich, stupste Justin mit dem Fuß an und hielt ihm mein Glas hin. An große Teile dieses Abends habe ich keine Erinnerung mehr, zumindest keine klare. Das zweite Glas oder vielleicht das dritte verwandelte die ganze Nacht in etwas Weichgezeichnetes, Verzaubertes, wie aus einem Traum. Irgendwann zwischendurch ging ich unter einem Vorwand nach oben in mein Zimmer und versteckte das 996
meiste von meinem Undercover-Zubehör – Revolver, Handy, Hüfthalter – unter dem Bett. Jemand machte die Lichter aus und ließ nur eine Lampe und die Kerzen brennen, die überall verteilt waren, wie Sterne. Ich erinnere mich an eine tiefschürfende Diskussion über die Frage, wer der beste James Bond war, die zu einer ebenso angeregten Spekulation führte, wer von den drei Jungs den besten Bond abgeben würde; an einen völlig missglückten Versuch, irgendein Trinkspiel namens »Fuzzy Duck« zu spielen, das Rafe im Internat gelernt hatte und das ein abruptes Ende fand, als Justin Punsch durch die Nase inhalierte und in die Küche flüchten musste, um alles in die Spüle zu niesen; an Lachen, so viel Lachen, dass mir der Bauch weh tat und ich mir die Finger in die Ohren stecken musste, bis ich wieder atmen konnte; an Rafes Arm um Abbys Schultern, meine Füße auf Justins Knien, Abbys Hand, die nach oben griff und Daniels festhielt. Es war, als hätte es die scharfen Kanten nie gegeben. Es war wieder 997
nah und warm und glänzend, wie jene erste Woche, nur hundertmal besser, weil ich diesmal nicht auf der Hut war und darum kämpfen musste, mich einzufinden und keinen Fehler zu machen. Diesmal kannte ich sie alle inund auswendig, ihre Rhythmen, ihre Macken, ihre Neigungen, ich wusste, wie ich mich jedem von ihnen anpassen konnte: Diesmal gehörte ich dazu. Am klarsten erinnern kann ich mich noch an ein Gespräch – bloß eine Abschweifung von irgendetwas anderem, ich weiß nicht mehr, was – über Henry V. Damals schien es nicht wichtig zu sein, aber später, als alles vorbei war, fiel es mir wieder ein. »Der Mann war ein cholerischer Irrer«, sagte Rafe. Er und Abby und ich lagen wieder auf dem Boden, er hatte seinen Arm bei mir eingehakt. »Dieser ganze heroische Shakespeare-Kram war pure Propaganda. Heute würde Henry irgendeine Bananenrepublik mit ernsthaften Grenzproblemen und einem geheimen Atomprogramm regieren.« 998
»Ich mag Henry«, sagte Daniel, eine Zigarette im Mund. »So einen König könnten wir gebrauchen.« »Monarchistischer Kriegstreiber«, sagte Abby Richtung Decke. »Bei der nächsten Revolution wird er an die Wand gestellt.« »Weder die Monarchie noch der Krieg waren je das wirkliche Problem«, sagte Daniel. »Alle Gesellschaften haben immer Kriege geführt, das gehört zum Wesen der Menschheit, und wir hatten immer Herrscher – seht ihr wirklich einen so großen Unterschied zwischen einem mittelalterlichen Herrscher und einem modernen Präsidenten oder Premierminister, außer dass der König für seine Untertanen tendenziell leichter zugänglich war? Das eigentliche Problem entsteht, wenn die beiden Dinge, Monarchie und Krieg, sich voneinander abkoppeln. Bei Henry gab es da keine Trennung.« »Du faselst«, sagte Justin. Er versuchte unter Schwierigkeiten, seinen Punsch zu trinken, ohne sich aufzusetzen oder zu bekleckern. 999
»Weißt du, was du brauchst?«, sagte Abby zu ihm. »Einen Strohhalm. Einen von diesen biegsamen.« »Ja!«, sagte Justin begeistert. »Ich brauche einen biegsamen Strohhalm. Haben wir so welche?« »Nein«, sagte Abby überrascht, woraufhin Rafe und ich aus irgendeinem Grund in haltloses, unwürdiges Gekicher ausbrachen. »Ich fasele nicht«, sagte Daniel. »Seht euch die alten Kriege an, vor Jahrhunderten: Der König führte seine Männer in die Schlacht. Immer. Das machte den Herrscher aus: Sowohl auf praktischer Ebene als auch auf einer mystischen Ebene war er es, der vortrat, um seinen Stamm anzuführen, sein Leben für seine Leute aufs Spiel zu setzen, sich für ihre Sicherheit zu opfern. Wenn er sich geweigert hätte, diese entscheidende Rolle in diesem entscheidenden Moment auszufüllen, hätten sie ihn in Stücke gerissen – und mit Recht: Er hätte sich als Schwindler erwiesen, der kein Anrecht auf den Thron hat. Der König war das Land. Wie hätte 1000
er auch nur erwarten können, dass es ohne ihn in die Schlacht zieht? Aber heute … Könnt ihr euch irgendeinen modernen Präsidenten oder Premierminister an vorderster Front vorstellen, wo er seine Männer in den Krieg führt, den er angefangen hat? Und wenn diese körperliche und mystische Verbindung gekappt ist, wenn der Herrscher nicht mehr bereit ist, sich für sein Volk zu opfern, dann ist er kein Herrscher mehr, sondern ein Blutegel, der andere zwingt, sich für ihn in Gefahr zu bringen, während er in sicherer Entfernung bleibt und sich an ihren Verlusten mästet. Krieg wird zu einer scheußlichen Abstraktion, zu einem Spiel, das Bürokraten auf Papier austragen. Soldaten und Zivilisten verkommen zu Schachfiguren, die zu Abertausenden für Gründe geopfert werden, die nicht in der Wirklichkeit verwurzelt sind. Wir werden von korrupten Usurpatoren regiert, wir alle, und was sie auch anfassen, es entsteht nur Sinnlosigkeit.«
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»Weißt du was?«, sagte ich und schaffte es, meinen Kopf ein paar Zentimeter vom Boden zu heben. »Ich versteh nur ungefähr ein Viertel von dem, was du da von dir gibst. Wie kannst du bloß dermaßen nüchtern sein?« »Er ist nicht nüchtern«, sagte Abby mit Genugtuung. »Wenn er sich ereifert und Sermone hält, ist er betrunken. Musst du doch inzwischen wissen. Daniel ist verknöchert.« »Das war kein Sermon«, sagte Daniel, aber er lächelte sie an, ein verschmitztes, blitzendes Grinsen. »Es war ein Monolog. Wenn Hamlet welche halten darf, wieso dann ich nicht?« »Hamlets Sermone versteh ich wenigstens«, sagte ich quengelig. »Größtenteils.« »Im Grunde sagt er nur«, schaltete Rafe sich ein, wobei er mir auf dem Kaminvorleger den Kopf zudrehte, so dass seine goldenen Augen nur Zentimeter von meinen entfernt waren, »dass Politiker überbewertet sind.«
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Das Picknick auf dem Berg, vor einigen Monaten, Rafe und ich, wie wir Daniel, als er wieder mal über irgendetwas schwadronierte, mit Erdbeeren bewarfen. Ich schwöre, ich erinnerte mich genau: an den Geruch der Meeresluft, die Erschöpfung in den Beinen vom Aufstieg. »Alles ist überbewertet außer Elvis und Schokolade«, verkündete ich, hob mein Glas bedenklich hoch über den Kopf und hörte Daniels spontanes, unwiderstehliches Lachen. Der Alkohol wirkte sich positiv auf Daniel aus. Er zauberte eine lebendige Röte auf seine Wangenknochen und ein Glimmen tief in seine Augen, lockerte seine Steifheit zu einer sicheren, animalischen Eleganz. Normalerweise war Rafe die Augenweide im Haus, aber in jener Nacht konnte ich den Blick nicht von Daniel losreißen. Zurückgelehnt zwischen den Kerzenflammen und den satten Farben und dem zerschlissenen Brokat des Sessels, ein leuchtend rotes Glas in der Hand, das dunkle Haar bis tief in die Stirn, sah er selbst aus 1003
wie ein alter Kriegsführer: ein Kaiser in seinem Bankettsaal, schimmernd und verwegen, auf einem Fest zwischen den Schlachten. Die Schiebefenster waren zum nächtlichen Garten hin geöffnet. Motten wirbelten im Licht, Schatten überkreuzten sich, eine weiche, feuchte Brise spielte mit den Vorhängen. »Es ist doch Sommer«, sagte Justin unvermittelt, verblüfft, und schoss vom Sofa hoch. »Spürt ihr den Wind? Der ist warm. Es ist Sommer. Kommt, los, ab nach draußen«, und er stand schnell auf, zog Abby im Vorbeigehen an einer Hand mit sich und kletterte durchs Fenster auf die Terrasse. Der Garten war dunkel und duftend und lebendig. Ich weiß nicht, wie lange wir da draußen waren, unter einem riesigen Vollmond. Rafe und ich hielten uns an den verschränkten Händen und drehten uns auf der Wiese im Kreis, bis wir atemlos und kichernd umfielen, Justin schaufelte mit beiden Händen Weißdornblütenblätter in die Luft, so dass sie wie Schnee auf uns niederfielen, Da1004
niel und Abby tanzten barfuß einen langsamen Walzer unter den Bäumen, wie ein geisterhaftes Liebespaar auf einem längst vergangenen Ball. Ich schlug Räder und Saltos quer über die Wiese, zum Teufel mit meiner imaginären Naht, zum Teufel damit, ob Lexie geturnt hatte, ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so betrunken gewesen war, und ich fand es wundervoll. Ich wollte noch tiefer hineintauchen und niemals mehr nach oben kommen, um Luft zu holen, ich wollte den Mund öffnen und tief einatmen und an dieser Nacht ertrinken. Irgendwann zwischendurch verlor ich die anderen. Ich lag auf dem Rücken im Kräutergarten, roch zerdrückte Minze und blickte zu Millionen taumelnden Sternen hinauf, allein. Ich hörte schwach, dass Rafe meinen Namen rief, irgendwo vor dem Haus. Nach einer Weile rappelte ich mich hoch und ging ihn suchen, aber die Schwerkraft war irgendwie tückisch geworden und das Gehen ein schwieriges Unterfangen. Ich tastete mich an 1005
der Mauer entlang, ließ eine Hand über Zweige und Efeu gleiten; ich hörte Zweige unter meinen nackten Füßen knacken, spürte aber nicht den Anflug von Schmerz. Die Wiese lag weiß im Mondlicht. Musik strömte aus den offenen Fenstern, und Abby tanzte für sich allein auf dem Gras, drehte sich langsam im Kreis, die Arme ausgebreitet und das Gesicht zum gewaltigen Nachthimmel gehoben. Ich blieb bei der Nische stehen, schwang mit einer Hand eine lange Efeuranke und schaute Abby zu: das bleiche Wirbeln und Senken des Rocks, die Drehung des Handgelenks, wenn sie ihn hob, die Wölbung ihres nackten Fußes, das verträumte trunkene Schwingen des Halses zwischen den flüsternden Bäumen. »Ist sie nicht wunderschön?«, sagte eine leise Stimme hinter mir. Ich war so betrunken, dass ich nicht mal erschrak. Es war Daniel, auf einer der Steinbänke unter dem Efeu, ein Glas in der Hand und eine Flasche neben sich auf den Steinplatten. 1006
Die Mondschatten verwandelten ihn in eine Marmorstatue. »Ich glaube, wenn wir alle alt und grau sind und allmählich wegdämmern, selbst wenn ich alles vergessen habe, was mein Leben je ausgemacht hat, werde ich mich so an sie erinnern.« Ein rascher schmerzlicher Stich durchfuhr mich, aber ich konnte nicht verstehen, warum. Es war viel zu kompliziert, zu weit weg. »Ich will diese Nacht auch in Erinnerung behalten«, sagte ich. »Ich will sie mir eintätowieren, damit ich sie nicht vergesse.« »Komm her«, sagte Daniel. Er stellte sein Glas ab, rutschte auf der Bank zur Seite, um mir Platz zu machen, und hielt mir eine Hand hin. »Komm her. Wir werden noch unzählige Nächte haben wie diese. Du kannst sie dutzendweise vergessen, wenn du willst. Wir werden mehr davon machen. Wir haben alle Zeit der Welt.« Seine Hand war warm, stark. Er zog mich nach unten auf die Bank, und ich lehnte mich gegen ihn, diese feste Schulter, den Duft nach Zedern 1007
und sauberer Wolle, alles schwarz und silbern und unstet, und das Wasser murmelte unentwegt zu unseren Füßen. »Als ich dachte, wir hätten dich verloren«, sagte Daniel, »war es … « Er schüttelte den Kopf, holte rasch Luft, wie ein Keuchen. »Du hast mir gefehlt. Du ahnst gar nicht, wie sehr. Aber jetzt ist es gut. Alles wird gut.« Er wandte sich mir zu. Seine Hand hob sich, Finger fassten in mein Haar, rau und zärtlich, glitten nach unten über meine Wange, malten die Kontur meiner Lippen nach. Die Lichter des Hauses kreisten verschwommen und magisch wie die Lichter eines Karussells, ein heller, singender Ton hing über den Bäumen, der Efeu tanzte nach den Klängen einer Musik, die so süß war, dass ich es kaum ertragen konnte, und das Einzige, was ich in diesem Leben wollte, war hierbleiben. Das Mikro und den Draht abnehmen, in einen Umschlag stecken und per Post an Frank schicken und weg sein, leicht wie ein Vogel mein altes Leben abstreifen und hierher heimkeh1008
ren. Wir wollten dich nicht verlieren, du Dussel, die anderen würden glücklich sein, und sie würden es nie erfahren müssen, solange wir lebten. Ich hatte ebenso viel Recht dazu wie die Tote, ich war ebenso sehr Lexie Madison, wie sie es je gewesen war. Mein Vermieter würde meine scheußlichen Büroklamotten in Müllsäcke stopfen, wenn die Miete ausblieb, da war nichts, was ich noch brauchen würde. Kirschblüten, die sanft auf die Zufahrt fielen, der stille Geruch alter Bücher, Feuerschein flackernd in den Eiskristallen an den Fensterscheiben zur Weihnachtszeit, und nichts würde sich je ändern, nur wir fünf in diesem von Mauern geschützten Garten, unendlich. Irgendwo im Hinterkopf schlug eine Trommel beschwörend ein Gefahrensignal, aber ich wusste, wie in einer Vision, dass das hier der Grund war, warum die Tote Abertausende von Meilen weit gereist war, um mich zu finden, das hier war von jeher der Grund für Lexie Madison gewesen: Sie hatte auf ihren Moment gewartet, um die Hand auszustre1009
cken und meine zu ergreifen, mich die Steintreppe hinauf und durch diese Tür zu führen, nach Hause. Daniels Mund schmeckte nach Eis und Whiskey. Wenn ich darüber nachgedacht hätte, hätte ich in Daniel einen ziemlich schlechten Küsser vermutet, irgendwie zu pedantisch. Seine Leidenschaft raubte mir den Atem. Als wir uns voneinander lösten, ich weiß nicht, wie viel später, schlug mein Herz wie verrückt. Und jetzt, dachte ich mit einem klitzekleinen klaren Tropfen Verstand. Was passiert jetzt? Daniels Mund, den ein winziges Lächeln umspielte, war ganz nah an meinem. Seine Hände lagen auf meinen Schultern, die Daumen fuhren sacht über die Linie meines Schlüsselbeins. Frank hätte nicht mit der Wimper gezuckt. Ich kenne Undercovercops, die mit Gangstern ins Bett gegangen sind, die Leute zusammengeschlagen und sich Heroin gespritzt haben, alles im Namen des Jobs. Ich habe nie etwas gesagt, es ging mich nichts an, aber ich wusste, dass das Quatsch war. 1010
Es gibt immer noch einen anderen Weg, dein Ziel zu erreichen, wenn du bereit bist, ihn zu suchen. Sie haben diese Dinge getan, weil sie sie tun wollten und weil der Job ihnen eine Entschuldigung dafür lieferte. In derselben Sekunde sah ich Sams Gesicht vor mir, die Augen groß und fassungslos, so klar, als stünde er direkt neben Daniel. Sein Blick hätte mich vor Scham zusammenfahren lassen müssen, aber ich spürte nur pure Frustration in mir aufwallen und so wild über meinem Kopf zusammenschlagen, dass ich schreien wollte. Er war wie ein riesengroßes Federbett, das mein Leben umhüllte und mich erstickte mit Urlaubsreisen und beschützenden Fragen und einer sanften, unerbittlichen Wärme. Ich wollte ihn mit einem einzigen ungestümen Ruck abwerfen und einen tiefen Zug kalte Luft einatmen, wieder ganz ich selbst. Am Ende rettete mich das Mikro. Nicht das, was es empfangen könnte, so klar dachte ich nicht mehr, sondern Daniels Hände: Seine Daumen 1011
waren etwa fünf Zentimeter vom Mikro entfernt, das zwischen meinen Brüsten am BH klemmte. Von einem Schlag auf den anderen war ich wieder stocknüchtern. Ich war fünf Zentimeter davon entfernt, enttarnt zu werden. »Sieh an, sieh an«, sagte ich, um Zeit zu schinden, und lächelte Daniel leicht an. »Es sind doch immer die Stillen.« Er rührte sich nicht. Ich meinte, etwas in seinen Augen aufflackern zu sehen, konnte aber nicht erkennen, was. Mein Gehirn schien sich festgefahren zu haben: Ich hatte keine Ahnung, wie sich Lexie hier rausgeredet hätte. Und mich beschlich das böse Gefühl, dass sie es nicht getan hätte. Im Haus ertönte ein Krachen, die Terrassentür flog auf, und jemand kam herausgestürzt. Rafes schreiende Stimme war zu hören. »– du immer so ein Riesentheater wegen jeder Kleinigkeit machen musst –« »Mein Gott, und das sagst ausgerechnet du. Es warst ja wohl du, der –« 1012
Es war Justin, und seine Stimme bebte vor Wut. Ich sah Daniel an, riss die Augen weit auf, sprang hoch und lugte durch den Efeu. Rafe tigerte auf der Terrasse auf und ab, fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Justin lehnte an einer Wand, kaute heftig auf einem Fingernagel. Sie stritten noch immer, aber ihre Stimmen waren etwas leiser geworden, und ich konnte bloß ihren hektischen, aggressiven Tonfall hören. Justin hielt den Kopf gesenkt, das Kinn fast auf der Brust, und es sah aus, als würde er weinen. »Scheiße«, sagte ich und warf Daniel einen kurzen Blick über die Schulter zu. Er saß noch immer auf der Bank. Sein Gesicht verschmolz mit dem Muster des Laubschattens, so dass ich seinen Ausdruck nicht sehen konnte. »Ich glaub, die haben drinnen irgendwas zerdeppert. Und Rafe sieht aus, als wollte er Justin eine reinhauen. Vielleicht sollten wir … ?« Er stand langsam auf. Seine schwarzweiße Gestalt schien die Nische auszufüllen, groß und 1013
scharf umrissen und fremd. »Ja«, sagte er. »Ist wahrscheinlich besser.« Er schob mich mit einer sanften, unpersönlichen Hand auf der Schulter beiseite und trat hinaus auf die Wiese. Abby lag auf dem Rücken im Gras, in einem Wirbel aus weißer Baumwolle. Sie sah aus, als schliefe sie tief und fest. Daniel ging neben ihr auf ein Knie und strich ihr behutsam eine Haarlocke aus dem Gesicht. Dann richtete er sich wieder auf, wischte sich ein paar Grashalme von der Hose und ging zur Terrasse. Rafe schrie: »Leck mich doch!«, fuhr herum und stürmte ins Haus, knallte die Tür hinter sich zu. Justin weinte jetzt ganz offensichtlich. Nichts davon ergab irgendeinen Sinn. Die ganze unbegreifliche Szene schien sich in langsamen, schiefen Kreisen abzuspielen, das Haus torkelte hilflos, und der Garten wogte wie Wasser. Ich merkte, dass ich doch nicht so nüchtern war, sondern im Gegenteil mächtig betrunken. Ich setzte mich auf die Bank und steckte den Kopf zwischen 1014
die Knie, bis die Dinge um mich herum zur Ruhe kamen. Ich muss dann eingeschlafen oder ohnmächtig geworden sein, ich weiß es nicht. Ich hörte Rufen, irgendwo, aber es schien nichts mit mir zu tun haben, und ich reagierte nicht darauf. Ein Krampf im Hals weckte mich. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, wo ich war: zusammengerollt auf der Steinbank, den Kopf in einem peinlichen Winkel nach hinten gegen die Mauer gelehnt. Meine Kleidung war feucht und kalt, und ich fröstelte. Ich streckte mich, ganz vorsichtig, und stand auf. Schlechte Idee: Plötzlich drehte sich mir alles, ich musste mich am Efeu festhalten, um nicht umzukippen. Der Garten vor der Nische war grau geworden, ein stilles, gespenstisches, vordämmriges Grau, und kein Blatt bewegte sich. Einen Moment lang hatte ich Angst, dort hinauszutreten. Er sah aus wie ein Ort, dessen Ruhe nicht gestört werden sollte. 1015
Abby war nicht mehr auf der Wiese. Das Gras war schwer von Tau, benetzte meine Füße und den Saum meiner Jeans. Ein Paar Socken, möglicherweise von mir, lag verknäuelt auf der Terrasse, aber ich hatte nicht die Energie, es aufzuheben. Die Terrassentür stand offen, und Rafe schlief auf dem Sofa, schnarchend, in einem Chaos aus vollen Aschenbechern und leeren Gläsern und verstreuten Kissen und dem Geruch von abgestandenem Punsch. Das Klavier war mit Glasscherben übersät, geschwungen und böse auf dem glänzenden Holz und den vergilbten Tasten, und auf der Wand darüber war eine tiefe frische Delle: Jemand hatte etwas geworfen, ein Glas oder einen Aschenbecher, und hatte es verflucht ernst gemeint. Ich schlich auf Zehenspitzen nach oben und kroch ins Bett, ohne mich vorher auszuziehen. Es dauerte lange, ehe ich aufhörte zu schlottern und einschlief.
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19 Wie zu erwarten, wachten wir spät auf, alle mit einem höllischen Kater und kollektiv mieser Stimmung. Mein Kopf tat mörderisch weh, sogar bis in die Haarspitzen, und mein Mund fühlte sich an wie nach einem Sündenfall, geschwollen und weich. Ich zog mir eine Strickjacke über die Sachen von gestern, überprüfte im Spiegel, ob mein Gesicht wund war von Daniels Bartstoppeln – nichts –, und schleppte mich nach unten. Abby war in der Küche und warf gerade Eiswürfel in ein Glas. »Sorry«, sagte ich. »Hab ich das Frühstück verpasst?« Sie knallte die Eisschale zurück ins Gefrierfach und schlug die Tür zu. »Keiner hat Hunger. Ich trink eine Bloody Mary. Daniel hat Kaffee gekocht. Alles andere kannst du dir selbst machen.« Damit fegte sie an mir vorbei ins Wohnzimmer. Ich dachte, wenn ich jetzt anfing zu überlegen, warum sie sauer auf mich war, könnte mein Kopf 1017
explodieren. Ich goss mir eine große Tasse Kaffee ein, schmierte Butter auf eine Scheibe Brot – ein Toast kam mir viel zu kompliziert vor – und nahm beides mit ins Wohnzimmer. Rafe lag noch immer bewusstlos auf dem Sofa, ein Kissen über den Kopf gezogen. Daniel saß auf der Fensterbank, starrte in den Garten hinaus, eine Tasse in einer Hand und in der anderen eine Zigarette, die vergessen vor sich hin glimmte. Er drehte sich nicht zu mir um. »Kriegt er Luft?«, fragte ich und deutete mit dem Kinn auf Rafe. »Interessiert keinen«, sagte Abby. Sie hing schlaff in einem Sessel, die Augen geschlossen und das Glas an die Stirn gedrückt. Die Luft roch modrig und überreif, Zigarettenstummel und Schweiß und verschütteter Alkohol. Irgendwer hatte die Glasscherben vom Klavier gefegt. Sie lagen in einer Ecke auf dem Boden, in einem kleinen, bedrohlichen Häufchen. Ich setzte mich vor-
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sichtig und versuchte zu essen, ohne den Kopf zu bewegen. Der Nachmittag schlich dahin, langsam und klebrig wie Sirup. Abby legte halbherzig eine Patience, gab alle paar Minuten auf, um dann von vorn anzufangen. Ich döste immer wieder ein, zusammengerollt im Sessel. Irgendwann tauchte Justin auf, in seinen Morgenmantel gehüllt, und kniff vor Schmerz die Augen zusammen, als er das Licht sah, das durch die Fenster fiel – es war eigentlich ein ganz schöner Tag, wenn man in der Stimmung für so etwas war. »Oh Gott«, sagte er schwach und hob schützend die Hand vor die Augen. »Mein Kopf. Ich glaub, ich krieg die Grippe, mir tut alles weh.« »Nachtluft«, sagte Abby und legte eine weitere Karte. »Kalt, feucht, alles Mögliche. Und natürlich eimerweise Punsch.« »Das kommt nicht vom Punsch. Mir tun die Beine weh. Vom Kater tun einem nicht
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die Beine weh. Können wir nicht die Vorhänge zuziehen?« »Nein«, sagte Daniel, ohne sich umzudrehen. »Trink einen Kaffee.« »Vielleicht hab ich eine Hirnblutung. Kriegt man dann nicht Sehstörungen?« »Du hast einen Kater«, sagte Rafe aus den Tiefen des Sofas. »Und wenn du nicht mit dem Gejammer aufhörst, komm ich rüber und erwürg dich, und wenn’s mich selbst umbringt.« »Oh, super«, sagte Abby und massierte sich den Nasenrücken. »Es lebt.« Justin ignorierte ihn, verriet nur mit einem eisigen Anheben des Kinns, dass der Streit von letzter Nacht nicht zu Ende war, und sank auf einen Stuhl. »Vielleicht sollten wir ein bisschen rausgehen, irgendwann«, sagte Daniel, der endlich aus seiner Versunkenheit erwachte und sich umblickte. »Könnte uns wieder einen klaren Kopf verschaffen.« 1020
»Ich kann nirgendwohin«, sagte Justin und griff nach Abbys Bloody Mary. »Ich hab die Grippe. Wenn ich rausgehe, hol ich mir eine Lungenentzündung.« Abby schlug seine Hand weg. »Das ist meine. Mach dir selbst eine.« »Früher hätte man gesagt«, erklärte Daniel ihm, »dass deine Körpersäfte im Ungleichgewicht sind: Ein Überschuss an schwarzer Galle verursacht Melancholie. Schwarze Galle ist kalt und trocken, also brauchst du als Gegenmittel etwas Warmes und Feuchtes. Ich weiß nicht mehr, was für Speisen dem sanguinischen Charakter zugeordnet werden, aber es wäre wohl logisch, dass zum Beispiel rotes Fleisch –« »Sartre hatte recht«, sagte Rafe durch sein Kissen. »Die Hölle, das sind die anderen.« Ich empfand es genauso. Ich wollte nur noch, dass es Abend wurde und ich meinen Spaziergang machen konnte, raus aus diesem Haus und weg von diesen Menschen, um in Ruhe den Versuch zu 1021
machen, die vergangene Nacht zu verarbeiten. Ich hatte noch nie in meinem ganzen Leben so viel Zeit in Gesellschaft von anderen verbracht. Bis zu diesem Moment war es mir überhaupt nicht aufgefallen, aber mit einem Mal kam mir alles, was sie machten – Justins Sterbender-Schwan-Nummer, das Schnappen von Abbys Karten –, wie ein Frontalangriff vor. Ich zog mir die Strickjacke über den Kopf, drückte mich in die Sesselecke und schlief ein.
Als ich wach wurde, war der Raum leer. Es schien, als wäre er überstürzt verlassen worden, wegen irgendeines plötzlichen Notfalls – Lampen eingeschaltet, Lampenschirme merkwürdig schief, Stühle zurückgeschoben, halbleere Tassen und klebrige Ringe auf dem Tisch. »Hallo«, rief ich, doch meine Stimme versickerte in den Schatten, und niemand antwortete.
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Das Haus wirkte riesig und abweisend, so wie ein Haus manchmal wirkt, wenn du noch einmal nach unten kommst, nachdem du Türen und Fenster für die Nacht geschlossen hast: fremd, zurückgezogen, ganz auf sich selbst konzentriert. Nirgendwo ein Zettel; die anderen waren vermutlich doch spazieren gegangen, um sich den Kater von der frischen Luft wegpusten zu lassen. Ich goss mir eine Tasse kalten Kaffee ein und trank ihn gegen die Spüle gelehnt, während ich zum Fenster hinausschaute. Das Licht wurde eben erst golden und honigfarben, und Schwalben schossen zwitschernd tief über den Rasen. Ich stellte die Tasse in die Spüle und ging nach oben in mein Zimmer, bewegte mich unwillkürlich leise und stieg über die knarrende Stufe hinweg. Als ich die Hand auf die Türklinke legte, hatte ich das Gefühl, als würde das Haus sich sammeln und um mich zusammenziehen. Noch ehe ich die Tür öffnete, noch ehe ich den schwachen Hauch Tabakrauch in der Luft roch und seine Silhouette 1023
sah, breitschultrig und reglos auf dem Bett, wusste ich, dass Daniel da war. Das Licht durch die Vorhänge schimmerte blau auf seiner Brille, als er mir den Kopf zuwandte. »Wer bist du?«, fragte er. Ich dachte so schnell, wie selbst Frank es sich je von mir wünschen könnte, hatte schon einen Finger an die Lippen gehoben, damit er kein Wort mehr sagte, während meine andere Hand auf den Lichtschalter schlug, und dann rief ich: »Hey, ich bin’s, wer denn sonst!« Ich dankte Gott, dass Daniel ein so verschrobener Typ war, dass seine Frage Wer bist du? Frank vielleicht doch nicht stutzig gemacht hatte. Seine Augen ruhten wachsam auf meinem Gesicht, und er war zwischen mir und dem Koffer. »Wo sind denn alle?«, fragte ich ihn und riss die Knöpfe meines Oberteils auf, damit er das winzige Mikro sehen konnte, das an meinem BH klemmte, den Draht, der nach unten in den weißen Verband führte.
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Daniels Augenbrauen hoben sich, nur minimal. »Die sind in die Stadt gefahren, ins Kino«, sagte er ruhig. »Ich hatte noch ein paar Sachen hier zu erledigen. Wir wollten dich nicht wecken.« Ich nickte, hob anerkennend einen Daumen und ging dann langsam in die Knie, um meinen Koffer unter dem Bett hervorzuholen, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Die Spieldose auf dem Nachttisch, robust und scharfkantig und in Reichweite: Falls nötig, müsste ich ihn damit lange genug außer Gefecht setzen können, um das Weite zu suchen. Aber Daniel rührte sich nicht. Ich stellte die Kombination ein, öffnete den Koffer, fand meinen Polizeiausweis und warf ihn ihm zu. Er sah ihn sich genau an. »Hast du gut geschlafen?«, fragte er förmlich. Er hatte den Kopf über den Ausweis gebeugt und schien ihn gründlich zu studieren. Meine Hand lag nur wenige Zentimeter von meinem Revolver entfernt. Aber wenn ich versuchte, die Waffe in den Hosenbund zu schieben, und er in 1025
dem Moment aufblickte – nein. Ich zog den Reißverschluss des Koffers zu und verschloss ihn wieder. »Nicht berauschend«, sagte ich. »Ich hab immer noch einen Brummschädel. Ich werd ein bisschen lesen, vielleicht hilft das ja. Bis später, ja?« Ich wedelte mit der Hand, damit Daniel mich ansah, ging zur Tür und winkte ihm, mir zu folgen. Er warf einen letzten Blick auf meinen Ausweis, legte ihn dann sorgfältig auf den Nachttisch. »Ja«, sagte er. »Bis später.« Er stand vom Bett auf und folgte mir nach unten. Er bewegte sich sehr leise für seine Größe. Den ganzen Weg die Treppe hinunter spürte ich ihn im Rücken, und ich wusste, dass ich eigentlich Angst haben müsste – ein Schubs genügte –, aber ich hatte keine: Adrenalin durchströmte mich wie ein Wildwasserfluss, und ich hatte noch nie im Leben weniger Angst gehabt. Tiefenrausch, hatte Frank das mal genannt und mir dringend geraten, mich dadurch nicht täuschen zu lassen: Undercovercops können wie Tiefseetaucher in einer Euphorie der 1026
Schwerelosigkeit ertrinken, aber im Augenblick war mir das egal. Daniel blieb in der Tür zum Wohnzimmer stehen und beobachtete mich interessiert, während ich leise »Oh Johnny, How You Can Love« vor mich hin summte und die Schallplatten durchsah. Ich nahm Faurés Requiemheraus, legte es zusammen mit den Violinsonaten auf – Frank sollte schließlich was Gutes zu hören bekommen, zur Erweiterung seines kulturellen Horizonts –, und dann drehte ich die Lautstärke schön hoch. Ich ließ mich hörbar in meinen Sessel plumpsen, seufzte zufrieden und blätterte ein paar Seiten in meinem Notizbuch um. Dann löste ich ganz behutsam den Verband, zog das Mikro vom BH und ließ alles auf dem Sessel liegen, wo es ein Weilchen der Musik lauschen konnte. Daniel folgte mir durch die Küche nach draußen in den Garten. Der Gedanke, den offenen Rasen zu überqueren, behagte mir zwar nicht – Visuelle Überwachung ist nicht möglich, hatte Frank ge1027
sagt, aber das musste bei ihm nichts heißen –, aber wir hatten keine andere Wahl. Ich ging ganz außen am Rand entlang, bis wir zwischen den Bäumen waren. Sobald wir außer Sicht waren und ich mich wieder entspannte, fiel mir meine offene Bluse ein, und ich knöpfte sie zu. Falls Frank das Haus tatsächlich beobachten ließ, hätte er jetzt etwas, worüber er nachgrübeln könnte. Die Nische war heller, als ich erwartet hatte. Das Licht fiel in langen goldenen Streifen schräg über das Gras, schlüpfte zwischen die Kriechpflanzen und malte glänzende Flecken auf die Steinplatten. Die Bank war sogar durch meine Jeans hindurch kalt. Der Efeu schwang wieder zurück und verbarg uns. »Okay«, sagte ich. »Wir können reden, aber möglichst leise, für alle Fälle.« Daniel nickte. Er fegte Erdkrümel von dem Platz neben mir und setzte sich. »Dann ist Lexie also tot«, sagte er.
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»Ja«, sagte ich. »Es tut mir leid.« Das hörte sich lächerlich an, wahnsinnig unangemessen auf etwa einer Million Ebenen. »Wann?« »In der Nacht, als sie niedergestochen wurde. Sie hat aber wohl nicht viel leiden müssen, falls das ein Trost ist.« Er erwiderte nichts. Er faltete die Hände im Schoß und blickte hinaus durch den Efeu. Zu unseren Füßen murmelte das Wasserrinnsal. »Cassandra Maddox«, sagte Daniel schließlich, als probiere er aus, wie das klang. »Ich hab mich schon eine ganze Weile gefragt, wie wohl dein richtiger Name ist. Er passt zu dir.« »Ich werde Cassie genannt«, sagte ich. Er sagte nichts dazu. »Wieso hast du das Mikrofon abgenommen?« Bei jemand anderem hätte ich die Frage vielleicht ausweichend pariert – Was glaubst du wohl, warum? –, aber nicht bei Daniel. »Ich möchte wissen, was mit Lexie passiert ist. Mir ist es egal, 1029
ob jemand mithört oder nicht. Und ich dachte, du würdest es mir vielleicht eher erzählen, wenn ich dir einen Grund gebe, mir zu vertrauen.« Ob aus Höflichkeit oder Gleichgültigkeit, er wies nicht darauf hin, wie paradox das war. »Und du glaubst, ich weiß, wie sie gestorben ist?«, fragte er. »Ja«, sagte ich. »Das glaube ich.« Daniel überlegte. »Müsstest du in dem Fall nicht vor mir Angst haben?« »Vielleicht. Aber ich hab keine.« Er blickte mich einen langen Moment forschend an. »Du bist Lexie sehr ähnlich, weißt du«, sagte er. »Nicht nur äußerlich, sondern auch vom Temperament her. Zuerst hab ich mich gefragt, ob ich es einfach glauben wollte, als Entschuldigung dafür, dass ich mich so lange hab täuschen lassen, aber es stimmt. Lexie war furchtlos. Sie war wie eine Eiskunstläuferin, die mühelos an der Grenze ihres eigenen Tempos balanciert und spaßeshalber übermütige, komplizierte Sprünge und Drehungen 1030
einbaut. Ich hab sie immer darum beneidet.« Seine Augen lagen im Schatten, und ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. »Hast du es auch zum Spaß gemacht? Wenn ich fragen darf.« »Nein«, sagte ich. »Anfangs wollte ich es auf keinen Fall machen. Es war Detective Mackeys Idee. Er meinte, es wäre unerlässlich für die Ermittlung.« Daniel nickte, nicht überrascht. »Er hatte uns von Anfang an in Verdacht«, sagte er, und ich begriff, dass er recht hatte; natürlich hatte er recht. Franks ganzes Gerede von dem geheimnisvollen Unbekannten, der Lexie über den halben Erdball verfolgte, war reine Vernebelungstaktik: Sam hätte einen Koller gekriegt, wenn er gedacht hätte, ich würde mit einem Mörder unter einem Dach wohnen. Franks berühmte Intuition hatte sich schon lange vor unserer Besprechung im Büro des Morddezernats eingeschaltet. Er hatte die ganze Zeit gewusst, dass die Antwort in diesem Haus zu suchen war. 1031
»Interessanter Mann, dieser Detective Mackey«, sagte Daniel. »Er ist wie einer von den charmanten Mördern im Renaissance-Drama, die immer die besten Monologe kriegen: Bosola oder De Flores. Ein Jammer, dass du mir nichts verraten darfst. Ich würde zu gern wissen, was er sich alles gedacht hat.« »Ich auch«, sagte ich. »Glaub mir.« Daniel holte sein Zigarettenetui heraus, öffnete es und bot mir höflich eine an. Sein Gesicht, über das Feuerzeug gebeugt, als ich eine Hand schützend um die Flamme legte, war nachdenklich und ruhig. »Nun denn«, sagte er, als er auch seine Zigarette angezündet und das Etui wieder eingesteckt hatte, »ich bin sicher, du würdest mir gern ein paar Fragen stellen.« »Wenn ich Lexie so ähnlich bin«, sagte ich, »wodurch hab ich mich verraten?« Ich konnte nicht anders. Das hatte nichts mit professionellem
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Stolz zu tun; ich musste einfach unbedingt wissen, was der unübersehbare Unterschied gewesen war. Daniel wandte den Kopf und sah mich an. In seinem Gesicht lag ein Ausdruck, den ich nicht erwartet hatte: etwas, das an Zuneigung grenzte, oder Mitgefühl. »Du hast deine Sache unglaublich gut gemacht«, sagte er freundlich. »Selbst jetzt glaub ich nicht, dass die anderen irgendeinen Verdacht haben. Wir müssen entscheiden, was wir in der Hinsicht tun, du und ich.« »So gut hab ich meine Sache wohl doch nicht gemacht«, sagte ich, »sonst säßen wir nicht hier.« Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das würde uns beide unterbewerten, meinst du nicht auch? Du warst praktisch fehlerlos. Ich wusste, fast vom ersten Augenblick an, dass irgendetwas nicht stimmt – wir alle wussten es, so wie man spüren würde, dass irgendwas nicht in Ordnung ist, wenn der eigene Partner durch seinen eineiigen Zwilling ersetzt würde. Aber dafür gab es so viele mögliche Erklärungen. Zuerst hab ich mich gefragt, ob du 1033
die Amnesie vielleicht vortäuschst, aus persönlichen Gründen, aber nach und nach wurde klar, dass dein Gedächtnis tatsächlich beeinträchtigt war – zum Beispiel gab es keinen ersichtlichen Grund, warum du so tun solltest, als hättest du vergessen, dass du das Fotoalbum gefunden hattest, und es war klar, dass du ehrlich verstört warst, weil du dich nicht dran erinnern konntest. Sobald ich überzeugt war, dass das nicht das Problem war, dachte ich, du hättest vielleicht vor, uns zu verlassen – was verständlich gewesen wäre, unter den gegebenen Umständen, aber Abby war sich ganz sicher, dass das nicht deine Absicht war, und ich vertraue Abbys Urteilsvermögen. Und du hast wirklich … « Sein Gesicht drehte sich mir zu. »Du hast wirklich glücklich gewirkt, weißt du. Mehr als glücklich: zufrieden, zur Ruhe gekommen. Wieder geborgen in unserer Mitte, als wärst du nie weg gewesen. Vielleicht war das Absicht, und du bist in deinem Job sogar noch besser, als ich vermute, 1034
aber ich kann mir nicht vorstellen, dass meine und Abbys Instinkte so danebengelegen haben.« Ich konnte nichts dazu sagen. Für einen Sekundenbruchteil wollte ich mich ganz klein zusammenrollen und aus Leibeskräften losheulen, wie ein Kind, das an der Unbarmherzigkeit dieser Welt schier verzweifelt. Ich neigte nur unverbindlich das Kinn, zog an meiner Zigarette und schnippte Asche auf die Steinplatten. Daniel wartete mit einer ernsten Geduld, bei der mich ein leises, warnendes Frösteln durchlief. Als klar war, dass ich nicht antworten würde, nickte er kaum merklich, in sich gekehrt, nachdenklich. »Wie dem auch sei«, sagte er, »ich kam zu dem Schluss, dass dein, genauer gesagt Lexies Trauma der Grund sein musste. Ein so tiefes Trauma – und das war es ja nun wirklich – kann den Charakter eines Menschen völlig verändern, kann einen starken Menschen in ein zitterndes Wrack verwandeln, eine Frohnatur melancholisch machen, ein sanftes Gemüt bösartig. Es kann dich in tausend 1035
Stücke zerschmettern und die Überreste so wieder zusammensetzen, dass man nicht wiederzuerkennen ist.« Seine Stimme war gleichmäßig, ruhig. Er schaute wieder von mir weg, hinaus zu den Weißdornblüten, weiß und bebend im leichten Wind, und ich konnte seine Augen nicht sehen. »Die Veränderungen bei Lexie waren so minimal, vergleichsweise, so trivial, so leicht erklärlich. Ich nehme an, Detective Mackey hat dir alle Informationen gegeben, die du brauchtest.« »Detective Mackey und Lexie. Die Handyvideos.« Daniel dachte so lange darüber nach, dass ich glaubte, er hätte meine Frage vergessen. Sein Gesicht hatte eine eingebaute Reglosigkeit an sich – die kantige Kinnpartie vielleicht –, so dass es nahezu unmöglich zu deuten war. »›Alles ist überbewertet, außer Elvis und Schokolade‹«, sagte er schließlich. »Das war clever.«
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»Haben mich die Zwiebeln verraten?«, fragte ich. Er holte Luft und bewegte sich, tauchte aus seiner Versunkenheit auf. »Die Zwiebeln«, sagte er mit einem schwachen Lächeln. »Lexie konnte zwei Sachen nicht ausstehen: Zwiebeln und Kohl. Zum Glück mochten wir anderen auch keinen Kohl, aber bei den Zwiebeln mussten wir uns auf einen Kompromiss einigen: einmal die Woche. Sie hat nach wie vor gemeckert und sie rausgepickt und so – vor allem, um Rafe und Justin zu ärgern, glaub ich. Als du sie anstandslos gegessen hast und auch noch Nachschlag wolltest, da wusste ich, dass da was nicht stimmte. Ich wusste nicht genau, was – du hast es sehr gut überspielt –, aber ich wurde den Gedanken nicht mehr los. Als einzige Erklärung fiel mir nur ein, dass du, so unglaublich es auch schien, nicht Lexie warst.« »Und dann hast du mir eine Falle gestellt«, sagte ich. »Die Sache mit dem Brogan’s.«
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»Na ja, Falle würde ich es nicht gerade nennen«, sagte Daniel mit einer leichten Schärfe in der Stimme. »Eher einen Test. Es war ein spontaner Einfall. Lexie hatte keine Vorliebe oder Abneigung, was das Brogan’s betraf – ich bin nicht mal sicher, ob sie je da war –, was du, wenn du nicht die echte Lexie warst, nicht wissen konntest. Du könntest ihre Vorlieben und Abneigungen herausgefunden haben, aber wohl kaum Dinge, die ihr gleichgültig waren. Die Tatsache, dass du da richtig reagiert hast, und die Elvis-Bemerkung haben mich beruhigt. Bis letzte Nacht. Bis zu dem Kuss.« Mir wurde eiskalt, bis mir einfiel, dass ich das Mikro gar nicht trug. »Hätte Lexie das nicht getan?«, fragte ich gelassen und bückte mich, um meine Zigarette auf den Platten auszudrücken. Daniel lächelte mich an, dieses langsame, sanfte Lächeln, das ihn plötzlich attraktiv machte. »Oh doch«, sagte er. »Der Kuss passte absolut zu ihr – und war sehr schön, wenn ich das sagen darf.« Ich 1038
verzog keine Miene. »Nein, was nicht passte, war deine Reaktion darauf. Einen winzigen Augenblick lang hast du perplex gewirkt, völlig geschockt über das, was du da getan hattest. Dann hast du dich wieder gefangen und irgendeine flapsige Bemerkung gemacht und einen Vorwand gesucht, um aus der Situation rauszukommen – aber Lexie hätte sich durch diesen Kuss niemals aus der Fassung bringen lassen, nicht eine Sekunde. Und sie hätte ganz bestimmt keinen Rückzieher gemacht. Sie hätte … « Er blies nachdenkliche Rauchringe hinauf in den Efeu. »Sie hätte«, sagte er, »triumphiert.« »Wieso?«, fragte ich. »Hatte sie es darauf angelegt, dass so was passiert?« In Gedanken ging ich die Videoclips im Schnelllauf durch. Auf einigen hatte sie mit Rafe und Justin geflirtet, aber nie mit Daniel, nicht mal ansatzweise, aber das könnte auch ein Bluff gewesen sein, um die anderen zu täuschen – »Das«, sagte Daniel, »hat dich verraten.« 1039
Ich starrte ihn an. Er trat die Zigarette aus. »Lexie war genauso wenig imstande, über die Vergangenheit nachzudenken«, sagte er, »wie sie imstande war, mehr als einen Schritt weit in die Zukunft zu denken. Vielleicht war das eines der Dinge, die du übersehen hast. Nicht deine Schuld, eine derartige Unkompliziertheit ist kaum vorstellbar und auch schwer zu beschreiben. Es war so irritierend wie eine Missbildung. Ich bezweifele ernsthaft, dass sie in der Lage gewesen wäre, eine Verführung zu planen, aber wenn erst mal irgendwas passiert war, hätte sie keinen Grund gesehen, deswegen schockiert zu sein, geschweige denn, an der Stelle aufzuhören. Du dagegen hast eindeutig versucht, die Folgen abzuschätzen, die das haben könnte. Ich vermute, du hast einen Freund oder bist verheiratet, in deinem eigenen Leben.« Ich sagte nichts. »Also«, sagte Daniel, »hab ich heute Nachmittag im Polizeipräsidium angerufen, sobald die anderen weg waren, und gefragt, wie 1040
ich Detective Sam O’Neill erreichen könnte. Die Frau in der Zentrale musste erst im Telefonverzeichnis nachsehen und gab mir dann eine Durchwahl. Sie sagte: ›Das ist die Nummer vom Morddezernat.‹« Er seufzte, ein kleiner, müder, endgültiger Laut. »Mord«, sagte er leise. »Tja, da wusste ich Bescheid.« »Es tut mir leid«, sagte ich wieder. Den ganzen Tag, während wir Kaffee tranken und uns gegenseitig auf die Nerven gingen und über unseren Kater jammerten, während er die anderen allein ins Kino gehen ließ und in Lexies kleinem, dämmrigen Zimmer auf mich wartete, hatte er das allein mit sich ausgemacht. Daniel nickte. »Ja«, sagte er. »Das seh ich.« Wir schwiegen lange. Schließlich sagte ich: »Du weißt, dass ich dich fragen muss, was passiert ist.« Daniel nahm die Brille ab und putzte sie mit seinem Taschentuch. Ohne sie sahen seine Augen 1041
ausdruckslos aus, blind. »Es gibt ein spanisches Sprichwort«, sagte er, »das mich immer fasziniert hat. ›Nimm, was du willst, und bezahl dafür, sagt Gott.‹« Die Worte fielen in die Stille unter dem Efeu wie kühle Kieselsteine in Wasser, versanken, ohne eine einzige Welle zu erzeugen. »Ich glaube nicht an Gott«, sagte Daniel, »aber ich finde, dieser Satz hat etwas ganz eigenes Göttliches, eine Art strahlende Reinheit. Was könnte es Einfacheres oder Wesentlicheres geben? Du kannst alles haben, was du willst, solange du akzeptierst, dass es einen Preis hat und dass du ihn bezahlen musst.« Er setzte die Brille wieder auf und blickte mich seelenruhig an, steckte das Taschentuch zurück in die Hemdtasche. »Ich hab den Eindruck«, sagte er, »wir als Gesellschaft übersehen heutzutage die zweite Bestimmung. Wir hören bloß, ›Nimm, was du willst, sagt Gott‹, niemand spricht mehr von einem Preis, und wenn die Rechnung schließlich beglichen werden muss, sind alle empört. Das 1042
deutlichste Beispiel ist der wirtschaftliche Höhenflug in unserem Land: Dafür zahlen wir einen Preis, und zwar einen sehr hohen, wie ich meine. Wir haben Sushi-Bars und dicke Geländewagen, aber Leute in unserem Alter können sich keine Häuser oder Wohnungen in der Stadt leisten, wo sie aufgewachsen sind, so dass jahrhundertealte Gemeinwesen zerfallen wie Sandburgen. Die Leute sind täglich mehrere Stunden unterwegs, um zur Arbeit und wieder zurück zu kommen, Eltern sehen ihre Kinder kaum, weil sie Überstunden machen müssen, um über die Runden zu kommen. Wir haben keine Zeit mehr für Kultur – Theater machen dicht, schöne Häuser werden abgerissen, um Platz für Bürokomplexe zu schaffen. Und so weiter und so fort.« Er klang kein bisschen empört, nur konzentriert. »In meinen Augen ist das nichts, worüber man sich aufregen sollte«, sagte er, als er meinen Blick auffing. »Eigentlich sollte es niemanden überraschen. Wir haben genommen, was wir wollten, 1043
und wir zahlen dafür, und ich bin sicher, eine ganze Reihe von Leuten findet, dass das unterm Strich ein gutes Geschäft ist. Was mich hingegen überrascht ist, mit welcher Vehemenz dieser Preis verschwiegen wird. Die Politiker erzählen uns unermüdlich, dass wir in Utopia leben. Und wenn irgendwer mit einem Mindestmaß an Durchblick mal andeutet, dass die neue Glückseligkeit vielleicht nicht gratis ist, dann taucht dieser grässliche kleine Mann – wie heißt er noch gleich?, der Premierminister – im Fernsehen auf, nicht etwa, um uns klarzumachen, dass dieser Tribut ein Naturgesetz ist, sondern um heftig abzustreiten, dass er überhaupt existiert, und um uns wie Kinder dafür zu schelten, dass wir es erwähnt haben. Irgendwann konnte ich es nicht mehr ertragen und hab meinen Fernseher abgeschafft«, fügte er leicht mürrisch hinzu. »Wir sind eine Nation von Zahlungsunwilligen geworden, wir kaufen auf Kredit, und wenn die Rechnung ins Haus schneit, weigern
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wir uns vor lauter Empörung, überhaupt einen Blick darauf zu werfen.« Er schob sich die Brille mit einem Finger höher auf die Nase und blinzelte mich durch die Gläser an. »Ich habe immer akzeptiert«, sagte er schlicht, »dass es einen Preis zu zahlen gibt.« »Wofür?«, sagte ich. »Was willst du?« Daniel schwieg und überlegte – nicht was er antworten sollte, glaube ich, sondern wie er es mir am besten erklären konnte. »Am Anfang«, sagte er schließlich, »war die Frage eher, was ich nicht wollte. Lange vor meinem Examen war mir klargeworden, dass der übliche Deal – ein Minimum an Luxus im Austausch für meine Freizeit und Seelenruhe – für mich nicht in Frage kam. Ich war gewillt, mich mit einem bescheidenen Leben zu begnügen, wenn ich dafür der Tretmühle eines eintönigen Jobs entging. Ich war mehr als bereit, solche Sachen zu opfern wie neue Wagen, Strandurlaube und iPods.«
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Meine Nerven waren bereits zum Zerreißen gespannt, und bei der Vorstellung, wie Daniel an einem Strand von Torremolinos lag, in der Hand einen knallbunten Cocktail, und zu der Musik aus seinem iPod mit dem Kopf wippte, hätte ich fast einen Lachanfall bekommen. Er sah mit einem schwachen Lächeln zu mir hoch. »Es wäre kein großes Opfer gewesen, nein. Aber ich hatte nicht bedacht, dass der Mensch nun mal keine Insel ist; dass ich nicht einfach aus der vorherrschenden Seinsweise aussteigen konnte. Wenn ein bestimmter Deal innerhalb einer Gesellschaft zum Standard wird – sozusagen die kritische Masse erreicht –, stehen so ohne weiteres keine Alternativen zur Verfügung. Das einfache Leben ist heutzutage eigentlich keine Option. Entweder du wirst eine Arbeitsdrohne, oder du ernährst dich von Toastbrot und lebst in einem schäbigen möblierten Zimmer mit vierzehn Studenten direkt über dir, und die Vorstellung fand ich nun auch nicht so toll. Ich hab’s eine Weile probiert, aber an arbeiten war bei 1046
dem Heidenlärm praktisch nicht zu denken, und der Vermieter war so ein finsterer alter Typ, der zu den unmöglichsten Uhrzeiten bei mir aufkreuzte und quatschen wollte, und … na, egal. Freiheit und Bequemlichkeit sind im Augenblick nur gegen einen hohen Aufschlag zu haben. Wer beides will, muss bereit sein, einen entsprechend hohen Preis zu zahlen.« »Hattest du denn keine anderen Möglichkeiten?«, sagte ich. »Ich dachte, du hättest Geld.« Daniel warf mir einen ausdruckslosen Blick zu. Ich sah ihn genauso nichtssagend an. Schließlich seufzte er. »Ich glaube, ich hätte gern was zu trinken«, sagte er. »Ich meine, ich müsste hier irgendwo – Ja, da ist sie.« Er hatte sich schräg nach unten gebeugt, um suchend unter die Bank zu greifen, und ich stellte mich blitzschnell auf das Schlimmste ein – es war nichts in greifbarer Nähe, was sich als Waffe geeignet hätte, aber wenn ich ihm Efeuranken ins Gesicht schlug, würde mir das vielleicht genug Vorsprung geben, um zum Mikro 1047
zu rennen und Verstärkung zu rufen –, doch als er sich wieder aufrichtete, hatte er eine halbvolle Whiskeyflasche in der Hand. »Die hab ich letzte Nacht mit hier rausgenommen und dann bei der ganzen Aufregung vergessen. Und da müsste auch noch – Ja.« Er brachte ein Glas zum Vorschein. »Möchtest du was?« Es war gute Qualität, Jameson’s Crested Ten, und ich hätte weiß Gott einen Drink gebrauchen können. »Nein, danke«, sagte ich. Keine unnötigen Risiken, dieser Typ war wesentlich cleverer, als er tat. Daniel nickte, begutachtete das Glas und bückte sich, um es im fließenden Wasser auszuspülen. »Hast du dir schon mal vor Augen geführt«, fragte er, »was für eine unsägliche Angst in diesem Land herrscht?« »Nicht so richtig«, sagte ich. Ich hatte Mühe, seinen Gedankengängen zu folgen, aber ich kannte Daniel gut genug, um zu wissen, dass er auf irgendetwas hinauswollte und irgendwann schon 1048
auf den Punkt kommen würde. Wir hatten noch rund fünfundvierzig Minuten, ehe Fauré zu Ende war, und ich war schon immer gut darin, Verdächtige das Tempo bestimmen zu lassen. Egal, wie stark du bist oder wie beherrscht, ein Geheimnis zu bewahren – ich weiß, wovon ich rede – wird mit der Zeit zu einer Last, zu einer ermüdenden Last, und du fühlst dich unerträglich einsam. Wenn du sie reden lässt, musst du ihnen nur ab und zu einen Stups geben, sie immer wieder in die richtige Richtung lenken; den Rest machen sie selbst. Er schüttelte Wassertropfen aus dem Glas, holte wieder sein Taschentuch hervor und benutzte es zum Abtrocknen. »Die Schuldnermentalität ist mit einer ständigen verzweifelt unterdrückten, unterschwelligen Panik verbunden. Das Verhältnis von Schulden zu Einkommen in unserem Land ist eines der höchsten der Welt, und die meisten von uns sind nur zwei Gehälter davon entfernt, auf der Straße zu landen. Die Mächtigen – Regierungen, 1049
Arbeitgeber – nutzen das geschickt aus. Verängstigte Menschen sind fügsam – nicht bloß physisch, sondern auch intellektuell und emotional. Wenn dein Arbeitgeber dir sagt, du sollst Überstunden machen, und du weißt, eine Weigerung könnte alles gefährden, was du hast, dann machst du nicht nur die Überstunden, sondern redest dir obendrein ein, dass du sie freiwillig machst, aus Loyalität der Firma gegenüber, weil du dir sonst eingestehen müsstest, dass du ein Leben in Angst führst. Und ehe du weißt, wie dir geschieht, hast du dich selbst davon überzeugt, dass du eine tiefe emotionale Bindung an irgendein großes multinationales Unternehmen hast: Du hast nicht nur deine Arbeitszeit vertraglich festgeschrieben, sondern dein ganzes Denken. Frei handeln oder frei denken können nur Menschen, die – entweder weil sie heldenhaft tapfer oder verrückt sind oder weil sie wissen, dass ihnen nichts passieren kann – frei von Angst sind.«
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Er goss sich drei Finger Whiskey ein. »Ich bin beim besten Willen kein Held«, sagte er, »und ich halte mich nicht für verrückt. Auch die anderen halte ich für keines von beidem. Und doch wollte ich, dass wir alle die Chance auf Freiheit haben.« Er stellte die Flasche hin und sah mich an. »Du hast mich gefragt, was ich will. Die Frage hab ich mir selbst auch oft gestellt. Vor ein oder zwei Jahren bin ich dann zu dem Schluss gekommen, dass ich im Grunde nur zwei Dinge auf dieser Welt will: die Gesellschaft meiner Freunde und die Möglichkeit zu freiem Denken.« Die Worte gingen mir durch und durch, wie ein dünnes Messer aus Heimweh. »Scheint eigentlich nicht besonders viel verlangt«, sagte ich. »Oh, und ob«, sagte Daniel und nahm einen Schluck Whiskey. Seine Stimme hatte einen harschen Unterton. »Es war sehr viel verlangt. Daraus ergab sich nämlich, dass wir Sicherheit brauchten – dauerhafte Sicherheit. Womit wir wieder bei deiner letzten Frage wären. Meine Eltern haben 1051
mir Kapitalanlagen hinterlassen, die mir ein kleines Einkommen sichern – mehr als genug in den achtziger Jahren, heute knapp ausreichend für eine Einzimmerwohnung. Mit seinem Treuhandfonds kommt Rafe in etwa auf dieselbe Summe. Justins finanzielle Unterstützung endet, sobald er seinen Doktor in der Tasche hat, genau wie Abbys Stipendium, und Lexies wäre dann ebenfalls ausgelaufen. Was glaubst du, wie viele Jobs in Dublin auf Leute warten, die nur Literatur studieren und zusammen sein wollen? In ein paar Monaten wären wir in genau der gleichen Situation gewesen wie die überwiegende Mehrheit in diesem Land: gefangen zwischen Armut und Sklaventum, zwei Gehälter davon entfernt, auf der Straße zu landen, den Launen von Vermietern und Arbeitgebern schutzlos ausgeliefert. Permanent in Angst.« Er blickte durch den Efeu über das Gras zur Terrasse, ließ mit einer langsamen Neigung des Handgelenks den Whiskey im Glas kreisen. »Al-
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les, was wir brauchten«, sagte er, »war ein Zuhause.« »Reicht das als Sicherheit?«, fragte ich. »Ein Haus?« »Aber natürlich«, sagte er ein wenig überrascht. »Psychologisch macht das einen fast unbeschreiblichen Unterschied aus. Wenn dir dein Haus oder deine Wohnung gehört, schuldenfrei, womit kann dir dann noch irgendwer – Vermieter, Arbeitgeber, Banken – drohen? Welche Macht haben andere dann noch über dich? Auf alles andere kannst du notfalls verzichten. Wir alle zusammen wären immer in der Lage, genug Geld fürs Essen aufzutreiben, und keine materielle Angst ist so grundlegend und lähmend wie der Gedanke, das Dach über dem Kopf zu verlieren. Ohne diese Angst wären wir frei. Ich will damit nicht sagen, dass der Besitz eines Hauses ein glückliches Leben wie im Paradies garantiert, nur dass er den Unterschied zwischen Freiheit und Versklavung ausmacht.«
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Er hatte wohl den Ausdruck in meinem Gesicht gedeutet. »Wir sind hier in Irland, Menschenskind«, sagte er mit einem Anflug von Ungeduld. »Wenn du dich nur halbwegs mit unserer Geschichte auskennst, liegt das doch wohl auf der Hand. Die Briten haben etwas ganz Entscheidendes hier gemacht, sie haben sich den Grund und Boden unter den Nagel gerissen, aus irischen Landbesitzern Pächtern gemacht. Danach ergab sich alles andere wie von selbst: Konfiszierung von Ernteerträgen, Misshandlung von Pächtern, Vertreibung, Auswanderung, Hungersnot, die ganze Litanei von Elend und Leibeigenschaft. Und das alles geschah so selbstverständlich und war nicht aufzuhalten, weil die Enteigneten keine solide Grundlage hatten, um sich zur Wehr zu setzen. Ich bin sicher, meine eigene Familie hat sich genauso schuldig gemacht. Vielleicht liegt ja eine gewisse ausgleichende Gerechtigkeit darin, dass ich die Kehrseite der Medaille am eigenen Leib
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erlebt habe. Aber ich hatte nicht das Bedürfnis, es einfach als meine gerechte Strafe zu akzeptieren.« »Ich wohne zur Miete«, sagte ich. »Wahrscheinlich bin ich zwei Gehälter davon entfernt, auf der Straße zu landen. Aber das stört mich nicht.« Daniel nickte, nicht überrascht. »Vielleicht bist du tapferer als ich«, sagte er. »Oder vielleicht – entschuldige – weißt du einfach noch nicht, was du vom Leben erwartest. Du hast noch nichts gefunden, woran du wirklich festhalten willst. Das verändert nämlich alles. Studenten und ganz junge Menschen können zur Miete wohnen, ohne dass ihre intellektuelle Freiheit Schaden nimmt, weil es für sie keine Bedrohung darstellt: Sie haben nichts zu verlieren, noch nicht. Ist dir aufgefallen, wie leicht die ganz Jungen sterben? Sie geben die besten Märtyrer ab, egal für welche Sache, die besten Soldaten, die besten Selbstmörder. Das liegt daran, dass sie nichts haben, was sie hält. Sie haben noch nicht genug angesammelt, geliebte Men1055
schen und Verantwortungen und Verpflichtungen und all die Dinge, die uns fest mit dieser Welt verbinden. Sie können sich so mühelos von ihr lösen, wie man einen Finger hebt. Aber je älter du wirst, desto mehr Dinge findest du, die es wert sind, sie festzuhalten, für immer. Mit einem Mal willst du etwas für dich bewahren, und das verändert dich von Grund auf.« Ob es am Adrenalin lag oder an dem seltsam flirrenden Licht durch den Efeu oder an Daniels verschlungenen Gedankengängen oder einfach nur an der völlig abstrusen Situation, jedenfalls hatte ich irgendwie das Gefühl, getrunken zu haben. Ich dachte an Lexie, wie sie in Chads gestohlenem Wagen durch die Nacht raste, an Sams Gesicht mit diesem Ausdruck entsetzlicher Geduld, an das Morddezernat im Abendlicht, unsere Schreibtische übersät mit dem Papierkram anderer Teams; an meine Wohnung, leer und still, wo sich allmählich Staub auf den Bücherregalen sammelte und das Standby-Lämpchen am CD-Player grün im Dun1056
keln leuchtete. Ich mag meine Wohnung sehr, aber plötzlich wurde mir klar, dass ich sie in den letzten Wochen nicht eine Sekunde vermisst hatte, und das machte mich irgendwie furchtbar und bodenlos traurig. »Ich vermute mal«, sagte Daniel, »dass du noch immer diese erste Freiheit hast – dass du noch nichts gefunden hast, woran du für immer festhalten willst, auch noch keinen Menschen.« Ruhige graue Augen und der hypnotische goldene Schimmer des Whiskeys, das Geräusch von Wasser, die Laubschatten, die wie ein dunklerer Kranz auf seinem dunklen Haar schwankten. »Ich hatte mal einen Partner«, sagte ich, »bei der Arbeit. Du bist ihm nicht begegnet, er arbeitet nicht an diesem Fall. Wir waren wie ihr: Wir passten zusammen. Die anderen haben über uns geredet wie über Zwillinge, als wären wir ein und dieselbe Person – ›Das ist MaddoxundRyans Fall, setzt MaddoxundRyan drauf an … ‹ Wenn mich irgendwer gefragt hätte, hätte ich gesagt, das ist es: 1057
Wir zwei bleiben ein Team bis ans Ende unserer Laufbahn, wir gehen am selben Tag in Rente, damit keiner von uns mit einem anderen zusammenarbeiten muss, und die Abteilung schenkt uns zum Abschied eine goldene Uhr für uns beide. Aber damals hab ich keinen Gedanken an so was verschwendet. Es war einfach selbstverständlich für mich. Ich konnte mir gar nichts anderes vorstellen.« Ich hatte das noch nie jemandem erzählt. Sam und ich hatten Rob nie erwähnt, nicht ein einziges Mal, seit er versetzt worden war, und wenn ich gefragt wurde, wie es ihm ging, setzte ich mein nettestes Lächeln auf und antwortete so vage wie möglich. Daniel und ich waren uns fremd, wir waren Gegner, und unter dem höflichen Geplauder bekämpften wir einander mit Zähnen und Klauen, und das wussten wir beide, aber ihm hatte ich es erzählt. Heute glaube ich, das hätte meine erste Warnung sein müssen.
