Kelly Kevin
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1. Die Hölle tobte. Der große Mann, der sich auf dem Achterkastell der Galeone an der Schmuckbalustrade festhielt, war durchnäßt vom Kopf bis zu den Zehen und zeigte grimmig die Zähne. Jene kräftigen, blendendweißen Zähne. die vor Zeiten den Plymouther Kneipenwirt Nathaniel Plymson dazu gebracht hatten, sich zu bekreuzigen und lauthals zu schreien, der Seewolf sei los. Jetzt war es das Wetter, dem der Seewolf die Zähne zeigte. „Trosse zum Laufen klarlegen!“ brüllte er über das Tosen und Heulen der Elemente hinweg. „Aufpassen, daß sie nicht zu schnell ausrauscht, in drei Teufels Namen!“ „Klar zum Laufen!“ Ben Brightons Stimme hatte auch schon so manchen Sturm übertönt. „Dann 'raus damit! Fier weg Besan! Aufpassen, Pete, wir müssen den verdammten Kahn mit dem Heck in den Wind bringen!“ Der „verdammte Kahn“ lief unter Fock und Besan Nordkurs, gebärdete sich wie ein durchgehender Gaul und krängte, als wolle er sich die Masten aus dem Leib schütteln. Der Sturm orgelte durch das Rigg, spielte seine Höllenmusik auf den zum Zerreißen straff gespannten Wanten und Pardunen, ließ die Rahen knirschen, daß es wie das Ächzen verdammter Seelen klang. Von Südwesten brauste es heran, wo Wasser und Himmel zu einem schwarzen Höllenschlund verschmolzen. Alle Augenblicke schmetterten Brecher gegen die Bordwand, überspülten Sturzseen die Decks, flossen gurgelnd durch die Speigatten ab und durchnäßten die Männer, die sich fluchend an den ausgespannten Tauen festklammerten. Batuti und Smoky kämpften sich zum Besanmast und warfen das Fall los, ohne sich erst damit aufzuhalten, die Gaffel langsam abzufieren. Hastig bargen sie das flatternde Segel, und von irgendwoher
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tauchte der rote Haarschopf Ferris Tuckers auf. Hasard hatte keine Zeit, sich zu fragen, wieso sein Schiffszimmermann so auffallend finster den Mast anstarrte. Nur noch die Fock stand, und sie drückte den Bug der „Isabella VIII.“ nach Steuerbord herum. Gleichzeitig ließ Ben Brighton die Trosse ausfahren, die achtern unter Deck um den Besanmast belegt war. Ein Ruck ging durch das Schiff. Edwin Carberry, der narbengesichtige Profos, brüllte einen ellenlangen Fluch, in dem vorwiegend von Tod, Teufel und diversen Dämonen der Hölle die Rede war. Er war noch nicht ganz fertig damit, da wurden die Bewegungen der „Isabella“ spürbar ruhiger, als sei die alles zerschmetternde Gewalt des Sturms plötzlich gebrochen. Dem war nicht so. Der Sturm brauste und orgelte, jaulte und pfiff genauso wild wie vorher. Aber im kochenden Kielwasser hing die Schleife der schweren Trosse achteraus, hielt das Heck der Galeone vor dem Wind und wirkte wie ein riesiger Treibanker. Die anrollenden Wellenberge verloren ihre mörderische Gewalt, sobald sie sich der „Isabella“ näherten. Jetzt kamen auch keine Sturzseen mehr über. Nur der eisige Wind fegte noch über die Decks und traf mit voller Wucht die Männer in ihren klatschnassen Kleidern. „Himmel, Arsch und Zwirn!“ knirschte Dan O'Flynn, der sich zu Hasard herübergehangelt hatte. „Wenn das so weitergeht, kriegen wir alle das große Zähneklappern!“ „Und außerdem finden wir uns in der Sargassosee wieder“, knurrte der Seewolf. „Auch das noch! Als ob wir nicht ...“ Dan verstummte. „Deck!“ schrie der Moses Bill gewohnheitsmäßig, denn im Augenblick nahm er seine Aufgabe als Ausguck nicht vom Mars aus wahr, wo der Sturm ihn wie eine reife Pflaume von der Plattform geschüttelt hätte, sondern befand sich selbst an Deck. „Schiff querab Steuerbord!“
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Hasard fuhr herum. Im ersten Augenblick sah er nur Regenschleier, windgepeitschtes Wasser, irisierende Gischtwolken. Der junge O'Flynn, der die besten Augen an Bord hatte, sog scharf die Luft ein. Im nächsten Moment konnte auch der Seewolf die Umrisse des fremden Schiffes in der kochenden See erkennen. Ein Schiff unter schwarzer Flagge. Eine Galeone mit zerrauften Sturmsegeln, die mit einer wahren Höllenfahrt vor dem Wind dahinbrauste, riesige Wellenberge erkletterte, in schwindelerregende Tiefen stürzte und von neuem aufwärts getragen wurde, als wolle ihr Bugspriet die tief unter dem Himmel dahinjagenden schwarzen Wolken aufspießen. Hasard sah etwas Weißes an der Nock der Großrah tanzen, vielleicht der Rest eines verlorengegangenen Segels. Er kniff die Augen zusammen. Eine Sekunde lang hatte er das Gefühl, daß mit der Galeone etwas nicht stimmte. Die schwarze Piratenflagge? Nein, da war noch etwas anderes, etwas, das er gesehen, aber nicht wirklich aufgenommen hatte. Er starrte hinüber, suchte — doch da jagte das fremde Schiff bereits in ein neues Wellental und verschwand hinter peitschenden Regenschleiern. Hasard biß sich auf die Lippen. Dan murmelte etwas von „merkwürdiger Kahn“, das im Brausen des Windes unterging. Hinter ihnen hangelte sich Ferris Tucker mühsam an den Manntauen entlang zur Schmuckbalustrade. Das rote Haar klebte ihm naß in der Stirn, er spuckte und fluchte abwechselnd. „Hasard!“ schrie er. „Der verdammte Besanmast sieht so aus, als ober...“ „Wahrschau!“ gellte Bills Stimme dazwischen. „Der Mast!“ Hasard wirbelte herum. Ferris Tucker brauchte nicht mehr zu erzählen, daß der verdammte Besanmast so aussah, als habe er einen Knacks weg und könne jeden Augenblick brechen. Der Augenblick war da. Der „verdammte Besanmast“ vollführte eine Verbeugung, krachte aufs Schanzkleid
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und begrub das Achterschiff unter einem wirren Knäuel von splitternden Rahen, zerfetzten Wanten und Pardunen und flatterndem Segeltuch. * Hasard reagierte mit einer schnellen Folge von Reflexen, die der In= stinkt zuwege brachte. Er sah die riesige Gaffelrute auf sich zuwirbeln, warf sich gegen Ferris Tucker und rammte dem verblüfften Dan O'Flynn mit dem ganzen Schwung der Bewegung die Faust in die Rippen. Alle drei gingen zu Boden, was der Zweck gewesen war. Etwa da, wo sich eben noch ihre Köpfe befunden hatten, sauste die Gaffelnock schräg durch die Luft und krachte auf die Balustrade. Kleinholz, dachte Hasard erbittert. Aber besser Kleinholz als eingeschlagene Köpfe. Die „Isabella“ holte schwer nach Steuerbord über. Batuti und Smoky, die eben noch den Besan weggefiert hatten, kugelten über die Planken. Batuti erwischte blindlings ein Manntau. Smoky war zu benommen dazu. Blut lief über seine Stirn, wo ihn ein Trümmerstück getroffen hatte. Bei der Schräglage der „Isabella“ würde er glatt über Bord gehen. Hasard stieß sich ab und sprang. Platt wie eine Flunder landete er auf dem Bauch, eine Hand in Smokys Hemd und die andere in etwas verkrallt, das einmal ein ordentliches Rigg gewesen war und jetzt den Eindruck erweckte, als habe ein Tiger mit einem gigantischen Wollknäuel gespielt. Smoky stöhnte. Hasard fiel etwas zusammenhanglos ein, daß der bullige braunhaarige Mann ein wahrhaft verblüffendes Talent dazu hatte, alles, was irgendwie durch die Luft flog, unweigerlich an den Schädel zu bekommen. Verrückt geworden, dachte der Seewolf und meinte sich selbst. Als ob es jetzt um Smokys Talente ging! „Tempo, ihr Himmelhunde!“ brüllte Ed Carberry von der Kuhl. „Muß ich euch erst
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die Hammelbeine langziehen? Seht ihr nicht, daß wir kentern, ihr schwarzen Rübenschweine, ihr karierten Kanalratten, ihr dämlichen Perückenläuse?“ Sie kenterten zwar noch nicht, aber der Besanmast hing wie ein gebrochener Arm in die kochende See, und die „Isabella“ krängte beängstigend nach Steuerbord. Hasard sprang auf, stellte Smoky auf die Füße und beförderte ihn mit Schwung an die Schmuckbalustrade, wo er sich hoffentlich festhalten würde. Ferris Tucker und Dan O'Flynn wühlten sich bereits durch das Gewirr von Holztrümmern und verwickelten Stagen. Der Schiffszimmermann schwang seine riesige Axt, Dan hackte mit dem Entermesser nach Wanten und Pardunen. Mit einem Sprung war der Seewolf heran, ließ sich etwas in die Knie sinken und stemmte die Schulter unter den Mast, damit er, wenn er in die Tiefe fuhr, nicht auch noch den Rest des Achterschiffs zu Kleinholz schlug. Ed Carberry, Stenmark und Luke Morgan stürmten mit Beilen bewaffnet das Achterkastell. Endlose Sekunden vergingen, in denen die „Isabella“ Anstalten zeigte, aus dem Wind zu drehen. Wenn sie jetzt quer zum Wellengang schlug, konnten sie alle ihr Testament aufsetzen. Noch hielt die Trosse das Heck. Irgendwo brüllte Ben Brighton ein paar „hirnamputierte Kakerlaken“ an, doch endlich, in drei Teufels Namen, die verdammte Fock aus dem Wind zu nehmen, die den „Scheißkahn“ unaufhaltsam herumdrückte. Für einen ruhigen, beherrschten Mann wie den ersten Offizier der „Isabella“ war das ganz schön starker Tabak. Aber in einer Situation, in der sie jeden Augenblick querschlagen, kentern und mit Mann und Maus auf Tiefe gehen konnten, wäre wohl nicht einmal der Schutzheilige aller Seefahrer ruhig und beherrscht geblieben. „Jetzt!“ brüllte Ferris. Ein letzter, wuchtiger Axthieb begleitete das Wort und trennte endgültig den Mast von seinem zersplitterten Stumpf.
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Hasard drückte die Knie durch. Seine Schulter stemmte das schwere Holz hoch, während Ferris, Dan, Luke und die anderen immer noch wie wahnsinnig auf das Gewirr von Tauwerk einhackten. Ein dumpfes Knirschen und Brechen. Auch am Steuerbordschanzkleid würde es Kleinholz geben, dachte Hasard. Aber was tat das schon, solange der verdammte Mast nicht das Schiff in die Tiefe riß. Überraschend leicht glitt er weg und klatschte ins Wasser. Schwerfällig richtete sich die „Isabella“ aus ihrer Schräglage auf. Zwei, drei Sekunden lang verharrten die Männer mit angehaltenem Atem. Wenn es jetzt dem Teufel, den Geistern des Meeres oder dem Zufall gefiel, den elenden Mast mit voller Wucht gegen die Bordwand zu schmettern und ihnen ein Leck in die Wasserlinie zu rammen, dann war es aus. Nichts dergleichen geschah. Die „Isabella“ zerrte wie ein durchgehender Gaul an der Trosse, der Bug schwang nach Backbord. Voraus glaubte Hasard für den Bruchteil einer Sekunde, ein langes Stück Holz in der brodelnden See zu erkennen. Er holte tief Luft. „Schlafen könnt ihr später!“ schrie er über das Orgeln des Sturms hinweg. „Hoch mit der Fock! Heißt die Blinde! Wir brauchen Fahrt in dem verdammten Kahn, oder der Teufel holt uns lotweise!“ „Aye, aye!“ brüllte der Profos. „Habt ihr's gehört, ihr müden Säcke? Wir sind noch nicht raus aus dem Mist, also bewegt euch, sonst zieh ich euch die Haut in Streifen ...“ Und so weiter und so weiter. Ein fluchender Profos war die Seele des Schiffs. Die Männer hätten auch so gespurt, aber ohne die finsteren Drohungen wäre ihnen ziemlich mulmig geworden. So flitzten sie, keuchten, schufteten, was das Zeug hielt, und wußten, daß sie es schaffen würden. Und wenn nicht, dann würde sie irgendein Wunder davor retten, zur Hölle zu fahren. Denn zur Hölle zu fahren, ohne daß der Profos noch Gelegenheit erhielt, den Schuldigen die Haut in Streifen von
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gewissen edlen Körperteilen zu ziehen das war schlechterdings unmöglich. In Minutenschnelle blähte sich die Blinde unter dem Bugspriet. Die Fock wurde gesetzt, der heulende Wind fuhr hinein, noch bevor die Galeone endgültig querschlagen konnte. Jetzt raste sie wieder dahin, als veranstalte sie einen Wettlauf mit den Windsbräuten. Luke, Ferris und Dan gingen daran, mühsam auf die kläglichen Reste der Manntaue geklammert, das Achterkastell aufzuklaren. Smoky stand an der Schmuckbalustrade und sah aus, als wisse er nicht genau, ob Sommer oder Winter sei. Heiliger Bimbam, dachte Hasard erschüttert. Wenn nur nicht wieder Smokys Erinnerungsvermögen in Mitleidenschaft gezogen worden war! Etwas in der Art hatte er schon einmal gehabt. Temporären Gedächtnisschwund nannte es leicht hochtrabend der Kutscher, der auf der „Isabella“ als Koch und Feldscher fungierte. Die anderen sprachen kürzer und ebenso eindeutig vom „Tempo-Dingsda“. Nur über eins waren sie sich einig: daß Smokys „TempoDingsda“ seinerzeit eine Strafe gewesen war. die das Geschick nur in einem Anfall übelster Laune für die Männer der „Isabella“ hatte ersinnen können. Hasard kam nicht dazu, sich über den Geisteszustand seines Decksältesten zu vergewissern. Als er an die Schmuckbalustrade trat, hangelte sich auf der Kuhl eine schlanke Gestalt an einem straff durchgeholten Strecktau entlang. Siri-Tongs langes rabenschwarzes Haar flatterte im Sturm. Die Rote Korsarin trug einfache Schifferhosen und eine zinnoberfarbene Bluse wie immer. Hasard mußte grinsen, als er bemerkte, daß sie die obersten Knöpfe des Kleidungsstücks rigoros geschlossen hatte - vermutlich, um auf Hasard und Philip, die achtjährigen Zwillingssöhne des Seewolfs, seriöser und respektgebietender zu wirken. Pech, daß das an dem Mißtrauen der Zwillinge nicht viel änderte. Siri-Tong war
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an Bord, da es eine ganze Weile dauern würde, bis der Schwarze Segler wieder instand gesetzt war. Hasard hatte sie gebeten, ihn zu begleiten, da er glaubte, daß ein bißchen weiblicher Einfluß seinen reichlich wild und ungebärdig geratenen Söhnen gut tun würde. Nur verstanden die Zwillinge unter „weiblich“ etwas ganz anderes. Sie waren im Orient aufgewachsen. Ihrer Meinung nach hatte eine Frau im Harem zu sitzen, Süßigkeiten zu knabbern, türkischen Kaffee zu trinken und allenfalls die eine oder andere Intrige zu spinnen. Der Schleier? Nun ja, darauf konnte man notfalls verzichten - andere Länder, andere Sitten. Daß der Seewolf unverständlicherweise keinen Harem sein eigen nannte, mußte man eben akzeptieren. Aber das mindeste wäre gewesen, daß sich Siri-Tong in ihre Kammer zurückgezogen und das süße Nichtstun gepflegt hätte. Eine Frau in Hosen, die zupackte, einen Degen trug, ihn zu führen verstand und vor keiner Arbeit zurückscheute - das ging entschieden über das Begriffsvermögen der Zwillinge. Es gab keinen Zweifel daran, daß sie sich dem „weiblichen Einfluß“ zielstrebig widersetzten. Hasard amüsierte sich darüber und war gespannt, wie sich Siri-Tong am Ende aus der Affäre ziehen würde. Aber sein Lächeln erlosch, als er das blasse, angespannte Gesicht der Roten Korsarin sah. Sie turnte den Niedergang hoch und hielt sich an der Balustrade fest. Auch sie war es gewohnt, Sturm und Wellen zu übertönen schließlich kommandierte sie normalerweise den Schwarzen Segler. „Die Jungen!“ rief sie. „Ich wollte nach ihnen sehen, aber sie sind weg! Verschwunden!“ * „Himmelkreuzdonnerwetter und Gewittersturm noch mal!“ Hasard knirschte den Fluch nur, niemand außer ihm selbst konnte ihn hören.
