Marc Tannous & Manfred Weinland
Vergessene Welten Bad Earth Band 4
ZAUBERMOND VERLAG
Die RUBIKON operiert im galakt...
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Marc Tannous & Manfred Weinland
Vergessene Welten Bad Earth Band 4
ZAUBERMOND VERLAG
Die RUBIKON operiert im galaktischen Zentrum, wo sie mit einer bislang unbekannten Macht konfrontiert wird. Auf der Suche nach Saskana, der Heimatwelt des verstorbenen Gefährten Boreguir, werden John Cloud und seine Crew Zeugen eines Raumgefechts. Eine golden schimmernde Kugel wird von einem Schwarm grüner Schiffe attackiert … und schließlich vernichtet. Die RUBIKON kann nur noch ein zylindrisches Objekt bergen. An Bord geholt, verwandelt es sich in eine humanoide Gestalt, die sich Fontarayn nennt. Fontarayn gehört dem mysteriösen Volk der Gloriden an, ist eigentlich ein Energiewesen, kann sich aber auch stofflich materialisieren. Der Gloride führt die RUBIKON hinter den Ereignishorizont des Milchstraßen-Super-Black-Holes, wo sich eine Basis befindet, die er als CHARDHIN-Perle bezeichnet. Die Perle gehört zu einem universellen Netz von so genannten PermaStationen, die zu jeder Zeit existieren … bis hin zu den ersten Anfängen des Universums, wie Fontarayn beteuert. Gleichzeitig räumt er ein, die Erbauer nicht zu kennen, obwohl sein Volk die Perlen seit einer kleinen Ewigkeit wartet und verwaltet. Doch die hiesige Perle ist verwaist, entvölkert. Mit Mühe kann die RUBIKON-Crew den Gefahren der Station entkommen. Wieder heil zurück im Normalraum begegnen sie dem Retter ihres auf Saskana verschollenen Gefährten Jiim, einem weiteren Gloriden namens Ovayran. Zum ersten Mal erfahren sie etwas über die Treymor, die Saskana unterjochen und für die Vernichtung von Fontarayns Schiff verantwortlich sind. Und dann behaupten die Gloriden, den »Tarnmantel«, der um Saskana und ein Gebiet von etwa 18 Lichtjahren Durchmesser liegt, aufheben zu können. Was auch geschieht. Das Abenteuer geht weiter, erste Antworten auf das große Rätsel warten …
Prolog Die Simulation war täuschend echt. Die Abenddämmerung brach über den kleinen Wald herein. Die Sonne war bereits versunken; eine in diesem Bereich rot und düster glühende Sonne, genau abgestimmt auf die hiesige Vegetation. Auch die Bäume, die sich in unregelmäßigen Abständen aneinander reihten und die kleine Lichtung säumten, hatten die Erde nie gesehen; ihre Art war dort nicht einmal heimisch, sondern entstammte einem seltsamen kleinen Planeten, bei dem die RUBIKON auf ihrem Weg ins Milchstraßenzentrum kurzen Halt eingelegt und sich versichert hatte, dass niemand – kein anderes Schiff, sei es nun Erinjij-, Jay'nac- oder welcher Herkunft auch immer – ihr folgte. Es waren unsichere Zeiten, der Friede so zerbrechlich, dass es keinen an Bord gab, der ihm nicht auch misstraute. Sosehr er ihn genoss. »Bist du fertig?«, fragte Jelto. Er hatte eine Schürze umgebunden, die so gar nicht zur bläulich schimmernden Kleidung, einem Overall aus Seshas Fundus, passen wollte. Den Overall hatten einmal Foronen getragen oder tragen sollen, die Schürze war neu, war ganz und gar auf dem Mist des Florenhüters gewachsen, inspiriert von Erzählungen Scobees. Die GenTec, wie Jelto eine in-vitro-Geborene, hatte mit dem Klon mit der Kirlianaura ein wenig über die Welt geplaudert, in der sie aufgewachsen war. Dabei war es weniger um die besonderen Umstände gegangen, die mit dem Programm zusammenhingen, das die NCIA in enger Zusammenarbeit mit Dr. Xander Hays initiiert hatte, als vielmehr darum, ihm die Lebensumstände normaler Menschen zu beschreiben. Menschen mit Berufen wie beispielsweise … Gärtner. Jelto hatte jedes Wort darüber aufgesogen wie ein trockener Schwamm. Und irgendwo waren dabei Schürzen als typisches Merkmal eines Gärtners von damals zur Sprache gekommen. Seither
trug auch er eine bei jeder sich bietenden Gelegenheit, manchmal auch bei höchst unpassenden. Momentan passte es, fand er. Und so gern er es gesehen hätte, Aylea hatte sich vom neuesten Modetrend im hydroponischen Garten der RUBIKON noch nicht anstecken lassen wollen. »Gleich«, sagte die Zehnjährige. Sie kniete auf der Lichtung, hatte sich vorgebeugt und drückte mit den kleinen Fäusten Erde gegen den Ballen des Zöglings, den Jelto ihr gegeben hatte, um ihn einzupflanzen. Sie ist mager geworden, dachte er beiläufig. Die Dinge waren nicht spurlos an ihr vorbeigegangen, hatten außen wie innen Narben und Spuren hinterlassen. Wenigstens schien sie psychisch wieder stabiler zu sein. Woran auch die »Beschäftigungstherapie« schuld sein mochte, die sich ihr Freund für sie ausgedacht hatte. Ja, sinnierte der Mann, dessen Haut schwach leuchtete, als befänden sich überall in seinem Körper Lampen, die mal stärker, mal schwächer leuchteten, je nachdem, was er gerade tat. Ich bin ihr Freund. Ich mochte sie gleich vom ersten Tag. Sie ist die Tochter, die ich nie haben werde. Ein Florenhüter konnte keine eigenen Kinder zeugen – eines von vielen pervertierten Gesetzen der Keelon-Master. Früher hatte sich Jelto selten damit auseinander gesetzt. Aber seit Verlassen der Waldparzelle, die er auf der Erde gehegt und gepflegt hatte, kam es immer häufiger zu Momenten, in denen er unter dieser Beschneidung seiner Persönlichkeit litt. Umso weniger verstand er, wie Ayleas Eltern es einfach hatten zulassen können, dass ihre Tochter ins Getto deportiert worden war. Er wartete geduldig, bis das Mädchen seine Arbeit gewissenhaft beendet und sich erhoben hatte. »Du musst ihn noch angießen«, sagte er. »Ich weiß.« Sie hatte bereits die etwas abseits stehende, noch halb volle Gießkanne ins Auge gefasst, ging jetzt darauf zu. »Einer ist noch übrig«, sagte Jelto, als sie die Erde an den Wurzelballen des künftigen Busches geschlämmt hatte, der einmal prächti-
ge Farbtupfer auf die Lichtung zaubern würde. »Soll ich …?« Sie schüttelte so entschieden den Kopf, dass ihr langes Lockenhaar hin und her peitschte. »Nein! Das übernehme ich! Bitte. Es macht solchen Spaß!« Das sah er ihr an. Er nickte. »Aber achte auf Abstand. Mindestens fünf Schritte zum nächsten Gewächs.« Er hatte ihr erklärt, wie wichtig Freiräume für Pflanzen waren, wollte man ihr optimales Gedeihen erreichen. Es war wie bei Menschen. »Was hältst du von dem zweiten?«, fragte Aylea, während sie den letzten Strauch dicht über dem Ballen packte und zu der Stelle trug, die sie für ihn ausgewählt hatte. »Strauch?«, fragte Jelto. »Gloriden«, sagte Aylea. Der Florenhüter musste schmunzeln. »Wie kommst du gerade jetzt darauf?« »Immerhin hat er uns Jiim zurückgebracht.« »Natürlich, das ist erfreulich.« »Mehr nicht?« »Was meinst du?« »Ich meine: Traust du ihm? Traust du ihnen?« »Den Gloriden?« Sie nickte ungeduldig, während sie begann, mit ihren bloßen Händen die erforderliche Grube auszuheben. »Ja, beim Packa!« »Diese Frage solltest du vielleicht besser John stellen. Ob ich ihnen traue, hat wenig Relevanz.« »Ich finde, es geht uns alle an.« »Wie uns alles alle etwas angeht«, lächelte er. »Wir leben nun mal auf diesem Schiff. Es ist unsere Heimat geworden. Und wenn die RUBIKON bedroht wird, in Gefahr gerät, sind wir davon unmittelbar betroffen. Aber das wussten wir von Anfang an. Dies ist ein Raumschiff. Es fliegt durch den Raum. Und damit ist es immer gefährdet. Gäbe es keinen, der die Entscheidungen trifft, wäre das Maß möglicher Gefährdungen eher noch größer, meinst du nicht auch?« Sie zog einen Flunsch, fühlte sich missverstanden. »Ich stelle Johns
Position nicht in Frage. Ich kenne ihn seit dem Getto. Ich weiß, dass ich nicht mehr am Leben wäre, hätte er sich meiner nicht angenommen. Aber Fontarayn hat bewiesen, wie mächtig er ist. Und ein zweiter Gloride an Bord, dessen Ankunft unter noch ominöseren Umständen erfolgte, weckt meine Instinkte.« Jelto stellte sich neben Aylea, die ein etwa knietiefes Loch ausschaufelte. Der Boden war locker und duftete, wie Waldboden duften musste, durchwoben von Milliarden Mikroorganismen und Würmern. »Was du ominöse Umstände nennst«, sagte er, »war Jiims Rückkehr – genau genommen seine Rettung. Ovayran brachte ihn von Saskana zurück –« »– wo er ihn«, fiel ihm Aylea, ohne aufzublicken, ins Wort, »wenn ich das richtig verstanden habe, ja auch entführte.« »Du hast es richtig verstanden, legst in diesem Fall das Wort ›entführt‹ etwas zu eng und negativ aus, meine Liebe.« Jetzt blickte sie auf. Ihre Augen sprühten Feuer. Sie mochte es nicht, »meine Liebe« genannt zu werden – auch nicht von ihrem besten Freund. »Das ist Wortklauberei. Du weißt genau, worauf ich hinauswill. Ovayran war, wie er angibt, Bewohner der goldenen Station, die hinter dem Ereignishorizont des Milchstraßen-Black-Holes liegt. Und über deren genaue Bedeutung wir immer noch fast nichts wissen. Es geistern Begriffe wie ›Perle Chardhin‹ oder ›Ewige Kette‹ durch die Schilderungen der Gloriden, aber was genau diese Perlen tun, was sie bewirken und wozu sie einst erbaut wurden, wollen uns Fontarayn und sein Kumpel nicht verraten.« Jelto wartete, bis Aylea wieder fortfuhr, das Pflanzloch auszuheben. Dann sagte er: »Offenbar handelt es sich bei der Ewigen Kette um ein Universum weites Transportsystem, das im Fall der hiesigen Perle jedoch offenbar durch äußeren Eingriff gestört wurde und nicht mehr ans Netz der vermuteten Abermilliarden anderen Stationen angeschlossen ist. Fontarayn kam von der in Andromeda befindlichen Chardhin-Perle in die Milchstraße, um nach der Ursache der Störung zu forschen. Dabei wurde sein Schiff mit sämtlichen anderen Gloriden an Bord von den grünen Ringschiffen, die auch uns attackierten, angegriffen und zerstört. Nur er selbst überlebte, und
wir nahmen ihn an Bord.« Aylea schwieg. »So weit Fontarayn«, fuhr Jelto fort. »Sein Artgenosse Ovayran wiederum gelangte nach Saskana, Boreguirs Heimatwelt, und wurde dort von Unbekannten abgeschossen. Er überstand den Absturz, sein Schiff, mit dem er sich aus der Milchstraßen-Perle vor denjenigen rettete, die seine dortige Heimat in einem Phantomschiff enterten und sämtliche Gloriden in Blockfallen zu fangen versuchten, nicht. Es ging völlig zu Bruch, sodass er Saskana nicht mehr verlassen konnte. Er unternahm Erkundungen und stellte fest, dass Saskana längst nicht mehr den Saskanen gehörte, sondern von käferartigen Fremden kontrolliert wird, über die er zwar Näheres herauszufinden versuchte, dies aber nicht schaffte. Im Gegenteil, fast wäre ihm seine Wissbegier endgültig zum Verhängnis geworden … Und dann entdeckte er unser Außenteam, das wir mit der Transportkapsel zu einer uralten Foronenstation auf dem verborgenen Planeten schickten. Er beobachtete … und wählte sich die ihm am vielversprechendsten erscheinende Figur aus. Das war Jiim in seinem goldenen Nabiss.« Jelto machte eine kurze Pause. Aber von Aylea kam immer noch keine Reaktion. »Ich halte es für legitim, dass er nach dem erstbesten Strohhalm griff, der sich ihm bot, um vielleicht doch noch eine Möglichkeit zu finden, Saskana wieder zu verlassen. Die Übernahme eines Schiffes der Käfer scheiterte kläglich, wenn du dich an seinen Bericht erinnerst, den wir über das interne Bord-Kom-System verfolgten. Und als er die Möglichkeiten von Jiims Nabiss erkannte … nun, er tat, was jeder von uns getan hätte, wenn er die dazu erforderlichen Voraussetzungen gehabt hätte. Er nutzte die besondere Ganf-Rüstung, um Saskana zu entkommen, quasi in Jiims ›Gepäckfach‹ … Seither ist auch er bei uns. Wir haben ihn aus dem All gefischt.« Er kickte ein ganz klein wenig Erde zurück in das von Aylea geschaffene Loch, wollte sie damit provozieren – und schaffte es auch. Während sie ihn zornblitzend ansah, fragte er betont gelassen: »Was ist daran ominös?«
»Ich mag ihn einfach nicht! Reicht das nicht?« »Eigentlich … nein.« »Es wäre anders …«, begann sie in etwas versöhnlicherem Ton, stockte aber. »Ja?« Sie gab sich einen Ruck. Die Sommersprossen und der Ärger in ihren blauen Augen wollten einfach nicht zusammenpassen. »… wenn er etwas wäre, das ich mir vorstellen kann. Er und Fontarayn … Sie sind so – abgehoben.« »Weil sie wahlweise energetische und materielle Gestalt annehmen können?« »Vielleicht …« »Es ist auch schwer vorstellbar, ich weiß. Aber das Universum ist voll von wundersamen Lebensformen. Sollten wir uns nicht freuen, sie schauen zu dürfen? Sieh dir nur Jiim an, oder Algorian, Jarvis in seinem neuen Körper …« »Cy«, nannte sie einen, den er noch nicht aufgezählt hatte. Und auch nicht hatte aufzählen wollen. Weil er um Ayleas Eifersucht, das Pflanzenwesen betreffend, wusste. Und sie nicht neu entfachen wollte. Sie selbst schien sich diese Schranke nicht auferlegen zu wollen. Und sie hatte es in einem beinahe normalen Ton gesagt. »Das sind nur wenige Beispiele, darüber hinaus begegneten wir den Satoga, den Keelon, den Jaroviden … Soll ich sie wirklich alle aufzählen?« »Nein. Aber –« Sie hielt inne. Stutzte. Sah zu Jelto auf, der nur fragend schaute … und fing dann plötzlich an, in dem Erdloch zu wühlen. Der Florenhüter wartete geduldig, bis sie erneut innehielt und dann mit vorsichtiger Bewegung etwas aus dem Erdreich hervorzog. Etwas, das darin gelegen haben musste. Es war voller Schmutz und zunächst nicht identifizierbar. Nicht einmal andeutungsweise. »Was ist das?«, fragte Aylea. »Das wüsste ich selbst gern. Es gibt keine Steine dieser Größe im Garten. Es muss …« Er wusste nicht, was es sein konnte.
»Es ist schwer«, sagte Aylea und wischte mit der rechten Hand über das Ding, während die linke es festhielt. Es hatte die Form eines unregelmäßig dicken, etwa unterarmlangen Dreiecks, umkrustet von Erde. »Sesha!«, wandte sich Jelto an die allgegenwärtige Schiffs-KI. »Florenhüter?« Er zeigte auf den Gegenstand in Ayleas Händen. »Was ist das?« Die Antwort kam ohne das geringste Zögern. »Unbekannt.« »Unbekannt?« Jeltos Augen weiteten sich. »Mir war nicht bekannt, dass es irgendetwas an Bord gibt, über das du keine Informationen hast. Selbst der Sand hier, jede Pflanze … gingen durch deinen Sicherheitscheck oder wurden aus der Substanz der RUBIKON hergestellt. Wie kann es da sein –« »Wasser«, sagte Aylea in diesem Augenblick. »Wie?« Er blickte irritiert zu ihr. »Ich brauche Wasser, am besten einen ganzen Eimer voll. Oder wir müssen hinüber zum Bassin. Die Kanne, mit der ich die letzte Pflanze einschlämmte, ist leer.« »Du willst es waschen?« Sie nickte. »Ich will es genau betrachten können. Der Dreck ist zu hartnäckig. So krieg ich ihn nicht ab. Ich –« Irgendwo hinter Aylea entstand Bewegung, und kurz darauf huschte einer der spinnenartigen Roboter heran, die es in unterschiedlichen Größen und für unterschiedliche Aufgaben gab. Dieser hier maß ungefähr so viel wie eine irdische Riesenschildkröte, und auf seinem Rücken, festgehalten von mehreren mechanischen Gliedmaßen, die für die Fortbewegung entbehrlich waren, ruhte ein Gefäß voll mit kristallklarem Wasser. Trotz der schnellen Bewegung der Maschine schwappte kein Tropfen über. »Genügt das?«, fragte Sesha. »Perfekt«, freute sich Aylea und wartete, bis der Roboter neben ihr stoppte. Nach kurzem Überlegen tauchte sie das ausgegrabene Dreieck ins Wasser, das damit die längste Zeit klar gewesen war. Und nicht nur das. Es zischte. Zischte, als wäre es eben noch glühend heiß gewesen und nun radikal heruntergekühlt worden.
Vor Schreck ließ Aylea los. Der Fund trudelte zum Grund des Gefäßes. Jelto schob sich hinter das Mädchen und legte beruhigend beide Hände auf ihre Schultern. »Keine Sorge. Es kann nichts passieren.« Er dachte gar nicht darüber nach, wie wenig Widerhall diese Behauptung in ihm selbst fand. »Sesha? Was, bei den Strotos-Kakteen, ist das?« Das kurzzeitig in Aufruhr geratene Wasser – es hatte regelrecht gebrodelt – hatte sich wieder geglättet. »Negativ«, sagte die KI. »Negativ?« »Ich weiß es nicht. Aber ich kann versuchen, es zu analysieren.« »Es könnte gefährlich sein.« Es fiel ihm nicht einmal auf, dass er damit seiner eigenen Aussage gegenüber Aylea widersprach. »Ich werde es beachten und nach weiteren Gefahrenpunkten suchen.« Was sie damit meinte, wurde im nächsten Moment klar, als vor dem Florenhüter und dem Mädchen ein Hologramm in der Luft erschien, das den gesamten Komplex des hydroponischen Gartens zeigte. Es war eine stark miniaturisierte Realansicht, keine Simulation. Im Bereich des gezeigten Waldes konnte Jelto sogar sich selbst und Aylea in Kleinstform ausmachen. Bei ihnen war eine rote Markierung eingeblendet. Und außer dieser gab es noch ein gutes Dutzend weiterer, die über den restlichen Garten verstreut waren. »Sesha«, ergriff Jelto mit rauer, fast heiserer Stimme das Wort. »Bedeutet das, was ich denke, das es bedeutet?« »Ich bin nur begrenzt telepathisch«, erwiderte die KI trocken. »Aber es bedeutet, dass sich innerhalb der von dir angelegten Landschaften nunmehr insgesamt vierzehn Objekte befinden, über die mir keinerlei Informationen vorliegen – und die bei keinem der früheren Routine-Scans da waren.« Jelto tauschte einen Blick mit Aylea, die ebenso ratlos schien wie er selbst. »Aber –« »Ich werde die Roboter entsenden, um sie auszugraben und si-
cherzustellen. Als Nächstes muss ich den Commander informieren, der allerdings gerade mit aus dem Nichts materialisierten Objekten gewaltigeren Ausmaßes konfrontiert wurde.« »Wovon redest du?« »Von Sonnen und Planeten«, sagte Sesha. »Die Gloriden haben uns soeben auf ein anderes … ich finde keinen anderen Ausdruck dafür … Realitätsniveau gehoben, das gesamte Schiff, und seitdem existiert die achtzehn Lichtjahre durchmessende Leerzone, in der wir bislang operierten, nicht mehr. Außerdem wurde gerade von mir höchste Alarmstufe ausgelöst. Alles deutet auf die Annäherung eines unter Volltarnung liegenden Raumschiffs hin.«
1. Kapitel Das Phantom raste heran. Es war nicht mehr als eine Markierung, die Sesha in die Holosäule setzte, die sich zwischen den sieben Kommandositzen in der RUBIKON-Zentrale vom Boden bis zur Decke spannte. Die Sarkophagsitze waren nach innen gedreht, sodass jeder, der darin Platz genommen hatte, automatisch in die 3D-Projektion blickte, in der der äußere Weltraum wiedergegeben wurde. Sesha hatte eine Segmentierung vorgenommen. Verschiedene Sektionen innerhalb des Holoramas zeigten unterschiedliche Motive. Der größte Bereich widmete sich der 18-Lichtjahre-Region, in der die RUBIKON seit geraumer Zeit kreuzte. Ein anderes Fenster zeigte das Rochenschiff und seine unmittelbare Umgebung, aus der sich das schwer zu ortende Phantom mit hoher Geschwindigkeit näherte. Darüber hinaus hatten die Langstreckensensoren gerade mit Ovayrans Hilfe Saskana erfasst und das Muttergestirn der Saskanenwelt herangezoomt. Dorthin war die RUBIKON unterwegs gewesen, als sie Jiim mit dem Gloriden aus dem Weltraum fischte – und zu diesem Zeitpunkt waren Saskana, seine Sonne und Hunderte andere Sterne im Radius von 18 Lichtjahren noch völlig unsichtbar gewesen. Auf allen Ebenen. Erst Ovayran und Fontarayn hatten den Schleier gehoben, das scheinbare Vakuum mit … Realität gefüllt. Und kurz darauf hatte Sesha Alarm geschlagen. »Schmiegschirm wurde wie befohlen verstärkt«, meldete die KI gerade. »Erwarte weitere Befehle.« »Zu gegebener Zeit«, sagte Cloud, dessen Sarkophagsitz wie die der anderen immer noch offen war. Seine Hände lagen auf den Kontaktstellen der Armlehnen, über die er die RUBIKON manuell steuern konnte. Aber es bedurfte nur einer einzigen Schaltung, um den
Sitz rundum zu schließen und ihn wie hinter einem Gehäuse, das seine Körperkonturen nachzeichnete, verschwinden zu lassen. Von diesem Moment an, sollte er sich dazu entschließen, würde er in einer Weise mit der RUBIKON verschmelzen, dass er seinen eigenen Körper und dessen beschränkte Sinne nicht länger bewusst wahrnahm – dafür umso intensiver die kybernetischen Sensoren und das Instrumentarium des Schiffes. Mit Schließen des Sarkophags wurde er das Schiff. Es war ein immer wieder aufs Neue faszinierender, zugleich aber auch beängstigender Akt. Er hatte sich oft gefragt, wie die Foronen, die ursprünglichen Herren des Schiffes, diesen Vorgang empfunden haben mochten. Insbesondere bei Sobek, dem Sprecher des Septemvirats, konnte er sich ohne Mühe vorstellen, dass es seine Selbstherrlichkeit und Arroganz noch potenziert hatte. Wie ein Gott, dachte er, wie ein Gott hat er sich gefühlt. Es ist, als lege man alle Fesseln … aber auch alle Schranken ab. Er selbst hatte Mühe, in solchen Phasen nicht die Kontrolle über sich zu verlieren. Manchmal hatte er nahe davor gestanden, auch alle Hemmungen, alle moralischen Skrupel abzustreifen … Das durfte nie geschehen. Es wird nie geschehen, beruhigte er sich. Foronen und Menschen unterscheiden sich sowohl in ihrer Mentalität als auch in ihrem Metabolismus. So umfassend, dass er ohne inneren Vorbehalt mit dem Schiff verschmolz, traute er dieser Einschätzung aber selbst nicht. »Zu gegebener Zeit?«, brauste die Frau auf, die links neben ihm saß. Im Tiefschwarz ihrer Augen blitzte es, als würden Funken eruptieren. Es war nicht Scobees Normalaugenfarbe. Die war jadegrün. Dass sie jetzt so verändert wirkten, konnte nur auf die extreme Stresssituation zurückzuführen sein. Oder sie hat auf Infrarotsicht umgeschaltet, dachte Cloud. Aber warum sollte sie? Vielleicht, um die Gloriden auf diese Weise zu betrachten? Fontarayn und Ovayran hatten auf Clouds Geheiß in zwei weiteren Sitzen Platz genommen, schräg gegenüber und damit teilweise verdeckt
oder überlagert von der Holosäule. Ein Sitz war leer, und auf den beiden anderen saßen Jiim und Algorian, während Jarvis stehend hinter Jiim Position bezogen hatte. Es wirkte fast, als wollte er verhindern, dass der Narge noch einmal von irgendeiner Kraft aus den Reihen seiner Freunde entführt werden konnte. Der von Jarvis' Bewusstsein beseelte Nanokörper war einmal die Amorph-Rüstung eines der Hohen aus dem Septemvirat der Foronen gewesen – bis Sobek sie dem sterbenden GenTec als Ersatzkörper geschenkt hatte. Daraus zu schließen, bei Sobek handele es sich um einen Menschenfreund, wäre jedoch die größte Fehleinschätzung dieses Jahrtausends gewesen. Er und seine Artgenossen waren es gewohnt, andere Intelligenzen als minderwertig zu betrachten und im günstigsten Fall mit ihnen zu spielen. Dass es Cloud und seinen Gefährten gelungen war, die RUBIKON in ihre Gewalt zu bekommen, war die vielleicht herbste Niederlage, die dieses Volk je hatte hinnehmen müssen – abgesehen von der Meganiederlage, die ihnen die Virgh vor Jahrzehntausenden in ihrer Urheimat Samragh zufügten. »Sollten wir nicht«, fügte Scobee etwas gemäßigter hinzu, »präventiv handeln?« »Das tun wir. Ich habe die Schilde verstärkt.« »Ich würde unter präventiv etwas anderes verstehen«, mischte sich Jarvis ein. Seine inzwischen stark verbesserte, zu Zwischentönen fähige Kunststimme schien aus jeder »Pore« seines Nanokörpers hervorzutreten. »Das weiß ich«, sagte Cloud mit unbewegtem Gesicht. »Das könnte mit ein Grund dafür sein, weshalb ich das Kommando innehabe.« »Das wiederum würde mich wundern.« Es sah tatsächlich so aus, als würde sich auf Jarvis' »Gesicht« ein hintergründiges Lächeln bilden. »Hätte Sesha nach einem Sobek-Nachfolger mit ›foronischen Qualitäten‹ gesucht, hätte eigentlich doch wohl ich erste Wahl sein müssen …« Das war maßlos übertrieben, aber auch nicht ganz ohne ein Körnchen Wahrheit. Zu »Lebzeiten« war Jarvis durchaus dafür bekannt – manche sagten berüchtigt – gewesen, erst zu schießen und dann den
Versuch zu starten, in Verhandlung mit einem Gegner, und sei es nur ein mutmaßlicher, zu treten. Aber Jarvis hatte, wie sie alle, eine Wandlung vollzogen, und inzwischen schätzte ihn Cloud als verlässlichen, loyalen Gefährten, an dem er den bisweilen bissigen Sarkasmus gar nicht hätte missen mögen. »Wir können Sesha gern auf ihren ›Irrtum‹ ansprechen und deine Qualitäten vertiefend erörtern – aber ein anderes Mal, ja? Momentan scheint mir der Zeitpunkt eher ungünstig.« Wie zur Bestätigung meldete die KI: »Rendezvous mit dem Phantom in einer Minute und achtundvierzig Sekunden … einer Minute und vierzig Sekunden …« »Ich würde mich wohler fühlen, wenn du die K-Waffe wenigstens scharf machen würdest.« Scobee zwinkerte ihm zu. Ihre Züge waren in den letzten Monaten gereift; damals, während des Fluges zum Mars, hatten sie noch – was Täuschung genug war, bedachte man ihre Mission und Herkunft – regelrecht weich gewirkt. Inzwischen waren sie schmaler geworden, wodurch sich eine gewisse Strenge und ein Ernst, der der Lage durchaus angemessen war, eingeschlichen hatte. Cloud mochte die »neue« Scobee bedeutend lieber als die alte. Er hatte diese Zeit, die für sie prägend gewesen war, mitgemacht. Es hatte sie zusammengeschweißt. Im Grunde waren sie drei – Scobee, Jarvis und er – die letzten, die von der ursprünglichen Marsmission II übrig geblieben waren. Alle, die sich später zur Crew hinzugesellt hatten, blickten auf einen völlig anderen Werdegang zurück. Am ehesten »dazu« gehörte noch Sarah Cuthbert, die kürzlich mit Prosper Mérimées Truppe zur Mannschaft gestoßen war. Sarah war vor mehr als zweihundert Jahren die letzte Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika gewesen – mit dem Pech, dass ihre Amtszeit ausgerechnet in die Ankunftszeit der Keelon-Invasoren gefallen war. »Das könnte sie unnötig provozieren.« »Sie?« »Die Besatzung des Phantoms.«
»Achtung: Im hydroponischen Garten kam es soeben zu einem Zwischenfall, von dem Konsequenzen zu erwarten sind«, meldete Sesha zwischen zwei Zeitdurchsagen. Im hydroponischen Garten?, dachte Cloud. Was zur Hölle stellt Jelto jetzt wieder an? »Falls davon die Schiffssicherheit nicht unmittelbar bedroht ist, vertagen wir das auf später«, sagte er laut. Und als wäre der Hinweis nie gefallen, zählte Sesha ihren Countdown weiter. »Eine Minute und zehn Sekunden … eine Minute und –« Die Stimme der KI verstummte. Dann sagte sie: »Phantom hat gestoppt, hält Distanz. Vierhundertachtzehntausend Kilometer von der RUBIKON entfernt.« »Sind Aktivitäten messbar, die auf Gefechtsvorbereitungen hinweisen?«, fragte Cloud. »Negativ. Aber uns erreicht gerade ein Funkspruch. Soll ich ihn übersetzen?« Cloud konnte nicht verhindern, dass ihm eine Augenbraue hochrutschte. »Wenn du das kannst.« »Es ist meine … ihr würdet sagen: Muttersprache. Und es handelt sich um eine audiovisuelle Nachricht. Die dazugehörigen Bilder lege ich in die Säule.« »Was hat das zu bedeuten?«, rief Fontarayn. »Wenn das Phantom identisch mit jenem wäre, das die Chardhin-Perle überfiel, könnte dein Schiff gewiss nicht –« Cloud gebot ihm mit unwirscher Geste zu schweigen. Erstaunlicherweise reagierte der Gloride darauf. Und dann erschien das Konterfei eines Foronen in der Holosäule, begleitet von Worten, die bereits Seshas Übersetzungsfilter durchlaufen hatten, was für die meisten Zuhörer nötig war. »Möchtet ihr den alles zerstörenden Kampf – oder eine friedliche Einigung?«, eröffnete der selbst über die Entfernung hinweg Autorität verströmende Forone den Dialog. Gleichzeitig enttarnte sich eine SESHA-Einheit, die der RUBIKON glich wie ein Ei dem anderen.
2. Kapitel Er war ein Mächtigster unter Mächtigen. Geboren, um zu herrschen, andere zu unterjochen. Sie für seine ureigenen Interessen zu benutzen und wegzuwerfen, sobald sie ihren Zweck erfüllt hatten. So war es immer gewesen. Es war eine Denkweise, die einfach der Natur der Foronen entsprach. Sie war nicht »falsch« oder »richtig«, nicht »fair« oder »unfair«, wie es Vertreter niederer Rassen ausgedrückt hätten. Derart unterentwickelte Moralvorstellungen waren nicht geeignet, einem Volk von Herrschern wie dem der Foronen das Überleben zu sichern. Und alles, was für das Volk der Foronen galt, galt für Mecchit in potenzierter Form. Er war einer der Sieben Hohen und gehörte damit jenem Septemvirat an, das einst über die Foronen geherrscht hatte. Doch die glorreichen Jahre – das musste Mecchit sich schmerzhaft eingestehen – waren vorbei. Unwiderruflich? Sicher nicht. Die Flucht vor einem übermächtigen Feind, der Exodus aus Samragh sowie die damit verbundene, Äonen währende Stase in dem ihnen so verhassten Element des Aqua-Kubus … das alles waren Demütigungen, von denen sich die kollektive Seele ihres uralten Volkes lange nicht erholen würde. Dennoch – und auch das war Teil ihres ureigenen Wesens – war es stets die Zukunft, der die oberste Priorität galt. Die Vergangenheit war mitunter nicht mehr als eine Reihe verblassender Bilder ohne Bedeutung. Wichtig war auch nicht, was einmal geschehen war, sondern was bald wieder geschehen würde. Sein Volk in eine neue glorreiche Zukunft zu führen, die mehr war als nur ein Abklatsch vergangener Tage, das hatte sich Mecchit selbst zur Aufgabe gemacht. Doch nie – auch das musste er sich
»zähneknirschend« eingestehen – war er diesem Ziel so fern gewesen. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich nicht mehr wie ein Mächtiger. Zum ersten Mal war es Ohnmacht, die sein Empfinden bestimmte. Es war ein schlimmes Gefühl. Das eines persönlichen Versagens, das noch schwerer wog als die kollektive Niederlage, die seinem Volk vor so langer Zeit widerfahren war. Moaree … Wie von selbst schlich sich der Name der Foronin in seine Gedanken, als sei er für alle Ewigkeiten untrennbar mit dem Begriff der Niederlage verknüpft. Mecchit hatte schon fast geglaubt, sie zu lieben. Und doch hatte er sie, als es darauf ankam, ohne zu zögern geopfert, um sein eigenes Leben zu retten! Aber das war es nicht, was an ihm nagte. Moarees Tod stand in direkter Verbindung mit dem schon fast »grandios« zu nennenden Scheitern einer Mission, zu der er an Bord der SESHA-Einheit 44 aufgebrochen war, als sich Sobek und Siroona seinerzeit auf den Weg nach Samragh gemacht hatten. In der Original- SESHA. Da noch immer damit zu rechnen war, dass die grausamen Virgh weite Teile der früheren Heimat beherrschten, hatten einige der HAKARS – die in der Milchstraße zurückgebliebenen SESHA-Einheiten also – den Auftrag erhalten, nach geeignetem Lebensraum in der Fremde zu forschen. Trotz ihrer generell guten Anpassungsfähigkeit bevorzugten Foronen aufgrund ihrer physischen Konstitution ein trocken-heißes Wüstenklima. Zu Mecchits großer Freude hatte der HAKAR einen Planeten mit eben diesen Bedingungen ausfindig gemacht. Der Hohe hatte es sich nicht nehmen lassen, das Expeditionskommando, das zur näheren Inspizierung entsandt wurde, selbst anzuführen. Noch immer quälte Mecchit sich mit der Frage, ob er dabei nicht zu unvorsichtig gehandelt hatte. Doch hätte er die nachfolgenden Ereignisse, die schließlich zum Tod seines Teams – einschließlich dem von Moaree – geführt hatten, wirklich voraussehen können? Nie in seiner Jahrtausende währenden Lebensspanne war er einem Phänomen begegnet wie jenem, dessen Zeuge er auf dem vermeint-
lich lebensfreundlichen Planeten geworden war. Jenem Planeten, den er zu Ehren eines lange verstorbenen Hohen auf den Namen Jogara getauft hatte. Es war, als sei diese Welt von einer krebsartigen Geschwulst befallen gewesen. Einer grauen amorphen Masse, die sich rasend schnell ausgebreitet hatte und alles verschlang, was sich ihr in den Weg stellte. Noch immer voll Grauen, dachte er daran, was Elohan – jenem seiner Wissenschaftler, den er dazu aufgefordert hatte, den unheimlichen Nebel zu betreten – widerfahren war. (Obwohl es eigentlich Moaree gewesen war, die diese Vorgehensweise gewählt hatte. In mancher Hinsicht war sie ihm verblüffend ähnlich gewesen.) Noch immer hatte Mecchit den Anblick des blutenden Bündels vor Augen, das noch kurz zuvor Elohan gewesen war. Durchbohrt von tausend winzigen, roboterartigen Ärmchen war er aus der Wolke getaumelt – um kurz darauf sein Leben vor ihrer aller Augen auf dem heißen Wüstensand auszuhauchen. Getötet von einem gezielten Strahl aus Moarees Waffe. Eine Aktion, die mit einem gewissen Maß an Realitätsverweigerung als »Nächstenliebe« hätte durchgehen können, letzten Endes jedoch lediglich dazu diente, Elohan und vor allem die Tentakel in seinem Leib von sich fern zu halten. Hätte ein verantwortungsvoller Kommandant spätestens jetzt beschlossen, das Weite zu suchen, so hatte sich Mecchit anders entschieden. Überzeugt davon, dass seine Rüstung ihn schützen würde, war er kurz darauf Elohans Beispiel gefolgt und auf dessen Spuren gewandelt. Er hatte seine Expedition überlebt, doch zu welchem Preis? Dass er in diesem Moment an Bord des HAKARs weilen durfte, hatte er allein Moaree zu verdanken, die ihr – und das Leben aller anderen Expeditionsmitglieder geopfert hatte, um das seine zu retten. Moaree … Mecchit wusste, dass sie ihm auf eine gewisse Art und Weise hörig gewesen war.
Doch wie waren seine eigenen Gefühle ihr gegenüber gewesen? Hatte er überhaupt etwas für sie empfunden? Oder hatte er sie auch nur benutzt, so wie er alle benutzte? Wenn er tief in sich hineinhörte, wusste er die Antwort. Mehr noch als Moarees Tod plagte ihn der Schmerz der Niederlage, die unangenehme Fragen bezüglich seiner Eignung als Kommandant aufwarf. Auch wenn es freilich niemanden an Bord gab, der diese Fragen laut gestellt hätte. Am schmerzlichsten jedoch war der Verlust jenes Forschungsprojektes, an dem Moaree in Mecchits Auftrag gearbeitet hatte. Und das seit seiner Flucht aus dem HAKAR endgültig und unwiederbringlich verloren war. Zu tun hatte es mit Mont, einem der Sieben Hohen, der aus der Stase nach ihrer Flucht aus Samragh nicht mehr lebend erwacht war. Mecchit, der überzeugt davon war, dass Sobek etwas mit Monts Tod zu tun hatte, hatte heimlich Gewebeproben des Leichnams vor dessen Entsorgung entnommen und Moaree mit der Züchtung eines Klons beauftragt. Anders als bei den meisten Spezies war es möglich, aus Geweberesten eines foronischen Leichnams nicht nur dessen Körper, sondern auch dessen Gedächtnisinhalt vollständig zu rekonstruieren. Damit, so hatte Mecchit gehofft, würde er über die notwendigen Beweise verfügen, die es ihm ermöglichten, Sobek – sollte er jemals lebend aus Samragh zurückkehren – mit seiner Tat zu konfrontieren. Wobei auch dies weniger zum Zweck hatte, den Tod eines Hohen zu sühnen, als vielmehr Sobek seine Führungsposition streitig zu machen. Nicht nur Moarees Tod hatte einen dicken Strich durch Mecchits Rechnung gemacht. Nein, es war in erster Linie das Schicksal von HAKAR 44, den Mecchit kurz nach seiner Rückkehr von Jogara durch die Flotte eines ihm völlig unbekannten Schiffstyps verloren hatte. Nachdem nicht einmal die berüchtigte Kontinuumwaffe funktioniert hatte – die mächtigste Waffe einer jeden SESHA-Einheit, den Feinden Einhalt zu gebieten –, hatte Mecchit keine andere Möglichkeit gesehen, als das Schiff mit Hilfe der einzig verbliebenen Not-
kapsel zu verlassen. Monts Gewebeprobe, die sich an Bord des HAKARs befunden hatte, war damit unwiederbringlich verloren. Ohne sie war eine Rekonstruktion des Hohen unmöglich geworden. Und Sobeks mutmaßliches Verbrechen würde somit für alle Zeit ungesühnt bleiben. Wie hatte Mecchit gestaunt, als er nach Verlassen der Notkapsel ausgerechnet auf jenen Hohen gestoßen war, der seinen Allmachtsphantasien im Weg stand. Sobek und Siroona hatten ihn zur Rede gestellt. Ihn einem regelrechten Verhör unterzogen, wobei es Mecchit erhebliche Mühe bereitet hatte, seine wahren Gedanken vor den beiden geheim zu halten. Wie es aussah, war es ihm dennoch gelungen. Sobek hatte ihm ein neues Schiff zur Verfügung gestellt, ihn damit beauftragt, mehr über die Hintergründe der merkwürdigen Geschehnisse innerhalb der Milchstraße in Erfahrung zu bringen. Was Sobek ihm im Gegenzug über die Geschehnisse in Samragh zu berichten hatte, ließ in Mecchit die Genugtuung gedeihen, dass er nicht der Einzige war, der versagt hatte. Genaugenommen stellte Sobeks Versagen sein eigenes noch in den Schatten. Er hatte die Arche verloren! Jenes Original, nach dessen Vorbild die HAKARs gefertigt worden waren und das in seiner Beschaffenheit doch einzigartig war. Und selbst das war noch nicht das Schlimmste. Nein, das wirklich Demütigende war, dass er das Schiff an einen Menschen verloren hatte. An einen Vertreter jener Rasse, auf die Sobek vor einiger Zeit noch mit Verachtung herabgeblickt hatte. Was war nur aus dem einst Mächtigen geworden? Er hatte zwar versucht, sich Mecchit gegenüber keine Blöße zu geben, hatte sich bemüht, seine Schwäche als zeitweiliges und durch äußere, nicht beeinflussbare Umstände hervorgerufenes Phänomen darzustellen. Doch Mecchit hatte gespürt, dass auch Sobek seine innere Ruhe erst dann wiederfinden würde, wenn ihm gelang, was er geschworen hatte: die Arche finden und sie den Klauen jenes verhassten
Menschen entreißen. Es war jener Schwur, der sich in Mecchits Gedanken manifestierte, als er sah, wie sich das rochenförmige Gebilde im Zentrum der Holosäule manifestierte. Ist es wirklich und wahrhaftig das, was ich zu sehen glaube? Seine Frage war an die Schiffs-KI gerichtet, mit der er auf telepathischem Weg kommunizierte. Die Frage bedurfte eigentlich keiner Antwort. Sämtliche HAKARs waren auch über große Distanzen hinweg durch jede andere SESHA-Kopie zu orten, ihr Aufenthaltsort somit jederzeit bekannt. Also konnte es sich bei jenem Raumschiff, das erst vor kurzem in den Ortungsbereich des HAKARs geraten war, nur um … Du hast mit deiner Vermutung Recht, meldete die KI, die auch den letzten Teil seines Gedankengangs gelesen hatte. Es ist SESHA, das verloren geglaubte Mutterschiff …
Auf einen außen stehenden Betrachter hätte es gewirkt, als sei der Forone vor Ehrfurcht erstarrt. In seinem von breiten Augenwülsten und einer kreisrunden Sprechmembran dominierten Antlitz zeichnete sich nicht die geringste Regung ab. Doch hinter dieser Fassade tobte ein wahrer Sturm sich überschlagender Gedanken. Sobek war derjenige, der sich dabei beharrlich in den Vordergrund drängte. Hätte er von Mecchits Entdeckung auch nur etwas geahnt, er hätte seinen HAKAR auf schnellstem Wege herbeordert, um die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Nichts war für den mächtigsten der Hohen von ähnlicher Wichtigkeit wie die Rückeroberung der Arche, jenes Heiligtums, in dem sich die ganze Überlegenheit ihrer Rasse manifestierte wie in keinem anderen von Foronenhand geschaffenen Objekt. Wie willst du dich verhalten?, blitzte die neutrale Stimme der BordKI in seinen Gedanken auf.