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Daniel nickte. »Aber das ist aus und vorbei«, sagte er, »Schnee von gestern.« »Könnte man so sagen«, sagte ich, »ja.« Er sah mich an, und es lag etwas in seinen Augen, das über Güte hinausging, über Mitgefühl: Verständnis. Ich glaube, in diesem Moment liebte ich ihn. Wenn ich den ganzen Fall hätte abgeben und bleiben können, ich hätte es getan. »Verstehe«, sagte Daniel. Er hielt mir das Glas hin. Ich schüttelte automatisch den Kopf, doch dann überlegte ich es mir anders und nahm es: egal. Der Whiskey war stark und mild, und er brannte mir Lichtspuren bis hinein in die Fingerspitzen. »Dann wirst du verstehen, wie umwälzend es für mich war«, sagte er, »die anderen kennenzulernen. Die Welt um mich herum verwandelte sich: Die Einsätze schnellten in die Höhe, die Farben waren so schön, dass es weh tat, das Leben wurde fast unvorstellbar angenehm und fast unvorstellbar beängstigend. Es ist so zerbrechlich, 1059
weißt du, alles kann so leicht kaputtgehen. Ich schätze, so ähnlich ist es, wenn man sich verliebt oder ein Kind bekommt, wenn man weiß, es kann einem jeden Augenblick wieder weggenommen werden. Wir rasten mit halsbrecherischem Tempo auf den Tag zu, an dem alles, was wir hatten, von der Gnade einer gnadenlosen Welt abhängen würde, und jede Sekunde war so wunderschön und unsicher, dass es mir den Atem verschlug.« Er streckte die Hand nach dem Glas aus und trank einen Schluck. »Und dann«, sagte er, mit einer geöffneten Hand in Richtung Haus deutend, »wurde uns das da beschert.« »Wie durch ein Wunder«, sagte ich. Ich meinte das nicht höhnisch, sondern ehrlich. Einen kurzen Moment lang spürte ich das alte Holz des Treppengeländers unter der Hand, warm und geschmeidig wie ein Muskel, etwas Lebendiges. Daniel nickte. »Erstaunlicherweise«, sagte er, »glaube ich an Wunder, an die Möglichkeit des Unmöglichen. Das Haus ist mir jedenfalls immer 1060
wie ein Wunder vorgekommen, weil es genau in dem Moment auftauchte, als wir es am meisten brauchten. Mir war auf der Stelle klar, gleich, als der Anwalt meines Onkels mir die Neuigkeit am Telefon mitteilte, was das für uns bedeuten könnte. Die anderen hatten Zweifel, jede Menge. Wir haben monatelang diskutiert. Lexie – und darin liegt eine gewisse tragische Ironie, finde ich – war die Einzige, die von Anfang an von der Idee begeistert war. Abby war am schwersten zu überzeugen – obwohl sie sich am meisten so was wie ein richtiges Zuhause wünschte, oder vielleicht gerade deshalb, keine Ahnung –, aber selbst sie war schließlich dafür. Ich vermute, letzten Endes war die Tatsache ausschlaggebend, dass man, wenn man sich einer Sache absolut sicher ist, fast zwangsläufig diejenigen überzeugen kann, die weder in die eine noch in die anderen Richtung sicher sind. Und ich war mir sicher. Ich war mir nie einer Sache sicherer.«
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»Hast du die anderen deshalb zu Miteigentümern gemacht?« Daniel warf mir einen scharfen Blick zu, aber ich sah ihn weiter höflich interessiert an, und nach einem Moment blickte er wieder durch den Efeu in den Garten. »Nun ja, nicht um sie rumzukriegen oder so, falls du das meinst«, sagte er. »Wohl kaum. Aber es war absolut notwendig für das, was mir vorschwebte. Es ging mir nicht um das Haus an sich – sosehr ich es liebe. Es ging mir um Sicherheit, für uns alle, einen sicheren Hafen. Als alleiniger Eigentümer wäre ich, und das ist nun mal die harte Wahrheit, der Vermieter der anderen gewesen, und sie hätten nicht mehr Sicherheit gehabt als zuvor. Sie wären von meinen Launen abhängig gewesen, immer in der Ungewissheit, was ich für Entscheidungen treffen würde, ob ich irgendwann ausziehen oder heiraten oder verkaufen würde. So war es unser gemeinsames Zuhause, für immer.«
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Er hob eine Hand und schob den Efeuvorhang beiseite. Die Steinmauern des Hauses lagen gelblich rot im Licht der untergehenden Sonne, schimmernd und sanft, die Fenster flammend, als würde es hinter ihnen brennen. »Es war so eine wunderschöne Vorstellung«, sagte er. »Fast überirdisch schön. Am Tag unseres Einzugs haben wir den Kamin saubergemacht und uns mit eiskaltem Wasser gewaschen und ein Feuer angezündet und davorgesessen und kalten, klumpigen Kakao getrunken und versucht, Toast zu machen – der Herd funktionierte nicht, der Tauchsieder funktionierte nicht, im ganzen Haus waren nur zwei Glühbirnen intakt. Justin trug seine ganze Garderobe am Leib und jammerte, wir würden alle an Lungenentzündung sterben oder durch das Einatmen von Schimmel oder beides, und Rafe und Lexie ärgerten ihn damit, sie hätten Ratten auf dem Dachboden gehört. Abby drohte den beiden an, sie müssten da oben schlafen, wenn sie nicht endlich aufhörten. Ich hab eine Toastscheibe nach der ande1063
ren angebrannt oder ins Feuer fallen lassen, und wir fanden das alle zum Schreien komisch, haben uns schier kaputtgelacht. In meinem ganzen Leben war ich noch nie so glücklich.« Seine grauen Augen waren ruhig, aber der Ton in seiner Stimme, wie ein tiefes Glockenläuten, tat mir irgendwo unter dem Brustbein weh. Ich wusste seit Wochen, dass Daniel unglücklich war, aber erst in diesem Augenblick begriff ich, was immer mit Lexie gewesen war, es hatte ihm das Herz gebrochen. Er hatte alles auf diese eine strahlende Idee gesetzt, und er hatte verloren. Egal, was andere sagen, ein Teil von mir glaubt, dass ich an jenem Tag unter dem Efeu alles hätte erkennen müssen, was dann geschah, das Muster hätte sich vor meinen Augen entfalten müssen, sauber und schnell und unbarmherzig, und ich hätte wissen müssen, wie es aufzuhalten war. »Was ist schiefgelaufen?«, fragte ich leise. »Die Idee hatte natürlich Schwachstellen«, sagte er gereizt. »Zwangsläufige und verheerende 1064
Schwachstellen. Sie basierte auf zwei der größten Mythen der Menschheit: dass Dauerhaftigkeit möglich und der Mensch einfach gestrickt ist. Beides mag in der Literatur funktionieren, ist aber außerhalb der Buchseiten reines Hirngespinst. Unsere Geschichte hätte an dem Abend mit dem kalten Kakao aufhören sollen, dem Abend, als wir einzogen: Und wenn sie nicht gestorben sind … Ende, aus. Doch leider Gottes verlangte das wirkliche Leben, dass wir weiterleben.« Er leerte sein Glas mit einem langen Schluck und zog eine Grimasse. »Das schmeckt scheußlich. Ich wünschte, wir hätten Eiswürfel.« Ich wartete, während er sich noch ein Glas einschenkte, es leicht angewidert betrachtete und dann auf die Bank stellte. »Darf ich dich was fragen?«, sagte ich. Daniel legte den Kopf schief. »Was du vorhin gesagt hast von wegen bezahlen für das, was man will«, sagte ich. »Wie habt
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ihr für dieses Haus bezahlt? Ich finde, ihr habt genau das bekommen, was ihr wolltet, umsonst.« Er hob eine Augenbraue. »Findest du? Du wohnst seit etlichen Wochen hier. Da wird dir doch klargeworden sein, wie hoch der Preis ist.« Natürlich war mir das klar, aber ich wollte es von ihm hören. »Keine Vergangenheit«, sagte ich. »Um nur ein Beispiel zu nennen.« »Keine Vergangenheit«, wiederholte Daniel, fast zu sich selbst. Dann zuckte er die Achseln. »Das gehörte dazu, klar – es sollte schließlich für uns alle ein Neuanfang sein, ein gemeinsamer –, aber damit hatten wir die wenigsten Probleme. Wie du bestimmt mitbekommen hast, hat keiner von uns eine Vergangenheit, an der man gerne hängt. Die Hauptschwierigkeiten waren eigentlich eher praktischer Natur als psychologischer: Rafes Vater daran hindern, weiter anzurufen und ihn zu beleidigen, Justins Vater daran hindern, ihn zu bezichtigen, einer Sekte beigetreten zu sein, und mit der Polizei zu drohen, Abbys Mutter daran hin1066
dern, ihr draußen vor der Bibliothek aufzulauern, vollgedröhnt mit Gott weiß was. Aber das waren vergleichsweise kleine Probleme, grundsätzliche Schwierigkeiten, die sich mit der Zeit von allein gelöst hätten. Der eigentliche Preis … « Er fuhr geistesabwesend mit einem Finger über den Glasrand, sah zu, wie das Gold des Whiskeys aufleuchtete und sich verdunkelte, wenn sein Schatten darauffiel. »Ich vermute, manche würden das, was wir hatten, vielleicht als Scheintod bezeichnen«, sagte er schließlich. »Für mich wäre das allerdings eine extrem vereinfachte Definition. Heiraten und Kinder kamen zum Beispiel für keinen von uns mehr in Frage. Die Aussicht, jemanden zu finden, der in der Lage wäre, sich in unsere weiß Gott ungewöhnliche Konstellation einzufügen, auch wenn der- oder diejenige es wollte, war verschwindend klein. Und obwohl ich nicht abstreite, dass es in unserem Kreis gewisse Intimitäten gegeben hat, hätte es unser aller Gleichgewicht
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unwiderruflich zerstört, wenn zwei von uns eine ernsthafte Liebesbeziehung angefangen hätten.« »Gewisse Intimitäten?«, fragte ich. Lexies Baby … »Zwischen wem?« »Also wirklich«, sagte Daniel leicht ungehalten, »das tut nichts zur Sache. Entscheidend ist, um aus diesem Haus unser gemeinsames Zuhause zu machen, mussten wir viele Wünsche und Ziele über Bord werfen, die andere Menschen für wesentlich halten. Wir mussten alles über Bord werfen, was für Rafes Vater die reale Welt ausmacht.« Vielleicht lag es an dem Whiskey, den ich verkatert und auf fast leeren Magen getrunken hatte. Seltsame Dinge wirbelten mir durch den Kopf, sprühten Lichtschauer wie Prismen. Ich dachte an uralte Geschichten: erschöpfte Reisende, die aus dem Unwetter in hellerleuchtete Bankettsäle taumeln und ihr altes Leben abstreifen, sobald sie die erste Kostprobe Brot oder Honigwein auf der Zunge spüren; an jenen ersten Abend, wie die vier 1068
mich über den reichgedeckten Tisch, die erhobenen Weingläser und die Efeuranken hinweg anlächelten, glatthäutig und schön, mit Kerzenschein in den Augen. Ich erinnerte mich an die Sekunde, ehe Daniel und ich uns küssten, wie wir fünf plötzlich vor mir aufgestiegen waren, atemberaubend und ewig wie Geister, süß und hauchzart in der Luft über dem wogenden Gras; und an die Gefahr verkündende Trommel irgendwo hinter meinen Ohren. »So schlimm, wie es sich anhört, ist es auch wieder nicht«, fügte er hinzu, weil er etwas in meinem Gesichtsausdruck gesehen hatte. »Egal, was die Werbung uns weismachen will, wir können nicht alles haben. Verzicht ist keine Option oder ein Anachronismus, er ist eine Lebensrealität. Wir alle hacken uns Körperteile ab, um sie auf irgendeinem Altar zu opfern. Es kommt darauf an, einen Altar zu wählen, der es auch wert ist, und ein Körperteil, auf das man verzichten kann, und das Opfer bereitwillig auf sich zu nehmen.« 1069
»Und das hast du getan«, sagte ich. Mir war, als würde die Steinbank unter mir zusammen mit dem Efeu schwanken, in einem langsamen, schwindelerregenden Rhythmus. »Du hast es bereitwillig akzeptiert.« »Allerdings, ja«, sagte Daniel. »Ich habe genau gesehen, welche Folgen das haben würde, glasklar. Ich hatte im Vorhinein alles durchdacht, ehe ich mich auf diese Sache einließ, und ich war zu dem Schluss gelangt, dass es sich lohnen würde, den Preis zu zahlen – ich bezweifele ohnehin, dass ich jemals Kinder hätte haben wollen, und ich habe noch nie an den einen seelenverwandten Menschen geglaubt. Ich ging davon aus, dass die anderen das Gleiche gemacht hatten, dass sie den Einsatz abgeschätzt hatten und zu dem Schluss gekommen waren, dass sich das Opfer lohnen würde.« Er hob das Glas an die Lippen und trank einen Schluck. »Das«, sagte er, »war mein erster Fehler.«
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Er war so ruhig. In dem Moment registrierte ich es nicht, erst viel später, als ich das Gespräch noch einmal Revue passieren ließ, auf der Suche nach Hinweisen, fiel es mir auf: war, hatte. Daniel sprach die ganze Zeit in der Vergangenheit. Er wusste, dass es vorbei war, auch wenn das vielleicht noch niemand sonst gemerkt hatte. Er saß da unter dem Efeu mit einem Glas in der Hand, abgeklärt wie ein Buddha, und sah zu, wie der Bug seines Schiffes sich neigte und in den Wellen versank. »Hatten sie es nicht richtig durchdacht?«, fragte ich. Mein Verstand glitt noch immer schwerelos dahin, alles war glatt wie Glas, und ich bekam mich einfach nicht in den Griff. Eine Sekunde lang durchschoss mich der verrückte Gedanke, ob Daniel etwas in den Whiskey gemischt hatte, aber er hatte deutlich mehr getrunken als ich, und er wirkte ganz normal – »Oder haben sie es sich anders überlegt?«
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Daniel massierte sich mit Zeigefinger und Daumen den Nasenrücken. »Wenn ich richtig drüber nachdenke«, sagte er ein wenig müde, »hab ich im Laufe der Zeit erstaunlich viele Fehler gemacht. Diese Geschichte mit der Unterkühlung zum Beispiel: Darauf hätte ich nicht reinfallen dürfen. Am Anfang bin ich das auch nicht. Ich versteh nicht viel von Medizin, aber als dein Kollege – Detective Mackey – mir die Geschichte erzählte, hab ich ihm kein Wort geglaubt. Ich nahm an, dass er darauf hoffte, wir würden vielleicht redseliger, wenn wir glaubten, es ginge um Körperverletzung und nicht um Mord und dass Lexie ihm jeden Moment alles erzählen könnte. Die ganze Woche lang ging ich fest davon aus, dass das ein Bluff von ihm war. Aber dann … « Er hob den Kopf und sah mich an, blinzelte, als hätte er fast vergessen, dass ich da war. »Aber dann, na ja«, sagte er, »dann bist du aufgetaucht.«
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Seine Augen glitten über mein Gesicht. »Die Ähnlichkeit ist wirklich verblüffend. Bist du – warst du – mit Lexie verwandt?« »Nein«, sagte ich. »Nicht, dass ich wüsste.« »Nein.« Daniel ging systematisch seine Taschen durch, holte sein Zigarettenetui und ein Feuerzeug hervor. »Sie hat uns erzählt, sie hätte keine Familie. Vielleicht bin ich deshalb nicht darauf gekommen, dass du eine Doppelgängerin sein könntest. Das Unwahrscheinliche an der ganzen Situation war dein großer Vorteil: Jeder Verdacht, du könntest nicht Lexie sein, hätte auf der beinahe absurden Hypothese deiner Existenz beruhen müssen. Ich hätte an Conan Doyle denken sollen: › … das, was übrig bleibt, muss die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich es auch scheinen mag.‹« Er schnippte das Feuerzeug an und neigte den Kopf über die Flamme. »Ich wusste nämlich«, sagte er, »dass Lexie unmöglich am Leben sein konnte. Ich hab ihr selbst den Puls gefühlt.« 1073
Der Garten verschreckt, im verblassenden goldenen Licht. Die Vögel verstummt, die schwingenden Zweige mitten in der Bewegung erstarrt, das Haus, eine gewaltige Stille, die lauschend über uns hing. Ich hatte aufgehört zu atmen. Lexie kam über das Gras geweht wie ein silbriger Windstoß, sie wiegte sich in den Weißdornbäumen und balancierte leicht wie ein Blatt auf der Mauer neben mir, sie glitt an meiner Schulter entlang und brannte mir den Rücken hinunter. »Was ist passiert?«, fragte ich ganz leise. »Also wirklich«, sagte Daniel, »du weißt genau, dass ich dir das nicht erzählen kann. Wie du dir vermutlich schon gedacht hast, ist Lexie im Haus mit dem Messer verletzt worden, in der Küche, um genau zu sein. Ihr werdet kein Blut finden – sie hat nicht geblutet, als es passiert ist, erst später, wie ich weiß –, und ihr werdet das Messer nicht finden. Es war kein Vorsatz und keine Tötungsabsicht im Spiel. Wir sind ihr nach, aber als wir sie
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fanden, war es bereits zu spät. Ich denke, mehr kann ich nicht sagen.« »Okay«, sagte ich. »Okay.« Ich presste die Füße fest auf die Platten und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Am liebsten hätte ich eine Hand in den Teich getaucht und mir kaltes Wasser in den Nacken geklatscht, aber nicht vor Daniels Augen, und ich hatte ohnehin Zweifel, dass es etwas bringen würde. »Willst du hören, was meiner Ansicht nach passiert ist?« Daniel neigte den Kopf und machte eine kleine höfliche Handbewegung. Bitte sehr. »Ich glaube, Lexie hatte vor, ihren Anteil am Haus zu verkaufen.« Er sprang nicht darauf an, zuckte nicht mal mit der Wimper. Er beobachtete mich ausdruckslos, wie ein Professor in einer mündlichen Prüfung, schnippte die Asche von seiner Zigarette gezielt ins Wasser, wo sie weggespült werden würde. »Und ich meine auch zu wissen, warum.«
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Ich war sicher, dass ich ihn damit kriegen würde, absolut sicher – seit einem Monat schon musste ihn diese Frage quälen –, aber er schüttelte den Kopf. »Ich muss es nicht wissen«, sagte er. »Es ist wirklich nicht wichtig, jetzt nicht mehr – falls es überhaupt jemals wichtig war. Weißt du, ich glaube, wir haben alle fünf eine skrupellose Ader, jeder auf seine Art. Vielleicht gehört das einfach dazu, wenn man einmal den Schritt gewagt hat, genau zu wissen, was man will. Lexie konnte sehr skrupellos sein, keine Frage. Aber nicht grausam. Bitte vergiss das nicht, wenn du über sie nachdenkst. Sie war niemals grausam.« »Sie wollte an deinen Cousin Ned verkaufen«, sagte ich. »Mr Luxuswohnungen persönlich. Das hört sich für mich ganz schön grausam an.« Daniel lachte zu meiner Verblüffung auf, ein heftiges, freudloses kurzes Schnauben. »Ned«, sagte er, mit einem gequälten Zucken der Mundwinkel. »Du liebe Zeit. Er hat mir wesentlich mehr Sorgen gemacht als Lexie. Lexie war eigen1076
sinnig – genau wie du: Wenn sie beschlossen hätte, der Polizei zu sagen, was passiert war, dann hätte sie das auch gemacht, aber wenn sie nicht reden wollte, hätte man sie noch so lange verhören können, es hätte keiner was aus ihr rausgekriegt. Ned dagegen … « Er seufzte, ein gereiztes Ausatmen, das Rauch aus seiner Nase strömen ließ, und schüttelte den Kopf. »Ned hat nicht etwa einen schwachen Charakter«, sagte er, »er hat überhaupt keinen Charakter. Er ist im Grunde eine Null, ein zusammengewürfelter Haufen von Spiegelungen dessen, was andere Leute, wie er meint, sehen wollen. Worüber wir vorhin sprachen, dass man wissen sollte, was man will … Ned war besessen von dem Plan, das Haus in Luxuswohnungen umzuwandeln oder in einen Golfclub, er kam andauernd mit irgendwelchen komplizierten Hochrechnungen an, wie viel hunderttausend Euro jeder von uns im Laufe von wie vielen Jahren machen könnte, aber er hatte keine Ahnung, warum er es machen wollte. 1077
Keinen Schimmer. Als ich ihn gefragt hab, was er eigentlich mit dem ganzen Geld anfangen will – er lebt schließlich auch jetzt nicht gerade am Existenzminimum –, da hat er mich angestarrt, als würde ich eine Fremdsprache sprechen. Die Frage war für ihn völlig unverständlich, Lichtjahre außerhalb seines Bezugssystems. Da gab es keinen sehnsüchtigen Wunschtraum, sagen wir, die Welt zu bereisen oder seinen Job hinzuschmeißen, damit er Zeit und Muße hätte, ein großes irisches Meisterwerk zu malen. Er wollte das Geld bloß, weil er nun mal in dieser Gesellschaft gelernt hat, dass Geld erstrebenswert ist. Er war absolut unfähig, sich vorzustellen, dass wir fünf andere Prioritäten haben könnten, Prioritäten, die wir uns ganz allein gesetzt hatten.« Er drückte seine Zigarette aus. »Du kannst dir also denken«, sagte er, »warum ich seinetwegen besorgt war. Er hatte allen Grund der Welt, seine Verhandlungen mit Lexie für sich zu behalten – wenn er geplaudert hätte, hätte er sich das Ge1078
schäft abschminken können, und außerdem lebt er allein und hat, soweit ich weiß, kein Alibi. Selbst er muss erkannt haben, dass er damit der Hauptverdächtige gewesen wäre. Aber ich wusste, falls Mackey oder O’Neill ihn sich mal richtig vornehmen sollten, würde er auspacken. Er würde sich bei ihnen lieb Kind machen wollen, den hilfsbereiten Zeugen abgeben, den besorgten Bürger, der seine Pflicht tut. Das wäre natürlich kein Weltuntergang gewesen – er kann nichts liefern, was einen klaren Beweis darstellen würde –, aber er hätte bei uns ganz schön Ärger und Anspannung auslösen können, und das konnten wir am allerwenigsten gebrauchen. Außerdem hatte ich keine Möglichkeit, ihn einzuschätzen, mir einen Eindruck zu verschaffen, was in seinem Kopf vor sich ging, oder den Versuch zu machen, ihn von der Katastrophe wegzudirigieren. Lexie – dich – konnte ich im Auge behalten, halbwegs, aber Ned … Ich wusste, es wäre ein Riesenfehler, mich mit ihm in Verbindung zu setzen, aber, bei Gott, ich 1079
musste mich furchtbar zusammenreißen, es nicht trotzdem zu tun.« Ned war gefährliches Terrain. Ich wollte nicht, dass Daniel zu viel über ihn nachdachte, über meine Spaziergänge, über die Möglichkeiten. »Du musst stinkwütend gewesen sein«, sagte ich. »Ihr alle, auf die beiden. Überrascht mich nicht, dass einer mit dem Messer auf sie los ist.« Ich meinte es ernst. In vielerlei Hinsicht war es erstaunlich, dass Lexie es überhaupt bis dahin geschafft hatte. Daniel dachte darüber nach. Sein Gesicht sah genauso aus wie abends im Wohnzimmer, wenn er in ein Buch vertieft war, der Welt entrückt. »Wir waren wütend«, sagte er, »zunächst. Zornig, am Boden zerstört, fühlten uns sabotiert, von unseren eigenen Leuten. Aber weißt du, irgendwie hat dir das, was dich am Ende verraten hat, am Anfang genützt: der entscheidende Unterschied zwischen Lexie und dir. Nur jemand wie Lexie – jemand ohne ein Konzept von Handlung und ihren Folgen – wäre imstande gewesen, nach Hause zu kommen 1080
und weiter mit uns zusammenzuleben, als wäre nie was gewesen. Wenn sie ein minimal anderer Mensch gewesen wäre, dann hätte keiner von uns ihr je verzeihen können, und du hättest es niemals durch die Tür geschafft. Aber Lexie … Wir alle wussten, dass sie nicht für eine Sekunde die Absicht gehabt hatte, uns zu verletzen, und deshalb war ihr tatsächlich auch gar nicht der Gedanke gekommen, wir könnten verletzt sein. Das Unheil, das sie da beinahe angerichtet hätte, war ihr ehrlich nie real erschienen. Und deshalb … « Er tat einen langen, müden Atemzug. »Und deshalb«, sagte er, »konnte sie wieder nach Hause kommen.« »Als wäre nichts gewesen«, sagte ich. »So hab ich das gesehen. Sie hatte uns nicht weh tun wollen, keiner von uns hatte ihr weh tun wollen, geschweige denn sie töten. Ich glaube noch immer, dass das ins Gewicht fallen sollte.« »Das hab ich mir gedacht«, sagte ich. »Dass es einfach passiert ist. Sie hatte eine Weile mit Ned 1081
verhandelt, aber ehe sie sich endgültig einigen konnten, seid ihr vier irgendwie dahintergekommen.« In Wahrheit hatte ich schon eine leise Ahnung, wie das abgelaufen war, aber das musste Daniel noch nicht erfahren. Das wollte ich mir für die Gelegenheit aufsparen, wenn es den lautesten Knall erzeugen würde. »Ich glaube, ihr habt euch fürchterlich gestritten, und mittendrin hat einer von euch zugestochen. Wahrscheinlich hat keiner, nicht mal die zwei, richtig mitgekriegt, was passiert war. Lexie hat vielleicht sogar gedacht, sie hätte bloß einen Schlag abbekommen. Sie ist abgehauen und zum Cottage gelaufen – vielleicht war sie in der Nacht mit Ned verabredet, vielleicht aus blindem Instinkt, keine Ahnung. Wie auch immer, Ned ist nicht erschienen. Gefunden habt ihr sie.« Daniel seufzte. »So ungefähr«, sagte er, »ja. Im Wesentlichen ist es so abgelaufen. Kannst du es nicht dabei belassen? Du kennst die entscheidenden Fakten, die übrigen Einzelheiten würden nie1082
mandem auch nur im Geringsten nützen und einer Reihe von Leuten erheblich schaden. Sie war liebenswert, sie war kompliziert, und sie ist tot. Was ist jetzt sonst noch von Belang?« »Nun ja«, sagte ich. »Da wäre die Frage, wer sie getötet hat.« »Hast du dich mal gefragt«, entgegnete Daniel, und in seiner Stimme schwang wachsende Erregung mit, »ob Lexie selbst wollen würde, dass du der Sache nachgehst? Egal, was sie plante, sie hat uns geliebt. Glaubst du, sie würde wollen, dass du alles daransetzt, uns zu zerstören?« Etwas Regloses spannte die Luft, wellte die Steine unter meinen Füßen, etwas Hohes, Nadelspitzes vor dem Himmel und flimmernd hinter jedem Blatt. »Sie hat mich gefunden«, sagte ich. »Ich hab nicht nach ihr gesucht. Sie wollte mich.« »Mag sein«, sagte Daniel. Er beugte sich zu mir herüber, ganz nah, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Seine Augen hinter den Brillengläsern waren übergroß, grau und unergründlich. »Aber bist 1083
du dir wirklich so sicher, dass sie Rache wollte? Sie hätte doch einfach ins Dorf laufen können, an irgendeine Tür klopfen, dann hätten die sicher einen Krankenwagen und die Polizei gerufen. Die Leute im Dorf können uns nicht besonders leiden, aber einer offensichtlich verletzten Frau hätten sie ganz sicher geholfen. Stattdessen ist sie geradewegs zum Cottage, wo sie einfach geblieben ist und gewartet hat. Hast du dir je überlegt, dass sie eine willige Beteiligte an ihrem Tod gewesen sein könnte, den Mörder nicht preisgeben wollte – dass sie das Opfer auf sich genommen hat, am Ende doch wieder eine von uns war? Hast du dir je überlegt, dass du das vielleicht ihretwegen respektieren solltest?« Die Luft schmeckte seltsam, süßlich, Honig und Salz. »Ja«, sagte ich. Das Reden fiel mir schwer, als würden die Gedanken ewig brauchen, um den Weg zu meiner Zunge zu finden. »Hab ich. Ständig. Aber ich mache das hier nicht für Lexie. Ich mache das, weil es mein Job ist.« 1084
Es ist eine Floskel, zugegeben, und sie rutschte mir ganz automatisch heraus; aber es war, als würden die Worte mit einem Knall durch die Luft peitschen, so schockierend und stark wie ein Blitzschlag, an den Efeuranken hinunterzischen, weiß auf dem Wasser brennen. Für einen Sekundenbruchteil war ich wieder in jenem ersten stinkenden Treppenhaus, die Hände in den Taschen, und blickte in das verdutzte tote Gesicht des jungen Junkies. Ich war wieder stocknüchtern, die traumartige, blendende Helligkeit in der Luft hatte sich aufgelöst, und die Bank fühlte sich fest und klamm unter meinem Hintern an. Daniel betrachtete mich mit einer neuen Aufmerksamkeit in den Augen, als hätte er mich nie zuvor gesehen. Und erst da kam mir die Erleuchtung: Was ich zu ihm gesagt hatte, war die Wahrheit, und vielleicht war es die ganze Zeit wahr gewesen. »Tja«, sagte er leise. »Wenn das so ist … «
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Er lehnte sich zurück, langsam, weg von mir, gegen die Mauer. Eine lange, summende Stille setzte ein. »Wo«, sagte Daniel schließlich. Er stockte einen Moment, aber seine Stimme blieb vollkommen ruhig. »Wo ist Lexie jetzt?« »In der Gerichtsmedizin«, sagte ich. »Wir konnten noch keine Angehörigen ausfindig machen.« »Wir werden uns um alles kümmern. Ich glaube, das wäre in ihrem Sinne.« »Die Leiche ist Beweismittel in einem ungelösten Mordfall«, sagte ich. »Sie wird bestimmt noch nicht freigegeben. Solange die Ermittlungen nicht abgeschlossen sind, wird Lexie bleiben müssen, wo sie ist.« Ich musste nicht ins Detail gehen. Ich wusste, was er sah. In meinem Kopf wartete eine Multicolor-Diashow mit den gleichen Bildern darauf, abgespielt zu werden. Etwas pulsierte über Daniels
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Gesicht, ein winziger Krampf, der Nase und Mund zusammenpresste. »Sobald wir wissen, wer ihr das angetan hat«, sagte ich, »kann ich mich dafür einsetzen, dass der Leichnam an euch andere freigegeben wird. Dass ihr als ihre nächsten Angehörigen anerkannt werdet.« Seine Augenlider flatterten kurz, dann wurde sein Gesicht ausdruckslos. Im Nachhinein glaube ich – und das soll keine Entschuldigung sein –, dass an Daniel eines am leichtesten zu übersehen war, nämlich wie unbedingt und schonungslos pragmatisch er unter seinem diffusen Elfenbeinturmschleier war. Ein Offizier auf dem Schlachtfeld wird seinen toten Bruder liegen lassen, ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen, um seine noch lebenden Männer vor dem vorrückenden Feind in Sicherheit zu bringen. »Selbstverständlich möchte ich, dass du das Haus verlässt«, sagte Daniel. »Die anderen kommen frühestens in einer Stunde oder so wieder, du 1087
hast also reichlich Zeit zum Packen und um irgendwelche notwendigen Maßnahmen zu treffen.« Das hätte mich kaum überraschen dürfen, aber ich fühlte mich trotzdem wie geohrfeigt. Er tastete nach seinem Zigarettenetui. »Mir wäre lieber, wenn die anderen nicht erfahren, wer du bist. Du kannst dir sicherlich vorstellen, was das für ein Schock für sie wäre. Ich weiß zugegebenermaßen zwar nicht, wie das gehen soll, aber du hast dir doch bestimmt mit Detective Mackey eine Art Notfallplan überlegt, oder? Irgendeinen Vorwand, unter dem sie dich abziehen können, ohne Verdacht zu erregen?« Das war der offensichtliche, der einzig mögliche nächste Schritt. Wenn du auffliegst, machst du die Biege, und zwar schnell. Und was ich erreicht hatte, konnte sich sehen lassen. Ich hatte die Verdächtigen auf vier eingegrenzt. Ab hier könnten Sam und Frank weitermachen. Dass dieses Gespräch nicht aufgenommen worden war, ließe sich plausibel erklären: Der Mikrodraht hatte sich ver1088
sehentlich gelöst – Frank würde mir das vielleicht nicht so ganz abkaufen, aber das wäre ihm egal. Ich könnte die Teile des Gesprächs, die mir in den Kram passten, zu Protokoll geben, unbeschadet und triumphierend zurückkommen und mich beklatschen lassen. Ich dachte nicht mal daran, es so zu machen. »Den haben wir, ja«, sagte ich. »Ich kann mich innerhalb von ein paar Stunden hier rausholen lassen, ohne dass meine Tarnung auffliegt. Aber das werde ich nicht tun. Nicht, solange ich nicht weiß, wer Lexie getötet hat und warum.« Daniel wandte den Kopf und sah mich an, und in der Sekunde witterte ich Gefahr, klar und kalt wie Schnee. Ich war in sein Haus, seine Familie eingedrungen, und ich wollte beide zugrunde richten. Entweder er oder einer von seinen engsten Freunden hatte schon eine Frau umgebracht, weil sie das Gleiche im kleineren Umfang geplant hatte. Er war stark genug, es zu tun, und vermutlich auch clever genug, ungestraft davonzukommen, 1089
und ich hatte den Revolver in meinem Zimmer gelassen. Das Wasser murmelte zu unseren Füßen, und mir zischte ein Stromstoß durch den Rücken, bis in die Handflächen. Ich hielt seinem Blick stand und rührte mich nicht, blinzelte nicht einmal. Nach einer Weile bewegten sich seine Schultern, fast unmerklich, und ich sah, wie sein Blick sich nach innen wandte, sich mir entzog. Er hatte den Gedanken verworfen, er überlegte sich einen anderen Plan, sein Verstand ging Möglichkeiten durch, sortierte, klassifizierte, stellte Verbindungen her, schneller, als ich ahnen konnte. »Du hast keine Chance«, sagte er. »Du denkst, die Tatsache, dass ich den anderen nicht weh tun will, verschafft dir einen Vorteil – du denkst, dass du sie dazu bringen kannst, mit dir zu reden, wenn sie dich weiter für Lexie halten. Aber glaub mir, sie wissen alle ganz genau, was auf dem Spiel steht. Ich meine nicht die Möglichkeit, dass einer von uns oder wir alle ins Gefängnis müssen. Ihr habt keinerlei 1090
Beweise, sonst hättet ihr längst eine Verhaftung vorgenommen und euch dieses ganze Affentheater erspart. Ich würde sogar jede Wette eingehen, dass du dir bis vor ein paar Minuten nicht mal sicher warst, dass euer Täter hier im Haus zu suchen ist.« »Wir haben in alle Richtungen ermittelt«, sagte ich. Er nickte. »So wie die Dinge liegen, ist das Gefängnis unsere geringste Sorge. Aber betrachte die Situation doch aus Sicht der anderen. Also, Lexie ist quietschfidel und wieder sicher zu Hause. Aber wenn sie rausfinden würde, was passiert ist, würde das alles zerstören, worauf wir hingearbeitet haben. Mal angenommen, sie erfährt, dass Rafe, um wahllos einen von uns rauszupicken, sie niedergestochen hat – sie beinahe umgebracht hat. Glaubst du, sie könnte dann weiter mit ihm unter einem Dach leben – ohne Angst vor ihm zu haben, ohne ihn zu hassen, ohne ihm einen Strick daraus drehen zu wollen?«
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»Du hast doch vorhin gesagt, sie wäre nicht imstande gewesen, über die Vergangenheit nachzudenken«, sagte ich. »Tja, das hier ist ja wohl ein etwas anderes Kaliber«, sagte Daniel ein wenig bissig. »Er könnte wohl kaum erwarten, dass sie die Sache vergisst, als hätten sie sich darüber gestritten, wer vergessen hat, Milch einzukaufen. Und selbst wenn, glaubst du, er würde dann nicht jeden Tag bei ihrem Anblick das ständige Risiko sehen, das sie darstellt – dass ein Anruf von ihr bei Mackey oder O’Neill genügen würde, um ihn in den Knast zu bringen? Es geht um Lexie, wohlgemerkt: Sie könnte diesen Anruf machen, ohne auch nur ansatzweise über dessen Tragweite nachzudenken. Könnte er mit ihr umgehen, wie früher, mit ihr frotzeln, diskutieren, ihr gar widersprechen? Und was ist mit uns anderen? Wir würden wie auf Eiern gehen, in jeden Blick und in jedes Wort zwischen den beiden Gefahr hineinlesen, ständig damit rechnen, dass der kleinste Fehltritt die Mine 1092
zur Detonation bringt und alles in Stücke sprengt. Was glaubst du, wie lange wir das durchhalten würden?« Seine Stimme war ganz ruhig. Träge Rauchkringel stiegen von seiner Zigarette auf, und er hob den Kopf, um zuzusehen, wie sie sich verbreiterten und nach oben schlängelten, durch die flimmernden Streifen aus Licht. »Die Tat selbst können wir überstehen«, sagte er. »Aber das gemeinsame Wissen um die Tat würde uns zerstören. Das klingt vielleicht seltsam, erst recht aus dem Mund eines Akademikers, dem Wissen über fast alles geht, aber lies die biblische Schöpfungsgeschichte oder noch besser, lies die RenaissanceDramatiker: Denen war klar, dass zu viel Wissen tödlich sein kann. Jedes Mal, wenn wir im selben Raum wären, wäre es mitten unter uns, wie ein blutiges Messer, und irgendwann würde es uns auseinanderschneiden. Und keiner von uns wird es so weit kommen lassen. Seit dem Tag, als du in dieses Haus gekommen bist, haben wir jeden 1093
Tropfen Energie, den wir haben, darauf verwandt, das zu verhindern und wieder Normalität in unser Leben zu bringen.« Er lächelte leicht, hob eine Augenbraue. »Sozusagen. Und Lexie zu sagen, wer sie verwundet hat, würde jede Hoffnung auf Normalität zunichtemachen. Glaub mir, das werden die anderen nie tun.« Wenn man anderen Menschen zu nahe ist, wenn man zu lange mit ihnen zusammen ist und sie zu gern hat, kann es passieren, dass man sie nicht mehr richtig sieht. Falls Daniel nicht bluffte, hatte er einen letzten Fehler gemacht, den gleichen, den er schon die ganze Zeit machte. Er sah die anderen vier nicht so, wie sie waren, sondern so, wie sie hätten sein sollen, wie sie in einer gefühlvolleren und wärmeren Welt hätten sein können. Ihm war die nackte Tatsache entgangen, dass Abby und Rafe und Justin bereits auseinanderdrifteten, schon am Ende waren. Sie starrte ihm jeden Tag ins Gesicht, wehte an ihm vorbei auf der Treppe wie ein kalter Hauch, schlüpfte jeden Morgen mit 1094
uns in den Wagen und hockte abends beim Essen dunkel und gebeugt zwischen uns am Tisch, aber er hatte sie nicht ein einziges Mal gesehen. Und außerdem war ihm die Möglichkeit entgangen, dass Lexie eigene Geheimwaffen gehabt und sie mir vermacht haben könnte. Er wusste, dass seine Welt auseinanderbrach, aber irgendwie sah er deren Bewohner noch immer unversehrt inmitten der Trümmer: fünf Gesichter vor einer Schneelandschaft an einem Tag im Dezember, kühl und strahlend und unberührt, zeitlos. Zum ersten Mal in all den Wochen fiel mir ein, dass er viel jünger war als ich. »Vielleicht nicht«, sagte ich. »Aber ich muss es versuchen.« Daniel lehnte den Kopf nach hinten gegen die Mauer und seufzte. Mit einem Mal wirkte er schrecklich müde. »Ja«, sagte er. »Ja, das musst du wohl.« »Die Entscheidung liegt bei dir«, sagte ich. »Du kannst mir jetzt gleich erzählen, was passiert ist, 1095
solange ich das Mikro nicht trage: Dann verschwinde ich, ehe die anderen wieder da sind, und wenn es zu Verhaftungen kommt, steht dein Wort gegen meins. Oder aber ich bleibe, und du riskierst, dass ich irgendwas aufs Band kriege.« Er fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht und richtete sich schwerfällig auf. »Weißt du, mir ist durchaus klar«, sagte er und betrachtete seine Zigarette, als hätte er vergessen, dass er sie zwischen den Fingern hielt, »dass eine Rückkehr zur Normalität für uns vielleicht nicht mehr möglich ist. Mir ist sogar klar, dass unser Plan wahrscheinlich gleich von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Aber genau wie du hatten wir keine andere Wahl, als es zu versuchen.« Er warf die Zigarette auf die Platten und trat sie mit der Schuhspitze aus. Diese starre Distanziertheit machte sich langsam auf seinem Gesicht breit, die förmliche Maske, die er bei Außenstehenden trug, und in seiner Stimme lag ein kühler, endgültiger Unterton. Er entglitt mir. Solange wir 1096
uns weiter unterhielten, hatte ich eine Chance, wenn sie auch minimal war, doch jetzt würde er jeden Augenblick aufstehen und zurück ins Haus gehen, und das wär’s dann gewesen. Hätte ich geglaubt, dass es etwas bringt, ich hätte mich auf die Steinplatten gekniet und ihn angefleht zu bleiben. Aber nicht bei Daniel, meine einzige Chance bei ihm war Logik, knallharte Vernunft. »Hör mal«, sagte ich mit bewusst ruhiger Stimme, »du schraubst den Einsatz viel höher als nötig. Wenn ich irgendwas aufs Band kriege, dann könnte das unter Umständen Gefängnis für euch alle vier bedeuten – einer wegen Mordes, die anderen drei wegen Beihilfe oder gar Verabredung zum Mord. Was bleibt dann noch? Was ist dann noch da, wenn ihr rauskommt? So unbeliebt, wie ihr in Glenskehy seid, ist kaum davon auszugehen, dass das Haus dann noch steht.« »Das Risiko müssen wir eingehen.« »Wenn du mir erzählst, was passiert ist, setze ich mich für euch ein. Darauf geb ich dir mein 1097
Wort.« Daniel hätte allen Grund gehabt, mir dafür einen hämischen Blick zuzuwerfen, aber er tat es nicht. Er sah mich mit, wie es schien, gelindem höflichen Interesse an. »Drei von euch kommen ungeschoren davon, und der vierte hat Aussicht auf eine Anklage wegen Totschlags statt wegen Mordes. Es war kein Vorsatz: Die Sache ist im Verlauf eines Streites passiert, niemand wollte, dass Lexie stirbt, und ich kann aussagen, dass ihr sie alle gern gehabt habt und dass derjenige, der zugestochen hat, meiner Überzeugung nach unter extremem emotionalen Stress gestanden hat. Totschlag wird vielleicht mit fünf Jahren bestraft, vielleicht sogar weniger. Dann ist die Sache ausgestanden, und ihr könnt alle vier wieder zur Normalität zurückfinden.« »Meine juristischen Kenntnisse sind dürftig«, sagte Daniel und bückte sich, um sein Glas aufzuheben, »aber soweit ich weiß – und korrigiere mich, wenn ich mich täusche –, kann etwas, was ein Verdächtiger während der Vernehmung gesagt 1098
hat, nicht vor Gericht verwendet werden, wenn er zuvor nicht über seine Rechte belehrt wurde. Aus reiner Neugier, wie willst du drei Leute, die keine Ahnung haben, dass du Polizistin bist, über ihre Rechte belehren?« Er spülte das Glas erneut aus und hielt es ins Licht, überprüfte mit zusammengekniffenen Augen, ob es sauber war. »Gar nicht«, sagte ich. »Das ist nicht nötig. Was über mein Mikro auf Band aufgenommen wird, ist vor Gericht nicht zulässig, aber es kann als Grundlage für einen Haftbefehl dienen und es kann in einem offiziellen Verhör verwendet werden. Was glaubst du, wie lange Justin durchhält, wenn er mitten in der Nacht verhaftet und vierundzwanzig Stunden lang von Frank Mackey verhört wird, während im Hintergrund ein Band läuft, auf dem er Lexies Ermordung schildert?« »Interessante Frage«, sagte Daniel. Er drehte den Verschluss der Whiskeyflasche zu, stellte sie behutsam auf die Bank neben das Glas.
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Mein Herz trommelte wie Hufschläge. »Setz niemals alles, wenn du ein schlechtes Blatt in der Hand hast«, sagte ich, »es sei denn, du bist dir absolut sicher, dass du besser spielst als dein Gegner. Wie sicher bist du dir?« Er warf mir einen unbestimmten Blick zu, der alles hätte bedeuten können. »Wir sollten jetzt reingehen«, sagte er. »Ich schlage vor, wir erzählen den anderen, wir hätten den ganzen Nachmittag gelesen und unseren Kater auskuriert. Ist das in etwa in deinem Sinne?« »Daniel«, sagte ich, und dann schnürte sich mir die Kehle zu. Ich konnte kaum atmen. Erst als er nach unten blickte, merkte ich, dass meine Hand auf seinem Ärmel lag. »Detective«, sagte Daniel. Er lächelte mich an, nur ein wenig, aber seine Augen waren ganz ruhig und sehr traurig. »Du kannst nicht beides haben. Weißt du nicht mehr, vorüber wir vorhin gesprochen haben – dass Opfer unvermeidlich sind? Einer von uns oder Detective: Du kannst nicht bei1100
des sein. Wenn du wirklich zu uns gehören wolltest, wenn du es mehr als alles andere gewollt hättest, dann hättest du nicht einen einzigen von diesen Fehlern gemacht, und wir säßen jetzt nicht hier.« Er nahm meine Hand von seinem Ärmel und legte sie mir auf den Schoß, ganz sacht. »Weißt du, in gewisser Weise«, sagte er, »so seltsam und unmöglich es auch klingen mag, wünschte ich sehr, du hättest dich anders entschieden.« »Ich will euch nicht zerstören«, sagte ich. »Ich kann unmöglich sagen, dass ich auf eurer Seite bin, aber im Vergleich zu Detective Mackey oder auch Detective O’Neill … Wenn es ihnen überlassen bleibt – und falls wir beide nicht zusammenarbeiten, dann wird es so kommen, sie leiten schließlich die Ermittlung, nicht ich –, dann sitzt ihr alle vier die Höchststrafe wegen Mordes ab. Lebenslänglich. Daniel, ich tue hier mein Bestes, um das zu verhindern. Ich weiß, es sieht nicht so aus, aber ich tue wirklich, was ich kann.« 1101
Ein Blatt war von dem Efeu ins Wasser gefallen und blieb an einer der kleinen Stufen hängen, tanzte in der Strömung. Daniel nahm es vorsichtig heraus und drehte es zwischen den Fingern. »Ich hab Abby kennengelernt, als ich am Trinity anfing«, sagte er. »Gleich am ersten Tag, bei der Immatrikulation. Wir waren in der Exam Hall, Hunderte Studenten, die stundenlang Schlange standen – ich hatte nichts zu lesen dabei, weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass es so lange dauern würde –, standen uns unter all den düsteren alten Gemälden die Beine in den Bauch, und aus irgendeinem Grund haben alle geflüstert. Abby war in der Schlange neben meiner. Sie fing meinen Blick auf, zeigte auf eins der Porträts und sagte: ›Mit etwas Phantasie sieht der da doch genauso aus wie einer von den beiden Alten in der Muppet Show, oder?‹« Er schüttelte Wasser von dem Blatt: Tröpfchen flogen, hell wie Feuer in den sich kreuzenden Sonnenstrahlen. »Schon damals«, sagte er, »wuss1102
te ich, dass andere mich für unzugänglich hielten. Ich hatte kein Problem damit. Aber Abby fand das offenbar nicht, und das weckte meine Neugier. Später hat sie mir erzählt, sie wäre fast gelähmt gewesen vor Schüchternheit, nicht nur bei mir, sondern bei allem und jedem – aufgewachsen in Dublin bei wechselnden Pflegeeltern und plötzlich mitten unter all den Mittelschichtssprösslingen, für die das College und Privilegien selbstverständlich waren –, und da hat sie sich gedacht, wenn sie schon den Mut aufbringen würde, mit jemandem zu sprechen, warum dann nicht mit dem am abweisendsten wirkenden Menschen, den sie finden konnte. Wir waren wirklich noch sehr jung. Sobald wir immatrikuliert waren, sind wir zusammen einen Kaffee trinken gegangen, und dann haben wir uns gleich wieder für den nächsten Tag verabredet – na ja, nicht gerade verabredet, Abby hat nur gesagt: ›Morgen Mittag mach ich die Bibliotheksbesichtigung mit, wir sehen uns da‹, und ist verschwunden, ehe ich ja oder nein sagen 1103
konnte. Da wusste ich bereits, dass ich sie bewunderte. Es war ein ganz neues Gefühl für mich, ich bewundere nämlich nicht viele Menschen. Aber sie war so entschlossen, so lebendig, im Vergleich zu ihr kamen mir alle anderen, denen ich bis dahin begegnet war, blass und schattenhaft vor. Wie du vermutlich bemerkt hast« – Daniel lächelte mich schwach über seine Brille hinweg an –, »neige ich dazu, eine gewisse Distanz zum Leben zu wahren. Ich hatte immer das Gefühl, ein Beobachter zu sein, kein Teilnehmer, dass ich hinter einer dicken Glaswand stand und den Leuten beim Leben zuschaute – was sie mit einer Leichtigkeit taten, einem Geschick, das für sie ganz selbstverständlich war, mir aber völlig abging. Dann griff Abby durch das Glas hindurch und fasste meine Hand. Es war wie ein Stromschlag. Ich weiß noch, wie ich ihr hinterhersah, als sie über den Front Square ging – sie trug so einen grässlichen Fransenrock, der ihr viel zu lang war, sie ertrank förmlich darin – und merkte, dass ich lächelte … 1104
Justin war am nächsten Tag bei der Bibliotheksbesichtigung dabei. Er blieb die ganze Zeit ein paar Schritte hinter der Gruppe, und er wäre mir gar nicht aufgefallen, wenn er nicht eine fürchterliche Erkältung gehabt hätte. Alle sechzig Sekunden oder so musste er furchtbar niesen, explosionsartig und nass, und alle zuckten zusammen und kicherten, und er lief puterrot an und versuchte, hinter seinem Taschentuch zu verschwinden. Er war offenbar entsetzlich schüchtern. Am Ende der Besichtigung drehte Abby sich zu ihm um, als hätten wir uns schon unser ganzes Leben lang gekannt, und sagte: ›Wir gehen in die Mensa, kommst du mit?‹ Ich habe selten ein so verschrecktes Gesicht gesehen. Sein Mund klappte auf, und er murmelte irgendwas Unverständliches, aber er ging brav mit. Als wir mit dem Essen fertig waren, sprach er bereits in ganzen Sätzen, und was er sagte, war noch dazu interessant. Wir hatten ungefähr die gleichen Sachen gelesen, und er hatte ein paar Ansichten über John Donne, auf die 1105
ich noch nie gekommen war … An dem Nachmittag merkte ich auf einmal, dass ich ihn mochte, dass ich sie beide mochte. Dass ich zum ersten Mal im Leben gern mit anderen zusammen war. Du wirkst nicht so, als würde es dir schwerfallen, Freundschaften zu schließen, deshalb kannst du dir vielleicht nicht richtig vorstellen, was das für eine Offenbarung war. Rafe fanden wir erst in der Woche darauf, als die Vorlesungen anfingen. Wir drei saßen hinten im Seminarraum und warteten auf den Dozenten, als plötzlich die Tür neben uns aufflog und Rafe hereinkam, tropfnass vom Regen, die Haare angeklatscht, die Fäuste geballt, offenbar direkt aus irgendeinem Verkehrschaos und in einer grauenhaften Stimmung. Es war ein ganz schön dramatischer Auftritt. Abby sagte: ›Donnerwetter, König Lear persönlich‹, und Rafe drehte sich blitzschnell zu ihr um und fauchte – du weißt ja, wie er sein kann –: ›Wie bist du denn hergekommen – in Daddys Nobelkarosse? Oder auf deinem Besen?‹ 1106
Justin und ich waren sprachlos, aber Abby lachte bloß und sagte: ›Mit dem Heißluftballon‹, und schob ihm einen Stuhl hin. Und nach kurzem Zögern setzte er sich und knurrte, ›Sorry.‹ Und das war’s.« Daniel lächelte zu dem Blatt hinunter, ein intimes kleines Lächeln, so zärtlich und staunend wie das eines Liebhabers. »Wie haben wir es bloß miteinander ausgehalten? Abby, die wie ein Wasserfall redete, um ihre Schüchternheit zu kaschieren, Justin, halb erstickt unter der seinen, Rafe, der die Leute links und rechts anblaffte, und ich. Ich war furchtbar ernst, ich weiß. Eigentlich hab ich erst in dem Jahr gelernt zu lachen … « »Und Lexie?«, fragte ich sehr leise. »Wie habt ihr sie gefunden?« »Lexie«, sagte Daniel. Das Lächeln spielte auf seinem Gesicht wie Wind auf Wasser, wurde breiter. »Weißt du, dass ich mich nicht mal erinnern kann, wann genau wir sie kennengelernt haben? Abby kann es vermutlich, du solltest sie fragen. 1107
Ich hab nur noch in Erinnerung, dass sie in den Wochen nach unserem Abschluss einfach immer da war.« Er legte das Blatt sachte neben sich auf die Bank und wischte sich die Finger mit seinem Taschentuch ab. »Es hat mich schon immer sprachlos gemacht«, sagte er, »dass wir fünf uns überhaupt gefunden haben – obwohl es so unwahrscheinlich war, obwohl jeder von uns einen so dicken Schutzpanzer trug. Abby hat einen Großteil dazu beigetragen, klar. Ich habe nie herausgefunden, welcher Instinkt sie so zielsicher geleitet hat, sie weiß es wahrscheinlich selbst nicht, aber du kannst dir vorstellen, warum ich seitdem ihrem Urteil vertraue. Dennoch, wir hätten uns so beängstigend leicht verpassen können, wenn ich oder Abby nur eine Stunde später zur Immatrikulation erschienen wären, wenn Rafe nur ein kleines bisschen barscher gewesen wäre und uns damit vergrault hätte. Verstehst du jetzt, warum ich an Wunder glaube? Ich hab mir oft vorgestellt, dass 1108
sich damals die Zeit umgedreht hat, dass der Schatten unseres zukünftigen Ichs zu dem entscheidenden Augenblick zurückgeglitten ist und jedem von uns auf die Schulter geklopft hat, geflüstert hat: Sieh mal, da, sieh hin! Der Mann da, die Frau da: Die sind für dich; das ist dein Leben, deine Zukunft, die da nervös in der Warteschlange steht, den Teppichboden volltropft, an der Tür herumlungert. Lass sie dir nicht entgehen. Wie sonst hätte so etwas passieren können?« Er bückte sich und sammelte unsere Kippen von den Steinplatten auf, eine nach der anderen. »In meinem ganzen Leben«, sagte er schlicht, »sind diese vier Menschen die einzigen, die ich je geliebt habe.« Dann stand er auf und ging über den Rasen zum Haus. Er hielt die Flasche und das Glas in einer Hand und die Zigarettenkippen in der geöffneten anderen.
