MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 122
Wege der Macht von Bernd Frenz
Niemand wusste, woher sie kamen – von ein...
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MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 122
Wege der Macht von Bernd Frenz
Niemand wusste, woher sie kamen – von einem Tag auf den anderen waren sie einfach da. Krieger in schweren Rüstungen, die den Körper schützten und das Gesicht bedeckten. Sie nannten sich »Washington Rangers«, und sie traten auf, als ob ihnen die Wälder und Berge, in denen die alteingesessenen Stämme seit Generationen lebten, ganz und gar gehörten. Ihr Benehmen war unverschämt, doch ihre blitzenden und donnernden Waffen fällten jeden, der sich ihnen in den Weg stellte. Mit eisernen Fahrzeugen durchstreiften sie das Land, angeblich um das Böse zu bekämpfen, doch viele Barbaren fühlten sich von ihnen bedroht oder zumindest in der Freiheit beschnitten.
WAS BISHER GESCHAH
Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich und ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten... für Jahrhunderte. Nach der Eiszeit bevölkern Mutationen die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den Piloten Matthew Drax, dessen Staffel beim Einschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Nach dem Absturz wird er von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula findet er heraus, dass körperlose Wesen, die Daa’muren, mit dem Kometen zur Erde kamen. Sie veränderten die irdische Flora und Fauna, um einen Organismus zu erschaffen, der zu ihren Geistern kompatibel ist: eine Echse mit gestaltwandlerischen Fähigkeiten. Nun drohen sie zur dominierenden Rasse des Planeten zu werden... Auf der Suche nach Verbündeten versorgen Matt & Co. die Technos in Europa und Russland mit einem Serum, das deren Immunschwäche aufhebt. Selbst der Weltrat, skrupelloser Nachfolger der US-Regierung, tritt der Allianz bei. Bisher weiß man nur wenig über die Pläne der Daa’muren. Besser informiert ist ein Mann, den sie in ihrer Gewalt haben: Professor Dr. Smythe. Er kennt ihre Herkunft, einen glutflüssigen Lava-Planeten, und weiß um ihre Fähigkeiten. Eines ihrer Hauptziele ist Matthew Drax, den sie als Primärfeind betrachten. Sie infizieren Menschen mit einem Virus und machen sie gefügig, so auch den Neo-Barbaren Rulfan. Er macht es möglich, dass die Daa’murin Aunaara in Gestalt einer Barbarin an einer Expedition teilnimmt Doch bevor sie zuschlagen kann, wird sie enttarnt und flieht. In Meeraka stirbt Präsident Victor Hymes beim Angriff eines
Stoßtrupps, den Miki Takeo geschickt hat. Doch er fällt nicht den Androiden zum Opfer, sondern General Crow, der seinen Posten übernimmt und einen Rückschlag gegen Takeo führt. Dabei fällt mächtige Technik in die Hände des Weltrats... Die Explosion einer japanischen Rakete offenbart den Daa’muren einen überraschenden Effekt: Der Antrieb ihrer KometenRaumarche wird für den Bruchteil einer Sekunde reaktiviert! Um das »Projekt Daa’mur« zu verwirklichen, beginnen sie Sprengsätze auf der Basis Nuklearer Isomere aus alten Waffenlagern, AKWs und Bunkern einzusammeln. Nach Aunaaras Versagen soll nun der Daa’mure Grao’lun’kaan Matt töten. Er übernimmt Gehirn und Wissen eines russischen Robot-Menschen, des Encephalorobotowitschs Dr. Nikati Rostow und stellt Mefju’drex eine Falle – doch er scheitert. Matts EWAT jedoch wird zerstört und der Navigator Steve Bolton kommt ums Leben. Auf dem Rückweg nach London macht Matt Station in Berlin. Dort versucht Aunaara nun in die nächste Nähe von Jenny Jensen und Matts Tochter Ann zu gelangen. Doch Arnau, ein junger Agent des Königs von Gödenboorg, stößt sie von einer Hochhausruine. Was niemand ahnt: Arnau ist Aunaara! Und nun hat er endlich Zugang zum Hof der Königin gefunden...
Obwohl nur gering an Zahl, kontrollierten die Ranger ein riesiges Territorium, zu Lande und aus der Luft. Als Stützpunkte dienten ihnen gut abgesicherte Forts, die an strategisch wichtigen Plätzen errichtet wurden. Jene, die sich von Natur aus rasch unterordneten, trieben dort Handel mit ihnen, aber diese Schwäche besaß einen Preis. Wer sich offen in den Schutz der neuen Herren begab, der musste dafür zahlen. Denn der Hunger nach Waren und Informationen war groß bei jenen, die zum Stamme des Weltrats gehörten, und wer ihnen die Zusammenarbeit verweigerte, den verdächtigten sie prompt unsauberer Machenschaften. Die Herrschaft der Ranger hatte aber auch ihr Gutes. Es stimmte schon, sie jagten Diebe und Mörder, und sie bekämpften räuberische Banden, die Siedlern und Nomaden das Leben schwer machten. Sie beendeten sogar alte Stammesfehden und befriedeten dadurch traditionell unruhige Gebiete, obwohl böse Zungen behaupteten, die Feinde von gestern würden nur so lange stillhalten, bis sie eine günstige Gelegenheit fanden, gemeinsam auf den überlegenen Friedensstifter einzuschlagen. Tatsächlich wuchs aber die Zahl derer, die sich an die Ranger wandten, wenn sie nicht mehr selbst mit einem Problem fertig wurden. So eilten die gepanzerten Krieger immer rastloser durchs Land, stets darum bemüht, für Ordnung zu sorgen, und dabei – so ganz nebenbei – die Interessen des Weltrats zu wahren. *** »Da ist es! Das muss es sein!« Corporal Jacksons dunkles Gesicht glänzte vor Stolz, als sie durch die gepanzerte Frontscheibe deutete. Miller und die restliche Besatzung folgten dem
ausgestreckten Zeigefinger, in dessen Stoßrichtung eine weißgraue Rauchsäule lag, die senkrecht zwischen den Baumwipfeln aufstieg. Unverkennbar das Produkt einer Feuerstelle und somit der erste Hinweis auf menschliches Leben in diesem riesigen Waldgebiet, das nur von Flussläufen und einzelnen Lichtungen durchbrochen wurde. »Geschwindigkeit reduzieren und vorsichtig annähern«, wies Miller Corporal Wiliams an, der bereits eine leichte Wende einleitete. Der knapp Zwanzigjährige mit dem rot schimmernden Bürstenhaarschnitt agierte stets selbständig im Rahmen seiner Kompetenzen. Ein Soldat, wie ihn sich ein Vorgesetzter nur wünschen konnte. Überhaupt setzte sich ihr Trupp aus kompetenten und ruhigen Charakteren zusammen, sofern man von dem kommandierenden Offizier, Lieutenant Savage absah, der besser an seinem Schreibtisch in der Bunkerstadt geblieben wäre, statt sich zu den Rangern zu melden. Savage gehörte zu den Maulwürfen, die bisher nur selten an die Oberfläche gekommen waren und längst eine gewisse Phobie gegen die Weite der Natur entwickelt hatten. Auf den Patrouillen verließ er nur selten den Air-MAT. Lieber dirigierte er seine Untergebenen aus der Sicherheit der engen Panzerung heraus, obwohl sie alle vier am Remote Command Facility ausgebildet waren. Dieser Büroheld hatte sich nur zu den Rangern gemeldet, weil einige Dienstjahre bei der kämpfenden Truppe dem beruflichen Aufstieg dienten. Angesichts der allgemein dünnen Personaldecke spielte seine Eignung für Außeneinsätze leider keine große Rolle. Das Oberkommando verließ sich völlig auf die technische Überlegenheit seiner Streitkräfte. Bereits die Ankündigung der Rauchsäule versetzte den Lieutenant in Aufregung. Nervös strich er durch sein volles halblanges Haar, während er aus der Seitenluke blickte. »Noch nicht landen«, befahl er, obwohl dieses Manöver gar