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Diesmal, schwor er sich, würde er seinen Söhnen eigenhändig die Leviten lesen, und zwar so, daß sie die nächsten Nächte auf dem Bauch schlafen mußten. Sie hatten Himmel, Hölle und das Blaue vom Firmament versprochen, um an Bord bleiben zu dürfen, statt an Land bei Doc Freemont in den Genuß einer nützlichen, aber langweiligen Schulbildung zu kommen. Jetzt waren sie an Bord. Und jetzt mußten sie, verdammt noch mal, auch lernen, sich wie zukünftige Seeleute zu benehmen. Dazu gehörte, daß sie nicht mitten im Sturm durch ihre Eskapaden Männer ablenkten, die ihre Kräfte dringend anderweitig brauchten. Nichtsdestoweniger mußten sie gefunden werden. Es gab hunderterlei Dinge, die ihnen auf der sturmgeschüttelten „Isabella“ zustoßen konnten. Hasard hatte zunächst in der Kombüse nachgesehen, aber dort jagte nur der Kutscher seinen Pfannen nach, die die grünen Sturzseen sonst wohin gespült hatten. Jetzt standen sie mit finsteren Mienen zusammen und überlegten: der Seewolf und Siri-Tong, Old O'Flynn, der sich mit verbiestertem Gesicht auf seine Krücken stützte, Donegal Daniel junior, Big Old Shane, der Kutscher und Ed Carberry, der schon wieder etwas von „Affenärschen“ und „Hautabziehen“ vor sich hin murmelte. Dabei wußte jeder, daß er sich eher selbst verhackstückt hätte, statt zuzulassen, daß den Zwillingen etwas angetan wurde. Den anderen ging es im Grunde genauso. Aber Strafe mußte sein, und deshalb schnitten sie alle höchst ergrimmte Gesichter. Big Old Shane, der frühere Schmied der Feste Arwenack, ließ einen finsteren Blick unter buschigen Brauen in die Runde wandern. „Hier sind sie nicht“, stellte er fest, was angesichts der leeren Kombüse keine überragend geistreiche Bemerkung war. Seine nächste Schlußfolgerung stützte sich auf eine tiefgründige Kenntnis der Psyche
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hungriger Knaben im Wachstumsalter: „Also sind sie in einem der Laderäume.“ „Bestimmt“, sagte Dan O'Flynn. Auch er verfügte, was hungrige Knaben betraf, über tiefgründige Kenntnisse. Schließlich hatte er vor Jahren selbst ständige Raubzüge auf die Kombüse unternommen. Bis man ihm dann einen Bandwurm andichtete, das nicht vorhandene Tierchen mit einer legendären Rizinus-Kur vertrieb und ihn zwar nicht von seiner Freßlust, aber immerhin von seinen räuberischen Eskapaden kurierte. „Dann sehen wir doch nach“, knurrte Hasard und überlegte dabei, ob es im Orient Bandwürmer gab oder ob man sich zwecks Disziplinierung der beiden hungrigen Knaben etwas anderes einfallen lassen mußte. An der Rückwand der Kombüse gab es eine Tür, die in den Schiffsbauch führte. Hasard ging voran. Siri-Tong folgte ihm, eine steile Falte auf der Stirn. Sie war von Natur aus nicht besonders nachsichtig geartet, aber sie hatte nie einen Zweifel an ihrer Ansicht gelassen, daß Kinder Dummheiten anstellen mußten und daß man ihnen keinen Gefallen tat, wenn man ihre Narrenfreiheit zu früh und zu gründlich einschränkte. Recht hat sie, dachte Hasard. Er erinnerte sich nur zu deutlich an seine eigene Kindheit unter der Fuchtel des tyrannischen Sir John Killigrew, der nicht sein wirklicher Vater war. Der kleine Philip Hasard hatte sich an Big Old Shane angeschlossen. Und eines Tages hatte Sir John dann im Hirschgeweih über dem Kamin gezappelt, als er dem damals Siebzehnjährigen die letzte Ohrfeige seines Lebens verpaßte. Hasard hatte sich vorgenommen, dass sich seine eigenen Söhne später nicht wünschen sollten, ihren Erzeuger in einem Hirschgeweih zappeln zu sehen. Trotzdem würden sie ihre Lektion erhalten. Eigensinnige Eskapaden mitten in einem Sturm, der allen das Leben kosten konnten, durften einfach nicht durchgehen. Mit grimmigem Gesicht riß Hasard das Schott des Laderaums auf - und blieb stehen, als
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sei er gegen eine unsichtbare Wand geprallt. Da waren sie. Zwei kleine Gestalten, mit Armen und Beinen an ein halbleeres Wasserfaß geklammert, das die Gewalt des Sturms aus seinen Laschungen gelöst haben mußte. Die rollenden Bewegungen des Schiffs hätten es eigentlich in ein außer Rand und Band geratenes Geschoß verwandeln müssen. Es hätte den gesamten Laderaum in Kleinholz verwandeln und die Vorräte für Wochen vernichten können. Aber die Zwillinge hatten es geschafft, das Ding aufzuhalten und mit ihrem Körpergewicht gegen den Boden zu pressen. Ed Carberry und Dan sprangen hinzu und hielten das Faß fest. Der kleine Philip taumelte gegen die nächstbeste Kiste. Hasard junior balancierte die Schiffsbewegungen mit gespreizten Beinen aus und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Scheißfaß“, erklärte er in seinem holprigen, durch waschechte CarberryFlüche angereicherten Englisch. „Hat sich losgerissen und fürchterlich gepoltert. Wir wollten gucken nach Gepolter, gingen in Laderaum, und da hatten wir den Schlamassel.“ „Und dann habt ihr das Teufelsding die ganze Zeit über festgehalten?“ fragte Dan zweifelnd. „Klar! Was sollten wir tun? Faß zu schwer für einen allein. Also wir mußten warten, bis jemand uns sucht.“ Ed Carberry grinste. Donegal Daniel senior warf Hasard einen Blick zu, der ungefähr besagen sollte, daß man da mal wieder sehen könne, was in „halben“, aber waschechten O'Flynns steckte. Der Seewolf grinste breit. „Das habt ihr gut gemacht“, erklärte er ehrlich. „Na und? Sind wir Seeleute, oder sind wir nicht?“ Es war der kleine Philip, der das sagte. Sein Vater erklärte salomonisch, daß sie zumindest auf dem besten Wege seien, und schloß gleich die Frage an, ob die beiden
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„Seeleute“ wohl schon zu erwachsen für eine Handvoll von den Rosinen wären, die der Kutscher sonst eifersüchtig hütete. „Rosinen?“ Das zweistimmige Echo klang begehrlich. Die „Seeleute“ waren durchaus nicht zu erwachsen, um in den süßen getrockneten Weinbeeren die höchste aller irdischen Wonnen zu erblicken. Mit glänzenden Augen nahmen sie ihre Belohnung in Empfang und bewiesen dabei auch gleich, daß ihnen inzwischen wirklich Seebeine gewachsen waren. Das Schiff mochte schaukeln, rollen und stampfen, wie es wollte - nicht eine einzige der köstlichen Früchte landete auf den Planken. Der Rest der Nacht verging mit dem endlosen, ermüdenden Kampf gegen den Sturm. Erst gegen Morgen flaute er ab. Als hätten die Elemente endlich eingesehen, daß die Männer der „Isabella“ zu zäh und hartgesotten waren, um von den Fischen verdaut zu werden - so plötzlich verebbte das Toben. Eine frische Brise wischte den Himmel sauber. Klar und leuchtend blau schimmerte das Meer in der Sonne. Immer noch kämpfte sich die Galeone mühsam durch die steile Dünung, doch die Crew begann aufzuatmen. Wieder einmal hatten sie den Kampf gegen die entfesselte Natur gewonnen. Daß die „Isabella“ dabei reichlich gerupft worden war, nahmen sie gelassen hin, da sie es nicht ändern konnten. 2. „Wir laufen die Bermudas an. Wenn mich nicht alles täuscht, hat uns der Sturm ohnehin so weit nach Norden verschlagen, daß wir jeden Augenblick auf die ersten Inseln stoßen müßten.“ Hasard tippte auf die Seekarte, die er auf dem Tisch in seiner Kammer ausgebreitet hatte. Ben Brighton nickte mit zusammengekniffenen Augen. „Mist“, sagte er inbrünstig. „Bis Ferris einen passenden Baum gefunden, die Rahen ersetzt und das Ganze neu
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aufgeriggt hat - das dauert mindestens eine Woche.“ „Stimmt. Und bis dahin sehen wir ziemlich schlecht aus, wenn wir auf Spanier stoßen.“ Ben zuckte fatalistisch mit den Schultern. Gemeinsam verließen sie die Kammer, der Bootsmann turnte zum Bug, um die Männer anzulüften, die das Ankergeschirr klarierten. Hasard sah zu seinen Söhnen hinüber, die in trauter Eintracht neben dem Schimpansen Arwenack in den Luvwanten schaukelten.„Und ich sag dir, daß eine Frau nicht auf ein Schiff gehört“, ertönte die Stimme des kleinen Philip. „Jawohl!“ bestätigte Hasard junior. „Und zu befehlen hat eine Frau auf einem Schiff schon gar nicht. Das kann ja nicht gutgehen, kann das nicht.“ „Genau! Die Leute von Schwarzem Segler sind kariert im Kopf.“ Der Seewolf runzelte die Stirn. Seine Söhne hatten es sich angewöhnt, auch untereinander meist Englisch zu sprechen, um es schneller zu lernen. Was sie jetzt allerdings von sich gaben, klang nach finsteren orientalischen Vorurteilen. Und nicht nur nach orientalischen, wie sich der Seewolf klarmachte. Weder im Morgenland noch im alten Europa, noch in Siri-Tongs chinesischer Heimat war es üblich, daß ein weibliches Wesen einen wilden Haufen von Freibeutern befehligte. „Glaubst du wirklich, daß die Leute von Schwarzem Segler alle kariert im Kopf sind?“ setzte der kleine Philip das Gespräch fort. „Hmm.“ Sein Bruder überlegte. „Thorfin Njal bestimmt nicht. Boston-Mann auch nicht, oder?“ „Auch nicht! Vielleicht es gibt im Heimatland. von Roter Korsarin Frauen, die Verstand haben?“ „Unsinn! Frauen haben nirgends Verstand. Außerdem sind sie schwach und ängstlich, und man muß immer auf sie aufpassen. Deshalb gehören sie ja auch an Land.“ „Jawohl! Frauen gehören an Land!“ Die Schlußfolgerung klang sehr kategorisch. Und die Zwillinge machten
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finstere Gesichter dazu. Es ging ihnen offenbar gewaltig gegen den Strich, daß eins dieser schwachen. ängstlichen Wesen ohne Verstand hier an Bord war, um sich um sie zu kümmern. Vermutlich, dachte Hasard, legten sch diese eigensinnigen Knirpse ganz schön ins Zeug, um der Roten $marin Schwierigkeiten zu bereiten. Er sprach sie darauf an, als sie wenig später auf dem Achterkastell erschien. SiriTong warf das Haar zurück, und ihre schwarzen Mandelaugen funkelten belustigt. „Deshalb also“, meinte sie. „Nun ja, das ist nicht verwunderlich. Sie kennen mich noch zu wenig, um einzusehen, daß ich mich nicht als Zierde eines türkischen Harems eigne.“ Hasard mußte lachen. „Soll ich mir die Bengel mal vorknöpfen?“ „Nein.“ Siri-Tong schüttelte den Kopf. „Das wäre ganz falsch, es würde sie nur noch mehr in ihren Vorurteilen bestärken. Ich muß schon allein mit dem Problem fertig werden.“ „Wahrscheinlich hast du recht Ich denke ...“ Luke Morgans Stimme aus dem Großmars unterbrach sie. „Land ho!“ sang er aus. „Land genau voraus! Eine kleine Insel mit einer Riffbarriere, glaube ich.“ „Du sollst nicht glauben, sondern sehen, du Affe!“ schrie Ed Carberry. „Selber Affe! Hoppla, da sind auch noch Mastspitzen! Sieht so aus, als sei hinter den Riffen ein Schiff auf Tiefe gegangen.“ Hasard zog bereits das Spektiv auseinander. Normalerweise wäre' er ein Stück in die Besanwanten geentert, aber das ging ja nicht, weil es zur Zeit keine Besanwanten gab. Fock und Großsegel nahmen ihm die Sicht. Erst als er auf die Kuhl flankte und zum Bugkastell aufenterte, konnte er die dunklen Umrisse der Insel und die Linie der vorgelagerten Riffe erkennen. Tatsächlich hatte der Sturm ein Schiff auf die Barre geschleudert. Über die Barre hinweg, genauer gesagt, denn die
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Mastspitzen ragten jenseits der Riffe, aus dem stillen, tiefblauen Wasser der Lagune. Gab es Überlebende? Hasard schwenkte mit dem Spektiv die geschwungene Linie des Strandes, die roten Klippen und die dicht bewaldeten Hügel ab. „Boot Steuerbord voraus!“ schrie in diesem Augenblick Luke Morgan, der vom Mars aus die bessere Sicht hatte. Zwei Sekunden später sah auch Hasard das Fahrzeug. Ein Beiboot, ein halbes Dutzend Männer. Neger! Schwarze, halb-nackte Gestalten, die sich durch die schwere Dünung auf die Insel zukämpften. Wieso das, fragte sich Hasard. Wenn sie zu den Überlebenden der Galeone gehörten, was taten sie dann hier außerhalb der Lagune? Oder war ihr Schiff schon vorher gekentert und als verlassenes, aufgegebenes Wrack auf die Riffe geworfen worden? So mußte es gewesen sein. Gespannt beobachtete der Seewolf das Boot. Die Männer schwitzten, waren sichtlich erschöpft und schienen schon ziemlich lange zu kämpfen. Jetzt allerdings starrten sie gebannt zu der „Isabella“, offenbar überzeugt, daß das fremde Schiff nichts Gutes bedeuten konnte - und das wurde ihnen zum Verhängnis. Eine besonders kräftige Welle hob das Boot an. Der hünenhafte schwarze Steuermann zuckte zusammen und schrie einen Befehl in einer fremden Sprache. Zweifellos waren die Neger nicht an den Umgang mit dem Boot gewöhnt. An Backbord verkanteten sich ein paar Riemen und schnitten unter. An Steuerbord wurden sie im selben Moment kräftig durchgeholt, zu kräftig - und schon schlug der Kahn quer. Erschrockenes Geschrei. Ein neues kräftiges Durchholen der Steuerbordriemen hätte das Unglück vielleicht noch verhindern können, aber die Männer verstanden wirklich nicht viel von der Seefahrt. Konnten sie auch nicht, da sie keine Seeleute waren - doch das erfuhr die „Isabella“-Crew erst später. Leise fluchend beobachtete Hasard, wie das Boot
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durchkenterte. Körper klatschten ins Wasser, verzweifelt ruderten die Männer mit Armen und Beinen. Schwimmen konnten sie offenbar. Aber das war in diesen Gewässern nicht die Hauptsache. „Beiboot klarmachen!“ befahl Hasard schneidend. „Schnell, verdammt noch mal!“ Die Männer flitzten. Sie wußten, um was es ging. Im Blitztempo brachten sie das Boot aus, und da erklang auch schon Luke Morgans aufgeregte Stimme: „Haie! Haie querab Steuerbord!“ Genau das, was Hasard befürchtet hatte. Haie! Unheilvoll und schwarz pflügten die Dreiecksflossen durch die Dünung. Von allen Seiten pfeilten sie heran, als hätten sie einen sechsten Sinn dafür, wo es Beute für sie gab. Schon der kleinste Tropfen Blut konnte sie anlocken - und der Seewolf erinnerte sich, daß die Männer in dem Beiboot ziemlich abgekämpft und zerschunden ausgesehen hatten. „Ed, Shane, Matt, Smoky, Stenmark, Batuti!“ Hasards Stimme peitschte. Als erster schwang er sich über das Schanzkleid, enterte ab und sprang ins Boot. Die anderen folgten und schnappten sich die Riemen. Wie eine Nußschale tanzte das Fahrzeug in der hohen Dünung, doch das änderte sich sofort, als die Männer anruderten. „Hoool weg! Hoool weg!“ Ein gellender Schrei. Auch die im Wasser paddelnden Neger hatten die unheilvollen schwarzen Rückenflossen der Haie entdeckt. Und jetzt galt die Furcht, die ihre Gesichter verzerrte, nicht mehr dem heranschießenden Beiboot und den Fremden darin. Verzweifelt begannen sie, auf das Fahrzeug zuzuschwimmen. Die Seewölfe pullten, was das Zeug hielt, aber Hasard wußte verdammt genau, daß sie es nicht rechtzeitig schaffen würden. Der erste Schwarze klammerte sich keuchend am Dollbord fest. Gleichzeitig glitt ein dunkler Schatten auf die anderen Schwimmer zu. Hasard biß sich auf die
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Lippen. Er stand aufrecht im Boot, zielte mit der sächsischen Reiterpistole und feuerte. Dort, wo eben noch der schlanke, glänzende Leib des Tieres gewesen war, verwandelte sich die See in einen kochenden blutroten Wirbel. Von allen Seiten jagten die Haie heran, um ihren toten Artgenossen zu zerreißen. Batuti schrie etwas in seiner Heimatsprache, während er bereits den zweiten Schwarzen ins Boot beförderte. Die anderen schwammen um ihr Leben. Und dann, als sie es fast geschafft hatten, brüllte einer von ihnen auf und tauchte unter. Hasard schoß auf den dunklen Schatten neben dem Körper des Mannes rechtzeitig, noch bevor der Hai seine Zähne ganz in seine Beute hatte schlagen können. Denn wenn sich die Bestie erst einmal festgebissen hatte, gab es keine Rettung mehr. Der Mann tauchte schreiend auf und schlug um sich. Die Todesangst verdoppelte seine Kräfte. Er schaffte es sich von dem rasenden Hai zu lösen, und gleichzeitig schob sich das Beiboot zwischen ihn und die Bestie. Kräftigee Fäuste zogen den Mann Seine Kameraden hockten und zitternd auf den Duchten, so fahl, wie sie es bei ihrer dunklen Hautfarbe nur werden konnten. Einer von ihnen redete heftig auf Batuti ein. Der schwarze Herkules antwortete in derselben Sprache - offenbar war er auf Landsleute aus Gambia gestoßen. Der Verletzte hatte das Bewußtsein verloren: das Beste, was ihm im Augenblick passieren konnte. Hellrot und stoßweise sprudelte das Blut. Hasard hatte seinen Gürtel aus den Schlaufen gezogen, jetzt legte er rasch eine Aderpresse an, weil er wußte, daß der Bewußtlose sonst in Minutenschnelle verbluten konnte. Wenig später standen fünf nasse, vom überstandenen Schrecken benommene Schwarze auf der Kuhl der „Isabella“ und schienen noch nicht recht zu begreifen, daß sie wirklich gerettet waren.
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Der Verletzte war auf eine Persenning gebettet worden. Der Kutscher kümmerte sich um ihn, hatte alle möglichen Salbentöpfe und Flaschen mit geheimnisvollen Elixieren aufgebaut und schnitt sein sattsam bekanntes SirFreemont-Gesicht. Bei Anthony Abraham Freemont, einem hervorragenden Arzt aus Plymouth, war er nämlich Kutscher gewesen, bevor ihn die Preßgang von Francis Drakes „Marygold“ kurzerhand zum Seemann befördert hatte. Inzwischen begriff er selbst nicht mehr, wie man an Land leben konnte, solange die sieben Meere nicht ausgetrocknet waren. Und das vornehme Benehmen, das er seinem ehemaligen Brotherrn abgeschaut hatte, zeigte er auch nur noch in Augenblicken, in denen er ganz besonders vom Gefühl seiner eigenen Wichtigkeit durchdrungen war - wie zum Beispiel jetzt. Batuti palaverte immer noch mit seinen schwarzen Brüdern. „Sie kommen aus Gambia“, verkündete er schließlich: „Sind spanischen Sklavenhändlern in die Hände gefallen, genau wie damals Batuti.“ „Sie sollen sich erst mal setzen und einen ordentlichen Schluck nehmen“, sagte Hasard. „Ed, hol eine Rumbuddel aus der Kombüse. Rum wird übrigens nicht sauer. Du kannst dir also die Mühe sparen, ihn zu probieren.“ Ed Carberry fühlte sich in seiner ProfosEhre gekränkt und brummte etwas Unverständliches, was aber bestimmt nicht schmeichelhaft war. Die Neger blickten ziemlich zweifelnd, als er einem von ihnen die Flasche in die Hand drückte. Batuti pries wortreich die Qualitäten des guten Jamaica-Rums, und nach dem ersten vorsichtigen Probieren erwies sich, daß man auch in Gambia einem scharfen Schluck offenbar nicht abgeneigt war. Dennoch blieben die Blicke der Schwarzen misstrauisch, bis Batuti ihnen auf Hasards Anweisung auseinandersetzte, daß sie Engländer seien, gegen die Spanier kämpften und ganz sicher nicht mit Sklaven handelten. Der schwarze Herkules
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fügte auch gleich noch seine eigene Geschichte an, beziehungsweise die seiner Landsleute, die die Seewölfe seinerzeit aus dem Frachtraum eines spanischen Sklavenschiffs befreit hatten und die dann mit einer gekaperten Karracke nach Afrika zurückgesegelt waren. Die Neger nickten, lauschten, nickten wieder, und schließlich erschien auf den erschöpften Gesichtern zum erstenmal der Anflug eines erleichterten Lächelns. Die „Isabella“ lag beigedreht in gebührender Entfernung von der Riffbarriere. Inzwischen hatte sich fast die gesamte Crew auf der Kuhl versammelt. Die Zwillinge und der Schimpanse hockten in trauter Eintracht auf einer Webleine. Sir John, der rote Ara-Papagei, hatte sich auf Ed Carberrys breiter Schulter niedergelassen. Nur Siri-Tong wandte der Szene den Rücken und bemühte sich, dem Verletzten etwas Rum einzuflößen. Um „den Kreislauf zu stützen“, wie es der Kutscher in bester Sir-Freemont-Manier formulierte. Der Wortführer der Neger - Jomo hieß er begann schnell und wortreich zu sprechen. Batuti übersetzte, und nach und nach erfuhren die Seewölfe die ganze traurige Geschichte der sechs Schiffbrüchigen. Ja, sie stammten von einem Sklavenschiff. Fast hundert von ihnen waren in ihrem Heimatort in Gambia zusammengetrieben und in den Frachtraum einer Galeone gepfercht worden, um als Sklaven in die Neue Welt gebracht zu werden. Die Überfahrt mußte die Hölle gewesen sein: Hunger und Durst, Schmutz, Gestank und Krankheiten, am Ende die blinde Wut der Verzweiflung. Die Sklaven rebellierten. Eines Tages erwischten sie den Mann, der die Luke öffnete, um ihnen ein Wasserfäßchen und ein paar vergammelte Zwiebäcke hinunterzulassen, mit einem wohlgezielten Wurfgeschoß und versuchten auszubrechen. Es war aussichtslos gewesen. Die Neger konnten nur einzeln aus dem Frachtraum klettern, indem sie zuerst auf die Schultern ihrer kräftigsten Gefährten stiegen. Von dem
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Bewacher, der bewußtlos halb über dem Süllrand hing, blieb nicht viel übrig, aber das war auch schon fast alles. Die Spanier trieben ihre Gefangenen zurück, schotteten den Frachtraum ab und leiteten Rauch hinein - ein erprobtes Mittel gegen Sklavenaufstände. Die bewußtlosen Opfer wurden in Ketten gelegt - bis auf zehn, die der Capitan zwecks Abschreckung aufhängen ließ. Und von da an hatte es kaum eine Teufelei gegeben, die sich die Spanier nicht einfallen ließen, um sich an den wehrlosen Gefangenen zu rächen. Der Sturm, der die Galeone kentern ließ, hätte für die Afrikaner fast das Ende bedeutet. Dem spanischen Capitan jedenfalls verdankten sie ihr Leben nicht, der war entschlossen gewesen, die angeketteten Männer elend ersaufen zu lassen. Aber einer seiner Offiziere hatte einen Rest von Menschlichkeit gezeigt und die Ketten aufgeschlossen. Die Sklaven fanden sich hilflos in der kochenden See wieder, schwammen um ihr Leben, und schließlich waren Jomo und seine Gefährten auf das kieloben treibende Beiboot gestoßen und hatten es geschafft, es wieder aufzurichten. Die Galeone mußte von der Urgewalt des Sturms auf die Riffe geschleudert worden sein. Die restlichen Überlebenden? Der hünenhafte Afrikaner zuckte hilflos mit den Schultern. Sie hatten niemanden gesehen und genug damit zu tun gehabt, den schwerfälligen Kahn über Wasser zu halten, der so ganz anders war als die schlanken, wendigen Boote, mit denen sie zu Hause die Flüsse von Gambia befuhren. Hasards Blick wanderte zu den Riffen hinüber. Wenn der Sturm die Galeone dorthin verschlagen hatte, dann waren vermutlich auch die meisten Überlebenden am Gestade der Insel angeeben worden. Spanier mit Booten und Ausrüstung, Neger, die sich schwimmend gerettet hatten. Wenn sie sich dort über den Weg liefen, würde es mit ziemlicher Sicherheit Mord
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und Totschlag geben, Mord und Totschlag an den unbewaffneten Negern vor allem. Es sei denn, daß sie sich Waffen verschafften. Dann konnten sich die Spanier gratulieren. Auf jeden Fall mußte die Lage auf der Insel höchst explosiv sein. Den Seewölfen würde nichts übrig bleiben, als sich mit diesem Pulverfaß etwas näher zu befassen, denn sie brauchten einen neuen Besanmast. Ganz davon abgesehen, daß es ohnehin nicht Hasards Art war, Schiffbrüchige einfach ihrem Schicksal zu überlassen. Vorerst allerdings kam er nicht dazu, weiter darüber nachzudenken. Der Kutscher hatte sich aufgerichtet. Jetzt versuchte er nicht mehr, Sir Freemont nachzuahmen, was ihm ohnehin nie gelang. Er war etwas bleich um die Nasenspitze und schluckte krampfhaft. „Tut mir leid“, sagte er. „Aber da kann ich nichts mehr tun. Die Hand wird nicht wieder. Da hilft nur noch eins: das Ding zu amputieren.“ * „Nein! Nein! Nein!“ schrie der Afrikaner. Das hieß, in Wirklichkeit schrie er etwas anderes, aber Batuti übersetzte, und am Sinn des Protestes gab es ohnehin keinen Zweifel. Der Schwarze zitterte, war grau im Gesicht, schüttelte den Kopf und preßte den Rücken gegen das Schanzkleid, als wollte er durch das Holz verschwinden. „Er sagt, er läßt sich nicht die Hand amputieren“, erklärte Batuti hilflos. „Dann sag ihm, daß er andernfalls den Brand kriegt und stirbt“, knurrte Hasard. Der Mann tat ihm leid, aber es half nichts: Man mußte ihn zur Vernunft bringen. Batuti redete mit Engelszungen. Der Afrikaner schüttelte den Kopf. Der Schock sorgte dafür, daß er noch keine allzu starken Schmerzen spürte, aber das würde sich sehr schnell `ändern. „Er sagt, besser tot als ohne Hand“, übersetzte Batuti. „Ohne Hand er kann nicht mehr Bogen spannen, nicht mehr auf Jagd gehen, nicht mehr Felder bestellen.“
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„Mann, der spinnt doch“, sagte Matt Davies gelassen. Mit zwei Schritten stand er vor dem Schwarzen und hielt ihm seine Hakenprothese unter die Nase. „Schau dir das mal an, mein Junge! Damit kannst du nicht nur Jagdbögen spannen oder 'ne Hacke schwingen, damit kannst du 'nem Löwen ins Maul fassen, klar? He, Jeff, komm doch mal 'rüber!“ Jeff Bowie war schon da. Der stämmige Engländer mit den grauen Augen trug links die gleiche Hakenprothese wie Matt Davies rechts. Jeff streifte auch gleich noch den Ärmel hoch, damit der Verletzte die Ledermanschette sehen konnte, die den Haken unverrückbar festhielt. „Bei mir waren es Piranhas“, erklärte er. „Aber ich habe meine Hand noch nie groß vermißt, das kannst du mir glauben. Unser Schiffszimmermann wird dir eine prächtige Prothese beizaubern. Mit so einem Haken kannst du der größte Jäger und Krieger aller Zeiten werden.“ Batuti übersetzte. Das Gesicht des Verwundeten hellte sich etwas auf, auch seine Gefährten lauschten gespannt. Volle fünf Minuten lang wurden die Vorteile eines Eisenhakens gegenüber einer schlichten menschlichen Hand ausgiebig und in allen Einzelheiten gerühmt, und danach gab der Verletzte seine Absicht auf, lieber zu sterben, als sich operieren zu lassen. Der Kutscher übernahm das Kommando. Während heißes Salzwasser, Leinentücher, ein ausgeglühtes Messer und ein ebenfalls ausgeglühtes Handbeil bereitgelegt wurden, flößte Siri-Tong dem Verwundeten den Inhalt der Rumflasche ein. Zum Schluß konnte er nur noch lallen. Vier Mann hielten ihn fest und drückten ihn auf die Planken, und Siri-Tong kniete neben ihm, um dem Kutscher zur Hand zu gehen. Die Zwillinge sahen 'mit großen Augen zu. Ihre Blicke hingen an der Roten Korsarin. Sie war eine Frau. Logischerweise mußte sie gleich in Ohnmacht fallen. Daß sie es darauf ankommen ließ, konnte - so meinten Hasard und Philip - nur darauf
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zurückzuführen sein, daß es Frauen eben grundsätzlich an Verstand mangelte. Aber Siri-Tong fiel nicht in Ohnmacht. Ihr Gesicht war straff und konzentriert, ihre Hände bewegten sich schnell und sicher. Der Afrikaner schrie und bäumte sich auf, dann erschlaffte sein Körper. Der Kutscher hatte Schweiß auf der Stirn, als er nach dem rasiermesserscharfen Handbeil griff, und die Zwillinge schlossen erschrocken die Augen. Als sie sie wieder öffneten, war die Rote Korsarin immer noch nicht in Ohnmacht gesunken, sondern hantierte mit dem Wasserkessel. Minuten später war der Armstumpf vernäht und verbunden. Siri-Tong richtete sich auf. Sie sah etwas blaß aus, aber das taten die Männer auch. Sie brauchten jetzt alle einen kräftigen Schluck - die Rote Korsarin nicht ausgenommen. Hasard und Philip wechselten einen Blick. Philip kratzte sich am Kopf. Der kleine Hasard zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Und beide wirkten sehr nachdenklich. „Trotzdem“, sagte Hasard junior nach einer Weile. „Stimmt“, bestätigte Philip junior. Womit sie ausdrücken wollten, daß noch eine ganze Menge mehr passieren mußte, um sie von ihrer Meinung abzubringen, daß weibliche Wesen in den Harem oder in die Küche, aber nicht auf ein Schiff gehörten. 3. Die „Isabella“ schwoite friedlich um die Ankertrosse. Zehn Mann pullten das Beiboot durch die Dünung. Sie hatten die Insel umsegelt und im Schatten des Palmengürtels ein paar dunkle Bündel entdeckt, die menschliche Gestalten, aber auch etwas anderes sein konnten. Jomo, der Wortführer der Afrikaner, war überzeugt davon, daß seine Landsleute jeden Spanier massakrieren würden, dessen sie habhaft werden konnten. Und die Spanier hatten vermutlich heillose Angst und würden
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nicht weniger gnadenlos zuschlagen, wo immer es möglich war. Angesichts dieser Lage konnte man sich eigentlich nur wundern, daß es auf der Insel so ruhig war. Doch das mochte daran liegen, daß sich nicht viele von den Schiffbrüchigen gerettet hatten. Geschickt manövrierten die See: de ihr Boot zwischen den Riffen hindurch. Wenig .später sprangen sie ins seichte Wasser und wateten an Land. Mit vereinten Kräften zogen Ed Carberry, Ferris Tucker und Batuti das Boot auf den Strand. Hasard kniff die Augen zusammen und sah sich um. Ein breiter, sanft geschwungener Strand, leuchtend vom rosafarbenen . Glanz des Korallensandes. Zwei vorspringende Landzungen aus roten Felsen faßten ihn ein. Die grazilen Federwipfel des Palmengürtels wippten, dahinter begann der eigentliche Wald mit seinen dichten Wänden aus Schlingpflanzen und geheimnisvoll dämmernden Schatten. „Verdammte Hitze“, beschwerte sich Ed Carberry. „Gehen wir erst mal nach Osten?“ Hasard nickte. Ferris Tucker richtete den Blick bereits begehrlich auf den Waldsaum, wo eine freundliche Natur massenhaft zukünftige Besanmasten hatte wachsen lassen, doch er sah ein, daß sie sich erst einmal einen gewissen Überblick verschaffen mußten. Im Osten lag die Stelle, wo sie beim Umsegeln der Insel die reglosen Gestalten gesehen hatten. Sie marschierten am Strand entlang, überkletterten die Felsen der Landzunge und erreichten eine weitere sanft geschwungene Bucht. Wieder blieben sie stehen und schauten sich um, und diesmal entdeckten sie auch das, was von der „Isabella“ aus nicht zu sehen gewesen war: ein zertrümmertes Boot zwischen den Klippen. Fußspuren zogen sich über den Strand. Die Seewölfe folgten ihnen, tauchten in den grüngoldenen Schatten unter den Federwipfeln - und blieben erschüttert stehen.