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20 Als die anderen zurückkamen, hatten sie noch immer schwere Lider und Kopfschmerzen und schlechte Stimmung. Der Film war ein Reinfall gewesen, sagten sie, irgend so ein Schwachsinn mit einem von den Baldwin-Brüdern, der pausenlos vermeintlich komische Missverständnisse erlebte, und mit einer Frau, die aussah wie Teri Hatcher, es aber nicht war. Das Kino war voll mit Jugendlichen gewesen, die deutlich jünger als erlaubt waren und die ganzen zwei Stunden damit zugebracht hatten, sich gegenseitig zu simsen und knisterndes Zeug zu futtern und gegen Justins Rückenlehne zu treten. Rafe und Justin redeten sehr offensichtlich noch immer nicht wieder miteinander, und Rafe und Abby jetzt offenbar auch nicht mehr. Das Abendessen – die Reste von der Lasagne vom Vortag, oben knusprig und unten angebrannt – verlief in angespanntem Schweigen.
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Niemand hatte sich die Mühe gemacht, einen Salat zu machen oder den Kamin anzuzünden. Als ich schließlich kurz davor war loszuschreien, blickte Daniel auf und sagte in aller Ruhe: »Übrigens, Lexie, ich wollte dich um einen Gefallen bitten. In meinem Montagskurs würde ich gern Anne Finch besprechen, aber ich bin in der Materie nicht mehr ganz fit. Würde es dir was ausmachen, mir nach dem Essen ein bisschen auf die Sprünge zu helfen?« Anne Finch hat ein Gedicht aus der Perspektive eines Vogels geschrieben, sie tauchte hier und da in Lexies Dissertationsnotizen auf, und da der Tag nun mal nur vierundzwanzig Stunden hat, war das praktisch alles, was ich über sie wusste. Rafe hätte so eine Nummer aus reiner Gehässigkeit abgezogen, nur um mich zu piesacken, aber Daniel öffnete den Mund niemals ohne einen triftigen Grund. Unsere kurze seltsame Allianz im Garten war zu Ende. Er wollte demonstrieren, dass er mir schon mit kleinen Dingen das Leben äußerst schwerma1111
chen konnte, wenn ich darauf beharrte, länger zu bleiben. Ich wollte mich auf keinen Fall zum Idioten machen, indem ich den ganzen Abend über Stimme und Identität schwafelte, während mein Zuhörer genau wusste, dass ich Blödsinn redete. Zum Glück für mich war Lexie eine unberechenbare freche Göre gewesen – obwohl es vermutlich nichts mit Glück zu tun gehabt hatte: Ich war mir ziemlich sicher, dass sie sich diesen Charakterzug für Situationen zugelegt hatte, die meiner jetzigen nicht unähnlich waren. »Hab keine Lust«, sagte ich, hielt den Kopf gesenkt und stocherte mit der Gabel in meiner Lasagne herum. Kurzes Schweigen trat ein. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Justin. Ich zuckte die Achseln, ohne aufzublicken. »Jaja.« Mir war gerade etwas klargeworden. Dieses Schweigen und die haarfeine neue Anspannung in Justins Stimme und die kurzen Blicke, die über 1112
den Tisch hin und her huschten: Die anderen waren so schnell und so leicht zu beunruhigen. Da hatte ich mich all die Wochen bemüht, sie lockerer zu machen, damit sie nicht immer auf der Hut waren, und war dabei nie auf den Trichter gekommen, wie schnell ich sie in die andere Richtung katapultieren konnte und wie gefährlich diese Waffe war, wenn ich sie richtig einsetzte. »Ich hab dir auch bei Ovid geholfen«, rief Daniel mir in Erinnerung. »Weißt du nicht mehr? Ich hab eine Ewigkeit nach dem Zitat gesucht, das du brauchtest – welches war das noch mal?« Auch darauf ging ich natürlich nicht ein. »Ich würde eh nur alles durcheinanderbringen und dir am Ende was über Mary Barber erzählen oder Gott weiß wen. Ich kann heute keinen klaren Gedanken fassen. Ich muss andauernd … « Ich schubste Lasagnestücke ziellos auf dem Teller herum. »Egal.« Keiner aß mehr. »Du musst was andauernd?«, fragte Abby. 1113
»Lass gut sein«, sagte Rafe. »Ich hab jedenfalls keinen Bock auf Anne Finch. Wenn es ihr genauso geht –« »Beunruhigt dich irgendwas?«, fragte Daniel höflich. »Lass sie in Frieden.« »Ja klar«, sagte Daniel. »Leg dich ein bisschen hin, Lexie. Wir machen das ein andermal, wenn du dich besser fühlst.« Ich riskierte einen raschen Blick. Er hatte wieder sein Besteck genommen und aß bedächtig, mit nichts als einem nachdenklich vertieften Ausdruck im Gesicht. Dieser Schuss war nach hinten losgegangen, und jetzt überlegte er sich seelenruhig und konzentriert den nächsten.
Ich entschied mich für einen Präventivschlag. Nach dem Essen saßen wir alle im Wohnzimmer und lasen oder taten jedenfalls so – niemand hatte irgendeine gemeinsame Aktivität wie Kartenspie1114
len auch nur vorgeschlagen. Die Asche im Kamin vom Vorabend verbreitete eine feuchte Kühle in der Luft, ferne Teile des Hauses gaben gelegentlich ein jähes Knarren oder unheimliches Stöhnen von sich, was uns jedes Mal zusammenfahren ließ. Rafe kickte mit der Spitze eines Schuhs gegen das Schutzgitter vor dem Kamin, in einem stetigen, nervigen Rhythmus, und ich rutschte in meinem Sessel unruhig hin und her, veränderte alle paar Sekunden die Sitzposition. Justin und Abby, die zwischen uns saßen, wurden mit jeder Sekunde nervöser. Daniel, den Kopf über irgendetwas mit furchtbar vielen Fußnoten gebeugt, schien nichts zu bemerken. Gegen elf ging ich wie immer in die Diele und zog mich für meinen Spaziergang an. Dann ging ich zurück und blieb in der Tür stehen, mit unschlüssiger Miene. »Gehst du spazieren?«, fragte Daniel. »Ja, sagte ich. »Beruhigt vielleicht meine Nerven. Justin, kommst du mit?« 1115
Justin schreckte auf, starrte mich an wie ein Kaninchen im Scheinwerferlicht. »Ich? Wieso ich?« »Wieso überhaupt jemand?«, fragte Daniel mit leichter Neugier. Ich zuckte die Achseln, ein beklommener Ruck. »Ich weiß nicht, okay? Mein Kopf fühlt sich komisch an. Ich muss andauernd denken … « Ich drehte mir den Schal um den Finger, biss mir auf die Lippe. »Vielleicht hatte ich gestern Nacht böse Träume.« »Alpträume«, sagte Rafe, ohne aufzusehen. »Nicht ›böse Träume‹. Du bist keine sechs mehr.« »Was für böse Träume?«, fragte Abby. Sie hatte eine winzige besorgte Furche zwischen den Augenbrauen. Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht mehr. Nicht so richtig. Bloß … Mir ist einfach nicht danach, allein da draußen rumzulaufen.« »Mir auch nicht«, sagte Justin. Er wirkte richtig aufgebracht. »Ich find’s furchtbar da draußen – 1116
richtig furchtbar, nicht bloß … Es ist entsetzlich. Gruselig. Kann nicht jemand anders mitgehen?« »Oder, Lexie«, schlug Daniel hilfsbereit vor, »bleib doch zu Hause, wenn du Angst hast rauszugehen.« »Nein, nein. Wenn ich hier noch länger rumhocke, dreh ich durch.« »Ich komm mit«, sagte Abby. »Plausch unter Frauen.« »Nichts für ungut«, sagte Daniel mit einem leichten, liebevollen Lächeln in Richtung Abby, »aber ich glaube, ein irrer Mörder wird sich von euch beiden nicht ganz so abschrecken lassen, wie es wünschenswert wäre. Wenn du ängstlich bist, Lexie, solltest du lieber jemanden mitnehmen, der groß und kräftig ist. Wie wär’s, wenn ich mitkomme?« Rafe hob den Kopf. »Wenn du gehst«, sagte er zu Daniel, »dann komm ich auch mit.«
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Angespannte Stille trat ein. Rafe starrte Daniel frostig an, Daniel erwiderte den Blick ungerührt. »Warum?«, fragte er. »Weil er ein Schwachkopf ist«, sagte Abby zu ihrem Buch. »Ignorier ihn, dann verschwindet er vielleicht oder hält zumindest die Klappe. Wäre das nicht mal toll?« »Ich will euch zwei gar nicht dabeihaben«, sagte ich. Ich hatte damit gerechnet, dass Daniel vielleicht versuchen würde mitzukommen. Allerdings hatte ich nicht einkalkuliert, dass Justin eine seltsame, rätselhafte Phobie vor Feldwegen hatte. »Ihr motzt euch sowieso nur gegenseitig an, und darauf hab ich keinen Bock. Ich will, dass Justin mitgeht. Ich krieg ihn gar nicht mehr zu Gesicht.« Rafe schnaubte. »Du kriegst ihn den ganzen Tag zu Gesicht, jeden Tag. Wie viel Justin kann ein Mensch verkraften?« »Das ist was anderes. Wir haben seit einer Ewigkeit nicht mehr richtig miteinander geredet.«
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»Lexie, ich kann da nicht raus, mitten in der Nacht«, sagte Justin. Er sah aus, als er litte er echte Schmerzen. »Ich würde ja, ehrlich, aber ich kann einfach nicht.« »Na denn«, sagte Daniel und legte sein Buch hin. Ein Funkeln lag in seinen Augen, fast so etwas wie ein gequälter, müder Triumph: eins zu eins. »Gehen wir?« »Vergesst es«, sagte ich und funkelte sie alle angewidert an. »Vergesst es einfach. Egal. Bleibt ruhig hier und motzt und meckert, ich geh allein, und wenn mir wieder einer ein Messer in den Bauch rammt, seid ihr hoffentlich zufrieden.« Kurz bevor ich die Küchentür so laut zuknallte, dass die Scheiben klirrten, hörte ich, dass Rafe anfing, etwas zu sagen, und Abby ihm leise und heftig ins Wort fiel: »Halt die Klappe.« Als ich mich hinten im Garten umdrehte, hatten alle vier wieder die Köpfe über ihre Bücher gebeugt, jeder im Lichtkegel seiner Lampe, schimmernd, umschlossen, unberührbar. 1119
Der Nachthimmel hatte sich zugezogen, die Luft war dick und unbeweglich wie eine nasse Bettdecke, die über die Hügel geworfen worden war. Ich ging schnell, um außer Atem zu kommen, damit ich mir irgendwann vormachen konnte, dass die Anstrengung der Grund war, warum mein Herz raste. Ich dachte an die große imaginäre Uhr, die ich in den ersten Tagen irgendwo im Hintergrund gespürt und die mich angetrieben hatte. Irgendwann danach hatte sie sich in nichts aufgelöst, und ich war den süßen, langsamen Rhythmen von Whitethorn House verfallen, hatte alle Zeit der Welt gehabt. Jetzt war sie wieder da, tickte unbarmherzig und wurde jede Minute lauter, raste auf irgendeine riesige, schattenhafte Stunde null zu. Ich rief Frank von irgendwo auf einem der Feldwege an – schon der Gedanke, auf meinen Baum zu klettern, an ein und demselben Ort zu 1120
bleiben, machte mich völlig nervös. »Da bist du ja«, sagte er. »Was ist denn los, bist du einen Marathon gelaufen?« Ich lehnte mich gegen einen Baumstamm und versuchte, möglichst wieder normal zu atmen. »Hab ein strammes Tempo vorgelegt, gegen meinen Kater. Um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.« »Immer eine gute Idee«, stimmte Frank zu. »Zunächst einmal, Kleines, gut gemacht, gestern Abend. Dafür spendier ich dir’n schicken Cocktail, wenn du nach Hause kommst. Ich glaube, du hast uns vielleicht genau den Durchbruch verschafft, den wir brauchen.« »Vielleicht. Freuen wir uns lieber nicht zu früh. Könnte sein, dass Ned mich verscheißert. Er will Lexies Anteil am Haus kaufen, sie lässt ihn abblitzen, er beschließt, es noch einmal zu probieren, dann erwähne ich den Gedächtnisverlust, und er sieht seine Chance, mir weiszumachen, wir hätten uns schon geeinigt … Er ist kein Einstein, aber er 1121
ist auch kein Idiot, zumindest, wenn’s ums Verhandeln geht.« »Kann sein«, sagte Frank. »Kann sein. Wie bist du überhaupt mit ihm in Kontakt getreten?« Die Antwort darauf hatte ich mir bereits zurechtgelegt. »Ich hab das Cottage im Auge behalten, jede Nacht. Ich hab mir überlegt, dass Lexie bestimmt nicht ohne Grund dahin gegangen ist – und wenn sie sich mit jemandem getroffen hat, dann wäre das der logische Treffpunkt. Und ich hab mir gedacht, es könnte doch sein, dass der- oder diejenige irgendwann wieder da auftaucht.« »Und schon kommt der doofe Eddie anspaziert«, sagte Frank verbindlich, »kaum dass ich dir die Sache von dem Haus erzählt hab, da hattet ihr zwei ja gleich was zu bereden. Er hat ein gutes Timing. Wieso hast du mich nicht angerufen, nachdem er weg war?« »Mir schwirrte der Kopf, Frankie. Ich konnte an nichts anderes denken, als was die Sache für unseren Fall bedeutet, wie ich es nutzen kann, was ich 1122
als Nächstes tun soll, wie ich rausfinden kann, ob Ned mich verarscht … ich wollte dich anrufen, aber dann hab ich es einfach vergessen.« »Besser spät als gar nicht. Und, wie war dein Tag?« Seine Stimme war freundlich, absolut neutral, verriet nichts. »Ich weiß, ich weiß, ich bin eine faule Kuh«, sagte ich bemüht kleinlaut. »Ich hätte versuchen müssen, was aus Daniel rauszukriegen, als ich mit ihm allein zu Hause war, aber ich konnte mich einfach nicht aufraffen. Ich hatte einen echten Brummschädel, und du weißt ja, Daniel ist nicht gerade seichte Unterhaltung. Tut mir leid.« »Hmm«, sagte Frank nicht sonderlich beruhigend. »Und was sollte die Pampige-ZickeNummer? Ich nehm an, das war Theater.« »Ich will sie nervös machen«, sagte ich, was auch stimmte. »Wir haben versucht, sie in Sicherheit zu wiegen, damit sie reden, und es hat nicht
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funktioniert. Jetzt, mit den neuen Infos, wird es Zeit, einen Gang höher zu schalten, finde ich.« »Und du bist nicht auf die Idee gekommen, vorher mit mir darüber zu sprechen, statt einfach so zur Tat zu schreiten?« Ich legte eine kleine verdutzte Pause ein. »Ich hab gedacht, du könntest dir schon denken, was ich vorhabe.« »Okay«, sagte Frank, mit einer sanften Stimme, die in meinem Kopf die Sirenen losheulen ließ. »Tolle Arbeit, Cass. Ich weiß, du wolltest erst nicht mitmachen, und ich bin froh, dass du trotzdem ja gesagt hast. Du bist eine gute Polizistin.« Ich hatte das Gefühl, als hätte ich einen Schlag in den Magen bekommen. »Was ist los, Frank?«, sagte ich, aber ich wusste es bereits. Er lachte. »Nur die Ruhe, es ist eine gute Nachricht. Zeit, die Sache zu beenden, Kleines. Ich will, dass du nach Hause gehst und anfängst zu jammern, du hättest das Gefühl, du kriegst die Grippe – Schwindel, Fieber, Gliederschmerzen. 1124
Sag nicht, dir tut die Wunde weh, sonst wollen sie einen Blick drauf werfen. Du fühlst dich einfach beschissen. Du kannst auch einen von ihnen in der Nacht wach machen – Justin ist doch der, der sich ständig Sorgen macht, nicht? – und sagen, es wird schlimmer. Wenn sie dich morgen früh noch nicht ins Krankenhaus gefahren haben, mach ihnen Dampf. Ab jetzt übernehme ich.« Meine Fingernägel bohrten sich mir in die Hand. »Wieso?« »Ich dachte, du würdest dich freuen.« Frank tat erstaunt und leicht beleidigt. »Du wolltest doch erst gar nicht –« »Ich wollte erst gar nicht mitmachen. Ich weiß. Aber jetzt mache ich mit, und ich bin ganz nah dran. Wieso zum Teufel willst du mich plötzlich abziehen? Weil ich dich nicht gefragt hab, bevor ich die vier aufgemischt hab?« »Du liebe Zeit, nein«, sagte Frank, noch immer die Überraschung in Person. »Das hat nichts damit zu tun. Du bist da rein, um rauszufinden, in wel1125
che Richtung wir ermitteln sollen, und das hast du wunderbar gemacht. Glückwunsch, Kleines. Deine Arbeit hier ist erledigt.« »Nein«, sagte ich, »ist sie nicht. Du hast mich reingeschickt, damit ich einen Verdächtigen finde, das waren genau deine Worte, und bislang hab ich nicht mehr als ein mögliches Motiv plus vier mögliche Verdächtige gefunden – fünf, wenn du nicht ausschließt, dass Ned vielleicht lügt wie gedruckt. Inwiefern bringt das die Ermittlungen weiter? Die vier bleiben bei ihrer Geschichte, genau wie du am Anfang gesagt hast, und du bist wieder da, wo du angefangen hast. Lass mich meine verdammte Arbeit machen.« »Ich pass auf dich auf. Das ist meine Arbeit. Durch das, was du rausgefunden hast, könntest du in Gefahr sein, und ich kann nicht einfach ignorieren –« »Schwachsinn, Frank. Wenn einer von den vieren sie umgebracht hat, bin ich seit dem ersten
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Tag in Gefahr, und das hat dich bis jetzt einen Scheiß beunruhigt –« »Nicht so laut! Geht es darum? Bist du sauer, weil ich dich nicht genug beschütze?« Ich konnte förmlich sehen, wie er empört mit den Händen fuchtelte, die gekränkten blauen Augen weit aufgerissen. »Jetzt mach aber mal halblang, Frank. Ich bin schon groß, ich kann auf mich selbst aufpassen, und damit hattest du noch nie ein Problem. Also, warum zum Teufel willst du mich abziehen?« Schweigen. Schließlich seufzte Frank. »Na schön«, sagte er. »Du willst wissen, warum, na schön. Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass du die Objektivität wahrst, die für die Ermittlungen erforderlich ist.« »Was redest du da?« Mein Herz hämmerte. Wenn er das Haus doch überwachen ließ oder wenn er gemerkt hatte, dass ich das Mikro abgenommen hatte – Ich hätte es nicht so lange ablassen sollen, dachte ich hektisch,ich Idiot, ich hätte 1127
alle paar Minuten reingehen und irgendein Geräusch machen sollen – »Du bist emotional viel zu betroffen. Ich bin nicht blöd, Cassie. Ich kann mir ungefähr vorstellen, was gestern Abend gewesen ist, und ich weiß, du erzählst mir längst nicht alles. Das sind Warnzeichen, und ich werde sie nicht ignorieren.« Er war auf den Fauré reingefallen, er wusste nicht, dass ich aufgeflogen war. Mein Herzschlag verlangsamte sich wieder. »Du verlierst aus den Augen, wo deine Grenzen sind. Vielleicht hätte ich dich nicht drängen sollen mitzumachen. Ich weiß nicht, was da im Einzelnen passiert ist, als du im Morddezernat warst, und ich frag auch nicht, aber es hat dir offensichtlich einen Knacks verpasst, und du warst offensichtlich noch nicht wieder so weit, so eine Sache zu übernehmen.« Ich habe ein aufbrausendes Temperament, und wenn ich jetzt die Beherrschung verlor, war die Diskussion zu Ende, dann hätte ich Franks Argu1128
ment bestätigt. Genau darauf spekulierte er vermutlich sogar. Stattdessen trat ich gegen den Baumstamm, so fest, dass ich einen Moment lang dachte, ich hätte mir den Zeh gebrochen. Als ich wieder sprechen konnte, sagte ich kühl: »Ich habe keinen Knacks bekommen, mir geht es gut, Frank, und ich weiß, wo meine Grenzen sind. Alles, was ich bisher gemacht habe, geschah einzig und allein zu dem Zweck, das Ziel dieser Ermittlungen zu erreichen, nämlich einen Hauptverdächtigen für den Mord an Lexie Madison zu finden. Und ich möchte die Arbeit zu Ende führen.« »Tut mir leid, Cassie«, sagte Frank, sanft, aber ausgesprochen resolut. »Diesmal nicht.« Über einen Aspekt bei der Undercoverarbeit spricht kein Mensch, niemals. Die Regel lautet, dass der Einsatzleiter die Bremse in der Hand hat: Er allein entscheidet, wann du es vorsichtiger angehen oder abgezogen werden musst. Schließlich ist er derjenige, der den Überblick hat, er verfügt vielleicht über Informationen, die du nicht hast, 1129
und du tust besser, was er sagt, wenn dir dein Leben oder deine Laufbahn lieb ist. Aber jetzt kommt der Teil, über den wir niemals reden, die Handgranate, die du immer bei dir hast: Er kann dich nicht zwingen. Ich hatte noch nie gehört, dass schon mal jemand diese Handgranate geworfen hat, aber jeder von uns weiß, dass sie da ist. Wenn du nein sagst, kann der Einsatzleiter – zumindest für kurze Zeit, und mehr brauchst du vielleicht nicht – nicht das Geringste dagegen tun. Ein solcher Vertrauensbruch lässt sich nicht mehr kitten. In diesem Moment hatte ich die Flughafen-Kürzel in Lexies Terminkalender vor Augen, das harte, wilde Gekritzel. »Ich bleibe«, sagte ich. Ein jäher Windstoß fuhr durch die Bäume, und ich spürte den Stamm zittern, ein tiefes Beben, das mir bis in die Knochen fuhr. »Nein«, sagte Frank, »kommt nicht in Frage. Mach mir hier keine Schwierigkeiten, Cassie. Die Entscheidung steht, es ist überflüssig, darüber zu 1130
streiten. Geh nach Hause, pack deine Sachen und mach einen auf krank. Wir sehen uns morgen.« »Du hast mich hierhergeschickt, um einen Job zu erledigen«, sagte ich. »Ich gehe nicht eher, bis ich ihn erledigt habe. Ich streite nicht mir dir darüber, Frank. Ich sag’s dir bloß.« Diesmal begriff Frank. Seine Stimme wurde nicht schärfer, doch sie nahm einen Unterton an, bei dem sich meine Schultern hoben. »Soll ich dich auf der Straße festnehmen lassen, Drogen bei dir finden lassen und dich in den Knast stecken, bis du Vernunft angenommen hast? Denn das mach ich.« »Nein, machst du nicht. Die anderen wissen, dass Lexie keine Drogen nimmt, und wenn sie wegen eines fingierten Verdachts festgenommen wird und dann in Polizeigewahrsam stirbt, werden die anderen so einen Aufstand machen, dass die ganze Ermittlung in Flammen aufgeht und du noch Jahre damit beschäftigt bist, die Trümmer wegzuräumen.« 1131
Schweigen, während Frank die Situation abschätzte. »Das könnte das Ende deiner Karriere bedeuten, das ist dir doch klar, oder?«, sagte er endlich. »Du missachtest eine direkte Anweisung eines Vorgesetzten. Du weißt, ich könnte dich abholen lassen, dir Ausweis und Waffe abnehmen und dich auf der Stelle feuern.« »Ja«, sagte ich. »Ich weiß.« Aber das würde er nicht tun, nicht Frank, und ich wusste, dass ich das ausnutzte. Ich wusste noch etwas, ich bin mir nicht sicher, wieso, vielleicht weil seine Stimme nicht zutiefst schockiert klang. Irgendwann in seiner Laufbahn hatte er selbst das Gleiche getan. »Und du weißt, dass ich deinetwegen mein Wochenende mit Holly verpasse. Sie hat morgen Geburtstag. Willst du ihr erklären, warum ihr Daddy nun doch keine Zeit hat?« Ich verzog das Gesicht, aber ich rief mir in Erinnerung, dass ich es mit Frank zu tun hatte, bis zu Hollys Geburtstag waren es wahrscheinlich
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noch Monate. »Dann fahr hin. Lass die Mikroaufnahmen von jemand anderem überwachen.« »Keine Chance. Selbst wenn ich wollte, ich hab sonst niemanden. Wir haben das Budget für die Überwachung ausgeschöpft. Denen da oben ist es zu teuer, Beamte dafür abzustellen, dass sie rumsitzen und dir beim Weintrinken und Tapetenabreißen zuhören.« »Kann ich ihnen nicht verdenken«, sagte ich. »Was du mit den Aufnahmen machst, ist deine Entscheidung; dann hört eben zwischendurch mal keiner mit. Du machst deine Arbeit, ich mache meine.« »Okay«, sagte Frank mit einem schwer geprüften Seufzer. »Okay. Wir machen Folgendes. Du hast achtundvierzig Stunden, von jetzt an gerechnet, um die Sache abzuschließen –« »Zweiundsiebzig.« »Zweiundsiebzig, unter drei Bedingungen: Du machst keine Dummheiten, du meldest dich re-
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gelmäßig, und du trägst die ganze Zeit das Mikro. Ich will dein Wort.« Ich spürte ein Prickeln in mir. Vielleicht wusste er doch Bescheid, bei Frank kann man nie wissen. »Alles klar«, sagte ich. »Versprochen.« »In drei Tagen, von jetzt an gerechnet, bist du da raus, auch wenn du ganz knapp von der Lösung des Falles entfernt bist. Das heißt also« – Uhrenvergleich –, »um fünfzehn Minuten vor Mitternacht am Montag hast du das Haus verlassen und bist in der Notaufnahme eines Krankenhauses oder zumindest auf dem Weg dorthin. Bis dahin kleb ich weiter an der Tonüberwachung. Wenn du dich an die Bedingungen hältst und wie vereinbart den Rückzug angetreten hast, lösche ich das Band, und niemand wird je was von unserer kleinen Unterhaltung erfahren. Wenn du mir noch einmal irgendwelche Sperenzchen machst, verfrachte ich deinen Hintern eigenhändig hierher, egal wie und egal, was es für Folgen hat, und ich schmeiß dich raus. Ist das klar?« 1134
»Ja«, sagte ich. »Absolut klar. Ich will keine Spielchen mit dir treiben. Darum geht’s wirklich nicht.« »Cassie«, sagte Frank, »das war eine richtig, richtig schlechte Idee. Hoffentlich weißt du das.« Ein Piepsen ertönte, und dann nichts mehr, bloß statisches Wellenrauschen. Meine Hände zitterten so stark, dass ich das Telefon zweimal fallen ließ, ehe ich es schaffte, es einzustecken.
Das Absurde an der Sache: Er war so unglaublich dicht an der Wahrheit dran. Noch vierundzwanzig Stunden zuvor hatte ich den Fall nicht bearbeitet, ich hatte mich von ihm steuern lassen, war kopfüber hineingesprungen und tiefer und tiefer getaucht. Unzählige Worte und Blicke und Gegenstände waren in diesem Fall verstreut worden wie Brotkrumen, und ich hatte sie übersehen und keine Verbindungen hergestellt, weil ich Lexie Madison sein wollte – oder zumindest hatte ich das ge1135
glaubt –, und zwar so sehr viel mehr, als ich den Mord an ihr aufklären wollte. Was Frank nicht wusste und was ich ihm nicht erzählen konnte war, dass ausgerechnet Ned, ohne es auch nur zu ahnen, mich wieder zur Besinnung gebracht hatte. Ich wollte diesen Fall abschließen, und ich war bereit – und so etwas sage ich nicht leichtfertig –, alles dafür zu tun. Wahrscheinlich könnte man sagen, dass mein Kampfgeist wieder zum Leben erwachte, weil ich mich hatte einwickeln lassen, beinahe verhängnisvoll, und weil das jetzt meine letzte Chance war, es wiedergutzumachen, oder weil ich meine Karriere nur retten konnte – Ich mache das, weil es mein Job ist, hatte ich zu Daniel gesagt, ehe ich wusste, dass mir die Worte über die Lippen kommen würden –, wenn ich diesen Fall aufklärte, oder weil unser gescheiterter Knocknaree-Fall die Luft um mich herum vergiftet hatte und ich ein Gegengift brauchte. Vielleicht ein wenig von allem. Aber vor einer Sache konnte ich nicht die 1136
Augen verschließen: Egal, was diese Frau gewesen war oder getan hatte, wir waren seit unserer Geburt miteinander verwoben. Wir hatten uns gegenseitig in dieses Leben geführt, an diesen Ort. Ich wusste Dinge über sie, die sonst niemand auf der Welt wusste. Ich konnte sie jetzt nicht verlassen. Niemand sonst konnte durch ihre Augen sehen und ihre Gedanken lesen, die silbrigen Runenzeichnungen aufspüren, die sie hinterlassen hatte, die einzige Geschichte erzählen, die sie je beendet hatte. Ich wusste lediglich, dass ich das Ende der Geschichte brauchte, dass ich diejenige sein musste, die sie zu Ende erzählte, und dass ich Angst hatte. Ich bin kein furchtsamer Mensch, aber genau wie Daniel habe ich immer gewusst, dass es einen Preis zu zahlen gilt. Und was Daniel nicht wusste oder nicht erwähnt hatte war, dass der Preis etwas ist, was seine Form unaufhörlich und rasend schnell verändert, und nicht immer kannst du ent-
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scheiden, nicht immer darfst du im Voraus wissen, was der Preis sein wird. Das andere, was mir immer wieder durch den Kopf schoss, so vehement, dass mir jedes Mal fast schwindelig wurde, war die Erkenntnis, dass sie vielleicht genau deshalb nach mir gesucht hatte, dass sie es sich vielleicht genauso gewünscht hatte. Jemanden, der die Plätze mit ihr tauscht. Jemanden, der sich nach der Gelegenheit sehnt, sein eigenes kaputtes Leben wegzuwerfen, es verdunsten zu lassen wie Morgennebel über einer Wiese, jemanden, der sich mit Freude auflösen würde in einen Glockenblumenduft und einen grünen Trieb, während diese Frau wieder erstarkte und aufblühte und wieder feste Form annahm und lebte. Ich denke, erst in diesem Augenblick glaubte ich, dass sie tot war, diese junge Frau, die ich nie lebendig gesehen hatte. Ich werde nie frei von ihr sein. Ich trage ihr Gesicht, es bleibt ihr sich verändernder Spiegel mit jedem Jahr, das ich älter werde, der Blick auf all die Altersstufen, die sie nie 1138
erreicht hat. Ich lebte ihr Leben, ein paar seltsame, strahlende Wochen lang. Ihr Blut ist in das eingegangen, was ich bin, genauso wie es in die Glockenblumen und den Weißdornbusch eingegangen ist. Doch als ich die Chance hatte, den letzten Schritt über die Grenze zu gehen, mich mit Daniel in den Efeu und den Klang des Wassers zu betten, mein Leben loszulassen mit all seinen Narben und all seinen Trümmern und neu anzufangen, lehnte ich sie ab. Die Luft war so still. Jeden Augenblick würde ich zurückgehen müssen und alles tun, um Whitethorn House zu zerstören. Wie aus dem Nichts verspürte ich ein solches Verlangen, mit Sam zu reden, dass es sich anfühlte wie ein Schlag in den Magen, als gäbe es für mich nichts Dringenderes auf der Welt, als ihm zu sagen, ehe es zu spät war, dass ich nach Hause kommen würde, dass ich in gewisser Weise, in entscheidender Weise, bereits zu Hause war, dass
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ich Angst hatte, panische Angst, wie ein Kind im Dunkeln, und dass ich seine Stimme hören musste. Sein Handy war ausgestellt. Ich erreichte nur die Mailbox-Frau, die mich neckisch aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen. Sam arbeitete, war vielleicht gerade an der Reihe, Naylors Haus zu überwachen, ging zum x-ten Mal Zeugenaussagen durch, für den Fall, dass er irgendetwas übersehen hatte. Wäre ich nah am Wasser gebaut, hätte ich losgeheult. Ehe ich richtig begriff, was ich tat, aktivierte ich die Nummernunterdrückung meines Handys und rief Rob an. Ich presste die freie Hand flach aufs Mikro und spürte, wie mein Herz langsam und hart unter der Handfläche schlug. Ich wusste, das war möglicherweise das Dümmste, was ich je im Leben getan hatte, aber ich wusste nicht, wie ich es nicht tun sollte. »Ryan«, sagte er nach dem zweiten Klingeln, hellwach. Rob hatte schon immer Schlafstörun-
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gen. Als ich nicht antworten konnte, sagte er mit einer plötzlichen Unruhe: »Hallo?« Ich legte auf. In der Sekunde, ehe mein Daumen den Knopf drückte, meinte ich zu hören, dass er schnell und beschwörend »Cassie« sagte, aber es war zu spät, den Daumen zu stoppen, selbst wenn ich gewollt hätte. Ich rutschte an dem Baumstamm herunter und blieb lange Zeit sitzen, die Arme fest um mich geschlungen. Da war diese eine Nacht gewesen, während unseres letzten Falles. Um drei Uhr morgens war ich auf meine Vespa gestiegen und raus zum Tatort gefahren, um Rob abzuholen. Auf der Fahrt zurück gehörten die Straßen uns zu so später Stunde ganz allein, und ich fuhr schnell. Rob legte sich mit mir zusammen in die Kurven, und der Roller schien das zusätzliche Gewicht kaum zu spüren. Zwei aufgeblendete Scheinwerfer kamen um eine Biegung auf uns zu, das helle Licht wurde größer, bis es die Straße ausfüllte: ein Lkw, halb auf der Mittellinie, steuerte direkt auf uns zu, aber der 1141
Roller wich mit einem Schwenk leicht wie ein Grashalm aus, und der Lkw brauste mit einem rauschenden Windzug und grellem Licht an uns vorbei. Robs Hände auf meiner Taille zitterten hin und wieder, ein kurzes, heftiges Beben, und ich dachte an zu Hause und Wärme und ob ich etwas im Kühlschrank hatte. Keiner von uns beiden wusste es, aber wir fuhren durch die letzten paar Stunden, die wir hatten. Ich stützte mich locker und gedankenlos auf diese Freundschaft, als wäre sie eine zwei Meter dicke Mauer, doch nicht einmal einen Tag später fing sie an, zu zerbröckeln und einzubrechen, und ich hätte sie durch nichts auf der Welt noch zusammenhalten können. In den Nächten danach wachte ich oft auf, den Kopf voll mit diesen Scheinwerfern, heller und tiefer als die Sonne. Auf dem dunklen Feldweg sah ich sie erneut, hinter den Augenlidern, und da begriff ich, dass ich einfach hätte weiterfahren können. Ich hätte wie Lexie sein können. Ich hätte Vollgas geben können, bis wir 1142
von der Straße abgehoben hätten, hinein in die gewaltige Stille im Herzen der Lichter und hinaus auf die andere Seite, wo uns nichts je berühren konnte.
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21 Daniel brauchte nur ein paar Stunden, bis er seinen nächsten Versuch startete. Ich saß im Bett, starrte auf die Gebrüder Grimm und las denselben Satz wieder und wieder, ohne ein einziges Wort aufzunehmen, als es kurz und dezent an meiner Tür klopfte. »Herein«, rief ich. Daniel schob den Kopf herein. Er war noch angezogen, makellos in seinem weißen Hemd und den glänzenden Schuhen. »Hast du einen Moment Zeit?« »Klar«, sagte ich genauso höflich und legte das Buch hin. Von Kapitulation oder gar Waffenstillstand konnte bestimmt keine Rede sein, aber mir fiel nichts ein, was einer von uns beiden versuchen könnte, wenn die anderen nicht dabei waren, um sie als Waffe einzusetzen.
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»Ich wollte bloß«, sagte Daniel, während er sich umdrehte und die Tür schloss, »kurz mit dir reden. Unter vier Augen.« Mein Körper dachte schneller als mein Kopf. In der Sekunde, als er mir den Rücken zuwandte, fasste ich ohne zu überlegen durch mein Pyjamaoberteil den Mikrodraht, riss ihn einmal kräftig nach oben und spürte das Plopp, mit dem der Stecker raussprang. Als Daniel sich zu mir umdrehte, lagen meine Hände wieder harmlos auf dem Buch. »Worüber?«, fragte ich. »Über ein paar Sachen«, sagte Daniel, strich das untere Ende der Bettdecke glatt und setzte sich darauf, »die mir keine Ruhe lassen.« »Ach ja?« »Ja. Ungefähr seit du … na, sagen wir, seit du hier ankamst. Kleine Ungereimtheiten, die mit der Zeit beunruhigender wurden. Als du neulich Abend beim Essen noch einen Nachschlag haben wolltest, obwohl Zwiebeln drin waren, sind mir doch ernste Zweifel gekommen.« 1145
Er machte eine höfliche Pause, für den Fall, dass ich zu dem Gespräch etwas beisteuern wollte. Ich starrte ihn an. Ich war fassungslos, dass ich das hier nicht hatte kommen sehen. »Und dann natürlich«, sagte er, als klar war, dass ich nichts erwidern würde, »die Sache letzte Nacht. Wie du vielleicht weißt oder nicht weißt, ist es ein paarmal vorgekommen, dass du und ich – ich meine natürlich, Lexie und ich – … Na, kurz gesagt, ein Kuss kann so unverwechselbar sein wie ein Lachen. Als wir uns geküsst haben, gestern Nacht, war ich anschließend mehr oder weniger überzeugt, dass du nicht Lexie bist.« Er blickte mich ungerührt an. Er wollte mich nach Strich und Faden auffliegen lassen: bei meinem Boss, bei meinem Freund, den er erraten hatte, bei den hohen Tieren, die ganz und gar nicht begeistert wären, wenn sie hörten, dass eine verdeckte Ermittlerin mit einem Verdächtigen rumknutschte. Das waren seine brandneuen ferngesteuerten Waffen. Wäre das Mikro eingestöpselt 1146
gewesen, hätte mich ein paar Stunden später eine düstere Fahrt nach Hause und eine Fahrkarte zu einem Schreibtisch in der tiefsten Provinz erwartet. »Es mag sich absurd anhören«, sagte Daniel gelassen, »aber ich würde gern die angebliche Stichwunde sehen. Einfach um mich zu beruhigen, dass du wirklich die bist, die du behauptest zu sein.« »Klar«, sagte ich munter, »kein Problem«, und sah das verdutzte Flackern in seinen Augen. Ich zog mein Pyjamaoberteil hoch und zupfte den Verband ab, damit er die Akkus und den rausgezogenen Stecker sah. »Netter Versuch«, sagte ich, »aber keine Chance. Und selbst wenn du es schaffst, mich abziehen zu lassen, meinst du, dann gehe ich wortlos? Ich habe nichts zu verlieren. Auch wenn mir nur fünf Minuten bleiben, die Zeit reicht, um den anderen zu sagen, wer ich bin und dass du das seit Wochen
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weißt. Was glaubst du wohl, wie gut das ankommt, sagen wir bei Rafe?« Daniel beugte sich vor, um das Mikro in Augenschein zu nehmen. »Aha«, sagte er. »Na, es war den Versuch wert.« »Meine Zeit, die mir für den Fall zur Verfügung steht, ist ohnehin fast abgelaufen«, sagte ich. Ich sprach schnell: Frank war bestimmt gleich misstrauisch geworden, als er nichts mehr hören konnte, ich hatte höchstens noch eine Minute, bis er an die Decke ging. »Mir bleiben nur noch ein paar Tage. Aber die will ich haben. Wenn du versuchst, sie mir wegzunehmen, geh ich mit Pauken und Trompeten. Wenn nicht, hast du noch eine gute Chance, dass ich nichts Belastendes herausfinde, und wir können die Sache so drehen, dass die anderen nie erfahren, wer ich war.« Er betrachtete mich ausdruckslos, die großen kantigen Hände ordentlich im Schoß gefaltet. »Meine Freunde sind meine Verantwortung. Ich
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werde nicht tatenlos zusehen, wie du sie beiseitenimmst, um sie auszufragen.« Ich zuckte die Achseln. »In Ordnung. Dann versuch mich dran zu hindern, so gut du kannst. Ist dir ja vorhin auch nicht schwergefallen. Aber vermassel mir die letzten Tage nicht. Abgemacht?« »Wie viele Tage«, fragte Daniel, »genau?« Ich schüttelte den Kopf. »Nicht Teil der Abmachung. In gut zehn Sekunden stöpsel ich das Mikro wieder ein, damit es sich so anhört, als wäre die Verbindung aus Versehen unterbrochen, und wir halten ein harmloses Schwätzchen darüber, warum ich beim Abendessen mies gelaunt war. Okay?« Er nickte geistesabwesend, inspizierte noch immer das Mikro. »Super«, sagte ich. »Los geht’s. Ich will« – ich stöpselte den Stecker mitten im Satz wieder ein, damit es realistischer klang – «lieber nicht drüber reden. Mir tut der Kopf tierisch weh, ich fühl mich insgesamt zum Kotzen, ich will einfach in Ruhe gelassen werden. Okay?« 1149
»Du hast wahrscheinlich bloß einen Kater«, sagte Daniel brav. »Du verträgst nun mal keinen Rotwein, das weißt du doch.« Irgendwie hörte sich alles nach einer Falle an. »Kann sein«, sagte ich, zuckte genervt mit den Schultern, wie ein Teenager, und klebte den Verband wieder fest. »Oder es kommt von dem Punsch. Rafe hat bestimmt Meth untergemischt. Er trinkt in letzter Zeit viel mehr, findest du nicht?« »Rafe geht’s gut«, sagte Daniel kühl. »Und dir hoffentlich auch, wenn du dich erst mal richtig ausgeschlafen hast.« Rasche Schritte eine Etage tiefer und eine Tür, die aufging. »Lexie?«, rief Justin nervös die Treppe herauf. »Alles in Ordnung?« »Daniel geht mir auf den Wecker«, rief ich zurück. »Daniel? Womit gehst du ihr auf den Wecker?« »Tu ich ja gar nicht.«
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»Er will wissen, warum ich mich beschissen fühl«, rief ich. »Ich fühl mich beschissen, weil ich mich nun mal so fühle, und ich will, dass er mich in Frieden lässt.« »Du fühlst dich beschissen, weshalb?« Justin war aus seinem Zimmer gekommen, stand jetzt unten an der Treppe. Ich konnte ihn mir bildhaft vorstellen, in seinem gestreiften Pyjama, eine Hand am Treppengeländer und kurzsichtig nach oben spähend. Daniel betrachtete mich mit einem aufmerksamen nachdenklichen Blick, der mich furchtbar nervös machte. »Ru-he!«, brüllte Abby, so wütend, dass wir sie durch ihre Tür hören konnten. »Es gibt hier Menschen, die versuchen zu schlafen.« »Lexie? Weshalb fühlst du dich beschissen?« Ein dumpfer Knall: Abby hatte irgendetwas geworfen. »Justin, ich habe gesagt, Ru-he! Verdammt!« Vom Erdgeschoss her war schwach Rafes Stimme zu hören. Er rief irgendetwas Gereiztes, 1151
das sich anhörte wie »Was zum Henker ist da oben los?«. »Ich komm runter und erklär’s dir, Justin«, rief Daniel. »Alle wieder ins Bett.« Zu mir: »Gute Nacht.« Er stand auf und strich die Bettdecke wieder glatt. »Schlaf gut. Ich hoffe, morgen geht’s dir wieder besser.« »Ja«, sagte ich. »Danke. Rechne eher nicht damit.« Der gleichmäßige Rhythmus seiner Schritte auf dem Weg nach unten, dann gedämpfte Stimmen unter mir: Zuerst überwiegend Justin mit kurzen Einwürfen von Daniel, dann kehrte sich das Verhältnis langsam um. Ich stand auf, vorsichtig, und legte das Ohr auf den Fußboden, aber sie sprachen fast im Flüsterton, und ich konnte kein Wort verstehen. Zwanzig Minuten vergingen, bis Daniel wieder die Treppe hochkam, leise, und dann einige lange Sekunden im Flur stehen blieb. Ich begann erst zu
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zittern, als die Tür seines Zimmers sich hinter ihm schloss. Ich blieb in dieser Nacht stundenlang wach, blätterte Seiten um und tat, als würde ich lesen, raschelte mit der Bettwäsche und atmete tief und tat so, als würde ich schlafen, wobei ich zwischendurch immer mal wieder für ein paar Sekunden oder Minuten das Mikro ausstöpselte. Ich glaube, ich schaffte es einigermaßen, einen durch meine Bewegungen erzeugten Wackelkontakt vorzutäuschen, aber es beruhigte mich nicht. Frank ist alles andere als blöd, und er war nicht in der Stimmung, mir noch einen Vertrauensbonus zu gewähren. Frank zu meiner Linken, Daniel zu meiner Rechten, und ich mit Lexie mittendrin. Während ich weiter Stecker-raus-Stecker-rein spielte, vertrieb ich mir die Zeit damit, nach einer Erklärung zu suchen, wie es logistisch möglich war, dass ich absolut jeden gegen mich aufgebracht hatte, der mit diesem Fall zu tun hatte, selbst Leute einge1153
schlossen, die gegeneinander aufgebracht waren. Ehe ich endlich einschlief, holte ich den Stuhl von Lexies Frisierkommode, zum ersten Mal seit Wochen, und klemmte ihn unter die Türklinke.
Der Samstag verging schnell, in ohnmächtiger, düsterer Benommenheit. Daniel hatte beschlossen – zum Teil vermutlich, weil die Arbeit am Haus sie immer beruhigte, und zum Teil, um alle in einem Raum zu haben und im Blick behalten zu können –, an dem Tag Fußböden abzuschleifen: »Ich finde, wir haben das Esszimmer vernachlässigt«, verkündete er beim Frühstück. »Jetzt, wo wir das Wohnzimmer fertig haben, sieht es richtig schäbig aus. Wir sollten heute anfangen, es auf Vordermann zu bringen, denke ich. Was meint ihr?« »Gute Idee«, sagte Abby, während sie Eier auf seinen Teller rutschen ließ und ihn müde, aber entschlossen zuversichtlich anlächelte. Justin 1154
zuckte die Achseln und stocherte weiter an seiner Toastscheibe herum. Ich sagte »Von mir aus« in die Bratpfanne. Rafe nahm seinen Kaffee und ging ohne ein Wort. »Gut«, sagte Daniel gleichmütig und widmete sich wieder seinem Buch. »Also abgemacht.« Der Rest des Tages verlief in etwa so quälend, wie ich erwartet hatte. Der friedensstiftende Zauber hatte anscheinend seinen freien Tag. Rafe erging sich in stummer Stinkwut auf die ganze Welt und knallte andauernd mit der Schleifmaschine gegen die Wände, so dass alle zusammenschreckten, bis Daniel sie ihm wortlos aus den Händen nahm und ihm stattdessen ein Stück Schmirgelpapier reichte. Ich drehte meine Schmolllaune auf volle Lautstärke und hoffte, dass sie sich irgendwie auf irgendwen auswirkte und ich früher oder später – nicht zu spät – eine Möglichkeit finden würde, sie einzusetzen. Draußen vor den Fenstern regnete es, ein dünner Depri-Regen. Wir sprachen kein Wort. Ein1155
oder zweimal sah ich, wie Abby sich übers Gesicht wischte, aber da sie uns die ganze Zeit den Rücken zudrehte, konnte ich nicht sagen, ob sie weinte oder bloß gegen den Schleifstaub kämpfte. Das Zeug war überall, es drang uns in die Nase, in den Kragen, setzte sich in die Hautporen der Hände. Justin keuchte demonstrativ und kriegte dramatische Hustenanfälle in ein Taschentuch, bis Daniel die Schleifmaschine abschaltete, aus dem Raum ging und mit einer uralten, scheußlichen Gasmaske wiederkam, die er Justin schweigend hinhielt. Niemand lachte. »In den Dingern ist Asbest«, sagte Rafe, der wild an einer schwierigen Bodenecke herumschmirgelte. »Willst du ihn wirklich umbringen oder tust du nur so?« Justin bedachte die Maske mit einem entsetzten Blick. »Ich will keinen Asbest einatmen.« »Wenn du dir lieber dein Taschentuch vor den Mund bindest«, sagte Daniel, »dann mach das gefälligst. Aber hör auf rumzustöhnen.« Er drückte 1156
Justin die Maske in die Hände, ging zurück zur Schleifmaschine und schaltete sie wieder ein. Die Gasmaske, über die Rafe und ich uns schier ausgeschüttet hatten vor Lachen, an dem Abend auf der Terrasse. Daniel kann sie in der Uni tragen, Abby soll sie hübsch besticken … Justin legte sie vorsichtig in eine freie Ecke, wo sie den Rest des Tages blieb und uns alle mit großen, leeren, trostlosen Augen anstarrte.
»Und was ist mit deinem Mikro los?«, fragte Frank in der Nacht. »Nur rein interessehalber.« »Ach verdammt«, sagte ich. »Sag nicht, es ist schon wieder passiert? Ich dachte, ich hätte es repariert.« Eine skeptische Pause. »Was soll passiert sein?« »Als ich heute Morgen den Verband gewechselt hab, war der Stecker draußen. Ich glaub, ich hab gestern Abend nach dem Duschen den Verband 1157
falsch angelegt, und als ich mich bewegt hab, ist der Stecker rausgerutscht. Wie viel hast du verpasst? Funktioniert es jetzt?« Ich schob eine Hand in mein Top und tippte auf das Mikro. »Hörst du das?« »Laut und deutlich«, sagte Frank trocken. »Die Verbindung war im Laufe der Nacht ein paarmal kurz unterbrochen, aber ich glaub nicht, dass ich was Wichtiges verpasst hab – ich hoffe jedenfalls nicht. Allerdings fehlen mir ein oder zwei Minuten von deinem Mitternachtsplausch mit Daniel.« Ich legte ein Grinsen in meine Stimme. »Ach das? Den hat meine Zicken-Nummer nervös gemacht. Er wollte wissen, was los ist, und ich hab gesagt, er soll mich in Frieden lassen. Dann haben die anderen uns gehört und sich eingemischt, und schließlich hat er Ruhe gegeben und ist ins Bett. Ich hab doch gesagt, dass das funktioniert, Frank. Die gehen allmählich die Wände hoch.« »Okay«, sagte Frank nach einem Augenblick. »Dann hab ich anscheinend nichts Lehrreiches 1158
verpasst. Und solange ich an diesem Fall arbeite, kann ich wohl kaum sagen, dass ich nicht an Zufälle glaube. Aber wenn der Stecker noch ein einziges Mal rausrutscht, auch nur für eine Sekunde, komm ich und zerr dich am Kragen da raus. Also besorg dir Sekundenkleber.« Und er legte auf.
Auf dem Weg nach Hause überlegte ich, was ich als Nächstes tun würde, wenn ich an Daniels Stelle wäre, aber wie sich herausstellte, hätte ich besser über jemand anderen nachdenken sollen. Noch ehe ich das Haus betrat, wusste ich, dass etwas passiert war. Sie waren alle in der Küche – die Jungs waren offenbar beim Spülen unterbrochen worden, Rafe hielt einen Pfannenwender wie eine Waffe in der Hand, und Justin tropfte den Boden mit Spülwasser voll –, und sie redeten alle durcheinander. »– machen nur ihre Arbeit«, sagte Daniel gerade, als ich hereinkam. »Wenn wir sie nicht –« 1159
»Aber wieso?«, fiel ihm Justin jammernd ins Wort. »Wieso wollen die –« Dann sahen sie mich. Eine Sekunde lang herrschte Totenstille, und alle vier starrten mich an, mitten im Wort verstummt. »Was ist los?«, fragte ich. »Die Polizei will, dass wir noch mal hinkommen«, sagte Rafe. Er warf den Pfannenwender mit einem Scheppern in die Spüle. Wasser spritzte auf Daniels Hemd, aber er schien es nicht zu bemerken. »Ich steh das nicht noch mal durch«, sagte Justin und sank rückwärts gegen die Arbeitsplatte. »Das schaff ich nicht.« »Hinkommen? Wozu denn?« »Mackey hat Daniel angerufen«, sagte Abby. »Sie wollen noch mal mit uns reden, morgen früh. Mit uns allen.« »Wieso?« Frank, dieser Mistkerl. Er hatte schon bei unserem Telefonat genau gewusst, dass er die-
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sen Coup landen würde, und es mit keinem Wort angedeutet. Rafe zuckte die Achseln. »Hat er nicht verraten. Nur dass er, Zitat, mit uns plaudern möchte. Zitat Ende.« »Aber warum bei denen?«, fragte Justin verzweifelt. Er starrte auf Daniels Handy auf dem Küchentisch, als könnte es ihn anspringen. »Bis jetzt sind sie immer zu uns gekommen. Wieso müssen wir jetzt –« »Wo sollen wir denn hinkommen?«, fragte ich. »Dubliner Burg«, sagte Abby. »Abteilung oder Dezernat für Kapitaldelikte oder so ähnlich.« Das Dezernat für Kapitaldelikte und Organisierte Kriminalität, kurz DKO, ist eine Etage unter dem Morddezernat untergebracht. Frank musste uns lediglich noch eine Treppe höher bugsieren. Das DKO untersucht keine alltägliche Messerstecherei, es sei denn, ein Gangsterboss ist daran beteiligt, aber das wussten die anderen nicht, und es klang eindrucksvoll. 1161
»Hast du davon gewusst?«, wollte Daniel von mir wissen. Er musterte mich mit einem starren eiskalten Blick, der mir ganz und gar nicht behagte. Rafe schlug die Augen zur Decke und murmelte irgendetwas, in dem die Worte »paranoider Spinner« vorkamen. »Nein. Wieso sollte ich?« »Hätte ja sein können, dass dein Freund Mackey dich auch angerufen hat. Während du spazieren warst.« »Hat er nicht. Und er ist nicht mein Freund.« Ich setzte bewusst eine stocksaure Miene auf. Sollte Daniel ruhig rumrätseln, ob sie echt war. Ich hatte nur noch zwei Tage, und Frank wollte einen davon mit so endlosen, sinnlosen, nichtigen Fragen vergeuden wie, womit wir unsere Sandwiches belegten und was wir von Vier-Titten-Brenda hielten. Wir sollten am nächsten Morgen ganz früh da sein: Er hatte vor, die Sache so extrem wie möglich in die Länge zu ziehen, acht Stunden,
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zwölf. Ich fragte mich, ob es zu Lexie passen würde, ihm in die Eier zu treten. »Ich hab doch gewusst, dass es falsch war, sie wegen der Sache mit dem Stein durchs Fenster anzurufen«, sagte Justin unglücklich. »Ich hab’s gewusst. Sie waren schon drauf und dran, uns in Ruhe zu lassen.« »Dann gehen wir eben nicht hin«, sagte ich. Vermutlich würde Frank das als Verstoß gegen Bedingung Nummer eins einstufen: keine Dummheiten machen, aber das war mir egal, so sauer war ich. »Sie können uns nicht zwingen.« Eine verblüffte Pause. »Stimmt das?«, fragte Abby Daniel. »Ich glaube, ja«, sagte Daniel. Er taxierte mich, ich konnte förmlich hören, wie bei ihm die Rädchen im Gehirn ratterten. »Wir sind nicht verhaftet. Wir werden gebeten zu kommen, das ist kein Befehl, auch wenn es sich aus Mackeys Mund so angehört hat. Trotzdem, ich finde, wir sollten hingehen.« 1163
»Ach tatsächlich?«, sagte Rafe, in keinem freundlichen Ton. »Findest du das wirklich? Und was ist, wenn ich finde, wir sollten Mackey sagen, er kann uns mal kreuzweise?« Daniel drehte sich zu ihm um. »Ich habe vor, weiter kooperativ zu sein, solange die Ermittlungen nicht abgeschlossen sind«, sagte er ruhig. »Zum Teil, weil ich es für ratsam halte, aber in erster Linie, weil ich wissen möchte, wer diese schreckliche Sache getan hat. Wenn ihr euch lieber querstellen und Mackeys Verdacht noch verstärken wollt, indem ihr euch weigert zu kooperieren, kann ich euch nicht davon abhalten, aber vergesst nicht, der Mensch, der Lexie das angetan hat, läuft immer noch frei rum, und ich für meinen Teil finde, wir sollten, so gut wir können, dabei behilflich sein, ihn zu schnappen.« Dieser gerissene Hund: Er benutzte mein Mikro, um Frank genau das zu servieren, was er hören sollte, und das war offensichtlich ein Haufen scheinheiliger Phrasen. Die beiden waren wie füreinander geschaffen. 1164
Daniel blickte fragend in die Runde. Niemand antwortete. Rafe setzte an, etwas zu sagen, bremste sich dann und schüttelte angewidert den Kopf. »Gut«, sagte Daniel. »Dann lasst uns hier fertig werden und ins Bett gehen. Das wird morgen ein langer Tag.« Und er griff zum Geschirrtuch. Ich saß mit Abby im Wohnzimmer, tat so, als würde ich lesen, und dachte mir kreative neue Sachen für Frank aus, während ich zugleich auf die angespannte Stille in der Küche lauschte, als mir etwas klar wurde. Vor die Wahl gestellt, hatte Daniel sich entschieden, einen meiner letzten paar Tage hier lieber mit Frank als mit mir zu verbringen. Ich schätzte, auf eine gefährliche Art war das fast so etwas wie ein Kompliment.
Meine Erinnerung an den Sonntagmorgen beschränkt sich vor allem darauf, dass wir das übliche Frühstücksprogramm durchzogen, Schritt für Schritt. Abbys kurzes Klopfen an meine Tür, wir 1165
beide Seite an Seite beim Frühstückmachen, ihr Gesicht gerötet von der Hitze des Herdes. Wir waren ein eingespieltes Team, arbeiteten Hand in Hand, ohne großartig fragen zu müssen. Ich erinnerte mich an jenen ersten Abend, an den Stich, den es mir versetzt hatte, als ich sah, wie eng die vier miteinander verwoben waren. Irgendwie war ich seitdem ein Teil davon geworden. Justin, der finster seinen Toast beäugte, während er ihn in Dreiecke schnitt, Rafes Autopilotmanöver mit dem Kaffee, Daniel, der ein Buch mit dem Rand unter seinen Teller geklemmt hatte. Ich verbot es mir, auch nur für einen Sekundenbruchteil daran zu denken, dass ich in sechsunddreißig Stunden nicht mehr da wäre, dass es, sollte ich die vier jemals wiedersehen, irgendwann, doch nie mehr so sein würde wie jetzt. Wir ließen uns Zeit. Selbst Rafe tauchte wieder auf, als er seinen Kaffee intus hatte, stupste mich mit der Hüfte an, damit er sich mit auf meinen Stuhl quetschen und ein paar Bissen von meinem 1166
Toast klauen konnte. Tautropfen rannen an den Fensterscheiben herab, und die Kaninchen – sie wurden frecher und wagten sich jeden Tag näher – mümmelten draußen das Gras. Irgendetwas hatte sich im Laufe der Nacht verändert. Die zackigen Schnittkanten zwischen den vieren waren glatter geworden, sie gingen sanft miteinander um, behutsam, fast zärtlich. Manchmal frage ich mich, ob sie sich mit diesem Frühstück so große Mühe gaben, weil sie es auf irgendeiner Ebene, die tiefer und sicherer war als Logik, schon wussten. »Wir müssen los«, sagte Daniel schließlich. Er klappte sein Buch zu, legte es auf die Arbeitsplatte. Ich spürte, wie ein Atemhauch, irgendwo zwischen einem Keuchen und einem Seufzer, um den Tisch lief. Rafes Brust hob sich einmal rasch an meiner Schulter. »Ja«, sagte Abby leise, fast zu sich selbst. »Bringen wir’s hinter uns.«
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»Ich würde gern was mit dir besprechen, Lexie«, sagte Daniel. »Wie wär’s, wenn wir zwei zusammen in die Stadt fahren?« »Was denn besprechen?«, fragte Rafe barsch. Seine Finger gruben sich in meinen Arm. »Wenn es dich was anginge«, sagte Daniel und brachte seinen Teller zur Spüle, »hätte ich dich gebeten, mit uns zu fahren.« Die zackigen Schnittkanten traten schlagartig und scharf wieder hervor und zerteilten die Luft. »So«, sagte Daniel, als er seinen Wagen vors Haus gefahren hatte und ich neben ihm eingestiegen war, »da wären wir.« Irgendetwas Rauchiges schlängelte sich durch mich hindurch: eine Warnung. Es lag daran, dass er nicht mich ansah, sondern zum Fenster hinausschaute, zu dem Haus im kühlen Morgendunst, zu Justin, der die Windschutzscheibe seines Wagens penibel mit einem gefalteten Lappen abwischte, und zu Rafe, der die Treppe heruntergeschlurft kam, das Kinn tief in seinem Schal vergraben. Es 1168
lag an dem Ausdruck in seinem Gesicht, angespannt und nachdenklich und auch ein kleines bisschen traurig. Ich hatte keine Ahnung, wie weit dieser Mann gehen würde, wo seine Grenze war, ob er überhaupt eine hatte. Mein Revolver steckte hinter Lexies Nachttisch – im Morddezernat gibt es einen Metalldetektor. Nur während der Fahrt in die Stadt und zurück, hatte Frank gesagt, haben wir keinen Empfang. Daniel lächelte, ein kleines vertrauliches Lächeln, hinauf in den diesigen blauen Himmel. »Es wird ein schöner Tag«, sagte er. Ich war drauf und dran, aus dem Wagen zu springen, zu Justin hinüberzustapfen und ihm zu sagen, Daniel sei ein Ekel und ich wolle mit ihm und den anderen fahren – die ganze Woche hatten sich alle nur gegenseitig angegiftet, es hätte also niemanden stutzig gemacht –, als die Tür hinter mir aufflog und Abby auf die Rückbank rutschte, mit roten Wangen und zerzaustem Haar, ein Wir1169
bel aus Handschuhen und Mütze und Mantel. »Hey«, sagte sie und knallte die Tür zu. »Kann ich mit euch fahren?« »Klar«, sagte ich. Selten war ich so froh gewesen, jemanden zu sehen. Daniel drehte sich um und sah sie über die Schulter an. »Ich dachte, wir hätten gesagt, dass du mit Justin und Rafe fährst.« »Du spinnst wohl. Bei der Laune, die die haben? Da könnte ich auch mit Stalin und Pol Pot fahren, das wäre wahrscheinlich lustiger.« Unversehens lächelte Daniel sie an, ein richtiges Lächeln, warm und belustigt. »Die beiden sind lächerlich. Ja, überlassen wir sie sich selbst. Ein oder zwei Stunden allein zusammen in einem Auto ist vielleicht genau das, was sie brauchen.« »Vielleicht«, sagte Abby wenig überzeugt. »Oder aber sie bringen sich gegenseitig um.« Sie holte eine Klappbürste aus ihrer Umhängetasche und attackierte ihr Haar. Vor uns fuhr Justin ruck-
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artig und gereizt an und brauste viel zu schnell die Einfahrt hinunter. Daniel streckte eine Hand mit der Handfläche nach oben über seine Schulter, zu Abby hin. Er sah sie nicht an, auch mich nicht, er starrte mit leerem Blick durch die Windschutzscheibe auf die Kirschbäume. Abby ließ die Bürste sinken und legte ihre Hand in seine, drückte sie. Sie ließ erst los, als Daniel seufzte, seine Hand sanft aus ihrer löste und den Wagen startete.
