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Buch Der Bildhauer Ashley Stassler ist mit seiner Skulpturenserie »Family Planning 1‐8« zu Weltruhm gelangt. Vor allem die überaus realistischen Darstellungen reiner Todesangst fesseln und entsetzen die Kritiker gleichermaßen. Auch die Bildhaue‐ rin und Kunstdozentin Lauren Reed war einst eine große Be‐ wunderin von Stasslers Werk. Doch in jüngster Zeit fühlt sie sich von dem drastischen Realismus in Stasslers Skulpturen eher abgestoßen. Dennoch freut sie sich, dass Kerry, ihre be‐ gabteste Studentin, einen mehrwöchigen Studienaufenthalt bei dem berühmten Künstler verbringen und ihn bei seinem neue‐ sten Projekt, »Family Planning 9«, beobachten darf. Einige Zeit später erreicht Lauren die Nachricht, dass Kerry spurlos ver‐ schwunden ist. Sofort macht sie sich auf die Suche und ent‐ deckt – wie zuvor ihre Studentin – das schreckliche Geheimnis von Stasslers Ranch: ein perfekt ausgebautes Kellerverlies. Und darin eine gefangen gehaltene Familie – Nummer 9! Schlagartig wird ihr klar, dass Stasslers »Werkstoff« für seine Skulpturen Menschen sind. Autor Mark Nykanen erhielt in den letzten Jahren gleich vier Emmys und einen Edgar Award für seine Arbeit als Bildreporter bei NBC News. Davor war er Leiter einer Nachrichtenredaktion in Phoenix und arbeitete als Fernsehreporter in Arizona. Nach seinem in den USA viel beachteten Erstling ist »Totenstarre« nun sein zweiter, begeistert aufgenommener Roman. Mark Nykanen lebt an der Westküste der Vereinigten Staaten.
Mark Nykanen
Totenstarre Roman Aus dem Amerikanischen von Fred Kinzel blanvalet
Ebook 2008/06 von hw und elFormi für http://GEReBOOKS.yuku.com/ Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »The Bone Parade« by Hyperion, New York. Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. 1. Auflage Taschenbuchausgabe April 2007 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München. Copyright © by Mark Nykanen 2004 Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Limes Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagmotiv: Hanka Steidle Herstellung: Heidrun Nawrot Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN: 978‐3‐442‐36624‐8 www.blanvalet‐verlag.de
Für meine Mutter, Veronica Coyne Nykanen, die uns viele düstere und lustige Geschichten erzählt hat.
Prolog Tra‐raaa‐traa‐ra. Die Trompeten waren riesig, von unmöglicher Länge, und ihr Klang trug die Berghänge hinab über das Tal hinweg und ließ meinen Bauch erzittern, bis er sich so hohl anfühlte wie die dünne Luft. Tra‐raaa‐traa‐ra. Die Trompetenstöße stiegen über Bhaktapur auf, der rußigen Schwesterstadt Katmandus. Ich hörte ihren schrillen Ruf, als ich zum hinteren Ende der Gießerei ging, vorbei an dem primitiven Schmelzofen und den geschwärzten Ziegeln, auf denen die Flammen einst ihre federähnlichen Schatten eingebrannt hatten. Mein Führer dirigierte mich einen Gang entlang, dessen Decke so niedrig war, dass ich mich bücken musste. Seine Haut war dunkel und glänzte wie eine harte braune Nuss, und seine Nägel sahen aus wie Krallen, sie waren zu grotesker Länge angewachsen und drehten sich ein, so wie die Nägel der Toten angeblich in der Abgeschieden‐ heit des Grabes wachsen. Er war Hindu, in einem Land, in das Tibe‐ ter geflohen waren und in das sie ihre hellere Haut und eine gottlose Gottheit mitgebracht hatten. Ein Hindu, der alle möglichen Wesen verehrte. Eine einzige Glühbirne beleuchtete unseren Weg, schmucklos wie die Sonne und ebenso schmerzhaft für die Augen. Die Lehmwände des Gangs wirkten kahl und spröde wie alles in diesem unwegsamen Land. Ich hörte ein Kratzen und passte auf, wohin ich trat. Dann stimmte mein Führer sein mangelhaftes Englisch an: »No ladies. No ladies«, obwohl uns gar keine begleiteten. Ich war allein nach Nepal
gekommen, zuerst in den Bergen gewandert, mit ihren seltsamen Klöstern, Sprechgesängen und Liedem, und nun hatte ich in den letzten Tagen meiner Reise zu dieser Gießerei gefunden, »No ladies«, wiederholte er, und diesmal kicherte er dazu. Ich spürte die Unaufrichtigkeit sofort, Gelächter, das mit einer gänzlich anderen Bedeutung befrachtet war, in diesem Fall ihr düsteres Ge‐ genteil, denn er führte mich aus dem engen Gang in einen höhlenar‐ tigen Raum, angefüllt mit unverhüllten weiblichen Formen, voller Regale, aus denen polierte Bronzefiguren funkelten, die in einer gro‐ ßen Vielfalt an Stellungen darin hockten. Eine kühne, unerhörte Aufstellung. Und dann sah ich an der Wand direkt links von mir, vielleicht einen Meter über meinem Kopf, Bronzefrauen, die so gierig aussahen wie die hungrigen Heiden in einem mittelalterlichen Mo‐ saik, Raubtiere, die nicht auf Fleisch, sondern auf Seelen aus waren, die Beine gespreizt, das Geschlecht schamlos offen zur Schau gestellt. Bizarr? Ja, keine Frage, aber auch verlockend. Ich konnte es nicht leugnen, nicht einmal damals, obwohl ich verstand, dass es von größ‐ ter Wichtigkeit gewesen wäre, diese Anziehungskraft zu leugnen und sich abzuwenden. Doch ich konnte mich ihr nicht entziehen, weil die Bronzen echt wie das Leben selbst aussahen und der bloße Blick auf sie den schrecklichen Aufruhr verstehen ließ, der mich bis zu den Haarwurzeln elektrisierte. Hätte sich eine von ihnen bewegt, einen Schritt auf mich zuge‐ macht, um mich zu umarmen, ich wäre nicht überraschter gewesen als eine Katze, wenn der Schatten in der Ecke zum Leben erwacht und auf eine Brotkrume zuhuscht. Genau so empfand ich mich, als ich dort stand, nicht bedeutender als ein bisschen Mehl und Fett, Salz und Zucker: die Brotkrume, die auf Entdeckung wartet. Ich fühlte mich wie ein Mann, der zum ersten Mal einen verstö‐ renden Geschlechtsakt sieht, der die sexuellen Raubzüge in einer
Spelunke in Bangkok erlebt oder in einem Fenster an einer der engen, berüchtigten Straßen Amsterdams. Oder der im Internet auf eine völlig neue Welt stößt, eine fremdartige, wechselnde Gemeinschaft des Fleisches, die ihn von einem Augenblick auf den anderen verän‐ dert, die ihn zwingt, sich auf den Akt zu fixieren, den er gerade zum ersten Mal gesehen hat, und der fiebernd und sich der Gefahr be‐ wusst feststellt, dass er es wieder und wieder haben muss. Ich hatte das neue Feuer entdeckt, das alle anderen aufzehrt und nichts als Asche in seiner Spur zurücklässt. Hier war ein Wissen, das all die Jahre auf der Lauer gelegen hatte. Es hatte mich mit einer Plötzlichkeit auserkoren, die schockierte und mich unter Qualen flüstern ließ: »Ich war das, aber nun bin ich dies.« Es war ein Wissen, das sich als äußerst beunruhigend erwies, denn es strafte alles Lügen, was ich gewesen war, alles, wofür ich mich gehalten hatte. Ich erkannte in jenem Moment, der mich für immer zeichnete, dass Freundlichkeit, Anstand und auch nur jedes Minimum an schicklichem Benehmen uns im Nu entgleiten können, und was dann von uns bleibt, haben wir nicht selbst gewählt, son‐ dern wir wurden dazu auserwählt.
1 Ich führe meinen neuesten besten Freund am nördlichen Rand der Wohnsiedlung entlang, bleibe stehen, während er sein Ge‐ schäft verrichtet, und streiche an den hohen Bäumen vorüber, die dicht gedrängt zu beiden Seiten der wild überwucherten Staubpiste stehen. Der Weg könnte noch von den Zement‐ und Bauholzlastern stammen, die ihre Fracht vor mehr als vierzig Jahren hier heraufschleppten. Ich rate nur, was das Alter die‐ ser Häuser angeht, aber ich beherrsche das mittlerweile ganz gut und gründe meine Schätzungen auf die Größe der Bäume und Sträucher sowie auf den Baustil. Das hier ist purer Sechzi‐ gerjahre‐Ranchstil. Einige Häuser weisen Anbauten, einen zweiten Stock oder eine neue Fassade auf, dazu den einen oder anderen architektonischen Schnörkel; aber sie lassen sich im Grunde nicht maskieren, und meiner Ansicht nach wären sie weit attraktiver, wenn sie ehrlich ihren Originalanblick be‐ wahrt hätten, wie schadhaft er inzwischen auch sein mag. Das Alter lässt sich sowieso nicht verbergen; genau wie Menschen zeigen auch Wohnsiedlungen eindeutige Spuren des Verfalls. Diese hier steht jedoch in voller Blüte, und sie ist alt genug, dass jedes Haus bereits ein halbes Dutzend oder mehr Besitzer gehabt haben könnte. Viele Familien. Das ist wichtig für mich. Die Staubpiste ist gut eineinhalb Kilometer lang, eine Klo‐ ake für alle Hunde in der Gegend. So ziemlich jedes Wohnge‐ biet hat seine Gassiallee. Deshalb habe ich den Hund, eine Sie, »adoptiert« – um mich so unauffällig ins Bild zu fügen wie
einer der Bäume hier, wie eine Pappel oder ein Ahorn. Hätte man mich allein gehen sehen, würde es heißen: Wer ist der Kerl, der sich draußen im Wald herumtreibt? Aber mit einem Hund bin ich so natürlich wie ein Windhauch. Sie ist eine richtige Schönheit, ein Border Collie. Schwarz, grau und weiß, wie die Welpen, die sie im Verschlag zurück‐ gelassen hat. Die haben heute alle mit der Nadel Bekanntschaft gemacht. Sie ist die Sorte Hund, bei der die Leute dahin‐ schmelzen. Ihr Leben an meiner Seite wird kurz sein, nur eini‐ ge Stunden, dann werde ich sie von allen künftigen Verpflich‐ tungen entbinden. Sie sollte sich glücklich schätzen, und wenn es meine Art wäre, mich mit solchen Banalitäten aufzuhalten, würde ich sie Lucky nennen. Wir haben sogar einige körperliche Merkmale gemeinsam – das graue Haar und die scharf geschnittenen Gesichtszüge, das mittlere Alter – und wir sind beide nach außen hin freund‐ lich, schmeichlerisch sogar. Während ich auf das Haus zugehe, denke ich daran, wie oft sich Hunde und ihre Besitzer doch tatsächlich ähneln. Ich habe sie am Montag einziehen sehen, und bis heute, dem Tag der Müllabfuhr, hatten sie bereits alle Kartons flach zusammengelegt und zur Altpapierabholung gestapelt. Ich bewundere ihr anspruchsvolles Wesen und ihre Entschlossen‐ heit, sich häuslich niederzulassen; mehr als sie ahnen können, dient ein aufgeräumtes Zuhause meinen Zwecken weitaus besser als eine wahllose Ansammlung von Besitztümern, von denen sich jedes zum gewalttätigen Widerstand ergreifen lie‐ ße. Ich stelle mir auch vor, wie ihre Kunstwerke bereits saube‐ re Rechtecke gedeckter Farben an den Wänden bilden. Manchmal respektiere ich ihre Sammlungen, aber das ist sel‐
ten. Über Geschmack lässt sich nicht streiten, und meist sehe ich nicht viel davon, nicht in Häusern wie diesen und auch nicht an den Wänden der Reichen. Für gewöhnlich ist es Schrott. Passt es auch zur Couch, zum Teppich, zu Tante Em‐ mas Häkelkissen? Das sind die Fragen, die sie stellen, die Kri‐ terien, die sie anwenden. Es wäre traurig, wenn es nicht so ein Verbrechen wäre. Wir kommen an eine Teerstraße, wo ein Metallpfosten verhin‐ dert, dass Autos in die Gassiallee fahren. Mein Wagen parkt weiter unten an der Straße, ein Kombi, der in einem solchen Viertel selten Neugier weckt. Es ist ein Ford Econoline, wie ihn Floristen, Klempner und Teppichverleger benutzen, obwohl ich einmal gelesen habe, dass ihn ein Profiler des FBI als das bevorzugte Fahrzeug von Serienkillern bezeichnet hat. Unmittelbar bevor wir den Asphalt betreten, kauert sie nie‐ der, um sich erneut zu erleichtern. Ich weiß ihre Diskretion zu schätzen und gebe ihr einen Keks, um ihr Interesse wach zu halten. Das Haus, das ich seit Montag beobachte, hat zwei Stock‐ werke, zwei verschiedene Grautöne, den dunkleren am Erdge‐ schoss. Weiße Zierleisten überall. Ein Gehweg aus Ziegelplat‐ ten führt über einen Rasen, so kurz gestutzt wie ein Fairway. Das Grün schimmert beinahe in der Nachmittagssonne. Sie haben es bereits fertig gebracht, Vorhänge im ersten Stock aufzuhängen, was meinen Beifall findet — es ist zweifel‐ los zu meinem Vorteil –. allerdings habe ich am Tag des Um‐ zugs bemerkt, dass die Treppe im Haus sich direkt zur Ein‐ gangstür hinabwindet. Schlechtes Feng‐Shui, die ganze Ener‐ gie fließt zur Straße hinaus. Es verkündet Unheil für alle, die
hier leben. Ich bezweifle, dass sie das wissen, aber sie werden es erfahren, und zwar schon bald. »Sie«, das sind die Vandersons. Sie sind zu viert: Mann, Ehef‐ rau, eine Tochter, nicht älter als vierzehn, mit einer so voll‐ kommenen Haut, dass man sie berühren, streicheln, nie mehr loslassen möchte, und ein Sohn, vielleicht neun oder zehn, der selbst aus der Ferne nervtötend wirkte, geballtes vorpubertä‐ res Testosteron, das nur darauf wartet, loszulegen. Kein Hund. Das ist sehr wichtig. Ihre Hunde sind nämlich hinderlich; selbst die kleinen können Alarm schlagen. Katzen andererseits können in ihrem Verrat amüsant sein. Nachdem ich mit einer Familie fertig war, haben sie sich schon an meinem Bein gerie‐ ben, als wollten sie sagen: Danke, Chef, ich konnte sie ohnehin nie besonders leiden. Doch selbst Katzen können nicht ver‐ schont bleiben, nicht wenn sie zum Haushalt gehören, obwohl ich schon mit Vergnügen den Kanarienvogel oder Sittich einer Familie an ihren gierigen Rachen entsorgt habe. Ich scheue mich nicht, das lange unterdrückte Verlangen der Katzentiere zu befriedigen, und ich habe das eine oder andere gelernt, in‐ dem ich sie beim Jagen und Fressen dieser Vögel beobachtet habe. Sittiche, zum Beispiel, wehren sich am heftigsten, und Kanarienvögel sterben manchmal vor Angst. Nachdem sie in die Ecke getrieben oder mit einem Schlag zu Boden geworfen wurden, habe ich sie ins Maul der Katze starren und buchstäb‐ lich tot umfallen sehen. Bei Menschen ist es ganz ähnlich, sie haben alle ein unter‐ schiedliches Niveau an Angst, aber das Erstaunliche dabei ist, dass die Familien, die ich kennen lerne, ein gewisses Maß an Freundlichkeit gemeinsam haben, und es ist mir stets geglückt,
sie diese empfinden zu lassen, wenn es mir am meisten darauf ankommt. Ich vermute, die Vandersons werden nicht anders sein; sie wirken so normal wie Zaunpfosten. Sie sind von Pennsylvania hierher gezogen. Aus Harris‐ burg, um genau zu sein. Öffentliche Verzeichnisse sind auße‐ rordentlich aufschlussreich. Ich benutze sie jedes Mal. Ich will einfach keine Familie erwischen, die von einem Ende der Stadt ans andere gezogen ist oder nur zwei Straßen weiter. Besser, sie haben einen großen Umzug hinter sich, weit weg von Leu‐ ten, die sie kennen oder sie in einer Stunde, am selben Abend oder am nächsten Tag vermissen könnten. Ich brauche einen Tag, dann bin ich für immer verschwunden. Und sie auch. Um nie … zurückzukehren … Ich gebe ihr einen letzten Keks, eine Art Belohnung für ihr gutmütiges Wesen. Sie verschlingt ihn und wedelt mit dem Schwanz. Falls sie ihre Jungen vermisst, merkt man es ihr nicht an. Gemeinsam schlendern wir die Treppe hinauf. »Jetzt schön brav sein«, sage ich zu ihr und läute. Ich lausche, um sicher zu sein, dass die Türglocke funktioniert. Es ist nicht so günstig, länger als nötig herumzustehen. Man weiß nie, wer zusieht. Die Glocke hier läutet melodisch. Die Tür geht auf. Es ist der Junge. Er schiebt umgehend sein mageres Gesicht vor und starrt mich an, bevor er den Hund ansieht. Sie wedelt mit dem Schwanz und versucht, sein Inter‐ esse zu wecken –, bewundernswert, wie sie ihre Aufgabe er‐ füllt – aber der Kleine nimmt den Köder nicht an. »Was wollen Sie denn?«, sagt er, als würde er mich lange genug kennen, um mich nicht ausstehen zu können. Ich strecke den Kopf zur Tür hinein und sehe mich um. »Ist deine Mutter zu Hause? Oder dein Vater?«
»Mom!«, plärrt er. »Mom!« Er dreht sich um, als ein Rascheln von der Küche her lauter wird. Sie sieht noch netter aus, als ich aus der Ferne dachte. Aber ihre Stimme – »Ja … kann ich Ihnen helfen?« – ist so zö‐ gerlich, so … misstrauisch. Normalerweise sind sie vertrauensselig, da doch all die neuen Nachbarn vorbeischauen, sie begrüßen, willkommen heißen. Was ist hier los? Eine unfreundliche Nachbarschaft? Ist niemand mit einer Flasche Wein oder einer Schale Plätzchen vorbeigekommen? Ich habe ein paar Tage gewartet, damit all diese Dinge stattfinden konnten. Inzwischen sollte ich einfach ein weiteres neues Gesicht sein. Und dann fällt es mir ein: Sie kommen aus dem Hinterland der Ostküste. Ich stelle mich als Harry Butler vor. Harry ist so ein unver‐ fänglicher Name, von keiner Assoziation befleckt. Nenn dich Ted, und sie denken vielleicht an Bundy. John, und schon kommt ihnen Gacy in den Sinn. Aber Harry? Wenn sie jung genug sind, denken sie an Potter, und wenn sie älter sind an Truman. Falls sie überhaupt an irgendwen denken. »Es tut mir sehr Leid, Sie zu stören, aber ich habe einmal in diesem Haus gewohnt, in meiner Kindheit, und ich dachte mir – ich weiß, das ist ungewöhnlich –, ob ich wohl kurz herein‐ kommen und mich umsehen dürfte, vielleicht einen Blick in mein altes Zimmer werfen. Ich komme gerade von der Beerdi‐ gung meiner Mutter, ich habe ihre Sachen da draußen« – und an dieser Stelle vollführe ich ein Ablenkungsmanöver zum Kombi — »und bevor ich wieder abreise, wollte ich einfach noch mal bei meinem alten Zuhause vorbeischauen. Ich habe es lange nicht gesehen, und ich habe so viele wunderbare Erinnerungen daran.«
Das ist immer eine Schlüsselstelle: Implizit lobe ich ihren Geschmack und lasse erkennen, dass wir die Begeisterung für das Haus teilen. Und darauf kommt es in dieser Phase an: Gemeinsamkeit herstellen. Die Situation freundlich gestalten. Sie ist unglaublich attraktiv, und noch dazu trägt sie ein Kleid. Man macht sich nicht klar, wie wenige Frauen heute zu Hause noch Röcke tragen, bevor man mit so einer Sache an‐ fängt. Ich frage mich, ob sie Mormonen sind, ob ich in ein Nest von ihnen geraten bin. Das wäre nun wirklich eine süße Rache für all die frisch geschrubbten Missionare mit dem tadellosen Haarschnitt und den Namensschildchen, die im Lauf der Jahre meine Privatsphäre verletzt haben. Es ist das Kleid, das mich daran denken lässt. Ich weiß, sie hat nicht den ganzen Tag gearbeitet, ich habe es beobachtet. Es ist nichts Ausgefallenes, wohlgemerkt, sondern die Art Kittel – tut mir Leid, aber es ist wahr –, wie sie die gute alte June Cleaver, die amerikanische Hausfrauenikone, getragen hätte. Ich werde heftig erregt. Ich weiß nicht, ob es an ihr liegt, an dem Kleid, der Strumpfhose oder an schierer Vorfreude, aber ich muss das Verlangen hinunterschlucken, immer weiter zu reden, die Stille mit Worten zu füllen. Das wäre nämlich ein furchtbarer Fehler. Es würde mich viel zu begierig wirken las‐ sen, wie einen Hausierer, der ich natürlich bin: Ich gehe mit meiner Person und der Idee einer verlorenen Kindheit in die‐ sen Räumen hausieren. Manche Frauen besitzen einen besonders scharfen Überle‐ benssinn und schicken mich weg, und ich weiß, wenn sie sagt, nein, tut mir Leid, dann muss ich ihr für ihre Zeit danken, kehrtmachen und gehen. Ich kann die Sache nicht erzwingen, und das rufe ich mir nun in Erinnerung, als sich ihre Augen
umwölken und sie die Lippen fest zusammenpresst. Doch be‐ vor sie etwas sagen kann, rettet mich ihr Mann. Er kommt ge‐ nau in diesem Augenblick angeschlendert, ganz der Hausherr und die Liebenswürdigkeit in Person, ein großer, vergnügt aussehender Bursche, der mich selbst begrüßt und sagt, er wollte schon immer noch einmal das Haus seiner Kindheit besuchen. Nur herein, nur herein. Er reicht mir die fleischige Hand und führt mich mit geüb‐ ter Lässigkeit über die Schwelle. Ich höre das herrliche Klik‐ ken, als die Tür ins Schloss fällt. Sie sind erledigt. Es ist nicht schwer, sich eine Familie gefügig zu machen. Man konzentriert sich auf die Kinder und sorgt dafür, dass die schlimmsten Befürchtungen der Eltern ihre eigenen panikartigen Impulse in Schach halten. Ich lasse diesen Jolly Roger von Vater seinen Sohn und die Tochter mit Klebeband fesseln und bestehe darauf, dass er es anständig macht, oder ich mache es selbst. Er macht es richtig, vor allem bei dem Mädchen, und ich entdecke nicht wenig versteckte Feindseligkeit in der Art, wie er das Band um ihren Mund wickelt. Er wickelt es so fest, dass ich nicht umhin kann, mich zu fragen, ob sie in letzter Zeit wohl zu vorlaut war. Als er an seiner Frau arbeitet, rutscht ihr das Kleid über die Schenkel und ich sehe das Höschen in der Strumpfhose. Es weckt mein Interesse, aber nicht für lange. Ich kann mir keinen Ausrutscher leisten, und mir passiert auch keiner. Niemals. Dann ist es an der Zeit, dass Jolly Roger die Arme hinter den Rücken legt. Ich habe die Handschellen hervorgeholt. Ich brauche nur ein Paar, und ich hebe sie für diesen entscheiden‐ den Moment auf, denn erst wenn er sich die Eisen angelegt
hat, kann ich an ihm weiterarbeiten, und dann auch an den drei anderen; er hat sie ja nur gefesselt und geknebelt, und es ist noch viel mehr zu tun. »Kommt nicht in Frage«, sagt er und grinst höhnisch. »Sie legen mir die Dinger nicht an.« Genau davor habe ich mich gefürchtet – sturköpfiger Wi‐ derstand. Er ist nicht ungewöhnlich bei diesen großen, starken Männern, die trotz aller Augenfälligkeit des Gegenteils manchmal glauben, sie seien mächtiger als eine Kugel. Ich bin mir sicher, er sieht sich als Held. Ich dagegen denke, er ist ein Wichser. Seine Familie fesselt er, aber sich selber nicht? Was soll das? »Sie haben keine Wahl.« Ich rede ihm zu wie einem Dreijäh‐ rigen. »Nicht wenn Sie hier lebend rauskommen wollen.« Und diese Behauptung ist nicht aus der Luft gegriffen. Ich richte die Pistole auf seinen Kopf. Es ist eine eindrucksvolle Waffe, und seine geknebelte Frau fängt an Umpf‐umpf‐Laute auszu‐ stoßen und wild den Kopf zu schütteln. Ich merke ihr an, dass sie nicht zum ersten Mal mit seiner Dickköpfigkeit zu tun hat und nicht mehr Geduld dafür aufbringt als ich. Ihr Sohn greift das Stichwort auf und stimmt mit ein. Es ist ein regelrechter Umpf‐umpf‐Chor. Die Tochter sieht ausdruckslos zu. »Sie sind überstimmt«, sage ich lächelnd. Dann spanne ich den Hahn und halte ihm den Pistolenlauf genau vors Gesicht, so dass er die Mündung sehen und den Atem des blauen Stahls riechen kann. »Entweder, Sie machen mit, oder …« Ich zucke mit den Achseln, der Lauf der Waffe wandert ein Stück weiter und streift seine Nase, wie ich es beabsichtigt habe, obwohl ich die Pistole nur ungern benutzen würde.
»Was wollen Sie?«, fragt er. Ich höre die Frage nicht zum ersten Mal. Sie hat sie zuvor ebenfalls gestellt, in einer Weise, die durchblicken ließ, dass sie mir geben würde, was immer ich wünschte. Sie habe ich ausgelacht. Ihn werde ich töten. Er starrt immer noch auf die Waffe, als ich ihm die Hand‐ schellen reiche. Ich dirigiere seine Hände auf den Rücken, er lässt die Handschellen zuschnappen und schüttelt den Kopf. »Stillhalten«, sage ich. »Wieso?« Ich klatsche ihm das Klebeband auf den Mund. So, da hat er seine Antwort. Der Hund schnuppert an seiner Frau, dann schnaubt er in grotesker Weise an ihren Beinen hinauf. Das Tier hat ein er‐ schreckendes Interesse an ihrem Zwickel, und June krümmt sich in echter Angst, als würde sie es für einen Teil des Plans halten, dass ich zu Sodomie ermuntere. Ich sehe zu, und obwohl ich die Extraeinblicke zu schätzen weiß, ziehe ich den Hund von ihr weg und erledige ihn mit einer Kugel ins Hirn. Das lässt die begierige Schnauze ver‐ stummen und die Proteste der Familie dazu. Die Dunkelheit setzt ein, als ich den Kombi rückwärts in die Garage fahre. Ich hebe mir June bis zum Schluss auf. Als ich ihr Kleid am Rücken aufzuknöpfen beginne, fängt sie wieder mit ihrem Umpf‐umpf an. Vor einer Stunde noch war sie bereit, ihren Körper zu verschachern, jetzt benimmt sie sich, als wäre er ein heiliges Gut. Aber gerade, als ich kurz davor bin, ernsthaft die Geduld zu verlieren, lässt sie nach und ergibt sich in ihr vermeintliches Schicksal. Vielleicht glaubt sie, ich verausgabe mich mit ihr und verschone die Kinder.
Ihre Arme gleiten aus den Ärmeln, und ich ziehe ihr das Kleid über den Kopf. Auf diese Weise kann ich mir in Ruhe alles ansehen. Ein Mieder? Zweifellos, auch wenn man nicht glauben würde, dass sie es nötig hat. Und ein Höschen von der Stange mit einem BH, der den Sexappeal von altem Brot besitzt. Ihre Knie öffnen sich, aber nur ein Stück, da sie an den Knö‐ cheln immer noch gefesselt ist. Das wird auch so bleiben, weil ich kein Interesse an ihr habe, das nicht bereits befriedigt wäre. Ich falte das Kleid zusammen und lege es beiseite, schleppe sie zum Kombi und verspreche einen langsamen Tod für beide Kinder, falls einer von ihnen auf die Idee kommen sollte, an die Wände des Gefährts zu schlagen. Die nächste Dreiviertelstunde verbringe ich mit Sauberma‐ chen: das Blut des Hundes, seinen Kadaver, den ich zu den vieren hinten in den Kombi werfe, Schnipsel von Klebeband. Dann sauge ich alles gründlich und wische Oberflächen ab, bis weder Fasern noch Fingerabdrücke meiner Sorgfalt entgangen sein können. Ich nehme den Staubsaugerbeutel heraus, werfe ihn ebenfalls hinten in den Kombi und setze einen neuen ein. Sie sind spurlos verschwunden. Ich sehe die Schlagzeilen schon vor mir. Sie sind so vorhersehbar wie sonst was. Wir haben eine lange Fahrt vor uns, und ich kann mir ja schlecht ein Zimmer für die Nacht nehmen, deshalb fahre ich in einen Drive‐in von McDonaldʹs und bestelle drei große Be‐ cher Kaffee. Das Zeug ist scheußlich, aber mit einer vierköpfi‐ gen Familie verschnürt im Laderaum werde ich kaum durch diese elende Stadt kurven und ein Starbucks suchen. Sie geben keinen Mucks von sich, als ich vorfahre und zah‐ le, und Minuten später reihen wir uns in all die anderen Lich‐
ter auf der Interstate ein. Achtzig Kilometer weiter fahre ich auf einen Rastplatz, wo ich den Staubsaugerbeutel und die Papiertücher in den Müll werfe. Es ist immer noch zu riskant, den Hund abzuladen, deshalb wird sein zunehmend steif werdender und übel riechender Kadaver uns noch ein Stück begleiten müssen. Alle liegen sie da hinten im Dunkeln. Keiner rührt sich. Sie trauen sich nicht.
2 Lauren Reed stieg aus dem Bus und betrat den Fußgänger‐ überweg, als die Ampel rot zu blinken begann. Sie eilte über die vier Fahrbahnen und warf dabei ein wachsames Auge auf die ungeduldigen morgendlichen Fahrer, die rechts von ihr in einer Reihe standen. Einer von ihnen ließ den Motor aufheu‐ len. Idiot. Bandering Hall ragte vor ihr in die Höhe, sechs Stockwerke grauer Beton, eine gesichtslose Etage mit hohen Fenstern über der anderen, hässlich und urban wie der größte Teil moderner Architektur. Der Mantel kam ihr zu schwer vor, zu warm. Sie würde ihn bis zum Herbst einmotten müssen. Der Frühling, launisch wie er war im pazifischen Nordwesten, war endlich angebrochen. Lauren hatte ihren allmorgendlichen Lauf bereits vom Hallen‐ oval im Fitnessclub auf die Straßen und Parks von Portland verlegt. Wieder war ein Studienquartal zu Ende, ein weiterer Beur‐ teilungstag stand an. Bei einem Blick auf die Abgasgebläse der Gießerei, die aus dem zweiten Stockwerk von Bandering Hall ragten, rechnete sie aus, dass sie sich der Skulptur jedes Stu‐ denten acht Minuten lang widmen konnte. Mehr konnte sie nicht erübrigen, und diese Zeit basierte auf höchstens zehn Minuten Einführung. Natürlich würden sich manche wün‐ schen, es ginge sogar noch schneller, wenn es bei der Diskus‐ sion ihrer Arbeiten eng wurde, andere dagegen würden sich
betrogen fühlen von so sparsamer Aufmerksamkeit für ihr vermeintliches Meisterwerk. Ein Überziehen kam nicht in Frage, denn um zwölf Uhr be‐ gann die Fakultätssitzung, und der Dekan duldete keine Ver‐ spätung. Wer zu spät kam, hatte jeden Herbst mit wahrhaft unangenehmen Aufgaben im Ausschuss zu rechnen. Sie ging am Aufzug vorüber, als dessen Türen gerade auf‐ sprangen, und stieg die Treppe zu ihrem Büro im dritten Stock hinauf, wobei sie die Wirkungen ihres täglichen Laufens spür‐ te. Routinehandlungen, hatte sie festgestellt, waren lebens‐ wichtig, wenn man nicht zu Hause wohnte; wo genau aller‐ dings ihr Zuhause war, ließ sich inzwischen nicht mehr so leicht beantworten. Portland, wo sie lehrte und ein Zimmer in einem prächtigen, alten viktorianischen Gebäude gemietet hat‐ te, das früher eine Pension gewesen war? Oder Pasadena, wo sie noch immer ihr Atelier hatte? Und wo Chad lebte, wie sie sich in Erinnerung rufen musste, froh, dass sein Stern endlich verblasste, und dass er in ihren Gedanken nicht mehr an erster Stelle kam. Sie war sieben Jahre mit ihm zusammen gewesen. Sieben Jahre, und als sie Weihnachten zu ihm gesagt hatte: »Hör zu, ich liebe dich von Herzen, aber ich würde wirklich gern heiraten und vielleicht sogar eine Familie gründen«, da hatte er Reißaus genommen. Nicht körperlich, aber gefühls‐ mäßig. Er hatte sich schneller aus dem Staub gemacht als ein Bankräuber mit einer Tasche voll Geld. Ihr Atelier befand sich noch in seinem Haus, aber sie hatte ein kleines Appartement in der Nähe gefunden, und das alles machte die Wohnsitzfrage so ärgerlich: das Zimmer in Port‐ land oder das in Pasadena?
Sie sperrte ihr Büro auf und lud ihre Umhängetasche ab, ehe sie in die Studentencafeteria im Keller des angrenzenden Ver‐ waltungsgebäudes eilte. Sie kaufte eine große Tasse heißes Wasser für ihren Tee, den sie neben ihrem iMac aufbewahrte. Sie setzte sich an den Schreibtisch und ließ ihren Computer anspringen, der über das Wochenende stillgelegt gewesen war. Ihr ordentlicher Terminkalender leuchtete ihr entgegen. O nein, sie hatte noch diesen Autor eingeschoben, der zu ei‐ nem Interview mit ihr kam, und zwar in …? Acht Minuten. Die Zahl begann sie zu verfolgen. Er hatte gesagt, er würde für ein Buch über zeitgenössische Bildhauerei recherchieren, wenngleich sie nicht verstand, wozu: Wer sollte es kaufen? Aber die Anfrage hatte ihr geschmeichelt, da sie sich schwer‐ lich zur ersten Reihe unter den Vertretern ihrer Kunst zählte. Tatsächlich bezeichnete sie sich ungern überhaupt als Künstle‐ rin und zog »Bildhauerin« vor, weil sie glaubte, falls sie ir‐ gendwann wirklich gute Arbeit zustande brachte, dann erst durfte sie sich eine Künstlerin nennen. Aber noch war es nicht so weit, und ihre letzte Ausstellung war für sie persönlich eine Enttäuschung gewesen, wenn auch nicht für die Kritiker. Sie hatte das Gefühl, sich zu wiederholen, und zum ersten Mal hatte sie bei der Arbeit etwas wie Stagnation gespürt, eine Empfindung, so greifbar wie der Smog, der oft ihr Atelier un‐ ten in Kalifornien einhüllte. Sie überlegte kurz, wie der Autor wohl aussehen würde, und stellte sich einen eulenartigen Mann vor, einen Spanner‐ typen, oder einen streberhaften Burschen von zwanzig und noch was, der auf gut Glück an seinem Debüt arbeitete, das sich in ein, zwei Jahren dann als sein erster großer beruflicher Rückschlag erweisen würde.
Was sie sich unter dem Ry Chambers, mit dem sie telefo‐ niert hatte, ganz sicher nicht vorgestellt hatte, war ein Kerl von etwa einsneunzig Größe mit dichtem dunklen Haar und einem trapezförmigen Oberkörper, dem die braune Cargohose locker auf den Hüften saß, da er keinen nennenswerten Bauch besaß. Sein Alter? Fünfunddreißig? Vierzig? Älter nicht, wahr‐ scheinlich. Nein, sicher nicht: keine Krähenfüße. Sie stand auf, schüttelte ihm die Hand und sah ihm in die Augen. Dann gab es ihr einen höchst unerfreulichen Ruck, als ihr einfiel, dass sie mit dem Termin auch etwas vergessen hat‐ te, das auf einem städtischen Campus fast noch wichtiger war: »Der Parkausweis! Entschuldigen Sie vielmals, ich habe total vergessen, dass …« »Kein Problem«, zerstreute er ihre Besorgnis, während er sein schmales Reporternotizbuch aufklappte. »Ich habe einen Parkplatz an der Straße gefunden. Nur ein paar Minuten von hier«, fügte er an, als hätte sie zusätzlichen Trost nötig. Den brauchte sie tatsächlich. Sie vergaß eigentlich nie solche Dinge. Jetzt war es ihr doch passiert, und sie konnte nur mur‐ meln: »Gut, gut. Es kommt nicht wieder vor, ich verspreche es. Ich weiß gar nicht, wie …« Sie fühlte das nervöse Bedürfnis, drauflos zu plappern, und zwang sich, den Mund zu halten, aber dann platzte es wieder aus ihr heraus wie ein Sektkorken, der nicht halten will, der all dem sprudelnden Druck von un‐ ten nachgibt. »Möchten Sie einen Kaffee? Tee? Ich könnte wel‐ chen holen. Es ist gleich unten im …« »Nein«, unterbrach er sie erneut. »Ich habe unterwegs Kaf‐ fee getrunken. Ich brauche nichts, danke.« Sie fühlte, wie sich ihr Gesicht verkrampfte, und zwang sich zu einer lockeren Miene. Was tust du da? Dann ertappte sie sich
dabei, wie sie sich am Arm kratzte, noch so eine nervöse An‐ gewohnheit. »Sie schreiben also ein Buch? Über Bildhauerei?« Er sprach bereitwillig über das Projekt, über den Mut seines Verlegers, einen bescheidenen Vorstoß auf einem Gebiet zu wagen, das im öffentlichen Interesse so brachlag, dass sich der bekannteste Kunstkritiker unserer Zeit, Robert Hughes, der auch für Time und für den Rundfunk arbeitete, in seinem bahnbrechenden Werk über die Moderne kaum damit aufge‐ halten hatte. Ry Chambers erwähnte die Namen der drei an‐ deren Bildhauer, die er bereits interviewt hatte, alles Männer, wie sie bemerkte, und brachte dann das Gespräch auf sie selbst: Wann hatte sie angefangen, und welcher Art waren ihre frühen Arbeiten gewesen? Ehe sie sich versah, hatte sie bis zum Beginn des Unterrichts gesprochen, eine ganze Stunde lang, und sie fühlte sich äußerst schuldbewusst, weil sie die ganze Zeit allein in Anspruch genommen hatte. Hatte sie ihm auch nur eine einzige Frage über seine Person gestellt? Sie glaubte nicht, und als sie sagte, sie fühle sich regelrecht auf‐ gebläht vor Selbstbezogenheit, da lachte er, klappte sein No‐ tizbuch zu und sagte: »Gut, so soll es sein. Ich interviewe Sie schließlich. Ich will, dass Sie über sich sprechen.« »Sie werden mich aber nicht wie eine Närrin aussehen las‐ sen, oder?« Er lächelte wieder. »Ich würde sagen, das wäre ein Ding der Unmöglichkeit.« Diesen Augenblick suchte sich der Computerbildschirm aus, um mit einem Rasseln anzuspringen, das Lauren noch nie bemerkt hatte, und als ihr Terminkalender erneut aufleuchtete, dachte sie, sie sei gegen die Tastatur gestoßen. Was sie in die‐
sen ersten, unschuldigen Momenten nicht in Erwägung zog, war, dass sich das Gebäude selbst bewegt hatte und sich noch immer bewegte. Es bebte heftig. Ry sprang im selben Augen‐ blick auf wie sie, und sie stürzten beide zur offenen Tür. Die Wände wackelten so gewaltig, dass sie verschwammen. Dann sah sie grauen Staub in den Korridor rieseln und hörte ein bö‐ sartiges Poltern, als die Betondecke einen Riss bekam. Die Naht raste auf sie zu und wurde in plötzlichen Sprüngen brei‐ ter, zwei Zentimeter, fünf, acht. »Halt, halt, halt«, flehte sie, aber ihre Stimme konnte das furchtbare Rumpeln nicht übertönen. Von der Decke im Flur ging ihr Blick zum Fußboden in ih‐ rem Büro, wo die Räder des Sessels wütend in die Höhe sprangen, wie Wassertropfen auf einem heißen, fettigen Grill. Die überladenen Bücherregale tobten in einem Aufruhr, den sie auch in ihrem eigenen Körper wahrnahm. Zwei dicke Bän‐ de purzelten heraus und landeten auf dem Rücken, dann zuckten sie wie verrückt über den Boden. Sekunden später endete das Beben, und sie stellte fest, dass ihre und Rys Hände aufeinander lagen. Als Bildhauerin auf Berührung getrimmt, konnte sie nicht umhin zu bemer‐ ken, dass seine Arme kräftig waren, mit deutlich hervortre‐ tenden Muskeln. So stützten sie sich gegenseitig und brach‐ ten einander zur selben Zeit womöglich aus dem Gleichge‐ wicht. Zusammen rannten sie nach unten auf die Straße, wo sich Scharen von Studenten versammelt hatten. Vor kaum mehr als einer Stunde war sie diesen Gehweg heraufspaziert. Die Sonne hatte geschienen, der Verkehr war dicht gewesen, und sie hat‐
te sich den Kopf über die minutengenaue Einteilung ihres Stundenplans zerbrochen. Jetzt war sie froh, am Leben zu sein, nicht zermalmt, wenn auch nicht ganz unerschüttert. Ein allgemeiner Taumel erfüllte die Luft, alle Leute versuch‐ ten, gleichzeitig Geschichten von anderen Erdbeben loszu‐ werden. Alle außer ihm. Seine Zurückhaltung, selbst hier, überraschte sie. Gefiel ihr, und sie wusste rasch, wieso: Abge‐ sehen von Chad, jedenfalls die meiste Zeit, schienen alle Män‐ ner, die sie in den letzten zwanzig Jahren kennen gelernt hatte, erst dann zufrieden zu sein, wenn sie Lauren erlaubt hatten, die hintersten Winkel ihrer Seele zu erforschen. Solipsismus, der sich als Sensibilität tarnte. »Die Plünderungen haben angefangen«, witzelte ein Stu‐ dent. »Wir sollten lieber wieder reingehen und unsere Sachen holen.« Die meisten lachten, aber das hielt sie nicht davon ab, unverzüglich ins Gebäude zu strömen. Fünfundvierzig Minuten später durfte Laurens Stockwerk wieder betreten werden. Man hatte gelbe Sägeböcke aus Kunststoff in einem Fünfeck unter den Riss in der Decke des Korridors gestellt. Allerdings fragte sich Lauren, wie man festgestellt hatte, dass allein dieser Bereich einsturzgefährdet war. War es nicht wahrscheinlich, dass es zusätzlich unsich‐ tbare Schäden gab? Hatte das Beben nicht seine Zerstörungs‐ wellen auch woandershin geschickt? War das nicht überhaupt das Wesen der Chaostheorie? Was trieben eigentlich all die Schmetterlinge in China gerade? Unten hatte sie die Zeit dazu genutzt, herauszufinden, was passiert war. Das Beben war keinen Deut schwächer gewesen, als es sich angefühlt hatte, man hatte eine Stärke von Sechs‐
kommaacht gemessen. In Seattle war ein Mann ums Leben gekommen, und in beiden Städten gab es Dutzende von Ver‐ letzten. Auch Schäden in Millionenhöhe waren zu verzeich‐ nen, wenngleich das heutzutage allein das Eigenheim eines einzigen Dotcomers bedeuten konnte. Nun versuchte sie mit aller Macht, ihre Besorgnis beiseite zu schieben, und rief das Büro des Dekans an. Die Fakultäts‐ sitzung war auf ein Uhr verschoben worden. Immerhin hatte sie ihre acht Minuten pro Student wieder, unter der Annahme, dass diese eine Stunde länger bleiben konnten, was mögli‐ cherweise nicht zutraf. Die meisten arbeiteten oder hatten Kinder oder beides, und ihr Zeitplan war straff wie ein See‐ mannsknoten. Viele Studenten kamen von auswärts, und sie würde fragen müssen, wer unbedingt mittags gehen musste, und diese Leute vorziehen. Die ersten drei Arbeiten überraschten sie. Gekonnt, inspiriert, »Zucker fürs Auge«, wie Kerry, eine hoch gewachsene Studen‐ tin mit hennarotem Haar und einem perfekten Grübchen in der Kinnmitte die Specksteinstatuen nannte, die sie gerade betrachtet hatten. Lauren hatte an der Installation herumgek‐ rittelt, die Kerry als ihre eigene Arbeit gewählt hatte, die erste in dieser Beurteilungsrunde, eine vage feminine, anthropo‐ morphe Figur, die dalag, wie es eine Frau vielleicht tun würde, mit dem Gesäß auf den Fersen und dem Kopf vorne auf dem Boden. Die menschliche Form war jedoch eine Illusion, denn Kerrys Schöpfung besaß keine Arme, Beine oder andere er‐ kennbar menschliche Merkmale, und genau das machte das Stück so wirkungsvoll: Es beschwor herauf statt auszuspre‐ chen, und Lauren sah, dass niemand das Werk auf Anhieb
»kapieren« würde. Man würde verweilen, vielleicht weggehen und wiederkommen müssen. Man würde darüber nachdenken müssen, denn die Form umgab sich mit einem Geheimnis. Bemerkenswert für eine Studentin, aber nicht für Kerry, deren Skulpturen zum Besten gehörten, was Lauren von Studenten je gesehen hatte. Kerry hatte jedoch den Fehler gemacht, die Figur auf ein Podest zu stellen, und musste sie nun auf Laurens Geheiß auf den Boden verlegen. Sie tat es mit der Hilfe eines offenkundig schwulen, neurasthenischen jungen Mannes, der aussah, als könnte er die eigenen Arme nicht heben, geschweige denn die Hälfte dieses gewichtigen Werks. Doch er konnte es, überra‐ schend mühelos sogar. Und kaum lag die Figur vor ihnen, be‐ saß sie paradoxerweise wesentlich mehr Kraft. Sie kamen zu einer Arbeit, die exemplarisch verdeutlichte, was Lauren an der Kunst vieler Studenten am meisten Unbehagen bereitete: Banalität. Ausgerechnet eine ihrer besseren Studen‐ tinnen hatte purpurfarbenes Vlies um drei seltsam geformte Gebilde aus engmaschigem Draht gewickelt. Aus jeder davon ragten Scherben aus klarem Glas. Es sah aus, als sei diese Kin‐ derfigur namens Barney auf die Sause gegangen und auf ei‐ nem Koffer voll zerbrochener Ginflaschen gelandet. Lauren sah, wie Ry es ernsthaft betrachtete, zu ernsthaft, als könnte er seine wahren Empfindungen verraten, wenn er seine Aufmerksamkeit auch nur kurz abschweifen ließe. Ganz an‐ ders Kerry und eine Reihe weiterer Studentinnen, die ihm ständig Blicke zuwarfen, da sie ihn offenbar – und zu Recht – attraktiver und interessanter fanden als das Werk vor ihnen. »Es ist sehr bizarr«, sagte Lauren, unfähig, die Gefühle ihrer
Studentin zu schonen. Doch das Mädchen war von ihrer Of‐ fenheit keineswegs gekränkt oder verblüfft, es freute sich. »Danke. Es geht um Menschen. Wie sie sich verbarrikadie‐ ren.« Das Mädchen fegte ihr langes Lockenhaar über die Schulter. »Wieso hast du Purpur genommen?«, fragte Kerry, die ihre acht Minuten fast nur mit Lob überstanden hatte und nun be‐ rechtigt war, sich frei zu äußern. Nicht, dass sie es notwendi‐ gerweise tun würde, aber sie war ein ungewöhnlich kluges Mädchen mit einer scharfen Zunge. »Purpur?« Die Künstlerin drehte sich eine Haarsträhne um den Zeigefinger und betrachtete ihr Werk, als würde sie zum ersten Mal über ihre Farbwahl nachdenken. Lauren hoffte, das Mädchen hatte eine Antwort auf diese grundlegendste aller Fragen. Sie machte Stimmung für die junge Frau, obwohl die jetzt nur die Locken zur Seite wischte und mit den Achseln zuckte. Purpur sei die Farbe der Götter, brachte Lauren vor, die das Gefühl einer persönlichen Niederlage hatte. »Ich habe an Kinder gedacht, vor allem, als ich das dort gemacht habe«, sagte die junge Frau, als hätte sie Lauren gar nicht gehört. Die Künstlerin zeigte auf die kleinste der drei Formen, ein verschrumpelter, armseliger Sprössling der purpurnen Eltern vermutlich, die viel größer aussahen und eindeutig wirkten, als wären sie fähig, ihr Kleines in Stücke zu schnipseln. Sie setzten ihre Tour fort, unter anderem mit dem schmerzhaft offensichtlichen Performancestück eines magersüchtigen Mäd‐ chens in schwarzen Nylonstrümpfen, Strapsen und Seidenslip, die sich wenig überzeugend mit Seilen hatte fesseln und mit
nicht mehr Leidenschaft an eine Toilettenkabine binden lassen, neben der eine Peitsche samt sehr exakter Anweisungen lag, wie sie zu züchtigen sei, dazu pedantische Passagen, in denen die Vorzüge ausgefallener Sexspiele gerühmt wurden. Es ließ das Barney‐Stück für Lauren im Rückblick wie einen Brancusi aussehen. Zum Glück kamen am Ende noch zwei bemerkenswerte Arbeiten. Bei der ersten handelte es sich um die Klebeband‐ hülle eines weiblichen Körpers mit einer bauschigen weißen Ausfütterung. Die Künstlerin hatte das Stück geschaffen, in‐ dem sie sich selbst vollständig in dem silbernen Band versie‐ geln ließ, während sie auf einem einfachen Holzstuhl saß. Ein Foto in Postergröße, das den ursprünglichen, mumifizierten Zustand dokumentierte, hing gespenstisch an der Wand hinter der Skulptur. Wenn Lauren von einem zum anderen sah, konnte sie nachvollziehen, wie sich die Künstlerin aus der Form befreit und eine besonders überzeugende Schmetter‐ lingspuppe zurückgelassen hatte. Die letzte Arbeit gefiel Lauren sogar noch besser. Auf den ersten Blick war Melanie die normalste Studentin in der Klas‐ se. Ihre mädchenhafte, zarte Gestalt hüpfte und zappelte für gewöhnlich in den lose sitzenden Cordsachen und ausgeleier‐ ten rosa Pullis herum, die sie bevorzugte. Sie wirkte mit ihren Zöpfchen und Perlschnurarmbändern absolut unschuldig und naiv, bis sie dann in der warmen Jahreszeit ein rückenfreies Kleid trug und man sah, dass ihr kindlicher Rücken fast voll‐ ständig von Tattoos bedeckt war. Lauren erkannte, dass Melanies Kunstwerk ganz ähnlich funktionierte: Es enthüllte seine Bedeutung schichtweise. Sie hatte drei BHs und einen einzelnen Tanga aus Grapefruit‐ und
Orangenschalen geformt. Die Schalen waren getrocknet und geschrumpft und so zu Unterwäsche geworden, die nur einem sehr jungen Mädchen passen würden. Bedrückenderweise hat‐ te sie den Tanga aus der Haut einer Blutorange gebaut, dann hatte sie alle »Kleidungsstücke« auf elegante, weiße Bügel in‐ stalliert, so wie ihre seidenen Gegenstücke oft in teuren Bouti‐ quen ausgestellt werden. Lauren gefiel die Arbeit sehr, die Installation und die Vorstellungskraft, die zu beidem geführt hatte. Auf den ersten Blick drollig – aber erschreckend, sobald die Hinweise auf obsessive erotische Gewaltfantasien und die Sexualisierung von Kindern offenbar wurden. Ry ging mit Lauren zu deren Büro zurück, um seine Jeansjacke zu holen, die er dort über einen Stuhl gehängt hatte. Sie rede‐ ten leichthin über das Erdbeben, während sie um die gelben Sägeböcke herumgingen. Lauren sperrte die Tür auf und trat über die Schwelle. »Da ist sie«, sagte er überflüssigerweise, als er nach der Jak‐ ke griff. Zum ersten Mal entdeckte sie eine Spur von Unsi‐ cherheit an ihm. »Dann also bis nächsten Mittwoch um acht? Können Sie das einrichten?«, fragte er. »Ja, ich werde da sein. Und ich verspreche, mich um den Parkausweis zu kümmern. Ich bringe ihn persönlich raus.« Er dankte ihr, dass sie sich die Zeit genommen hatte, und als er seine Jacke anzog, warf sie einen verstohlenen Blick auf seinen Oberkörper und stellte ihn sich als Nacktmodell auf einem Hocker vor, eine angenehme, wenngleich äußerst kurze Träumerei, denn Kerry platzte mit einem Brief in der Hand ins Büro.
»Ich hab es! Ich hab es!« »Was haben Sie?« Lauren überlegte angestrengt, hinter was Kerry mit solchem Eifer her gewesen war. »Das Praktikum bei Stassler.« »Großartig. Gratuliere. Wann fangen Sie an?« »Nächsten Monat.« »Stassler?«, sagte Ry. »Sie machen ein Praktikum bei Stass‐ ler?« Kerry wandte sich ihm zu und nickte. Lauren bemerkte das Leuchten in den Augen des Mädchens, das ihr schon vorhin aufgefallen War. Kerry lächelte, sie strahlte Interesse und viel zu viel Sexappeal für eine Frau ihres Alters aus. »Ja. Der Ashley Stassler.« »Das ist interessant, weil ich Ende Mai einen Termin für ein Interview bei ihm zu Hause habe. Wir reden von dem Anwe‐ sen in der Nähe von Moab, oder?« »Korrekt!« Kerry schnalzte mit dem Brief, und ihr Lächeln dehnte sich über das ganze Gesicht aus. Lauren mutmaßte, dass es gleichermaßen von der Aussicht belebt wurde, mit ei‐ nem berühmten Bildhauer in der Wüste von Utah zu arbeiten, wie von Rys bevorstehender Verbindung zu ihnen beiden. »Sagen Sie«, begann Kerry und musterte Ry unverhohlen, »hat Ihnen schon jemand gesagt, dass Sie wie dieser Journalist aussehen, Sebastian … ich komme nicht auf seinen Nachna‐ men, aber er hat The Perfect Storm geschrieben.« »Korrekt«, parodierte er sie gutmütig. »Das habe ich schon ein paar Mal gehört.« Kerrys Brauen hoben und senkten sich, während ihr Blick fest blieb, und Lauren überlegte, ob Männer junge Frauen un‐ ter anderem deshalb so attraktiv fanden, weil ihnen alles Sub‐
tile abging. Es war, als könnte das Fruchtbarkeitsfest, das in ihren Körpern stattfand, nur die allerlauteste Trommel schla‐ gen. Endlich wandte sich Kerry wieder Lauren zu. »Ich werde zwei Monate weg sein. Vielen Dank für den Brief.« Ach so, das Empfehlungsschreiben, erinnerte sich Lauren. »Gern geschehen.« »Es ist einfach unglaublich. Absoluter Wahnsinn.« Das ist es tatsächlich, dachte Lauren, während Kerry den Flur hinablief und Ry aus der Tür verschwand. Ein Praktikum bei einem der führenden Bildhauer unserer Zeit, wenngleich sein Werk sie nicht mehr ansprach. Viel zu gegenständlich. Familien – Kinder, Mütter, Väter, sogar Haustiere – in unter‐ schiedliche Grade von präzise erzwungenem Schrecken ge‐ gossen, Bronzefiguren, die »die allgegenwärtige Latenz unert‐ räglichen Schmerzes« in sich tragen, wie ein bekannter Kriti‐ ker über Stasslers große Ausstellung vom vergangenen Winter im Guggenheim geschrieben hatte. Aber der schwächste Aspekt an Ashley Stasslers Werk war‐ en für Lauren die Gesichter. Sie waren Klischees. Jedes Auge zu starr, jede Stirn zu gefurcht, jedes Kinn zu streng. Und die Münder waren noch schlimmer. Selbst die Lippen von Kin‐ dern sahen immer gleich verzerrt, verzogen, nie ganz ge‐ schlossen aus. Es war, als hätte er die nicht zu leugnende To‐ desnot der Körper, die jeweils einzigartig waren in ihrem kühnen Ausdruck äußersten Leidens, genommen und sie mit dem stereotypen Porträt eines leidenden Gesichts gepaart. Doch was sie als Schwäche ansah, hielten die meisten ein‐ flussreichen Kunstkritiker für eine große Stärke. Erst letztes Jahr hatte der Chefredakteur von Europas angesehenstem
Kunstjournal in einer Besprechung der Guggenheim‐ Ausstellung über Stasslers »metaphorische Verwendung des Mundes« geschrieben, »als sei er gefesselt von den brutalen Zwängen der Konvention, zum Schweigen gebracht von den Schreien, die niemand hören kann.« Lauren war zusammengezuckt, als sie die Besprechung ge‐ lesen hatte, unter anderem weil sie selbst Stassler gelobt hatte, wenn auch weniger eloquent, als sie schrieb, die Münder sei‐ ner Subjekte »riefen mit Worten in eine Welt, die man nie er‐ fahren wird«. Aber das war vor mehr als zwanzig Jahren ge‐ wesen, als sie noch studierte und von der meisten Kunst, die sie sah, überwältigt wurde. Es war keine Überraschung, dass sie von Stasslers Werk angetan gewesen war, das ihr College damals als Leihgabe erhalten hatte. Und sie war damals auch von Bronze fasziniert gewesen, von der Unsterblichkeit, die das Material versprach. Sie hatte ihm eine Kopie ihrer Rezen‐ sion geschickt. Er hatte nie geantwortet.
3 Sie sind inzwischen zu müde für den Schrecken. Ich sehe es an ihren Gesichtern. Sie sind nicht nur müde, sie sind schlecht gelaunt, hungrig und durstig. Ich kenne das alles bereits. Ich werde ihnen Essen, ein Dach über dem Kopf und frische Klei‐ dung geben müssen, ehe sie sich wieder auf irgendetwas au‐ ßerhalb ihres egoistischen kleinen Ichs konzentrieren können. Ich werde sie zum Schrecken zurückpäppeln müssen. Nicht ein Mucks kommt von ihnen. Zwölf Stunden Fahrt im Kombi, und sie könnten ebenso tot sein wie der Hund. Die Gute hatte bereits ziemlich übel gerochen, als ich sie schließ‐ lich nach draußen beförderte. Ich machte die Hecktür auf und fünf Augenpaare starrten mich an. Hat einer von ihnen ge‐ blinzelt? Ich glaube nicht. Die liebe kleine Hündin jedenfalls bestimmt nicht. Wurde auch schon ziemlich steif. Ich habe sie auf die Hinterbeine gestellt und ihre Pfote geschüttelt, um sie zum Abschied winken zu lassen. In diesem Moment hat das Mädchen gelacht. Ich war mir erst nicht sicher, wegen des Klebebands, aber ihre Mutter warf ihr einen dieser Untersteh‐ dich‐Blicke zu, und da wusste ich es. Sie lachte wieder, als ich den Hund auf den Beinen ihrer Mutter tanzen ließ und mit den Klauen über die Strumpfhose kratzte. Ich öffne lieber den Vorhang, den ich vor den Frachtraum gezogen habe und lasse etwas Luft da hinten rein. Es wird langsam ein bisschen warm. Ich muss ihnen Wasser geben. Vor ein paar Kilometern habe ich ein Hinweisschild für einen
Rastplatz gesehen. Genau das Richtige. Reinfahren, in den La‐ deraum schlüpfen und ihnen zu trinken geben. Und mich auf die Beschwerden gefasst machen: Ich muss pinkeln. Ich habe Hunger. Was wollen Sie? – Häufiger: Was zum Teufel wollen Sie? – Wohin fahren wir? Ich werde ihnen also als Erstes erklären, dass niemand von ihnen Wasser bekommt, wenn auch nur einer ein einziges Wort sagt. Nicht einen Tropfen. Da ist der Rastplatz. Er kommt schneller, als ich dachte, und ich frage mich, ob ich einzudösen beginne. Ich suche mir einen Parkplatz nicht zu nah und nicht zu weit von den nächsten Au‐ tos und lasse den Blick von links nach rechts über das Gelände wandern. Kein Streifenwagen, keines von diesen breiten Schif‐ fen, die Detektive in diesen Gegenden bevorzugen. Nichts als übergewichtige Mormonen, die ihre Frühstücksbagel kaufen. Ich esse noch zwei von den mit Schokolade überzogenen Espressobohnen, die mich den größten Teil der Nacht fit ge‐ halten haben. Ich habe fast die ganze Tüte aufgegessen. Scho‐ kolade, Koffein und Wasser. Ich muss unbedingt pinkeln, aber ich kann sie nicht allein lassen, deshalb nehme ich die Pinkel‐ flasche mit nach hinten. Das ist nun wirklich eine Folter, sie zusehen zu lassen, wäh‐ rend ihre eigenen Blasen zum Platzen voll sind. Es ist jetzt zwölf Stunden oder länger her, seit sie die Gelegenheit hatten, aufs Klo zu gehen, und ich frage mich, wer es als Erster nicht mehr aushält. Es gab schon andere, die in die Hose gepisst ha‐ ben. June schaut weg, genau wie ihr Macker, dieser Jolly Ro‐ ger, und ihr Sohn, aber Töchterchen sieht mich voll an, sieht ihn an. Mutig, unsere Kleine, was? Wirkt überhaupt nicht be‐ unruhigt. Ganz anders als ihre Mutter, als ich ihr das Kleid ausgezogen habe.
O nein, ich rieche es, bevor ich es sehe, und als ich das Dek‐ kenlicht anmache, ist klar, dass sich Sonnyboy voll gemacht hat. Seiner Schwester gefällt das gar nicht. Sie klingt, als wür‐ de sie ihn hinter dem Klebeband wüst beschimpfen. Es muss so sein, denn June wirft ihr schon wieder finstere Blicke zu. Roger sieht einfach nur krank aus. Er hat wahrscheinlich ge‐ waltige Schuldgefühle, weil er mich ins Haus geschleppt hat. Und jetzt sieh sie dir an, nach gerade mal einem halben Tag mit mir! Gefesselt, hungrig, durstig und die Hosen voll. Und du fandest Harrisburg schlimm, was, Jolly Roger? »So, Leute, aufgepasst.« Sie sind sofort ganz Ohr. Ich habe nicht mehr mit ihnen gesprochen, seit wir losgefahren sind. »Zeit für einen Schluck Wasser. Wer will zuerst trinken?« Ich wusste es. Töchterchen hebt den Kopf und bewegt die Beine, und als ich sie ansehe, überlege ich, dass sie vielleicht doch nicht mehr ganz so jung ist, wie ich dachte. Sie könnte sechzehn sein. Siebzehn? Möglich. Alle nicken, als ich ihnen erkläre, wie die Abmachung aus‐ sieht. Alle außer Sonnyboy, der sich zu sehr zu schämen scheint, um die nassen Augen zu öffnen. Ich schäle das Klebeband vom Mund seiner Schwester und bemerke ihre Lippen, voll und sanft geschwungen wie ein Champagnerglas. Ich helfe ihr, sich aufzusetzen, spüre die Kammlinie ihres Rückens. Dann lasse ich meine Hand an ih‐ rem Rückgrat nach oben gleiten, fühle jeden kleinsten Kno‐ chen, ihre Haut — sie ist so straff – und ihren Hals, schmal und glatt. Ich behalte meine Hand dort, als sie trinkt und spü‐ re, wie die Flüssigkeit ihre Kehle hinabströmt. »Nicht zu viel«, sage ich leise. »Du wirst es bei dir behalten müssen.«
»Wie er.« In ihrem Flüstern liegt so viel reiner Abscheu, dass ich nur dort kauern und sie bewundern kann. Aber das ist alles, was ich tue, denn sie hat das Abkommen verletzt. »Wenn du noch ein Wort sagst, bekommen die anderen nichts.« »Wirklich?« Ihre Miene hellt sich auf. »Und was, wenn ich schreie? Bringen Sie dann alle um?« Ich halte ihr schnell den Mund zu, aber es schüttelt mich vor Lachen. Und sie weiß es, ich sehe es an ihren Augen. Und dann – ich fasse es nicht – lässt sie ihre Zunge an meine Finger gleiten. Was für ein Luder. Was für ein dreckiges Luder. Ich finde sie großartig. June zeigt eine völlig andere Reaktion auf unser Tete‐a‐tete. Sie versucht ihre Tochter zu treten, jawohl, zu treten, und ich beginne hier ernste Familienprobleme wahrzunehmen. »Schluss damit«, fahre ich die Mutter an. »Reißen Sie sich zusammen.« »Umpf‐umpf.« »Ach was, selber umpf‐umpf.« Selbst ihre Strumpfhose be‐ ginnt ihre Anziehungskraft zu verlieren. Sie wird als Erste gehen, das sehe ich jetzt bereits. Man muss Opfer bringen für seine Kunst. Klar, das tun alle, aber June Cleaver geht mir seit der Sarah‐Bernhard‐Nummer we‐ gen ihres Kleides auf die Nerven. Eine wahre Dramenkönigin. Man hat mit allen möglichen Typen zu tun bei dieser Art Ar‐ beit, das kann ich Ihnen sagen. Ich klebe ihrer Tochter wieder den Mund zu und rutsche zu Sonnyboy hinüber. Er reagiert nicht auf meine Warnungen, deshalb wende ich mich an diesen Jolly Roger von Vater und erkläre die Abmachung geduldig noch einmal.
Mag sein, dass er zuhört, ich kann es nicht sagen. Er sieht erschöpft aus, schwere, halb geschlossene Augen, als wäre all sein Lebenssaft ausgelaufen; aber bei manchen Männern kann man nie wissen, besonders bei den kräftigen, die noch kräfti‐ ger zu wirken versuchen, indem sie eine Dummheit machen. »Sie« – ich zeige auf das Mädchen – »ist damit davonge‐ kommen, weil sie niedlich ist, aber Sie sind alt und hässlich, Roger« — er schaut verwirrt drein, als er den ihm zugeteilten Namen hört –, »also kommen Sie nicht auf dumme Gedan‐ ken.« Er nickt, als wollte er sagen, klar doch, geben Sie mir schon zu trinken, und dann stürzt er einen ganzen Viertelliter hinun‐ ter, bis ich ihn unterbreche. June hat sich von mir weggedreht, auf die Seite, sie schmollt zweifellos wegen ihrer misslichen Lage, deshalb lasse ich ihren BH schnappen, ich ziehe ihn weit zurück, wie eine Schleuder, und dann gib ihm! Das habe ich seit der Schulzeit nicht mehr gemacht, es ist ein großartiges Gefühl und stimmt sie sofort um. Aber ihr Geumpfe hat nun etwas von einem Fauchen, des‐ halb verkünde ich nur: »Sie haben verloren«, tröpfle etwas Wasser über ihren Kopf und schließe die Flasche. Jetzt fängt sie an zu treten, sie bekommt einen richtigen Wutanfall, und das zwingt mich zu handeln. Ich ziehe mein Messer heraus, ein Schnappmesser, das ich vor fünf Jahren in Sonora, Mexiko, gekauft habe, ein echtes Prachtstück, mit tür‐ kis eingelegtem Griff, Goldbändern oben und unten und einer Edelstahlklinge so scharf, dass ich Sonnyboys Wange nur rit‐ zen muss, und schon sprießt eine rote Blüte. Ich suche ihn aus, weil langsam der Verdacht in mir keimt, Mutter würde nicht aufhören zu treten, wenn ich seine Schwester verletzen würde.
Eine dieser Mutter‐Tochter‐Geschichten – wie du mir, so ich dir. Sonnyboys Kratzer ist gar nichts, aber er genügt, um June zum Schweigen zu bringen. Ich wische die Klinge an ihrer Hüfte ab, am Höschenteil der Strumpfhose, spüre aber nichts von dem Kitzel, der am An‐ fang mein Interesse geweckt hatte. Erstaunlich, wie sehr inti‐ me Nähe Abneigung hervorrufen kann. Als ich das Mädchen wieder ansehe, nickt sie, und wenn ich raten müsste – und seien wir ehrlich, genau das muss ich zu diesem Zeitpunkt –, würde ich sagen, was ich soeben getan habe, findet ihre volle Zustimmung. Was aber wirklich merk‐ würdig ist, was bisher noch nie vorkam, ist, dass sie auch die meine findet. Noch vier Stunden Fahrt. Es ist der schönste Teil der Reise, durch das Wüstenhochland des südöstlichen Utah. Sanft ge‐ wellte Hügel aus rotem Fels, wunderbare Berge, offenes Land. Aber im Sommer ist die Gegend ein Backofen, und selbst jetzt geht die Temperatur schon nach oben. Besser ich schalte die Klimaanlage an und mache den Vorhang wieder einen Spalt auf, sonst braten sie mir da hinten. Ich denke ständig an die Tochter. Sie sieht absolut köstlich aus, vollkommen ausgereift. Als ich ihre Haut berührte, wünschte ich mehr davon zu berühren. Ich wollte meine Hand über jeden festen Quadratzentimeter von ihr gleiten lassen. Sie ist in dem Alter, in dem die Haut ihre maximale Straffheit be‐ sitzt, nicht fester sein könnte, da man buchstäblich eine Münze von ihrem Bauch hochspringen lassen könnte. Ich musste mich sehr zusammennehmen, nicht ihre Brüste zu betasten. Sie hat
so hübsche Brüste, hoch und stolz. Natürlich ist sie noch min‐ derjährig, und wir wollen ja nichts Ungesetzliches tun, nicht wahr? Wie muss eine Kindheit aussehen, die so viel Hass erzeugt: Wenn ich schreie, bringen Sie dann alle um? Ich glaube, sie meinte es ernst. Ich glaube, es würde ihr nicht das Geringste ausma‐ chen, wenn ich sie jetzt auf der Stelle erledigen würde. Dabei wirkten sie so normal. Deshalb habe ich sie mir ja vorgenom‐ men. Das Einzige, was fehlte, war eine Lassie, und ich habe ein, zwei Lassies irgendwo herumliegen. Dazu die Skelettpa‐ rade, damit sie ihre Zeit mit Nachdenken darüber verbringen, was passieren könnte, wie sie enden könnten. Zeit zum Nach‐ denken bedeutet Zeit, damit das Entsetzen eindringt. Ich will, dass sie Adrenalin in jede Zelle absondern, bis sie voll davon sind wie Vieh auf der Schlachthausrampe, das hilflos brüllt, während ein endloser Strom von Chemikalien durch ihr Ge‐ hirn rauscht. Vielleicht wurde sie missbraucht, als sie klein war. Heutzu‐ tage denkt man zwangsläufig daran, es ist das Erste, was ei‐ nem einfällt. Ich verabscheue Kinderschänder wirklich. Sich so über Kinder herzumachen, ist eine Schande. Das kann so ein kleines Ding wirklich emotional verkrüppeln. Man sollte sie alle erschießen. Aber möglicherweise ist sie einfach missraten. Ich bin mir sicher, genau das würde man von mir behaupten. Ich hatte eine perfekte Kindheit. Niemand hat mich gefickt. Ich glaube, ich wurde ganze zwei Mal verhauen. Mom blieb zu Hause, Dad ging arbeiten. Und ich durfte die ganze Zeit spielen. Alles in allem habe ich mich gut entwickelt. Der einzige Fe‐ tischismus, den ich habe – wenn man es überhaupt so nennen
kann – ist diese Strumpfhosengeschichte. Ich bin nicht der Einzige. Suchen Sie im Web unter »naughty pantyhose«, und Sie finden Dutzende von Sites. Sie glauben, ich verscheißere Sie? Sie wollen Aufnahmen von großbrüstigen Asiatinnen mit hochgeschobenem Rock und Strumpfhose? No problema, wie sie im Süden sagen, weit im Süden. Englische Schulmädchen in Kniestrümpfen und blanker Strumpfhose? Dito. Diese Strumpfhosenfreaks haben sogar ihre eigene Lobby. Sie ver‐ langen, dass Hollywoods Filmemacher in Sexszenen Strumpf‐ hosen zeigen statt Nylonstrümpfe und Strapse, die sowieso lächerlich sind. Am Valentinstag hat sie vielleicht jede zweite Frau in einem Restaurant an, aber das restliche Jahr über heißt es dann wieder nichts als Strumpfhose, und das ist auch gut so. Ich habe sie selbst probiert – es gibt sogar dafür Websites, Männer in Strumpfhosen, meist Männer mit riesigen Erektio‐ nen –, aber der Kitzel war schnell dahin. Nachdem ich rund ein halbes Dutzend aufgetragen hatte, interessierte es mich eigentlich nicht mehr, die Dinger anzuziehen. Das Ganze war wohl Transvestismus, aber daran ist nichts Ungewöhnliches. Auf jeder Halloween‐Party erscheint die Hälfte der Männer in Frauenfummel. Die Hälfte der Frauen ebenfalls? Nein. Sie kommen als Kobolde, Elfen, Hexen. Aber die Kerle? Sie sind Sekretärinnen, Flittchen und Schätzchen in Miniröcken, Push‐ up‐BHs und Stöckelschuhen. Ich bin also wohl kaum pervers, nicht nach heutigen Maß‐ stäben. Ich bin alles Mögliche, aber nicht pervers. Es ist nicht so, dass mir einer abgehen würde bei diesen Entführungen. Ich mache sie, weil ich muss. Es ist Arbeit. Ich kriege bestimmt keine Erektion davon. Ich bin nicht wie diese Freaks, die
kommen, wenn sie töten. Das Einzige, was ich einräume, ist Ehrgeiz, aber das ist alles. Ich finde Vergnügen am Ruhm. Und warum auch nicht? Ich verdiene ihn, voll und ganz. Meine Arbeit ist einzigartig, sie ist erstklassig und unvergesslich. Ich nehme den menschlichen Geist und beuge ihn, beuge ihn, beuge ihn, und genau in dem Augenblick, in dem er bricht, fange ich den nackten Körper von oben bis unten in seiner Anspannung und seinem Schaudern ein. Das war es, was ich in Nepal gesehen habe, der schreckliche Aufruhr, der direkt unter der Haut liegt. Ich habe mich damals gefragt, wie der Künstler diese Wirkung erzielte. Ich frage es mich noch im‐ mer. Ich weiß, wie ich es mache. Aber man muss den Schrecken aufbauen, so wie man alles aufbauen muss, was sich zu besitzen lohnt. Es braucht Zeit, sehr viel Zeit. Es ist, als müsste ich ihnen erst Süße verleihen, so wie man einer Birne Süße verleiht, indem man sie in eine Papiertüte steckt. Tag für Tag wird die Birne reifer, die Säfte steigen, bis sie schließlich zum Platzen reif ist. Es könnte natürlich auch sein, dass sie nur mit mir spielt. Dass sie versucht, mich zum Narren zu halten. Andere haben es versucht, weiß Gott, aber nie in diesem frühen Stadium. Sie haben es getan, nachdem sie das Lager und den Käfig gesehen hatten. Dann, nach ein, zwei Wochen versuchten sie mich zu verführen, vor den Augen ihrer Ehemänner! Sie hielten mich für einen Trottel. Aber sie war von Anfang an willig. Sie schien davon erregt zu sein. Vielleicht ist das Leben mit Mom, Dad und Sonnyboy so langweilig, dass selbst das hier besser ist. Plötzlich überkommt mich Sympathie für sie, und ich er‐ mahne mich, vorsichtig zu sein.
Es kommt mir vor, als wäre ich eine Ewigkeit gefahren, aber schließlich biege ich vom Highway ab und steuere über die unbefestigte Straße. Alles, was ich in den Seitenspiegeln sehe, ist die Staubfahne hinter uns. An einem Tag wie heute – kein Wind, keine Feuchtigkeit – kann sie eine Stunde lang in der Luft hängen, bis sie langsam zur Erde sinkt. Jedes Mal, wenn ich auf einer dieser Straßen einen Mountainbiker überhole, tut er mir Leid, weil er all den Staub schlucken muss. Aber wenn ich könnte, würde ich sie alle dorthin zurückschicken, wo sie herkommen. Ich bin der Abgeschiedenheit wegen hierher ge‐ zogen, und plötzlich sind wir das Weltzentrum der Mountain‐ biker. Eine Million von ihnen strömt jedes Jahr in die Gegend, um die Pfade über den glatten Fels zu befahren, und manche kommen vom Kurs ab und landen hier draußen. Ich war schon versucht, den einen oder anderen unsterblich zu machen, habe es aber nie getan. Jeder Schritt will geplant sein. Ich lächle nur, erkläre ihnen, dass sie sich verfahren haben und wie sie zu‐ rückkommen. Und dann beobachte ich sie genau, um sicher‐ zugehen, dass sie auch wirklich verschwinden. Ich halte am Weidezaun und öffne das Gatter. Dann fahre ich durch und sperre es wieder ab. Die Ranch war bewirtschaf‐ tet, bis ich sie gekauft habe. Ich hatte keine Verwendung für das Land, nur für die Ungestörtheit, die es mir bot. Das größte Verkaufsargument war die einzige Besonderheit, die ich nicht sehen konnte, die niemand sieht – der Keller. Diese Mormonen lieben ihre Keller. Sie füllen sie mit so viel Vorräten auf, dass sie ein, zwei Jahre lang satt zu essen hätten. Es gehört zu ihrer Religion. Sie haben also Keller, aber ich hatte noch nie einen wie diesen gesehen. Als ich ihn das erste Mal betrat, staunte ich nur über seine Größe.
Sie hatten ihn genau unter die Scheune gebaut, die riesig war, mit einem halben Dutzend Pferdeboxen auf der einen Seite und einer vier Meter hohen Decke mit fast zweihundert Quadratmetern Gästeunterkunft darüber. Alles Holz und Balken. Wundervoll. Ich benutze es als meine Wohnung. Aber der Keller war für meinen Geschmack einfach himm‐ lisch. Der Eingang liegt vollkommen versteckt. Er befindet sich in der letzten Box links. Wenn man das Heu zur Seite harkt, stößt man auf eine schwere Eichentür, die bündig in den Boden ein‐ gelassen ist. Sie hat einen genau passenden Ring als Griff in einer Vertiefung. Ich habe die Tür nicht einmal bemerkt, bis sie mich darauf hingewiesen haben. Wenn man den Ring dreht, öffnet sich die Tür zu einer steilen Treppe, die drei Meter in das Stockwerk darunter führt. Der Keller umfasst die volle Fläche der Scheune, mit einer halb so hohen Decke. Die Wän‐ de sind aus Löschbeton, unverputzt, sehr rau. Am hinteren Ende befindet sich eine Toilette mit Versitzgrube, das »Kat‐ zenklo«, und Kaltwasserleitungen kommen nicht weit davon aus den Wänden. Als ich den Keller zum ersten Mal sah, war er voll gepackt mit all diesen Überlebensmitteln: Fünfzig‐Kilo‐Säcke mit Reis, Hafer, Mehl, riesige Kisten Trockenfrüchte, Milchpulver, Dörr‐ fleisch, dazu Schachteln voll Tortillachips, Brezeln, Knabber‐ zeug, Kekse, Fertigkuchen. Diese Mormonen waren ein Hau‐ fen couch potatoes in Erwartung der Apokalypse. Jetzt sieht es da unten ganz anders aus. Ich fahre direkt in die Scheune, schließe die Doppeltür und sperre sie ab. Dann lausche ich. Ich lausche sehr sorgfältig.
Bisher habe ich nie jemanden angetroffen, aber das wäre nun der denkbar schlechteste Moment für ein Versehen. Ich habe ein komisches Gefühl. Mir ist klar, dass es wahr‐ scheinlich nichts ist, nur die Auswirkungen einer sechzehn‐ stündigen Autofahrt, aber ich inspiziere jede Box. Sie sind alle leer. Von dem Heu abgesehen, sind sie so makellos sauber, wie die Mormonen sie vor mehr als fünfzehn Jahren verlassen ha‐ ben. Immer noch beunruhigt, gehe ich nach oben ins Gästehaus. Hier ist es still wie in einer Kathedrale. Ich blicke empor zu den Balken, die sich hoch über mir kreuzen, aber ich sehe nichts außer einem einzelnen seidigen Faden, der aus einem nicht sichtbaren Spinnennetz gefallen ist. Er ist an einem Bal‐ ken hängen geblieben und fängt das silberne Licht ein. Eine lange Küchentheke erstreckt sich zu meiner Rechten, während der Wohnbereich links liegt. Als ich die Gästeunter‐ kunft zum ersten Mal zu Gesicht bekam, hatten sie ihren Weihnachtsbaum hier oben stehen, einen Baumriesen, den größten, den ich je in einem Haus gesehen habe. Es muss zwei Tage gedauert haben, ihn zu schmücken. Ich gehe an den Möbeln vorbei und komme in den Flur, wo ich spontan in mein Schlafzimmer stürze. Aber dort ist nie‐ mand. Im ganzen Gästehaus ist niemand, und ich gehe beru‐ higt wieder nach unten und öffne das Heck des Kombis. Pfui, wie das riecht. Ich schneide allen die Fußfesseln durch, dann dürfen sie sich an die nächstgelegene Stallbox lehnen. Ich weiß nicht, ob jemand von ihnen geschlafen hat, aber die Au‐ gen des Mädchens sehen nun verschwollen und rot aus, als hätte sie geweint. Sind wir wohl nicht mehr so frech, wie? Ich entriegle den Griffring und drehe ihn. Die Tür hebt sich
mühelos. Jede Menge Zahnräder. Ich führe sie nach unten wie Häftlinge. June sieht lächerlich aus in ihrer Strumpfhose, und der Junge geht o‐beinig, was ich darauf zurückführe, dass er sich voll gepisst hat. Das erinnert mich daran, ihnen vom Kat‐ zenklo zu erzählen. Als sie den Keller betreten, beobachte ich aufmerksam ihre Augen. Ich will ihre Reaktion sehen. Das ist mir wichtig. Sie fahren zusammen. Allesamt, als Gruppe, weichen sie an die Wand zurück, als sie sehen, was der Keller enthält, und ich kann ein Lachen nur schwer unterdrücken. »Weiter. Nicht stehen bleiben.« Das ist der kostbarste Augenblick von allen, denn sie sehen zum ersten Mal die Parade der Skelette. Ihr Blick fällt auf die Überreste der Verzweifelten und der Toten, der Zerschmetter‐ ten und der Verstreuten, all der armseligen Menschen, die zu‐ letzt aufhörten, an Hoffnung oder Glück, an Überleben oder Flucht zu glauben. Die Skelette stehen vor ihnen, und sie ha‐ ben die Kleidung umhängen, die sie einst trugen. Ich bin nicht umsonst Bildhauer; ich habe die Figuren mit Hilfe meiner Löt‐ lampe zu Positionen zusammengeschweißt, die jedem vertraut sind, der meine Kunst gesehen hat, obwohl in der ganzen Zeit nicht einmal jemand diesen Zusammenhang hergestellt hat. Bildhauerei liegt so weit unterhalb des Radars der meisten Amerikaner, dass es nicht einmal ein Signal auslöst. Wenn sie sich nicht für mich interessieren, warum soll ich mich für sie interessieren? Wofür sie sich allerdings interessieren, ist ihr Schicksal, und sie erkennen den Tod, wenn er sie ansieht. Und genau das tun die lieben Verstorbenen, sie starren alle Neuankömmlinge aus ihren leeren Augenhöhlen an. Und aus der Schwärze dieser
Augenhöhlen sprechen sie auch von der Zukunft, der nicht allzu fernen Zukunft, wenn die Neuankömmlinge sich zu ih‐ nen gesellen werden und die Parade der Skelette weiter an‐ wachsen wird. »Ihr solltet euch geehrt fühlen«, sage ich. »Diese Seite mei‐ ner Arbeit bekommt nicht jeder zu sehen.« Sie sehen verwirrt aus, hier macht sich Verweigerung breit, und ich treibe sie voran. Ich kann keine offene Rebellion ge‐ brauchen. Zwar habe ich meine Waffe, aber ich ziehe es vor, sie nicht zu benutzen. Und jetzt, ja ich kann es sehen, erblicken sie den Käfig. Er ist wirklich prachtvoll. Er reicht bis zur Decke und ist so breit wie der Keller. Auch ihn habe ich zusammen‐ geschweißt, und er ist für sich genommen ein Kunstwerk, aus Schrott hergestellt. Meist Metall, Stahl aus alten Autoteilen und ausrangierten Lkws, Chrom und Kupfer aus Installati‐ onsbedarf, Baustahl, selbst alte Näh‐ und Bohrmaschinen. Falls Ihr einziger Bezugspunkt Popkultur ist, denken Sie an Water‐ world, oder noch besser, denken Sie an eines dieser erbärmli‐ chen futuristischen Epen, die in düsteren unterirdischen Wel‐ ten angesiedelt sind, wo Gefangene ohne Hoffnung hinter dik‐ ken Gitterstangen hervorstieren. Ich habe auch die sonnengebleichten Schädel von Rindern mit eingebaut (denken Sie nun an Georgia OʹKeefe), zusam‐ men mit den Gebeinen von Hunden, Katzen und einigen wil‐ deren Tieren. Ihr Gefängnis ist ein Grabmal, erbaut aus den rostigen Überbleibseln unserer Kultur. Und es ist robust. Sie können darauf herumklettern — und die meisten von ihnen suchen es irgendwann gründlich nach einem Ausweg ab –, aber dabei schneiden sie sich nur an den Knochen und alten Stoßstangen.
Es gibt keinen Ausweg – kein Klettern, kein Tunnelgraben, kein Schlossknacken –, aber nur Jolly Roger scheint das zu fühlen. Er ist seiner Familie nicht in den Käfig gefolgt. Er steht am Eingang und mustert alles vor ihm genau. Ich muss ihn mit der Waffe anstoßen, ehe er sich zu seiner Sippe gesellt. Ich schließe die Tür, eine unregelmäßige Folge von Leerräumen und grob zusammengeschweißten Verbindungen, alles aus Metall, alles erprobt. Ich lasse das Schloss zuschnappen und befehle Roger, zu mir zu kommen. »Umdrehen.« Er tut es widerspruchslos. Vielleicht vertraut er darauf, dass ich ihm nicht wehtue, nicht im Augenblick. Vielleicht ist es ihm inzwischen egal. Er muss sich an eine Öffnung drücken, damit ich die Hand‐ schellen aufsperren kann. Die meisten reißen sich sofort das Klebeband vom Mund, so dringend ist ihr Bedürfnis, zu schreien. Er jedoch bleibt regungslos stehen, ein großer, star‐ ker Mann, der schneller die Fasson verliert als billige Klamot‐ ten. June eilt herbei und schiebt ihn zur Seite, dann dreht sie sich um, damit ich ihr die Fessel von den Handgelenken schneiden kann. Sobald sie frei ist, reißt sie sich das Band vom Mund und versucht zu schreien, aber sie kann es nicht. Ihre Kehle ist so trocken, dass sie hustet, und als sie endlich Worte formt, klingt sie wie Linda Blair im Exorzist, jede Silbe verzerrt und zerfranst, einer ausgetrockneten Kehle entrissen. »Was ist das hier? Was haben Sie mit uns vor?« Ihr Blick jagt zu den Geschöpfen, an denen wir vorbeigegangen sind, und sie keucht: »Wer sind die?« Aber sie weiß, wer sie sind. Sie weiß es.
Ich mache ihrer Tochter ein Zeichen, zu mir zu kommen, und als sie sich nähert, schlägt June ihr ins Gesicht. »Du … Scheusal«, würgt sie hervor. »Deinen Bruder ausla‐ chen, mit dem da gemeinsame Sache machen.« Junes Augen funkeln mich an, und ich erkenne Wut in ih‐ nen, die ich auch in ihrer brüchigen Stimme höre, als sie sich erneut an ihre Tochter wendet. »Untersteh dich, mit deinen Spielchen anzufangen.« Ihre Überheblichkeit macht June noch wütender. Die Frau zittert, so sehr muss sie sich anstrengen, nicht wieder zuzu‐ schlagen. Als Roger das sieht, wird er lebendig, er nimmt seine Frau am Arm und führt sie unter Grunzen — er hat noch im‐ mer das Klebeband vor dem Mund – ein Stück weg. Das kann ja reizend werden hier unten. Ich befreie die Hände des Mädchens, und sie dreht sich zu mir um, als sie sich den letzten Rest Klebeband vom Mund schält. »Sehen Sie, womit ich mich herumschlagen muss?« Dann geht sie hinüber zum Katzenklo, zieht sich die Hose und das Höschen runter und pinkelt ausgiebig, ohne sich ab‐ zuwenden. Es ist, als würde sie nachspielen, was ich im Kombi getan habe. Sie nimmt den Blick nicht eine Sekunde von mir, auch nicht, als sich Jolly Roger endlich das Band vom Mund zieht und schreit: »Bedeck dich!« June stimmt mit ein, Sonny‐ boy ebenfalls. Nichts davon kratzt die Tochter im Geringsten, sie steht ru‐ hig auf, die Scham aufreizend nackt, und zieht sich langsam das Höschen hinauf. Ihre trägen Bewegungen scheinen darauf angelegt, ihre Eltern noch mehr in Rage zu bringen, und sie erzielt einen glänzenden Erfolg bei ihrer Mutter, die den »Be‐ deck‐dich!«‐Chor zu einem kreischenden Finale führt.
Ich bin drauf und dran, June zum Schutz des Mädchens Handschellen anzulegen, als sie zu Füßen ihres Gatten zu‐ sammenbricht und kraftlos auf den Boden hämmert, einmal, zweimal, dann kann sie nicht mehr.
4 Lauren hörte seine Schritte, und im selben Moment wurde ihr bewusst, dass sie es inzwischen tatsächlich am Klang erkannte, wenn Ry Chambers den Flur entlangkam. Das Ganze wurde zur allwöchentlichen Mittwochmorgenroutine. Punkt acht Uhr spaziert er in ihr Büro und beginnt, Fragen zu stellen. Späte‐ stens acht Uhr fünf ist sie in Erinnerungen, Theorien oder Be‐ trachtungen über Kunst vertieft und zitiert Leute wie Kan‐ dinsky oder Heidegger (letzte Woche war es Bauen, Wohnen, Denken), bietet ihm das Gefüge ihres Denkens dar, öffnet sich so ernsthaft, wie sie sich noch nie jemandem geöffnet hat, auch ihren Studenten gegenüber nicht. Sie genoss es! Sie hatte sich von dem Erlebnis verführen lassen. Interviewt zu werden war großartig. Er widmete ihr mehr Aufmerksamkeit, als sie je zu‐ vor erfahren hatte. Und das seit drei Wochen, es ging schon in die vierte. Verführung, genau das war es. Und da sie noch nie so tief schürfend interviewt worden war, hatte sie keine Ah‐ nung, ob ihre Reaktion schlicht der Aufmerksamkeit galt, oder – was bedenklicher wäre – dem Mann, der sie ihr schenkte. Sie argwöhnte das Letztere. Warum würde sie sich sonst so klei‐ den: hohe Absätze – nichts Übertriebenes, aber genug, um sie auf einssechzig anzuheben –, wenn sie auch ihre Birkenstocks tragen könnte? Lief nicht die halbe Stadt so herum? Und einen schwarzen Rock mit silbernem Schnurbesatz, der in der Mitte vom Saum bis fast zur Taille hinauflief und ein paar entschei‐ dende, vielsagende Zentimeter davor endete. Dann der
schwarze Pullover, der die beiden schwarzen BH‐Riemen nie ganz zugleich bedeckte, und den einen oder den anderen je‐ weils mit der Außenwelt kokettieren ließ. Mit ihm, wenn sie ehrlich war. Dazu das Make‐up, der rote Lippenstift, der sich so auffal‐ lend von ihrer blassen Haut und dem hübsch geschnittenen, blonden Haar abhob. Erst gestern war sie in einem teuren Fri‐ seursalon gewesen, von dem sie in der Zeitung gelesen hatte. Verführung. Nur dass sie diejenige war, die die ganze Zeit redete. Sie redete sich in … ja in was? Es ging um mehr als ein Buch, wie es schien. Er hatte nichts weiter getan, als ihr in die Augen zu sehen und kurze Fragen zu stellen, und schon legte sie los. Kurze Fragen führten zu langen Antworten. Sie hatte das Prinzip entdeckt, von dem sich alle guten Interviewer lei‐ ten ließen: Die Länge der Antwort ist umgekehrt proportional zur Länge der Frage. Je mehr sie mit ihm sprach, desto mehr erzählte sie von sich selbst, und je mehr sie ihm von sich erzählte, desto weiter führte sie ihn in ihre Welt, ihre Familie, ihre Geschichte. Die Pläne ihres Vaters, schnell reich zu werden. Wie er in ihrem Hinterhof in Connecticut begonnen hatte, exotische Vögel zu züchten. Wunderschöne Vögel mit höchst erstaunlichem Ge‐ fieder. Wie sie einem Ara beigebracht hatte, auf ihrer Schulter zu sitzen. Aber Connecticut liegt in Neuengland, und was war wohl passiert? Sämtliche Vögel erfroren im ersten Winter. Was hatte sich ihr Vater dabei gedacht! Und der Bankrott. Sie erzählte Ry ausführlich, wie ihr Vater sie alle zu einer Familienversammlung nach unten beordert hatte. »Und bringt eure Sparschweine mit«, hatte er gesagt. »In diesem Augenblick wurde mir klar, dass wir Probleme hat‐
ten«, scherzte sie, und Ry lachte sehr, ein gesundes, ehrliches Lachen. Alles andere als leise. Auch sie hatte gelacht, immer wieder. Etwa als sie ihm von der Hypochondrie ihres Vaters erzählte, wie er immer auf einer Couch lag und zu den Kin‐ dern sagte: »Das warʹs dann vielleicht. Seid lieber nett zu eu‐ rem alten Vater. Gut möglich, dass ich nicht mehr lange bei euch bin.« Worauf ihre Mutter dann sagte: »Herrgott noch mal, Martin, du hast einen ganz gewöhnlichen Husten.« Und er lag da, schüttelte den Kopf und murmelte: »Das kannst du nicht wissen, Lillian.« Sie erinnerte sich mit Unbehagen, dass ein Romanschriftstel‐ ler einmal geschrieben hatte, Autoren würden fortwährend diejenigen betrügen, die ihnen am nächsten standen. Sie fühlte sich Ry inzwischen verwirrend nahe. Würde auch er sie betrü‐ gen? Alle diese Worte nehmen, und sie zum Narren halten? Ihr Vater hatte sie zum Narren gehalten, hatte sie allesamt für eine andere Frau verlassen. Dann kam er eine Woche später um fünf Uhr früh zurück, sagte, es sei der größte Fehler seines Le‐ bens gewesen, und was sie alle bräuchten, sei ein anständiger Urlaub. Ein anständiger Urlaub? Sie hatten kaum das Geld, die Miete zu bezahlen. Was hatte er sich vorgestellt? Die Riviera? Die Provence? Nachdem er gegangen war, hatte sich Lauren jede Nacht in den Schlaf geweint, sie hatte geweint, bis ihr alles wehtat, deshalb war sie froh gewesen, dass er wieder da war, aber ein Teil von ihr dachte auch: Es ist fünf Uhr morgens! Hät‐ test du nicht zu einer anderen Zeit zurückkommen können? Drei Tage später war er erneut fort. Und diesmal kam er nicht mehr zurück. Sie hatte Ry Dinge erzählt, die sie noch niemandem erzählt hatte, weder Chad noch Gene, keinem ihrer Freunde und
Liebhaber. Nicht einmal ihrem Therapeuten. Und nachdem sie sich so geöffnet hatte, horchte sie natürlich auf, als er in ihre milchig‐blauen Augen schaute und sagte, niemand würde sich jemals wieder so sehr für das interessieren, was sie zu sagen hatte, wie er. Diese Arroganz! Eine so kühne Behauptung aufzustellen. Aber sie spürte im Innersten, dass es stimmte, denn niemand hatte ihr je so aufmerksam zugehört; und wenn es bisher nie‐ mand getan hatte, warum sollte sie dann mit ihren neunund‐ dreißig erwarten, dass es noch jemand tun würde? Trotz aller Beschäftigung mit ihm erschrak sie, als er schließlich ihr Büro betrat. Wenn sie so zusammenfuhr, hatte sie sich stets sehr zerbrechlich gefühlt; wie ein Kanarienvogel, was einer ihrer Spitznamen in der Schule gewesen war, ein biografisches Detail, das sie nicht enthüllt hatte. Lauren führte Ry zur Gießerei, zehn Minuten bevor der Guss stattfinden sollte. Sobald sie den Raum betraten, spürten sie die Hitze des Schmelzofens, und Lauren fragte sich, ob sie ganz bei Trost gewesen war, sich so zu kleiden. Sie bemerkte Rys Wasserflasche und bat ihn, sie in einem Regal an der Tür abzustellen. »Wasser macht die Leute hier drin nervös. Wenn etwas da‐ von auf die Form oder den Schmelztiegel spritzt, könnten bei‐ de explodieren, so heiß werden sie.« »Schon erledigt.« Als er zurückkam, gab sie ihm einen feuerfesten Umhang und einen Helm mit einem Plexiglasvisier. »Damit tue ich mich aber wirklich schwer, mir Notizen zu machen«, sagte er.
»Mit einem Loch im Kopf tun Sie sich auch nicht leichter. Das Zeug da«, sie wies mit einem Nicken zu dem glühenden Schmelztiegel mit Bronze, »ist elfhundert Grad heiß, und wenn ein Tropfen davon wegspritzt und auf Ihrem Kopf lan‐ det, brennt er sich durch den Schädel und tötet Sie.« »Okay, kein Wort mehr, mein Kopf ist schon löchrig genug.« Er zog die Sachen an, und sie gingen, um beim Guss zuzu‐ sehen. Lauren hatte ihre ersten zwei Jahre als Lehrerin an einer Privatschule in Texas gearbeitet. Ross Perots Enkel hatte zu ihren Schülern gehört, und der Secret Service zu ihren Zus‐ chauern. Es war die Zeit des Präsidentschaftswahlkampfs ʹ92 gewesen, was sie nur von Ferne wahrgenommen hatte. Sie hatte so viel Zeit damit verbracht, mit diesen Kindern Bronze zu gießen, dass sie gelernt hatte, die Luft und Gaszufuhr für den Schmelzofen mit Hilfe der Vibrationsstärke zu regulieren, die er in ihrem Zwerchfell auslöste. Als sie das Ry erzählte, hatte er nach einem Temperaturmesser gefragt – ob der Ofen denn keinen besäße. Sie hatte geantwortet, die seien nie so ge‐ nau wie die Vibrationen. Dann hatte sie aufgeblickt, als wäre sie aus einer Trance erwacht und gesagt: »Du meine Güte, das ist so ooey‐dooey.« »Ooey‐dooey? Ist das irgendein technischer Ausdruck?« Er hatte gelächelt, aber sie war dennoch rot geworden, hatte das Blut förmlich in ihr Gesicht rauschen gefühlt. »So New Age.« Zwei Studenten hielten je ein Ende einer zwei Meter langen Stahlstange mit einer Art Wiege in der Mitte, die den Schmelz‐ tiegel enthielt. Lauren erklärte Ry, dass der junge Mann mit dem Rücken zu ihnen der Gießer war, während die Person,
die das andere Ende hielt, als Helfer fungierte. Ry machte sich trotz des Visiers Notizen. Der Job erfordere Kraft, erklärte sie ihm, aber es sei nicht annähernd die Plackerei für harte Burschen, als die es die mei‐ sten Männer, die in Gießereien arbeiteten, hinstellten. Aller‐ dings, räumte sie ein, könne die psychologische Belastung enorm sein. »Wieso das?«, fragte er. »Man gießt die Arbeit von allen, nicht nur die eigene. Viele Studenten und sogar einige Künstler arbeiten direkt in Wachs. Wenn man den Guss verhaut, dann warʹs das, die ganze Ar‐ beit ist beim Teufel.« »Ist Ihnen das je passiert?« »Nein, aber ich habe gesehen, wie es passiert ist.« »Vermissen Sie Bronze?« Er hielt seinen Reporterblock hoch, als wäre er ein Riegel von dem Metall. Sie hatte ihm von der Bronzephase in ihrer Karriere erzählt, aber nicht von ihren Empfindungen gegenüber dem Material selbst. »Ja und nein. Bronze hat etwas sehr Ursprüngliches an sich, etwas Feierliches. Man nimmt etwas Hartes – Metall – und macht eine Flüssigkeit daraus, und dann plötzlich wird es in einer völlig neuen Form wieder ganz hart. Und all das ver‐ packt in diese verrückte Vorstellung von Dauerhaftigkeit. Selbst schlechte Bildhauerei kann in Bronze Eindruck machen. Man sieht es ständig. Mittelmäßige Kunst, die bedeutungsvoll wirkt, weil sie unsterblich aussieht. Schauen Sie – es geht los.« Der Gießer und sein Helfer hoben die Stahlstange mit dem dampfenden Schmelztiegel und traten zu den Gussformen, die dicht gedrängt auf einem Stück Lehmboden im Gussbereich
angeordnet waren. Die Bronze loderte, und trotz aller Erfah‐ rung fiel es Lauren schwer, unbeeindruckt zu bleiben. So viel stand auf dem Spiel, so viel Arbeit und Inspiration. Kunst war immer ein Glücksspiel, ein Kasino mit eigenen Rouletteschei‐ ben, Baccaratischen, rollenden Würfeln und unfehlbaren Ge‐ bern. Man riskierte einen Großteil seiner zweifelhaften finan‐ ziellen Rücklagen für ein Werk, dessen Herstellung vielleicht Monate gedauert hatte, übergab es einem Galeriebesitzer, der fünfzig Prozent vom Kaufpreis kassieren würde und setzte auf die Kauflaune des Publikums. Aber all das war eine Kleinig‐ keit im Vergleich dazu, seine Skulptur in fremde Hände zu geben, um sie gießen zu lassen. Hier hatte man es mit einer Flüssigkeit zu tun, die einen in Sekundenschnelle betrügen konnte, und die doch so geschickt war in ihrer Verschlagen‐ heit, dass sie die entlegensten Winkel einer Gussform zu errei‐ chen vermochte und den exquisitesten Formen Gestalt verlieh – Kurven, Ecken und Konturen, die das Leben selbst über‐ dauern würden. Schon stiegen mächtige, unsichtbare Geruchschwaden aus der Form, der leicht süßliche Duft des Metalls, da es zu erkal‐ ten begann und der Welt neue Formen schenkte. Tausende von Arbeitsstunden standen nun auf dem Spiel. Lauren er‐ kannte den großen Druck am gebeugten Rücken des Gießers, an der Art, wie er hochkonzentriert blieb, und an der Anspan‐ nung in den Augen des Helfers hinter dem Visier. Moment mal, das ist doch Kerry, sagte Lauren zu sich selbst nach einem zweiten Blick zum Helfer. Anscheinend war sie endlich an der Reihe gewesen, in der Gießerei Dienst zu tun; die Studenten mussten monatelang auf die Gelegenheit warten, hier zu arbei‐ ten. Kerry sah unverwandt den Gießer an, sie folgte jeder sei‐
ner Bewegungen, ließ ihn führen, ein prächtig choreographier‐ ter Pas de deux mit einer lodernden Sonne zwischen den bei‐ den, die sie fest in ihrer Umlaufbahn hielt. Sie füllten die erste Gussform zu Ende, machten zwei kurze, eingeübte Schritte nach rechts, zentrierten den Schmelztiegel, und der Gießer begann, ihn seitwärts zu drehen. Doch dann zögerte er. »Nein, nicht!«, flüsterte Lauren, der schmerzhaft bewusst war, dass sie außer Flehen nicht viel tun konnte, als ein Sprit‐ zer Bronze oben auf die Gussform fiel, sich flach ausbreitete und sofort fest zu werden begann. Von ihrem Platz aus konnte sie nicht erkennen, ob der Spritzer die Füllrinne getroffen und versehentlich geschlossen hatte, und so alle Mühe bei der Erschaffung dieser Skulptur zunichte gemacht worden war. Kerry hob den Kopf. Lauren sah die Anspannung in den Augen des Mädchens. Es war nicht ihre Schuld, aber es war ihr erster Guss, und Lauren hielt es für sehr wahrscheinlich, dass sie sich Vorwürfe machte. »Alles in Ordnung, Mädchen, alles in Ordnung.« Wieder er‐ tappte sich Lauren dabei, wie sie hinter ihrem Visier flüsterte, obwohl es niemand hören konnte. Der Gießer machte einen kleinen Schritt, brachte den Schmelztiegel neu in Stellung und goss die Bronze diesmal sauber in die Form. Lauren atmete dankbar auf in der Wärme der Gießerei, während Schweißtropfen an ihr hinabliefen. Sie hatte für eine Frau schon immer stark geschwitzt. Warum nur, warum, hatte sie diese Sachen angezogen?
