KLEINE
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
WALTER
HEFTE.
BAUER
WALDLÄUFE...
38 downloads
516 Views
467KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
KLEINE
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
WALTER
HEFTE.
BAUER
WALDLÄUFER UND FORSCHER P I O N I E R E DER NEUEN WELT
VERLAG SEBASTIAN
LUX
MURNAU • MÜNCHEN • I N N S B R U C K • BASEL
Die letzte Chance Er kam aus dem Dunkel, stand für einige Jahre im Licht und tauchte im Dunkel unter. Eine Meeresstraße im Norden von Kanada, eine riesige Bucht, der Strom, an dem New York liegt, tragen seinen Namen: Hudson. Auf drei Schiffen — „Hopewell", „Half Moon", „Discovery" — nahm er an dem großen Wettlauf seiner Zeit teil: den nordöstlichen oder nordwestlichen Wasserweg, die kürzeste und schnellste Schiffsverbindung von Europa nach Cathai und Zipangu, nach China und Japan, zu finden, wo die Dächer der Paläste mit goldenen Platten belegt waren, und von dort auf dem gleichen Wege mit Gewürz, Seide, Tee reich zurückzukehren. Als Hudson, englischer Herkunft, im April 1610 mit der „Discovery" London verließ, brach er zu seiner vierten Reise auf. Sie war, er wußte es, die letzte Chance, die ihm von den britischen Kaufherren gegeben wurde. Sie dachten an Handel. Er dachte an die nordöstliche Durchfahrt in den Fernen Osten. Sie zu suchen, war seine Leidenschaft geworden. Cabot hatte um 1500 die Idee des polaren Seeweges nach Cathai und Zipangu entzündet. Chancellor hatte die Ostrichtung gewählt, die Mündung der Dwina gefunden und den Handel mit Rußland eröffnet; die Muscovy-Company war gegründet worden. Barents, hundert Jahre später, hatte Spitzbergen entdeckt und Novaja Semlja im Nordpolarmeer erreicht. Dann war ein paar Jahre danach Henry Hudson, von der MuscovyCompany beauftragt, unter Segel gegangen, um „über den Nordpol" Cathai anzusteuern; ein absurder Plan, der dem unzulänglichen Wissen der Zeit entsprach. Er berührte Grönland und Spitzbergen; das Land desTenno fand er nicht. Auch die zweite Reise war, von den Lländlern her gesehen, erfolglos. Er wollte zwischen Spitzbergen und Novaja Semlja an Sibiriens Nordküste entlang den Weg nach Osten erschließen. Aber die Nordost-Passage war mit den Mitteln der Zeit nicht zu bewältigen, oder sie war nicht vorhanden. Die Muscovy-Company ließ Hudson fallen. Im Jahre 1609 bekam er von der holländischen Ostindien-Kompanie den Auftrag zu neuer Suche. Angesichts des Nordkaps meuterte die Besatzung. Dreimal wollte er nicht als Versager zurückkommen. Er 2
warf das Steuer herum und fuhr nach Westen. Die Passage nach dem Fernen Osten gab es. wenn nicht durch das sibirische Eismeer, so doch vielleicht an der Westseite Grönlands entlang durch die Davis-Straße oder irgendwo quer durch den amerikanischen Kontinent zwischen dem Sankt-Lorenz-Strom und Virginia. Sein Schiff, der „Half-Moon'-, berührte Neufundland, tastete sich an der Insel Neu-Schottland entlang nach Süden zur Chesapeake-Bay und fuhr im milden Licht des indianischen Sommers den Strom hinauf, den er für die Warserstraße durch den Kontinent hielt. Wildnis lag dort, wo einst New York sich ausbreiten sollte. Er fand den Hudson-River und kehrte zurück. Und jetzt, ein Jahr später, gab ihm die Muscovy-Company also die letzte Chance, die Passage zu finden. Die „Discovery" kämpfte sich über den Atlantik. Die langen sausenden Wogen waren ihm vertraut. Jede Eisscholle, die lautlos am Schiff vorübertrieb, brachte ihn dem Wagnis näher. Er kannte den Wind voll scharfer Kälte, der vom Pol wehte. Die einsame Küste von Labrador begleitete die Fahrt. Die Welt bestand aus Nebel und Eis; wie fern war das satte englische Grün! Die Mannsdiaft weigerte sich weiterzufahren. Hudson war kein Kämpfer. Statt die Meuterei zu unterdrücken, beriet er versöhnlich mit den Leuten. Durch Ungeschicklichkeit verdichtete er die Fäden, die er hätte zerschneiden sollen. Das Schiff fuhr durch die Hudson-Straße. Angesichts der mächtigen, von Vogelschreien umschwirrten Kaps Weggs und Wolstenholm glaubte er, das Schwerste läge hinter ihm und die Passage sei gefunden. Ein riesiges Meer öffnete sich vor ihm. Gelblich war die See unter dem kalt türkisfarbenen Himmel. War das nicht schon das Pazifische Meer? Merkwürdigerweise fuhr Hudson nicht weiter nach Westen, sondern folgte der Küstenlinie nach Süden, und am Südende der Hudson-Bay wurde die Überwinterung beschlossen. Im November war das Schiff eingefroren. Die Nädite waren lang und schwarz. Das kalte Feuer der Polarlichter glitt über den Himmel. Die Welt hatte nur die Stimme des Wintersturmes. Das Land war gestorben. Ein Haus wurde gebaut, zu spät. Der Proviant nahm ab. Die von Skorbut geschwächten Leute suditen wie hungrige Füchse nach Nahrung. Die Verhärtung unter ihnen nahm zu, Juliet, Greene, Wilson warteten auf ihre Stunde. 3
Der Frühling kam mit milderem Wind, ziehenden Vögeln, größerem Hunger. Sie fingen Fische, doch nicht genug. Hudson wußte, daß auch diese Reise eine Enttäuschung war, er erkannte, daß sie in einer riesigen Bucht, nicht aber im Pazifik festsaßen. Er verteilte den Rest des Proviants, ein Pfund Brot für jeden. Selbstverständlich glaubten alle, daß mehr da sei. Das Mißtrauen war wie dürres Holz in die schwelende Glut des Hasses; Hunger schafft den stärksten Haß. Am 14. Juni morgens war das Klappern des Topfes, mit dem der Koch Wasser holte, das vereinbarte Signal. Die Meuterer banden Hudson, überwältigten die andern und brachten ihn, seinen jungen Sohn und acht kranke, ihren Hunger nur belastende Leute, in ein Boot, das hilflos ins Meer hinaustrieb. Die „Discovery" aber glitt nach Norden und ließ Hudson und die anderen im Nichts zurück. In dem Tagebuch, das Pricklett, ein Mann der Besatzung, führte, findet sich kein Wort darüber, ob Hudson sich gewehrt hatte, als sie ihn und seine Gefährten ihrem Schicksal überließen. Zwanzig Jahre danach fand James auf der Suche nach der NordwestPassage nahe der Charlton-Insel Stöcke, die mit einer Axt geglättet worden waren. Radisson, fünfzig Jahre später, entdeckte auf einer Insel der Hudson-Straße die Reste einer Behausung. Einige der Meuterer waren von Eskimos erschlagen worden, andere starben, vier waren nach Hause gekommen. Nach einigen erfolglosen Versuchen wurde der Plan, die NordwestPassage zu finden, aufgegeben. Fünfzig Jahre nach Hudsons Aufbruch ins Unbekannte wurde die Hudson-Bay-Company mit den Rechten eines Souveräns über Leben und Tod, Krieg und Frieden in den neuen Gebieten der Hudson-Bay gegründet.
Prärien und Felsengebirge Wenn es die nördliche Meeresstraße zum Pazifischen Ozean nicht gab, so mußte es einen Landweg bis zu seiner Küste geben, quer durch den Kontinent. Cartier, Champlain, Radisson, Noyon waren schon weit ins Innere des Erdteils vorgedrungen. Sie hatten die Großen Seen entdeckt. Sie hatten ihre Zeichen in unberührte Wildnis gesetzt. La Verendrye aber wollte als erster die Brandung des Ozeans im Westen hören. Er glaubte, es müsse gelingen, mit Kanus 4
und auf Landmärschen zum westlichen Meer zu gelangen. Mehr als sechstausend Kilometer lagen zwischen den Ozeanen. La Verendrye, geboren im November 1685, Sohn des DistriktGouverneurs, wuchs in Three Rivers am Sankt Lorenz auf. An den Palisaden der Siedlung brachen sich die Überfälle der Sioux. Der junge Soldat nahm an Streifzügen gegen englische Grenzbefestigungen teil, ging nach Europa, diente in Flandern, wurde bei Malplaquet verwundet und kehrte nach Kanada zurück, um die Armee zu verlassen. Er hatte den Duft der Wildnis nie vergessen, nicht seine Knabenträume am Feuer, wenn Pelzhändler und Indianer von den Ländern im Westen und vom westlichen Meer sprachen. Keiner hatte es gesehen. Weit hinter dem Oberen See sollte es liegen. Cartier und die andern hatten es gesucht. La Verendrye wollte es finden. Jetzt wieder, als Leiter eines Handelspostens am Sankt Lorenz, hörte er die Erzählungen, halb Wahrheit, halb Märchen und Gerücht.