nicht zu Debatte stand. »Zuerst müssen wir sicher gehen, dass wir richtig sind.« Jackson warf Wiliams einen verstohlenen Seitenblick zu, bei dem sie bedeutungsvoll mit den Augen rollte. Der Pilot grinste, verkniff sich aber eine Erwiderung. Insgesamt nahmen die beiden das nervöse Geplapper mit Humor; ein Umstand, um den sie Miller nur beneiden konnte. Savages planlose Handlungen zerrten nämlich jeden Tag stärker an seinen Nerven. Verdammt, er hätte diesen Trupp wesentlich besser leiten können als dieser Operetten-Offizier! Darum sehnte er den Tag herbei, an dem Savage endlich weggelobt wurde, damit sie in Ruhe und Frieden ihrer Arbeit nachgehen konnten. »Irgendwelche verdächtigen Aktivitäten, Sergeant?« Miller starrte angestrengt auf den Monitor des Tasters, obwohl sich dort nur die Umrisse eines riesigen Blättermeeres abzeichneten. Auf diese Weise konnte er den bitteren Zug verbergen, der seine Mundwinkel einkerbte. Die unregelmäßigen Konturen der Baumkronen wurden erst von der Lichtung abgelöst, auf der ein eng umgrenztes Feuer brannte, das zwei Personen umstanden. Ihren Bewegungen nach zu urteilen warfen sie gerade etwas in die Flammen. »Nichts zu erkennen, was nicht auch mit bloßem Auge auszumachen wäre«, erklärte Miller mit rauer Stimme. Die beiden Barbaren waren durch die Frontscheibe deutlich zu sehen. Sie hielten einen Leinensack in Händen, aus dem sie Blätter auf die Feuerstelle schütteten, worauf sich die Rauchsäule rot einfärbte. »Das vereinbarte Signal!«, rief Savage, als ob sie das nicht alle selbst wüssten. »Corporal Wiliams, zur Landung ansetzen.« Der Pilot wartete, bis alle auf den Plätzen saßen, bevor er den Sinkflug einleitete. Ihre Maschine bestand aus dem Aufbau eines ehemaligen 3-MATs, eines Military Armed Transporters,
der auf eine mit Magnetfeldspulen versehene Plattform montiert worden war. Diese Mischung aus bewährtem Weltratmaterial und erbeuteter Androidentechnik besaß nicht gerade optimale Flugeigenschaften, doch um die barbarischen Territorien zu kontrollieren, reichte es völlig aus. Während sie auf die Lichtung abfielen, begann die Kabine zu vibrieren. Sergeant Miller klammerte sich haltsuchend an die Lehnen seines festgeschraubten Sessels, verzichtete aber darauf, sich anzuschnallen. Die baumfreie Fläche rückte näher. In einem Durchmesser von ungefähr vierzig Metern wuchsen nur einige Büsche und abgefressenes Gras. An vielen Stellen schimmerte festgestampfte Erde zwischen dem Grün der Halme hervor, besonders dort, wo häufig benutzte Pfade verliefen. Miller vermisste Zelte, Hütten oder sonstige Anzeichen menschlicher Besiedlung. Erst nach dem Passieren der Baumkronen entdeckte er einige gezimmerte Plattformen in den mächtigen Astgabeln des Waldes. Sie waren überall dort errichtet, wo es die Natur gerade erlaubte. Zum Teil gab es zwei oder drei Hütten in verschiedener Höhe auf ein und dem selben Mammutbaum. Auf diese Weise waren die Bewohner nicht nur vor Bodenangriffen, sondern auch vor Entdeckungen aus der Luft geschützt. Das Gros dieser luftigen Ansiedlung gruppierte sich am Südrand, durch Leitern, Stege und Hängebrücken miteinander verbunden. Der Air-MAT landete knapp zwanzig Meter vom Signalfeuer entfernt, sodass rundum genügend Sicherheitsabstand zu den Bäumen gewahrt wurde. »Sergeant Miller, Sie erkunden mit Jackson und Wiliams das Gelände. Ich führe die Mission vom Leitstand aus.« Wieder eine von Savages überflüssigen Ansagen. Dass er keinen Fuß ins Freie zu setzen gedachte, war von Anfang an klar gewesen, denn er hatte den Flug bereits im RCF-Dress
angetreten. Während sie ihre sperrigen Monturen anlegten, suchte Savage das Remote Command Facility auf, das den hinteren Kabinenbereich einnahm. Es handelte sich um ein von brüniertem Gestänge umgebenes Podest, auf dem eine Person aufrecht stehen konnte, ohne mit dem Kopf gegen den von der Decke ragenden Hirnstromscanner zu stoßen, der eine gewisse Ähnlichkeit mit einem senkrecht nach unten gerichteten Scheinwerfer besaß. Als Savage seinen Platz einnahm, erklang ein leises Summen. Aus der Rückwand fuhr ein nach vorne offener Metallkranz hervor, der Savages Kopf auf Schläfenhöhe umgab. In der Innenfläche dieser runden Klammern glänzten rechteckige Holoprojektoren. Mit ihrer Hilfe konnte der Lieutenant die Operation leiten, als wäre er selbst Mitglied des Außentrupps. Zur Bedienung des Leitstandes dienten ihm zwei milchig weiße Kugeln, in Ellbogenhöhe an metallene Streben montiert. Savage schüttelte seine Hände aus und legte sie auf die gewölbten Oberflächen, die unter dem Hautkontakt zu leuchten begannen. Der matte Schein der sensorischen Einheiten spiegelte sich in den goldglänzenden Komponenten wieder, die seinen RCF-Anzug wie ein Metallkorsett umgaben. An Brust und Rücken ähnelten die flexiblen Abnehmer einem mit zahlreichen Aussparungen versehenen Harnisch, an Ärmeln und Hose des hauteng anliegenden Anzugs zogen sich schlanke Schienen entlang. Die in dem Metall verborgenen Sensoren wandelten jede noch so kleine Bewegung in elektronische Impulse um, die zur Fernsteuerung der beiden an Bord befindlichen RoCops dienten. Ein selbständiger Einsatz der leistungsfähigen Roboter war zur Zeit unmöglich, die entsprechenden Prozessoren waren ihnen entnommen worden. Präsident Crow vertraute mehr auf die Treue seiner Soldaten als auf eine Programmierung, die
sich rasch ins Gegenteil verkehren ließ. Niemand wusste das besser als er, schließlich hatten seine Truppen mit genau dieser Taktik Miki Takeos Reich bis auf die Grundmauern zerstört. Beide Arme bequem auf den Metallstreben abgestützt, trommelte Savage gelangweilt auf den Sensorkugeln herum. Er war längst einsatzbereit, während seine dreiköpfige Besatzung erst die Hälfte der notwendigen Schutzkleidung am Leibe trug. Miller warf dem Offizier einen giftigen Blick zu. Sich auf dem RCF zu postieren ging wesentlich schneller vonstatten, als die zwar leichten aber doch sperrigen Harnische anzulegen. Ähnlich den Helmen, Beinschalen und Armschützern, bestanden sie aus der Plysterox-Panzerung erbeuteter RoCops. Jeder der hundertköpfigen Rangertruppe besaß eine komplette Rüstung, trotzdem gab es noch zwei intakte RobotRegimenter, die als Reserve in den Forts zur Verfügung standen. Tiffany Jackson ließ ein fröhliches Lachen hören, bevor sie den Helm aufsetzte. Damit verschwand ihr schlanker, mädchenhafter Körper endgültig unter einer klobigen Rüstung, die sie wie einen grobschlächtigen Hünen aussehen ließ. Mit neunzehn Jahren war »Tiff« nicht nur das Küken an Bord, ihr stand auch die zweifelhafte Ehre zu, die jüngste Bürgerin des gesamten Weltratbunkers zu sein. Bei ihr handelte es sich um das zuletzt geborene Kind der Gemeinschaft. Zum Zeitpunkt ihrer Geburt war die Geburtenrate des Bunkers bereits völlig eingebrochen und die Mediziner hatten längst entdeckt, dass die Einnahme des Immunserums zur Unfruchtbarkeit führte – ohne den Prozess noch aufhalten zu können. Ihre späte Geburt verdankte Tiffany einer allergischen Reaktion ihrer Mutter gegen das Serum, weshalb diese in viel geringeren Dosen damit versorgt worden war. Mit den neuen Forschungsergebnissen, die aus Moskau übermittelt worden waren, würde dieses Problem hoffentlich
