Peter Lerangis
WATCHERS Spurlos verschwunden
Aus dem Englischen von Johanna Ellsworth
CARLSEN
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Peter Lerangis
WATCHERS Spurlos verschwunden
Aus dem Englischen von Johanna Ellsworth
CARLSEN
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Deutsche Erstausgabe Veröffentlicht im Carlsen Verlag In neuer Rechtschreibung Juni 2002 Copyright © 2000 Peter Lerangis. All rights reserved. Published by arrangement with Scholastic Inc.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel »Watchers Last Stop« bei Scholastic Inc. New York Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe: 2002 Carlsen Verlag GmbH, Hamburg Umschlagbild: Jan Köpke Umschlaggestaltung: Doris K. Künster / Britta Lembke Corporate Design Taschenbuch: Dörte Dosse Satz: H & G Herstellung, Hamburg Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin ISBN 3-551-35185-6 Printed in Denmark Mehr Informationen und Leseproben aus unserem Programm finden Sie unter www.carlsen.de
Niemand weiß, wer die Watchers sind. Aber sie sind unter uns. Sie beobachten und sehen Dinge, die wir nicht sehen können… »Ich gehe jetzt nach Hause hatte«, Davids Vater noch gesagt, dann war er plötzlich verschwunden. Als alle Suchmeldungen fehlschlagen, machen sich David und seine Mutter kaum noch Hoffnungen, ihn jemals lebend wiederzusehen. Doch dann hat David auf einem stillgelegten UBahnhof eine Vision… Peter Lerangis wurde 1955 geboren. Er studierte Biochemie in Harvard und arbeitete acht Jahre lang als Schauspieler, bevor er sich dem Schreiben zuwandte. Unter seinen über hundert Werken finden sich Filmbücher, Thriller und mehrere Serien für Jugendliche. Vor allen Dingen wurde er durch seine Buchadaptionen der Filme »Sixth Sense« und »Sleepy Hollow« bekannt. Heute lebt er mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen in New York City.
Für George Nicholson, der die Idee geboren hat, Herb Strean, der ihr einen Platz gab, an dem sie wachsen und gedeihen konnte, David Levithan, der ihr Flügel verlieh, und wie immer für Tina, Nick und Joe, die ihr Bedeutung gegeben haben.
WATCHERS Aktenzeichen: 3583
Name: David Moore Alter: 13 Erste Kontaktaufnahme: 33.35.67 Aufnahme:
Er ist noch nicht so weit.
.
1
An was ich mich am besten erinnern kann? An die Hitze. Man konnte richtig sehen, wie sie in Wellen vom Asphalt aufstieg. An die Feuchtigkeit. Sie perlte von meiner Haut ab wie heißes Öl in einer Pfanne. An die Wut. Meine Wut. Auf alle und alles. Vor allem auf meine Freunde – Heather, Max und Clarence. Schließlich hatten sie mich dazu überredet, mit der U-Bahn nach Hause zu fahren. Am letzten Arbeitstag der Woche. Wenn alle städtischen Angestellten von Franklin City ihre Büros früher verlassen – genau dann, wenn wir Schulschluss haben. Ich hasse Menschenmassen. Deshalb nehme ich nur ganz selten die U-Bahn. Früher hatte mein Dad mich am Freitag immer in einem Patrouillenwagen nach Hause gefahren. Er arbeitete im Amt für öffentliche Ordnung. Doch in den letzten sechs Monaten hatte er mich nicht mehr mitgenommen. Da stand ich nun völlig durchnässt Schulter an Schulter mit wildfremden Leuten auf dem stinkenden Bahnsteig der Haltestelle Booker Street. Was mich zusätzlich wütend machte: mein Dad. Tatsache war, dass ich nur noch an ihn denken konnte. In der Schule. Zu Hause. Immer wenn das Handy klingelte. Dann stellte ich ihn mir lebhaft vor und hätte am liebsten laut geschrien. Das war eigentlich nicht fair. Zum einen war er ein echt netter Typ. Ich liebte ihn. Zum anderen war er tot. Sechs Monate zuvor hatte er meine Mutter und mich verlassen. Er war morgens aufgestanden, hatte sich
angezogen und Mom einen Abschiedskuss gegeben. Als sie ihn gefragt hatte, wohin er gehen würde, hatte er bloß »nach Hause« gesagt. Er kam nie mehr zurück. Zu diesem Zeitpunkt war Dad schon total neben der Spur gewesen. Es hatte vor ungefähr anderthalb Jahren mit Kopfschmerzen angefangen. Dann hatte er immer wieder plötzliche Ohnmachtsanfälle gehabt. Bald darauf fing er an die einfachsten Dinge zu vergessen. Er verfiel in die Babysprache. Er ging spazieren und landete in irgendeinem Swimmingpool im Nachbarort. Die Ärzte untersuchten ihn auf alles Mögliche – Blutgerinnsel, Tumore, Fassbinder’sche Krankheit. Sie vermuteten, dass es eine Erbkrankheit sein könnte, doch Dad hatte keinerlei Unterlagen über seine Familie. Er war Vollwaise und wusste noch nicht einmal, wo seine Eltern herkamen. Immer wenn Dad verschwand, rief Mom die guten alten Pugs – so werden die Wachleute des Amts für öffentliche Ordnung genannt. Die brachten ihn jedes Mal wieder zurück. Sie waren Dads gute Kumpel. Doch dieses eine Mal kamen die Pugs mit leeren Händen zurück. Sie nahmen Kontakt mit den Ämtern der Nachbarorte auf. Irgendwann begannen sie das ganze Land nach ihm abzusuchen. Es wurde sogar eine Belohnung ausgesetzt für jeden, der etwas über Dads Verschwinden wusste. Bald darauf begannen die Radiosendungen, bei denen Hörer anrufen konnten, wenn sie etwas über vermisste Personen wussten. Dann die Talkshows im Fernsehen. Es meldeten sich massenweise Leute, die glaubten ihn irgendwo gesehen zu haben. Beim Angeln in den Palm-TreeSeen. Auf der Elchjagd. Als Anführer einer religiösen Sekte. In einer Höhle, in der er sich angeblich versteckt hielt. Aber jede Spur verlief im Sand.
Mom bemühte sich, optimistisch zu bleiben. Sie fing an in eine Therapiegruppe zu gehen. (Sie fand, dass ich das auch tun sollte, aber ich sagte nie im Leben.) Wochenlang konnte ich nicht schlafen. Immer wenn ich die Augen zumachte, sah ich Dad. Wie er in mein Zimmer kam. Wie er sich ans Fußende meines Betts setzte. Wie er mich anlächelte. Dann riss ich die Augen auf. Aber er war verschwunden. Ich versuchte daran zu glauben, dass er noch am Leben war. Doch das war ein furchtbares Gefühl. Denn wenn er wirklich noch am Leben war, bedeutete das, dass er uns nicht mehr sehen wollte. Oder uns vergessen hatte. Oder irgendetwas noch Schlimmeres. Als die Pugs ihre Suche schließlich aufgaben, wusste ich, es war aus. Ich merkte es an der Art, wie sie mich ansahen, so weich und voller Mitgefühl. Wenn Dad gefunden worden wäre, hätten wir es erfahren. Schließlich war sein Bild überall im Land verbreitet worden. Ich versuchte ihn zu vergessen. Ich stürzte mich in meine Hausaufgaben, half meiner Mutter im Haushalt, machte bei allen möglichen Schulprojekten mit – alles, damit ich ja keine Zeit hatte, um an ihn zu denken. Das Schlimmste an der ganzen Geschichte aber war, dass er sich nicht von mir verabschiedet hatte. In meinen Träumen sagte ich ihm Lebewohl, immer und immer wieder. Aber dann lächelte er bloß. Ich sah ihn überall. In allen Geschäften und in jedem Schatten. Ich sah ihn Ball spielen und Fahrrad fahren. Er hatte mich zwar verlassen. Doch er ließ mich nicht in Ruhe. Und so wurde ich wütend und wütender. Und diese Wut wuchs und wuchs. Als ich an der Haltestelle stand, stieg sie erneut in mir auf und ballte sich in meinem Kopf zusammen. Wie eine Faust. Der Schweiß rann mir im Nacken herunter. Mein Hemd war
völlig durchnässt. Ich wusste, wenn ich nach Hause kam, würde Mom mich sofort unter die Dusche stecken. Wir mussten am Nachmittag in einer lokalen Fernsehshow auftreten, um mal wieder über Dad zu reden. Ich hasste diese Shows. Ich hasste es, das Mitleid anderer Leute zu erregen und blöde Fragen beantworten zu müssen. Und was die Sache noch schlimmer machte, war, dass sich meine Freunde, die manchmal dabei waren, wie Vollidioten benahmen. Sie kicherten. Sie machten Furzgeräusche. Ich trat ein paar Schritte zur Seite. Da entdeckte ich eine vertraute Gestalt. Rechts von mir. Einen Mann in einem blauen Hemd, der die Treppe hinunterkam; er verbarg das Gesicht hinter einer Zeitung. Dad. Mein Herz machte einen Sprung. Blitzschnell drehte ich mich zu ihm um. Dann ließ er die Zeitung sinken. Meine Augen sahen in die Augen eines blassen, mürrischen Fremden. Schon wieder. Wie oft war mir das schon passiert? Hundert Mal? Und jedes Mal tat es weh. Ich spürte den pochenden Schmerz hinter meinen Augenlidern. Die Tränen. Ich würde nicht weinen. Ich hatte mir geschworen nicht zu weinen. Seit sechs langen Monaten hielt ich die Tränen zurück. Die Menschenmasse auf dem Bahnsteig wurde immer größer. In der Ferne hörte ich ein leises Rumpeln. Ich beugte mich über die Kante des Bahnsteigs und sah zwei winzige Lichtpunkte, die in der Dunkelheit des Tunnels aufleuchteten. Schrill quietschend hielt die U-Bahn in der Station. Die Abteile waren mit Menschen voll gestopft. Sobald die Türen sich öffneten, fingen alle hinter uns an zu schubsen und zu stoßen.
Plötzlich steigt eine Erinnerung in mir hoch. Ich renne mit Dad, um die U-Bahn noch zu erwischen. Ich bin fünf Jahre alt. Dad rennt vor mir her und erreicht die Tür des Abteils zuerst. Er dreht sich zu mir um, streckt die Arme nach mir aus und steht x-beinig da. Links und rechts von ihm schließen sich die Türen und ich fange an zu schreien. Ich schreie, weil ich glaube, dass er gleich sterben wird… Aufhören. Ich musste unbedingt aufhören daran zu denken. Heather und Clarence zwängten sich als Erste ins Abteil. Max und ich schafften es gerade noch, bevor sich die Türen hinter uns schlossen. Heathers Arm reichte kaum bis zu dem Haltegriff über ihrem Kopf. Neben ihr stand ein verschwitzter Mann mit Bart, der ihr mit seiner Zeitung die Sicht versperrte. Der Typ neben mir hatte anscheinend Schnecken in Knoblauchbutter zum Lunch gegessen. Der Gestank machte mich ganz benommen. Als die Bahn ihre Geschwindigkeit beschleunigte, drehte ich mich weg. Jetzt schaute ich auf die Tür. Geistesabwesend starrte ich durchs Fenster und versuchte so wenig wie möglich zu atmen. Mir war ganz übel. Da blieb die Bahn plötzlich stehen. Einfach so. Mitten im Tunnel. Die Leuchtröhren an der Decke gingen aus. Sofort war alles pechschwarz. Die Leute um mich herum stöhnten leise auf. Platzangst. Mir wurde eiskalt. Ich konnte die Körper um mich herum zwar nicht mehr sehen, aber ich hörte sie. Ihr Atem rasselte so laut wie Kettensägen. Es waren lauter Atemmaschinen. Ich war von ihnen umzingelt… Wo waren wir? Zwischen den Haltestellen Booker Street und Deerfield Street. Granite Street. Dann fiel es mir wieder ein. Die alte, verlassene U-BahnStation. Sie musste irgendwo in der Nähe sein. Als Kinder hatten wir immer nach ihr Ausschau gehalten. Nach dem
langen Bahnsteig, der von drei nackten Glühbirnen beleuchtet worden war. Nach den schmutzigen Steinplatten, die »Granite« verkündet hatten. Nach den vergilbten Wänden voller Graffiti. Nach dem Boden, auf dem ein dicker Teppich aus Staub gelegen hatte. Pass auf, gleich taucht sie auf. Ja. Das lenkte mich von der Platzang… von den Lichtern. Lichter? Draußen vor dem Fenster. Der Bahnsteig, die Wände, der Boden. Alles strahlte. Wie an einem Filmset. Hier unten wurde oft gefilmt. Doch so schnell konnten sie das alles doch nicht aufgebaut haben. Ich rieb mir die Augen. Ich blinzelte. Platzangst. Panik. Visionen. Sie waren immer noch da. Werbeposter schrien von den Wänden. Filme, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Seltsame Namen. Sätze, die keinen Sinn ergaben, so wie »us open«. Und dann die Leute. Dutzende von Leuten. In komischen Klamotten. Nicht unbedingt hässliche, sondern einfach… ungewöhnlich. Die Farben, der Schnitt der Hosen, die Länge der Röcke. Ungewöhnlich. An den Wänden verkündeten dunkelrote Steinplatten den Namen der Haltestelle. 86th STREET. Nein. »Granite«. Das war doch die Granite Street. Die Menschen auf dem Bahnsteig kamen in Bewegung. Sie strömten auf die mittlere Tür des Abteils zu. Die Kinder kreischten aufgeregt und starrten in unseren Wagen. Im Wagen war alles pechschwarz. Ich spürte die Körper und hörte den Atem. Doch ich konnte niemanden sehen. Trotz der Helligkeit draußen vor dem Fenster. Wie war das möglich! Kein Lichtstrahl der Haltestelle drang ins Abteil. Es war, als würde das Licht verschluckt und gleichzeitig wieder auf den
Bahnsteig zurückgeworfen. Ich machte den Mund auf, um etwas zu sagen – irgendetwas. Plötzlich ertönte rechts von mir ein Zischen. Die mittlere Tür des Wagens glitt auf. Durch die Öffnung strömte Licht? Irgendwie war es heller als hell. Es war ein lautes, grelles Licht. Ein Licht zum Greifen. Ein Kasten aus Licht. Jetzt konnte ich die Fahrgäste um mich herum erkennen. Prüfend suchte ich auf ihren Gesichtern nach irgendeiner Reaktion, nach der Erkenntnis, dass sie auch etwas gesehen hatten, dass ich nicht allein war. Doch alles, was ich sah, war Desinteresse, Langeweile. Als sei gar nichts passiert. Unter ihnen war ein Mann, der sich ins Licht drängte. Er kam mir irgendwie bekannt vor. Ich hatte ihn schon öfters in der U-Bahn gesehen; er war einer dieser dünnen, blassen Leute, die immer ängstlich und traurig wirken. Er hielt eine kleine himmelblaue Visitenkarte in der Hand und blinzelte in das grelle Licht. Trotzdem grinste er. Die Leute auf dem Bahnsteig begrüßten ihn jubelnd. Der Mann blinzelte immer noch. Als seine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, trat er durch die Tür auf den Bahnsteig. Seine Wangen waren tränenüberströmt. Die wartende Menge verschluckte ihn regelrecht; die Leute klopften ihm auf den Rücken, umarmten und küssten ihn. Dabei hätte er fast seine Kappe verloren. Seine Visitenkarte flatterte auf den Boden. Dann glitt die Tür wieder zu. Und wieder wurde es dunkel im Abteil. Die Bahn machte einen Ruck und blieb erneut stehen. Die Deckenbeleuchtung schaltete sich ein, ein kaltes grünliches Licht. »Es gibt ein technisches Problem…«, schallte die Stimme des Fahrers über den Lautsprecher. Die Bahn setzte sich langsam wieder in Bewegung.