Aus Blockhütten und Palisadenzaun bestellen die ersten Forts und Handelsstützpunkte. Indianer schlagen draußen ihre Zelte auf, um mit den Lagerbewohnern Tauschhandel zu treiben. 5
Er sammelte alle Nachrichten. Als er ein paar Jahre später — er hatte vier Söhne — einen Handelsplatz nördlich vom Oberen See übernahm, war er dem Ziel um ein paar Schritte näher. Ein Blitz entzündete ihn, als eines Tages Ochagach, ein Indianer, zu ihm kam. Er sprach von einem fernen See, aus dem ein Fluß westwärts ströme, um in einen grenzenlosen „See von salzigem Wasser" zu münden. Er sprach von Stämmen, die auf Pferden ritten und in festen Siedlungen wohnten, von Schiffen, die am Ufer des Sees landeten. Das war das Meer im Westen. Er gab seine Stellung auf, gewann den Gouverneur Beauhaurnois für seinen Plan einer Expedition nach Westen, bekam aber nicht die Hilfe des Königs. Träumer seiner Art geben nicht auf, sie sehen die Wirklichkeit vor sich, ehe sie ihrer teilhaftig werden. Den Händlern in Montreal hatte er nichts zu bieten als ein vom König gewährtes Handelsmonopol auf Gebiete, die er noch nicht betreten, auf ein Meer, dessen Laut noch nicht in seinem Ohr war. Aber es gab Hilfe: Die Händler dachten an die goldene Ernte, die dieser Narr ihnen einbringen würde. Er war ein Mann von fünfundvierzig, als er im Sommer 1731, begleitet von seinen Söhnen, La Jemeraye, seinem Neffen, dem Indianer Ochagach und anderen wackeren Leuten, ins Ungewisse aufbrach. Sie fuhren den Ottawa River hinauf, erreichten den Oberen See. Was alle vor ihnen gefunden hatten, fanden sie auch: Regen und Sturm auf Strömen und Seen, Mühe ohne Ende, Mangel; und wie alle vor ihm sicherte er den Weg durch Siedlungen. Jean, sein ältester Sohn, erreichte in einem 450-Meilen-Marsch auf Schneeschuhen den Winnipeg-See in der Mitte des Marschweges. Nach vier Jahren konnte La Verendrye zurücksehen. Vom Oberen See bis zum Winnipeg-See waren Handelsposten angelegt worden. Bald würde die Ernte beginnen. Aber er und seine Leute waren erschöpft, die Mittel zu Ende, die Schulden eine Last, der Neid der Gegner wie Stricke. Er stand mit seinen Söhnen in einem leeren Raum zwischen Aufgabe und dürftiger Hoffnung. Er ging nach Montreal zurück. Seine Beredsamkeit — denn er sah, was andere nicht sehen konnten — erzwang Hilfe. Die Schulden wurden drückender, aber er wurde frei für den Weg nach Westen. La Jemeraye, unentbehrlich durch seine rasche Intelligenz, 6
starb. Sein ältester Sohn fiel bei einem Überfall durch Sioux. Wege wie er und alle seiner Art sie gingen, waren mit Todeszeichen bedeckt. Am Ziel angekommen, würde er ihrer gedenken. Er erreichte den Assiniboine River (jetzt Portage la Prairie) und gründete Fort la Reine als Ausgangspunkt für den neuen Aufbruch durch die Grasmeere der Prärie, um die Mandans zu finden, jenen sagenhaften weißhäutigen Stamm, der auf Pferden reiten und in Städten wohnen sollte. Aber die indianischen Erzählungen, wie fast immer, hatten ihn getäuscht; die Mandans waren Rothäute wie alle ihre Vettern hierzulande. Auch sie erzählten von dem Meer im Westen. Er brauchte Führer dorthin, aber die Indianer der Prärie waren unzuverlässig, und er geriet in ihre Kämpfe. Das Meer — er dachte nichts anderes. Das Meer mit seinem Winde, mächtiger als die Präriewinde. Seine Söhne waren ein Teil von ihm. 1742 brachen zwei von ihnen nach Südwesten auf, um die Horse-Indianer aufzusudien und bei ihnen Führer zum Meer zu gewinnen. Ihr Vater blieb in einem indianischen Lager zurück. Endlose Märsche durch die Grasebene; dann fanden sie etwas: Am Rande des Grasmeeres standen wie weiße Flammen ohne Bewegung die Rocky Mountains, das Felsengebirge. Im Januar 1743 sahen sie als erste Europäer, von Osten kommend, die Berge im kanadischen Westen. Sie kamen näher. Die Berge wurden zu Mauern von Braun und Weiß, und kühle Luft wehte zu ihnen. Hinter den Bergen lag das Meer. Aber sie, zu dritt und ohne Mittel, waren unfähig, die letzten schweren Schritte zu tun, und sie gingen zurück. Als sie Fort la Reine erreichten und La Verendrye wiedersahen, war über ein Jahr vergangen. Die Zeit in der Prärie, endlos wie das Meer, hatte andere Maße. In der Zwischenzeit hatte La Verendrye zwischen dem ManitobaSee und dem Cedar-See Handelsposten angelegt, um den Pelzhandel der indianischen Stämme mit den Engländern zu unterbinden. Doch jetzt, mit der Botschaft vom Meer hinter den Bergen im Herzen, mußten sie aufgeben: Neid und Haß der Händler waren stärker. La Verendrye war ein alternder Mann von fünfundsechzig, als er noch einmal Hilfe für seinen Traum erreichte. Er wollte 1749 zum 7
Cedar-See gehen, um von dort im nächsten Frühjahr über die Berge zum Meer vorzustoßen. Ende des Jahres starb er. Welche Gedanken sind in Menschen solcher Art, wenn sie sterben? Hörte er den zeitlosen Ton der Brandung, die immer wiederkehrt? Er hatte Söhne; sie würden weiterleben, würden das Meer erreichen! Man überging sie. Ein Offizier, brav und unbedeutend, erhielt den Auftrag, der bald in der Prärie sein Ende fand. Einer der Söhne la Verendryes, der das Schneelicht der Rocky Mountains gesehen hatte, schrieb an den französischen Premierminister einen Brief, in dem er seinen Stolz nicht verbarg und die .Größe des Planes noch einmal offenbarte: „Mein Name ist La Verendrye", schrieb er, „man weiß überall, daß mein Vater fünfzehn Jahre seines Lebens der Entdeckung des Meeres im Westen gewidmet hat. Wir gingen mit ihm, und mit mehr Hilfe hätten wir das Ziel erreicht. Aber Neid ist eine zu mächtige Leidenschaft, als daß es Schutz gegen sie gäbe. Man hat uns von dem Unternehmen ausgeschlossen", und er hätte hinzufügen können: Das bedeutet für uns, die einen solchen Weg zu gehen bereit waren, ein verfehltes Leben. Der Brief kam zu den Akten. Die Söhne La Verendryes star^ ben. Die Siedlungen zerfielen. Bald danach begann eine andere Zeit, und Männer einer anderen Rasse, kühl und zäh, kamen und nahmen den Traum vom westlichen Meer in festere Hände. Der die Durchquerung Amerikas von Ozean zu Ozean schaffte, war der Schotte Mackenzie.
Von Meer zu Meer „Dear Rory", schrieb Alexander Mackenzie am 8. Mai 1793 an seinen Neffen und vertrauten Freund Roderick in Fort Chipewyan am Athabaska-See, „ich war in meinen Plänen niemals so unentschieden wie in diesem Jahr, und ich weiß nicht, ob ich gehen oder bleiben soll. Aber ich bin mit dem Unternehmen schon zuviel verwachsen, als daß ich den Versuch nicht machen sollte . . . Sollte ich erfolgreich sein, werde ich mit großen Vorteilen zurückkommen; wenn nicht, dann werde ich nicht schlimmer daran sein, als ich im Augenblick bin . . . Ich fange an zu denken, daß es die Höhe der Narrheit bei einem Manne ist, in einem Gebiet wie diesem zu 8
leben, abgeschnitten von jeder Bequemlichkeit, die das Leben so angenehm macht, vor allem, wenn man wi e in meinem Fall die Fähigkeit besitzt, das Leben in einer zivilisierten Gesellschaft zu genießen." Alexander Mackenzie war neunundzwanzig Jahre alt, als er in Fort Peyce River diesen Brief schrieb und sich bereit erklärte, das zu erreichen, was La Verendrye und seine Söhne nicht erreicht hatten: das Meer im Westen. Halbwüchsig von Schottland gekommen, um in einer PelzhandelCompany in Montreal zu arbeiten, war er bald zum Partner der Company geworden. Er kannte die Mitte des jungen Landes, das seit 1760 an England übergegangen war. Er hatte Fort Chipewyan am Athabaska-See als Mittelpunkt des Pelzhandels zwischen dem See und dem Norden angelegt. Er war ein vorzüglicher Teilhaber, mit Umsiclit, Geduld, biegsamer Kraft und einem Wissen aus erster Hand. Er hatte Quellen geöffnet, aus denen Reichtum floß. Das wäre für jeden genug gewesen, nicht für ihn.