bald der Vergangenheit angehören. Sergeant Miller wünschte sich nichts sehnlicher als eigene Kinder, am besten einen ganzen Stall voll. »Außenteam einsatzbereit«, verkündete Corporal Wiliams beflissen und ließ seine Helmverschlüsse als Letzter zuschnappen. Miller, der nur eine leichte Teilpanzerung trug, war schon vor den beiden Mannschaftsdienstgraden fertig geworden. »Corporal Wiliams, Sie übernehmen das Tak 03«, teilte er die Bewaffnung ein. Das schwere Sturmgewehr, die Standardwaffe der RoCops, war genau das Richtige für diesen kräftigen Burschen. »Corporal Jackson, Sie tragen Ihr Lasergewehr.« Eine zuverlässige Waffe aus bunkereigener Produktion. Er selbst entschied sich für ein Tak 02 und einen Driller, das Beste und Leichteste aus beiden Welten. Mit einem kurzen Kopfnicken meldete sich Miller bei Lieutenant Savage ab, der auf ein Zeichen des Abschieds verzichtete. Zurecht. Mit Aktivierung der Helmkameras war er ohnehin hautnah bei ihnen. Jackson entriegelte den gepanzerten Ausstieg, sie sprangen hinaus und schlossen die Luke wieder. Die Krieger am Signalfeuer hatten inzwischen die Flammen gelöscht, aber der rot gefärbte Qualm hing weiter über der Lichtung. Blutigen Schwaden gleich, schwebte er über ihren Köpfen und verwehte nur langsam mit dem Wind. Miller klappte sein Helmvisier herab. Auf der Innenseite des getönten Plexiglases wurden verschiedene Informationen projiziert. Etwa die Entfernung zu den Barbaren, die aktuelle Außentemperatur und ähnlich nutzloses Zeug, das im Augenblick ohne Bedeutung war. »Zuerst die beiden am Feuer aufsuchen«, ertönte es im Helmlautsprecher. »Was denn wohl sonst?«, gab Miller schroff durchs Mikrofon zurück. »Etwa Richtung Norden in die Berge
abmarschieren?« Es war nicht das erste Mal, dass er dem Ranghöheren auf diese Weise begegnete, doch Savage ließ es ihm durchgehen. Schreibtischhocker oder nicht, der Kerl wusste ganz genau, wie sehr er auf seinen Sergeant angewiesen war. Die Waffen eingerastet in den Halterungen, gingen sie langsam auf die wartenden Barbaren zu. Miller sog genüsslich den würzigen Harzduft ein, der die Luft erfüllte. Im Gegensatz zu Savage liebte er die freie Natur und den Blick auf einen weit entfernt liegenden Horizont. Statt von einer Beförderung träumte er nur davon, auf einen der Kleingleiter abkommandiert zu werden, mit denen ein Dutzend Auserwählter völlig auf sich gestellt Patrouille fliegen durfte. Ganz so wie die vorsintflutlichen Vorbilder ihrer Einheit, die Texas Ranger, die ebenfalls allein oder zu zweit ein wildes, ungestümes Grenzland kontrollieren mussten. Weitab der Bürokratie und aller Vorgesetzten. Miller liebte den rauen Charme der von Wäldern und Bergen geprägten Landschaft zwischen Potomac und Ohio River. Manchmal hätte er liebend gerne mit dem einfachen Leben der Barbaren getauscht, doch diese romantische Vorstellung verflüchtigte sich sofort, als er den Gestalten an der Feuerstelle näher kam. Die beiden Männer waren groß und kräftig, doch das Leben in freier Natur hatte deutliche Spuren bei ihnen hinterlassen. Sie mochten knapp dreißig sein, aber auch zehn oder zwanzig Jahre älter. So genau ließ sich das nicht sagen, denn ihre braun gebrannte Haut war von Sonne, Wind und Regen gegerbt. Tiefe Falten zerfurchten ihre Gesichter, manchmal auch Narben, die sie sich bei Kämpfen mit menschlichen oder tierischen Gegnern eingehandelt hatten. Der Linke von ihnen trug sein dunkelblondes Haar zu einem Knoten aufgesteckt, der andere, der schwarzes Haar besaß, hatte es zu einem Zopf geflochten, der ihm den Rücken herunter hing.
Corporal Jackson ließ ein leises Würgen hören, denn auf dem linken Arm des Schwarzhaarigen krabbelten unzählige blaugrüne Käfer, die an ihm zu nagen schienen. Das Ganze sah recht unappetitlich aus, vor allem, weil unter dem Gewusel rot verschrumpelte Haut sichtbar wurde. Hinter seinem linken Ohr bis hinab zum Hals ergab sich das gleiche Bild, hier war allerdings deutlich zu sehen, dass es sich bei der Verletzung um eine Brandwunde handelte. »Doktorkäfer!«, rekapitulierte Savage einen passenden Eintrag aus den Datenbanken. »Sie ernähren sich von zerstörten Hautpartikeln und reinigen die Wunden. Viele Barbaren setzen sie statt eines Verbands auf, denn sie sondern auch ein Sekret ab, das den Heilungsprozess fördert.« Endlich mal eine Information, die zu etwas nutze war. Sergeant Miller hob seine leeren Hände, um zu signalisieren, dass er in friedlicher Absicht kam. Dann stellte er sich und seine Begleiter vor. Die Krieger in der wildledernen Kleidung antworteten mit der gleichen Geste, obwohl ihre Messer und Kriegskeulen ohnehin keine Bedrohung darstellten. »Mein Name ist Turnhout«, erklärte der Blonde, »und das hier ist mein Bruder Rounse. Wir sollen euch zu unserem Ältestenrat begleiten, Ranger.« Der Barbar sprach einen Kauderwelsch, der zwar auf der englischen Sprache basierte, aber im Laufe der Jahrhunderte ein neues Klangbild erhalten hatte. Miller besaß jedoch genügend Erfahrung mit Oberflächenkontakten, um solche Gestalten problemlos zu verstehen. »Okee«, sagte er, in den barbarischen Slang verfallend. »Deshalb sin wa ja hia.« Mit einer knappen Geste forderte er die beiden auf, voraus zu gehen. Die Barbaren zeigten deshalb keine Verärgerung, sondern machten sich ohne weitere Verzögerung auf den Weg. Sie hatten noch keinen Fuß vor den anderen gesetzt, als sich,