Die Deckenlichter flackerten und gingen erneut aus. Ich behielt die Haltestelle im Auge. Die jubelnde Menge führte den Mann gerade eine Treppe hinauf. Nur eine einzige Person blieb zurück. Ein Mann stand einsam und verloren auf dem Bahnsteig und schaute unserer Bahn hinterher. Ein Schrei blieb mir in der Kehle stecken. Ich packte mit beiden Händen die Gummileiste zwischen den Türen und versuchte sie aufzudrücken, obwohl die Bahn in voller Fahrt war. In diesem Augenblick erkannte mein Vater mich. Er winkte mir nach, bis ich außer Sichtweite war.
Manchmal muss es einfach passieren.
Und dann ist man dazu bereit.
2
Dad. Das Wort explodierte in meinem Hirn. Es konnte nicht sein. Aber er war es gewesen. Ich hatte meinen Vater gesehen und er hatte mich erkannt. Mein Vater lebte. Ich trommelte laut mit den Fäusten gegen die Türen. »WARTE!« Meine eigene Stimme, gellend und rau. Die Leute starrten mich an. Der Typ, der so nach Knoblauch stank, rückte von mir ab. Sein Gesicht wirkte verzerrt. Sein Blick sprang nervös von mir zum Fenster. Die Haltestelle war nicht mehr zu sehen. Schmierige unterirdische Wände rasten an uns vorbei, hin und wieder von dem schwachen Licht einer Glühbirne erhellt. »Nächste Haltestelle Deerfield!«, dröhnte die Stimme des Fahrers durch die Lautsprecher. Ein Traum. Kann man träumen, während man hellwach ist? Na klar. Stress. Das musste es sein. Es musste der ganze Stress der letzten Zeit sein, der mich Dinge sehen ließ, die es gar nicht gab. Zum Beispiel diesen Mann im blauen Hemd. Drehte ich langsam durch? Meine Freunde schienen zumindest davon überzeugt zu sein. Das konnte ich an ihren geschockten Mienen sehen. Als wir die Haltestelle Deerfield erreichten, fuhr die UBahn langsamer. Nur noch eine Station. Ich fühlte mich gedemütigt. Ich musste dringend hier raus. Die nächste Station war nahe genug, um nach Hause zu laufen, kein Problem.
Als die Türen sich öffneten, schlüpfte ich hinaus. Ich raste wie gehetzt über den Bahnsteig, nahm drei Stufen auf einmal nach oben und stürzte hinaus ans Licht. Ins helle, klare Tageslicht. Ich rannte gerade über die Deerfield Street, Ecke Orpheus Street, als eine vertraute Stimme »David!« rief. Heather. Was machte die hier? Ein Auto hupte und wich mir mit quietschenden Bremsen aus. Ich prallte zurück und stieß gegen eine Ampel. Heather rannte auf mich zu. »Alles in Ordnung?« Nein. Aber das konnte ich ihr nicht sagen. Es war verrückt. Ich wollte einfach nur allein sein. »Alles okay«, knurrte ich und wandte mich von ihr ab. »Bis dann.« »David, was ist los mit dir?«, fragte sie. »Nichts!«, erwiderte ich bissig. »Warum verfolgst du mich?« »Hey, ich wohne im selben Haus wie du, hast du das vergessen? Ich muss auch in diese Richtung.« »Aber du musstest dafür nicht eine Haltestelle früher aussteigen.« »Entschuldige, dass ich mir Sorgen um dich mache! Ich habe gerade mitgekriegt, wie der ruhigste Typ, den ich kenne – nämlich du –, an eine U-Bahn-Tür hämmert und wie ein Verrückter schreit. Und weil wir Freunde sind, bin ich dir nachgerannt, gerade noch rechtzeitig, um dich davor zu bewahren, von einem Auto überfahren zu werden – und das ist der Dank dafür?« Verdammt! Gerade wenn ich mal allein sein wollte und ein bisschen Zeit brauchte, damit alles wieder ins Lot kam, wurde ich von der schlimmsten Quasselstrippe der Franklin City Schule verfolgt. »Das war bloß ein Witz«, sagte ich. »Dem leeren U-Bahnsteig ›Warte!‹ zuzubrüllen?«
»Ja, um die Fahrgäste ein bisschen aufzuscheuchen. Damit sie mich für einen gefährlichen Irren halten und Reißaus vor mir nehmen.« »Lügner.« Ich ging in Richtung Wiggins Street. Dort wohnte ich. »Kapier es doch endlich, David«, hörte ich Heathers Stimme in meinem Rücken. »Du musst mit jemandem reden. Das ist eine schwere Zeit für dich… ich meine, die Sache mit deinem Vater und so – « Ich blieb stehen. »Was hat mein Vater damit zu tun?« »Nichts… ich sag ja bloß… du bist nicht mehr du selber, seit… na ja, du weißt schon…« »Ist das nicht meine Angelegenheit? Geht dich das was an, wenn ich ein bisschen neben der Spur bin, Visionen habe und einfach nur für mich sein will?« »Visionen habe? Was für Visionen?« »Willst du das wirklich wissen? Willst du jetzt mein Seelenklempner sein? Also gut, Heather – zum Beispiel meinen Vater! Auf Bahnsteigen, auf der Straße, an der Haltestelle Granite Street! Okay? Bist du jetzt zufrieden?« Stopp. Was hatte ich da gerade gesagt? Ich wollte meine Worte zurücknehmen, mich am liebsten in Luft auflösen. Ich wollte mein Leben rückwärts ablaufen lassen, zurück zur Schule gehen und nie mehr in die Nähe der U-Bahn kommen. Aber das konnte ich jetzt nicht mehr, denn Heather ließ nicht locker. »Du hast deinen Vater gesehen?« Mir wurde schlecht. Ich bekam keine Luft mehr. Es war, als wäre der Straßenlärm abgeschaltet worden und nur noch die Geräusche meines eigenen Gehirns wären vorhanden, die in meinem Kopf wie ein einlaufender Zug ratterten und rumpelten. Ich sah nichts mehr außer Heathers Augen, die immer näher kamen.
»David, sprich weiter.« Sie berührte meine Hand. Ein Teil von mir wollte zurückweichen, doch ich spürte, wie meine Finger ihre Hand packten. Und dann erzählte ich ihr alles, sämtliche Details. Ich hoffte, das würde meinen Schmerz und meine Verwirrung lindern. Die ganze Zeit über sah Heather mich wie versteinert an. Als ich fertig war, lehnte sie sich an eine Hauswand und seufzte. »W-o-w…« »Versprich mir, dass du es keinem weitersagst«, beschwor ich sie. »Niemals.« Heather nickte. »Ich weiß schon. Du hältst mich jetzt für verrückt.« »Nein, tu ich nicht…«, sagte sie sanft. »Tust du nicht?« »Ich habe bloß eine Frage: Schläfst du in der letzten Zeit schlecht?« »Was hat das damit zu tun?« »Ich habe irgendwo gelesen, dass Jungs, wenn sie in die Pubertät kommen, viel mehr Schlaf brauchen als sonst. Sieh doch, wie komisch Max drauf ist, vielleicht geht es dir ja genauso – « Sie glaubte mir nicht. Dafür hätte ich sie würgen können. Ich rannte weg und ließ sie Selbstgespräche führen. Als ich unser Gebäude erreicht hatte, war sie nirgendwo zu sehen. Ich ging durch den Hauseingang, lief über den Flur und drückte den Knopf für den Aufzug. Auf der Metallplatte über der Tür leuchtete die Nummer 12 auf. Der Aufzug steckte gerade im obersten Stockwerk. Bis er unten war, würde Heather bereits neben mir stehen. Deshalb beschloss ich die Treppe hinauf zu unserer Wohnung im fünften Stock zu nehmen. Das Treppenhaus unseres Gebäudes befindet sich gegenüber vom Aufzug hinter einer verschlossenen Stahltür.
Ich rannte dorthin und suchte meinen Schlüssel. Da flog die Tür mit einem lauten Knall auf und erwischte mich am Arm. Ein Mann mit einem schmierigen Vollbart und einem langen, schäbigen Mantel stürzte heraus.
Ich kann es nicht mit ansehen.
Wir müssen gut vorbereitet sein. Auf alles.
3
»AAAAAAAHHH!«, schrie ich. »AAAAAAAHHH!«, schrie er. Ich flog rückwärts gegen die Wand. Der Mann stand mit hängenden Schultern vor mir und starrte mich an. Der ganze Raum stank nach ihm und ich erkannte den Gestank, noch bevor ich das Gesicht erkannte. Anders, der verrückte Einsiedler der Wiggins Street. »Müssen Sie mich so erschrecken?«, fragte ich. Anders kicherte. Ich konnte seine Zahnlücke sehen. Sein Haar hing ihm in fettigen Strähnen herunter und seine Klamotten waren unbeschreiblich. Er wirkte, als hätte er nicht mehr gebadet noch die Kleidung gewechselt oder sich die Haare schneiden lassen seit… na ja, seit Dad angefangen hatte durchzudrehen. Irgendwie machte mich das traurig. Dad hatte alles Mögliche für Anders getan – manchmal hatte er ihn besucht und ihm geholfen seine Wohnung zu putzen oder er hatte Dinge für ihn erledigt. Warum? Weil Dad alle Menschen geliebt hatte, sogar totale Loser. Dad hatte uns immer wieder eingeschärft, dass Anders früher mal ein ganz normaler Mensch gewesen sei. Das konnte man sich jetzt kaum noch vorstellen. Dad war früher Anders’ Verbindung zur Realität gewesen. Jetzt war Anders derjenige, der normal genug zu sein schien, um noch am Leben zu sein. Welche Ironie des Schicksals. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich und zwängte mich an ihm vorbei. »Ist… er… wieder… da?«, knurrte er. »Wer?« »Dein Dad!«
»Äh, nein«, erwiderte ich. »Er ist… na ja, weg.« Anders’ Bart bewegte sich – es sah aus wie ein Lächeln. »In das unentdeckte Land, aus dem kein Reisender je zurückgekehrt ist.« »So könnte man es vielleicht ausdrücken. Wie auch immer.« »Bist du sicher?« Jetzt starrte Anders mich an. »Na ja… ja, ich glaub schon. Ich meine – « Dong! Hinter mir öffnete sich die Aufzugstür. Ich drehte mich um. Keine Heather. »Fragen Sie besser meine Mutter!«, sagte ich hastig und wich in den Aufzug zurück. Halleluja. Ich war ihm entkommen. Ich fuhr hinauf in den fünften Stock und ging schnurstracks zu unserer Wohnung. Dann riss ich die Tür auf und schleuderte meinen Rucksack ins Wohnzimmer. Wie immer landete er auf dem Sofa, aber diesmal fing ihn meine Mom auf. Sie hatte Lockenwickler im Haar und Make-up aufgelegt. »Wo warst du? Nein, sag es mir nicht. Du musst auf einer Schildkröte nach Hause geritten sein. Du weißt doch, dass wir in fünfzehn Minuten im Studio sein müssen.« Die Show. Ich hatte sie total vergessen. Die Sophie-KarpTalkshow. »Tut mir Leid«, murmelte ich. Das Telefon klingelte. »Geh schon und verwandle dich in einen Prinzen.« Eilig hob Mom den Hörer ab. »Hallo?… Ja, am Apparat… Wo? Nein, dort kann er nicht sein… Trotzdem vielen Dank.« Stöhnend legte Mom auf. »Wer war das?«, fragte ich. »Eine Frau. Irgend so eine Alte. Sie rief aus einem Ort an, der Talmadge Swamp heißt. Sie hat Dads Foto in einer Klatschzeitung gesehen und schwört hoch und heilig, ihn bei der Alligatorjagd gesehen zu haben. Jetzt beeil dich. Ich gehe gleich!« Ich verschwand wie der Blitz im Bad. Dort duschte
ich schnell, zähmte meine Mähne mit einem Kamm und stopfte mir hastig das Hemd in die Hose. Wir rasten in einem uralten Taxi, das wie eine Lungenentzündung auf Rädern klang, in die Innenstadt. Der Fahrer fluchte jedes Mal, wenn er ein Schlagloch erwischte, was in jedem Block ungefähr vier Mal passierte. Doch mir machte das nichts aus. Ich wäre auch auf einem Kamel geritten. Alles, bloß nicht mit der U-Bahn. Als wir Franklin Citys Fernsehsender TFCT erreicht hatten, flatterte mein Magen vor Nervosität. Sobald Mom und ich das Gebäude betraten, wurden wir in einen Schminkraum gebracht, in dem drei oder vier Leute uns sorgfältig zurechtmachten. Irgendwie fand ich es cool, bis ich das Ergebnis zu sehen bekam. Meine Haare waren aufgebläht und so hart wie ein Helm. Meine Augen juckten von dem vielen Haarspray. Außerdem hatten sie mir Eyeliner und Rouge aufgelegt. Ich sah aus wie ein Vollidiot. Dann saßen Mom und ich im Studio der Sophie-KarpShow, das wie ein Wohnzimmer hergerichtet war. Und Sophie Karp lächelte uns an und quasselte dabei ununterbrochen. Ich habe keine Ahnung, was sie sagte. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass sie toll aussah: strahlendes Lächeln, freundliche Miene, eine Superfrisur. Die Lampen gingen an. Hartes, grelles, weißes Licht. Die Showmusik ertönte. Das Studiopublikum klatschte. Ich zitterte. Mein Magen fühlte sich wie das Innere eines Betonmischers an. »Heute lernen wir eine mutige Familie kennen«, sagte Sophie Karp, als die Musik verstummte, »eine Mutter und einen Sohn mit einer optimistischen Mission. Vor sechs Monaten verschwand mitten in der Nacht…«
Dad. In meinem momentanen Zustand brachen all die Bilder wieder über mich herein. Die bremsende U-Bahn. Die Lichter… »… und jetzt«, fuhr Sophie Karp mit leiser, dramatischer Stimme fort, »wenn Taylor Moore und ihr Sohn morgens zum Frühstück in die Küche gehen, müssen sie jedes Mal daran denken, keinen dritten Speckstreifen in die Pfanne…« Das Blut wich aus meinem Gesicht. »… kein drittes Ei zu verrühren…« Ruhig bleiben. »… und ich weiß, dass das sehr schwer für einen Zwölfjährigen ist, nicht wahr?« Jetzt starrte das Publikum mich an. Ich drehte mich um. Sophie Karp saß links von mir, sie hielt mir ihr Mikrofon unter die Nase. »Äh, dreizehn.« Meine Stimme überschlug sich bei der »zehn«. Na toll. Das Publikum lachte. Ich war auf drei Zentimeter zusammengeschrumpft. Sophie Karp machte irgendeinen blöden Witz, dann wurde ihre Miene wieder ernst. »Jedes Jahr verschwinden Tausende von Menschen, von denen keiner je wieder etwas hört…« Mom ergriff meine Hand und hielt sie fest. »Sind sie alle tot?«, fuhr Sophie Karp in feierlichem Ton fort. »Ganz und gar nicht, behauptet unser nächster Gast.« Gast? Wer hatte etwas von einem Gast gesagt? »Bittebegrüßen Sie… Gardenia Rouelle-Savant!« Der Vorhang hinter uns öffnete sich und das Publikum klatschte laut. Eine Frau, die ungefähr ein Meter achtzig groß war, einen Seidenturban und ein langes, fließendes Gewand trug, kam herein. Mit düsterer, ernster Miene verbeugte sie sich langsam vor dem Publikum. Als sie auf uns zukam, schien sie zu schweben. Majestätisch nahm sie im Sessel neben Mom Platz. Dann beugte sie sich vor und legte Mom und mir je eine Hand auf unsere Hände, als seien wir alte Freunde. Sie begrüßte uns mit einem tiefen, fremdländisch klingenden »Halllllooo«.
