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Hagenbeck: Von Tieren und Menschen
Hagenbeck-Erinnerungen
Carl Hagenbeck
Von Tieren und Menschen Erlebnisse u...
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Hagenbeck: Von Tieren und Menschen
Hagenbeck-Erinnerungen
Carl Hagenbeck
Von Tieren und Menschen Erlebnisse und Erfahrungen
Deutsche Autobiographien
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I Jugenerinnerungen aus Alt-Hamburg Wenn ich heute meinen Blick über die weiten Gründe des Stellinger Tierparks schweifen lasse und zwischen den von Künstlerhand geschaffenen Felspartien, grünen Matten und glitzernden Seenspiegeln die Tiere und Menschen aller Erdteile betrachte, so will es mir wie ein Traum erscheinen, daß dies alles einstmals seinen Ursprung hatte in einem – großen Waschbottich, ausgestellt Anno 1848 in der Hamburger Hafenvorstadt St. Pauli. Im März dieses Sturmjahres fingen die im Dienste meines seligen Vaters fahrenden Fischer in der Elbmündung sechs Seehunde in ihren Netzen und lieferten diese, wie es der Kontrakt erforderte, mit dem Fang in unserer damaligen Fischhandlung in der Petersstraße ab. Zu dem, was nun folgte, kann man wirklich sagen: Kleine Ursachen, große Wirkungen! Mein Vater, Gottfried Clas Carl Hagenbeck, kam nämlich auf den Gedanken, die Tiere gegen Geld sehen zu lassen, und stellte sie zu diesem Zwecke in zwei großen Holzbottichen auf dem Spielbudenplatz in St. Pauli aus. Einen Schilling (acht Pfennig) Eintrittsgeld zahlten die schaulustigen Hamburger und fremden Segelschiffer, ohne zu ahnen, daß sie damit
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an der Wiege eines weltumspannenden Tierhandels und des Stellinger Tierparkes Pate standen. Mit dieser Schaustellung wurde ein ganz gutes Geschäft gemacht. Sie war die erste Schau ihrer Art für meinen Vater, aus der sich das ganze Tiergeschäft später entwickelte. Von einem Berliner Geschäftsfreunde wurde meinem Vater dann nahegelegt, die Seehunde auch in der Hauptstadt zu zeigen – für den heutigen Leser eine sonderbare Idee! Damals handelte es sich aber wirklich um eine Seltenheit, und so reisten die Seehunde schleunigst nach Berlin, wo sie in Krolls Garten ausgestellt wurden. Trotz der politischen Gärung war das Geschäft gut. Als jedoch die revolutionäre Bewegung täglich zunahm, wurde es meinem Vater zu ungemütlich. Er verkaufte die über Nacht berühmt gewordenen sechs Seehunde an einen Berliner Unternehmer, leider auf Kredit, denn dieser Mann hatte beklagenswerterweise ein sehr schlechtes Gedächtnis und suchte mit den Seehunden das Weite, ohne meinem Vater in Hamburg die Rechnung zu bezahlen. Das war der Anfang des Tierhandels. Es war nicht so schlecht, wie es vielleicht aussieht, denn mein Vater hatte durch die Schaustellung in Hamburg und Berlin ein hübsches Stümmchen erübrigt. Man muß nun nicht glauben, daß der Gewinn bei den Schaustellungen und Tierankäufen, die jetzt folgten, allein eine Rolle spielte. Es kam bei meinem
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Vater eine angeborene Liebe für die Tiere hinzu. Ein Tiergeschäft, sei es klein oder groß, ist ohne Passion für die Tierwelt gar nicht denkbar. Mein Vater war ein ganz besonders ausgesprochener Tierfreund. Das erhellt schon daraus, daß er sich stets Ziegen, eine Kuh und neben anderen Haustieren einen Affen und einen sprechenden Papagei hielt. In den Verschlägen, die zum Aufbewahren der Rauchespäne dienten, stolzierten außerdem ein Paar Pfauen. Die Tierschau war eigentlich schon fertig, noch ehe jemand an ein Geschäft mit Tieren dachte. Von meinem Vater muß die Liebe zur Tierwelt sicherlih durch Vererbung auf mich übergangen sein. Wenigstens hat sich die Tierneigung in frühester Jugend recht drastisch geäußert. Als zweijähriger Knirps brachte ich eines Tages in meiner Schürze zum Schrecken meiner guten Mutter acht lebendige junge Ratten ins Haus, die mir natürlich sofort abgenommen wurden. Resultat: Ein fürchterliches Geschrei, das erst verstummte, als mir mein Vater dafür ein paar junge Meerschweinchen zum Spielen gab, denn auch von diesen Tierchen hielt er sich eine ganze Zucht zu seinem besonderen Vergnügen. Etwas später erhielt ich einen lebendigen Maulwurf geschenkt. Als Burg für den neuen Einwohner wurde eine große Tonne voll Sand geschaufelt. Die Hauptsorge war aber auch hier die Magenfrage! Allabend-
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lich pilgerte ich mit meinen älteren Geschwistern zum Heiligengeistfeld, um Regenwürmer zu suchen, und hiermit hielten wir den Maulwurf auch über zwei Monate am Leben. Leider vergaßen wir, während eines schweren Gewitterregens die Tonne zuzudecken, und so ertrank der arme Kerl in seiner eigenen Burg. Dies war die erste kleine Lehre, die ich bezüglich der Behandlung von Tieren empfing. Der Unfall ging meinem kleinen Herzen sehr nahe, und, wenn auch unbewußt, habe ich wohl aus ihm die Lehre zu größerer Vorsicht gezogen. Als zwölfjähriger Junge erhielt ich ein halbes Dutzend Enten, deren Gefieder sehr schmutzig war. Ich pumpte darum ein leeres Seehunbassin halb voll Wasser, ergriff meine Enten und setzte sie eine nach der anderen ins Bad, wo sie sich vergnügt tummelten. Wie groß aber war mein Erstaunen, als ich nach etwa zweieinhalb Stunden zurückkehrte und keine Enten mehr vorfand! Mit Hilfe eines alten Wärters suchte ich das ganze Grundstück ab – ohne Erfolg. Da verstieg sich der Wärter zu dem für mich damals sehr merwürdigen Ausspruch: Vielleiht sind die Enten ertrunken. Und richtig, tot fanden wir alle sechs still auf dem Boden des Bassins. Wegen des starrenden Schmutzes hatte das Gefieder nicht genügend durch die natürlichen Drüsen des Körpers eingefettet werden können. Das Gefieder sog sich voll Wasser, und
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seine Schwere zog die Tiere in die Tiefe. Man hätte sie zunächst nur in ganz seichtes Wasser setzen dürfen. Mein Vater schalt zwar sehr, jedoch hatte es für mich das Gute, mir eine weitere Lehre für die Zukunft zu geben. Mit dem Seehundgeschäft war der Stein ins Rollen gekommen. In den nächsten Jahren wurden mit Erfolg neue Seehundegefangen, die mein Vater aber nicht mehr ausstellte, sondern an reisende Schausteller und Tierschaubesitzer der damaligen Zeit weiterverkaufte. Von diesen wurden die unschuldigen Tiere auf Messen und Märkten als »Seejungfern« oder gar als »Walrosse« vorgeführt – unter dem taten es diese Leute nicht. Im Juli 1852 wurde ein ausgewachsener Eisbär angeboten, den Kapitän Main mit seinem Walfänger »Der junge Gustav« aus Grönland nach Hamburg gebracht hatte. Für ein solches Ungetüm fand sich damals, als erst drei zoologische Gärten in Deutschland existierten, so leicht kein Käufer. Unternehmungsgeist gehörte schon dazu, in diesen Eisbären sozusagen Geld hineinzustecken. Mein Vater zahlte dem Kapitän nach langem Handeln die geforderten 350 preußischen Taler. Zufällig gelangten um dieselbe Zeit eine gestreifte Hyäne sowie einige andere ebenfalls zu Schiff angekommene Tiere und Vögel in seinen Besitz, und diese ganze Tierschau wurde alsbald auf dem Spielbudenplatz zu St. Pauli in dem
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damaligen Hühnermärderschen Museum gegen vier Schilling Eintrittsgeld ausgestellt. Nun muß man nicht denken, daß es damals genügte, eine Anzeige in die Zeitung zu setzen und auf das Publikum zu warten. I wo! Ein »Rekommandeur« wurde vor die Tür gestellt, und was für einer! Der damals sehr bekannte Ausrufer Barmbecker wurde in einen roten Frackanzug gesteckt, wie ihn die dänischen Postbeamten als Uniform trugen. In die Hand bekam er ein riesiges Sprachrohr, durch das er in die staunende Menge hineintutete, daß hier der Rieseneisbär aus Grönland, der Schrecken der Eskimos, gegen nur vier Schilling lebendig zu besichtigen sei. Solche Reklame mußte man zu jener Zeit machen, denn der Spielbudenplatz mit seinen Theatern, Karussells und Schaubuden verlangte starke Wirkungen. An diese Schaustellungen schlossen sich dann alljährlich die Vorführungen auf dem »Hamburger Dom« an, einem Weihnachtsmarkt, der im vorigen Jahrhundert seine ersten Anfänge in den Vorhallen der Hamburger Domkirche gehabt hatte. Deutlich sehe ich noch den mit verschneiten Buden bedeckten Großneumarkt vor mir, wie er sich zur Weihnachtszeit ausnahm. Die Hände in den Taschen, vor Kälte von einem Fuß auf den anderen hüpfend, drängte sich das Jugendvolk vor den lockenden Auslagen mit Zuckerwerk, Spielsachen und duftendem Schmalzgebäck,
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aber mehr noch vor den mechanischen Theatern, Wachsfigurenkabinetten und Buden mit menschenfresserischen Wilden und seltenen Tieren. Auf dem alten Dom konnte man noch allen Ernstes die »Meerweibchen« und ähnliche Fabeltiere leibhaftig zu sehen bekommen. Vor den Buden gingen die Ausrufer, »Rekommandeure« genannt, hastig auf und ab, denn auch sie froren, und ließen laut ihre einladenden Stimmen erschallen. Einer von ihnen war der »Schauspieler« Schwanenhals oder, wie er sich selbst nannte, Swonenhals, ein origineller Mensch, der sich für alle möglichen Dienstleistungen anwerben ließ. Jetzt also, an einem Winterabend des Jahres 1853, schritt Swonenhals auf dem Großneumarkt vor einer Schaubude auf und ab und rief immer wieder die denkwürdigen Worte in das staunende Publikum: »Immer hereinspaziert, meine Herrschaften! Hier ist zu sehen: das größte Schwein der Welt! So etwas muß man gesehen haben, das ist kolossal, das ist unglaublich, das ist noch nicht dagewesen! Das Riesenschwein, meine Herrschaften, persönlich hier in Augenschein zu nehmen. Erwachsene zahlen einen Schilling, Kinder die Hälfte!« – Diesen Text unterstützte ein mächtiges Schild, auf dem das Schwein, so groß wie ein Nilpferd, abgebildet war. Was aber das merkwürdigste an dieser Bude auf dem alten Hamburger Dom für mich ist, das ist die
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Tatsache, daß auch jenes primitive Unternehmen den Namen Hagenbeck trug. Der Unternehmer, der das Riesenschwein auf dem Großneumarkt einem verehrlichen Publikum vorführte, war mein lieber Vater, der das Tier, das in der Tat 900 Pfund wog, von einem alten Tierarzt gekauft hatte. In jenen Jahren pflegte mein Vater die Domzeit nie vorübergehen zu lassen, ohne irgendeine seltene oder merkwürdige Erscheinung aus der Tierwelt auszustellen. Es kamen dabei freilich die ergötzlichsten, heute ganz unmöglich gewordenen Täuschungen vor. Derartige Scherze durfte man sich damals jedoch ohne weiteres erlauben. Man war in der Zoologie noch nicht so gut bewandert wie heute, holte man doch seine Kenntnisse aus umherziehenden Tierschauen, die sich noch ganz andere Unterschiebungen gestatteten. Doch darf man aus dem kleinen Domschwindel, der im lustigen alten Hamburg nichts bedeutete, keine falschen Schlüsse ziehen. Existierte doch auf dem Dom die berühmte Bude »Hamburg bei Nacht«, in die man den Besucher gegen einen Schilling Entgelt vorn hereinließ, um ihn hinten einfach wieder auf die Straße hinauszulassen: Da hatte er Hamburg bei Nacht! In meiner Erinnerung steht die Gestalt meines Vaters als die eines aufrechten, scharf umrissenen Charakters. Er war ein Mann von unerschütterlichen Grundsätzen und großen Gesichtspunkten. Danker-
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füllt muß ich sagen, daß zu allem, was erreicht worden ist, er den Grundstein gelegt hat. In seinem Charakter paarte sich großer Lebensernst mit einer freundlichen Umgangsform. Hinter äußerer Strenge, die mein Vater in der Erziehung seiner Kinder beobachtete, verbarg sich eine große Herzensgüte. Der Stock spielte in der Erziehung keine Rolle, schon durch das Vorbild des Vaters, der ganz aus Tätigkeit, Pünktlichkeit und Sparsamkeit zusammengesetzt war, lernten wir Kinder, in seinem Geiste zu leben. Nur ein einziges Mal entsinne ich mich, Prügel bekommen zu haben; der Vater hatte mich rufen lassen, und ich war trotzdem nicht rechtzeitig zu Tisch gekommen. Seitdem gewöhnte ich mich an strenge Pünktlichkeit. Ganz besonders wurden wir zum Sparen angehalten; nichts, was irgendwie von Wert sein konnte, durfte verlorengehen. So wurden zum Beispiel die Nägel, die sich beim Öffnen der Kisten krumm bogen, wieder gerade geklopft und noch einmal verwendet. Als eine Art Talisman trug mein Vater das erste größere Geldstück, das er in seiner Jugend verdient hatte, stets in der Tasche, und als ein teures Vermächtnis ist dieses alte Geldstück jetzt mein ständiger Begleiter. Für die Arbeit, die wir Kinder schon frühzeitig im Geschäft leisten mußten, erhielten wir eine bestimmte Entlohnung, die jedes Kind eigenhändig in eine tönerne Sparbüchse stecken mußte. Zu Weihnachten
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wurden dann diese Spardosen zerschlagen und das Geld in Silber und auch Golddukaten umgewechselt. Die meinigen besitze ich heute noch. Wir waren drei Knaben und vier Mädchen. Meine Mutter starb im Frühling 1865. Durch eine zweite Ehe, welche mein Vater später wieder einging, besitze ich noch zwei Halbbrüder, John Hagenbeck, der später nach Colombo auf Ceylon auswanderte, und Gustav. Meine ganze arbeitsreiche Knabenzeit hat sich zwischen dem Fischgeschäft, das aus kleinen Anfängen zu beachtlicher Größe erwuchs, und dem beginnenden Tierhandel abgespielt. In die Schule ging ich nur, wenn Zeit dazu vorhanden war, höchstens drei Monate im Jahre. Die Elementarweisheiten wurden mir in einer Mädchenschule, bei Mutter Feind in der Friedrichstraße auf St. Pauli, eingetrichtert. Erst von meinem zwölften Jahre ab erhielt der Schulbesuch mehr Regelmäßigkeit. Mein Vater verschloß sich keineswegs dem Segen der Bildung, aber er stellte ganz im heutigen Geiste den frühzeitigen praktischen Erwerb ebenso hoch. Er pflegte zu sagen: Pasters süllt je nich warden, aber reeken und schriben mut je könen! Als später das aufblühende Geschäft Verbindung mit Frankreich und England anknüpfte, bewährte sich der weite Blick meines Vaters, und da hieß es: Dat nützt nix, englisch und franzeusch mußt du oock noch leern. In den wenigen noch übrigbleibenden Schuljah-
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ren wurde dann der Grund in den höheren Fächern und auch in Sprachen gelegt, allein in der Hauptsache blieb der Erwerb derjenigen Kenntnisse, die zu einer ausgebreiteten Geschäftsbetätigung nötig sind, jener hohen und höchsten Schule vorbehalten, die man praktisches Leben nennt. Die Haupttätigkeit im Fischgeschäft fiel in den Sommer. Damals kamen noch massenhaft die jetzt brandteuren Störe auf den Markt, und mein Vater war einer der Hauptabnehmer. Er hatte sogar eine Anzahl von Fischern gegen festes Gehalt in seinem Dienst, die alles, was sie fingen, kontraktlich abliefern mußten. Von März bis Juli zogen die Fische aus der Nordsee elbaufwärts, um zu laichen. Wir kauften und verarbeiteten in jeder Saison 4000–5000 Störe. Unter Verarbeitung ist die Gewinnung des Kaviars und das Räuchern des Fleisches zu verstehen. Ein Pfund geräuchertes Störfleisch galt damals bereits als teuer, wenn es nach heutigem Gelde mit zweiunddreißig bis vierzig Pfennig bezahlt werden mußte. Ich stand schon damals als zehnjähriger Junge mitten im Geschäft. Oft bin ich mit den Fischkuttern hinausgefahren zum Fang und habe mit meinen Knabenhänden die mit harten Schuppen gepanzerten Riesenfische aus den Netzen herausziehen helfen. Den Stören wurde dann ein Tau durch das Maul gezogen, so daß sie schwimmend dem Boote folgen mußten. Einmal fin-
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gen wir in der Nähe von Glückstadt ein Riesenexemplar, welches die stattliche Länge von dreizehn Fuß1 und eine entsprechende Stärke besaß. Das Einholen des Kolosses, dem die Fischer einen Haken in den Rücken schlugen, ward zu einem Kampf. Die Beute entpuppte sich als ein Rogenstör. Als wir ihm den Bauch aufschlitzten, quollen in einer großen schwarzen Walze etwa zweieinhalb Eimer Kaviar hervor, der damals mit zwölf preußischen Talern je Eimer (15 Liter) bezahlt wurde. Auf die frühen Jagdfahrten ist vielleicht meine Vorliebe für die See und die sportliche Hochseefischerei zurückzuführen, die mich noch kürzlich an den Gestaden des Mittelmeeres bei einer Haifischjagd beinahe das Leben gekostet hätte. Von Mitte Juli ab begannen die Aale den Stören die Herrschaft streitig zu machen. In dieser Zeit, bis etwa Ende September, erhielt mein Vater große Aalsendungen aus Jütland, zuweilen wöchentlich bis zu 10000 Pfund, die in Säcken verpackt waren. Bei dem Reinigen und Verarbeiten der Fische mußten wir Kinder alle mit heran. Auch im Herbst und Winter konnten wir die Hände keineswegs in den Schoß legen. Heringe und Sprotten waren auf Eisendrähte zu ziehen. Mir kribbelt es noch in den Fingern, wenn ich an diese herrliche Arbeit zurückdenke. Man mußte die Fische nämlich aus einem eisigen Pökel, worin sie eingesalzen waren, herausnehmen und auf ebenso
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kalte Eisendrähte aufreihen. Da gab es manchmal verfrorene Hände. Aber Spaß machte die Sache uns Kindern doch. Es wurde sogar um die Wette gearbeitet, denn für jede zehn vollgezogenen Drähte erhielten wir einen Hamburger Schilling als Arbeitslohn. Von diesen Jugenderinnerungen kann ich unmöglich scheiden, ohne zweier bekannter, ja damals berühmter Hamburger Originale zu gedenken, die seltsamerweise mit unserm Hause ebenso verwachsen sind wie der Hamburger Dom. Der eine war der alte »Aalweber«, einer unserer treuesten Kunden. Ich sehe ihn noch vor mir mit seiner hellen Jacke, seiner roten Weste und auf dem Kopf den hohen weißen Filzhut. Am Arm trug er stets den von einer Serviette bedeckten Korb mit leckeren Räucheraalen. Es gab in Hamburg keinen Menschen, der nicht einmal am Lämmermarkt- oder Waisengrüntage vor Aalwebers Bude in der Kirchenallee zu St. Georg, wo später das Deutsche Schauspielhaus erbaut wurde, erschienen oder sonst zu dem Genuß Aalweberscher Aale gekommen wäre. Wohl niemals hat sich irgendein Straßenverkäufer, der es verstand, in einem unendlichen Singsang von originellen Knüppelversen seine Ware anzupreisen, größerer Popularität erfreut. In einem Theater der Steinstraße brachte man Aalweber, von einem jungen Schauspieler treffend dargestellt, auf die Bühne, und das Stück – es hieß »Gustav oder der Maskenball« –
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hatte einen ungeheuren Zulauf. Das zweite Original war Dannenberg. Es wird mir schwer, diesen ganz seltsamen Menschen zu schildern, obschon ich ihn in meiner Knabenzeit so genau kennengelernt habe wie wenige. Dannenberg wohnte im zweiten Stock unseres Hauses in der Petersstraße, und ich hatte natürlich stets freien Eintritt bei ihm. Schön war der berühmte Mann gerade nicht, denn sein von einem schwarzen Backenbart umrahmtes Gesicht wurde durch eine eingesunkene Nase entstellt. In den Ohren trug er kleine Ringe, wie man es heute noch bei Seeleuten sieht. Dem unschönen Äußeren stand aber ein um so anständigeres Innere gegenüber. Es gab keine Arbeit, die dieser Mann, der eigentlich von Beruf Schauspieler war, nicht für Geld und gute Worte angegriffen hätte. Wenn ein Kind oder ein Hund sich verlaufen hatte, wenn irgendwo frisch eingetroffene Eßwaren angekommen waren, wenn etwas versteigert wurde: Dannenberg kündigte alles an. Gab es nichts auszurufen, dann sah man den Tätigen Holz zerkleinern, beim Umzug helfen oder allerhand andere Verrichtungen besorgen. Eine besondere Aushilfestellung hatte Dannenberg bei meinem Vater. Natürlich mußte er auch hier zunächst den Ausrufer spielen: Hört, Lüd! Frisch gerökerte warme Neesen! Bi Hogenbeck in de Peterstroot giwt dat acht dicke, fette, warme Neesen für eenen
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Schilling! Zu anderen Zeiten hatte dieser »Mann für alles« uns drei älteste Kinder zu beaufsichtigen. Die Glanzzeit Dannenbergs begann aber erst nachmittags, denn nun verwandelte sich der Ausrufer und Hilfsarbeiter in den Theaterdirektor, dessen problematischer Ruhm selbst in die Annalen der Hamburger Theatergeschichte Eingang gefunden hat. Wenn Dannenberg, als Ritter der Vorzeit gewandet, im blanken Harnisch, den Helm auf dem Haupte und das gewaltige Schwert an der Seite, die versunkene Nase durch rote Schminke verdeckt, vor seinem Elysium-Theater auf St. Pauli stand – dann war er nicht wiederzuerkennen! Man entdeckte den St. Paulianer Ausrufer in ihm erst wieder, wenn er den Mund öffnete und das Publikum, diesmal in gewähltem Hochdeutsch, seine Stimme immer drohender steigernd, zum Besuch der großen Tragödie einlud: Eintrittsgeld erster Platz vier, zweiter Platz zwei und letzter Platz, ich schäme mich fast, es zu sagen, nur einen Schilling! Mehr als einmal habe ich als Galeriebesucher den Aufführungen beigewohnt und die heitersten Szenen miterlebt. Mitten in die hochtrabendsten Ritterdialoge sausten zuweilen vom hohen Olymp herab faule Äpfel und Eier auf die Bühne. Während die Vorstellung unterbrochen wurde, stürmten im Laufschritt die Schauspieler zur Galerie, um die Übeltäter an die Luft zu setzen. Das war also Dannenberg, und wer mehr über ihn hören will, findet
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eine gute Charakteristik und die heitersten Episoden in Borcherdts Werk »Das lustige alte Hamburg« verzeichnet. Im Herbst des Jahres 1858 entsprang aus einem Wagen der damals bekannten Kreutzbergschen Tierschau auf dem Transport nach Hamburg der Löwe »Prinz«, ein prächtiges ausgewachsenes Tier. Die erste Tat war die, daß er dem Pferde, welches den Wagen zog, an die Gurgel sprang und sich festbiß. Ein kaltblütiger Bursche, welcher den Wagen begleitete, der später unter dem Ehrentitel »Der Löwe von Hamburg« bekannt gewordene Heinrich Rundshagen, warf dem Raubtier eine Schlinge um den Hals und erdrosselte es. Merkwürdigerweise zeigte man später nicht nur den ausgestopften Löwen für Geld, sondern auch Rundshagen, dem sein Heldentum zu Kopf gestiegen war, ließ sich für Geld sehen. In dem Dezember also, der auf diese weltbewegende Begebenheit folgte, ersann mein Vater eine ganz großartige Schaustellung für den Hamburger Dom, die heute natürlich keine Katze anlocken würde. Mit Hilfe des alten Schusters Baum – auch er war so ein Original des alten St. Pauli – wurde eine Nachahmung des Löwenrittes fabriziert und in einer Bude gegen einen Schilling Eintrittsgeld gezeigt. Das ganze Kunstwerk bestand aus einer alten ausgestopften Löwenhaut, die am Nacken eines noch betagteren ausgestopften
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Schimmels befestigt wurde. Beide Tiere entstammten dem Hühnermärderschen Museum, nur die Stellung wurde etwas umgeändert, und die Blutspuren am Nakken des armen Schimmels stellte man durch aufgetropften Siegellack her. Dieses Unternehmen erwies sich als außerordentlich einträglich. Dem Publikum gruselte vor Entsetzen, und der Löwenritt war wohl das beste Weihnachtsgeschäft, das mein Vater auf dem Dom bis dahin gemacht hatte. Während einer anderen Domzeit kam wieder einmal das beliebte Riesenschwein dran. Dieses Mal war es ein großer Eber der englischen Yorkshire-Rasse, die bekanntlich nur schwach mit Borsten geschmückt ist. Dadurch kam einer der Arbeiter meines Vaters auf die originelle Idee, das Tier als eine ganz besondere Merkwürdigkeit, nämlich als »nacktes Riesenschwein« zu zeigen. Zu diesem Zweck wurden dem Eber die letzten Haare abrasiert. Er quiekte jämmerlich dabei, denn er war vorher nicht eingeschmiert. Auf dem Schilde, das oberhalb der Bude angenagelt wurde, befand sich natürlich ein Porträt des glattrasierten Ebers und darunter die schönen Verse: Oft sah man schon ein großes Schwein, Doch niemals diesesgleichen. Drum tret ein jeder hier herein, Die Größe zu vergleichen.
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Große Reichtümer wurden bei derartigen Schaustellungen nicht gewonnen. Doch blieben immerhin einige hundert Mark übrig, die als Zuschuß zu den Winterspesen höchst willkommen waren. Langsam begann nun neben der Fischhandlung das Tiergeschäft sich zu entwickeln, wobei allerdings ein schriftlich angebotener Ara2 große Verlegenheit verursachte, denn wenn es über die heimischen Fische hinausging, so waren unsere zoologischen Kenntnisse erst im Werden. Auf kleine Geschäfte folgten größere, und die meisten waren mit Reisen verbunden, an denen ich schon als Knabe und Gehilfe meines Vaters teilnahm. Von da ab hat sich mein halbes Leben sozusagen auf der Walze abgespielt. Stets habe ich mündliche Verhandlungen, Auge in Auge, der Schreiberei vorgezogen und damit die besten Erfolge erzielt. Ehe sich's jemand versah, saß ich schon auf der neumodischen Eisenbahn oder dem Dampfschiff. Seit meiner Knabenzeit hat sich, wie ich glaube, diese Eigenschaft nicht im mindesten verändert. Meine erste Geschäftsreise machte ich als elfjähriger Junge in Begleitung meines Vaters nach Bremerhaven. Hier hatte ein Schiffslieferant namens Garrels einige Tiere zu verkaufen. Damals mußte man noch, um mit der Eisenbahn von Hamburg nach Bremen zu gelangen, einen Umweg über Hannover machen. Eine Fahrt nach Bre-
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men war unter diesen Umständen damals schon eine kleine Reise. Wir kauften einen großen Waschbären, zwei amerikanische Opossums3, einige Affen und Papageien, die mit dem Dampfboot zunächst nach Bremen gebracht wurden. Hier bestiegen wir die Postkutsche, auf deren Verdeck die kleine Tierschau kreischte und zeterte. Nachdem die »Diligence« die ganze Nacht hindurch gerasselt war, entdeckten wir am anderen Morgen in Harburg, daß der Waschbär sich während der Nacht zwischen den Holzstäben hindurchgenagt und das Weite gesucht hatte. Nie werde ich das Gesicht meines Vaters vergessen, als er, sich hinter den Ohren kratzend, mit verlorenen Blicken den leeren Kasten besah. Der Waschbär war und blieb indes verschwunden, und man durfte nicht einmal Lärm schlagen, weil einem sonst ein ganzer Rattenschwanz von Prozessen hätte an den Hals geworfen werden können. Wirklich hat sich der Waschbär noch volle zwei Jahre als freier Herr in der Lüneburger Heide umhergetrieben, bis man das seltene Wild erlegte. Wir lasen es in der Zeitung, verhielten uns aber natürlich mäuschenstill, und niemand außer meinem Vater, dem Postillion und mir erfuhr jemals, wie der Waschbär in die Heide gelangt war. An ähnlichen Episoden, die sich aber meistens in unserem Hamburger Hause abspielten, war überhaupt kein Mangel. Mitten aus dem schönsten Schlummer
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wurden wir einmal von einem Nachtwächter aufgerüttelt, der uns schreckensbleich mitteilte, daß beim Millerntor in der Nähe des Stadtgrabens ein großer Seehund umherrutsche. Sogleich machten sich mein Vater und ich auf den Weg, und wir konnten den Flüchtling eben noch erwischen, als er gerade die steile Wallböschung zum Stadtgraben hinabrutschen wollte. Es war keine schwere Arbeit, das Tier in einem unserer Seehundnetze zu verwickeln und nach unserem Quartier am Spielbudenplatz zurückzubringen. Ein andermal war uns eine Hyäne ausgebrochen. Mein Vater bekam keinen geringen Schreck, denn wir hatten damals noch keine Erfahrung in dem Umgang mit solchen Raubtieren. Auf die Hilfe des alten siebzigjährigen Wärters war nicht zu rechnen. Darum begleitete ich meinen Vater, bewaffnet mit einem Seehundnetz, und meine Schwester hielt die Stallaterne. Mit langen Knüppeln scheuchten wir das entsetzlich heulende Tier unter einem Kasten hervor, und in dem Augenblick, als es sich voll Wut auf meinen Vater stürzen wollte, konnte ich der Hyäne das Netz überwerfen. Das ganze Abenteuer spielte sich aber durchaus nicht so rasch ab, denn todmüde kehrten wir erst um acht Uhr in der Frühe in unser Heim zurück. So harmlos und ohne Wunden ging es leider nicht immer ab. Wir zahlten unser Lehrgeld in blauen Flecken und
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oft schmerzhaften Biß- und Kratzwunden. An diese kleinen Abenteuer mögen sich noch zwei Bärengeschichten anschließen, womit ich allerdings der Zeit etwas vorgreife, denn sie fanden erst einige Jahre später, 1863, am Spielbudenplatz statt. Ein Proviantmeister der Hapag4 brachte aus New York fünf große dressierte Bären mit. Es waren zwei Grislybären, zwei Zimmetbären und ein schwarzer Baribal5. Alle stammten aus dem Besitze des in Amerika damals überall populären »Grisly-Adams«, eines alten Trappers, der sie jung gefangen und dressiert hatte und dann mit ihnen jahrelang in den Vereinigten Staaten umhergezogen war. Nach dem Tode des Trappers waren die Bären zur Versteigerung und auf diese Weise in den Besitz des Proviantmeisters gekommen. Die gekauften Tiere wurden bei uns auf dem Hofplatz untergebracht. Eines Nachts brach einer der mächtigen Grislybären aus einem Käfig aus und machte sich's auf dessen Dach bequem. Ein in der Nähe wohnender Schuhmacher war von dem Getöse aufgewacht und hatte mit Entsetzen den aus seinem Käfig brechenden Meister Petz beobachtet. Außer Atem brachte er uns die Nachricht. Glücklicherweise, kann man hier sagen, war der Bär blind. Meinem Vater kam nun der rettende Gedanke, ein halbes Schwarzbrot auf eine Futtergabel zu stecken, und hinter diesem Köder, dem der Bär schnuppernd folgte, spazierte er friedlich in
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seinen neuen Käfig. Wenige Tage später aber kam ich selbst an demselben Platz zu meinem ersten Bärenabenteuer. Ich sollte einen russischen Bären zur Reise »verpacken«. Stundenlang mühte ich mich, das Tier mit einem Umsetzkasten in seinen Reisekäfig zu locken, doch der Bär verspürte nicht die geringste Neigung zu einem Wohnungswechsel. Die Zeit drängte. Wollte ich das Tier noch rechtzeitig zur Bahn schaffen, so mußte gehandelt werden. Ich sperrte den Hof ab, öffnete das Gitter des Käfigs und warf dem Bären kleine Stücke Zucker vor. Mein Bär kam aus seinem Kasten heraus und fraß im Weiterschreiten ein Stück Zucker nach dem anderen auf. Als er sich eben wieder nach einem Stück bückte, packte ich ihn mit der einen Hand im Genick, griff mit der anderen in den Pelz des Rückens und wollte den Bären mit Gewalt in den Käfig drängen. Ich hatte aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht, und es kam zu einem regelrechten Duell. Der Bär war weit stärker, als ich geglaubt hatte. Er sträubte sich in der ersten Überraschung, drehte sich dann aber um und packte mich mit seinen Vordertatzen. Im nächsten Augenblick war der schönste Ringkampf im Gange. Die Kleider flogen mir in Fetzen vom Leibe. Wütend biß und kratzte das Tier, und ich empfing meine ersten ernstlichen Wunden. Der Wärter, den ich
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um Hilfe rief, warf nur einen Blick auf die kämpfende Gruppe und suchte mutig das Weite! Ich ließ indes nicht locker. Mit Einsetzung aller meiner Kräfte warf ich mich auf das wütende Tier und zeigte ihm endlich den Meister. Der ungeschliffene braune Flegel hatte mich fast ausgezogen, und ich blutete aus vielen glücklicherweise ungefährlichen Wunden. Für die Folge habe ich aber nicht wieder versucht, Bären aus einem Käfig in den anderen auf diese Weise »zu lokken«. Niemand kann ermessen, und es läßt sich auch gar nicht schildern, mit wie vielen kleinen und großen, ich möchte sagen, technischen Schwierigkeiten das beginnende Tiergeschäft auf Jahre hinaus zu kämpfen hatte. Alles, was wir heute in bezug auf den Tiertransport und die Tierbehandlung wissen, mußte damals erst in der Praxis ausprobiert und mit Fehlschlägen und Opfern bezahlt werden. Der damalige Mangel an Erfahrungen hatte nun leider nicht nur derartige kleine Abenteuer und Unfälle im Gefolge, sondern bildete auch für das Geschäft in seiner Gesamtheit einen schwer zu überwindenden Hemmschuh. So wichtig war dieser, daß mein Vater im Jahre 1858, ein Jahr vor meiner Konfirmation, allen Ernstes erwog, die Tierhandlung wieder an den Nagel zu hängen und sich auf das Fischgeschäft, das ja inzwischen seinen Fortgang genommen hatte, allein zu beschränken, ob-
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wohl das Tiergeschäft bereits größeren Umfang angenommen hatte. Die Zukunft des ganzen Tierhandels stand also auf der Wippe. Aus diesem Gedanken heraus fragte mich denn eines Tages mein Vater, für welchen Teil unseres Unternehmens ich mich künftig entscheiden wolle. Er setzte mir in väterlicher Weise seine Erfahrungen auseinander und gab mir den Rat, mich dem Fischgeschäft zuzuwenden. Ich bin aber sicher, er tat dies mit schwerem Herzen und nur deshalb, um mir Enttäuschungen zu ersparen. Wie er selbst, war ich schon viel zu eng mit dem Tiergeschäft verwachsen und liebte den gewohnten Umgang mit unseren Tieren schon viel zu sehr, um auch nur dem leisesten Gedanken an eine Aufgabe dieses Geschäftszweiges Raum geben zu können. Ich entschied mich also kurzerhand für die Fortführung des Tiergeschäftes und fand, da ich der Liebling meines Vaters war, seine Zustimmung, allerdings unter der Bedingung, daß er bei einem eventuellen späteren Verluste nicht mehr als 2000,– Mark zuzuzahlen brauche. An Vertrauen zu mir, obwohl ich noch ein Knabe war, fehlte es meinem Vater nicht, und mir nicht an Feuereifer, fortan selbständig zu arbeiten. Bereits vor einem Jahr, als mein Vater in Wien von dem damaligen soeben heimgekehrten Afrikaforscher Dr. Natterer seinen ersten Tiertransport aus dem ägyptischen Sudan gekauft hatte, hatte auch ich mein
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erstes absonderliches, aber nicht schlechtes Geschäft absolviert. Die Absonderlichkeit mag man meiner dreizehnjährigen Jungenhaftigkeit zugute halten. Ich kaufte im Hamburger Hafen von einem gerade aus Mittelamerika zurückgekommenen Schiffsjungen 280 große Käfer, die in drei Zigarrenkästen verpackt waren. Den Jungen machte ich mit zweieinhalb Hamburger Schilling per Stück, das sind zwanzig Pfennige nach heutigem Gelde, überglücklich. Als ich aber meinem Vater diesen Einkauf zeigte, war er durchaus nicht sehr erbaut davon und sagte: »Nun, was du an diesen Kakerlaken verdienst, das kannst du für dich behalten.« In diesem Falle hatte sich mein Vater aber doch getäuscht. Zunächst zeigte ich die Sammlung dem Bäckermeister Dörries, der ein großer Kenner und Sammler von Käfern und Schmetterlingen war. Er meinte, ich müsse mindestens ein bis zwei Mark für jeden Käfer erzielen können, wenn ich die Sammlung zu dem damals größten Muschel- und Naturaliengeschäft in Deutschland, namens Breitrück, tragen würde. Kurz, ich verkaufte meine Käfer wirklich und erhielt nicht weniger als hundert Taler. Später hörte ich, daß die Sammlung für einen weit höheren Preis an den Londoner Tierhändler Jamrach weitergegangen war. Dieser kaufte von meinem Vater auch einige Tiere aus dem Afrikatransport. Andere fanden ihre Liebhaber in verschiedenen Tierschaubesitzern. Die
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Antilopen, Gazellen und Affen dagegen sowie auch ein paar Jagdleoparden rollten in ihren Transportkästen zum Amsterdamer Zoologischen Garten, dessen Direktor, der gute alte Dr. Westermann, uns im Jahre zuvor in Hamburg besucht hatte. Da mein Vater mit dem Fischgeschäft alle Hände voll zu tun hatte, machte ich die Honneurs, und der alte Herr schloß mich derart in sein Herz, daß er meinen hinzutretenden Vater bat, mich unter seiner Leitung in Amsterdam Zoologie studieren zu lassen. Seine Tierhäuser waren wahre Musteranlagen. Die Freundschaft, die von meiner Seite mehr eine Verehrung für den alten holländischen Gelehrten war, erwies sich als dauernd, und so wurde in den späteren Jahren fast alles, was der Amsterdamer Zoo an Tieren benötigte, bei mir gekauft. Nachdem ich also im März 1859, fünfzehnjährig, die Schule verlassen hatte, ward es Ernst. Ich widmete mich ganz dem Tierhandel, während mein Vater nur noch dem Fischgeschäft vorstand. Seine Neigung aber gehörte nach wie vor dem Tiergeschäft, und sein Rat blieb maßgebend. Niemals war ich froher, als wenn ich mir durch ein glücklich beendetes Geschäft das Lob meines Vaters verdient hatte. Bis an sein Lebensende blieb er der gütigste Berater und rastlose Mitarbeiter. Und wie er den Grundstein zu dem materiellen Geschäft gelegt hat, so hat er auch den Grundstein zur Tätigkeit, zur Beharrlichkeit und zum Maßhalten ge-
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legt und die Liebe zur Tierwelt in unsere Herzen gepflanzt, so daß alle späteren Erfolge auf ihn zurückgehen, der längst unter dem Rasen schlummert.
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Fußnoten 1 Ein Hamburger Fuß = 28,66 cm; der Stör muß also rund 3,73 m lang gewesen sein! 2 Ara, auch Arara: große Papageienart Süd- und Mittelamerikas, fast ausnahmslos sehr bunt im Gefieder, mit sehr kräftigem Schnabel 3 Opossum: Beutelratte, in Amerika beheimatet 4 Hapag: Abkürzung für »Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft«, 1847 in Hamburg gegründete Reederei, die 1856 monatliche Dampfschiffahrten zwischen Hamburg und New York und 1871 eine direkte Verbindung nach Westindien einrichtete; heute wieder eine der größten westdeutschen Reedereien; Aktienmehrheit seit 1958 im Besitz der Deutschen Bank. 5 Baribal: Schwarzbär
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II Die Entwicklung des Welttierhandels Eine schwere Zeit begann nun für mich, aber auch eine solche tiefster Befriedigung. Neigung und Beruf flossen zusammen, und mit Begeisterung ging ich an meine neue Aufgabe. Tiere mußten gekauft und verkauft werden. Die rationelle Unterbringung und Behandlung der Tiere bildete eine stete Sorge. Dazu kam die wirtschaftliche Seite des Unternehmens, die viel Kopfzerbrechen machte. In der Buchführung und in schriftlichen Arbeiten unterstützte mich meine Schwester Caroline, während die Schwestern Luise und Christiane die Pflege der Vögel übernommen hatten. Mein Bruder Wilhelm spielte den Kutscher und hatte das lebende Material ins Haus und aus dem Hause zu schaffen. Für mich selbst gab es eine Überfülle an Arbeit, denn es war unser Grundsatz und ist es auch geblieben, daß die Arbeit den Menschen adelt. In der Wartung der größeren Tiere stand mir nur ein alter Wärter zur Seite. Die meiste Arbeit machten uns damals die Seehunde, die in großen Holzkübeln untergebracht waren. Jeden Morgen mußte frühzeitig frisches Wasser in diese Bottiche hineingepumpt werden, und zu diesem Zweck hatte ich gefälligst unentwegt zwei bis drei Stunden an der Pumpe zu stehen. War die
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Pumperei endlich fertig, so brachte ich meinen Fischkorb angeschleppt, um die Seehunde einzeln zu füttern. Frisch angelangten Tieren, die noch scheu und wild waren, warf man das Futter einfach zu, sie wurden nach wenigen Tagen so zahm, daß sie das Futter aus der Hand nahmen. Nur die älteren Exemplare machten eine Ausnahme und waren nur mit Mühe an das Futter heranzubringen. Wie mein Vater, so hatte auch ich zu den Seehunden eine besondere Zuneigung und besitze sie auch jetzt noch. Etwas Ähnliches muß ich kürzlich einem französischen Zeitungsberichterstatter erzählt haben. Dieser Herr besaß eine geradezu exotische Phantasie, denn er behauptete in den Zeitungen seines Vaterlandes, ich hätte einmal einen Seehund so weit gebracht, daß er bei meinem Anblick jedesmal laut »Papa« gerufen hätte. Wahr ist nur, daß die Tiere mich genau kannten. Wenn ich morgens auf dem Hofplatz erschien und die Tiere mit dem Ruf: Paul, Paul! begrüßte – alle Seehunde wurden nämlich bei uns Paul genannt –, reckten sie ihre Hälse und schauten mit ihren dunklen Augen über den Bassinrand. Es waren immer die gewöhnlichen Nordsee-Seehunde (Phoca vitulina), die uns unsere Fischer brachten. Einmal befand sich auch eine Kegelrobbe darunter, jenes Tier, das uns beinahe in den Stadtgraben entwischte. Daheim wurde es so zahm, daß es mir im
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Hofe wie ein Hund folgte. Es lernte auch bald aufrecht sitzen, sich im Bassin auf Kommando herumdrehen und manche andere Kunststückchen, wofür es jedesmal mit einem Extrafisch belohnt wurde. Mein erstes größeres Geschäft machte ich, als ich eben das sechzehnte Lebensjahr überschritten hatte, und es ist interessant zu sehen, wie der Zufall, der überall im Leben eine Hauptrolle spielt, mir dabei zu Hilfe kam. Man muß nur die Augen offenhalten und jede Situation zweckentsprechend auszunutzen versuchen. »To make the best of it«, sagt der Engländer. Damals gelangte der Tierschaubesitzer August Scholz mit einem jungen, fünf Fuß hohen Elefanten nach Hamburg, den er für eine Nacht bei uns unterbrachte, um ihn am nächsten Tage mit anderen bei uns gekauften Tieren weiterzuexpedieren. Zunächst führten Scholz und ich den Elefanten durch die Straßen zum Bahnhof. Auf der Lombardsbrücke wurde der Dickhäuter scheu und lief uns davon. Das gab natürlich einen netten Volksauflauf, denn es gelang uns erst nach einer mehr als halbstündigen Jagd durch die Anlagen, den Elefanten wieder zu fesseln, worauf er vernünftig genug war, sich, an einen Wagen gebunden, zum Bahnhof führen zu lassen. Dort bat mich Scholz, ihn auf seine Kosten bis Berlin zu begleiten. Das tat ich nun ganz besonders gern, gab unserem Kutscher den Auftrag, mir rasch eine Schlafdecke zur Bahn zu
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bringen und dem Vater auszurichten, ich sei als Assistent Scholzens mit nach Berlin gefahren. Am nächsten Mittag langten wir denn in der Hauptstadt an und wurden wie in Hamburg noch von einer Sonderlokomotive mitten durch die Stadt von einem Bahnhof zum anderen gezogen. Vor der Lokomotive spazierte ein Bahnbeamter, der in der linken Hand eine große Glocke und in der rechten eine rote Fahne schwenkte. Nichts war natürlicher, als daß ich nun den freien Nachmittag nach dem Ausladen dazu benutzte, den dortigen Zoologischen Garten zu besuchen. Er war mir nicht mehr fremd. Als ich den mir bekannten Inspektor besuchte und ihm verschiedene von unseren Tieren anbot, teilte er mir zu meinem größten Vergnügen mit, daß ich wahrscheinlich gerade zur rechten Zeit gekommen sei! Im Raubtierhaus waren einige Lücken entstanden. Und wirklich, am nächsten Tage verkaufte ich an den Direktor Professor Peters kurzerhand erstmalig für annähernd 1700 Taler Tiere. – Oft habe ich später noch im Museumszimmer des Professors gesessen und mit ihm über die uns interessierenden Dinge gesprochen. Zu bedeutungsvolleren Geschäftsreisen kam es im Herbst 1862, als ich mit meinem Vater die Gärten in Holland und Belgien besuchte. Im Antwerpener Zoologischen Garten fand in jedem Jahr eine Tierauktion statt, die hauptsächlich von den Direktoren der weni-
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gen Tiergärten Europas und Tierliebhabern besucht wurde. Als Hauptkäufer trat zu jener Zeit der bereits erwähnte Londoner Tierhändler Jamrach auf. Daran, diesen damals für uns noch mächtigen Konkurrenten aus dem Felde zu schlagen, war kaum zu denken. Es kam aber dennoch so. Auf der Reise nach Antwerpen hatten wir den erst einige Jahre bestehenden Zoologischen Garten in Köln besucht, dessen Direktor Dr. Bodinus seit 1860 zu unseren Geschäftsfreunden zählte. Bei uns kaufte er die Tiere, die als erste die leeren Tierhäuser und Gehege des im gleichen Jahre eröffneten Gartens bevölkerten. Als Bodinus zehn Jahre später als Direktor an den Berliner Zoologischen Garten berufen wurde, ließ er dort neue großartige Bauten ausführen, die wir ebenfalls zur Eröffnung mit den wichtigsten Tiergattungen besetzten. In Antwerpen kauften wir am ersten Tage nur einige Kleinigkeiten. Mein Vater ging, von der Reise ermüdet, frühzeitig schlafen, und so bummelte ich allein gegen Abend nochmals durch den Zoologischen Garten und wurde durch unseren Freund, den Zoodirektor Schöpf aus Dresden, einigen Herren vorgestellt. Der erste war Monsieur Geoffroy St. Hilaire vom Jardin d'Acclimatation zu Paris, der zweite Direktor Westermann vom Amsterdamer Zoologischen Garten, und der dritte war der berühmte, fast siebzigjährige Direktor Martin vom Rotterdamer Garten, ein freundlicher
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Schnauzbart, einst als »Thierbändiger Ihrer Königlichen Hoheit der Herzogin von Berry« die Sensation von Paris. Mit der brüllenden Mitgift seiner Frau, der Tochter des großen holländischen Tierschaubesitzers van Aaken, hatte er sich selbständig gemacht, war auf vielen Auslandgastspielen steinreich geworden und nunmehr Gründer und wohlbestallter Direktor des großen holländischen Tiergartens. Geoffroy St. Hilaire hatte sich unterderhand bei einem mit uns bekannten Tierfreund, dem Grafen Cornelli, nach unseren Verhältnissen erkundigt. Die Antwort mußte sehr gut ausgefallen sein, denn alle drei Herren machten mit mir recht große Geschäfte. Den größten Verkaufsabschluß machte ich mit dem Pariser Direktor. Als der gute Jamrach am anderen Tag aus London eintraf, mußte er zu seinem Schrecken erfahren, daß er um eine Nasenlänge zu spät gekommen war. Ein eigentümlicher Zufall wollte es, daß ich wenige Tage darauf noch einmal, und zwar sehr fühlbar, die Absichten der Londoner Firma durchkreuzen mußte, und das kam so: Kaum in Hamburg angekommen, fand ich unter den dortigen Briefschaften auch ein Schreiben von der Witwe des Tierschaubesitzers Christian Renz, die zu jener Zeit die Krefelder Messe besuchte und ihre Tiere zu verkaufen wünschte. Mein Vater hatte aber Bedenken, sich für den Winter so viele Tiere auf den Hals zu laden, und der Brief blieb
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zunächst unbeantwortet. Ein zweites Schreiben mit dem Bescheid, sie habe auch an Jamrach geschrieben, brachte mich aber auf die Beine. In einer halben Stunde ging der Harburger Dampfer ab. Es gab noch keinen Zentralbahnhof, und so mußte man erst über die Elbe setzen, um in Harburg den Zug zum Westen zu erwischen. Ohne Mantel oder sonstige Reiseutensilien lief ich sofort zum Dampfersteg, sprang mit nichts in der Tasche als hundert Talern Bargeld an Deck und traf am anderen Vormittag gegen elf Uhr in Krefeld ein. Hier fand ich vier Gitterwagen voll Tiere, darunter einen echten vollmähnigen Berberlöwen, so schön, wie ich seitdem keinen wieder gesehen habe. Als Angeld zahlte ich fünfzig Taler. Der Rest sollte nach Ankunft des Transportes in Hamburg bezahlt werden. Aber dazu kam es gar nicht, denn es gelang mir im Handumdrehen, auf der gleichen Messe für siebenhundert Taler Tiere an Schaubudenbesitzer zu verkaufen. Und nun kommt ein kleines Intermezzo. Auf dem Bahnsteig zu Oberhausen, wo ich umsteigen mußte, stand mir auf einmal der liebe Mister Jamrach gegenüber, den ich vor wenigen Tagen erst in Antwerpen gesehen hatte. Unmöglich konnte ich bei ihm in guter Erinnerung sein. Er entsetzte sich auch einigermaßen über meinen Anblick und fragte mit belegter Stimme: »Wo sind Sie denn schon wieder gewesen?« – »In Krefeld«, sagte ich trocken, »und habe dort die ganze
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Tierschau der Witwe Renz gekauft!« Für die bewiesene Fixigkeit schenkte mir mein Vater hundert Taler, und das ganze Geschäft brachte uns einen Gewinn von reichlich 2000 Talern. Die Löwen erhielt mein späterer Schwager Charles Rice in London. Dieser verkaufte sie an die Tierschau Fairgraves, die in England reiste und den schönen Berberlöwen mit großen Kaplöwinnen kreuzte, was eine prachtvolle Zucht ergab. Später fanden die schönsten Tiere Unterkunft in den Zoologischen Gärten zu Bristol und Dublin, wo man fortan die schönsten Löwen züchtete, die in Europa zu finden waren. Auch ohne besondere Versicherung ersieht man schon aus derartigen Geschäften-, wie sich unsere Tiefhandlung mehr und mehr vergrößerte. Im Jahre 1863 kaufte mein Vater das Haus am Spielbudenplatz Nr. 19, das dicht neben dem Museum lag. Das Vorderhaus hatte unten zwei Läden, wovon der eine an einen Schuhmacher vermietet war und der andere unseren Vögeln als Unterkunft diente. Hinter dem Hause lag ein kleiner Hof, abgeschlossen durch einen achtzig Fuß langen und dreißig Fuß breiten Bau, in dem zur Rechten die Käfige für Raubtiere standen und zur Linken Raum für die Heufresser war. Über dem Hofplatz befand sich der Ausbau eines kleinen photographischen Ateliers. Auf dem freien Hofraum standen Transportkästen und in deren Mitte
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meist die Bottiche, in denen unsere Seehunde planschten. Diesen seltsamsten »Handelshof« des alten Hamburg zeichnete 1886 erstmalig mein späterer Freund, der Maler Heinrich Leutemann, für die Zeitschrift »Daheim«, die als erste ihre Leser auf das neuartige Unternehmen Hagenbecks aufmerksam machte. Die letzten Jahre brachten mir neue Verbindungen mit England, Frankreich, Holland und Belgien. Im Winter 1864 machte ich meine erste Reise nach England. Später kam ich oft jährlich zwölf- bis vierzehnmal nach London, und meine Abhängigkeit vom Londoner Tiermarkt hat erst später, nach der Gründung des Deutschen Reiches und dem Aufschwung der deutschen überseeischen Beziehungen, aufgehört. Ganz abenteuerlich gestaltete sich damals der Transport eines Ameisenbären, der aus Argentinien in Southampton eingetroffen war und den ich im März 1864 in London kaufte. Ich hatte überhaupt noch kein derartiges Tier gesehen. Der Eigentümer des Tieres wohnte auf einem Landsitz vier Meilen von der Stadt entfernt, wo der Bär frei im verschneiten Garten umherlief, eine Beobachtung, die mit anderen ähnlichen zusammen mich später zu immer ausgedehnteren Versuchen in der Akklimatisation ermutigte. Sein Nachtlager hatte der Bär im Hühnerstall, wo man einige Bündel Heu aufgeschichtet hatte. Nachdem ich das Tier gekauft hatte, meinte der frühere Besitzer, ich
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könnte es ganz ruhig mit in die Droschke nehmen, nur müsse man die Fenster verschließen, damit es nicht hinausschlüpfe. Da ich von der Gefährlichkeit eines solchen Tieres noch keine Ahnung hatte, ließ ich mich zu dem Streich überreden. Die Kutsche fuhr an, und mein vierfüßiger Begleiter packte mich plötzlich mit seinen beiden scharfen Vorderkrallen. Zunächst hatte er es auf meine Beine abgesehen, und ich hatte Mühe, ihn wieder loszubringen. Während der ganzen Fahrt balgten wir uns hin und her. Fortwährend mußte ich mich neuer Angriffe erwehren, und es war keine leichte Arbeit, denn der Bursche maß von der Nasenspitze bis zum Schwanzende siebeneinhalb Fuß und besaß Riesenkräfte. Ich war vollständig am Ende mit meiner Energie, als wir in Southampton ankamen und ich den Kutscher um Hilfe anrufen konnte. Nach London wurde das Tier dann in einer Packkiste transportiert. Die Nahrung, die der Ameisenbär bisher täglich erhalten hatte, bestand aus acht rohen Eiern und einem Pfund gehackten Fleisches. Dazu trank er warme Milch. Auf der Überfahrt von London nach Hamburg hatten wir sehr stürmisches Wetter, und ich mußte mich seekrank in die Koje legen. Zwar rührte ich dem Ameisenbären noch sein Futter an, mußte jedoch den mir bekannten Schiffszimmermann bitten, meine Tiere zu verpflegen. Dabei kam es zu einem ergötzlichen Zwischenfall. Kaum hatte der Seemann meine
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Kabine verlassen, als er schreckensbleich zurückstürzte und erzählte, dem Ameisenbären sei soeben eine lange dünne Schlange aus dem Hals gekrochen! Trotz meiner Schwäche mußte ich also unter Deck, um das Wunder zu sehen. Die Schlange war natürlich nichts anderes als die lange Zunge des Ameisenbären, mit der er den Eierbrei aufleckte, den der Zimmermann in seiner Angst hatte fallen lassen. In Hamburg angekommen, verkaufte ich das seltene Tier an den damals fünfunddreißigjährigen Direktor des Zoologischen Gartens, den später durch sein »Tierleben« weltberühmt gewordenen Dr. Alfred Brehm. Oft habe ich in unserem alten Heim am Spielbudenplatz mit dem jungen Gelehrten geplaudert, den seine Reisen, noch ehe er die Universität besuchte, nach Afrika, später, nachdem er in Jena und Wien Naturwissenschaft studiert hatte, nach Spanien, Skandinavien und Abessinien geführt hatten. Brehm war eine rührige Natur, stets beschäftigt mit Problemen und Versuchen aller Art. Eines Tages kam er auf den Gedanken, der ihm wahrscheinlich bei Besuchen in unserer Tierhandlung gekommen war, sich ebenfalls im Tierhandel zu versuchen, natürlich für Rechnung der Zoologischen Gesellschaft in Hamburg. Er sah aber bald ein, daß das Tiergeschäft nicht so leicht sei, wie er geglaubt hatte. Schleunigst gab er den Versuch auf und gründete 1867 das Berliner Aquarium. Mein
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Ameisenbär war der erste, den auch er zu Gesicht bekam. Da man sich nicht getraute, ein so seltenes und darum teueres Tier kurzerhand zu kaufen, erhielt ich einen Teil des Preises in bar, weitere Summen jedoch erst nach jedem weiteren Monat, den der Ameisenbär am Leben blieb. Inzwischen hatte ich das Tier an ein bekömmliches Futter aus Maismehl und Milch gewöhnt, dem mittags vier rohe Eier und ein halbes Pfund Hackfleisch beigegeben wurden. Eine außerordentlich wichtige Verbindung wurde 1864 angeknüpft. Eines Abends spät erhielten wir aus Wien ein Telegramm, daß der Afrikareisende Lorenzo Casanova mit einem Tiertransport, aus Afrika kommend, nach Dresden gereist sei. Schon vor zwei Jahren hatte Casanova einen großen Tiertransport aus dem ägyptischen Sudan nach Europa gebracht, bestehend aus sechs Giraffen, dem ersten afrikanischen Elefanten und vielen anderen seltenen Tieren. Damals hatten wir uns an einen so teueren Transport noch nicht herangewagt, aber heute lag die Sache anders. Sofort reiste ich nach Dresden und kaufte die Löwen, einige gestreifte Hyänen sowie eine Sammlung sehr schöner Affen und Vögel. Das Hauptergebnis der Zusammenkunft war aber keinesfalls der Ankauf dieser Tiergruppen, sondern der Abschluß eines festen Vertrages, nach welchem Casanova verpflichtet wurde, als erster Hagenbeck-Reisender künftig Elefanten, Gi-
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raffen, Nashörner usw. für uns zu fangen. Da der Reisende meine Unterschrift nicht für gültig anerkennen wollte, fuhr er mit mir nach Hamburg, wo mein Vater den Kontrakt unterschrieb. Casanova eröffnete also die Reihe der Weltreisenden, die für uns in Busch, Wald und Steppe auf wilde und seltene Tiere fahndeten und den Namen Hagenbeck von Pol zu Pol, von der Südsee bis Sibirien trugen. Bereits im nächsten Jahr brachte Casanova seine ersten Transporte aus Nubien nach Wien. In der Hauptsache waren es drei schöne afrikanische Elefanten, verschiedene junge Löwen, eine Anzahl Hyänen und Leoparden, weiter Antilopen, Gazellen und Strauße, die er mir übergab. Die Tiere wurden verladen und gelangten zunächst glücklich bis Berlin, wo die Trennung von einem für den dortigen Garten bestimmten Elefanten erfolgen mußte. Mit vieler Mühe brachten wir das Tier aus dem Wagen heraus und lockten es mit Zucker und Brot einige hundert Meter weit. Da trompeteten die beiden zurückgebliebenen Elefanten dem Scheidenden irgend etwas zu, vielleicht war es ein Lebewohl. Kurz, in demselben Augenblick machte unser Elefant kehrt und rannte zu seinen Kameraden zurück, uns wie Federbälle hinter sich herschleifend. Es blieb uns nichts anderes übrig, als ihn durch seine Weggenossen bis in sein neues Heim begleiten zu lassen, worauf wir ohne Zwischenfall in
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Hamburg anlangten. Mit den Erfolgen wuchs auch der Mut. Casanova ging mit größeren Aufträgen nach Afrika zurück, und in den folgenden Jahren trat eine ganze Reihe weiterer Reisender in unsere Dienste. Viele Umstände trugen dazu bei, den Namen Hagenbeck schon in jener Zeit recht volkstümlich zu machen. Der Tierhandel als Geschäftszweig war neu. Die zoologischen Gärten begannen aufzublühen, und das Interesse an fremdländischen Tieren wuchs allgemein. Oft war es schwer, alle Ansprüche, die an mich gestellt wurden, zu befriedigen. Meine Fänger und Reisenden durchstreiften nicht nur Afrika, sondern nach und nach alle Erdteile. Wo ich nicht selbst reisen ließ und Fangstationen unterhielt, besaß ich wenigstens meine Geschäftsverbindungen. Der Handel mit indischen Tieren lag damals hauptsächlich noch in englischen Händen. Auch der Import von Australien war noch in London zentralisiert. Obgleich ich ständig auf Reisen war, um neues Tiermaterial herbeizuschaffen, war ich damals häufig gezwungen, Fehlendes unter den Duplikaten der zoologischen Gärten zusammenzusuchen. Nicht nur Europäer, sondern auch die Amerikaner begannen, sich auf uns zu stützen. Die reisenden »Shows« in Amerika hatten schon damals solche Ausmaße angenommen, wie sie von den Tierschauen und Zirkusunternehmungen in Europa nie erreicht worden sind.