Sie hängte ihren Helm an einen der Haken neben der Tür und legte den schweren Umhang ab. Ihre Finger fuhren zur Stirn und dann durchs Haar und sammelten von beiden Schweiß auf. Ihr blasser Teint leuchtete rot wie ein Stopplicht. Auch Rys Haut sah ohne Frage feucht aus. Auf seiner Ober‐ lippe hatten sich Schweißperlen gebildet, und Lauren musste dem Drang widerstehen, sie mit dem Zeigefinger abzutupfen. Als sie in den Flur traten, fühlte sich die sonst laue Luft kühl an. »Und, wie fanden Sie Ihren ersten Guss?« »Davon abgesehen, dass ich mir vorkam wie in der Sauna«, er wischte sich das Gesicht mit der Ellenbeuge ab, »fand ich es wirklich beeindruckend.« Er nahm einen tiefen Schluck aus seiner Wasserflasche. »Haben Sie den kleinen Fehler bemerkt, der fast zu einer Katastrophe geführt hätte?«, fragte Lauren, während sie die Treppe zum dritten Stock hinaufstiegen. »War es tatsächlich einer? Ich war mir nicht sicher. Ich habe nur bemerkt, dass der Typ mit dem Gesicht zu uns den ande‐ ren angestarrt hat, der den Guss gemacht hat.« »Das war Kerry. Sie konnte nichts dafür.« »Kerry? Ehrlich? Hab ich nicht gemerkt.« »Ist auch schwer zu unterscheiden, wenn sie alle Visiere aufhaben und Umhänge tragen.« Sie gingen um die Sägeböcke herum, die noch immer ein Fünfeck vor ihrem Büro bildeten. »Wird das eigentlich irgendwann mal repariert?« Er blickte zu dem Riss hinauf, den man notdürftig mit Zement geflickt hatte. »Keine Ahnung. Uns sagt man ja nie etwas.« Sie sperrte die Tür auf. »Sie haben es abgedichtet.«
Ry warf noch einen Blick zu der Absperrung. »Offenbar trauen sie ihrer eigenen Arbeit nicht.« »Übrigens«, sagte sie auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch. »habe ich das hier im Internet gefunden. Ich dachte, Sie wür‐ den vielleicht gern einen Blick darauf werfen.« Sie gab ihm die Kopie eines Artikels mit dem Titel »Das Dreieck des Lebens.« »Wie sich herausstellt, haben wir alles falsch gemacht bei dem Erdbeben. Man soll nicht in Türrahmen stehen. Die To‐ desrate von Leuten, die das tun, ist extrem hoch.« »Im Ernst? Ich habe immer gehört, Türrahmen seien der si‐ cherste Ort bei einem Erdbeben.« »Ich auch, aber jetzt heißt es, man ist viel besser dran, wenn man sich das nächste stabile Objekt sucht und sich daneben stellt, oder wenn es sein muss, neben eines kauert. Wenn dann die Wände und Decken einstürzen, ergibt sich dieses Dreieck« – sie zeigte es mit den Händen – »zwischen einem Akten‐ schrank, zum Beispiel, oder einem Schreibtisch und dem Stück Decke, das daran lehnt.« Er sah den Artikel an, den sie kopiert hatte, dann blickte er sie an. »Es stimmt also wirklich: Man lernt tatsächlich jeden Tag etwas Neues, wenn man nicht aufpasst.« Er lächelte, als er ver‐ suchte, ihr das Blatt zurückzugeben. »Nein, behalten Sie ihn nur. Ich habe die Kopie für Sie ge‐ macht.« »Danke. Hören Sie, Sie haben mir so großzügig Ihre Zeit gewidmet. Wie wäre es, wenn ich Sie zum Mittagessen aus‐ führen würde. Oder zu einem Abendessen?« An der Art, wie er »zu einem Abendessen« sagte, erkannte sie, dass sie an einem Scheideweg angekommen waren. Mit‐
tagessen hieß keine Gefahr. Abendessen hieß Sex. Der Unter‐ schied war so greifbar wie der Sprung in der Decke. »Ich kann heute Mittag nicht weg. Ich treffe mich mit einer meiner Studentinnen. Aber Abendessen … das wäre nett. Heute Abend?« Sie nahm an, dass er das wahrscheinlich gemeint hat‐ te; er musste die ganze Strecke von der Küste hierher fahren. »Würde mir ausgezeichnet passen. Sieben Uhr?« Sie nickte, teils bereuend, teils in purer Vorfreude. Ein flaues Gefühl im Magen. »Wo darf ich Sie abholen?« Sie gab ihm ihre Adresse, dann schüttelten sie sich die Hand, wie sie es jedes Mal getan hatten, wenn er gegangen war. Lauren fragte sich, auf welche Weise sie sich Gute Nacht sagen würden. Die Studentin, die sie noch treffen musste, war Kerry. Lauren hatte nicht wissen wollen, ob die Aussicht auf deren Erscheinen Ry noch ein wenig zum Bleiben ermuntert hätte. Und sie hatte ganz bestimmt keine Lust, sich Kerrys Flir‐ ten wieder anzusehen. Kerry kam ein paar Minuten zu spät, wie es ihre Art war. Lauren konnte sich daran ebenso wenig gewöhnen wie an die Piercings, die Ringe, Nägel und Nieten an den Körpern ihrer Studenten. Zu ihrer Freude hatte Kerry die Selbstverstümme‐ lung auf Bauchnabel und Nase beschränkt, abgesehen natür‐ lich von dem obligatorischen halben Dutzend Löchern am Rand beider Ohren. Lauren war aufgefallen, dass die am meisten durchlöcher‐ ten Studenten, diejenigen, die so aggressiv hässlich aussahen wie wütende Krieger aus einem Science‐Fiction‐Streifen, sich unausweichlich als die liebsten Kids herausstellten. Sie war zu der Überzeugung gelangt, dass exzessives Bodypiercing ein
Mittel war, sexuelles Interesse abzuwehren, vielleicht die vor‐ hersehbar traurige Reaktion auf eine Kultur, die sie von Kind‐ heit an sexualisiert hatte, durch Werbung, Musik, Filme und in den schlimmsten Fällen auch durch Berührung. Kerry wickelte ihre langen Beine um den unteren Teil des Stuhls und schaukelte nach vorn. »Wissen Sie was?« »Was?« »Stassler schreibt, ich kriege ein Zimmer in seinem Haus. Er schreibt, er hat ein Gästehaus über einer Scheune, in dem er wohnt, deshalb kann ich das große Haus für mich allein ha‐ ben. Er meint, er lebt so weit draußen auf dem Land, dass es eine Plackerei wäre, jeden Tag hinzufahren.« »Das ist sehr entgegenkommend von ihm.« »Ich nehme mein Bike trotzdem mit.« »Wie weit wohnt er von der Stadt weg?« »Von Moab sind es knapp zwanzig Kilometer.« »Das ist eine ziemliche Strecke mit dem Fahrrad.« »Eigentlich nicht. Seit ich sechzehn war, rase ich jeden Sommer mit dem Mountainbike herum. Dreißig, vierzig Kilo‐ meter schaffe ich wie nichts.« Kerry war lebhaft, und Lauren verstand, warum Männer sie so anziehend fanden. Diese Art Schwung wirkte sexy. Wenn man ihre Gesichtszüge für sich betrachtete, würde man sie nicht als eine Schönheit bezeichnen, aber nahm man alles zu‐ sammen – das Grübchen in ihrem Kinn, das hennarote Haar, das an der Stirn zu einem merkwürdigen V geschnitten war, diese glänzenden braunen Augen, die gerade Nase und wahr‐ haft vollkommene Lippen – dann ergab sich eine äußerst at‐ traktive Kombination.
»Es ist das Zentrum der Mountainbikerwelt«, sagte Kerry. »Ich wollte schon immer mal hinfahren.« »Ich hoffe, das hat nicht Ihre Entscheidung …« »Ach woher! Hier gibt es auch genügend gute Strecken. Ich will mit Stassler arbeiten«, sagte sie voller Überzeugung. »Sei‐ ne Fantasie ist so, ich weiß nicht, düster, aber real.« Ja, dachte Lauren, düster, aber real. Als Studentin war sie ebenfalls beeindruckt gewesen von all diesem düsteren, aber realen Sturm‐und‐Drang‐Zeug, aber daraus war sie herausge‐ wachsen, wie ihrer Ansicht nach die meisten anderen Künstler auch. Nur ein paar wenige suhlten sich hartnäckig weiter dar‐ in, meist diejenigen, die das Pech hatten, früh erfolgreich zu sein, und sich daraufhin selbst zum Gefängnis der öffentlichen Erwartung verurteilten, wo sie sich bis zum Erbrechen wie‐ derholten. Sie dachte etwa an den Maler, der seinen ersten großen kommerziellen Erfolg vor mehr als zwei Jahrzehnten mit stark stilisierten Herzen gehabt hatte. Er malte sie immer noch. Entweder es mangelte ihm an Vorstellungskraft oder an Mut. Sie fragte sich, was von beidem auf Stassler zutraf. Aber es war nicht ihre Aufgabe, ihn zu kritisieren. Besser sie ließ Kerry zu ihren eigenen Schlüssen kommen, in ihrem eigenen Tempo. So wie sie selbst. Als Lauren das Praktikantenprog‐ ramm ins Leben gerufen hatte, war es ihr Ziel gewesen, ange‐ hende Bildhauer mit den Männern und Frauen zusammen‐ zubringen, die sie bewunderten. Stasslers Bereitschaft zur Zu‐ sammenarbeit hatte sie überrascht. Dafür war sie dankbar, auch wenn sie ihn inzwischen mehr für einen Kunsthandwer‐ ker als einen Künstler hielt, gut in der Beherrschung der Tech‐ nik, aber bar jeder visionären Kraft. Aber ihre Ansicht war die einer Minderheit und würde sich wohl kaum je durchsetzen.
»Okay, gehen wir Ihre Ziele für die nächsten zwei Monate durch.« Es war wichtig, dass die Studenten ihre eigenen Ans‐ prüche im Kopf behielten, damit sie nicht zum Laufburschen eines Künstlers wurden. Das Abkommen verlangte unter an‐ derem auch, dass die Künstler den Studenten bei deren Arbei‐ ten halfen. Kerry öffnete ihre Mappe und streute dabei Kopien der Un‐ terlagen heraus, die sie Stassler geschickt hatte, darunter Schwarzweißfotos der Skulpturen, die sie unter seiner Anlei‐ tung zu gießen beabsichtigte. Auch ihre Zeichnungen fielen heraus, zusammen mit ihrem Lebenslauf und einem Farbfoto, auf dem sie neben dem Werk kniete, das sie am Beurteilungs‐ tag gezeigt hatte. An Kerry selbst jedoch war auf diesem Bild nichts nur vage anthropomorph: Sie trug einen kurzen Rock und ein eng anliegendes, schulterfreies Top. Lauren musste ein Stöhnen unterdrücken. Ihr war, als wäre ihr der Magen in die Kniekehlen gerutscht. »Sie haben ihm das hier geschickt? Das alles?« Sie machte eine Geste über das gesamte Material hinweg, einschließlich des frechen Bildes von Kerry selbst. »Korrekt«, sagte Kerry. »Ich wollte, dass er alles sieht«, füg‐ te sie ohne eine Spur von Befangenheit hinzu. Lauren hatte ein ungutes Gefühl. Kerrys Foto hätte viele Männer anbeißen lassen. Vielleicht traf das besonders auf ei‐ nen Mann zu, der allein in der Wüste lebte. Möglicherweise hatte Kerry das sogar beabsichtigt, was Lauren allerdings nicht glaubte. Das Mädchen flirtete gern, keine Frage. Aber Sex vor‐ sätzlich für seine Zwecke benutzen? Nein, das glaubte Lauren nicht. Vor allen Dingen war Kerry von Bildhauerei besessen. Das Werk, das sie gießen wollte, war beeindruckend. Ebenso
ihre Zeichnungen. Wenn Stassler ihr in der Gießerei half, wür‐ de er ihr ein großes Geschenk machen. Mehr konnten sie von einem Bildhauer seines Rangs vernünftigerweise nicht verlan‐ gen. Außer natürlich, dass er die Finger von ihr ließ. Lauren beabsichtigte, sich für das Abendessen nicht zu sehr herauszuputzen. Sie hatte keine Ahnung, wohin Ry sie auszu‐ führen gedachte, und sie wollte nicht übermäßig … übermäßig wie aussehen, fragte sie sich? Übermäßig … gierig? Übermä‐ ßig … interessiert? Übermäßig … erregt? Wann hatte sie sich das letzte Mal so gefühlt? Sie hielt sich einen roten Pulli vor die Brust und schaute in den Schmink‐ spiegel in der Ecke des winzigen Zimmers, der das Doppelbett mit der Steppdecke im Hintergrund sehen ließ. Sie begann Norwegian Wood zu summen, die Worte schwirrten durch ihre Erinnerung und lockten sie mit gewissen angenehmen Mög‐ lichkeiten: She asked me to stay and told me to sit anywhere, So I looked around and I noticed there wasnʹt a chair Der Pullover hatte einen entzückenden Schlitz im Rücken, der ein paar Zentimeter oberhalb der Taille aufhörte und zu bei‐ den Seiten ausgestellt war. Ach, zum Teufel. Sie warf den Pulli beiseite und schlüpfte in eine weiße Bluse. Nein, auf keinen Fall. Du siehst aus wie ein Schulfräulein. Ich bin ein Schulfräulein. Gewissermaßen. Raus aus der Bluse, rein in den Pulli. Und einen wadenlan‐ gen grauen Rock, der vorne zugeknöpft wurde. Das letzte Mal hatte sie ihn auf einer Vernissage mit Chad im Dezember ge‐
tragen, an dem Abend, bevor sie ihm gesagt hatte, dass sie hei‐ raten und vielleicht eine Familie gründen möchte. Sie hatte ihn damals bis knapp über das Knie aufgeknöpft getragen. Gehol‐ fen hatte es nichts. Jetzt wollte sie ihn zuknöpfen, ließ es dann aber sein. Sie trug noch mehr von ihrem bevorzugten roten Lippen‐ stift auf, frischte ihre Wimperntusche auf und zögerte, als sie überlegte, ein Parfüm zu verwenden. Tu es, befahl sie sich. Beim Essen in einem von Portlands besseren Seafood‐ Restaurants brachte sie ihn endlich dazu, dass er aus sich he‐ rausging. Es hatte fast einen Monat gedauert. Er überraschte sie mit der Mitteilung, er sei das zweite von vier Kindern, alle von der Mutter großgezogen, sein Vater hatte sich aus dem Staub gemacht, als er vier war. »Alle vier, sie ganz allein?« »Sie ist eine erstaunliche Frau. Sehr klug.« »Hat sie gearbeitet? Ich meine außer Haus?« »Und ob. Sie musste ja. Sie war Psychotherapeutin. Meine Schwestern und ich haben immer allen Leuten erzählt, dass sie seelisch schwer gestörte Menschen behandelt, und danach geht sie dann zur Arbeit.« Lauren lachte. Ry lächelte, offenbar erfreut, dass er mit ei‐ nem alten Familienwitz wieder einmal Erfolg hatte. »Ihr wart bestimmt sehr gesunde Kinder.« »Das waren wir. Sind wir noch. Mir hat ein Vater schon ge‐ fehlt, aber sie hat nie ein Ballspiel oder eine Schultheaterauf‐ führung verpasst, oder irgendetwas, das uns wichtig war.« »Theater?« Lauren hatte am College Kulissen entworfen
und gebaut. »Haben Sie gespielt oder hinter den Kulissen gearbeitet?« »Ich habe ein bisschen gespielt.« »Und Sie haben es nie weiterverfolgt?« »Nur im weitesten Sinne: Ich war Nachrichtensprecher.« »Fernsehnachrichten? Ehrlich?« »Schauen Sie nicht so schockiert.« »Sie wirken …« »Wie?« »Zu …« »Zu?« »Zu gescheit.« Nun lachte er. »Wir sind nicht lauter Blödmänner. Ich habe in Minneapolis gearbeitet und dann fast zehn Jahre lang in Miami.« »Warum haben Sie aufgehört?« »Kurz gesagt, hatte ich die Nase voll davon.« Er drückte Zitronensaft auf seinen Barsch. »Ich konnte die Arbeit einfach nicht mehr machen, und als ich es ihnen mitteilte, sagten sie: ›Kein Problem, komm, wann du willst, Hauptsache, du bist für die Nachrichten um sechs und um elf hier.‹ Aber das war lächerlich. Die Stimmung in der Redaktion war scheußlich. Alle anderen haben endlos viele Stunden gearbeitet, und ich kam um halb sechs anspaziert, gerade rechtzeitig für die Mas‐ ke. Ich habe mich nicht wohlgefühlt dabei, und ich war schon seit einer Ewigkeit in dem Job. Ich hatte einen Haufen Geld verdient, deshalb beschloss ich, auszusteigen und etwas ganz anderes zu versuchen.« »Ein Buch über Bildhauerei?« Ihre Ungläubigkeit klang fast ein wenig schroff.
»Jeder Mensch hat eine Geschichte, und manchmal sind sie großartig. Man muss nur zuhören. Abgesehen davon habe ich ein Gefühl bei der Sache.« »Ein Gefühl? Was wird das jetzt, haben Sie als Nächstes ei‐ ne Astro‐Show im Sinn?« Er lachte wieder. Es gefiel ihr, wie sein Gesicht von hübsch zu schalkhaft wechselte, wenn er belustigt war. »Das hätte auch meine Mutter sagen können.« »Ihre Mutter?«, fragte Lauren. »Das ist ein Kompliment. Glauben Sie mir.« Das war der entscheidende Augenblick. Zur Tür gehen. Gute Nacht sagen. Ein Moment der Verlegenheit in der Highschool, ein Moment der Verlegenheit im College. Und mit neunund‐ dreißig noch immer ein Moment der Verlegenheit. Sie betraten den Vorbau, und das Licht über dem Eingang wirkte plötzlich zu hell. Sie hörte diesen Beatlessong wieder und fragte sich, wo er tatsächlich sitzen sollte, falls sie ihn he‐ reinbäte. Es schien keinen Mittelweg zu geben, entweder sie standen hier oder sie setzten sich aufs Bett, und dann deutete er zu einer alten Kirchenbank im Halbdunkel am anderen En‐ de des Vorbaus. Als sie Platz genommen hatten, fragte sie ihn nach seinem Interview mit Stassler. Er würde erst in zwei Wochen abreisen, aber Lauren hatte sich Atelierzeit unten in Pasadena freigehal‐ ten und würde ihn vielleicht erst Wiedersehen, wenn er aus Moab zurück war. »Wie lange, glauben Sie, wird es dauern?« Sie hoffte, nicht mehr als ein, zwei Wochen. »Die Frage ist eher, wie viel Zeit er mir einräumt. Ich bin
unersättlich, was Zeit angeht, falls Sie es nicht bemerkt ha‐ ben.« »Es hat mir nicht das Geringste ausgemacht. Ich habe es ge‐ nossen.« Er rückte näher und beugte sich zu ihr hinüber. Sie spürte, wie sie von einer köstlichen Angst durchströmt wurde. Ein angenehmes Schaudern. Ihre Knie berührten sich. Sie wusste nicht genau, wann das passiert war, nur dass sie den Kontakt begrüßte. Sie blickte nach unten und sah, dass ihr Rock aufgegangen war, über den Knopf hinaus, den sie absichtlich offen gelassen hatte. Das Knie, das seines berührte, und ein paar Zentimeter Ober‐ schenkel dazu, wirkten schamlos. Als sie dem unwillkürlichen Drang widerstand, sich zu bedecken, durchströmte sie ein tie‐ feres, noch köstlicheres Gefühl. Er hob die Hand an ihr Kinn, und sie ließ ihn ihren Mund an seinen führen. Sie fühlte sich so jung, so nervös und schwindlig, und sie war überrascht, dass ein Kuss sie noch immer so sehr erregen und ihr den Mund feucht vor Verlan‐ gen machen konnte. Aber sie kam sich auch sehr unanständig vor, denn sie küsste und berührte zum ersten Mal seit sieben Jahren einen anderen Mann als Chad.
5 Family Planning. Diesen Titel benutzte ich für mein erstes Werk, und später entschied ich dann, die ganze Serie unter demselben Namen laufen zu lassen. Family Planning #2, #3 und so fort bis Family Planning #8. Jolly Roger, June Cleaver, Sonnyboy und Diamond Girl werden #9 sein. Ich muss sie noch konfigurieren. Für gewöhn‐ lich ist die Hackordnung in einer Familie ziemlich vorherseh‐ bar, aber diese Truppe hat alle meine Erwartungen widerlegt. Zunächst einmal ist es Diamond Girl – ihr Name ergab sich so selbstverständlich wie ein Tagesanbruch: sie ist hart, schön und anscheinend fähig, alles zu zerschneiden –, die den Laden schmeißt, ob ihre Eltern das akzeptieren oder nicht. Sie passen sich an ihre Launen an und tun es vermutlich schon seit Jah‐ ren. Selbst June reagiert mehr auf Diamond Girl, wie ich in‐ zwischen sehe, als dass sie selbst agieren würde. Ich habe diese Dynamik frühzeitig verschärft, indem ich verkündete, dass Diamond Girl diejenige sei, die Entschei‐ dungen für sie träfe – ihre Herrin. Wenn sie etwas wollten, müssten sie den Weg über sie nehmen. Sie wollten alle etwas. June zum Beispiel wollte die ersten beiden Wochen ständig Kleidung, erst hat sie welche verlangt und schließlich darum gebettelt. Ihre Strumpfhose war eine einzige Laufmasche und das Höschen hatte sich peinlich ver‐ färbt, deshalb sagte ich zu ihr: »Du solltest lieber Diamond Girl fragen. Mal sehen, was sie sagt.«
»Diamond Girl?« June blickte sich erkennbar verblüfft um – wer sonst wäre in Frage gekommen –, ehe sie ihre Tochter an‐ starrte. »Ich soll sie fragen?« Ihre Hand ging zum Mund wie bei einem Indianer, der im Begriff ist, einen Kriegsschrei auszustoßen, in einem dieser alten John‐Wayne‐Filme. Aber sie schien zu verblüfft zu sein für einen Angriff. Ich glaube, was ihr die Sprache verschlug, war die Neuigkeit, dass die natürliche Ordnung der Dinge nicht mehr galt, obwohl ich nur offiziell gemacht hatte, was in der Praxis ihrer Familie längst der Fall war. Jeder Trottel konn‐ te das sehen. Die Farbe ihrer Augen veränderte sich. Ganz im Ernst. Sie verdunkelten sich von Braun zu Schwarz und weiteten sich zur Größe von Suppenlöffeln. Sie griff nach dem Käfig, um sich abzustützen, und umklammerte den Schädel einer Katze. Ihr kleiner Finger krümmte sich tatsächlich in die leere Au‐ genhöhle des Geschöpfs, eine Verletzung der Totenruhe, die sie gar nicht zu bemerken schien. »Was ist hier los?«, sagte sie zu ihrer Tochter. »Warum tust du uns das an? Glaubst du, er wird nett zu dir sein, wenn du dich so verhältst?« Und dann hörte sie plötzlich auf zu reden, und ihre Züge verflachten, als hätte man ihr eine Tasse kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt. Sie stotterte ein Wort, das ich nicht verstand. Es könnte »warte« gewesen sein. Ihre Augen flossen über, und in ihre Wangen und die Stirn gruben sich harte Furchen. Sie ließen mich vor allen Dingen an ein frisch gepflügtes Feld denken. Die Ernte sollte bald folgen. »Jetzt kapiere ich es«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Ja‐ wohl. Ihr habt die ganze Sache geplant, oder? Ihr beide.«
Während sie sprach, ließ sie den Katzenschädel los und nä‐ herte sich ihrer Tochter. Roger erwachte aus seiner Lethargie und fing sie ab. »Nein, das würde sie nicht tun. Du bist aufgebracht. Beru‐ hige dich.« Diamond Girl jedoch lächelte und leugnete mit keinem Wort die Rolle, die ihre Mutter ihr zugeteilt hatte. Manche Leute sind zu Herren geboren. Einen Tag später, nachdem June stundenlang geweint und ihre Tochter angefleht hatte, mit ihr zu sprechen, verkündete Diamond Girl, ohne sie auch nur einmal anzusehen, dass es ihr »gestattet« werde – ja, sie benutzte genau dieses Wort, das absolut korrekte Wort unter diesen Umständen – einen Tanga zu tragen, aber keinen BH und absolut kein Oberteil. Wie sie darauf kam, ich könnte einen Tanga herumliegen haben, weiß ich nicht, Tatsache ist aber, dass ich zwei davon hatte, einen seidig purpurnen und einen mit einem rosa und weißen Blumenmuster. June ging hoch wie Nitroglyzerin. Das hatte ich erwartet. All diese Tränen, all das Flehen, die Paranoia und der mütter‐ liche Groll, das gibt eine leicht entzündliche Mischung. Sie sprang auf, rannte zu Diamond Girl hinüber und trat schreiend auf sie ein. Diamond Girl rollte sich zusammen und wartete, dass Jolly Roger seine väterliche Pflicht erfüllen wür‐ de, was er auch tat, jedoch nicht, ohne sich selbst Blessuren zu holen, so sehr war June an diesem Punkt schon in Fahrt. Ein Schlag auf seine Nase ließ Blut fließen, und da endlich erwach‐ te Roger zum Leben, zum ersten Mal, seit er den Käfig betre‐ ten hatte. Er stieß sie weg und drohte damit, ihr die Scheiße
aus dem Leib zu prügeln, wenn sie nicht aufhörte. Diese Fami‐ lie ist wahrlich böse. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie weiter anzu‐ stacheln. Ich ging schnurstracks hinauf ins Gästequartier, schnappte mir die Tangas und kehrte eiligst in den Keller zurück. »Diamond Girl hat gesprochen. Welcher darf es sein?« Ich hielt die Tangas in die Höhe, beide nicht größer als meine Handfläche. June starrte sie an. »Sie lassen sich dehnen«, ver‐ sicherte ich ihr. Sie drehte sich weg, ehe ich es demonstrieren konnte. Roger sagte: »Geben Sie mir den rosafarbenen. Oder wie wärʹs mit beiden, damit sie einen zum Wechseln hat?« Ich schüttelte den Kopf und warf ihm den mit dem Blu‐ menmuster zu. June zog sich nicht sofort um, aber als ich das nächste Mal in den Käfig schaute, hatte sie den Tanga an. »Der BH?« Ich streckte die Hand aus. June kannte die Ab‐ machung, schüttelte jedoch den Kopf. »Dann bekommt Sonnyboy nichts zu essen.« Der BH kam runter. Der mütterliche Instinkt ist zu stark. Manchmal. Sie funkelte Diamond Girl böse an, die die Arme verschränkte und ihre Mutter nachäffte. Deren Versuche, wenigstens ein kleines Maß an Sittsamkeit zu wahren, waren zum Scheitern verurteilt. Den größten Teil des Monats war Essen ein Thema für sie ge‐ wesen; eines, das sie entzweite, obwohl ich das gar nicht beab‐ sichtigt hatte. Jolly Roger und June sind fast die ganze Zeit hungrig, weil ich versuche, ihr Körperfett auf einstellige Berei‐ che zu reduzieren. Bei June wird das vielleicht nicht möglich sein, weil Fett an Frauen haftet wie Harz an einem Baum. Das
ist zweifellos evolutionär bedingt. Aber ich bringe sie auf zwölf, dreizehn Prozent herunter, und wenn man ihren allge‐ meinen Muskeltonus berücksichtigt, wird sie großartig ausse‐ hen. Roger dagegen sieht überhaupt nicht gut aus, auch wenn er abnimmt. Das liegt an seinem mangelnden Tonus. Er hat den Körper eines Mannes, der zu viele schnelle Mahlzeiten auf Flughäfen gegessen – zu viel Fett und zu viel Natrium – und sich nicht annähernd ausreichend bewegt hat. Nicht dass er fett wäre. Aber er beginnt trotz seiner Größe kraftlos auszuse‐ hen. Und jetzt, da ich ihn nackt gesehen habe, kann ich mir nur schwer vorstellen, wie June bei der Aussicht, mit ihm zu schlafen, je erregt worden sein soll. Sie hat vielleicht nicht alle Tassen im Schrank, aber sie besitzt einen hübschen Körper und ein nettes Gesicht, das die Raserei vollkommen Lügen straft, die inzwischen fast täglich aus ihr bricht. Es ist schon so weit, dass ich buchstäblich jedes Mal, wenn ich sie anspreche, mit Schimpfen und Kreischen rechnen muss. »Du siehst gut aus, June«, sage ich, als ich die Kellertreppe hinuntersteige. Sie dreht sich weg, versteckt ihre Brüste, aber zeigt dafür ihren Hintern. Die Wahrheit ist, dass es nicht viele Mütter Ende dreißig gibt, die einen Tanga tragen können, aber es bessert ihre Laune nicht, wenn man es ihr sagt. Sie be‐ schimpft mich, hat allen Anschein von Höflichkeit aufgegeben. »Da versuche ich, dir zu schmeicheln, und du fauchst mich nur an. Das warʹs dann, keine Petits fours heute für dich. Dei‐ ne bekommt Diamond Girl.« June stoppt, bleibt einfach wie angewurzelt stehen. Ich kann sie fast denken hören. Petits fours. Diese leckeren kleinen Schoko‐ Sahne‐Törtchen, die es in Aprikose, Kirsch, Himbeere und Mokka gibt? Ja, genau diese Petits fours, June.
Ich hatte ohnehin nicht vor, ihr welche zu geben. Petits fours für jemanden, der Körperfett verlieren muss? Das ist, als würde man einer Person, die trocken zu werden versucht, Jack Daniels verabreichen. Nein, sie sind ein besonderer Lek‐ kerbissen für Diamond Girl und Sonnyboy, die beide nicht abnehmen müssen. Tatsächlich bin ich mehr darum besorgt, dass sie genau so bleiben, wie sie sind, nämlich so gut wie perfekt. »Wenn Sie das tun«, keift June, ohne mich anzusehen. »Wenn Sie das tun …« »Und Gebetsstunde ist um fünf.« »Was?« Jetzt fährt sie herum, das Gesicht zerknittert wie ein Putzlappen. Selbst Jolly Roger blickt auf, als er diese Ankün‐ digung hört. »Das hast du doch gesagt, Diamond Girl?« »Jawohl«, schnaubt sie. »Gebete um fünf. Bringt eure Bibeln mit, und bereitet euch auf ein bisschen Singsang vor.« Die Kleine ist großartig. Sie fasst schnell auf und spielt so‐ fort mit. Ich werde sie vermissen. June, die jetzt begreift, dass sie veräppelt wurde, flucht wieder los, was den schwer betrübten Sonnyboy veranlasst, in Tränen auszubrechen und zu klagen: »Früher hast du nie diese schlimmen Worte benutzt, Mommie.« June schüttelt den Kopf, was ihre Brüste höchst reizvoll wackeln lässt und geht zu ihrem Sohn hinüber. Er wirft die Arme um sie und drückt das Gesicht an ihren nackten Bauch. Sie umarmt ihn und flüstert: »Es tut mir Leid.« Es ist ein bewegender Moment, wenn man für solche Dinge empfänglich ist.
Dieses Stückeln von Nahrung hat sehr viel Spannung erzeugt. Es ist mir jetzt klar, dass sich Jolly Roger und June über die gesunden Mahlzeiten ärgern, die ich für Sonnyboy und Dia‐ mond Girl zubereite, und wenn ich aus früheren Erfahrungen die richtigen Schlüsse ziehe, werde ich bald den totalen Zu‐ sammenbruch der Familie erleben. June, jede Wette, wird über Diamond Girl herfallen, um an deren Essen zu kommen. Ro‐ ger wird nicht eingreifen. Er wird zu sehr damit beschäftigt sein, seinem Sohn eine Extraportion zu entringen. Sie glauben, eine Familie, die zusammen leidet, hält zusammen? Ich habe es bei Family Planning #5 erlebt, eine fünfköpfige Familie aus Kentucky. Nie wieder gehe ich in diesem Staat auf Fang. Es wurde so schlimm, dass ich vorübergehend einen Schutzraum für die Kinder einrichten musste. Andernfalls hät‐ ten sie vielleicht nicht bis zur Skulptur überlebt. Die Probleme der Eltern wurden gewaltig verstärkt durch die außergewöhnlichste Nikotinsucht, die ich je gesehen habe. Nach einem Tag ohne Tabak schrien und brüllten sie wegen der geringsten Meinungsverschiedenheiten los, und ab dem zweiten Tag schlugen sie offen und ohne jeden Vorwand auf‐ einander ein. Ich musste sie früher gießen, als ich wollte, und #5 ist das schwächste Werk in der ganzen Serie. Selbst die Kritiker sind dieser Ansicht. Wenn sie allerdings gewusst hätten, was ich durchmachen musste, wären sie in ihren Rezensionen viel‐ leicht sehr viel nachsichtiger gewesen. Meine Subjekte zu verschlanken ist derartig anstrengend, dass ich mir die Mühe gar nicht machen würde, würde das ausgezehrte, hungrige Aussehen nicht das Bild des Schreckens vergrößern. Muskeln treten weiter hervor, ebenso Adern, und
in jenen letzten Sekunden des Widerstands, genau in dem Moment, da sie den Tod sehen können, besitzt ihr Körper ei‐ nen Ausdruck, der vorher nicht da war. Aber das erfordert mehr als Kost und was dazu gehört. Es erfordert vor allem die planvolle Einführung des Schreckens. Auf diese Weise macht man sie im Lauf der Zeit wirklich härter, man macht sie nervös und wachsam, so dass ihre Ref‐ lexe übersteuern und ihre Drüsen übervoll mit Adrenalin sind. Ich rolle das Fernsehgerät und den Rekorder vor den Käfig. Der Bildschirm ist sehr groß. Mächtige Lautsprecher hängen an den Wänden, auf sie ausgerichtet. »Show time«, verkünde ich. Diamond Girl kommt angeschlendert und wirft einen Blick auf den Monitor. »Was gibt es?«, sagt sie, besser gelaunt, als selbst ich es verdiene. »Henry, Porträt eines Serienkillers? Oder dachten Sie an etwas nicht ganz so Offensichtliches wie Das Kettensägen‐Massaker von Texas?« »Hör auf, ihn anzustacheln«, sagt Roger gedämpft, aber ich höre ihn. »Was?«, fährt Diamond Girl ihren Vater an. »Glaubst du, wenn wir brav sind, zeigt er uns Puschel, das Eichhorn?« »Wie wärʹs mit etwas von Julie Andrews?«, sage ich. »Seid still!«, brüllt June, und ich muss ihnen befehlen, auf‐ zuhören und Abstand zu nehmen. »So, ich kann euch nicht zwingen, zuzuschauen, aber an eu‐ rer Stelle würde ich es tun. Ich würde sehr aufmerksam zus‐ chauen. Was ihr gleich sehen werdet, ist eure Zukunft, wenn ihr nicht mit mir zusammenarbeitet, wenn ihr nicht allen mei‐ nen Anweisungen Folge leistet. Und wer weiß«, füge ich ver‐
gnügt hinzu, »vielleicht entdeckt ihr beim Zuschauen, wie man hier rauskommt. Vielleicht habe ich etwas übersehen.« »Ja, klar, und vielleicht ist sie Anne Bancroft in Licht im Dunkel.« Diamond Girl weist mit dem Kopf in Richtung ihrer Mutter. »Aber wohl eher nicht!« Sie ist der Hammer und anscheinend ein ziemlicher Filmfan obendrein. Mal sehen, wie ihr das hier gefällt. Mal sehen, wie es ihnen allen gefällt. Ich dimme die Lichter herunter und schalte das Band ein, und wie versprochen taucht Julie Andrews in Meine Lieder, meine Träume auf und singt. Aber dann gibt es einen harten Schnitt, wenn Sie mir das Wortspiel verzeihen, und sie hören nicht mehr die wunderba‐ re Stimme von Miss Andrews, sondern die Schreie eines jun‐ gen Mädchens, entsetzliche Schreie. Es handelt sich natürlich um Family Planning #8. Das Mädchen ist etwas jünger als Dia‐ mond Girl. Sie ist auf einem Tisch festgezurrt und starrt zur Seite. Sie zieht an ihren Lederfesseln, und jede Anstrengung bewirkt ein Muskelschauspiel, das vermutlich nur ich zu schätzen weiß, obwohl Sonnyboys Augen weit geöffnet sind. Vielleicht hat er noch nie ein nacktes Mädchen gesehen, außer seinen Zellengenossinnen. Und ich nehme an, deren entblöß‐ tes Fleisch ist nicht sehr interessant für ihn, obwohl man bei dieser Familie nie wissen kann. Die Kamera blickt von oben auf das Mädchen. Die Beleuch‐ tung ist grell – ich bin kein Kameramann –, aber das Bild ist scharf. Und nun beginnt die Kamera in die Richtung zu schwenken, in die das Mädchen schaut. Langsam erkennen wir, dass es in ein Fernsehgerät schaut, in dem die sich win‐ dende Gestalt einer Frau auf einem Edelstahltisch liegt, be‐
deckt von etwas, das wie grüner Lehm aussieht. Es ist in Wirk‐ lichkeit Alginat, das gummiartige Material, das Zahnärzte be‐ nutzen, um Abdrücke von Zähnen zu machen. Die Frau ers‐ tickt langsam; ihr gespenstisch grüner Körper ist zu einem einzigen langen Krampf geworden. Ihr Röcheln ist äußerst beunruhigend. Meine Stimme ertönt aus den Lautsprechern. »Es kommt noch mehr«, sage ich beeindruckend unheimlich. Jedenfalls finde ich das, aber Diamond Girl verpasst keinen Einsatz. »Huhu«, gurrt sie, »wirklich gruslig, Mann. Darf ich als Ers‐ te«, fügt sie mit gelangweilter Stimme an, »damit ich ver‐ dammt noch mal hier raus bin.« Aber sie ist die Einzige, die spricht. June ist ausnahmsweise sprachlos. Jolly Roger starrt mich an, und Sonnyboy hat alles Interesse an so unverstellter Nacktheit verloren und weint wieder. »Das war ihre Mom, oder? Die, die erstickt ist.« »Sehr gut beobachtet, Diamond Girl.« Ich höre die Vorsicht in meiner Stimme. Daran ist sie schuld, sie hat mich vorsichtig gemacht. Das gefällt mir über‐ haupt nicht, aber ich bin fasziniert. »Dann bekomme ich also auch so etwas zu sehen?« Sie lä‐ chelt ihre Mutter an, die aber nicht hinsieht; sie lehnt mit ge‐ senktem Kopf am Käfig. »Vielleicht nehme ich dich zuerst dran und lasse sie zus‐ chauen«, sage ich. »Nein«, sagt sie, großspurig wie eine einäugige Hure im Land der Blinden – um einem alten Spruch einen neuen Dreh zu geben –, »das werden Sie nicht tun. Sie werden sie zuerst töten, dann meinen Vater, dann meinen Bruder und dann werden Sie mich töten.«
Sie hat Recht, aber woher weiß sie es? Ich will sie eigentlich fragen, aber ich werde ihr keine Zugeständnisse machen. Wie sich sogleich herausstellt, muss ich es gar nicht, denn sie sagt: »Ich weiß das, weil ich es so machen würde.« Ich beobachte sie stundenlang auf einem Schirm in meinem Atelier. Ich habe drei Kameras eingebaut, zwei in den Wänden und eine in der Decke, genau über ihnen. Ich bin mir sicher, sie haben sie nicht bemerkt. Es ist nicht viel zu sehen, ein Ka‐ meraauge ist ziemlich klein, und Wände und Decke sind un‐ verputzt, rau. Dafür sehe ich eine Menge. June hat soeben ein weiteres Spiel Himmel und Hölle mit Sonnyboy beendet. Sie spielen es unablässig. Diesmal hat es mehr als zwei Stunden gedauert, in denen sie Xe und Os in den Staub zeichneten, die sie dann mit den Handflächen wieder glatt strichen, ohne dabei zu reden. Das machen sie seit Wochen. Jolly Roger sitzt die meiste Zeit an die Wand gelehnt da, und wenn er sich einmal bewegt, greift er sich ins Kreuz, als würde ihm eine Bandscheibe fehlen. Er hat sich seit Tagen nicht beschwert und überhaupt kaum gesprochen. Diamond Girl beobachtet ihre Familie so aufmerksam wie ich. Als Jolly Roger gestern mit ihr zu reden versuchte, sagte sie, er solle sich »verziehen«. Ich habe sie auch schon dabei erwischt, wie sie an die Wän‐ de und die Decke starrt, als würde sie vermuten, dass ich sie beobachte. Und nach dem, was sie über die Reihenfolge der Tode sagte, komme ich nicht umhin, mich zu fragen, ob sie nach der Kamera sucht, weil sie selbst ebenfalls eine einbauen würde.
Ich bin außerdem zu der Überzeugung gelangt, dass sie mich zu verführen versucht. Diese Behauptung würde ihr wahrscheinlich nur ein spöttisches »Na so was!« entlocken, es ist so offensichtlich, ihre Zunge an meiner Hand im Kom‐ bi, die Art, wie sie sich auf dem Katzenklo entblößt hat, als wir hier unten eintrafen. Aber selbst in den Stunden, in de‐ nen ich nicht im Keller bin, sehe ich die Verführung in der Art, wie sie sich bewegt. Manchmal streckt sie sich, macht eine ganze Reihe von katzenartigen Bewegungen, und sie ist immer, immer so postiert, dass man möglichst viel sieht, ob es ihr Arsch ist, der in die Höhe geht, wenn sie auf allen vie‐ ren ist, oder das Profil ihrer Brüste, wenn sie die Schultern zurückzieht. Nach der ersten Woche hat mich ihr Posieren so neugierig gemacht, dass ich ihnen allen Eimer mit warmem Wasser, Sei‐ fe und Waschlappen gebracht habe. Auch Handtücher. Ich stelle alles gut erreichbar vor dem Käfig ab, bevor ich mich zu meinem Monitor hier oben im Schlafzimmer zurückziehe. Zuerst halfen June und Jolly Roger Sonnyboy dabei, sich zu säubern. Dann bearbeiteten sie sich selbst, Jolly Roger mit den gelangweilten, schroffen Bewegungen eines Mannes, den sein eigener Gestank längst nicht mehr kümmert, und June mit dem wütenden Schrubben einer Büßerin, einer Frau, die ihren Körper hasst und alles, was er ihr eingebracht hat, der ein Bad vor allem dazu dient, die eigene Haut zu geißeln. Ihre Tochter wartete, bis sie zur Seite gegangen waren, dann legte sie ihre Kleidung ab und wusch sich ohne einen Hauch von Befangenheit. Seitdem habe ich ihnen alle paar Tage Eimer und Wasch‐ lappen gegeben, nur der Freude wegen, Diamond Girl zu beo‐
bachten. Eben habe ich es erneut getan und es mir wieder vor meinem Monitor bequem gemacht. Diamond Girl streift ihr Top und die Hose ab, wie sie es zu‐ vor schon getan hat. Alles sehr nüchtern. Aber nun schiebt sie das Höschen zentimeterweise nach unten, als leistete das Gummiband heftigen Widerstand, eine Bewegung, die viel Wesens um das macht, was noch kommen wird. Es ist eine Neckerei, und es unterscheidet sich definitiv von dem, was ich bisher gesehen habe. Ich frage mich unwillkürlich, ob sie he‐ rausgefunden hat, dass ich zuschaue, und mein Verlangen ab‐ solut genießt. Ich beuge mich vor und würde mitten in diesen Schirm klettern, wenn ich könnte. Als sie dann schließlich ihr Höschen am Schambein vorbei‐ schiebt, hält sie inne und kratzt sich lässig, provokativ an dem dunklen Fleck, ihre Oberarme drücken die Brüste bei jeder Bewegung zusammen und lassen sie über dem BH anschwel‐ len. All das erregt mich und erfüllt mich mit einem berau‐ schenden Gefühl der Erwartung. Ich könnte den Blick nicht von ihr nehmen, und wenn die Scheune abbrennen würde. Sie steht noch immer so, dass mir nichts entgeht, als sie sich vorbeugt und das Höschen ganz nach unten streift. Ihr Haar fällt nach vorn, und für einen Moment ist sie ein Bild der Sitt‐ samkeit, aber dann richtet sie sich rasch auf und lässt es über den Kopf nach hinten fliegen. Sie greift zwischen die Körbchen und hakt den BH auf. Doch erneut sind ihre Bewegungen langsam, die Finger verweilen wie bei einem Versprechen. Ich bin nicht der Einzige, der es bemerkt. Jolly Roger zeigt ebenfalls ein lebhaftes Interesse, das alte Schwein, und June befiehlt ihm, wegzusehen. Er hebt kapitulierend und wie er‐ tappt die Hände, und als er sich umdreht, zwingt er Sonny‐
boy, es ihm gleichzutun; vermutlich denkt er, wenn er selbst nicht zuschauen darf, verlangt die Gerechtigkeit ein ähnliches Opfer von seinem Sohn. »Was soll das werden?«, zischt nun June ihre Tochter an. Diamond Girl ignoriert sie und enthüllt mit erstaunlicher Anmut erst eine Brust und dann die andere. June blickt sich um, als argwöhnte sie, dass Diamond Girl ein Publikum hat, dann starrt sie das Mädchen hasserfüllt an. Ich starre ebenfalls. Es ist, als würde ich ihre Brüste zum ersten Mal sehen. Es sind in so reichem Maße die Brüste eines jungen Mädchens, so fest, so energisch nach vorne gerichtet in ihrer Fallkurve. Sie haben noch nicht unter Kindern oder unter der Zeit gelitten, nicht unter Zunahme und Verlust von Gewicht, dem ewigen Auf und Ab des meisten weiblichen Fleisches. Sie sind … vollkommen … und bleich, ein jungfräuliches Weiß mit winzigen Nippeln und einer braunen Linie, die zwischen ihnen hinabstürzt und ein nahezu perfektes V bildet und sich mit dem dunklen V weiter unten ergänzt, das in einem weißen Feld liegt, so verlockend, so einladend, dass ich nicht weg‐ schauen kann. Wie jedes Mal, wenn sie sich wäscht, bettle ich darum, dass sie sich umdreht, damit ich ihren Hintern sehen kann, auf den ich bis zu diesem Moment nur flüchtige Blicke erhascht habe. Und nun, gerade als sie exakt das tut, was ich wünsche, hebt ihre gottverdammte Mutter ein Handtuch auf. Ich verfluche die Frau, würde sie auf der Stelle totschlagen, wenn diese Tat den Anblick verhindern würde, der mir so viel bedeutet, aber June hält das Handtuch zwischen ihre Tochter und die männlichen Mitglieder der Familie, was meine Sicht in keiner Weise trübt. Ich bin wie hypnotisiert von der blassen Umrisslinie des
Höschens auf Diamond Girls Hintern. Mein Atem geht heftig. Sie hat meinen größten Wunsch so mühelos befriedigt, als könnte sie deutlich sehen, was ich mit mir selbst anstelle. Sie geht zur Käfigwand, ihre Mutter mit dem Handtuch ne‐ ben ihr her, greift in den letzten Eimer und beginnt sich gründlich und ohne Hast zu waschen, dabei verweilt sie – ja, ich bin mir dessen sicher –, sie verweilt bei ihrer Scham. Sie geht es heute nicht nüchtern an. Sie ist kühn. Sie ist schamlos. Sie weiß, was sie tut, sie weiß es. Sie infiziert mich mit immer ergiebigeren Fantasien, und ich muss den Drang unterdrük‐ ken, sie von dort herauszuzerren. Ich verbringe schon zu viel Zeit damit, an sie zu denken, sie zu beobachten. Letzte Nacht habe ich sogar von ihr geträumt. Sie hatte ein Kind, das sie Baby Peach getauft hatte, und schob es mir in einem Kinder‐ wagen entgegen. »Baby Peach«, flüsterte sie mir ins Ohr. Selbst im Schlaf spürte ich heiß und feucht ihren Atem. Baby Peach?, dachte ich, sagte es aber nicht. »Ja, Baby Peach«, erwiderte sie, als hätte sie mich dennoch gehört. Nun dreht sie mir wieder den Po zu, greift hinter sich und schrubbt, schrubbt, schrubbt, führt den Waschlappen den ganzen Spalt entlang, wringt das Schmutzwasser aus und wäscht sich wieder, und am Ende ist sie rosa, wo sie vorher blass war. Von ihr träumen? Ich habe nie von ihnen geträumt. Nie‐ mals. Meine Träume wurden nie von solchen Lappalien ge‐ stört. Nun möchte ich mich hinter sie knien und diese Backen mit meinen Händen umschließen, ihre kühne Festigkeit füh‐ len, ihre Wärme, während ich sie sauber auseinander drücke.
Ich will mit meiner Zunge die süßeste Wärme kosten, die sie zu bieten hat, eng umschlossen jeden Duft von ihr einatmen. Sie hat mich dazu gebracht. Sie muss sterben, aber natürlich hat sie Recht: Sie wird als Letzte gehen. Ich wende mich vom Monitor ab, als sie sich einmal mehr vornüber beugt und alles, was mich entflammt hat, voll zur Schau stellt. Ich muss nachher sauber machen, aber schon als ich zu den Papiertüchern greife, weiß ich, dass mich Diamond Girls Schau nicht wirklich befriedigt hat. In meinen Gedanken, die mich selten aus der Ruhe bringen, tobt ein Sturm der Mög‐ lichkeiten, keine davon freundlich, nicht einmal nach den von mir erzwungenen Maßstäben.
6 Nordlicht legte sich sanft wie ein Kaftan um das leere Gefäß. Lauren trat einen Schritt zurück, ohne den prüfenden Blick von dem Gipsanstrich zu nehmen, der Tünche aus erdigen Pink‐ und Braunpigmenten. Sie waren den Farbtönen vor ih‐ rem Atelierfenster nicht unähnlich, das auf den Angeles Na‐ tional Forest hinausging, einer kargen Landschaft, die ihren Namen kaum verdiente. Sie sah nur ganz vereinzeltes Grün da draußen, Wüstensträucher, die ihren Flüssigkeitsvorrat so strecken konnten, dass es zum Überleben reichte, und auf den Hügeln dahinter Pinien, die nur eine traurige Ähnlichkeit mit ihren hochragenden Verwandten im Nordwesten aufwiesen. Die von der Sonne gebackenen Bäume wirkten spröde, von reizbarem Wesen, die verkümmerte Nachkommenschaft eines verdorrten Landes, das harte Anforderungen stellte. Sie wischte sich die gipsverschmierten Hände an ihrer Jeans ab, holte tief Luft und drehte sich um. Die Pause zwischen den Studienquartalen erwies sich als produktiv. Sie hatte die letzte Arbeit in der Serie mit den komischen französischen Namen vollendet. Danach musste sie weitergehen. Sie fragte sich, was wohl die Kritiker zu diesem Werk sagen würden. Sie wünsch‐ te, es wäre ihr egal, aber das war es nicht. Meistens waren sie freundlich mit ihren Arbeiten verfahren, auch wenn die Etiket‐ te, die sie zu deren Beschreibung benutzten, gelegentlich ver‐ wirrend waren. ArtWeek, zum Beispiel, hatte ihre letzte Aus‐ stellung »postmodern … minimalistisch … und feministisch«
in einem einzigen Satz genannt. Ein anderer Kritiker hatte ihr Ego direkter gestreichelt, indem er sie – und darüber war sie wirklich erschrocken – mit Henry Moore verglich, einem der geachtetsten Bildhauer des letzten Jahrhunderts. Ihre Gefäße, hatte er geschrieben, »mit ihrer ursprünglichen Schlichtheit und dem reichen Innenleben sind ein Widerhall der Meta‐ phern des Meisters, wenngleich sie nach einer sinnlichen Spra‐ che streben, die diesen weniger bedrückten Zeiten angemesse‐ ner ist.« Puh! Sie hatte nach der Lektüre dieser Kritik erst einmal tief durchatmen und sich in Erinnerung rufen müssen, dass es den künstlerischen Tod bedeuten konnte, seinen Pressetexten zu glauben. Aber sinnliche Sprache? Sie musste zugeben, das gefiel ihr. Sie brauchte ein wenig Bewegung, Jogging, obwohl sie wusste, dass sie um diese Zeit eigentlich nicht mehr da raus sollte. Nach zehn Uhr vormittags stiegen die Ozonwerte im San Gab‐ riel Valley für gewöhnlich in ungesunde Höhen, aber sie hielt es keinen Augenblick länger im Haus aus. Eine Skulptur zu beenden, machte sie zappelig, nervös, sie könnte jedes Mal brüllen. Der Himmel sah klar aus, und als sie vorhin Körner für die Vögel rausgelegt hatte, war eine Brise zu spüren gewe‐ sen, möglicherweise hatte sie den Smog zum Teil weggefegt. Vielleicht gelang es ihr sogar, Chad aus dem Weg zu gehen, der es sich angewöhnt hatte, zu den merkwürdigsten Zeiten von der Arbeit nach Hause zu kommen, um bei ihr im Studio vorbeizuschauen. Sie brauchte sein Interesse nicht, sie wollte es nicht einmal, aber er ließ es sich nicht nehmen, jeden Tag vor‐ beizukommen, um zu sehen, ob sie ihre Meinung geändert
hatte, ob sie eine Wiederannäherung wünschte, was nichts anderes bedeuten würde als eine Rückkehr zu einer körperli‐ chen Beziehung ohne Zukunft. Schnell, ehe er womöglich auftauchte, zog sie ihre Jeans aus, erfreut darüber, wie locker sie saßen; all die vielen Meilen zahlten sich aus. Sie zog Laufshorts, Socken, Schuhe und einen Sport‐BH an, füllte ihre Wasserflasche und steckte sie in einen Hüftgurt. Auf dem Weg nach draußen griff sie nach der Son‐ nenbrille und joggte die Straße hinab zum Eingang des Natio‐ nal Forest. Das Eisentor stand offen, gerade weit genug für den Moun‐ tainbiker, der ihr zunickte, als er sich hindurchschlängelte. Sie streckte die Arme nach oben und griff in den Zaun, be‐ lastete ihre Rücken‐ und Schultermuskeln, spürte, wie sie sich lockerten, wie die Spannung nach der stundenlangen Arbeit im Atelier wich. Sie dehnte noch ein paar Minuten lang ihre Waden‐ und Oberschenkelmuskeln, dann startete sie die brü‐ chige Asphaltstraße entlang, die vom Tor wegführte. Die Ca‐ nonwände links von ihr stiegen höher, während sie abwärts lief, und warfen Schatten in die Schluchten und trockenen Wasserläufe, die einzige Kühle, die es in diesen Weiten aus Fels, Sand und dürrem Gestrüpp geben würde, bis die Regen‐ zeit wieder einsetzte, was sie allerdings seit mehreren Jahren nicht getan hatte. Der Asphaltbelag endete, bevor die Straße über eine Beton‐ brücke führte, die so alt wie die Stadt selbst aussah, und Lau‐ ren fragte sich, wie sie die vielen Erdbeben überlebt hatte. Nun bog der Weg, der nicht breiter als ein Automobil war, nach rechts ab, und Lauren begann bergauf zu laufen. Links von ihr wuchsen die lederfarbenen Wände höher, steiler, bis
sie zu einer Auswaschung kam, wo eine Schlammlawine vor ein paar Jahren die Straße verschlungen hatte. Sie suchte sich einen Weg über die felsige Oberfläche, bis sie ihr Tempo auf glatterem Untergrund wieder erhöhte. Ihr Atem beschleunigte sich, als die Steigung zunahm und die Sonne mit voller Kraft auf ihren Kopf und Rücken schien. Fünf Kilometer bergauf, fünf bergab. Dafür brauchte sie rund eine Stunde. Sie war keine Sprinterin, ein Rennen würde sie nie gewinnen; aber sie hatte das Glück gehabt, schlank veranlagt zu sein, und sie wollte gut in Schuss bleiben. Trotz ihrer hüb‐ schen blauen Augen und den schönen, weichen Gesichtszügen hielt sie Beine, Rücken und Po für ihre größten körperlichen Vorzüge. Viele Männer sahen das ebenso, dem anerkennenden Nicken, dem Lächeln und Zurufen von Mountainbikern und Läufern nach zu urteilen, die sie im Gelände überholten. Heute war sie allein unterwegs; sie war zu spät aufgebro‐ chen, als dass noch mit Verkehr auf dem Pfad zu rechnen war. Der Mountainbiker, der sich durch das Tor gequetscht hatte, war schon lange nicht mehr zu sehen. In etwa zwanzig Minuten würde sie die Feuerstation des Parks erreichen, ihren traditionellen Wendepunkt. Sie wollte den weiten Blick ins Tal genießen, den man von dort hatte, bevor sie zurücklaufen würde. Schatten hüllten sie ein, als sie an einer steilen Felswand entlanglief, und der plötzliche Strom kühler Luft erinnerte sie daran, dass eben doch erst Mai war, auch hier im südlichen Kalifornien. Die Straße führte in scharfen Biegungen unter hoch aufragenden Stromleitungen hindurch, und als sie um eine unübersichtliche Kurve kam, wäre sie um ein Haar in ei‐ nen riesigen Rottweiler gerannt.
Der Hund knurrte, als Lauren seitwärts stolperte und mit ihren Laufschuhen Staub aufwirbelte, ohne das Tier aus den Augen zu lassen. Dann blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie war schon Klapperschlangen über den Weg gelaufen, um sie herumgehuscht und weitergerannt, aber der Rottweiler mach‐ te ihr Angst. Wo zum Teufel war sein Besitzer? Das war alles, was sie interessierte. Sie wünschte, sie könnte den Hund mit dem Selbstvertrau‐ en anderer Läufer wegscheuchen, die sich wegen der Vierbei‐ ner auf dem Pfad nie Sorgen zu machen schienen. Aber der Rottweiler brachte sie vor Angst fast um den Verstand. Eine Schnauze wie eine Kanonenmündung. Wahrscheinlich ebenso gefährlich. Diese Viecher hatten schon Leute zerfleischt. Sie würde auf den Besitzer warten, weit konnte er ja nicht sein. Der würde dann ohne Frage winken, den Hund rufen und sich vielleicht entschuldigen. Selbst kleine Hunde konnten Lauren mächtig erschrecken. Mit fünf Jahren war sie von einem Cockerspaniel gebissen worden, ausgerechnet, einem niedlichen, knuddeligen Stoff‐ tierhund, der ihr beinahe das linke Auge herausgerissen hätte, was eine Tragödie gewesen wäre, wenn man ihre spätere Laufbahn bedachte. Sie hatte mit sechs Stichen direkt unter der Augenbraue genäht werden müssen, und wenn sie genau hin‐ sah, konnte sie immer noch die schmale Wulst verhärteter Haut erkennen. Nun stand sie einem schwarzbraunen Biest gegenüber, das schwerer war als sie selbst. Immerhin hatte das Knurren auf‐ gehört, aber der Hund hatte es sichtlich nicht eilig, wegzuge‐ hen. Wo blieb denn sein Besitzer? Eindeutig ein Männchen, das Vieh; mit seinen langen, he‐
rabhängenden Eiern sah er aus wie der Bad Bad Leroy Brown der Hundewelt. Dann sah sie, dass er kein Halsband trug. Nicht schon wie‐ der. Der Teufel sollte sie holen. Irgend so ein Arschloch hatte seinen Hund einfach im Park ausgesetzt, anstatt ihn ins Tier‐ heim zu bringen, jede Wette darauf. Sie hatten in ihrem Wohngebiet schon öfter Probleme damit gehabt. Hungrige, durstige Hunde, die aus den Hügeln spaziert kamen, heimat‐ los und verzweifelt. Sie selbst hatte schon einige Male beim Tierschutzbund angerufen. Wo waren sie jetzt, da sie ernsthaft gebraucht wurden? Er begann den Schweiß abzuschlecken, der ihr am Bein hi‐ nablief, und keuchte heftig. Sie wich angeekelt zurück. Er erinnerte sie an gewisse andere männliche Wesen, die sie ken‐ nen gelernt hatte, manche noch weniger anziehend. Dann dämmerte ihr, dass er vielleicht Wasser brauchte. O Mist, er schleckte schon wieder! Seine Zunge fühlte sich so derb an. »Nein!«, rief sie, von sich selbst überrascht, und noch mehr darüber, dass er aufhörte und erstarrte. Mutig geworden sagte sie: »Sitz!«, und siehe da, das Biest setzte sich. Zum ersten Mal seit Minuten wagte sie durchzuatmen. Sie holte ihre Wasserflasche hervor und trank rasch. Der Hund legte den Kopf schief, als er das sah; demütiger hatte sie nie ein Tier betteln sehen. Wie zum Teufel sollte sie ihm Wasser geben? Sie schaute sich nach einem Felsen mit einer Aushöhlung um. Nichts, und der Erdboden würde alles sofort aufsaugen. Würde sie ihn sehr verärgern, wenn sie ihm einen Wasser‐ strahl ins Gesicht spritzte?
Auf keinen Fall würde sie das riskieren. Dann überlegte sie, die Hand zu wölben und mit Wasser zu füllen, aber sie schau‐ derte beim Gedanken an diese Zunge. Er starrte sie weiter an. »Also gut.« Sie drückte die Flasche zusammen, und ihre hohle Hand füllte sich. Er tauchte voll hinein, ein Kopf, so groß wie ihr eigener. Seine Zunge fühlte sich an wie ein riesiges, schleimiges Mee‐ resgeschöpf, und sie ruhte nicht, bis die ganze Flasche leer war. Er blickte sie an und wackelte mit dem dunklen Stummel‐ schwanz. Sie schaute sich erneut um. Soweit sie blicken konn‐ te, war das Gelände leer wie der Himmel darüber. »Na, komm«, sagte sie, und verübelte ihm ihr abgebroche‐ nes Jogging. »Gehen wir.« Er zeigte tadelloses Benehmen und ließ sich auf der Terrasse vor ihrem Atelier nieder, nachdem er eine große Rührschüssel voll Wasser aufgeschlabbert hatte. Über die Biohaferflocken, die sie ihm rausstellte, rümpfte er allerdings nur die Nase. Die gan‐ ze Zeit hechelte er. Vermutlich war ihm zu heiß zum Fressen. Groß war er, beinahe riesig, und sie versuchte auszurech‐ nen, was es kosten würde, ihn zu ernähren. So einfach hatte er eine neue Herrin gefunden. Die Entscheidung erwies sich als nicht dramatischer denn ihre Erkenntnis, dass sie es sich zwei‐ fellos leisten konnte, ihn zu behalten, und dass sie ihn nicht fürchtete. Praktische Erwägungen, etwa Chads Reaktion dar‐ auf, dass sie ihn hier im Atelier hielt, und die Frage, wo der Hund während ihrer ausgedehnten Reisen nach Portland blei‐ ben sollte, hatte sie noch nicht angestellt.
»Ich gehe jetzt duschen«, sagte sie mit Nachdruck. »Ich bin gleich zurück.« Worüber machst du dir Sorgen, fragte sie sich, als sie ins Haus ging. Dass er weggeht? Unwahrscheinlich. Leroy wirkte wie einer, der sich auf Dauer festsetzt. Sie hatte ein paar von seinen menschlichen Gegenstücken gekannt. Das Letzte, wo‐ rüber man sich Gedanken machen musste, war, dass sie ver‐ schwinden könnten. Sie schloss die Ateliertür, damit er ja nicht in die Nähe der zerbrechlichen Gefäße kam, und wusch sich gründlich, mit besonderem Augenmerk auf das Bein und die Hand, die er mit seiner Zunge bearbeitet hatte. Als sie sich abtrocknete, hörte sie dieses Knurren wieder, nur lauter. Es klang wie Donner, und jemand – o nein, das musste Chad sein – sagte: »Ruhig, mein Junge, ganz ruhig.« Aber das Knurren wurde geradezu mörderisch. Lauren wurde jetzt klar, dass das Tier sie vorhin gar nicht richtig angeknurrt hatte. Sie rannte auf die Terrasse hinaus, wo Chad mit fahlem Ge‐ sicht starr an die Wand gedrückt stand, vor ihm Leroy, mit vollständig entblößtem Gebiss, die Schnauze grimmig gekräu‐ selt. »Vorsicht, Lauren«, sagte Chad mit zittriger Stimme. »Komm nicht näher.« »Aus!«, rief sie laut. Leroy sah sie an und hörte auf zu knur‐ ren. »Hierher, Leroy. Sofort!« »Leroy?«, sagte Chad. Der Hund schlenderte zu ihr hinüber, ganz nach Art von Bad Bad Leroy Brown, ein Gang, der nichts als rohes Selbst‐ vertrauen verriet.
»Sitz«, befahl sie. Sie fing an, ihre Autorität zu genießen. Das Tier begrub das Gesäß zwischen den Hinterläufen. »Braver Junge«, flüsterte sie. Leroys Stummelschwanz wischte hin und her wie ein Metronom. Sie sah zu Chad hinüber und bemerkte, dass auch bei ihm ein Körperteil in Bewegung war, wenngleich weit weniger rhythmisch: Seine Wange zuckte wie der Schwanz einer er‐ schrockenen Katze. »Ich habe ihn gerade gefunden«, verteidigte sie sich. »Deinen Kumpel Leroy, ja? Den hast du gerade gefunden? Wo? Beim Picknick einer Zuhälterbande?« »Da draußen.« Sie zeigte zum Wald. »Er war ganz allein.« »Ach. Ich kann mir gar nicht denken, warum. Wo er doch so umgänglich ist.« »Zu mir war er nett.« »Und das ist wohl alles, was zählt.« »Er hatte Durst. Er hätte da draußen sterben können.« »Er hätte dich umbringen können.« »Nein, du meinst, du hattest Angst, dass er dich umbringt. Bei mir ist er in Ordnung. Ich mag ihn. Er ist groß, er ist stark, er ist hübsch und klug. Und er hört auf mich.« Der perfekte Typ, dachte sie, aber sie enthielt sich, es zu sagen. »Weißt du, dass jedes Jahr fünfzig Prozent aller Hundebisse in diesem Land auf das Konto von Rottweilern und Pitbulls geht?« Das war typisch für Chad, er tischte ständig irgendwelche Statistiken auf, um einen Standpunkt zu beweisen, dem sie trotzdem nie zustimmen würde. »Schließt das Bisse von Polizeihunden mit ein?« Das würde den Anteil sicher steigern.
»Das weiß ich nicht«, gab Chad ehrlich zu. »Schau, wenn er gewollt hätte, hätte er uns beide zu Mittag verspeisen können. Er ist nett.« »Nett!«, rief Chad. »Er hat mich verdammt noch mal an die Wand gedrückt«, sagte er und machte zwei wütende Schritte auf Lauren zu. Das war ein Fehler. Leroy, der für alle Zeiten von Chad nur noch »dieses Scheißvieh« genannt werden sollte, erhob sich und stieß ein derart Furcht erregendes Knurren aus, dass Lauren glaubte, er würde ihren Ex‐Freund auf der Stelle zerfleischen. »Ich glaube«, sagte sie in ihrem sanftesten Tonfall, »er mag es nicht, wenn du mich anschreist.« Obwohl sie selbst nervös war, streckte sie die Hand aus und tätschelte Leroys Flugzeugträgerkopf, und ohne dass es ihr bewusst war, verstärkte sie damit seinen bereits ausgeprägten Beschützerinstinkt. Chad schluckte mühsam, und Lauren fiel zum ersten Mal auf, wie unvorteilhaft sein Adamsapfel aus‐ sah, wenn er auf und ab ging. Leroy erwies sich als wunderbarer Gefährte. Er wich nicht von ihrer Seite, wenn sie zum Laufen ging, und belästigte nieman‐ den, wenngleich sein Furcht einflößendes Aussehen die mei‐ sten Fremden in Schach hielt. Überraschenderweise war er ausgesprochen reizend zu den Kindern, denen sie in der Wohnanlage begegneten, und ertrug ihre unbeholfenen und manchmal heftigen Tätschelversuche schlimmstenfalls mit Gleichgültigkeit. Nur einen bestimmten Erwachsenen fand er nicht so toll, was es problematisch machte, ihn ins Atelier mitzunehmen. Sie hatten es damit versucht, dass Chad ihn fütterte, aber das
änderte wenig am Verhalten des Hundes; Chad fing sich noch immer ein Knurren ein, wenn er Lauren anfuhr, was einen heilsamen, wenn auch nur oberflächlichen Einfluss auf sein Benehmen hatte. Auf das von Chad. Bis zum Ende der ersten Woche hatte die Spannung im Haus jedoch einen Punkt erreicht, an dem es Lauren nicht mehr überraschte, als Chad sagte: »Ich will dieses Scheißvieh nicht mehr hier haben.« Er sagte es mit dem unmissverständli‐ chen Unterton des Besitzers, dem unausgesprochenen: Und mir gehört dieses Haus, vergiss das nicht. »Chad, bitte setz dich hin, du machst ihn nervös«, scherzte sie. Vor Jahren hätten sie vielleicht über diesen Satz gelacht, gemeinsam, und ihr Lachen wäre ein weiteres Zeichen ihrer Liebe gewesen. Wann hatten sie aufgehört, zu lachen? Lauren war sich nicht sicher, aber sie wusste, dass Chad früher ein lustiger Typ gewesen war und so leicht über ihre Albernheiten gelacht hatte, dass sie sich selbst ebenfalls lustig vorkam. Aber solche unbeschwerten Momente hatten sie seit Monaten nicht mehr zusammen erlebt, und die Dürreperiode schien nicht so bald zu enden. »Es ist mir scheißegal, ob ich ihn nervös mache«, sagte Chad mit so honigsüßer Stimme, dass man seinen Zorn nur erken‐ nen konnte, wenn man die menschliche Sprache verstand – Leroy hatte ihn in weniger als einer Woche gut dressiert. »Er ist zu groß, er stinkt, und ich will ihn nicht hier haben.« »Er stinkt nicht.« Lauren hielt sich für besonders empfind‐ sam, was Gerüche anging, und Leroy roch ziemlich sicher nicht schlecht. »Abgesehen davon würdest du das gar nicht merken. Du kommst ihm ja nie nahe.«
»Soll das eine Kritik sein. Soll das eine Kritik sein?« Chad hob die Stimme, und Leroy knurrte, fast wie gelangweilt: Nicht schon wieder. »Das ist nicht dein Ernst, oder? Du willst nicht sagen, ich soll diesem … diesem Ding auch noch nahe kom‐ men?« »Es geht nicht um Leroy, stimmtʹs?« Sie hätte auch sagen können: Es geht um dich, Chad, so wie es immer um dich geht, darum, was du willst, was du brauchst, was du dir wünschst. Aber Chad drehte es wie immer um. »Da hast du Recht. Es geht nicht um den verdammten Hund, es geht um dich! Du bist jetzt schon seit langem un‐ glaublich distanziert.« »Distanziert? Was zum Teufel hast du erwartet? Wir haben Schluss gemacht, schon vergessen? Du wolltest nicht heiraten, weißt du noch?« »Das war alles, was du wolltest – heiraten«, sagte er abfällig. »Wir brauchten Freiraum, wir brauchten …« »Freiraum! Wir hatten genug Freiraum, um den Americaʹs Cup vom Stapel zu lassen. Wir hatten …« »Unsere Beziehung hätte noch wachsen müssen.« »Wachsen!« Sie raufte sich so gewaltsam die Haare, dass sie ehrlich fürchtete, zwei Hand voll ausgerissen zu haben. »Hast du tatsächlich gesagt, unsere Beziehung hätte noch wachsen müssen? Sie hatte Jahre, um zu wachsen. Sie ist so stark ge‐ wachsen, dass sie zu einem Dschungel wurde, und dann ist sie langsam an sich selbst erstickt.« »Ja, und das lässt mich würgen. Ich brauchte Luft zum At‐ men, und alles, was dich interessiert hat, war heiraten.« »Schön. Atme. Von mir aus hyperventiliere.« »Das ist nicht komisch.«
»Es ist auch nicht komisch, dass du mit meinem Wunsch zu heiraten umgegangen bist, als wäre es die Pest. Ich werde mich nicht dafür entschuldigen. Ich habe dich geliebt.« »Du hast mich geliebt? Du liebst mich also nicht mehr?« »Ich versuche, mein Leben auf die Reihe zu bringen, okay? Vielleicht sollte ich mein Atelier verlegen.« Ein Riesenprob‐ lem, allerdings. »Ja, vielleicht solltest du das!« Lauren fuhr Leroy zurück zu ihrem Appartement, immer noch wütend auf Chad. Was zum Teufel erwartete er? Natür‐ lich gab es eine Kluft zwischen ihnen, aber hatte er denn ge‐ dacht, sie würden einfach so zum alten Allerlei zurückkeh‐ ren? Dennoch hatte sie nicht bemerkt, wie weit die Kluft ge‐ worden war, bis sie Ry kennen gelernt hatte, so wie ein alter Schiffskapitän vielleicht erst an Land denkt, wenn er an einer verlockenden Insel vorbeisegelt. Ry war derjenige gewesen, der an jenem letzten Abend auf der Veranda einen Rückzie‐ her gemacht hatte. Wenn sie nicht sicher sei, ob sie ihn he‐ reinbitten soll, hatte er gesagt, dann sollte er jetzt besser ge‐ hen. »Du hast Recht«, hatte sie eingeräumt. »Ich bin mir ganz und gar nicht sicher. Aber ich finde dich wundervoll.« Er hatte ihre Hand genommen, sie hochgezogen und so lei‐ denschaftlich geküsst, dass sie buchstäblich beinahe ohnmäch‐ tig geworden wäre. Sie erinnerte sich immer noch, wie sich sein Rücken anfühlte, den sie gierig umklammert hatte. Dann war er nach einem raschen Lebwohl gegangen, und alles, was sie seither getan hatten, war E‐Mails auszutauschen: seine ergänzenden Interviewfragen, ihre Antworten; kein
Wort von beiden Seiten zu ihrem Abendessen, ihrem Rendez‐ vous, geschweige denn ihrem Verlangen. Lauren hatte außerdem eine E‐Mail von Kerry erhalten. Sie war unterwegs zu Stassler nach Moab. Anscheinend ließ sie sich Zeit. Sie hatte bereits einen Tag Mountainbiking in der Schlucht des Columbia River eingelegt und plante einen wei‐ teren Tag für eine Tour im Sun Valley. Lauren verstand nicht, wie jemand eine solche Leidenschaft für einen Sport entwickeln konnte, aber sie verstand das We‐ sen der Leidenschaft als solcher und hatte lange Zeit jene be‐ mitleidet, die ihre Macht nie erfahren hatten. Sie hatte ge‐ glaubt, alles über Leidenschaft zu wissen, hatte ihre zahlrei‐ chen Dimensionen in ihrer Besessenheit mit Bildhauerei erlebt, aber in den letzten Wochen hatte sie erfahren, dass Leiden‐ schaft sehr wohl außerhalb der Enge eines Ateliers existiert, und jedes Mal, wenn sie eine E‐Mail von Ry Chambers sah, erinnerte sie das Prickeln in ihrem Bauch erneut daran. So hat‐ te sie für Chad nie empfunden. So hatte sie überhaupt noch nie für einen Mann empfunden. Selbst wenn Ry nur nach einem simplen Detail über eine grüne Patina fragte, die sie bei einem Werk benutzt hatte, erregte es sie, seine Worte zu lesen. Die Gefühle, die sie für ihn hegte, machten sogar der Leidenschaft Konkurrenz, die sie seit langem für die Bildhauerei hegte, und auch die war mit einem einzigen Funken zum Leben erwacht. An einem Frühlingsnachmittag in ihrem zweiten Jahr an der Highschool hatte ihr Kunstlehrer jedem von ihnen eine Schachtel Ton gegeben und gesagt, sie dürften daraus machen, was sie wollten. Sie hatte in ihren Händen ängstlich eine Kugel geformt, un‐ sicher, welche Richtung sie einschlagen sollte, besorgt, ob sie
überhaupt eine Richtung finden würde. Und dann war es ihr plötzlich zugefallen, und in der folgenden Stunde skizzierte sie die Gestalt ihres abwesenden Vaters, nicht wie sie ihn ge‐ kannt hatte, sondern wie sie ihn gefühlt hatte, ihr Innenleben, wenn sie seit seinem Verschwinden an ihn dachte. Die Form war abstrakt gewesen, und ihre Abstraktion hatte eine Realität besessen, die nur emotional erkennbar war. Ihr Lehrer, der Komplimente mit dem verkniffenen Gesicht eines Geizkragens herausrückte, hatte ihr über die Schulter geschaut und jenes eine Wort ausgesprochen, das ihr Leben veränderte: »Exzel‐ lent.« Als Professorin hatte sie sich immer bemüht, dasselbe bei ihren Studenten zu bewirken, sie in ein größeres Leben zu ent‐ lassen als jenes, das sie vor der Bekanntschaft mit ihr geführt hatten. Sie die Freiheit der Leidenschaft fühlen zu lassen, die sie von ihren konservativeren Impulsen befreien konnte. Nun entzog sich Kerry ihrer Anleitung, richtete ihre Bewunderung neu aus. In gewisser Weise war es wie der Verlust eines Lieb‐ habers, einen, den man nicht in den Arm nahm, sondern unter seine Fittiche. Und man musste sich mit seinem Urteil zurück‐ halten. Sie durfte Kerry nie sagen, dass Stasslers Werk visionä‐ re Kraft und Integrität fehlten, dass es kaum mehr war als die glitzernde, modisch makabre Anhäufung von äußerem Schein, verehrt von einer Kulturschickeria, der es vor allem um Pro‐ minez ging. Kerry würde diese Schlüsse allein ziehen müssen. Oder auch nicht. Lauren kam sich schon undankbar vor, wenn sie nur in so kritischer Weise an Stasslers Werk dachte, denn er allein hatte sich bereiterklärt, mit einer angehenden Bildhaue‐ rin zu arbeiten; keiner ihrer anderen Studenten hatte sich eine Praktikumstelle gesichert. Andererseits hatte ihres Wissens
aber auch keine andere junge Frau ein Foto von sich selbst im kurzen Rock und knappen Top beigelegt. Dennoch entfachte Stasslers Bereitschaft, eine Praktikantin aufzunehmen, Laurens widerwillige – und argwöhnische – Dankbarkeit; er würde Kerry helfen, ihre Träume zu verfol‐ gen. Sie würde ihm morgen eine Dankadresse schicken, ihm alles Gute wünschen und ihn daran erinnern, dass sie ihm mit Kerry Waters ihre beste Studentin anvertraute.
7 Jolly Roger hat jetzt so viel abgenommen, dass ich glaube, ich kann ihn ein Kraftprogramm absolvieren lassen, ohne ihn gleich umzubringen. Bis vor kurzem wirkte er, als stünde hin‐ ter den Kulissen ein Herzinfarkt auf Abruf bereit, wie eine zweite Besetzung, die auf die Hauptrolle in seinem Leben er‐ picht ist. Sie wissen alle nicht genau, was auf sie zukommt, wenn‐ gleich das Video von Familiy Planning #8 zumindest drei von ihnen in echte Angst versetzt hat. Aber sie haben mitbekom‐ men, dass sie auf einer Art Gesundheitstrip sind, mit all den Nahrungszusätzen, Magerproteinen und fettarmen Mahlzei‐ ten. June hat sich sogar laut gefragt, warum ich mir die Mühe mache, mich so gut um sie zu kümmern, wenn ich irgendwel‐ che »üblen Absichten« hätte. Die Kameramikrofone erfassen ihre Unterhaltungen, aber es gibt nur wenige. Die meiste Zeit brüten sie dumpf wie Ochsen vor sich hin. Die Gewichte geben ein Klirren von sich, als ich sie hinter der Skelettparade hervorziehe, unangenehm für ihre Ohren, nach Junes Zusammenzucken zu urteilen, aber wie Mozart für meine. Ich mag Gewichte, die brutale Anstrengung, sie zu he‐ ben. Ich bin achtundvierzig Jahre alt, und ich besitze einen besseren Körper als die meisten Zwanzigjährigen. Der einzige Grund dafür sind Gewichte. Anders geht es nicht. Mit Laufen kommt man bestimmt nicht zu einem schönen Körper. Der typische Marathonmasochist sieht ausgemergelt aus wie ein
nepalesischer Bettler. Gewichte stemmen formt deinen Körper, aber es lässt dich mit Sicherheit nicht aussehen wie Hulk Ho‐ gan. Das ist ein totales Missverständnis. Um so auszusehen wie er, müsste man sich jahrelang durch einen Berg von Essen futtern. Das wird mit den Vandersons nicht geschehen; ihre Kalorien sind so sorgfältig bemessen wie der Treibstoff für das Spaceshuttle Challenger. Sie werden jeden Körperteil zweimal die Woche dranneh‐ men. So mache ich es, und es ist sehr anspruchsvoll. Wenn ich es nicht täte, würde ich bald aussehen wie Roger. Enden wie Roger. Ich stelle die Trainingsbank direkt vor den Käfig. Ein Ende von ihr kann ich heben oder senken, so dass ich verschiedene Muskeln erreiche, sogar verschiedene Teile desselben Muskels. Das ist etwas, das Außenstehende nicht begreifen: Man kann nicht nur eine Übung für einen Muskel machen, wenn man eine optimale Entwicklung erreichen will. Gewichte sind ein Meißel. Man bearbeitet einen Muskel von unten, von den Sei‐ ten, von oben. Man meißelt aus jedem Winkel an ihm. Nach ein paar Wochen Schweiß werden sie es verstehen. Die Anhänger meiner Kunst glauben, ich erschaffe meine Serie aus Ton, ganze Familien, die sich aus den fruchtbaren Tiefen meiner zugegebenermaßen ungewöhnlichen Fantasie zu perverser Perfektion erheben. Das mache ich ihnen weis, und sie, ergebene Dummköpfe, die sie sind, glauben mir, dass ich Gussformen aus den Tonfiguren mache und sie in Bronze gieße. So einfach. So falsch. So verachtenswert gewöhnlich. Ich forme lebende Menschen. Bevor ich auch nur eine Unze Bronze gieße, forme ich ihr lebendiges Fleisch. Ich schmiede es hier unten, vor ihren eige‐
nen Augen. Wenn ich fertig bin, haben sie den besten Körper ihres Lebens. Bei den Vandersons wird es nicht anders sein. Sie werden Muskeln haben, wo Muskeln im Augenblick nur eine Erinnerung sind, wenn überhaupt. Sie werden Erhebun‐ gen, Kurven und scharf definierte Umrisse haben, statt all dem losen Fleisch, das an ihnen hängt wie Moos – wobei ich haupt‐ sächlich an Roger denke, um gerecht zu sein. Sie werden viel‐ leicht sogar wieder von ihren Partnern erregt werden. Ich habe es mehr als einmal erlebt. Nach einigen Wochen der neuen Lebensweise habe ich gesehen, wie Mann und Frau anfangen, sich gegenseitig zu beäugen, dann beäugen sie die Kinder, bis diese eingeschlafen sind. Und dann habe ich gesehen, was sie mit ihren neuen Körpern anstellen, wie sie schweigend kopu‐ lieren und ihre gierigen Hände über den anderen gleiten las‐ sen. Ich tue ihnen einen Gefallen mit diesem Programm, aber zu Beginn erkennen sie den Nutzen nur selten. Deshalb gehen Überredungsakte voraus, wenngleich im Fall von Family Plan‐ ning #5 nichts geholfen hat. Sie waren so nikotinabhängig, dass die Eltern unvernünftig wurden, und ich den Zeitplan straffen musste. Mir taten diese armen Kinder Leid, dass sie mit sol‐ chen Eltern leben mussten. Ihre Alten pfiffen wie ein paar ver‐ gammelte Sofakissen, wenn ich sie auf das Trimmrad setzte, und trotz der Todesgefahr, die über ihnen schwebte wie eine Wolke Marlbororauch, gaben sie sich mit den Gewichten keine große Mühe. Ich krümme mich jedes Mal innerlich, wenn ich an Family Planning #5 denke. Sie hätten mich meine Karriere kosten können. Sie zu töten, war ein Akt der Gnade. Für mich und für sie. Jolly Roger und June, Sonnyboy und Diamond Girl hinge‐ gen werden trainieren. Rogers Rückenproblem scheint sich
gebessert zu haben. Zumindest fasst er sich nicht mehr ins Kreuz, als hätte er einen Hexenschuss, und ich freue mich schon sehr darauf, Diamond Girl bäuchlings auf der Beinma‐ schine zu sehen, wenn sie die Stange hinter die Fersen klemmt und die Gewichte zurückzieht. Es ist eine Bewegung, die einen höchst erfreulichen Effekt bewirkt. Bei jedem Zug heben sich die Pobacken hungrig, als sehnten sie sich nach Entspannung, als wollten sie zur raschesten Schändung einladen. Bei Dia‐ mond Girl wird dieser ergötzliche Anblick durch ihre ohnehin fest gerundeten Backen nur erhöht werden. Sie beobachten mich mit großem Interesse. Ich verstehe, wes‐ halb. Es ist langweilig hier unten. Wochenlanges Himmel und Hölle mit Sonnyboy würde jeden Menschen für Ablenkung empfänglich machen. Sicher, sie bekommen fortlaufende Epi‐ soden von Family Planning #8 zu sehen, aber das ist nicht di‐ rekt die Ablenkung, die sie mehrheitlich vorziehen würden. Nur Diamond Girl gibt sich weiter forsch, so sehr, dass ich allmählich denke, sie könnte professionelle Hilfe gebrauchen. Es ist mir ein Rätsel, warum sie nicht schon vor Jahren zu ei‐ nem Psychiater mit ihr gegangen sind. Kann ein Mensch so gefühllos sein? So gleichgültig gegenüber dem eigenen Schick‐ sal? Es muss gespielt sein. Sie muss mit mir spielen. Ich kann nicht glauben, dass sie bereit ist, zu sterben, nur um von ihrer Familie wegzukommen. Obwohl, wer weiß? Wenn ich vier‐ zehn, fünfzehn Jahre – ich weiß noch immer nicht genau, wie alt sie ist – mit diesem Clan verbracht hätte, wäre ich vielleicht auch bereit, zu sterben. Ich schleppe den Gewichtständer heraus und lasse mir Zeit, ihn am Ende der Bank aufzubauen. Dann gehe ich die Hanteln
holen. Ich habe sie aus Bronze gegossen, der schönste Satz Hanteln, den ich je gesehen habe. Diamond Girl schaut. »Wie alt bist du?«, frage ich schließlich. »Achtzehn«, sagt sie, während June mit »dreizehn« heraus‐ platzt und Roger, der Idiot, »sechzehn« antwortet. Roger sagt als Einziger die Wahrheit. June versucht, mich von ihrer Toch‐ ter fern zu halten, indem sie behauptet, diese sei fast noch ein Kind – bewundernswert, wenn man die offenkundigen Prob‐ leme der beiden miteinander bedenkt. Diamond Girl versucht, sich als erwachsen auszugeben, mit all den Privilegien, die damit vermeintlich auf sie warten. Und Roger, der gute alte, unschuldige Roger hofft, dass die Wahrheit eine Art Talisman ist. Am Ende wird ihn meine Falschheit vermutlich am mei‐ sten niederdrücken. Er wird sich wochenlang mit Gewalt in Form bringen, und er wird mit dem bitteren Gefühl sterben, betrogen worden zu sein, wenn er erkennt, dass all sein Schweiß und seine Mühsal ihm nicht nur keineswegs die Frei‐ heit brachten, sondern seinen Tod erst wünschenswert mach‐ ten. Sechzehn, was für ein süßes Alter. Ich glaube, es war Bette Davis, die sagte, das Schönste daran, achtzehn zu sein, seien achtzehnjährige Jungs. So ziemlich dasselbe lässt sich darüber sagen, achtundvierzig zu sein und Diamond Girl in der Nähe zu haben. Die ganze Zeit seit sie hier sind, hatte ich alle diese Hanteln hinter der Skelettparade. Jetzt ist es, als würden die Vander‐ sons plötzlich herausfinden, dass sie auf eine Leinwand ge‐ schaut haben, und wenn man sie aufrollt, findet man das nöti‐ ge Handwerkszeug, das Geheimnis hinter all dem Erfolg. Es nennt sich harte Arbeit.
Genau das habe ich an der neuen Generation von Künstlern auszusetzen. Sie sind nicht gewillt, wirklich zu arbeiten, sich ihrer Kunst vollständig zu verschreiben. Sie schäkern mit ih‐ rem Medium, aber sie binden sich nicht, und das bedeutet, sie werden nie mehr als Dilettanten sein. Ich opfere meiner Kunst alles. Alles. Habe es immer getan. Und die Vandersons werden es auch tun. Sie werden härter arbeiten als je zuvor in ihrem Leben. Sie werden den Lohn sehen, und wenn sie vernünftig sind, werden sie dankbar sein. Wie lang hat ein Mensch? Fünfzig, vielleicht hundert Jahre? Bildhauerei ist für Jahrhun‐ derte, vielleicht für immer. Schauen sie sich Michelangelos David an. Er wird noch da sein, wenn wir alle längst ver‐ schwunden sind. Er wird in tausend Jahren noch da sein, in zweitausend. Und die Vandersons ebenfalls. Sie sollten mir danken. Wenn ich an das Vergnügen denke, das es mir berei‐ ten wird, Diamond Girl zu formen, die Abdrücke ihrer Brüste und Geschlechtsteile, ihren festen, runden Hintern, muss ich unwillkürlich an Michelangelo denken, wie er an Davids Penis meißelt, an seinem harten, jungen Arsch, und wie er schließ‐ lich im nackten Stein den physischen Ausdruck seines eigenen starken Verlangens nach Jünglingen zu erkennen gibt. Zu be‐ haupten, der Meister habe sein Werk mit Liebe verrichtet, heißt, die offensichtlichste Motivation überhaupt abzuschwä‐ chen: Lust. Dass er so viel für die katholische Kirche gearbeitet hat, ist dabei die größte Ironie. Es dauert eine volle Stunde, bis das ganze Equipment auf‐ gebaut ist. Ich ziehe meine fingerlosen Lederhandschuhe an und ermahne sie, genau aufzupassen. »Euer Leben hängt davon ab, dass ihr das richtig macht.« »Der Typ ist komplett verrückt«, höre ich June flüstern.
Und das von einer Frau, die ich für eine Hausfrauenikone wie June Cleaver hielt, vielleicht sogar für eine Mormonin. Ich ge‐ he nicht darauf ein. Wen interessiert es, was sie denkt. Ver‐ rückt? Wer sitzt hier in einem Käfig und schaut zu mir heraus? Wer hat mehr Stimmungsumschwünge als der Glöckner von Notre Dame? Wer versucht, in der einen Minute ihrer Tochter die Augen auszukratzen, und spielt in der nächsten mit ihrem Sohn Himmel und Hölle? Wenn hier jemand seine Medizin braucht, dann bist du es, June. »Ich lasse euch mit dem Trimmrad anfangen. Ganz locker, am Anfang. Ich will keine Helden hier draußen erleben. Ihr kommt immer einzeln heraus, und ihr denkt nicht mal dran, irgendwelche komischen Sachen zu machen.« Ich ziehe meine Pistole und fuchtle damit herum. Ich komme mir vor wie ein Wildwestcowboy auf seinem Mustang. »Verstanden?« Sie murmeln tatsächlich alle etwas. Ich glaube, es ist »ja«. Ich stelle einen niedrigen Widerstand ein und beginne zu treten. »Ich will, dass ihr euch langsam warm macht.« Ich sehe es förmlich vor mir: Ashley Stassler, Personal Trainer. Falls es mit der Bildhauerei den Bach runterginge, könnte ich mir vermutlich jederzeit meinen Lebensunterhalt damit verdienen. Ich habe einige erstaunliche Ergebnisse mit Leuten erzielt, die nun wirklich außer Form waren. Unglücklicherweise darf man Leuten, die freiwillig einen Fitnessclub aufsuchen, keine Waffe an den Kopf setzen. Wirklich zu schade, denn eine Morddro‐ hung wirkt Wunder als Motivation. »Ihr seht, ich strample nicht wie verrückt. Ich trete schön gleichmäßig.« Ich will nicht, dass sich June und Roger Muskeln zerren oder sonst wie verletzen. Das würde die ganze Sache zurückwerfen.
Über Sonnyboy und Diamond Girl bin ich weniger besorgt. Ich werde sie so trainieren, dass noch etwas Muskulatur sichtbar wird, aber viel lässt sich mit dem Körper eines Jungen in die‐ sem Alter nicht machen. Er ist ohnehin sehr mager, und seine Schwester ist nahezu so perfekt, wie ich es anstrebe. Roger und June sind diejenigen, die das Training brauchen. »Ich schwitze, seht ihr?« Ich zeige auf meine Stirn und stei‐ ge vom Rad. »Jetzt bin ich bereit, Gewichte zu stemmen, aber selbst jetzt fange ich noch langsam an.« Ich schiebe leichte Gewichte auf die Hantelstange und kurb‐ le den oberen Teil der Bank hoch, bis er in einem Winkel von fünfunddreißig Grad steht. Ich beginne mit Bankdrücken, fünfzehn Stück. Jetzt ist es Zeit, meine Trainingsjacke abzulegen. Darunter trage ich ein Bodybuilder‐Shirt: ärmellos, mit extra engen Trä‐ gern und rundum tief ausgeschnitten, um viel von Brust, Rücken und die ganzen Schultern sehen zu lassen. Sie werden die Namen dieser Muskeln im Lauf der Zeit lernen – Brust‐ muskeln, Latissimus dorsi, Deltamuskeln, Trapezius. Im Au‐ genblick wissen die Vandersons wahrscheinlich nicht einmal, dass sie existieren. Ich brauche zwanzig Minuten, bis ich alle drei Durchgänge von Bankdrücken absolviert habe. Ich weise darauf hin, wie wichtig es ist, zwischen den Durchgängen jeweils ein paar Mi‐ nuten zu pausieren. Ich mache jedes Mal zehn bis zwölf Wie‐ derholungen. Das bedeutet, dass ich am Ende die Hantel kaum noch auf das Gestell schieben kann. Dann geht es weiter, erneut mit jeweils drei Durchgängen. Am Ende bin ich tropfnass. »Seht ihr, wie hart ich arbeite?«
Jolly Roger wirkt beunruhigt. Man sieht fast die Sprechblase über seinem Kopf: Und das soll ich tun? »Ihr werdet sogar noch härter arbeiten. Und wisst ihr, war‐ um?« Sie starren mich ausdruckslos an, dann meldet sich Dia‐ mond Girl zu Wort: »Warum denn, Arnold?«, sagt sie mit ei‐ nem furchtbaren deutschen Akzent. Ich nehme an, sie meint Schwarzenegger. Ich würde lügen, wenn ich behauptete, mich nicht geschmeichelt zu fühlen, ob‐ wohl ich nicht seine Muskelberge habe, und auch nicht haben will. Ich habe schlanke, harte Muskeln und jeder von ihnen »hüpft«, wenn er trainiert wird. Ich habe außerdem Adern, die aussehen, als würden sie jeden Moment durch meine Haut dringen. »Die Antwort, Diamond Girl, lautet, dass ihr so hart trainie‐ ren werdet, weil euer Leben davon abhängt.« Ich bin mir beinahe sicher, dass sie noch einen dummen Spruch reißen wird, sie hat schon wieder dieses Grinsen im Gesicht. Ich beeile mich, ihre Worte vorauszuahnen, passe mich schon wieder an, diesmal überlege ich, sie wird vielleicht vorschlagen, ich soll eine Broschüre mit Übungen verfassen. Ich spiele sogar mit Titeln: Der Weg zum idealen Körper: Topfit oder tot mit Ashley Stassler. Oder: Schlankwerden oder Sterben — obwohl es, um genau zu sein, wohl heißen müsste: Schlank‐ werden und Sterben! Aber stattdessen fasst sie ihre Hände hoch über dem Kopf, streckt sich und schiebt die Hüften hin und her. »Cool. Wann fangen wir an?« Wir fangen gar nicht an. June fängt an. Mit vorgehaltener Waffe lasse ich sie alle zum Katzenklo zurückweichen. Dann hole ich June heraus und sperre den Käfig wieder ab.
»Zieh das an.« Ich werfe ihr ein graues Sweatshirt zu, und sie zieht es an, über dem rosa Tanga. Sie sieht sogar dankbar aus. Das sollte sie nicht. Ich will nur, dass sie es warm hat. Sie soll sich keinen Muskel zerren. »Jetzt setz dich hier drauf und trete.« »Jawohl, trete um dein Leben, Mutter!« Diamond Girl bildet nicht gerade einen Fanblock. Aber June tritt wirklich hart in die Pedale. Zu hart und zu schnell, und ich muss sie bremsen. Sie ist der klassische Fall von Übererfül‐ lung des geforderten Solls, das sehe ich jetzt bereits. Sie wird im Handumdrehen knackig sein. Nachdem sie in Schweiß ausbricht, befehle ich ihr vom Rad zu steigen und ihr Oberteil auszuziehen. Sie protestiert schon nicht mehr. Ich zeige auf die Bank. Als sie sich auf den Rück‐ en legt, breiten sich ihre Brüste flach aus wie ein Paar Spiege‐ leier. Sie ist schwach. Sie sieht nicht schwach aus, aber sie ist es. Sie schafft beim Bankdrücken das leichteste Gewicht kaum viermal. Dabei strengt sie sich an, sie simuliert nicht im Ge‐ ringsten. »Versuch die hier«, fahre ich sie an. Ich gebe ihr zwei Fünfpfundhanteln, stelle mich über sie und dirigiere die Hanteln senkrecht neben ihrem Körper nach oben. Sie schafft neun Wiederholungen. Das ist akzeptabel. Als sie mit dem Brusttraining fertig ist, glänzt sie bereits vor Schweiß. Beim Heben habe ich ein wenig Kontur in ihrem Tri‐ zeps, den vorderen Deltamuskeln und den Brustmuskeln ge‐ sehen. Sie hätte vor Jahren mit Gewichtheben anfangen sollen. Sie wäre inzwischen total knackig. Ich gebe ihr das Sweatshirt,
und sie sagt danke. Es ist das erste höfliche Wort, das sie für mich übrig hat. Bei Roger – und das kommt nicht überraschend – liegt die Sache anders. Er bemüht sich, aber er ist nicht viel stärker als seine Frau, und er besitzt nicht ihre Entschlossenheit. Ich muss die Waffe mitten in sein Gesicht richten, um ihn daran zu erinnern, dass ich es ernst meine. Dann sehe ich zwar ernsthaf‐ te Anstrengungen, aber bei Jolly Roger wird jede Menge Ar‐ beit nötig sein. Ich hatte gehofft, die Sache in den ersten Wo‐ chen durchzuziehen, in denen diese Praktikantin da ist. Ich könnte ihre Hilfe bei den Gussformen brauchen, aber bei die‐ sem Tempo wird es knapp. Ich scheue mich nicht, die über‐ schüssigen Pfunde mit einem Skalpell von ihm herunterzu‐ schnippeln. Fett schneidet sich so mühelos wie Konfetti; aber es macht eine ziemliche Sauerei und erschöpft ihr Potenzial an Entsetzen oft schon, bevor ich einen anständigen Abdruckbe‐ komme. Immerhin, es ist eine Möglichkeit, und wenn er nicht schnell spurt, werde ich ihn darauf hinweisen. Ich könnte na‐ türlich auch erst einmal nur June und die Kinder gießen, aber dann würde Roger begreifen, dass Muskeln gleich Tod bedeu‐ ten, eine Gleichung, die unweigerlich zu widerwilligem Trai‐ ningsverhalten führen würde. Deshalb ist es wichtig, sie alle ungefähr gleichzeitig so weit zu haben. Ich habe dazugelernt, glauben Sie mir. Sonnyboy fürchtet sich derart, dass ich ihn nicht aus dem Kä‐ fig bekomme. Er umklammert Junes Bein so fest, dass seine Knöchel weiß hervortreten, und er weint. Dieses Kind ist eine echte Heulsuse. Sekundenlang denke ich, seine Mutter wird ihn angewidert wegstoßen. Sie war schon des Öfteren nahe
dran, aber sie erduldet seinen Todesgriff mit geradezu from‐ mer Zurückhaltung, und ich komme zu dem Schluss, dass es mich nirgendwohin bringt, wenn ich ihn erschieße. Es wäre fatal für ihre Moral, und jetzt ist die Zeit der Teambildung. Ich erspare ihm das Training. Wenn er so bleibt, ist er in Ordnung. Ich dachte, die Bewegung würde ihm gut tun, aber wenn er lieber jammert und weint, kann er anfangen, wann er will. Haltung ist alles, mein Junge, aber wie ich sehe, hast du das noch nicht gelernt. Abgesehen davon juckt es mich, Diamond Girl auf ihre Ver‐ fassung zu prüfen. Sie springt aus dem Käfig, wirft sich das Sweatshirt über und springt sofort auf das Rad. Sie macht eine Show daraus, ihren Hintern auf den Rennsattel zu schmiegen, bis selbst ich zugeben muss, dass es angesichts ihres Publikums eine ziemlich unanständige Zurschaustellung ist. Andererseits finde ich ihre Frechheit anziehend. Woher hat sie dieses Be‐ nehmen? Bestimmt nicht von ihrer Mutter. Sosehr mich June ärgert, sie ist nicht niederträchtig. Mehr wie ein verbitterter Cheerleader, der gelernt hat, dass du noch so viel lächeln und die Brust rausstrecken kannst, das Leben lässt dich einfach kei‐ ne volle Punktzahl machen. Der junge Mann, den sie vor vielen Jahren geheiratet hat, hat sich als träge Null erwiesen, die kaum mehr als das Nötigste anschafft, und ihre Tochter ist ein Mensch, den sie wahrscheinlich seit seiner Geburt nicht ver‐ standen hat. Aus dem Bauch und aus ihrem Leben, so verlief Diamond Girls Entwicklung. Jeder Trottel hätte es von Beginn an sehen können, nur eine Mutter vielleicht nicht, die hübsche Pläne für ihr kleines Mädchen hat, mit Geburtstagspartys und Rüschenkleidchen, Cheerleadergruppe und vielleicht sogar Ballkönigin. Alles, nur nicht dieses liederliche Luder.
»Ich schwitze wie ein Schwein. Darf ich das ausziehen?« Diamond Girl schreckt mich aus meinen Gedanken auf. »Klar«, sage ich, ohne lange nachzudenken. In Nullkomma‐ nichts reißt sie sich das Sweatshirt und das T‐Shirt vom Leib, so dass sie jetzt nur noch diesen BH trägt, den man vorne ver‐ schließt. Ihre gesamte Brust bewegt sich, während sie strampelt. Nicht wie bei June, deren Brüste wippen. Die von Diamond Girl sind nicht lose genug, um zu wippen. Alles ist fest, alles bewegt sich zusammen. Sie muss mich schauen sehen. »Das auch?« Und schon löst sie den Verschluss und wirft ihren BH zur Seite. »Zieh ihn wieder an«, knurrt Jolly Roger. »Wieso, Daddy«, sagt sie mit gespielter Unschuld. »Sie ge‐ fallen dir doch. Du starrst sie bei jeder Gelegenheit an, seit ich zwölf bin.« June wirft Roger ihren Mörderblick zu, ihr Mann schüttelt den Kopf. »Du widerst mich an«, murmelt sie und wendet sich von ihm und Diamond Girl ab. Töchterchen nimmt die Hände von der Lenkstange und setzt sich gerade, sie strampelt weiter kräftig und stellt sich richtig zur Schau. Es ist nicht ohne Wirkung auf mich. Letzte Nacht habe ich wieder von ihr geträumt. Keine Baby Peaches diesmal, nichts so Unvollständiges. Ich habe sie an den Beinen von einem Klettergerüst hängen sehen, ihr Faltenrock war ihr übers Gesicht gefallen. Ich starrte auf ihre weiße Unterhose. Sie tat nichts, um sich zu bedecken, und ich erspähte ein ge‐ locktes schwarzes Haar, das aus dem Gummizug ragte, und
sah die Form ihrer Scham, selbst die leichte Vertiefung in der Mitte. Sie fährt sich mit der Hand über die Brust. »Mir ist jetzt heiß. Kann ich absteigen?« Ich nicke. Mein Ding ist so hart wie die Knochen hier im Keller. So hart, dass es offensichtlich sein muss. Das ist es auch. Sie starrt genau darauf. Sie zieht Trainingshose und Höschen aus und beugt sich über die Bank, an deren Ende die Langhantel auf dem Stativ ruht. »Nicht!«, schreit June, jedoch ohne die Grobheit, die ich früher gehört habe. Sie fleht. Aber Diamond Girl hört nicht. Sie kniet sich auf die Erde, die Beine gespreizt und schaut über die Schulter. Ich habe die‐ se Backen vor mir, die mich schon seit Wochen quälen. Ich trete rasch zu ihr. Dies ist nicht die Zeit, nachzudenken, nicht die Zeit für sorgfältige Erwägung. »Leg dich auf den Rücken.« Sie legt sich auf die Bank, öffnet die Beine und lächelt, in nervöser Erwartung, wenn ich es richtig deute. Als ich mich über sie beuge, ist sie gezwungen, mit beiden Händen zuzugreifen. Einen Moment lang denke ich, sie könnte mich anspucken, aber dann lässt sie die Hantel sinken und stemmt sie anschlie‐ ßend wieder nach oben. »Ich will fünfzehn Wiederholungen sehen.« »Leck mich«, flüstert sie. Die Kunst ist alles.
8 Lauren hatte das Gefühl, als wäre ihr der Arm ausgerissen worden. Schuld daran war die frühmorgendliche Begegnung von Bad Bad Leroy Brown mit einem weiblichen Golden Ret‐ riever im Angeles National Forest. Zugegeben, das Tier war läufig gewesen, und sein verrückter Besitzer hatte nicht den geringsten Grund, es öffentlich spazieren zu führen. Zugege‐ ben, ein Dobermann mit einer ausgeprägt teuflischen Mimik hatte bereits die Paarung attackiert, die Leroy so eifrig zu vol‐ lenden trachtete. Zugegeben, es gehört zur Natur jedes Lebe‐ wesens, dass es sich fortpflanzen will. Aber Himmel, der Arm tat ihr weh. Sie hatte es wirklich kaum geschafft, Leroy von dem Tier zu zerren. Beängstigende Sache auch mit dem gan‐ zen Knurren und Zähneblecken, und zwar vom Besitzer des Retrievers! Sie hängte die Leine an die Tür und befahl Leroy, zu sitzen. Er gehorchte, und sein schlaffer grauer Hodensack mit den zwei riesigen Eiern darin breitete sich über den Boden aus wie eine Armeedecke über ein paar übermütige Rekruten. »Wir werden uns etwas einfallen lassen müssen für dich«, sagte sie, während sie vier Tassen Trockenfutter in seinen Napf schöpfte, die er erst verschlang, nachdem sie einen Schritt zurückgetreten war und ein knappes »Okay« gegeben hatte. Wenigstens hatte er Manieren, was sie von Ashley Stassler nicht behaupten konnte. Was war nur los mit dem Mann?
Sie öffnete ihren Laptop auf dem winzigen Tisch in der win‐ zigen Küche ihres winzigen Appartements, um ihre E‐Mails nachzusehen. Sie hatte die Sekretärin bereits ihre Post oben in Portland durchgehen lassen, aber es war keine Antwort von Stassler dabei gewesen. Sie hatte ihm keineswegs zugesetzt, aber sie hatte ihm inzwischen doch drei E‐Mails wegen Kerrys Praktikum geschickt, seit er sie angenommen hatte. Die erste war ein schlichtes Dankesschreiben gewesen. Die zweite hatte den Vertrag enthalten, den sie und Kerry entwor‐ fen hatten, und der die Ziele des Mädchens für die zwei Mona‐ te umriss, die es bei ihm verbringen würde. Und die dritte? Nun, das war die gewesen, die sie vor zwei Tagen abgeschickt hatte. Lauren nannte es für sich ihre Glucken‐E‐Mail, und sie hatte darin versucht, einen familiären und beschützenden Ton anzuschlagen, von dem sie hoffte, er würde ihn im Umgang mit ihrer besten Studentin übernehmen. Zumindest hatte sie eine rein formale, nichts sagende Ant‐ wort erwartet. Aber … sie klickte das E‐Mail‐Zeichen an … auch heute wieder nichts. Überhaupt keine E‐Mails, was in einer – und nur in dieser einen – Beziehung gut war, weil es bedeutete, dass Chad sein tägliches Flehen um Versöhnung offenbar aufgegeben hatte. Doch leider, keine E‐Mail hieß auch keine von Ry, der bei sich zu Hause oben in Oregon war und vermutlich gerade für Moab packte. Gestern Abend hatte sie ihm ein großes DANKE für den Strauß Frühlingsblumen gemailt, den er ihr zusammen mit einer Karte geschickt hatte, auf der stand: »Du fehlst mir.« Nie hatten sich diese drei Worte so gut angehört, und sie konnte sich nur drei andere denken, die noch besser geklun‐ gen hätten.