Mir war, als würden Dutzende Eidechsen meinen Rücken hinaufrennen. Das Ganze gefiel mir nicht. Ganz und gar nicht. »Ms Rouelle-Savants Buch Unsichtbare Welt ist seit Monaten auf den Bestsellerlisten«, verkündete Sophie Karp. »Sie beschäftigt sich vor allem mit Phänomenen wie dem mysteriösen Verschwinden von Menschen und dem Leben nach dem Tod…« Ich warf Mom einen Blick zu. Sie wirkte wie jemand, der sich unter direktem Beschuss befindet. Gardenia Rouelle-Savant kniff die Augen zu. »Jaaa«, stöhnte sie. »Ohhh jaaa.« Ich stellte mir vor, dass die Leute, die jetzt vor ihren Fernsehern saßen, das alles sahen. Mein Herz raste. »Was ist?«, fragte Sophie Karp. »Spüren Sie etwas? Können Sie diesen Menschen weiterhelfen?« Gardenia Rouelle-Savant ließ Moms Hand los und machte eine Geste, als wollte sie sagen: »Ruhe!« »Alan«, flüsterte sie. »Alan Moore? So heißt er doch?« Mom nickte misstrauisch. »Er ist hier«, sagte die Frau. Die Zuschauer hielten hörbar den Atem an. Sophie Karp sah sich suchend um. »Hier in meiner Show?« »Nein«, antwortete Gardenia Rouelle-Savant ernst. »In einer Welt, die neben der unseren existiert. In einer Welt, die leider nur sehr wenige von uns sehen können… nur diejenigen, die den übersinnlichen Blick haben.« Im Publikum war ein Kichern zu hören. Gardenia RouelleSavant öffnete langsam die Augen. Sie warf einen kurzen Blick auf Mom, dann blieben ihre Augen wie dunkle Sonnenstrahlen auf mir ruhen. »Und du hast ihn«, sagte sie leise. »Nicht wahr, junger Mann?« Theater. Alles nur Theater. Das war mir klar, doch es machte keinen Unterschied. Ihr Blick durchbohrte mich. Mir wurde schwindlig und eiskalt.
»David?«, flüsterte Mom. »Ist alles okay?« Er wartete auf mich. Er war bei klarem Verstand, er lebte, war glücklich und wartete auf mich. Das ganze Studio verschwand in einem weißen Licht; nur das Gesicht von Gardenia Rouelle-Savant war noch da. »Bitte entschuldigt mich«, sagte ich. Ohne eine Antwort abzuwarten stand ich auf und rannte aus dem Studio zur Herrentoilette. Hinter mir hörte ich die Stimme von Sophie Karp sagen: »Es – es tut mir Leid. Dies war ein sehr emotionaler Beitrag, liebe Zuschauer. Wir müssen hier jetzt leider abbrechen. Nach der Pause…« Schnief, schnief. »…’ geht es um Männer, die Frauen lieben, die ihre Karriere mehr lieben als ihre Männer, die das nicht tun. Bleiben Sie dran.«
Die Frau ist ein Problem.
Er ist weg.
4
»Im Fernsehen siehst du echt bescheuert aus«, sagte Heather. »Vielen Dank«, erwiderte ich. Heathers Finger machten klack-klack-klack auf der Tastatur ihres PCs. Dann tauchten die Wörter U-BAHN, FRANKLIN CITY langsam auf dem Bildschirm auf. Heather klickte auf Search und lehnte sich zurück. CONNECTING… meldete der Bildschirm. Draußen vor Heathers Fenster liefen die Hundehalter auf ihrem Morgenspaziergang durch den Park vorbei. Sie sahen genauso verschlafen aus, wie ich mich fühlte. Heathers Eltern schliefen im Zimmer nebenan. Ihr kleiner Bruder war auch noch im Bett. Ich gehörte eigentlich auch dorthin, um mich von der Sophie-Karp-Show zu erholen. Aber nein. Heather musste unbedingt anrufen, sich bei mir entschuldigen und darauf bestehen, dass ich gleich vorbeikam. Und ich war blöd genug gewesen ihre Einladung anzunehmen. »Wozu machen wir das eigentlich?«, fragte ich. Heather überhörte meine Frage. »Du solltest dich freuen. Ich meine, wenn mir jemand sagt, dass ich zwei Welten gleichzeitig sehen kann – « »Um diese Uhrzeit kann ich kaum unsere Welt sehen.« »Jetzt mach mal halblang, David. Gardenia Dingsbums ist berühmt. Was ist, wenn sie Recht hat? Liest du denn nie Science-Fiction-Romane?«
»Das sind doch nur Hirngespinste, Heather. Dies hier ist die Wirklichkeit. Die Frau ist nicht ganz dicht. Sie hat weder eine besondere Ausbildung noch ein Studium oder sonst was.« »Woher kannte sie dann den Namen deines Vaters?« »Den kann jeder im Telefonbuch nachschlagen.« »Und woher wusste sie, dass du deinen Vater auf dem Bahnsteig gesehen hast?« »Das wusste sie doch gar nicht! Sie hat bloß gesagt – « Heather hörte mir nicht zu. Auf dem Bildschirm erschien eine Liste von U-Bahn-Stationen. Heather sah sie durch und klickte auf einen Titel: »Versunkene Schätze: Die Stationen der Vergangenheit«. Sofort erschien ein Artikel. Sie überflog ihn und blieb an einer Passage hängen. »Hör dir das an.« Laut las sie vor: »›Vor dreißig Jahren, als die Stadt in den größten finanziellen Schwierigkeiten ihrer Geschichte steckte, wurden mehrere Stationen ohne Vorwarnung geschlossen. Die Fahrgäste, die die Haltestelle Granite Street benutzten, ärgerten sich eines Morgens schwarz, als sie auf ihren Bahnsteig kamen und nur noch einen frisch zementierten Gehsteig vorfanden.‹ Aha! Das ist alles ziemlich lange her!« »Das ist was?« »Verstehst du nicht? Vor dreißig Jahren. Du hast in die Vergangenheit geschaut, David!« Stöhnend warf ich mich auf Heathers Bett. Mit einem dumpfen Aufprall schob es sich gegen die Wand. »Du rufst mich frühmorgens am Wochenende an, reißt mich mitten aus meinen Träumen und lässt mich hier antanzen – und das alles nur wegen deiner bescheuerten Science-Fiction-Fantasien?« »›Heute verkommen diese alten Stationen‹«, las Heather weiter, »›und werden nur noch gelegentlich als Lagerräume und Filmsets benutzt.‹«
»Da hast du es«, sagte ich. »Ein Filmset. Das habe ich gesehen.« »Na klar, David. Ein Filmset, der nur für dich sichtbar war. Die verschwundenen Maulwurfmenschen der Granite Street.« Das Bild rollte zum tausendsten Mal vor meinen Augen ab. Doch irgendetwas daran stimmte nicht. Etwas, das ich bisher übersehen hatte. Abrupt richtete ich mich auf. »Es war gar nicht die Granite Street.« »Doch, David, es war – « »Nein! Das Schild an der Wand. Darauf stand nicht ›Granite Street‹. Da stand etwas anderes – eine nummerierte Straße.« Heather sah mich zweifelnd an. »Jetzt spinnst du total! Warum sollte so etwas dastehen?« »Wieso fragst du mich das? Die ganze Geschichte ist total verrückt – alles Einbildung!« »Es sei denn, dass diese Haltestelle früher einen anderen Namen…« Wieder begann sie die Tastatur zu bearbeiten. »Zum Beispiel, als die Stadt gegründet wurde…« »Damals hatten sie noch keine U-Bahn!« BIIIIIIIEP! Heathers Telefon rettete mich. Sie rannte durchs Zimmer und hob den Hörer ab. »Hallo?… Was hast du?… Mach keine Witze!…« Nervös wanderte ihr Blick zu mir. »Was habt ihr beide denn dort unten gemacht?… Oh Gott!… Okay. Wir sind gleich da.« Sie knallte den Hörer auf und ging zur Tür. »Komm, wir müssen weg.« Ich folgte ihr. »Warte! Wohin gehen wir?« »Zur U-Bahn-Station«, antwortete Heather und riss ihren Mantel von einem Haken im Garderobenschrank. »Sieht so aus, als seist du nicht der Einzige, der einen übersinnlichen Blick hat, David. Clarence hat es auch gesehen.«
Clarence?
Seltsam.
5
Keuchend rannten wir die Wiggins Street entlang. »Bist du sicher, dass sie das ernst gemeint haben?« »Wenn ich es nicht auch sehen kann, dann werde ich total sauer«, sagte Heather mit zusammengebissenen Zähnen. »Was tun sie überhaupt dort unten am Samstagmorgen?«, erkundigte ich mich. »Ist mal wieder typisch, oder? Wahrscheinlich bin ich die Einzige von uns, die keinen übersinnlichen Blick hat – « »Und warum haben sie ausgerechnet dich angerufen? Und warum sind sie immer noch da unten?« Heather warf mir einen flüchtigen Blick zu, als hätte sie gerade erst gemerkt, dass ich da war. »Clarence ist total durcheinander und läuft pausenlos den Bahnsteig auf und ab. Er will die Strecke noch einmal abfahren – nur um sicherzugehen. Max hat sich an deine Vision erinnert – « »Wie kann er sich an meine Vision erinnern? Ich habe ihm nie davon erzählt!« »Aber ich.« Ich blieb stehen. Mir war, als hätte mir jemand einen Faustschlag in die Magengrube verpasst. »Das sollte doch unter uns bleiben, Heather!« »Tut mir Leid«, sagte sie und drehte sich zu mir um. »Ich hab aber bloß Max davon erzählt. Und den Teil über deinen Vater habe ich nicht erwähnt – « »Aber du hattest es mir versprochen!« »Sei doch nicht so kindisch, David. Es war wichtig.« »Und dein Versprechen war nicht wichtig?« Sie verdrehte die Augen. »Wir reden hier von einem völlig verrückten
Phänomen, okay? Ich garantiere dir, dass das nicht lange unentdeckt bleiben wird. Bald wirst du einen Presseagenten brauchen.« »Und vermutlich willst du den Job!« »Diese Bemerkung habe ich nicht gehört. Als gute Freundin werde ich stattdessen höflich deine Fragen beantworten. Zu deiner Information: Max hat zuerst bei euch angerufen. Deine Mutter fand den Zettel, den du dagelassen hattest, und hat ihnen gesagt, dass du bei mir bist. Max, Clarence und die anderen waren auf dem Nachhauseweg von einem Match, das sehr früh stattgefunden hat. Noch irgendwelche Fragen?« »Heather, ich will mit dem Ganzen nichts zu tun haben!« »Okay. Dann tschüs.« Sie lief die Treppe zur Haltestelle hinunter. Einen Augenblick sah ich ihr wütend hinterher. Dann folgte ich ihr murrend. Max und Clarence warteten hinter den Drehtüren auf uns. Außerdem waren drei andere Jungs aus unserer Klasse da – Cheryl Howard, Rod Skinner und Lenny Feldman in ihren Strikeball-Uniformen. Alle wirkten etwas verwirrt. »Na toll«, murmelte ich, als ich Heather eingeholt hatte. »Das wird ja eine richtige Party. Bald weiß die ganze Schule davon.« »Ich hab doch gesagt dass es mir Leid tut«, zischte sie. Ich steckte eine Münze in den Schlitz am Eingang und schob mich durch die Drehtür. »Hört mal, Jungs, wenn das ein Witz sein soll – « »Habt ihr es alle gesehen?«, fragte Heather. Max schüttelte den Kopf. »Nein, bloß Clarence.« »Er will die Strecke noch einmal abfahren«, sagte Lenny, »und diesmal so viele Augenzeugen wie möglich mitnehmen.« Rod Skinner tippte sich an die Stirn. Sofort stieß Max ihm in die Seite.