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Allen voran stand Phineas Taylor Barnum1, der nach langem Konkurrenzkampf sich mit Bailey zum »Circus Barnum & Bailey, der größten Schau der Erde«, vereinigte. Er begann seine Laufbahn als echter »American showman« mit der Ausstellung der hunderteinundsechzigjährigen Negeramme Washingtons, Joice Heth. Die Sache hatte nur zwei kleine Fehler: Erstens war die alte Negerfrau nur fünfundsiebzig Jahre alt, und zweitens war sie nie die Amme des ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten gewesen! – Später erfand der Brave die »Seejungfrau« und andere »zoologische Kostbarkeiten«, die neben mancher wirklich interessanten Rarität sein Amerikanisches Museum am New Yorker Broadway bevölkerten. Dreimal brannte er ab, dreimal erhob er sich wie ein Stehaufmännchen, und jedesmal verstand dieser wahre Odysseus an Erfindungsreichtum und Verschlagenheit, die Aufmerksamkeit aller Welt auf sich und sein Unternehmen zu lenken. Es gab keine Kuriosität oder Tagesberühmtheit auf der Welt, aus der dieser Großmeister des Humbugs nicht Dollars gemacht hätte. Mit dem Liliputaner Tom Thumb besuchte er die Königin Viktoria von England. In Riesenaquarien zeigte er erstmalig Walfische und Haie. Zu der von ihm inszenierten Zwergenhochzeit sandten Präsident Lincoln, die Multimillionäre der Astors, Vanderbilts, die Delmonts und die ganze Dollararistokratie Luxus-
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geschenke. Anfang der fünfziger Jahre begleitete er die Sängerin Jenny Lind, die Schwedische Nachtigall, durch die Neue Welt und gründete endlich seine »Schau«, jene amerikanische Verschmelzung von Zirkus, Tierarena und Raritätenkabinett. Wenn seine drei Sonderzüge in einer Stadt eintrafen, zog im Scheine greller Karbidlampen der fackeltragende Heerbann des fahrenden Volkes paradierend durch die nächtlichen Straßen, deren Häuserfronten widerhallten vom Gedröhn der mitziehenden Dampforgeln, rollenden Glockenspiele, schmetternden Orchester und dem Gebrüll der in vergitterten Prunkwagen mitgeführten Raubtiere. Dieser unübertroffene »Meister der Schaustellung« entstieg an einem Novembermorgen des Jahres 1873 auf St. Pauli einer Droschke, übergab mir, der ich vor der Tür unserer Tierhandlung stand, seine Karte und ersuchte mich, sie dem Herrn Carl Hagenbeck zu übergeben. Das war leicht geschehen, ich hielt sie ja schon in der Hand. Als Barnum entdeckte, mit wem er es zu tun hatte, sah er mich erstaunt über meine Jugend an. Wenn es ihm um einen älteren Herrn zu tun sei, erwiderte ich, so möge er nur näher treten, ich würde ihm dann den Gründer des Geschäfts, meinen Vater, vorstellen. Barnum selbst war um jene Zeit bereits ein älterer Herr, ein angehender Sechzigjähriger mit intelligentem Gesicht und leicht ergrautem, aber
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vollem Lockenkopf. Bald war ein angeregtes Gespräch im Gange. »Ich war bei Zirkus Renz in Wien, Carré in Köln und Myers in Dresden«, erzählte er, »jedoch wollte ich vor meiner Abreise Sie kennenlernen, denn ich weiß, daß die meisten Tiere, die nach Amerika kommen, von Ihnen stammen. Kaufen will ich heute nichts, denn der Zweck meiner Europareise ist der, nach neuen Ideen auszuschauen. Im nächsten Frühling werde ich im Madison Square Garden zu New York ein römisches Hippodrom eröffnen, und dazu brauche ich neue Ideen!« An neuen Ideen war bei mir kein Mangel. Ich schlug dem Gaste aus dem Stegreif allerhand Neuigkeiten vor, die er sofort in sein Notizbuch niederschrieb. »Ich sehe schon«, sagte er lächelnd, »ich werde mich einige Tage hier aufhalten müssen, um mich mit Ihnen zu unterhalten, und nun will ich mir einmal Ihre Tiere anschauen. Finde ich etwas Brauchbares, dann zahle ich Ihnen einen anständigen Preis, denn nichts ist mir mehr zuwider als langes Handeln!« – Als wir unseren Rundgang beendeten, hatte Barnum für 4000 Dollar Tiere gekauft. Am nächsten Morgen holte ich den berühmten Mann im »Hotel de l'Europe« ab, um ihm Hamburg ein wenig zu zeigen. Wir waren indes kaum eine Stunde unterwegs, als er schon unruhig wurde und mich bat, mit ihm ins Hotel zurückzukehren, denn er sei begierig, weitere Vor-
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schläge für sein New Yorker Hippodrom zu hören. Als ich Barnum fragte, ob er schon einmal von den Elefantenwettrennen in Indien gehört habe oder ob er schon einmal einen Strauß als Reittier gesehen habe, gestand er ganz aufgeregt, nie dergleichen gehört oder gesehen zu haben, und erteilte mir im Handumdrehen den Auftrag auf zehn starke Strauße und sechs Elefanten, die dem geschilderten Zwecke dienen sollten. »Hagenbeck«, sagte er eindringlich und nahm meine Hand, »Sie sind just der Mann, den ich brauche, kommen Sie mit nach Amerika, werden Sie mein Kompagnon. Ein Drittel des Verdienstes gehört Ihnen!« Als ich erwiderte, daß ich dazu kein Geld hätte, rief er wegwerfend: »Ich brauche kein Geld von Ihnen, Ihr Talent schätze ich höher ein als Geld.« So wäre ich denn bald nach Amerika gekommen. Später sollte ich zwar noch mit einem eigenen Zirkus durch die Staaten reisen, aber das lag noch im Schoße der Zukunft. Vorläufig dankte ich Barnum für sein ehrendes Angebot, und als er nach vierzehn Tagen abdampfte, hatte er zwei dicke Notizbücher vollgeschrieben. Dem 15000-Dollar-Auftrag, den Barnum bei seinem ersten Besuch hinterließ, folgte eine feste Verbindung. In der Folge deckten »Barnum & Bailey« ihren ganzen Bedarf an Tieren ausschließlich bei mir, bis 1907 das Geschäft in andere Hände überging. Als »Barnum & Bailey« 1889 in der Londoner Olym-
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pia Hall gastierte, besuchte ich den fast Achtzigjährigen. Sein Prinzip war es, soviel wie möglich von sich reden zu machen. Mit Vergnügen erinnere ich mich noch daran, wie er sich zur Begrüßung des Publikums stets bei der Eröffnung der Vorstellung vierspännig viermal um die Manege herumfahren ließ. Aller hundert Schritt ließ er halten und schwenkte dabei seinen Zylinderhut. Natürlich war dafür gesorgt worden, daß recht viele Stimmen von allen Seiten hurra und bravo schrien. Als ich ihn in seiner Loge aufsuchte, schmunzelte er recht vergnügt: »Haben Sie gesehen, mein lieber Hagenbeck, wie begeistert ich begrüßt wurde? Ich glaube, die Leute werden sich heute abend, wenn sie nach Hause gehen, darüber einig sein, daß ich doch die interessanteste Sehenswürdigkeit war!« Die Geschichte dieser Zeit ist auch zugleich eine Entwicklungsgeschichte des Tierhandels in Europa, denn auf diesem Gebiete mußte alles erst durch Experimente gelernt werden. Der größte afrikanische Tiertransport, den ich je erhielt, traf im Jahre 1870 nach der Eröffnung des Suezkanals2 ein, der neben dem kürzeren Weg nach Indien uns auch die Verladung der afrikanischen Transporte in den Küstenorten des Roten Meeres ermöglichte. Am Pfingstmontag dieses Jahres trafen gleichzeitig von dem schon bekannten Casanova und von einem anderen italienischen Reisenden namens Migoletti Nachrichten ein, daß beide
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mit großen Tiertransporten aus dem Inneren Afrikas unterwegs seien. Casanova meldete, ich möge ihm sofort nach Suez entgegenreisen, denn er sei schwer erkrankt und fürchte, die Seinen in Wien nicht mehr wiederzusehen. Migoletti drahtete, daß er Casanovas Karawane begegnet sei und wahrscheinlich mit demselben Dampfer in Suez ankommen würde. Hier galt kein Säumen. Mit einem ägyptischen Kreditbrief wohl versehen, reiste ich schon am nächsten Tage in Begleitung meines jüngsten Bruders Diederich über Triest nach Suez, wo wir nach einer Fahrt von neun Tagen glücklich ankamen. Schon bei der Einfahrt in den Bahnhof von Suez sahen wir in einem anderen Zuge Giraffen und Elefanten, die uns wie zum Gruße ihre Köpfe entgegenstreckten. Den armen Casanova trafen wir schwerleidend im Suezhotel an. In einer Hiboko, einer landesüblichen Art von Sänfte, hatten ihn seine treuen Träger nach hier geschafft. Er war ganz ohne Hoffnung. Er bat mich, ihm für seine Tiere anzurechnen, was recht sei, und den Betrag an seine Frau in Wien gelangen zu lassen. Im Beisein des italienischen Konsuls setzten wir das Schriftstück auf, welches Casanova mit entkräfteter Hand zitternd unterschrieb. Es war sein letzter Großtransport, und wir mußten von ihm scheiden. Die Ahnung des nahen Todes trog den Ärmsten nicht, er hat die Heimat nicht wiederge-
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sehen. Mit aller Tatkraft mußte ich mich jetzt der Tierkarawane zuwenden, die ohne das wache Auge des Herrn in große Verwahrlosung geraten war. Nie werde ich das eigenartige Bild vergessen, welches sich mir bot, als wir den Hof hinter dem Hotel betraten. Hätte ein Maler dieses Bild gesehen, so würde er es vielleicht unter dem Titel »Gefesselte Wildnis« verewigt haben. Elefanten und Giraffen, Antilopen und Büffel waren rings an Palmenbäumen angebunden. Dazwischen liefen sechzehn große Strauße frei umher, und malerisch aufgestapelt zwischen allen möglichen Gerätschaften, Gefäßen und Sonnensegeln sprangen und brüllten in sechzig Transportkisten dreißig gefleckte Hyänen, Löwen, Leoparden, Jagdpanther, Luchse und Zibetkatzen. Affen und Papageien zeterten um die Wette. Dazwischen stolzierten gravitätisch Marabus, kreischten Raubvögel und grunzten junge Nashörner. Nach Aufnahme einer langen Liste der gesamten Tierkarawane erwartete uns nicht nur eine wahre Herkulesarbeit hinsichtlich des Weitertransportes, sondern auch ein regelrechter Kampf nach verschiedenen Seiten. Da die meisten Leute Casanovas krank waren und den armen Tieren vor allen Dingen ihr Recht zu verschaffen war, mußte ich zunächst eine Anzahl Araber zu Hilfeleistungen annehmen. Wir hatten uns indes kaum das Lager bereitet
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und wollten gerade die Tiere füttern, als plötzlich ein Haufe wenig vertrauenerweckender Gestalten in den Hof eindrang und mit wilden Gebärden Geld von mir verlangte. Der Anführer wies sich als einer der Begleiter Casanovas aus und behauptete, dieser schulde ihm Geld. Falls ich nicht bezahlen würde, wolle man mir die ganze Geschichte in Brand stecken. Nun gibt es im Orient ein Allheilmittel für alle aufgeregten Gemüter, und das heißt »Bakschisch«. Ich versprach, ihm seinen Lohn zu geben, und gab dem Mann gleichzeitig ein Trinkgeld von 50 Francs, worauf der Berserker sich auf der Stelle in ein Lamm verwandelte und mit Freuden meiner Aufforderung, die Tiere zu füttern, nachkam. Dasselbe Trinkgeld hatte ich auch den übrigen Leuten Casanovas gegeben. Für die Lumpeneskorte ließ ich 5 Francs springen, und das Gesindel konnte sich kaum schnell genug entfernen, um das Bakschisch durch die Gurgel rinnen zu lassen. Schwierig war es, am Bahnhof die nötigen Waggons zu erhalten. Der betreffende Beamte, ein Araber, behauptete unter Anrufung Allahs und seines Propheten, daß die Zusammenstellung so vieler Wagen mindestens sechs bis acht Tage dauere. Eine schnellere Herbeischaffung wäre gewissermaßen Zauber, und ein Zauberer sei er nicht. Merkwürdig, nachdem ich diesem Mann ebenfalls 50 Francs versprochen hatte, verwandelte er sich auf der Stelle in einen orientalischen
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Magier und versicherte mit größter Geschmeidigkeit, daß sämtliche Wagen am nächsten Abend zur Verfügung stehen sollten. Der Transport der großen Karawane glich in mancher Beziehung jenen Expeditionen, die in unerforschte Länder ziehen. Das System Nansens3 und Pearys4, die auf ihren arktischen Expeditionen zum Ziehen untauglich gewordene Schlittenhunde für die übrigen als Futter verwandten, ist nicht unähnlich demjenigen, das auch ich auf diesem und manchem anderen Transport anwendete, wenn es sich dabei auch nicht um Hunde handelte. Die größte Sorge bei einem Tiertransport ist immer die Ernährung. Diesmal hatten wir neben vielem Preßheu, Brot und mannigfachem vegetabilischem Futter für die Elefanten und übrigen Tiere auch noch hundert Milchziegen mitgenommen, um unsere jungen Giraffen und sonstigen Babys mit Milch versorgen zu können. Ziegen, die keine Milch mehr zu geben vermochten, wurden dann auf dem Marsch unterwegs geschlachtet und dienten als Futter für die jungen Raubtiere. Der zaubernde Beamte hatte sein Wort gehalten – damit auch ich Wort halten sollte –, und zur gewünschten Zeit standen die Eisenbahnwagen bereit. Es würde zu weit führen, die Verladung dieser ganzen afrikanischen Arche Noah zu schildern. Ich atmete schon auf, als die Elefanten, Giraffen und Raubtiere
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in ihren Waggons untergebracht waren, doch soll man den Tag nicht vor dem Abend loben. Sechzehn Strauße waren noch übrig, die in der Weise zum Bahnhof geführt werden sollten, daß immer ein Vogel von zwei Arabern an den Flügeln gepackt und zum Mitgehen gezwungen werden sollte. Mein Bruder und ich gesellten uns zu dem ersten Strauß. Die übrigen Vögel sollten von Casanovas Leuten einstweilen zurückgehalten werden. Die Leute folgten auch dieser Anordnung, nicht aber die Strauße. Kaum hatten wir uns einige Schritte vom Hofe entfernt, als die übrigen fünfzehn Strauße wie ein Wirbelwind durch den Hof jagten, sämtliche Wärter über den Haufen warfen und in einer Staubwolke in der Richtung nach der Wüste entflohen. Als ich dies sah, tat ich etwas, was ich nicht hätte tun sollen – aber man muß ja fortwährend im Leben Lehrgeld zahlen. Ich glaubte, unseren Strauß allein festhalten zu können, und rief meinem Bruder deshalb schnell zu, er möge den von ihm gehaltenen Flügel loslassen und den Leuten zu Hilfe eilen. Kaum aber hatte der Strauß einen Flügel frei, als er kehrtmachte und mir mit seinen langen Beinen einen solchen Tritt vor die Brust versetzte, daß ich hintenüberstürzte. Schneller als ein Rennpferd folgte er seinen gefiederten Kollegen, während ich noch am Boden lag und atemringend dem Entflohenen verdutzt nachsah.
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Seltsamerweise ging das Wiedereinfangen der Straußenherde auf eine beinahe lächerlich einfache Weise vor sich. Einer von Casanovas kranken Leuten namens Seppel fand instinktiv das richtige Mittel, indem er auf eine Eigentümlichkeit spekulierte, welcher Tiere und Menschen in gleicher Weise gehorchen, nämlich die Gewohnheit. Die Sache hatte aber doch etwas Verblüffendes. Als ich mich eben erhob, sah ich, wie Seppel die ganze Ziegenherde aus dem Hofe heraustrieb. Auf meinen Anruf, was er da mache, antwortete er lakonisch, er wolle die Strauße wieder zurückholen! Auf seine Anordnung hatten sich zwei Araber auf Dromedare gesetzt, und diese sowie die Ziegenherde folgten nun schnell den Straußen nach. Als der Zug den Flüchtlingen nahe kam, reckten diese ihre Hälse, schlugen wie vor Freuden über dieses Wiedersehen mit den Flügeln und tanzten in weitem Bogen um die Ziegenherde und die Dromedare herum. Ein ganz grotesker Anblick! – Und als ob nun alles wieder in Ordnung sei, setzte sich die ganze Karawane in Marsch nach dem Bahnhof. Wie von einer unsichtbaren Macht festgehalten, stelzten die Strauße zwischen den Ziegen dahin, ließen sich ohne viel Sträuben ergreifen und in ihren Wagen führen. Des Rätsels Lösung ist sehr einfach. Was Seppel wußte, sei dem Leser verraten. Auf dem ganzen zweiundvierzigtägigen Karawanenmarsch von Kassala5 bis Sua-
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kin6 hatte man die Strauße ungefesselt zwischen der Ziegenherde und den Dromedaren transportiert; außer den Menschen gibt es eben noch andere Gewohnheitstiere ... An die Reise von Suez nach Alexandrien werde ich mein Leben lang denken. Selten sind meine Nerven auf eine so harte Probe gestellt worden. Der Tag war heiß, einer der heißesten, deren ich mich entsinne. Die Reise begann damit, daß nach einigen Stunden Fahrt der vorderste Güterwagen in Brand geriet. Zum Glück konnten wir das Feuer löschen, jedoch nicht unseren brennenden Durst, denn beim ruckartigen Anfahren der Lokomotive gab es derartige Stöße, daß unsere Gulahs, irdene Wasserflaschen, die wir im Wagen aufgehängt hatten, in Scherben gingen. Mitten auf der Reise versuchte man, uns in einer Station einfach liegen zu lassen. Da der Zugführer behauptete, seine Lokomotive könne den langen Zug nicht weiterziehen, wurden wir abgekoppelt, und der Zug fuhr ohne uns nach Alexandrien davon. In schwärzester Gemütsverfassung ging ich um die Wagen mit meiner kostbaren Fracht. Wie leicht konnte dies zu einer Katastrophe führen und mir einen kaum wiedergutzumachenden Schlag zufügen. Die Tiere waren in ihren Wagen so eng zusammengepfercht, daß wir sie nicht einmal füttern konnten. Hier mußte gehandelt werden. Ich erinnerte mich daran, daß Casanova mir ein Zertifikat des
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Kaiserlichen Hofes in Wien übergeben hatte, das ihm vom Inspektor der K.K. Menagerie zu Schönbrunn gelegentlich eines Auftrages mit der Weisung zugestellt worden war, es bei etwaigem Bedarf zwecks schnellerer Beförderung der Tiere vorzuzeigen. An dem Schriftstück befand sich ein großes vergoldetes Siegel, und auf dieses setzte ich meine Hoffnung. Als ich es dem Stationschef, einem französisch radebrechenden Araber, vorzeigte, machte es auch sofort den gewünschten Eindruck. Ein Telegramm schwirrte nach Kairo, und kaum war eine Stunde vergangen, da war die Bewilligung da, und wir hatten uns in einen Extrazug verwandelt. Zum Frohlocken war aber wenig Grund, denn das Unheil näherte sich abermals in Gestalt eines betrunkenen Lokomotivführers, der mit unserem Zug in einem solchen Tempo davonraste, daß sämtliche Tiere durcheinandergeworfen wurden. Auf der Lokomotive wurde derart blödsinnig drauflos geheizt, daß der Schornstein einen wahren Vulkan von Feuerfunken und glühenden Kohlenstücken ausspie, die wie Regen zwischen unseren Giraffen in das Stroh des Wagens fielen. Wir waren fortwährend damit beschäftigt, entstehende Feuer auszutreten und die verängstigten Tiere zu beruhigen. Schließlich blieb uns nichts weiter übrig, als das gesamte brennende Stroh aus den Waggons zu werfen.
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In Alexandrien ging es zunächst wieder an ein Ausladen und Unterbringen der Tiere, die auf dem Hofe des Fuhrwerksbesitzers Migoletti, eines Bruders meines Afrikareisenden, Unterkunft fanden. Hier traf auch die zweite Karawane mit uns zusammen, und erst am Abend sah ich meinen armen Freund Casanova wieder, in dem das Lebensfünkchen nur noch ganz schwach glühte. Der Kranke freute sich, mich wiederzusehen. Mit leiser Stimme sprach er über den bisher glücklich vollendeten Transport, doch als ich Abschied nahm, fühlte ich wohl, daß dies ein Abschied für immer sei. Sein Nachfolger wurde später der Ungar Eßler, der sechs Jahre am Hofe König Theodors von Abessinien7 als Sklave verbracht hatte und erst durch die Engländer von seinen Ketten befreit wurde. Er hatte sich einem der Casanova-Transporte angeschlossen und bereiste später selbständig das ihm vertraute Gebiet Abessiniens. Vielleicht interessiert es den Leser, die Geschichte dieses Transportes, der in mancher Beziehung typisch ist, bis zu Ende zu hören. Die schwierigste und gefährlichste Arbeit blieb natürlich wieder die Übernahme der Tiere. Giraffen, Elefanten, Büffel, Antilopen, Raubtierkisten: alles wurde in Gurte geschlagen und mit dem Dampfkran an Bord des für Triest bestimmten Dampfers »Uranos« verladen. Man wird es mir
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ohne weiteres glauben, daß es ein ängstliches Gefühl in mir auslöste, wenn ich die Tiere zwischen Himmel und Erde schweben sah. Schwieriger als das Einschlagen in die Schlingen war das Auslösen. Die Giraffen z.B. mußten dabei auf die Seite gelegt werden. Anders ließen sich die Stricke nicht lösen, und so schnell es auch geschah, es blieb doch nicht aus, daß man von diesen langbeinigen Geschöpfen mit gefährlichen Tritten tödlich gefährdet wurde. Mein Bruder Diederich bekam einen solchen Schlag gegen die Brust, daß er ohnmächtig zusammenbrach. Glücklicherweise war nichts gebrochen. In Triest erwarteten mein Vater und mein Schwager Umlauff den Dampfer. Sie hatten bereits die nötigen Eisenbahnwaggons im voraus bestellt. Ganz ungeheuer war das Aufsehen, welches unser Transport in der Triester Bevölkerung erregte. Freilich stellten die beiden vereinigten Karawanen Migolettis und Casanovas auch den größten Tiertransport dar, welcher bis dahin nach Europa gelangte. Er bestand unter anderem aus folgenden Tieren: 1 Rhinozeros, 5 Elefanten, 14 Giraffen, 12 Antilopen und Gazellen, 4 nubischen Büffeln, 60 Raubtieren und 16 erwachsenen Straußen, von denen ein weibliches Exemplar von so außerordentlicher Größe war, wie ich seitdem keines wieder gesehen habe. Einen Kohlkopf, den ich in Höhe von elf Fuß angebracht hatte, konnte dieser Vogel bequem herun-
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ternehmen. Der Transport wurde vervollständigt durch 20 große Kästen mit Warzenschweinen, Erdferkeln, Affen und Vögeln aller Art sowie 72 nubischen Milchziegen, eine wandelnde Molkerei, die uns Milch für unsere Jungtiere lieferte. Als die Tiere ausgeladen wurden, standen Tausende von Menschen an den Kais, um das seltene Schauspiel mit anzusehen. Jedesmal, wenn ein Elefant oder eine Giraffe sich zappelnd in der Kranschlinge zum Ufer schwang, erhob sich ein Gebrause von Stimmen. Dieser Volksauflauf war aber noch nichts gegen das Gedränge der Zuschauer, als wir mit unserer afrikanischen Karawane im langen Zuge vom Hafen zum Bahnhof marschierten. Eine eigene Polizeimannschaft mußte uns einen Weg durch die sich stauenden Menschenmassen bahnen, und es ist mir heute noch ein Rätsel, daß sich dabei keine Unglücksfälle ereigneten. Auf der Fahrt nach Wien, Dresden, Berlin und Hamburg bröckelte die große Karawane auseinander. In der Kaiserlichen Menagerie zu Schönbrunn blieben ein paar Giraffen, ein Elefant und viele kleinere Tiere. In Dresden fanden ebenfalls zwei Giraffen nebst einer Anzahl anderer Tiere ihre neue Heimat. Den größten Teil übernahm aber der Berliner Garten, dessen neue Gebäude soeben fertiggestellt waren. Hier zog das Rhinozeros ein, das als erstes afrikanisches Doppelnashorn seit Römerzeiten nach Europa gebracht
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wurde! Mein Transport war somit bereits ziemlich stark gelichtet, als ich Berlin wieder verließ. Am 8. Juli trafen wir glücklich auf dem Sternschanzenbahnhof in Hamburg ein. Die nie geschauten Giraffen aus dem Sudan, die jungen afrikanischen Elefanten und all die anderen fremdländischen Tiere der Nubischen Wüste erregten hier an der Wasserkante ein ungeheures Aufsehen. Der Tiermaler Leutemann eilte herbei und hielt das malerische Bild für die »Gartenlaube« fest. Der Zoologische Garten in Hamburg erhielt vier Giraffen, ferner Büffel, Erdferkel und andere Tiere; der Rest ging später nach London und Antwerpen. Wenn die Beschreibung dieses großen Tiertransportes den Leser interessiert hat, so möchte ich bemerken, daß sie eigentlich nur die Hälfte der Geschichte, die weniger interessante, darstellt, denn diesen Transporten durch Europa gehen ja diejenigen durch die Wildnis Afrikas voran, die in einem anderen Kapitel eingehend geschildert werden sollen. Seitdem ich im Anfang des Jahres 1866 das Tiergeschäft für eigene Rechnung übernommen hatte, war alle Ruhe dahin. Bald weilte ich an den Ufern des Rheins, bald am Roten Meere. Kam ich nach Hause, dann riefen mich inzwischen eingetroffene Telegramme schon wieder in die Ferne. Diese Reisen wurden auch nicht seltener, als ich am 11. März 1871, also gewissermaßen unter der neuen schwarzweißroten
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Flagge8, meinen eigenen Hausstand gegründet hatte. Doch alle Mußestunden gehörten der Familie. Von den zehn Kindern, die meine Frau mir geschenkt, sind fünf, drei Mädchen und zwei Knaben, am Leben. Heinrich und Lorenz sind heute bereits meine Teilhaber im Geschäft und ebenfalls glückliche Ehemänner geworden, ebenso wie die drei Töchter inzwischen tüchtige Hausfrauen. Als lebendiger Beweis dafür umringt mich heute eine Schar von dreizehn Enkelkindern. Die Verkehrsmöglichkeiten haben sich in den letzten Jahren derartig entwickelt, daß man sich von den Schwierigkeiten des Transportes von Tieren und Menschen in jener Zeit kaum ein richtiges Bild machen kann. Da erwarb ich zum Beispiel einmal von dem Tierschaubesitzer August Scholz eine große Tiersammlung und verkaufte sie für die beträchtliche Summe von 70000 Francs an den französischen Tierschaubesitzer Pianet. Um sie zu ihrem Bestimmungsort in Italien zu bringen, mußte erst eine schwierige Gebirgstour über den Sankt-Gotthard-Paß zurückgelegt werden, denn der gleichnamige Tunnel wurde erst zehn Jahre später gebohrt. Nicht weniger als hundertzwanzig Zugmaultiere waren nötig, um die Packwagen über die Alpen zu ziehen. Es war wohl der größte Tiertransport der Neuzeit, und ich muß gestehen, daß ich von dem Tage an den Elefantenzug Hannibals9,
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der vor rund 2000 Jahren den gleichen Weg zog, noch mehr bewundere! Bei Gelegenheit dieses Geschäftes kam ich zum erstenmal mit der Tierdressur in Berührung, die später in unserem Unternehmen eine so große Rolle spielen und durch mich ihre Erneuerung erfahren sollte. In der Karawane befanden sich verschiedene Raubtierdressurgruppen, welche von dem mitengagierten Tierbändiger Robert Daggesell vorgeführt wurden. Ihm hatten die Löwen so nach und nach drei Finger abgebissen, deren Stümpfe er mit dicken goldenen Ringen und großen Steinen schmückte: nicht gerade fein, aber eine ins Auge springende Geschäftsreklame! Nach dieser zweijährigen Italientournee, auf der er in Rom von König Viktor Emanuel persönlich ausgezeichnet wurde, kam Daggesell zu mir, und ich rüstete ihm eine ganze Tierschau aus. Er war ein kühner Mann, der es auch verstand, die Zuschauer durch allerhand Tricks zu fesseln. Aber im Grunde dieser alten Zugvogelseele schlummerte doch das Ideal eines großstädtischen Spießbürgers. Nach acht Jahren hatte er sein Ziel erreicht, konnte als mehrfacher Berliner Hausbesitzer allabendlich seine »Weiße mit Schuß« trinken, und die gruselnde Stammtischrunde vernahm offenen Mundes seine Abenteuer als Löwenbändiger, wobei die fehlenden Finger und vier tiefe Schädelnarben
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eines verheilten Tigerbisses ihre Wirkung nicht verfehlten.10 Kurz nach dem Ausbruch des Preußisch-Österreichischen Krieges von 1866 befand ich mich in Frankfurt a.M. – Soldaten, Tumult und Aufregung. Ein Brief der Zoologischen Gesellschaft, die ihren Garten aufzugeben wünschte, hatte mich dorthin gerufen, und wieder hatte mein guter Konkurrent Jamrach aus London Pech, denn er gelangte nur bis Köln, da die Verbindung nach Frankfurt unterbrochen war. Auch ich hatte zunächst festgesessen, gelangte aber über Koblenz mit der Eisenbahn, dann zu Schiff und endlich zu Wagen in das aufgeregte Frankfurt, denn gerade an diesem Tage war die Schlacht bei Aschaffenburg geschlagen worden. Tausende von bayrischen und hannoverschen Truppen rasselten mit ihrem Troß und ihren Geschützen durch die Stadt. In eineinhalb Stunden hatte ich meine Geschäfte erledigt und saß bald wieder an Deck eines nach Köln dampfenden Bootes. Der Gegensatz zwischen den aufgeregten Bildern in Frankfurt und dem stillen Naturfrieden auf dem herrlichen Rheinstrom, vielleicht auch die innere Freude über das gelungene Unternehmen, ließen mir diese meine erste Rheinfahrt als eines meiner schönsten Erlebnisse erscheinen. Wenige Tage später befand ich mich in Begleitung meines Vaters auf der Reise nach Wien, wo wieder
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ein Afrikatransport mit einer großen Anzahl von Tieren, darunter sieben Elefanten, eingetroffen war. Wegen der Kriegswirren mußten wir einen Umweg über Frankfurt und Linz machen, so daß wir erst nach einer vierzigstündigen Fahrt in der Donaustadt ankamen. Ich will mich hier nicht in der Wiederholung der ständigen kleinen Abenteuer erschöpfen, die zwar interessant, aber für mich auf die Dauer nur nebensächliche Begleiterscheinungen waren. Während der Rückfahrt bemerkte ich im Waggon, daß meine Elefanten an Kolik litten. Ich ließ sogleich meine Wagen in Nürnberg von dem Güterzug abhängen, denn eins der Tiere hatte sich bereits vor Schwäche hingelegt. Es gibt nun ein sehr einfaches Mittel, Elefanten von der Kolik zu befreien: Da der Mangel an Bewegung die Krankheit häufig verursacht, so muß sie durch Bewegung beseitigt werden. Ich führte also meine sieben langnasigen Afrikaner auf dem Bahnhof spazieren, und nach zwei Stunden hatte die Promenade, die für mich selbst kein Vergnügen war, ihre Wirkung getan. Das dicke Ende folgte indes noch nach. Als wir bereits wieder im Waggon saßen, kam der Stationschef krebsrot vor Wut angerannt und schlug einen heillosen Krach. Nicht mit Unrecht, denn ich muß gestehen, daß die Elefanten Spuren hinterlassen hatten, die allerdings mit Besen und Kehrblech zu verwischen waren. Ich gab dem Mann ein Trinkgeld für seine
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Leute, und der Fall war erledigt. Es kam aber ein noch dickeres Ende nach. Ehe der Zug weiterfuhr, begab ich mich in die Stadt und kaufte einige Flaschen guten Rum und einige Pfund Zucker. Davon braute ich einen kräftigen Grog, den ich meinen Elefanten als bewährte Nachkur gegen die Kolik zu saufen gab. Dieser Trank tat den Tieren sehr gut. Alle gerieten in die heiterste Stimmung. Einer der Elefanten aber schien des Guten zuviel bekommen zu haben, denn er begann allen möglichen Unsinn zu machen, boxte seine Gefährten und traktierte sie mit Fußtritten. Für diesen Süffel braute ich noch einen Extragrog, so daß er nunmehr völlig betrunken wurde. Sanft sank er aufs Lagerstroh und brauchte sechs volle Stunden, um seinen Kanonenrausch auszuschlafen. Vier Tage und vier Nächte rollten wir bis zur Endstation Harburg. Von hier wurden die Tiere mit einem Dampfer nach Hamburg übergeführt, wobei mein Geschäftsfreund Rice, der mich am Kai erwartete, von einem Elefanten einen Rüsselschlag erhielt, daß er förmlich einen Salto mortale in der Luft beschrieb und einen Augenblick besinnungslos auf der Erde liegenblieb. Glücklicherweise kam er mit blauen Flekken davon, und der Elefant war mit seinem Erfolg zufrieden. Einige reisten sogar noch weiter über den großen Teich nach Amerika und erzielten dort Preise
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bis zu 8500 Dollar. Das waren die höchsten Preise, welche bis dahin für junge Elefanten bezahlt worden waren. Zwei weitere große afrikanische Transporte erhielt ich 1867 aus dem Sudan, der überhaupt jahrelang für Europa die größte Tierquelle war. Der erste dieser Transporte bestand aus fünf Giraffen und einem Elefanten, welchen ein deutscher Kaufmann namens Bernhard Kohn, ein gebürtiger Bayer, aus Ägypten mitgebracht hatte. Auf seinen Händlerreisen hatte er einiges über Casanova und Hagenbeck gehört. Das hatte ihn auf den Gedanken gebracht, von sich aus ebenfalls Tiere zu sammeln, die er mir nun telegraphisch aus Triest ankündigte. Giraffen waren gerade diejenigen Tiere, welche ich gebrauchen konnte. Schwierig war die Überführung zum Bahnhof. Jedes einzelne Tier mußte von zwei Leuten geführt werden. Ich selbst nahm den Elefanten. Kaum war jedoch die Tür zum Pferdestall geöffnet, in dem die Tiere standen, als alle Giraffen mitsamt ihren Führern in wildem Galopp durchbrannten. Ich übergab Kohn den Elefanten, lief meinen Leuten zu Hilfe, und es gelang uns nach vieler Mühe, die Langhälse in die Waggons zu bringen. Gewitzigt ließ ich nach unserer Ankunft am Berliner Bahnhof in Hamburg jetzt jedes Tier durch drei Leute sicher in unsere Stallungen führen. Die zweite Tierkarawane desselben Jahres zeichne-
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te sich durch eine Häufung von Unfällen aus, denn ein Unglück kommt selten allein. Als der Dampfer mit unseren Tieren auf der Reede von Triest erschien, wohin ich mit meinem Vater geeilt war, sahen wir mit Schrecken, daß er die Quarantäneflagge gehißt hatte. In Ägypten herrschte die Cholera. Niemand durfte an Bord gehen, und zu allem Unglück erkrankte mein Vater an Dysenterie. Vier Tage nach der Erkrankung stellte sich eine beunruhigende Schwäche ein, und ich geriet in größte Bestürzung, als mein Vater mich rufen ließ und gewissermaßen von mir Abschied nahm. Mit dem Taschenbuche vor sich gab er mir Verfügungen, die sich auf Hamburger Geschäfte bezogen, erteilte mir guten Rat in Dingen, die der Zukunft angehörten, und sprach es schließlich selbst aus, daß er kaum glaube, die Heimat wiederzusehen. Mit schwerem Herzen ging ich an diesem Morgen an die Arbeit, denn der Transport, der inzwischen gelöscht werden durfte, bestehend aus 13 Elefanten, 2 Giraffen, 13 Antilopen und Gazellen, 5 Leoparden, 13 Straußen und vielen Käfigen mit Panthern, Hyänen, Affen und Vögeln, mußte auf die Bahn verladen werden. Auf Anraten des Arztes reiste Vater nach Wien voraus. Nicht ohne die bekannten Zwischenfälle setzte sich endlich auch unser Sonderzug in Bewegung. Unterwegs sprang eine Antilope aus dem Waggon und blieb mit gebrochenem Genick auf dem
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Bahndamm liegen. Ein Strauß brach sich ein Bein und mußte getötet werden. Ein kleiner Elefant ging zugrunde durch den Stoß eines größeren Bullen. Aber was bedeutete das alles gegenüber der großen Freude, meinen lieben Vater in Wien gesund wiederzusehen! Bis in den Anfang der siebziger Jahre reicht die Zeit des ausschließlichen Tierhandels, dem sich in der Folge weitere Unternehmungen anschlossen. Den Schlußstein dieser Periode bildete die Übersiedlung in ein neues Heim. Längst waren die Räume am Spielbudenplatz viel zu eng geworden. Nach langem Suchen glückte es mir im Frühling 1878, am Neuen Pferdemarkt in Hamburg ein geeignetes Grundstück mit Wohnhaus und dahinterliegendem, 76000 Quadratfuß großem Garten aufzufinden. Dieses Grundstück erwarb ich, und die nötigen Bauten, wie Elefantenstall, Dressurhallen, Gehege und Futtermagazin, wurden mit einem solchen Eifer gebaut, daß wir bereits um Mitte April unseren Einzug in das neue Heim bewerkstelligen konnten.
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Fußnoten 1 Phineas Taylor Barnum (1810–1891): der »König des Humbugs«, war ein typischer amerikanischer Spekulant und Geschäftemacher. Seine Selbstbiographie wurde auch deutsch veröffentlicht. 2 Der Suezkanal wurde 1869 nach zehnjähriger Bauzeit eröffnet und gewann rasch große Bedeutung für die Dampfschiffahrt nach Ostafrika, Indien und dem Fernen Osten. Für diese Gebiete beginnt damit eine neue Periode kolonial-imperialistischer Expansion seitens der europäischen Mächte. Das Anwachsen des Tierhandels ist ein einzelnes Symptom für die leichte Zugänglichkeit der Fanggründe und für die wirtschaftliche und politische Kontrolle der wichtigsten Umschlagplätze durch die europäischen Kapitalisten. 3 Fridtjof Nansen (1861–1930): norwegischer Polarforscher und Staatsmann, berühmt durch die Durchquerung Südgrönlands (1888) und durch die Nordpolfahrt mit der »Fram« 1893–1896; widmete sich seit 1918 der Arbeit für internationale Hilfswerke; wurde 1922 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. 4 Robert Peary (1856–1920): amerikanischer Nordpolfahrer
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5 Kassala: Stadt im Sudan, wichtiger Handelsplatz 6 Suakin: Hafen im Sudan, am Roten Meer 7 Die christlichen Abessinier hatten ursprünglich die Europäer als Bundesgenossen gegen die umliegenden mohammedanischen Staaten und Stämme begrüßt. Die bitteren Erfahrungen, die sie in der Folgezeit mit ihnen machten, haben sie dann jedoch zu einer Politik der Absperrung ihrer Hochländer gegen alle Fremden bewogen. Einzelne Fremde, meist Missionare und Abenteurer, erlangten Duldung. Gegen häufigen Mißbrauch des ohnedies ungern erteilten Gastrechtes setzten sich die Abessinier zur Wehr. Da in Abessinien bis ins 20. Jahrhundert hinein noch Sklaverei herrschte, wurden Gesetzesübertreter und ebenso Kriegsgefangene meist zu Sklaven gemacht. Die Engländer benutzten einen solchen Anlaß 1867/68 zu einer militärischen »Strafexpedition«, mit deren Hilfe sie das rückständige Land ihrem Einfluß erschlossen. Der Negus (eher Kaiser als König) Theodor erschoß sich nach der Niederlage. (Vgl. auch S. 117/18.) 8 Auf diesen kurz eingeschobenen Nebensatz beschränkt sich Hagenbecks Begeisterung für die Reichsgründung, deren preußischem Charakter gegenüber er stets eine gewisse Skepsis beibehielt! 9 Der berühmte Alpenübergang des karthagischen
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Feldherrn Hannibal im Zweiten Punischen Krieg gegen die Römer 218 v.u.Z. vollzog sich nicht über den Gotthard, sondern über einen der französischen Alpenpässe, da Hannibal von Spanien her kam. Die mitgeführten afrikanischen Kriegselefanten gingen dabei größtenteils zugrunde. – Die Gotthard-Bahn wurde 1872/82 als wichtige direkte Eisenbahnverbindung von Deutschland über die Schweiz nach Italien auf Betreiben und mit den Mitteln vorwiegend deutscher Kapitalisten gebaut; sie ist zweigleisig und wird elektrisch betrieben; der Gotthard-Tunnel ist 15 km lang. 10 Der feine Spott, mit dem Hagenbeck das großstädtische Spießerideal des Dompteurs Robert Daggesell zeichnet, richtet sich bemerkenswerterweise nicht gegen die Person, sondern gegen die Erscheinung des parasitären Maulhelden.
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III Völkerschauen von der Arktis bis zum Feuerland Im Bankettsaal des »Jardin d'Acclimatation« zu Paris fand sich an einem schönen Herbsttage des Jahres 1886 eine glänzende Gesellschaft von Vertretern der Wissenschaft, der Künste und der Presse zusammen. Es galt, einen Abschied zu feiern. Unter der Hagenbeckschen Flagge hatte die Schaustellung einer Singhalesentruppe stattgefunden, die sich nun nach zweieinhalbmonatigem Aufenthalt wieder auflöste. Diese Völkerschau war die Sensation von Paris gewesen. Sie hatte dem Garten nicht nur bedeutende Einnahmen, sondern einem unabsehbaren Publikum Unterhaltung, Anregung und Belehrung gebracht. Sonntags hatte die Schaustellung bis über eine halbe Million Besucher angezogen. Das Bankett bildete den würdigen Abschluß des Unternehmens. Viele Reden wurden gehalten, eine der bedeutendsten von dem Chefredakteur des »Figaro«1, der mit einem Trinkspruch auf den Direktor des Gartens, Herrn Geoffroy St. Hilaire, schloß. Der Gelehrte, dessen Ehrlichkeit und Bescheidenheit seiner Bedeutung nicht nachstand, erwiderte, daß nicht ihm allein das Lob gebühre, sondern auch dem Tierhändler Carl Hagenbeck, der diese anthropo-
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logisch-zoologischen Schaustellungen zuerst zusammengestellt und in die Öffentlichkeit eingeführt habe. In der Tat war es mir vergönnt, die Völkerausstellungen, die seit 1874 bis zum heutigen Tage ihre Anziehungskraft ausüben, als erster in die zivilisierte Welt einzuführen. Gern gestehe ich dabei, daß die Idee nicht etwa, wie Athene aus dem Kopf des Zeus, fertig ins Leben hineingesprungen ist. Den ersten Anstoß dazu gab ein Brief, in dem ich 1874 meinem alten Freunde, dem Tiermaler Heinrich Leutemann, mitteilte, daß ich eine Rentierherde zu importieren gedächte. Der Künstler schrieb mir darauf, es müsse doch ein großes Interesse erregen, wenn ich die Rentiere von einer Lappländerfamilie begleiten lassen würde, die dann natürlich auch ihre Zelte, ihre Waffen, Schlitten und ihren gesamten Hausrat mitbringen müßte. Ihm schwebte sicherlich das malerische nordische Bild vor, das er sich nur in abgeschlossener Vollkommenheit mit Tieren und Menschen vor einem winterlichen Hintergrund vorzustellen vermochte. In diesem Vorschlag aber lag schon die glückliche Idee der Völkerausstellungen, die sich in den nächsten Jahren wie in bunter Kette aneinanderreihten. Lappländer und Nubier, Eskimos und Somalis, Kalmüken und Inder, Singhalesen und Hottentotten, die Bewohner der entlegensten Erdteile, ja Antipoden reichten einander in den kommenden Jahren gleichsam die Hände in
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ihren Wanderungen durch die europäischen Hauptstädte. Der Zug begann mit den Lappländern, einer Familie, die mein Beauftragter zur Fahrt nach Hamburg veranlaßte. Gegen Mitte September des Jahres 1874 traf die kleine Expedition mit dreißig Rentieren, geführt von einem deutsch sprechenden Norweger, in Hamburg ein. Mit meinem Freund Leutemann fuhr ich dem Dampfer entgegen. Wir erkletterten ihn während der Fahrt und begrüßten im Zwischendeck die nordischen Gäste. Schon der erste Anblick überzeugte mich, daß das Unternehmen gelingen werde. Auf Deck spazierten die drei männlichen Mitglieder der Truppe, kleine, gelbbraune, in Felle gekleidete Leute. Im Zwischendeck drückte eine Mutter ihren Säugling zärtlich ans Herz. Neben ihr ein niedliches vierjähriges Mädchen. Das Ausbooten ging glücklich vonstatten, auch der Transport, dem natürlich einige der dem Leser schon bekannten Zwischenfälle nicht fehlten. Diesmal wurden sie aber zu einer glücklichen Vorbedeutung, weil sie dem neuen Unternehmen eine unfreiwillige Propaganda von großer Werbekraft lieferten. Die Rentiere waren auf der Straße ungebärdig und wollten sich nicht führen lassen. In der Nähe des Dammtors entsprangen zwei, jagten, Gitter und Mauern leicht überspringend, über die damaligen Friedhöfe und gelangten endlich in den Zoologischen Garten,
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wo sie ganz gut aufgehoben waren, bis wir sie wieder abholten. Dieser Zwischenfall und der Anblick der sechsköpfigen Lappländerfamilie hatte indes Tausende von Menschen angelockt. Meine Überzeugung hatte mich nicht getäuscht. Diese erste Völkerschau wurde zu einem großen Erfolg, vielleicht gerade deshalb, weil das ganze Unternehmen mit einer gewissen Naivität und Unverfälschtheit ins Leben getreten war und auch so vorgeführt wurde. Es wurde auch keine Vorstellung gegeben. Die Karawane war lediglich auf dem geräumigen Grundstück hinter unserem Hause am Neuen Pferdemarkt untergebracht, befand sich also vollständig im Freien. Die Lappen oder, wie sie sich selbst nennen, Same bewohnen bekanntlich die nordischen Teile von Rußland, Finnland und Schweden, das sogenannte Lappland mit dem Hauptort Rovaniemi. Man unterteilt sie in die Berglappen, Waldlappen und Fischerlappen. Unsere Gäste zählten zu den Berglappen, die als Rentiernomaden umherziehen. Schön konnte man sie gerade nicht nennen. Die Augen stehen ein wenig schief, die Nase ist klein und platt. Dagegen ist das Knochengerüst dieser im Durchschnitt nur 1,30 bis 1,60 m großen Menschen sehr fein und zart, und kleinere Hände und Füße als bei den Lappländern habe ich nur noch an den Eskimoschönen bewundern können.
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Wie daheim brachen sie ihre Zelte ab und bauten sie vor den staunenden Hamburgern aus Stangen und gegerbten Häuten wieder auf. Die Männer fertigten aus Rentierfell und Sehnen Schneeschuhe, schnitzten Bestandteile ihrer Schlitten, und es war ein Vergnügen zu sehen, wie die Männer in ihren langen Pelzrökken und spitzen Pelzmützen die flüchtigen Rentiere mit dem Lasso einfingen. Großes Interesse erweckte jedesmal das Melken der Rentiere, und Aufsehen erregte geradezu die kleine Lappländerfrau, wenn sie in aller Natürlichkeit ihrem Säugling die Brust reichte. Sie waren eben unverfälschte Naturmenschen, die Europas übertünchte Höflichkeit nicht kannten und sich tief in ihrer Seele wohl darüber wundern mochten, was denn an ihnen und ihren einfachen Hantierungen eigentlich zu sehen sein sollte. Trotz der Kälte kam Leutemann täglich in Holzpantinen und mit einer Staffelei, um die Lappländer für die bekannten »Münchener Bilderbogen« abzumalen. Vom ersten Tage an war das Publikum geradezu begeistert, und der Andrang nahm in den frühen Morgenstunden schon beängstigende Formen an. Polizeimannschaften mußten das Gedränge an der großen Hofeinfahrt regeln. Einige Wochen später, nachdem ganz Hamburg unsere Lappländer gesehen hatte, zeigte ich sie auf der Berliner Hasenheide im Garten einer Bierbrauerei, und dann reiste die Truppe nach Leip-
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zig, wo ich nach Auflösung der Schau Zelte, Schlitten und Gerät dem Leipziger Museum für Völkerkunde zum Geschenk machte und den Erlös des letzten Tages der Stadt für wohltätige Zwecke überließ. Dieser erste Versuch einer anthropologisch-zoologischen Ausstellung hatte mich vieles gelehrt. Der Anfang war gemacht, und ich hatte die feste Überzeugung, daß derartige Völkerschauen mit ihrem großen belehrenden Wert Anklang beim Publikum finden würden. In Gedanken hielt ich Umschau, und meine Geschäftsverbindungen brachten es mit sich, daß ich vom Polarkreis direkt in den sonnigen Süden sprang und meinen damaligen Reisenden in Nubien, namens Kohn, beauftragte, zum nächsten Transport eine Anzahl von Eingeborenen samt ihren Dromedaren, Haus- und Jagdgerätschaften anzuwerben. Diesmal wollte ich ein Bild aus dem ägyptischen Sudan zeigen. Im Juni trafen über Triest kommend die Nubier mit einer außerordentlich reichhaltigen ethnographischen Sammlung und mit vielen Haustieren in Hamburg ein. Riesige schwarze Dromedare und herrliche Waffen besaßen diese riesenhaften Hamraner Jäger, deren jüngster über sechs Fuß maß und in europäischen Frauenherzen mancherlei Verwirrungen anrichtete. In der Truppe befand sich auch die erste Nubierin, die Europa betrat. Hadjidje war ihr Name. Die Gäste
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boten, wo sie hinkamen, eine Sensation ersten Ranges. In Breslau z.B. kam ich auf die Idee, meine Nubier im pompösen Kriegsschmuck ihrer Waffen, Felle und Federn in den vornehmsten Equipagen durch die Stadt fahren zu lassen. Im ersten Wagen saßen Dr. Schlegel, der Direktor des Zoo, ich selbst und die schöne Hadjidje. Neben jedem Kutscher thronte in finsterer Majestät ein sudanesischer Krieger mit ragender Lanze. Zehn Wagen fuhren hintereinander. Unterwegs kehrte man im größten Kaffeehaus der Stadt ein, das sich sofort bis in die entferntesten Winkel mit neugierigen Besuchern füllte. Ergebnis dieses Umzuges: Dreißigtausend Ausstellungsbesucher am ersten Tag! In Hamburg besuchte ich mit den in ihre weißen Umhänge gehüllten Tropensöhnen den Zirkus Renz2. Mit grenzenloser Bewunderung folgten meine Nubier den prachtvollen Darbietungen. Umgekehrt boten die exotischen Zuschauer eine kostenlose Sehenswürdigkeit der weißen Gäste. Gelegentlich einer späteren Afrikaschau – war es die vierte oder fünfte? – verpflichtete Direktor Ernst Renz diese für seine glanzvolle Pantomime »Fest der Königin von Saba«3, zu der ich auch die Giraffen als Zugtiere für den Prunkwagen lieferte, eine Dressurleistung, die bislang nicht wieder gezeigt wurde. Die gesamte Schau der ersten Nubier wurde 1877
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für den Jardin d'Acclimatation in Paris engagiert und brachte es hier zu einem alle früheren weit überflügelnden Erfolg. Von Paris ging ich mit meiner großen Truppe nach dem Alexandra-Palast4 in London, welcher zur damaligen Zeit gerade eröffnet worden war. Auch hier hatte ich einen glänzenden Erfolg. Selbst der Lord Mayor5 erwies mir die Ehre seines Besuches. Das Eis war gebrochen, das anfangs bestehende Mißtrauen beseitigt. Jetzt öffneten im zunehmenden Maße auch die Zoos ihre Pforten den in der Folgezeit laufend aus allen Erdteilen eintreffenden Völkerschauen, die erstmalig mühelos Millionen von Europäern einen lebendigen völkerkundlichen Anschauungsunterricht und den Wissenschaftlern wertvollste anthropologische und ethnographische Erkenntnisse vermittelten. Der großartige Erfolg der Afrika-Ausstellungen gab mir den Gedanken, nun vom Äquator hinauf in den höchsten Norden zu greifen und von dort die noch gänzlich unbekannten Grönland-Eskimos zu holen, von denen ich durch die jüngsten Nordpolexpeditionen wußte. Zur Verwirklichung dieses außergewöhnlichen Planes hatte das Schicksal 250 km nördlich des Polarkreises einen jungen Norweger auf der kleinen Lofoteninsel Risö auserkoren, der nach dem abenteuerlichen Umweg rund um Südamerika 1877 eines Mor-
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gens Schlag zehn Uhr an mein Stehpult trat und sagte, als sei es die einfachste Sache der Welt: »Herr Hagenbeck, ich hole Ihnen die Eskimos!« – Im Augenblick mußte ich vor Verblüffung laut auflachen. Aber es lag etwas in den blauen Seemannsaugen dieses backenbärtigen Vierundzwanzigjährigen, das diesen Worten Nachdruck verlieh. Ich antwortete:»Sie sind mein Mann!« Und eine halbe Stunde später begleitete ich Adrian Jacobsen auf den Altonaer Bahnsteig, und bald winkte mein frischgebackener Eismeerreisender aus dem abdampfenden Kopenhagener Zuge. Wenn ich den einige tausend Seemeilen langen Weg dieses tatendurstigen Steuermanns zu mir beschreiben soll, so waren mir zunächst nur die letzten hundert Schritt von St. Pauli bis zum Kontor am Neuen Pferdemarkt bekannt. Von Valparaiso kommend, hatte Jacobsen auf der Reeperbahn bei einem Glas Grog seinen Bruder getroffen. Dieser hatte ihm erzählt, daß ein alter Mitschüler von der Tromsöer Navigationsschule namens Sören Johannsen für mich einige Eisbären gefangen hatte, aber sich nicht getraute, mit seinem Schiff so weit in die Arktis zu fahren, um auch die Eskimos zu holen. »Dann hole ich sie!« war Adrians Antwort, und – sechs Monate später hatte er sein Wort eingelöst. Die Schwierigkeiten begannen schon in Kopenhagen; denn der Weg nach Grönland führte über die
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Schwellen von vielen Vorzimmern des dänischen Innenministeriums, wo man ablehnend den Kopf schüttelte und nichts mit diesem »Menschenhandel« zu tun haben wollte. Erst als namhafte Persönlichkeiten, so u.a. Professor Rudolf Virchow6 in Berlin, garantierten, daß den Eskimos kein Leid geschehe, konnte Jacobsen mit der Brigg »Walfisken« nach Grönland segeln. In der Nähe von Jacobshavn gelang es ihm, eine Gruppe Eskimos, Männer, Frauen und Kinder, und eine hochinteressante ethnographische Sammlung an Bord zu bringen: Schlittenhunde, Hausrat, Zelte, zwei Kajaks – jene oft beschriebenen Jagdboote –, ein großes Weiberboot, »Umiak« genannt, dazu eine Menge Kleidungsstücke, Schneemesser, Seehundfallen und primitive Waffen! Als die Brigg die Anker lichtete, umschwärmte die ganze Kolonie im Scheine der flammenden Nordlichter die Scheidenden und begleitete die aus der Diskobucht auslaufende »Walfisken« eine ganze Weile in ihren schnellen Kajaks, wobei hüben und drüben viele Tränen flossen. Waren die Schiffskajüten für die Eskimos schon wahre Wunderpaläste, so überstiegen bei der Ankunft in Kopenhagen die mannigfachen Eindrücke einfach ihr Begriffsvermögen. »Ist der Riesenhund auch bissig? Und warum habt ihr auf eure Schlitten so große Häuser gebaut?« fragte das Familienoberhaupt und deutete auf die erste Pferdedroschke. Die Gasbeleuch-
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tung im Hotel war ein teuflischer Spuk. Man bedenke: Licht ohne Docht und Tran! – Die Eisenbahn versetzte alle in maßloses Erstaunen darüber, daß »Hunde« so etwas zu ziehen vermochten. Als wir weiterreisend einen Tunnel durchquerten, schrien alle: »Wir sind verloren, wir fahren gegen den Felsen!« Es ist immer wieder für mich reizvoll, die unverfälschten Naturkinder aller Erdteile bei ihrer ersten Berührung mit der europäischen Zivilisation zu beobachten – manche köstliche Episode wäre zu erzählen, würde aber leider den Rahmen dieser Erinnerungen überschreiten. Die letzten Nachrichten, die ich über diese Grönland-Eskimos erhalten hatte, entstammten der Feder des kühnen Norwegers Roald Amundsen7. der drei Jahre unter ihnen lebte. Obgleich sie das Christentum angenommen hatten, sind ihre Sitten und Gebräuche der alten heidnischen Überlieferung ziemlich treu geblieben. Die Jagd bringt ihnen ihren Lebensunterhalt. Unser Ukubak gehörte zu den besten Seehundfängern, der in seinem Kajak, jenem schmalen Fellboot, auf dem Wasser zu Hause war. Nicht selten passiert es, daß diese Boote in der groben See umschlagen, deshalb sind sie um den Leib des sitzenden Jägers fest verschlossen, und mit Kraft und Geschicklichkeit gelingt es den Gewandtesten, sich mit Hilfe des Doppelpaddels wieder an die Oberfläche zu arbeiten. Ukubak übte dieses Kunststück, und es
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glückte ihm stets, wie ein Stehaufmännchen sich aus seinem Unterwasserkopfstand aufzurichten. Er war ein mittelgroßer Mann von etwa dreißig Jahren, und seine in zierliche Fellkleider gehüllte Ehehälfte konnte auch vom Standpunkt eines »Kabluna«, eines Weißen, als eine Schönheit gelten. Die jüngeren Leser brauchen nur eins der großen Lexika aufzuschlagen. Dort ist sie mit ihrem Säugling unter »Eskimo« abgebildet. Sie war eher groß als klein, schlank, trug das Haar zu einem Zopf zusammengebunden mitten auf dem Kopf und hatte zwei entzückende Babys bei sich. Wie alle Eskimofrauen trug sie Fellhosen und zierlich genähte Schuhe, sogenannte Kamikker. Zwei Eskimolinge vervollständigten die Familie, die ganz nach Eskimoart sich sofort auf unserem Hof halb unter der Erde aus Rasenstollen ihre Wohnung baute. Betreut von Frau Jacobsen, die die Truppe begleitete, fühlten sie sich in ihrer neuen Umgebung sehr wohl, und ich war im Zweifel, wer mehr Vergnügen davon hatte, die sie bestaunenden Hamburger oder meine Gäste vom Nordpol. Alsbald erschien von Paris auch mein alter Freund Monsieur Geoffroy St. Hilaire, um die Gäste für Paris anzuwerben. Dort war die Sensation noch größer. Wissenschaftler nahmen an den Grönländern Körpermessungen vor. Sprachforscher ließen Ukubak in den gerade von Edison erfundenen Phonographen spre-
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chen. Man malte ihn, photographierte ihn, aber als man sein Gesicht in Gips abformen wollte, pfefferte er mit einem recht nördlichen Eskimofluch dem Künstler das Modellgeld vor die Füße. Frau Ukubak entschloß sich jedoch, nachdem man den selbst ein Frauenherz aus den Eismeerregionen betörenden Putz und Glanz der Boulevards vor ihr ausgebreitet hatte, ihr Stupsnäschen modellieren zu lassen. Es kostete Frau Jacobsen aber viel frauliche Überredungskunst, sie wieder zum Ausziehen ihres so sauer erworbenen Modemäntelchens zu veranlassen. Jetzt endlich begannen auch die zoologischen Gärten in Deutschland meinen Völkerschauen ihre Pforten zu öffnen. Dr. Bodinus, der Berliner Zoodirektor, vermochte nicht länger zu widerstehen, und so siedelte die Expedition im März 1878 nach Berlin über, wo der Erfolg alle Erwartungen übertraf. Von Berlin ging es nach Dresden, später nochmals nach Berlin und dann nach Hamburg, wo die Eskimos für wenige Tage im Zoologischen Garten Quartier nahmen. Es waren gerade die Osterfeiertage. Bei dem billigen Eintrittsgeld von vier Schilling war der Zuspruch außerordentlich stark. 44000 Besucher wurden gezählt, die alle die Eskimos vor ihrer Abreise gleich nach den Feiertagen noch einmal sehen wollten. Arm waren sie gekommen, reich im buchstäblichen Sinne zogen sie in ihre Heimat zurück. Außer einem, wenig-
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stens für ihre Verhältnisse, wirklich großen Vermögen von 8000 Kronen führten sie zwei Wagen voller Geschenke aller Art mit in ihre Heimat. Wie ich später durch meinen Eismeerreisenden erfuhr, war die Freude der grönländischen Eskimos bei Rückkunft der Truppe unbeschreiblich. Ukubak lud fast alle Bewohner der Disko-Bucht zu einem gewaltigen Wiedersehensfest ein. Fast 3000 Gäste halfen ihm einmütig, sein Vermögen bis auf das letzte Öre auf den Kopf zu schlagen, und die ersten Robbenjäger zogen erst wieder auf Nahrungssuche, als der letzte Bissen verzehrt und das letzte Lot Kaffee in den Schneehütten verduftet war. Aus den großen Erfolgen wuchsen neue Pläne. Jetzt rüstete ich für Kapitän Adrian Jacobsen ein eigenes Expeditionsschiff für den Tierfang in der Arktis aus und sandte ihn mit der Brigg »Eisbär« zu neuen Expeditionen. Sein Name begann einen weithin reichenden Klang zu bekommen, als er nach und nach für mich Völkerschaften aus allen Teilen der Erde heranholte, die erstmalig in Europa gezeigt wurden. Brachte er 1879 von der Südspitze Amerikas die ersten Feuerländer, so folgten 1880 die ersten Labrador-Eskimos, 1885 die ersten Bella-Coola-Indianer und später die ersten Sioux, die, abgesehen von jenen, die mit Buffalo Bills Truppe nach Deutschland kamen, erstmalig in Europa gesehen wurden. Von seinen vielen
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Reisen vornehmlich im Nördlichen Eismeer, aber auch in der Südsee brachte er viele hunderttausend Stücke ethnographischen Geräts mit, das nach den Völkerschauen zum Teil in den Besitz meines Schwagers Heinrich Umlauff vom gleichnamigen Handelsmuseum überging. Allein das Berliner Völkerkundemuseum erwarb 14230 Stücke, worauf denn auch Jacobsen von den Professoren Virchow und Bastian später nach Beendigung seiner Reisen zum Kustos ernannt wurde. Schiffbruch, Hunger, Durst und Kämpfe auf Leben und Tod, alles das hat Jacobsen auf seinen Reisen, die er zum Teil auf eigene Rechnung oder für Museen unternahm, am eigenen Leibe kennengelernt und in seinem bekannten Buche »Die weiße Grenze« festgehalten. Als sich 1883 die Ingalik-Indianer am Yukonfluß in Alaska auf dem Kriegspfad befanden, war mein Reisender mitten unter ihnen. Dank seiner seemännischen Tüchtigkeit, seiner Umsicht und seiner Kenntnisse besonders der nordischen Sprachen und Völkerschaften blieben ihm glänzende Erfolge nicht versagt, die ihm Ehren, Freundschaften und Auszeichnungen hochgestellter Persönlichkeiten der Regierung, Forschung und Wissenschaft, wie Amundsens und Fridtjof Nansens, eintrugen. Was zuerst wie ein artiges Spiel und eine angenehme Abwechslung erschien, erwies sich als ein großes Glück. Der Tierhandel, weit davon entfernt, lukrativ
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zu sein, brachte in jenem Jahre große Verluste, und die Völkerschauen waren es nun, durch welche das Manko gedeckt wurde. Besonders schlecht war das Jahr 1879, in dem ich trotz aller meiner Anstrengungen annähernd alles verlor, was ich mir in vielen Jahren vorher in unermüdlicher Arbeit erworben hatte. Aber schon im folgenden Jahre, das im Zeichen der Elefanten stand, wendete sich das Blatt. Unter meinen amerikanischen Kunden entstand ein Wettbewerb um die Erlangung indischer Elefanten, mit deren Anzahl sich die dortigen Zirkuskönige gegenseitig zu übertrumpfen gedachten. Es regnete Lieferungsaufträge. Im Sudan war der Mahdi8 aufgetaucht, und sein Nachfolger Abdullahi hatte das neue Reich Mahdia für jeden Ungläubigen verschlossen. Wo sonst meine Jäger über Berg und Tal zogen und Europäer unter dem Schutz der ägyptischen Regierung sicher reisen konnten, herrschten jetzt die fanatischen Anhänger des neuen Prophetentums. Um meine amerikanischen Geschäftsfreunde in ihrem Elefantenhunger zu befriedigen, war ich genötigt, andere Plätze aufzusuchen, und so entsandte ich meinen Weltreisenden Joseph Menges, der sich bereits seit 1876 mit meinem Hause verband und bislang im Sudan tätig gewesen war, nach Ceylon. Menges hatte bereits Anfang der siebziger Jahre die Gordon-Pascha-Expedition zum Weißen Nil begleitet und dabei wertvolle Erkenntnisse und
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Erfahrungen gesammelt, die ihm später vorzüglich zustatten kamen. Er war eine jener genialen Naturen, die Beruf und wissenschaftliche Interessen glücklich in sich vereinten. Das machte ihn zu einem meiner besten Mitarbeiter. Menges nahm nunmehr eine gründliche Erkundung von Ceylon vor, knüpfte Geschäftsverbindungen an, worauf dann zwei andere Reisende beauftragt wurden, sich mit dem Ankauf und Transport von Elefanten zu beschäftigen, während Menges bereits wieder Somaliland bereiste, um neue Fanggebiete zu erschließen. Im Sommer 1881 kehrte er mit einem großen Tiertransport voller Strauße, Gazellen und einem Dutzend schöner Beisa-Antilopen zurück. Leider geriet der Dampfer im Golf von Aden in einen orkanartigen Sturm, wobei die meisten Transportkisten von haushohen Brechern von Deck geschleudert wurden. Nur sechs Strauße und drei Antilopen erreichten lebend Hamburg. Aber von solchen Schicksalsschlägen darf man sich in unserem Unternehmen nicht entmutigen lassen. Menges kehrte sofort nach Somaliland zurück, nahm aber diesmal größere Mengen zerlegbarer Käfige und Bauholz mit, um den Tieren auf der Reise mehr Schutz gewähren zu können. Der zweite Transport glückte besser, und ich konnte über Marseille eine Straußenfarm in Algerien mit vierzig Somalistraußen beliefern, während der Rest nach Hamburg
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weiterreiste. In diesem Transport befand sich auch eine neue Art Wildesel. Die Zoologen wollten indes merkwürdigerweise von der Neuheit dieser Art zunächst nicht viel wissen. Kurz darauf stellte sich bei mir zwar kein fachmännischer, aber dennoch höchst prominenter Beurteiler meines Imports ein, an den ich mich auch wohl kaum jemals gewendet hätte. Als ich, es war im Herbst 1882, eines Tages gegen Mittag in meinen Tierpark zurückkehrte, wurde ich von meiner Frau mit der Botschaft empfangen, Bismarck sei in Begleitung zweier Damen und eines Herrn seit zwanzig Minuten im Garten. Sofort begab ich mich dorthin und fand den Fürsten vor dem Wildesel aus Somaliland. Da der Wärter keine richtige Antwort zu geben vermochte auf die Frage, was dies für ein kurioses Tier sei, trat ich hinzu und erzählte ihm, wie ich das Tier erhalten habe und daß es ein bisher unbekanntes und unbeschriebenes Exemplar sei. Ich fügte noch hinzu, daß ich dennoch Schwierigkeiten hätte, den Wildesel zu verkaufen, da kein Zoodirektor daran glaube, daß hier eine neue Tierart vorliege. »Ich bin zwar kein Zoologe«, erwiderte Bismarck,« doch habe ich auf den ersten Blick gesehen, daß dies ein neues Tier sein muß, denn es ist ja an den Beinen gestreift wie ein Zebra, auch hat der Körper eine viel schönere blaugraue Färbung, als man sie sonst bei gewöhnlichen Eseln findet.« Es entwickelte sich ein munteres
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Gespräch, und mit großem Interesse folgte der Fürst einem Rundgang durch meinen Tierpark. Den SomaliEsel verkaufte ich schließlich an den Londoner Zoo. Auch mußte ich mich verpflichten, innerhalb eines Jahres ein paar Bälge von alten Tieren dieser Gattung für das Britische Museum gratis zu besorgen, ein Versprechen, welches auch eingelöst wurde. Die Felle kann man heute noch dort bewundern. Inzwischen war nun auch der von Menges eingeleitete Elefantenimport aus Ceylon recht günstig angelaufen. Im Jahre 1883 führte ich nicht weniger als 67 dieser Tiere von der Insel ein. Wie etwas Selbstverständliches griff nun das neue Gebiet auch in die Völkerschauen ein, die ununterbrochen ihren Fortgang nahmen. Mein Halbbruder John Hagenbeck in Ceylon stellte verschiedene hochinteressante Karawanen zusammen, wobei ihm seine guten Kenntnisse von Land und Leuten und seine mannigfachen Geschäftsbeziehungen trefflich zustatten kamen. Das Jahr 1883 vereinigte wieder einmal äußerste Gegensätze, Inder und – Kalmüken. Die Elefantentransporte legten mir den Gedanken nahe, einmal eine Anzahl »Kornaks«, wie bekanntlich die Elefantentreiber genannt werden, aus Ceylon mit nach Europa kommen zu lassen, um zu zeigen, wie die Elefanten in Indien zur Arbeit verwandt werden. Die eingeführten Lastund Arbeitselefanten sind ebenso willig und gefügig
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wie Pferde und verrichten Arbeiten, zu denen man im einzelnen allerdings vier und mehr schwere Arbeitspferde verwenden müßte. Die Vorführungen fanden in Paris und Berlin außerordentliches Interesse, so daß ich sofort Anstalten traf, für das nächste Jahr eine große, umfassende Ceylonausstellung ins Werk zu setzen, die neben Arbeitselefanten eine Völkerschau in großem Stile mit allem ethnographischen Drum und Dran enthielt. Ich entsandte meine bewährten Reisenden Menges und Carstens nach Ceylon, während ich mit der großen Kalmükenschau aus dem Wolgagebiet durch die europäischen Hauptstädte reiste. Die Kalmüken nennen sich Mongol-Oirat; der Name »Kalmüken« kommt von der tatarischen Benennung »Khalemak«. Der größte Teil dieser ausgedehnten Völkerschaften stand noch unter chinesischer Oberhoheit, und mein Reisender Behnke hatte sie in ihren Stammsitzen in der Gegend von Kuku-nor aufgesucht, wo dies Nomadenvolk der Viehzucht obliegt. Mit ihren Wohnzelten, Kibitken genannt, ihrer Herde von Kamelen und riesigen Fettschwanzschafen, die ihre durch die Fettbildung so schwer gewordenen Steiße auf einem zweirädrigen Karren hinter sich herziehen müssen, bildeten sie eine große Sehenswürdigkeit. Neben diesen seltsamen Schafen erregten die kirgisischen Stuten viel Interesse, die täglich gemolken wurden. Aus der Pferde-
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milch bereiteten die Kalmüken ihr Lieblingsgetränk, den inzwischen als Heilmittel gegen Brustkrankheiten weltbekannt gewordenen Kumys. Der Kumys hat einen säuerlichen Geschmack, und das gegorene Getränk schäumt beim Eingießen. Auch zwei buddhistische Priester hatte ich mitkommen lassen, die in ihrem feierlichen Ornat amtierten und einen guten Eindruck hinterließen. Die Kalmüken bauten ihre bienenkorbartigen Kibitken auf, in deren Dach ein Luftloch Rauchfang und Fenster ersetzte. Das Leben und Treiben dieses Nomadenvolkes fesselte das Publikum wie die Wissenschaftler. Interessierten sich letztere hauptsächlich für das seltene ethnographische Gerät, so war es für die Zuschauer stets reizvoll, wenn diese wilden Nomaden fochten, sangen, tanzten und ritten, wobei die nach Männerart ihre Pferde tummelnden Mädchen einen herrlichen Anblick boten. Die Kalmükenschau wurde, um es kurz zu sagen, ein ungeheurer Erfolg und mußte 1884 wiederholt werden. War der Andrang in Paris schon bedeutend gewesen, so übertraf er in Berlin alles, was ich bisher bei Völkerschauen zu verzeichnen gehabt hatte. Ich entsinne mich noch mit Freuden des ersten Telegramms, das mich erreichte: »Bis jetzt Besuch etwa 80000 Personen. Riesiger Andrang. Ordnung wird durch Polizei zu Pferde und zu Fuß aufrechterhalten.« Diese Depesche war um vier
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Uhr nachmittags abgesandt. Bis zum Abend war die Besucherzahl des Berliner Zoo sogar auf 93000 gestiegen. Inzwischen hatten meine Reisenden in Ceylon sorgfältig die Abreise der großen Indienschau vorbereitet, die im April des Jahres 1884 eintraf: 67 Singhalesen, 25 Elefanten, von ganz jungen Exemplaren bis zum größten Arbeitselefanten, dazu eine Herde von Bukkelrindern und mehrere Tonnen Waffen und Gerät, denn die ethnographische Ausstellung umfaßte allein Hunderte verschiedener prachtvoller Nummern. Auch die Pflanzenwelt war durch zahlreiche Proben vertreten. Über meiner Singhalesentruppe lag es wie ein Hauch aus dem alten Wunderland Indien. Nicht nur seine malerische Außenseite hatten wir eingefangen, sondern auch einen Schimmer seiner Mystik. Das bunte, fesselnde Bild des Lagers, die majestätischen Elefanten, teils mit goldstrotzenden Schabracken behangen, teils mit Arbeitsgeschirr gigantische Lasten schleppend; die indischen Magier und Gaukler, die Teufelstänzer mit ihren grotesken Masken, die schönen, schlanken, rehäugigen Bajaderen mit ihren die Sinne erregenden Tänzen und schließlich der große religiöse Perra-Harra-Festzug – alles das übte einen geradezu bestrickenden Zauber aus, dem die Zuschauer überall erlagen. Daß diese Wirkung nicht etwa nur an die Vorstellung gebunden war, beweist das folgen-
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de kleine Geschichtchen, das ich gleich vorwegnehmen möchte. Ich nenne es: Krupp und die Singhalesen. Auf unserer Rundreise gelangten wir auch nach Köln. Von hier aus unternahm eine Anzahl unserer Singhalesen im Schmucke ihrer malerischen Kostüme und natürlich in Begleitung einiger Europäer einen Ausflug nach Essen. Hier fuhr man in einigen gemieteten Droschken spazieren und gelangte so auch nach dem weltberühmten Fabrikgelände des Kanonenkönigs Krupp. Da zufällig die große Einfahrt offenstand, fuhren die Equipagen kurzerhand und ohne irgendwelche Erlaubnis abzuwarten auf den Fabrikhof. Große Aufregung: Arbeiter, Meister, Techniker und Ingenieure und, was weiß ich, vielleicht auch die Direktoren strömten herbei und glaubten offenbar, eine Anzahl exotischer Potentaten sei gekommen, um Kanonen und sonstige Donnerbüchsen zu bestellen. Die Höflichkeit verbot es, Fragen zu stellen, und so wurden die indischen Gäste zunächst mit der größten Liebenswürdigkeit durch die lärmerfüllten Werkhallen geführt, worauf sie wieder ihre Droschken bestiegen und sich – im Namen Hagenbecks – bedankten und davonfuhren. Lange Gesichter sahen ihnen nach, und mit der Kanonenbestellung war es ebensowenig etwas gewesen wie beim Besuch Li-Hung-Tschangs.9 Eröffnet wurde die Indienschau in der Hamburger
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Moorweidenhalle, die jetzt längst abgerissen ist. Wochenlang war die gewaltige Halle von früh bis spät mit Zuschauern gefüllt. Auf Hamburg folgten Düsseldorf, Frankfurt a.M. und Wien, wo eine wahre Völkerwanderung zu der von mir prachtvoll ausgestatteten Rotunde10 des Praters erfolgte. Gleich am ersten Sonntag mußten wegen Überfüllung die Kassen geschlossen werden, und ich selbst habe vier Wochen lang angestrengt arbeiten müssen, denn ständig meldeten sich prominente Herrschaften, deren Führung ich persönlich übernehmen mußte. Nach acht Tagen erschien sogar der Kaiser Franz Joseph von Österreich, und ich führte meinen Besuch. Eindreiviertel Stunden dauerte der Rundgang, bis der Kaiser Abschied nahm und mir und meinem Unternehmen für die Zukunft viel Glück wünschte. Zur Erinnerung an diesen Kaiserbesuch ließ der Hof am nächsten Tage jedem Inder einen neuen österreichischen Dukaten überreichen. Zum durchschlagenden Erfolg des Unternehmens hatte dieser Besuch gerade noch gefehlt. Die Presse schilderte in langen, ausführlichen Artikeln nicht nur alles, was der Kaiser gesagt und getan hatte, sondern widmete auch der Ausstellung ihre eingehendste Betrachtung. Die Folge war ein weiteres Anschwellen des Besuches, ein Massenandrang, wie er seit der Wiener Weltausstellung im Jahre 1873 nicht mehr be-
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obachtet worden war. Ich führte Volkspreise ein und wandte einen großen Teil der Einnahmen mildtätigen Instituten zu. Mein Lohn war anderer Art. Unvergeßlich bleibt mir der freudige Eindruck, den ich empfing, als sich eines Morgens 7000 Kinder der Wiener Volksschulen mit Musikzügen, Trommler- und Pfeiferkorps dem Prater näherten und jubelnd in die Rotunde strömten. Von Wien ging es nach Berlin, aber nicht in den Zoo, sondern die Ausstellung fand in Anbetracht ihrer Größe auf dem Ausstellungsgelände am Lehrter Bahnhof statt. Sie dauerte vier Wochen und brachte noch größere Einnahmen als in Wien. Hochgestellte Persönlichkeiten, Wissenschaftler von Weltruf, die Künstler, die Presse – alles eilte herbei. Selbst die oberhalb des Parkes vorbeifahrenden Stadtbahnzüge verlangsamten regelmäßig ihre Fahrt, damit die Reisenden ein flüchtiges Bild der fremden Zauberwelt mit ihrem faszinierenden Leben und Treiben und ihren bizarren Bauten erhaschen konnten. Der Vorteil dieser großen und lehrreichen Expedition war trotz aller Erfolge nur mäßig, da die Unkosten zu bedeutend waren. Abschließend gab ich meinen Indern in Hamburg ein großes Abschiedsfest und sandte sie mit Schätzen reich beladen in ihre Heimat zurück. In den folgenden Jahren bereiste ich mit einer neuen Indienschau Süddeutschland und die Schweiz, gelangte
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nochmals nach Wien und setzte dann nach England über. Infolge schlechten Wetters, großer Spesen und anderer Mißgeschicke erlitt ich diesmal einen Fehlschlag. Die ganze englische Expedition brachte einen Verlust von 40000 Mark, den ich glücklicherweise durch die Pariser Ausstellung wieder ausgleichen konnte. Einige Millionen Franzosen pilgerten während der zweieinhalbmonatigen Völkerschau in den Jardin d'Acclimatation, um einen Blick in das Zauberland Indien zu werfen. Als ich im April 1895 mit einer ebenfalls von meinem Reisenden Menges in Berbera11 zusammengestellten großen Somalischau wieder in London eintraf, hatten die inzwischen auf dem Kontinent mit glänzendem Erfolg durchgeführten Völkerausstellungen den Namen Hagenbeck bereits auf der Britischen Insel zu einem Begriff werden lassen. Die führenden Zeitungen und Illustrierten der Themse-Stadt hatten ihre Journalisten, Zeichner und Photographen zum Tilbury Dock entsandt, wo der Dampfer »Clan Ross« seine seltene Fracht löschte: 66 Somalis unter Führung des jungen Häuptlings Hersy Egga, 20 Tonnen Gepäck und Gerät und 252 Tiere aus dem Sudan. Allein die gesammelten Londoner Pressestimmen über diese hervorragende Schau füllen in meinem Hamburger Kontor einen dickleibigen Folianten. Vor einem nach Art der Theaterkulissen gestaffel-
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ten, aber plastisch aus Gips und Drahtgeflecht geschaffenen Hintergrund von über 2000 Fuß Breite war stilecht ein Somalidorf aufgebaut und mit Pflanzen, Palmen und Gerätschaften ausgestattet. Hier vollzog sich wie in allen meinen Völkerschauen keine Vorstellung an sich, sondern die Beschauer gewannen einen lebendigen Eindruck vom täglichen Leben dieser fremdartigen Stämme. Da wurde nach heimischer Sitte das Mahl bereitet, wurde Hausrat angefertigt, wurden die Tiere gefüttert, und es wurde mehr oder weniger diskret ein Einblick in das afrikanische Familienleben gewährt. Um diesen reizvollen, besonders die Maler immer wieder anregenden Hintergrund durch eine »Handlung« zu beleben, hatten wir den Häuptling gebeten, Begebenheiten vorzuführen, wie sie im Sudan damals noch vorkamen. So »überfielen« plötzlich zu Beginn des Spiels Sklavenhändler dieses friedliche Dorf. Araber hoch zu Dromedar umritten mit Geschrei und Gewehrgeknatter die eben noch schmausenden Dorfbewohner. Erschrocken stob die Ziegenherde auseinander, Hühner flüchteten gackernd, und nach kurzem Handgemenge wurden die armen Gefangenen, sehr realistisch in Ketten und Holzgabeln gelegt, als lebende Beute abgeführt. Dann erschienen europäische Tierfänger, verjagten in einem Feuergefecht die räuberischen Beduinen, und anschließend gab es ein großes Friedensfest,
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bei dem unter heimischer Musikbegleitung getanzt und alle Riten eines echt sudanesischen Stammesfestes beobachtet wurden. Dann folgten Straußentreibjagden auf Renndromedaren. Der Fang von afrikanischem Wild wurde vorgeführt, und zum Schluß umzog die von den Tierfängern zusammengestellte Karawane mehrmals das weite Rund des Ausstellungsgeländes: prachtvolle afrikanische Elefanten, Krieger im Waffenschmuck führten Tragtiere mit Kisten voll Löwen, Geparden, Schakalen und Affen. Dazu trieben die Eingeborenen Herden von Straußen, Zebras und Ziegen – kurz, es wiederholte sich das, was meine Reisenden alljährlich im afrikanischen Busch oft weniger programmgemäß in der Wirklichkeit erlebten. Wer beschreibt aber meine Überraschung, als eines Tages Scheik Hersy Egga mit zwei jungen Kriegern auf den gerade aufgekommenen Fahrrädern, eifrig die Pedale tretend, seinen verblüfften Harem umkreiste! Mein Freund William Judge hatte den Somalis die Räder verschafft, und tagelang bildeten die Rennen auf den neuen Stahlrössern die unvorhergesehene Sensation der Zuschauer vom Kristallpalast – und der Somali, die nicht genug das Teufelsblendwerk aus Gummireifen, Lampe und Klingel bewundern konnten. Allah il Allah, Allah ist groß und Mohammed ist sein Prophet, und unermeßlich ist die Weisheit der Franken! –
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Die Völkerschauen alle zu erwähnen, hieße den Leser ermüden. Sie bilden in meiner Erinnerung eine in sich abgeschlossene Geschichte, die reich ist an Gestalten und Anekdoten. Wie mancher dunkle Kopf taucht lachend in meiner Erinnerung auf, wie manches verblüffte schwarze und braune Gesicht, das mit erstaunten Augen die unfaßbaren Wunder unserer Kulturwelt betrachtet. Wo seid ihr alle geblieben, ihr Afrikaner, Inder, ihr roten Söhne der Prärien, ihr Eskimos, ihr Patagonier aus der Gletscherwelt Feuerlands, die ihr euch meiner Führung in das Land der Weißen anvertrautet, die euch zu Millionen anstaunten, als wäret ihr Wundertiere? Alle seid ihr längst heimgekehrt in die Länder eurer Vorfahren, und die Reise in das Land des weißen Mannes, der euch mit reichen Schätzen heimsandte, ist zum großen und unvergeßlichen Abenteuer eures Lebens geworden. Wo bist du, mein guter El Amin, du, dessen herrliche Gestalt einst die Herzen der weißen Frauen entzündete? Und du, mein lieber brauner Takruri, stolzierst du in deinen Wäldern noch mit dem alten Säbel umher, um den du mich batest und in dessen Besitz du dich wichtiger dünktest als alle Herrscher der Welt? Was ist aus dir geworden, mein alter Ukubak? Von dir, mein stolzer Häuptling Hersy Egga, hörte ich durch deinen Sohn Ali, den du zu deinem alten Freunde Hagenbeck in die Schule schicktest. An deinen Lagerfeuern wirst
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du noch deinen Enkeln erzählt haben von der großen Reise in das Reich der Ungläubigen, die so oft zu deinen besten Freunden wurden ... In langer Reihe ziehen die Gestalten vorüber, freundliche und gleichgültige, angenehme und fatale, aber alle besitzen ihren Platz in meinen Erinnerungen. Daß eine dankbare Erinnerung auch in euren Reihen lebendig ist und diese Völkerschauen zu ganz merkwürdigen und abenteuerlichen Schicksalsfügungen berufen waren, zeigt das folgende buchstäblich wahre Geschichtchen. Dem jungen Offizier eines deutschen Kriegsschiffes, das in Punta Arenas in der Magalhãesstraße vor Anker gegangen war, kam eines Morgens der Gedanke, einen Ausflug in die Pampa zu unternehmen. An die Begegnung mit Menschen dachte er nicht. Auf dem Rücken eines gemieteten Pferdes trabte der Offizier wohlgemut in die Steppe. Nachdem er stundenlang umhergestreift war, bemerkte er, daß er seinen Kompaß verloren hatte. Bald geriet er gänzlich in die Irre und wollte schon unter irgendeinem Strauch sein Nachtlager aufschlagen, so wenig verlockend auch diese Aussicht war, denn des Nachts ist es unter diesem Himmelsstrich bitter kalt, und der Puma oder Silberlöwe macht so eine Ruhestätte nicht gemütlicher. Plötzlich schlug aus der Ferne der dumpfe Laut von Pferdegetrappel an sein Ohr. Im nächsten Augenblick
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tauchte aus der Dämmerung eine Schar wildaussehender Indianer auf und sprengte mit gellenden Rufen auf den Verirrten zu. Das Pferd, die Büchse, die er trug, und die blanken Knöpfe seiner Schiffsuniform genügten, um in ähnlichen Fällen die Begehrlichkeit der vor einem Totschlag nicht zurückschreckenden Indianer zu reizen. Der Deutsche packte sein Gewehr und beschloß, sein Leben so teuer als möglich zu verkaufen – als sich etwas ganz Seltsames und schier Unglaubliches ereignete. Auf einen Schrei des heransprengenden Häuptlings zügelte die ganze Schar ihre struppigen Gäule. Der Häuptling ritt allein an den Fremden heran, starrte ihn an und rief mit freudig bewegter Stimme: »Du Capitano Vapore Hagenbeck?« – Dem Deutschen tönte dieses Wort wie eine Erlösung, war er doch ein geborener Altonaer, und blitzschnell kam ihm der Gedanke, daß der Indianer wohl zu einer der Völkerschauen gehört haben mochte, die er so häufig in meinem Tierpark gesehen hatte. Schnell faßte er sich und rief hocherfreut: »Ja, Hagenbeck Amburgo Capitano!« Gegenseitiges Staunen. Der Häuptling hält unter vielfachen Gestikulationen seiner Truppe einen großen Vortrag. Allgemeiner Jubel. Alle sitzen ab, ein Feuer wird angezündet und der Fremde mit großer Höflichkeit eingeladen, sich in dem Kreis der Rothäute niederzulassen, die von einem Jagdausflug kamen
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und viele Nandus, jene südamerikanischen Strauße, und junge Guanacos als Wildbret bei sich führten. Ein Strauß wurde gerupft und gebraten, wobei man den Offizier mit den besten Bissen bewirtete. Später machte der Offizier dem Häuptling begreiflich, daß er nach Punta Arenas zu seinem ankernden »Vapore« zurück möchte. Der Häuptling und sechs Indianer sattelten nun ihre Pferde und brachten den Fremden im Galopp direkt zur Küste, wo sie in wenigen Stunden wohlbehalten ankamen. Hier verabschiedete sich der Offizier mit lebhaftem Händeschütteln, und das Abenteuer war zu Ende. Das hast du gut gemacht, mein alter Pitjotsche, und ich nehme deine Höflichkeit gegen meinen verehrten Landsmann mit so viel Dank an, als habest du sie mir persönlich erwiesen. Du hast die kurze Zeit, die du unter meiner Obhut zubrachtest, nicht vergessen, und in deinem Herzen wohnt Dankbarkeit. Du bist ein brauner Indianer, nur in rohe Felle gekleidet, und doch erhebt es mich, daß du mir drüben auf deiner wilden Pampa als ein Freund lebst. Das Geheimnis, welches dieser kleinen Episode zugrunde lag, wird der Leser schon erraten haben. Der patagonische Häuptling hatte sich wirklich einst in einer meiner Völkerschauen befunden. Kapitän Schwers hatte ihn nebst Frau und einem zwölfjährigen Sohn auf einem Kosmosdampfer nach Hamburg
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gebracht. Die kleine Familie war aber nur wenige Wochen in meinem Tierpark, wo sie ihre Spiele mit Lasso und Bola12 dem Publikum vorführten. In Dresden, wohin ich die Indianer auf einige Wochen gesandt hatte, bekam Pitjotsche Heimweh und flehte mich an, ihn zu seiner Pampa zurückzusenden. Ich kam seiner Bitte nach und sandte ihn mit dem nächsten Kosmosdampfer nach Punta Arenas zurück. An Bord beschäftigten sich die Offiziere sehr viel mit dem klugen und gutmütigen Häuptling, und zu allen faßte er Vertrauen. Und nun kommt die Pointe! Die Uniform der Kosmosoffiziere ähnelte derjenigen der Offiziere von der Kriegsmarine. Als nun der Häuptling den jungen Mann in der Pampa fand, hielt er ihn für den Kapitän eines Kosmosdampfers, den er sich nur in Verbindung mit Hagenbeck vorstellen konnte. Ähnliche Abenteuer könnte man nicht nur auf den afrikanischen Steppen oder im Packeis Grönlands erleben, sondern auch in den Tundren Sibiriens oder im indischen Dschungel. Wo meine Pioniere, Kundschafter, Reisenden und Transporteure nicht hingekommen sind, leben Eingeborene, die einst mit mir durch die europäischen Länder reisten.13 Sie haben, vielleicht ohne daß sie es wollten, Belehrung eingeheimst und Kultur in die Wildnis mit hinausgenommen. Von den Somalis bis zu den Hottentotten, von den Kalmüken bis zu den Australiern haben die Völkerschauen alles
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in sich aufgenommen, was sich nur aus ihren Stammsitzen herauslocken ließ. Von der Weltweite dieser friedlichen Völkerwanderungen zeugt am besten folgende kleine Begegnung, die sich gewissermaßen zwischen Antipoden, nämlich den Nachbarn des Nord- und Südpols, in meinem Tierpark vollzog. Als die Eskimos sich zur Heimreise rüsteten, trafen von der Südspitze Amerikas die letzten Vertreter der Steinzeitkultur, die Feuerländer, ein. Bei den Eskimos wie bei den Feuerländern befand sich je eine Frau mit einem Säugling, und der mütterliche Stolz reizte beide, ihre Kinder zu vergleichen. Kapitän Jacobsen dolmetschte diese reizvolle Debatte um das beiderseits des Äquators ewige Problem: Wie füttere ich meine Kinder!