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Tote lagen zwischen Palmschößlingen und umgestürzten Stämmen. Ein halbes Dutzend! Vier Schwarze, aus nächster Nähe niedergeschossen, und zwei Spanier, die offenbar mit Knüppeln und Steinen erschlagen worden waren. Hasard preßte die Lippen zusammen. Er konnte sich ungefähr vorstellen, was sich abgespielt hatte: Vermutlich waren die Spanier auf eine Übermacht gestoßen, hatten in panischer Angst um sich geschossen und waren dann niedergemetzelt worden. Furcht und Haß schienen beide Parteien blind zu machen. Sie waren als Schiffbrüchige auf einer Insel gestrandet, auf der sie gemeinsam ihre Kräfte brauchen würden, um zu überleben. Ein Funke von Vernunft hätte genügen müssen, um ihnen zu sagen, daß sie in dieser Lage nicht auch noch übereinander herfallen durften. Doch selbst dieser letzte Funke von Vernunft war offenbar von der nackten Angst erstickt worden, die die beiden Gruppen vor dem jeweils anderen empfanden. Hasard atmete tief. „Wir werden sie später begraben“, sagte er knapp. „Erst müssen wir die Lage sondieren. Ed, Gary - ihr bleibt hier und haltet uns den Rücken frei. Wir klettern auf den Grat da drüben.“ Der Grat gehörte zu einer verhältnismäßig hohen Felsformation, die sich wie ein Keil zwischen Palmen und Strand vorschob. Hasard ging voran, die anderen folgten ihm. Die Klippen waren steil, der Aufstieg hatte seine Tücken. Jeff Bowie langte als erster oben an; sein scharfgeschliffener Stahlhaken eignete sich nun mal besser als menschliche Finger dazu, auch an der schmalsten. Kante und dem feinsten Riß im Gestein Halt zu finden. Auf dem Grat richtete er sich vorsichtig auf und zuckte zusammen. „Mistkerle!“ fauchte er empört. Eine halbe Sekunde später schwang sich auch Hasard auf den Grat, aber da turnte Jeff Bowie schon wie eine Katze über das Geröll auf der anderen Seite. Der Seewolf brauchte nur einen Blick, um die Lage zu erfassen. Jenseits des Grats
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senkte sich das Gelände zu einer flachen Mulde und stieg dann sanft wieder an. Wildes Gras, von nacktem rotem Fels unterbrochen, wucherte bis an den Rand einer steil abfallenden Klippe. Tief unten kochte die Brandung, tobten gischtend und schäumend die Wogen gegen das Kliff und oben an der Kante waren drei, vier zerschundene, halbnackte Afrikaner gerade dabei, einen Spanier in den schwindellerregenden Abgrund zu befördern. Der Mann zappelte, heulte und bettelte in seiner Heimatsprache um Gnade. Vergeblich, wie die grimmigen Gesichter seiner Widersacher zeigten. Sie trugen Pistolen in den Gürteln. die Waffen der toten Spanier vermutlich, doch das schien Jeff Bowie nicht wahrzunehmen. „Aufhören!“ schrie er. „Loslassen, verdammt noch mal!“ Das konnten die Neger zwar nicht verstehen, weil sie kein Englisch sprachen, aber immerhin fuhren sie überrascht herum und ließen ihr Opfer zu Boden fallen, statt es über die Kante zu werfen. Fäuste fuhren zu den Waffen. Jeff rannte immer noch. Typisch für ihn: Keiner der Seewölfe sah ruhig zu, wenn ein Wehrloser massakriert wurde oder eine Übermacht über einen Schwächeren herfiel, aber Jeff Bowie war in solchen Fällen immer der erste, der losstürmte, blindlings manchmal, stur wie ein Maulesel und ohne Rücksicht auf sich selber. Um jemanden zu retten, war er schon in haiverseuchte Gewässer gesprungen oder in massiertem Kugelhagel herumgekrochen. Hasard jagte ihm nach, winkte den anderen, ihm zu folgen, und hoffte, daß der Kugelhagel diesmal ausbleiben möge. Friedliche Verständigung war nach Jeffs Einmannattacke nicht mehr drin. Aber die Afrikaner sahen acht wilde Gestalten auf sich zustürmen und begriffen, daß ihnen die Pistolen in diesem Fall auch nicht viel nutzen würden. Sie warfen sich herum. Mit fliegenden Beinen flohen sie über die Hochfläche, stolperten in eine Geländefalte und waren im
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nächsten Augenblick wie vom Erdboden verschwunden. „Halt!“ schrie der Seewolf. „Jeff, du Idiot, willst du hier einen Krieg anfangen?“ Der Mann mit der Hakenprothese blieb keuchend stehen. Empörung flammte in seinen grauen Augen. Aber jetzt schien ihm aufzugehen, daß diese knapp einem furchtbaren Geschick entronnenen Afrikaner nicht allzuviel Empörung und die Spanier, die ihre wehrlosen Gefangenen bis aufs Blut gequält hatten, beileibe kein übertriebenes Mitleid verdienten. „Ist doch keine Art, verdammt“, brummelte er. „Zu viert einen einzelnen so einfach von 'ner Klippe zu stürzen!“ Er ist noch oben, wie du siehst“, sagte Hasard trocken. Inzwischen waren sie bei dem Spanier angelangt, der zitternd am Boden lag und sich nur langsam von dem Schock erholte. Mit auf gerissenen Augen starrte er die Seewölfe an: Fremde, die wie aus dem Nichts getaucht waren und von denen er offenbar auch nicht viel Gutes erwartete. „W-wer seid ihr?“ stammelte er auf spanisch. „Engländer“, erwiderte Hasard in derselben Sprache. „O Madonna!“ Der Spanier schloß schicksalsergeben die Augen. Sein fahles Gesicht verriet, was er dachte: daß die Engländer, stehenden Fußes vollenden würden, was die Afrikaner angefangen hatten. Er schlotterte vor Angst. Ein Wunder war es nicht: England und Spanien hatten Krieg geführt, und es gehörte nun mal zu den weitverbreiteten Gepflogenheiten, kämpfenden Soldaten den Gedanken an Kapitulation durch alle möglichen Schauergeschichten über das fürchterliche Schicksal zu vermiesen, das der jeweilige Gegner angeblich den Gefangenen zu bereiten pflege. Der Seewolf schüttelte den Kopf. „Wir fressen keine Spanier“, versicherte er geduldig. „Und wir werfen auch keine Schiffbrüchigen von Klippen. Mein Name ist Philip Hasard Killigrew.“
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Der Spanier riskierte es, die Augen wieder zu öffnen. „K-Killigrew?“ stotterte er. „Ja.“ „El - El Lobo del Mar?“ Hasard nickte nur. Er hatte sich damit abgefunden, daß er diesen Kriegsnamen wohl zeit seines Lebens nicht mehr loswerden würde. Ein Name, der unter Englands Feinden Furcht und Schrecken verbreitete. Oder auch Erleichterung, je nachdem. Es gab nämlich auch Spanier, bei denen sich inzwischen herumgesprochen hatte, daß der Seewolf fair kämpfte, einen geschlagenen Gegner ritterlich behandelte und sich niemals an Wehrlosen vergriff. Der Mann, der da wie ein Häufchen Elend am Boden kauerte, gehörte Offenbar zu denjenigen, die davon schon gehört hätten. Er atmete erleichtert auf. „Ich bin José Delgado y Moreno“, sagte er heiser. „Wir sind im Sturm gescheitert. Diese schwarzen Bestien jagen uns und ...“ Er stockte abrupt. Denn im selben Augenblick entdeckte er eine „schwarze Bestie“ unter seinen Rettern. Batutis Gesicht hatte sich verhärtet. Der Spanier begann wieder zu zittern und kroch in sich zusammen. „Dieser Mann gehört zu meiner Crew“, sagte Hasard ruhig. „Und was die Afrikaner hier auf der Insel betrifft, braucht ihr euch nicht zu wundern, daß sie Todfeinde in euch sehen. Ihr habt diese Menschen schlimmer als Vieh behandelt.“ „M -Menschen?“ stotterte der Spanier verblüfft. Hasard biß die Zähne zusammen und bezwang den Impuls, dieser Jammergestalt ins Gesicht zu schlagen. Konnte man von so einem kleinen Licht verlangen, etwas zu begreifen, wofür die halbe Welt blind war? Sklavenhandel war ein Geschäft, an dem jedermann nach Kräften teilnahm: Spanier, Engländer und Franzosen, Christen nicht weniger als Mohammedaner, ehrenwerte Malteserritter genauso wie die frömmsten Hugenotten. Der ohnehin benommene Spanier starrte erschrocken in die wütenden Gesichter und
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begriff nicht, was er Falsches gesagt hatte. Es ging nur sehr, sehr langsam in seinen Schädel, daß die Engländer den hünenhaften Neger offenbar als Freund betrachteten und gute Lust hatten, auf die Beleidigung mit den Fäusten zu antworten. „Wie viele seid ihr?“ fragte Hasard beherrscht. „Und wo stecken die anderen?“ „Was — was habt ihr mit uns vor, was ...“ „Wir wollen verhindern, daß es hier ein Blutbad gibt, das ist alles. Ihr könnt mit an Bord kommen, dort seid ihr vorerst sicher. Genau wie die Neger, die wir aus dem Wasser gefischt haben.“ Der Spanier schluckte. Sein Begriffsvermögen war total überfordert. Aber im Augenblick zählte für ihn nur eins: die Chance, die Insel verlassen zu können, auf der sie der Rache ihrer Opfer ausgeliefert waren. „Wir haben eine Höhle gefunden, in der wir uns verstecken“, flüsterte er. „Es ist ganz in der Nähe. Aber es gibt dort kein Wasser. Ein paar von uns wollten eine Quelle suchen. Da haben sie mich erwischt.“ Er schauerte. Niemand zeigte übertriebenes Mitleid, als er sich mühsam aufrappelte, um den Seewölfen den Weg zu zeigen. Selbst Jeff Bowie preßte grimmig die Zähne zusammen, schleuderte finstere Blicke und schien nicht mehr sicher zu sein, ob es wirklich eine gute Tat gewesen war, diesem Sklavenhändler das Leben zu retten. Minuten später erreichten sie einen tiefen Einschnitt zwischen den Klippen. Der Spanier rief ein Kennwort: „Santa Lucia“, was vermutlich der Name des gekenterten Schiffs gewesen war. Zögernd erschien ein Kopf über einem Steinblock, die dunklen Augen in dem langen, mageren Gesicht weiteten sich erschrocken. „Ingles!“ rief der Bursche mit dem klingenden Namen José Delgado y Moreno. „Amigos!“ Die Engländer als „Freunde“ zu bezeichnen, war zwar etwas übertrieben, aber es veranlaßte die Spanier, nach
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einigem Zögern aus ihrer Höhle hervorzukriechen. Engländer, die zumindest nicht gleich schossen, waren immer noch besser als alles andere, was die Insel zu bieten hatte, mochten sie sich sagen. Einer nach dem anderen zwängten sie sich durch den Spalt, der den Höhleneingang bildete: ein verlorener Haufen, naß, erschöpft, teilweise verletzt und sichtlich nicht in wehrhafter Stimmung. Der Capitan war klein und dürr, hatte einen martialischen Knebelbart unter der Nase und trug die Fetzen seiner Uniform mit ungebrochener Arroganz. Ein hochmütiger Blick wanderte über Luke Morgan, den hageren Gary Andrews, den drahtigen, flinken Bob Grey und den blonden Stenmark. Ein Blick, der schon etwas weniger hochmütig wirkte, als er sich mit Dan O'Flynns zornig funkelnden Augen traf, sekundenlang an Jeff Bowies Haken hängenblieb und den schwarzen Herkules Batuti entdeckte. Der fletschte die Zähne und rollte die Augen. Rasch sah der Spanier weg, schluckte krampfhaft beim Anblick von Ed Carberrys wüstem Narbengesicht und schluckte nochmals angesichts des rothaarigen Riesen Ferris Tucker. Jetzt war auch die letzte Spur von Hochmut aus den Zügen des Capitans gewichen - und als er zuletzt den großen, geschmeidigen Mann mit dem schwarzen Haar und den eisblauen Augen anstarrte, erbleichte er bis in die Lippen. „El Lobo del Mar“, flüsterte er. Und Hasard stellte wieder einmal fest, daß unter den spanischen Seefahrern eine genaue Beschreibung von ihm kursieren mußte. „Stimmt“, sagte er trocken. „Und Sie, Senor? „Jorge Amadeo Esteban del Arriba y Gomez. Capitan Seiner. Allerkatholischsten Majestät, des, Königs von Spanien.“ „Amen“, knurrte der Seewolf. Jorge Amadeo Esteban del Arriba y Gomez schnappte nach Luft. Aber er kam nicht dazu, seiner Empörung Ausdruck zu verleihen. Denn im selben Augenblick fiel
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ein Schuß, und nur Gomez' eiserner. Helm verhinderte, daß Seine Allerkatholischste Majestät, der König von Spanien, einen Capitan weniger in seiner ohnehin schwer dezimierten Flotte hatte. * Das häßliche Pfeifen des Abprallers brachte die Männer schlagartig in Bewegung. In Deckung gingen sie alle, nur mit dem Unterschied, daß die Seewölfe ohne ungesunde Hast zwischen Klippen und .Felsblöcken abtauchten, während die Spanier mit Geschrei auf den schmalen Höhleneingang zustürzten, wo sie sich natürlich gegenseitig ins Gehege gerieten. Der zweite Musketenschuß peitschte. Einer der Dons warf die Arme hoch und brach zusammen. Die anderen verdoppelten ihr entsetztes Geschrei. Hasard hatte die sächsische Reiterpistole gezogen und zielte dorthin, wo zwischen den roten Felsen der Mündungsblitz aufgeflammt war. Ein schwarzes Gesicht erschien über dem langen Lauf der Muskete. Hasard feuerte. Er hielt absichtlich hoch, doch dem Afrikaner versengte es fast das Kraushaar. Er zuckte zurück, und dumpfes Poltern verriet, daß er dabei die Waffe aus dem Griff verlor. „Batuti!“ rief der Seewolf. „Hast du die Sprache verloren, oder was ist los? Erklär ihnen, daß wir nicht ihre Feinde sind!“ Der schwarze Herkules versuchte es, aber Hasard hatte geahnt, daß es nicht viel fruchten würde. Für die Afrikaner lag der Fall klar: Was an der Seite der verhaßten Spanier gesichtet wurde, konnte nur ein Feind sein. Die Schwarzen, endlich ihrer Ketten ledig, waren von verständlichem Haß auf ihre Peiniger beseelt. Sie hatten das spanische Versteck umzingelt, befanden sich in der strategisch besseren Position, nämlich oben, und das einzige, was ihnen zum Nachteil gereichte, war ihre mangelhafte Bewaffnung. „Sperrfeuer auf die Felskante“, befahl Hasard gelassen.. „Ed, Ferris - habt ihr
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neuerdings hinten Augen, oder haltet ihr nichts mehr von Rundumsicherung?“ „Aye, aye“, ertönte es mehrstimmig. Dann krachten Schüsse in schneller, regelmäßiger Folge, so daß zwischen den Klippen nur noch ein Selbstmörder den Kopf gehoben hätte. Hasard verließ seine Deckung, turnte über das herumliegende Geröll und winkte Dan O'Flynn zu. Gemeinsam klommen sie in die Felsen hinauf und verharrten oberhalb des Höhleneingangs, in dem die Spanier inzwischen wie aufgescheuchte Kaninchen verschwunden waren. „Feige Ratten“, knurrte Dan, während er den Kopf reckte. „Vorsicht!“ zischte Hasard. Ein Schuß peitschte. Dan zog hastig den Kopf ein und wurde etwas blaß um die Nase, denn die Kugel hätte ihm fast einen Scheitel gezogen. Der Seewolf feuerte in die Richtung des Mündungsblitzes. In die ungefähre Richtung! Denn er wollte nach Möglichkeit niemanden töten. Es paßte ihm ganz und gar nicht, gegen Männer zu kämpfen, deren Haß und Verbitterung er nur zu gut verstehen konnte. Ein Stück unter ihm sprang Batuti aus seiner Deckung auf und holte Luft, daß sich sein mächtiger Brustkasten dehnte. Er hatte das Spiel satt, das sah man ihm an. Als er loslegte, hätte seine Donnerstimme jeden afrikanischen Löwen davongejagt. Hasard verstand Batutis Muttersprache nicht. Aber er verstand die englischen Brocken, die dem schwarzen Herkules dazwischengerieten - und die ergaben zusammengenommen die Drohung, daß die Insel in die Luft fliegen und mindestens eine Legion höllischer Dämonen herniederfahren würde, wenn die Söhne Afrikas nicht augenblicklich Vernunft annähmen. Der Seewolf fand, daß das eine ziemlich blödsinnige Drohung sei. Aber irgendwie mußte ihm das Wesentliche entgangen sein. Oder vielleicht lag es an dem donnernden „Arwenack“, das im selben Augenblick die Luft erzittern ließ und wirklich ein bißchen nach höllischen Dämonen klang. Auf jeden Fall schrie
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jemand erschrocken auf, in drei verschiedenen Richtungen raschelte Gestrüpp und polterten Steine - und dann hörte man nur Schritte, die sich in sichtlicher Eile entfernten. „Ha!“ sagte Batuti triumphierend. „Jetzt sie denken, Insel gehört bösen Geistern.“ „Und was werden sie unternehmen?“ fragte Hasard, während er hinter Dan wieder nach unten kletterte. Batuti hob gleichmütig die breiten Schultern. „Feuer anzünden, Orakelknochen werfen und gute Geister bitten, böse Geister zu vertreiben. Und dann werden sie wieder angreifen.“ Der Seewolf hoffte, daß die Sache mit den Orakelknochen und den guten Geistern einige Zeit in Anspruch nehmen würde. Inzwischen hatten sich auch die Spanier wieder aus ihrer Höhle gewagt. Einer von ihnen war tot, von einer Musketenkugel gefällt. Ein zweiter stöhnte vor sich hin - er war bei der panischen Flucht gestürzt, und mindestens zwei seiner Kameraden hatten rücksichtslos auf seinen Fingern herumgetrampelt. Der Capitan sah noch blasser aus als vorher. Er mochte ein guter Seemann sein, doch hier hatte er keine Schiffsplanken unter den Füßen. Ihm dämmerte allmählich, daß er und die Seinen in dieser Wildnis den Afrikanern hoffnungslos unterlegen waren. Dankbar akzeptierte er den Vorschlag, mit seinen Leuten an Bord der „Isabella“ in Sicherheit gebracht zu werden. Später sollte man sie dann seinetwegen auf irgendeiner anderen Insel aussetzen, das war alles gleich - wenn man sie nur vor der Rache der Sklaven schützte. Die Seewölfe fanden, daß diese feige Bande von Schindern ihr Glück überhaupt nicht verdient hatte. Aber erstens konnte man sie schlecht als Schlachtopfer zurücklassen und zweitens würde bestimmt keine Verständigung mit den Afrikanern möglich sein, solange die Spanier noch auf der Insel herumliefen. Gemeinsam begaben sie sich auf den Rückmarsch. Ed Carberry signalisierte zur „Isabella“ hinüber, denn für das gute Dutzend Spanier
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brauchten sie ein zweites Boot. In gewohntem Tempo wurde es klargemacht und abgefiert. Wenig später knirschte bereits sein Kiel über Sand, und nach ein paar weiteren Minuten legten beide Fahrzeuge ab und wurden zum Schiff zurückgepullt. Hasard enterte als erster auf. Batuti folgte ihm. Der Seewolf warf einen scharfen Blick über die Kuhl, wo die fünf unverletzten Neger am Schanzkleid standen, und wandte sich wieder Batuti zu. „Erkläre ihnen, daß auf diesem Schiff niemandem ein Haar gekrümmt wird“, sagte er knapp. „Ihnen nicht, aber den Spaniern auch nicht. Wer sich nicht daran hält, kann an Land schwimmen, klar?“ „Klar“, sagte Batuti mit einem Blick auf die Lagune, wo immer wieder mal die drohenden schwarzen Dreiecksflossen durch das ruhige Wasser schnitten. Dann wandte er sich an seine Landsleute, die schon nach den ersten Worten ziemlich unruhig wirkten. Hasard hatte das bestimmte Gefühl, daß seine ohnehin nicht eben zarte Formulierung weidlich ausgeschmückt wurde, doch er konnte es nicht ändern. Die Spanier, die an Deck enterten, drängten sich ziemlich kleinlaut zusammen. Sie starrten zu den Schwarzen hinüber. Männer, die für sie nur eine Ware gewesen waren, zusammengepfercht, angekettet, geschunden und gedemütigt. Jetzt trugen sie keine Ketten mehr, standen aufrecht und mit geballten Händen - und offene Angst spiegelte sich in den Augen der Spanier. Die Afrikaner rührten sich nicht. Jomo, der Wortführer, warf dem Capitan einen glühenden Blick zu und verneigte sich dann leicht in Hasards Richtung. Die Geste sprach deutlich. Sie waren Gäste auf diesem Schiff, sie würden sich an den Burgfrieden halten. Aber wehe den Spaniern, wenn sie ihnen unter anderen Umständen über den Weg liefen. Für ein paar Sekunden hatte sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf die fünf Afrikaner konzentriert.