»Ach, sei mir nicht böse, Moore«, sagte Rod. »David, vielleicht kannst du mal mit ihm reden«, schlug Max vor. »Auf uns hört er nicht.« »Rede du mit ihm«, flüsterte Heather mir zu. Jetzt sahen alle mich an. Mit besorgten Mienen. Ich ging auf Clarence zu. Er schien mich nicht zu bemerken, lief auf dem Bahnsteig auf und ab, starrte auf die Schienen und murmelte: »Komm schon… komm schon, Baby.« Ich hörte die U-Bahn in der Ferne. »Clarence?«, sagte ich. »Lass mich in Ruhe!« Zornig drehte er sich um. Doch gleich darauf wurde seine Miene freundlicher. »Ach, du bist es…« Ein Scherz. Er erlaubt sich einen Scherz mit mir. »Hey, Clarence, kannst du mir sagen, was du genau gesehen hast?« Er sank zusammen und starrte in die Ferne. »Ein Licht… ich glaube, es war ein Licht… aber wie kann das…?« Dann stand Cheryl hinter mir. »Er hat gesagt, dass es draußen hell war, aber in der Bahn pechschwarz.« Woher kannte er dieses Detail? Hatte ich Heather das auch erzählt? »Clarence, waren Leute auf dem Bahnsteig?«, fragte ich. Er nickte. »Die Tür ging auf. Und jemand aus der U-Bahn – ein Junge – stieg aus. Und die Leute haben sich richtig gefreut ihn zu sehen.« Ich bereitete mich seelisch auf die Frage vor, die ich ihm stellen musste. »Hast du… hast du irgendjemanden gesehen, den du kanntest?« Mit lautem Tuten fuhr die Bahn in die Haltestelle ein. Wir sahen uns an. »Äh, Clarence«, sagte Lenny, »bist du sicher, dass du nicht lieber doch nach Hause gehen willst…« »Dich ein bisschen ausruhen…«, ergänzte Rod. Jetzt hielt die Bahn mit quietschenden Bremsen. »Nein«, sagte Clarence. »Wir müssen zurückfahren.«
Heather warf mir einen Blick zu, als wollte sie sagen: »Hab ich es dir nicht gesagt?« Sie stieg hinter Clarence ein. Dann folgten Max, Rod, Cheryl und Lenny. Ich versuchte meine Beine zu bewegen, doch sie rührten sich nicht vom Fleck. Die Vorstellung, den Trip noch einmal zu machen, lähmte mich. Heather stand in der Tür und hielt sie für mich auf. »Kommst du?« »Ich – ich muss es mir noch überlegen – «, stammelte ich. Sie zerrte mich am Arm in den Wagen. Zischend schlossen sich die Türen. Der Wagen war leer bis auf einen Mann in einer Daunenjacke, der auf einer der Bänke schlief. Lenny, Cheryl, Max und Rod knieten schon auf einer anderen Bank und starrten aus dem Fenster. Clarence stand an der Tür und hielt sich an einer Haltestange fest. Seine Miene war grimmig und entschlossen. Heather stand neben ihm. »Sag mir, wenn du es siehst«, flüsterte sie. Die Bahn kam in Bewegung und wurde immer schneller. Sie hielt an der Haltestelle Deerfield und fuhr dann weiter. Meine Beine fingen an zu zittern. Dann tauchte die Granite Street auf. Düster und dreckig und leer. Doch die Bahn verlangsamte ihr Tempo nicht. Wir würden daran vorbeifahren. Ein Quietschen. Kreischende Bremsen. Der Wagen wackelte gefährlich und blieb dann stehen. Ich stürzte zu Boden. Dann wurde alles dunkel. Es gab überhaupt kein Licht. Ich spürte Heather, die neben mir auf dem Boden lag. Und dann fing Clarence an zu schreien.
Aber man hat uns doch gesagt, dass wir uns nicht einmischen sollen.
Wenn wir es nicht tun, klappt es womöglich nicht.
6
Ich versuchte mich aufzurichten, doch Heathers Beine hatten sich mit meinen verhakt. »Geh weg von mir!«, brüllte ich. »Geh du weg von mir!«, erwiderte Heather. Clarence schrie. Heather packte mich an den Schultern, ich hielt mich an ihren fest und gemeinsam standen wir auf. Vor Aufregung pochte mir das Blut in den Adern. Ich hatte Angst. Angst davor, Dads Gesicht zu sehen. Angst davor, es nicht zu sehen. Angst, dass ich nicht wissen würde, was ich tun sollte. Dass die Bahn wegfahren würde, bevor ich zu einer Entscheidung fähig war. Ich zwang mich aus dem Fenster zu sehen. Mein Herz blieb stehen. Ohne Vorwarnung. Ein dreckiger Boden. Ein paar nackte Glühbirnen. Kaputte Fliesen. Das war alles. »Was um alles –?«, fragte ich verblüfft. Ich weiß nicht, wer zuerst zu lachen anfing. Ich glaube, es war Max. Dann grunzte Cheryl. Und kurze Zeit später jaulten alle außer Heather wie die Hyänen. Sie schüttelten sich vor Lachen. Ich sah ihre Silhouetten, die in der Dunkelheit auf und ab wogten. »Und der Oscar für den besten Schauspieler geht an Clarence Mitchell!«, grölte Max. »Ihr seid ja krank im Hirn«, sagte Heather keuchend. »Nicht schlecht, was?«, fragte Clarence. Das konnte nicht wahr sein. Ein Streich. Sie hatten mir einen blöden Streich gespielt. Und das Schlimmste daran war: Ich hatte es kommen sehen und war trotzdem darauf hereingefallen. Ich schaute von einem hysterischen, höhnischen Gesicht ins nächste.
Ich konnte es nicht ertragen. Die ganze Spannung, die sich in mir aufgebaut hatte, die ganze Unsicherheit und Wut entlud sich plötzlich. Ich stürzte mich auf Clarence. »Hey!«, schrie er und fiel auf einen Sitz. »Das war doch bloß ein Spaß!« »Wenn du das noch einmal machst, bringe ich dich um!«, brüllte ich. Die Tür zwischen den Abteilen glitt auf. Meine Augen hatten sich genügend an die Dunkelheit gewöhnt, um einen Schaffner erkennen zu können, der auf uns zukam. »Wer von euch hat die Notbremse gezogen?« Deshalb hatte die U-Bahn also angehalten. »Er war’s!«, sagte Clarence und zeigte auf Max. »Auf keinen Fall!«, protestierte Max. »Ich war hier. Lenny war es!« Keiner von ihnen gab es zu. Ich lehnte mich an eine Tür und Heather setzte sich neben mich. »Was für Idioten«, sagte sie. »Du hast gut reden«, gab ich bissig zurück. »Das Ganze wäre nicht passiert, wenn du deine große Klappe gehalten hättest.« »Ich habe ihnen nicht gesagt, dass sie das tun sollen!«, beharrte Heather. »Ich habe Max ausdrücklich gebeten es keinem weiterzuerzählen.« »Na toll, Heather. Genauso gut kannst du einem Hund sagen, dass er nicht bellen soll.« »Es ist nicht leicht, so etwas ganz für sich zu behalten, David. Schau mal, schließlich bist du derjenige, der diese… diese Kräfte besitzt. Wenn du offener wärest und nicht so ein Geheimnis daraus machen würdest, dann würden solche Dinge nicht passieren.« »Das muss ich mir nicht anhören.« »Freu dich doch. Du könntest eine neue Dimension entdeckt haben – «
»Willst du die neue Dimension sehen? Dann schau aus dem Fenster, Heather! Du siehst genau dasselbe wie ich. Keine Leute. Keine Schilder. Keine Lichter. Nichts!« »Aber gestern – « »Gestern hatte ich eine Vision! Die Bahn war überfüllt und ich hab an meinen Dad gedacht – es war einfach meine Anspannung, der Stress, okay? Jetzt geht es mir wieder gut. Aber du musst daraus ja unbedingt eine Riesensache – « Mir blieben die Worte im Hals stecken. Ich bekam nebenbei mit, wie sich meine so genannten Freunde zu meiner Linken immer noch mit dem Schaffner herumstritten. Doch mein Blick heftete sich auf etwas, das sich draußen vor dem Fenster befand. Etwas, das auf dem Boden der alten Haltestelle lag. Eine himmelblaue Visitenkarte.
Oh.
Nein.
7
»Es tut mir Leid, okay?«, sagte Heather. »Ich werde es wieder gutmachen – « »Heather«, flüsterte ich. »Ich bin kein schlechter Mensch, ehrlich, David. Ich hab bloß – « »Heather, sieh aus dem Fenster!« Ihre Augen wurden groß. »Was? Oh Gott, David, hast du etwa… siehst du etwa?« »Nein. Da drüben!« Ich zeigte auf die Stelle. »Was denn – die Karte?« »Ja!« Sie sah mich entgeistert an. »Na und?« »Weißt du denn nicht mehr? Der Typ, von dem ich dir erzählt habe, der in meiner Vision? Der aus der Bahn ausgestiegen ist? Er hatte eine Visitenkarte in derselben Farbe in der Hand und er hat sie fallen gelassen!« Sogar in dem dämmerigen Licht konnte ich sehen, wie Heathers Augen glänzten. »Ach, David. Das ist ja großartig. Einfach großartig!« »Ich meine, natürlich kann es auch bloß Abfall sein«, sagte ich. »Viele Leute werfen irgendwelches Zeug aus dem Fenster – « »David, du musst die Karte holen.« »Wie soll ich das machen?« »Ich weiß nicht. Frag den Schaffner!« »Der buchtet uns doch gleich ein!« »Hm… wie wär’s mit einem langen Stock mit einem Kaugummi am Ende?«
»Na super.« Links von uns diskutierte der Schaffner immer noch mit unseren Freunden. Rechts von mir marschierten ein paar wütende Fahrgäste durch die Tür, die ins nächste Abteil führte. Sie kamen an dem Schild vorbei, auf dem stand: DIE OFFENE FLÄCHE ZWISCHEN DEN WAGEN BITTE NICHT BETRETEN! Die offene Fläche. Das war die Lösung. Ich stand auf. »Gib mir Rückendeckung«, flüsterte ich Heather zu. Während ich auf das andere Ende des Wagens zurannte, blieb Heather dicht hinter mir. Ich sah, dass sie sich beim Schaffner beschwerte, doch wegen der vielen aufgebrachten Stimmen konnte ich ihre Worte nicht verstehen. Ich packte den Metallgriff und zog daran. Die Tür öffnete sich mit einem dumpfen Geräusch. Kalte, modrige Luft zog an mir vorbei in den Wagen. Ich ging durch die Tür hindurch. Direkt vor ihr war ein eiserner Vorsprung, breit genug, dass eine Person darauf stehen konnte. Er verlief in einem Halbkreis und ich konnte über seinen Rand auf den schwarzen Abgrund der Schienen sehen. »Ich warte hier auf dich«, flüsterte Heather. »Wie mutig von dir«, erwiderte ich. Als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich den Bahnsteig entlang. Überall hatte sich eine dicke Rußschicht wie eine schwarze Schneedecke abgesetzt. Kaum zu erkennende Fußspuren führten zu einer gefliesten Wand, die mit Graffiti verziert war. Kleine Abfallhaufen lagen hier und dort; die meisten waren schwarz vor Dreck. Ich kann es nicht. »Worauf wartest du noch?«, zischte Heather. »Es ist widerlich hier draußen!«, erklärte ich. »Du hast doch Schuhe an!«
»Ach, tatsächlich? Und was ist, wenn die Bahn plötzlich losfährt?« »Das wird sie nicht. Die Notbremse schaltet den Strom für die ganze Bahnlinie aus. Es dauert eine Ewigkeit, die wieder in Gang zu setzen.« Da sah ich die himmelblaue Karte. Sie lag links von mir neben der Mitte des Wagens. Nur ein paar Schritte entfernt. Ein paar kurze Schritte. Ich trat über die Schwelle und setzte meinen Fuß auf den Bahnsteig. Er fühlte sich glitschig an. Dann zog ich den zweiten Fuß nach. Jetzt befand ich mich auf dem Bahnsteig. Ich drehte mich nach links um und ging langsam weiter. Ein Quieken. Ein Huschen im Schatten. Ich erstarrte. Ratten. Ich hasste Ratten. Durchhalten. Die Visitenkarte war jetzt in meiner Reichweite. Ich bückte mich und hob sie auf. »David!«, ertönte Heathers Stimme. Der dumpfe Schlag, mit dem die eiserne Schiebetür aufging, erschreckte mich. »HEY, JUNGE!« Ich drehte mich um. Das grelle Licht einer Taschenlampe blendete mich. Hinter dem Lichtschein konnte ich die Umrisse des Schaffners erkennen. Er sprang auf die Plattform und stürmte auf mich zu. »WAS MACHST DU HIER?« Dasselbe hatte ich mich auch schon gefragt. Ich wich zurück. Mein rechter Fuß rutschte auf den schmierigen Fliesen aus. Ich wedelte wild mit den Armen und fiel mitten aufs Gesicht. Dumpf schlug ich auf dem Boden auf. Rußflocken flogen mir in den Mund. Meine Augen brannten. Ich musste heftig husten. Aus dem Augenwinkel konnte ich meine Freunde sehen, die aus dem Wagenfenster spähten. Sie starrten entsetzt auf den Bahnsteig. Eine Hand packte mich an der Schulter und drehte mich um.
Ich schaute direkt auf eine Pistole in einem Gürtelhalfter. »Junger Mann«, sagte der Schaffner, »dich nehm ich erst mal mit.«
Wir haben ihn verloren.
8
»Eines will ich hier mal klarstellen«, sagte der Leiter der Bahnpolizei, während er in seinem Büro auf und ab ging, »nämlich dass beides – ohne Grund die Notbremse zu ziehen und unerlaubtes Betreten gesperrter Bahnhöfe – Vergehen sind – « Ich beugte mich auf meinem Stuhl vor. »Aber ich habe die Notbremse nicht gezogen – « »Und beides ist strafbar!«, donnerte der Chef. Mom sah mich zornig an. Sie wirkte zwar wütend, doch in ihren Augen standen Tränen und ihre Unterlippe zuckte gefährlich. »Ich habe verstanden«, murmelte ich. War ich jetzt ein Krimineller? Ein dreckiger Krimineller. Der Ruß, in den ich gefallen war, klebte wie Farbe an mir. Wenn ich an ihm rieb, verschmierte er nur noch mehr. Der Leiter der Bahnpolizei musste den Stuhl mit einer Plastikhülle überziehen, bevor ich mich darauf setzen konnte. »Was – was werden Sie jetzt mit ihm machen?«, fragte meine Mutter. »So was kann bis vors Jugendgericht gehen«, erwiderte der Leiter. »Aber er hat sich doch noch nie etwas zuschulden kommen lassen!«, flehte Mom. Der Chef ging um seinen Schreibtisch herum, setzte sich und seufzte. »Ich habe deinen Vater persönlich gekannt, mein Junge. Seine Abteilung hat eng mit unserer zusammengearbeitet. Er war ein guter Kumpel. Du musst ihn sehr vermissen.« Ich senkte den Kopf. Mom unterdrückte einen Schluchzer.