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Fußnoten 1 »Figaro«: in Paris erscheinende konservative Zeitung, 1854 begründet 2 Die berühmte Zirkusdynastie Renz wird in Hagenbecks Lebenserinnerungen mehrfach erwähnt. Sie besaß zu ihrer Zeit internationalen Ruf und war unter den deutschen Artisten führend. 3 Die Königin von Saba aus dem südlichen Arabien hat der orientalischen Sage nach den Israelitenkönig Salomo mit großem Gepränge in Jerusalem besucht oder ihn nach anderer Lesart sogar geheiratet. Für Schaustellungen hat sie daher Kunst und Afterkunst ein dankbares Motiv abgegeben. 4 Alexandra-Palast: Nach der Frau des Prinzen von Wales (später Eduard VII.) benannt, wurde dieses unschöne und unwohnliche Backsteinpalais bald nach seiner Herstellung in eine Stätte für sittsame Kleinbürgerbelustigung umgewandelt. Trotz energischer Protektion höchster Kreise erlitt die »Reform« der Geselligkeit, deren scheinheilige Heuchelei gar zu durchsichtig war, einen völligen Schiffbruch. Gedacht war es als ehrbares puritanisches Gegenstück zu der verabscheuten Pariser »Lasterhöhle« um das Palais Royal. Da dieses zugleich Sammelpunkt der freien
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oppositionellen Geister war, versprach sich der englische Hof von seiner »Läuterung« der menschlichen Leidenschaften zugleich eine entsprechend gepflegte loyale Staatsbürgergesinnung. 5 Lord Mayor: Amtstitel des Ersten Bürgermeisters von London 6 Rudolf Virchow (1821–1902): der berühmteste pathologische Anatom seiner Zeit, zugleich hervorragender Vertreter der Fortschrittspartei und des bürgerlichen Freidenkertums. Seine Forschungen wirkten zu ihrer Zeit bahnbrechend. 7 Roald Amundsen (1872–1928): norwegischer Polarforscher; erreichte 1911 als erster den Südpol und überflog später als erster den Nordpol; kam bei einem Rettungsflug für die verunglückte italienische NobileExpedition um. 8 Mahdi (arab.):»Der Rechtgeleitete«, d.i. der von den Mohammedanern erwartete Prophet, hier zu beziehen auf den Mahdi Muhammed Achmed (1844–1885), der die Sudanesen zum Kampf gegen die Ausdehnung der britischen Kolonialherrschaft auf den Sudan führte. Vgl. Anmerkung zu S. 116. 9 Hagenbeck, dem dieser Reinfall Krupps offenbar Vergnügen macht, spielt auf die Deutschlandreise des bekannten Vizekönigs der Mandschurei, des Mitun-
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terzeichners des sogenannten Li-Lobanow-Vertrages von 1896, an. 10 Die Rotunde ist der Zentralbau des Wiener Vergnügungsparks, des Praters; sie wurde für die Wiener Weltausstellung von 1873 erbaut. 11 Berbera war der Hafen des damaligen Britisch-Somaliland. 12 Bola: Ein Lederriemen von 1–1,5 m Länge, der an jedem Ende eine Kugel hat und zusammengerollt wird. Auf der Jagd schwingt der Reiter diese Kugeln um seinen Kopf und wirft sie im vollen Schwung auf die Hinterbeine des gejagten Tieres. Der Riemen wikkelt sich auf und bringt das Tier zu Fall. 13 Die Berliner kulturelle Wochenzeitung »Der Sonntag« brachte 1950 einen Artikel, in dem erzählt wird, wie der Verfasser im tiefsten Sudan auf eine altertümliche Berliner Postkutsche stieß, die ebenfalls ein Hagenbeck-Veteran dorthin verschleppt hatte.
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IV Ich werde Zirkusdirektor und Dompteur Auf etwas merkwürdige und doch ganz folgerichtige Weise kam ich dazu, auch in die große Armee des fahrenden Volkes einzutreten – ich wurde Zirkusdirektor. Als die großen Ceylonschauen zu Ende waren, saß ich mit einer ganzen Elefantenherde da, ohne zu wissen, was mit ihr anzufangen sei. Jeden Tag verlangten die Tiere ihr gemessen Teil Nahrung, und nicht zu knapp. Da war es nicht mehr als billig, daß sie es sich selbst erarbeiteten, zumal im Tierhandel flaue Zeiten herrschten und ich auf etwas Neues sinnen mußte, um das fressende Kapital irgendwo nutzbringend anzulegen. Schließlich kam ich auf den Gedanken, einen neuen Zeltzirkus auf amerikanische Art zusammenzustellen und auf die Reise zu schicken. Die Mühe, das Ungemach und die Schwierigkeiten, die mit der Zusammenstellung dieses Unternehmens verbunden waren, will ich mir nicht wieder ins Gedächtnis rufen. Endlich aber war eine gute Gesellschaft von Artisten beisammen, Tierbändiger von Ruf, prachtvolle Kunstreiter-Gesellschaften, und für den Humor war Tom Belling verpflichtet, den die Berliner im Zirkus Renz »August« getauft hatten und der unter diesem Namen zu einem Begriff zu werden
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versprach. Meine schöne Elefantenherde und verschiedene Gruppen dressierter Tiere konnten sich überall sehen lassen, und in der Seitenschau zeigte ich meine Singhalesenkarawane. Mit diesem Programm wurde »Hagenbecks Internationaler Circus und Singhalesenausstellung« am 2. April 1887 auf dem Heiligengeistfeld in Hamburg eröffnet. Es kommt vor, daß Unternehmungen, auf die viele Mühe verwendet worden ist, mit einem Krach enden. Mit meinem Zirkus war es umgekehrt. Er begann mit einem Krach, und zwar pünktlich zur Premiere mit einem fürchterlichen Orkan, der innerhalb sechzig Minuten den ganzen Zeltbau völlig zerstörte. Als der Sturm hereinbrach, befand ich mich mitten in der Manege unter der Zirkuskuppel. Plötzlich zerriß eine Bö knatternd die Leinwand, ein klaffender Riß fuhr durch das Zeltdach, und einer der großen Maste knickte zusammen. Ich wäre beinahe erschlagen worden, denn nur drei Fuß von mir entfernt schlug der Mastbaum mit voller Wucht zu Boden. Der Zirkus glich einer Trümmerstätte. Noch benommen von dem Zusammenbruch, wühlte ich mich zwischen Tauwerk und zerrissener Leinwand hervor und sah meine Artisten, die mit Tränen in den Augen fassungslos das vermeintliche Ende des Zirkus Hagenbeck betrachteten. Ich selbst hatte das Gefühl, als seien mir plötzlich alle Felle weggeschwommen. Aber dann raffte ich mich
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auf. Nur Schnelligkeit und Energie konnten hier helfen. Mit Donnerstimme forderte ich die Leute auf, Hand ans Werk zu legen, und griff selbst mit solchem Feuereifer zu, daß die Bergungsarbeiten mit vereinten Kräften binnen zwei Stunden beendigt waren. Bei einem Erholungstrunk feuerte ich meine Leute nochmals an, mich nach Kräften zu unterstützen, um den Schaden wieder wettzumachen. Die Tiere und die Völkerschau brachte ich inzwischen zu meinem Tierpark am Neuen Pferdemarkt, und in wenigen Tagen hatten wir mit Hilfe von Hamburger Schiffszimmerleuten die Segelschiffsmasten für das Zelt errichtet und alles wieder so weit repariert und geflickt, daß wir zur zweiten Eröffnung fertig waren. Es klappte auch ganz famos, obgleich meine Ausstattung, wie man sich denken kann, im Vergleich zu dem damaligen Zirkus Renz oder gar Barnum & Bailey mehr als bescheiden war. Dagegen konnten sich meine Artisten und besonders die Tiergruppen nebst der Ceylonschau wohl sehen lassen. Die Presse hob immer wieder die junge Rosita de la Plata hervor, die mit ihrer Schwester Dolinda in ihren Pirouetten und im Salto mortale Staunenerregendes leistete. Der Negerdompteur Thompson mit seinen sieben Elefanten, die Singhalesen, darunter ein Liliputanerpaar von unter einem Meter Größe, die vierzehn Arbeitselefanten, die Udaky- und Teufelstänzer – um nur einiges herauszu-
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greifen – erregten immer wieder das Interesse des Publikums, das uns in allen Städten von der Stunde an umlagerte, in welcher der Zirkussonderzug eingetroffen war und die mit Tierköpfen geschmückten roten Raubtierwagen, die farbenprächtigen Kolonnen von Tieren, Menschen und Material zu dem Platz zogen. Fast drei Jahre reiste der Zirkus in Deutschland. Viel Seide wurde bei diesem Unternehmen allerdings nicht gesponnen. Die Anschaffungskosten für das rund 3000 Personen fassende Spielzelt, für die Stallungen und den Wagenpark waren groß gewesen. Es fehlte noch an Erfahrung, und die Motorisierung steckte eben noch in den Kinderschuhen. Wenn ich an die Gas- und Öllampenbeleuchtung denke, an die stets damit verbundene Feuergefahr und an den ständigen Ärger mit den Lokomobilen, dazu die Abhängigkeit von Wind und Wetter und die enormen Unkosten des Sonderzuges von 32 Waggons, so wird man mir glauben, daß die jährlichen Reisen durch vierzig bis sechzig Städte in mir den Wunsch auslösten, diesen Geschäftszweig zunächst wieder aufzugeben, zumal ich mein Ziel erreicht hatte. Ich hatte mich durchgeschlagen, und so verkaufte ich 1889 meinem bisherigen Manager Drexler das Geschäft gegen Abzahlung, während Barnum & Bailey die Dressurgruppen für Nordamerika erwarben. Die Erfahrungen und neuen Kenntnisse, die ich als Zirkusdirektor gesammelt
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hatte, bekam ich noch in den Kauf. Zwar hatte ich in meinem Schwager Heinrich Mehrmann, dem später bekannt gewordenen Dompteur, eine gute Hilfe, aber ständig mußte ich bei ausgebrochenen Streitigkeiten als Deus ex machina1 erscheinen, um die Geschichte wieder ins Lot zu bringen. Unter dem Artistenvölkchen, das die Welt umzieht, sind ganz gewiß sehr viele ehrliche und achtbare Leute. Das Leben auf der Landstraße bringt aber auch Leute hervor, die zu regieren nicht immer zu den schönsten Aufgaben gehört. Ich erinnere mich da eines »August«, der ein ganz guter Arbeiter, aber ein furchtbarer Nörgler und Hetzer war. Bei der Auflösung meines Unternehmens kam der Kerl zu mir und flehte mich unter Tränen an, ihm doch das Pony zu schenken, auf dem sein Sohn Kunstsprünge zu zeigen gewohnt war. Nur so würde er wieder ein Engagement bekommen. Er wußte alles so bewegt darzustellen, daß ich ihm auf sein Bitten und Betteln das Pony schenkte ... Stehenden Fußes eilte der gute Mann fort und verkaufte es an einen Grünhöker! Während meines Zirkuslebens begann ich einen Plan auszuführen, der mir schon seit meinen Knabenjahren vorgeschwebt hatte. Obgleich ich durchaus nicht gesonnen bin, mein Licht als Geschäftsmann unter den Scheffel zu stellen, so muß ich doch bekennen, daß ich in erster Linie Tierliebhaber bin. Es ist
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unmöglich, ein Unternehmen wie das meinige zu betreiben, ohne ein Tierfreund zu sein. Im stillen hatte ich schon lange den Gedanken erwogen, ob es nicht möglich sei, mit der alten, grausamen Tierdressur zu brechen und an ihrer Stelle eine humane einzuführen. Die Tiere sind Wesen wie wir selbst, und ihre Intelligenz ist nicht der Art, sondern nur dem Grade und der Stärke nach von der unsrigen verschieden. Sie reagieren auf Bosheit mit Bosheit und auf Freundschaft mit Freundschaft. Längst hatte ich gefunden, daß durch Liebe, Güte und Beharrlichkeit, gepaart mit Strenge, auch von einem Tiere mehr zu erreichen ist als durch rohe Gewalt. Zudem war mir durch den jahrelangen intimsten Umgang mit den Tieren bekannt, daß auch bei ihnen die Begabungen, die Charaktere und das Temperament verschieden sind. Nichts ist also verkehrter, als alle über einen Kamm zu scheren. Wie Menschen, wollen auch sie individuell behandelt werden, denn nur so kann man ihr Zutrauen erwerben und ihre Fähigkeiten wecken. Wer zu dieser Überzeugung gelangt war, den mußte es schmerzen, seine Lieblinge mit Peitsche, Gabeln und glühenden Eisenstangen mißhandelt zu sehen, denn im wesentlichen beschränkte sich die Tierdressur auf diese Hilfsmittel. Während ich mit meinem Zirkus reiste, hielt ich die Zeit für gekommen, um im Ernst an die Einführung der »zahmen
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Tierdressur« zu gehen. Durch scharfe Auswahl der Intelligentesten sollte geeignetes Material geschaffen werden, die auserwählten Exemplare aber sollten dann durch Rücksichtnahme auf die Eigenart jedes Tieres zu Freunden, nicht zu Feinden gemacht werden. Zufällig lernte ich Ende der siebziger Jahre in England den hannoverschen Tierdresseur Deyerling kennen. Von einem Löwen böse zugerichtet, war er gerade aus dem Hospital entlassen und stellungslos. Ich verpflichtete ihn unter der Bedingung, daß er die Schulung der Tiere nur nach meiner Angabe ausführen dürfe. Deyerling willigte ein, und die erste Probe wurde an keinem geringeren gemacht als an Seiner Majestät dem Löwen. In den Jahren 1887 bis 1889 schaffte ich zu diesem Zwecke nicht weniger als einundzwanzig Löwen an. Aus dieser großen Zahl erwiesen sich nur vier als brauchbar. Das ist gewiß ein außerordentlicher Beweis für die große individuelle Verschiedenheit gleichartiger Tiere, aber ein Beweis auch, wie man zugeben wird, wie ungeheuer kostspielig ein derartiger Versuch war. Die Löwen, nur mit der Peitsche aufgemuntert, gescholten, wenn sie nachlässig, gelobt und mit Fleischstückchen belohnt, wenn sie gut arbeiteten, bequemten sich zu allen möglichen Tricks: sie nahmen verschiedene Stellungen auf Pyramiden, Stühlen und Böcken ein, und zum Schluß fuhr
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der Dresseur sogar in einem zweirädrigen, mit drei Löwen bespannten altrömischen Rennwagen viermal in voller Karriere durch den vierzig Fuß im Durchmesser spannenden Zentralkäfig – eine nie gesehene Sensationsnummer! Drei Monate lang war Deyerling mit seinem Löwengespann das Tagesgespräch von Paris, wo er Abend für Abend im »Neuen Zirkus« seine Dressurnummer mit dieser triumphalen Rundfahrt krönte. Von Paris aus begann er eine Rundreise durch alle europäischen Hauptstädte, und ich selbst schnitt mit dieser Gruppe von 1889, ihrem Erscheinungsjahr, bis 1892 so großartig ab, wie ich es vorher mit irgendwelchen anderen Unternehmungen nie gekannt hatte. Schon sann ich auf die Zusammenstellung weiterer zahmer Tiergruppen, und diesmal galt es einem bedeutenden Zweck. Die große Weltausstellung sollte 1893 in Chikago eröffnet werden. Als ich nun eines Tages den amerikanischen Konsuln von Hamburg und Bremen die Deyerlingsche Löwengruppe vorführen ließ, unterstützten diese Herren meinen Plan, der dahin zielte, in Chikago mit einem ganzen zoologischen Zirkus zu erscheinen. Leicht schreiben sich diese Worte hin, und doch decken sie eine unendliche Summe von Arbeit, Schwierigkeiten und Hindernissen. Wichtiger als alles andere waren zunächst tüchtige Leute, welche zugleich Tierfreunde und mutige
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Menschen sein mußten. Mein Schwager Heinrich Mehrmann, den ich schon als Leiter meines Zirkus erwähnt habe, schien mir die erforderlichen Qualitäten zum Tierdresseur zu besitzen. Als ich ihm meinen Vorschlag rundheraus mitteilte, machte er ein sehr verblüfftes Gesicht und sprach die klassischen Worte: »Willst du mich uzen?« – »Ich habe dir meine aufrichtige Meinung gesagt«, antwortete ich, »vorausgesetzt, du hast Lust und Courage dazu. Da du ein großer Tierliebhaber bist, so denke ich, die Sache wird sich gut machen lassen.« Mehrmann besann sich nicht lange. – »Wenn du Vertrauen zu diesem Unternehmen hast«, sagte er, »dann können wir es ja probieren.« Binnen kurzem war alles für den Versuch vorbereitet. Ich hatte eine Anzahl verschiedener junger Tiere zusammengebracht und in meinem Garten provisorisch einen größeren Käfig hergerichtet. Dieser sah Mehrmann zum erstenmal in der Rolle eines Dompteurs. Während der ersten drei Wochen half ich meinem Schwager, um ihm die nötigen Anweisungen zu geben. Allerdings meinte er schon nach zehn Tagen, wenn ich ihm einen guten Wärter an die Hand gäbe, wolle er schon allein fertig werden. Die Gruppe, die ich zusammengestellt hatte, war nicht klein und besaß wegen der Verschiedenartigkeit der Tiere sogar einen sensationellen Zug. Sie bestand aus zwölf Löwen, zwei Tigern, einigen Jagdleopar-
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den, zwei Kragenbären und einem Eisbär. Alle diese unruhigen Elemente mußten wir erst aneinander gewöhnen, wir mußten sie lehren, sich miteinander zu vertragen – eine schwierige Aufgabe, die wir aber derartig praktisch durchführten, daß die Tiere schon nach vierzehn Tagen friedlich nebeneinander spielten und anfingen, sich zu befreunden. Ein amüsantes und interessantes Bild gewährte es, die Tiere während ihrer Spielstunden in dem großen Käfig herumtoben zu sehen. Mitten in dem Getümmel hielt sich dann der neue Dresseur mit seinem Wärter auf, um hier und da die Grobiane, die aus Scherz Ernst machen wollten, mit einer langen dünnen Peitsche zur Vernunft zu bringen. Im übrigen wurde die Peitsche nie gebraucht, sondern alles Wünschenswerte ausschließlich durch Güte und Belohnung erreicht: Fleischstückchen für die Katzen, Zucker für die Bären! Schneller als erwartet werden konnte, war die Gruppe im Winter 1890 schon so weit dressiert, daß ich daran denken konnte, Engagements einzugehen. Im Frühling des folgenden Jahres hielten wir unseren Einzug im Londoner Kristallpalast2, wo wir statt in den altertümlichen Tierschauwagen in einem großen, modernen Zentralkäfig unsere Vorstellungen gaben, der einen Durchmesser von vierzig Fuß hatte. Die Londoner waren begeistert, und zwei anwesende Amerikaner boten mir sofort auf den Tisch des Hau-
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ses 50000 Dollar. Ich schlug aus, da ich mit dieser Nummer nach Chikago zu gehen gedachte, und ahnte nicht, daß ich in diesem Augenblick 200000 Mark ins Wasser geworfen hatte. Als meine Tiere nämlich in Hamburg eintrafen, waren sie alle an Rotz erkrankt, und der sofort hinzugezogene Tierarzt, mein Freund Köllisch, wandte alle Hilfe vergeblich an. Wenig half es mir, festzustellen, daß der gewissenlose Schlachter in London den Schaden durch schlechtes Fleisch angerichtet hatte. Meine armen Tiere starben unter schrecklichen Qualen, und ich erwies den unrettbar Verlorenen die Wohltat eines schnellen Gifttodes, denn ich vermochte den Anblick ihrer Leiden nicht länger zu ertragen. Wie sollte ich eine ähnliche glänzende Gruppe für die Weltausstellung zusammenbringen? Zwar besaß ich noch eine kleine Gruppe von zwei jungen Königstigern, einigen Bären und einem halben Dutzend Löwen. Wie aber dieses Ensemble so schnell vervollständigen, daß es noch für die Weltausstellung in Betracht kommen konnte? Telegraphisch forderte ich von Indien junge Tiger an, die im Frühling 1892 eintrafen. Aber sie brachten kein Glück. Einer hatte den grauen Star, der andere war auf der Überfahrt von den Matrosen so viel gereizt worden, daß mit ihm nichts anzustellen war. Der Rest war fehlerlos, aber noch zu jung. Der Tod schien in meinem Tiergarten sein
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Standquartier aufschlagen zu wollen. Höchstens zwei Monate blieben die Tiere gesund, dann bekamen sie plötzlich Erbrechen und Durchfall, schließlich Krämpfe und gingen nach einer Krankheit von wenigen Tagen ein. Eine Gruppe nach der anderen verlor ich auf diese Weise, und wie sehr wir auch hin und her sannen und experimentierten – das Sterben nahm seinen Fortgang. Alle Jungtiere gingen ein. Ältere Tiere erkrankten zwar auch, kamen aber mit dem Leben davon. Viel später entschleierte der große Würger sein entsetzliches Gesicht: Im August 1892 brach in Hamburg die Cholera aus, die größte Katastrophe, die meine Heimatstadt seit dem großen Brand Anno 1842 heimsuchte! Mehr brauche ich kaum zu bemerken. Die Sense, die im Hochsommer in der Menschenwelt Tausende und aber Tausende wie reife Ähren hinmähte, hatte schon mehrere Monate früher meine jungen Tiere gestreift. Eine schlimme Zeit. Die großen Verluste drückten mich sehr nieder. 70000 Mark hatte ich verloren und war am Ende meines flüssigen Kapitals angelangt. Mit Hilfe eines wohlwollenden Bankiers gelang es mir, für das Chikagoer Unternehmen einen Kredit aufzunehmen, und so kaufte ich denn von meinem Bruder Wilhelm drei schöne Dressurgruppen, die gerade »fertiggestellt« worden waren. Auch die kleine Gruppe, die mir selbst übriggeblieben war, hatte in-
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zwischen unter Mehrmanns Händen den nötigen Schliff erhalten. So fuhr ich am 16. August 1892 mit dem Dampfer »Augusta Viktoria« nach New York, wo mir bei meiner Landung in Hoboken die Zeitungsjungen als erstes die Schreckenstelegramme vom Ausbruch der Hamburger Cholera entgegenschrien. Die amerikanische Presse entwarf, an sensationelle Berichterstattung gewöhnt, schon die entsetzlichsten Bilder von dem Massensterben in Hamburg. Zunächst wollte ich sofort zurückkehren, verwarf jedoch bei ruhiger Überlegung diesen Gedanken, da ich ja doch nicht helfen konnte, reiste nach Chikago und kehrte nach Abschluß des Weltausstellungskontraktes am 7. September mit dem Lloyddampfer »Lahn« nach Bremen zurück. Ein Hamburger Schiff stand nicht zur Verfügung, denn die vier Hapagdampfer lagen sämtlich in Quarantäne3. Als wir an diesen Schiffen vorüberfuhren und von den zurückgehaltenen Passagieren durch Tücherschwenken begrüßt wurden, sank eine trübe Stimmung auf mich nieder. Wie würde ich meine Lieben daheim wiederfinden? Als ich am 16. September in Hamburg eintraf, vernahm ich von meiner Frau zur großen Freude und Beruhigung, daß in der Familie alles wohl und munter sei. Welch ein Anblick aber, als ich durch die Stadt fuhr. Die Straßen menschenleer und tot. Viele Fenster verhängt und die Läden geschlossen, an manchen
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Türen die dunklen Zeichen der Trauer. So hatte ich meine Vaterstadt nie gesehen. Der Eindruck war erschütternd, und ich schäme mich nicht, es zu gestehen, daß mir während der ganzen Fahrt die Tränen aus den Augen rannen. Über allem, was mit der Expedition nach Chikago zusammenhing, abgesehen von den unermeßlichen Erfolgen der Schaustellung, schwebte ein Unstern. Kaum befand ich mich drei Wochen in Hamburg, als meine amerikanischen Geschäftsteilhaber mir telegraphierten, ich bekäme nur dann die Erlaubnis zur Einfuhr meiner Tiergruppen, wenn ich sie so schnell wie möglich nach England brächte und das ganze Unternehmen bis zum Frühjahr dort stationierte. Die amerikanische Regierung hielt diese Vorsichtsmaßregel für geboten, um die Einschleppung der Cholera durch mich und meine Tiere zu verhüten. Na, das war ja eine nette Bescherung! Diese neue Hiobspost wirkte wie ein Donnerschlag. Ohne Zeitverlust galt es aber jetzt, in England einen geeigneten Platz für die Überwinterung der Tiere ausfindig zu machen. Da fiel mir die Tower-Gesellschaft in Blackpool ein, mit der ich befreundet war. Ohne Besinnen reiste ich nach Blackpool und erwirkte von der Tower-Gesellschaft die Erlaubnis, auf ihrem Gelände ein provisorisches Gebäude aufzuschlagen, in dem ich die armen Tiere bis zum Frühling lassen konnte. In drei Wochen war der Bau
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fertiggestellt. Über Grimsby zogen wir dann mit rund 1000 Tieren ins Winterquartier und warteten den Frühling ab. Welche ungeheuren Kosten entstanden aber durch diese erzwungene Quarantäne! – Um dem Leser einen ungefähren Begriff zu geben, will ich nur bemerken, daß der Amerikatransport mit dem Umweg über England allein 100000 Mark Mehrkosten verursachte. Schließlich reiste ich Anfang März 1893 über New York nach Chikago, wo ich am 20. März eintraf. Unter den großen Weltausstellungen nimmt die von Chikago in vielen Beziehungen den ersten Platz ein. In der großen, brausenden Hauptstadt des Westens herrschte ein richtiges Ausstellungsfieber. Das amerikanische Spekulantentum ist wohl nie so üppig in Blüte geschossen wie hier. Rund um den großen Hydepark, wo sonst der feuerrote Sumach4 im Sonnenbrand träumte, nun aber die vielgestaltige Ausstellung emporwuchs, regten sich tausend Hände. Die Hotels aus Fachwerk, die da emporgehastet wurden, nahmen den Zahlen nach riesige Ausmaße an. In und außerhalb der Ausstellung herrschte eine unbezähmbare Bauwut. Geld schien gar keine Rolle zu spielen. Alles wurde mit den kühnsten Hoffnungen auf die Zukunft honoriert. Vielleicht noch nie war es den Architekten und Künstlern in solchem Maße in die Hand gegeben gewesen, ihre Träume zu verwirklichen. Das Verwaltungsgebäude mit seiner goldenen Kuppel war
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wie ein Traum aus Tausendundeiner Nacht. In dem langgestreckten »Manufacturers Building« mit dem »größten Dach der Welt« feierte die Expansionslust der Amerikaner, die ja immer nach dem Größten und Gewaltigsten strebten, einen wahren Triumph. Von den blauen Fluten des Michigansees aus gesehen, glich das Ganze einer wunderbaren Zauberlandschaft. Nicht weniger als fünfhundert große Gebäude bedeckten den unermeßlichen Platz. Drüben in der sogenannten »Midway Plaisance«, der Vergnügungsstraße dieser Weltausstellung, reckten sich schon die Eisenteile des Riesenrades in die Luft; das Deutsche Dorf, das Irländische Kastell, die Internationale Schönheitsschau und das Türkische Café waren schon im Bau. Die sensationellste Sehenswürdigkeit war von Anfang an und ward es später in größtem Maßtstabe: Hagenbecks Zoologische Arena. Als ich vier Wochen vor der Eröffnung in Chikago eintraf, bekam ich jedoch einen gewaltigen Schreck. Ganz im Gegensatz zu den Berichten meiner Partner war das für die Arena bestimmte Gebäude kaum zur Hälfte fertig. Streiks und schlechtes Wetter wurden als die Hauptursachen der Verzögerung angegeben. Mit aller Macht drang ich darauf, daß die Arbeit durch Einstellung weiterer Arbeiter beschleunigt wurde, damit die Tiere, die unter Obhut Heinrich Mehrmanns Mitte April in einem Sonderzug in Chi-
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kago eintrafen, wenigstens ein Obdach finden sollten. Leider war es in diesem Frühjahr außerordentlich kalt. Im Innern der halbfertigen Gebäude herrschte eine wahrhaft frostige Temperatur, die vielen Affen und Papageien das Leben kostete. Ehe die Ausstellung noch eröffnet werden konnte, hatte ich durch Tierverluste schon 2000 Dollar Schaden und durfte es als Glück betrachten, daß wenigstens die Dressurtiere gesund blieben. Wenig ahnte ich, daß die Eröffnung der Weltausstellung für mich noch ein eigenartiges Probestückchen in Bereitschaft hielt. Als wir noch eine Woche vor der Premiere waren, erkrankte mein Schwager Mehrmann plötzlich an Typhus und mußte in ein Krankenhaus gebracht werden. Mir fiel das Herz in die Schuhe! – In zwei Tagen sollte eine große Generalprobe und Pressevorstellung vor der Ausstellungskommission und vor den Vertretern der aus allen Teilen der Staaten herbeigeeilten Zeitungsverlage stattfinden. Hier war nichts zu machen, ich mußte selbst in den Käfig! Schwarz gekleidet, nur mit einem spanischen Rohr versehen, betrat ich den großen Zentralkäfig und hielt zunächst eine Ansprache, in welcher ich die Sachlage erklärte und darauf aufmerksam machte, daß der eigentliche Dresseur krank im Bette läge und ich schon seit fünf Monaten nicht mehr mit den Tieren in Be-
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rührung gekommen sei. Ich wolle zwar mein möglichstes tun, sollte jedoch die Vorstellung nicht ganz den gehegten Erwartungen entsprechen, so möge man das in Anbetracht der Umstände verzeihen. Nun öffnete ich die Tür zum Gitterlaufgang, und die Tiere sprangen unter Knurren und Fauchen in den Käfig. Die Löwen, Tiger, Bären nahmen ihre gewohnten Plätze ein. Der Wärter trug die nötigen Requisiten heran, und die Vorstellung begann. Man kann sich denken, daß ich völlig in meiner Aufgabe aufging und alle Energie und Umsicht in die Ausführung der Dressurproben legte. Zu meiner größten Freude wickelte sich eine Nummer noch schöner als die andere ab, unter endlosem Applaus nahm die Vorstellung ihren Fortgang und wurde schließlich zu einem großen Erfolg. Als der letzte Tiger den Zentralkäfig verlassen hatte, brach der Beifallssturm erst recht los. Dreimal wurde ich unter nicht enden wollendem Jubel in die Manege zurückgerufen. Die Ausstellungskommission stattete mir ihre Glückwünsche ab, und von allen Seiten umringten mich die Reporter, bestürmten mich mit Fragen, um am nächsten Tage spaltenlange, bildgeschmückte Sensationsberichte zu bringen. Mit der Aufnahme meines Zirkusunternehmens konnte ich also zufrieden sein. Es bildete von dem Tage an die hervorragendste Attraktion und das Ziel der Tausende von »Midway Plaisance«. Die große
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Tiergruppe führte ich nur kurze Zeit vor. Alsbald übernahm Richard Sawade, den ich als bisherigen Hauptwärter inzwischen aufs beste angelernt hatte, die Tiere, und in der fünften Woche war ihr eigentlicher Meister Heinrich Mehrmann glücklicherweise so weit genesen, daß er seine Gruppe selbst vorführen konnte. Nach einigen Wochen steigerten wir den Erfolg durch eine weitere triumphale Dressurleistung. Deyerling war es gelungen, vier Löwen vor seinem römischen Rennwagen zu dressieren, und allabendlich umkreiste dieses königliche Viergespann unter grenzenlosem Beifall der Zuschauer das Manegenrund! Eine Tiernummer, wie sie seitdem nie wieder im Roten Ring gezeigt wurde! Der Dompteur Philadelphia zeigte weiter seinen ersten Löwen zu Pferd, Willie Judge großartige Elefantendressuren, während Clown Beketows dressierte Schweine wahre Lachstürme hervorriefen. Leider erwiesen sich meine amerikanischen Partner nicht als das, wofür ich sie gehalten hatte.5 Mit diesen Leuten, rein als Unternehmer betrachtet, war auch nicht der geringste Staat zu machen. Wären sie meinen von der Erfahrung diktierten Anweisungen gefolgt, so hätte das Fünffache verdient werden können. Trotzdem schloß das Unternehmen noch ganz zufriedenstellend für mich ab. Daß das verdiente Geld fast bis zum letzten Cent in Amerika blieb, steht auf
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einem anderen Blatt. Nach Schluß der Ausstellung ließ ich mich nämlich verleiten, eine neue Partnerschaft einzugehen. Diesmal sah ich mich besser vor und glaubte mich durch einen vorsichtigen Vertrag genügend gesichert zu haben. Prosit Mahlzeit! Der Zirkus, der unter meinem Namen eine Rundreise durch die USA machte, geriet, während ich in Europa weilte, durch schlechte Leitung der Geschäfte in Schulden, und es kam zum Krach. Wer darin saß, war ich. Das Geschäft lief unter meinem Namen. Mich machte man verantwortlich. Kurz, die Sache endete damit, daß ich 38000 Dollar los wurde, und das war so annähernd der Betrag, den ich in Chikago verdient hatte. So endete die amerikanische Rundreise. Im Sommer 1895 kam mein Zirkusmaterial nach Hamburg zurück. Gastspielreisen mit den Dressurgruppen nach Basel, Straßburg, Kopenhagen schlossen sich unter Mehrmanns Leitung an. Nach einem Winterquartier in Nizza gingen wir 1896 wieder auf Deutschlandreise, die in dem großen Erfolg auf der Berliner Gewerbeausstellung gipfelte. Zur zweiten Weltausstellung der USA in St. Louis erbaute ich 1904 in Zusammenarbeit mit einigen amerikanischen Geschäftsfreunden jenes monumentale Gebäude auf dem höchsten Punkte des Weltausstellungsgeländes: »The Zoological Paradise and Trained Animal Circus«6. Gewaltige, zwan-
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zig Meter hohe Portale verkündeten den Namen Hagenbeck, dessen rühriger Vertreter bereits mein jüngster Sohn Lorenz war. Sein Arbeitsfeld war der Zirkus, mit dem wir Nord- und Südamerika bereisten und am Mississippi wie am Rio de la Plata große Erfolge hatten.
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Fußnoten 1 Deus ex machina (lat.): plötzlich auftauchender Helfer (eigentlich: »Der Gott aus der Maschine«, Begriff aus der Welt des antiken Theaters) 2 Der Londoner Kristallpalast war das Glanzstück der ersten Weltausstellung von 1851, der erste große Stahlglasbau. Seitdem diente er Ausstellungen und Großveranstaltungen. Er wurde 1940 durch Bombentreffer beschädigt. 3 Quarantäne: Landsperre wegen der Gefahr der Seucheneinschleppung. 4 Sumach: Färberbaum, mit giftigem Saft; die Blätter enthalten Farbstoffe zum Gerben und Färben. 5 Hagenbecks amerikanische Erfahrungen reihen sich würdig an die Schwindeleien Barnums, nur mit dem Unterschied, daß er diesmal selbst der Leidtragende ist. Dementsprechend fällt sein Urteil jetzt schärfer aus. 6 »Zoologisches Paradies und Dressurtierzirkus«
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V Raubtiere besuchen meine Dressurschule Mancher wundert sich vielleicht darüber, daß mich von den vielen Tausenden wilder Tiere, mit denen ich in Berührung gekommen bin, noch keines verspeist hat. Gewiß, es mag zum Teil auf Vorsicht und Geschick zurückzuführen sein, daß mich noch kein Tiger gefressen, kein Elefant unter die Füße getrampelt, kein Büffel mit dem Horn durchstoßen und keine Schlange in ihren Ringen erdrückt hat. Nahe daran war es allerdings häufig genug, und ich werde noch manches kleine Abenteuer zu erzählen haben. Andererseits tut man aber auch den wilden Tieren mit der schlechten Meinung, die man von ihrem Charakter hat, unrecht, besonders den Raubtieren, die besser sind als ihr Ruf. Man mag mir glauben, wenn ich behaupte, daß ich unter Löwen, Tigern und Panthern manchen guten Freund besessen habe, mit dem ich so intim und vertraulich verkehren konnte wie mit einem Haushunde. In der ganzen Welt verstreut, leben wohlverwahrt hinter Schloß und Riegel eine Anzahl alter Freunde aus der Tierwelt. Ihr Leben währt nicht so lange wie das unsrige. Schnell kommt das Alter und der Tod, und demgemäß gehören die meisten dieser Tierfreund-
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schaften der Vergangenheit an. Einer der Veteranen unter meinen Bekannten war ein Löwe, der nach einem vorübergehenden Aufenthalt von zwei Monaten bei mir an den Kölner Zoo verkauft wurde. Alt und gebrechlich, hat er mich jedoch nie vergessen. Als ich auf der Fahrt nach Köln einmal im Eisenbahnabteil aus Scherz eine Wette abschloß, daß der alte Löwe mich schon von weitem durch bloßen Zuruf erkennen würde, da begegnete ich ungläubigem Kopfschütteln. Ich gewann jedoch die Wette, denn der alte Wüstenkönig kam sofort auf meinen Ruf voll Freude an das Gitter und gab sich nicht eher zufrieden, bis ich ihn begrüßt und gestreichelt hatte. Ähnliches erlebte ich im Bronx Park zu New York, wo ich den Direktor Dr. Hornaday mit dem gleichen Intermezzo bei zwei Löwen und einem Königstiger überraschte. Wir brauchen aber nicht bis über den Ozean abzuschweifen, um Proben solcher Anhänglichkeit zu sehen. Bei meinen Rundgängen durch den Garten verweile ich stets am längsten bei den größeren Raubtieren, und die Besucher beobachteten dann mit Erstaunen, wie die Tiere am Gitter niederkauern und mir zuweilen sogar die Hand lecken. Ich habe alle Tiere gern. Das liegt mir im Blut. Aber die großen Raubtiere sind meine besonderen Freunde. Viele dieser Tiere halte ich trotz ihrer kostspieligen Ernährung länger bei mir fest, als ich es in meiner Eigenart als Geschäftsmann dürfte.
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Gute Angebote schlage ich rundweg ab, weil ich mich eben nicht von diesen anschmiegsamen und aufrichtigen Freunden trennen kann. Manches von dem, was ich hier schreibe, wird vielen Leuten widersinnig erscheinen. Die Raubtiernatur ist in der Volksmeinung mit Hinterlist, Wildheit und Grausamkeit verbunden. Aber die Tiere sind nicht grausam. Die Natur hat sie darauf angewiesen, in der Freiheit lebendiges Fleisch zu erjagen, und sie müssen töten, um leben zu können. Wir vergessen nur zu leicht, wie viele Millionen Tiere zur Nahrung der Menschheit geschlachtet, erjagt und aus dem Meere gefangen werden müssen und daß man auch dem Menschen, der in Kriegen seine Mitgeschöpfe aus mancherlei Gründen tötet, den gleichen Vorwurf machen könnte. Wie wir, liebt auch das Raubtier seine Jungen. Es kann zärtlich, dankbar, anhänglich und treu sein. Und genau wie in der menschlichen Gesellschaft stößt man auf Rowdys und Opfer schlechter Erziehung. Was durch Zähmung wilder Tiere zu erreichen ist, darüber habe ich nach und nach mehr Versuche angestellt als irgendeiner meiner Zeitgenossen. Die allererste Gruppe verschiedener Raubtiere kaufte mein Vater schon Ende der fünfziger Jahre. Sie bestand aus einem riesigen Bengaltiger, einem Leoparden und einem Hund, die einen gemeinsamen Käfig bewohnten und auch zusammen gefüttert wur-
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den. Jahrelang reiste diese Gruppe in einer Tierschau, ohne daß Uneinigkeiten ausbrachen. Schlechter erging es einem kleinen Äffchen, das in den siebziger Jahren sich auf dem Transport von Afrika nach Hamburg, der gewöhnlich sechzig bis siebzig Tage dauerte, mit zwei jungen Löwen angefreundet hatte. Es war eine Freude, die ungleichen Spielgenossen in ihrem Käfig umhertoben zu sehen. Die ganze Gruppe wurde nach einigen Monaten an den Tierschaubesitzer Albert Kallenberg verkauft, der jahrelang mit ihr auf Messen und Märkten umherzog. Der Affe erhielt bei der Fütterung stets ein kleines Stück Fleisch und verzehrte es ebenso, wie die Löwen ihre großen Stücke verspeisten. Niemals wurde die Harmonie gestört. Aber eines Tages wurde das Äffchen durch seinen eigenen Fürwitz doch von dem traurigen Geschick ereilt, das diejenigen trifft, die mit großen Herren Kirschen essen wollen. Das Äffchen vermaß sich, Seiner Majestät dem König der Wüste einen Knochen wegzunehmen, und der König schlug in der ersten Überraschung so unglücklich nach dem armen Hofnarren, daß er sofort tot umfiel. Die Reue und Trauer kam hintennach. Wie mir Kallenberg selbst erzählte, haben die beiden Löwen tagelang in mauenden Tönen geklagt und gewinselt, ehe sie ihren Spielgefährten vergessen konnten. Den wildesten Tiger, den ich je gesehen habe, er-
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hielt ich mit einem indischen Transport in den neunziger Jahren aus Kalkutta. Er war zugleich der größte Bengaltiger, den ich je gesehen habe. Erst wenige Monate vorher war er eingefangen worden, und als ich mich zum erstenmal dem Käfig näherte, flog der geflammte Körper wie ein gelber Blitz krachend gegen die Eisenstäbe und schlug mit weit ausgestreckten Vorderpranken nach mir, daß ich schleunigst aus ihrem Bereich sprang. Die Wildheit des Tigers konnte mir indes nicht sehr imponieren, und ich zeigte es ihm. Ich ahmte das Tigerschnurren nach, sprach so mit ihm in seiner eigenen Sprache, und von Tag zu Tag wurde er ruhiger. Zwar sprang er noch gegen das Gitter, schlug jedoch nicht mehr nach mir mit den Tatzen. Nach acht Tagen begann ich, ihm bei jedem Rundgang ein Stück Fleisch mitzunehmen: Der Weg zum Herzen geht durch den Magen – auch bei Tieren. Nach vier Wochen konnte ich ihn bereits mit den Händen anfassen. Seine Wildheit hatte er vergessen. Er kam freiwillig näher, legte sich nieder, ließ sich streicheln – auch später von Fremden, denn er war schließlich so zahm, daß ich ihn an den Dresdener Zoologischen Garten verkaufen konnte. Die Fälle, in denen Menschen von gefangenen Raubtieren angefallen und zerfleischt werden, sind glücklicherweise selten. Häufiger sind die Kämpfe der Tiere untereinander, wenn sie nicht sorgfältig beob-
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achtet und gegebenenfalls getrennt werden. Wie in der Menschenwelt, so heißt es auch hier meistenteils: »Cherchez la femme!« In einer Gruppe, welche Heinrich Mehrmann in Chikago, Berlin und anderen Plätzen vorführte, befanden sich der große importierte Kaplöwe »Leo« und der bengalische Königstiger »Castor«. Der Löwe war Junggeselle, aber der Königstiger hatte eine sehr schöne Bengaltigerin zur Gemahlin. Natürlicher empfindend als die Menschen, lieben die Tiere nur in bestimmten Zeiträumen. Als ein solcher heranrückte, verliebte sich der Löwe in die Tigerin, und es entstand zwischen den beiden Rivalen ein gespanntes Verhältnis. Der Tiger war eifersüchtiger als ein Türke. Der Löwe, im Vollbewußtsein seiner Kraft, kehrte sich nicht daran und machte der gestreiften Schönen trotzig den Hof. Da, eines Morgens, als ich in meinem Tierpark am Neuen Pferdemarkt spazierenging, tönte mir aus dem großen Außenkäfig ein furchtbares Gebrüll entgegen. Sofort eilte ich auf den Kampfplatz. Richtig, zwischen dem Löwen und dem Königstiger fand ein blutiges Duell statt. Beide standen auf den Hinterbeinen und gaben einander so gewaltige Ohrfeigen, daß die Haare nur so im Käfig herumstoben. Den Anblick, als die beiden großen Tiere in Kampfstellung einander gegenüberstanden, beide ihrer Stärke bewußt, im Begriff, auf Leben und Tod miteinander zu kämpfen, werde ich nie verges-
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sen. Schnell sprang der Wärter – es war der später so berühmt gewordene Dompteur Richard Sawade – in den großen Käfig, wo er durch Anrufen und Knallen mit der Peitsche die Rivalen auseinandertrieb. Zahlreiche Haarbüschel und Blutspuren waren Zeugnis des Kampfes, der stattgefunden hatte. Alle Raubtiere, besonders die Löwen und Tiger, sind während der Brunstzeit sehr aufgeregt. In Dressurgruppen muß man die männlichen Tiere oft während einer längeren Zeit gänzlich absondern. Die Verliebtheit der Tiere nimmt eine Art Siedegrad an, und noch größer als die Zärtlichkeit ist die Eifersucht auf etwaige Nebenbuhler. Einen Nebenbuhler sieht der verliebte Löwe aber in jedem, der sich der Löwin nähert. Merkwürdigerweise ist er nicht nur eifersüchtig auf seinesgleichen, sondern auch auf Menschen, die Wärter nicht ausgenommen. Da auch ohne Zutun der Menschen Liebesverhältnisse zwischen Löwen, Tigern und anderen Katzenarten vorkommen, so liegen Kreuzungsversuche nahe. Ich habe von Löwen und Königstigern mehrfach Junge gezogen. Die aus dieser ungleichartigen Verbindung hervorgehenden Produkte sind aber bedeutend größer als die Eltern. Es sind schöne, große, kraftvolle, ganz schwach gestreifte Tiere mit starkem Kopf. Die Tiere sind außergewöhnlich zahm, jedoch nach den bisherigen Beobachtungen leider nicht fort-
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pflanzungsfähig. Die Schwierigkeiten des Umgangs mit Raubtieren in der Gefangenschaft beginnen jedoch erst mit der Dressur, denn hier wird von den Tieren etwas verlangt, was zum großen Teil ihrer Natur fremd ist. Wenn es mir trotzdem gelang, aufsehenerregende Dressurgruppen verschiedener Tierarten zusammen arbeiten zu lassen, wenn es möglich wurde, daß Elefanten auf einem Dreirad radeln, Eisbären auf einer Wippe schaukeln und Seelöwen brennende Petroleumlampen auf der Nase balancieren, so sind das Ergebnisse der stets von mir angewandten und von mir eingeführten Schule der zahmen Dressur. Was man früher unter »Dressur« verstand, verdiente diesen Namen durchaus nicht, viel eher hätte man alle jene Verfahren als Tierquälerei bezeichnen dürfen. Die Hilfsmittel der Tierbändiger früherer Zeiten waren Stock, Gabeln und glühende Eisen. Man kann sich denken, daß die Tiere niemals Vertrauen zu ihren Herren faßten, sondern ihre Peiniger nur fürchteten und grimmig haßten. Das ganze Kunststück bestand darin, daß man die armen Tiere durch Schläge und durch Berühren mit dem heißen Eisen dermaßen in Furcht versetzte, daß sie beim bloßen Anblick der Schreckmittel schon durch den Käfig flohen und dabei etwaige Hindernisse, mit denen man den Weg absperrte, übersprangen.