nur wenige Meter entfernt, eine grün schattierte Eidechse aus dem Gras erhob und auf die beiden zu eilte. Keiner der Ranger hatte das Tier zuvor bemerkt, obwohl es von der Nase bis zur Schwanzspitze gut einen Meter maß. Mit einem raschen Sprung krallte es sich an Turnhouts Hosenbein fest, krabbelte eilends in die Höhe und ließ sich auf der rechten Schulter nieder, ohne dass der Krieger groß Notiz davon genommen hätte. Offensichtlich handelte es sich bei dem Tier um ein Maskottchen, das nur seinen liebsten Platz einnahm. *** Während sie sich dem Waldrand näherten, strömten die übrigen Stammesmitglieder zusammen. Für die Ältesten wurden Felle ausgebreitet, auf denen sie sich niederließen. Einen Greis, der nicht mehr selbst laufen konnte, trug man sogar auf einem geflochtenen Stuhl heran. Knapp zweihundert Frauen und Männer versammelten sich in einem großen Halbkreis. Beinahe das ganze Dorf strömte zusammen; von den Stegen und Leitern der Baumsiedlung sahen nur noch junge bis kindliche Gesichter herab. Dass man sie nicht nach oben einlud, zeigte deutlich, dass sie keine willkommenen Gäste waren und möglichst schnell wieder verschwinden sollten. Die Ranger zeigten sich deshalb nicht überrascht. Sie waren es gewohnt, auf wenig Gegenliebe zu stoßen, selbst wenn sie um Hilfe gebeten wurden. Von seinen Begleitern flankiert, blieb Miller in einiger Entfernung zu den Barbaren stehen und grüßte respektvoll in Richtung der Ältesten. Wie nicht anders zu erwarten, ergriff der Weißhaarige im Stuhl das Wort. »Ihr seid also die Stahlmänner, von denen überall zu hören ist«, krächzte der Alte und musterte sie mit abschätzenden
Blicken. »Wir gehören zu den Schutztruppen, die der Weltrat ausgesandt hat, um die Zivilisation entlang der Ostküste zu bewahren und zu schützen«, bestätigte Sergeant Miller. Der Alte – ob Häuptling, Ratsvorsitzender oder Gemeindesprecher war egal, Hauptsache er vertrat die örtliche Macht – nickte, als ob er mit dem Begriff »Ostküste« etwas anfangen könnte. Für ihn ging es nur darum, das Gesicht zu wahren, aber die Jüngeren des Stammes würden hoffentlich wirklich einmal begreifen, dass sie alle Amerikaner waren. Angehörige einer gemeinsamen Nation, die sich gegen äußere Einflüsse zur Wehr setzen mussten. Sei es gegen japanische Invasoren oder die Außerirdischen, die den Kratersee kontrollierten. Sobald das Land befriedet war, würde ein Bildungsprogramm folgen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Zivilisation in die verwilderten, von Barbaren beherrschten Gebiete zurückkehrte. »Es heißt, dass ihr für alle Stämme kämpft, die in Frieden leben«, riss ihn der Alte, der weiterhin seinen Namen verschwieg, aus den Gedanken. »Ja, das stimmt«, versicherte Miller. »Wir sind hier, um euch die Früchte der Zivilisation zu bringen, damit ihr alle besser und sicherer leben könnt.« Und wir in Ruhe agieren, fügte er in Gedanken hinzu. Eine kurze Pause entstand, in der er die versammelten Stammesmitglieder genauer betrachten konnte. Sicher, das Leben in rauer Natur, Sommer wie Winter, ließ sie schneller altern, trotzdem befanden sich viele kräftige, wohlgenährte Männer und Frauen unter ihnen. Ihre Lebensspanne mochte kürzer sein als in der wohl temperierten Sicherheit des Bunkers, dafür konnten sie Kinder gebären, die ihre Linie fortführten. Und was ihnen an Technik fehlte, ersetzten sie durch natürliche Produkte.
Miller entdeckte zwei weitere Krieger mit Doktorkäfern in den Wunden. Diese Form der Behandlung schien recht erfolgreich zu sein. »Noch zwei Männer mit Verbrennungen«, meldete sich Savage über den Helmlautsprecher. »Fragen Sie mal nach, was da los war.« Die Verbindung zwischen RCF und Helm war für Außenstehende nicht zu hören, deshalb konnte Miller die Frage etwas diplomatischer formulieren. »Ich sehe, das mehrere eurer Männer verletzt sind«, begann er vorsichtig. »Wenn du mir sagst, was ihnen fehlt, kann ich sie vielleicht besser versorgen, als es eurem Mediziner möglich ist.« Zahlreiche angespannte Gesichter, die ihm von allen Seiten entgegen starrten, verfinsterten sich um eine weitere Nuance. Das Misstrauen, das sie ausstrahlten, war beinahe mit den Händen zu greifen, nur der Greis verzog keine Miene. »Unsere Männer haben den Markt in Aoona besucht«, erklärte er mit vom Alter kratzig gewordener Stimme. »Dort ist ein großes Feuer ausgebrochen, dem sie nur mit Mühe und Not entkommen konnten.« Miller erschien diese Erklärung zweifelhaft. Plötzlich ging ihm auf, dass die Verbrennungen genauso gut von Lasersalven stammen konnten. »Dein Hilfsangebot ist sehr großzügig«, fuhr der Greis indessen fort und entblößte sein schadhaftes Gebiss, sofern man die verbliebenen Stummel noch als solches bezeichnen mochte. »Aber wir kommen damit gut alleine zurecht. Unser Schamane versteht es, Wunden zu heilen.« Ein überraschend junger Mann zu seiner Linken, der einen mit Vogelfedern geschmückten Mantel trug, nickte beflissen. In seiner rechten Hand hielt er einen mit Schnitzereien versehenen Stab, auf dem ein faustgroßer Echsenschädel festgenagelt war. Mit der Linken zog er unter dem Mantel ein
mehrere Jahrhunderte altes Einmachglas hervor, gefüllt mit Fleischresten und einer ganzen Armee bunt schillernder Käfer. »Die Aussage passt zu einem vorläufigen Bericht von Patrouille Sieben«, meldete sich Savage über Funk. »Vor zwei Wochen gab es einen Einsatz in den Ruinen von Altoona, bei dem es anscheinend um Brandstiftung ging. Nähere Details liegen leider noch nicht vor.« Er hatte den Barbaren wohl Unrecht getan. Miller entspannte ein wenig. »In Aoona sahen unsere Krieger auch, wie machtvoll ihr Ranger seid«, fuhr der Greis unbeirrt fort. »Darum sandten wir einen Boten in euer Fort, um nach Hilfe zu ersuchen. Wir selbst sind leider zu schwach, um die Geister vom Berge zu bannen.« »Geister?«, entfuhr es dem Sergeant überrascht. »Was hat das denn zu bedeuten?« Die Falten im Gesicht des Greises schnitten tief ein, während er zu einem breiten Grinsen ansetzte. Die offensichtliche Verblüffung seiner gesichtslosen Gäste bereitete ihm Vergnügen. Um die Spannung noch ein wenig in die Länge zu ziehen, beugte er sich zu einer rotschwarz gemusterten Echse hinab, die schon seit einiger Zeit um seine kraftlosen Beine herumscharwenzelte und mit dem Kopf gegen sein Knie rieb. Der Greis kraulte das zahme Tier unter dem Kinn, bis es behaglich das Maul öffnete und die lange gespaltene Zunge mehrmals vor und zurück schnellen ließ. Es handelte sich um ein wesentlich größeres Exemplar als das auf Turnhouts Schulter, vom Kopf bis zum Schwanzansatz dreißig Zentimeter lang und gut sieben Kilo schwer. Echsen dieser Größe schienen die bevorzugten Haustiere des Stammes zu sein. Miller entdeckte noch zwei Dutzend weitere, die zwischen Mokassins und Stiefeln umher huschten. Es gab sie in allen Farben und Formen, manchmal mit dornenartigen Auswüchsen versehen, oder mit ledernen Rückenkämmen,