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22 Frank, dieses Oberarschloch, bugsierte mich in einen Verhörraum (»Es ist gleich jemand bei Ihnen, Miss Madison«) und ließ mich volle zwei Stunden warten. Es war nicht mal einer von den guten Verhörräumen, mit Wasserspender und bequemen Stühlen, es war der schäbige kleine, der mit dem Charme einer Arrestzelle, der, den wir benutzen, wenn wir jemanden nervös machen wollen. Und es funktionierte: Ich wurde von Minute zu Minute kribbeliger. Frank könnte in der Zwischenzeit da draußen Gott weiß was anstellen, meine Tarnung auffliegen lassen, den anderen von dem Baby erzählen oder dass wir über Ned Bescheid wussten, alles. Ich wusste, dass ich genauso reagierte, wie er es wollte, genau wie eine Verdächtige, aber statt mich zur Besinnung zu bringen, machte mich das nur noch wütender. Ich konnte der Kamera nicht mal erzählen, was ich von der ganzen Situation hielt, denn es war ihm durchaus zuzutrauen, 1172
dass er einen von den anderen zuschauen ließ und darauf baute, dass ich genau das tat. Ich tauschte die Stühle aus – Frank hatte mir natürlich den gegeben, bei dem an einem Bein die Kappe fehlte, damit Verdächtige unbequem saßen. Ich hätte am liebsten in die Kamera gebrüllt: Ich hab hier gearbeitet, du Blödmann, das hier ist mein Revier, den Scheiß kannst du dir sparen. Stattdessen holte ich einen Stift aus meiner Jackentasche und vertrieb mir die Zeit damit, in schnörkeligen Buchstaben Lexie war hier an die Wand zu schreiben. Das holte niemanden hinter dem Ofen hervor, aber eigentlich hatte ich auch nicht damit gerechnet: Die Wände waren im Laufe der Jahre mit zahllosen Autogrammen und Zeichnungen und anatomisch schwierig auszuführenden Anregungen beschmiert worden. Ein paar Namen erkannte ich wieder. Ich fand es furchtbar. Ich war so oft in diesem Raum gewesen, Rob und ich hatten hier Verdächtige mit der fehlerlosen, telepathischen Koordina1173
tion zweier Jäger bearbeitet, die auf den richtigen Augenblick lauern. Ohne ihn fühlte ich mich hier, als hätte jemand meine Organe ausgeschlachtet, als würde ich gleich in mich zusammensinken, zu hohl, um noch stehen zu können. Schließlich drückte ich den Stift so fest in die Wand, dass die Spitze abbrach. Ich pfefferte den Rest quer durch den Raum in Richtung Kamera und traf sie mit einem Knall, aber selbst danach fühlte ich mich keinen Deut besser. Als Frank endlich beschloss, mich zu beehren, schäumte ich längst vor Wut. »Mann, Mann, Mann«, sagte er, griff nach oben zu der Kamera und stellte sie aus. »Schon komisch, dich hier zu treffen. Setz dich.« Ich blieb stehen. »Was zum Henker soll der Scheiß?« Seine Augenbrauen hoben sich. »Ich verhöre Verdächtige. Was denn, brauch ich jetzt schon deine Erlaubnis dafür?«
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»Du könntest mich zumindest vorwarnen, statt mich ins offene Messer rennen zu lassen. Ich mache die Sache nicht zum Spaß, Frank, ich arbeite, und das hier könnte mir alles kaputtmachen.« »Arbeiten? Nennen die jungen Leute das heutzutage so?« »Du hast es so genannt. Ich mache genau das, was du von mir wolltest, und jetzt, wo ich endlich einen Schritt weiterkomme, wirfst du mir Knüppel zwischen die Beine, wieso?« Frank lehnte sich gegen die Wand und verschränkte die Arme. »Wenn du unfair spielen willst, kann ich das auch, Cass. Macht weniger Spaß, wenn du selbst die Leidtragende bist, nicht?« Im Grunde wusste ich, dass er nicht unfair spielte, nicht richtig. Schön, er ließ mich hier schmoren, damit ich darüber nachdenken konnte, was ich getan hatte: So stinksauer wie er war – und zwar zu Recht –, hätte er mir wahrscheinlich am liebsten eins aufs Auge gehauen, und ich 1175
wusste genau, wenn es mir nicht gelang, in letzter Sekunde einen spektakulären Erfolg hinzulegen, blühte mir gewaltiger Ärger, wenn ich meinen Einsatz am nächsten Tag beendete. Aber so wütend er auch war, er hätte nie etwas getan, das den Fall gefährden würde. Und ich wusste, kühl wie Schnee unter all meiner Toberei, dass ich mir das zunutze machen konnte. »Okay«, sagte ich, holte Luft und fuhr mir mit den Händen durchs Haar. »Okay. In Ordnung. Das hab ich verdient.« Er lachte, ein kurzes, gepresstes Bellen. »Lass mich lieber nicht damit anfangen, was du verdient hast. Ist besser so.« »Ich weiß, Frank«, sagte ich. »Und wenn wir die Zeit dafür haben, kannst du mir die Hölle heiß machen, so lange du willst, aber nicht jetzt. Wie kommst du mit den anderen weiter?« Er zuckte die Achseln. »Wie zu erwarten war.« »Mit anderen Worten, gar nicht.« »Glaubst du?« 1176
»Ja, allerdings. Ich kenne die vier. Du kannst sie in die Mangel nehmen, bis du in Rente gehst, und bist noch immer keinen Schritt weiter.« »Möglich«, sagte Frank unverbindlich. »Das bleibt abzuwarten, oder? Ich habe noch ein paar Jährchen bis zur Rente.« »Ach, komm schon, Frank. Du hast es selbst gesagt, gleich zu Anfang: Die vier halten zusammen wie Pech und Schwefel, von außen kommen wir an die nicht ran. War das nicht der ursprüngliche Grund, warum du mich drinnen haben wolltest?« Eine nichtssagende, kleine Neigung seines Kinns, wie ein Achselzucken. »Du weißt genau, dass du nichts Brauchbares aus ihnen rauskriegst. Du willst sie einfach nur nervös machen, nicht? Also, machen wir beide sie zusammen nervös. Ich weiß, du bist sauer auf mich, aber das hält sich garantiert bis morgen. Im Augenblick sind wir noch immer auf derselben Seite.« 1177
Eine von Franks Augenbrauen zuckte. »Sind wir das?« »Ja, Frank, das sind wir. Und zusammen können wir beide wesentlich mehr Schaden anrichten als du allein.« »Klingt lustig«, sagte Frank. Er lehnte lässig an der Wand, die Hände in den Taschen, mit trägem Schlafzimmerblick, um das scharfe, taxierende Funkeln zu kaschieren. »Was für eine Art Schaden schwebt dir denn so vor?« Ich ging um den Tisch herum und setzte mich auf die Kante, beugte mich so dicht wie möglich zu ihm vor. »Verhör mich und lass die anderen mithören. Nicht Daniel – der verliert nicht die Fassung, der spaziert höchstens hier raus, wenn wir Druck machen –, aber die anderen drei. Lass das Verhör hier über den Lautsprecher in ihrem Raum laufen, lass sie in der Nähe von Monitoren warten, egal was – wenn du es so hinkriegst, dass es wie ein Versehen aussieht, super, wenn nicht,
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auch nicht schlimm. Falls du ihre Reaktionen beobachten willst, soll Sam das Verhör machen.« »In dem du was genau sagen wirst?« »Ich lasse durchblicken, dass meine Erinnerung langsam wiederkommt. Ich bleibe ziemlich vage, halte mich an Sachen, die praktisch feststehen – dass ich zum Cottage gelaufen bin, das viele Blut, so was eben. Wenn sie das nicht aus der Fassung bringt, dann gar nichts.« »Aha«, sagte Frank mit einem leicht schiefen Grinsen. »Das war also der Grund für das Geschmolle und die schlechte Laune und die ganze Primadonna-Nummer. Hätte ich mir auch denken können. Ich Dummerchen.« Ich zuckte die Achseln. »Ja, sicher, ich hätte es ohnehin so gemacht. Aber so ist es noch besser. Wie gesagt, zusammen können wir erheblich mehr Schaden anrichten. Ich kann einen auf nervös machen, durchblicken lassen, dass ich dir längst nicht alles sage … Wenn du mir meinen Text vorschreiben willst, schön, mach das, ich sag, was du 1179
willst. Komm schon, Frankie, was meinst du? Du und ich?« Frank überlegte. »Und was willst du dafür haben?«, wollte er wissen. »Nur damit ich Bescheid weiß.« Ich setzte mein bestes verruchtes Grinsen auf. »Entspann dich, Frank. Nichts, was deine Polizistenseele gefährden könnte. Ich muss bloß wissen, wie viel du ihnen erzählt hast, damit ich in kein Fettnäpfchen trete. Und du hattest ja sowieso vor, mir das zu erzählen, nicht? Wo wir doch auf derselben Seite stehen und so.« »Ja«, sagte Frank trocken, mit einem Seufzer. »Natürlich. Ich hab ihnen gar nichts erzählt, niente, Kleines. Dein Arsenal ist nach wie vor unangetastet. Deshalb würde es mich überglücklich machen, wenn du auch mal was davon benutzen würdest.« »Das werde ich, glaub mir. Dabei fällt mir ein«, fügte ich hinzu, als wäre es mir eben erst in den Sinn gekommen, »da ist noch was: Kannst du mir 1180
Daniel eine Weile vom Leib halten? Wenn du mit uns fertig bist, schick uns Übrige nach Hause – aber sag ihm nicht, dass wir weg sind, sonst ist er mit Überschallgeschwindigkeit hier raus. Dann gib mir ein, zwei Stunden, wenn du kannst, ehe du ihn gehen lässt. Jag ihm keine Angst ein, tu so, als wäre alles reine Routine, und halt ihn am Reden. Okay?« »Interessant«, sagte Frank. »Warum?« »Ich will mit den anderen reden, ohne dass er dabei ist.« »Das hab ich mir schon gedacht. Warum?« »Weil ich glaube, dass es funktioniert, deshalb. Er ist der Leitwolf, das weißt du. Er bestimmt, was die anderen sagen und nicht sagen. Wenn die anderen aufgewühlt sind und er nicht da ist, um ihnen einen Maulkorb aufzusetzen, plaudern sie vielleicht alles Mögliche aus.« Frank pulte zwischen seinen Vorderzähnen herum, inspizierte dann seinen Daumennagel. »Was genau willst du rausbekommen?«, fragt er. 1181
»Das weiß ich erst, wenn ich es höre. Aber wir haben doch immer gesagt, dass sie etwas verheimlichen, nicht? Ich will nicht den Rückzug antreten, ohne mein Bestes getan zu haben, um dahinterzukommen, was es ist. Ich werde ihnen mit allem zusetzen, was ich habe – Schuldgefühle, Tränen, Wutanfälle, Drohungen, das Baby, der doofe Eddie, die ganze Palette. Vielleicht krieg ich ein Geständnis –« »Was, wie ich von Anfang an gesagt habe, nicht deine Aufgabe ist«, hielt Frank entgegen. »Schon allein wegen der lästigen Kleinigkeit, dass es vor Gericht nicht zulässig wäre.« »Willst du etwa behaupten, du würdest ein Geständnis ablehnen, wenn ich es dir auf dem Silbertablett serviere? Selbst wenn es nicht zulässig ist, nutzen kannst du es trotzdem. Du holst sie zum Verhör, spielst ihnen die Aufnahme vor, nimmst sie so richtig in die Mangel – Justin hält schon jetzt kaum noch durch, einmal ordentlich anstupsen, und er bricht zusammen.« Ich brauchte einen 1182
Moment, um zu begreifen, woher das DéjàvuGefühl kam, und die Erkenntnis, dass ich genau die gleiche Diskussion mit Daniel geführt hatte wie jetzt mit Frank, löste bei mir ein seltsames kaltes Ziehen in der Magengegend aus. »Ein Geständnis ist vielleicht nicht unbedingt dein Herzenswunsch, Frankie, aber zu diesem Zeitpunkt können wir es uns nicht mehr leisten, wählerisch zu sein.« »Ich gebe zu, es wäre besser als das, was wir im Augenblick haben. Das ist nämlich ein großer Sack Luft.« »Na bitte. Und ich könnte vielleicht was viel Besseres rausholen. Vielleicht liefern sie uns die Tatwaffe, den Tatort, wer weiß?« »Die alte Ketchupmethode«, sagte Frank, der noch immer interessiert seinen Daumennagel studierte. »Umdrehen, ordentlich schütteln und hoffen, dass was rauskommt.«
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»Frank«, sagte ich und wartete, bis er aufsah. »Das ist meine letzte Chance. Morgen bin ich da raus. Lass sie mich nutzen.« Frank seufzte, lehnte den Kopf gegen die Wand und blickte sich bedächtig im Raum um. Ich sah, wie er die neuen Wandkritzeleien betrachtete, die Kugelschreibertrümmer in der Ecke. »Eins würde mich brennend interessieren«, sagte er schließlich. »Wieso bist du dir so sicher, dass einer von ihnen es war?« Mein Blut erstarrte für eine Sekunde. Frank hatte immer nur eines von mir haben wollen: eine handfeste Spur. Wenn er jetzt herausfand, dass ich bereits eine hatte, war ich erledigt, raus aus dem Fall und hatte Riesenärger am Hals, und zwar sofort. Ich würde nicht mal mehr zurück nach Glenskehy dürfen. »Na, sicher bin ich mir nicht«, sagte ich leichthin. »Aber, wie du selbst gesagt hast, sie haben ein Motiv.« »Ja, sie haben ein Motiv. Gewissermaßen. Aber das haben Naylor und Eddie und eine ganze Reihe 1184
anderer Leute auch, von denen wir vermutlich einige noch nicht mal identifiziert haben. Unser Mädel hat sich mit schöner Regelmäßigkeit Feinde gemacht, Cass. Schön, sie hat andere nicht finanziell abgezockt – obwohl man drüber streiten könnte, schließlich hat sie sich ihren Anteil an Whitethorn House unter Vorspiegelung falscher Tatsachen erschlichen – aber sie hat sie emotional abgezockt. Und so was ist gefährlich. Sie hat riskant gelebt. Und dennoch bist du dir verflucht sicher, welches Risiko ihr schließlich zum Verhängnis wurde.« Ich zuckte die Achseln, breitete die Arme aus. »Das ist der einzige Verdacht, dem ich nachgehen kann. Ich hab nur noch einen Tag. Ich will den Fall nicht abgeben, ohne alles versucht zu haben. Und überhaupt, was stellst du dich so an? Du hattest sie doch die ganze Zeit auf dem Kieker.« »Oho, das hast du bemerkt? Ich hab dich unterschätzt, Kleines. Stimmt, ich hatte sie die ganze Zeit auf dem Kieker. Im Gegensatz zu dir. Vor ein 1185
paar Tagen hast du noch felsenfest behauptet, die vier wären eine Schar flauschiger kleiner Häschen, die keiner Fliege was zuleide tun könnten, und jetzt hast du auf einmal diesen stahlharten Blick in den Augen und überlegst dir, wie wir zwei sie am besten aufs Kreuz legen können. Deshalb frag ich mich, was du mir verschweigst.« Seine Augen waren auf mich gerichtet, ruhig und unverwandt. Ich ließ einen Moment verstreichen, fuhr mir mit den Händen durchs Haar, als würde ich überlegen, wie ich es am besten formulieren sollte. »Das siehst du falsch«, sagte ich schließlich. »Ich habe bloß so ein Gefühl, Frank. Bloß so ein Gefühl.« Frank fixierte mich lange. Ich baumelte mit den Beinen und versuchte, möglichst offen und aufrichtig zu wirken. Dann: »Okay«, sagte er plötzlich ganz sachlich, stieß sich von der Wand ab und ging zu der Kamera, um sie einzuschalten. »Abgemacht. Seid ihr mit zwei Autos gekommen, oder
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muss ich Danny-Boy nach Glen-Dingsbums kutschieren lassen, wenn ich mit ihm durch bin?« »Wir sind mit zwei Autos da«, sagte ich. Vor Erleichterung und vom Adrenalin wurde mir schwindelig, während sich meine Gedanken bereits überschlugen, wie das Verhör ablaufen sollte. Ich hätte hochgehen können wie eine Rakete. »Danke, Frank. Du wirst es nicht bereuen.« »Tja«, sagte Frank, »also dann.« Er tauschte die Stühle wieder aus. »Mach Sitz. Rühr dich nicht vom Fleck. Ich bin gleich wieder da.«
Er ließ mich noch einmal zwei Stunden warten. Vermutlich konfrontierte er in der Zeit die anderen mit allem, was er hatte, weil er hoffte, sie würden gestehen und er müsste mich doch nicht einsetzen. Ich schlug die Zeit damit tot, dass ich verbotenerweise rauchte – es störte anscheinend keinen – und mir im Einzelnen überlegte, wie wir am besten vorgingen. Ich wusste, dass Frank wieder1187
kommen würde. Von außen waren die anderen undurchdringlich, nahtlos. Sogar Justin würde eiskalt standhalten, selbst wenn Frank richtig unangenehm wurde. Außenstehende waren zu weit weg, um sie erschüttern zu können. Sie waren wie eine mittelalterliche Trutzburg, die nur von innen zu bezwingen war, durch Verrat. Schließlich flog die Tür auf, und Frank steckte den Kopf herein. »Ich verbinde die Kamera hier gleich mit den anderen Verhörräumen, also schlüpf in deine Rolle. In fünf Minuten geht der Vorhang hoch.« »Aber nicht mit dem von Daniel«, sagte ich und setzte mich rasch auf. »Vermassel die Sache nicht«, sagte Frank und verschwand wieder. Als er wiederkam, saß ich auf dem Tisch, bog die Kugelschreibermine, um damit die Bruchstücke des Stiftes auf die Kamera zu katapultieren. »He«, sagte ich bei seinem Anblick und setzte ein
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strahlendes Lächeln auf. »Ich dachte schon, Sie hätten mich völlig vergessen.« »Aber, aber, wie könnte ich?«, fragte Frank und grinste breit. »Ich hab Ihnen sogar Kaffee mitgebracht, Milch und zwei Stück Zucker, richtig? Nein, nein, nicht nötig« – als ich vom Tisch hüpfte, um die Kugelschreiberreste aufzuheben –, »das macht später jemand weg. Setzen Sie sich, und wir plaudern ein wenig. Wie geht es Ihnen?« Er zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und schob einen von den Styroporbechern zu mir rüber. Er fing honigsüß an – ich hatte vergessen, was Frank für ein Charmeur sein kann, wenn er will. »Sie sehen blendend aus, Miss Madison, was macht die alte Kriegsverletzung« und – als ich mitspielte, mich reckte, um zeigen, wie gut die Naht verheilt war –, »na, das nenn ich einen schönen Anblick«, ein leicht flirtendes Schmunzeln, aber nicht überzogen. Ich klimperte mit den Wimpern und kicherte entsprechend dezent, um Rafe sauer zu machen. 1189
Frank ging mit mir die ganze John-NaylorEpisode durch, oder zumindest eine Version davon – nicht direkt die Version, wie sich die Sache tatsächlich abgespielt hatte, sondern eindeutig eine, die Naylor als guten Verdächtigen aussehen ließ, um die anderen zu beruhigen, bevor wir die Bombe platzen ließen. »Ich bin echt beeindruckt«, sagte ich zu ihm, kippelte mit meinem Stuhl nach hinten und sah ihn kokett an. »Ich dachte, Sie hätten längst aufgegeben.« Frank schüttelte den Kopf. »Wir geben nicht auf«, sagte er ernst. »Nicht bei einer so gravierenden Sache. Und wenn es noch so lange dauert. Es ist nicht immer offensichtlich, aber wir sind ständig am Ball, setzen die Puzzleteile zusammen.« Es war beeindruckend; er hätte einen eigenen Soundtrack dazu haben sollen. »Wir kommen voran. Und jetzt, Miss Madison, brauchen wir ein bisschen Hilfe von Ihnen.« »Gern«, sagte ich, ließ die vorderen Stuhlbeine wieder aufsetzen und gab mich konzentriert. »Soll 1190
ich noch mal einen Blick auf diesen Naylor werfen?« »Nein, nein. Diesmal brauchen wir Ihren Verstand, nicht Ihre Augen. Wissen Sie noch, was die Ärzte gesagt haben, dass Ihr Erinnerungsvermögen zurückkommen könnte, wenn es Ihnen wieder bessergeht?« »Ja, klar«, sagte ich, unsicher, nach einer Pause. »Alles, woran Sie sich erinnern, egal was, könnte eine große Hilfe für uns sein. Bitte überlegen Sie in aller Ruhe, ob Ihnen vielleicht irgendetwas wieder eingefallen ist.« Ich wartete einen Tick zu lange, ehe ich, fast überzeugend, sagte: »Nein. Nichts. Nur das, was ich Ihnen erzählt hab.« Frank faltete die Hände auf dem Tisch und beugte sich zu mir vor. Diese aufmerksamen blauen Augen, diese sanfte schmeichelnde Stimme: Wäre ich eine echte Zivilistin gewesen, ich wäre dahingeschmolzen. »Sehen Sie, da bin ich mir nicht so sicher. Ich habe irgendwie das Gefühl, 1191
dass Sie sich an etwas Neues erinnert haben, Miss Madison, aber sich nicht trauen, es mir zu sagen. Vielleicht, weil Sie fürchten, ich könnte es fehlinterpretieren und die falsche Person könnte Schwierigkeiten bekommen? Ist das der Grund?« Ich warf ihm einen raschen Blick zu, als wollte ich mich rückversichern. »Irgendwie schon. Ja, kann sein.« Er lächelte mich an, ein Netz von Fältchen um die Augen. »Glauben Sie mir, Miss Madison. Wir bezichtigen niemanden einer schwerwiegenden Straftat, solange wir keine schwerwiegenden Beweise in der Hand haben. Wir würden also nicht allein aufgrund Ihrer Aussage eine Verhaftung vornehmen.« Ich zuckte die Achseln, schnitt meinem Kaffeebecher eine Grimasse. »Es ist nichts Berauschendes. Wahrscheinlich hat es nicht mal was zu bedeuten.« »Das lassen Sie mal meine Sorge sein, okay?«, sagte Frank beschwichtigend. Hätte nicht viel ge1192
fehlt, und er hätte mir die Hand getätschelt. »Sie würden sich wundern, was uns alles weiterhelfen kann. Und wenn nicht, schadet es auch niemandem, hab ich recht?« »Okay«, sagte ich und atmete geräuschvoll aus. »Es ist bloß … Okay. Ich erinnere mich an Blut. Ganz viel Blut an meinen Händen.« »Na, sehen Sie«, sagte Frank, das beruhigende Lächeln weiter eingeschaltet. »Gut gemacht. So schlimm war das doch gar nicht, oder?« Ich schüttelte den Kopf. »Können Sie sich erinnern, was Sie da gemacht haben? Haben Sie gestanden? Gesessen?« »Gestanden«, sagte ich. Das Beben in meiner Stimme kam ganz ohne mein Zutun. Ein paar Meter entfernt, in den Verhörräumen, die ich kannte wie meine Westentasche, saß Daniel und wartete geduldig, dass irgendwer zurückkam, und die anderen drei wurden langsam und in aller Stille immer nervöser. »Gegen eine Hecke gelehnt – es war stachelig. Ich hab … « Ich stellte pantomimisch 1193
dar, wie ich vorn an meinem Top den Stoff zusammengedreht hatte, drückte die Hand gegen die Rippen. »So. Um die Blutung … zu stoppen. Aber es hat nichts genützt.« »Hatten Sie Schmerzen?« »Ja«, sagte ich, leise. »Es tat weh. Sehr. Ich dachte … ich hatte Angst, ich würde sterben.« Wir waren ein gutes Gespann, Frank und ich. Wir waren auf derselben Wellenlänge. Wir arbeiteten so reibungslos zusammen wie Abby und ich, wenn wir Frühstück machten, so reibungslos wie zwei Profifolterer.Du kannst nicht beides sein, hatte Daniel zu mir gesagt. Und: Sie war niemals grausam. »Sie machen das ganz toll«, sagte Frank. »Jetzt, wo erste Erinnerungen zurückkommen, werden Sie sich im Nu an alles erinnern, Sie werden sehen. Das haben die Ärzte doch prophezeit, nicht? Wenn die Schleusentore erst mal aufgegangen sind … « Er blätterte in einer Akte und holte eine Landkarte hervor, eine von denen aus unserer 1194
Trainingswoche. »Glauben Sie, Sie könnten mir zeigen, wo Sie waren?« Ich ließ mir Zeit, suchte mir eine Stelle aus, die ungefähr auf drei Viertel der Strecke vom Haus zum Cottage lag, und legte den Finger darauf. »Vielleicht da. Ich bin nicht sicher.« »Sehr gut«, sagte Frank und notierte sich kurz etwas in seinem Notizbuch. »Jetzt möchte ich, dass Sie noch etwas für mich tun. Sie stehen also gegen die Hecke gelehnt, und Sie bluten, und Sie haben Angst. Können Sie versuchen, von da an zurückzudenken? Was haben Sie unmittelbar davor gemacht?« Ich hielt die Augen auf die Karte gerichtet. »Ich war ganz außer Atem, als wäre ich … gerannt. Ich bin gerannt. So schnell, dass ich hingefallen bin. Ich hab mir das Knie aufgeschlagen.« »Von wo? Denken Sie nach. Wovor sind Sie weggerannt?« »Ich –« Ich schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Ich kann nicht sagen, was wirklich passiert ist und 1195
was ich bloß … geträumt hab oder so. Vielleicht hab ich auch alles geträumt, sogar das Blut.« »Möglich, ja«, sagte Frank und nickte nachsichtig. »Das werden wir berücksichtigen. Aber nur für alle Fälle sollten Sie mir alles erzählen – sogar die Teile, die Sie womöglich geträumt haben. Wir kriegen das schon sortiert. Okay?« Ich machte eine lange Pause. »Das ist alles«, sagte ich schließlich, zu schwach. »Ich bin gerannt und hingefallen. Und das Blut. Das ist alles.« »Sind Sie sicher?« »Ja. Absolut. Mehr fällt mir nicht ein.« Frank seufzte. »Mein Problem ist folgendes, Miss Madison«, sagte er. Ein feiner, stählerner Unterton schlich sich in seine Stimme. »Gerade eben hatten Sie noch Sorge, Sie könnten die falsche Person in Schwierigkeiten bringen. Aber rein gar nichts von dem, was Sie bisher gesagt haben, deutet auf irgendeine Person hin. Und das sagt mir, dass Sie irgendetwas ausgelassen haben.«
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Ich bedachte ihn mit einem trotzigen LexieBlick, Kinn erhoben. »Nein, hab ich nicht.« »Oh doch. Und die wirklich interessante Frage lautet, jedenfalls für mich, warum.« Frank stand auf und schlenderte gemächlich im Verhörraum herum, die Hände in den Taschen, so dass ich mich wieder und wieder umdrehen musste, um ihn anzusehen. »Wissen Sie, halten Sie mich ruhig für verrückt, aber ich hab mir wirklich eingebildet, wir wären auf derselben Seite, Sie und ich. Ich hab gedacht, wir wollten beide rausfinden, wer Sie beinahe umgebracht hat, und die Person hinter Schloss und Riegel bringen. Bin ich verrückt? Hört sich das für Sie verrückt an?« Ich zuckte die Achseln, drehte mich halb auf dem Stuhl, um ihn im Auge behalten zu können. Er schlenderte weiter. »Als Sie im Krankenhaus waren, haben Sie alle meine Fragen beantwortet – anstandslos, ohne Zögern, ohne großes Getue. Sie waren eine wunderbare Zeugin, Miss Madison, wunderbar und hilfsbereit. Aber jetzt zeigen Sie 1197
auf einmal kein Interesse mehr. Das heißt für mich, Sie haben entweder beschlossen, der Person, die Sie fast umgebracht hat, auch noch die andere Wange hinzuhalten – und verzeihen Sie mir, wenn ich mich täusche, aber Sie machen auf mich nicht den Eindruck einer Heiligen –, oder es hindert Sie irgendetwas anderes daran, irgendetwas Wichtigeres.« Er lehnte sich gegen die Wand hinter mir. Ich gab es auf, ihn weiter beobachten zu wollen, und fing an, Nagellack von meinem Daumen zu knibbeln. »Daher stellt sich mir die Frage«, sagte Frank sanft, »was könnte Ihnen wichtiger sein, als diese Person hinter Schloss und Riegel zu bringen? Sagen Sie es mir, Miss Madison. Was ist Ihnen wichtig?« »Gute Schokolade«, sagte ich zu meinem Daumennagel. Franks Tonfall veränderte sich nicht. »Ich glaube, ich habe Sie ganz gut kennengelernt. Als Sie im Krankenhaus waren, worüber haben Sie da ge1198
redet, jeden Tag, kaum dass ich zur Tür hereinkam? Worum haben Sie ständig gebeten, obwohl Sie wussten, dass wir Ihnen den Wunsch nicht erfüllen konnten? Was war das Einzige, worauf sie sich gefreut haben, an dem Tag, als Sie entlassen wurden? Was hat Sie dermaßen in Aufregung versetzt, dass Ihnen fast die Naht aufgeplatzt wäre, weil Sie schon bei dem Gedanken daran vor Freude herumgehüpft sind?« Ich hielt den Kopf gesenkt, knabberte an dem Nagellack. »Ihre Freunde«, sagte Frank ganz leise. »Ihre Mitbewohner. Die sind Ihnen wichtig, Miss Madison. Wichtiger als alles andere, was ich mir vorstellen kann. Vielleicht wichtiger, als dass die Person gefasst wird, die Sie niedergestochen hat. Hab ich recht?« Ich zuckte die Achseln. »Klar sind sie mir wichtig. Na und?« »Wenn Sie sich entscheiden müssten, Miss Madison. Wenn Sie sich, sagen wir nur rein theoretisch, daran erinnern würden, dass einer von ihnen 1199
Sie mit dem Messer verletzt hat. Was würden Sie tun?« »Die Frage stellt sich gar nicht, weil keiner von ihnen mir weh tun würde. Niemals. Sie sind meine Freunde.« »Genau darauf will ich hinaus. Sie schützen jemanden, und ich glaube nicht, dass das John Naylor ist. Wen sollten Sie schützen, wenn nicht einen von ihren Freunden?« »Ich schütze nieman–« Noch ehe ich eine Bewegung hörte, war er bei mir und knallte beide Hände neben mir auf den Tisch, das Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Ich zuckte stärker zusammen, als es meine Absicht war. »Sie lügen, Miss Madison. Ist Ihnen denn wirklich nicht klar, wie verdammt offensichtlich das ist? Sie wissen irgendwas Wichtiges, irgendetwas, das den Durchbruch in diesem Fall bedeuten könnte, und Sie wollen nicht mit der Sprache rausrücken. Das ist Strafvereitelung. Das
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ist eine Straftat. Das kann Sie in den Knast bringen.« Ich zog ruckartig den Kopf zurück, rückte mit dem Stuhl von ihm weg. »Sie wollen mich verhaften? Weswegen? Herrgott, ich bin niedergestochen worden, ich! Wenn ich die ganze Sache einfach nur vergessen will –« »Von mir aus können Sie sich niederstechen lassen, sooft Sie lustig sind, das ist mir scheißegal. Aber wenn Sie meine Zeit und die meiner Leute vergeuden, ist mir das nicht scheißegal. Ist Ihnen eigentlich klar, wie viele Leute seit einem Monat an dem Fall arbeiten, Miss Madison? Haben Sie auch nur den leisesten Schimmer, wie viel Zeit und Energie und Geld dieser Fall inzwischen gekostet hat? Ich werde den Teufel tun, das alles abzuschreiben, nur weil irgendeine verwöhnte Göre so hin und weg ist von ihren Freunden, dass sie sich um nichts und niemanden sonst schert. Darauf können Sie Gift nehmen.«
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Er spielte mir nichts vor. Sein Gesicht war wie versteinert, wieder dicht vor meinem, ein heißes blaues Brodeln in den Augen: Er schäumte vor Wut, und er meinte jedes Wort ernst, das er zu mir, zu Lexie, sagte. Wahrscheinlich wusste er selbst nicht mehr, wen von beiden er meinte. Diese Frau: Sie bog die Wirklichkeit um sich herum wie eine Linse, die das Licht bricht, sie fältelte sie zu so vielen flackernden Schichten, dass du nie sicher sein konntest, wen du vor dir sahst; je länger du hinsahst, desto verschwommener wurde das Bild vor deinen Augen. »Ich werde diesen Fall aufklären«, sagte Frank. »Und wenn ich Gott weiß wie lange dafür brauche: Wer Ihnen das angetan hat, wird dafür büßen. Und wenn Sie nicht endlich kapieren, wie wichtig das hier ist, wenn Sie weiter Ihre dummen Spielchen mit mir spielen, dann werden Sie das auch büßen. Ist das klar?« »Gehen Sie mir aus dem Gesicht«, sagte ich. Mein Unterarm war zwischen uns erhoben, blockte ihn ab. In derselben Sekunde merkte ich, dass 1202
ich die Faust geballt hatte und dass ich genauso wütend war wie er. »Wer hat Sie niedergestochen, Miss Madison? Können Sie mir in die Augen sehen und sagen, dass Sie es nicht wissen? Na los, beweisen Sie’s. Sagen Sie, dass Sie es nicht wissen. Los.« »Was soll der Scheiß? Ich muss Ihnen gar nichts beweisen. Ich erinnere mich, dass ich gerannt bin und Blut an den Händen hatte, und es ist mir egal, was Sie damit machen. Jetzt lassen Sie mich in Ruhe.« Ich sank auf meinem Stuhl zusammen, stopfte die Hände in die Taschen und starrte auf die Wand vor mir. Ich spürte lange Franks Blick seitlich auf meinem Gesicht, sein schnelles Atmen. »Na schön«, sagte er endlich. Er wich langsam vom Tisch zurück. »Wir belassen es dabei. Fürs Erste.« Und er ging.
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Es dauerte lange, bis er zurückkam – eine weitere Stunde vielleicht. Ich hatte aufgehört, andauernd auf die Uhr an der Wand zu schauen. Ich sammelte die Kugelschreiberteile auf und legte daraus hübsche Muster auf dem Tisch. »Na«, sagte Frank, als er schließlich bei mir war. »Du hattest recht: Das hat Spaß gemacht.« »Das reinste Ballett«, sagte ich. »Hat es gewirkt?« Er zuckte die Achseln. »Es hat sie nervös gemacht, das auf alle Fälle. Sie sind verdammt aufgewühlt. Aber sie rücken nicht mit der Sprache raus, noch nicht. Vielleicht brauchen sie nochmal ein, zwei Stunden, keine Ahnung, aber Daniel wird langsam unruhig. Natürlich ganz höflich, aber er fragt andauernd, wie lange es denn noch dauert. Ich denke, wenn du mit den anderen drei noch eine Weile allein sein willst, ehe er sich verabschiedet, müsst ihr jetzt los.« »Danke, Frank«, sagte ich, und das meinte ich ehrlich. »Danke.« 1204
»Ich halte ihn so lange auf wie möglich, aber ich kann nichts garantieren.« Er nahm meinen Mantel von dem Haken an der Tür und hielt ihn mir hin. Als ich hineinschlüpfte, sagte er: »Ich spiele fair, Cassie. Jetzt wollen wir mal sehen, ob du das auch tust.« Die anderen waren unten in der Eingangshalle. Sie sahen grau aus, hatten Ringe unter den Augen. Rafe stand am Fenster und wippte mit einem Bein. Justin hockte auf einem Stuhl wie ein unglücklicher Storch. Nur Abby saß aufrecht da, die Hände locker im Schoß, und wirkte einigermaßen gefasst. »Danke, dass Sie alle gekommen sind«, sagte Frank munter. »Sie haben uns ungemein geholfen. Ihr Freund Daniel klärt noch ein paar letzte Dinge mit uns. Er hat gesagt, Sie sollen schon mal vorfahren. Er kommt dann nach.« Justin fuhr hoch, als wäre er aus dem Schlaf gerissen worden. »Aber wieso –«, setzte er an, doch Abby fiel ihm ins Wort, schloss ihre Finger um sein Handgelenk. 1205
»Danke, Detective. Rufen Sie an, wenn wir noch was für Sie tun können.« »Mach ich«, sagte Frank und zwinkerte ihr zu. Er hielt die Tür für uns auf und streckte uns die andere Hand zum Abschied hin, ehe jemand noch irgendetwas einwenden konnte. »Bis bald«, sagte er zu jedem von uns, als wir ihm nacheinander die Hand schüttelten.
»Wieso hast du nichts gesagt?«, fragte Justin, sobald sich die Tür hinter uns schloss. »Ich will nicht ohne Daniel fahren.« »Halt den Mund«, sagte Abby und drückte unauffällig seinen Arm, »und geh weiter. Dreh dich nicht um. Mackey beobachtet uns wahrscheinlich.« Im Auto herrschte lange Zeit Totenstille. »Also«, sagte Rafe endlich, als ich schon das Gefühl bekam, mir an dem Schweigen die Zähne auszubeißen. »Worüber habt ihr diesmal gespro1206
chen?« Er wappnete sich innerlich, ein kaum merkliches Zucken mit dem Kopf, ehe er mich ansah. »Lass gut sein«, sagte Abby auf dem Beifahrersitz. »Wieso Daniel?«, wollte Justin wissen. Er fuhr wie ein Irrer, wechselte ständig zwischen halsbrecherischem Tempo – ich betete, dass nicht irgendwelche Kollegen von der Streife auf uns aufmerksam würden – und übertriebener Vorsicht, und seine Stimme hörte sich an, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. »Was wollen die denn? Haben sie ihn verhaftet?« »Nein«, sagte Abby mit Nachdruck. Natürlich konnte sie das unmöglich wissen, aber Justins Schultern senkten sich einen Zentimeter. »Er kommt schon klar. Keine Bange.« »Er kommt doch immer klar«, sagte Rafe zum Fenster. »Er hat damit gerechnet, dass so was passieren würde«, sagte Abby. »Er war sich nur nicht sicher, 1207
wen von uns sie ins Visier nehmen würden – er dachte, wahrscheinlich Justin oder Lexie, vielleicht euch beide –, aber er hat damit gerechnet, dass sie uns trennen würden.« »Mich? Wieso mich?« Justins Stimme nahm einen hysterischen Beiklang an. »Ach verflucht, Justin, führ dich nicht auf wie eine Memme«, fauchte Rafe. »Fahr langsamer«, sagte Abby, »sonst werden wir noch angehalten. Die wollen uns nur kirre machen, für den Fall, dass wir irgendwas wissen, was wir ihnen nicht erzählen.« »Aber wieso denken die –« »Hör auf damit. Genau das bezwecken sie doch: Wir sollen uns fragen, was sie wohl denken, warum sie irgendwas machen, wir sollen allmählich durchdrehen. Lass dich nicht auf ihre Spielchen ein.« »Wenn wir uns von diesen Idioten austricksen lassen«, sagte Rafe, »dann haben wir es verdient,
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wenn wir in den Knast wandern. Wir sind weiß Gott cleverer als –« »Aufhören!«, brüllte ich und schlug mit der Faust gegen Abbys Rückenlehne. Justin schnappte nach Luft und hätte den Wagen fast in den Graben gefahren, aber es war mir egal. »Hört endlich auf! Das hier ist kein Wettkampf! Es geht hier um mein Leben, und es ist kein beschissenes Spiel, und ich hasse euch alle!« Und dann jagte ich mir selbst einen Heidenschrecken ein, indem ich in Tränen ausbrach. Ich hatte seit Monaten nicht geweint, nicht wegen Rob, nicht wegen meines verlorenen Lebens im Morddezernat, nicht wegen irgendeiner der furchtbaren Auswirkungen des Knocknaree-Falls, aber in dem Augenblick weinte ich. Ich presste mir den Pulloverärmel auf den Mund und heulte mir die Augen aus, um Lexie mit jedem einzelnen ihrer wechselnden Gesichter, um das Baby, dessen Gesicht niemand je sehen würde, um Abby, die sich auf mondbeschienenem Gras im Kreis drehte, 1209
um Daniel, der ihr lächelnd zusah, um Rafes geschickte Hände auf dem Klavier und um Justin, der mir einen Kuss auf die Stirn gab, ich weinte wegen allem, was ich ihnen angetan hatte und noch antun würde, wegen unzähliger verlorener Dinge, wegen des atemberaubenden Tempos des Wagens, der uns gnadenlos schnell zu dem Punkt trug, auf den wir zusteuerten. Nach einer Weile griff Abby ins Handschuhfach und reichte mir eine Packung Papiertaschentücher. Sie hatte das Seitenfenster geöffnet, und das stetige Tosen der Luft klang wie hoher Wind in den Bäumen, und es war so friedlich, dass ich einfach weiterweinte.