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Wenn die Tiere aber soweit gebracht worden waren, hatte sie der Bändiger arg zugerichtet. Vor vielen Jahren sah ich einmal in England vier »dressierte« Löwen, denen die ganzen Schnurrhaare abgesengt und die Mäuler schrecklich verbrannt waren. Selbstverständlich gehörte es damals nicht zu den Seltenheiten, daß die Tierbändiger von der gepeinigten Kreatur in Stücke gerissen wurden. Die Raubtiere, die solcherweise in der Gefangenschaft zu Menschenfressern wurden, trifft keinerlei Schuld. Schließlich handelten sie nur in der Notwehr, als sie ihre Peiniger anfielen. Sowohl in England wie in Deutschland hatte ich diese wilden Dressuren beobachtet, und wie schon eingangs erwähnt, war in mir der Wunsch rege geworden, die sinnlose Art der Behandlung der armen Tiere durch eine vernunftgemäßere zu ersetzen. In Hamburg wurde diese Art der Raubtierdressur 1863 zuerst im Zirkus Renz durch Thomas Batty vorgeführt. Sechs Löwen scheuchte er durch Schreckmittel im Käfig umher. Batty stand in der Nähe des Ausgangs, feuerte aus einem Karabiner mehrere Schüsse ab und flüchtete dann durch einen Vorhänge-Sicherheitskäfig aus dem Wagen. Das ganze Wunder einer solchen Vorführung bestand eigentlich darin, daß die Tiere nicht über den an sich kühnen Mann herfielen. Freilich gab es auch in der wilden Dressur verschiedene Auffassungen. Es gab Leute, die ihre Tiere gut behandelten,
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soweit es das System nur erlaubte, und sich jedenfalls von unnötigen Grausamkeiten fernhielten. Zu ihnen zählte der Nachfolger Battys, nämlich Cooper, der, wie später Hempel und Seeth, sich den populären Namen Batty beilegte. Durch kluge Beobachtung war Cooper schon damals zu einer Maßnahme gekommen, die in der zahmen Dressur heute als ein Gesetz gilt: Er entfernte diejenigen Tiere, die zu bösartig geworden waren und Unsicherheit in die Arbeit brachten. Von seiten des amerikanischen Zirkusbesitzers Myers, der die Coopersche Löwengruppe auf seiner damaligen Europareise engagiert hatte, erhielt ich eines Tages die Anfrage, ob ich mit einigen Löwen aufwarten könne. Es traf sich, daß ich eben eine ganze Tiersammlung von dem Tierschaubesitzer Traben gekauft hatte, in welcher sich auch einige stets zu Dressurzwecken gebrauchte Löwen befanden. Cooper kam selbst nach Hamburg und holte die gekauften Tiere nach Brüssel. Hier machte er einen Fehler und sperrte sie mit den alten Tieren in einen Käfig, ohne sie erst langsam aneinander zu gewöhnen. Der neue Zustand irritierte die Tiere und machte sie, wie man heute sagt, nervös. Als Cooper die scheuen Tiere zur Ausführung seiner wilden Tricks mit der Peitsche zwingen wollte, kam es zur Katastrophe. Gerade der gutmütigste Löwe fiel Cooper an und richtete ihn böse zu. Durch gegenseitiges Mißverständnis kam so ein humaner
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Tierbändiger durch einen zahmen Löwen aufs Krankenlager. Zwischen Myers und mir spielte sich noch ein artiges Intermezzo ab. Am Tage nach dem Unfall erhielt ich aus Brüssel ein Telegramm, in welchem mir einer der Löwen zur Verfügung gestellt wurde, weil das Tier krank sei. Bei Ankunft des Telegramms wußte ich noch nichts von dem Unfall, sonst wäre es mir ja sofort klar gewesen, daß auch dem Löwen der Angriff nicht bekommen sei. Aber auch ohnedies nahm ich das Telegramm nicht ernst, denn Cooper hatte von mir gesunde Tiere empfangen und bezahlt. Mir schwante beim Lesen der Depesche sofort nichts Gutes, und ich lehnte die Zurücknahme des gesund abgelieferten Löwen telegraphisch ab. Am nächsten Morgen schwenkte der Postbote ein neues Telegramm: »Your lion is dead, what shall I do with him?« (»Ihr Löwe ist tot, was soll ich mit ihm machen?«) – »Pickle him, if you like« (»Salzen Sie ihn ein, wenn Sie mögen«), antwortete ich, ohne mich weiter zu besinnen. Nach einigen Wochen, als ich die Sache schon fast vergessen hatte, kam wahrhaftig mit der Eisenbahn als Frachtgut ein Faß mit dem eingepökelten Löwen in Hamburg an. Der verrückte Kerl hatte den Löwen wirklich eingesalzen und mir zugeschickt. Wahrscheinlich glaubte er, durch die Ausführung meiner ironischen Antwort das Recht auf seine
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Seite zu bringen. Selbstverständlich verweigerte ich die Annahme des Salzlöwen, und mit einer späteren Klage fiel Myers gründlich herein, denn da stellte es sich heraus, daß das Tier an erlittenen Mißhandlungen zugrunde gegangen war. Die alten deutschen Tierbändiger, wie Kreutzberg, Kallenberg, Preuscher, Schmidt, Daggesell, Kaufmann und der bereits als Amsterdamer Zoodirektor erwähnte Martin, sie alle wichen von der ganzen wilden Dressur erheblich ab und führten nur solche Tiere vor, welche von Jugend auf gezähmt waren. Sie brachten es teilweise zu interessanten Vorführungen. Man stelle sich jedoch den Unterschied vor: Damals die engen, halbdunklen Wagenkäfige und heute der große luftige Zentralkäfig der Manege. Sehr gut entsinne ich mich aus meinen Jugendjahren des alten Kreutzberg, der mit Hilfe einer jungen Schwedin namens Cäcilie in seiner Tierschau nervenerregende Tricks ausführte. In Frankreich waren es die alten Tierschaubesitzer Jean Baptiste Pezon, der erwähnte Pianet und hauptsächlich François Bidell, die mit ihren Raubtiergruppen Aufsehen erregten. Unter dem Sohn des alten Kreutzberg erlebte die Dressur in den sechziger Jahren einen seltsamen Auswuchs, wenn man diesen wilden Schößling überhaupt noch Dressur nennen darf. Karl Kreutzberg reiste mit einer Gruppe von sieben Löwen, die ich ihm geliefert
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hatte, in Spanien. Hier verlangte man von ihm, er solle den Kampf zwischen einem Löwen und einem Stier vorführen. Kreutzberg war ein unternehmungslustiger Kopf und ging sofort auf die Anregung ein. Seine Dressuren führte Kreutzberg in einem ovalen Wagenkäfig vor, um den er den jungen Stier so lange herumführen ließ, bis dem Löwen, der noch nicht zu Abend gespeist hatte, das Wasser im Maul zusammenlief. Für das Kampfspiel wurde ein besonders großer Käfig gebaut, und in diesen wurde der Stier hineingelassen, wenn die Spannung des Publikums und der Appetit des Löwen den Höhepunkt erreicht hatten. Mit Gebrüll stürzte sich dieser auf den Stier, der es meistens ganz vergaß, sich zu wehren, und zerriß ihn. Das blutige Schauspiel entzückte die Spanier und Portugiesen, die Kreutzberg später mit diesem »Stierkampf« beglückte. Andere Tierbändiger versuchten es ihm gleichzutun, und dreimal habe ich für solche Zwecke noch Löwen geliefert. In zwei Fällen kümmerte sich der Löwe nicht um den Stier, der Stier nicht um den Löwen, und das Schauspiel verlief wie das Hornberger Schießen. Im dritten Fall war der Erfolg allerdings ein voller, aber andersherum, der Stier nahm den Löwen auf die Hörner und verwundete ihn so schwer, daß der König der Wüste in die Jagdgründe seiner Väter einging. Die Zeiten der Gewaltdressuren sind jetzt vorbei,
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schon deshalb, weil man mit Gewalt nicht den hundertsten Teil dessen erreichen kann, was sich mit Güte erzielen läßt. Aber ich habe seinerzeit die zahme Dressur nicht aus diesem Grunde eingeführt, sondern es geschah aus Mitgefühl und aus der Erwägung, daß es einen Weg zur Seele des Tieres geben muß. Zwischen der Behandlung eines wilden und eines zahmen Tieres kann kein großer Unterschied bestehen. Die Tiere besitzen ein feines Unterscheidungsvermögen in bezug auf die Art, wie man ihnen begegnet. Sie sind fähig, Freundschaften auch mit den Menschen zu schließen, und besitzen ein mehr oder minder stark ausgeprägtes Erinnerungsvermögen. Die individuelle Auswahl des zur Dressur geeigneten Tieres ist daher die erste Aufgabe der neuen Schule. Was ich mir damals erkämpfen mußte, ist heute Gemeingut geworden. Man weiß es und handelt danach, und wer die Gabe besitzt, diesen eigentümlichen Tiercharakter beobachten zu können, hat Talent zum Dresseur. Ich habe schon früher erzählt, daß sich bei meinem ersten Versuch, die zahme Dressur einzuführen, unter 21 Löwen nur vier als brauchbar erwiesen. So leicht war diese Auswahl jedoch nicht, denn es gibt Tiere, die zuerst ganz gut einschlagen und erst später, wenn sie mit vielen anderen Tieren zusammenarbeiten, nervös und gefährlich werden. Werfen wir einmal einen kurzen Blick in die ersten Stunden meiner Dressur-
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29.811 Hagenbeck: Von Tieren und Menschen Hagenbeck-Erinnerungen, 90
schule! Die Jungtiere, welche zu einer Gruppe zusammengestellt werden sollen, sind nach ihrer äußeren Schönheit ausgewählt und für ihren Beruf als »Artisten« bestimmt worden. Nehmen wir an, es seien Löwen, Tiger, Panther, Leoparden, Eisbären und Doggen. Vor allem gilt es, die Tiere miteinander bekannt zu machen, denn ließe man alle auf einmal unvorbereitet zusammen, so würde ohne weiteres die gefährlichste Balgerei entstehen. Die Tiere werden also in einer Reihe von Einzelkäfigen untergebracht, die nur durch Gitterstäbe voneinander getrennt sind. Alle können einander sehen und in ihrer Sprache miteinander sprechen. Der Dompteur hat Zeit, sich mit jedem einzelnen seiner Zöglinge zu beschäftigen und ihn durch Besuche und Liebkosungen an sich zu gewöhnen. Nach geraumer Zeit kommen die Tiere zur ersten Schulstunde gemeinsam in die Arena, selbstverständlich unter Aufsicht ihres Lehrers. Wie in der Schule für kleine Kinder wird aber auch hier in der ersten Stunde noch nicht gearbeitet. Die Tiere lernen sich jetzt näher kennen, spielen miteinander und mit dem Lehrer und machen sich mit der neuen Örtlichkeit vertraut. Vom ersten Augenblick dieses Beisammenseins hat der Dompteur ein wachsames Auge auf jedes einzelne Tier. Häufig hat er Gelegenheit, mit einer noch freundschaftlichen Mahnung Auseinandersetzungen
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zwischen den Tieren zu verhindern. Alle jungen Tiere, überhaupt alle Tiere, besitzen eine große Spiellust, aber sie erzürnen sich auch leicht miteinander. Hier naht ein Eisbär mit tölpelhaftem Schritt einem Löwen und möchte ihn an der Mähne zausen. Der Löwe versteht die Berührung falsch und versetzt dem zottigen Kollegen eine Ohrfeige. Sofort ist der Dompteur da und macht den Löwen durch einen wohlgemeinten Rippenstoß darauf aufmerksam, daß man hier höflich zu sein hat. Einem Tiger, der von Natur vielleicht ein kleiner Raufbold ist, fällt es ein, dem friedlich neben ihm her trottenden Leoparden eins mit der Tatze zu versetzen. Der Leopard faucht wütend und duckt sich zum Sprung, aber schon ist der Lehrer da und treibt die Kampfhähne auseinander. Schon bei diesem ersten Zusammensein formt sich ein oberflächliches Bild von den einzelnen Charakteren, das die Friedfertigen von den Angriffslustigen, die Gehorsamen von den Widersetzlichen unterscheidet. Bei der Dressur entscheidet aber nicht nur der Charakter, sondern hauptsächlich auch das Talent. In der zweiten Stunde sind die Geräte und Dekorationsstücke bereits in der Arena aufgestellt, denn der Plan der Vorführung muß natürlich bis in alle Einzelheiten fertig sein, ehe man überhaupt mit der Dressur anfängt. Da stehen die Böcke für die geplante Pyramide. Da liegt die Tonne, auf der ein Tiger balancieren
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soll, dort liegt der Reifen, da steht die Wippe ... Alle diese Gegenstände werden den Tieren vertraut. Der Dompteur ist mit einer dünnen Peitsche und einem Stock ausgerüstet. Viel wichtiger aber ist die Ledertasche, die er an seinem Leibriemen trägt, denn sie enthält die kleinen Fleischstücke zur jeweiligen Belohnung. Eine unendliche, überhaupt gar nicht zu beschreibende Geduld gehört dazu, alle die verschiedenen Tiere dazu zu bringen, daß sie ihren Platz einnehmen, ruhig darauf verharren und nicht eher absteigen, als bis sie dazu den Befehl erhalten. Vom ersten Augenblick der Auswahl an hat man den vierbeinigen Artisten Namen gegeben, mit denen sie jedesmal, wenn etwas von ihnen verlangt wird, gerufen werden, damit das Ohr sich an den Klang gewöhnt. Hat der Dompteur seine Zöglinge so weit, daß sie auf Befehl ihre Plätze einnehmen, so ist die erste Stufe erreicht, auf der sich die vorgesehene Dressurarbeit aufbauen soll. Schritt für Schritt geht diese Arbeit weiter. Da tritt zum Beispiel der Dompteur auf einen Löwen zu, spricht begütigend mit ihm, hält ihm ein Stück Fleisch vor und versucht, ihn auf ein Podest zu lokken. Die Belohnung ist aber noch nicht verdient. Erst wenn der Löwe oben ist, erhält er sein Fleischstück. Noch hat er keine Ahnung, daß er auf dem Bock sitzen zu bleiben hat, und auf die zahllosen Versuche, herabzusteigen, folgt immer das mühsame Locken,
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Zurückführen und Auf-den-Bock-Bringen, bis das Tier es endlich zu begreifen anfängt, was man von ihm verlangt. Auf diese Weise muß jedes Tier der Gruppe an jeden Schritt gewöhnt werden. Ein Assistent geht zwar dem Dompteur an die Hand und achtet auf die Tiere, wenn jener den Rücken wendet. Die Hauptarbeit jedoch liegt bei dem Dresseur, der ja auch in der öffentlichen Vorstellung allein mit den Tieren arbeiten und mit seinen zwei Augen gleichsam vor und hinter sich sehen muß. Während der Arbeit und Schulung stellt sich langsam heraus, welche von den Tieren zu gebrauchen sind und welche nicht. Schlechte Charaktere, wenn man so will, müssen aus der Gruppe entfernt werden. Durch Strafen würde man sie noch störrischer machen, auch würden die anderen durch das schlechte Beispiel verdorben. Die Grundlage aller Dressuren ist jedoch der Gehorsam, und niemals darf der Dompteur sich zufriedengeben, ehe seine Befehle ausgeführt sind. Gewöhnlich befinden sich in jeder größeren Gruppe einige Streitmacher, die es nicht fertigbringen, ruhig neben ihren Kameraden zu sitzen. Auch diese Störenfriede müssen durch andere Tiere ersetzt werden, um den Frieden zu bewahren. Damit ist der Elementarunterricht, der darin besteht, Platz zu nehmen und sich anständig zu betragen, beendet, und nun geht's in die höhere Klasse. Jetzt erst muß es sich zei-
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gen, wer wirklich Intelligenz und Talent besitzt, denn meistens stellt es sich erst im Verlaufe der höheren Dressur heraus, welche Tiere man wieder hinausbefördern muß. Je geduldiger und gütiger der Dompteur ist, desto mehr Vertrauen werden die Tiere zu ihm fassen. Ist seine Güte aber nicht mit Strenge gepaart, die sich Gehorsam zu erzwingen weiß, dann wird der Vorführung die Sicherheit mangeln. Die Furcht vor ihrem Lehrer darf nicht ausgeschaltet werden. In jedem Augenblick muß sich das Tier der Tatsache dunkel bewußt sein, daß eine Auflehnung gegen den Willen des Gebieters unmöglich ist. Wenn man sich nun die vielen Bewegungen vergegenwärtigt, welche die zahlreichen Tiere einer großen Gruppe ausführen müssen und daß jeder Schritt mit Güte und Langmut und durch endlose Wiederholungen einstudiert werden muß, dann erhält man vielleicht eine Ahnung von der engelhaften Geduld, die ein moderner Dompteur besitzen muß. Kaum ist es nötig hinzuzufügen, daß diese Geduld nur bei solchen Menschen zu finden ist, die ihre Tiere lieben. Wie zahm aber auch die Tiere geworden sein mögen und wie gut sie sich auch untereinander vertragen, immer bleiben es von Natur wilde Tiere, deren Charakter bis zu einem gewissen Grade unberechenbar ist und von denen viele bei zunehmendem Alter doch gefährlich werden. Ein guter Dompteur muß die Veränderungen, die mit seinen Tieren
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vorgehen, rechtzeitig bemerken, wenn er nicht zu Schaden kommen will. Bei genauerer Beachtung weniger Hauptpunkte und persönlichem Mut, der in allen Zweigen unseres Unternehmens immer stillschweigend vorausgesetzt werden muß, ist die Gefahr für den Dresseur heute so gut wie beseitigt. Viele dressierte Tiere und insbesondere viele große Dressurgruppen sind aus meiner Schule in die Welt gegangen, und eigentlich sind in den Vorstellungen, die nach Tausenden zählen, bislang nur zweimal Unfälle vorgekommen. Von diesen zwei muß ich noch einen abrechnen, da er einem Manne aus dem Publikum begegnete, der sich ohne mein Wissen und gegen das strenge Verbot aus Geltungsbedürfnis in den Raubtierkäfig begeben hatte. Ich habe einmal von einem Engländer gehört, der jahrelang nur zu dem einzigen Zwecke einem Zirkus nachreiste, um den Augenblick zu erleben, in dem ein gewisser Löwenbändiger von einem seiner Löwen zerrissen würde. Dieser Typus ist nicht so selten, er kommt in den verschiedensten Abwandlungen vor. Jedenfalls gehört in diese Klasse auch der junge Engländer, der während der Weltausstellung in Chikago in einer Mittagspause den Käfig unbemerkt öffnete und hineinschlüpfte. Der Besuch bekam dem Selbstmordkandidaten schlecht. Kaum hatte er den Käfig betreten, als er sich in den Klauen eines Löwen sah. Es gab ein
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großes Geschrei, das glücklicherweise den Dompteur sofort herbeirief, welcher dem Engländer das Leben rettete. Einen Unfall, der auf unser eigenes Konto kommt, erlitt mein Schwager Mehrmann auf der Berliner Gewerbeausstellung. In seiner Gruppe befand sich ein schwarzer Bär, der mir bereits als ein etwas unsicherer Bursche aufgefallen war. Sei es nun, daß Mehrmann seine Entfernung als unbequem noch etwas hinausschob, oder sei es, daß er meiner Wahrnehmung nicht genügend Beachtung schenkte, genug, nach sechs Tagen hatten wir die Bescherung. Der Bär überfiel seinen Herrn und brachte ihm ein paar Wunden bei, an denen er vier Wochen im Hospital darniederlag. Das ist aber auch alles, was an Unfällen bei Dressurvorführungen vorgekommen ist, und ich bitte um Entschuldigung, wenn ich den an dieser Stelle erwartungsvolleren Leser enttäuschen muß. Der Grund ist, wie bereits erwähnt, in unserer stets vorsichtigen Auswahl zu suchen und in dem glücklichen Umstand, daß sich stets eine Reihe von Männern meinem Hause verband, die die erforderlichen Qualitäten eines Tierlehrers mitbrachten. Neben den bereits erwähnten Dompteuren muß ich da vor allen Dingen Richard List, Fritz Schilling, August Mölker, Ole Nansen, Jony Schipfmann, Willi Peters, Hermann Boger, Willie und Charlie Judge, Karl Herbig, Johannes und Gustav
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Östmann, Corradini, Wagner, Christian und Theodor Schröder und andere nennen, die als tatkräftige Dompteure meiner zahmen Dressurschule mit Pferden, Affen, Elefanten, Raubtieren, Seelöwen – ja sogar mit Walrossen arbeiteten und jahrelang gefeierte Artisten im In- und Ausland waren. Viele junge Assistenten und Wärter, die gegenwärtig diesen bewährten Tierlehrern assistieren, versprechen dem Namen meiner Dressurschule auch in Zukunft einen guten Klang zu verleihen. Mein Bruder Wilhelm war ebenfalls einer der ersten Dompteure des neuen Systems. Im Hippodrom zu Paris zeigte er als große Neuigkeit einen jungen Löwen zu Pferd, und er war es auch, der die großen Gruppen dressierter Eisbären zuerst im Zirkus vorgeführt hat. Durch ihn hat es sich herausgestellt, daß die Eisbären, welche früher als unzähmbar verschrien waren, sich schließlich durch geduldige und gute Behandlung als recht gelehrige Kerle erwiesen. Auch alle übrigen Bärenarten, sowohl die russischen als auch die amerikanischen und indischen Arten, sind recht gut für die Dressur zu verwenden, jedoch nur in ihren ersten Lebensjahren. Sobald sie ein Alter von drei oder vier Jahren erreicht haben, werden diese Tiere launenhaft und gefährlich, und man kann sagen, daß die meisten Unglücksfälle, bei denen Menschen verwundet oder zerrissen werden, durch Bären herbei-
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geführt wurden. Ehrlicherweise möchte ich erwähnen, daß ich selbst als eigentlicher Dompteur weder in Betracht komme noch auch irgendwie, abgesehen von meinem Chikagoer Debüt, öffentlich hervorgetreten bin. Die meisten Gruppen, die ich zusammengestellt habe und die unter meiner Leitung dressiert wurden, habe ich aber dennoch unmittelbar kennengelernt. Fast immer ging ich selbst in den Käfig und gewann Fühlung mit den Tieren. Meinen ersten Versuch als Tierbändiger machte ich in der Mitte der siebziger Jahre, aber nicht etwa öffentlich. Damals verkaufte ich an den Neger Ledgar Delmonico, der in England als Tierbändiger einen bedeutenden Ruf hatte, drei junge Löwen und drei junge Tiger, welche Delmonico während eines Vierteljahres in einem eigens gebauten Wagenkäfig bei mir dressierte. Er behauptete, daß niemand außer ihm es wagen würde, den Käfig zu betreten. Als er mich aber am letzten Tage vor seiner Abreise mit der Frage neckte, ob ich nicht von meinen Freunden Abschied nehmen wolle, machte er die Rechnung ohne den Wirt. Obgleich ich bei weitem noch nicht die Erfahrung besaß, die mir heute zur Seite steht, so wußte ich doch schon ganz genau, wieweit ich den Tieren trauen konnte. Ohne weiteres ließ ich den Sicherheitskäfig vorhängen, begab mich zu den Tieren Delmonicos, befahl, daß man mir von draußen die Requisiten zu-
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reiche, genau in der Art, wie auch Delmonico sich die Geräte hatte geben lassen, und machte dem verblüfften Tierbändiger nun die ganze Dressur vor, die er selbst mit seinen Tieren einstudiert hatte. Schief kann es schon mal gehen trotz aller Vorsicht und Kaltblütigkeit. Aber wie man sieht, habe ich diese Proben alle gut überstanden. Nur einmal wurde mein Anzug ruiniert, als ich einige Offiziere mit ihren Damen durch meinen Tierpark begleitete und die Tiere nach meiner Gewohnheit durch die Gitter streichelte. »Na, na, mit den Gittern zwischen den Tieren und Ihnen ist die Geschichte ja nicht weiter gefährlich, aber hineingehen würden Sie doch wohl nicht«, spöttelte der eine und fuhr auf meine Entgegnungen fort: »Reden und riskieren ist zweierlei!« Bei den letzten Worten, die eine direkte Herausforderung waren, war ich schon bei der Käfigtür und verriegelte sie hinter mir von innen. Während draußen vor dem Gitter die Gesichter auf einmal lang wurden, umringten mich meine zwölf Löwen und ebenso viele Hunde. Ich hatte Mühe, mich mit bloßen Händen ihrer plumpen Zärtlichkeiten zu erwehren. Bald hatte ich aber die Gesellschaft unter Kommando und führte aus dem Stegreif einige Tricks vor, die ich meinen Tieren bereits beigebracht hatte. Wie gesagt, meinem Anzug bekam dieser Löwenbesuch sehr schlecht, denn die Tiere waren in der Haarung, und ich sah selbst bald aus wie ein Löwe. Als
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ich wieder bei der Gesellschaft stand, wurde ich, wie dies so häufig geschieht, mit hundert Fragen über die Tierdressur überschüttet. Unter den Frauen, die sich dem seltenen Beruf einer Dompteuse widmeten, erinnere ich mich an eine Frau Steiner, die nach sechsmonatiger Dressur mit einer Gruppe von Hyänen, Hunden, Bären und einem jungen Lippenbär auf Reisen ging. Unter dem Namen »Miß Cora« hatte sie in Artistenkreisen einen guten Ruf. Sie war eine schöne, stattliche Erscheinung, die hauptsächlich in Frankreich und Spanien große Erfolge hatte. Von jeher hat es unter den Damen, die sich dem Berufe der Tierdressur widmeten, vorzügliche und kaltblütige Arbeiterinnen gegeben. Die erste mir bekannte Dompteuse, die schon einmal erwähnte Schwedin Cäcilie, arbeitete mit Löwen, Tigern und Bären. Claire Heliot wurde ebenfalls durch ihre Löwengruppe sehr bekannt. Sie verstand nicht nur, geschickt zu arbeiten, sondern auch ihre Arbeit vor dem Publikum wirkungsvoll in Szene zu setzen. Auf einem ganz anderen Blatte steht und zu hochinteressanten Experimenten führt die Zusammenstellung von Raubtieren und Haustieren, Gegensätzen, die einander in der Natur ausschließen. Und doch hat die zahme Dressur auch diesen Triumph davongetragen. Meinen ersten derartigen Versuch machte ich im Sommer 1899. Es war bereits gelungen, zwei Tiger,
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drei Löwen, zwei schwarze Panther, zwei Leoparden, drei Angoraziegen, zwei schwarzköpfige Somalischafe, ein indisches Zwergzebu, ein Shetlandpony und einen Seidenpudel aneinander zu gewöhnen, selbstverständlich lauter Jungtiere, teilweise erst im Alter von sechs bis acht Monaten. Leider ging mir diese Gruppe durch die bereits beschriebene Cholera ein, und was ich schließlich an Überbleibseln noch in der Weltausstellung zu Chikago vorführen konnte, eignete sich nicht mehr für große Effektstücke. Wie sich zwischen den Tieren einer dressierten Gruppe Freundschaften zu ihrem Dresseur entwikkeln, so entstehen dabei auch andererseits solche der Tiere untereinander, und der Dresseur tut gut, wenn er jene Tiere möglichst zusammen arbeiten läßt. Solange solche Freundschaften Tiere verwandter Art umfassen, sind sie für niemand überraschend. Ich entsinne mich zweier unzertrennlicher Freunde: eines Kronenkranichs und eines westafrikanischen Straußes, dann wieder eines Kranichs und einer Gans. Etwas auffallender war schon die Freundschaft, die ein Elefant mit einem Pony geschlossen hatte. Der Dickhäuter verfiel in Melancholie und verweigerte die Nahrung, wenn er von seinem zierlichen Gefährten getrennt wurde. Die erste gemischte Raubtiergruppe, die noch mein Vater zusammenstellte, bestand aus einem großen Bengaltiger, einem indischen Panther und einem Foxterrier.
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Diese drei Tiere waren durch innige Freundschaft verbunden. Der Terrier fraß an demselben Knochen wie der Tiger, und dieser dachte nie daran, seinem kleinen Kameraden ein Leid anzutun. Sehr viel erstaunlicher ist es nun, wenn man Tiere miteinander »arbeiten« sieht, die von Natur zu den grimmigsten Gegnern bestimmt sind. So haben wir in modernen großen gemischten Gruppen Tiger und Löwen mit Pferden und Ziegen friedlich zusammen arbeiten sehen. Auch hier erreichte ich meine Erfolge durch dieselben einfachen, liebevoll auf den Charakter eingehenden Mittel und durch Anwendung des maßgebenden Einflusses, nämlich der Gewöhnung. Zunächst werden beispielsweise das Pferd und der Löwe, die gemeinsam auftreten sollen, derartig befestigt, daß sie einander nicht erreichen können, sich aber sehen; so gewöhnen sie sich an den gegenseitigen Anblick und an den Geruch. Sie gewöhnen sich ferner daran, in der Gegenwart des anderen Tieres zu fressen und zu schlafen, mit einem Wort, die ungewohnte Nachbarschaft als etwas Selbstverständliches hinzunehmen. Hat man die Jungtiere so weit, daß das Raubtier keine Mordlust, der Pflanzenfresser keine Furcht mehr empfindet, so werden sie in Gegenwart des Wärters losgelassen und zusammengeführt. Alsdann tritt dasselbe Prinzip der geschilderten zahmen Dressur in Kraft. In den siebziger Jahren leistete der
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Amerikaner Woodward in der Robbendressur wirklich Großartiges. Manche meiner Zeitgenossen werden sich noch darauf besinnen können, wie dieser Dompteur seine ersten dressierten Seehunde in der damaligen Möllerschen Tierschau am Spielbudenplatz auf St. Pauli ausstellte. Vor wenigen Jahren stellte sich ein Mann bei mir vor, der sich erbot, als Seehundedresseur bei mir zu arbeiten. Ich hatte gerade fünf schöne Seehunde, und so engagierte ich den Mann, der seine Sache vortrefflich verstand. Nach vier Monaten hatten sich die Seehunde in Artisten verwandelt. Sie schlugen das Tamburin, zupften die Gitarre, feuerten Pistolen ab und apportierten Gegenstände, die ins Wasser geworfen wurden. Später erwarb Barnum die Gruppe für 2500 Dollar. Es war das beste Seehundegeschäft, das ich bisher gemacht hatte. Noch folgsamer und gewandter als Seehunde sind aber die kalifornischen Seelöwen. Diese Art ist es auch, von der man im Zirkus die großartigsten Tricks ausführen sieht. Die Seelöwen sind die muntersten unter allen Robben, auch gewöhnen sie sich sehr gut an unser Klima. In den verschiedensten Zoos, in Köln, Paris, Amsterdam und Antwerpen, haben sie sich fortgepflanzt. Zwei jungen Engländern, Willie und Charlie Judge, welche einige Jahre in meinem Unternehmen tätig waren, gelangen vorzügliche Dressuren. Den ersten großen Seelöwen erhielt ich 1880
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von meinem alten Freund Barnum. Das Tier war über sechs Zentner schwer. Es lief bald wie ein Hund hinter mir her. Meinem Vater bereitete es ein großes Vergnügen, sich mit diesem Seelöwen zu beschäftigen. Es war an einem Sonntag. Gerade umstanden einige hundert Besucher das Gehege des Seelöwen und beobachteten die Fütterung. Als der Korb zur Hälfte geleert war, drehte sich mein Vater um. Da ereignete sich etwas Entsetzliches. Blitzschnell rutschte der Seelöwe hinter meinem Vater her, packte ihn im Rükken und riß ihm mit einem Ruck Rock, Hose und Hemd von einer Stelle seines Körpers weg, die man nicht öffentlich zu zeigen pflegt. Im nächsten Augenblick biß sich der Seelöwe an dem Korbe fest, entriß diesen der Hand meines Vaters und begann nun, in aller Gemütsruhe den Rest der Fische zu verzehren, während mein Vater schleunigst in eine Eckbude flüchtete, wo ihm anständigerweise nichts anderes übrigblieb, als seinen Rücken der Wand zuzukehren. Ich kam ihm schnell mit einem anderen Anzug zu Hilfe, und bald darauf erschien er zum Vergnügen des Publikums wieder auf der Bildfläche. Der Angriff des Seelöwen war durchaus nicht auf die bösartige Neigung zurückzuführen, sondern es war der Fehler meines Vaters gewesen, mehr Fische mit ins Gehege zu nehmen, als für den Seelöwen bestimmt waren. Dieser hatte nichts gewollt als den Rest der Fische, die er im
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Korb bemerkt hatte. Ein weiterer Angriff ist nie mehr vorgefallen, da seit jenem Vorkommnis nicht mehr Fische mitgenommen wurden, als verfüttert werden sollten. Ich will hier nicht aus der Schule schwatzen, doch hoffe ich, ehe viel Zeit ins Land gegangen ist, dem Publikum einen Triumph der Tierzähmung vorführen zu können, der alle bisherigen Dressuren in den Schatten stellt.
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VI Tierfang unter Nordlichtern und Tropengluten Ist man geneigt, unserem schmunzelnden Philosophen Wilhelm Busch Glauben zu schenken, so werden Affen auf überzeugende Weise gefangen. Der eifrige Witzblattleser findet auch an anderer Stelle köstlich illustrierte Rezepte, wie man mit Salz, geleimten Stiefeln oder einem geschwind geschlagenen Schwanzknoten sich des grimmigen Leuen oder des munteren Affen bemächtigt. Leider haben meine Tierfänger mit diesen von den Humoristen erprobten Hausmitteln keine befriedigenden Ergebnisse erzielt, und so will ich denn verraten, wie unser schwarzer Geschäftsfreund Abdallah Okutt vom Stamme der Basas mit meinen Fängern zu Werke geht, ohne sich von den Pavianen seine Nase zur »Qualspirale« drehen zu lassen. Dieser alte Straußenfänger meldete sich wie üblich nach Ankunft meiner Expedition in unserer nubischen Station am Gasch am Fuße der Sahaney-Berge. Unterhalb des Felsens glitzert wie Silber das trokkene Flußbett des Gasch, der nur während einiger Monate im Jahr, in der Regenzeit, Wasser führt, aber den übrigen Teil des Jahres lediglich eine gewaltige Fläche blendenden Sandes bildet. Hier befanden sich in kurzen Abständen mehrere Wassertümpel, die von
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den Affen als Tränke benutzt wurden. Den ganzen Tag hörten wir das Streiten und Schnattern der Affen, das sich auch in der Nacht fortsetzte. Ganze Affenfamilien oder auch, wenn man will, ganze Haremswirtschaften knurrten auf dem Felsen, leise grunzend, immer mißtrauisch und auf der Hut vor ihrem ärgsten Feind, dem schleichenden Leoparden. Hütet euch, arme Affen, jetzt naht Meister Abdallah Okutt, der für ein anständiges Bakschisch sofort bereit ist, für uns eine Anzahl der großen braunen Paviane (Cynocephalus doguera) zu fangen. Alles, was er zu diesem Zweck braucht, sind einige Äxte, eine Anzahl Stricke und Hilfe. Sogleich werden sämtliche Wasserlöcher des Gasch mit Dornbüschen verstopft – bis auf eins. Auf diese Weise sind die Paviane gezwungen, die gleiche Tränke mit unseren Tieren zu teilen. Mit der größten Ungeniertheit nahmen die Affen unseren Vorschlag an, gewöhnten sich an unsere Nachbarschaft und hatten ihre Scheu so weit verloren, daß sie bald mit unseren Tieren zugleich nur fünfzig Schritt von uns entfernt ihren Durst löschten. Um die Affen noch sicherer und vertrauter zu machen, wurde in der Nähe des Wasserloches regelmäßig Durra1 gestreut, welches die großen Männchen mit Gier fraßen, wobei sie alle anderen beiseite stießen. Während dieser heuchlerischen Freundlichkeit von
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unserer Seite wurde die Falle hergerichtet, unter der man sich keinen komplizierten Apparat vorstellen darf, denn sie besteht ganz einfach aus einer aus Baumzweigen geflochtenen Rotunde, die, durchsichtig wie ein Käfig, in ihrem Äußeren dem kegelförmigen Dach einer Eingeborenenhütte gleicht. Der ganze Kegel wird mit dünnen Zweigen und Stricken verflochten, die man aus der Rinde des Baobab2 dreht. Das ganze bildet dann einen soliden Käfig von ziemlichem Gewicht, den unsere Leute an der Tränke aufstellten. Unter die an der einen Seite hochgekanntete Falle wird einfach ein starker Knüppel gestellt. Zunächst geht es aber noch nicht an den eigentlichen Fang, sondern es wird weiter geheuchelt. Jetzt verstreute man die täglichen Durraportionen nicht mehr auf den Sand, sondern legte sie in die Falle. Erst als die Tiere auch hier seelenruhig ihr Futter holten, machte Abdallah Ernst. Im Dunkel der Nacht knüpfte er einen langen Strick an den stützenden Knüppel, und nun kommt die Tragödie. Heiß brennt die Mittagssonne hernieder, als ein Trupp durstiger Paviane schnatternd zur gewohnten Tränke eilt. Einige der stärksten Männchen stürzen sich sofort über das Lockfutter ..., ein Ruck an dem Strick, die Falle schlägt zu Boden, und die Freibeuter sind gefangen. Die Szene, die nun folgt, ist urkomisch, fast dramatisch und spottet jeder Schilderung.
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Einen Augenblick sitzen die Überrumpelten wie erstarrt. In ihren Augen glüht das Entsetzen, und verzweifelt suchen die Gefangenen, sich wie Kreisel drehend, einen Ausweg. Die Herde draußen, nicht minder überrascht, ist im ersten Schrecken geflohen. Nun kehrt sie zurück und feuert die Gefangenen durch ohrenbetäubendes Grunzen und Schreien an, das Äußerste zu versuchen. Die Kühnsten springen dicht an die Falle heran und führen erregte Zwiegespräche mit den Eingesperrten. Die Jäger lassen es aber natürlich nicht einmal zu einem Versuch einer Selbstbefreiung kommen. Sobald die Falle zugeklappt ist, eilen sie aus ihren Verstecken herbei, und nun beginnt der schwierigste Teil des Geschäfts: das Herausnehmen der über große Körperkräfte und gefährliche Gebisse verfügenden Paviane. Die Jäger haben sich jeder mit einer langen gegabelten Stange, der »Scheba«, versehen. Mit dieser sucht man den Hals des Tieres zu erfassen, und wenn jeder Affe zu Boden gedrückt ist, kann der Käfig aufgehoben und der Gefangene mit starken, aus Dompalmenfasern geflochtenen Stricken gefesselt werden. Sicherheitshalber wird das Maul gut verbunden und der ganze Körper zur Sicherheit nochmals fest in ein Tuch gewickelt, so daß der arme Vierhänder schließlich aussieht wie eine zum Räuchern präparierte Wurst, die unsere Neger, an einer Stange aufgehängt, zu zweit fröhlich zur Station tragen.
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29.831 Hagenbeck: Von Tieren und Menschen Hagenbeck-Erinnerungen, 103
Die großen Affen haben starke Nerven – kein Wunder, sie rauchen, trinken und arbeiten nicht und leben immer in der Sommerfrische. Nach einer kurzen Erschöpfung erholen sich die Tiere nach einigen Ruhetagen so völlig, daß ihre angeborene Frechheit wieder die Oberhand gewinnt. Wütend springen sie jeden an, der nur von ferne dem Käfig naht. Die großen Männchen, ihrer Paschawürde entkleidet, müssen in Einzelhaft gehalten werden, denn sie sind herrisch und unverträglich. Gibt man ihnen Gesellschaft, so endet die Kameradschaft nach einem erbitterten Kampfe mit dem Tode des Schwächeren. Selbst Weibchen, die man ihnen zur Gesellschaft gibt, gehen ein, da der ungalante Pascha das ganze Futter allein frißt. Dieser Futterneid, der bei Pavianen stark ausgeprägt ist, bildet auch die Ursache, daß meistens die stärksten Männchen gefangen werden. Keinem Untergebenen, allerhöchstens seiner Favoritin, gibt so ein Haremstyrann die Erlaubnis, ihm in die Falle zu folgen und schüchtern einige Brocken aufzulesen. Menges, der viele solcher Affenstationen geleitet hat und dessen Berichte ich hier folge, machte dabei einige interessante Beobachtungen. Ein junges Weibchen, mit einer starken Narbe an der Nase als besonderem Kennzeichen, wurde dreimal gefangen, und jedesmal natürlich in Gesellschaft eines anderen Gebieters. Die Schwarzen begrüßten die Sitt (Frau) schließ-
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29.832 Hagenbeck: Von Tieren und Menschen Hagenbeck-Erinnerungen, 103
lich als eine alte Bekannte. Bei der dritten Begegnung verlor Meister Abdallah seine ganze männliche Galanterie, gab der Dame einen Denkzettel mit der Nilpferdpeitsche und entließ sie mit einer ernsten Verwarnung. Ich weiß nicht, ob man aus diesem Vorkommnis auf mangelnde Intelligenz der Paviane schließen kann. Jedenfalls war die junge Dame in Affenkreisen wohl sehr begehrt, denn zweimal wurde die Witwe sofort von einem neuen Pascha zu seiner Geliebten erkoren. Ihm mußte sie folgen, und wer Affen beobachtet hat, der weiß, wie sklavisch unterwürfig die Äffinnen ihrem gestrengen Herrn sind. Ungehorsam wird streng bestraft. Ging der Gebieter in die Falle – so mußte sie ihm folgen. Hat der Pavianfang auch seine komischen Seiten, so ist er für die Fänger keineswegs lustig und auch nicht ohne Gefahr. Ohne in die Enge getrieben zu sein, greift auch das stärkste Pavianmännchen zwar kaum einen Menschen an. Der Umgang mit den frischgefangenen Tieren ist aber voller Gefahr. Ihre mächtigen Zähne messen sich mit denen der Leoparden, und ihre Körperkraft ist ganz gewaltig. Ernste Verwundungen der Fänger sind an der Tagesordnung. Die halbwilden Basas, deren hoffnungsvoller Sproß unser Abdallah ist, kümmern sich indes nicht viel um die Gefahr, spielt doch der Pavian auf ihrer Speisekarte eine große Rolle. In acht Tagen hatte er uns zwei-
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29.833 Hagenbeck: Von Tieren und Menschen Hagenbeck-Erinnerungen, 104
undzwanzig große Männchen eingefangen, die des öfteren von ihren Gefährten besucht wurden. Nach der mittäglichen Tränke zogen ganze Herden von Pavianen nach der Seriba, bestiegen die Palmen und riefen unseren Gefangenen unverständliche Worte zu, die darauf mit Klagetönen antworteten. Zuletzt artete die Unterhaltung in ein ohrenzerreißendes Konzert aus. Eines Tages sprang ein besonders Beherzter über den Dornverhau in das Lager und eilte auf den Käfig zu, in welchem vielleicht sein Bruder, Vater oder Onkel saß. Unsere Eingeborenen jagten den Eindringling aber rasch hinaus, während die »Zuschauer« rings auf den Bäumen ein wütendes Geheul über diese Unhöflichkeit anstimmten. Zuweilen verwandelt sich der Schauplatz des Affenfanges auch in ein Schlachtfeld, besonders wenn es sich um eine Expedition gegen die großen silbergrauen Hamadrias handelt. Diese sind sehr angriffslustig und, da sie in ungeheuren Herden auftreten, auch sehr gefährlich. Ernst Wache, einer meiner jüngeren Reisenden, erzählte von einer Hamadriasschlacht in Abessinien, an welcher annähernd 3000 Affen teilnahmen. Schon die Art, wie diese Tiere den Kampf einleiten, hat etwas Schreckenerregendes. Sie sträuben die Mähne, fletschen die mächtigen Gebisse und trommeln mit den Händen wütend auf den Boden. Dabei kommen sie bis auf wenige Fuß an den Gegner
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29.834 Hagenbeck: Von Tieren und Menschen Hagenbeck-Erinnerungen, 105
heran und fordern ihn zum Zweikampf heraus. Der Fang dieser Tiere vollzieht sich in ähnlicher Weise. Nur wird die Falle aus fest in den Boden gefügten Stäben errichtet, die dicht mit dornigen Mimosenzweigen durchflochten werden. Dieses Haus, das entweder rund oder oval ist und in der Länge sechs, in der Breite vier Meter mißt, wird auf jeder Seite mit einer Falltür versehen, deren Strick bis zum Versteck des Jägers führt. Die großen Affenarmeen, die sich zwischen den Felsen umhertreiben, zerfallen in einzelne Sippen, deren jede von einem Leitaffen geführt wird. Wenn sich eine Schar Hamadrias der Falle genähert hat, bleibt der Leitaffe als Wache an der Tür stehen, bis die Lieblingsweibchen und die Jungen gefressen haben. Sobald der Leitaffe sich selbst zum Fraß in die Falle begibt, wird er von einem anderen abgelöst. Die hintere Tür ist aber offen und unbewacht. Durch diese schleichen sich so viele Affen ein, daß die Falle sich schnell füllt. Plötzlich bricht ein heiserer Schrei aus tausend Kehlen, ein unbeschreiblicher Tumult entsteht – die Falltüren sind heruntergefallen! Bei einer solchen Gelegenheit war es, erzählt Wache, daß eine Armee von 3000 Hamadrias sich auf die wenigen Jäger stürzte. Sie verteidigten sich mit Gewehren und Knüppeln, wurden aber trotz aller Tapferkeit in die Flucht geschlagen. Die siegreichen
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29.835 Hagenbeck: Von Tieren und Menschen Hagenbeck-Erinnerungen, 105
Affen behaupteten das Feld und befreiten sämtliche Gefangenen. Im Getümmel des Kampfes konnte man wahrhaft rührende Szenen beobachten. Ein kleiner Affe, der durch einen Knüppelschlag betäubt am Boden lag, wurde von einem großen Männchen gerettet und kühn mitten durch die Feinde hinweg in den Busch getragen. Eine Mutter, die bereits ein Junges auf dem Rücken trug, nahm noch ein zweites Baby auf, dessen Mutter erschossen worden war. Groß wie die sprichwörtliche Liebe im Affenvölkchen ist aber auch die Strenge. Die Leitaffen als Erzieher der Herde schalten mit grausamer Rücksichtslosigkeit und mißhandeln ihre Untergebenen mit geradezu sadistischer Wut. Eine Niederlage der Jäger gehört indes zu den Seltenheiten. Die Eingeborenen jagen die Affen durch Hetzjagden, nachdem sie in die Ebene hinabgekommen sind, um die in der Nähe der Dörfer liegenden Durrafelder zu berauben. Bei dieser Verfolgung werden die leicht ermüdenden Jungtiere und Mütter mit Babys den Jägern zur Beute. Diese Affenfangberichte beweisen schon, daß eine Tierhandlung wie kein anderes Handlungshaus gezwungen ist, in einem umfangreichen Maße praktische Geographie zu treiben. Ihr Arbeitsfeld ist die ganze Erde. In den afrikanischen Urwald, in die Dschungel Indiens, in die weiten Steppen Sibiriens
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29.836 Hagenbeck: Von Tieren und Menschen Hagenbeck-Erinnerungen, 106
und die Eiswüsten der Polargebiete müssen Kundschafter entsandt werden. Ihnen folgen die Weltreisenden und Jäger mit ihren eingeborenen Hilfskräften. Anders als der Jäger, den nur die Lust am Sport treibt, müssen wir zu Werke gehen, denn es gilt, den Tierbestand zu schonen und das erjagte Wild lebend heimzubringen. Tief aus dem Inneren unkultivierter Länder bewegt sich manche Tierkarawane im monatelangen Marsch durch Steppe und Wildnis, und jeder Fußbreit eroberten und mühsam erkundeten Weges muß oft mit Verlusten bezahlt werden. Als schlechthin das Tierparadies war jahrelang der ägyptische Sudan zu bezeichnen. Einer seiner besten Kenner, mein alter Freund Joseph Menges, durchstreifte oft das ganze nordabessinische Tiefland, welches sich von Massaua bis zum oberen Blauen Nil erstreckt. Aus der reichen Tierwelt seien von den Säugetieren nur erwähnt: der afrikanische Elefant, das schwarze Nashorn, das Nilpferd, die Giraffe, der Löwe, Leopard und Gepard, die gefleckte und die gestreifte Hyäne, der Hyänenhund, der Erdwolf, der Honigdachs und der Sattelschakal, ferner der Wildesel, der Kaffernbüffel, zahlreiche Antilopenarten, Wasserbock, Buschbock, Sömmering, Dorcas und arabische Gazelle, Klippspringer und Zwergantilope; weiter das Warzenschwein, das Erdferkel, das Stachelschwein, der Hunds- und Mantelpavian und zahlreiche Affenar-
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ten. Reich ist die Vogelwelt vertreten mit dem schnellfüßigen Strauß, dem Marabu, dem Sekretär, dem Gaukleradler, verschiedenen Geiern und mehreren Wildhuhnarten. Krokodile, Schlangen usw. vervollständigen die endlose Reihe des jagdbaren Wildes. Dieser Reichtum an Tieren, unter denen sich die Riesen der Tierwelt befinden, zog schon im klassischen Altertum die Aufmerksamkeit des Abendlandes auf sich, denn die Vertreter der indischen und überhaupt der asiatischen Tierwelt gelangten seltener auf den europäischen Markt, da der Seeweg rund um Afrika zu beschwerlich war. Diese an Wild so überreichen Gebiete sind nicht etwa von Jägervölkern bewohnt, vielmehr sind die Eingeborenen durchweg entweder seßhafte Ackerbauern, die in den wenigen Städten des Landes nebenbei noch Handel und Handwerk betreiben, oder Nomaden, die mit ihren Herden von Weideplatz zu Weideplatz ziehen, die einfachen Zelte und den wenigen Hausrat auf dem Kamelrücken mit sich führend. Man unterscheidet unter den mächtigeren Stämmen der Sudanvölker die Djalin, Schukurieh, Dabaina, Hamran, Beni-Amer, Marea, Habab, Halenga, Hadendoa, die durch ihre Kamelzucht berühmten Ababdeh Bischarin und die Takruri. Diese letzteren sind aus Darfur3 eingewanderte mohammedanische Neger, die, wie alle diese nubischen Stämme, Anhänger des Propheten
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sind und uns stets gastfreundschaftlich empfingen. In den Städten und Marktplätzen des Landes, wie in Kassala, wo es bereits eine Telegraphenstation gab, in Kedarif, Doga und Galabat, findet man außerordentlich geschickte eingeborene Handwerker, die mit primitiven Werkzeugen Schilde aus Elefanten- und Büffelhaut, Lanzen, Schwerter, Messer und Sättel für Kamele und Pferde anfertigen. Unter ihren Schabracken findet man wahre Prachtstücke. Daneben werden feine Gold- und Silberarbeiten, Arm- und Beinringe in Filigran hergestellt. Zweimal täglich nimmt der Nubier seine »Luchme« zu sich, das Nationalgericht, das er entweder mit Milch oder mit »Mellach« genießt. Luchme ist eine Art von Polenta aus Durrakorn. Die Sklavin, die in jeder »besseren« Familie zu finden ist, zerreibt das Korn auf dem Reibstein zu Mehl und läßt es in kochendem Wasser zu einem Brei gerinnen. Verkehrte Welt: Die Fleischspeise, das Mellach, wird als Sauce serviert. Man bereitet dieses Gericht aus Fleisch, das an der Sonne getrocknet und zu Pulver zerrieben, dann mit Butter und einer gedörrten Pflanze, deren arabischer Name Weka ist, vermischt wird. Das Ganze wird dann gekocht und mit Salz und rotem Pfeffer gewürzt. Die Sauce wird über die Luchme gegossen und das Gericht in einer hölzernen Schüssel auf dem Boden angerichtet. Familienmitglieder und
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Gäste kauern sich rings um die Schüssel, und alle greifen mit einem frommen »Bismillah«, d.h. »In Gottes Namen«, zu. Wie in altbiblischen Zeiten, so taucht auch heute noch jeder mit seiner reingewaschenen Hand in die Schüssel, formt sich ein Klößchen, wendet es in der Sauce um und führt es zum Munde, bis die Schüssel leer ist oder alle gesättigt sind. Alsdann beginnt der für uns Abendländer so lächerliche Ohrenschmaus. Die gute Sitte im Orient will es, daß jeder Gesättigte, um den Hausvater zu ehren, kräftig aufstößt. Jedem herzhaften Rülpser folgt ein lautes, ehrenfestes »El Hamdulillah«, d.h. »Gott sei Dank«. Bei außergewöhnlichen Gelegenheiten, wie Hochzeiten und anderen Familienfesten, wird ein Ochse geschlachtet und auf dem Flecke verzehrt. Der Talg wird an Ort und Stelle zum Einfetten der Frisur verwendet. Es ist ganz unglaublich, mit welcher Schnelligkeit das Tier geschlachtet, zerteilt, geröstet und verzehrt wird. Noch unglaublicher sind die Mengen, die von einzelnen Menschen genossen werden. Mit einem Büffel oder einer Giraffe wird auf der Jagd nicht viel Federlesens gemacht. Der Schmaus wird auf der Stelle aufgetischt, und nur Haut und Knochen bleiben übrig. Ich entsinne mich einer Flußpferdjagd am Atbara4, bei der einige hundert Eingeborene das geschossene, annähernd 5000 Pfund schwere Nilpferd innerhalb von zwei Stunden restlos verputzten. Die Scharen von
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Geiern, die sich auf dem Schauplatz der Schlächterei sammelten, erhielten nur noch die Knochen. Die vornehmsten unter den Jägern sind die Schwertjäger oder »Agaghir« (Mehrzahl von Agahr = Schwertjäger), die sich selbst für die »Aristokratie« ihres Standes halten, denn die von ihnen betriebene Jagd mit dem Schwerte erfordert Kühnheit, Gewandtheit und Geschicklichkeit. Die gut berittenen Jäger folgen dem Wild und durchschlagen ihm mit einem Hieb ihres scharfgeschliffenen Schwertes die Knieoder Achillessehne eines Hinterbeines. Die Jagdpferde sind von abessinischer Rasse, kleine, aber kräftige und feurige Tiere. Diese Jagdart erfordert eine große Geschicklichkeit der Reiter. Sie wird im höchsten Maße gefährlich, wenn sie wehrhaften Tieren gilt, wie dem Kaffernbüffel, dem Nashorn, dem Löwen oder gar dem Elefanten. Obgleich sich stets zwei bis vier Schwertjäger zusammentun, werden die Jäger dann leicht zu Gejagten. Zur Elefantenjagd ziehen nur die geübtesten Jäger aus, die vorzüglich beritten und so eng miteinander befreundet sind, daß sie sich in der Gefahr unbedingt aufeinander verlassen können. Wird die Herde auf günstigem Gelände angetroffen, so versuchen die Jäger, den mit den besten Zähnen bewaffneten Bullen von seinen Gefährten zu trennen. Der Elefant ist, durch eine vieltausendjährige Verfolgung gewitzigt,
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nicht nur vorsichtig, sondern auch furchtsam geworden und flieht, wenn sich nur ein Ausweg findet. Wird er jedoch gestellt, so geht er sofort zum Angriff über. Unter wütendem Trompeten, das die Pferde vor Angst ganz unbändig macht, stürzt er sich auf die Jäger, die nun ihrerseits fliehen. Mit Vorliebe greift der Elefant hellfarbige Pferde an, besonders Schimmel, die ihm bei seinem nicht sonderlich guten Sehvermögen zuerst auffallen. Einer der Jäger reitet deshalb einen Schimmel, um, dicht vor dem Elefanten herreitend, dessen ganze Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Die anderen jagen hinter dem verfolgenden und verfolgten Elefanten her, bis der erste Jäger ihm auf zehn Schritte nahe gekommen ist. Jetzt springt er hurtig vom Pferd, und in dem Augenblick, da der Elefant das Bein auf die Erde setzt, saust die scharfe, mit beiden Händen geführte Klinge nieder und zerhaut die Achillessehne, so daß das Tier einseitig gelähmt wird. Sofort wendet sich der verwundete Bulle nach dem tückischen Angreifer, und nun ist es der Schimmelreiter, der sich, aus dem Sattel springend, dem Elefanten nähert und mit wuchtigem Hieb auch die Sehne des rechten Hinterbeines durchhaut. Das mächtige Tier ist nun völlig hilflos. Wurden die Hiebe kräftig genug geführt, so sind auch die großen Schlagadern durchschnitten, und das Tier stirbt an Verblutung. Falls Gewehre zur Hand sind, gibt man dem besiegten Riesen den Gna-
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denschuß, und nun werden die kostbaren Stoßzähne ausgebrochen. Die Haut, die sehr geschätzt wird für die Anfertigung von Schilden, Schwertscheiden und zum Binden der primitiven Pflüge, wird in einzelnen Bahnen abgezogen. Sind Nomadenlager in der Nähe, dann zieht die gesamte Bevölkerung zum Kampfplatz, um das Fleisch zu bergen, das, in Streifen geschnitten und an der Sonne getrocknet, ähnlich dem südamerikanischen Charque, einen geschätzten Vorrat für die Regenzeit bildet. Für den mit modernen Hinterladern bewaffneten Europäer hat auch die Jagd auf großes Wild alle Schrecken verloren. Anders der Kampf der Eingeborenen gegen das größte lebende Tier der Erde. Die Waffen der Jäger sind viel primitiver als die mächtigen, die der Elefant führt. Diese Jagd, die einem Zweikampf gleicht, stellt große Anforderungen an die Geistesgegenwart, die Gewandtheit und den Mut der Angreifer. Die Sudanesen behaupten, kein gewerbsmäßiger Elefantenjäger sterbe in den Kreisen seiner Familie, sondern alle endigen früher oder später unter den Zähnen oder Fußsohlen eines gejagten Elefanten. In ähnlicher Weise wird auch das Rhinozeros und der Büffel erlegt. Selbst dem Löwen, dem Erzfeind seiner Viehherden, geht der Hamraner Jäger kühn mit dem Schwert zu Leibe. Die Reihe der Jäger könnte noch weiter geschildert werden, bis hinab zu den Beduinen,
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den geschickten Straußenjägern, die im Sudan Gastrollen geben, oder bis zu den großen europäischen Sportsleuten – aber ich will hier nicht von der Jagd allein reden, noch weniger von Massenschlächtereien, sondern nach diesem kurzen Überblick über die Tiere und Menschen dieses Landes vom Fang berichten, der die Tiere lebend in die Hand des Jägers liefert. Morgenerwachen in Hagenbecks Tierfangstation am Atbara. Ein leichter Wind kräuselt die Grassteppe. Im hellen Licht der höhersteigenden afrikanischen Sonne stehen glanzübergossen die Bäume. Im Uferdickicht lärmen unzählbare Schwärme von Vögeln, vom riesenhaften Marabu bis zum Schwälbchen, das über die Wasserfläche schießt. Schon steigt die Hitze, und unzählige summende Insekten erfüllen die Luft. Auch in unserer Station am Flußufer wird es lebendig. In der weiten Seriba, die von einem aus Baumstämmen geschichteten Verhau umgeben und deren einziger Ausgang durch ein Dornengeflecht verschlossen ist, erheben sich die Strohhütten der Europäer und ihrer schwarzen Diener, die Ställe für gefangene Tiere und einige Vorratsschuppen. Längst sind die Feuer verlöscht, die über Nacht an verschiedenen Stellen der Seriba zum Abschrecken der Raubtiere unterhalten wurden. Gestern bei der Ankunft von Hagenbecks Jägern war alles eitel Lust und Freude. Alte Freunde wurden von den mit der
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Landessprache vertrauten Weißen begrüßt, in der landesüblichen Weise wurden Geschenke gespendet und entgegengenommen. Reiche Gastgeschenke in Form von fetten Schafen, Hühnern, Eiern, Honig, Durramehl, großen Töpfen voll Durrabier und Honigwein strömten in das Lager der weißen Männer, die sich ihrerseits auch nicht lumpen ließen und ihren dunkelhäutigen Freunden eine Menge hochgeschätzter europäischer Artikel zum Geschenk übersandten. Darauf großes Freuden- und Willkommensfest auf der Hagenbeckstation. Zuerst ein Schmaus, bei dem die eßbaren Gastgeschenke zum größten Teile von den Schenkern selbst verzehrt werden. Dann Kriegstänze der Männer unter Trommelbegleitung und Geschrei, Gruppentänze anmutiger Frauen und Mädchen unter Händeklatschen und monotonem Trommelrhythmus. Ein Wettrennen auf flinken Reitdromedaren und Jagdpferden bildet den Höhepunkt des Festes, das bis tief in die Nacht hinein beim Schein der Lagerfeuer andauert. Heute tritt das »Geschäft« in seine Rechte. Sklavinnen bereiten unter freiem Himmel das Morgenmahl. Eingeborene bieten sich als Jäger und Treiber an. Jagdzüge werden besprochen, Aufträge gegeben und letzte Hand an die Ausrüstung gelegt. Die Sattelkissen werden frisch gepolstert, die Schwerter geschliffen, während die Sklavinnen die Proviantschläu-
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che mit Durramehl und Wasser füllen. Wenn die Jagdgesellschaft auszieht, folgen ihr einige mit Wasser und Proviant beladene Kamele sowie eine Herde Ziegen, die den einzufangenden Jungtieren die Milch liefern soll. Die Jagd geschieht in der Form, wie ich sie eingangs bei den Eingeborenen beschrieb. Bei Giraffen und Antilopen, oft sogar bei Büffeln, ist sie ohne Gefahr, da sie meist auf der Flucht ihre Kälber schmählich im Stiche lassen. Die Dickhäuter verteidigen dagegen ihre Jungen hartnäckig, und oft muß man leider die Alten töten. Wenn die Mutter auf das Geschrei des gefangenen Kleinen zurückkehrt und sich zu einem Kampf auf Leben und Tod rüstet, wird ihr Tod zu einer traurigen Notwendigkeit. Auf diese Weise, lediglich durch Verfolgung und Abschneiden von der Herde, wurden 1826 in Kordofan5 die ersten Giraffen gefangen. Im großen wurde dieser Fang jedoch erst betrieben, seitdem der dem Leser bereits bekannte Casanova die Schwertjäger in Taka zu Helfern gewann und durch ihre Vermittlung auch die ersten afrikanischen Elefanten als Gefangene erhielt. In den siebziger Jahren fingen wir allein 33 Giraffen, 10 Elefanten, 13 Antilopen, 4 Löwen, 5 Leoparden, 7 Hyänen, 6 verschiedene kleine Raubtiere, größere Mengen Affen, Strauße und allerlei seltene Vögel, dazu mehrere Nilpferde, die mein Bruder Diederich erlegte, der 1874 leider auf Sansibar am
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Schwarzwasserfieber verstarb. Sehr geschickte Helfer waren uns auch die Fallensteller aus dem Stamme der Takruris, während die Hawati als geübte Wasserjäger und vortreffliche kühne Schwimmer uns vorzügliche Dienste beim Fang von Nilpferden und Krokodilen leisteten. Mit der Harpune greifen sie das Wild sogar im Wasser an. Auch junge Nilpferde werden mit besonders gebauten Harpunen, die nicht tief eindringen und deren Wunden leicht heilen, gefangen. Wenigstens drei Viertel der früher nach Europa gebrachten Flußpferde wurden auf diese Weise erbeutet. Dankbar gedenke ich dieser dunklen Söhne Afrikas, die meinen Fängern und Reisenden wertvolle Hilfe leisteten. Im Zuge der Völkerschauen lernte ich eine Anzahl der tapfersten Jäger kennen, die in mir nach ihren Begriffen so eine Art Oberhäuptling der von mir ausgesandten »Krieger« sahen. Als Mangel an Repräsentation wurde dabei der Umstand angesehen, daß ich nur eine »Bibi« besaß, während diese Häuptlinge mit einem stattlichen Harem und einer noch stattlicheren Kinderschar aufwarten konnten. Besonders mit dem Somalihäuptling Hersy Egga, den der Leser schon bei den Völkerschauen kennenlernte und der mir später bei meinem größten Transport von 2000 Dromedaren sehr behilflich war, verband mich eine andauernde Freundschaft. Zurück zur Fangstation am Atbarafluß! Der Tag
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des Abschieds für dieses Jahr rückt heran. Hof und Ställe sind gefüllt mit gefangenen Tieren. Wären nicht viele der Gefangenen in Kisten und Kasten eingeschlossen, so gliche der Ort einem kleinen Paradiese. An Bäumen angekettet, sieht man junge Elefanten und Nilpferde, Giraffen und Büffel, Löwenkätzchen spielen im Grase, und über sie hinweg springt in zierlicher Bewegung eine Meerkatze. In primitiven Holzkästen grunzen Warzenschweine, fauchen Leoparden, schnattern Affen und kreischen die Papageien, während gravitätisch Strauße und Marabus einherstelzen. Nur unsere schwarzen Freunde sind bedrückt, weil die Hagenbeckleute Abschied nehmen. Endlich ist alles zum Aufbruch bereit. Nun beginnt, noch schwieriger als die Jagd, der wochenlange Marsch von der Station zu dem Hafenplatz am Roten Meer. Hundert schwerbeladene Dromedare eröffnen die bunte Karawane, der weitere hundertfünfzig Tiere folgen einschließlich der wandernden Molkerei, unserer Ziegenherde. Der Mond ist aufgegangen und gießt sein Licht auf das erstarrte Sandmeer der Wüste hinab. Da die Tageshitze zu groß ist, werden die Nachtstunden bis zur Dämmerung für den Karawanenzug bevorzugt. Ringsumher tiefe Einsamkeit, die nur hin und wieder durch das heisere, unheimliche Lachen einer Hyäne unterbrochen wird. Gleich einer Schlange windet sich unsere Karawane durch das ein-
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tönige Auf und Ab der Sanddünen, deren silbrige Zinnen im Scheine der Gestirne schimmern. Im wiegenden Rhythmus des Paßschrittes schreiten die Dromedare mit ihren schwankenden Lasten. Dazwischen marschieren, ein phantastischer Anblick, Strauße, Giraffen, Elefanten und Büffel, deren bizarre Schatten als stumme Begleiter neben ihnen über den glitzernden Sand ziehen. Das Janken des Lederzeuges, das Schnaufen der Tiere und die unterdrückten Zurufe der Treiber sind die einzigen Laute in dieser lautlosen nächtlichen Weite, über die sich von Horizont zu Horizont der funkelnde Sternendom Afrikas wölbt. Die Umgebung des Roten Meeres ist von alters her wegen ihrer Hitze verrufen. Im Sommer hält sich das Thermometer fast beständig auf 45 Grad Celsius im Schatten. Auch nachts tritt kaum eine merkliche Kühlung ein. Die ärgsten Feinde, die sich dem Marsch entgegenstellen, sind deshalb auch die Hitze und der Wassermangel. An den Ruhetagen wird auch die Jagd eifrig betrieben, um den Lagerproviant zu ergänzen. Die Hauptsache aber bleibt das Wasser, von dessen Vorhandensein das Leben aller abhängt. Die Karawane zieht so schnell dahin, wie es die Gangarten der Tiere gestatten wollen. Einige Stunden wird marschiert, dann gerastet, die Tiere werden gefüttert und getränkt, und weiter geht's. Die großen Tiere werden von Eingeborenen geführt, eine Giraffe
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von drei, ein Elefant von zwei bis vier, eine Antilope und ein Strauß ebenfalls von je zwei Eingeborenen. In der Mitte des Zuges bewegt sich schwerfällig eine Gruppe von Dromedaren, von denen immer ein Paar zusammengekoppelt ist. Zwischen den beiden Tieren hängt eine mächtige, mit Riemen von roher Haut verknotete Kiste, ein Käfig, in welchem sich ein junges Nilpferd befindet. Über die Packsättel sind zwei starke Stangen gelegt, und an diesen hängt die Last, die mindestens 300 Kilo wiegt. Für jeden einzelnen dieser gewichtigen Reisenden sind sechs bis acht weitere Dromedare nötig, die das Wasser tragen für das Bad, welches dem Nilpferd in einer Wanne aus zusammengebundenen gegerbten Ochsenhäuten an jedem Rasttag auch in der Wüste bereitet werden muß. Eine Stunde nach Sonnenaufgang findet diese Marschpause statt im spärlichen Schatten von Mimosen und Akazien oder auch im künstlichen Schutze aufgespannter Matten. Sehr oft kommt es vor, daß die wenigen Wasserplätze in der Wüste, die oft bis zu hundert Kilometer auseinanderliegen, von fremden Nomaden besetzt sind. Schon greifen die wilden Wüstensöhne zu den Waffen, bis der Karawanenführer den Streit durch das bewährte Bakschisch in Form eines dort hoch angesehenen Maria-Theresia-Talers beilegt. Das kostbare Naß ist oft nur eine fürchterlich trübe Brühe, die nunmehr die Proviantschläuche füllt.