ähnlich den südamerikanischen Geckos aus der Zeit vor »Christopher-Floyd«. »Wir glauben zumindest, dass es Geister sind«, fuhr der Greis inzwischen listig fort. »Wir glauben es, weil wir uns nicht anders erklären können, was dort oben geschieht. Allerdings können wir uns auch nicht erklären, woher ihr Stahlmänner kommt, und doch scheint ihr menschlich zu sein. Sonst würdet ihr euch ja nicht vor Geistern fürchten, oder?« Unter den Barbaren brandete Gelächter auf, als ob der Alte den Witz des Jahrtausends gerissen hätte. Selbst die versammelten Geckos streckten vergnügt die Zungen heraus. Vielleicht schnappten sie aber auch nur nach einigen Fleggen, die durch die Unruhe aufgescheucht wurden. Miller wartete, bis das Lachen verebbte, dann antwortete er: »Wir Ranger glauben weder an Geister, noch fürchten wir sie. Aber bevor wir für euch in die Berge marschieren, müsst ihr uns schon etwas mehr erzählen.« Der Greis wedelte mit der Hand, um die letzten Nachzügler der fröhlichen Meute zum Verstummen zu bringen. Dann berichtete er von einem Streifzug, der einige Jäger in die Nähe der Zwillingsspitzen geführt hatte. Bei dem Versuch, einem verletzten Deer den Todesstoß zu versetzen, waren die Krieger auf eine Höhle gestoßen, in der angeblich Ungeheuerliches vorging. Turnhout und Rounse mussten diesen Streifzug angeführt haben, denn die Blicke der anderen richteten sich auf sie, und es war nicht zu übersehen, wie ihre Brustkörbe vor Stolz anschwollen. »Wir befinden uns hier in den Ausläufern eines über sechshundert Kilometer langen Gebirgszugs«, stutzte Miller ihr Selbstbewusstsein zurecht. »Könnt ihr die bewusste Gegend vielleicht ein wenig genauer beschreiben?« Die betreffende Felsformation konnte zwar nicht weiter als einige Tagesmärsche entfernt liegen, trotzdem war sein Unmut
berechtigt. Mit derart dürftigen Informationen konnte ein Team wochenlang in den zerklüfteten Schründen der Appalachian Mountains umher irren, ohne fündig zu werden. Karten oder ähnliche Orientierungshilfen waren den Barbaren allerdings fremd. Alles was sie tun konnten, war, in die betreffende Richtung zu deuten und ihre Führung anzubieten. Unsichtbar für alle Anwesenden wertete Savage bereits die spärlichen Informationen aus. »Ich habe hier die Aufnahme einer auffälligen Doppelformation, die in der angegebenen Richtung liegt«, meldete er sich zu Wort. »Das könnte der Ort sein, den die Wilden beschreiben. Hinweise auf einen alten Regierungsbunker liegen für diesen Abschnitt nicht vor, aber das muss nichts heißen. Außerdem wimmelte es hier im 21. Jahrhundert von militanten Milizen, die illegale Waffenlager besaßen.« Im Feld war der Lieutenant vielleicht nicht zu gebrauchen, auf theoretischer Ebene zog er durchaus brauchbare Schlüsse. Die Chance, dass der Jagdtrupp auf ein altes Depot mit aktiven Sperranlagen gestoßen war, stand gar nicht schlecht. Der massive Fels dieser Berge beherbergte zahlreichen militärische Anlagen, die während der Religionskriege noch einmal modernisiert worden waren. Die größten und weitläufigsten von ihnen hatten die Weltrattruppen bereits erforscht und dabei zahlreiche elektronische Komponenten erbeutet, die ihrer Expansion hilfreiche Dienste leisteten. Doch zahlreiche Schätze schlummerten noch im Verborgenen. Sie zu heben war eine der vorrangigsten Aufgaben der Washington Rangers. So wie die Befriedung der umliegenden Territorien vor allem dazu diente, ein sicheres Hinterland für neue Außenposten zu schaffen. »Könnt ihr etwas genauer erklären, auf was für Phänomene ihr gestoßen seid?«, fragte Miller in der Hoffnung, etwas mehr
Licht in die Angelegenheit zu bringen. »Die Höhlen sind das Tor zum Jenseits«, sprudelte es aus Turnhout hervor. »Dort schweben die leuchtenden Seelen der Toten, die allem Lebenden die Kraft aus den Gliedern saugen. Wir konnten dem Spuk nur mit Mühe und Not entkommen.« »Leider nicht, ohne zuvor ein heiliges Kleinod zu stehlen«, warf eine weibliche Stimme aus dem Hintergrund ein. Turnhout ließ schuldbewusst die Schultern hängen. Und obwohl es beinah unmöglich schien, sackte er noch weiter in sich zusammen, als das greise Stammesoberhaupt hinzufügte: »Seit diesem Frevel lasten Unglück und Verderben auf unserem Stamm. Unser Handelsgut verbrennt, die Säuglinge sterben in ihren Wiegen und das Jagdglück bleibt schon seit drei Händen aus.« Seine wässerigen Augen verhärteten sich bei dieser Aufzählung, bis sie wie polierte Murmeln glänzten. Mehr fordernd als bittend sah er zu Miller auf und fragte: »Glaubst du, dass ihr Stahlmänner uns von diesem Fluch befreien könnt?« »Gut möglich«, wich der Sergeant einer klaren Antwort aus. »Sobald ich das ominöse Relikt sehe, von dem du geredet hast, kann ich mehr sagen.« Beide Lippen fest aufeinander gepresst, gewährte der Greis dem Schamanen ein kurzes Nicken. Einmal mehr griff dieser unter seinen weiten Federmantel, in eine der zahlreichen Umhängetaschen, die ein ganzes Arsenal aus Gläsern, Tiegel und Töpfen beherbergten. Und ein flaches, schmutziges Metallstück, das er hervorzog und an Miller weiter reichte. Andächtig strich der Sergeant über die weiß lackierte Vorderseite, auf der sich auch noch nach über fünfhundert Jahren schwarz geprägte Buchstaben abhoben. Dreck und Rost hatten einige Striche und Bögen zerfressen, trotzdem war nicht zu übersehen, dass die großen Buchstaben RESTRICTED AREA bedeuteten. Darunter folgte ein kleiner Zusatz, der auf
das zuständige Verteidigungsministerium hinwies. »Bingo!«, meldete sich Savage, der alles durch die Frontkamera seines Helms verfolgte. »Das könnte der Fund unseres Lebens werden.« Seiner enthusiastischen Stimme nach zu urteilen, rechnete er bereits den Termin für seine nächste Beförderung aus. Sollte er ruhig. Je eher er ging, desto besser für alle. »Ich denke, das Problem bekommen wir in den Griff«, verkündete Miller laut, für die Stammesmitglieder. »Wir werden uns gleich mal dieses Tor zum Jenseits ansehen. Es wäre aber gut, wenn uns jemand vor Ort einweisen könnte.« Turnhout und Rounse meldeten sich als Führer, wohl um einen Teil der Schuld abzutragen, die sie auf sich geladen zu haben glaubten. Die angespannte Stimmung unter den Stammesmitgliedern löste sich augenblicklich. Alle schienen glücklich und zufrieden mit dem Ausgang des Gesprächs. Nur Sergeant Miller beschlich die dumpfe Ahnung, dass er gerade den größten Fehler seines Lebens beging. *** Amarillo, rund 2000 Kilometer entfernt »So, jetzt müsste alles perfekt funktionieren.« Naoki schloss die Wartungsklappe auf Höhe des Bizeps und trat einen Schritt zurück. Miki Takeo wartete, bis sie außer Reichweite war, dann winkelte er den rechten Arm probeweise an. Leichtgängig und ohne zu rucken. Die Aussetzer der letzten Tage waren tatsächlich behoben. Ein ums andere Mal bewegte er die Prothese, als ob er es nicht glauben könnte. Der Androide bot schon einen grotesken Anblick. Über zwei Meter groß, bestehend aus brüniert wirkendem Plysterox, einem Kunststoff mit hohem Härtegrad,