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23 Sobald Justin den Wagen in den Stall gefahren hatte, sprang ich raus und rannte zum Haus, dass der Kies unter meinen Füßen hochspritzte. Niemand rief mir nach. Ich rammte den Schlüssel ins Schloss, stieß die Tür auf und polterte hoch in mein Zimmer. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis ich die anderen hereinkommen hörte (das Schließen der Tür, schnell einander überlagernde leise Stimmen, die sich ins Wohnzimmer bewegten), aber in Wirklichkeit waren es nicht mal sechzig Sekunden – ich behielt meine Uhr im Auge. Ich hatte mir überlegt, ihnen gut zehn Minuten zu geben. Weniger, und sie hätten keine Zeit, um sich auszutauschen – ihre erste Gelegenheit überhaupt – und sich in eine ausgewachsene Panik hineinzustei-
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gern; mehr, und Abby würde sich wieder fangen und auch die Jungs zurück auf Linie bringen. Während der zehn Minuten lauschte ich auf die Stimmen unten, angespannt und gedämpft und leicht hysterisch, und ich machte mich bereit. Die Spätnachmittagssonne flutete in mein Zimmer, und die Luft strahlte so hell, dass ich mich schwerelos fühlte, in Bernstein schwebend, jede meiner Bewegungen so klar und rhythmisch und gemessen, als gehörten sie zu einem Ritual, auf das ich mich schon mein Leben lang vorbereitet hatte. Mir war, als würden meine Hände sich von selbst bewegen, als ich meinen Hüfthalter glattstrich – er wurde inzwischen schmuddelig, und ich konnte ihn ja wohl kaum in die Waschmaschine stecken – , ihn anzog, den Saum in die Jeans stopfte, meinen Revolver hineinschob, so ruhig und präzise, als hätte ich alle Zeit der Welt. Ich dachte an jenen unendlich fernen Nachmittag in meiner Wohnung, als ich zum ersten Mal Lexies Sachen angezogen hatte. Dass sie mir wie eine Rüstung vorgekom1212
men waren, wie zeremonielle Gewänder, dass sie in mir den Wunsch ausgelöst hatten, laut zu lachen vor Glück oder etwas Ähnlichem. Als die zehn Minuten um waren, zog ich die Tür dieses kleinen Zimmers voller Licht und Maiglöckchenduft hinter mir zu und hörte, wie die Stimmen unten verstummten. Ich wusch mir das Gesicht im Bad, trocknete es gründlich ab und hängte mein Handtuch ordentlich zwischen Abbys und Daniels. Mein Gesicht im Spiegel sah sehr fremd aus, blass und die Augen riesig, und es starrte mich mit einer wichtigen, unergründlichen Warnung an. Ich zog meinen Pullover herunter und überprüfte, dass der Revolver sich nicht abzeichnete. Dann ging ich nach unten. Sie waren im Wohnzimmer, alle drei. Einen kurzen Moment lang, ehe sie mich sahen, blieb ich an der Tür stehen und beobachtete sie. Rafe lag ausgestreckt auf der Couch, ließ einen Packen Karten in einem rasanten ruhelosen Bogen von Hand zu Hand schnellen. Abby saß zusammenge1213
rollt in ihrem Sessel, den Kopf über ihre Puppe gebeugt, die Unterlippe fest zwischen den Zähnen; sie versuchte zu sticken, aber für jeden Stich brauchte sie etwa drei Anläufe. Justin war in einem der Lehnsessel mit einem Buch, und aus irgendeinem Grund war er es, der mir fast das Herz brach: diese schmalen, hochgezogenen Schultern, der gestopfte Ärmel seines Pullovers, die langen Hände, die Gelenke so dünn und verletzlich wie bei einem kleinen Jungen. Der Couchtisch stand voll mit Gläsern und Flaschen – Wodka, Tonic, Orangensaft. Etwas war beim Eingießen verschüttet worden, aber keiner hatte es für nötig befunden, den Tisch sauberzuwischen. Auf dem Fußboden schwankten Efeuschatten wie Scherenschnitte im Sonnenlicht. Dann hoben sich ihre Köpfe, einer nach dem anderen, und ihre Gesichter wandten sich mir zu, ausdruckslos und wachsam, wie damals am ersten Tag, als sie oben an der Eingangstreppe auf mich gewartet hatten. 1214
»Wie geht’s dir?«, fragte Abby. Ich zuckte die Achseln. »Trink was«, sagte Rafe und deutete mit einem Nicken auf den Tisch. »Wenn du was anderes als Wodka willst, musst du’s dir holen.« »Mir fallen allmählich wieder Bruchstücke ein«, sagte ich. Ein langer schräger Sonnenstrahl lag quer auf den Dielen zu meinen Füßen und ließ den neuen Lack glänzen wie Wasser. Ich hielt den Blick darauf gerichtet. »Bruchstücke von dem Abend. Die haben gesagt, das könnte passieren. Die Ärzte, mein ich.« Wieder das Flattern und Schnappen der Karten. »Das wissen wir«, sagte Rafe. »Die haben uns zuschauen lassen«, sagte Abby leise. »Bei deinem Gespräch mit Mackey.« Ich riss den Kopf hoch und starrte sie mit offenem Mund an. »Ich fass es nicht«, sagte ich nach einem Augenblick. »Hattet ihr vor, mir das zu sagen? Irgendwann mal?« »Wir sagen es dir jetzt«, sagte Rafe. 1215
»Ihr könnt mich mal«, sagte ich, und das Beben in meiner Stimme klang, als kämen mir schon wieder fast die Tränen. »Ihr könnt mich alle mal. Für wie blöd haltet ihr mich eigentlich? Mackey hat sich wie ein totales Arschloch aufgeführt, und ich hab trotzdem den Mund gehalten, weil ich euch nicht in Schwierigkeiten bringen wollte. Aber ihr wolltet mich einfach weiter im Dunkeln tappen lassen, bis ans Ende unserer Tage, wo ihr alle genau wisst –« Ich drückte mir den Handrücken gegen die Lippen. Abby sagte, ganz leise und ganz behutsam: »Du hast den Mund gehalten.« »Ich hätt’s nicht tun sollen«, sagte ich gegen mein Handgelenk. »Ich hätte ihm einfach alles erzählen sollen, was mir wieder eingefallen ist, und zusehen, wie ihr damit klarkommt.« »Was sonst«, fragte Abby, »was sonst ist dir wieder eingefallen?« Mein Herz fühlte sich an, als würde es mir jeden Augenblick aus der Brust springen. Falls ich 1216
falschlag, würde ich mit Pauken und Trompeten scheitern, und jede Sekunde des letzten Monats wäre umsonst gewesen – in diese vier Leben eingedrungen, Sam verletzt, meinen Job riskiert: alles umsonst. Ich warf jeden Chip, den ich hatte, auf den Tisch, ohne den leisesten Schimmer zu haben, wie gut mein Blatt war. In dem Augenblick dachte ich an Lexie: dass sie ihr ganzes Leben so gelebt hatte, alles blind auf eine Karte gesetzt, und daran, was es sie am Ende gekostet hatte. »Die Jacke«, sagte ich. »Der Zettel, in der Jackentasche.« Eine Sekunde lang dachte ich, ich hätte verloren. Ihre Gesichter, die zu mir hochsahen, waren so unglaublich ausdruckslos, als hätte ich etwas völlig Unverständliches gesagt. Ich überlegte mir schon hektisch, wie ich einen Rückzieher machen könnte (Komatraum? Morphiumhalluzination?), als Justin mit einem winzigen verzweifelten Atemhauch flüsterte: »Oh Gott.«
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Früher hast du keine Zigaretten mit auf deine Spaziergänge genommen, hatte Daniel gesagt. Ich war so darauf konzentriert gewesen, den Schnitzer zu überspielen, dass mir erst Tage später auffiel: Ich hatte Neds Nachricht verbrannt. Wenn Lexie kein Feuerzeug bei sich trug, dann hatte sie auf Anhieb keine Möglichkeit gehabt, die Zettel loszuwerden – außer sie aufessen, was selbst für sie ein wenig extrem gewesen wäre. Vielleicht hatte sie sie auf dem Weg nach Hause in kleine Stücke zerrissen und peu à peu im Vorbeigehen in Hecken geworfen, wie eine dunkle Hänsel-undGretel-Spur. Vielleicht aber war ihr selbst das zu heikel gewesen, und sie hatte die Zettel in die Tasche gesteckt, um sie im Klo runterzuspülen oder zu verbrennen, wenn sie zu Hause war. Sie war so höllisch vorsichtig gewesen, hatte ihre Geheimnisse wohlgehütet. Ich konnte mir bloß einen Fehler vorstellen, der ihr unterlaufen sein könnte. Nur ein einziges Mal, als sie nach Hause lief, im Dunkeln und im strömenden Regen – denn 1218
es musste geregnet haben –, schon ganz aufgewühlt durch das Baby und mit dem Gedanken an Flucht, der durch ihre Adern pulsierte, hatte sie den Zettel in die Tasche gesteckt, ohne daran zu denken, dass die Jacke, die sie trug, nicht allein ihr gehörte. Sie war durch das Gleiche verraten worden, dessen Verrat sie plante: die Nähe zu den anderen, das gemeinsam geteilte Leben. »Na toll«, sagte Rafe und griff nach seinem Glas, eine Augenbraue hochgezogen. Er versuchte, seine beste Lebensüberdrussmiene aufzusetzen, doch seine Nasenflügel bebten ganz leicht mit jedem Atemzug. »Super gemacht, Justin, mein Freund. Jetzt wird’s interessant.« »Was? Was soll das heißen, super gemacht? Sie wusste es doch schon –« »Klappe«, sagte Abby. Sie war weiß im Gesicht geworden, die Sommersprossen hoben sich ab wie aufgemalt. Rafe überging sie. »Na, falls nicht, dann weiß sie es jetzt.« 1219
»Das ist nicht meine Schuld! Wieso schiebst du mir immer für alles die Schuld in die Schuhe?« Justin war ganz kurz davor durchzudrehen. Rafe schlug die Augen zur Decke. »Hab ich mich beschwert? Ich finde sowieso, es wird langsam Zeit, reinen Tisch zu machen.« »Das wird nicht diskutiert«, sagte Abby, »bis Daniel nach Hause kommt.« Rafe lachte auf. »Ach Abby«, sagte er. »Ich hab dich wirklich gern, aber manchmal mach ich mir Gedanken um dich. Du weißt doch ganz genau, sobald Daniel zu Hause ist, wird es überhaupt nicht mehr diskutiert.« »Die Sache betrifft uns alle fünf. Wir reden erst drüber, wenn alle da sind.« »So ein Schwachsinn«, sagte ich. Meine Stimme wurde lauter, und ich ließ es zu. »Das ist der größte Schwachsinn, den ich je gehört hab. Wenn die Sache uns alle betrifft, wieso habt ihr dann nicht schon vor Wochen mit mir drüber geredet? Wenn ihr hinter meinem Rücken drüber reden 1220
könnt, dann geht das wahrhaftig auch ohne Daniel.« »Oh Gott«, flüsterte Justin wieder. Sein Mund war offen, eine Hand zitterte dicht davor. Abbys Handy klingelte in ihrer Umhängetasche. Auf dieses Geräusch hatte ich während der ganzen Heimfahrt gelauscht, die ganze Zeit in meinem Zimmer. Frank hatte Daniel gehen lassen. »Lass das!«, brüllte ich so laut, dass ihre Hand, die schon danach greifen wollte, auf halbem Weg verharrte. »Das ist Daniel, und ich weiß sowieso, was er sagen wird. Er wird euch befehlen, kein Wort mit mir zu reden, und ich hab es so verdamm satt, mich von ihm behandeln zu lassen, als wäre ich sechs! Wenn hier irgendwer das Recht hat, genau zu erfahren, was passiert ist, dann doch wohl ich. Wenn du versuchst, an das Scheißhandy zu gehen, dann tret ich es platt, das schwör ich dir!« Das war mein voller Ernst. Es war Sonntagnachmittag, auf den Straßen Richtung Dublin herrschte starker Verkehr, nicht umgekehrt. Wenn 1221
Daniel ordentlich Gas gab – und das würde er – und nicht von der Polizei angehalten wurde, konnte er in etwa einer halben Stunde zu Hause sein. Ich brauchte jede einzelne Sekunde. Rafe lachte, ein kurzer, rauer Ton. »Alle Achtung!«, sagte er und prostete mir zu. Abby starrte mich an, die Hand noch immer auf halbem Weg zu ihrer Tasche. »Wenn ihr mir nicht endlich erzählt, was Sache ist«, sagte ich, »rufe ich jetzt sofort bei den Bullen an und erzähl denen alles, woran ich mich erinnern kann.« »Gott«, flüsterte Justin. »Abby … « Das Telefon hörte auf zu klingeln. »Abby«, sagte ich und holte tief Luft. Ich konnte spüren, wie sich meine Fingernägel in die Handteller gruben. »Ich kann das nicht mehr, wenn ihr mich außen vor lasst. Das hier ist wichtig. Ich kann so nicht … Wir können so nicht weitermachen. Entweder wir stehen das gemeinsam durch, oder es geht eben nicht mehr.« 1222
Justins Handy klingelte. »Ihr müsst mir ja nicht mal sagen, wer von euch es war, wenn ihr nicht wollt.« Ich war mir ziemlich sicher, wenn ich nur angestrengt lauschte, würde ich hören, wie Frank mit dem Kopf gegen eine Wand schlug, irgendwo, aber das war mir egal: Immer eins nach dem anderen. »Ich will bloß wissen, was passiert ist. Ich bin es so satt, dass alle Bescheid wissen außer mir. Ich bin es so verdammt satt. Bitte.« »Sie hat alles Recht der Welt, es zu erfahren«, sagte Rafe. »Und ich persönlich bin es auch ziemlich leid, immer nur nach der Devise ›Weil Daniel das gesagt hat‹ zu leben. So gut sind wir bisher weiß Gott nicht damit gefahren.« Das Klingeln hörte auf. »Wir sollten ihn zurückrufen«, sagte Justin, halb aus seinem Sessel. »Meint ihr nicht? Was, wenn sie ihn verhaftet haben und er Geld für die Kaution braucht oder so?« »Sie haben ihn nicht verhaftet«, sagte Abby automatisch. Sie ließ sich zurück in den Sessel fallen 1223
und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, atmete tief aus. »Wie oft soll ich euch noch sagen, die brauchen Beweise für einen Haftbefehl. Es geht ihm gut. Lexie, setz dich.« Ich blieb, wo ich war. »Ach Menschenskind, nun setz dich endlich«, sagte Rafe, mit einem leidgeprüften Seufzer. »Ich erzähl dir die ganze erbärmliche Geschichte sowieso, ob es den andern gefällt oder nicht, und du machst mich nervös mit deinem Herumgehampel. Und Abby, reg dich ab. Wir hätten das schon vor Wochen machen sollen.« Nach einem Moment ging ich zu meinem Sessel am Kamin. »Viel besser«, sagte Rafe und grinste mich an. Auf seinem Gesicht lag eine sorglose, verwegene Heiterkeit, er sah so glücklich aus wie schon seit Wochen nicht mehr. »Trink was.« »Ich will nichts trinken.« Er schwang seine Beine vom Sofa, goss mir einen großen, triefenden Wodka-Orange ein und reichte ihn mir. »Ehrlich gesagt, ich finde, wir sollten alle noch was trinken. Wir werden es brau1224
chen.« Er füllte schwungvoll Gläser auf – Abby und Justin schienen es nicht mitzukriegen – und hob seines hoch in die Luft. »Auf die vollständige Enthüllung.« »Okay«, sagte Abby, nach einem tiefen Atemzug. »Okay. Wenn du das wirklich willst und es dir ja sowieso langsam wieder einfällt, dann … meinetwegen.« Justin öffnete den Mund, schloss ihn dann wieder und biss sich auf die Lippen. Abby fuhr sich mit den Händen durchs Haar, strich es sich energisch glatt. »Wo sollen wir … ? Ich meine, an wie viel kannst du dich erinnern oder … « »An Bruchstücke«, sagte ich. »Sie ergeben aber keinen Sinn oder so. Fangt einfach am Anfang an.« Das ganze Adrenalin war aus meinem Blut gespült worden, und mit einem Mal war ich ganz ruhig. Das hier war das Letzte, was ich in diesem Haus je tun würde. Ich spürte es überall um mich herum, in jedem Quadratzentimeter, summend vor 1225
Sonne und Staubkörnchen und Erinnerungen, es wartete darauf, was als Nächstes kam. Mir war, als hätten wir alle Zeit der Welt. »Du hast dich fertig gemacht für deinen Spaziergang«, sagte Rafe hilfreich und ließ sich wieder aufs Sofa fallen, »so gegen, wie spät war’s, kurz nach elf? Und Abby und ich stellten fest, dass wir beide keine Zigaretten mehr hatten. Komisch, wie Kleinigkeiten doch ins Gewicht fallen können, nicht? Wenn wir Nichtraucher wären, wäre das alles vielleicht nie passiert. Davon redet keiner bei den ganzen Warnungen vor den schlimmen Folgen des Rauchens.« »Du hast gesagt, du würdest unterwegs welche besorgen«, sagte Abby. Sie beobachtete mich, die Hände fest im Schoß gefaltet. »Aber du bist immer mindestens eine Stunde weg, daher dachte ich, ich geh schnell zur Tankstelle. Es sah nach Regen aus, deshalb hab ich die Jacke angezogen – du wolltest sie anscheinend nicht, weil du schon
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deinen Mantel anhattest. Ich hab mein Portemonnaie in die Tasche gesteckt und … « Ihre Stimme erstarb, und sie machte eine kleine, nervöse Geste, die alles hätte bedeuten können. Ich hielt mich zurück. Keine Hilfestellung mehr, wenn ich es vermeiden konnte. Der Rest der Geschichte musste von ihnen kommen. »Und dann hat sie so einen Zettel rausgezogen«, sagte Rafe mit einer Zigarette im Mund, und gefragt: ›Was ist das denn?‹ Zunächst hat keiner richtig hingehört. Wir waren alle in der Küche, wir haben gespült, Justin und Daniel und ich, und über irgendwas diskutiert –« »Stevenson«, sagte Justin sanft und sehr traurig. »Weißt du nicht mehr? Jekyll und Hyde. Daniel hat über sie doziert, irgendwas mit Vernunft und Instinkt. Du warst in alberner Laune, Lexie, du hast gesagt, du hättest genug über die Uni geredet, für den Abend, und überhaupt, Jekyll und Hyde wären bestimmt beide Nieten im Bett, und Rafe hat gesagt: ›Dass du einspurig denkst, wissen wir 1227
ja, aber dass die Spur noch dazu eine Dreckspur ist … ‹ Wir mussten alle lachen.« »Und dann hat Abby gesagt: ›Lexie, verdammt, was soll das?‹«, sagte Rafe. »Wesentlich lauter. Wir haben uns alle zu ihr umgedreht, und sie hatte so ein zerknittertes Stück Papier in der Hand und sah aus, als hätte sie jemand geohrfeigt – so hatte ich sie noch nie gesehen, niemals.« »Daran kann ich mich erinnern«, sagte ich. Meine Hände fühlten sich an, als wären sie durch einen Hitzestrahl mit den Armlehnen verschmolzen. »Dann wird alles wieder undeutlich.« »Zum Glück«, sagte Rafe, »können wir dir da auf die Sprünge helfen. Ich denke, wir anderen werden uns bis an unser Lebensende an jede Sekunde erinnern. Du hast gesagt: ›Gib das her‹, und hast nach dem Stück Papier gegriffen, aber Abby ist zurückgesprungen, ganz schnell, und hat Daniel den Zettel gegeben.« »Ich glaube«, sagte Justin mit leiser Stimme, »da wurde uns allmählich klar, dass es um was 1228
Ernstes ging. Ich hatte schon irgendwas Albernes in Richtung Liebesbrief auf der Zunge gehabt – nur um dich zu ärgern, Lexie –, aber du warst so … Du bist regelrecht auf Daniel losgehechtet und hast versucht, ihm den Zettel wegzunehmen. Er hat blitzschnell die andere Hand vorgestreckt, um dich auf Abstand zu halten, rein reflexartig, aber du hast mit ihm gekämpft, richtig gekämpft – du hast auf seinen Arm eingeschlagen, hast versucht, ihn zu treten, und nach dem Stück Papier gegrapscht. Du hast keinen Ton von dir gegeben. Das hat mir am meisten Angst gemacht, glaub ich. Diese Stille. Mir war, als müsstet ihr rumschreien oder brüllen oder irgendwas, und dass ich dann irgendwas tun könnte, aber es war so still – nur das Keuchen von dir und Daniel und das Wasser, das noch immer in die Spüle lief … « »Abby hat deinen Arm zu fassen gekriegt«, sagte Rafe, »aber du bist rumgefahren, mit erhobenen Fäusten. Ich hab echt gedacht, du gehst auf sie los. Justin und ich standen da und glotzten blöd aus 1229
der Wäsche. Wir haben einfach nicht kapiert, was zum Teufel eigentlich – ich meine, zwei Sekunden vorher hatten wir noch Witze gerissen von wegen Jekyll-Sex, verdammt nochmal. Sobald du dich von Daniel weggedreht hattest, hat er mir den Zettel in die Hand gedrückt, deine Arme von hinten festgehalten und zu mir gesagt: ›Lies vor.‹« »Ich fand’s schlimm«, sagte Justin sanft. »Du hast dich wie wild hin und her geworfen, um dich von Daniel loszureißen, aber er hat nicht losgelassen. Es war … Du hast versucht, ihn zu beißen, in den Arm. Ich dachte, wieso macht er das, wenn es dein Zettel ist, soll er ihn dir zurückgeben, aber ich war einfach zu verdattert, um irgendwas zu sagen.« Das wunderte mich nicht. Die beiden waren keine Männer der Tat, ihre Stärke waren Gedanken und Worte, und sie waren in etwas hineinkatapultiert worden, wo mit Gedanken und Worten nichts auszurichten war. Was mich allerdings überraschte und was alle Warnlampen in meinem 1230
Hinterkopf aufblinken ließ, das war, wie schnell und energisch Daniel reagiert hatte. »Also«, sagte Rafe, »hab ich den Zettel vorgelesen. Da stand: ›Liebe Lexie, hab drüber nachgedacht, und okay, wir können über zweihundert Riesen reden. Bitte melde dich, weil ich weiß, dass wir beide das Geschäft abschließen wollen. Schöne Grüße, Ned.‹« »Ganz genau das«, sagte Justin leise und bitter in die luftleere Stille, »daran wirst du dich ja wohl noch erinnern.« »Er hat eine Sauklaue«, sagte Rafe, die Zigarette zwischen die Lippen geklemmt. »Wie ein Vierzehnjähriger. Was für ein Schwachkopf. Mal abgesehen von allem anderen, ich hätte dir einen besseren Geschmack zugetraut, als mit so einem miese Geschäfte zu machen.« »Und?«, fragte Abby. Ihre Augen waren ganz ruhig auf mich gerichtet, forschend. »Wenn das alles nicht passiert wäre, hättest du wirklich an Ned verkauft?« 1231
Wenn ich daran denke, wie unglaublich grausam ich zu den vieren war, zählt das zu den wenigen Dingen, die mich ein wenig mit mir selbst versöhnen: Ich hätte in dem Moment ja sagen können. Ich hätte ihnen haargenau sagen können, was Lexie vorhatte, was sie ihnen antun wollte und allem, was sie gemeinsam mit Herz und Seele und Körpereinsatz aufgebaut hatten. Vielleicht wäre das letzten Endes weniger schmerzhaft für sie gewesen als der Gedanke, dass es eigentlich um nichts gegangen war. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, als ich das letzte Mal eine Wahl hatte, viel zu spät, um noch irgendetwas zu ändern, habe ich aus den richtigen Gründen gelogen. »Nein«, sagte ich. »Ich wollte bloß … Ich musste einfach wissen, ob ich es gekonnt hätte. Ich bin durchgedreht, Abby. Ich fühlte mich eingesperrt, und ich hab Panik gekriegt. Ich hatte nie ernsthaft vor zu gehen. Ich musste einfach nur wissen, dass ich gehen könnte, wenn ich wollte.«
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»Eingesperrt«, sagte Justin, und sein Kopf bewegte sich mit einem kurzen, gekränkten Ruck. »Bei uns«, aber ich sah auch Abbys rasches Blinzeln, als sie begriff: das Baby. »Du wolltest bleiben.« »Und ob ich bleiben wollte«, sagte ich, und ich weiß bis heute nicht und werde es wohl nie wissen, ob auch das eine Lüge war. »So sehr, Abby. Wirklich.« Nach einem langen Augenblick nickte sie fast unmerklich. »Hab ich euch doch gesagt«, sagte Rafe, legte den Kopf in den Nacken und blies Rauch an die Decke. »Daniel, der Idiot. Noch bis letzte Woche war er praktisch hysterisch vor Paranoia deswegen. Ich hab ihm gesagt, ich hätte mit dir gesprochen und du hättest nicht vor, irgendwo hinzugehen, aber nein, Monsieur lässt sich natürlich von keinem was sagen.«
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Abby reagierte nicht darauf, rührte sich nicht, es sah aus, als würde sie nicht mal atmen. »Und jetzt?«, fragte sie mich. »Was jetzt?« Für eine schwindelige Sekunde verlor ich den Faden, dachte, sie hätte mich durchschaut und würde fragen, ob ich trotzdem bleiben wollte. »Was meinst du?« »Sie meint«, sagte Rafe kühl und knapp und sehr ruhig, »wenn unser Gespräch hier vorbei ist, rufst du dann Mackey oder O’Neill oder die Dorftrottel an und lieferst uns aus? Verpfeifst uns? Lässt uns hängen? Was auch immer der angemessene Ausdruck unter diesen Umständen ist.« Man sollte meinen, dass ich bei dieser Frage von Schuldgefühlen durchzuckt worden wäre, die sich von dem Mikro aus glühend heiß auf meiner Haut ausbreiteten, aber das Einzige, was ich empfand, war eine große, endgültige, ziehende Traurigkeit, wie ein Ebbstrom tief unten in meinen Knochen. »Ich werde keinem was sagen«, sagte ich und spürte, wie Frank, weit weg in seinem 1234
kleinen summenden Kreis aus Elektronik, anerkennend nickte. »Ich will nicht, dass ihr in den Knast geht. Egal, was passiert ist.« »Tja«, sagte Abby leise, fast zu sich selbst. Sie lehnte sich im Sessel zurück und strich ihren Rock glatt, geistesabwesend, mit beiden Händen. »Tja, dann … « »Tja, dann«, sagte Rafe und zog fest an seiner Zigarette, »haben wir die ganze Sache wesentlich komplizierter gemacht, als es nötig gewesen wäre. Irgendwie wundert mich das nicht.« »Und dann?«, sagte ich. »Nach der Sache mit dem Zettel. Was ist dann passiert?« Eine kleine, angespannte Veränderung im Raum. Keiner von ihnen schaute die anderen an. Ich suchte nach irgendeinem winzigen Unterschied in den Gesichtern, nach einem Hinweis darauf, dass dieses Gespräch einen von ihnen schwerer belastete als die anderen, dass einer beschützte, beschützt wurde, schuldig war, defensiv: nichts. 1235
»Dann«, sagte Abby mit einem tiefen Atemzug. »Lex, ich weiß nicht, ob du darüber nachgedacht hattest, was es bedeuten würde, wenn du deinen Anteil an Ned verkaufen würdest. Du … ich meine, du durchdenkst nicht immer alles gründlich.« Ein böses Schnaufen von Rafe. »Das ist sehr vorsichtig ausgedrückt. Mensch, Lexie, was hast du bloß gedacht, was passieren würde? Du verkaufst, schaffst dir irgendwo eine hübsche kleine Eigentumswohnung an, und alles ist weiterhin Friede, Freude, Eierkuchen? Was hast du erwartet, wie es abgelaufen wäre, wenn wir uns jeden Morgen an der Uni gesehen hätten? Küsschen hier, Küsschen da und hier bitte schön ist dein Sandwich? Wir hätten nie wieder ein Wort mit dir geredet. Wir hätten dich nur noch abgrundtief gehasst.« »Und Ned hätte uns anderen keine ruhige Minute mehr gelassen«, sagte Abby, »jeden Tag hätte er uns in den Ohren gelegen, an irgendeinen Investor zu verkaufen und das Haus in Apartments 1236
zu verwandeln oder einen Golfclub oder was immer er damit vorhatte. Er hätte einziehen können, mit uns zusammenwohnen, und wir hätten nichts dagegen machen können. Früher oder später hätten wir klein beigegeben. Wir hätten das Haus verloren. Whitethorn House.« Irgendetwas regte sich, zart und halbwach: ein ganz leichtes Biegen der Wände, ein Dielenknarren oben, ein Luftzug, der die Treppe heruntergeweht kam. »Wir haben alle losgeschrien«, sagte Justin leise. »Alle auf einmal – ich wusste nicht mal, was ich da von mir gab. Du konntest dich von Daniel losreißen, und Rafe hat dich festgehalten, und du hast ihn geschlagen – richtig fest, Lexie, du hast ihm die Faust in den Magen gerammt –« »Es war eine Schlägerei«, sagte Rafe. »Wir können es nennen, wie wir wollen, aber Tatsache ist, wir haben uns gekloppt wie eine Horde Besoffene an einer Straßenecke. Dreißig Sekunden länger, und wir hätten uns in der Küche auf dem Bo1237
den gewälzt und nach Strich und Faden aufeinander eingedroschen. Bloß, ehe es so weit kommen konnte –« »Bloß«, sagte Abby, und ihre Stimme schnitt ihm so jäh das Wort ab wie ein Türenknallen, »so weit ist es nicht gekommen.« Sie blickte Rafe ruhig, unverwandt in die Augen. Nach einer Sekunde zuckte er die Achseln, ließ sich nach hinten auf die Couch fallen und wippte nervös mit einem Fuß. »Es hätte jeder von uns sein können«, sagte Abby, ob zu mir oder zu Rafe, konnte ich nicht sagen. In ihrer Stimme lag eine tiefe Leidenschaft, die mich erschreckte. »Wir haben alle getobt vor Zorn – ich war noch nie im Leben so wütend. Alles andere war purer Zufall, ist einfach passiert. In dem Moment hätte dich jeder von uns umbringen können, Lexie, und das kannst du uns nicht verdenken.« Wieder regte sich etwas, irgendwo kaum hörbar: ein Huschen im Flur, ein Summen in den 1238
Schornsteinen. »Tu ich auch nicht«, sagte ich. Ich fragte mich – und das war natürlich Quatsch, ich muss als Kind zu viele Geistergeschichten gelesen haben –, ob genau das Lexies Auftrag an mich gewesen war: ihnen zu sagen, dass es okay war. »Ihr hattet wirklich allen Grund, wütend zu sein. Selbst danach hättet ihr mich mit gutem Recht rausschmeißen können.« »Wir haben darüber gesprochen«, sagte Abby. Rafe hob eine Augenbraue. »Daniel und ich. Ob wir noch zusammenwohnen können, nach … Aber es wäre kompliziert geworden, und überhaupt, es ging schließlich umdich. Was immer auch passiert war, du warst immer noch du.« »Das Nächste, woran ich mich erinnere«, sagte Justin sehr leise, »ist das Knallen der Hintertür, und dann lag da dieses Messer mitten in der Küche auf dem Boden. Mit Blut dran. Ich konnte es nicht glauben. Ich konnte nicht glauben, dass das wirklich passiert war.«
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»Und ihr habt mich einfach gehen lassen?«, sagte ich, zu meinen Händen. »Ihr habt nicht mal versucht, nach mir zu –« »Doch«, sagte Abby, beugte sich vor und versuchte, meinen Blick aufzufangen. »Doch, Lex. Natürlich. Aber es hat erst mal einen Moment gedauert, bis wir richtig begriffen hatten, was passiert war, aber als es uns dann klar wurde … Daniel hat als Erster reagiert, wir anderen waren wie gelähmt. Als ich mich wieder bewegen konnte, hatte er schon die Taschenlampe in der Hand. Er hat gesagt, Rafe und ich sollten zu Hause bleiben, für den Fall, dass du zurückkommst. Wir sollten den Zettel verbrennen und heißes Wasser und Desinfektionsmittel und Verbandsmaterial bereithalten –« »Was durchaus nützlich gewesen wäre«, sagte Rafe und zündete sich die nächste Zigarette an, »wenn wir ein Baby in Vom Winde verweht auf die Welt hätten holen müssen. Was hat er sich
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bloß vorgestellt? Privat-OP auf dem Küchentisch mit Abbys Handarbeitsset?« »– und dann sind er und Justin los, dich suchen. Sofort.« Es war eine gute Entscheidung gewesen. Daniel hatte gewusst, dass auf Abby Verlass war, dass sie die Ruhe bewahren würde. Falls einer schlappmachte, dann Rafe oder Justin. Er hatte sie getrennt, sie quasi unter Aufsicht gestellt und sich einen Plan überlegt, der sie beide beschäftigt hielt, und das alles in Sekundenschnelle. Der Bursche hatte mehr Talente, als er an der Uni brauchte. »Ich bin nicht sicher, ob wir wirklich so schnell reagiert haben, wie wir glauben«, sagte Justin. »Gut möglich, dass wir uns fünf oder zehn Minuten nicht vom Fleck gerührt haben. An den Teil kann ich mich kaum erinnern, mein Kopf ist wie leergefegt. Das Erste, was ich wieder klar weiß, ist, dass du schon auf und davon warst, als Daniel und ich hinten am Gartentor ankamen. Wir wussten nicht, ob du ins Dorf wolltest, um Hilfe zu ho1241
len, oder irgendwo zusammengebrochen warst oder –« »Ich bin einfach gelaufen«, sagte ich leise. »Ich erinnere mich bloß, dass ich gelaufen bin. Ich hab nicht mal gemerkt, dass ich schon die ganze Zeit geblutet hab.« Justin zuckte zusammen. »Ich glaub, am Anfang hast du nicht geblutet«, sagte Abby sanft. »Weder auf dem Küchenboden noch auf der Terrasse war Blut.« Sie hatten nachgesehen. Ich fragte mich, wann und ob das Daniels oder Abbys Idee gewesen war. »Das kam noch hinzu«, sagte Justin. »Dass wir nicht wussten … na ja, wie schlimm es war. Du warst so schnell weg, wir hatten keine Chance gehabt, das zu … Wir dachten – ich meine, ich dachte –, dass es nicht so schlimm sein könnte, weil du ja so schnell verschwunden warst. Es hätte ja auch bloß ein harmloser kleiner Ritz gewesen sein können.« »Ha«, sagte Rafe und griff nach dem Aschenbecher. 1242
»Wir wussten es nicht. Es wäre möglich gewesen. Das hab ich auch Daniel gesagt, aber der hat mir bloß einen Blick zugeworfen, der alles hätte bedeuten können. Also haben wir … Gott. Wir haben dich gesucht. Daniel meinte, zuerst müssten wir nachsehen, ob du ins Dorf gegangen bist, aber da war alles verriegelt und verrammelt und dunkel, nur in dem einen oder anderen Schlafzimmer brannte noch Licht. Offensichtlich war da keiner alarmiert worden. Also sind wir wieder zurück Richtung Haus, kreuz und quer in weiten Bögen, in der Hoffnung, dir irgendwo über den Weg zu laufen.« Er starrte auf das Glas in seinen Händen. »Zumindest hab ich das die ganze Zeit gehofft. Ich bin einfach hinter Daniel her, immer weiter und weiter durch dieses stockfinstere Labyrinth von Feldwegen. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren, mein Orientierungssinn war völlig weg. Wir hatten Angst, die Taschenlampe anzumachen, und Angst, nach dir zu rufen – ich weiß nicht mal mehr, war1243
um, es kam uns einfach zu gefährlich vor. Keine Ahnung, weshalb, vielleicht damit nicht irgendein Anwohner was mitkriegt oder du dich vor uns versteckst, schätz ich. Deshalb hat Daniel die Taschenlampe nur alle paar Minuten ganz kurz angemacht, mit der hohlen Hand drum herum, und ich hab mich rasch umgesehen, dann hat er sie wieder ausgemacht. Die übrige Zeit sind wir vorsichtig an den Hecken lang. Es war schweinekalt, wie im Winter – wir hatten nicht mal dran gedacht, uns Jacken überzuziehen. Daniel schien das nicht viel auszumachen, ihr kennt ihn ja, aber ich konnte meine Zehen nicht mehr spüren. Ich war sicher, sie würden mir erfrieren. Wir sind stundenlangrumgeirrt –« »Seid ihr nicht«, sagte Rafe. »Glaub mir. Wir haben hier gehockt, mit einer Flasche Desinfektionsmittel und einem blutigen Messer, und konnten nichts anderes tun, als auf die Uhr starren und uns gegenseitig verrückt machen. Ihr wart höchstens fünfundvierzig Minuten weg.« 1244
Justin zuckte die Achseln, ein angespannter Ruck. »Na, es kam mir jedenfalls wie Stunden vor. Schließlich ist Daniel wie angewurzelt stehen geblieben – ich bin direkt in ihn reingerannt, wie in einem Laurel-und-Hardy-Film –, und er hat gesagt: ›Das bringt doch nichts. So finden wir sie nie.‹ Ich hab ihn gefragt, ob er einen besseren Vorschlag hätte, aber er hat nicht geantwortet. Er stand bloß da und hat zum Himmel hochgestarrt, als würde er auf eine göttliche Eingebung warten. Es zog sich langsam zu, aber der Mond war aufgegangen, und ich konnte Daniels Profil sehen. Dann sagte er ganz normal, wie mitten in einem Gespräch beim Abendessen: ›Nehmen wir mal an, sie wollte irgendwohin, statt einfach ziellos im Dunkeln rumzuirren. Sie muss sich doch mit Ned irgendwo getroffen haben. Irgendwo, wo sie geschützt waren, weil das Wetter so wechselhaft ist. Gibt es hier irgendwo in der Nähe –‹< Und dann ist er los. Regelrecht gerannt, richtig schnell. Ich hätte nie gedacht, dass er so schnell rennen kann – 1245
ich glaub, ich hatte Daniel vorher noch nie rennen sehn, ihr etwa?« »Neulich Abend ist er gerannt«, sagte Rafe und drückte seine Zigarette aus. »Hinter dem Steinewerfer her, dem Typen aus dem Dorf. Er ist echt schnell, wenn’s drauf ankommt.« »Ich hatte keine Ahnung, wo er hinwollte, mein einziger Gedanke war, mich nicht von ihm abhängen zu lassen. Irgendwie hat mir die Vorstellung, da draußen ganz allein zu sein, totale Panik gemacht – ich meine, ich weiß, wir waren ein paar hundert Meter vom Haus entfernt, aber so kam es mir nicht vor. Es kam mir … « Justin schauderte. »Es kam mir gefährlich vor«, sagte er. »Als würde irgendwas vor sich gehen, um uns herum, und wir konnten es nicht sehen, aber wenn ich da ganz allein wäre … « »Das war der Schock, Justin«, sagte Abby sanft. »Das ist normal.« Justin schüttelte den Kopf, starrte noch immer sein Glas an. »Nein«, sagte er. »Das war irgend1246
wie anders.« Er nahm einen hastigen, kräftigen Schluck von seinem Drink und verzog das Gesicht. »Dann hat Daniel die Taschenlampe eingeschaltet, sie rumgeschwenkt – es sah aus wie das Licht von einem Leuchtturm, ich war sicher, jeder meilenweit im Umkreis würde angelaufen kommen – und sie beim Cottage angehalten. Ich hab es nur ganz kurz gesehen, bloß eine Ecke von einer zerfallenen Mauer. Dann ist die Taschenlampe wieder ausgegangen, und Daniel ist über die Mauer auf die Wiese gehechtet. Das nasse, hohe Gras hat sich mir um die Knöchel geschlungen, ich hatte das Gefühl, kaum von der Stelle zu kommen … « Er blinzelte sein Glas an und stellte es abrupt auf das Bücherregal, so dass ein wenig von seinem Drink herausschwappte und blass orangefarben auf die Unterlagen von irgendwem spritzte. »Kann ich eine Zigarette haben?« »Du rauchst nicht«, sagte Rafe. »Du bist hier der Brave.«
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»Wenn ich diese Geschichte erzählen muss«, sagte Justin, »will ich eine Scheißzigarette haben.« In seiner Stimme lag ein hohes, bedenkliches Zittern. »Lass den Mist, Rafe«, sagte Abby. Sie beugte sich zu Justin und reichte ihm ihre Zigarettenpackung. Als er sie nahm, ergriff sie seine Hand und drückte sie. Justin zündete sich ungeschickt die Zigarette an, hielt sie zwischen steifen Fingern hoch, inhalierte zu stark und musste würgen. Niemand sagte etwas, während er hustete, durchatmete, sich mit einem Finger unter der Brille die Augen rieb. »Lexie«, sagte Abby. »Können wir nicht einfach … Das Wichtigste weißt du doch jetzt. Können wir es nicht dabei belassen?« »Ich will es hören«, sagte ich. Ich konnte kaum atmen. »Ich auch«, sagte Rafe. »Diesen Teil hab ich auch noch nicht gehört, und ich hab so ein Gefühl, es könnte interessant werden. Bist du nicht neu1248
gierig, Abby? Oder kennst du die Geschichte schon?« Abby zuckte die Achseln. »Also gut«, sagte Justin. Seine Augen waren fest geschlossen, und seine Kiefermuskulatur war so verkrampft, dass er kaum die Zigarette zwischen die Lippen bekam. »Ich … Moment noch.« Er nahm noch einen Zug, würgte ein wenig, kriegte sich wieder in den Griff. »Okay«, sagte er. Er hatte seine Stimme wieder unter Kontrolle. »Wir sind also zum Cottage. Im Mondlicht konnte ich so gerade eben Konturen erkennen – die Mauern, die Türöffnung. Daniel knipste die Taschenlampe an, die andere Hand teilweise darüber gelegt, und … « Seine Augen öffneten sich, huschten von uns weg zum Fenster. »Du saßt in einer Ecke, gegen die Wand gelehnt. Ich hab irgendwas gerufen – vielleicht deinen Namen, ich weiß nicht –, und ich wollte zu dir laufen, aber Daniel hat meinen Arm gepackt, richtig fest, es hat weh getan, und mich zurückgezogen. Er hat seinen Mund an mein Ohr 1249
gelegt und gezischt: ›Sei still‹, und dann: ›Nicht bewegen. Du bleibst hier stehen. Und rührst dich nicht.‹ Er hat meinen Arm geschüttelt – hinterher hatte ich blaue Flecken –, und dann hat er mich losgelassen und ist rüber zu dir. Er hat seine Finger an deinen Hals gelegt, so, um dir den Puls zu fühlen. Er hatte die Taschenlampe auf dich gerichtet, und du sahst … « Justin blickte noch immer zum Fenster. »Du sahst aus wie ein schlafendes kleines Mädchen«, sagte er, und der Kummer in seiner Stimme war sanft und unaufhaltsam wie Regen. »Und dann hat Daniel gesagt: ›Sie ist tot.‹ Das haben wir gedacht, Lexie. Wir haben gedacht, du wärst gestorben.« »Da musst du schon im Koma gewesen sein«, sagte Abby behutsam. »Die Polizei hat uns erzählt, dadurch hat sich dein Herzschlag verlangsamt, deine Atmung und alles. Wenn es nicht so kalt gewesen wäre … « »Daniel hat sich aufgerichtet«, sagte Justin, »und hat sich die Hand vorne am Hemd abge1250
wischt – ich weiß nicht, warum, es war kein Blut dran oder so, aber das war alles, was ich sehen konnte, wie er sich mit der Hand über die Brust rieb, immer wieder, als würde er es selbst nicht merken. Ich konnte dich nicht – ich konnte dich nicht ansehen. Ich bin zur Mauer und wollte mich daran festhalten – ich meine, ich hab hyperventiliert, ich dachte, ich falle jeden Moment in Ohnmacht –, aber er hat ganz schneidend gesagt: ›Nichts anfassen. Steck die Hände in die Taschen. Und halt die Luft an und zähl bis zehn.‹ Ich wusste nicht, was das sollte, das alles ergab für mich keinen Sinn, aber ich hab’s trotzdem getan.« »Tun wir doch immer«, warf Rafe vielsagend ein. Abby sah rasch zu ihm hinüber. »Nach einer Minute hat Daniel gesagt: ›Wenn sie ihren üblichen Spaziergang gemacht hätte, dann hätte sie ihre Schlüssel und ihr Portemonnaie dabei, und die Taschenlampe, die sie immer mitnimmt. Einer von uns muss nach Hause laufen und die Sachen holen. Der andere sollte hierbleiben. 1251
Es ist unwahrscheinlich, dass irgendjemand vorbeikommt, um diese Uhrzeit, aber wir wissen nicht, wie oft sie sich mit Ned getroffen hat, und wenn doch zufällig jemand vorbeikommt, müssen wir das wissen. Was von beidem ist dir lieber?‹« Justin machte zögerlich den Versuch, eine Hand nach mir auszustrecken, nahm sie wieder zurück und schloss sie fest um den anderen Ellbogen. »Ich hab gesagt, ich könnte nicht dableiben. Es tut mir leid, Lexie. Es tut mir so leid. Ich hätte mich nicht so … ich meine, das warst schließlich du, das warst immer noch du, auch wenn du … Aber ich konnte nicht. Ich – ich hab am ganzen Körper gezittert, ich glaube, ich hab auf ihn eingebrabbelt … Schließlich hat er gesagt – und er wirkte nicht mal mehr aufgewühlt, kein bisschen, bloß ungeduldig –, er hat gesagt: ›Herrgott nochmal, halt die Klappe. Ich bleib hier. Lauf so schnell du kannst nach Hause. Zieh Handschuhe an und hol Lexies Schlüssel, ihr Portemonnaie und ihre Taschenlampe. Erzähl den anderen, was passiert ist. Sie wol1252
len bestimmt mit dir herkommen. Das musst du verhindern, egal wie. Es reicht, dass wir zwei hier überall rumtrampeln, und überhaupt, es ist besser, sie ersparen sich diesen Anblick. Komm sofort wieder her. Nimm die Taschenlampe mit, aber mach sie nur an, wenn es wirklich nötig ist, und sei möglichst leise. Kannst du dir das alles merken?‹« Er zog fest an seiner Zigarette. »Ich hab ja gesagt – ich hätte auch ja gesagt, wenn er gefragt hätte, ob ich nach Hause fliegen könnte, Hauptsache, ich kam da weg. Ich musste alles noch einmal wiederholen. Dann hat er sich auf die Erde gesetzt, neben dich – nicht zu nahe, um … na ja, kein Blut an seine Hose zu kriegen, schätze ich. Und dann hat er zu mir hochgesehen und gesagt: ›Was ist? Na los. Beeil dich.‹ Ich bin also nach Hause. Es war fürchterlich. Es hat ewig gedauert – na ja, wenn Rafe recht hat, dann kann es gar nicht so lang gedauert haben. Ich weiß nicht. Ich hab mich verlaufen. An manchen 1253
Stellen war ich sicher, dass ich das Licht vom Haus sehen müsste, aber es war alles nur schwarz, meilenweit. Irgendwann wusste ich, hundertprozentig, dass das Haus gar nicht mehr da war. Es gab nur noch endlose Hecken und Feldwege, ein einziger riesiger Irrgarten, und ich würde nie mehr herausfinden, es würde nie wieder Tag werden. Ich hatte panische Angst. Als ich endlich das Haus sah – nur ein schwacher Schimmer über den Büschen –, hätte ich vor lauter Erleichterung fast geschrien. Dann weiß ich nur noch, wie ich durch die Hintertür rein bin –« »Er sah aus wie die Gestalt in Der Schrei«, sagte Rafe, »nur verdreckter. Und er redete absolut wirres Zeug, die Hälfte von dem, was aus seinem Mund kam, war unverständlich, als würde er in Zungen reden. Wir haben bloß kapiert, dass er zurückmusste und dass Daniel gesagt hatte, wir sollten bleiben, wo wir waren. Ich persönlich hab gedacht, von wegen, ich will wissen, was los ist, aber als ich mir meinen Mantel anziehen wollte, 1254
haben Justin und Abby so einen Aufstand gemacht, dass ich es bleibenließ.« »Und das war auch gut so«, sagte Abby kühl. Sie arbeitete wieder an der Puppe, die Haare fielen ihr ins Gesicht, versteckten es, und selbst von der anderen Seite des Raumes konnte ich sehen, dass ihre Stiche groß und schlampig und nutzlos waren. »Was hättest du auch großartig machen können, wenn du mitgegangen wärst?« Rafe zuckte die Achseln. »Das werden wir nie wissen, nicht? Ich kenne das Cottage. Wenn Justin gesagt hätte, wo er hinwill, hätte ich an seiner Stelle gehen können, und er hätte hierbleiben und sich beruhigen können. Aber das hatte Daniel offenbar nicht im Sinn.« »Er wird seine Gründe gehabt haben.« »Oh, ganz sicher«, sagte Rafe. »Davon bin ich überzeugt. Justin hat also ein bisschen rumgezetert, ein paar Sachen geschnappt, noch ein bisschen gestammelt, und schon war er wieder weg.«
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»Ich kann mich nicht erinnern, wie ich zurück zum Cottage gekommen bin«, sagte Justin. »Hinterher war ich jedenfalls verdreckt bis zu den Knien, vielleicht bin ich gestürzt, ich weiß es nicht, und meine Hände waren übersät mit Kratzern. Wahrscheinlich hab ich mich an den Hecken festgehalten, um auf den Beinen zu bleiben. Daniel saß noch immer neben dir, als hätte er sich nicht bewegt, seit ich losgegangen war. Er sah zu mir hoch – auf seiner Brille war Regen –, und weißt du, was er gesagt hat? Er hat gesagt: ›Der Regen kommt uns ganz recht. Falls er anhält, ist von Blut oder Fußspuren nichts mehr übrig, wenn die Polizei hier auftaucht.‹« Rafe bewegte sich, eine jähe und unruhige Gewichtsverlagerung, die die Sofafedern ächzen ließ. »Ich hab bloß dagestanden und ihn angestarrt. Ich hatte nur ›Polizei‹ gehört, und mir war ehrlich schleierhaft, was die Polizei mit der Sache zu tun haben sollte, aber es hat mir trotzdem eine Heidenangst eingejagt. Er hat mich von oben bis un1256
ten gemustert und dann gesagt: ›Du trägst keine Handschuhe. ‹« »Wo Lexie direkt neben ihm saß«, sagte Rafe zu niemand Bestimmtem. »Wie reizend.« »Ich hatte die Handschuhe völlig vergessen. Ich meine, ich war … na, das könnt ihr euch ja inzwischen vorstellen. Daniel hat geseufzt und ist aufgestanden – er hatte es nicht mal besonders eilig – und hat seine Brille mit einem Taschentuch geputzt. Dann hat er mir das Taschentuch hingehalten, und ich wollte es nehmen, weil ich dachte, ich sollte mir auch die Brille putzen, aber er hat es weggerissen und ziemlich gereizt gesagt: ›Schlüssel?‹ Ich hab sie ihm gegeben, und er hat sie abgewischt. Und da ist mir endlich aufgegangen, wozu er das Taschentuch brauchte. Dann hat er … « Justin bewegte sich in seinem Sessel, als würde er nach irgendetwas suchen, wüsste aber nicht mehr genau, nach was. »Kannst du dich wirklich an nichts mehr davon erinnern?«
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»Ich weiß nicht«, sagte ich und zuckte heftig mit den Schultern. Ich sah ihn noch immer nicht richtig an, nur aus den Augenwinkeln, und das machte ihn nervös. »Wenn ja, würde ich dich ja wohl nicht fragen, oder?« »Okay. Okay.« Justin schob seine Brille höher auf die Nase. »Also. Daniel hat … Du hattest die Hände irgendwie im Schoß liegen, und sie waren voller … Jedenfalls, er hat einen Arm von dir am Ärmel angehoben, damit er die Schlüssel in deine Jackentasche stecken konnte. Dann hat er losgelassen, und dein Arm ist einfachruntergefallen, Lexie, wie bei einer Stoffpuppe, und hat so ein schreckliches dumpfes Geräusch gemacht … Danach konnte ich nicht mehr hinsehen, es ging nicht mehr. Ich hab die Taschenlampe weiter auf – auf dich gerichtet, damit er was sehen konnte, aber ich hab den Kopf weggedreht und auf das Feld geguckt. Ich hab gehofft, dass Daniel vielleicht denkt, ich würde aufpassen, ob jemand kommt. Er hat gesagt: ›Portemonnaie‹, und dann: ›Taschen1258
lampe‹, und ich hab ihm beides gegeben, aber ich weiß nicht, was er damit gemacht hat. Ich hab bloß so raschelnde Laute gehört, aber ich hab versucht, es mir nicht vorzustellen … « Er sog tief und bebend die Luft ein. »Es hat ewig gedauert. Der Wind wurde stärker, und überall waren Geräusche. Ich weiß nicht, wie du das aushältst, da mitten in der Nacht rumzuspazieren. Es regnete inzwischen stärker, aber immer nur stoßweise, riesige Wolken fegten über den Himmel, und jedes Mal, wenn der Mond hervorkam, sah das ganze Feld lebendig aus. Vielleicht kam es wirklich von dem Schock, wie Abby meint, aber ich glaube … ich weiß nicht. Vielleicht gibt es ja Orte, die einfach nicht richtig sind. Die nicht gut für einen sind. Für die Psyche.« Er starrte jetzt irgendwohin mitten im Raum, die Augen blicklos, während er sich erinnerte. Ich musste an das leise Prickeln in meinem Nacken denken, und ich fragte mich, wie oft John Naylor mir wirklich gefolgt war. 1259
»Schließlich hat Daniel sich aufgerichtet und gesagt: ›Das müsste reichen. Gehen wir.‹ Also hab ich wieder nach vorn geschaut und … « Justin schluckte. »Ich hatte die Taschenlampe noch auf dich gerichtet. Dein Kopf war irgendwie auf die Schulter gesunken, und es regnete auf dich drauf, du hattest Regen im Gesicht, und es sah aus, als würdest du im Schlaf weinen, als hättest du was Schlimmes geträumt … Ich konnte – Gott. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dich da einfach so sitzen zu lassen. Ich wäre am liebsten bei dir geblieben, bis es hell wurde, oder wenigstens bis der Regen aufhörte, aber als ich das Daniel gesagt hab, hat er mich angeguckt, als hätte ich sie nicht alle. Da hab ich gesagt, das Allermindeste, was wir tun müssten, wäre doch wohl, dich aus dem Regen rauszuschaffen. Zuerst wollte er das auch nicht, aber als er einsah, dass ich mich ansonsten nicht von der Stelle rühren würde und er mich schon im wahrsten Sinne des Wortes nach Hause schleifen müsste, gab er nach. Er war fuch1260
steufelswild – ich würde uns noch alle in den Knast bringen und so weiter –, aber es war mir egal. Also haben wir … « Justins Wangen glänzten nass, aber er merkte es anscheinend nicht. »Du warst so schwer«, sagte er. »Dabei bist du doch so schmächtig, ich hab dich schon x-mal hochgehoben. Aber es war, als würden wir einen großen nassen Sandsack schleppen. Und du warst so kalt und so … dein Gesicht kam mir völlig anders vor, wie bei der Puppe da. Ich konnte gar nicht glauben, dass du das wirklich warst. Wir haben dich in den Raum mit dem Dach getragen, und ich hab versucht – ich wollte, dass dir nicht mehr so … Es war so kalt. Ich wollte meinen Pullover über dich legen, aber ich wusste, dann würde Daniel irgendwas machen, mich schlagen, keine Ahnung. Er war dabei, alles mit seinem Taschentuch abzuwischen, sogar dein Gesicht, wo ich dich angefasst hatte, und deinen Hals, wo er dir den Puls … Er hat einen Ast von einem der 1261
Sträucher an der Tür abgebrochen und damit den ganzen Boden gefegt. Fußabdrücke, schätze ich. Er sah … Gott! Er sah grotesk aus. Wie er da rückwärts durch diesen grauenvollen Raum ging, über den Ast gebeugt, undgefegt hat. Die Taschenlampe leuchtete ihm durch die Finger, und so riesige Schatten schwankten über die Wände … « Er wischte sich übers Gesicht, starrte nach unten auf seine Fingerspitzen. »Ich hab ein Gebet für dich gesprochen, bevor wir gingen. Ich weiß, das ist nicht viel, aber … « Sein Gesicht war wieder nass. »Möge ihr das ewige Licht leuchten«, sagte er. »Justin«, sagte Abby sachte. »Sie ist doch hier.« Justin schüttelte den Kopf. »Dann«, sagte er, »sind wir zurück nach Hause.« Nach einem Augenblick ließ Rafe sein Feuerzeug schnippen, fest, und wir fuhren alle drei zusammen. »Sie tauchten auf der Terrasse auf«, sagte er, »und sahen aus wie aus Die Nacht der lebenden Toten.« 1262
»Wir beide haben sie praktisch angeschrien, wollten endlich wissen, was passiert war«, sagte Abby, »aber Daniel hat bloß an uns vorbeigestarrt, mit so einem schrecklichen, glasigen Blick, ich glaube, er hat uns gar nicht richtig gesehen. Er hat einen Arm ausgestreckt, um Justin daran zu hindern, ins Haus zu gehen, und hat gesagt: ›Hat einer von euch noch schmutzige Wäsche?‹« »Wir hatten nicht den blassesten Schimmer, wovon er redete«, sagte Rafe. »Es war wirklich kein passender Moment, sich kryptisch auszudrücken. Ich wollte ihn packen, ihn schütteln, damit er mit der Sprache rausrückte, was zum Teufel passiert war, aber er ist zurückgewichen und hat mich angeblafft: ›Fass mich nicht an.‹ So, wie das rauskam – ich wäre fast hinten rübergekippt. Er hat mich nicht angeschrien oder so, er hat eher geflüstert, aber sein Gesicht … er sah gar nicht mehr aus wie Daniel, er sah nicht mal mehr menschlich aus. Er hat mich regelrecht angeknurrt.«
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»Er war voller Blut«, sagte Abby unverblümt, »und er wollte nicht, dass du was abkriegst. Und er war traumatisiert. Wir beide hatten es in der Nacht leicht, Rafe. Doch« – als Rafe schnaubte –, »hatten wir. Wärst du gern im Cottage dabei gewesen?« »Wäre vielleicht keine schlechte Idee gewesen.« »Nie im Leben«, sagte Justin leicht aggressiv. »Glaub mir. Abby hat recht: Ihr hattet es leicht.« Rafe zuckte übertrieben mit den Schultern. »Jedenfalls«, sagte Abby, nach einem angespannten Moment. »Daniel hat tief Luft geholt und sich mit der Hand über die Stirn gestrichen und gesagt: ›Abby, hol uns beiden bitte eine komplette Montur Klamotten zum Wechseln und ein Handtuch. Rafe, hol mir einen Plastikbeutel, einen großen. Justin, zieh dich aus.« Er war schon dabei, sich das Hemd aufzuknöpfen –« »Als ich mit dem Beutel wiederkam, standen er und Justin in Unterhose auf der Terrasse«, sagte 1264
Rafe und wischte sich Asche vom Hemd. »Kein schöner Anblick.« »Mir war eiskalt«, sagte Justin. Er klang deutlich besser, jetzt, wo der schlimmste Teil vorbei war: zittrig, ausgelaugt, erlöst. »Wir hatten peitschenden Regen und hundert Grad unter null, der Wind war wie Eis, und wir standen in der Unterwäsche auf der Terrasse. Ich hatte keine Ahnung, wieso, mein Kopf war wie betäubt, und ich hab einfach getan, was man mir sagte. Daniel hat unsere Klamotten in den Beutel gestopft und irgendwas gesagt wie, ein Glück, dass wir keine Mäntel anhatten. Ich wollte meine Schuhe reintun, wollte ihm helfen, aber er hat gesagt: ›Nein, lass die hier. Um die kümmere ich mich später.‹ Kurz darauf kam Abby mit den Handtüchern und den Klamotten, und wir haben uns abgetrocknet und angezogen.« »Ich hab noch mal gefragt, was passiert ist«, sagte Rafe, »diesmal aus sicherer Entfernung. Justin hat mich nur angestarrt, wie ein Reh im 1265
Scheinwerferlicht, und Daniel hat mich keines Blickes gewürdigt. Er hat bloß sein Hemd in die Hose gestopft und gesagt: ›Rafe, Abby, holt bitte eure schmutzige Wäsche. Wenn ihr keine schmutzigen Sachen habt, saubere tun’s auch.‹ Dann hat er den Beutel genommen und ist in die Küche marschiert, barfuß, und Justin ist wie ein junges Hündchen hinter ihm hergetappt. Ich weiß nicht, wieso, jedenfalls bin ich tatsächlich los und hab meine Schmutzwäsche geholt.« »Er hatte recht«, sagte Abby. »Für den Fall, dass die Polizei hier aufgekreuzt wäre, ehe wir die Wäsche fertig gehabt hätten, musste es so aussehen wie eine ganz normale Ladung Wäsche, nicht wie ein Versuch, Spuren zu beseitigen.« Rafe hob eine Schulter. »Wie auch immer. Daniel hat die Waschmaschine angemacht und ist stirnrunzelnd davor stehen geblieben, wie vor einem mysteriösen Objekt. Wir waren alle in der Küche, standen herum wie die Ölgötzen, warteten
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auf Gott weiß was, keine Ahnung, dass Daniel irgendwas sagt, schätze ich, obwohl –« »Ich hab bloß noch das Messer gesehen«, sagte Justin leise. »Rafe und Abby hatten es einfach da liegen lassen, auf dem Küchenboden.« Rafe schlug die Augen zur Decke und nickte Richtung Abby. »Ja«, sagte sie, »das war ich. Ich hab gedacht, wir rühren besser nichts an, nicht, solange die anderen weg waren und wir uns noch keinen Plan überlegt hatten.« »Denn natürlich«, sagte Rafe ironisch zu mir, »würde es einen Plan geben. Bei Daniel gibt es schließlich immer einen Plan. Und Pläne sind doch auch was Schönes, oder?« »Abby hat uns angebrüllt«, sagte Justin. »Sie hat geschrien: ›Wo zum Teufel ist Lexie?‹ Direkt in mein Ohr. Ich wär fast ohnmächtig geworden.« »Daniel hat sich umgedreht und uns angestarrt«, sagte Rafe, »als hätte er keine Ahnung, wer wir sind. Justin wollte was sagen, aber es kam nur so ein würgendes Geräusch, und Daniel ist furchtbar 1267
zusammengezuckt und hat ihn angeblinzelt. Dann hat er gesagt: ›Lexie ist in dem verfallenen Cottage, das sie so mag. Sie ist tot. Ich dachte, Justin hätte es euch gesagt.‹ Und er hat angefangen, sich die Socken anzuziehen.« »Justin hatte es uns gesagt«, sagte Abby leise, »aber ich glaub, wir haben gehofft, er hätte es falsch verstanden, irgendwie … « Stille trat ein. Die Wanduhr oben im Flur tickte, langsam und schwer. Irgendwo hatte Daniel seinen Fuß auf dem Gaspedal, und ich meinte, ihn da draußen spüren zu können, wie er mit jeder Sekunde näher kam, das schwindelerregende Tempo der Straße unter seinen Reifen. »Und dann?«, fragte ich. »Seid ihr einfach ins Bett gegangen?« Sie blickten einander an. Justin fing an zu lachen, ein heller, hilfloser Klang, und einen Augenblick später fielen die anderen mit ein. »Was ist?«, sagte ich.