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29.850 Hagenbeck: Von Tieren und Menschen Hagenbeck-Erinnerungen, 115
Auf drei bis vier Tage dauernden Märschen bis zur nächsten Oase waren oft nicht weniger als 30 bis 40 Dromedare allein damit beschäftigt, der Tierkarawane das Wasser nachzuführen oder mit ihm voranzuziehen. Trotz der sorgfältigsten Pflege gehen viele Tiere auf dem Transport zugrunde. Selbst starke Pavianmännchen werden dabei vom Hitzschlag getroffen. Selten wird die Sorge um das Wohlergehen von Tieren und Menschen durch heitere Zwischenfälle unterbrochen. Einmal jedoch ereignete sich beim Zug durch ein nordabessinisches Tal folgende heitere Begegnung: Als die Karawane kurz vor Sonnenuntergang an einer Tränke haltmachte, traf sie dort mit einer großen Herde von Mantelpavianen zusammen, die bald darauf ihre gefangenen Kameraden bemerkten und sie mit grunzenden Zurufen umringten. Als die Karawane weiterzog, begleitete uns die Pavianherde wenigstens eine halbe Stunde lang und führte mit den Eingesperrten erregte Zwiegespräche. Dann und wann sprang ein kühnes Männchen bis auf zwanzig Schritt an die wandelnden Käfige heran, stellte sich auf einen Steinblock und hielt eine wütende Ansprache. Vielleicht forderte er die Gefangenen auf, ihre Kisten zu zerbrechen? Dennoch mußten diese kühnen Freiheitskämpfer bald den Steinwürfen unserer Kameltreiber weichen.
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29.851 Hagenbeck: Von Tieren und Menschen Hagenbeck-Erinnerungen, 116
Nach 35 bis 40 Tagen erreichen die Karawanen oder das, was von ihnen übriggeblieben ist, die Hafenplätze am Roten Meer, von wo sie nach Suez verladen werden. Dort nehmen die von Indien oder Ostasien nach Hamburg gehenden Dampfer die kostbaren Ladungen an Bord. Möglicherweise wird die ganze umfangreiche Tiersammlung aber auch mit der Eisenbahn nach Alexandrien geschafft und von dort nach einem Mittelmeerhafen, Triest, Genua oder Marseille, verladen. Nach weiteren langen Eisenbahnfahrten kommen die Tiere endlich in Hamburg zur Ruhe. Seit dem Aufbruch vom Lager am Atbara oder am Gasch6 sind dann nahezu drei Monate verflossen, ehe die Auswanderer aus dem afrikanischen Urwald wieder in »geordnete Verhältnisse« kommen. Unser Tierparadies im Sudan war fast fünfzehn Jahre verschlossen, und der Engel mit dem flammenden Schwerte, der die paradiesische Pforte bewachte, war Abdullahi Kalifat el Mahdi, der Nachfolger des Propheten.7 Als Lord Herbert Kitchener mit seinen Truppen 1898 vor Omdurman erschien und den Mahdistenaufstand niederschlug, dröhnte innerhalb der Stadt noch die dumpfe Kriegstrommel des Kalifen. Er wartete den Einzug des Siegers nicht ab, sondern entfloh in die Berge von Kordofan, wo er noch eine Zeitlang lebte und später im Kampfe fiel. Unter denen, die im Gefolge Kitcheners in Omdurman einzogen, be-
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fand sich auch Slatin Pascha, der mutige Österreicher, der früher Gouverneur einer Provinz gewesen und als Sklave des Kalifen zehn Jahre mit kahlgeschorenem Kopfe und bloßen Füßen neben dem Pferde des Tyrannen herlaufen mußte. Ebenso wie es entstanden, gleich einer Fata Morgana, ist aber das Reich des Mahdi wieder vergangen – ein Stück mittelalterlicher Romantik mitten in unserer Zeit, einer Romantik leider, die den Sudan förmlich entvölkert hat. Ich verlor meine Niederlassung in Kassala, und mein Reisender Kohn wurde von den fanatischen Menschen niedergemetzelt ... Langsam sind unter ägyptisch-englischer Herrschaft geordnete Verhältnisse zurückgekehrt. In den Gebieten indes, die für uns in Betracht kommen, hat sich vieles in trauriger Weise verändert. Der reiche Wildbestand, den meine Reisenden vor dem Mahdistenaufstand dort antrafen, ist heute auf kaum ein Zehntel des einstigen Bestandes zusammengeschrumpft. Der Elefant findet sich nur noch in kleinen Trupps, das Rhinozeros ist fast vollständig ausgerottet, die Giraffe ist nördlich von Takassieh ein seltenes Tier geworden, die früher so zahlreichen Antilopen sind aus vielen Gegenden ganz verschwunden, und der Büffel ist zu Tausenden der Rinderpest zum Opfer gefallen. Die Schuld an dieser traurigen Verwüstung des
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29.853 Hagenbeck: Von Tieren und Menschen Hagenbeck-Erinnerungen, 118
Tierbestandes tragen die Folgen der Mahdistenkriege, durch die die eingeborenen Stämme in den Besitz von modernen Gewehren kamen. Während die Schatzkammern des Mahdi sich bis zum Bersten füllten, wurde die Bevölkerung seines Reiches von Hungersnöten hinweggerafft. Als es im Sudan nichts mehr zum Plündern gab, wandten sich ganze Heeresmassen, besonders die Baggara-Araber vom Weißen Nil, ebenso berühmt wie die Schwertjäger des Ostsudans, gegen das Wild. Ein erbitterter Kampf um Fleisch begann, und der Massenschlächterei fielen die wertvollsten Tierbestände zum Opfer. Auch die Grenznachbarn der Sudanesen, die Abessinier, die vom gleichen Schicksal befallen wurden, haben auf gleiche Weise gehaust und als tüchtige Geschäftsleute besonders dem Elefanten nachgestellt, der neben seinem Fleisch auch noch das wertvolle Elfenbein hergab. Der Fürst der Grenzprovinz Ermetscho erlegte mit seinen Truppen allein in einem eintägigen großen Kesseltreiben 56 Elefanten. Es war eine förmliche Schlacht, mit Verlusten auf beiden Seiten, denn auch zwanzig abessinische Krieger blieben auf dem Platze, die freilich fast alle durch die verirrten Kugeln ihrer Kameraden niedergestreckt worden waren. In Abessinien, wo es auf Menschen nicht anzukommen scheint und alles Wild als kaiserliches Gut angesehen wird, pflegt man die Jagd überhaupt im großen
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29.854 Hagenbeck: Von Tieren und Menschen Hagenbeck-Erinnerungen, 118
Stil zu betreiben. Einer meiner Reisenden erlebte einmal eine derartige Jagd auf Zebras, die für mein Unternehmen bestimmt waren. Mit ihren Anführern waren nicht weniger als 2000 Soldaten aufgeboten worden, die als Treiber die Herde in einem sandigen Flußbett mit hohen Felsufern zusammentrieben. Auf einen Wink ihrer Führer begann ein wahrhaft barbarisches Schauspiel. Weit über tausend Mann stürzten sich, mit Stricken bewaffnet, mitten unter die wütend um sich schlagenden Tigerpferde. Nach einigen Stunden waren sie von der Übermacht überwältigt – und dreiunddreißig Soldaten lagen totgeschlagen oder schwerverletzt am Boden. Die Tiere wurden gefesselt. Als kaiserliches Gut wurden die Zebras auf dem Marsch einfach in die Hütten der Eingeborenen geführt, wo man sie an allen vieren anpflockte. In wenigen Tagen hatten sie sich so weit beruhigt, daß man sie ohne große Sicherheitsmaßregeln fortführen konnte. Es handelt sich hier um das wundervolle GrevyZebra, welches einen vorzüglichen Charakter besitzt und bei richtiger Behandlung leicht zum Haustier gemacht werden kann. Viel wilder und schwerer zu zähmen ist das Kilimandscharo-Zebra, dessen störrische Art mehr an den Esel gemahnt. Als nach Niederkämpfung des Mahdistenaufstandes meine Reisenden wieder im Sudan erschienen, fanden sie auch unsere alten Freunde und Helfer der
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eingeborenen Stämme in völlig veränderten Verhältnissen wieder. Manche waren ganz verschwunden oder nahezu ausgerottet. Kriege, Hungersnot, die Blattern und die Cholera hatten derart gehaust, daß beim Untergang Mahdias 1885 kaum mehr als zehn Prozent der ursprünglichen Bevölkerung übriggeblieben waren. Der berühmte stolze Stamm der Hamran, der die besten Schwertjäger hervorbrachte, war bis auf zwanzig Leute zusammengeschmolzen. Von den Schwertjägern war überhaupt keiner mehr am Leben, so daß diese kühne, ritterliche Jagdart der neuen Generation nur noch durch die Erzählung der alten Leute bekannt ist. Allgemein wird die Jagd nunmehr mit dem Gewehr ausgeführt. Wenn die Fangarten als solche auch die gleichen geblieben sind, indem man den Alten ihre Jungen abjagt, so ist es doch klar, daß der weittragenden Kugel die alten Tiere viel zahlreicher zum Opfer fallen als früher mit primitiven Waffen. Daneben werden noch Fallen und Fanggruben verwandt, die auf gewohnten Wildwechseln aufgestellt werden. Das Nilpferd zum Beispiel kommt den Jägern entgegen durch seine Gewohnheit, das Junge vor sich hergehen zu lassen. Der Zweck dieser Maßregel ist leicht zu erraten. Nach hinten ist das Tier durch seine eigene dicke Haut geschützt, und vorn kann es die Gefahren, die dem Jungen etwa drohen sollten, übersehen. Die Nilpferdmutter liebt ihr Kind ebenso wie
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29.856 Hagenbeck: Von Tieren und Menschen Hagenbeck-Erinnerungen, 120
jede andere Mutter. Wenn es aber plötzlich im Urwald, ohne daß irgendeine Gefahr sich angekündigt hatte, vor ihren Augen versinkt, bekommt sie einen derartigen Schreck, daß sie entsetzt flüchtet. Wenn alles gut geht, ist die Beute jetzt dem Jäger sicher. Nach dem glücklichen Fang eines jungen Nilpferdes kamen einmal die Eingeborenen unserem Jäger freudestrahlend entgegen und riefen ihm frohlockend die Botschaft zu: »Bana kiboko makufa!« (»Das Nilpferd ist tot!«) Es war nämlich vor Aufregung an Herzschlag eingegangen, worauf den Jägern nichts anderes übrigblieb, als zu antworten: »Nakula kiboko!« (»Freßt es auf!«) Diese Erlaubnis hatten die Eingeborenen erwartet und daher ihre strahlende Vorfreude. Zuweilen, wenn das gefangene Tier eine Nacht in der Grube verbringen muß, mischt sich auch Simba der Löwe ein, so daß am anderen Morgen in der Fanggrube nichts mehr zu finden ist als Haut und Knochen. Geht indes alles gut vonstatten, dann wird schleunigst eine Palisade um die Grube gebaut und über diese hinweg eine Schlinge zwischen Brust und Vorderbeinen des jungen Tieres hindurchgelegt. Nilpferde schwitzen, wenn sie erregt sind, eine schlüpfrige Flüssigkeit aus, deshalb muß die Schlinge zwischen den Beinen hindurchgeführt werden. Ist dies bewerkstelligt, dann heben wenigstens zwanzig Mann das Tier einige Zentimeter hoch. Sechs weitere Leute springen
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in die Grube, fesseln die Beine und binden dem Tier das Maul zu, denn mit Nilpferden ist nicht zu spaßen. Sie sind dumm und boshaft und ebenso angriffslustig, wie sie stark sind. Ganz anders das Nashorn, das, einmal an den Pfleger gewöhnt, der Karawane wie ein Hund folgt. Nachdem die Palisaden auseinandergebrochen sind und ein schräger Gang in die Grube gegraben ist, wird das Tier herausgehoben und auf eine Tragbahre aus Knüppeln und Zweigen gelegt. Nun beginnt der schwierige Transport durch den Sumpf oder Urwald, durch den mühsam ein Pfad mit Buschmessern geschlagen werden muß. Keuchend folgen die Träger, die mit der korbartigen Bahre eine Last von rund 2400 Pfund zu schleppen haben. Auf der Station, zu der die Beute vielleicht auf dem Fluß im Eingeborenenfloß transportiert werden konnte, wird das Tier zunächst an die Gefangenschaft und das Futter gewöhnt, ehe die Karawanenreise zur Dampferstation beginnt. Das Gebiet des Tierfanges und der Expeditionen in fremde Länder ist so überreich an Erlebnissen und Erfahrungen, daß es sich nur streifen läßt, denn seit dem Fang unserer ersten Seehunde sind genau sechzig Jahre bis zur Niederschrift dieser Zeilen vergangen, und jedes Jahr brachte neue Erkenntnisse und Abenteuer. Endlos sind die Tierkarawanen, die aus aller Welt von Grönland wie von Feuerland in Hamburg
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eintrafen. Tja – Feuerland! Dor har'n Uhl seten. Besser gesagt, saßen da drei Maghellangänse, die ich mir für 10000 Mark »anschaffte«. In der Stille des Büros hatte ich mir vor einigen Jahrzehnten ein damals neues Gebiet ausersehen: das Feuerland an der Südspitze Amerikas. In ethnographischer wie zoologischer Hinsicht versprach ich mir eine reiche Ausbeute. Dem Gedanken folgte bald die Ausführung, und ein in verschiedenen Ländern bewährter Reisender machte sich auf die Seereise nach Punta Arenas, von wo aus er die Feuerlandfjorde mit seinem Segelboot durchkreuzte und eine wertvolle Sammlung völkerkundlichen Geräts bei den noch auf der Kulturstufe der Steinzeitmenschen stehenden Feuerländern zusammenstellte. Dabei überraschte ihn ein Sturm, und er gab seinem patagonischen Steuermann den Befehl, sofort zu landen. Aus irgendeinem Grunde weigerte sich der Patagonier, und mein Reisender konnte nur mit einem Revolver seinem Befehl Nachdruck verleihen. Es gelang ihm, sich an Land zu retten, er mußte aber seine Sammlung im Stiche lassen. Als er nach einem langen Fußmarsch durch die Pampa wieder in Punta Arenas eintraf, vernahm er die traurige Nachricht, daß sein Boot samt seinem dickköpfigen Steuermann im Sturm gesunken sei. Die in Monaten unter Gefahren, Geld- und Zeitopfern zusammengebrachte
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Sammlung war verloren. Schließlich gelang es ihm, noch auf weiteren langwierigen Jagden achtundzwanzig große Königspinguine und eine größere Anzahl Gänse, Enten und Schwäne sowie andere Vögel zu fangen. Hocherfreut, wenigstens nicht mit leeren Händen heimzukehren, verlud der Reisende seine kostbare Fracht auf dem Verdeck eines Kosmosdampfers. Bis Montevideo ging alles gut. Zwei Tage nach der Ausreise von diesem Hafenplatz schlug ein plötzliches Unwetter innerhalb von vierundzwanzig Stunden sämtliche Kisten und Kasten in Trümmer, und ein Brecher wusch auf einen Schlag alles über Bord! Einige Zeit darauf saß ich wieder in meinem Büro und überschlug das Ergebnis dieser Feuerlandexpedition. Alles, was schließlich in meine Hände gelangte, waren drei Maghellangänse, die mit dem Verlust von 10000 Mark etwas teuer bezahlt waren! Diese kleine Geschichte aus alten Zeiten kommt indes eigentlich gar nicht in Betracht im Verhältnis zu den Schwierigkeiten und den enormen Kosten der verschiedenen Expeditionen, die ich nach Sibirien und in die Mongolei ausgerüstet habe. Eine der interessantesten Forschungsreisen war diejenige, die auf Anregung meines Gönners, des Herzogs von Bedford, nach Asien entsandt wurde, um den Versuch zu wagen, lebende Wildpferde (Equus Przewalskii) nach Europa zu bringen. Frühere Versu-
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che waren gescheitert, mit einer einzigen Ausnahme. Dem bekannten Tierfreund und Züchter Falz-Fein war es gelungen, einige Exemplare dieser seltenen Tiere aus der asiatischen Steppe nach seiner Besitzung Askania Nova8 auf der Krim zu verpflanzen. Damals wußten wir verhältnismäßig wenig über das Wildpferd und so gut wie nichts über die genaue Lage der Fangplätze. Mit der schwierigen Aufgabe, das Notwendige zu erforschen und später die Expedition nach der Mongolei zu führen, betraute ich meine bewährtesten Reisenden Wilhelm Grieger und Karl Wache und versah sie mit reichen Geldmitteln, wertvollen Empfehlungen und Geleitbriefen von der russischen Regierung, dem chinesischen Gesandten in Berlin und einem, der sich als besonders wertvoll erwies, aus der Hand des Prinzen Alexander von Oldenburg. Dieser Geleitbrief enthielt eine warme Empfehlung Griegers an einen damals in Petersburg lebenden hochangesehenen buddhistischen Lama, Dr. Radmai, der ein großer Kenner von Land und Volk der Mongolei war. Zunächst begleitete Grieger einen Tiertransport zu Herrn Falz-Fein nach Südrußland. Der auf seine Schätze mit Recht eifersüchtige Tierfreund rückte indes mit der gewünschten Nachricht nicht heraus. Erst auf Umwegen gelang es dem Reisenden festzustellen, daß die Fangplätze des Wildpferdes in der Nähe von Kobdo unterhalb der nördlichen Abhänge
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des Altaigebirges zu suchen seien. Mit dem eroberten geographischen Fingerzeig reiste Grieger freudig nach Petersburg, um von hier aus die über 4000 km lange Fahrt in die Innere Mongolei vorzubereiten, wobei ihm der buddhistische Lama wertvollste Ratschläge erteilen konnte. Er machte Grieger darauf aufmerksam, daß man dort nicht mit dem in Europa gangbaren Geld reisen könne. Die gangbare Münze ist vor allem eine gewisse Art von Silberbarren, die in der Norddeutschen Raffinerie zu Hamburg hergestellt sein müssen, weil die Eingeborenen dieses weiße Hamburger Silber, wie sie es auch nennen, dem dunkleren englischen vorziehen. Diese Silberbarren wiegen etwa elf Pfund, und bei der Verwandlung in Geld werden sie von den Mongolen erwärmt, in kleine Stücke zerschlagen und dann auf einer eigenartigen Messingwaage abgewogen. Der zweite wichtige Tauschgegenstand war gepreßter Ziegeltee, ein ganz besonderer chinesischer Tee, der im frischen Zustand mit Zweigen und Blättern in die Form von Platten gepreßt wurde. Siebenundzwanzig Tafeln Ziegeltee geben eine Tunse, deren drei eine Kamellast von ungefähr 450 bis 500 Pfund ausmachen. Als Kleingeld, gewissermaßen als Wechselmünze, dienen gewebte wollene Bänder, die bekannten Kata, die, ohne einen praktischen Wert zu besitzen, bei jeder Gelegenheit als Geschenk verwandt
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werden. Sie sind etwa einen Meter lang, fünf Zentimeter breit und einfarbig, meist blau oder rot. Gelbe Bänder haben nur die Hälfte des Wertes. Als eine Art Scheidemünze mußte sich Grieger außerdem noch mit kleinen Seidentüchern versehen, die einen Kaufwert von zwanzig bis vierzig Kopeken besitzen. Als die erforderlichen Silberbarren von Hamburg eingetroffen waren, bestiegen meine Reisenden Grieger und Wache die Eisenbahn und machten sich auf den Weg zur Mongolei. Im Frühling, wenn die Fohlen ins Leben treten, mußte die Expedition an Ort und Stelle sein. Zuerst ging es mit der sibirischen Bahn über Moskau zum Ob, vom Ob im Schlitten etwa 250 Werst9 weit nach Biesk, einem Platz, der ungefähr 75 Werst östlich vom Altai liegt. Bisher war es noch möglich gewesen, auf den weit voneinander entfernten Schlittenstationen karge Nahrung zu erhalten. Die Mühseligkeiten der Reise begannen eigentlich jetzt erst. Von eingeborenen Stämmen wurden Führer und Reittiere in Dienst genommen, um meine Reisenden mit ihren zusammenlegbaren Zelten, ihren Proviantkisten und dem Silberschatz ins Innere zu befördern. Teils zu Pferde, teils zu Kamel, aber immer im Sattel, wurden im tiefen Schnee und bei grimmiger Kälte die 900 Werst über Kaschagatsch nach Kobdo zurückgelegt. Als man von den Tragtieren die fünfzig Kisten mit der für die ein-
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zufangenden Wildfohlen mitgenommenen sterilisierten Milch ablud, war sie bei der Kälte von 38 Grad Reaumur unter Null zu Eis gefroren. Kobdo machten meine Reisenden nun zu ihrem Stützpunkt. Auf der Karte war der ferne Ort zwar als Stadt eingetragen, aber er zählte damals nur 1500 Einwohner. Am Endpunkt der großen Karawanenstraße von Peking gelegen, ist er sogar eine chinesische Festung und Sitz des Gouverneurs. Neben seinem Palast – einem bescheidenen Steinhäuschen – war das wichtigste Gebäude das Gefängnis, in welchem die unglücklichen Opfer der grausamen chinesischen Justiz, mit Ketten um den Hals angeschmiedet, bei lebendigem Leibe verfaulten. Etwa zu drei Vierteln setzt sich die Einwohnerschaft aus Sarden zusammen, einem mohammedanisch-tatarischen Volksstamm aus Turkestan. Den Rest bilden chinesische Kaufleute, die mit mongolischen Artikeln handeln und ihre Waren durch die zweieinhalb Monate von Peking nach Kobdo ziehenden Kamelkarawanen erhalten. Inzwischen warben Grieger und Wache in den Tälern des Altaigebirges die notwendigen Mannschaften an, denn die Abfohlperiode rückte näher. Werfen wir noch einen Blick auf die Landschaft an den Ufern des Zedzik-Noor, die, im Süden vom Altai begrenzt, von verschiedenen Mongolenstämmen bewohnt wird, deren jeder einem Stammesoberhaupt oder einem Für-
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sten gehorcht. Grieger fand bei diesen Nomaden freundliche Aufnahme, wenn auch das im Schnee errichtete Zelt trotz aller Decken und Pelze wenig Schutz gegen die eisige Kälte gewährte. Die Feuerung war nicht zu beschaffen, da der für diese Zwecke verwendete trockene Viehdung zu dieser Zeit sehr knapp wird. Mit Vorliebe nehmen die Mongolen den Pferdedung und stapeln ihn lose auf. Ein Stück davon zerreiben sie in der Hand zu feinem Pulver, welches sie mit Stahl und Zunder entzünden. Geht der Wind, so überläßt es der Mongole diesem, in der glimmenden Masse die Flamme anzuregen. Sonst setzt er sich davor und pustet und pfeift geduldig hinein, bis das Feuer emporschlägt. Vier Monate hindurch gab es fast ausnahmslos Schafsfleisch, wozu die Eingeborenen Tsamba tranken, ein Gemisch von Tee, Butter und Salz, das als Nationalgetränk in der Mongolei und Tibet bis an die chinesische Grenze hoch geschätzt wird. Mit dem Geschmack dieses so mühsam von den Mongolenfrauen in Holzmörsern zerstampften Tees kann man sich eher befreunden als mit der Art, wie der Mongole ihn dem Gast häufig anbietet. Ehe er die Trinkschale füllt, schaut er sie zwar an, aber es bringt ihn nicht in Verlegenheit, wenn er sie schmutzig findet. Er spuckt dann kräftig hinein, reibt nötigenfalls mit den fettigen Zipfeln seines Rockes nach und füllt nun das so gerei-
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nigte Gefäß. Ein zweites Lieblingsgetränk ist der Arka, ein aus den Rückständen verdunsteter Milch gewonnener Schnaps. Wählerisch in ihrer Nahrung sind diese abgehärteten Söhne der Natur keineswegs. Gesundes Vieh wird nur in der Not geschlachtet, auch verendetes nicht verschmäht. Die Eingeweide wandern, nachdem man sie durch die Finger gezogen und entleert hat, einfach in den Kochtopf. Merkwürdigerweise ekeln sie sich vor Fischen, die in ihrer Naturgeschichte zu den Schlangen zählen. Aus diesem Grunde hatten sich die Forellen so ungeheuer vermehrt, daß der Zedzik-Noor buchstäblich bis zum Rand mit ihnen angefüllt war. Grieger konnte sie im Frühling einfach aus dem Wasser schöpfen, in dem sie dichtgedrängt zu Tausenden schwammen. An einem einzigen Nachmittag fing er hundert Stück, die er kochte, briet und nach anfänglichem Mißgeschick auch räucherte. Von dem guten duftenden Fleische hätten die Mongolen nun doch zu gern gekostet. Viele Bettler und Zaungäste fanden sich vor Griegers Zelt ein, der sich der Lungerer auf ergötzliche Weise erwehrte. Einen Forellenbissen pfefferte er heimlich gehörig ein und reichte ihn hinaus, worauf ein heftiges Spucken und Niesen sowie eine eilige Flucht erfolgte. Der Pfeffer war diesen Nomaden unbekannt, und wer die beißend heiße Speise des merkwürdigen Europäers einmal gekostet hatte, war nicht zu bewegen, sie ein zweites
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Mal anzunehmen. Grieger hatte reichlich Gelegenheit, die seltsamen Sitten und Lebensgewohnheiten der Mongolen zu beobachten. Ihre Toten warfen sie einfach in die Steppe hinaus und überließen sie pietätlos den Geiern und Krähen zum Fraß. Ackerbau wurde nicht betrieben. Seine ganze Arbeit widmete der Mongole dieser Gegenden der Viehzucht. Jeder Mann ist beritten und bewaffnet von der Feuersteinschloß- bis zur Perkussionsflinte. Männer und Frauen tragen Hosen und hohe Stiefel. Die Beinkleider bestehen meistens aus blauer Leinwand, die breiten Sohlen der Stiefel aus Leinwandeinlagen bis zu einer Dicke von zwei Zentimetern. Die größte Freude macht man dem Mongolen mit Tabak, der an der Spitze seiner Wünsche steht. Deshalb legt er auch der Ausstattung seiner Pfeifen große Bedeutung bei und beurteilt nach ihr den Stand des Besitzers. Das Pfeifenrohr, ein etwa dreißig bis vierzig Zentimeter gerader Holzstab, ist mit einem Mundstück aus einem achatartigen Stein geschmückt. Je größer und gewählter dieses Mundstück, desto reicher und vornehmer der Besitzer. Der Mongole ist sehr gastfrei, jedoch wenig gesprächig. Jedes Mongolenzelt wird von einer Schar schakalartiger, sehr bissiger Hunde bewacht. Der Besitzer scheucht die Kläffer aber rasch und freundlich von dem Ankömmling fort und nimmt diesem das Pferd ab, das er sofort, an drei Füßen gefesselt, auf die
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Weide führt. Der Gast betritt das gemeinsame Zelt, und sei es Tag oder Nacht, die Mongolin bereitet sofort den Tee und das Lager für den Fremdling. In den Tälern von Kobdo schoß Grieger vor Beginn des Fohlenfanges nebenher eine große Sammlung von Vögeln, in welcher sich eine ganz neue und in Europa bisher unbekannte Fasanenart befand. Bei alledem wurde der Zweck der Expedition keinen Augenblick aus den Augen gelassen, und als die Zeit der Jagd herankam, waren alle Vorbereitungen getroffen. Mit Hilfe der inzwischen befreundeten Stammesoberhäupter wurden die Jagdgehilfen zusammengestellt, die bislang noch nie in ihrem Leben Tiere lebend gefangen hatten und dazu erst angelernt werden mußten. Zunächst lauerte man den Tieren, wenn sie zur Tränke kamen, aus großer Entfernung auf, um festzustellen, wie weit und in welcher Zahl sich die jungen Fohlen bereits bei den Wildpferdherden befanden. Deutlich waren drei Unterarten der Wildpferde zu unterscheiden. Eine Art fand sich auf einer großen Ebene im Osten des Gebirges, im Norden und Süden von den beiden vom Altai kommenden Flüssen, dem Kui-Kuius und dem Urungu, begrenzt. Beide Flüsse fließen westwärts in einen See. Die andere Art wurde etwa 300 Kilometer südlich von Kobdo auf einer von Bergen umschlossenen Steppe gejagt. Die dritte fand sich in südöstlicher Richtung
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auf einem großen Plateau im Gebiet des Zedzik-Noor. Alle drei Arten hatten eine gewellte Körperbehaarung, welche sich auch auf die Beine erstreckte. Das Auge war schwärzlich, die Stirn stark gewölbt, nur in der Färbung waren sie verschieden. Sehr zahlreich waren die Wildpferde auch in dieser Gegend nicht. Grieger zählte nur kleine Herden von zwölf bis fünfzehn Stück. Nach der langen Vorbereitungszeit bot der Fang selbst keine Schwierigkeiten mehr. Die Tiere hatten die Gewohnheit, sich einige Stunden an der Tränke zu lagern. Unter Führung der Hagenbeckleute schleichen sich die Mongolen unter dem Wind mit ihren Pferden heran. Auf ein gegebenes Zeichen stürzt die ganze Gesellschaft mit Hallo und Geschrei auf die lagernde Herde, die entsetzt in einer großen Staubwolke flüchtet, verfolgt von den hetzenden Mongolenreitern. Nach und nach tauchen aus der Staubwolke einige Punkte auf. Es sind die armen Fohlen, die noch nicht schnell genug laufen können und bald mit vor Schreck und Erschöpfung geblähten Nüstern und fliegenden Flanken stehenbleiben. Sie werden mit einer Schlinge eingefangen, die an einer langen Stange befestigt ist, und zum Lager geführt. Dort erwartet sie eine große Anzahl zahmer mongolischer Mutterstuten mit saugenden Füllen, die nun leider daran glauben müssen, da ihre Mütter als Ammen für die jungen Wildfüllen
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in Dienst gestellt werden. Es währt etwa drei bis fünf Tage, bis sich die Stiefmutter an den kleinen Fremdling gewöhnt hat. Jetzt haben die Nomaden die Fangmethode von den Hagenbeckleuten gelernt und beginnen, den Fang auf eigene Faust zu betreiben. Hatte der erste Auftrag nur auf sechs Wildpferde gelautet, so befinden sich nach kurzer Zeit bereits ihrer dreißig im Lager. Grieger weiß sich keinen Rat. Es nutzt nichts, er ist gezwungen, heimzutelegraphieren. 2000 Kilometer muß er zu diesem Zweck über Land reiten, vier Tage mit dem Schiff reisen, dann erreicht er die Poststation. Er wartet achtundvierzig Stunden auf die telegraphische Rückantwort aus Hamburg und reist zurück nach Kobdo, wo er nach zwanzigtägiger Abwesenheit wieder eintrifft. Unzählige Male mußten unterwegs die Pferde gewechselt werden. Zuerst in den angetroffenen Mongolenlagern, dann auf russischen Poststationen. Als er wieder auf der Fangstelle eintrifft, ist der Wildpferdbestand auf zweiundfünfzig Fohlen angewachsen. Mit einer Riesenkarawane, zu welcher außer den gefangenen Jungtieren deren Ammen sowie die Lastkamele und dreißig angeworbene Treiber zählen, wird die lange Heimreise nach Europa angetreten. Monatelang wandert der große Treck in Hitze und Kälte durch Gebirge und Täler in einem mühseligen Fußmarsch von 3000 Kilometern bis zur ersten Eisen-
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bahnstation. Während des Tages erreicht die Temperatur bis zu 20 Grad Wärme und sinkt in der Nacht bis unter den Gefrierpunkt. Für manche der jungen Tiere sind die Strapazen zu groß. Sie gehen ein trotz aller Sorgfalt und Pflege. Einmal brechen infolge von Unachtsamkeit der Begleitmannschaft sämtliche Kamele aus und müssen erst mühsam wieder eingefangen werden. Ein anderes Mal meutern die Treiber, wollen den auf sie angewiesenen Reisenden erpressen, der sich mit seiner Kirgisenpeitsche erst wieder Gehorsam verschaffen muß, bis die entlohnte Begleitung wieder in ihre Heimat zurückkehren kann. Elf Monate dauerte der Transport, mit dem erstmalig achtundzwanzig lebende Wildpferdfohlen in Hamburg eintrafen. Drei Tage nach der Ankunft wurden sie von ihren Ammen entwöhnt und von nun an mit Haferschrot, warmer Kleie und gelben Mohrrüben gefüttert. So führte ich die ersten Wildpferde in Westeuropa ein. Was will die alte Feuerlandexpedition besagen gegen derartige Reisen, wie ich sie in der Folge wiederholt nach Ostasien ausrüstete! Einmal galt es, das Argali oder Riesenwildschaf in Europa einzuführen, um zu versuchen, die Fremdlinge mit großen Hausschafen zu kreuzen und so ein Riesenhausschaf für die Landwirtschaft heranzuzüchten. Auf eine mißglückte Expedition folgte eine zweite, der es ebenso erging. Zwar wurden mehr als sechzig Argalis gefangen, aber
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sie gingen auf der Reise sämtlich an einer durchfallartigen Krankheit zugrunde. Beide Expeditionen kosteten rund 100000 Mark. – Die Geschichte der FernostExpeditionen würde allein einen Band füllen. Aber ich möchte den Leser nicht langweilen und ihm zur Abwechslung etwas vom Elefantenfang in Indien erzählen, über den allerdings schon so viel geschrieben ist, daß ich mich kurz fassen will. Wie allgemein bekannt, treibt man die wilden Elefanten in einen sogenannten Kral, das ist ein weiter umzäunter Platz im Dickicht – und schon saust die mächtige Falltür herunter. Zur Fesselung der Gefangenen verwendet man besonders dazu abgerichtete ausgewachsene weibliche und männliche Elefanten, sogenannte Kunkies, die jeder einen Reiter oder Kornak tragen. Zwei bis drei Tage läßt man die Tiere allein, bis sich die erste Aufregung gelegt hat. Dann reiten die Kornaks auf ihren Kunkies mitten zwischen die wilden Elefanten. Den zahmen Elefanten ist eine Anzahl von Tauen um Hals und Leib gebunden, damit der Kornak in gefährlichen Augenblicken zunächst einen Halt findet. Zudem ist jedem Kunkie noch ein zweiter zahmer Elefant beigegeben, eine Art Boxer, der dem wilden Elefanten notfalls einige achtunggebietende Rippenstöße versetzt, falls er seine zahmen Kameraden angreifen will. Mensch und Tier arbeiten jetzt zusammen. Die Kornaks reichen ihren Reittieren Stricke zu, die sie
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mit den Rüsseln erfassen und über den wilden Elefanten werfen. Andere kriechen im Schutz ihrer zahmen Elefanten mit Tauschlingen an die Hinterbeine der Wildlinge. Mit Schnelligkeit werden die Tauenden an den Baumstämmen verankert, so daß die Gefangenen sich nur wenig bewegen können. Bei ihren verzweifelten Anstrengungen, sich zu befreien, schneiden die Stricke oft tief in die Haut der Elefanten ein. Viele tragen tiefe Wunden davon, und manchen indischen Elefanten, der auf direktem Wege in meinen Garten gelangte, habe ich noch wochenlang behandeln müssen. Außer diesem Massenfang wird auch der Einzelfang betrieben, der ganz der Jagd auf junge Elefanten in Afrika ähnelt. Auf ihrer Flucht vor den schreiend aus dem Hinterhalt hervorbrechenden Jägern trennt man die Jungtiere von der Herde und bringt sie durch Ochsenhautschlingen, die schnell um ein Hinterbein geworfen und an einem Baum befestigt werden, zu Fall. Auf diese Weise wurden Elefanten auf Ceylon vielfach von Afghanen gefangen. In späteren Zeiten kauften wir gewöhnlich die Tiere auf den einheimischen Elefantenmärkten, von denen Sonpore einer der größten und bedeutendsten ist, während der Fang in Fallgruben von meinen Reisenden vornehmlich beim Fang der auf den Sundainseln vorkommenden Elefantenarten geübt wurde. Wenn ich aus dem indischen Dschungel nunmehr
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den Sprung in das Nördliche Eismeer wagen darf, so kann ich etwas vom Walroßfang berichten, einem Spezialgebiet meines Reisenden Kapitän Ole Hansen aus Hammerfest. Gleich Adrian Jacobsen, ein Norweger von Geburt, betrieb er den Walroßfang in der Arktis schon seit dem Jahre 1886 und führte ebenfalls bereits seit sechzehn Jahren als Kapitän sein Eismeerschiff, das den merkwürdigen Namen »7. Juni« nach dem Datum seiner Taufe trug. Die Walrosse wurden von besonders dazu gebauten Booten aus harpuniert, die etwa zwanzig Fuß lang, sieben Fuß breit und so gebaut sind, daß die Bretter nicht übereinanderliegen, sondern aufeinanderstoßen. Die dadurch glatte Außenwand wird außerdem mit Blech beschlagen. Vorn befindet sich eine Plattform, die einen fest im Kiel des Bootes eingezapften Pfeiler trägt. An diesem werden die Harpunen mit langen Leinen befestigt, die stets wurfklar liegen. Hier steht der Harpunier, während drei Mann rudern. Die Harpune wird auf eine Entfernung von etwa zweiundzwanzig Metern geworfen. Gute Harpunenwerfer erreichten eine Weite von vierunddreißig Metern! Das harpunierte Walroß geht sofort in die Tiefe, kommt aber nach einiger Zeit zum Atemholen wieder an die Oberfläche, wobei Hansen die Beobachtung machte, daß harpunierte Weibchen gewöhnlich mit straffgezogener Leine geradeaus schwimmen, Männchen jedoch das kleine Boot oft
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mit ihren mächtigen Hauern angreifen. Bei dem Fang der in den Tierpark gebrachten jungen Tiere geriet die aus vier Mann bestehende Besatzung eines Bootes in größte Lebensgefahr. Ein starker Bulle attackierte wütend das Boot, als er die Rufe der gefangenen Jungtiere hörte und stieß drei große Löcher durch die Bordwand. Um die Jungen lebendig zu fangen, ist es gewöhnlich notwendig, die Mutter zu erlegen. So wurde eins der später in Stellingen befindlichen Tiere auf die Weise erbeutet, daß man die getötete Mutter ganz dicht an das Boot heranzog und sich nun vollständig ruhig verhielt. Es dauerte dann gar nicht lange, bis das Junge kam und der toten Mutter auf den Rücken kletterte. Nun war es natürlich nicht schwer, sich des unbeholfenen Jungtieres zu bemächtigen. Wie mir Ole Hansen berichtete, befinden sich die größten Walrosse bei Franz-Joseph-Land. Die Walroßjäger erhalten für die erlegten Felle 1,40 Kronen je Kilogramm. Außerdem bildet der Walroßtran einen wichtigen Handelsartikel. Beim Fang der neuerdings nach Stellingen gebrachten Walroßkälber wurden 68 Tiere getötet, darunter ein Bulle, dessen Zähne 75 Zentimeter lang waren und je zweieinhalb Kilogramm wogen. Dabei wurde das Kilogramm mit etwa sechs Kronen bezahlt. Nur zur Paarungszeit im September und Oktober vereinigen sich die Bullen und Kühe an
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Land. So traf Hansen 1886 an der Nordküste von Nordost-Land noch eine Herde von 370 Stück, die sämtlich von fünf Schiffsmannschaften abgeschlachtet wurden. Der größte Bulle aber, der von unseren Fängern auf der letzten Reise harpuniert wurde, hatte ein Gewicht von annähernd 3000 Kilogramm. Die Haut allein wog 500 Kilogramm. Die jungen Tiere wurden bei Kap Flora gefangen. Das ergiebigste Jagdgebiet ist heute aber wohl die Nordküste von Sibirien. Es wird nicht lange dauern, dann sind die letzten dieser mächtigen Vertreter der Eismeertierwelt ausgerottet, wenn sie nicht beizeiten unter internationalen Naturschutz gestellt werden. Des öfteren gelang es mir, für die europäischen und nordamerikanischen Zoos Walrosse zu fangen, und jedesmal berichtete mir Kapitän Hansen von neuen Abenteuern aus der Arktis. Das Walroß ernährt sich gewöhnlich von dem pelagischen Auftrieb, einem aus zahllosen kleinen Organismen bestehenden Tierbrei. Interessant war es, von Hansen zu hören, daß er ein Walroß beobachtete, wie es mit seinen Zähnen einen toten Seehund auseinanderriß und dessen Speck aufschlürfte. Im Nebel richtete er oft seinen Kurs nach dem Gebrüll der Walrosse, das in der Windrichtung über zwei Seemeilen durchdringend gehört wird. Im Jahre 1897 tötete ein starker Bulle sogar vier Mann einer gekenterten Bootsbesatzung. Immer wieder tauchte er auf und
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stieß den schwimmend Flüchtenden seine gewaltigen Hauer durch den Rücken. Der vierte konnte sich auf das Boot retten. Der Bulle ruhte aber nicht eher, als bis er das Boot erneut umgeworfen und auch diesen Mann getötet hatte. Interessant war es zu beobachten, wie die fünf neu angekommenen Walrosse ihren drei Genossen im Becken des Stellinger »Eismeerpanoramas« zugeführt wurden, von dessen Bau ich in einem späteren Kapitel über die Erschaffung des Stellinger Tierparkes noch berichten werde. Als die Transportkisten an das Bekken herangefahren wurden, gerieten die bereits anwesenden Tiere in eine mächtige Erregung. Der Bulle kam, gefolgt von den beiden Weibchen, aus dem Wasser heraus, und alle fingen laut zu brüllen an, geiferten vor Erregung, und ihre Augen färbten sich durch Blutüberfluß rot. Als die Neuangekommenen sahen, wie zärtlich sie beschnuppert und begrüßt wurden, nahmen sie auch sofort an der gemeinsamen Fütterung mit Fischfleisch teil. Nach kurzer Zeit waren sie schon so zahm und zutraulich, als ob sie gleich den anderen schon lange im Tierpark gewesen wären. Es war vor einer Reihe von Jahren, als Herr Dr. Carl Peters im Inneren von Rhodesia10 nach einem langen Tagesmarsche auf der Farm eines Buren einkehrte, der ihm von den Verwüstungen, die die Tsetsefliege und die Rinderpest auch unter seinem Vieh-
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bestand angerichtet hatten, berichtete. Es war ihm auf seinen Streifzügen aufgefallen, daß die meisten Farmer an eine Feldbestellung gar nicht mehr denken konnten, weil ihnen das Zugvieh verendet war. Dieser Bur hatte sich jedoch auf eine eigenartige Weise selbst geholfen. Noch waren von dem unerschöpflichen Reichtum der afrikanischen Tierwelt in diesen weiten Ländern manche Herden übriggeblieben, die in den fünfziger Jahren noch bis vor die Tore Kapstadts drangen. In der Nähe dieser Burenfarm fanden sich Kudus, Hartebeeste, Elenantilopen und Strauße in friedlicher Nachbarschaft beieinander. Dies brachte den klugen Farmer auf den Gedanken, in die volle Schatzkammer der Natur hineinzugreifen, und Peters war nicht allzusehr verwundert, als der Bur ihn an ein Gehege führte, in welchem sechs mächtige und prächtig entwickelte Elenantilopen grasten. »Diese Tiere«, sagte der Bur, »will ich jetzt einfahren, mit ihnen pflügen und versuchen, ob ich sie im Trab vor meinem Wagen gebrauchen kann!« Peters lächelte, zog eine englische Illustrierte aus der Tasche und zeigte dem Buren eine Reihe von Bildern aus Carl Hagenbecks Tierpark in Hamburg. »Dieser Mann«, fuhr er fort, »wird Ihnen mehr für die Tiere zahlen, als was sie Ihnen wert sind. Wollen Sie sie ihm anbieten?« Die Buren sind alle gute Geschäftsleute, und so erhielt ich plötzlich aus Rhodesia ein Telegramm:
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»Habe sechzehn Elenantilopen, offeriere sie Ihnen zu soundso viel tausend Mark. Drahtliche Entscheidung und alsdann Abnahme binnen sechs Wochen.« Ich war hocherfreut über diese prachtvolle Ergänzung meines Tierbestandes, nahm telegraphisch an und schickte meinen erprobten Reisenden Jürgen Johannsen nach Afrika. Neun Monate später brachte er mir nicht nur die von dem Buren erworbenen Exemplare, sondern er hatte noch eine große Anzahl mehr von diesen wertvollen Tieren beschafft, deren Fangart er sich in Rhodesia von Eingeborenen und Buren hatte berichten lassen. Ungefähr dreißig glänzend berittene Reiter vereinigten sich, kundschafteten in wochenlangen Märschen den Standort der Elenherde aus, die sie in weitem Bogen einkreisten. Ich muß bemerken, daß ein ausgewachsener Elenbulle ungefähr 2400 Pfund wiegt. Seine Kräfte würden genügen, um mehrere Pferde glatt umzuwerfen. Wer sollte ein solches Tier auf der freien Wildbahn fangen und transportieren? Wiederum galt es also, der Herde die Jungtiere abzujagen. Die jungen Geschöpfe versuchen eine Weile in vollstem Laufe der flüchtenden Herde nachzueilen. Aber bald versagen ihre noch unbeholfenen langen Stelzbeine und die jungen Lungen den Dienst. Von einem klebrigen Angstschweiß vollkommen bedeckt, am ganzen Leibe zitternd und jämmerlich schreiend,
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bleiben sie stehen. Dies ist der Moment, in welchem der auf seinem Pferde herbeipreschende Reiter es am Schwanz erfaßt und zu Fall bringt. Jetzt werden schnell die Hinterbeine gefesselt, und die junge Antilope wird nun dicht in warme Decken eingehüllt. Dem Unkundigen wird diese Vorsichtsmaßregel überflüssig erscheinen. Sie ist aber notwendig, denn durch die aufregende Verfolgung und die Flucht auf Leben und Tod ist das junge Geschöpf vollkommen ausgepumpt. Man kann das Herz deutlich durch Fell und Rippen schlagen sehen. In diesem Zustande bedarf es des unbedingten Schutzes vor jeder raschen Temperaturveränderung, deshalb also die warmen Decken. Aber noch etwas viel Verblüffenderes geschieht: Der eingeborene Jäger entpuppt sich jetzt auch als Medizinmann. Das in Decken wohlgeborgene Tier bekommt eine subkutane Einspritzung mit einem Medikament, dessen Zusammensetzung mir meine Reisenden nicht haben verraten können. Ich weiß nur, daß wenige Minuten nach dieser Einspritzung ein Betäubungszustand eintritt und das Tier in tiefen Schlaf verfällt. Nach meiner Vermutung handelt es sich in diesem Fall um Morphium oder ein ähnliches Alkaloid. Der Grund ist folgender: Die Todesangst, welche das junge Geschöpf durchschüttelt, ist so groß, daß früher alle an Herzschlag starben. Diesem Ausgang wird nun durch die Einspritzung vorgebeugt. Das schlafende
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Tier wird ins Lager geschafft, wo es vierundzwanzig Stunden in der Betäubung verharrt. Inzwischen hat der Jäger Milchkühe herbeigeschafft, die gefesselt an das erwachende Antilopenkalb gebracht werden. Der Wildgeruch würde die Kuh sonst zum Widerstand gegen den von ihr verlangten Ammendienst veranlassen. Nach einigen Tagen hat sich die Stiefmutter an den jungen Wildling gewöhnt, der jetzt der Kuh folgt wie ehemals der Mutter. Sind die Elenantilopen so weit entwöhnt und erwachsen, daß sie den weiten Marsch bis an die Küste gesund überstehen können, setzt sich die Tierkarawane in Bewegung. Zahlreiche Photographien in meinem Besitz zeigen die im Lager aufgewachsenen Elenantilopen in einem langen Sechser- und Achtergespann mit Ochsen, Maultieren und Zebras zusammen vor dem zweirädrigen Karren auf dem Zuge zur Dampferstation. Der Transport wilder Tiere, mögen sie nun frisch gefangen oder in der Gefangenschaft geboren sein, ist eine Wissenschaft, die man nur in der Praxis studieren kann. Da es mir vorbehalten war, diese Praxis so recht eigentlich wieder ins Leben zu rufen, so habe ich auch reichlich das Lehrgeld bezahlen müssen. Die Kunst der Verschiffung fremdartiger Tiere, die Technik der »Verpackung«, das geeignete Futter – alles ist mit Opfern erkauft. Wenn die Transporte aus allen Erdteilen oft nach langer Seefahrt in Europa landen,
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so beginnen neue, anders geartete Schwierigkeiten. Das Führen vom Schiff zu einem Stall, vom Stall zur Bahn, das Ein- und Ausladen und die Weiterreise in den engen, rüttelnden Eisenbahnwaggons, das alles ist mit vielen Schwierigkeiten, Zufällen und Widerwärtigkeiten verbunden. Manches habe ich schon in der Entwicklungsgeschichte des Tierhandels erzählt. Heute besitzen wir einige teuer erkaufte Erfahrungen im Transport, auch die Verkehrswege sind geregelt, aber es gab eine Zeit, da zum Beispiel die Verschiffung eines Elefanten zu einer Art von märchenhaftem Ereignis wurde.
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Fußnoten 1 Durra: Hirse-Art, wichtiges Nahrungsmittel der afrikanischen Bevölkerung 2 Baobab: Affenbrotbaum 3 Darfur: Steppenlandschaft im Ost-Sudan 4 Atbara: ein rechter Nebenfluß des Nils, der im Nordwesten des abessinischen Hochlandes entspringt und eine Länge von 1120 km hat. 5 Die Sudan-Provinz Kordofan wurde von dem reformfreudigen ägyptischen Vizekönig Mehemed Ali nach 1819 erobert und wurde damit den Europäern zumindest indirekt zugänglich. 6 Gasch: Chor el Gasch (Mareb), rechter Nebenfluß des Atbaras 7 Die Darstellung des Mahdi-Aufstandes leidet unter schwersten Verzerrungen. Zwar war die mystisch-sektiererische Ideologie des Mahdi Muhammed Achmed und seiner Anhänger ohne Zweifel rückständig und konnte infolgedessen auf lange Sicht auch keine mobilisierende Rolle im Kampf der unterdrückten Kolonialvölker gegen den englischen Imperialismus spielen. Prinzipiell aber waren die Sudanesen naturgemäß
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in ihrem Recht, wenn sie sich nach der Besetzung Ägyptens durch England 1882 gegen eine Ausdehnung der britischen Kolonialherrschaft auf den Sudan wandten. Die Mahdisten errangen 1883/86 eine Reihe von bedeutenden Erfolgen und unterlagen erst nach einem langwierigen Feldzug 1894/99. Der Sudan hat unter den Folgen dieser Kämpfe, deren Schuld auf die englischen Imperialisten zurückfällt, schwer gelitten. Hinsichtlich der Entvölkerung und der Ausrottung der Tierbestände um 90% gibt Hagenbeck aber einfach zweckbetonte britische Greuelmärchen weiter. Die geordneten Verhältnisse, die unter englischer Herrschaft wiedergekehrt sein sollen, umschreiben verschämt die Ruhe des Friedhofs und den scharfen Terror der Kolonialbehörden, die noch viele Jahrzehnte lang – die Republik Sudan wurde erst 1956 unabhängig – den Sudan nicht geräumt haben. Die Engländer haben es dabei verstanden, den Sohn des Mahdi in eine britische Offiziersuniform zu stecken und sich seiner als Marionette zu bedienen. 8 Askania Nowa: Naturschutzgebiet im Süden der Ukrainischen SSR, begründet von dem russischen Großgrundbesitzer Friedrich von Falz-Fein (1863–1920), der hier einen Natur-Wildpark und Liebhaber-Zoo schuf. 1904 begann Professor M.F. Iwanow in Askania Nowa mit Versuchen zur künstlichen Befruchtung von Tieren. Von besonderem Inte-
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resse waren die Arbeiten zur Akklimatisierung wilder Arten, z.B. des Wildpferdes und des Wisents, und Kreuzungsversuche zwischen diesen wilden Arten und unseren Haustieren (Pferd, Rind, Schaf). Askania Nowa wurde 1919 zum Staatlichen Naturschutzpark erklärt. Er ist 385 km2 groß. Die Sowjetmacht hat ihn zu einem Mittelpunkt der Tierforschung und Tierzüchtung ausgebaut. Seit 1932 arbeitet hier auf der Grundlage der biologischen Forschungen Mitschurins das M.-F.-Iwanow-Institut für Hybridisierung und Akklimatisierung von Tieren. Askania Nowa wurde im zweiten Weltkrieg von hitlerfaschistischen Truppen verwüstet. Es ist heute ein wichtiges Zentrum der hochentwickelten sowjetischen Tierzüchtung. 9 Werst: ein Werst = 1,067 km 10 Die britische Kronkolonie Rhodesia, heute immer wieder Schauplatz rassistischer Ausschreitungen einer kleinen weißen Minderheit gegen die um Gleichberechtigung ringende afrikanische Bevölkerung, war eine Gründung des »Diamantenkönigs« und imperialistischen Wortführers Cecil Rhodes von 1889. Sie erlangte wirtschaftliche Bedeutung durch Produktion von Kupfer, Chrom, Gold, Tabak usw. Carl Peters war das kleinere und häßlichere deutsche Gegenstück zu Rhodes; seine brutalen Ausschreitungen gegen Afrikaner in »Deutsch-Ostafrika« (Tansania) führten
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zu einem Reichstagsskandal, der durch die reaktionären Parteien vertuscht wurde.
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VII Kleine Reiseabenteuer mit wilden Tieren Für den Umgang mit wilden Tieren hat uns Freiherr von Knigge leider keine Vorschriften hinterlassen, und ebenso entbehren wir die Erfahrungen, die unser guter Stammvater Noah sammelte, als er nach elfmonatiger Seereise mit seiner Arche auf dem Gebirge Ararat landete. Er errettete uns die Tierwelt, unter der sein Urenkel Nimrod als gewaltiger Jäger vor dem Herrn allerdings beachtlich weidwerkte. Wie schwer es war, allein einen ausgewachsenen Elefanten an Bord zu bringen, beweist nachfolgende Geschichte. Im Jahre 1864 erhielt ich eines Tages einen Brief von dem alten Tierschaubesitzer Kreutzberg aus Lüttich, in welchem er mir mitteilte, daß er seinen Tierbestand verkaufen wolle. Ich reiste also nach der alten Wallonenstadt, traf Kreutzberg am Bahnhof und fuhr mit ihm nach der Station Chené, wohin er seine Tiere dirigiert hatte. Sie waren aber noch nicht da, und wir mußten dort übernachten. In aller Herrgottsfrühe wurden wir aus dem Schlaf getrommelt und erhielten die Schreckensbotschaft, daß die Elefantenkiste in dem letzten Tunnel sich als zu hoch erwiesen hatte und beim Stoß gegen die Tunneldecke in Trümmer gegangen sei. Glücklicherweise besaß dieser Dickhäuter ein
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seinem Fell entsprechendes Phlegma, vielleicht war er auch ein Philosoph, denn als wir an der Unfallstelle ankamen, sahen wir ihn ganz ruhig zwischen den Trümmern stehen und ein Bündel Heu verzehren. Der große Elefant war eine Dame, und zwar das größte Exemplar ihres Geschlechts, das ich je gesehen. Das Tier war neuneinhalb Fuß hoch und ursprünglich ein Geschenk des Kaisers von Rußland an Kreutzberg. Die Dame besaß selbstverständlich auch eine Vergangenheit. Mit einem männlichen Begleiter war sie als wandelndes Geschenk eines Maharadschas an den Zaren von Indien nach Moskau marschiert, denn der Plan des Suezkanals schlummerte noch in Negrellis1 Schreibpult. Der Genosse dieses ruhigen Tieres war aber ein Rohling, der seinen Wärter in der Wut tötete, sich dann von seinen Ketten befreite und ausrückte, worauf das schnell aufgebotene Militär ihn umzingelte und erschoß. So wurde die riesige Elefantenkuh eine Witwe und gelangte nach manchen Kreuz- und Querzügen durch die Welt und einer kurzen Visite in England in meine Hände. Endlich fand sich in einem amerikanischen Zirkusbesitzer ein Käufer. Und jetzt kommt eine Episode, die so recht geeignet ist, die Transportschwierigkeiten in der damaligen Zeit zu illustrieren. Die Hamburg-Amerika-Linie war damals noch sehr schwerfällig, und Tiere auf ihren Dampfern mitzunehmen, ging ihr ganz und gar wider den Strich.
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Nach langem Hin und Her kam ich endlich mit ihr überein, das Tier für den Passagepreis von 5000 Mark auf Deck stellen zu dürfen. Da keine andere Möglichkeit vorhanden war, den Elefanten zu verladen, so mußten sich die Amerikaner zu diesem enormen Preis bequemen. Dazu kam aber noch der Kasten, vierzehn Fuß lang, zehn Fuß hoch und sieben Fuß breit, sowie die Verladung. In Steinwärder bei Hamburg wurde die Elefantenkiste aus zweieinhalb Zoll dicken Bohlen zusammengebaut, mit riesigem Eisenbeschlag versehen und auf dem Verdeck des Dampfers neben dem Schornstein seemännisch festgezurrt. Der Elefant sollte nun zu Fuß an Bord gehen und dann in den Kasten genötigt werden. Zu diesem Zweck mußte eine besondere Brücke vom Ufer auf das Schiff gebaut werden, denn der Kran, welcher 1893 die Kruppsche Riesenkanone zur Weltausstellung nach Chikago verlud, war noch nicht erfunden. Wo heute Tausende von Kranarmen, Greifbaggern und Elevatoren geschäftig in die Ladeluken der Ozeandampfer greifen, mühten sich damals nur stämmige Schauerleute an Hebebäumen und Winden. Die Verladung gestaltete sich zu einer wahren Komödie. Es war am ersten Pfingstmorgen, als ich mit dem Tier an der Brücke anlangte. Der Elefant war ruhig und gelassen, und ich war so vertraut mit dem gutmütigen Tier,
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daß ich es mir erlauben konnte, es beim Ohr zu nehmen und auf die Brücke zu geleiten. Nachdem der Elefant mit den Vorderfüßen sorgfältig die Brücke befühlt hatte, ging er sehr ruhig einige Schritte vorwärts. Vielleicht hatte die Brücke, die ja ein Ponton war, doch ein wenig geschwankt – kurz, er ging zurück und war nicht zu bewegen, den nach seiner Ansicht wackeligen Steg zu betreten. Nach verschiedenen Nötigungen ließ ich an beiden Vorderfüßen ein Tau anbringen. Ich kommandierte »links« oder »rechts«, worauf jedesmal zwanzig Mann sich mit hau ruck! ins Zeug legten, also vierzig Mann hoch, die die ganze Schiffsmannschaft darstellten. Der Elefant ließ sich das ruhig gefallen, und er stand nur noch wenige Meter vom Verdeck entfernt, da zog er plötzlich das linke Vorderbein mit einem kurzen Ruck zurück, daß zwanzig Mann am Boden durcheinanderpurzelten. Ich bekam einen mächtigen Schreck, jedoch unnötigerweise, denn der Elefant schritt nunmehr nach dieser Kraftleistung seelenruhig in seinen Kasten, als habe er nur zeigen wollen, daß das Ziehen doch nichts genützt hätte, wenn er nicht gutwillig hätte mitgehen wollen. Ich glaube, wenn Elefanten lachen könnten, dieser hätte nach Ankunft in seiner Kiste laut gelacht! In Amerika gelangte meine alte Bekannte unter dem Namen »Empress«2 später zu einer ungeheuren Popularität. Für den Umgang mit wilden Tieren gibt es
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keine besonderen Vorschriften. Das eine Tier ist zahm und das andere ungebärdig. Während man ein Exemplar derselben Familie gemächlich an der Hand führen kann, muß man das andere fesseln und mit Wagen befördern. Alles kommt auf die Umstände an und wird zu einer Frage des praktischen Verstandes und der Geistesgegenwart, denn alle diese Geschöpfe werden ja nicht von Überlegung, sondern von Impulsen geleitet, und jeder Augenblick kann eine Überraschung bringen. Will man zum Beispiel, sagen wir, ein Rhinozeros veranlassen, vom Schiff über die Gangplanke auf den Kai zu spazieren, so genügt es nicht, einfach zu sagen: Ach, mein verehrtes Rhinozeros, haben Sie die Güte, eben mal herauszukommen? Diese Sprache versteht das Nashorn nicht. Würde man indes dem Tier einen Strick um den Hals legen und daran ziehen, während ein anderer von hinten mit einem Knüppel nachhülfe, so würde es dem Mann mit dem Strick wahrscheinlich sein Nasenhorn unsanft in die Sitzfläche bohren. Und doch hat diese Bestie einen schwachen Punkt in ihrem Organismus: den Magen. Mit seiner Hilfe kann man sich einer internationalen und kosmopolitischen Sprache bedienen, welche auch die Tiere verstehen. Wenn man dem Dickhäuter eine Handvoll Futter vor das Maul hält, dann kann man sich alle anderen Höflichkeiten schenken.