Obwohl die Antwort auf der Hand lag, zögerte Mecchit zunächst. Sie auszusprechen bedeutete, den Verrat, den er im Geiste längst begangen hatte, Wirklichkeit werden zu lassen. Wenn er jetzt ausführte, was er seit so langer Zeit zu tun beabsichtigte, gab es kein Zurück mehr. Jenes unsichtbare Band, das die Hohen dank ihrer gemeinsamen Bestimmung aneinander schmiedete, würde für immer durchtrennt werden. Und Mecchit würde einen Feind haben, der mächtiger war als fast alles, womit er es je zu tun gehabt hatte. Soll ich die anderen HAKARs von dem Fund informieren?, hakte die KI nach einer Weile nach. Die Künstliche Intelligenz, die das Schiff beseelte, war ausgereift genug, um zur Entscheidungsfindung eines solchen Problems beizutragen – wobei ihre Vorschläge stets auf purer Logik basierten. Begriffe wie Hinterlist und Intrigantentum waren ihr fremd. Letzten Endes war sie eben doch nicht mehr als eine Maschine, die sich nur an jenen Parametern orientierte, die ihrer Programmierung zugrunde lagen. Für Ränkespiele aller Art bedurfte es nach wie vor der Entscheidungskraft eines zu allem entschlossenen Foronen. Wir informieren niemanden von unserem Fund, antwortete Mecchit. Und fügte hinzu: Nimm Funkkontakt zur Besatzung der Arche auf. Verbindung hergestellt, antwortete die KI nach einer winzigen Zeitspanne. Du kannst deine Botschaft senden. Mecchit legte seine ganze Autorität in die Stimme, als er sie erhob und fragte: »Bevorzugt ihr den alles vernichtenden Kampf – oder eine friedliche Einigung?«
3. Kapitel Cloud konnte nicht sagen, was ihn in dieser Situation mehr aus der Fassung brachte. Der Funkspruch, das Antlitz des Foronen oder der Anblick des Rochenraumers, der der RUBIKON glich wie ein Ei dem anderen. Sein Blick wanderte kurz zu Scobee, heftete sich an ihre dunklen Augen, die wie hypnotisiert in die Holosäule starrten. Ihre Lippen bewegten sich. Cloud glaubte zu hören, wie sie ein einziges Wort formten, ohne es laut auszusprechen. Sobek … Cloud schüttelte energisch den Kopf. Auch er hatte im ersten Moment geglaubt, dem Mächtigsten aller Foronen gegenüberzustehen. Für ein ungeübtes menschliches Auge waren Foronen in ihrer Physiognomie kaum voneinander zu unterscheiden. Nur nach und nach hatte Cloud im Umgang mit ihnen gelernt, auf bestimmte Unterschiede zu achten. Sie waren minimal und beschränkten sich meist auf die Größe der Augenwülste oder die Stellung der runden Sprechmembran. Jenes Exemplar, das ihm aus der Holosäule entgegenblickte, unterschied sich in beidem deutlich von Sobek. Was nicht hieß, dass sie damit aus dem Schneider waren. Bestimmt waren bereits alle HAKARs in Alarmbereitschaft versetzt worden. Für die Foronen ging es um mehr als nur die Wiederinbesitznahme eines verlorenen Schiffes. Oft hatte Cloud sich den Moment ausgemalt, in dem er ihnen wieder gegenüberstehen würde. Herbeigesehnt hatte er ihn sich nie. Cloud nahm seinen Blick von der Holosäule und sah in die Runde. Alle Anwesenden waren auf ihren Plätzen erstarrt. Einige, wie etwa Cy und Algorian, wirkten zutiefst verunsichert. Andere, wie Scobee und Jarvis, signalisierten durch ihr Auftreten den Willen, sich nicht einschüchtern zu lassen. Alle jedoch – und daran bestand nicht der geringste Zweifel – er-
warteten, dass er, John Cloud, eine Entscheidung traf. Niemand an Bord stellte seinen Führungsanspruch in Frage. Cloud räusperte sich, dann wandte er sich wieder der Holosäule zu. Er bemühte sich um einen festen Klang seiner Stimme, als er in Mecchits Muttersprache fragte: »Wie lautet dein Angebot?«
Sekunden verstrichen. Cloud glaubte, dass Mecchit es genoss, den Moment der Unsicherheit so lange wie möglich auszukosten. Gönn es ihm, dachte Cloud fast schon ein wenig spöttisch. Er und die anderen Hohen hatten in letzter Zeit so wenig Gelegenheit, sich im Gefühl ihrer potentiellen Allmacht zu sonnen. Mecchits Worte, so martialisch sie vordergründig auch klingen mochten, waren letzten Endes nur ein Ausdruck seiner Hilflosigkeit. Wann zuletzt hatte ein Forone eine friedliche Lösung vorgezogen, wenn er ebenso gut die Möglichkeit gehabt hätte, seinen Gegner wie ein lästiges Insekt zu zerquetschen? Ein Friedensangebot konnte daher nur der Überzeugung entspringen, es mit einem ebenbürtigen Gegner zu tun zu haben. Dass es sich bei diesem Gegner um einen von den Foronen lange für seine vermeintliche Schwäche und Hilflosigkeit verachteten Menschen handelte, musste ihn schmerzen wie tausend Nadelstiche. Es herrscht völlige Waffengleichheit, dachte Cloud. Jede SESHA-Einheit ist identisch mit der anderen. Treffen zwei von ihnen aufeinander, entsteht eine nicht aufzulösende Patt-Situation. »Ich hoffe, ihr seid euch der Großzügigkeit meiner Offerte bewusst«, sagte Mecchit dennoch mit einer der Situation unangemessenen Überheblichkeit. »Ihr habt unser Heiligtum geraubt und euch unserem Zugriff entzogen. Ihr könnt euch wohl denken, dass auf einen solchen Frevel unter normalen Umständen keine geringere Strafe steht als der Tod.« Warum kommst du dann nicht rüber und vollstreckst dieses Urteil?, dachte Cloud und stellte dabei fest, dass sein Spott mit jeder weiteren Überheblichkeit des Foronen galliger wurde. »Stattdessen«, fuhr Mecchit fort, »unterbreite ich euch im Namen
aller Foronen ein Angebot. Lehnt ihr es ab, tragt nur ihr selbst die Konsequenzen eurer Entscheidung.« »Wie lautet es?«, fragte Cloud, der als einziges Crewmitglied der RUBIKON die foronische Sprache aus dem Effeff beherrschte. »Wir überlassen dir und deinen Kameraden jenen HAKAR, den du gerade vor dir siehst.« Cloud runzelte die Stirn. Diese Wendung der Ereignisse hatte er wahrlich nicht vorhergesehen. Er hatte damit gerechnet, dass Mecchit ihm freies Geleit geben, vielleicht sogar eines der Beiboote überlassen würde. An den kompletten HAKAR hätte er im Traum nicht gedacht. Welches Ziel verfolgte Mecchit damit, zwei Schiffe identischer Bauart gegeneinander auszutauschen? Gab es etwas, das die RUBIKON – die Original-SESHA – von allen HAKARs unterschied? Etwas, wovon Cloud nichts wusste? Er spürte, wie ihn Scobees bohrende Blicke trafen. Sie war ebenso misstrauisch wie er. Warum sollte ihnen Mecchit ein aus seiner Sicht so schlechtes Angebot unterbreiten? Genau genommen hatten sie keinerlei Ansprüche auf den Rochenraumer, weder auf das Original noch auf eine der Kopien. Und Großzügigkeit schied bei einem Foronen von vornherein als Motiv aus. Mecchit musste sich etwas sehr Konkretes von dem Tausch versprechen. Nur was? Cloud beschloss, in die Offensive zu gehen. Psychospielchen hatte er lange genug mitgemacht. Sie hatten ihn zu einem Freund klarer Worte und klarer Entscheidungen werden lassen. »Was bezweckst du mit diesem Angebot? Sind beide Schiffe nicht völlig identisch?« Cloud hatte durch den langen Kontakt mit den Foronen gelernt, aus ihrem für einen normalen Betrachter quasi nicht vorhandenen Mienenspiel zu lesen. Doch in Mecchits Antlitz schien völlige Ausdruckslosigkeit vorzuherrschen. Das foronische Äquivalent eines Pokerface … »Das sind sie in der Tat«, bestätigte der Hohe. »Ich verstehe daher nicht, warum du noch zögerst.«
»Du garantierst uns, dass wir nach einem Tausch der Schiffe mit keinerlei Verfolgung durch euresgleichen mehr zu rechnen haben?« »So ist es, John Cloud. Besteht ihr jedoch darauf, die Arche zu behalten, werden wir euch weiter jagen. Bis ans Ende des Universums, wenn es sein muss.« Cloud warf einen erneuten Blick in die Runde. Den Gesichtern entnahm er, dass eine ziemlich einsame Entscheidung vor ihm lag. »Hilf mir, den Sinn deines Angebots zu verstehen«, wandte sich John wieder an den Foronen in der Holosäule. »Welchen Nutzen zieht ihr aus einem solchen Tausch?« »Es überrascht mich, diese Frage aus deinem Munde zu vernehmen«, gab Mecchit zurück. »Entspricht es doch eurer Art, euch in Sentimentalitäten zu ergehen. Wir Foronen leisten uns nur wenig davon. Die Arche ist ein Heiligtum unseres Volkes. Das Symbol einer bedeutenden Epoche. Sie ist ein Stück unserer Identität.« Cloud überlegte. Zu seiner eigenen Überraschung kamen ihm Mecchits Worte plausibel vor. Wenn es etwas gab, das den Foronen heilig war, dann war es die Arche. Aber konnte es denn sein, dass ein rein ideeller Wert die Foronen dazu veranlasste, den von ihnen begangenen Frevel nicht nur ungesühnt zu lassen, sondern ihn darüber hinaus mit der Schenkung eines an Wert kaum aufzuwiegenden Schiffes zu »belohnen«? »Vorsicht!«, klang Jarvis' künstlich modulierte Stimme hinter ihm auf. »Das riecht verdammt nach einer Falle.« Cloud antwortete nicht, sondern gab die Überlegung unmittelbar an Mecchit weiter. »Woher weiß ich, dass du nicht bluffst?« »Gegenseitiges Vertrauen ist Teil des Deals«, gab der Forone zurück. »Nach allem, was ich von dir gehört habe, nahm ich an, dass die Akzeptanz kalkulierter Risiken ein nicht unwesentlicher Teil deines Erfolgsrezepts ist.« Cloud ließ sich nicht anmerken, was diese Worte bei ihm auslösten. Auch er war ein ziemlich guter Pokerspieler. »Wir haben das Schiff bereits nach unseren Bedürfnissen umgestaltet«, sagte er und dachte dabei an die zahlreichen Details, wie etwa Jeltos Garten, die das neue Gesicht der RUBIKON prägten.
Cloud war sich darüber im Klaren, dass dies kein ernstzunehmender Einwand war. Sein eigentlicher Zweck war es lediglich, Zeit zu schinden. Und das, obwohl er wusste, dass ihm keine Zeit der Welt die Entscheidung erleichtern würde. »All diese Dinge lassen sich mühelos auf den HAKAR übertragen«, versicherte der Hohe dann auch erwartungsgemäß. »Wenn der Tausch abgeschlossen ist, werdet ihr nicht einmal merken, dass ihr das Schiff gewechselt habt.« Cloud schürzte die Lippen und zog die rechte Augenbraue in die Höhe. Das einzige Zeichen, dass es in seinem Innern brodelte. »Ich frage dich ein letztes Mal«, sagte Mecchit. »Wie lautet deine Entscheidung?« Cloud sah sich noch einmal um, als wolle er sich des stummen Einverständnisses seiner Gefährten versichern. Außer einem diffusen Misstrauen schien keiner einen begründeten Einwand zu haben. Niemand, bis auf … »Warte noch!« Zu Clouds Überraschung war es Fontarayn, der diese Worte äußerte. Mit einem fragenden Blick wandte er sich dem Gloriden zu. »Ich muss dir von einem Tausch der Schiffe ernsthaft abraten«, fügte dieser seinen Worten hinzu. »Worauf gründet sich dein Rat?«, fragte Cloud. »Ich nehme an, du erinnerst dich noch daran, wie ich eins mit dem Schiff wurde?« Clouds Gedanken schweiften zurück in die jüngste Vergangenheit. Noch sehr plastisch hatte er vor Augen, wie der aus purer Energie bestehende Gloride in das Schiff geflossen war, um ihm seinen Willen aufzuzwingen. »Während dieser Vereinigung stieß ich auf … etwas.« Mit einiger Irritation nahm Cloud die Unsicherheit wahr, die auf einmal von diesem so mächtig wirkenden Wesen ausging. »Könntest du ein wenig konkreter werden?« »Ich bitte dich, mir zu vertrauen. Sagen kann ich dir Folgendes: Dein Schiff verfügt über Ressourcen, von denen du nicht einmal ahnst, John Cloud – und ich bezweifle einfach, dass die Kopien, wie
du sie nennst, zwangsläufig ebenfalls darüber verfügen.« Cloud ballte die Fäuste. Welches Spiel spielte der Gloride? Er spürte, dass Fontarayn deutlich mehr wusste, als er zu sagen bereit war. Vermutlich wäre es sein Geheimnis geblieben, wäre nicht Mecchit mit seinem Angebot dazwischengekommen. Einmal mehr, seit er Fontarayn auf sein Schiff geholt hatte, fragte er sich, inwieweit er dem Energiewesen wirklich vertrauen konnte. »Deine Bedenkzeit läuft ab, John Cloud!«, schaltete sich Mecchit ein. Von dem Zwiegespräch an Bord der Arche hatte der Forone nichts mitbekommen. »Ich muss dich darüber informieren, dass die übrigen HAKARs bereits benachrichtigt und auf dem Weg hierher sind. Sei dir darüber im Klaren, dass dir der erbittertste Kampf deines Lebens bevorsteht. Wie du dir denken kannst, würde mein Volk die Arche eher zerstören, als sie im Besitz eines Andersartigen zu belassen.« Daran hegte Cloud in der Tat nicht den geringsten Zweifel. Er hatte nicht den Eindruck, dass Mecchit bluffte. Seine Drohung entsprach voll und ganz dem Bild, das er von den Foronen gewonnen hatte. Kurz musste er an die immense Bewaffnung des Rochenraumers denken und daran, wie sie damit so manchen Angreifer in die Flucht geschlagen hatten. Allein die Vorstellung, sich gegen die zigfache Feuerkraft zur Wehr setzen zu müssen, trieb selbst ihm, der er allein in den letzten Monaten mehr Gefahren durchlebt hatte, als andere Menschen in ihrer gesamten Lebensspanne, die Schweißperlen auf die Stirn. »Du hast Mecchit gehört, Fontarayn. Du musst mir schon einen besseren Grund dafür liefern, warum ich mich auf eine Konfrontation dieses Ausmaßes einlassen sollte«, presste er zwischen seinen Zähnen hervor. »Zu gegebener Zeit wirst du mehr erfahren, John Cloud«, gab der Gloride zurück. »Bis dahin bitte ich dich einfach um dein Vertrauen.« Cloud lag eine bissige Entgegnung auf der Zunge. Er schluckte sie hinunter. Es war fraglich, ob das Energiewesen sie verstanden hätte.
Mit verkniffenem Gesicht wandte er sich wieder dem Antlitz des Foronen in der Holosäule zu. »Wie du weißt, ist es manchmal nicht leicht, das Für und Wider einer Entscheidung abzuwägen. Ich will dich daher um eine Verlängerung meiner Bedenkzeit bitten. Nicht zuletzt, um auch die Meinung meiner Mannschaft einzuholen.« Nach Clouds persönlichem Empfinden verging gut eine halbe Minute, bis der Forone antwortete. Aber vielleicht täuschte ihn auch nur sein Zeitgefühl. »Ich gewähre euch eine Frist von zwei Stunden eurer Zeitrechnung«, sagte Mecchit. »Sollte eure Entscheidung bis dahin nicht gefallen sein, werde ich sie euch abnehmen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, brach die Funkverbindung ab. Clouds Miene verdüsterte sich. »Was hast du vor?«, hörte er Scobee im Sitz neben sich fragen. Wortlos legte er seine Hände auf die Kontaktstellen in den Armlehnen seines Kommandositzes. »Ich werde jemanden konsultieren, der in dieser Angelegenheit mehr als nur ein Wörtchen mitzureden hat.« Noch bevor Scobee etwas entgegnen konnte, schloss sich der Sarkophag um ihn.
4. Kapitel Es war wie immer, und doch war es stets ganz anders als die Male davor. Cloud kam es vor, als würden sich alle Nervenenden seines Körpers mit dem künstlichen Organismus des Schiffes verbinden. Sinneseindrücke, die in Bruchteilen von Sekunden auf ihn einstürmten und seinen Geist überfluteten. Es war wie ein Drogenrausch in hundertfach potenzierter Form. Er sah und empfand wie das Schiff. In diesen Augenblicken, in denen die Kontakte hergestellt waren, war er nicht mehr nur der Kommandant. Er und das Schiff bildeten einen eigenständigen, in sich geschlossenen Organismus. Er spürte die Kälte des Alls auf seiner Haut, sah die Lichter des zuvor noch verborgenen Sternengewimmels, das sich wie durch Zauberei vor ihnen ausgebreitet hatte, nachdem Fontarayn den Schleier gelüftet hatte. Trotz dieser schier überwältigenden Eindrücke war Cloud bemüht, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Kraft seiner Gedanken stellte er eine direkte Verbindung zur KI des Schiffes her, die viel mehr war als nur ein leistungsstarkes Programm. Sie war das Bewusstsein des Schiffes. Geist und Verstand zugleich und zuweilen – Cloud war sich im Klaren darüber, wie bizarr dieser Gedanke eigentlich war – ein durchaus unterhaltsamer Gesprächspartner. Sesha!, setzte er sofort an, nachdem ihm die Schiffsseele ihre Bereitschaft signalisiert hatte. Fontarayn erwähnte etwas von verborgenen Ressourcen, die dem Schiff innewohnen. Kannst du mir mehr darüber sagen? Die Antwort erfolgte umgehend. Sie war kurz und bündig, leider auch ziemlich enttäuschend. Negativ. Du hast Zugriff auf alle Bereiche des Schiffes. Es gibt keine Ressourcen, die dir verborgen sind.
Verdammt! Clouds Blick verlor sich in der Weite des Alls, streifte dabei den gewaltigen Rochenraumer des Foronen, der zumindest äußerlich eine exakte Kopie der RUBIKON war. Es muss einen Unterschied geben, war Cloud auf einmal überzeugt. Welches Motiv sollte Fontarayn haben, mich zu belügen? Und warum ist Mecchit so auf einen Tausch erpicht? Entsprang seine Forderung tatsächlich nur dem Wunsch, ein uraltes Heiligtum in den Besitz seines Volkes zurückzuführen? Bei aller Skepsis wusste John auch, dass die Informationen der KI zweifellos der Wahrheit entsprachen. Selbst wenn sie es gewollt hätte, sie konnte ihn gar nicht belügen. Aber vielleicht habe ich auch einfach nur die falsche Frage gestellt. Cloud wandte sich erneut an die KI. Gehe zurück an den Beginn deiner Aufzeichnungen. In die Tage deiner »Geburt« … Sesha gehorchte.
Vergangenheit … Sie waren zu acht. Die wenigsten kannten einander persönlich, auch wenn der Name jedes Einzelnen durchaus einen gewissen Ruf in der Fachwelt genoss. Nur zwei von ihnen hatten kurze Zeit zusammengearbeitet. Das Projekt war militärischer Natur gewesen und hatte der höchsten Geheimhaltungsstufe unterstanden. Dazu gehörte auch, dass sich die an dem Projekt beteiligten Personen nach vollendetem Werk in alle Winde zerstreut hatten und jeden weiteren Kontakt miteinander untersagt bekommen hatten. Umso überraschter waren sowohl Necchton als auch Saator, als sie sich auf einmal gegenüberstanden. Da keiner der beiden wusste, wie er sich in dieser Situation am unverfänglichsten zu verhalten hatte,
taten beide so, als wären sie einander nie zuvor begegnet. Das, obwohl beiden klar war, dass diejenigen, die sie hierher bestellt hatten, von ihrer gemeinsamen Vergangenheit wussten. Seltsam, dachte Necchton, während er den betont neutralen Gruß seines Gegenübers erwiderte. Der Anlass muss ein wahrlich besonderer sein, wenn das Septemvirat seine eigenen Regeln und Gesetze derart offen missachtet. Obwohl er es nicht genau wusste, nahm Necchton an, dass auch die anderen nicht über die wahren Gründe der Zusammenkunft eingeweiht waren. Genaugenommen war er sich nicht einmal sicher, ob die Männer, die ihn abgeholt hatten, wirklich im Auftrag des Septemvirats gehandelt hatten. Quasi in einer Nacht- und Nebelaktion hatten sie ihn in seinem Quartier auf Septon 3, einer der Hauptwelten des foronischen Reiches, abgeholt, wo er im Auftrag einer renommierten Werft an der Entwicklung eines neuartigen Werkstoffs geforscht hatte. Mit dem Hinweis auf eine »wichtige Regierungsangelegenheit«, die keinen Aufschub erlaubte, hatten sie ihn gebeten, mit ihnen zu kommen. Über den Inhalt seiner Aufgabe hatten sie ihn genauso wenig aufgeklärt wie über das Ziel ihrer Reise. Necchton war sich nach wie vor nicht völlig sicher, wohin sie ihn gebracht hatten. Aufgrund der Länge des Fluges vermutete er, dass der Planet, den sie angesteuert hatten, irgendwo in einem abgelegenen Randbereich Samraghs liegen musste. Aber diese Vermutung beruhte lediglich auf einer groben Schätzung. Alles, was er von diesem Planeten bisher gesehen hatte, war der unterirdische Hangar, in dem sie gelandet waren und der allem Anschein nach Teil einer streng geheimen Militärbasis war. Ohne auf seine drängenden Fragen einzugehen, hatten sie ihn mittels eines Antigravlifts in eine steril wirkende Kammer gebracht, die für die kommende Zeit sein Quartier sein sollte. Doch auch wenn seine Begleiter so taten, als wäre er hier zu Gast, kam Necchton nicht umhin, sich wie ein Gefangener zu fühlen. Wieder war eine gewisse Zeit vergangen, bis die Tür seiner Kabine von selbst aufglitt. Eine etwa zwei Meter über dem Boden schwe-
bende Robotersonde hatte ihn gebeten, ihr zu folgen. Necchton war der Aufforderung ohne Zögern nachgekommen. Er sah ein, dass er keine andere Wahl hatte, als sich in sein Schicksal zu fügen. Ganz gleich, wie dieses aussehen mochte. Die Sonde hatte ihn in einen langen, schmalen Gang geführt, der schließlich an der Tür jenes achteckigen Raumes geendet hatte, in dem er sich nun befand. Er war der Letzte, der sich zu den bereits anwesenden sieben Foronen – fünf Männern und zwei Frauen – gesellte. Mit seiner Ankunft war die Runde komplett. Keiner der Anwesenden sprach sonderlich viel. Alle schienen Necchtons Verunsicherung zu teilen. Auch Saator, den er damals als besonders selbstbewusst kennen gelernt hatte. Lediglich aus einigen Andeutungen ging hervor, dass es sich bei den acht Foronen um die besten und erfahrensten Wissenschaftler ihres Volkes handelte. Weshalb hatte man sie an diesen entlegenen Ort verfrachtet? Welches Projekt konnte von solcher Wichtigkeit sein, dass es dermaßen kurzfristig anberaumt worden war? Auch wenn niemand Näheres wusste, so stand doch eine gewisse Ahnung im Raum. Saator war es, der sie offen aussprach. »Es geht um jene ungeklärten Ereignisse, die Samragh in größte Konfusion gestürzt haben.« Er formulierte diese Äußerung als Feststellung, auch wenn ihm dabei anzusehen war, dass auch er nur Mutmaßungen anstellen konnte. Betretenes Schweigen folgte seinen Worten. Jeder wusste um diese Vorkommnisse, auch wenn bisher nur hinter vorgehaltener Hand davon gesprochen wurde. Nur eines ließ sich zum jetzigen Zeitpunkt mit absoluter Sicherheit sagen: Ein Feind war aufgetaucht. Eine unbekannte Macht, die die Foronen, die sich lange Zeit für unbezwingbar gehalten hatten, in die Defensive gedrängt hatte. Sie kamen in mächtigen Dreizackschiffen und hinterließen dort, wo sie wüteten, ein bisher nicht gekanntes Ausmaß der Zerstörung. Nach offiziellen Angaben war bislang ein knappes Dutzend foronischer Welten den fremdartigen Angreifern zum Opfer gefallen. Jedes Mal kamen sie wie aus dem Nichts. Das Ergebnis ihrer Angriffe
waren jedoch keine qualmenden Trümmerhaufen, wie sie die Foronen bei ihren eigenen Eroberungsfeldzügen zu hinterlassen pflegten. Nein, mit ihren fremdartigen Waffen waren sie in der Lage, die Oberfläche eines ganzen Planeten mit einer harten, glasartigen Schicht zu überziehen. Wie genau sie das anstellten, das stellte bisher selbst die renommiertesten Wissenschafter vor ein unlösbares Rätsel. Was sie mit ihrer Vorgehensweise bezweckten, lag ebenso im Dunkel. Sicher war nur, dass die Foronen nach Jahrtausenden der uneingeschränkten Herrschaft auf einen ernstzunehmenden Gegner gestoßen waren. Saator hatte seine Vermutung kaum geäußert, als sich auch schon ein breites Schott in der Rückwand des Raumes öffnete. Drei Foronen traten ein. Ihr Äußeres lag Sekundenlang im Dunkel jenseits der Lichtquelle, die den Raum erhellte. Dennoch war die Präsenz der Macht, die sie umhüllte, deutlich zu spüren. Im nächsten Moment erkannte Necchton, mit wem sie es zu tun hatten. Ihre Bilder waren in jeder offiziellen Regierungseinrichtung zu finden. Und ihre Namen kannte jeder Forone von Kindesbeinen an. Sobek. Siroona. Mont. Drei Vertreter des hohen Septemvirats, die die Geschicke der Foronen lenkten. Es war Sobek, der Höchste der Hohen, der das Wort ergriff. Er tat es nicht mittels Telepathie, sondern nutzte dazu seine Sprechmembran, als sei das, was er ihnen mitzuteilen hatte, von zu großer Wichtigkeit, um unausgesprochen zu bleiben. Tatsächlich war der Inhalt seiner Ansprache derart niederschmetternd, dass Necchton Mühe hatte, die Fassung zu wahren. Es war nicht weniger als ein Abgesang auf die Unbezwingbarkeit des foronischen Volkes. Und das Einläuten einer neuen Zeitrechnung …
Gebannt verarbeitete Cloud die Informationen, die Sesha direkt in
seine Gedanken speiste und die sich vor seinem inneren Auge in bildhafter Form ausbreiteten. Was er in diesen Momenten miterlebte, war die Geburtsstunde des Schiffes, das unverhofft zu seiner neuen Heimat geworden war. Jene acht Wissenschaftler, jeder von ihnen eine Koryphäe auf seinem Gebiet, hatten den Auftrag für ein Jahrhundertprojekt erhalten. Die Konstruktion einer Arche. Eines gigantischen Schiffes, das zur Heimstatt eines ganzen Volkes werden sollte. Cloud konnte sich lebhaft vorstellen, was in den Wissenschaftlern vorgegangen sein mochte, als sie vom Plan der sieben Hohen erfahren hatten. Bedeutete er doch nichts anderes, als die vertraute Heimat für eine lange Zeit hinter sich zu lassen und in eine ungewisse Zukunft aufzubrechen. Unwillkürlich fragte er sich, wie viel des eigentlichen Planes jene acht wirklich erfahren hatten. Hatten sie vom Bau Tova'Zarahs gewusst, jenes mächtigen Kubus? Vermutlich nicht. Nach allem, was Cloud erfahren hatte, waren auch sie, die so Großes vollbracht hatten, nur kleine Rädchen innerhalb einer gigantischen Maschinerie gewesen, deren wahre Ausmaße nur jene zur Gänze durchschauten, die die Fäden in diesem Spiel zogen. Deine Ausführungen waren überaus interessant, wandte sich Cloud an die KI, nachdem er seine Gedanken sortiert hatte. Meine eigentliche Frage bleibt leider unbeantwortet. Bitte um erneute Hingabe!, antwortete Sesha. Herrgott noch mal!, entfuhr es ihm unbeherrscht. Ich möchte wissen, worauf sich Fontarayns mysteriöse Andeutung bezog. Einen ungewöhnlich langen Moment herrschte völlige Stille, die Cloud unwillkürlich zu der Überlegung anregte, wann er die KI zum letzten Mal sprachlos erlebt hatte. Bitte formuliere deine Frage neu, kam es schließlich zurück. Einen kurzen Moment lang wurde Cloud von einem absonderlichen Gedanken heimgesucht. Konnte es sein, dass der Gloride mehr über die Konstruktion der Arche wusste als selbst Sesha? Wenn dem tatsächlich so war, dann konnte er nachhaken, so viel er wollte. Die gewünschten Informationen würde er so nicht aus der KI herauskit-
zeln. Wenn das Schiff tatsächlich über geheime Ressourcen verfügte, über die nichts im Speicher der KI vermerkt war, war es dann wenigstens möglich, Hinweise über den möglichen Ursprung dieser Ressourcen zu finden? Dreh- und Angelpunkt des Mysteriums schienen jene acht Konstrukteure zu sein, die den Rochenraumer entworfen hatten. Hatten sie das Schiff mit gewissen Details versehen, von denen nicht einmal ihre Auftraggeber etwas geahnt hatten? Aber wozu? Welchen Zweck sollten sie mit einem solchen Vorgehen verfolgt haben? Das musste doch zumindest ansatzweise herauszufinden sein. Sesha, erzähle mir alles, was du über die konkrete Konstruktions- und Bauphase dieses Schiffes in deinem Speicher findest. Wieder dauerte es eine Weile bis sich die KI zu Wort meldete. Und was sie zu verkünden hatte, gab Clouds Irritation neue Nahrung. Melde Fehlfunktion. Zugriff auf die gewünschten Daten nicht möglich. Wie kann das sein? Das gesamte Ausmaß von Clouds Überraschung schwang in seinen Worten mit. Ich bin auf eine mir bisher unbekannte Blockade gestoßen, präzisierte Sesha ihre Mitteilung. Irgendetwas hindert mich daran, auf bestimmte Datensegmente zurückzugreifen. Fontarayn hatte Recht!, blitzte es in Cloud auf. Dieses Schiff stellt mehr dar, als Mecchit zuzugeben bereit ist. Und es muss ungeheuer wichtig sein, wenn er sogar bereit ist, einen HAKAR dafür herzugeben! Gibt es denn keine Möglichkeit, die Blockade zu umgehen?, erkundigte sich Cloud, obwohl die KI ihm die Antwort im Prinzip bereits gegeben hatte. Ich habe bereits nach verborgenen Schlupflöchern gesucht. Das Ergebnis ist negativ. Das ist doch verrückt!, entfuhr es Cloud. Es ist dir nicht möglich, auf gesicherte Datenblöcke zuzugreifen, die mit der Arche zusammenhängen? Das ist korrekt, bestätigte die KI und ignorierte seinen ruppigen Unterton. Wer immer die Sperre verankerte, legte Wert darauf, dass sie von keinem Unbefugten umgangen werden kann.
Wenn das seine Absicht war, dachte Cloud, hat dieser Jemand allerdings kläglich versagt. Schließlich war es jemandem gelungen, einen Blick hinter die Sperre zu werfen. Aber wahrscheinlich waren die Initiatoren auch noch nie einem Gloriden begegnet …
Als er den Sarkophag verließ, stellte Cloud zu seinem Entsetzen fest, dass bereits deutlich mehr Zeit vergangen war, als er es gedacht hatte. Mehr als zwei Drittel der Frist, die Mecchit ihnen zugestanden hatte, war abgelaufen. Die Zeit drängte, und Cloud konnte nur hoffen, dass Fontarayn sich kooperativer verhalten würde als kurz zuvor. Nur flüchtig ging er auf das ein, was er aus Seshas Datenbank über den Bau der Arche erfahren hatte, um noch im selben Atemzug auf die Existenz der verborgenen Schatztruhe hinzuweisen. »Ist es das, was du vor mir geheim halten wolltest?«, wandte er sich an Fontarayn, ohne sich um die Reaktionen und das Gemurmel der anderen zu kümmern. »Es wäre mir neu, dass ich irgendetwas vor dir geheim gehalten habe«, gab Fontarayn zurück. »War nicht ich es, der dich auf verborgene Ressourcen deines eigenes Schiffes hingewiesen hat?« Cloud presste die Lippen zusammen und verengte die Augen zu Schlitzen. Mit seinen Spitzfindigkeiten war der Gloride auf dem besten Weg, Clouds Geduld über Gebühr zu strapazieren. Mit ausgestrecktem Zeigefinger deutete er auf die Holosäule, in der nach wie vor die rochenförmige Silhouette des HAKARs abgebildet wurde. Seine Stimme bebte, als er fragte: »Siehst du dieses verdammte Schiff?« Fontarayn schwieg. Anscheinend war er mit dem Prinzip einer rhetorischen Frage durchaus vertraut. »Es wartet nur darauf, uns zu vernichten. Und glaube mir, ich bin mit der Spezies, die es kommandiert, gut genug vertraut, um dir versichern zu können, dass sie es verdammt ernst meint. Ebenso
kann ich dir versichern, niemals meine und die Sicherheit meiner Mannschaft aufs Spiel zu setzen, ohne zu wissen, wofür. Wenn es dir auch nur irgend möglich ist, die Blockade zu lösen, dann fordere ich dich auf, es jetzt zu tun. Anderenfalls werde ich auf Mecchits Forderung eingehen und einem Tausch der Schiffe zustimmen.« Cloud legte seine ganze Überzeugungskraft in die Worte. Fontarayn sollte spüren, dass er es ernst meinte. Im Zweifelsfall würde er tatsächlich auf Mecchits Angebot eingehen, diese Entscheidung hatte er für sich bereits getroffen. Er hatte eine Verantwortung für jene, die seinem Urteilsvermögen vertrauten. Sie sahen zu ihm auf und wussten, dass er keine Entscheidung treffen würde, die gegen ihr Wohl gerichtet war. Er hatte kein Recht, ihr Vertrauen zu enttäuschen, sie gar bewusst ins Unglück zu führen. Cloud glaubte, eine gewisse Unsicherheit bei Fontarayn auszumachen. Er wusste jedoch zu wenig über die eigenartige Spezies der Gloriden, um ihr Verhalten immer richtig deuten oder gar vorhersagen zu können. Deshalb nahm er es auch mit einem Gefühl unendlicher Erleichterung zur Kenntnis, als Fontarayn sagte: »Deine Worte haben mich überzeugt, John Cloud. Ich werde deinem Wunsch entsprechen und versuchen, die Sperre zu beseitigen …«
5. Kapitel Es war genau wie beim ersten Mal, als Fontarayn sich die Kräfte des Schiffes untertan gemacht hatte, um den Ereignishorizont des Black Hole zu überwinden und dorthin zu gelangen, wo eine der sagenhaften CHARDHIN-Perlen verborgen lag. Der eben noch fest erscheinende Körper des Gloriden wurde binnen kürzester Zeit zu gleißendem Licht, das im nächsten Moment in den Boden der Zentrale floss, als würde es darin versickern. In Sekundenschnelle war Fontarayns energetische Gestalt verschwunden, als habe sie nie existiert. Minuten vergingen, ohne dass einer der Anwesenden sprach. Jarvis brach als Erster das Schweigen, indem er fragte: »Glaubst du, dass es Fontarayn gelingt?« Cloud vernahm durchaus die eigentliche Frage, die in Jarvis' Worten mitschwang, aber unausgesprochen blieb: Glaubst du, dass wir ihm uneingeschränkt trauen können …? »Wir haben überhaupt keine Wahl«, lautete Clouds pragmatische Antwort. »Nicht einmal die KI ist in der Lage, die Barriere zu umgehen. Fontarayn ist der Einzige, der uns jetzt noch helfen kann.« »Und wenn er versagt?«, fragte Scobee mit rauer Stimme. Cloud hatte diese Möglichkeit durchaus in seine Überlegungen mit einbezogen. »Dann«, sagte er mit lakonischem Lächeln, »überlassen wir Mecchit das Schiff.« Niemand widersprach. So bitter diese Entscheidung auf den ersten Blick auch schien, so vernünftig war sie bei näherer Betrachtung. Eine direkte Konfrontation mit einer ganzen Flotte foronischer Rochenraumer hätte die RUBIKON nicht überstanden, so viel war allen klar. Clouds Worte klangen noch in den Köpfen der Anwesenden nach, als erneut ein grelles Licht entflammte. Nur wenige Schritte von der
Stelle entfernt, wo Fontarayn zuvor verschwunden war. Wieder dauerte es nur Sekunden, bis der Gloride sich aus den Photonen heraus formte und in seiner stofflichen Gestalt vor ihnen zum Stehen kam. »Es ist vollbracht« sagte er nur.
Wieder spürte er die Kälte des Alls, die ihn umgab, wie eine zweite Haut aus Eis. Trotz des Gefühls von übermenschlicher Stärke und Unbesiegbarkeit, das ihn stets befiel, sobald sich der Deckel des Sarkophagsitzes über ihm geschlossen hatte, empfand er auch einen Hauch von Nervosität. Nein, es war vielmehr eine Art von Spannung, die ihn erfasst hatte und seine Nervenenden vibrieren ließ. Mit einem knappen Gedankenimpuls gab Cloud der KI den Befehl, ihm Zugriff auf die gesperrten Bereiche zu gewähren. Die Bestätigung erfolgte umgehend. Kurz darauf strömten die gewünschten Informationen auf ihn ein, setzten sich in seinem Gehirn zu Bildern zusammen, als habe er alles, was er erfuhr, selbst erlebt. Als handele es sich bei den Eindrücken, die in ihm aufblitzten, um Bilder seiner eigenen Vergangenheit, die lange verschüttet gewesen waren und nun, von irgendeinem Impuls geweckt, zurück an die Oberfläche drängten. Als wäre es völlig selbstverständlich, wusste er alles einzuordnen. Der Ort war Samragh*, die Zeit kurz vor dem großen Exodus. Und dann sah er sie. Nicht aus der Distanz eines unbeteiligten Beobachters heraus. Ihm war vielmehr, als würde er unsichtbar zwischen ihnen wandeln. Ihre Taten beobachten und ihren Worten lauschen. So wurde er nicht nur Zeuge, sondern regelrecht Komplize eines ungeheuerlichen Verrats.
*Foronenname für die Große Magellansche Wolke
Vergangenheit … Necchton sah sich immer wieder unbehaglich um, während er den schmalen Gang entlanghuschte. Die Decke war so niedrig, dass der Forone sich gezwungen sah, in leicht gebückter Haltung zu gehen. Er fragte sich, welchem Zweck dieser Korridor ursprünglich gedient haben mochte. Vermutlich war es ein reiner Versorgungsgang gewesen, hauptsächlich von Dronen und Robotern frequentiert. Die Umgebung war in ein diffuses, bläuliches Licht getaucht, das direkt aus den Wänden zu kommen schien und dabei mehr verbarg, als es enthüllte. Necchton war das eigentlich ganz recht so. Was er und die anderen sieben vorhatten, war nicht dafür geschaffen, um im Lichte des Tages ausgeführt zu werden. Hätten die derzeitigen Machthaber von diesem Treffen erfahren, sie hätten ihn und die anderen Wissenschaftler auf der Stelle zum Tode verurteilt. Aber vielleicht täusche ich mich auch, ging es Necchton durch den Kopf. Wir befinden uns in Krisenzeiten. Eile ist geboten. Sie sind auf uns angewiesen. Einer oder gar mehrere Ausfälle würden das gesamte Projekt gefährden. Der Gang beschrieb einen scharfen Knick nach rechts, dem Necchton folgte, um knapp dahinter, den Rücken an die Wand gepresst, stehen zu bleiben. Sekundenlang verharrte er in dieser Position und lauschte in die Stille. Erst als er sich ganz sicher sein konnte, dass ihm niemand gefolgt war, löste er sich vom Fleck. Wenn Necchton sich nicht geirrt hatte, wurde dieser Teil des unterirdischen Komplexes, der zu ihrer neuen Heimat geworden war, nicht durch das elektronische Überwachungssystem gesichert. Warum auch? Schließlich gab es hier nichts, was sich zu überwachen gelohnt hätte. Angeblich war der Trakt früher ein Kernstück der Anlage gewesen, das jedoch im Verlauf des schrittweisen Ausbaus nach und nach stillgelegt worden war. Necchton wusste nicht genau, woher Saator all diese Informatio-
nen hatte. Seine Bewegungsfreiheit war schließlich ebenso eingeschränkt wie die der anderen. Necchton wurde den Verdacht nicht los, dass dies nicht Saators erster Besuch der Anlage war. Er sah sich noch einmal um, dann ging er an der Stelle, wo er eben noch gelehnt hatte, in die Knie. Unscharf und im unwirklichen Dämmerlicht kaum zu erkennen, entdeckte er den haarfeinen Umriss der Luke, die Saator ihm beschrieben hatte. Ohne zu zögern, streckte er seine Hand danach aus. Tatsächlich ließ sich die Abdeckung ganz leicht lösen. Dahinter kam ein unbeleuchteter Schacht zum Vorschein. Necchton steckte vorsichtig den Kopf in die Öffnung. Der Schacht war so eng, dass ein ausgewachsener Forone ihn nur auf allen vieren betreten konnte. Einen unwilligen Laut von sich gebend, setzte Necchton dazu an, sich durch die schmale Öffnung zu zwängen, als er ein Geräusch vernahm. Ruckartig zuckte sein Kopf in die Richtung, aus der der Laut kam. Zu seinem Entsetzen erkannte er die Gestalt eines Foronen. Das bläuliche Zwielicht, das ihn umwaberte, machte seinen Auftritt umso dramatischer. Noch während Necchton in Gedanken nach einem Ausweg suchte, erkannte er Heelion, einen der acht Wissenschaftler, die mit ihm am Bau der Arche beteiligt waren. Hatte Saator ihn auch eingeweiht? War er nur zufällig hier? Oder … war er ihm gefolgt? In dem eigens für sie eingerichteten Trakt stand es den Wissenschaftlern frei, sich uneingeschränkt zu bewegen. Nur so war es Necchton möglich gewesen, sein Quartier unentdeckt zu verlassen. Gut möglich also, dass Heelion sich nur zufällig hierher verirrt hatte. »Verrätst du mir, was du hier tust?«, fragte er mit echter Neugier. Necchton überlegte. Saator hatte darauf bestanden, die Zahl der Mitwisser auf ein Minimum zu begrenzen. Mehr als vier der acht Konstrukteure wollte er fürs Erste nicht einweihen. Gehörte Heelion dazu? Es sah nicht so aus. Wie erklärte sich sonst seine Frage. Oder war es nur ein Versuch, ihn auf die Probe zu stellen?
Weil ihm auf die Schnelle keine Ausrede einfiel, entschied Necchton sich schweren Herzens dafür, Heelion reinen Wein einzuschenken. »Komm mit! Dann zeige ich es dir!« Ohne Heelions Reaktion abzuwarten, wandte Necchton sich um, beugte sich durch die Öffnung und schlüpfte in den engen Schacht. Im Inneren drehte er sich so gut es ging um. Tatsächlich schien Heelion ihm zu folgen. Beiden war es gerade mal so möglich, sich auf allen vieren durch den dunklen Schacht voranzubewegen. Nach einer Weile erreichten sie eine Biegung und knapp dahinter jene Luke, die man ihm beschrieben hatte. Sie stand offen. Trübes künstliches Licht füllte die Öffnung aus. Necchton streckte zunächst nur den Kopf hindurch. Erst als sich Saators Antlitz von links in sein Blickfeld schob, schwang er sich auf die andere Seite. Der Raum war gut dreimal so groß wie die Quartiere, die man ihnen für die Dauer der Konstruktion der Arche zugewiesen hatte. Er war voll gestopft mit allerlei Schrott, der sich bis zur Decke stapelte und lediglich zwei schmale, kreuzförmig angeordnete Korridore freiließ. Saator war alles andere als erfreut, als er Heelion hinter Necchton aus dem Schacht schlüpfen sah. »Verdammt! Ich sagte doch, du sollst allein kommen.« »Ich hatte keine Wahl«, entschuldigte sich Necchton. »Er hat mich beim Betreten des Schachts beobachtet.« »Na gut«, knurrte Saator bereits versöhnlicher. »Eigentlich können wir jede Hilfe brauchen, die wir bekommen. Ich muss jedoch auch dich, Heelion, um absolutes Stillschweigen ersuchen.« Necchton spürte, dass Heelion in der jetzigen Situation alles versprochen hätte, um nicht außen vor zu bleiben. Er konnte nur hoffen, dass er zu einem späteren Zeitpunkt noch genauso eingestellt war. »Wie du dir vielleicht denken kannst, geht es um den Plan, dessentwegen uns das Septemvirat an diesen Ort verfrachtet hat. Ich und noch einige andere halten es für einen schwerwiegenden Fehler,
Samragh preiszugeben, um an Bord eines Raumschiffs in eine ungewisse Zukunft zu flüchten.« Er machte eine kurze Pause, als wolle er sich Heelions Zustimmung versichern, doch dieser blieb stumm. »Einige von uns gehen sogar so weit, den uneingeschränkten Machtanspruch des Septemvirats anzuzweifeln. Sie denken, dass jene, die planen, unsere Heimat kampflos dem Feind zu überlassen, nicht würdig sind, an der Spitze unseres stolzen Volkes zu stehen.« »Was willst du damit sagen?«, stieß Heelion hervor, obwohl sich auf seinen Zügen abzeichnete, dass er die Quintessenz von Saators Rede durchaus verstanden hatte. »Du denkst an einen Putsch?« »Ich denke daran, dass wir gewisse Vorkehrungen treffen sollten, die es uns erlauben, das Schiff zu übernehmen, sollte sich Sobeks Urteilsvermögen auch in Zukunft als zweifelhaft erweisen. Das sind wir unserem Volk schuldig.« Hinter Heelions Stirn schien es zu arbeiten, während er sich sichtlich bemühte, seine Gedanken vor den anderen zu verbergen. »An welche Art von … Vorkehrungen hast du dabei gedacht?« »Um das zu erörtern, sind wir hier. Noch bleibt uns Zeit, alle notwendigen Vorbereitungen zu treffen. Zunächst beantworte mir aber folgende Frage: Unterstützt du unsere Sache, oder willst du dich weiter zum Sklaven einer Herrschaftskaste machen lassen, deren glorreiche Zeiten sich für immer dem Ende neigen?« Necchton fragte sich, was Saator wohl getan hätte, wenn Heelion ihm die Gefolgschaft verweigert hätte. Gleichzeitig war er erleichtert, dass er sich darüber keine weiteren Gedanken zu machen brauchte. Heelion stimmte zu. Und trat damit der Gruppe der Verschwörer bei. Verdammt, Sesha!, stieß Cloud einen gedanklichen Fluch aus. Warum brichst du die Informationsübertragung an dieser Stelle ab? Immerhin war er geringfügig klüger als zuvor, kannte die Identität derer, die für die versteckten Bereiche des Schiffs verantwortlich waren, kannte ihre Namen und ihre Motive. Worüber er noch immer nichts wusste, waren die Eigenschaften jener Ressourcen, die
derart gut verborgen waren, dass nicht einmal Sobek je von ihnen erfahren hatte. Mehr ist aus den vorhandenen Daten nicht zu rekonstruieren, erklärte die KI, von Clouds zunehmender Unbeherrschtheit gänzlich unberührt. Schon gut, gab Cloud zurück. Lass mich einen Moment lang nachdenken. Der Plan der Wissenschaftler war es gewesen, Sobek und die anderen Mitglieder des Septemvirats zu stürzen, um deren Plätze einzunehmen. Nach allem, was Cloud wusste, konnte dieser Plan nur gescheitert sein. Aber weshalb? Waren die Hohen ihnen doch noch auf die Schliche gekommen? Aber weshalb wussten sie dann nichts von der brisanten Hinterlassenschaft der SESHA-Konstrukteure, die diese in die vollständigen – und von ihnen geheim gehaltenen – Konstruktionspläne eingearbeitet hatten. Erzähle mir alles, was aus den archivierten Daten über das weitere Schicksal der Wissenschaftler um Saator hervorgeht. Die KI reagierte prompt. Und offenbarte ihm die ganze entsetzliche Wahrheit.
Vergangenheit … »Die Dinge haben sich anders entwickelt, als wir es uns ausgemalt haben.« Niemand widersprach Saators Bemerkung. Auch er selbst hatte keineswegs beabsichtigt, eine Diskussion über das Für und Wider anzustoßen. Zu viel Zeit war vergangen seit damals. Seit dem Bau der Arche … der Flucht aus Samragh … Auch wenn sie diese Zeit im Zustand der Stasis verbracht hatten. Zur Untätigkeit verdammt und der Willkür anderer ausgeliefert. Necchton fragte sich manchmal, wo sie heute stünden, wären die Dinge in anderen Bahnen verlaufen. Doch es war müßig, darüber zu spekulieren.