»Ich werde dich laufen lassen«, fuhr der Leiter fort. »Aber nur mit einer ganz dicken Verwarnung. Was du getan hast, war nicht nur ungesetzlich, sondern auch extrem gefährlich.« Ich nickte. »Ich danke Ihnen«, sagte Mom. Der Chef nickte. »Und jetzt geh nach Hause und nimm ein heißes Bad, junger Mann.«
Als wir das Hauptquartier der Bahnpolizei verließen, war Mom nicht gut auf mich zu sprechen. »Ist dir überhaupt klar, wie viel Glück du gehabt hast? Mach so etwas bloß nie wieder! Was hattest du überhaupt in der U-Bahn zu suchen? Wer hat dir die Erlaubnis gegeben, das Haus zu verlassen?« »Mom, ich bin dreizehn – « »Ach, und das heißt also, dass du einfach verschwinden und das gesamte U-Bahn-System lahm legen darfst?« Sie war so aufgebracht, dass sie fast schrie. »Ich habe doch gesagt, dass ich nicht daran schuld war!« »Du hättest tot sein können!« »Das weiß ich!« »Einen habe ich schon verloren. Soll ich dich jetzt auch noch verlieren? Bloß wegen einer Dummheit?« Jetzt war es genug. Ich hatte es satt. Ich hatte es satt, angeschrien zu werden. Ausgelacht zu werden. Für etwas, das ich nicht getan hatte, bestraft zu werden. »Ich bin nicht dumm!«, schrie ich zurück. »Ich bin nur wegen ihm ausgestiegen!« Blödmann. Idiot. Plappermaul. »Wegen wem?«, fragte Mom. Ich hatte es ihr nicht sagen wollen. Doch Heather wusste Bescheid. Alle meine Freunde wussten jetzt Bescheid. Früher oder später würde meine Mutter es auch herausfinden. Ich holte tief Luft. »Wegen Dad«, murmelte ich. »Du warst mit Dad zusammen?«
»Nein. Hör zu, ich hab gedacht, ich hätte Dad gesehen. Auf dem Bahnsteig.« Sofort blieb Mom stehen. »Du meinst – als Stadtstreicher, der auf dem Bahnsteig lebt? Oh, David, warum hast du mir das nicht gleich gesagt?« »Nein. Nein. Er war es nicht, Mom. Es war niemand. Es war nur eine Halluzination.« Mom fiel in sich zusammen. »David, hast du dir das alles etwa nur ausgedacht?« »Nein!« »Um damit dein seltsames Verhalten zu entschuldigen?« »Vergiss es – « »Verschone mich damit, David. Ich kann seit Monaten nicht mehr richtig schlafen. Jedes Mal wenn das Telefon klingelt, zucke ich zusammen. Und auch wenn ich dich sehr lieb habe und versuche deine Gefühle zu verstehen, werde ich es trotzdem nicht zulassen, dass du das Verschwinden deines Vaters als Ausrede für dein ungeheuerliches Benehmen missbrauchst!« Moms Worte waren zwar wütend, doch ihre Augen sagten etwas anderes. Sie flehten: Sag mir, dass es wahr ist. Hinter der Angst und Verwirrung und Benommenheit in ihrem Blick blitzte ein Funken Hoffnung auf wie die graue Morgendämmerung vor dem Sonnenaufgang. Ich brachte kein Wort heraus. Dieser Funke Hoffnung, den ich in ihren Augen gesehen hatte, löste etwas in mir aus. Ich hatte das Gefühl, in ihre Seele sehen zu können, und für einen Moment spürte ich den Schock über Dads Tod noch einmal – so wie sie ihn gespürt hatte. Bilder stiegen in mir hoch – die alten Bilder, die in unserem Flur hingen. Mein Vater als schlanker junger Mann mit Pferdeschwanz und einem ärmellosen T-Shirt. Wie er mit gespieltem Entsetzen auf seinen kurzen Haarschnitt zeigt, nachdem er in die Army eingezogen worden war. Wie er
Mom auf ihrer Hochzeit geküsst hatte. Lauter Bilder von Dad, bevor ich geboren worden war. Meine eigenen Erinnerungen an ihn waren ganz anders. Da war er älter, grauer und schwerer. Das war der Vater, den ich verloren hatte. In gewisser Weise hatte Mom all diese Männer an der Wand verloren. Jeden einzelnen von ihnen. Ich spürte, dass sie einen Schmerz empfand, den ich so nie nachempfinden können würde. Und nun sah sie mich an und wollte eine Antwort auf ihre Frage und eine Bestätigung ihrer Hoffnung. Mittlerweile hatte ich ja meine eigenen Erfahrungen mit der Hoffnung gemacht. Sie verändert dich. Sie ist wie eine Fata Morgana in der Wüste. Man sieht sie dort, wo sie gar nicht existiert. In einer Fernsehsendung. Im nichts sagenden Gesichtsausdruck irgendeines Fremden. An einer verlassenen alten U-Bahn-Haltestelle. Und wie eine Fata Morgana lässt sie dich abstürzen. Der Sturz ist hart. Aber diese Art der Hoffnung wollte ich Mom nicht geben, das wäre ihr gegenüber nicht fair gewesen. Wenn ich schon kurz vorm Durchdrehen war, musste ich sie nicht auch noch mitziehen. »Das ist lächerlich, Mom«, sagte ich und wandte den Blick ab. »Es war bloß eine Halluzination oder so was. Ich bin in letzter Zeit etwas durcheinander. Das ist alles…« Ich verstummte. Es dauerte eine ganze Weile, bevor Mom etwas sagte. Dann spürte ich, wie sie ihren Arm um meine Schultern legte. »David«, sagte sie sanft. »Ich glaube, wir müssen beide mal hier raus. Wir brauchen Urlaub.«
Was ich jedoch als Erstes brauchte, war eine heiße Dusche. Und sobald wir zu Hause angekommen waren, tat ich das auch.
Danach ging ich direkt in mein Zimmer. Ich schloss sorgfältig die Tür und leerte dann den Inhalt meiner Hosentasche auf meinem Schreibtisch aus – ein Kaugummipapier, U-Bahn-Münzen, Schlüssel, zwei Gummibänder, eine große Heftklammer… Die himmelblaue Visitenkarte steckte in einer zusammengefalteten Hausaufgabe. Mein Magen fing vor Aufregung an zu flattern. Hoffnung. Nein. Wirf sie weg. Sieh sie dir nicht an. Ich rannte ins Bad und klappte den Deckel des Klos hoch. Ich legte eine Hand auf die Spülung. Mit der anderen Hand hielt ich die Karte über die Kloschüssel. Dann las ich die Worte.
Das war nicht geplant.
Um sich dem Ziel zu nähern, muss man manchmal Umwege machen.
9
DER HIMMEL IST DIE GRENZE Umweltberatungsfirma * Miles Ruckman * Assistent der Verwaltung 9972-7660
Mein Herz hörte auf zu pochen. Der Name weckte keine Erinnerungen in mir. Auch die Firma nicht. Es war bloß irgendein Typ. Ein ganz normaler Typ. Ein Typ, dessen Visitenkarte gestern auf den Bahnsteig gefallen war. Ich warf die Karte dann doch nicht in die Kloschüssel. Was wäre, wenn Miles Ruckman sie noch brauchte? Vielleicht war dies seine allerletzte gewesen. Ruf ihn an. Ich musste es tun. Ich musste seine Stimme hören und wissen, dass er in Franklin City lebte und nicht in einer anderen Welt. Ich schlich mich in Moms Schlafzimmer und hob den Hörer ab. »David?«, rief sie aus der Küche. »Hast du zum Mittagessen irgendeinen besonderen Wunsch? Ich gehe in den Supermarkt!« »Äh… Hot Dogs?«, rief ich. »Oder Eis? Wie wäre es mit Schokokeksen?«
Mom kicherte. »Also gut, und bleib da, während ich wegbin, okay?« »Ja klar.« Ich wartete, bis ich hörte, dass sie die Wohnungstür hinter sich zumachte und die Glocke des Aufzugs ertönte. Endlich war ich allein. Ich hielt die Visitenkarte hoch und streckte die Hand nach dem Hörer aus. BIIIIEP! Vor Schreck sprang ich fast bis an die Decke. Ich schnappte mir den Hörer. »Hallo?« »Was ist los?« Heather. Wer sonst! »Nichts ist los! Was willst du?« »Was steht drauf? Auf der Karte, meine ich.« »Warum sollte ich dir das sagen?« »Wenn ich nicht gewesen wäre, hättest du sie nicht gefunden.« »Wenn du nicht gewesen wärst, hätte mich die Bahnpolizei nicht festgenommen!« »Stimmt. Aber du bist erst dreizehn. Sicher haben sie dich bloß ein bisschen eingeschüchtert und dir einen Klaps auf die Pfoten gegeben, stimmt’s?« »Woher weißt du das?« »Aus dem Fernsehen. Also, was steht nun auf der Karte?« Ich atmete tief durch. Es war sinnlos, gegen eine Naturgewalt ankämpfen zu wollen. »Der Name von irgend so einem Typen. Ich wollte ihn gerade anrufen, aber dann hast du mich unterbrochen.« »Ist das der Mann, der verschwunden ist?« »Niemand ist verschwunden, Heather.« »Ach so, stimmt ja, es war alles nur eine Halluzination. Das hatte ich ganz vergessen. Und warum rufst du ihn an?« »Um ihm zu sagen, dass er seine Visitenkarte verloren hat, okay?«
»Ich bin gleich bei dir.« Klick. Ich wartete das Freizeichen ab. Dann gab ich sorgfältig die Nummer ein, die auf der Karte stand. »Dies ist der Anschluss von ›Der Himmel ist die Grenze‹«, verkündete ein Tonband. »Unsere Geschäftszeiten sind – « Es klingelte Sturm an der Wohnungstür. Ich knallte den Hörer auf die Gabel, rannte zur Tür und machte sie auf. »Das ging aber schnell«, sagte ich. »Ist sie das?«, stieß Heather atemlos aus und riss mir die Karte aus der Hand, während sie in die Wohnung stürmte. »Lass uns dort anrufen.« »Hab ich schon. Die Firma hat Feierabend. Wahrscheinlich können wir den Typen erst nach dem Wochenende erreichen.« »Pah.« Heather marschierte schnurstracks zum Telefon, bat mich um ein Telefonbuch und blätterte in Windeseile darin herum. »Hier ist er! ›Ruckman, Miles…9766-1848‹.« Manchmal kann ich Schlauberger nicht ausstehen. Ich wählte die Nummer. Doch wieder war ein Tonband zu hören. Die Stimme klang steif und monoton: »Hier spricht Miles Ruckman. Leider bin ich im Augenblick nicht zu erreichen, doch Sie können gern eine – « »Mist.« Wieder legte ich auf. »Zu Hause ist er auch nicht.« »Das ist der Beweis!«, rief Heather aufgeregt. »Er ist tatsächlich verschwunden.« »Er könnte überall sein. Beim Einkaufen. Unter der Dusche.« »Okay, dann warten wir und versuchen es später noch mal.« Ungeduldig nahm Heather die Karte in die Hände und drehte sie um. »Hey, was ist denn das?« Sie hielt mir die Rückseite der Karte hin. Darauf war eine Nachricht gekritzelt:
GRNE LINIE ZWBOOKR UND DRFIELD HALLO IHR ALLE! ICH WÜNSCHDE IHR WÄRD HIER – PERSSON »Tolle Rechtschreibung«, bemerkte ich. »Yippie!« Heather machte einen Luftsprung und veranstaltete einen Freudentanz. »Zwischen Booker Street und Deerfield! Genau da ist die Haltestelle der Granite Street. Hier steht es in seiner eigenen Handschrift.« »Na und? Heather, es gibt viele Leute, die einen Blick auf die stillgelegte Haltestelle werfen möchten.« »Und dann werfen sie dort ihre Visitenkarten einfach aus der U-Bahn?« Heather stopfte sich die Karte in ihre Brusttasche und schaute wieder ins Telefonbuch. »Er wohnt in der Bond Street Nr. 37. Wir könnten dort klingeln. Wenn er nicht da ist, können wir auf ihn warten. Falls er zurückkehrt. Kommst du mit?« »Du spinnst total. Das nennt man… spionieren!« Heather ging zur Tür. »Ich fahre hin und erzähl dir dann, was passiert ist.« »Warte!«, sagte ich. Sie drehte sich um. »In der Bond Street gibt’s einen supercoolen Buchladen, in dem sie alte Comics verkaufen«, murmelte ich. »Ich kann ja mit dir hinfahren.«
Wir nahmen die U-Bahn. Die verlassene Haltestelle war wie gewöhnlich dunkel und menschenleer. Bond Street Nr. 37 war ein heruntergekommenes Wohnhaus in der Nähe des Flusses. Eine rostige Feuertreppe verlief im Zickzack an der Hausfront entlang und ein paar leere Mülltonnen standen auf dem Bürgersteig.
Neben der Haustür war eine Klingelanlage mit den Namen der Hausbewohner und den Nummern der Wohnungen – wie bei uns zu Hause. Sofort fanden wir M. RUCKMAN 3E. Heather drückte auf seine Klingel und hob die Augenbraue. »Supercoole Comicbücher, was?«, fragte sie ironisch. »Naja, ich will ja bloß mitkriegen, ob er da ist«, sagte ich. »Dann gehe ich zu dem Laden.« Wir warteten ein paar Minuten, dann drückte Heather erneut auf den Klingelknopf. »Niemand zu Hause«, sagte ich. »Ich werde wohl reingehen und vor seiner Wohnung auf ihn warten müssen.« Heather fing an alle Klingeln hintereinander zu drücken. »Hey!«, protestierte ich. »Was machst du – ?« Da summte es. Sie drückte die Haustür auf. »Siehst du? Wenn du bei allen klingelst, dann wird dich schon irgendwer reinlassen«, sagte sie. »Kommst du mit?« Ich folgte Heather in einen düsteren Hausflur. Die Fliesen auf dem Boden waren ausgetreten. Die Luft war stickig und es roch nach kaltem Fett. Am anderen Ende des Flurs stiegen wir eine dunkle, schiefe Treppe hinauf. Wir kamen an Fenstern mit blinden Glasscheiben vorbei, die von uralten Farbschichten für immer zugeklebt waren. Apartment 3E befand sich am Ende eines langen, schmalen Gangs. Am anderen Ende lagen sich die Eingänge zu 3A und 3B in einer kleinen Nische gegenüber. Dort konnten wir uns verstecken ohne von Miles Ruckman bei seiner Rückkehr entdeckt zu werden. »Was ist, wenn er den ganzen Tag wegbleibt?«, flüsterte ich. »Oder das ganze Wochenende?« Heather zuckte mit den Schultern. »Dann kommen wir halt ein anderes Mal wieder.« »Und wie lange willst du bleiben?« »Bis es uns langweilig wird.« Ich seufzte. »Warum bin ich nur mitgekommen.«
»Dann geh doch zu deinem Comicladen!« Plötzlich hörten wir ein Klicken. Das Geräusch kam von irgendwoher auf dem Gang. Ein Türknopf. Heather und ich lugten vorsichtig um die Wand der Nische herum. Eine Tür ging auf. Die Tür der Wohnung 3E. Ich hielt den Atem an. Heathers Augen quollen vor Neugier über. Eine gebückte Gestalt schob sich auf den Gang hinaus; sie trug einen langen, abgewetzten Mantel. Als der Mann sich umdrehte, erhaschte ich einen Blick auf sein Gesicht, bevor ich mich wieder in die Nische zurückzog. »Oh, mein Gott«, sagte ich leise. »Ist das nicht –?«, flüsterte Heather. Ich nickte. »Anders.«
Warum ausgerechnet jetzt?
Warum nicht?