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Diese Weisheit kannte ich schon sehr frühzeitig, und ihre Befolgung trug mir einmal ein gefährliches Abenteuer mit einem Rhinozeros ein. Es war im Jahre 1871, als ich mich zur Abnahme eines Tiertransports im Londoner Hafen einfand. Unter den Tieren befand sich ein großes, fast ausgewachsenes weibliches Rhinozeros, das in einem riesigen, auf dem Verdeck aufgebauten Kasten untergebracht war. Dieser Kasten war natürlich nicht transportabel, und so mußte das Nashorn auf irgendeine Weise vom Schiff zu dem niedrigen Transportwagen gebracht werden, zu dem eine mit Stroh bedeckte Brücke führte. Der zu bewältigende Weg zwischen dem Schiff und dem Wagen betrug über die Schienen hinweg längs der langen Schuppen der East Indian Docks etwa fünfhundert Meter. Mr. Jamrach schlug als erfahrener Kollege vor, das Tier, das sehr ruhig sei, einfach gewissermaßen an einem Strick dorthin zu geleiten, und ich ging darauf ein, ohne die ungeheuren Gefahren so recht ins Auge zu fassen. Kurz, mein Rhinozeros erhielt ein starkes Tau um den Hals und außerdem ein längeres um einen der Vorderfüße. Als Reserve wurde eine Anzahl weiterer Stricke mitgenommen. Und nun ging's los. Langsam dem fütternden Wärter folgend, ging das an sich wirklich recht zahme Tier über die Laufplanke zum Kai hinunter. Das lange Halstau gab ich sechs Wärtern mit der Weisung, es sofort bei An-
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kunft am Wagen durch die Latten der Seitenwände zu ziehen und an der Achse zu befestigen. Das Vorderfußtau nahm ich selbst in die Hand und ging frisch vorweg durch die langen Docks, begleitet von einer nicht geringen Zuschauermenge. Schon sind wir dicht am Wagen angelangt, da sehe ich, daß eine Lokomotive mit einem Güterzug dampfend und zischend heranbraust. Mit einer Schnelligkeit, wie man sie nur im Augenblick der Gefahr entwickeln kann, springe ich auf den Wagen. Meine Eile spornte die Wärter an, und im Nu war das Nashorn festgebunden. Der Lokomotivführer, der die fluchtartige Schlußphase des Transports beobachtet hatte, leistete sich in diesem Augenblick den dummen Scherz, die Dampfpfeife schrill und lang ertönen zu lassen. Schreck und Angst versetzten das Tier sofort in eine furchtbare Erregung, und nur unter Lebensgefahr gelang es mir, die schnaubende Bestie mit den Reservestricken auch an dem noch freien Vorderfuß zu fesseln. Die Aufregung des Nashorns steigerte sich infolge des fortwährenden Pfeifens und Lärmens zu einer Art Berserkerwut. Mit einem gewaltigen Stoß schleuderte es den ganzen Kutschbock in die Luft, so daß er sich in der Luft drehte und krachend zu Boden schlug. Glücklicherweise fiel er nicht zwischen die Pferde. Ein unabsehbares Unglück wäre sonst die Folge gewesen. Wütend versuchte jetzt das Rhinozeros die
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Vorderwand des Wagens zu durchbrechen. Aber schon war ich zur Stelle, sprang auf die Wagendeichsel und begann, das Tier aus Leibeskräften mit einem Tauende zwischen die Ohren zu schlagen. Es mußte fühlen, daß eine Kraft da war, die vor der seinigen nicht die Flucht ergriff. Schließlich waren wir beide müde – ich und mein ungebärdiger Freund, der langsam zur Besinnung kam und sich beruhigte. Als wir endlich am Stall anlangten, waren wir gezwungen, das Tier rückwärts aus seinem Verschlag zu ziehen. Die Haltestricke wurden durch einen in der Stallmauer angebrachten Ring gezogen. Da bekam das Nashorn einen neuen Wutanfall, der durch den Tumult der vielen Zuschauer noch gesteigert wurde. Ständigen wütenden Angriffen ausgesetzt, gelang es uns, das Tier mühsam in den Stall zu bringen. Von dieser Art der Beförderung hatte ich genug und bestellte mir für den Weitertransport nach Hamburg einen großen fertigen Kasten. Wäre uns das Tier beim Herannahen der Lokomotive entkommen, so hätte ich wohl jetzt in diesen Erinnerungen von einem großen Unglück und manchem verlorenen Menschenleben erzählen müssen. Verschiedene Male erlebte ich es, daß Rhinozerosse bei wütenden Attacken das Horn abstießen, ohne Schaden zu nehmen. Das Horn wuchs bald wieder nach und erreichte im Laufe eines Jahres eine ganz
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ansehnliche Größe. Wie ich schon in dem Kapitel über Tierfang erwähnte, gewöhnen sich die Jungtiere leicht an den Menschen. In der nubischen Karawane, welche ich in den siebziger Jahren im Zoologischen Garten in Berlin vorführte, befanden sich drei junge Nashörner, die frei auf dem Ausstellungsplatz umherliefen. Groß war das Vergnügen der Zuschauer, wenn der Wärter sich im Scherz versteckte und die Tiere ihn unter Ausstoßen pfeifender Töne zu suchen begannen. Zu Anfang der siebziger Jahre brachte Casanova das erste afrikanische Nashorn nach Europa. Zwar hatte es erst eine Rückenhöhe von achtzig Zentimetern, entpuppte sich jedoch eines Tages als Athlet, der mich zu einem Wettkampf herausforderte. Auf dem Transport von Triest nach Wien hatte ich mich mit meinem auserlesenen Schatz in einem Sonderabteil einquartiert. In einer Ecke sitzend, war ich eben ein wenig eingenickt, als ich von einem Ruck erwachte, da das Tier meinen Rockzipfel im Maul hatte und ganz gemütlich daran herumlutschte. Mit aller Höflichkeit wollte ich meinen Rock aus dem Maul des kleinen Untieres entfernen, was es mir gewaltig übelnahm. Im Handumdrehen geriet das Nashorn in eine rasende Wut, stieß einen schrillen pfeifenden Ton aus und griff mich an. Ich gestehe, daß ich mit einem mächtigen Satz über Kisten und Säcke sprang, um
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mich in Sicherheit zu bringen. Dabei rollte ein hundertfünfzig Pfund schwerer Sack dem Nashorn vor die Füße, den es wie einen Spielball in der Luft umherschleuderte. Man kann sich denken, daß ich mich schleunigst ausquartierte, um dem afrikanischen Gast keine Gelegenheit zu geben, auch mit mir Fangball zu spielen. Auf einem Seetransport erlebte ich, wie ein scheu gewordenes Nashorn mit einem Stoß die dicken Bohlen seines Kastens wie Zigarrenkistenholz zersplitterte. Nur dadurch, daß ich den ganzen Käfig sofort mit einer Persenning verdunkelte, wurde größeres Unheil verhütet. Ein noch zierlicheres Tier als das Nashorn ist das Nilpferd, der dickhäutigste und plumpste aller Dickhäuter. Und doch hat einmal einer meiner Reisenden das Tier in einem Reisekoffer transportiert. Die Geschichte klingt allerdings wie Humbug und erinnert an den amerikanischen Reisenden, der mit einem Musterkoffer voll Telegraphenstangen durchs Land zog. Seltsamerweise erschien vor langer Zeit auch einmal in einem deutschen Witzblatt eine Karikatur, die einen angeblichen Hagenbeck-Reisenden mit zahlreichen Tieren in komischer und sonderbarster Verpakkung darstellt. Es ist gerade, als ob der Zeichner auf die kleine Episode angespielt hätte, die ich hier erwähnen will. Ich hatte einen Wärter zum Empfang eines kleinen Nilpferdes nach Bordeaux geschickt, der
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das Baby einfach in einen großen Koffer mit Luftlöchern verpackte und als Reisegepäck nach Hamburg aufgab. Das kleine Weibchen wog allerdings nur achtzig Pfund und lebte später noch viele Jahre im Hannoverschen Zoo. Nilpferde halten sich vorzüglich in der Gefangenschaft, und viele Tiere haben sich sogar dort fortgepflanzt. Im fünften Jahre sind sie zuchtfähig. Liebeswerbung und -erfüllung gehen im Wasser vor sich. Es ist ein interessanter Anblick, eine Nilpferdmutter mit ihrem Jungen im Wasser spielen zu sehen. Wenn das Baby ermüdet ist, pflegt es sich auf dem Rücken der Mama auszuruhen. In einem amerikanischen Zirkus sah ich sogar zwei große ausgewachsene Nilpferde, die vollkommen gezähmt waren. Bei den großen Umzügen liefen diese Tiere immer ganz frei neben ihrem Wärter durch die Straßen, ohne daß ein Unglück geschah. Mich machte so ein Tier einmal zum Schnelläufer! – Von dem Tierschaubesitzer Kaufmann hatte ich so eine dicke Madam erworben und wollte sie in Hamburg mit Futter aus der Kiste locken. Erfolglos! Nachdem ich alles gut vorbereitet und die kurze Strekke vom Wagen zum Käfig auf beiden Seiten abgesperrt hatte, gab ich meinen Leuten den Auftrag, dem Dickhäuter von hinten mit einem Brett einen kräftigen Stoß zu versetzen, damit der Schreck ihn vorwärtstreibe. Die Absperrung bestand auf der einen Seite aus
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einem abgestützten und mit Draht bezogenen Holzrahmen, hinter dem noch zwei Wärter standen. Ich selbst stand unten an der Laufbrücke und lockte das Nilpferd erneut mit einer Handvoll Futter. Wieder kam es zwei Schritte vorwärts, schnappte zu und wollte sich gerade zurückziehen, als der Wärter der Dame unsanft auf das Hinterteil schlug. Aber o weh! Sie verstand diese zarte Aufforderung falsch, stob mit weit aufgesperrtem Rachen derart vorwärts, daß die Brücke unter ihrem Gewicht zusammenkrachte. Schon überrannte das Nilpferd das Drahtgitter, welches umstürzte und unter sich die beiden Wärter begrub. Wutschnaubend wandte sich jetzt das Tier gegen die Wehrlosen, und schlimm hätte es für sie auslaufen können, wäre mir nicht blitzschnell der rettende Gedanke gekommen. Ohne Besinnen trat ich dem Nilpferd mit voller Kraft in die Kehrseite, um die Aufmerksamkeit von den beiden Bedauernswerten abzulenken. Die List gelang. Blitzschnell wandte sich das mächtige Tier nun gegen mich und raste auf mich zu. Ich sprang behende wie ein Wiesel quer durch das Gehege, über das Bassin hinweg und auf der anderen Seite durch das eiserne Gitter wieder hinaus, dessen Stäbe etwa einen Fuß breit auseinanderstanden. Mit Windeseile sauste ich nunmehr um das gesamte Gehege zurück und verriegelte die Tür hinter dem mich verfolgenden Nilpferd. Der Hippopotamus war gefan-
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gen. Der Londoner Zoodirektor Dr. Slater und der Direktor des Britischen Museums, Professor Günther, die zufällig anwesend waren, hatten das ganze Schauspiel vom sicheren Platz aus verfolgt. Beide bedauerten, keinen Photoapparat oder besser noch einen Kinematographen zur Hand gehabt zu haben. Meine Flucht vor dem Nilpferd und dessen überraschende Gefangennahme wäre ein Sensationsstück ersten Ranges gewesen. Dieselbe Nilpferddame bekam kurz darauf Besuch. Hätte Kipling3 diesen Besuch beobachten können, sofort würde er eine Novelle daraus gemacht haben. Neben dem Nilpferdstall hauste ein Riesenkänguruh, das eines Abends den Vorsatz faßte, seine imposante Nachbarin mit der junonischen Figur zu besuchen. Da die Tür verschlossen war, führte es ein wahres Turnerkunststück aus und übersprang mit einem Satz die sechseinhalb Fuß hohe Wand. Als mich der Wärter rief, bot sich mir das seltsamste Schauspiel dar. Das Känguruh stand vor dem Nilpferd und ließ unausgesetzt kräftige Ohrfeigen auf sein großes Salatmaul niederhageln. Das Nilpferd wehrte sich nicht. Mit einem Fußtritt oder mit einer kräftigen Wendung seines massigen Kopfes hätte es das Beuteltier vernichten können, aber es war einfach starr, sprachlos, verblüfft über die unglaubliche Frechheit des australi-
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schen Eindringlings. Eine ähnliche Verblüffung ergreift ja sogar den ahnungslosen anständigen Menschen, wenn er plötzlich die Unverfrorenheit irgendeines Lumpen über sich ergehen lassen muß. Mir bot sich in dem Intermezzo eins der lustigsten Schauspiele aus der Tierwelt, die ich je gesehen habe. Nun galt es aber, den ungebetenen Besucher so schnell wie möglich zu entfernen, ehe er den Zorn des Nilpferdes weckte, denn der wäre sein gewisser Tod gewesen. Schnell ließ ich mir das Seehundewurfnetz holen, mit dem ich die Robben aus ihrem Bassin herauszufischen pflegte, und fing rasch über die Wand hinweg das boxende Känguruh, bevor das sprachlose Nilpferd sein gewaltiges Maul zuklappen konnte. Kein Tier hat in den zivilisierten Ländern ein solches Aufsehen hervorgerufen wie die Giraffe. Heute bekommt manches großstädtische Bürschchen sie häufiger zu sehen als Kühe und Schweine, und man kann sich kaum vorstellen, welch unglaubliches Staunen die ersten nach Europa gelangten Tiere beim Publikum erregten. Im Sommer 1826 wurden die ersten Giraffen den Regierungen in Frankreich und England von Ägypten zum Geschenk gemacht. Über ein Jahr dauerte dieser in mehreren Etappen durchgeführte Transport. Man kann sich den Menschenauflauf vorstellen, als diese riesigen, nie geschauten Tiere von den Schwarzen am Halfterband von Marseille über
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Lyon zum Jardin des Plantes zu Paris geleitet wurden. Die für London bestimmte Giraffe war in Afrika auf weite Strecken geknebelt auf den Rücken von Dromedaren transportiert worden, was vielleicht jene Gelenkerkrankung verursachte, die ihren Tod 1829 in London herbeiführte. In den folgenden Jahren gelangten Giraffen nur vereinzelt nach Europa. Nur die Kaiserliche Menagerie in Schönbrunn und der Amsterdamer Zoo durften sich rühmen, die kostbaren Tiere zu halten. In den Jahren 1867 bis 1877 gelangten eine größere Anzahl nach Europa. Sie wurden durch die inzwischen eingegangene Tierhandlung Reiche in Alfeld und zum größten Teil durch mich eingeführt. Das sonderbare Tier, zu dessen stärksten Seiten nicht die Klugheit gehört, ist fromm genug innerhalb seiner vier Pfähle. Wenn es aus großen dunklen Augen aus seiner Dachrinnenhöhe auf den Beschauer niedersieht, wenn es mit weit gespreizten Vorderläufen einen Grashalm vom Boden aufnimmt oder ein Blatt mit seiner überlangen Greifzange aus dem Wipfel eines Baumes pflückt, immer ist es interessant und kurzweilig. Alles das ändert sich für den, der eine Giraffe oder gar mehrere frei über die Straßen zu führen hat. Leicht werden diese Geschöpfe scheu, und ihre langen Beine werden dann zu gefährlichen Waffen. Ernstes und Heiteres, und das Heitere zuweilen mit einem bitteren Beigeschmack, könnte ich von den vie-
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len Giraffentransporten erzählen. Im Jahre 1876 verkaufte ich zwei große Giraffen an den Wiener Zoo, die ich selbst vom Bahnhof zu ihrem neuen Heim führte. Wie immer folgte bald ein großer Schwarm von Neugierigen, aus dem sich plötzlich ein vorwitziger junger geschniegelter Herr, mit einem fein gebürsteten Zylinder auf dem Kopf, näherte und trotz meiner Warnung dicht an die bereits unruhigen Tiere trat. Als die Giraffen zum Gaudium des Publikums anfingen zu springen, sprang auch der Geck dicht hinter ihnen her. Ich schrie ihm zu, er solle zurückbleiben. Umsonst. Plötzlich schlug die eine Giraffe mit ihrem Hinterhuf nach dem Verfolger – so glücklich, daß der enorme Schlag nur den Zylinder vom Kopf fegte. Totenbleich, seines bißchen Geistes völlig beraubt, starrte das Herrchen seinem davonrollenden Hute nach, um dann schleunigst zu verschwinden. Nur zwei Zentimeter tiefer, und statt des Zylinders wäre die Hirnschale durch die Luft geflogen. Die durchgebrannten Giraffen gehen in die Dutzende. Wenn es auch keinen Zweck hat, so lernt man dabei doch das Laufen, solange man die flüchtenden Langhälse am Halfter hat. Auf dem Wege vom Sternschanzenbahnhof in Hamburg raste einmal eine Giraffe mit mir davon. In meiner Begleitung befand sich damals der Zweite Direktor des Amsterdamer Zoo. Dieser Herr griff in dem Bestreben, mir zu helfen, un-
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überlegt nach dem Schwanz des Tieres, der sofort wie ein elektrischer Draht auf ihn wirkte. Als er ihn einmal erfaßt hatte, konnte er ihn nicht wieder loswerden und hüpfte nun in grotesken Sätzen hinter dem fliehenden Tiere her, bis er auf den Boden schlug. Glücklicherweise kam er ohne nennenswerte Verwundung davon. Es muß jedoch ein Anblick für die Götter gewesen sein. Es liegt mir fern, mich etwa über diese Episode lustig zu machen, denn Leute, die frisch zugreifen, sind mir immer lieber als solche, die sich so lange besinnen, bis das Zugreifen keinen Zweck mehr hat. Zum andern erging es mir in Suez nicht viel anders. Ich hatte eine Giraffe zum Bahnhof zu führen, die lange im Stall gestanden hatte. Wie Pferde, wenn sie lange nicht bewegt worden sind, sind die Tiere dann besonders mutig aufgelegt. Dummerweise hatte ich mir den Halfterstrick mehrmals um den Arm geschlungen und wurde von dem plötzlich scheuenden und durchgehenden Tier mitgerissen, ohne mich befreien zu können. So raste ich neben dem Flüchtling her. Nur nicht fallen, sagte ich mir, denn dann würde ich zu Tode geschleift. Ein Mazepparitt in veränderter Form: Mazeppa lief zu Fuß nebenher. Kreuz und quer durch Suez ging die tolle Jagd. Zuerst über ein wahres Gebirge von zerbrochenen Flaschen und Unrat. Dann wie die Feuerwehr durch die engen Gassen und Win-
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kel der Basare, und ständig wuchs die Zahl der lachenden und schimpfenden Fellachen und Araber, denen wir sechsfüßig Schaden zugefügt hatten. Mein Glück war, daß ich gewandt und biegsam war. Zuletzt tobten wir noch durch eine entsetzt auseinanderstiebende Volksmenge, und nach zwei Kilometern atemlosen Rennens gelang es mir, mich zu befreien, und ich fiel platt zu Boden. Ich war einem Herzschlag nahe. Aber der Giraffe schien es nicht anders zu gehen, sie lief nur noch fünfzig Meter weiter und blieb neben einer Telegraphenstange stehen, wo sie sich von einem Negerjungen ruhig anbinden ließ. Mit Hilfe von sechs handfesten Arabern brachte ich dann den Ausbrecher zum Bahnhof. Eines Tages erhielt ich den Anruf eines reichen Brasilianers, der dem Zoo in Rio de Janeiro eine Giraffe zum Geschenk machen wollte. Das war in der giraffenarmen Zeit während des Mahdistenkrieges. Es gelang mir, in einem deutschen Zoo ein Tier zu erwerben – eine große männliche Giraffe, zwölf Fuß hoch, so daß man den noch größeren Kasten nicht auf einem Wagen transportieren konnte, sondern auf untergelegten Rollen zum glücklicherweise nahen Bahnhof schieben mußte. Die Ozeanreise verlief ohne Zwischenfall – der ereignete sich erst in Brasilien. Dort hatte man das Gehege nur nach Art der Hühnerhöfe umfriedet, die Giraffe stieß den Zaun um und ver-
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schwand im Galopp in der abendlichen Dämmerung des Urwaldes. Die hereinbrechende Nacht vereitelte jede Hoffnung, das Tier zu finden. Da kam mein Reisender auf eine geniale Idee. Vor die Brust hängte er sich eine brennende Stalllaterne, auf den Rücken ein Bündel Heu, und so wanderte er kreuz und quer durch den Wald. Die Giraffe mußte sogleich das Licht bemerkt haben. Bald hörte der Mann den stampfenden Galopp des Tieres, das sich alsbald näherte. Nun drehte sich der gewitzigte Tierfänger um und präsentierte der Giraffe seinen Rücken mit dem verlockenden Futter. Die Giraffe fing sogleich an zu fressen, und der Reisende schritt langsam dem Zoo zu, gefolgt von der naschenden Giraffe. Auf diese Weise gelangte der Flüchtling wieder in seinen Stall, und daß man ihn jetzt besser verwahrte, bedarf wohl keiner Versicherung. Meine kleinen Reiseabenteuer mit großen Tieren möchte ich beschließen mit dem größten Auftrag, den ich bislang erhielt und der mich 1906 verpflichtete, zweitausend Dromedare für die Schutztruppe in Südwestafrika zu liefern zur Bekämpfung des damals ausgebrochenen Hereroaufstandes.4 Eile war geboten! – Die wenigen Automobile versagten in den Sandwüsten der Kalahari. So hatte man mir in Berlin auf dem Kolonialamt berichtet und mir den Auftrag gegeben, zunächst tausend Reitdromeda-
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29.905 Hagenbeck: Von Tieren und Menschen Hagenbeck-Erinnerungen, 150
re mit Sattelzeug nach Swakopmund zu verladen. Ich hatte schon oft für den Gebrauch im Tierpark Dromedarsättel konstruiert, war mir jedoch sofort darüber klar, daß jetzt keine Experimente gemacht werden durften. Um ein einwandfreies Modell zu finden, mußte auf einen alterprobten Eingeborenensattel zurückgegriffen werden. Im Handelsmuseum meines Schwagers Heinrich Umlauff fand sich glücklicherweise noch ein nubischer Lastsattel für Dromedare, der von einer meiner nubischen Völkerschauen übriggeblieben war. Nach diesem Modell wurde in Berlin schon am Tage nach meiner Rückkehr ein Sattelgestell angefertigt, aber kräftiger und stärker in der Verarbeitung. Bevor noch der Abend hereingebrochen war, befand sich ein Auftrag von zunächst tausend dieser Sattelgestelle – bei Konventionalstrafe lieferbar innerhalb von vierzehn Tagen – verteilt in den Händen dreier leistungsfähiger Geschäfte. Gleichzeitig nahmen verschiedene Sattler die nötigen Sattelkissen, Gurte und Riemen unverzüglich in Arbeit. Eine zweite wichtige Sache, von welcher das Gelingen der ganzen Expedition abhing, war die Beschaffung des nötigen Futters. Nach eingehender Beratung mit meinem Mitarbeiterstab beschloß ich, das Futter in Hamburg zu beschaffen und zu den Verschiffungshäfen am Roten Meer zu senden. Am 17. Dezember traf mein Inspektor die nötigen Vorberei-
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29.906 Hagenbeck: Von Tieren und Menschen Hagenbeck-Erinnerungen, 150
tungen und schloß Verträge ab, die innerhalb von vierzehn Tagen viele hunderttausend Kilo Heu- und Strohballen, große Mengen von Hafer, Kleie, Torfstreu, Medikamente, Kreolin und Seife – um nur einiges zu nennen – an den Verladekai in Hamburg beorderten. Der erste gecharterte Dampfer befand sich noch auf der Heimreise, verspätete sich überdies infolge Nebels, so daß es einer Riesenarbeit bedurfte, binnen drei Tagen die Stallungen für drei- bis vierhundert Dromedare einzubauen und die ganze Ladung zu verstauen. Es gelang, und am 3. Januar 1906 dampfte die »Marie Menzell« von Hamburg ab. An Bord befand sich eine Reihe meiner besten Wärter, die bei den späteren Transporten vom Roten Meer nach Südwest die Oberaufsicht führen sollten. Meinen jüngsten Sohn Lorenz, der in den Vereinigten Staaten mein Zirkusunternehmen leitete, beorderte ich von New York nach Port Said, wo die »Marie Menzell« am 22. Januar 1906 einlief. Die Hauptarbeit, die Beschaffung der passenden Tiere, hatte ich dem dem Leser schon bekannten Joseph Menges übertragen, mit dem mein Sohn Lorenz, dessen Berichten ich hier folge, in Massaua zusammentraf. »Mr. Mungus«, wie mein dort überall bekannter und beliebter Reisender Menges von den Eingeborenen genannt wurde, hatte dort bereits 76 Dromedare zur Verladung bereitgestellt, worauf die »Marie Menzell«
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29.907 Hagenbeck: Von Tieren und Menschen Hagenbeck-Erinnerungen, 151
durch das »Tor der Tränen« nach Djibuti weiterdampfte. Tränen flossen auch, zwar nicht so reichlich wie der Schweiß, aber doch sichtbar über die braunen Wangen unseres alten Freundes Hersy Egga, den Lesern bereits seit der Londoner Afrikaschau ein wohlbekannter Somalihäuptling. Er und sein Stamm waren hocherfreut, meinen Sohn und meinen Reisenden in ihrer heißen Heimat wiederzusehen, und Freudentänze wechselten mit festlichen Schmäusen und Gesängen. Aber mein guter Hersy Egga hatte auch lobenswert gearbeitet. 118 ausgesuchte Dromedare standen zur Übernahme bereit. Der Rest des ersten Transportes wurde in Berbera an Bord genommen. Besonders schwierig war die Übernahme der Tiere in den Küstenorten ohne Hafenkais. Die Dromedare wurden an den Strand getrieben, möglichst dicht am Wasser niedergelegt und mit weichen Palmbaststricken wie ein Postpaket gefesselt. Nun rollte man das Dromedar auf die Seite, mindestens zwölf Mann packten es und schleiften es unter gewaltigem Geschrei, worin das Tier einstimmte, zur Barke, während zwei Mann den Kopf des Tieres über Wasser hielten. Auf dem Bordrand der schräggestellten Barke wartete eine andere Mannschaft, die das Dromedar an Deck hob und durch eine Drehung auf den Boden der Barke fallen ließ, der mit einer hohen Lage von federnden Palmenblättern bedeckt war. Sobald zehn bis zwölf
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Tiere wie Pakete dicht nebeneinander das Boot füllten, hißte man das Segel und steuerte nach dem mehrere Seemeilen entfernt auf der Reede ankernden Dampfer, dessen Ladebäume die kostbare Fracht an Deck hievten. Dabei passierte es einige Male, daß ein Dromedar während der Luftreise sich aus der Kranschlinge strampelte und kopfüber ins Rote Meer plumpste. Abgesehen davon, daß die »Wüstenschiffe« sich als gute Schwimmer erwiesen, setzten die Schwarzen sofort mit Kopfsprung über Bord, klarten das Ladegeschirr auf, und schon zog die Dampfwinde erneut an. Kein Schwarzer, kein Dromedar ging auf diese Weise verloren, obwohl es rings um den Dampfer stets von Haien wimmelte. Auf diese gefährliche und primitive Art wurden an vierhundert Dromedare verladen. Eine andere Anzahl mußte, da unsere Dampfer die betreffenden Plätze nicht anlaufen konnten, in arabischen Barken verladen, erst das Rote Meer durchkreuzen. Im Mai betrug die Temperatur im Schatten regelmäßig 35 Grad Reaumur, sank auch nachts nicht viel, und nun stelle man sich die Gluthitze vor, welche unter den Ladeluken eines fast nur aus Eisen gebauten Dampfers herrschte. Die Tage des Ladens mit ihrer Hast und Arbeit wurden für Menschen und Tiere unerträglich. Auf der Fahrt, die das Schiff mit einem frischen Zugwind umgibt, leiden die Tiere viel weniger, zumal wir durch Aufstellen großer leine-
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ner Windsäcke den schweißtriefenden Tieren unter Deck frische Luft zuführten. Am 6. Februar telegraphierte Lorenz, daß Dampfer »Marie Menzell« mit 403 Dromedaren und 60 Eingeborenen unter Führung meines alten Sibirienreisenden Wilhelm Grieger nach Swakopmund ausgelaufen sei. Während Lorenz bei Hersy Egga zu Gast war und mit seiner Unterstützung weitere Dromedare bei befreundeten Stämmen und durchziehenden Karawanen aufkaufte, hatte ich in Hamburg in gleicher Weise den Dampfer »Heinrich Menzell« ausgerüstet. Insgesamt charterte ich eine Transportflottille von fünf Dampfern, die ihren Weg von den Küstenplätzen des Roten Meeres längs der ostafrikanischen Küste ums Kap der Guten Hoffnung nach Lüderitz und Swakopmund nahmen. Das Löschen der lebenden Frachten war gleichfalls sehr schwierig, da die auf Reede liegenden Dampfer wiederum die Dromedare in große Leichter umsetzen mußten, die dann mittels einer am Strand aufgestellten Seilwinde mit jedem Brandungsschlag der ständig rollenden Atlantikdünung an Land gezogen wurden. Die Anwerbung der ebenfalls benötigten arabischen Kameltreiber war mit mancherlei Zwischenfällen verbunden. Haarsträubende Warnungen und Gerüchte kursierten unter den Eingeborenen. Nur durch das große Ansehen, welches Menges in den Küsten-
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plätzen genoß, gelang es, die nötige Anzahl von Leuten zusammenzubringen. Kostete es schon Mühe, den Eingeborenen klarzumachen, was eigentlich von ihnen verlangt würde, so war es noch schwieriger, Verträge in bindender Form abzuschließen. Diese zumeist halbwilden Beduinen aus dem unabhängigen Arabien gaben sich den abenteuerlichsten Vorstellungen hin. Manchen hatte man vorgeredet, sie würden in die Goldminen verschleppt und müßten den Rest ihres Lebens unter der Erde verbringen. Andere glaubten, man wolle sie zu Soldaten pressen. Und eine der häufigsten Vorstellungen war die, daß die Expedition ins Land der Niam-Niam, der Menschenfresser, ginge, wo jeder der Unglücklichen sein Ende in der Bratpfanne finden würde. Fast alle Bewerber waren außerdem total abgerissen und verschuldet. Kleider und Vorschuß war das erste, was sie erhielten. Zur Ehre der Araber muß ich indes auch feststellen, daß keiner mit seinem neuen Anzug durchbrannte, sondern sich pünktlich zum Abgang der jeweiligen Transporte einfand. Häufig fanden wir sogar auf hoher See blinde Passagiere, die ihr Glück erfolgreich auf diese Weise zu erreichen suchten. Obwohl die Dromedare in jenen Ländern in starken Herden vorhanden sind, war das Angebot der Eingeborenen nicht gerade überwältigend. Der Zahl nach waren zwar genügend Tiere vorhanden, aber oft recht
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fragwürdiges Material, denn die ostafrikanischen Eingeborenen sind im Dromedarhandel ausnahmslos wahre Spitzbuben. Sie gehen von der Annahme aus, daß die Europäer von Dromedaren nichts verstehen – worin sie übrigens Recht haben. Mit einem blumenreichen Redeschwall preisen diese Orientalen die abwrackreifsten Wüstenschiffe als wahre Prachtstücke an, und meine sprach- und sachkundigen Reisenden hatten Mühe, den erforderlichen Großtransport guter Reitdromedare zusammenzustellen. Der Mangel an diesen war aus den Verlusten der letzten Kriege in Nordafrika zu erklären. Schätzungsweise 60000 bis 70000 Dromedare verloren die Engländer während des Mahdistenfeldzuges. Die italienischen Feldzüge5 gegen die Abessinier und Sudanesen kosteten etwa 30000 und die Expedition im Somalilande gegen den »Mullah«6 30000 Dromedaren das Leben. Das Dromedar, ein so unverwüstliches Tier es auch ist, besitzt den Fehler, daß es sehr zu Hautkrankheiten neigt und viel unter allerlei Hautparasiten leidet. Meine Leute waren daher angewiesen, die Tiere während der ganzen Reise regelmäßig zu waschen und zu desinfizieren. Dabei wurde das Kreolin hektoliterweise und die Seife zentnerweise verbraucht. Jede Reinigung, die auf den Landmärschen immer auf den Marktplätzen vorgenommen wurde, gestaltete sich zu einer wahren Komödie. Ringsum dichte Massen lärmender und la-
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chender Zuschauer. In der Mitte unsere Leute mit Schelten und Geschrei bei der Arbeit, die störrischen Tiere zu waschen, deren Gebrüll sogar den orientalischen Marktlärm noch übertönte. Die Diener bedienten sich bei der Reinigung einer Pumpe und trieben die Tiere nachher zum Abspülen ins Meer. Schließlich hatten sie bei diesem ungewöhnlichen Geschäft solche Übung erlangt, daß hundert Dromedare an einem Tage gereinigt werden konnten, wobei es freilich Schmisse und Bisse regnete, da diese Prozedur gänzlich gegen den Willen der verblüfften Wüstenschiffe durchgeführt wurde. Genau 192 Tage nach meiner ersten Unterredung in Berlin konnte mein Sohn Lorenz dem abnehmenden Offizier den letzten Transport der 2000 Dromedare übergeben. In der sengenden Hitze des Roten Meeres und durch Sturmschäden am Kap hatten wir lediglich den einkalkulierten Verlust von kaum fünf Prozent, der sich aber durch die Geburt von zwanzig Jungtieren milderte. Eine Anzahl echter reinblütiger Renndromedare war dabei, die unter Lebensgefahr meiner Leute behandelt wurden, denn die Araberstämme betrachteten ihre Zucht gewissermaßen als ihr Monopol. Die Ausführung eines derartigen Riesenauftrages brachte eine starke finanzielle Anspannung mit sich. Von den kleinen Nebenausgaben will ich nur zwei anführen. Allein für Sättel wurden 70000 Mark ausge-
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geben, und die notwendigen Telegramme kosteten die Kleinigkeit von 20000 Mark. Ich bin der Überzeugung, daß die Einführung des Dromedars in Südwestafrika sich als eine kulturhistorische Tat erweisen wird.
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Fußnoten 1 Negrelli (1799–1858): österreichischer Ingenieur; entwarf die Pläne zum Suezkanal, die Lesseps später aufgriff und verwirklichte. 2 Empress (engl.): Kaiserin 3 Rudyard Kipling (1865–1936): englischer Schriftsteller, bekannt durch seine Tiergeschichten, die meist in Indien spielen; verherrlichte den britischen Imperialismus; Nobelpreisträger 1907. 4 Dem – freilich aussichtslosen – Freiheitskampf der Hereros gegen den deutschen Kolonialimperialismus in Südwestafrika begegnet Hagenbeck zumindest mit Gleichgültigkeit; praktisch verdient er an seiner Bekämpfung. Die Dromedare wurden übrigens nicht gegen die 1906 bereits zersprengten Hereros eingesetzt, sondern gegen die Hottentotten der südlichen Kalahari unter Morenga. 5 Die italienischen Kolonialimperialisten unter Führung Crispis versuchten sich seit 1889 in der Eroberung Abessiniens und des östlichsten Sudan. Die vernichtende Niederlage von Adua brachte diese Pläne 1896 zum Scheitern. Das faschistische Italien griff 1935 darauf zurück, verlor danach jedoch ganz Italie-
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nisch-Ostafrika im zweiten Weltkrieg 1941. 6 Der Mullah (niederer islamischer Geistlicher), den die Engländer als »tollen Mullah« ausgaben, führte einen langwierigen Aufstand in Britisch-Somaliland gegen die koloniale Unterdrückung an. Da er militärisch in der Somalisteppe nicht zu fassen war, kauften ihn die Kolonialbehörden mit Geld, worauf er die Sache der freien Stämme verriet.
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VIII Von Elefanten und der Münchener Drachenpanik Der indische Gott der Künste und der Wissenschaften ist Ganescha. Sein Bildnis trägt das Haupt des Elefanten, der nach indischem Glauben das klügste aller Tiere ist, das heilige Reittier Indras, das heraldische Symbol Siams, für das das Sanskrit hundert ehrende Namen aufweist. Diese Auffassung, daß der Elefant zu den intelligentesten Tieren gehöre, kann ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen. Mehr als bei den meisten anderen Tieren treten beim Elefanten die individuellen Eigentümlichkeiten hervor, die jedem Exemplar seinen besonderen Charakter verleihen. Erstaunlich sind Gedächtnis und leichte Auffassungsgabe. Geistig sind diese Tiere keine Dickhäuter. Sie besitzen etwas Entschiedenes in ihrer Liebe wie in ihrem Haß und treffen eine sorgfältige Auswahl unter denen, welche sie mit ihrer Gunst beschenken. Groß, wie die Liebe der Ehegatten untereinander, ist auch die Liebe und Zärtlichkeit gegen die Jungen. Das innige Verhältnis zwischen Eltern und Kindern habe ich häufig beobachten können. Aber weit interessanter war es mir, zu sehen, daß auch andere Elefanten, die nicht zur Familie gehören, sich spielend mit den Jungen be-
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schäftigen und ganz offenbar ein ähnliches Gefühl für die Kinder ihrer Welt besitzen, wie wir für die Kinder der unsrigen. Die Elefantenkälbchen sind so munter und spielerisch wie Zicklein. Sie sind zu allen möglichen mutwilligen Streichen und Neckereien aufgelegt, kriechen fremden Elefanten unter den Bauch und stoßen sie und führen allerlei Bewegungen aus, die man einem so plumpen Tier kaum zutrauen würde. Mit meinen Wärtern führten die Elefantenkälber oftmals förmliche Ringkämpfe auf. Lag der Gegner schließlich niedergeboxt am Boden, dann trampelte der kleine Sieger vor Freuden mit allen vieren auf ihm herum. Aus dem Familienleben, wenn man so sagen darf, der Elefanten ergibt sich schon, daß es sich um geistig hochentwickelte Tiere handelt. Vieler Elefanten mit ganz bestimmten Charaktereigenschaften erinnert man sich, als ob es sich um Menschen handelte. Groß ist die Anzahl der Elefanten, die durch meine Hände gegangen sind. Ich kenne ihre Stammeseigenschaften wie ihre persönlichen Charaktere genau, und trotzdem bin ich gerade durch Elefanten verschiedene Male in Todesgefahr gekommen, ohne jedoch deswegen den Elefanten eine besondere Gefährlichkeit nachsagen zu wollen. Würde zum Beispiel unser heimisches Pferd mit den Kräften dieses in Indien verwandten Haustieres ausgestattet sein, wie hoch wäre wohl in Deutschland die Zahl der jährlich erschlagenen Kutscher! Wie
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zahm und umsichtig diese Tierkolosse sein können, beweist die Tatsache, daß sie in Ceylon sogar als – Kindermädchen Verwendung finden, und die Eltern vertrauen beruhigt ihr Kind der riesigen Kinderfrau an. Kluge Tiere sind mit Launen behaftet, die man im Verkehr nicht immer in Rechnung stellen kann. Außerdem sind die Bullen in gewissen Zeiten unberechenbar und gefährlich. Schon zu Ende der sechziger Jahre war ich nahe daran, von einem Elefanten getötet zu werden. Ich hatte damals in Triest eine Tierschau gekauft, zu welcher auch ein acht Fuß hoher Elefant gehörte, ein ganz gutmütiges Tier, das nur hin und wieder seine Mucken hatte – wie alle weiblichen Wesen. Es dauerte jedoch nicht lange, da hatte ich mich mit Lissy angefreundet. Nie ging ich vorbei, ohne ihr eine Handvoll Futter zu reichen, und die Dame sah mich denn auch mit den Augen der Liebe an. Unschuldigen Herzens, wie ich immer mit meinen Tieren verkehrt habe, ahnte ich denn auch nicht, daß es sich hier um einen Fall krasser Heuchelei handelte. Der Elefant pflegte ein Kunststück auszuführen, welches darin bestand, daß er seinen Wärter auf Kommando mit dem Rüssel in die Höhe hob und dann langsam wieder zur Erde setzte. Das Kommando dazu lautete: »Lissy, Apport!« Eines Tages um die Mittagszeit fand ich die Elefantendame allein in ihrem
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Stall. Da mußte mich der Teufel reiten und mir das Verlangen eingeben, von der Schönen auf dieselbe Weise umarmt und in die Höhe gehoben zu werden. Ich ging also an Lissy heran, schmeichelte ihr, fütterte sie mit einigen alten Semmeln, faßte sie dann an den Rüssel und rief: »Lissy, Apport!« Im nächsten Augenblick schwebte ich in der Luft. Anstatt mich nun wieder auf den Boden zu setzen, schlug Lissy meinen Körper auf die vor ihr befindliche Holzbarriere, und zwar mit solcher Wucht, daß ich fast besinnungslos in die Menagerie hinüberflog. Hier blieb ich liegen und meinte nicht anders, als daß mir alle Knochen im Leibe zerbrochen seien. Aber Lissy hatte glücklicherweise eine Körperstelle mißhandelt, die etwas aushalten konnte. Wäre ich seitwärts auf die Barriere aufgeschlagen, so hätte die Affäre mich bestenfalls zum Krüppel gemacht. Nach einer Weile erst erschien der alte Wärter Philipp, leistete mir Erste Hilfe und machte mir dann berechtigte Vorwürfe über meinen Leichtsinn. Wochenlang humpelte ich umher. Ob die dumme Elefantenkuh heimlich darüber gelacht hat, weiß ich nicht. Meine Liebe hatte sie verscherzt. Hätte ich mir in diesem Falle beinahe das Rückgrat gebrochen, so wollte mich ein andermal ein Elefantenbulle mit seinen Zähnen an die Innenwand eines Güterwagens nageln. Es war auf dem Hamburger Sternschanzenbahnhof, wo wir Elefanten für Amerika ver-
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luden. Meine Helfer hatten sich gerade entfernt, und ich stand mit nur einem meiner Leute vor einem fast sechs Fuß hohen Elefantenbullen. Plötzlich erhielt ich von hinten einen furchtbaren Stoß, sah an beiden Seiten meines Brustkorbes plötzlich das gelbe Elfenbein der achtzehn Zoll langen Stoßzähne schimmern, und blitzartig wurde mir klar, daß das Tier mich an die Wand zu spießen versuchte. Der Stoß war heftig, aber glücklicherweise geriet ich mit dem Körper zwischen die Zähne, die mich furchtbar an den Rippen klemmten. Wahrscheinlich machte ich instinktiv eine gewaltsame Drehbewegung und lag im nächsten Augenblick stöhnend am Boden, von wo mich der Wärter fortriß. Gott sei Dank kam ich mit Hautabschürfungen und Quetschungen davon, obwohl mir die gewaltigen Stoßzähne beiderseits des Körpers durch Rock und Hose gegangen waren. Von einem dritten bösartigen Elefanten will ich noch erzählen, der Mitte der achtziger Jahre in meinem Besitz war. Er hatte einen Mann niedergeschlagen, der nur durch das Zuspringen des mit dem Arbeitselefanten ganz vertrauten Wärters gerettet werden konnte. Das Tier beruhigte sich unter seinem Zuspruch. Ich besorgte Rüben und Brot, womit es gefüttert wurde. Zugleich wurden aber auch kräftige Taue gebracht, das Tier am Vorder- und Hinterfuß daran befestigt und langsam zum Stall geführt, wo die Tauenden um einen Eisenpfosten so lange her-
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umgewickelt wurden, bis das Tier an seinem Platz stand. In diesem Augenblick wollte der Wärter, der das Tauende durch einen Mauerring gezogen hatte, sich hinter zwei anderen Elefanten, die neben dem wild gewordenen standen, fortschleichen. Plötzlich brach die Wut des Riesen aufs neue los. Da die Taue ihn hielten, stieß er seitwärts mit einer so kolossalen Wucht gegen das neben ihm stehende Weibchen, daß das Tier, obwohl genausogroß wie er, glatt umfiel und fast noch ein anderes mit sich gerissen hätte. Viele Proben von Elefantenkraft hatte ich schon gesehen, aber dieses Athletenstückchen war der Gipfel. Nur schwer entschließt man sich zur Tötung eines kostbaren Tieres. Aber in diesem Falle war mein Entschluß schnell gefaßt. Der Elefant mußte beseitigt werden. Man durfte nicht warten, bis ein Unglück geschehen war. Die Hinrichtung mußte aber noch ein wenig verschoben werden, weil ich am nächsten Tage nach England fuhr. Hier erzählte ich die Geschichte Herrn Rowland Ward, der für einen großen Kreis von Sportsleuten Tiere ausstopfte und Köpfe präparierte. Mr. Ward machte mir darauf einen originellen Vorschlag. Er wollte das Tier kaufen, wenn es billig zu haben war, denn er glaubte, leicht einen »Sportsmann« finden zu können, dem es fünfzig Pfund Sterling wert sei, einmal einen Elefanten schießen zu können. Tatsächlich traf er nach einer Woche mit diesem
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Nimrod in Hamburg ein, der ein ganzes Arsenal verschiedener Gewehre auspackte. Um zehn Uhr vormittags sollte die »Elefantenjagd im Stall« stattfinden. Um der Sache aber mehr Hintergrund zu geben, ließ ich den Elefanten ins Freie führen und vor einer Mauer der artig anpflocken, daß er nicht losbrechen konnte. Um das Zurückspringen der Kugeln unmöglich zu machen, wurde diese Mauer noch mit dicken Bohlen beschlagen. Der grpße Moment nahte, ebenso die Polizei, die ihre Vertreter entsandt hatte. Es wurde zehn Uhr, aber der Schütze fehlte. Als eine weitere Stunde vergangen war, holte ich die Herren aus der Stadt, und um zwölf waren wir wieder genausoweit wie vor zwei Stunden. Der Sportsmann hatte seine sämtlichen Mordwaffen mitgebracht. Jedoch das Jagdfieber schien ihn ergriffen zu haben, genug, er war so nervös und aufgeregt, daß er keinen Schuß abfeuern konnte. Einer meiner Reisenden, der zufällig anwesend war, erbot sich, den Elefanten abzuschießen, aber auch damit war der nunmehrige Besitzer nicht einverstanden. Endlich schlug ich ihm vor, das Tier erdrosseln zu lassen. Dagegen hatte er nichts mehr einzuwenden. Der Verurteilte wurde jetzt gefesselt in den Stall geführt, bekam eine Schlinge um den Hals dessen Tau über eine Winde lief und an dessen Ende sechs meiner Leute zur Exekution antraten. Eins, zwei, drei! kommandierte ich, und beim dritten
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Zug schwebte der Elefant mit den Vorderfüßen oberhalb des Bodens. Fast unmittelbar darauf schlug der Kopf zur Seite, der Riese verlor den Boden unter den Füßen und brach zusammen. Kaum eine Minute dauerte es, bis das Tier verendet war. So beendete dieser Goliath sein Leben, um ausgestopft im Hamburger Museum seine Auferstehung zu feiern. Zu etwas Freundlicherem! Unter meinen Elefantenbekanntschaften bilden die schlechten Charaktere die Ausnahmen. Eine weit größere Zahl hat sich durch ihre Intelligenz, Gutmütigkeit und Anhänglichkeit in mein Gedächtnis eingeschrieben. Der gelehrigste und liebenswürdigste Elefant, den ich je besaß, war ein schönes männliches Tier von sieben Fuß Höhe und trug zwei Fuß lange Stoßzähne. Als mir dieser Elefant zum Kauf angeboten wurde, schwamm er noch, war noch unterwegs. Er war mir als außergewöhnlich zahm geschildert, denn prinzipiell kaufe ich nicht gern Bullen, da diese Tiere in einem gewissen Alter periodenweise bösartig werden können. Ein Besuch an Bord, nachdem das Schiff an gekommen war, zeigte mir aber, daß es sich wirklich um ein zahmes Tier handelte. Es war schon spät im Herbst. Der arme Reisende war auf Deck verladen, stand ganz in der freien Luft und zitterte vor Kälte am ganzen Körper. Er war leidend, wie ich schon an der Beschaffenheit der Exkre-
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mente sehen konnte. Ein guter, warmer Stall, ein schönes Strohlager, sorgfältige, von mir persönlich überwachte Pflege wirkten im Tierpark Wunder. Ich habe nie einen anhänglicheren Elefanten gesehen als diesen. Freudig trompetete er, sobald er meinen Schritt oder meine Stimme hörte, und bettelte dann um den Extrabissen, den ich ihm zu reichen pflegte. Mein neuer Freund erhielt von mir den Namen Bosco, unter dem er später in der Zirkuswelt eine große Rolle spielte. Schon nach vier Wochen fand sich ein argentinischer Zirkusbesitzer ein und kaufte Bosco unter der Bedingung, daß der Elefant zu verschiedenen Kunststückchen abgerichtet würde. Hierfür verlangte ich eine Frist von sechs Wochen und verkaufte dem Gast inzwischen als Schaustück für seinen Zirkus eine gerade vorrätige Gruppe schöner dressierter Löwen, die mit ihrem Dompteur mit dem nächsten Dampfer nach Buenos Aires abgesandt wurden. Mit dem Käufer Boscos machte ich mich nun sofort an die Dressurarbeit; wir erlebten Wunder. Alle Elefanten sind intelligent, aber die Leichtigkeit, mit welcher dieser begriff, war verblüffend. Bosco hatte nicht nur Verstand, sondern Talent. Innerhalb weniger Tage lernte er auf Tonnen zu gehen. Hinsetzen und Hinlegen brachte ich ihm an einem Tage bei. Die geringsten Anregungen genügten, das Tier kam uns förmlich entgegen. Kaum
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waren vier Wochen vergangen, da balancierte Bosco über Flaschen, konnte auf den Hinterbeinen stehen, machte Kopfstand, setzte sich an einen gedeckten Tisch, läutete die Glocke und ließ sich von einem Affen bedienen, trank aus einer Flasche, nahm Speisen vom Teller, kurz, er war ein vollendeter Künstler geworden. Nach sechs Wochen reiste sein hocherfreuter Besitzer mit ihm nach Südamerika und verdiente mit ihm vor stets ausverkauften Häusern eine Menge Geld, so daß er nach vier Monaten schon wieder mit wohlgespickter Brieftasche in Hamburg erschien und weitere Tiere ankaufte. Auf überraschendste Weise sah ich meinen großen Freund Bosco wieder. Ich kam zwei Jahre später von einer Reise zurück und fand ihn in meinem Stall vor, wo ihn der Südamerikaner untergestellt hatte. Obwohl es schon spät am Abend war, begab ich mich sofort zu ihm. Es war dunkel in den Stallungen. »Hallo, Bosco!« rief ich, und sofort antwortete ein freudiges Geschrei. Als ich näher trat und ihm zum Willkommen einige Semmeln reichte, gab der Elefant jene zufriedenen, gurgelnden Töne von sich, die man bei diesen Tieren hört, wenn sie freudig erregt sind. Als er mich erreichen konnte, zog er mich mit dem Rüssel ganz dicht an sich heran und beleckte mir, fortwährend im tiefsten Baß gurgelnd, das ganze Gesicht. Geradezu rührend war es, die Freude des Tieres zu beob-
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achten, als es seinen alten Herrn nach zweijähriger Abwesenheit wiedergefunden hatte! Ein vortreffliches Zeugnis von dem ungeheuren Gedächtnis des Elefanten. Der Südamerikaner war ein großer Pfiffikus. Nachdem Bosco ein Jahr bei mir gestanden hatte, kaufte er bei mir noch einen weiblichen Elefanten mit einem Baby und reiste mit allen dreien wieder nach Buenos Aires zurück. Hier hatte er vorher die verrückte, aber wirksame Reklame machen lassen, Bosco sei nur deswegen nach Europa geschickt, um sich in Hamburg zu verheiraten. Jetzt käme er mit Frau und Kind zurück, um sich im Kreise seiner Familie aufs neue dem geehrten Publikum am Rio de la Plata vorzustellen. Er machte wiederum ein Bombengeschäft. Über die Gelehrigkeit der Elefanten lassen sich viele staunenswerte Beispiele anführen. Einst wollte ein Breslauer Theaterdirektor von mir einen Reitelefanten erwerben. Das Tier sollte in einer Schaustellung mitwirken und war innerhalb von vierzehn Tagen zu liefern. Es war in der Zeit, als ich noch Geschäftsinhaber, Reisender, Korrespondent, Dresseur – alles in einer Person war. Erst zwei Tage vor Ablauf des Termins kehrte ich von Amsterdam zurück und machte mich unverzüglich an die Dressur eines geeigneten Elefanten. Die ersten zwei Stunden kosteten manchen Tropfen Schweiß. Aber nach weiteren zwei
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Stunden hatte ich das Tier schon so weit, daß es sich auf Kommando hinlegte, mich auf seinen Nacken steigen ließ und auf Kommando wieder aufstand. Am zweiten Tag bekam ich den Elefanten dahin, daß er sich reiten ließ, und am selben Abend wurde das Tier in Begleitung eines Wärters, der bei der Dressur geholfen hatte, nach Breslau verladen, und mein Schüler machte mir auf den Brettern, die zwar nicht seine Welt bedeuteten, keine Schande. In meiner großen nubischen Karawane, die ich in den siebziger Jahren im Berliner Zoo ausgestellt hatte, befanden sich fünf frisch importierte afrikanische Elefanten von fünf bis fünfeinhalb Fuß Höhe. Professor Virchow, der mich eines Tages besuchte, meinte, es wäre doch großartig, wenn es gelänge, diese Tiere ebenso abzurichten wie die indischen. Damals war man nämlich noch der irrigen Ansicht, daß die Afrikaner weder zur Arbeit noch zur Dressur tauglich seien. Zum Erstaunen Virchows erwiderte ich, daß ich ihm die fünf Elefanten, mit denen bisher noch nie ein Dressurversuch gemacht worden war, am Nachmittag des nächsten Tages dressiert vorführen würde. Kaum hatte der ungläubige Virchow den Rükken gewandt, begann die Dressur. Den gewandtesten Nubiern versprach ich eine Belohnung, wenn sie es fertigbrächten, die vorgeführten Elefanten zu besteigen und sich auch oben zu halten. Nun ging es los!
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Die Elefanten trompeteten erregt über die ungewohnte Last und schüttelten sich derartig, daß bis auf einen alle Schwarzen in hohem Bogen in den Sand flogen. Nachdem die Tiere beruhigt und mit Wurzeln und Brot traktiert worden waren, machten die Reiter einen neuen Versuch. Bis zum Abend hatten drei Elefanten die Sache so weit begriffen, daß sie sich ganz gemütlich reiten ließen. Das gute Beispiel wirkte am folgenden Vormittag auch auf die restlichen Tiere, die sich nun alle reiten ließen und auch Lasten auf ihrem Rükken trugen. Als Geheimrat Virchow nachmittags um fünf Uhr mit einigen Herren von der Geographischen Gesellschaft den Zoo betrat, war er nicht wenig erstaunt, die wilden afrikanischen Elefanten innerhalb weniger Schulstunden in Reit- und Lasttiere verwandelt zu sehen. Über allerlei Erlebnisse bei dem Transport von Elefanten habe ich schon in dem Kapitel über die Entwicklung des Tierhandels mancherlei erzählt. Hier fällt mir jedoch noch eine traurige Erinnerung aus dem Jahre 1868 ein, die so recht zeigt, wie auch in der Tierwelt der Goliath einem David zum Opfer fallen kann. Mit einem großen afrikanischen Tiertransport war ich von Triest angekommen. Tiere und Menschen waren müde und erschöpft und hatten sich bald zum Schlaf niedergelegt. Mitten in der Nacht weckte mich mein alter Wärter mit der Meldung, daß einer
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der Elefanten stark röchele und vermutlich krank sei. Ich erschrak und hatte den Willen, sofort nach dem Rechten zu sehen, aber die Müdigkeit überwältigte mich, und ich schlief wieder ein. Nach einer Stunde weckte mich ein anderer Wärter mit der gleichen Meldung. Wenige Minuten später war ich im Stall, kam aber schon zu spät: Ein Elefant war tot, zwei andere lagen im Sterben. Bei der Untersuchung stellte sich heraus, daß die Fußsohlen der angeketteten Tiere an drei Stellen von Ratten durchgenagt waren. Die Verblutung war nicht mehr aufzuhalten. – Wer hätte an eine solche Gefahr denken können! Man lernt oft erst durch bittere Verluste. Bei einer am anderen Morgen abgehaltenen Razzia unter den Holzfußböden der Stallung wurden annähernd sechzig der Attentäter zur Strecke gebracht und die Holzfußböden selbstverständlich entfernt. Meine Elefantenerinnerungen gipfeln leider in einer gefährlichen Katastrophe, wie sie aber glücklicherweise zu den größten Seltenheiten gehört, ja einzig dasteht. Es handelt sich um die Münchener Elefantenpanik am 31. Juli 1888 während des Zentenar-Festzuges, ausgelöst durch die unglückselige Hand eines Mechanikers im Inneren eines künstlichen Dampfdrachens. Zeitstimmen, in welchen noch die Erregung über den Vorfall zittert, bilden wohl die beste Illustration zu diesem Ereignis. Ich lasse deshalb an dieser
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Stelle einige Zeitungsartikel folgen und eine Erklärung, die ich damals in der Presse veröffentlichte: Entsetzliche Elefantenpanik im Münchener Zentenar-Festzug (Drahtbericht aus der Magdeburgischen Zeitung vom 1. August 1888) »Die vom Zirkus Hagenbeck zum Festzug gestellten Elefanten wurden während des langen Zuges unruhig und scheuten knapp nach dem Defilee vor dem Prinzregenten in der Ludwigstraße. Wohl hakten sich die Treiber sofort energisch ein. Allein die wild gewordenen Elefanten, welche von Chevauxlegers mit blanken Säbeln zurückgetrieben wurden, trabten durch ein Seitengäßchen, durchbrachen die Menschenwälle in der Brienner Straße und auf dem Odeonsplatz und riefen eine entsetzliche Panik hervor. Alles flüchtete schreiend in rasender Eile. Pferde rissen aus, selbst Gendarmerie und Militär hielt nicht mehr stand. Einige Elefanten verliefen sich in die Säulen des Residenztheaters und stürmten dann den Tempelzierbau vor dem Hoftheater, wo sie einige Gebirglerinnen zu Boden schmetterten. Die Elefanten waren an den Vorderbeinen gekettet, schienen aber die Ketten zerrissen zu haben. Mit Hilfe von Kavallerie wurden dann vier Elefanten heimgebracht. Eine
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weitere Panik wurde von pfeifenden Taschendieben hervorgerufen. Auf dem Marienplatz erfolgte allgemeine Flucht mit furchtbarer Aufregung. Die beispiellose Panik entstand durch vorzeitige Dampfgebung der als Drachen verwendeten Straßenlokomotive im Festzug, als gerade die acht Elefanten passierten. Im Nu waren Hunderte von Zuschauern am Boden; über diese stürzten die übrigen Flüchtigen. Die Elefanten rasten in zwei Gruppen auseinander und verbreiteten neue Panik in den angrenzenden Straßen. Zahlreiche Beinbrüche sind vorgekommen. Die am Residenzplatz an die Wand getriebenen Passanten hieben verzweifelt mit Regenschirmen auf die Elefanten ein und vermehrten dadurch deren Wildheit. Im Luitpold-Palais liegen fünfzehn Verwundete, im Odeon zahlreiche Schwerverletzte. Die Aufregung in der Stadt, wo etwa 150000 Fremde sich aufhalten, ist ungeheuer. Auf der Polizei ist eine Frau als tot gemeldet worden.« Carl Hagenbeck zur Elefantenkatastrophe (Münchener Allgemeine Zeitung vom 2. August 1888) »Seit drei Monaten fast ununterbrochen auf Reisen, bekam ich am letzten Donnerstag in London Avis von meinem Schwager Mehrmann, welcher mein Zirkusunternehmen leitet, daß der große nationale Festzug in
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München am 31. Juli d.J. stattfinden werde. Da ich großer Kunstliebhaber bin und gern außergewöhnlichen Festivitäten beiwohne, machte ich es möglich, trotzdem es mein Geschäft nicht zuließ, durch eine Reisetour, bei der ich drei Tage und drei Nächte unterwegs sein mußte, daß ich am 31. v.M. kurz vor neun Uhr mit dem Straßburger Schnellzuge hier eintraf. Da ich beabsichtigte, denselben Tag nach Hamburg zurückzureisen, so ließ ich mein Gepäck im Depot am Bahnhof und machte mich sofort auf den Weg, um meine Leute mit den Elefanten ausfindig zu machen, was mir auch gelang; gerade kurz vordem hatten dieselben sich zur Aufstellung im Festzug formiert. Ich fand alles in bester Ordnung vor, nur ließ ich dem einen Elefanten, welchem der hohe Sattel unbequem war, diesen abnehmen; dasselbe tat ich bei zwei anderen Elefanten, denen die Decken unbehaglich zu sein schienen. Der Zug, welcher sich allmählich in Bewegung setzte, verlief soweit aufs beste, und meine Tiere waren so ruhig wie Schafe. Beim Eintreffen vor der Hofloge stellten sich die Elefanten auf Kommando ihres Dresseurs in Reih und Glied und machten Honneurs. In einzelnen engen Straßen, wo Pausen stattfanden, wurden die Tiere mit Brot und Früchten förmlich bombardiert, so daß, wenn man dies mit irgendeinem anderen Tiere getan hätte, es jedenfalls nicht so
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ruhig geblieben wäre wie meine Elefanten. Die Tiere verhielten sich sozusagen musterhaft, bis wir dem zurückkehrenden Zuge bis zum Drachen entgegengekommen waren. Der Drache, welcher gerade stille stand, setzte sich plötzlich in Bewegung, trotzdem den Leuten vorher gesagt worden war, erst die Elefanten passieren zu lassen, sprühte seinen Dampf zwischen die hintersten Elefanten und brachte sie in einen solchen Schrecken, daß sie nach vorwärts stürzten. Ich warf mich gleich den vier letzten Elefanten entgegen, um sie zum Halten zu bringen, auch wäre mir dies mit Hilfe meiner Leute gelungen, wenn das Publikum sich ruhig verhalten hätte, aber das Geschrei machte die Tiere nur noch unruhiger, und sie stürzten vorwärts. Ein Glück war es, daß sie sich in zwei Abteilungen zu je vier Stück teilten. Meine vier Elefanten hatte ich viermal zum Stehen gebracht, doch das nachströmende Publikum, welches mit Stöcken, Schirmen, Messern usw. auf sie einhieb, jagte die Tiere stets wieder vorwärts die Straßen entlang. Nachdem die Elefanten aus dem Theater wieder herausgekommen waren, sprang ich mitten zwischen die beiden vordersten, welche mich fast platt drückten. Ich hielt indessen stand, brachte sie auch zum Stehen, und sprang in demselben Moment vor die Tiere hin; aber es dauerte nur wenige Sekunden, und das nachströmende Publikum scheuchte mit seinem Geschrei
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die Tiere von neuem. Ich folgte dann bis zum Tal, wo ich zusammenbrach. Die vier Tiere wurden von zweien meiner Leute in ein Haus getrieben und gefesselt. Nachdem ich mich im Tal Nr. 73 bei dem Bäckermeister, welcher mich freundlich aufnahm, erholt hatte, fuhr ich zum Zirkus, wo mir gesagt wurde, daß bereits vier Elefanten unterwegs seien, um nach dem Zirkus gebracht zu werden, wo sie denn auch bald eintrafen.« Tagelang boten die Vorkommnisse dieser Elefantenpanik den heimischen Journalisten und Korrespondenten der Nachrichtenbüros willkommenen Stoff für Tatarenmeldungen, die in vielen Fällen den Tatsachen weit vorauseilten. Als sich die Gemüter wieder beruhigt hatten und die meisten der von den »rasenden Dschungelungeheuern Zermalmten« wieder g'sund bei Bier und Rettich saßen, griff der Münchener Berichterstatter Dr. Friedrich Trefz nochmals resümierend zur Feder. Er hatte auf der Tribüne am Odeonsplatz neben dem Denkmal König Ludwigs I. gesessen und brach eine Lanze für – meine unschuldigen Elefanten! Auszugsweise gebe ich nachstehend die Schilderung der köstlichen Episode. Sie ist betitelt: Der Elefant im Hofbräuhaus »... Dann erblickten wir acht der prächtig geschmückten Rüsseltiere, die, geführt von Herrn Carl
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Hagenbeck, den orientalischen Handel darstellten. Es war vorgesehen, daß der Festzug die Ludwigstraße, diese breite Prachtstraße Münchens, bis zum Siegestor ziehen, dort umkehren und so an sich wieder vorüberziehen sollte, damit auch die Teilnehmer des Zuges die einzelnen Gruppen und Festwagen sehen könnten. Dies wurde zum Verhängnis. Man führte nämlich auch in einer Gruppe einen Riesendrachen mit, der von Zeit zu Zeit aus seinen Nüstern Feuer sprühte. Auf diesem feurigen Ungetüm saß ein kleines Kind, das den Drachen an einem dünnen Faden leitete, ein Symbol für die Herrschaft des Menschen über die Naturkräfte. Nun geschah es, daß gerade in dem Augenblick, als der Drachenwagen an der Hagenbeckschen Elefantengruppe vorbeifuhr, der im Inneren des Drachens befindliche Mechaniker wieder einen Feuerregen aussprühen ließ. Da fuhr der Schrecken in die an sich gutmütigen Dickhäuter. Sie scheuten und entrissen ihren Führern, die an ihrer Seite schritten, die Zügel und trabten ledig aller Fesseln durch die Straßen. Bevor ich noch auf meiner Tribüne die Elefanten selbst sehen konnte, drängten sich schon weinend und schreiend Frauen und Mädchen heran und flehten, wir möchten sie schnell heraufziehen, was wir nach Möglichkeit auch taten. Da kamen aber auch schon die riesigen Tiere angeschnaubt. Das Geschrei der Menge war geradezu betäubend. Die Elefanten ra-
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sten an der Tribüne vorbei und nahmen ihren Weg durch die dichtgedrängten Menschenmassen zum Nationaltheater, auf dessen Stufen die Leute Kopf an Kopf standen. Tragikomische Szenen ereigneten sich. Ein Münchener Kommerzienrat kletterte, als die Panik losbrach, auf den Drachen und umklammerte seinen Hals. Ein Herr im Zylinder, geschmückt mit der weißblauen Schleife des Festordners, versuchte einen Elefanten am Schwanz festzuhalten. Die gutmütigen Riesentiere gaben sich trotz ihrer Aufregung alle Mühe, niemanden zu verletzen, und alles, was sich später ereignete, war nur der Kopflosigkeit der Menge und der wüsten Panik zuzuschreiben. In wilder Hast floh die nach Tausenden zählende Menge durch die Straßen, ohne auf die stürzenden Kinder Rücksicht zu nehmen. Zunächst hatte der größte Teil gar keine Ahnung, um was es sich eigentlich handelte. Da tauchten plötzlich die Elefanten auf, und nun kannte der Tumult keine Grenzen. Man versuchte sich auf Mauern zu schwingen. Manchen gelang es, die meisten fielen über- und durcheinander. Die auf dem Boden Liegenden wurden teils von den Menschen, teils von den Elefanten zertreten. Andere wurden gegen die Häuserwände gedrückt. Das Angstgeschrei war herzzerreißend und die Verwirrung unbeschreiblich. Hagenbeck, der zwischen zwei Elefanten als Hauptführer ging und die
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Tiere mit aller Kraft halten wollte, wurde von ihnen so gedrückt, daß er ohnmächtig zusammenbrach. Sehr verhängnisvoll war das Benehmen eines berittenen Gendarmen, der vor den Elefanten hersprengte und den Leuten zuschrie: ›Die Elefanten kommen, rettet euch!‹ Der Mann hat es sicher gut gemeint, aber es war das Dümmste, was er hatte tun können. Ein Augenzeuge, der die Vorgänge von einem Fenster des Rathauses beobachtete, sah, wie die bis dahin ruhigen Menschen im Augenblick hingemäht wurden und mit lautem Wehgeschrei übereinanderstürzten. Ein Glück war es, daß die im Zuge befindlichen Militärmusiker so geistesgegenwärtig waren, trotz des Vorfalles weiterzuspielen, was seine beruhigende Wirkung nicht verfehlte. Merkwürdigerweise wurde der Zug sogar an manchen Stellen überhaupt nicht unterbrochen und setzte ahnungslos seinen Marsch fort. Inzwischen nahm der Tumult an anderen Stellen seinen Fortgang. Ein dicker Herr, der infolge seiner Korpulenz sich nicht flink genug bewegen konnte, wurde von einem Elefanten derartig auf die Hühneraugen getreten, daß er zusammenbrach und weggetragen werden mußte. Anderen Leuten wurden Arme und Rippen gebrochen. Die mitgebrachten Stühle, Bänke und Leitern bildeten umstürzend überall Hindernisse für die Fliehenden. Der ganze Odeonsplatz war besät mit Stöcken, Hüten, Taschen und Kleidungsstücken.
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Mancherorts bildeten sich ganze Wälle aus Wagen, Bänken und anderen Sitzgelegenheiten. Schon bald zu Beginn des Unglücks hatte man vier Elefanten wieder beruhigt. Die übrigen vier begannen jedoch eine lange Wanderung durch die Stadt. Ein Dickhäuter interessierte sich besonders für den alten Turnierhof, der in der kurfürstlichen Zeit schon so manches merkwürdige Schauspiel gesehen hatte. Er zertrümmerte das Tor und drang in den Hof ein, worauf die entsetzten Bewohner sich auf die Dächer flüchteten. Zwei andere Tiere warfen in ihrer Angst eine Droschke um und landeten schließlich auf einem Bauplatz, wo sie trotz der vereinten Bemühungen der alarmierten Feuerwehr und einer Kavallerieabteilung stundenlang nicht von der Stelle zu bewegen waren. Der vierte Elefant brach durch den morschen Fußboden eines Milchladens und fiel in den Keller. Eine Frau glaubte, sich durch Aufspannen ihres Regenschirmes vor den Tieren schützen zu können, machte sie dadurch aber nur noch scheuer. Ein unerschrockener Soldat vom Leibregiment vermutete der Sache zu nützen, als er den Elefanten mit seinem Seitengewehr in den Rüssel stach. Auch ein so gutmütiges Tier wird dadurch aufgebracht. Es packte den Soldaten und schleuderte ihn, ohne ihn zu verletzen, in hohem Bogen in die flüchtende Menschenmenge. Es war ein grober Fehler, die an sich nur erschrok-
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kenen Tiere noch zu schlagen. Hätte man sie ruhig laufen lassen und ihnen einen Weg gebahnt, so wäre vermutlich kein Mensch verletzt worden. Manches Ereignis entbehrte nicht einer gewissen Komik. Einer der flüchtenden Dickhäuter kam auch zum Platzl, dem bei Einheimischen und Fremden berühmten Mittelpunkt Alt-Münchens, und begab sich direkt ins Hofbräuhaus, dessen Stammgästen der Rettich im Halse steckenblieb, als der riesige Gast eintretend das Tor verdunkelte. Geradenwegs ins Billardzimmer schritt der Neuankömmling, in dem zwar nie ein Billard gestanden hat, aber stets der Rahmerlmann, der Flinserlsepp, das Lokomotiverl, der berühmte Zeitungshändler mit dem langen Bart und andere Originale der damaligen Zeit hinter ihrem Maßkrug saßen. Sie taten dem Elefanten nichts, und der Elefant tat der sprachlosen Stammtischrunde nichts. Erst am späten Nachmittag gelang es den Hagenbeckschen Wärtern, alle Tiere wieder einzufangen. Bei allem Schrecken verfuhren eigentlich die Elefanten noch glimpflich mit dem Publikum. Trotzdem waren viele Tote und Verletzte zu beklagen, und bei der Polizei wurden über 140 vermißte Kinder angemeldet. Nach der Katastrophe hörte man vielfach sagen: ›Am vernünftigsten haben sich eigentlich die Elefanten benommen.‹«1
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Fußnoten 1 Hagenbeck ist in der vorstehenden Darstellung zweifellos um eine gewisse Schönfärberei bemüht. Allseits unbestritten ist zwar, daß die Hauptschuld an den Vorkommnissen das zur unrechten Zeit einsetzende Pfeifen und Zischen des Dampfdrachens gewesen ist, das, wie ein Bericht der »Allgemeinen Zeitung« damals bemerkt, auch das zahmste Haustier scheu zu machen geeignet war. Und es mag sicherlich auch zutreffen, daß im ganzen die Dickhäuter sich vernünftiger als die Menschen benommen haben. Aber es wurde damals in der Presse immerhin auch die Feststellung gemacht, daß die Fesselung der Elefanten mangelhaft gewesen sei. Die Zahl der Opfer war nicht gering. Der Polizeibericht stellt fest, daß die Panik zwei Todesfälle, drei schwerere und elf leichtere Verletzungen zur Folge hatte. Der bittere Ernst der Angelegenheit kommt also bei Hagenbeck – man kann nicht umhin, das festzustellen – nicht voll zum Ausdruck!