leichter als Stahl und unempfindlich gegen Witterungseinflüsse. Sowohl der Torso, als auch seine Arme und Beine wurden von Lüftungsschlitzen zerfurcht, die ihm ein bedrohliches Aussehen gaben. Gleiches galt für die hervortretenden Schulterpanzer und den kantigen, nur entfernt nach menschlichem Vorbild gestalteten Kopf. So wie er da auf der Operationsliege saß, wirkte er wie ein Kampfkoloss, der jeden Augenblick aufspringen und einen alles vernichtenden Amoklauf beginnen könnte. Im krassen Gegensatz dazu standen die beinah naiv wirkenden Bewegungen, mit denen er die Funktion seines Armes überprüfte. »Phantastisch«, kommentierte er. »So gut habe ich mich lange nicht mehr gefühlt.« Seine Stimme besaß eine gleichbleibende Modulation, die ihren synthetischen Ursprung nicht verbergen konnte. Alles an Miki Takeo war künstlich, an ihm gab es keine einzige organische Komponente mehr. Alles, was ihn von einem Roboter unterschied, waren die menschlichen Hirnstrommuster, die nun durch kybernetische Schaltkreise pulsierten statt durch organische Zellen. Vorsichtig stemmte er sich von der Liege und setzte beide Füße auf, ohne eine Erschütterung auszulösen. Es war immer wieder erstaunlich, wie geschmeidig er trotz seiner Größe und seines Gewichtes agierte. »Endlich wieder der Alte«, freute er sich und begann erneut mit dem Arm zu pumpen, ihn in jede erdenkliche Position zu drehen und zu prüfen. »Übertreib bloß nicht so maßlos«, entfuhr es Naoki schärfer als eigentlich beabsichtigt. Sie wollte keineswegs Streit provozieren, doch die zur Schau gestellte Freude nahm sie dem Vater ihres Sohnes einfach nicht ab. Sicher, es hatte überraschend lange gedauert, seine von Crows Schergen deaktivierten Arme wieder instand zu setzen,
dazu kamen noch die Folgestörungen, die sich über Wochen hingezogen hatten, aber in der ganzen Zeit hatte Takeo kein einziges Mal über seinen Zustand geklagt. Menschliche Gedankenmuster hin oder her, die Übertragung in sein kybernetisches Hirn hatte ihn kühl und berechnend gemacht. Miki analysierte eine Situation lieber, als an ihr zu verzweifeln. Dass er nun so viel Freude an den Tag legte, kam ihr gestellt vor. Der Androide ließ den Arm sinken und fokussierte sie mit seinen visuellen Linsen. »Denkst du vielleicht, ich spiele nur Theater?«, fragte er, und obwohl seine künstliche Stimme keinen Deut schwankte, klang doch eine gewisse Verärgerung zwischen den Worten durch. »Glaubst du etwa, ich folge nur ein paar Programmschleifen, die Emotionen vorgaukeln sollen, und bin in Wirklichkeit völlig gefühllos geworden?« Ja, genau so stellte sie sich das vor. »In diesem Fall irrst du dich gewaltig«, fuhr er ohne Pause fort, denn er brauchte ja keinen Atem holen. »Du solltest nicht vergessen, dass ich fast fünfhundert Jahre in einem organischen Körper gelebt habe. Meine Gefühle und Schmerzen aus dieser Zeit sind für mich genauso lebendig wie für dich. Ich empfinde Freude und Pein so intensiv, wie sie in mir als Erfahrung abgespeichert sind. Du und deine Freunde habt doch nichts anderes zu bieten. Bei euch werden die Gefühle durch einen biochemischen Prozess ausgelöst, bei mir durch elektronische Reaktionen.« Naoki hielt das keineswegs für das Gleiche, trotzdem hob sie beide Hände in einer kapitulierenden Geste, den Miniaturschraubendreher, mit dem sie die Feinjustierung durchgeführt hatte, weiter in der Rechten. »Nur die Ruhe«, bat sie mit gequältem Lächeln. »Niemand in dieser Enklave will dich wegen Gefühllosigkeit diskriminieren. Wir akzeptieren dich so, wie du bist.
Schließlich bist du uns nur einige Speichereinheiten voraus.« Sie spürte, wie sie bei dieser Lüge errötete. Miki wurde keineswegs von allen Cyborgs rückhaltlos akzeptiert. Zu tief saß noch die Erinnerung an die Maschinenfraktion, die vor einigen Jahren, unter dem Einfluss eines vom Weltrat programmierten Virus Amok gelaufen war, und alles biologische Leben ausmerzen wollte. Miki war damals schon in El’ay gewesen und so verschont worden. Nun war er der einzige Androide in einer Gesellschaft von fünfhundert Jahre alten Cyborgs, die zwar dank perfekter Implantate noch wie in der Blüte ihrer Jugend wirkten, aber auch stolz darauf waren, sich einen hohen biologischen Anteil bewahrt zu haben. »So kompromissbereit kenne ich dich gar nicht«, riss sie Miki aus ihren Erinnerungen. Naoki war plötzlich heilfroh, dass sie alleine im Labor waren. In einer hilflosen Geste legte sie ihr Werkzeug in eine Metallschale, steckte beide Hände – die künstliche wie die organische – in die aufgenähten Taschen ihres weißes Kittels und stieß ein undefinierbares Schnaufen aus. »Kann es sein, dass dich Aikos Zustand zum Umdenken zwingt?«, setzte er nach. Eine kalte Welle strich ihr Rückgrat entlang und vereiste jede Pore bis hinab zu ihren Zehen. Mikis Worte alarmierten sie mehr, als sie sich eingestehen mochte. Naoki spürte, wie ihre Mundwinkel verhärteten, bevor sie gepresst fragte: »Was meinst du damit?« »Das weißt du doch ganz genau.« Während der Androide in ihren Reaktionen lesen konnte wie in einer selbst geschriebenen Programmierung, stand er reglos da und sah weiter im gleichen Winkel auf sie herab. »Du musst schon deutlicher werden«, forderte sie mit klopfendem Herzen. »Oder bist du so verwirrt, dass du nicht mehr weißt, was du sagst? Sollen wir vielleicht eine
Systemdiagnose durchführen?« Es war nicht abzuschätzen, wie nahe ihm diese schnippische Bemerkung ging, auf jeden Fall lockte sie ihn damit tatsächlich aus der Reserve. »Der Junge hat sich nach der Operation verändert«, behauptete er, als würde es sich um eine unumstößliche Tatsache handeln. »Das ist mir schon bei seinem Besuch im Valley aufgefallen, und die letzten Wochen haben meinen ersten Eindruck weiter verstärkt. Aiko ist viel ruhiger, kühler und – am auffälligsten von allem – ordnungsliebender als früher.« »Na und?« Naoki fuchtelte mit der rechten Hand herum, in dem sinnlosen Versuch, seine Worte zur Seite zu wischen. »Was bedeuten schon solche subjektiven Beobachtungen?« »Subjektiv?« Er imitierte ein Lachen. »Eben hast du noch die Authentizität meiner Gefühle angezweifelt, und jetzt...« »Gut, er hat sich verändert«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Das ist auch kein Wunder angesichts der schweren Krise, die er durchmachen musste. Er stand wochenlang an der Schwelle zum Wahnsinn. Ohne Honeybutts Hilfe hätte er nicht mal mehr zu uns zurückgefunden. Außerdem mussten wir größere Teile seines Gehirns durch Implantate ersetzen. Das ist nicht leicht zu verkraften.« »Größere Teile?« Takeo manipulierte eindeutig die Modulation seiner Stimme, um die Worte höhnisch klingen zu lassen. »Mehr nicht?« Das nahm sie ihm übel. »Vorsichtig mit solchen Verdächtigungen!«, warnte sie, mühsam beherrscht. »Mein Junge macht eine schwere Zeit durch. Ich lasse nicht zu, dass du seine Genesung mit deinen absurden Theorien unterläufst.« Ihre schmalen, mandelförmigen Augen sprühten vor Angriffslust, doch davon ließ sich Miki nicht beeindrucken. »Vergiss nicht, er ist auch mein Sohn«, antwortete er in