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»Ich weiß nicht, worüber wir lachen«, sagte Abby, wischte sich die Augen und versuchte, sich wieder zu beruhigen und ernst auszusehen, mit der Folge, dass sie alle erneut losprusteten. »Oh Mann … Es war nicht komisch, absolut nicht. Es war bloß … « »Du wirst es nicht glauben«, sagte Rafe. »Wir haben Poker gespielt.« »Ja, stimmt. Wir haben an dem Tisch gesessen –« »– und jedes Mal fast einen Herzinfarkt gekriegt, wenn der Regen gegen das Fenster klatschte.« »Justin haben die ganze Zeit die Zähne geklappert, ich hatte das Gefühl, neben mir sitzt einer mit Rumba-Rasseln.« »Und als die Tür vom Wind geklappert hat? Und Daniel mit seinem Stuhl umgekippt ist?« »Musst du gerade sagen. Ich konnte fast die ganze Zeit sehen, was für Karten du auf der Hand
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hattest. Ich hätte dir jeden Penny abnehmen können.« Sie redeten übereinander hinweg, plapperten wie eine Schar Teenager, die nach einer wichtigen Klausur aus dem Klassenzimmer stürmen, albern vor Erleichterung. »Oh Mann«, sagte Justin, schloss die Augen und drückte sich das Glas an die Schläfe. »Was für ein beknacktes Kartenspiel. Mir klappt immer noch die Kinnlade runter, wenn ich nur dran denke. Daniel hat dauernd gesagt: ›Das einzige verlässliche Alibi ist ein tatsächlicher Ablauf von Ereignissen.‹« »Wir anderen konnten kaum in ganzen Sätzen reden«, sagte Rafe, »und er schwadroniert philosophisch über die Kunst des Alibis. Ich hätte nicht mal ›verlässliches Alibi‹ sagen können.« »– er hat uns sogar dazu gebracht, die Uhren zurück auf elf zu stellen, auf die Zeit, kurz bevor der ganze Horror losging, und wieder in die Küche zu gehen und den Abwasch zu Ende zu machen, und dann hat er darauf bestanden, dass wir hier im 1270
Wohnzimmer Karten spielen. Als wäre nichts passiert.« »Er hat für dich mitgespielt«, sagte Abby. »Als du einmal ein ganz anständiges Blatt hattest und er noch ein besseres, hat er dich hoch pokern lassen und dann abserviert. Es war unglaublich.« »Und er hat einen laufenden Kommentar gesprochen«, sagte Rafe. Er langte nach der Wodkaflasche und schenkte sich nach. In dem diesigen Nachmittagslicht, das durch die Fenster hereinfiel, sah er schön und verrucht aus, offener Hemdkragen und goldene Haarsträhnen, die ihm in die Augen fielen, wie ein Dandy, der die ganze Nacht durchgefeiert hat. »›Lexie erhöht, Lexie steigt aus, Lexie würde jetzt wieder ein Glas Wein brauchen, könnte ihr bitte jemand die Flasche rüberreichen … ‹< Er kam mir vor wie ein Spinner, der neben einem auf der Parkbank sitzt und seinen imaginären Freund mit Stückchen von seinem Sandwich füttert. Nachdem er dich aus der Partie geschmissen hatte, mussten wir so eine klei1271
ne Szene durchspielen, in der du zu deinem Spaziergang aufgebrochen bist und wir zum Abschied ins Nichts gewunken haben … Ich hab gedacht, wir verlieren komplett den Verstand. Ich weiß noch, ich hab da auf dem Stuhl gesessen und höflich tschüs Richtung Tür gesagt und ganz klar und ruhig gedacht: So fühlt sich also Wahnsinn an.« »Da war es bestimmt schon drei Uhr morgens«, sagte Justin, »aber Daniel wollte uns nicht ins Bett gehen lassen. Wir mussten weiter Texas Hold’em spielen, bis zum bitteren Ende. Daniel hat natürlich gewonnen, er konnte sich als Einziger von uns konzentrieren, aber er hat eine Ewigkeit gebraucht, uns plattzumachen. Ehrlich, ich hab hundsmiserabel gespielt, bin mit einem Flush auf der Hand ausgestiegen und hab mit einem TenHigh erhöht und so weiter. Ich hab vor Erschöpfung doppelt gesehen, und das Ganze kam mir vor wie ein grässlicher Alptraum, und ich hab ständig gedacht, ich muss aufwachen. Wir haben die Klamotten zum Trocknen vor den Kamin gehängt, 1272
und der Raum hätte eine Kulisse von Nebel des Grauens sein können, die dampfenden Klamotten und das knisternde Feuer und wir, die wir alle Daniels furchtbare Filterlose gequalmt haben.« »Er wollte mich nicht gehen lassen, um normale zu holen«, sagte Abby. »Er meinte, wir müssten alle zusammenbleiben, und außerdem wäre dann auf den Aufnahmen von den Überwachungskameras an der Tankstelle zu sehen, wie spät ich da gewesen war, und das würde alles ruinieren … Er war wie ein General.« Rafe schnaubte. »Doch, war er. Wir anderen konnten kaum unsere Karten halten, so gezittert haben wir.« »Justin musste sich zwischendurch mal übergeben«, sagte Rafe, eine Zigarette im Mund, und wedelte das Streichholz aus. »In die Küchenspüle, pikanterweise.« »Ich konnte es nicht verhindern«, sagte Justin. »Ich musste immerzu daran denken, wie du dalagst, im Dunkeln, mutterseelenallein –« Er streckte eine Hand aus und drückte mir den Arm. 1273
Ich legte kurz meine Hand auf seine, und sie fühlte sich kühl und knochig an und zitterte heftig. »Wir alle mussten immerzu daran denken«, sagte Abby, »aber Daniel … ich hab ihm angesehen, wie viel ihn das gekostet hat – sein Gesicht war ganz eingefallen, als wäre er seit dem Abendessen abgemagert, und seine Augen sahen irgendwie falsch aus, ganz groß und schwarz –, aber er war so ruhig, als wäre nichts passiert. Justin hat angefangen, die Spüle sauberzumachen –« »Dabei musste er immer noch würgen«, sagte Rafe. »Ich hab’s gehört. Ich glaub, von uns fünf hattest du den nettesten Abend, Lexie.« »– aber Daniel hat gesagt, er soll das mit der Spüle bleibenlassen. Er meinte, das würde den ganzen Zeitablauf in unseren Köpfen durcheinanderbringen.« »Anscheinend«, klärte Rafe mich auf, »ist das Wesentliche des Alibis seine Einfachheit. Je weniger Schritte man auslassen oder erfinden muss, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, einen 1274
Fehler zu machen. Er hat immer wieder gesagt: ›Wie die Dinge liegen, müssen wir uns bloß merken, dass wir gleich nach dem Spülen Karten gespielt haben, alles dazwischen müssen wir aus unseren Köpfen tilgen. Es ist nie passiert.‹ Mit anderen Worten, komm wieder rein und spiel weiter, Justin. Der arme Kerl war grün.« Daniel hatte recht gehabt, was das Alibi anging. Er war gut darin, zu gut. In diesem Moment musste ich an meine Wohnung denken, daran, wie Sam in sein Notizbuch schrieb und die Luft draußen vor dem Fenster sich dunkelblau trübte und ich ein Profil des Täters erstellte: jemand mit krimineller Erfahrung. Sam hatte alle Bewohner von Whitethorn House durch den Computer jagen lassen, aber der hatte lediglich ein paar Strafzettel wegen überhöhter Geschwindigkeit ausgespuckt. Ich hatte keine Ahnung, was für Überprüfungen Frank in seiner heimlichen, komplizierten, inoffiziellen Welt angestellt hatte, wie viel er herausgefunden und für 1275
sich behalten hatte und wie viel selbst ihm entgangen war. Wer unter all den Anwärtern der beste Geheimnisbewahrer war. »Er wollte uns nicht mal das Messer aufheben lassen«, sagte Justin. »Es lag die ganze Zeit da, während wir Karten gespielt haben. Ich saß mit dem Rücken zur Küche, und ich schwöre, ich konnte es hinter mir spüren, wie in einer Geschichte von Poe. Rafe saß mir gegenüber, und er hat ständig gezuckt und geblinzelt, wie bei einem nervösen Tick –« Rafe verzog ungläubig das Gesicht. »Stimmt gar nicht.« »Doch. Und wie du gezuckt hast, exakt jede Minute. Es wirkte jedes Mal so, als hättest du hinter mir irgendwas Beängstigendes gesehen, und ich hab mich nicht getraut, mich umzudrehen, aus Angst, das Messer würde in der Luft hängen und glühen oder pulsieren oder was weiß ich –« »Ach du lieber Himmel. Lady Macbeth lässt grüßen –« 1276
»Mein Gott«, sagte ich plötzlich. »Das Messer. Ist es noch – ich meine, haben wir damit gegessen … « Ich deutete mit einer Handbewegung vage Richtung Küche, schob mir dann einen Fingerknöchel zwischen die Zähne und biss zu. Es war nicht gespielt. Der Gedanke, dass jede Mahlzeit, die ich hier gegessen hatte, mit unsichtbaren Spuren von Lexies Blut durchzogen war, schlug langsame Purzelbäume in meinem Kopf. »Nein«, sagte Abby rasch. »Um Gottes willen, nein. Daniel hat es verschwinden lassen. Nachdem wir alle ins Bett gegangen waren, oder jedenfalls in unsere Zimmer –« »Gute Nacht, Mary Ellen«, sagte Rafe. »Gute Nacht, Jim Bob. Schlaft schön. Meine Fresse.« »– ist er gleich wieder nach unten. Ich hab ihn auf der Treppe gehört. Ich hab gar nicht gewusst, was er da unten gemacht hat, aber am nächsten Morgen gingen die Uhren wieder richtig, die Spüle war blitzblank, der Küchenboden sauber – er sah aus, als wäre er geschrubbt worden, der ganze 1277
Boden, nicht bloß die eine Stelle. Die Schuhe, die von Daniel und Justin, die sie auf der Terrasse gelassen hatten, standen im Garderobenschrank, und sie waren auch sauber. Nicht pieksauber, bloß so, wie wenn wir sie normalerweise putzen, und trocken, als hätte er sie vor den Kamin gestellt. Die Anziehsachen waren alle gebügelt und gefaltet, und das Messer war weg.« »Was war es für eins?«, fragte ich ein bisschen zittrig, noch immer mit dem Finger zwischen den Zähnen. »Bloß eins von diesen schäbigen alten Steakmessern mit Holzgriff«, sagte Abby sanft. »Schon gut, Lex. Es ist weg.« »Ich will nicht, dass es im Haus ist.« »Ich weiß. Ich auch nicht. Aber ich bin ziemlich sicher, dass Daniel es entsorgt hat. Nicht hundertprozentig sicher, aber ich hab die Haustür gehört, daher schätz ich, er hat es rausgebracht.« »Wohin? Er hat’s doch hoffentlich nicht im Garten vergraben! Ich will es ganz weit weg ha1278
ben.« Meine Stimme zitterte jetzt stärker. Frank, der irgendwo lauschte und Gut, weiter so, Mädchen flüsterte. Abby schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht genau. Er war ein paar Minuten weg, und ich glaube nicht, dass er es auf dem Grundstück vergraben hat, aber wenn du willst, frag ich ihn. Ich kann ihm sagen, wenn es noch hier irgendwo in der Nähe ist, soll er es weiter wegbringen.« Ich hob eine Schulter. »Von mir aus. Ja, sag ihm das.« »Ich hab gar nicht gehört, dass er nach unten gegangen ist«, sagte Justin. »Ich … oh Mann. Ich will nicht mal mehr dran denken. Ich hab auf der Kante von meinem Bett gehockt, Licht aus, und mich hin- und hergewiegt. Das ganze Pokerspiel hindurch hatte ich nur weggewollt, ich hätte schreien können, so dringend wollte ich weg, nur noch allein sein, aber als ich dann allein war, fand ich das noch schlimmer. Das Haus hat ständig geächzt und geknarrt, durch den Wind und Regen, 1279
aber ich schwöre, es hat sich genauso angehört, als wärst du oben dabei, dich bettfertig zu machen. Einmal« – er schluckte mit verkrampften Kiefermuskeln –, »einmal hab ich dich sogar summen gehört. ›Black Velvet Band‹, ausgerechnet. Ich wollte schon – wenn ich aus meinem Fenster schaue, kann ich sehen, ob bei dir Licht brennt, es scheint auf den Rasen, und ich wollte schon nachsehen, nur um mich zu beruhigen, Gott, natürlich nicht beruhigen, du weißt schon, was ich meine –, aber ich konnte nicht. Ich konnte mich nicht dazu durchringen aufzustehen. Ich war absolut sicher, wenn ich den Vorhang aufziehen würde, würde ich dein Licht auf dem Gras sehen. Und was dann? Was hätte ich dann tun können?« Er zitterte. »Justin«, sagte Abby sanft. »Ist ja gut.« Justin presste sich fest die Finger auf den Mund und holte tief Luft. »Na ja«, sagte er. »Jedenfalls, Daniel hätte die Treppe rauf- und runterdonnern können, ich hätte nichts gehört.« 1280
»Ich hab ihn gehört«, sagte Rafe. »Ich glaube, ich hab in der Nacht alles im Umkreis von einer Meile gehört. Noch beim kleinsten Geräusch irgendwo ganz hinten im Garten bin ich vor Schreck zusammengefahren. Das Schöne an krimineller Aktivität ist, dass man dadurch ein Gehör kriegt wie eine Fledermaus.« Er schüttelte seine Zigarettenpackung, warf sie in den Kamin – Justin öffnete automatisch den Mund und schloss ihn dann wieder – und nahm sich die von Abby vom Tisch. »Manches davon war ein interessantes Hörerlebnis.« Abbys Augenbrauen gingen hoch. Sie steckte ihre Nadel behutsam in einen Saum, legte die Puppe hin und bedachte Rafe mit einem langen, kühlen Blick. »Willst du wirklich davon anfangen?«, fragte sie. »Weil, ich kann dich nicht dran hindern, aber an deiner Stelle würde ich mir sehr gründlich überlegen, ob ich diese besondere Büchse der Pandora öffne.«
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Ein langes, elektrisiertes Schweigen folgte. Abby faltete die Hände im Schoß und betrachtete Rafe ruhig. »Ich war betrunken«, sagte Rafe jäh und heftig in die Stille hinein. »Stinkbesoffen.« Nach einer Sekunde sagte Justin mit Blick auf den Couchtisch: »So betrunken warst du nun auch wieder nicht.« »Doch. Ich war hackevoll. Ich glaube, ich war im ganzen Leben noch nicht so betrunken.« »Nein, das stimmt nicht. Wenn du so betrunken gewesen wärst –« »Wir hatten alle fast die ganze Nacht ganz schön getrunken«, fiel Abby ihm mit ruhiger Stimme ins Wort. »Verständlicherweise. Es hat aber nichts geholfen. Ich glaub, keiner von uns hat viel geschlafen. Der nächste Morgen war der reinste Alptraum. Wir waren so durcheinander und fix und fertig und verkatert, dass uns richtig schwindelig war, wir konnten keinen klaren Gedanken fassen, konnten nicht mal klar sehen. Wir 1282
konnten uns nicht einigen, ob wir die Polizei anrufen und dich als vermisst melden sollten oder was. Rafe und Justin wollten das machen –« »– anstatt dich in dieser rattenverseuchten Bruchbude liegen zu lassen, bis irgendein Bauer aus der Gegend zufällig über dich stolpert«, sagte Rafe und schüttelte dabei Abbys Feuerzeug. »Ich weiß, ich weiß, verrückter Gedanke.« »– aber Daniel meinte, das würde einen komischen Eindruck machen, du wärst schließlich alt genug, frühmorgens einen Spaziergang zu machen oder auch mal einen Tag die Uni blauzumachen. Er hat dein Handy angerufen – es lag natürlich in der Küche, direkt vor unserer Nase, aber er meinte, es wäre gut, wenn ein Anruf drauf wäre.« »Er hat darauf bestanden, dass wir frühstücken«, sagte Justin. »Und diesmal hat Justin es sogar bis zum Klo geschafft«, sagte Rafe. »Wir haben uns die ganze Zeit gestritten«, sagte Abby. Sie hatte wieder die Puppe zur Hand ge1283
nommen und angefangen, ihr systematisch, unbewusst das Haar zu flechten, immer wieder. »Ob wir frühstücken sollten, ob wir die Polizei anrufen sollten, ob wir ganz normal zur Uni fahren oder lieber auf dich warten sollten – ich meine, das Nächstliegende wäre gewesen, wenn Daniel oder Justin auf dich gewartet hätten und wir anderen zur Uni gefahren wären, aber das konnten wir nicht. Der Gedanke, uns aufzuteilen … Wir waren drauf und dran, uns gegenseitig an die Gurgel zu gehen – Rafe und ich haben uns angebrüllt, richtig angebrüllt –, aber sobald der Vorschlag kam, wir sollten was getrennt machen, habe ich buchstäblich weiche Knie gekriegt.« »Weißt du, was ich gedacht hab?«, sagte Justin fast flüsternd. »Ich hab am Fenster gestanden, während ihr drei euch gezofft habt, und rausgeschaut und darauf gewartet, dass die Polizei oder sonst wer kommt, und da ist mir klargeworden: Es könnte Tage dauern. Es könnte Wochen dauern. Die Warterei könnte Wochen so weitergehen. Le1284
xie könnte Gott weiß wie lange da liegen … Ich wusste, dass ich nicht mal den einen Tag an der Uni durchstehen würde, völlig ausgeschlossen, geschweige denn Wochen. Und ich hab gedacht, eigentlich sollten wir jetzt aufhören zu streiten und eine Bettdecke holen und uns drunterlegen, alle vier zusammen, und das Gas aufdrehen. Genau das wollte ich machen.« »Wir haben nicht mal Gas«, fauchte Rafe. »Sei nicht so verdammt melodramatisch.« »Ich glaube, das ging uns allen durch den Kopf – was wir machen würden, wenn du nicht schnell gefunden würdest –, aber keiner wollte es ansprechen«, sagte Abby. »Deshalb war es im Grund eine Riesenerleichterung, als die Polizei kam. Justin hat sie als Erster gesehen, durchs Fenster. Er hat gesagt: ›Da kommt wer‹, und wir sind alle erstarrt, mitten in unserer Anbrüllerei. Rafe und ich wollten zum Fenster, aber Daniel hat gesagt: ›Alle hinsetzen. Los.‹ Also haben wir uns alle an den Küchentisch gesetzt, als wären wir gerade mit dem 1285
Frühstück fertig, und haben gewartet, dass es an der Tür klingelt.« »Daniel hat aufgemacht«, sagte Rafe, »klaro. Er war eiskalt. Ich konnte ihn in der Diele hören: Ja, Alexandra Madison wohnt hier, und nein, wir haben sie seit gestern Abend nicht mehr gesehen, und nein, es hat keinen Streit gegeben, und nein, wir machen uns keine Sorgen um sie, wir wissen bloß nicht, ob sie heute zur Uni kommt, und was ist denn los, Officers, und dann dieser besorgte Ton, der sich allmählich in seine Stimme schlich … Er war perfekt. Es war absolut beängstigend.« Abbys Augenbrauen hoben sich. »Wär’s dir lieber gewesen, er hätte herumgestammelt?«, fragte sie. »Was meinst du, was passiert wäre, wenn du an die Tür gegangen wärst?« Rafe zuckte die Achseln. Er hatte angefangen, wieder mit den Karten herumzuspielen. »Irgendwann«, sagte Abby, als klar war, dass er nicht antworten würde, »hab ich mir gedacht, wir sollten vielleicht auch in die Diele gehen, dass es 1286
komisch wirken würde, wenn wir das nicht täten. Mackey und O’Neill waren da – Mackey lehnte an der Wand, und O’Neill machte sich Notizen –, und sie haben mir einen Heidenschiss eingejagt. Keine Uniformen, der Gesichtsausdruck, der absolut nichts verriet, und die Art, wie sie geredet haben – als wäre keine Eile, als könnten sie sich Zeit lassen, so viel sie wollten … Ich hatte die beiden Trottel aus Rathowen erwartet, und mir war sofort klar, dass diese Burschen ein ganz anderes Kaliber waren. Sie waren viel intelligenter und viel, viel gefährlicher. Ich hatte gedacht, das Schlimmste wäre vorbei, dass nichts je so schlimm sein könnte wie die vergangene Nacht. Aber als ich die zwei sah, da hab ich begriffen, dass das erst der Anfang war.« »Sie waren grausam«, sagte Justin plötzlich. »Unglaublich grausam. Sie haben uns ewig hingehalten, bis sie mit der Sprache rausrückten. Wir haben immer wieder gefragt, was denn passiert wäre, und sie haben uns bloß angeschaut mit die1287
sen blasierten, ausdruckslosen Gesichtern und haben einfach keine klare Antwort gegeben.« »›Wie kommen Sie darauf, dass ihr was passiert sein könnte?‹«, warf Rafe ein und machte dabei Franks trägen Dubliner Tonfall bösartig gut nach. »›Hätte jemand Grund, ihr was anzutun? Hatte sie vor jemandem Angst?‹« »Und selbst als sie endlich mit der Sprache rausrückten, haben die Mistkerle nicht gesagt, dass du noch lebst. Mackey hat bloß so was gesagt wie: ›Sie wurde vor ein paar Stunden gefunden, nicht weit von hier. Irgendwann letzte Nacht wurde sie niedergestochen.‹ Er hat es absichtlich so klingen lassen, als wärst du tot.« »Daniel war der Einzige, der einen kühlen Kopf bewahrt hat«, sagte Abby. »Ich war drauf und dran, in Tränen auszubrechen. Ich hatte mich den ganzen Morgen am Riemen gerissen, um keine verweinten Augen zu haben, und es war eine unglaubliche Erleichterung, endlich wissen zu dürfen, was passiert war … Aber Daniel hat so1288
fort gesagt, wie aus der Pistole geschossen: ›Ist sie am Leben?‹« »Und die haben gar nicht reagiert«, sagte Justin. »Einfach kein Wort gesagt, eine halbe Ewigkeit, bloß dagestanden und uns angesehen und gewartet. Ich hab ja gesagt, richtig grausam waren die.« »Und dann endlich«, sagte Rafe, »hat Mackey mit den Schultern gezuckt und gesagt: ›Ganz knapp.‹ Es war, als würde uns allen der Kopf platzen. Ich meine, wir hatten uns auf das … na ja, auf das Schlimmste eingestellt, wir wollten es nur endlich hinter uns bringen, um in Ruhe einen Nervenzusammenbruch kriegen zu können. Aber darauf waren wir nicht gefasst. Wir hätten vor Schreck Gott weiß was von uns geben können – die ganze Sache auf der Stelle auffliegen lassen –, wenn Abby nicht mit einem einwandfreien Timing einen Ohnmachtsanfall hingelegt hätte. Überhaupt, das wollte ich dich schon die ganze Zeit fragen, war der echt? Oder gehörte der zum Plan?« 1289
»So gut wie nichts ist da nach irgendeinem Plan gelaufen«, sagte Abby schneidend, »und ich bin auch nicht in Ohnmacht gefallen. Mir wurde nur kurz schwindelig. Vielleicht erinnerst du dich, ich hatte nicht viel geschlafen.« Rafe lachte höhnisch. »Alle sind hingesprungen, um sie aufzufangen, und dann haben wir sie auf einen Stuhl gesetzt und ihr ein Glas Wasser geholt«, sagte Justin, »und als sie sich wieder besser fühlte, hatten wir uns auch wieder im Griff – »Ach nee, hatten wir das?«, fragte Rafe stirnrunzelnd. »Du hast immer noch dagestanden und den Mund auf- und zugeklappt wie ein Goldfisch. Ich hatte solche Angst, du würdest irgendwas Idiotisches sagen, dass ich einfach wild drauflosgequatscht hab, die Bullen müssen mich für einen totalen Schwachkopf gehalten haben: Wo haben Sie sie gefunden, wo ist sie, wann können wir sie sehen … Ich hab zwar keine Antwort gekriegt, aber ich hab’s wenigstens versucht.«
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»Ich hab mein Bestes getan«, sagte Justin. Seine Stimme wurde lauter, erregter. »Für dich war es leicht, dich wieder einzukriegen: Oh, sie lebt, wie schön. Du warst ja nicht dabei. Du musstest nicht dauernd an dieses furchtbare Cottage denken –« »Wo du, wenn ich das richtig sehe, nicht gerade eine große Hilfe warst. Wieder mal.« »Du bist betrunken«, sagte Abby kalt. »Weißt du was?«, sagte Rafe, wie ein Kind, dem es Spaß macht, Erwachsene zu schockieren. »Ich glaube, du hast recht. Und ich glaube, ich betrinke mich noch ein bisschen mehr. Oder hat jemand was dagegen?« Keiner antwortete. Er reckte sich nach der Flasche und schielte zu mir rüber. »In der Nacht hast du echt was verpasst, Lexie«, sagte er. »Falls du dich wunderst, warum Abby alles, was Daniel sagt, für göttliche Offenbarung hält –« Abby rührte sich nicht. »Ich hab dich einmal gewarnt, Rafe. Jetzt zum zweiten Mal. Eine dritte Chance kriegst du nicht.« 1291
Nach einem Augenblick zuckte Rafe die Achseln und vergrub das Gesicht in seinem Glas. In der Stille bemerkte ich, dass Justin tiefrot angelaufen war, bis zum Haaransatz. »Die Tage danach«, sagte Abby, »waren die reinste Hölle. Sie hatten uns erzählt, dass du auf der Intensivstation bist, im Koma, die Ärzte wären nicht sicher, ob du durchkommst, aber sie wollten uns nicht zu dir lassen. Wir mussten ihnen die Würmer aus der Nase ziehen, nur um zu erfahren, wie es dir ging. Aber sie haben immer nur gesagt, dass du noch nicht tot bist, was auch nicht unbedingt tröstlich war.« »Im Haus und in der ganzen Umgebung wimmelte es von Polizei«, sagte Rafe. »Sie haben dein Zimmer auf den Kopf gestellt, die Wege abgesucht, sogar Teile vom Teppichboden rausgenommen … Sie haben uns so oft vernommen, dass ich anfing, mich zu wiederholen, ich konnte mich nicht erinnern, was ich schon zu wem gesagt hatte. Und selbst wenn sie mal nicht da waren, waren 1292
wir ständig auf der Hut. Daniel meinte, sie könnten das Haus nicht verwanzen, das wäre nicht legal, aber Mackey scheint mir nicht zu der Sorte zu gehören, die sich großartig um Formalitäten schert. Und überhaupt, Bullen im Haus zu haben ist wie Ratten oder Flöhe haben oder so. Auch wenn du sie nicht siehst, kannst du fühlen, dass sie irgendwo sind, irgendwo herumkrabbeln.« »Es war furchtbar«, sagte Abby. »Und Rafe kann von mir aus so viel über das Pokern lästern, wie er will, aber ich bin verdammt froh, dass Daniel uns dazu gebracht hat. Wenn ich vorher überhaupt je daran gedacht hätte, hätte ich vermutet, ein Alibi zu geben, dauert höchstens fünf Minuten: Ich war hier, alle anderen sagen das Gleiche, Ende, aus. Aber die haben uns stundenlang ausgequetscht, immer wieder, wollten jede noch so winzige Einzelheit wissen – um wie viel Uhr haben Sie mit dem Kartenspielen angefangen? Wer hat wo gesessen? Mit wie viel Geld hat jeder von Ihnen angefangen? Wer hat als 1293
Erster die Karten ausgegeben? Haben Sie Alkohol getrunken? Wer hat was getrunken? Welchen Aschenbecher haben Sie benutzt?« »Und dauernd haben sie versucht, uns Fallen zu stellen«, sagte Justin. Er griff nach der Flasche. Seine Hand zitterte, ganz leicht. »Wenn ich eine ganz einfache Antwort gegeben hab – wir haben gegen Viertel nach elf angefangen, so was zum Beispiel –, hat Mackey oder O’Neill oder wer immer gerade an dem Tag dran war, so ein irritiertes Gesicht gemacht und gesagt, ›Sind Sie sicher? Ich glaube nämlich, einer von ihren Freunden hat gesagt, es sei um Viertel nach zehn gewesen‹, und hat angefangen, Notizen durchzublättern, und ich bin zur Salzsäule erstarrt. Ich meine, ich wusste ja nicht, ob einer von den anderen sich einfach nur vertan hatte – wäre schließlich kein Wunder gewesen, so fertig, wie wir alle waren, wir konnten ja kaum einen klaren Gedanken fassen – und ob ich das bestätigen sollte, von wegen, ›Ach ja, stimmt, mein Fehler‹, oder so. Aber ich bin immer 1294
schön bei meiner Version geblieben, was auch genau das Richtige war, wie sich herausstellte – es hatte sich nämlich keiner von euch vertan, die haben bloß geblufft –, aber das war pures Glück: Ich war vor Angst wie gelähmt, ich hätte gar nichts anderes sagen können. Wenn es noch sehr viel länger gegangen wäre, hätten wir alle den Verstand verloren, glaub ich.« »Und wofür das alles?«, fragte Rafe. Er setzte sich so abrupt auf, dass ihm fast die Karten vom Schoß gerutscht wären, und fischte seine Zigarette aus dem Aschenbecher. »Mich wundert ja nach wie vor, dass wir Daniel einfach so geglaubt haben. Er hat von Medizin so viel Ahnung wie von Raumfahrttechnik, aber als er uns erzählt hat, Lexie wäre tot, haben wir einfach angenommen, es stimmt. Wieso glauben wir ihm eigentlich immer?« »Aus Gewohnheit«, sagte Abby. »Er hat normalerweise recht.«
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»Findest du?«, fragte Rafe. Er saß wieder entspannt mit dem Rücken gegen die Sofaarmlehne, aber in seiner Stimme schwang ein gewisser Ton mit, der sich gefährlich hochschraubte. »Diesmal lag er jedenfalls gehörig daneben. Wir hätten einfach einen Krankenwagen rufen können, wie ganz normale Menschen, und alles wäre prima gewesen. Lexie hätte niemals Anzeige erstattet oder so, und wenn einer von uns auch nur mal eine Sekunde drüber nachgedacht hätte, wären wir von allein draufgekommen. Aber nein, wir überlassen alle Entscheidungen dem guten Daniel, machen den Quatsch mit diesem Irrenhauspoker mit –« »Er wusste doch nicht, dass alles gut ausgehen würde«, sagte Abby scharf. »Was hätte er denn machen sollen? Er hat gedacht, Lexie wäre tot, Rafe.« Rafe zog eine Schulter hoch. »Behauptet er.« »Was soll denn das heißen?« »Ich mein ja nur. Wisst ihr noch, als der Wichser aufgetaucht ist und uns erzählt hat, dass sie aus 1296
dem Koma aufgewacht ist? Wir alle drei«, sagte er an mich gerichtet, »wir wären fast zusammengebrochen, so erleichtert waren wir. Ich dachte schon, Justin würde richtig in Ohnmacht fallen.« »Vielen Dank, Rafe«, sagte Justin und langte nach der Flasche. »Aber hat Daniel auch erleichtert gewirkt? Keinen Meter. Er hat dreingeschaut, als hätte ihm jemand einen Baseballschläger in den Bauch gerammt. Ist sogar dem Cop aufgefallen, Menschenskind. Erinnerst du dich?« Mit einem kühlen Achselzucken beugte Abby den Kopf über die Puppe und tastete nach ihrer Nadel. »He«, sagte ich und trat gegen das Sofa, um Rafes Aufmerksamkeit zu erregen. »Ich erinner mich nicht. Was ist passiert?« »Es war Mackey, dieser Arsch«, sagte Rafe. Er nahm Justin die Wodkaflasche aus der Hand und füllte sein Glas auf, ohne Tonic. »Früh am Montagmorgen steht er putzmunter bei uns vor der Tür und sagt, er hat Neuigkeiten für uns und ob er 1297
reinkommen kann. Ich persönlich hätte ihm gesagt, er soll sich verpissen, ich hatte an dem Wochenende so viel Bullen gesehen, mein Bedarf war für alle Zeit gedeckt, aber Daniel war an die Tür gegangen, und er hatte diese hirnrissige Theorie, wir sollten nichts tun, was die Bullen gegen uns einnehmen könnte – dabei war Mackey schon gegen uns, der konnte uns von Anfang nicht leiden, also was hatte das ganze Getue für einen Sinn? –, und deshalb hat er ihn reingelassen. Ich bin aus meinem Zimmer gekommen, um zu sehen, was Sache ist, und Justin und Abby sind aus der Küche gekommen, und Mackey stand da in der Diele und blickte uns nacheinander an und sagte: ›Ihre Freundin wird durchkommen. Sie ist aufgewacht und hat was zum Frühstück verlangt.‹« »Und wir waren alle völlig aus dem Häuschen«, sagte Abby. Sie hatte die Nadel gefunden und attackierte das Puppenkleid mit kurzen, wütenden Stichen.
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»Nun ja«, sagte Rafe, »jedenfalls ein paar von uns. Justin hat sich an der Türklinke festgehalten und gegrinst wie ein Honigkuchenpferd, und Abby hat losgelacht, ist auf ihn zugesprungen und hat ihn umarmt, und ich glaube, ich hab so einen verrückten Jauchzer ausgestoßen. Aber Daniel … der stand einfach da. Er sah aus –« »Er sah jung aus«, sagte Justin plötzlich. »Er sah richtig jung aus und total verstört.« »Du«, sagte Abby barsch zu ihm, »warst doch gar nicht in der Verfassung, irgendwas mitzukriegen.« »Doch. Ich hab ihn genau angesehen. Er war kalkweiß, er sah richtig krank aus.« »Dann hat er sich umgedreht und ist hier reingegangen«, sagte Rafe, »hat sich gegen den Fensterrahmen gelehnt und in den Garten geschaut. Ohne ein Wort. Mackey hat uns stirnrunzelnd angeschaut und gefragt, ›Was ist denn mit Ihrem Freund los? Freut er sich nicht?‹«
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Frank hatte das mit keinem Wort erwähnt. Ich hätte sauer sein sollen – er hatte es gerade nötig, mir vorzuwerfen, dass ich unfair spielte –, aber er kam mir vor wie ein halbvergessener Mensch aus einer anderen Welt, eine Million Meilen weit weg. »Abby hat sich von Justin gelöst und irgendwas in der Art gesagt, Daniel wäre völlig überwältigt – « »War er auch«, sagte Abby und biss hörbar einen Faden ab. »– aber Mackey hat bloß sein zynisches kleines Grinsen aufgesetzt und ist gegangen. Sobald ich sicher war, dass er auch wirklich weg war – der gehört zu der Sorte, die sich im Gebüsch versteckt und lauscht –, bin ich zu Daniel und hab ihn gefragt, was denn verdammt nochmal sein Problem wäre. Er stand noch immer am Fenster, er hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Er strich sich die Haare aus dem Gesicht – er schwitzte –, und er sagte: ›Es gibt kein Problem. Er lügt natürlich. Dass hätte ich mir gleich denken können, aber er 1300
hat mich überrumpelt.‹ Ich hab ihn bloß angestarrt. Ich hab gedacht, jetzt ist er komplett durchgeknallt.« »Oder du bist durchgeknallt«, sagte Abby schneidend. »Ich kann mich an nichts davon erinnern.« »Du und Justin, ihr seid ja auch die ganze Zeit rumgehüpft und habt euch umarmt und gequietscht wie zwei Teletubbies. Daniel hat mich entnervt angeguckt und gesagt: ›Sei nicht naiv, Rafe. Wenn Mackey die Wahrheit sagen würde, glaubst du im Ernst, die Nachricht wäre dann durchweg gut? Ist dir nicht mal der Gedanke gekommen, was für gravierende Folgen das hätte haben müssen?‹« Er trank einen kräftigen Schluck von seinem Wodka. »Jetzt sag mal ehrlich, Abby. Klingt das für dich nach überschwänglicher Freude?« »Verdammt, Rafe«, sagte Abby. Sie setzte sich auf, und ihre Augen sprühten Funken: Sie wurde
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wütend. »Was faselst du denn da? Spinnst du jetzt total? Keiner wollte, dass Lexie stirbt.« »Du nicht, ich nicht, Justin nicht. Vielleicht auch Daniel nicht. Ich sage nur, dass ich nicht wissen kann, was er gespürt hat, als er nach Lexies Puls getastet hat. Ich war nicht dabei. Und ich kann nicht darauf schwören, dass ich weiß, was er getan hätte, wenn er gemerkt hätte, dass sie noch lebt. Kannst du das, Abby? Nach diesen letzten paar Wochen, kannst du schwören, Hand aufs Herz, dass du dir absolut sicher bist, was Daniel getan hätte?« Etwas Kaltes glitt mir über den Nacken, kräuselte die Vorhänge, kroch in die Ecken. Cooper und die Kriminaltechnik hatten uns lediglich sagen können, dass sie nach Eintritt des Todes noch transportiert worden war, nicht, wie lange danach. Mindestens zwanzig Minuten lang waren die beiden im Cottage allein gewesen, Lexie und Daniel. Ich dachte an ihre fest geballten Fäuste – extremer emotionaler Stress, hatte Cooper gesagt – und 1302
dann an Daniel, wie er still neben ihr saß, rauchte, vorsichtig die Asche in seine Zigarettenpackung schnippte, während Regentropfen auf sein Haar fielen. Wenn da noch etwas gewesen wäre – eine zuckende Hand, ein Stöhnen, große braune Augen, die zu ihm aufsahen, ein Flüstern, fast unhörbar schwach –, kein Mensch würde es je erfahren. Nachtwind, der über den Hang strich, Eulenrufe in der Ferne. Cooper hatte noch etwas gesagt: Ärzte hätten sie retten können. Daniel hätte Justin zwingen können, im Cottage zu bleiben, wenn er das wirklich gewollt hätte. Eigentlich wäre es logischer gewesen. Derjenige, der blieb, hatte nichts zu tun, falls Lexie tot war, außer sich still zu verhalten und nichts anzufassen. Derjenige, der zurück zum Haus ging, musste den anderen die schreckliche Nachricht mitteilen, das Portemonnaie und die Schlüssel und die Taschenlampe zusammensuchen, Ruhe bewahren und doch schnell handeln. Daniel hatte Justin ge-
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schickt, der sich kaum auf den Beinen halten konnte. »Bis ganz zum Schluss, bis zu dem Abend, bevor du nach Hause gekommen bist«, sagte Rafe zu mir, »war er felsenfest davon überzeugt, du wärst tot. Er meinte, die Bullen würden nur bluffen, nur behaupten, du wärst nicht tot, damit wir denken, du würdest mit ihnen reden. Er hat gesagt, wir müssten nur einen kühlen Kopf bewahren, dann würden sie früher oder später einen Rückzieher machen, uns irgendeine Story auftischen, du hättest einen Rückfall gehabt und wärst im Krankenhaus gestorben. Erst als Mackey angerufen und gefragt hat, ob wir am nächsten Tag da wären, er würde dich gern nach Hause bringen – da hat Daniel es geschnallt, ach nee, da ist ja vielleicht doch keine Riesenverschwörung im Gange, die Sache könnte ja doch so einfach sein, wie es den Anschein hatte. Die große Erleuchtung.« Er nahm wieder einen kräftigen Schluck. »Freude, dass ich nicht lache. Ich sag euch, was er 1304
empfunden hat: lähmende Angst. Sein einziger Gedanke war, ob Lexie wirklich das Gedächtnis verloren hatte oder ob sie das nur der Polizei erzählt hatte und wie sie reagieren würde, sobald sie zu Hause war.« »Na und?«, fragte Abby. »Was ist schon dabei? Wir waren alle nervös deshalb, wenn wir ehrlich sind. Ist doch auch klar. Wenn sie sich hätte erinnern können, hätte sie weiß Gott allen Grund gehabt, stinkwütend auf uns vier zu sein. An dem Abend, als du nach Hause kamst, Lex, saßen wir alle wie auf heißen Kohlen. Erst als klar war, dass du nicht wütend auf uns warst oder so etwas, haben wir uns entspannt – aber als du aus dem Polizeiwagen gestiegen bist … Mann. Ich dachte, mir platzt jeden Moment der Kopf.« Eine letzte Sekunde lang hatte ich sie wieder so vor Augen, wie ich sie an dem Abend gesehen hatte: eine goldene Erscheinung auf der Treppe vor dem Haus, glänzend und gesammelt, wie jun-
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ge Krieger aus einer vergessenen Sage, zu strahlend, um real zu sein. »Nervös«, sagte Rafe, »ja. Aber Daniel war wesentlich mehr als nur nervös. Er war hysterisch nervös, und er hat mich damit angesteckt. Schließlich hab ich ihn zur Rede gestellt – ich musste mich spät in der Nacht zu ihm hochschleichen, als hätten wir eine Affäre oder so, weil er höllisch aufgepasst hat, dass ich ihn nicht allein erwische. Jedenfalls, ich hab ihn gefragt, was zum Teufel denn eigentlich los sei. Und wisst ihr, was er gesagt hat? Er hat gesagt: ›Wir müssen uns damit abfinden, dass die Sache vielleicht noch längst nicht ausgestanden ist. Ich denke, ich habe einen Plan, der alle Eventualitäten abdecken müsste, aber ein paar Details sind noch unklar. Versuch, dir fürs Erste keine Sorgen zu machen; könnte gut sein, dass es gar nicht so weit kommt.‹ Was glaubt ihr, hat er damit gemeint?«
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»Da ich keine Gedanken lesen kann«, sagte Abby knapp, »hab ich keinen Schimmer. Ich schätze, er wollte dich beruhigen.« Ein dunkler Feldweg und ein winziges Klicken und der Ton in Daniels Stimme: konzentriert, versunken, völlig ruhig. Ich spürte, wie sich mir die Nackenhaare sträubten. Es war mir niemals eingefallen, nicht ein einziges Mal, dass der Revolver möglicherweise nicht auf Naylor gezielt hatte. Rafe schnaubte. »Ach, hör doch auf. Daniel hat sich einen Scheiß drum geschert, wie einer von uns sich gefühlt hat – einschließlich Lexie. Ihn hat doch nur interessiert, ob sie sich an irgendwas erinnern konnte und was sie als Nächstes tun würde. Und dabei ist er nicht mal dezent vorgegangen, er hat sie unverfroren ausgequetscht, bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Weißt du noch, welche Strecke du an dem Abend gegangen bist, nimmst du die Jacke oder lieber nicht, ach Lexie, willst du drüber reden … Ich fand’s zum Kotzen.« »Er wollte dich schützen, Rafe. Uns.« 1307
»Ich brauch keinen Beschützer, vielen Dank. Ich bin kein Kind mehr. Und ich brauch weiß Gott keinen Beschützer namens Daniel.« »Na, schön für dich«, sagte Abby. »Gratuliere, großer Mann. Egal ob du meinst, einen Beschützer zu brauchen oder nicht, er hat jedenfalls nur sein Bestes getan. Wenn dir das nicht reicht –« Rafe zuckte mit einer Schulter. »Mag sein, dass er das getan hat. Wie gesagt, ich weiß es nicht. Aber falls ja, dann ist sein Bestes ziemlich bescheiden für so einen cleveren Typen. Diese letzten paar Wochen waren die Hölle, Abby, die reinste Hölle, und das hätte nicht so sein müssen. Wenn Daniel nur auf uns gehört hätte, stattsein Bestes zu tun … Wir wollten dir alles erzählen«, sagte er und drehte sich zu mir um. »Wir alle drei. Als wir gehört haben, dass du nach Hause kommst.« »Ja, Lexie, das stimmt«, sagte Justin und beugte sich über die Armlehne seines Sessels zu mir. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie oft ich fast … 1308
mein Gott. Ich hab gedacht, ich explodiere oder löse mich auf oder so, wenn ich es dir nicht erzähle.« »Aber Daniel«, sagte Rafe, »war dagegen. Und du siehst ja, was das gebracht hat, was jede seiner Ideen gebracht hat. Was er uns für einen Schlamassel eingebrockt hat.« Seine Hand flog hoch, und die Bewegung umfasste uns, den ganzen Raum, hell und verzweifelt und in Auflösung begriffen. »Es hätte nie so weit kommen müssen. Wir hätten einen Krankenwagen rufen können, wir hätten dir gleich am Anfang reinen Wein einschenken können –« »Nein«, sagte Abby. »Nein. Du hättest einen Krankenwagen rufen können. Du hättest Lexie reinen Wein einschenken können. Oder ich oder Justin. Untersteh dich, Daniel an allem die Schuld zu geben. Du bist ein erwachsener Mann, Rafe. Niemand hat dir eine Knarre an den Kopf gedrückt und dich gezwungen, den Mund zu halten. Das hast du ganz allein gemacht.« 1309
»Kann sein. Aber ich hab nichts unternommen, weil Daniel es so wollte, genau wie du. Du und ich, wie lange waren wir in der Nacht hier allein? Eine Stunde? Mehr? Und die ganze Zeit hast du davon geredet, dass du unbedingt Hilfe holen wolltest. Aber als ich dann gesagt hab, ja, okay, machen wir’s, hast du gesagt, nein. Daniel hat gesagt, wir sollen abwarten. Daniel hat einen Plan. Daniel regelt das schon.« »Weil ich Vertrauen zu ihm habe. Das bin ich ihm schuldig, wenigstens das, und ihr auch. Das hier – alles, was wir haben – verdanken wir Daniel. Wenn er nicht wäre, säße ich jetzt allein in meinem gruseligen Kellerzimmer. Vielleicht ist dir das alles hier nicht so wichtig –« Rafe lachte, ein lauter, harter, erschreckender Klang. »Dieses verfluchte Haus«, sagte er. »Bei der leisesten Andeutung, dein toller Daniel könnte vielleicht nicht unfehlbar sein, kommst du uns jedes Mal mit dem Haus. Ich hab den Mund gehalten, weil ich dachte, vielleicht hast du ja recht, 1310
vielleicht bin ich ihm was schuldig, aber jetzt … Ich hab einfach die Schnauze voll von diesem Haus. Noch so eine von Daniels genialen Ideen, und was hat sie uns gebracht? Justin ist ein nervliches Wrack, du bist die größte Verdrängungskünstlerin aller Zeiten, ich saufe wie mein Vater, Lexie wäre fast gestorben, und die meiste Zeit streiten wir uns wie die Kesselflicker. Alles nur wegen dieses gottverdammten Hauses.« Abbys Kopf fuhr hoch, und sie starrte ihn an. »Das ist nicht Daniels Schuld. Er wollte bloß –« »Er wollte was, Abby? Was? Was glaubst du wohl, warum er uns alle an dem Haus beteiligt hat?« »Weil«, sagte Abby, leise und gefährlich, »er uns mag. Weil er gedacht hat, egal, ob er damit richtiggelegen hat oder nicht, das wäre die beste Voraussetzung für uns alle fünf, glücklich zu sein.« Ich rechnete damit, dass Rafe auch darüber lachen würde, aber er tat es nicht. »Weißt du«, sagte 1311
er nach einem Augenblick, den Blick starr in sein Glas gerichtet, »das hab ich am Anfang auch gedacht. Ehrlich. Dass er das gemacht hat, weil er uns mag.« Der grimmige Unterton war aus seiner Stimme gewichen; übriggeblieben war eine schlichte, müde Melancholie. »Es hat mich glücklich gemacht, das zu denken. Es gab mal eine Zeit, da hätte ich alles für Daniel getan. Alles.« »Und dann ist dir ein Licht aufgegangen«, sagte Abby. Ihr Stimme war hart und spröde, aber sie konnte das Zittern darin nicht unterdrücken. Sie war aufgewühlter, als ich sie je erlebt hatte, noch aufgewühlter als in dem Augenblick, als ich von dem Zettel in der Jackentasche angefangen hatte. »Jemand, der seinen Freunden ein Haus überschreibt, das eine siebenstellige Summe wert ist, kann das natürlich nur aus rein eigennützigen Gründen tun. Wie paranoid ist das denn?« »Ich hab darüber nachgedacht. Ich hab viel darüber nachgedacht in den letzten Wochen. Ich wollte nicht – wirklich nicht … aber ich konnte 1312
nicht anders. Wie wenn man was zwischen den Zähnen hat und dauernd mit der Zunge drangeht.« Rafe blickte zu Abby auf, schüttelte sich das Haar aus dem Gesicht. Der Alkohol tat seine Wirkung, und seine Augen waren gerötet und verquollen, als hätte er geweint. »Mal angenommen, wir wären alle an verschiedenen Unis gelandet, Abby. Mal angenommen, wir hätten uns nie kennengelernt. Was glaubst du, würden wir jetzt machen?« »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, worauf du hinauswillst.« »Wir würden klarkommen, wir vier. Vielleicht wären die ersten paar Monate schwierig geworden, vielleicht hätten wir eine Weile gebraucht, um Leute kennenzulernen, aber wir hätten welche kennengelernt. Ich weiß, wir sind alle nicht von der kontaktfreudigen Sorte, aber wir hätten es gepackt. Weil das eben so läuft an der Uni, man lernt, wie man sich in der großen, beängstigenden Welt bewegt. Wir hätten inzwischen Freunde, ein Sozialleben –« 1313
»Ich nicht«, sagte Justin leise und endgültig. »Ich würde nicht klarkommen. Nicht ohne euch.« »Doch, würdest du, Justin. Wirklich. Du hättest einen Freund – du auch, Abby. Nicht bloß hin und wieder jemanden fürs Bett oder zum Anlehnen. Einen richtigen Freund. Einen Partner.« Er lächelte mich traurig an. »Bei dir bin ich mir nicht so sicher, du kleine Zicke. Aber du kämst bestimmt auf deine Kosten, so oder so.« »Danke, dass du dich um unser Liebesleben sorgst«, sagte Abby kalt, »du arrogantes Arschloch. Nur weil Justin keinen Partner hat, ist Daniel noch längst nicht der Antichrist.« Rafe sprang nicht darauf an, und aus irgendeinem Grund machte mir das Angst. »Nein«, sagte er. »Aber überleg doch mal kurz. Wenn wir uns nie begegnet wären, was glaubst du, würde Daniel jetzt machen?« Abby starrte ihn ausdruckslos an. »Das Matterhorn besteigen. In die Politik gehen. Hier leben. Was weiß denn ich?« 1314
»Kannst du dir vorstellen, dass er zur Erstsemesterparty geht? Sich irgendeiner Studentengruppe anschließt? Im Seminar über amerikanische Lyrik eine Kommilitonin anquatscht? Im Ernst, Abby. Verrat’s mir. Kannst du dir das vorstellen?« »Ich weiß es nicht. Wenn, wenn, wenn, Rafe. Wir haben uns nun mal kennengelernt. Ich hab keine Ahnung, was passiert wäre, wenn alles anders gelaufen wäre, weil ich nicht hellsehen kann, und du auch nicht.« »Vielleicht nicht«, sagte Rafe, »aber eins weiß ich sicher: Daniel hätte nie im Leben gelernt, mit der Außenwelt klarzukommen. Ich weiß nicht, ob er von Geburt an so war oder ob er als Baby fallen gelassen wurde und auf dem Kopf gelandet ist oder was, aber er ist einfach nicht imstande, ein normales soziales Leben zu führen.« »Mit Daniel ist alles in Ordnung«, sagte Abby kalt, feine Silben wie Eissplitter. »Alles.«
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»Nein, Abby. Ich mag ihn – ja, ehrlich, ich mag ihn noch immer –, aber es war nie alles in Ordnung mit ihm. Nie. Das musst du doch wissen.« »Er hat recht«, sagte Justin sanft. »Nie. Ich hab dir das nie erzählt, aber damals, als wir uns kennenlernten, im ersten Semester –« »Halt die Klappe«, fauchte Abby und drehte sich jäh zu ihm um. »Sei bloß still. Glaubst du, du bist anders? Wenn Daniel verkorkst ist, dann du doch genauso, und du, Rafe –« »Nein«, sagte Rafe. Er blickte auf seinen Finger, der Muster in den Kondensbeschlag an seinem Glas malte. »Genau das will ich dir doch gerade klarmachen. Wir vier hier – wenn wir wollen, können wir uns mit anderen Leuten unterhalten. Ich hab neulich Abend eine Frau abgeschleppt. In deinen Tutorenkursen lieben dich alle. Justin flirtet mit dem blonden Typen, der in der Bibliothek arbeitet – doch, Justin, tust du, ich hab’s gesehen, Lexie hat sich mit den Leuten in diesem furchtbaren Café bestens amüsiert. Wir finden Kontakt zur 1316
Welt da draußen, wenn wir uns Mühe geben. Aber Daniel … Es gibt nur vier Leute auf diesem Planeten, die ihn nicht für einen ausgemachten Freak halten, und alle vier befinden sich in diesem Raum. Wir wären klargekommen ohne ihn, irgendwie, aber er wäre nicht ohne uns klargekommen. Ohne uns wäre Daniel einsamer als Gott.« »Und?«, fragte Abby nach einer lange Sekunde. »Was willst du damit sagen?« »Dass das der Grund ist«, erwiderte Rafe, »warum er uns an dem Haus beteiligt hat. Nicht um uns ein sonniges Leben zu bescheren. Um Gesellschaft zu haben, hier in seinem privaten Universum. Um uns zu behalten, für immer.« »Du«, sagte Abby. Sie rang um Atem. »Du bist so ein mieser kleingeistiger Mistkerl. Woher nimmst du bloß die Dreistigkeit –« »Es ging ihm nie darum, uns zu beschützen, Abby. Niemals. Es ging ihm immer nur um seine eigene kleine Welt. Sag mir eins: Warum bist du heute Morgen in Daniels Wagen mit zur Polizei 1317
gefahren? Warum wolltest du ihn nicht allein mit Lexie fahren lassen?« »Ich wollte nicht mit dir zusammen fahren. So wie du dich in letzter Zeit aufführst, find ich dich nur noch zum Kotzen –« »Unsinn. Was glaubst du, was hätte er mit Lexie gemacht, wenn sie auch nur leise angedeutet hätte, sie könnte nach wie vor verkaufen oder mit den Bullen reden? Du sagst zwar andauernd, ich hätte ihr jederzeit alles erzählen können, aber was hätte Daniel wohl mit mir gemacht, wenn er gedacht hätte, ich würde aus der Reihe tanzen? Er hatte einen Plan, Abby. Er hat gesagt, er hätte einen Plan, um alle Eventualitäten abzudecken.Was glaubst du wohl, was das für ein Plan war?« Justin schnappte nach Luft, ein erschrockener, kindlicher Laut. Das Licht im Raum hatte sich verändert, die Luft hatte sich verlagert, der Druck verschoben, und all die kleinen Strudel sammelten sich und wirbelten um einen gewaltigen zentralen Punkt. 1318
Daniel füllte den Türrahmen aus, groß und reglos, die Hände in den Taschen seines langen dunklen Mantels. »Alles, was ich je wollte«, sagte er leise, »war hier in diesem Haus.«
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24 »Daniel«, sagte Abby, und ich sah, dass sich ihr ganzer Körper vor Erleichterung entspannte. »Gott sei Dank.« Rafe lehnte sich langsam auf dem Sofa zurück. »Super Auftritt«, sagte er kühl. »Wie lange lauschst du schon an der Tür?« Daniel rührte sich nicht. »Was habt ihr ihr erzählt?« »Sie hat sich sowieso erinnert«, sagte Justin. Seine Stimme bebte. »Hast du das nicht gehört? Bei der Polizei? Sie wollte die Cops anrufen, wenn wir ihr nicht den Rest erzählen und –« »Aha«, sagte Daniel. Seine Augen glitten zu mir, ein kurzes, ausdrucksloses Flackern, und dann wieder weg. »Hätte ich mir denken können. Und wie viel habt ihr erzählt?« »Sie war außer sich, Daniel«, sagte Abby. »Ihr sind wieder ein paar Bruchstücke eingefallen, und das hat ihr zu schaffen gemacht, sie musste es ein1320
fach erfahren. Wir haben ihr erzählt, was passiert ist. Nicht, wer … du weißt schon. Nicht, wer es war. Aber den ganzen Rest.« »Die Unterhaltung war ungemein lehrreich«, sagte Rafe. »In jeder Beziehung.« Daniel reagierte nur mit einem knappen Nicken. »Also schön«, sagte er. »Wir machen Folgendes. Die Emotionen schlagen bei uns allen ganz schön hoch« – Rafe verdrehte die Augen und machte ein angewidertes Geräusch; Daniel ging nicht auf ihn ein –, »und ich glaube, es wäre fruchtlos, diese Diskussion im Augenblick fortzusetzen. Lassen wir das Ganze ein paar Tage sacken, bis die Wogen sich geglättet haben, und dann reden wir noch einmal drüber.« Sobald ich und mein Mikro aus dem Haus waren. Ehe ich etwas sagen konnte, fragte Rafe: »Warum?« Da war etwas in der Art, wie er den Kopf rollte und langsam die Augenlider hob, als er sich umdrehte, um Daniel anzustarren: Mir wurde
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schlagartig klar, mit einem vagen, formlosen Gefahrengefühl, wie betrunken er tatsächlich war. Ich sah, dass Daniel es ebenfalls bemerkte. »Wenn du das Ganze lieber nicht wieder aufwärmen willst«, sagte er unterkühlt, »glaub mir, ich hab nichts dagegen. Ich wäre froh, wenn ich nie wieder darüber nachdenken müsste.« »Nein. Warum sacken lassen?« »Hab ich doch gesagt. Weil ich glaube, dass keiner von uns in der Verfassung ist, rational darüber zu reden. Es war ein ermüdend langer Tag –« »Und wenn es mir scheißegal ist, was du glaubst?« »Ich bitte euch«, sagte Daniel, »mir zu vertrauen. Ich bitte euch nicht oft um was. Bitte tut mir diesen Gefallen.« »Ich finde«, sagte Rafe, »du hast uns in letzter Zeit reichlich viel Vertrauen abverlangt.« Er stellte sein Glas mit einem durchdringenden Klacken auf den Tisch.
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»Kann sein«, sagte Daniel. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er abgespannt aus, völlig ausgelaugt, und ich fragte mich, wie Frank es geschafft hatte, ihn so lange festzuhalten, worüber sie gesprochen hatten, zu zweit allein in einem Raum. »Aber dann kommt’s auf ein paar Tage mehr doch auch nicht mehr an, oder?« »Da du lange genug hinter der Tür gelauscht hast wie eine tratschige Hausfrau, müsstest du jetzt eigentlich wissen, wie es um mein Vertrauen zu dir bestellt ist. Was, befürchtest du, wird passieren, wenn wir weiter drüber reden? Hast du Angst, dass Lexie nicht die Einzige sein wird, die gehen will? Was machst du dann, Daniel? Wie viele von uns bist du bereit, sterben zu lassen?« »Daniel hat recht«, sagte Abby forsch. Daniels Rückkehr hatte sie beruhigt: Ihre Stimme klang wieder energisch, sicher. »Wir können alle nicht klar denken und reden nur wirres Zeug. In ein paar Tagen –«
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»Im Gegenteil«, sagte Rafe. »Ich glaube, ich rede zum ersten Mal seit Jahren Klartext.« »Lass gut sein«, sagte Justin, fast im Flüsterton. »Bitte, Rafe. Lass gut sein.« Rafe hörte ihn nicht mal. »Auch wenn du jedes Wort aus seinem Mund für das Evangelium hältst, Abby. Auch wenn du angelaufen kommst, sobald er nur mit den Fingern schnippt. Glaubst du, es interessiert ihn, dass du ihn liebst? Das ist ihm total egal. Er würde dich entsorgen, ohne mit der Wimper zu zucken, wenn er müsste. Genau wie er bereit war –« Endlich verlor Abby die Beherrschung. »Leck mich, du selbstgefälliger, verdammter –« Sie schoss aus ihrem Sessel hoch und schleuderte die Puppe auf Rafe, mit einer schnellen, heftigen Bewegung. Rafe riss reflexartig einen Unterarm hoch und schlug sie weg, in eine Ecke. »Ich hab dich gewarnt. Was ist denn mit dir? Du benutzt Justin, wenn du ihn brauchst – meinst du, ich hab nicht gehört, dass er in der Nacht nach unten gegangen 1324
ist? Dein Zimmer ist unter meinem, du Genie. Und dann, wenn du ihn nicht mehr brauchst, behandelst du ihn wie den letzten Dreck, brichst ihm immer wieder das Herz –« »Hört auf!«, schrie Justin. Er hatte die Augen fest zusammengepresst und hielt sich die Ohren zu, das Gesicht qualvoll verzerrt. »Bitte, hört auf, hört auf –« Daniel sagte: »Das reicht jetzt.« Seine Stimme wurde lauter. »Nein, tut es nicht!«, brüllte ich über alle hinweg. Ich war die ganze Zeit still gewesen, hatte ihnen freien Lauf gelassen und auf den passenden Augenblick gewartet, und jetzt verstummten alle jäh, fuhren herum und starrten mich an, blinzelten, als hätten sie fast vergessen, dass ich da war. »Es reicht nicht. Ich will es nicht gut sein lassen.« »Warum nicht?«, fragte Daniel. Er hatte seine Stimme wieder im Griff. Diese vollkommene, unerschütterliche Gelassenheit hatte sich sofort über sein Gesicht gesenkt, als ich den Mund öffne1325
te. »Gerade von dir hätte ich gedacht, dass du am liebsten so schnell wie möglich wieder zur Normalität zurückkehren willst, Lexie. Schließlich beschäftigst du dich sonst auch nicht gerade zwanghaft mit der Vergangenheit.« »Ich will wissen, wer mich niedergestochen hat. Ich muss es wissen.« Seine kühlen neugierigen grauen Augen musterten mich mit gleichgültigem Interesse. »Warum?«, wiederholte er. »Es ist doch schließlich vorbei. Wir sind alle noch hier. Es ist kein dauerhafter Schaden entstanden. Oder?« Dein Arsenal, hatte Frank gesagt. Die tödliche Granate, die Lexie mir als letztes Mittel gelassen hatte, weitergereicht aus ihrer Hand über Coopers in meine, der schillernde Blitz im Dunkeln, hell und dann wieder verschwunden; das winzige Zucken, dass das alles hier ausgelöst hatte. Meine Kehle schnürte sich zu, bis mir sogar das Atmen weh tat, und ich schrie mitten hindurch: »Ich war schwanger!« 1326
Sie starrten mich alle an. Es war schlagartig so still, und ihre Gesichter waren so ungeheuer reglos und leer, dass ich dachte, sie hätten mich nicht verstanden. »Ich hab ein Baby erwartet«, sagte ich. Mir wurde schwindelig, vielleicht schwankte ich auf den Beinen, ich weiß es nicht. Ich konnte mich nicht erinnern, aufgestanden zu sein. Die Sonne, die durchs Zimmer strömte, verwandelte die Luft in ein seltsames, heiliges, unwahrscheinliches Gold. »Es ist gestorben.« Stille, noch immer. »Das ist nicht wahr«, sagte Daniel, aber er blickte die anderen nicht an, um zu sehen, wie sie es aufgenommen hatten. Seine Augen waren starr auf mich gerichtet. »Doch«, sagte ich. »Daniel, es ist wahr.« »Nein«, sagte Justin. Er atmete, als wäre er gerannt. »Ach Lexie, nein. Bitte.« »Es ist wahr«, sagte Abby. Sie klang schrecklich müde. »Ich hab’s gewusst, bevor das alles überhaupt passiert ist.« 1327
Daniels Kopf neigte sich nach hinten, nur ganz leicht. Seine Lippen öffneten sich, und er ließ langsam die Atemluft entströmen, leise und ungeheuer traurig. Rafe sagte leise, beinahe sanft: »Du verdammter Scheißkerl.« Er stand wie in Zeitlupe auf, die halbgeöffneten Hände vor sich, als wären sie erstarrt. Einen Moment lang musste ich all meine Verstandeskraft aufbieten, um zu begreifen, was das bedeutete – ich hatte auf Daniel getippt, egal, was er Abby gegenüber behauptete. Erst als Rafe erneut »Du Scheißkerl« sagte, diesmal lauter, wurde mir klar, dass er gar nicht mit Daniel sprach. Daniel, noch immer im Türrahmen, stand hinter Justins Sessel. Rafe sprach mit Justin. »Rafe«, sagte Daniel sehr schneidend. »Halt den Mund. Sofort. Setz dich und reiß dich zusammen.« Es war das Schlimmste, was er hatte sagen können. Rafe ballte die Fäuste, er war kalkweiß und 1328
bleckte die Zähne, und seine Augen waren golden und blindwütig wie bei einem Luchs. »Wage es nicht«, knurrte er. »Wage es nicht, mir noch einmal zu sagen, was ich tun soll. Guck uns doch an. Guck dir an, was du getan hast. Bist du zufrieden mit dir? Bist du jetzt glücklich? Wenn du nicht gewesen wärst –« »Rafe«, sagte Abby. »Hör mir zu. Ich weiß, du bist aufgebracht –« »Mein – oh Gott. Das war mein Kind. Tot. Seinetwegen.« »Ich hab gesagt, sei still«, sagte Daniel, und in seiner Stimme schwang jetzt etwas Gefährliches mit. Abbys Augen huschten zu mir, angespannt und flehend. Ich war die Einzige, auf die Rafe hören würde. Wenn ich in dem Moment zu ihm gegangen wäre, um ihn in die Arme zu nehmen, um das Ganze zu seiner und Lexies ureigener Trauer zu machen und nicht zu einem öffentlichen Krieg, hätte ich die Situation entschärfen können. Er hät1329
te keine andere Wahl gehabt. Eine Sekunde lang konnte ich es förmlich spüren, stark wie die Wirklichkeit: wie seine Schultern an mir erschlafften, wie seine Hände mich fest umschlangen, sein warmes und sauber riechendes Hemd an meinem Gesicht. Ich rührte mich nicht. »Du«, sagte Rafe, aber ich konnte nicht entscheiden, ob zu Daniel oder zu Justin. »Du.« In meiner Erinnerung geschah alles so klar, saubere, deutliche Schritte, wie eine perfekte Choreographie. Vielleicht liegt es bloß daran, dass ich den Ablauf so häufig schildern musste, Frank, Sam, O’Kelly, den Kollegen vom Dezernat für interne Ermittlungen, vielleicht war auch alles ganz anders. Jedenfalls geschah meiner Erinnerung nach Folgendes. Rafe stürzte sich auf Justin oder Daniel oder beide, wie ein wilder Stier. Sein Bein stieß gegen den Tisch, der prompt umkippte, Flüssigkeiten flogen glänzend in hohen Bögen durch die Luft, 1330
Flaschen und Gläser rollten überall herum. Rafe fing sich mit einer Hand auf dem Boden ab und stürmte weiter. Ich sprang vor ihn und packte sein Handgelenk, doch er schüttelte mich mit einem kräftigen Armschwung ab. Ich rutschte auf verschüttetem Wodka aus und schlug hart auf den Boden. Justin sprang aus dem Sessel hoch, die Hände ausgestreckt, um Rafe abzuwehren, aber Rafe krachte mit voller Wucht in ihn hinein, und sie fielen beide zurück in den Sessel, der rückwärtsschlidderte. Justin stieß ein entsetztes Stöhnen aus, Rafe war über ihm, versuchte, Halt zu finden. Abby packte mit einer Hand sein Haar und mit der anderen seinen Hemdkragen und versuchte, ihn herunterzuziehen. Rafe schrie und wuchtete sie weg. Er hatte seine Faust nach hinten gehoben, um Justin ins Gesicht zu schlagen, ich rappelte mich vom Boden hoch, und irgendwie hielt Abby auf einmal eine Flasche in der Hand. Dann war ich plötzlich auf den Beinen, Rafe war rückwärts von Justin heruntergesprungen, und 1331
Abby stand gegen die Wand gepresst, als wären wir von einer Bombenexplosion auseinandergesprengt worden. Das Haus war in dumpfer Stille erstarrt, das einzige Geräusch war unser Atem, schweres, schnelles Keuchen. »Na bitte«, sagte Daniel. »Das ist schon besser.« Er war vorgetreten, ins Wohnzimmer hinein. In der Decke über ihm klaffte ein dunkler Riss, Putz rieselte mit einem leichten trippelnden Geräusch auf die Bodendielen. Er hielt den alten WebleyRevolver in beiden Händen, mühelos, wie jemand, der damit umzugehen wusste. Er hatte ihn auf mich gerichtet. »Lass das Ding fallen, sofort«, sagte ich. Meine Stimme war so laut, dass Justin ein kurzes wildes Wimmern ausstieß. Daniel blickte mir in die Augen, und er zuckte die Achseln, eine Braue hob sich wehmütig. Er wirkte unbeschwerter und lockerer, als ich ihn je erlebt hatte, fast erleichtert. Wir wussten beide: 1332
Der Knall war durchs Mikro direkt zu Frank und Sam gesaust, in fünf Minuten wäre das Haus von Cops umstellt, mit Schusswaffen, gegen die sich Onkel Simons maroder Revolver wie ein Kinderspielzeug ausnahm. Es war nichts mehr da, was es zu bewahren galt. Daniels Haare hingen ihm in die Augen, und ich schwöre, dass er lächelte. »Lexie?«, sagte Justin, ein hoher, ungläubiger Hauch. Ich folgte seinem Blick, seitlich an meinem Körper hinunter. Mein Pullover war hochgeschoben, so dass der Verband und der Hüfthalter zu sehen waren, und ich hielt meinen Revolver in den Händen. Ich konnte mich nicht erinnern, ihn gezogen zu haben. »Was ist denn jetzt los?«, sagte Rafe, keuchend und mit wilden Augen. »Lexie, was machst du?« Abby sagte: »Daniel.« »Schsch«, sagte er sacht. »Ist schon gut, Abby.« »Wo hast du das Ding her? Lexie!« »Daniel, hör mir zu!« Sirenen, irgendwo in der Ferne, mehr als eine. 1333
»Die Bullen«, sagte Abby. »Daniel, die Bullen sind dir gefolgt.« Daniel schob sich die Haarsträhnen mit dem Handrücken aus dem Gesicht. »Ich fürchte, so einfach ist es nicht«, sagte er. »Aber, ja, sie sind auf dem Weg hierher. Wir haben nicht mehr viel Zeit.« »Du musst das Ding verstecken«, sagte Abby. »Jetzt sofort. Du auch, Lexie. Wenn die sehen, was ihr da –« »Noch mal«, sagte Daniel. »So einfach ist das nicht.« Er stand direkt hinter Justins Sessel, dem hohen Lehnsessel. Das Möbelstück und Justin – wie versteinert, hilflos stierend, mit den Händen die Armlehnen umklammernd – schirmten ihn bis in Brusthöhe ab. Darüber hinweg zielte der Lauf des Revolvers, klein und dunkel und bösartig, direkt auf mich. Der einzige freie Schussweg, den ich hatte, war ein Kopfschuss.
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»Sie hat recht, Daniel«, sagte ich. Ich konnte nicht mal versuchen, hinter einem Sessel in Deckung zu gehen, bei all den Zivilisten im Raum. Solange er die Waffe auf mich gerichtet hielt, zielte sie nicht auf die anderen. »Leg die Waffe weg. Was meinst du wohl, wie die Sache am besten ausgeht? Wenn wir alle hier schön friedlich in den Sesseln sitzen und auf die Polizei warten, oder wenn ein Sonderkommando das Haus stürmt?« Justin wollte aufstehen, seine Füße scharrten matt über die Dielen. Daniel nahm eine Hand vom Revolver und stieß ihn mit Wucht wieder runter in den Sessel. »Bleib, wo du bist«, sagte er. »Dir passiert nichts. Ich hab dich hier mit reingezogen, ich hol dich auch wieder raus.« »Was ziehst du da bloß ab?«, wollte Rafe wissen. »Wenn du mit dem Gedanken spielst, dass wir alle zusammen in einem großen Showdown untergehen, dann bist du so was von schief–« »Sei still«, sagte Daniel.
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»Leg deine Waffe weg«, sagte ich, »dann leg ich meine weg. In Ordnung?« In der Sekunde, als Daniel seine Aufmerksamkeit wieder auf mich richtete, versuchte Rafe, seinen Arm zu packen. Daniel wich aus, flink und geschickt, und rammte ihm den Ellbogen in die Rippen, ohne den Revolver auch nur minimal von mir wegzuschwenken. Rafe krümmte sich und stieß laut zischend die Luft aus. »Wenn du das noch einmal machst«, sagte Daniel, »muss ich dir ins Bein schießen. Ich muss das hier erledigen, und ich habe keine Zeit für deine Störmanöver. Setz dich hin.« Rafe ließ sich aufs Sofa fallen. »Du bist wahnsinnig«, sagte er, keuchend vor Schmerz. »Du musst doch wissen, dass du wahnsinnig bist.« »Bitte«, sagte Abby. »Die sind gleich da. Daniel, Lexie, bitte.« Die Sirenen kamen näher. Ein dumpfes metallenes Scheppern hallte herauf. Daniel hatte das
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Tor verschlossen, und jemand hatte es gerade mit dem Wagen aufgerammt. »Lexie«, sagte Daniel sehr deutlich, für das Mikro. Seine Brille rutschte ihm die Nase herunter, aber er schien es nicht zu merken. »Ich habe dich niedergestochen. Wie du bestimmt schon von den anderen weißt, war es nicht vorsätzlich –« »Daniel«, sagte Abby, hell und verzerrt und atemlos. »Tu das nicht.« Ich glaube nicht, dass er sie hörte. »Wir haben uns gestritten«, sagte er zu mir, »und dann haben wir uns richtig geprügelt und … ehrlich gesagt, ich kann mich nicht genau erinnern, wie es passiert ist. Ich war beim Spülen, ich hatte ein Messer in der Hand, ich war furchtbar wütend auf dich, weil du deinen Anteil am Haus verkaufen wolltest. Ich bin sicher, dass du das verstehst. Ich wollte dich schlagen, und das hab ich dann auch – mit Folgen, die keiner von uns, nicht mal eine Sekunde lang, hätte vorhersehen können. Es tut mir leid, was ich dir angetan habe. Euch allen.« 1337
Quietschende Bremsen, aufspritzender Kies, die Sirenen, die draußen stumpfsinnig weiterheulten. »Leg den Revolver weg, Daniel«, sagte ich. Er musste es wissen, dass mir nur ein Kopfschuss möglich war, dass ich nicht danebenschießen konnte. »Es wird alles gut. Wir finden eine Lösung, das schwöre ich. Leg ihn einfach weg.« Daniel blickte die anderen nacheinander an: Abby, sprungbereit und hilflos, Rafe, nach vorn gebeugt und mit zornigen Augen auf dem Sofa, Justin, so weit im Sessel herumgedreht, dass er mit riesigen, ängstlichen Augen zu ihm hochstarren konnte. »Schsch«, sagte er zu ihnen und legte einen Finger an die Lippen. Ich hatte noch nie so viel Liebe und Zärtlichkeit und unglaubliche Eindringlichkeit in einem Gesicht gesehen, niemals. »Kein Wort. Egal, was passiert.« Sie starrten ihn an. »Es wird alles gut«, sagte er. »Wirklich, versprochen. Es kommt alles wieder in Ordnung.« Er lächelte.