Seit seiner zweiten Geburt – wie Necchton das Erwachen aus der Stasis zuweilen empfand – plagten ihn des Öfteren Zweifel, ob es gut war, wie sich der Fluss der Ereignisse letzten Endes entwickelt hatte. Hatten er und Saator die Gefahr, die ihrem Volk durch die Virgh gedroht hatte, unterschätzt? Hatte das Septemvirat richtig entschieden, als es mit dem Bau der Arche den Exodus eingeleitet hatte? Vieles deutete darauf hin. Die Flucht aus Samragh war hektischer erfolgt, als alle es erwartet hatten. In irrsinniger Geschwindigkeit waren die Virgh in das Hoheitsgebiet der Foronen eingedrungen und hatten die Welten überrannt. Waren sie zunächst nur über die Randplaneten hergefallen, so hatten sie sich bald immer weiter in Richtung Zentrum vorgewagt. Und nichts hatte ihrem Wüten Einhalt gebieten können. Necchton nahm mittlerweile sogar an, dass Sobek und die anderen Hohen von Anfang an mehr über das tatsächliche Ausmaß der Bedrohung gewusst hatten, als sie der Öffentlichkeit – und auch den Konstrukteuren der Arche – offenbart hatten. Aber all das lag lange zurück. Die Zeit des Wartens war vorbei. Früher als geplant waren sie aus ihrem todesähnlichen Schlaf erwacht. Zurück ins Leben geholt durch einen Raumfahrer aus Bolcrain. Ein Mann aus der Vergangenheit, der den Weg zum Versteck der Arche, der die Ewige Stätte gefunden und ihr Geheimnis entschlüsselt hatte. Auch die von den Foronen erschaffenen Vaaren hatten dies nicht verhindern können … Necchton wusste nicht genau, was Sobek mit ihm vorhatte. Fest stand nur, dass der Hohe darauf bestanden hatte, dass dieser John Cloud sie auf der weiten Reise zurück nach Samragh begleitete. Er und seine Gefolgschaft, eine in vitro geborene Frau, ein mit sonderbaren PSI-Fähigkeiten ausgestatteter Klon, ein kleines Mädchen sowie ein Wesen, dessen Geist sich in Monts alter Rüstung eingenistet hatte … sie alle waren hier an Bord der Arche. Mont … Ganz kurz musste Necchton an denjenigen der sieben Hohen denken, der die Zeit der Stasis nicht überlebt hatte. Offiziell war sein Tod auf eine technische Fehlfunktion zurückzuführen. Was ge-
nau passiert war, würden sie vermutlich nie erfahren. »Wir sind uns also einig, dass schnell etwas geschehen muss«, nahm Saator den Faden auf und warf einen Blick in die Runde. Dank der Sehrezeptoren, die jedem Foronen eine uneingeschränkte Rundumsicht erlaubten, musste er seinen Kopf dazu um keinen Deut bewegen. »Du willst das Kommando über das Schiff übernehmen?«, fragte Heelion, dessen Unwille in Bezug auf Saators Plan während der Stasis noch gewachsen zu sein schien. Er, Necchton, und die anderen beiden hatten sich in einem Teil der Arche zusammengefunden, in dem sie sicher sein konnten, dass niemand durch Zufall in ihre Unterredung platzte. Auch wenn Necchton sich durchaus mit dem Gedanken plagte, dass Sobek bereits Wind von ihren Plänen bekommen haben könnte. Jene Pläne, die in der Konstruktionsphase geboren und inzwischen gereift waren. Vielleicht ließ der Höchste der Hohen sie in diesem Moment ja schon beobachten … Andererseits hatten Sobek und Siroona, die ihn auf dem Weg nach Samragh begleitete, derzeit wahrlich andere Sorgen. »Ich muss mich über dein offensichtliches Erstaunen wundern«, wandte sich Saator an Heelion. »Hat Sobek nicht soeben wieder bewiesen, dass er nicht annähernd in der Lage ist, dieses Schiff zu kommandieren, geschweige denn ein Volk wie das der Foronen anzuführen?« Vereinzelt wurde Zustimmung laut. Auch Heelion kam nicht umhin, Saators Worten einen gewissen Wahrheitsgehalt zuzugestehen. Zu lange saßen sie hier nun schon fest. Im Würgegriff der Schwarzen Sonnen … Es war geschehen, kurz nachdem sie nach mehrwöchiger Reise das Grenzgebiet der Großen Magellanschen Wolke erreicht hatten. Dort waren sie auf die Sonnengiganten gestoßen, neun an der Zahl. Schwarze Riesen, die kein noch so schwaches Licht ausstrahlten. * *siehe BAD EARTH Heftroman 31: »Der Ruf der Schwarzen Sonnen«
Messungen hatten zudem ergeben, dass sie in geheimnisvoller Wechselwirkung zueinander standen, dass ihre Position seit Jahrtausenden stabil war und als Gesamtkonstellation offenbar dafür gedacht, stets jene Position zur Milchstraße hin beizubehalten, die dem wahrscheinlichsten Anflugwinkel für ankommende Reisende – oder Rückkehrer – entsprach. Ganz offensichtlich hatten sie es hier mit keinem natürlichen Phänomen zu tun. Schließlich hatte es dergleichen zur Zeit der Foronenherrschaft nicht gegeben. »Sobek hatte durchaus Gründe, anzunehmen, dass es sich bei dem Gebilde um ein von Foronenhand geschaffenes Bauwerk handelt«, wandte Heelion ein. Niemand widersprach. Tatsächlich war der Funkspruch, den sie aus dem so genannten Sonnenhof aufgefangen hatten, wo er in einer Endlosschleife abgestrahlt wurde, in foronischer Sprache gehalten. Demnach bestand durchaus eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass das Bauwerk auf Foronen zurückging, die die Virgh lange nach der Flucht der Arche besiegt hatten und danach ein Fanal im Halo Samraghs errichtet hatten, ein Leuchtfeuer, um möglichen Heimkehrern zu verstehen zu geben, dass sie in ihrer alten Heimat nichts mehr zu fürchten hatten. »Dennoch war es unverantwortlich, Sesha allein aufgrund einer derart spärlichen Beweislage in eine ungewisse Situation zu manövrieren. Er hätte wissen müssen, dass selbst unsere technischen Möglichkeiten kaum ausgereicht hätten, um ein derartiges Sternenbauwerk zu erschaffen.« Heelion war noch immer nicht zu überzeugen. »Du darfst nicht vergessen, wie viel Zeit seit unserer Flucht vergangen ist. Eine Zeitspanne, in der dem in Samragh verbliebenen Teil unserer Rasse ein erheblicher Entwicklungssprung hätte gelingen können.« »Wie dem auch sei«, wehrte Saator mit einem verächtlichen Laut seiner Schallmembran ab. »Es ist, wie es ist. Und so wie es aussieht, hat Sobek uns offenen Auges ins Verderben geführt.« Dem hatte selbst Heelion nichts entgegenzusetzen. Kurz nach ihrem Eintritt in den Sonnenhof war es gewesen, als würde ein unsichtbarer Schleier fallen, der ihnen bis dahin den Blick
in diesen Bereich verwehrt hatte. Erst da hatten sie erkannt, dass der Hof ein einziger Friedhof war, mit Raumschiffwracks aller Formen und Größen. Ihr Zustand deutete darauf hin, dass sie dieses traurige Dasein schon seit langer Zeit fristeten. Spätestens jetzt war auch Sobek klar geworden, dass es sich beim Sonnenhof in Wahrheit um eine gigantische Falle handelte. Bevor er hatte zurücksteuern können, hatte sich die gesamte Anziehungskraft der neun Sonnen voll und ganz auf die SESHA-Arche fokussiert und das Schiff gebannt. Seitdem gab es kein Vor und kein Zurück mehr. Die Arche war in ihrer gegenwärtigen Position buchstäblich eingefroren. Dazu verdammt, all den anderen über die Jahrtausende gestrandeten Schiffen Gesellschaft zu leisten. Und das bis in alle Ewigkeit, wenn sie nicht bald einen Ausweg fanden. Heelion zog die Schultern ein und wandte sich ab. Ein Zeichen, dass er Saators scharfen Worten nichts mehr zu entgegnen hatte. »Es bleibt also dabei«, stellte Saator mit Genugtuung fest. »Wir machen es wie besprochen.« Der Kopf der Verschwörergruppe wollte gerade damit beginnen, seinen Plan in aller Ausführlichkeit vor den anderen auszubreiten, als es geschah. Urplötzlich war es da. Ein gleißendes Licht, das keinen konkreten Ursprung zu haben schien, sondern von überall her gleichzeitig kam. Necchton hatte das Gefühl, davon nicht nur von außen bestrahlt zu werden. Nein, es fühlte sich an, als würde es seine Panzerhaut durchdringen, nach seinem Innersten greifen und es mit eisiger Kälte erfüllen. Sein Blick fiel auf Saator. Für einen kurzen Moment konnte er den inneren Aufbau seines Gegenübers genau erkennen. Dann, mit einem Schlag, erlosch sein Bewusstsein …
Clouds Gedanken überschlugen sich. Der Sonnenhof … Fast – aber nur fast – hätte Cloud die Ereignisse, die zum Tod fast der gesamten foronischen Besatzung geführt hatten, vergessen. Zu viel war seit-
dem passiert, als dass er Zeit gefunden hätte, lange über die Vergangenheit zu grübeln. Nach und nach wurde ihm die Brisanz dessen, was er soeben erfahren hatte, in ihrer gesamten Tragweite bewusst. Keiner der sieben Hohen, nicht einmal Sobek, der Kopf des Septemvirats, hatte jemals etwas von den verborgenen Aspekten der Arche erfahren. Welche Geheimnisse verbargen sich hinter den ausgeklügelten Sicherheitsschaltungen? Was hatten Saator und seine Komplizen dort versteckt? Worum handelte es sich bei den unbekannten Faktoren, die die RUBIKON angeblich so einzigartig machten? Das war aus den Informationen aus dem Datenspeicher der KI bisher nicht hervorgegangen. Ich verlange weitere Details, erklärte Cloud zum wiederholten Male. Negativ, kam es kurz darauf zurück. Zugriff auf die angeforderten Informationen nicht möglich. Wie kann das sein? Cloud war in höchstem Maße irritiert. War es Fontarayn am Ende doch nicht gelungen, die Sperre komplett aufzuheben? Oder hatte er ganz bewusst darauf verzichtet, jene Bereiche offen zu legen, die nähere Informationen über die Besonderheiten der Konstruktion ihres Schiffes enthielten? Melde Datenkorruption, präzisierte die KI das Problem. Durch unautorisierten Zugriff wurde ein weiterer Schutzmechanismus ausgelöst. Diese verdammten Bastarde! In Clouds Verwünschung schwang durchaus ein Hauch von Anerkennung mit. Das Sicherheitssystem, mit dem die Wissenschaftler um Saator ihr Geheimnis vor unerlaubtem Zugriff geschützt hatten, nötigte zweifellos einen gewissen Respekt ab. Allein die Tatsache, dass es ihnen gelungen war, selbst das Oberhaupt der Foronen über solch lange Zeit zu narren, war eine beachtliche Leistung – auch wenn es Clouds eigenen Plänen eindeutig zuwiderlief. Egal. Cloud hatte genug erfahren. Rasch löste er den Öffnungsmechanismus aus und entstieg dem Kommandosessel. Erschöpft beantwortete er die Fragen, die von allen Seiten auf ihn einstürmten. Er stand noch immer ganz unter dem Eindruck des Erfahrenen. Ihm kam es vor, als sei er gerade von einer Zeitreise zu-
rückgekehrt, die ihn wirklich und wahrhaftig an den Ort des Geschehens versetzt hatte. Samragh … Necchton … Saator … Alles war so nah, so greifbar gewesen, dass es ihm keine Mühe bereitete, das neu gewonnene Wissen weiterzugeben. Deutlich nahm er die Verwunderung vor allem auf Scobees Gesicht wahr. Wie ihm selbst, fiel es auch ihr sichtlich schwer, diese Informationen mit dem in Einklang zu bringen, was sie über Sobek zu wissen glaubten. »So weit, so gut«, gab sie zurück. Wohl wissend, dass momentan keine Zeit für längere Diskussionen war. »Aber was fangen wir mit diesen Erkenntnissen an?« »Angesichts dieser Entwicklung wäre es jedenfalls unklug, die RUBIKON herzugeben«, meinte Jarvis. »Haben wir überhaupt eine Wahl?« Es war Algorian, der die Frage stellte. Jiim und Cy pflichteten ihm bei und machten deutlich, dass sie nicht das geringste Interesse an der Konfrontation mit einer Foronenübermacht hatten. Eine klassische Zwickmühle, dachte Cloud, ohne es laut auszusprechen. Wie auch immer wir uns entscheiden, wir können nur verlieren. Es sei denn … Clouds Blick fiel erneut auf die Holosäule. Und auf das Sternengewimmel, das sich durch Fontarayns Einwirken wie aus dem Nichts im vormals leeren Raum materialisiert hatte. Cloud wandte sich den beiden Gloriden zu. Fontarayn und Ovayran hatten der Diskussion bisher als unbeteiligte Zuhörer beigewohnt. Gerade so, als ginge sie das alles nichts an. Dabei waren sie möglicherweise die Einzigen, die in dieser Situation eine Entscheidung herbeiführen konnten. »Ich frage mich, Fontarayn«, setzte Cloud nachdenklich an, »ob der HAKAR dasselbe sieht, was auch wir sehen.« »Deine Frage ist leicht zu beantworten«, gab der Gloride zurück. »Das andere sieht nur das, was auch du gesehen hast, bevor …«
»Bevor du den Schleier gelüftet hast«, beendete Cloud den Satz. »Wenn dem so ist, gibt es dann eine Möglichkeit, nicht nur das Verborgene sichtbar zu machen, sondern selbst … nun, Bestandteil des Verborgenen zu werden?« Schräg gegenüber sah er Scobee langsam nicken. Ihr dämmerte, worauf Cloud hinauswollte. Wenn es möglich war, hinter den Schleier zu dringen, der für die Foronen nach wie vor existierte, bestand eine realistische Chance, sich dem Zugriff des HAKARs zu entziehen. Alle Blicke ruhten gebannt auf dem Gloriden, in dessen Händen möglicherweise ihrer aller Leben lag. Doch bevor Fontarayn antworten konnte, wurde ihm das Wort jäh entzogen. Wieder war es Mecchits Antlitz, das sich als plastisches Relief in der Holosäule abzeichnete, während die KI für alle außer Cloud – der das Idiom beherrschte – die knarzenden Laute übersetzte, die seiner Membran entströmten. »Die Frist, die ich euch gewährt habe, ist abgelaufen«, dröhnte es durch die Kommandozentrale. »Wie lautet eure Entscheidung?« Clouds Blick huschte zwischen der Holosäule und dem Gloriden hin und her. Dann nickte er und meinte: »Dein Angebot, Mecchit, ist überaus großzügig. Nach kurzer Beratung haben wir uns darauf geeinigt, es anzunehmen.« »Eine kluge Entscheidung«, gab Mecchit zurück. »Ich werde alle für den Tausch erforderlichen Vorbereitungen in die Wege leiten.« Noch während er sprach, geschah das, was kurz zuvor schon einmal geschehen war. Fontarayns Gestalt zerfloss, wurde zu einem gleißenden Licht, das die Kommandozentrale für einen kurzen Moment auszufüllen schien, bevor es an einer bestimmten Stelle im Boden verschwand. Sekundenlang geschah nichts. Cloud kam es vor, als könne er die Herzen seiner Kameraden im Gleichklang pochen hören. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die in Wahrheit vermutlich weniger als eine knappe Minute dauerte, manifestierte sich Fontarayn
wieder in seiner humanoiden Gestalt vor ihnen. Sein Kommentar war knapp und doch sorgte er für kollektives Aufatmen. »Es ist vollbracht …!«
»Denkst du, du kannst ihm trauen?« Die Stimme von Tokktor, Mecchits neuer rechter Hand, klang hinter dem Hohen auf, kurz nachdem die Verbindung zur Arche getrennt und John Clouds Gesicht aus der Holosäule verschwunden war. Während der gesamten Unterredung hatte sich Tokktor zurückgehalten. Jetzt schwang eine Spur von Sorge in seinen Worten mit. »Ich traue niemandem außer mir selbst«, gab Mecchit unumwunden zurück. »Ich weiß jedoch, dass der Mensch John Cloud keine andere Wahl hat, als unser Angebot anzunehmen. Und er weiß das auch.« »Dennoch …«, sagte Tokktor zögerlich. »In meiner Eigenschaft als strategischer Berater muss ich zur Vorsicht mahnen.« Mecchit fuhr in einer schnellen Bewegung herum, sodass Tokktor unwillkürlich einen Schritt zurückwich. »Denkst du im Ernst, ich bin bereit, John Cloud und seinen Handlangern einen HAKAR zu überlassen? Du musst wahnsinnig sein, wenn du mich derart freigiebig einschätzt.« Tokktors Augenwülste wölbten sich leicht nach vorne. Bei ihm ein Ausdruck von Irritation. »Du stellst ihm eine Falle?«, sagte er nach einem Moment des Schweigens. »Denkst du ernsthaft, ich könnte weiterleben, ohne den Frevel zu sühnen, der an unserem Volk begangen wurde? Ich hole mir zurück, was uns gehört. Und danach führe ich die Menschen, die unser Heiligtum entweiht haben, ihrer gerechten Strafe zu.« Tokktors Züge entgleisten, und seine Sprechmembran vibrierte erregt, ohne einen hörbaren Laut zu produzieren. Es dauerte einen Moment, bis Mecchit verstand, dass sich Tokktors Reaktion nicht auf ihn und seine Worte bezog, sondern auf
etwas, was hinter ihm zu sehen war. Sein eigener Blick fiel auf die Holosäule, in der bis vor wenigen Augenblicken noch die Arche zu sehen gewesen war. Jetzt war dort nichts als die Schwärze eines völlig leeren Raumes, wie der Hohe mit wachsender Verwunderung feststellte. »Was geht hier vor?«, entfuhr es ihm wutschnaubend. »KI, eine Erklärung!« »Das Schiff ist nicht mehr zu orten«, erwiderte der Bordrechner in neutralem Tonfall. »Es ist, als hätte es nie existiert …«
»Wie kann das sein?«, entfuhr es Tokktor mit unüberhörbarem Entsetzen. »Wie kann sich ein Schiff von einem Moment zum anderen in nichts auflösen – über diese Art Tarnung, die ein HAKAR nicht durchschauen könnte, verfügte SESHA nie!« Mecchits grimmiger Blick verriet ihm, dass es wohl am besten war, fürs Erste zu schweigen. Keine Macht der Welt hätte ihn jetzt noch dazu gebracht, den Hohen offen darauf hinzuweisen, dass er ihn zuvor noch gewarnt hatte. »KI!«, polterte Mecchit den Bordrechner an, als sei das Verschwinden der Arche dessen Schuld. »Erneuter Ortungsscan! Das Schiff befindet sich möglicherweise unter einem uns unbekannten Schutzschirm.« Auch wenn ich mir sein Vorhandensein nicht einmal ansatzweise erklären könnte, geisterte es durch Mecchits Gedanken. Aber wer konnte schon sagen, was mit SESHA passiert war, seit die Geschöpfe von der Erde die Arche in Besitz genommen hatten? »Ortungsversuch fehlgeschlagen«, meldete die KI nur Augenblicke später. Bebend vor Wut starrte Mecchit in die Holosäule. Diese unerwartete Entwicklung der Ereignisse drohte seinen Plan zu gefährden. Auch wenn es höchst ärgerlich war, blieb ihm nichts anderes übrig, als umzudisponieren. Er musste denjenigen benachrichtigen, vor dem er die Entdeckung der Arche noch kurz zuvor unter allen
Umständen hatte geheim halten wollen. Mecchit wartete ab, bis er sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte. Dann befahl er der KI, eine Verbindung zu Sobeks HAKAR herzustellen. Wenig später erschien die Physiognomie des Höchsten der Hohen als dreidimensionales Abbild in der Holosäule. »Sei gegrüßt«, sagte Mecchit in möglichst neutralem Tonfall, der seine wahren Gedanken vor seinem Gegenüber verbarg. »Du hast mir etwas mitzuteilen?«, fragte Sobek kurz angebunden. »In der Tat. Ich habe eine Entdeckung von größter Tragweite gemacht.« Sobek sagte nichts, wartete nur ab. »Es geht um die Arche, die unvermittelt unseren Weg kreuzte.« Selbst nach dieser Offenbarung ließ Sobek nichts von dem, was ihn bewegte, nach außen dringen, sondern wahrte die Souveränität, die von einem Herrscher seines Kalibers erwartet wurde. »Diese Nachricht kommt überraschend«, gab der Hohe unumwunden zu. »Wie habt ihr auf diese Entdeckung reagiert?« »Ich forderte die unrechtmäßige Besatzung auf, das Schiff preiszugeben.« »Ich nehme an, sie haben sich deiner Anordnung widersetzt.« »Nicht, wie du es wahrscheinlich meinst …«, deutete Mecchit die schlechte Nachricht an. »Bevor wir etwas unternehmen konnten, löste sich das Schiff vor unseren Augen auf.« Mecchit sah, wie ein leichtes Beben Sobeks Körper erfasste. Hatte er sich bisher völlig unter Kontrolle gehabt, so fiel ihm dies unter Kenntnisnahme des vollständigen Sachverhalts zunehmend schwerer. »Wie kann das sein?« »Wir wissen es nicht«, räumte Mecchit ein und fügte rasch hinzu: »Von einem Moment zum anderen verschwand das Schiff aus unserer Ortung. Selbst die KI ist ratlos.« »Ich stelle fest, dass meine Anwesenheit dringend erforderlich ist«, gab der Hohe zurück. »Ich erteile dir hiermit den Befehl, bis zu meinem Eintreffen die Stellung zu halten. Sollte sich eine Änderung der
jetzigen Situation ergeben, befehle ich dir, mir dies unverzüglich mitzuteilen.« »Selbstverständlich«, sagte Mecchit, obwohl es in ihm brodelte. Damit brach die Verbindung ab. Mecchits Blick verlor sich in der Leere des Alls, die sich in der Holosäule abbildete und wo bis vor kurzem noch die Arche zu sehen gewesen war. Wo habt ihr euch nur verkrochen?, ging es ihm dabei durch den Sinn. Zähneknirschend musste sich Mecchit eingestehen, dass sich die Dinge in letzter Zeit immer seltener zu seinen Gunsten entwickelten.
6. Kapitel Die ungewohnte Stille, die die Kommandozentrale der RUBIKON beherrschte, hatte etwas Feierliches. Es war, als wolle keiner der Anwesenden die Erhabenheit des Moments durch eine unbedachte Äußerung stören. Nach Angaben der KI bestand das geheime Reich aus 83 Sternen und ihren Umläufern – 83 Systeme, die sich auf unerklärliche Weise der Wahrnehmung Normalsterblicher entzogen hatten. Für die Crew der RUBIKON war es indes nicht nur sichtbar geworden. Sie waren vielmehr zu einem Teil des Unerklärlichen geworden. Sie bewegten sich zwischen Sternen, die es im Normalraum nicht zu geben schien. Auf Clouds Fragen hatte Fontarayn lediglich erklärt, er habe das Schiff auf ein anderes Energielevel gehoben. Wie es aussah, mussten sie sich damit wohl oder übel zufrieden geben. »Wer, denkst du, steckt dahinter?« Es war Scobees Stimme, die dicht hinter Cloud aufklang. »Wenn ich das wüsste, wäre mir um einiges wohler«, gab Cloud zu, ohne sich von der Holosäule und damit von der darin abgebildeten Sternenansammlung, in der sich sein Blick verloren hatte, abzuwenden. »Du rechnest mit einer unmittelbaren Gefahr?«, fragte sie und senkte dabei die Stimme, um die anderen nicht zu beunruhigen. »Wir müssen auf alles gefasst sein.« Es war nicht Cloud, sondern Jarvis, der dies sagte. »Irgendjemand ist daran gelegen, diese Welt vor den Augen anderer zu verbergen. Es kann nicht in seinem Sinne sein, dass jemand in sie eindringt.« »Könnten denn nicht doch Saskanen dahinterstecken?«, meldete sich Algorian zu Wort. Obwohl Cloud und die beiden GenTecs leise gesprochen hatten, waren ihre Worte gehört worden. »Was wir hier beobachten, deckt sich doch sehr mit Boreguirs Fähigkeit, sich ›ver-
gessen‹ zu machen.« Cloud runzelte die Stirn. Dem Bericht der an der Außenmission auf Saskana beteiligten Crewmitglieder zufolge hatten die dort beheimateten Feliden noch nie etwas von dieser Fähigkeit unter ihresgleichen gehört. War es denkbar, dass sie sie unbewusst besaßen – und dass sie so ausgeprägt war, dass sie in gebündelter Form ein ganzes Sternenreich »verschwinden« lassen konnte? »Wir sollten die Fremden nicht vergessen, die wir auf Saskana beobachtet haben«, wandte Jarvis ein. Tatsächlich handelte es sich bei diesen Wesen um eine Unbekannte, die Cloud die größte Sorge bereitete. Jene Käferartigen, die wie aus dem Nichts über den Korallenwäldern von Saskana erschienen waren und die Dörfer der Eingeborenen ohne erkennbare Motivation dem Erdboden gleichgemacht hatten. Aus ihrem Verhalten sprach eine Verachtung jedweden Lebens, die Cloud frösteln ließ. »Wir wissen so gut wie nichts über sie«, nahm Scobee den Faden auf. »Wäre doch möglich, dass sie einen Entwicklungsstand erreicht haben, der es ihnen erlaubt, Derartiges zu vollbringen.« »Wenn dem so ist«, sagte Cloud trocken, »dann haben wir wahrscheinlich ein Problem.« »Du denkst, dass sie unser Eindringen bemerkt haben?«, fragte Jarvis. »Ich halte es zumindest für sehr wahrscheinlich«, gab Cloud zurück, während er sich gedanklich bereits den eintreffenden Ortungsdaten widmete. Nach den Ergebnissen eines ersten Scans gab es zwischen den Systemen regen Raumschiffverkehr. Sie mussten also davon ausgehen, dass zahlreiche Planeten bewohnt waren. Und zwar nicht nur von den primitiven Saskanen, sondern von einer weit höher entwickelten Rasse – oder mehreren. »Bei allen Bedenken halte ich es für unerlässlich, dass wir uns die Sache näher ansehen«, schlug Cloud schließlich vor. Niemand widersprach. Auch Cy, Algorian und die beiden Gloriden nicht. Cloud fiel auf, dass Fontarayn und Ovayran sich wieder einmal vornehm aus der Diskussion heraushielten, als ginge sie das alles nichts an. Irgendwie wurde er aus den beiden seltsamen Wesen nicht schlau.
Und wenn er sich nur in Erinnerung rief, dass sie die Fähigkeit besaßen, das Schiff jederzeit und ganz mühelos unter ihre Kontrolle zu bringen, dann … Nein, darüber wollte er jetzt nicht nachdenken. Vor ihnen lag eine Aufgabe, die seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit verlangte. 83 Welten, die es zu erforschen galt. Und auf jeder einzelnen von ihnen mochte ein unbekannter Feind nur darauf warten, dass sie sich in seinen Einflussbereich begaben. Die Welt gehört den Mutigen, lautete ein Sprichwort von der Erde, das sich Cloud in diesem Moment ins Gedächtnis rief. Mit diesem Gedanken gab er der RUBIKON den Befehl, Fahrt aufzunehmen.
Der Vorstoß erfolgte langsam und mit der erforderlichen Umsicht. Cloud, der in jungen Jahren dazu geneigt hatte, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen, hatte in seiner Zeit als Kommandant gelernt, dass es Situationen gab, in die man sich nicht überhastet begeben sollte. Das Erlebnis im Sonnenhof stand ihm jetzt, nachdem die KI es ihm wieder einmal ins Gedächtnis gerufen hatte, besonders deutlich vor Augen. Manchmal war es schwer, sich dank der relativen Sicherheit, die die RUBIKON mit ihrer ausgereiften Bewaffnung bot, nicht unbesiegbar zu fühlen. Defensiv wie offensiv war der Rochenraumer so gut gewappnet wie kein anderes Schiff, das Cloud jemals betreten, geschweige denn kommandiert hatte. Was nicht hieß, dass er sich davon in einer trügerischen Sicherheit wiegen lassen durfte. Erlebnisse wie im Sonnenhof hatten deutlich gezeigt, dass durchaus Kräfte existierten, die in der Lage waren, den Koloss schachmatt zu setzen. Und Cloud legte es nicht unbedingt darauf an, herauszufinden, über welche Fähigkeiten jene verfügten, in deren Macht es lag, ein ganzes Sternenreich vor den Augen anderer zu verbergen. Cloud saß zurückgelehnt im Kommandositz, den Blick auf die Holosäule gerichtet, auch wenn seine Gedanken immer wieder abdrifteten. Jarvis hatte den Platz neben ihm eingenommen. Scobee, Cy und Algorian hatten die Zentrale indes verlassen, um sich auszuru-
hen und Kräfte zu sammeln. So langsam, wie ihr Vorstoß in den unbekannten Sektor erfolgte, würde auf absehbare Zeit wahrscheinlich nichts geschehen, was ihre Anwesenheit erforderlich machte. Wo die beiden Gloriden steckten, hätte Cloud hingegen sehr gern gewusst. Er traute ihnen noch immer nicht vorbehaltlos über den Weg. Schon deshalb nicht, weil er genau wusste, dass er ihnen nichts entgegenzusetzen hatte, sollte es jemals zur Konfrontation mit ihnen kommen. Unwillkürlich dachte er an Prosper Mérimée und seine Gefolgschaft, ein gutes Dutzend deformierter Menschen aus der Freak-Show des Zirkusdirektors. Er hatte sie seit Tagen nicht mehr gesehen – was angesichts der Größe des Schiffes im Grunde nicht ungewöhnlich war. Dennoch … Cloud hatte den Eindruck, dass sie sich den Dingen, die sich an Bord der RUBIKON ereigneten, bewusst entzogen. Und wer mochte es ihnen verdenken? Sie hatten wahrhaft genug durchgemacht, bis sie schließlich im Innern eines Transportcontainers an Bord der RUBIKON gelangt waren. Seitdem waren sie damit beschäftigt, sich ein eigenes Reich einzurichten. Ein Bereich neben Jeltos hydroponischen Gärten war zu einer komfortablen Wohnanlage umgebaut worden, in der die Heimatlosen die Möglichkeit bekommen sollten, sich von den Strapazen ihrer Odyssee zu erholen. Dennoch …. dachte Cloud. Irgendjemand muss sie von den jüngsten Ereignissen in Kenntnis setzen. Zumindest Sarah sollte wissen, wohin die Reise geht. Sarah Cuthbert, die einst mächtigste Frau der Erde … Als ehemalige Entscheidungsträgerin an der Spitze einer der mächtigsten Nationen der Erde hätte es eigentlich ihr Anliegen sein müssen, in die wichtigsten Entscheidungen, die das Schicksal der RUBIKON betrafen, einbezogen zu werden. Zumal sie oft als Sprecherin der neuen Crewmitglieder fungierte. Sie ist müde, wurde es Cloud bewusst. Müde von der Macht und der Verantwortung, die sie zu einem Schatten ihrer selbst werden ließen. Ihre Kraftreserven sind schlichtweg erschöpft.
Tatsächlich erinnerte kaum noch etwas an jene Frau, deren Amtszeit als Präsidentin sich mit der Invasion der Erde durch die KeelonMaster überschnitten hatte. Ein Ereignis, nach dem die Erde, wie Cloud sie kannte, aufgehört hatte zu existieren. Er selbst, der in eine weit entfernte Zukunft geschleudert worden war, wusste um die Ereignisse im unmittelbaren Anschluss an die Invasion nur vom Hörensagen. Doch er bezweifelte, dass auch ein Einziger von Sarahs Amtsvorgängern durch vergleichbar schwere Stunden gegangen war. Neue Ortungsergebnisse liegen vor, riss die KI Cloud aus seinen Tagträumen. »Immer her damit!«, gab der Commander flapsig zurück. In all der Zeit, die sie nun schon miteinander kommunizierten, hatte die KI durchaus gelernt, auch umgangssprachliche Äußerungen ihres Captains richtig zu deuten. Womit sie noch so ihre Probleme hatte, das waren Feinsinn und Ironie. Aber irgendwann, überlegte er müde lächelnd, kriegen wir das auch noch hin. Raumverkehr ist in nahezu allen Sektoren vorhanden, aber das Hauptaufkommen konzentriert sich auf einige Knotenpunkte. Ein dreidimensionaler Aufriss des Sternenhaufens zeichnete sich in der Holosäule ab, wobei die Bereiche mit dem größten Verkehrsaufkommen rot markiert waren. Cloud stellte fest, dass sie in ihrer aktuellen Flugbahn den Bereich der höchsten Dichte zwar nicht direkt ansteuerten, aber zumindest tangierten. »Sollten wir uns nicht zunächst etwas abseits des Trubels bewegen?«, fragte Jarvis, der seit geraumer Zeit nichts mehr gesagt hatte. Hätte Cloud es nicht besser gewusst, er hätte den Gefährten schlafend gewähnt. Immerhin waren dem ehemaligen GenTec derlei menschliche Bedürfnisse noch nicht gänzlich fremd, obwohl sein Bewusstsein in die Rüstung des Foronenführers Mont transferiert worden war – einem Kunstkörper also. Dieses Bewusstsein schätzte, wie Jarvis verraten hatte, nach wie vor Ruhephasen, in denen es abschalten konnte. »Du hast Recht«, gab Cloud zurück. »Wenn wir uns schon in die
Höhle des Löwen wagen, müssen wir ihm ja nicht auch noch direkt in den geöffneten Rachen fliegen.« Eigentlich gab es keinen Grund, dem Schmiegschirm, der die RUBIKON lückenlos umgab und der wie eine Tarnkappe wirkte, zu misstrauen. Dennoch … solange sie nichts über ihre möglichen Gegner und deren Fähigkeiten wussten, war es ratsam, keine unnötigen Risiken einzugehen. Mit knappen Worten gab Cloud der KI den Befehl, den Kurs so weit zu korrigieren, dass sie die Hauptverkehrsadern mieden. »Was kannst du uns über die Art der Schiffe sagen?«, fragte er dann. Die Zahlenkolonnen, die in Irrsinnsgeschwindigkeit durch die Holosäule schwirrten, deuteten darauf hin, dass Sesha die entsprechenden Berechnungen einleitete. Kurz darauf erloschen die Ziffern und schufen ein dreidimensionales Bild, das Cloud mit einigem Unbehagen erfüllte. Es handelte sich um die Darstellung eines eher kleinen Schiffs, dessen Außenhülle matt grünlich glänzte. Sein Körper war länglich und mündete in einen Ring. Nicht nur Cloud überraschte der Anblick. Auch Jarvis stieß einen Laut der Verwunderung aus, der, obwohl synthetisch erzeugt, verblüffend menschlich klang. »Ist das nicht …?« Jarvis ließ seine Frage unvollendet. Cloud nickte nur. Es war eines jener Schiffe, denen Fontarayns goldenes Kugelschiff zum Opfer gefallen war. »Sieht aus, als wäre unsere Vorsicht gerechtfertigt«, murmelte Cloud. »Vor allem, wenn man bedenkt, was die Mistkerle mit unserem Schmiegschirm angestellt haben.« Er hatte ihn noch genau vor Augen, jenen Schwarm grünlich schimmernder Schiffe, die neben Fontarayns Kugelraumer richtig winzig ausgesehen hatten. Wie ein Heer von Zwergen, das sich auf den großen Gulliver stürzte.
Cloud hatte nie herausgefunden, weshalb Fontarayn sich der Attacke der Winzlinge nicht erwehrt hatte. Fast hatte es ausgesehen, als besäße sein Schiff überhaupt keine Waffensysteme. Kurz darauf war der Angriff auf die RUBIKON erfolgt. Zunächst hatte es ausgesehen, als hätte der Schmiegschirm, dessen Tarnmechanismus bis dahin noch nie versagt hatte, mit einem Mal seine Wirkung verloren. Als sich kurz darauf herausstellte, dass Sesha den Schirm dem Anschein nach eigenmächtig ausgeschaltet hatte, hatte Cloud die Welt nicht mehr verstanden. Von außen war etwas in die Systeme eingedrungen, um sie kurzzeitig zu übernehmen. Eine Art Virenbefall. Nur unter erheblichem Kraftaufwand war es der RUBIKON gelungen, den heimtückischen Angriff abzuwehren und die fremde Einflussnahme zurückzudrängen. Nichtsdestotrotz hatten die Schiffe das goldene Kugelschiff zerstört. Doch anstatt danach die RUBIKON weiter ins Kreuzfeuer zu nehmen, hatten sie kurzerhand abgedreht und waren … verschwunden. Einfach so und auf geradezu gespenstische Weise, ohne dass verfolgbare Antriebsemissionen messbar geworden wären. »Allmählich ergibt das alles einen Sinn«, sagte Cloud nachdenklich. »Du denkst an das spurlose Verschwinden der Winzlinge, nachdem sie Fontarayns Schiff zerstörten?«, fragte Jarvis und fügte umgehend hinzu: »Da ist was dran. Ich könnte mir vorstellen, dass Mecchit vorhin ähnlich dumm aus der Wäsche geschaut hat, als wir uns vor seinen Augen in Luft aufgelöst haben.« Dem hatte Cloud nichts hinzuzufügen. Wer auch immer die Schiffe befehligte, er war offenbar in der Lage, ein perfektes und nahezu unbegrenzt großes Tarnfeld zu erzeugen, das nicht nur einzelnen Raumschiffgeschwadern, sondern ganzen Sternensystemen Versteckmöglichkeiten bot. »Saskanen sind das jedenfalls nicht«, ergänzte Jarvis. Eine Bemerkung, die angesichts des Entwicklungsstandes der Katzenkrieger eigentlich unnötig war – und auch wieder nicht, da dieses Tarnfeld einfach zu sehr an Boreguirs Fähigkeit des Sich-vergessen-Machens erinnerte.
»Oder«, mutmaßte der ehemalige GenTec weiter, »es gibt Saskanen, die auf anderen Welten einen erheblich höheren Grad der Entwicklung erreicht haben.« Cloud war skeptisch. Ihm kam es eher so vor, als befände sich Saskana – und all die anderen unter dem Tarnfeld verborgenen Welten – im Würgegriff einer fremden, überaus hoch entwickelten und mindestens ebenso skrupellosen Macht. Diese Vorstellung behielt er jedoch vorerst für sich.
Wenig später hatten sich auf Clouds Aufforderung hin alle wieder in der Zentrale versammelt. Cloud hatte es angesichts des neuen Informationsstandes für unerlässlich erachtet, die Ruhephase seiner Gefährten zu unterbrechen. Wichtige Entscheidungen waren zu fällen, und Cloud hatte sich fest vorgenommen, sie von nun an nicht mehr so einsam zu treffen, wie er es bei der Verhandlung mit Mecchit getan hatte. Auch Sarah Cuthbert hatte er kurz in ihrem neuen Quartier aufsuchen wollen, von Sesha jedoch erfahren, dass sie gerade schlief. Er hatte es nicht übers Herz gebracht, sie zu wecken, und Prosper Mérimée hatte ihn später in dieser Entscheidung bestärkt. »Sie braucht Zeit«, hatte er gesagt, nachdem sie auf dem Gang zusammengetroffen waren. »Wir alle brauchen Zeit«, hatte er hinzugefügt und dabei müde gelächelt. Wie es aussah, musste Cloud tatsächlich fürs Erste auf jeglichen Beitrag der neuen Besatzungsmitglieder verzichten. Dafür hatten sich Scobee, Cy und Algorian, ohne zu zögern, in der Kommandozentrale eingefunden und in den Schalensitzen Platz genommen. Cloud blieb stehen und erklärte die Situation. Scobee, die er zuvor bereits in aller Kürze auf den neuesten Stand gebracht hatte, nickte wissend bei seinen Worten. Cy und Algorian hörten gebannt zu. »Du willst damit sagen, dass wir uns mitten auf feindlichem Terrain befinden?«, fragte Algorian, nachdem John geendet hatte. »Dass
wir es jeden Moment mit einem Gegner zu tun bekommen könnten, gegen den der Schmiegschirm praktisch wirkungslos ist?« »Ich würde die Sachlage weniger dramatisch beurteilen«, wiegelte Cloud ab und bemühte sich um ein Lächeln. Tatsächlich war es mehr die Müdigkeit als unmittelbare Sorge um ihre Sicherheit, die wie Bleigewichte an seinen Mundwinkeln hing. »Wir hatten es bereits mit einem ganzen Schwarm dieser Schiffe zu tun und überstanden den Angriff. Unser Schild wurde damals nicht einmal zu fünf Prozent seiner Kapazität belastet.« »Und der Zugriff auf die Systeme?«, wandte Cy ein. »Wurde erfolgreich abgewehrt. Auch wenn Fontarayns Schiff dem Angriff nicht standhalten konnte, die RUBIKON scheint es zu können.« Während er das sagte, sah er sich suchend in der Zentrale um. Fontarayn und Ovayran waren noch immer nicht aufgetaucht. Sie waren gänzlich von der Bildfläche verschwunden – und das womöglich im wahrsten Sinne des Wortes. Cloud musste an die »verborgenen Ressourcen« denken, auf die ihn Fontarayn aufmerksam gemacht hatte. Wie viel wusste der Gloride wirklich darüber? War es ihm und seinem Artgenossen möglich, die Sperre zu umgehen, die die Konstrukteure zum Schutz vor unberechtigten Zugriffen eingebaut hatten? Cloud reute es immer mehr, sich auf das Energiewesen eingelassen zu haben. Auch wenn Fontarayn ihn möglicherweise vor einem großen Fehler bewahrt hatte, indem er ihm davon abriet, Mecchit das Schiff auszuhändigen. Auch die Tatsache, dass sie dem Hohen auf solch abenteuerliche Weise ein Schnippchen geschlagen hatten, war den Gloriden zu verdanken. Dennoch. Ihre Anwesenheit war nach wie vor ein zweischneidiges Schwert, da ihre Motive weitestgehend im Dunkeln blieben. »Was nicht heißt, dass wir es auf eine Konfrontation anlegen«, fügte Jarvis hinzu. »Vielmehr haben wir uns darauf verständigt, uns von den anderen Schiffen fern zu halten und größere Verkehrsadern zu meiden.« »Handelt es sich bei den zwischen den Systemen verkehrenden
Schiffen nur um Kriegsgerät?«, fragte Scobee. Cloud konnte sehen, wie sich ihre Markenzeichen, die Augenbrauen-Tattoos, bei diesen Worten beunruhigt nach oben kräuselten. »Nicht nur«, gab er zurück. »Wir konnten durchaus auch größere Schiffe ausmachen, bei denen es sich wohl um Frachter oder Handelsschiffe handelt. Offenbar findet zwischen den Systemen ein reger wirtschaftlicher Austausch statt und …« Cloud verstummte, als Fontarayn und Ovayran die Zentrale betraten. Beide kamen in ihrer humanoiden Gestalt und traten ganz normal durch das Türschott, dessen Transmitterfeld deaktiviert war. »Sieh an«, entfuhr es Cloud. »Habt ihr beschlossen, dass euch die Geschehnisse an Bord doch etwas angehen?« Fontarayns markantes Gesicht formte einen Ausdruck der Verwunderung. »Warum sollten sie das nicht?« Natürlich. Die Sache mit der Ironie. In dieser Beziehung hatten die Gloriden der Schiffs-KI nun wirklich nichts voraus. »Euer Schicksal ist auch das unsere«, fügte Ovayran hinzu. Cloud konnte sich nicht helfen, aber irgendwie klangen die Worte wie auswendig gelernt. »Das will ich allerdings meinen«, sagte er. »Diese Biester …« Er deutete auf die Holosäule, in der noch immer das Abbild des Ringschiffs zu sehen war. »… sind schließlich eure Freunde.« Wenn Fontarayn der Anblick des Schiffes überraschte, ließ er es zumindest nicht erkennen. »Schiffe dieser Bauart haben mich angegriffen und mein Schiff zerstört«, meinte er nur, während sich seine Lippen zu einem verwirrten Lächeln verzogen. »Warum sollte ich ihnen in freundschaftlicher Beziehung verbunden sein?« »Vergiss es«, seufzte Cloud und winkte ab. »Fakt ist, dass sie es speziell auf dein Schiff abgesehen hatten. Sie drehten erst ab, als es zerstört war. Uns ließen sie dagegen fast unbehelligt … Na ja, ich untertreibe, ich gebe es zu. Aber du willst mir doch nicht immer
noch ernsthaft weismachen, dass du keine Ahnung hast, wer die Angreifer waren?« »Sie ließen von euch ab, weil sie merkten, dass sie eurer Abwehr nicht gewachsen waren«, sagte Fontarayn, ohne auf Clouds eigentliche Frage einzugehen. »Mein Schiff dagegen war leichte Beute für sie.« »Sie haben dich also völlig grundlos angegriffen?«, sprang Jarvis Cloud zur Seite. Fontarayn blieb bei seiner Aussage. »Welche Gründe sollten sie gehabt haben?« Cloud warf Jarvis einen Blick zu, der signalisierte, es dabei bewenden zu lassen. Er war sich nicht sicher, ob der Gloride sich nicht vielleicht absichtlich »dumm« stellte. Sicher war nur, dass die Kommunikation mit ihm derzeit in eine Sackgasse führte. Er wandte sich wieder an die übrigen Mitglieder seiner Crew, die das Gespräch mit einigem Befremden verfolgt hatten. »Eine detaillierte Auswertung des interstellaren Verkehrs lässt erkennen, wo sich die Zentralwelt des hiesigen Machtbereichs befindet«, sprach Cloud weiter und zeigte auf die Holosäule, auf der besagte Koordinaten im selben Moment näher herangezoomt wurden. Wir sind ein verdammt gut eingespieltes Team, Sesha und ich … Ein Lächeln huschte über seine Lippen. Scobee, die ihn direkt ansah, erwiderte es mit einem verständnislosen Blick. Schnell wurde er wieder ernst. »Handelt es sich bei dem Zentralsystem um Saskana?«, wollte Cy wissen. Cloud verneinte. »Keineswegs. Saskana befindet sich vielmehr in einer Randzone, die nur spärlich frequentiert wird.« Zur Veranschaulichung zoomte die KI das Saskana-Gestirn heran. Die Distanz zwischen beiden Systemen war in der Tat beachtlich. »Gehe wieder zum Hauptsystem zurück!«, wies Cloud die KI an, die augenblicklich gehorchte. Ganz langsam, als würden sie sich dem System nicht nur virtuell, sondern wahrhaftig nähern, wurde die Darstellung der Sonne und ihrer Umläufer größer, sodass nach und nach immer mehr Details
sichtbar wurden, bis … »Was, in aller Welt, ist das …?«, keuchte Scobee.