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IX Erlebnisse mit Riesenschlangen und Krokodilen Als Mowgli, der Held der berühmten Dschungelgeschichten Rudyard Kiplings, in jenem unterirdischen Gelasse zwischen versunkenen Schätzen der dort hausenden uralten Klapperschlange gegenübersteht, sagt er, er wünsche mit dem poison people, mit dem giftigen Volk, nichts zu tun zu haben. Mowgli ist die Stimme der Natur. Tiere und Menschen meiden das giftige Volk der Schlangen und übertragen ihre Scheu auch auf diejenigen Arten, die nicht giftig sind. Die Schlange steht etwas abseits der Schöpfung. Kein geistiges Band verbindet sie mit den übrigen Kreaturen. Sie begegnet nur Feinden oder Flüchtigen, keinen Freunden. Als im Sommer 1874 in meiner Handelstierschau eine Riesenschlange sich befreite, gerieten sämtliche Tiere in die größte Aufregung. Es war ein ziemlich schwaches Exemplar der Python sebae aus Afrika, der ich in einem Bottich ein warmes Bad bereitet hatte. Dieser war mit einer Klappe versehen und wurde überdies noch mit einer Decke zugedeckt. Als ich alles wohl verwahrt hatte, begab ich mich in mein Büro, um schriftliche Arbeiten zu erledigen. Aus dieser Arbeit wurde ich nach zwei Stunden durch die Schreckensbotschaft aufgescheucht, daß die Schlange
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aus ihrer Badewanne entwichen sei und nun auf den Käfigen der Affen und Papageien herumkrieche. Ich stürzte nach dem Raubtierhaus und fand dort unter den Tieren einen wahren Tumult. Alle, ohne Ausnahme, befanden sich in einer furchtbaren Aufregung und hatten, soweit sie das Reptil sehen konnten, nur Augen für dieses. Wie besessen sprangen die Raubtiere in ihren Käfigen umher und schlugen unter Fauchen und Brüllen gegen die Gitter. Die Affen und Papageien kreischten aus Leibeskräften – es war ein Höllenskandal. Keines der Tiere wollte etwas mit der Schlange zu tun haben. Die Schlange wieder einzufangen, war keine leichte Arbeit. Übergeworfene Dekken nützten nichts. Das Tier war in dem warmen Bad so lebhaft geworden, daß die Schnelligkeit ihrer Bewegungen all unserer Mühe spottete. Mit dem Ketscher, mit dem ich vorzüglich umzugehen verstand und den ich benutzte, Affen und kleinere Raubtiere aus ihren Kästen herauszuholen, gelang es mir, den Schlangenkopf zu erfassen. Ich packte sie hinter dem Genick und brachte sie mit einiger Hilfe wieder in ihren sicheren Kasten. Die Scheu, welche die Tiere an den Tag legten, ist berechtigt. Im Umgang mit wilden Tieren erfordert der Verkehr mit Schlangen die größte Vorsicht. Bei den Giftschlangen versteht sich dies von selbst, und die nichtgiftigen Arten verfügen über lebensgefährli-
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che Muskelkräfte. Alle sind in gereiztem Zustand überaus angriffslustig und bissig, und kein Tier hat mich schon so oft in Lebensgefahr gebracht wie gerade die Schlangen. Tausende sind durch meine Hände gegangen, und ich habe ihren Charakter, ihre Gewohnheiten und ihr Leben genau kennengelernt. Wahre Ringkämpfe habe ich zuzeiten mit großen Exemplaren ausgefochten und bin auf Grund persönlicher Erfahrung völlig davon überzeugt, daß eine Schlange von achtzehn bis zwanzig Fuß Länge einen Menschen in kürzester Zeit totdrückt. Nach dem, was ich gefangene Schlangen verschlingen sah, zweifle ich nicht daran, daß eine erwachsene Borneo-Pythonschlange ganz gut einen Menschen von hundert bis hundertfünfundzwanzig Pfund Gewicht herunterwürgen kann. Über die Freßgier der Riesenschlangen ist allerdings viel gefabelt worden. Vor Jahren wurde mir eine Zeitungsnotiz zugesandt, ein wahres Muster »exakter« naturwissenschaftlicher Berichterstattung. Die Notiz lautete: »Ein Pferd von einer Schlange verschlungen. Was eine Boa constrictor alles verschlingen kann, darüber berichtet Mr. Gardner eine erstaunliche Tatsache in seinen ›Reisen durch Brasilien‹. Die Boa kommt in der ganzen Provinz Goyaz häufig vor und findet sich besonders an den bewaldeten Ufern der Seen, Sümpfe und Ströme. Manchmal, so erzählt der Verfasser, er-
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reichen die Riesenschlangen die ungeheure Länge von vierzig Fuß. Die größte, die ich jemals sah, fand sich an dieser Stelle. Aber sie lebte nicht mehr. Einige Wochen vor unserer Ankunft in Capé konnte man das Lieblingspferd von Señor Lagoeira nicht finden, obgleich es auf der Weide nicht weit vom Haus gewesen war. Bald darauf fand man im Walde in der Gabelung eines Baumes, dessen Zweige sehr zum Wasser herabneigten, diese tote Riesenschlange. Sie war augenscheinlich lebend von der letzten Flut erfaßt worden, und da sie sich in einem Erschlaffungszustand befand, war sie ertrunken. Sie wurde von zwei Pferden aufs freie Land gezogen und maß siebenunddreißig Fuß. Als man sie öffnete, fand man die zerbrochenen Knochen eines Pferdes und das halbverdaute Fleisch. Die Kopfknochen waren unbeschädigt, woraus man schloß, daß die Boa das ganze Reitpferd verschlungen hatte.« – Gut gebrüllt, Löwe! Man braucht sich übrigens nicht in das Gebiet des Jägerlateins zu verlieren, die Tatsachen, die von der Kraft und der Freßlust der großen Schlangen zu berichten sind, genügen völlig. Es ist noch nicht lange her, da ließ ich ein rachitisches und deshalb wertloses chinesisches Zwergschwein töten und in einen Kasten werfen, in welchem sich zwei große Borneo-Riesenschlangen befanden. Das Schwein wog annähernd fünfzig Pfund und war eindreiviertel Stunden später
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bereits von einer dieser Schlangen verschlungen. Ich beschloß, diese Fütterungsversuche fortzusetzen, sobald geeignete Tiere in unserem Garten zugrunde gingen. Zunächst kamen zwei junge Nilgau-Antilopen in Betracht, die während der Nacht von einer Schlange gefressen wurden, obwohl jede etwa zwanzig Pfund wog. Kurz darauf konnte ich sogar beobachten, wie eine Schlange von fünfundzwanzig Fuß Länge einen Ziegenbock von achtundzwanzig Pfund verschlang. Dies schien ihr aber noch nicht genug zu sein, denn als ich ihr wenige Stunden später einen neununddreißig Pfund schweren Bock vorwerfen ließ, der von drei anderen Schlangen verschmäht worden war, packte sie auch diesen und hatte ihn innerhalb einer halben Stunde gefressen. Es sollte aber noch besser kommen! Als acht Tage später eine ausgewachsene sibirische Steinziege verendet war, die vierundsiebzig Pfund wog, ließ ich ihr die Hörner abhauen und warf den Kadaver der Schlange vor. Der Wärter meinte, daß ein so großes Tier doch wohl kaum von einer Schlange heruntergewürgt werden könne, und im stillen war ich der gleichen Ansicht. Aber schon nach einer Stunde, als ich mich gespannt ins Reptilienhaus begab, fand ich zu meinem größten Erstaunen, daß dieselbe Freßkünstlerin bereits daran war, diese dritte und diesmal ausgewachsene Ziege zu verschlingen. Der Kopf war be-
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reits im Rachen des Untieres verschwunden. Ich sandte sofort nach einem Photographen, um eine Blitzlichtaufnahme des interessanten Schauspiels machen zu lassen. Das Würgen verursachte dem Tiere sichtlich große Arbeit. Die Schlange stöhnte von Zeit zu Zeit ganz vernehmlich, ein Umstand, der mir ebenfalls neu war. Als nur noch die Hinterkeulen der Ziege aus dem Schlangenrachen hervorsahen, ließ ich die Aufnahme machen. Erschrocken durch das Blitzlicht, würgte die Schlange das Opfer, zu dessen Verschlingung sie fast zwei Stunden gebraucht hatte, innerhalb von dreißig Sekunden wieder aus. Um die Muskelkraft einer Riesenschlange zu untersuchen, ließ ich am nächsten Tage die wieder herausgewürgte Ziege sezieren. Und nun fand es sich, daß das Genick der Ziege vollständig aus dem Gelenk gedreht war. Sämtliche Knochen, sogar alle Rippen waren aus den Wirbeln herausgepreßt. Man kann sich hiernach ein ungefähres Bild von der ungeheuren Muskelkraft großer Schlangen machen. Lebende Tiere tötet die Schlange sehr schnell. Sie greift stets nach dem Kopf. Mit Blitzesschnelle ist der obere Teil ihres Körpers um das Opfer gewunden, dem sie das Genick aus den Gelenken reißt. Das Würgen beginnt erst, wenn das Tier tot ist. Die Riesenschlange hält das Opfer so lange umschlungen, bis sie keinerlei Bewegung ihrer Beute mehr spürt, dann erst
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geht sie daran, das Opfer zu verschlucken. Sind es größere Tiere, so läßt die Schlange den Fraß zunächst gänzlich los und macht den Kopf der Beute durch Speichel schlüpfrig, damit er besser gleitet. Bei dem Würgen dehnt sich der Unterkiefer wie ein Gummisack. Während das Tier schlingt, hat es die Nahrung mit dem Schwanzende von hinten umschlungen und schiebt die Beute langsam in den Rachen hinein, indem es Ober- und Unterkiefer hin und her bewegt. Dann und wann tritt eine Erholungspause bis zu zwölf Minuten ein. Dennoch verzehrte eine andere Schlange später sogar eine vierundachtzigpfündige Ziege in nur etwa eineinhalb Stunden. Sieht man die großen dicken Riesenschlangen still in der Wärme ihrer gläsernen Käfige liegen, so ahnt man nicht, welcher Kraft, Gewandtheit und Schnelligkeit diese Tiere fähig sind. Viele Hunderte von Riesenschlangen aller Arten sind im wirklichen Sinne des Wortes durch meine Hände gegangen, wobei ich unzählige Male gebissen wurde. Der Biß der Riesenschlange ist nicht gefährlich. Jedenfalls mache ich mir nicht viel daraus. Gewöhnlich bleiben von den nadelscharfen Zähnen einige in den Wunden sitzen, sie müssen natürlich sofort herausgezogen werden. Als sich einer meiner Kunden einmal selbst eine Schlange aussuchen wollte und sie ungeschickt anfaßte, biß sie ihn so heftig in die Hand, daß ich genug zu tun hatte,
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den Mann aus seiner gefährlichen Situation zu befreien. Die steckengebliebenen Zähne zog ich sofort selbst heraus und behandelte die Wunde. Da der Gebissene die Sache aber hinterher auf die leichte Achsel nahm, mußte er sich in ärztliche Behandlung begeben und war wochenlang unfähig, die gebissene Hand zu gebrauchen. Viel gefährlicher als der Rachen sind die Muskelringe der Riesenschlangen. Nur meiner Kaltblütigkeit und, ich darf wohl sagen, auch meiner Gewandtheit habe ich es zu verdanken, daß ich aus vielen kritischen Episoden mit Schlangen lebend davongekommen bin. Einen der gefährlichsten Kämpfe focht ich in den neunziger Jahren aus, als ich mit Hilfe eines Wärters vier dunkle Pythonschlangen, jede fünfzehn bis achtzehn Fuß lang, von einem Kasten in den anderen beförderte. Ich hatte mich, wie immer zu diesem Geschäft, mit einer großen Wolldecke bewaffnet, als Schutz für das Gesicht, denn stets wählen die Schlangen den Kopf als Hauptangriffspunkt. Zwei Tiere hatte ich bereits ohne große Mühe hinübergebracht. Als ich aber mit der dritten Schlange beschäftigt war, fuhr die vierte wie der Blitz mit offenem Rachen auf mich los, daß ich ernstlich verwundet worden wäre, hätte ich nicht meinen weichen Filzhut vom Kopf gerissen und dem wütenden Tier entgegengeschleudert. Als sich die Schlange in den Hut verbissen hatte,
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packte ich sie mit der anderen Hand im Genick und gab dem Wärter hastig den Befehl, mir mit dem Ketscher zur Hilfe zu kommen. Der Mann stellte sich in der Erregung etwas ungeschickt an, war nicht schnell genug, und schon hatte die Riesenschlange ihr Schwanzende um mein rechtes Bein geschlungen und versuchte mich mit aller Kraft von unten herauf zu umringeln. Ich wehrte mich verzweifelt. Hätte die Schlange meinen Oberkörper erreicht, so wäre es um mich geschehen gewesen. Plötzlich sah ich auf dem Boden das äußerste Ende des Schwanzes, auf den ich mit dem linken Absatz so kräftig trat, daß die Schlange aus Schmerz oder Schreck mich sofort losließ. Zwar fuhr sie blitzschnell wieder auf mich zu, doch jetzt war ich gewappnet. Ich parierte den Angriff mit der Wolldecke, in die ich das Reptil verwickelte, so daß ich es glücklich in den Kasten brachte. Die andere Schlange hatte sich während dieser Episode zum Glück ruhig aufgeringelt und sah aus geschlitzten Augen dem Kampf als neutrale Macht zu. Einem noch ernsteren Kampf, der die ganze Wildheit dieser Bestie entfesselte, fiel im Frühsommer 1904 beinahe mein ältester Sohn Heinrich zum Opfer. Eine große Riesenschlange griff ihn an. Er aber packte auch die Schlange, die sich um ihn zu schlingen versuchte. Wer diesen ungleichen Kampf gewonnen hätte, ist unschwer zu erraten, wenn nicht sofortige
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Hilfe zur Stelle gewesen wäre. Heinrich, ein Wärter und ich kämpften ähnlich der bekannten LaokoonGruppe minutenlang unter Aufbietung aller Kräfte gegen das Ungeheuer. Plötzlich packte die Schlange mit dem frei gewordenen Schwanze das rechte Bein Heinrichs und wand sich dabei unaufhaltsam höher und höher herauf. Ein Ringen auf Leben und Tod fand statt, und erst nach höchster Anspannung gelang es uns mit Hilfe meines Inspektors, das Tier in einen Sack hineinzupressen. Sechsundzwanzig Fuß maß die Bestie und wog über zweihundert Pfund! Die Geschicklichkeit in dem Umgang mit diesen gefährlichen Reptilien baut sich auf eine lange und mannigfache Erfahrung auf. Dem mühsam errungenen Wissen ging ein Tasten und Experimentieren vorauf, zuweilen mit glücklichem Abschluß, zuweilen auch nicht. So brachte Anfang der siebziger Jahre ein Kapitän aus Brasilien zwei Boa constrictor nach Hamburg. Als ich an Bord kam, teilte mir der Steward gleich mit, daß die Schlangen leblos in ihren Kästen lägen, sie seien gewiß tot. Rätselhaft war der Zustand der Tiere keineswegs. Es war Mitte Dezember, und man hatte die Schlangen ohne Schutz in dem eiskalten Raum stehenlassen. Sie waren einfach erstarrt. Der Kapitän, der inzwischen hinzugetreten war, gab dem Steward schon die Weisung, die Tiere über Bord zu werfen. Als ich mich erbot, zu versuchen, die Schlan-
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gen ins Leben zurückzurufen, gab der Seemann lachend seine Zustimmung. Ich wickelte meine leblosen Reptilien in eine Wolldecke, gabelte schleunigst eine Droschke auf und fuhr nach dem Spielbudenplatz, wo wir damals wohnten. Auch mein Vater lachte und meinte, wenn du es fertigbringst, diese Schlangen wieder lebendig zu machen, dann hast du Wunderdinge geleistet. Ich ließ meine Schlangen einfach vor dem Ofen liegen, der im Vogelladen stand. Nach einer Stunde kündigte ein furchtbarer Aufruhr unter den Vögeln an, daß sich etwas Außergewöhnliches ereignet hatte. Wahrhaftig, der Ofenplatz war leer, und das Geschrei der Vögel ließ mich leicht die Stelle entdekken, wo meine »toten Schlangen« ganz gemütlich spazierenkrochen. Merkwürdig, wie manchmal der Zufall spielt! Als ich noch bei der Schlangenjagd war, öffnete sich die Tür, und Vater Kreutzberg, der alte Tierschaubesitzer, gerade von Rußland kommend, trat ein. Sofort beteiligte er sich an der Jagd, und als wir die Ausreißer wieder eingefangen hatten, erzählte er mir lachend, daß er gerade gekommen sei, um Schlangen zu kaufen. Er legte mir achtzig gute preußische Taler auf den Tisch, und nun stand zwei Leuten noch eine Überraschung bevor, meinem Vater und dem Kapitän, dem ich am nächsten Morgen die Hälfte des Erlöses vor seinen ungläubigen Augen auf den Kajütentisch legte.
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Später erwies es sich als nichts Seltenes, daß erstarrte Schlangen ankamen. Nur hatte ich nicht immer das gleiche Glück mit der Wiederbelebung. Den schlimmsten Fall erlebte ich im Jahre 1883. In England hatte ich 163 Riesenschlangen gekauft, die einen Wert von über 1000 Pfund Sterling repräsentierten. Auf der Überfahrt geriet das Schiff nach zwei Reisetagen in einen schweren Nordoststurm und mußte nach London zurückdampfen, da die Kohlen auszugehen drohten. Bei Gravesend bunkerte der Dampfer und begab sich wieder auf die Reise nach Hamburg. So mußten meine an tropische Wärme gewöhnten Schlangen sieben Tage in der kalten Nordsee verbringen. Starr und leblos kamen sie in Hamburg an, und alle Hausmittel versagten diesmal ihren Dienst. Das ganze für diese Schlangen angelegte Geld war verloren, eigentlich der doppelte Betrag, denn die Tiere waren bereits nach den USA um einen entsprechenden Preis fest verkauft. Unter diesen Umständen war meine Trauer um die Toten, das wird man mir glauben, echt. Bei meinem ersten Zusammenstoß mit dem »giftigen Volk« spielten Puffottern die Hauptrolle. Sie kamen in den sechziger Jahren in einem großen flachen, oben mit Draht überzogenen und mit Brettern vernagelten Kasten ins Haus. Da die Tiere in diesem Kasten nicht bleiben konnten, so zimmerte ich mir
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einen praktischen zurecht. Die zu lösende Schwierigkeit bestand nun in dem Umquartieren der gefährlichen Schlangen, mit deren Lebensgewohnheiten ich damals noch nicht recht bekannt war. In der Meinung, ich könne einfach die Schlangen von einem Kasten in den andern schütten, löste ich ein Brettchen, bog das darunter befindliche Drahtgeflecht zurück – und nun schüttelte ich eben. Mit Blitzesschnelle schossen die Tiere mit den Köpfen nach der Öffnung, glitten aber nicht hinüber in den neuen Kasten, sondern wandten sich seitwärts und wären mir beinahe entwischt. Noch heute fährt mir ein Schreck durch die Glieder, wenn ich an diese Situation zurückdenke. Schnell entschlossen schüttete ich sie in ihren alten Behälter zurück, dessen Öffnung ich mit dem neuen Kasten verschloß. Später schnitt ich mit einer spitzen Säge ein viereckiges Loch in den Schlangenkasten, etwa drei Zoll im Quadrat, und gegen dieses Loch stellte ich die mit einem Schieber versehene Öffnung des neuen Käfigs. Vom alten nahm ich die Bretter herunter, so daß das Tageslicht durch die Drahtmaschen in den Kasten fiel. Ich wußte nämlich so viel, daß Schlangen sich gerne ins Dunkle zurückziehen, und dies bestätigte sich, denn in kaum einer Stunde waren sämtliche Puffottern, acht an der Zahl, in den neuen Kasten hinübergeschlüpft, den ich nun ganz einfach mit der Schiebetür verschloß.
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Seit jener Zeit hatte ich eine heillose Achtung vor Giftschlangen. Trotz aller Vorsicht wäre ich aber dennoch durch Klapperschlangen beinahe ums Leben gekommen. An einem Sommertag des Jahres 1898, als ich – soeben von der Reise zurück – das Reptilienhaus inspizierte, fiel mir ein starker Fäulnisgeruch auf, und beim Nachsuchen fand ich in einem der großen Schlangenkäfige einen verdrahteten Karton, in welchem sich unter mehreren lebenden Klapperschlangen auch zwei tote, bereits in Fäulnis übergegangene, befanden. Diese Kadaver mußten sofort entfernt werden. Ich nahm den Kasten vor und versuchte von der Seite aus, wo eine kleine Schiebetür angebracht war, mit einem aus starkem Draht zurechtgebogenen Haken die toten Tiere herauszuholen. Zu diesem Zweck mußte ich mich mit dem Gesicht über den Kasten beugen, während ich mit der linken Hand unten den Haken einführte. Auf diese Weise gelang es mir schnell, zunächst einen der Kadaver zu packen und langsam herauszuziehen. Der zweite war schwieriger zu erreichen, er lag unter zwei lebenden Exemplaren. Mir blieb nichts übrig, als die Schlangen aufzustöbern, und das nahmen beide ungeheuer übel, besonders die größere. Als ich gerade mit dem Gesicht dicht oberhalb des Gitters liege, um besser sehen zu können, und mich dabei mit dem rechten Arm gegen das blendende Licht der Sonne schütze, fährt die
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Schlange unvermutet und schnell wie der Blitz mit weit offenem Rachen in das Gitter hinein. Zwar schnellte ich erschrocken zurück und wartete ein wenig, bis das Tier sich beruhigt hatte, nahm dann aber ahnungslos meine Arbeit wie der auf, die ich nun ohne Zwischenfall zu Ende führte. Erst am nächsten Morgen wurde mir bekannt, welcher furchtbaren Gefahr ich entronnen war und daß der Tod dicht neben mir gestanden hatte. Als ich mich ankleidete, machte meine Frau mich auf eine Reihe von Flecken am rechten Rockärmel aufmerksam, die sie für Schmutzflecke hielt. Ein einziger Blick auf die vermeintlichen Flekken machte mich im tiefsten Innern erschauern. Es waren lauter kleine, feine, grünlich schillernde Kristalle. Die Schlange hatte bei dem Biß ins Gitter ihr ganzes Gift nach meinem Gesicht gespritzt, und nur durch den Umstand, daß der vorgehaltene Arm eine Schutzwand bildete, war ich dem Verderben entgangen. Vom Aufenthalt im Freien hatte ich an vielen Stellen eine rauhe aufgesprungene Haut. Hätte das Gift freien Zutritt in die Blutbahn gefunden, so würde ich elend zugrunde gegangen sein. Ich habe beobachtet, daß Meerschweinchen und weiße Ratten innerhalb einer Minute nach dem Biß verendet waren. Allerdings erlebte ich den Fall, daß eine Klapperschlange der Ratte unterlag, die ich ihr als Futter vorgeworfen hatte. Unser Erstaunen war groß, als wir die
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große Klapperschlange am Morgen mit durchbissenem Genick auffanden, während die Ratte ganz gemütlich in einer Käfigecke saß und von dem Fleische ihres erlegten Feindes speiste. Schade, daß keine Zeugen bei diesem interessanten Kampfe zugegen waren. Bei allem Respekt vor der mutigen Ratte hüteten wir uns aber doch, noch einmal wildgefangene Ratten als Schlangenfutter zu verwenden. Kämpfe von Schlangen untereinander sind nicht selten. Sie streiten sich um die Beute, und es kommt vor, daß im Verlaufe dieses Streites die kleinere von der größeren Schlange mitsamt der strittigen Beute aufgefressen wird. Alle Schlangen sind von einer dummen, fast automatischen Gefräßigkeit. Ich fütterte einmal eine Schlange mit einem Kaninchen und deckte die in einem mit Wärmflaschen geheizten Käfig gehaltene Boa constrictor für die Nacht wie üblich mit einer Wolldecke zu. Was geschah? Die Schlange begann während der Nacht die Wolldecke hinabzuwürgen, vermochte das Knäuel aber nur zur Hälfte zu zwingen. Am nächsten Morgen fand ich das Tier erstickt vor. Einen ähnlichen dummen Unglücksfall habe ich nicht wieder erlebt, wohl aber, daß eine Schlange die andere auffraß und daß heftige, sogar wilde Kämpfe um die Beute stattfanden. Einmal packten zwei Pythonschlangen von neun und sieben Fuß Länge
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gleichzeitig ein Kaninchen. Beim Verschlucken haben dann beide, die eine am Kopf und die andere am Hinterteil, das Kaninchen hinabwürgen wollen, wobei die größere Schlange die kleinere mit erwischte und verschluckte. Am nächsten Morgen konnte man genau sehen, wie die kleinere Schlange der Länge nach in dem Körper der großen lag. Vier Riesenschlangen von bedeutender Größe stürzten ein andermal aufeinander los, um im Streit über ein totes Kaninchen einen Ringkampf aufzuführen, der jeder Beschreibung spottete. Im Nu waren drei der Bestien zu einem unentwirrbaren Knäuel geworden, der sich wild im Käfig hin und her wälzte. Als der Kopf einer dieser Schlangen in den Rachen einer anderen geriet, versuchte ich, die Kämpfenden zu trennen. Sofort fuhren alle mit geöffneten Rachen auf mich los, und ich mußte den Dingen ihren Lauf lassen. Nach einem dreistündigen Kampfe ließen die ermatteten Tiere voneinander ab. Auf diesen Moment schien das kleinste der Reptile, das dem Kampf untätig zugesehen hatte, nur gewartet zu haben, denn es wagte sich aus seiner Ecke hervor und machte sich über das Kaninchen her. Schon hatte die Schlange ihr Opfer zu würgen angefangen, als aufs neue eine Rivalin heranschoß, ihr den Schwanz einige Male um den Hals schlang und so furchtbar drückte, daß sie nicht nur das Kaninchen losließ, sondern total kampfunfä-
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hig wurde. Mit ihren Ringen hielt die große Schlange die kleinere umklammert und fraß das Kaninchen auf. Als sie damit fertig war, ließ sie die kleinere Gegnerin los, die sich nun wutentbrannt mit einer blitzschnellen Bewegung um ihre Peinigerin ringelte und sie mit Aufbietung solcher Kraft preßte, daß das große Tier stöhnende Laute hören ließ. Sofort waren alle vier Tiere wieder in einen wirren Kampf verwickelt, der volle elf Stunden andauerte. Ein so hart näckiger Schlangenkampf war bei den großen indischen Pythons, welche zu den größten Riesenschlangen gehören, bis dahin im Tierpark noch nicht beobachtet worden. Ich war darauf gefaßt, am nächsten Morgen ein paar Leichen zu finden – aber keine Spur, jeder der vier Raufbolde lag zusammengeringelt friedlich in seiner Ecke. Dennoch sind diese Kämpfe zahm im Vergleich mit denjenigen der großen Borneo-Riesenschlangen, die sich nicht mit der Umschlingung des Gegners begnügen, sondern sich mit ihren messerscharfen Gebissen wie Hunde ineinander festbeißen. Die Eifersucht um eine Beute stachelt sie zu maßloser Wut an. Ich entsinne mich eines Falles, wo eine größere Schlange die kleinere in den Nacken biß, sich dann mit dem Körper um den üppigen Leib des Tieres ringelte und ihrem Opfer mit einem Ruck ein großes Stück Fleisch aus dem Halse riß. Was diese Kraftleistung bedeutet,
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kann nur derjenige ermessen, der über die ungeheure Zähigkeit der Haut einer großen Schlange unterrichtet ist. Die furchtbare Verwundung geschah, ehe ich die Tiere auseinanderbringen konnte. Als ich mit einem spitzen Stock das Ungeheuer bearbeitete, war der Unfall bereits geschehen. Noch an demselben Tage habe ich die verletzte Schlange photographieren lassen, um eine Abbildung der kolossalen Bißwunde aufbewahren zu können. Das verwundete Tier ging innerhalb weniger Tage ein. Ähnliche Kämpfe konnte ich in den letzten Jahren in meinem Stellinger Tierpark, über dessen Aufbau ich abschließend noch berichten werde, häufig beobachten. Es liegt auf der Hand, daß bei der Art und dem Umfang des Fraßes die Kräfte, die für den Stoffwechsel sorgen, ganz besonders sein müssen. Das Interessanteste, was ich in dieser Hinsicht erlebt habe, beobachtete ich an einer indischen Pythonschlange von nur vierzehn Fuß Länge, die innerhalb von vierundzwanzig Stunden vier elf- bis siebzehnpfündige Heidschnuckenlämmer verschlang, deren Hörner bis zu sieben Zentimeter Länge besaßen. Die Schlange war am zweiten Tage durch die in ihrem Innern entwickelten Gase so unförmig aufgeschwollen, daß die Haut auf dreißig Zentimeter Länge aufplatzte und streckenweise fünf Zentimeter weit auseinanderklaffte. Die Verdauung dieser Mahlzeit war nach zehn Tagen be-
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endet. Die Wollteile wurden in dicken Ballen abgestoßen, die Knochen in weißen Exkrementen, während Klauen und Hörner nicht verdaut wurden. Am elften Tage fraß die Schlange erneut eine Heidschnukke. Ein Schwein scheint dagegen ein ziemlich schwer verdaulicher Bissen zu sein. Die Hauer und Klauen eines Wildschweins wurden nämlich erst acht Tage nach ihrer Ankunft aus Singapore durch eine große, fünfundzwanzig Fuß lange Borneoschlange in meinem Tierpark ausgeschieden. Den zarteren Gemütern, die sich vielleicht über die unästhetischen Freßleistungen der Schlangen entsetzt haben, gewährt die Mitteilung hoffentlich etwas Beruhigung, daß die Tiere auch ungeheuer lange hungern können und dies zuweilen sogar freiwillig tun. Recht freßlustige Tiere, die oft drei bis vier Wochen nacheinander jede Woche Nahrung zu sich nahmen, fasteten dann ohne sichtbaren Grund oft ein halbes Jahr, ohne den geringsten Schaden zu nehmen. Ich kenne einen Fall, in dem eine brasilianische Wasserschlange zwei volle Jahre nichts fraß, dann aber lustig wieder ans Futter ging und noch viele Jahre im Amsterdamer Zoo verbrachte! Am liebsten und am schnellsten fressen die Schlangen bei hellem, offenem Wetter. Warme, stets gut ventilierte Käfige in der ihnen zusagenden Temperatur zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Grad Reaumur sind Vorbe-
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dingung für eine gute Haltung der Schlangen. Verschafft man den Tieren nicht die entsprechenden Wärmegrade, dann sind sie nicht zum Fressen zu bewegen und bekommen außerdem durch Erkältung Mundfäule. Wenn man den erkrankten Tieren dann einen recht warmen Käfig mit großem Wasserbassin gibt, kurieren sie sich selbst. Wochenlang legen sie sich unter den Wasserspiegel, so daß nur die Nasenspitze zum Atmen hervorsieht. Das Wasser löst die eitrigen Stükke des Rachens ab, und das Tier entfernt sie durch Hin- und Herschlagen des Kopfes. Zuweilen halfen wir mit einer Federpose die brandigen Stücke entfernen und haben auf diese Weise Schlangen kuriert, denen bereits ganze Stücke von den Kiefern losgefault waren. Selten wird der Schlangenkäfig zur Kinderstube. Die Schlangen, von denen ich bislang erzählte, legen Eier und brüten sie aus. Die Wasserschlangen dagegen gebären lebende Junge. Vor etwa fünfzehn Jahren hatte ich einmal Gelegenheit, die Vorgänge in einer solchen Wochenstube zu beobachten. Die Mama – eine geborene Eunectes murinus – gehörte zur größten Schlangenart, die in Brasilien vorkommt. Sie war fünfzehn Fuß lang und außergewöhnlich wohlbeleibt. Nach einigen Monaten überraschte sie uns mit achtundvierzig Kinderchen. Ein reicher Familiensegen. Dem glücklichen Vater konnte ich keine Nachricht
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geben, er war in den Wäldern Brasiliens zurückgeblieben. Die Geschichte hat auch einen Haken, denn die Jungen, welche, jedes für sich, in einem durchsichtigen Hautsack steckten, waren leider sämtlich tot. Auch bei den Eier legenden Arten wird die Fortpflanzung en gros betrieben. Ich entsinne mich einer dunklen Pythonschlange, die während einer Reise eine stattliche Zahl von Eiern gelegt hatte. Als ich das Tier von den Eiern aufscheuchte, sah ich drei bis vier Junge aus ihren pergamentartigen Eischalen mit dem Kopf gegen mich emporschnellen. Die Wochenstube wurde in einem großen, passenden Käfig untergebracht. Von etwa fünfzig Eiern hatte die Schlange einundzwanzig ausgebrütet, die übrigen waren vertrocknet. Die Jungen benutzten ihre Eierschalen als Wohnhülsen, aus denen sie dann und wann herauskrochen. Manche kamen überhaupt nicht heraus. Die Ernährung machte zuerst Schwierigkeiten. Frösche wurden nicht angenommen. Dagegen schienen junge weiße Mäuse mehr nach dem Appetit der kleinen Reptile zu sein, die in der Art der Alten gepackt, getötet und verschlungen wurden. Schließlich verkaufte ich die ganze Familie an den Jardin d'Acclimatation in Paris, wo die Jungen leider nicht die gehörige Pflege hatten und bald eingingen. Man stopfte sie aus und praktizierte sie wieder in die Eierschalen hinein; wer Lust hat, kann die Tiere heute noch in dem Pariser
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Zoo anschauen. Je länger und je mehr ich Schlangen beobachtet habe, desto weniger habe ich begriffen, warum die Schlange das Sinnbild der Klugheit geworden ist. Gefräßigkeit, Faulheit und unter gewissen Umständen unerschöpfliche Wut sind die Lebensäußerungen, in welchen sich nach meiner Ansicht das Wesentliche aus dem Schlangenleben zusammenfaßt. Trotzdem möchte ich nicht behaupten, daß den Schlangen jegliche Begabung fehlt. Das beweisen die Vorführungen der Schlangenbeschwörer, jedoch bezweifle ich, daß mit Schlangen auch nur annähernd ähnliche Leistungen erzielt werden können wie mit den Tieren höherer Ordnung und daß der Schlangenbändiger in ein freundschaftliches Verhältnis zu seinen Zöglingen eintreten kann. Von den eingeborenen indischen Schlangenbeschwörern abgesehen, arbeiten die weißen Schlangenbändiger nie mit der Kobra, der indischen Brillenschlange. Ich bitte ihre ehrenwerte Zunft um Entschuldigung, wenn ich verrate, daß sie fast ausschließlich mit jungen Exemplaren der Riesenschlangen auftreten. Sooft das breite Publikum auch Schlangen gesehen haben mag, dieselbe Unkenntnis, die es in der Regel vielen anderen Tieren gegenüber behält, bleibt ihm im erhöhten Maße auch den Schlangen gegenüber. Oft hörte ich in meinem Park schon Ausrufe wie: »Sieh doch einmal, Mann, diesen
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schönen Strauß, was er für prachtvolle Pfauenfedern trägt.« Oder wie ich seinerzeit in Triest beim Verladen eines kleinen afrikanischen Nashorns ein Bäuerlein zum andern sagen hörte: »Schau dir mal das kleine Elefantel an.« – »Ach, Unsinn, siehst du denn nicht, daß er keinen Rüssel hat?« – »Du Schafskopf, bei dem wächst er noch!« So könnte ich darauf wetten, daß unter hundert Zuschauern nur ganz wenige zu beurteilen vermöchten, was für Schlangen sie vor sich haben. Heute gehört die Gilde der Schlangenbändiger mit Ausnahme einiger Artisten und Schlangentänzerinnen fast der Vergangenheit an. Aber es gab Zeiten, wo ich den Schlangenimport en gros betrieb. An einem Tage erhielt ich einmal 276 Exemplare der Gattung Python bivittatus, die nach Nordamerika einen reißenden Absatz fanden. Mit virulenten Giftschlangen, d.h. solchen, deren Giftapparat in Ordnung ist, wird ein Schlangenbändiger nie arbeiten. Er bricht ihnen vor der Vorführung die Giftzähne aus. Trotz dieser Vorsicht ist der Mann nicht vollständig ungefährdet, denn die Giftzähne wachsen nach, und er muß ständig auf der Hut sein. Es bedarf keiner Erklärung, daß die Giftschlange ohne Giftzahn nicht einmal so gefährlich ist wie eine gewöhnliche junge Riesenschlange, von einer ausgewachsenen gar nicht zu sprechen. Außerdem ist das Gebiß der Riesenschlange viel stärker als das der Kobra. Wirkliche Kunststücke
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habe ich von keiner Schlange ausüben sehen. Der ganze Trick, der sich mit ihnen ausführen läßt, besteht darin, daß man die Tiere aus der Dunkelheit, in der man sie gehalten hat, plötzlich an das Tages- oder Rampenlicht setzt. Die gereizten Tiere schnellen empor und scheinen ihren Meister zu bedrohen, der sie durch Musik beruhigt. Denn das allerdings mußte ich stets und immer wiederholt feststellen: Es gibt kein Geschöpf, auf das die Musik nicht irgendwelchen Einfluß hätte. Ich behaupte zwar nicht, daß sich eine hungrige Riesenschlange mit der Mondscheinsonate besser abfinden würde als mit einem Kaninchen, aber ich halte es für zweifellos, daß auch Schlangen gerne Musik hören. An dieser Stelle möchte ich noch die Erinnerung an eine schöne Provenzalin auffrischen, die mir seinerzeit viel Freude machte. Es war noch zu Beginn meiner Laufbahn als Zirkusdirektor. Damals befand sich unter meinen Artisten ein Mann, der als Deckenläufer eine Glanznummer ausführte. Er war imstande, sich vor den Augen des verblüfften Publikums wie eine Fliege an die Zimmerdecke des Raumes zu heften und daran entlangzulaufen. Sein Geheimnis bestand in einem Paar eigens konstruierter Saugschuhe, deren Sohlen luftleer gepumpt waren und die sich deshalb an der Decke anhefteten. Nach einer Reihe von Jahren hatte er ein hübsches Vermögen gesammelt. Nun
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wurde er arbeitsmüde, mag wohl auch das eine oder andere Mal auf den Kopf gestürzt sein, kurzum, da lernte er eines Tages jene schöne Provenzalin kennen, von der ich jetzt sprechen will. Sie war ein Mädchen von überaus zierlicher Figur, mit großen, prachtvollen, dunklen Augen und langen, ungewöhnlich schwarzen Locken. Dieses Mädchen heiratete er und machte sie zur Schlangenbändigerin, was dem jungen Ehepaar auf viele Jahre hinaus einen reichen Gewinn brachte. Zunächst legte sie sich den melodramatischen Namen Naladamajante zu, unter dem sie in Amerika zu einer Art Berühmtheit wurde, die jahrelang im Zirkus Forepaugh die gewaltigsten Gagen bezog. Diese Frau hatte sich eine besondere Methode ausgedacht, ihre Tiere abzurichten und gefahrlos zu zähmen. Sie ließ sich aus feinen Gummifäden Netze wirken, ähnlich den ganz feinen Haarnetzen, welche unsere Frauen zu tragen pflegen. Diese Gummimaulkörbe legte sie ihren Zöglingen um und befestigte sie hinter des Kopfes breitester Stelle am Nacken. Nach wenigen Tagen hatten die Schlangen die Fruchtlosigkeit ihres Widerstandes eingesehen und ließen sich nun ganz ruhig anfassen und in die gewünschte Stellung legen, wozu die Musik die orientalischen Weisen spielte. Nach eigenen Ideen hatte sie sich Schlangenkästen bauen lassen und nahm diese auch mit ins Schlafzim-
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mer. Naladamajante pflegte den größten Effekt vorm Publikum dadurch zu erzielen, daß sie manche Schlangen zum Schluß der Vorführung auf die Bühne gleiten ließ, durch vorgehaltene Stöcke reizte und unter den Klängen eines wilden Marsches mit weitgeöffnetem Rachen auf sich zuspringen ließ. Es sind genügend lange Jahre seitdem vergangen, so daß ich wohl meiner schönen Provenzalin keinen Nachteil mehr bereite, wenn ich erzähle, daß diese Schlangen allerdings keine Giftzähne mehr besaßen oder auch häufig gewöhnliche Pythonschlangen waren. Interessant ist nur daran, daß auch die verhältnismäßig stupiden Schlangen den stets wiederholten Witz bald durchschauten. Nach vier bis sechs Wochen ließen sich auch die wütendsten Kriechtiere nicht mehr zu dem so effektvollen Bühnensprunge verleiten. Naladamajante brauchte deshalb sehr häufig neue Schlangen und war jahrelang meine beste Kundin, der ich ungefähr aller acht Wochen einen ganzen Kasten voll neuer Schlangen nach Amerika hinüberschickte. Was sie mit den philosophischen Schlangen anfing, die sich nicht mehr uzen ließen, weiß ich nicht. Ich vermute jedoch, daß sie auch diese noch mit Gewinn weiterverkauft hat. Von einer weiteren ungemütlichen Gesellschaft möchte ich jetzt ein wenig erzählen. Es sind Tiere, mit denen man keine Freundschaft schließen kann, im
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Gegenteil, es muß immer heißen: Drei oder noch mehr Schritt vom Leibe, wenn man nicht zu Schaden kommen will. – Ich spreche nämlich von den Krokodilen, deren Vorväter schon vor Jahrmillionen in den Schachtelhalmurwäldern hausten. Bei allem schuldigen Respekt vor dem achtunggebietenden Stammbaum halte ich mir die gefräßigen Bestien stets weit vom Leibe. Vielleicht war es ein Glück, daß ich schon in meiner Jugend von einem Krokodil einen Denkzettel erhielt, der mir für mein ganzes späteres Leben eine heilsame Lehre war. Von einem nur zwei Fuß langen Krokodil wurde ich derart in den Zeigefinger gebissen, daß ich nur mit ärztlicher Hilfe einer durch Blutvergiftung drohenden Armamputation entging. Seitdem sind mehr als 2000 Krokodile durch meine Hände gegangen, und wie man sieht, bin ich von keinem verspeist worden, obwohl ich einmal beim Verpacken von zwanzig Alligatoren zur Düsseldorfer Ausstellung kopfüber in das Becken mitten zwischen die Krokodile stürzte. Es ist unfaßbar, mit welcher Schnelligkeit der Mensch im Augenblick der Gefahr zu denken und zu handeln vermag. Gedanke und Tat sind wie Blitz und Schlag. Ehe die Krokodile zur Besinnung gekommen waren, war ich schon wieder aus dem Becken heraus. Hätte mich auch nur ein einziges Tier angepackt, dann wäre ich unrettbar verloren gewesen. Ich weiß aus Erfahrung, daß in dem
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gleichen Augenblick auch alle anderen Krokodile zufassen und ihre zahnstarrenden Kiefer in das Opfer schlagen. Alligatorenkämpfe habe ich oft beobachten können, bei denen mir nie ganz wohl zumute war, denn was in diesen Kämpfen zugrunde ging, waren Geschäftswerte. Diese Tiere sind in ihrer Wut unerbittlich. Sie verbeißen sich wie die Ameisen ineinander und lassen nicht los, wenn auch der ganze Kopf darüber zerfleischt wird. Einem solchen Kampf wohnte ich in den achtziger Jahren bei, als wir mit einem Transport 300 Alligatoren empfingen. Auf der Reise waren die Tiere sehr bösartig geworden und hatten in ihrem Ge wahrsam offenbar einen ganzen Haufen von Grimm angesammelt. Ihr wütendes Schnaufen klang etwa so, als wenn eine Maschine Dampf abläßt. Die Transportkisten wurden in das bestimmte Gehege geschoben und rund um das große Becken aufgestellt. Als der fünfte oder sechste Alligator seinen Käfig verlassen hatte, stürzten alle ohne ersichtlichen Grund wie bissige Hunde aufeinander los. Im Handumdrehen waren alle sechs ein einziger sich wälzender Knäuel, der unter Fauchen und Pusten mit wild das Wasser peitschenden Schwänzen auf und ab tauchte. Die Tiere wüteten auf grauenvolle Weise. Krachend und knirschend zerbrachen die Kiefer der Unterlegenen. Hoch spritzte das Wasser in die Luft und färbte sich langsam rot
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aus vielen schrecklichen Wunden. Ein Dazwischenspringen gab es nicht. Alles, was wir zu tun vermochten, war, das Becken bis oben vollaufen zu lassen, damit die Tiere unter Wasser mehr Schutz finden konnten. Am nächsten Morgen ließ ich das Wasser ab. Da wurde der ganze Schaden offenbar. Fast alle Kämpfer waren auf der Walstatt geblieben, wenn auch einige von ihnen noch lebten. Aber wie! Zweien waren die Kiefer zerbrochen, den beiden andern waren die Vorderbeine total abgedreht und hingen nur noch an der Haut. Einem fünften war das Auge ausgelaufen, und dem sechsten hatten die freundlichen Kameraden ein Stück des Schwanzes abgebissen. Es war das einzige Tier, das später langsam genas und noch verkauft werden konnte. Späterhin legte ich allen neu angekommenen Krokodilen Maulkörbe aus dünnen Stricken an. Zwar stürzten sie stets voll Kampfbegier aufeinander los, und ein großes Ringen begann, das jedoch unblutig endete, da ihnen die fürchterlichen Rachen verschlossen waren. Schon nach sechs bis acht Tagen trat eine völlige Beruhigung der Tiere ein, und ich konnte mit einem an einer langen Stange befestigten Messer den Nackenstrick des Maulkorbes aus sicherer Entfernung durchschneiden. Mit einem langen Haken fischte ich dann die Schlinge und zog sie den Tieren von der Nase. Selbstverständlich wurden nicht alle zu gleicher
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Zeit befreit, sondern es vergingen mehrere Tage, bis alle wieder das Maul aufreißen konnten. Die Krokodile können wochen- und monatelang ohne Futter sein. Ich wählte zur Fütterung möglichst heiße Tage und bevorzugte die Abendstunden. Bewaffnet mit einem Eimer voll kleingeschnittener Lungen von Rindern und Pferden, begab ich mich an das Becken und warf die Stücke in kurzen Zwischenräumen klatschend auf die Wasseroberfläche. Die Krokodile steckten dann ihre Köpfe hervor und schnappten nach der Lunge. Später befestigte ich das Fleisch an einer Holzstange, die so lange auf dem Wasser hin und her bewegt wurde, bis die Tiere die Nahrung erfaßten. Allmählich ging ich immer näher an das Bekken heran und habe es fertiggebracht, daß einzelne dieser wild gefangenen Tiere sich schon nach vier bis sechs Wochen von mir aus der Hand füttern ließen. Ein Freundschaftsverhältnis zwischen diesem Reptil und dem Menschen ist natürlich ganz und gar ausgeschlossen. Statt des hingehaltenen Fleisches hätten die Krokodile ohne weiteres auch die Hand geschnappt, hätte ich es an der nötigen Vorsicht fehlen lassen. Sie nahmen das Futter unter Fauchen, aber ohne besondere Bösartigkeit an, und das war alles. Kleinere Krokodile habe ich häufig schon nach acht Tagen dazu gebracht, das Futter direkt aus der Hand zu nehmen. Ein neun Fuß langes, also gar nicht
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einmal sehr großes Exemplar fraß dabei vor meinen Augen einmal dreiundvierzig Pfund Fleisch. Bei guter Pflege wachsen Krokodile sehr schnell. Ich vermute, daß sie mit dem achtzehnten bis zwanzigsten Jahre ungefähr ausgewachsen sind. Der größte Alligator, den ich sah, war zwölf Fuß lang, obwohl man schon Tiere von vierzehn Fuß Länge geschossen haben will. Die meisten Krokodile, die ich importierte, gehörten zu der gewöhnlichen Art Alligator mississippiensis, welcher in den Südstaaten der USA beheimatet ist. Die erste Sendung brachte mir bereits 1856 ein alter Hamburger namens Tischer, der in New Orleans wohnte und sich mit dem Fang von Krokodilen, Schildkröten und anderem Getier beschäftigte. In Bremen wurden die von meinem Vater gekauften Tiere in einen Frachtewer umgeladen, an dessen Deck ich nun in Hamburg etwa dreißig Kästen mit einem bunten Gewirr von Alligatoren aller Größen, Sumpfschildkröten verschiedenster Art, dazwischen Nattern, Klapperschlangen und Ochsenfrösche vorfand. Nach langem Handeln erwarben wir sämtliche Tiere für den Preis von 600 preußischen Talern. Ich erhielt von dem glücklichen Verkäufer dazu als Geschenk einen Alligator von etwa dreieinhalb Fuß Länge. Zwar war mein Präsent auf einem Auge blind, aber – einem geschenkten Gaul sieht man nicht ins Maul. Ich war über das Geschenk hocherfreut.
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Die Anlagen zur Aufnahme von Tieren waren damals, in der alten Museumsbude auf St. Pauli, noch sehr primitiv. Ein Teil der Alligatoren wurde in den anfangs beschriebenen Seehund-Bottichen untergebracht. Die Schildkröten wurden fast sämtlich an das Hamburger Museum verkauft. Der Kustos Siegel, später Inspektor des Hamburger Zoo, war ein genauer Kenner derartiger Tiere, die er zu einem großen Teil wieder an verschiedene andere europäische Museen verkaufte. Leichter für uns setzten sich die Krokodile ab, die in der damaligen Zeit für Tierschauen und Museen noch recht seltene Tiere waren. Mein Vater machte ein gutes Geschäft und sein Sohn auch. Meinen einäugigen Alligator verkaufte ich um acht preußische Taler, für einen zwölfjährigen Jungen ein beachtliches Vermögen. Tischer kam auch in den nächsten Jahren mit ähnlichen Transporten in Hamburg an. Dann verschwand er von der Bildfläche. Wie wir hörten, soll er drüben durch einen Schlangenbiß ums Leben gekommen sein. Im Vergleich mit den großen indischen Krokodilen im Ganges und im Brahmaputra sind die amerikanischen Alligatoren nur Zwerge ihrer Sippe. Einen dieser Riesen hat Kipling zum Gegenstand seiner großartigen Tierschilderung gemacht, sie heißt »Die Leichenbestatter«, und der Held ist eines jener großen Krokodile, Gaviale genannt (Gavialis gangeticus), ein
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Gigant von vierundzwanzig Fuß Länge, der im Strom unterhalb eines Inderdorfes liegt und den Ort seit Menschengedenken brandschatzt. Das ist der »Mugger von Muggerghat«. Das Ungeheuer lag, wie Kipling es beschreibt, in einem Gehäuse, das aussah wie dreifach vernietete Dampfkesselplatten, mit Nägeln beschlagen, verkielt und verpecht. Die gelben Spitzen der Oberzähne überragten anmutig den schön flötenförmigen Unterkiefer. Ich glaube, der englische Schriftsteller kommt der Wahrheit ziemlich nahe. Zwei derartige Bälge gelangten vor Jahren in meinen Besitz. Mein späterer Reisender Johannsen, damals noch Erster Offizier eines Hansadampfers, brachte die Krokodilhäute mit, die sich noch heute im Kaiserlichen Museum zu Wien befinden. Dazu erzählte mir Johannsen: Als er mit einem Transport Elefanten von Assam auf einer großen Barke den Brahmaputra hinabfuhr, beobachtete er zwei Gaviale, deren Länge er auf mindestens fünfundzwanzig Fuß schätzte. Er schoß auf die Tiere und bot dem Barkenführer dreihundert Rupien falls er die kostbare Beute an Bord ziehen könnte. Leider war es umsonst, denn infolge der starken Strömung kam man nicht an die geschossenen Krokodile heran. Johannsen sah sogar Riesen von reichlich dreißig Fuß Länge. Er hatte den Auftrag, Gaviale für mich zu fangen. Ausgewachsene lebend zu transportieren, hielt damals zu
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schwer. Die jungen Exemplare gingen leider auf dem Transport zugrunde. Im Weißen Nil und in den großen afrikanischen Seen gibt es auch Krokodile bis zu zwanzig Fuß Länge. Ich glaube jedoch, daß das Gangeskrokodil das größte unter ihnen ist. Wird man solche Riesen je in der Gefangenschaft sehen?
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X Von Zucht und Akklimatisation Als ich in der Mitte der sechziger Jahre meine erste Reise nach England unternahm, sah ich in einer Tierschau, deren Eigentümer Day hieß, einen großen Schimpansen mitten im Winter im Freien sich umhertummeln. Das Tier wälzte sich im Schnee auf dem Dache der Leinwandbude. War es ihm schließlich zu kalt geworden, dann zog es sich in die Bude zurück und suchte einen Platz in der Nähe des Ofens. Der Schimpanse handelte nicht anders als ein Mensch, der die Wärme sucht, nachdem er sich freiwillig und mit Lust ordentlich hat durchfrieren lassen, und zwar in dem Gefühle, daß dies seiner Gesundheit zuträglich sei. Diese kleine Episode gab mir zu denken. Später beobachtete ich in Münster (Westfalen), wie die Insassen des Affenhauses auch im Winter ins Freie hinausgelassen wurden. Die Außenkäfige waren mit den Innenkäfigen durch Klappen verbunden, welche die Tiere selbst aufhoben, um nach Belieben den Raum zu wechseln. Im inneren Raum herrschte stets eine Temperatur von zehn bis fünfzehn Grad Reaumur Wärme; die Tiere scheuten sich aber nicht, das Freie aufzusuchen, wenn draußen, wie es einmal vorgekommen ist, zwanzig Grad Kälte herrschte.
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29.977 Hagenbeck: Von Tieren und Menschen Hagenbeck-Erinnerungen, 194
Zum Nachdenken über die Frage, ob die Tiere wärmerer Länder zu ihrem Vorteil auch unserer winterlichen Temperatur ausgesetzt werden dürften, bin ich seit Beginn meiner Laufbahn angeregt worden. Der Gedanke war schon lange in mir geformt, zum Entschluß aber, zur Ausführung verhalf mir wieder die liebevolle Beobachtung meiner Tiere und der Zufall. Es war noch in den Anfängen meines Instituts am Neuen Pferdemarkt, als ich eines Tages im September einen Saruskranich aus Indien bekam, diesen schönen, großen, blaugraugefiederten Vogel, mit seinen lebhaft gefärbten, roten Backen. Das Tier war im offenen Gehege, am sogenannten Seehundeteich, untergebracht und blieb auch dort bis zum Anfang des Winters. Eines Tages mußte ich, wie so oft in meinem Leben, unvorbereitet verreisen. Als ich nach etwa einer Woche zurückkehrte, hatte der Winter begonnen. Es war aber schon spät in der Nacht, ich, müde von der Reise, sehnte mich nach dem Bett und versäumte es einmal, meiner sonstigen Gewohnheit zuwider, die abendliche Revision unter meinem Tierbestande zu halten. Morgens früh weckte mich der unverkennbare charakteristische Schrei meines Kranichs. Ich fuhr aus dem Bett und sah durch die mit Eisblumen bedeckten Fenster zu meinem Schreck in einen kalten Wintermorgen hinaus. Das Thermometer am Fenster zeigte sechs Grad Reaumur unter Null. Mein armer Kranich,
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dachte ich, er wird zu einem Eisklumpen erstarrt und mit abgefrorenen Beinen auf dem harten Boden liegen. Ich stürzte notdürftig bekleidet hinaus, und man denke sich meine freudige Verwunderung, mein Erstaunen über den Pfiffikus von Kranich, der mich wegen meiner Sorge und meines Mitleids gewissermaßen auszulachen schien. Froh herumspringend und tanzend, seine lauten Kriegsrufe in die klare Winterluft schmetternd und mit den Flügeln flatternd, begrüßte er mich. Siehe da, dachte ich mir, mein lieber Kranich, wenn dir's bei sechs Grad Kälte so gut geht, wollen wir nicht so törichtes Mitleid haben, dich wegen unseres Winters deiner schönen Freiheit zu berauben, und dir nicht die stärkende Kur frischer Winterluft entziehen! Ich richtete ihm in seinem Gehege eine windgeschützte, aber nach der Südseite offene Ecke zum Lager ein, die mit Stroh beschüttet wurde. Der Winter blieb andauernd kalt und streng, meinem Kranich fiel es aber nicht einmal ein, die Windschutzecke zum Quartier zu nehmen. Ob Wind und Sturm, ob Schnee, Regen oder Hagel, mein Kranich blieb draußen und gedieh dabei ganz prachtvoll. Diesem Kranich verdanke ich den ersten Anstoß zu meinem jetzt systematisch ausgebauten System der Freiheit. Nach diesen Beobachtungen begann ich meine eigenen Akklimatisationsversuche, die inzwischen einen großen Umfang angenommen haben und bei der
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29.979 Hagenbeck: Von Tieren und Menschen Hagenbeck-Erinnerungen, 195
Gründung des Tierparks in Stellingen erst mit Erfolg zur Ausführung kamen. Die Kunst des Akklimatisierens fremdländischer Tiere ist als eine Grundbedingung des Tiergeschäfts schon vom ersten Import wilder Tiere an geübt worden, wenn auch zuerst nur tastend und ohne bestimmte Systeme. Die praktische Tierpflege mußte darauf bedacht sein, Mittel und Wege zu finden, die in eine fremde Umgebung versetzten Geschöpfe an die neuen Lebensverhältnisse, an das veränderte Klima und an das künstlich bereitete Futter zu gewöhnen. Es ist sehr schwer, sich die ungeheure Umwälzung zu veranschaulichen, die mit der Gefangensetzung und Verpflanzung wilder Tiere aus Urwald und Steppe einhergeht. Draußen schweift das Raubtier frei durch den Raum, und in seinem Wesen entfalten sich Mut, Verschlagenheit und Kraft, denn täglich oder nächtlich muß es die Beute aufspüren und anschleichen und sie im Kampfe überwinden. Für die Betätigung seiner hauptsächlichsten Wesenseigenheiten ist plötzlich kein Raum mehr, selbst die Bewegungsfreiheit, die es für seine Gesundheit am dringendsten braucht, ist eingeschränkt. Der Pflanzenfresser der Steppe oder des Waldes, die Giraffe, der Elefant, die leichte Gazelle, gewohnt, in Rudeln zu leben und weite Strecken zurückzulegen, sieht sich plötzlich von der freien Natur getrennt und zur Einzelhaft verurteilt. Alle Lebensgewohnheiten erleiden
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eine Störung, die Willensfreiheit wird gehemmt. Es ist klar, daß durch diesen Wechsel von natürlichen Verhältnissen sich leicht Körperschwäche, Krankheiten und Lebensunfähigkeit einstellen. Häufig macht sich bei frischgefangenen Tieren eine durch die ungewohnte Umgebung hervorgerufene seelische Depression bemerkbar, die der Gegenmittel bedarf. Hochentwickelte Tiere, besonders die Gorillas, gehen ja ersichtlich zuweilen direkt an Heimweh zugrunde. Allen diesen feindlichen Kräften hat die Akklimatisation entgegenzuarbeiten. Die Akklimatisationsfähigkeiten der einzelnen Tierarten sind grundverschieden, und in jeder Art reagieren wieder die einzelnen Individuen verschieden auf die mit ihnen gemachten Versuche, wenn sich auch allgemeine Grundzüge nicht verkennen lassen. Am leichtesten gewöhnen sich die Tiere großer kontinentaler Flächen an ein anderes Klima, da sie von vornherein durch die Differenz in der Temperatur von Tag und Nacht abgehärtet sind. Je nachdem es sich um Kontinentaltiere, Hochgebirgstiere, Bewohner der Steppen oder Meerestiere handelt, ist der Grad der Anpassungsfähigkeit an neue Verhältnisse anders. Schon in den siebziger Jahren begann ich in meinem Tierpark auf dem Neuen Pferdemarkt mit Akklimatisationsversuchen an Giraffen und Elefanten. Schon damals machte ich die Erfahrung, daß niedrige
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Temperaturgrade den Tieren keinen Schaden zufügen. Der Winter war damals so hart, daß trotz angestrengten Heizens die Temperatur im Giraffenstall eine Wärme von vier Grad Reaumur nicht überschreiten wollte. Während der Nacht ging die Temperatur auf drei Grad zurück. Die Giraffen litten aber durchaus nicht. Die Erfahrungen und Beobachtungen, die ich im Laufe der Jahre sammelte, und die Gedanken und Ideen, die sich aus ihnen entwickelten, in die Praxis umzusetzen, blieb aber jener Zeit vorbehalten, in welcher ich an die Gründung meines Tierparadieses gehen konnte. Ja, einer der Hauptzwecke meines ganzen Stellinger Unternehmens war die Ausführung von Akklimatisationsversuchen sowie die Schöpfung von Neueinrichtungen für zoologische Gärten. Ich ließ mich dabei von dem Grundsatz leiten, daß vor allem das Tier in den Vordergrund treten müsse, während den zur Beherbergung und zum Schutze nötigen Aufenthaltsräumen und Gehegen nur eine Nebenrolle zuzufallen brauche. Der Hauptnachdruck wurde auf die Herstellung solcher Parkanlagen gelegt, die den Tieren die Ausübung ihrer Lebensgewohnheiten, soweit es nur zu erreichen war, ermöglichte. Vor drei Jahren langte im Herbst, Anfang Oktober, ein Import junger Strauße aus Afrika in Stellingen an. Diese Tiere wurden aber nicht, wie sonst wohl um
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diese Jahreszeit üblich, in geschlossene und geheizte Räume gebracht, sondern direkt ins Freie gesetzt. In einem großen Laufraum stand ihnen zum Schutz eine Holzhütte zur Verfügung, in die sich die Strauße des Nachts zurückziehen konnten. Die Vögel wurden während des ganzen Winters auf diese Weise gehalten und überstanden Temperaturen, die einige Male unter zehn Grad Reaumur sanken, sehr gut. Am 1. Januar 1906 gelangten die Strauße bei einer Kälte von vierzehn Grad Reaumur ins Freie, wo sie von zehn Uhr vormittags bis drei Uhr nachmittags verweilten, zwölf Exemplare, und mit Staunen beobachtete ich, wie einige dieser afrikanischen Vögel in dem zwanzig Zentimeter tiefen Schnee ein Bad nahmen. Selbstverständlich ist es notwendig, daß die Tiere Gelegenheit haben, sich in jedem Augenblick ganz nach Belieben in ihr Schutzhaus zurückziehen zu können. In diesem Schutzraum wurde eine zehn Zentimeter dicke Schicht von Torfmull gestreut und darüber reichlich Stroh. Zum Zwecke der Luftzufuhr waren die Fenster der Holzhütte Tag und Nacht offen, so daß es auch während der Nacht darin empfindlich kalt blieb. Während des ganzen Winters mußten die Tiere nur acht Tage lang im Stall bleiben, und zwar des Glatteises halber, das die Gefahr des Ausgleitens und Stürzens der Tiere mit sich brachte. Während dieser Zeit ging ein Exemplar zugrunde, nachdem es sich
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in der Hütte beim Umherspringen ein Bein gebrochen hatte. Um alle Akklimatisationsversuche mit Aussicht auf Erfolg durchführen zu können, wurden die Anlagen in meinem Tierpark von vornherein zweckentsprechend durchgeführt. Akklimatisationsstallungen wurden geschaffen, die mit mancherlei Schutzvorrichtungen ausgestattet sind. Hierher gehören freistehende Dächer, unter denen die Tiere draußen in der Luft auf trockenem Lager liegen können, ohne durch Regen und Schnee belästigt zu werden; einige Häuser besitzen winkelig angelegte Zugänge, in denen sich der Wind fängt, um auf diese Weise die direkte Zugluft von den im Stalle ruhenden Tieren abzuhalten. Die Türen liegen seitwärts, führen erst in einen Gang und von hier aus in den eigentlichen Stallraum. Diese Stallungen sind nicht heizbar, die Türen bleiben Sommer und Winter, Tag und Nacht offen, und es ist den Tieren selbst überlassen, nach eigenem Bedürfnis ins Freie zu treten oder im Stalle zu bleiben. Eine natürliche Wärmevorrichtung ist aber dennoch vorhanden. In diesen Akklimatisationskammern läßt man den Mist der Tiere etwa einen Fuß hoch liegen und bedeckt ihn täglich mit trockener Streu. Die durch die Zersetzung des Mistes entstehende Wärme gewährt den Tieren ein warmes Lager, und die frische Luft, welche durch den Stall streicht, hält die obere Streuschicht stets
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trocken. Auch mit Raubtieren wurden die gleichen Versuche angestellt. Dabei zeigte es sich, daß die Löwen und indischen Königstiger die Kälte in freier Umgebung, wie sie ihnen durch die Raubtierschlucht des Tierparkes geboten wurde, vortrefflich ertrugen. Es befindet sich allerdings in dem hinter der Schlucht gelegenen Raubtierhaus eine Heizvorrichtung, die aber nur an den kältesten Tagen dazu benutzt wurde, den Raum zu erwärmen, das heißt frostfrei zu halten; die Tiere gingen täglich ins Freie und liefen bei Schnee und Regen im Freien umher. Ein indischer Leopard hatte sich derart an die Kälte gewöhnt, daß er nur selten seinen Schutzraum aufsuchte, sondern die größte Zeit des Tages im Winter auf einem Baumast im Freien liegend zubrachte. Auffallend war der Einfluß des Aufenthalts im Freien bei zwei jungen Löwen, die zuerst im geschlossenen Raum untergebracht waren, hier aber andauernd kränkelten und nicht gedeihen wollten. Sie wurden in einen geräumigen Kasten gebracht und ins Freie gestellt; eine einfache Kiste diente ihnen als Schutzraum. Von Stund an erholten sich die Tiere und haben sich jetzt prachtvoll entwickelt. Es ist meine Absicht, mit den Jahren auch Schluchten für Leoparden, Panther, Pumas und Tiger in meinem Tierpark anzulegen. Diese Versuche werden sich auf ein hochinteres-
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santes Gebiet begeben, wenn der Bau mehrerer großer, zweckentsprechender Affenhäuser fertiggestellt ist. Bisher liegen hier noch keine nennenswerten Resultate vor, mit Ausnahme von Versuchen an zwei Orangs, die bereits in hohem Grade akklimatisiert sind. Als diese Tiere, die von der Westküste Borneos stammen und bereits drüben sechs Jahre lang in der Gefangenschaft gehalten wurden, nach Stellingen gelangten, wurden sie ohne weiteres in einem großen, nach Süden offenen Wagenkäfig untergebracht, in welchem ihnen nur ein Kasten als Schutzraum zur Verfügung stand. Täglich gingen die Affen mit ihrem Wärter im Park spazieren und blieben bei ungetrübter Gesundheit. Die Reihe der Tiere, welche sich unseren Gewöhnungsversuchen geneigt zeigen, ist mit diesen Beispielen noch lange nicht erschöpft. Der Winter in meinem Tierpark zeigte eine fast ebenso lebhafte Bewegung wie der Sommer. Saruskraniche, Kronenkraniche, numidische Kraniche, viele ausländische Fasanen, australische Trauerschwäne laufen während des ganzen Winters im Freien umher. Marabus und Ibisse halten Temperaturen von fünf Grad Kälte aus. Australische Gangakakadus und Araras halten es noch nicht für nötig, sich in ihre Innenkäfige zurückzuziehen, wenn die Temperatur auf acht Grad Kälte sinkt. Selbstredend wird es nicht möglich sein, viele kleine
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aus den Tropen stammende Säuger und Vögel, namentlich aber Reptilien und Amphibien, zu akklimatisieren, dennoch wird bei fortgesetzten Versuchen noch manche Überraschung zu gewärtigen sein. Als Grundgesetz der Akklimatisation hat mir stets die Forderung zu gelten, daß den Tieren große, geräumige Gehege und Zwinger geboten werden, in denen sie sich Bewegung verschaffen können. In Stellingen habe ich versucht, den einzelnen Tiergattungen Aufenthaltsplätze zu schaffen, die den Lebensgewohnheiten und der Herkunft der Tiere entsprechen und ihnen die Freiheit vortäuschen. Hierbei ist auf die seelische Stimmung der gefangenen Geschöpfe Rücksicht genommen. Tiere, welche mit ihresgleichen zusammen oder mit andersgearteten Geschöpfen in großen Gehegen gehalten werden, bleiben munter und gewöhnen sich an unser Klima weit schneller und besser, als wenn man sie in Einzelhaft hält. Die Langeweile ist auch bei gefangenen Tieren der schlimmste Feind der Gesundheit. Die Necklust und Spiellust wird angeregt, durch Bewegung wird der Appetit gefördert, und der Körper behält seine Elastizität. Neben großen Laufplätzen, welche den flüchtigen Tieren des Waldes und der Steppe Raum bieten sich auszutoben, sieht man deshalb in Stellingen auf wellig erhöhtem Gelände Wiesenanlagen, auf denen zahlreiche Tiere verschiedener Art vereinigt sind, obschon alle bei ungün-
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stiger Witterung ihre Schlupfwinkel vorfinden; daneben steigen Felsenanlagen in die Luft empor, belebt von Gebirgstieren des Südens und Nordens; auf einem Felsplateau sieht man ein Rudel von Rentieren stehen, von ihrer Heimat her daran gewöhnt, sich dem Winde auszusetzen; Eisbären klettern auf einem Gestein umher, das dem Eisgeschiebe nachgebildet ist, und große Teichanlagen mit zahlreichen Unterschlupforten bieten den Stelz- und Schwimmvögeln, den Robben und Pinguinen Gelegenheit, sich zu akklimatisieren. Nach den praktischen Erfahrungen der neuen Zeit läßt sich ein zoologischer Garten heute viel billiger herstellen, als dies früher der Fall war. Die großen, kostspieligen massiven Häuser und die ebenso kostspieligen Heizungsanlagen sind überflüssig geworden. Viel einfacher und, was die Hauptsache ist, viel praktischer lassen sich die Bauten bei unvergleichlich geringeren Kosten anlegen. Ich hoffe, daß es gar nicht mehr lange dauern wird, bis man in allen Städten, die etwa eine Einwohnerzahl von hunderttausend Menschen haben, auch einen zoologischen Garten im Verhältnis zur Einwohnerzahl errichtet, da dies bei praktischer Anlage ohne jedes Risiko unternommen werden kann. Bei den Schilderungen der Akklimatisationsversuche bin ich zu einem Gebiet gelangt, welches mit
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jenem in engster Verbindung steht, dem der Zucht und Rassenkreuzung, das in meinem Unternehmen einen großen Raum einnimmt und in Zukunft noch einen größeren beanspruchen wird. Außerordentlich hat sich in den letzten Jahren als besonderer Zweig unseres Unternehmens der Handel mit jagdbarem Wild zur Blutauffrischung für unsere Forsten sowie der Import und Export von Haus- und Nutztieren entwickelt. Neben Fragen der Akklimatisation spielen demgemäß Fragen der Zucht eine erste Rolle. Die an wilden Tieren in der Gefangenschaft gemachten Erfahrungen in Pflege, Zucht und Akklimatisation kommen auch den Haustierrassen zugute. Der Blick für die Auswahl der Rassen schärft sich, wenn über das Wesen der Akklimatisation durch Versuche an wilden Tieren Erfahrung eingesammelt ist. Neben der Heranziehung wildlebender Tiere, die sich unseren Haustierrassen zugesellen lassen, sollte man in hohem Maße auf das einheimische Vieh der Eingeborenen unzivilisierter Länder achten. Diese trotz der Zucht der Menschen mehr oder minder im Naturzustand befindlichen Tiere sind, weil sie lange nicht in dem Maße wie unser einheimisches Vieh aus dem Zusammenhang mit der Natur gerissen wurden, weit widerstandsfähiger dem Klima gegenüber. Das Studium ihrer Produktionsfähigkeiten und eine richtige, den gewünschten landwirtschaftlichen Zwecken entsprechende Auswahl einheimischer
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Haustierrassen wird durch Kreuzung sicherlich ein brauchbares Viehmaterial liefern. So wird unter anderem in Stellingen der Einfuhr von indischen Zebus für Kreuzungszwecke nach Argentinien und Brasilien besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Durch die Kreuzung mit Zebublut wird die Zugtüchtigkeit vermehrt und werden gute Arbeitstiere erzeugt. Alle diese Fragen sind für die Landwirtschaft von großem Interesse. Seit Jahren werden Versuche von mir gemacht, die riesigen Wildschafe, welche in Innerasien vorkommen, zum Zwecke der Kreuzung mit unseren Hausschafen in Europa einzuführen. Wiederholt war es mir gelungen, große Wildschafe, von denen einzelne ein Gewicht von fünfhundert Pfund erreichten, sowie auch Schafe kleinerer Rassen zu importieren, doch sind die Versuche leider nur mit den kleinen Arten geglückt. Die Vertreter der großen Arten gingen stets bald ein, weil sie sich unserm Klima und den veränderten Verhältnissen nicht mehr anzupassen vermochten. Diese Überzeugung brachte mich vor fünf Jahren zu dem Entschluß, ebenso wie die Wildpferde auch diese Wildschafe in ganz jugendlichem Alter einfangen zu lassen. Zu diesem Zwecke sandte ich Expeditionen nach Innerasien; unter ungeheuren Schwierigkeiten wurden auch junge Tiere erbeutet, aber alle gingen auf dem Transport zugrunde. Die Erfahrung ist freilich nicht neu, sie hat sich
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vielmehr bei allen Importen von Wild aus Innerasien wiederholt. Aber ebenso, wie es schließlich gelang, Wildpferde, Hirsche, Rehe, Steinböcke und so weiter einzuführen, so wird es auch gelingen, das Wildschaf lebend und gesund zu importieren. Die ersten Rehe, welche von meinen Reisenden aus Sibirien geholt wurden, waren ausgewachsene Exemplare, die man während des Winters im Schnee gefangen hatte. Sie kamen freilich lebend in Norddeutschland an, ebenso die großen sibirischen Maralhirsche, große, herrliche Tiere, aber innerhalb eines Jahres gingen diese Tiere größtenteils zugrunde. Nach diesen Erfahrungen lasse ich jetzt Hirsche sowohl als Rehe nur noch in jungen Exemplaren bringen und zu meiner Freude mit so gutem Erfolg, daß unsere Jagdliebhaber in nicht allzu ferner Zeit eines großen Vorteils gewärtig sein dürfen. Sehr gut vorwärts kommen auch die sibirischen Rehe, die nur noch in jungen Exemplaren eingeführt werden, sich gut halten und auch fortpflanzen. Verschiedentlich sind diese Tiere auch mit Erfolg mit unserem einheimischen Rehwild gekreuzt worden. Als enorm fruchtbringend hat sich bereits der Import der Mongolfasanen erwiesen. Durch die Kreuzung von Mongolfasanen mit den gewöhnlichen Jagdfasanen hat man ganz wunderbare Erfolge erzielt, denn die Bastarde sind um reichlich dreißig Prozent schwerer an Gewicht als die bisher gezüchteten Jagd-
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fasanen. Wenn man zu Rate zieht, daß in England alljährlich Hunderttausende von Fasanen geschossen werden, so kann man es sich beinahe ausrechnen, welchen enormen Vorteil diese Kreuzung der Jagdfasanenzucht gebracht hat und fortwährend bringt. An dieser Stelle wäre noch der Kreuzungsprodukte zwischen Zebra und Pferd, sowie Pferd und Esel, der Zebroiden und Maultiere, Erwähnung zu tun, die weit mehr Aufmerksamkeit verdienen, als ihnen in Deutschland gewidmet wird. Die Zebroiden sind sehr leistungsfähig und ebenso ausdauernd wie Maultiere, die sich in Deutschland auch mehr einbürgern sollten. Die Amerikaner verstehen die Maultierzucht besser zu würdigen, denn nach statistischen Angaben, die mir zu Gesicht kamen, werden alljährlich über eine Viertelmillion dieser Tiere in den Vereinigten Staaten gezüchtet.