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Dann wandte er sich mir zu, und sein Kopf bewegte sich, ein winziges, vertrauliches Nicken, wie ich es schon zigmal gesehen hatte. Rob und ich, Blicke, die sich über eine Tür hinweg treffen, die nicht aufgehen will, über einem Tisch im Verhörraum, und dann das fast unsichtbare Nicken zwischen uns: Los. Es dauerte so lange. Daniels freie Hand kam hoch wie in Zeitlupe, in einem langen, fließenden Bogen, um den Revolver zu stützen. Eine gewaltige Unterwasserstille füllte den Raum, sämtliche Sirenen waren verebbt, Justins Mund war weit gedehnt, aber ich konnte nicht hören, ob Laute herauskamen. Das einzige Geräusch auf der Welt war das tonlose Klicken, als Daniel den Hahn spannte. Abbys Hände streckten sich nach ihm aus, die Finger gespreizt, ihr Haar schwang hoch. Ich hatte so viel Zeit, Zeit genug, um zu sehen, wie Justin den Kopf auf die Knie senkte, und um meinen Revolver nach unten zu schwenken für den Brustschuss, der sich auftat, Zeit, um zu se1339
hen, wie Daniels Hände sich fest um den Webley schlossen, und mich daran zu erinnern, wie sie sich angefühlt hatten auf meinen Schultern, diese Hände, groß und warm und tüchtig. Ich hatte Zeit, um dieses Gefühl von vor so langer Zeit wiederzuerkennen, um mich an den beißenden Panikgeruch zu erinnern, den Dealer-Boy verströmt hatte, an das Blut, das mir unaufhörlich zwischen den Fingern hervorgequollen war, an die Erkenntnis, wie einfach es war zu verbluten, wie simpel, wie mühelos. Dann explodierte die Welt. Irgendwo hab ich gelesen, dass das letzte Wort auf der Black Box eines jeden abgestürzten Flugzeugs, das Letzte, was der Pilot sagt, wenn er weiß, dass er sterben wird, »Mama« ist. Wenn dir mit Lichtgeschwindigkeit die ganze Welt und das ganze Leben entrissen wird, ist dieses Wort das Einzige, was dir bleibt. Ich fand den Gedanken beängstigend, dass ich, falls mir eines Tages ein Verdächtiger ein Messer an die Gurgel halten würde, falls mein Leben auf einen Sekunden1340
bruchteil zusammenschrumpfen würde, nichts mehr in mir hätte, was ich sagen, niemanden, dessen Namen ich rufen könnte. Aber was ich sagte, schwach in der haarfeinen Stille zwischen Daniels Schuss und meinem, war »Sam«. Daniel sagte kein Wort. Von der Wucht taumelte er rückwärts, und die Waffe fiel ihm aus der Hand, landete mit einem hässlichen dumpfen Geräusch auf dem Boden. Irgendwo fiel geborstenes Glas, ein liebliches, gleichgültiges Klimpern. Ich meinte, in seinem weißen Hemd ein Loch zu sehen, wie von einer Zigarette eingebrannt, aber ich sah in sein Gesicht. Es lag kein Schmerz darin, keine Furcht, nichts dergleichen. Er blickte nicht einmal erschrocken. Seine Augen waren auf irgendetwas hinter meiner Schulter gerichtet – ich werde nie wissen, auf was. Er sah aus wie ein Hindernisläufer oder ein Turner, der nach einem letzten todesverachtenden Sprung perfekt landet: entschlossen, abgeklärt, jedes Limit überschreitend, nichts zurückhaltend, sicher. 1341
»Nein«, sagte Abby, ausdruckslos und endgültig wie ein Befehl. Ihr Rock flatterte, heiter im Sonnenlicht, als sie auf ihn zusprang. Dann blinzelte Daniel und kippte langsam zur Seite, und hinter Justin war nur noch eine saubere weiße Wand.
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25 Die ersten Minuten danach sind alptraumhafte Fetzen, verbunden mit großen leeren Stellen. Ich weiß, dass ich lief, auf Scherben ausrutschte und weiterlief, um zu Daniel zu kommen. Ich weiß, dass Abby, über ihn gebeugt, wie eine Katze kämpfte, um mich abzuhalten, mit wilden Augen, kratzend. Ich erinnere mich an ihr blutverschmiertes T-Shirt, an den Donnerschlag, der durchs Haus hallte, als die Haustür aufgebrochen wurde, an rufende Männerstimmen, Fußgetrampel. Hände, die mich unter den Armen packten und zurückzogen. Ich wand mich und trat, bis sie mich fest durchrüttelten, und dann wurden meine Augen klar, und ich erkannte Franks Gesicht dicht vor meinem: Cassie, ich bin’s, ganz ruhig, es ist vorbei. Sam, der ihn wegstieß, seine Hände, die mich grob vor Panik abtasteten, auf der Suche nach Einschusslöchern, Finger, an denen Blut klebte,Ist das deins, ist das deins? Ich wusste es nicht. Sam, der 1343
mich umdrehte, mich packte, seine Stimme schließlich matt vor Erleichterung: Alles in Ordnung, du bist okay, er hat nicht getroffen … Irgendwer sagte etwas über das Fenster. Irgendwer schluchzte. Zu viel Licht, Farben so grell, dass man sich daran schneiden konnte, zu viele Stimmen, Rettungswagen, ruft einen – Schließlich bugsierte mich jemand zur Haustür hinaus und in einen Streifenwagen, knallte die Tür zu. Ich saß lange da, schaute auf die Kirschbäume, auf den stillen Himmel, der langsam dämmrig wurde, auf die fernen dunklen Wellen der Hügel. Ich dachte an gar nichts.
Es gibt routinemäßige Abläufe, wenn Polizeibeamte in einen Schusswechsel verwickelt wurden. Es gibt für alles routinemäßige Abläufe bei der Polizei, und sie bleiben sorgsam unerwähnt, bis zu dem Tag, an dem sie schließlich gebraucht werden und der Archivar den rostigen Schlüssel umdreht 1344
und Staub von der Akte bläst. Ich hatte noch keinen Kollegen getroffen, der einen Menschen angeschossen hatte. Es war niemand da, der mir hätte sagen können, womit ich zu rechnen hatte oder wie ich damit umgehen sollte oder dass alles gut werden würde. Byrne und Doherty wurden dazu verdonnert, mich ins Hauptquartier zu bringen, im Phoenix Park, wo das DIA, das Dezernat für interne Angelegenheiten, in Vorzeigebüros arbeitet, eingehüllt in einer dicken, bauschigen Wolke Rechtfertigungszwang. Byrne fuhr, seine hängenden Schultern sagten so klar wie eine Sprechblase über seinem Kopf: Ich hab gewusst, dass so was passieren würde. Ich saß auf der Rückbank wie eine Verdächtige, und Doherty beobachtete mich möglichst verstohlen im Rückspiegel. Er sabberte förmlich: So etwas Aufregendes hatte er vermutlich in seiner ganzen Laufbahn noch nicht erlebt, außerdem ist Klatsch und Tratsch in unserem Metier eine gute Währung, und er hatte soeben einen 1345
Hauptgewinn gezogen. Meine Beine waren so kalt, dass ich sie kaum bewegen konnte. Ich war völlig durchgefroren, als wäre ich in einen eiskalten See gefallen. An jeder roten Ampel würgte Byrne den Wagen ab und fluchte unwirsch. Alle hassen das DIA – das Rattendezernat, wie es genannt wird, die Verräter und diverse andere wenig schmeichelhafte Dinge –, aber zu mir waren sie nett, zumindest an diesem Tag. Sie waren sachlich und professionell und sehr freundlich, wie Krankenschwestern, die bei einem Patienten, der einen furchtbaren, entstellenden Unfall hatte, ihre eingespielten Rituale durchgehen. Sie nahmen meine Dienstmarke an sich – »für die Dauer der Untersuchung«, sagte jemand beruhigend. Es war ein Gefühl, als hätten sie mir den Kopf geschoren. Sie zogen mir den Verband ab und entfernten das Mikro. Sie behandelten meinen Revolver wie Beweismaterial, was er natürlich auch war, behutsame Latexfinger ließen ihn in einen Beweismittelbeutel fallen, den sie versiegelten und mit akkura1346
ter Markerschrift etikettierten. Eine Kriminaltechnikerin, die einen glatten braunen Haarknoten trug wie eine viktorianische Zofe, stach mir eine Nadel in den Arm, gekonnt, und nahm eine Blutprobe, um sie auf Alkohol und Drogen zu testen. Mir fiel vage ein, dass Rafe mir etwas eingeschenkt hatte, und ich erinnerte mich an die glatte Kühle des Glases, aber nicht daran, auch nur einen einzigen Schluck getrunken zu haben, und das stufte ich als etwas Gutes ein. Sie untersuchte meine Hände auf Schmauchspuren, und mir fiel auf, so als würde ich jemand anderen aus weiter Entfernung beobachten, dass meine Hände nicht zitterten, sie waren völlig ruhig, und dass meine Handgelenkknochen nach einem Monat Whitethorn-HouseEssen nicht mehr so spitzig aussahen. »So«, sagte die Technikerin beruhigend, »kurz und schmerzlos«, aber ich war damit beschäftigt, auf meine Hände zu starren, und erst Stunden später, als ich auf einem neutralfarbenen Sofa in der Eingangshalle unter unverfänglicher Kunst saß und darauf 1347
wartete, dass irgendjemand kam, um mich irgendwo anders hinzubringen, wurde mir klar, wo ich den Tonfall schon mal gehört hatte: aus meinem eigenen Mund. Nicht wenn ich mit Opfern sprach, mit Angehörigen, sondern mit den anderen. Mit Männern, die ihre Frauen halb blindgeprügelt hatten, mit Frauen, die ihre kleinen Kinder mit kochendem Wasser verbrüht hatten, mit Mördern, in den trunkenen, fassungslosen Augenblicken, nachdem alles aus ihnen herausgesprudelt war. Dann hatte ich mit dieser unendlich sanften Stimme gesagt: Ganz ruhig, es wird alles gut. Schön durchatmen. Das Schlimmste ist vorbei. Draußen vor dem Fenster des Kriminallabors war der Himmel schwarz geworden, ein schmutziges, rostiges Schwarz, orange verschmiert von den Lichtern der Stadt, und zwischen den Baumkronen im Park hing tief ein dünner, zerbrechlicher Mond. Ein Schauder schüttelte meine Wirbelsäule wie ein kalter Windstoß. Polizeiwagen, die durch Glenskehy rasten und dann wieder hinaus, John 1348
Naylors Augen, angefüllt mit purem Zorn, und die Nacht, die sich unaufhaltsam senkte. Es war mir nicht erlaubt, mit Sam oder Frank zu sprechen, solange wir nicht alle vernommen worden waren. Ich sagte der Technikerin, ich müsse zur Toilette, und warf ihr einen Von-Frau-zuFrau-Blick zu, als Erklärung, warum ich meine Jacke mitnahm. In der Kabine betätigte ich die Spülung, und während das Wasser noch lief – alles im DIA macht dich paranoid, die dicken Teppiche, die Stille –, schrieb ich Frank und Sam rasch eine SMS.Ihr müsst UNBEDINGT das Haus überwachen lassen. Ich stellte mein Handy auf stumm und setzte mich auf den Klodeckel, roch den süßlichen, falschen Blumengeruch des Lufterfrischers und wartete, solange ich konnte, ohne dass die Frau da draußen stutzig wurde, aber keiner von beiden antwortete. Ihre Handys waren wahrscheinlich ausgeschaltet. Bestimmt waren sie selbst gerade mit Vernehmungen beschäftigt, wechselten sich 1349
geschickt bei Abby und Rafe und Justin ab, um sie in die Mangel zu nehmen, berieten sich zwischendurch kurz mit leiser Stimme auf Korridoren, stellten mit unermüdlicher, grimmiger Geduld Fragen über Fragen. Vielleicht – mein Herz schnellte hoch, trommelte mir in der Kehle –, vielleicht war einer von ihnen im Krankenhaus und sprach mit Daniel. Weißes Gesicht, Infusionsschläuche, Leute, die in OP-Montur hin und her hasteten. Ich versuchte, mich genau zu erinnern, wo die Kugel ihn getroffen hatte, spulte alles wieder und wieder im Kopf ab, doch der Film flackerte und stockte, und ich konnte nichts erkennen. Das winzige Nicken, der hochspringende Lauf seiner Waffe, der Rückstoß, der mir die Arme hochschoss, die ernsten grauen Augen, die Pupillen nur ein kleines bisschen geweitet. Dann war da nur noch Abbys Stimme, ausdruckslos und unerbittlich Nein, die leere Wand, wo Daniel gestanden hatte, und Stille, immense Stille, die mir in den Ohren dröhnte. 1350
Die Kriminaltechnikerin übergab mich wieder den Jungs vom DIA, und sie meinten, wenn ich noch zu aufgewühlt sei, könne ich meine Aussage auch erst am nächsten Tag machen, aber ich sagte, nein, danke, es geht schon. Sie erklärten mir, dass ich das Recht hätte, einen Anwalt oder einen Gewerkschaftsvertreter hinzuzuziehen, und ich sagte, nein, danke, es geht schon. Der Verhörraum war kleiner als die bei uns, kaum Platz, um den Stuhl vom Tisch nach hinten zu rücken, und sauberer: keine Schmierereien, keine Zigarettenbrandflecken im Teppichboden, keine Dellen in den Wänden, wo jemand mit einem Stuhl Amok gelaufen war. Beide DIA-Jungs sahen aus wie Buchhalterkarikaturen: graue Anzüge, Halbglatzen, keine Lippen, die gleichen randlosen Brillen. Einer von ihnen lehnte an der Wand hinter meiner Schulter – selbst wenn du sämtliche Taktiken in- und auswendig kennst, wirken sie dennoch auf dich –, und der andere saß mir gegenüber. Er richtete sein Notizbuch penibel an der Tischkante aus, schaltete 1351
den Kassettenrekorder ein und gab den üblichen einleitenden Sermon von sich. »So«, sagte er schließlich, »jetzt erzählen Sie mal, Detective, in Ihren eigenen Worten.« »Daniel March«, sagte ich. Das waren die einzigen Worte, die mir über die Lippen kamen. »Kommt er durch?«, und ich wusste es, noch ehe er antworten konnte, ich wusste es, als seine Augenlider flatterten und seine Augen von mir wegglitten.
Die Kriminaltechnikerin – sie hieß Gillian – fuhr mich irgendwann am späten Abend nach Hause, nachdem die DIA-Zwillinge endlich mit mir fertig waren. Ich erzählte ihnen, was zu erwarten war: die Wahrheit, so gut ich sie in Worte fassen konnte, nichts als die Wahrheit und nicht die ganze Wahrheit. Nein, ich hatte nicht das Gefühl, eine andere Wahl gehabt zu haben, als meine Waffe abzufeuern. Nein, ich hatte keine Möglichkeit, ei1352
nen nicht tödlichen, kampfunfähig machenden Schuss zu versuchen. Ja, ich war überzeugt, dass mein Leben in Gefahr war. Nein, es hatte zuvor nichts darauf hingedeutet, dass Daniel gefährlich war. Nein, er war nicht unser Hauptverdächtiger gewesen, eine lange Aufzählung von Gründen, warum nicht – sie fielen mir erst nach kurzer Überlegung wieder ein, kamen mir vor wie aus einer längst vergangenen Zeit, als gehörten sie zu einem anderen Leben. Nein, ich glaubte nicht, dass es von mir oder Frank oder Sam fahrlässig gewesen war, eine Schusswaffe in dem Haus zu belassen, es war übliche Undercoverpraxis, illegale Gegenstände für die Dauer der Ermittlung vor Ort zu lassen, das Entfernen der Waffe hätte die ganze Operation zum Scheitern bringen können. Ja, im Rückblick machte es den Eindruck, als sei diese Entscheidung unklug gewesen. Sie sagten, wir würden uns in Kürze noch einmal unterhalten – aus ihrem Mund klang das wie eine Drohung –, und vereinbarten für mich einen Termin beim 1353
Psychologen, der sich garantiert dumm und dämlich freuen würde. Gillian brauchte meine Kleidung – Lexies Kleidung –, um sie auf Schmauchspuren zu untersuchen. Sie blieb in der Tür zu meiner Wohnung stehen, die Hände gefaltet, und sah zu, wie ich mich umzog: Sie musste sich vergewissern, dass sie auch bekam, was sie sah, dass ich nicht etwa das T-Shirt gegen ein frisches austauschte. Meine eigenen Sachen fühlten sich kalt und zu steif an, als würden sie mir nicht gehören. Auch die Wohnung war kalt, sie hatte einen leicht modrigen Geruch, und auf allem lag ein dünner Staubfilm. Sam war schon eine Weile nicht mehr hier gewesen. Ich übergab Gillian meine Sachen, und sie verstaute sie zügig in große Beweismittelbeutel. Als sie sich mit vollen Händen zum Gehen wandte, zögerte sie. Zum ersten Mal wirkte sie unsicher, und mir wurde klar, dass sie vermutlich jünger war als ich. »Kommen Sie allein zurecht?«, fragte sie. 1354
»Es geht schon«, sagte ich. Ich hatte den Satz an dem Tag so oft gesagt, dass ich überlegte, ein T-Shirt damit bedrucken zu lassen. »Haben Sie jemanden, der herkommen und bei Ihnen bleiben kann?« »Ich ruf meinen Freund an«, sagte ich, »er wird herkommen«, obwohl ich mir dessen nicht sicher war, ganz und gar nicht.
Als Gillian mit den letzten Überresten von Lexie Madison gegangen war, setzte ich mich mit einem Glas Brandy auf die Fensterbank – ich kann Brandy nicht ausstehen, aber ich war mir ziemlich sicher, dass ich von Amts wegen unter Schock stand, auf etwa vier unterschiedliche Arten, und außerdem hatte ich sonst nichts Hochprozentiges da – und sah zu, wie der Leuchtturm blinkte, gelassen und regelmäßig wie ein Herzschlag, draußen über der Bucht. Es war spät in der Nacht, aber ich konnte nicht mal an Schlaf denken. Im schwa1355
chen gelben Licht meiner Nachttischlampe sah der Futon leicht bedrohlich aus, dick gepolstert mit breiiger Hitze und Alpträumen. Ich wollte Sam anrufen, wollte es so verzweifelt, als würde ich verdursten, aber ich hätte es nicht verkraftet, falls er nicht dranging, nicht in dieser Nacht. Irgendwo weit weg schrillte kurz eine Hausalarmanlage, bis jemand sie ausstellte, und sogleich schwoll die Stille böse zischend wieder an. Im Süden waren die Lichter vom Dun-LaoghaireFährhafen so ordentlich aufgereiht wie eine Weihnachtslichterkette, dahinter meinte ich ganz kurz – eine optische Täuschung – die Silhouette der Wicklow-Berge vor dem dunklen Himmel zu sehen. Um diese Zeit waren nur ein paar vereinzelte Autos auf der Strandstraße unterwegs. Die glatten Bögen ihrer Scheinwerferkegel wuchsen an und schwanden dahin, und ich fragte mich, wohin die Leute fuhren, spät und allein, woran sie in den warmen Blasen ihrer Autos dachten, welche zar-
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ten, teuer erkauften, unersetzlichen Schichten Leben sie umhüllten. Ich denke nicht oft an meine Eltern. Ich habe nur eine Handvoll Erinnerungen, und ich will nicht, dass sie abnutzen, glattscheuern, unter zu viel Licht verblassen. Wenn ich sie ganz selten mal hervorhole, sollen sie so leuchtend klar sein, dass es mir den Atem verschlägt, und so scharf, dass sie weh tun. Doch in jener Nacht breitete ich sie alle auf der Fensterbank aus wie hauchdünne Bilder, ausgeschnitten aus Seidenpapier, und ging sie durch, eine nach der anderen. Meine Mutter ein Nachtlichtschatten neben meinem Bett, bloß eine schlanke Taille und zum Pferdeschwanz gebundene Locken, eine Hand auf meiner Stirn und ein Geruch, den ich nirgendwo sonst gefunden habe, und eine leise, liebliche Stimme, die mich in den Schlaf singt: À la claire fontaine, m’en allant promener, j’ai trouvé l’eau si belle que je m’y suis baignée … Sie war damals jünger, als ich jetzt bin, sie wurde keine dreißig. Mein Vater, wie er mit 1357
mir zusammen auf einem grünen Hügel sitzt und mir beibringt, meine Schuhe zuzubinden, seine abgetragenen braunen Schuhe, seine starken Hände mit einem Kratzer an einem Knöchel, Kirschgeschmack an meinem Mund, von einem Eis am Stiel, und wir beide lachen über das Kuddelmuddel, das ich angerichtet habe. Wir drei, wie wir auf dem Sofa liegen, unter einer Wolldecke, und Sesamstraße im Fernsehen gucken, die Arme meines Vaters um uns, so dass wir drei ein einziges großes, warmes Knäuel sind, der Kopf meiner Mutter unter seinem Kinn und mein Ohr auf seiner Brust, ich höre das Brummen, wenn er lacht, spüre es in den Knochen. Meine Mutter, wie sie sich schminkt, ehe sie zu einem Auftritt fährt. Ich liege ausgestreckt auf dem Ehebett, schaue ihr zu, zwirbele mir einen Zipfel der Daunendecke um den Daumen und frage: Wie hast du Daddy gefunden? Und ihr Lächeln im Spiegel, ein kleines, verschwiegenes Lächeln in ihre eigenen rauchigen Augen hinein: Die Geschichte erzähl ich dir, wenn 1358
du groß bist. Wenn du selbst ein kleines Mädchen hast. Eines Tages.
Der Himmel begann gerade grau zu werden, weit draußen über dem Horizont, und ich wünschte mir, ich hätte eine Pistole, um zum Schießstand zu fahren, und fragte mich, ob ein richtig kräftiger Schluck Brandy mir helfen würde, auf der Fensterbank einzudämmern, als es an meiner Wohnungstür klingelte, nur ein ganz kurzer Summton, so schnell, dass ich schon dachte, ich hätte es mir eingebildet. Es war Sam. Er nahm die Hände nicht aus den Manteltaschen, und ich berührte ihn nicht. »Ich wollte dich nicht wecken«, sagte er, »aber ich dachte, vielleicht bist du ja ohnehin wach … « »Ich kann nicht schlafen«, sagte ich. »Wie ist es gelaufen?«
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»Wie zu erwarten. Sie sind völlig aufgelöst, sie hassen uns wie die Pest, und sie machen den Mund nicht auf.« »Ja«, sagte ich. »Hab ich mir gedacht.« »Wie fühlst du dich?« »Es geht schon«, sagte ich automatisch. Er sah sich im Raum um – zu aufgeräumt, keine Teller in der Spüle, Futon noch nicht ausgeklappt – und blinzelte fest, als wären seine Augenlider kratzig. »Deine SMS«, sagte er. »Ich hab gleich Byrne angerufen, als ich sie gelesen hab. Er hat gesagt, er wird das Haus im Auge behalten, aber … Du weißt ja, wie er ist. Er ist bloß dran vorbeigefahren, auf seiner Streife.« Irgendetwas Geisterhaftes und Dunkles bäumte sich hinter mir auf, drohend, bebte an meiner Schulter wie eine große Katze, bereit zum Sprung. »John Naylor«, sagte ich. »Was hat er gemacht?« Sam rieb sich die Augen mit den Handballen. »Die Feuerwehrleute tippen auf Benzin. Wir hatten das Haus rundherum mit Polizeiband abge1360
sperrt, aber … Die Tür war natürlich aufgebrochen, und dann war da noch das Fenster auf der Rückseite, das Daniel zerschossen hat. Naylor ist einfach unter der Absperrung durch und ins Haus spaziert.« Eine Feuersäule am Berghang. Abby und Rafe und Justin allein in schäbigen Verhörräumen, Daniel und Lexie auf kaltem Stahl. »Haben sie irgendwas retten können?« »Bis Byrne das Feuer bemerkt hat und bis die Feuerwehr endlich da war … Das Haus liegt ja mitten in der Pampa.« »Ich weiß«, sagte ich. Irgendwie saß ich jetzt auf dem Futon. Ich spürte den Grundriss von Whitethorn House in meine Knochen gebrannt: die Form des Treppenpfostens in meine Handfläche eingeprägt, den Druck von Lexies Bettgestell entlang meiner Wirbelsäule, die Neigungen und Biegungen der Treppe in meinen Füßen, aus meinem Körper war die schimmernde Schatzkarte einer verlorenen Insel geworden. Was Lexie begonnen 1361
hatte, hatte ich für sie vollendet. Gemeinsam hatten wir Whitethorn House in Schutt und rauchende Asche verwandelt. Vielleicht hatte sie mich ja genau dafür gebraucht, von Anfang an. »Jedenfalls«, sagte Sam. »Ich hab gedacht, du erfährst es besser von mir, statt … ich weiß nicht, aus den Frühnachrichten. Ich weiß, was dir das Haus bedeutet hat.« Selbst da lag nicht ein Funken Bitterkeit in seiner Stimme, aber er kam nicht zu mir, und er setzte sich nicht. Er hatte noch immer den Mantel an. »Die anderen?«, sagte ich. »Wissen sie es?« Eine schwindelige Sekunde lang, ehe mir wieder einfiel, wie sehr sie mich jetzt hassten und wie viel Grund sie dazu hatten, dachte ich: Ich sollte es ihnen sagen. Sie sollten es von mir erfahren. »Ja. Ich hab’s ihnen gesagt. Sie mögen mich nicht besonders, aber Mackey … Ich hab gedacht, ich mach das besser. Sie … « Sam schüttelte den Kopf. Das verkrampfte Zucken in seinem Mundwinkel verriet mir, wie es gelaufen war. »Sie wer1362
den drüber wegkommen«, sagte er. »Früher oder später.« »Sie haben keine Familien«, sagte ich. »Sie haben keine Freunde, nichts. Wo sollen sie bleiben?« Sam seufzte. »Zurzeit sind sie in Gewahrsam, klar. Beihilfe zum Mord. Damit kommen wir nicht durch – wir haben nichts gegen sie in der Hand, es sei denn, sie reden, und das werden sie nicht – aber … na ja. Wir müssen es probieren. Morgen lassen wir sie wahrscheinlich laufen, dann hilft ihnen die Opferbetreuung, eine Unterkunft zu finden.« »Was ist mit Naylor?«, fragte ich. »Die Brandstiftung. Habt ihr ihn schon gefasst?« »Byrne und Doherty suchen nach ihm, aber er ist noch nicht aufgetaucht. Eine großangelegte Suche würde nichts bringen. Der kennt die Gegend wie seine Westentasche. Früher oder später kommt er schon nach Hause. Dann schnappen wir ihn uns.«
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»Was für ein Fiasko«, sagte ich. In dem dämmerigen, diffusen gelben Licht wirkte die Wohnung unterirdisch, erstickend. »Was für ein erstklassiges gigantisches Riesenfiasko.« »Das kann man wohl sagen.« Sam zog leicht an den Schultern seine Mantels und blickte an mir vorbei auf die letzten Sterne, die im Fenster verblassten. »Sie hat von Anfang an Unglück gebracht, diese Lexie Madison. Das alles wird sich irgendwann beruhigen, schätze ich. Ich geh dann jetzt besser. Ich muss früh im Büro sein, muss mir die drei noch mal vornehmen, obwohl es nichts bringen wird. Ich wollte nur, dass du Bescheid weißt.« »Sam«, sagte ich. Ich konnte nicht aufstehen. Es kostete mich schon allen Mut, den ich noch hatte, meine Hand nach ihm auszustrecken. »Bleib.« Ich sah, wie er sich auf die Lippe biss. Er wich meinem Blick noch immer aus. »Du solltest auch etwas schlafen, du musst doch völlig erschöpft 1364
sein. Und ich dürfte eigentlich gar nicht hier sein. Die vom DIA meinten … « Ich konnte ihm nicht sagen: Als ich sicher war, dass ich erschossen werden würde, warst du mein letzter Gedanke. Ich konnte nicht mal sagen: Bitte. Ich konnte bloß dasitzen, auf dem Futon, eine Hand ausgestreckt, ohne zu atmen, und inständig hoffen, dass ich nicht zu lange gewartet hatte. Sam fuhr sich mit einer Hand über den Mund. »Eines muss ich wissen«, sagte er. »Willst du dich wieder zur Undercoverabteilung versetzen lassen?« »Nein«, sagte ich. »Gott, nein. Nie im Leben. Das hier war was anderes, Sam. Das war eine einmalige Sache.« »Mackey hat gesagt –« Sam stockte, schüttelte angewidert den Kopf. »Dieses Arschloch.« »Was hat er gesagt?« »Ach, jede Menge Schwachsinn.« Sam ließ sich aufs Sofa fallen, als hätte jemand seine Drähte gekappt. »Einmal Undercover, immer Undercover, 1365
du würdest wiederkommen, jetzt wo du Blut geleckt hättest. So was in der Art. Ich könnte nicht … Ein paar Wochen lang war schon schlimm genug, Cassie. Wenn du wieder ganz zur Undercover gehen würdest … Das schaff ich nicht. Das halte ich nicht aus.« Ich war zu müde, um richtig wütend zu werden. »Frank hat Unsinn erzählt«, sagte ich. »Das kann er nun mal am besten. Er würde mich gar nicht in seiner Abteilung haben wollen, selbst wenn ich wollte – und ich will nicht. Er wollte bloß verhindern, dass du mich überredest, aus dem Fall auszusteigen. Er hat sich gedacht, wenn du glaubst, ich bin da, wo ich hingehöre … « »Klingt einleuchtend«, sagte Sam, »ja.« Er blickte nach unten auf den Couchtisch, wischte mit den Fingerspitzen Staub von der Platte. »Dann bleibst du also im DHG? Sicher?« »Wenn ich nach gestern noch einen Job habe, meinst du?«
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»Das gestern war Mackeys Schuld«, sagte Sam, und trotz der ganzen Erschöpfung sah ich, wie Zorn in seinem Gesicht aufflackerte. »Nicht deine. Dieser ganze Mist geht hundertprozentig auf Mackeys Konto. Die vom DIA sind keine Schwachköpfe. Die werden das einsehen, genau wie jeder andere.« »Es war nicht nur Franks Schuld«, sagte ich. »Ich war da, Sam. Ich habe zugelassen, dass die Sache aus dem Ruder läuft, ich habe zugelassen, dass Daniel eine Schusswaffe in die Hände kriegt, und dann habe ich ihn erschossen. Das kann ich nicht auf Frank abwälzen.« »Und ich hab zugelassen, dass er seine irrwitzige Scheißidee überhaupt erst in die Tat umsetzt, und damit muss ich leben. Aber er hatte die Leitung. Wer so etwas anleiert, muss auch die Verantwortung für die Folgen übernehmen. Wenn er versucht, dir den Schwarzen Peter zuzuschieben – «
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»Das wird er nicht«, sagte ich. »Nicht sein Stil.« »Ich finde, das ist genau sein Stil«, sagte Sam. Er schüttelte den Kopf, vertrieb den Gedanken an Frank. »Darum kümmern wir uns, wenn es passiert. Aber angenommen, du hast recht, und er haut dich nicht in die Pfanne, um seinen Arsch zu retten, bleibst du dann im DHG?« »Vorläufig ja«, sagte ich. »Aber auf lange Sicht … « Ich hatte nicht mal gewusst, dass ich es sagen würde, ich hätte nie damit gerechnet, dass es mir je über die Lippen kommen würde, aber sobald ich die Worte hörte, hatte ich das Gefühl, als hätten sie seit jenem leuchtenden Nachmittag mit Daniel unter dem Efeu darauf gewartet, dass ich sie fand. »Ich vermisse das Morddezernat, Sam. Ich vermisse es wahnsinnig, die ganze Zeit. Ich will zurückkommen.« »Ja«, sagte Sam. Er legte den Kopf nach hinten und atmete tief durch. »Ja, das hab ich mir schon gedacht. Dann ist das mit uns also zu Ende.« 1368
Liebesbeziehungen zwischen Kollegen im selben Dezernat sind nicht erlaubt – wie O’Kelly es elegant formuliert, kein Gebumse auf dem Dienstkopierer. »Nein«, sagte ich. »Sam, nein, das muss es nicht. Selbst wenn O’Kelly bereit wäre, mich wieder zu nehmen, es könnte Jahre dauern, bis eine Stelle frei wird, und wer weiß, wo wir dann stehen? Vielleicht leitest du dann schon längst dein eigenes Dezernat.« Er lächelte nicht. »Wenn es so weit kommt, halten wir die Sache mit uns erst mal geheim. Das passiert andauernd, Sam. Das weißt du. Barry Norton und Elaine Leahy –« Norton und Leahy sind seit zehn Jahren im Betrugsdezernat und wohnen seit acht Jahren zusammen. Sie tun so, als hätten sie eine Fahrgemeinschaft gebildet, und bis hinauf zu ihrem Superintendent tun alle so, als wüssten sie von nichts. Sam schüttelte den Kopf wie ein großer Hund, der gerade aufwacht. »So will ich das nicht«, sagte er. »Ich wünsche den beiden nur das Beste und so, 1369
aber ich will was Reelles. Vielleicht wärst du damit zufrieden, so zu leben wie die zwei – ich hab mir immer schon gedacht, dass das ein Grund war, warum du keinem was von uns erzählen wolltest. Damit du irgendwann zurück ins Morddezernat kommen könntest. Aber ich will nicht bloß eine Bettgeschichte oder eine Affäre oder eine halbherzige Teilzeitbeziehung, wo wir so tun müssen, als wären wir … « Er kramte in seinem Mantel herum. Er war dermaßen übermüdet, dass seine Bewegungen tapsig waren, als wäre er betrunken. »Das hier schlepp ich schon mit mir rum, seit wir zwei Wochen zusammen waren. Weißt du noch? Unser Spaziergang auf Howth Head? An einem Sonntag?« Ich erinnerte mich. Ein kühler grauer Tag, weicher Regen schwerelos in der Luft, der Geruch des Meeres weitete mir die Brust; Sams Mund schmeckte salzig und frisch. Wir gingen am Rand hoher Klippen entlang, den ganzen Nachmittag, aßen abends Fish and Chips auf einer Bank, mir 1370
taten die Beine weh, und es war das erste Mal seit dem Knocknaree-Fall, dass ich mich wieder wie ich selbst fühlte. »Am Tag danach«, sagte Sam, »hab ich das hier gekauft. In der Mittagspause.« Er fand, wonach er suchte, und ließ es auf den Couchtisch fallen. Es war eine Ringschatulle aus blauem Samt. »Ach Sam«, sagte ich. »Ach Sam.« »Es war mir ernst«, sagte Sam. »Das hier, mein ich. Du, wir. Ich hab mich nicht bloß amüsiert.« »Ich mich auch nicht«, sagte ich. Damals in dem Beobachtungsraum; der Ausdruck in seinen Augen. Es warmir ernst. »Niemals. Ich … Ich hab mich bloß zwischendurch verloren, eine Zeitlang. Es tut mir so leid, Sam. Ich hab alles falsch gemacht, was man nur falsch machen kann, und es tut mir so leid.« »Ich liebe dich, Herrgott nochmal. Als du undercover gegangen bist, einfach so, da bin ich fast durchgedreht – und ich konnte nicht mal mit je-
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mandem drüber reden, weil keiner Bescheid wusste. Ich kann nicht … « Er verstummte, rieb sich die Augen mit den Handballen. Ich wusste, dass es eine feinfühlige Art geben musste, die Frage zu stellen, aber die Ränder meines Gesichtsfeldes verzogen sich ständig und flackerten, und ich konnte nicht klar denken. Ich fragte mich, ob es für dieses Gespräch einen schlechteren Zeitpunkt hätte geben können. »Sam«, sagte ich, »ich habe heute einen Menschen getötet. Gestern, egal. Ich habe keine Gehirnzellen mehr, die noch funktionieren. Du musst es mir jetzt klar und deutlich sagen: Machst du gerade mit mir Schluss, oder machst du mir einen Heiratsantrag?« Ich war mir ziemlich sicher, was von beidem der Fall war. Ich wollte es einfach nur hinter mich bringen, die üblichen Abschiedsfloskeln mit Anstand ertragen und mir dann den restlichen Brandy reinschütten, bis ich ohnmächtig ins Bett fiel.
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Sam starrte verblüfft auf die Ringschatulle, als wüsste er nicht, wie sie dahingekommen war. »Oh Gott«, sagte er. »Ich wollte nicht … ich hatte alles geplant: Dinner in einem schönen Restaurant, mit Ausblick und so. Und Champagner. Aber ich schätze – ich meine, jetzt, wo … « Er nahm die Schatulle, öffnete sie. Ich kam nicht mehr mit, das Einzige, was ich begriff, war, dass er mich anscheinend nicht abservierte und dass die Erleichterung reiner und schmerzvoller war, als ich es mir je hätte träumen lassen. Sam kämpfte sich vom Sofa hoch und kniete sich unbeholfen auf den Boden. »Also«, sagte er und hielt mir die Schatulle hin. Er war bleich, und seine Augen waren groß. Er wirkte genauso fassungslos wie ich. »Willst du mich heiraten?« Das Einzige, wonach mir der Sinn stand, war einfach loszulachen – nicht über ihn, bloß darüber, dass es dieser Tag geschafft hatte, auf der Skala des kreischenden Wahnsinns noch eine Stufe hö1373
her zu klettern. Ich hatte Angst, dass ich nicht wieder aufhören könnte, wenn ich einmal anfing. »Ich weiß«, sagte Sam und schluckte. »Ich weiß, das würde bedeuten, dass du nicht zurück ins Morddezernat kannst – nicht ohne Sondererlaubnis, und … « »Und keiner von uns kann in absehbarer Zeit mit irgendwelchen Vergünstigungen rechnen«, sagte ich. Daniels Stimme streifte meine Wange wie dunkle Federn, wie ein getragener Nachtwind, der von irgendeinem fernen Berg herunterweht. Nimm, was du willst, und bezahl dafür, sagt Gott. »Stimmt. Wenn du … Wenn du noch drüber nachdenken willst … « Wieder ein Schlucken. »Du musst dich nicht sofort entscheiden, klar. Ich weiß, heute Nacht ist nicht der beste Augenblick für … Aber vielleicht ging es nicht anders. Früher oder später muss ich es wissen.« Der Ring war schlicht, ein schlanker Reif mit einem runden Diamanten, der wie ein Tautropfen 1374
glitzerte. Ich hatte mir nie im Leben ausgemalt, einen Verlobungsring an meinem Finger zu sehen. Ich dachte an Lexie, wie sie ihren in einem dunklen Zimmer abgestreift, ihn neben dem Bett liegen gelassen hatte, das sie mit Chad teilte, und ich spürte, wie der Unterschied in die Ritze zwischen uns glitt, wie eine schmale Klinge: Ich konnte mir diesen Ring nicht auf den Finger stecken, ohne zu wissen, dass er auch da bleiben würde, für immer. »Ich möchte, dass du glücklich bist«, sagte Sam. Der fassungslose Ausdruck war aus seinen Augen gewichen, sie blickten jetzt klar und fest in meine. »Um jeden Preis. Es wäre sinnlos, wenn es dich nicht glücklich macht … Wenn du nicht glücklich sein kannst, ohne zurück ins Morddezernat zu kommen, dann sag es mir.« Es gibt so wenig Gnade auf dieser Welt. Lexie war geradewegs durch jeden hindurchgestoßen, der sich zwischen sie und die Tür stellte, Menschen, mit denen sie gelacht hatte, gearbeitet, geschlafen. Daniel, der sie geliebt hatte wie sein Le1375
ben, hatte sich neben sie gesetzt und ihr beim Sterben zugesehen, nur um zu verhindern, dass sein verwunschenes Schloss belagert wurde. Frank hatte mich an den Schultern gepackt und mich schnurstracks in etwas hineinbugsiert, von dem er wusste, dass es mich bei lebendigem Leibe auffressen konnte. Whitethorn House hatte mich in seine geheimen Gemächer gelassen und meine Wunden geheilt, und zum Dank hatte ich meine versteckten Sprengladungen angebracht und es in Stücke gesprengt. Rob, mein Partner, mein Waffenbruder, mein engster Freund, hatte mich aus seinem Leben gerissen und mich weggeworfen, weil er wollte, dass ich mit ihm schlief, und ich es getan hatte. Und als wir alle damit fertig waren, uns gegenseitig mit Klauen und Zähnen zu zerfetzen, war da Sam, der blieb, obwohl er allen Grund gehabt hätte, mir den Stinkefinger zu zeigen und zu gehen; er blieb, weil ich meine Hand ausstreckte und ihn darum bat.
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»Ich möchte wieder ins Morddezernat«, sagte ich, »aber es muss nicht sofort sein. Es muss nicht mal bald sein. Irgendwann, früher oder später, wird einer von uns irgendwas Geniales machen, und wir kriegen alle Pluspunkte der Welt, und dann bitten wir um eine Sondererlaubnis.« »Und wenn nicht? Wenn wir nie etwas Geniales machen oder wenn sie trotzdem nein sagen, was dann?« Wieder das Streifen von Federn an meiner Wange entlang. Es bereitwillig auf sich nehmen. »Dann«, sagte ich, »werd ich’s überleben. Und du wirst dich damit abfinden müssen, dass ich bis ans Ende unserer Tage über Maher schimpfe.« Ich hielt Sam meine Hand hin, und ich sah den Ausdruck, der in seinen Augen aufdämmerte, und als er meine Hand ergriff, um mir den Ring auf den Finger zu schieben, wurde mir klar, dass diesmal keine scharfkantige schwarze Panik durch mich hindurchstürzte, kein wilder Aufschrei, weil das Unwiderrufliche ganz nah ist und auf dich zu1377
rast, nein, ich fühlte mich überhaupt nicht verängstigt, sondern, im Gegenteil, sicher.
Später, als wir unter der warmen Decke im Bett lagen und der Himmel draußen sich lachsrosa verfärbte, sagte Sam: »Ich muss dich noch etwas fragen, aber ich weiß nicht, wie.« »Frag ruhig«, sagte ich. »Gehört ab jetzt dazu.« Ich hielt ihm meine linke Hand vor die Nase. Der Ring sah gut daran aus. Er passte sogar. »Nein«, sagte Sam. »Was Ernstes.« Ich dachte in dem Augenblick, dass ich auf alles gefasst war. Ich drehte mich auf den Bauch und stützte mich auf die Ellbogen, damit ich ihn richtig ansehen konnte. »Rob«, sagte er. »Du und Rob. Ich hab erlebt, wie ihr beide zusammen wart, wie nah ihr euch wart. Ich hab immer erwartet … ich hätte nie gedacht, dass ich eine Chance hatte.« Darauf war ich nicht gefasst gewesen. 1378
»Ich weiß nicht, was zwischen euch schiefgelaufen ist«, sagte Sam, »und ich frage auch nicht. Ich habe kein Recht, es zu wissen. Bloß … ich weiß ungefähr, was du durchgemacht hast, während des Knocknaree-Falls. Und danach. Ich wollte nicht neugierig sein, überhaupt nicht, aber ich war dabei.« Er blickte zu mir hoch, ruhige graue Augen, unverwandt. Ich konnte nichts erwidern, mein Atem war weg. Es war die Nacht mit den Lkw-Scheinwerfern, die Nacht, als ich Rob mit meinem Motorroller vom Tatort abgeholt hatte. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er sonst auseinanderfallen würde, einfach in eine Million Stücke zerbersten, aber nicht gut genug, um zu ahnen, dass er es trotzdem tun würde und dass ich lediglich das Flakfeuer auf mich gelenkt hatte. Wir taten etwas Schönes, und ich dachte, das hieße, es könnte kein Schaden daraus erwachsen. Seitdem ist mir der Gedanke gekommen, dass ich vielleicht doch um 1379
einiges naiver bin, als ich wirke. Wenn ich eins im Morddezernat gelernt habe, dann, dass Unschuld nicht genügt. Ich bin nicht Lexie, mein Körper funktioniert nicht wie ein Uhrwerk, schon gar nicht, wenn meine Nerven blankliegen und ich gestresst und ein Häufchen Elend bin. Als das schreckliche bange Gefühl einsetzte, hatte ich mich bereits ins DHG versetzen lassen, Rob war auf irgendein bürokratisches Abstellgleis geschoben worden, und alles, was wir je gehabt hatten, war niedergebrannt und nur noch bittere Asche. Er war so weit weg, dass ich ihn auf der anderen Seite nicht mal mehr sehen konnte. Ich erzählte es niemandem. Ich bestieg an einem graupeligen Samstag vor Tagesanbruch die Fähre nach England und war am selben Abend wieder in meiner dunklen Wohnung – zu fliegen wäre schneller gegangen, aber schon die Vorstellung, je eine Stunde auf dem Hin- und Rückflug stillzusitzen, Ellbogen an Ellbogen eingezwängt zwischen fremden Leuten, war unerträg1380
lich. Stattdessen marschierte ich an Deck der Fähre auf und ab. Auf der Rückfahrt wurde der Schneeregen stärker, und ich war nass bis auf die Haut. Wenn außer mir noch jemand an Deck gewesen wäre, hätte er gedacht, ich würde weinen, aber ich weinte nicht, kein einziges Mal. In der Zeit war Sam der einzige Mensch, den ich in meiner Nähe aushalten konnte. Alle anderen befanden sich auf der anderen Seite einer dicken, gewellten Glaswand. Sie jammerten und gestikulierten und schnitten Grimassen, und es kostete mich meine ganze Energie, dahinterzukommen, was sie von mir wollten, und mit den richtigen Geräuschen zu reagieren. Sam war der Einzige, den ich hören konnte, er hat eine schöne Stimme: eine Stimme vom Lande, bedächtig und ruhig, tief und satt wie Erde. Seine Stimme drang als einzige durch das Glas und kam mir real vor. Als wir uns an dem Montag nach der Arbeit auf einen Kaffee trafen, musterte er mich mit einem langen, forschenden Blick und sagte: »Du siehst 1381
aus, als hättest du die Grippe, die geht im Augenblick rum. Ich fahr dich nach Hause, ja?« Er packte mich ins Bett, ging einkaufen, kam zurück und kochte für mich einen Eintopf. In der Woche kochte er jeden Abend für mich und erzählte furchtbare Witze, bis ich schon lachen musste, wenn ich nur den hoffnungsvollen Ausdruck in seinem Gesicht sah. Sechs Wochen später war ich es, die ihn zuerst küsste. Als seine kantigen, sanften Hände meine Haut berührten, konnte ich spüren, wie gerissene Zellen heilten. Ich bin nie auf Sams Landei-Nummer reingefallen, ich war mir immer sicher, dass mehr dahintersteckt, aber mir war nicht ein einziges Mal der Gedanke gekommen – wie gesagt, ich bin naiver, als ich wirke –, dass er Bescheid gewusst hatte, die ganze Zeit, und so klug gewesen war, es auf sich beruhen zu lassen. »Ich muss nur eines wissen«, sagte Sam, »und zwar, ob es vorbei ist, für dich, die ganze Geschichte. Ob … Ich kann mich nicht unser ganzes 1382
Leben lang fragen, was passieren würde, wenn Rob wieder Vernunft annehmen und zurückkommen würde, um dich … Ich weiß, wie schwer es für dich war. Ich hab versucht, dir Freiraum zu lassen, so nennt man das wohl, um dir über manches klarzuwerden. Aber jetzt, wenn wir wirklich verlobt sind … muss ich es einfach wissen.« Das erste Sonnenlicht fiel auf sein Gesicht, machte ihn ernst und klarsichtig wie einen müden Apostel an einem Fenster. »Es ist vorbei«, sagte ich. »Ehrlich, Sam. Jetzt ist es wirklich vorbei.« Ich legte eine Hand an seine Wange. Sie war so blank, dass ich einen Moment lang dachte, sie würde mich verbrennen, ein reines, schmerzloses Feuer. »Gut«, sagte er mit einem Seufzer, und seine Hand hob sich, legte sich um meinen Hinterkopf und zog mich nach unten auf seine Brust. »Das ist gut«, und seine Augen fielen zu, noch ehe er den Satz beendete.
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Ich schlief bis zwei Uhr am Nachmittag. Irgendwann frühmorgens quälte Sam sich aus dem Bett, gab mir einen Kuss zum Abschied und schloss leise die Tür hinter sich, aber niemand rief an, um mir zu sagen, ich sollte gefälligst endlich zur Arbeit kommen, wahrscheinlich weil keiner so recht wusste, zu welchem Dezernat ich derzeit eigentlich gehörte oder ob ich suspendiert war oder ob ich überhaupt noch einen Job hatte. Als ich schließlich wach wurde, überlegte ich, mich krankzumelden, aber ich war mir nicht sicher, wen ich anrufen müsste – Frank vermutlich, aber der war ganz bestimmt nicht in Plauderlaune. Ich beschloss, dass sich andere den Kopf darüber zerbrechen sollten. Stattdessen ging ich in den Ortskern von Sandymount, übersah sorgsam alle Zeitungsschlagzeilen, kaufte etwas zu essen, ging nach Hause, aß das meiste von dem, was ich eingekauft hatte, und machte dann einen sehr langen Spaziergang am Strand.
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Es war ein geruhsamer, sonniger Nachmittag. Die Promenade war voll mit alten Menschen, die langsam spazieren gingen und die Gesichter in die Sonne hielten, Pärchen, die sich aneinanderschmiegten, aufgedrehte kleine Kinder, die durch die Gegend tapsten wie niedliche dicke Hummeln. Ich erkannte etliche Leute. Sandymount zählt noch zu den Orten, wo man bekannte Gesichter sieht und man sich zulächelt und bei den Kindern aus der Nachbarschaft selbstgemachtes Parfüm kauft. Das ist einer der Gründe, warum ich da wohne, aber an dem Tag kam mir alles fremd und beunruhigend vor. Mir war, als wäre ich zu lange fort gewesen, so lange, dass die Geschäfte alle hätten anders aussehen müssen, die Häuser mit neuen Farben gestrichen, die bekannten Gesichter älter, alt, verschwunden. Es war Ebbe. Ich zog die Schuhe aus, krempelte die Jeans hoch und ging hinaus auf den Sand, bis mir das Wasser um die Knöchel spülte. Ein Augenblick vom Tag zuvor ging mir immer wieder 1385
durch den Kopf: Rafes Stimme, leise und gefährlich wie Schnee, die zu Justin Du verdammter Scheißkerl sagte. In dieser letzten Sekunde, ehe alles explodierte, hätte ich eines tun können; ich hätte sagen können: »Justin?Du hast mich niedergestochen?« Er hätte geantwortet. Es wäre auf dem Band gewesen, und früher oder später hätte Frank oder Sam ihn dazu gebracht, es noch einmal zu sagen, und zwar nachdem er über seine Rechte belehrt worden war. Wahrscheinlich werde ich nie wissen, warum ich es nicht getan habe. Mitleid, vielleicht, ein Tröpfchen davon, zu wenig und zu spät. Oder – das würde Frank vermuten – zu starke emotionale Beteiligung, selbst da noch: Whitethorn House und die fünf, noch immer wie Pollenstaub über mich gepudert und ich noch immer glitzernd und trotzig: Wir gegen den Rest der Welt. Oder vielleicht, und ich hoffe, dass das der eigentliche Grund war, weil die Wahrheit komplizierter und 1386
unzugänglicher ist, als ich einmal dachte, ein heller trügerischer Ort, zu dem man über verwinkelte kleine Nebenstraßen ebenso gelangt wie über schnurgerade Alleen, und näher konnte ich nun mal nicht herankommen. Als ich nach Hause kam, saß Frank auf den Stufen vor der Haustür, ein Bein ausgestreckt, ärgerte die Katze von nebenan mit einem losen Schnürsenkel und pfiff dabei tonlos »Leave Her, Johnny, Leave Her«. Er sah schrecklich aus, zerknautscht und übernächtigt und unrasiert. Als er mich sah, zog er das Bein wieder an und stand auf, woraufhin die Katze in die Büsche davonhuschte. »Detective Maddox«, sagte er. »Sie sind heute nicht zur Arbeit erschienen. Gibt es ein Problem?« »Ich wusste nicht, für wen ich zurzeit arbeite«, sagte ich. »Ob überhaupt für irgendwen. Außerdem hab ich ausgeschlafen. Mir stehen noch ein paar Tage Urlaub zu. Einen davon nehme ich gerade.«
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Frank seufzte. »Vergiss es. Ich überleg mir was – für einen weiteren Tag gehörst du noch zu meiner Truppe. Aber ab morgen bist du wieder im DHG.« Er trat beiseite, um mich die Tür öffnen zu lassen. »Es war hart.« »Ja«, sagte ich. »Das war’s.« Er folgte mir die Treppe hinauf in meine Wohnung und steuerte schnurstracks auf die Kaffeemaschine zu – es war noch eine halbe Kanne kalter Kaffee von meinem verspäteten Frühstück übrig. »Das seh ich gern«, sagte er und nahm eine Tasse vom Abtropfbrett. »Wenn ein Detective immer auf alles vorbereitet ist. Willst du auch welchen?« »Ich hab schon jede Menge intus«, sagte ich. »Bedien dich.« Mir war schleierhaft, weshalb er gekommen war: um eine Nachbesprechung zu machen, mir den Kopf zu waschen, sich wieder zu vertragen, keine Ahnung. Ich hängte meine Jacke auf und fing an, die Bettwäsche vom Futon zu
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ziehen, damit wir uns setzen konnten, ohne uns zu nahe kommen zu müssen. »Also«, sagte Frank, stellte seine Tasse in die Mikrowelle und drückte Knöpfe. »Hast du von der Sache mit dem Haus gehört?« »Sam hat’s mir erzählt.« Ich spürte, dass er den Kopf drehte. Ich wandte ihm weiter der Rücken zu und brachte den Futon in die Sofaversion. Nach einem Augenblick sprang die Mikrowelle surrend an. »Tja«, sagte Frank. »Wie gewonnen, so zerronnen. Es war bestimmt versichert. Hast du schon mit denen vom DIA gesprochen?« »Allerdings«, sagte ich. »Die sind gründlich.« »Haben sie dir schlimm zugesetzt?« Ich zuckte die Achseln. »Nicht schlimmer als erwartet. Was ist mit dir?« »Wir hatten schon mal das Vergnügen«, sagte Frank, ohne genauer zu werden. Die Mikrowelle piepste. Er holte die Zuckerdose aus dem Schrank und tat drei Löffel in seinen Kaffee. Frank nimmt 1389
sonst nie Zucker. Er kämpfte mit allen Mitteln darum, wach zu bleiben. »Das mit dem Schusswechsel gibt keine Probleme. Ich hab mir die Aufnahmen angehört: drei Schüsse, die ersten beiden ein gutes Stück von dir entfernt – die Computerjungs kriegen noch raus, wie weit genau – und dann der dritte direkt am Mikro, mir ist fast das Trommelfell geplatzt. Und ich hatte auch einen kleinen Plausch mit meinem Kumpel bei der Kriminaltechnik, nachdem die alle Spuren gesichert hatten. Die Flugbahn von einer der Kugeln aus Daniels Revolver ist anscheinend ein hundertprozentiges Spiegelbild von der aus deiner Waffe. Keine Frage: Du hast erst gefeuert, nachdem er direkt auf dich geschossen hatte.« »Ich weiß«, sagte ich. Ich faltete die Bettwäsche zusammen und warf sie in den Schrank. »Ich war dabei.« Er lehnte sich gegen die Arbeitsplatte, trank einen Schluck Kaffee und beobachtete mich. »Lass dich von den DIA-Jungs nicht nervös machen.« 1390
»Die Sache war ein Fiasko, Frank«, sagte ich. »Die Medien werden sich draufstürzen, und die hohen Tiere bei uns werden wollen, dass irgendwer den Kopf hinhält.« »Wofür? Der Schusswechsel war wie aus dem Lehrbuch. Das Haus geht auf Byrne: Er sollte drauf aufpassen, er hat Mist gebaut. Für alles andere haben wir die beste Verteidigung: Es hat funktioniert. Wir haben den Täter überführt, auch wenn wir ihn nicht festnehmen konnten. Solange du dir keine Dummheiten leistest – nicht noch mehr Dummheiten –, müssten wir alle mit einem blauen Auge davonkommen.« Ich setzte mich aufs Sofa und fand meine Zigaretten. Ich konnte nicht sagen, ob er mich beruhigen oder mir drohen wollte oder vielleicht ein bisschen von beidem. »Was ist mit dir?«, fragte ich vorsichtig. »Wenn du schon mal das Vergnügen mit dem DIA hattest … «
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Ein Augenbrauenzucken. »Schön zu wissen, dass du dir Sorgen machst. Außerdem hab ich was in der Hinterhand, falls alle Stricke reißen.« Die Tonbandaufnahme – meine Missachtung seiner direkten Anweisung, die Operation zu beenden – blitzte zwischen uns auf, so greifbar, als hätte er sie auf den Tisch geworfen. Er wäre damit zwar nicht aus dem Schneider – ein Einsatzleiter sollte seine Truppe im Griff haben –, aber ich würde mit hineingezogen, und wer weiß, vielleicht würde er sich rausmanövrieren können, wenn ein anderer Sündenbock zur Verfügung stand. In dem Augenblick begriff ich erst richtig, dass Frank mir die Schuld für den ganzen Schlamassel in die Schuhe schieben, mir die Karriere versauen könnte, wenn er wollte, und dass er wahrscheinlich das Recht dazu hatte. Ich sah den winzigen Anflug von Belustigung in seinen blutunterlaufenen Augen: Er wusste, was mir durch den Kopf ging. »Hinterhand?«, sagte ich. 1392
»Hab ich das nicht immer?«, sagte Frank und klang auf einmal müde und alt. »Hör mal, die vom DIA müssen sich ein bisschen wichtig machen, damit sie das Gefühl haben, sie kriegen noch einen hoch, aber sie wollen dir nicht an den Kragen – auch deinem Sammy nicht. Die werden mir ein paar Wochen Unterhaltung bieten, aber am Ende geht alles für uns prima aus.« Mein jäher Zorn erschreckte mich. Ob Frank nun beschloss, mich den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen, oder nicht – und ich wusste, ich würde ihn mit nichts in die eine oder andere Richtung beeinflussen können –, diese Situation war in jeder Hinsicht alles andere prima. »Super«, sagte ich. »Schön zu hören.« »Warum machst du dann so ein langes Gesicht?« Ich hätte ihm fast das Feuerzeug an den Kopf geworfen. »Herrgott, Frank! Ich habe Daniel getötet. Ich hab unter seinem Dach gelebt, ich habe neben ihm an seinem Tisch gesessen, ich habe 1393
sein Essen gegessen« – ich sagte nicht: Ich habe ihn geküsst –, »und dann hab ich ihn getötet. Jeden Tag, den er noch hätte leben können, wird er nicht mehr da sein, und das meinetwegen. Ich hatte die Aufgabe, einen Mörder zu schnappen, ich hab diese Arbeit jahrelang mit Herz und Seele gemacht, und jetzt bin ich –« Ich verstummte, weil meine Stimme bebte. »Weißt du was?«, sagte Frank nach einem Augenblick. »Du hast die schlechte Angewohnheit, dich für den Mist, den andere Leute um dich herum verzapfen, zu sehr verantwortlich zu fühlen.« Er kam mit seiner Tasse zum Sofa und ließ sich darauffallen, die Beine weit gespreizt. »Daniel March war kein Idiot. Er wusste genau, was er tat, und er hat dich absichtlich in eine Position gebracht, in der du absolut keine andere Wahl hattest, als ihn auszuschalten. Das war kein Totschlag, Cassie. Das war nicht mal Notwehr, das war indirekter Selbstmord: Er wollte sich von dir erschießen lassen.« 1394
»Ich weiß«, sagte ich. »Ich weiß das.« »Er wusste, dass es vorbei war, und er wollte keinesfalls in den Knast, was ich verstehen kann. Oder kannst du dir etwa vorstellen, dass er mit den Jungs im Zellenblock Freundschaft geschlossen hätte? Also hat er sich für einen Ausweg entschieden und hat ihn genommen. Eins muss ich dem Burschen lassen: Mumm hatte er. Ich hab ihn unterschätzt.« »Frank«, sagte ich. »Hast du schon mal jemanden getötet?« Er griff nach meiner Zigarettenpackung und fixierte die Flamme, als er sich mit einer Hand eine Zigarette anzündete. »Du hast bei dem Schusswechsel alles richtig gemacht«, sagte er, nachdem er sein Feuerzeug weggesteckt hatte. »Es ist passiert, es war unschön, in ein paar Wochen ist alles ausgestanden. Basta.« Ich antwortete nicht. Frank blies eine Rauchfahne an die Decke. »Cassie, du hast den Fall gelöst. Wenn du dabei jemanden erschießen muss1395
test, dann von mir aus Daniel. Ich konnte das kleine Arschloch nie leiden.« Ich war nicht in der Stimmung, meine Wut zu zügeln, nicht bei ihm. »Ja, Frank, das hab ich gemerkt. Das hat jeder gemerkt, der auch nur ein bisschen was mit dem Fall zu tun hatte. Und weißt du, warum du ihn nicht leiden konntest? Weil er genauso war wie du.« »Sieh an, sieh an«, sagte Frank. Ein belustigter Zug umspielte seinen Mund, aber seine Augen waren eisblau und starr, und ich konnte nicht sagen, ob er wütend war oder nicht. »Da hätte ich doch fast vergessen, dass du mal Psychologie studiert hast.« »Haargenau wie du war er, Frank.« »Schwachsinn. Der Typ war verkorkst, Cassie. Weißt du noch, was du gesagt hast, in deinem Täterprofil? Kriminelle Erfahrungen. Erinnerst du dich?« »Was, Frank«, sagte ich. Ich merkte, dass ich die Füße unter mir hervorgezogen und fest auf 1396
dem Boden gestemmt hatte. »Was hast du bei Daniel gefunden?« Frank schüttelte den Kopf, ein kurzes uneindeutiges Zucken über seiner Zigarette. »Ich musste gar nichts finden. Ich weiß, wenn jemand falsch riecht, und du weißt das auch. Es gibt eine Grenze, Cassie. Du und ich, wir leben auf einer Seite von ihr. Selbst wenn wir Mist bauen und auf die andere Seite überwechseln, hindert diese Grenze uns daran, dass wir uns verirren. Daniel hatte diese Grenze nicht.« Er beugte sich über den Couchtisch, um die Asche abzuklopfen. »Es gibt eine Grenze«, sagte er. »Vergiss nie, dass es eine Grenze gibt.« Langes Schweigen trat ein. Das Fenster wurde allmählich dunkler. Ich dachte an Abby und Rafe und Justin, fragte mich, wo sie wohl die Nacht verbringen würden, ob John Naylor im Mondlicht ausgestreckt in den Ruinen von Whitethorn House schlafen würde, für eine Nacht der König über all
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unsere Trümmer. Ich wusste, was Frank sagen würde: Nicht dein Problem, nicht mehr. »Was mich interessieren würde«, sagte Frank nach einer Weile, und sein Tonfall hatte sich verändert, »wann hat Daniel dich durchschaut? Denn das hat er.« Ein rasches blaues Funkeln, als er zu mir aufsah. »So wie er geredet hat, bin ich mir ziemlich sicher, dass er von deinem Mikro wusste – aber das ist nicht der springende Punkt. Wir hätten ja auch Lexie verdrahten können, wenn es sie noch gegeben hätte, deshalb kann das Mikro allein ihm nicht verraten haben, dass du von der Polizei bist. Aber als Daniel gestern das Haus betrat, wusste er ganz genau, dass du eine Schusswaffe bei dir hast und dass du sie benutzen würdest.« Er setzte sich bequemer hin, einen Arm ausgestreckt auf der Sofalehne, und zog an seiner Zigarette. »Irgendeine Idee, was dich verraten hat?« Ich zuckte die Achseln. »Ich würde auf die Zwiebeln tippen. Ich weiß, wir haben gedacht, ich
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hätte mich gut rausgeredet, aber Daniel konnte besser pokern, als wir dachten.« »Fürwahr«, sagte Frank. »Und du bist sicher, das war alles? Er hatte kein Problem mit, sagen wir, deinem Musikgeschmack?« Er wusste es, er wusste das mit Fauré. Er konnte sich unmöglich sicher sein, aber all seine Instinkte sagten ihm, dass da etwas oberfaul war. Ich zwang mich, ihm in die Augen zu sehen, verwirrt und ein wenig kläglich. »Mir fällt sonst nichts ein.« Rauchkringel hingen im Sonnenlicht. »Na schön«, sagte Frank endlich. »Tja. Wie es so schön heißt, der Teufel steckt im Detail. Das mit den Zwiebeln hättest du nicht vorhersehen können – was bedeutet, du hättest es nicht verhindern können, dass du aufgeflogen bist. Richtig?« »Richtig«, sagte ich, und zumindest das kam mir leicht über die Lippen. »Ich hab getan, was ich konnte, Frank. Ich war Lexie Madison, so gut ich konnte.«
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»Und wenn du, nur mal angenommen, vor zwei Tagen gemerkt hättest, dass Daniel dich durchschaut hatte, hättest du dann vielleicht irgendwas tun können, wodurch die Sache ein besseres Ende genommen hätte?« »Nein«, sagte ich, und ich wusste, auch das war die Wahrheit. Dieser Tag hatte Jahre zuvor begonnen, in Franks Büro, bei verbranntem Kaffee und Schokokeksen. Schon als ich den Lebenslauf in mein Uniformhemd steckte und zurück zur Bushaltestelle ging, da war dieser Tag bereit und wartete auf uns alle. »Ich glaube, das war das beste Ende, das wir je haben konnten.« Er nickte. »Dann hast du deinen Job gemacht. Belass es dabei. Du kannst dir nicht den Mist ankreiden, den andere verzapfen.« Ich versuchte nicht mal, ihm zu erklären, was ich in dem Augenblick sah, das feine ausufernde Netz, durch das wir uns alle gegenseitig bis zu diesem Punkt gezogen hatten, die mannigfache Unschuld, aus der sich Schuld ergibt. Ich dachte 1400
an Daniel, der mit unbeschreiblicher Traurigkeit wie ein Brandmal im Gesicht zu mir sagt,Lexie hatte kein Konzept von Handlung und ihren Folgen, und ich spürte, wie die schlanke Klinge tiefer zwischen sie und mich glitt, uns trennte. »Womit ich«, sagte Frank, »zu dem Grund meines Besuches komme. Ich habe noch eine weitere offene Frage in diesem Fall, und ich habe das seltsame Gefühl, dass du sie mir vielleicht beantworten kannst.« Er fischte etwas aus seiner Tasse und blickte dann auf. »War es wirklich Daniel, der Lexie erstochen hat? Oder hat er bloß den Kopf hingehalten, aus irgendeinem bescheuerten Grund, den nur er uns verraten könnte?« Diese gelassenen blauen Augen, über den Couchtisch hinweg. »Du hast dasselbe gehört wie ich«, sagte ich. »Er ist der Einzige, der konkret wurde. Die anderen drei haben mir keinen Namen genannt. Sagen sie, er war es nicht?« »Die sagen keinen Mucks. Wir haben sie heute den ganzen Tag und fast die ganze letzte Nacht in 1401
die Mangel genommen, und bis auf: ›Ich möchte ein Glas Wasser‹ haben wir kein Wort aus ihnen rausgekriegt. Justin hat sich ordentlich die Augen ausgeheult, und Rafe hat einen Stuhl durch die Gegend geschmissen, als er erfuhr, dass er den ganzen letzten Monat eine Schlange an seiner Brust genährt hat – wir mussten ihn in Handschellen legen, bis er sich wieder beruhigt hat –, aber das war’s dann auch schon an Kommunikation. Die führen sich auf wie Kriegsgefangene.« Daniel, der einen Finger an die Lippen hob, dessen Augen von einem zum anderen glitten, mit einer Intensität, die ich nicht verstanden hatte, in der Situation. Selbst für diesen Punkt weit jenseits des entferntesten Horizonts seines Lebens hatte er einen Plan gehabt. Und die anderen drei taten noch immer das, was er ihnen gesagt hatte, ob aus Vertrauen in ihn oder aus Gewohnheit oder bloß weil sie sonst nichts mehr hatten, woran sie sich festhalten konnten.