Cloud wurde durch Scobees Ausruf dazu animiert, sich ebenfalls der Holosäule zuzuwenden. Zuvor war sein Blick von Gefährte zu Gefährte gehuscht. Bisher war er noch nicht dazu gekommen, sich eingehender mit dem System zu beschäftigen. Jetzt, da er sah, was sich in der Holosäule abbildete, war auch er einen Moment lang sprachlos. »Ist es das, was ich denke, das es ist?«, fragte Jarvis in die betretene Stille hinein. »Ich nehme an, wir denken alle dasselbe«, gab Scobee zurück. Es war kaum zu leugnen. Zu sehen war ein Planet, der ein dunkles Gebilde umkreiste, das jedoch keine Sonne war, sondern … »Ein schwarzes Loch?«, sprach Algorian es als Erster aus. »Wenn es denn eines ist, dann ist es verdammt winzig«, bemerkte Jarvis. »Und was sind diese seltsamen Gebilde um den Planeten herum?«, fragte Cy. »Sesha, gib uns eine Analyse der schematischen Darstellung«, wies Cloud die KI an, um so schnell wie möglich Klarheit zu bekommen. »Was wir sehen, ist ein Planet, der auf einer stabilen Bahn um ein Schwarzes Loch kreist«, erklärte die KI. »Flankiert wird er von fünf Körpern, die ihn in stationärer Position umgeben.« »Sehe ich richtig, dass es sich dabei um … Sonnen handelt?«, fragte Cloud. »Die Gebilde erfüllen durchaus diese Funktion. Sie sind jedoch zweifellos künstlichen Ursprungs.« In der 3D-Darstellung war deutlich zu erkennen, dass die Sonnen den Planeten ganzflächig bestrahlten, sodass kein Bereich ausgespart blieb und er in immerwährender Helligkeit lag. »Ich weiß nicht, wie's euch geht«, ließ Scobee sich vernehmen. »Aber ich denke, davon sollten wir uns erst einmal fern halten.«
»Durch die Kurskorrektur, die ich vornehmen ließ, kommen wir nicht einmal in die Nähe dieses Systems«, erklärte Cloud. In seiner Stimme schwang allerdings ein Hauch von Bedauern mit. »Früher oder später werden wir uns wohl noch damit beschäftigen müssen«, sagte Jarvis, der Clouds Unterton bemerkt hatte. »Momentan wäre es jedoch wirklich sinnvoller, wenn wir uns langsam an die Sache herantasten und erst einmal versuchen, herauszufinden, womit wir es hier zu tun haben.« »Mein Plan sieht vor, einen der spärlich frequentierten Planeten im Randgebiet anzufliegen«, meinte John. »Saskana kennen wir ja bereits. Mich würde interessieren, was wir auf einer der anderen Welten vorfinden. Aus diesem Grund habe ich Sesha die Anweisung gegeben, die Ballung nach einem für unsere Zwecke geeigneten Planeten zu durchforsten. Wobei den Welten in Randbezirken oberste Priorität eingeräumt wird.« Der Plan stieß auf allgemeine Zustimmung. Vor allem Jarvis und Algorian gefiel der Gedanke an eine neuerliche Außenmission. Es dauerte nicht lange, bis die KI eine für ihre Zwecke geeignete Welt ausgemacht hatte. In der Holo-Darstellung präsentierte sie sich als bläulich schimmernder Planet vom etwa 0,6-fachen der Erdgröße, mit einer für die RUBIKON-Crew atembaren Atmosphäre. »Wer geht alles mit runter?«, fragte Scobee. »Ich denke, unser bisheriges Team für Außenmissionen hat sich bewährt«, sagte Cloud, während sein Blick von Scobee zu Jarvis und weiter zu Algorian wanderte. Jarvis verfügte mit seinem wandelbaren Kunstkörper über die besten Möglichkeiten, sich drohenden Gefahren zu erwehren. Der Aorii war mit seinen Parasinnen in der Lage, Dinge wahrzunehmen, die Normalsterblichen auch bei größter Aufmerksamkeit verborgen blieben. »Ich weiß nicht, ob Jiim …« »Selbstverständlich bin ich dabei«, fiel der Narge ihm ins Wort. Eigentlich hätte Cloud Jiim nach den Geschehnissen auf Saskana lieber eine Ruhepause gegönnt. Doch der Narge wirkte gut erholt. Seit ihrer ersten Begegnung auf Kalser, die nach Clouds Empfinden mittlerweile eine halbe Ewigkeit zurückzuliegen schien, hatte er
den Geflügelten gut genug kennen gelernt, um dessen Konstitution und Risikobereitschaft richtig einzuschätzen. »Dann wäre ja alles klar«, sagte Jarvis. »Jetzt müssen wir nur noch –« »Ich begleite euch ebenfalls.« Alle Köpfe drehten sich ruckartig um und hefteten sich auf denjenigen, der diese Ankündigung gemacht hatte. Es war ausgerechnet Fontarayn, der bisher auf die Vorgänge um ihn herum mit einer absonderlichen Teilnahmslosigkeit reagiert hatte. Vielleicht interpretiere ich ihn auch einfach nur falsch, ging es Cloud durch den Kopf. Vielleicht ist es ein Fehler, bei der Beurteilung des Verhaltens eines solch fremdartigen Wesens menschliche Maßstäbe anzulegen. Man könnte denken, ich hätte das bei meinen Begegnungen mit extraterrestrischem Leben mittlerweile gelernt. »In Ordnung«, sagte Cloud. Sehr zur Überraschung von Scobee, die ihn halb fragend, halb wütend anblitzte. »Fontarayn ist mit seinen Fähigkeiten eine perfekte Ergänzung für das Team und –« »John …«, drängte sich Scobee in seine Rede. »Kann ich dich einen Moment sprechen? Wenn möglich, unter vier Augen.« Cloud nickte nur und wies mit einer einladenden Handbewegung in Richtung Türschott. Er ließ Scobee den Vortritt. Verfolgt von den fragenden Blicken der anderen verließen sie die Zentrale, blieben im Zwischengang dahinter stehen und warteten, bis sich das Schott geschlossen hatte. »John, ich habe kein gutes Gefühl dabei, diesem Burschen im Notfall mein Leben anzuvertrauen.« »Mir ist klar, dass wir noch zu wenig über ihn wissen, um ihm ohne Einschränkung zu vertrauen. Bisher haben er und Ovayran sich jedoch als durchaus hilfreich erwiesen. Überleg mal, wo wir ohne sie jetzt wären.« »Ich habe nicht bestritten, dass ihre Fähigkeiten überaus nützlich sind. Ich bin mir nur nicht sicher, ob sie sie im Zweifelsfall auch wirklich nur zu unserem Vorteil einsetzen. Du hast doch selbst gesehen, wie Fontarayn sich geziert hat, bis er dir endlich Einblick in die verborgenen Bereiche unseres Schiffes gewährte. Und dann die Sa-
che mit den Schiffen, die ihn angegriffen haben und die ausgerechnet in diesem System beheimatet zu sein scheinen. Ich sage dir, der Bursche ist nicht ganz koscher.« »Ich bestreite nicht, dass er und Ovayran in erster Linie auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind«, gab Cloud zu. »Nach allem, was wir über die Gloriden wissen, haben wir jedoch keinen Grund, anzunehmen, dass ihre Ziele den unseren konträr gegenüberstehen. Denk an die grünen Ringschiffe und daran, was sie mit der RUBIKON angestellt haben. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nie. Aber wenn ich mich entscheiden müsste, auf wessen Seite ich mich schlage – auf deren oder auf die der Gloriden –, dann wüsste ich die Antwort.« Scobee sah ihn aus ihren großen dunklen Augen an. Obwohl sie den Kopf schüttelte, sagte sie: »Na gut. Der Gloride ist dabei. Aber lass dir gesagt sein, dass ich ihn keine Sekunde aus den Augen lasse.« Damit ließ sie ihn stehen und trat wieder auf das Schott zu, das automatisch vor ihr zur Seite glitt. Cloud wartete noch einen Moment lang und hörte sie auch schon drinnen in der Zentrale leicht sarkastisch rufen: »Willkommen im Team, Sonnenstrahl.«
7. Kapitel Den Oberflächenscans nach handelte es sich bei dem Planeten um eine stark bewaldete, hügelige Welt mit überwiegend subtropischem Klima. Aus ihrer Perspektive waren zwei große Kontinente zu erkennen, die durch eine schmale Landzunge miteinander verbunden waren. Die nördliche Landmasse erinnerte von ihrer Form her an Australien, war jedoch an den Rändern abgeflachter und wesentlich größer als das irdische Down under. Nach unten hin lief sie trichterförmig zu und ging in den südlichen Teil über, der wesentlich länger und schmaler war. Was die Topographie anging, so fielen bereits auf den ersten Blick gewaltige Seen auf, die offenbar charakteristisch für den nördlichen Teil des Planeten waren und mitunter schon fast die Ausmaße kleinerer Meere hatten. Der Süden war vor allem von riesigen Bergketten und Waldgebieten geprägt, die oft stark nebelverhangen waren. Darüber hinaus gab es Anzeichen einer höher entwickelten Zivilisation, auch wenn diese eher spärlich gesät waren. Vor allem auf der Nordhalbkugel waren mehrere Anhäufungen gebäudeartiger, aber seltsam unförmig wirkender Konstrukte zu erkennen, die meist in der Nähe eines der zahlreichen Gewässer errichtet waren. Details der Bauten ließen darauf schließen, dass es sich dabei wohl um militärische Einrichtungen handelte. Zwischen ihnen herrschte ein reger Flugverkehr. Die KI registrierte zahlreiche Gleiter. Die meisten von ihnen wirkten jedoch wenig wendig, sondern ziemlich klobig und dienten offenkundig dem Transport schwerer Lasten. Hin und wieder wurden die Basen auch von Schiffen jenes Typs angeflogen, der Fontarayns Raumfahrzeug zum Verhängnis geworden war. Grund genug, diese Gebiete zunächst zu meiden. Nach längerer
Diskussion hatten sie sich dafür entschieden, die Südhalbkugel anzufliegen, die dortige Lage zu checken und sich dann ihr weiteres Vorgehen zu überlegen. Das waldreiche, nebelverhangene Gebiet war perfekt geeignet, um ungesehen landen zu können. Aus der Vogelperspektive waren darüber hinaus auch einige Schneisen zu erkennen, die künstlichen Ursprungs zu sein schienen. Form und Größe ließen darauf schließen, dass es sich um Felder handelte, auf denen Ackerbau betrieben wurde. Und das wiederum deutete auf eine intelligente Spezies hin. Scobee verbarg das Beiboot, das gerade so eben Platz für das gesamte Außenteam bot, nahe eines Waldstreifens und einer steil aufsteigenden Hügelkette. Für ihre Zwecke war das Versteck bestens geeignet. Zwar war das Versteck aus der Luft einsehbar, aber wer nicht im Tiefflug darüber hinwegzog und direkt nach dem Beiboot suchte, würde es nicht finden. Scobee atmete tief durch, als sich die Schleuse des Beiboots öffnete – einer Konstruktion, bei der sie vom Entwurf bis zur Fertigstellung mitgewirkt hatte. Das Resultat dieses Prototyps war deltaförmig und aus demselben »veränderlichen« Werkstoff hergestellt, aus dem auch die RUBIKON bestand. Für den nötigen Schub sorgte ein Impulsantrieb, interstellare Entfernungen waren damit nicht zu überbrücken, zumindest noch nicht. Die KI hatte nicht zu viel versprochen. Die Luft auf dem Zielplaneten war atembar, wenngleich auch so schwer und drückend, dass es Scobee vorkam, als würden sich ihre Lungen mit Wasser füllen. Die Temperatur betrug gemäßigte 25 Grad Celsius, doch aufgrund der treibhausartigen Schwüle lag die gefühlte Hitze gut zehn Grad darüber. Als Scobee den Kopf hob, blickte sie in einen grauvioletten Himmel. In der Ferne türmten sich Wolkenberge auf. Einige von ihnen sahen aus, als habe die Hand eines versierten Künstlers sie erschaffen. Bleiernes Licht lag über der Landschaft. Die GenTec stieg als Erste aus dem Gleiter. Es war ein zwiespältiges Unterfangen, da der Dunst in Bodennähe so dicht war, dass der Grund der Senke darunter verborgen blieb. Als sie auftrat, versan-
ken ihre Stiefel in schlammigem Morast. Irgendein kleines Tier, das entfernt an einen Laubfrosch erinnerte, sprang in weitem Bogen vor ihr in die Höhe und schräg über sie hinweg. Sofort brachte sie ihren Blaster in Anschlag, entspannte sich jedoch sofort wieder, als sie sah, dass keine Gefahr drohte. Sie war bestimmt nicht ängstlich, aber da sie nicht einmal ansatzweise wussten, womit sie es auf diesem Planeten zu tun bekommen würden, war Vorsicht angeraten. Inzwischen hatten auch die anderen den Gleiter verlassen. Sie warteten noch, bis Jarvis die Luke versiegelt hatte, dann machten sie sich schweigend auf den Marsch. Scobee erreichte den Rand der Senke als Erste. Vorsichtig und mit schussbereitem Blaster spähte sie darüber hinweg, bevor sie sich vollends aus der Deckung wagte. Vor ihr lag Wald, und das Blätterwerk wurde immer wieder von geisterhaften Nebelfetzen durchzogen. Eine Vielzahl unterschiedlichster tierischer Laute drang an ihr Gehör und vermischte sich zu einer kompakten Geräuschkulisse. Zumindest für das menschliche Ohr war es fast unmöglich, einzelne Klänge herauszufiltern und einer bestimmten Quelle zuzuordnen. Lediglich das hohe, abgehackte Keckern eines größeren Vogels hob sich deutlich von der sie umgebenden Melange ab. Fasziniert von dieser einerseits erdrückenden, andererseits aber auch faszinierenden Atmosphäre, die über dem Landstrich lag, drehte sich Scobee langsam um die eigene Achse. In nördlicher Richtung ragte ein gewaltiger Tafelberg in den Himmel. Seine Spitze lag hinter einer dichten Wolkenbank verborgen, die sich an seinen Rändern wie Watte staute. Weit dahinter war ein Gebirgszug zu erkennen. Aus der Ferne wirkte er verwaschen und irgendwie künstlich, als sei er mit zu nassen Farben schludrig auf eine Glaswand geschmiert worden. Scobee drehte sich um, warf einen Blick in die Runde und sah in angespannte, wenn auch tatendurstige Gesichter: Jiim, Algorian … selbst auf Jarvis Gesicht zeichnete sich die Ahnung einer Gefühlsre-
gung ab. Scobee war sich noch immer nicht sicher, ob Geist und Körper mittlerweile so sehr eine Einheit bildeten, dass sich sein Mienenspiel automatisch an der Gefühlswelt seines Bewusstseins orientierte – oder ob er es nur imitierte, um damit … menschlicher zu wirken. Fontarayn gab sich diesbezüglich keine Mühe. Er trug dasselbe Pokerface zur Schau, das er bisher auch unter größter Bedrängnis nicht abgelegt hatte. Er ist kein Wesen aus Fleisch und Blut, führte sich Scobee noch einmal vor Augen. Der Körper, den er uns präsentiert, ist reine Mimikry. Dazu da, uns gegenüber weniger fremdartig zu erscheinen. Aber vielleicht ist gerade das das Problem. Vielleicht sollten wir ihn auch äußerlich fremdartiger wahrnehmen, um seine wahre Natur, du nichts mit der eines Menschen gemein hat, akzeptieren zu können. »Wie gehen wir vor?«, drängte sich Jarvis' Stimme in ihre Gedanken. Die Versonnenheit verschwand sofort aus Scobees Blick. Innerhalb von Sekunden schlüpfte sie gedanklich wieder in die Rolle der Anführerin, die alle akzeptiert hatten. Sie streckte die Hand aus, deutete in Richtung des Tafelbergs und des dahinter liegenden Gebirgszuges. »In dieser Richtung liegen die Felder, die wir aus der Luft gesehen haben. Sie sind unser erstes Ziel. Wir gehen hintereinander und halten uns zunächst dicht am Waldrand.« Alle waren einverstanden. Im Gänsemarsch machten sie sich auf den Weg in ein ungewisses Abenteuer, wobei sie ihre Umgebung bei jedem Schritt genau ins Auge fassten. Bald war klar, dass sich die Vegetation dieses Planeten durch einen erstaunlichen Artenreichtum auszeichnete. Auf beinahe jedem Schritt entdeckte Scobee eine Pflanzenart, die sie vorher noch nie gesehen hatte. Jelto sollte hier sein, dachte sie ein ums andere Mal, wenn ihr Blick auf ein besonders eigentümliches Exemplar fiel. Sie beschloss, dem Florenhüter irgendetwas für seinen hydroponischen Garten mitzubringen, wenn sie später noch daran dachte. Allerdings wusste sie, dass auch Pflanzen nicht immer so harmlos wa-
ren, wie sie aussahen. Unwillkürlich fühlte sie sich an den Todesgürtel auf der Erde erinnert, der die Zone um das Getto umschlossen hatte und deren »Gärtner« Jelto gewesen war. Jener Wald war einzig zu dem Zweck angepflanzt, gehegt und gepflegt worden, um eine Flucht aus dem Getto zu verhindern. Mächtige fleischfressende Pflanzen hatten dort auf unbedarfte Opfer gewartet. Kapselgewächse, die Giftpfeile verschossen, sowie Schlingpflanzen, die diesen Namen wirklich verdienten. Die meisten Gewächse waren extraterrestrischer Herkunft gewesen, auch wenn sich vielleicht einige spezielle Züchtungen aus dem Genlabor darunter befunden hatten. Die Pflanzenwelt dieses Planeten machte bisher einen eher friedlichen Eindruck. Doch Scobee hatte schon oft erlebt, dass sich unter der Maske des scheinbar Friedlichen das Grauen verbarg. Die Keelon waren nur ein Beispiel dafür. Doch auch die Tierwelt hier schien reichhaltig, wie die immerwährende Geräuschkulisse vermuten ließ. Wenn Scobee nach oben blickte, sah sie riesige Vögel, die ihre Schwingen ausgebreitet hatten, um im Gleitflug über die Wälder und Hügel zu segeln. Ihr Körperbau erinnerte an Falken, sie mussten jedoch um ein Vielfaches größer sein, wenn Scobee die Entfernung richtig einschätzte. Immer wieder entdeckte sie auch weitere Kleintiere, die vor ihnen Reißaus nahmen. Einmal sah sie etwas wie eine Ratte, aber von der Größe eines Dackels, konnte es jedoch im Schatten des Waldrands nicht richtig erkennen. Als sie die Stelle erreichten, hatte sich das Tier längst wieder in die sichere Deckung des Waldes geflüchtet. Nach etwa halbstündigem Fußmarsch erreichten sie einen ausgetretenen Pfad, der schnurstracks ins Dickicht führte. Scobee blieb stehen, warf einen kurzen Blick auf ihr Ortungsgerät, in dem die KI alle wichtigen Daten des Oberflächenscans gespeichert hatte und auf dem sie auch stets ihre eigene Position mitverfolgen konnten. Dann drehte sie sich zu ihrer Gruppe um. »Dieser Weg hier führt direkt zu den Feldern, die wir aus der Luft geortet haben. Das bedeutet, dass wir der hiesigen Zivilisation sehr nahe gekommen sind. Ab hier ist besondere Vorsicht angesagt. Ich
fordere jeden dazu auf, nichts Unüberlegtes zu tun und unsere friedlichen Absichten jederzeit deutlich und unmissverständlich zu signalisieren.« Ihr Blick galt dabei vornehmlich Fontarayn, da sie allen anderen Mitgliedern ihres Teams ohnehin vertraute. Der Gloride gab keine Antwort, aber mit einem knappen und reichlich bemüht wirkenden Nicken zu verstehen, dass er sich fügen wollte. Danach wandte sich Scobee an Algorian. Der Aorii-Zweitling hatte den Kopf zur Seite gelegt, als würde er sich auf irgendein Geräusch konzentrieren. »Du hast etwas bemerkt?«, sprach sie ihn darauf an, doch zu ihrer Enttäuschung – oder Erleichterung? Scobee war sich dessen nicht ganz sicher – verneinte er. »Ich nehme keine mentalen Schwingungen wahr, die auf die Anwesenheit intelligenten Lebens hindeuten würden.« Scobee nickte leicht verwundert, dann drehte sie sich wieder um und konzentrierte sich ganz auf den vor ihr liegenden Weg. Diese Teilstrecke war schon deshalb heikel, weil der Wald sie hier zu beiden Seiten umschloss, sie also jederzeit in zwei Richtungen gleichzeitig absichern mussten. Dennoch sah Scobee davon ab, ihren Blaster schussbereit in der Hand zu halten. Was sie soeben ihrer Mannschaft ans Herz gelegt hatte, galt selbstredend auch für sie selbst. Wem auch immer sie möglicherweise bald gegenübertraten, er sollte keinen Zweifel daran haben, dass sie in friedlicher Absicht gekommen waren. Alles andere hätte nachteilige Folgen haben können. Auch die friedlichsten Völker neigten dazu, zum Gegenangriff überzugehen, sobald sie sich bedroht fühlten. Der Weg bis zu den Feldern verlief zum Glück ohne besondere Vorkommnisse. Von den gelegentlichen Kleintieren abgesehen, die hin und wieder über den Weg huschten und selten richtig zu erkennen waren. Scobee blieb stehen, als sie ein Feld erreichten. Schon auf den ersten Blick stellte sie fest, dass sie den Weg möglicherweise umsonst gemacht hatten. Die Beschaffenheit des Bodens deutete darauf hin, dass hier schon lange nichts mehr angebaut wur-
de. Lediglich einzelne verdorrte Pflanzenreste lagen noch auf der sandartigen Krume, wie Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit. Der Zustand des Buschwerks, welches das Feld umgrenzte, ließ erkennen, dass es nicht durch Brandrodung entstanden war, wie man es in vergleichbaren Regionen auf der Erde häufig fand. Vielmehr war das geometrisch nahezu perfekte Rechteck mit Werkzeugen in den Busch geschlagen worden. »Wir sind vergeblich gekommen«, sprach Jiim aus, was die meisten dachten. »Nicht unbedingt«, meinte Scobee. »Nur weil dieses Feld nicht benutzt wird, heißt es nicht, dass diejenigen, die es angelegt haben, nicht mehr in der Nähe sind.« »Ich könnte mich in die Lüfte schwingen und mir die Sache mal von oben ansehen«, schlug Jiim vor. Scobee ging kurz in sich, dann sagte sie: »In Ordnung. Aber pass auf dich auf!« Nur allzu lebhaft war ihr noch in Erinnerung, was Jiim auf seinem letzten Erkundungsflug während ihrer Saskana-Mission widerfahren war. Eine Zeitlang hatten sie geglaubt, ihn niemals wiederzusehen. Die Sorge hatte sich zum Glück als unbegründet erwiesen. Dennoch. Der nächste Zwischenfall würde vielleicht weniger glatt verlaufen. »Ich entferne mich nicht weit und halte mich in relativer Bodennähe«, versprach Jiim. Dann hatte er auch schon die Schwingen ausgebreitet, stieß sich vom Boden ab und schoss pfeilschnell nach oben. Die anderen sahen ihm nach, bis er in nördlicher Richtung hinter Baumkronen verschwunden war.
Der Narge war ganz in seinem Element. Er genoss es, wie sich seine Schwingen unter dem schwachen Wind aufblähten und wie er die Zwänge, denen er sich auf dem Boden unterwerfen musste, hinter sich ließ. Unwillkürlich dachte er an die Zeit der vermeintlichen Gefangenschaft, die er in Ovayrans Gesellschaft verbracht hatte. Von allen
Entbehrungen, die ihm in dieser Zeit abverlangt worden waren, hatte ihn die Aussicht, sich möglicherweise nie mehr in die Lüfte erheben zu dürfen, am stärksten getroffen. Doch auch an Bord der RUBIKON gab es praktisch keine Möglichkeit, auszuleben, wofür sein Körper geschaffen war. Schon deshalb war er dankbar für jede Außenmission, an der er teilnehmen durfte. Jiim hielt sein Versprechen und segelte dicht über die Baumkronen hinweg. Aber selbst aus dieser Höhe war es schwer zu übersehen, dass mehrere schmale, ins Dickicht geschlagene Pfade scheinbar völlig ungeordnet von den Feldern wegführten. Sie waren nicht gerade, sondern sahen aus wie Tentakel, die schlangenartig in alle Richtungen züngelten. Nach kurzem Überlegen beschloss der Narge, dass er es durchaus wagen konnte, ein wenig höher zu steigen. Er stieg schräg auf, nahm zufrieden wahr, wie die Distanz zwischen ihm und den Baumkronen stetig wuchs. Vor ihm lag der gewaltige Tafelberg, der aus einem Talkessel ragte wie der Tisch eines Riesen. Ganz kurz glaubte er, am Fuß des Berges eine Lichtreflexion wahrzunehmen. Augenblicklich verlangsamte er seinen Flug, flatterte sekundenlang auf der Stelle, doch die Erscheinung wiederholte sich nicht. Narrten ihn seine Sinne? Jiim wollte nicht daran glauben. Er war sich sicher, dass er etwas gesehen hatte. Und dann fiel sein Blick auf eine dünne Rauchsäule, die in einigen Kilometern Entfernung aus dem Wald aufstieg. Er hatte genug gesehen. Schnell drehte er um, flog wieder auf die künstlich geschaffene Lichtung zu und setzte zu einer kunstvollen Landung an. In knappen Worten erstattete er seinen Gefährten Bericht. »Also doch«, murmelte Scobee. »Ganz in der Nähe muss eine Siedlung existieren.« »Wenn dem so ist, sollten wir uns ihr mit äußerster Vorsicht nähern«, riet Jarvis. »Du hältst die Eingeborenen für gefährlich?«, fragte Jiim. »Ich dachte eigentlich mehr daran, dass unser gemeinsames Auf-
treten sie erschrecken könnte«, gab Jarvis zurück. »Du schlägst vor, dass einige von uns eine Vorhut bilden und die anderen später nachkommen?«, fragte Scobee. »So ungefähr. Jiim könnte über diese Vorhut aus der Luft wachen und umgehend Meldung erstatten, sobald etwas … Unvorhergesehenes geschieht.« Scobee nickte nachdenklich. Die Idee war nicht schlecht. Blieb die Frage, wer die Vorhut bildete und wer zurückblieb. Das war keine Frage von persönlichen Sympathien. Wichtig war vor allem, dass die Fähigkeiten der Teammitglieder so verteilt waren, dass sie den größtmöglichen Nutzen erbrachten. »Ich schlage vor, dass ich und Algorian uns auf den Weg machen«, sagte Scobee. Die Gründe dafür lagen auf der Hand. Jarvis mochte in seinem Kunstkörper primitiven Völkern gegenüber bedrohlich erscheinen. Scobee war noch am besten für eine erste Kontaktaufnahme geeignet. Algorians Begleitung war unerlässlich, da er dank seiner telepathischen Fähigkeiten in der Lage war, als eine Art »Frühwarnsystem« zu fungieren. Sollte sich ihnen ein intelligentes Lebewesen auf eine bestimmte Distanz nähern, so würde er es spüren und sie warnen können. Jarvis und Fontarayn dagegen waren aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten in der Lage, sich gegen jedwede Gefahr zur Wehr zu setzen, und konnten daher gut zu zweit zurückbleiben. Scobees Vorschlag traf auf allgemeine Zustimmung. Sie vereinbarten, dass Jarvis und der Gloride zurück zum Beiboot gingen und dort auf eine Nachricht des Nargen warteten. »Wenn Jiims Angaben stimmen, dürften wir nicht länger als drei bis vier Stunden unterwegs sein«, überlegte sie. »Nach dem derzeitigen Stand der Sonne müssten wir die vermeintliche Siedlung also noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen.« »Wenn wir bis in fünf Stunden noch kein Lebenszeichen von euch haben, machen wir uns selbst auf den Weg«, beharrte Jarvis. Scobee hörte heraus, dass er davon nicht abzubringen sein würde.
»In Ordnung«, gab sie zurück. An Algorian gewandt, meinte sie: »Wir sollten sofort aufbrechen, um das Tageslicht effektiv zu nutzen.« Gemeinsam suchten sie nach jenem Weg durch den Busch, der nach Jiims Angaben in die Richtung der Rauchsäule führte. Jiim gab den beiden einen gewissen Vorsprung, dann schwang er sich in die Höhe, um dort oben seine Kreise zu ziehen. Wie die anderen war auch er gespannt, was wohl das Ziel ihrer Reise sein mochte. Nach irdischer Zeitmessung waren sie etwa zwanzig Minuten marschiert, als Algorian stehen blieb. Scobee, die vor ihm ging, bemerkte es erst mit einiger Verzögerung. Dann blieb auch sie stehen, drehte sich zu dem Aorii um und sah ihn fragend an. »Da war etwas«, kam er ihrer Frage zuvor. »Ich bin mir ganz sicher.« »Du meinst …?« »Eine telepathische Wahrnehmung. Es war, als würde sich jemand … etwas … ganz gezielt auf unsere Präsenz konzentrieren.« Scobee kräuselte die Stirn. »Denkst du dabei mehr an ein Tier oder an ein höher entwickeltes Wesen?« »Ich kann es nicht genau sagen«, gab Algorian zu. »Es hat gemerkt, dass ich auf es aufmerksam geworden bin. Jetzt blockt es seine Gehirnströme gezielt ab.« Scobee sah sich unbehaglich in dem sie umgebenden Dickicht um. Ihr fiel auf, dass die Geräuschkulisse leiser geworden war, als noch in der Nähe der Felder. Oder bildete sie sich das nur ein? Um Gewissheit zu erhalten, bat sie den Aorii um seine Meinung. »Du könntest Recht haben …«, gab dieser ebenso unschlüssig zurück. »Etwas hier ist anders. Ich kann es nicht genau benennen, aber …« Ein plötzliches Rascheln ließ ihn herumfahren. Es war neben ihm im Gebüsch aufgeklungen. Fast wie von selbst flog der Blaster in seine Hand. Scobee tat es ihm gleich, auch wenn es sich bei dem Verursacher vermutlich nur um ein weiteres Tier handelte. Aber nach dem, was
ihr Algorian soeben berichtet hatte, wollte sie es nicht darauf ankommen lassen, einem möglichen Raubtier unbewaffnet zu begegnen. Da war es wieder, das Geräusch! Diesmal einige Schritte von der Stelle entfernt, an der es zuvor aufgeklungen war. Sie verengte ihre Augen. Ihr Sehorgan hatte aufgrund des Zwielichts, das unterhalb der Baumkronen herrschte, längst auf Infrarotsicht umgeschaltet. Einer der unbestreitbaren Vorteile, die das Leben einer GenTec mit sich brachte. Aber in diesem Fall half es ihr auch nicht viel. Das Buschwerk war absolut blickdicht, dort, wo das Rascheln zu hören war. Sekundenlang geschah nichts. Scobee entspannte sich etwas, ließ dabei den Blaster sinken … als es geschah. Etwas brach mit Urgewalt durch das Blätterdach. Im Augenwinkel sah Scobee einen kompakten Schatten, der dicht neben ihr auf dem Boden aufkam. Sie wirbelte herum, den Blaster fest im Griff, und sah dabei, dass Algorian es ihr gleichtat. Doch schon im nächsten Moment fiel alle Anspannung von ihr ab. Erleichterung breitete sich in ihr aus, als sie erkannte, wer da vor ihnen stand. »Jiim … Verdammt, bist du wahnsinnig?«, stieß sie hervor. »Hättest du nicht ein wenig sanfter vorgehen können? Um ein Haar hätten wir dich über den Haufen geschossen.« »Tut mir Leid«, gab der Narge zerknirscht zurück. »Ich dachte, dass euch meine Entdeckung vielleicht interessieren würde.« Augenblicklich verpuffte Scobees Zorn und wich der Neugier. »Was hast du gesehen?« »Mehrere riesige Vögel, die über einer Lichtung etwa dreihundert Meter nördlich von hier kreisen. Ich konnte mich nicht wirklich nah heranwagen, aber aus der Entfernung sah es so aus, als würden sie sich über die Überreste riesiger Kadaver hermachen.« »Kadaver?«, hakte Algorian nach. »Welcher Art?« »Schwer zu sagen. Sie sahen aus wie riesige Säugetiere. Viel war von ihnen leider nicht mehr übrig. Wer immer sie erlegt hat, hat ganz schön zugeschlagen.«
Die Sorge schien sich deutlich in Scobees Gesicht abzuzeichnen, denn Jiim fragte: »Beunruhigend, nicht wahr?« »In der Tat.« Die GenTec erzählte ihm von ihrer Beobachtung, dass, den Geräuschen nach zu schließen, die Fauna spärlicher wurde, je tiefer sie in den Wald vordrangen. Und sie berichtete von der unheimlichen Präsenz, die Algorian wahrgenommen hatte. »Wir vernahmen außerdem ein lautes Rascheln im Gebüsch, kurz bevor du aufgetaucht bist. Es hat sich angehört als würde uns … etwas gezielt einkreisen.« »Dann hoffe ich nur, dass dieses Etwas nicht identisch ist mit dem, das diese Tiere gerissen hat. Leider ist das Blätterdach an dieser Stelle zu dicht, als dass ich aus der Luft bis zum Waldboden blicken könnte. Ich …« Wieder raschelte es im Unterholz. Und dieses Mal versetzte es auch Jiim in höchster Aufregung. Der Narge wich zurück, drehte sich mit angelegten Flügeln um die eigene Achse. »Da drüben!« Scobee zeigte mit dem Lauf ihres Blasters auf den Schemen, der sich in diesem Moment aus dem Dickicht gelöst hatte und nun flink wie ein Wiesel an einem Baumstamm nach oben kletterte, bis er auf einem Ast zur Ruhe kam. Scobee, Algorian und Jiim schauten gleichzeitig in die Höhe, ungläubig starrend.
Jarvis hätte sich eine angenehmere Gesellschaft für die nächsten Stunden vorstellen können. Der Gloride war ausgesprochen wortkarg, und wenn er etwas sagte, dann waren es Belanglosigkeiten. Nun gut. Auf dem Weg zum Gleiter hatten sie ohnehin keine Zeit für ausschweifende Unterhaltungen. Sie waren völlig damit beschäftigt, auf den Weg zu achten, um drohende Gefahren rechtzeitig zu erkennen. Wobei es hier im Busch vermutlich nicht viel gab, was ihm oder Fontarayn wirklich etwas anhaben konnte. Dank ihrer besonderen Konstitution waren sie weitaus besser gewappnet als jeder Normalsterbliche. Für Jarvis war es manchmal ein Fluch, manchmal
ein Segen. Hätte er zu Beginn seines neues »Lebens« noch alles getan, um seinen alten, menschlichen Körper zurückzubekommen, so hatte er sich mittlerweile an die Fähigkeiten der ehemaligen Foronenrüstung so weit gewöhnt, dass er sich keineswegs mehr hundertprozentig sicher war, ob er bereit gewesen wäre, noch auf sie zu verzichten. Und auch wenn er rein äußerlich kaum noch etwas mit einem Menschen von der Erde gemein hatte, so genügte es ihm eigentlich zu wissen, dass er den Geist und das Bewusstsein eines solchen besaß. Wie viel menschlicher konnte man sein? Sie hatten etwa die Hälfte des Weges bis zum Beiboot hinter sich gebracht, als Jarvis etwas bemerkte, das ihn stutzen ließ. Es war ein dumpfer, kaum wahrnehmbarer Ton, der die Luft um ihn herum zum Schwingen brachte. Unwillkürlich blieb er stehen, sodass Fontarayn, der dicht hinter ging, um ein Haar mit ihm zusammengeprallt wäre. »Spürst du das auch?«, fragte er ihn. Fontarayn sah ihn auf eine merkwürdige, undeutbare Weise an, sagte jedoch nichts. Und dann passierte es. Jarvis bekam noch mit, wie die Oberfläche seines Nanokörpers in Unruhe geriet. Es war, als würde irgendetwas von außen auf ihn einwirken. Zunächst begann die »Haut« nur leicht zu vibrieren, um kurz darauf Blasen zu werfen und tentakelartige Ausläufer auszubilden, die schon im nächsten Moment wieder in sich zusammenfielen. Dann flammte ein Blitz durch Jarvis' Bewusstsein. Es war, als würde etwas nach seinem Geist greifen, um sich wie eine Fessel um seinen Willen zu schlingen. Verdammt!, zuckte es noch durch sein Denken. Wir müssen die anderen warnen. Dann versank alles um ihn her in gleißendem Licht.
Verwundert blickten Scobee, Algorian und Jiim auf das seltsame Wesen, das zwei Meter über ihnen auf einem Ast saß und das merkwürdige Dreiergespann überrascht taxierte.
Scobee fühlte sich entfernt an eine Mischung zwischen einem Eichhörnchen und einem kleineren Affen erinnert. Das Geschöpf war am ganzen Körper behaart, hatte ein kleines pelziges Gesicht mit einer etwas vorstehenden Schnauze und großen, schwarz umrandeten Augen. Sein Schwanz war buschig und schwang wellenartig hin und her. Das Merkwürdigste an dem Tier war sein Fühler, der wie bei einem Insekt mitten auf seinem Kopf saß und sich, als es die drei Gestalten bemerkte, kerzengerade aufstellte. »Davor habt ihr euch also gefürchtet«, ließ sich Jiim spöttelnd vernehmen. »Soweit ich es mitbekommen habe, hast du gerade eben auch nicht unbedingt Ruhe und Gelassenheit verströmt«, gab Algorian bissig zurück. »Ich war nur … überrascht.« »Es hat überhaupt keine Angst vor uns«, bemerkte Scobee, die sich aus dem Geplänkel ihrer beiden Begleiter herausgehalten hatte. Und tatsächlich. Als würde es ein solches Gespann alle Tage erleben, blieb das Tier seelenruhig auf seinem Ast sitzen und blickte die drei abwartend aus seinen großen, totenkopfähnlichen Augen an. Offenbar fühlte es sich auf seinem Ast einigermaßen sicher. Was ein Blaster war, schien es nicht zu wissen. Dennoch ließ Scobee die Waffe langsam sinken, als sie bemerkte, dass der Lauf noch immer auf die pelzige Kreatur zeigte. »Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt, kleiner Bursche«, sprach ihn die GenTec mit ruhiger Stimme an. Als würde es ihre Worte verstehen, reckte das Wesen sein Schnäuzchen in die Höhe und hüpfte aufgeregt auf und ab. »Von dir haben wir wohl nichts zu befürchten«, meinte Algorian, während er seinen eigenen Blaster verschwinden ließ. »Von dir nicht …«, fügte er nachdenklich hinzu und sah sich unbehaglich um. Scobee war klar, worauf er hinauswollte. Noch immer war nicht geklärt, was es mit dem kurzen Gedankenimpuls auf sich hatte, den der Aorii empfangen hatte. Auch dafür, dass die Tiere um die unmittelbare Umgebung ganz offenbar einen Bogen machten, hatten sie bisher keine Erklärung. Es wäre ein Fehler gewesen, die Gefahr
als erledigt zu betrachten. Irgendetwas Tödliches lauerte in diesem Wald, davon war Scobee nach wie vor überzeugt. Und bis sie wusste, was es war, würde sie weiter die Augen offen halten. »Na kommt«, sagte sie schließlich. »Wir haben noch einen langen Marsch vor uns.« Sie wollte sich gerade umdrehen und ihren Weg fortsetzen, als das »Äffchen« erneut in Bewegung geriet. In Windeseile flitzte es den Stamm hinab und verschwand irgendwo im bodennahen Dickicht. Jedoch nur, um Sekunden später den Kopf durch das Buschwerk direkt neben Scobee zu strecken. »Das gibt's doch nicht«, sagte die GenTec überrascht. »Du bist mir ja ein zutrauliches Kerlchen.« Langsam ging sie vor dem putzigen kleinen Wesen in die Knie und streckte ihre rechte Hand nach ihm aus. Schnuppernd wagte es sich daraufhin aus seinem Versteck, zögerte dann einen Moment. Dann stieß es sich mit den Hinterbeinen ab und landete zielsicher auf Scobees Handrücken. »Da scheint einer einen Narren an dir gefressen zu haben«, meinte Jiim. Algorian war dagegen weniger sorglos. »Du solltest etwas vorsichtiger sein«, mahnte er. »Es könnte eine gefährliche Krankheit mit sich herumschleppen. Normal ist ein solches Verhalten für ein Wildtier jedenfalls nicht.« »Wer weiß«, murmelte Scobee. »Vielleicht hat es ja regelmäßigen Kontakt mit Humanoiden und nur gute Erfahrungen mit ihnen gemacht.« Das wäre in der Tat eine Erklärung gewesen. Schließlich hatten sie bereits einige sehr konkrete Hinweise auf das Vorhandensein einer intelligenten Spezies gefunden. »Wie dem auch sei«, gab Algorian zurück. »Wir sollten unseren Weg wirklich so langsam fortsetzen. Irgendetwas an dieser Gegend gefällt mir nicht.« Scobee nickte und richtete sich wieder auf, während das »Äffchen« an ihrem Arm entlanglief und über ihren Rücken kraxelte, schließlich auf ihrer Schulter zum Sitzen kam.
»Du hast Recht. Wir haben schon zu viel Zeit verloren. Was ihn angeht …« Ihr Blick heftete sich auf das Tier auf ihrer Schulter. »Er wird uns wohl noch eine Weile Gesellschaft leisten.« »Das hat uns noch gefehlt«, knurrte der Aorii-Zweitling unwirsch. »Eine Anführerin mit einem Schoßtier.« Scobee entgegnete nichts, doch der Blick, mit dem sie den Gefährten tadelte, sprach Bände.
Tatsächlich wich der pelzige Geselle den Gefährten eine ganze Weile nicht mehr von der Seite. Zwar verharrte er nicht während des gesamten Marsches auf Scobees Schulter, sondern hüpfte dann und wann zu Boden, um ihnen vorauszueilen, oder turnte auf einigen Ästen herum. Aus den Augen verlor er die Gruppe dabei jedoch nie. Irgendwann – seit der ersten Begegnung mit ihrem neuen Kameraden war gut eine Stunde vergangen – bemerkte Scobee ein leichtes Zittern, das den Boden und das benachbarte Buschwerk erfasste. Besorgt drehte sie sich zu den anderen um, die es ebenfalls bemerkten. Jiim, der gerade erst von einem neuerlichen Rundflug zurückgekehrt war, wollte sich umgehend wieder in die Lüfte schwingen, doch Scobee hielt ihn mit einer eindeutigen Handbewegung zurück. Ihr Blick ging nach oben, in den gräulich-violetten Himmel, der stellenweise durch das nicht mehr ganz so dichte Blätterdach schimmerte. Ein immer lauter werdendes Dröhnen war zu hören, das zweifellos von Motoren verursacht wurde. Ein Schwarm grell-bunter Vögel flog kreischend aus den Baumkronen auf. Es dauerte nicht lange, bis sie in ihrem Blickfeld auftauchten: Luftfahrzeuge, mindestens drei an der Zahl, die in beängstigender Tiefe über das Waldstück hinwegschossen. Binnen Sekunden schwoll der Geräuschpegel zu ohrenbetäubender Lautstärke an, bevor sich die Gleiter immer weiter entfernten. Ihr Ziel lag in nördlicher Richtung. Dort, wo sich auch der gewaltige Tafelberg befand. Und wo Jiim zu-
vor eine Lichtreflexion wahrgenommen hatte. »Sie sind es«, meinte Scobee und musste keinem ihrer Begleiter erklären, wen sie damit meinte. Zu lebhaft war noch die Erinnerung an jene mysteriösen Gleiter, die auf Saskana die Dörfer vernichtet hatten. Es waren dieselben Konstruktionen gewesen wie jene, die gerade mit Irrsinnsgeschwindigkeit über sie hinweggedonnert waren. »Ich würde vorschlagen, dass du dich für eine Weile vom Luftraum fern hältst«, sagte Scobee zu Jiim. »Du glaubst, dass weitere dieser Vehikel auftauchen?« »Damit müssen wir zumindest rechnen. Es wäre jedenfalls fatal, wenn wir ihre Aufmerksamkeit erregen würden.« Dem hatte keiner etwas hinzuzufügen. Sie alle – mit Ausnahme von Fontarayn – hatten an der Saskana-Mission teilgenommen. An die Brutalität, mit der die Fremden gegen die eingeborenen Saskanen vorgegangen waren, erinnerten sie sich nur zu gut. Gerade als Scobee sich wieder in Bewegung setzen wollte, fiel ihr auf, dass ihr pelziger kleiner Freund verschwunden war. »Er hat bei dem Getöse wohl erschrocken das Weite gesucht«, mutmaßte Algorian. »Verdenken kann ich es ihm nicht.« »Ja«, gab Scobee zurück. »Das wird es wohl sein.« Die Enttäuschung, die in ihren Worten mitschwang, war nicht zu überhören. Die GenTec atmete tief durch, dann drehte sie sich um – und erstarrte. Nur ganz kurz, noch in der Drehung, glaubte sie im Augenwinkel eine Gestalt gesehen zu haben, die vor ihr über den Weg huschte und dann völlig lautlos im Dickicht verschwand. »Was zum …?« Augenblicklich brachte sie ihren Blaster in Anschlag und richtete ihn nach vorn. »Ist irgendetwas?« Algorian blieb direkt neben ihr stehen und sah sie besorgt von der Seite her an. »Hast du das denn nicht gesehen?«, stieß sie aufgeregt hervor. »Was meinst du?« Es war Jiim, der die Frage stellte. Scobee verstand die Welt nicht mehr. Es war nahezu unmöglich,
dass der Narge von seiner Position aus nichts bemerkt hatte. Fing sie allmählich an, den Verstand zu verlieren? »Ich dachte, ich hätte etwas gesehen.« Die Worte rannen schwerfällig von ihren Lippen, während sie das Gesehene in Gedanken noch einmal rekonstruierte. Diese Gestalt … dieser Mann. Es hatte ausgesehen, als würde er etwa eine Handbreit über dem Boden schweben. Und als er im Gebüsch verschwunden war, war nicht das leiseste Geräusch zu hören gewesen. Es war, als würde sein Körper das Blattwerk nicht berühren, sondern es durchdringen. Wie ein Geist … Scobee wurde schwindlig. Sie spürte, wie plötzliche Müdigkeit sie übermannte. Doch gleichzeitig fühlte sie sich aufgeputscht, als würde ein Endorphin-Cocktail durch ihren Körper tosen. Unwillkürlich fragte sie sich, ob sie sich vielleicht zu viel zugemutet hatte. Vielleicht war es auch die Schwüle, die ihr nicht bekam. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und spürte den Schweiß. In dicken Perlen hatte er sich auf ihrer Haut gesammelt, wie Morgentau auf einer Blüte. »Du siehst nicht gut aus«, bemerkte Algorian mit deutlicher Sorge. »Vielleicht sollten wir eine kurze Rast einlegen.« »Nein, es … geht schon wieder«, wehrte sie ab, obwohl eine innere Stimme sie dazu drängte, ja förmlich anflehte, den Vorschlag des Aorii zu befolgen. Auf der anderen Seite war da eine plötzlich aufkommende Furcht. Furcht davor, sich einzugestehen, dass sie am Ende ihrer Kräfte war. Das aber war schlichtweg unmöglich. Die Konstitution einer GenTec war so angelegt, dass ihre Kraftreserven die eines normalen Menschen weit überstiegen. Ein mehrstündiger Marsch, selbst unter wesentlich widrigeren Bedingungen, durfte eigentlich nicht das geringste Problem darstellen. »Lasst uns unseren Marsch fortsetzen!« Sie wollte sich gerade umdrehen, um ihren Worten Taten folgen zu lassen, als sie sah, wie Algorians Mimik Entsetzen zum Ausdruck brachte. Im nächsten Moment riss er auch schon seinen Blaster hoch und richtete die Mündung in Scobees Richtung.
»Geh zur Seite!«, forderte er sie auf. »Aber langsam! Mach keine schnellen Bewegungen!« »Hast du den Verstand verloren?«, rief Jiim. Er stand genau hinter dem Aorii und beobachtete dessen seltsame Anwandlung mit sichtlicher Verwirrung. Im nächsten Moment drückte Algorian ab.
Jarvis wusste nicht, wie ihm geschah. Da war dieses gleißende Licht, das auf ihn einstürmte, ihn völlig erfüllte. Er spürte keine Schmerzen dabei. Ganz im Gegenteil. Er fühlte sich gut. Es legte sich wie Balsam um seine Seele, lullte ihn ein und forderte ihn dazu auf, sich einfach fallen zu lassen. Doch urplötzlich war da etwas, das gegen dieses Gefühl ankämpfte. Es kam nicht aus ihm selbst. Nein, es drang von außen in ihn ein. Es war wie ein plötzlicher Energieschub, der gegen das Licht ankämpfte, es nach und nach aus seinem Bewusstsein vertrieb. Jarvis fühlte sich, als würden zwei Kräfte in seinem Inneren um die Vorherrschaft kämpfen. Und keiner der Streiter war Teil seines eigenen Ichs. So müssen sich Besessene fühlen, ging es ihm durch den Kopf. Eine Zeit lang war nicht abzusehen, welche der beiden Kräfte den Kampf gewinnen würde. Dann, ganz plötzlich, wurde dieses hypnotische Licht schwächer. Jarvis' Blickfeld klärte sich. Über sich sah er Baumkronen. Und den grau-blauen Himmel, der sich wie ein Dach aus Kobalt darüber spannte. Er sah Vögel vorbeiziehen. Und Wolken in den seltsamsten Formen. Jetzt erst merkte er, dass er ausgestreckt auf dem Boden lag. Er blickte an sich herab. Die Nanostruktur seines Kunstkörpers war immer noch in Aufruhr, jedoch nicht mehr ganz so stark wie in dem Moment, als er das Bewusstsein verlor. Angestrengt setzte er sich auf. Gleichzeitig bemerkte er einen weiß-glühenden, kreisrunden Fleck, der sich auf seiner Brust ausbreitete, zur Größe einer Untertellers anschwoll und sich schließlich in einem grellen Blitz entlud.