seiner alten Stimmlage. »Ich bin der Letzte, der ihm schaden möchte. Alles was ich will, ist Einblick in seine medizinischen Aufzeichnungen. Vielleicht kann ich euch sogar helfen, wenn ich genau weiß, wie es um ihn steht.« »Nein, auf gar keinen Fall!« Ihre kalte Abfuhr ließ die Raumtemperatur glatt um mehrere Grad absinken. »Du bist ein Haufen Plysterox auf zwei Beinen und kein Vater! Alles was du mir seinerzeit hinterlassen hast, war deine Spermaprobe. Ich habe den Jungen alleine gezeugt und aufgezogen. Deshalb lasse ich nicht zu, dass du versuchst, ihn nach deinem Vorbild zu formen.« »Aber das habe ich überhaupt nicht im Sinn!« »Rede nicht!«, fuhr sie an. »Alleine deine Anwesenheit übt schon einen schlechten Einfluss auf ihn aus. Warum ist er wohl unterwegs und setzt den brüchigen Waffenstillstand aufs Spiel, wenn nicht, um deine Niederlage zu rächen?« Eine leise Stimme tief in ihrem Inneren warnte Naoki, dass sie in diesem Punkt irrte. Aiko hatte sich zweifellos aus freien Stücken auf den Weg gemacht, weil ihn die Abenteuerlust schon immer aus der Enklave getrieben hatte. So war er veranlagt, daran ließ sich nichts ändern. Doch ihr angestauter Zorn, der sich gegen Miki Takeo entlud, nahm auf solche Kleinigkeiten keine Rücksicht. Im Prinzip ging es auch um etwas ganz anderes, tiefer Liegendes. Und da es der Androide in diesem Augenblick vorzog zu schweigen, nahm sie weiter Fahrt auf. »Schon damals, als du fort warst, hat Aiko versucht, dir nachzueifern«, setzte sie ihm weiter zu. »Wenn ich nur daran denke, dass er seine gesunden Arme durch Prothesen ersetzen ließ, wird mir heute noch schlecht. Aber er wollte ja unbedingt so stark sein wie die Androiden, so stark wie du.« Beide Hände in die Hüften gestemmt, schöpfte Naoki neuen Atem und fixierte den vor ihr aufragenden Koloss aus tiefschwarzen, mandelförmig geschnittenen Augen. Unter
ihrem Kittel zeichnete sich zwar der Körper einer durchtrainierten Endzwanzigerin ab, doch ihre hart glänzenden Pupillen besaßen eine in fünfhundert Jahren erworbene Entschlossenheit, die durch keine Macht der Welt zu brechen war. »Ich warne dich«, drohte sie kurz und bündig. »Halte dich von Aiko fern. Denn wenn ich feststelle, dass du meinen Jungen zu verwirren oder auf deine Seite zu ziehen versuchst, sorge ich dafür, dass du aus Amarillo verstoßen wirst. Glaub mir, es gibt genügend Ratsmitglieder, die so einen Antrag sofort unterstützen würden. Und eins steht ja wohl fest – alleine auf dich gestellt bist du in diesem Land genauso aufgeschmissen wie jeder andere auch. Komm dir also bloß nicht unverletzlich vor. Dass du es nicht bist, hat ja Präsident Crows Attacke im Valley bewiesen.« Mit diesen Worten stürmte sie zur Tür hinaus, damit Miki nicht die Tränen sah, die in ihren Augen aufstiegen. Statt etwas zu erwidern oder ihr nachzueilen, blieb der Androide einfach stehen. Völlig reglos und bar jeder Emotion. Zumindest nach außen hin. *** Appalachian Mountains Bei den Zwillingsspitzen, zwei von Regen und Wind geschliffenen Felsnadeln, die in einhundert Metern Abstand parallel zueinander aufragten, handelte es sich tatsächlich um die von Savage lokalisierte Formation. Trotzdem erwies es sich als unverzichtbar, dass Turnhout und Rounse mit an Bord waren. Denn die Geisterhöhlen, in denen sie das militärische Warnschild gefunden hatten, befanden sich mehrere Kilometer westlich dieser Landmarke, inmitten eines Waldstücks, dessen starker Bewuchs jede Entdeckung aus der Luft ausschloß.
Corporal Wiliams kreiste lange über dem zerklüfteten Gebiet, in dem sich unzählige schroffe Bergrücken aus den satten Grün erhoben, ohne eine geeignete Landestelle zu finden. Entweder standen die Bäume zu dicht oder das Gelände war zu abschüssig, um sicher darauf aufzusetzen. Schließlich folgte er Turnhouts Vorschlag, auf einer vorspringenden Kante zu landen, die dem Air-MAT gerade genug Platz bot. »Das ist aber gegen die Vorschrift«, meldete er, auf die rechts von ihnen ansteigende Felswand deutend. »Wegen der Steinschlaggefahr.« »Uns wird schon keine Lawine wegfegen«, beruhigte ihn Lieutenant Savage, der es sonst mit den Paragraphen sehr genau nahm. Die Aussicht auf einige luftdicht versiegelte Räume voller Hochleistungstechnik hatte die Abenteuerlust des Offiziers geweckt. »Hier kann nichts passieren«, versicherte auch Turnhout beflissen. »Unser Stamm kennt sich hier gut aus, denn diese Wälder sind voller Deers und Wisaaun. Von diesem Plateau geht ein schmaler Pfad ab, über den wir bequem zum Fuß des Berges gelangen.« Während des Fluges hatten die beiden Barbaren nicht das geringste Anzeichen von Angst gezeigt, und auch jetzt, da der Air-MAT rumpelnd aufsetzte, schienen sie nicht beunruhigt. Entweder waren sie gut mit der zur Verfügung stehenden Technik vertraut, oder ihr Glauben in die Macht der Ranger war grenzenlos. Sobald sie die Sicherheit der gepanzerten Kabine verließen, zeigten die beiden allerdings erste Anzeichen von Nervosität. »Da lang«, erklärte Rounse knapp, während sein Bruder in Schweigen verfiel. Seinem Hinweis vertrauend, beschritten sie einen immer schmaler zulaufenden Vorsprung, der knapp fünfzehn Meter auf gleicher Höhe verlief, bevor er nach rechts abknickte. Dort angelangt, folgte eine halbrunde Wölbung im Massiv, knapp
vierzig Meter im Durchmesser, wobei sich der Pfad abfallend an der Innenseite entlang schlängelte. »Die belaubten Bäume versperren leider die Sicht, sonst könnten wir schon von hier aus den Eingang sehen«, sagte Rounse, auf die gegenüber liegende Talseite deutend. Das Ziel so nah vor Augen, schritten sie schneller aus. Eine kräftige Nachmittagssonne strahlte vom klaren Himmel und wurde durch die nackten Felsen reflektiert. Selbst Savage, der nur seinen RCF-Dress trug, geriet ins Schwitzen. Sie befanden sich nicht sonderlich hoch, gerade mal zehn Meter über den Baumspitzen, doch ein falscher Schritt mochte das Ende bedeuten. Denn links von ihnen fiel eine steile, mit scharfen Vorsprüngen gespickte Wand ab, die einem fallenden Menschen das Fleisch bis zum Knochen aufschlitzen konnten, lange bevor er unten als blutiges Bündel aufschlug. In den Plysterox-Rüstungen mochte solch ein Sturz zu überleben sein, aber nicht ohne Knochenbrüche und Gehirnerschütterungen. Wer wollte sich die schon freiwillig einhandeln? Miller klappte sein Visier in die Höhe, um den störenden Einblendungen zu entgehen. Der Bergpfad verlief breit genug, um zwei Personen nebeneinander Platz zu bieten. Trotzdem formierten sie eine langgezogene Schützenkette, um allen erdenklichen Gefahren so gut wie möglich zu begegnen. In unbekanntem Gelände musste stets mit barbarischen oder tierischen Übergriffen gerechnet werden, deshalb trugen sie ihre Waffen im Anschlag. Je weiter sie auf dem Halbrund vorrückten, desto tiefer gelangten sie. Langsam aber sicher wich die Spannung von den Rangern. Ganz im Gegensatz zu ihren Scouts, die immer häufiger nervös über die Schulter blickten, um sicher zu stellen, dass keine toten Seelen auf sie lauerten. Am Fuß des Berges erwartete die Wanderer schattiges Grün – und eine freudige Überraschung. »Sehen Sie nur, Sergeant!« Savage schloss rasch zu ihm auf,