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Niemand achtete auf Bill, den Moses, der Wache im Großmars ging. Niemand sah, wie sich der junge Mann dort oben vorbeugte, die Augen zusammenkniff, wie sein schmales Gesicht plötzlich kreideweiß wurde. Bill enterte ab. Mit langsa-. men, eigentümlich verkrampften Bewegungen. Neben der Nagelbank blieb er stehen. Sein Blick hing an dem spanischen Capitan, forschte in dem fahlen, erschöpften Gesicht, und vor seinen Augen verschoben sich die Bilder. Bill sah nicht mehr die vertraute „Isabella“ vor sich. Er war auf einem anderen Schiff, einem spanischen Schiff, das durch die Karibik segelte. Er glaubte, wieder die spanischen Flüche zu hören, das rohe Gelächter - und das Klatschen der Peitsche, die auf den Rücken seines Vaters niedersauste. „Gomez“, flüsterte er mit zitternden Lippen. Und dann schrie er, schrie so wild und gellend, daß er seine eigene Stimme nicht mehr erkannte: „Gomez! Du verdammter Hund! Ich bringe dich um!“ 4. Der Seewolf wirbelte herum, als er den Aufschrei hörte. Es dauerte Sekunden, bis er begriff, daß diese fremde, rauhe Stimme dem zwanzigjährigen Moses Bill gehörte. Auch das schmale Gesicht wirkte fremd und verzerrt. Mit einem wilden Ruck riß er einen Belegnagel aus der Nagelbank, stolperte blindlings quer über die Kuhl und schien entschlossen zu sein, sich auf den spanischen Capitan zu stürzen. „Bill!“ Hasards Stimme klang scharf wie ein Peitschenhieb. Bill hörte nicht. Alles ging schnell - so schnell, daß nicht einmal der bedrohte Capitan reagierte, sondern nur mit hängenden Armen wie gelähmt verharrte. Erst als Bill schon ausholte, bewegten sich die Männer. Doch es war der Seewolf, der mit einem Panthersatz den jungen Mann erreichte.
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In letzter Sekunde fing er den herabsausenden Arm mit dem Koffeynagel ab. Bill bäumte sich auf, keuchte, versuchte sich loszureißen. Hasard hielt eisern fest. Er wußte nicht, was vorging. Aber er sah die Tränen in den flackernden Augen und spürte, daß der Junge bis ins Innerste aufgewühlt war. „Bill! Bist du von Sinnen?“ Wild schüttelte der Moses den Kopf. Immer noch versuchte er, sich loszureißen. Sein Atem ging schnell und stoßweise, die Worte überstürzten sich. „Es ist Gomez! Jorge del Arriba y Gomez! Das Schwein, das meinen Vater auf dem Gewissen hat! Der Dreckskerl, der uns auf seinem Schiff zum Borddienst preßte, der uns monatelang gequält und geschunden hat, der meinen Vater zum Tode verurteilte, nur weil er mich schützen wollte! Ich bringe ihn um! Ich habe geschworen, daß ich ihn umbringe!“ Hasard verstand. Blitzhaft tauchte die Erinnerung an jene Szene auf Jamaica vor ihm auf, wo sie den damals sechzehnjährigen Bill neben seinem sterbenden Vater gefunden hatten. Der alte Mann hatte die Flucht von dem spanischen Schiff nicht überlebt, auf dem die beiden englischen Gefangenen wie Sklaven schuften mußten, hilflose Opfer, die jeder ungestraft schlagen und schikanieren durfte. Die Flucht war ihre letzte Chance gewesen. Denn der Capitan hatte den Jungen zwingen wollen, den eigenen Vater wegen angeblicher Meuterei eigenhändig aufzuhängen. Gomez — so hatte dieser Capitan geheißen. Jorge Amadeo Esteban del Arriba y Gomez. „Ich töte ihn“, flüsterte Bill erstickt. „Ich habe geschworen, ihn zu töten, wenn ich ihn sehe, ich habe geschworen ...“ „Und ich habe ihm mein Wort gegeben, daß ihm auf diesem Schiff kein Haar gekrümmt wird.“ Hasards Worte fielen in tiefe, atemlose Stille.
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Die Spanier waren ans Schanzkleid zurückgewichen. Stumm und erschüttert standen die Seewölfe auf der Kuhl. Sie alle kannten Bills Geschichte. Und ihre Gesichter verrieten deutlich, was sie empfanden — daß sie keinen Finger gerührt hätten, um den spanischen Capitan zu schützen. Mit einer ruhigen Bewegung drückte Hasard Bills Arm nach unten, entwand ihm den Belegnagel und warf ihn Ed Carberry zu. „Ich habe ihm mein Wort gegeben, daß ihm auf diesem Schiff kein Haar gekrümmt wird“, wiederholte der Seewolf hart. „Begreifst du das?“ Bill zitterte vor Erregung. In diesen Sekunden glich er fast wieder dem mageren, vom Schicksal herumgestoßenen Jungen, den sie damals auf Jamaica getroffen hatten. Seine Augen brannten, und Hasard fiel es schwer, die unnachgiebige Härte zu zeigen, die nötig war. Es ging nicht um den Spanier. Es ging nicht einmal nur um ein verpfändetes Wort, obwohl es der Seewolf so oder so nicht gebrochen hätte. Es ging um Bill. Er mußte mit dieser Sache fertig werden, ohne sich auf einen Wehrlosen zu stürzen und etwas zu tun, das er sich später vorwerfen würde. „Sir“, flüsterte er. „Er hat meinen Vater auf dem Gewissen. Er ist eine niederträchtige, widerliche Bestie, er ist ...“ „Er ist wehrlos, und er hat mein Wort. Du wirst ihn nicht anfassen. Hast du das verstanden?“ „Ja, Sir“, sagte der Junge tonlos. Hasard ließ sein Gelenk los. Bill warf sich herum, lief stolpernd über die Kuhl und verschwand im Niedergang zum Logis. Das Schott krachte zu. Die Männer zuckten zusammen. Ed Carberry, immer noch mit dem Belegnagel in der Rechten, wandte sich halb um, doch Hasards Stimme stoppte ihn. „Laß das Beiboot klarmachen, Ed! Wir pullen noch einmal an Land und nehmen Jomo und seine Leute mit.“ Der Profos biß die Zähne zusammen.
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„Aye, aye, Sir“, knirschte er. Und dann holte er Luft und brüllte die Männer an, daß es nur so rauchte. SiriTong warf Hasard einen fragenden Blick zu, doch er schüttelte den Kopf., Bill war ein Mann, und es gab Dinge, mit denen ein Mann allein fertig werden musste. Das wußten im Grunde auch die anderen, selbst wenn sie es im Augenblick nicht wahrhaben wollten. „Bitte, Hasard“, meldete sich Dan O'Flynn halblaut. „Ja?“ „Soll ich vielleicht mal versuchen .. . „Nein, zum Teufel! Ihr werdet ihn gefälligst in Ruhe lassen, bis er sich von selbst wieder meldet, klar?“ „Aber .. . Hasard hätte am liebsten losgeflucht. Stattdessen holte er tief Luft und sprach sehr leise. „Denk einmal nach“, empfahl er. „Du warst früher ein wesentlich wilderes Exemplar als Bill. Würdest du dich heute gern daran erinnern, einem wehrlosen Mann mit einem Koffeynagel den Schädel eingeschlagen zu haben?“ .Dan biß sich auf die Lippen, runzelte die Stirn und kratzte sich am Kopf. „N-nein“, gab er zu. „Na also. Sonst noch Fragen?“ Dan O'Flynn schwieg. Ziemlich nachdenklich. Inzwischen war das Beiboot abgefiert worden, und Batuti setzte den Afrikanern auseinander, was sie vorhatten. Für die überlebenden Schwarzen war es die beste Lösung, sich auf der unbewohnten Insel anzusiedeln, die Wasser, Wild und fruchtbaren Boden bot. Die Seewölfe würden ihnen nach Kräften dabei helfen, aber dazu mußten sie sich erst einmal mit den Männern an Land verständigen, die im Augenblick noch auf alles schossen, was sich bewegte. Hasard übertrug Ben Brighton das Kommando. Ihm selbst war die Lage auf der „Isabella“ etwas zu brisant, um jetzt von Bord zu gehen. Nicht, daß er befürchtete, seinen Männern würden die Gäule durchgehen. Auf die Crew konnte er sich verlassen. Bei
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den Spaniern mit ihrem Hundesohn von Capitan bezweifelte er das. Sie schlotterten vor Angst. Männer, die Angst hatten, waren unberechenbar. Vor allem, wenn es sich um Typen wie diese Sklavenhändler und Menschenschinder handelte. Aber er hatte ihnen zugesichert, sie als Gäste zu behandeln, also konnte er sie jetzt nicht hinter Schloß und Riegel stecken, so sympathisch ihm diese Lösung gewesen wäre. Aus schmalen Augen blickte er dem Boot nach, das von kräftigen Riemenschlägen ans Gestade getrieben wurde. Jomo und seine vier Gefährten würden ihren Stammesgenossen wohl schnell erklären können, daß die Engländer als Freunde erschienen waren und ihnen helfen wollten. Der Seewolf hoffte es jedenfalls. Er fand, daß sie im Augenblick schon genug mit Problemen eingedeckt waren. * Eine knappe Stunde später tauchte der Stoßtrupp wieder am Strand auf, diesmal begleitet von einem ganzen Schwarm schwarzer Gestalten. Friedliche Gestalten, wie Hasard erleichtert feststellte. Sie winkten und lachten sogar und schienen sich wie Schneekönige über die Aussichten zu freuen, die ihnen Jomo und der schwarze Herkules Batuti eröffnet hatten. Was Wunder! Noch vor wenigen Tagen waren sie ohne Hoffnung gewesen, zur menschlichen Ware erniedrigt, unterwegs in ein Leben der Sklaverei. Jetzt lag die Freiheit vor ihnen, und diese Freiheit würden sie sich so leicht nicht wieder nehmen lassen. Die Afrikaner schickten eine Abordnung an Bord, um dem Kapitän der „Isabella“ ihren Dank abzustatten. Eine Abordnung aufrechter, stolzer Männer, denen ihr Geschick in den Händen der Spanier nicht das Rückgrat hatte brechen können. Was es mit der Anwesenheit dieser Spanier an Bord der Galeone auf sich hatte, mußte Batuti seinen schwarzen Brüdern bereits auseinandergesetzt haben. Kalte,
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verächtliche, auch haßerfüllte Blicke trafen die zusammengedrängten Jammergestalten am Schanzkleid, aber niemand zeigte Anstalten, die Hand gegen sie zu erheben. Es gab ein langes Palaver, bei dem Batuti übersetzte. Den Afrikanern bot die unbewohnte Insel alles, was sie zum Leben brauchten. Waffen, Werkzeuge, Medikamente aus den Vorräten des Kutschers und Proviant für die erste Zeit würden sie von der „Isabella“ empfangen. Die Spanier bereiteten ihnen Sorgen, aber Gomez und seine Leute, versicherte Hasard, würde man ohnehin auf einer anderen, hinreichend weit entfernten Insel an Land setzen. Unter der Leitung des Profos wurde bereits das erste Beiboot beladen. Ferris Tucker versprach Jomo, ihm zu zeigen, wie man Auslegerboote baute, da der Fischfang per Einbaum in diesen Gewässern garantiert im Magen eines Hais enden würde. An Bord entfaltete sich lebhafte Tätigkeit. Die Spanier, der Panik nahe angesichts des ständigen Kommens und Gehens der Afrikaner, waren froh, als man ihnen eine Kammer im Achterschiff anwies, die zwar viel zu klein, aber dafür weit vom Schuß war. Auf diese Weise entwickelten sich die Dinge ganz allgemein zufriedenstellend, aber es entwickelte sich trotzdem nicht die richtige Stimmung. Edwin Carberry schlurfte lustlos herum und betitelte Blacky als Blödmann, weil dem ein Proviantsack aus den Händen gerutscht war. Blacky blickte verdutzt und vergaß, den Sack aufzuheben, bis ihm der Profos schließlich doch androhte, ihm gleich die Haut in Streifen von seinem verdammten Affenarsch zu ziehen. Aber das klang viel zu lahm. Der Profos war nicht in Form. Ferris Tucker auch nicht, das merkte man, als ihm Stenmark versehentlich auf die Zehen trat und nur ein müdes „dämlicher Stint“ zu hören kriegte. Ben Brighton sagte überhaupt nichts mehr. Die Rote Korsarin war in die Betrachtung des blauen Meers versunken. Nur Big Old Shane grinste
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leicht, als er neben Hasard an die Schmuckbalustrade des Achterkastells trat. „Schöne Bescherung, was?“ brummte er. „Bill wird's überstehen.“ „Sicher. Und ein paar von den vernagelten Dickköpfen da unten werden sich dann schwer wundern. Sie würden dem Miststück von Capitan am liebsten eigenhändig den Hals umdrehen.“ „Glaubst du, daß sie ...“ „Nein. Aber diesem Comez kann man nur den guten Rat geben, so klein und häßlich zu bleiben, wie er im Augenblick ist.“ „Das würde ich ihm auch raten. Mir juckt es selbst in den Fingern, wenn ich daran denke ... Er unterbrach sich. Das Schott, das Bill vor zwei Stunden hinter sich zugerammt hatte, öffnete sich wieder. Der Moses sah blaß und erschöpft aus, aber er ging mit festen Schritten über die Kuhl und enterte zum Achterkastell auf, während sich Big Old Shane diskret zurückzog. „Es tut mir leid, Sir, ich ...“ „Laß den Sir in der Kiste“, sagte der Seewolf ruhig. „Über solche Dinge läßt sich nur von Mann zu Mann sprechen.“ Bill wurde rot. „Ich - ich habe einfach durchgedreht. Jetzt hab ich's begriffen. Wenn du dem Kerl dein Wort gegeben hast, gilt das auch für mich.“ Er stockte und biß sich auf die Lippen. „Und dann - dann ist es der Kerl auch gar nicht wert, sich die Finger an ihm zu beschmutzen. Ich meine - so wie ich es beinahe getan hätte. Ohne fairen Kampf. Als ob man eine Ratte totschlägt.“ „Eben. Und zu einem fairen Kampf wird er sich nicht stellen, weil er tatsächlich eine Ratte ist. Eine miese, feige Ratte, die sich nur Wehrlosen gegenüber stark fühlt. Glaub nicht, daß es mir leichtfällt, ihn ungeschoren zu lassen und auch noch vor den Negern zu schütten, die weiß Gott ebenso gute Gründe haben wie du, ihn zu hassen.“ Bill nickte. Aber der Seewolf spürte, daß der Junge noch etwas auf dem Herzen hatte. Er zögerte und atmete tief durch.
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„Sir, wir - wir sollten auf diese Typen aufpassen. Ich kenne den Kerl. Er ist nicht nur gemein und sadistisch, er ist auch hinterhältig, verschlagen und gefährlich. Ich - ich glaube, daß er irgendetwas im Schilde führt.“ Hasard lächelte leicht. „Ich glaube eher, er ist vollauf damit beschäftigt, voller Sorge darüber nachzudenken, wer alles etwas gegen ihn im Schilde führt.“ „Der nicht, Sir! Das ist ein Typ, der von früh bis spät Teufeleien ausbrütet! Ich kenne ihn!“ „Wir werden aufpassen, Bill, keine Sorge.“ Überzeugt war der Moses nicht, das sah man ihm an. Er runzelte immer noch die Stirn, als er wieder auf die Kuhl hinunterstieg. Seine Schultern wirkten kantig, verkrampft, und Hasard seufzte, weil er sich nur zu gut vorstellen konnte, wie hart es für den Jungen war, seinen Todfeind an Bord zu wissen und sich damit abfinden zu müssen, ihn ungeschoren wieder ziehen zu lassen. Auf der Kuhl gesellten sich die Zwillinge zu Bill und erzählten ihm irgendetwas, wobei sie immer wieder lebhaft auf die Insel wiesen. Sie hatten natürlich mitgekriegt, was los war. Hasard stellte wieder einmal fest, daß Kinder bisweilen ein verblüffendes Feingefühl hatten. Mit ihrer lebhaften, ungezwungenen Art trafen sie jedenfalls genau den richtigen Ton: Bill ging auf das Gespräch ein, und nach einer Weile lächelte er sogar schon wieder. Ed Carberry, der wenig später aus dem Beiboot an Bord enterte, schlug dem Moses krachend auf die Schulter. Hinter dem Profos schwangen sich Ferris Tucker, Blacky und Smoky über das Schanzkleid, letzterer mit einer Beule am Schädel, aber glücklicherweise ungetrübtem Erinnerungsvermögen. Hasard dachte an den letzten Sturm, der sie ziemlich weit von der üblichen Route der spanischen Schatzschiffe abgetrieben hatte, die eigentlich ihr Ziel gewesen waren, und dabei fiel ihm wieder flüchtig jenes merkwürdige Schiff unter der schwarzen Flagge ein.