Begräbnis in der Polarnacht. 9
Vier Jahre vor dem Brief an seinen Neffen und Freund in Fort Chipewyan hatte der junge Mackenzie erreicht, wozu andere ein Leben brauchen. Er war fünfundzwanzig, als er das nicht endende Licht der Mitternachtssonne sah und an der Mündung des Stromes, der dann seinen Namen tragen sollte, eine Nachricht hinterließ, daß er als erster Weißer, vom Inland kommend, das Nördliche Eismeer erreicht habe. Hundert Tage hatten dem großen Strom gehört, der nordwärts aus dem Großen-Sklaven-See floß. Er hatte ihn „River of Disappointment", Strom der Enttäuschung, genannt, weil er, im Wissen oder Nichtwissen seiner Zeit befangen, zu. Unrecht geglaubt hatte, er ströme ohne Aufenthalt in das Meer im Westen, in den Pazifik. Im Angesicht des Polarmeeres auf einer Insel im Delta des Stromes stehend, hatte er seinen Fehlschluß erkannt; es war der 14. Juni 1789, der gleiche Tag, an dem in Europa die Flamme der Französischen Revolution aufloderte. Jetzt, unsicher, ob er noch einmal aufbrechen sollte, um auf einem Kurs weiter südlich das westliche Meer zu suchen, in der Einsamkeit von Fort Peace River, mochte er sich der Fahrt auf dem Mackenzie erinnern; an den täglichen Aufbruch im Morgengrauen, die Erschöpfung abends, die nie seine Erschöpfung sein durfte, an die Begegnungen mit Indianern, deren Ausgang immer ungewiß war, an Regenstürme, die öde Leere des Landes, durch die der Strom trieb wie der ungeheure Stamm eines Baumes, dessen Krone sich im Delta entfaltete; an die Kraft, die er brauchte, um die Kanus gegen die Müdigkeit seiner Begleiter zum Ziel zu bringen. Viertausend Kilometer auf einem Strom! Und er war der erste gewesen. Er war dann nach England gegangen, um wie ein Schüler Astronomie und die Beherrschung der Instrumente zu lernen, mit denen er die geographische Position jedes Unterwegspunktes bestimmen konnte. Er wollte sich nicht noch einmal dem Zufall überlassen. • Mit Wissen bereichert, war er erneut in Kanada an Land gegangen und in die Wildnis aufgebrochen. Einen Tag nach jenem Brief schickte er dem Neffen eine andere kurze Nachricht: „Ich sende Dir ein paar Guineas; den Rest nehme ich mit, um mit den Russen Handel zu treiben." Die Indianer am Mackenzie hatten ihm von Weißen am westlichen 10
Manni Hesse
Digital unterschrieben von Manni Hesse DN: cn=Manni Hesse, c=DE Datum: 2007.01.14 12:09:00 +01'00'
Meer berichtet; sicher waren es Russen, er wußte von dem russischen Seeoffizier dänischer Abkunft Vitus Bering, der von der sibirischen Küste her bis zur Nahtstelle zwischen Asien und Amerika, bis zur Beringstraße, gekommen war. Am 9. Mai 1793, gegen Abend, brach Mackenzie von Fort Peace mit neun Begleitern in einem Kanu auf. Sein Hund war bei ihm. Sie waren die ersten in diesem Land. Büffelherden jagten über die Ebenen zwischen den Hügeln. Das Weiß der blühenden Bäume des Tieflandes verwandelte sich in das kalte Silber der Rocky Mountains. Stromschnellen hinderten die Weiterfahrt. Sie schleppten das Kanu. Die Leine riß, der Zufall trieb das Boot in ruhiges Wasser. Sie schlugen sich einen Pfad durch den Wald über die Felsen der Canons. Mackenzie arbeitete allen voran. Er hatte die unsicheren Hinweise der Indianer richtig zu deuten und die letzte Entscheidung über den Weg zu treffen. Unter endlosen Anstrengungen bewältigten sie die Flüsse, die Berge, den Sturm im Gebirge, den Frost in der Nacht, die Stromhindernisse. Am 12. Juni erreichten sie an einem kleinen See die Quelle des Parsnip-River; zweieinhalbtausend Meilen von der Mündung des Mackenzie-Stromes entfernt, standen sie an einer seiner Quellen. Am 17. Juni kamen sie am Fraser-River auf der andern Seite der Rocky Mountains an.- Ein neues Boot wurde gebaut. Später, als die Anstrengungen zu groß wurden, ließen sie es versteckt zurück und gingen zu Fuß, jeder mit neunzig Pfund Gepäck, mit Gewehr und Munition. Mackenzie trug das gleiche wie alle anderen, dazu sein kostbares Teleskop; schwerer war das Gewicht der Verantwortung. Mackenzie brauchte alle Kraft, um die Erschöpften vorwärtszubringen. Dann fand er die ersten Anzeichen der Küste: ein paar englische Münzen als Ohrgehänge indianischer Kinder. In Booten fuhren sie schließlich den Bella Coola-River hinab bis zur Küste. Regen und Nebel nahmen zwar die Sicht, aber Flut und Ebbe verrieten ihm, daß er in einer Bucht des Pazifischen Ozeans angekommen war. Am 22. Juni 1793 schrieb er mit einem Gemisch von Fett und Zinnober auf einen Felsen, daß er, von Kanada kommend, diesen Punkt erreicht habe: Alexander Mackenzie. Nicht lange vorher war der englische Seefahrer George Vancouver hier in der Nähe gewesen, und vor ihm hatte James Cook die Westküste des Kontinents 11
an dieser Stelle berührt. Aber sie waren vom Stillen Ozean her gekommen. Mackenzie war der erste, der den riesigen Kontinent, mehr als sechstausend Kilometer von Ozean zu Ozean, durchquert hatte. Am gleichen Abend brachen sie zum Rückweg auf. Er glaubte, daß ihnen die gleichen Mühen bevorständen wie auf dem Hermarsch. Doch sie konnten den eigenen Spuren folgen. Sie fanden das Kanu, das sie im Walde zurückgelassen hatten. Sie fuhren nun nach Osten, die Flüsse hinab. Am 24. August waren sie wieder im Fort Peace River, und es war, wie wenn sie wieder in der Heimat wären. Aber erst in Fort Chipewyan begann die Ruhezeit. Mackenzie war dreißig Jahre alt, als er diese zwei deutlichen Linien seiner Reisen durch den Kontinent gezogen hatte. Seine Aufzeichnungen über die Expedition endeten mit dem Satz: „Ich empfing, was immer auch geschehen war, den Lohn für meine Arbeiten, sie waren mit Erfolg gekrönt." Was sich hinter diesem Wort „was immer auch geschehen war" verbarg: Strapazen, fast zu groß für die Kraft eines einzelnen, das wußten allein diejenigen, die an seinen Reisen teilgenommen hatten: die namenlos gewordenen .Gefährten seines Ruhmes. In der Folgezeit wurde er „Sir" Alexander Mackenzie, reicher Besitzer von Gütern in Schottland, Freund vieler Fürsten. Er hätte leben können, wie viele zu leben wünschen. Aber er hatte zuviel Kraft für seine großen Reisen hergegeben. Er mußte vorsichtig leben und behutsam in einem Wagen fahren. Bei einer Heimfahrt im Wagen von London starb er im Jahre 1820, ein Vierteljahrhundert nach seinem größten Triumph.