Gebannt und fassungslos beobachte Jarvis, wie sich im nächsten Moment nur wenige Schritte von ihm entfernt eine blendend weiße Energiesäule materialisierte. Doch dabei blieb es nicht. In Sekundenschnelle verformte sich die Säule, nahm Gestalt an, bildete zunächst Extremitäten aus, dann einen Kopf, bis sie schließlich in ihrer humanoiden Endform vor ihm stand. »Fontarayn!«, stieß Jarvis hervor. »Was hast du ge-« Weiter kam er nicht. Weil im nächsten Moment das Grauen über sie kam …
Scobee sah noch, wie die Energielanze aus Algorians Waffe auf sie zukam, dann hechtete sie sich auch schon zur Seite. Noch im Fallen erkannte sie, dass der Aorii nicht auf sie, sondern dicht an ihr vorbeigezielt hatte. Der Energiestrahl sirrte durch die Luft und schlug irgendwo hinter ihr ein. Abrupt wälzte sie sich aus dem Dickicht, in dem sie weich gelandet war, und wirbelte herum, den eigenen Blaster ausgestreckt von sich haltend. Ihr Blick irrte suchend umher. Bis zu diesem Moment war sie davon ausgegangen, dass Algorian einen Grund gehabt hatte, einen Schuss abzugeben. Irgendetwas musste sich ihr unbemerkt von hinten genähert haben. Irgendein Tier. Eine Gefahr … Doch da war nichts. Das schattendurchwobene Zwielicht des Waldes schien völlig verlassen. »Ich glaube, du bist mir eine Erklärung schuldig!«, schnaubte Scobee, während sie sich ruckartig zu ihrem Gefährten umdrehte. Der Aorii hatte die Waffe noch immer erhoben, den Lauf auf irgendein imaginäres Ziel gerichtet. »Habt ihr die Bestie denn nicht gesehen?«, fragte er verwundert. »Sie stand plötzlich da, Scobee. Wie aus dem Nichts baute sie sich auf und streckte ihre scharfen Krallen nach dir aus.« Sowohl Scobee als auch Jiim sahen ihn an, als habe er den Verstand verloren. »Wovon, in aller Welt, redest du da nur?«, fragte der Narge. »Ich hatte Scobee die ganze Zeit im Blickfeld. Ein Monster habe ich aller-
dings nicht bemerkt.« »Wahrscheinlich haben dir deine Sinne einen Streich gespielt«, mutmaßte Scobee. »Die Beleuchtung, die Schatten … Wenn man dazu noch unter einer gewissen Anspannung steht, bildet man sich Dinge ein, die …« »Es war da«, beharrte der schlaksige Humanoide mit eindringlicher Stimme. »Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Es war grün, mit kurzen, stumpfartigen Beinen und einem langen Schweif …« Die GenTec und der Narge tauschten einen vielsagenden Blick. Für beide war offensichtlich, dass der Aorii einer Halluzination erlegen war. Bei diesem Gedanken fiel Scobee die Gestalt wieder ein, die sie im Augenwinkel zu sehen geglaubt hatte. Das ist doch nicht annähernd dasselbe, versuchte sie sich einzureden. Zwischen einem Schatten und einem grünen Mini-Drachen besteht immer noch ein himmelweiter Unterschied. Dennoch. Etwas Seltsames, zutiefst Beunruhigendes ging hier vor. Bei all der Aufregung hatte Scobee ganz vergessen, über ihren eigenen Zustand nachzudenken. Dabei fühlte sie sich noch immer so bleischwer wie zuvor. Ihr kam es vor, als hätte sich die Schwerkraft auf diesem Planeten in kürzester Zeit verdoppelt. Ihre Glieder fühlten sich an wie Blei, und in ihrem Kopf summte es wie ein Hornissenschwarm. »Vielleicht«, sagte sie in Anlehnung an Algorians vorherigen Vorschlag, »täte uns allen eine kleine Pause gut. Wir …« Augenblicklich verstummte sie. Ihr war, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Was sie sah, war schlichtweg unmöglich. Und doch erblickte sie ihn so deutlich vor sich, wie sie Jiim und Algorian sah. Es war ein Mann. Wie aus dem Nichts erschienen, stand er nur wenige Schritte von ihr entfernt am Rand des Unterholzes und lächelte sie an. »Grundgütiger …!« Scobee riss die Hand vor den Mund. Sie hatte in ihrem Leben schon so viel Absonderliches gesehen, dass es kaum noch etwas gab, was sie wirklich aus der Fassung brachte.
Was sie jetzt aber sah, brachte sie nicht nur aus der Fassung, sondern – davon war sie für einen entsetzlich langen Moment felsenfest überzeugt – um den Verstand. Tatsächlich konnte sie bereits spüren, wie der Wahnsinn nach ihr griff. Wie er seine kalten Finger um ihren Geist grub und langsam zudrückte, um auch noch den letzten Rest von Ratio aus ihm herauszupressen. Der Mann mit den markanten Gesichtszügen, der sie so charmant anlächelte, dabei die Hand zum Gruß hob, war beileibe kein Unbekannter. Sie war ihm einst hörig gewesen. Und auch wenn sie diesen Zustand einer genetischen Programmierung verdankte, konnte sie sich bis heute nicht verzeihen, dass sie in seinem Auftrag sogar ihre Freunde verraten hatte. Einst war er der Chef des amerikanischen Geheimdienstes gewesen. Reuben Cronenberg!
»Was ist los? Was hast du?« Jiims Stimme bebte vor Sorge, doch Scobee nahm sie nur noch am Rande ihres Denkens wahr. Die Kluft, die sich zwischen ihrer Wahrnehmung und der Realität aufgebaut hatte, wurde mit jeder Sekunde größer. Es war wie ein Boot, das sich vom Steg gelöst hatte, in einen Strudel geraten war und jetzt in rasender Geschwindigkeit davon trieb. Auf eine seltsame, kaum zu erklärende Weise war Scobee sich sogar bewusst, dass sie dabei war, dem Wahnsinn zu verfallen. Und dennoch brachte sie nicht die Kraft auf, sich dem zu widersetzen. Urplötzlich öffnete Cronenberg den Mund, präsentierte eine blendend weiße Zahnreihe und meinte mit säuselnder Stimme: »Komm zu uns, Scob. Wir warten doch schon so sehnlich auf dich.« Damit drehte er sich um und verschwand im Wald. Wieder war es, als würde er dabei über den Boden schweben und sich, sobald er das Dickicht erreichte, einfach in Luft auflösen. Einen kurzen Moment lang bäumte sich etwas in ihr auf. Schrie ihr förmlich entgegen, sich ja aus dem Sog des Irrsinns zu lösen. Reuben Cronenberg kann dir nichts mehr befehlen! Er hat seine Macht
über dich verloren! Scobee wusste, dass die Stimme Recht hatte. Sie wusste aber auch, dass das alles keine Rolle mehr spielte, weil sie ohnehin träumte und jeden Moment in ihrer Kabine an Bord der RUBIKON erwachen würde. Wie in Trance holte sie Anlauf, sprang nach vorne und durchbrach das Dickicht. »Scobee!« Jiims Schrei hallte so laut durch die Stille des Waldes, dass sich ein Vogelschwarm wild flatternd aus einer Baumkrone in die Lüfte erhob. Der Blick des Nargen huschte zwischen der Stelle, wo Scobee verschwunden war, und Algorian hin und her. Der Aorii hatte seinen Blaster noch immer auf die Stelle gerichtet, an der er das Ungeheuer zu sehen geglaubt hatte. Von Scobees plötzlicher Flucht in den Wald schien er überhaupt nichts mitbekommen zu haben. Sein schlaksiger Körper bebte, und sein schmächtiger Brustkorb hob und senkte sich unter heftigen Atemzügen. »Was geht hier nur vor sich?« Jiim wirkte völlig hilflos. Unentschlossen trat er auf das Dickicht zu, um Scobee in den Wald zu folgen. Aber was würde dann aus Algorian werden? Der Aorii machte nicht gerade den Eindruck, als könne man ihn guten Gewissens allein lassen. Ganz im Gegenteil. Algorians Blick zuckte unstet hin und her, als würde er einen weiteren Gegner anvisieren. Urplötzlich wirbelte er um neunzig Grad herum, dann drückte er ein weiteres Mal ab. Der scharfe Energiestrahl des Blasters fräste sich heiß ins Buschwerk zu seiner Rechten. Der Geruch von verbrannten Blättern stieg in Jiims Nase. »Algorian, sieh mich an!«, redete er eindringlich auf den Gefährten ein. »Was zu sehen du dir auch immer einbildest, es ist nicht real. Irgendetwas hier spielt mit deinen Sinnen, lässt dich Dinge sehen, die schlichtweg nicht existieren.« Der Aorii drehte sich langsam zu ihm um und musterte ihn mit fiebrigem Blick. Entsetzen verformte seine Züge, als der Narge langsam auf ihn zukam. Augenblicklich riss er den Blaster nach oben
und richtete ihn auf die Brust des Gefährten. »Bleib stehen! Geh keinen Schritt weiter!« »Algorian … da ist nichts!« »Bleib stehen, hab ich gesagt!« Der Narge gehorchte. »Du bist einer von ihnen«, stieß Algorian keuchend hervor. »Wie konnte ich nur so blind sein?« Jiims Unbehagen wuchs mit jedem Moment. Die Dinge drohten völlig außer Kontrolle zu geraten. »Sieh mich an, Algorian! Ich bin es doch nur! Ich bin dein Freund!« »Mir ist gleich, wessen Maske du trägst«, stieß Algorian mit irrer Grimasse hervor. »Ich habe die Fähigkeit, dahinter zu blicken. Du bist nicht Jiim, das erkenne ich jetzt ganz deutlich. Was hast du mit ihm gemacht?« Die letzten Worte brüllte er dem Nargen regelrecht entgegen, sodass dieser wie von einem Peitschenhieb getroffen zusammenzuckte. Die Lage drohte vollends außer Kontrolle zu geraten. Scobee verschwand einfach so in einem Wald. Algorian wurde von Wahnvorstellungen und akuter Paranoia erfasst … Jiim hatte keine konkrete Erklärung für diese Vorgänge, doch es musste irgendwie mit diesem verfluchten Wald zusammenhängen. Er stellte irgendetwas an mit denen, die ihn betraten. Er spielte mit ihren Gehirnen, verwirrte ihre Sinne. Aber warum merkte er selbst nichts davon? Sofort kam ihm das Nabiss ihn den Sinn. Seine Rüstung … Immunisierte sie ihn gegen die Einflüsse, denen offenbar alle anderen zum Opfer fielen? Egal. Jetzt war nicht die Zeit, um Mutmaßungen anzustellen. Mit wachsendem Unbehagen stellte er fest, dass sich Algorians Blick mit eisiger Entschlossenheit füllte. Der Blaster in seiner Hand zitterte, als würde er unter Strom stehen. »Bitte, Algorian! Sieh mich an!« »Schweig, Bestie!«, brüllte der Aorii. »Wer auch immer du bist, du sollst bezahlen für das, was du mit meinem Freund gemacht hast!« Der Narge spürte, dass der Moment, da er vielleicht noch zu Algorian hätte vordringen können, vorbei war. Ohne weiter zu überle-
gen, floh er in die Lüfte. Während er das Blätterdach durchbrach, hörte er noch, wie der Aorii unten am Boden den Blaster betätigte, und sah, wie sich eine sengende Energielanze genau dort in die Luft bohrte, wo er noch vor wenigen Sekunden gestanden hatte.
Um sie herum waren Stimmen. Sie kamen ihr bekannt vor. Gesichter blitzten vor ihrem geistigen Auge auf. Gesichter von Menschen, die ihr Unterbewusstsein den Stimmen zuzuordnen versuchte. Einige von ihnen waren Männer und Frauen aus dem Labor, in dem sie einst konditioniert worden war. Leute, denen sie irgendwann in ihrem Leben begegnet war und deren Namen sie längst vergessen hatte. Mit flackerndem Blick stolperte sie durch das dichte Buschwerk, ohne ihre Umgebung als das wahrzunehmen, was sie wirklich war. Schatten umtanzten ihr Blickfeld. Doch immer, wenn sie den Kopf drehte, um zu der Stelle zu blicken, waren sie verschwunden. »Komm zu uns, Scobee! Wir warten auf dich!« Scobee zuckte zusammen. Diese Stimme … sie war mehr als nur ein weiteres Organ im Kanon der Vergessenen. Sie kannte den Sprecher, hatte eine kurze, für sie aber sehr bedeutsame und folgenschwere Zeit mit ihm verbracht. Sein Name war Seymour, und er war eines der Besatzungsmitglieder der mittlerweile legendären Marsmission II gewesen, an der auch sie teilgenommen hatte. Er war dem Wahnsinn verfallen und hatte die Mission nicht überlebt. Genauso wenig wie … »Darcy …!« Der Name tropfte zäh von ihren Lippen, als sie die Gestalt gewahrte, die sich unweit von ihr entfernt aus einer Nebelwelt schob. So als sei es ein Tor zu einer anderen Welt. Ein weiteres Mitglied der Marsmission, das auf tragische Weise ums Leben gekommen war. Wie selbstverständlich kam er auf sie zu, blieb jedoch zwei Schritte von ihr entfernt stehen. Scobee wich zurück. Ihr heißer Atem kam in hektischen Stößen über ihre Lippen. Sie wirbelte herum, wollte eine andere Richtung einschlagen, als …
»Resnick …!« Als hätte er sich aus dem Nichts materialisiert, stand der ehemalige Freund auf einmal neben ihr, lächelte sie an. Wehmut kennzeichnete seinen Blick. Bedauern darüber, dass ihm nicht mehr Zeit vergönnt gewesen war. Auch er hatte sein Leben gelassen. Damals, in der Marsstation, wo auch Jarvis um ein Haar sein Leben ausgehaucht hätte. »Schön, dass du gekommen bist«, sagte er leise und streckte die Hand nach ihr aus. »Ich habe es immer bedauert, dass es mir nicht vergönnt war, mich angemessen von dir zu verabschieden.« Seine Hand berührte ihre Wange. Überraschenderweise fühlte sie sich nicht kalt an, wie man es bei einem Gespenst erwarten mochte. Nein, sie war warm und geschmeidig und … Urplötzlich schüttelte Scobee die Berührung von sich ab. »Fass mich nicht an! Du bist nicht Resnick! Resnick ist tot!« »Was tot ist, muss nicht tot bleiben«, erklang Darcys Stimme dicht neben ihrem Ohr. Scobee riss den Kopf herum. Er schien die Distanz von der Nebelbank bis zu ihr in Nullzeit überwunden zu haben. So als habe er sich mit einem bloßen Fingerschnippen zu ihr versetzt. »Sieh mich an«, sagte er mit unergründlichem Lächeln. »Ich habe mich noch nie so lebendig gefühlt.« Scobee wandte sich ab, als könne sie die Truggestalten aus ihrem Bewusstsein ausblenden, wenn sie sie nur nicht mehr ansah. Doch schon im nächsten Moment baute sich Darcys schlanke Gestalt wie aus dem Nichts wieder vor ihr auf. »Scob …« Er sprach wie zu einem Kind, das gegen alle Vernunft agierte und mit dem man besonders eindringlich sprechen musste, um ihm verständlich zu machen, was man von ihm wollte. »Wir beide, Resnick und auch ich, sind ein Teil von dir. Du wirst uns nicht los, indem du uns ignorierst.« »Geht weg!« Sie hatte eigentlich zu schreien beabsichtigt, doch alles, was ihre Kehle verließ, war ein klägliches Wimmern. »Scob!« Er streckte den Arm nach ihr aus, wie es zuvor Resnick getan hatte. Sie wich zurück, gleichzeitig schoss ihre eigene Hand nach vorne, die schlanken Finger zu Krallen geformt. Mit einem schnellen
Hieb fuhren ihre Nägel quer durch Darcys Gesicht. Tiefe Wunden klafften auf. Tiefere, als sie ihm eigentlich hatte zufügen wollen. Zu ihrer Verwunderung quoll kein einziger Blutstropfen aus den Verletzungen. Darcy schien durch Scobees Reaktion auch eher belustigt denn entsetzt zu sein. Mit breitem Grinsen griff er nach einem Hautfetzen, der ihm lose von der Wange hing, riss daran und … Es sah aus, als würde er sich eine Gummimaske vom Gesicht ziehen. Darcys Antlitz verschwand. Ein anderes Gesicht kam dahinter zum Vorschein. »Reuben …« Zitternd richtete die GenTec den Blaster auf ihren ehemaligen Mentor und Liebhaber. Dieser hob nur breit grinsend die Arme und meinte: »Tu es! Jetzt hast du die Chance, mich ein für alle Mal loszuwerden! Wer weiß, wann sich diese Chance ein zweites Mal ergibt.« Scobees Hand zitterte. Der Blaster fühlte sich bleischwer an. Ihr war, als würde sein bloßes Gewicht sie zu Boden ziehen. »Tu es, Scob!« Sie fuhr herum. Es war wiederum Darcy, der sich neben ihr aufgebaut hatte und ihr die Worte ins Ohr gesäuselt hatte wie die Schlange im Paradies. Der echte Darcy? Egal. Scobee wusste es nicht, und es war ihr in diesem Moment auch egal. »Er hat Recht«, sagte eine weitere Stimme links von ihr. Sie gehörte Seymour. Scobee machte sich gar nicht mehr die Mühe, sich zu ihm umzudrehen. Stattdessen verengten sich ihre Augen zu Schlitzen, füllten sich gleichzeitig mit Entschlossenheit. Jeder Muskel in ihrem Körper spannte sich an. Ihr Zeigefinger näherte sich dem Druckpunkt, den sie nur berühren musste, um einen gleißenden Energiestrahl in Cronenbergs Richtung abzufeuern und ihm sein feistes Grinsen aus dem Gesicht zu wischen. »Scob, was tust du?« Resnicks Stimme. Der GenTec musste hinter ihr aufgetaucht sein.
Zumindest war das die Richtung, aus der seine Stimme kam. »Nimm die Waffe runter«, sagte er leise und doch eindringlich. »Sei vernünftig! Wir wollen doch nicht, dass es so endet.« »Warum verteidigst du ihn?«, gab Scobee leise zurück. »Weißt du denn nicht, was er mir angetan hat?« »Ich weiß, Scobee. Aber das ist doch keine Lösung!« »Ich wusste, dass ich dir nicht vertrauen kann«, fauchte sie zurück.
»Recht so!«, versetzte Seymour und fügte in scharfem Ton hinzu: »Tu es!« Cronenberg indes schien zunehmend ungehaltener. »Was du auch immer zu tun gedenkst, meine Liebe, tu es endlich! Ich habe nicht ewig Zeit.« »Scob!« Die Ruhe war nun gänzlich aus Resnicks Stimme verschwunden. Sein Ruf war an Eindringlichkeit nicht zu überbieten. »Sieh ihn dir doch nur einmal richtig an.« Scobee sah es. Sah in sein hageres Gesicht, sah sein feistes Grinsen, das sie innerlich zum Kochen brachte. Ein Ruck ging durch ihren Körper. Sie wollte gerade abdrücken, als … Cronenbergs Gesichtszüge veränderten sich auf seltsame Weise. Sie verschwammen. Nein, vielmehr verschoben sie sich. Sein Mund wurde schmaler, seine Augen größer, die Nase kleiner. Gleichzeitig hoben sich die Wangenknochen hervor, wurden spitzer. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würden zwei Bilder einander überlagern. Wie bei einer Doppelbelichtung. Doch dann drängte sich eines in den Vordergrund und nahm die Stelle von Cronenbergs Gesicht ein. Scobee schrak zurück, als sie das Antlitz erkannte. Es war ihr eigenes, das sie aus großen dunklen Augen anstarrte. Ihr wurde schwindelig. Und dann, von einer Sekunde zur anderen, verschob sich ihr kompletter Blickwinkel. Die Truggestalten verschwanden. Darcy, Seymour, Resnick … auch das Scobee/Cronenberg-Ding,
auf das sie eben noch gezielt hatte! Gleichzeitig stellte sie fest, dass sie nicht stand. Nein, sie kniete im nebelumwaberten Morast. Doch das war es nicht, was ihr Bewusstsein mit einer Woge blanken Entsetzens überschwemmte. Es war vielmehr die Tatsache, dass sie den rechten Arm erhoben hatte, den Lauf des Blasters gegen die eigene Schläfe presste … und kurz davor war, abzudrücken! Erschrocken und unter Zuhilfenahme ihrer anderen Hand ließ sie den Blaster sinken. So als befürchte sie, ihre Rechte könne sich dem Befehl ihres Gehirns widersetzen. Himmel, was war nur in sie gefahren? Aus welchem Grund nur hatte sie Hals über Kopf den Pfad verlassen? Cronenberg … Was war nur der Ursprung dieser Trugbilder gewesen? Erschöpft sah sie sich um. Sie hatte keine Ahnung mehr, wo sie war. Alles um sie herum sah gleich aus. Eine nebelverhangene Pflanzenwelt, ohne Anfang, ohne Ende. In welcher Richtung lag der Pfad? Algorian … Jiim … Sie musste zu ihnen. Scobee wollte sich gerade auf die Beine stemmen, als sie ein hektisches Rascheln vernahm. Sie drehte sich um, wollte den Blaster wieder in Anschlag bringen, als sie erkannte, wer da auf leisen Pfoten durch das Unterholz gehuscht kam. Es war das pelzige »Äffchen«, das sie den ganzen letzten Teil ihres Weges begleitet hatte. Und es war nicht allein gekommen, wie Scobee alsbald zu ihrem Entsetzen bemerkte …
Wie ein Blitz schoss Jiim über die Baumkronen des seltsamen Waldes hinweg, den Blick nach unten gerichtet. Bereit, jederzeit zur Landung anzusetzen, sobald er Jarvis und Fontarayn am Boden erspähte. Wenn sie ein ähnliches Tempo angeschlagen hatten wie auf dem Hinweg, dann mussten die Gefährten den Gleiter inzwischen fast er-
reicht haben. Falls nichts dazwischen gekommen war! Immer wieder schob sich Algorians Gestalt vor sein geistiges Auge. Wie er ihn mit irrsinnigem Blick angesehen, den Blaster auf ihn gerichtet hatte … Er wollte mich töten!, ging es ihm durch den Kopf. Ohne mit der Wimper zu zucken, hätte er abgedrückt, wenn nicht – Algorian war nicht er selbst, versuchte er sich gleichzeitig zu beruhigen. Dieser verfluchte Wald … Er hat irgendetwas mit ihm angestellt. Mit ihm und Scobee und … Eine plötzliche Lichtreflexion lenkte Jiims Aufmerksamkeit zurück auf die Landschaft, die unter ihm vorbeizog. Augenblicklich verlangsamte er seinen Flug, ging dabei etwas tiefer und flog eine Schleife über der Stelle. Irgendetwas ging dort unten vor sich. Inmitten der Schatten am Waldrand und dem wabernden Nebel, der in den vergangenen Stunden stärker geworden zu sein schien, war es nur schwer zu erkennen. Doch dann … sah Jiim ein grelles Licht, das sich wie aus dem Nichts am Waldrand materialisierte, dabei zunehmend kompakter wurde, sich zu einer humanoiden Gestalt verfestigte, die noch einmal kurz aufleuchtete. »Fontarayn!« Erleichtert stieß Jiim den Namen des Gloriden aus. Zum Glück. Er und Jarvis würden wissen, was zu tun war. Der Narge wollte gerade zum Sinkflug ansetzen, als seine nächste Beobachtung ihn entsetzt innehalten ließ. Es geschah in unmittelbarer Nähe von Fontarayn und jenem metallisch reflektierenden Körper, in dem Jiim Jarvis erkannte. Urplötzlich erwachte der Bodennebel rings um die beiden zu unheimlichem Leben. Jiim sah winzige, pelzige Köpfe, die sich neugierig daraus hervorreckten. Erst einen, dann einen weiteren, einen dritten … Es mussten gut zwei Dutzend dieser Wesen sein. Aus der Vogelperspektive war außerdem zu erkennen, dass sie einen Kreis um Jarvis und den Gloriden gezogen hatten. Dennoch wirkten sie zögerlich. Als würde irgendetwas sie davon abhalten, den beiden Gefährten zu nahe zu kommen. So als würden
sie deren Andersartigkeit spüren. Dieser Zustand hielt nicht lange an. Schon schraubten sich die Ersten von ihnen in die Höhe und fuhren ihre Krallen aus, um … Auch wenn sich Jarvis ziemlich sicher war, dass sich die Kreaturen ihre Zähne an Fontarayn und Jarvis ausbeißen würden, fühlte er doch die Zeit zum Handeln gekommen. Wie ein Stein ließ er sich zu Boden fallen, genau auf den Ring zu, den die Wesen um Jarvis und Fontarayn geschlossen hatten. Kreischend wichen sie vor ihm, dem Geflügelten, zurück und ergriffen die Flucht. Und erst jetzt, im Näherkommen, erkannte er, womit er es zu tun hatte.
Auf einmal waren sie überall. Einer nach dem anderen schoben sie ihre Köpfchen aus dem wabernden Nebel und sahen Scobee aus tellergroßen Augen an. Es waren gut zwei Dutzend Artgenossen des putzigen Wesens, das Scobee zuvor in ihr Herz geschlossen hatte. Doch irgendwie wirkten sie jetzt überhaupt nicht mehr putzig. Etwas Unheimliches ging von ihnen aus, wie sie da auf den Hinterbeinen standen und sie stumm ansahen. Ihre Antennen waren in die Höhe gereckt, und Scobee glaubte, ein leises Summen zu vernehmen, das die Luft erfüllte. Dann passierte es: Jenes Wesen, das Scobee am nächsten stand, riss urplötzlich sein Maul auf und präsentierte ein messerscharfes, blitzendes Gebiss. Gleichzeitig schossen zentimeterlange Krallen, die wie kleine Dolche aussahen, aus den Pfoten. Das war's dann wohl mit »putzig«, dachte Scobee, während sie ihren Blaster hob und auf die Kreatur anlegte. Sie zögerte noch, abzudrücken. Vielleicht reichte ja schon die bloße Drohgebärde, um sich die bissigen Kerlchen vom Leib zu halten. Auch wenn die Biester kaum größer waren als Waschbären, war Scobee sich keineswegs sicher, ob sie es im Ernstfall mit allen auf einmal aufnehmen konnte. Zumal sich mit jeder Sekunde Artgenossen hinzugesellten. Dann geschah es.
Scobee sah nur noch ein mit Zähnen gespicktes Maul, das auf sie zujagte. Sie drückte ab, und der Strahl bohrte sich in den Leib des kleinen Monsters, das mit einem schrillen Fiepen zu Boden ging. »Da seht ihr, was passiert, wenn mir auch nur eines von euch Biestern zu nahe kommt«, stieß Scobee aus und ließ den Lauf des Blasters über die Runde kreisen. Zunächst sah es tatsächlich so aus, als seien die Wesen durch das Schicksal ihres Artgenossen verunsichert. Doch schon im nächsten Moment geriet der Pulk in Bewegung, und eine regelrechte Pelzlawine rollte auf Scobee zu. Verzweifelt gab sie weitere Schüsse ab, landete dabei auch einige Treffer, doch es waren schlichtweg zu viele Angreifer. Schmerz wogte durch ihren Körper, als sie spürte, wie sie über sie kamen, sich in ihrem Nacken verbissen, in ihrem Hals, ihrem Gesicht … bis sie irgendwann das Bewusstsein verlor.
8. Kapitel Nur langsam lichtete sich der Schleier vor ihren Augen. Ihr Schädel dröhnte, und ihre Wangen fühlten sich an, als würde jemand mit einer Brennnessel darüberstreichen. Was war passiert? Nur langsam sickerte die Erinnerung zurück in ihr Bewusstsein. Diese verdammten Fellknäuel, fluchte sie in Gedanken. Erst jetzt wurde ihr so richtig klar, dass dieses Äffchen, das so zutraulich und anhänglich gewesen war, sie lediglich als Futter für sich und seine Artgenossen angesehen hatte. Traue keinem mit Plüschohren und Knopfaugen, dachte sie bitter. Unwillkürlich fragte sie sich, ob diese Biester auch hinter den Halluzinationen steckten, die sie, und offenbar auch Algorian, heimgesucht hatten. Algorian … Wie es ihm wohl ergangen sein mochte? Sie hoffte inständig, dass er sich nicht auch von seinem Gefährten getrennt hatte, sondern auf dem Pfad geblieben war. Jiim … Er schien von den Halluzinationen nicht betroffen gewesen zu sein. Bestimmt hatte ihn sein Nabiss davor bewahrt, ebenso dem Wahnsinn anheim zu fallen wie sie und der Aorii. Der Gedanke an ihre Gefährten versetzte Scobee einen Stich. Wer auch immer sie gefunden, wohin auch immer man sie gebracht hatte, eines war sicher: Sie hatte ihre Freunde verloren. Bestimmt hatte der Narge längst Jarvis und Fontarayn benachrichtigt. Wahrscheinlich durchkämmten sie bereits den halben Wald auf der Suche nach ihr. Scobee konnte nur hoffen, dass sie dabei nicht diesen Biestern in die Krallenhände fielen. Sie versuchte sich aufzusetzen, doch der Schmerz, der ihr bei jeder Bewegung in die Glieder fuhr, zwang sie zurück auf den harten Untergrund, auf den man sie gebettet hatte. Reiß dich zusammen!, herrschte sie sich in Gedanken an. Du kannst hier nicht den Tag verschlafen, während deine Freunde nach dir suchen,
sich dabei womöglich in Lebensgefahr begeben. Erst allmählich gelang es ihr, die bohrenden Sorgen zurückzudrängen und sich auf ihre Umgebung zu konzentrieren. Um sie herum war es dunkel. Lediglich durch einen schmalen Spalt sickerte ein dünner Streifen Licht. Dank ihrer genetisch verwurzelten Restlicht verstärkenden Nachtsichtigkeit war das völlig ausreichend. Viel zu sehen gab es allerdings nicht. Sie lag im spartanisch eingerichteten Inneren einer Hütte. Unwillkürlich musste sie an die Rauchfahnen denken, die Jiim erspäht hatte. Und daran, wie sie gehofft hatten, an dieser Stelle auf intelligentes Leben zu treffen. Nun, wie es aussah, hatte diese Lebensform sie getroffen. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass man ihr freundlich gesinnt war, und bisher gab es nicht den geringsten Grund, daran zu zweifeln. Immerhin hatte man sie vor den menschenfressenden Plüschtieren bewahrt und – wie sie mit einem Blick auf ihren Arm feststellte – ihre Wunden verarztet. Ein gelblicher Verband, der aus mehreren kunstvoll miteinander verflochtenen Blättern zu bestehen schien, war um ihren Oberam gewickelt. Vermutlich hatte man sie außerdem mit irgendeiner Tinktur aus Pflanzenextrakten eingerieben. Im Zelt roch es wie in einem Eukalyptuswald. Und diesen Geruch, das wurde ihr im nächsten Moment klar, strömte sie selbst aus. Hält bestimmt die Mücken fern, dachte sie in einem ihr schwer erklärlichen Anflug von Heiterkeit. Überhaupt fühlte sie sich auf einmal so beschwingt und gelöst. Es kam ihr vor, als würden alle ihre Probleme mit einem Mal an Bedeutung verlieren. Ob das ebenfalls auf die Wirkung irgendwelcher Medikamente zurückzuführen war? Falls dem so war und man ihr etwas eingeflößt hatte, konnte sie nur hoffen, dass dieser Jemand etwas von Humanmedizin verstand. Was gut für einen Extraterrestrier war, musste bei einem Menschen noch lange keine positive Wirkung erzielen … Nun, was auch immer sie mit ihr angestellt hatten, es war jetzt ohnehin nicht mehr rückgängig zu machen. Wenn sie Pech hatte, hatte man sie vergiftet.
So ist das Leben. Hauptsache, es war gut gemeint. Erneut wunderte sie sich über ihren Sarkasmus, der fast mit Resignation gepaart war. Diese Mixtur aus innerer Leichtigkeit und einer gewissen Gleichgültigkeit empfand sie fast als angenehm. Dennoch war es ein Zustand, der in ihrer Situation nicht besonders hilfreich war. Im Gegenteil, er war sogar extrem gefährlich. Er weckte die Bereitschaft, sich bedenkenlos in jedes ihr zugedachte Schicksal zu fügen. Erneut schloss sie die Augen, ließ sich einen Moment lang vom Fluss ihrer Gedanken treiben. Bruchstückartig und ungeordnet blitzten weitere Erinnerungsfetzen darin auf. Diese Flugmaschinen, die über sie hinweggedonnert waren. Es waren dieselben gewesen wie auf Saskana. Die Spezies, die dahintersteckte, hatte sich offenbar über mehrere Planeten dieses vergessenen Sternenreiches ausgebreitet. Vermutlich war sie es auch, die hinter jenem Tarnfeld steckte, mit dem ihre galaktische Heimat den Augen anderer Weltraumreisender entzogen wurde. Scobees Überlegungen wurden jäh durch leise Schritte unterbrochen, die sich in ihr Bewusstsein bohrten. Rasch öffnete sie die Augen. Ihr Blick fiel auf eine hochgewachsene muskulöse Gestalt, die sich jetzt vor der quadratischen Zeltöffnung abzeichnete. Die GenTec richtete sich auf. Träumte sie? Spielten ihr die Sinne einen weiteren Streich? Sie kannte das Wesen, das langsam auf sie zukam und dann neben ihrer Lagerstatt stehen blieb. »Boreguir?«, kam es krächzend über ihre Lippen. Die katzenhafte Gestalt bedachte sie mit einem verständnislosen Blick. Natürlich war es nicht der Saskanenkrieger. Das wurde Scobee schon in dem Moment bewusst, in dem sie seinen Namen aussprach. Boreguir war tot. Die RUBIKON hatte sich seinetwegen extra auf den Weg nach Saskana gemacht, um sicherzustellen, dass sein Leichnam ein seiner Kultur angemessenes Begräbnis erhielt. Dennoch. Bei dem Wesen, das soeben den Raum betreten hatte und jetzt neben ihr in die Knie ging, handelte es sich ebenfalls um
einen Feliden. Daran bestand nicht der geringste Zweifel. Das Einzige, was gegen diese Feststellung sprach, war die Tatsache, dass sie sich hier nicht auf Boreguirs Heimatwelt befanden. Gab es noch weitere Welten, die von dieser katzenartigen Kriegerrasse bevölkert war? Der Anblick des Geschöpfes, das Boreguir zumindest bei dieser Beleuchtung bis aufs Barthaar glich, ließ keinen anderen Rückschluss zu. »Du brauchst Ruhe«, sagte der Felide mit samtener Stimme und benutzte dabei Boreguirs Idiom. Mit beiden Händen hielt er Scobee ein Gefäß entgegen, aus dem übel riechender Dampf aufstieg. Scobee rümpfte die Nase, drehte das Gesicht zur Seite, doch der Felide machte keine Anstalten, ihre Ablehnung zu akzeptieren. »Trink! Es ist gut für dich. Macht dich wieder gesund.« »Was ist … da drin?«, fragte sie ihn. »Pflanzen, Wurzeln, der zerriebene Dront eines Pakula.« Die GenTec räusperte sich leicht, um die aufsteigende Übelkeit zu vertreiben. Sie wollte weder wissen, was ein Pakula war, noch war sie an seinem Dront interessiert. Aber wenn sie alles andere richtig verstanden hatte, konnte sie den Sud wahrscheinlich zu sich nehmen, ohne irgendwelche größeren Beschwerden erwarten zu müssen. Der Felide machte jedenfalls ganz den Eindruck, als hätte er alle Zeit der Welt, die Diskussion darüber einfach auszusitzen. Zaghaft nahm sie das Gefäß entgegen, führte es an ihre Lippen und trank. Zu ihrem Entsetzen schmeckte es tatsächlich genau so, wie es roch. Scobee verzog das Gesicht, kniff die Augen zusammen und unterdrückte den Würgereiz. »Alles!«, befahl der Felide. »Sonst kann sich die Wirkung nicht richtig entfalten.« Sei's drum, dachte Scobee, hielt sich die Nase zu und leerte den Rest in einem Zug. Zufrieden nahm der Felide ihr das Gefäß aus der Hand. »Mein Name ist Grueldon«, stellte er sich danach vor. »Du musst
dir jetzt keine Sorgen mehr machen. Für dein Wohl ist bei uns gesorgt. Der Hohe Rat der Weisen hat die Anweisung gegeben, es dir an nichts fehlen zu lassen.« »Ich will nicht undankbar erscheinen«, entgegnete Scobee. »Wirklich, ich weiß es zu schätzen, wie aufopferungsvoll ihr euch um mich kümmert. Aber ich war nicht allein im Wald unterwegs, sondern …« »Auch deine Freunde sind hier in bester Obhut«, versicherte Grueldon. »Du meinst … sie sind hier?« Scobee bäumte sich auf. Jedoch nur, um sich kurz darauf mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder zurücksinken zu lassen. »Wir haben euch bereits bei eurer Ankunft beobachtet und seitdem nicht mehr aus den Augen gelassen«, erklärte Grueldon. »Warum habt ihr euch dann erst bemerkbar gemacht, als ich schon fast zerfleischt worden wäre? Hättet ihr uns nicht warnen können?« Der Felide lächelte unergründlich. »Wir waren uns nicht sicher, ob ihr in friedlicher Absicht kamt. Wir hielten euch zunächst für Abgesandte der Dunklen.« Scobee zog die Stirn in Falten. »Die Dunklen? Sind das diese Wesen, deren Flugmaschinen wir auf dem Weg hierher gesehen haben?« Grueldon gab keine Antwort, sondern drehte sich um und bewegte sich langsam in Richtung Ausgang. »Schlaf jetzt! Du brauchst Kraft für deine große Aufgabe.« »Meine Aufgabe. Was, zum …?« Scobee kam nicht mehr dazu, ihre Frage auszuformulieren. Grueldon, der offenbar so etwas wie der Heiler des Dorfes war, ließ sie einfach stehen. »Hey!«, rief die GenTec. Sie biss die Zähne zusammen und setzte sich erneut auf. »Warte! Ich möchte zu meinen Freunden. Ich muss sie sehen! Ich …« Sie verstummte, als erneut ein Schatten in der Öffnung erschien. Es war ein anthrazitfarbener Humanoide – aber kein Lebewesen nach herkömmlichen Kriterien.
»Jarvis. Zum Glück …!« »Grueldon erlaubte mir nach einigem Drängen, dich zu besuchen.« »Ihr habt bereits Freundschaft geschlossen?« Jarvis imitierte dasselbe breite Grinsen, das schon in seiner menschlichen Gestalt ein Markenzeichen von ihm gewesen war. So perfekt wie dieses Mal hatte er es in seinem Nanokörper aber noch nie hinbekommen. Schnell wurde er wieder ernst, als er meinte: »Wir sind alle wohlauf. Jiim, Fontarayn … Algorian musste von den Feliden überwältigt werden. Er hat sich mit aller Kraft gesträubt, aber inzwischen ist er wieder ganz der Alte. Auch wenn er Jiim gegenüber wohl noch immer ein schlechtes Gewissen hat.« In knappen Worten erzählte er ihr von Algorians Ausraster und davon, dass er dem Nargen um ein Haar ein Loch in den Leib gebrannt hätte. »Dich hat es am schlimmsten erwischt«, meinte er anschließend. »Diese Viecher haben dich ziemlich schlimm zugerichtet. Einen Moment lang war ich ehrlich besorgt, als sie dich ins Dorf brachten.« »War es so schlimm?« »Ziemlich. Aber die Medizin, die sie verabreicht, und die Tinkturen, mit denen sie deine Wunden versorgt haben, scheinen das reinste Wundermittel zu sein. Wenn der Heilungsprozess so rasant voranschreitet, bist du morgen wieder voll auf dem Damm.« »Wie lange sind wir eigentlich schon hier?« »Eine Nacht und einen halben Tag«, gab Jarvis zurück. »Du hast etwa fünfzehn Erdstunden lang geschlafen.« »Auf meine Narben kann ich noch nicht mal stolz sein«, gab Scobee mit bitterem Lächeln zurück. »Ich bin einer Horde Plüschtiere zum Opfer gefallen.« »Du solltest nicht so respektlos von ihnen sprechen«, wies Jarvis sie mit einem unglaublichen Augenzwinkern zurecht. »Die Mangaven sind eine hoch entwickelte Spezies von Räubern. Ein Wunder der Natur sozusagen.« »Mit der hiesigen Fauna kennst du dich auch schon aus?«
»Ich habe mir kurz erklären lassen, was es mit diesen Biestern auf sich hat. Du hast vielleicht die Antennen bemerkt, die ihnen aus dem Kopf wachsen?« »Und weiter …?« »Sie sind nicht nur Zierrat, sondern ein hoch entwickeltes Organ, das es ihnen ermöglicht, bestimmte Schwingungen zu erzeugen, die bei Säugetieren je nach Art und Rasse die unterschiedlichsten Reaktionen hervorrufen. Genau genommen wirken sie direkt auf die chemischen Botenstoffe im Gehirn ein und lösen eine allgemeine Konfusion aus – bei höher entwickelten Lebewesen auch Halluzinationen. Damit gelingt es ihnen zum einen, ihre Opfer, die meist in Herden auftreten, von den anderen Tieren zu trennen, und zum anderen, sie sich gefügig zu machen, sodass sie kaum noch in der Lage sind, Gegenwehr zu leisten.« »Dann gingen die Kadaver, die Jiim aus der Luft erspähte –« »Kontigos«, unterbrach Jarvis sie. »Elefantenähnliche Säugetiere, die jedoch in der Lage sind, ein giftiges Sekret zu versprühen und sich damit ihre Feinde vom Leib zu halten.« Scobee quittierte seinen Vortrag mit grimmigem Lächeln. »Also diese Kontigos … sie gehen auch auf das Konto der …« »Mangaven«, kam Jarvis grinsend zu Hilfe. »Du solltest das bis morgen früh draufhaben, denn dann frage ich dich ab.« Scobee winkte müde lächelnd ab. Als sie Jarvis auf ihre Gastgeber ansprach, wurde sie wieder ernst. »Feliden ….«, gab dieser versonnen zurück. »Tja, wer hätte darauf gewettet?« »Ich jedenfalls nicht«, gab Scobee zu. »Ihre Existenz auch auf diesem Planeten regt natürlich zu Spekulationen an.« Mit seinem Nicken gab Jarvis zu verstehen, dass auch er sich bereits seine Gedanken über dieses Thema gemacht hatte. »Wenn bereits auf zwei so weit voneinander entfernten Planeten des verborgenen Sternenreichs Feliden leben, dann ist es wahrscheinlich, dass sie auch auf anderen Welten heimisch sind – oder? Zumal wir diesen Planeten nahezu zufällig ausgewählt haben. Ich meine, wie groß wäre die Wahrscheinlichkeit?«
»Eben. Und genau das zieht weitere Überlegungen nach sich, findest du nicht?« »Du denkst an das Tarnfeld?« Scobee zuckte die Achseln. Ihr Blick ging an ihm vorbei zum offenen Eingang des Zeltes. Draußen rannte gerade eine kleine FelidenGestalt, vermutlich ein Kind, vorbei. »Könnte es denn nicht sein, dass sie von ihrer Fähigkeit des SichVergessen-Machens gar nichts wissen und sie ganz unbewusst einsetzen?« »Hältst du das wirklich für wahrscheinlich? Denk dran, dass wir es noch mit einer weiteren Macht zu tun haben, die in diesem verborgenen Reich offenbar ebenso weit verbreitet ist.« »Die Dunklen«, wiederholte Scobee den Begriff, den Grueldon fallen gelassen hatte. »Was hast du gesagt?« Jarvis sah sie verständnislos an. »Sag bloß, davon hast du zur Abwechslung noch nichts gehört?« »Man kann nicht alles wissen. Wenn das die Unbekannten in den Fluggeräten sein sollen … Jeglichen Fragen zu diesem Thema sind die hiesigen Feliden bisher ausgewichen.« Scobee nickte. »Ich hatte auch den Eindruck, dass Grueldon seine Bemerkung eher unbedacht fallen ließ und er sie danach bereute.« »Sie haben eben Angst vor diesen Wesen. Denk nur dran, was sie ihren Artgenossen auf Saskana angetan haben.« »Ja, aber ich glaube, das ist nicht alles.« »Wie meinst du das?« »Grueldon sprach davon, dass ich bald wieder gesund werden müsse, und von einer Aufgabe, die ich dann zu erfüllen hätte.« Jarvis runzelte die Stirn, was noch nicht ganz so gut klappte wie das andere Mienenspiel. »Davon höre ich zum ersten Mal. Vielleicht erfahren wir heute Abend mehr.« »Heute Abend?« »Habe ich das noch nicht erwähnt? Die Feliden haben eine Willkommensfeier zu unseren Ehren anberaumt. Ich hoffe, dass du bis dahin wieder einigermaßen fit bist.«
»Hmm …« »Was ist?« »Findest du es nicht etwas merkwürdig, dass wegen ein paar Fremden ein solches Brimborium veranstaltet wird?« »Weshalb? Die Feliden sind ein stolzes, aber gastfreundliches Volk. Außerdem ist man hier wahrscheinlich froh, wenn man mal etwas zum Feiern hat …« Scobee nickte, aber wirklich überzeugt war sie nicht. »Erzähl mir etwas von den hiesigen Feliden«, bat sie schließlich. »Unterscheiden sie sich von jenen, die wir von Saskana kennen?« Die Frage war berechtigt. Da die primitive Kriegerrasse über keinerlei technische Möglichkeiten verfügte, um ihren Heimatplaneten zu verlassen, war es unwahrscheinlich, dass sie einander schon einmal begegnet waren. Vor allem ihre kulturelle Entwicklung musste in völlig unterschiedlichen Bahnen verlaufen sein, auch wenn die vergleichbaren äußeren Umstände – wie etwa ein Leben in abgeschotteten Enklaven – zu einer Angleichung der Lebensstile geführt haben musste. »In einigen Dingen schon«, sagte Jarvis. »Zum einen scheint es keine Kalamitäten zu geben, die dieses Volk entzweien.« Der Stamm der bekannten saskanischen Feliden – oder Saskanen, wie sie sich selbst nannten – hatte sich einst wegen eines Streits in Ost- und Westsaskanen aufgespalten und sich seitdem bis aufs Blut bekämpft. Erst durch das Engagement der RUBIKON-Crew war es gelungen, die beiden Parteien wieder miteinander zu versöhnen. »Die Führung des Stammes ist aufgeteilt zwischen einem Häuptling und einer Art Ältestenrat, der bei wichtigen Entscheidungen zwar nicht das letzte Wort, aber wohl doch einen ziemlich starken Einfluss hat. Alle anfallenden Arbeiten werden je nach Eignung und Schwierigkeitsgrad fair unter den Mitgliedern des Stammes aufgeteilt. Darüber hinaus gehen die hiesigen Feliden nicht nur auf die Jagd, sondern betreiben ausgiebig Ackerbau. Und, ach ja, sie leben in Zeltsiedlungen, wie du ja wahrscheinlich schon bemerkt hast.« »Gibt es nur diesen einzigen Stamm?«, fragte Scobee. »Wenn ich es richtig mitbekommen habe, dann existieren mindes-
tens drei weitere, die sich jedoch alle auf einen bestimmten räumlich begrenzten Bezirk verteilen, dessen Grenzen sie aus irgendeinem Grund nicht überschreiten. Was sie mit den Saskanen gemeinsam haben, ist, dass sie offenbar von einer höher stehenden Rasse unterjocht werden.« »Na gut.« Scobee gab sich fürs Erste zufrieden. »Ich glaube, es wird Zeit, dass ich mir selbst ein Bild von unseren Gastgebern mache …«
9. Kapitel Kurz nachdem Jarvis gegangen war, sank Scobee wieder in einen traumdurchwobenen Schlaf, in dem sie noch einmal von zähnefletschenden Mangaven, feindlich gesonnenen Fluggeräten sowie von Darcy und Resnick heimgesucht wurde. Reuben Cronenberg mengte sich überraschenderweise nicht unter die Traumgestalten. Ein Zeichen dafür, dass ihn ihr Unterbewusstsein längst zu einer bedeutungslosen Randerscheinung degradiert hatte? Angesichts der Tatsache, dass es in diesem Universum wohl nichts Unergründlicheres gab als die menschliche Psyche, war das wohl nicht mit letztendlicher Gewissheit zu sagen. Dennoch war Scobee erleichtert darüber, dass wenigstens einer ihrer Dämonen fürs Erste verstummt war. Als sie erwachte, spürte sie heiße Luft, die von außen ins Innere des Zeltes drängte, es aufblähte und ihre Wangen zum Glühen brachte. Mühsam schälte sie sich aus dem Tierfell, das Grueldon ihr für die Nacht gegeben hatte. Zu ihrer Erleichterung blieb der Schmerz dieses Mal aus. Jarvis hatte Recht behalten. Die Medizin des Heilers hatte in der Tat wahre Wunder gewirkt. Noch bevor die letzte Benommenheit vollständig von ihr abgefallen war, stand sie auf und näherte sich Schritt für Schritt dem Ausgang des Zeltes. Die Nacht war inzwischen angebrochen. Deshalb waren die Flammen, die in einiger Entfernung in den pechschwarzen Himmel loderten, umso deutlicher zu erkennen. Sie schienen Teil eines gewaltigen Lagerfeuers zu sein, das irgendwo in der Mitte der Zeltsiedlung entzündet worden war. Immer wieder vernahm Scobee spitze hohe Schreie, die Teil eines Rituals zu sein schienen. Scobee wollte gerade die Richtung einschlagen, in der der Scheiterhaufen lag, als sich eine Gestalt von links in ihr Blickfeld schob. Jarvis.