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XI Die Erschaffung des stellinger Tierparks Wie der Weg meines Hauses seinen Anfang von dem Seehunde-Bottich auf St. Pauli genommen und über die Hamburger Dombuden, über Tierschau und Zirkusleben hinweg bis zum Tierpark in Stellingen führte, so hat mich mein eigener Lebenspfad durch die Kreise des fahrenden Volkes aufwärts geführt durch das Lager der Wissenschaft und vielfach bis in die Kreise der Regierenden. Auf den weitverzweigten Feldern meiner Arbeit in allen Ländern der Erde bin ich vielen Menschen begegnet, manche Hand hat sich mir vertraulich entgegengestreckt, und das große Glück ist mir zuteil geworden, unter Menschen aller Stände und jeder Farbe Freunde und Förderer zu finden. Wenn ich jetzt alle die, deren Erscheinung sich in meiner Erinnerung eingegraben hat, im Geiste vorüberziehen lasse, bin ich selbst erstaunt über die Fülle der Gestalten. Regierende Häupter, die Gewaltigen der Erde, Häuptlinge wilder Völkerstämme, Gelehrte und Tierbändiger, Weltreisende und Artisten, Philosophen und Gaukler – alle sind mitbestimmend in mein Leben getreten, und manchen Namenszug, der unter anderen Schriftstücken das Schicksal unserer Welt beeinflußte, bewahrt mein altes Gästebuch für
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die Nachwelt auf. Neben diesen in Elefantenhaut gebundenen Erinnerungsblättern meines Lebenswegs liegt dort im feuersicheren Fach des Geldschrankes die blaue Porzellanuhr meines lieben Vaters, die er bei meiner ersten, ernstlich gerügten Unpünktlichkeit damals mit strengem Blick zu Rate zog. Daneben sehe ich dort mein erstes Türschild. »Carl Hagenbeck jr.« ließ ich stolz in sauberen Lettern auf die kleine Tafel malen, als ich, ein frischgebackener Ehemann, am 11. März 1871 meinen eigenen Hausstand gegründet hatte. Heute bin ich selbst der »alte Hagenbeck« und trage einen greisen Bart. Habe ich in den vorangegangenen Kapiteln hin und wieder dem Gang der Ereignisse vorgegriffen und Erlebnisse aus dem Stellinger Tierpark erzählt, ohne ins einzelne zu gehen, so will ich das Versäumte jetzt nachholen. Wie ein Baum seine Äste entfaltet, so waren aus dem Stamm des Tierhandels die jungen Triebe der Völkerschauen, der Dressurschule und der mannigfachen Züchtungsversuche hervorgewachsen, und manches werdende Projekt ringt noch nach Wachstum und Blüte. Allein schon um einen neuen Zweig meines Unternehmens zur vollen Entfaltung bringen zu können, war die Schaffung eines umfassenden Geländes unumgängliche Notwendigkeit. Die Einführung jagdbaren Wildes aus fernen Landstrichen, der Import und Export von Haus- und Nutztieren hatte begonnen.
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Hand in Hand damit ging die Akklimatisierung, Züchtung und Kreuzung einheimischer mit fremden Tierrassen. Große Lieferungen für neu gegründete zoologische Gärten in Süd- und Nordamerika erforderten ebenfalls große Räume für den Tierbestand. Von dem Ausmaß des Tierhandels, der sämtliche Zoos und Tierschauen der Welt umfaßt, zeugt wohl am besten die Tatsache, daß die Kaiser von Deutschland, Österreich und Rußland, die Sultane der Türkei und Marokkos wie der Mikado von Japan mich bereits vor der Jahrhundertwende mit ihren Aufträgen beehrten. So mußte ich mich nach einem Gelände umsehen, das meinen Zukunftsplänen keine Schranken setzte. Wo aber war in Hamburg ein Gebiet zu finden, das nach Größe und Lage für meine Zwecke in Betracht kommen konnte? Zwar besaß ich in der hamburgischen Vorstadt Horn ein größeres Grundstück. Aber alles angrenzende Land gehörte dem Hamburger Staat und schloß für mich die Möglichkeit aus, mich zu vergrößern. Außerdem wurde mir auf Anfrage mitgeteilt, daß von Staatsterrain nichts verkäuflich sei. Vergeblich bemühte ich mich jahrelang, auf hamburgischem Gebiet ein Grundstück von geeigneter Größe zu erwerben, und ich empfand es schmerzlich, daß in meiner eigenen Vaterstadt kein Raum für mich sein sollte.
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»Nach Stellingen!« rief ich dem Kutscher zu, als ich an einem schönen Sonntagmorgen die Droschke bestieg, um meinen alten Freund Wegner zu besuchen, der dort im Preußischen weit vor den Toren Hamburgs beschaulich in dörflicher Einsamkeit wohnte. Zweimal mußte mein Kutscher auf der langen Fahrt den Weg zwischen den Wiesen und Feldern erfragen, bis ich meinen Freund erreichte und ihm meine Sorgen anvertrauen konnte. Da erging es mir in jenen Minuten wie dem Manne, der seine Brille sucht, während er sie auf der Nase hat. Mitten im Gespräch nahm mich Wegner plötzlich beim Arm und sagte: »Komm mal eben mit, ich will dir ein schönes Stück Land mit einer kleinen Villa zeigen, das momentan billig zu haben ist.« Wir traten vor die Tür. Wegner führte mich zu einer Hecke, hinter der in einem arg verwilderten Garten eine Villa lag. Das Gelände hatte einen Umfang von 200000 Quadratfuß und sollte für 35000 Mark zu haben sein. Zwei Tage später war das Grundstück mein Eigentum. Am nächsten Mittwoch, es war der 9. September 1897, erfuhr ich von meinem alten Freund, daß zwei angrenzende Grundstücke ebenfalls noch preiswert zu haben seien, und vierundzwanzig Stunden später hatte ich auch diese Parzellen meinem neuen Eigentum hinzugefügt. Wonach ich jahrelang gesucht hatte, war mir nun durch einen Zufall innerhalb weniger Tage in den
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Schoß gefallen. Nun hatte ich endlich ein prächtiges, hochgelegenes Terrain, welches sich vorzüglich zur Anlage eines Tierparkes eignete. In meinem Kopf gruppierte sich sofort der ganze Ausbau und fand in einer Zeichnung mit Angaben der Einteilung seine erste praktische Gestalt, so daß ich bereits fünf Monate später zwölf große Gehege und fünf schöne Tierhäuser fertiggestellt hatte. Das Werk wuchs indes in der Arbeit. Gelände und Baulichkeiten eigneten sich ganz vorzüglich für meine Zwecke, nur war die Anlage zu weit von meinem Hauptgeschäft in der Stadt entfernt, zu der die Verkehrsverbindungen sehr schlecht waren. Da kam ich auf den Gedanken, daß es vielleicht möglich sei, das von meinem Grundstück nach der Hamburger Grenze zu gelegene große Gelände preiswürdig zu erwerben und eventuell an ein Konsortium weiterzuverkaufen, um mir auf diese Weise die ganze Gegend aufzuschließen und eine direkte Verbindung zwischen dem preußischen Stellingen und dem hamburgischen Eimsbüttel herzustellen. So leicht, wie ich es mir vorgestellt hatte, ging die Sache natürlich nicht. Nicht alle Leute sahen mit meinen Augen. Fünf volle Monate waren bereits ins Land gegangen, als mir endlich wieder mein bester Freund, der Zufall, zu Hilfe kam. Eines Tages erhielt ich den Besuch eines mir wohlgesinnten Hamburger Herrn, der
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in England lebte und in Begleitung seines Bruders im Tierpark am Neuen Pferdemarkt ungarische Hirsche besichtigt und gekauft hatte. Nichts war natürlicher, als daß ich den Gästen von meinem neuen Wildpark in Stellingen erzählte und sie einlud, sich die Anlage anzusehen. Draußen in Stellingen besichtigten wir einige frisch eingeführte Hirsche und Rehe, wobei ich gesprächsweise meinen Plan erörterte, weiteres Gelände für mich anzukaufen, um mein Lieblingsprojekt, einen Tierpark nach meinen eigenen Ideen, ausführen zu können. Nachdem ich mit meinem kleinen Vortrag zu Ende war, sah der eine der Gäste mich nachdenklich an und sprach die einfachen Worte: »Das scheint mir eine gesunde Sache zu sein. Für mein Teil habe ich 100000 Mark dafür übrig!« Mit der gleichen Summe beteiligte sich der Bruder dieses Herrn und sprach die Hoffnung aus, daß es nicht schwerhalten könne, eine kleine Gesellschaft für das Unternehmen zusammenzubringen. Nach weiteren acht Wochen war die ganze Angelegenheit perfekt geworden. Ich selbst hatte mich verpflichtet, mein ganzes Unternehmen nach Stellingen zu verlegen, mich mit mindestens 150000 Mark zu beteiligen und in Stellingen nach meinen neuen Plänen einen neuartigen Tierpark anzulegen. Um mich an dieser Stelle kurz zu fassen, will ich nur sagen, daß der leitende Gedanke der war, die
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29.998 Hagenbeck: Von Tieren und Menschen Hagenbeck-Erinnerungen, 207
Tiere in größtmöglicher Freiheit und in einem der freien Wildbahn angepaßten Gehege ohne Gitter zu zeigen, damit aber gleichzeitig zu beweisen, was die Akklimatisation zu tun vermag.1 An einem großen, praktischen und dauernden Beispiel wollte ich den Tierliebhabern zeigen, daß es gar nicht nötig ist, luxuriöse und kostspielige Gebäude mit großen Heizanlagen einzurichten, sondern daß der Aufenthalt in freier Luft und die Gewöhnung an das Klima eine weit bessere Gewähr für die Erhaltung der Tiere bieten. Ein modernes Tierparadies sollte sich da aufbauen, wo jetzt noch nichts zu sehen war als Sturzäcker. Von einem gegebenen Punkte des Gartens sollte man die Tiere aller Zonen in großen Abstufungen, jede Art in einer ihrer Heimat angemessenen Umgebung, gleichsam frei sich bewegen sehen. Die Gemsen, Wildschafe und Steinböcke auf künstlichen Gebirgen, die Tiere der Steppen auf weiten freien Triften, die Raubtiere in unvergitterten Schluchten, nur durch einen Graben von dem Besucher getrennt. In der Mitte sollte sich ein Zentralgebäude mit großer Arena für Dressurzwecke erheben nebst Räumlichkeiten für das, was ich im Tierhandel den Transitverkehr nennen möchte. Eine ungeheure Arbeit lag vor uns. Im Oktober des Jahres 1902 waren die Pläne so weit gediehen, daß mit den Erdbewegungen begonnen werden konnte. Bald darauf glich der gleiche Platz einer Szene aus
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Aladins Wundergeschichten. Leider war es mir nicht vergönnt, lediglich an jener märchenhaften Lampe zu reiben, um meine Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen, sondern ein Heer von Tiefbauarbeitern, Ingenieuren, Künstlern und Architekten ließ in mühevollem, jahrelangem Schaffen diese meine Pläne täglich mehr und mehr Gestalt annehmen. Da blinkten die Schaufeln und Spitzhacken, rasselten die Gespanne und die von Arbeitselefanten gezogenen Feldbahnen über die Gleise. 40000 Kubikmeter Erde mußten bewegt werden, damit Landschaftsgärtner Hinsch mit seinen Helfern aus dieser Wildnis einen Luxuspark zaubern konnte. Hoch auf den ragenden Gerüsten der zukünftigen Gebirgsformationen gestaltete der geniale Schweizer Bildhauer Urs Eggenschwyler inmitten seiner Schar von Maurern und Zimmerleuten mit Kelle und Meißel die alpinen Felspartien, die in ihrem hohlen Inneren Aussichtskanzeln, Pumpstationen und Stallungen für das künftige Hochgebirgswild der Dolomiten und des Himalaja bergen. Gleichzeitig wuchsen die Mauern neuzeitlicher Gaststätten, Pavillons und des großen Zentralgebäudes aus ihren Fundamenten. Stetig schritt das Werk vorwärts, galt es doch nicht wie in St. Louis oder auf der Berliner Gewerbeausstellung aus Gips und Kulissen eine Scheinwelt zu errichten, sondern diesmal wollte ich erstmalig in der Welt die Tiere aller Breiten in einem
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nordischen Tierparadies akklimatisieren. Als sich am 7. Mai 1907 die großen Portale öffneten, erwachte das Dorf Stellingen aus seinem Dornröschenschlaf. Tausende und aber Tausende trafen mit der zu diesem Tage eröffneten Straßenbahn ein und drängten durch den monumentalen Haupteingang, den der Bildhauer Josef Pallenberg mit den mächtigen, Ampeln tragenden Bronzehäuptern der Elefanten geschmückt hatte. Löwen und Eisbären verkörpern die Tierwelt der polaren und der tropischen Zonen, während die erzenen Standbilder des kriegerischen Somali und des Siouxindianers, modelliert von Franke-Berlin, die Völkerschauen zweier Welten versinnbildlichen. Hier stand ich mit dem Zylinder in der Hand und begrüßte die Ehrengäste, welche, in Equipagen und Automobilen vorfahrend, meiner Einladung gefolgt waren. Es waren anwesend die Oberbürgermeister von Hamburg und Altona, die Senatoren, Gesandte und Konsuln, Spitzen der Behörden und Prominente des kulturellen Lebens, die Prinzipale der großen Schiffahrtslinien und Handelshäuser und als besonders aufmerksame Gäste die Direktoren der europäischen Tiergärten, die Zoologen und Künstler. Einen Namen aus dieser Schar zu erwähnen, hieße viele liebe Freunde zurücksetzen, die alle mit Rat und Tat mit dazu beitrugen, daß ich dies mein Werk heute der
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Öffentlichkeit feierlich übergeben konnte. Den Höhepunkt der Tierparkbesichtigung bildeten die Vorführungen Fritz Schillings, der in der neuen Manegenhalle die wunderbaren Ergebnisse der zahmen Dressur an einer großartigen gemischten Raubtiergruppe zeigte: die Könige der Wüste und des ewigen Eises unter dem Kommando ihres menschlichen Meisters. Später auf dem Eröffnungsbankett klopfte Direktor Julius Schiött vom Kopenhagener Zoo an sein Glas und brachte einen humorvollen Toast aus auf das eröffnete Tierparadies, wobei er einen launigen Vergleich zwischen diesem und dem Garten Eden zog und meine Frau und mich als Adam und Eva apostrophierte. Die Presse- und Kritikerstimmen – auch an denen fehlte es nicht – füllten in der Folgezeit manchen dickleibigen Band. Von allen Seiten, in allen Sprachen setzte man sich mit dem neuen tiergärtnerischen Ereignis auseinander. Stellingen war in das Rampenlicht der Weltöffentlichkeit getreten, und täglich strömten neue Besucherscharen zum Tierpark, der selbst bei einem eintägigen Aufenthalt in Hamburg in allen Prospekten den Reisenden neben der obligaten Hafenrundfahrt nebst Ozeandampferbesichtigung als erste Sehenswürdigkeit empfohlen wird. Waren es am ersten Pfingstfest des Eröffnungsjahres schon über 43000 Besucher, so verdoppelte sich im zweiten Jahre bereits diese Zahl, als ich zur besseren Entfal-
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tung der Völkerschauen und weiterer Neuanlagen den zweiten Teil des Geländes durch eine die KaiserFriedrich-Straße überspannende Brücke mit dem jetzt rund 250000 Quadratmeter großen Park verbunden hatte. Wo vor wenigen Jahren nichts zu sehen war als weite Kartoffeläcker und ein ungepflegtes, von Gestrüpp bedecktes Feld, erhebt sich heute eine blühende Landschaft, deren Charakter zwar nicht mit demjenigen der Norddeutschen Tiefebene übereinstimmt, aber dem Zwecke entspricht, für den sie geschaffen wurde. Gebirgsformationen und Felsschroffen steigen in die Luft empor. Zu ihren Füßen grünen weite Triften und schimmern glitzernde Seenspiegel, über die sich zur japanischen Insel zwischen den rotlackierten Tempeltoren zierliche Brücken spannen. Berge, Triften und Gewässer aber sind angefüllt mit einem eigenartigen Leben, das sich in unaufhörlicher Bewegung befindet und dem Beschauer immer neue reizvolle Ausblicke gewährt. Wenn man die Schritte zum Hauptrestaurant des Tierparks lenkt und, diesem Gebäude den Rücken zukehrend, den Blick geradeaus schweifen läßt, eröffnet sich ein seltsames und gewaltiges Panorama: das Tierparadies. Ganz im Vordergrund, in der Ferne von niedrigen Felsen abgeschlossen, blinkt das Wasser eines großen Vogelteiches, an dessen beiden Ufern sich Flamingo-
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schwärme, Kraniche, Pelikane und Ibisse tummeln, während das Wasser von unzähligen Schwänen, Enten und Gänsen verschiedenster Arten belebt ist. Dahinter breitet sich die afrikanische Steppe. Mit wiegendem Gange folgt ein Dromedar einer flüchtenden Zebraherde. Langbeinige Strauße stelzen zwischen zierlichen Gazellen und Antilopen. Was aber das Auge jenseits dieser durch tief gelegene Besucherwege jeweils näher zu betrachtenden Gehege gewahrt, erscheint aus der Entfernung ganz unwirklich und traumhaft. Nur wenige Schritte von den eben beschriebenen Pflanzenfressern entfernt, tummeln sich in einer offenen, ganz frei gelegenen Felsenschlucht eine Anzahl von Löwen, und noch weiter hinaus wuchtet ein breiter Gebirgsblock kühn in die Höhe, dessen Felsenvorsprünge bis zum Gipfel hinauf mit Bergtieren belebt sind. Unbeweglich steht auf hohem Grat ein Markhurbock, dessen Schraubengehörn sich prächtig vom blauen Hintergrund des Himmels abhebt. Jetzt beugt das Tier sich zurück, um im nächsten Augenblick gleich einem Vogel im Fluge über eine Kluft hinwegzuschnellen. Mähnenschafe aus Nordafrika und die berühmten sibirischen Wildschafe, Himalaja-Wildziegen in ganzen Rudeln und mannigfache andere Tiere führen auf allen Seiten der Felshänge ihre Kletterkünste aus. Die Freiheit, welcher sich alle diese Geschöp-
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fe erfreuen, ist Schein und Wahrheit zugleich. Die Löwen in ihrer Grotte können zwar ihre Kräfte frei entfalten, kein Gitter schließt sie von der Umgebung ab – wohl aber ein breiter Graben, der durch eine mit Gewächsen bepflanzte Barriere unsichtbar gemacht ist. Die Illusion ist so vollkommen, daß die meisten Besucher sich erst durch eine Besichtigung des Grabens, zu dem längs der Felswand ein schmaler Durchgang führt, von der Tatsächlichkeit der Anlage überzeugen lassen. Meine ersten Versuche, Tiere auf diese Art in Freiheit vorzuführen, machte ich im Jahre 1896 auf der Ausstellung in Berlin, wo mir durch das Kaiserliche Patentamt unter der Urkunde Nr. 91492 das Patent des »Panoramas« erteilt und bestätigt wurde. Ehe diese Anlagen ins Leben traten, habe ich Versuche darüber angestellt, wie weit das Sprungtalent der verschiedenen Tierarten reicht. Katzenartige Raubtiere wurden auf diese Fähigkeit hin schon in meinem großen Außenkäfig am Neuen Pferdemarkt geprüft. Um zunächst festzustellen, wie hoch diese Tiere zu springen vermögen, wurde an einem drei Meter über dem Erdboden ragenden Palmenzweig eine ausgestopfte Taube befestigt. Die in den Käfig eingelassenen Löwen, Tiger, Panther und Leoparden bemerkten die Taube bald und bemühten sich um die Wette, die Beute vom Baum herunterzuholen. Löwen und Tiger
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brachten es mit ihren Sprüngen kaum über zwei Meter hoch. Die schwarzen Panther und Leoparden erreichten eine Höhe von drei Metern, so daß sie wohl den Palmenzweig packten, aber die Taube, welche noch höher befestigt war, trotz aller energischen Versuche nicht herunterholen konnten. Der größte Weitsprung, den ich in der Arena erprobte, gelang den Leoparden ohne Anlauf auf eine Entfernung von drei Metern. Ich bin indes überzeugt, daß sie bei einem größeren Anlauf vier bis viereinhalb Meter erzielen würden. Auf Grund dieser Versuche sind die Einrichtungen in Stellingen getroffen worden. Sollten die Tiere es auch versuchen, mit einem Anlauf von zehn Metern den Graben zu nehmen, so würden sie schon in der Mitte des Grabens auf halber Sprungweite in die Tiefe fallen. Um noch größere Sicherheit zu erzielen, erfand ich jene schmale Leiste an der äußeren Kante des Geheges. Sie liegt tiefer, so daß absprungbereite Tiere mit den Vorderpranken tiefer stehen als mit den Hinterbeinen: eine ungünstige Absprungstellung, die einen weiten Sprung verhindert. Gehen die Tiere in dieser Rinne entlang, so stehen sie im rechten Winkel zu der Absprungrichtung, in einer Position also, die ein Überspringen des Grabens unmöglich macht. Das Eismeerpanorama, jene ebenfalls von dem Erbauer der Felsen, Urs Eggenschwyler, geschaffene
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Freianlage für Walrosse, Robben, Eisbären, Rentiere und Wasservögel, vereinigt in sich ebenfalls mehrere dieser Grotten und Schluchten. Künstliche Eisbarrieren täuschen eine arktische Landschaft vor, die von allen polaren Tierarten belebt ist, ohne daß jedoch die Eisbären sich aus den von speckglänzenden Robben und Seebären erfüllten Becken einen saftigen Braten zu angeln vermögen. Allen Tieren ist wie den Menschen der Spieltrieb angeboren. Die Lust zum Spiel geht durch den ganzen Tierpark, und es wird ihr schon jetzt Rechnung getragen, während in Zukunft noch ganz besondere Einrichtungen dafür vorgesehen sind. Für die kalifornischen Seelöwen, die ein angeborenes Talent zum Balancieren von Gegenständen besitzen, genügt ein ins Wasser geworfener Knüppel, mit dem sie bald zu jonglieren beginnen. Das Rhinozeros dagegen ist von Natur ein Athlet und muß mit Apparaten versehen werden, an denen es seine Kraft erproben kann. Ich ließ in seinen Stall einen stramm mit Heu gefüllten Sack hängen, eine Art Punchingball, wie ihn heute die amerikanischen Boxer benutzen. Diese Gebrauchsauffassung schien auch mein Nashorn zu teilen, denn es begann sofort mit dem Sack herumzuboxen und ward dieses Spiels gar nicht müde. Die Bisons, die ja ebenfalls Kraftgenies sind, erhielten als Spielgegenstand ein Fäßchen, das sie hin
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und her rollten und mit den Hörnern in die Luft schleuderten. Die Forderung »panem et circenses«2 gilt also auch im Tierreich, um die Bevölkerung bei guter Laune zu erhalten. Neben Futter und Spiel steht als dritter großer Bewegungsfaktor die Liebe und die Freundschaft. Gäbe es unter den Tieren auch den Klatsch, der in der Menschenwelt so weitverbreitet ist, der Tierpark wäre voll davon. Hauptsächlich würde es sich natürlich um die Mesalliancen drehen, die hier ihr Wesen treiben. Was kann es Aussichtsloseres geben als die Neigung zwischen einer riesigen Elefantenkuh und einem Känguruhmännchen! Und doch ist eine solche Freundschaft, die geradezu einen innigen Grad erreicht hat, beobachtet worden. Täglich spielten die beiden Tiere miteinander. Der Elefant liebkoste das Känguruh mit seinem Rüssel, und eins mochte nicht ohne das andere sein. Ein anderer Elefant, diesmal ein Bulle, hatte Freundschaft mit einer zierlichen Ponystute geschlossen, die ich schon an anderer Stelle erwähnt habe. Außerordentlich häufig sind diese Neigungsverhältnisse unter Vögeln verschiedener Art. Ein Kronenkranich und ein südamerikanischer Strauß gesellten sich zueinander. Ebenso ein Enterich und eine Möwe. Ich weiß aber nicht, ob es sich in diesen Fällen um eine Junggesellenfreundschaft oder um eine Liebe gehandelt hat. Wo viel Sonne ist, da gibt es aber auch viel
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Schatten, und der Eifersuchtsszenen ist kein Ende. Zu den interessantesten Tieren des Tierparks gehören meine Walrosse, von deren Fang, wie ihn mir mein Reisender Ole Hansen berichtete, ich bereits an anderer Stelle erzählte. Für die Wissenschaft gehört das Walroß, das man noch wenig in der Gefangenschaft beobachten konnte, zu den interessantesten Tieren. Es ist sehr empfindlich und bedarf großer Pflege, denn – es erkältet sich leicht. Einen derartigen Kapitalschnupfen kurierten wir einmal durch heiße Dampfbäder mit Erfolg. Die Tiere werden, wie man täglich sehen kann, von ihren Wärtern gefüttert wie die Kinder. Die Nahrung wird ihnen vor das Maul gehalten und schlürfend aufgenommen. Allerdings hat der Appetit nichts Kindliches an sich. Die drei jungen Walrosse, die ich im Oktober 1907 in der Nähe der Weigatsch-Inseln fangen ließ, fraßen im Monat 5035 Pfund Kabeljau, Lengfisch oder Seelachs im Werte von zusammen 710 Mark. Etwas teure Kostgänger! Den Leser wird es vielleicht interessieren, an dieser Stelle eine kleine Übersicht über die Bevölkerung der Tierstadt und ihre leiblichen Bedürfnisse vorzufinden. So betrug der Tierbestand einschließlich der Dressurgruppen beispielsweise im August 1908: 91 katzenartige Raubtiere, darunter 49 Löwen, 26 Tiger und 3 Löwen-Tigerbastarde, 18 Eisbären und 12 Bären anderer Arten, 40 Hyänen, Wölfe, Hunde in 15 Arten;
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ferner 15 Menschenaffen, 109 Affen in 22 verschiedenen Arten, 13 Elefanten, 3 Nilpferde, 2 afrikanische Nashörner, 4 Tapire, 3 Giraffen, 21 Kamele, Dromedare und Lamas, 57 Hirsche und Rehe, 43 Rinder, Wisente, Bisons und Büffel, 84 Wildschafe, Steinböcke und Ziegen in 18 Arten, 43 Antilopen, Elenantilopen und Wasserböcke, 73 Einhufer, darunter 21 Zebras. Ferner 3 Walrosse, 8 Robben, Seebären, Seelöwen, Seehunde usw. An Nagetieren waren 96 Exemplare in 8 Arten vorhanden, ferner 8 Gürteltiere, 12 Känguruhs, 36 Schildkröten, 12 Warane, Leguane usw., 11 Krokodile und Alligatoren sowie 68 Schlangen. Das Reich der Vögel umfaßte 1072 Stück, darunter 48 afrikanische Strauße, 18 Nandus, 11 australische Strauße und 13 Kasuare – dazu 295 Schwimmvögel, 273 Stelzvögel, darunter 90 Flamingos und 82 Kraniche, außerdem 187 Hühnervögel, 116 Singvögel, 69 Papageien, 21 Tukane, 16 Raubvögel. Weiter waren vorhanden Warzenschweine, Stachelschweine usw., insgesamt über 2000 Tiere, die einen Gesamtwert von 1125000 Mark repräsentierten. Was in der Küche dieser Stadt draufgeht, vermag der Leser sich schon einigermaßen vorzustellen, wenn er erfährt, daß ausgewachsene Löwen und Tiger täglich 10 bis 15 Pfund Fleisch verzehren, daß jeder ausgewachsene Elefant, wenn er müßig geht, 10 Pfund Hafer, 5 Pfund Kleie, 40 Pfund Rüben und 60 Pfund
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Heu zu sich nimmt, wozu er 6 bis 8 Eimer Wasser hinunterspült. Diese Rationen erhöhen sich, wenn die Tiere arbeiten. An Delikatessen sind die unverdorbenen Magen der Tiere nicht gewöhnt, dennoch bietet der Speisezettel eine ziemliche Abwechslung, was aus der nachstehenden Futterliste für ein Jahr bei dem vorgenannten Tierbestande zu ersehen ist. Demnach gingen durch die Nahrungsmittelabteilungen des Tierparks im Laufe eines Jahres: 85107 kg Pferdefleisch 34945 kg Rindfleisch 120 Tauben 270 Kaninchen 150 Hühner 55128 kg Fische, davon 28825 kg für Walrosse 18156 kg Weißbrot 15425 kg Roggenbrot 4300 kg Kohl 250 kg Salat 400 kg Johannisbrot 800 kg Leinkuchen 3000 kg Eicheln u. Kastanien 210 kg Datteln 4500 Stück Eier 1104 kg Hafermehl 13838 Liter Milch 12100 kg Weizen 88857 kg Hafer 7600 kg Gerste
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800 kg Erbsen 8600 kg Pferdekeks 7600 kg Hundekeks 16700 kg Mais 18300 kg Quetschmais 7000 kg Kartoffeln 850 kg Pferdemelasse 4500 kg Wurzeln 99555 kg Rüben 1225 kg Hanf 1205 kg Buchweizen 975 kg Hirse 1625 kg Reis 60000 kg Preßstroh 86000 kg Preßheu 76559 kg Wiesen- u. Schilfheu 15000 kg Kleeheu 12400 kg Timotheeheu 6000 kg Rentiermoos 6850 kg Häcksel 22980 kg Haferstroh
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44650 kg Kleie
Ferner nahezu 50000 kg Roggen- und Haferstroh sowie, obwohl es nicht ganz in diese Rechnung paßt, 30000 kg Torfstreu und etwa 240000 kg Koks und Kohle. Die Ausgaben, welche diese Liste beansprucht, betrugen rund 150000 Mark. Hierzu kommen noch Fleischsuppen, Milch- und Fruchtsuppen, Bickbeerwein, Mehl, Kirschen, Trauben und andere Südfrüchte für die Menschenaffen, die durch den Schimpansen Moritz und das Orang-Paar Jakob und Rosa gegenwärtig vertreten werden. Die beiden Orangs erwarb ich von einem Farmer, der sie auf Borneo als ganz kleine Tiere erhielt und mit der Flasche aufzog. Sieben Jahre hindurch waren sie von klein auf stets an den Umgang mit Menschen gewöhnt. Des Mittags aßen sie mit am Tisch und erhielten das gleiche Essen wie die Farmerfamilie. Kurz, sie wurden als Kinder gehalten und betrugen sich auch gesittet und manierlich bei Tisch, eine Gewohnheit, die auch in Stellingen beibehalten wurde. Um ihnen den Mangel an Gesellschaft zu ersetzen, stellte ich einen besonderen Wärter an, dem es ausschließlich oblag, diese Tiere zu pflegen und sich dauernd mit ihnen zu beschäftigen. Dadurch hoffte ich, die Tiere seelisch so zu beeinflussen, daß sie den Verlust der Freiheit verschmerzten und keine Langeweile empfanden. Meine Anschauungen erwiesen sich
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als richtig. Ich erlebte die Freude, daß die beiden Affen nicht nur vortrefflich gediehen, sondern sich auch nach der geistigen Seite hin ausgezeichnet entwickelten. Sobald der Wärter nicht anwesend war, langweilte sich Moritz, der Schimpanse, und suchte durch allerlei Schabernack mit den Orangs seine Langeweile zu vertreiben. Bei den lustigen Balgereien bleibt Moritz stets Herr der Situation und weiß sich den Umarmungen Jakobs geschickt zu entwinden. Obwohl der Orang gleich hinter dem Flüchtling her eilt, gelingt es ihm doch selten, seiner habhaft zu werden, denn der Orang springt niemals und ist in seinen Bewegungen weit bedächtiger und weniger flink. Außerordentlich erfinderisch zeigte sich der Schimpanse bei seinen Versuchen, das Freie zu gewinnen. Da das Giraffenhaus, in dessen abgetrennter Abteilung die drei Menschenaffen untergebracht sind, sehr hoch ist, hatte man die trennende Holzwand nicht bis zur Decke hinaufgeführt, da man annahm, daß es für die Affen unmöglich wäre, bis auf die freie Kante dieser Holzwand und somit ins Freie zu gelangen. Moritz war aber anderer Ansicht, und es spricht für die tatsächlich sehr weitgehende Verständigung dieser Affen unter sich, daß Moritz seine Freundin, den weiblichen Orang Rosa, so zu beeinflussen wußte, daß sie mit ihm vereint einen Befreiungsversuch ausführte, bei dem aber nur Moritz profitierte. In dem
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Käfig der Affen befand sich nämlich eine große hohle Blechkugel. Moritz veranlaßte nun seine Freundin, mit ihm zusammen diese große Kugel auf die in einer Ecke befindliche große Schlafkiste hinaufzuheben. Sodann stellte sich Rosa auf diese Kugel, richtete sich an der Wand zur vollen Größe auf, und über ihre Schulter hinweg sprang Moritz mit einem tüchtigen Satz ins Freie und zwischen die Giraffen. Diese nahmen merkwürdigerweise so gut wie gar keine Notiz von dem Schimpansen, der sich mit wohlgezielten Faustschlägen ihre Zudringlichkeiten vom Halse hielt. Als der Wärter herzutrat, konnte er sich zunächst den Ausbruch gar nicht erklären. Erst als Moritz auf einer zweiten Flucht beobachtet wurde, erhöhten wir die Trennungswand. Der Schimpanse wußte sich jedoch Rat! Nicht umsonst hing ein dickes Tau an der Decke des Stalles, und Moritz wußte es, indem er daran turnte, derart in Schwingungen zu versetzen, daß es nur eines geschickten Absprunges zur rechten Zeit bedurfte, um wiederum die Höhe der Wand und damit die Freiheit zu erreichen. Als die Bretter nun bis zur Decke emporgeführt wurden, überraschte Moritz eines Tages den Wärter damit, daß er sich des Schlüsselbundes bemächtigte und, wie er es von ihm abgeguckt hatte, einen Schlüssel nach dem anderen prüfend in das Schloß steckte. Schließlich hatte er den richtigen gefunden. Zufällig kam ich hinzu, und als
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mir der Vorgang erklärt war, fragte ich unwillkürlich: »Moritz, wie hast du das fertiggebracht?« – Und als ob der Affe den Sinn meiner Worte begriffe, glitt über sein Gesicht ein schlaues Lächeln, und er wies mir den Schlüssel, als ob er sagen wollte: »Mit dem da habe ich es ausgeführt!« Für die hohe Intelligenz der Menschenaffen spricht auch die Tatsache, daß Jakob ein Eisenstück, das er von den Turngeräten losgebrochen hatte, als Hebel zu verwenden wußte, um das Vorhängeschloß aufzusprengen. Eine geradezu außerordentliche Freude bereitet jedem Tierfreund die Beobachtung der Affenmahlzeit. Die drei Menschenaffen erhalten außer saftigen Früchten noch Milch und Brot zum Frühstück, als Mittagessen aber ganz dieselben Speisen, wie sie in meinem Privathaus auf den Tisch kommen. Sie sind keine Kostverächter und haben sich an gute Hausmannskost gewöhnt, die ihnen vortrefflich mundet. Auch guten Rotwein mit Wasser vermischt erhalten sie zeitweise zur Mahlzeit. Dabei erweist sich Jakob als besonderer Weinliebhaber, während Rosa als Affendame dem Alkohol weniger Geschmack abgewinnt. Der Wärter hat die drei Affen bei Tisch so sehr an Manieren gewöhnt, daß es eine Freude ist, den Tieren zuzusehen. Moritz funktioniert dabei als »Ober«! Er muß die Speisen herbeischleppen, ein Geschäft, das er mit großem Ernst besorgt. Nach der
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Mahlzeit muß er auch abräumen. Die Suppe wird geschickt mit dem Löffel ausgeschöpft. Nur wenn der Wärter einmal nicht Obacht gibt, fällt ein Kulturaffe aus der Rolle und schlürft genießerisch die Suppe mit weit vorgespitzten Lippen. Ein mahnendes Wort – und schleunigst tritt der Löffel wieder in Tätigkeit, zum großen Vergnügen der stets zahlreichen Zuschauer. Als mein Enkel Fritz Wegner und der junge englische Dompteur Reuben Castang eines Morgens auf ihren Fahrrädern an dem Affenhaus vorrüberradelten, gebärdeten sich die Vierhänder wie toll. Was lag näher, als dies offenkundige Interesse in die richtigen Bahnen zu lenken! Und wenige Tage später sah man Moritz eifrig die Pedale tretend auf seinem Kinderrad die Wege des Stellinger Tierparks unsicher machen. Dem geborenen Sanguiniker macht das Radeln großen Spaß. Oft fährt er klingelnd und schreiend so schnell, daß der ihn begleitende Dompteur kaum zu folgen vermag. Ich kann hier nicht aufzählen, was man dem klugen Tier alles beigebracht hat. Kurz, es beträgt sich ganz wie ein Mensch und vollführt Kunststücke, wie man sie sonst nur von Artisten zu sehen bekommt. Moritz geht stets völlig bekleidet mit Strümpfen, Schuhen, Unterkleidern, Weste, Rock und Mütze. Er speist dasselbe, was sein treuer Lehrer und Reisebegleiter R.
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Castang zu sich nimmt. Er schläft in seinem Bett, raucht seine Zigarette, trinkt seinen Wein, und wenn er reist, reist er 2. Klasse! – Im Frühjahr war er kurze Zeit zu Besuch in Stellingen. Als er mich sah, flog mir Moritz förmlich an den Hals, und die Freude des Tieres über das Wiedersehen war geradezu rührend. Jetzt befindet er sich wieder auf Reisen, denn er ist für die verschiedensten Städte Europas engagiert. Meiner Ansicht nach scheiterte die Haltung der Menschenaffen, insbesondere der Gorillas, bisher nicht an der äußeren Pflege, die diesen Affen zuteil wird, sondern an der seelischen Behandlung. Man hat diesen hochorganisierten Affen bisher viel zuwenig Empfindung zugetraut, und ich glaube bestimmt, daß die meisten Gorillas an Heimweh zugrunde gingen. Einen einzigartigen Anblick boten meine drei Menschenaffen, als ein Herr Heinike aus Kamerun einen jungen Gorilla in Begleitung seiner beiden Negerspielgefährten zum Tierpark brachte. Der Schimpanse drückte zunächst sein Erstaunen durch laute Rufe aus und versuchte dann, die Arme durch das Gitter strekkend, den Gorilla an sich heranzuziehen. Als ihm dies nicht gelang, wurde er unwillig und bewarf ihn mit Sand und Steinen. Auch die Orangs zeigten das größte Interesse für den neuen Ankömmling und gaben sich Mühe, seiner durch die Drahtwand des Gitters habhaft zu werden. Der Orang Jakob ahmte dem
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Schimpansen das Bewerfen mit Steinen nach, während Rosa in der Erregung zu speien anfing, was geradezu spaßhaft aussah. Überhaupt war es ein seltener Anblick, die drei Vertreter der Anthropomorphengeschlechter3 versammelt zu sehen! Lachstürme erregt es jedoch regelmäßig, wenn unseren Darwinschen Vettern die Musikinstrumente gereicht werden. Pauke, Triangel und Becken, und schon geht es los! Vierhändig und mit Leidenschaft. Fortissimo in allen Tonarten, und wenn man von den grinsenden, kunstbeflissenen Musenjüngern zum tränenlachenden Publikum blickt, so weiß man nicht, ob vor oder hinter dem trennenden Gitter die größere Freude herrscht. Selbstverständlich läßt es sich nicht verhüten, daß bei einem Bestande von Tausenden von Tieren Krankheiten aller Art auftreten. Nicht immer brauchen sie so gefährlich zu sein, wie es beispielsweise die Vorboten der Cholera waren, die, wie ich schon früher erwähnte, in kurzer Zeit meinen Tierbestand nahezu vernichteten. Ich rechne auch zu den besonderen Krankheitserscheinungen nicht die, welche sich nach einem anstrengenden Transporte aus dem Inneren ferner Kontinente und über die Weltmeere hinweg bei der Ankunft an vielen Tieren bemerkbar machen. Der Leser entsinnt sich aus dem Kapitel über den Tierfang, wie aufregend und erschöpfend sich der Fang
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für viele Tiere abspielt. Kommt ein derartiger Transport zum Tierpark, so ist es die Aufgabe der Pfleger, zunächst die Nerven dieser Tiere zu beruhigen und ihnen durch eine wohlbemessene Nahrung die Wiederherstellung ihres normalen Gesundheitszustandes und die Gewöhnung an das neue Klima zu erleichtern. Sind die Tiere erst einmal aufgefüttert und akklimatisiert, so lassen sich im allgemeinen feste Regeln für ihre Ernährung innehalten. Der ausgewachsene Löwe erhält seine beschriebenen Portionen. Ich pflege dreimal mit Pferdefleisch und einmal mit Rindfleisch in der Woche zu füttern, von letzterem die Köpfe und Herzen der Rinder mit. Einmal in der Woche wird für die Raubtiere ein Fastentag eingelegt. Nicht aus Ersparnisrücksichten, sondern weil die Raubtiere in der Freiheit sich auch nicht täglich an den gedeckten Tisch setzen können, diese Fütterungsweise also mehr der natürlichen entspricht. Auch gebe ich reichlich Knochen, denn das Sprichwort bewahrheitet sich, daß Knochen die Knochenbildung fördern, und außerdem kräftigen sie das Gebiß. So hatte ich einmal einen hervorragend schönen Berberlöwen, der an schwerer Zahnfistel an den Fangzähnen und den beiden Zahnreihen des Oberkiefers litt. Zunächst erhielt er Milch, Eier, gehacktes und geschabtes Fleisch, eine Nahrung, welche die Entzündung nicht weiter beunruhigte. Die dick angeschwollenen Lippen traten zurück, das Tier
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kräftigte sich wieder, und nun schritt ich zur Knochenfütterung, wodurch die schadhaften Zähne von selbst ausbrachen. Einen der interessantesten Fälle aus den Krankheitsgeschichten, die im einzelnen mehr den Fachmann als den Leser interessieren werden, erlebte ich an einer indischen Büffelkuh, die vor der Einschiffung noch in ihrer Heimat erkrankte. Bei dieser hatte sich aus nicht aufgeklärten Gründen eine eiternde Entzündung an der Schnauze gebildet. Das Tier fieberte und magerte zusehends ab. Eine Untersuchung ergab, daß das eiternde Geschwür von unzähligen Schmarotzerwürmern angefüllt war. Die arme Kuh wurde zunächst auf wissenschaftliche Methode erfolglos behandelt, bis eines Tages ein alter Hindu voll Interesse die Kuh betrachtete. Als ihm mitgeteilt wurde, wie viele fruchtlose Heilungsversuche bereits unternommen waren, erbot er sich schmunzelnd, das Tier innerhalb eines Tages zu kurieren. Wir gaben das Tier bereits verloren und hatten nichts dagegen einzuwenden. Der Hindu verschwand und kehrte nach einigen Stunden mit einem Bündel blütentragender Zweige eines uns unbekannten Strauches zurück. Ich kann nur sagen, daß die Blüten einen ziemlich durchdringenden Geruch verbreiteten. Diesen Blumenstrauß band der Medizinmann an die Schwanzquaste der Kuh. Das Tier wurde natürlich davon beunruhigt und schlug
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sich mit dem Schwanze um den Kopf, versuchte auch, die Zweige vom Schwanz loszureißen, und brachte sie dabei ständig mit dem Maul in Berührung. Nach nicht allzulanger Zeit fielen die Würmer wie betäubt aus der Nase. Das Geschwür wurde nun ausgewaschen, und nach kurzer Zeit trat eine gründliche Heilung ein. Einfach wie dieses Hausmittel, wenn man es erst kennt, sind alle jene Kuren, die ich auf Grund eigener Erfahrung herausgefunden und mit der Zeit in ein ziemlich geordnetes System gebracht habe. Stets habe ich versucht, mit altbewährten Hausmitteln zu arbeiten, sofern es sich nicht um besondere Infektionserscheinungen handelte. Es ist auch ausgeschlossen, jedesmal, wenn einer von meinen Tausenden von Schützlingen einen Schnupfen oder einen kranken Fuß hat, tierärztlichen Rat und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Als eines der Beispiele, wie ich mir in solchen Fällen durch eigenes Beobachten und Nachdenken stets zu helfen suchte, möchte ich noch die Geschichte eines Eisbären erzählen, dem in dem engen Käfig seines früheren Herrn mangels Bewegungsfreiheit die Krallen an den Hinterpranken nicht nur ins Fleisch hinein, sondern völlig durch das Fleisch hindurch gewachsen waren, so daß die Spitzen an der Oberfläche wieder heraustraten. Dieses Übel tritt leicht bei Eisbären ein, denn sie haben die Gewohnheit, sich bei allen Wendungen kurz auf der Hinter-
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hand umzudrehen. Ich ließ einen großen Umsatzkasten bauen und nötigte den Eisbären, aus seinem großen Käfig in diesen nur einen halben Meter breiten hinüberzuwandern. Der Kasten hatte vorn Gitterstäbe, auf die der Eisbär zu stehen kam, als ich den Kasten mit Hilfe einiger Wärter hochkantete. Es war mir darum zu tun, dem Tier ohne Fesselung und Narkose die Krallen abzuschneiden. Als der Bär auf seinen Füßen stand, wurde der Kasten mit Schraubstöcken und Tauen angehoben und auf Böcke gesetzt. Jetzt kroch ich unter das Gitter und schnitt von unten her die Nägel mit einer kräftigen Eisendrahtzange aus, nachdem ich das jeweilige Bein festgebunden hatte. Es war verhältnismäßig leicht, die abgeschnittenen Nagelstümpfe aus dem entzündeten und faulen Fleisch herauszuziehen. Darauf siedelte der Eisbär in einen anderen Käfig über, dessen Boden mit Zink ausgeschlagen war und den ich mit eiskaltem Wasser füllte, während ich den anderen Teil des Käfigs etwa eineinhalb Meter höher aufbockte. Der Bär war auf diese Weise gezwungen, mit seinen Hinterpranken im Wasser zu liegen, das ständig kühl und sauber gehalten wurde. Nach vierzehn Tagen war der Bär vollkommen geheilt und wanderte gegen einen hohen Preis in eine Tierschau. Weit verbreitet ist auch in der Tierwelt die Vorliebe für Alkohol und Zucker. Mit dem Hinweis darauf,
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daß man Rennpferden vor dem Start Sekt zu trinken gibt oder ihnen mit Schaumwein die Nüstern wäscht, sage ich wohl nur den wenigsten etwas Neues. Daß Affen gerne Wein und Alkohol trinken, ist vielfach verbürgt, und der Leser entsinnt sich noch des angetrunkenen Elefanten, der mir auf dem Transport allerhand Unannehmlichkeiten bereitete, so daß ich ihn mit einem Kanonenrausch auf die Streu strecken mußte. Die Anwendung des Alkohols bei Bären, und zwar in einer recht grausamen, jeden Tierfreund empörenden Absicht, erfuhr ich gelegentlich eines Verkaufs von mehreren europäischen Bären an den Tierschaubesitzer Malferteiner. Als ich ihm die Bären übergeben hatte, bemerkte ich, daß seine Käfige für die ungewöhnlich großen und starken Tiere nicht widerstandsfähig genug waren. Zu dieser Zeit tauchte eine Zigeunerbande auf, die für die Bären großes Interesse hatte. Malferteiner stellte fest, daß die Burschen über einige Barmittel verfügten, und verkaufte seine gerade erworbenen Bären sofort weiter an diese dunkle Zunft von Wahrsagern und Kesselflickern. Auf die Frage, wie sie ohne Hilfsmittel und Käfige diese keineswegs gezähmten Bären zu transportieren gedächten, hatten sie verschmitzt gelacht und ihm bedeutet, das solle er nur ihre Sorge sein lassen. Das erste, was diese Zigeuner taten, war, daß sie den armen Tieren zwei Tage lang nichts zu fressen gaben. Darauf
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schleppten sie ein Faß Salzheringe herbei. Der Widerwille gegen diese Nahrung half dem Meister Petz nichts. Der Hunger war stärker als die Abneigung. Am dritten Tage waren die Heringe aufgefressen. Nun stellte sich natürlich ein jämmerlicher Durst bei den Tieren ein. Wasser bekamen sie aber nicht. Dagegen stellten ihnen die neuen grausamen Besitzer einen Bottich mit stark versüßtem Spiritus vor die Nase. Gierig stürzten sich die Bären über die wohlschmekkende Flüssigkeit und betranken sich vollkommen. Sie sanken in einen todähnlichen Schlaf, worauf die Zigeuner furchtlos in den Käfig zu den völlig ungefährlichen Raubtieren stiegen und ihnen mit Zangen die Fangzähne abbrachen und die Krallen von den Tatzen abkniffen. Es kam ihnen nicht darauf an, wenn sie bei dieser Operation tief ins Fleisch der Pranken rissen. Die Bären erwachten nicht davon, und Mitleid kannten diese Tierquäler nicht. Darauf wurden den beiden Raubtieren Ringe durch das Nasenbein gezogen und eine Kette um den Hals, eine andere durch den Nasenring gelegt. Die so gefesselten und wehrlos gemachten Geschöpfe luden die Zigeuner auf einen Wagen und fuhren mit ihnen fort. Nach mancher Stunde der Fahrt wachten die Tiere auf, fielen vom Wagen herunter und mußten nun, von einer Kette gehalten, hinterhertraben. Zum Überfluß hatten ihnen die Zigeuner noch Maulkörbe vorgelegt, die aber völ-
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lig unnötig waren, denn die noch immer halb betäubten, vom Schmerz geschwächten Bären dachten gar nicht an einen wohl gerechtfertigten Angriff auf ihre Peiniger. Im Jahre 1908 hatte ich den Plan gefaßt, in Stellingen die erste deutsche Straußenfarm zu errichten. Ein Jahr später war es nun soweit. Auf einer großen Wiese, um die sich die Ausläufer der einzelnen Zuchtpaare gruppierten, tummelten sich Hunderte von Straußenvögeln aller afrikanischen Rassen vom Kap bis zum Blauen Nil. Die größte Bewunderung erweckte jedoch das Kükenhaus mit den Brutmaschinen, wie ich sie auf den kalifornischen Farmen vorgefunden hatte. Wir beobachteten das Ausschlüpfen der Küken, die auf dem von Heizschlangen erwärmten Sand des Auslaufes trockneten und sich die ersten zwei Tage nur von winzigen Bissen der Eierschalen nährten. Der ganze wohltemperierte Raum war durch große Glaswände abgeteilt. Eine dort angesäte kleine Luzernewiese bot den Jungtieren die nötige Nahrung der ersten Tage. Später konnten sie durch die Glastüren ebenfalls nach eigenem Ermessen ins Freie gelangen, wo sie das gleiche Futter wie die ausgewachsenen Strauße erhielten. Nach einem halben Jahre wurden den inzwischen stattlich gewachsenen Küken die ersten Federn abgeschnitten, eine schmerzlose Prozedur, die sie in der Folgezeit aller neun Monate
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durchmachten. Dem Tierfreund sei verraten, daß die Tiere sich bei größtem Wohlbefinden ständig im Freien aufhalten und dabei ein prachtvolles Federkleid entwickeln. Das alljährliche Schneebad dieser grotesken Tropenvögel zählt wohl zu den seltsamsten Anblicken meines Tierparks. Veranlaßt mich mein Beruf und die Größe meines Unternehmens auf diese Weise zu einem Seitensprung von der Tierarzneikunde zur Damenmode, so liegt es noch näher, daß ich häufig die Grenzgebiete der Zoologie streifen muß. Panta rhei – alles fließt, sagte schon Heraklit4 und erkannte damit, daß die Fauna, welche heute die Erde belebt, nicht das Werk einer einmaligen Schöpfung ist, sondern sich aus uns unbekannten Anfängen in den verschiedenen Epochen unserer Erdgeschichte ständig wandelnd fortent wickelte. In Anpassung an die jeweiligen klimatischen und biologischen Bedingungen entstanden Tierwelten und traten ab von der Bühne des Lebens, wenn unser Erdball in Gezeiten, wie sie die Paläontologie unterscheidet, ihnen keine Lebensbedingungen mehr gewährte. Skelettfunde und Versteinerungen geben uns heute eine Vorstellung jener vorweltlichen Riesen, die in der Sekundärzeit unsere damalige Welt belebten. So fand man 1861 im Langenaltheimer Haardt bei Solnhofen den versteinerten Abdruck einer fliegenden Ei-
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dechse. Weitere Funde führten zur Rekonstruktion des Urvogels Archäopteryx. In Amerika erregte der Fund des völlig erhaltenen Skeletts eines Diplodocus großes Aufsehen und gab mir den Gedanken, diese vorsintflutlichen Ungeheuer, in Stein nachgebildet, im neuen Teil meines Stellinger Tierparks aufzustellen. Den geeigneten Bildhauer fand ich in Josef Pallenberg, der mir bereits als junger Künstler in meinem damaligen Reptilienhaus am Neuen Pferdemarkt durch seine ausgezeichneten Krokodil- und Eidechsenplastiken aufgefallen war. Ich entsandte den von meinem Vorschlag begeisterten jungen Düsseldorfer zum La-Plata-Museum in Argentinien, um dort die Ausgrabungsfunde und Panzerreste der Riesengürteltiere zu studieren. In den prähistorischen Museen von Berlin, Paris, London und New York setzte Pallenberg seine Studien an den Überresten der Saurierfunde fort und rekonstruierte deren Körper derart exakt, daß seinen Modellen eine lobende Anerkennung der europäischen und amerikanischen Paläontologen nicht versagt blieb. Mit einem Stab von Mitarbeitern schuf Pallenberg in den Jahren 1908 und 1909 in einem künstlichen, die Phantasie des Beschauers noch anregenden Sumpfgelände die Riesenplastiken der vorsintflutlichen Ungeheuer in Originalgröße. Da kämpfte ein Nashornsaurier mit dem stachelbewehrten Stegosau-
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rus. Ein Allosaurus zermahlt den Kadaver eines Brontosaurus, und hoch über die Baumwipfel reckt sich das Schreckenshaupt eines Iguanodon, einem gigantischen Känguruh in der langgeschwänzten Gestalt nicht unähnlich. Aus dem trüben Wasser starren die Rachen der gepanzerten Urahnen späterer Krokodilgeschlechter. Flugdrachen horsten mit ihren befingerten Gleitflügeln an der Felsenwand und blicken auf die Fabelwesen der dreigehörnten Ochsensaurier und anderer Urwelttiere, unter denen der fünfundzwanzig Meter lange Diplodocus besonders die Aufmerksamkeit des Besuchers erregt. Mit einem geschätzten Gewicht von über 20000 Kilo ist diese fossile Echse als das größte Landtier aller Zeiten anzusprechen und findet heute nur noch ein Gegenstück in dem Riesenwal oder Blauwal, der als rund siebenmal so schweres Säugetier auch nur in den unermeßlichen Weiten des Atlantik denkbar ist, als dem gewaltigsten Tier, das je die Natur erschuf. Die gigantischen Ausmaße dieser Meereskolosse kann der Tierparkbesucher ermessen, wenn er die neben meinem Eismeerpanorama aufgestellten Kinnbacken eines Grönlandwales gleich einem Domportal durchschreitet. Sollten nicht die Weiten der Ozeane, die unerforschte Welt der Tiefsee oder die nie von eines Menschen Fuß betretenen fieberschwangeren Sümpfe Innerafrikas noch Nachfahren dieser verschollenen Epo-
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30.028 Hagenbeck: Von Tieren und Menschen Hagenbeck-Erinnerungen, 227
chen bergen, zu denen die Altertumskammer unserer Tierwelt »Australien« manche Brücke schlägt? Häufig brachten meine Expeditionen aus dem Inneren der großen Kontinente Eingeborenenberichte mit, die von Tierarten Kunde geben, welche uns unbekannt scheinen. Nicht so oft, wie man vielleicht anzunehmen geneigt ist, sind solche Berichte Übertreibungen oder gar bewußte Lügen, vielmehr führt eine gewissenhafte Prüfung ihrer Berichte häufig zu neuen Entdeckungen. Berühmt geworden ist ja in der gesamten Tierkunde unserer Tage die Auffindung der Überreste des Riesenfaultieres in Südamerika. In aller Erinnerung ist ebenfalls noch das Aufsehen, welches die Entdeckung des Okapi machte. Oft geben auch die primitiven Überlieferungen aus dem Kunstleben der Eingeborenen Fingerzeige für das Vorhandensein unbekannter Tierarten. So erhielt ich beispielsweise vor einigen Jahren aus ganz verschiedenen Quellen Berichte über solche Malereien auf Felsen und in Höhlen im Inneren von Rhodesia. Der eine Bericht stammte von einem meiner Reisenden, der andere von einem hochgestellten Engländer, der zur Jagd auf großes Wild hinausgezogen war. Der erste hatte sich dem Inneren des Kontinents vom Südwesten aus, der andere vom Nordosten genähert. Beide Berichte stimmen merkwürdigerweise darin überein, daß ihnen die Eingeborenen von dem Vorkommen eines Ungeheuers erzählt
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hätten, das, halb Elefant, halb Drache, in den unzugänglichen Sumpfgebieten nahe der Kongostaatgrenze zwischen den Flüssen Lunga und Kafue hause. Ja, vor mehreren Jahrzehnten brachte mir mein vortrefflicher Reisender Menges schon Berichte über ein ähnliches sagenhaftes Geschöpf. Auch Zeichnungen dieses Tieres, von den Eingeborenen primitiv modelliert und auf die Wände von Höhlen gemalt, fanden sich im Inneren Afrikas. Nach allem, was mir davon bekanntgeworden ist, kann es sich nur um eine Art Brontosaurus handeln. Die Berichte, von so verschiedener Seite kommend und trotzdem so übereinstimmend, bringen mich fast zu der Überzeugung, daß dieses Tier heute noch existieren muß, zumal Eingeborene immer wieder behaupten, daß in dem gleichen Gebiet weder Krokodile noch Nilpferde vorhanden seien. Ich gebe diese Meldungen mit allen Vorbehalten wieder, dennoch bestätigten mir meine Reisenden, daß letzteres Wild in diesen Gegenden nicht anzutreffen sei. Unter erheblichen Kosten habe ich sofort eine Expedition in dieses Gebiet entsandt. Sie mußte aber unverrichtetersache heimkehren, weil in diesen undurchdringlichen und Hunderte von Kilometern sich nach allen Seiten ausdehnenden Sümpfen meine Reisenden von schweren Fieberanfällen heimgesucht wurden. Auch verhinderten kriegerische Eingeborene durch vielfache Angriffe das weitere Vordringen. Ein anderes Mal betei-
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ligte ich mich an jener vielbesprochenen TendaguruExpedition, die, wenn auch kein unbekanntes Sumpftier, so doch Knochenreste eines Sauriers von gewaltigen Ausmaßen entdeckte.5 Trotzdem gebe ich die Hoffnung noch nicht auf, unserer Zoologie den Beweis der Existenz dieses Geschöpfes zu erbringen und damit vielleicht zu weiteren Entdeckungen Anlaß zu geben. Denn wenn man sich erst überzeugt, daß tatsächlich ein solches Tier heute noch lebt, das man seit Jahrtausenden für ausgestorben hält, so wird die Suche nach weiteren zur Zeit noch unbekannten Tierarten des Festlandes oder der Ozeane neuen Ansporn erhalten!
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Hagenbeck: Von Tieren und Menschen
Hagenbeck-Erinnerungen
Fußnoten 1 Durch seine Akklimatisationserfolge hat sich Hagenbeck als Lehrer und Berater aus seiner Praxis heraus vielen Tierzüchtern und Tiergärtnern nützlich erwiesen; dieses Rufes erfreut er sich bei ihnen teilweise noch heute. 2 »panem et circenses« (lat.): »Brot und Schauspiele im Zirkus«; ein Grundsatz, nach dem die römischen Machthaber glaubten verfahren zu müssen, um das Proletariat mit seinem Los zufrieden zu machen und vom politischen Denken und Handeln fernzuhalten. 3 Anthropomorphen: menschenähnliche Affen 4 Heraklit: griechischer Philosoph aus Ephesus, lebte um 500 v.u.Z. 5 Die Suche nach »vorsintflutlichen« Sauriern geriet zu jener Zeit in Mode; die erwähnte Expedition ist nur eine von vielen.
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