Im einsamsten Land Pelzjäger und Pelzhändler sind schon früh im jungen Land. Auch sie tasten sich in das Unbekannte vor. Wege sind dort, wo sie gehen. Vor ihnen, wenn sie Ausschau halten, liegen immer neue Horizonte. Der Kontinent ist grenzenlos. Zuerst sind es einige wenige Verkehrswege, die ihn durchkreuzen. Sie vereinigen sich zu einem Geflecht, das sich vom Sankt Lorenz zu den Großen Seen, vom Oberen See zum Winnipeg-See und zum Saskatschewan im Westen hinzieht. 12
Jagdtiere sind die Bären, Biber, Luchse, Jagdbeute sind ihre Pelze. Seit 1668 ist die britische Hudson's Bay Company Mittelpunkt des Pelzhandels im höchsten Norden. Auch französische Händler tauchen auf. Die Männer der Hudson's Bay Company kommen auf dem Seeweg durch die Hudson-Straße, die Franzosen über den Ottawa vom Sankt Lorenz her. Der Hall der Schlachten von Malplaquet und Blentheim zwischen Franzosen und Engländern auf europäischem Boden dringt auch in die Stille der Bay, bis der Frieden von Utrecht 1713 das Land an der Hudson-Bay mit allen festen Punkten England zuerkennt. Die Hudson's Bay Company entwickelt sich rasch. Neue Handelsposten werden angelegt, neue Gebiete erschlossen. Entdeckung und Erforschung sind die Begleiter des Handels. Hearne, ein junger Angestellter der Company, umgreift mit seinen Forschungsreisen in unbetretenes Land ein riesiges Dreieck, das sich von Fort Prince of Wales am Churchill-River an der Hudson-Bay bis zum Coppermine-River an der Eismeerküste, dann nach Süden zum Großen Sklaven-See und zum Ausgangspunkt zurück erstreckt. Indianische Berichte über Kupferminen im hohen Norden veranlassen die Company, eine Expedition auszuschicken. Kupfer: das könnte eine neue Quelle des Reichtums werden. Hearne, Steuermann auf Schiffen der Company, dann im Fort Prince of Wales im Pelzhandel tätig, erhält den Auftrag, zum Athabaska-See zwischen Hudson-Bay und Felsengebirge vorzustoßen, dann nach Norden zu gehen und die Kupferminen zu suchen. Auch soll er die Möglichkeiten des Seetransportes erkunden und den Handel mit den nördlichen Stämmen vorbereiten. Wenn es die Zeit zuläßt, wird er auch nach der Nordwest-Passage Ausschau halten. Nicht wenig für einen jungen Menschen von vierundzwanzig. Im November 1770 bricht er mit zwei englischen Begleitern, einem indianischen Führer und einigen von dessen Leuten zum großen Abenteuer auf. Jenseits der Waldgrenze Kanadas liegen die Barren Grounds, eine Felswüste mit zahllosen Seen. Moos und Gras halten sich nur mühsam. Es ist Erde von unerträglicher Härte und Verlorenheit. Die Stürme jagen ohne Halt über das Land. Im Winter wird es von Schneefluten verschüttet. Der erste Versuch mißlingt. Hearne zwingt sich und seine Be13
gleiter zweihundert Meilen durch die arktische Kälte. Die Mühsal ist zu groß. So kehrt er um. Drei Monate später verläßt er das Fort zum zweiten Male. Die weißen Begleiter haben sich als nutzlos und belastend erwiesen, er geht im Februar 1770 mit sechs Indianern in die weite Einöde. Im spröd beginnenden Frühling arbeiten sie sich durch das leere Niemandsland der Barren Grounds. Die Schneeschmelze macht den Marsch auf Schneeschuhen unmöglich. Auch die Schlitten bleiben zurück. Jeder trägt sein Gepäck, Hearne dazu den schweren Quadranten, das Stativ, einen Kasten mit Holz; Dinge, zu kostbar, um sie einem andern zu überlassen. Das Zelt ist zwecklos, sie müßten die Stangen dafür durch das holzlose Land schleppen. Sie schlafen im Schnee. Nahrung ist spärlich. Fleisch wird roh gegessen, da es kein Brennholz und also kein Feuer gibt. Vier Tage lang haben sie nur Wasser und ein paar Pfeifen Tabak, eine Woche lang nur einige Beeren. In manchen Augenblicken überlegen sie, was von der Ausrüstung genießbar sein könnte: abgenutzte Mocassins oder ein Stück Leder. Im Juli wenden sie sich nach Nordwesten und finden — ein Glück ohnegleichen — caribous, wilde Rentiere. Der Führer, der unsinnigen Anstrengungen müde, erklärt, daß sie den Coppermine-River in diesem Sommer nicht mehr erreichen können und deshalb den Winter besser mit einer Gruppe jagender Indianer verbringen. Sie schließen sich einem Stamm an, und Hearne, nur sich selbst vertrauend, lebt das Leben des indianischen Volkes mit. Im Sommer flammt die Sonne über den Barren Grounds warm wie im Süden. Als er den Quadranten verliert und die Orientierung unmöglich wird, bricht er zum zweiten Mal das Abenteuer ab. Nach sechs Monaten im unbekannten Norden kehrt er mit den sechs Indianern um. Sie werden überfallen und ausgeplündert. Mit einer Decke, in dürftigster Kleidung, ohne Schneeschuhe suchen sie sich nach Osten zu retten. Sie begegnen Matonabbee, einem Indianer, der zum Tausch seiner Pelze nach Fort Prince of Wales unterwegs ist. Er geleitet die völlig Erschöpften. Hearne gewinnt in ihm einen Freund und Gefährten für den dritten Versuch. Denn schon nach vierzehn Tagen, im November 1770, bricht er zum dritten Mal auf. Wer im Norden gewesen ist, kehrt immer 14
wieder zu ihm zurück. Matonabbee führt ihn. Erstes Reiseziel ist der Große Sklaven-See. Von Fort Prince of Wales zum See sind es siebenhundert Meilen, vom See zum Eismeer vierhundertfünfzig. Kein Weißer vor Hearne war in diesem verlorenen Winkel. Wieder quälen sie sich durch die Leere der Barren Grounds. Wenn sie am Tag sechzehn Meilen gehen, ist es viel. Die Kälte peinigt sie. Weihnachten ist ein Tag des Hungers. Später treffen sie eine Gruppe von Matonabbees Stamm, mit der sie zum Wholdaia-See gehen, um Rentiere zu jagen. Im März ist der Himmel von leuchtender Reinheit. In einem Kanu fahren sie den Coppermine-River hinab, und dann steht er allein am Rande der arktischen See. Hinter einem schmalen Streifen offenen Wassers blitzt im Licht des Polartages die Mauer des Packeises. Die Nordwest-Passage, denkt er, ist ein Traum von Narren. Er errichtet aus Steinen eine Säule; sie verkündet: Dieses Land gehört der Hudson's Bay Company. In den nächsten Tagen wollen ihn die Indianer dorthin führen, wo das Kupfer liegen soll wie Steine am Wegrand. Sie suchen zwischen den Felsen und finden ein paar Splitter. Ein schweres Stück nimmt Hearne mit. Auf dem Rückweg kämpfen sie wieder gegen Schnee, Hunger und Sturm. In zwei Monaten sind zwei Rentiere die einzige Beute. Endlich erreichen sie die Wälder im Süden und in ihrem Windschutz den Großen Sklaven-See. Dann wird der Wald so dicht, daß sie den Pfad mit der Axt schlagen müssen. Ober ihnen tragen Vögel den Frühling nach Norden. Im Sommer schleppen sie sich wieder durch die Glut der nackten Barren Grounds. Ende Juni kommen sie in Fort Prince of Wales an. Hearne ist ein Jahr, sechs Monate und dreiundzwanzig Tage unterwegs gewesen. Fast drei Jahre hat er im Niemandsland des Nordens verbracht. Sein Bericht über die Reise endet mit dem Satz, daß er, wenn sein Unternehmen auch weder der Nation noch der Company materiellen Vorteil gebracht habe, doch den Auftrag erfüllen durfte.
„Erebus" und „Terror" — verschollen Im Anfang des 19. Jahrhunderts greift die britische Admiralität den Traum von der Nordwest-Passage auf. John Franklins Name erscheint zum ersten Mal in der Arktis. Es ist der Name eines 15
Mannes, der sich in der britischen Marine emporgedient und bei Trafalgar gegen Napoleon und seine Verbündeten gekämpft hat. Im Dienst der Ostindien-Kompanie war er in China. Franklin führt das zweite der beiden Schiffe, die 1818 England mit dem Auftrag verlassen, über den Nordpol zur andern Seite der Erde vorzudringen. Die Schiffe retten sich mit knapper Not vor dem Packeis. Der zweite Auftrag, 1819, ist sinnvoller; Franklin soll den Spuren von Hearne und Mackenzie im nördlichen Kanada folgen und die Ergebnisse ihrer Reisen abschließen. Die Wege und ihre ungeheuerliche Länge sind ihm bekannt. Von York Factory an der HudsonBay zum Cumberland-House am Saskatschewan sind es sechshundertneunzig Meilen, von dort, im Winter, zum Fort Chipewyan am Athabaska-See achthundertfünfundsiebzig Meilen. Im nächsten Sommer erreicht er am Nordufer des Großen Sklaven-Sees den einsamen Handelsposten Fort Providence, den Ausgangspunkt für den Aufbruch zum Coppermine-River. In Europa breitet sich die Stille nach den Kriegen aus. Napoleon, der Einsame auf Sankt Helena, ist fast vergessen. Goethe, Byron, Shelley leben in waffenlosem Ruhm. Die Maschinen bereiten ihr Dröhnen vor. Doch hier im Norden ist es wie am ersten Schöpfungstage. Den zweiten Winter, zweitausend Meilen von der Hudson-Bay ; und jenseits der Waldgrenze, verbringen sie, Franklin, fünf engli-i sehe Begleiter, einige französische Kanadier und Indianer in müb> sam zusammengeschlagenen Hütten mit dem stolzen Namen Fort Enterprise. Die Kälte zersplittert die Äxte beim Holzmachen für das Lagerfeuer. Nach dreistündigem Tag fängt die Nacht mit undurchdringlicher Schwärze an. Die wissenschaftlichen Arbeiten werden nie unterbrochen. Von der Welt wissen sie durch mitgenommene Zeitungen, die ein paar Jahre alt sind. Als der Winter seine Kraft verliert, bauen sie Kanus, bringen sie auf Schlitten zum Coppermine-River, fahren den Fluß hinab zur Eismeerküste. Im Juli 1821 gleiten die Boote fünfhundert Meilen ostwärts am Rande der arktischen See entlang, zu weit, um den gleichen Weg zurückzufahren. Sie tragen ein Kanu über Land und durchqueren die Barren Grounds in Richtung auf das ferne Fort Enterprise. Gefrorene Reste von Rentieren, die von Wölfen gerissen wurden, bedeuten ein Fest für die Männer. 16
Das Ende der Franklin-Expedition vor der Nordspitze von KingWilliams-Land nach der zweiten Überwinterung. Hier starb Sir John Franklin; die 105 Gefährten seiner Expedition suchten sich auf das Festland zu retten, gingen aber in der eisigen Kälte und durch Hunger zugrunde.