»Wie ich sehe, hast du dich gut erholt«, meinte er sichtlich erfreut. »Ich fühle mich auch schon fast wieder wie neu«, gab sie zurück, was leicht übertrieben war. Sie hatte noch immer ein leichtes Schädelbrummen, und mit dem Stechen in ihrem rechten Oberarm hätte sie derzeit an keinem Ruderwettbewerb teilnehmen können. Dennoch war sie froh, dass sie sich schon wieder aus eigener Kraft bewegen konnte und nicht mehr auf fremde Hilfe angewiesen war. Das war das Schlimmste für sie gewesen. Nicht die Schmerzen oder die Übelkeit, sondern dieses völlige Ausgeliefertsein. »Das Fest scheint schon in vollem Gange zu sein«, meinte sie, als weitere schrille Schreie zu hören waren. »Ich dachte, es würde uns zu Ehren stattfinden.« »Talamón, der Häuptling des Stammes, bat uns, uns noch ein wenig zu gedulden. Wenn ich es richtig verstanden habe, handelt es sich bei dem jetzigen Geplänkel wohl um eine Art Zeremonie, mit der der Festplatz von allem Bösen gereinigt wird. Sie kann nur von den Dorfältesten durchgeführt werden. Alle anderen haben sich in dieser Zeit dem Platz fern zu halten und …« Jarvis verstummte, als er wie Scobee die Gestalt bemerkte, die sich plötzlich zwischen zwei Zelten hervorschob. »Meine Name ist Helsékir. Ich bin erfreut, euch kennen zu lernen. Häuptling Talamón hat mich geschickt, um euch zu sagen, dass die Eröffnungszeremonie beendet ist. Er lässt ausrichten, dass er sich schon sehr darauf freut, euch persönlich am Lagerfeuer begrüßen zu dürfen.« Scobee und Jarvis tauschten einen kurzen Blick, dann nickten beide und gingen dem katzenhaften Eingeborenen nach. Auf dem Weg zum Festplatz stellte Scobee fest, dass die Zeltsiedlung wesentlich größer war, als sie es sich nach Jarvis' Bericht vorgestellt hatte. Leider war es nicht möglich, die einzelnen Quartiere zu zählen, doch auf den ersten Blick schätzte sie ihre Zahl auf gut fünfzig. Wobei schwer zu sagen war, wie weit sich die Siedlung in die anderen Richtungen fortsetzte. Die Zelte waren alle gleich groß und schienen nach einem bestimmten System angeordnet zu sein, das zu entschlüsseln Scobee
sich nicht imstande sah. Konnte es sein, dass sie irgendein Muster bildeten? Scobee hätte den Dorfplatz aus der Vogelperspektive betrachten müssen, um ganz sicher zu sein. Aber ihr kam es tatsächlich so vor, als würde sich die scheinbare Unordnung in Wahrheit einem genau festgelegten Regelwerk unterwerfen. Je näher sie dem Festplatz kamen, desto mehr Feliden begegneten ihnen, die ebenfalls zum Feuer strömten. Die meisten hatten sich herausgeputzt, trugen ihre Kriegsgewänder und waren mit Schmuck behängt. Kaum einer nahm Notiz von ihnen, obwohl Scobee ziemlich sicher war, dass es lange her sein musste, dass sie den letzten Nicht-Feliden gegenübergestanden hatten. Wenn sie überhaupt jemals Angehörige einer fremden Rasse aus nächster Nähe gesehen hatten. Jiim, Algorian und Fontarayn, von denen nach Jarvis' Auskunft jeder sein eigenes Zelt zur Verfügung gestellt bekommen hatten, trafen etwa zeitgleich mit ihnen ein. Es gab ein großes Hallo, als sich die Gefährten zum ersten Mal seit ihrer Trennung wieder gegenüberstanden. Vor allem Scobee und Algorian begrüßten sich mit einer Herzlichkeit, zu der sich vor allem die GenTec eher selten hinreißen ließ. Nur Fontarayn stand etwas abseits, und sein Blick ließ erkennen, dass ihm der Sinn und Zweck derartiger Gefühlsregungen wohl für immer verborgen bleiben würde. Erst nachdem sie die Gefährten begrüßt hatte, nahm Scobee den Festplatz näher in Augenschein. Kreisförmig und mit einem Durchmesser von gut dreißig Metern bildete er das Zentrum der Siedlung. Er war leer, bis auf den brennenden Reisighaufen. Die Flammen hatten mittlerweile eine Höhe von bis zu zehn Metern erreicht. Scobees Blick verlor sich einen Moment lang in den Funken, die hoch oben wie Glühwürmchen in den nachtschwarzen Himmel stoben. »Folgt mir!«, bat Helsékir, nachdem alle ihre Begrüßungsrituale beendet hatten. »Talamón möchte euch während der Feier in seiner Nähe haben.« Widerspruchslos schlossen sie sich ihm an, wobei sie einen großen Bogen um das Feuer machten, das eine starke Hitze ausstrahlte, die noch in einem Abstand von mehreren Metern kaum erträglich war.
Erst als sie den Scheiterhaufen umrundet hatten, entdeckte Scobee jenes Gerät, das von ihrem vorherigen Standort aus von den Flammen verdeckt worden war. Auf den ersten Blick erinnerte es sie an den Hochsitz eines Försters aus dem 21. Jahrhundert. Er war aus einigen starken Stämmen zusammengezimmert worden. Und obwohl die Konstruktion offenbar lediglich von einigen aus Grashalmen geflochtenen Schnüren zusammengehalten wurde, wirkte sie ziemlich robust und stabil. Noch war der Sitz leer, aber Scobee war sich sicher, dass später der Häuptling des Stammes Platz darauf nehmen würde. Helsékir dirigierte sie an den Rand des Festplatzes, ganz in die Nähe des Throns, wo sich bereits eine weitere Gruppe Feliden eingefunden hatte. Von dieser Warte aus war es den Gefährten möglich, das bunte Treiben auf dem Platz in Ruhe zu beobachten. Immer mehr Feliden strömten aus allen Richtungen herbei, um sich am Rand des Kreises aufzureihen, wobei jeder einen bestimmten, nur ihm zugedachten Platz einzunehmen schien. Vielleicht richtete es sich nach der Stellung des jeweiligen Feliden innerhalb der Dorfgemeinschaft. Ein Grund mehr, fand Scobee, es als Ehre zu empfinden, dass sie sich in unmittelbarer Nähe des Häuptlings einreihen durften. Nach einiger Zeit, während der die Gefährten untereinander so gut wie kein Wort wechselten, waren Trommellaute zu hören. Scobee blickte nach vorne, wo sie den Ursprung der Laute auszumachen glaubte. Vom Licht des Feuers geblendet, nahm sie zunächst nur einige Schemen wahr, die den dahinter liegenden Bereich des Platzes füllten. Es dauerte jedoch nicht lange, bis die Gestalten das Feuer beidseitig umrundeten. Es waren Feliden-Krieger, acht an der Zahl, in robusten und mit allerlei Zierrat versehenen ledernen Rüstungen. Zwei von ihnen hatten Trommeln bei sich und gaben den Rhythmus vor, in dem sich die anderen bewegten. Das Spektakel dauerte knappe zehn Minuten, danach folgten einige weibliche Feliden, die ebenfalls einen zeremoniellen Tanz aufführten. Anschließend war eine Pause, dann donnerte ein ohrenbetäubender Lärm über den Platz, der entfernt an eine Trompete erin-
nerte. Die Blicke aller richteten sich augenblicklich auf die gegenüberliegende Seite des Platzes. Wieder bereitete es Scobee einige Mühe, die Ankömmlinge hinter den züngelnden Flammen zu erkennen. Dann war es so weit. Mit zwei Felidinnen an seiner Seite, gefolgt von einem kleinen Hofstaat aus sechs Kriegern, marschierte jener Stammesangehörige auf den Platz ein, auf dessen Ankunft alle anderen gewartet zu haben schienen. Scobee hatte diesbezüglich nicht den geringsten Zweifel. Der muskulöse Felide, der die prächtigste Rüstung von allen trug und sich doch mit der Anmut eines geborenen Anführers bewegte, konnte nur Häuptling Talamón sein. Während er auf sie zukam, fiel Scobee auf, dass niemand sie über die hiesige Etikette aufgeklärt hatte. Wie begegnete man auf diesem Planeten dem Häuptling eines Stammes? Sie konnte nur hoffen, dass sie nichts falsch machte. Das Letzte, was sie in dieser Situation wollte, war, ihre Gastgeber vor den Kopf zu stoßen. Zu ihrer Erleichterung blieb die Begrüßung der ältesten Stammesmitglieder, die sich beiderseits neben der RUBIKON-Crew postiert hatten, relativ formlos. Als Talamón Scobee erreicht hatte, deutete er nur eine leichte Verbeugung an und sagte: »Es ist mir eine Ehre, euch in unserer Mitte willkommen zu heißen.« »Die Ehre ist ganz auf meiner Seite«, gab Scobee in Ermangelung einer originelleren Antwort zurück. Talamón, dessen kristallblaue Augen das Charisma eines erfahrenen Anführers verströmten, sah sie noch einmal eindringlich an, dann ging er weiter zum nächsten in der Reihe. Das war's schon?, dachte Scobee fast schon ein wenig enttäuscht. Ihr Blick fiel dabei auf die beiden Frauen, die sich hinter dem Häuptling eingereiht hatten und ihr lediglich einen scheuen Blick zuwarfen. Dann war die Begrüßungszeremonie beendet. Talamón nahm seinen Platz auf dem Thron ein und hielt eine kurze Ansprache, die Scobee mehr an eine Art Gebet erinnerte.
Als er geendet hatte, brachen alle Feliden in großen Jubel aus, wobei sie den Festplatz unter erneuten Trommelklängen stürmten. »Jetzt beginnt wohl der gemütliche Teil des Abends«, meinte Jarvis, der sich Scobee unbemerkt genähert hatte. Die GenTec lächelte nur versonnen, während sie das weitere Treiben interessiert verfolgte. Mehrere in kunstvolle Gewänder gekleidete weibliche Feliden brachten tönerne Gefäße, die mit allerlei Köstlichkeiten gefüllt waren, gingen herum und bedienten die Gäste. Klassische Rollenverteilung, dachte Scobee. Ihr Blick wanderte weiter, fiel auf die beiden Frauen, die in Talamóns Begleitung erschienen waren. Eine wirkte etwas älter als die andere, die einen sehr verschlossenen, nachdenklichen Eindruck machte. Irgendwie sah sie so aus, als ginge sie das hier alles nichts an. Scobee sprach Jarvis darauf an, der zumindest einen Teil ihrer Frage beantworten konnte. »Die Ältere ist Talamóns Gefährtin, was wohl dem Rang einer Ehefrau entspricht. Die andere habe ich bisher nicht gesehen. Wenn es die Tochter des Häuptlings ist, wird sie gut unter Verschluss gehalten.« »Ihr interessiert euch für Raniána?«, fragte Helsékir, der Scobees forschenden Blick bemerkt hatte und jetzt an sie und Jarvis herantrat. »Wir haben uns nur gefragt, warum Talamóns Tochter an einem solch fröhlichen Tag so in sich gekehrt wirkt.« »Oh, Raniána ist nicht Talamóns Tochter. – Sie ist die Frau seines Sohnes«, fügte er noch hinzu, als er Scobees fragenden Blick bemerkte. »Seine Schwiegertochter also«, murmelte die GenTec. »Aber wo ist Talamóns Sohn?« »Nun …«, gab Helsékir zögernd zurück und sah sich vorsichtig um. »Das ist der Grund, weshalb Raniána sich außerstande sieht, so ausgelassen zu feiern wie alle anderen.« »Wieso? Was ist mit dem Häuptlingssohn geschehen?«, fragte Jarvis. »Ist er …?« Er ließ den Satz unvollendet.
»Tamino ist verschollen. Zweiundsechzig Monde ist es her, dass er in die Verbotene Zone aufbrach und nicht wieder zurückkehrte.« »Verbotene Zone?« Helsékir, der einen strengen Blick seines Gebieters auffing, verstummte. »Bitte verzeiht. Ich werde gebraucht«, sagte er und verabschiedete sich schnell. »Sieht aus, als würden sie tatsächlich das Schicksal der Saskanen teilen«, sagte sie. »Jemand hält sie unter seiner Fuchtel. Sie sind Gefangene einer höheren Macht.« Jarvis hatte dem nichts entgegenzusetzen. Es verging eine gute Stunde, in der sich die Gefährten an den Köstlichkeiten der felidischen Küche gütlich taten. Zu Scobees Überraschung schmeckte das Meiste davon richtig gut, auch wenn sie darauf verzichtete, nachzufragen, was genau sie da zu sich nahm. Dann, auf einen Schlag, begann die Atmosphäre sich zu verändern. Der Geräuschpegel sank nach und nach ab, und die Feliden nahmen wieder ihre angestammten Plätze ein. Scobee und Jarvis taten es ihnen gleich. Es dauerte nicht lange, und eine weitere Prozession marschierte auf dem Festplatz auf. Es waren vier Krieger, die mit feierlicher Miene eine schwere Trage brachten. Scobee verrenkte sich fast den Nacken bei dem Versuch, einen Blick auf den Gegenstand zu erhaschen, der auf die Trage gebettet war. Er war völlig schwarz und sah aus wie ein riesiger Fellklumpen. Selbst als sie die Trage vor dem Scheiterhaufen abstellten und zur Seite traten, blieb ihr die Identität dieses Dings verborgen. »Weißt du, was das ist?«, zischte sie in Jarvis' Richtung, doch dieser signalisierte auch nur seine Ahnungslosigkeit. Ein Mann in prunkvoller Robe trat aus der Menge und sprach ein paar feierliche Worte, die darauf hindeuteten, dass es sich um eine religiöse Zeremonie handelte. Schließen nahmen die Krieger, die auch die Trage gebracht hatten, den Gegenstand, pflanzten ihn auf einen langen Spieß und hielten ihn in die Luft. Erst jetzt, als sich die Silhouette deutlich vor dem Flammenmeer
abzeichnete, erkannte Scobee, worum es sich dabei handelte. Es war eine Puppe. Etwa so groß wie ein Schäferhund und, so glaubte sie zu erkennen, kunstvoll aus Blättern und Reisig geflochten. Und dann wurde ihr schlagartig bewusst, woran diese Puppe sie erinnerte. An einen stilisierten Käfer …
Jarvis brachte mit einem Zeichen zum Ausdruck, dass er Scobees Eindruck teilte. Das Modell hatte die Form eines überdimensionierten Eis, aus dem zahlreiche Äste, die wohl die Beine darstellen sollten, hervorstachen. Sie hatten es schon lange vermutet, aber jetzt schien endgültig klar zu sein, dass es sich bei den Dunklen, die die hiesigen Feliden unterjochten, ebenfalls um jene Käferartigen handelte, die sich auch auf Boreguirs Heimatwelt ausgebreitet hatten. Der Felide in der Robe stieß einen markerschütternden Laut aus, der von den Umstehenden entsprechend beantwortet wurde. Das geschah etwa fünf Mal, dann hoben die beiden Krieger die Puppe auf Befehl des Häuptlings über das Feuer und warfen sie hinein. Sofort ging der Käfer in Flammen auf, brannte lichterloh, während glühende Funken über ihm in den Nachthimmel stoben. »Wenn's nur so einfach wäre«, meinte Jarvis, nachdem das Spektakel beendet und der Käfer zu Asche verbrannt war. Sicher, auf diese Art und Weise war der Bedrohung nicht beizukommen, der sich die Feliden ausgesetzt sahen. Jedoch handelte es sich dabei wohl auch mehr um eine Art Stammesritual, das dafür sorgen sollte, dass sich die Käferartigen von ihrer Dorfgemeinschaft fern hielten. Scobee vermutete, dass sie die reale Bedrohung religiös verbrämt hatten, in den Käferartigen so etwas wie dunkle Götter sahen, die man durch ein genau festgelegtes Ritual zumindest zeitweise bannen konnte. Nach der Zeremonie kehrte die Ausgelassenheit in die Reihen der Feliden zurück. Es wurde getanzt, gegessen, geplaudert, bis sich die
Versammlung irgendwann zu später Stunde auflöste. Als sich auch Scobee, der die Müdigkeit in den Knochen steckte, für die Nacht verabschieden wollte, hielt Helsékir sie zurück und ließ verlauten, dass Talamón sie in seiner bescheidenen Behausung zu empfangen wünschte. Zähneknirschend erklärte sie sich zu der Audienz bereit, wobei sie sich Mühe gab, nach außen hin so zu wirken, als fühlte sie sich geehrt. Erst jetzt bemerkte sie, dass der Thron des Häuptlings wohl schon seit geraumer Zeit leer war. Auch seine Frau und seine Schwiegertochter hatten sich zurückgezogen. Helsékir führte sie quer durch die Siedlung, bis sie ein Zelt erreichten, das sich kaum von den anderen unterschied. Es war zwar etwas größer, aber davon abgesehen schien Talamón von Statussymbolen nicht viel zu halten. Schon aus einiger Entfernung bemerkte Scobee den süßlichen Geruch, der aus dem Zelt nach draußen strömte. Als Helsékir das gepunktete Tierfell, das über den Eingang gespannt war, beiseite schlug, erkannte sie auch die Quelle des Duftes. Er stieg aus mehreren, über den ganzen Raum verteilten, tönernen Behältnissen auf, die von Form und Größe her an Bienenstöcke erinnerten. Sie waren geschlossen. Lediglich einige kleine Löcher waren in die Oberseite gestanzt. Und aus ihnen drang dieser Rauch, der sich mittlerweile in geisterhaften Schwaden im gesamten Zeltinneren ausgebreitet hatte. Scobee verspürte ein leichtes Schwindelgefühl, als sie tief Luft holte und den Rauch einsog. Offenbar hatte er eine berauschende Wirkung. Vielleicht lag es aber auch an ihrer Müdigkeit oder an der Medizin, die man ihr verabreicht hatte. Den anderen – Jiim, Algorian, Jarvis und Fontarayn – schien der Gestank jedenfalls nichts auszumachen. Was bei den beiden Letztgenannten auch nicht zu erwarten gewesen war. Der Häuptling saß in der hinteren Ecke des Zeltes auf einem Berg aus Tierfellen und sah sie erwartungsfroh an. Seine Frau und die seines Sohnes saßen zu seinen Füßen am Boden. Neben ihnen stand ein weiterer Felide. Scobee glaubte, ihn einmal kurz auf der Feier gese-
hen zu haben, war sich dessen aber nicht sicher. »Ich bin erfreut, dass ihr mir die Ehre eures Besuchs erweist.« Scobee sagte nichts, wartete einfach nur ab. Ihr kam die Sache allmählich spanisch vor. Die Atmosphäre in diesem Zelt hatte nichts Entspanntes. Die GenTec fühlte sich vielmehr an eine Art Tribunal erinnert. Alle Augen waren auf sie und ihre Gefährten gerichtet. Die Blicke waren bohrend und drängend, als würden sie sich irgendetwas von ihnen erhoffen. »Bitte nehmt Platz«, sagte Talamón und wies auf mehrere Felle, die ausgebreitet vor ihm auf dem Boden lagen. Die Gefährten kamen der Aufforderung schweigend nach. Scobee wartete ab, dass Talamón das Wort ergriff. Der Blick des Feliden ging an ihnen vorbei, als müsse er sich erst sammeln. Dann begann er: »Was ich euch jetzt erzähle, liegt Tausende, Abertausende von Monden zurück. Damals, so sagen es die Überlieferungen, die die Ältesten stets an die jeweils nachfolgende Generation weitergereicht haben, bevölkerten wir noch einen ganzen Planeten. Wir lebten wie im Paradies, konnten große Taten vollbringen, besaßen Möglichkeiten, von denen wir heute nur noch träumen können. Doch alle scheinbaren Errungenschaften führten dazu, dass unser Volk müde und dekadent wurde. Wir verloren das Wesentliche aus den Augen, entsagten nach und nach den alten Göttern und schwangen uns selbst auf deren Thron. Es kam der Tag, da Haikon, der Göttervater, nicht mehr gewillt war, dem Treiben tatenlos zuzusehen. Er sandte uns als grausame Plage die Dunklen, die dafür sorgten, dass alles, was unser Volk sich über eine so lange Zeit hinweg erarbeitet hatte, mit einem Schlag zunichte gemacht wurde. Unser Volk, dafür traf Haikon Vorsorge, sollte nie wieder der Versuchung anheim fallen, sich selbst zu Göttern aufzuschwingen. Er verstreute uns über Hunderte von Welten, auf denen wir von nun an, überwacht von den Dunklen, ein Leben in Armut und Kargheit führen sollten. Erst wenn wir bewiesen haben, dass wir bereit sind, das Geschenk des Lebens, das Haikon und seine Getreuen uns machten, mit Demut und Dankbarkeit zu erwidern, erst dann werden die Götter das Joch von uns nehmen.«
Talamón verstummte und sackte in sich zusammen, als hätten ihm diese wenigen Worte einen immensen Kraftakt abverlangt. »So vergeht kein Tag, an dem wir nicht um ein Zeichen von Haikon beten, auf dass er uns mit der nötigen Weisheit segne, die es ihm erlaubt, sein Versprechen einzulösen. Schon mehr als nur einmal glaubten wir, Haikon habe uns ein Zeichen geschickt. Und ebenso viele Male wurde unsere Hoffnung enttäuscht. Doch jetzt, da wir es schon fast verlernt haben zu hoffen, entsandten die Götter euch in unsere Mitte.« Scobees Blick wanderte in Jarvis' Richtung. Der Freund war von einer ähnlichen Unruhe erfasst wie sie selbst. Augenblicklich erinnerte sie sich an die »Aufgabe«, von der der Heiler gesprochen hatte und die angeblich vor ihnen lag. So allmählich dämmerte ihr, was er damit gemeint hatte. Die Feliden hegten offenbar die Hoffnung, dass die RUBIKON-Crew sie von dem Joch befreite, das der Göttervater ihnen einst auferlegte. Gut, wenn sie sich ihre Gefährten so ansah, vor allem Jarvis und den geflügelten Jiim, dann konnte man sie durchaus für »Gesandte der Götter« halten. Dennoch. So ungern Scobee die Hoffnung der Feliden ein weiteres Mal enttäuschen wollte, so sehr war ihr auch klar, dass sie es zu fünft nicht mit einer Bedrohung aufnehmen konnten, die, nach allem, was sie bisher wussten, eine ganze Sternenballung in ihrem Würgegriff hielt. »Ich denke«, setzte sie vorsichtig an, »dass hier ein Irrtum vorliegt. Wir sind keineswegs Gesandte eurer Götter. Wir sind selbst nur Sterbliche, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden und die seitdem zwischen den Welten reisen.« Scobee hielt inne und sah den Häuptling eindringlich an. Mit sichtlicher Anspannung beobachtete sie die Reaktion des Häuptlings. Sie konnte nur hoffen, dass sie sich einigermaßen verständlich gemacht hatte. Zu ihrer Überraschung verzog er keine Miene, sondern lehnte sich zurück und schloss die Augen, als müsse er in sich gehen, um die Götter um Rat zu ersuchen. »Haikons Wege sind unergründlicher, als selbst ihr, die ihr die Fähigkeit besitzt, in Flugmaschinen gen Himmel zu reisen, es euch
vorzustellen vermögt.« Es war Riaita, die Gefährtin des Häuptlings, die diese Worte sprach. Im Flüsterton wandte sich Scobee, ohne den Blick von Riaita zu nehmen, an Jarvis. »Was, in aller Welt, meint sie damit?« Als hätte die Felidin die Frage verstanden, gab sie die Antwort kurz darauf selbst: »Auch ihr seid nicht mehr als Werkzeuge in den Händen der Götter.« Na, besten Dank auch, dachte Scobee bissig. Innerhalb von Sekunden vom Gott zum Schraubenzieher degradiert. Das muss uns erst mal einer nachmachen. »Ihr seid nicht zufällig hier«, erklärte die Felidin weiter. »Nichts im Leben geschieht zufällig. Das Schicksal hat euch hierher geführt, damit ihr die euch zugeteilte Aufgabe erfüllen könnt.« »Wie sollen wir das eurer Meinung nach anstellen?«, ergriff Jarvis das Wort. »Wie sollen wir es zu fünft mit einer Übermacht von Gegnern aufnehmen? Ihr habt völlig Recht, wir sind keine Götter. Wir haben keine magischen Fähigkeiten. Herrgott, wir haben nicht einmal die Macht, es mit ein paar dahergelaufenen Mangaven aufzunehmen.« Die letzten Worte brüllte er den Feliden förmlich entgegen. Erst Scobees tadelnder Blick brachte ihn wieder zur Räson. Scobee war überzeugt, dass Jarvis' Gefühlsausbruch sie einige Sympathiepunkte gekostet hatte, doch zu ihrer Überraschung glaubte sie, ein Lächeln auf den Lippen der Katzenartigen zu erkennen. »So hat jeder seine Aufgabe zu erfüllen«, gab sie völlig unbeeindruckt zurück. »Unsere Aufgabe war es, euch vor den Mangaven zu retten, damit ihr die eure erfüllen könnt.« Scobee seufzte in sich hinein. Dieser Logik war in der Tat nur schwer beizukommen. Doch wie sollten sie sich jetzt verhalten. Würden die Feliden es akzeptieren, wenn sie sich ihrer vermeintlichen Aufgabe so einfach entzogen? Wohl kaum. »Warum seid ihr euch denn überhaupt so sicher, dass wir euch helfen können? Ihr sagtet doch selbst, dass ihr in der Vergangenheit
schon viele angebliche Zeichen falsch gedeutet habt.« Raniánas Reaktion auf ihre Worte säte in Scobee die Befürchtung, möglicherweise etwas Falsches gesagt zu haben. Das Felidenmädchen senkte den Kopf und wirkte noch apathischer als auf dem Fest. »Mein Bruder«, sagte jener Felide, der bisher stumm neben den anderen gestanden hatte, »hatte einen Traum. Er träumte, dass die Tage der Knechtschaft gezählt seien, und dass es ein vom Himmel gefallener Krieger sein würde, dem wir dieses Geschenk zu verdanken hätten.« »Noch bevor er uns von diesem Traum erzählte, fertigte er eine Zeichnung jenes Kriegers an«, fügte die Felidin hinzu. Sie faltete einen pergamentartigen Fetzen auseinander, den sie bisher in ihrer Hand verborgen gehalten hatte. Dann hob sie ihn so in die Höhe, dass alle Mitglieder der RUBIKON-Crew ihn begutachten konnten. Scobee runzelte sie Stirn, Algorian ließ ein leises Keuchen vernehmen, und Jiim erstarrte, wie von einer plötzlichen Lähmung befallen. Dieses Wesen mit den ausgebreiteten Schwingen, Taminos Hinterlassenschaft, sah nicht ganz genau, aber doch so ähnlich aus wie der Narge. Scobee wusste weder, was sie sagen, noch, was sie denken sollte. Hilflos huschte ihr Blick in Jarvis' Richtung, doch er reagierte nicht. Vermutlich war auch ihm soeben klar geworden, dass es wohl nichts gab, was die Feliden noch von ihrer Meinung abbringen würde. Aber wie war das möglich? Wieso hatte der Häuptlingssohn von einem Flügelwesen geträumt? Vielleicht, kam es ihr in den Sinn, hatte er ja tatsächlich ihre Ankunft vorhergesehen. Immerhin wussten sie, dass die Feliden über ein gewisses außersinnliches Potenzial verfügten. Boreguirs Fähigkeit des Sich-Vergessen-Machens war vielleicht nur eines ihrer Talente. Möglicherweise besaß Tamino ja tatsächlich eine seherische Gabe. Was nichts daran änderte, dass er den Traum letzten Endes völlig falsch gedeutet hatte. Und nach dem zu schließen, was ihnen Talamón erzählt hatte, war ihm das letzten Endes sogar zum Ver-
hängnis geworden. »Wie ihr seht«, sagte der Häuptling weiter, »kann man sich seinem Schicksal nicht entziehen.« »Selbst wenn ihr Recht habt und es uns tatsächlich vorherbestimmt ist, euch zu helfen … wo sollen wir eurer Meinung nach ansetzen? Wo finden wir diese … Dunklen?« »Sie leben jenseits der Verbotenen Zone«, sagte der Häuptling, der jetzt wieder die Augen geöffnet hatte. »Dort, wo auch Tamino verschwand. Er brach auf, um den höchsten Berg zu erklimmen, um dem Himmel am nächsten zu sein und den Götterboten den Weg zu weisen.« »Und seitdem habt ihr nichts mehr von ihm gehört?« Ein trauriges Nicken war die einzige Antwort. Sekundenlanges Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Jeder hing seinen Gedanken nach, bis Scobee schließlich sagte: »Wäre es möglich, mich mit meinen Gefährten unter uns zu beratschlagen?« Die Feliden erklärten sich einverstanden. Mit Scobee an der Spitze verließ die RUBIKON-Crew das Zelt. Scobee sah sich um, um sicherzugehen, dass wirklich niemand ihr Gespräch belauschte, dann sagte sie: »Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber mittlerweile habe ich richtig Lust bekommen, diesen Dunklen auf den Zahn zu fühlen.« Jarvis nickte. »Geht mir genauso. Schließlich sind wir ja extra hierher gekommen, um etwas über die Hintergründe der Rasse herauszufinden, die über dieses Sternenreich herrscht.« »Dann sind wir uns also einig?«, fragte Scobee, um sich auch der Bestätigung der anderen zu versichern. »Wie es aussieht, haben wir ohnehin keine andere Wahl«, ließ Jiim vernehmen. Algorian pflichtete ihm bei: »Die Feliden scheinen die Entscheidung längst für uns getroffen zu haben. Die Frage ist nur, ob wir es auf einen offenen Konflikt ankommen lassen oder ob wir uns in unser angebliches Schicksal fügen.« »Ganz schön fatalistisch für einen Götterboten«, sagte Jarvis.
Auch wenn Jiim wusste, wie es gemeint war, sah er sich außerstande, das breite Grinsen des Gefährten in angemessener Form zu erwidern.
10. Kapitel Jolando, Taminos Bruder und Talamóns jüngster Sohn, bestand darauf, die vermeintlichen Gottgesandten auf ihrem Weg zu begleiten. Das, so ließ er verlauten, sei er seinem Bruder schlichtweg schuldig. Bei ihrem Abschied im Morgengrauen war das gesamte Dorf auf den Beinen. Vor allem Raniána und Riaita wünschten ihnen Glück, bis Scobee schließlich zum Aufbruch drängte. Mit gemischten Gefühlen legten sie ihr Schicksal in Jolandos Hände. Der Felide hatte wie selbstverständlich die Führung übernommen. Immerhin war er der Einzige von ihnen, der den Weg zur Verbotenen Zone kannte. Auch wenn sie den Gesprächen mit dem Häuptling und seiner Frau deutliche Hinweise entnommen hatte, dass die Nordgrenze dieser Zone von dem Tal mit dem gewaltigen Tafelberg gebildet wurde. Der erste Teilstück ihres Weges war relativ flach und eben – was die Gegend deutlich von den sie umgebenden Gebirgskomplexen unterschied. War es am Morgen noch recht kühl, nahmen die Temperaturen gegen Mittag so stark zu, dass Scobee trotz ihrer hervorragenden Konstitution der Schweiß buchstäblich im Gesicht stand. Bis zum Nachmittag, so erklärte Jolando, würden sie einen Fluss erreichen, von wo aus sie einen Teil des Weges mit einer dort ankernden Barke zurücklegen konnten. »Tamino und ich waren schon als Kinder häufig zum Fischen dort«, erklärte er. »Meist ohne Wissen unserer Eltern. Zur Grenze der Verbotenen Zone haben wir jedoch stets respektvollen Abstand gehalten.« Tatsächlich war es früher Nachmittag, als sie den Strom erreichten, wie Scobee dem Stand der Sonne entnahm. Der Fluss war breiter, als sie gedacht hatte, floss jedoch aufgrund
des geringen Gefälles ausgesprochen ruhig dahin. Das Wasser war trübe, sodass man nicht bis auf den Grund sehen konnte. Ein ums andere Mal entdeckten sie eine grünliche Schwanzflosse, die aus der grau-grünen Brühe hervorragte. Scobee fühlte sich an irdische Alligatoren erinnert, doch Jolando versicherte ihr, dass die echsenähnlichen Gatogos zwar von imposanter Statur seien, es sich bei ihnen jedoch um harmlose Pflanzen- und Fischfresser handele. Dennoch riet er davon ab, sich ihnen in der Brutzeit zu nähern. Mit einem Gatogoweibchen, das seine Beute verteidigte, so Jolando, sei trotz ihrer eigentlichen Gutmütigkeit nicht zu spaßen. Jiims Frage nach anderen gefährlichen Tieren, die in dem Gewässer ihr Unwesen trieben, verneinte Jolando. »Zumindest nicht in diesem Teil des Flusses«, sagte er in beruhigendem Ton. Scobee hatte dennoch keine Lust darauf, ein unfreiwilliges Bad in dieser brackigen Brühe zu nehmen. Denn damit rechnete sie schon seit dem Moment, da ihr Blick auf die Nussschale gefallen war, die Jolando zuvor mit dem saskanischen Wort für »Barke« angepriesen hatte. Sie war winzig, und die Bretter wirkten so morsch, dass die GenTec ernsthaft daran zweifelte, dass es sie überhaupt alle gleichzeitig tragen würde. Als Jiim anbot, einen Teil der Strecke auf dem Luftweg zurückzulegen, wiegelte Jolando ab und verwies auf die fortgeschrittene felidische Bautechnik und darauf, dass er sich nicht erinnern konnte, jemals eines ihrer Boote durch Materialverschleiß verloren zu haben. Der Häuptlingssohn hatte nicht zu viel versprochen. Auch wenn es beengt war, hielt es dem Gewicht der sechs Gefährten durchaus stand, wie Scobee anerkennend feststellte. Die erste Teilstrecke kamen sie mit dem Boot nur mühsam voran. Obwohl sich Jolando sichtlich anstrengte, das Boot mit einem langen Stab voranzutreiben, den er immer wieder kraftvoll bis zum Grund des Wassers stieß, kam es ihnen zeitweise vor, als würden sie nicht von der Stelle kommen. Nach gut einer Stunde nahm das Gefälle – und damit auch die Fließgeschwindigkeit des Wassers – aber deutlich zu. Nach einer
weiteren halben Stunde schossen sie bereits mit einer solchen Geschwindigkeit über die Wogen, dass sie sich streckenweise krampfhaft am Bootsrand festhalten mussten, um nicht über die Reling zu gehen. Immer wieder schwappte Wasser in hohen Wogen in den Kahn. Scobee war heilfroh, dass das Wasser an dieser Stelle deutlich klarer war als noch zu Beginn ihrer Fahrt. Als wäre das noch nicht genug gewesen, tauchten immer häufiger spitze Klippen aus den schäumenden Wogen auf. Jolando umschiffte sie zwar gekonnt, dennoch fühlte sich die RUBIKON-Crew zunehmend unwohler. »Dies ist der äußerste Punkt, an den ich mich jemals vorgewagt habe«, brüllte Jolando irgendwann gegen das Tosen der Wellen an. »So nah wie jetzt bin ich der Verbotenen Zone nie gekommen.« Scobees Hoffnung, dass das Gefälle irgendwann auch wieder schwächer werden würde, löste sich in Wohlgefallen auf. Das Gegenteil war der Fall. Irgendwann hatten sie einen Punkt erreicht, an dem Scobee den Vorschlag machte, dass es vielleicht besser wäre, das Boot ans Ufer zu bringen und zumindest einen Teil der Strecke zu Fuß zurückzulegen. »Das ist leider nicht möglich«, gab der Felide ihr zu verstehen. Auch er war in den letzten Minuten sichtlich nervöser geworden, da es ihm zunehmend Probleme bereitete, das Boot noch unter Kontrolle zu halten. »Es gibt hier keinen zu Fuß begehbaren Weg mehr«, brüllte er zurück. »Wir müssten uns unseren eigenen schaffen. Und das dauert zu lange. Wir wären tagelang unterwegs.« Jolando hatte Recht. Als Scobee zum Ufer blickte, sah sie ganz deutlich, dass die Vegetation und die Felsbarrieren zu beiden Seiten so dicht standen, dass es vermutlich selbst unter Zuhilfenahme ihrer Blaster oder Jarvis' körpereigener Möglichkeiten kein Durchkommen gegeben hätte. Da sie auch nicht einfach umkehren konnten, hatten sie also gar keine andere Wahl, als sich weiter dem Fluss – und vor allem Jolandos Geschick – anzuvertrauen. Tatsächlich schien für eine ganze Weile alles gut zu gehen. Jiim stieg immer wieder in die Lüfte auf, um das nächste Teilstück
der Strecke auszukundschaften und sie vor eventuellen Hindernissen zu warnen. Zunächst gab es keine besonderen Vorkommnisse, doch als Jiim nach dem vierten Ausflug zurückkam, sah Scobee ihm bereits an, dass er etwas gesehen hatte, was ihm überhaupt nicht gefiel. »Stromschnellen!«, konnte er nur noch keuchen, während er vergeblich versuchte, auf dem stark schaukelnden Boot zu landen. »Da vorne lauert ein regelrechtes Minenfeld auf euch.« Wenn Jolando besorgt war, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Äußerlich wirkte er auf Scobee wie ein Fels, aber als sie in seine smaragdgrünen Augen blickte, glaubte sie, Sorge darin zu erkennen. »Haltet euch fest!«, sagte er nur, während er mit versteinertem Blick versuchte, das Boot unter Einsatz des Ruderstabes zu verlangsamen. Vergeblich. Dann war es so weit. Jiim hatte nicht zu viel versprochen. Mehrere spitze Felsen ragten vor ihnen aus dem Wasser. Zu allem Überfluss beschrieb der Strom an dieser Stelle auch noch einen Mäander, der unweigerlich dafür sorgen würde, dass das Boot zur Seite und damit genau auf die Felsen zugetrieben werden würde. Scobee fühlte eine klammernde Berührung an ihrer Schulter. Es war Algorian, der sich im Angesicht des drohenden Kenterns krampfhaft an ihr festkrallte. Scobee selbst blieb nichts anderes übrig, als sich weiterhin an die Reling zu klammern und zu hoffen, dass alles gut ging. Dann hatten sie die Klippen erreicht. Jiim hatte sich erneut in die Luft erhoben und brüllte irgendwelche Anweisungen, die jedoch im brüllenden Toben der Gischt untergingen. Jolando tat sein Bestes, um das Boot von den steil aufragenden Felsen fern zu halten. »Verlagert euer Gewicht nach rechts!«, rief er den anderen noch zu. Dann jagte das Boot in den Mäander. Für die Dauer einiger Sekunden sah Scobee nichts als Schaumkro-
nen, die über ihnen zusammenschlugen, sie immer wieder von Kopf bis Fuß durchnässten. Scobee war heilfroh, dass wenigstens ihre Kleidung aus wasserabweisendem Material bestand. Nachdem eine weitere Woge über sie geschwappt war, hob sie den Kopf … und blickte genau auf einen Felsen, der sich wie eine graue Wand nur wenige Meter vor ihnen aus dem Wasser erhob. »Allmächtiger!« Scobee brüllte aus Leibeskräften, doch ihre Rufe verhallten ungehört. Das Rauschen der Brandung war mittlerweile zur Lautstärke eines startenden Düsenjets angeschwollen. Jolando stemmte sich mit aller Kraft gegen den Druck der Strömung, der sie unaufhaltsam auf die Felsen zutrieb. Nur noch wenige Sekunden, wurde es Scobee bewusst, dann werden wir zerschellen. Trotz dieser entsetzlichen Perspektive gelang es ihr nicht, die Augen zu schließen. Sie war wie gebannt. Sie konnte gar nicht anders, sie musste hinsehen. Gerade als sie dachte, ihr letztes Stündlein habe geschlagen, gelang es Jolando, dem Boot durch weitere Gewichtsverlagerung noch einmal einen leichten Linksdrall zu geben. Haarscharf schrammte es an der tödlichen Klippe vorbei. Scobee atmete erleichtert aus, dann schwappte eine weitere Woge über ihren Köpfen zusammen. Und noch immer war die Gefahr nicht gebannt. Urplötzlich, im Scheitelpunkt des Mäanders, tauchte eine weitere Klippe auf. Sie hatte die Form einer Haifischflosse, wie Scobee ganz nebenbei bemerkte. Jolando lenkte dagegen. Und wieder gelang es ihm, das Boot nur wenige Millimeter an dem Felsen vorbeizumanövrieren. Das alles passierte innerhalb von Sekunden, dann lag die Flussbiegung auch schon hinter ihnen. »Gut gemacht«, keuchte Scobee, während sie noch Wasser aus ihren Lungen hustete. »Wirklich gut ge-« »Ich würde an deiner Stelle mit dem Jubeln warten«, hörte sie auf einmal Jarvis hinter sich sagen. »Wieso … Was …?«
Sie hob den Kopf, blickte nach vorne und – erstarrte! Direkt vor ihnen hörte der Fluss einfach auf. Oder besser gesagt: Er fiel kerzengerade nach unten ab! »Ein Wasserfall!«, stieß sie aus. »Treffender«, meinte Jarvis trocken, »hätte ich es auch kaum beschreiben können …«
Erst jetzt fiel Scobee auf, dass Jiim schon die ganze Zeit über versucht hatte, sie auf etwas aufmerksam zu machen. In dem Trubel hatte niemand die Zeit gefunden, ihm Beachtung zu schenken. Jetzt war es zu spät! Das Boot trieb ungebremst auf den Wasserfall zu. Die Strömung war hier stärker als an jeder anderen Stelle des Flusses, die sie bisher passiert hatten. Ganz nebenbei bemerkte Scobee den Tafelberg, der sich aus dem Tal vor ihnen erhob und der jetzt deutlich zu sehen war. Einige Meter vor ihnen tauchte auf einmal Jiim auf, der kurz verschwunden gewesen war. Der Narge hielt einen schweren Stamm, den er wenige Meter vor dem Boot quer ins Wasser gleiten ließ, sodass dieser von Ufer zu Ufer reichte. Gut gemacht, Jiim! In der Theorie war die Idee tatsächlich nicht schlecht. Zunächst schien der Stamm auch zu halten, doch dann wurde er von der Strömung erfasst und in hohem Bogen über den Abgrund geschleudert. Sieh es dir gut an, Scob!, blitzte es kurz in ihren Gedanken auf. Das bist du in wenigen Sekunden. »Irgendeine Möglichkeit, dass wir das überleben?«, brüllte sie in Jolandos Richtung, dann hatten sie den Abgrund auch schon fast erreicht. In den letzten Sekunden hatte der Felide noch verzweifelt versucht, das Boot ans Ufer zu lenken, in der Hoffnung, dass es sich dort im bodennahen Geäst oder den Luftwurzeln verfangen würde. Doch auch dieser Wunsch blieb unerfüllt. Krampfhaft klammerte sich Scobee an die Reling, während das
Boot die Haftung verlor, einen Moment lang in der Luft zu schweben schien und dann wie ein Stein nach unten absackte. Ganz kurz fühlte sich die GenTec wie in der Attraktion eines Vergnügungsparks. Doch dann, als sie mit aufgerissenen Augen in den Abgrund starrte, hatte die Realität sie wieder. Wir werden sterben!, durchzuckte es sie. Doch dadurch, dass daran nun ohnehin nichts mehr zu ändern war, erfüllte sie diese Erkenntnis mit weitaus weniger Entsetzen, als sie es geglaubt hätte. Erstaunlicherweise hatte sie noch genügend Zeit, darüber nachzudenken. Der freie Fall erschien ihr wie eine Ewigkeit. Hieß es nicht, dass einem das Leben im Augenblick des Todes noch einmal am geistigen Auge vorbeizog? Auch davon war nichts zu bemerken. Aber vielleicht war Scobees kurzes Leben einfach zu ereignisreich gewesen, um es in die wenigen Sekunden zwischen Fall und Aufprall zu pressen. Es … Nahezu senkrecht tauchte das Boot mit der Spitze voran ins Wasser. Scobee verlor den Halt. Sie hielt den Atem an. Wasser schwappte über ihr zusammen. Und sie sank tiefer, immer tiefer. Mit heftigen Schwimmbewegungen kämpfte sie gegen den Sog an. Schließlich gelang es ihr sogar, die Augen unter Wasser zu öffnen. Unmittelbar vor ihr trieb eine hagere Gestalt. Sie bewegte sich nicht, trudelte einfach an ihr vorbei, wie ein nasser Sack. Mit zwei heftigen Schwimmbewegungen hatte sie sie erreicht, nahm sie unter den Arm und schwamm mit ihr aufs Licht zu. Die Helligkeit war ihr einziger Anhaltspunkt, wohin sie sich halten musste. Begriffe wie »oben« oder »unten« hatten längst keine Bedeutung mehr. Und dann durchbrach sie die Wasseroberfläche. Augenblicklich saugte sie Luft in ihre Lungen, dann hielt sie auch Algorians Kopf übers Wasser. Lebte der Aorii noch? Es war schwer zu sagen. Wenn ihm etwas passiert war, würde sie es sich nie verzeihen. Was war mit den anderen? Um Jiim musste sie sich keine Sorgen machen, und auch Jarvis und Fontarayn hatten den Sturz gewiss gut überstanden. Aber wo war Jolando? Mit hektischen Blicken sah sie sich um.