10
»Was macht der denn hier?«, zischte Heather. »Warum fragst du mich das?«, zischte ich zurück. »Hat er uns gesehen?« »Pssssst!« Anders’ Schuhsohlen schlurften über den Linoleumboden. Sie kamen immer näher. Ich hielt den Atem an. Heather wich in den Schatten zurück. Jetzt stand Anders unmittelbar vor der Nische. Nur wenige Zentimeter von uns entfernt. Ich hörte, wie er murmelnd Selbstgespräche führte. Undeutliche Worte. Seinen knurrenden Ton. Und dann – dumpfe Schritte. Er ging die Treppe hinunter. Ich hatte das Gefühl, als würde meine Lunge gleich bersten, und atmete hörbar aus. Weder Heather noch ich rührten uns, bis wir hörten, dass unten die Haustür aufging und zuklappte. »Er ist ein Einbrecher!«, sagte Heather. Ich schüttelte den Kopf. »Es ist heller Tag. Vielleicht hat er einen Wohnungsschlüssel. Vielleicht ist er ein Freund von Miles Ruckman.« »Ein Freund von Miles Ruckman und ein Freund von deinem Vater… könnte es da eine Verbindung geben?« »Fang bloß nicht wieder davon an, Heather«, sagte ich und verließ das Versteck. »Aber du musst schon zugeben, dass das komisch ist. Das kannst du nicht leugnen!« Ich fing an die Treppe hinunterzugehen. Momentan war ich nicht in der Stimmung für Heathers verrückte Theorien. Ich würde einfach nicht hinhören.
Doch irgendwie musste ich ihr auch Recht geben. Etwas äußerst Seltsames lief hier ab.
»Ich bin wieder da!«, rief ich, als ich unsere Wohnung betrat. Die Tür flog hinter mir zu. Ich warf meinen Rucksack ins Wohnzimmer. Ich dachte immer noch über Anders nach und hätte deshalb die Veränderungen in unserem Flur fast übersehen. Die Wand war leer. Alle Bilder waren weg. Stattdessen waren nur blasse rechteckige Ränder zu sehen. »Wo warst du?« Mom stürmte aus ihrem Zimmer heraus. »Hab ich dir nicht gesagt – « »Heather hat angerufen. Sie brauchte meine Hilfe bei… na ja, bei irgendwas halt. Du weißt doch, wie sie ist. Was ist mit den Bildern passiert?« Mom machte eine mürrische Kopfbewegung in Richtung ihres Zimmers. Ihre Verärgerung schien zu verfliegen, als wir hineingingen. Alle Fotos waren auf ihrem Bett gestapelt; daneben lagen massenweise Notizbücher, Fotoalben und Dokumente. Ich drehte mich zu Mom um. Sie lächelte mich traurig an und ich konnte erkennen, dass sie geweint hatte. In der Ecke des Zimmers stand Dads Schreibtisch; die Schubladen waren offen und leer. Nur sein alter Globus war noch da. »Was willst du mit Dads Sachen machen?« »Ich dachte, es ist Zeit für ein paar Veränderungen«, erwiderte Mom. »Zeit, die Wohnung zu renovieren. Die Wände zu streichen. Den Schreibtisch deines Vaters auszuräumen – du weißt schon, damit du ihn benutzen kannst, während er… weg ist.« Moms Stimme versagte. Sie fing an eifrig die Papiere zusammenzulegen.
Ich setzte mich auf die Kante des voll gehäuften Betts. Es war ein komisches Gefühl – als wäre Dad im Zimmer, als wäre seine Seele auf dem Bett ausgebreitet. Ich klappte ein Fotoalbum auf, auf dem mein Geburtsjahr stand. Auf der ersten Seite klebte ein Foto von meinem Vater, auf dem er sich über eine weiße, geflochtene Wiege beugte. Damals hatte er noch einen wilden Haarschopf und einen gepflegten Vollbart. Seine Augen waren klein und verquollen, als wenn er nicht geschlafen hätte, doch sie strahlten so, dass man mit ihnen die ganze Stadt hätte beleuchten können. Mom warf einen Blick auf das Bild. »Da warst du zwei Wochen alt. Dad ist jedes Mal aufgewacht, wenn du den kleinsten Muckser gemacht hast. So sehr hat er dich geliebt.« Tränen stiegen mir in die Augen – wegen des Fotos. Doch das war nicht der einzige Grund. Mom hatte »geliebt« gesagt. Sie hatte die Vergangenheitsform benutzt. Sie fing also damit an, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen und ihre Erinnerungen für immer wegzuräumen. Ich nahm mein altes Zeugnis aus der dritten Klasse in die Hand. Ein Programm der Aufführung im Feriencamp, bei der ich mitgemacht hatte. Einen Ansteckknopf, den ich auf einer Kirmes für meinen Vater gekauft hatte und auf dem stand: BESTER DAD DER WELT! Mom hielt ein kleines gebundenes Notizbuch mit Eselsohren hoch. »Hast du eigentlich gewusst, dass dein Vater Tagebuch geschrieben hat, genau wie du?« »Nein«, antwortete ich. Doch es überraschte mich nicht. Dad hatte sehr gern geschrieben. Eine Zeit lang hatte er sogar eine eigene regelmäßige Kolumne im Newsletter der Franklin City Wachmänner gehabt. »Er hörte damit auf, als du in die zweite Klasse oder so kamst. Er hatte zu viel zu tun. Hör dir das an.« Mom hielt das Tagebuch hoch und fing an laut vorzulesen: »Habe D heute aus dem Kindergarten abgeholt.
Zwei seiner Freunde rannten zu ihren Müttern und schrien: ›Ich hab dich so viel lieb‹ und breiteten dabei ihre Ärmchen aus, als seien sie in einem Wettbewerb. D fing an zu weinen. Er sagte: ›Meine Arme sind nicht lang genug, um das zu machen, Daddy. Weil ich dich…‹« »›… von meiner großen Zehenspitze bis zur Spitze des Weltalls lieb habe‹«, ergänzte ich. »Ich erinnere mich daran.« »›Wow!‹« Moms Stimme zitterte, während sie weiterlas. »›Wie unendlich glücklich mich das macht!‹« Sie hielt inne und legte das Tagebuch hin. »Entschuldige mich einen Augenblick, David.« Hastig verließ sie das Zimmer. Bald darauf hörte ich sie hinter der verschlossenen Badezimmertür schluchzen. Als ich meine eigenen Tränen wegblinzelte, entdeckte ich einen Stapel von fünf oder sechs weiteren Tagebüchern auf dem Bett. Dad hatte auf jedes ein Anfangs- und ein Enddatum geschrieben. Ich suchte nach alten Tagebüchern aus der Zeit, als er noch ein Kind war. Vielleicht in meinem Alter. Doch das älteste war aus dem Jahr, bevor meine Eltern geheiratet hatten. Ich hätte am liebsten eins davon aufgeschlagen, aber ich konnte es nicht. Es schien mir nicht richtig zu sein, Dads Tagebücher zu lesen. So, als würde ich in seiner Privatsphäre herumschnüffeln. Die ganze Sache machte mich nervös. Ich stand auf und wollte in mein Zimmer gehen. Als ich an Dads Schreibtisch vorbeikam, stieß ich an den Globus. Er eierte auf seinem Ständer umher, fiel auf die Seite und rollte weg. Ich fing ihn auf, bevor er die Schreibtischkante erreicht hatte. Als ich noch ein Kind war, hatte Dad es nie gemocht, wenn ich mit seinem Globus spielte. Jetzt wusste ich auch, warum. Er hatte keinen stabilen Rahmen. Als ich ihn aufhob, spürte ich, dass sich etwas in der Kugel befand.
Dann sah ich die beiden kleinen Halter links und rechts vom Äquator und das Scharnier auf dem gebogenen Metallfuß, der die Achse des Globusses mit dem Ständer verband. Ich warf einen Blick auf das Badezimmer. Die Tür war immer noch zu und ich hörte, dass der Wasserhahn lief. Ich steckte meine Finger in die Halter und zog daran. Der Globus teilte sich in zwei Hälften. In seinem Hohlraum lag noch ein Tagebuch. Ich nahm es heraus und betrachtete den Deckel. Darauf stand nur ein Datum. Ein Anfangsdatum, das ungefähr zwei Jahre zurücklag. Hinter dem Datum war ein Bindestrich und danach nichts mehr. Als hätte Dad es nie zu Ende geschrieben. Ich schlug die letzte beschriebene Seite auf. Am oberen Rand war ein Datum eingetragen. Darunter war eine Seite in der Handschrift meines Vaters. Vergiss seine Privatsphäre. Ich setzte mich hin und fing an zu lesen.
Er leidet.
Das können wir leider nicht verhindern.
11
Schwer Kugelschreiber zu halten. Gedechnis lässt Gedächtnis lässt nach. T glaubt, ich bin verrückt Kann es ihr einfach nicht begreiflich machen. T stand für Moms Name Taylor. Schreckliche Erinnerungen wurden in mir wach. Mom und Dad, die sich in der Küche anschrien. Dads genuschelte Worte. Moms Schluchzen. Laut. So laut, dass ich meinen Kopf unter dem Kissen verstecken musste. Du bist ja betrunken!, schrie Mom. Doch er war nicht betrunken gewesen. Es war der Anfang seiner Krankheit – was immer seine Krankheit auch war. Trotzdem machte seine Eintragung keinen Sinn. Als er das geschrieben hatte, wusste Mom längst darüber Bescheid, dass er krank war. Kann mich nicht mehr konsen konzn nachdenken. Hab nicht mehr viel Zeit. Spüre es: Muss nach Hause – Will nicht. Hab es T gesagt. Sie kann es noch nicht ertragen. Nach Hause? Das waren die letzten Worte, die Dad zu Mom gesagt hatte. Sie hatte gefragt: »Wohin gehst du so spät?«, und er hatte geantwortet: »Nach Hause.« Aber was hatte das zu bedeuten? Er war doch zu Hause. Es sei denn… Ein anderes Zuhause. Ein anderes Leben. Eine andere Familie irgendwo. Unmöglich. Lächerlich. Doch in Gedanken ging ich all die Jahre noch einmal durch. Die vielen Geschäftsreisen, die Dad früher gemacht hatte. Er
war tagelang beruflich unterwegs gewesen – »um den Pugs, den Wachmännern des öffentlichen Amtes, zu helfen«, wie er immer gesagt hatte. Hatte er uns die ganze Zeit über angelogen? Angelogen, um sie besuchen zu können? Von solchen Fällen hatte ich zwar schon gehört. Aber mein eigener Vater? Habe es T gesagt, hatte er geschrieben. Also wusste Mom davon. Von seinem geheimen Leben. Und sie hatte ihn gedeckt. Nein. Ich weigerte mich das zu glauben. Ich blätterte ein paar Seiten zurück. Irgendwo musste es eine Erklärung dafür geben. Ich wurde von dem Klicken der Badezimmertür überrascht. Eilig klappte ich den Globus zu. Dann stopfte ich das Tagebuch hastig in meine hintere Jeanstasche und ließ mein T-Shirt darüber hängen. »Tut mir Leid, David.« Mom kam ins Zimmer und tupfte sich die Augen ab. »Wenn ich solche Dinge lese, kriege ich immer ein schlechtes Gewissen. Manchmal vergesse ich, was für ein guter Mensch dein Vater war.« »War er das?« Vorsicht, David. Mom warf mir einen seltsamen Blick zu. »Ja, natürlich, David…« »Was ich sagen wollte, ist, dass ich mich gerade daran erinnert habe, dass Dad, wenn ihr euch gestritten habt… dann hat er manchmal so komisches Zeug geredet, nicht wahr?« »Er war sehr krank«, erklärte Mom und seufzte. »Versteh doch, dass es nicht seine Schuld war.« »Hat er nicht gesagt, dass er… nach Hause gehen wollte?« Meine Mutter setzte sich mit betroffener Miene aufs Bett. »Ja, das hat er. Ich hatte gehofft, dass du das nicht mitgekriegt hättest…« »Wo, Mom? Wo ist sein zweites Zuhause?«
»Es ist – « Mom unterbrach sich und unterdrückte ein Schluchzen. »David, versprich mir, dass dir nicht dasselbe passieren wird.« »Was soll mir nicht passieren?« Sie riss sich zusammen, holte tief Luft und sah mir in die Augen. »Weißt du noch, wie besorgt ich heute Vormittag auf dem Hauptquartier der Bahnpolizei war? Nun ja, das war nicht nur weil du etwas angestellt hattest, sondern auch weil du etwas Bestimmtes gesagt hast.« »Ich habe dir doch gesagt, dass alles nur ein Tagtraum war – « »Dort war sein Zuhause, David.« Mom ließ die Worte in der Luft hängen. Wie Funken auf trockenem Holz entflammten sie meine verrückten Gedanken. »Die Haltestelle Granite Street«, fuhr Mom fort. »Dad sagte, er sei dort zu Hause.«
Einer nach dem anderen.
Sie auch?
12
»Wenn du mich fragst, mich überrascht das ganz und gar nicht.« Heather tanzte vor Freude fast auf dem Teppich herum. »Ich habe es doch die ganze Zeit gesagt – dein Vater befindet sich an der Haltestelle und sucht dich dort.« »Heather, langsam fange ich an zu glauben, das Ganze könnte eine einzige Lüge sein – Dads Krankheit, sein Verhalten…« Ich zeigte ihr sein letztes Tagebuch, das ich mitgebracht hatte. »Ich habe seine Tagebücher gelesen. Ich glaube, er führte ein Doppelleben. Vielleicht mit einer anderen Frau und anderen Kindern.« Heather sah mich misstrauisch an. »Das ist verrückt.« »Verrückter als das, was du glaubst? Denk mal darüber nach. Kein Arzt konnte seine Krankheit benennen. Oft war er tagelang verschwunden – « »Dein Vater hat nicht gelogen – « »Sein Job war es, Fälle zu lösen. Er war auf mysteriöse Fälle spezialisiert. Er wusste, wie man Geheimnisse bewahrt ohne erwischt zu werden. Und er hatte lauter eigene Geheimnisse. Zum Beispiel seine Vergangenheit.« »Er war Waise. Darüber hat er nicht gern geredet. Das hast du mir immer gesagt.« »Aber ich habe es nie hinterfragt. Ist es nicht seltsam, dass er über jeden Tag Tagebuch geführt hat, aber erst nachdem er meiner Mutter begegnet ist?« Heather nahm das Tagebuch in die Hand und blätterte darin herum. »Das ergibt keinen Sinn… hier ›D‹ und dort›T‹…« Ich schaute ihr über die Schulter. Während sie die Seiten umblätterte, blieb mein Blick an etwas Vertrautem hängen.