Ihre E‐Mails hatten in den letzten Tagen einen wärmeren Ton angenommen, da Ry anfing, seine Gefühle für sie zu of‐ fenbaren, aber die Zinnien, Narzissen und Tulpen waren den‐ noch eine höchst erfreuliche Überraschung gewesen. Die rosa, gelben und weißen Farbtupfer lenkten ihren Blick zu einem Couchtisch in dem bescheidenen Wohnzimmer. Sie hatte gestern Abend angerufen und eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen, aber sie wünschte sich wirklich, seine Stimme zu hören. Oder ein Schreiben von ihm auf dem Bildschirm auftauchen zu sehen. Er würde sich mel‐ den, daran zweifelte sie nicht. Ashley Stassler dagegen fand es offenbar unter seiner Würde, sich mit so banalen Dingen wie der Beantwortung von Post abzugeben. Dennoch beschloss sie, ihn kurz davon zu unterrichten, dass Kerry im Laufe des Tages bei ihm eintreffen würde. Sie wusste es, weil sich Kerry als wunderbare Berichterstatterin erwies und sie während der ganzen Reise auf dem Laufenden gehalten hatte, einschließlich ihrer Abstecher zu Mountainbi‐ ketouren, von denen es nach Sun Valley noch drei gegeben hatte. Lauren wollte ihr einen Artikel über Stassler senden, der gerade in dem Online‐Magazin Sculpture Review erschienen war. Wenn alles nach Plan verlief, würde Kerry ihn erhalten, sobald sie in Moab ans Netz ging. Der Buckel im Highway ließ Kerrys Zähne aufeinander schla‐ gen und riss sie aus ihren Mountainbiketräumereien. Sie bremste scharf für den Mann mit der Flagge und den Bau‐ trupp, zeigte ihr gewinnendstes Lächeln und eine stumm mit den Lippen geformte Entschuldigung. Dann winkte sie und
brauste weiter, rasant nahm sie die Kurven in ihrem alten, vierradgetriebenen Pick‐up und stellte sich erneut vor, sie wä‐ re in diesem fantastischen roten Felsgebiet mit ihrem Rad un‐ terwegs. Was für eine eindrucksvolle Kombination: Moab, Mountainbiken und Bronze gießen. Besser konnte es nicht kommen. Auf dem Wegweiser stand zwanzig Kilometer bis Moab. Schon hatte sie massenhaft Werbetafeln für Motels, Restau‐ rants und Schlauchbootexpeditionen gesehen. Es gab jede Menge Wildwasser hier, allerdings würde sie wahrscheinlich nicht viel Zeit dafür haben, über Stromschnellen zu fahren. Auch viele Möglichkeiten zum Klettern gab es, und das würde sie eventuell irgendwie in ihrem Zeitplan unterbringen müs‐ sen. Sie liebte Klettern und hatte ihre Schuhe, ihr Geschirr und den Kreidesack mitgebracht. Irgendwie würde sie die Zeit da‐ für schon finden. Aber du bist hier, ermahnte sie sich, um die Sache mit dem Guss in den Griff zu kriegen, und das wird eine Menge Zeit in der Gießerei bedeuten, Zeit im Atelier, Zeit mit Ashley Stassler! Sie konnte es noch immer kaum glauben. Er hatte sie als Praktikantin genommen! Kerry Waters, Kunststu‐ dentin im dritten Jahr. Ein Möchtegern. Aber anscheinend ge‐ fiel ihm ihre Arbeit. Sie hatte ihm Kopien ihrer Mappe ge‐ schickt und die Arbeiten, die sie über seine Serie Family Plan‐ ning geschrieben hatte, die erstaunlichste Bildhauerei, die sie je gesehen hatte. Er fing die menschliche Gestalt ein, wie es nie‐ mand mehr gekonnt hatte seit … seit da Vinci. Seit … Rodin. Sie musste herausfinden, wie er das machte. Und dann kam es ihr schlagartig zu Bewusstsein: Allein dadurch, dass sie mit ihm arbeitete, würde sie in die Kunstgeschichte eingehen.
Moab erschien auf den ersten Blick wie eine lange Reihe von Motels und kleinen Supermärkten. Kerry runzelte die Stirn. So hatte sie es sich nicht vorgestellt, jedenfalls nicht nur. Eine alte Bergwerksstadt sollte wie eine alte Bergwerksstadt aussehen, nicht wie das Zentrum der amerikanischen Firmenkettenkul‐ tur. Aber dann bog sie zu ihrer großen Erleichterung in Moabs Innenstadt ab, eine breite, von Bäumen gesäumte Straße mit einer hübschen Mischung aus Alt und Neu, Spiegelglas und weißen Schindeln, roten Ziegeln und grünen Dekoration. Sie suchte die Ladenfront nach einer Espressobude ab und ent‐ deckte rasch ein Screaming Beanies. Als sie davor hielt, lächelte sie beim Anblick der vielen Rä‐ der, die auf dem Gehsteig abgestellt waren: Mountainbikes, Citybikes, Tourenräder mit mächtigen Satteltaschen, Rennrä‐ der mit speichenlosen Felgen, wuchtige Gefährte mit Kinder‐ anhängern, Räder mit Kindersitzen. Ja! Das war es. Ein Rad‐ lerhimmel. Gierig nach Koffein stürmte sie in den Laden; wenn sie kei‐ ne Minute verlor, konnte sie vielleicht noch eine kleine Tour auf dem Slick Rock Trail einschieben, von dem sie seit Jahren las, und trotzdem bis achtzehn Uhr bei Stassler draußen sein. Fünf Minuten später saß Kerry wieder in ihrem Pick‐up und fuhr aus der Stadt hinaus, mit einem doppelten America‐ no im Magen und einer Wegbeschreibung von dem Mädchen, das ihn serviert hatte. Sie überholte mehrere Gruppen von Mountainbikern, die zum Start des Trails fuhren, und plötzlich fühlte sie sich zu sehr als Touristin mit ihrem Rad hinten auf dem Wagen. Nie wieder, gelobte sie. Wenn sie nicht so unter Zeitdruck gewe‐ sen wäre, hätte sie sofort kehrtgemacht, sich aufs Rad gesetzt
und sich dem Haufen angeschlossen, der die Tour mit reiner Muskelkraft bewältigte. Parkplätze waren knapp – massenhaft Touristen —, aber sie quetschte den schmalen Pick‐up zwischen zwei fette SUVs aus Kalifornien und blickte sich um. Niemand in der Nähe. Sie knöpfte ihre Levisʹ auf und schaute noch einmal. Nichts. Also los! In der engen Lücke zwischen den beiden Fahrzeugen streifte sie zunächst ihre Jeans und die Unterhose ab und zwängte sich in die Radlerhose. Dann noch ein rascher Blick, und das Baumwolltop wurde durch ein grelles Fahrradtrikot ersetzt, das ihr Sponsor, ein Laden in Portland, zur Verfügung gestellt hatte. Er gab ihr Fahrradkleidung und ‐zubehör, Rei‐ fen und Schläuche als Gegenleistung für ihre Quälerei, für Blut, Schweiß und Tränen. Als Nächstes die Bikeschuhe, dann das Hydrationssystem, im Wesentlichen ein eng anliegender Rucksack, der sich um einen Plastikbeutel mit einem Trinkschlauch daran schmiegte, den sie sich in den Mund stecken konnte, wenn sie Wasser brauchte. Sonnenbrille und Helm. Ein neuer Helm. Sie hatte vor ein paar Wochen am Mount Hood einen »Kopfsprung« gemacht, dessen Hauptopfer der alte Helm geworden war. Die Styro‐ porschale war aufgesprungen, aber sie hatte den Aufprall ab‐ gefangen und ihren Schädel gerettet. Der Laden hatte ihr die‐ sen hier gegeben und den alten Deckel unter ein Foto von ihr gehängt, das sie auf dem Siegerpodest der Mountainbikemei‐ sterschaft von Oregon im letzten Jahr zeigte. Der neue Helm sah schnittig wie ein Porsche aus. Es würde ihr nicht einfallen, ohne Helm zu fahren. Sie langte nach oben zur Halterung und entriegelte ihr
Fahrrad, das sie dann hoch über den Kopf hielt, während sie sich zum Heck des Pick‐ups schlängelte. Dabei gab sie gut Acht, dass sie den vierzigtausend Dollar teuren Expedition hin‐ ter ihr nicht zerkratzte. Handschuhe. Die hätte sie beinahe vergessen. Sie lehnte ihr Canondale‐Rad an die hintere Stoßstange, eilte wieder nach vorn zur Fahrerkabine und angelte die Handschuhe aus der Ablage. Zeit, abzusperren. Sie schlug die Tür zu und drehte sich um, und genau in diesem Moment sah sie den Typ im Expedition, der sie durch getönte Scheiben ansah und lässig einen Energieriegel mampfte. Er zeigte ihr den erhobenen Daumen, und sie wurde rot, spürte ein Brennen im Gesicht, als ihr klar wurde, dass er sie beim Umziehen beobachtet haben musste. Sie hasste getönte Scheiben. Aber er grinste nicht höhnisch, und er sah auch nicht schmierig aus, eigentlich sogar ganz niedlich, deshalb holte sie tief Luft, brachte dann ein nervöses Lächeln zustande und fuhr los. Die Tour unterschied sich wesentlich von den Strecken oben in Oregon. Dort fuhr man fast die ganze Zeit unter Bäumen, jede Menge Schatten, außer in den gerodeten Schneisen. Aber das hier war erstaunlich. Sie spürte, wie ihre Haut in der Sonne zum Leben erwachte, wie eine Ente, die sich nach einem Win‐ ter im Sumpf zum Flug aufschwingt. Sie sang vor sich hin, während sie flink einen kurvenreichen Abschnitt mit glattem Fels hinaufsteuerte. Mühelos überholte sie eine Gruppe Jungs, schnupfte sie einfach, und das noch weit entfernt vom kleinsten Gang. Ihre Beine sangen praktisch ebenfalls. High von Endorphin überquerte sie die Felskuppe
und sah die Serpentine, die sie auf der anderen Seite abwärts zurücklegen musste, so steil, dass sie das linke Pedal in die Zwölf‐Uhr‐Stellung würde bringen müssen, damit es nicht an den Fels stieß und sie nach rechts hinüberwarf, denn das wür‐ de das Undenkbare bedeuten. So steil sah es aus. Aber ihre Reifen hafteten am Fels wie ein Klettverschluss, und sie fuhr in einem Winkel nach unten, der selbst auf dem klebrigsten Erdboden unmöglich wäre. Ein Riesenspaß, solan‐ ge man den Mumm hatte, die Steilstücke mit Schwung zu‐ rückzulegen. Kerry hatte ihn. Sie hatte die Kraft. Sie beendete den Kurs in weniger als zwei Stunden, dreißig Kilometer Fels, Sand und glatte, tückische Abfahrten. Während sie zu ihrem Pick‐up zurückstrampelte, leerte sie ihr Hydrationssystem bis auf den letzten Tropfen. Sie hatte aber das Gefühl, noch immer rund einen Liter zu brauchen, deshalb holte sie als erstes eine Wasserflasche aus der Fahrer‐ kabine und trank sie halb aus, ehe sie das Summen eines elekt‐ rischen Fensterhebers aufschreckte. Der Typ im Expedition. »Und, warʹs gut?« Er sah aus, als würde er eben aufwachen. Kerry wünschte, er hätte vorhin geschlafen. »Ja, echt gut«, sagte sie und setzte sich. »Warst du drau‐ ßen?« »Ich hab die Strecke heute zweimal gemacht. Ich kann mich kaum noch rühren.« Er stellte sich als Jared vor, und er war wirklich niedlich. Helles Haar, nicht blond oder rot, sondern fast wie die Farbe der Felsen auf dem Trail, und kräftig wirkende Schultern. Sie stand darauf, wenn bei Jungs das obere Ende der Deltamus‐ keln hart und rund wie ein Baseball aussah.
»Dann musst du ja halb tot sein«, sagte sie und sah ihn sich noch etwas genauer an. Sie war froh, dass sie ihre Sonnenbrille aufhatte, allerdings traute sie den dunklen Gläsern nicht so sehr, dass sie ihre Augen allzu ausgiebig schweifen ließ. Aber die Bildhauerin in ihr wollte dennoch seine Muskulatur be‐ trachten, die hübschen, sauberen Innenränder seiner Brust‐ muskeln, bevor sie in dem ärmellosen Shirt verschwanden. Oben hart und weiter unten auch, wie sie und ihre Freundin‐ nen bei den Riot Grrls immer sagten. Oder sie wandelten eine alte Redewendung ab: A hard man is good to find. Mindestens eine von ihnen musste das einfach sagen, meist ironisch ge‐ meint, wenn sie an irgendeinem Gruseltypen auf einem Fünf‐ tausend‐Dollar‐Gerät vorbeisausten. Aber der Typ hier sah nicht gruslig aus sondern cool. »Ja«, gab er zu, »mir tut alles weh, aber morgen bin ich ga‐ rantiert wieder draußen.« Er hielt inne, um sie von oben bis unten zu mustern. Sie konnte seine Augen sehen. »Und du?« »Ich glaube nicht«, sagte sie widerwillig. »Ich muss arbei‐ ten.« »Du bist von hier?« Er setzte sich ein wenig auf. »Du arbei‐ test in der Gegend?« »Ich fange gerade erst an. Bei einem Bildhauer. Ashley Stassler. Mal von ihm gehört?« Sie hoffte, das war der Fall, sie hoffte es sehr. »Ashley Stassler«, sagte er gedehnt, als könnte der Name an irgendeinem Widerhaken in seinem Gedächtnis hängen blei‐ ben. Er rieb sich das Kinn und schüttelte schließlich den Kopf. »Nö, ich glaube nicht.« »Er gehört so zu den drei, vier bekanntesten Bildhauern der Welt. Ich werde in den nächsten zwei Monaten als seine Assi‐
stentin arbeiten.« Sie nannte sich lieber »Assistentin« als Prak‐ tikantin. »Klingt ziemlich gut.« »Wie sieht es mit dir aus? Lebst du hier?« Sie hatte das kali‐ fornische Nummernschild bemerkt, als sie einparkte, aber viel‐ leicht war er ja umgezogen. Wieder schüttelte er den Kopf. »Urlaub. Eine Woche raus aus der Mühle. Ich fahre am Sonntag zurück.« Noch zwei Tage. Schon spekulierte sie, ob sie sich würde frei machen können, um etwas Zeit mit ihm zu verbringen. »Wollen wir irgendwo auf einen Burrito gehen? Oder auf ein Bier?« Nun war es an ihr, den Kopf zu schütteln. »Tut mir Leid. Ich muss sehen, dass ich zu dem Typ rauskomme, bevor es dunkel wird. Er wohnt irgendwo weit draußen in der Pampa.« »Kann ich dich irgendwie erreichen?« »Ja, das wär cool. Ich gebe dir meine Handynummer. Gib mir deine ebenfalls.« Er beeilte sich, etwas zum Schreiben zu finden, und sagte, er würde bestimmt anrufen. Als Kerry losfuhr, spürte sie ein vertrautes Kribbeln, das Endorphinhoch nach der Tour, zusammen mit einer Art per‐ lender Erregung. Irgendwie schien ihr die Radlerhose plötz‐ lich zu eng zu sitzen. Stasslers Wegbeschreibung war bescheuert, und sie brauchte eine Stunde, um das Viehgatter zu finden, von dem er behauptet hatte, es befände sich »ein Stück rechts von der Straße.« Rechts? Wie wärʹs das nächste Mal mit links. Und dazu vielleicht der Hinweis, dass es dann noch mal fast fünf Kilometer sind!
Sie suchte eine Weile um den Torpfosten herum, bis sie den Schlüssel fand, den er für sie hinterlegt hatte. Die Sonne war so gut wie verschwunden, und sie hatte schon eine halbe Stunde zuvor die Scheinwerfer anschalten müssen. Nachdem sie durch das Gatter gefahren war, sperrte sie hinter sich wieder ab. Darauf hatte er sehr viel Wert gelegt. Zehn Minuten später sah sie Stasslers Anwesen, die Scheune mit dem Gästehaus und das alte Haus, das er nicht benutzte, wie er schrieb. Wie konnte er nur? Es war wunderschön und riesig, mit einer altmodischen Veranda, die sich quer über die Vorderseite erstreckte und sich um die Ecken fortsetzte. Zwei Stockwerke. Echte Zedernbretter und ‐leisten. Und die Scheu‐ ne war beinahe genauso groß, in hellstem Gelb gestrichen, mit weißen Zierrändern bis hinauf zu einer entzückenden Kuppel. Die Gießerei aus Ziegel, einstöckig und das am wenigsten ein‐ drucksvolle der drei Gebäude, lag hinter der Scheune. Niemand begrüßte sie. Gott sei Dank. Vielleicht konnte sie ins Haus schlüpfen und sich erst einmal waschen, bevor sie ihn traf. Sie wünschte, sie hätte eine Gelegenheit gefunden, sich zu duschen und umzuziehen, bevor sie hier herauskam. Sie fühlte sich auffallend schmutzig. Ihre Arme waren gestreift vom Schweiß und Dreck der Radtour, und ihre Haare völlig verfilzt. Sie befürchtete, dass sie auch stank. Sie hörte etwas, oder jemand, in der Scheune. Die große Doppeltür stand offen, um die frühabendliche Luft einzulas‐ sen. Sie machte ein paar Schritte auf den Eingang zu, als Stass‐ ler persönlich herauskam. Dennoch erschreckte er sie mit sei‐ nem plötzlichen Auftauchen. »Sie müssen Kerry Waters sein«, fuhr er sie an. »Das würde ich Ihnen jedenfalls raten«, fügte er in derart scharfem Ton
hinzu, dass Kerry es selbst dann behauptet hätte, wenn sie es nicht gewesen wäre. »Ja‐ja«, stammelte sie und erholte sich nur langsam von ih‐ rer Überraschung. »Ich bin Ashley Stassler.« Er betonte seinen Nachnamen, als müsste er das tun, und stieß die Hand in ihre Richtung vor. Kerry brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass er sie zur Begrüßung ausstreckte. Sie schüttelte sie, bemerkte den trok‐ kenen Griff und die Schwielen; ihre eigene Hand fühlte sich wahrscheinlich ebenso rau an. Er hat ein Lächeln, scharf wie ein Meißel, dachte Kerry, oder wie etwas, das ein Meißel aus einem Stein hauen würde, einem harten Stein wie Granit, nicht wie Sandstein oder Speckstein. Schlank war er, und nicht viel größer als sie selbst, womit ihm drei, vier Zentimeter auf einsachtzig fehl‐ ten. Er sah gut aus, nicht zu leugnen, das Gesicht war ihr ver‐ traut von dem Dokumentarfilm im Fernsehen und von all den Fotos von ihm in den Artikeln über die Serie Family Planning. Sie hatte sie alle gelesen und die Fotos eingehend betrachtet: Stassler ernst, Stassler der lachte, Stassler, der um Perfektion in seiner Gießerei rang. Sie hatte geglaubt, sein Gesicht in allen Variationen zu kennen, aber dieses hatte sie nie gesehen, die hundeartige Neugier in den Augen, die Art, wie er sie von Kopf bis Fuß musterte. Nicht wie der Junge im Expedition. Ganz anders. Als würde Stassler ein Inventurver‐ zeichnis von ihr anlegen, ihr Fleisch studieren, ihr Grübchen mit dem Blick befingern. Schon viele Männer hatten sie ge‐ mustert, und sie hatte es nie gemocht. Sie mochte es auch diesmal nicht. »Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.« Er setzte sich zum Haus hin
in Bewegung und gestikulierte abrupt mit seinen rauen Hän‐ den in Richtung des Gebäudes. »Das gehört alles Ihnen. Für die nächsten zwei Monate.« Das Haus war auch innen grandios. Kerry war im Nordostteil von Portland aufgewachsen. In einem Bungalow aus den Zwanzigern. Heruntergekommen, von Trockenfäule befallen wie viele andere Bungalows in der Gegend. Ihr Viertel war nicht von Luxussanierungen erfasst worden, die Dotcomer hatten es nicht schick genug gefunden, es fehlten all die Drive‐ ins, die Banden und Reporterteams, immer auf der Suche nach noch mehr Blut. Sie war mit Jungs aus reichen Familien ausgegangen, hatte deren Zuhause gesehen, die Häuser ihrer Eltern, aber keines war wie das von Stassler gewesen. Im Foyer gab es eine Decke aus gehämmertem Kupfer und eine Wandverkleidung aus Ahorn. Die Eingangsdiele öffnete sich zu einem riesigen Wohnzimmer, mit dicken Teppichen, gemauertem Kamin und einer Balkendecke, die sich in einer Höhe von mindestens acht Metern erhob. Es war ein herbes, männliches Haus, mit einem Essbereich und einer Küche, größer als die Wohnung, die Ker‐ ry nahe der Universität gemietet hatte. Er hatte sich die Mühe gemacht, den Kühlschrank aufzufül‐ len, einer dieser gewaltigen Edelstahlkästen, der eine ganze Wand einnahm. Er zeigte ihr außerdem die gut bestückte Vor‐ ratskammer, bevor er sie nach oben zum Schlafzimmer an der Rückseite des Hauses führte. Dann das Badezimmer, mit einer langen Bärentatzenwanne auf schwarzweißen Fliesen. »Das ist wirklich hübsch«, sagte Kerry und versuchte, nicht allzu beeindruckt zu klingen, als wäre sie dergleichen durch‐
aus gewöhnt. Es führte aber nur dazu, dass sie überwältigt und unterprivilegiert klang. »Ja, nicht wahr?«, sagte Stassler. »Vielleicht sollte ich hier wohnen und Ihnen das Gästehaus geben.« »Natürlich. Das wäre …« Er brachte sie mit einer Geste zum Schweigen. »Ich mache nur Spaß. Ich wohne gern so nahe bei meinen Objekten. Ich kann jederzeit hinunter … hinaus zur Gießerei gehen, es sind nur ein paar Schritte. Und das hier wäre mir zu viel. Ich bin ein einfacher Mensch.« Sie nickte, auch wenn ein »einfacher Mensch« das Letzte war, was Ashley Stassler je sein würde. Das spürte sie bereits nach nicht einmal fünfzehn Minuten in seiner Gegenwart. Sie ging wieder nach unten zur Haustür. Sie konnte sich nicht vorstellen, ein solches Haus zu haben und es nicht zu benutzen, aber die Scheune mit der Gästeunterkunft lag näher zur Gießerei. Sie schaute von der Ecke der Veranda zu dem roten Ziegelgebäude. Er folgte ihrem Blick. »Das ist mein Lieblingsplatz. Es sieht nicht nach viel aus, aber dort werden wir arbeiten.« »Ich kann es kaum erwarten.« »Morgen fangen wir an, die Formen für den Guss fertig zu machen.« »Wirklich?«, sagte Kerry aufgeregt. »Ein neuer Teil der Se‐ rie?« »Nein, ich muss eine der Figuren von #8 reparieren. Sie ist beim Transport beschädigt worden. Aber irgendwann werden wir auch #9 gießen. Es ist interessant, wie sich dieses Werk entwickelt. Nicht ganz so, wie ich es im Sinn hatte, als ich an‐ fing.«
Sie fragte, was er meinte. »Nun, dass ich mir ein Ehepaar und zwei Kinder vorgestellt hatte, und jetzt ist es nur ein Kind.« »Könnten Sie nicht, wie soll ich sagen, hergehen und das zweite Kind anfügen?« Übersah sie da etwas? Er schüttelte den Kopf, als wäre ihr Vorschlag das schlimm‐ ste aller Vergehen. »Nein, Sie werden lernen, wie Sie das Ma‐ terial zu sich sprechen lassen. Als das Werk voranschritt, fühl‐ te ich nur noch einen Jungen und seine Eltern. Kein Mädchen.« »Klar … natürlich.« Sie kam sich ja so dumm vor. Davon hatte Lauren auch schon geredet, dass man das Material zu sich sprechen lassen müsse, den Gegenstand ebenfalls. Keine vorgefasste Vorstellung, was herauszukommen hatte. So arbei‐ tete ein echter Künstler. »Aber ich mag #9 sehr. Ich habe das Gefühl, die Figuren in dem Werk wirklich gut kennen zu lernen. Ich beginne ihre Körper klarer zu sehen, die Knochen und Muskeln, die Ge‐ sichtszüge. Es braucht seine Zeit, aber allmählich kommen sie zum Vorschein. In ein paar Wochen sind sie vielleicht schon fertig für die Gussformen.« »Darf ich sie sehen?« Er schüttelte den Kopf, ohne sie anzublicken. »Das geht nicht. Es zerstört meinen Fokus, wenn ich jemanden sehen las‐ se, wie ich sie kreiere. Es kostet mich viel Zeit, sie lebendig werden zu lassen, und ich kann keinen Bruch in meiner Kon‐ zentration riskieren.« Kerry nickte und machte sich sogleich Gedanken über ihren Zugang zur Gießerei. »Aber wie kann ich dann da drüben ar‐ beiten«, sie blickte wieder zu dem Ziegelgebäude hinüber, »wenn ich sie nicht sehen darf?«
»Sie sind nicht da drüben. Sie sind in meinem Gästequar‐ tier.« Er zeigte zum zweiten Stock der Scheune. »Dort erschaf‐ fe ich sie, und dort ist der Zutritt absolut verboten. Klar?« »Klar«, stimmte Kerry sofort zu. »Seien Sie unbesorgt, ich kann gut verstehen, warum Sie ungestört sein wollen. Ich werde mich ganz nach Ihnen richten. Ich habe mich wirklich auf meine Zeit hier gefreut. Vielen Dank.« Dann ließ er sie allein, und sie holte ein paar Eier aus dem Kühlschrank und machte sich Rührei. Der Gasherd war der größte, den sie je in einem Privathaushalt gesehen hatte, er ähnelte mehr dem Gastronomieherd in dem Restaurant, in dem sie gelernt hatte, für Trinkgelder zu lächeln. Sie schlang ihr Essen hinunter und machte die Küche schnell sauber, be‐ vor sie direkt ins Badezimmer ging. Die Hähne waren klebrig, und fast zwei Minuten lang floss nur rostbraunes Wasser aus ihnen, bis sie den Stöpsel einsetzte. Noch ehe die Wanne voll war, streckte sie sich wohlig in voller Länge darin aus. Bald stieg das Wasser über ihren ge‐ samten Körper und sie wurde dösig von der behaglichen Warmwasserdecke. Eine halbe Stunde später musste sie sich zwingen, wieder he‐ rauszusteigen. Sich abzutrocknen erschien ihr wie eine Marter, nur erträglich durch die Aussicht, in das Himmelbett zu sinken. Sie starrte an die Decke und dachte an den Nachthimmel über einem Lager, das sie einmal hoch oben in den Cascades aufgeschlagen hatte. Sie war auf einem weichen Kissen aus Kiefernnadeln in mehr als dreitausend Metern Höhe gelegen und hatte die ganze Nacht von van Goghs funkelnden Sternen geträumt. Nun, mit Beinen schwer wie Stahlrädern, fiel sie tief in einen traumlosen Schlaf.
Am nächsten Morgen erwachte sie vom Knarren einer Tür. Sie schoss in die Höhe, ihre Augen suchten die ungewohnte Um‐ gebung ab, aber nichts bewegte sich im Zimmer. Die Türen zum Flur und zum Bad waren geschlossen, genau wie am Abend zuvor. Ein metallisches Klirren veranlasste sie, den Vorhang über dem Bett zurückzuziehen. Ashley Stassler stand an der Scheu‐ nentür und hängte ein Vorhängeschloss ein. Mit zorniger Mie‐ ne schob er den U‐förmigen Bügel mit dem Handballen zu. Er schaute sich um, und sein Blick fiel auf die Hausfront, doch nicht mit dem gebieterischen Ausdruck, den Kerry am Abend zuvor wahrgenommen hatte. Stattdessen entdeckte sie nun Besorgnis, und das ließ sie darüber nachdenken, warum er die Scheune absperrte. Als sie gestern Abend ankam, war sie offen gewesen. Er war gerade aus ihr gekommen, als er gesagt hatte, er würde ihr raten, Kerry Waters zu sein. Sie hatte beabsich‐ tigt, ihn zu fragen, ob sie ihr Bike darin aufbewahren dürfe. Aber nun machte sie sein argwöhnisches Gehabe unsicher, deshalb ließ sie instinktiv den Vorhang fallen, als er sich in ihre Richtung umdrehte. Sie kam sich idiotisch vor, bestimmt hatte er sie gesehen. Seltsamerweise fühlte sie sich gleichzeitig gewarnt. Sie schlang rasch etwas zum Frühstück hinunter, bürstete ihr Haar und entschied sich für ein Minimum an Make‐up: Lippenstift, Wimperntusche. Das war alles, und das nur aus Rücksicht auf einen neuen Auftritt. Sie würde auch auf das Wenige so bald wie möglich verzichten. Sie fragte sich, wie lange sie heute arbeiten würden, und ob sie diesen Jared anru‐ fen und für später eine Tour mit ihm planen sollte. Er hatte gesagt, er würde Sonntag abreisen. Das war morgen. Und
wenn schon, dachte sie. Ein süßer Typ mehr. Moab war ver‐ mutlich voll von ihnen, wie all die anderen Sportorte, von de‐ nen sie gehört hatte. Sie hatte einen Artikel in einer Zeitschrift darüber gelesen – Shape? Cosmopolitan? Mademoiselle? – wo man am besten coole Typen traf, und Sportstädte waren ganz oben auf der Liste gestanden. Jared war also wohl kaum der einzige knackige Hintern am Ort, aber etwas an ihm machte ihr weiche Knie. Als sie auf die Veranda hinaustrat, rief Stassler vom Ein‐ gang zur Gießerei herüber. »Hey, Schlafmütze, auf gehtʹs.« »Ich komme.« Sie lächelte und hüpfte die Stufen hinab. Die unguten Gefühle, die sie beim Aufwachen gehabt hatte, lösten sich auf wie Morgennebel. Stassler hatte bereits mehrere der Gussmodelle für Family Planning #8 ausgebreitet, die Reparaturarbeit, von der er ge‐ stern Abend gesprochen hatte. »Es stimmt wirklich: Shit happens«, brummte er, und sie lachte. Der Ausdruck klang so merkwürdig aus Ashley Stass‐ lers Mund. In gewisser Weise wirkte er etepetete, unglaublich pedantisch. Sie fragte sich, ob er schwul war. Sie spürte jeden‐ falls nichts von den sexuellen Schwingungen, die die meisten Männer aussandten. Natürlich war er mehr als doppelt so alt wie sie. Von ein paar bemerkenswerten Rockstars abgesehen, verringerte ein solcher Altersunterschied im Allgemeinen ihr Interesse an einem Mann, wenngleich sie einige Vierzigjährige durchaus anziehend gefunden hatte. Aber es war mit keinem zu mehr als Küssen gekommen, und auch das eher aus Neu‐ gier als aus Verlangen.
Heute Vormittag, erklärte er, würden sie die Gussmodelle vorbereiten. Das bedeutete, Wachs zu erhitzen, eine dünne Schicht davon in jeder Gussform zu verteilen und sie dann abkühlen zu lassen. »Das ist die einzige Weise, in der ich Wachs benutze«, sagte er. »Ich forme mit Ton und stelle mit Hilfe von Alginat eine exakte Kopie der Tonskulptur her. Und diese Originalkopie verwende ich dann, um die Gussform herzustellen. Auf diese Weise muss ich mit der Skulptur selbst kein Risiko eingehen. Aber das Alginat«, er sah ihr in die Augen, »ist der Schlüssel. Nur so erhält man einen perfekten Abdruck.« Er schaute zu einer Wanne Alginat auf einer nahen Werkbank. »Das macht die Besonderheit meiner Arbeit aus.« Alginat war Kerry ein Begriff, es handelte sich um das grü‐ ne Zeug, das Zahnärzte verwenden, um einen Abdruck des Gebisses herzustellen. Die klebrige Masse, bei der es einen immer würgte. »Was mir an Alginat gefällt«, erklärte Stassler, »ist, dass es wirklich jede Einzelheit eines … meiner Skulptur einfängt. Wenn ich fertig bin, soll man die Poren in der Haut sehen, man soll sehen, wie sich ein Muskel oder eine Sehne abhebt. Für diese Art Arbeit gibt es nichts Besseres.« Kerry war begeistert. So hatte sie es sich erträumt. An der Seite des Meisters zu arbeiten, während er von Materialien sprach, von seiner Technik, seiner Vision. Aber kaum hatten sie sich an die Arbeit gemacht, sagte er so gut wie nichts mehr, und wenn sie ihn mit Fragen anzustoßen versuchte, gab er nur denkbar knappe Antworten. Nach einer Stunde wurde die Arbeit bereits so zur Routine, dass Kerrys Gedanken abzuschweifen begannen, und sie kehr‐
ten immer wieder zu Jared zurück, was sie ärgerte. Da war sie nun bei Ashley Stassler und dachte an einen anderen Kerl. Werd erwachsen, Mädchen! Aber als er um ein Uhr sagte, für heute seien sie fertig, ent‐ fuhr ihr ein »Ehrlich?«, das sehr viel erfreuter klang, als es klingen sollte. »Das warʹs. Morgen haben wir frei. Ich arbeite sonntags nie. Das ist nichts Religiöses, ich halte es eben so.« Sie nickte. »Gehen Sie, und amüsieren Sie sich. Ich habe noch dies und jenes zu erledigen.« »Wollen Sie etwas von meinen Arbeiten sehen?« Er hatte nicht nach ihren Plänen gefragt, und sie hatte sich nicht recht getraut, davon anzufangen. Aber Lauren hatte ihr eingetrich‐ tert, von Beginn an deutlich zu machen, dass es sich bei der ganzen Sache um ein Geben und Nehmen handelte: ihre Ar‐ beitskraft, seinen Sachverstand. »Nicht heute«, sagte er und scheuchte sie mit einer Hand‐ bewegung fort. Wären ihre Gedanken nicht bereits zu Jared vorausgeeilt gewesen, sie hätte sich wie ein Stück Scheiße ge‐ fühlt. Sie rief ihn an, sobald sie das Haus betrat. Er meldete sich nach dem ersten Läuten, und sie machten Pläne für eine leich‐ te Tour, eine Kennenlern‐Tour, wie Kerry es sah. Nach einer Stunde moderatem Anstieg entlang des Onion Creek hatten sie ein ausgedehntes Plateau erreicht, das Gebiet einer riesigen Ranch, deren Ursprünge wohl bis zur Zeit der Besiedlung reichten. Die Sonne hatte sich den ganzen Nach‐ mittag ein wenig geziert, aber nun brach sie durch eine breite
Wolkenlücke. Das Licht sah aus wie eine strahlende, flim‐ mernde Säule, die sich vom Erdboden bis direkt in den Him‐ mel erstreckte. Zu ihrer Linken erhoben sich mächtige Fels‐ blöcke, und sie kletterten hinauf, bis sie einen gefunden hat‐ ten, auf dem sie sich niederlassen konnten. Kerry streckte sich aus und ließ sich die nackten Beine von der Sonne backen und die Rückseite vom Gestein wärmen. Jared setzte sich neben sie und packte ein Baguette aus. Er brach ein Stück ab und bot es ihr an, dazu Gorgonzola und Apfelviertel. »Wie galant«, sagte sie lachend. »Das ist noch nicht alles.« Eine Flasche Pinot Grigio kam zum Vorschein. »Du bist umwerfend, weißt du das?«, sagte sie. Er hörte es gern. Sie merkte es an seinem Lächeln. Sie stießen auf ihren Ausflug an, dann sagte er: »Und auf dich«, und sie tranken erneut. Der Wein stieg ihr sofort zu Kopf. Sie fühlte sich albern, zum Kichern aufgelegt, und ganz und gar nicht wie ein Riot Grrl, das mit jeder Situation fertig wurde. Sie lag noch immer entspannt auf dem Fels, als er sie küsste. Sie ließ ihn gewäh‐ ren, und ihre Lippen teilten sich füreinander so mühelos wie die Wolken für die Sonne. Sie tat nichts, als den Kuss zu erwidern. Keine Hände in seinem Haar oder um seine Hüften gelegt. Keine zusätzliche Ermunterung. Sie war absolut zufrieden damit, ihn hier oben auf dem Fels zu küssen, die Augen zu öffnen und die Sonne zu sehen und seinen warmen Körper zu riechen, der feucht war, weil er die meiste Zeit mühsam hinter ihr hergestrampelt war. Sie hatte ihn die Führung übernehmen lassen, als sie am
Highway losfuhren, und die erste Viertelstunde hatte sie sich damit begnügt, eingehend den knackigsten Hintern zu be‐ trachten, den sie seit langem gesehen hatte. Aber dann er‐ wachte ihr Wettkampfgeist, das Riot Grrl in ihr, das gern vorne lag, und dem es nichts ausmachte, wenn der richtige Typ ihr Hinterteil in der engen Radlerhose zu sehen bekam, wenn sie sich aus dem Sattel erhob, um noch mehr Druck auf die Pedale auszuüben. Sie überholte ihn, wurde erregt von all seiner leb‐ haften Aufmerksamkeit. Noch erregter nun, da sie in seinen Armen lag, seine Lippen kostete, seine Zunge, seine Erregung spürte und ihre eigene. Aber sie würde es nicht tun. Auf eine merkwürdige Art war der Tag einfach zu perfekt, um ihn mit Sex zu verhunzen. Als seine Hand hinab zu ihrer Hose glitt, hielt sie deshalb seine Finger fest und sagte: »Nein, ich will nicht.« Aber sie sagte es sanft und nett, und er war wohl gut geschult in diesen Dingen, denn seine Hand glitt zurück zu ihrer Brust. Sie ließ sich noch eine Weile von ihm streicheln, ehe er begriff, dass aus »Nein, ich will nicht« kein wildes Herumtoben auf dem Felsen wer‐ den würde. Auf der Rückfahrt ging es sanft bergab, wofür sie dankbar war, denn sie hatte nach dem Genuss des Weines ziemlich schnell entdeckt, dass ihre feinmotorischen Funktionen etwas gelitten hatten. Sie ließ sich von Jared bis ans Tor bringen, wo sie sich zuvor auch getroffen hatten, aber nicht weiter. Sie glaubte nicht, dass Stassler noch mehr Gesellschaft wünschte. Er half ihr, das Rad vom Dachständer zu holen und versprach, am nächsten Tag anzurufen.
»Ich dachte, du reist ab?« »Das hatte ich vor, aber jetzt nicht mehr.« »Cool«, sagte sie und lächelte übers ganze Gesicht. »Das freut mich.« Jawohl! Als sie auf das Haus zurollte, kam Stassler gerade wieder aus der Scheune. »Was haben Sie da drin?«, sagte sie. Sie war außer Atem, aber sie fühlte sich wie eine Löwenzahnspore im Wind. »Ich versuche mir gerade darüber klar zu werden, was ich damit anfangen könnte.« »Wir könnten mein Fahrrad da drin aufbewahren«, scherzte sie. Er rang sich ein Lächeln ab, als sie fragte, ob sie sich umse‐ hen dürfe. Nach kurzem Zögern antwortete er: »Sicher, aber es gibt nicht viel zu sehen.« Zu jeder anderen Zeit hätte sie seinen Widerwillen vielleicht gespürt, sich gefragt, was denn dabei sein sollte; aber in ihrem Kopf tanzten immer noch die Endorphine Pogo. Die Scheune war beinahe makellos sauber. Das einzig Merkwürdige, soweit Kerry erkannte, war das Stroh auf dem Boden der Stallboxen. Wozu war das gut? Stassler hielt ein‐ deutig keine Pferde. Die Scheune sah aus und roch, als ob sich schon lange kein Pferd mehr darin aufgehalten hätte. Aber diese großen Strohballen wirkten einladend, und als Kerry die hinterste Box erreichte, ließ sie sich rücklings auf den goldfar‐ benen Haufen fallen, ein Bild jugendlicher Ausgelassenheit. Stassler erstarrte, dann streckte er die Hand aus, um ihr aufzuhelfen, als wäre sie gestürzt.
»Kommen Sie«, sagte er. »Gehen wir.« Ohne zu warten, ergriff er ihre Hand und zog sie auf die Be‐ ine. Dann verließen sie umgehend die Scheune, in einem Tem‐ po, als würden sie vor einem Feuer fliehen. Kerry hatte ein äußerst merkwürdiges Gefühl, als sie gute Nacht wünschte und die Stufen zur Veranda hinaufstieg. Als sie auf dem Stroh gelandet war, war es nicht so dick gewesen, wie sie erwartet hatte, und sie hatte sich das Gesäß leicht auf dem Boden angestoßen. Und eine Sache war komisch gewesen – es hatte sich nicht angefühlt wie ein richtiger Boden. Mehr wie …? Sie fand die Antwort kurz darauf, als sie das Haus betrat: Es hatte sich hohl angefühlt, so, wie wenn man an eine Tür stößt.
9 Es ist drei Uhr morgens, und die Luft ist kalt wie ein Eisbrok‐ ken. Man käme nie darauf, dass Mai ist. Nicht ein Hauch von Wüstenhitze um diese Stunde. Selbst der Salbei schläft. Ich kann ihn kaum riechen – anders als zur Mittagszeit, wenn die Sonne den Duft aus dem Saft zu saugen scheint. Auch kein Staub. Alles hat sich gelegt. Alles schläft. Außer mir. Ich habe das Glück, nicht viel Schlaf zu brauchen. Ich kann hier stehen und zusehen, wie die Dunkelheit aus dem Himmel herein‐ wogt wie der breiteste Strom im Universum, wie sie die Wüste überflutet, die Berge mit ihren Spalten und Schluchten, und sie ihrer Schatten entkleidet und der einfachen Tröstungen des Lichts. Vor allem aber lässt die Dunkelheit Kerry Waters ru‐ hen. Early to bed, early to rise. So ein gesundes Mädchen. Sie macht mich krank. Es fällt mir nun schwer zu glauben, dass ich jemals libidinöse Absichten ihr gegenüber hegte, obwohl sie frech genug war, mir ein Foto zu schicken, zusammen mit einem Brief voll jener Lobhudelei, die gewöhnlich auf die Be‐ reitschaft seitens einer jungen Frau hinweist, alles von sich zu geben, wenn ich nur bitte freundlich genug sein möchte, sie unter meine Fittiche zu nehmen. Nicht nur Rockstars haben Groupies. Es war eine vernünftige Annahme von mir, dass Kerry Waters tun würde, was viele andere junge Frauen vor ihr taten, und dass sie für die Anregung sorgen würde, die mir wegen meines klösterlichen Lebensstils sonst entgeht. Aber dann hatte ich in dem Moment ein schlechtes Gefühl,
in dem ich sie sah. All diese Gesundheit und Lebenskraft, all der Schmutz und Schweiß von ihrer Radtour. Sie dachte wohl, sie würde mir eine Ehre erweisen mit ihrem Körpergeruch. Sie war nervös wie eine kindliche Braut. »Sie müssen Kerry Waters sein«, sagte ich, und ich hätte in jenen ersten, von ih‐ rem Geruch geprägten Sekunden gern hinzugefügt, dass sie mit Nachnamen besser »Seife« oder »Schaum« heißen sollte, denn Wasser allein könnte einen so widerlichen Gestank nie‐ mals fortspülen. Sogar noch schlimmer als den Körpergeruch fand ich Ker‐ rys anhaltenden Kleinmädchenenthusiasmus. Ich konnte ihre Ernsthaftigkeit ertragen, solange wir schweigend arbeiteten, und sie nicht versuchte, mir ihre fantasielosen Bemühungen in Sachen Bildhauerei aufzudrängen. Unser Vertrag beinhaltet, dass ich sie mir ansehe, schlaue Bemerkungen dazu mache und ein paar von den läppischen Dingern gieße. Aber sobald sie mit ihren Schmeicheleien anfing, fühlte ich meine Geduld schwinden. Verglichen mit Diamond Girl ist sie ein Schimpan‐ se. Ich gehe in die Scheune und steige die Treppe zum Keller hinunter, wo meine Schützlinge unter Decken aus Armeebe‐ ständen liegen. »Zeit zum Aufstehen!«, rufe ich, obwohl sie ohnehin nicht mehr fest schlafen. Stimmt nicht ganz, alle außer Jolly Roger schlafen unruhig und lassen sich vom kleinsten Geräusch auf‐ schrecken. Wenn der sich zusammenrollt, schnarcht und schnaubt er eine Stunde nach der anderen vor sich hin. Aber keiner von ihnen weiß mehr, ob es Tag oder Nacht ist, ihr 24‐Stunden‐Rhythmus ist völlig im Eimer. Ich wünschte, ich müsste sie nicht aufjagen, denn Ruhe ist ebenso wichtig
wie Training, wenn sie in Form kommen sollen, aber jetzt ist einfach die beste Zeit, um den neugierigen Augen von Kerry Waters aus dem Weg zu gehen. »Fernsehstunde!« Keine frechen Bemerkungen mehr von Diamond Girl. Seit ich ihr arschwackelndes Angebot abgelehnt habe, ist sie ge‐ bändigt. Sie sieht mich an, aber nicht mürrisch wie ihre Eltern, sondern voll Verachtung. Ich spüre es so deutlich, wie ich den Schimmel im Dreck hier unten rieche. Sie hat sich von ihrem Kokettieren verabschiedet, und jetzt ist sie wütend. So gefällt sie mir sogar noch besser; um die Wahrheit zu sagen, finde ich all den Groll und Unmut sehr verführerisch. Wenn ich ihn vorsichtig schüre, könnte er in der herrlichsten Raserei explo‐ dieren. Die Tatsache, dass ich mir immer noch die Mühe ma‐ che, mit ihr zu spielen, sagt viel über ihren Einfluss auf mich. Sie ist das Mädchen, an das ich im Rechenunterricht an der Highschool immerzu denken musste, und das kurze Röcke und weiche Pullis trug. Sie ist das Mädchen, von dem ich wäh‐ rend meines letzten Jahrs im College täglich einen Espresso kaufte. Sie ist jedes Mädchen, das mich je beschäftigt hat, all die Wendys in meinem Leben – Wendy war die junge Frau mit dem langen blonden Haar, mit der ich während eines Studien‐ jahres in Madison, Wisconsin, unter jedem nur erdenklichen Vorwand sprach. Ich bin im Begriff, das seelische Ungleichgewicht der Van‐ dersons zu erhöhen, indem ich ihnen eine weitere Episode von Family Planning #8 vorspiele, die, in der ich den endgültigen Abdruck von ihrer fünfzehnjährigen Tochter nehme. Wenn etwas dazu angetan ist, dass sich Diamond Girl vor Unbeha‐ gen windet, dann sind es diese Aufnahmen.
Bevor ich meine Taschenspielerei an der dunkelhaarigen Schönheit von #8 durchführte, hatte ich dem Mädchen eine gesunde Ladung Methamphetamin verabreicht, die bevorzug‐ te Droge der Arbeiterklasse, jener armen Proleten, die für zwei, drei Schichten am Stück wach bleiben müssen. Ich will nicht, dass jemand in meinen Familien ohnmächtig wird. Ist das nicht immer der leichteste Weg? Ich hasse Ohnmachtsan‐ fälle. Sie sind eine so schwache Reaktion auf Todesangst, ein so jämmerlicher Versuch, sich dem einzigen Gefühl zu entzie‐ hen, das es wert ist, ausgekostet zu werden. Es gibt kein Ent‐ rinnen. Ich sage es den Vandersons. Ich sage ihnen auch, dass das Mädchen, das sie gleich sehen werden, sich weigerte, zu trainieren, und dass ich jedem Einzelnen von ihnen das antun werde, was ich ihr angetan habe, wenn sie sich nicht mehr ans‐ trengen. Danach werden sich die Gewichte anders anfühlen in ihren Händen. Ein wenig leichter und doch realer. Wie ein Passierschein zu jenem illusorischen Land der Sicherheit und Freiheit. Ich erwarte, dass selbst Diamond Girl berührt sein wird. In wenigen Sekunden wird sie sehen, dass die Älteste von Family Planning #8 einen Körper nicht unähnlich ihrem eigenen hatte. Sie wird sich mit ihr identifizieren können, und das, wenn schon nichts anderes, sollte Diamond Girls Gefühl der eigenen Unsterblichkeit oder ihren zeitgeistigen Zynismus gewaltig mindern. Ohne ein weiteres Wort lasse ich das Band anlaufen, und ausnahmsweise sehe ich, dass ich in Bezug auf Diamond Girl Recht behalte. Sie dreht sich tatsächlich weg, als sie sieht, was ich mit dem Mädchen angestellt habe, und sagt kein einziges Wort. Und das ist erst der Beginn der Vorführung! Es kommt
noch sehr viel mehr. Ich habe ein Hochgefühl wie seit Wochen nicht mehr. Diamond Girl windet sich! Was bringt sie endlich dazu? Was lässt sie zittern? Es ist das Alginat. Ich habe die gesamte Vorderseite des Körpers von #8 damit bedeckt, und das schließt das Gesicht des Mädchens mit ein, ihre Lippen und zuletzt, mit einem übergroßen Stöpsel, das linke Nasen‐ loch. Damit bleibt nur noch das rechte als einzige Luftquelle. Man sieht das Mädchen von Anfang an beben, herausragend beben! Es bebt vor Angst, vor tödlichem Entsetzen, aber hauptsächlich aus Mangel an Luft. Versuchen Sie mal, den gesamten Sauerstoffbedarf ihres Körpers in einer schweren physischen Krisensituation durch nur ein Nasenloch einzu‐ saugen. Stellen Sie sich vor, Sie rennen einen steilen Berg hi‐ nauf, und Sie verfügen nur über ein Luftloch. Es ist möglich, aber nicht ohne weiteres. Und nicht lange. Es ist die Angst vor dem Ersticken in einem Gehirn, das von einer Dosis Speed bereits zuckt und eine reichhaltige Kuriositätenschau von Amphetaminmonstern halluziniert, die den unmöglichen Ver‐ such, genügend Luft einzuatmen, so durch und durch schmerzhaft macht wie die Amputation eines Gliedes. Glau‐ ben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Ich habe im Lauf der Jahre viele Methoden angewandt, um Angst zu erzeugen. Ich habe es mit stumpfer Gewalt versucht, mit scharfen Messern und einer Auswahl von Elektrowerk‐ zeugen. Ich habe sogar mehr als ein paar Zähne herausge‐ stemmt, und zu einer bestimmten Zeit verfügte ich über ein ganzes Arsenal von zahnärztlichen Geräten, darunter jene wunderbaren hakenförmigen, spitznasigen Schaber, mit denen Zahnstein weggekratzt wird. Aber ich habe herausgefunden,
dass nichts, nichts, zu so wirklich scharfen Abdrucken führt wie Ersticken mit Alginat. Meine Theorie, warum es so gut funktioniert? Ganz einfach. Bei einer Verletzung konzentriert sich ein Subjekt so aus‐ schließlich auf einen bestimmten Schmerz, dass sich die Durchdringung mit Schrecken nicht über den gesamten Kör‐ per ausdehnen lässt. Ersticken aber, im Spektrum des Schmer‐ zes so vermeintlich blass, erzeugt einen in die Länge gezoge‐ nen Kampf und ein bemerkenswert enthüllendes Muskelspiel, wenn die Panik einsetzt und schließlich alles beherrscht. Beim Ersticken hat echte Todesangst die Zeit, in den Vordergrund zu treten, und genau das tut sie. Es ist außerdem eine Erfahrung, die jeder kennt. Irgend‐ wann einmal waren wir alle schon unter Wasser, nicht in der Lage zu atmen, und wir fürchteten — wenn auch nur für ein, zwei Augenblicke –, nie wieder einen Atemzug zu machen. Manche haben sogar quälendere Versionen davon kennen ge‐ lernt. Aber in welchem Maß auch immer, die Erfahrung ist allen vertraut, und deshalb hat sie die glänzendste Wirkung auf Zuschauer wie die Vandersons. Es wird sie zu höchst leb‐ hafter Mitwirkung bei zukünftigen Trainingsstunden treiben. Das Gesicht von #8 ist verzerrt, während sie um Atem ringt, und Diamond Girl & Co. können ihren hoffnungslosen Kampf um Atemluft beobachten, sehen, wie sie gewaltsam an den Riemen zerrt, wie ihr Quadrizeps mit aller kümmerlichen Macht an dem Leder reißt, und ihre Hände, ihre Finger ebenso verzweifelt bemüht sind, sich ins Gesicht zu fahren und das Alginat aus der Nase zu ziehen. Den Mund des Mädchens hatte ich mit einem harten schwarzen Gummiball geknebelt, den ich vor Jahren von ei‐
nem S&M‐Versandhaus in Dubuque, Iowa, erstanden hatte. Ein wundervolles Instrument. Er macht es unmöglich, durch den Mund zu atmen, während die Lippen teilweise offen blei‐ ben, was ihnen ausreichend Raum für Ausdruck lässt, sie kön‐ nen sich verziehen und kräuseln, jene armselige Mimik des Schmerzes, die alle – nicht nur junge Mädchen – in solchen Momenten zur Schau stellen. Und all das fand statt, bevor ich den letzten Pfropfen Alginat in ihr anderes Nasenloch steckte. Das war der Moment, auf den ich Wochen gewartet hatte. Man könnte sagen, dieser kleine grüne Pfropfen war mein Hauptgang. Man könnte ihn den schrecklichsten Gegenstand der Welt nennen, und wenn Sie das Mädchen von Family Planning #8 wären, würden Sie es ziemlich sicher tun. Ich strich ihr damit über die Nase, hatte es überhaupt nicht eilig damit, ihn einzustöpseln, ließ nur die Ahnung aufkom‐ men, dass auch er bald einen Platz in ihrem Körper finden könnte, und mit ihm würde das unausweichliche Ende ihrer dürftigen Luftversorgung kommen. Jedes Mal, wenn der grü‐ ne Pfropfen sie berührte, egal wie leicht, bäumte sich ihr Kör‐ per auf, um so viel Luft wie möglich einzusaugen, eine in‐ stinktive Reaktion, der Versuch, einen möglichst großen Vor‐ rat zu schaffen, als handelte es sich bei dem dünnen Luftstrom um Eicheln für den langen Winter, der vor ihr lag. So strich ich mehrmals damit über ihre Nase und beobachtete, wie sich das Becken des Mädchens bog vor Anstrengung. Ich probierte aus, ihr nur den bloßen Duft davon anzubieten, und tatsächlich, es funktionierte ebenfalls! Ganz wunderbar sogar. Schon die lei‐ seste Andeutung, diese letzte Öffnung zu verschließen, ließ sie erbeben vor Qualen; in meiner Fantasie sah ich – wie sollte ich
nicht? – die Tränen, die hinter den versiegelten Lidern hervor‐ sickerten, und die ungeheuere Energie dieser Gliedmaßen, jeder Zelle in ihrem durch und durch sehnigen Körper, der sich in dem einzigen Bedürfnis wand, zu entkommen. Aber sie wird nicht entkommen. Die Sache enthält keine Spannung. Nicht für mich. Anders für die Vandersons. Sie sind nahe dar‐ an, um das Leben des Mädchens zu flehen, so real scheint ih‐ nen dieser Bildschirm inzwischen. Wir alle hören die kehligen Schreckenslaute, die hinter dem harten, schwarzen Ball in ihrem Mund aufsteigen. Es ist nicht der Umpf‐umpf‐Chor, den ich im Kombi gehört habe, sondern ein weit tieferer Laut, erschreckender, der Klang des Erstik‐ kens, das verzweifelte Bemühen um Schweigen, denn unter dieser zähen Alginatschicht zu stöhnen, bedeutet winzige Mengen Luftvorrat zu verbrauchen, und sie muss das wissen, wie ein Ertrinkender weiß, dass Panik Sauerstoff verbrennt, aber etwas zu wissen – und kennen wir das nicht alle? —, ist nicht dasselbe, wie danach zu handeln. Und wer kann schon sagen, was die Amphetaminmonster diesem zerbrechlichen Gebilde antun, zu dem das Gehirn des Mädchens von #8 in‐ zwischen geworden ist, welche Forderungen diese hem‐ mungslos gebieterischen Geschöpfe an ein Bewusstsein stellen, das bereits durchtränkt ist vom Wahnsinn eines vorzeitigen Todes. Erneut lasse ich die Alginatkugel unter ihrer Nase vorbei‐ wandern und löse damit ein unwillkürliches »Nein!« von June aus, bei dem ich lächeln muss. Und Jolly Roger, Gott segne sein Feingefühl, nimmt sie in die Arme und versucht sie zu trösten. Er! Roger! Bietet Trost an. Und sie nimmt ihn an. So verwundet ist June mittlerweile.
Sonnyboy wimmert, er ist nicht mehr das Kind, das am Tag ihrer Entführung die Tür aufriss und mich mit seiner Überheb‐ lichkeit beleidigt hat. Nein, jetzt liegt er zusammengekauert zu Füßen seiner Eltern wie ein Bärenjunges, das sich nichts mehr wünscht als den Winterschlaf, den es nie kennen gelernt hat. Diamond Girl? Ja, Diamond Girl sieht zu, und ihre Fassade der Unverletzbarkeit bröckelt. Woher ich das weiß? Ich schaue auf ihre Hände. Ich schaue immer auf die Hände, denn die Hände verraten viel mehr als das Gesicht. Und wo sind ihre Hände, werden Sie vielleicht fragen, wo hat sie sie platziert? Na, unter ihrem süßen runden Hintern, ein instink‐ tiver Versuch, sie ruhig zu halten, das wachsende Verlangen zu stillen, ihre Arme, ihren Körper zu umklammern, viel‐ leicht sogar ihre Eltern zu packen und um den Schutz zu fle‐ hen, den sie nicht mehr bieten können. Ich sehe auch, wie sich ihre Augen schließen. Sie schließt sie, als ich das Mäd‐ chen zum dritten und absehbar letzten Mal mit dem Algi‐ natpfropfen necke. Ich führe ihn in einer sanften, schmeichelnden Kreisbewe‐ gung rund um diese kleine Öffnung. Ich säusle dem Mädchen etwas vor, singe ihm ein selbst ausgedachtes Lied, wenn es sich auch der Inspiration vieler anderer verdankt. Es geht nach der Melodie von »Bruder Jakob.« Soll ich schließen, soll ich schließen, Ach wer weiß, ach wer weiß, Stöpsle ich das Loch zu, stöpsle ich das Loch zu, bist du tot, bist du tot. Bim, bam, bum. Bim, bam, bum.
Noch mehr kehliges Keuchen unter dieser grünen Schicht, ein lebhafter Wechselgesang. Ich beuge mich über sie, bringe mei‐ ne Lippen nahe an ihr Ohr und summe noch mehr von dem Lied. Zeit schinden. Mehr Panik herausschinden. Und alles scheffelweise! Noch bleiben Diamond Girls Augen geschlossen: Noch im‐ mer spielt Jolly Roger Familienoberhaupt. Noch immer klam‐ mert sich June an ihn. Noch immer weint Sonnyboy zu Füßen seiner Eltern. Noch ruht der Pfropfen in köstlicher Weise auf meinen Fingerspitzen. Und noch, ja immer noch, ringt das Mädchen von #8 um Luft und wird gequält von den Monstern, die ich in ihrem Gehirn losgelassen habe, von den wilden Fan‐ tasiegebilden eines Wahns, den nur die tiefste Todesangst er‐ fahren kann. Und während all dieser Zeit drücken, ziehen, mühen sich ihre Muskeln, so heftig, dass sie kurz davor sind, zu reißen. Sie liegen keineswegs im Sterben. Sie sind lebendi‐ ger, als sie jemals waren. Und genau das wollte ich! Das brau‐ che ich. Das ist das Ziel meiner ganzen Arbeit, den Schrecken im Moment seiner größten Offenbarung zu formen. Ihre Poren brechen auf, Schweiß überflutet ihre Haut und durchnässt den weichen Flaum auf ihren Armen, ihren Beinen und dem Bauch. Sie brennt vor Verlangen nach Leben, aber genau das wird sie töten, die rücksichtslose Gier, mit der sie diese kleinen Mengen Luft aufsaugt. Immer will sie mehr, saugt so heftig, dass ihr Nasenflügel einwärts klappt und sie von dem bisschen Leben, das er sicherte, abschneidet. Krämp‐ fe durchlaufen der Länge nach ihren gesamten Körper wie Funken, die an einem frei liegenden Leitungsdraht entlangra‐ sen. Sie überhitzt, ihr Körper, ihr Hirn, ihre Lungen, die sie nicht länger leben lassen.
Und plötzlich erweist sich mein Timing als makellos: Dia‐ mond Girl öffnet die Augen. Es ist einfach zu perfekt, denn ich weiß, was in einer Sekunde – höchstens zwei – geschehen wird, und ich weiß, dass Diamond Girl es sehen wird. Ich ramme den Pfropfen in die Nase, zwinge ihn mit dem vollkommenen Wahnsinn jenes Augenblicks hinein, fühle das feuchte Innere ihres Nasenlochs mit dem Finger, die hohle Enklave ihrer letzten Hoffnung. Ich drücke ihn so fest hinein, dass kein Ausatmen ihn wieder hinausbefördern kann, ob‐ wohl sie das immer als Erstes versuchen – das Alginat mit dem bisschen Luft, das sie haben, hinauszustoßen. Aber ihr Körper raubt ihr selbst diese Hoffnung, stiehlt ihr genau das Element, das ihn befreien könnte. Ja, genau so ist es, die Mus‐ keln verschlingen den Sauerstoff, brauchen die einzige Kraft auf, die den Pfropfen ausstoßen könnte. Deshalb habe nicht ich sie getötet, verstehen Sie. Ihr eigener Körper hat sie getötet. In diesem absoluten Sinn hat sie sich selbst getötet. Sie sind alle Selbstmörder, diese hier nicht weniger als die anderen. Ich bin nur Zeuge ihres Verbrechens der Schwachheit. Heftige Konvulsionen folgen, ihr Körper wird starr, prallt zurück, wird erneut starr. Nicht aus Luftmangel, in diesen ers‐ ten Sekunden noch nicht, sondern weil sie blitzartig begreift, dass dies die letzten Augenblicke ihres Lebens sind. Kein Auf‐ schub mehr. Keine freundlich zugeworfene Verbindungsleine zu den Lebenden. Nur noch dieser erstickte, von Krämpfen durchsetzte Rückzug aus dem Leben. Und dann, als ihre Furcht jeden Muskel erstarren lässt, ihr hübsches Gesicht zu einer Maske von absolut grotesken Pro‐ portionen verzerrt, schäle ich das Alginat ab, schäle es von ihren Beinen, von Bauch und Brust, von ihrem Hals und auch
von ihrem Gesicht, bis es als lang gezogene Hülle daliegt wie eine zweite Haut. Ich lasse nur den harten schwarzen Gummi‐ ball in ihrem Mund und die beiden Nasenpfropfen an Ort und Stelle, damit sie sterben kann. Und sterben muss sie, denn ihre Aufgabe ist endlich erfüllt. Ich bin ein Meister darin geworden. Zwei Abdrucke bei je‐ dem von ihnen – Vorder‐ und Rückseite. Zuerst müssen sie sich auf den Bauch legen, damit ich ihren Rücken machen kann. Der Grund dafür sollte unmittelbar einleuchten: Sie sind tot, nachdem ich den Abdruck von der Vorderseite ihres Kör‐ pers gemacht habe. Was ihre Gesichter angeht, die echten, nicht die Gesichter, die ich für die Öffentlichkeit sorgfältig nachbilde, so habe ich damit andere Pläne. Ich nehme all die Alginatabdrucke und stelle Masken her. Ich denke sie mir als visuelle Gegenmittel zu den Totenmasken, bei denen die Augen unausweichlich respektvoll geschlossen, die Gesichtszüge so furchtsam fried‐ lich sind. Meine Masken sprechen beherzt vom größten Drang des Körpers, vom Drang weiterzuleben, zu überleben, selbst wenn er bereits weiß, wie kostbar die Zeit und wie nahe die Ewigkeit ist. Die Masken sind ein weiteres Geschenk, das ich der Welt vermache. Ich habe Dutzende davon hergestellt, und in mei‐ nem Testament habe ich bestimmt, dass sie innerhalb von dreißig Tagen nach meinem Tod ausgestellt werden. Es küm‐ mert mich nicht im Geringsten, ob Angehörige dann die Ge‐ sichter von verschwundenen Verwandten identifizieren, denn ich werde gegangen sein und mit mir jede eindeutige Erklä‐ rung. Sollen sie doch mit noch schrecklicheren Fragen weiter‐ leben als jenen, die das plötzliche Fehlen der lieben Verstorbe‐
nen aufgeworfen hat. Es wird, in meiner Denkweise, mein letzter Triumph sein. »Angenehme Träume«, wünsche ich den Vandersons, als ich um Viertel vor vier das Licht ausschalte. Zu meiner Überraschung ruft Diamond Girl: »Dir auch an‐ genehme Träume, du Arschloch!« »Genau«, murmelt Jolly Roger. Ich ignoriere ihn, aber Diamond Girl? Welches Feuer! Wel‐ cher Mut! Es ist diese Weigerung, sich zu unterwerfen, die ich so äußerst verführerisch finde. So etwas ist mir bisher nicht begegnet. Es ist leicht, sich vorzustellen, wie Diamond Girl unter anderen Umständen zu einer Nationalheldin geworden wäre. Man setze sie, sagen wir mal, in Paris während der deut‐ schen Besatzung ab, und sie hätte diesen Schlächtern mitten ins Gesicht gespuckt. Niemand ist ganz ohne Furcht, aber sie kommt nahe heran und bekräftigt so meinen Entschluss, sie zu verschonen, sie zu meinem Amüsement hier zu behalten, obwohl ich mir Sorgen mache, ihr Trotz könnte ansteckend wirken. Sie ist genau die Sorte Rebell, der die Truppen sammeln könnte. Zwar ist es höchst unwahrscheinlich, dass sie hier unten eine erfolgreiche Rebellion anführen könnte, vor allem angesichts ihrer mut‐ maßlichen Verbündeten, aber es gibt mir zu denken. Schon hat Jolly Roger in ihren Aufschrei eingestimmt. Ich überlege, ob ich sie aus dem Käfig herausholen, aber dennoch hier behalten kann. Ich habe nicht vor, sie im Gästequartier unterzubringen, das ist viel zu riskant, also bleiben nicht viele Möglichkeiten. Schließlich betreibe ich kein Hotel. Aber selbst wenn ich einen Platz hätte, sie unterzubringen, wird mir klar, würden June
und Jolly Roger annehmen, dass ich sie getötet habe, sobald sie aus dem Keller verschwände, und das würde den einzigen Strohhalm der Hoffnung zerbrechen lassen, den ich ihnen ge‐ geben habe: Bring dich in Form und überlebe. Selbst jetzt noch, selbst nachdem sie das ergötzliche Hin‐ scheiden von #8 gesehen haben, glauben sie, es gibt noch Hoffnung. Sie klammern sich an meine Versicherung, das Mädchen sei genau deswegen gestorben, weil es nicht hart genug trainiert hat, und viele ihrer Vorgänger würden noch unter den Lebenden weilen. Die Skelettparade, lasse ich bei‐ läufig einfließen, habe sich aus den Reihen der widerspensti‐ geren Käfigbewohner rekrutiert. June glaubt mir. Ich erkenne es an ihrem anhaltenden Be‐ mühen, mitzumachen. Eine Mutter wie sie kann einem Mann, der so schwach ist wie Jolly Roger, alles weismachen, selbst, dass sie ihn liebt, was meiner Ansicht nach seit Jahren nur ein Kondensstreifen ist. Und deshalb werde ich sie ihrer Hoffnung nicht berauben, niemals, nicht bis zu den letzten Augenblik‐ ken, jenem letzen Atemzug, wenn ihr Körper sie so gewiss verraten wird, wie er es bei #8 getan hat. Vielmehr will ich sie in nervöser Spannung halten, in Ungewissheit, will die Adre‐ nalinflut weiter durch ihren instabilen Kreislauf strömen las‐ sen. Sie wären alle Kandidaten für ein posttraumatisches Stresssyndrom, wenn es ein »post« gäbe, auf das sie sich freu‐ en könnten. Dann, mit einer jener Eingebungen, die einen erkennen las‐ sen, wie schön das Leben sein kann, fällt mir ein, dass ich nichts weiter tun muss als teilen und herrschen, ein Rezept für Machtausübung, das so alt ist wie die Not. Es wird zur Folge haben, dass ich vorzüglichen Gebrauch
von Diamond Girls Hang zum Bizarren mache, zusammen mit einem grellen Schaustück, das ich von denselben S&M‐Leuten erstanden habe, die mir den Mundpfropf verkauft haben. Es handelt sich um Halsband und Kette für einen Herrn und sei‐ nen Hund. Und wir wissen alle, wer hier gern mit dem Hinter‐ teil wackelt, nicht wahr?
10 Lauren und Bad Bad Leroy Brown spazierten den Colorado Boulevard in Pasadena entlang, vorbei an Gap und Banana Republic und all den anderen Markenfirmen, die entlang der durch die Rose Bowl Parade berühmt gewordenen Route ihre Läden eröffnet hatten. Trotz der getönten Brille musste Lauren die Augen gegen das Sonnenlicht zusammenkneifen, wobei ihr zu Bewusstsein kam, dass sie sich an die unscharfen Ränder und den weiche‐ ren Himmel des pazifischen Nordwestens gewöhnt hatte, eine Erkenntnis, die sie einem dauerhaften Umzug nach Norden ein kleines Stückchen näher brachte. Ihre Beziehung mit Chad war zu Ende, und das Atelier war zwar wunderschön, aber es machte seine rüden Übergriffe nicht wett. Inzwischen kam er regelmäßig mitten am Tag nach Hause und versuchte, sie zu der körperlichen Intimität herumzukriegen, die es seit dem Silvesterabend zwischen ihnen nicht mehr gegeben hatte. Da‐ mals war sie ihrem ersten Entschluss untreu geworden und hatte mit einem Mann geschlafen, mit dem es keine Zukunft gab. Seither war sie standhaft geblieben, und sie wusste, falls Chad ihr auch nur noch eine obszöne Andeutung ins Ohr flü‐ sterte, würde sie schreien oder einen Meißel gegen ihn erhe‐ ben. Ihre oberste Priorität galt der Suche nach einer neuen Woh‐ nung in Portland. In dem wohlanständigen viktorianischen
Haus wollte man nichts von Leroy wissen – sie hatte angeru‐ fen und eine unmissverständliche Antwort erhalten –, und ihr Zimmer war ohnehin kaum für ihn geeignet; er würde darin aussehen wie King Kong im Spielzeugland. Vielleicht fand sie eine anständige Unterkunft mit einer Ga‐ rage, in der sie … »Walrus! Hey, was geht ab, alter Sack?« Lauren hatte keine Ahnung, dass diese rüpelhafte Begrü‐ ßung Leroy galt, bis er anfing, an seiner Leine zu zerren und sie in Richtung eines Motorradfahrers in schwarzer Lederkluft zog. Der Mann wuchtete seine massige Gestalt von einer Har‐ ley und hob die Hand zu einem Gruß. Leroy brachte eine mat‐ te Erwiderung zustande, indem er mit einer Pfote ein paar Zentimeter über dem Gehsteig durch die Luft fuchtelte. »Nix da, du hast ja schon alles vergessen, Walrus. Brauchst wohl erst ʹnen Arschtritt, um wieder in Form zu kommen. Sitz!« Leroy machte Platz und führte eine ordnungsgemäße Be‐ grüßung von Pfote zu Hand durch. »Alter Hurensohn! Wo hast du gesteckt?« Ohne Lauren auch nur anzusehen, packte der Biker den Hund zu beiden Seiten der großen, dicken Schnauze und schüttelte seinen Kopf mit roher Vertrautheit. Leroy schauder‐ te vor Freude. Oder warum auch immer. Der Biker riss ihm Leine und Halsband herunter und warf beides Lauren vor die Füße. »Was haben Sie mit meinem Hund vor?«, sagte sie. Ohne weiterhin auch nur einen Blick in ihre Richtung zu werfen, schnaubte der Mann und sagte: »Walrus ist nicht Ihr Hund. Er ist meiner. Er ging vor ʹner Weile verloren, als meine Alte und ich ʹne schwierige Phase durchgemacht haben. Aber
…«, er sah zum ersten Mal zu Lauren empor, und sie bemerkte seinen Bart, den Schnauzer, der bis in den Mund wuchs, das ungepflegte, strähnige Haar, das er sich aus dem Gesicht klatschte, »das ist jetzt alles vorbei. Sie haben mich verstan‐ den.« Es war keine Frage. Er kniete vor Leroy, und seine fleischigen Pranken packten erneut die Schnauze des Hundes; er tat ihm, nach Laurens An‐ sicht, ziemliche Gewalt an, obwohl Leroy kaum protestierte. Als sie diese derbe Liebkosung mit ansah, breitete sich ein Gefühl der Trauer und Mutlosigkeit in ihr aus. »Was ist passiert?«, brachte sie heraus. »Das geht Sie einen Dreck an.« »Das geht mich sehr wohl etwas an. Ich habe mich immer‐ hin um Leroy gekümmert.« »Leroy? Was isʹn das für ein beschissener Name?« Der Biker schüttelte den Kopf. »Aber wissen Sie was«, wandte er sich erneut an Lauren und warf die schwarzen Haarranken mit einer Handbewegung über die Schulter, »war richtig, dass Sie sich um ihn gekümmert haben.« Er beäugte den Hund. »Seine Eier hat er noch. Gut, dass Sie ihm die nicht abgeschnitten ha‐ ben. Das würde ihm nicht gefallen.« Er stand auf, um zu gehen, mit der Hand umklammerte er Leroys Nacken. »Er wäre da draußen gestorben. Ist Ihnen das klar? Er hatte nichts zu trinken. Was haben Sie gemacht, ihn mitten in der Nacht ausgesetzt?« Lauren hörte, wie sich eine kleine Menschenmenge hinter ihr ansammelte, angelockt von ihrem Zorn, seiner Arroganz und dem strittigen Hund.
Der Biker wirbelte herum. »Erzähl mir hier keinen Bockmist über Walrus. Er gehört mir. Und jetzt verpiss dich, bevor ich ernsthaft sauer werde.« Leroy antwortete mit einem Grrrr. »Haltʹs Maul, Walrus.« »Er mag es nicht, wenn mich jemand anschreit.« »Was?« Der Biker stieß das Gesicht nach vorn wie ein neu‐ gieriger Kater. »Ich sagte, er mag es nicht, wenn mich jemand anschreit.« »Der?« Er schüttelte Leroy am Nacken. »Der ist ein zahmes Kätzchen.« Dann sah er Lauren wieder an und schrie extra laut für die Zuschauer ringsum: »Er würde sich nie mit mir anlegen, nicht für Sie, nicht für sonst wen. Dazu kennt er mich zu gut.« Aber Leroys Knurren wurde lauter, scheußlich laut, und Lauren fand, sie hatte noch nie ein so wohltuendes Geräusch gehört. Sie erwartete, dass diese Wiederinbesitznahme, wenn es denn eine war, damit beendet sein würde. Aber der Biker zog Leroy mit seinen mächtigen Armen an den Vorderbeinen hoch und schüttelte ihn am Hals. Der Rottweiler fletschte die Zähne. Lauren dachte, ihr Hund würde jeden Moment zubei‐ ßen, aber er tat es nicht. Vielleicht wusste der Motorradfahrer, dass er es nicht tun würde. Vielleicht erklärte das, warum er anfing, Leroy mit der Faust zu bearbeiten. »Arschloch«, rief eine Frau. Lauren sprang mit Tränen in den Augen nach vorn und versuchte, Leroy von dem Mann wegzuziehen. »Aufhören! Aufhören!«, schrie sie. »Hände weg von dem Hund!« Der Bi‐ ker fuhr herum und schubste sie rückwärts in die wachsende Menge der Gaffer. Lauren stolperte, sie rief den Hund mit
Namen, und Leroy ging dem Biker ans Bein. Und erwischte es auch. »Du Hurensohn.« Das war nun nicht mehr als Kosewort gemeint. Der Biker blickte auf den Riss in seiner Lederhose und dann auf das wild knurrende Tier, das alle Nackenhaare aufgestellt hatte. Jemand aus der Menge schrie: »Mach ihn fertig, Hund‐ chen!« War es dieselbe Frau? Lauren rappelte sich auf und brüllte Leroys Namen. Sie be‐ fürchtete, dass man ihn wegen Beißens wegsperren könnte – wenn nicht Schlimmeres. Die Behörden griffen bei gefährli‐ chen Hunden gerade streng durch. Leroy wich langsam zurück, als würde er auf jeden Biss, der ihm nun verweigert wurde, nur ungern verzichten. Der Biker schüttelte den Kopf, dass die Haarranken flogen, er starrte den Hund an, dann stieß er der neuen Herrin des Tiers den Zeigefinger entgegen. »Du Schlampe hast gerade den größten Fehler deines Le‐ bens gemacht. Du klaust mir keinen von meinen Hunden.« »Ja, Mann, er ist ganz scharf auf dich.« Dieselbe Frau wie‐ der, diesmal war sich Lauren sicher. Aber der Biker wandte den Blick keine Sekunde von ihr. »Einen Riesenfehler.« Er stieg auf ein Motorrad mit mehr Chrom dran als in einer Lagerhalle in Detroit, startete die Maschine mit einem schwe‐ ren, schwarzen Stiefel und brauste davon. Lauren sah ihm mit wackligen Knien nach, wie er den Bou‐ levard entlangraste. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, was sie zusammenfahren ließ. »Tut mir Leid. Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
Lauren erkannte an der Stimme, dass es die Frau war, die gerufen hatte. Aber sie sah nicht aus wie eine Frau, sie sah aus wie ein Mädchen von fünfzehn, sechzehn Jahren, mit Ringen in Nase und Lippen, schwarzem Haar und blasser Haut. Über‐ raschend jung für so viel Mumm, wie sie gezeigt hatte. Lauren kam wieder zu Atem. »Schon gut. Ich bin nur im Moment ein bisschen nervös.« Sie bückte sich und leinte Leroy an. »Ich wollte sehen, ob Sie in Ordnung sind.« »Ich glaube schon.« »Weiß er, wo Sie wohnen? Was meinen Sie?« Lauren schüttelte den Kopf. »Ich wüsste nicht, woher. Wie‐ so, kennen Sie ihn?« »Nicht ihn persönlich, aber ich kenne den Typ, falls Sie wis‐ sen, was ich meine.« Lauren nickte mechanisch. Nicht, dass sie je einen Biker ge‐ kannt hätte, jedenfalls nicht diese Sorte. »Sie werden Ihnen wehtun«, sagte das Mädchen und wand‐ te sich ab. Sie wischte sich mit dem Handballen über die Au‐ gen. »Alles in Ordnung?«, sagte Lauren. Nun war sie es, die dem Mädchen die Hand auf die Schulter legte. »Ja, ja.« Ihre Augen wanderten zu Lauren zurück. »Passen Sie bloß auf, dass die Sie nicht allein erwischen.« Das warʹs, wir sind weg hier. Lauren fing in der Minute zu packen an, in der sie durch die Tür ihrer winzigen Wohnung trat. Du brauchst ein Zeichen? Einen Hinweis? Schön, du bist gerade gegen eine ganze Reklametafel gerannt. Nach der Kleidung ordnete sie ihre Mappe. Sie würde nach
der Sommerpause zurückkommen müssen, um das Atelier aufzulösen, eine weitaus kompliziertere Angelegenheit als ein Umzug mit ihren wenigen persönlichen Habseligkeiten. Aber solange sie weiter die Miete bezahlte, konnte sie es wahr‐ scheinlich ewig behalten. Chad hatte angefangen, Miete zu verlangen, nachdem sie sich geweigert hatte, mit ihm zu schla‐ fen, womit er einen Preis für all die gemeinsamen Jahre be‐ nannte und ihnen einen widerlichen Makel aufdrückte. Sie musste ihm dreihundertfünfzig Dollar im Monat für mehr oder weniger einen Raum bezahlen – oder, wie sie einmal aus‐ gerechnet hatte, sie hatte rund zweiundvierzig Dollar und fünfzig Cents pro Geschlechtsverkehr verdient, wenn sie einen Durchschnitt von acht Mal pro Monat zugrunde legte. Nach Minuten gerechnet, kam sie wesentlich besser weg. Sie bedauerte, dass sie den Strauß Blumen wegwerfen mus‐ ste, aber sie waren verwelkt und sahen zu traurig aus, als dass sich Aufheben gelohnt hätte. Dafür steckte sie Rys »Du‐fehlst‐ mir«‐Karte ein und schwelgte in der Erinnerung an das Tele‐ fongespräch vom Abend zuvor, als sie Geschichten aus ihrer Kindheit und Geheimnisse aus ihrer Jugend – in all ihrer schlaksigen Unbeholfenheit – ausgetauscht und sich die inti‐ men Erinnerungen an ihre jeweils erste Liebe erzählt hatten. Sie wünschte, sie könnte ihn in Moab treffen, sagte sich jedoch, dass sie lieber aufhören sollte, sich nach dem Unmöglichen zu sehnen. Ihre Ferien waren um, und sie bedauerte nur, dass sie nicht gleichzeitig an ihrer Bildhauerei arbeiten und ihn sehen konnte. Sicherlich würde das mit einem Umzug nach Norden leichter werden. Bevor sie ihren Laptop aussteckte, sah sie in ihren E‐Mails nach, ob er geschrieben hatte. Sie würde den ganzen Tag mit
Leroy in ihrem alten, himmelblauen 65er VW Käfer unterwegs sein. Vorausgesetzt, sie brachte es irgendwie fertig, das Tier auf dem Rücksitz zu verstauen. Keine E‐Mail von Ry, aber eine weitere Nachricht von Ker‐ ry. Das Mädchen berichtete, dass sie und Stassler die Repara‐ turarbeiten an Family Planning #8 fortgesetzt hatten, die um‐ fangreicher ausfielen, als er ursprünglich gedacht hatte. Kerrys E‐Mails klangen in letzter Zeit alle wie trockene Routineberichte, was Lauren beunruhigte. Doch das lag nicht so sehr an dem, was Kerry schrieb, sondern was sie nicht schrieb. Diese Auslassungen – Empfindungen wie Freude, Staunen, oder auch nur irgendwelche Bemerkungen über ih‐ ren Helden — waren möglicherweise verräterisch. Früh am nächsten Morgen starrte Kerry auf ihren Monitor und ließ die Schultern hängen. Was sollte sie Lauren mitteilen? Dass der Blödmann sich ihre Sachen noch nicht einmal ange‐ schaut hatte? Nicht den flüchtigsten Blick darauf geworfen hatte? Sie hatte Lauren geschrieben, alles würde »super« lau‐ fen, aber nichts lief super. Stassler war ein echt ärgerliches Ar‐ schloch. Es hatte jede Menge Arbeit gegeben, aber kaum Ge‐ spräche. Sie hatte sich wirklich, wirklich Mühe gegeben, ihn dazu zu bringen, dass er sich öffnete, aber es war, als würde sie zu Family Planning #8 sprechen, bei dessen Reparatur sie ihm immer noch half. Dankte er ihr? Sagte er irgendetwas? Nein! Wofür zum Teufel war sie hier, wenn er nicht bereit war, mit ihr zu reden, ihr zu helfen, etwas über Bronzeguss zu ler‐ nen. Sie kannte die Antwort. Sie war als seine Gießereisklavin hier, denn genau dazu war sie verdammt noch mal geworden. »Hier, halten Sie das.«
»Geben Sie mir mal die Klammern.« »Hier, nehmen Sie das, und drücken Sie es diesmal vorsich‐ tig zu.« Als wäre sie blöd. Hier dies, hier das. Sie hätte sich diesen Mist von sonst nie‐ mandem gefallen lassen, und sie würde ihn sich auch von ihm nicht mehr lange gefallen lassen. Der Kaiser steht ohne Kleider da, das war ihre Schlussfolgerung. Ohne alles. Splitternackt. Sie schrieb Lauren eine kurze Antwort. Keine Andeutung von Enttäuschung. Sie hatte allen Leuten an der Schule er‐ zählt, hurra, ich werde mit Ashley Stassler arbeiten, und jetzt wurde sie brennend verlegen bei der Vorstellung, mit einge‐ zogenem Schwanz zurückzukommen. Aber hier zu bleiben hieß, sich wie auf rohen Eiern zu bewegen. Wohl fühlte sie sich nur, wenn sie im Haus war, die Tür geschlossen hatte und die Vorhänge zugezogen. Nicht einmal auf der Veranda. Selbst da draußen hatte sie ein Gefühl, als würde er sie beobachten. Es war unheimlich. Das einzig wirklich total Nette an der gan‐ zen Reise war Jared. Und das Mountainbiken. Sie fuhren fast jeden Nachmittag los. Er war ein ziemlich starker Fahrer, nicht so stark wie sie, aber gut. Sie fand es cool, als sie erfuhr, dass sie beide auf BMX‐Rädern aufgewachsen waren und Kunststücke wie Balancieren auf dem Vorder‐ oder Hinterrad aufgeführt hatten oder auf dem hinteren Reifen he‐ rumhüpfen konnten. Beide hatten sie auch lange Nachmittage in Stadtteilparks verbracht und waren mit ihren Bikes auf Picknicktische und wieder heruntergesprungen. Sie hatte zu‐ dem eine richtig geile Drehung gelernt, indem sie ihr Rad auf eine gute Geschwindigkeit brachte und dann eine komplette Dreihundertsechzig‐Grad‐Rotation auf dem Hinterrad hinleg‐ te. Wie eine Art Ballerina auf dem Bike.
Als Kind hatte sie solche Sachen aus Spaß gemacht. Sie hat‐ te nicht gewusst, wie sehr sich diese Fähigkeiten auszahlen würden, als sie anfing Mountainbike‐Rennen zu fahren, über Felsblöcke, durch Bachbette und steile Schluchtenwände hi‐ nauf, die aussahen, als könnte man sie nicht einmal kriechend bezwingen. Sie hatte auch viel über Jared erfahren. Eindeutig aus rei‐ chem Haus. Aus sehr reichem. Er war in einer Gegend na‐ mens Palos Verde in Los Angeles aufgewachsen. Kerry hatte Lauren in einer E‐Mail beiläufig danach gefragt, ohne ein Wort von einem Typ zu sagen, und Lauren hatte geantwortet, in Palos Verde gäbe es einige der teuersten Immobilien von Südkalifornien. So etwa hatte es sich Kerry schon die ganze Zeit gedacht: Jared fuhr diesen Expedition, er trug eine zwei‐ hundert Dollar teure Sonnenbrille und wirkte nie kleinlich. Die reichen Kids, die sie kennen gelernt hatte, waren immer entspannt, machten sich nie Sorgen um Dinge, die Kerry in den Wahnsinn trieben, zum Beispiel, wie sie die Miete bezah‐ len sollte oder die Studiengebühren für das nächste Jahr. Aber die meisten reichen Jungs waren auch Arschlöcher. Daran gewöhnt, alles zu bekommen, was sie wollten, nahmen sie gewissermaßen an, das gelte auch für einen selbst. Aber Jared war anders. Und außerdem ertrug sein Ego die Tatsache, dass sie auf dem Bike wirklich besser war als er. Bessere Tricks, stärkere Beine. Sie waren sich sehr nahe gekommen, aber noch immer schlief sie nicht mit ihm. Das Gefühl vom ersten Nachmittag, als sie das schöne Erlebnis nicht mit Sex verhunzen wollte, hatte sich in eine leicht andere Richtung entwickelt. Es fühlte sich inzwischen so gut an, dass sie den perfekten Zeitpunkt für
Sex abwarten und es nicht nur deshalb tun wollte, weil es sie juckte, oder, schlimmer noch, weil er es »einfach brauchte«. Wie oft hatte sie diesen Spruch gehört? Typen, die ihren Se‐ xualtrieb hinstellten, als wäre er reines Schlangengift, und sie sei das einzige Gegenmittel. Was Jared und sie gemacht hatten, reichte ihr, um zu wis‐ sen, dass sie seinen Körper mochte, seinen Duft, den Ge‐ schmack seiner Haut, seinen Schweiß sogar, aber es reichte nicht, um viel mehr zu wissen. Ja, sie war heilfroh um Jared, denn der andere Mann in ih‐ rem Leben war Stassler, Ekel‐Ashley. Sie schüttelte den Kopf und wunderte sich, wo er überhaupt steckte. Es war schon halb acht, und normalerweise würden sie jetzt bereits in der Gießerei arbeiten. Scheiß drauf. Sie riss die Haustür auf und ging an seinem Jeep vorbei direkt zum Gästequartier. Zeit, die Initiative zu ergreifen. Sie hatte die nette kleine Praktikantin gespielt, und er hatte sie wie einen Putzlappen behandelt. Vielleicht würde er ihr ein bisschen Respekt entgegenbringen, wenn sie mehr sie selbst war, ein Riot Grrl auf Mission. Sie klopfte. Keine Antwort. Merkwürdig. Sie sah noch einmal zu seinem Jeep. Der war eindeutig hier. Sie klopfte fester, noch immer keine Antwort. Vielleicht ging es ihm nicht gut. Sie hatte von Leuten in seinem Alter gehört, die plötzlich an einem Herzinfarkt starben, oder etwas in der Art. Sie probierte den Türgriff. Die Tür öffnete sich zu einer Treppe, die zur Gästeunter‐ kunft hinaufführte. Sie sagte leise seinen Namen, benutzte ihn, um sich vorsichtig ihren Weg zu dem einen Ort zu bahnen, den er ihr verboten hatte.
Nichts. Aber er musste auf den Beinen sein; sie sah seine Kaffeetasse und eine leere Schüssel in der Spüle. Sie schaute sich um, nahm die Schönheit des Raums mit der Balkendecke auf. Aber wo war die Skulptur, an der er angeb‐ lich arbeitete, Family Planning #9? Dort hinten? Sie blickte zu dem Flur, der vom Hauptraum wegführte. Weiter wagte sie nicht zu gehen. Solange er nicht der Länge nach auf dem Boden lag, hielt sie es für besser, schleunigst von hier zu verduften und diese morgendliche Eskapade nie zu erwähnen. Sie eilte die Treppe hinab und wollte gerade nach draußen gehen, als sie eine zweite Tür hinter der bemerkte, die sie offen gelassen hatte. Es sah aus, als führte sie zur Scheune. Sie hatte nicht unbedingt vor, diese tatsächlich zu betreten, probierte auf jeden Fall aber die Klinke und spähte hinein. Was sie sah, verwunderte sie. Die Pferdebox, in der sie sich aufs Stroh hatte fallen lassen, hatte einen Holzboden. Sie konnte es sehen, weil das gesamte Stroh am hinteren Ende der Box zusammenge‐ schoben war. Ein Holzboden? In einer Scheune? Sie sah sich um. Nirgendwo sonst ein Holzboden. Überall Beton. Merk‐ würdig, sehr, sehr merkwürdig. Und es hatte sich auch selt‐ sam angefühlt, als sie darauf gelandet war. Hohl. Wie eine Tür. Unversehens kroch sie auf die Box zu, und dabei entdeckte sie einen Griffring im Holz. Zuerst berührte sie ihn nur leicht, lautlos. Dann hob sie ihn an und spürte nur wenig Wider‐ stand. Als die Tür sich hob, begriff sie, dass das Stroh ans En‐ de der Box gerutscht war, weil sie vorher schon jemand geöff‐ net hatte. Stassler, oder? Wer sonst? Dort unten brannten Lichter. Sie glaubte, jemanden zu hö‐
ren, dann war sie überzeugt, ein Stöhnen zu vernehmen. O Gott, er braucht Hilfe! All ihre negativen Gefühle ihm gegenü‐ ber verschwanden, als ihr klar wurde, dass er sich verletzt ha‐ ben musste. Sie rannte die Treppe hinab und rief seinen Namen. Als sie fast unten war, überblickte sie den Keller, und der Atem stock‐ te ihr so rasch, als hätte ein heranbrausender Sturm ihr alle Luft aus dem Leib gesogen. Vor ihr stand eine Reihe Skelette, in genau den gleichen Posen wie Stasslers Serie Family Plan‐ ning, eine lange Parade von Gebeinen, bekleidet mit Hosen und Röcken, Blusen und Hemden, sogar Brillen und Schuhen, Stiefeln und Gürteln. Sie starrten Kerry an, als stünden sie dort, um die Unvorsichtigen zu begrüßen. Eine Frau in einem grausigen Käfig schrie sie an, zu gehen, sofort! Laufen Sie! Holen Sie Hilfe! Aber in der Verwirrung des Augenblicks stand Kerry am Fuß der Treppe und schaute überall gleichzeitig hin, zu den Skeletten, den Hanteln und der Gewichtheberbank, zu dem Mann, der Frau und dem Jungen, die sich verzweifelt an die Gitterstäbe klammerten. Sie machte erst beim Anblick von Stassler Halt, der sich nackt hinter ei‐ nem Mädchen erhob, das auf dem unbefestigten Boden kauer‐ te und am Hals an einen der Stützbalken gekettet war. Die Frau im Käfig gestikulierte wild mit den Armen und schrie wieder: »Laufen Sie. Los. Holen Sie Hilfe! Bitte«, wäh‐ rend Stassler auf Kerry zuspurtete. Sie nahm zwei, drei Stufen auf einmal nach oben, Stasslers schwere Schritte direkt hinter ihr. Sie stolperte, als sie in die Scheune hinauskroch, sauste nach rechts, sah die große Dop‐ peltür, wusste, dass sie verschlossen sein würde – sie war im‐ mer verschlossen –, und fuhr herum, in Richtung der Tür,
durch die sie gekommen war. Als sie an der Box vorbeirannte, tauchte Stassler gerade auf. Er machte einen Satz auf ihre Füße zu und hätte beinahe einen Knöchel zu fassen bekommen. Die Berührung seiner Finger ließ sie aufheulen. Ihr Herz ging in so heftigen Stößen, dass sie meinte, es würde ihr die Rippen bre‐ chen. In Sekundenschnelle war sie aus der Tür und rannte auf die offene Fläche zwischen der Scheune und dem Haus. Sie lief zu ihrem Fahrrad auf der Veranda, kletterte über das Geländer und sprang in den Sattel. Sie strampelte wie rasend in Rich‐ tung Stufen, entschlossen, sie einfach hinunterzujagen und weiter, hinaus in die Wüste –, sollte er nur versuchen, sie da draußen einzuholen — als sie sah, dass er fast auf gleicher Höhe mit ihr den Rasen entlanglief, in einer direkten Linie, um sie abzufangen. Sie fuhr nicht nach unten, sondern an den Stu‐ fen vorbei, und eine Sekunde später, bestimmt nicht mehr, hörte sie das Hämmern seiner Füße wieder hinter sich. Das Geländer am anderen Ende der Veranda war nicht mehr als zehn Meter entfernt. Sie raste darauf zu. Er mochte annehmen, dass er sie in der Falle hatte. Jeder vernünftige Mensch musste es annehmen, aber Kerry riss das Rad herum und führte einen Sprung aus, bei dem sie mit dem Hinterrei‐ fen auf dem hölzernen Geländer landete, trat wütend in die Pedale und stieß sich ins Leere. Der Erdboden lag gute zwei Meter unter ihr. Sie sah ihren Schatten über das trockene Gras streifen und versuchte dann, auf beiden Rädern zu landen, geduckt, um den Aufprall abzu‐ federn. Doch sie war beim Absprung aus dem Gleichgewicht gekommen und erlitt einen bösen Sturz, bei dem sie sich die Haut an Schultern und Ellenbogen abschürfte. Sie hatte solche
Stürze schon öfter erlebt, und trotz der Erschütterung durch den Aufprall, durch Stassler und alles, was sie gesehen hatte, war sie überraschend schnell wieder auf den Beinen und schnappte sich ihr Rad wie in unzähligen Rennen, in denen sie wieder in Tritt kommen musste, während andere Biker wie wütende Pfeile an ihr vorbeischossen. Aber als sie diesmal mit aller Kraft ins Pedal stieg, stellte sie fest, dass die Kette bei dem Sturz aus dem vorderen Zahnrad gesprungen war und zwischen Kurbel und Rahmen feststeckte. Sie bewegte sich nicht mehr. Kaum hatte sie die schmierige Kette gepackt, um sie loszu‐ reißen, als Stassler sie von hinten rammte, dass ihr die Luft wegblieb. Er drückte ihr das Gesicht in die Erde, so dass sie, den Mund voll Staub und Dreck, nicht einmal schreien konnte. Stattdessen brach sie, völlig untypisch für sie, in Tränen aus. Stassler nahm sie in den Schwitzkasten und zerrte sie auf die Beine. Er war nackt, und sie spürte, wie sein schlaffer Penis an ihr Gesäß drückte. Sie glaubte, jeden Moment ohnmächtig zu werden, da sie kaum Luft bekam. Dennoch versuchte sie sich zu wehren, in‐ dem sie nach seinen Hoden griff, aber in diesem Moment stieß er ihr das knochige Knie ins Steißbein, dass sie wie gelähmt war. »Lass das, oder ich bring dich um.« Er sprach mit entmutigender Ruhe. Sie nickte, so gut es ging. Er ließ nur so weit locker, dass sie kurze Atemzüge ma‐ chen konnte, während er sie zurück zur Scheune und nach oben ins Gästequartier schleifte. »Du musstest es sehen, was? Konntest nicht draußen blei‐ ben, oder?«
»Ich dachte, Sie wären verletzt«, keuchte Kerry. »Ich wollte Ihnen helfen.« »Dein Problem ist, Kerry, dass du keine sehr originellen Ideen hast. Tatsache ist, du bist nicht gescheit genug zum Denken. Du bist wie der ganze Rest der Welt. Du treibst nur von einer albernen Besorgnis zur nächsten.« Er zog ein Paar Handschellen aus einer Küchenschublade und fesselte ihr die Hände auf den Rücken. Dann griff er wie‐ der in die Schublade nach einem Stück Kupferdraht von gut einem halben Meter Länge. Als sie anfing, um ihre Freiheit zu flehen, packte er sie so fest an den Haaren, dass sie glaubte, er würde sie ihr mit den Wurzeln ausreißen. Er drehte ihr den Kopf in seine Richtung. »Du machst wohl Witze. Dich gehen lassen?« Er musste darüber lächeln. »Ich weiß noch nicht, was ich mit dir mache, aber eins steht fest – ich lasse dich bestimmt nicht gehen.« Er riss ihr den Kopf vor und zurück. Ihre Haarwurzeln schmerzten höllisch, und die Augen tränten ihr. Dann zerrte er sie beide Treppen zum Keller hinunter und trieb sie an dem Mädchen vorbei, das an den Balken gekettet war. Es war eben‐ falls nackt und kniete immer noch. Kerrys Sicht war verschwommen, und sie verstauchte sich fast einen Knöchel, als er sie auf den Boden stieß. Stassler tauchte als dunkle, schattenhaft undeutliche Gestalt über ihr auf. Sie konnte nicht erkennen was er tat, spürte aber nur zu genau, wie er ihr einen spitzen Hüftknochen in die Schulter rammte, und dann einen furchtbaren, stechenden Schmerz, als er sie gegen den Käfig quetschte. Sie schrie auf und versuchte, ihre Tränen wegzublinzeln, aber es hätte ihr nichts geholfen, klar zu sehen: Er war bereits über ihren Rücken gebeugt, fädel‐
te den Kupferdraht durch die Handschellen und band sie an das Gefängnis aus Metall und Knochen. Dann, als sie endlich wieder deutlich sehen konnte, fasste er sie am Kinn und zwang sie, zu ihm aufzusehen. »Denk nicht mal dran, dich zu rühren. Verstanden?« Bevor sie aus seinen Worten schlau wurde, stieß er ihr den Kopf zur Seite und wandte sich dem Mädchen zu. »Also«, sagte er gut gelaunt. »Wo waren wir stehen geblie‐ ben?«
11 Beherrschung ist alles. Niemand gibt mir eine Antwort. Aber natürlich habe ich auf meine Frage, wo wir stehen geblieben waren, nicht ernsthaft erwartet, dass June sich melden und sagen würde: »Ach so, Sie hatten gerade Sex mit meiner Toch‐ ter. Sie wissen schon, die da drüben, mit dem Hundehalsband und der Kette.« Obwohl ich mir einmal im Leben wünschte, dass meine Gäste ein bisschen Humor zeigten. Ist das zu viel verlangt? Und dabei hatte der Morgen so gut angefangen. Ich hatte geduscht, mich rasiert und gefrühstückt und war dann in den Keller hinabgeschlendert, mit dem »robusten, aber eleganten« Hundehalsband, das ich bei dem S&M‐Laden in Iowa gekauft hatte. Schwarz, mit stählernen Nieten. Ehrlich, diese S&M‐ Freaks haben einfach keine Fantasie, wenn es um Farbe geht. Ihre Palette reicht von schwarz bis richtig schwarz. Aber sie verkaufen starke Halsbänder. Ein Blick, und man weiß, es ist für Leute gedacht, die es wirklich ernst meinen mit ihren Fesselspielen. Die Dinger würden einer Bulldogge wi‐ derstehen, und die Kette selbst hat ungewöhnlich schwere Glieder, genug um erheblichen Schaden zu verursachen, wenn man sich keine Gedanken um Hautabschürfungen und gebro‐ chene Knochen macht. Aber das tue ich, deshalb habe ich die Kette ausschließlich dazu benutzt, Diamond Girl zu sichern, zuerst an dem Halsband, das ein ergötzliches, silbernes, herz‐ förmiges Schloss hat, welches entlang der Vertikalachse zu‐
schnappt – in gezackter Linie, was zweifellos andeuten soll, dass das Herz gebrochen wurde, nun aber, dank der Segnun‐ gen von Bondagepraktiken wieder geheilt wird –, und dann an einem der Stützbalken im Keller. Diamond Girl verging das Lächeln nicht einmal, als ich sie auf alle viere kommandierte. »Sie sind ein echter Schweinehund«, fauchte June, was mich ungemein freute. Sie hatte mich wie einen Verbündeten be‐ handelt, als hätte ich ihr einen großen Gefallen getan, indem ich in der Zeit, die ich strikt für Training bestimmt hatte, auf Sex mit ihrer Tochter verzichtete. Irgendwelche Art moralischer Verwandtschaft mit June Cleaver ist aber ein durch und durch widerwärtiger Gedanke, deshalb freute mich ihre Schmähung unendlich. Und dabei hatte ich noch nicht einmal richtig ange‐ fangen. Wenn es zutrifft, dass es eine Menge über einen Mann aussagt, welche Feinde er sich schafft, dann ist es sogar noch wichtiger, aufzupassen, mit welchen Freunden man endet. »Ich bitte Sie, tun Sie es nicht«, sagte Jolly Roger ohne die geringste Überzeugungskraft. Er hätte es genauso gut von ei‐ nem Teleprompter ablesen können. »Ich … bitte … Sie … bla, bla, bla.« Bin ich jemals zuvor zwei Langweilern wie diesen begegnet? Sonnyboy wirkte interessiert wie immer an seiner großen Schwester, besonders, da eine gewisse sexuelle Spannung in der Luft lag, und er bekam einen höchst überzeugenden Wut‐ anfall, als seine Mutter ihn anfuhr, sich umzudrehen. Die Einzige, die gänzlich unaufgeregt blieb – außer mir na‐ türlich –, war Diamond Girl. Sie kniete auf allen vieren und reckte den Hintern in die Höhe wie eine Katze, die von einem warmen, behaglichen Schläfchen aufsteht.
Warum tat ich das? Ich meine, abgesehen von dem offen‐ kundigen Vergnügen? Um sie zornig zu machen. Um sie in absolute Raserei zu versetzen. Um ihre Wut zu einem Ausmaß zu steigern, das sie seit dem Tag ihrer Entführung nicht mehr gekannt haben. Ich habe das mehr oder weniger bei jeder Fa‐ milie tun müssen. Steigere ihre Abneigung, ihren Zorn, und du baust ihre Wut, ihren Hass auf, denn sie haben nur ein Ventil dafür: noch härter trainieren. Dem werde ich es zeigen! Es ist beinahe schon lächerlich, wie leicht sie zu manipulieren sind, aber man muss kein Psychiater sein, um die Reaktion zu verstehen. Die einzige Macht, die ich ihnen gegeben habe, ist die Macht, physisch stärker zu werden, was sie, bewusst oder unbewusst, mit der Macht gleichsetzen, mich zu töten. Ich bin fest überzeugt, dass einige der Männer sich tatsächlich als Gladiatoren gesehen haben, deren einzige Hoffnung darin be‐ steht, so stark zu werden, dass sie ihre Ketten sprengen kön‐ nen. Und sie sehen es garantiert ebenso, sie sprengen ihre Ket‐ ten wie Russell Crowe, dieses pummelige Bürschchen, das die Rolle in dem furchtbaren Film spielte, den alle so toll fanden. Man sollte meinen, sie hätten sie mit jemandem besetzen kön‐ nen, der wenigstens ein bisschen Muskeltonus aufweist. Ich habe Haustieren grauenvolle Dinge angetan, um eine Familie zum Schäumen zu bringen. Nichts treibt sie so zur Ra‐ serei, als wenn man sich an ihrem Kätzchen zu schaffen macht. Ich kann Ihnen beinahe garantieren, wenn ich im Begriff ge‐ wesen wäre, Unzucht mit einem kleinen Miezekätzchen von Jolly Roger zu treiben, er wäre weitaus aufgebrachter gewe‐ sen, als dieses armselige »Ich … bitte … Sie« annehmen ließ. Ich habe sie nach einem meiner »Ausrutscher« dazu ge‐ bracht, tagelang Eisen zu stemmen wie wahre Ungeheuer.