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»Ich frage deshalb«, sagte Frank, »weil die Geschichten nicht ganz passen. Fast, aber nicht ganz. Daniel hat dir erzählt, er hätte zufällig ein Messer in der Hand gehabt, weil er gerade beim Spülen war, aber auf dem Tonband sagen sowohl Rafe als auch Justin, Daniel hätte bei dem Kampf mit Lexie beide Hände benutzt. Bevorsie niedergestochen wurde.« »Vielleicht bringen sie was durcheinander«, sagte ich. »Es ging sehr schnell. Du weißt ja selbst, wie viel Zeugenaussagen wert sind. Vielleicht hat Daniel das auch runtergespielt, als hätte er zufällig das Messer in der Hand gehabt, wo er es in Wirklichkeit in der Absicht genommen hat, Lexie niederzustechen. Wahrscheinlich werden wir nie erfahren, wie es genau war.« Frank zog an seiner Zigarette, beobachtete die kleine, rote Glut. »Soweit ich das beurteilen kann«, sagte er, »kommt nur eine Person in Frage, die beim Spülen war und die nichts anderes mit den Händen gemacht hat zwischen dem Augen1403
blick, als der Zettel aus der Jacke zum Vorschein kam, und dem Augenblick, in dem Lexie niedergestochen wurde.« »Daniel hat sie getötet«, sagte ich, und in dem Moment kam es mir nicht wie eine Lüge vor, und jetzt auch nicht. »Ich bin sicher, Frank. Er hat die Wahrheit gesagt.« Frank studierte mein Gesicht einen langen Augenblick. Dann: »Okay«, sagte er mit einem Seufzer. »Ich verlass mich auf dein Wort. Ich kann mir zwar nach wie vor nicht vorstellen, dass er der Typ gewesen sein soll, der so ausrastet, ohne Plan, ohne Methode, aber hey, vielleicht hatten wir weniger gemeinsam, als du denkst. Ich hab von Anfang an auf jemand anderen getippt, aber wenn alle wollen, dass Daniel es war … « Ein kleiner Ruck mit dem Kopf nach hinten, wie ein Achselzucken. »Dann kann ich nicht viel dagegen machen.« Er drückte seine Zigarette aus und stand auf. »Hier«, sagte er und fischte etwas aus einer Ja1404
ckentasche. »Dann kann ich dir das ja ruhig geben.« Er warf es mir über den Tisch zu. Es blitzte im Sonnenlicht auf, und ich fing es reflexartig, mit einer Hand. Es war eine Minikassette, so eine, wie sie die Undercoverabteilung zum Abhören verwendet. »Da bist du drauf, wie du deine Karriere im Klo runterspülst. Ich muss auf ein Kabel getreten sein, als ich an dem Tag mit dir telefoniert hab, und da ist irgendeine Verbindung unterbrochen worden. Auf dem offiziellen Band ist gut fünfzehn Minuten lang nichts drauf, ehe ich gemerkt hab, dass was nicht stimmt, und alles wieder eingestöpselt hab. Die Techniker wollen mich teeren und federn, weil ich ihre geliebten Apparate malträtiert hab, aber da werden sie sich hinten anstellen müssen.« Nicht sein Stil, hatte ich in der Nacht zuvor zu Sam gesagt, nicht Franks Stil, mich den Kopf hinhalten zu lassen. Und davor, ganz am An1405
fang: Lexie Madison war Franks Verantwortung, als er sie aus dem Nichts erschuf, sie blieb seine Verantwortung, als sie tot gefunden wurde. Er hatte wegen dieses grauenhaften Schlamassels nicht etwa Schuldgefühle, weit gefehlt – sobald er das DIA vom Hals hatte, würde er wahrscheinlich keinen Gedanken mehr daran verschwenden. Aber manche Menschen kümmern sich um ihre Leute, ganz gleich, was das am Ende auch bedeuten mag. »Keine Kopien«, sagte Frank. »Dir passiert nichts.« »Als ich vorhin gesagt hab, du bist genau wie Daniel«, sagte ich, »war das nicht als Beleidigung gemeint.« Ich sah irgendetwas Vielschichtiges in seinen Augen schimmern, als er darüber nachdachte. Schließlich nickte er. »In Ordnung«, sagte er. »Danke, Frank«, sagte ich und schloss die Hand um die Kassette. »Danke.«
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»Holla«, sagte Frank plötzlich. Seine Hand schoss nach vorn über den Tisch und packte mein Handgelenk. »Und was haben wir denn da?« Der Ring. Ich hatte ihn vergessen; mein Kopf musste sich erst noch dran gewöhnen. Fast hätte ich losgekichert, als ich seinen Gesichtsausdruck bemerkte. Ich hatte Frank Mackey noch nie so völlig baff gesehen. »Ich finde, er steht mir«, sagte ich. »Gefällt er dir?« »Ist der neu? Oder hab ich da die ganze Zeit was nicht mitgekriegt?« »Ziemlich neu«, sagte ich, »ja.« Dieses träge, hämische Grinsen, mit einem Mal wirkte er hellwach und sprudelnd vor Energie, zu allem bereit. »Na, ich glaub, mich tritt ein Pferd«, sagte er. »Ich weiß nicht, wer von euch beiden mich da eben mehr überrascht hat. Ich muss schon sagen, Hand aufs Herz, ich zieh meinen Hut vor deinem Sammy. Bestell ihm, dass ich ihm viel Glück wünsche, ja?« Er fing an zu lachen. »Heiliger Strohsack«, sagte er, »der Tag ist für mich ge1407
rettet. Cassie Maddox heiratet! Du meine Güte! Dem Mann wünsch ich alles Glück der Welt!«, und noch als er die Treppe hinunterlief, lachte er aus vollem Halse.
Ich blieb lange Zeit auf dem Futon sitzen, drehte die Kassette in den Händen und versuchte, mich zu erinnern, was noch alles darauf war – was ich gemacht hatte, an dem Tag, außer alles auf eine Karte zu setzen und Frank förmlich herauszufordern, mich zu feuern. Brummschädel, Kaffee und Bloody Marys, und wir alle, die wir uns gegenseitig angiften. Daniels Stimme, die in Lexies dunklem Zimmer fragt: Wer bist du? Fauré. Ich glaube, Frank ging davon aus, dass ich die Aufnahmen vernichten würde, das Band abspulen und durch den Schredder jagen – ich hab keinen, aber ich wette, er hat einen. Stattdessen kletterte ich auf die Arbeitsplatte in der Küche, holte den Schuhkarton mit meinem offiziellen Kram herun1408
ter und legte die Kassette hinein, zu meinem Pass und meiner Geburtsurkunde und meinen ärztlichen Unterlagen und Visa-Abrechnungen. Ich will sie mir anhören, irgendwann mal.
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26 Einige Wochen nach Abschluss der SOKO Spiegel, als ich mich noch immer mit dem Papierkram herumschlug und darauf wartete, dass irgendwer irgendwo eine Entscheidung traf, rief Frank an. »Ich hab Lexies Dad in der Leitung«, sagte er. »Er möchte mit dir sprechen.« Ein Klicken, dann war er weg, und das blinkende rote Lämpchen an meinem Apparat signalisierte, dass ich einen Anruf in der Warteschleife hatte. Ich schob Schreibtischdienst im DHG. Es war Mittagspause, ein ruhiger Sommertag mit blauem Himmel. Alle anderen waren nach draußen gegangen und lagen sicherlich im Stephen’s Green auf dem Rasen, die Ärmel hochgekrempelt in der Hoffnung, etwas Bräune abzukriegen, aber ich ging Maher aus dem Weg, der andauernd mit seinem Stuhl näher rückte und mich verschwörerisch fragte, was das für ein Gefühl sei, einen Menschen zu erschießen, daher erfand ich an den meisten 1410
Tagen dringenden Papierkram und ging dann sehr spät in die Pause. Am Ende war alles ganz einfach gewesen: Auf der anderen Seite des Globus war ein junger Cop namens Ray Hawkins eines Morgens zur Arbeit gefahren und hatte seine Hausschlüssel vergessen. Sein Dad hatte sie ihm aufs Revier gebracht. Der Vater war Detective im Ruhestand, und er hatte automatisch einen Blick auf das Anschlagbrett im Eingangsbereich geworfen – Warnhinweise, gestohlene Autos, Suchmeldungen –, während er Ray die Schlüssel übergab und ihn daran erinnerte, nach Dienstschluss Fisch fürs Abendessen zu besorgen. Und dann hatte er gesagt, Moment mal, die Frau da kenn ich irgendwoher. Danach hatten sie lediglich die Vermisstenakten der letzten Jahre durchgehen müssen, bis ihnen das Gesicht entgegensprang, ein letztes Mal. Sie hieß Grace Audrey Corrigan, und sie war zwei Jahre jünger als ich gewesen. Ihr Vater hieß Albert. Er hatte eine kleine Rinderfarm namens 1411
Merrigullan, irgendwo in den riesigen namenlosen Weiten im Westen Australiens. Er hatte seine Tochter seit dreizehn Jahren nicht mehr gesehen. Frank hatte ihm gesagt, ich sei die Kollegin, die mit dem Fall am meisten zu tun gehabt, ihn schließlich aufgeklärt hätte. Zuerst fiel es mir schwer, mich in seinen starken australischen Akzent einzuhören. Ich rechnete mit unzähligen Fragen, aber er fragte mich gar nichts, zunächst nicht. Stattdessen erzählte er mir Dinge, die ich ihn nie hätte fragen können. Seine Stimme – tief, ein wenig rau, die Stimme eines kräftigen Mannes – hatte einen langsamen Rhythmus, mit großen Pausen, als wäre er es nicht gewohnt zu reden, aber er redete lange. Er hatte dreizehn Jahre lang Worte aufgespart, während er darauf wartete, dass dieser Tag ihn heimsuchte. Gracie sei ein wunderbares Kind gewesen, sagte er, als sie klein war. Ein messerscharfer Verstand, sie hätte mit Leichtigkeit ein Studium geschafft, aber sie sei nicht interessiert gewesen. Richtig 1412
häuslich sei sie gewesen, sagte Albert Corrigan. Mit acht Jahren habe sie ihm erklärt, sobald sie achtzehn wäre, würde sie einen von den Cowboys heiraten, damit sie beide die Farm übernehmen und sich um ihn und ihre Mum kümmern könnten, wenn sie alt wären. »Sie hatte alles bis ins Kleinste geplant«, sagte er. Trotz allem schwangen die Reste eines alten Lächelns in seiner Stimme mit. »Sie meinte, in ein paar Jahren sollte ich anfangen, das mit zu bedenken, wenn ich neue Leute einstellte – ich sollte nach jemandem Ausschau halten, den sie heiraten könnte. Sie hat gesagt, große Blonde würden ihr gefallen, und Männer dürften auch ruhig mal laut werden, aber sie könnte es nicht leiden, wenn sie sich betranken. Sie hat immer gewusst, was sie wollte, Gracie.« Aber als sie neun war, hatte ihre Mutter bei der Geburt von Grace’ kleinem Bruder so starke Blutungen bekommen, dass sie starb, ehe ein Arzt eintraf. »Gracie war noch zu klein, um so etwas zu hören«, sagte er. So schlicht und schwer, wie sich 1413
seine Stimme senkte, wusste ich, dass er das zahllose Male gedacht hatte, dass es ihm eine tiefe Furche in die Seele gegraben hatte. »Ich wusste es gleich, als ich es ausgesprochen hatte. Der Ausdruck in ihren Augen: Sie war zu klein, um das zu hören. Es hat ihr einen Knacks verpasst. Wenn sie zwei, drei Jahre älter gewesen wäre, hätte sie sich vielleicht berappelt. Aber sie hat sich verändert, danach. Nichts, was man genau hätte benennen können. Sie war nach wie vor ein wunderbares, braves Kind, war fleißig in der Schule und so, gab keine Widerworte. Kümmerte sich um den Haushalt – so ein schmächtiges Mädchen, stand am Herd, der größer war als sie, und kochte Rindseintopf, genau wie ihre Mutter immer. Aber ich hab nie wieder erfahren, was in ihrem Kopf vor sich ging.« In den Sprechpausen rauschten die statischen Störungen in meinem Ohr, ein unaufhörliches dumpfes Murmeln wie bei einer Muschel. Ich wünschte, ich hätte mehr über Australien gewusst. 1414
Ich dachte an rote Erde und Sonne, die einen traf wie ein Schrei, gekrümmte Pflanzen, so unverwüstlich, dass sie Leben aus dem Nichts saugten, unermessliche Weiten, die einen schwindelig machten, vollkommen verschluckten. Mit zehn war sie zum ersten Mal weggelaufen. Schon nach wenigen Stunden wurde sie gefunden, am Straßenrand, das Wasser war ihr ausgegangen, und sie weinte vor Wut, doch im nächsten Jahr und dem darauf probierte sie es erneut. Jedes Mal schaffte sie es ein kleines Stück weiter. In der Zeit dazwischen erwähnte sie ihre Ausreißversuche mit keinem Wort, starrte ihn bloß mit ausdrucksloser Miene an, wenn er sie darauf ansprach. Er wusste nie, wann er morgens aufwachen und feststellen würde, dass sie fort war. Er deckte sich im Sommer nachts warm zu und im Winter gar nicht, damit er einen leichteren Schlaf hatte und hoffentlich wach wurde, falls eine Tür klickte. »Mit sechzehn hat sie es dann geschafft«, sagte er, und ich hörte ihn schlucken. »Hat dreihundert 1415
Dollar geklaut, die ich unter der Matratze liegen hatte, und einen Landrover von der Farm. An allen anderen Wagen hat sie die Luft aus den Reifen gelassen, damit wir nicht so schnell hinter ihr herkonnten. Sie ist in die Stadt gefahren, hat den Landrover an der Tankstelle stehen lassen und sich von einem Trucker, der in Richtung Osten fuhr, mitnehmen lassen. Die Polizei meinte, sie würden tun, was sie können, aber wenn sie nicht gefunden werden wollte … Australien ist groß.« Er hatte vier Monate nichts von ihr gehört, sah sie in seinen Träumen irgendwo aus dem Auto geworfen im Straßengraben, von Dingos aufgefressen, unter einem riesigen roten Mond. Dann, am Tag vor seinem Geburtstag, bekam er eine Karte. »Moment«, sagte er. Rascheln, ein dumpfes Geräusch, als wäre etwas heruntergefallen, Hundegebell, irgendwo weit weg. »Ich hab’s. Also: ›Lieber Dad, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Mir geht’s gut. Ich habe einen Job, und ich habe 1416
gute Freunde. Ich komme nicht zurück, aber ich wollte mich mal melden. Alles Liebe, Grace. PS: Keine Bange, ich geh nicht auf den Strich.‹« Er lachte, wieder dieses raue kurze Atmen. »Ganz schöne Marke, was? Und sie hatte recht, wissen Sie, das hatte ich tatsächlich befürchtet – hübsches Mädchen ohne Ausbildung … Aber sie hätte das nicht extra geschrieben, wenn es nicht wahr gewesen wäre. Nicht Gracie.« Die Karte war in Sydney abgestempelt. Er hatte alles stehen- und liegenlassen, war zum nächsten Flugplatz gefahren und mit der Postmaschine nach Sydney geflogen, wo er fotokopierte Handzettel an Laternenpfähle klebte, Wer hat dieses Mädchen gesehen? Niemand meldete sich. Die Karte im nächsten Jahr war aus Neuseeland gekommen: »Lieber Dad. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Bitte hör auf, nach mir zu suchen. Ich musste wegziehen, weil ich ein Plakat von mir gesehen habe. Mir geht’s gut, also lass es bleiben. Alles Liebe, Grace. PS: Ich lebe nicht in Welling1417
ton, ich bin bloß hergefahren, um die Karte einzuwerfen, also spar dir die Mühe.« Er hatte keinen Reisepass, wusste nicht mal, wo und wie man einen beantragte. Bis zu Grace’ achtzehntem Geburtstag waren es nur noch wenige Wochen, und die Polizei in Wellington wies ihn vernünftigerweise darauf hin, dass sie eine gesunde Erwachsene nicht daran hindern konnten, von zu Hause auszuziehen. Es waren noch zwei weitere Karten von dort gekommen – sie hatte sich einen Hund und eine Gitarre zugelegt – und dann, 1996, eine aus San Francisco. »Sie hat es also schließlich nach Amerika geschafft«, sagte er. »Weiß der Teufel, wie sie das angestellt hat. Ich schätze, Grace hat sich einfach von nichts und niemandem aufhalten lassen.« Es hatte ihr dort gefallen – sie fuhr mit der Straßenbahn zur Arbeit, und sie wohnte mit einer Bildhauerin zusammen, die ihr Töpfern beibrachte –, aber im Jahr darauf war sie in North Carolina, ohne Erklärung. Vier
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Karten von dort, eine aus Liverpool mit einem Foto von den Beatles drauf, dann die drei aus Dublin. »Sie hatte Ihren Geburtstag in ihrem Terminkalender markiert«, sagte ich. »Ich weiß, sie hätte Ihnen auch dieses Jahr eine geschickt.« »Ja«, sagte er. »Wahrscheinlich.« Irgendwo im Hintergrund stieß ein Vogel einen lauten, sinnlosen Schrei aus. Ich stellte mir vor, wie er auf einer verwitterten Holzveranda saß, umgeben von Tausenden von Meilen Wildnis mit ihren eigenen reinen und gnadenlosen Regeln. Ein langes Schweigen folgte. Ich merkte, dass ich meine freie Hand dezent in den Ausschnitt meines Oberteils geschoben hatte, um Sams Verlobungsring zu berühren. Solange die SOKO Spiegel nicht offiziell abgeschlossen war und wir die Nachricht nicht verbreiten konnten, ohne den Kollegen vom DIA ein kollektives Aneurysma zu bescheren, trug ich ihn an einer dünnen Goldkette, die mal meiner Mutter gehört hatte. Der Ring hing zwischen meinen Brüsten, ungefähr an der Stelle, 1419
wo das Mikro gesteckt hatte. Selbst an kühlen Tagen fühlte er sich wärmer an als meine Haut. »Was ist aus ihr geworden?«, fragte er. »Wie war sie?« Seine Stimme war leiser geworden, leicht heiser. Er wollte es unbedingt wissen. Ich dachte an May-Ruth, die den Eltern ihres Verlobten eine Grünpflanze mitbrachte, an Lexie, die Daniel kichernd mit Erdbeeren bewarf, an Lexie, wie sie die Zigarettendose tief in das hohe Gras schob, und ich hatte absolut keine Antwort für ihn. »Sie war noch immer ein heller Kopf«, sagte ich. »Sie schrieb an ihrer Doktorarbeit in englischer Literatur. Sie ließ sich noch immer von nichts und niemandem aufhalten. Ihre Freunde liebten sie, und sie liebte ihre Freunde. Sie waren glücklich zusammen.« Trotz allem, was die fünf sich am Ende gegenseitig angetan hatten, glaubte ich das wirklich. Ich glaube es noch immer. »Ganz mein Mädchen«, sagte er geistesabwesend. »Ganz mein Mädchen … « 1420
Er dachte an Dinge, von denen ich nichts wissen konnte. Nach einer Weile holte er rasch Atem, tauchte aus seinen Gedanken auf. »Aber einer von ihnen hat sie getötet, nicht wahr?« Er hatte lange gebraucht, um diese Frage zu stellen. »Ja«, sagte ich, »das stimmt. Wenn es überhaupt ein Trost ist, er hat es nicht mit Absicht getan. Es war nicht geplant, absolut nicht. Sie hatten einen Streit. Er hatte zufällig ein Messer in der Hand, weil er gerade den Abwasch machte, und er hat die Beherrschung verloren.« »Hat sie leiden müssen?« »Nein«, sagte ich. »Nein, Mr Corrigan. Der Pathologe sagt, ehe sie das Bewusstsein verlor, hat sie höchstens gemerkt, dass sie schlecht Luft bekam und ihr Herzschlag beschleunigt war, als wäre sie zu schnell gelaufen.«Sie ist friedlich eingeschlafen, hätte ich fast gesagt, wenn da nicht ihre Hände gewesen wären. Er sagte so lange nichts, dass ich mich schon fragte, ob die Verbindung unterbrochen oder ob er 1421
weggegangen war, einfach den Hörer hingelegt und den Raum verlassen hatte, ob er irgendwo draußen an einem Geländer lehnte und tief die wilde, kühle Abendluft einatmete. Die ersten Kollegen kamen aus der Mittagspause zurück, Schritte stapften die Treppe hoch, auf dem Flur schimpfte irgendwer über Papierkram, Mahers dröhnendes aggressives Lachen. Beeilen Sie sich, wollte ich sagen, wir haben nicht viel Zeit. Schließlich seufzte er, ein langgezogenes, langsames Hauchen. »Wissen Sie, woran ich immerzu denken muss?«, sagte er. »An den Abend, bevor sie weggelaufen ist, das letzte Mal. Wir saßen nach dem Essen auf der Veranda, Gracie nippte dann und wann an meinem Bier. Sie sah so wunderschön aus. Mehr wie ihre Mum als je zuvor: gelassen, ausnahmsweise mal. Sie hat mich angelächelt. Ich hab gedacht, das hieße … na ja, ich hab gedacht, sie wäre endlich zur Ruhe gekommen. Hätte sich vielleicht in einen von den Cowboys verknallt – so sah sie nämlich aus, wie ein 1422
junges Mädchen, das sich verliebt hat. Ich hab gedacht: Sieh dir unsere Kleine an, Rachel. Ist sie nicht hinreißend? Sie hat sich doch noch berappelt.« Seltsame Dinge flatterten plötzlich in meinem Kopf, zart wie schwirrende Falter. Frank hatte ihm nichts erzählt: nicht von dem Undercovereinsatz, nicht von mir. »Das hat sie, Mr Corrigan«, sagte ich. »Auf ihre Art hat sie das.« »Vielleicht«, sagte er. »Hört sich jedenfalls so an. Ich wünschte bloß … « Irgendwo kreischte wieder der Vogel, ein langer, trostloser Warnschrei, der in der Ferne verklang. »Was ich sagen will, ich schätze, Sie haben recht: Dieser Bursche wollte sie nicht töten. Ich schätze, es musste irgendwann passieren, auf die eine oder andere Art. Sie war nicht geschaffen für diese Welt. Sie war vor ihr davongelaufen, seit sie neun war.« Maher kam ins Büro gepoltert, bellte mir irgendetwas zu, knallte ein großes Stück klebrig aussehenden Kuchen auf seinen Schreibtisch und fing 1423
an, es auszuweiden. Ich lauschte auf das statische Rauschen in meinem Ohr und dachte an die Pferdeherden, die in den wilden Weiten Amerikas oder Australiens frei herumlaufen, sich gegen Luchse oder Dingos wehren und von dem wenigen leben, was sie finden, eine goldene Masse unter der sengenden Sonne. Mein Jugendfreund Alan hatte mal einen Ferienjob auf einer Ranch in Wyoming gehabt. Er hatte zusehen können, wie die Wildpferde eingeritten wurden. Er hatte mir erzählt, dass immer mal wieder welche dabei waren, die sich partout nicht zähmen lassen wollten, die wild waren bis ins Mark. Diese Pferde wehrten sich gegen Zaumzeug und Zaun, bis sie irgendwann geschunden und blutüberströmt waren, bis sie sich die Beine zerschmetterten oder den Hals brachen, bis sie im Kampf um ihre Freiheit starben.
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Frank behielt recht: Am Ende ging alles für uns prima aus, zumindest wurde keiner gefeuert oder verhaftet, was vermutlich Franks Vorstellung von »prima« entspricht. Er bekam drei Urlaubstage gestrichen und kassierte einen Aktenvermerk, angeblich weil er die Kontrolle über seine Ermittlung verloren hatte – bei einem Fiasko dieser Größenordnung brauchte das DIA jemanden, der seinen Kopf hinhielt, und meinem Eindruck nach waren sie entzückt, dass es diesmal Franks Kopf war. Die Medien versuchten, das Thema Polizeibrutalität hochzujubeln, aber keiner wollte mit ihnen reden – ein Boulevardblatt schaffte es gerade mal, ein Foto von Rafe zu bringen, wie er einem Fotografen den Mittelfinger zeigte, der noch dazu moralisch korrekt grob gepixelt worden war, zum Schutz der Kinder. Ich absolvierte meine Pflichtsitzungen bei dem Psychologen, der selig war, mich wiederzusehen. Ich tischte ihm eine Reihe von harmlosen Traumasymptomen auf, ließ sie im Laufe einiger Wochen unter seiner kompetenten 1425
Lenkung wie durch Zauberhand verschwinden, wurde wieder diensttauglich geschrieben und verarbeitete die SOKO Spiegel auf meine Weise, für mich allein. Sobald wir wussten, wo die Postkarten aufgegeben worden waren, ließ sich leicht nachvollziehen, wo sie überall gewesen war. Es wäre eigentlich nicht nötig gewesen – alles, was sie getan hatte, ehe sie in unsere Zuständigkeit fiel, weil sie sich hatte umbringen lassen, war nicht unser Problem –, aber Frank tat es trotzdem. Er schickte mir die Akte kommentarlos mit dem Stempelvermerk Geschlossen ins Büro. In Sydney hatten sie sie nirgends orten können – sie machten lediglich einen Surfer ausfindig, der glaubte, sie am Manley Beach gesehen zu haben, als Eisverkäuferin, und er meinte, ihr Name sei Hazel gewesen, aber so unsicher und begriffsstutzig, wie er war, kam er als zuverlässiger Zeuge nicht in Frage –, doch in Neuseeland war sie Naomi Ballantine gewesen, die tüchtigste Emp1426
fangssekretärin, die ihre Zeitarbeitsfirma je vermittelt hatte, bis ein zufriedener Kunde sie bedrängte, fest bei ihm anzufangen. In San Francisco war sie ein Hippiemädchen namens Alanna Goldman, sie jobbte in einem Souvenirladen am Strand und saß häufig kiffend an irgendwelchen Lagerfeuern. Fotos von Freunden zeigten hüftlange Locken, die im Meerwind wehten, nackte Füße und Muschelhalsketten und braune Beine in abgeschnittenen Jeans. In Liverpool war sie Mags Mackenzie, eine hoffnungsvolle Hutdesignerin, die unter der Woche in einer hippen Cocktailbar kellnerte und am Wochenende ihre Hutkreationen auf einem Markt verkaufte. Auf dem Foto trug sie ein breitkrempiges Wirbelding aus rotem Samt mit einem Hauch alter Seide und Spitze über einem Ohr und lachte. Ihre Mitbewohnerinnen – eine Gruppe extrovertierter Partygirls, die alle in etwa das Gleiche machten, Mode, Backgroundgesang, irgendetwas, das sich »urbane Kunst« nannte – gaben an, sie habe zwei Wochen bevor sie sich ab1427
seilte einen Vertrag angeboten bekommen, für ein trendiges Modelabel eine Kollektion zu entwerfen. Sie hatten sich keine großen Sorgen gemacht, als sie eines Morgens verschwunden war. Mags würde schon klarkommen, meinten sie, das sei schon immer so gewesen. Der Brief von Chad steckte mit einer Büroklammer an einem unscharfen Schnappschuss von den beiden vor einem See, an einem flirrend heißen Tag. Sie trug einen langen Zopf und ein viel zu großes T-Shirt und lächelte schüchtern, den Kopf leicht von der Kamera weggedreht. Chad war groß und braungebrannt und schlaksig, und sein volles hellbraunes Haar hing ihm bis in die Stirn. Er hatte einen Arm um sie gelegt, und er blickte zu ihr hinunter, als könnte er sein Glück nicht fassen. Ich wünschte nur, Du hättest mir eine Chance gegeben mitzukommen, stand in dem Brief, nur eine Chance, May. Ich wäre überallhin mitgegangen. Was immer Du auch gewollt hast, ich hoffe, Du hast es gefunden. Ich wünschte bloß, 1428
ich wüsste, was es war und warum ich es nicht war.
Ich fotokopierte die Fotos und Zeugenaussagen und schickte die Akte zurück an Frank mit einem Post-it, auf dem »Danke« stand. Am nächsten Nachmittag machte ich früh Feierabend und ging Abby besuchen. Ihre neue Adresse stand in der Akte: Sie wohnte im Studentenviertel Ranelagh, in einem heruntergekommenen kleinen Haus mit Unkraut im Vorgarten und zu vielen Klingelknöpfen neben der Tür. Ich blieb auf dem Bürgersteig stehen, lehnte mich ans Geländer. Es war fünf Uhr, sie würde bald nach Hause kommen – der Mensch ist ein Gewohnheitstier –, und sie sollte mich schon von weitem sehen können, damit sie Zeit hatte, sich innerlich zu wappnen, ehe sie mich erreichte. Etwa eine halbe Stunde später bog sie um die Ecke. Sie trug ihren langen grauen Mantel und 1429
hatte in jeder Hand eine Einkaufstüte. Auf die Entfernung konnte ich ihr Gesicht nicht sehen, aber der flotte, resolute Gang war mir nur allzu vertraut. Ich sah den Augenblick, als sie mich erkannte, das heftige Stocken, das Nachfassen der Tüten, die ihr fast aus den Händen rutschten, die lange Pause nach der Schrecksekunde, als sie mitten auf dem leeren Bürgersteig stand und überlegte, ob sie kehrtmachen und woanders hingehen sollte, irgendwohin, das Heben ihrer Schultern, als sie tief Luft holte und weiterging, auf mich zu. Ich musste an den ersten Morgen denken, am Küchentisch: wie ich gedacht hatte, dass wir unter anderen Umständen Freundinnen hätten sein können. Sie blieb reglos am Gartentor stehen, studierte mein Gesicht gründlich, bewusst und unnachgiebig. »Ich sollte dich windelweich prügeln«, sagte sie schließlich. Sie sah nicht danach aus, als wäre sie dazu imstande. Sie hatte stark abgenommen und trug einen Haarknoten, der ihr Gesicht noch schmaler 1430
wirken ließ, aber das war es nicht allein. Etwas war aus ihrer Haut verschwunden: Strahlkraft, Energie. Zum ersten Mal bekam ich eine Ahnung davon, wie sie als alte Frau sein würde, aufrecht und scharfzüngig und drahtig, mit müden Augen. »Du hättest alles Recht dazu«, sagte ich. »Was willst du?« »Fünf Minuten«, sagte ich. »Wir haben einiges über Lexie in Erfahrung gebracht. Ich dachte, du würdest es vielleicht gern wissen. Es könnte … ich weiß nicht. Es könnte eine Hilfe sein.« Ein schmächtiger Teenager mit Docs und iPod fegte an uns vorbei, verschwand ins Haus und knallte die Tür hinter sich zu. »Darf ich reinkommen?«, fragte ich. »Aber wenn’s dir lieber ist, können wir auch hier draußen bleiben. Bloß fünf Minuten.« »Wie heißt du noch mal? Sie haben es uns gesagt, aber ich hab’s vergessen.« »Cassie Maddox.«
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»Detective Cassie Maddox«, sagte Abby. Nach einem Moment schob sie den Griff einer Tüte hoch übers Handgelenk und holte ihre Schlüssel hervor. »Okay. Dann komm eben mit rein. Wenn ich sage, du sollst gehen, dann gehst du.« Ich nickte. Ihre Wohnung bestand aus einem Zimmer, nach hinten raus im ersten Stock, war kleiner als meine und kahler: ein Bett, ein Sessel, ein mit Brettern vernagelter Kamin, ein Minikühlschrank, ein winziger Tisch und ein Stuhl vor dem Fenster, keine Tür, die in eine Küche oder ein Badezimmer führte, nichts an den Wänden, keine Nippsachen auf dem Kaminsims. Es war ein warmer Abend, aber die Luft in der Wohnung war kühl wie Wasser. An der Decke waren schwache Feuchtigkeitsflecken, aber ansonsten war jeder Quadratzentimeter blitzsauber, und ein großes Schiebefenster ging nach Westen, was den Raum in ein spätes, melancholisches Licht tauchte. Ich musste an ihr Zimmer in
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Whitethorn House denken, an das warme gemütliche Nest. Abby stellte die Tüten auf den Boden, zog den Mantel aus und hängte ihn an die Rückseite der Tür. Die Tüten hatten rote Striemen an ihren Handgelenken hinterlassen, wie von Handschellen. »Die Wohnung ist nicht so mies, wie du denkst«, sagte sie trotzig, aber es lag ein müder Unterton in ihrer Stimme. »Ich hab ein eigenes Badezimmer. Draußen auf dem Flur, aber was will man machen.« »Ich finde sie gar nicht mies«, sagte ich, was sogar in gewisser Weise stimmte, ich hatte schon schlechter gewohnt. »Ich hab bloß gedacht … ich dachte, ihr hättet Geld von der Versicherung bekommen oder so. Von dem Haus.« Abbys Mund nahm einen harten Zug an. »Wir waren nicht versichert«, sagte sie. »Wir haben immer gedacht, das Haus hat so lange gestanden, da stecken wir das Geld besser in die Renovierung. Schön blöd.« Sie zog etwas auf, das aussah 1433
wie ein Kleiderschrank, und es kamen eine kleine Spüle, ein Zweiplattenherd und ein paar Hängeschränke zum Vorschein. »Also haben wir verkauft. An Ned. Wir hatten keine andere Wahl. Er hat gewonnen – oder vielleicht auch Lexie oder ihr oder der Typ, der unser Haus abgefackelt hat, ich weiß es nicht. Jedenfalls hat jemand anderes gewonnen.« »Warum wohnst du dann hier«, fragte ich, »wenn es dir nicht gefällt?« Abby zuckte die Achseln. Sie stand mit dem Rücken zu mir, räumte Sachen in die Hängeschränke – gebackene Bohnen, Dosentomaten, eine Packung No-Name-Cornflakes. Ihre Schulterblätter, spitz unter dem dünnen grauen Pullover, sahen aus wie die eines Kindes. »Es war die erste Wohnung, die ich mir angeschaut hab. Ich brauchte eine Unterkunft. Nachdem ihr uns habt gehen lassen, haben die von der Opferbetreuung uns in so einer scheußlichen Pension in Summerhill untergebracht. Wir hatten kein Geld, wir hatten das 1434
meiste Bargeld in der Spardose – wie du ja weißt, klar –, und das ist alles mit verbrannt. Wir mussten um zehn Uhr morgens aus dem Haus sein und durften erst abends wieder rein, also hab ich die Zeit tagsüber in der Bibliothek verbracht und vor mich hin geglotzt, und nachts hab ich allein in meinem Zimmer gehockt – richtig geredet haben wir drei eigentlich nicht mehr … deshalb bin ich, so schnell ich konnte, da weg. Jetzt, wo wir verkauft haben, könnte ich mit meinem Anteil eine Eigentumswohnung anzahlen, aber dann bräuchte ich einen Job, um den Kredit abzuzahlen, und solange ich die Diss nicht fertig habe … Das Ganze kommt mir einfach zu kompliziert vor. Ich tu mich sauschwer, Entscheidungen zu treffen, in letzter Zeit. Wenn ich lange genug warte, geht das ganze Geld für die Miete drauf, und dann hat sich die Entscheidung von selbst erledigt.« »Bist du noch am Trinity?« Ich hätte am liebsten losgeschrien. Dieses verkrampfte, distanzierte Gespräch, wie auf dünnem Eis, wo ich doch mal 1435
zu ihrem Gesang getanzt hatte, wo wir auf meinem Bett gesessen und Schokolade gegessen und uns gegenseitig von unseren schlimmsten Kusserlebnissen erzählt hatten. Das hier war schon mehr, als ich hatte erwarten dürfen, und ich konnte es nicht durchstoßen, um zu ihr vorzudringen. »Ich hab die Sache angefangen. Da kann ich sie auch zu Ende bringen.« »Was ist mit Rafe und Justin?« Abby knallte die Schranktüren zu und fuhr sich mit den Händen durchs Haar, die Geste, die ich tausendmal gesehen hatte. »Ich weiß nicht, was ich mit dir machen soll«, sagte sie plötzlich. »Du fragst so was, und ein Teil von mir möchte dir alles haarklein erzählen, und ein Teil von mir möchte dich anschreien, weil du uns das alles angetan hast, wo wir doch eigentlich deine besten Freunde waren, und ein Teil von mir möchte dir sagen, das geht dich nichts an, Bulle, untersteh dich, auch nur ihre Namen in den Mund zu nehmen. Ich kann nicht … Ich weiß nicht, wie ich mit dir reden soll. 1436
Ich weiß nicht mal, wie ich dich ansehen soll. Was willst du?« Sie war ganz kurz davor, mich rauszuschmeißen. »Ich hab dir was mitgebracht«, sagte ich schnell und holte den Stoß Fotokopien aus meiner Umhängetasche. »Du weißt, dass Lexie nicht ihr richtiger Name war, nicht?« Abby verschränkte die Arme und beobachtete mich, argwöhnisch und ausdruckslos. »Einer von deinen Freunden hat es uns erzählt. Der Typ, der uns von Anfang an auf dem Kieker hatte. Stämmig, blonde Haare?« »Sam O’Neill«, sagte ich. Ich trug den Ring inzwischen am Finger – das Geläster in allen Facetten von liebevoll bis gehässig hatte sich mehr oder weniger gelegt. Die Kollegen vom Morddezernat hatten uns sogar ein rätselhaftes Geschirrteil aus Silber geschenkt, zur Verlobung –, aber diese Verbindung konnte Abby unmöglich herstellen.
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»Genau der. Ich glaube, er hat gedacht, er könnte uns damit schocken und wir würden ihm unser Herz ausschütten. Also?« »Wir haben herausgefunden, wer sie war«, sagte ich und hielt ihr die Kopien hin. Abby nahm sie und blätterte die Seiten rasch mit dem Daumen durch. Ich musste daran denken, wie geschickt und leichthändig sie immer die Karten gemischt hatte. »Was ist das?« »Wo sie überall gelebt hat. Andere Identitäten, die sie benutzt hat. Zeugenaussagen.« Sie sah mich noch immer mit diesem Ausdruck an, leer und endgültig wie ein Schlag ins Gesicht. »Ich dachte, du solltest wenigstens die Möglichkeit haben, sie dir anzusehen, wenn du willst.« Abby warf die Blätter auf den Tisch und ging zurück zu den Einkaufstüten, räumte Sachen in den kleinen Kühlschrank: ein halber Liter Milch, ein kleiner Plastikbecher Schokomousse. »Will ich nicht. Ich weiß bereits alles, was ich über Lexie wissen muss.« 1438
»Ich dachte, es könnte vielleicht einiges erklären. Warum sie getan hat, was sie getan hat. Vielleicht möchtest du es ja lieber nicht wissen, aber – « Sie richtete sich blitzschnell auf, so dass die Kühlschranktür heftig in den Angeln schwang. »Was weißt du denn schon? Du hast Lexie ja nicht mal gekannt. Es interessiert mich einen Scheißdreck, ob sie unter einem falschen Namen gelebt hat, ob sie ein Dutzend verschiedene Personen war, Gott weiß, wo alles. Das ist mir völlig egal. Ich hab sie gekannt. Ich hab mit ihr unter einem Dach gelebt. Das war echt. Du bist wie Rafes Vater, der ganze Schwachsinn von der realen Welt. Das, was wir hatten, war die reale Welt. Es war wesentlich realer als das hier.« Sie deutete mit einer ruckartigen Kinnbewegung auf den Raum um uns herum. »Das meine ich nicht«, sagte ich. »Ich glaube bloß, dass sie euch nicht weh tun wollte, keinem von euch. So war das nicht.« 1439
Nach einem Augenblick sackten ihre Schultern herab. »Das hast du schon mal gesagt, an dem Tag. Dass du – dass sie einfach Panik gekriegt hat. Wegen des Babys.« »Davon war ich überzeugt«, sagte ich. »Bin es noch.« »Ja«, sagte Abby. »Ich auch. Das ist der einzige Grund, warum ich dich reingelassen hab.« Sie schob etwas mit mehr Druck in den Kühlschrank, schloss die Tür. »Rafe und Justin«, sagte ich. »Würden sie die Kopien sehen wollen?« Abby knüllte die Plastiktüten zusammen und stopfte sie in eine andere Tüte, die an dem Stuhl hing. »Rafe ist in London«, sagte sie. »Er ist gleich abgehauen, als ihr gesagt habt, wir dürften das Land verlassen. Sein Vater hat ihm eine Stelle verschafft – keine Ahnung, was genau, irgendwas mit Finanzen. Er ist dafür völlig unqualifiziert und wahrscheinlich eine Niete, aber solange Daddy
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seine schützende Hand über ihn hält, wird er wohl nicht gefeuert.« »Oh Gott«, sagte ich unwillkürlich. »Er muss todunglücklich sein.« Sie zuckte die Achseln und warf mir einen raschen, unergründlichen Blick zu. »Wir haben nicht viel Kontakt. Ich hab ihn ein paarmal angerufen, es ging um den Hausverkauf – es interessiert ihn alles nicht, er sagt immer nur, ich soll entscheiden und ihm die Unterlagen zum Unterschreiben schicken, aber ich muss ihn ja informieren. Ich hab ihn immer abends angerufen, und meistens klang es so, als wäre er in irgendeinem Pub oder Club – laute Musik, grölende Leute. Sie nennen ihn ›Raffy‹. Er war jedes Mal ganz schön angetrunken, was dich ja bestimmt nicht überrascht, aber nein, unglücklich hat er sich nicht angehört. Falls du dich dadurch besser fühlst.« Rafe im Mondschein, lächelnd, wie er mir schräge Seitenblicke zuwarf, seine Finger warm an meiner Wange. Rafe mit Lexie, irgendwo – 1441
vielleicht die Nische unter dem Efeu. »Und Justin?« »Der ist zurück in den Norden. Er hat noch eine Weile versucht, es am Trinity auszuhalten, aber er hat es nicht ertragen – nicht bloß die Blicke und das Getuschel, obwohl das schon schlimm war, sondern … dass nichts mehr so war wie vorher. Ich hab öfter gehört, wie er geweint hat, an seinem Leseplatz. Eines Tages war er auf dem Weg in die Bibliothek und hat es einfach nicht geschafft, er hatte eine Panikattacke, im Philosophicum, vor aller Augen. Sie mussten ihn im Krankenwagen wegbringen. Er ist nicht zurückgekommen.« Sie nahm eine Münze von einem ordentlichen Stapel auf dem Kühlschrank und steckte sie in den Stromzähler, drehte den Knopf. »Wir telefonieren ab und an. Er unterrichtet Englisch an einer Jungenschule, als Vertretung für eine Frau in Elternzeit. Er sagt, die Kinder sind verwöhnte kleine Monster, und sie schreiben dauernd ›Mr Mannering ist eine Schwuchtel‹ an die Tafel, 1442
aber es ist wenigstens friedlich – irgendwo draußen auf dem Land –, und die anderen Lehrer lassen ihn in Ruhe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er oder Rafe das Zeug da haben wollen.« Sie nickte Richtung Tisch. »Und ich werde sie nicht fragen. Wenn du mit ihnen reden willst, von mir aus. Aber ich muss dich warnen, ich glaube nicht, dass sie vor Freude Luftsprünge machen, wenn sie von dir hören.« »Kann ich ihnen nicht verdenken«, sagte ich. Ich ging zu dem Tisch, nahm die Papiere und schob sie zurecht. Der Garten unter dem Fenster war verwildert, übersät mit grellbunten Chipstüten und leeren Flaschen. Hinter mir sagte Abby ohne die geringste Modulation in der Stimme: »Wir werden dich immer hassen.« Ich drehte mich nicht um. Ob es mir gefiel oder nicht, in diesem kleinen Raum war mein Gesicht noch immer eine Waffe, eine blanke Klinge, die zwischen ihr und mir lag. Für sie war es leichter 1443
zu reden, wenn sie es nicht sehen konnte. »Ich weiß«, sagte ich. »Wenn du dir so was wie Absolution erhofft hast, bist du bei mir falsch.« »Hab ich nicht«, sagte ich. »Die Informationen hier sind das Einzige, was ich dir anbieten kann, daher dachte ich, ich muss es versuchen. Das bin ich dir schuldig.« Nach einer Sekunde hörte ich sie seufzen. »Wir glauben ja nicht, das alles nur deine Schuld ist. Wir sind nicht blöd. Schon ehe du zu uns kamst … « Eine Bewegung: Vielleicht hatte sie das Gewicht verlagert, sich das Haar nach hinten gestrichen, irgendetwas. »Daniel hat gelaubt, noch bis ganz zum Schluss, wir könnten alles wieder hinbiegen, es käme alles wieder in Ordnung. Ich hab das nicht geglaubt. Selbst wenn Lexie überlebt hätte … ich glaube, als deine Kumpel bei uns vor der Tür standen, da war es schon zu spät. Es hatte sich zu viel verändert.« »Du und Daniel«, sagte ich. »Rafe und Justin.« 1444
Wieder eine kurze Pause. »Ich schätze, es war offensichtlich. In jener Nacht, der Nacht, als Lexie starb … wir hätten es sonst nicht durchstehen können. Es hätte auch kein großes Drama sein müssen. Es waren schon vorher diverse Sachen passiert, immer mal wieder, und das hat nie einem groß was ausgemacht. Aber in jener Nacht … « Ich hörte sie schlucken. »Davor hatten wir ein Gleichgewicht, weißt du? Alle wussten, dass Justin in Rafe verliebt war, aber es war einfach da, im Hintergrund. Mir war nicht mal klar gewesen, dass ich … Halt mich ruhig für blöd, aber es war mir echt nicht klar. Ich hab nur gedacht, Daniel wäre der beste Freund, den ich mir wünschen könnte. Ich glaube, wir hätten alle so weitermachen können, vielleicht für immer – oder vielleicht nicht. Aber in der Nacht war es anders. In dem Moment, als Daniel sagte: ›Sie ist tot‹, veränderte sich die Situation. Alles wurde klarer, unerträglich klar, als ob irgendeine superhelle Lampe angeschaltet worden wäre und man nie wieder die Augen schließen 1445
könnte, nicht mal für eine Sekunde. Weißt du, was ich meine?« »Ja«, sagte ich. »Ich weiß.« »Danach, selbst wenn Lexie doch noch nach Hause gekommen wäre, ich weiß nicht, ob wir … « Ihre Stimme verklang. Ich drehte mich um und sah, dass sie mich betrachtete, eindringlicher, als ich erwartet hatte. »Du klingst nicht wie sie«, sagte sie. »Du bewegst dich nicht mal wie sie. Bist du ihr überhaupt irgendwie ähnlich?« »Wir hatten einiges gemeinsam«, sagte ich. »Nicht alles.« Abby nickte. Nach einem Augenblick sagte sie: »Ich möchte, dass du jetzt gehst.« Ich hatte die Hand schon an der Türklinke, als sie unvermittelt und fast widerwillig sagte: »Willst du was Seltsames hören?« Es wurde allmählich dunkel, ihr Gesicht sah aus, als würde es sich in den dämmrigen Raum hinein verlieren. »Einmal, als ich Rafe angerufen 1446
hab, da war er nicht unterwegs, er war zu Hause, auf dem Balkon seiner Wohnung. Es war spät. Wir haben uns eine Weile unterhalten. Ich hab irgendwas über Lexie gesagt – dass sie mir immer noch fehlt, obwohl … trotz allem. Rafe hat irgendeine flapsige Bemerkung gemacht, von wegen, er würde sich viel zu sehr amüsieren, um jemanden zu vermissen, aber bevor er das sagte, bevor er antwortete, da war so eine kleine Pause. Ein verwirrtes Zögern. Als hätte er nicht gleich gewusst, wen ich meinte. Ich kenne Rafe, und ich schwöre, er hätte fast gesagt: ›Wer?‹« Eine Etage höher plärrte nur halb durch die Decke gedämpft ein Telefon los, mit »Baby Got Back« als Klingelton, und jemand polterte über den Fußboden, um dranzugehen. »Er war ziemlich betrunken«, sagte Abby. »Wie immer. Trotzdem … seitdem frage ich mich immer wieder, ob wir einander vergessen. Ob wir in ein oder zwei Jahren aus dem Kopf der jeweils anderen gelöscht sein werden, verschwunden, als hätten wir uns nie 1447
gekannt. Ob wir auf der Straße aneinander vorbeigehen könnten, ganz dicht, ohne mit der Wimper zu zucken.« »Keine Vergangenheit«, sagte ich. »Keine Vergangenheit. Manchmal« – ein kurzer Atemzug – »kann ich ihre Gesichter nicht mehr sehen. Rafe und Justin, bei denen geht’s noch. Aber Lexie. Und Daniel.« Ich sah, wie sie den Kopf drehte, ihr Profil vor dem Fenster: die Stupsnase, eine Haarsträhne, die sich gelöst hatte. »Ich hab ihn geliebt, weißt du«, sagte sie. »Ich hätte ihn so sehr geliebt, wie er mich gelassen hätte, bis ans Ende meines Lebens.« »Ich weiß«, sagte ich. Ich wollte ihr sagen, dass es auch eine Gabe ist, geliebt zu werden, dass es ebenso viel Mut und Arbeit verlangt wie lieben, dass manche Menschen es nie lernen, aus welchem Grund auch immer. Stattdessen holte ich die Fotokopien wieder aus meiner Tasche und blätterte sie durch – ich musste sie mir förmlich vor die Nase halten, um etwas sehen zu können –, bis ich 1448
die streifige Farbkopie von dem Schnappschuss fand: sie alle fünf, lächelnd, eingehüllt in fallendem Schnee und Stille, draußen vor Whitethorn House. »Da«, sagte ich und hielt sie Abby hin. Ihre Hand, blass in der Beinahe-Dunkelheit, griff danach. Sie trat ans Fenster, hielt das Blatt ins letzte Licht. »Danke«, sagte sie nach einem Augenblick. »Das werde ich behalten.« Sie stand noch immer da und betrachtete es, als ich die Tür schloss.
Danach hoffte ich, dass ich von Lexie träumen würde, nur ab und zu mal. In der Erinnerung der anderen verblasst sie von Tag zu Tag mehr. Bald wird sie endgültig verschwunden sein, sie wird nur noch Glockenblumen und ein Weißdornbusch sein, in einem verfallenen Cottage, in das sich niemand verirrt. Ich fand, dass ich ihr meine Träume schuldig war. Aber sie kam nie. Was immer sie auch von mir wollte, ich hatte es ihr wohl 1449
gegeben, irgendwo unterwegs. Das Einzige, wovon ich träume, ist das Haus, leer, offen für Sonne, Staub und Efeu; Schlurfen und Flüstern, immer gerade um die nächste Ecke, und eine von uns, sie oder ich, im Spiegel, lachend. Eines hoffe ich: dass sie nie stehen geblieben ist. Ich hoffe, als ihr Körper nicht mehr weiterlaufen konnte, hat sie ihn zurückgelassen, wie alles andere, was je versucht hat, sie festzuhalten, ich hoffe, dass sie das Pedal bis zum Anschlag durchgetreten hat und wie der Wind davongefegt ist, durch die Nacht die Highways hinunter, beide Hände vom Lenkrad gehoben und den Kopf im Nacken, dass sie hinauf in den Himmel geschrien hat wie ein Luchs, weiße Linien und grüne Lichter, die in die Dunkelheit hinein davonjagen, ihre Reifen nur Millimeter über dem Boden und das Gefühl von Freiheit, das ihr den Rücken hochzischt. Ich hoffe, jede Sekunde, die sie hätte haben können, ist wie ein Sturmwind durch das Cottage gerauscht: Schleifen und salzige Gischt, ein Ehe1450
ring und Chads Mutter, die vor Rührung weint, Sonnenfältchen und Galoppaden durch wildes rotes Buschwerk, der erste Zahn eines Babys und seine Schulterblätter wie winzige Flügel in Amsterdam Toronto Dubai; Weißdornblüten, die durch Sommerluft wirbeln, Daniels Haar, das grau wird unter hohen Decken und Kerzenflammen, und die zauberhaften Klänge von Abbys Gesang. Die Zeit tut so viel für uns, hat Daniel einmal zu mir gesagt. Ich hoffe, diese letzten paar Minuten haben alles für sie getan. Ich hoffe, in jener halben Stunde hat sie all ihre unzähligen Leben gelebt.
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DANKSAGUNG Von mal zu mal schulde ich mehr Menschen ein riesiges Dankeschön: dem wunderbaren Darley Anderson und allen in der Agentur, vor allem Zoë, Emma, Lucie und Maddie; drei unglaublichen Lektorinnen, Ciara Considine bei Hachette Books Ireland, Sue Fletcher bei Hodder & Stoughton und Kendra Harpster bei Viking Penguin, dafür, dass sie dieses Buch um ein Vielfaches verbessert haben; Breda Purdue, Ruth Shern, Ciara Doorley, Peter McNulty und allen bei Hodder Headline Ireland; Swati Gamble, Tara Gladden, Emma Knight und allen bei Hodder & Stoughton; Clare Ferraro, Ben Petrone, Kate Lloyd und allen bei Viking; Jennie Cotter bei Plunkett Communications; Rachel Burd für das messerscharfe Lektorat; David Walsh für die Beantwortung einer bunten Palette von Fragen zur Arbeitsweise der Polizei; Jody Burgess für Auskünfte über Australien, Korrekturen und Ideen, und natürlich auch Tim Tams; 1452
Fearghas Ó Cochláin für medizinische Auskünfte; meinem Bruder Alex French für technischen und sonstigen Beistand; Oonagh Montague dafür, dass sie einfach toll ist; Ann-Marie Hardman für ihren akademischen Input; David Ryan für seinen absolut akademischen Input; Helena Burling; allen von der PurpleHeart Theatre Company; BB für die neuerliche Hilfe bei der Überbrückung der Kluft zwischen den Kulturen; und natürlich meinen Eltern David French und Elena Hvostoff-Lombardi für ihren lebenslangen Beistand und ihr Vertrauen. Wenn die Geschichte es verlangte, habe ich mir gewisse Freiheiten erlaubt (in Irland gibt es zum Beispiel kein Morddezernat). Für alle eventuellen Fehler bin allein ich verantwortlich.
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Tana French Tana French ist die junge Bestsellerstimme des anspruchsvollen Kriminalromans. Sie wurde in den USA geboren, wuchs in Irland, Italien und Malawi auf und lebt seit 1990 in Dublin. Tana French machte eine Schauspielausbildung am Trinity College und arbeitet für Theater, Film und Fernsehen. Ihr erster Kriminalroman ›Grabesgrün‹ wurde mit dem Edgar Allan Poe Award für das beste Debüt ausgezeichnet, auch ihr zweites Buch ›Totengleich‹ wurde sofort zu einem großen internationalen Erfolg.
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TOTENGLEICH Kriminalroman Als die junge Polizistin Cassie Maddox in ein verfallenes Cottage außerhalb von Dublin gerufen wird, schaut sie ins Gesicht des Todes wie in einen Spiegel: Die Ermordete gleicht ihr bis aufs Haar. Wer ist diese Frau? Wer hat sie niedergestochen? Und hätte eigentlich Cassie selbst sterben sollen? Keine Spuren und Hinweise sind zu finden, und bald bleibt nur eine Möglichkeit: Cassie Maddox muss in die Haut der Toten schlüpfen, um den Mörder zu finden. Ein ungeheuerliches Spiel beginnt. »Ich kannte sie von irgendwoher, hatte das Gesicht schon tausendmal gesehen. Dann trat ich einen Schritt vor, um genauer hinzuschauen, und die ganze Welt verstummte, gefror, während Dunkelheit von allen Seiten herantobte und in der Mitte gleißend weiß nur das Gesicht der jungen Frau blieb, denn das war ich.« 1455