Ich legte die Hand auf die Seite, um das Buch an dieser Stelle offen zu lassen. Dann las ich: A.P. will nicht mitkommen. Hat vier Münzen. Aber: Sagt, immer noch besser, das irdische Wirrsal zu ertragen, als die Ungerechtigkeit zu Hause. Typisch. »Zu Hause«, sagte ich. »Da haben wir es wieder.« »Wer ist ›A.P.‹?«, fragte Heather. »Und was bedeutet ›das irdische Wirrsal‹?« »Weißt du das nicht? Du bist doch das Genie!« Sie zuckte mit den Schultern. »Klingt wie eine Sprache aus einer anderen Zeit. Dein Vater hat sich sonst nie so ausgedrückt.« »Stimmt. Aber ich nehme an, A. R hat es.« A.P. Plötzlich dämmerte es mir. Ich hob den Hörer von Heathers Telefon ab. »Heather, du bist echt ein Genie!« »Wen rufst du an?«, fragte sie. Ich wählte meine eigene Nummer zu Hause. »Hallo?«, meldete sich Mom. »Mom, wie heißt Anders mit Nachnamen?« »Pearson«, antwortete sie. »Warum fragst du?« Heather stellte sich neben mich. Ich drehte mich zu ihr um. »Hast du Pearson gesagt Mom? Anders Pearson?« Für einen Augenblick sah Heather verwirrt aus, dann strahlte sie. »Ja«, antwortete meine Mutter. »Wieso?« »Frag sie, wie man das buchstabiert!«, zischelte Heather. Ich deckte die Sprechmuschel mit der Hand ab. »Warum?« »David, was ist los?«, fragte meine Mutter. »Äh, Mom, wie buchstabiert man seinen Namen? P-E-A-R-?« Heather griff nach dem Hörer und legte ihr Ohr dicht neben meines.
»Nein, David«, sagte Mom. »P-E-R-S-S-O-N.« Heather sah aus, als würde sie gleich ohnmächtig werden. P-E-R-S-S-O-N.
Er ist ziemlich schlau.
Deshalb brauchen wir ihn ja.
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GRNE LINIE ZWBOOKR UND DRFIELD HALLO IHR ALLE! ICH WÜNSCHDE IHR WÄRD HIER – PERSSON
Ich muss die Rückseite von Miles Ruckmans Visitenkarte ein Dutzend Mal gelesen haben, während wir Heathers Wohnung verließen und die Treppen hinunterrannten. »Anders hat eine Botschaft an diese andere Welt geschickt«, sagte Heather über die Schulter. »Die Botschaft lautete: ›Hallo ihr alle! Ich wünschte, ihr wärt hier.‹ Und Ruckman sollte sie überbringen.« »Aber er hat die Karte fallen gelassen«, gab ich zurück. »Genau! Glaubst du mir jetzt?« »Vielleicht. Ich weiß nicht.« Wir stießen die Tür zum achten Stock auf. Anders wohnte in 8B. Ich drückte auf die Klingel. »Mr Persson?«, rief ich. »Hier ist David Moore, der Sohn von Alan.« Die Tür ging einen Spaltbreit auf und ein blutunterlaufenes Auge blinzelte heraus. »Ja?«, fragte Anders. »Haben Sie das verloren?« Ich reichte ihm die Visitenkarte. Er warf einen kurzen Blick drauf. »Nein.« Die Tür wurde wieder zugezogen, doch rasch stellte ich meinen Fuß zwischen Tür und Angel. »Und was ist mit der Rückseite?«, fragte Heather. Ich drehte die Karte um und zeigte auf die handgeschriebene Nachricht. »Das haben Sie doch geschrieben, oder?«
»Na und?«, fragte Anders knurrend. »Miles Ruckman hat sie verloren«, sagte Heather. »Was hat die Nachricht zu bedeuten? ›Hallo ihr alle, ich wünschte, ihr wärt hier?‹ Wohin hat er die Karte gebracht?« »In sein Büro«, erwiderte Anders. »Verschwindet jetzt!« »Aber jetzt ist er weg, stimmt’s?«, fragte Heather. »Und Sie waren in seiner leeren Wohnung.« »Ich rufe gleich die Wachleute!«, schrie Anders aufgebracht. »Hat er seine irdischen Wirrsale abgelegt?«, platzte Heather heraus. »Wie Sie es von Davids Vater erwartet haben?« Anders machte langsam seine Tür auf. Eine dicke, modrige Luft strömte in Schwaden heraus; es roch nach alten Socken und verfaulten Kartoffeln. »Shakespeare«, murmelte er. »Woher wisst ihr-?« Heather stieß mich in die Rippen. »David, erzähl ihm, wo du die Karte gefunden hast.« »An der Haltestelle Granite Street«, sagte ich. »Auf dem Bahnsteig.« »Was hast du da gemacht?«, wollte Anders wissen. »Da hat Miles Ruckman sie fallen gelassen«, antwortete Heather. »Vor ein paar Tagen, während ich mit der U-Bahn nach Hause fuhr, hat sie dort angehalten«, erklärte ich. »Der Bahnsteig war voller Leute und hell erleuchtet. An den Wänden hingen Plakate. Miles Ruckman war in der U-Bahn. Aber als sich die Türen öffneten, stieg er aus. Er hielt die Karte in der Hand, als wollte er sie jemandem geben. Dann gingen die Türen wieder zu und die Bahn fuhr ab. Und… und ich habe meinen Vater gesehen.« Anders’ rastloser Blick war jetzt ruhig und klar. »Du hast deinen Vater gesehen. Und auf dem Weg zu ihm hast du die Karte dieses Ruckman aufgehoben.«
»Nein. Ich bin in der Bahn geblieben. Ich habe die Karte während einer anderen Fahrt aufgehoben.« »Während einer anderen Fahrt…« Anders sah erst mich und dann Heather an. Heather grinste triumphierend. »Was ist? Sagen Sie uns alles!« Anders kicherte hohl. Dann wurde daraus plötzlich ein lautes, wildes Gackern. »Ihr müsst mich für verdammt bescheuert halten.« Und mit diesen Worten zog er die Wohnungstür zu.
Gut so.
14
Hastig steckte ich meinen Arm in den immer enger werdenden Türspalt. »Hau ab!«, schrie Anders. »Ich glaube dir nicht!« »Machen Sie auf!«, brüllte ich vor Schmerz. »Lassen Sie die Tür los!«, kreischte Heather und stieß mit der Schulter gegen das Türblatt. Sie schwang auf. Anders wich in seine Wohnung zurück. »Ihr habt doch ein Tonband dabei, stimmt’s?«, fragte er. »Ihr schneidet alles mit, was ich sage. Um es der Polizei vorzuspielen!« Heather warf mir einen verwirrten Blick zu. »Wir wissen nicht, wovon Sie reden, Anders.« Ich hörte das Klicken eines Türschlosses auf dem Gang. Die Wohnungstür eines Nachbarn öffnete sich. Wir betraten Anders’ Wohnung. Die Tür schloss sich hinter uns. Anders war, so weit er nur konnte, zurückgewichen. Sein Zuhause bestand aus einem einzigen kleinen Zimmer. Überall – auf dem Boden, auf den Möbeln, auf den Fenstersimsen – lagen aufgehäufte alte Klamotten, Aluminiumschalen mit Essensresten, aufgeklappte Bücher und vergilbte Zeitungen herum. Die Fenster waren dicht verschlossen und der Gestank war unerträglich. Heather verzog das Gesicht. »Igitt.« »Das ist Hausfriedensbruch!«, schrie Anders. »Ich rufe die Wachleute an.« »Anders«, sagte ich beruhigend. »Wir wollen Sie nur ein paar Dinge fragen.« »Haben sie euch aufgetragen das zu sagen?« Anders lachte verzweifelt; es klang wie ein heiseres Bellen. »Was für ein
Klischee! Es klingt wie in einem alten Film über den Zweiten Weltkrieg. Haben sie euch solche alten Filme gezeigt, um euch zu trainieren? Zwischen den Sprachkursen? Und was noch, hm? Spionageromane? Die ganze kulturelle Ausbildung?« Wir konnten ihn vergessen. Er war übergeschnappt. Seine Worte machten keinen Sinn mehr. »Lass uns gehen, Heather«, sagte ich. Anders drückte sich an eine schmutzige Wand voller alter Klebestreifen, an denen nichts mehr hing. »Dein Vater ist jetzt auch einer von ihnen, stimmt’s? Deshalb wollte er, dass ich die Seiten wechsle. Und jetzt hat er euch beide angeheuert. Vielleicht auch Ruckman.« »Angeheuert?«, wiederholte Heather. »Er spinnt«, flüsterte ich. »Komm, wir gehen!« »Er spielt uns was vor«, sagte Heather. »Oder vielleicht wollt ihr mich in eine Anstalt stecken«, fuhr Anders fort. »Ist es das?« »Eine was?«, fragte ich. »Anstalt, Irrenhaus, geschlossene Abteilung – « Anders brach in ein irres Gelächter aus. »Natürlich habt ihr keine Ahnung von so was! ›Einer flog übers Kuckucksnest‹. Na, das sagt euch wohl nichts?« »Äh… eigentlich nicht«, antwortete Heather ruhig. »Mr Persson, hören Sie, wir sind keine… was immer Sie meinen. David hat bloß seinen Vater gesehen, in einer Art anderen Dimension. Das Problem an der Sache ist, dass er es jetzt nicht mehr kann, aber er will es, weil sein Vater versucht Kontakt mit ihm aufzunehmen.« »Sagt ihnen, sie kriegen mich nur über meine Leiche! Gebt ihnen ihr Geld zurück. Hier ist es sowieso wertlos.« Anders stolperte quer durch sein Zimmer und machte eine Schublade auf. Er griff hinter einen Haufen zusammengeknüllter Unterwäsche und holte einen Stapel Geldscheine heraus, den
er mir hinhielt. Sie waren in einem seltsamen Grün und sahen wie Spielgeld aus. Aus Neugier nahm ich einen Schein in die Hand und untersuchte ihn näher. Er hatte zwar ein kniffliges Design, doch ich konnte das Porträt in der Mitte nicht erkennen. »Vielleicht kann ich helfen, Mr Persson«, flehte Heather. »Ich will diese andere Welt auch sehen. Ich habe es versucht, aber ich kann es nicht. Was muss ich dafür tun? Ich meine, braucht man dazu einen Verwandten, der hier lebt, so wie David? Oder hat David einfach den richtigen Augenblick abgepasst, als Zeit und Raum zusammenfielen oder so was – Sie wissen schon, wie eine parallele Welt, die vielleicht alle hundert Jahre einmal aufeinander trifft, und jetzt ist es zu spät dafür?« Sie war genauso verrückt wie er. »Heather, lass uns von hier verschwinden!« »Braucht ihr das Fahrgeld – geht es euch darum?« Anders holte drei kleine, merkwürdig aussehende Münzen aus der Schublade und streckte sie Heather hin. »Hier. Wenn ich euch die gebe – verschwindet ihr dann endlich?« Heather nahm eine Münze und hielt sie gegen das Licht. »›Gültig für eine Fahrt‹«, las sie vor. »Die sehen aus wie irgendwelche U-Bahn-Münzen.« Sie sah Anders neugierig an. »Ja«, sagte Anders mit einem irren Lächeln im Gesicht. »Und sie funktionieren. Wenn es eure Bestimmung ist, sie zu benutzen.« »Woher wissen wir, ob es unsere Bestimmung ist, sie zu benutzen?«, wollte Heather wissen. »Na, wenn sie funktionieren!« Anders grölte vor Lachen. Ich sah Heather an und hob ungeduldig die Augenbrauen. »Gehen wir jetzt?« »Oh! Oh!« Anders keuchte, um sein Gelächter in den Griff zu bekommen. »Was hat ein Mann davon, wenn er die ganze Welt gewinnt und seine eigene Seele verliert!«
Heather nickte. »Ja, jetzt gehen wir.« Ich steckte die Münzen in die Tasche und wir schlugen die Wohnungstür hinter uns zu. Anders’ hysterisches Gelächter verfolgte uns durch den Hausflur.
An die Münzen haben wir gar nicht mehr gedacht.
Wir sind nicht vollkommen.
15
Schritte. Füße, die über den Asphalt rennen. Stimmen. Streitende Stimmen in meinem Kopf. Er ist verrückt. Aber er war Dads Freund. Ein Narr, der im Dreck lebt, Unsinn quasselt und Spielgeld sammelt. Doch er kannte den Ort, den Dad sein »Zuhause« nannte. Und wir nahmen ihn auch noch ernst. Wie kleine Kinder rannten wir zur U-Bahn-Station. Um zu testen, was er gesagt hatte. Um die Münzen auszuprobieren. Um die andere Welt zu erforschen. Es war einen Versuch wert. Nein. »Heather, warum tun wir das alles?«, rief ich ihr zu. Sie hatte schon einen halben Block Vorsprung und lief die Treppen zur Haltestelle hinunter. »Beeil dich!« Ich folgte ihr. Gegen besseres Wissen. Gegen alle Logik. Gegen all meine Instinkte. Überzeugt davon, dass mich nur Frust und Enttäuschung erwarteten. Doch ich konnte nichts dagegen tun. Die Hoffnung, dieser winzige schlummernde Virus, wachte langsam in mir auf. Steckte mich an. Ich hatte ganz vergessen, wie sich Hoffnung anfühlte. Wenn Anders Recht hatte, passten die Puzzleteile des Geheimnisses zusammen. Diesen Gedanken bekam ich nicht mehr aus dem Kopf. Denn wenn man darüber nachdachte, erklärte die verrückte Geschichte, die Anders erzählt hatte, den Tagebucheintrag meines Vaters. »A.P.« wurde wegen eines Verbrechens gesucht. Das erklärte die vielen Geldscheine – Anders hatte sie gestohlen und war auf irgendeine Weise in unserer Welt untergetaucht. Und als ich gesagt hatte, ich hätte Dad
»gesehen«, war Anders ausgeflippt. Er hatte geglaubt, dass auch ich in diese andere Welt übergetreten war – und dort ein paar Wachleuten begegnet war, die mich mit einem versteckten Aufnahmegerät zurückgeschickt hatten, um ihn zu überführen und auszuliefern… David Moore, jetzt bist du total übergeschnappt. Dad war selber verrückt gewesen, als er das Zeug geschrieben hatte. Seine Tagebucheinträge sind glatter Unsinn! Dad lebte in unserer Welt. Unsere Welt war sein Zuhause. Warum sollte ich auch nur daran denken, Anders zu vertrauen? Wer war der schon? Nach all dem, was wir wussten, hätte er auch ein Serienkiller sein können. Vielleicht wollte er uns zur Haltestelle Granite Street locken. Vielleicht versteckte er dort seine Opfer. Unter dem Bahnsteig. Vielleicht war mein Vater eines seiner Opfer geworden. Und dann Miles Ruckman. Und jetzt würden wir die nächsten sein. Heather stand an den Drehtüren und sah sich suchend nach mir um, während die Leute sich an ihr vorbeischoben. »Wo sind die Münzen?«, fragte sie bittend. »Heather, mir ist das Ganze unheimlich«, sagte ich. »Ich meine, was ist, wenn die Geschichte bloß erfunden ist? Was ist, wenn Anders – « »Gib mir nur eine Münze!«, forderte Heather. »Dein Problem ist, dass du zu viel zweifelst!« Ich steckte die Hand in meine Hosentasche und holte eine der Münzen heraus, die Anders mir gegeben hatte. Es war die falsche Größe. Ich sah es sofort. Sie war viel zu klein und zu leicht. Ich steckte sie in den Schlitz. Sie rutschte in den Apparat. Schnell drückte ich gegen die Eisentür. Sie bewegte sich nicht. Mit einem leisen Scheppern landete die Münze in der Münzrückgabe. Der Apparat hatte sie nicht angenommen.