Was Diamond Girl selbst betrifft, sah ich es als Gelegenheit, sie Farbe bekennen zu lassen, zu sehen, ob all ihr Arschgewackel tatsächlich etwas bedeutete. Als ich mich hinter ihr niederließ, schaute sie zurück und hob die Augenbrauen. Sie hätte ebenso gut fragen können, worauf ich noch wartete. Holʹs dir, Kumpel. Ich riss ihr ohne Vorwarnung die Trainingshose herunter, kein Wort zu ihr oder zu der mickrigen Galerie mit ihrem Pro‐ testgewimmer. Ich tat es, das gebe ich zu, mit der Dringlich‐ keit eines Mannes, der sich viel zu lange zurückgehalten hatte. Ihr Höschen saß schief von der Gewalt, mit der ich an der Trainingshose gezogen hatte, deshalb richtete ich es, bevor ich es abschnitt, so gerade und symmetrisch aus wie die zwei Hälften eines süßen, sommerreifen Pfirsichs. Ich holte mein Schnappmesser hervor, dasselbe, mit dem ich im Kombi Sonnyboys Wange geritzt hatte. Die Klinge sprang mit einem vernehmbaren metallischen Klicken heraus, das sich in der Stille jener Augenblicke eindrucksvoll aus‐ nahm. Dann ließ ich sie unter das rechte Band ihres Bikiniun‐ terteils gleiten. Ich hob sie nicht mehr als zwei, drei Zentimeter an, bis die Schneide das Gewebe durchtrennte und das Gum‐ miband mit einem höchst angenehmen Klang riss. Ihre gesamte rechte Backe und der obere Teil der Spalte er‐ schienen nackt vor mir. Ich sah jene kostbare, gelbbraune Linie und den leicht zerknitterten Stoff auf ihrer Haut. Ich beugte mich vor und küsste die plüschigste Haut ihres Körpers, dabei achtete ich darauf, das vom Abrutschen bedrohte Höschen nicht zu berühren, denn ich hatte es nicht eilig damit, seine herrlich gefährdete Position zu stören. Die Stille in den darauf folgenden Sekunden war vollkom‐
men. Ich hatte immerhin ein Messer in der Hand, und ihre Tochter war völlig meiner Gnade ausgeliefert. Ich schnitt durch die andere Seite des Höschens, und es fiel als Platzdeckchen auf die Erde. An diesem Punkt stand ich auf, denn ich war immer noch bekleidet, und klappte die Klinge mit einem weiteren deutlich hörbaren Klicken zurück ins Gehäuse. Ich legte meine Shorts und das T‐Shirt ab. Mein Glied war geschwollen, und ich sah June heimliche Blicke darauf werfen, ihre hasserfüllten Augen flitzten zwischen ihm und Diamond Girls hübschem Angebot hin und her, als hätte sie die Verhältnisse im Raum bestimmt und bei ihrer Tochter ein Defizit festgestellt. Dann hörte ich Jolly Rogers ungehobelte Stimme wieder. »Sie ist noch Jungfrau, du Arschloch.« Jolly Roger bringt mich noch um. Wenn es eine unangemes‐ sene Bemerkung zu machen gilt oder sich die falsche Zeit da‐ für auszusuchen, dann ist er zur Stelle. Diamond Girl und Jungfrau? Er muss halluziniert haben. Die Kleine war genauso wenig Jungfrau wie Madonna. Wie die Dinge lagen, hielt ich meinen Humor zurück und konzentrierte mich auf die vorliegende Aufgabe. Ich fand Diamond Girl so seidig vor, wie ich es mir ausgemalt hatte, und wenn man bedenkt, wie lebhaft meine Fantasien waren, wurde sie ihnen zu einem sehr großen Teil gerecht. Und ihre Begeisterung war ganz ungewöhnlich. Ihr Stöhnen grenzte an Schreie. In diesem Moment brach die Hölle los. Zuerst merkte ich gar nicht, dass etwas nicht stimmte, bis June zu schreien anfing, und als ich aufblickte, tat ich es mit größtem Widerwillen, denn meine Augen hatten sich an der Senke von Diamond Girls Kreuz geweidet, daran, wie all die‐
ses schlanke Muskelgewebe in die festen Kissen ihres Hin‐ terns auslief. Nur Augenblicke zuvor hatte ich ihren Rücken geküsst, meine Zunge ihre Wirbelsäule hinaufgleiten lassen, war dem Pfad nachgefahren, den meine Hand angelegt hatte, als ich sie im Wagen zum ersten Mal berührte, als ich ihr Wasser gab und all diese knochigen Erhebungen ertastete. Ich genoss immer noch ihren Geschmack, die Saftigkeit ihrer straffen Jugend, und erfuhr ihre wirklich ausgezeichnete Muskelbeherrschung, wie man sie bei Frauen im Allgemeinen nicht findet, bis sie ihren Dr. Kegel studiert haben, als June mit ihrem geistlosen, wenngleich hilfreichen Kreischen be‐ gann. In diesem besonderen Augenblick war ich an einem dummen, tölpelhaften Schachzug von Kerry Waters ungefähr so interessiert wie an der Teilnahme an einem Gottesdienst; aber da stand sie kuhäugig glotzend auf der anderen Seite des Kellers und verübte ihren lieblosen Akt von Coitus interrup‐ tus. Was mich in jenen ersten Augenblicken eigentlich am mei‐ sten erzürnte, war die Würdelosigkeit, im Adamskostüm los‐ rennen zu müssen, wobei mein begieriger Penis wie wild um‐ herhüpfte und mir gegen Beine und Bauch klatschte wie ein angeschlagener Boxer, der von den Seilen zurückprallt. Dann schürfte ich mir noch das verdammte Knie auf, als ich sie zu Fall brachte. Die größte Überraschung kam jedoch, nachdem ich Ihre Widerlichkeit an den Käfig gefesselt und ge‐ sagt hatte: »Also, wo waren wir stehen geblieben?« Die Ant‐ wort, die folgte, hätte wohl die meisten Sterblichen schockiert. Sie überraschte sogar mich. Ich blickte nach unten und sah Diamond Girl wie einen Hund vor mir knien, der um einen Knochen bettelt, sie hielt die Hände wie Pfoten vor der Brust
… und hatte mein Messer im Mund. Ich war ohne es losge‐ rannt. Ich hatte auch meine Shorts zurückgelassen. Ich nahm ihr das feuchte Messer ab und beeilte mich, in meinen Taschen nach dem Schlüssel zum Käfig und dem für das Halsband zu suchen. Sie waren weg! Aber als ich mich umdrehte, hielt das Mädchen sie zwischen den Lippen. Sie hätte sich befreien können, sie hätte ihre Familie befrei‐ en können. Es wäre ein Albtraum gewesen hier unten. Aber Diamond Girl tat nichts dergleichen. Stattdessen opferte sie ihre Familie und ihr eigenes mögliches Überleben. Hinter mir hörte ich jemand an den Käfig hämmern. Es war Jolly Roger. Zuerst schien er sprachlos, verständlicherweise, und ich dachte, zur Abwechslung bliebe mir seine begrenzte Ausdrucksfähigkeit erspart, aber dann fand er seine Stimme und brüllte: »Du gottverdammte, blöde Schlampe!« »Aber Roger«, erinnerte ich ihn, »du hast doch gesagt, sie sei eine Jungfrau, weißt du noch?« Und ich kehrte ruhig zu den Verrichtungen zurück, die ich so vorzüglich ausgeführt hatte, ehe ich so rüde unterbrochen wurde. Beherrschung ist alles.
12 Aktstunde. Lauren spürte heute morgen zusätzliche Energie in der Luft liegen, das Schwirren, das sich einstellte, wenn in Kürze ein schöner Körper in der Mitte des Ateliers posieren würde. Alle elf Studenten hatten sich an ihrem Arbeitsplatz nieder‐ gelassen. Nur einer blieb leer, und beim Blick darauf ergriff Lauren ein Gefühl der Beklommenheit. Es wäre Kerrys Platz gewesen, hätte sie nicht das Praktikum gemacht. Und wenn sie das Praktikum nicht gemacht hätte, erinnerte sich Lauren voller Grimm, dann würde sie jetzt nicht in Utah vermisst. Stassler hatte ihr Verschwinden vor zwei Tagen gemeldet. Lauren hatte hektisch telefoniert, mit dem Büro des Sheriffs, mit den Rettungsdiensten in Moab, und sie hatte auch bei Stassler selbst angerufen, der sich allerdings bisher nicht die Mühe gemacht hatte, zurückzurufen. Wie konnte Kerry ein‐ fach verschwinden? Lauren schaute nach links und rechts; wenn die zwölf Ti‐ sche um das Modellpodest herum eine Uhr waren, dann stand der leere Platz auf der Mitternachtsposition. Oder Mittag? Ein sonderbares Gefühl überkam sie bei der Frage, sie kam sich abergläubisch vor; aber diese Erkenntnis ließ weder die Gän‐ sehaut auf ihren Armen vergehen noch lenkte sie ihre Gedan‐ ken von dem verschwundenen Mädchen fort. Kerrys Umgang mit der menschlichen Gestalt war herausragend gewesen, auch wenn sie sich entschied, diese nicht exakt wiederzuge‐
ben. Ihre Beherrschung der Materie erlaubte ihr, einen Muskel, eine Sehne oder ein Gesichtsmerkmal anzudeuten und dann über die prosaisch genaue Darstellung hinauszugehen, um mehr in ihrem Medium zu entdecken, als es die bloße Abbil‐ dung gestatten würde. Es war für Lauren unvorstellbar, dass ein derart talentiertes Mädchen einfach so von der Erde ver‐ schwinden konnte, weggewischt wie irgendwelcher Staub. Ein Stück Styropor brach mit lautem Klang, wie ein übers Knie gebrochener Zweig, als Melanie, auch heute wieder mit Zöpfchen und rosarotem Pullover, Stücke davon zusam‐ menzwängte, um das Gerüst ihrer Skulptur aufzubauen. Die meisten hatten bereits die groben Umrisse des Modells mit Styropor, Holzlatten und leeren Wasserflaschen herausgear‐ beitet, dazu reichlich tropfnassen Gips aufgetragen. Heute Vormittag würden sie noch mehr Gips hinzufügen, bis sie ge‐ nügend Masse hatten, damit sie anfangen konnten Arme und Beine, Kopf und Rumpf, Brüste und Gesäß herauszuhauen und zu meißeln. Das Modell, Joy Anders, wartete, bis die Studenten began‐ nen, ihr Material und ihre Werkzeuge zurechtzulegen, ehe sie Pullover, Halstuch und kiwifarbenes Top auszog. Sie trug kei‐ nen BH. Auch kein Höschen. Sie legte sich auf ein weißes Tuch und richtete eine darunter liegende Schicht aus Schaumstoff‐ kissen so, dass sie es bequem hatte. Ihre Haut war rundum leicht gebräunt. Makellos. »Hier«, sagte Lauren und beugte sich über sie, »auf die lin‐ ke Seite.« Joy musste es in der Zeit seit der letzten Stunde ver‐ gessen haben. Sie war zuverlässig und bekam deshalb eine Menge Arbeit am Fachbereich. »Genau, Ober‐ und Unter‐ schenkel im rechten Winkel.«
Sie deutete über Joys Körper, berührte sie aber nie. Die Bei‐ ne des Mädchens nahmen die richtige Position ein. »Jetzt brauchen wir wieder diese kleine Drehung im Bauch‐ bereich, und die Schultern nach hinten.« Joy bewegte sich mit der Leichtigkeit eines Yogis, allerdings war die Stellung nicht so anspruchsvoll: Ihr Oberkörper war im leichten Winkel zur Hüfte in Richtung Decke gewandt, um die Struktur von Brust, Rippen und Unterleib zu betonen. Die klassische Stundenglasform. Meist nahm Lauren die Nacktheit eines Körpers in einem Atelier kaum zur Kenntnis. Sie hatte Hunderte von Stunden in Aktmodellieren hinter sich, hatte sie als Studentin selbst be‐ legt, als Professorin unterrichtet, aber Joys Tattoos waren höchst erstaunlich. Eine Elfe in den Farben Bernstein und Blaugrün flammte aus ihrem spärlichen Schamhaar auf und erstreckte sich bis knapp über den Bauchnabel. Die Elfe war ein Geschöpf mit üppigen Flügeln, vielleicht das attraktivste Tattoo, das Lauren je gesehen hatte, was nicht viel bedeutete, denn ihrer Ansicht nach verhielten sich Tattoos zu Kunst wie Bar‐Combos zu Musik. Ein traditioneller Panther in schwarzer Tinte sprang von Joys Ferse zu ihrem Rist, während eine Libelle – wiederum in Bernstein, aber mit schwarzem Umriss – über dem oberen Rückgrat schwebte. Was Laurens Blick jedoch am meisten anzog, war nicht Haut, wie attraktiv sie auch sein mochte, sondern der Stahl, der ihre zartesten Stellen durchbohrte. Joy hatte einen Einzoll‐ nagel in jeder der beiden kleinen, rosafarbenen Brustwarzen. Sie sahen scheußlich schmerzhaft aus. Und wie würde es sein, wenn sie einmal stillte?
Lauren fragte Joy, ob sie es bequem habe, eine Frage, die mit zusätzlicher Bedeutung befrachtet schien. »Alles bestens«, sagte Joy. Ringsum hatte inzwischen die Arbeit begonnen, Gipsstaub hing in der Luft und kreiselte wie strahlend weiße Galaxien in den Lichtstrahlen, die durch die Jalousien fielen. Mehrere Stu‐ denten trugen Gazemasken, um die Partikel herauszufiltern. Man hörte Schleifen, Schaben und Meißeln, dazu das Knistern großer brauner Säcke mit Gips, wenn Studenten das ver‐ schlammte weiße Puder herausschöpften und in Plastikeimern mit Wasser mischten. Lauren ließ sich an dem leeren Arbeitsplatz nieder und dachte wieder an Kerry. Ihre Befürchtungen, was dem Mäd‐ chen zugestoßen sein könnte, lagen wie ein Schatten auf ihr, seit sie die bedrückende Nachricht gehört hatte. Sie musste sich zwingen, weiterzuarbeiten. Einige Studenten häuften den nassen Gips noch mit den Händen auf ihre Formen, aber andere waren bereits so weit fortgeschritten, dass sie Werkzeuge benutzen mussten, um die Gestalt von Joys Körper herauszuarbeiten. Felicia führte Meißel und Hammer mit der zarten Zurückhaltung einer Maniküre. »Sie sind zu zurückhaltend«, sagte Lauren. »Lassen Sie mich mal.« Sie nahm den Meißel und versetzte Felicias Skulptur einen satten Schlag. Ein Stück Gips sprang ab. »Wenn Sie in diesem Stadium nur herumschnipseln, wer‐ den Sie nie fertig. Arbeiten Sie die grobe Form heraus, dann können Sie zu den Feinheiten übergehen.« Felicia nickte, und als Lauren ein paar Schritte zurücktrat,
wandte das Mädchen geringfügig mehr Kraft an als zuvor. Es war immerhin ein Anfang. Bisher hatte nur Cornelia die volle Rundung von Joys Hüf‐ ten und Gesäß eingefangen. Cornelia war zwanzig Jahre lang therapeutische Masseurin gewesen, ehe sie wieder zu studie‐ ren begann, und ihre Hände waren intim vertraut mit der Ge‐ stalt eines menschlichen Körpers. Lauren spürte das im glei‐ chen Maß, wie sie es sah. Wenn sie Cornelias Skulptur berühr‐ te, füllte die Schwere des menschlichen Hinterteils ihre Hand. Und dessen Wärme ebenso, was Studienanfänger immer schockierte, die nicht wussten, dass Gips die besondere chemi‐ sche Eigenschaft hatte, sich beim Trocknen zu erwärmen und sich genauso warm anzufühlen wie ein Menschenkörper. Lauren sah auf die Uhr und verdrückte sich kurz aus dem Atelier, um Ry anzurufen, der heute in Moab eintreffen sollte. Aber als sie in ihr Büro kam, fand sie eine Nachricht von Ash‐ ley Stassler vor. Dann hatte er also endlich zurückgerufen. Sie wählte umgehend seine Nummer und hörte wieder nur seinen Anrufbeantworter. Zum vierten Mal. Als sie dazu an‐ setzte, eine weitere Nachricht zu hinterlassen, hob er ab. »Hier ist Ashley Stassler.« »Hallo, ich bin Lauren Reed, Kerrys Professorin. Haben Sie schon etwas von ihr gehört?« »Nein, leider nicht. Nicht das Geringste. Der Sheriff und seine Leute haben keine Spur von ihr oder ihrem Fahrrad ent‐ deckt.« »Was soll das heißen, von ihrem Fahrrad?« »Ich dachte, das wüssten Sie. Sie ist zu einer Fahrradtour aufgebrochen und kam nicht mehr zurück. Man hat Such‐ trupps losgeschickt.«
Natürlich wusste sie von den Suchtrupps, aber eine Fahr‐ radtour? »Wo hat sie diese Tour gemacht?« »Das wissen wir nicht. Wenn wir es wüssten, wären wir ein ganzes Stück weiter«, sagte er mit einem erkennbaren Anflug von Ungeduld. »Haben Sie auch nach ihr gesucht?« Sie hoffte es von Her‐ zen. Wenn aus keinem anderen Grund, dann damit sie ihrem Dekan sagen konnte, Ashley Stassler persönlich habe nach ihr geforscht. »Ich?« »Ja.« »Ich arbeite. Ich führe hier kein Bergungsunternehmen. Sie brach zu einer Tour auf und kam nicht zurück. Ich habe den Sheriff angerufen. Was soll ich noch tun? Sie haben mit Hub‐ schraubern und Flugzeugen gesucht. Ist Ihnen klar, dass mei‐ ne Gießerei zehnmal am Tag überflogen wird, seit sie weg ist, und jedes Mal, wenn sie drüberschwirren, bebt das Alginat.« »Tut mir Leid«, sagte sie mit so wenig Gefühl, dass sie selbst überrascht war, aber sie dachte hauptsächlich an das Alginat. Klar, dass er es benutzte. Das zähe grüne Zeug konnte die feinsten Einzelheiten einfangen, was zweifellos wichtig war für einen Mann, dem es um die körperliche Intimität des Schreckens ging. »Mir auch. Dieser ganze Vorfall ist höchst bedauerlich und eine furchtbare Störung. Ich glaube nicht, dass ich an Ihrem kleinen Programm noch einmal teilnehmen will.« »Ich glaube nicht, dass die Möglichkeit nach dieser Ge‐ schichte überhaupt noch besteht.« »Da haben Sie Recht. Ich will nicht unhöflich sein, aber ich bin nur ans Telefon gegangen, weil ich hörte, dass Sie es sind,
und jetzt muss ich wirklich zurück an die Arbeit. Gibt es sonst noch etwas?« Trotz seiner Beteuerung des Gegenteils war Lauren von seiner Unhöflichkeit überrascht. Nicht, dass sie nach allem, was sie über ihn gelesen hatte, große Freundlichkeit erwartet hätte, aber vielleicht ein wenig Mitgefühl, ein bisschen echtes Bedauern. »Nein, im Moment nicht.« »Guten Tag dann.« Er legte auf. Lauren saß da und starrte auf das Telefon, bis es zu blinken begann. Sie sah auf die Uhr und überlegte, ob sie Ry anrufen sollte. Spontan tat sie es, hörte aber nur seine Ansage. Bis zum Unterrichtsende hatten nur wenige Studenten ein ungefähres Abbild von Joys Körper in Gips hinbekommen. Die meisten waren frustriert darüber – und demütiger ge‐ worden –, wie schwierig es war, die menschliche Gestalt zu formen. Joy regte sich, streifte sich das Oberteil über und rückte es sorgfältig zurecht; sie war so unbefangen in ihrer Nacktheit, dass sie es nicht eilig hatte, die Hose anzuziehen. Lauren brachte sie zur Tür und dankte ihr. Nicht alle Mo‐ delle fühlten sich verpflichtet, konsequent zu erscheinen. Und wer wollte es ihnen verübeln, wenn sie fern blieben? Dreißig Dollar, um drei Stunden lang in einer unnatürlichen Position absolut stillzuhalten, mit nur einer kurzen Pause? Das war schwer verdientes Geld. Nachdem Joy fort war, spazierte Lauren zur Mitte des Raums, wo sie von all den unvollendeten Skulpturen umgeben war. Alle besaßen zumindest eine ungefähre Form und hatten
an Größe zugenommen. Nur der Arbeitsplatz, der für Kerry bestimmt gewesen wäre, lag leer und nackt in seiner Einsam‐ keit da. Mitternacht? Oder Mittag? Zahlreiche Online‐Berichte wiederholten das Wenige, was über Kerrys Verschwinden bekannt war. Lauren fand jedoch eine AP‐Meldung, die ein Zitat von Stassler beinhaltete. Ihr wurde regelrecht übel, als sie es las. Er sagte, das Mädchen habe ein ungewöhnliches Interesse an verlassenen Minen ge‐ zeigt. Lauren saß an ihrem Schreibtisch und stellte sich Kerry schwer verletzt und benommen oder tot in einem Bergwerks‐ schacht vor, als Ry zurückrief. »Du hörst dich nicht gut an«, sagte er. »Mir geht es auch nicht gut.« Sie erzählte ihm, was sie gele‐ sen hatte. »Das wäre eine Erklärung«, sagte er ernst. »Hier gibt es überall verlassene Bergwerke.« »Was hat man abgebaut? Gold?« Diese Schächte konnten sich endlos erstrecken.« »Uran.« »Uran!« »Das ist nicht so schlimm, wie es sich anhört. In eine Uran‐ mine zu fallen ist nicht viel gefährlicher, als in irgendeine an‐ dere Mine zu fallen.« Vor allem, wenn man dabei ums Leben kommt, aber das sagte Lauren nicht. Sie hörte Ry fragen, ob Kerry je über alte Bergwerke gesprochen hatte. »Nein, aber das heißt nicht, dass sie sich nicht dafür interes‐ sierte. Sie war …« Lauren ertappte sich dabei, wie sie die Ver‐
gangenheitsform benutzte, und zuckte zusammen. »Sie ist praktisch an allem interessiert.« »Sie ist hier das große Thema in den Medien. Die Suche läuft noch, und überall hängen Plakate von ihr.« Lauren erzählte ihm von ihrem Gespräch mit Stassler. »Ich habe schon gehört, dass er grob sein kann.« »Grob? Ja, das kommt hin«, sagte Lauren. »Man könnte auch unsensibel sagen, oder gefühllos. Kannst du dir vorstel‐ len zu sagen: ›Ich führe hier kein Bergungsunternehmen‹? Und dich dann zu beschweren, dass die Suchflugzeuge dein Alginat erschüttern? Ich wünschte, er hätte den Anruf von ih‐ ren Eltern erhalten.« »Du hast mit ihnen gesprochen?« »Gestern Nachmittag. Sie sind wie gelähmt. Sie sind auch dort, im Best Western.« »Dann hat er wahrscheinlich von ihnen gehört.« »Wann sollst du mit dem Interview anfangen?« »Morgen.« »Vielleicht rufst du besser an und erkundigst dich, ob er es noch machen will. Kann sein, dass er wegen der ganzen Ge‐ schichte nicht will.« »Kommt nicht in Frage, dass ich ihn anrufe und ihm die Gele‐ genheit gebe, einen Rückzieher zu machen. Das ist ein alter Re‐ portertrick. Du tauchst einfach auf, als wäre nichts passiert. Auf diese Weise fällt es den Leuten viel schwerer, dich abzuweisen.« »Frag nach ihr, ja?« »Mache ich. Es würde auch komisch wirken, wenn ich es nicht täte.« »Das ist genau die Geschichte, die deinem Buch noch die nötige Würze gibt.«
»Nein. Sie werden sie finden, es wird ihr gut gehen, und die ganze Aufregung wird sich legen.« Lauren glaubte nicht, dass sich irgendetwas legen würde, aber es schien ihr herzlos, es zuzugeben. Sie stellte sich Ry mit dem Handy am Ohr in der Innen‐ stadt von Moab vor, wobei sie sich die Stadt viel mehr vor‐ stellen musste als ihn, mit seinem freundlichen Gesicht, dem eckigen Kinn, den strahlend braunen Augen und dem Haar, das sich so gut anfühlte, wenn sie ihre Hände darin vergrub. »Ich will unbedingt wissen, ob du irgendeine Reaktion von ihm bekommst, wenn ihr Name fällt.« »Ich auch. Ich gebe … Bescheid … ich …« Der Empfang brach zusammen. Sie rutschte vor und stieß mit dem Fuß an Leroy Brown, der den ganzen Vormittag in ihrem Büro geschlafen hatte. »Ich höre dich nicht mehr richtig. Ry? Ry?« Die Leitung war tot. Gegen ihren Willen musste Lauren wieder daran denken, dass Kerry vielleicht in einer verlassenen Mine lag. Die Mög‐ lichkeit eines solchen Sturzes setzte ihr schwer zu. Das musste sein, wie in eine dunkle Felsspalte zu fallen, oder in eine Schwindel erregende Schlucht. Wie in die Hölle zu stürzen. Lauren hatte immer schreckliche Angst vor Höhen gehabt und eine noch schlimmere Furcht davor, in große Erdöffnungen zu fallen. Sie schüttelte sich und stand auf. »Komm, Leroy, holen wir uns ein Mittagessen.« Leroy stand auf und führte eine perfekte »Hundeverbeu‐ gung« aus: ausgestreckte Vorderpfoten, durchgedrückter Rücken und das Hinterteil in der Höhe.
»Der reinste Hunde‐Yogi.« Sie lächelte. Zum ersten Mal seit zwei Tagen. Die beiden hatten kaum das Büro verlassen, als sie Dr. Aiken über den Weg liefen, dem sauertöpfischen Dekan des Fachbe‐ reichs. Er verzog das Gesicht beim Anblick Leroys, ignorierte ihn dann aber; Hunde waren auf dem Campus so verbreitet wie Aktionsaufrufe am Schwarzen Brett. »Ich erhielt«, intonierte er blasiert, »heute Morgen Besuch von Präsidentin Nacin. Sie möchte wissen, wieso« – wieder dieser hochnäsige Ton – »wir die Lage nicht besser überprüft haben, ehe wir eine unserer Studentinnen« – es folgte ein sar‐ kastischer Singsang – »fröhlich ihres Weges ziehen ließen.« »Aber was hätte ich denn tun sollen? Seien wir realistisch, das Mädchen ist erwachsen. Sie hat ein Praktikum bei einem weltberühmten Bildhauer absolviert. Es ist ja nicht so, als hät‐ ten wir sie ohne Führer in den hintersten Winkel des Amazo‐ nas geschickt.« »Es wäre aber aufs Gleiche herausgekommen«, brauste Ai‐ ken auf. Leroy knurrte. Aiken trat einen Schritt zurück. »Er mag es nicht, wenn man mir gegenüber laut wird.« »Ich bin nicht laut geworden.« »Er war aber dieser Ansicht. Wollen Sie es mit ihm diskutie‐ ren?« Ach, die Vorzüge einer unkündbaren Stellung. Aiken ging nicht darauf ein, sprach aber mit merklich ge‐ dämpfter Stimme weiter. »Was wissen Sie eigentlich über Stassler?« »Sie meinen, außer dass er einer der führenden Bildhauer
auf der Welt ist? Außer dass er es 1994 auf das Titelblatt von Time gebracht hat? Dass er Gegenstand einer preisgekrönten Fernsehdokumentation war? Nicht viel. Er war bereit, Kerry als Praktikantin zu nehmen, nachdem sie ihm geschrieben hat‐ te.« »Und Sie haben ein Empfehlungsschreiben geschickt?« »Sie zählt zu meinen besseren Studenten. Eine der besten, die ich je hatte, deshalb habe ich natürlich …« »Eine der letzten, die Sie je gehabt haben werden.« Aiken schürzte die Lippen, dass sie so weit vorstanden wie die Nase. »Was soll denn das heißen?« »Wir verlieren unsere Studenten hier nicht.« Grrrr … »Schaffen Sie diesen Hund vom Campus.« Lauren schüttelte den Kopf. »Solange die anderen fest ange‐ stellten Fakultätsmitglieder Hunde haben dürfen, behalte ich meinen. Und wir haben Kerry Waters nicht ›hier‹ verloren. Sie wird irgendwo in der Wüste im Südosten Utahs vermisst.« Aiken stürmte davon. Leroy würdigte ihn keines Blickes, aber Lauren schaute seiner entschwindenden Gestalt mit zuneh‐ mendem Reuegefühl nach. Und als er um die Ecke gebogen war, sah sie ihr eigenes Spiegelbild in einem hohen, gläsernen Schaukasten. Ihr war, als blickte sie in die akademische Versi‐ on eines verlassenen Bergwerksschachts. Auch wenn man eine Festanstellung innehat, kann einem ein rachsüchtiger Dekan jeden Tag zur Hölle machen.
13 Trotz meiner äußerlichen Beherrschtheit bin ich nicht ohne Besorgnis. Sie reicht tief und ist verständlich. Sie hat sogar ei‐ nen Namen, auch wenn er mir nur mit Abscheu über die Lip‐ pen kommt. Nachdem ich dieses erbärmliche Frauenzimmer in den Käfig zu den Vandersons geworfen hatte, musste ich sie als vermisst melden. Doch vorher musste ich noch ihr Rad in meinen Jeep packen und es neben einer alten, tief ausgefurch‐ ten, zweispurigen Straße oben in den Bergen abladen. Dann musste ich wieder nach Hause fahren und eine angemessene Zeit warten, bis ich im Büro des Sheriffs anrief. Wo zum Teufel steckt sie? Ich probte den Widerwillen, den ich tatsächlich empfunden hätte, wenn sie am nächsten Morgen nicht erschienen wäre, um mir bei der Arbeit zu helfen, aber selbst dann konnte ich den Sheriff noch nicht anrufen. Musste man nicht vernünfti‐ gerweise einfach annehmen, dass sie die Nacht bei ihrem Freund verbrächt hatte, diesem Jared, den sie wohlweislich nicht mit hierher brachte? Das hat sie zu mir gesagt, Officer, dass sie und Jared eine Tour unternehmen wollten. Dass sie und Jared zum Essen ausgingen. Dass sie und Jared ihre ge‐ samte Zeit miteinander verbrachten. Eine schnelle Liebesge‐ schichte, sehr schnell, soweit ich sehen konnte. Und waren sie … intim? Das weiß ich nicht. Sie gestand mir, dass er sie »bedräng‐ te«. Ja, ich glaube, das war das Wort, das sie benutzte. Aber
sie fuhr gern mit ihm Mountainbike, sie sagte, er sei sehr kräf‐ tig. Und wenn sie mir erzählen, sie hätten Spuren eines Kamp‐ fes in der Nähe ihres Fahrrads gefunden, werde ich nur leicht verwundert den Kopf über das Stück Stoff schütteln, das ich aus dem Zwickel ihrer Radlerhose gerissen und in die Kette geklemmt habe. Dann werde ich aufblicken und sagen: Spuren eines Kampfes? Nun, Officer, sie hat bestimmt mit gleicher Münze zurückgezahlt. Sie ließ sich von niemandem verar‐ schen, meine Kerry. Ja, ich habe gut geübt für die verfahrens‐ technische Denkweise der Polizei, aber ich hatte nicht voraus‐ gesehen, wie rasch der Sheriff und sein Detective darum bitten würden, sich umsehen zu dürfen. »Aber ja, unbedingt«, sage ich zu ihnen, »Sie können sich überall umschauen.« Auch hatte ich mir nicht vorgestellt, wie beunruhigend ich die obligatorische Durchsuchung des Geländes finden würde. Aber hätte ich mich dagegen verwahrt, wären sie mit einem Durchsuchungsbefehl und einem Argwohn tief wie die Wüste wiedergekommen. Sie hätten jeden Quadratzentimeter der Gießerei, des Hauses, der Scheune und der Ranch gründlich durchkämmt. Das wäre keinesfalls angegangen. Aber auch so bereue ich mein großzügiges Angebot schon bald. Sie strömen durch jede Tür, der Sheriff, der Detective und dazu noch zwei krötenartige Deputies, Lakaien. Der Detective fragt nach einem Keller, also führe ich sie ohne Zögern die Treppe von der Küche im Haupthaus hinab, wobei mir par‐ tout nicht mehr einfällt, was ich dort unten eigentlich aufbe‐ wahre. Nichts, wie sich herausstellt, aber von den Mormonen ist noch altes Baumaterial übrig, ein Stapel Nut‐ und Feder‐
Bretter, einige Säcke Zement, die aufgeplatzt waren, und eine Maurerkelle. Der Lehmboden überzeugt sie offenbar, denn nachdem sie ihn eingehend begutachtet haben und keine Störung in seiner Oberfläche entdecken, ihn sogar hart wie Beton vorfinden, stapfen sie wieder nach oben. Ich betrachte es zwar als Belei‐ digung, dass sie mich, wenn auch nur vorübergehend, ver‐ dächtigen, einen John Wayne Gacy, diesen primitiven Clownmaler, nachzuahmen, der seinen Keller in einen Fried‐ hof verwandelt hat, aber ich weiß auch, dass es klüger ist, meinen Kummer still zu erdulden, und sei es nur dieses eine Mal. Sie denken nicht einmal daran, nach einem Keller in der Scheune zu fragen. Wer hätte je von so etwas gehört? Nie‐ mand gräbt einen Keller unter einer Scheune. Sie gehen an den Stallboxen vorbei, der Sheriff fragt, ob ich manchmal Pferde hier stehen habe, was ihn meiner Ansicht nach mehr persön‐ lich als beruflich interessiert – wahrscheinlich hat er eine neun‐ jährige Tochter, die Pferde einfach liebt (»Kriegen wir eines, Daddy? Bitte!«) –, und dann marschieren sie schweren Schrit‐ tes die Stufen zum Gästequartier hinauf. Sie schauen in jedem Raum nach, öffnen sogar Schranktü‐ ren. Sie finden nichts. Ich lasse es mir angelegen sein, die gan‐ ze Zeit freundschaftlich mit ihnen zu plaudern. Ich zeige ihnen den Vorratsraum, den sie vielleicht übersehen hätten, aber mehr nicht: Ich will nicht übermäßig hilfreich oder was immer erscheinen. Ich fahre sie hinaus zum Tor und winke zum Abschied. Ich war offen, aufrichtig, ehrlich. Gut einstudiert.
Ihre Suche geht weiter. Ich weiß, dass sie die Wüste durch‐ kämmen. Ich habe ihnen von Kerrys Interesse für verlassene Bergwerke erzählt und mehreren Reportern, die angerufen haben, das Gleiche gesagt. Ich habe genügend Hinweise aus‐ gestreut, um selbst die trübste Birne hell weiterstrahlen zu las‐ sen. Ich denke, ich kann nun unbesorgt zu meinen nächtlichen Exkursionen zurückkehren. Einen einzigen heilsamen Effekt hat Kerrys Ankunft: Sie hat den Vandersons erzählt, dass deren Verschwinden kein Thema für die Nachrichten ist, dass sie nie etwas über sie gehört hat, obwohl die Zeitung ihres Heimatortes im Regionalteil ihrer Sonntagsausgabe über die Sache berichtet hatte. Nicht einmal auf der Titelseite. Aber es hätte ohnehin keine Rolle gespielt. Ich bezweifle, dass Ihre Widerlichkeit davon Notiz genommen hätte, wenn man es ihr quer über die Stirn geklebt hätte. Wie der größte Teil ihrer Generation wirkt sie bedauernswert unin‐ formiert, und ich bin mir keineswegs sicher, ob sie den Namen des Vizepräsidenten nennen könnte, wenn sie müsste. Aber das ist ein wunderbarer Dienst von ihr, diese Informa‐ tion für die Vandersons, dass sie ganz und gar keine Nachricht sind. Ich will nicht, dass sie an Wunder glauben. Ich will, dass sie an Muskeln glauben und letzten Endes nur an mich. Ich entscheide, ob sie leben. Ich entscheide, ob sie sterben. Ich bin der eine wahre Gott für sie, ihr Jesus und Mahatma. Abgesehen von ihrem rapide schwindenden Wert als Überbringerin schlechter Nachrichten würde Ihre Widerlich‐ keit überhaupt keinem Zweck dienen, nur dass sie jetzt eine Beziehung mit Diamond Girl anzuknüpfen scheint. Zum ers‐ ten Mal spricht Diamond Girl mit jemandem im Käfig. Sie flüstern hin und her wie Schulmädchen in der letzten Reihe
des Klassenzimmers. Es schmerzt mich, dass ich sie nicht hö‐ ren kann. Die Kameramikrofone haben keine Schwierigkeiten, die schrillen Töne von June Cleaver, die Aggressivität von Jolly Roger oder das permanente Jammern ihres Rotzlöffels von Sohn einzufangen, aber Flüstern übersteigt ihre begrenz‐ ten Fähigkeiten. Diamond Girl mit einer anderen jungen Frau beschäftigt zu sehen, selbst in so gedämpfter Weise, war Öl ins Feuer meiner Fantasien. Ich beobachte sie nun auf dem Monitor. Ich beo‐ bachte sie bei jeder Gelegenheit. Sie beschäftigt mich unun‐ terbrochen. Meine Erinnerung ist hartnäckig wie eine Nadel, die unablässig zum Mysterium ihrer Berührung zurückfädelt. Ich muss ihre Brüste wieder festhalten, ihr flüchtig federndes Gewicht neu entdecken und das Strahlenherz ihres Hinterns. Vor allem aber möchte ich spüren, wie sich ihre mädchenhafte Scham in die heiße Wölbung meiner Hand schmiegt. Ich habe sie nicht mehr aus dem Käfig gelassen, seit ich mich an ihrem Körper ergötzt habe, aber seither viel daran gedacht. Ich bin überzeugt, sie kam im selben Moment wie ich zum Höhepunkt; und trotz ihrer Frühreife in fleischlichen Dingen generell, glaube ich nicht, dass sie mich in einem so entschei‐ denden Punkt täuschen könnte. Sie ist ein hungriger kleiner Köter, und ihr Appetit ist nur insofern ungewöhnlich, als sie bereit ist, ihn um einen Schwindel erregenden Preis zu Lasten ihrer selbst und ihrer Familie zu stillen. Aber ich bin nicht so töricht, sie gehen oder sich frei auf der Ranch bewegen zu lassen, obwohl ich mir überlegt habe, mit ihr zu sprechen. Ihr Verrat fasziniert mich. Es ist schwierig, noch irgendwo eine solche Reinheit des Geistes zu finden, sie
aber in einem so jungen, so köstlichen Mädchen zu entdecken, kommt einem wahren Schatz nahe. Und außerdem habe ich ihr ein Outfit gekauft, das ihr eben‐ so entgegenkommen wird wie mir. Sie wird es zusammen mit dem Halsband und der Kette tragen; und sie wird mich hier herauf begleiten, der erste Gast, den ich im Gästequartier will‐ kommen heißen werde. Ich warte bis zum frühen Abend. Ich brauche das Licht, das die Augen verwirrt, das den Weichzeichner der Dämmerung auf die Sicht legt. Sie blickt auf, wie die anderen auch, als ich die Treppe hi‐ nabsteige. Sie werden in etwa sechs Stunden trainieren, alle außer Ihrer Widerlichkeit; für sie werde ich keine kostbare Trainingszeit vergeuden. Zum ersten Mal wird Diamond Girl wissen, dass es mitten in der Nacht ist, wenn sie sich auf das Fitnessrad setzt, denn in wenigen Minuten wird sie entdecken, dass es früher Abend ist. Ihre Widerlichkeit »verlangt« zu wissen, was ich hier eigent‐ lich tue. Ich schüttle den Kopf. Das ist alles, was sie an Antwort be‐ kommen wird. Mehr denn je ist mir wohl bei der Gewissheit, dass ich irgendeinem armen Tropf ein Leben in der Hölle mit dieser Frau erspare. Was würde ich nicht an Anerkennung erhalten, wenn die Welt wüsste, welchen Dienst ich ihr erwei‐ se, nicht nur im Falle Ihrer Widerlichkeit, sondern der meisten Subjekte, die hier enden. Ich scheuche sie mit einer Handbewegung zurück, als hätte ich die Pistole dabei, obwohl ich sie nicht dabei habe und im‐ mer äußerst zurückhaltend war, wenn es darum ging, sie mit
nach unten zu bringen. Die Pistole ist absolut notwendig für die Trainingseinheiten von June oder Jolly Roger, aber weni‐ ger für Sonnyboy und Diamond Girl. Für die beiden genügt das Messer; sie haben die Klinge gespürt, die Leichtigkeit, mit der sie durch ein Höschen schneidet oder die Haut aufritzt. An diesem Punkt sind sie alle so weit eingeschüchtert, dass nur noch wenig Zwang nötig ist, und selbst Ihre Widerlichkeit geht mit der Herde, die sich abgestumpft an die Rückseite des Käfigs zurückzieht. Nur Diamond Girl bleibt an der Tür, weil sie ganz richtig annimmt, dass ich wegen ihr gekommen bin. Tatsächlich glaube ich, sie wäre andernfalls enttäuscht. Sie kniet nieder, sobald ich wieder abgeschlossen habe, und akzeptiert das Halsband so mühelos, wie ein Geistlicher seinen Kragen akzeptieren würde. Ich führe sie »bei Fuß« an der Kette, wie ich es mit einem Hund tun würde. Wir steigen beide Treppen zum Gästequar‐ tier empor. Nun befehle ich ihr, sich zu entkleiden, und sie gehorcht mit nur leicht amüsiertem Gesichtsausdruck. Als sie nackt ist, gebe ich ihr den Karton und weise sie an, ihn zu öffnen. Sie tut es mit kindlicher Vorfreude. »Plaid?«, sagt sie, als sie den Rock sieht. Dann »Strumpfho‐ se?«, eine offenkundige Frage, auf die ich mich zu keiner Ant‐ wort herablasse. Sie wühlt durch den Rest und sagt »Na, egal«, so freudlos wie eine Ehefrau, die zum Geburtstag wie‐ der nur einen bunt verpackten Geschenkkarton mit einem Push‐up‐BH bekommt. Ich bin drauf und dran, sie wegen ihres Benehmens zu rü‐ gen, aber meine Erregung entfaltet sich zu voller Blüte, und sobald sie angezogen ist, händige ich ihr ein Blatt mit schriftli‐ chen Anweisungen aus.
Ohne sie von der Kette zu lassen, sehe ich zu, wie sie sich weisungsgemäß auf die Stuhlkante setzt und die Beine überei‐ nander schlägt. Der Rock, ohnehin kurz, rutscht noch höher hinauf, bis sie nur noch aus Beinen, Höschen und Strumpfhose besteht. Lasse ich hier oben Befummeln zu, wo Fenster eingeschla‐ gen und Türen geöffnet werden könnten? Die Frage ist bald rein hypothetisch. Das Dämmerlicht selbst erbittet eine ganze Reihe schamloser Enthüllungen, und ich kann es einfach nicht verhindern. Meine Hand gleitet aus der Tasche, lässt das Mes‐ ser los, lässt alles los, was hart ist. Ich nehme den Blick keine Sekunde von ihr. Sie beobachtet mich ebenfalls und spült mei‐ nen letzten Rest Selbstbeherrschung fort, während sie die Liste der Anweisungen mit der von mir geforderten Bedächtigkeit abarbeitet. Hier zu stehen und sie anzusehen, heißt mit absolu‐ ter Sicherheit zu wissen, dass sie jedes Lebenselement in mir in Aufruhr versetzt. Mein Drang, sie zu berühren, ist kein bloßes Gefühl mehr, es ist Raserei. Hinterher klaubt sie Strumpfhose, Rock, Bluse und BH zu‐ sammen und faltet sie ordentlich; sie muss gespürt haben, dass ich genau das erwarte. Dann setzt sie sich an die Küchentheke, auf deren harter Oberfläche wir zum Ende kamen, und trinkt das Wasser, das ich ihr gegeben habe. Sie ist nackt wie ich auch. Halsband und Kette liegen auf der anderen Seite des Raums, wo sie in unserem fiebrigen Toben gelandet sind. Kü‐ chenmesser befinden sich in Reichweite. Sie hat die Augen jedoch nicht von mir genommen. Ihr Blick ist durchdringend, und mir wird bewusst, dass ich mehr Wärme in den Augen von Toten gesehen habe.
Trotz allem Frösteln brennt noch immer eine quälende Fra‐ ge in mir: Als sie das Messer hatte, die Schlüssel, da hat sie sich, ihre Eltern, Sonnyboy nicht befreit. Warum nicht? »Warum nicht?« Sie äfft mich nach, als sie meine Frage wiederholt, und ihr Kopf geht heftig hin und her, als würde ihm die Offensichtlichkeit der Antwort zusetzen. Dennoch bestehe ich darauf: »Ja, warum nicht. Du hättest es gekonnt.« »Wenn du mich das fragst, könntest du ebenso gut fragen, wer ich bin.« Sie hat Recht, und ich begreife es augenblicklich, denn nur, wenn ich weiß, wer sie ist, kann ich vielleicht die brutale Schönheit ihrer Tat ergründen. »Also gut«, sage ich mit einer Unbeschwertheit, die ich nicht empfinde. »Wer bist du?« Sie trommelt mit den Fingern auf die Theke, und ich werde an eine Prostituierte erinnert, die ich vor einigen Jahren in Harryʹs New York Bar in Midtown Manhattan kennen gelernt habe. Sie zeigte dieselbe bittere Ungeduld, als ihr klar wurde, dass ich kein zahlender Kunde sein würde, dass ich nur den Wunsch hatte, zu reden, zu bohren, ihre Stirn mit meinen Fra‐ gen zu zerfurchen. Aber Diamond Girls Finger kommen schnell wieder zur Ruhe, und sie antwortet unaufgeregt: »Was du wirklich wis‐ sen willst, ist, ob mein Dad mich gefickt hat.« Sie hat mich rasch zu dieser Frage gebracht, hat uns so ge‐ schwind dorthin gelenkt, wie ein Schiffskapitän durch eine gefährliche, aber vertraute Passage steuert. Es war die allerer‐ ste Frage, die ich je an sie hatte, und die eine, auf die ich zu‐ rückkommen wollte. Aber ihre Fahrt war wesentlich schneller,
als ich im Sinn hatte. Mich drängte es vom Gefühl her dazu, mich langsam durch die felsigen Untiefen zu schlängeln, aber davon hält sie nichts. »Das ist es doch, oder? Eine einfache Tatsache, die alles er‐ klärt, was du jemals über Diamond Girl wissen wolltest: Es ist nämlich so, dass ihr Dad sie gefickt hat. Also bitte, da hast du sie: die ganze Wahrheit über Diamond Girl. Dann geht es wei‐ ter zur Nächsten, da sie ja voll und ganz durchschaut ist.« Sie schnippt sich die Haare über die Schulter. »Das ist dumm.« Sie verblüfft mich mit ihrem Urteil, das so messerscharf zu‐ trifft, und mir bleibt nur, ihre Augen zu beobachten, damit sie ihre Hände nicht zu einem Messer führen kann. Aber sie blei‐ ben unverwandt auf mich gerichtet, und bemerkenswerter‐ weise bin ich derjenige, der gezwungen ist, wegzusehen. Um unter Schmerzen und wortlos einzuräumen, dass sie Recht hat: Ich will tatsächlich eine schnelle und einfache Antwort. Nun weiß ich, dass sie die niemals geben wird. Doch erneut irre ich mich. »Also gut, mein Dad hat mich gefickt.« Sie lässt die Stille zwischen uns einwirken, und ich fühle ei‐ nen Anflug von Schuld, weil ich sie genommen habe, nach‐ dem sie diesem Rüpel da unten zu Willen sein musste. Er wird langsam sterben, noch langsamer als die Übrigen. Mein Hass auf Kinderschänder ist so groß, dass ich mich zu mehr Auf‐ wand als je zuvor inspiriert fühle, um ein außerordentlich qualvolles Ableben von Jolly Roger sicherzustellen. »Eigentlich aber nicht. Ich habe ihn gefickt.« Ich lehne mich zurück. Meine Überraschung muss offen‐ sichtlich sein, denn sie rückt ein wenig nach vorn, wie um den
Abstand zwischen uns stabil zu halten. »Es war genau wie bei dir. Er konnte nicht widerstehen.« Sie wählt diesen Augenblick, um die Füße auf den Hocker zu heben, so dass mir, wenn ich nach unten blicke, ihr ge‐ schwollenes Geschlecht entgegenstarrt. Erst als ich zu reden beginne, wird mir bewusst, dass sie in der idealen Position ist, um mich mit beiden Füßen zu treten und umzuwerfen. Ich halte mich an der Theke fest. »Aber er ist dein Vater.« »Vielleicht«, entgegnet sie schroff. »Vielleicht?« Spielt sie mit mir, auch jetzt noch? »Einmal kam ich zu früh von der Schule heim und traf mei‐ ne Mutter dabei an, wie sie es dem UPS‐Heini besorgt hat. Al‐ so, wer weiß?« Ich betrachte Diamond Girl und frage mich, ob das stimmt. Sie sieht überhaupt nicht aus wie Jolly Roger, aber wer tut das schon? Sie drückt sich. »Wenn ich dir jetzt sage, dass ich lüge, würdest du mir glauben?« »Was?« Ich komme mir vor wie ein Trottel und bringe be‐ stimmt nicht viel Geduld für ihr Spiel auf, falls es eines ist. »Wenn ich dir sage, dass ich lüge, würdest du mir glauben? Komm, denk darüber nach. Kannst du dir wirklich vorstellen, dass ich Jolly Roger ficke?« Ich lächle bei ihrer Benutzung des Namens. »Ja«, sage ich, »ich kann es mir vorstellen. Was ist mit deiner Mutter und dem UPS‐Mann?« »Was ist mit meiner Mutter und Jolly Roger? Kannst du das glauben?« »Du bist nicht so schlau wie du denkst, Diamond Girl.«
»Und soll ich dir was verraten? Ältere Männer sagen immer etwas in dieser Art, wenn sie anfangen, sich richtig blöd vor‐ zukommen.« »Dann glaubst du also, ich bin blöd?« »Ob ich glaube, du kommst dir blöd vor?« Sie sieht hinauf zu der hohen Decke, nachdem sie meine Frage korrigiert hat. »Ja.« Sie senkt die Augen wieder zu mir herab. »Aber ich glaube nicht, dass du es bist.« Sie hat mir einen Knochen hingeworfen. Ich weiß es, aber ich bin dennoch dankbar. Ich will ihre Anerkennung. Das ist krank. Ich weiß auch das, aber sich einer Sache bewusst zu sein, bedeutet nicht gleich Heilung. Sich einer Sache bewusst zu sein, bedeutet nur Einsicht, und auch das nur manchmal, und Einsicht selbst kann eine Form von Verrücktheit sein. Wer anders dachte, hat sich etwas vorgemacht, Dr. Freud. »Was ist mit der Schule?« »Was soll damit sein?« »Gefällt sie dir?« »Was wird das hier, ein Vorstellungsgespräch?« »Wenn du willst.« »Hör zu, ich ficke mit dir, weil ich es will, okay?« Sie löst langsam eines ihrer Beine und legt es auf meine Knie. Ich streichle die Innenseite ihres Schenkels, und sie rückt so nah, dass sie meinen offenkundigen Absichten entgegenkommt. Doch dann wird mir rasch klar, dass es weniger meine Absich‐ ten sind als ihre eigenen, denn sie nimmt meine Hand und zieht sie zu sich. Sie ist feucht, feucht wie ein warmer Schwamm. »Schule?«, überlegt sie. »Ich bin im beschleunigten Unter‐ richt. Fürs College bestimmt«, sagt sie leise, aber das ist pure
Affektiertheit. Selbst ein Blinder und Tauber würde es bemer‐ ken. Auch wenn meine Hand auf ihrem Geschlecht ruht, ist der Abstand zwischen uns noch groß. »Das nächste Jahr sollte mein Abschlussjahr werden. Ich hatte vor, ein paar Stunden an der Washington State zu belegen, während ich die Schule be‐ ende. Nur gute Noten. Überrascht dich das?« »Nicht im Geringsten. Es hätte mich überrascht, wenn du dein Potenzial nicht ausschöpfen würdest.« Ich hasse mich für diesen Satz. Ich fange schon an, wie ihr Vater zu klingen. Oder wie ein Vater – sofort distanziere ich mich von Jolly Roger. Ich versuche mich mit der Plattheit zu erholen, dass es bestimmt eine gute Schule sei, aber sie überrascht mich erneut. »Ja, meinst du? Manche von meinen Freunden kommen je‐ den Tag mit Waffen zur Schule. Was sagt dir das?« »Es sagt mir, dass deine Freunde Verbrecher sind.« Sie lacht. Es ist das erste Mal, dass ich sie lachen höre, und ich bin schockiert vom Ausmaß ihrer Belustigung. Sie lacht so heftig, dass ihre Beine verrutschen und meine Hand den Kon‐ takt verliert. Die Luft fühlt sich kühl an auf meinen nassen Fingern. »Du? Du nennst sie Verbrecher?« Und damit fängt sie von vorn an. Ihr ganzer Körper bebt vor Lachen, und ich ertappe mich dabei, wie ich unbeholfen lächle. »Nein, das sind sie nicht«, trillert sie. »Da draußen laufen ein paar wirklich unheimliche Typen herum, verstehst du? Vor denen muss man sich schützen.« »Vor mir?« »Ja, genau, vor dir. Aber weißt du was?« »Was?« Ich sehe sie aufmerksam an und entdecke einen Anflug von Unruhe in ihren Augen.
»Du bist nicht der Einzige.« Als sie das sagt, klingt es zunächst so jugendlich, wie ein kindlicher Versuch, sich aufzuspielen, dass ich einen Augen‐ blick brauche, um zu erkennen, dass sie mich bedroht hat. Oder genauer gesagt, dass ich mich bedroht fühle. Selbst hier kann ich mir nämlich nicht sicher sein, wer der Schauspieler ist und wer das Stück. Aber das werde ich sie nie wissen las‐ sen. Sie kann spüren und vermuten, aber sie ist sechzehn und weiß eigentlich nichts mit Bestimmtheit. Sie beherrscht dieses Spiel gut, und es wird sie am Leben halten; aber die Zeit wird kommen, da mir bei ihrem Anblick nicht länger der Atem stockt und die Last ihres Körpers für immer von mir genom‐ men wird. Ich befehle ihr, Halsband und Kette zu holen, und sie klet‐ tert vom Hocker und apportiert beides gehorsam wie ein Hund.
14 Lauren musste einfach nach Moab reisen. In den Tagen seit der zufälligen Begegnung mit dem Dekan hatte das Gefühl der Dringlichkeit nur zugenommen. Zum Teufel mit ihm. Wenn er entschlossen war, ihr das Leben schwer zu machen, dann soll‐ te er sich eine Lehrassistentin suchen, die Laurens Unterricht übernahm. Sie musste sich an der Suche beteiligen, musste für Kerry tun, was sie konnte. Unglücklicherweise war es zu einer ziemlichen Herausforderung geworden, mit Bad Bad Leroy Brown zu verreisen. Denn obwohl sie bereits einen dicht gedrängten Stundenp‐ lan bewältigte, die Nachrichten über Kerry verfolgte und mit Ry telefonisches Fangen spielte, war sie hergegangen und hat‐ te Leroy kastrieren lassen. Ursprünglich wollte sie ihn in ih‐ rem VW Käfer zum Morgenflug nach Salt Lake City transpor‐ tieren. Natürlich hatte sie auch überlegt, ihn in Pension zu ge‐ ben, aber sie wusste nicht, wie lange sie wegbleiben würde, und sie glaubte nicht recht, dass ein unterbezahlter Angestell‐ ter im Hundeheim ihm seine Medikamente mit der nötigen Sorgfalt verabreichen würde, vor allem, wenn ihr Hund reiz‐ bar wurde – womit man angesichts der Ursache für seinen Kummer immer rechnen musste. Bei einem Test am späten gestrigen Nachmittag hatte sie festgestellt, dass sie seinen riesigen Rekonvaleszentenkörper nicht im Käfer unterbrachte, nicht einmal auf dem Vordersitz. Es war nicht eben das geräumigste Auto, und Leroy war weiß
Gott nicht der beweglichste Hund. Nach ihrem einsamen Ver‐ such, ihn zu verladen, taumelte und stürzte er unter dem Ein‐ fluss von Beruhigungsmitteln. Die einzige andere nahe liegen‐ de Möglichkeit – öffentliche Verkehrsmittel – hätte einen wei‐ ßen Stock, eine schwarze Brille und mehr Dreistigkeit erfor‐ dert, als Lauren je aufbringen konnte, vor allem mit einem Hund, der nicht aufgeweckter wirkte als sein bevorzugter Feuerhydrant. Um die Sache noch schlimmer zu machen, war auch kein Shuttledienst und keine Taxigesellschaft in Portland bereit, einen Rottweiler zu transportieren; der Rasse eilte wahrhaftig ein übler Ruf voraus. »Versuchen Sie es bei einem Geldtransportdienst«, witzelte der Disponent bei Yellow Cab. »Aber er ist ruhig gestellt«, flehte Lauren. »Warum das?« »Er wurde kastriert.« »Na, dann ist er ja wirklich bester Laune.« Damit war die Sache entschieden. Heute früh hatte sie dann in einem Anfall von Frustration schließlich einen Autoverleih angerufen, wo man es nicht besser wusste, als dass man ihr einen weißen Chevy Caprice vermietete, ein ausgewachsenes Schiff für einen Hund, der sich so natürlich zu dem breiten Rücksitz hingezogen fühlte wie ein Pascha zu einem Kissen. Sie hielt im Ankunftsbereich, hievte die schwere Hunde‐ transportkiste aus dem Kofferraum und versuchte, den schläf‐ rigen Leroy zu wecken. »Komm, mein Junge.« Sie streichelte die dicke Schnauze. »Zeit zum Aufstehen.« Leroy lag still wie ein Künstlermodell. Nun klopfte sie ihm mit der Hand auf den Kiefer, wie man
vielleicht das leblose Gesicht einer geliebten Person tätscheln würde. Leroy stöhnte. Der Gepäckträger, der gerade beim Wagen angelangt war, wich zurück. »Er ist harmlos«, sagte Lauren, ohne zu wissen, wie Leroy in einem so berauschten Zustand tatsächlich war. Würde sein wahres Ich zum Vorschein kommen? Würde er ein Kneipen‐ schläger von Hund sein? Oder ein Schätzchen, das schmusen wollte und seine gummiartigen Lefzen in Seufzern rein chemi‐ scher Zufriedenheit blähte? Sie hatte gehört, dass man einen Mann am besten testete, indem man ihn betrunken machte. Dann würde man sehen, wie er im Innersten seines Herzens war. Verwandelte er sich in einen lauten Prahlhans, der sich mit der ganzen Welt anle‐ gen wollte? Oder lallte er dir süße Nichtigkeiten ins Ohr, wäh‐ rend er an deiner Seite lümmelte? Leroy erwies sich als keins von beiden. Leroy stellte sich als komatös heraus. Das beunruhigte sie. Der Tierarzt hatte ge‐ sagt, die Pillen würden ihn »benebeln«, und vorgeschlagen, ihm für den Flug zusätzlich eine zu geben. Aber das hier hatte nichts mehr mit benebelt zu tun, vor Lauren lagen hundert‐ zwanzig Pfund totes Gewicht. Sie stand auf und taxierte den Gepäckträger. Er sah lei‐ stungsfähig aus. »Ich brauche Ihre Hilfe.« »Damit?« Er zeigte auf die Masse schwarzbraunen Fells. »Mit dem Hund, jawohl.« Sie fühlte Ungeduld aufwallen. »Das wird Sie aber was kosten.« Sie knirschte mit den Zähnen und strengte sich an, ihre Stimme zu mäßigen. »Wie viel?« Nicht dass sie eine Wahl ge‐ habt hätte. Zwar trennten nur wenige Schritte den leblosen Le‐
roy von der offenen Tür des Transportbehälters, aber ohne Hilfe hätte ebenso gut der Grand Canyon dazwischen liegen können. »Wir machen es nach einem gestaffelten Tarif«, sagte der Träger. »Zehn Dollar, wenn es leicht ist. Eine ganze Menge mehr, wenn er beißt.« »Er wird nicht beißen. Er steht unter Drogen.« Der Mann schätzte den Hund ab. »Wir werden beide an‐ packen müssen, einer am Kopf und einer am Hintern.« »Schön. Welches Ende wollen Sie?« »Ich will nicht den Kopf«, sagte er schnell. »Dann ziehen Sie wohl die Arschkarte.« »Geht es mir nicht immer so?« Er stieg von der Fahrerseite her ein und begann zu schie‐ ben, während Lauren zog. Leroy stöhnte wieder, und diesmal schlug er mit einem Hinterlauf aus. Der erschreckte Helfer fuhr rückwärts aus der Tür. Lauren bat ihn, um den Wagen herumzukommen. »Ich glaube, wir können es jetzt von hier aus versuchen.« Sie hielt Leroys Kopf und Schultern; sie fühlten sich an, als würden sie sehr viel mehr wiegen als der Vierzigpfundsack Futter, den sie letzte Woche gekauft hatte. »Hey, Burt, beweg deinen süßen Hintern hier rüber«, rief der Gepäckträger. Lauren sah einen schrankförmigen Mann auf sie zuschlen‐ dern. »Was habt ihr da, einen Toten?«, fragte er. »Ein ziemlich weggetretenes Hündchen, könnte man sa‐ gen«, antwortete Träger Nummer eins. »Dann wollen wir die Schlafnase mal aufwecken«, sagte Burt.
»Du kannst ihn aufwecken. Mir persönlich ist er lieber, wenn er schnarcht.« »Also gut. Wie heißt er?« »Leroy«, sagte Lauren. »Leroy? Ich habe ein paar Leroys gekannt. Üble Kerle. Hey, Leroy«, sagte Burt zu dem Hund, »machst du deinem Namen Ehre? Lässt duʹs dir gut gehen?« »Er ist frisch kastriert«, sagte Lauren ziemlich gereizt. »Was ist jetzt, helfen Sie uns?« »Ja, ja, klar doch«, sagte Burt. »Hier, geben Sie mir den Kopf. Gönnen Sie sich eine Verschnaufpause. Kenny, du kannst seinen Hintern nehmen. Du siehst aus, als könntest du ein bisschen Liebe gebrauchen. Los, auf drei.« Auf drei wuchteten sie den Schlafenden direkt in den Transportbehälter, den Kenny eilig verschloss, ehe er sich an Lauren wandte. »Haben Sie sonst noch etwas?« »Ja«, sagte Burt lachend, »sie hat noch einen Ozelot auf dem Vordersitz.« »Ich habe nur noch ein Bordcase«, sagte Lauren. Als sie nicht nach der Geldbörse griff, verschwand Ken‐ nys Lächeln schneller als Gratisessen in einem Chinarestau‐ rant. »Ach ja, richtig«, sagte sie. »Moment.« Sie zog einen Zwan‐ ziger heraus. »Können Sie den klein machen?« »Können Siegfried und Roy eines von diesen großen, wei‐ ßen Kätzchen verschwinden lassen«, sagte der später gekom‐ mene Burt und stibitzte den Schein so schnell aus Laurens Hand, dass sein Kumpel keine Chance hatte. Doch ebenso ge‐ schmeidig schälte er einen Zehner für ihn aus einer Rolle, so
groß wie Laurens Faust, und schlug mit seiner breiten Hand auf den Transportbehälter. »Machʹs gut, Leroy.« Nach dem Flug nach Salt Lake City schien Leroy einigermaßen wiederhergestellt, auch wenn er noch leicht schwankte, als Lauren ihn zum Mietwagen führte. Sie scheuchte ihn auf den Rücksitz, während ein Gepäck‐ träger den Transportbehälter in den Kofferraum lud. Nach Moab waren es rund fünf Stunden Fahrzeit, was be‐ deutete, sie würde gegen achtzehn Uhr ankommen. Das passte genau, denn sie hatte eine Verabredung zum Abendessen mit Ry. Leroy und sie ließen die Stadt rasch hinter sich, obwohl sich ihre Grenzen auszudehnen schienen; wohin sie schaute, wur‐ den neue Wohnviertel gebaut. Sie wuchsen entlang des Free‐ way aus dem Boden wie Hafenstädte an einem Fluss. Leroy setzte sich auf und legte beide Pfoten auf den Vor‐ dersitz. »Wie gehtʹs, alter Junge?« Sie langte nach hinten und kraulte ihn am Ohr. Er leckte ihr die Hand, so wie er es mit ihrem Bein getan hatte, als sie sich damals im Angeles National Forest zum ersten Mal begegnet waren. Es war eine Liebkosung, bei der sie sich immer noch krümmte. »Bereit für eine kleine Suche?« Er gähnte, und Lauren sah im Rückspiegel die passend be‐ nannten Reißzähne aus der dunklen Höhle seines Rachens leuchten. Was für ein Köter.
Ein Motel zu finden, in dem Hunde erlaubt waren, erwies sich als extrem schwierig. Vielleicht lag es an diesem Hund. Ein Manager meinte »vielleicht«, und ein anderer sagte »kommt drauf an«, aber beide hatten sich geweigert, als sie Leroy über den Vordersitz ragen sahen. »Aber er ist wirklich sehr nett«, hatte sich Lauren beim zweiten Motelmanager beklagt. »Versuchen Sie es in der Innenstadt im Green Glow Inn«, schnaubte der Mann. »Die nehmen alles.« Das Green Glow Inn sah aus, als sei es während des Uran‐ fiebers entstanden, das in den Fünfzigerjahren über Moab he‐ reingebrochen war, und seither stetig verfallen. Die Farbe des Neonschilds, das sich über die gesamte Länge des zweiten Stocks erstreckte, wirkte wie eine halbwegs vernünftige Na‐ chahmung von Radium, aber das Fenster in der Lobby wies einen Sprung auf, den man vor so langer Zeit mit Klebeband gekittet hatte, dass der Klebstoff kristallisiert war und die Ränder sich aufgerollt hatten. Lauren fand die Lobby selbst so heruntergekommen vor wie den Läufer, der zur Rezeption führte. Dort hockte ein Mann mit weißem Backenbart und eingefallenen Gesichtszü‐ gen, der kein erkennbares Interesse an ihrer Anwesenheit oder dem möglicherweise damit verbundenen Geschäft zeigte. Er las ein Buch mit festem Einband und hätte sich ebenso gut ein Schild mit der Aufschrift BITTE NICHT STÖREN an die spitze Vogelnase hängen können. »Hallo«, sagte sie und versuchte forsch zu klingen, aber forsch hatte sie heute nicht mehr in ihrem Repertoire. Nachdem der Mann umgeblättert hatte, machte er ein fin‐ steres Gesicht und sagte: »Was wollen Sie?«
»Ein Zimmer?«, antwortete Lauren zaghaft. »Unterschreiben Sie hier.« Er hielt ihr ein gelbes Formular hin, zusammen mit einem Bleistift, der zu einem Stummel he‐ runtergekaut war. Nett. »Nehmen Sie Hunde auf?« »Ob ich Hunde aufnehme?«, wiederholte er theatralisch. »Sieht der Laden hier aus, als hätte ich eine Wahl? Was ist es denn für einer?« Er richtete die wässrigen Augen zum ersten Mal auf Lauren. »Sie sehen mir aus wie der Typ Pekinese.« »So was in der Art.« »Dacht ich mir. Cash oder Karte?« »Karte.« Sie gab ihm ihre American Express. »Die nehme ich nicht. Wenn Sie im Green Glow Inn in Moab, Utah, wohnen«, äffte er einen alten Werbespot nach, »dann sollten Sie Visa haben, oder Sie haben Pech gehabt.« »Ich habe Visa.« »Dann hab ich ein Zimmer für Sie und Ihren Köter.« Sie musste ihm zugute halten, dass er lachte, als sie mit Leroy hereinspazierte. »Sie gefallen mir, Teuerste«, sagte er, »ich mag Ihre Art. Wie heißt er denn?« »Leroy.« »So sieht er auch aus. Bad Bad Leroy Brown«, sang er mit kräftiger Stimme, »baddest dude in the whole damn town … Ich bin übrigens Al, Al Jenkins.« Lauren winkte, als sie die Treppe emporstieg. Die Stufen quietschten bis zum zweiten Stock hinauf wie ein Eisenrad. Hier macht sich niemand ohne zu bezahlen aus dem Staub, dachte sie. Das Zimmer erwies sich als erfrischend sauber und geräu‐
mig. Zwar bot es nicht gerade Vier‐Jahreszeiten‐Luxus, aber es hatte ein Doppelbett und ein Bad, das zu Laurens großer Freude mit einer extralangen Wanne ausgestattet war. Das letzte Mal hatte sie ein Hotelzimmer wie dieses in Flagstaff, Arizona, bezogen, ebenfalls ein altes Haus in der Innenstadt, in dem Zane Grey angeblich während eines dreiwöchigen Aufenthalts einen seiner Western geschrieben hatte. Sie und Chad hatten erst einmal eine gute halbe Stunde lang die Fe‐ dern des betagten Bettes klingen lassen, bevor sie am Abend ausgingen. Als sie in den Flur hinaustraten, fanden sie dort drei alte Käuze auf einem altertümlichen Diwan sitzen, eine feixend grinsende Verschwörung. Lauren hatte jede Schattie‐ rung von Rot angenommen, die das Spektrum der Verlegen‐ heit bot. »Okay.« Sie klatschte in die Hände. »Was hältst du davon, wenn wir erst mit dir spazieren gehen und dann zu Ry fah‐ ren?« Der riesige Hund wackelte mit seinem Stummel.. Rys Bude war sehr viel gehobener als das Green Glow Inn. Er wohnte an der neu geschaffenen Motelstraße. BEHEIZTES SCHWIMMBECKEN, KABEL, WHIRLPOOL schrie es von der Markise über dem Eingang. Sie rief ihn vom Telefon in der Halle an. Er erschien Au‐ genblicke später, lächelnd und mit offenen Armen, und ihre Umarmung entwickelte sich zu einem Kuss, jedenfalls soweit sich beide in der Öffentlichkeit küssen wollten. Sie landeten in einem thailändischen Restaurant mit Tischen im Freien, eine Wohltat für Leroy, der den Tag in einem engen Transportbehälter oder auf Autorücksitzen verbracht hatte.
»Er ist ein Wichser«, sagte Ry, als sich Lauren nach Stassler erkundigte. »Das überrascht mich nicht.« »Ich hätte mir keine Gedanken machen müssen, dass er absagen könnte. Er ist so sehr auf Publicity aus, wie nur ir‐ gendein Politiker, den ich kennen gelernt habe. Und von An‐ fang an hatte er seine eigene Tagesordnung. Zum Beispiel wollte er erfahren, ob das Buch nur über ihn ginge, oder ob ich auch ›kleinere Lichter.‹ mit aufnehmen würde. Seine Wor‐ te.« »Du hast Recht, er ist wirklich ein Wichser.« »Dann wollte er wissen, wer diese ›kleineren Lichter‹ seien, und als ich es ihm sagte, legte er los, dass keiner von euch meine Aufmerksamkeit verdient habe, oder – kaum zu glau‐ ben – ›in einem Atemzug mit ihm‹ genannt zu werden.« »Okay, zur Sache – was hat er über mich gesagt?« Ry winkte ab, als hätten die Worte eines so angesehenen Bildhauers nicht viel zu bedeuten. »Ich will es wissen, Ry. Sag es mir.« »Es lässt sich kaum wiederholen, aber wenn du es unbe‐ dingt hören willst, er sagte, du hättest sehr viel Aufmerksam‐ keit erhalten, weil du eine Frau in einem Männerbereich wärst, und weil du die ›hierarchische Bedeutung von Bronze‹ in Fra‐ ge gestellt hast.« Ry malte mit den Fingern die Gänsefüßchen in die Luft. »Was er als Ketzerei ansieht.« »Ja. Ich glaube, man kann durchaus sagen, dass ihn das eindeutig kränkt.« Ry ergriff über den Tisch hinweg ihre Hand. »Lauren, er ist so abscheulich, dass ich mich gar nicht mit ihm abgeben wür‐
de, aber ihn in diesem Buch nicht aufzunehmen, wäre, als schriebe man einen Überblick über zeitgenössische Literatur und würde jemanden wie Norman Mailer außer Acht lassen, nur weil man ihn als Persönlichkeit nicht mag.« »Nur, dass Mailer gut ist. Mailer hat Gnadenlos. Das Lied vom Henker geschrieben …« »Und Stassler hat die Serie Family Planning geschaffen. Er ist ebenfalls sehr gut.« Darüber konnte man streiten, aber Lauren war nicht in der Stimmung, das Thema zu vertiefen. Stattdessen fragte sie, was Stassler noch gesagt hatte. »Über dich?« »Über mich. Und die anderen.« »Er sagte, du seiest ein Produkt von political correctness, und sobald die wieder außer Mode sei, würde man dein Werk ver‐ gessen.« »Ich wusste gar nicht, dass ich in Mode bin.« Ry lachte. »Du solltest es als Kompliment nehmen. Er hat sich über dich mehr ereifert als über die anderen drei zusam‐ men.« »Aber das sind alles Männer.« »Stimmt.« »Vielleicht geht es gar nicht um mich. Vielleicht hasst er Frauen.« »Auf jeden Fall hat er keine da draußen. Das ist auch so eine Sache, er lebt in einer völlig verlassenen Gegend. Er hat ein großes Haus, eine große, wunderschöne Scheune und diese Gießerei, und er ist ganz allein. Nicht einmal ein Hund oder eine Katze, soweit ich sehen konnte. Hunderte von Hektar und keine Spur von irgendeinem anderen Lebewesen. Wenn mir
das merkwürdig vorkam, habe ich mir gedacht, muss es Kerry erst recht merkwürdig vorgekommen sein.« »Was hat er gesagt, als du nach ihr gefragt hast?« »Ich musste nicht fragen. Er fing von ihr an. Und ich muss dir sagen, er klang wirklich besorgt um sie. Er sagte, er hat den Sheriff angerufen, sobald ihm klar wurde, dass sie ver‐ schwunden war.« »Dann ist dir also nichts merkwürdig vorgekommen?« »Doch, jede Menge, aber nicht in Bezug auf Kerry. Er sagte, der Sheriff kam sofort zu ihm raus, und er hat ihn überall nachsehen lassen, wo er wollte.« »Wie anständig von ihm.« Ry zuckte mit den Achseln. »Er hasst die Publicity, die er dafür kriegt, Reporter rufen Tag und Nacht an, sie fliegen über seine Gießerei. Ich glaube, das ist ein Grund dafür, dass er mit diesen Interviews weitermacht. Das Buch ist die Art Beach‐ tung, die er haben will. Er sagte übrigens, dass er Kerry sehr gemocht hat. Er fand ihre Arbeiten vielversprechend.« Lauren nickte und bemerkte erst jetzt seine Hand auf der ihren, so sehr war sie mit dem Thema Ashley Stassler beschäf‐ tigt gewesen. Rys Hand war weich, ganz anders als die eines Bildhauers. Ihre eigenen Schwielen machten sie befangen, erst recht, als er ihre rauen Finger öffnete und die höckerige Hand‐ fläche küsste. »Ich habe dich vermisst.« Seine braunen Augen hielten ih‐ ren Blick fest, bis sie seine Hand drückte und wegschaute; ihr war unerträglich unwohl, und sie wusste nicht, warum. »Fährst du morgen wieder zu ihm raus?« »Nein, morgen nicht. Er hat mich für Freitag wieder zu sich bestellt. Ich glaube, er will mich mitarbeiten lassen.«
»Hat er gesagt, woran?« »Nein, und ich habe nicht gefragt.« »Sei lieber vorsichtig. Du könntest dir Blasen an den Hän‐ den holen.« »Blasen!« Er hielt die Hände in gespieltem Entsetzen hoch. »Niemals! Das sind die Hände eines Reporters. Weich wie ein Kinderpo.« »Ich habʹs bemerkt«, sagte sie, aber sie musste sich zu den Worten ebenso zwingen wie zu dem Lächeln, das kurz auf ihrem Gesicht erblühte, und sie erkannte, dass sie nicht in der Stimmung war, mit dem Mann zu flirten, nach dem sie sich wochenlang gesehnt hatte. Dafür, und für vieles mehr, ver‐ fluchte sie Ashley Stassler im Stillen. Sie fuhren in die Innenstadt von Moab und stellten den Wagen ab, dann spazierten sie an mehreren Laternenpfählen mit Ker‐ rys Bild darauf vorbei, sowie an einem runden Dutzend Fahr‐ rädern, bis sie eine Eisdiele fanden. Es dauerte nicht lange; Eisdielen waren in Utah so verbreitet wie Espressobars in Portland. Lauren nahm sich eine Waffel mit Pistazieneis, Ry ein Man‐ gojoghurt, und Leroy durfte einen gewöhnlichen Pudel be‐ schnuppern, mit einer großen roten Schleife an einem Büschel weißem Haar auf dem knochigen Kopf. Sehr zu Laurens Ent‐ setzen versuchte er das Weibchen prompt zu bespringen. Sie zog ihn weg, aber die Besitzerin des Pudels ließ sich von Laurens eiliger Entschuldigung nicht besänftigen. Sie benahm sich, als wäre ihr kostbarer Hund in einem Park überfallen worden. »Er ist kastriert«, sagte Lauren, damit die Frau nicht dachte, es könnte etwas wahrhaft Widriges passiert sein.
Aber die zog ihren Fifi bereits eilig fort, obwohl die Hunde‐ dame, deren rote Schleife von Leroys stürmischer Anmache völ‐ lig verrutscht war, vielleicht anderes im Sinn gehabt hatte (und womöglich eine Vorliebe für rauere Spielarten), denn sie blieb ständig stehen und blickte zu ihrem entarteten Freier zurück. »Ich dachte, damit ist es vorbei, wenn ich ihm die Eier ab‐ schneiden lasse«, wandte sich Lauren an Ry. Er sah den Hund zweifelnd an. »Ich glaube, wir haben es hier mit Gewohnheit zu tun, wahrscheinlich durch viel positi‐ ves Feedback über Jahre hinweg verstärkt. Er wird es wohl bis ans Ende seiner Tage versuchen.« Leroy sah mit einem Blick zu ihm auf, den Lauren nur als lüsternes Grinsen beschreiben konnte, als wollte er bestätigen, was sein männlicher Mitbruder soeben gesagt hatte. Auf dem Rückweg zu Rys Land Rover verweilten sie noch vor einigen Schaufenstern. Lauren hatte das Gefühl, dass ihnen beiden unwohl dabei war, die Frage zu erörtern, ob sie die Nacht zusammen verbringen sollten, und in genau diesem Augenblick entschied sie, dass sie ihr Liebesleben nicht heute Abend beginnen würden. Irgendetwas passte nicht. Vielleicht war es die Mondphase. Vielleicht lag es an Ashley Stassler und was er gesagt hatte. Wahrscheinlich war es nur eine Verschro‐ benheit ihrerseits, aber das spielte keine Rolle: Sie wollte, dass sie im Gleichklang anfingen. »Wusstest du, dass Kerry einen Freund hat?«, sagte Ry, als er den Rover anließ. »Nein. Hier oder in Portland?« »Hier. Sie hat ihn am Tag ihrer Ankunft kennen gelernt. Er heißt Jared.«
»Hat dir Stassler von ihm erzählt?« Ry nickte, während er losfuhr. »Wo ist er jetzt?« »Das weiß ich nicht, aber Stassler sagt, er hat dem Sheriff von ihm erzählt. Er meint, sie haben sofort mit ihm gespro‐ chen.« »Vielleicht sollten wir das auch tun.« »Gute Idee.« Miteinander sprachen sie jedoch nicht mehr, bis sie bei Rys Motel ankamen, wo die Verlegenheit, die Lauren in der Stadt gespürt hatte, regelrecht akut wurde, plötzlich fiel ihr alles ein, was schief gehen konnte, was mit Chad und auch den anderen schief gegangen war. Sie sagte gute Nacht, sobald er auf dem Parkplatz neben ihrem Wagen hielt. »Tja dann, gute Nacht.« Er sah verdattert aus und hörte sich auch so an. Sie konnte es ihm kaum verübeln. »Bekomme ich noch einen Kuss?«, fragte er. »Ja«, sagte sie, aber auch diesmal kostete das Lächeln Mühe, und er musste es gefühlt haben. »Was ist los, Lauren? Es hat nichts mit dem Schwachsinn zu tun, den Stassler gesagt hat, oder? Du bist eine großartige Künstlerin.« »Nein, das ist es nicht, und ich bin keine ›großartige‹ Küns‐ tlerin. Ich bin eine mäßig bekannte Bildhauerin und eine ziem‐ lich gute Lehrerin, die in Moab ist, um herauszufinden, was zum Teufel aus ihrer besten Studentin geworden ist. Und ich fühle mich nicht auf der Höhe und wünschte wirklich sehr, es wäre nicht so.« Er öffnete seine Tür einen Spalt. »Dann sehe ich dich mor‐ gen Vormittag?«
»Hört sich gut an.« »Sollen wir uns hier treffen oder bei deinem Hotel?« »Was hältst du davon, wenn du zu mir kommst, und wir gehen in der Stadt essen?« Er beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie, und sie erin‐ nerte sich an die weiche Einladung seiner Lippen. Selbst an einem anstrengenden Abend wie heute waren sie willkom‐ men, genau wie die sanften Hände, die sich auf ihr Gesicht legten und ihre Wangen warm bedeckten. Al Jenkins saß in seiner Rezeption im Green Glow Inn, als Lauren mit Leroy zurückkam. Sie hatten es bis zur Treppe ge‐ schafft, ehe er von seinem Buch aufsah und fragte, wo sie zum Abendessen gewesen sei. »Bei einem Thailänder«, sagte sie. »Muss Mannyʹs gewesen sein.« »Manny?« »Manny Santiago gehört der Thai‐Laden und der Burrito‐ schuppen. Der erfolgreichste Restaurantbesitzer am Ort. Wie war der Fraß?« »Okay.« Sie klang müde. »Die Frühlingsrollen waren gut.« »Sie sind zu freundlich. Mannys Essen ist scheußlich, aber niemand kommt wegen der feinen Küche nach Moab. Man kommt zum Biken oder kurvt mit dem Jeep herum, aber Sie sehen mir nach beidem nicht aus. Was führt Sie also hierher, wenn die Frage gestattet ist?« »Sie ist. Haben Sie von dem verschwundenen Mädchen ge‐ hört?« »Die, deren Bild überall auf den Plakaten ist?« »Ja, Kerry Waters. Sie ist eine Studentin von mir.«
»Sind Sie Lehrerin?« »Eigentlich Professorin.« »Dann will ich Ihnen mal was sagen.« Al beugte sich über den Empfangstisch, als Lauren kehrtmachte und zu ihm ging. »Sie kennen das ganze Gerede, dass sie in eine verlassene Mi‐ ne gefallen sein soll und so, ja?« »So hab ich es gehört.« Al schüttelte den Kopf. »Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht, mein Vater war Bergmann, und jedes Mal, wenn jemand vermisst wird, schieben sie es auf ein verlassenes Bergwerk, als gäbe es da draußen massenhaft Minen, die nur darauf warten, jeden zu verschlingen, der so unklug ist, vom Weg abzuweichen. Sie stellen es hin, als wären diese Bergwer‐ ke nichts als große alte Staubsauger, die diese Leute einfach vom Angesicht der Erde saugen.« Lauren betrachtete sein Gesicht. Al Jenkins wirkte seriös und intelligent, er mochte früher einmal einen Raum in seinen Bann geschlagen haben, einfach indem er zur Tür hereinkam. »Was wollen Sie damit sagen?« »Was ich sagen will, ist, dass man erst mal schauen sollte, wer die Leute in die Minen gestoßen hat. Eine Mine ist dunkel, und sie ist tief und voller Dinge, denen man nicht begegnen möchte. Wenn man rausfindet, wer die Leute da drin haben will, dann hat man den Mörder.« Er sank auf seinen Hocker zurück. Ein Frösteln begleitete Lauren bis nach oben. Sie zitterte, als sie ins Bett stieg. Sie zog sich die Decke bis zum Hals und ver‐ suchte einzuschlafen, aber sie bekam Al Jenkinsʹ letzte Worte nicht aus dem Kopf: »… dann hat man den Mörder.«
15 Zuletzt wird June kämpfen, wird ihr Herz versengen vor Hass auf mich, aber vorläufig dreht sie sich nur um und legt lamm‐ fromm die Hände auf den Rücken, damit ich mit den Hand‐ schellen durch die Käfigstäbe langen kann. Sie wirft sogar Jol‐ ly Roger einen freundlichen Blick zu, und der, konfus wie im‐ mer, winkt ihr zu. Winkt! Stürzt nicht zu ihr und umarmt sie, noch viel weniger versucht er sie zurückzuhalten, vor dem Schrecklichen zu bewahren. Er winkt, als sie zur Tür tritt. Und er muss ahnen, wie June auch, dass dies ihr letzter Abschied ist. Ich habe gestern die Abdrücke von ihren Rücken genom‐ men. Sie haben das Mädchen von #8 gesehen, also wissen sie, was kommen kann. Ich wollte, dass sie es wissen. Aber viel‐ leicht sind sie immer noch Opfer der Hoffnung oder des Ge‐ bets. Das ist so goldig, zum Kotzen goldig, lustig auch auf eine schräge Art, wenn die Erbärmlichsten unter ihnen das vorher‐ sehbarste aller Gebete zu murmeln beginnen: Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name. Bla, bla, bla, flüste‐ re ich ihnen ins Ohr. Bla, bla, bla … Euer Gott ist nicht im Himmel. Euer Gott bin ich. Ich bin es, der entscheidet, ob ihr lebt oder sterbt. Ihr werdet sehen. Ihr werdet sehen. Also ver‐ sucht, zu mir zu beten, und vergesst euren verdammten Gott. Sie tun auch das, selbst wenn es nicht viel nützt. Ich möchte, dass sie aller Hoffnung beraubt abtreten, vor allem auf einen Gott, der so machtlos ist, dass er es nicht einmal fertig bringt, sie zu retten.
Ich lasse June vor mir her gehen. Sie schlurft, ihr schriller Trotz ist verschwunden. Sie mag glauben, sie hat sich in ihr Schicksal ergeben, wie immer es aussieht, aber ich weiß es bes‐ ser. Ich weiß, dass niemand von ihnen wirklich aufgibt. Ich lasse es einfach nicht zu. Ich brauche ihren wütenden Wider‐ stand, und auf die eine oder andere Art bekomme ich ihn im‐ mer. Ihre Körper haben sich hübsch entwickelt, selbst der von Jolly Roger. Zwar ist er schwerlich ein Kandidat für die Titel‐ seite eines Fitnessmagazins, aber er ist so fit, wie er nur je sein wird. Es dauert nicht lange, Kontur herauszuarbeiten, wenn erst einmal eine wochenlange strenge Diät das ganze Fett weg‐ schmelzen ließ. Es ist leicht, einen frisch aufgepumpten Bizeps zu sehen, wenn kein Pfund Schwabbelspeck im Weg steht. Aber Diät und Gewichtheben haben nur eine grobe Form ge‐ schaffen. Die echte Feinarbeit beginnt jetzt, wenn ich sie aus dem Käfig hole und auf den Tisch schnalle. Dann forme ich ihren Geist, ihre tiefsten, zartesten Ängste, die Gedanken und Bilder, die sie mit der scharfen Schneide jeder vergehenden Sekunde in den Wahn treiben. Ich übertreibe nicht im Gering‐ sten. Verlassen Sie sich drauf, Sie werden es sehen, denn wenn sie erst einmal auf dem Tisch liegen, gibt es kein Herumtrö‐ deln mehr. Ich wachse jedes Mal mit der Herausforderung eines neuen Sujets, und ich empfinde die Aussicht, es heute Nacht erneut zu tun, nicht anders als berauschend. June trägt ihre frisch gewaschenen Trainingsklamotten. Sie ist auch frisch gebadet. Ich verabscheue den Geruch eines sau‐ ren Körpers. Ich will, dass sie nur nach Angst riechen, wenn ich das letzte Mal an ihnen arbeite. Heute Morgen hat June gebadet, wie auch Jolly Roger, Sonnyboy und Diamond Girl.
Nur Ihre Widerlichkeit hat sich geweigert, offenbar entschlos‐ sen, sich ihren Spitznamen voll und ganz zu verdienen. Mit der Zeit würde der Druck ihrer Gefährten sie zwingen, zu ba‐ den, falls sie noch Zeit und Gefährten haben sollte; aber dahin‐ ter steht ein großes Fragezeichen bei Ihrer Widerlichkeit, deren Schicksal weniger in der Schwebe ist, als von meiner Augenb‐ lickslaune abhängig. Mein Interesse an ihren geflüsterten Ver‐ traulichkeiten mit Diamond Girl ist versiegt. Ich hatte mir weit mehr von den beiden erhofft, nein, mir vorgestellt: Junge Mädchen, zusammen eingesperrt, kaum bekleidet, würden sich doch ohne Frage den hormonellen Befehlen des Gefäng‐ nisdaseins beugen. Wie es aussieht, habe ich nur eine Leiche mehr herumliegen, und ich rätsle immer noch, was ich mit ihr anfangen soll. Selbst wenn ich sie ausstellen könnte, was we‐ gen der Verbindung zu mir eine absurde und selbstzerstöreri‐ sche Idee ist, reizt mich ihre Gestalt nicht so sehr, dass ich sie gießen möchte, und ihr Skelett wäre nicht einmal eine Verzie‐ rung für die Parade. Kurz, sie inspiriert mich zu absolut gar nichts. Soll sie schmachten, bis sie bleich wie ein Lurch ist. Ehrlich gesagt, besteht mein einziger Impuls darin, sie zu ig‐ norieren. Wenn ich mir etwas daraus machte, könnte ich sie zu allem Möglichen zwingen, selbst zum Baden, könnte jedes Ge‐ fühl für Anstand und Sittsamkeit verletzen, das sie ohne Frage in völligem Missverhältnis zu ihrer Anziehungskraft besitzt. Aber das wäre eine schreckliche Fehlleitung von Energie, da ich so viel zu tun habe und so wenig Zeit. Von mir aus kann sie in ihrem Gestank verrotten. Ich sehe, dass Junes Augen feucht sind. Ihre Ahnungen wer‐ den zur Gewissheit, als ich ihr befehle, sich mit dem Gesicht
nach oben auf den Tisch zu legen. Ihre Familie und Ihre Wi‐ derlichkeit reihen sich am Käfig auf, um zuzuschauen, wenn‐ gleich sich Sonnyboy bereits abwendet und laut zu heulen be‐ ginnt. Er hätte sich eine Medaille dafür verdient, so wirkungs‐ voll erinnert er June daran, warum sie mir jedes Hand‐ und Fußgelenk brav hinhalten muss, obwohl das Alginat sie erwar‐ tet. Gestern, als ich die zähe grüne Masse in das üppige Tal ihres prächtigen Hinterns geknetet habe, habe ich ihr erzählt, dass Eunuchen die besten Liebhaber sind. Das wiederhole ich jetzt, während ich sie festschnalle. Eunuchen sind die besten Liebhaber, June. Frag nur den Papst oder einen Sultan der tür‐ kischen Krone. Eunuchen – ich benutze das Wort häufig, we‐ gen seiner schauderlichen Wirkung – haben nur ein Werkzeug der Erregung, June, und sie verwenden es mit einem Hunger, der nur den am heftigsten Heimgesuchten bekannt ist. Sie werden promisk, June. Wie die Finger kleiner Mädchen, die zum ersten Mal forschend tasten dürfen, hasten Eunuchen zwischen abwegigen Freuden und abtrünnigen Erektionen umher. Und Sonnyboy hat so einen süßen Hintern. Ich habe ihn oft gesehen, also lieg still, June, und wehre dich nicht, noch nicht, sonst hole ich ihn her und lasse dich zuschauen. Ich las‐ se dich die sorgfältig angewandte Aderpresse studieren, die einst nur Bischöfen und Fürsten bekannt war, und den Jungen, denen sie sich so selbstgefällig hingaben. Die Knoten, Schleifen und verschlungenen Schnüre, die Leben retteten und solche vollkommenen, rundärschigen Liebhaber schufen. Du siehst, June, deine Befürchtungen damals bei dir zu Hause waren nicht ganz falsch. Du wolltest mich in der Hoffnung zufrieden stellen, dass ich die Kinder verschone. Und das hoffst du im‐ mer noch, nicht wahr? Aber du wirst gleich feststellen, dass
mich dein Körper nicht sättigen kann, nur dein höchst hinge‐ bungsvoller Tod. Hast du mich verstanden, June? Dein hinge‐ bungsvoller Tod. Es wird dir freistehen, jedes Gefühl voll, reich‐ lich und aufs Herrlichste zu erfahren, und auch wenn du mir nie danken wirst, wird deine Dankbarkeit in Bronze gegossen sein. Ich hole den schwarzen Gummiball hervor, der aus der Mit‐ te eines kräftigen schwarzen Riemens ragt. »Mach den Mund auf.« Sie tut es, aber um zu protestieren oder eine Frage zu stel‐ len, mich mit einem »Warum …« zu langweilen, aber ich stop‐ fe ihr den Ball mit einer Bösartigkeit hinein, die sie noch nicht gesehen hat, die sie nicht erwarten konnte, und während sie würgt, ziehe ich die Schnalle so fest zu wie ein dicker Mann, der seinen Bauch verschwinden lassen will. Sie wird ein, zwei Minuten brauchen, bis sie erkennt, dass der Schmerz von dem Hartgummiball schlimmer ist als die Schnalle, die sich in ihren Hinterkopf bohrt. Bis dahin werden sich Ball und Schnalle an‐ fühlen wie ein Liebespaar, das verzweifelt versucht, durch ihren Schädel hindurch zu kopulieren. Alginat, liebe June. Es ist dein Freund. Nun beginnt der Kampf. Er ist unvermeidlich. Wie aufopfe‐ rungsvoll eine Mutter auch sein mag, der Körper begehrt auf mit der Wut von Sklaven in offener Rebellion, Sklaven, die den Kopf nicht länger hoffnungsvoll senken, sondern hasserfüllt heben. Ich habe es so oft erlebt, es ist vorhersehbar wie Regen, wie Tränen, wie das rauschende Wasser, das die wunder‐ schönsten Schluchten meißelt. Also schwelge in deiner Rachelust, June Cleaver, lass sie ganz aus an mir. Ich will jeden Zoll der Rebellion deines Kör‐
pers sehen. Stirb mit einem Hass, der dein Gesicht entstellt, der deine Lungen brennen lässt. Ich schneide ihre Trainingshose auf. Sie ist wunderbar ge‐ schmeidig geworden, sie tut eben immer mehr als verlangt, unsere June, nicht wahr? Sie ist attraktiv, und ihre Beine sind offen, ihr Geschlecht verfügbar. Ich versuche, mir den Guss vorzustellen. Will ich ihre Vulva geschwollen oder in Ruhe‐ stellung? Auch das gehört zu meiner bildhauerischen Arbeit, was mache ich mit dem Geschlechtsapparat des Körpers? Manche Frauenkörper haben nach der Schändung verlangt, die sie erhielten, und sind seither mit den Hautrüschen zu se‐ hen, die eine wohl befriedigte Frau unmittelbar nach dem Verkehr kennzeichnen, egal, welches Instrument ich gewählt habe, um jenen »einzigartigen sexuellen Wahnsinn« zu produ‐ zieren, wie es in einer Kritik hieß, die diesen Effekt besonders pries. Muss ich erwähnen, dass sie von einem Mann stammt? Wer sonst könnte eine solche Geistesstörung romantisieren, allerdings teile ich dieses Gebrechen kaum, da ich die Kunst und den Künstler sehr wohl auseinander halte. Ich bin nicht dieser Wahnsinn. Ich verleihe ihm nur Ausdruck, und diese Unterscheidung ist keineswegs so geringfügig, wie es viel‐ leicht aussieht. Sie muss rasiert werden. Das ist eine plötzliche Eingebung. Ich kann die Frage ihrer Vulva nicht beantworten, ehe ich sie nicht deutlich sehe. Ich lasse sie angeschnallt auf dem Tisch liegen, während ich Handtücher dämpfe und Werkzeuge zu‐ sammensuche. Diese Dinge erledige ich mit einem gewissen Maß an Übung und kehre zu meiner Arbeit zurück, von wo ich das Geplänkel einer Unterhaltung zwischen June und ih‐ rem Gatten höre. Mit meinem Erscheinen endet es, und ich
werde das Band abhören müssen, um zu erfahren, ob es mehr enthält als die vorhersehbaren Beteuerungen, die gewisse Le‐ ben in einem solchen Augenblick unterstreichen. Die Handtücher sind heiß, aber nicht brühend heiß, und nachdem June bei ihrer Berührung zunächst erschrocken zu‐ sammenzuckt, entspannt sie sich. Ich drücke auf die Düse und freue mich daran, wie sich das aquamarinblaue Gel in weißen Schaum verwandelt, als ich es in ihr Schamhaar reibe. Sie windet sich bei meiner Berührung, und ich lächle, denn ich weiß aus früherer Erfahrung, dass ihr Körper später schreien wird, wenn sie sich jetzt krümmt. Diese Aversion gegen jede Berührung sagt kommenden Schmerz am treffendsten voraus. Sie macht die größere Verletzung so tief wie das Universum und das Nachdenken darüber ebenso erschreckend, der endli‐ che Raum unendlichen Schmerzes. Obwohl ich arg versucht bin, einen Finger, vielleicht zwei oder drei hineingleiten zu lassen, zwinge ich mich, davon Ab‐ stand zu nehmen. Sollte ich mich entscheiden, sie als sexuelle Frau zu formen, dann werde ich sie mit all der Begeisterung schänden, die der Akt verlangt; will ich sie aber so wie jetzt, da ihre Außenseite fast schon nach innen kriecht, um von mir wegzukommen, muss sie unbelästigt bleiben. Ich benutze ein offenes Rasiermesser. Ich ziehe die Klinge an einem Lederriemen ab und finde die Wischgeräusche sehr angenehm. Dann knie ich mich zwischen ihre Beine und scha‐ be große Büschel schwarzen Haares ab, die in einem Meer aus weißer Creme schwimmen. Die Reinheit der Farben, der Bo‐ gen des Spektrums hier, ist mehr als bezaubernd. Ich achte außerordentlich darauf, sie nicht zu schneiden. Ich will mich vor dem kleinen Einschnitt bewahren, der durch die
Creme und die schwarzen Strähnen blutet. Zwar räume ich ein, dass selbst das winzigste Rinnsal seine eigene, herrlich aufrührerische Schönheit besitzt, aber ich bevorzuge die nüch‐ terne Klarheit von Schwarz und Weiß und mache mir über‐ haupt nichts aus der verlogenen Unerschrockenheit von Blut. Das Rasiermesser erinnert mich aufs Neue daran, dass das bildhauerische Gestalten eines Körpers doch sehr viel mehr einschließt, als die schwachen Gemüter meiner Zeitgenossen auch nur ins Auge fassen könnten. Ich habe in diesen letzten Wochen ihres Lebens einen guten Teil von June entfernt, und nun entferne ich die letzten Spuren ihres Frauseins. Ich sehe das ganz klar, als ich die Reste der Creme mit einem Handtuch abtupfe. Sie sieht wieder wie ein Mädchen aus, ein kleines Mädchen, doch sie ist eine Frau, und die Spannung dieses Anblicks wird andere erregen oder anwidern, aber es wird sie alle bewegen. Ich betrachte ihr Geschlecht und erwäge erneut eine Schändung, was sich für mich anfühlt wie die Pflicht für den Soldaten. Was wird in den Augen eines Betrachters den größeren Nervenkitzel auslösen: Die Vagina eines Mädchens am Körper einer Frau, die geschändet wurde und all ihre nackten Falten offenbart? Oder die Vagina eines Mädchens am Körper einer Frau, die nicht geschändet wurde, aber durch ihre unverhüllte Erscheinung eine jungfräuliche Verwundbar‐ keit suggeriert, oder ist es die schamlose Verfügbarkeit einer Hure? Auch das wird manche Betrachter plagen, das Ergötzen an der eigenen Unentschlossenheit, denn es wird ihnen von ihrem eigenen quälendsten Verlangen erzählen. Dieser Zwiespalt adelt mich, denn er ist frei von jeglichen niedrigen Erwägungen. Nicht für den kleinsten Moment drin‐ gen sie in meine Überlegungen ein. Zuletzt entscheide ich,
dass June ungeschändet bleibt, dass für die meisten Betrachter die Spannung zwischen äußerer Erscheinung und Möglichkeit weitaus fesselnder sein wird als die vollendete Tatsache des Verkehrs. Einmal mehr baue ich auf die schmutzigsten Ma‐ chenschaften der Fantasie und ihre Kraft. Meine Entscheidung stimmt auch aufs Genaueste mit mei‐ ner ursprünglichen Wahrnehmung von June überein, als sie einfach June Cleaver war, die in ihrem Kleid auch eine Mor‐ monin hätte sein können. Sie hat einen weiten Weg zurückgelegt, um so viel zu werden. Ich verteile Alginat über ihre Füße und Unterschenkel, reibe es ein, achte darauf, dass es sich mit der »Haut« überlappt, die ich gestern von ihrer Rückseite geschält habe. Ich streiche es über ihre Oberschenkel und in die Falten, die ihren Unterleib von den Beinen trennen. Als ich es an ihre nackte Vagina drücke, erschaudert sie. Ich mache mir nichts vor, sie tut es nicht aus Lust. Die Hälfte ihres Körpers ist nun ein grünliches Grau. Ich presse das Alginat in ihren Bauchnabel und komme zu ihrem Busen. Die Brustwarzen sehen aus, als versuchten sie in die Brüste einzutauchen. Ich würde sagen, sie erlebt das Ge‐ genteil einer Erregung. Ich muss der Frau erst noch begegnen, die das hier genießt, aber darum geht es ja, sie erdulden zu lassen, was sie sich nie hätten vorstellen können; und dann, wenn sie am heftigsten um Atem ringen, um ein paar zusätzli‐ che Sekunden Bewusstsein, die Illusion des Lebens platzen zu lassen, den Körper zu einem Gefäß werden lassen, der aus ei‐ nem endlosen Himmel auf eine zerstörte Erde gefallen ist und in tausend Stücke zerspringt, wenngleich ich vermute, dass sich zu dem Zeitpunkt, da der Tod eintrifft, die meisten mei‐
ner Subjekte bereits mehr nach seiner endgültigen Beruhigung sehnen als nach dem Leben, das sie führen. Das Alginat bedeckt June bis zum Hals. Ich werde jedoch nicht so geradlinig weitermachen. Das wäre eine große Ver‐ geudung von Vorfreude. Stattdessen kreise ich die Nase ein, bis nur sie allein noch herausragt, wobei ich nicht vergesse, die vom Knebelriemen herrührenden Falten in den Wangen glatt zu streichen. Ich lasse das Haar außer Acht, es ist nicht so interessant, wie die meisten Frauen glauben, nicht in ihrer letz‐ ten Ruhe. Und dann tupfe ich Alginat auf den Nasenrücken und hinab zu den Nasenlöchern. Schon geht ihr Atem stoßweise. Die Angst, die sie im Griff hält, hat sich von den Gliedmaßen auf die Lunge ausgedehnt. »Jawohl, June«, gurre ich, »jetzt bist du an der Reihe.« Ich werde nun gleich zum ersten Mal wirklich grausam zu ihr sein, aber ich kann mir keine Freundlichkeit leisten, wenn ich die bildhauerische Wirkung bodenloser Furcht erreichen will. Ich schiebe einen Alginatpfropfen in ihr rechtes Nasenloch, so dick, so beklemmend klebrig, dass sie sofort leidet; aber nicht nur, wie man denken könnte, wegen der Verminderung ihrer Atemluft, denn das ist nicht die Grausamkeit, von der ich gesprochen habe. Das ist sie: »Immerhin darfst du als glückli‐ che Frau sterben, June. Du hattest ein erfülltes Leben. Nichts zu bereuen, oder? Ich möchte, dass du jetzt darüber nach‐ denkst. Du hast deine Träume wahr gemacht. Du hattest eine Familie, eine gute Familie, und in Jolly Roger einen guten Ehemann. Du hattest alles, was sich ein gutes amerikanisches Mädchen nur wünschen kann: einen Mann, ein Zuhause, Freude an Kindern.«
Ich habe das alles schon zu anderen Frauen gesagt, aber nie hat es sich als so wirkungsvoll erwiesen, nie gelang mir eine solche Provokation. June verdreht ihren Körper, spannt ihn wie eine Schraube, die in härtestes Holz dringt, einen Hickory‐ oder Mahagoniriegel, verzerrt ihr Gesicht, bis ich weiß, das wird eine vorzügliche Maske für meine private Sammlung, sie wird nicht nur Entsetzen abbilden, sondern den grässlichen Albtraum, jetzt und für alle Ewigkeit nicht mehr zu werden als man ist. Was jedoch am lautesten brüllt, sind ihre Beine, der Bauch, die Brüste und Arme, Hände und Finger, alles spannt sich, kratzt, drischt, als wäre jedes einzelne Körperteil ein Tier, ein Nager, der sich auf dem blutig gekratzten Rücken seiner Brüder einen Weg aus einem Glaskäfig bahnen muss. Das ist herrlich. Sie schlägt mit den Ellenbogen, den Handrücken und Handgelenken auf den Tisch. Ihr Kopf hämmert dumpf, die Fersen ebenfalls, ein hoffnungslos verlorener Tanz des Trotzes. All das, weil meine Worte keinen Trost bieten. Sie regen die allerquälendste Erkenntnis an: dass ihr Leben, so wie sie es gelebt hat, der schlimmstmögliche Fehler war, und dass sie nun, in ihren letzten Augenblicken, gezwungen ist, es in der vollen und erschreckenden Gewissheit, sie hätte es sehr viel besser machen können, noch einmal zu durchleben. Ach, wie sie das weiß. Ich sehe es so deutlich wie sie selbst. Ich habe ihren Körper geformt, und mit meinen Worten forme ich ihren Geist, verleihe all ihren Zweifeln Gestalt, all ihren Irrtümern und allem Irrsinn in ihrem Leben. Ich bin nur Patina für ihre Pein, die Kupferlösung, die sie grün werden lässt vor Neid auf das niedrigste Lebewesen, das noch ungehindert über den schleimigen Boden des Urwalds kriecht. Sie hätte es wirklich besser machen können. Das ist keine Illusion. Nicht für June
Cleaver. Ich habe sie zwar von Herzen verabscheut, aber sie hätte es besser haben können, viel, viel besser. Sie hatte den Körper und genügend von einem kalt berechnenden Men‐ schen, um sich weit über ihren bescheidenen Stand zu erhe‐ ben. Was sieht sie, als ich eine winzig kleine Kugel Alginat in ihr linkes Nasenloch schiebe, nur einen Bruchteil des Luftwegs versperre, eine bittere Andeutung des endgültigen Verschlus‐ ses? Zieht ihr Leben bereits an ihr vorüber? Erinnert sie sich daran, wie ihr der Arzt oder die Hebamme ihr kleines Mäd‐ chen in die Arme gaben? Denkt sie daran, wie Diamond Girl an ihrer Brust lag? Und wenn sie es tut, und ich weiß, dass sie es tut, weil ich ihr diese Rückschau durch Einflüsterungen aufnötige, schreckt sie dann zurück vor dem Ansturm der un‐ guten Erinnerungen, die dieses kleine Baby ihr in all den Jah‐ ren danach brachte? Dieses Mädchen, das erst vor Tagen das Leben seiner Mutter, seines Vaters und selbst seines kleinen Bruders für das eiskalte Spiel geopfert hat, das es spielt? Nein, die Erinnerung an ihr kleines Mädchen bringt ihr kei‐ nen Frieden, sie kann nur noch mehr Qual, noch mehr Reue bringen. Ich höre das aus den stark gedämpften Umpf‐umpfs, denn sie spricht die Sprache der Sterbenden, während sie um Atem ringt. Vielleicht erinnert sie sich an den Tag ihrer Hochzeit, an die Blumen und den Brautzug, die Brautjungfern und den Trau‐ zeugen, der sie sehnsuchtsvoll ansah und ihr mit dem Wissen schmeichelte, sie hätte so viele haben können, aber sie wollte nur den einen. »Den einen«, wiederhole ich mit kaum verhohlenem La‐
chen, denn Jolly Roger ruiniert die ganze Idee von Einzigar‐ tigkeit. Er ist so gewöhnlich wie Sand, so gewöhnlich wie Staub, und wer auf diesem Planeten wüsste das besser als sie? »Du hast noch ein halbes Nasenloch, June. Ein halbes. Wenn du zu heftig atmest, saugst du das Ding ganz hinein, und das warʹs dann.« Aber sie ist eine ganz Schlaue. Sie macht einen langen, gleichmäßigen Atemzug, beruhigt ihre Arme und Beine und atmet dann heftig aus, so dass sie das mattgrüne Kügelchen aus ihrem linken Nasenloch expediert, wie sie es mit einem Verschluss aus Schleim machen würde. Aber die Anstren‐ gung, ihren Atem zu kontrollieren, ihn so genau einzuteilen, obwohl er so knapp ist, kommt sie teuer zu stehen, foltert sie mit dem Bedarf nach weiterer Luft, um wettzumachen, was sie verpasst hat. Ihr Körper zappelt wild, als sie das letzte Maß an Beherrschung verliert. »Sieh dich an«, sage ich zu ihr, aber sie hört nicht, kann nicht hören, nicht wenn das Ringen um Atem zur fiebrigen Raserei wird. Sie ist von Kopf bis Fuß eine mattgrüne Kreatur, mit nur einem kleinen, dunklen Loch als Verbindung zum Leben, ein einzelner Punkt in dem einzigen Universum, das sie hat. Ihre gesamte Existenz reduziert sich auf dieses Fleckchen Leere, das im Nu zugedrückt sein kann. Aber gibt sie auf? Nein. Sie ist eine echte Inspiration. Es ist ihr gelungen, ein paar Augenblik‐ ke mehr herauszuschinden. Ich bewundere sie. Wirklich. Los, Mädchen, los. Aber ich muss gestehen, dass ich lache. Ich lache so heftig, dass ich selbst kaum Luft bekomme. Ich befehle ihr, aufzuhören. Hör auf! Du bringst mich um, June. Und darüber muss ich noch mehr lachen. Ein winziges Loch, und auf dem baut sie alles auf, was sie an Hoffnung braucht.