Egal. Zuerst das Ufer ansteuern. Der Fluss war unterhalb des Wasserfalles recht breit, sodass es eine Weile dauerte, bis sie das rettende Ufer erreichte. Dort legte sie den Aorii auf den Rücken und versuchte, wie bei einem Menschen, eine Herzmassage. Aber – wo war das Herz eines Aorii? Sein Husten erlöste sie von ihren Zweifeln. Wasser schoss fontänenartig aus seinem Mund. Er lebt!, stellte Scobee erleichtert fest. Tatsächlich schlug der AoriiZweitling im nächsten Moment die Augen auf und sah sie dankbar an, als wisse er bereits, dass er ihr sein Leben verdankte. Es würde eine Weile dauern, bis er wieder ganz bei Kräften war. Scobee nutzte die Zeit, um nach ihren übrigen Gefährten Ausschau zu halten. Tatsächlich entdeckte sie nach einigem Suchen Fontarayn, der völlig unberührt am Wasser stand. Aber er war ohnehin derjenige, um den sie sich die geringsten Sorgen gemacht hatte. Vermutlich hatte sich der Gloride kurz vor dem Sturz ganz einfach entmaterialisiert. Oder sich in ein Stück Treibholz verwandelt, dachte sie schwarzhumorig. Aber wenigstens waren es schon einmal zwei, die sie außer Gefahr wusste. Noch während sie das dachte, sah sie auch schon eine unförmige Masse, die wie eine silbern schillernde Öllache auf dem Wasser trieb. Jarvis! Dann driftete der Fleck langsam dem Ufer entgegen, floss auf das Kiesbett und nahm dort seine humanoide Gestalt an. Fehlte nur noch der Felide. Nachdem sie sich erneut vergewissert hatte, dass sich Algorian auch ohne ihr Zutun wieder erholen würde, stand sie auf, um einen besseren Überblick zu bekommen. Sie stellte fest, dass die Strömung sie ziemlich weit flussabwärts und damit vom Wasserfall weggetrieben hatte. Scobee spielte schon mit dem Gedanken, sich erneut in die Fluten zu stürzen, um nach dem Feliden zu tauchen, als sie plötzlich die Blasen erspähte, die auf ihrer Höhe in der Mitte des Flusses auf-
tauchten. Kurz darauf durchbrach etwas prustend die Oberfläche. Ein Kopf. Jolando! Er war es tatsächlich. Brauchte er Hilfe? Nein, er war mittlerweile ganz aufgetaucht und beförderte sich mit einigen geübten Schwimmzügen kraftvoll ans Ufer. Scobee ging ihm entgegen, und auch Fontarayn und Jarvis, die gut hundert Meter weiter entfernt waren, machten sich auf den Weg dorthin. »Das war knapp«, sagte sie, während sie neben dem Feliden zu Boden sank. Jolando war noch eine ganze Weile damit beschäftigt, Wasser aus seinen Lungen zu husten. Er musste verdammt viel davon geschluckt haben, immerhin war er noch wesentlich länger untergetaucht gewesen als sie und die anderen. Als Jarvis und Fontarayn bei ihnen ankamen, blickte Scobee zu ihnen auf. Sie wollte zu einer bissigen Bemerkung ansetzen, doch dann fiel ihr auf, dass die beiden sie gar nicht beachteten. Ihre Blicke gingen an ihr vorbei. Über sie hinweg. Und was sie dort sahen, schien sie entweder zu faszinieren oder in Aufregung zu versetzen. Abrupt drehte Scobee sich um. Und auch sie fragte sich im ersten Moment, ob sie ihren Augen noch trauen konnte …
Zunächst sah Scobee nichts außer dem Tafelberg, der vor ihnen groß und mächtig in einer Entfernung von mehreren Kilometern in den Himmel ragte. Dann, von einer Sekunde zur anderen, war es, als würde die Luft ins Flimmern geraten. Nein, mehr als würden sich die Lamellen einer Jalousie öffnen und den Blick auf das freigeben, was sich dahinter befand. Und dieser Anblick war wahrlich dazu angetan, selbst Scobee, die in ihrem Leben vieles gesehen hatte, ins Staunen zu versetzen. Es war eine Pyramide! Eine riesige Stufenpyramide, die plötzlich unterhalb des Tafel-
bergs in der Landschaft auftauchte, als sei sie durch den Zaubertrick eines begnadeten Illusionisten dorthin versetzt worden. »Wie ist das möglich?« Scobee merkte gar nicht, wie sie die Worte aussprach. Sie hörte lediglich die Antwort, die Jarvis ihr kurz darauf gab. »Es scheint, als sei dieses Bauwerk unter einem eigenen, zusätzlichen Tarnfeld verborgen gewesen, das es unseren Blicken bisher entzog. Offenbar lüftet sich der … nun, Schleier, sobald man eine bestimmte Grenze überschreitet.« »Die Verbotene Zone«, murmelte die GenTec leise vor sich hin. »Kein Wunder, dass die Dunklen die Feliden, die einst von Saskana kamen, um jeden Preis von hier fern halten wollen.« »In der Tat«, gab Jarvis ihr Recht. »Die Frage ist, was wir mit dieser Entdeckung anfangen.« »Gibt es darüber auch nur den geringsten Zweifel?«, gab Scobee zurück, ohne den Blick von dem phantastischen Bauwerk abzuwenden. »Wir haben unser Leben schon einmal riskiert, um ans Ziel zu gelangen«, fügte sie dann hinzu und lächelte vielsagend. »Warum also nicht noch ein zweites Mal?«
11. Kapitel Die Pyramide und der Tafelberg lagen wesentlich weiter entfernt, als es zunächst den Anschein erweckt hatte. Sie hatten höchstens zwei Drittel des Weges hinter sich gebracht, als auch schon die Nacht hereinbrach. Nicht, dass ihnen das ungelegen gekommen wäre. Sie hatten ohnehin geplant gehabt, bis zum Anbruch der Dunkelheit zu warten, bevor sie sich in die Nähe der Anlage wagten. Je näher sie kamen, desto mehr Einzelheiten sprangen ihnen ins Auge. Zum einen stand die Pyramide nicht isoliert in der Landschaft, sondern war Teil eines größeren stadtähnlichen Komplexes mit zahlreichen Flachbauten, die dem Monument vorgelagert waren. Die einzelnen Bauten schienen ziemlich weit auseinander zu liegen. Zwischen ihnen herrschte ein reger Flugverkehr. Hauptsächlich waren es Bodengleiter, die in nur wenigen Metern Höhe zwischen den einzelnen Komplexen ihre Runden drehten. Auffällig war auch, dass alles sehr geordnet, fast schon schachbrettartig exakt angelegt war. Irgendwann warf die Nacht endgültig ihr schwarzes Tuch über die Landschaft. Für Scobee, die aufgrund ihrer Nachtsichtigkeit ohnehin keine Probleme hatte, änderte sich nicht viel. Sie konnte die Pyramide noch immer deutlich erkennen. Scharfkantig, wenn auch von einem leichten Rotschleier überlagert, zeichnete sie sich vor dem Hintergrund des Tafelbergs ab. Doch auch die anderen hatten keine Orientierungsschwierigkeiten, da die Stadt seit Anbruch der Dunkelheit von bunten Lichtern erhellt war. Die Pyramide hingegen verfügte nur über eine Leuchtkugel an ihrer Spitze, die vermutlich anfliegenden Gleitern zur Orientierung diente. Die RUBIKON-Crew hielt sich stets in der Nähe des Flussbetts,
auch wenn die Vegetation hier unten im Tal etwas spärlicher war als auf der Hochebene. Erst als sie sich der geheimnisvollen Stadt bis auf wenige hundert Meter genähert hatten, beschlossen sie, den Rest des Weges im Schutz des Waldrands zurückzulegen. Dort, aus der Deckung heraus, ließen sie ihre Blicke noch einmal über das gesamte Areal schweifen. Es war in mehrere Sektoren oder Stadtteile aufgeteilt, wobei jeder Sektor einen eigenen kleinen, in sich geschlossenen Ort darstellte. Scobee war sich aufgrund der eingeschränkten Lichtverhältnisse nicht ganz sicher, doch sie glaubte, käferartige Wesen zu erkennen, die zwischen den Gebäuden herumwuselten. Als sie die anderen auf ihre Beobachtung aufmerksam machte, rechnete sie eigentlich damit, dass Jolando mit Bestürzung reagieren würde. Immerhin handelte es sich laut der Legende seines Volkes bei jenen Käferartigen um dunkle Erfüllungsgehilfen ihrer Götter. Doch der Felide blieb erstaunlich gefasst. Scobee ahnte weshalb. Jolando spürte, dass sein Bruder irgendwo in dieser Stadt gefangen gehalten wurde. Und diese Vermutung war durchaus begründet. Hoffen wir nur, dass diese Krabbler auch tatsächlich Gefangene machen, dachte Scobee. Natürlich vermied sie es tunlichst, diesen Gedanken laut zu äußern. Gerade als sie sich an ihre Crew wenden wollte, um ihr weiteres Vorgehen abzustimmen, beobachtete sie aus dem Augenwinkel heraus, wie ein weiterer Gleiter in unmittelbarer Nähe, nur wenige hundert Meter von ihrem Standort entfernt, zur Landung ansetzte. Reflexartig wandte sie sich zu ihm um. Und was sie dann sah, entlockte ihr einen Laut der Verwunderung. Es war ein weiterer dieser Käferartigen, der den Gleiter verließ. So weit, so gut. Was sie jedoch so überrascht hatte, war die Gestalt, die er vor sich hertrieb. Sie war humanoid und etwas größer als ihr Bedroher. Scobee kniff die Augen zusammen. Sie war sich nicht ganz sicher, glaubte aber, in dem Gefangenen einen Feliden erkannt zu haben. Aufgeregt nahm Jolando die Nachricht auf. Scobee konnte ihn gerade noch am Arm zurückhalten, sonst wäre er im nächsten Mo-
ment aus dem Gebüsch gesprungen und mit Pfeil und Bogen bewaffnet auf den Käferartigen losgegangen. »Ich bezweifle, dass es sich bei dem Feliden um deinen Bruder handelt«, beruhigte sie ihn. »Es sah so aus, als habe ihn der Gleiter eben erst hierher gebracht. Vermutlich handelt es sich bei ihm um das Mitglied eines anderen Stammes, der sich wie dein Bruder bewusst oder auch zufällig in die Verbotene Zone gewagt hat.« Scobee wollte sich wieder dem Käferartigen und seinem Gefangenen zuwenden, als sie bemerkte, dass beide verschwunden waren. Wie vom Erdboden verschluckt … »Mist!«, fluchte sie leise. »Einmal nicht aufgepasst!« »Würde vorschlagen, wir sehen uns das Ganze mal aus der Nähe an«, meinte Jarvis, der offenbar auch nicht wusste, wo sie abgeblieben waren. Scobee nickte. »Wir können aber nicht alle auf einmal dort auftauchen. Die Gefahr einer Entdeckung wäre zu groß. Algorian, Jiim … ihr bleibt hier und haltet Wache! Jarvis, Jolando, Fontarayn und ich wagen uns vor.« Vier Personen. Das waren nach ihrem Geschmack immer noch zwei zu viel. Am liebsten wäre sie allein mit Jarvis in die Höhle des Löwen vorgedrungen, aber andererseits konnten sich die Fähigkeiten des Gloriden bei ihrem Vorhaben durchaus als nützlich erweisen. Und Jolando würde auf keinen Fall freiwillig zurückbleiben. Da mussten sie ihn schon fesseln, und das wiederum hielt Scobee für keine besonders gute Idee. Die Gefährten waren mit ihrem Vorschlag einverstanden. Und Jiim und Algorian schienen recht froh darüber, sich nach all der Aufregung und den Strapazen der vergangenen Stunden ein wenig Ruhe gönnen zu dürfen. Die anderen sammelten sich am Waldrand. Scobee ließ noch einmal ihren Blick über die Runde schweifen, vergewisserte sich, dass die Luft rein war. Dann gab sie das Signal zum Vorstoß. Hintereinander, in gebückter Haltung, lösten sich vier Schatten aus dem Wald und huschten über das angrenzende freie Feld bis zu
der Stelle, wo Scobee den Feliden und den Käferartigen zuletzt gesehen hatte. Tatsächlich gab es dort nicht den geringsten Hinweis auf ein Bauwerk oder dergleichen, in dem die beiden verschwunden sein konnten. Scobee ließ ihren Blick unschlüssig durch die Dunkelheit schweifen, dann hörte sie Jarvis' leisen Ruf. Sofort eilte sie zu ihm. Jarvis verzichtete auf lange Erklärungen, sondern deutete vor sich zu Boden. Scobee verstand sofort, worauf er sie aufmerksam machen wollte. Es war eine ins Erdreich eingelassene Stahltür. Die GenTec ging davor in die Knie und ließ ihre Fingerkuppen über die glatte Oberfläche gleiten. Die Platte war massiv und schloss lückenlos mit dem sie umgebenden Erdreich ab. Nicht die kleinste Erhebung oder Einbuchtung war zu spüren. Kein Hinweis darauf, wie die Luke zu öffnen war. »Zeit für den Schlüsseldienst«, murmelte Scobee mehr zu sich selbst und wandte sich Fontarayn zu, der sie abwartend ansah. »Denkst du, du kannst das öffnen?«, fragte sie ihn im Flüsterton. Der Gloride gab keine Antwort. Stattdessen begann sich sein humanoider Körper zu verformen, in gleißendem Licht zu erstrahlen und in der Stahlplatte zu versickern. »Hoffentlich hat das keiner gesehen«, sagte Jarvis. Tatsächlich war es unklug, ihre Ankunft mit einem buchstäblichen Leuchtfeuer anzukündigen. Andererseits war das Licht nur kurz zu sehen gewesen, und es gab nun einmal augenscheinlich keine andere Möglichkeit, die Stahltür zu öffnen. Für den Gloriden stellte das Schloss nicht das geringste Problem dar. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis einige Funken an den Rändern aufleuchteten und das Schloss mit einem leisen mechanischen Knacken aufsprang. Fast im selben Moment glitt die Platte zur Seite und öffnete den Weg in einen von grünlichem Licht durchsetzten Schacht. »Ich gehe voran«, gab Scobee bekannt und nahm die erste Sprosse der primitiven Metalleiter, die in eine Wand des Schachtes eingelassen war.
Sie zählte genau dreißig Sprossen, bis sie den Boden erreichte. Dort trat sie zur Seite, um Platz für Jarvis zu machen, der ihr gefolgt war. Gleichzeitig sah sie sich um. Sie befanden sich in einem schmalen rechteckigen Tunnel, der schnurstracks durchs Erdreich führte. Er war gerade groß genug, dass sie aufrecht gehen konnten. Wenn sie es richtig gesehen hatte, waren die Käferartigen etwas kleiner als Menschen und Feliden. Sie wartete, bis sich alle auf dem Grund des Schachtes gesammelt hatten, dann bat sie Fontarayn, die Tür wieder zu verschließen. Wenn einer der Käferartigen bemerkte, dass sie offen stand, konnten sie sich an zwei Fühlern abzählen, dass jemand gewaltsam in den Bunker eingedrungen war. Nachdem Fontarayn die Bitte erfüllt hatte, machten sie sich daran, den Schacht zu erkunden. Scobee ging voraus, die anderen blieben dicht hinter ihr. Immer wieder tauchten in den Wänden links und rechts von ihnen kreisrunde Luken auf, die wie die Einstiegsluke über keinen sichtbaren Öffnungsmechanismus verfügten. Dennoch verzichteten sie vorerst darauf, erneut Fontarayns Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wer wusste schon, was sich hinter diesen Türen verbarg? Womöglich einer oder mehrere der Käferartigen, die hier Wachdienst schoben. Scobee hatte sich fest vorgenommen, fürs Erste nur die Lage zu erkunden und jede direkte Konfrontation mit dem Feind zu vermeiden. Scobee hatte gerade eine weitere jener Luken passiert, als sie bemerkte, dass sie nicht ganz geschlossen, sondern nur angelehnt war. Sie signalisierte ihren Begleitern, leise zu sein, dann blieb sie vor der leicht geöffneten Luke stehen und lauschte. Seltsame Geräusche drangen daraus hervor. Ein unheimliches Schaben und Schnarren. Es hörte sich an, als würde es von einer Hundertschaft Insekten stammen. Scobee beugte sich über den Spalt, um einen Blick zu erhaschen. Tatsächlich glaubte sie, einen der Käferartigen zu erkennen, der in ihrem Blickfeld vorbeihuschte. War er allein? Es sah ganz danach aus. Sie schaute wieder auf, den Gang entlang, der nach etwa zwanzig
weiteren Metern nach rechts abknickte. Mit einer Handbewegung bedeutete sie ihren Begleitern, ihr zu folgen. Hinter der Gangbiegung verharrte sie und wartete, bis auch die anderen eingetroffen waren. »Ich möchte wissen, was hinter dieser Luke ist«, flüsterte sie und warf dabei einen vorsichtigen Blick um die Biegung. »Du denkst, dass sie dort Feliden gefangen halten?«, fragte Jarvis. »Wenn der Käferartige, den ich gerade gesehen habe, jener ist, der den felidischen Gefangenen hierher gebracht hat, dann ist das ausgesprochen wahrscheinlich.« Scobee bemerkte, dass ein Zucken durch Jolandos sehnigen Körper ging. Die Möglichkeit, dass sein Bruder nur wenige Meter von hier entfernt gefangen gehalten werden könnte, gab ihm neuen Antrieb. »Wir warten, bis der Krabbler den Raum verlässt, dann …« Sie verstummte, weil ein erneutes Schaben hinter der Biegung zu hören war. Als Nächstes hörten sie einen dumpfen Knall, mit dem die Luke ins Schloss fiel. Einen entsetzlich langen Moment quälte sich die GenTec mit dem Gedanken, der Käfer könne die Richtung einschlagen, in der sie sich versteckten. Sekundenlang geschah nichts, dann nahmen sie erleichtert wahr, wie er sich in Bewegung setzte, sich dabei langsam von ihnen entfernte. Abermals ließen sie einige Minuten verstreichen, dann entschied Scobee, dass die Luft rein war. »Ihr wartet erst einmal hier«, sagte sie an Jarvis und Jolando gewandt. Dem Feliden-Krieger fiel es sichtlich schwer, doch er akzeptierte. »Sobald wir die Luke geöffnet haben, kommt ihr nach«, beruhigte sie ihn. Gemeinsam mit Fontarayn huschte sie die letzten Meter zurück bis zu jener Luke, die der Käferartige gerade verlassen hatte. »Dein Job«, sagte sie nur und deutete auf die kreisrunde stählerne Platte. Fontarayn wusste genau, was von ihm erwartet wurde. Erneut entmaterialisierte er – ein Vorgang, den Scobee mittlerweile schon
fast als selbstverständlich erachtete – und schoss als gleißender Strahl in die Platte, die kurz grell aufleuchtete. Sekunden später war auch dieses Schloss geknackt. Ohne ihr weiteres Zutun schwang die Luke auf. Im Augenwinkel sah Scobee, dass Jolando sich bereits in Bewegung setzen wollte, doch sie signalisierte ihm mit ihrer ausgestreckten Hand, dass er sich noch einen Moment gedulden sollte. Erst einmal wollte sie selbst die Lage prüfen. Sie beugte sich durch die Luke. Dahinter war es völlig dunkel, und das schwache Licht des Ganges reichte nicht aus, um den Raum dahinter auszuleuchten. Noch während sich ihre Augen langsam an die Dunkelheit anpassten, schob sie bereits ihr rechtes Bein durch die Öffnung, verharrte einen Moment und … Was sie sah, raubte ihr den Atem. Dass bei ihrem Eintreten automatisch das Licht angesprungen war, nahm sie schon gar nicht mehr richtig wahr. Sie war völlig gefangen von dem Anblick, der sich ihr bot. Sie vermochte nicht zu sagen, wann sie zum letzten Mal etwas so Entsetzliches gesehen hatte …
Eine ganze Weile verharrte sie starr im Eingang des schmalen, oval angelegten Raumes, dessen Länge gut zwanzig Meter betrug. Dann bewegte sie sich langsam und wie in Trance durch die Öffnung, wobei sich ihre Blicke an den zahlreichen gläsernen Säulen, die den Raum zu beiden Seiten flankierten, regelrecht festsaugten. Jede von ihnen reichte vom Boden bis zur Decke. Ihr Durchmesser betrug gut zwei Meter, und sie alle waren mit einer gelblich schimmernden Flüssigkeit gefüllt. Doch das war nicht alles. In jeder von ihnen stand aufrecht und an eine Vielzahl von Drähten angeschlossen ein Felide. Augenblicklich fühlte sich Scobee an die Schläfer aus der Marsstation der Foronen erinnert, die, in quaderförmige Blöcke gegossen, ein Dasein zwischen Leben und Tod gefristet hatten. Auch John Clouds Vater war einer von ihnen gewesen. Bis Boreguir ihn »aufgetaut« hatte.
Das alles lag lange zurück. Und was sie hier sah, war nicht mit jener Situation zu vergleichen. Die Feliden waren nicht »schockgefrostet«. Vielmehr wurden sie in irgendeiner Nährflüssigkeit am Leben erhalten, während Drähte und Schläuche sie mit allem versorgten, was ihr Körper benötigte, um seinen Dienst weiter zu verrichten. Auffällig waren auch die Elektroden, die an den Köpfen der Katzenartigen befestigt waren. Sie verliehen ihnen das Aussehen von Versuchstieren in einem Labor. Und in Scobee verfestigte sich immer mehr die Vermutung, dass sie genau das waren. Ein leiser Aufschrei ließ sie herumfahren. Es war Jolando, der ihn ausgestoßen hatte. Er und Jarvis waren hinter ihr in den Raum gestürmt und konnten kaum begreifen, was sie sahen. »Sie leben«, sagte Scobee, um den Feliden zu beruhigen und um zu verhindern, dass er etwas Unüberlegtes tat. »Sie sind wohlauf. Sie sind nur –« »Was haben sie ihnen angetan?«, murmelte Jolando, während er an ihr vorbeiging und langsam die Reihe der durchsichtigen Säulen abschritt. »Kennst du sie?«, fragte Scobee und war sich darüber im Klaren, dass die Frage eigentlich überflüssig war. »Einige sind Mitglieder unseres Stammes, die im Laufe der letzten Jahre aus den Wäldern verschwanden«, sagte Jolando, sichtlich um Fassung bemüht. »Wir waren uns nie sicher, was mit ihnen passiert ist. Wir dachten, sie seien wahrscheinlich einem Räuber zum Opfer gefallen.« Er ging weiter, sah einen Schläfer nach dem anderen an. »Es sind auch Angehörige unserer beiden Bruderstämme darunter …« Als er einen Feliden erreichte, der in einer der mittleren Säulen untergebracht war, hielt er inne und stieß einen entsetzten Laut aus. Scobee sah, wie er die Hand nach dem plexiglasartigen Material ausstreckte und langsam seine Fingerkuppen darübergleiten ließ. Sie setzte sich in Bewegung, ging in seine Richtung und blieb hinter ihm stehen. »Ist das Tamino?«, fragte sie leise, obwohl sie die Antwort bereits
kannte. Jolando schwieg, und Scobee konnte sehen, dass ein Reigen unterschiedlichster Gefühle in seinem Innern um die Vorherrschaft kämpfte. Sicher war er zum einen froh, dass er seinen Bruder lebend gefunden hatte. Zum anderen war er aber auch entsetzt über den Zustand, in dem er hier regelrecht gelagert wurde. »Wir holen ihn hier raus!«, bekräftigte Scobee und fügte hinzu: »Wir holen sie alle raus! Keiner deiner Artgenossen wird hier zurückbleiben. Wir …« Scobee verstummte, als sie hinter sich ein fauchendes Geräusch vernahm. Sie fuhr herum und erspähte den Käferartigen, der vor der Luke stand und zu ihnen hereinblickte. Für Scobee war es das erste Mal, dass sie eines dieser ominösen Wesen aus nächster Nähe sah. Ovayran hatte nicht zu viel versprochen. Die Spezies sah tatsächlich aus wie ein überdimensionierter, aufrecht auf zwei dünnen Beinen gehender Käfer. Sein Körper war schwarz wie Teer, mit zwei dürren Ärmchen, die unter seinem ovalen Chitinpanzer hervorragten. Die Flügeldeckel bedeckten den gesamten Hinterleib. Sein Kopf war im Verhältnis zum Rest des Körpers winzig klein und bestand fast nur aus zwei übergroßen, schillernden Facettenaugen. Seine Kauwerkzeuge begannen aufgeregt zu mahlen, als er die Eindringliche sah. Augenblicklich drehte er sich zur Seite, wollte weglaufen, doch da hatte Jarvis, der dem Eingang am nächsten stand, auch schon reagiert. Seine Hand fuhr teleskopartig aus, schlang sich um den zappelnden Leib des Käferartigen und zog ihn durch die Öffnung. Sofort schloss Fontarayn die Tür hinter ihnen, sodass ihnen der Krabbler nicht mehr entkommen konnte. Scobee zog ihren Blaster, richtete ihn auf den Käferartigen und zischte: »Keinen Laut, sonst blase ich dir deinen Chitinschädel weg!« Dank den Universal-Translatorchips, den ihr einst Darnok eingepflanzt hatte, war es ihr möglich, sich dieser fremdartigen Spezies
verständlich zu machen. »Was muss ich tun, um diese armen Seelen aus ihrer misslichen Lage zu befreien?«, sagte sie dann. »Ihr könnt sie nicht freilassen!«, protestierte der Käfer, und seine Mundwerkzeuge mahlten dabei immer heftiger. »Der Schutzschirm würde zusammenbrechen.« Scobee stutzte. »Du meinst das Tarnfeld, das ihr um eure Stadt errichtet habt?« Der Käfer gab keine Antwort, aber das war auch gar nicht nötig. Die GenTec entnahm seiner Reaktion, dass sie richtig getippt hatte. Offenbar benutzten diese Wesen die Fähigkeiten der PSI-begabten Feliden, die sie in dieser unterirdischen Anlage auf irgendeine Weise bündelten, um sie für ihre ganz eigenen Zwecke zu missbrauchen. Scobee dachte nach. Sollte der Krabbler die Wahrheit gesagt haben, war es in der Tat nicht ganz ungefährlich, das Tarnfeld abzustellen. Unwillkürlich fragte sie sich, wie lange es dauern würde, bis seine Artgenossen Wind davon bekamen. Mit Sicherheit nicht lange genug, um danach noch den Rückweg zu ihrem Beiboot anzutreten und von diesem verdammten Planeten zu verschwinden. »Bist du allein hier?«, fragte sie, um ihre Entscheidung noch etwas hinauszuzögern und etwas Zeit zu gewinnen. Der Käfer bejahte. Offenbar war der Zugang zur Anlage so hervorragend gesichert, dass es jede weitere Sicherheitsmaßnahme überflüssig erscheinen ließ. »Wer seid ihr, woher kommt ihr?«, übernahm Jarvis das Wort. »Und was hat das hier alles zu bedeuten?« Als der Käfer keine Anstalten machte zu antworten, hob auch Jarvis den Blaster und richtete ihn mit funkelndem Blick auf ihn. »Glaub mir, Kumpel. Wenn ich den Eindruck habe, dass du uns nichts mehr zu sagen hast, werde ich keine Sekunde zögern, dich …« »Wir sind das Volk der Treymor«, gab der Käferartige hastig zurück. »Wir waren schon immer in dieser Sternenballung zu Hause.«
»In der gesamten Ballung?«, fragte Scobee. Sie hatte nach wie vor Probleme damit, dieses eigentlich eher primitiv wirkende Wesen in Einklang zu bringen mit ihrem Eindruck jener hoch technisierten Zivilisation, die in der Lage war, Distanzen von mehreren Lichtjahren zu überwinden. »Nicht immer«, gab der Treymor zu. »Einst war auch unser Volk schwach und in den Grenzen unseres eigenen Sonnensystems gefangen. Alle Treymor lebten damals noch auf Treygoon, unserer Ursprungswelt. Wir hatten unser Leben der Forschung und Wissenschaft verschrieben. Zwar hatten wir bereits erste zaghafte Versuche unternommen, zu benachbarten unbewohnten Planeten unseres eigenen Systems vorzudringen, doch wussten wir, dass es uns wahrscheinlich nie vergönnt sein würde, den großen Sprung zu den Sternen zu vollführen. Bis zu jenem Tag, vor langer, langer Zeit, der für immer in die Annalen der Treymor eingegangen ist …«
12. Kapitel Vergangenheit … Ein aufgeregtes Schnarren hallte durch die Korridore des militärischen Hauptstützpunktes von Treygoon City, als Admiral Krartag sich auf den Weg machte, um den hochrangigsten Mitgliedern des Geheim- und Sicherheitsdienstes Bericht zu erstatten. Die Anlage bestand aus einem komplexen System labyrinthisch miteinander verbundener Röhren, in dem sich jeder Treymor auch ohne vorherige Einweisung mühelos zurechtfand. Dafür sorgten hinterlegte Botenstoffe, die das Gehirn instinktiv wie eine Karte las. Krartag, dessen einzige Aufgabe in der Überwachung des treygoonischen Luftraums bestand, wusste selbst noch nicht so genau, was er den Kollegen eigentlich sagen wollte. Sollte er eingestehen, dass auch er und seine Leute nicht die geringste Ahnung hatten, womit sie es hier zu tun hatten? Nun, er beschloss, auf sein Glück zu vertrauen und darauf, dass ihm schon noch die richtigen Worte einfallen würden. Seine Kauwerkzeuge mahlten unablässig, was den immensen Druck erahnen ließ, unter dem er in diesen Stunden stand. Krartag wusste, dass er ohnehin schon seit geraumer Zeit auf der Abschussliste des Regierungsrates stand. Man wartete nur auf einen Grund, ihn endgültig und für alle Zeiten abservieren zu können. Seine Hinterflügel stellten sich bei dem Gedanken auf. Seit Horgrat, der während seiner Zeit beim Militär einer seiner größten Konkurrenten gewesen war, in den Rang eines Ratsmitgliedes berufen worden war, tat er alles, um ihm das Leben so schwer wie nur irgend möglich zu machen. Die Gänge der unterirdischen Anlage waren mit wuselndem Leben erfüllt. Militär- und Geheimdienstangehörige rannten hektisch
und für Außenstehende scheinbar ziellos umher. Krartag musste mehrmals scharf ausweichen, um nicht von einem von ihnen über den Haufen gerannt zu werden. Nicht, dass diese Hektik unmittelbar mit den Ereignissen im Orbit von Treygoon zu tun hatte. Eine gewisse Geschäftigkeit entsprach vielmehr der Natur der Treymor. Sie waren praktisch genetisch dazu verdammt, die Dinge, die ihnen aufgetragen wurden, in höchster Eile und ohne jeden Sinn für das geringste Maß an Zwanglosigkeit zu verrichten. Es dauerte ungleich länger als sonst, bis Krartag den etwas abseits liegenden Raum erreichte, der so etwas wie eine Schnittstelle zwischen Geheimdienst, Militär und dem Rat für Wissenschaftliche Angelegenheiten war. Die Tür glitt automatisch vor ihm auf. Wie er mit einem kurzen Blick seiner Facettenaugen bemerkte, war die Versammlung fast vollzählig. Acht Treymor, männlich und weiblich, die in ihren Bodenmulden Position bezogen hatten. Zwei Vertreter der Wissenschaftler. Die anderen hochrangige Geheimdienstmitglieder. Bis auf … Horgrat! Auch wenn Krartag erschrak, so überraschte es nicht wirklich, dass es sich sein Erzrivale nicht hatte nehmen lassen, seine Aufwartung als Sprecher des Regierungsrates zu machen. Krartag sah sich unbehaglich um und gab sich Mühe, das Vibrieren seiner Fühler einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen. Alle Anwesenden hatten nur noch auf ihn gewartet. Ein weiterer Minuspunkt, den Horgrat genussvoll auf Krartags Konto verbuchen würde. »Ich grüße euch, Admiral Krartag«, ließ Horgrat sich vernehmen. Der Unterton in seiner Stimme war bissig genug, um Krartag die Feindschaft spüren zu lassen, jedoch ohne dass die anderen Versammlungsmitglieder etwas davon mitbekamen. »Ich danke euch, edler und gerechter Horgrat«, gab der Admiral zurück. »Wir haben uns hier versammelt«, richtete er sich dann an alle Anwesenden, »um zu erörtern, was es mit den seltsamen Licht-
erscheinungen auf sich hat, die seit geraumer Zeit in regelmäßigen Abständen über den Steinwüsten von Treygoon gesichtet werden.« »Wir wollen diese Frage erörtern?«, gab Horgrat spöttisch zurück. »Der Krisenstab und ich sind eigentlich davon ausgegangen, dass ihr uns über den Ursprung dieser Erscheinungen genauestens Bericht erstattet. Ist es nicht eure oberste Aufgabe als Kommandeur der Luftüberwachung, über sämtliche Vorgänge in der Atmosphäre Treygoons im Bilde zu sein?« »Seid versichert, edler Horgrat, dass ich jederzeit über den aktuellsten Stand der Dinge informiert bin und –« »Auch wenn ihr noch nichts Genaues wisst«, fuhr ihm Targraa, die Vorsitzende des Rates für die Sicherheit von Treygoon City ins Wort, »so verfügt ihr doch gewiss über ausreichende Erfahrung, um euch zumindest eine Vermutung zuzutrauen.« Da war der Moment, vor dem Krartag sich am meisten gefürchtet hatte und den er so lange wie möglich hinauszuzögern versucht hatte. Jetzt gab es kein Zurück mehr, von nun an zählte oberflächliches Geplänkel nicht länger. »Nach allem, was wir bisher wissen, können wir davon ausgehen, dass es sich bei den Erscheinungen aller Wahrscheinlichkeit nach um ein außertreygoonisches Phänomen handelt.« Schweigen breitete sich nach Krartags Worten im Raum aus, gefolgt von langsam einsetzendem Gemurmel. »Das ist nicht Euer Ernst«, stieß Targraa schließlich hervor. Krartags Blick fiel auf Horgrat, dem anzusehen war, dass es ihm eine nahezu diebische Freude bereitete, ihn quasi auf der Anklagebank zu erleben. Er beschloss, sich nicht davon beirren zu lassen. »Leider, edle Targraa, ist es genau das.« Wieder wurde heftig diskutiert. Die Möglichkeit, dass irgendwo eine Lebensform außerhalb des treygoonischen Sonnensystems existierte, war zumindest von aufgeschlosseneren Theoretikern des Wissenschaftsrates niemals ernsthaft bestritten worden. Dass es ihnen jedoch gelingen würde, in absehbarer Zeit einen Kontakt zu einer
solchen Lebensform herzustellen, hatte bislang allerdings als ausgeschlossen gegolten. »Ich möchte doch sehr um Ruhe bitten«, wandte sich Horgrat an die Runde. »Gewiss hat unser verehrter Krartag einen triftigen Grund für diese Annahme. Falls dem so ist, möchte er doch bitte …« Ein schrilles Geräusch unterbrach Horgrats Rede. Augenblicklich sprangen alle auf, irrten aufgeregt umher und versuchten via Funk Kontakt zu den ihnen unterstellten Abteilungen herzustellen. Auch wenn sie es in ihrer Dienstzeit noch nicht oft gehört hatten, so wussten doch alle, was dieses ohrenbetäubende Heulen zu bedeuten hatte. Es war das akustische Zeichen dafür, dass soeben die höchste Alarmstufe ausgelöst worden war.
Als Krartag den Ort in der Steinwüste, knapp zweitausend Krags von Treygoon City entfernt, erreichte, war dort bereits der sprichwörtliche Nofft los. Und das, obwohl die Gegend weiträumig abgesperrt war und nur noch Regierungsfahrzeuge passieren durften. Augenblicklich stürmte er aus seiner als Militärfahrzeug gekennzeichneten Transporteinheit. Bereits von weitem hatte er das golden schillernde Objekt gesehen, das wie eine Sonne am Himmel über der Wüste schwebte, gerade so, als sei es dort festgeklebt worden. »Gut, dass Ihr da seid, Admiral«, hieß ihn einer seiner Untergebenen mit aufgeregt zitternden Antennen willkommen. »Das Ding schwebt schon seit einer halben Ewigkeit dort und rührt sich nicht.« »Habt ihr schon versucht, es aus der Reserve zu locken?«, fragte Krartag. »Wir haben einige Abfangjäger nach oben geschickt und versucht, Kontakt mit dem Ding aufzunehmen. Eine Reaktion gibt es bislang leider nicht und …« Der Soldat verstummte, als er sah, dass die goldene Kugel in Bewegung geriet. Langsam, als habe sie alle Zeit der Welt, sank sie nach unten, um nur wenige Krags über ihrer aller Fühler zu verharren.
Die Militärs erhielten den Befehl, gefechtsbereit zu bleiben, vorerst jedoch nichts zu unternehmen. Wieder geschah lange Zeit nichts. Dann, ganz plötzlich, baute sich wie aus dem Nichts eine grell leuchtende Energiesäule unweit der Soldaten auf. Sofort brachten alle ihre Waffen in Position. Narren, dachte Krartag. Wenn ihnen die Erscheinung feindlich gesonnen wäre, hätten sie es längst zu spüren bekommen, davon war er überzeugt. Es dauerte nicht lange, bis das Licht sich verformte, Gestalt annahm. Ein staunendes Raunen ging durch die Menge, als auch der Letzte erkannt hatte, welches Aussehen das unheimliche Lichtwesen angenommen hatte: das eines Treymor.
»Sie nennen sich selbst Gloriden«, erklärte Kroldorr, der Vorsitzende des Wissenschaftsrates, der versammelten Zuhörerschaft, die sich aus führenden Regierungsmitgliedern, hochrangigen Militärs und den bedeutendsten Wissenschaftlern zusammensetzte. »Diese Wesen, die von einer weit entfernten Welt stammen, bestehen aus purer Energie und können jede erdenkliche Gestalt annehmen.« »Sie haben versucht, uns zu täuschen«, rief ein Geheimdienstmitglied erbost, doch Kroldorr wiegelte ab. »Sie wollten lediglich, dass wir ihnen vertrauen. Indem sie uns in der Gestalt eines Treymor gegenübertraten, versuchten sie, uns die Scheu vor dem Unbekannten zu nehmen.« »Was wollen sie hier?«, rief ein anderer in die Runde. »Haben sie irgendetwas von ihren Absichten preisgegeben?« »Anscheinend sind sie nicht nur durch Zufall hier gelandet«, erklärte Kroldorr, der sich am längsten von allen Anwesenden bei den Besuchern aufgehalten hatte. »Wie sie uns zu verstehen gaben, sind sie Mitglieder einer Forschungsmission und als solche auf der Suche nach einer ganz bestimmten höher entwickelten Rasse.« Ungläubiges Raunen füllte den Saal. Eine Rasse, die höher entwickelt war als jene Energiewesen, die es verstanden, in goldenen Ku-
geln zu den Sternen zu reisen? Das war fast undenkbar. »Die, nach denen sie suchen, haben etwas erschaffen, das die Gloriden CHARDHIN-Perlen nennen und das eng mit ihrem eigenen Schicksal verbunden zu sein scheint«, sprach Kroldorr weiter. »Sie erhoffen sich, von ihnen etwas über ihre eigene Herkunft zu erfahren.« »Und sie glauben, dass sie diese Wesen hier auf Treygoon finden?«, fragte ein hochrangiges Militärmitglied misstrauisch. »Die Spur, der sie folgen, führte sie zumindest in dieses Sonnensystem. Leider mussten wir ihnen mitteilen, dass wir noch nie etwas von den CHARDHIN-Perlen gehört haben. Um sicherzugehen, habe ich unseren Datenspeicher durchforstet, der das gesammelte Wissen unseres Volkes enthält. Ich muss wohl nicht darauf hinweisen, dass meine Suche vergeblich war.« »Dennoch«, übernahm Horgrat, der bislang schweigend in seiner Bodenmulde gesessen hatte, das Wort, »hat sich der Regierungsrat nach meiner ausdrücklichen Empfehlung dazu entschlossen, ihnen für unbestimmte Zeit unsere Gastfreundschaft anzubieten. Es steht ihnen dabei frei, die Zeit zu nutzen, um auf unserer Welt nach jenen zu forschen, derentwegen sie die weite Reise auf sich genommen haben.« »Wie sieht es für die Zukunft mit weiteren Kontakten aus?«, fragte eine renommierte Wissenschaftlerin. »Gibt es nicht vieles, was wir von diesen Wesen lernen könnten?« »Lasst es mich so ausdrücken«, gab Horgrat zurück. »Wir stehen mit den Gloriden in intensiven Verhandlungen, deren Ausgang jedoch offen ist. Sicherlich würde uns ein technologischer Transfer enorme Vorteile verschaffen und unserer Raumfahrt einen enormen Entwicklungssprung bescheren. Jedoch müssen wir uns dabei auch nach den Wünschen unserer Gäste richten …«
»Diese Gloriden …«, sagte Horgrat, nachdem sich die Versammlung aufgelöst hatte, zu Tarrkan, einem weiteren derzeitigen Mitglied des im Rotationsverfahren regelmäßig wechselnden Regierungsrates.
»Sie verfügen in der Tat über einen technologischen Entwicklungsstand, von dem wir bisher nur träumen konnten.« »Du hast Recht, Horgrat. Wir müssen alles daransetzen, um sie davon zu überzeugen, ihr Wissen mit uns zu teilen.« »Das wird nicht leicht«, gab Horgrat zu bedenken. »Zwar haben sie erkennen lassen, dass sie für die Zukunft durchaus an einem freundschaftlichen Kontakt zu anderen intelligenten Rassen interessiert sind. So wie es jedoch aussieht, räumen sie ihrer Mission den derzeit höchsten Stellenwert vor allem anderen ein. Sie gaben zu erkennen, dass sie nicht sehr lange zu verweilen gedenken, sondern in Kürze wieder aufbrechen werden.« »Das wäre ein herber Verlust für uns«, gab Tarrkan zurück und knirschte verbittert mit den Kauzangen. »Ich würde sogar so weit gehen, es eine Katastrophe zu nennen«, meinte Horgrat. »Ein Volk, das nicht bereit ist, seinen Fortschritt mit anderen zu teilen, verdient diesen Fortschritt nicht.« »Was willst du damit andeuten?« »Wir sollten den Gloriden unmissverständlich klar machen, dass wir es als ihre Pflicht betrachten, uns beim Aufbau einer interstellaren Raumfahrt zu unterstützen. Und dass wir nicht bereit sind, ein Nein zu akzeptieren.« »Du willst sie notfalls mit Gewalt am Abflug hindern?« Horgrat stieß einen zischenden Laut aus, der Zustimmung signalisierte. »Du kennst die Möglichkeiten, über die wir verfügen. Wir sollten sie nicht ungenutzt lassen.«
Den Gloriden, die erst einige Tage auf Treygoon weilten, den Planeten in dieser Zeit aber bereits eingehend inspiziert hatten, war klar, dass sie hier keine Hinweise auf die Erbauer der CHARDHIN-Perlen finden würden. Daraus hatten sie auch gegenüber ihren Gastgebern keinen Hehl gemacht. Und so neigte sich ihre Zeit auf der Heimatwelt der Treymor schon allmählich wieder dem Ende entgegen. Es hatte demnach
schon etwas von einem Abschiedsbesuch, als fünf von ihnen die Räume des trichterförmigen Regierungsgebäudes betraten, wo sie sofort zum Hohen Rat vorgelassen wurden. Die Mitglieder des Rates saßen kreisförmig angeordnet in ihren Bodenkuhlen und blickten die in Treymorgestalt vor sie tretenden Gloriden verstohlen aus ihren Facettenaugen an. »Mit großem Bedauern«, setzte Horgrat an, der sich zum Wortführer aufgeschwungen hatte, »haben wir eure Entscheidung vernommen, uns in Kürze verlassen zu wollen.« »Wir wissen eure Gastfreundschaft zu schätzen«, sagte Mantayan, der Anführer der gloridischen Forschungsmission. »Es ist uns leider nicht möglich, länger auf eurer Welt zu verweilen. Wir sind mit einem Auftrag unterwegs, der für unser Volk von höchster Wichtigkeit ist. Unsere Mission erlaubt keinen Aufschub.« »Ich verstehe euer Anliegen, eurem Volk den größtmöglichen Dienst zu erweisen«, versetzte Horgrat. »So hoffe ich, dass ihr auch das meine versteht.« »Was, edler Horgrat, willst du uns damit sagen?«, fragte Mantayan und imitierte dabei wie selbstverständlich einen Laut, der in der Sprache der Treymor höchstes Misstrauen signalisierte. »Wie ich es bereits bei einem unserer früheren Gespräche verlauten ließ«, sagte Horgrat, »erachte ich eure Ankunft als ein Geschenk. Ein Geschenk, das preiszugeben, einem Verrat an unserem Volk gleichkäme.« Die Reaktion der Gloriden ließ erkennen, dass sie von großer Unsicherheit ergriffen wurden. Lediglich Mantayan blieb weiter gefasst, als wolle er seiner Crew mit gutem Beispiel vorangehen. »Ich möchte dich bitten, uns nicht länger im Ungewissen darüber zu lassen, was du mit deiner Ansprache bezweckst.« Der Gloride wartete vergeblich auf eine Antwort des Käferartigen. Mit wachsendem Unbehagen bemerkte er die Vibrationen, die nicht nur Horgrats Fühler, sondern auch die aller anderen Ratsmitglieder erfasste. Im nächsten Moment fühlte er sich zur Bewegungslosigkeit verdammt. Ein kurzer Blick in die Richtung seiner Artgenossen verriet ihm,
dass es ihnen ähnlich erging. Ein Zucken ging durch seinen Leib, der sich augenblicklich zu verformen begann. Der Gloride versuchte vergeblich, dagegen anzukämpfen. Sich in seine energetische Form zu transferieren, um so dem Zugriff zu entgehen. Allein, es gelang ihm nicht. Am mentalen Gewaltakt, mit dem die Mitglieder des Regierungsrates auf sie einwirkten, zerbrach jeder Widerstand. Er bannte sie am Fleck, verdammte sie zur Bewegungslosigkeit und erfüllte sie mit der traurigen Erkenntnis, den Falschen vertraut zu haben …
»Die Treymor haben die Gloriden überwältigt?«, fragte Scobee fassungslos, nachdem der Käferartige mit seiner Erzählung geendet hatte. »Wie haben sie das angestellt?« »Unser Volk verfügt über ein gewisses mentales Potenzial, das es uns ermöglicht, auf die energetische Struktur von Gegenständen einzuwirken.« Scobee verstand. Offenbar verfügten die Treymor über eine telekinetische Begabung, die es ihnen erlaubte, die vollständig aus Energie bestehenden Gloriden zu bannen. »Was haben deine Vorfahren mit den Gloriden gemacht?«, wollte Fontarayn wissen. Der Treymor schwieg, aber vielleicht wusste er wirklich keine Antwort auf die Frage. Was er da erzählt hatte, musste lange, sehr lange Zeit zurückliegen. Die Sonne über Treygoon musste seitdem Dutzende, nein Hunderte von Generationen kommen und wieder gehen gesehen haben. Auch wenn die gloridische Technologie ihrer Zivilisation einen enormen Schub versetzt hatte, so war der Quantensprung von einer Zivilisation, die eben erst dabei war, die Raumfahrt für sich zu entdecken, zu einer über ein ganzes Sternenreich herrschenden Macht gewiss nicht über Nacht erfolgt. »Unter Zuhilfenahme der gloridischen Technologie gelang es euch also, euren Wirkungsbereich auszudehnen«, stellte Scobee fest. »So war es«, bestätigte der Treymor. »Es dauerte einige Generationen, doch nach und nach gelang es uns, ein Gebiet von mehreren
Lichtjahren Durchmesser zu erobern. Die Entdeckung, die wir machten, als wir zu uns bis dahin unbekannten Welten vorstießen, stellte einen weiteren Wendepunkt in unserer Geschichte dar …«
Vergangenheit … Commander Torrk fühlte sich von Erhabenheit ergriffen, als sein Schiff, die TREYCON-1, in den Landeanflug überging. Viel hatte er über den kleinen Planeten gehört, der auf seinem Kontrollschirm rasant größer wurden während die wichtigsten Ortungsdaten am unteren Bildschirmrand entlangrasten. Was für ein großer Moment, dachte Torrk. Nicht nur für mich selbst, sondern für alle meiner Art, die auf diesen Tag gewartet haben. Er konnte es sich nicht verkneifen, ganz kurz an jene zu denken, die diesen Moment erst möglich gemacht hatten. Jene außerirdische Rasse, die einst mit seinen Vorvätern in Kontakt getreten war und mit ihrer Technologie den Grundstein dafür gelegt hatte, dass die Treymor heute die transgalaktische Raumfahrt beherrschten. Auch wenn die wirklichen Fortschritte erst in den letzten Jahrzehnten gemacht worden waren. Doch ohne die Gloriden, wie sich jene Wesen nannten, wären sie wohl noch immer nicht in der Lage, die Grenzen ihres eigenen Sonnensystems zu überwinden. Und dann, dachte Torrk in einem ungewohnten Anflug von Demut, säße ich jetzt nicht hier. Auch wenn die Treymor in den vergangenen Jahrzehnten Dutzende von fremden Planeten angeflogen hatten, war diese Mission etwas ganz Besonderes. Waren alle anderen Welten, die sie sich bisher Untertan gemacht hatten, unbewohnt gewesen, so gab es ganz konkrete Hinweise darauf, dass auf dem Planeten, den er jetzt auf dem Schirm hatte, intelligentes Leben existierte. Es war eine Entdeckung, die alle anderen Errungenschaften der letzten hundert Jahre in den Schatten stellte. Wie mochte diese Spezies aussehen, die, in galaktischen Maßstäben gemessen, in unmit-
telbarer Nachbarschaft der Treymor lebte und dabei doch für so lange Zeit unerreichbar gewesen war. Das Einzige was sie über diese Wesen bisher wussten, war, dass sie auf einem für Treymor-Verhältnisse reichlich primitiven Entwicklungsstand waren. Sie hatten keine Raumfahrt, so viel war sicher. Vielmehr schienen sie so zu leben wie die Treymor vor Tausenden von Jahren. Um letzte Gewissheit zu bekommen, hatte der Regierungsrat die Mission TREYCON-1 ins Leben gerufen. Die Entdeckung, die bei einigen zufälligen Erkundungsflügen gemacht wurden, war bisher nicht an die Öffentlichkeit gelangt. Nur wenige Eingeweihte wussten davon, und Torrk platzte vor Stolz, wenn er daran dachte, dass ausgerechnet er auserwählt worden war, die Mission zu leiten. Sicher, er war ein hochdekorierter Kommandant, der schon zahlreiche Unternehmungen geleitet hatte. Doch dies war auch für ihn der Sprung in eine andere Liga. Dieser Flug, so wurde ihm schlagartig bewusst, während er auf dem Schirm Berge, Täler und Flüsse erspähte, würde ihm einen Platz in den Geschichtsbüchern sichern. Immer mehr landschaftliche Details rückten in sein Blickfeld, während das Beiboot zur Landung auf einer weiten, unbewachsenen Grasfläche ansetzte. Er sah mittlerweile sogar Dörfer und Straßen. Sah hölzerne Wagen mit fremdartigen Tieren, die davor gespannt waren. Wie würden die Eingeborenen des Planeten auf ihre Ankunft reagieren? Würden sie ihnen feindlich gegenübertreten? Voller Angst? Oder eher … Neugier? Seit dem Besuch der Gloriden war dies der erste Kontakt der Treymor mit einer anderen intelligenten Rasse. Es gab keinerlei Erfahrungswerte, von denen sich mögliche Reaktionen ableiten ließen. Zur Vorsorge hatte er reichlich Geschenke mitgebracht, um sie unter der Bevölkerung zu verteilen. Das meiste davon war Tand, aber wenn dieses Völkchen tatsächlich so primitiv war, wie es den Anschein hatte, würde es ihm diesen bestimmt dankbar aus den Händen reißen. »Landeanflug eingeleitet«, gab Rorrko, sein Co-Pilot, zu verstehen.