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„Also Bäume gibt es auf der Insel genug“, meldete Ferris Tucker. „Nur wird das 'ne verdammt staubige und - eh - trockene Arbeit, Sir. Und die Neger sind dermaßen in Stimmung, daß sie heute Abend am Strand ein großes Tamtam veranstalten wollen und so.“ Hasard hob die -linke Braue. Er wußte, was die Stunde geschlagen hatte. „Und so?“ fragte er. „Na ja - es gibt Wildschweine auf der Insel.“ Tucker lächelte treuherzig. „Die kann man besser am Spieß über 'ner Feuergrube braten als in der Kombüse. Stimmt's Kutscher?“ Der Kutscher bestätigte es. Wasser gebe es auf der Insel ebenfalls, fügte er hinzu. Und ein paar Fäßchen Wein und - eh, hm-Rum seien schließlich auch noch da. „Na dann“, sagte Hasard. „Unsere spanischen Gäste werden wohl lieber an Bord bleiben. Wer übernimmt die Ankerwache?“ „Ich muß mich sowieso um den verletzten Neger kümmern“, sagte der Kutscher. „Und weiter?“ Der Bootsmann holte Luft, aber Hasard schüttelte den Kopf. „Nein, Ben. Du tust das ohnehin mindestens doppelt so oft wie jeder andere. Das gleiche gilt für Big Old Shane.“ „Dann bin ich wohl jetzt mal dran“, sagte Ferris Tucker. „Nein, laß das mal.“ Der schwarzhaarige Stückmeister Al Conroy grinste. „Du hast ja die ganze staubige Arbeit mit dem verdammten Besanmast. Ich übernehme das.“ „Ich bleibe auch an Bord“, meldete sich Bill. Ein paar Köpfe drehten sich. Hasard kniff die Augen zusammen und hielt Bills Blick fest. Für ein paar Sekunden wurde es still. Der Moses zuckte mit keiner Wimper. Sein Gesicht wirkte blaß und angespannt. Ihm war nicht nach Feiern zumute, verständlich. Trotzdem, war Hasard nicht wohl bei dem Gedanken, ihn zusammen mit den Spaniern an Bord zu lassen. Bill wußte es. Und wenn jetzt ein anderer als Ankerwache eingeteilt wurde, würde er das
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als Mangel an Vertrauen empfinden, über den er sicher nicht so schnell hinwegkam. Hasard nickte ruhig. „Einverstanden“, sagte er. „Aber bis zum Abend haben wir noch jede Menge Zeit, uns um den Besanmast zu kümmern.“ 5. Unter Ferris Tuckers Anleitung zogen ein paar Männer los, um einen geeigneten Baum zu suchen und zu fällen. Eine andere Gruppe ging mit Wasserfässern beladen auf Quellensuche. Der Kutscher pirschte im Alleingang durch die Wildnis und hielt nach Kräutern, Blättern und heilkräftigen Wurzeln Ausschau, die er für seine Salben und Elixiere brauchte. Er nahm jede Gelegenheit wahr, sich von Eingeborenen, auf die sie bei ihren Fahrten trafen, entsprechende Tips geben zu lassen, und hatte seine Kenntnisse schon ganz beträchtlich erweitert. Unter anderem auch gewisse Spezialkenntnisse, die Herstellung geistiger Getränke betreffend. Zum Beispiel konnte er einen sehr kräftigen Schnaps brauen, indem er Kokosnüsse anbohrte, damit Luft an die Milch kam, die Löcher wieder zustopfte und das Ganze dann dem Gärungsprozeß überließ. Aber dieses Verfahren hatte er bisher strikt geheim gehalten. Auch Siri-Tong und die Zwillinge setzten mit einem der Boote zur Insel über. Die Anwesenheit der Roten Korsarin dämpfte den Tatendrang der beiden Jungen beträchtlich. Sie waren mieser Laune. Erst recht, nachdem ihr Versuch, die Verstandesschwäche weiblicher Wesen mit einer endlosen Kette von Fragen zu entlarven, zu einem schmählichen Fehlschlag wurde. Siri-Tong wußte in diesem Teil der Welt geradezu unverschämt gut Bescheid. Sie kannte jede Pflanze, jeden Stein, jedes lächerliche Insekt beim Namen. Und sie kannte auch genau die Folgen, die der von Hasard junior vorgeschlagene Verzehr einer bestimmten Beerenart haben würde. Folgen, die sie mit einem leicht maliziösen
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Lächeln beschrieb und deren Schilderung den Zwillingen jede Lust nahm, irgendwelche unbekannten Früchte zu probieren. Die Halluzinationen, die eine bestimmte Art Baumrinde hervorrufen sollte, fanden sie dagegen recht verlockend. „Nur zu“, sagte Siri-Tong trocken. „Vorausgesetzt, es stört euch nicht, hinterher so an die drei, vier Stunden Galle zu spucken. Aber bitte leewärts, sonst ist auch noch eine Stunde Deckschrubben fällig.“ „Phhh“ machte Hasard junior. „Wer spuckt denn schon nach Luv“, brummte sein Bruder. „Zum Beispiel jemand, der mit Pflaumensaft auf Möwen zielt und die Brühe ins eigene Auge kriegt, weil die Möwe zufällig in Luv flog“, sagte SiriTong noch trockener. Philip junior wurde knallrot. Sein Auge war das nämlich gewesen. Mit dem Saft der Trockenpflaumen übte er, weil das Zeug dem Tabaksaft ähnelte, den Blacky in klassisch schönen Bogen gegen den Wind zu spucken verstand. Und dabei erinnerte sich der kleine Philip auch gleich noch an jenes bis heute geheim gebliebene Tauschgeschäft Rosinenkuchen gegen Priem. Blackys Priem war brüderlich unter den Zwillingen geteilt worden, die sich dabei sehr mannhaft fühlten. Und brüderlich und mannhaft hatten sie dann auch die Folgen geteilt: grünliche Gesichter und ein Nachmittag, an dem sie es lieber nicht riskierten, sich allzu weit von dem Galion zu entfernen. Mußte man sie an dieses schmähliche Zwischenspiel auch noch erinnern? Sie tauschten finstere Blicke. Es war wirklich nicht auszuhalten! Diese Frau, die sowieso nicht an Bord eines Schiffes gehörte, hatte fatalerweise unheimlich scharfe Augen und ein beunruhigendes Talent dazu, männliche Gedankengänge zu erraten - vor allem die männlichen Gedankengänge achtjähriger Jungen. Außerdem, so fanden Philip und Hasard, palaverte sie entschieden zu oft mit ihrem Vater. Da konnte man zwar nicht lauschen,
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weil sich das für anständige Seeleute nicht gehörte, außer in Notfällen, aber man spürte doch, daß es sich nicht um handfeste Männergespräche handelte, sondern um eine ziemlich beunruhigende Art von Erwachsenen-Gesprächen, die man nicht recht verstand, bei denen man sich merkwürdig klein und ausgeschlossen fühlte. Die Zwillinge hatten sich eine ganze Menge guter Gründe zurechtgelegt, die gegen Siri-Tongs Anwesenheit auf der „Isabella“ sprachen, aber das Wesentliche ließen sie auch untereinander unausgesprochen. Sie waren eifersüchtig. Diese Frau sollte gefälligst auf dem Schwarzen Segler bleiben, wo sie hingehörte, und ihren Vater zufriedenlassen. So war das — Punktum! Sie, Hasard und Philip, brauchten niemanden, der sich um sie kümmerte. Und da sie das möglichst oft beweisen wollten, dachten sie auch nicht daran, die unbekannte Insel in Gesellschaft der Roten Korsarin zu erforschen. Bei der ersten Gelegenheit schlugen sie sich seitwärts in die Büsche. Sie waren einfach weg. Ein paar Schritte vorausgelaufen, in den Schatten eines Felsens getaucht — und verschwunden. Siri-Tong blieb stehen, die Hände in die Hüften gestützt, und schüttelte halb amüsiert, halb ärgerlich den Kopf. Verflixte Bengel! Wenn man sie jetzt rief, würden sie sich natürlich ins Fäustchen lachen und mucksmäuschenstill bleiben. Die Rote Korsarin dachte nicht daran, ihnen den Gefallen zu tun. Aber andererseits konnte man die Bengel auch nicht gut allein auf der Insel herumstromern lassen. Brauchte man ja auch, nicht. Vermutlich dachten die beiden nicht einmal im Traum daran, daß es weibliche Wesen geben könne, die in der Kunst des Spurenlesens bewandert waren. Sie würden sich wundern. In der kleinen Kammer im Achterschiff mußten sich die Spanier zusammendrängen wie Fische in der Reuse:
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Der Capitan dachte nach. Er wäre gern dabei auf und ab marschiert, aber in Anbetracht der kritischen Situation mußte es auch so gehen. Gomez' Gedanken überstürzten sich, und es war nackte Angst, die seine Überlegungen diktierte. Sie saßen in der Falle. Die Negerwürden sie massakrieren, sobald sie konnten. Gomez dachte an die zehn Männer, die er gehenkt hatte, und die anderen, die brutal ausgepeitscht worden waren, weil sie sich weigerten, bei der Hinrichtung ihrer Gefährten Hand anzulegen. Ganz davon abgesehen hatten sie die Sklaven im Frachtraum fast verhungern und verdursten lassen. Es war ein wahres Wunder, daß sie trotz allem auf diesen Killigrew hörten, obwohl sie in der Überzahl waren. Vielleicht brachte es El Lobo del Mar tatsächlich fertig, sie vor der Rache der Afrikaner zu schützen. Er würde sie auf irgendeiner anderen Insel an Land setzen, hatte er gesagt. So weit, so gut. Gomez glaubte ihm sogar. Für seine Männer wäre damit alles in Ordnung gewesen — aber nicht für ihn. Ihm würde es ganz sicher an den Kragen gehen. Wenn er an das Gesicht dieses schwarzhaarigen Jungen dachte, kriegte er Magenschmerzen. Wie hieß er noch? Bill, richtig. Er war ein Mann geworden. Gomez hatte eine ganze Weile gebraucht, um ihn zu erkennen. Wer erinnerte sich auch schon an zwei lausige Engländer, die man gefangengenommen, zum Borddienst gepreßt und so behandelt hatte, wie sie es verdienten? Vater und Sohn waren es gewesen. Eigentlich, entsann sich Gomez, hatten sie ihr Schicksal mit Fassung getragen und keine Schwierigkeiten bereitet: der Alte mit Rücksicht auf seinen Sohn, der Junge mit Rücksicht auf seinen alten Vater. Da lag dann auch der Punkt, an dem man sie packen konnte, um ein bißchen Spaß mit ihnen zu haben. Wenn jemand den Alten, der nicht ganz gesund war, mitten im Sturm in die Wanten jagte, wurde der Junge wild. Wenn
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der dann die wohlverdienten Prügel bezog, konnte man sichergehen, daß sich der Alte auch gleich seine zwanzig mit der Neunschwänzigen verdiente. Nur der Sache mit dem Hängen hatten sie sich damals durch die Flucht entzogen. Gomez war sicher gewesen, daß sie ertrinken würden, da der alte Mann mit seiner angegriffenen Gesundheit eine solche Strapaze unmöglich aushalten konnte. Offenbar hatte er sie wirklich nicht ausgehalten. Und jetzt war der Junge hier an Bord der „Isabella“. Gomez konnte darin nichts anderes als sein eigenes Todesurteil sehen. Er selbst war feige, rachsüchtig und hinterhältig, ihm bereitete es keine Skrupel, sein Wort zu brechen. Deshalb erwartete er von allen anderen Menschen das gleiche. An diesem Punkt seiner Überlegungen blieb er stehen, atmete tief durch und sah in die Runde. „Wir müssen etwas unternehmen“, erklärte er flüsternd. Seine Leute furchten die Brauen. „Unternehmen?“ echote der Offizier mit dem Namen José Delgado y Moreno. „Was denn sonst? Oder habt ihr etwa Lust, euch auf irgendeiner gottverlassenen Insel aussetzen zu lassen und zu warten, bis zufällig ein spanisches Schiff auftaucht?“ Die anderen schwiegen. Nein, Lust hatten sie dazu nicht. Aber in ihrer Lage fanden sie die Lösung durchaus annehmbar. Sie fanden sogar, daß sie im Grunde genommen eine Menge Glück gehabt hatten. Gomez sah es ihnen an. „Und die verdammten Nigger?“ fragte er. „Die werden uns massakrieren, sobald die Engländer den Rücken gedreht haben. Sie können Boote bauen. Und sie werden bestimmt nicht eher ruhen, bis sie uns gefunden haben - ganz gleich, auf welchem abgelegenen Eiland.“ Moreno kratzte sich am Kopf. Er dachte daran, daß bei der menschlichen Fracht auch Frauen gewesen waren. Und er dachte an die drei blutjungen Mädchen, fast noch Kinder, an denen er sich vergriffen hatte.
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„Und - und was könnten wir unternehmen, Capitan?“ fragte er unsicher. Gomez zog die Lippen von den Zähnen. „Ich weiß noch nicht. Ich muß nachdenken. Aber mir wird schon etwas einfallen.“ * „Ha! 'ne richtige Höhle!“ Die Stimme des kleinen Hasard klang etwas atemlos. Philip ließ sich auf Hände und Knie nieder und spähte unter die dichte verfilzte Matte aus Schlinggewächsen. Der grünliche Schatten darunter erinnerte tatsächlich an eine Grotte. „Irgendwo muß es noch 'ne richtige Höhle geben“, bemerkte Philip. „Da, wo sich die Dons versteckt hatten.“ Hasard nickte und kroch wieder ins Freie. Sie sprachen türkisch. Ab und zu mußte man sich schließlich , auch mal von dem vielen Englisch erholen. „Sollen wir sie suchen?“ fragte Philip. „Die Höhle?“ „Klar.” „Fein, suchen wir! Sie muß irgendwo zwischen den Klippen sein. Da, wo es heute morgen geknallt hat.“ Sie sahen sich um. Im Augenblick standen sie auf einer Lichtung. Roter Felsen durchbrach an manchen Stellen den Grasboden, die Bäume fanden nicht genug Raum für ihre Wurzeln und stürzten um, wenn sie eine gewisse Höhe erreicht hatten. Schlingpflanzen rankten um die toten Stämme und bildeten ein undurchdringliches Dickicht, ein paar einzelne Felsblökke verlockten zum Klettern. Die Zwillinge waren bis hierher gelangt, indem sie einem der Schweinepfade folgten, die sich durch die Wildnis zogen. Der verborgene Ort mit seinem dichten Blätterdach und den grüngoldenen Schatten reizte ihre Phantasie, aber eine richtige Höhle war natürlich noch viel aufregender. „Am besten klettern wir noch ein Stück höher“, schlug Hasard vor. „Wenn wir uns
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in südlicher Richtung halten, müßten wir auf die hochgetürmten Felsen stoßen.“ „In Ordnung, dann ...“ Philip verstummte. Ein merkwürdiges Zischen ertönte irgendwo rechts von ihm. Er wandte den Kopf - und versteinerte. Einen knappen Yard neben seinem Fuß ringelte sich eine Schlange im Gras. Graubraun. Bestimmt zwei Yards lang! Mit einem widerlich flachen, spitzschnäuzigen Reptilienkopf und senkrechten Augenschlitzen. „He, was ...“ begann Hasard. „Still!“ hauchte Philip. „Schlange!“ Mehr brauchte es nicht, um auch Hasard in ein steinernes Denkmal zu verwandeln. Er peilte aus den Augenwinkeln. Sehr vorsichtig. Auch er sah das Tier sofort, und der Schock ließ das Blut aus seinem Gesicht weichen. Sie kannten das Biest. Big Old Shane hatte es ihnen vorgeführt, allerdings ein totes Exemplar. Das sei eine Lanzenotter, hatte er gesagt. Sehr giftig, sehr angriffslustig. Und da sie an allen mittelamerikanischen Küsten und sämtlichen Inseln dieser Gegend lebe, habe man sich gefälligst höllisch vor ihr in acht zu nehmen. Aber wie, um alles in der Welt, nahm man sich vor einer Schlange in acht, die sich nur eine Armlänge von einem entfernt im Gras ringelte und jetzt auch noch suchend den häßlichen Kopf hob? Philip und Hasard wurden so weiß wie die Burnusse der Wüstensöhne, unter denen sie aufgewachsen waren. Ihre Augen weiteten sich, ihre Herzen hämmerten, aber sie rührten sich nicht. Unter den Gauklern; bei denen sie lange Zeit verbracht hatten, war auch ein ägyptischer Schlangenbeschwörer gewesen. Der pflegte seinen Uräusschlangen zwar die Giftdrüsen zu entfernen, aber da so ein Biß auch ohne Gift ganz schön weh tat, hatten die Zwillinge gelernt daß man in der Nähe von Schlangen nach Möglichkeit nicht mal die Augen bewegte. Bei den Uräusschlangen klappte das ganz gut.
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Aber hatte Big Old Shane nicht behauptet, diese elenden Lanzenottern könnten sogar mit einer Art sechstem Sinn die menschliche Körperwärme wahrnehmen? Hasard schluckte vorsichtig. Ihm war nicht warm, versuchte er sich zu beruhigen. Ihm war sogar eiskalt. Aber ob das die Schlange merkte? Philip hatte das Gefühl, daß es ihn plötzlich überall ganz entsetzlich juckte, aber natürlich konnte er sich jetzt nicht kratzen. Seine Gedanken überstürzten sich. Gar nicht mehr so besonders mannhafte Gedanken, die alle irgendwie auf die Schlußfolgerung hinausliefen, daß sie der Roten Korsarin vielleicht doch nicht hätten ausrücken sollen. Andererseits wäre eine Frau beim Anblick einer Schlange ja doch nur in Ohnmacht gefallen oder hätte fürchterlich geschrien. Im Grunde seines Herzens war Philip inzwischen ebenfalls danach zumute, sehr laut um Hilfe zu schreien. Und in Ohnmacht fallen würde er sicher auch gleich, wenn das Biest nicht bald verschwand. Aber das Biest dachte nicht daran. Zischend und züngelnd richtete es sich noch ein Stück weiter auf - und im nächsten Moment glaubte Philip zu träumen. „Ganz ruhig!“ wisperte eine Stimme. „Nicht bewegen!“ Kein Blatt raschelte, kein knackender Zweig hatte angekündigt, daß sich jemand näherte. Aus den Augenwinkeln sahen die beiden Jungen eine schlanke Gestalt in blauen Schifferhosen und roter Bluse, über die das lange schwarze Haar auf den Rücken fiel. Siri-Tong bewegte sich so lautlos und geschmeidig, als sei sie selbst eine Schlange. Sie fiel nicht in Ohnmacht. Im Gegenteil! Schritt für Schritt glitt sie näher, und in ihren Zügen und ihrer Haltung lag ein solches Maß von Anspannung, daß die Zwillinge unwillkürlich den Atem anhielten. Siri-Tong atmete sehr flach und versuchte, Gedanken und Gefühle auszuschalten. Sie hatte sofort gesehen, daß die Sache auf des Messers Schneide stand. Degen und
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Pistole hatte sie nicht dabei: den Dolch konnte sie nicht schleudern, ohne die Kinder zu gefährden. Also blieb nur eins und das barg ein teuflisches Risiko. Flüchtig registrierte sie, daß die Zwillinge bis jetzt ganz schön starke Nerven bewiesen. Philip und Hasard beobachteten aus aufgerissenen Augen die unendlich langsame Annäherung. Jede von SiriTongs behutsamen Bewegungen bewies ihnen deutlicher die tödliche Gefahr. Jetzt war die Rote Korsarin fast auf gleicher Höhe mit der Schlange. Die Otter bewegte unruhig den Kopf, zischte, züngelte. Aber sie war immer noch auf die beiden Jungen fixiert, und sie bemerkte nicht die Hand, die sich ihr mit abgespreiztem Daumen und Zeigefinger näherte. Philip wagte nicht mehr zu atmen. Hasard schickte ein Stoßgebet zum Himmel und revidierte stumm einen Teil seiner Ansichten über Frauen im allgemeinen und im besonderen. Beide starrten wie hypnotisiert auf den häßlichen Vipernschädel und die schlanke, gespreizte Hand dahinter - und dann sahen sie nur noch eine einzige blitzartige, wirbelnde Bewegung. Die zupackende Hand, die die Schlange knapp unter dem Kopf erwischte, der wild peitschende Leib, das Aufblitzen des Dolchs. Die Lanzenotter flog im Bogen durch die Luft. Loblos blieb sie in einiger Entfernung im Gras liegen. Philip und Hasard zitterten. Siri-Tong schob den Dolch in den Gürtel zurück und stand mit einem einzigen Schritt vor den beiden Jungen. Es klatschte zweimal. Die Ohrfeigen der Roten Korsarin waren bestimmt nicht von Pappe. Aber in diesem Fall hatten die Zwillinge das Gefühl, daß diese Ohrfeigen eigentlich keine Strafe gewesen waren, sondern ein probates Mittel, um aus dem Alptraum wieder in die Wirklichkeit zurückbefördert zu werden. Am Strand drehten sich bereits zwei Wildschweine über der Feuergrube, als noch einmal eine kurze, aber heftige Aufregung entstand.
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Irgendwo im Wald peitschten Schüsse. Die Seewölfe sprangen auf. Sie wußten, daß Ferris Tucker, Blacky und Stenmark noch dabei waren, einen passenden Baum für den Besanmast zu schlagen. Hasard war schon dabei, einen Suchtrupp zusammenzustellen, aber da erschienen seine Männer bereits im Schatten des Palmengürtels. Sie hatten einen Spanier am Kragen. Offenbar den letzten Überlebenden, der von den anderen getrennt worden war und sich allein durchgeschlagen hatte. Den ganzen Tag war er in seinem Versteck geblieben, da er sich beim besten Willen nicht erklären konnte, was auf der Insel vorging. Er hätte auch die Nacht in seinem Versteck verbracht, doch das hatte Ferris Tuckers Axt verhindert. Der arme Spanier hockte nämlich ausgerechnet auf dem Baum, den der rothaarige Schiffszimmermann als zukünftige Gaffelrute ins Auge gefaßt hatte. Sekundenlang war es sehr still. Der Spanier schüttelte mit einer wütenden Bewegung Tuckers Faust ab. Er war noch jung, ein Offizier der Kleidung nach. Die Afrikaner am Feuer starrten ihn an - und Hasard spannte sich, als Jomo, der Wortführer der Neger, langsam aufstand. Mit dem nächsten Blick erkannte der Seewolf, daß es nicht nötig war, einzugreifen. Jomos Gesicht spiegelte keinen Haß, und der Spanier zeigte keine Angst. Er lächelte sogar: etwas angestrengt, was vermutlich auf die Erschöpfung zurückzuführen war. Aus schmalen Augen beobachtete der Seewolf, wie die beiden ungleichen Männer aufeinander zugingen, wie Jomo die Hand ausstreckte und der andere diese Hand nach einem kurzen Zögern ergriff. Batuti übersetzte, was die restlichen Afrikaner in ihrer Heimatsprache hervorsprudelten. Der Spanier hieß Diego de Mandres. Er war es gewesen, der in letzter Sekunde die Ketten der Sklaven aufgeschlossen hatte, als das Schiff im Sturm kenterte. Er hatte es gegen den ausdrücklichen Befehl des Capitans getan, und er hatte sein
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eigenes Leben dabei riskiert. Da seine Landsleute mit den Booten längst auf und davon gewesen waren, hatte er genauso zu der rettenden Insel schwimmen müssen wie die Neger. In seinem einsamen Versteck war er geblieben, weil er nicht mit dem Capitan zusammentreffen wollte; dem hatte er nämlich mit Gewalt die Schlüssel für die Ketten abgenommen und ihm dabei erklärt, daß er ihn für den niederträchtigsten Hurensohn halte, der je aus einem Geschlecht verrotteter Lumpen hervorgegangen sei. Auf dieser Meinung beharrte er immer noch. Darum legte er auch nicht den geringsten Wert darauf, seinen Landsleuten an Bord der „Isabella“ Gesellschaft zu leisten. Die Seewölfe fanden, daß dieser Spanier ein ausgesprochener Lichtblick war. Hasard schüttelte Diego de Mandres die Hand, was er bei dem widerlichen Gomez tunlichst vermieden hatte. Der junge Offizier wollte natürlich wissen, was passiert war, und erhielt einen genauen Bericht. Er konnte nur bestätigen, was die Neger über ihr Martyrium an Bord des Sklavenschiffs erzählt hatten. Bills Geschichte kannte er allerdings nicht. Es war seine erste Fahrt mit Gomez gewesen - und seine letzte, wie er versicherte. Er hatte nicht einmal gewußt, welche Art von „Fracht“ sie an der Küste Gambias aufnehmen sollten. Wenn er es gewußt hätte, wäre er nicht mitgefahren, sagte er - und es gab niemanden, der dem jungen Mann mit den ehrlichen Augen nicht geglaubt hätte. Blieb nur noch die Frage, was aus Diego de Mandres werden sollte. Mit Gomez und seiner Bande von Sklavenhändlern und Leuteschindern wollte er nichts mehr zu tun haben. Hasard bot ihm an, auf der „Isabella“ zu bleiben und später an Land zu gehen, wo er es wünschte, aber der junge Offizier schüttelte den Kopf. „Das möchte ich nicht. Ich bin Spanier. Ich liebe mein Land, und ich kämpfe für meinen König. Auf der „Isabella“ würde ich unter Freunden sein, aber unter
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Freunden, die vielleicht vor meinen Augen gegen mein Land kämpfen müßten. Lieber bleibe ich hier, bei den Negern, bis ein spanisches Schiff erscheint.“ „Und meine Landsleute wieder einfängt, um sie zu verkaufen?“ mischte sich Batuti ein, der sonst nicht gerade ein Freund vieler Worte war. „Ich bin kein Sklavenhändler. Traut ihr mir nicht zu, daß ich mich allein auf eine Klippe stellen und winken könnte? Jomo würde es mir zutrauen, glaube ich.“ Batutis Übersetzungskünste brachten an den Tag, daß Jomo und die anderen durchaus mit der Lösung einverstanden waren. Sie vertrauten dem jungen Spanier. Daß er nicht den bequemeren Weg mit der „Isabella“ wählte, deren erklärtes Ziel es schließlich war, spanische Schatzschiffe aufzubringen, konnte ihm nur zur Ehre gereichen. Spanien und England standen sich immer noch als Feinde gegenüber, auch wenn für die Menschen, die sich heute abend am Strand einer unbewohnten Insel in der Weite des Atlantik versammelt hatten, diese Feindschaft aufgehoben war. Diego de Mandres hatte in der Armada gekämpft, er war mit spanischen Geleitzügen gesegelt, die sich der englischen Korsaren erwehren mußten. Er wollte eine klare Entscheidung treffen, und das war gut so. Weinfäßchen wurden angeschlagen, der Wildschweinbraten, mit einheimischen Kräutern gewürzt, entpuppte sich als Festschmaus. Die Rumflaschen kreisten. Ed Carberry und Ferris Tucker stritten sich über die Frage herum, wer von ihnen mehr vertragen könne. Old O'Flynn, der seine Krücken neben sich in den Sand gelegt hatte, erzählte eine seiner berühmtberüchtigten Gespenstergeschichten. Und der junge Spanier Diego de Mandres begann bei dieser Gelegenheit, von dem unheimlichen Geisterschiff unter schwarzer Flagge zu berichten, das angeblich die Karibik verunsicherte. „Schwarze Flagge?“ ließ sich der Profos von seinem Saufwettstreit mit dem Zimmermann ablenken.