»Atme, June, atme«, verspotte ich sie, vielleicht rufe ich ihr auch Jolly Rogers langweiliges Gesicht ins Gedächtnis, wie er an ihrem Bett all die Männer nachäfft, die er in Filmen gesehen hat, und die ihre Frauen während der Geburt drängen, zu at‐ men, als könnte ihnen das über die größten Schmerzen hin‐ weghelfen, die sie je erfahren werden. Nur sind es gar nicht die größten Schmerzen, die sie je erfahren werden, nicht für die Frauen, die das Glück haben, mir zu begegnen. Für sie wird die Erinnerung an die Geburt eines Kindes ein Feiertag, eine festliche Einkehr. Ich wette, June hat nicht so gezappelt, nicht einmal als Diamond Girl ihren großen Kopf heraus‐ streckte und ihr die straffesten Bänder des Körpers auseinan‐ der riss. »Atme, June, atme«, wiederhole ich, als ich das Alginat, das sie töten wird, an der kleinen Öffnung vorbeiführe, eine Dro‐ hung, die keine Sekunde länger dauern darf, denn ich habe ihren Tod weidlich gemolken und kann schlicht kein Tröpf‐ chen Todesqual mehr herausquetschen. Sie hat den Geburts‐ raum ihres neuen Lebens betreten, das sie in Bronze gegossen bis in alle Ewigkeit leben wird. Ich ramme einen großen Pfrop‐ fen Alginat in ihr linkes Nasenloch, drücke es fest und streiche die Oberfläche glatt. Ich stelle mir vor, wie sie in der sich ver‐ finsternden Stille an Jolly Rogers Atme, June, atme denkt und an die Geburt von Diamond Girl. Beide zerren nun an ihr. Bei‐ de reißen ihr die Lungen auf, den Körper, von innen nach au‐ ßen, denn der Tod wird im schlimmsten Verständnis des Le‐ bens geboren, und wer das bezweifelt, braucht nur auf sein eigenes Hinscheiden zu warten, wenn er erfahren wird, dass wir in den letzten Augenblicken nicht all die vergangenen Jah‐ re noch einmal durchleben, sondern nur das, was wir be‐
dauern. Nicht darin, dass wir sterben, besteht das einzig wah‐ re Grauen, sondern darin, dass wir nie richtig gelebt haben. Ich schäle das Alginat bis auf die Nasenlöcher ab, als ihr Kampf heroisch wird. Ja, June, du bist meine Heldin, du und all die anderen. Ich werde euch in Ehren halten. Das grüne Spiegelbild ihres Körpers liegt nun neben ihr, und nach einer letzten, wesentlich schwächeren Zuckung liegt sie still. Ich habe den richtigen Moment gewählt, ich sehe es am Schreckensbild der Haut. Erst jetzt höre ich die Schreie aus dem Käfig. Sie waren die ganze Zeit gegenwärtig, aber ge‐ dämpft. Solcherart ist die Kraft der Konzentration. Solcherart ist die Macht der Kunst. Es ist Jolly Roger, der auf dem Boden kniet und klagt. Er hat mit den Fäusten zwei Vertiefungen in die Erde geschlagen, und sein Gesicht schwimmt in Tränen. Er überrascht mich, und mir wird klar, dass meine Geschichte vom Eunuchen vielleicht nicht reichen wird, um so viel Wut zu ersticken, selbst bei einem Mann nicht, wenn er denn zum Mann geworden ist. Ich lege Junes zweite Haut, den Mantel einer Größe, die sie im Leben niemals hätte erfahren können, auf eine Bahn Plexiglas und trage sie wie auf einer riesigen Servierschale hinaus in die Gießerei. Die Luft fließt über vor Erinnerungen, denn ich habe diesen Weg so oft zurückgelegt, und jeder Schritt trug seinen eigenen Lohn in sich. Ich lege June auf einen langen Tisch, wo sie auf ihre Familie und meine späteren Bemühungen warten wird. Vielleicht lasse ich mir von Ry Chambers bei der Herstellung der Gussmodelle helfen. Ich schwelge in der Vorstellung, wie er June, Jolly Roger und Sonnyboy in diesem Zustand betrach‐
tet, ein Journalist, der die erstaunlichste Geschichte in der gan‐ zen Kunsthistorie nicht sieht, während sie ihm buchstäblich ins Gesicht starrt. Doch sosehr mich das reizt, in meinem Innern weiß ich, die ganze Sache mit dem Buch ist eine Schande, eine ganz und gar verachtenswerte Schande. Es gibt kein anderes Wort dafür. Ich werde diesem Urteil nie entkommen, sosehr ich mich auch anstrengen mag. Ich habe Jahre darauf gewartet, dass ein Buch über mich geschrieben wird, und wen bekomme ich als Autor? So einen Schnösel von Fernsehreporter. Aber das ist noch nicht das Schlimmste daran, nicht das Schändlichste. Als er hier an‐ kam, erzählte er mir mit einem Lächeln – darunter tat erʹs nicht –, dass er noch vier andere Bildhauer mit aufnimmt. Al‐ les unbedeutendere Künstler. Soll ich mich vielleicht freuen? Soll ich mich geehrt fühlen? Dass ich das erste Buch dieser Art mit einer Lauren Reed teilen muss? Er ist entschlossen, die abgebrannten Dochte von vier winzigen Kerzen mit einer Jupi‐ terlampe zusammenzuwerfen. Es ist zum Kotzen, aber ich ha‐ be mich bemüht, geschmeichelt zu wirken, habe ihm meine Arbeit gezeigt, sogar meine Skizzenbücher – das Herz meiner Arbeit –, habe versucht, ihm zu zeigen, ohne es so direkt zu sagen, dass die Arbeit der anderen – und mehr als Arbeit kann man es nicht nennen, denn sie anzusehen ist wie Steine klop‐ fen — nur Schund ist. Mir ist, als wäre ich in ein unfruchtbares Land Oz gestürzt, dass ich mich mit solchen Leuten in einem Buch wiederfinden soll. Ich hatte von Reed noch nicht einmal gehört, bis er da‐ herkam. Nein, das stimmt nicht. Gehört hatte ich von ihr. Ich hatte vor mehreren Jahren ihre Ausstellung am Jenson in San Francisco gesehen, und es hatte gereicht, mich in meiner Ab‐
scheu für all diese Scheiße, die als Kunst durchgeht, zu be‐ stärken. Ein ganzes Jahrhundert geht das schon so, es fing an mit den Modernisten und ihren sich selbst rühmenden Abstrak‐ tionen, Mondrian‐Linien (eine Inspiration für alle Linoleump‐ roduzenten) und Klines Gesten (hier habt ihr eine Bedeutung). In der Bildhauerei war es noch viel, viel schlimmer. Nehmen Sie Rauschenberg, der seine armselige Geiß durch einen Reifen treibt (wie ausgesprochen homoerotisch, Bobbie). Oder diese unmögliche Frau mit ihrer von Pelz bedeckten Kaffeetasse samt Untertasse, hoch gelobt für ihre lesbischen Untertöne. Ich wünschte wirklich, ich würde übertreiben, aus großer Kunst Krampf machen, aber das ist nicht der Fall. Das waren nur zwei Beispiele für hochgelobte moderne Bildhauerei, und jeder Erstsemesterstudent kann es bestätigen. June starrt unerschrocken in das einzelne Licht über ihr. Sie ist jetzt vollkommen, die Verkörperung all dessen, was man in Ehren halten sollte. Vielleicht wird der Schnösel, wenn er diese Häute sieht, verstehen, warum auf meine Größe nie auch nur ein Schatten dieser anderen so genannten Bildhauer fallen kann. Meine Kunst und ihre Arbeit können sich nicht vermi‐ schen, genauso wenig, wie der Tag die Nacht umfangen, seine Abwesenheit erhellen kann. Vielleicht werden June und ihre Familie für die Einsicht sorgen, die er so dringend bräuchte, und ihn verstehen lassen, was für eine Verschwendung es ist, mich mit einer Stukkateurin auf dieselben Seiten zu zwingen. Genau das ist Lauren Reed nämlich, eine Stukkateurin, und daran ändern all die überschwänglichen Kritiken nicht das Geringste. »Fordert die hierarchische Stellung von Bronze he‐
raus.« Auch so eine zeitgenössische Kritik. Wenn ich das lese, möchte ich schreien: »Nein, das tut sie nicht, du Idiot. Sie weiß nur mit Bronze nicht umzugehen, deshalb arbeitet sie mit Gips.« Mich in einem Zug mit ihr zu nennen, ist keine gröbere Beleidigung, als wollte man behaupten, der Taglöhner, der die Wände von Rodins Atelier verputzt hat, besitze dieselbe küns‐ tlerische Geltung wie der Meister selbst. Ich habe dem Schnösel Kopien von mehreren Kritiken ge‐ geben, die in meinem Sinne argumentieren, und da er für das Fernsehen gearbeitet hat und deshalb wahrscheinlich die Wahrnehmungsspanne einer stieläugigen Schnecke besitzt, habe ich die Aussagen, die er am meisten bedenken sollte, in Gelb hervorgehoben. Ich habe so beiläufig wie möglich ange‐ merkt, dass eine Reihe von Kritikern mich für den »darstellen‐ den« Charakter meiner Kunst »scharf angegriffen« hat, als wä‐ re die Darstellung der Welt in ihrem Auf und Ab nicht He‐ rausforderung genug für einen Künstler. Die hervorgehobenen Passagen sagen es jedoch am besten, vor allem der Kritiker, der schrieb, meine »ausgezehrten, gespenstischen Subjekte« steckten »voller metaphorischer Andeutungen. Ihr Hunger zeugt von der Zügellosigkeit der Begierde, wenngleich er ihre Erreichbarkeit leugnet, und so zu einer Erkenntnis der öden Leere sehr vieler Existenzen anspornt, eine unausweichliche Wahrheit, die das weltgrößte Genie der Form mit seiner kompromisslosen Kunst eindrucksvoll beschreibt.« Danke. Überbiete das mal, Laurie, mit deinem Gipsstaub und dei‐ nem negativen Raum, deiner Kunst, bei der sich alles um den »Körper« dreht, obwohl kein Mensch, der bei Verstand ist, in diesem Morast aus Gips jemals einen Körper erkennen könnte. Lieber Rodins Tagelöhner als die Armut deines Blicks.
Ich wende mich von June ab, ich wage sie nicht länger anzuse‐ hen, so sehr haben mich die Gedanken an diese kleinen Lichter abgelenkt. Mir ist bewusst, dass ich zu übellaunig geworden bin, um arbeiten zu können, dennoch muss ich in den Keller zurückkehren. Family Planning #9 ist seiner Vollendung so na‐ he. Ich will Jolly Rogers Haut neben der seiner Frau liegen ha‐ ben. Dann die von Sonnyboy. Danach werden die Bronzen das Licht der Welt erblicken. Damit werden mir noch Ihre Widerlichkeit bleiben, deren Schicksal mir nicht gleichgültiger sein könnte, und Diamond Girl. Ihr Anblick schlägt mich noch immer in seinen Bann, und dafür sollte sie dankbar sein. Unsere Spezies stattet die mei‐ sten Beziehungen mit einer etwa dreijährigen intensiven kör‐ perlichen Faszination aus, was in den meisten Kulturen gerade lange genug ist, damit ein Mann und eine Frau sich kennen lernen, sich paaren und fortpflanzen können, um den Fluch der Familie zu fördern. Um all die Jahre, die folgen und die nur eine quälende Fußnote zu dieser ursprünglichen Leiden‐ schaft darstellen, schert sich die Spezies keinen Deut, denn wenn die Fortpflanzung erst erledigt ist, könnten die beteilig‐ ten Individuen ebenso gut tot sein. Dem kann ich nur nach‐ drücklich zustimmen.
16 Die Reste von Laurens Omelette sahen ziemlich widerlich aus, und sie wandte sich von ihnen ab wie von einem lüsternen Blick oder einer Beschimpfung. Der alte Jenkins hatte Recht, was die Qualität der Küche in Moab betraf, aber musste das bereits beim Frühstück losgehen? Hätte es nicht anständiger‐ weise nur auf Mahlzeiten nach der Mittagsstunde zutreffen können? Und musste Ry so vernünftig sein? Lauren hatte beab‐ sichtigt, schnurstracks zu Stassler zu fahren, um zu sehen, wo Kerry gewohnt hatte, einen Rundgang durch das Haus zu ma‐ chen, das sie in ihren E‐Mails so lebhaft beschrieben hatte, und auch die Scheune und die Gießerei anzuschauen. Sie wollte ei‐ nen Eindruck von der Umgebung bekommen, wo das Mädchen zuletzt gesehen wurde. Und, was am wichtigsten war, mit Stassler selbst reden, einen Eindruck von ihm bekommen. Wie getreulich Ry auch seine Begegnungen mit ihm schilderte, es änderte nichts daran, dass sie den Bildhauer selbst sehen, mit ihm reden musste, um auch noch das dürftigste Detail über Kerry herauszukitzeln, das helfen könnte, sie zu finden. Doch Ry bewies Überzeugungskraft. Seit dem ersten Schluck Kaffee hatte er hartnäckig den Standpunkt vertreten, Lauren würde ausgehend von Stasslers Schroffheit am Telefon und seinem wohlverdienten Ruf als Ekel wahrscheinlich nur eine Gelegenheit erhalten, ihn zu treffen, und wäre es da nicht besser, möglichst viele Informationen vorab zu sammeln? »Schön«, sagte sie knapper als beabsichtigt. »Ich verstehe,
was du meinst. Ich dachte nur, wenn ich zu ihm rausfahre, finde ich vielleicht etwas heraus.« »Aber du findest vielleicht mehr heraus, wenn du wartest.« »Geduld«, erwiderte sie übertrieben gedehnt, »ist eine ge‐ waltig überschätzte Tugend.« Ry lachte, aber er griff auch nach der Rechnung und stand auf, wie um weiteren Diskussionen vorzubeugen. Bad Bad Leroy Brown begann mit seinem Stummel zu we‐ deln, sobald sie ins Freie traten. Lauren band seine Leine von der Parkuhr los und ließ ihn für die Fahrt zum Hundeheim in Rys Land Rover springen. Leroy brauchte keine Medikamente mehr, und Lauren glaubte ihn problemlos tagsüber in fremder Obhut lassen zu können, vor allem in einem »Hundeschloss«. Der Besitzer hat‐ te sich selbst am Telefon als »Concierge« bezeichnet und er‐ klärt, sie hätten drei Klassen von »Unterkünften«. Lauren hatte die Augen verdreht, als sie das hörte, aber sie war neu in der Welt der verhätschelten Haustiere und hatte dem vorgeschla‐ genen Rundgang zugestimmt. Japsen, Bellen und Heulen begrüßte sie, noch bevor der Be‐ sitzer selbst in einem frischen, neuen T‐Shirt erschien. Er lä‐ chelte mit einem Gebiss wie ein Pferd und scheuchte sie rasch an einem schlichten Maschendrahtauslauf vorbei, zu dem er nur knapp anmerkte, er stünde »preisbewussten« Kunden zur Verfügung. Dann deutete er zu einer Hundehütte mit Zugang zu einer beheizten Betonscheibe im Freien. »Das hält sie schön warm«, sagte er mit seinem Pferdegrin‐ sen. »Aber es ist heiß«, wandte Lauren ein. »Wären sie mit ei‐ nem Eisblock nicht glücklicher?«
»In der Nacht«, brauste er auf, »in der Nacht.« Er verlangsamte sein Tempo erst bei der obersten Kategorie, die eine private Suite mit einem Bett und einer »Doggie Bar« zu bieten hatte – Leberhäppchen, Kauspielzeug, Rohlederkno‐ chen. Lauren entschied sich für den Maschendrahtauslauf. Der Concierge schauderte. Sie parkten kurz nach zehn Uhr vor dem Gebäude der Be‐ zirksverwaltung. Die Sonne brannte inzwischen hoch am Himmel und reflektierte schmerzhaft von den Drahtrollen, die das zweite Stockwerk krönten. Trotz ihrer getönten Gläser musste Lauren auf dem Weg zum Gefängnis und dem Büro des Sheriffs die Augen abschirmen. »Er ist ganz freundlich«, sagte Ry leise, als sie die Steinstu‐ fen hinaufstiegen. »Aber der eigentliche Grund, warum er so gesprächig ist, sind seine politischen Ambitionen. Er denkt sich, wenn es ein großes Buch wird, kommt er groß raus. Aber er ist keiner, den man wütend machen möchte.« Ry öffnete die Tür, und Lauren konnte das gleißende Son‐ nenlicht hinter sich lassen. Das Büro des Sheriffs befand sich im Erdgeschoss, am Ende eines Flurs voller Verkaufsautoma‐ ten, einem Wasserspender und hellen Holzbänken. Sheriff Holbin begrüßte sie in seinem Büro und wies auf zwei Sessel mit gepolsterten Rückenlehnen gegenüber von seinem Schreibtisch. Ry stellte die beiden einander vor, und der Sheriff sagte, er freue sich, Lauren kennen zu lernen. Eine Floskel, aber höflich geäußert, und in den nächsten Augenb‐ licken stellte Lauren fest, dass er auch schnell zur Sache kam. »Heute früh hat sich etwas ergeben, das teils eine gute
Nachricht ist, teils eine schlechte«, sagte er vollkommen gelas‐ sen. Lauren sah, wie seine blauen Augen sie und Ry muster‐ ten. Er war zwar auf der Hut, aber gewillt, ihnen beiden zu trauen. Sie fand, dass er auch gut aussah, trotz des dicken Bauchs, der hohlen Wangen und einer mächtigen Nase, äuße‐ ren Merkmalen, die natürliche Angriffsziele für politische Ka‐ rikaturisten boten, falls er seine Ambitionen je wahrmachen sollte. »Ein paar Mountainbiker, die in der Nähe von Kingʹs Rock unterwegs waren, haben ihr Rad gefunden. Sie wussten nicht, dass es ihres war, aber sie haben Spuren von einem Kampf entdeckt und hatten Gott sei Dank so viel Verstand, nichts an‐ zurühren. Sie riefen uns über Handy an, und ich habe sofort die Jungs von der Spurensicherung raufgeschickt.« »Wann war das?«, fragte Ry. »Früh, gegen sechs.« »Was für ein Kampf?«, fragte Lauren. Der Sheriff schürzte die vollen Lippen und schüttelte den Kopf. »Das, was man immer am meisten befürchtet, wenn eine junge Frau vermisst wird. Wir haben ein Stück Stoff gefunden, bei dem es sich um den Zwickel ihrer Radlerhose zu handeln scheint«, sagte er sichtlich angewidert. »Sieht aus, als wäre er herausgerissen worden.« Lauren stöhnte auf. »Wir gehen nun definitiv von einer Entführung aus.« »Irgendwelche Reifenspuren? Irgendwelche Hinweise, wer es getan haben könnte?« Überhaupt irgendwas?, flehte sie lautlos. »Da draußen gibt es nichts anderes als Reifenspuren. Rei‐ fenspuren von SUVs. Reifenspuren von Jeeps. Reifenspuren
auf Reifenspuren. Meine Leute haben nach einer einzelnen sauberen Spur gesucht, aber keine Chance. Und dann ist es auch eine freie Lage da oben. Jede Menge Wind. Man kann nicht wissen, ob die Spuren des Fahrzeugs, mit dem sie ver‐ schleppt wurde, überhaupt noch existieren. Falls es ein Fahr‐ zeug war.« Er sah erst Ry an, dann Lauren. Sie stellte die nahe liegende Frage. »Was könnte es sonst gewesen sein?« »Jemand, mit dem sie unterwegs war. Ein anderer Moun‐ tainbiker könnte sie verschleppt haben. Deshalb lasse ich mei‐ ne übrigen Deputies das ganze Gebiet gründlich absuchen, Stück für Stück. Sie können heute beliebig durch die Stadt ra‐ sen, es ist niemand da, der Sie aufhält, allerdings würde ich es begrüßen, wenn Sie sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung hielten.« Lauren saß mit einem mulmigen Gefühl da, sie erwartete, dass jeden Augenblick das Telefon des Sheriffs läutete und der Fund von Kerrys Leiche gemeldet wurde. »Moment mal«, sagte sie. »Wenn da oben so viel Verkehr herrscht, dann muss doch irgendwer etwas gesehen haben. Glauben Sie nicht?« »Das sollte man meinen«, sagte der Sheriff betont überdrüs‐ sig, »aber die Leute bemerken nie viel. Sie glauben es zwar, aber sie tun es nicht. Wir veröffentlichen die Neuigkeit für alle Fälle, aber ich verspreche mir nicht sehr viel davon. Sie mei‐ nen, ein Augenzeuge ist eine feine Sache? Ein Augenzeuge ist ein Albtraum, wenn Sie sonst nichts haben, das ist leider die traurige Wahrheit.« »Und was ist die gute Nachricht?«, fragte Ry. Er hatte sich Notizen gemacht und nur innegehalten, um kurz aufzublicken.
»Die gute Nachricht ist, dass sie vielleicht noch lebt. Wenn sie in einen Bergwerksschacht gefallen wäre, wäre sie inzwi‐ schen wahrscheinlich tot. Die Scheißtypen, die jemanden ent‐ führen, machen sich die Mühe aber meistens nicht, um ihre Opfer dann sofort umzubringen.« »Nein, sondern damit sie es schön langsam tun können«, platzte Lauren heraus. »Manchmal«, räumte Sheriff Holbin ein. »Aber manchmal ist es die Entführung selbst, auf die sie aus sind. Der Nerven‐ kitzel. Eine Entführung, so schlimm sie ist, lässt noch Hoff‐ nung.« »Wie viel?«, fragte Lauren. Der Sheriff zuckte mit den Achseln, dann beugte er sich vor, wie um sich für die plötzliche Offenheit seiner Körpersprache zu entschuldigen. »Das ist schwer zu sagen, wirklich. Ist sie noch in Moab? Überhaupt noch in Utah? Wer weiß. Sie könnte inzwischen überall sein. Er sagt, sie ist ein kräftiges Mädchen«, sein Blick fiel auf Ry, »und Stassler sagt dasselbe, also wird sie es vielleicht überstehen. Das habe ich auch ihren Eltern gesagt, als ich sie heute Morgen anrief. Wenn sie Ihre Tochter wäre, würden Sie lieber das hören wollen als gar nichts. Und das sage ich jetzt auch Ihnen. Vielleicht lebt sie noch.« Ja, und vielleicht läutet jetzt jeden Moment das Telefon, dachte Lauren. »Was ist mit Jared Nielsen?«, wollte Ry wissen. »Haben Sie mit ihm darüber gesprochen?« »Ich habe es kurz nach sechs erfahren, und um sieben war jemand bei ihm. Was glauben Sie denn? Er weiß, dass er die Stadt unter keinen Umständen verlassen darf.« »Was sollte ihn daran hindern?«
Der Sheriff neigte den Kopf und lächelte. »Sie sagen, Sie waren einige Jahre Reporter, Mr. Chambers, richtig?« Ry nickte. »Glauben Sie wirklich, wir würden zulassen, dass er in sei‐ nen Zweitonner von SUV mit dem Angebernummernschild EXTRMBK steigt und wegfährt?« »Dann wird er also überwacht?« »Das könnte man daraus schließen.« Holbin sagte all dies ohne Groll, und so wurde es auch aufgenommen. »Wie stark verdächtigen Sie ihn?«, fragte Lauren. Der Sheriff legte die Hände auf den Bauch. »Ich habe ein Abkommen mit ihm …«, er sah Ry an, »weil er ein Buch schreibt und keiner von diesen nervtötenden Reportern ist. Ich rede mit ihm unter der Prämisse, dass nichts von diesem Hin‐ tergrundzeug herauskommt, bevor die Ermittlungen abge‐ schlossen sind, egal wie lange es dauert. Wenn es in zehn Jah‐ ren noch nicht vorbei ist, dann verwendet er zehn Jahre lang nichts von den Informationen. Gilt die gleiche Vereinbarung mit der Professorin des Mädchens?« Er sah sie durchdringend an. »Ja.« Lauren kam sich vor, als wäre sie vereidigt worden. »Also gut. Natürlich steht er unter Verdacht. Er ist Nummer eins auf einer sehr kurzen Liste. Dieses Rad wurde verdammt weit oben in den Bergen gefunden, fast fünfzehnhundert Me‐ ter Höhenunterschied. Um so weit zu kommen, muss man in einer Superverfassung sein. Er ist ein starker Biker. Um ihr die Hose so zu zerreißen, muss man wahrscheinlich männlich sein. Er ist männlich. Um ihr so nahe zu kommen, musste man sie kennen. Er kennt sie. Und diese Art Gewalttätigkeit, diese persönliche Form, dass man ihr die Hose zerreißt, spricht dafür,
dass starke Emotionen im Spiel sind. Die sind bei ihm vorhan‐ den, er hat es selbst gesagt. Er hat gesagt, er sei ›verrückt‹ nach ihr. Wir wollen jetzt wissen, wie verrückt.« »Wer steht sonst noch auf dieser sehr kurzen Liste? Stass‐ ler?«, fragte Lauren schnell. Der Sheriff schnalzte mit der Zunge, ehe er antwortete. »Er ist ein sonderbarer Vogel, aber warum sollte er so etwas tun? Sie müssen nach einem Motiv Ausschau halten. Deshalb haben wir Jared Nielsen so genau im Auge. Was wäre Stasslers Mo‐ tiv? Ich sehe keines. Nichts in der Art wie bei Nielsen. Sicher, es gibt eine Verbindung, sie hat auf Stasslers Anwesen ge‐ wohnt, das ist ein ziemlich starker Zusammenhang. Und er war derjenige, der sie als vermisst gemeldet hat. Es ist nicht ungewöhnlich, dass der Täter den ersten Anruf macht, obwohl ich sagen muss, dass es bei einer Entführung doch eher merk‐ würdig ist. Aber wie auch immer, er hat angerufen. Aber dann hat er keine Sekunde gezögert, als wir sagten, wir wollen so‐ fort zu ihm rauskommen, und er hat uns alles durchsuchen lassen. Das musste er nicht, aber er ließ uns. Um also Ihre Fra‐ ge zu beantworten, Stassler steht auf dieser sehr kurzen Liste, aber ich muss mich fragen, was hat ein weltberühmter Bild‐ hauer davon, irgendein Mädchen zu entführen?« »Er ist besessen von Schmerz«, antwortete Lauren. »Ja? So sehr, das er junge Frauen abmurkst?« Lauren zuckte bei seinen Worten zusammen. »Ich wollte es nicht so kalt ausdrücken, aber worauf ich hi‐ nauswill, ist das Fehlen eines Motivs bei Stassler. Bei einem schlichten Finanzdelikt folgt man dem Geld. Bei Mord, Ent‐ führung folgt man dem Motiv. Wer hat eines, wer hat keins. Und da herrscht bei Stassler Fehlanzeige.«
»Haben Sie seine Skulpturen gesehen?« »Natürlich.« Der Sheriff fuhr sich mit den Fingern durch das dunkle Haar. »Er hatte vor Jahren eine Ausstellung hier. Zugegeben, es war ziemlich komisches Zeug. Eine ganze Fa‐ milie, die aussah, als wäre sie im Bauch einer Bestie gestorben. Ich konnte nicht viel damit anfangen. Meine Frau fand es ab‐ scheulich. Aber ich bin auch nicht so der kunstbeflissene Typ, also was weiß ich schon? Mir gefallen Bilder von Sonnenun‐ tergängen und Elchen mit mächtigen Geweihen. Das Zeug, das Sie wahrscheinlich für Schrott halten«, sagte er gut ge‐ launt. »Ich frage deshalb«, sagte Lauren, »weil seine gesamte Ar‐ beit mit Schmerz zu tun hat, mit fürchterlichem Schmerz.« »Ich weiß, aber sie hat auch mit Familie zu tun. Bei allem, was er macht, geht es um Familie. Es gibt eine ganze Serie von ihm, Family Planning, eins bis acht. Mein Chief Detective hat einen ganzen Tag damit verbracht, sich seine Website anzuse‐ hen und Literatur über ihn zu lesen. Verstehen Sie, wir haben uns das auch alles überlegt, aber wo ist hier die Familie? Die Eltern des Mädchens werden jeden Moment hier bei mir vor‐ beischauen. Und überhaupt, man darf den Künstler nicht mit seiner Kunst verwechseln, oder?« »Manchmal kann man beides nicht trennen«, erwiderte Lauren. »Glauben Sie wirklich? Dann können wir uns aber auf eini‐ ges gefasst machen«, sagte der Sheriff ernst, »wenn man be‐ denkt, was im Fernsehen und im Kino alles zu sehen ist.« »Ich würde das meiste davon nicht als Kunst bezeichnen.« »Und wie sieht es bei Stassler aus? Sie sind Professorin, hal‐ ten Sie das, was er macht für Kunst?«
Lauren zögerte, wollte erst mit ihrer Ansicht hinterm Berg halten, konnte es aber nicht. »Nein, wenn ich ganz ehrlich sein soll, dann glaube ich nicht, dass es Kunst ist.« »Was ist es dann?« »Ich denke, es ist eine Travestie fragwürdiger Absichten.« »Ehrlich? Na, das ist mal eine Antwort, die ich nicht jeden Tag kriege – ›eine Travestie fragwürdiger Absichten‹. Ande‐ rerseits habe ich auch nicht jeden Tag eine Professorin hier sitzen. Darüber muss ich erst mal nachdenken. Fahren Sie raus, um mit ihm zu reden?« »Ich habe es vor.« »Sie sollten vielleicht vorher anrufen. Wir bekommen im‐ mer wieder mal Meldungen, dass er es nicht allzu freundlich aufnimmt, wenn man einfach bei ihm vor der Tür steht.« »Würde es Sie stören, wenn wir mit Nielsen reden?«, fragte Ry. Der Sheriff massierte sich das Kinn, aber sobald er sich äu‐ ßerte, kam Lauren zu dem Schluss, dass er Theater spielte, dass er sich diesen Schachzug überlegt hatte, lange bevor er ihnen die Tür aufmachte. »Ich kann Sie nicht daran hindern, aber vergessen Sie nicht, eine Hand wäscht die andere.« »Sie haben was gut«, sagte Ry. »Wo finden wir ihn?« »Im El Dorado, Zimmer 256.« Ry erhob sich, um zu gehen, als eine Frauenstimme von der Tür her rief. »Sheriff Holbin, es tut mir Leid, Sie zu stören, aber Sie sag‐ ten, wir sollen sofort hereinkommen, wenn wir da sind.« In den Augen der Frau standen Tränen, und der Sheriff ging an Lauren und Ry vorbei, um sie ins Zimmer zu führen. Hinter ihr tauchte ihr Mann auf.
Lauren dachte, dass sie Kerry sehr ähnlich sah, dasselbe Grübchen im Kinn und die großen Augen, auch dieselbe ju‐ gendliche Erscheinung. Sie musste Kerry sehr jung bekommen haben, was Lauren daran erinnerte, dass sie selbst inzwischen ein Kind hätte aufziehen können. In diesen kurzen Sekunden schienen die Jahre ihres frühen Erwachsenenlebens so schnell verschwunden zu sein wie das Mädchen, das sie alle unbe‐ dingt finden wollten. Jared Nielsen lud gerade sein blaues Mountainbike auf den Expedition, als Lauren und Ry ihn auf dem Parkplatz des Mo‐ tels El Dorado abfingen. »Wohin fahren Sie?«, fragte Ry. »Was? Habe ich jetzt nicht mehr das Recht, auf eine Radtour zu gehen? Wer zum Teufel sind Sie überhaupt. Noch ein Bul‐ le?« »Nein, ich schreibe«, sagte Ry und zog seinen schmalen Re‐ porterblock heraus. »Ein Reporter!«, fauchte Nielsen. »Ich habe Ihnen nichts zu sagen. Ihnen beiden nicht.« Sein Blick fiel nicht weniger vor‐ wurfsvoll auf Lauren. »Ich bin keine Reporterin«, sagte sie ruhig. »Ich bin Kerrys Professorin in Bildhauerei.« »Sie sind Lauren?«, sagte er. »Lauren Reed?« »Ja.« Jared sah Ry böse an. »Wieso sind Sie mit ihm zusammen?« »Er ist ein Freund.« »Das ist mir egal. Sagen Sie Ihrem Freund, er soll sein No‐ tizbuch wegstecken. Ich habe die Nase voll von Reportern und ihren Fragen. Haben Sie die hiesigen Zeitungen gelesen?«
»Noch nicht.« »Sie stellen es so hin, als hätte ich ihr etwas Fürchterliches angetan.« »Ich schreibe nicht für eine Zeitung«, sagte Ry. »Ich schreibe ein Buch.« »Einer von diesen Schnellschüssen? Sie hoffen bestimmt, dass sie tot ist.« »Beide Male nein«, antwortete Ry ruhig. »Es ist ein Buch über Bildhauerei, und ich habe lange vor Kerrys Verschwin‐ den damit begonnen.« »Wo fahren Sie jetzt hin?« Lauren blickte zu dem Rad auf dem Dach von Jareds Wagen. »Ich wollte los und nach ihr suchen, dasselbe, was ich jeden Tag mache. Ich habe jeden Pfad genau abgesucht, den wir je zusammen gefahren sind. Oben am Onion Creek war ich in‐ zwischen zweimal, um zu sehen, ob sie vielleicht einen Um‐ weg gefahren und irgendwo im Treibsand stecken geblieben ist, aber ich habe absolut nichts gefunden. Und mal ehrlich«, sagte er mit finsterer Miene, »sie hat keinen Kopfsprung in Treibsand gemacht. Das ist Blödsinn.« »Keinen Kopfsprung?«, fragte Lauren. »Mit dem Kopf voran über Hindernisse«, erklärte Jared. »Sie haben gehört, dass man ihr Rad gefunden hat?«, fragte Ry. »Ja, und das an dem einzigen Ort, wo ich nicht gesucht ha‐ be, weil Kerry dort nie hingefahren wäre. Der Detective hat heute früh schon bei mir an die Tür geklopft, und ich habe ihm dasselbe erzählt, was ich Ihnen jetzt erzähle: Es ergibt keinen Sinn, dass sie mit dem Rad diese ganze beschissene Jeep‐Route hinaufgefahren sein soll. Wozu? Sie mochte einspurige Pfade, je knorriger, desto besser, und glatten Fels. Die Jeep‐Route ist
nur was für die Höhenfreaks. Das war nicht ihre Art, genauso wenig, wie in eine Mine zu fallen. Sie hat außerdem nie auch nur ein Wort darüber gesagt. Ich weiß nicht, woher die den ganzen Schwachsinn haben. Man sollte meinen, ich hätte mal was von verlassenen Minen von ihr gehört, da ich schließlich derjenige war, mit dem sie ihre ganze Zeit verbracht hat.« »Nicht ihre ganze Zeit«, sagte Ry vorsichtig. »Da haben Sie allerdings Recht. Sie hat mit Ekel‐Ashley gearbeitet. Wussten Sie, dass sie ihn so genannt hat? Warum nehmen sie den nicht unter die Lupe?« »Haben sie gemacht. Und nichts gefunden«, sagte Ry. »Ich hätte gute Lust, selbst zu ihm rauszufahren und mich umzusehen.« »Man hat mich gewarnt, dass er keine Fremden mag«, sagte Lauren. »Ach ja? Und ich mag es nicht, wenn das coolste Mädchen verschwindet, das ich je getroffen habe, und noch viel weniger mag ich es, wenn ich als das Arschloch hingestellt werde, das dafür verantwortlich ist. Minen? Eine Jeep‐Route? Das ist alles nur ein Haufen Mist.« »Wo würden Sie suchen?« »Auf den Pfaden, die wir gefahren sind. Von denen ich weiß, dass Kerry sie kennt.« »Was hoffen Sie zu finden?«, wollte Ry wissen. »Es ist ja nicht so, dass Kerry plötzlich an Ihrer Strecke auftauchen wird.« »Aber vielleicht finde ich etwas, das ihr gehört, ihre Uhr zum Beispiel, oder einen Ohrring. Irgendetwas, das mich zu ihr führt. Ich starre die ganze Zeit auf den Weg, wenn ich fah‐ re. Ich gebe nicht auf.«
»Die Wege, die ihr beide gefahren seid, dort sollte also je‐ mand suchen?« »Jemand? Oder Sie? Das hängt nämlich davon ab, in wel‐ cher Verfassung Sie sind.« Er musterte sie von Kopf bis Fuß. »Ich bin seit Jahren auf keinem Rad gesessen, aber ich laufe jeden Morgen fünf, sechs Kilometer. Manchmal auch mehr.« »Dann könnten Sieʹs schaffen. Aber Sie brauchen Räder. Es sei denn, Ihnen ist nach einem Marathonlauf zumute. Wollen Sie welche mieten?« Lauren sah Ry an, der nickte. »Sicher«, sagte sie, »klingt gut.« Eine Tour mit diesem jun‐ gen Mann würde vielleicht mehr zu Tage fördern als eine ge‐ reizte Unterhaltung auf einem Parkplatz. »Ich bringe Sie zu Rolling Thunder. Das ist ein toller Bike Shop, und ich zeige Ihnen, was Sie mieten müssen. Dann führe ich Sie zu der Strecke, die ich heute machen wollte, und viel‐ leicht glaubt mir dann endlich jemand.« »Bevor wir aufbrechen«, sagte Ry, »möchte ich Sie noch et‐ was fragen.« Jared nahm eine abweisende Haltung ein. »Ich wollte fragen, ob Sie einen Anwalt haben.« »Einen Anwalt? Wozu? Sie reden wie mein Vater. Der will mir den Anwalt unserer Familie schicken. Ich habe es abge‐ lehnt. Kommt nicht in Frage. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Ich werde zu jeder Tages‐ und Nachtzeit die Fragen der Polizei beantworten, ich habe sogar gesagt, dass ich einen Lügendetektortest machen lasse.« »Hat man Sie darum gebeten?«, fragte Ry. »Nein, ich habe darauf bestanden. Ich sagte: ›Hängt mich an das Ding und hört auf damit, auf den Busch zu klopfen.‹«
»Was haben sie geantwortet?« »Sie sagten, sie machen es.« »Wann?« »Morgen, glaube ich. Ich soll anrufen. Ich weiß gar nicht, warum. Sie lassen mich die ganze Zeit von diesem Kerl dort bewachen.« Er zeigte zu einem weißen Wagen, der auf der anderen Straßenseite parkte. »Von ihm oder einem andern. Die einzige Zeit, in der sie mich nicht beobachten, ist, wenn ich mit dem Rad unterwegs bin. Ich glaube, sie sind zu faul zum Strampeln. Sie haben gesagt, dass jemand mit dem Lügende‐ tektor aus Salt Lake City kommt. Ich kann es kaum erwarten.« »Sie haben viel Vertrauen in das Gerät.« »Mehr als in die Jungs dort«, sagte er mit einem erneuten Blick auf die andere Straßenseite. Als sie Rolling Thunder Bicycles verließen, hatte Lauren ein Paar Radlerschuhe und eine Radlerhose gekauft, dazu eine wüstentaugliche Sonnenbrille und das schreiend bunteste Hemd, das sie je gesehen hatte. Jared hatte ihr versichert, dass sie es brauchen würde. »Baumwolle bringt einen um. Saugt den Schweiß auf und lässt einen jedes Mal frösteln, wenn man ein bisschen schneller fährt.« Er befühlte den Ärmel. »Dieses Zeug ist ziemlich emp‐ findlich, aber das ist es wert.« Lauren rollte auch ein Bike mit einer Vorderradaufhängung heraus, die Stöße absorbieren sollte. »Sehen wir nicht aus wie Bilderbuchtouristen?«, sagte Ry. »Ihr zwei seht tatsächlich ein bisschen bescheuert aus.« Ja‐ red lachte. »Wisst ihr was, wir treffen uns einfach am Ende der Strecke.« Er tat, als wollte er schnell losfahren, lachte dann
aber wieder. »Keine Angst, ihr seht aus wie alle anderen, die hierher kommen, einschließlich mir selbst.« Sie luden die Räder auf den Expedition und fuhren aus der Stadt hinaus. Lauren stellte fest, dass sie die Gesellschaft dieses drauf‐ gängerischen jungen Mannes genoss, und fragte sich unwill‐ kürlich, ob er tatsächlich fähig wäre, Kerry zu ermorden. Dann fiel ihr ein, dass Psychopathen genau deshalb Erfolg haben, weil sie so überzeugend wirken, nicht weil sie herumlaufen und sich verdächtig benehmen. Diese kleine Erinnerung er‐ wies sich nicht als besonders tröstlich, wenn sie die Zweifel bedachte, die Sheriff Holbin hinsichtlich des jungen Mannes hatte. Aber warum verzichtete Jared auf einen Anwalt, melde‐ te sich freiwillig zum Lügendetektortest und verbrachte seine gesamte freie Zeit damit, Kerry zu suchen? Nur damit es so aussah, als sei er unschuldig? Wenn er schuldig wäre, wäre es dann nicht wesentlich sinnvoller, er würde das Angebot seines Vaters auf Beistand durch den Familienanwalt annehmen und bei jeder Gelegenheit abblocken? Jeder, der den Prozess gegen OJ Simpson verfolgt hatte, hatte die schmerzlichste Lehre dar‐ aus begriffen: Wenn du reich genug bist, bezahlst du für deine Verbrechen nur, indem du einen Scheck für deinen Anwalt ausstellst. Als sie auf den Highway kamen, erfuhren sie, dass Jareds Vater eine Ladenkette gegründet hatte, die auf Importe aus Asien und Polynesien spezialisiert war. Lauren kannte das Unternehmen gut; sie hatte ihre erste Wohnung zum großen Teil mit dem Billigzeug möbliert. Ein Teil davon hatte ohne Frage Jareds kostspielige Ausbildung an der University of Southern California finanziert. Film im Hauptfach. Er und Ry
hatten das Kameraauge gemeinsam, allerdings stand Jared dem Nachrichtengeschäft seit seinen jüngsten Erfahrungen ausgesprochen feindselig gegenüber. »Einer von diesen Sendern aus Salt Lake City hat mich vor‐ gestern tatsächlich mit einem Hubschrauber auf einem Grat‐ weg verfolgt. Wissen Sie, wie gefährlich das ist? Sie hätten mich in den Canon blasen können, und da geht es gut drei‐ hundert Meter nach unten. Als sie einmal so nahe kamen, dass mich ein Windstoß fast vom Rad geworfen hätte, habe ich ih‐ nen den Stinkefinger gezeigt. Und jetzt raten Sie mal, was sie an diesem Abend dann in den Nachrichten gezeigt haben, ge‐ nau über den Worten, dass ich der ›Hauptverdächtige‹ sei?« Er warf Ry einen Blick zu. »Ich kann Ihnen sagen, ich war stinksauer. Deshalb dachte ich, als ich Sie einen Notizblock zücken sah: Kommt nicht in Frage, jetzt reicht es. Ich habe zu‐ nächst versucht, mit den Typen zu reden, aber inzwischen ha‐ be ich meine Lektion gelernt.« Jared bog vom Highway ab, überquerte langsam ein Eisen‐ bahngleis und parkte neben einem VW‐Bus. »Diese Strecke haben wir letzte Woche gemacht. Ich bin sie schon einmal nachgefahren, aber ich will sie ein zweites Mal überprüfen. Am Anfang geht es nur durch die Wüste, und ihr werdet euch fragen, was so toll daran sein soll, aber nach rund drei Kilometern kommen wir auf glatten Fels, und dann wird es richtig schön.« Er sagte »schön«, so wie Laurens erster Professor in Bild‐ hauerei immer sagte, die Arbeit eines Studenten sei »schön«, sehr deutlich und voller Wertschätzung. Lauren hatte bereits dreimal zur Wasserflasche gegriffen, aber
ansonsten fühlte sie sich ziemlich gut. Der Helm war eng, aber er drückte nicht, und sie kam sich auf dem Fahrrad wieder wie ein Kind vor. Die Schaltung war etwas gewöhnungsbedürftig, aber sie war geübt im Umgang mit Werkzeug und kam schnell damit zurecht. Ry musste irgendwann schon Mountainbike gefahren sein, denn er hatte überhaupt keine Anpassungs‐ schwierigkeiten. Sie begannen nun einen Serpentinenabschnitt, der Milch‐ säure in ihre Beine schießen ließ und die Lust auf Konversati‐ on merklich dämpfte. Sie kletterten, bis Lauren Formationen aus rotem Fels sah, die sich bis zum Horizont zu erstrecken schienen. »Wow!«, sagte sie. »Kerry hat es sehr gut gefallen hier oben. Ich musste ihr ver‐ sprechen, noch einmal mit ihr heraufzufahren. Ich hätte nie ge‐ dacht, dass ich zurückkommen würde, um nach ihr zu suchen. Ich zeige euch, warum es ihr hier so gut gefiel, was die beson‐ dere Attraktion für sie war. Es ist ein kleines Stück weiter.« »Ein kleines Stück weiter« stellte sich in Jareds Fall als ein sieben, acht Kilometer langer mäßiger Anstieg heraus, ehe er vom Hauptweg abbog und sie über Stufen nach unten führte. Sie endeten an einem klaren Wüstentümpel, der hinter Fels‐ blöcken so groß und breit wie Bulldozer versteckt lag. »Das ist sagenhaft schön.« Lauren deutete zu einem knapp zwei Meter hohen Wasserfall, mehr einem Tröpfeln eigentlich, der an einem Stück Moos hinablief, das über die gekräuselte Oberfläche hing. »Nett, oder?« Lauren musste sich beherrschen, um sich, heiß und ver‐ schwitzt, wie sie war, nicht ins Wasser zu stürzen.
»Erstaunlich, dass kein Mensch hier ist«, sagte Ry. »Der Tümpel ist auf den Touristenkarten nicht verzeichnet, und die Einheimischen wollen, dass es auch so bleibt. Als ich mit Kerry hier oben war, hatten wir ihn eine Stunde lang für uns allein. Hübsch und ungestört, falls Sie wissen, was ich meine.« Bei einem anderen jungen Mann hätte die Bemerkung viel‐ leicht schmierig geklungen, aber für Lauren hörte sich Jared nur wehmütig an. Sie kehrten zu dem glatten Sandsteinpfad zurück und fuh‐ ren eine weitere Stunde, meist wieder bergauf, aber ohne allzu viele Steigungen, die in die Waden gingen. Jared sprang vom Rad, als er an den Rand eines Abgrunds kam, von dem aus man den Colorado River überblicken konnte. Der Fluss hätte ein Stück Lodenband sein können, das über das Land trieb. »Das warʹs schon?«, sagte Lauren zwischen zwei Atemzü‐ gen. »Wir waren mehr als zwei Stunden unterwegs«, entgegnete Ry. »Wirklich? Das ist nicht dein Ernst.« Aber als sie auf die Uhr sah, stellte sie überrascht fest, dass er Recht hatte. Sie hät‐ te es auf die Hälfte der Zeit geschätzt. »Ich kann es gar nicht glauben.« Jared lächelte. »Rad fahren ist super, oder? Seht euch das an.« Er machte eine weit ausholende Handbewegung über eine scheinbar endlose, unglaubliche Gebirgslandschaft. Es ist wirklich super, dachte Lauren, die gut einen Meter vom Rand der Schlucht entfernt stehen blieb. »Als Kerry und ich hier oben waren, saßen wir da drüben.« Er schaute zu einem Felsen, der in etwa Größe und Form einer Bank hatte.
Lauren sah, wie er heftig schluckte und sich abwandte. Er ist nicht schuldiger als ich, sagte sie sich. »Manchmal glaube ich, wenn ich aufschaue, wird sie da sein und sagen, ich soll das Blei aus meinem Hintern nehmen.« »Hat sie das zu Ihnen gesagt?« »Ja. Sie war eine verdammt starke Fahrerin. Sie konnte mich regelrecht stehen lassen. Ausgeschlossen, dass sie in eine ver‐ lassene Mine gefahren ist«, sagte er mit plötzlicher Heftigkeit. »Oder von einer Felswand gestürzt.« Er trat einen Stein von der Größe eines Baseballs über den Rand und sah ihm auf dem langen Flug hinunter zum Fluss nach. »Sehen Sie das dort hinten?« Lauren gab sich Mühe, konnte aber nicht sehen, worauf er deutete. »Warten Sie mal.« Er streifte seinen kleinen Rucksack ab und holte ein Fernrohr heraus, dann stand er da wie ein Pirat und stellte die Linse scharf. Er reichte Lauren das Glas. »Schauen Sie unterhalb dieser Bergspitze auf ungefähr zehn Uhr.« Sie sah ein Haus, eine Scheune und ein flaches Ziegelge‐ bäude. »Ist das Stasslers Anwesen?« »Ganz genau. Am Anfang war Kerry Feuer und Flamme, weil sie mit ihm arbeiten durfte. Ich habe sie an ihrem ersten Tag hier kennen gelernt, und sie hat praktisch mit ihm ange‐ geben vor mir. Aber als wir dann unsere Tour hier herauf ge‐ macht haben, sagte sie bereits, von ihr aus könnte der ganze Laden in die Luft fliegen.« Lauren betrachtete weiter das Gelände durch das Fernrohr, aber insgeheim fragte sie sich, warum Kerry nie etwas von ihren Zweifeln mitgeteilt hatte.
»Sehen Sie die Hügel dort in der Nähe des Anwesens?«, sagte Jared. Lauren nickte. Sie sahen aus wie mächtige Buckel, die sich direkt hinter Stasslers Haus erhoben, aber wahrscheinlich ließ sie nur die Verdichtung der Optik so nahe erscheinen. »Dieses Land gehört ihm zum großen Teil ebenfalls.« »Ist das ein Fluss, was sich dort durchschlängelt?« »Ja, das ist der Green River. Um diese Jahreszeit weist er mordsmäßige Stromschnellen auf.« »Wissen Sie, ob auf Stasslers Land je Bergbau betrieben wurde?« Jared streckte die Hand nach dem Fernrohr aus. »Soviel ich gehört habe, wurde hier überall Bergbau betrieben, vielleicht also auch dort. Das Gebiet der Ranch ist riesig. Kerry könnte überall sein.« »Überall dort?« Meinte er das? »Möglich. Was ihr auch zugestoßen ist, jemand hat es getan. Kennen Sie das, dass Sie so etwas manchmal instinktiv spü‐ ren?« Lauren nickte. Ry ebenfalls. Die drei starrten schweigend in die Ferne. Auf dem Rückweg wäre Lauren fast über eine einsfünfzig tiefe Böschung geflogen. Genau das hatte Jared vor ihr getan, er war über den Rand gerast und einige Meter dahinter gelandet, ohne auch nur aus der Spur zu geraten. Lauren bremste, schlitterte und schaffte es, Ry auf einer leichteren Route nach unten zu folgen. Sie holten Jared erst ein, als er bei den Stufen hielt, die zu dem kleinen See hinab‐ führten.
»Ich dachte, ihr beide wollt vielleicht reinspringen. Ich muss zurück, aber ihr solltet die Gelegenheit nutzen.« »Wie kommen wir in die Stadt zurück?« »Das ist leicht. Einfach zum Highway zurück, auf dem Weg, den wir gekommen sind, und dann rechts halten. Es dauert höchstens eine Viertelstunde und geht fast die ganze Zeit ber‐ gab. Glaubt mir, es lohnt sich.« Feixt er, dachte Lauren, oder lächelt er? »Was meinst du?«, sagte Ry. »Ich glaube, ein Sprung in den Tümpel wäre wunderbar.« »Das glaube ich auch«, antwortete sie entschieden. Sie reichte Jared die Hand und bedankte sich für die Tour. »Und für das Gespräch.« »Halten Sie mich noch für schuldig?« Ry schüttelte den Kopf. »Was ist mit Ihnen?«, drängte er Lauren. »Die Jury berät sich noch.« Aber sie lächelte, und der junge Mann wusste bestimmt, was sie wirklich dachte. Als sie sich dem Wasserloch näherten, hielt Lauren nach Bi‐ kern, Wanderern oder wer sonst in ihre Ungestörtheit eindrin‐ gen könnte Ausschau. Niemand war zu sehen. Sie stellten die Räder zwischen zwei Felsblöcken ab und eil‐ ten in Richtung des Tropfgeräusches, wo das Wasser von dem herabhängenden Moos strömte. Ry zog sich so selbstverständ‐ lich aus, wie es Joy im Atelier getan hatte. Lauren holte tief Luft und schälte sich ebenfalls aus ihren Sachen. Das Wasser fühlte sich kühler an als die Lufttemperatur, aber keineswegs kalt, und sie hatte ein angenehmes Gefühl der Schwerelosigkeit in der sanften, formlosen Tiefe.
Sie trieben jeder für sich dahin, bis sein Fuß ihr Bein berühr‐ te. Ein Zufall? Eher nicht; als sie die Augen öffnete, lächelte er sie an. »Einen Penny für deine Gedanken«, sagte er. »Die sind sehr viel mehr wert«, neckte sie ihn. Er schwamm langsam zu ihr, und sie tauchte spielerisch un‐ ter die Wasseroberfläche, mit offenen Augen, was ihr den al‐ bernen Anblick seines frei im Wasser schwebenden Penis ein‐ brachte. Sie musste dem Impuls widerstehen, danach zu greifen. Sie tauchte in seinen Armen wieder auf und küsste ihn, und als sie dann nach unten langte, stellte sie fest, dass er nicht mehr ganz so schlaff war wie noch Augenblicke zuvor. Seine Hände schlossen sich um ihre Taille, und er zog sie an sich. Es kam ihr so natürlich vor wie ihr Auftrieb im Wasser, dass sie die Hände auf seine Hüfte legte, die Fingerspitzen am oberen Ende seines Gesäßes. Alle Anspannung vom Vorabend hatte sich irgendwo zwischen dem Beginn der Tour und die‐ sem Augenblick aufgelöst. Sie würde Jared dafür danken müs‐ sen, dass er ihnen diesen Stopp so eindringlich nahe gelegt hatte, falls sie ihn je gut genug für solche Vertraulichkeit ken‐ nen lernte. Nun tauchte Ry seinerseits unter und küsste ihren Bauch und die Brüste, ehe er ihre Brustwarzen in den Mund nahm und erst sanft, dann mit überraschendem Ungestüm daran saugte. Er tauchte nach Luft schnappend wieder auf, sein Gesicht ein wunderbares Bild aus Wassertropfen und Verlangen. Sie griff nach unten, nahm ihn in die Hand und drückte ihn an sich, unsicher, ob es funktionieren würde. Sie war erregt, sehr
erregt, aber das einzige Mal, als sie das mit Chad probiert hat‐ te, war es schmerzhaft gewesen, und am Ende waren sie beide an Land gewankt. Doch Ry glitt mühelos hinein, und sie erkannte, dass sie es an Feuchtigkeit durchaus mit dem Wasser aufnehmen konnte. Er umschloss ihren Po mit den Händen, und sie schlang die Beine um ihn und füllte sich mit Lust. Sie presste ihn an sich, hungrig nach seiner Härte. Beider Hände waren überall zu‐ gleich am Körper des anderen, fanden Vergnügen und tasteten sofort ungeduldig weiter. Laurens Rücken ruhte an einem moosbewachsenen Felsen, und sie drückte die Wirbelsäule durch, um jedes kleinste Stück von Ry auszukosten. Neben ihnen tropfte das Wasser vom Fels, und Rys Hände wanderten schließlich nach oben zu ih‐ rem Gesicht. Er küsste sie wiederholt, und ihr Mund öffnete sich so bereitwillig wie Blätter in der Wüste für den frühmor‐ gendlichen Tau. Ihre Finger glitten über sein Gesicht, und sie küsste seine nasse Nase und die Augen, spürte die Wimpern als die sanfte‐ ste Rauheit, fuhr mit der Zungenspitze die Windungen seiner Ohren nach, hörte ihn stöhnen, erregter werden durch die Lust, die sie ihm schenkte, presste sich abermals an ihn, wäh‐ rend er sich immer schneller, immer fiebriger hinein und hi‐ naus bewegte. »Ich kann mich nicht mehr zurückhalten«, gestand er. Das erregte sie noch mehr, die Hilflosigkeit auf seinem Ge‐ sicht, ihn so außer Kontrolle zu erleben, und zu wissen, dass sie allein ihn dahin gebracht hatte, es immer noch tat, ihn drückte, küsste, ihren begierigen Busen an seine Brust presste, während seine Stöße verzweifelter und noch tiefer wurden,
und dann füllte er sie ganz aus, sie spürte sein Becken hart, flach und muskulös an ihrem eigenen, die wundervolle Rei‐ bung, die nicht aufhörte, auch nicht, nachdem er gekommen war und sie ebenfalls dazu gebracht hatte, mit seinem Verlan‐ gen und seiner Weigerung, in diesen köstlich abgeschiedenen Momenten etwas anderes zu tun, als sie in seiner festen Umarmung von der Welt ringsum fern zu halten.
17 O ihr Kleingläubigen. Ich starre auf den Monitor und wieder‐ hole im Stillen diese frohen Worte, denn ich habe Diamond Girl unterschätzt, und die Freude darüber könnte nicht größer sein. Da ist sie, sie tätschelt, umarmt, küsst Ihre Widerlichkeit, wie heimliche Liebhaber in einem Gebüsch sind sie, die bei‐ den. Der Anblick lähmt mich fast vor Vergnügen. Diese Offenbarung kommt am Ende einer langen Nacht, und ich spule das Band auf zwei Uhr zurück, als ich Sonnyboy aus dem Käfig zerrte und die beiden zum ersten Mal mitei‐ nander allein ließ. Küssten sie sich bereits, als ich ihnen den Rücken zuwandte und den Abdruck des Jungen nahm, mich gewaltig anstrengte, ihn reif zu machen, ihn aus den engen, narzisstischen Sorgen der Kindheit herauswachsen zu lassen? Ich muss es wissen. Ich drücke auf PLAY, als ich sehe, wie Diamond Girl Ihrer Widerlichkeit ins Ohr flüstert. Ich verstehe kein Wort. Ihre Widerlichkeit flüstert zurück. Süße Nichtigkei‐ ten? Was sonst, dem Augenschein nach? Nun enthüllt das Band den ersten wirklich intimen Moment: Diamond Girl sieht ihrer Geliebten in die Augen, liebkost ihre Schultern, und Ihre Widerlichkeit – und das überrascht mich doch – leistet keinen Widerstand, nicht einmal am Anfang. Vielmehr lässt sie es lächelnd geschehen, als Diamond Girls Hände zu ihren Brü‐ sten, ihren Hüften, ihrem festen, runden Hintern hinabgleiten. Es bewegt mich. Es ist, als hätte Diamond Girl – und das
muss von ihr ausgehen, da es völlig unvorstellbar ist, dass Ihre Widerlichkeit jemals etwas derart herrlich Verderbtes initiie‐ ren könnte wie Sex, wenn unmittelbar daneben ein Mord ge‐ schieht –, als hätte sie also einmal mehr die Hand nach meinen fruchtbarsten Fantasien ausgestreckt und sie mit Verlangen gewässert, sie zum Erblühen gebracht mit diesem schonungs‐ losen, schwelgerischen, höchst freizügigen Schauspiel. Finger, ja, genau jetzt in diesem Augenblick sind ihre flin‐ ken Finger unten im eigenen Höschen, die Knöchel beulen das Samtgewebe aus. Sie muss wissen, dass ich nicht fähig sein werde, wegzuschauen, falls ich sie sehe, dass mich ihrer beider Anblick bewegungslos macht. Tatsächlich stehe ich hier wie diese unzähligen Ehemänner, die keinen mehr hochkriegen, außer bei der Vorstellung, wie ihre Frauen, ihre unscheinba‐ ren, konservativen Frauen auf dem Boden knien, den kühn aufgerichteten Penis eines Fremden zwischen den papierenen Lippen, während ein anderer Mann ihren schicklichen Rock lüftet und sich daranmacht, sie rüde von hinten zu nehmen. Ehemänner – und ich habe die Untersuchungen gelesen und weiß, dass viele von ihnen nach so einer lüsternen, liederlichen Show verrückt sind –, die sich vorstellen, wie ihre Frauen geil, von Sinnen, hemmungslos werden von solch verquerer Auf‐ merksamkeit. Es ist mein Diamond Girl, Hure, Schlampe und Verführerin, die in mir dieselben aufgestauten Gefühle entzündet, den Wunsch, zu sehen, wie sie genommen, bestiegen wird, die selbst Ihre Widerlichkeit durch die Verbindung mit ihr ero‐ tisch macht. Ihre Widerlichkeit! Deren Oberteil wie ein Band um den Hals gewickelt ist, und deren Brüste, wie ich sehe – und ich sehe sehr wohl, kann selbst von ihr nicht wegschauen
– fest und spitz sind in der Art all dieser schmalbrüstigen jun‐ gen Frauen hier, die auf ihren Rädern strampeln, bis ihre Hin‐ tern hart und rund und geil sind. Mir ist, als halluzinierte ich vielleicht, von solcher Art war diese Nacht. Erst schuf ich ein Frankensteinmonster mit Jolly Roger. Nachdem ich June ins Jenseits befördert hatte, wurde er völlig widerspenstig. Er hätte diese Mulden, die er in die Erde gehämmert hatte, mit Tränen füllen können, so tief war sein Leid. Er gemahnte mich einmal mehr heftig daran, wie unbe‐ rechenbar das Menschentier sein kann. Ich hatte ihn als Schwächling, als Null abgestempelt, aber ich erkannte erst vor wenigen Stunden, dass er eines dieser Geschöpfe war, die nicht an die Dunkelheit glauben können, ehe sie in die tiefste Finsternis gestarrt haben. Dann aber machte er eine so gründ‐ liche Veränderung durch, dass es beängstigend war. All sein treudoofer Optimismus, sein anhaltender Glaube an seine und seiner Familie letztendliche Sicherheit, wohl auch an das letz‐ tendlich Gute in mir – als ihm das alles aus der Brust gerissen worden war und vor seinen Augen wie ein Herz an einem blu‐ tigen Pfahl austropfte, da wurde er zu einem Tier, das fluchte, stampfte und am Käfig zerrte, als wollte es ihn niederreißen, den Raum durchmessen und mich töten. Seine Wut war ge‐ waltiger als alles, was ich mit Worten hätte heraufbeschwören können, und ich erkannte, dass ich ihm in seinen letzten Au‐ genblicken keinen Widerstand würde abschwatzen müssen, wie ich es bei June und vielen anderen getan hatte, denn er hatte seine eigene, echte Wut gefunden, zum ersten Mal in sei‐ nem Leben, und wie bei jeder anderen Neuentdeckung mus‐ sten die Regeln ihrer Entfaltung – die Grenzen und Beschrän‐ kungen – erst noch festgelegt werden.
Nein, die Herausforderung bei Jolly Roger bestand darin, ihn auf diesen Tisch zu bekommen, ihn festzuschnallen. Er würde die Lüge von Sonnyboys Überleben im Austausch für seine eigene Haut nicht akzeptieren. Er hielt Sonnyboy vor sich wie einen Schild, und Sonnyboy hielt sich – man kann es sicherlich so nennen – mit einem tödlichen Griff an ihm fest. Auf der einen Seite also ich, müde, ungeduldig, schlecht ge‐ launt, einen Berg Arbeit vor mir und alle möglichen Kleinig‐ keiten zu beachten, und auf der anderen Seite Jolly Roger und Sonnyboy, die sich aneinander klammerten, während Dia‐ mond Girl und Ihre Widerlichkeit zusahen, Diamond Girl sichtlich amüsiert und Ihre Widerlichkeit voller Entsetzen, wie ich es damals beschrieben hätte. Doch das bezweifle ich inzwi‐ schen, ich stelle sowohl ihren Zustand als auch meine Wahr‐ nehmung desselben in Frage, so sehr hat mich der Mädchen‐ sex aus dem Gleichgewicht gebracht, den ich auf meinen Bild‐ schirmen sehe. Ich musste Jolly Roger mit den schlimmsten Scheußlichkei‐ ten drohen, die ich Sonnyboys Körper antun würde, und mei‐ ne Waffe genau auf den Schritt des Jungen richten, ehe er sich an die Käfigseite zwang und die Hände auf den Rücken legte. Noch immer gab es das Problem, dass sich Sonnyboy wie eine Laus an sein Bein klammerte. Ich war schon so gut wie bereit, ihn wegzuschießen (zum Teufel mit den Einschusslö‐ chern), wie man ein Türschloss aufschießen würde, als Dia‐ mond Girl ihn fortführte. Der Junge, vielleicht ebenso schock‐ iert von der plötzlichen Freundlichkeit seiner Schwester wie ich, ließ sich trösten. Er barg das Gesicht an ihrer Brust und heulte, während ich Jolly Roger Handschellen und Fußeisen anlegte (ich ging kein Risiko ein) und den Käfig hinter uns
abschloss. Ich sah sogar, wie ihm Diamond Girl etwas zuflü‐ sterte, während ich zum Vater der beiden sprach. »Ich will deine Kinder nicht«, versicherte ich Jolly Roger, als ich ihn auf den Tisch schnallte. »Sie sind nur Pfänder für dich und June.« Ich ließ ihn in diesem Glauben, bis der letzte Riemen fest saß wie ein Stahlkabel und der schwarze Ball in seinem Mund steckte. Dann erzählte ich ihm, was ich in Wirklichkeit mit Sonnboy vorhatte, dem Stolz und der Freude seiner Nach‐ kommenschaft. Frankenstein. Als Sonnyboy an der Reihe war, wehrte er sich keine Sekunde, und ich konnte wenig tun, um ein echtes Feuer in seinem Fleisch zu entfachen, nur den Widerschein von Schmerz, ein blasser Ersatz für sengenden Schrecken; und wenn das alles ist, was meine Arbeit zu zeigen vermag, wozu dann die Mü‐ he? Aber das ist bei Kindern immer das Problem: Sie haben einfach nicht genügend Lebenserfahrung, um einen wahrhaft schrecklichen Tod richtig einschätzen zu können. Schrecken gedeiht am bodenlosen Abgrund der Vorstellungskraft, und die Vorstellungskraft kommt erst mit der Zeit ins Leben. Die Zeit ist der Gärtner des Schreckens und die Familie ihr fruch‐ tbares Beet. Erst wenn ein Kind heranwächst, die Pubertät durchlebt, mit ihren rüden Überraschungen und dem grausa‐ men Begreifen, dass alles, was es vom Leben kennt, bis zum Erbrechen reproduzierbar ist – die Mutter, der Vater, die Schwester, der Bruder, die Tanten und Onkel, Omas und Opas mit ihren feuchten Küssen, erstickenden Umarmungen und atemraubenden Gerüchen – erst dann kann es Schmerz durch
das ewige Prisma des Schreckens brechen, erst dann kann die Schattenhaut zum Leben erwachen, die ich dem unwissenden Unbewussten des Betrachters aufzwinge, dieses unsichtbare Organ der Qual, das direkt über meinen Skulpturen schwebt und einen jeden Zoll dieser Körper fühlen und dabei erzittern lässt. Meine Serie Family Planning überbrückt die Distanz zwi‐ schen dem Unsichtbaren und dem Unauslöschlichen auf dem kürzesten Weg. Ihre »Häute« liegen nebeneinander: June, Jolly Roger, Sonny‐ boy, grüne Stücke, die mir ganz danach aussehen, als wären sie mein bislang großartigstes Werk. Mit Bestimmtheit werde ich es erst wissen, wenn ich sie gegossen habe, aber wenn ich mir Junes verdrehtes Becken oder Jolly Rogers Arme ansehe, die so neu entwickelt, so von Adern durchzogen und mit den Reliefs roher Muskeln geschmückt sind, dann bin ich zuver‐ sichtlich. Was die traurige Erscheinung von Sonnyboy angeht, so kann ich nur sagen, dass er auch nicht schlechter aussieht als die anderen Kinder in der Serie. Vielleicht reicht es, einfach ihren Schmerz abzubilden, obwohl ich es noch nicht aufgege‐ ben habe, massenhaft Untersuchungen über Kinder und Schrecken, viele davon über Kinder im Krieg, gelesen habe, und damit rechne, irgendwann einmal einen bedeutenden Durchbruch zu erzielen. Ich trenne den grünen Figuren jeweils den Kopf mit einem langen, gezackten Küchenmesser ab, ideal zum Aufschneiden von knusprigen Baguettes und Alginathälsen, und lege sie vorsichtig beiseite. Wie gerne würde ich sie Schnösel sehen lassen. Es wäre zu köstlich. Ich habe sogar erwogen, mir beim Bau der Gussformen von ihm helfen zu lassen. Ich war sehr
angetan von der Idee, dass ein Journalist, und sei es auch nur ein ehemaliger Journalist, Hand an die größte Story der Kunstgeschichte legt, sie vor Augen hat, und es nicht merkt. Aber ich habe inzwischen akzeptiert, dass es viel zu gefährlich wäre, und dass ich diese besondere Perversion auslassen muss, wie groß mein persönlicher Lohn auch gewesen wäre. Noch verlockender wäre es, die Gesichter mit ihm zu gießen, vor allem, da er die Unverfrorenheit besaß, die einzige Kritik hervorzukramen, die mich jemals verfolgt hat: dass ich Gesich‐ ter nicht »kann«. Nur ein paar zweitklassige Schreiberlinge haben daran he‐ rumgenörgelt, und ich sollte sie eigentlich nicht weiter beach‐ ten, aber es ärgert mich unendlich. Die Gesichter der gesamten Serie sind vollständig aus meiner Fantasie und von meiner Hand entstanden. Dass diese außergewöhnlichen Schöpfun‐ gen, die Nutznießer meines künstlerischen Einfühlungsver‐ mögens – der höchsten Ehre überhaupt – die einzig nennens‐ werte Kritik zu ertragen haben, ist eine Wunde, die nicht hei‐ len will. Die echten Gesichter, diejenigen, die ich von meinen Subjek‐ ten abschäle, haben meine große Maskensammlung entstehen lassen, die bis zu meinem Tod verborgen bleiben wird. Aber ich werde für Schnösel wohl eine Ausnahme machen. Ich werde ihm echte Gesichter in echtem Schrecken zeigen. Ich fürchte, wenn ich es nicht tue, werde ich eine Wiederholung all dieser nutzlosen Nörgelei in einem Buch erdulden müssen – es ist schon schlimm genug, wenn absolut unverdiente Ge‐ ringschätzung in einer Kunstzeitschrift erscheint. Es ist eine gefahrlose Ausnahme, ohne jedes Risiko. Ich werde die echten Gesichter von Family Planning #2 benutzen,
einer Familie aus Dover, Maryland. Niemand wird sich an sie erinnern. Niemand hat sich je an sie erinnert – niemand von Belang. Und außer Schnösel wird sie auch niemand sehen; es gab nie eine einzige Meldung über ihr Verschwinden. Nicht eine. Ist das zu glauben? Es war, als hätten sie nie existiert. Aber es war in vielerlei Hinsicht nicht anders zu erwarten, und der Grund dafür war so einfach, so offensichtlich. War‐ um? Die Antwort klingt wie die Lösung einer Rätselfrage: Sie waren schwarz! Schwarze, sollte ich anfügen, die ganz verses‐ sen darauf waren, mich das »Zuhause meiner Kindheit« besu‐ chen zu lassen. Ich vermute stark, dass sie einen Weißen, der mit dieser Bitte vor ihrer Tür stand, als eine Art armselige Be‐ stätigung ihres eigenen Aufstiegs ansahen. Trotz meiner damaligen Unerfahrenheit holte ich eine Men‐ ge heraus aus diesen Schwarzen aus Dover. Sie waren nicht annähernd so stoisch, wie ihre Leidensgeschichte vermuten ließe. Doch #2 ist alles, was ich Schnösel zeigen werde. Ich ha‐ be bestimmt nicht vor, ihn zu einer vollständigen Besichti‐ gungstour der Masken in die Katakomben hinabzuführen, aber die Gesichter der beiden Erwachsenen und der drei Kin‐ der sollten ihm zeigen, wie furchtbar ungerecht diese Kritik ist. Vielleicht werde ich die Idee andeuten, die Dovergesichter könnten eine weitere Folge der Reihe Family Planning inspirie‐ ren. Er wird nicht wissen, dass sie von Körpern stammen, die bereits gegossen sind und von Millionen gesehen wurden. Gesichter sind für meine Bildhauerei, was Rembrandts No‐ tizhefte für seine Gemälde waren. Ich werde Schnösel erzäh‐ len, dass die Gesichter mich dazu anregen, die Familien zu erschaffen, dass ich die Körper nicht formen kann, ehe ich nicht die Gesichter vor mir sehe – und daran ist etwas Wahres,
sehr viel mehr, als er je erfahren wird. Die Gesichter sind mei‐ ne Notizhefte, und ich schreibe sie im Atelier. Oder, um es noch anders auszudrücken, ich bin wie ein Romanautor, der sich eine Handlung erst ausdenken kann, wenn er seine Cha‐ raktere hat, der ihre kühnsten Gedanken und Wünsche ken‐ nen muss und ihre Hintergrundgeschichte, ehe er ihre Zukunft ersinnen kann. Nun sollte ich Schluss machen, mich ausruhen, solange ich kann, aber ich stehe vor diesen Monitoren, als Diamond Girl von einem Orgasmus durchflutet wird und zu zittern beginnt, die zerbrechliche Erscheinung einer jungen Frau im Spiel mit ihrem Körper, im prickelnden Gefühl einer neu gefundenen Freundin. Sie zieht ihre Hand aus der Spalte zurück, die sie so sehr schätzt, und greift nach ihrem Höschen, das bis auf die Knie hinabgerutscht ist. Ihre Widerlichkeit dreht sich von ihr weg und legt sich auf den Rücken, ohne eine ähnlich sichtbare Lusterfahrung; aber sie lächelt, berührt Diamond Girl, und ich frage mich – ich kann nicht anders, obwohl es ein äußerst sub‐ versiver Gedanke ist, subversiv in Hinblick auf meinen ganzen Glauben an Diamond Girls Verdorbenheit, aber nichtsdesto‐ weniger –, ich frage mich, ob das Ganze gespielt ist. Ich frage mich, genauer gesagt, ob es eine Falle ist. Ob die beiden glau‐ ben, sie könnten mich tatsächlich zu einem Dreier verführen, zu einer fröhlichen Menage à trois. Und nicht minder ein‐ dringlich meldet sich mein Schwanz zu Wort, denn die Gefahr ist nun mit dem Kitzel verbunden, ihrem sexy siamesischen Zwilling. Ein tödliches Spiel, vielleicht, mich zwischen den beiden wiederzufinden, das Fleisch in ihrem süßen Sandwich.
Während ich hier stehe, beginne ich Brüste an meinem Rücken und meiner Brust zu fühlen, hübsche, junge Brustwarzen, stolz und spitz, und Hände, einen endlosen Strom von Fingern und Handflächen und heißen, geilen Griffen, so dass mir nichts bleibt, als mich selbst zu befriedigen, was ich mit zügelloser Hast auch tue. Als ich sauber mache, fällt mir ein, dass genau so mit Diamond Girl alles anfing, mit meiner Fixierung auf ihren Körper, mit ihrem Posieren im Käfig. Ich hatte gehofft, meine Besessenheit würde nachlassen, aber nun hat sie in ihrer unheimlichen Art die Einsätze in dem sonderbaren Spiel er‐ höht, das sie spielt. Schnösel ist ungeschickt. Er lässt beinahe die Gussform der Mutter von #2 fallen, und ich muss dem Drang widerstehen, ihn zu ohrfeigen. Er hat diese Sorte Gesicht. Ich habe es unzäh‐ lige Male neben einem Meteorologen sitzen sehen, oder einer Frau, die mit ihm zusammen die Nachrichten verliest, oder einem alternden Sportler, der viel lächelt und noch mehr lacht, wenn er die neuesten Punktgewinne und Missgeschicke auf dem Platz, dem Feld, von welchem lächerlichen Spiel auch immer, berichtet. Und er ist so ernst – macht sogar Pausen, um sich etwas aufzuschreiben –, dass ich auf seine Frage, warum der Mund jeweils leicht offen steht, versucht bin, einen Witz über den harten Gummiball zu machen. Ich glaube zwar, dass der Hin‐ weis über seinen Verstand ginge, aber ich beherrsche mich und erkläre ihm wie einem Kind, dass ich die Münder zu so gequälten Stellungen forme, um zu zeigen, wie der Versuch der amerikanischen Familie, ehrlich miteinander zu sprechen, von den brutalen Knebeln der Konvention erstickt wird. Des‐
halb will ich, wenn ich Gesichter forme – und ich erinnere ihn daran, dass ich sie immer zuerst forme — die Anstrengung des Sprechens selbst für den größten Dussel sichtbar machen – wie für dich, möchte ich anfügen, unterlasse es aber. Noch mehr als sprechen möchten sie aufschreien vor Schmerz. »Sehen Sie das?«, frage ich und deute auf die gekräuselten Lippen, den eindeutig qualvoll verzerrten Mund. Er nickt. Das ist alles. Ein Nicken. Ich habe ihm gerade den ungeheuren tieferen moralischen Sinn meines Werks dargelegt und bekomme ein Nicken als Antwort. Kein Wunder, dass er sich nichts dabei denkt, diese Schwachköpfe mit mir zusam‐ menzuwerfen, mein Genie zwischen Buchseiten zu fassen, die auch eine Stuckateurin beherbergen, eine Poseurin, wenn es je eine gab. Die anderen arbeiten wenigstens in Stein oder Me‐ tall, sie dagegen meidet offen »beständige« Materialien und schätzt stattdessen die »kompromisslose Unbeständigkeit von Gips«. Ich könnte kotzen bei so etwas, und es steht alles auf ihrer Website. Ich sollte nicht sagen, auf ihrer Website, nein, dafür ist sie viel zu bescheiden, sondern auf einer Website, die ihre Anhänger zusammengestellt haben. Dass sie welche hat, ist ein Verbrechen. Ich habe alles gelesen! Sie macht im kommen‐ den Winter eine Ausstellung über »Langsamkeit«. Langsam‐ keit? Was zum Teufel soll das bedeuten? Ehrlich, je mehr ich über sie erfahre, desto mehr treibt mich diese aufgeblasene Frau mit ihrer amateurhaften Vorstellung von Kunst zur Rase‐ rei. Sie behauptet, in ihrem Werk ginge es um den Körper. Nein, in meinem Werk geht es um den Körper. In ihrem geht es um eine Bildhauerin, die nicht gut genug ist, ihn richtig darzu‐
stellen, deshalb gestaltet sie den Raum, den der Körper ein‐ nimmt. Wie kann man das falsch verstehen? Sie formt ihn wie ein Kanu und behauptet, das sei ihre eingehüllte Gestalt, oder beugt sich vor und sagt – dieses Juwel findet sich auf ihrer Website, Sie können es nachlesen, wenn Sie mir nicht glauben: »Dies ist der Raum zwischen meinen Beinen und meinem Oberkörper und Kopf.« Ich spiele auf sie an, indem ich zu Schnösel sage, manche Bildhauer hätten den Glauben an ihre Kunst verloren, hätten sich angewöhnt, die Gaben, die sie möglicherweise einmal hat‐ ten, zu entstellen, und Michelangelo hätte sich gewiss nie von der wahren Herausforderung des Körpers abgewandt. Auch Rodin nicht, genauso wenig wie ich, und es sei ein Unglück, ja eine Schande, wie diese unbedeutenderen Künstler sich Publi‐ city verschafften. An wen denken Sie, fragt er, plötzlich kühner, als ich erwar‐ tet hätte. Ich nenne Namen, lasse den ihren mitten in einer langen Li‐ ste fallen, ohne sie irgendwie hervorzuheben, aber er hakt bei ihr ein, und in diesem Moment frage ich mich, so wie ich Dia‐ mond Girls Verlangen nach Ihrer Widerlichkeit angezweifelt habe, ob er seinen Gegenstand etwa vögelt. Wenn ja, kann ich ihn durch nichts davon abhalten, sie in dem Buch aufzuneh‐ men. Sie setzt ihre dürre kleine Möse dafür ein, sich über Be‐ ziehungen Erfolg zu sichern, und mir bleibt nichts übrig, als die Demütigung ihrer Präsenz in diesem Buch zu ertragen. Aber noch hoffe ich, denn falls die beiden kein schmutziges kleines Techtelmechtel haben, könnte ich ihn mit der richtigen Antwort davon abbringen, sie aufzunehmen, und wenn das gelingt, dann kann ich ihm vielleicht auch begreiflich machen,
welchen höchst peinlichen Irrtum er auch mit der Aufnahme der Übrigen begeht. Aber die Sache muss vorsichtig angegangen werden, mit Feingefühl und Diplomatie. Ich will nicht wie ein kleinkarier‐ ter, eifersüchtiger Künstler erscheinen, da es mir doch um we‐ sentlich größere Dinge geht, als solche ängstlichen Erwägun‐ gen nahe legen würden. Ich werde jeweils den richtigen Zeit‐ punkt finden müssen, sein Interesse an meiner eigenen Arbeit kultivieren und ihn durch deren verfeinertes Niveau die ande‐ ren in neuem Licht sehen lassen. Ich habe einen entscheiden‐ den Vorteil: Ich bin der letzte von den Bildhauern, die er inter‐ viewt. Lasse sie alle im Vergleich zu mir verblassen. »Sie ist«, sage ich, »ein klassisches Beispiel für den alten Grundsatz, dass diejenigen, die es nicht draufhaben, Lehrer werden.« Das schreibt er nicht auf. Vielleicht habe ich ihn mit der Verwendung einer solchen Plattitüde doch unterschätzt. »Es ist natürlich nicht ganz so einfach«, räume ich ein, »aber es ist auch nicht wahnsinnig kompliziert. Ihre Arbeiten, wenn wir ehrlich sind, könnten von jedem Highschool‐Schüler, der mit Gips umzugehen gelernt hat, ›ausgeführt‹ werden. Sie mag kunstvolle Erklärungen zu bieten haben, aber Text ist nicht Kunst. Text ist Text und als solcher in jeder erdenklichen Weise verdächtig.« Ich sehe, dass ich ihn mit der Anspielung auf den Dekons‐ truktivismus verliere. »Es ist so«, füge ich rasch hinzu, »als hätte sie die Begrenztheit ihrer Hände und Augen, ihrer Fanta‐ sie erkannt und umgibt nun ihr Werk mit einer auf intellek‐ tuell getrimmten Aura, die es tatsächlich gar nicht besitzt.« Noch immer nicht das kleine Einmaleins für Journalisten,
aber ich glaube, er kapiert es. Dann überrascht er mich, indem er seinerseits bissig wird: »Könnte man dasselbe nicht von Ih‐ rer Arbeit behaupten, mit der ausführlichen ›Exegese‹ (ich bin verblüfft, dass er das Wort benutzt), die jede Ausstellung be‐ gleitet?« »Ja«, räume ich ein, »aber meine Erklärungen sind wegen des beschränkten Gesichtskreises sehr vieler Besucher erfor‐ derlich, die ansonsten vielleicht nur Schmerz sehen würden und nicht die größeren kulturellen Auswüchse, die in dem Werk dargestellt werden. Ein Werk, das nicht einfach nur Raum einnimmt, sondern darin verweilt.« »Das«, bemerkt er mit erstaunlicher Einsicht (erstaunlich für ihn jedenfalls), »klingt stark nach Heidegger, dessen Werk auch Lauren Reed beeinflusst.« »Ich versichere Ihnen«, sage ich, »dass ich keine derartige Basis mit ihr gemein habe, noch sie mit Heidegger, wie großs‐ purig ihre Behauptungen auch sein mögen.« Das lässt ihn endlich verstummen, so dass wir mit dem Guss beginnen können. Als die Bronze die Gussform ausfüllt, noch bevor sie ab‐ kühlt, holt er aus seiner Tasche eine Kamera. »Nein«, sage ich bestimmt, »keine Bilder. Diese Gesichter sind wie gesagt meine Notizbücher. Wenn sie mich zu einer neuen Familie in der Serie anregen, dann kann sie die ganze Welt sehen. Bis dahin müssen sie privat bleiben.« Er versucht an mein Ego zu appellieren, indem er sagt, die Kunstwelt habe es verdient, diese »erstaunlichen Schöpfun‐ gen« jetzt zu sehen, selbst in ihrer gegenwärtigen Form, und auch wenn er damit zweifellos Recht hat, durchschaue ich sei‐ ne Masche sofort und wende sie zu meinem Vorteil, indem ich
sage, ich hätte es nicht mehr nötig, die Kunstkenner zu beeind‐ rucken. »Hat Kerry Ihnen bei diesen Gesichtern geholfen?« Es ist das erste Mal heute, dass er ihren Namen zur Sprache bringt. »Nein, niemand hat je zuvor an ihnen gearbeitet. Niemand hat sie auch nur gesehen.« Er sieht von seinem Notizbuch auf und fragt, was ich von ihren Arbeiten gehalten habe. Ich kann es nicht fassen. Mitten in einem Interview über meine Kunst soll ich eine Erklärung über das Gekritzel von irgendeiner Studentin abgeben. »Ich habe sie nie gesehen«, sagte ich mit aller aufrichtig empfundenen Gleichgültigkeit. Er kehrt für eine weitere bohrende Frage über die Gesichter zu seinem Notizheft zurück. »Warum haben Sie mir die neuen Gesichter gezeigt?« Sein eigenes ist bemerkenswert ausdrucks‐ los. Ich stelle mir vor, dass er gerade schlau genug ist für eine anständige Partie Poker. »Weil Sie ein Buch schreiben, und weil ich wollte, dass Sie alles von meiner Arbeit sehen, meine allerneuesten Schöpfun‐ gen, die vielleicht die besten Gesichter sind, die ich je geschaf‐ fen habe.« Ich glaube keine Sekunde, was ich sage, aber ich muss die Vorstellung geduldig ertragen. Er kritzelt in sein Notizbuch und klappt es zu. Wir sind fer‐ tig. Ich spüre, dass er genau das sagen will, dass er heute ab‐ reisen wird und ich ihn nie Wiedersehen werde. Ich suche verzweifelt nach einem abschließenden Überredungsversuch in meinem unerklärten Angriff auf die Beleidigung durch Lau‐ ren Reed und die anderen, aber ich würde zu bemüht wirken, und selbst er würde es sofort durchschauen.
Ich bringe Diamond Girl und Ihrer Widerlichkeit ein gutes Essen, Kalbfleisch mit Kartoffeln und Spargel. Ihre Widerlich‐ keit strahlt, als sie den Teller sieht, aber ich verfolge damit nicht die Absicht, ihr zu schmeicheln: Ich habe bereits beo‐ bachtet, wie Diamond Girl ihr Essen teilt, und mir ist nicht danach, sie auch nur ein Gramm ihres prallen Fleisches an Ihre Widerlichkeit verlieren zu sehen. Sie benehmen sich mit der selbstverständlichen körperli‐ chen Vertrautheit von Sportlern in einem Umkleideraum. Sie streichen aneinander vorbei, ohne sich wegen der Berührung Gedanken zu machen. Sie müssen wissen, dass ich Bescheid weiß, aber Diamond Girl macht immer noch eine Schau dar‐ aus, sich mit einem Finger im Bund der Jeans Ihrer Widerlich‐ keit einzuhaken. »Wie ich sehe, seid ihr glücklich miteinander«, sage ich mit einer Unsicherheit, die mir nur Diamond Girl abnötigen kann. »Das sind wir«, sagt Ihre Widerlichkeit gezwungen, ein bis‐ schen zu gezwungen, als dass sie überzeugend wirkte. Ein bisschen zu … bemüht. Diamond Girls Masche ist eleganter. Sie zieht Ihre Wider‐ lichkeit an sich und küsst sie von hinten in den Nacken, wäh‐ rend sie ihren betörenden Blick auf mich richtet. Auch ihre Zunge hat einen Auftritt, bevor sie erklärt, dass sie ein Bad nötig haben. »Natürlich. Ich hole Wasser und Seife.« Sie waschen sich, während ich sie auf den Monitoren beo‐ bachte. Sie hat die Nummer mit dem Bad schon vorher abge‐ zogen, dieses durchtriebene Posieren. All dem haftet etwas Vertrautes an, aber ich schaue so begierig wie immer zu, denn es erzeugt auch dieselbe lebhafte Erregung.
Erst danach, in der Erhitztheit nach dem Orgasmus, fällt mir ein, was ich zu Schnösel über die Arbeit Ihrer Widerlich‐ keit gesagt habe. Mein Magen krampft sich zusammen, mein Gesicht zuckt buchstäblich, denn ich habe gesagt, ich hätte sie nie gesehen, aber bei seinem ersten Besuch hier draußen hatte ich ihm erzählt, ihre Arbeiten seien vielversprechend. Ich zwinge mich, durchzuatmen. Es ist nur ein kleiner Wi‐ derspruch, und Schnösel wird ihn wahrscheinlich nicht be‐ merken, und selbst wenn er ihn bemerkt, kann ich es der Ans‐ pannung beim Gießen zuschreiben. Aber die Tatsache, dass ich jede andere Kleinigkeit fehlerfrei ins Spiel gebracht habe, lässt dieses ärgerliche Versehen größer erscheinen. Ich habe für den Sheriff geprobt, kannte meine Zeilen so gut wie der vollendetste Thespisjünger, dann habe ich ihr Interesse an ver‐ lassenen Minen enthüllt, da mir klar war, dass ich sie schritt‐ weise von mir wegführen musste. Mir war auch klar, dass sie von einer Entführung ausgehen würden, sobald sie ihr Fahr‐ rad fanden; und aufgrund kleiner Anmerkungen, die ich über ihren Schönling herausrutschen ließ, würden sie mit ihrem nächsten Gedanken bei ihm ankommen. Ja, all das war so klug eingefädelt, ich habe sie Stück für Stück von mir weggeführt und ihre Gedanken zu Straßen und Landkarten gelenkt, zu all den Linien die sich durch ganz Utah und weit über dessen Grenzen hinaus ziehen, strahlenförmig weg von mir, dem Epi‐ zentrum der wahren Not des Mädchens. Perfekt, absolut per‐ fekt, bis zu diesem zugegebenermaßen kleinen Fehler. Aber dennoch quält er mich. Er ist das Stäubchen, das dein Auge tränen lässt, und wenn es genügend tränt, wird die Welt un‐ scharf. Und wenn die Welt des Künstlers unscharf wird, könn‐ te er ebenso gut blind sein.
18 Lauren lag unter der Decke, die Augen noch geschlossen, und drängte die Anforderungen des Tages beiseite, während sie den Geschmack der vergangenen Nacht auskostete. Sie spürte Rys Wärme neben sich, das Geschenk seiner Nähe, denn als das sah sie ihn an, als eine Überraschung für die Einsamkeit ihres Körpers. Er lag von ihr abgewandt auf der Seite, eine wunderbare Stellung, damit sie seine Schultern betrachten konnte. Ihre Augen wurden lebendig beim Anblick dieser glat‐ ten, braunen Haut, die so köstlich schmeckte, wenn der Erin‐ nerung in dieser frühen Morgenstunde zu trauen war. Nach‐ dem sie sich zwei Tage lang geliebt hatten, war ihr Hunger noch immer nicht gesättigt, dafür mangelte es ihr an Schlaf, und sie war nicht wenig schuldbewusst, weil es ihr so gut ging, während Kerry weiterhin vermisst wurde. Der Name des Mädchens bildete einen harten Knoten in ih‐ rer Brust, einen düsteren Ring in all dem zärtlichen Licht. Sie machte sich Sorgen, dass ihr Vergnügen irgendwie zu Lasten der Suche gehen könnte, aber das war bisher nicht der Fall gewesen. Während Ry gestern zu Stassler hinausgefahren war, um mit ihm in der Gießerei zu arbeiten, ausgerechnet Gesich‐ ter zu gießen, war sie die gesamte Stadt abgelaufen, hatte mehr als fünfzig Kopien eines neuen Fotos des Mädchens auf‐ gehängt und eine schmerzliche Begegnung mit Kerrys Mutter vor dem Lebensmittelladen gehabt. Die Frau hatte auf Lauren gezeigt und mit der denkbar traurigsten Stimme gesagt: »Sie
haben sie hierher geschickt. Sie!« Ihr Vater hatte den Kopf ge‐ schüttelt, als wollte er sagen: Seien Sie unbesorgt, sie ist nur sehr durcheinander. Aber die Worte hatten Laurens böse Ah‐ nungen neu entfacht, sie aufflammen lassen wie ein Streich‐ holz. Sie lauschte Rys Atem, diesem sanften Hauch, der ein sol‐ cher Kontrast zu seiner Leidenschaft war. Und zu ihrer. In den letzten sechsunddreißig Stunden hatten sie sich benommen wie ein Paar Teenager mit einer frischen Infusion an Libido. Sie hatten sich sieben Mal geliebt – Lauren hatte mitgezählt, obwohl es Augenblicke gab, da es ihr schwer gefallen wäre, bis zwei zu zählen –, und auch wenn sie sich wund fühlte, er‐ lebte sie das als eine geringfügige Unannehmlichkeit, die ihre Leidenschaft kaum abzukühlen vermochte. Auch jetzt ku‐ schelte sie sich an Ry und küsste seine Schulter. Er stöhnte, und sie wurde von Lust erfüllt. Ihre Hand glitt unter das Laken, und sie drückte seinen festen Hintern. Sie konnte ihren Hunger nach ihm nicht fassen. Es war fast schon peinlich, und sie hatte ihm bereits zweimal gesagt, dass sie sich noch nie so benommen hatte. Aber sie war neununddrei‐ ßig, in ihren besten Jahren, oder? Und so ließ sie auch jetzt ih‐ rem Verlangen freien Lauf, drehte ihn zu sich herum und fand ihn steif wie einen Sechzehnjährigen, die Augen noch ge‐ schlossen, aber mit einem schelmischen Lächeln um den Mund. Zum ersten Mal nahm ihr Liebesspiel einen entspannten Rhythmus an, und zärtliche Momente stellten sich so mühelos zwischen ihnen ein, wie das gesprenkelte Licht, das durch die Vorhänge des Motelzimmers sickerte. Das besinnungslose Ta‐ sten und Greifen der beiden vergangenen Nächte fehlte, aber
es war schwerlich für immer verschwunden, denn schon bald wälzte er sie auf sich, vergrub das Gesicht in ihren Brüsten und begann Ernst zu machen. Sie jaulte, als sie kam, jedenfalls hörte es sich für sie selbst so an. Für Leroy anscheinend ebenfalls, denn er hob schläfrig den Kopf und stöhnte, knurrte nicht, wohlgemerkt, sondern stöhnte, wie vor Neid auf das für immer Verlorene. Ry hatte dieses spitzbübische Grinsen, das Männer häufig aufsetzen, nachdem eine Frau gekommen ist. Sie fasste ihn am Kinn und sagte, er solle nicht so selbstgefällig sein; aber sie lachte und er ebenso, er lachte und streichelte jede Stelle an ihr, die er erreichen konnte. Und sie war ihm nur zu gern zu Gefallen, schwelgte in der Berührung seiner Hände auf ihrer Brust, auf ihrem Po, Rücken, Bauch. Er ließ sie über ihre Schenkel gleiten, hinauf zwischen ihre Beine, dann zurück zu ihrem Gesicht, wo er sie vor Wochen zum ersten Mal berührt hatte, auf der Veranda vor ihrem Haus. »Wie fühlst du dich?«, flüsterte er. Sie zwang ihre tiefsten Befürchtungen beiseite und küsste ihn zur Antwort aufs Ohr und den Hals, auf Mund und Wan‐ gen und rieb ihre Brüste an ihm. Sie fühlte, wie er sich unter ihr spannte, und dann kam er beinahe so laut zum Höhepunkt wie sie selbst, und sein Gesicht war plötzlich so straff, als wäre es gegossen, so starr waren die Linien, so ausgeprägt die Züge. »Du bist wunderbar«, sagte er, als er wieder zu Atem ge‐ kommen war. »Ja? Das sagst du jetzt nur, weil du mich dort hast, wo du mich haben wolltest.« »Und von dort lass ich dich nicht mehr weg.« Sie richtete sich auf und blickte auf ihn hinab. »Du musst.
Es gibt viel zu tun. Du«, sie stieß ihn spielerisch in die Rippen, »solltest diese Hubschrauberfirma anrufen, um dich zu ver‐ gewissern, dass wir einen Piloten haben, und ich«, nun stieß sie sich selbst in die Brust, »werde jetzt duschen und dann ge‐ he ich mit Mr. Bad Bad Leroy Brown zu seinem morgendli‐ chen Verdauungsspaziergang raus.« Sie sauste ins Badezimmer, drehte die Hähne auf und trat unter die Düse, ehe das Wasser warm werden konnte. Nun, da der Tag begonnen hatte, konnte es ihr nicht schnell genug gehen. Das Wasser war endlich warm, als sie es schon wieder ab‐ stellte und nach einem Handtuch griff. Sie zog sich rasch an und sagte zu Ry, dass sie in zehn Minuten zurück sein würde. »Und dann muss ich aber wirklich in meinem Motel vorbei‐ schauen und die Klamotten wechseln.« Al Jenkins saß an der Rezeption und löste ein Kreuzworträtsel, als Lauren und Leroy durch die Eingangshalle rauschten. Ry erkundete inzwischen die Restaurants, um zu sehen, ob man irgendwo in dieser Stadt ein anständiges Frühstück bekom‐ men konnte. Jenkins schaute nicht auf, ehe er sprach. »Sie sind letzte Nacht nicht nach Hause gekommen. Ich ha‐ be mir Sorgen gemacht. Dachte schon, Sie sind vielleicht in eins dieser aufgegebenen Bergwerke gezogen worden.« »Nein, nichts dergleichen«, sagte sie und eilte die Treppe hinauf. Sie schloss die Tür auf und warf ihre Kleidung fast so hastig ab wie in der Nacht zuvor beim Betreten von Rys Zimmer. Sie suchte frische Unterwäsche zusammen, saubere Shorts und ein Oberteil, das ungefähr dazu passte. Das musste genügen.
Dann kämmte sie ihr Haar durch, das in der Wüstenluft rapi‐ de ausgetrocknet war, und gab einen Touch Make‐up auf Lip‐ pen und Augen. Vernünftige Schuhe, ermahnte sie sich und kickte ein Paar Pantoffeln zur Seite, um ihre Laufschuhe anzuziehen. Sie nahm zwei Stufen auf einmal auf ihrem Weg zurück in die Lobby und war fast schon zur Tür hinaus, als Al sagte: »Warten Sie. Geht Prinz Leroy heute wieder zur Kur?« »Nein, heute treibt er sich mit uns herum, hab ich Recht, Kumpel?« Leroy wackelte zustimmend mit dem Stummelschwanz. »Gut, ich frag nur. Wenn Sie wollen, würde ich mich als Hundesitter anbieten.« »Das ist wirklich nett«, sagte Lauren, aufrichtig berührt. »Vielen Dank, aber wir behalten ihn ab jetzt bei uns. Neulich hatten wir so viel zu erledigen, dass ich dachte, er wäre im Hundeheim besser aufgehoben, aber von nun an ist er mit von der Partie.« Sie machte kehrt, um zu gehen. »Kann ich mit Ihnen reden?« Al klang ernst. Sie drehte sich zu ihm um. Sehr ernst. »Natürlich.« »Erinnern Sie sich noch, was ich über die Leute sagte, die in Minen gestoßen werden?« Sie nickte. »An Ihrer Stelle würde ich zur Bezirksverwaltung gehen und mit der staatlichen Bergwerksabteilung reden. Ich würde nachforschen, ob es auf Stasslers Land eine verlassene Mine gibt.« »Das würden Sie tun?«
Nun war es an Al zu nicken. »Ganz bestimmt.« »Und was, glauben Sie, werde ich finden?« »Keine Ahnung, was Sie finden.« Er hob die Hände in einer hilflosen Geste, als wüsste er es wirklich nicht. »Aber die Leu‐ te, denen das Anwesen vorher gehörte, waren mehr als eigen und lebten ungefähr so zurückgezogen wie er. Es überrascht nicht, dass er es gekauft hat. Sie waren Rancher, aber sie könn‐ ten am Anfang da draußen auch etwas Bergbau betrieben ha‐ ben. Das ganze Gelände war über vier Generationen hinweg im Besitz der Familie. In manchen Bergwerken in dieser Ge‐ gend verlaufen mehr Schächte als in New York U‐Bahn‐ Tunnel.« Lauren trat an die Rezeption. »Wollen Sie andeuten, ich fin‐ de womöglich …« Als Hände gingen wieder in die Höhe, diesmal in einer all‐ gemeinen Geste der Kapitulation. »Ich sage Ihnen nur, was ich tun würde. Ich würde nichts voraussetzen, was die alte John‐ son‐Ranch angeht. Die merkwürdigsten Leute, die je hier ge‐ lebt haben.« »Sie mögen Ashley Stassler auch nicht, hab ich Recht?« Al zuckte mit den Achseln. »Ich kann nicht behaupten, dass ich mir was aus seiner so genannten Bildhauerei mache. Nein, wirklich kein bisschen. Er hatte vor Jahren eine Ausstellung hier, da hat er sich mit großem Getue hingestellt und uns er‐ klärt, was wir sehen sollen, wenn wir seine ›Kunst‹ anschauen. Aber wissen Sie was? Die Leute können ganz gut allein sehen. Ich weiß, was ich gesehen habe. Und das waren nicht die gro‐ ßen Ideen, die er für sich in Anspruch nimmt. Es waren nur ein paar arme Teufel, die aussahen, als hätte die Welt ihre Zähne in sie gebohrt und nicht mehr losgelassen.«
»Die Welt?« »Ganz recht, die Welt. Oder jemand in ihr. Deshalb würde ich bei der Bergwerksabteilung nachfragen. Vielleicht müssen Sie erst die Grundstücksnummer der Ranch suchen. Die fin‐ den Sie im Steueramt.« Lauren stützte sich mit dem Ellbogen auf die Theke. »Was haben Sie getan, bevor Sie den Laden hier kauften?« Al lächelte. »Ich war von Berufs wegen aufdringlich. Und ich war niemands bester Freund.« Er ließ sie nachdenken. »Ich war der Steuerschätzer des Bezirks.« Nun breitete sich das Lächeln über das faltige Gesicht aus. »Warum glauben Sie, betreibe ich ein Geschäft, in dem Leute von außerhalb meine Kunden sind? Ich habe keine Freunde in der Gegend. Aber ich kenne mehr Geheimnisse als Paris Parks hat.« Das Lächeln verwandelte sich in ein pfeifendes Lachen, und er schlug auf die Theke, mit einer Hand, die so runzlig und fleckig war wie die Haut eines alten Pfirsichs. »Ich denke, wir könnten es uns mal ansehen«, sagte Ry, nach‐ dem sie ihr Frühstück in einem Drive‐in abgeholt hatten. Sie hatten sich für Fastfood entschieden, weil die Zeit langsam knapp wurde für den Hubschrauberflug. »Aber ich verspreche mir nicht sehr viel davon.« »Wir machen es später«, sagte Lauren. »Jetzt müssen wir los.« Sie hatten den Flug auf ihren Namen gebucht, damit Stass‐ ler nicht über Rys Namen stolperte, falls er Anstoß daran nahm, dass sein Land schon wieder überflogen wurde. Bob Flanders, der Besitzer des Helikopters, hatte ihnen versichert, dass Leroy am Hangar gut aufgehoben sein würde.