Er war der Einzige, der ihn auf dieser Mission begleitete. Der Rest der Mannschaft war im Mutterschiff geblieben, das unmittelbar über dem Planeten kreiste. Bereit, jederzeit einzugreifen, wenn etwas Unerwartetes geschah. Was auch immer das sein soll, dachte Torrk. Selbst wenn ihnen die Eingeborenen feindlich gesonnen waren, war es kaum denkbar, dass sie den mächtigen Waffen der Treymor auch nur ansatzweise etwas entgegenzusetzen hatten. Sie landeten das Schiff im Schatten eines kleinen Wäldchens. Wenn die Eingeborenen nicht völlig blind waren, war die Ankunft natürlich beobachtet worden. Torrk gab einen kurzen Funkspruch an das Mutterschiff ab, dann verließen sie das Beiboot und machten sich auf den Weg in die Richtung jenes Dorfes, das sie aus der Luft erspäht hatten und das in nördlicher Richtung lag. Tatsächlich war man dort bereits auf die Fremden aufmerksam geworden. Man begegnete ihnen mit Scheu und Misstrauen. Obwohl die Treymor mit ihren Fühlern signalisierten, dass sie in friedlicher Absicht gekommen waren, wichen sie vor ihnen zurück, als die Fremden auf dem Dorfplatz einmarschierten. Die Eingeborenen sahen seltsamer aus als alles, was Torrk sich in seinen kühnsten Vorstellungen ausgemalt hatte. Sie gingen auf zwei Beinen, hatten ein Fell und ein spitzes, nagetierartiges Gesicht. Torrk gab sich tunlichst Mühe, sich seine Verwunderung, ja, seine Abscheu nicht anmerken zu lassen. »Wir kommen in friedlicher Absicht«, rief er, während er seine Beinpaare gut sichtbar ausstreckte, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war. Dann deutete er mit seinem obersten Beinpaar zum Himmel, um ihre Herkunft anzudeuten. Schließlich löste sich einer der Fellträger aus der Menge und trat auf sie zu. Was er sagte, konnte Torrk nicht verstehen, aber es klang zumindest nicht feindselig. Vorsichtig taxierten sie einander, dann ging Torrk langsam auf den Eingeborenen zu. Etwas an ihm war merkwürdig. Torrk spürte eine mentale
Schwingung, die von ihm ausging. Und dann, dank seiner eigenen außersinnlichen Wahrnehmung, verstand Torrk, was an dem Fellträger so außergewöhnlich war. Die Begrüßung fiel herzlich aus, und nach einiger Zeit sah es tatsächlich so aus, als hätten diese so unterschiedlichen Wesen Vertrauen zueinander gefasst. Doch bereits als Torrk und Rorrko ihr Beiboot bestiegen, um sich auf den Heimweg zu machen, ahnten sie, dass ihr Verhältnis zu den Saskanen, wie die Planetenbewohner sich selbst nannten, nie wieder so sein würde wie in den zurückliegenden Stunden.
»Tritt ein, Torrk. Setz dich!« Krartag, derzeit oberstes Ratsmitglied, wies mit den Fühlern auf eine Bodenkuhle, die direkt neben seiner eigenen lag. Torrk tat, wie ihm geheißen. Er sah sich unbehaglich um. Ehrfurcht erfasste ihn. So nahe war er dem Zentrum der Macht noch nie gekommen. »Du hast um eine Audienz gebeten«, sagte Krartag, der ihn abwartend ansah. »In der Tat«, sagte Torrk. Er wusste nicht so recht, wie er anfangen sollte. »Es geht um unsere Mission zu den Saskanen«, sagte er dann. »Ja, richtig«, rief Krartag erfreut aus. »Die Mission war ein voller Erfolg. Es wird dich freuen, dass ich dich bereits für den Posten des Oberbefehlshabers der Regierungsflotte vorgeschlagen habe. Wie du weißt, wird dieser Posten bald frei.« Torrk war völlig überrascht. Damit hatte er nicht im Mindesten gerechnet. Dennoch. Trotz seiner Freude war ihm klar, dass das, was er Krartag mitzuteilen hatte, keinen Aufschub duldete. »Diese Eingeborenen …«, setzte er erneut an. »Diese Saskanen …« »Was ist mit ihnen?«, fragte Krartag, den sichtlich die Neugier gepackt hatte. »Ich bin mir nicht ganz sicher, deshalb wollte ich es nicht vor der Vollversammlung des Regierungsrates hinausposaunen.« »Jetzt sind wir ja unter uns«, meinte Krartag jovial.
»Nun, als ich auf sie traf, glaubte ich … nun, glaubte ich, etwas zu spüren. Eine außersinnliche Fähigkeit, die ihnen anhaftet und von der sie selbst nichts zu ahnen scheinen.« Jetzt war Krartag so richtig neugierig geworden. Das heftige Zittern seiner Fühler wies darauf hin. Torrk erlöste ihn, indem er seine Eindrücke ausführlich schilderte. Krartag hörte aufmerksam zu.
Torrk hätte nicht gesagt, dass er ein schlechtes Gewissen hatte, als er Saskana zum zweiten Mal überflog. Er wusste, dass alles, was sie hier taten, dem Wohle ihres Volkes diente. Schwache Rassen müssen weichen, damit stärkere sich ausbreiten können. So lautete die neue Doktrin des Regierungsrates. Und der Rat, so hatte Torrk bereits in jungen Jahren gelernt, hatte immer Recht. Niemandem, schon gar nicht einem einfachen Befehlsempfänger wie ihm, stand es zu, sein Urteil anzuzweifeln. »Feuer!«, gab Torrk den Befehl, der dazu führte, dass die einfachen Behausungen der Saskanen, die ihn und Rorrko wie Freunde empfangen hatten, in Flammen aufgingen. Ganz kurz fragte er sich, ob es richtig gewesen war, den Rat von seiner Beobachtung zu unterrichten. Schon im nächsten Moment schob er diese Zweifel weit von sich. Es wäre nur eine Frage der Zeit gewesen, bis der Rat selbst von den verborgenen Talenten der Saskanen erfahren hätte. Ihr Schicksal, so schien es, war ihnen vorherbestimmt, ganz gleich, wie er sich verhalten hatte. Torrk gab den Befehl zur zweiten Angriffswelle. Mit der Kraft von hundert Bomben schlug sie in die Hütten der Saskanen ein und hinterließ nichts als Asche und Rauchwolken. Und das, so hatte man Torrk gesagt, war nur die erste Phase der »Operation Saskana«. Wenn die Dörfer der Eingeborenen einmal weitestgehend zerstört waren, begann das Kernmanöver. Die Raumschiffe, die die heimatlos gewordenen Saskanen aufnehmen sollten, standen schon bereit. In riesigen Sammelcontainern sollten sie von
Saskana fortgeschafft und auf die zahlreichen Welten verteilt werden, die die Treymor bereits unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Erst dann – und auch erst ganz allmählich – würde sich zeigen, ob Torrk Recht behalten sollte. Ob die Fähigkeit der Saskanen wirklich dem entsprach, was er dank seiner eigenen PSI-Fähigkeit wahrzunehmen geglaubt hatte. Diese Wesen sind in der Lage, sich der Wahrnehmung anderer zu entziehen, hatte er Krartag bei ihrer Unterredung erklärt. Sie besitzen die latente Fähigkeit, ein Tarnfeld um sich herum zu errichten, das sie den Blicken anderer entgeht. Im Borddisplay sah Torrk, wie ein weiteres Haus zerstört wurde, wie das Feuer weiter um sich griff und die Saskanen schreiend das Weite suchten. Dir ist klar, dass wir diese Fähigkeit für unsere Zwecke nutzbar machen könnten?, klang Krartags Stimme in ihm auf. Weißt du, was wir auf diese Weise erschaffen könnten? Ein geheimes, ein heimliches Imperium, dachte Torrk, während er die nächste Salve aus der Bordkanone seines Schiffes abfeuerte. Ein Reich, das den Blicken unserer Feinde verborgen bliebe. Mit Hilfe gloridischer Technologie, so hatte es Krartag ihm erklärt, würde es ihnen möglich sein, die latent in den Saskanen schlummernde Fähigkeit zum Ausbruch zu bringen. Auf diese Weise würde ihnen bald das Universum zu Füßen liegen. Niemand würde ihnen noch etwas anhaben können. Die Zukunft gehört den Treymor, dachte er noch. Dann gab er den Befehl, Phase zwei einzuleiten.
Es war das Experiment »Maroon«, das schließlich den nächsten großen Durchbruch erzielte. Der Planet war eine karge, lebensfeindliche Berg- und Wüstenwelt ohne nennenswerte Rohstoffe und würde für lange Zeit für Treymor unbewohnbar bleiben. Es gab dort riesige Sandwürmer, die in einigen Metern Tiefe auf Beute lauerten, um dann blitzschnell hervorzuschießen. Sie konnten
selbst Treymor und größere Säugetiere in einem Happen verschlingen, um sie dann über Tage hinweg bei lebendigem Leibe zu verdauen. Sie waren das Einzige, was auf Maroon zu gedeihen schien. Krartag konnte sich kaum einen Ort vorstellen, an dem er sich weniger gerne aufgehalten hätte. Außer vielleicht auf dem von ewigen Stürmen umtosten Planeten Nabugo im Hartas-System. Und doch war es ihnen gelungen, einen Stamm von Saskanen auf Maroon anzusiedeln. Diese hatten sich in nur wenigen Monaten erstaunlich gut an ihre feindliche Umwelt angepasst. Waren zu Nomaden geworden und hatten sogar Möglichkeiten gefunden, sich den Angriffen der Sandwürmer zu erwehren. Auch wenn es immer wieder Feliden gab, die der aggressiven Fauna trotz aller Vorsichtsmaßnahmen zum Opfer fielen. Krartag konnte das egal sein. Zusammen mit drei anderen Mitgliedern des Regierungsrates sowie zwei Angehörigen des Rates der Wissenschaften befand er sich an Bord einer Forschungsstation, die seit Monaten stationär über Maroon kreiste, um von dort aus alle nötigen Messungen vorzunehmen und das Projekt zu überwachen. Sie alle hatten sich in der Zentrale versammelt und starrten auf den großen Schirm, der im Moment noch völlig dunkel war. Krartag spürte, wie die Nervosität in ihm wuchs. Auch wenn andere das Experiment ausgeführt hatten, so war doch er der Initiator des Projekts. Den Erfolg würde er mit anderen teilen müssen. Ein Misserfolg hingegen würde nur ihm allein angelastet werden. Nicht nur die Zukunft der Treymor, auch seine eigene würde sich in den kommenden Minuten entscheiden. »Wir haben euch kommen lassen, verehrte Ratsmitglieder, weil es Veränderungen von solch weitreichender Form gibt, dass wir nicht anders konnten, als euch davon in Kenntnis zu setzen.« Rorrga, die leitende Wissenschaftlerin an Bord der Station, wandte ihre Fühler nacheinander jedem einzelnen der versammelten Ratsmitglieder zu. Es war offensichtlich, dass sie die Spannung noch ein wenig hinauszögern wollte. Es sei ihr gegönnt, dachte Krartag. Schließlich haben sie lange ge-
nug an dem Projekt mitgearbeitet. Er konnte nur hoffen, dass sich das Warten lohnte. Sonst, so schwor er sich, würde er Rorrga eigenhändig den Sandwürmern kredenzen. »Zunächst hielten wir es für einen Übertragungsfehler, da wir so schnell noch nicht mit einem Ergebnis gerechnet haben«, führte die Wissenschaftlerin aus. »Deshalb stellten wir weitere Messungen an. Das Resultat blieb dasselbe.« Jetzt begann der Schirm zu flackern. Sofort richteten sich aller Augen darauf. Auch die jener Wissenschaftler, die eigentlich schon wissen mussten, was sie gleich zu sehen bekamen. Es war Maroon. Ein kleiner grauer Planet, wie Krartag ihn von zahlreichen Satellitenbildern kannte. Er streckte seine Fühler aus, ging etwas näher an den Bildschirm heran. Auf den ersten Blick konnte er nichts Außergewöhnliches erkennen. Doch dann … »Was ist das?«, fragte er und deutete mit dem Fühler auf eine Stelle, die deutlich blasser war als der Rest des Bildes. »Das«, erklärte Rorrga mit hörbarem Stolz, »ist der Grund, warum wir euch kommen ließen. Maroon beginnt zu … verblassen. Zunächst schritt die Entwicklung nur langsam voran. Aber wenn ich mir das Bild jetzt ansehe, erkenne ich auf Anhieb fünf weitere Stellen, die dasselbe Phänomen zeigen.« Sie deutete nacheinander auf die Bereiche, die sie meinte. Tatsächlich. Es sah aus, als würde der Planet allmählich verschwimmen. Nur langsam brach sich die Bedeutung des Gesehenen in Krartags Denken Bahn. Obwohl er selbst, wenn auch inspiriert von Torrks seltsamer Beobachtung, der geistige Vater der »Operation Saskana« war, war er sich bis zuletzt unsicher gewesen, ob das Experiment zu einem Erfolg geführt werden konnte. Selbst die Vertreter der Wissenschaften waren sich diesbezüglich nicht einig gewesen. Doch jetzt, da er das Ergebnis mit eigenen Augen sah, war schlagartig alles anders. Er war ein Visionär. Ein Motor des Fortschritts. Ein Messias seines Volkes, der dessen ungestörte Entwicklung für die nächsten Jahrtausende sichern würde. Maroon löst sich auf machte er es sich noch einmal bewusst. Bald
wird nichts mehr von ihm zu sehen sein. Und doch existiert er weiter. So wie unser gesamtes expandierendes Reich …
»Ihr habt die Feliden also von Saskana entführt und auf die bewohnbaren Planeten eures Reiches verteilt?«, unterbrach Scobee den Erzählfluss des Treymor. Hatte der Käferartige zu Beginn nur zaghaft und auch nur unter akuter Gewaltandrohung geredet, so sprudelte es jetzt förmlich aus ihm heraus. Auf eine bizarre Weise schien es ihn mit Stolz zu erfüllen, die Geschichte seines Volkes mit anderen teilen zu dürfen. Auch wenn es unter für ihn eher unglücklichen Umständen geschah. »So ist es«, bestätigte er. »Natürlich dauerte es von da an noch eine lange Zeit, bis die ›Operation Saskana‹ ihre ersten Auswirkungen zeigte. Auch wenn die gloridische Technologie uns dabei half, den Prozess zu beschleunigen.« »Du meinst den Prozess des Sich-vergessen-Machens?«, fragte Jarvis. »Ihr habt auf allen neu erschlossenen Welten eures Reiches Saskanen angesiedelt, ihre Fähigkeiten mit Hilfe der Technologie, die ihr einst den Glorien geraubt habt, verstärkt, sodass sich die Sphäre des Vergessens langsam aber sicher über Lichtjahre hinweg um euer Herrschaftsgebiet legte?« »Es war ein mühsamer Prozess, aber er hat sich letzten Endes ausgezahlt.« »Nicht so mühsam wie für die Saskanen, nehme ich an.« Scobee warf Jolando einen kurzen Blick zu. Sie war sich nicht sicher, ob der Felide alles verstanden hatte. Vielleicht war er aber in Gedanken noch bei seinem Bruder, der gemeinsam mit so vielen anderen Feliden in den Behältnissen lagerte, die diesen Raum prägten. Sie tauschte einen schnellen Blick mit Jarvis, der ihre Gedanken zu erraten schien. »Ich denke, fürs Erste haben wir genug erfahren. Allmählich wird es Zeit für uns, zu verschwinden. Es kann nicht mehr lange dauern, bis unsere Anwesenheit auch von anderen bemerkt wird.« »Ich gehe nicht!«, protestierte Jolando und fügte mit einem Blick
auf seinen Bruder hinzu: »Nicht ohne ihn!« Scobee war einen Moment lang unschlüssig. Einerseits verstand sie das Anliegen des Feliden. Sehr gut sogar. Auch sie an seiner Stelle hätte alles getan, um Tamino unversehrt hier wegzubringen. Dennoch. Das Risiko war einfach zu groß. »Ich glaube, er lässt sich nicht davon abbringen«, meinte Jarvis, dem die Skepsis ebenfalls anzumerken war. »Entweder wir überlassen ihn hier seinem Schicksal. Oder …« Scobee atmete tief durch, dann wandte sie sich erneut an den Treymor. »Wo kann man die Anlage ausschalten?« Als er nicht antwortete, ließ sie einen scharf gebündelten Strahl aus ihrem Blaster direkt neben ihm in den Boden fahren. Funken flogen auf. Der Treymor trippelte erschrocken zur Seite, wobei sich seine Fühler wie zwei Grashalme im Sturm bogen. »Im benachbarten Raum«, sagte er dann. »Ich zeige es euch.« »Das lässt du schön bleiben. Jarvis und Fontarayn werden gehen.« Das ließen sich die beiden nicht zweimal sagen. Augenblicklich tauchten sie in den grünlich beleuchteten Korridor und gingen davon. »Was geschieht mit mir?«, fragte der Treymor. Scobee gab keine Antwort. Sie war in Gedanken weit weg. Würde es ihnen gelingen, ungesehen von hier zu entkommen? Die Anlage befand sich etwas abseits der größeren Bauten der geheimen Stadt. Und auch die Dunkelheit würde ihnen wohl ein verlässlicher Verbündeter sein. Allein, es musste schnell gehen. Zeit zu verschwenden hatten sie nicht. Doch selbst wenn ihnen die Flucht von diesem Planeten gelang, was würde dann aus den hier angesiedelten Feliden werden? Sie hatten nicht die Möglichkeiten, sich gegen das Joch der Unterdrücker zu wehren. Wahrscheinlich würde für sie das Leben von diesem Tag an noch schwerer werden. Scobees Gedankenfluss versiegte, als Jarvis und Fontarayn zurückkehrten. »Hat sich schon eine Veränderung bemerkbar gemacht?«, fragte
Jarvis. »Habt ihr denn den Steuerungsmechanismus gefunden?« »Ich hoffe es«, sagte Jarvis. »Fontarayn ist direkt in die Anlage eingedrungen und hat versucht, sie abzuschalten. Sie …« Er verstummte, während sein Blick an Scobee vorbeiging. Die GenTec drehte sich um. Und da sah sie es auch. Der Flüssigkeitspegel in den durchsichtigen Säulen. Er sank ab. Zunächst nur ganz langsam, dann immer schneller, bis die Behälter zur Gänze leer gepumpt waren. »Wie kann man diese Dinger öffnen?«, murmelte Scobee, während sie vor Tamino auf die Knie ging. Ihre Finger glitten über den glatten pechschwarzen Sockel, der aus einem undefinierbaren Material gefertigt war. Dann ertastete sie eine kleine beulenförmige Erhebung. Sie drückte darauf. Sofort glitt die Säule auf. Das plexiglasartige Material zog sich fast vollständig zurück. Der aufrecht stehende Felide rührte sich noch immer nicht. Vorsichtig streckte sie ihre Hand aus, zog einen der Schläuche aus seinem Körper. Sie konnte nur hoffen, dass sie damit kein lebenserhaltendes System unterbrach. Nichts geschah. Nacheinander zog sie die Elektroden von seinem Körper. Als sie die Drähte an seinem Kopf entfernt hatte, schlug er abrupt die Augen auf. Verwirrung flackerte in seinem Blick. »Keine Angst!«, flüsterte Scobee ihm zu. »Wir bringen dich in Sicherheit. Jolando, kümmere dich um ihn!« Die anderen wies sie an, die übrigen Feliden aus den Gefängnissen zu befreien. Da sie zu mehreren waren, schritt die Arbeit schnell voran. Bald waren alle Gefangenen befreit, wenn es ihnen auch deutliche Schwierigkeiten bereitete, sich in der für sie ungewohnten Umgebung zurechtzufinden. »Wir haben doch keine Zeit!«, herrschte Scobee Jolando an, als dieser versuchte, jedem einzelnen seiner Artgenossen haarklein zu erklären, was mit ihnen passiert war. »Dafür habt ihr später noch ausreichend Gelegenheit.« Und an den Treymor gerichtet, fügte sie hinzu: »Du bleibst hier!« Mit einer wedelnden Bewegung ihres Blasters scheuchte sie ihn in
einen der säulenartigen Tornister, die sich für seine Konstitution als denkbar ungeeignet erwiesen. Wie ein unter Glas platt gedrücktes Insekt sah er aus, nachdem Scobee den Mechanismus aktiviert hatte, der den Behälter verschloss. Zufrieden begutachtete sie ihr Werk, dann ging sie zur Luke und spähte vorsichtig auf den Korridor hinaus. Er war noch so verlassen wie bei ihrer Ankunft. Mit einem Wink bedeutete sie der stark angewachsenen Gruppe, ihr leise zu folgen. Im Gleichschritt eilten sie durch den Korridor zum Ausgang und hatten ihn fast erreicht, als plötzlich … … eine käferartige Gestalt aus einer weiteren geöffneten Seitenluke krabbelte. Der Treymor schien noch wesentlich erschrockener zu sein als sie. Verständlich, denn mit so einem Anblick konnte er nicht gerechnet haben. Er stieß ein schrilles Pfeifen aus, wobei seine Beißzangen aufgeregt rotierten. »Klappe!«, zischte Scobee und schickte ihm eine gezielte Salve aus ihrem Blaster entgegen. Der Strahl brannte sich mit einem zischenden Geräusch in den Körper des Treymor, der im nächsten Moment zusammenbrach und regungslos auf seinem Rücken liegen blieb. »Hoffentlich hat das niemand gehört«, knurrte Jarvis am Ende des Pulks, wo er der Gruppe den Rücken sicherte. Den Rest des Weges legten sie unbehelligt zurück. Nachdem der Gloride den Ausgang geöffnet hatte, wagte sich die GenTec zurück an die Oberfläche. Langsam ließ sie ihren Blick über das Gelände schweifen. Dank ihrer Nachtsichtfähigkeit hätte sie jeden sich nähernden Gegner sofort bemerkt, doch die Landschaft lag einsam und verlassen vor ihnen. Rasch kroch sie aus dem Loch, rollte sich auf dem Gras ab und wartete, bis sich alle um sie herum versammelt hatten. »Sind wir vollzählig?«, fragte sie Jarvis, der sich als Letzter aus der Öffnung schob. »Ich bin der Letzte«, gab er zurück. »Okay. Bleibt geduckt und seht zu, dass ihr keinen Lärm veranstaltet. Seht ihr das Waldstück da drüben?« Ihr Zeigefinger stach durch die Nacht.
Zustimmendes Gemurmel breitete sich aus. »Gut«, sagte sie. »Denn dort liegt unser Ziel.«
13. Kapitel Im Schutz der Dunkelheit, die sich wie ein behütender Mantel um sie gelegt hatte, erreichten sie das Waldstück, wo Jiim und Algorian auf sie warteten. »Na endlich!«, stieß der Aorii aus. »Wir haben gerade beratschlagt, was wir wohl machen würden, wenn ihr nicht zurückkommt!« »Wir wurden … aufgehalten«, erwiderte Scobee. »Und wie ich sehe«, meinte Jiim, während er die Gruppe der Feliden musterte, »habt ihr euch in dieser Zeit vermehrt.« »Diese armen Seelen wurden unter den schlimmsten Bedingungen gefangen gehalten«, sagte Jarvis. »Alles Weitere erklären wir später.« Er und Scobee berieten gerade darüber, wie sie ihre Flucht am besten organisieren konnten, als Algorian sie auf einen Gleiter aufmerksam machte, der noch immer in unmittelbarer Nähe der Katakomben stand und in dem der Treymor den Gefangenen transportiert hatte. Augenscheinlich war es ein Nutzfahrzeug mit einer geräumigen Ladefläche. Ob jedoch alle Gefangenen Platz darin finden würden, war dennoch fraglich. »Macht euch um uns keine Sorgen«, sagte einer der Feliden, nachdem Jolando ihm das Problem erläutert hatte. »Ihr habt wahrlich schon genug für uns getan. Ab hier schaffen wir es, uns allein durchzuschlagen. Dies ist unsere Welt. Wir sind mit ihren Gefahren aufgewachsen und uns ihrer bewusst.« Scobee nickte. Wahrscheinlich musste sie sich tatsächlich keine Sorgen um die Katzenkrieger machen. Sie war zuversichtlich, dass es ihnen gelingen würde, die verbotene Zone im Schutz der Nacht zu durchqueren und zurück in ihre Dörfer, zu ihren Stämmen zu gelangen. Lediglich Jolando, Tamino und drei weitere Krieger ihres Dorfes, so beschlossen sie, würden mit ihnen den Gleiter besteigen.
Scobee hatte keine Bedenken, dass es ihnen gelingen würde, das Fluggerät unter ihre Kontrolle zu bringen. Wieder würde es Fontarayn sein, der dabei die Hauptarbeit leistete. Vorsichtig pirschten sie sich an den Gleiter heran, dessen Silhouette Scobee an ein fremdartiges Tier erinnerte. Immer wieder warf sie einen nervösen Blick zur Pyramide. Noch schien niemand bemerkt zu haben, dass das Tarnfeld um die Stadt zusammengebrochen war. Die Einstiegsluke des Gleiters stand offen. Der Treymor hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie zu schließen. Der Laderaum war ziemlich geräumig, wie Scobee mit einem kurzen Kontrollblick feststellte. Sie, Jarvis und Fontarayn nahmen auf den Vordersitzen Platz, während sich der Rest der Truppe im »Gepäckraum« zusammenpferchte. »Dann mach das Ding mal flott«, wies Scobee den Gloriden an, der kurz darauf zu einer gleißenden Lichtsäule mutierte, die sich schließlich mit den Armaturen des Fluggeräts vereinigte. Kurz darauf hoben sie ab. Der Gleiter stieg so ruckartig in die Höhe, dass Scobee kurz von ihrem Sitz gerissen wurde und sich dabei fast den Kopf an der niedrigen Decke angestoßen hätte. Durch die gläserne Kuppel konnte sie den Weg, den sie zurückgelegt hatten, noch einmal in umgekehrter Richtung und wie im Zeitraffer verfolgen. Sie sah, wie der Wald unter ihnen vorbeizog. Sie sah den Wasserfall, der sie fast das Leben gekostet hatte, und den reißenden Fluss mit den tödlichen Stromschnellen. Diese Art des Reisens, stellte sie fest, war doch wesentlich angenehmer. So brachten sie die Strecke, für die sie zuvor einen Tagesmarsch benötigt hatten, in weniger als einer Stunde hinter sich. Und das auch nur, weil sich die Spitzengeschwindigkeit des Transporters in Grenzen hielt. Sonst wäre es noch um einiges schneller gegangen. Nachdem sie auf dem Festplatz von Talamóns Stamm gelandet waren, dauerte es nicht lange, bis das ganze Dorf auf den Beinen war. Mit großem Jubel wurde ihre Rückkehr und vor allem Taminos
Befreiung gefeiert. Besonders Raniána waren die Erleichterung und die Freude anzusehen, mit der sie ihren Geliebten in die Arme schloss. »Uns bleibt wahrscheinlich nicht mehr viel Zeit«, drängte Jarvis, während die Menge gar nicht aufhören wollte, sie zu feiern. Doch ein Gedanke erfüllte Scobee noch immer mit Sorge: Was würde aus den Feliden werden, nachdem die RUBIKON-Crew geflohen war? »Wir wissen nun um unsere Fähigkeit, uns vergessen zu machen«, sagte Tamino, als sie ihn darauf ansprach. »Und was auch immer unsere Feinde während meiner Gefangenschaft in mir wachgerufen haben, es ist nach wie vor da. Es ist stark. Und ich spüre, dass ich es nutzen kann, um mein Volk im Kampf gegen die Besatzer von den Sternen anzuführen.« Der Felide klang dabei so überzeugt, dass Scobee sich fragte, wie sie ernsthaft an der Überlebensfähigkeit dieses stolzen Volkes hatte zweifeln können. Bereits deutlich weniger sorgenvoll bestieg sie zusammen mit ihren Gefährten den Transporter, der sie sicher zu ihrem eigenen Beiboot brachte. Während der Gleiter abhob und mit rasender Geschwindigkeit in den Höhe schoss, fiel Scobees Blick auf die einst verborgene Stadt unterhalb des Tafelbergs. Sie war jetzt in ein gleißendes Licht getaucht, und in ihrem Luftraum kreuzte eine Vielzahl von Fluggeräten. Sie haben den Zusammenbruch ihres Tarnfeldes bemerkt, wurde ihr klar. Hoffentlich überschätzt Tamino sich und seine neu entdeckten Fähigkeiten nicht …
14. Kapitel »Diese Käferartigen, diese Treymor, entführen also regelmäßig Saskanen, um mit ihrer Hilfe ihr Reich vor der Außenwelt abzuschotten, zu verbergen?« John Cloud konnte kaum glauben, was er alles zu hören bekam. Es war einige Stunden her, dass Scobee und die anderen zurückgekehrt waren. Zu erschöpft waren sie zunächst von den Strapazen ihrer Reise gewesen, um sich imstande zu fühlen, die drängenden Fragen ihres Kommandanten angemessen zu beantworten. Kurze Zeit später hatten sie sich dann doch in der Zentrale eingefunden, und Scobee hatte in allen Einzelheiten von ihren Erlebnissen berichtet. »Das erklärt natürlich so manches«, murmelte Cloud. Scobee nickte. An Fontarayn und Ovayran gewandt, fragte er: »Wusstet ihr etwas von der Expedition, die einst aufbrach, um nach den Erbauern der Perlen zu forschen, und die dabei den Treymor in die Hände fiel?« »Wir wussten, dass es vor langer … sehr langer Zeit einmal eine solche Expedition gab. Was mit ihr passierte, haben wir nie herausfinden können.« »Jetzt wisst ihr es«, meinte Cloud lakonisch und fügte hinzu: »Ich glaube, wir alle sind uns im Klaren darüber, dass hier eine Bedrohung von nicht absehbaren Ausmaßen für die gesamte Milchstraße heranwächst. Wenn ich es richtig verstanden habe, geben sich die Treymor nicht damit zufrieden, ihr Reich nur vor äußeren Zugriffen zu schützen. Sie sind dabei, sich immer weiter auszubreiten. Wie ein wucherndes Krebsgeschwür, das bald die gesamte Galaxis überzieht.« »Wir teilen deine Sorge, John Cloud«, ließ Ovayran vernehmen. »Und deshalb sehen wir nur eine Möglichkeit, dieser Bedrohung Herr zu werden. Wir müssen zur Andromeda-Galaxie reisen und
die Gloriden der dortigen CHARDHIN-Perle warnen. Nur gemeinsam können wir etwas gegen die Treymor-Gefahr ausrichten.« »Ausgeschlossen!«, wehrte Cloud kategorisch ab. »Ihr seid euch offenbar nicht so ganz im Klaren darüber, wie groß die Entfernung von hier nach Andromeda ist. Wäre es nicht wesentlich sinnvoller, wenn ihr versuchtet, die Milchstraßen-Perle wieder flott zu bekommen.« »Dazu sehen wir mit den uns derzeit zur Verfügung stehenden Mitteln keine Möglichkeit«, erklärte Fontarayn. »Glaube mir, John Cloud. Dein Schiff ist mächtiger, als du es derzeit noch ahnst. Die Strecke nach Andromeda stellt nicht das geringste Problem dar.« Wieder diese Andeutungen …. dachte Cloud missmutig. Einmal nur möchte ich erleben, dass diese Wesen mit offenen Karten spielen. Er verzichtete jedoch darauf, nachzuhaken, was genau Fontarayn damit gemeint hatte. Allmählich war er so weit, dass er die Natur der Gloriden akzeptierte. Und dazu gehörte eben auch, dass sie für alles, was sie taten, ihre Gründe hatten. Auch wenn sie sich, wenn es um tiefer gehende Erklärungen ging, bislang oft bedeckt hielten. Doch in einem Punkt, das nahm er sich in diesem Moment vor, würde er die Gloriden nicht so einfach vom Haken lassen. Nachdem sich Scobee, Jarvis, Jiim, Algorian und auch Cy fürs Erste in ihre Quartiere zurückgezogen hatten, wandte er sich erneut an Ovayran. »Jetzt mal Hand aufs Herz«, begann er salopp. »Ihr erwartet euch doch etwas ganz Bestimmtes von einer Reise nach Andromeda. Dass ihr nur eure Artgenossen verständigen wollt, um sie auf die Treymor-Bedrohung einzuschwören, kaufe ich euch nicht ab.« Ovayran und Fontarayn sahen einander an. Cloud spürte, dass sie sich auf einer Ebene beratschlagten, die sich seinen Sinnen nicht erschloss. Es dauerte eine Weile, und Cloud fragte sich schon, was beide denn noch alles zu »bereden« hatten, als Ovayran das Wort an ihn richtete. »Wir sind übereingekommen, dass du als Kommandant dieses Schiffes das Recht hast, über unsere weiteren Pläne in Kenntnis gesetzt zu werden.«
»Wie überaus freundlich«, gab Cloud mit schiefem Lächeln zurück, davon ausgehend, dass die Gloriden die Ironie seiner Worten ohnehin nicht zu deuten vermochten. »Wie du ja weißt«, fuhr Ovayran fort, »eröffnet es die Permanenz der Perlen die Möglichkeit, in jede beliebige Epoche vorzustoßen.« »Und weiter …?« »Fontarayn und ich haben uns zu dem Entschluss durchgerungen, mit Hilfe der Andromeda-Perle in eine Zeit vor jener Gloriden-Mission, die alles auslöste, zu reisen. Wenn es uns gelingt, die Gloriden rechtzeitig vor der Treymor-Gefahr zu warnen, wird es gar nicht erst zu einer Entvölkerung der Milchstraßen-Perle, einem heimlichen Imperium oder einer Unterjochung der Saskanen kommen.« Cloud schwieg einen Moment lang, ließ sich die Worte des Gloriden durch den Kopf gehen. Was er hörte, klang plausibel. Obwohl er sich bewusst war, dass es mit gewissen Risiken verbunden war, in die Vergangenheit einzugreifen. Andererseits schienen die Gloriden von ihrer Idee überzeugt und wussten sicher auch um die Gefahren. »Es klingt verrückt …«, sagte er nachdenklich, obwohl ihm die Thematik des Zeitreisens alles andere als fremd war. Immerhin war er selbst durch Darnoks Manipulationen in eine weit entfernte Zukunft – seine jetzige Gegenwart – geschleudert worden. »Aber gerade deshalb könnte es funktionieren.« Die Gloriden schienen über seine Reaktion erfreut zu sein. »Über eines jedoch«, fügte Ovayran hinzu, »müssen wir uns bewusst sein. Wer auch immer die Milchstraßen-Perle entvölkerte, es können nicht die Treymor gewesen sein.« »Können sie nicht?«, fragte Cloud erstaunt. Er war bisher davon ausgegangen, dass auch der Überfall auf die CHARDHIN-Perle nur auf das Konto der Käferartigen gehen konnte. »Nein«, bekräftigte Fontarayn, »selbst mit Hilfe der von den Gloriden erbeuteten Technik wären sie nicht in der Lage, den Ereignishorizont des Schwarzen Loches zu überwinden. Das kann nur jemandem gelingen, der sehr viel mächtiger und versierter im Umgang mit der benötigten Hochtechnologie ist.« Cloud nickte nachdenklich. Was die Gloriden da sagten, klang
schlüssig. Aber wer sonst, welches andere Machtgebilde im Universum wäre dazu in der Lage gewesen? Die geheimnisvollen Erbauer der Perlen etwa, deren Identität nicht einmal den Gloriden bekannt zu sein schien? Auch wenn diese Frage bis auf weiteres unbeantwortet bleiben würde, war Cloud davon überzeugt, dass sie diesbezüglich noch einige Überraschungen erwarteten. »Entschuldigt mich jetzt bitte«, sagte er schließlich und stand auf. »Es gibt da zwei an Bord, die ich zuletzt vernachlässigt habe und die mir schon seit geraumer Zeit etwas zeigen wollen …« Ohne weitere Erklärung verließ er die Zentrale und machte sich auf den Weg in den hydroponischen Garten.
Epilog »Was ist das?« Vierzehn Objekte lagen aufgereiht vor Cloud auf einem Tuch, das vermutlich Jelto im Gras ausgebreitet hatte. Aylea schob sich zwischen die bizarren Gegenstände und den Commander der RUBIKON. »Sesha beteuert«, kam sie mit hoher Stimme einer Antwort des Florenhüters zuvor, »dass die Dinge nicht auf die RUBIKON gehören und hier niemals entstanden. Da unsere KI auch erst seit kurzem in der Lage ist, sie überhaupt zu orten, gibt es nur eine Möglichkeit.« »Welche?«, fragte Cloud, während er sich eingestand, dass die Objekte, so unterschiedlich sie auch aussahen, ihn faszinierten. Die überwiegende Zahl schien aus unbekanntem Metall zu bestehen. »Boreguir muss sie damals hier versteckt … und ebenso getarnt haben wie die Sternenkarte, aus der wir die Position seiner Heimatwelt entnahmen … oder die Satoga. Egal …« »Du meinst, er hat all das hier vor uns versteckt? Warum? Und woher sollte er es gehabt haben?« »Aus der geborgenen Marsstation«, mischte sich nun auch Jelto im Brustton der Überzeugung ein. »Das ist die einzige Möglichkeit, wie meine kleine Freundin hier meinte.« Cloud ließ sich die Spekulation durch den Kopf gehen. Schließlich nickte er. »Was erwartet ihr von mir?«, fragte er. »Dass wir sie behalten dürfen!«, rief Aylea leidenschaftlich. »Sesha?« Cloud blickte zur Decke, als würde sich die KI dahinter verbergen. »Bislang konnte kein Bedrohungspotenzial der Objekte ermittelt werden. Ich habe sie gescannt. Aber ich vermag auch nicht zu sagen, worum es sich bei den … wie nanntet ihr sie, Aylea? Schätzen? Nun
also, bei den Schätzen handelt. Ich schlage daher ihre vorsorgliche Vernichtung vor.« Cloud schwieg einen Moment lang, studierte das erschrockene Gesicht des sommersprossigen Mädchens von der Erde. Dann zuckte er mit den Schultern und sagte tadelnd: »Wie fantasielos. Kein Wunder, dass die Foronen den Kürzeren gegen uns gezogen haben … Sie waren es doch, die dich programmierten, Sesha, oder?« Auch hier und jetzt war nicht damit zu rechnen, dass die KI Ironie und verborgenen Spott erkennen würde. »Natürlich. Aber ich –« Cloud beendete das drohende Geplänkel mit einer brüsken Handbewegung und den Worten: »Gewährt! Die Bitte, meine ich. Behaltet die Sachen, Aylea, Jelto, wenn euch so viel daran liegt. Aber du, Sesha, wirst ein wachsames Auge darauf haben. Beim geringsten Anzeichen einer Bedrohung darfst du deinen Vorschlag in die Tat umsetzen – aber nur dann!« Auf Ayleas Gesicht bildete sich ein erleichtertes Lächeln. Hörbar atmete sie aus und auf. Und dann sprang sie Cloud um den Hals. Den laut schmatzenden Kuss auf die Wange konnte er nicht mehr verhindern, und es war fraglich, ob er es überhaupt gewollt hätte. »Danke, Captain!«, jauchzte die Zehnjährige, und auch Jelto zeigte auf seine Art, dass ihm die Entscheidung gefiel. Seine Kirlianaura entflammte wie lange nicht mehr. Bis Aylea ihn argwöhnisch anstarrte. Und er begriff, dass er den Gloriden in diesem Moment für den Geschmack seiner kleinen Freundin wohl etwas zu ähnlich schaute … ENDE
Glossar 28 Jahre alt, 1,84 m groß, schlank, durchtrainiert. Sohn von Nathan Cloud, der an der ersten Marsmission teilnahm. Dunkelblond, mittellanges Haar, blaugraue Augen, markante Gesichtszüge, ausgeprägte Wangenknochen. Nach dem Fund und der Inbesitznahme der RUBIKON – eines Raumschiffs der Foronen, das von diesen SESHA genannt wurde – ist Cloud der Kommandant des Schiffes. Scobee Weibliche in-vitro-Geborene. 1,75 m groß, violettschwarze, schulterlange Haare, schlank, sehr attraktiv, Anfang zwanzig. Statt Brauenhärchen trägt sie verschnörkelte Tattoos über den Augen, deren Farbe je nach Umgebungslicht und Bedarf variieren kann, der Grundton ist grün. Bewusst umschalten kann Scobee ihr Sehvermögen auf Infrarotsicht. Jarvis Ehemaliger Klon. Nach dem Tod des ursprünglichen Körpers wechselte sein Bewusstsein in die Rüstung eines Foronenführers, die aus Nanoteilen besteht. Sie ist wandelbar und kann von Jarvis beliebige Gestalt verliehen bekommen, er bevorzugt aber ein Erscheinungsbild, das an seinen ursprünglichen Körper erinnert und dessen Mimik er immer besser zu beherrschen lernt. Er ist ca. 1,85 m groß, hat ein schmales, energisches Gesicht und angedeutete streichholzkurze »Haare«. Florenhüter Jelto Ein Klon mit »Kirlianhaut«, genetisch prädestiniert, um mit jedweder Pflanze – ganz gleich, ob auf der Erde ansässig oder auf einem fremden Planeten – mentale Verbindung aufJohn Cloud
zunehmen. Jelto ist eine Art lebendiger »grüner Daumen«; er besitzt eine nicht mehr zu übertreffende Affinität zu Pflanzen und vermag sich optimal um ihre Bedürfnisse zu kümmern. Jelto hütete eine gewaltige Parzelle Wald, der das »Getto« umgibt und – wie sich herausstellt – offenbar nur dazu dient, jeden Fluchtversuch aus der früheren Metrop Peking zu vereiteln. Denn dieser Wald besteht zur Hauptsache aus außerirdischer Vegetation, die durchaus fleischliche Gelüste kennt … Mittlerweile ist Jelto vollwertiges Mitglied der RUBIKON-Crew, kümmert sich dort um den Hydroponischen Garten. Aylea Im »Paradies« einer irdischen Metrop (Metropole) aufgewachsene 10-Jährige – die unversehens die Schattenseite der Gesellschaft kennen lernte und ins so genannte »Getto« abgeschoben wurde, wo die Rechtlosen der neuen Menschheit ihr Dasein fristen. Dort traf sie auf John Cloud und gelangte auf Umwegen an Bord der RUBIKON, wo sie seither das Nesthäkchen ist. Besonders angefreundet hat sie sich dort mit Jelto. Fontarayn Ein geheimnisvolles Lichtwesen, das an Bord der RUBIKON gelangte, nachdem sein goldenes Kugelraumschiff von einer Flotte kleiner grüner Schiffe zerstört wurde. Fontarayn ist ein Gloride, und sein »Dank« für die Rettung besteht darin, die Kontrolle über das Raumschiff an sich zu reißen und die RUBIKON hinter den Ereignishorizont des Super Black Holes im Milchstraßenzentrum zu lenken, wo ein technisches Wunder auf die Crew wartet: die CHARDHIN-Perle. Neuerdings haben die Menschen auch Kontakt zu einem zweiten Gloriden: Ovayran. Die Perle CHARDHIN So benannt vom Gloriden Fonta-
rayn: Eine golden schimmernde, kugelförmige Station, die hinter dem Ereignishorizont des Milchstraßen-Super-Black-Holes verankert ist. Ihr Durchmesser beträgt gigantische hundert Kilometer. Fontarayns Volk, die Gloriden, sind quasi das »Wartungspersonal« dieser Perlen – von denen es unzählige in unzähligen Galaxien gibt. Der Clou jedoch ist, dass diese Stationen, deren Erbauer nicht einmal die Gloriden zu kennen scheinen, permanent existieren – vom Anbeginn der Zeiten bis … ans Ende aller Zeiten? Vieles, was diese Hinterlassenschaft eines uralten Volkes betrifft, ist noch ungeklärt. Sicher ist jedoch: Die Milchstraßen-Perle scheint aus dem Netz der übrigen Chardhin-Stationen herausgefallen zu sein. Und sie wurde von Unbekannten, die spezielle »Gloriden-Fallen« hinterließen, offenbar gezielt ausgeschlachtet und entvölkert.
Vorschau Die Satoga-Kriege von Manfred Weinland Die Artefakte an Bord der RUBIKON, die offenbar Boreguir versteckte, werden die Besatzung noch länger beschäftigen. Vorerst aber muss Cloud, muss die gesamte Crew eine wichtigere Entscheidung treffen. Die Gloriden an Bord wollen nach Andromeda und die dort lebenden CHARDHIN-Verwalter vor dem warnen, was sich in der Milchstraßen-Perle und im dortigen galaktischen Zentrumsgebiet zusammenbraut. Aber Andromeda ist weit. Die Reise dorthin würde Monate in Anspruch nehmen. Und: ausgerechnet Andromeda! Würde es dort zu einer Wiederbegegnung mit den Satoga kommen, die sich dort nach eigenem Bekunden friedlich ansiedeln wollten? Friedlich …?