17
Sie erreichen wieder den Coppermine-River. Da die Kanadier und Indianer das Boot zurückgelassen haben, ist es unmöglich, den noch nicht zugefrorenen Fluß zu überqueren. Bei dem freiwilligen Versuch, durch das eisige Wasser zu schwimmen, um ein Notfloß aus Weidenzweigen hinüberzuziehen, sinkt Richardson kraftlos unter und wird mühsam gerettet. Einer der Kanadier bringt eine Art Kanu zusammen; sie kommen über den Fluß, sind aber nicht mehr imstande, die vierzig Meilen zum Fort Enterprise zu gehen. Franklin schleppt sich mit den meisten weiter, Richardson und Hepburn bleiben bei dem tödlich erschöpften Hood in einem Zelt zurück und wollen warten, bis Franklin von Enterprise Proviant zu ihnen schickt. Drei von Franklins Leuten geben den Versuch auf, das Fort zu erreichen und wollen zum Zelt zurückkehren; aber nur der Indianer Michel kommt an. Die beiden anderen seien im Schnee verschwunden, berichtet er. Da immer noch keine Hilfe von Enterprise kommt, brechen auch die Zurückgebliebenen auf. Als sie nach unsäglich mühsamem Marsch in Fort Enterprise eintreffen, sind die Blockhütten leer. Franklin und seine Leute liegen abseits in einer zerfallenen Unterkunft in äußerster Erschöpfung, unfähig, zu sprechen, sich zu bewegen oder Holz für ein Feuer abzubrechen. Eine Rentierherde ist fern an ihrer Hütte vorbeigezogen, niemand ist imstande gewesen, ein Gewehr zu heben. Richardson, erschöpft wie alle, macht Feuer, räumt in der Hütte auf, schießt einen Vogel; es ist seit einem Monat das erste Fleisch für sechs ausgehungerte Männer. Dann liegen sie alle in der Hütte wie in einem Grab. Anfang November hören sie wie Geisterton einen Schuß und Stimmen. Der vor längerer Zeit vorausgesandte Back hat indianische Jäger getroffen und drei von ihnen mit Fleisch nach Fort Enterprise geschickt. Eine Woche später kommen andere Indianer, und mit ihnen gehen sie einen f.ijnat lang zum Fort Providence, zur Station „Vorsehung". Das Wort Vorsehung hat nie einen treffenderen Inhalt gehabt; hier finden sie Wärme, Essen, Schlaf. Nach drei Jahren im kanadischen Norden und einem Weg von fünftausendfünfhundert Meilen kehren sie zur York Factory an der HudsonBay zurück. Die Aufzeichnungen Franklins von dieser Reise sind eine Geschichte äußersten Leidens. 18
Als Sir ehrenvoll ausgezeichnet, geht John Franklin 1825 nach Kanada zurück, um die Entdeckungen Cooks mit denen von Mackenzie zu vereinigen. Es ist nicht Ehrgeiz, der ihn treibt, den könnte er auch an belebteren Orten erfüllen. Die Freiheit dieses Landes ruft ihn. Mit den alten Begleitern geht er durch das Land zum Großen Bären-See, fährt den Mackenzie-River hinab und erkundet die Polarküste nach Westen bis zu einem Punkt, der nur hundertsechzig Meilen von dem Ort entfernt ist, den Bering vom Stillen Ozean her erreicht hat. Zur gleichen Zeit erforscht Franklins Gefährte Richardson die Ostküste. Franklin schenkt sich eine Pause und geht als Gouverneur nach Tasmanien in der Südsee. In dieser Zeit gelingt es dem Engländer Simpson, vom Mackenzie-River bis Point Barrow im Norden von Alaska vorzudringen. Dann erscheint Franklin wieder im Eis-Norden. Die britische Admiralität hat ihm 1845 Weisung erteilt, mit den Schiffen „Erebus" und „Terror" noch einmal die Nordwest-Passage zu versuchen; daß eine solche Durchfahrt besteht, ist sicher; nur der Weg zwischen den arktischen Landmassen und Inseln ist unbekannt. Ein englischer Walfänger sieht die Schiffe am 26. Juli in der Baffin-Bay. Danach sieht niemand sie mehr. Franklin kehrt nicht zurück. Alle Versuche der ausgeschickten Schiffe sind ergebnislos. Reste des Überwinterungslagers wurden entdeckt. Bei den Eskimos des Nordens fand man Gegenstände, die der Expedition gehört hatten. Ein Blatt wurde auf King Williams-Island gefunden, das von zwei Überwinterungen und vom Tode Franklins im Juni 1847 sprach, der letzte Satz der Niederschrift, die zur Hälfte schon verwittert war, lautet: „. . . und brechen morgen, am 26., zum Back Fish-River auf." Auch Tote grub man aus dem Eis.
Siedler am Red River Im Jahre 1763 hatte der Frieden von Paris dem französischen Traum von einem Kolonialreich in Kanada und Amerika ein Ende bereitet. Kanada gehörte seit diesem Zeitpunkt als Provinz Quebec zu England. In Wirklichkeit aber war es das Land der Hudson's Bay Company und der Nord-West-Company, die eine von London, die andere von 19
Montreal aus gelenkt. Langsam wuchsen Städte im Osten und Südosten auf. Beide Companien besaßen Pelzland im Westen. Pelz bedeutete unermeßlichen Reichtum. Das Leben der Pelzhändler war ein Leben an der Grenze. Siebenundsiebzig Handelsplätze der Hudson's Bay Company, siebenundneunzig der Nord-West-Company waren ihre Lebenspunkte, mühsam gegründet, schwer zu erreichen. Beide Kompanien waren einander erbitterte Rivalen. Doch in einem waren sie einig: Ihr Land sollte Pelzland bleiben und nicht zum Siedlungsgebiet werden. Pierre Radisson, auf den die Gründung der Hudson's Bay Company zurückging, hatte geschrieben: „Wir sind Könige hier, denen niemand widerspricht." Der Schotte Douglas, Earl von Selkirk, hätte das wissen sollen, als er seinen Plan von einer Siedlung am Red River den Pelzhändlern bekanntgab. Er hätte wissen müssen, daß die bürgerlichen Gesetze Englands hier im entlegenen Westen nichts wert waren oder anders ausgelegt wurden. Der Lord von Schottland stieß auf die „Lords der Seen und Wälder". Seine Freunde rühmten an ihm großherzige Würde, klare Intelligenz, hohes Wissen. Seine Bildung war erlesen; er kannte die Welt. Unabhängig durch Reichtum, war er ein Freund der Armen und stand auf Seiten der heimatlos gewordenen schottischen Bauern, denen man die Länder wegnahm, um aus ihnen herrschaftliche Schafweiden zu machen. Er glaubte die Lösung ihrer Not zu kennen. Er hatte in den Vereinigten Staaten englische Siedler getroffen. Sollten vertriebene Bauern neues Land nicht auch auf der frischen, neuenglischen Erde von Kanada finden können? Er hatte Mackenzies Beschreibungen gelesen. Das Gebiet am Red River schien für seinen Plan ausgezeichnet geeignet zu sein. Das Kolonialamt in London verweigerte die Zustimmung auch dann noch, als Selkirk auf eigene Kosten und mit Erfolg achthundert schottische Bauern auf der Prinz-Edwards-Insel im Sankt-Lorenz-Strom angesiedelt hatte. Die Herren in London sahen große Schwierigkeiten voraus. Selkirk mochte sich auf die Menschenrechte berufen, aber das Land gehörte der Hudson's Bay Company. Durch Heirat zum Besitzer von Anteilen der Company geworden, fand Selkirk einen anderen Weg zur Durchsetzung seines Planes. Er kaufte soviel Anteile, daß er die Company kontrollieren konnte. 20