Ry gab Lauren die Kopfhörer und half ihr, sie aufzusetzen und das daran befestigte Mikro so auszurichten, dass es genau vor ihrem Mund war. Sie hatte vorn neben Flanders Platz genommen, der ihr er‐ zählte, sein eigener erster Hubschrauberflug sei vor mehr als dreißig Jahren auf Befehl von Uncle Sam zustande gekommen. »Mekong‐Delta. Sie haben uns abgesetzt und uns viel Glück gewünscht.« Laurens Magen sackte durch, als der Hubschrauber abhob. Der Erdboden fiel zurück, als hätte ihn jemand losgetreten. »Das ist ein Bell Jet Ranger«, erklärte Flanders über die Kopfhörer. »Mit dem können wir schnell ein großes Gelände abdecken.« »Zu schnell soll es aber nicht sein«, antwortete sie. Flanders bestätigte mit einem Nicken. »Sie sind bereits die dritte Gruppe, die ich auf der Suche nach dem Mädchen in die Luft befördere.« »Wer waren die anderen beiden?« Lauren blickte auf die Stadt tief unter ihnen und erspähte Mountainbiker, die auf dem glatten Fels umherwimmelten wie grellbunte Ameisen. Sie holte Luft und versuchte, sich an das ungeschützte Gefühl im Hubschrauber zu gewöhnen, an diese Glasblase, die sie mit Mühe einzuhüllen schien und ihr das Gefühl vermittelte, als flögen sie mit etwas zu vertraulichem Kontakt zum Himmel. »Das erste Mal war ich mit dem Sheriff und seinem Chief Detective oben. Sie wollten nicht warten, bis die Polizei des Bundesstaats einen Vogel freimachen konnte, deshalb war ich vier Stunden lang mit ihnen unterwegs. Wir haben Stasslers Ranch an diesem Tag praktisch umgepflügt. Die zweite Grup‐ pe, ach, das war traurig.« Flanders schüttelte den Kopf. »Die
Eltern des Mädchens und der Großvater. Ich habe sie nur den Treibstoff bezahlen lassen, sonst nichts. Ich darf mir gar nicht vorstellen, dass eins von meinen Mädchen da draußen ver‐ misst wird.« Sein Blick schweifte über Canons, Berge und Wü‐ ste. »Sie haben Töchter?«, sagte Lauren. »Zwei.« Flanders wurde munter. »Studieren beide an der Universität in Salt Lake City. Die Älteste macht nächsten Mo‐ nat ihr Diplom in Biologie«, sagte er stolz. »Gratuliere.« Flanders flog sie in knapp hundertfünfzig Metern Höhe über Stasslers Anwesen, was, wie er erklärte, gegen die Vor‐ schriften war, »aber der Teufel soll ihn holen. Was kann er schon tun? Mich nach Vietnam zurückschicken?« Die Gefühle der Einheimischen für ihren berühmten Nach‐ barn scheinen ziemlich frostig zu sein, fiel Lauren auf. »Das muss die Gießerei sein.« Lauren deutete auf ein vier‐ eckiges Ziegelgebäude rechts von ihnen. »Richtig«, sagte Ry vom Sitz hinter ihr. »Sie ist groß.« Flanders schwenkte den Hubschrauber, so dass sie die Gie‐ ßerei genau vor sich hatten. »Ich habe gehört, dass er die Gie‐ ßerei selbst gebaut hat, Ziegel für Ziegel. Das muss ihm der Neid lassen: Nicht jeder reiche Hurensohn ist bereit, so schwer zu arbeiten.« Lauren stimmte zu. Eine Gießerei war ein gewaltiges Unter‐ fangen, und die hier war größer als die meisten, sogar größer als die an ihrer Universität. Die Vorberge, die so nahe an der Ranch zu beginnen schie‐ nen, als Lauren sie während der Radtour gesehen hatte, waren
gut drei Kilometer entfernt, wie sie nun feststellte. Als sie sich ihnen näherten, erkannte sie hübsche Wellenmuster in dem versteinerten Sand, dazu gewaltige Felsblöcke und schlanke Steintürme, die sich in Schwindel erregende Höhen erhoben. Kilometer hinter dem ersten dieser Naturwunder entdeckte sie die Schlucht des Green River. »Können wir dorthin fliegen?« Sie zeigte zu dem Canon und fragte sich, ob Kerry auf den Fluss neugierig gewesen war. Sie selbst wäre es gewesen. »Wollen Sie reinfliegen?« »Geht das?« »Es wird eng, aber es geht. Ich glaube aber nicht, dass Sie viel finden werden.« Sobald Flanders den Jet Ranger in den Canon lenkte, schien die enge Schlucht gefährlich schmal zu werden. Eine Windbö schüttelte sie durch, und Lauren zuckte zusammen, als sie sah, wie er die Hände fester um die Steuerknüppel schloss. Er blickte zu ihr hinüber und sagte, sie solle unbesorgt sein. »Das ist nichts.« Er flog die Maschine flussaufwärts. Sie waren so tief, dass man die Wellen erkennen konnte. »Wo landet man, wenn man dort unten mit dem Boot ken‐ tert?«, fragte Ry. »Dort unten sollte man lieber nicht kentern. Man kann ver‐ suchen, sich durchtreiben zu lassen, aber man wird höllisch viele Schläge an den Felsen einstecken. Wir haben schon mehr als einen Bootsfahrer da drin verloren.« »Kein Ausstieg?«, wollte Ry wissen. »Auf rund fünfzehn Kilometern nicht. Das sind fünfzehn Kilometer Hölle, wenn es einen da drin erwischt. Aber natür‐
lich erwischt es einen nicht, wenn man weiß, was man tut. Je‐ denfalls der Theorie nach.« »Und die Wirklichkeit?« »Die Wirklichkeit sieht so aus, dass wir schon mehr als ei‐ nen Bootsfahrer verloren haben«, wiederholte Flanders. Sie flogen eine Weile schweigend, bis Lauren erkannte, dass Flanders Recht hatte: Es war unwahrscheinlich, dass sie in ei‐ ner solch schnellen Strömung irgendwen fanden, ob tot oder lebendig. Sie bat ihn, ihr und Ry zu zeigen, wo früher Leichen angespült worden waren. Flanders zog die Steuerknüppel zurück, und der Helikopter stieg so rasch, dass die Canonwände verschwammen. Als sie über den Rand kamen, sahen sie zwei Wanderer winken. Lau‐ ren winkte zurück, neidisch auf ihre Unschuld. Sie rasten flussabwärts zum ersten Ausstieg, wo die Schlucht in die Wüste auslief, die so weit und flach aussah, wie der Canon eng und steil gewesen war. »Falls sie im Fluss gelandet wäre, müsste ihre Leiche inzwi‐ schen vermutlich irgendwo hängen geblieben sein, und wir hätten sie gesehen. In den ersten paar Tagen habe ich dieses Gebiet jedes Mal abgesucht, wenn ich oben war.« Flanders lenkte den Vogel nach Westen und donnerte er‐ neut über Stasslers Anwesen. »Haben Sie mal ein Anzeichen für ein Bergwerk auf diesem Land gesehen?«, fragte Lauren. Der Pilot schüttelte den Kopf. »Nein, könnte ich nicht be‐ haupten. Aber wenn ein Bergwerk geschlossen ist, ist es natür‐ lich nichts weiter als ein kleines Loch im Boden, wenn über‐ haupt so viel. Wenn sie allerdings vorschriftsmäßig geschlos‐ sen werden, liegt die Sache anders, dann sind sie umzäunt,
aber ich habe hier nie etwas in der Art gesehen. Das war Land von Ranchern. Ein paar Rinderschädel hab ich gesehen.« Sie flogen noch zwei Stunden lang über Moab und die unmit‐ telbare Umgebung der Stadt. Doch je länger sie in der Luft waren, desto hoffnungsloser wurde Lauren. Jeder Blick nach unten erinnerte sie daran, was für eine gewaltige Aufgabe es war, jemanden in einer Gebirgs‐ und Schluchtenlandschaft zu suchen. Man konnte Wochen damit verbringen und nur einen Bruchteil der Möglichkeiten abdecken. Was hast du erwartet?, fragte sie sich. Dass dir gelingt, was Sheriff und Staatspolizei mit ihrer weit größeren Erfahrung bei Suchaktionen nicht ge‐ lungen ist? Sie stellte sich vor, dass es für Kerrys Familie noch viel schlimmer gewesen sein musste, sich über so weitem Land so klein vorzukommen und zu wissen, irgendwo da unten ist deine Tochter. Tot? Am Leben? Sterbend? Sich so machtlos zu fühlen, wenn so viel auf dem Spiel steht. »Gehen wir zur Bergwerksabteilung«, sagte Lauren zu Ry, als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten. »Du meinst, der Knabe von deinem Hotel weiß wirklich was?« »Keine Ahnung, ob er nur den Schlaumeier spielt, aber viel‐ leicht ist er auf etwas gestoßen, an das sonst niemand gedacht hat.« »Ich bezweifle es.« »Komm schon, Ry. Was kann es schaden?« Sie hielten nur kurz, um sich an einem Burrito‐Wagen, der im Schatten einer Pappel parkte, etwas zu essen zu holen. Ein
Schäferhundweibchen ging mit seinem Besitzer vorüber. Le‐ roy sah sie prüfend an, aber schoss nicht los. Lauren stieß Ry an: »Schau, schau, ein Fortschritt!« Ry kicherte. »Ich bezweifle, dass er das so sieht.« Die Bergwerksabteilung war, durchaus angemessen, im Keller der Bezirksverwaltung untergebracht. Sie wurde geleitet von Barbara Hershing, einer Frau in den Sechzigern, mit einer leb‐ haften Gesichtsfarbe und einem Kleid, das ihr zwanzig Kilo früher vielleicht gepasst hatte. Sie war freundlich, auch wenn sie ihnen nicht viel Mut machte. »Ich habe nie von einem Bergwerks‐Claim auf dem Land der Johnsons gehört. Jetzt müsste man wohl Stasslers Land sagen«, korrigierte sie sich. »Wussten Sie, dass die Johnsons von Brigham Young selbst abstammten? Gehören Sie den Hei‐ ligen der Letzten Tage an?« »Nein«, sagte Lauren und hoffte, dass die Frau dennoch hilfreich blieb. Sie hatte ihnen bereits den Gefallen getan, die Steuernummer nachzusehen, statt sie zum Büro des Steuer‐ schätzers hinaufzuschicken. »Dann wollen wir doch mal sehen«, fuhr sie fort und zog zwei staubige Bände aus einem Regal. »Wir haben sie nie in den Computer eingegeben. Die neu vergebenen Claims haben wir alle drin, aber das ist nicht schwer«, schnaubte sie, »es sind ja nur noch ein paar im Jahr.« Sie blätterte in einem Band, hielt auf einer Seite inne und fuhr mit dem Zeigefinger Zahlenkolonnen auf und ab, wobei sie den Kopf schüttelte. Doch dann erstarrte ihr Finger plötz‐ lich an einer Stelle. »Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt! Es gab tat‐
sächlich eine Mine da draußen. Ein Claim, der 1910 eingetra‐ gen wurde. Ist das zu glauben?« Sie blickte auf, belustigt über ihren Fund. »Welche Art Mine?«, fragte Lauren. »Das ist das Interessante dabei«, erwiderte Hershing. »Eine Silbermine. Es gab ein paar davon in der Gegend. Viel kam nie dabei raus. Ich fress einen Besen.« »Gibt es irgendwelche Angaben über die Mine? Wie tief sie ist, etwas in der Art?«, sagte Ry. Hershing sah nach und sprach dann zögerlich. »Ja, aber man kann diesen alten Beschreibungen der Claims nicht sehr trauen. Viele von den alten Bergwerksleuten wollten nicht, dass irgendwer erfuhr, wie sie ihre Minen angelegt hatten …« Lauren fragte sich, ob dasselbe für Stassler zutraf. »… aber hier steht jedenfalls, dass es einen Hauptschacht gab, der gut dreißig Meter in die Tiefe ging und etwa acht‐ hundert Meter lang war.« »Das hört sich groß an«, sagte Lauren. Hershing zuckte die Achseln. »Wie gesagt, ich würde dem nicht allzu viel Gewicht beimessen. Seinerzeit hat sich nie je‐ mand die Mühe gemacht, nachzuprüfen, ob die Eigner nicht nur Fantasieangaben machen.« »Können wir eine Kopie davon haben?« »Das kostet aber, meine Liebe.« »Wie viel?« »Ungefähr zehn Cent.« Als sie nach oben zum Hauptgeschoss der Bezirksverwaltung gingen, entdeckte Sheriff Holbin die beiden und kam direkt auf sie zu.
»Ich habe gehört, dass Sie da unten waren.« »Ja. Wir haben etwas nachgeschlagen in …« »Haben Sie Jared Nielsen gesehen?«, unterbrach er. »Das letzte Mal haben wir ihn am Mittwoch gesehen. Wir haben eine Radtour mit ihm gemacht.« »Das weiß ich alles«, sagte Holbin. »Ich meine seither.« »Nein. Wieso?«, erkundigte sich Lauren. »Weil er heute Nachmittag einen Termin für einen Lügen‐ detektortest hatte und nicht erschienen ist.« »Ich dachte, der war für gestern anberaumt«, sagte Ry. »War er auch, aber der Prüfer konnte erst heute kommen, deshalb haben wir ihn verschoben. Aber jetzt ist Nielsen ver‐ schwunden.« »Was soll das heißen, verschwunden? Haben Sie in seinem Zimmer nachgesehen?« Sheriff Holbin sah sie mit einem überdrüssigen Gesichts‐ ausdruck an. »Ja, Madam, wir haben in seinem Zimmer nach‐ gesehen. Er hat noch Sachen dort, aber sein Rad ist weg und sein SUV ebenfalls.« »Ich dachte, Sie haben ihn überwacht?«, wunderte sich Ry. Der Sheriff verschränkte die Arme. »Das haben wir, aber er ist während eines Schichtwechsels entwischt, was mich sehr misstrauisch macht. Es sieht aus, als hätte er genau den einen Moment abgewartet, in dem wir vielleicht nicht so gut aufpas‐ sen. Natürlich hätten wir ihn trotzdem nicht verlieren dürfen, aber es ist nun mal passiert. Ich habe die Polizei des Bundes‐ staates alarmiert.« »Dann glauben Sie also wirklich, er ist geflohen?«, sagte Lauren. »Ich glaube, dass er sein Versprechen gebrochen hat, und
ich habe einen Haftbefehl für ihn ausstellen lassen und die Absicht, davon Gebrauch zu machen. Wenn Sie ihn also zufäl‐ lig sehen«, Holbin blickte sie beide durchdringend an, »dann sagen Sie ihm, er hat den größten Fehler seines Lebens ge‐ macht, und es wäre wesentlich besser für ihn, er würde sich stellen.« Jared Nielsen fand nicht, dass er einen Fehler gemacht hatte, schon gar nicht den größten seines Lebens. Er fand vielmehr, dass sich der verfluchte Sheriff zu viel Zeit ließ, indem er den Lügendetektortest verschoben hatte und nun von ihm erwarte‐ te, still zu sitzen und ein braver Junge zu sein. Es reichte ihm. Den Test konnte er jederzeit machen, aber für Kerry wurde die Zeit immer knapper. Er fuhr langsam in seinem Expedition durch die Wüste, um seine Staubfahne klein zu halten. Es war mehr ein Kriechen. Nach etwa zwanzig Minuten sah er den Green River zu seiner Rechten und die steile Schlucht, aus der er strömte. Er war mit seinem Bike dieselbe Strecke abgefahren, als er gestern morgen das Gelände erkundet hatte. Er wusste, dass es auf Stasslers Seite des Flusses eine Höhle gab, in der er den Wagen verstau‐ en konnte. Mehrere Höhlen eigentlich, aber die eine, die er im Sinne hatte, sah aus, als wäre sie mit der Nase einer Boeing 747 in den Fels gebohrt worden. Er fuhr den Expedition einfach hinein, wie in eine Garage. Die Höhle war etwa zehn Meter tief, und nur eine ernsthafte Suche würde den SUV zu Tage fördern. Die Decke war so hoch, dass sein Rad auf dem Dachständer problemlos mit hi‐ neinpasste. Er hatte vor, damit über das Ranchgelände zu Stasslers Anwesen zu fahren.
Die Uhr am Armaturenbrett zeigte fünf nach drei. Er hatte sich einen sorgfältigen Zeitplan zurechtgelegt, dem er dennoch weit voraus war. Er konnte es eben nicht erwarten. Und er musste sich verstecken: Nachdem er den Cops entwischt war, konnte er nicht gut in der Stadt herumsitzen und Espresso schlürfen. Er wollte warten, bis die Sonne unterging, mit dem letzten Licht auf die Ranch radeln und die ganze Nacht nach Kerry suchen. Er hätte es vorgezogen, tagsüber zu suchen, aber Kerry zufolge verließ Stassler das Anwesen manchmal eine ganze Woche lang nicht. Nachts musste er zumindest schlafen. Jared holte sein Rad vom Dachständer und vergewisserte sich, dass er alles an Ausrüstung, Wasser und Essen in seinem Rucksack hatte. Genug für zwei Tage, falls er sich irgendwo verstecken musste. Wenn Kerry da drin war, dann würde er sie finden. In den Zeitungen stand, der Sheriff sei hier draußen gewesen und habe sich umgesehen, aber Jared hatte nicht vor, sich »umzusehen«. Er würde jeden Quadratzentimeter durch‐ kämmen. Sie war nicht in eine Mine gefallen, und sie war nicht oben auf dieser beschissenen Jeepstrecke gewesen, damit blie‐ ben nach seiner Rechnung nicht mehr allzu viele Möglichkei‐ ten außer Ekel‐Ashley und seiner Ranch. Kurz nach sieben lud sich Jared seinen Rucksack auf, bestieg das Mountainbike und fuhr hinaus in die Wüste. Die Schatten der Vorberge verdüsterten das Dämmerlicht und ließen ihn zu einer Geistergestalt werden. Seine Tarnkleidung und die Schlammschicht, die er auf Rahmen und Lenkstange aufgetra‐ gen hatte, trugen ebenfalls zu seinem Schutz bei. Er fuhr sehr vorsichtig, denn das gesamte Gebiet vor ihm war neu für ihn. Zerklüftetes Terrain forderte ihn mehr als eine Stunde lang,
ehe sich die Silhouette des Anwesens im schwindenden Licht grau abzeichnete. Von Jared aus gesehen lag die Gießerei am nächsten. Er ließ das Rad neben einem Scharlachsalbei stehen und duckte sich für eine Reihe von Sprints von der kargen Deckung eines Wü‐ stenstrauchs bis zur gleichermaßen kargen Deckung des näch‐ sten. Keine Spur von Ekel‐Ashley. Er näherte sich der Gießerei von hinten. Dort wollte er als Erstes nachsehen, weil er sie für den unwahrscheinlichsten Ort hielt, wo er Stassler um diese Tageszeit über den Weg laufen würde; Kerry hatte erzählt, dass er gern am Morgen arbeitete, sie hatte die Nachmittage deshalb immer frei gehabt. Nach der Gießerei würde er das Haupthaus durchsuchen. Dort wollte er auch die Nacht verbringen, sich eine Stelle su‐ chen, von wo er Stassler im Auge behalten konnte, und wenn dieser dann am Morgen zur Arbeit ging, würde er sich in die Scheune und das Gästequartier schleichen. Das war der ver‐ rückteste Teil des Plans. Bei dem Gedanken, dass er ein so ge‐ waltiges Risiko einging, während Stassler in unmittelbarer Nähe war, zogen sich seine Eingeweide zusammen. Aber viel‐ leicht kam es ja nicht dazu. Vielleicht fand er Kerry lange be‐ vor er die Scheune betreten musste. Er näherte sich der Gießerei noch weiter und war froh, dass Stassler keinen Hund besaß. Das Letzte, was er jetzt gebrau‐ chen könnte, wäre ein großer, alter Hund, der zu bellen anfing oder, noch schlimmer, ihn aufzufressen versuchte. Er hatte keine Waffe, es sei denn, man zählte das Schweizer Armee‐ messer als solche. Er wünschte, er hätte eine Pistole, wünschte es noch mehr, als er wenige Meter vom Hintereingang der Gießerei in die Hocke ging.
Bevor er zu dem Gebäude huschte, sah er sich ein letztes Mal um. Sie ist hier. Jared glaubte unerschütterlich daran. Dann fiel sein Blick auf den Boden, und er befürchtete, dass sie bereits tot war, in einem primitiven Grab verscharrt. Aber das erschien ihm zu grausam. Du wartest nicht dein ganzes Leben lang auf eine Kerry, nur damit sie dir sofort wieder wegge‐ nommen wird. Er weigerte sich, eine derart trostlose Möglich‐ keit auch nur zu erwägen. Und er würde an Stasslers Un‐ schuld erst glauben, wenn er die Gelegenheit gehabt hatte, jeden Zoll des Anwesens zu durchforsten. Er sprintete bis zur Gießerei und kroch dann bis zur Ecke vor. Er wollte sehen, ob der Jeep vor dem Gebäude stand. Es wäre ein großes Glück, wenn Stassler weggefahren wäre. Ker‐ ry hatte gesagt, wenn er in die Stadt fuhr, dann am frühen Abend. Der Jeep war nicht da. Jared hätte am liebsten einen Freu‐ denschrei ausgestoßen, aber dann fiel ihm ein, dass Stassler ihn vor der Scheune geparkt haben könnte. Jared konnte es nur herausfinden, indem er sich zur Vorderseite der Gießerei schlich. Denk nach, befahl er sich. Ändert es irgendetwas, wenn der Wagen dort steht? Nein. Also bleib bei deinem Plan. Geh in die Gießerei und schau, was du von dort überblicken kannst. Wenn er wirklich fort ist, kannst du immer noch entscheiden, ob du heute Abend in die Scheune oder das Gästequartier ge‐ hen willst. Jared kehrte zum Hintereingang zurück, einer Metalltür, wie man sie an Lagerhallen findet. Sie war versperrt. Das überraschte ihn nicht, Kerry hatte erzählt, dass der Mann sehr geheimniskrämerisch war. Es gab auch doppelt verglaste Fen‐
ster mit massiven metallenen Mittelpfosten, aber sie waren ebenfalls verschlossen. Die Sache war schwieriger als gedacht. Bevor er Glas zerbrach – und es konnte einige ernsthafte Schläge erfordern, zwei Lagen gehärtetes Glas zu zertrüm‐ mern –, würde er es über das Dach probieren. Er kletterte, seit sein Vater ihn mit zwölf in den Yosemite mitgenommen hatte, und er hatte genügend Ausrüstung dabei, um alle Gebäude des Anwesens erklimmen zu können. Eine Gießerei musste einen Schmelzofen besitzen, und ein Schmelzofen musste ei‐ nen Kamin haben. Normalerweise gemauert. Jared war schlank und kräftig. Es könnte zu machen sein. Außerdem konnte er vom Dach aus die Vorderseite der Scheune über‐ blicken und sehen, ob der Jeep da war. Es gelang ihm beim ersten Versuch, die Greifklaue an sei‐ nem Kletterseil am Rand des Flachdachs einzuhaken. Er tat es so elegant, wie ein Fliegenangler eine Forelle auf den Haken nimmt, allerdings sah er sich, als er am Seil die Wand hinaufk‐ letterte, nicht als das Lebewesen, das gefangen worden war. Vielmehr empfand er einen ersten Rausch des Erfolgs, vor al‐ lem, als er sich über den Rand zog und ein Oberlicht entdeck‐ te, das einen Spalt offen war. Ausgezeichnet, sagte er zu sich selbst. Ganz, ganz ausge‐ zeichnet. Er holte Seil und Rucksack herauf und kroch über das Dach. Er spähte durch das Oberlicht, konnte aber unten in der Gießerei nur finstere Schemen erkennen. Er huschte zur Vorderseite des Dachs und blickte hinüber zur Scheune. Dort stand Stasslers Jeep. Ein flaues Gefühl machte sich in seinem Magen breit. Bis zu diesem Augenblick war ihm nicht klar gewesen, wie sehr er gehofft hatte, Ekel‐ Ashley möge fortgefahren sein. Und bis zu diesem Moment
hatte er auch nicht gewusst, wie viel Angst in ihn fahren konn‐ te. Es ist nicht anders, als du erwartet hast, sagte er sich, aber er fühlte sich deshalb keineswegs besser. Langsam zog er sich vom Rand des Daches zurück, und ihm war unwohl bei dem Wissen, dass ihn Stassler trotz aller Vorsichtsmaßnahmen ent‐ decken konnte, indem er einfach nur aus einem Fenster der Gästeunterkunft im Obergeschoss der Scheune sah. Beeil dich lieber. Er hob das Oberlicht ab und legte es aufs Dach. Nachdem er die Klaue an dem Metallrahmen eingehakt hatte, ließ er sich zu den stummen Schatten hinab. Aber als seine Füße den Bo‐ den berührten, überkam ihn die Furcht, einer dieser Schatten könnte nach ihm greifen. Um seinen Atem zu beruhigen, gönnte er sich einige Au‐ genblicke, in denen er sich umsah und seine Augen an das schwache, ungleichmäßige Licht gewöhnte. Und da entdeckte er einen Mann, der in der Ecke kauerte. War das Stassler? Was tat er da? Dann bemerkte – nein, hoff‐ te – Jared, dass es eine Statue war, eine Skulptur. Er starrte so intensiv darauf, wie er nur je etwas angestarrt hatte, und er‐ kannte ein Schimmern des letzten Tageslichts am metallischen Arm der Gestalt. Jared biss sich vor Erleichterung in den Handrücken, eine nervöse Angewohnheit aus seiner Kinder‐ zeit, zu der er seit zehn Jahren nicht mehr Zuflucht genommen hatte. Er löste die Hand mit einem Ruck vom Mund. Er würde nicht wollen, dass ihn Kerry so sah. Er hatte durchaus seine Heldenfantasien und stellte sich vor, wie dankbar sie sein würde, wenn sie ihn endlich erblickte, er sah ihre offenen Ar‐
me und die Tränen des Glücks. Sie hatte ihm ihren Körper an‐ vertraut, ihre Geheimnisse, und er, Jared Nielsen, würde die‐ ses Vertrauen zu seiner Sache machen. Bei einem Blick zur Seite sah er einen schwenkbaren Kran und Ketten, die von der Rolle des Flaschenzugs hingen. Einige Schritte hinter dem Kran lag der Gussbereich mit dem Metall‐ rost und dem Lehmboden. Ein schwacher chemischer Geruch hing in der Luft, nicht unangenehm, aber stechend, wie Holz, das nach einem Feuer weiterschwelt. Als Jared nach links schaute, blickte er genau auf den Schmelzofen, der rund und so hoch wie er selbst war, mit Kontrollanzeigen und Schaltern daran. Der Schmelztiegel stand ein kleines Stück entfernt. Viele Dinge sehr nahe bei‐ sammen. Wozu dann ein so großer Raum? Er wusste nur, was ihm Kerry über das Gießen erzählt hatte, die Herstellung der Gussform, dann das Erhitzen und Abkühlen der Bronze, wie sich nichts eilig erledigen ließ. Gar nichts. Es kam auf jede Be‐ wegung an. Deshalb waren Gießereien so sorgfältig angelegt. Schau, hier sind die Fensterventilatoren, die Becken, der Tisch für die Gussform. Gut, das alles macht Sinn, aber was ist dort drüben, hinter der Trennwand? Langsam machte Jared die ersten Schritte über den Betonbo‐ den; vorsichtig, damit er nirgendwo anstieß, ein weiterer Schat‐ ten in der zunehmenden Nacht, näherte er sich dem abgetrenn‐ ten Bereich. Er wollte auf keinen Fall eine dieser hohen Metall‐ flaschen mit Sauerstoff, Kohlendioxid oder Argon umstoßen. Brich so einem Ding das Ventil ab und es verwandelt sich in eine Rakete, die glatt eine Ziegelwand durchschlägt. Deshalb haben sie diese halbrunden Metallverschlüsse, aber Kerry sagte, Bildhauer sind manchmal zu faul, sie wieder aufzuschrauben.
Er trat auf einen kleinen, harten Gegenstand, bückte sich und hob eine Scherbe von einer zersprungenen Gussform auf. Daneben stand ein Tisch. Hier schlug Stassler offenbar die Gussformen ab, wenn die Bronze erkaltet war. Moment mal! Er richtete sich auf und sah drei Körper auf dem Tisch selbst liegen, darunter der einer Frau. Unbeweglich. Starr, wie er selbst nun wieder war. Aber ihre Haut war … grünlich. Selbst bei diesem lausigen Licht konnte er ihre Blässe sehen. Er berührte den Körper, der ihm am nächsten lag, den größten der drei. Die Oberfläche fühlte sich hart und spröde an, und großer Gott … sie hatten keinen Kopf. Abgesehen von ihrer Größe und den Höckern ihrer Geschlechtsorgane fehlte ihnen überhaupt jedes Unterscheidungsmerkmal, sie ähnelten eher Mumien als irgendetwas anderem, das er je gesehen hat‐ te. Der Form nach zu urteilen, hatte er die Hand auf die Figur eines Mannes gelegt. Die daneben gehörte zu einer Frau, und die letzte war von einem Jungen. Sie waren schrecklich. Kopf‐ los. Er fühlte etwas Ungesundes in der Luft liegen und wurde sich in aller Schärfe seiner Verwundbarkeit bewusst, wie er allein hier stand und diese drei enthaupteten Gestalten be‐ trachtete. Sosehr sie ihn abstießen, faszinierten sie ihn auch. Er fuhr mit einem einzelnen Finger den Arm der männlichen Figur entlang. Er tastete unter die Hand und spürte Haut, Knochen, Muskeln in allen Einzelheiten. Es war das, was Kerry einen Abdruck nannte. Er schaute hinter sich. Kein Fenster, nur Wand, deshalb wühlte er im Rucksack und holte seine Stirnlampe heraus. Er wählte den schmalsten Strahl und schaltete die Lampe ein, wobei er sie hielt wie eine Taschenlampe. Er ging langsam in
die Hocke, hob den Arm an und richtete das Licht auf die In‐ nenseite der Hand. Bei dem Anblick stockte ihm der Atem, so real war der Anschein von Schmerz. Die Hand hatte sich in die Luft gekrallt, er konnte die verzweifelte Bewegung beinahe sehen, wie sie nach dem leeren Versprechen von Nichts griff, alle Finger ausgestreckt, gedehnt; Knochen und Sehnen hoben sich so deutlich ab wie die Dornen von einem stachligen Busch. Es war jedoch die Stellung des Arms, die einen un‐ heimlichen Schauder durch Jared jagte und ihm plötzlich das Gefühl gab, als wäre sein heldenhaftes Streben so von Angst erschüttert, dass er Kerry niemals retten würde. Der Arm war eine Wucherung nackter Angst, übersät mit Grübchen in je‐ dem Muskel, wo die Anstrengung des Überlebens ihre men‐ schlichen Wurzeln verlassen hatte und zum schrillen Krei‐ schen eines Urwaldprimaten geworden war, wo ein Körper‐ fortsatz nicht mehr ein Werkzeug für Fortbewegung, Ernäh‐ rung, Fortpflanzung ist, sondern eine Waffe, die in absolut jeder Weise einzusetzen ist. Doch diese Waffe hatte versagt, wie Jared sah; und dieses zum Tode‐verurteilt‐Sein, das war es, was er ganz deutlich in dem gewölbten Bizeps, den sehni‐ gen Unterarmen und der greifenden Hand sah, einer Klaue in all ihrem schamlos primitiven Hunger. Das spröde Material zersprang. Er hatte den Arm fallen las‐ sen. Er trat einen Schritt zurück, aufgeschreckt von dem Ge‐ räusch, fühlte die Welt als Verwerfung in seinem Inneren, als eine gewaltige Plattentektonik der Vorahnung. Er fluchte leise, aus Reflex, ohne echte Bedeutung, dann setzte er die Stirnlam‐ pe auf, um beide Hände frei zu haben und wollte sehen, was er angestellt hatte; aber sein Blick blieb bei den Füßen des Jun‐ gen hängen, bei deren gequälter, verdrehter Form, als hätte
sich das Kind an Ort und Stelle gekrümmt und gewunden und versucht vor welchem Entsetzen auch immer zu fliehen, in‐ dem es sich direkt in die Erde bohrte. Jared hatte plötzlich das Gefühl, sich in einem Schlachthaus zu befinden, im Versteck eines Schlächters. Schließlich wan‐ derte sein Blick zu den Überresten des Männerarms, einem Häufchen aus Staub und Scherben. Was habe ich getan? Selbst jetzt, da der Verdacht der tiefsten Verletzung der Natur in ihm aufgestiegen war, da er die unvergängliche Gegenwart von Mord wahrnahm, empfand er noch das Schuldgefühl eines anständigen jungen Mannes, weil er die Arbeit eines anderen Mannes zerstört, so sichtbar in Trümmer gelegt hatte. Der Arm war entlang Dutzender gezackter Linien zer‐ sprungen, und Jareds Lampe fing bereits Staubteilchen ein, die aufwärts wirbelten, eine üppige, grüngraue Wolke, die zu ihm aufstieg, bis er ihren Staubgeruch roch. Er wird merken, dass etwas nicht stimmt. Er wird es in dem Moment wissen, in dem er das hier sieht. Du musst alles heute Nacht erledigen, denn morgen früh wird er es sehen. Jared war klar, dass ihn nicht eine Verhaftung wegen Einbruchs er‐ wartete, sondern seine Ermordung. Seine Haut prickelte, so spürbar war er hier vom Tod umgeben. Er fühlte ihn wahrhaft in den Knochen. Am anderen Ende des Raums befand sich sein Ziel, der ab‐ getrennte Bereich, zu dem er unterwegs gewesen war, ehe ihn die Abdrucke der Körper stehen bleiben, erstarren und schließlich erschaudern ließen. Er ging weiter, vorbei an einer Tischsäge, einem Paar Sägeböcken, Werkzeugregalen und zwei weiteren Flaschen Sauerstoff‐Acetylen‐Gemisch für einen Schneidbrenner.
Als er hinter die Trennwand kam, stellte er den Strahl der Lampe breiter. Alles war hier von Staub bedeckt, ein Tisch, Werkzeuge – Hämmer und Meißel – und der Boden, auf den sein Blick zuletzt fiel, und auf dem er offenbar frische, deutli‐ che Schuhabdrücke entdeckte. Sie führten auf einen Holzka‐ sten zu und wieder von ihm weg. Der Kasten hatte etwa die Größe eines Aktenschranks mit vier Schubladen. Merkwürdig war aber, äußerst merkwürdig, dass von einem der darauf zu‐ führenden Schuhabdrücke nur die Ferse zu sehen war, als wä‐ re der vordere Teil des Fußes direkt in den Kasten getreten, als wäre das Holz nur eine Illusion, eine Wand, durch die man gehen konnte. Ohne sich über seine eigene Spur Gedanken zu machen, näherte er sich dem Kasten. Als er sich dagegenstemmen woll‐ te, um ihn zu verschieben, fanden seine Fingerspitzen eine Naht, die eine Tür verriet. Sie ging mit wenig Widerstand auf. Im Schein seiner Stirnlampe sah er, dass der Boden nicht mehr aus Beton mit staubigen Abdrücken bestand, sondern aus harter Erde, und ein kleines Stück entfernt ragte das Ende einer Aluminiumleiter aus einem Loch im Boden. Es sah aus wie … ja, es sah aus wie der Eingang zu einer Mine. Aber die war nicht verlassener als der Flughafen da‐ heim in L. A. Sie ist hier, sagte er sich. Dort unten. Er kroch in den Holzkasten und zog die Tür wieder zu. Er starrte hinab in die Schwärze des Lochs, seine Lampe offenbar‐ te wenig mehr als die Leiter und die dunkle Erde an ihrem Fuß. Klamm vor Angst, aber auch erregt, stieg er hinab. Von die‐ sem unterirdischen Versteck wusste die Polizei nichts. Nie‐ mand wusste davon. Er würde reingehen, Kerry suchen, und
dann nichts wie weg mit ihr. Später würde er dann mit dem Sheriff wiederkommen und diesen Hundesohn für immer ein‐ sperren lassen. Am Fuße der Leiter fand er sich tatsächlich in einem Berg‐ werksschacht wieder. Seine Stirnlampe streifte an die Decke. Das bedeutete, der Schacht war etwa einsachtzig hoch und ebenso breit, wie er durch Ausstrecken der Arme feststellte. Alle paar Meter stützten Holzbalken mit der Stärke von Bahnschwellen die verschalte Decke. Als er dagegen klopfte, rieselte Staub aus den Fugen, aber sie fühlten sich solide an. Er fürchtete, der Schacht könnte einstürzen, fand aber kurzlebi‐ gen Trost in der Erinnerung, dass ein Einsturz noch seine ge‐ ringste Sorge war. Die größte Sorge bereitete ihm dieser dunk‐ le Tunnel, oder was in seinen dunklen Tiefen vor sich hin fau‐ len mochte. Feuchte, kühle Luft strich an ihm vorüber, er spürte sie leb‐ haft auf der verschwitzten, nackten Haut an Nacken und Ar‐ men. Während er die Dunkelheit durchdrang, ihre schwarzen Grenzen zur Seite zwang, warf er einen Blick zurück und sah, wie illusorisch sein Sieg war, wie kurzlebig, denn hinter ihm hatte sich das Nichts bereits wieder um ihn geschlossen, kein Licht, kein Laut, kein Leben. Es kam von hinten angestürmt und schob ihn vorwärts. Er fühlte die eisernen Hände und sah die Schatten vor ihm tanzen, während der zerbrechliche Strahl nervös über Wände, Decke und kalte Erde zuckte. Ein unver‐ kennbares Drängen stieg aus allem auf. Es war, als versuchten diese Wände eine vollständige und endgültige Dunkelheit zu gebären, indem sie ihn immer tiefer in die Leere einer immer bösartigeren Welt zwangen. Seine Zehen stießen an die Spitzen seiner Laufschuhe, als
der Gang steiler abwärts verlief und ihn weiter von der Ober‐ fläche wegführte. In dieser dichten, fast wilden Schwärze frag‐ te er sich, ob das, was wir Nacht nennen, nicht nur die Einge‐ weide der Erde waren, die unbarmherzig an die Oberfläche stiegen, ein unersättliches Tier, das sich nach oben grub, um sich über das Land zu ergießen, es in Dunkelheit zu kleiden und mit Frost zu ersticken. Es war ein bizarrer Gedanke, und Jared war sich dessen bewusst; aber der Gedanke klammerte sich an ihn, wie sich ein Albtraum an den Schlaf klammert, nicht bereit, einem lichten Gedanken zu weichen. Wo würde der Schacht enden? Wie weit noch? Er dachte daran zurückzulaufen, aus diesem Grab zu fliehen. Denn als das sah er es nun, als ein großes Gefäß des Todes. Er hatte es versäumt, auf die Uhr zu schauen, bevor er die Leiter hinabge‐ stiegen war, weshalb es nichts bedeutete, als er nun sah, dass es halb zehn war. Stieg er seit einer halben Stunde in die Erde hinab, seit einer Stunde? Kerry, sagte er sich vor, Kerry. Er versuchte sich an ihren Namen zu klammern, aber sein Heldenmut war sehr viel klei‐ ner geworden, und die schreckliche Ausbeute der Angst berei‐ cherte er selbst um eine neue: dass seine Stirnlampe ausging, dass die Batterien leer wurden, und er sich in absoluter Dun‐ kelheit würde zurechtfinden müssen. Diese Angst ließ ihn ste‐ hen bleiben, und als sich der starre Blick des Strahls beruhigte, fiel ihm das Nachtlicht ein, das er bis zur Highschool in sei‐ nem Zimmer aufbewahrt hatte. Jeden Morgen hatte er es im Schrank verstaut, falls einer seiner Freunde vorbeikam. Aber diese Angst vor der Nacht war sehr tief und dauerhaft gewe‐ sen, ein Raubtier, dessen Hunger nie verging. Nun spürte er die Zähne dieses Räubers wieder.
Das Licht wird nicht ausgehen, beruhigte er sich. Die Batte‐ rien sind gut. Der Strahl ist stark, siehst du? Als er sich befahl, nach vorn zu blicken, sah er Eisenschienen, die knapp zwanzig Meter weiter wie aus dem Nichts begannen. Er näherte sich vorsichtig, aber auch mit einem winzigen Funken Hoffnung. Vielleicht führten die Schienen zum Ende des Tunnels, und er konnte zur Gießerei zurückkehren, zur Sicherheit der Erde und zu allen – sogar Stassler –. die auf ihr lebten. So groß war seine Furcht, dass alle anderen Gefahren jetzt dagegen ver‐ blassten. Als er die Schienen erreichte, sah er große Öffnungen zu beiden Seiten des Hauptschachts. Vorsichtig blickte er zuerst zu der rechten Öffnung und erschrak beim Anblick eines ma‐ kabren Bronzegesichts, das ihn anstarrte. Kein Körper, nur das Gesicht eines Mannes, das rund drei Meter entfernt an der Wand hing und im Schein seiner Lampe leuchtete, die leeren Augen wild geradeaus gerichtet, der Mund verzerrt vor Wut oder Schmerz. Sein Puls raste, als er sich umdrehte, um auf die gegenüber‐ liegende Seite zu schauen, und in einer Art Nische das Bron‐ zegesicht einer Frau entdeckte, dieselbe paralysierte Erschei‐ nung, dieselben entstellten Züge. Es zeigte auch dieselbe grässliche Qual, die er an Hand und Arm des Mannes in der Gießerei gesehen hatte. Sein Kopf fuhr herum, und er betrach‐ tete das Gesicht des Mannes noch einmal. Vielleicht ist das sein Gesicht. Jareds Angst führte dazu, dass er sich die grau‐ samsten Fragen stellte. Sie hat Recht, sagte er sich. Kerry hat Recht. Er ist unheim‐ lich, absolut unheimlich. Nichts mehr mit »Ekel‐Ashley«. Stassler war niemand mehr, über den Jared Witze machen
konnte. Stassler war ein kalter, gerissener, unheimlicher Typ, und Jared wäre fast zur Leiter zurückgerannt, sah sich förm‐ lich schon zur Gießerei hinaufsteigen, wo ihn nicht die Nacht empfing, sondern das grelle Licht des Wüstentags. Doch er blieb standhaft, denn er glaubte, dass Kerry in der Nähe war und er weitergehen musste. Wenn es einen Augen‐ blick echten Mutes in seinem gesamten Unternehmen zu ihrer Rettung gab, dann war es dieser. Und er bezeichnete in der Tat den Anfang vom Ende. Jeder Schritt vorwärts hallte einsam wider. Und bei jedem Schritt nahm die Furcht, die sich schon die ganze Zeit in ihm aufgebaut hatte, noch weiter zu. Für alles, was sich zu besitzen lohnt, muss man irgendwie kämp‐ fen … Er hatte diese Zeilen in einem Lied gehört, auf einer CD sei‐ nes Vaters. Der alte Herr hörte sich teils grässliches Zeug an, aber diese Zeile war hängen geblieben. Gut, er war bereit, zu kämpfen, allerdings wusste er nicht genau, womit. Mit seinem Schweizermesser? Den Händen, Füßen? Es war eine Weile her, dass er Karate gelernt hatte. Eine kurze Phase, als er zehn war. Er konnte sich kaum mehr an die Tritte erinnern. Solcherart waren seine Gedanken, manche tröstlich, die meisten nicht, während er die Schienen entlanglief. Nach etwa siebzig Metern wurde der Schacht plötzlich breiter, und Jared löste ein Bewegungsmelderlicht aus, das einen Raum voller Bronzegesichter erhellte, ähnlich denen, die er gerade gesehen hatte. Sie standen in Regalen, die bis zu einer mindestens drei‐ fünfzig hohen Decke reichten. Gegenüber von ihm erhob sich gut über Augenhöhe eine Bronzefamilie, eine von Stasslers
Familien, aber mit schrecklich verzerrten Gesichtern, viel schlimmer als die in der Serie Family Planning, von der ihm Kerry Bilder gezeigt hatte. Ein Mann, ein Vater, ein kleines Mädchen von vielleicht drei, vier Jahren und ein Junge, der ein, zwei Jahre älter war, blickten mit gequälten Gesichtern auf ihn herab, mit Gesichtern, die praktisch schrien. Sie sahen aus, als hätten sie Liebe und Leben, Hoffnung und Glauben in ei‐ nem einzigen, entsetzlichen Augenblick gänzlich verloren. Jared sah weg und begann nach ihrem Gesicht zu suchen. Er kam sich vor, als hätte man ihn in ein Leichenschauhaus ge‐ führt, wo er nun die schaurige Aufgabe der Identifikation vor‐ nehmen musste. Sein Blick wanderte von links nach rechts über jede Regalreihe. Er sah alle möglichen Gesichter, manche schön, manche nicht, aber alle verzerrt von Qualen. Wieso ver‐ steckt er sie hier? Kaum hatte sich Jared die Frage gestellt, kannte er die Antwort: Ashley Stassler versteckte die Gesich‐ ter, weil Ashley Stassler tatsächlich ein Killer war, und jede seiner Skulpturen war ein Grabmal, dem Geiste nach, wenn nicht sogar ganz real. Was immer er mit den Körpern anstellte, fiel ihm erst hinterher ein, denn er hatte ihnen das Leben ge‐ stohlen, und ihre Knochen, Schädel, ihr ganzes Blut waren der Abfall seiner Arbeit. Jared, der seit Jahren nicht gebetet hatte, der nur eine vage Erinnerung an den Gottesdienst besaß, richtete Worte an Gott, die allen, die hier gestorben waren, eingeleuchtet hätten, denn auch sie hatten zum Gebet gefunden, zu dessen sanfter Umarmung in einer brutalen Welt. Und das hatte ihnen ihr Beten eingebracht: diese Regale, diese Wände, von denen sie bis in alle Ewigkeit ausdruckslos herabstarren würden. Dies war ihre Hölle, tief in der Erde. Und deine auch, flüsterte er.
Die zersetzende Angst, in solch absoluter Dunkelheit zu ster‐ ben, durchdrang ihn in dem Augenblick, in dem ihm bewusst wurde, dass das Bewegungslicht auch mit einem Alarm ver‐ bunden sein konnte. Dennoch zwang er sich, auch noch die letzte Regalreihe ab‐ zusuchen, doch ehe er die düstere Aufgabe beenden konnte, ging das Licht aus, und nur der Strahl seiner Stirnlampe teilte die Finsternis. Was geht hier vor? Er schaute ruckartig nach allen Seiten, fand jedoch keine Antwort. Auch vermochte er nicht zu er‐ kennen, wo der Schacht weiterging, falls er überhaupt weiter‐ ging. Doch sein Lichtstrahl landete auf einem alten Wagen auf den Gleisen. Er stand dicht vor einer Felswand. Das warʹs also, wurde ihm klar. Endstation. Er stürzte zu dem Wagen, um zu sehen, ob eine Axt, ein Pickel, irgendein Werkzeug mit tödli‐ chen Spitzen oder scharfen Kanten darin vor sich hin rostete, aber der Wagen war leer. Dann hörte er die ersten Schritte, so deutlich wie Hammerschläge, sie hallten aus dem Schacht, durch den er so leise geschlichen war. Er knipste rasch die Lampe aus und lauschte gespannt. Die Schritte kamen näher, so bedächtig wie der Tagesanbruch. Kein Rennen. Keine Eile. Und dann ein zweites Geräusch, wie von einem Stock, der auf die Erde gestoßen wird. Oder war es die Decke. Es klang schneidend, aufreizend. Von jemandem erzeugt, der Jareds Angst nicht kannte, der sich nicht darum scherte, ob er ihn hörte. Der ohne Licht ging. Schritt, Schritt, Schlag. Schritt, Schritt, Schlag. Jared fischte sein Schweizermesser aus der Tasche und öff‐ nete die größte Klinge, die aber höchstens einige Zentimeter maß. Dennoch hielt er sie vor sich wie all die Messerkämpfer,
die er in Filmen gesehen hatte. Aber er fühlte sich schwach vor Angst, nicht stark; verletzlich, nicht unbesiegbar. Das umso mehr, als die Schritte lauter wurden und dieser Stock, die Keu‐ le, oder was immer es war, wie toll zu schlagen begann und einen eigenen, schrecklichen Stakkatorhythmus annahm, bum‐ bum … bum‐bum‐bum‐bum. Es musste Stassler sein. Jared wollte sich verstecken, aber wo zum Teufel konnte er sich verstecken? Und wäre es nicht besser, sich ihm zu stellen? Laut Kerry hatte Stassler etwa sei‐ ne Größe, aber er war wesentlich älter und wahrscheinlich nicht so flink und kräftig. Als die Schritte noch lauter wurden, näher kamen und der Wahnsinn des bum‐bum‐bum in seinem Kopf zu hallen be‐ gann, fand der junge Mann wenig Trost in seinem eigenen Rat. Er überlegte sogar, ob er in den Wagen klettern sollte. Dann fiel ihm ein, er könnte sich dahinter platzieren. Er zog ihn von der Wand weg, mit der Absicht, ihn frontal in Stassler zu rollen. Er stellte sich gerade vor, welchen Schaden er damit anrich‐ ten konnte, als das Licht wieder anging und ihn mit seiner Helligkeit so gut wie blind machte. Er sah Stassler nicht, bis der Bildhauer einige Schritte vor ihm stand, mit einem Base‐ ballschläger in der Hand. Jared konnte nicht einmal den Wa‐ gen in ihn schieben: Stassler stand nicht auf den Gleisen. Es war ein idiotischer Plan. Jared konnte nichts weiter tun, als versuchen, auf der anderen Seite des Wagens zu bleiben, und selbst dieser hilflose Einfall wurde sinnlos, als Stassler eine Pistole auf ihn richtete. »Du bist ein Idiot«, sagte er. »Tut mir Leid«, sagte Jared.
»Was tut dir Leid? Dass du ein Idiot bist? Oder dass du meine Eigentumsrechte verletzt und meine Arbeit zerstört hast?« »Das tut mir Leid. Ich wollte es nicht.« »Ach, du wolltest es nicht? Na, wenn das so ist, dann los. Verschwinde. Komm, beweg dich.« Stassler versuchte, ihn hinter dem Wagen hervorzuscheu‐ chen, aber Jared hielt nichts von dem Spiel des Mannes. »Du willst nicht gehen? Du willst hier unten bleiben bei meinen Freunden?« Stassler sah zu den Bronzegesichtern. »Was glaubst du, wie sie gestorben sind?« Jared riskierte einen Blick auf die Regale und auf die Fami‐ lie, die rechts von ihm stand. Er überlegte, ob er sie umstoßen und Stassler unter ihnen zermalmen könnte. »Ich weiß es nicht.« »Sag mir, Superhirn, glaubst du, sie hatten einen guten Tod? Glaubst du, sie sind glücklich gestorben?« »Ich weiß nicht.« »Du benimmst dich störrisch, Superhirn. Wie heißt du überhaupt?« Jared sagte es ihm. »Das dachte ich mir. Ich wäre enttäuscht, wenn du jemand anderer gewesen wärst. Warum bist du hier?« »Ich suche nach jemandem.« Stassler lächelte. »Und wer könnte das sein?« »Kerry Waters.« »Kerry Waters? Winzige Titten? Fester, runder Hintern? Ro‐ te Haare? Früher mal meine Praktikantin?« Er verdrehte die Augen. Jared nickte kaum wahrnehmbar.
»Komm mit, ich bringe dich zu ihr. Aber erst will ich wis‐ sen, wie du hierher gekommen bist.« »Hierher gekommen?« »Ja, wie du hier angekommen bist. Bist du zu Fuß gegan‐ gen, oder hast du deine Flügel ausgeklappt und bist geflogen? Wie hast du es gemacht, Superhirn?« »Ich bin mit dem Auto gefahren. Und mit dem Rad.« »Du bist mit dem Auto und mit dem Rad gefahren?« Jared starrte ihn an. »Wo ist dein Auto?« »Am Fluss. In einer Höhle. Eine von diesen großen Sand‐ steinhöhlen.« »Hast du es in der Höhle abgestellt?« »Ja.« »Was ist mit deinem Rad?« »Das steht hinter Ihrer Gießerei, vielleicht einen Kilometer entfernt.« »Wer weiß, dass du hier bist?« »Alle.« »Du bist ein ganz schlechter Lügner, Superhirn. Die Wahr‐ heit ist, niemand weiß, dass du hier bist. Willst du wissen, wieso ich das weiß? Weil ich den Polizeifunk abhöre, und sie suchen gerade nach dir. Sie haben einen Haftbefehl für dich erlassen. Nach ihrer Ansicht hast du dich aus dem Staub ge‐ macht. Steig da rein.« Stassler schlug mit dem Baseballschläger auf den Schienenwagen. Das Geräusch ließ Jared zusammen‐ zucken. »Ich fahre dich.« »Nein.« Jared schüttelte entschlossen den Kopf. »Du hast keine Wahl, junger Mann. Entweder du steigst jetzt hier rein, oder ich schieß dir die Eier weg.«
Jared stieg in den Wagen. »Das funktioniert jedes Mal«, sagte Stassler wie zu sich selbst. »Nun knie dich nieder, mit dem Kopf an den Knien.« »Was haben Sie vor?« »Ich sagte doch, ich bringe dich zu Kerry Waters.« Jared tat wie befohlen, er drückte das Messer fest an die Brust und wartete auf eine Gelegenheit, und sei es auch nur die kleinste, es zu benutzen. Stassler drückte ihm den Pistolenlauf an den Hinterkopf. Er machte keinerlei Anstalten, den Wagen zu schieben, er berühr‐ te ihn noch nicht einmal, aber das alte Gefährt begann auf sei‐ nen Eisenrädern zu rattern; wie ein Gerippe ratterte es, so sehr bebte der Junge, der darinsaß. »Was haben Sie mit ihr gemacht?« Jared nahm seinen letz‐ ten Mut zusammen, um die Frage zu stellen. Stassler lachte. »Was ich mit ihr gemacht habe? Was glaubst du denn, was ich mit ihr gemacht habe?« »Ich glaube … vielleicht … haben Sie …« »›Ich glaube … vielleicht … haben Sie …‹ Also ehrlich, ver‐ such doch mal in ganzen Sätzen zu sprechen. Wenn ich dein Gestottere richtig verstehe, ist die Antwort ja, ich habe sie tat‐ sächlich irgendwo. Wir haben einen besonderen Namen für sie. Willst du wissen, welchen?« Jared versuchte zu nicken. Der Wagen ratterte noch lauter. »Ihre Widerlichkeit. Sie riecht so schlecht, dass wir sie so nennen. Wie sollen wir dich nennen?« »Ich … weiß nicht«, entfuhr es ihm. »Sollen wir dich Superhirn nennen? Oder sollen wir dich Tot nennen?« Jared hörte ein metallisches Klicken.
»Bitte nicht … bitte?« »Du glaubst nicht wirklich, dass du sterben wirst, hab ich Recht? Gib es ruhig zu. Das ist in Ordnung. Niemand glaubt es. Noch der Letzte von euch glaubt, irgendetwas oder ir‐ gendwer wird noch eingreifen. Hab ich Recht?« Er stieß ihn mit der Mündung an, erhielt aber keine Antwort. »Ihr glaubt alle, dass irgendein Deus ex machina von der Decke oder vom Himmel steigen oder aus dem Dunkel treten und euch retten wird. Ich kenne diese Art Denken. Sie ist heutzutage viel zu verbreitet. Meiner Meinung nach ist die Kultur daran schuld. Es ist traurig, all diese Begeisterung für Müll. Willst du ein Gebet sprechen? Ich würde es dir raten, es verschafft dir noch ein bisschen Zeit. Mehr als das Pfadfindermesser in deiner Hand.« »Die Polizei wird dahinterkommen«, sagte Jared kaum ver‐ nehmlich beim Rattern des Wagens. »Es können nicht ständig Leute hier draußen verschwinden.« »Aber du bist ja gar nicht ›hier draußen‹, Superhirn. Du bist aus dem Zuständigkeitsbereich der hiesigen Polizei geflohen, und du bist der Hauptverdächtige im Fall der verschwunde‐ nen Kerry Waters.« Jared öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber die furchtbare Wahrheit, die in Stasslers Worten lag, machte ihn sprachlos. »Jetzt bist du baff, oder? Versuchʹs mit beten. Es verschafft dir wirklich Zeit. Aber bete laut. Ich höre so etwas gern. Wenn du heftig genug betest, vielleicht rettet dein Gott dich dann, dein eigener kleiner Deus ex machina.« »Ich … Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein …«
Der Pistolenschuss hallte den Schacht auf und ab. Wäre er ein Lichtstrahl gewesen, er hätte den Tunnel tausendmal ge‐ kreuzt und eine funkelnde Zickzackspur zurückgelassen. Aber er war kein Licht. Er war Finsternis, und er ließ nur einen to‐ ten Jungen zurück. Als die Echos verstummten, begann der Wagen den Schacht entlangzurollen, und ein Quietschen füllte die Leere.
19 Totes Gewicht. Unser Superhirn hier ist der reinste Inbegriff davon. Ich schätze, er wiegt achtzig, fünfundachtzig Kilo, und ich bin mit Sicherheit kein Gewichtheber. Aber ich muss ihn aus diesem Wagen herausbekommen. Ich schiebe die Hände unter seine schmierigen Achselhöh‐ len, straffe die Bauchmuskeln, um mein Kreuz zu schonen, und befördere ihn aus dem Wagen. Er ist tot fast so schwerfäl‐ lig, wie er im Leben war. Und er denkt mit Sicherheit keinen Deut unklarer. Was für ein Kretin. So, ich habe ihn halb draußen, aber ich muss erst mal durch‐ schnaufen und mich auf den nächsten Schritt vorbereiten. Ich will ihn möglichst reibungslos in den Schacht befördern. Je mehr er herumkullert, desto mehr habe ich nachher sauber zu machen. Wie die Dinge liegen, muss ich später mit Schaufel und Besen, Eimer und Lappen für die Blutstropfen noch mal hier runterkommen. Aber ich muss sagen, ich fühle mich gut, fast beschwingt, trotz aller Rückschläge und Missgeschicke. Das Auftauchen dieses jungen Trottels und sein vorherseh‐ bares Ableben geben mir das Gefühl, eine Hochseilnummer ohne Netz zu absolvieren. Eigentlich ist er derjenige, der jetzt ein Netz gebrauchen könnte. Ich habe ihn zum Rand des Schachts befördert, genau unter den steten Blick von Harriet aus Mineola, New York. Family Planning #5. Sag Harriet guten Tag, Superhirn, sie ist das letzte Gesicht, das du je sehen wirst.
Ich gebe ihm einen Tritt und lausche, wie er im Fallen an eine Wand prallt und an die nächste. Ich schätze, es geht vier‐ zig, fünfzig Meter da hinunter. Allerdings keineswegs in gera‐ der Linie, und er knallt die ganze Strecke gegen die Wände. So, ich habe ihn landen hören. Landen? Wohl eher nicht, sagen wir, ich habe gehört, wie sein Flug an ein plötzliches Ende kam. Ein befriedigender Klang. Sehr befriedigend. Wie das Brechen eines Stängels, wenn man eine Blume in voller Blüte pflückt. Ich wische mir die Hände ab und eile hinauf zur Gießerei. So viel zu tun und so wenig Zeit, und ich brauche ein bisschen Schlaf. Das erste Morgenlicht weckt mich, und ich bin binnen Sekun‐ den auf den Beinen. Ich brauche nicht lange, um sein Rad zu finden, aber ich habe Glück dabei: Ich bin buchstäblich darüber gestolpert. Ich hätte auch eine Stunde oder länger in dem Wüstengelände hinter der Gießerei herumsuchen können. Denn das muss man ihm lassen, er hat es lobenswert mit Schlamm getarnt, und es hätte leicht bis zum ersten Regen unbemerkt hier liegen kön‐ nen. Ich fahre mit dem Rad zur Gießerei zurück, montiere Rei‐ fen, Lenkstange und Sattel ab. Ich komme mir vor wie ein Schrotthändler, aber anders kriege ich das Ding nicht durch das Loch, das in die Mine führt. Ich lade die Teile auf den Wa‐ gen, rolle alles zu Harriet hinunter und gebe das Fahrrad sei‐ nem rechtmäßigen Besitzer zurück. Ich bin ja kein Dieb. Nun liegt die weitaus beängstigendere Aufgabe vor mir, mich mit seinem Auto zu befassen. Das kann ich nicht ausei‐
nander nehmen und in den Bergwerksschacht stopfen. Ich kann es auch nicht wegfahren. Dann könnte ich gleich »Ich bin ein Mörder« auf einen Zettel schreiben und auf meine Stirn kleben. Ich kann es mir aber auch nicht leisten, seinen Wagen irgendwo hier in der Gegend einfach herumstehen zu lassen. Ich werde mit meinem Fahrrad bis zum Ausgang des Ca‐ nons fahren müssen, eine Schlussfolgerung, die ich nur äu‐ ßerst ungern akzeptiere. Ich fürchte die Schinderei, aber falls ich sein Auto an eine weniger augenfällige Stelle fahren muss, falls diese grässliche kleine Null gelogen und es nicht in einer Sandsteinhöhle abgestellt hat, dann darf ich nicht mit meinem Jeep da draußen sein und höchst unangenehme Fragen provo‐ zieren, falls zufällig jemand vorbeikommt. Bevor ich losfahre, laufe ich nach oben und werfe einen Blick auf die Monitore. Schau sie dir an, da liegen sie aneinan‐ der geschmiegt wie zwei Kätzchen. Ich bin schwer versucht, Ihre Widerlichkeit mit der Nachricht zu wecken, dass ich ihren Freund auf den Grund des Schachts geworfen habe, aber offen gestanden, fürchte ich, es könnte die zerbrechliche Balance dieser beiden jungen Körper stören. Ich habe keine Zeit für ihre Trauer, da sie mir durch ihr Herumtollen mit Diamond Girl so viel Freude macht, die ihrerseits ihre tiefsten Wünsche mit der Hingabe der entschieden zum Untergang Verurteilten zur Schau stellt. Widerstrebend löse ich mich vom Anblick ihrer größtenteils unbekleideten, aber keusch mit den Armen bedeckten Körper. Es bedeutet, mich abzuwenden von hervorlugenden Schen‐ keln, Hüften und Rücken, so appetitlich, dass ich mich zwin‐ gen muss, nicht hinunterzulaufen und daran zu lecken. Aber das geht nicht. Ich kann es mir nicht einmal leisten, für die
üppigen Erinnerungen herumzutrödeln, die meine Fantasie befeuern. Ich muss anderthalb Stunden lang kräftig strampeln, bis ich am Ausgang des Canons ankomme. Ich bin nass geschwitzt und wundgescheuert, wo es am meisten wehtut. Die gute Nachricht ist, dass Superhirn nicht gelogen hat, was sein Auto angeht, bei dem es sich in Wahrheit um ein Un‐ getüm von SUV handelt. Ich habe als erstes sein Schlüssel‐ täschchen stibitzt, aber ich werde es nicht brauchen; er hat den Comanche oder Trail Smasher oder wie das Ding heißt, soweit es ging in die Höhle gefahren. Nur das Heck ist noch teilweise sichtbar, und das kann ich ziemlich genau so verstecken, wie er sein Fahrrad getarnt hat. Auch das ist Arbeit, dass sich da niemand täuscht. Ich muss mit Hilfe meines Hemds Schlamm vom Flussufer he‐ raufschleppen. Bis zur Höhle ist es ein gutes Stück zu laufen, und ich muss die Strecke sechsmal zurücklegen, bis die sich‐ tbaren Fahrzeugteile komplett zugeschmiert sind. Die ganze Zeit mache ich mir wohlgemerkt auch noch Sorgen über Hub‐ schrauber und Flugzeuge. Was würde ich erzählen? Dass ich ein Schlammbad nehme? Aussehen würde ich danach, aber Aussehen ergibt in einer solchen Zeit noch keine Glaubwür‐ digkeit. Nachdem ich fertig bin, müsste man schon geradewegs in die Höhle hineinspazieren, um den Wagen zu entdecken. Ich trinke mein Wasser bis auf einen kleinen Rest. Die Sonne ist stark, und ich habe einen langen Heimweg vor mir. Ein Gutes hat die Schlammschlepperei, abgesehen davon natürlich, dass dieses Ungetüm verschwunden ist: Mein Hemd und meine
Shorts haben die Farbe der Erde. Ich falle nicht mehr auf als Dreck auf Dreck. Es ist eine mörderische Rückfahrt, aber auch eine einsame, und dafür bin ich dankbar. Als ich auf meinem Anwesen eintreffe, bin ich müde wie ein Priester unter Heiden. Es ist zehn Uhr, ein bisschen später, um genau zu sein, und die Sonne prügelt herab. Ich schiebe das Rad über den Hof, in der aufrichtigen Hoffnung, mich nie wieder mit ihm quälen zu müssen. Mein Zwickel fühlt sich an, als hätte ihn eine rachsüchtige Jungfrau mit einem Sandstrahl‐ gebläse bearbeitet. Beim Duschen brennt es zuerst, dass mir die Luft wegbleibt. Aber nach einer halben Minute vergeht der Schmerz, und kurz darauf fühle ich mich viel besser: sauber, erfrischt, wie neu. Ich trockne mich ab, behutsam an den wunden Stellen, keh‐ re ins Schlafzimmer zurück und schalte die Monitore an. Da sind sie, wach, aber nicht übermäßig munter. Sie sehen mürrisch aus, was nach meiner Ansicht das Gegenteil von se‐ xy ist. Ich fand Schmollen noch nie sonderlich attraktiv. Dann wird es mir schlagartig klar: Sie müssen hungrig sein. Also stelle ich ein gesundes Frühstück zusammen: Melonen und Joghurt, grüner Tee und Cerealien und zwei große Muf‐ fins. Diamond Girl strahlt bei meinem Anblick. Oder meint sie das Essen? Ich schiebe das Tablett in den Käfig und frage, wie es ihnen geht. Mein erster Fehler heute. »Wie es uns geht?«, sagt Diamond Girl großspurig. »Einfach prächtig. Wir haben das höchste Leben hier unten. Club Med ist nichts dagegen.« Sie sieht, sagen wir mal, nicht so fröhlich aus wie in letzter
Zeit. Auch nicht so sexy. Sie sollte lieber aufpassen. Wenn sie ihre Anziehungskraft verliert, verliert sie auch ihr Leben. »Du brauchst Nahrung«, sage ich. »Du hast ja so Recht, Ashley.« Sie wirft ein Muffin in die Luft und fängt es sauber auf. »Damit alles seinen gewohnten Gang geht. Wer würde das Ding nicht jeden Tag benutzen wollen?« Sie wirft finstere Blicke zum Katzenklo. O ja, sie ist selten gut in Form heute. Diesmal muss ich mich ducken, als sie das Muffin wirft. Mit ihrer Unverschämtheit, ihrer höhnischen Zurückwei‐ sung hat sie mich wieder in ihren Bann gezogen. Und sie weiß es. Ich sehe es an ihren Augen. An der Art wie sie aufleuchten, wie sie brennen. Und sie weiß, dass ich es weiß, denn sie lä‐ chelt, streckt sich, gähnt und dreht sich zu Ihrer Widerlichkeit um, die im Hintergrund geblieben ist. Ich starre auf Diamond Girls Hinterteil, und der Strom mei‐ nes Verlangens fließt so tief wie eh und je. Wieder sucht mich der mächtige Drang heim, den Käfig zu öffnen und mich zu ihnen zu gesellen, aber ich halte mich von solcher Torheit zu‐ rück, erkenne, dass ich viel zu müde bin, um klar zu denken. Doch als ich meine Füße zum Rückzug zwinge, kann ich nicht widerstehen, noch einen Blick zurückzuwerfen. Nein, es ist mehr als ein Blick, ich spähe wie ein Aasräuber nach einem Vorwand, jedem beliebigen Vorwand, um meine Disziplin zu verlieren, meine bemerkenswerte Selbstbeherrschung. Wenn Diamond Girl in diesem Augenblick ihre Freundin küssen oder ihr Oberteil anheben und an ihren Brüsten nuckeln wür‐ de, ich würde alle Beherrschung verlieren. Ich bin so nahe dran, dass ich schwanke, zerbrechliches Porzellan am äußer‐ sten Rand eines Tresens.
Aber sie flüstern, und als ich mich umdrehe und gehe, zer‐ malmt mein Fuß das Muffin. Das Letzte, was ich von den bei‐ den höre, ist Gelächter. Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Elf, seit ich gestern nachgesehen habe. Dabei werden es sogar weniger. Ich würde ja meine Nummer ändern lassen, aber was hätte ich davon? Es ist bereits eine Geheimnummer. Diese Reporter müssen jemanden bei der Telefongesellschaft bestechen. Oder vielleicht verkaufen sie sich die Nummer gegenseitig. Wenn sie eine echte Pest wä‐ ren, würden sie das Leben auf dem Planeten auslöschen. Ich lösche eine nach der anderen, beschwichtige mich mit dem elektronischen Papierkorb. Doch mein Finger erstarrt, als ich diese Stimme höre. Ich fasse es nicht. Es ist Lauren Reed. Sie ist nach Moab gekom‐ men, um nach Ihrer Widerlichkeit zu suchen. Diese kleine Medienhure. Nicht genug, dass sie sich in ein Buch mit mir drängt, jetzt hat sie sich einen verzweifelten Schachzug ausge‐ dacht, um noch mehr Publicity zu ernten. Sie »besteht darauf« – was glaubt sie denn, wer sie ist, mir gegenüber auf etwas zu bestehen? –, dass wir uns treffen. »Es ist dringend«, fügt sie überflüssigerweise hinzu, wenngleich ich bezweifle, dass sie in den Untiefen ihres Gehirns zu einem Verständnis für Über‐ flüssigkeit fähig wäre. Diese Frau ist so gewöhnlich wie Lehm auf der Hose eines Töpfers. Ich bringe es nicht über mich, sie zurückzurufen, aber ihre Anwesenheit hier macht es nur wahrscheinlicher, dass sie eine karrierefördernde Affäre mit dem Schnösel von Reporter hat. Es wundert mich, dass sie überhaupt zum Luftschnappen hochkommen konnte.
Gelöscht. Ich wünschte, ich könnte mit ihr dasselbe machen. Ich wünschte außerdem, ich könnte ein wenig schlafen, aber jedes Mal, wenn ich daran denke, was Superhirn mit Jolly Ro‐ gers Arm gemacht hat, rege ich mich von neuem auf. Der Arm lässt sich nicht ersetzen. Es handelt sich schließlich nicht um den Lieblingsbierkrug irgendeines Onkels, den man wieder zusammenleimen kann. Hunderte von Scherben und Millionen von Staubpartikeln kann man nicht mehr kleben. Der Kerl hat meine Kunst, meine Skulptur verhunzt, er hat Monate der Planung und sorgfältigen Ausführung verhunzt, und alles, was ihm dazu einfiel, war: Es tut mir Leid. Es tut mir Leid. Was für armselige Worte das sind. Wenn ich jedes Mal einen Dollar bekommen hätte, wenn ich sie hörte, könnte ich mir eine Luxusjacht davon kaufen. Es war die reine Freude, mich seiner so leicht zu entledigen. Sein Schicksal war von Beginn an eine wacklige Angelegen‐ heit. Ich wusste es in dem Moment, als ich ihn hinter diesem Wagen kauern sah wie einen wertlosen Hund. Er konnte sich eigentlich glücklich schätzen, und er hätte es sicher getan, wenn er das Schicksal der anderen gekannt hätte. Viele dieser Narren hätten ihre Unsterblichwerdung gegen seinen schnel‐ len Tod eingetauscht. Die meisten, ohne eine Sekunde zu zö‐ gern.
20 Noch ein Schluck, und sie würde speien. Lauren beäugte arg‐ wöhnisch das trübbraune Gebräu, so argwöhnisch, wie sie Ashley Stassler beäugen würde, falls sie ihn je zu Gesicht be‐ kam. Sie stellte das Glas auf den Tisch, auf dem sie und Ry in der letzten halben Stunde bereits zahlreiche Wasserringe hin‐ terlassen hatten. Was würde sie nicht für ein schönes, kaltes Budweiser geben. Ein ketzerisches Eingeständnis, politisch sehr inkorrekt, aber so war es eben, das Ergebnis eines weite‐ ren zutiefst entmutigenden Tages in der Wüste. »Es liegt an der Temperatur«, meinte Ry, der ihr den Ab‐ scheu ansah, und taxierte sein eigenes trübdunkles Glas. »Sie wollen den Geschmack nicht verfälschen, indem sie es zu kühl servieren.« »Von mir aus könnten sie diesen Geschmack nach Herzens‐ lust verfälschen«, sagte Lauren. »Meinst du, sie schmeißen mich raus, wenn ich nach einem eiskalten Bud frage?« Ry lachte. »Hör zu«, sagte sie, »ich werde zu Stassler rausfahren. Ich fliege nicht nach Portland zurück, ohne den Kerl gesehen zu haben.« Sie hatten sich schon über Stassler unterhalten, ehe der bit‐ tere Geschmack ihres Getränks sie abgelenkt hatte. »Schön. Ich komme mit«, sagte Ry, bevor er sein Glas von sich schob. »Das wirst du nicht tun«, sagte sie mit so viel Nachdruck,
dass Leroy, der zu ihren Füßen lag, ein Auge öffnete. »Du ver‐ dirbst dir nur die ganze Beziehung zu ihm, und das könnte das Buch gefährden. Und wozu sollte es gut sein? Ich bin alt genug, ich kann auf mich selbst aufpassen, und dein Buch wird derweil immer besser.« »Aus den falschen Gründen.« »Egal aus welchen Gründen, es entwickelt sich viel interes‐ santer, als du ahnen konntest.« Ry musste nicht nur das sonderbare Verschwinden von Kerry Waters in seine Geschichte über Ashley Stassler auf‐ nehmen, jetzt wurde auch Jared Nielsen seit zwei Tagen ver‐ misst. »Ich glaube noch immer nicht, dass er sich aus dem Staub gemacht hat«, sagte Ry. Lauren glaubte es ebenso wenig. Die beiden hatten Sheriff Holbin erzählt, dass der junge Mann den Wunsch geäußert hatte, zu Stasslers Ranch hinauszufahren und nach Kerry zu suchen. Sie hatten Holbin auch von dem Bergwerk erzählt. Wie sich herausstellte, wusste der Sheriff bereits davon, und er fühlte sich beleidigt, als klar wurde, dass die beiden ange‐ nommen hatten, er würde nicht von allein auf die Idee kom‐ men, in der Bergwerksabteilung nachzuforschen. Dem harten Urteil des Sheriffs zufolge, war ihre kleine Privatermittlung kaum der Rede wert. Was Jareds Ankündigung, auf die Ranch hinauszufahren, betraf, sagte der Sheriff, es sei das »Normalste auf der Welt«, dass sich Mörder, Betrüger oder Drogensüchti‐ ge erboten, die Verbrechen aufzuklären, die sie selbst began‐ gen hatten. »Sagt Ihnen der Name OJ etwas?«, fragte er. »So machen sie es alle. ›Ich werde den Mörder finden.‹ Oder: ›Ich werde den
Kerl finden, der den Fernseher meiner Mutter gestohlen hat.‹ Inzwischen spielen sie Golf oder rauchen noch ein bisschen was. Das kenne ich alles schon.« Das stimmte wahrscheinlich, aber es änderte nichts an Lau‐ rens Überzeugung, dass sich der Sheriff einen Durchsu‐ chungsbefehl für Stasslers Ranch besorgen sollte. »Glaubst du, sie werden überhaupt noch mal rausfahren?«, fragte sie Ry. »Du meinst mit einem Durchsuchungsbefehl? Um alles gründlich auf den Kopf zu stellen?« Lauren nickte. »Nein.« Ry nahm sein Glas zur Hand, überlegte es sich of‐ fenbar anders und stellte es wieder ab. »Das bezweifle ich ernsthaft. Holbin braucht wirklich wenigstens den Zipfel eines Beweises, dass Stassler zumindest mit dem Verschwinden von einem der beiden etwas zu tun hat.« »Den hat er! Kerry hat bei ihm gearbeitet, und Jared hat ge‐ sagt, er würde rausfahren.« »Den Leuten hier ist das Eigentumsrecht heilig, und sie werden nicht auf einen vagen Einfall hin auf das Land eines Mannes eindringen. Schon gar nicht, wenn es der lokalen Be‐ rühmtheit gehört.« »Ein Richter braucht also ein Beweisstück?«, sagte Lauren. »Zum Beispiel ein blutiges Shirt oder ein blutiges Höschen?« »Deine Beispiele sind ein bisschen drastisch, aber es geht in die Richtung.« »Wie wäre es mit einer Radlerhose, bei der der Schritt fehlt?« Ihre Hände setzten ein imaginäres Puzzle zusammen. »In die das Stück passt, das sie gefunden haben.« »Das wäre das, was sie eine smoking gun nennen.«
»Ich werde die Augen offen halten, wenn ich rausfahre. Vielleicht hat er sie irgendwo an einer Wäscheleine hängen.« »Lauren, bitte«, stöhnte Ry. »Aber genau das sagst du doch, oder? Ohne einen ›Beweis‹ ist Mr. Ashley Stassler tabu.« Sie sprach so laut, dass sich an einem Tisch Twens mit Grungebärtchen und Nasenringen beim Klang des berühmten Namens regten. Ry beugte sich vor. »Ich behaupte das nicht«, sagte er leise. »Du darfst mich nicht mit Holbin verwechseln. Ich bin auf deiner Seite. Aber wie willst du hineinkommen? Er hat das Tor ständig verschlossen.« »Die Ranch ist keine Festung. Du sagst, es ist ein Stachel‐ drahtzaun mit einem Viehgatter. Und du hast gesagt, er hat einen Schlüssel hinter einem Zaunposten verwahrt.« »Weil er wusste, dass ich komme. Oder glaubst du im Ernst, der liegt die ganze Zeit dort?« »Dann steige ich eben über den verdammten Zaun und ge‐ he zu Fuß rein. Es sind nur zwei, drei Kilometer, oder?« Ry schüttelte den Kopf, aber er lächelte. »Du hast Mumm.« Er nahm ihre Hand. Sie entzog sie ihm und lehnte sich zu‐ rück. »Eigentlich nicht. Ich möchte nicht da raus, aber ich kann nicht abreisen, ohne ihn gesehen zu haben. Ich will mit dem Gefühl nach Hause fliegen, dass ich getan habe, was ich konn‐ te.« Als sie in dieser Nacht miteinander schliefen, nahm der Akt eine neue Dringlichkeit an, als wäre es gleichzeitig das letzte und das erste Mal. Es fühlte sich pur und triebhaft an, berau‐
schend und vertraut, als würde sie ihm alle Tiefen ihres Kör‐ pers öffnen, ihn ihr Herz in allem finden lassen, was er küsste und liebkoste. Die Intensität seiner Berührung und der Ernst seiner Leidenschaft unterschieden sich grundlegend von al‐ lem, was sie mit anderen Männern erfahren hatte. Die hatten mit ihren Körpern Versprechen gemacht und sie mit ihren Worten gebrochen. Künstler hauptsächlich, zu verliebt in ih‐ ren eigenen Wahn von Größe, um sich je in die Liebe selbst zu verlieben. Sie empfing Rys Hand auf ihrem Gesicht, wie sie alles von ihm empfangen hatte, mit einer bisher nicht gekannten Dank‐ barkeit. Seine Fingerspitzen strichen über ihre Wange, und seine Lippen nahmen ihre Tränen auf, die im selben Augen‐ blick geflossen waren, als ihr Verlangen verbraucht war, als sie sich erschöpft in den Armen lagen, und er ihr in die Augen geschaut und gesagt hatte, dass er sie liebte.
21 Ich habe wieder die ganze Nacht durchgeschlafen, von acht bis halb sieben. Seit Jahren habe ich nicht mehr so gut geschla‐ fen. Es muss an der Erleichterung liegen, weil ich Family Plan‐ ning #9 wieder zum Leben erweckt habe, meine liebe June, Jolly Roger und Sonnyboy. In einem höchst erfreulichen Mo‐ ment kam mir die Erleuchtung, dass ich sie gar nicht verlieren muss, dass Jolly Rogers Missgeschick meiner Serie Menschlich‐ keit verleihen wird, eine Geste der Demut, um die »Hybris« zu unterlaufen, über die sich einige unbedeutendere Kritiker be‐ klagt haben. Millionen von Männern haben Gliedmaßen ver‐ loren. Es ist nur natürlich, dass ich sensibel genug bin, sie darzustellen. Was das gänzlich überflüssige Fleisch der Van‐ dersons betrifft, so ist es in das hoch konzentrierte Kalkbad gewandert, in dem ich auch alle anderen entsorgt habe, wäh‐ rend ihre Skelette nun ihren rechtmäßigen Platz in der Parade einnehmen. Stolze Neuzugänge, jeder Einzelne von ihnen. O ja, ihre irdischen Existenzen sind bereits vergessen, aber ihre jeweiligen Skulpturen werden sich bis in alle Ewigkeiten er‐ heben. Nur ein Mann, der mit sich im Reinen ist, kann so schlafen wie ich, obwohl es da einen Traum gab, einen seltsam gewalt‐ tätigen. Er dauerte nicht lange, aber ich bin davon aufgewacht. Ein Mann hatte seine Frau bedroht, sie vielleicht geschlagen. An ihrer Seite war ein Junge, er kann nicht älter als acht gewe‐ sen sein. Aber irgendwie ist der Mann gestrauchelt und auf
dem Hintern gelandet. Die Frau zog eine Flinte aus einem Schrank und ging auf den Mann zu. Er kroch rückwärts wie ein Krebs, bis er an einer Wand anstieß, ich glaube, es war in einer Küche. Er stöhnte furchtbar, schrie fast vor Angst. Sie setzte ihm den Flintenlauf genau auf die Brust. Ich sah die beiden großen Öffnungen am Ende, und sie drückte ab. Klick. Nichts. Klick. Wieder nichts. Sie machte kehrt, um wegzurennen, und schnappte sich das Kind, während der Mann aufstand. Nun wurde sein Stöhnen zu einem donnernden Brüllen. Er würde es ihr heimzahlen. Er griff sich eine Handsäge, wie man sie für Kanthölzer benutzt, und rannte ihr nach. Er würde sie in Stük‐ ke schneiden, der brutale Kerl. Was hat das zu bedeuten? Für einen Psychiater wäre es be‐ stimmt ein gefundenes Fressen, den Traum aufzudröseln. Ich verabscheue Gewalt. Was ich da unten im Keller mache, hat mit echter Gewalt nicht mehr zu tun, als wenn ein Vogel ein Nest baut. Ich erschaffe Kunst, und dazu brauche ich mein Material. Jeder Mensch muss sterben, diese Leute aber werden bis in alle Zukunft weiterleben. Lange nachdem dieses junge Jahrhundert vorüber ist, lange nachdem diese Ranch in eine weitere Wohnsiedlung oder Einkaufszeile verwandelt wurde, wird jedes meiner Subjekte in den Augen der Welt weiterle‐ ben, was sehr viel mehr an Leben ist, als sie alle kannten, ehe ich des Wegs kam. Von Diamond Girl abgesehen, waren sie alle erstarrt wie Eis. Die Fernbedienung liegt auf dem Nachttisch, und ich angle nach ihr, um nach meinen Zwillingen zu sehen. Das ist der
wahre Grund, warum ich steif bin wie ein Feigenkaktus, nicht wegen irgendeinem Verbrecher mit einer Säge. Ich tippe den ausgeklügelten Code in die Tasten, und da sind sie. Diamond Girl – die Dämonen müssen wieder tanzen – ist nackt, sie sitzt im Profil und spricht mit Ihrer Widerlich‐ keit, die bekleidet ist. Ich habe das Schauspiel ihrer Nacktheit noch nicht in Echtzeit eingefangen, nur jenen einzelnen Mo‐ ment, als Diamond Girl an sich selbst herumgespielt hat und die beiden sich geküsst haben, als sie meine Fantasien mit den Verlockungen des Voyeurismus weihten, mit dessen ewigem Reiz, teilnehmen zu wollen, aber wie könnte ich es jemals ge‐ fahrlos bewerkstelligen? Die Frage lässt wohl erahnen, wie tief das Verlangen sitzt. Dass ich mich überhaupt mit dem Gedanken an sie beide gleichzeitig trage. Schon habe ich begonnen, die Hindernisse zu bedenken, womit vor allem die Möglichkeit, und sei sie noch so entfernt, gemeint ist, sie könnten versuchen, mich zu überwältigen. Und auch wenn ich es mir nur zögerlich einge‐ stehe, muss ich akzeptieren, dass diese beiden Mädchen mich sehr wohl überwältigen könnten, wenn ich bei ihnen liegen, wenn ich mich ihnen öffnen würde. Diamond Girl hatte ein wenig von dieser Angst zu Tage ge‐ fördert, aber dann wurde ich gelassener bei ihr, bis wir dieses verfluchte Geschwätz begannen, mit ihren Rätseln und ihrem Spott, diesem Ja, ich habe meinen Vater gefickt. Nein, ich habʹs nicht getan. Glaubst du nun, du kennst mich? Aber ich bin einge‐ nommen von dem Gedanken an sie beide zugleich. Selbst die Aussicht darauf, die athletischen Glieder Ihrer Widerlichkeit zu drücken, bereitet mir Lust. Mein Laken sieht aus wie ein Zelt, und ich sehe mich in ei‐
nem Drei‐Manegen‐Zirkus mit den beiden, bei dem simulta‐ nen Sex, zu dem nur ein Dreier verleiten kann. Ich habe es schon getan. Welcher berühmte Künstler oder Musiker hätte es nicht getan? Man muss schon völlig fantasielos sein, es nicht zu versuchen. Aber noch nie habe ich mich danach gesehnt. Was sind diese beiden? Meine ganz persönlichen Sirenen? Das ist es, was mir schlussendlich Sorgen macht: dass sie mich in den Tod locken. Ich schalte auf eine andere Kamera um, damit ich Diamond Girl besser von vorn zu sehen bekomme. Ja, die ganze frontale Nacktheit, die Sonnyboy so verzaubert hat, als er seine Schwe‐ ster zum ersten Mal splitternackt erblickte. Als ich es mir da‐ mit bequem mache, den Kopf hinten anlehne und das Laken anhebe, spaziert Ihre Widerlichkeit ins Bild. Diamond Girl er‐ hebt sich auf die Knie und beginnt Ihrer Widerlichkeit die Jeans vom Körper zu zerren. Ihre Widerlichkeit leistet keinen Widerstand. Sie steht einfach da, während erst die Jeans he‐ runterkommt und dann das Höschen. Sie bewegt sich auch nicht, als Diamond Girl das Gesicht in ihren Pelz drückt. Ich kann nicht genau sehen, was meine verruchte kleine Hexe mit ihrem Mund, ihren Lippen anstellt, mit ihrer lüsternen Zunge, aber ihre Hände umklammern diese vollen, runden, milch‐ weißen Pobacken, und ich sehe, wie sich ihre Finger in einem seltsamen Rhythmus beugen und strecken, der mich absolut hypnotisiert. Es ist nicht mehr das Geheimnis des Mundes, das ich so einnehmend finde, sondern die plastische Leidenschaft dieser Hände. Diamond Girl ist ein Wunder an Verlangen. Ein Blinder könnte es sehen. Sie drückt, sie knetet, sie verschafft Genuss. Ich bin aus dem Bett, bevor ich weiß, was ich tue. Ich nehme
drei Stufen auf einmal, reiße die Tür zur Scheune auf, die Tür zum Keller, springe diese letzte Treppe hinab und renne an der Skelettparade vorbei. Meine Erektion ist gewaltig, aufwärts strebend, als wollte sie ihre eigene Haut zum Platzen bringen. Beide Mädchen hal‐ ten inne, um sie anzustarren, und Diamond Girl – wer sonst? – winkt mich zu ihnen. Die Schlüssel! Ich habe die Schlüssel oben gelassen. In mei‐ ner Eile bin ich ohne sie losgelaufen. Und wage ich es, diesen Käfig ohne mein Messer zu betreten? Wage ich es überhaupt, ihn zu betreten? Ich versuche mich zu beruhigen. Ich erwäge, mich von die‐ sem Drang, diesem quälenden Verlangen zu erleichtern, aber ich kann diesen schrecklichen Gedanken nicht länger als einen unglücklichen Moment lang aushalten. Ich habe es satt, mich selbst zu berühren, da ich mir nur die Berührung der beiden wünsche. Dann hol Diamond Girl heraus. Hol sie heraus und bring sie nach oben, aber geh nicht … geh nicht zu den beiden in den Käfig. Für einige flüchtige Momente siegt meine Vorsicht. Ich weiß ganz genau, es wäre das größte Risiko, das ich je einge‐ gangen bin, und wofür? Für das, was ich bei jeder Vernissage zu meinen Ausstellungen haben kann. Aber ich mache mir etwas vor. Auf den Vernissagen habe ich es mit Bewunderin‐ nen mittleren Alters zu tun, die mir ihre lüsternen Anspielun‐ gen unterbreiten. Ich habe kein Diamond Girl und ganz sicher nicht den Körper einer jungen Radfahrerin, deren intimste Be‐ dürfnisse mit der lieblichen Salbe ihres eigenen Geschlechts gelindert wurden. Diese innere Debatte, diese verzweifelten Worte lassen mich
nur innehalten, aber die Ermahnungen, die ich mir selbst nur Sekunden zuvor mit auf den Weg gab, wirken jetzt so schwach wie Türen aus Schilf, und während ich die Treppe emporstei‐ ge, trample ich sie mühelos über den Haufen. Ich rede mir so‐ gar ein, dass ich den Schlüssel nur für Diamond Girl hole, ob‐ wohl ich genau weiß, das ist nur die Erlaubnis, mich in Bewe‐ gung zu setzen, nicht länger herumzustehen. Ich weiß, Ihre Widerlichkeit ist nun ein Teil meines Verlangens, denn als ich Diamond Girls Hände auf ihrem Fleisch sah, war es, als wäre diesen harten Hinterkeulen, diesem Sportlergesäß, ein Segen zuteil geworden, und sie würden sich so mühelos wie ich zum Verlangen aufschwingen. Nun sehe ich sie alle beide über mir, und ich sehe mich über ihnen. Ich sehe sogar, wie sich der Mund Ihrer Widerlichkeit über meinem schließt, das ge‐ schmeidige Gefühl ihrer jungen Zunge, die so lernbegierig ist, so willig, zu gefallen. Der Schlüssel ist im … Schlafzimmer. Ja, in meiner Hose. Ich renne nach oben, diese widerspenstige Wucherung hüpft immer noch auf und ab, schlägt gegen meinen Bauch, meine Beine, wirft sich in einer Raserei umher, die auf ihren Herrn und Meister kaum mehr achtet. Ich fummle nach den Schlüsseln, fummle wie verrückt, aber am Ende habe ich sie in der Hand. Auf dem Monitor beobach‐ te ich, wie die beiden zu ihren Freuden zurückkehren, Diamond Girl immer die treibende Kraft und Ihre Wider‐ lichkeit stets passiv. So ist es am Anfang häufig. Ich habe über die schweren Jungs im Gefängnis gelesen, wie der eine dem anderen den Code der Lust aufzwingt, bis ein neues Glied in der Kette entstanden ist, die sie alle zusammenschließt im ausufernden Verrat ihres eigenen Geschlechts.
Die mich an diese beiden jungen Körper fesselt. Ich zögere wegen des Messers, zögere lange Augenblicke, spüre sogar ein Nachlassen in meinem Glied, als ich den Ge‐ brauch der Klinge erwäge. In Wahrheit bin ich nämlich ein Romantiker und mache mir nichts aus Gewalt. Ich bezweifle, dass mein Herz auch nur einen Takt schneller schlägt, wenn ich arbeite, selbst wenn die letzte Kugel Alginat ihr Ziel findet; jetzt aber rast mein Herz, rast mir voraus, und ich bin ohne Messer aus der Tür, mit der Versicherung, dass sie mir Lust schenken werden und ich ihnen. Ich sprinte die Treppe hinab, zurück in die Scheune, die erste Stufe hinunter zum Keller, als ich das Hämmern an der Tür höre. Kein Klopfen. Nein, ein Hämmern. Das Geräusch von Menschen. Ich erstarre. Ich gebe gern zu, dass ich für zwei, drei Sekun‐ den tatsächlich vor Angst erstarre. Dann hole ich tief Luft und schleiche zurück in die Scheune. Erneutes Hämmern. Die Tür ist verschlossen. Nie wieder werde ich das übersehen, obwohl ich in den Augenblicken, die gerade so abrupt endeten, für die Unbesonnenheit Ihrer Wi‐ derlichkeit dankbar war, für die reichhaltigen Möglichkeiten, die ihr Eindringen eröffnet hat. Ich schließe die Tür zum Keller und verteile das Stroh über die Box, dann gehe ich hinauf zum Wohnbereich und schließe die Tür hinter mir. Als ich nach draußen blicke, könnte ich schreien. Ich könnte töten. Ich könnte einen Klauenhammer nehmen und ihr die Augäpfel herausreißen. Es ist die nymphomane Medienhure, die Poseurin, die Stuckateurin, die dort unten steht und genau wie die alte Vettel aussieht, die ich mir nach den Bildern auf ihrer Website vorgestellt habe.
Beherrsche dich. Du musst dich jetzt absolut beherrschen. Ich bin so wütend, dass ich sie ohne weiteres in den Keller schleifen und festschnallen, den schlimmsten meiner Träume in Szene setzen könnte, und sie hätte nicht einmal eine leere Flinte, um sich zu retten. Aber das kommt nicht in Betracht. Ich zwinge mich zur Vorsicht, als das Hämmern hinter mir wieder beginnt, wäh‐ rend ich zum Fenster über dem Eingang gehe. Du musst das durchstehen, sage ich mir. Du musst. Du hast keine andere Wahl. Das Fenster, wenngleich selten benutzt, lässt sich mühelos aufschieben. »Was machen Sie auf meinem Grundstück? Und wer sind Sie?« Mal sehen, wie sich die nymphomane Medienhure selbst vorstellt. »Ich habe Sie unzählige Male angerufen«, ruft das überlaute Frauenzimmer. »Ich bin Lauren Reed. Wir müssen reden.« Wir müssen nichts dergleichen, schreie ich fast zurück. Aber wieder bezwinge ich den Drang, auf sie einzuschlagen. Es wä‐ re viel besser, die Sache hinter sich zu bringen. »Ich komme sofort runter.« Ich schließe das Fenster, und sosehr ich mir wünsche, ich könnte sie ebenfalls ausschließen, gehe ich in mein Schlafzim‐ mer und ziehe mich rasch an, mein Penis hängt schlaff herab wie ein Stück Schnur. Dafür hasse ich sie. Ich schaue auf den Monitor, wo Diamond Girl ihre Lippen an der wunderbar winzigen Brustwarze Ihrer Widerlichkeit hat, und ich hasse sie für alles, was ich versäume.
22 Lauren hatte keinen Schlüssel für Stasslers Tor gefunden, ge‐ nau wie von Ry vorhergesagt, und sie war gezwungen gewe‐ sen, über den Stacheldrahtzaun zu klettern, wobei sie an ei‐ nem Punkt gefährlich über dem obersten Strang hing und nach einem unsicheren Halt für die Füße suchte. Einen Fehl‐ tritt hätte sie sich nicht leisten können. Dann hatte sie gewaltig an dem unteren Strang zerren und Leroy durch Befehle und gutes Zureden dazu bringen müssen, darunter hindurchzukriechen. Ihr Hund zeigte eine aufrichtige Abneigung dagegen, über den Boden zu kriechen, und Lauren wurde klar, dass er bei allem Charme kein ausgebildeter Hund war. Und auch kein ausdauernder. Nach dem vierzigminüti‐ gen Marsch vom Wagen zur Ranch keuchte er in der heißen Sonne. Was sie sich durch Leroys Anwesenheit an Sicherheit versprochen haben mochte, löste sich angesichts seiner offen‐ kundigen Beschwerden rasch auf. Nun stand sie vor Stasslers Tür und begriff, dass sie ihn um Wasser bitten musste, was sie sehr bedauerte. Sie wollte keine Gefälligkeiten von ihm, denn sie kam mit Forderungen, aber die würden … Stassler riss die Tür auf und unterbrach ihre Gedanken. Er sah ganz genau so schlank und muskulös aus wie die meisten Männer in seiner Serie Family Planning. Sie hätten nach ihm modelliert worden sein können, nur dass Stassler irgendwie sogar härter wirkte als seine Bronzefiguren. Er trug ein ärmel‐
loses Hemd, und dank der tief stehenden Sonne und den mor‐ gendlichen Schatten erschienen die straffen Muskeln der Schultern und Arme als deutliches Relief herausgearbeitet. Der Körper eines jungen Turners, wie Lauren sah. Hatte sie nicht gelesen, dass er früher an Reck und Ringen geturnt hatte? »Ich habe Sie angerufen«, sagte sie weit weniger zornig, als sie gewesen war, während sie an seine Tür gehämmert und zum Fenster hinaufgerufen hatte. Wie so oft hatte sie das Zu‐ sammentreffen mit dem Gegenstand ihres Zorns milder wer‐ den lassen. Ashley Stassler bestand nicht länger nur aus Wor‐ ten und Vorstellungen, wie beleidigend er sich auch verhalten mochte. »Ja, das sagten Sie schon. Aber ich höre den Anrufbeant‐ worter nicht mehr ab. Es langweilt mich.« Er sprach, als würde er ein Gähnen unterdrücken. »Ich möchte mich mit Ihnen über Kerry unterhalten, aber zuerst brauche ich ein bisschen Wasser für ihn.« Ihr Blick ging zu Leroy hinab, der schwer keuchend neben ihr lag. Stassler sah den Hund an, als hätte er ihn bisher nicht be‐ merkt. Lauren entdeckte eine leichte Bewegung seines Kopfes. Abscheu? Vielleicht. Jedenfalls nichts Positives, dessen war sich Lauren sicher. Aber dann ging er an ihr vorbei und drehte einen Hahn auf, der aus der Scheunenwand ragte. Das Wasser glitzerte in der Sonne. »Los, Leroy«, sagte sie. Der Hund erhob sich schwerfällig und trottete zu dem kräf‐ tigen Strahl. Lauren dankte Stassler. »Ich bin sehr beschäftigt. Was kann ich Ihrer Ansicht nach für Sie tun? Oder für Kerry?«
»Sie können mir zeigen, wo sie gewohnt, geschlafen, gear‐ beitet hat. Sie war meine Studentin«, sagte Lauren mit Nach‐ druck, »ich kann sie nicht einfach verschwinden lassen. Ich muss in Erfahrung bringen, was ich kann.« »Um sie zu finden? Glauben Sie wirklich, das gelingt Ih‐ nen?« »Ich weiß es nicht«, sagte sie ernst. »Ich sehe nicht, wie ich Ihnen helfen könnte. Ich habe dem Sheriff jede Unterstützung gewährt und mit mehr Schwach‐ köpfen von Reportern geredet als der Präsident. Ich habe viel zu tun. Im Augenblick bin ich wirklich sehr beschäftigt, gerade als Sie mich störten, habe ich mit einem neuen Projekt begon‐ nen, und ich muss zurück an die Arbeit, bevor das Material erkaltet.« Und damit wandte er sich zum Gehen. Lauren konnte es nicht fassen. Sie packte ihn am Arm. »Bitte. Ich versuche mir alles in Erinnerung zu rufen, was ich von ihr weiß, denn am Ende ist das vielleicht alles, was wir haben. Können Sie mir nicht wenigstens ihr Zimmer zeigen, ihr Bett, wo sie gegessen, gearbeitet hat? Es ist wichtig.« Er zog seinen Arm zurück und schritt auf das Haus zu. Er sprach, ohne sich nach Lauren umzudrehen. »Ich führe Sie herum. Und dann würde ich es sehr begrüßen, wenn Sie mich weiterarbeiten ließen.« Als Lauren die Eingangshalle mit ihrer Kupferdecke betrat, bemühte sie sich, jede Einzelheit aufzunehmen. Sie hatte ein ausgesprochen bildhaftes Gedächtnis und dessen Segen zum ersten Mal begriffen, als ihr Vater sie zu der berühmten Boots‐ ausstellung im Madison Square Garden in New York mitge‐
nommen hatte. Sie war mit einem starken Verlangen zu zeich‐ nen nach Hause gekommen und hatte an diesem Abend stun‐ denlang mit fotografischer Präzision die Segelboote skizziert. Dieselbe Fähigkeit zur Beobachtung stellte sich nun ein, da Stassler sie durch das luftige Wohnzimmer führte und dann den Flur entlang zu dem Zimmer, in dem Kerry geschlafen hatte. Abgelegte Kleidung lag auf dem Boden. Ein Stück entfernt hatte Kerry ihr Höschen auf einem Paar Badelatschen liegen lassen, als hätte sie es sehr eilig gehabt aufzubrechen, die Rad‐ lerhose anzuziehen, die ihr so brutal vom Leib gerissen wer‐ den sollte. »Ich habe nichts angerührt«, sagte Stassler. Seine Stimme, seine Gestik waren abweisend. Das kränkt ihn, erkannte sie. Diese Verletzung der Ord‐ nung. Unterhosen, die einfach herumliegen! Was für ein Pe‐ dant. Lauren sah alle Schubladen durch, und sie schaute unter das Bett. Sie öffnete den Schrank, ohne eine Vorstellung, was sie finden könnte. Nicht viel, wie sich herausstellte. Ein ein‐ zelnes Kleid, ein paar Hosen, hauptsächlich Jeans. Auf keinen Fall eine »smoking gun«, wie Ry es ausgedrückt hatte. »Sind Sie so weit?« Stasslers Ton offenbarte eine Spur Un‐ geduld. Sie ließ den Blick noch einmal durch das Zimmer schweifen, während sie es im Rückwärtsgang verließ. Er zeigte ihr die Küche, in der ein ganzes Team von Köchen Platz gehabt hätte. »Hier hat sie gegessen.« Er nickte in Richtung Frühstücks‐ theke. »Faszinierend, nicht?« Sie nahm seinen Sarkasmus kaum wahr, ebenso wenig wie
die Hand, die sie aus der Tür scheuchte. »Okay?«, sagte er. »Danke.« Sie sah konfus aus, und sie war es auch. Spuren von Kerry zu sehen, aber nicht das Mädchen selbst, hatte Lau‐ ren schließlich doch ein wenig den Halt verlieren lassen. Stassler führte sie aus dem Haus und in Richtung Straße. »Nein«, sagte sie, und ihr war, als wäre sie aus einer Trance erwacht. »Ich möchte sehen, wo sie gearbeitet hat.« Nun wirkte Stassler verdutzt, aber es war alles um des Ef‐ fekts willen: »Sie meinen, Sie wollen meine Gießerei sehen, meinen Arbeitsplatz? Das kann nicht Ihr Ernst sein.« Er ließ den Finger in der Luft kreisen, als wollte er nahe legen, eine neue Frage zu stellen. »Ich meine es ernst«, sagte Lauren grimmig. »Und ich wür‐ de gern ihre Mappe mitnehmen. Wissen Sie, wo sie ist? Ich habe sie in ihrem Zimmer nicht gesehen.« »Ich weiß es nicht. Ich habe sie eine ganze Weile nicht gese‐ hen.« »Was wollen Sie damit sagen? Sie sollten ihr doch helfen.« »Sie war wohl nicht lange genug hier, um von meinem Rat zu profitieren.« Diese beiläufige Missachtung der Vereinbarung, des Mäd‐ chens und nun ihrer selbst, machte Lauren wütend. Aber bevor sie etwas sagen konnte, deutete er zur Gießerei. »Sie wollen sie sehen? Gut, gehen wir.« Er führte sie zu dem Ziegelgebäude, das sie zum ersten Mal aus dem Hubschrauber gesehen hatte. Lauren ließ Leroy im Schatten vor der Giebelwand zurück und folgte Stassler nach drinnen. Sie hatte schon sehr viele Gießereien betreten, aber keine
war so groß gewesen wie diese. Kräne, Ketten, Roste und Gas‐ flaschen. Tische, Werkzeuge, Schränke und Gusstiegel breite‐ ten sich vor ihr aus. Er verfügte über den Luxus von Platz. Stassler fuchtelte mit der Hand. »Sehen Sie sich um. Viel‐ leicht ist ihre Mappe hier drin.« Sie ist nicht hier. Lauren fühlte es so deutlich wie die über‐ raschend kühle Luft, die sie empfing. Jeder Gegenstand in der Gießerei war an seinem Platz. Ashley Stassler war ein Bild‐ hauer, der immer wusste, wo er jeden kleinsten Stift und jeden Meißel hingelegt hatte. Oder eine Mappe. Dennoch würde sie sich umsehen. Sie würde versuchen, die dürftige Zahl der Einzelheiten zu vergrößern, aus denen sie vielleicht ein Bild von Kerrys letzten Tagen zusammensetzen konnte. Sie ging an einer Bank vorbei, über der ein Fausthammer und Klammern an der Wand hingen, und betrat einen abge‐ trennten Bereich. Stassler trat von hinten zu ihr. Ein Holz‐ schrank stand an der Wand. Wozu die Mühe mit der Trenn‐ wand, wunderte sich Lauren. »Sie mögen meine Bildhauerei nicht mehr, hab ich Recht?«, sagte Stassler. »Wovon reden Sie?« Stasslers persönlicher Ton nach so viel kühler Distanz erschreckte sie. »Sie haben sie früher einmal gemocht. Sie haben sie bewun‐ dert. Sie haben mir die Besprechung geschickt, die Sie für Ihre Campuszeitung geschrieben haben. ›Ashley Stassler erkennt nicht nur die Schwachstelle unserer Zeit, er begreift auch ihren dunklen Vetter namens Zukunft.‹ Ein bisschen geschwollen, aber das ist typisch für Studenten.« Lauren blieb die Spucke weg. Sie selbst hätte nicht aus die‐
ser Kritik zitieren können; sie hatte sie vor rund zwanzig Jah‐ ren geschrieben. Sie brauchte einen Moment für ihre Antwort. »Sie haben Recht. Wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, ich bin kein Fan.« »Ich merke es den Leuten immer an.« »Interessiert es Sie überhaupt?« Sie konnte sich nicht vor‐ stellen, dass dies der Fall war. Aber wieso fing er dann davon an? »Natürlich nicht«, beeilte er sich zu erwidern. »Aber ich bin neugierig, was zu Ihrem Meinungsumschwung geführt hat.« Sie zuckte mit den Achseln. »Geschmäcker ändern sich eben. Ich habe früher auch mal die Dave Clark Five gemocht, aber das heißt nicht, dass ich sie immer noch mag.« Ihre Hand ging zu dem Schrank. Sie rieb den feinen, schlik‐ kigen Staub zwischen den Fingern. Er fühlte sich gut an, ver‐ traut. Stassler schüttelte den Kopf, deutlicher diesmal, und Lau‐ ren begriff, dass sie durch den Bezug auf eine miese Sixties‐ band sein Ego angekratzt, ihn implizit in einem schäbigen Mi‐ lieu angesiedelt hatte, das mit der aufgeblähten Vorstellung von seiner eigenen Bedeutung niemals in Einklang zu bringen war. Doch wiederum verstand sie nicht, warum er sich darum scheren sollte, da die Kunstszene doch voller Schmeichler war, die ihm nur zu bereitwillig Loblieder sangen. »Genug gesehen?«, sagte er. »Ich denke schon.« Ihre Hand löste sich von dem Schrank. Eine Luftbewegung, kühler als der Raum, strich über ihre Fin‐ ger; aber falls sie diese Empfindung registrierte, war sie schnell wieder vergessen, als sie ihm nach draußen folgte und dabei erneut jedes visuelle Detail speicherte. Aber wozu ei‐
gentlich die Mühe, fragte sie sich. Wenn das alles ist, was du von Kerrys Leben hier zusammenpuzzeln kannst, dann nimmst du rein gar nichts mit. Und es ist ja nicht so, dass er ihre Leiche unter einem Tisch versteckt hat. Er hat nur die hier. Ihr Blick war auf die drei unheimlich kopflosen Alginatformen gefallen. Dann sah sie, dass die männliche Figur einen zerbro‐ chenen Arm hatte. »Wie ist das passiert?« Er funkelte sie böse an, als hätte sie nicht das Recht, zu fra‐ gen. »Das war ein Versehen«, sagte er eisig. »Und es wird nie wieder vorkommen.« Augenblicke später standen sie wieder im hellen Sonnen‐ licht. Als sie zur Scheune kamen, drehte Lauren den Wasser‐ hahn für Leroy auf, der noch einige Mund voll schluckte. Sie selbst trank aus der hohlen Hand. Stassler bot ihr nicht an, ein Glas zu holen, aber er überraschte sie mit dem Angebot, sie mit dem Wagen zum Gatter zurückzufahren. Du musst es ja schrecklich eilig haben, mich loszuwerden. Aber ihr erster Gedanke wich rasch dem zweiten, nämlich dem Wunsch, sich und dem Hund den Fußmarsch durch die Hitze zu ersparen. »Danke, das nehme ich gern an.« Er führte sie um die Ecke der Scheune zum Jeep. Lauren fie‐ len die Türen mit dem Vorhängeschloss auf. »Was ist da drin?« »Nichts.« »Warum ist dann abgesperrt?« »Ich will nicht, dass Mäuse oder andere Wüstennager da drinnen herumrennen.« »Kann ich einen Blick hineinwerfen?«
»Das ist mein Haus«, sagte er. »Sie werden doch nicht allen Ernstes meine Privaträume besichtigen wollen.« »Darum habe ich nicht gebeten. Das hier ist die Scheune. Ih‐ re Wohnung ist oben. Ich habe Ihren Privatbereich respektiert. Den wollte ich nie sehen.« Sie fragte sich allerdings, ob sie auch darauf hätte dringen sollen. »Das hätte ich Ihnen auch nicht geraten.« Er klang plötzlich schneidend, gehässig. Er schien es selbst zu bemerken und presste die Lippen zusammen. Dann fing er sich wieder. »Da drin ist nichts. Sie werden enttäuscht sein«, sagte er und öffne‐ te das Türschloss. Sie antwortete nicht, glaubte aber, dass er wahrscheinlich Recht hatte; sie war bei ihrer Suche nach Kerry immer wieder enttäuscht worden. Die Scheune war so kahl und leer, wie er gesagt hatte. Stroh in den Boxen, sonst nichts. Vielleicht ein Dutzend Boxen, aber keine Spur von Pferden, kein Zaumzeug, keine Sättel, nichts. Leer wie eine Höhle. Aber wenn er so verdammt besorgt wegen Mäusen ist, wie‐ so lässt er dann das viele Stroh herumliegen, in das sie ihre Nester bauen können? Wer weiß. Sie hatte genug davon, ihm Fragen zu stellen. Keine hatte eine befriedigende Antwort erb‐ racht. Lauren machte kehrt und ging zwei Schritte in Richtung Eingang, als Stassler sagte: »Komm, alter Junge, raus hier.« Dazu klatschte er in die Hände. Sie wandte den Kopf und sah Leroy in der hintersten linken Box im Stroh scharren. »Leroy, komm«, kommandierte sie in scharfem Ton. Stassler trat zur Seite, als sie zu ihrem Hund ging.