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Die Seewölfe erinnerten sich nur zu gut an das Schiff mit der schwarzen Flagge, das ihnen mitten im Sturm begegnet war. Jawohl, schwarze Flagge, wurde geantwortet. Und dann hörten sie eine höchst unheimliche Geschichte von einer Galeone, die von Toten gesegelt werde, seit Monaten immer wieder auftauche und Furcht und Schrecken verbreite. Smoky kriegte Schluckbeschwerden. Er war der Abergläubischste der Crew. „Hahaha“, sagte Dan O'Flynn. Die meisten anderen schwiegen. Einerseits war man natürlich nicht abergläubisch, überhaupt nicht, ganz klar. Aber andererseits konnte man schließlich nie wissen... Der junge spanische Offizier preßte die Lippen zusammen. „Ich habe sie gesehen“, sagte er. „Es klingt idiotisch, aber ich habe diese Galeone der Toten tatsächlich gesehen. Es muß ein GeiSterschiff sein.“ „Muß?“ fragte der Seewolf mit einem halb unterdrückten Lächeln. „Sie hatte Tote an Bord. Gerippe!“ Diego de Mandres zuckte mit den Schultern. Für einen Moment war das Schweigen sehr tief. Nur Siri-Tong kräuselte die Lippen. Mit einer schwungvollen Bewegung warf sie das schwarze Haar auf den Rücken und stand auf. „Es ist spät“, sagte sie. „Ich werde zur ,Isabella` zurückpullen. Kommt ihr mit?“ Die letzte Frage war an die Zwillinge gerichtet. Philip und Hasard hatten gebannt den herrlichen Geschichten über Geister, Dämonen und lebende Tote zugehört. Jetzt wechselten sie einen Blick — einen schicksalsergebenen Blick. Sie fühlten sich schuldig. Bei der Sache mit der Schlange hatte ihre Eigenmächtigkeit sie in Lebensgefahr gebracht. Sie konnten sich ungefähr vorstellen, wie ihr Vater, ihr Großvater, Big Old Shane oder Ed Carberry auf diese Geschichte reagiert hätten. Aber über die Sache mit der Schlange war kein Wort gefallen. Frauen konnten entgegen der
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allgemein verbreiteten Ansicht offenbar doch schweigen. Und Philip und Hasard brauchten keine Worte, um sich darüber zu verständigen, daß man in diesem speziellen Fall wohl irgendwie verpflichtet war, auch mal nachzugeben. Also nickten sie ihr Einverständnis, obwohl sie überhaupt keine Lust verspürten, das Fest zu verlassen, bevor es richtig angefangen hatte. Aber sie konnten ja auch nicht ahnen, daß es an Bord der „Isabella“ im Augenblick viel spannender zuging als hier am Strand. 6. Der Capitan mit dem schönen Namen Jorge Amadeo Esteban del Arriba y Gomez war das, was man im allgemeinen Sprachgebrauch als Schwein bezeichnet, aber er verfügte über eine gewisse teuflische Intelligenz und entbehrte deshalb nicht der Überzeugungskraft. In diesem Fall war es nicht einmal schwierig gewesen, seine Leute zu überzeugen. Nach dem Schiffbruch` hatten sich vor allem die Typen in die Boote gerettet, die am besten für sich selbst kämpfen und am bedenkenlosesten im Interesse der eigenen Haut anderen einen Riemen über den Kopf schlagen konnten. Das waren gleichzeitig auch diejenigen, die sieh am meisten vor der Rache ihrer früheren Opfer zu fürchten hatten und deshalb sofort bereit waren, alles auf eine Karte zu setzen. Nur deshalb ließ sich José Delgado y Moreno bewegen, in Gomez' Plänen eine Rolle zu spielen, die der begreiflicherweise nicht selbst zu übernehmen wagte. Getreu dem Wort des Seewolfs konnten sich die Spanier auf der „Isabella“ frei bewegen. Moreno war nicht gerade wohl zumute, als er die Kammer verließ und durch den Niedergang auf die Kuhl schlich. Vom Strand drangen Feuerschein und Stimmen herüber. Moreno schluckte krampfhaft und raffte sich zusammen. Er sah sich nach der Ankerwache um und war nicht überrascht, ausgerechnet dem jungen
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Bill gegenüberzustehen — demjenigen, der dem Capitan beinahe den Schädel eingeschlagen hatte. Morenos Stimme zitterte. „Wir haben einen Kranken“, behauptete er. „Es geht ihm schlecht. Sehr schlecht.“ Bill biß die Zähne zusammen. Er hatte sich die ganze Zeit über nichts anderes gewünscht, als daß es den Spaniern so schlecht wie nur irgend möglich gehen möge. Er haßte sie und wünschte ihnen die Pest an den Hals. Sie hatten seinen Vater auf dem Gewissen. Sie hatten ihn selbst bis aufs Blut gequält, als er ihnen ausgeliefert gewesen war. Und jetzt waren sie ihm ausgeliefert. Aber da war das Wort, das ihnen Philip Hasard Killigrew gegeben hatte. Der Seewolf hatte gewußt, was zwischen Bill und diesen Spaniern war, und hatte ihn trotzdem so gut wie allein mit den Kerlen an Bord zurückgelassen. Hatte er nicht damit seine Ehre aufs Spiel gesetzt? Weil er ihm, Bill, vertraute? Sollte irgend jemand sagen können, daß man sich auf das Wort des Seewolfs nicht verlassen könne? Der Junge straffte sich. „Kutscher!” rief er. „Verdammt noch mal, wo ...“ „Was denn, was denn?“ brummelte der Kutscher ungehalten, als er aus dem Niedergang zum Vorschiff auftauchte. „Bei den Spaniern ist jemand krank. Sieh mal nach!“ „Der Neger ist auch krank“, fauchte der Kutscher. „Was glaubt ihr Blödmänner eigentlich, was 'ne Amputation bedeutet? Denkt ihr vielleicht, daß ist 'ne Sache wie ein Schnupfen?“ Immer noch brummend stieg er ins Achterschiff hinunter. Auch er hätte Gomez und seinen Spaniern am liebsten den Hals umgedreht. Und wenn er an Bill dachte, war das Halsumdrehen sogar noch die humanste Todesart, die ihm einfiel. Aber er hatte von seinem ehemaligen Brotherrn Sir Freemont gelernt, daß bei Kranken und Verletzten die Untaten aus der Vergangenheit keine Rolle mehr spielten, und deshalb betrat er
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die Kammer der Spanier in der Absicht, ihnen nach besten Kräften zu helfen. Er war arglos, und der Schlag auf den Kopf konnte ihn keines Besseren mehr belehren, weil er ihn sofort bewußtlos werden ließ. Die Spanier frohlockten. Noch einmal wurde José Delgado y Moreno vorgeschickt. Er fand das höchst ungerecht, aber er sah ein, daß alle anderen noch viel weichere Knie hatten als er und daß sich der Capitan wirklich nicht in die Nähe des Moses mit dem Namen Bill wagen konnte. Also marschierte José Delgado y Moreno noch einmal auf die Kuhl. „Euer Kutscher sagt, er braucht Hilfe“, behauptete er und übertraf sich gleich darauf selbst mit seinen schauspielerischen Fähigkeiten: „Unser Mann scheint tobsüchtig zu werden, einfach durchzudrehen. Ich glaube, er stirbt! Ich begreife das nicht.“ Der Spanier ahnte nicht, welcher Tatsache sie das Gelingen ihres Plans zu verdanken hatten. Unter normalen Umständen wären Bill und Al Conroy jetzt vermutlich mißtrauisch geworden. Aber da war die Sache mit Bills Vater, da war das Gefühl, verpflichtet zu sein und den Spaniern nicht allzu viel offene Feindschaft entgegenzubringen. Der Seewolf hatte sein Wort gegeben, diese Typen als Gäste zu behandeln, also würde man sich danach richten. Bill biß die Zähne zusammen. Als er Moreno ins Achterschiff folgte, ahnte er nichts Böses. Er hatte einfach zu viel damit zu tun, sich darauf vorzubereiten, dem Capitan gegenüberzutreten, ohne ihm an die Gurgel zu fahren. Als der Knüppel auf den Schädel des Moses niedersauste, war es zu spät für irgendwelche Reaktionen. Bill brach bewußtlos zusammen. Die Spanier sahen sich mit funkelnden Augen an. Jetzt mußten sie nur noch Al Conroy ausschalten, und nach Lage der Dinge war auch das nicht sonderlich schwierig. Zehn Männer stürzten sich auf ihn. Es gab ein kurzes, heftiges Handgemenge doch am Ende lag auch der Stückmeister
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bewußtlos auf den Planken. Der Capitan triumphierte. Er hatte die „Isabella“! Daß sie mit einem knappen Dutzend Spaniern hoffnungslos unterbemannt sein würde, hielt Gomez für ein durchaus lösbares Problem. Er hatte ohnehin vor, noch ein paar von diesen arroganten Engländern unter seine Fuchtel zu zwingen. Er würde im Triumph nach Spanien zurückkehren! Vorerst allerdings interessierte ihn vor allem ein anderer, ganz persönlicher Triumph. Er hatte Angst gehabt. Nackte, jämmerliche Todesangst, die er diesem schwarzhaarigen Moses verdankte. Dafür würde er sich rächen. Sein Gegner sollte zittern, sollte um sein Leben betteln vergeblich betteln. Gomez ließ die Gefangenen auf die Kuhl bringen. Al Conroy war immer noch bewußtlos und blutete aus mehreren Wunden. Der Kutscher konnte schon wieder stehen, wenn auch schwankend und mit glasigem Blick. Bill kämpfte sich gerade mühsam zurück in den Wachzustand. Sein Kopf schmerzte zum Zerspringen. Er spürte die Fesseln an den Händen, und schlagartig kehrte die Erinnerung zurück. Ein Blick in die Runde enthüllte ihm vollends ihre niederschmetternde Lage. Sie waren auf einen gemeinen Trick hereingefallen. Bill biß sich auf die Lippen, bis er Blut schmeckte. Es war seine Schuld, warf er sich vor. Er hatte gewußt, was für ein Schwein Gomez war, er hätte die Ereignisse voraussehen müssen. Mühsam zog er die Beine an und drückte sich am Schanzkleid hoch, weil er nicht vor dem höhnisch grinsenden Capitan auf dem Boden liegen wollte. Gomez holte aus und schlug. dem Gefesselten mit dem Handrücken ins Gesicht. Blut schoß aus Bills Nase. Er zuck- .e mit keiner Wimper, auch nicht, als der Capitan den Degen zog und ihm mit der scharfen Spitze vor den Augen herumfuchtelte. „Du wirst sterben!“ zischte Gomez. „Jetzt sofort! Wie gefällt dir das, du Bastard?“ Bill antwortete nicht.
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Mit starrem Gesicht blickte er an dem Capitan vorbei. Er wußte, daß dieser Mann die Drohung ernst meinte, aber er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als auch nur einen Funken von Angst zu zeigen. * Hasard und Philip pullten einen gemütlichen Rundschlag. Ihr Vater hatte sich seine Gedanken gemacht, als er sah, daß die Zwillinge SiriTongs Wink ohne Murren folgten, obwohl sie sichtlich lieber noch eine Weile den schönen spannenden Gespenstergeschichten zugehört hätten. Irgend etwas mußte da passiert sein, das die Rote Korsarin ein gewaltiges Stück in der Achtung der Zwillinge hatte steigen lassen. Aber ob es reichte, um sie endgültig von der Ansicht zu kurieren, daß ein weibliches Wesen zwei achtjährigen „Männern“ nichts zu sagen habe? Hasard und Philip wußten selbst noch nicht so recht, was sie denken sollten. Die Rote Korsarin saß aufrecht im Heck des Bootes und blickte zur „Isabella“ hinüber. Ihr Blick suchte die Gestalten der Ankerwachen. Aber auf dem Achterkastell regte sich nichts, und Siri-Tong zog flüchtig die Brauen zusammen. Sollte Bill... Nein, sicher nicht! Sie kannte den Jungen recht gut, und der Seewolf irrte sich fast nie in der Beurteilung von Menschen. Trotzdem fühlte Siri-Tong eine unbestimmte Unruhe. Sie dachte an Bills Warnung, daß die Spanier irgendeine Teufelei planten. Hatten sie alle das zu leicht genommen? Waren sie zu schnell bereit gewesen, es auf den verständlichen Haß zu schieben, den Bill gegen den Capitan empfand? Das Boot glitt in den Schatten der Bordwand. Die Zwillinge hatten es längsseits gebracht und holten die Riemen ein. Philip wollte etwas sagen, aber die Rote Korsarin legte beschwörend den Finger auf die Lippen. Die Jungen wechselten einen überraschten Blick. Siri-Tong konnte Stimmen hören.
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Spanische Stimmen. Das mußte nichts besagen, da sich die Spanier frei an Bord bewegen konnten. Und doch — Siri-Tong war fest davon überzeugt gewesen, daß diese feigen Ratten in ihrem Loch bleiben und es nicht wagen würden, Bill unter die Augen zu treten. Die Rote Korsarin wandte sich Wieder den Jungen zu. „Ich glaube, da oben stimmt etwas nicht“, flüsterte sie. „Ich werde allein aufentern. Ihr folgt mir erst, wenn ich es euch sage. Und falls ihr an Deck irgend etwas Ungewöhnliches hört, schnappt ihr euch sofort die Riemen und pullt zurück, klar?“ Die Zwillinge schluckten. „Klar“, flüsterte Philip. „Klar“, hauchte Hasard. Und dann sahen sie mit großen Augen zu, .wie die Rote Korsarin in bester Piratenmanier ihren Dolch zwischen die Zähne nahm und lautlos und geschickt wie eine Katze auf enterte. „Sie hat Mut“, hauchte Philip. „Idiot“, flüsterte Hasard. „Daß sie Mut hat, konntest du doch schon bei der Geschichte mit der Schlange sehen, oder?“ Sie verstummten: Siri-Tong hatte das Schanzkleid erreicht. Vorsichtig nahm sie den Dolch in die Rechte, schob den Kopf hoch — und hatte Mühe, nicht erschrocken zusammenzuzucken. Zwölf Spanier bildeten einen Halbkreis auf der Kuhl. Al Conroy lag bewußtlos am Boden. Der Kutscher, gefesselt und mit blutverschmiertem Gesicht, kämpfte schwankend und benommen gegen die Nachwirkungen der Ohnmacht. Der ebenfalls gefesselte Bill lehnte mit dem Rücken am Backbordschanzkleid, und vor ihm hatte sich breitbeinig der spanische Capitan aufgebaut und fuchtelte mit dem Degen. „Du dreckiger kleiner Bastard“, fauchte er. „Ich werde dich langsam umbringen, ganz langsam. Wie gefällt dir diese Aussicht? Fängst du schon an zu zittern? Werden dir die Knie weich?“ Bill antwortete nicht.
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Stattdessen warf er den Kopf in den Nacken und spie dem Spanier mitten in das grinsende Gesicht. Gomez schrie auf vor Wut. Blitzartig holte er mit dem Degen aus. Er war von Sinnen vor Haß und wollte mit voller Wucht zustoßen. In der Sekunde, in der der ausholende Arm die Degenklinge von Bills Körper zurückzog, konnte SiriTong handeln. Mit einer einzigen fließenden Bewegung flankte sie über das Schanzkleid und schleuderte den Dolch. Bis zum Heft bohrte er sich in den Rücken des Spaniers. Gomez schrie. Noch während er mit brechenden Augen auf die Knie sank, vollführte er eine Bewegung, um sein Opfer zu durchbohren, doch Bill, war um Bruchteile von Sekunden schneller. Er warf sich zur Seite. Der Degen streifte seinen Arm und riß die Haut auf, dann kippte Gomez vornüber. Immer noch standen die restlichen Spanier wie versteinert im Halbkreis. Bill und der Kutscher warfen sich trotz der Fesseln auf sie, Siri-Tong jagte quer über die Kuhl, um Gomez' Degen an sich zu bringen, aber sie ahnte, daß sie keine Chance hatte. Es war ein kurzer, ungleicher Kampf. Ein Kampf, in dessen Getümmel niemand auf das Boot achtete, in dem zwei achtjährige Jungen wie vom Teufel gehetzt zum Strand zurückpullten. * Es war der Todesschrei des Capitans gewesen, der die Seewölfe hatte aufhorchen lassen. Rumflaschen wurden zur Seite geworfen, die Männer sprangen hastig auf und stürmten zum Wasser. Hasards Zähne knirschten. Er atmete erleichtert auf, als er das kleine Boot auf den Wellen entdeckte, doch schon im nächsten Moment mischte sich in diese Erleichterung neue Sorge, da er sah, daß die beiden Jungen allein im Boot saßen. Die Spanier! Bill hatte recht behalten, Hasard war dessen plötzlich fast sicher. Siri-Tong
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mußte etwas bemerkt haben, hatte die Jungen allein zurückgeschickt und war aufgeentert, um nach dem Rechten zu sehen. Mit geballten Händen wartete Hasard, bis das Boot den Strand erreichte und die Zwillinge ins seichte Wasser sprangen. Atemlos sprudelten sie ihren Bericht hervor. Sie hatten nur Kampflärm gehört, aber nichts sehen können. Über den Ausgang dieses Kampfs konnte es jedoch keinen Zweifel geben. Siri-Tong war allein gewesen, überdies nur mit einem Dolch bewaffnet, und die Ankerwachen mußten um diese Zeit schon außer Gefecht gewesen sein. Bill in der Hand dieses Teufels Gomez! Sie hatten einen entsetzlichen Schrei gehört. Wessen Schrei? Hasards Magenmuskeln verkrampften sich. Er hätte auf Bills Warnung hören sollen. Er hätte wissen müssen, daß Typen wie diese Menschenschinder zu jeder Niedertracht fähig waren. Hätte, hätte! Jetzt war es zu spät. Und wenn die Kerle Bill etwas antaten, trug er, der Seewolf, die Verantwortung. „Macht das Boot wieder klar“, sagte er durch die Zähne. „Ich werde an Bord gehen.“ „Darauf warten die doch nur“, wandte Ben Brighton neben ihm ein. „Sie sind zu wenige, um mit der „Isabella“ auf und davon zu segeln. Sie werden uns einsacken und ...“ „Höchstens mich, und das ist mir verdammt egal! Verhandeln müssen wir sowieso. Ich werde den Kerlen sagen, daß wir sie ohne Rücksicht auf Verluste angreifen, sobald sie jemandem auch nur ein Haar krümmen. Und daß sie dann an der Rahnock enden!“ Ben sagte nichts mehr. Er wußte, daß es sinnlos war; wenn die Stimme des Seewolfs diesen tödlich entschlossenen Klang hatte, gab es keine Diskussionen. Sekunden später schnappte sich Hasard bereits einen der Riemen, und zusammen mit Ben, Ed Carberry, Ferris
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Tucker, Matt Davies und Smoky trieb er das kleine Boot der Riffbarriere zu. Die Passage öffnete sich in unmittelbarer Nähe des Schiffswracks. Die „Isabella“ war auch vom Strand aus zu sehen gewesen. Hasards Blick haftete an den beiden Gestalten auf der Kuhl. Spanier! Aber sie sahen nicht zu dem Boot herüber, sondern blickten nach Backbord. Starr, wie gebannt. Hasard wollte schon Luft holen, um sie anzurufen, um das, was sich da außerhalb seines Gesichtsfeldes anbahnte, vielleicht noch zu verhindern doch dann erkannte er, daß es überhaupt kein Ereignis an Bord der „Isabella“ war, das die Aufmerksamkeit der beiden Spanier am Steuerbordschanzkleid fesselte. Ein fremdes Schiff! Fahl leuchteten die Segel im Mondlicht. Genau querab Steuerbord rauschte es von Süden her auf die „Isabella“ zu - und am Flaggenstag flatterte die schwarze Fahne. Schreie erklangen. Spanische Schreie, gellend vor Entsetzen. Hasard konnte nicht alles verstehen, aber er hörte deutlich etwas von _Geistern“ und „Toten“.