Im Mai 1811 gestand sie ihm hundertsechzehntausend Quadratmeilen Land zu, aber im gleichen Augenblick begann man gegen ihn zu irttrigieren. Seine Feinde warfen dem „Bibel-Peer" vor, daß er, unfähig, einen Biber von einem Fuchs zu unterscheiden, durch seine wilde Narrheit den Pelzhandel untergrabe. Er haßte den Pelzhandel und dachte an glückliche Menschen als Siedler auf junger Erde. Als er sich für das Gebiet am Red River entschied, hätte er keine bessere Wahl treffen können. Es lag am Kreuzungspunkt der Handelsstraßen. Es besaß die besten Büffeljagdgründe und sicherte die Verpflegung beider Kompanien mit getrocknetem Büffelfleisch, mit Pemmikan. Zwar war das Land Eigentum der Hudson's Bay Company gewesen, bevor es Selkirks Besitz geworden war — aber die Nord-West-Company saß auf dem Grund. Die Hudson's Bay Company hatte bisher jede Auseinandersetzung um die Besitzrechte vermieden. Selkirk wußte bald, daß die Nord-West-Company jedes Mittel anwenden würde, um seine Pläne zu hintertreiben. Am Widerstand wuchs seine Kraft, und er hatte das Recht für sich. Siebzig Mann, die im Sommer 1811 Schottland verließen, sollten die Gründung der Siedlung vorbereiten. Der kühle Empfang in York-Factory an der Hudson-Bay ließ erkennen, daß auch die Hudson's Bay Company die Siedlung nicht wünschte. Unter den Drohungen hatten nur dreiundzwanzig Mann den Mut, im Frühling 1812 zum Red River aufzubrechen. Macdonell, Selkirks tüchtiger Beauftragter, nahm das Land für ihn in Besitz. Die Nord-Westers im benachbarten Fort Gibraltar, die über Selkirks Plan längst unterrichtet waren, schickten alarmierende Nachrichten nach Montreal. Im September 1812 kam die zweite Siedlergruppe, im Juni 1814 die dritte. Die Felder wurden bestellt, die Ernte eingebracht, die Siedlung wuchs. Als Selkirk in England weilte, um seinen Einfluß auf die Hudson's Bay Company zu verstärken, griff die NordWest-Company zur Gewalt. Felder wurden verwüstet, Scheunen niedergebrannt. Drohung, Überredung, Erpressung brachten Risse in die Siedlergenossenschaft. Die Nord-West-Company, durch ihre Partner in Montreal überaus einflußreich, erwirkte die Verhaftung Macdonells, des besten Mannes am Red River. Die von der Kompanie aufgehetzten Halbblut-Indianer und Büffcljägcr, die sich durch 21
den Verlust der Jagdgründe gefährdet glaubten, zerstörten die Dörfer und Hütten. Vier hartnäckige Hochländer blieben zurück und hörten nicht auf, zu säen, zu arbeiten, zu ernten. Auch Selkirk gab nicht auf. 1815 kamen neue Siedler, und Semstle, der neue Beauftragte, baute die Siedlung Fort Douglas. Die NordWest-Company antwortete mit einem Überfall durch die Indianer, bei dem einundzwanzig Siedler erschossen und erschlagen wurden. Fort Douglas ergab sich. Selkirk eilte nach Kanada und berief sich auf sein Recht. Für die Gerichte in Montreal aber war er ein Ausländer, der die Rechte der Nord-West-Company verletzte. Seine Beschwerde wurde abgelehnt. Er schritt zur Selbsthilfe, warb schweizerische Söldner an, marschierte durch das Gebiet der Nord-West-Company, nahm in Fort William mit der Befugnis des Gerichtsherrn über sein Land einige Parteigänger der „Nordwester" fest, schickte sie unter Bewachung zum Gericht in Montreal und verbrachte den Winter in Fort William, das der Nord-West-Company gehörte: alles Fehler, alles nur dazu angetan, ihn in dem Netz der Justiz zu fangen. Auf den von der Company erwirkten Verhaftungsbefehl antwortete er mit der Ruhe dessen, der sich im Recht weiß. Seine Frau, klug und geistvoll, versuchte das Netz zu öffnen, aber er saß schon zu heillos darin. Der Sommer 1817 brachte ein paar freie Atemzüge, die ihn glauben ließen, daß seine Sache gut stehe. Er weilte am Red River. Die Siedlung blühte auf. Er plante und entwarf. Straßen und Brükken wurden gebaut. Ein Beauftragter der britischen Krone konnte nur das glückliche Wachstum der Kolonie feststellen. Der NordWest-Company aber blieb er der gefährlichste Störenfried, der zur Strecke gebracht werden mußte. Die Gerichte verschleppten seine Anklagen oder wiesen sie ab. In einem Brief sprach er von der Flut von Korruption, in der er ertrank. Er zog, seinen Anwalt und die Zeugen bei sich, von Gericht zu Gericht, ein hartnäckiger Don Quichotte. Aber er hatte zu viele gegen sich. Schließlich wurde er zu zweitausend Pfund Strafe verurteilt; die Nord-West-Company konnte ihren Sieg über den Träumer vom Red River feiern, die Justiz ihren Sieg über das Recht. Erschöpft und gebrochen starb Selkirk in Frankreich. 22
Bald danach vereinigten sich beide Kompanien zu einer neuen Organisation, die den alten Namen Hudon's Bay Company behielt. Seine Kolonie am Red River lebte noch mühsam fünfzehn Jahre; dann wurde sie von der Company übernommen und erlosch. Die Zeit für Siedler auf dieser Erde war noch nicht gekommen. Nach Selkirks Tod fingen erst die goldenen Jahre des Pelzhandels an.
Der „Kleine Kaiser" Als ein unbedeutender Commis arbeitete Georg Simpson jahrelang in einer Londoner Gesellschaft für Überseehandel. Ein Mitglied des Komitees der Hudson's Bay Company, dem er auffiel, brachte ihn zum Haupthaus der Company. Auch hier war er vorerst ein Irgendwer. Seine Tüchtigkeit und Umsicht, sein unnachgiebiger Wille, sein organisatorisches Talent aber brachten ihn vorwärts. 1820 wurde er nach Kanada geschickt, zum Norway House am Winnipeg-See, um den dortigen Bezirks-Gouverneur der Company, Williams, im Notfall zu vertreten. Es war das letzte Jahr des Kampfes zwischen der Hudson's Bay Company und der Nord-WestCompany vor ihrem Zusammenschluß. Williams hatte auf Grund von Streitigkeiten mit den „Nordwesters" seine Verhaftung zu erwarten und brauchte einen Mann, der sich durchsetzte. Jemand besseren als Simpson hätte die Company nicht schicken können. Simpson war dreiunddreißig, als er das Land betrat. Er wollte bleiben. Was er in London, im Hauptquartier der Company, gelernt hatte, konnte er hier gut gebrauchen. Schon sein erster Auftrag war ein Erfolg. Mit fünfzehn Kanus ging er über die Flüsse und die zwölf Meilen lange Portage von La Loche in das Gebiet von Athabaska, um die Geschäfte der Company wahrzunehmen. Beide Kompanien sprachen in dieser Zeit voneinander nur als Feinde. Überfälle auf Boote und Händler waren an der Tagesordnung. Das Gebiet von Athabaska war das Kernland der North-West-Company. Unter den Augen des „Feindes" brachte Simpson die Pelzernte ein, freundlich oder entschlossen, je nach der Lage und den andern durch Willen und Weitblick überlegen. Nach der Rückkehr, 1821, wurde er Leiter der nördlichen Gebiete, 1826 Erster Gouverneur aller Besitzungen der Hudson's Bay Company. 23
Unterdessen hatten sich beide Kompanien unter dem alten Namen vereinigt, Simpson war von nun an vierzig Jahre lang der erste Mann der Company und in einem fast wörtlichen Sinn der Herrscher über ein Land - von einer Million Quadratmeilen. Die britische Krone brachte ihre Autorität vorerst nur behutsam zur Geltung. Aber die Zeit bereitete langsam neue Lösungen vor: Eines Tages würden die kanadischen Provinzen sich einigen; die Besitzungen der Company würden, vom Staat gekauft, im Lande aufgehen. Noch war die Zeit dafür nicht gekommen. Simpson war vorerst allein dem Komitee in London verantwortlich, der letzte große Herr der Company. Die Teilhaber der Company konnten mit seiner Tätigkeit zufrieden sein. Nach schweren Verlusten in den Jahren der Rivalität stiegen die Gewinne der neuen Hudson's Bay Company von zehn Prozent im Jahre 1821 auf fünfundzwanzig Prozent im Jahre 1838. Das Kapital der Company wuchs von 103 000 Pfund auf 400 000 im Jahre 1825. Simpson hatte vorsichtig begonnen. Frei von dem Haß, der beide Kompanien erschöpft hatte, fügte er die alten Feinde in die neue Organisation ein. Auf den jährlichen Versammlungen war er der große Vermittler. Die Kompromisse der ersten Jahre wurden zum Grund für das langsame, sichere Wachstum unter seiner Leitung. Er lernte das Land kennen — sein Land. Im Boot und zu Land reiste er von York Factory an der Hudson-Bay zum CumberlandHouse im Westen. 1824 fuhr und ritt er zum Pazifik, um den Columbia-Distrikt zu reorganisieren. Er besuchte die Forts und Außenstellen, setzte unzuverlässige Leute ab, nannte bessere für die wichtigsten Posten, lobte mit der Klugheit des Gentleman, tadelte mit Härte. Sein Blick für Menschen, das heißt für ihre Brauchbarkeit im Dienste der Company, war unfehlbar. Seine sorgsamen Berichte schrieb er im Zelt bei einem Kerzenlicht oder im Boot. Nichts entging seiner Aufmerksamkeit: die Möglichkeiten und Schwierigkeiten des Handels, die Schiffbarkeit der Wasserwege, der Charakter von Händlern, Verwaltern, Jägern, der Rückgang des Handels in bestimmten Bezirken. Er erkannte die Notwendigkeit der Pflege und Erhaltung des Wildes. Bald sprach man von dem „Eisernen Stock", der im Nordwesten regierte. 24