Sie packte ihn am Halsband, und im selben Moment blieb er mit der Pfote an einem Eisenring hängen, der sich senkrecht aus dem Boden erhob, ehe er klirrend zurückfiel. Lauren drehte sich ehrlich verblüfft zu Stassler um, doch der war bereits neben ihr und packte sie am Arm. »Nehmen Sie Ihre Hände weg!«, rief sie, und Leroy wandte den Kopf von dem Eisenring zu dem Mann, der seine Herrin ergriffen hatte. Sein Knurren genügte, damit Stassler losließ. Leroy drängte ihn rücklings in die Box gegenüber, während Lauren, steif vor Anspannung, mehrmals von Stassler zu dem Ring im Boden und wieder zurückblickte. Als sie dann die Hand nach dem Griff ausstreckte, schrie er: »Nein!« und machte einen Satz nach vorn. Leroy biss ihn mit‐ ten in den Oberschenkel. Stassler fluchte vor Schmerz, während Lauren die massive Falltür aufzog. »Ist jemand da un …«, rief sie, doch ehe sie den Satz zu Ende gebracht hatte, schrie Kerry: »Ja! Ja! Holen Sie mich hier raus.« Lauren sah noch einmal zu Stassler, der an die Wand ge‐ drängt stand; aus dem Riss in seiner Hose floss Blut. Leroy hatte die Zähne aus seinem Schenkel gelöst, aber zu einem Preis, den kein Mann gern bezahlen würde: Seine schäumende Schnauze mit den gefletschten Zähnen verharrte Millimeter vor Stasslers Schritt. Der Bildhauer war aschfahl. Lauren eilte die Treppe hinab, sah die Skelettparade und den Käfig und machte einen Atemzug, der gut ihr letzter hätte sein können, so gewiss roch er nach Tod. Sie rannte quer durch den Keller zu Kerry, die sich an das Gitter klammerte. Neben ihr stand ein nacktes Mädchen.
»Die Schlüssel«, rief Kerry. »Er trägt sie bei sich, immer.« Lauren stieg die Treppe zur Scheune hinauf, voll Furcht, was sie dort vorfinden mochte. Stassler mit einer Pistole? Un‐ terwegs, um eine zu holen? Aber Leroy war keinen Zentimeter gewichen, und Stassler stand so reglos da wie eine seiner Skulpturen, offenbar voller Angst, dass ihn die kleinste Bewe‐ gung mehr als einen Zentimeter kosten könnte. »Her mit den Schlüsseln«, schrie sie, was Leroy zu lauterem Knurren veranlasste. »Sie sind oben in meinem Schlafzimmer«, sagte Stassler nervös. »Leeren Sie Ihre Taschen aus.« »Er wird mich beißen.« »Nein, wird er nicht«, sagte Lauren, ohne zu wissen, ob es stimmte; aber es interessierte sie auch nicht. Stassler schob quälend langsam eine Hand in die linke Ta‐ sche. Ebenso furchtsam stülpte er sie nach außen; sie war leer. »Die andere«, fuhr ihn Lauren an. »Ich kann nicht«, sagte er und senkte den Blick zu Leroy, als suchte er ihr unausgesprochenes Einverständnis; aber davon wollte Lauren nichts wissen. »Tun Sie es, oder er frisst Sie bei lebendigem Leib.« Wiede‐ rum hatte sie keine Ahnung, ob das zutraf, aber solange Stass‐ ler tat, was sie wollte, war es ihr egal. Er langte hinein, und als er sie diesmal herauszog, kam ein Schlüsselbund zum Vorschein. »Werfen Sie sie zu mir.« Er machte einen kraftlosen Wurf, die Schlüssel landeten vor Lauren auf dem Boden. Sie hob sie rasch auf und stürzte er‐ neut die Treppe hinab. Während sie über den Lehmboden im
Keller rannte, blitzte kurz die Erkenntnis auf, dass von diesem Tag an ihr exaktes visuelles Gedächtnis kein Segen mehr sein würde, sondern ein Fluch: Die Skelettparade mit ihren grotesk gekleideten Figuren in schaurigen Posen würde sie bis in alle Ewigkeit verfolgen. Sie probierte drei Schlüssel, ehe sie den passenden fand. Doch in dem Moment, in dem sie die Tür aufzog, stürzte sich das nackte Mädchen auf Kerry und flehte sie an, zu bleiben. Bleiben? Die Kleine musste den Verstand verloren haben. Lauren warf sich auf die beiden und versuchte, das nackte Mädchen von Kerry zu zerren. Es wäre sehr viel einfacher ge‐ wesen, wenn es bekleidet gewesen wäre. Doch dann ließ das Mädchen Kerry überraschend los, und Lauren machte den Fehler, es ebenfalls loszulassen. Das Mädchen schoss aus der Käfigtür und versuchte, sie zuzuschlagen. Lauren warf sich mit der Schulter gegen das Metall, holte sich eine Prellung und bekam kaum mehr Luft, ersparte es ihnen aber, in diesem Gefängnis eingesperrt zu werden. Sie sah, wie das Mädchen über die Treppe floh. Kerry half ihr auf, und zusammen humpelten sie an den Skeletten vorbei. Der stechende Schmerz in Laurens Schulter begann nachzu‐ lassen, als sie in die Scheune hinaufstiegen. Stassler stand noch immer platt an die Wand gedrückt da, von dem Mädchen war nichts zu sehen. Kerry wandte sich dem Bildhauer zu und schrie: »Ich hoffe, du verreckst, du verdammter Hurensohn!« Sie rannten aus der Scheune und direkt zum Jeep. Lauren wollte die Fahrertür aufreißen, aber sie war abgesperrt, und die Schlüssel … Himmel, die Schlüssel steckten in der Käfigtür!
Sie machte kehrt, entschlossen, noch einmal in den Keller zurückzukehren, als sie Leroy auf sich zuspringen sah. Mit wachsender Panik schaute sie an ihm vorbei und entdeckte Stassler, der in gebückter Haltung aus dem Pferdestall gelau‐ fen kam. Lauren fuhr herum, packte Kerry und zog sie nach rechts, in Richtung der holprigen Wüstenebene. »Wir können nicht auf die Straße«, keuchte sie. »Er würde uns mit dem Wagen verfolgen.« Sie führte das Mädchen in das zerklüftete Gelände, wo aus‐ getrocknete Bachläufe und dicke Bäume jedes Fahrzeug auf‐ halten würden. Aber während sie steile Böschungen hinab‐ stolperten und sich durch sandige Bachbetten schleppten, war Lauren klar, dass Stassler sie auch zu Fuß verfolgen würde, wenn es sein musste. Egal wie stark er verletzt war, er durfte sie auf keinen Fall entkommen lassen. Ohnehin bezweifelte sie, dass er ernsthaft behindert war; ungeachtet seiner Kräfte, hatte Leroy ihm die Schlagader nicht zerfetzt. Lauren hatte geschaut, ob das Blut aus der Wunde schoss, aber es war nur gesickert. Stassler war noch bewegungsfähig, und das bedeu‐ tete, sie, Kerry und der Hund an ihrer Seite würden sich bald mit dem rauen Land auseinander zu setzen haben, in dem sie Schutz suchen mussten.
23 Ich rannte ihnen nach und war keine zwanzig Meter hinter ihnen, als sich mein Bein festfraß. Von einem Moment auf den anderen konnte ich nur noch humpeln, gehemmt von einem absurden Schmerz, gerade als würde ein gezacktes Messer durch den Muskel fahren. Dann wurde mir klar, dass sich, selbst wenn ich sie einholte, nur dieser verdammte Hund wie‐ der auf mich stürzen würde, wenn ich keine Waffe dabei hatte. Außerdem brauchte ich ein Schmerzmittel, wenn ich sie ver‐ folgen wollte. Das dreckige Vieh hatte mir den Oberschenkel richtig auf‐ gerissen. Nun musste ich die beiden im Auge behalten und mir rasch diese Wunde auswaschen. Eine Infektion von dem Biest würde mich schneller erledigen als die zwei Frauenzimmer. Sie machen es mir schwer, indem sie auf die Hügel zuhal‐ ten, aber für sie wird es mörderisch werden. Sie haben kein Wasser, kein Essen. Sie sind erledigt, ihr Schicksal ist besiegelt. Es vollzieht sich mit jedem Schritt, den sie zurücklegen. Darü‐ ber kann ich mich sehr wohl freuen, doch gleichzeitig bedaure ich den Verlust von Diamond Girl. Sie sah mich der Gnade dieses verfluchten Hundes ausgeliefert. Sie blieb stehen und schaute mir in die Augen. Ich dachte, sie würde helfen. Ich dachte, dieses wunderschöne, nackte Mädchen würde mich retten, aber dann floh es aus der Tür, ohne sich noch einmal umzusehen. Das Letzte, was ich von Diamond Girl sah, war ihr prächtiger Hintern, diese festen, runden Backen, in die ich
mein Gesicht gedrückt, dessen Tal ich so begierig mit meiner Zunge bereist hatte. Ich habe keine Ahnung, wo sie jetzt ist. Ich sehe sie nicht. Aber vor die traurige Wahl gestellt, ob ich Ihre Widerlich‐ keit – die ebenfalls stehen blieb, aber nur um mir ihre ignoran‐ te Wut entgegenzuschleudern – und die nymphomane Me‐ dienhure verfolgen soll oder Diamond Girl, muss ich meine kleine Geliebte ziehen lassen. Bei ihr ist es am wenigsten wahrscheinlich, dass sie die Staatsgewalt auf mich ansetzt. Wenn ich sie auch nur ein bisschen kenne, wird sie sich mit ihrer eigenen Verderbtheit Geltung verschaffen, und dazu muss sie mir meine lassen. Das ist der stillschweigende Kodex, auf den wir uns von Anfang an verständigt hatten, der wun‐ derbare Nährboden, in dem wir wurzeln – sie gerade knos‐ pend, ich in voller Blüte. Das Desinfektionsmittel brennt, oh … oh, wie es brennt. Es sprudelt über die Wunde und lässt Blut aus der blaurot ver‐ färbten, übel zugerichteten Haut sickern. Während ich mich mit der Wunde beschäftige, behalte ich die beiden im Auge. Ich verteile Salbe über das beschädigte Fleisch, wickle einen Mullverband darum und schlüpfe rasch in Shorts und ein T‐Shirt, das meine Schultern bedeckt. Ich schnappe mir den Hut, den Tagesrucksack und Wasserfla‐ schen. Ich fülle sie aus dem Hahn im Kühlschrank. Eiswasser, knapp über dem Gefrierpunkt. Ich suche nach Tylenol mit Kodein, aber das Zeug ist aus. Ich werfe drei Advil ein und hoffe, sie werden den pulsierenden Schmerz in meinem Bein ein wenig lindern. Dann stopfe ich Energieriegel in den Ruck‐ sack, dazu zwei Bananen. Ich werde mit leichtem Gepäck un‐ terwegs sein, aber nicht annähernd mit so leichtem wie die
beiden. Ich sehne den Moment herbei, da ich sie finden werde, geschafft von der Sonne, die Kehlen staubtrocken und dick angeschwollen. Als ich zur Tür hinauseile, nehme ich noch meine Pistole mit, aber ich ermahne mich, mich nicht hinreißen zu lassen. Es wäre ein schrecklicher Fehler, sie da draußen zu töten, denn dann müsste ich sie zurücktragen oder Schleifen. Mit dem Jeep kann ich in diesen ausgetrockneten Bachläufen und Gelände‐ abbrüchen unmöglich fahren. Sosehr ich also auch in dem rei‐ chen Lohn schwelge, der mich erwartet, ich muss mich beherr‐ schen, bis ich sie wohlbehalten im Keller habe. Erst dann kann ich mich für alles entschädigen. Ihre Fußspuren kreuzen ein etwa sieben Meter breites, trocke‐ nes Bachbett. Es sieht aus, als würden ihre Kräfte bereits nach‐ lassen, allerdings räume ich ein, dass hier vielleicht der Wunsch der Vater des Gedankens ist, denn sie können unmög‐ lich so schnell schlappmachen. Zwei gesunde, junge Frauen. Ich rechne damit, dass sie mindestens ein paar Stunden hier draußen durchhalten, und noch sehr viele mehr dann im Kel‐ ler. Und wenn nicht, wenn sie zu denen gehören, die gleich aufgeben wollen, dann werde ich sie mit Metamphetamin in den Albtraum des Bewusstseins zurückholen. Auch während der Verfolgung schmiede ich Pläne, lege alle Einzelheiten fest. Vielleicht mache ich selbst Gebrauch von der Spritze, damit wir alle drei die unausweichlich folgenden Ex‐ treme angemessen genießen können. Das Schwindelgefühl wieder. Diesmal arbeite ich definitiv ohne Netz. Vieles ist unvorhersehbar. Ein Flugzeug könnte über uns hinwegfliegen. Ein Mountainbiker könnte das Pech
haben, auf meinen Besitz vorzudringen, und das Glück, da‐ vonzukommen. All das setzt meinem Fokus einen eisenharten Rahmen. Es ist, als wäre ich nur noch pure Rache, und darin liegt eine Schönheit, wie sie in aller Reinheit liegt. Es soll kei‐ ner sagen, dass ich Schönheit nicht in jeder ihrer mannigfalti‐ gen Ausprägungen zu schätzen wüsste. Ich steuere auf die Vorhügel zu, und dahinter erheben sich die La Sal Mountains, aber zwischen Hügeln und Bergen liegt der Fluss, und weiter als bis zu den Steilwänden, die dessen jähe Ufer bilden, werden sie nicht kommen. Sie werden nicht hineinspringen. Niemand, der bei Verstand ist, würde das tun. Wir sind hier nicht in Zwei Banditen. Die beiden werden nicht von der Golden Gate Bridge starren, alles, was sie sehen wer‐ den, sind Felsen und weiße Gischt dreihundert Meter unter ihnen. Natürlich könnten sie, bis sie dort angelangt sind, vor Angst den Verstand verloren haben oder aufgrund eines Hitz‐ schlags. Sie könnten verrückt geworden sein bei dem bloßen Gedanken, vor einem Mann zu fliehen, der sie stellen wird, wohin sie sich auch wenden, es sei denn sie entschließen sich tatsächlich, in den Fluss zu springen, was gar nicht die schlechteste Möglichkeit wäre. Sie würden bei dem Sturz um‐ kommen, und ihre Leichen würden bis zum Ausgang der Schlucht gespült werden. Man könnte mir schwerlich die Schuld an ihrer Dummheit geben, wenngleich ich insgeheim den Verlust einer großartigen Chance beklagen würde. Ich kann sie selbst nicht sehen, aber ihre Spuren sind unü‐ bersehbar, sie tauchen deutlich wie Farbspritzer vor mir auf. Schon bleibt der Hund zurück, was meinen erfreulichen Ver‐ dacht hinsichtlich seines erbärmlichen Ablebens bestätigt. Schau sich einer diese Pfotenspuren an. Ich erwarte jetzt jeden
Augenblick, eine durchgehende Linie zwischen ihnen zu ent‐ decken, von seiner Zunge, die in den Staub hängt. Was für ein Biest. Was für ein Biss. Was für eine Belohnung er sein wird. Meine Wasserflasche ist glitschig vor Kondenswasser. Ich trinke lächelnd meinen ersten Schluck, mit der zusätzlichen Befriedigung, dass ich – nach wie viel, zwanzig, dreißig Minu‐ ten? – Wasser brauche. Sie sind sogar schon länger unterwegs, denn sie hatten rund eine Viertelstunde Vorsprung. Der saure Geschmack des Durstes muss sich bereits auf ihre Zungen ge‐ legt haben. Ich nehme an, sie sind auf ein Überleben in der Wüste nicht besser vorbereitet als ein Pinguinpärchen. Wenn ich sie dann habe, werde ich sie sorgfältig überwa‐ chen müssen. Ich will wirklich nicht, dass sie vor Hitze zu‐ sammenbrechen. Vielleicht muss ich ihnen sogar zu trinken geben, ich werde sie niederknien lassen wie Kommunions‐ empfänger, mit geöffnetem Mund, auf die liebliche Losspre‐ chung des Wassers wartend. Wahrscheinlich ist es eher die Stellung, welche die nymphomane Medienhure dreimal täg‐ lich eingenommen hat, um sich in dieses Buch mit mir zu drängeln. Ich frage mich, ob er sie mit aufnimmt, wenn sie tot ist, als posthume Ehre, denn eine Ehre wäre es zweifellos, wenn sie immer noch zusammen mit Ashley Stassler in einem Buch erschiene. Jetzt jedoch, erst jetzt, fällt mir mit der allergrößten Be‐ klemmung ein, dass die Behörden meine Ranch komplett auf den Kopf stellen werden, wenn ihr etwas zustößt, egal was. Die Flucht Ihrer Widerlichkeit ändert nichts, solange ich sie wieder zurückhole. Sie ist die Mountainbikerin, die auf einer Jeepstrecke, dreizehnhundert Meter oberhalb von Moab, ent‐ führt wurde. Superhirns Verschwinden folgt aus dem ihren,
denn er bleibt der Hauptverdächtige. Aber die nymphomane Medienhure darf nicht verschwinden. Der Gedanke lässt mich abrupt stehen bleiben, schneller als eine Klapperschlange auf meinem Weg es könnte, so tödlich ist die Gefahr, die von die‐ ser Möglichkeit ausgeht. Zum ersten Mal frage ich mich, was ich tun soll. Ich war so in Eile, mich selbst zu verarzten und mich auf die Verfolgung der beiden zu machen, dass ich diese ungeheueren Auswirkungen gar nicht bedacht habe. Und dann taucht ebenso rasch die Lösung auf: Sie wird lange ge‐ nug am Leben bleiben, um der Welt kundzutun, dass sie ihre armselige Karriere aufgegeben hat, um mit mir zu leben. Sie wird auf meinen Befehl hin ihre Kollegen und Freunde anru‐ fen, sie wird sogar Witze reißen, dass sie wie diese Studentin ist, die bei J. D. Salinger auftauchte und nie wieder wegging. Den scharfsinnigen Augen der Kunstwelt wird es zweifellos einleuchtend erscheinen, denn ihre plötzliche Hingabe wird von der Größe meines Werkes Zeugnis ablegen, auch wenn sie implizit all den Schrott abwertet, den sie selbst produziert hat. Das Beste daran ist, dass nur ein Narr sie nach einem so frei‐ mütigen Eingeständnis noch in ein Buch aufnehmen würde. Der Schnösel würde sich vielleicht sogar gezwungen sehen, die übrigen drei mittelmäßigen Künstler zu überdenken, mit denen er sein Werk zu trüben beabsichtigt. All das wird ihr ganz leicht fallen, mit einem Messer an den Augen. Bis dahin wird ihr das Telefon als ein Erlöser erschei‐ nen, als ein Mittel, um ihr wortwörtliches Vorstellungsvermö‐ gen zu feilschen. Kenne ich meine Subjekte nicht? Was? Sie wäre nicht die erste Frau, die ihre eigenen seichten Ziele für die erhabenere Verbindung mit einem Mann aufgibt. Niemand wird das in Frage stellen. Man wird sie vergessen. Wie sie es
weiß Gott verdient hat. Ich werde das Unvermeidliche nur beschleunigen. Und dann, einen Tag, eine Woche, vielleicht einen Monat nach den Anrufen, wird sie abstürzen. Ein tragi‐ scher Unfall. Wir haben uns so geliebt. Ich singe einen alten Beatlessong und denke an ihre abfällige Bemerkung, in der sie mich mit der Dave Clark Five verglich. Geschmäcker ändern sich? O ja, dein Geschmack wird sich verändern. Wenn ich mit dir fertig bin, nymphomane Medien‐ hure, wirst du das Versprechen von Bronze lieben, den Tod, den es enthält. Du wirst nach der Erlösung durch sie schreien, nach allen eintausendeinhundertfünfzig Grad geschmolzenen Metalls, das sich über deine unselige Gestalt breitet, um dich zu ewiger Wiedergutmachung erstarren zu lassen. Aber du wirst es nicht bekommen. Ich werde dich auch dann noch hinhalten. Ich werde dir eine weitere Spritze Amphetamin in die Vene pumpen. Das Leben, werde ich dir ins Ohr flüstern, ist so kostbar! Ich bin überrascht vom Ausmaß meines Rachedursts. Noch nie habe ich eine so schlichte, unverfälschte Blutgier verspürt. Ich komme mir vor wie ein Anthropologe, während ich diesen schäumenden Gefühlsaufruhr, diese wütende Macht in mir selbst beobachte. Ein Teil von mir bleibt distanziert kühl, ana‐ lytisch und aufrichtig erstaunt, dass der andere Teil die ganze Geschichte möglichst in einer vollkommenen Raserei meiner Hände enden sehen möchte. Seltsam, nicht wahr, was wir über uns selbst erfahren, wenn wir bereit sind, wirklich zuzuhören. Ich nähere mich nun den Vorbergen. Das Land steigt und fällt in Wellen, nicht unähnlich dem Gesicht eines Shar‐Pei.
Hunde beschäftigen mich heute ohne Frage, kein Wunder nach dem grimmigen Erlebnis von vorhin. Ich habe Hunde immer gehasst. Schon als Kind fand ich sie verabscheuungs‐ würdig mit ihrem Sabbern, ihrem Kot und dem ständigen Tränenfluss. Ach, sieh an: Eine von ihnen hat sich das T‐Shirt an einem stachligen Kaktus aufgerissen. Ich sehe einen Kreisel aus Fußspuren, wo sie herumgefahren sein muss. Sie hat sich ver‐ mutlich auch gestochen. Ich sehe es mit großer Freude. Wem ginge es nicht so? Sie müssen bereits kämpfen. Sie können meine Nähe spüren. Ich habe von Frauen gehört, die von Stalkern in den Wahn‐ sinn getrieben wurden, jenen Idioten in den Großstädten, die eine Frau, von der sie sich einbilden, sie gehöre ihnen, auf Schritt und Tritt verfolgen. Zwar habe ich nichts mit diesen Kretins gemein, ich würde sie auf der Stelle hinrichten, wenn ich es zu entscheiden hätte, aber das Ausmaß des Schreckens, der die beiden bei einem solchen Abstand erfassen kann, wärmt mir das Herz. Es ist sehr wahrscheinlich, nicht wahr, dass Ihre Widerlichkeit der nymphomanen Medienhure alles erzählt hat, was sie mit angesehen hat, den langsamen Tod der Vandersons, das Spiel mit den Alginatpfropfen. Die Erinne‐ rung daran, das Erzählen wird bei Ihrer Widerlichkeit den Horror anwachsen lassen, und ihrer lieben Professorin wird beim ersten Hören schlecht werden vor Angst und Entsetzen. Es wird ihr Urteilsvermögen trüben, ihre Fehler steigern und mir am Ende die beiden armseligen Figuren in die Hände spie‐ len, mir, dem Einzigen, der sich wirklich daran erfreuen kann, was der Tag zu bieten hat. Noch mehr Wasser. So kalt, dass ich es wie ein kühles Tuch
in meinem Bauch fließen spüre. Wieder koste ich das zusätzli‐ che Vergnügen aus, um ihren Mangel zu wissen. Zwei Stunden sind vergangen, und noch immer zeigen ihre Spuren kein Innehalten an. Ich hatte damit gerechnet, dass sie inzwischen müde sein, schlürfend gehen würden. Die Sonne steht genau über uns, und mein Kopf bäckt förmlich in diesem Hut, aber wie viel schlimmer wäre es ohne seinen Schatten. Oder ohne Kleidung. Falls Diamond Girl hier draußen ist, wird sie als Erste am Ende sein. Aber sie kann überall sein. Sie könnte sich sogar auf dem Anwesen verstecken, in der Gieße‐ rei oder im Haus. Vielleicht versteckt sie sich auch gar nicht. Vielleicht wartet sie auf mich. Aber ich glaube es eigentlich nicht. Ich habe ihren Gesichtsausdruck gesehen. Sie hat mich verlassen. Sie ist fort. Ich möchte die nymphomane Medienhu‐ re ermorden dafür. Wenn dieses Weibsstück nicht aufgetaucht wäre, würde ich jetzt in der Wonne beider Mädchen baden. Stattdessen jage ich hier draußen hinter ihnen her. Ich will nicht den Eindruck erwecken, als wäre ich irgen‐ dein großer weißer Jäger, denn der bin ich nicht. Ich habe nie etwas anderes geschossen als streunende Hunde oder Klap‐ perschlangen, und auch die nur aus kurzer Entfernung. Ich übe auch nicht Zielschießen. Ich habe im Grunde noch nie et‐ was gejagt, nicht hier draußen. Meine Streifzüge in die Städte und Vororte sind eigentlich nichts anderes als Angelpartien. Und doch beginne ich den Reiz der Jagd zu begreifen. Du folgst der Spur, und wenn du Erfolg hast, wirst du belohnt – mit dem tödlichen Schuss. Oder in meinem Fall mit dem Fan‐ gen der Beute, die ich dann genüsslich und in Ruhe töten wer‐ de.
Ich wünschte, ich könnte mehr aus ihrem Tod machen. Da‐ mit meine ich, wie angemessen es wäre, sie zu einem Exempel zu machen, das ich der ganzen Welt zeigen kann, so dass alle Leute gewarnt wären, was es heißt, mir in die Quere zu kom‐ men. Aber dann sage ich mir, dass die Sache ihren eigenen Wert hat, denn zum ersten Mal überhaupt begreife ich Töten nicht als etwas Abstraktes, als Teil eines größeren Entwurfs und entsprechend befrachtet mit tieferen Beweggründen, son‐ dern in der Unmittelbarkeit des Augenblicks, als die ewige Gegenwart von Herzen, die ergriffen und zum Verstummen gebracht wurden. Ich vermute, ich werde danach den Tod in seinem Kern verstehen. Das alles, diese Form von Einsicht hat sehr viel mit Zen zu tun, und ich akzeptiere bereitwillig, dass sie mir nun zuteil wurde, weil ich meinen Weg so viele Jahre lang ehrlich und gerade gegangen bin, ohne abzuweichen, oh‐ ne müde zu werden. Ich war treu. Sehr wenige sind es. Es ist Nachmittag, etwa drei Uhr, und ich habe soeben meine zweite Wasserflasche geöffnet. Das Wasser ist nicht direkt lauwarm, aber es hat seine Kühle verloren, und ich schiebe die harte Tatsache beiseite, dass richtig kaltes Wasser für den Körper weit wirkungsvoller ist als dieses Spülwasser. Aber von einer Krise kann wohl kaum die Rede sein. In der stecken die beiden. Mein Hauptproblem ist, dass ich dort an‐ gelangt bin, wo die Vorberge fast nur noch aus Sandstein be‐ stehen, und ihre Spuren sind verschwunden. Schon die ganze Zeit waren sie gerissen genug, sich wo immer möglich auf Fels zu flüchten, aber ich konnte dennoch Abdrücke von Füßen und Pfoten auf den Flecken Erde erkennen, die sie dazwischen überqueren mussten. Von nun an ist das unwahrscheinlich.
Vor mir liegt meilenweit nichts als rötlicher Fels. Er hebt und senkt sich wie Ozeanwellen, und es gibt Felsblöcke, groß wie Boote. Aber ohne Frage wird der Wassermangel sie bald stop‐ pen, ihre Kräfte schwinden lassen, so dass sie sich am Ende nur noch kriechend über dieses öde Land bewegen. Ihr Durst ist zu meinem größten Vorteil geworden. Ich blicke mich um und sehe, dass sie links, rechts oder ge‐ radeaus gegangen sein könnten. Nach jeder Erhebung rechne ich jedoch damit, sie erschöpft auf dem Boden liegend zu fin‐ den. Mir ist sogar der Gedanke gekommen, dass ihr geliebter Wauwau sie wegen des Wassers verraten könnte, das er bei mir riecht. Das wäre wunderbar. Aber natürlich habe ich sie noch nicht erreicht, und ich schätze, dass ich nur noch wenige Stunden von dem Steilufer entfernt bin, das über dem Green River aufragt. Ich bemühe mich, nicht daran zu denken, aber eine schmerzliche Möglich‐ keit kriecht in mein Hirn: Was mache ich, wenn ich sie bis Sonnenuntergang nicht gefunden habe? Der Gedanke löst eine erbitterte Entschlossenheit aus. Sie nicht zu finden, ist keine Option. Und in diesem Augenblick sehe ich ihn. Den gottverdamm‐ ten Hund. Wie ich es mir gedacht habe, verlassen ihn als Ers‐ ten die Kräfte. Mit seinem schwarzen Fell muss es ihm hier draußen dreckig gehen. Er hat seinen riesigen Kopf unter ei‐ nen Felsüberhang gestreckt. Es ist der einzige Teil von ihm, der im Schatten liegt. Ich ziehe vorsichtig meine Waffe und nähere mich ihm be‐ hutsam. Denk daran, was er dir angetan hat, sage ich mir, ob‐ wohl ich diese Ermahnung gar nicht nötig hätte: Mein Bein hat während der ganzen Jagd geschmerzt. Jetzt ist dieses Biest an
der Reihe, den Rest seiner Zeit auf Erden mit pochendem Schmerz zu verbringen. Ich werde tun, was ich kann, um sein Ende so qualvoll wie möglich zu gestalten. Das werde ich, denn ich habe keine Lust, ihn meinem Zorn entkommen zu sehen. »Hallo, Köter.« Er knurrt. Er ist nicht blöd. Aber sein Knurren ist nicht mehr der Schrecken, dem ich mich in der Scheune gegenüber‐ sah. Es ist das Knurren eines Betrunkenen in einer Gasse, der nur in Ruhe gelassen werden will. Zu schade. Ich hebe einen Stein von der Größe eines Baseballs auf und werfe ihn mit Wucht auf sein Hinterteil. Er heult auf. Sein Kopf fährt herum, und er fletscht die Zähne, aber er macht keine Anstalten anzugreifen. Stattdessen liegt er da und blin‐ zelt mich an. Das wird ein Riesenspaß. Ich kann ganz nah herangehen und ihm in die Beine schießen, eine Kugel für jedes Gelenk. Mich für die Qualen revanchieren, die er mir verursacht hat. Doch bevor ich den ersten Schritt gemacht habe, wird mir klar, wie töricht dieser Impuls ist. In der Stille der Wüste wird sich ein Schuss anhören, als würde der Himmel einstürzen. Man kann nie wissen, ob nicht irgendein masochistischer Narr auf der anderen Flussseite an den Klippen entlangwandert. Oder ein verirrter Mountainbiker strampelt über mein Land. Und warum sollte ich den beiden, denen diese Jagd gilt, für das billige Vergnügen, einen Hund zu quälen, meine Anwesenheit verraten? Ich sehe ihn an. Er leidet wirklich. Er hat Durst. Seine Zun‐ ge ist schlapp wie Brei. Er keucht laut. Eins ist klar, wenn ich ihm kein Wasser gebe, wird er sterben, bevor ich die Gelegen‐
heit habe, ihn zu töten. Das ist ein furchtbarer Gedanke. Ich suche nach einer Möglichkeit, ihn trinken zu lassen, und ent‐ decke erfreut eine Vertiefung im Fels, nur ein kurzes Stück von ihm entfernt. Aber wird er sich der Chance gewachsen zeigen? Er kann unmöglich wissen, was eine Wasserflasche ist, oder doch? Ich ziehe sie aus meinem Rucksack und schüttle sie. Er beäugt mich aufmerksam. Ich nähere mich. Er stöhnt, knurrt nicht, sondern stöhnt. Er spürt das Wasser. Ich lasse nicht mehr als zwei Löffel voll heraustropfen. Ich will es nicht ver‐ geuden, falls er nicht kommt. Aber er kommt. Unter weiterem Stöhnen wuchtet er einfältig sein Hinterteil in die Höhe, das ich so freudig verwundet habe. Er kommt vollkommen besiegt zu mir und trinkt das Wasser. Als längst keines mehr da ist, schleckt er noch immer am Fels. Ich gebe ihm mehr, etwa eine halbe Tasse voll, und er schlabbert auch das weg, dann sieht er mich an. Ich richte meine Pistole genau auf seine Schnauze. »Zurück«, befehle ich ihm. »Leg dich hin.« Er sieht mich nur weiter an. Ich packe die Wasserflasche weg und setze mich wieder in Bewegung. Er steht über dieser Vertiefung, während die Son‐ ne die letzten Spuren von Feuchtigkeit wegbrennt. »Ich komme wieder«, verspreche ich ihm. »Wartʹs nur ab.«
24 Lauren und Kerry waren noch in Hörweite, als Stassler den geschwächten Hund entdeckte. Ihre Trennung von Leroy war tränenreich gewesen und wegen der Dringlichkeit ihrer Flucht kurz ausgefallen. Sie hatten hinter einem Felsblock zugehört, als Stassler das hitzekranke Tier begrüßte; sein »Hallo, Köter« ließ keinerlei Freundlichkeit, sondern jede Menge Grausamkeit erahnen. Und sie erhielten die furchtbare Bestätigung durch Leroys schmerzerfülltes Aufheulen. Lauren biss sich fast die Unterlippe auf, als der Schweine‐ hund nach ihm warf. Sie hatten kurz erwogen, abzuwarten, ob Stassler an ihrem Felsblock vorbeilaufen würde, damit sie kehrtmachen und Leroy retten konnten, indem sie versuchten, ihn zum Auto zu tragen, aber das Risiko, entdeckt zu werden, zwang sie weiterzugehen. Drei Stunden lang waren sie über den glatten roten Fels ge‐ stolpert, aus dem die Vorberge bestanden, und sie waren da‐ bei durch so starke Hitzeströmungen gekommen, dass die Luft in Wellen flimmerte. Ihr Durst war immer schlimmer gewor‐ den, und nun hörten sie den Fluss Hunderte Meter unterhalb. Das Geräusch des Wassers allein war Folter genug, aber Lau‐ ren wusste, sie würden in wenigen Minuten hinunterblicken und tatsächlich die schäumenden Stromschnellen im frühen Abendlicht sehen. All diese Kühle, all dieser Trost. Sie würden auf das einzige Element hinabstarren, das sie zum Überleben
brauchten, in der Gewissheit, dass jeder Versuch, die Wand des Canons hinunterzusteigen, mit ihrem sicheren Tod enden würde. Sie mühten sich über das letzte Stück, wobei sie sich mehr‐ mals umsahen, wie sie es den ganzen Nachmittag getan hat‐ ten. Zweimal hatten sie ihn erspäht, was sie dazu veranlasst hatte, nach Nordosten abzubiegen, während Stassler weiter direkt auf das Steilufer zugehalten hatte. Lauren befürchtete jedoch stark, dass ihr Vorsprung nur leicht angewachsen war, ein Vorteil, der durch Kerrys wacklige Verfassung mehr als abgeschwächt wurde. Die Gefangenschaft hatte das Mädchen unsicher werden lassen. Lauren wusste nicht, wie sie es anders ausdrücken sollte. Sie hatte Kerry die meiste Zeit an der Hand führen müssen, und vor einer Stunde war sie sogar gezwun‐ gen gewesen, sie zu schlagen, als sie sich geweigert hatte, den kargen Schatten eines dürren Wüstenbaums zu verlassen. Lauren hatte noch nie einen Menschen geschlagen, aber für Diskussionen war keine Zeit gewesen. Nun befürchtete sie, das Mädchen delirierte vor Durst. Lau‐ rens eigene Zunge fühlte sich heiß und geschwollen wie eine Grillwurst an, als wäre sie mitten in der Nacht mit Hals‐ schmerzen aufgewacht, die sich von ihrer Kehle bis zu den Lippen ausdehnten. Wie sie noch eine Stunde bis zum Son‐ nenuntergang durchhalten sollten, daran dachte sie lieber nicht. Dabei war noch nicht einmal Sommer. Zurzeit herrschte Frühling in der Wüste. Temperaturen von rund fünfunddrei‐ ßig Grad. Mild nach hiesigen Maßstäben. Vor ihnen tauchte der Rand des Steilufers auf, und das Ge‐ räusch des Flusses wurde mit jedem Schritt lauter. Sie sah ihre Hände in den wilden Strom tauchen, eiskaltes Wasser schöp‐
fen, ein Wunsch, den die Sonne, die durch ihr weißes Oberteil brannte, zum inbrünstigen Verlangen werden ließ. Sie rechne‐ te mit Blasen auf Schultern und Rücken; Baumwollkleidung entspricht einem Sonnenschutzfaktor von 14, das genügte wohl kaum für einen ganztägigen ungeschützten Aufenthalt in nahezu baumlosem Gelände. Die wenigen Sträucher, die sie entdeckt hatten, sahen aus, als würden sie bald eingehen, und da sich Laurens Denken durch die unbarmherzige Hitze lang‐ sam verwirrte, kam sie zu dem Schluss, wenn man ein Baum war, dann musste das hier seine Hölle sein – durch rissigen Fels hindurch in trockener, staubiger Erde zu wurzeln, nur selten und nie genug zu trinken zu haben und von den Vögeln und vom Wind zu hören, dass es weit entfernt Länder gab, die so lieblich, feucht und grün waren, dass alles gedeihen konnte, selbst ein Baum wie du. Wenn er in diese Richtung schaut, sieht er uns. Der Gedan‐ ke ergriff von Lauren Besitz. Dennoch mussten sie nach einem Weg zum Wasser suchen. Wenn sie keinen fanden, hatten sie mindestens noch einmal drei, vier Stunden Fußmarsch vor sich, bis die Hügel in die Wüste ausliefen, wo sie dann endlich an den Fluss gelangen konnten. Gut und gern fünfzehn Kilo‐ meter, nach Aussage des Hubschrauberpiloten. Sie bezweifel‐ te, dass sie es ohne Wasser schaffen konnten. Allerdings hatte er Leroy Wasser gegeben. Vielleicht würde er uns auch welches geben. Stasslers merkwürdiger Akt der Freundlichkeit hatte sie verwirrt, ebenso sehr, wie das Steini‐ gen des Hundes ihren Zorn entfacht hatte. Aber sie traute sei‐ ner Freundlichkeit nicht, und nun traute sie sich selbst nicht mehr, weil sie der Hoffnung darauf erlegen war, wenn auch nur für eine Sekunde.
Sie tastete sich an den Rand und sah den Fluss tief unten. Ihre unverbesserliche Höhenangst ließ ihre Handflächen feucht werden, und sie musste sich auf den Bauch legen, damit sie mehr als einen kurzen Blick hinabwerfen konnte. Kerry andererseits wurde munter, als sie von der hoch aufragenden Klippe blickte. Sie hockte sich auf die Fersen, und die Spitzen ihrer Laufschuhe ragten über den Abgrund. Lauren drehte sich allein bei diesem Anblick der Magen um. Sie schauten beide nach Süden und suchten die gewellte Felsenlandschaft nach ihm ab. Sie sahen nichts als Schatten, denn es war die Zeit des Tages, da Steine, nicht größer als Fußbälle, Schatten warfen, die sich über die Länge eines Fuß‐ ballfeldes erstreckten. Irgendwo aus diesem dunklen Durchei‐ nander konnte er auf sie starren. Lauren zwang sich, die Wand unter ihnen zu studieren. Sie ließ den Blick weit nach rechts wandern, dann weit nach links, in einer Bewegung, wie sie ein riesiges Pendel, in dem violet‐ ten Himmel aufgehängt, vielleicht vollführen würde. Aber wohin sie auch sah, überall schien die Wand glatt wie Spiegel‐ glas zu sein. Sie trotzte ihrer Furcht, indem sie stückweise vor‐ rückte, bis sie mit Kopf und Schultern über den Abgrund rag‐ te. Dann streckte sie die Hände aus und drückte die Innenflä‐ chen an den Fels. Er fühlte sich erschreckend glatt an, und nir‐ gendwo ein Griff. Als ihr Blick vom Gestein zum Fluss hinun‐ terwanderte, zwang sie die aufkeimende Panik zu einem schnellen Rückzug. Ein kleines Stück rechts entdeckte sie einen drei Zentimeter breiten Riss, der rund zwanzig Meter die Wand hinablief, ehe er sich in den Schatten und dem Dämmerlicht verlor. Aber sie war keine Kletterin, und Kerry schüttelte den Kopf.
»Wir wissen nicht einmal, wohin er führt«, krächzte das Mädchen. Lauren gab ihr Recht, froh, dass Kerry vernünftig sprach. Sie rappelten sich auf und gingen weiter, auf der Suche nach einer Abflussrinne im Fels, wo eine Quelle einen Baum nährte oder ein Büschel Blumen aus der Wand spross. Irgen‐ detwas, das auf Leben, auf Feuchtigkeit hinwies. Sie hatten beide schon solche Stellen gesehen, wo grüne Blätter und bun‐ te Blüten in einer Canonlandschaft wuchsen. Vielleicht wür‐ den sie auch jetzt eine entdecken, da sie es am dringendsten brauchten. Die unbedingte Notwendigkeit, Wasser zu finden, löschte alle anderen Sorgen aus, einschließlich der Flucht vor Stassler. Ohne dass sie es je so offen aussprachen, war beiden Frauen klar, dass der Tod sie bald ereilen würde, falls sie kein Wasser fanden. Eine halbe Stunde Leidenszeit später zischte Kerry Lauren zu, stehen zu bleiben. Sie deutete voraus, zu einer Lücke im glatten Rand der Klippe. Dort fehlte in der nahezu senkrecht abfallenden Steilwand ein Stück Fels, etwa zehn Meter lang und sieben Meter breit, so dass ein ungefähres Rechteck mit einer Neigung von fünfzig bis fünfundfünfzig Grad übrig blieb. Immer noch so beängstigend, dass Lauren einen Meter Abstand hielt. Kerry dagegen trat direkt an den Rand. »Es ist steil, wirklich steil. Ich meine, es ist steiler als alles, was ich je mit dem Snowboard runtergefahren bin, aber wenn ich einen Halt für die Füße finde …« »Wozu?« Lauren sah nichts als Luft, scheinbar endlos weite Leere unterhalb des Abbruchs. Kerry antwortete nicht. Sie ging in die Hocke und prüfte den Fels.
»Es sieht aus wie ein Schacht, oder? Hier, diese Mineralab‐ lagerungen.« Sie zeigte zu einer kaum wahrnehmbaren Spalte nahe des Zentrums, die nur an dem dünnen, bandförmigen Schatten zu erkennen war. »Die stammen von Wasser. Wenn hier irgendwo Wasser fällt, würde es genau hier durchflie‐ ßen.« »Aber«, krächzte Lauren und hob beide Hände mit den Handflächen nach oben zum Himmel, »hier fällt nichts.« Kerry nickte. »Aber es könnte sich hier sammeln. Dort könnte eine Quelle sein. Ich steige einfach mal runter und sehe nach.« »Da runter!« Wieder sah Lauren jenseits des steilen Hangs nur das, was ihr am meisten Angst machte: leeren Raum, hoch über der harten Erdkruste. Kerry ging am oberen Ende des schrägen Felsens entlang. Lauren folgte ihr, hielt jedoch Abstand zum Rand. Als sie zur Mitte des Abschnitts kamen, beugte sich Kerry zum Fels hinab, suchte nach ein wenig Staub und rieb sich die Hände damit ein. Dann schwang sie ihre Beine über den Rand, als wollte sie von einem Dach auf eine Leiter steigen; aber da war keine Leiter, wie Lauren nur zu deutlich sah, und es gab definitiv keine Sprossen. Sie hatte das Gefühl, als wür‐ de sie dem Mädchen dabei zusehen, wie es Selbstmord be‐ ging. »Tu das nicht! Ich befehle dir, es nicht zu tun!« Kerry hatte gerade noch genug Spucke und Schwung übrig, um den Kopf zu schütteln. »Ich habe einen guten Griff. Au‐ ßerdem, was sollen wir sonst tun? Hier draußen sterben?« »Ich fürchte, du wirst sterben.« »Ich werde nicht sterben. Es …«
»Waren ihre letzten Worte.« »Es ist keine so große Sache.« Kerry grub die Spitzen ihrer Laufschuhe in den Hang. Ihre Finger, schmutzig von dem Staubbad, krallten sich an den Fels. »Würdest du jetzt bitte loslassen.« Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte Lauren das Mäd‐ chen an den Handgelenken gepackt. »Das ist verrückt. Du weißt nicht einmal, ob es da unten ei‐ ne Quelle gibt.« »Aber es gibt verdammt noch mal eine Spalte, und ich wer‐ de runtergehen und nachsehen.« Ihr Blick war wild, oder war sie nur wild entschlossen? Lauren wusste es nicht, ließ sie aber schließlich los. Kerry bewegte sich langsam die steile Wand hinab, den Körper flach an den Fels gedrückt. Ihre Finger tasteten und hielten sich an den kleinsten Vorsprüngen fest. Lauren hatte in Kalendern Bilder von Kletterern gesehen, mit sehnigen Mus‐ keln an Rücken und Armen, aber sie hatte noch nie gesehen, welche extreme Anstrengung so ein … »Nein!«, entfuhr es Kerry. Sie hatte daneben gegriffen und rutschte ab, rasch schneller werdend, direkt auf den Abgrund zu. Das Mädchen krallte sich an den Fels, während es rutschte, als wollte es ihn aufrei‐ ßen, aber es fand keinen Halt, und der Rand kam schneller und schneller. »Lieber Gott«, flehte Lauren. Kerrys Füße flogen über die Wand, dann ihr Körper, der Kopf, die Arme … Aber … Ja! Sie klammerte sich mit der lin‐ ken Hand an die Klippe und hielt sich fest. Lauren sah den
grimmigen Griff, die Knöchel wirkten hart wie das Gestein selbst. »Danke, danke«, murmelte sie. Und dann fiel Kerry. Lauren stöhnte auf. Sie hätte Tränen geweint, hätte ihr Körper noch Flüssigkeit für Trauer übrig gehabt. Kerry rief nicht, schrie nicht, verriet Laurens Position nicht an den Mann, der sie jagte. Lauren konnte ihren Mut nicht er‐ messen, die Beherrschung, die es erforderte, so weit hinabzu‐ stürzen, ohne vor Entsetzen, vor endgültiger, grausamer Angst laut zu kreischen. Und dann, so leise, dass Lauren es zunächst für Einbildung hielt, hörte sie eine Stimme. »Alles okay. Hier ist ein Felsvor‐ sprung. Und es gibt Wasser.« Kerry klang, als würde sie trinken. Mindestens eine Minute lang wechselten sie kein Wort mehr. »Komm«, sagte Kerry. »Es ist nur ein Tröpfeln, aber es macht den Mund voll, wenn man ein bisschen wartet.« Schon klang sie erfrischt, ihre Stimme war kräftiger. Aber da hinunter? Ausgeschlossen, dachte Lauren. Nicht in diesem Leben. Vor wenigen Augenblicken nur hatte Kerry – immerhin eine Sportlerin – den Halt verloren und wäre umgekommen, wenn dieser Felsvorsprung sie nicht aufgefangen hätte. Es kam Lauren gar nicht in den Sinn, dass Kerry den Sims viel‐ leicht gesehen hatte und absichtlich losließ. Es spielte aber keine Rolle, denn Lauren traute sich in kei‐ ner Weise zu, diesen Hang hinabzurutschen und sich dann auf einen weiteren Fels fallen zu lassen. Fallen lassen! Vergiss es. Es wäre verrückt, nur … Kerrys Gesicht tauchte über der unteren Kante der Klippe auf. Ihr Mund und ihre Wangen waren nass. Und sie lächelte.
»Man muss sich nur etwas mehr als einen Meter fallen las‐ sen, wenn man erst mal hängt, und dann hat man« – sie blickte nach unten – »fast einen Meter Platz zum Landen.« Fast einen Meter! »Wir könnten heute Nacht hier bleiben und am Morgen hochklettern. Oder wir trinken, bis wir platzen, und klettern dann nach oben.« Lauren fand beide Möglichkeiten kein bisschen verlockend. »Ich bin hier, um dir zu helfen. Ich kann dich halten. Versu‐ che dich einfach möglichst stark abzubremsen. Du musst den Körper und die Zehen richtig in das Gestein graben.« »Was, wenn ich dich mit nach unten reiße?« »Das passiert nicht. Ich lasse mich von niemand von diesem Ding hier stoßen.« Was bedeutete, dass hinunterfallen immerhin möglich war, nicht nur entfernt. Das war alles, was Lauren folgern konnte. Dennoch kniete sie nieder, als wollte sie sich vorbereiten oder beten, drehte sich herum und begann ihre Füße über den Rand zu schieben. Doch nein, unmöglich, sie … konnte … das … nicht. Dann entdeckte sie Stassler einige hundert Meter ent‐ fernt, eine dunkle Gestalt, die sich unter den anderen Schatten bewegte. »Stassler!«, zischte sie zu Kerry hinab, die nickte und wild gestikulierte, sie solle kommen. Noch nie hatte sie sich so gefürchtet, aber die Angst, wäh‐ rend dieser entscheidenden Sekunden abzustürzen, verblasste gegen die Angst vor einem Mann, der Skelette in seinem Kel‐ ler aufbewahrte, und der drei Menschen, darunter ein Kind, vor Kerrys Augen gefoltert und ermordet hatte. Ihre Hände waren schweißnass; sie hätte sie verfluchen
mögen, weil sie den Mund um die kostbare Feuchtigkeit be‐ trogen, und sie hätte sich selbst verfluchen mögen, weil sie sich nichts von Kerry abgeschaut und ihre Hände mit Staub eingerieben hatte. Sie verstand die seltsame Waschung jetzt, verstand, dass der Staub den Schweiß und die Öle der Hand bedeckte und den Griff ein wenig sicherer machte. Doch es war zu spät, zurückzugehen. Sie konnte nur noch nach unten. Sie hielt sich am Rand der Klippe fest und ließ ihre Beine hi‐ nab. Dann langte sie mit der rechten Hand nach unten, fand einen Höcker, der entfernt an einen Handgriff erinnerte, und umklammerte ihn so fest, dass ihre Finger schmerzten. Nun ließ die linke Hand den Rand der Klippe los, es gab kein Zu‐ rück mehr vor dem steilen Abstieg. Sie suchte das Gestein nach einem Halt ab, fühlte das plötzliche Gewicht ihres Körpers und rammte Zeige‐ und Mittelfinger in eine winzige Einkerbung; ihr schien, als hielte sie damit einen freien Fall auf, obwohl sie in Wahrheit nur ein paar Zentimeter abgerutscht war. Ihr Beine bebten so heftig wie die Kolben eines Turboladers. »Nicht nach unten schauen!«, warnte Kerry, aber erst, nachdem Lauren, die wie erstarrt in der Steilwand hing, den Kopf gedreht hatte, um in den dunklen Abgrund zu blicken, der darauf wartete, sie zu verschlucken. Ihre Fingerspitzen, glitschig wie chinesische Teigtaschen, verloren ihren dürftigen Halt, und sie begann abzurutschen. Nackte Panik trieb ihr das Kinn in den Fels, und ihr Kopf fing an zu rattern, während sie dem weit geöffneten Rachen des Canons entgegenglitt. Drei Fingernägel brachen, aber es gab kein Abbremsen, nur die entsetzliche Beschleunigung ihres Körpers. Dann schossen ihre Beine über den Rand. Ihr Bauch. Ihr Kopf. Und für eine kurze Sekunde sah sie den Felsvor‐
sprung, schmal wie einen Sarg, und den quälenden Hinter‐ grund aus Wildwasser und gigantischen Felsblöcken. Einen Augenblick lang hatte sie keinen Kontakt mit irgen‐ detwas, und die Welt, ihr Leben, alles, was sie kannte, befan‐ den sich völlig in der Schwebe. Sie wurde nicht von Erinne‐ rungen durchflutet, nur von einer nicht steuerbaren, unendli‐ chen Todesangst. Und dann landete sie auf dem Sims. Hart, auf ihrem Hin‐ tern. Instinktiv streckte sie die Arme aus, streifte an Fels, griff in die Luft. Sie schwankte auf dem Gesäß, ehe sie in Richtung Leere kippte. Ihre rechte Hand erwischte einen rauen Grat, während ihre Beine seitlich abschwangen und im leeren Raum baumelten, ein Vorgeschmack auf das, was sie erwarten moch‐ te. Sie griff verzweifelt nach Kerry. Das Mädchen packte sie am Arm, und Lauren brachte sich strampelnd in Sicherheit. Sie hielt erst still, als sie sich an die Wand gedrückt hatte. Noch immer heftig zitternd, bemerkte sie, dass sie sich in die Hose gepinkelt hatte. Nicht viel, es war kaum noch Wasser in ihr, aber ihre Hose war eindeutig nass. Es kümmerte sie in ihrer Angst nicht. Kerry beugte sich über sie. »Alles in Ordnung?« Lauren konnte nicht antworten, jedenfalls nicht sofort. Ebenso wenig konnte sie nach links, nach rechts oder gera‐ deaus blicken. Mit jedem Blick stürzte die Leere erneut auf sie ein. Deren alles durchdringende Gegenwart war unerträglich, und doch war sie praktisch von ihr umgeben. »Das Wasser«, flüsterte sie. Kerry half ihr hoch, und als Lauren sich aufrichtete, sah sie das herrliche Tröpfeln. Es erwies sich als überraschend ergie‐ big, als sie die ausgetrockneten Lippen dagegenpresste.
Sie trank minutenlang ohne Pause. Dann hörte sie, wie in einem neuen, hässlichen Traum, Kerrys leise Stimme. »Er ist da oben.« Ein Schritt, dann ein zweiter. Auch Stassler hatte an dem auffallend geformten Abschnitt der Klippe angehalten. Die beiden Frauen standen so still wie der Fels, der sie trug. Lau‐ ren fragte sich, ob er die Kühnheit besitzen würde, sich hinun‐ terzulassen, und falls er ins Straucheln geriet wie sie selbst, ob sie dann eventuell seinen Schwung ausnützen und ihn über den Felsvorsprung stoßen konnten. Aber warum sollte er sich die Mühe machen, überlegte sie. Er hatte bestimmt Wasser, und nur Wasser hatte sie und Kerry hier Halt machen lassen. Wasser und Angst, verbesserte sie sich, das eine so knapp, das andere so reichlich; aber wenn ihr eines davon versagt worden wäre, würde sie vielleicht nicht mehr leben. Er war ihre größte Angst gewesen, und diese Angst hatte sie hier heruntergetrieben, zu dem, was sie am dringendsten brauchte, zum Wasser. Seine Schritte stoppten schließlich. Dann ging er zurück. Sie hörten, wie er sich setzte. Lauren sah Kerry an und machte mit den Händen eine Ge‐ ste des Stoßens. Kerry verstand auf Anhieb. War je ein Mord‐ plan so schnell ausgeheckt und beschlossen worden? Lauren bezweifelte es. Kerry beugte sich vor und trank lautlos von dem Rinnsal. Unter sich hörten sie den Fluss, aber Lauren empfand das Ge‐ räusch nicht mehr als quälend. Tatsächlich erschien es ihr tröstlich, und sie kam zu dem Schluss, dass einen Wasser, wie viele andere Dinge, großmütig werden ließ, wenn man sich daran gesättigt hatte. Wie aber, fragte sie sich, war dann Stass‐
ler zu erklären? Er hatte mehr Erfolg gehabt als jeder andere lebende Bildhauer. In den Augen mancher Kritiker hatte er sich bereits zum Rang eines Constantin Brancusi oder Henry Moore aufgeschwungen. Aber Stassler war nicht großherzig. Stassler war ein kaltherziger Killer. Ein Kieselstein traf sie am Kopf. Ein zweiter landete auf Kerrys Schulter. Er ließ wie ein Kind Kiesel den steilen Hang hinabrollen. Wie ein Kind? Möglicherweise nicht ganz. Lauren hielt es für wahrscheinlich, dass er lauschte, ob es einen Aufprall gab, oder ob die Steine lautlos bis in den Canon tief unten stürzten. Nun fiel ein Stein von der Größe eines Golfballs. Zu ihrer eigenen Überraschung fing ihn Lauren auf und warf ihn wei‐ ter. Kerry schaute verwundert. Lauren flüsterte: »Er will herausfinden, ob …« Kerry legte den Finger an den Mund. Sie hatte verstanden. Beide starrten sie zu der Kante in der Wand gut einen Meter über ihnen. Als Nächstes kam ein Brocken von der Größe einer Orange. Kerry erwischte ihn nur halb, konnte ihn aber gerade noch über den Vorsprung hinaus ablenken. Er geht unglaublich methodisch vor, dachte Lauren. Sie werden größer. Und noch größer: Ein Stein, so groß wie eine Grapefruit rollte wütend über die Klippe. Lauren beförderte ihn geradezu schockierend elegant, mit einer Bewegung, die halb Fangen, halb Schleudern war, nach unten in den Fluss. Sie befürchtete, er könnte einen Felsblock hinabrollen, der sie zermalmte. Aber sein Spiel endete so plötzlich, wie es be‐ gonnen hatte.
Sie hörten, wie er sich aufrappelte und wegging. Diesmal kehrte er nicht zurück. Laurens Mund war wieder trocken ge‐ worden, und die nächste halbe Stunde tranken sie abwech‐ selnd von dem Rinnsal. Jedes Mal, wenn sie die Lippen an den nassen Fels presste, dachte sie an Ry. Als sie nicht mehr trinken konnten, saßen sie mit dem Rücken zur Wand. Lauren spürte ein fürchterliches Ziehen in der Leiste, wenn sie den Kopf hob und nichts als Luft zwi‐ schen sich und der gegenüberliegenden Steilwand sah, und dieses Gefühl wurde noch verschlimmert durch den beengten Raum, den sie zusammen mit Kerry einnahm: Die rechte Seite an das Mädchen gedrückt, hatte sie links noch fünf Zentimeter freien Sims. Sie hätte sich einen Kilometer gewünscht und sich mit einem Meter zufrieden gegeben und fühlte sich unge‐ schützt wie eine Fensterscheibe im Hurrikan. »Also gut, Spider Woman«, stieß sie ihre Studentin an. »Und jetzt?«
25 Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich gezwungen, das Undenkbare zu denken. Auch jetzt noch suche ich nach Hoff‐ nung, während ich über das Land blicke, das allmählich dunk‐ ler wird; aber einfältiger Optimismus ist nichts anderes als Leugnung der Tatsachen in ihrer jämmerlichsten Verkleidung, und ich war immer zu Recht stolz darauf, dass ich nicht nach solch billigem Selbstbetrug gestrebt habe. Ihre Widerlichkeit und die nymphomane Medienhure sind mir entkommen, und die Folgerungen daraus sind gewaltig. Egal, wo sie wieder auftauchen, es wird das Ende meines Lebens als Bildhauer bedeuten, zumindest für die nähere Zukunft. Es gibt Dinge, die ich tun kann, die ich tun werde, aber nichts kann verhin‐ dern, dass mir auf kurze Sicht Schaden zugefügt wird. Das erscheint nun so gewiss wie das Untergehen der Sonne, die eben am Horizont versinkt. Ich schnuppere die Luft, Salbei und Wacholder, aber wo diese Düfte ihren Ursprung haben, weiß ich nicht. So wenig lebt auf diesem Felsgestein. Vielleicht handelt es sich nur um olfaktorische Erinnerungen, der erste meiner Sinne, der sich nach all dem sehnt, was ich zurücklassen muss. So viele Opfer gebracht zu haben, so weit gekommen zu sein, nur um dann alles den Händen der Philister zu überlas‐ sen – das ist eine Kränkung, deren Heftigkeit ich schwerlich vorhersehen konnte. Ich kann es mir nicht einmal leisten zu trauern, jedenfalls nicht im Augenblick. Wenn ich nicht schnell
bin, kommen sie hinter meine Methoden und werden danach trachten, die Gesamtheit meines Werks zu diskreditieren. Sie werden in Schlagzeilen von den Methoden meines Wahns sprechen, den Begriff bis zum Erbrechen neu prägen, und das alles wegen dieser nymphomanen Medienhure, wenngleich mir klar ist, dass ich ebenfalls ein wenig Schuld habe. Ich hätte diesen Hund nie auf mein Land lassen dürfen. Ich hätte ihn auf der Stelle erschießen sollen, wie jeden anderen Hund, der je aufgetaucht ist. Ich hätte sie schreiend zu den Behörden rennen lassen sollen. Wem hätten sie geglaubt? Diesem er‐ bärmlichen Frauenzimmer oder mir, wenn ich gesagt hätte, das Tier hat mich angefallen. Rottweiler sind bissig, ich kann ein Lied davon singen. Sie hätte mit ihrer Beschwerde nichts erreicht. Es ist eine so bittere Ironie, dass sie mit ihrer stümperhaften Suche das alles zum Einsturz bringt. Der größte Bildhauer der letzten Jahrhunderte, gezwungen, wie ein Flüchtling in die Nacht hinauszurennen, weil ein Trampel wie sie zufällig in mein Leben stolpert. Läuft es nicht immer so, dass die Bescheidenen versuchen, die Stolzen zu versklaven? Das ist genau meine Definition von Demokratie. Ich wünsche mir nichts mehr, als in Gedanken bei ihrem Ableben zu verweilen, bei den ausgeklügelten Mitteln, mit denen ich sie langsam töten könnte; aber ich kann mir solches Schwelgen nicht länger leisten. Während ich zurückeile, muss ich alle Dinge durchgehen, die zu tun sind. Ich überlege, zum Beispiel, dass es am besten sein wird, die Mine zu sprengen. Damit wären Dutzende von Gräbern versiegelt, zusammen mit den Gesichtern, den echten Gesichtern all derer, denen ich
das Leben genommen habe. Ich würde diesen Verlust zutiefst betrauern. Nach meinem Tod sollten diese Gesichter auf die Welt schauen, aber sie müssen ebenfalls begraben werden. Es ist die einzige Hoffnung für meine mögliche Rückkehr. Ich habe meinen Jüngsten Tag als Künstler sorgsam vorbe‐ reitet, wenngleich ich mir nie selbst das Leben nehmen würde, nur das Leben derer, die bereits in meine Hände übergeben, mir vom Schicksal anvertraut wurden, könnte man sagen, auf dass ich ihr Gebieter sei. Ich werde die Skelettparade vom Kel‐ ler herauftragen müssen und zum Schacht hinüberschaffen. Das kann Stunden dauern, aber am Ende werden sie alle bei Superhirn landen, der seinerseits zu vielen anderen stieß. Die Mine wird zur Deponie werden, aber wenn ich fertig bin, wird jeder handfeste Beweis, den man gegen mich ins Feld führen könnte, vernichtet sein. Kein Sheriff wird Hun‐ derttausende von Dollar genehmigen, um ein eingestürztes Bergwerk ausgraben zu lassen, ohne genau zu wissen, welche Schätze es birgt. Und das weiß kein Mensch auf Erden, auf keinen Fall wissen es die nymphomane Medienhure und Ihre Widerlichkeit. Sie wissen nur vom Keller, vom Käfig. Sollen die Behörden davon halten, was sie wollen. Es ist kein Verbre‐ chen, einen Käfig zu besitzen, und ich stelle mir vor, dass mehr als ein Strafverfolger dessen robuste Konstruktion be‐ wundern wird. Und dann werde ich warten, wie die Kojoten hier draußen warten. Ich werde notfalls Jahre warten, um zu sehen, wie sich alles entwickelt. Es wird die zornigen Worte dieser beiden ekelhaften Frauen geben, ihre Aussagen gegenüber dem She‐ riff und der Presse, aber ohne corpora delicti werden diese Wor‐ te Staub ansetzen. Wenn aus Monaten Jahre geworden sind
und die Aufmerksamkeit von Presse und Polizei sich den Tau‐ senden anderen zugewandt hat, die normalerweise höchst sinnlos ermordet werden, dann werde ich mir die beiden vor‐ knöpfen, und sie werden gründlich das Leiden und den Tod erfahren, den sie verdient haben. Die Boulevardpresse wird das plötzliche Fehlen der beiden kommentieren … vielleicht …, aber wieder wird kein Ver‐ dächtiger in Sicht sein, man wird nur feststellen, dass der be‐ rühmte Bildhauer vor langer Zeit verschwunden ist. Der She‐ riff, wer immer das dann sein wird, wird gemessenen Tones verkünden, dass der Fall nicht als abgeschlossen gilt, aber in‐ sgeheim werden er und seine Ermittler wissen, dass ohne Lei‐ chen und ohne Zeugen Aussagen, die Jahre früher gemacht wurden, nicht gerade wahnsinnig hilfreich sind. Ich denke, dass es mir wahrscheinlich innerhalb eines Jahr‐ zehnts möglich sein wird, wieder aufzutauchen. Ich werde immer noch ein junger Mann sein. Ich werde überall erzählen, dass mich die Schrecken jener Zeit veranlassten, die Einsam‐ keit zu suchen, und ich rechne angesichts der Mechanismen des zeitgenössischen Kulturbetriebs damit, dass man mir nicht nur vergeben wird, sondern dass ich gefragter sein werde denn je. Es wird Rockbands geben, die Stassler heißen, und meine Skulpturen werden sich zu einem Vielfachen des urs‐ prünglichen Preises verkaufen. Man wird meine Rückkehr begrüßen, denn so will es das Wesen des Kommerzes. Ich werde erneut mit dem Medium Fleisch arbeiten, aber dann mit unendlich mehr Vorsicht. Dies ist der Trost für meine angeschlagene Seele, als ich mich auf den langen Rückmarsch mache. Dies sind aber auch die Tröstungen, die einem Mann zuteil werden, der klug ge‐
nug war, viele Wege in die Zukunft gepflastert zu haben. Ich brauche nicht sehr viel Zeit. Ich rechne damit, dass ich gegen Mitternacht wieder auf dem Anwesen sein kann, um mein Le‐ ben dort abzuschließen. Ich habe alles, was an Papieren nötig ist, um ein neues zu beginnen, und mehr Geld auf ausländi‐ schen Banken, als ich je brauchen werde. Ja, ich werde in den Tagen, die vor mir liegen, jede Menge Zeit haben, zu trauern und die Art und Weise zu planen, wie diese beiden schluss‐ endlich sterben werden. Im Norden, hoch über den La Sal Mountains, reißt der Himmel auseinander, und viele Sekunden später höre ich den Donner. Es stimmt, Donner hört sich tatsächlich wie herabstür‐ zende Ziegelsteine an. Ich blicke zum Nachthimmel empor, froh, dass ich mich noch an seiner schlichten Schönheit freuen kann, dass meine Lebensfreude nicht über Gebühr abge‐ stumpft wurde von den höchst unerfreulichen Ereignissen dieses unglückseligen Tages. Ein plötzlicher Schwall kühler Luft lässt mich frösteln, als hätte ich den Schrank einen Spalt weit geöffnet, der zur Mine führt. Sie hatte die Hand auf die falsche Tür gelegt, als sie die Gießerei besichtigte. Ich war darauf gefasst gewesen, sie auf der Stelle zu filetieren. Aber sie war weitergegangen, und ich zog die Hand wieder aus der Tasche, in der mein Messer steckte. Ich las die Leere in ihren Augen und wusste, ich hatte wenig zu befürchten. Aber ich irrte mich. Ich machte den Fehler, ihre Hartnäckig‐ keit zu übersehen und die stumpfnasige Neugier ihres Hun‐ des. Wie viele Hunde habe ich getötet, sowohl auf der Ranch als auch bei meinen Streifzügen, so wie diesen süßen Border Collie, den ich als Köder benutzte? Zwei Dutzend? Drei Dut‐
zend? Jedes Mal ein Vergnügen, das kann ich Ihnen versi‐ chern. Und dann kommt dieses dämliche Vieh daher und schlüpft einfach an mir vorbei in die Scheune. Oder vielleicht hat sie es ja so geplant. Hat ihn nicht ins Haus gelassen, nicht in die Gießerei, und dann, als ich eingelullt war, ließ sie ihn durch diese Tür spazieren. Aber nein, zu viel der Ehre. Sie hat nichts dergleichen getan. Es erschien ihr wahrscheinlich ein‐ fach in Ordnung, dass das Tier in einer Scheune frei herumlau‐ fen darf. Ich habe ja selbst keinen Gedanken an ihn ver‐ schwendet, ehe er zu scharren anfing. Es gibt andere Dinge, die ich bereue, stärker bereue. Es ist unmöglich, nun keine Selbstkritik zu üben. Ich hätte mir nie die Zeit nehmen dürfen, diese schändliche Wunde zu säubern. Ich hätte mir die Pistole schnappen und laufen sollen. Lieber eine Infektion riskieren als die Gefahr, dass sie entkommen. Aber das hielt ich für ausgeschlossen. Welche Chance hatten sie? Ich hatte sie die ganze Zeit im Blick. Erst als ich die Trep‐ pe hinaufrannte und dann wieder nach draußen, habe ich sie verloren. Und selbst da dachte ich noch, sie würden schlapp‐ machen, vielleicht sogar hier draußen umkommen. Jeder ver‐ nünftige Mensch hätte dasselbe gedacht. Ich habe nicht damit gerechnet, dass sie es bis zu den Felsen schaffen und auf der harten Oberfläche keine Spuren mehr hinterlassen. Es ist sogar möglich, dass sie gerade zurückeilen, und in diesem Fall müs‐ ste ich schlicht fliehen, ohne Hoffnung, die Mine zerstören und so eines Tages die Karriere eines der größten Bildhauer aller Zeiten wiederaufleben lassen zu können. Das Unwetter kommt immer näher. Blitze erhellen das Land wie Leuchtfeuer, tauchen es für Sekunden in bleiches Weiß, und dann stürzen die Ziegelsteine wieder.
Der Wind erfasst mich, und ich sauge ihn ein, rieche das Ozon. Bald wird Regen folgen. Jedes Mal, wenn es hell wird, sehe ich ihn wie einen riesigen Vorhang im Norden fallen. Re‐ gen lässt die Wüste aufleben, ein uraltes Tier, das sich aus dem Schlaf erhebt. Der Fels, auf dem ich stehe, wird ihn abstoßen wie das Gefieder von Wasservögeln, und die Flut wird sich in das ausgedörrte Land rings um mein Anwesen ergießen und die trockenen Bachläufe mit aufgewühlten, braunen Wasser‐ massen, mit Sand und Schlamm füllen. Sie wird um die Fels‐ blöcke schwappen und in die Treibsandfelder laufen, die im Verborgenen geschlummert haben wie die Schaufelfußkröten, jene hässlichen, katzenäugigen Kreaturen, die sich in der Erde eingraben, bis Regenfälle ihren wütenden Drang, sich fort‐ zupflanzen, in Gang setzen. Alle möglichen Formen von Leben in der Wüste werden bald mit wildem Gesicht erwachen. Diese Nächte sind ein Wahn, eine herrliche Verrücktheit, und wenn das Unwetter heftig genug ist, und dieses hier fühlt sich sehr unbußfertig an, kann es den Himmel erschüttern, die Erde beben lassen und die Entwurzelten mit sich reißen. Ich spähe in Richtung der Ranch, über die vielen Kilometer hinweg, die ich durchgehalten habe. Ich beobachte sorgfältig die Flanken der Hügel und warte auf den nächsten Blitz. Ich könnte getroffen werden, aber das glaube ich nicht. Ist es nicht merkwürdig, dass ich mich in meinem verwundbarsten Au‐ genblick so überaus geschützt fühle? Lange weiße Klauenfinger zerreißen die Dunkelheit, werfen Schatten und grelles Licht über die Hügel, ein Helldunkel, das eines Caravaggio würdig wäre. Ich stehe erstaunt vor den Tie‐ fen, zu denen Wahrnehmung führen kann, dankbar für diesen
einzigartigen Augenblick. Und dann sehe ich sie. Es ist, als wollte dieses gottlose, öde Universum sagen: Da sind sie. Nimm sie dir. Nimm sie beide. Sie gehören dir. Du hast sie verdient. Du hast sie dir mit deiner Seelenqual, mit deiner un‐ verfälschten Verzweiflung verdient. Sie sind nur etwa hundertfünfzig Meter entfernt. Zwei Frauen, die über den Fels fliehen. Ich recke das Gesicht zum Himmel und strecke die Arme aus, um das zunehmende To‐ ben zu umfangen. Die ersten schweren Tropfen klatschen auf meine Wangen. Donner rollt vorüber, getrieben von heftigen Windböen. Der Felsen, auf dem ich stehe, erzittert, und ich brülle einen unaufhebbaren Schwur hinaus, einen Laut, so rein und ursprünglich, dass er nur eines bedeuten kann: Mord und Überleben, das eine geboren aus dem anderen. Beide geboren aus Blut.
26 Sie hatten sich mehr als eine Stunde lang auf dem sargförmi‐ gen Sims ausgeruht, jedoch nicht lange genug, damit sich Lau‐ ren an ihrem unsicheren Rastplatz wohlgefühlt hätte. Dafür hätte selbst eine Ewigkeit nicht ausgereicht. Sie war wie ers‐ tarrt dagesessen, absolut ehrfürchtig angesichts der Ungez‐ wungenheit mit der Kerry aufstehen und von dem Rinnsal trinken konnte, ohne sich erkennbar viele Gedanken über die prekären Umstände zu machen. Lauren trank ebenfalls, aber erst, nachdem Kerry aufge‐ standen war, ihr die Hand gereicht und sie fest an sich gezo‐ gen hatte. Sie erreichte schnell den Punkt, wo sich das Ver‐ hältnis zwischen ihrem Bedürfnis nach Wasser und ihrer Hö‐ henangst eindeutig zur Seite der Furcht neigte. Aber dann brach über den Bergen im Norden ein Sturm los, mit zornigen Wolken, deren riesige Muskeln in das purpurne Leuchten der Dämmerung stießen, und Kerry sagte leise, dass sie nun gehen müssten. »Warum?« Lauren wollte sich nicht bewegen. Sie wollte Wurzeln schlagen. »Das ist im Augenblick wahrscheinlich der gefährlichste Ort für uns. Wenn wir hier nicht verschwinden, könnten wir hinuntergespült werden.« Lauren blickte nach oben, und sie verstand die bittere Wahrheit. Wenn das Unwetter losbrach, würde der schräge Teil der Felswand über ihnen den Regen sammeln und zu ei‐ nem gewaltigen Wasserfall werden.
»Wie viel Zeit haben wir noch?« Lauren wollte sich nicht eher rühren oder aufstehen, bis es absolut notwendig war. »Eigentlich gar keine. Man kann nie sagen, wie schnell so ein Sturrn kommt. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, bei starkem Wind hier rauszuklettern, wenn uns der Regen peitscht, und …« »Halt«, bat Lauren. Es war grausam genug, sich den Auf‐ stieg überhaupt vorzustellen, auch ohne von allen tobenden Elementen dieser grässlichen Wüste durchgeschüttelt zu wer‐ den. »Am besten, du gehst zuerst«, sagte Kerry. »Wieso ich«, brauste Lauren auf, als hätte man sie irgendei‐ nes Vergehens beschuldigt. »Weil ich dir helfen kann, wenn ich hinter dir bin.« Lauren krümmte sich innerlich wegen ihrer Feigheit, die sie Großmut als deren schroffen Gegensatz missverstehen ließ. Kerry stand auf und formte einen Steigbügel aus ihren Händen. »Ich schiebe dich erst mal an. Dann kannst du auf meine Schultern steigen, und von dort dürfte es nicht mehr schwierig sein, nach oben zu klettern. Am unteren Teil der Klippe ist ein kleiner Sockel, an dem du dich festhalten kannst.« Sie machte eine Kopfbewegung zur unteren Kante hin. »Wie klein?« »Ein paar Zentimeter. Es reicht.« »Fünf Zentimeter?« »Das ist eine Menge beim Klettern.« »Für dich vielleicht.« »Du kannst es auch, Lauren. Du musst.« »Wie kommst du hinauf?«
Lauren, die immer noch saß und sich an den Felsvorsprung klammerte, hatte vergessen, dass Kerry in jenen kummervol‐ len Augenblicken, da sie gedacht hatte, das Mädchen sei laut‐ los in den Tod gestürzt, bereits allein nach oben geklettert war. Kerry erinnerte sie daran und sagte: »Ich bin mir sicher, du könntest es auch, aber wenn du zuerst gehst, kann ich helfen. Abgesehen davon: Hier hinaufzusteigen, wird nicht das Prob‐ lem sein.« »Und was wird das Problem sein?« Aber Lauren brauchte eigentlich nicht zu fragen. Das Problem würde sein, die steile Schräge hinaufzukommen, die zwischen dem unteren und dem oberen Rand der Wand lag. Langsam deutete sie nach oben. »Das meinst du, oder? Wenn wir auf das Schrägstück kommen.« »Na, ja …« Kerry zögerte. »Ich denke, es müsste einfacher sein, nach oben zu klettern, als es war, runterzukommen.« Himmel, hoffentlich. »Wir werden ja sehen«, fügte sie fröhlich an. Wir werden sehen? Lauren wünschte sich bessere Aussichten. Doch die nächsten Worte des Mädchens boten nicht den ge‐ ringsten Trost: »Wir haben sowieso keine Wahl.« »Willst du noch mal trinken, bevor es losgeht?« Kerry streckte wiederum die Hand aus, und Lauren zwang sich, auf‐ zustehen. Sie trank, trank noch mehr. »Bist du jetzt so weit?«, fragte Kerry. »Ich denke schon.« Kerry stellte sich breitbeinig genau neben das dünne Rinn‐ sal. Lauren hob den linken Fuß und stellte ihn in Kerrys ge‐ wölbte Hände.
»Lass dein Bein nicht so stark zittern.« »Ich versuchʹs ja«, sagte Lauren kläglich. »Ich will nämlich nicht, dass wir das mehr als einmal ma‐ chen müssen. Es ist ein bisschen riskant, und je öfter wir es versuchen, desto größer die Gefahr, dass du …« »Halt! Sag es nicht. Ich schaffe es, versprochen.« »Okay. Auf drei, dann.« Kerry zählte, und als Lauren sich emporgehoben fühlte, streckte sie ihr Bein und versuchte, mit aller Willenskraft ihre Hände zu dem fünf Zentimeter großen Sockel am unteren Rand der Klippe zu bringen. Es bedeutete, all den leeren Raum hinter und neben ihr außer Acht zu lassen. Praktisch bedeutete es außerdem den Versuch, sich binnen Sekunden in jemanden zu verwandeln, der sie nie gewesen war – eine Frau, deren Hände vor grauenvoller Höhenangst nicht sofort schweißnass wurden. Sie stieg höher und höher – nicht nach unten schauen, nicht! –, stöhnte vor echter Angst, bis sie mit der rechten Hand den Sockel zu fassen bekam. Dann griff ihre linke Hand zu, und sie fühlte die endlose, schwerelose Tiefe hinter sich. Am liebsten hätte sie geweint. Kerry sagte, sie würde sie nun loslassen, aber nur für einen Augenblick, bis sie die Schultern unter Laurens Füße gescho‐ ben hatte. »Gut«, flüsterte Lauren. Sie hing da, die Brüste an den Fels gequetscht, und wusste, wenn sie fiel, hätte sie noch Glück, wenn sie auf ihrem Sturz in die Tiefe nicht von dem Sims unter sich abprallte. Kerry schob die Schultern unter Laurens Schuhe, und das Gewicht an Laurens Händen wurde leichter.
»Atme«, befahl Kerry. Lauren war nicht bewusst gewesen, dass sie die Luft ange‐ halten hatte. »Jetzt steig da rauf«, sagte das Mädchen. Während Kerry von unten drückte, gelang es Lauren, die Ellbogen auf den schmalen Sockel zu schieben. Sie reckte den Hals, bis sie die gesamte restliche Felswand über sich aufstei‐ gen sah, rund sieben Meter. Die Entfernung schien unüberb‐ rückbar. Trotzdem schob sie den Bauch über den Sockel, indem sie mit den Händen nach unten drückte, bis die Arme durchgest‐ reckt waren. Der Rand schnitt sie nun ein wie ein zu enger Gürtel, aber noch viel schlimmer war der Druck auf ihren Ar‐ men. Um sie zu entlasten, würde sie möglichst schnell ihre Knie ebenfalls über den Sockel bringen müssen. Mit einem Schwall panischer Angst kam ihr zu Bewuss‐ tsein, dass sie sich außerhalb von Kerrys Reichweite befand, dass sie auf sich allein gestellt war, dreihundert Meter über dem Fluss. Verzweifelt hob sie das rechte Bein an und zwängte das Knie auf den schmalen Sockel, den ihre Hände bereits besetzt hielten. Nun musste sie das andere Bein noch nach oben brin‐ gen. Sie streckte die Arme weit nach oben und drückte sie, wie auch das Gesicht, fest an die Wand. Bewusst hielt sie die Luft an, balancierte ihr gesamtes Gewicht auf dem rechten Knie und brachte das linke vorsichtig in Stellung. Geschafft. Sie kniete, wenn auch zitternd, auf dem schmalen unteren Rand der Felswand. Die Arme hatte sie ausgestreckt, und ihre Finger fühlten sich an wie Krallen. Sie nahm wahr, dass sie mit den wenigen Fingernägeln, die sie sich bei ihrem
ungelenken Abstieg nicht abgebrochen hatte, Vertiefungen in den Fels zu kratzen versuchte. »Lauren, du musst anfangen zu klettern oder zur Seite rut‐ schen, damit ich nach oben kann.« Beide Möglichkeiten flößten ihr Entsetzen ein, aber gerade‐ wegs nach oben zu streben, erschien ihr geringfügig sicherer, denn falls sie fiel, könnte Kerry sie auffangen. Oder? Sie klammerte sich gerade lange genug an diese zarte Illusi‐ on, um ihren ersten Schritt zu machen, sich mit entenartig nach auswärts gedrehten Füßen aufzurichten, bis ihr ganzer Körper an den Fels gepresst war. »Los!«, drängte Kerry. »In den Bergen regnet es schon. Riechst du es nicht? Wenn es nass wird, ist das Gestein hier glitschiger als Scheiße.« Lauren nickte mit geschlossenen Augen. Sie wünschte, sie könnte sich in Leim verwandeln, in irgendeine Substanz, die klebrig genug war, damit sie an diesem Fels haften blieb. Sie testete, welchen Halt sie mit ihren Entenfüßen fand. Zu ihrem eigenen Entsetzen funktionierte es! Sie bewegte sich tatsäch‐ lich einige Zentimeter an der Wand nach oben. Von Kerry kam sofort Aufmunterung. »Weiter. Du machst das großartig.« Kerrys Stimme erklang direkt hinter ihr. Lauren wagte es noch immer nicht, zurückzublicken, aber sie konnte hören, dass sich das Mädchen mit dem Kopf bereits über jenem ge‐ fährlichen ersten Rand befinden musste. Laurens Hände und Füße fanden Ritzen und Nischen im Fels und winzige Vorsprünge, an die sie sich krallen konnte. In dieser schwerfälligen und völlig verschüchterten Art legte sie noch einen halben Meter zurück, wobei sie sich pausenlos ge‐
waltsam aus der Angststarre lösen musste, die sie bei dem Gedanken befiel, sie könnte rückwärts in die große Leere glei‐ ten. »Nicht erschrecken«, sagte Kerry, »ich lege jetzt die Hände an deine Füße und schiebe. Okay?« Lauren nickte, während Kerry, auf dem unteren Rand kniend, die Handflächen unter ihre Schuhsohlen schob und drückte. Lauren kam rasch in der Wand nach oben voran, wo‐ bei ihre Hände jeden Quadratzentimeter nach Halt abtasteten. Dann richtete sich Kerry auf und wiederholte die Übung, bis sie ganz ausgestreckt war. Lauren fand sich nun völlig verstei‐ nert wieder – knapp außerhalb Kerrys Reichweite, aber immer noch fast drei Meter unter dem Rand. Sie befürchtete, es kei‐ nen Millimeter weiter zu schaffen, an dieser Stelle hängen zu bleiben, bis ihre Muskeln der Macht der Schwerkraft unterla‐ gen. »Ich klettere um dich herum«, sagte Kerry. Lauren antwortete nicht, überzeugt, dass jede Unterbre‐ chung ihrer Konzentration sie unweigerlich in den Tod stür‐ zen ließe. Kerry schob sich langsam rechts an ihr vorbei nach oben. Sie hielt nicht einmal an, um zu ihr hinüberzusehen. Ihr Blick war auf die Felsoberfläche direkt vor ihr gerichtet, und sie prüfte das Gestein so eingehend, als könnte sie die Wand mit den Augen zerspringen lassen. Sie kletterte ohne Pause, bis sie den oberen Rand zu fassen bekam. Erst dann blickte sie hinab zu Lauren. »Wir schaffen es.« Lauren konnte kaum glauben, dass Kerry einmal ihre Stu‐ dentin gewesen war, so tief fühlte sie sich nun in ihrer Schuld.
Kurz darauf sollte sich dieses Gefühl noch verstärken. Kerry zog sich nach oben und schälte sich dann sofort aus ihrer Jeans. Sie hängte sich mit dem oberen Drittel ihres Körpers in die Schräge und ließ die Hose zu Lauren hinab. »Halt dich dran fest. Das ist leichter, als wenn du dich am Fels festhältst.« Lauren legte ihr ganzes Vertrauen in Kerrys Urteilskraft und griff nach den Hosenbeinen. Während das Mädchen Stück für Stück zurückwich und heftig zog, erreichte Lauren schließ‐ lich den Punkt, wo sie die Hand ausstrecken und den oberen Rand fassen konnte. Sie zog sich noch einen halben Meter mühsam nach oben, und dann packte Kerry sie von hinten am Hosenbund und hievte sie in Sicherheit. Beide Frauen atmeten schwer. Kerry stand auf und zog ihre Jeans an. Der Wind zerzauste ihr das dunkelrote Haar. »Wir haben es gerade noch rechtzeitig geschafft. Schau dir das an.« Nachdem sie noch ein Stück von der Klippe weggekrochen war, brachte Lauren endlich genügend Mut auf, sich umzub‐ licken. Weiterhin zuckten Blitze über den La Sal Mountains. Sie zählten gemeinsam, ein seltsamer Chor gemurmelter Zah‐ len, aber als der Donner dann endlich losbrach, grollte er in den tiefsten Tönen. Lauren sah zu Kerry empor. »Ich möchte dir danken. Du hast mir das Leben gerettet.« »Hör auf, wir sind noch nicht annähernd quitt. Du hast mir heute schon zweimal das Leben gerettet. Du hast mich aus diesem gottverdammten Käfig geholt, und als ich mich dann da draußen hinlegen und sterben wollte, hast du es
nicht zugelassen. Also schulde ich dir noch etwas, Professo‐ rin.« »Nein.« Kerry zog sie auf die Füße. Vor ihnen lag nun die lebens‐ wichtige Entscheidung, ob sie weiter am Steilufer entlanglau‐ fen sollten, bis es in rund fünfzehn Kilometern zur Wüste hin abfiel, oder ob sie kehrtmachen und zu Stasslers Ranch zu‐ rückgehen sollten. »Ich weiß, welchen Weg ich einschlagen will«, sagte Kerry. »Er ist da langgegangen.« Sie zeigte am Steilufer entlang in Rich‐ tung Wüste. »Also will ich da lang.« Ihr Finger schwenkte wie ein Panzerturm in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Er ist vielleicht da langgegangen«, wandte Lauren ein. »Er könnte aber auch umgekehrt sein, weil er damit rechnet, dass wir das Gleiche getan haben. Es ist mehr als eine Stunde her, seit wir ihn gehört haben.« »Wollen wir hoffen, ihn nie wieder zu hören.« Kerry blickte voll Unbehagen über die im Dämmerlicht liegende Land‐ schaft. Es war jedoch unwahrscheinlich, dass sie Ashley Stass‐ ler entdeckten, falls dieser sich zwischen den Felsblöcken oder in den Senken zwischen den sanft ansteigenden, felsigen An‐ höhen versteckte. »Ich denke, wir sollten zurückgehen«, sagte Lauren. »Aber nicht zu Stasslers Anwesen. Wir benutzen es nur als Bezugs‐ punkt und marschieren zum Highway, wo wir jemanden an‐ halten können. Das ist kürzer, denn wenn wir den anderen Weg gehen und zum Fluss kommen, müssen wir anschließend immer noch marschieren. Ich weiß nicht, wie es dann weiter‐ geht. Weißt du es?« Sie hatte vom Hubschrauber aus nur Wü‐ ste gesehen.
Kerry schüttelte den Kopf und betrachtete die Gewitterwol‐ ken, die sich auf der anderen Seite der Schlucht auftürmten. »Selbst wenn er zurückgeht«, fuhr Lauren fort, »könnten wir vor ihm dort sein, und ich glaube außerdem, dass Ry in‐ zwischen vielleicht auf der Ranch eingetroffen ist. Wenn ja, kann er uns helfen; aber wenn wir sein Auto nicht sehen, ge‐ hen wir nicht hin, sondern machen uns auf den Weg zum Highway. Ich habe zu Ry gesagt, dass ich auf jeden Fall zu‐ rück bin, ehe es dunkel wird.« »Aber es wird gerade erst dunkel.« »Ich weiß, aber bis wir dort sind, ist es richtig Nacht. Viel‐ leicht ruft er sogar den Sheriff.« Der Gedanke an den Sheriff, an Rettung, besiegelte ihren Entschluss. Sie schlugen den Weg über das felsige Gelände ein, das sie vor Stunden heraufgekommen waren. Es dehnte sich meilenweit vor ihnen aus. Von Norden rollte Donner heran, er wurde mit jedem Kra‐ chen lauter. Der Sturm musste jeden Augenblick über sie hin‐ wegfegen. Lauren stellte sich vor, dass sie Deckung suchen würden, wenn er zuschlug. Vorläufig jedoch eilten sie weiter. Sie rannten nicht direkt, sondern huschten flink die schrägen Felsflächen hinauf und hinunter, vorbei an treibendem Ge‐ strüpp und Felsblöcken in der Größe von Lastwagen. Lauren spürte den Regen zuerst auf ihren Armen, dann im Nacken. Ein Blitz schlug so nahe ein, dass sie beide auf die Knie stürzten. Sie rochen die verbrannte Erde und hörten eine Sekunde später den Donner. »Wow,«, sagte Kerry. Sie erspähten einen Spalt zwischen einem Felsblock und der glatten Felsfläche, die sie gerade überquerten. Sie spurteten
darauf zu und kauerten sich hinein, und in diesem Moment schlug keine fünfzig Meter ein weiterer Blitz ein, sie hörten, wie die Elektrizität das feuchte Gestein versengte, rochen es auch wieder, eine verblüffende Mischung aus feuchter Wolle, Schwefel und allen Hitzespitzen eines Lagerfeuers zugleich. Ein überwältigender Geruch. »Scheiße!«, sagte Lauren. Kerry stieß sie an. »Keine Sorge. In ein paar Minuten ist es wahrscheinlich weitergezogen.« »Nein«, keuchte Lauren. »Er!« Sie zeigte auf Stassler, der auf sie zukam, scheinbar ohne den Sturm, der rings um ihn tobte, im Geringsten zu beachten. »Nichts wie weg«, sprudelte Kerry hervor. Beide rannten los, weit mehr in Angst vor ihm als vor dem Gewitter. Lauren bildete es sich möglicherweise nur ein, aber die Schritte, die sie hörte, waren weder ihre eigenen noch die von Kerry, und sie hämmerten wie der Donner. Sie hasteten die felsigen Anhöhen hinauf und hinunter, stolpernd, torkelnd, schlugen sich Arme und Ellenbogen an, aber liefen weiter, zwei Frauen, die ihre letzten Energiereser‐ ven mobilisierten und hauptsächlich dank des plötzlichen Ad‐ renalinstoßes überlebten. Ein Blitz ließ den Hang erbeben, den sie gerade durchquer‐ ten, und beide warfen sich zu Boden wie Soldaten, die von einem Granatenangriff in die Luft geschleudert werden. Aber die zwei waren nicht von Schrapnellen durchsiebt, nicht ver‐ stümmelt und bewegungsunfähig. Schon erhob sich Lauren wieder, blickte sich um und sah Stassler größer denn je aufra‐ gen. Er holte auf, der Abstand betrug vielleicht noch dreißig Meter. Sie erkannte die Pistole in seiner Hand.
»Wir müssen uns trennen«, rief sie Kerry zu. »Er kann uns nicht beide gleichzeitig verfolgen.« Sie rannten weiter, wobei sie sich nach wie vor an der Hand hielten. »Du läufst nach rechts«, stieß Lauren zwischen zwei Atem‐ zügen hervor, »und ich halte mich geradeaus oder links, je nachdem, was er tut.« Kerry schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Wir bleiben zu‐ sammen.« »Er hat eine Pistole. Wenn wir zusammenbleiben, tötet er uns beide.« Zum ersten Mal seit Stunden las Lauren große Angst in Kerrys Gesicht. Sie sah es, obwohl beide rannten, und sie fühl‐ te es im festen Griff der jungen Frau. Sie blickten sich um und stellten fest, dass Stassler verschwunden war; aber dann tauchte sein Kopf hinter einem Felsblock wieder auf, und sie erkannten, dass er nicht langsamer geworden war. Er schrie, Worte, die sie durch Regen, Wind und Donner unmöglich ver‐ stehen konnten. Im nächsten Augenblick feuerte er seine Pisto‐ le auf sie ab, ein Schuss aufs Geratewohl, der nur eine minima‐ le Chance hatte, sein Ziel zu treffen, und sie höchstwahr‐ scheinlich nur so sehr einschüchtern sollte, dass sie stehen blieben. In diesem Fall hatte er seine Aufgabe erbärmlich ver‐ fehlt, denn Lauren drückte in diesem Moment Kerrys Hand und schob sie weg. Die beiden stoben auseinander wie Spat‐ zen, Kerry steuerte tatsächlich nach rechts und vergrößerte rasch die Lücke zwischen sich und Lauren, die geradeaus wei‐ tersauste, dann in eine Wand aus Felsblöcken raste und wie eine Flipperkugel wieder aus ihr herausschoss. Lauren warf einen Blick über die Schulter und sah Stassler
auf einen Felsen springen. Er blickte in ihre Richtung, dann in Kerrys. Sie frohlockte über seine Unentschlossenheit. Dann wusste sie plötzlich tief im Herzen, was sie tun musste, um das Leben des Mädchens zu retten. Sie wartete, bis er sich wieder ihr zuwandte, und in diesem Moment lief sie noch fünf Schritte und stürzte. Sie wälzte sich auf den Rücken, fasste sich am Knöchel und schrie. So lag sie da, als ein Blitz eine Fels‐ spitze nur zwanzig Meter entfernt traf. Der Regen peitschte sie, spülte ihr den Staub und Schweiß vom Gesicht und ließ nur die Panik und Angst zurück, die Stassler sehen sollte. Er hob tatsächlich triumphierend die Arme, die Pistole zeichnete sich vor dem zuckenden Himmel ab, dann sprang er von dem Felsen und rannte auf sie zu.
27 Ich hatte sie gerade einmal fünf Minuten lang verfolgt, als sie mich entdeckten, aber das war mir egal. Ich wusste, wenn sie mich inmitten dieses Unwetters auftauchen sahen, würden sie völlig den Verstand verlieren, ein Verlust an Nerven und Intel‐ ligenz, den sie sich nicht leisten konnten, wenn man berück‐ sichtigte, in welch gefährlich fragilem Zustand beides selbst unter günstigsten Bedingungen bei ihnen war. Worüber sollte ich mir Sorgen machen? Sie rannten Händ‐ chen haltend davon wie Hänsel und Gretel, und in meinen Fantasien überlegte ich, wer von ihnen in ihrem Professorin‐ Studentin‐Spiel die Gretel gab. Der entscheidende Punkt war, sie waren zusammen. Ich musste mir keine Sorgen machen, dass sie entkommen könnten, und als ich sie wie zwei Kinder fliehen sah, spürte ich, wie sich alle früheren Bedenken im kal‐ ten Atem dieses Gewitters auflösten. Und dann schockierten sie mich, indem sie sich trennten. Das war ein intelligenter Zug, und er kam so überraschend, als wäre man in einem Theaterstück und ganz von dessen gespielter Wirklichkeit überzeugt, nur um zu erleben, wie ein Schauspieler plötzlich aus der Rolle fällt, sich ans Publikum wendet und um ein Bier bittet. Ich hätte nie vermutet, dass sie zu so einer List, zu sol‐ cher Opferbereitschaft fähig wären. Ich hätte mein Haus dar‐ auf verwettet, dass sie aus Angst vor mir zusammenbleiben würden. Ihre plötzliche Trennung zwang mich, anzuhalten und eine Entscheidung zu treffen, aber was ich mir am mei‐
sten wünschte, was ich am nötigsten hatte, war, keine solche Wahl treffen zu müssen: Ich brauchte sie beide. Nun blieb mir als einzige Möglichkeit, eine von ihnen so schnell wie möglich zu töten und dann sofort die andere zu jagen. Aber dann überdachte ich das Ganze noch einmal. Viel‐ leicht doch nicht. Vielleicht würde mir die unbarmherzige Großmut eines Wüstensturms die Arbeit abnehmen. Der Ge‐ danke tröstete mich, aber nur ein Narr setzt auf den Zufall, wenn die Gewissheit unmittelbar daneben liegt. Ich konnte die beiden erschießen, die Mine mit der Mordwaffe darin zum Einsturz bringen und fliehen. Sie würden die Pistole niemals finden, und ich könnte abwarten, bis die Jahre die Erinnerung an die Taten undeutlich werden ließen, wenn auch, natürlich, nicht die Erinnerung an mich. Es war also noch nicht alles verloren, aber ich musste schnell handeln. Und das tat ich, als ich sah, wie die nympho‐ mane Medienhure stürzte und sich umherwälzte wie ein Kleinkind, das vom Dreirad gefallen ist. Erstaunlich, dachte ich, wie sich unsere Probleme augenblicklich von allein lösen, wenn wir kühlen Kopf bewahren. Ich lief auf sie zu, wobei ich aus dem Augenwinkel auch noch Ihre Widerlichkeit verfolgte, allerdings verlor ich sie dann zwischen den Schatten und den Felsen aus dem Blick. Immerhin kannte ich ihre Richtung, und die Nacht begann eben erst. Ich wusste auch, was sie dort in der Dunkelheit er‐ wartete, wenn nicht sofort, dann aller Wahrscheinlichkeit nach später. Es würde ihr ebenso viel Schrecken einjagen, wie ich es tat. Und sie musste stark geschwächt sein, da sie nichts ge‐ trunken und gegessen hatte. Erst jetzt schmeckte sie zum ers‐ ten Mal Wasser. Sie würde nicht lange laufen, ehe sie stehen
blieb, um zu trinken, und wenn sie war, wie viele Leute, die in der Wüste fast umkamen, würde sie sich als unersättlich er‐ weisen und kaum mehr laufen können, wenn sie ihren Durst gelöscht hatte. Was ich in meinem neu gewonnenen Gleichmut nicht vor‐ aussah, war die Arglist der nymphomanen Medienhure. Kaum rannte ich auf sie zu, erhob sie sich wie ein Krüppel beim Auftritt eines Fernsehpredigers und spurtete los, völlig ungehindert von irgendeiner Verletzung. Ein abscheuliches Verhalten, wie eine Vogelmutter, die ei‐ nen gebrochenen Flügel vortäuscht, um einen Fuchs von ihren Jungen wegzulocken. Nun sehe ich mich neuen Schwierigkeiten gegenüber. Sie hält den Abstand zwischen uns so konstant, dass ich über‐ zeugt bin, sie lockt mich absichtlich weiter weg von Ihrer Wi‐ derlichkeit. Warum sonst würde sie sich so häufig umdrehen? Angst ist natürlich eine Antwort, und auch wenn mir der Ge‐ danke schmeichelt und ich nur zu bereitwillig einräume, dass sie eine Rolle spielen mag, würde ich mir etwas vormachen, nicht zu erkennen, dass der Erfolg ihres Täuschungsmanövers sie ebenfalls anspornt. Doch diese Verschlagenheit, diese wi‐ derwärtige Unaufrichtigkeit war schon immer ein so charakte‐ ristisches Merkmal von ihr, dass mich diese Wendung der Dinge eigentlich nicht hätte überraschen dürfen. Überraschend ist nur, dass sie für ihren billigen Verrat in mir ein Opfer ge‐ funden hat. Warum ich das zuließ, ist eine Frage, die ich ir‐ gendwann klären muss, und sei es nur, damit sich so etwas nie wiederholt. Doch solange sie weiter in Richtung meines Anwesens läuft, bin ich nicht übermäßig besorgt, weil ich weiß, was sie erwar‐
tet. Sie kann die Wunder der Wüstennacht unmöglich vorher‐ sehen, sie kann nicht wissen, wie ein Sturm dieser Größenord‐ nung das Land ummodelt. Sie wird mehr sein als ein Vogel, der einen gebrochenen Flügel vortäuscht, sie wird ein Vogel sein, dem die Flügel komplett gestutzt wurden, der zusehen muss, wie ein Fuchs seine Jungen frisst. Es wird heute Nacht kein Anwesen geben, keine Straße. Nicht für sie. Woher ich das weiß? Weil der Regen ein unbarmherziger, brutaler Ver‐ bündeter ist. Er hat mich durchnässt. Er durchnässt sie. Re‐ genwände peitschen den Fels und schmerzen in den Augen. Ich sehe ihr tropfnasses Haar im Wind schlagen, und jedes Mal, wenn sie zurückschaut, schlängeln sich Strähnen davon über ihre Wangen und die Stirn. Am besten ist aber, dass ich ihre Angst sehe, echte, nackte Angst. Ich will, dass ihr Gesicht überfließt vor Angst, dass es noch hässlicher und entstellter wird für all die Mühen, die sie mir bereitet. Aber ich bekomme sogar mehr als verlangt, denn sie rutscht aus und stürzt schwer. Kein billiger Trick diesmal. Sie fasst sich wirklich ans Knie und reibt es heftig. Sie steht auf, aber sie humpelt vornüber gebeugt, hält sich das Knie und versucht gleichzeitig zu laufen. Nun sind wir plötzlich nicht mehr so schnell, wie? Siehst du, wie rasch sich alles ändern kann? Ich bin fast in Rufweite. Ich möchte ihr zurufen, stehen zu bleiben, uns die ganze Mühe zu ersparen. Dann wird mir klar, dass ich ziemlich sicher auch in Schussweite bin. Ich muss diesen Vogel nur anschießen, und er gehört mir. Ich hebe den linken Arm, lasse den Lauf der Pistole zwi‐ schen Ellbogen und Handgelenk aufliegen und ziele. Ich führe sie, wie ich es bei einer Ente, einem Hirsch oder Hund tun würde, und schieße.
Sie fährt bei dem Einschlag zusammen, aber sie ist nicht getroffen, jedenfalls nicht von der Kugel. Ich sehe, wie sie beim Laufen an ihr Bein schlägt, als würde sie Felssplitter abbürsten, die auf ihre Haut gespritzt sind. Knapp, sehr knapp. Ich will näher heran, bevor ich es erneut versuche, deshalb behalte ich meinen Laufschritt bei. Sie hat aufgehört, ihr Knie zu tätscheln, ich nehme deshalb an, meine letzte Injektion von Furcht hat sie gegen jeglichen Schmerz, den sie gefühlt haben mag, immun gemacht. Ich glaube allmählich, dass sie eine alte Läuferin ist. Ich kenne mich da ein wenig aus. Ich habe in der Highschool Querfeldeinlauf gemacht und auf dem College mehrere Halbmarathons absolviert. Ich bin seit Jahren kein Rennen mehr gelaufen, aber ich erkenne ernsthafte Läufer, wenn ich welche sehe, und ich muss sagen, sie ist eine ernsthafte Läuferin. Wenn man so verschlagen ist wie sie, soll‐ te man wahrscheinlich eine sein. Sie hat einen routinierten Laufstil, bei dem sie nicht viel Energie mit wilden Arm‐ und Beinbewegungen verschwendet. Das würde mich nachdenk‐ lich stimmen, wenn ich nicht genug damit zu tun hätte, das Tempo zu halten. Ich muss zugeben, ich werde langsam müde, und dabei verdunkeln sich meine Gedanken über sie. Auch wenn sie es noch nicht weiß, wird sie ebenfalls bald gezwun‐ gen sein, langsamer zu laufen und schließlich anzuhalten, wenn nicht vor Erschöpfung, dann wegen der Verschlagenheit der Wüste selbst. Die Medienhure hat kein Monopol auf Falschheit. Auch die Wüste ist, wie sie bald sehen wird, nicht immer das, was sie zu sein scheint. Bis dahin kann ich nur versuchen, Schritt zu halten. Sie ver‐ größert den Abstand zwischen uns, zweifellos weil sie denkt,
wir sind nun weit genug entfernt von ihrer kleinen Freundin. Damit hat sie Recht. Ich bin fünfzig, vielleicht siebzig Meter hinter ihr, und sie zeigt noch immer keine Anzeichen von Schwäche. Aber ich muss Schritt halten, in Sichtweite bleiben. Nur für alle Fälle. Doch es fällt mir zunehmend schwer. Sie ist wie dieser idioti‐ sche Hase im Fernsehen, dem nie die Puste ausgeht. Ich kann mich nicht einmal mit Gedanken an ihren Tod beruhigen. Ich habe genug damit zu tun, sie nicht aus den Augen zu verlie‐ ren. Und dann höre ich es und beruhige mich, schnaufe tief durch. Ja, ich höre dieses herrliche Geräusch. Es dringt als der gütigste Erlöser zu mir. Ich muss jetzt nicht einmal mehr lau‐ fen, aber ich tue es, da ich kein Risiko eingehen will. Ich muss sehen, ob sie ihr Leben wegwirft. Ich wünsche ihr diese Mi‐ schung aus Verzweiflung und Dummheit, die man braucht, um das Unmögliche zu versuchen. Es würde meinen Interes‐ sen sehr dienen. Das Geräusch wird lauter. Als ich es zum ersten Mal hörte, klang dieses Brüllen so belebt, dass es mich frösteln ließ. Dann näherte ich mich, spürte die Erde unter mir beben, als würden sich böse Geister – falls man an solches Zeug glaubt – erheben, um die Dunkelheit an sich zu reißen. Und dann sah ich es. Der Mond war hervorgekommen, drei Viertel voll, und die Ober‐ fläche reflektierte ihn wie blitzendes Chrom. Und hier ist es wieder, ich sehe es. Und ich sehe auch sie, völlig verdutzt von dem Anblick, wie gelähmt steht sie da und starrt darauf. Weiß nicht, was sie tun soll. Geh lieber nicht zu nahe ran, nymphomane Medienhure, es schluckt dich wie nichts.