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Ein Geisterschiff! Wahr und wahrhaftig! Fahl leuchtete das Gerippe, das an der Großrah baumelte. Hoch aufgerichtet stand eine Gestalt in wellendem schwarzem Mantel am Ruder - eine Gestalt mit einem grinsenden Totenschädel. Auf dem Achterkastell schwenkte der Kapitän die Arme, ein pantherköpfiger Dämon. Vermummte bedienten die Segel lebendige Leichname. Fast drei Sekunden lang war die Stille dicht und undurchdringlich wie ein körperliches Gewicht, dann gellten die ersten Schreie. „Die Toten!“ „Das Geisterschiff! Der Teufel holt uns!“ „In die Boote! In die Boote! Rette sich, wer kann!“ Panik und nackte Todesangst packten die Spanier. Schreiend, zitternd und zähneklappernd begannen sie, ein Boot abzufieren, flohen blindlings vor dem Bild des Schreckens und dachten nicht mehr an ihre Gefangenen. *
7. Zwei von den Spaniern hatten Siri-Tong gerade die Hände auf den Rücken fesseln wollen, aber sie kamen nicht mehr dazu. Wie von einem Peitschenhieb getroffen zuckte der Größere der beiden plötzlich zusammen. Sein Kumpan hob fragend die Brauen. _D-das Totenschiff!“ flüsterte der Mann mit bleichen Lippen. „Was?“ Auch der zweite Spanier fuhr herum. Er riß Siri-Tong mit. Die Rote Korsarin spannte die Muskeln, um die offensichtliche Verwirrung zu nutzen und sich loszureißen, doch im nächsten Moment verharrte auch sie wie versteinert. Elf Spanier, die junge Frau und drei gefesselte, halb bewußtlose Seewölfe starrten dem Schiff mit der schwarzen Flagge entgegen, das von Süden heransegelte.
Smoky zitterte wie Espenlaub. Er war hinter Hasard auf eins der Riffe geklettert; wenn er schon von Geistern und Dämonen geholt wurde, wollte er wenigstens sehen, welcher Art sie waren. Jetzt sah er es. Seine Augen quollen vor, er hielt den Atem an und fiel fast ins Wasser, als er seinen sicheren Halt aufgab, um sich zu bekreuzigen. Hasard achtete nicht darauf. Sein Blick hing an dem Schiff mit der schwarzen Flagge, sein Herz hämmerte. Gerippe! Totenköpfe! Dämonenfratzen! Ein Geisterschiff, aber ein Geisterschiff mit geöffneten Stückpforten. Es wollte die „Isabella“ angreifen. Und zwar mit soliden Eisenkugeln und nicht mit Zauberei oder höllischem Feuer! Der Seewolf beherrschte sich eisern, obwohl auch ihm der Anblick unter die Haut ging.
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„Signalisiere zum Strand hinüber, Smoky“, sagte er durch die Zähne. „Sie sollen das zweite Boot bemannen! Tempo!“ Smoky schluckte. „A-aber Sir, d-d-das sind doch ...“ „Na und? Willst du unsere „Isabella“ irgendwelchen dreimal verdammten Gerippen überlassen?“ Smoky holte tief Luft. Von dieser Seite hatte er die Sache noch nicht betrachtet. Gespenster hin, Geister her - jemandem die „Isabella“ zu überlassen, kam gar nicht in Frage, und wenn es der Leibhaftige persönlich gewesen wäre. Unter diesen Umständen war selbst er, der Abergläubischste der Crew, notfalls bereit, die Hölle mit einem Eimer Wasser anzugreifen und den Oberteufel darin zu ersäufen. Hastig begann er, zum Strand hinüberzusignalisieren. Unter ihnen starrten Ed Carberry und die anderen stumm auf das fremde Schiff. Der hünenhafte Ferris Tucker war bleich unter dem roten Haar. Ben Brighton hatte die Augen zusammengekniffen und eine Hand an den Griff der Pistole in seinem Gürtel gelegt. Matt Davies hielt mit seiner Hakenprothese mechanisch das Boot von dem Riff ab, atmete schnell und heftig und bewegte die Lippen, ohne etwas zu sagen. „Ha!“ zischte Ed Carberry, als die durcheinanderschreienden Spanier begannen, das Boot abzufieren. „Feige Ratten!“ knurrte Matt Davies tief in der Kehle. „Alles klar, Sir!“ meldete Smoky mit Todesverachtung. „Wir können rüberpullen und gefechtsklar machen.“ Der Himmel allein wußte, welche Überwindung ihn das kostete. Hasard schlug ihm krachend auf die Schulter, zog die Lippen von den Zähnen und zeigte das Grinsen, bei dem seine Leute einhellig der Meinung waren, daß der Sensenmann persönlich davor Reißaus nehmen würde. Was für den Sensenmann galt, das galt für einen Haufen klappriger Gespenster schon lange. *
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Mit ein paar raschen Schnitten befreite die Rote Korsarin den Kutscher, Bill und Al Conroy von ihren Fesseln. Sekundenlang war der Impuls, den kopflos fliehenden Spaniern zu folgen, fast übermächtig gewesen. Aber Siri-Tong hatte nicht fliehen können, ohne vorher die drei Seewölfe zu befreien. Jetzt klatschte das Beiboot ins Wasser, die Spanier schrien immer noch, und über das Schanzkleid weg sah Siri-Tong den unheimlichen Segler herangleiten. Geöffnete Stückpforten! Bemannte Drehbassen am Bug. Bemannt mit schwarz vermummten Gestalten, unter deren Kapuzen fahle Totenschädel schimmerten. Diese Horrorgeschöpfe hatten es ohne Zweifel auf die „Isabella“ abgesehen. Auch Bill, Al Conroy und der Kutscher begriffen es. Sie empfanden den gleichen heillosen Schrecken wie die Spanier, doch die „Isabella“ war ihr Schiff. Das ließen sie sich nicht so einfach unter den Füßen wegklauen, auch nicht von einer Horde heulender Dämonen. Ihre Gesichter waren bleich vor Schrecken, aber sie flohen nicht, sondern ballten entschlossen die Hände. Siri-Tong warf das Haar zurück. Die lähmende Angst verebbte allmählich. Die Galeone unter der schwarzen Flagge brauste nicht durch die Lüfte, sondern pflügte ganz normal mit Backstagsbrise durchs Wasser. Und Geister, die Schiffe kaperten, hätten etwas beruhigend Realistisches, Menschliches. Das Gerippe an der Rah war unzweifelhaft vorhanden. Die unheimlichen Vermummten mit den bleichen Totenschädeln ließen sich nicht wegleugnen. Aber ein Spuk, der mit realen Kanonen schoß, dem konnte man wohl auch mit realen Kanonen begegnen. Von einer Sekunde zur anderen verwandelte sich Siri-Tong wieder in den Kapitän des Schwarzen Seglers, die Anführerin einer wilden Korsarenhorde, eine Frau, die an geschmeidigen, federnden Stahl erinnerte. „Klar bei Lunten, Kugeln und Kartuschen! Macht die mittlere Backbordkanone zum
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Ausrennen klar! Hoch mit der Stückpforte!“ Die Männer waren ohnehin schon in Bewegung. Siri-Tong packte mit zu, binnen einer halben Minute war die schwere Culverine schußbereit. Sie reichte weiter als die Stücke des Gegners. Aber zu viert konnten sie natürlich nicht manövrieren. Mit ein paar Schritten stand Siri-Tong am Steuerbordschanzkleid. Ein Lächeln flog über ihr Gesicht, als sie die beiden Boote sah, die sich vom Strand aus näherten. Der Seewolf stand aufgerichtet im Bug des vordersten Fahrzeugs, die Hand am Griff der Pistole, die eisblauen Augen auf das Boot der Spanier gerichtet, das ihnen entgegengepullt wurde. Aber die verschreckten Dons dachten nicht an Angriff, fuchtelten nur mit den Armen und schrien durcheinander. „Die Toten! Die Toten! Rette sich, wer kann!“ Immerhin eine freundliche Geste, daß sie die Engländer warnten. Nur kümmerten die sich nicht darum. Am Strand hatten zwar die abergläubischen Afrikaner die Flucht ergriffen, doch es war immer noch ein hinreichend starkes Empfangskomitee vorhanden. Siri-Tong wandte sich wieder ab, glitt zur Backbordseite hinüber und sah zu, wie Al Conroy über das lange Rohr der Kanone peilte. „Ich setze ihnen einen Schuß vor den Bug“, brummte er. „Mal sehen, ob sie uns dann verzaubern.“ Gelassen drückte er die Lunte in die Zündpfanne. Krachend entlud sich die Culverine, Rauch wölkte auf. Die schwere SiebzehnpfünderEisenkugel jaulte durch die Luft und ließ unmittelbar vor dem Bug des Geisterschiffs eine Wasserfontäne hochspritzen. Die Galeone lief aus dem Kurs. Segel killten, eine heisere Stimme überschüttete den Rudergänger mit Flüchen. Kein Zweifel: Der Totenschädel-Typ am Kolderstock hatte einen Schreck gekriegt.
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Opfer, die ihnen einen Schuß vor den Bug setzten, statt in Panik zu fliehen, waren den Geistern offenbar noch nicht begegnet. * Die Spanier pullten, als sei der Teufel selber hinter ihnen her - und etwas Ähnliches war es ja auch, was sie glaubten. Moreno versuchte mit sich überschlagender Stimme, den Takt für die Rudergasten anzugeben. Trotzdem schnitten Riemen unter, und binnen Sekunden entstand an der Steuerbordseite des Bootes das, was der Seemann schlicht als Wuhling bezeichnet. Aber der rettende Strand war nah. Die Spanier ließen das Boot Boot sein, sprangen ins Wasser, das ihnen nur noch bis zu den Hüften reichte, und wateten keuchend und stolpernd ans sichere Gestade. Die Angst saß ihnen im Nacken. Angst, die ihnen den Blick trübte, die die wartenden Männer am Strand in ihren Augen zu Selbstmördern werden ließ, zu Wahnsinnigen, die die Gefahr nicht sahen. Moreno fuchtelte mit den Armen. Er schrie, aber er schrie nicht einmal so sehr, um die Engländer zu warnen, sondern weil er ein Ventil für seine eigene jämmerliche Angst brauchte. „Die Geister! Die Toten! Rettet euch, ihr Narren!“ Wie ein Rasender hetzte er über den Strand dem Palmengürtel zu. Das heißt, er wollte es. Mitten im schönsten Sturmlauf fühlte er sich plötzlich angelüftet. Big Old Shane hatte ihn einfach mit seiner mächtigen Pranke beim Kragen gepackt, schüttelte ihn ein bißchen, was bei Moreno das Gefühl hervorrief, in einen Hurrikan zu geraten, und ließ ihn in den Sand fallen. Drei, vier andere Spanier stolperten über ausgestreckte Beine. Batuti breitete die Arme aus und stoppte auf diese Weise zwei der Flüchtenden in ihrem Sturmlauf. Es sah aus, als wolle er sie an seine breite Brust drücken. Das tat er auch. Aber so, daß ihre Köpfe zusammenstießen, was ziemlich hohl klang
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und ihnen zu einem längeren erholsamen Schlaf verhalf. Diejenigen, denen ein Bein gestellt worden war, sprangen wieder auf, aber nur, um sich jeder eine mittlere Beule auf dem Schädel einzuhandeln. Die letzten, die an Land wateten, begriffen immerhin so schnell, daß sie ihre Waffen zogen. Sie hätten es besser gelassen. Ihre Gegner hatten genug Wut angesammelt, um nicht lange zu fackeln. Die Spanier waren ihre Waffen los, noch ehe sie auch nur den Versuch unternehmen konnten, sie zu benutzen, und dann bezogen sie eine Tracht Prügel, die sie 'in ihrem Leben nicht mehr vergessen würden. „So“, brummte Big Old Shane und sah sich zufrieden auf dem Schlachtfeld um. „Das war schon lange fällig.“ „Der Capitan ist nicht dabei“, bemerkte Luke Morgan. Tatsächlich: Gomez fehlte. Die Seewölfe konnten nicht wissen, daß er tot war. Aber sie wußten zumindest eins: daß er allein kein größeres Unheil mehr anrichten konnte. Hastig begannen die Männer, die teils bewußtlosen, teils schwer angeschlagenen Spanier zu fesseln, und blickten immer wieder zur „Isabella“ hinüber, wo irgend etwas geschah, das sie nicht durchschauten und bei dem sie - zum Henker auch - nicht mitmachen konnten. Die Spanier hatten etwas von Geistern und Toten gebrüllt. Luke Morgan war auf die einzeln aufragende Klippe geentert, wo schon die Zwillinge hockten, jetzt winkte er heftig. Auch die anderen kletterten auf den Felsen - mit Ausnahme von Old O'Flynn, der wütend protestierte und seine Krücken schüttelte. Der Anblick, der ihm erspart blieb, hätte auf schlagende Weise alle seine Spökenkiekereien bestätigt. Die Männer erblaßten. Selbst der Schimpanse Arwenack schien verdattert, und die sonst so vorwitzigen Zwillinge wirkten ungemein kleinlaut. Das schaukelnde Gerippe an der Rah der heransegelnden Galeone ließ sich inzwischen auch von hier aus erkennen.
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Die Totenschädel blieben verschwommene Flecken, doch es gab keinen Zweifel daran, daß mit den schwarz vermummten Gestalten an Bord des fremden Seglers etwas nicht stimmte. „Meine Fresse“, stöhnte Luke Morgan. Big Old Shane zerrte an seinem grauen Bart, die anderen fluchten, starrten auf das Schiff unter der schwarzen Flagge, auf die „Isabella“ und die beiden Boote, die über das blaue Wasser glitten. Schon vor Sekunden hatten sie das Donnern eines einzelnen Kanonenschusses gehört. Auf der Kuhl der „Isabella“ waren Gestalten zu erkennen. Al Conroy, der schwarzhaarige Stückmeister. Bill und der Kutscher, die eine zweite Kanone ausrannten. Und SiriTong, die zu den Angreifern hinübersah und mit gelassenen Bewegungen die Lunte entzündete. Philip und Hasard wechselten einen Blick. Sie dachten beide das gleiche. Wenn die Rote Korsarin sogar ohne Wimpernzucken mit einer Culverine auf Gespenster schoß, dann würden sie es wohl auch in hundert Jahren nicht erleben, daß sie bei irgendeiner Gefahr in Ohnmacht fiel. Vielleicht gab es eben doch Frauen, die auf einem Schiff nicht fehl am Platz waren und von denen angehende Seeleute noch etwas lernen konnten. * Der Seewolf sprang als erster auf die Kuhl - genau in dem Augenblick, in dem SiriTongs Schuß dröhnte. Diesmal klatschte die Kugel nicht ins Wasser. Sie riß ein Loch in die Bordwand der Galeone, für deren Kanonen die Entfernung immer noch zu groß war. Wieder -lief das Schiff aus dem Kurs, und diesmal dauerte es länger, bis die unheimlichen Gestalten dort drüben die Segel neu getrimmt hatten. „Idioten“, sagte die Rote Korsarin trocken. Ihre Augen funkelten, als sie sich nach Hasard und den anderen umsah. Auch das zweite Beiboot näherte sich rasch. Noch ein paar Minuten, dann würden sie die Geister das Fürchten lehren.
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Hasards Stimme hallte über die Kuhl. „Hoch mit dem Anker! Klar bei Backbordgeschütze! An die Brassen und Schoten!“ „Hopp-hopp, ihr Rübenschweine!“ brüllte der Profos. „Wollt ihr vielleicht warten, bis uns diese verdammten Gerippe ein paar Löcher in die Wasserlinie stanzen? Hurtig, hurtig, oder der Teufel holt euch lotweise!“ Zumindest Smoky hegte die feste Überzeugung, daß der Teufel ohnehin dabei sei, sie zu holen. Ihm war sehr nach Zittern und Zähneklappern zumute, aber dazu blieb keine Zeit. Die „Isabella“ mußte gefechtsklar sein, und manövrieren können, ganz gleich, mit welcher Sorte von Gegnern sie es zu tun hatten. Und die Geister hatten zumindest eins bewiesen: daß sie miserable Seeleute waren und das dämliche Gerippe am Ruder nicht vernünftig Kurs zu halten verstand. Zwei Minuten später stellte sich heraus, daß die Geister zudem noch erbärmliche Feiglinge waren. Sie hatten sich darauf verlassen, daß ihre Gegner in panischem Entsetzen die Flucht ergreifen würden und sie sich die „Isabella“ kampflos unter den Nagel reißen konnten. Eine Erwartung, die einige Berechtigung hatte, wie das Verhalten der Spanier bewies, und die sich sicher schon öfter erfüllt hatte, falls es zu den Gewohnheiten der Geister gehörte, auf Kaperfahrt zu gehen. Aber diesmal waren sie auf Männer - und eine Frau —gestoßen, die weder Tod noch, Teufel fürchteten. Nicht nur, daß sie nicht flohen, sie erhielten sogar noch Verstärkung. Sie hatten es gewagt, einem leibhaftigen Gespensterschiff eine Kugel vor den Bug zu setzen wie irgendeinem x-beliebigen Angreifer, sie hatten ihnen ein Loch in die Bordwand gestanzt - und jetzt rasselten an der Backbordseite sämtliche Stückpforten herunter. Die „Isabella“ zeigte die Zähne. „Aus dem Grund!“ schrie Ben Brighton vorn am Ankerspill. „Heiß auf Fock und Blinde!“ dröhnte Hasards Stimme. „Hoch mit dem Großsegel!“
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Blitzschnell gingen die Manöver. Die „Isabella“ war bereit, den Kampf mit dem Geisterschiff unter der schwarzen Flagge aufzunehmen. Und in diesem Augenblick wurde den Geistern die Sache offenbar zu ungemütlich. Die Galeone luvte an, schwang herum und lief mit halbem Wind einen Kurs, der sie in nördlicher Richtung an der Insel vorbeitragen würde. Die Geister flohen. Ein donnerndes „Arwenack“ erklang hinter ihnen. Selbst Smoky, der eben noch sicher gewesen war, daß der Teufel sie holen würde, gelangte zu dem Ergebnis, daß diese feigen Bastarde von Geistern eigentlich nicht so furchtbar gefährlich sein konnten. „Jagen wir hinterher und schicken sie auf Tiefe?“ fragte er begierig. Aber der Seewolf schüttelte den Kopf, obwohl auch er darauf gebrannt hätte, sich diese Geister etwas näher anzusehen und herauszufinden, wie sie sich zum Beispiel bei einem soliden Enterkampf benahmen. „Können wir nicht“, sagte er trocken. „Vergeßt nicht, daß wir ohne Besan viel zu flügellahm sind, um irgend jemanden zu verfolgen.“ * Die Erinnerung an das geheimnisvolle Totenschiff überschattete die nächsten Tage. Niemand hatte gezögert, die „Isabella“ mit allen Mitteln zu verteidigen. Da hätte sich schon mehr zeigen müssen als ein paar Gerippe. Aber jetzt, da die Gefahr gebannt und der Ausbruch wütenden Kampfgeistes verebbt war, schlichen die meisten Männer mit ziemlich betretenen Gesichtern herum. Old O'Flynn schwankte zwischen fuchsteufelswilder Wut und heimlicher Erleichterung, weil er nichts von den Ereignissen gesehen hatte. Smoky schwor Stein und Bein, daß auf dem Achterkastell der Galeone der Gehörnte höchstselbst gestanden habe, mit Schwanz und Pferdefuß. Blacky erklärte ihm grob, daß er wohl bekloppt sei - oder ob er sich etwa
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einbilde, der Leibhaftige nehme vor ein paar Kanonenkugeln Reißaus. Aber Smoky traute das dem Leibhaftigen durchaus zu, die Seewölfe waren ja schließlich nicht irgendwer, nicht wahr. Und auch die anderen überboten sich nur so in der Schilderung von Einzelheiten, die sie auf dem Geisterschiff wirklich oder angeblich gesehen hatten. Ein neuer Besanmast wurde auf -geriggt, unter der Leitung des Kutschers ergänzten die Männer die Wasservorräte. Bis auf der „Isabella“ sämtliche Sturmschäden repariert waren, gab es eine Menge Arbeit. Die Spanier schmorten in der Vorpiek. Die Afrikaner halfen, wo sie konnten, auch der Mann, der seine Hand verloren hatte, erholte sich allmählich. Er lächelte dankbar, als Ferris Tucker an seinem Arm Maß nahm und Jomo genau erklärte, wie eine solide Hakenprothese gebaut wurde. Die Zwillinge benahmen sich die ganze Woche über sehr zahm und verkniffen sich ihre üblichen Eskapaden. Eine Art stiller Abbitte Siri-Tong gegenüber? Der Seewolf wußte es nicht so genau. Die beiden Jungen blieben reserviert, ein bißchen mißtrauisch, weil sie immer noch das Gefühl hatten, daß da etwas war, was sie nicht verstanden, etwas zwischen der fremden Frau und ihrem Vater. Aber eins ließ sich nicht leugnen: die offene Bewunderung, mit der sie die Rote Korsarin betrachteten, die einfach mir nichts, dir nichts mit einer Kanone auf einen Haufen leibhaftiger Djinni geschossen hatte. Am Ende der Woche verabschiedeten sich die Seewölfe von Diego de Mandres und den Afrikanern, die inzwischen bereits die ersten Hütten errichtet hatten und mit Feuereifer dabei waren, auf der Insel Fuß zu fassen. Ein zünftiger Umtrunk mußte natürlich sein, schließlich war das Fest am Strand ja sehr unsanft erst durch den verräterischen Überfall der Spanier und dann durch das Geisterschiff unterbrochen worden. Als die „Isabella“ am nächsten Morgen ankerauf ging, waren die Männer leicht verkatert,
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aber guter Dinge, auch wenn das Abschiedswinken bei einigen von ihnen etwas matt ausfiel. Die Insel blieb achteraus. Die „Isabella“ lief mit halbem Wind Nordostkurs. In der Vorpiek drängten sich elf Spanier zusammen, wagten kein lautes Wort von sich zu geben und hätten sich am liebsten in ein Bohrwurmloch verkrochen, um unsichtbar zu werden. Auf den Versuch, die „Isabella“ in ihre Hand zu bringen, konnte es ihrer Meinung nach nur eine Antwort geben: die Rahnock. Sie waren überzeugt, daß man sie lediglich schmoren ließ, um aus purer Rachsucht ihre Todesängste zu verlängern. Als man ihnen schließlich die Tür öffnete und sie, gefesselt, wie sie waren, an Deck trieb, wankten sie mit weichen Knien den Niedergang hinauf - sicher, daß die Hinrichtung auf sie wartete. Bleich und zitternd starrten sie zu dem schwarzhaarigen Mann auf dem Achterkastell hinauf. Hasard kniff die Augen zusammen. Ihm wurde erst jetzt klar, daß die Kerle erwarteten, aufgeknüpft oder zumindest gekielholt zu werden. Aber er empfand kein übertriebenes Mitleid, ein bißchen Angst war schließlich das mindeste, was die Kerle verdient hatten. „Wir laufen in einer halben Stunde die Insel an, die ihr Backbord voraus sehen könnt“, sagte der Seewolf ruhig. „Ihr werdet dort an Land gesetzt. Ihr erhaltet das Nötigste an Werkzeugen und Vorräten, eine Muskete und Munition. Verdient hättet ihr den Strick. Aber hier ist niemand, der sich die Finger an euch beschmutzen will.“ Moreno schluckte. „Sie - Sie lassen uns laufen, Senior?“ „Wir sind froh, wenn wir eure Galgenvogelgesichter nicht mehr zu sehen brauchen. Schneide ihnen die Fesseln durch, Ed.“ Der Profos tat es, und er gab sich keine sonderliche Mühe, zartfühlend vorzugehen. Die Spanier wirkten benommen, wie betäubt. Erst allmählich vermochten sie voll zu begreifen, daß sie dem Leben
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wiedergegeben waren. Zu rühren wagten sie sich allerdings immer noch kaum. Wahrscheinlich fürchteten sie, ihre Bezwinger könnten sich die Sache mit dem Hängen doch noch anders überlegen. Ihre Augen hafteten begierig an den Umrissen der Insel, die allmählich größer wurde. Eine halbe Stunde später allerdings wich dieser erwartungsvolle Ausdruck wieder nackter Furcht. Die „Isabella“ segelte an den roten Klippen einer vorspringenden Landzunge vorbei. Eine tief eingeschnittene Bucht öffnete sich, Palmwipfel wiegten sich im Wind, dahinter begann das übliche Dickicht. Am Strand, deutlich und unübersehbar wie ein mahnendes Zeichen, steckte ein fahler Totenkopf auf einer in den Sand gerammten Stange. „Ach du heiliger Strohsack“, brummte Ed Carberry beeindruckt. Blacky bekreuzigte sich. Old O'Flynn und die meisten anderen starrten aus schmalen Augen auf das Ding, das wie ein makabrer Wachtposten wirkte. Die Gesichter der Spanier wurden lang und länger, und Moreno rief heiser flüsternd ein paar Heilige an, was bei seiner schwarzen Seele ziemlich unverschämt war. Die Zwillinge beobachteten Siri-Tong und grübelten über die Frage, ob das Ding auf dem Pfahl ein Djinn war und, wenn ja, ob die Rote Korsarin diesen Djinn erschießen würde. Der Seewolf biß sich auf die Unterlippe. Der Totenschädel konnte niemandem etwas anhaben, aber es bestand kein Zweifel daran, daß ihn jemand auf die Stange gesteckt hatte, um eventuelle Besucher vom Betreten des Gestades abzuschrecken. War die Insel bewohnt? Hasard überlegte einen Moment und entschloß sich dann, zunächst einen Erkundungsgang an Land zu unternehmen. Die Spanier sahen so aus, als würden sie sich eher hängen als hier aussetzen lassen, solange nicht feststand, daß keine Geister und Dämonen im Schatten des Dickichts lauerten. Die „Isabella“ ging vor Anker, das Beiboot wurde bemannt. Hasard nahm Moreno mit.