Er dachte groß und korrigierte noch das Unbedeutendste — für das Wohl der Company. Die Nebenflüsse des Mackenzie wurden erforscht, um neue Gebiete des Pclzhandels zu gewinnen. Kürzere Routen wurden gesucht; Zeitersparnis bedeutete Gewinn. Wege wurden ausgebessert, Straßen angelegt. Eine Art Fahrplan wurde aufgestellt, so daß zwischen den in York Factory ankommenden und abgehenden Schiffen, dem Dienst der Boote und den Hundeschlitten im Innern eine ununterbrochene Verbindung bestand. Simpson schrieb vor, wann die Boote und Schlitten aufbrechen, die Fahrt beenden, ihr Ziel erreichen mußten. Disziplin war die Grundlage des Handels-Imperiums. Die Birkenkanus wurden durch die Yörk-Boote ersetzt; sie waren länger, breiter, besaßen acht Ruderer, einen Steuermann und den „Senior-Voyageur". In einem Handelsposten war der Verbrauch an Büffelfleisch zu groß; ironisch bemerkte Simpson, daß ihm diese Leute versichert
Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts belebt sieh der Atlantik mit Auswandererschiffen zur Besiedlung der neu erschlossenen Binnenländer der Neuen Welt. 25
hätten, sie seien am Verhungern. Sein Gepäck wog nie mehr als zwanzig Pfund. Warum sollte das der Clerks und Traders schwerer sein? Sie sollten nicht wie große Herren reisen. Statt vierzehn Tage hatte er nur fünf Tage zum Ritt über die Berge gebraucht und war bereit, es wieder zu tun. Dann könnten es auch die anderen tun. Er liebte die Indianer nicht, aber da sie die Stützen der Company waren — ohne Indianer keine Pelze! — durften sie durch zuviel Rum als Tauschmittel nicht verdorben werden. Er setzte die Menge des Rums herab. Schließlich verschwand das Feuerwasser ganz. Er kümmerte sich um Selkirks alte Siedlung am Red River. Dort war für Jahre sein Wohnsitz, und von hier brach er zu seinen Reisen auf. Flaggengruß und Salutschüsse empfingen ihn, wenn er zu einem Fort kam. Quartiere standen für ihn bereit, festliche Empfänge waren vorzubereiten, er kam auf die Stunde; nach Fest und lässiger Plauderei begann die Arbeit. Er erwartete bessere Vorschläge, keinen Widerspruch. Seine Disziplin teilte sich allen mit, bis zum letzten Händler im äußersten Vorposten. Er war die Spitze eines Staates von fast militärischem Aufbau in einem Lande britischer Oberhoheit. Die Vorschriften der Hudson's Bay Company umfaßten in ihrem knappen Stil nur wenige Druckseiten. Das Hauptquartier der Company blieb London. Die ehemalige Zentrale der „Nordwesters" in Montreal war seit dem Zusammenschluß geschlossen. Simpson führte die von niemanden angefochtene Politik der Zentrale in London durch. In einem von ihm geheim gehaltenen Notizbuch — dem book of Servant's Charakters, einer Kostbarkeit des Archivs der Company in London — schrieb er seine Urteile über fast jedermann nieder, der im Dienst der Company stand. Den Leitern der Forts und Außenstellen sandte er lange Briefe, sachlich und zugleich herzlich; auch sie waren ein Mittel seines Regierens, Vertrauen schenkend und Vertrauen fordernd. Als von 1841 an sein Augenlicht schwächer wurde, diktierte er die Briefe, die Dokumente wurden ihm vorgelesen, aber der Arbeitstag wurde nicht kürzer. Der Sommer gehörte den Reisen, den Winter verbrachte er anfangs in der Kolonie am Red River; er heiratete und hatte Kinder. Später besaß er ein Haus, zugleich Hauptquartier und Wohnhaus, in Lachine am Sankt Lorenz, dem gleichen 26
Ort, von dem La Salle, der Gründer Neu-Frankreichs, einst in die Wildnis aufgebrochen war. Zweihundertfünfzig Jahre waren seitdem vergangen. Aus dem königlichen Abenteurer war der königliche Kaufmann geworden. Auch Simpson hatte Größe; auch um ihn war Pionierluft und Weite. Eines Tages schrieb der alte Simpson nach Schottland und bat um einen jungen Mann, der alle Qualitäten eines Dudelsackbläsers besaß. Dieser Mann wurde sein Begleiter auf vielen Reisen. Im Boot fahrend, hörte er den einsam hallenden Ton, als wäre er zu Hause im Hochland. Als er eine Reise um die Welt antrat, im Kanu, zu Pferd, auf Schiffen und durch Sibirien auf Schlitten, wurde sie zum Triumphzug eines Mannes, von dem nicht mehr sicher war, ob er als ein Fürst, als ein Staatsmann oder als der erste Diener der Lords in London gelten sollte. Er wußte mehr als seine Herren. Er wußte, daß die Zeit die Dinge ändern würde. Bald würden Bahnen durch das Land fahren und der Gesang der „Voyageurs" würde vom vielstimmigen Schrei der Maschinen abgelöst werden. Er sah es voraus und wünschte es, aber er erlebte es nicht mehr. Sir Georg Simpson starb 1860 im vollen Licht seines Ruhmes. „The Little Emperor", ,Kleiner Kaiser', nannte ihn einer seiner Vertrauten, die in einem Gemisch von Bewunderung, Freundschaft und Furcht an ihm hingen.
Der stählerne Weg Ja, die Zeit änderte die Dinge, wie Simpson es vorausgesagt hatte. Eine mächtige Bewegung ging in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts über den amerikanischen Kontinent. Einwanderer strömten von überallher in das Land. Der große Zug in den Westen der USA begann; die Prärien riefen. Bahnen wurden gebaut. In Kalifornien blitzte das Gold. Kanada, von der Bewegung im Süden ergriffen, ging mit langsameren Schritten der Zukunft entgegen. 1867 vereinigten sich die Provinzen zum Dominion unter britischer Hoheit. Zwei Jahre später fiel das letzte große Hindernis: Die riesigen Besitzungen der 27
Hudson's Bay Company — Ruperts Land, die indianischen Lebensräume und Vancouver Island umfassend — wurden vom Staat gekauft und dem Dominion eingefügt. Aber noch immer war der Norden eine einzige Wildnis. Die Gebiete zwischen dem Huron-See und dem Pazifik waren von Weißen noch kaum bewohnt; die Handelsplatze der Hudson's Bay Company waren die einzigen Lebenspunkte. Fort Garry an der Stelle der heutigen Halbmillionenstadt Winnipeg hatte 1871 nur 350 Einwohner. Zwischen Columbia am Stillen Ozean und dem Atlantik lagen kaum zu überwinden die Rocky Mountains. Damit die Provinzen zur Einheit zusammenwuchsen, mußten die Teile zueinander kommen. Das Abenteuer des neunzehnten Jahrhunderts bereitete sich vor: die Bahn von Osten nach Westen durch Kanada, ein Land von der Größe eines Kontinents. Der Plan der Durchquerung dieses über sechstausend Kilometer breit sich erstreckenden Kontinents war ohne Beispiel. Die Kosten wurden auf hundert Millionen Dollar veranschlagt. Sandford Fleming, ein hervorragender Ingenieur und Forscher, sollte die Route ausmachen. Sie mußte, wo auch immer, das Gebirge überwinden, Zehn Jahre lang schleppten sich die Vorbereitungen wechselnder Regierungen und rivalisierender Gesellschaften in der Stickluft von Intrige und Korruption hin; außer Teilplanungen war nichts erreicht. Dann entschloß sich die kanadische Regierung, den Bau der „Canadian Pacific Railway" einer privaten Gesellschaft zu übertragen, die von Donald Smith, von Stephen, dem Präsidenten der Bank von Montreal, und Angus, dem Generalmanager der gleichen Bank, geleitet wurde. Das Kapital betrug hundert Millionen Dollars, die Regierung zahlte fünfundzwanzig Millionen Dollars in bar und überließ der Gesellschaft fünfundzwanzig Millionen acres Land. Daniel Smith, der spätere Lord Strathcona, hatte den langen Weg vom Angestellten der Hudson's Bay Company bis zu ihrem kanadischen Leiter zurückgelegt; zwanzig Jahre hatte er unbeachtet in Labrador gearbeitet, dann in Montreal. Dann war er Bankmann und Politiker geworden. Vor Jahren schon hatte er die kommende Entwicklung vorausgesehen, den Bau einer Bahn und die Besiedlung des entlegenen Westens. Aus Hudson, La Verendry, Hearne, Mackenzie waren die Pioniere von der Art Donald Smiths geworden; sie planten und handelten mit Kapital, aber auch für sie 28
I I I I I I 1 I 1 I I I I j I j j 1 I I j .