Sie sieht mich an. Im gebrochenen Licht, das sich vom Himmel ergießt, zeige ich ein breites Lächeln. Um meinen Schussarm zu stabilisieren, verlangsame ich, bis ich nur noch gehe. Das letzte Mal habe ich sie verfehlt, weil ich zu weit weg und außer Atem war. Diesmal mache ich es mir einfach und knalle sie aus nächster Nähe ab, wie die Zeitungen so gern schreiben. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, dass ich äußerstes Selbstbewusstsein ausstrahle, mein Lächeln mit jedem Schritt aufblühen lasse, ihr den unzerstörbaren Ein‐ druck vermittle, dass sie in einer der speziellen Sackgassen der Wüste gefangen ist. Ich erwärme mich an dem Umstand, dass sie sich nicht be‐ wegt, nirgendwohin läuft. Wohin könnte sie auch? Und ihr muss klar sein, dass auch Ihre Widerlichkeit am Fortkommen gehindert ist, eingeschlossen von meinem größten Verbünde‐ ten, dessen lange, mächtige Arme bei einem plötzlichen Regen zum Leben erwachen, durch dessen Trockenbette tief und schnell das Wasser rauscht, in Strömen, die so stark sind, dass sie Felsblöcke losreißen und in die leeren Weiten der Wüste mitnehmen. Das warʹs, Medienhure, starr so lange auf diesen Sturzbach, wie du willst, aber wenn du versuchst, dieses tosende Wasser zu durchqueren, wirst du sterben. Du bist an einem der Phan‐ tomflüsse der Wüste angekommen und stehst nun an seinem unsicheren Ufer. Sie geht nicht näher. Ich sehe sie nach links und rechts blik‐ ken. Sie könnte am Ufer entlanglaufen, aber wohin würde sie kommen? Nach rechts gehen, hieße, mich zu ihrer Freundin führen, für die sie zu sterben gedachte, und der Weg links führt in den Rachen dieses breiter werdenden Irrsinnsflusses,
zu all dem Wasser und Geröll, das sich nun die sandigen Uferbänke einzuverleiben beginnt. Schau, hier geht ein Stück dahin – sie macht einen Satz nach hinten –, verschlungen von der hungrigen Strömung. Sie sieht mich an. Der Abstand zwi‐ schen uns beträgt noch gut zehn Meter. Jetzt ist sie diejenige, die eine Wahl treffen muss. Oder fällt sie auf die Knie und fleht wie ein Bettelmönch um das lumpige Almosen ihres Le‐ bens? Ihr Blick geht zurück zum Fluss. Wie tief ist er? Ich kann sie beinahe denken hören. Tief, meine Liebe, tief nach den dürren, engen Maßstäben der Wüste. Zwei Meter. Das hört sich viel‐ leicht nicht nach viel an, aber wenn man hineingerät, schleu‐ dert einen das Wasser mit der Wucht einer Waschmaschine umher. Ich habe die Leichen von Menschen und Tieren nach solchen Unwettern gefunden, die Haut oder die Häute grün und blau und aufgerissen von den Schlägen, die sie hinneh‐ men mussten. Eigentlich kaum anders als die Sturzfluten, die durch unsere Städte rauschen. In Los Angeles wimmelt der breite Fluss in seinem Betonbett immer von allem möglichen Zeug – Matratzen und alten Autos, ausgewachsenen Bäumen und Kühlschränken – vor allem aber von Menschen, die ster‐ ben. Man macht sich keine Vorstellung davon, wie schnell so eine Flutwelle ist, bis man einmal gesehen hat, wie sich ein Arm aus dieser schäumenden Schlammmasse erhebt, die zum Meer strömt. Ein einzelner Arm, emporgestreckt, als sollte ihn jemand herauspflücken. Und dann versinkt dieser einzelne Arm, um nie wieder gesehen zu werden. Wenn sie hineinspringt, findet sie meinen Beifall. Sie wird von allein ertrinken, und ich muss nur noch Ihre Widerlichkeit zur Strecke bringen.
Aber wenn nicht, werde ich es erzwingen. Das hier ist sogar besser, als sie vom Steilufer stürzen zu lassen. Es gibt immer lästige und langwierige Fragen, wenn jemand aus großer Hö‐ he fällt. Aber Überschwemmungen in der Wüste fordern jedes Jahr Menschenleben; die Unwissenden wie die Erfahrenen fas‐ ziniert dieses gewalttätige Nebeneinander von schäumendem Wasser und kahlem Land, den altehrwürdigen Bestandteilen von Erde und Himmel. Es ist schwer, nicht von der Art und Weise gebannt zu werden, wie das eine das andere ver‐ schlingt, große Brocken herausreißt und fortträgt. Aber die Wüste gewinnt immer. Ausnahmslos. Denn die Sonne scheint immer. Daran erinnere ich mich, als ich mich der Frau nähere. Was auch geschieht, die Wüste gewinnt immer.
28 Das tosende Wasser riss ein weiteres Stück Ufer weg, gerade mal einen halben Meter von Lauren entfernt. Es ging so schnell, dass es ihr vorkam, als wäre das Land einfach ver‐ schwunden. Wenn sie es nicht durch die Füße gespürt hätte – dieses raue Lebendigwerden von Wurzeln, Steinen und Erde – , sie hätte womöglich ihren Augen nicht getraut. Sie hatte einige Augenblicke gezögert, eingesperrt zwischen dem Fluss, der unaufhörlich dahinraste, und Stassler, der unaufhaltsam näher kam; arrogant genug, um sein Tempo zu verringern, als hätte er keine Eile mehr nötig. Sie wusste, sie konnte ihm jederzeit weglaufen, aber auch seiner Pistole, sei‐ nen Kugeln? Die einzige Deckung rauschte in den tosenden Fluten vorbei, und nachdem sie bis zum letzten Stück Ufer zurückgewichen war, als sie dem Wasser so nahe war, dass sie beim kleinsten Erdrutsch mitgerissen würde, rannte sie flus‐ saufwärts, da sie Kerrys Sicherheit selbst jetzt noch nicht ge‐ fährden wollte. Sie spurtete unmittelbar am Rand entlang, for‐ derte ihr Schicksal mit den Füßen heraus, beschloss in der selt‐ samen Klarheit ihrer Panik, dass sie sich, falls er sie anschoss, eher in die Flut stürzen würde, als blutend in seine Hände zu fallen. Kaum war der Entschluss gefasst, strich die erste Kugel so nahe an ihrem Gesicht vorbei, dass sie den Luftzug an der Na‐ senspitze spürte. Sie begann unberechenbar hin und her zu flitzen wie die Regentropfen, die auf ihre Haut spritzten. Sie
hörte zwei weitere Schüsse, ehe die Waffe verstummte und auch Stassler zu laufen begann. Das Licht war inzwischen so schwach, dass sie zweimal stolperte und beinahe stürzte. Einen Knöchel durfte sie sich nicht verstauchen, nicht jetzt. Aber wenn es für mich schwierig ist, dachte sie, ist es für ihn genauso schwierig. Er rief ihr etwas zu. Sie hatte keine Ahnung, was er schrie. Einen Befehl? Eine Bitte? Egal. Sie verhandelte nicht. Immer wieder blickte sie zum Fluss und hielt nach einem Übergang – einem schnellen Übergang – Ausschau. Sie hoffte auf einen Felsbogen. Es gab viele davon hier in der Wüste, große, weit geöffnete Fenster, deren Öffnungen von Eis und Schnee, Wasser und Wind herausgemeißelt worden waren. Sie könnte auf einem solchen Bogen den wütenden Fluss über‐ queren und dann weiter zu Stasslers Anwesen laufen. Viel‐ leicht fand sie dort Ry, auf jeden Fall aber die Straße und Ret‐ tung. Allerdings … es gab womöglich mehrere dieser Fluten, ein regelrechtes Gewirr aus Flüssen und Bächen, das sich kreuz und quer durch die Wüste zog, wie wenn ein Wasserglas auf dem Küchenboden verschüttet wird und sich vielarmig aus‐ breitet. Eine Schlacht nach der anderen, sagte sie sich, so gewinnt man den Krieg. Sie strebte nach dem Trost und der Hoffnung einfacher Lösungen. Aber die einfachste von allen — der Bo‐ gen – war eine Illusion, und sie wusste es, während sie nach dem leichten Übergang suchte, den er versprach. Das Gewitter war weitergezogen und mit ihm eine un‐ schuldigere Furcht, eine, die brutal und unmittelbar aus der Natur geboren wurde; doch die krummen Finger des Unwet‐
ters erhellten in der Ferne weiter den Himmel und durchdran‐ gen das Dunkel eines Gebiets mit großen Felsblöcken, in das sie nun kam. Groß wie Autos sahen sie aus, wie Lastwagen, Felsen auf Felsen getürmt, aber nirgendwo ein Bogen. Sie lief zwischen diesen Hindernissen hindurch und wich ihren kleineren, gespenstisch schattenhaften Brüdern aus, den dürren Bäumen und spitz gezahnten Kakteen, den buckligen Steinen und plötzlichen Wasserlöchern. Stassler fiel zurück, und sie war stolz auf ihre Kraft, ihre Ausdauer, stolz darauf, einen Mann zu übertrumpfen, der so sichtlich von seiner eige‐ nen Fitness beeindruckt war. Doch seine Gestalt war im Gerä‐ tetraining geformt worden, das hatte sie auf den ersten Blick gesehen, als er die Tür geöffnet und die Morgensonne harte Schatten auf die glatte Haut seiner Schultern und der Brust geworfen hatte. Lauren dagegen hatte sich ihre Fitness mit Läufen in den Straßen und Parks von Portland und über die staubigen Wege im Angeles National Forest verdient. Nun würde sie die Wü‐ ste besiegen, denn ein Scheitern war undenkbar. Am Ende würde er aufgeben müssen. Sie würde ihn laufen lassen, bis er zusammenbrach. Und je länger sie lief, desto leichter würde Kerry entkommen. Es war ihre Hoffnung ge‐ wesen, ihn immer weiter von ihrer Studentin wegzulocken, ihn zu zwingen, sich auf sie zu konzentrieren. Doch der Erfolg hatte Lauren Auftrieb gegeben, ihre Ziele erweitert. Nun sah sie sich bereits mit Kerry in einem Atelier an der Universität wiedervereint, bei der Arbeit mit Gips oder Stein, Hartholz oder Marmor. Bei der Arbeit. Der bloße Klang löste wilde Freude aus, zu tun, was man liebte, für etwas bezahlt zu wer‐ den, was man ohnehin tun würde.
Diese Gedanken spornten sie an. Sie hatte ihren Rhythmus hier draußen in der zunehmenden Nacht gefunden, wie sie ihn auf Tausenden von Trainingskilometern gefunden hatte. Sie hörte, wie ihr Atem in seinen natürlichen Takt fiel, so im Ein‐ klang mit ihrer Flucht, dass es ihr wie ein Wunder erschien, und die Endorphine strömten durch ihr Gehirn wie der Fluss durch die Wüste. Nun, da Stasslers Kugeln sie verfehlt hatten, hielt sie zehn Meter Abstand vom Fluss. Sie lief so gelöst, dass sie blinzeln musste, als sie die Felsblöcke aus dem Wasser ragen sah, sich den Regen aus den Augen blinzeln, um zu erkennen, wie sie sich wahllos quer über den Fluss auftürmten, oder war es etwa gar nicht wahllos? Manche waren riesig, ein, zwei Stockwerke hoch. Als sie zurückblickte, war Stassler zu einer fernen Gestalt geworden, die sich schwerfällig dahinschleppte. Sie eilte ans Ufer und besah sich die Felsblöcke genauer. Eine Brücke? Viel‐ leicht, wenn auch nicht, wie sie es sich vorgestellt hatte. Mehr wie eine Kette von Steinen, auf denen man einen Bachlauf überqueren kann. Aber das war kein schmaler Bach hier, den man mit ein paar Hüpfern und einem beherzten Sprung überwinden konnte, und das waren auch keine Steine. Es war‐ en Felsblöcke, in einer Strömung gefangen, die stark genug war, sie fortzuspülen. Sie schauderte bei der Vorstellung, wie sie sich an einen der massiven Felsen klammerte, während dieser sich den Fluss hinabzuwälzen begann. Sie hatte von den breitstämmigen Kie‐ fern gelesen, die jedes Jahr an der Küste von Oregon angespült werden, entastet von den stärkeren Armen der See. Jeden Sommer starben Kinder, die auf ihnen spielten, wenn überra‐
schende Wellen die freundlich wirkenden Bäume in giganti‐ sche Nudelhölzer verwandelten, die ihre jungen Besucher in die Brandung schleuderten und auf dem sandigen Untergrund zermalmten. Schluss damit, zischte sie. Du kannst es schaffen. Als sie die Felsblöcke ein letztes Mal überprüfte, erkannte sie, dass sie eine Zinne bildeten, einen Turm, der sich un‐ gleichmäßig aus dem Wüstenboden erhob, dick, spröde und beim Sturz auseinander gebrochen, ehe die Elemente der Erde sie glatt gescheuert hatten. Nur ein Meter Wasser trennte sie vom ersten und größten Felsblock, und sie besetzte ihn im Handumdrehen. Der Regen prasselte ihr schwer auf Rücken und Schultern und machte den Fels nass, aber Sekunden später hatte sie seine Spitze erklom‐ men. Sie fand sich in sechs, sieben Metern Höhe wieder, noch nicht so hoch, dass sie sich fürchtete, aber hoch genug, um die kleineren Felsen zu überblicken, und um Stassler zu erspähen, der auf weniger als hundert Meter herangekommen war. Noch erschreckender war das tosende Wasser zwischen diesem Felsen und dem nächsten, der etwa einen Meter fünf‐ zig entfernt war. Sie stieg langsam von ihrem bescheidenen Gipfel ab und prüfte den Rand, dann nahm sie Anlauf und sprang. Sie lande‐ te mit einem guten Stück Spielraum, was sie weiter ermutigte. Der dritte Felsblock wartete ein kleines Stück entfernt. Stassler war inzwischen zum Ufer eingeschwenkt. Sollte er ruhig. Lauf dein eigenes Rennen, nicht seines. Aber das war absolute Idiotie, und sie wusste es in dem Moment, in dem sie es dachte. Ihr einziges Ziel bestand darin, ihn auf Abstand zu halten. Alles darunter war Selbstmord.
Sie überbrückte die geringe Distanz zum dritten Brocken ohne weitere Pause und stieg in eine Mulde in dessen Mitte ab. Als sie auf der anderen Seite wieder nach oben krabbelte, blieb ihr die Luft weg angesichts der Lücke, die sich nun auftat. Es sah unmöglich aus. Mindestens zwei Meter fünfzig. Sie fluchte, und Wind und Regen trugen ihren Kraftausdruck fort. Sie wandte den Kopf, um nach Stassler zu sehen, entdeckte ihn aber nirgends. Wo steckte er? Sie beschloss, auf eine kleine Ausbuchtung zu springen, die links aus dem vierten Felsblock ragte. Falls sie zu kurz sprang, womit sie fest rechnete, bekam sie vielleicht zumindest noch den vorspringenden Fels zu fassen. Und wenn ihr auch das nicht gelang? Dann würde sie eben gegen die Strömung kämp‐ fen, bis sie an Land gelangte oder ertrank. Aber noch zögerte sie. Möglicher Tod oder sicheres Mordop‐ fer? Die Entscheidung mochte nur leicht wirken, wenn man sich nicht diesem dunklen, brodelnden Abgrund gegenübersah. Was das Unterfangen noch furchteinflößender machte, war der Absprung. Er stieg in einem Winkel von etwa fünfzehn Grad an, statt also den Schwung einer abwärts geneigten Schräge mitzunehmen, musste sie noch eine zusätzliche Stei‐ gung im Anlauf wettmachen, wie gering sie auch sein mochte. Sie konnte nicht länger zaudern. Sie ließ ihre Beine wirbeln, beugte die Knie und sprang in die kalte Dunkelheit. In der Luft streckte sie Arme und Beine nach vorn. Sie war die Ver‐ körperung sportlichen Strebens. Aber vom ersten Augenblick ihres Flugs an wusste sie genau, dass sie nicht weit genug kommen würde. Einen Wimpernschlag später fühlte sie das Gestein mit grausamer Gleichgültigkeit gegen ihre Brust kra‐ chen und ihr den Atem nehmen.
Ihre Hände krallten sich an der Ausbuchtung fest, während das rauschende Wasser an Beinen und Unterleib saugte und sie flussabwärts zu spülen versuchte. Sie kämpfte gewaltig um Halt. Aus ihrer Kehle drang dasselbe verängstigte Stöhnen wie in der Steilwand, denn ihre jetzige Lage war ganz ähnlich der, als sie in der Luft gehangen war, nur dass es nun an Stelle der Schwerkraft der Sog des Wassers war, der sie in die Tiefe rei‐ ßen wollte. Es blieben ihr nur Sekunden, die Beine aus der Strömung zu heben, sonst würde sie den Halt verlieren. Nach Luft, nach Halt, um ihr Leben kämpfend, schob sie das rechte Bein langsam auf die geschwungene Oberfläche des Felsblocks, dann ließ sie das linke folgen. Nun hing sie beinahe waagrecht an dem Stein, eine Stellung, die sie nicht lange durchhalten konnte. Unter größter Anstrengung zwängte sie den Arm bis zur Achselhöhle auf die Ausbuchtung und tastete verzweifelt auf dem Fels umher, bis sie einen Halt fand. Von dort war es ein ungelenker, schmerzlicher, aber schließlich erfolgreicher Ver‐ such, auch ihre Beine nach oben zu ziehen. Bei einem Blick zurück sah sie Stassler auf dem zweiten Felsblock stehen und in Wind und Regen mit der Pistole anle‐ gen. Sie sprang den Felsen hinauf, den sie gerade mit solcher Mühe erklommen hatte, und duckte sich auf der anderen Seite in Deckung. Er schoss nicht. Der Sprung zum fünften und vorletzten Felsblock erwies sich als leicht, aber kaum war sie gelandet, spürte sie, wie er im Ansturm der Flut erzitterte. Dann bewegte er sich tatsächlich – bestimmt einen halben Meter! Sie rannte auf die andere Seite,
entschlossen, ohne Pause auf den letzten und kleinsten zu springen, blieb aber wie angewurzelt stehen, als sie sah, dass auch dieser wackelte, wie von einem eigenen Beben erfasst. Doch ihr Zögern löste das Problem nicht, und sobald sie das verstanden hatte, setzte sie über die gut einen Meter breite Lücke. Sekunden später wäre sie mit einem noch etwas kürze‐ ren Satz an Land gesprungen, wenn sie nicht einige Meter links von sich einen breiten Riss im Ufer gesehen hätte. Sie konnte in der Dunkelheit nicht erkennen, wie weit der Riss einschnitt, aber es schien, als würde jeden Moment ein breiter Abschnitt Erde herausbrechen. Dann erhellte ein Blitz die Sze‐ nerie, und sie sah Flutwasser entlang einer gezackten Linie, etwa drei Meter vom Fluss entfernt, aus dem Riss strömen, was ihre schlimmsten Befürchtungen hinsichtlich der Stabilität des Ufers bestätigte. Sie hatte Angst, dass sie es mit ihrem Ge‐ wicht lostreten würde, wenn sie sprang, und mit einem Sturz‐ bach aus Geröll und Erde ins Wasser stürzte. Sie hatte aber ebenso Angst, dass das Ufer von allein abbrechen und sie in einer Sackgasse zurücklassen könnte, wenn sie sich nicht so‐ fort bewegte. Von einem unsicheren Ruheplatz zum nächsten. Der Fels‐ block unter ihr bebte und schaukelte wie ein Boot, das im Be‐ griff war, die Ankerkette zu zerreißen. Rüber ans Ufer und sofort weiter, befahl sie sich, als sie Stassler rufen hörte. Sie verstand seine Worte in dem Tosen nicht, aber er klang gefährlich nahe. Und das war er auch. Er zog sich gerade auf jenen vierten Felsblock, an dem Lauren fast gescheitert wäre. Sie landete im Laufen auf dem Ufer und spürte die Strö‐ mung in ihrem Körper vibrieren, bis sie über den Riss hin‐
weggerannt war. Sie überlegte, ob sie versuchen sollte, das Ufer loszutreten, aber ihre Beine trugen sie in Sekundenschnel‐ le auch über solche Erwägungen hinaus. Ihr einziges Zuge‐ ständnis an diesen Drang nach Rache war ein Gebet, das sie zum Himmel schickte: dass das Land tatsächlich einbrechen und Stassler in den mörderischen Strudel tauchen möge. Kerry war meilenweit dem Fluss gefolgt, ohne sich je in seine Nähe zu wagen, seine ungestüme Autorität herauszufordern. Sie sah keine Notwendigkeit dafür. Er schien in etwa parallel der Straße zu verlaufen, die zu Stasslers Anwesen führte, und solange er diesen Kurs beibehielt, würde sie zum Highway gelangen, und auf diesem würde sie Stassler, dem Unwetter und ihrem Hunger entfliehen. Davon war sie überzeugt. Die erste halbe Stunde war sie gerannt, aber ihre Erschöp‐ fung hatte sie langsamer werden lassen, und inzwischen ging sie nur noch; jeder mühelose Schritt jedoch erschien ihr wie ein Verrat an Laurens Wohlergehen, denn er kostete Sekunden, die Lauren vielleicht das Leben retten konnten. Und so spornte sich Kerry zu einem leichten Trab an, zu mehr war sie in ihrem ausgehungerten Zustand nicht mehr fähig. Plötzlich sah sie das schwache Funkeln von Scheinwerfern und rief ihnen mit hoffnungsloser Stimme zu. Sie waren so weit entfernt. Sie weinte bitterlich, als die Lichter in die Nacht verschwanden. Taumelnd fiel sie wieder in ihr Schritttempo, wütend auf sich selbst, weil sie schwächer wurde. Sie fühlte sich so undankbar. Lauren hatte dieses Ungeheuer von ihr weggelockt, und sie selbst brachte nicht die Kraft auf, zu ei‐ nem Highway zu laufen, der gerade mal zwei, drei Kilometer entfernt war.
Sie legte die Strecke zurück, indem sie trabte und dabei bis fünfzig zählte und dann ging, bis sie bis fünfundzwanzig ge‐ zählt hatte. Auf diese quälend anstrengende Weise erreichte sie die Straße weit schneller als sie für möglich gehalten hätte. Aus irgendeinem gottvergessenen Grund hinderte sie ein Stacheldraht daran, einfach die Böschung zum Highway hi‐ naufzuklettern. Und schon kam ein weiteres Auto. Sie hätte schreien können. Sie kletterte über den Stacheldraht, riss sich Hände und Hose auf, schaffte es aber, zur Straße hinaufzuha‐ sten, ehe die Scheinwerfer sie blendeten. Dem Fahrer musste sie genau als das erscheinen, was sie war: das Opfer eines ent‐ setzlichen Verbrechens. Blut lief ihr über die emporgereckten Arme und Hände, ihre Kleidung war zerrissen, sie war von Kopf bis Fuß vom Regen durchnässt, und ihre Augen waren weit vor Angst. Wie ein Reflex auf die Furcht im Gesicht des Mädchens, kam das Fahrzeug kreischend zum Stehen. Kerry schirmte die Augen gegen das Scheinwerferlicht ab und taumelte zur offe‐ nen Tür eines Geländewagens. Sie stieg ein, mit einem unermesslichen Verlangen nach Si‐ cherheit, nach Schutz vor dem Sturm; mit dem Verlangen auch, zu sitzen, sich auszuruhen, gerettet zu sein. Und sie war mehr als dankbar, dass eine Frau angehalten hatte, wie ihr ein kurzer Blick zeigte, ehe sie die Tür aufzog. Wie bereitwillig sie sich in ihrer Angst vor Stassler auf das gefährliche Spiel einge‐ lassen hatte, einen Fremden zu stoppen, dachte sie. Aber es war gut gegangen. Eine Frau hatte gehalten. Was für eine Er‐ leichterung. Das war doch sehr viel sicherer als ein Mann. Oder wäre es vielleicht gewesen, hätte nicht Diamond Girl hinter dem Steuer gesessen.
29 Ich taumelte. Ich taumelte so häufig, dass ich den Glauben an meine eigene Wut verlor. Wie konnte sie mich nun im Stich lassen, da ich sie als Antrieb brauchte, um meine Hände in ihren dürren Hals zu graben und sie zu würgen, bis die blauen Augen hervortraten und die Hände leblos herabsanken? Was für banale Vorstellungen, und doch schwelgte ich während der gesamten Verfolgung in den allergewöhnlichsten Ausfüh‐ rungen eines Mordes — Erwürgen, Erschlagen mit der Faust oder einem Knüppel –, als wäre diese geheime Wonne eine Art gedanklicher Slumtourismus. Alle Geduld für ein langsames, ergötzliches Töten hat mich verlassen. Und mit ihr ist ein gewisses Maß an Vorsicht ver‐ schwunden. Das ist der Luxus, den ich mir gönnen werde, die absolute Katharsis eines Zorns, der nicht länger von künstleri‐ schen Erwägungen oder Impulsen im Zaum gehalten wird. Diesmal wird es ein Mord um seiner selbst willen sein, die sü‐ ße Reinheit eines alleinigen Zwecks. Mord um des Mordes willen. Ich habe dieses Mantra mehr als eine Stunde lang wieder‐ holt. Es hat mich aufrechterhalten, als meine Finger von diesen Felsen bluteten, als ich mich vor dem schwarzen Loch dieser Flut bewahren musste. Zweimal wäre ich bei der Überquerung des Flusses fast ge‐ tötet worden. Zweimal! Ich konnte mir nur vorstellen, welche Tortur es für sie sein musste. Einmal nur habe ich in der gan‐
zen Zeit gelächelt – als mir klar wurde, dass sie zum Sterben verurteilt war, wenn ich schon nur knapp überlebte. Ich sehe sie stolpern. Wir nähern uns dem Anwesen, es sind vielleicht noch drei, dreieinhalb Kilometer. Sie wird müde. Nur noch fünfzig Meter trennen uns. Ich möchte sie so ver‐ zweifelt gern anschießen, verwunden. Ich möchte es so stark, dass ich den Schaden schon vor mir sehe, den die Kugel an‐ richten wird, die zerfetzten Organe und zertrümmerten Kno‐ chen, so wie ich zuvor meine Hände ihre Luftröhre zusam‐ mendrücken sah. Aber ich habe bereits drei Kugeln vergeudet, und damit bleiben mir nur noch drei übrig. Ich dachte, ich hätte sie er‐ wischt, dort hinten am Fluss. Es war so knapp. Ich sah, wie sie den Kopf nach hinten riss, aber dann lief sie weiter. Nur zehn Meter trennten uns, aber zehn Meter sind viel mit einer Hand‐ feuerwaffe, und ich war nie ein sicherer Schütze. Ich hatte es nicht nötig. Ich habe immer aus nächster Nähe und mit den eigenen Händen gearbeitet. Für diese Kreatur brauchte ich eine Jagdflinte und ein Zielfernrohr. Also lasse ich die Waffe im Gürtel und kämpfe mich weiter. Wir sind mittlerweile so nahe am Anwesen, dass ich das Licht über dem Eingang zum Gästequartier sehen kann, es ist wie ein einsamer Stern am gewaltigen, schwarzen Firmament. Was hat sie eigentlich vor, wenn sie dort ankommt? Das ist, als würde die Spinne die Fliege in ihr eigenes Netz treiben. Es ist zu einfach, aber gerade als ich mich an der Vorstellung er‐ götze, ich wäre ein achtbeiniges Wesen, das seine Beute ver‐ schlingt, ändert sie ihren Kurs. Wir sind anderthalb Kilometer vom Anwesen entfernt, und sie läuft nach rechts. Es sieht aus, als hätte sie vor, sich parallel zur Straße zu halten. Das ist ein
geschickter Schachzug, ein sehr geschickter. Er zwingt mich, auf ihrer Fährte zu bleiben, wenn ich sie nicht verlieren will. Ich wünsche mir nichts anderes, als sie in meine Höhle zu treiben, ihren dreckigen, armseligen Körper in meinen Keller zu schubsen, damit ich beginnen kann, meine Rache zu neh‐ men; dabei werde ich ein Gleichgewicht halten müssen zwi‐ schen der Notwendigkeit, die Mine und alle Beweise, die sie enthält zu zerstören, und meinem Verlangen, die nymphoma‐ ne Medienhure mit meinen bloßen Händen zu vernichten, sie totzuprügeln mit meinem geschundenen Fleisch. Aber was ist das? Sie schwenkt wieder zurück in Richtung Anwesen. Und jetzt sehe ich, warum. Ein Mann steht unter dem Licht am Eingang zum Gästequartier. Es ist Chambers, dieser gottverdammte Idiot. Ich muss sie erwischen. Die absolute Notwendigkeit, sie zu erreichen, bevor sie ihn warnen kann, treibt mich an. Ich habe bereits einen Faden aus der Hand gegeben. Einen zweiten lo‐ sen kann ich nicht gebrauchen. Und dann bemerke ich, dass mein Jeep fort ist, und ich weiß, Diamond Girl hat ihn ge‐ nommen, hat die erste Etappe ihrer Reise in ihm zurückgelegt. Unter normalen Umständen würde ich Diamond Girl dafür Tod und Verderben an den Hals wünschen; aber Schnösels Eintreffen bedeutet, dass sein gleichermaßen anonymer Land Rover hier irgendwo herumsteht. Er ist genau das, was ich für die erste Etappe meiner eigenen Reise brauche, von der ich ursprünglich dachte, sie würde mich schließlich zu Ihrer Wi‐ derlichkeit und der nymphomanen Medienhure zurückführen, den einzigen Zeugen, deren Augen noch sehen und deren Lippen noch sprechen können. Aber auf die Hure werde ich gar nicht so lange warten
müssen, nicht wahr? Sie ist keine zwanzig Meter mehr vor mir und immer noch fünfhundert Meter von ihm entfernt. Sie ruft, aber ich höre sie kaum, und das heißt, er hört überhaupt nichts. Wind und Regen dämpfen sie so heftig wie der Hart‐ gummiball, den ich in so viele flehende Münder gerammt ha‐ be und dessen einst glatte Oberfläche schon seit langem von Bissspuren übersät ist, kleine Bilder des Schmerzes für das Album einer letzten großen Angst. Ich habe oft überlegt, die‐ sen Ball zu gießen und auch den Riemen, der ihn so sicher an Ort und Stelle hält. Falls ich in dieser Hinsicht scheitere, falls ich keine Möglichkeit finde, die Nagespuren zu konservieren, die ich allein gesammelt habe, dann wird das Werk, das ich auf diesem wunderbaren Ball aufgezeichnet habe, nicht mehr bedeuten als die Hufspuren einer Herde auf einem langen, staubigen Pfad. Ich bin auf zehn Meter herangekommen, zwei Wagenlängen. Das ist alles, was sie noch von meinen wütenden Händen trennt. Sie ist so auf den Schnösel konzentriert, dass sie mich nicht einmal näher kommen hört. Sie winkt, was sie noch langsamer werden lässt, aber sie ist immer noch ein paar hun‐ dert Meter von ihm entfernt, und er schaut nicht einmal in un‐ sere Richtung, denn der Hundesohn ist zu sehr damit beschäf‐ tigt, das Schloss an meiner Tür aufzubrechen. Sie blickt zurück, überrascht, mich so nahe zu sehen. Ihre Hände sind in die Höhe gereckt, aber nicht mehr wegen ihm. Wegen mir! Ich gehe auf sie los. Ich ramme ihr so fest ich kann den Kopf in den Bauch und werfe sie auf den schlammigen Boden. Ich kann mich nicht zurückhalten, ich demoliere ihr das Gesicht. Nur dumpfe, nasse Laute sind zu hören. Ihre Ver‐
suche zu schreien werden von der Gewalt meiner Fäuste ge‐ dämpft. Schwache Grunzlaute sind alles, was ihr entkommt. Wie von einem Schweinchen. Bist du ein Schweinchen, Me‐ dienhure? Sie ist bewusstlos. Sie liegt da wie ein nasser Sack. Ich schlage ihr ins Gesicht. Blut fließt von ihren Lippen. Sie sind beide aufgeplatzt, aber noch habe ich keine Zähne ausgeschla‐ gen, und seltsamerweise sieht ihre Nase noch gerade aus. Ich bin arg versucht, auf der Stelle eine kleine Schönheitsoperation an ihr durchzuführen. Tatsächlich geht meine Hand bereits zum Messer, aber Schnösel rüttelt am Türgriff, und ich muss leider akzeptieren, dass keine Zeit zum Spielen bleibt. Ich muss mich möglichst schnell an die Arbeit machen, an das Aufräumen, das noch zu erledigen ist, bevor ich verschwinde. Leute, Besitztümer und dergleichen. Ich schlage sie heftig ins Gesicht. Dann mit der Rückhand. Ihre Lider flattern. Ich gebe ihr noch eine Ohrfeige, schone diesmal meine Knöchel, denn sie hat die Augen weit geöffnet und belohnt mich mit ihrer Angst. Sie öffnet auch den Mund, um zu schreien, und ich decke rasch die Hand darauf. »Halt den Mund!«, flüstere ich. »Halt den Mund und hör mir zu. Ich will, dass der Schnösel hierher kommt. Du …« – ich stoße ihr den Finger in die Brust – »jawohl, du musst seinen Namen rufen. Wenn du etwas anderes rufst, töte ich ihn und dich. Aber zuerst ihn. Wenn du mich verrätst, ist er tot. Hast du verstanden?« Sie antwortet nicht. Vielleicht bekommt sie keine Luft. Ar‐ mes Ding. Ich gebe zu, dass ich es genossen habe, wie sie wäh‐ rend unserer kleinen Unterhaltung aus Luftmangel krampfar‐ tig gezuckt hat. Aber wenn ich ihren Tod je genießen soll,
dann brauche ich sie jetzt lebend, deshalb nehme ich meine Hand von ihrer Nase und sehe zu, wie sie Blut, Rotz und eine winzige Menge Luft einsaugt. Genau in diesem Augenblick schaue ich auf die Uhr und stelle fest, dass noch ausreichend Zeit bleibt, genügend Bronze zu schmelzen. Ich werde Schnösel zwingen, mir zu helfen. Es wird das Aufräumen enorm beschleunigen. Aber ich muss ihn in meine Gewalt bringen, statt dass er sich dort an meinen Schlössern zu schaffen macht. Sie schnaubt wie verrückt, und ich halte die Hand weiter fest auf ihren Mund gepresst. Sie bekommt ein wenig Luft, aber das natureigene Alginat erfüllt seinen Zweck ganz gut. Ich lasse es eine Minute so weitergehen, weil mich ihre Ans‐ trengungen, Luft zu bekommen, so sehr entzücken. Und es können Jahre vergehen, bis ich wieder in der Lage sein werde, das zu tun. Ein Atelier aufzubauen, einen solchen Keller zu finden, all das braucht Zeit. Ich sehe erneut auf die Uhr. »Ruf seinen Namen. Sonst nichts. Verstanden?« Und dann füge ich den Gnadenstoß hinzu, die einschüchterndste Drohung für jeden Künstler: »Oder ich reiße dir die Augäpfel heraus.« Ich forme eine fiese Zange aus Daumen und Zeigefinger und drücke die Spitzen in ihre Augenwinkel. Sie kämpft nun mit jeder Faser, sie kämpft darum, die Nase frei zu bekommen, die Augen zu schließen, ihr Augenlicht zu retten. Sie ist wahnsinnig vor Angst. Ich erkenne das, weiß es auch sehr zu schätzen, aber ich muss sie ins Reich der Leben‐ den zurückholen. Ich ziehe meine Fingerspitzen zurück und nehme die Hand leicht von ihrem Mund, so dass sie genügend Luft einsaugen kann, um ihre Lungen, ihr Blut, ihr rasendes Gehirn zu versorgen.
»Also gut. Bist du bereit?« Sie nickt. »Nur seinen Namen. Du schreist ›Ry‹ und weiter nichts.« Sie nickt wieder. Braves Mädchen. Ich nehme meine Hand ganz von ihrem Mund, und sie brüllt: »Ry, lauf weg!« Ich bringe sie um. Ich greife nach ihren Augen, aber ich hal‐ te inne, denn Schnösel wurde von seinem glücklosen Ein‐ bruchsversuch aufgeschreckt und läuft in unsere Richtung, angezogen von einem zerstörerischen, ritterlichen Impuls. Ich liebe es. Es ist so süß. Ich nehme meine Hand erneut weg und flüstere: »Nur zu, komm.« »Lauf weg!«, brüllt sie erneut, zuverlässig wie ein aufzieh‐ bares Spielzeug. Es funktioniert wie ein Magnet. Er rast auf uns zu. Bleibt nicht stehen. Ich gewähre ihr noch einen Versuch, und sie gehorcht aufs Wort und beschleunigt seine Bemühungen. Er stürmt in die Dunkelheit, blind wie ein bengalischer Bettler. »Komm schon«, flüstere ich, während ich meine Waffe zie‐ he, »komm.« Ich spanne den Hahn, löse meine Hand, und sie kreischt: »Halt, halt!« Ein höchst beseeltes Flehen. Wie selbst‐ los von ihr, nicht wahr. Wie … aufopferungsvoll. Ihr Mund öffnet sich zu einem neuerlichen Schrei. Nichts einfacher, als die Pistole in die warme, feuchte Höhle zu ram‐ men. Der Lauf ähnelt bemerkenswert dem Organ, dem sie ihre profansten Gefälligkeiten erweist. Da kommt er. Ich kann ihn jetzt sehen, die tierische Panik in seinem Gesicht ist ein Spiegelbild ihrer nackten Angst, die ich mit meiner Waffenhand erspüre, im matschigen, spastischen
Zittern von Zunge und Gaumen, Zähnen und Mandeln, im kehligen Protest gegen ihre Knebelung. »Halt!«, rufe ich ihm entgegen. Er gehorcht. Er sieht mich auf ihr Gesicht zielen, ihre Lip‐ pen sind in die Breite gedehnt, sie verweigert den Pistolenlauf, wie sie vermutlich mich verweigern würde. Er nimmt die Hände hoch, als hätte ich dieses öde Zeichen der Aufgabe ir‐ gendwie nötig. Ich brauche nur seine Hilfe, und die werde ich bekommen. Ich werde gehorsam seine Muskelkraft und seine dumpfe Bereitschaft, meinen Anweisungen zu folgen, be‐ kommen. Vor uns liegen Aufgaben, und sie werden die ganze Nacht ausfüllen. Und wenn sie erledigt sind, werde ich über den Staub lächeln, der von der Mine aufsteigt, und ich werde lächeln beim Gedanken an ihren Leichnam, der tief im Schacht glüht. Und dann werde ich den Morgen als Signal meines ei‐ genen neuen Tages begrüßen.
30 Ein brennender Schmerz tief in der Kehle riss Lauren aus ihrer Ohnmacht. Die Pistole. Sie erinnerte sich an den Lauf, der ihr in den Mund gerammt worden war, an die Krämpfe, bevor sie das Bewusstsein verlor. Stassler zog sie auf die Beine. Regen peitschte ihr Gesicht. Sie fühlte sich geschoben, gepackt. Worte, die sie nicht ent‐ schlüsseln konnte, trieben vorüber, substanzlos wie ein Ge‐ rücht. Und dann umfing Ry sie mit den Armen, und sie schleppten sich zu den Gebäuden. Sie hatte den Blick zum Bo‐ den gesenkt und betrachtete die Wüstenerde, die im Regen schwamm, und Pflanzen mit Stängeln nicht dicker als Draht, die sich nun voll gesogen hatten und so viel wie möglich spei‐ cherten, bis zu einem Tag, der lange nicht wiederkommen würde. Lauren hatte nichts mehr zu speichern. Sie war leer, bestand nur noch aus Angst und Hunger. Das Verlangen nach Essen nagte an ihr, obwohl sie sich die Qual beim Schlucken vorstel‐ len konnte. Stassler trieb sie mit vorgehaltener Waffe zum Eingang der Scheune und machte das Licht an. Nach so viel Dunkelheit musste Lauren blinzeln. Er scheuchte sie zur letzten Box auf der linken Seite, wo die Falltür zum Keller von ihrer Flucht mit Kerry noch offen stand. »Geht da runter«, befahl Stassler mit erschütternd ruhiger
Stimme. »Ihr werdet arbeiten, und wenn ihr auch nur eine Se‐ kunde nachlasst, dann nehme ich euch auseinander.« Auch diese Drohung drang leise an Laurens Ohr, und sie brauchte eine Weile, bis sie den Kern der Drohung verstand: Nicht dann töte ich euch, sondern dann nehme ich euch ausei‐ nander. Genau das hat er mit den anderen getan. Und er wird es auch mit uns tun. Ry streckte die Hand aus und half ihr die Treppe hinab. Sie sah den Käfig und fragte sich, ob Stassler beabsichtigte, sie einzusperren, nachdem sie diese Arbeit für ihn verrichtet hat‐ ten. Dann entdeckte sie den Edelstahltisch mit den Riemen und verlor jede Hoffnung auf Gitterstäbe, Schlösser und alte Autoteile. Stassler zeigte zu den Skeletten. »Die tragt ihr alle hinauf in die Gießerei. Los, bewegt euch!« Weder Lauren noch Ry sagten etwas. Sie konnte nicht, da ihre Kehle immer noch schmerzte, und Ry schien sprachlos angesichts der grausigen Sammlung, die er zum ersten Mal sah. Doch dann überraschte er sie, indem er sich zu Stassler umwandte und sagte: »Ich habe über Kriegsverbrecher und Mörder berichtet, und ihr seid alle aus demselben beschisse‐ nen Holz geschnitzt.« Ry blickte zu den Skeletten und seine Augen wurden groß, als verstünde er, dass das Ausmaß der Schlächterei zu einer physischen Herausforderung geworden war. »Nichts von dem, was Sie tun, ist es wert …« Stassler brachte ihn zum Schweigen, indem er die Waffe an Rys Kopf drückte. »Noch ein Wort, und du leistest ihnen Gesellschaft. An die Arbeit jetzt.«
Stassler behielt die Waffe oben, als Ry zum Skelett eines kleinen Mädchens in einem blauen Cordrock und einem rosa Pullover ging. Auf der Brust des Pullovers war das Gesicht eines Teddybärs. Die Sachen eines Kleinkinds. Er trug das Ske‐ lett zu Lauren. Die leisen Details drehten ihr den Magen um. Sie hatte ent‐ setzliche Angst, das Skelett zu berühren, das Leben zu spüren, das es einst gekannt hatte, aber dann drückte sie es an die Brust, wie um das Kind zu trösten, das es einmal gewesen war, und ging benommen in Richtung Treppe. Ihre Beine waren so schwach, dass sie sich auf jeden Schritt konzentrieren musste, um nicht zusammenzubrechen. Stassler quetschte die letzten Kraftreserven aus ihr heraus, und zum ersten Mal brachte der Gedanke an den Tod einen Schimmer Erleichterung. Die Flut des reinen Schreckens war zurückgegangen, und sie fühlte sich bar aller Hoffnung. Sie stieg ohne einen Gedanken an Flucht zur Scheune hinauf. Vor Stunden hatte sie versucht, wegzulaufen, und der ganze weite Weg mit all seinen unermesslichen Ängsten und Schmer‐ zen hatte sie wieder hierher zurückgeführt. An eine neuerliche Flucht war nicht zu denken, ihre körperliche Unmöglichkeit war so real wie die Luft, die Dunkelheit und die Nacht. Auch Stassler wusste das offenbar, denn er ließ sie voran‐ gehen und hielt seine Waffe auf Ry gerichtet, der die Last zweier Skelette trug, unter jedem Arm eines. Stassler trug nur seine Pistole. Sie gingen hinaus in den Regen. Es hatte nicht aufgehört zu gießen. Durch die dicken, runden Tropfen und die Windböen steuerten sie die Gießerei an, wo Stassler ihnen den Einstieg zur Mine zeigte.
Lauren begriff, dass sie schon viel früher hätte sterben kön‐ nen, wenn sie bei der Führung eine Idee neugieriger gewesen wäre. Ihr einziger Trost war Kerry, denn sie glaubte fest, dass das Mädchen entkommen war. Aber selbst Kerrys Überleben schien durch Rys Verwicklung in die Sache auf schreckliche Weise kompromittiert; es war, als sei so oder so jemand dazu bestimmt, mit Lauren zu sterben, egal, was sie tat. Als sie das Skelett in das dunkle Loch warf, blieb das Bein auf halbem Weg an der Leiter hängen, und der kleine blaue Rock bauschte sich um den Hüftknochen. Ry musste hinunter‐ langen und es losreißen. Der Klang von Knochen, die an Me‐ tall kratzten, war schauderlich. Sie sah Stassler an und wünschte, es wäre sein Skelett, das sie in den Schacht stopften. Aber auch dieses heftige Verlangen wurde matter im Lauf der Plackerei, die nun folgte. Als sie die letzten drei Skelette holen gingen, ließ Stassler sie anhalten. »Das sind die Vandersons«, sagte er mit theatralisch ausla‐ dender Geste, als seien Lauren und Ry auf einem großen Fest erschienen, und er hätte die Ehre, sie den Gastgehern vorzu‐ stellen. »June Cleaver, Jolly Roger und Sonnyboy, ich möchte euch Schnösel und die nymphomane Medienhure vorstellen.« So nennt er mich also, dachte Lauren. Aber der Name war verwirrend, er bedeutete nichts. Doch dann nahmen alle Na‐ men zusammen eine Bedeutung für sie an, die einzige, auf die es ankam: Er hatte sie alle ihrer wahren Identität beraubt und diese durch einen grausamen Spitznamen ersetzt. Wahrschein‐ lich war er mit allen Personen so verfahren, die er entführt hatte, er hatte sie entmenschlicht, lange bevor er sie tatsächlich
tötete. Genau wie mit den Namen der Serie, Family Planning 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, all diese Ziffern, die nicht mehr ergaben als nackte Anonymität. »In der Gießerei hast du die Abdrücke gesehen, die ich von ihnen gemacht habe.« Sein Blick fiel so plötzlich auf sie, dass es ihr wie ein Stich erschien, wie der Angriff einer Wespe. Sie schaute ebenso rasch weg, sah aber nur diese vollständig bekleideten Skelette, die seltsam belebte Stellungen einnahmen. Ja, sie hatte die mattgrünen Formen gesehen, und das machte es ihr viel zu leicht, sie sich lebendig vorzustellen; noch leichter, diese Gerippe hier anzusehen und sich ihren Schmerz vorzustellen, sofort all das zu erfühlen, was sie an Leben verloren hatten, und die Stacheln der Liebe zu spüren, die jede Familie kennt. Ry gab ihr behutsam den Jungen, der wie ein Model mit Jeans und rotem T‐Shirt bekleidet war; und als sie die Treppe hinaufstieg, nahmen ihre Augen trotz der Müdigkeit und der Belastung durch alles, was sie gesehen hatten, die Einzelheiten ringsum wahr, und sie empfand selbst inmitten dieses Horrors die Freude am Sehen, die Art, wie sich Strukturen, Oberflä‐ chen und Formen, einfache wie komplizierte, ihrem Blick of‐ fenbarten. Solange sie denken konnte, hatte diese Art der Wahrnehmung ihre Hände und ihre Fantasie beflügelt. Sie war zur Künstlerin geboren, und sie war eine Künstlerin ge‐ worden. Darin lag ein Trost, der nicht so gering war, wie es einmal ausgesehen haben mochte. Auf dem Weg zur Gießerei hob sie den Blick vom schlam‐ migen Weg zu den Sternen, die durch die Wolkendecke lug‐ ten, und sie betrachtete staunend die dicken Regentropfen, die
an dem in seltsamer Schönheit leuchtenden Hoflicht vorbeira‐ sten. Diese lichte Wahrnehmung der physischen Welt, die Art, wie sie von innen heraus zu leuchten und nach außen zu strahlen schien, ließen sie mehr als alles andere begreifen, dass ihr Tod unmittelbar bevorstand. Sie hoffte, sie würde schnell sterben. Nicht wie die anderen. Doch als sie die Gießerei betrat und zum ersten Mal die schmelzende Bronze roch, verstand sie deren langsame, qual‐ volle Drohung. Es war an der Zeit, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, ihren eigenen Tod zu planen. Nicht durch seine Waffe. Er würde sie nur verletzen wollen, um sie blutend seinen Gelüsten zu unterwerfen. Nein, ihr Tod musste schnell und plötzlich sein. Und sicher.
31 Es ist an der Zeit, den Hartgummiball um ihre Bissspuren zu bereichern. Für das Alginat bleibt keine Zeit, aber ich kann auch so einen Abdruck von ihrer Qual machen. Vielleicht wird sie den Ball sogar in zwei Stücke beißen. Ich warte schon lange darauf, dass sich jemand mit genügend rohem Schrecken, ge‐ nügend Hormonen auflädt, um den Gummi mit den Zähnen zu zerreißen. Sie könnte diejenige sein. Jedenfalls habe ich den anderen nie angetan, was ich ihr gleich antun werde. Ich neigte nie zur Vergeudung der Bronze. Aber welchen besseren Nutzen wer‐ den diese Barren noch haben? Entweder ich lasse sie zurück, oder ich spanne ihre geschmolzene Wut dafür ein, all ihren Schmerz in den Ball zu zwingen, denn der Ball wird am Ende alles sein, was mir bleibt. Ich kann die Skelettparade oder die Gesichter nicht mitnehmen, aber ich kann den Ball mit seinen Riemen und den Bissspuren mitnehmen. Er ist so klein, dass ich ihn in die Tasche stecken kann. Und eines Tages, vielleicht erst in Jahren, aber eines Tages werde ich eine Gussform von diesem mit tiefen Narben übersäten Ding machen und es in Bronze gießen. Ich habe sogar schon einen Namen dafür aus‐ gesucht, einen, der eine große Tradition fortsetzen wird: Fami‐ ly Reunion #1. Perfekt, oder? Alle endlich wieder vereint. Am Anfang habe ich es, zugegeben, schrecklich bedauert, das Alginat mangels Zeit nicht bei ihr anwenden zu können, aber ich habe dann eingesehen, dass hier eine größere Weis‐
heit am Werk ist. Tatsache ist, dass sie diese Ehre gar nicht verdient hätte. Sie war nie für künstlerischen Nachruhm be‐ stimmt. Sie ist Fleisch, das verbrannt und zerstört werden will, Fleisch, das sich duckt und krümmt, das schreit und zu bloßen Zähnen reduziert wird, die in diesen schwarzen Gummiball beißen, bis sie an den Wurzeln bluten und an den Spitzen bre‐ chen und zerbröckeln wie Mörtel, der zu lange an seinen Zie‐ geln klebte. Ich war so mit meinen Plänen beschäftigt, dass ich fast die Videobänder übersehen hätte. Ganze Jahrgänge. Ein Katalog der Verbrechen, der verschwinden muss. Deshalb treibe ich die beiden wieder hinaus in den Regen und lasse sie Schach‐ teln mit Bändern zur Gießerei tragen. Ich befehle Schnösel, sie in die Schachtöffnung zu schütten, und ich stehe über ihm und lausche dem Geklapper Tausender von Bildern, das aus der Dunkelheit heraufdringt. Ich lasse sie außerdem die Abdrücke von June, Jolly Roger und Sonnyboy zur Trennwand tragen. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, solche vorzüglichen Formen in die Finsternis zu werfen, sie früher zu zerstören als nötig. Ehe wir die Leiter hinabsteigen, überprüfe ich die Zünd‐ schnüre, die in die Mine führen. Dazu setze ich Superhirns Stirnlampe auf und zwinge die beiden, sich zwei Meter ent‐ fernt hinzusetzen. Die Zündschnüre sind in Ordnung, sauber und trocken wie an dem Tag, an dem ich sie gelegt habe. Jetzt befehle ich Schnösel, die Leiter hinunterzuklettern. Sie wirkt wie versteinert, unfähig, sich zu bewegen. Mir soll es recht sein. Im Moment will ich gar nicht, dass sie irgendetwas tut. Ich warte, bis er einen Weg durch die Skelettparade und die
Bänder freigeräumt hat, dann reiche ich ihm die Abdrücke der Vandersons hinab. Zuerst Sonnyboy, das Gassenkind, dann June, die Skeptische, und schließlich Jolly Roger. Keiner hat mich je so begrüßt wie er. Kommen Sie rein, kommen Sie rein. Ich spüre immer noch seine große, fleischige Hand und höre, wie die Tür hinter uns ins Schloss fällt. Die Medienhure hat mein Vorhaben, die Vandersons zu gießen, zunichte gemacht, und es kostet mich große Überwin‐ dung, sie nicht zu packen und ihr das Gesicht zu zerfleischen. Aber ich beherrsche mich mühsam und weise sie an, mit ihrem »Liebhaber« in den Schacht hinunterzusteigen. Sie verzieht keine Miene, und da weiß ich, dass mein Verdacht zutrifft: Sie ist tatsächlich mit Hilfe von Sex in das Buch gelangt. Sie hat sich ihren Namen auf die altmodische Art verdient. Und jetzt wird sie sich ihren Tod verdienen. Sie steht langsam auf, mit Bewegungen wie ein Greis, und ich erkenne, dass sie am Rande der völligen Erschöpfung steht. Ich lasse Schnösel drei Skelette wegschleifen, eine Mutter und ihren Sohn von Family Planning #7 und einen Vater von #3. Ich erkenne sie wieder, als wären es meine eigenen Kinder. Die Medienhure macht einen kraftlosen Versuch, zu helfen. »Bewegt euch«, sage ich. Er fährt mich an. »Das reicht«, schreit er. »Wir machen so schnell wir kön‐ nen.« Das reicht? Wirklich zu köstlich sein Ausbruch, diese kleine Zurschaustellung von Tapferkeit für die Dame seines Herzens. Aber anstatt ihm in die Leiste zu schießen, wozu es mich im ersten Moment drängt, lasse ich sie nur weitermachen. Ich brauche seine Arbeitskraft, und seine Lebensdauer ist ohnehin
in Minuten zu messen. Am Ende werde ich seine Unterwer‐ fung bekommen. Er wird schon sehen. Hin und her laufen sie und transportieren die Skelettparade zu dem Schacht, der schon so viele andere aufgenommen hat, entsorgen diese wunderbaren Schöpfungen unter Harriets ge‐ quältem Blick. Es tut weh, das mit ansehen zu müssen. Nein, viel schlim‐ mer, es ist eine Qual. Die Skelettparade war das Schattenreich meines großen Erfolgs, das perfekte Gegengewicht zu den Bronzen, die zu Kunstsammlern, in Museen und Galerien wanderten. Ich habe Tausende von Stunden dafür aufge‐ wandt. Tausende! Ich musste jeden einzelnen Knochen behan‐ deln, sie zusammenschweißen und jedes Skelett so gestalten, dass es die charakteristischste Pose des Subjekts traf. Und das ist mir vom ersten bis zum letzten vorzüglich gelungen. Die Vandersons sind perfekte Beispiele dafür. Ich schaue zu ihren hingesunkenen Skeletten an der Wand und sehe immer noch Junes Überheblichkeit, Jolly Rogers geistlos müde Haltung und das wehleidige Gejammere ihres Sohnes, das ich einfing, ohne Laute oder Tränen zur Verfügung zu haben. Die Schönheit der Parade hat mich jedes Mal inspiriert, wenn ich zur Suche nach neuen Subjekten aufbrach. Ich konn‐ te immer sagen, wie sie all ihres Fleisches entkleidet aussehen würden, wenn die Kleidung von ihren Gerippen hing und sie mich aus leeren Augenhöhlen anstarrten. Es war nicht schwer, sich das vorzustellen. Ich habe so viel Fleisch weggemeißelt, so viele Augen entfernt, dass ich Übung hatte in der Kunst des Unvorstellbaren. Ich spürte sogar die Sehnsucht in ihnen, wenn sie ihren Platz in der Parade einnahmen. Ich fühlte sie so nahe, wie ich den heißen Atem ihrer letzten Anstrengungen
spürte. Und sie nun einfach so wegzuwerfen, ihnen ein derart schimpfliches Ende zu bereiten, zusammen mit Typen wie Su‐ perhirn und seinem Rad, das schmerzt mich, wie mich nie et‐ was geschmerzt hat. Wie es nichts anderes könnte. Aber sie muss verschwinden, die ganze Parade. Sie ist ein Albtraum an Beweismitteln, ein regelrechtes Schlüsselbrett an Hinweisen. Als Letzte kommen die Vandersons an die Reihe. Ich lasse sie von Schnösel in den Schacht schleppen, und dann lasse ich ihn die Abdrücke tragen, einen nach dem anderen. Für ihre zittrigen Hände sind sie viel zu zerbrechlich, und ich kann den Gedanken nicht ertragen, sie könnte sie versehentlich zer‐ trümmern. Zwar müssen auch sie beiseite geschafft werden, aber ohne den Makel ihrer Berührung. Ich habe eine Schwäche für die Vandersons, das wird mir jetzt klar. Es wird mir Leid tun, dass ich sie nicht gießen konn‐ te. Am meisten aber werde ich Diamond Girl vermissen. Selbst jetzt, nach dem Diebstahl meines Jeeps, dem Missbrauch mei‐ nes Vertrauens, denke ich noch freundlich von ihr und hoffe, dass ich sie eines Tages zurückgewinnen werde. Vielleicht ist es sentimental, vielleicht auch nicht, aber ich sehe Diamond Girl mit zwanzig, einundzwanzig und mich, immer noch in den besten Jahren, wie wir Hand in Hand einen sonnigen Strand entlanggehen, die Signale beobachten, die zwischen Müttern, Vätern und Kindern hin und her fliegen, sehen die Kleinen im Sand spielen, ihr Lächeln, ihre beseelten Gesichter; und aus diesem Füllhorn von Augen und Armen, Händen und Füßen wählen wir die Familien, die wir gestalten werden, die Bissspuren, die wir dem Ball hinzufügen werden. Es mag, wie gesagt, sentimental sein, aber es ist auch enorm
befriedigend – und tröstlich – sich vorzustellen, wie wir unser beider Leben so eng miteinander verweben, wie Geißblatt sei‐ nen süßen Sommerduft in einen Zaun webt. Auf meinen Befehl steht Schnösel vor Harriet und wirft Ju‐ ne, Jolly Roger und Sonnyboy in den Schacht. Die letzten der Skelettparade. Dann lasse ich ihn auch ihre Abdrücke hinun‐ terkippen, und wir lauschen alle dem seltsamen Klirren, das aus der Tiefe dringt. Das ist das Alginat, dessen Trümmer durch die Skelette fallen und auf den Knochen spielen wie auf einem Xylophon. Noch eine Arbeit bleibt zu tun, und sie ist von entscheiden‐ der Bedeutung für mich. Ich will, dass sie den Edelstahltisch vom Keller hier herauf in die Gießerei schleppen. Wir haben noch Zeit. Schnösel ist vielleicht nicht heller als eine Fruchtfliege, aber er kann schwer arbeiten, und er hat eine Menge erledigt. Davon abgesehen kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass Ihre Widerlichkeit bereits aus der Wüste he‐ rausgefunden hat, nicht bei diesen Bedingungen. Aber selbst wenn sie es in den nächsten ein, zwei Stunden schaffen sollte, zum Highway zu stolpern und ein Auto in die Stadt anzuhal‐ ten, was wird der Sheriff tun? Er wird mitten in der Nacht ei‐ nen Anruf von einem benebelten Diensthabenden erhalten, das vermisste Mädchen sei eben zur Tür hereinspaziert und habe eine groteske Geschichte erzählt, dass der begnadetste Bildhauer der Welt sie in einen Käfig gesperrt und eine ganze Familie mit irgendwelchem klebrigen grünen Zeug kaltge‐ macht hat. Natürlich wird er reagieren. Das muss er, aber zuerst wird er hinfahren und sie ausführlich ausquetschen, um sich zu vergewissern, dass sie die letzte Woche nicht damit verbracht
hat, mit einem Haufen Möchtegernindianern Pilzsuppe zu löf‐ feln. Dann wird er seine Deputies wecken und einen Plan ausar‐ beiten. Aber er wird vorsichtig zu Werke gehen, und wer könnte es ihm verübeln? Ich nicht. Hier im ländlichen Ameri‐ ka kann man nie wissen, ob man womöglich drauf und dran ist, in ein neues Waco oder ein anderes Nest von Verrückten zu stolpern. Das Einzige, was er ganz bestimmt nicht tun wird, ist, sich den Schlaf aus den Augen zu reiben und mitten in der Nacht hier rauszurasen. Er wird ein, zwei Stunden brauchen, sie zu vernehmen und seine Hilfssheriffs zu organisieren, und dann noch einmal eine Stunde, bis er das Anwesen umstellt hat. All das ergibt mehr Zeit, als ich brauche und sehr viel mehr Zeit als die nymphomane Medienhure noch zu leben hat. Ich werde mir also nicht die einzige Freude versagen, die mir hier noch bleibt. Ehe ich das aufgebe, müssen sie mir die Tür einschlagen. Sie ist so müde, dass sie kaum noch laufen kann, und keine große Hilfe für Schnösel, der den Tisch fast ganz alleine die Treppe hinaufschleppen muss. Ich werde ihr auf jeden Fall eine Spritze Metamphetamin geben müssen. In diesem Zu‐ stand würde es keinen Spaß mit ihr machen. Nachdem der Tisch in die Gießerei geschleift ist, wische ich ihn ab. Ich hebe auch ein Handtuch für sie auf. Sie sind beide durchgeweicht wie Schwämme, aber nur für sie werde ich ein Handtuch vergeuden. Seine Arbeit ist so gut wie erledigt. Er muss sie nur noch auf den Tisch schnallen. Dann, wenn sie ihn am durchdringendsten ansieht, mit den Augen fleht – ich habe
es oft gesehen und weiß, was zu erwarten ist –, werde ich ihm in den Kopf schießen. Es wird der erste Schock für ihr Nerven‐ system sein und der weitaus sanfteste von allen, die sie erwar‐ ten. Aber erst einmal muss sie ihre nasse Kleidung ausziehen und sich abtrocknen, denn ich brauche sie trocken, wenngleich sie nie wirklich trocken sind, nicht wenn sie Angst haben. Ihre Handflächen und Stirnen werden feucht, und es bilden sich Pfützen. Jawohl, Pfützen. Ein Körper verliert exakt im selben Tempo die Kontrolle über seine Funktionen, wie ein Mensch die Kontrolle über seine Angst verliert. Alles, was ich je im Keller gesehen habe, legt davon Zeugnis ab. Es ist eine Lekti‐ on, die ich unbedingt noch einmal weitergeben will.
32 Stassler befahl Lauren, sich zu »entkleiden«. Er sagte es leise, als wäre er ein Arzt, der sie auf eine Untersuchung vorbereite‐ te, nicht ein Mörder mit tödlichen Absichten. Ein Zittern in ihren Beinen breitete sich rasch bis zu Bauch und Brust hinauf aus, und ihre Hände flatterten in die Höhe, es war wie ein zaghaftes Aufkeimen angesichts des Todes. Sie fühlte ein quälendes Verlangen, um ihr Leben zu flehen, ver‐ mochte sich aber nicht zum Sprechen zu bringen. Es lag nicht an dem pulsierenden Schmerz in ihrer Kehle, sondern an der Angst, dass Worte, egal welche, ihn dazu reizen könnten, zu schießen. Sie schaute sich ein letztes Mal um, sah Hammer, Zangen, andere Werkzeuge, aber nichts davon in Reichweite. »Zieh die Sachen aus«, sagte er gleichmütig, als benötigte sie eine Definition von »entkleiden«, als wäre die Demütigung, die er im Sinn hatte, nicht offenkundig genug. Sie gehorchte, aber langsam, auf Zeit spielend, in der Hoff‐ nung, die Dunkelheit draußen würde irgendwie plötzlich zu einem Meer aus roten, blauen, gelben Lichtern, mit Ambulan‐ zen, Streifenwagen und dem Ende dieses ganzen Horrors. Er hob die Hand, um sie mit der Pistole zu schlagen. Sie duckte sich und streifte rasch die durchnässte Hose von den Beinen. Dann zog sie das klatschnasse T‐Shirt über den Kopf und blickte sich zu ihm um. Er zeigte mit der Waffe auf Un‐ terhose und BH, dirigierte ihre Entblößung mit Bewegungen,
die ihn lächeln ließen, aber nicht aus Lust. In diesen Augen war keine Lust, nicht einmal das harte Funkeln von plötzlich gewalttätiger Lust. Als er auf ihr vom Regen durchsichtiges Höschen sah, waren seine Augen grausame Schleier, die kein Leben verrieten. Sie zog die Unterhose aus und legte sie zu T‐Shirt und Ho‐ se. Dann löste sie den Verschluss ihres Büstenhalters und plat‐ zierte ihn ebenfalls auf dem Kleiderhäufchen, ehe sie alles zu einem ordentlichen Bündel zusammenrollte. Stassler nickte, als wollte er ihre Pedanterie gutheißen. Zum vielleicht ersten Mal entdeckte er eine Eigenschaft an ihr, die er für achtenswert hielt, eine so tief eingebrannte Ordnungs‐ liebe, dass sie sogar im Moment der größten Ungewissheit die Oberhand behielt. Sie spürte ihre Nacktheit wie ein Unwohlsein, als sie mit den durchnässten Sachen zu ihren Füßen dastand. Sie zitterte, nicht vor Kälte, sondern wegen der Bedrohung durch die sen‐ gende Hitze, die aus dem Schmelzofen und dem Tiegel auf‐ stieg. Der gelbliche Schein beleuchtete die salzigen Perlen, die sich auf ihrem Gesicht, ihren Armen und der Brust sammelten und zu Boden tropften. Sie stellte sich vor, wie sich eine Pfütze um ihre Füße bildete und wünschte sich, es wäre ein Burggra‐ ben, ein magischer Wasserring, der alle Flammen und ihre schlimmsten Ängste erlöschen ließe. Stassler warf ihr einen Fetzen zu, der einmal ein Handtuch gewesen war, und befahl ihr, sich abzutrocknen. Sie tat es, nicht aus dem Wunsch heraus, zu gehorchen, sondern um auf diese Weise vielleicht das Zittern zu stoppen, das sie so ver‐ höhnte. Nachdem sie sich die Beine abgetrocknet hatte, entriss er ihr das Handtuch und warf es zur Seite. Dann befahl er ihr,
sich auf den Stahltisch zu legen, und alle Gedanken an Wun‐ der oder Burggräben verflogen angesichts der harten, glän‐ zenden Oberfläche mit der makabren Anordnung von Riemen. »Tu es nicht«, sagte Ry. »Du«, wandte sich Stassler mit grausamer Ruhe an ihn, »sagst noch ein Wort, dann wandert deine Hand da hinein.« Er warf einen raschen Blick zu dem glühenden Schmelztiegel, der nur drei Meter entfernt stand. »Wozu soll ich auf das Ding?« Lauren brachte es endlich fertig zu sprechen. Sie hoffte nicht auf eine Antwort, sie wus‐ ste nur mit erschütternder Sicherheit, dass das flüssige Metall für sie bestimmt war, um sie mit zermalmendem Schmerz zu quälen. Sie bis auf die Knochen zu zerstören. Was auch geschah, sie würde nicht auf diesen Tisch steigen. Sie würde sich lieber erschießen, zu Tode prügeln oder erste‐ chen lassen, als ihm zu erlauben, dass er ihr etwas mit elfhun‐ dert Grad heißer, flüssiger Bronze antat. Er ignorierte ihre Frage und wies mit der Pistole zum Tisch. »Nein«, sagte sie kategorisch, und dann wiederholte sie es. Er richtete die Pistole auf ihre Beine. Sie erwartete, dass er zornig werden, sie vielleicht schlagen würde, schreien, ir‐ gendwie der Wut Luft machen, die sich in ihm angestaut ha‐ ben musste. Aber er tat nichts dergleichen, und er zeigte kei‐ nerlei Gefühlsregung. Nichts. Er drückte einfach nur ab, und dann war sie es, die schrie, als ihr ein schriller Schmerz in den Oberschenkel fuhr und eine sengende Hitze sich durch ihren ganzen Körper ausbreitete. Es war, als hätte sie ein Strom füh‐ rendes Gitter berührt und könnte nicht mehr loslassen. Die Gießerei verschwamm um sie herum, und die Ohren klangen ihr, während sie stolperte und auf der anderen Seite
des Tisches zusammenbrach. In ihrem Oberschenkel brannte ein Loch von der Größe einer Zehncentmünze. Wie konnte ein so kleines Loch einen so fürchterlichen Schmerz verursachen? Sie dachte diesen Gedanken mit der durchdringenden Klar‐ heit, die nur die schlimmste Qual mit sich bringt. Stassler drehte sich zu Ry um, der neben ihm stand und lau‐ thals und wütend Einspruch erhob. Lauren war überzeugt, Stassler würde auch auf ihn feuern, und diesmal in der Ab‐ sicht, zu töten. Trotz der krampfartigen Wellen von Schmerz packte sie ihr Kleiderbündel, den ganzen nassen Ball, und schleuderte es auf den weiß glühenden Schmelztiegel. Ry sah es und hechtete auf den Stahltisch zu. In diesem überraschenden Augenblick musste er sich an Laurens War‐ nung in der Gießerei der Universität erinnert haben, als sie ihn bat, seine Wasserflasche an der Tür zu lassen. Stassler fuhr herum, während Ry den Tisch umstieß und sich auf dessen Rand warf. Lauren zog ihn auf den Boden hin‐ ter dieser behelfsmäßigen Schutzwand, und im selben Mo‐ ment explodierte der Schmelztiegel vom Schock des kalten Wassers. Ein fürchterlicher Knall erschütterte die Gießerei. Ein raues Zischen, wie von Leuchtspurmunition, erfüllte die Luft, als die geschmolzene Bronze an Wände, Tische, Decken, Regale spritzte; und dann explodierten die ersten Gasflaschen für die Schneidbrenner, Argon, Kohlendioxid und Sauerstoff, und die hohen Stahlbehälter wurden zu den tödlichen Geschossen, an die sie so stark erinnerten, und durchschlugen die Ziegelwän‐ de, als wären sie aus Papier. Ein Amboss krachte mit solcher Wucht gegen den Stahl‐ tisch, dass er von Lauren und Ry wegschnellte, und Ry musste
ihn rasch wieder heranholen, während rechts von ihnen die Ziegelwand einstürzte. Sekunden später begann die Decke stückweise herunterzukommen, wobei jeder Absturz den nächsten auslöste. Es war wie bei einem Erdbeben. Stützbalken fielen herab, und die Wände bekamen ringsum Risse. Drei dicke Holzpfo‐ sten schlugen auf die Tischkante und bildeten einen etwa drei‐ eckigen Schutzraum, während die Decke weiter einstürzte und Feuer, genährt von Werkzeugen, Bänken und Abfall, aufzulo‐ dern begannen. Ein anhaltendes Zischen breitete sich über das Geräuschder Flammen. »Was ist das?«, flüsterte Lauren, die immer noch mehr we‐ gen Stassler besorgt war als wegen der einstürzenden Wände und Decken, der Flammen und des Rauchs. Ry wollte sich halb aufrichten, um über den Tischrand zu schauen, aber Lauren zog ihn wieder nach unten. »Die Zündschnüre!«, rief sie, und jetzt machte sie sich keine Sorgen mehr wegen der anderen Gefahren, denn diese schien sehr viel größer zu sein. »Die in den Schacht führen! Die er noch überprüft hat!« Das Zischen und Spucken setzte sich noch fünf, zehn Se‐ kunden lang fort, und Ry legte sich schützend über sie. Lauren spürte seine bärtige Wange an der ihren; er hatte das Gesicht in den Boden gedrückt, während sie nach oben blickte. Und im selben Moment erschrocken zusammenzuckte. Eine blutige Bronzehand langte über den Tisch und packte ihn. Und dann erschien Stasslers Kopf über dem Tischrand, die Augen auf sie gerichtet, das Gesicht halb gar gekocht von dem flüssigen Metall. Es bedeckte eine Wange und die Lippen und
hatte die Hälfte der Nase weggeschmolzen. In seine Schläfe war ein Hohlraum gebrannt, und über dem Ohr entdeckte Lauren eine kleine runde Stelle, wo der Knochen frei lag. Die extreme Hitze der Bronze hatte alle seine grausigen Wunden verätzt; sie enthielten grässliche Wirbel und Blutflek‐ ken, dunkelrote Sprenkel, die trotz des schwelenden Metalls wie gefroren wirkten. Aus Stasslers Mund, nicht mehr als ein starres Oval nach dem plötzlichen Guss, drang ein Laut, den sie nicht verstand. Seine zweite Hand erschien nun langsam über dem Tisch, und sie hielt immer noch die Pistole. Er richtete sie direkt auf ihr Gesicht. Sie sah wie gelähmt, wie er nickte, und obwohl sein Mund unbeweglich war und seine Augen finster vor Schmerz, lächelte er. Sie war sich dessen sicher, er lächelte und krümmte langsam den Finger um den Abzug. Sie schloss die Augen, weigerte sich zu akzeptieren, dass das Letzte, was sie in ihrem Leben sah, das grauenvoll entstellte Gesicht dieses Mörders sein würde. Eine Explosion zerriss ihr fast das Trommelfell. Sie befürchte, erneut angeschossen worden zu sein – es war dasselbe schmerzhafte Klingen in den Ohren – und erkannte ihren Irrtum erst, als sie die Augen öffnete und eine mächtige Druckwelle durch die Reste der Gießerei ging. Sie ebnete die letzten noch stehenden Mauern ein und ließ Trümmer hundert Meter in die Luft segeln. Unter ihnen grollte die Erde so laut wie der Donner Stun‐ den zuvor. Sie spürte die Implosion des Hauptschachts und fürchtete, dass sich jeden Moment die Erde auftun und sie ebenfalls verschlucken würde. Steine und Erde, Ziegel und Glas regneten herab auf ihren
primitiven Unterstand, und Lauren nahm undeutlich wahr, dass auch der eigentliche Regen nicht aufgehört hatte und von der Explosion irgendwie wärmer geworden war. Stasslers Hand hielt noch immer die Tischkante umklam‐ mert, aber sein Kopf war fort, und was Lauren nun sah, würde sie nie mehr vergessen: Eine Fontäne aus Blut spritzte aus dem Stumpf seines Halses, und sie begriff, dass die warmen Trop‐ fen, die ihr aufs Gesicht fielen, gar kein Regen waren. Sie wischte sich wie verrückt ab, ohne auf ihre Schmerzen zu achten, dann sah sie Stasslers Körper zusammensacken. Die Bewegung wirkte nach dem Wüten der Explosion beinahe be‐ dächtig. Aber auch jetzt noch hielten sich seine Finger am Tisch fest, und Lauren sah, weshalb: Sie waren voll geschmol‐ zener Bronze gewesen, als er den Tischrand gepackt hatte, und nun waren sie an die Oberfläche geschweißt, auf der er alle seine Opfer gequält hatte. Ry räumte die Balken beiseite, die ihren behelfsmäßigen Schutzraum gebildet hatten, ihr primitives Dreieck des Lebens, und sie sahen, dass sämtliche Wände eingestürzt waren. Aus einer Öffnung im Boden, wo vor Minuten noch der Schmelz‐ ofen gestanden hatte, loderten Flammen. Ringsum brannten mehrere kleinere Feuer und erhellten die Dunkelheit mit ei‐ nem unheimlichen roten Schein, während die Flammen selbst sich über die harmlose Kränkung durch den Regen nur lustig zu machen schienen. »Ich will hier raus«, sagte Lauren, und ihre Stimme war so zittrig, als sollte sie sich nie wieder festigen. Ry legte ihr die Hand auf den Rücken, um sie zu beruhigen, aber sie spürte seine Finger beben und wusste, dass er eben‐ falls Angst hatte.
Ein erneutes Grollen raste unter ihnen hindurch, erschütter‐ te die Erde, erschütterte sie. Es war, als würde sich der hohle Untergrund noch einmal dranmachen, sie gänzlich zu ver‐ schlingen. Zehn Meter entfernt, wo der Eingang zur Mine die Leichen so vieler Männer, Frauen und Kinder aufgenommen hatte, spie die Erde eine mächtige Wolke aus ätzendem schwarzem Rauch aus. Binnen Sekunden trieb die Wolke über Lauren und Ry, und sie begannen zu husten. Er nahm sie an der Hand, und sie zog sich auf ihrem gesunden Bein hoch. Sie war nackt, blutig und schwarz von Staub und Rauch. Der Schmerz in ihrem Ober‐ schenkel war nicht mehr so schrill, aber noch immer heftig, und sie hielt ihn einen Moment fest, um die Qual zu lindern. Es ging nicht. Mit Rys Hilfe humpelte sie los, ohne die Tränen zu bemer‐ ken, die ihr über das rußige Gesicht liefen. Sie hatte mehr als genug damit zu tun, sich einen Weg durch die Trümmer der Gießerei zu bahnen, über Balken, Ziegel und verbeulte, ver‐ kohlte Behälter zu steigen. »Wir haben es gleich geschafft«, sagte Ry. »Es wird alles gut.« Sie wollte ihm so gerne glauben, und es wäre ihr vielleicht auch gelungen, hätte sie nicht Stasslers Kopf in einigen Schrit‐ ten Entfernung liegen sehen. Lauren sank in Rys Arme und schrie zum ersten Mal, ein qualvoller Laut, der weithin zu hören war. Der Schmerz in ihrer Kehle hatte einer sehr viel größeren Pein Platz gemacht. Ihre Finger krallten sich in Rys Rücken, während sie in den Himmel starrte und schrie, bis die Kraft aus ihrer Stimme wich.
Auch danach konnte sie den letzten Anblick von Ashley Stassler nicht abschütteln: Die Explosion hatte seinen Schädel seitlich aufgerissen und Knochenstücke, dünn und spitz wie Stricknadeln in die dunklen Windungen seines frei liegenden Gehirns getrieben. Sie hielt sich die Hände vor den Leib, als ihr der Geruch von versengtem Fleisch in die Nase stieg, und ehe sie begriff, was geschah, hob Ry sie auf und trug sie fort. Sie dachte, sie hätte ein Stöhnen gehört, ein Ausatmen, und auch wenn sie wusste, es konnte unmöglich von Stassler gekommen sein, war sie sich dessen nicht völlig sicher. So vieles starb in diesen Augenblik‐ ken, dass sich unmöglich genau feststellen ließ, was dieses un‐ heimliche Geräusch erzeugt hatte. Die Erde selbst hatte sich nicht wieder völlig geschlossen, und immer noch entwichen ihre Geheimnisse.
33 Langsam!« Kerry schlug mit der Faust aufs Armaturenbrett. Sie hätte gern Diamond Girl geschlagen, aber nicht während die verrückte Göre mit einhundertfünfzig Sachen über einen regennassen, sturmgepeitschten Highway raste. »Wenn du nicht mehr versuchst auszusteigen, dann fahre ich vielleicht langsamer«, entgegnete Diamond Girl ungerührt. »Was glaubst du denn? Meinst du, ich springe raus und breche mir das Genick? Fahr langsam!« Kerry hatte tatsächlich versucht, wieder auszusteigen, als sie sah, wer angehalten hatte. Aber Diamond Girl hatte die Kin‐ dersicherung aktiviert, das Gaspedal durchgetreten und sie zu einem wilden, schlingernden Spurt bis weit über hundert Stundenkilometer gezwungen. Kerry hatte sich eingestehen müssen, dass eine Flucht zu diesem Zeitpunkt sinnlos und zweifellos tödlich gewesen wäre. Aber sie hatte nicht aufgegeben. Eine halbe Stunde später, als Diamond Girls Aufmerksamkeit nachließ und sie ein wenig vom Gas ging, versuchte Kerry erneut, die Tür zu öffnen. Diamond Girl sah sie an, schüttelte den Kopf, als wäre sie, Kerry, ein hoffnungsloser Fall und beschleunigte erneut in den Bereich von rund einhundertfünfzig Stundenkilometer. Kerry hatte es auch mit Schreien versucht, hatte sie angeb‐ rüllt, den verdammten Wagen anzuhalten und sie hinauszu‐ lassen; aber Diamond Girls Reaktion darauf war so, dass Kerry am liebsten nicht nur mit der Faust, sondern auch mit dem
Kopf auf das Armaturenbrett geschlagen hätte: Sie hatte sie ausdruckslos angesehen und ohne jede Gefühlsregung in der Stimme erklärt, dass Kerry sie eigentlich gar nicht verlassen wolle. »Du hast deinen Spaß mit mir. So viel Spaß wie noch nie, jede Wette«, sagte sie und ging so lange vom Gas, bis sie über alle vier Fahrspuren wenden konnte. »Spaß? Spaß!« Kerry rammte den Ellenbogen so heftig ge‐ gen die Tür, dass sie sich wund schlug, und es war ihr egal. »Ich hatte keinen Spaß. Wir waren in einem gottverdammten Käfig. Ich musste mit ansehen, wie drei Leute ermordet wur‐ den. Deine eigene Mutter! Dein Bruder. Dein Vater. Was zum Teufel war daran spaßig?« »Ich wollte das alles nicht, aber Ashley zu verarschen war toll.« Kerry blinzelte, nicht einmal, nicht zweimal, sondern drei‐ mal. Sie konnte kaum glauben, was sie gerade gehört hatte, und dachte unwillkürlich, wenn ihr Gehör sie trog, dann taten es ihre Augen wahrscheinlich auch. Eine Halluzination, natür‐ lich. Doch nein, Diamond Girl war dort, wo sie die ganze Zeit gewesen war, hinter dem Lenkrad, und ihre Worte waren so real gewesen wie der Regen. »Dann verarschst du jetzt also mich, ja? Sag es. Sag, dass du im Moment mich verarschst.« Diamond Girl wandte ihr den Kopf zu und legte die Hand auf Kerrys Knie. »Was fällt dir ein!« Kerry schob die Hand weg. »Denk nicht mal dran. Das war nur gespielt, schon vergessen? Um ihn in den Käfig zu kriegen. Du … du …« Kerry stammelte, wütend und entsetzt darüber, wie absolut beherrscht Diamond Girl
wirkte. »… du tust es tatsächlich. Du verarschst mich. Du hast es im Käfig getan, und du tust es jetzt.« »Dich und Ashley, wenn du die Wahrheit wissen willst.« »Das ist Blödsinn! Ich wollte dir helfen, uns da rauszubrin‐ gen.« »Armes Mädchen. Und jetzt fühlst du dich … miss‐ braucht?« Diamond Girl schüttelte den Kopf und atmete hör‐ bar aus, als hätte sie es mit einem besonders ungezogenen Kind zu tun. Was Kerry nur umso wütender machte. Sie hatte sich auf diese Bi‐Nummer eingelassen, um diesen … dieses Arschloch aus der Hölle in den Käfig zu locken, damit sie ihm vielleicht die Eier blau klopfen und verschwinden konnten. Aber die ganze Zeit, die sie mit Stassler gespielt hatten, hatte Diamond Girl auch mit ihr gespielt. Kerry hatte sich schon mit einigen unheimlich coolen Bi‐ Mädchen herumgetrieben, Riot Grrls wie sie selbst, aber bis zu Diamond Girl war keine von ihnen verrückt gewesen. »Manchmal beginnt etwas als eine Sache und entwickelt sich dann zu einer anderen.« Diamond Girl sprach ruhig wie eh und je. »Frag Ashley.« Ein Lächeln huschte über ihren Mund. Die Hand wieder. Das Knie. Kerry stöhnte und schlug sie weg. »Das hat sich zu nichts entwickelt, verstanden? Zu gar nichts.« Diamond Girl starrte sie an. Das unheimliche Grün der Ar‐ maturenbeleuchtung spiegelte sich in ihren Augen. »Schau auf die Straße«, sagte Kerry nervös. »Schau ver‐ dammt noch mal auf die Straße!« Der Jeep geriet auf das Bankett. Kiesel prasselten an den Unterboden. Diamond Girl schien sich nicht darum zu
kümmern. Sie starrte weiter mit ausdrucksloser Miene Kerry an. Kerry warf sich über den Sitz und packte das Steuerrad. Der Wagen brach aus, als sie ihn auf die Straße zurücklenkte, und die hintere Achse schlingerte von einer Seite zur anderen. »Langsam!« Kerry brüllte noch lauter als zuvor. Ihre Hand am Lenkrad wurde taub. Die Vibration aller vier Räder rüttelte ihr Handgelenk durch. Ihr Herz klopfte heftiger als der Motor, als das Fahrzeug mit einem Satz auf die Straße zurückkehrte. Es begann sich zu beruhigen. Diamond Girl wehrte sich nicht, aber sie trat fester aufs Gaspedal. Kerry schrie, als der Tacho einhundertsiebzig anzeigte. Dann spürte sie Diamond Girls Hand auf ihre Brust kriechen. Sie fluchte und stieß sie mit dem Ellenbogen weg. Diamond Girl hatte mit ihr gespielt, aber Kerry sollte verdammt sein, wenn sie das Mädchen noch einmal mit ihrem Körper spielen ließ. Diamond Girl bremste auf vernünftigere einhundertvierzig ab und legte die Hände wieder ans Lenkrad. »Ich übernehme. Das Steuer«, fügte sie ausdrücklich hinzu. Es war das erste Mal, dass sie ein Wort betonte. »Siehst du«, fuhr sie mit einem Blick auf Kerry fort, die nun mit ver‐ schränkten Armen an der Beifahrertür lehnte, »du hast ja doch Spaß mit mir.« »Lass mich raus.« »Hier? Hier ist weit und breit nichts.« Nichts klang prima für Kerry. Nichts war besser als hier drin. Sie würde liebend gern ihr Glück mit einem anderen
Wagen versuchen. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass noch ein Verrückter hielt? Zwei in einer Nacht? Ihre Chancen mussten doch wohl gut stehen, oder? Aber als sie in die Dun‐ kelheit blickte, fand sie dort keinen Trost. Die Welt schien plötzlich voll mit Verrückten. »Ich bringe dich zurück.« Diamond Girl lenkte sie von ihren Ängsten ab, indem sie eine neue Angst ins Spiel brachte. »Zurück wohin?« »Zur Straße. Zu der, die zu Ashley führt.« »Nein! Nicht dorthin!« »Ich setze dich beim Tor ab, und dann verschwinde ich. Wir sind ganz nahe an Ashleys Straße, und wenn ich dich nicht ein paar Kilometer von hier wegbringe, hältst du ein Auto an, so wie du mich angehalten hast, und alarmierst den Sheriff, be‐ vor ich Zeit habe abzuhauen.« Endlich dämmerte Hoffnung herauf, echte Hoffnung. Kerry sagte nichts, um den Zauber nicht zu brechen. Diamond Girl stellte den Scheibenwischer höher, da der Regen dichter wurde. Die Geste war so … normal. Es ließ sie, nun ja, nicht gerade normal erscheinen – nichts konnte Dia‐ mond Girl normal erscheinen lassen —, aber vernünftig? Viel‐ leicht. »Warum kommst du nicht mit mir zur Polizei?«, traute sich Kerry zu fragen. »Du hast nichts verbrochen.« »Ich habe Pläne, und das wäre das Letzte, was ich tun wür‐ de.« »Pläne? Was hast du vor?« Kerry wollte das Gespräch in Gang halten, denn Diamond Girl klang fast wie bei Verstand. Wenn sie Pläne hatte, dachte sie immerhin an die Zukunft. Vielleicht macht sie bestimmte Phasen durch, überlegte Kerry,
wie der Mond, wenn er wächst und scheint und dann schrumpft und dunkel wird. Diamond Girl nickte gebieterisch. »Du wirst auf jeden Fall davon hören, und wenn du es hörst, wirst du wissen, dass ich es bin. Es hat nichts mit Ashley zu tun.« Sie machte eine Handbewegung, als verscheuche sie einen nervigen Autog‐ rammjäger. »Ich habe jetzt meine eigenen Pläne.« »Was hast du vor?« Aber Diamond Girls Aufmerksamkeit wurde von einem Feuerschein in der Ferne beansprucht. »Das muss bei Stassler sein«, sagte sie. Sie bog in die Zufahrtsstraße ein. »Bitte lass mich raus«, flehte Kerry. »Hör auf zu jammern. Ich hab doch gesagt, ich setze dich beim Tor ab.« Das Feuer schien größer zu werden, während sie auf das Anwesen zurasten. Zu Kerrys Entsetzen stand das Tor einla‐ dend offen, so wie Diamond Girl es anscheinend zurückgelas‐ sen hatte, als sie den Jeep stahl. Aber sie hielt Wort und brem‐ ste abrupt. Sie stellte den Motor ab und sprang mit den Schlüsseln aus dem Wagen. Sobald die Schlösser aufgingen, stieß Kerry die Tür auf und entfernte sich ein Stück. Aber Diamond Girl beachtete sie überhaupt nicht. Sie stieg auf das Autodach, so dass sie das flache Land ringsum überragte. »Es scheint die Gießerei zu sein«, berichtete sie. »Sie ist futsch. Ich sehe nur noch ein paar kleinere Feuer dort, wo sie mal gestanden hat.« Kerry wich weiter zurück. Sie scherte sich einen feuchten Dreck um die Gießerei oder irgendwelche Feuer. Alles, was sie interessierte, war ihre Freiheit, und die wollte sie um jeden
Preis behalten, notfalls indem sie in die verdammte Wüste rannte. Während sie darüber nachdachte, fuhr Diamond Girl zu ihr herum und hob die Arme, als wollte sie nach den Sternen grei‐ fen. »Ja«, flüsterte sie, und obwohl der Regen auf den Jeep und die nasse Erde prasselte, hörte Kerry sie. Es war ein weithin hörbares Flüstern, ein durchtriebenes Zischeln, das ihre Ohren umfing wie Diamond Girls Hände ihren Körper umfangen hatten. Sie senkte die Arme, bis beide genau auf Kerry zeigten. Ein roter Schein erhellte eine Gesichtshälfte. »Ich kann dich nicht zwingen, mit mir zu kommen. Das war Ashleys Fehler, dass er dachte, er könnte mich dazu bringen, etwas zu tun, was ich nicht tun wollte. Wie meine Eltern.« Sie hielt inne, und Kerry sah einen seltsamen Ausdruck auf Diamond Girls Gesicht erscheinen. Wehmut? Sie war sich nicht sicher, und es ging so schnell vorüber, dass sie fast mein‐ te, es sich nur eingebildet zu haben. »Das werde ich also nicht tun. Aber ich werde dafür sorgen, dass du mit mir kommen willst. Du wirst schon sehen. Eines Tages wirst du es mehr wollen als alles andere auf der Welt. Du wirst von mir erfahren, und du wirst mir Bescheid geben. Du findest sicher einen Weg, und dann komme ich zurück und hole dich. Ich verspreche es.« Wovon zum Teufel redet sie? Kerry entfernte sich wie von Sinnen rückwärts, trampelte Sträucher nieder und stolperte, aber nicht einen Moment, nicht einen ließ sie Diamond Girl aus den Augen, die nun von dem Jeep sprang und die Fahrertür aufriss.
Das Kabinenlicht verbannte alle Schatten von ihrem Ge‐ sicht, und sie wirkte aufgeregt wie ein Kind, das zum ersten Mal in eine Achterbahn steigt. Ein Kind, das es kaum erwarten kann, sich mit einem großen Jubelschrei auf eine lange, un‐ heimliche Sturzfahrt zu machen. Ein Kind auf dem Weg in ein Erwachsenenleben, das es sich jetzt erst allmählich vorzustel‐ len vermag. Kerry stand noch lange, nachdem die Rücklichter des Jeeps mit der Nacht verschmolzen waren, regungslos und unge‐ schützt beim Tor. Als sie zu der Überzeugung gelangte, dass Diamond Girl für immer fort war, zwang sie sich, zum High‐ way zu gehen. Bis zu ihrer Rettung mochten noch Stunden vergehen, aber jeder Schritt, so versicherte sie sich, brachte sie einem heißen Tee und ihrer endgültigen Sicherheit näher. Sie war noch keine fünfzig Meter weit gekommen, als ein Scheinwerferpaar, das sich aus der Richtung des Anwesens näherte, ihren Schatten aus der Dunkelheit stahl. »Verdammter Mist!« Sie rannte zurück zur mageren Zuflucht des Tores und ver‐ suchte, sich hinter dem Pfosten zu verstecken. Als die Schein‐ werfer größer wurden, kauerte sie sich so klein wie möglich zusammen und schloss die Augen, als könnte sie damit zu ihrer Deckung beitragen. Hinter ihren Lidern wurde das Licht größer, und die Angst nahm zu. Die Reifen brummten über die Straße, dann stoppten sie. Sie schoss von dem Torpfosten weg und rannte hinaus in die vor Nässe triefende Wüste. Eine Hupe ertönte, und ein Mann schrie: »Kerry! Bleib ste‐ hen, Kerry!«
Der einzige Mann, den sie hier draußen kannte, war Ashley Stassler, und sie würde eher rennen, bis ihr die Beine abfielen, als für ihn stehen zu bleiben. Aber dann hörte sie das tiefe Bel‐ len eines Hundes und die schwer mitgenommene Stimme ei‐ ner Frau, die versuchte, nach ihr zu rufen. Kerry hielt an. Ashley Stassler rief sie nie mit Namen, er nannte sie nur Ihre Widerlichkeit; und die einzige andere Frau hier draußen, außer Diamond Girl und ihrer Mutter, war Lau‐ ren gewesen, auch wenn es sich nicht nach ihr anhörte. »Ich bin es, Ry Chambers«, rief der Mann. »Sie müssen sich vor nichts fürchten. Lauren ist bei mir im Auto.« Der niedliche ältere Typ mit dem gewellten Haar. Sie erin‐ nerte sich an ihn. Aber sie war noch immer zu misstrauisch, um sofort zur Straße zurückzueilen. Sie machte kleine Schritte, jederzeit bereit, auf dem Absatz kehrtzumachen und zu flie‐ hen, falls diese Schreckensnacht eine weitere dunkle Wendung nehmen sollte. Erst als sie weniger als zehn Meter von dem Land Rover entfernt war, konnte sie die beiden erkennen. Ry half ihr auf den Beifahrersitz, den sie sich mit Leroy tei‐ len musste. Lauren saß mit ausgestreckten Beinen unter einer Decke auf dem Rücksitz. Sie hielt sich das Bein, und ihr Ge‐ sicht war heftig geschwollen und blutig. »Was ist dir passiert?«, fragte Kerry. »Stassler hat mich ins Bein geschossen, und es tut höllisch weh.« Ry fuhr in Richtung Highway los. »Kennen Sie den Weg zum Krankenhaus?«, fragte er Kerry. »Klar. Fahren Sie erst in die Stadt hinein, von da an zeige ich es Ihnen.«
Lauren drehte sich auf die Seite. »Leroy haben wir auch hier draußen entdeckt. Wen finden wir wohl noch auf dieser Stra‐ ße?« »Solange es nicht Stassler ist, soll es mir egal sein«, erwider‐ te Kerry. »Den bestimmt nicht«, brachte Lauren mühsam hervor. »Das verspreche ich dir … den nicht.«
34 Ein Weihnachtsmann der Heilsarmee bimmelte im Regen mit seiner Glocke. Lauren griff in ihre Geldbörse und stopfte ihm einen Zehndollarschein in den roten Eimer. Sie ging selten an einem dieser Weihnachtsmänner vorüber, ohne wenigstens ein paar Dollar zu spenden. Seit sie die Tortur in der Wüste über‐ lebt hatte, war ihr nach Großzügigkeit zumute. Und nach Dankbarkeit. Nie wieder würde sie irgendeinen Aspekt des Lebens als selbstverständlich erachten. Gerüche, Geräusche, optische Eindrücke – sie empfand mit allen Sinne so intensiv wie nie. Könnte natürlich auch die Liebe daran schuld sein, sagte sie lächelnd zu sich selbst. Seit Monaten wirkte die Liebe ihre Wunder in fast alles, was sie tat oder dachte. Ry war fanta‐ stisch gewesen, er hatte ihr während der ganzen körperlichen Genesung geholfen und sie in langen Nächten in den Armen gehalten, wenn Ashley Stasslers gespenstisches Antlitz in ihre Träume drang und sie so gewiss um den Schlaf brachte, wie er versucht hatte, sie ums Leben zu bringen. Sie hatten sich ein kleines Haus mit einem großen, umzäun‐ ten Garten, drei Straßen von der Universität entfernt, gemietet. Die Garage war ihr Atelier geworden, und wenn auch der Blick nicht annähernd so eindrucksvoll wie in Pasadena war, hatte sich die Gesellschaft, die sie genoss – Ry und Leroy – als sehr viel angenehmer erwiesen. Ein erstes Haus, dachte sie. Für eine kleine Familie, hoffentlich.
Sie hüpfte fast schon die Stufen zu Bandering Hall empor, voller Freude, so viel Kraft und Elastizität in dem Bein zu füh‐ len, das verletzt gewesen war. In der Vorwoche hatte sie wie‐ der mit dem Laufen begonnen, erstaunt, wie schnell Körper und Geist heilten. Sie freute sich außerordentlich darüber, wie beide in ihrer Arbeit zusammenkamen und die Tragödie in Bildhauerei umwandelten. Ihre Arbeiten waren nie scharflini‐ ger oder besser gewesen. Die Tür zu Bandering Hall schwang auf, und Lauren mach‐ te einer jungen Frau Platz, die ein leuchtend buntes, in durch‐ sichtige Plastikfolie gehülltes Gemälde trug. Lauren eilte ins Gebäude und hinauf zu ihrem Büro. Sie strahlte, als sie die Tür öffnete und den kleinen Weihnachts‐ baum auf ihrem Schreibtisch sah. Baum? Das war eindeutig eine großzügige Auslegung. Wahrscheinlicher handelte es sich um die oberen dreißig Zentimeter einer Kiefer, die Ry abge‐ schnitten und dann mit Dutzenden von winzigen Glühbirnen für sie geschmückt hatte: rote, goldene und purpurfarbene, grüne und silberne, all diese wunderbar schauerlichen Farben, die so grell von der Weihnachtszeit kündeten. Sie liebte sie. Sie liebte den Baum. Am meisten aber liebte sie den Mann, der ihn ihr geschenkt hatte. Er hatte ihn heute Morgen vorbeigebracht und versprochen, sich nach dem Lunch mit ihr zu treffen. Er war mit dem letz‐ ten Kapitel seines Buches beschäftigt. Nicht des Buches, das er ursprünglich schreiben wollte; die grausigen Entdeckungen auf Stasslers Anwesen hatten ihm ein neues diktiert. Ry er‐ forschte die Verbindungen – und sie waren zahlreich – zwi‐ schen Stasslers Bildhauerei und seiner Geistesgestörtheit. Auch andere Autoren schrieben Bücher über Stassler – seine
mörderischen Methoden waren eine Sensationsnachricht –, aber keiner verfügte über Rys unmittelbare Kenntnis von dem Mann und seinem Wahn. Lauren setzte sich, ihr Computermonitor sprang an und zeigte einen erfreulich wenig dicht gedrängten Stundenplan. Selbst Dr. Aiken, der bärbeißige Dekan, war so mitfühlend gewesen, ihr Pensum zu erleichtern. Nicht dass sie das Un‐ terrichten je ganz aufgeben würde. Es machte ihr echte Freude, Vorlesungen zu halten, Dias zu zeigen und mit ih‐ ren Studenten im Atelier zu arbeiten. Und sie schienen emp‐ fänglicher denn je für ihre Anleitung. Besonders Kerrys Ar‐ beiten hatten sich in einer Weise entwickelt, wie es für die meisten Studenten unvorstellbar war. Aber natürlich hatte die Frau auch Unvorstellbares mitgemacht. Sie war kein Mädchen mehr, und Lauren würde sie nie mehr als eines betrachten. Ry schlenderte mit einem schalkhaften Gesichtsausdruck ins Büro. Lauren sah es so deutlich wie die Regentropfen, die wie Tau in seinem Haar hingen. Sie war so überrascht und aufgeregt gewesen, damals, als er zum ersten Mal hier hereinkam. Was hatte sie erwartet? Einen verdrucksten Typen vielleicht oder einen Twen mit fehlgeleite‐ tem literarischem Ehrgeiz. Jedenfalls nicht ein körperlich be‐ gehrenswertes Exemplar von Mann mit einem Kopf voller in‐ telligenter Fragen. Das kam an einer Universität einfach nicht oft vor, und auch woanders nicht, wenn sie es recht bedachte. Hirn oder Muskeln? Du hast die Wahl, versuch dein Glück. Aber bei Ry musste sie nicht wählen. Sie hatte Glück gehabt. Und sie wusste es. Sie würde sich diesen Fang nicht mehr nehmen lassen.
Er küsste sie und drückte ihr die Hand, und dieser Augen‐ blick besiegelte ihren Entschluss. »Ich habe eine Idee«, sagte sie. »Und die wäre?«, fragte er und nahm in dem Sessel neben ihrem Schreibtisch Platz. »Lass uns heiraten.« »Heiraten?«, wiederholte er, als wäre das Wort ein beson‐ ders gefährliches Allergen. »Ja … heiraten«, sagte sie, allerdings mit weniger Zuver‐ sicht als noch Augenblicke zuvor. Erst letzte Weihnachten hatte Chad einen Rückzieher gemacht – aus demselben Grund. »Ich denke …«, Ry zögerte, »du solltest erst mal nachsehen, was dir der Weihnachtsmann gebracht hat, ehe du noch ein Wort sagst.« Der Weihnachtsmann? Im ersten Moment fiel ihr nur der Weihnachtsmann der Heilsarmee ein, den sie auf dem Rück‐ weg vom Lunch gesehen hatte. Aber dann fiel ihr Blick auf den winzigen Weihnachtsbaum. Unter den glitzernden Glüh‐ birnen entdeckte sie ein kleines Päckchen in weißem Papier, das eine listige Hand hinter dem dünnen Stamm versteckt hat‐ te. »Soll ich es aufmachen?«, fragte sie neckisch. »Nein, auf keinen Fall«, gab er nicht weniger schelmisch zu‐ rück. Sie nahm das Päckchen und wickelte es langsam aus dem Papier, genoss die ganze Romantik des Augenblicks. Ein rotes Samtetui kam zum Vorschein, und als sie es öffne‐ te, sah sie den Ring und das Funkeln des Steins. »Ich kann einfach nicht glauben, dass du mir die Pointe ge‐
stohlen hast«, sagte er lachend. »Ich habe es heute Morgen un‐ ter den Baum geschoben, als du nicht hingesehen hast, und ich wollte dich …« Sie legte ihm den Zeigefinger auf den Mund, um ihn zum Schweigen zu bringen, ehe ihre Lippen diese Aufgabe über‐ nahmen.
35 Eine Frau in einem schwarzen, knielangen Mantel klopfte leise an die Tür eines Einfamilienhauses in East Alton, Illinois. Sekunden später machte ein dunkelhaariges Mädchen von höchstens acht Jahren auf. »Ist deine Mommie zu Hause? Oder dein Daddy?«, sagte die Frau. »Mommie«, trällerte das Mädchen, »hier will dich jemand sprechen.« Die Mutter des Mädchens kam zur Tür, sie trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. Sie sah freundlich aus und lächelte beim Sprechen. »Kann ich Ihnen helfen?« »Ja, ich hoffe es. Ich habe früher hier gewohnt, als ich unge‐ fähr so alt war wie sie.« Die Frau senkte den Blick zu dem Kind hinab. »Und ich wollte Sie fragen, ob ich mich nicht noch einmal umsehen könnte, ehe ich abreise. Ich komme …«, hier brach die Stimme der Frau, und als sie zu weinen begann, wirkte sie selbst eher wie ein Kind, »… ich komme gerade von der Beerdigung meiner Mutter.«
Danksagung Ich möchte mich bei Elizabeth Mead bedanken, ei‐
ner Bildhauerin, die mir bereitwillig Zeit und Sachkenntnis zur Verfügung stellte. Sie ließ zahlreiche Befragungen über sich ergehen und öffnete mir Unterrichtsräume und Atelier. Sie ist eine fantastische Künstlerin und eine bemerkenswerte Frau. Dank auch an Tim Burton, ein Bildhauer und alter Freund, dessen Erzählungen von Reisen in Nepal einige der frühesten Überlegungen zu diesem Buch anregten. Falls meine Darstellung der Künste Fehler enthält, so sind sie allein meine Schuld. Ohne Elizabeth, Tim und Steve Com‐ ba, einen vorzüglichen Künstler, dessen Werke meine Wände zieren, wären sie zahlreicher gewesen. Mein Dank gilt auch Dr. med. vet. Laura Makepeace. Ich habe das Glück, einen alten Kreis von Lesern zu besit‐ zen, deren Ermunterung und Kritik mir im Lauf der Jahre enorm geholfen hat. Ich möchte zuerst Ed Stackler danken, der meine frühesten Ideen zu »Totenstarre«, eine Auswahl von Ka‐ piteln während der Entstehung und den Roman im Ganzen gelesen hat. Er lieferte stets die treffendsten Kommentare dazu. Alle meine anderen Leser haben scharfsinnige Gedanken und Unterstützung geboten, und wenn ich könnte, würde ich sie alle täglich umarmen: Dale Dauten, Tina Castanares, Lars Topelmann, Catherine Zangar, Christopher Van Tilburg und Steve Comba. Meinen tiefsten Dank an meinen Agenten Luke Janklow für seine Leidenschaft, seinen Instinkt und Humor. Was für ein Vergnügen, mit ihm zu arbeiten. Und besonderen Dank an meine Herausgeberin Leigh Ha‐ ber. Auch die Zusammenarbeit mit ihr war eine Freude. Sie besitzt eine sichere und dennoch leichte Hand.
Anmerkung des Autors Alle Personen und Ereignisse in diesem Buch sind das Produkt meiner zugegebenermaßen verdorbenen Fantasie. Ich will al‐ lerdings kurz darauf hinweisen, dass sich meine Erfindungen auch auf die Gastroszene in Moab, Utah, erstrecken, wo ich tatsächlich ausgezeichnet gegessen und getrunken habe. Nichts für ungut, Leute! Um Entschuldigung bitte ich auch für die Freiheiten, die ich mir bei der Beschreibung der geologi‐ schen Eigenschaften des südöstlichen Utah genommen habe.