Können wir ihn zurückholen?
Uns bleiben immer noch ein paar Tricks.
16
Ich träume und in meinem Traum befahre ich die Grüne Linie. Nach Heathers und meiner heutigen Erfahrung an der Drehtür bin ich klüger. Jetzt weiß ich, dass meine Vision von Dad nur das war: eine Vision – reine Einbildung. Sie lässt sich rational perfekt erklären. Vor Monaten muss ich mitbekommen haben, dass Dad die Haltestelle erwähnte. Ich muss gehört haben, wie er Mom von dem »Zuhause« in seiner Fantasie erzählt hat. Ich habe es zwar nicht bewusst gehört, doch seine Worte sind mir im Gedächtnis geblieben. Und Monate später, nachdem Dad verschwunden und ich deshalb völlig fertig war, hatte ich diese Vision. Die blaue Visitenkarte lag wahrscheinlich schon seit einer Ewigkeit auf dem Bahnsteig. Sicher hat der verrückte Anders sie dort hingeworfen. Vermutlich habe ich sie schon mehrmals gesehen ohne sie richtig wahrzunehmen – und auch sie hat sich ihren Weg in meine Fantasie gebahnt. So einfach ist das. Am College werde ich unbedingt Psychologie als Hauptfach belegen. Deshalb blicke ich in meinem Traum nicht auf, während ich die Zeitung lese und die Haltestelle Granite Station immer näher kommt. Noch nicht einmal, als die Bahn immer langsamer fährt. Erst als die Lichter ausgehen, werfe ich einen Blick aus dem Fenster. Und da steht Dad. Er wartet vor der Tür. Er lächelt. Er wirkt ganz normal. Die Tür gleitet auf. Niemand bemerkt es oder rührt sich, genau wie beim letzten Mal.
»Komm«, sagt Dad. »Zweifle nicht.« Ich versuche aufzustehen. Aber ich kann nicht. Meine Arme und Beine sind wie gelähmt. Ich mache den Mund auf, um etwas zu sagen, aber ich bringe nur ein Stöhnen heraus. Jetzt verblasst Dad immer mehr. »Ich komme dich bald holen«, sagt er. »D – D – « Nichts. Meine Kehle ist wie zugeschnürt. »Alan… Alan!« Das ist Moms Stimme. Sie ist auch im Zug. Ich drehe mich zu ihr um. Ich will, dass sie aufhört Dad verblassen zu lassen. Ich versuche mit ihr zu reden, aber… »ALAAAAAAN!« Ich machte die Augen auf. Es war tatsächlich die Stimme meiner Mutter. Sie rief meinen Vater. Vom Schlafzimmer aus. Ich sprang aus dem Bett. Meinen Traum hatte ich noch nicht abgeschüttelt. Ich zitterte am ganzen Körper, während ich mich auf Zehenspitzen Moms Zimmer näherte. Ihre Tür stand einen Spaltbreit offen. »Bleib… da, Alan!«, rief Mom mit schlaftrunkener Stimme. »Ich komme dich holen!«
Wenn wir es zu sehr beschleunigen, wird es nicht funktionieren.
Der Anblick wird ihn verrückt machen. Oder befreien.
17
»Weißt du eigentlich, wie spät es ist, David?«, ertönte Heathers schlaftrunkene Stimme durch den Hörer. »Tut mir Leid, aber ich musste dich unbedingt anrufen«, flüsterte ich. »Ich will es noch mal versuchen.« »Was denn? David, sag mal, redest du im Schlaf? Denn wenn das der Grund ist, weshalb du meinen Schönheitsschlaf störst – « »Die Phantom-Haltestelle, Heather! Ich bin mir ganz sicher. Meine Mutter und ich hatten denselben Traum. Dad ruft uns. Sie schläft noch, aber ich kann nicht mehr schlafen. Ich muss zur Haltestelle fahren. Treffen wir uns unten im Hausflur?« »Hast du eine Vorstellung, was sich zu dieser späten Stunde so alles in Franklin City herumtreibt?« »In fünfzehn Minuten?« »Okay.« In zwölf Minuten war ich unten. Heather wartete schon auf mich. Wir rannten hinaus. Die Straßen der Stadt waren so still, dass es unheimlich war. Unser Atem stieg in kleinen Wolken auf und unsere Schritte hallten hohl auf dem Bürgersteig. Wieder einmal liefen wir die Treppen der U-BahnHaltestelle hinunter. Diesmal war sie menschenleer bis auf einen Angestellten, der in der Münzausgabestelle eingeschlafen war. Heather steuerte auf die Drehtüren zu. »Warte«, sagte ich. Ich nahm zwei der Münzen, die Anders uns gegeben hatte, aus der Tasche. Eine gab ich Heather. Die dritte hatte ich zu Hause gelassen. Ich hatte sie auf Moms Kommode gelegt,
damit sie sie gleich finden würde. Heather und ich standen vor den Drehtüren; wir sahen einander an. Ich steckte meine Münze in den Schlitz. Während sie hinunterfiel, drückte ich gegen die Drehtür. Diesmal funktionierte es. Vor Staunen klappte Heathers Kinnlade herunter. Sie steckte ihre Münze ebenfalls in den Schlitz und folgte mir durch die Tür. »Würdest du mich bitte mal kneifen?«, bat sie und hielt mir den Arm hin. Das tat ich. Dann kniff sie mich in den Arm. Alles war wirklich. Es war unsere Bestimmung, sie zu benutzen. Genau, wie Anders es gesagt hatte. Ratternd kam die U-Bahn angefahren. Wir stellten uns an den Rand des Bahnsteigs. Mit einem Dröhnen, das durch die leere Station noch verstärkt wurde, fuhr die Bahn ein. Wir stiegen ein. Als die Türen sich hinter uns schlossen, machten wir uns nicht die Mühe, uns zu setzen. Die Bahn fuhr an. Während sie in den Tunnel fuhr, beschleunigte sie ihre Geschwindigkeit. Einen Augenblick später verlangsamte sie ihr Tempo. Heather drückte meine Hand. Es wurde pechschwarz. Kreischende Bremsen. Wir hielten. Und dann das Licht. Hell. Blendend grell. Mitten in mein Gesicht. Ich musste mir die Augen zuhalten. »Ich kann nichts sehen!«, rief ich. Keine Antwort. Ein Schmerz. Ein heißer, brennender Schmerz. »Das ist nicht wie beim letzten Mal«, schrie ich. »Irgendetwas stimmt nicht!« Heather rührte sich nicht. Sie stand immer noch vor der Tür und klammerte sich an meine Hand. Die Bahn stand nun still. Und dann hörte ich, wie die Türen zischend aufgingen.
Jetzt.
18
Ich versuchte in dem gleißenden Licht meine Augen aufzumachen. Ich zitterte. Heathers Gesicht war eine Silhouette. Fast durchsichtig. Und sie starrte geradeaus. »Heather, mach die Augen zu!«, schrie ich. Sie lächelte. Ich konnte erkennen, dass sie lächelte. Und ich sah noch etwas. Eine Bewegung, die sich in ihren dunkelbraunen Augen spiegelte. Es war eine Gestalt, die immer größer wurde. Ich drehte mich zu ihr um, doch meine Augenlider schlossen sich automatisch. Lauf weg. Meine Füße waren bereit. Mein Körper setzte zur Flucht an. Doch ich blieb stehen. Und bald darauf hörte das Zittern auf. Langsam holte ich tief Luft. Und mit jedem Atemzug nahm der Schmerz ab, erst ein wenig, dann immer mehr, bis ich das Gefühl hatte, als würde ich ihn mit starken Atemstößen wegblasen. Als er ganz verschwunden war, machte ich meine Augen wieder auf. Die Helligkeit war immer noch da. Doch nun tat sie nicht mehr weh. Jetzt war es nur Licht. Licht ohne Hitze. Ohne Schmerz. Und dann erkannte ich die Gestalt, die sich in Heathers Augen gespiegelt hatte. Sie tauchte im Licht auf und streckte die Arme nach mir aus. »Dad?« Sein Lächeln ließ die Helligkeit um uns herum verblassen. Seine Augen waren schmale Schlitze, als wäre er erst gerade aufgewacht. Doch er wirkte gesund. Genauso gesund wie früher. »Dies ist nicht gerade die beste Zeit für so etwas«, sagte Dad. Tu es. Es ist ungefährlich.
Ich stürzte mich auf ihn. Mir war, als wären zehn Jahre von mir abgefallen und ich wäre wieder drei Jahre alt und überglücklich, dass mein Vater von der Arbeit nach Hause käme. Ich hatte vergessen, wie unheimlich gut sich das anfühlte. Ja, so war es besser – viel besser! Wieder hörte ich das zischende Gleiten der U-Bahn-Türen. Ich drehte mich um. Heather stand im Abteil und beobachtete uns durch das Glas. Tränen rollten ihre Wangen hinunter. »Heather!«, rief ich. »Was tust du da?« Sie winkte uns lächelnd zu, während die Bahn weiterfuhr. »Es ist okay«, sagte Dad. »Sie weiß, dass sie nicht hierher gehört. Aber du gehörst hierher.« Die Kommode. Die Münze auf Moms Kommode. »SAG MEINER MUTTER – «, brüllte ich Heather zu. Doch es war sinnlos. Meine Worte wurden vom Lärm der U-Bahn verschluckt. Dad legte seine Hand auf meine Schulter und ich wandte mich ihm wieder zu. Dieses Mal betrachtete ich sein Gesicht ausführlich. Er war glatt rasiert. Hatte strahlende Augen. Sah gut aus. »Dad, geht es dir – geht es dir wieder gut?«, fing ich an. Er nickte. »Hier können sie meine Krankheit behandeln. Leider eignen wir uns nicht dazu, in die andere Welt hinüberzuwechseln, David. Wenigstens nicht für lange. Diese schmerzhafte Erfahrung habe ich am eigenen Leib machen müssen. Deshalb musste ich nach Hause gehen.« »Also bist du – also bist du von dieser… dieser Welt? Und Anders – « »Er ist auch von hier. Er war früher ein sehr intelligenter Bursche, ein Literat. Keiner hätte vermutet, dass er auch ein Dieb war.« »Keiner außer dir.«
»Er wusste über die U-Bahn-Station Bescheid, David. Wir sind zusammen in eure Welt hinübergetreten, während ich hinter ihm her war. Und als wir auf der anderen Seite angekommen waren, was konnte ich da tun? Ihn verhaften?« »Also bist du einfach geblieben?« »Ich hatte es nicht vor. Ich dachte, ich würde abwarten, bis Anders Heimweh bekam oder die Lust verlor, und ihn dann in Handschellen zurückbringen. Doch irgendwie hat es mir gefallen, ein neuer Mensch an einem neuen Ort zu sein. Und dann wurden Anders und ich Freunde. Seltsam, wie das Leben manchmal so spielt. Wir sind in die Wiggins Street gezogen… und dann habe ich deine Mutter kennen gelernt.« »Und ich wurde geboren.« »Und ich habe es keine Minute bereut«, sagte Dad. »Also ist… deine Kindheit… sind deine Eltern…« »Ich habe euch angelogen. Es tut mir Leid. Ich weiß, es war keine sehr überzeugende Geschichte. Aber mir ist nichts Besseres eingefallen und dann musste ich dabei bleiben. Du hast sogar Großeltern. Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, werde ich sie dir vorstellen.« »Also… hast du sie einfach verlassen… und dann hast du uns verlassen.« Mein Vater lächelte traurig. »Manchmal muss man etwas verlieren, um etwas anderes zu gewinnen.« »So was Ähnliches habe ich schon mal gehört.« Ich überlegte. »Anders hat das gesagt.« Dads Lächeln verschwand. »Eigentlich ist es aus dem Neuen Testament. Anders hat oft daraus zitiert – und aus Shakespeare und tausend anderen Quellen. Die Krankheit hat den armen Anders viel früher als mich heimgesucht. Aber er wollte nicht in unsere Welt zurückkehren, nicht solange er dort als Verbrecher gesucht wurde. Doch als ich begann meinen
Verstand zu verlieren, wusste ich, dass ich zurückkehren musste. Ich versuchte es deiner Mutter zu erklären, aber sie konnte es noch nicht begreifen.« »Ich habe eine U-Bahn-Münze auf ihre Kommode gelegt«, verriet ich. »Aber Heather weiß nichts davon – « »Du hast das Richtige getan, David. Weißt du, wir haben auch an ihr gearbeitet.« »Wir?« »Ich meine ich. Mit deiner Hilfe werden wir sie herholen.« »Ach… so ist das also? Wir werden alle… hier leben?« »Darüber werden wir uns noch Gedanken machen müssen, nicht wahr?« Dad seufzte und legte den Arm um meine Schulter. Als wir von den Schienen weggingen, musterte ich die Haltestelle um mich herum. Den grauen Zementboden. Die Fliesenwände. Die seltsamen Werbeplakate. Eine neue Welt. »Es ist gar nicht so schlecht hier«, sagte Dad zuversichtlich. »Es könnte dir gefallen.« »Aber was ist mit der Schule? Werde ich das ganze Zeug lernen müssen, von dem Anders gesprochen hat? Was ist ein Zweiter Weltkrieg?« »Du kommst aus einer guten Welt, David«, sagte Dad und lachte, »aber ich glaube, unsere Welt ist interessanter.« »Auf alle Fälle haben sie mehr Schilder hier in der UBahn.« Ich zeigte auf eins, das ich schon früher bemerkt hatte. »Was bedeutet ›us open‹?« »Das heißt U.S.«, erwiderte Dad. »Es ist die Abkürzung der Vereinigten Staaten von Amerika – der Name deiner neuen Heimat. Die U.S. Open sind eine Sportveranstaltung. Tennis.« »›New York City‹… ›Bronx‹… komische Namen.«
»Um ganz ehrlich zu sein: Diese Orte sehen gar nicht so anders aus als Franklin City. Schließlich sind sie in gewisser Weise am selben Fleck.« »Und wie nennt man diesen Planeten?« »Erde.« Ich schauderte. So vieles würde anders werden. »Du machst wohl einen Witz. Das klingt wie ein Schluckauf.« Dad brach in schallendes Gelächter aus. »Glaube mir, David, du wirst dich daran gewöhnen.« Er klang so sicher. Ich war längst nicht so sicher. Ich hatte das dumme Gefühl, noch keinen Schimmer davon zu haben, was mit mir geschehen war.
Wir gratulieren. Gratuliert ihm.
Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.
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Name: David Moore Alter: 13 Erste Kontaktaufnahme: 33.35.67 Aufnahme: JA