war das Wagnis das Salz ihres Lebens. Smith fand in dem Amerikaner van Hörne den Mann, der die Bahn bauen konnte. Van Hörne war als Frachtzähler von unten gekommen und ein erfahrener Bahnbauer geworden. Das Schwierige lockte ihn. Bevor er den Auftrag annahm, sah er sich das Land an. Der Plan faszinierte ihn; es war der kühnste Bauplan aller Zeiten. Die Schwierigkeiten waren unvorstellbar, das Werk unübersehbar, alles unberechenbar. Wer diese Aufgabe übernahm, konnte seinen Namen verlieren. Hörne hatte in den Vereinigten Staaten den besten Namen. Er nahm an. Es war seine Leidenschaft, neue Orte auf die Landkarte zu bringen. Die Aufnahme des Amerikaners in Winnipeg, dem Hauptquartier des Bahnbaues, war kühl. Hörne aber verstand sich auf die Menschen und gewann nach kurzer Zeit jedermann. Bald sprach man von der Bahn als von Hornes „New Road". Im Winter 1880/81 begannen die Vorbereitungen. Stahlschienen von England und Deutschland, Holz aus Minnesota, Steine von Stonewall füllten die Lager. Im Frühjahr 1881 trieben fünftausend Mann in siebzehnhundert Arbeitsgruppen die Strecke von Winnipeg nach Westen täglich zwei bis drei Meilen vor. Sie wohnten in Zeltlagern. Eine Armee mit den Waffen der Zivilisation wühlte sich durch die Prärien. Zehntausend Mann im ganzen waren eingesetzt. Den Streckenarbeitern und Schienenlegern folgten Wagen, bald Züge mit Verpflegung, Brennmaterial und allem, was Tausende brauchten. Es war eine Armee ohne Schlaf. Nachts wurden Brücken gebaut, Holz und Schienen herangebracht. Hörne war überall, nichts entging ihm, sein Tag kannte kein Ende. Er war das Gehirn und das Herz dieses Feldzuges. Bis zum Winter waren fast fünfhundert Meilen Strecke gebaut. Im nächsten Sommer stiegen Leistung und Schwierigkeiten. Hörne entschied sich dafür, die Bahnlinie am Nordufer des Oberen Sees entlangzuführen, um den See als Transportweg benutzen zu können. Häfen wurden angelegt, Sprengstoff-Fabriken gebaut. Unterdes legten Ingenieure und Arbeitsgruppen die Bahnführung in den Rocky Mountains fest. Packpferde stürzten von den schmalen Pfaden ab. Die Männer ließen sich an Seilen in die Schluchten hinab, um einen Weg zu finden. 29
Hörne und die Gesellschaft planten bereits über den Bau der Bahn hinaus. Siedler würden kommen, und man mußte dafür werben. Hörne ließ in Winnipeg den ersten Getreidesilo bauen; Mühlen am Lake of the Woods. Er plante Hotels; denn eines Tages würden Reisende da sein; er legte Versuchsfarmen an, von denen die Farmer lernen könnten. Ärzte wurden ermutigt, sich in den neuen Siedlungen niederzulassen. 1883 waren über fünfzehnhundert Meilen gebaut, aber die Kassen der Gesellschaft waren leer. Unterbrechung der Arbeit bedeutete Zusammenbruch. Mühsame Verhandlungen mit der Regierung führten zu einem neuen Vertrag, der den Abschluß des Bahnbaues bis zum 31. Mai 1886 vorsah, statt der zunächst geplanten Zeit bis 1891. Seit dem Sommer 1884 wurde von Westen und Osten her gearbeitet. Neuntausend Mann bohrten sich durch die Felsen am Oberen See. Eine Meile kostete hier siebenhunderttausend Dollar; der Bau wurde zum Wettrennen mit der Zeit, mit wachsenden Schulden. Hörne reiste zum Pazifik. Er stellte sich das Land vor, wenn die Bahn fertig sein würde. Unerschöpflich würden die Weizenernten von Manitoba sein. Im südlichen und westlichen Teil der Prärien lagen Kohlenvorkommen. Auf der pazifischen Seite wartete der Reichtum der Wälder. Die Gebirge waren reich an Metallen. Alles war noch unersdilossen. Hörne legte einen neuen Endpunkt für die Strecke fest; Vancouver wurde gegründet. Und noch iram^r dröhnten durch die Stille der Berge die Sprengungen, Schiffe und Kanus zwangen sich die Flüsse hinauf, wurden von chinesischen Kulis geschleppt. Gleichzeitig mit der Strecke baute man die Telegraphenlinie. Aus provisorischen Zeltlagern wurden feste Siedlungen. Während die Armee der Ingenieure, Schienenleger, Streckenarbeiter, .Zimmerleute für die Zukunft des Landes gegen die Natur kämpfte, brach die Gesellschaft zum zweiten Mal zusammen. Die Kredite der Warenhäuser in Toronto und Montreal gingen in die Millionen. Die Löhne konnten nicht mehr gezahlt werden. Die Gerüchte und Vorwürfe gegen Hörne schwollen an. Aber er wollte nicht aufgeben. Die Arbeit an den Strecken ging weiter, und die Verhandlungen kamen erneut zu einem guten Ende. In den Ber30
gen wurden Tunnels gesprengt, Flüsse umgeleitet, Brücken gebaut, die Wildnis der Selkirk Range wurde bezwungen. Am 7. November 1885 schlug Smith in Gegenwart einiger Mitarbeiter, unter ihnen Hörne, den letzten Nagel der Strecke ein. Der „Eiserne Weg" von Montreal nach Vancouver war geschaffen. Hörne, gebeten, ein paar Worte zu sprechen, sagte nur einen Satz: „Alles, was ich sagen kann, ist, daß die Arbeit in jeder Hinsicht gut getan worden ist." Dieser Satz enthielt den Kampf von fünf Jahren, Mühen ohne Ende und den Dank an jedermann, der an diesem Feldzug zur Öffnung eines neuen Empire teilgenommen hatte, vom Ingenieur bis zum Erdarbeiter. Am 28. Juni 1886 verließ der erste Zug Montreal zur Fahrt zum Pazifik. Der Weg durch das morgenfrische Land lag offen. Die einst sagenhaften Länder Cathai und China waren nähergerückt. Die Siedler würden kommen und das Land füllen. Die Weizenfelder würden von Küste zu Küste blühen, dort wo einst die Ersten durch die Wildnis gingen, La Salle, La Verendrye, Mackenzie und all die anderen Pioniere des Kontinents.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Ober die Länder des amerikanischen Nordens berichten auch LuxLesebogen 29, „Mit den Drachenbooten nach Vinland"; 150, „Kanada"; 172, „Alaska — Zukunftsland"; 191, „Der Große Strom St. Lorenz"; 228, „Hudson's Bay Company". Eine Landkarte zum vorliegenden Lesebogen enthält Lux-Lesebogen 150.
Lu x - L e s e b og e n 3 0 9 (Erdkunde) H e f t p r e i s 25 P f g. Natur- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (vierteljShrl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt. — Alle früher erschienenen Lux-Lesebogen sind in jeder guten Buchhandlung vorrätig oder können dort nachbestellt werden. — Druck: Hieronymus Mühlberger, Augsburg. — Verlag: Sebastian Lux, Murnau vor München. 31
£s ist wi&dar uki der Zeit, die neue Sammelkassette für die L U X - L E S E B O G E N des vergangenen Jahres und für die Hefte 1960 zu bestellen. Die Hefte sind in den schönen Luxuskassetten sicher, „bücherschrankgerecht' aufbewahrt. Die Kassette ist so eingerichtet, daß die Einzelhefte nicht in einem einzigen Band unteilbar zusammengebunden werden, sondern jederzeit einzeln zum Herausnehmen und Lesen griffbereit bleiben.
Die karmesinrote Kassette aus Luxusplastik trägt in Goldprägung den Aufdruck LUX LESEBOGEN. Ganz nach Wunsch kann der Leser durch mitgelieferte Etiketten, die in eine Klarsichtfolie auf dem Buchrücken eingesteckt werden, die Kassetten nach Jahrgängen oder nach Sachgebieten ordnen. Die Zusatzschilder für Sachgebiete tragen folgende Bezeichnungen: Kunst und Dichtung, Geschichte, Naturkunde, Erdkunde und Sternenkunde, Technik und Physik. Durch das Sammeln der monatlich erscheinenden Lesebojen in diesen buchförmigen Kassetten kann sich jeder Bezieher mit einfachsten Mitteln nach und nach eine hervorragende und wertvolle
Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens schaffen. Die Kassettenreihe ist eine Zierde jedes Bücherschrankes. Schneller wird man natürlich stolzer Besitzer der prachtvollen Bibliothek, wenn man nicht nur die Monatshefte sammelt, sondern aus der langen Reihe der bisher erschienenen Titel die schönsten und interessantesten heraussucht und nachbestellt. Fordern Sie die Titelliste der Lesebogen 1-308! Und bestellen Sie noch heute die LESE B O GEN-KAS SETTE (LUXUS) zum Preis von DM 2.75. Die einfache Ausführung kostet nur DM 1.35.
VERLAG S E B A S T I A N LUX MURNAU VOR M Ü N C H E N , SEIDLPARK