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Der hatte zwar weiche Knie und war gelb im Gesicht, aber er schien einzusehen, daß er sich schon durch eigenen Augenschein überzeugen mußte, wenn er nicht darauf angewiesen sein wollte, den Engländern zu glauben. Ferris Tucker und Ed Carberry zogen das Boot auf den Strand, und einen Augenblick blieb die ganze Gruppe vor dem unheimlichen Wahrzeichen stehen. Ein Totenkopf auf einer Stange. Makaber, aber durchaus nicht unheimlich oder gar übernatürlich. Hasard kniff die Augen zusammen. Er glaubte ohnehin nicht an Geister. Vor allem nicht an solche, die sich als Schnapphähne zur See betätigten und das Hasenpanier ergriffen, sobald es Kugeln hagelte. Trotzdem hielten sich die Männer bemerkenswert dicht zusammen, als sie am Strand entlangmarschierten und nach einer Weile die Richtung einschlugen, die zur höchsten Erhebung der Insel führte. Sie brauchten etwa zwanzig Minuten, um sich durch das wuchernde Dickicht zu kämpfen. Dann standen sie auf der .Hügelkuppe, einem kleinen, geröllbedeckten Plateau, und spähten aufmerksam in die Runde. Nichts Verdächtiges war zu sehen. An der Nordseite der Insel verdeckten Klippen den Strand. Eine schmale Schlucht, nicht breiter als ein Hohlweg, begann jenseits des Hügels und zog sich offenbar bis hinunter zu dem Palmengürtel. Die Seewölfe beschlossen, ihr zu folgen und auch noch einen Blick auf die andere Seite der Insel zu werfen. Moreno beruhigte sich allmählich, da sich weder ein menschliches Wesen noch irgendeine Sorte von Spuk zeigte. Hasard blieb wachsam. Der Totenkopf war nicht von selbst an den Strand geraten, soviel stand fest. Immer wieder glitt der Blick des Seewolfs aufmerksam über die Schluchtenränder, und deshalb erkannte er die Gefahr etwas früher als die anderen. Huschende Bewegung! Gestalten zwischen roten Felsen und dichtem Gestrüpp! „Achtung!“ zischte Hasard. „Links!“
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Dabei packte er den verblüfften Spanier, beförderte ihn mit einem kräftigen Stoß in den Schatten des Steilhangs und jumpte hinterher, während auch die anderen gedankenschnell in den toten Winkel tauchten. Gerade noch rechtzeitig! Von einer Sekunde zur anderen schien die Hölle loszubrechen. Schüsse peitschten. Stimmen schrien durcheinander — wütende Stimmen, aus denen die Enttäuschung darüber klang, daß der geplante Überraschungsschlag nicht geglückt war. Etwas knirschte, ein Steinhagel prasselte nieder und wirbelte Staubwolken auf, doch die Seewölfe und den schreckensbleichen Spanier konnte keines der Felsstücke erwischen. Eng gegen den Steilhang gepreßt, warteten sie ab, bis das Prasseln und Poltern verstummte. Ed Carberry fluchte erbittert und erging sich in seinen Lieblingssprüchen. Hasard hatte die zweischüssige Reiterpistole aus dem Gürtel gezogen. Roter Staub füllte die Schlucht, aber die Kante des Plateaus war einigermaßen deutlich zu sehen. Lautlos löste sich der Seewolf aus seiner Deckung und spähte nach oben. Ihre strategische Position war denkbar ungünstig. Aber er war sicher, daß es sich bei den Angreifern jedenfalls nicht um Eingeborene handelte. Und diejenigen, an die er dachte, hatten schon einmal bewiesen, daß ihr Kampfgeist ziemlich unterentwickelt war und sie lieber die Flucht ergriffen, sobald sie auf energischen Widerstand stießen. Zwei Sekunden vergingen, dann schob sich ein Kopf über die Kante des Steilhangs. Hasard feuerte – h aargenau so, daß der unvorsichtige Besitzer des Kopfs das Gefühl haben mußte, die Kugel ziehe ihm einen Scheitel durch das verfilzte braune Haar. Mit einem Schritt glitt der Seewolf wieder dichter an den Steilhang und lauschte auf den schrillen Schreckensschrei über sich. „Weg hier!“ brüllte jemand. Zweige knackten, Steine knirschten, Schritte entfernten sich. Es konnten nicht
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mehr als fünf oder sechs Männer sein, die sich da zur Flucht wandten. Sie hatten gehofft, ihre Gegner in die Falle locken und mit dem ersten Überraschungsangriff überwältigen zu können. Das war ihnen nicht geglückt, jetzt gaben sie auf. Dabei wußten sie nicht einmal, wie weise diese Entscheidung war, da sie die Seewölfe nicht kannten, sondern nur vor der doppelten Übermacht flohen. „Hinterher?“ fragte Carberry begierig. „Was denn sonst?“ knurrte Hasard. .Ferris, du bleibst hier und paßt auf den Don auf.“ „Wieso soll ausgerechnet ich ...“, begann der rothaarige Riese protestierend. „Weil ich es sage! Los jetzt, Tempo!“ Aber mit dem Tempo war das so eine Sache. Die Seewölfe mußten erst einmal den Steilhang erklettern ein recht mühsames Unterfangen, das sich als schwieriger herausstellte, als es aussah. Auch als sie es geschafft hatten, gebot die Situation noch eine gewisse Vorsicht; es wäre unsinnig gewesen, sich der Gefahr auszusetzen, daß ein als Rückendeckung zurückgebliebener Gegner jemandem eine Kugel in den Kopf jagte. Hasard spähte aufmerksam in die Runde. Erst als auf dem Plateau alles ruhig blieb, schwang er sich endgültig über die Kante. Die anderen folgten ihm. Noch konnten sie die hastigen Schritte der Fliehenden hören, doch die Kerle hatten einen beachtlichen Vorsprung gewonnen. Sie strebten dem Strand zu, der Nordseite der Insel. Da sie gar nicht erst den Versuch unternahmen, sich zu verstecken oder wenigstens lautlos zu bewegen, gab es nur eine Erklärung: Im Sichtschutz der Klippen mußte ein Schiff auf sie warten. Fünf Minuten später bestätigte sich diese Vermutung. Noch einmal mußten die Seewölfe durch ein Gewirr von roten Felsblöcken klettern, dann standen sie auf der Klippenbarriere und hatten das weite Halbrund einer Bucht vor sich. Mit aufgegeiten Segeln lag eine Galeone dort vor Anker.
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Eine Galeone unter schwarzer Flagge. Männer standen an Deck — ganz normale Männer. Aber an der Großrah baumelte immer noch das Gerippe, grinste mit seinem fahlen Totenschädel und schaukelte im auffrischenden Wind, als wolle es einen makabren Tanz aufführen. Ein Boot glitt über das blaue Wasser der Bucht. Die Rudergasten pullten wie besessen — sechs Männer, die gewöhnliche Seemannskluft trugen und nicht im mindesten geisterhaft wirkten. Jetzt brachten sie ihr Boot längsseits, die ersten enterten über die Jakobsleiter an Deck, und die Seewölfe beobachteten aus schmalen Augen, wie das Fahrzeug hochgehievt wurde. „Wo, zum Henker, sind denn die Geister geblieben?“ brummte Ed Carberry. „Vielleicht verstecken sie sich“, murmelte Blacky. „Oder sie können sich unsichtbar machen.“ „Und die Kerle da? Meinst du, das sind Hirngespinste, was, wie?“ „Nee. Aber ich hab mal gehört, daß die Geister Schiffbrüchige auffischen, gefangen halten und ...“ „Du spinnst ja!“ erklärte Carberry kategorisch. Die anderen stimmten zu. Die Galeone, die da vor ihnen in der Bucht ankerte, . sah eigentlich überhaupt nicht mehr wie ein Geisterschiff aus, wenn man von dem schaukelnden Gerippe absah. Aber Knochen waren Knochen, die gab es auf jedem Friedhof, und ein Skelett konnte sich schließlich jeder an die Großrah hängen, vor allem, wenn er es darauf anlegte, andere Leute in Angst und Schrecken zu versetzen, dachte Hasard bei sich. Nicht die schlechteste Methode; wenn man sich das Risiko des offenen Kampfes ersparen wollte. Und auf offene Kämpfe war die Besatzung der Galeone nicht scharf, das ließ sich ganz deutlich an der Eile ablesen, mit der sie Segel setzte und fast ihre eigene Ankertrosse überlief, als die Flunken nicht schnell genug aus dem Grund brachen.
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Mit rauhem Wind lief das Schiff aus der Bucht, luvte dann an und wandte sich nach Westen. Die schwarze Flagge wehte. Das Gerippe schwang an der Großrah hin und her, aber auf einem Schiff, das die Flucht ergriff und dessen Besatzung so offensichtlich aus einer Bande elender Feiglinge bestand, konnten auch diese bleichen Knochen nicht mehr besonders schreckerregend wirken, jedenfalls nicht, wenn man die vermummten Gestalten vergaß. Und die Totenschädel, die sie alle bei dem Angriff auf die „Isabella“ im Schatten der Kapuzen gesehen hatten. Damals hatte der Spuk beklemmend echt gewirkt. Die Erinnerung war noch frisch. Mit gemischten Gefühlen blickten die Seewölfe der entschwindenden Galeone nach. Zumindest einigen von ihnen sah man an, was sie dachten: daß man nicht mit hundertprozentiger Sicherheit wissen könne, was das verdammte Geisterschiff noch in seinen Kammern und Frachträumen barg. Sie würden es herausfinden. Hasard jedenfalls war dazu entschlossen, auch wenn er ahnte, daß er bei der Crew nicht gerade auf einhellige Zustimmung stoßen würde. Zweimal hatten diese vermeintlichen Geister sie jetzt bereits angegriffen, und der Seewolf war nicht gesonnen, sich das so einfach gefallen zu lassen. Aber zunächst einmal mußten sie die Spanier an Land setzen. Quer über die Insel marschierten sie zurück, bis sie in der schmalen Schlucht wieder auf Ferris Tucker und Moreno stießen. Der Spanier war bleich wie ein Laken. Da er während des Überfalls nicht gewagt hatte, die Augen zu öffnen, hatte er auch nicht sehen können, daß es sich bei den Angreifern nicht um Geister und Dämonen, sondern um ganz normale, nicht einmal besonders kampflustige Männer handelte. Der Bericht, den er jetzt hörte, beruhigte ihn auch nicht. Aber die Seewölfe sahen keinen Grund, auf die Gefühle dieser feigen Ratte besondere Rücksicht zu nehmen.
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Die Spanier würden hier an Land gesetzt werden - Punktum! Wenn ihnen die Insel nicht gefiel, würde ihnen nichts anderes übrig bleiben, als sich ein Boot zu bauen und das nächste Eiland anzulaufen. Es gab schließlich genug davon, da die Bermudas aus mehr als dreihundert kleinen und kleinsten Inseln bestanden. Moreno wagte nicht zu protestieren. Hinter den Seewölfen stolperte er weiter, zurück zur Südküste, und ließ schicksalsergeben den Kopf hängen, als sie mit dem Beiboot wieder zur „Isabella“ pullten. Als er seinen Landsleuten mitteile, was passiert war und was die Seewölfe beschlossen hatten, erhob sich erschrockenes Gemurmel. Bleiche Gesichter wandten sich Hasard zu. Die Spanier standen auf der Kuhl wie eine Hammelherde, wenn es donnerte. Fast konnten sie einem leid tun. Aber Hasard brauchte nur an Bill und das Geschick der unglücklichen Neger zu denken, um diese nachgiebige Regung sofort wieder abzuschütteln. Sehr kleinlaut fragte einer der Spanier, ob es nicht vielleicht möglich sei, sie auf einer anderen Insel auszusetzen, doch der Seewolf schüttelte nur den Kopf. „Wenn ihr auf eine andere Insel wollt, müßt ihr schon ein Boot bauen“, sagte er hart. „Die nötigen Werkzeuge und eine Seekarte werden wir euch dalassen. Shane, ist die Ausrüstung für die Kerle bereit?“ „Aye, aye“, brummte der ehemalige Schmied und Waffenmeister. Den Spaniern wurden ein paar Säcke übergeben, die das Nötigste enthielten, was sie brauchten, um sich am Leben zu erhalten. Sie wagten keinen Widerspruch mehr. Noch vor ein paar Stunden hatten sie alle geglaubt, schon den Strick um den Hals zu fühlen. Die Rahnock schwebte immer noch als drohender Schatten über ihnen, und die grimmigen Gesichter der Seewölfe sagten ihnen, daß sie froh sein konnten, so billig davongekommen zu sein. Sie hatten es plötzlich eilig, abzuentern und in das Beiboot zu klettern.
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Ed Carberry und Ferris Tucker bewachten die ganze Bande - und unter ihren Blicken pullten die Spanier wie die Wilden, hoben kaum die Köpfe und gaben keinen Mucks von sich. Den Totenkopf auf der Stange streiften sie mit unbehaglichen Blicken, aber offenbar überwog die Erleichterung, dem rothaarigen Riesen und dem Profos mit dem wüsten Narbengesicht zu entrinnen, die beide so aussahen, als würden sie die Spanier am liebsten doch noch massakrieren. Erst ganz zum Schluß warf Ferris Tucker Moreno die Muskete zu. Der hatte immerhin Anstand genug, sich zu bedanken, und dann standen die elf Männer zusammengedrängt am Strand und erweckten einen ausgesprochen belämmerten Eindruck, während sie dem davongleitenden Boot nachblickten. Die „Isabella“ ging ankerauf. Ihre Segel blähten sich, majestätisch rauschte sie unter Vollzeug nach Westen. Die Männer am Strand der Insel mit dem unheimlichen Totenkopf-Zeichen ahnten, daß es eine ganze Weile dauern konnte, bis sich ein spanisches Schiff hierher- verirrte, das sie mit zurück in die Heimat nehmen würde. Gelbe Wolkenbänke schoben sich über die südliche Kimm. Der Seewolf stand an der Schmuckbalustrade des Achterkastells und spähte mißtrauisch zum Himmel. Unten auf der Kuhl tat Ed Carberry das gleiche. Smoky schnitt ein Gesicht, das ungefähr besagen sollte, er habe es ja von Anfang an gewußt. Von Anfang an, das hieß, seit dem Zeitpunkt, als sie beschlossen hatten, das Geisterschiff mit der schwarzen Flagge und dem Gerippe an der Großrah zu verfolgen. Ein Mehrheitsbeschluß. Normalerweise gab es an Bord eines Schiffs zwar keine Diskussionen und Abstimmung, der Kapitän kam gleich nach dem lieben Gott, und seine Befehle waren eherne Gesetze, aber in diesem Fall hatte Hasard eine Ausnahme von der Regel gemacht. Er selbst brannte darauf, das Geheimnis der
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merkwürdigen Galeone zu entschleiern, Rätsel hatten ihn schon immer unwiderstehlich dazu verlockt, sie zu lösen. Aber er wollte seine Männer nicht zu einem Abenteuer zwingen, das ihnen widerstrebte. Wenn sie sich vor Gerippen fürchteten, würde man sich eben wieder um fette spanische Schatzschiffe kümmern. Das hatte er ihnen deutlich gesagt und damit im Grunde bereits die Antwort vorweggenommen. Gerippe hin, Totenköpfe her, daß sie sich fürchteten, wollten sie natürlich nicht auf sich sitzenlassen. Old O'Flynn hatte irgend etwas von „das Schicksal herausfordern“ gemurmelt. Aber als der Seewolf die Hand hinter das Ohr legte, als habe er nicht verstanden, stampfte der alte Mann nur- wütend mit seinen Krücken auf und erklärte laut und deutlich, er warte nur darauf, den komischen Totenschädel-Typen noch einmal zu begegnen. Dann werde er nämlich sein Holzbein abschnallen und es ihnen nach altbewährter Manier um die nicht mehr vorhandenen Ohren schlagen jawohl! „Fein“, hatte Hasard gesagt. Smoky ließ seine zweifellos vorhandenen Bedenken gar nicht erst laut werden. Aber jetzt beobachtete er den Himmel, furchte heftig die Stirn und brachte durch sein Mienenspiel zum Ausdruck, daß man sich nicht zu wundern brauche, wenn sich in der Nähe eines Geisterschiffs Stürme zusammenbrauten. Philip und Hasard hockten auf der Nagelbank und weihten einen höchst interessierten Zuhörerkreis von Freiwächtern in die Geheimnisse der ägyptischen Djinni-Jagd ein. Mit Djinni kannten sie sich aus. Ein probates Mittel, hörte der Seewolf, seien blaue Handabdrücke an allen möglichen Stellen, je mehr, desto besser. Wenn man die richtigen Zaubersprüche kenne, könne man so einen Djinn außerdem in einer Flasche fangen. Einer leeren, wie sich von selbst verstand. Das war ein Punkt, der allgemeinen Anklang fand. Um eine leere
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Flasche zu gewinnen, mußte man ja zunächst einmal eine volle lenzen. In die Augen der Zuhörer trat ein begehrliches Funkeln, aber sie sahen selbst ein, daß die Geisterjagd nicht als Begründung für eine Extraraton Rum herhalten konnte. Erstens waren keine Geister zu sehen, und zweitens handelte es sich bei ihren Gegnern auf jeden Fall nicht um orientalische Djinni, die sich so mir nichts, dir nichts auf Flaschen ziehen ließen. Die Zwillinge verfügten offenbar über einen schier unerschöpflichen Vorrat an Gespenstergeschichten. Siri-Tong lächelte. Sie stand neben dem Seewolf auf dem Achterkastell und ließ ihr Haar fliegen. Hasard beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Sie bemerkte es nicht, und vielleicht war das der Grund dafür, daß er plötzlich einen neuen, weicheren Zug in ihrem schönen, sonnengebräunten Gesicht sah. Auch Siri-Tong hatte sich verändert, wie sie alle. Sie war reifer und weiblicher geworden. Noch vor ein paar Jahren, wurde Hasard bewußt, hätte sie sich vermutlich empört dagegen verwahrt, sich um zwei Jungen zu kümmern. Jetzt tat sie es ganz selbstverständlich, und das Verhalten der Zwillinge verriet deutlich, daß es ihr inzwischen gelungen war, zumindest den Respekt dieser beiden Rangen zu gewinnen. „Schiff ho!“ ertönte Bills Stimme aus dem Großmars. „Genau voraus! Ein Dreimaster auf Westkurs!“ Hasard setzte das Spektiv an die Augen. Das Geisterschiff? Er konnte es nicht entscheiden. Eine halbe Stunde noch, dann würden sie zumindest die schwarze Flagge erkennen können, vielleicht auch das Gerippe an der Großrah, falls es immer noch dort baumelte. Aber eine halbe Stunde war lang. Die Wolkenbänke im Süden türmten sich immer höher, die See hatte die Farbe von grauem Blei angenommen, es würde nicht lange dauern, bis der Sturm losbrach.
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Hasard ließ Manntaue spannen, die Luken verschalken und die schweren Trossen unter Deck zum Laufen klarlegen. Er vergaß das Geisterschiff. Die Crew vergaß es ebenfalls und begann stattdessen, die übliche fieberhafte Tätigkeit zu entfalten, zu der das drohende Wetter sie zwang. Sie kannten sich aus in diesem Teil der Welt. Der Sturm, der sich da zusammenbraute, würde knüppeldick werden, und die Sicherheit des Schiffs hatte Vorrang vor allen Geistern, Teufeln und Dämonen. Eine Viertelstunde später erstarb auch der letzte Hauch einer Brise.
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Die Segel killten. Schwüle Luft drückte schwer und lastend auf die Männer herab, die See schien träge wie geschmolzenes Blei zu schwappen. Die Seewölfe kannten diese zähe Stille, die Ruhe vor dem Sturm, und in den nächsten Minuten bereiteten sie sich auf einen Kampf vor, der ihnen alle Kraft abfordern würde. Ein neuer Südsturm. Wieder würde es sie weit nach Norden verschlagen, das stand schon jetzt fest. Die Schlangeninsel war fern, und was sie erwartete, mochte der Himmel wissen. Aber sie hatten schon viele Stürme erlebt, und niemand zweifelte ernstlich daran, daß sie auch diesen überstehen würden...
ENDE