obwohl er nur das Gleiche wie alle anderen entdeckt hatte. »Da vorne führt eine Schneise entlang. Von oben ist sie nicht zu sehen, weil die weit ausladenden Äste der umstehenden Bäume alles überdecken, aber...« »... sie ist trotzdem da«, vollendete Miller lächelnd. Gemeinsam bahnten sie sich einen Weg durchs Unterholz. Feuchtes grünes Moos schmatzte unter ihren schweren Stiefeln, auch dort, wo keine zwanzig Meter hohen Bäume wuchsen, sondern nur Büsche, Sträucher und niedrige Krüppelkiefern. Savage drehte sich begeistert im Kreis. Einfallende Sonnenstrahlen spiegelten sich auf dem goldenen RCF-Ring, der seinen Hals wie ein Kragen umgab. »Genau so, wie ich es mir dachte!«, rief er begeistert aus. »Eine nahezu linear verlaufende Schneise, die direkt auf den Fuß des Berges zuführt.« Sergeant Miller zog seine Handwaffe aus dem Gürtelholster und zielte auf ein mehrere Meter entfernt liegendes Blatt am Boden. Fauchend fuhren drei Miniatursprengköpfe aus der Drillermündung, als er den Abzug berührte. Nacheinander schlugen sie exakt auf der gleichen Stelle ein, nur immer ein Stückchen tiefer. Mit Pflanzenfasern gemischte Erdfontänen spritzen zu allen Seiten davon. Zurück blieb ein dunkler Krater, knapp einen halben Meter tief. Als sich Miller darüber beugte, sah er etwas Hartes, Körniges am Grund schimmern. Er griff hinein und holte einen scharfkantigen, bläulichen Brocken hervor. Grinsend hielt er ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Er wusste, um was es sich handelte, noch ehe er den Splitter vom Schmutz befreit und gegen das Licht gehalten hatte. Kein Zweifel, es war ein Stück Teer! »Früher verlief hier eine Straße«, erklärte er den anderen. »Das ist ein gutes Zeichen.« Der lautstarke Drillereinsatz erwies sich als äußerst
aufreibend für barbarische Nerven, doch nach einigem guten Zureden erklärten sich Turnhout und Rounse trotzdem bereit, sie bis zum Höhleneingang zu begleiten. Wie erwartet ging es dabei zuerst weiter die Schneise entlang. Links und rechts der alten Fahrbahn entdeckte das geübte Auge des Sergeants einige rechtwinklig zueinander verlaufende Erdwälle, bei denen es sich zweifellos um überwucherte Mauerreste handelte. Eine Straße und mehrere Ruinen! Die Chance, auf etwas Bedeutendes zu stoßen, nahm laufend zu. Miller spürte eine leise Spannung in sich anwachsen. Doch bevor es etwas zu entdecken gab, musste sich ihre Gruppe erst einen Weg durch dichtes Unterholz bahnen. Zweige, Blattwerk und spitze Dornenranken versperrten ihnen den Zutritt auf ein stufenweise ansteigendes Podest, und das war offensichtlich so gewollt. Nur wenige Schritte später standen sie vor einem sauber freigeschnittenen Bereich, hinter dem ein doppelt mannshohes Loch im Felsen klaffte. Ein mit rostzerfressenem Stahl ausgekleideter Betonrahmen, mehr war nicht von dem Tor geblieben, das hier einmal alles versperrt hatte. »Weiter gehen wir nicht!«, brachten sich Turnhouts und Rounse von weitem in Erinnerung. »Ihr seid nun auf euch allein gestellt!« Erst jetzt fiel Miller auf, dass das leise Klappern, das er seit einigen Minuten hörte, von aufeinander schlagenden Zähnen stammte. Die beiden sonst so hartgesottenen Krieger wagten nicht mal bis zu ihnen aufzuschließen, sondern lugten vorsichtig hinter grünem Blattwerk hervor. »Keine Panik«, versuchte sie Lieutenant Savage zu beruhigen. »Hier gibt es keine Geister, die uns gefährlich werden können. Seht ihr?« Um seine Worte zu beweisen, trat er in den dunklen Schacht und wedelte mit der ausgestreckten Hand hin und her. Das hätte er besser nicht getan, denn im gleichen Augenblick flackerte drinnen ein Licht auf.
Hell – dunkel. Hell – dunkel. Zuerst ähnelte das Phänomen einer Reihe von aufeinander folgenden Blitzen, dann etablierte sich das gleißende Licht und der langgestreckte Tunnel wurde blendend weiß ausgeleuchtet. »Da, seht doch selbst«, rief Turnhout hysterisch, »die toten Seelen kommen!« »Unsinn«, wehrte Savage ab, obwohl er ein wenig bleich um die Nase wirkte. »Hier drinnen gibt es nur einen Bewegungsmelder, der mit der Beleuchtung gekoppelt ist.« Diese Erklärungen stieß bei den Barbaren allerdings auf taube Ohren. »Unsere Aufgabe ist erfüllt!« riefen sie wie aus einem Munde. »Wir kehren zu unserem Stamm zurück. Besucht uns, wenn ihr die Geister ausgetrieben habt!« Danach ließen sie die niedergedrückten Zweige los und rannten davon. Empor schnellende Blätter ließen sie umgehend im Dickicht verschwinden, doch es genügte zu hören, wie sie voller Panik weiter hasteten. »Sehr seltsam«, kommentierte Savage verwundert. »Das kann man wohl sagen.« Den Driller im Hüftanschlag, trat Miller neben ihn. »Eine funktionsfähige Beleuchtung, das hat nichts Gutes zu bedeuten.« Savage sah ihn verwundert an, als ob er nicht verstände, wo das Problem lag. Der Sergeant klärte ihn auf. »Sehen Sie genau hin, Lieutenant. Die ursprüngliche Elektrik ist längst vermodert. Die über Putz verlegten Leitungen, denen wir das Licht verdanken, sind noch keine fünf Jahre alt.« Hastig sah der Offizier in die Runde und fand Millers Worte bestätigt. Die ersten Meter des tief in den Berg hinein führenden Ganges waren feucht und mit Moos und Pilzen bewachsen, erst
danach wurden grau gestrichene Betonstrukturen sichtbar. Die Pendellampen, die in regelmäßigen Abständen von der Decke hingen, verdrängten die Dunkelheit so nachhaltig, dass die Überreste der ursprünglichen Neonbeleuchtung sichtbar wurden. Rostige Streben und einige Milchglasscherben in gammligen Fassungen, mehr war nicht geblieben, doch es reichte, um die richtigen Schlüsse zu ziehen. »Irgend jemand hat sich hier eingenistet«, fluchte Savage leise. »Jemand, der über moderne Technik verfügt und sie anzuwenden weiß.« »Es ist keiner von uns«, fügte Miller hinzu, den Driller drohend in den Gang gerichtet. »Sonst gäbe es entsprechende Hinweise in der Datenbank.« »Fudohs Späher?«, fragte Tiffany Jackson entsetzt. Wiliams und sie waren beiderseits des Eingangs auf die Knie gegangen, das Gewehr in die Schulter gezogen, feuerbereit. Gutes Mädchen. Guter Junge. Auf die beiden war Verlass. Savage schienen die Gewehre in seinem Rücken dagegen zu verunsichern, auch wenn er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. »Oder es stecken Infiltrationstruppen aus Amarillo dahinter«, versuchte er den Anschluss zu halten. »Sehr unwahrscheinlich«, fuhr ihm Miller in die Parade. »Wenn die Station besetzt gewesen wäre, hätten die Barbaren sicher keine Gelegenheit mehr gehabt, uns zu verständigen. Ich tippe eher auf ein Depot der Running Men.« Savage riss die Augen auf. »Hier in den Bergen? So tief im Hinterland?« Miller nickte. »Unsere Verhörspezialisten haben zwar nicht allzu viel aus dem gefangenen Computerspezialisten herausbekommen, aber dass Black mehr als nur die Verstecke im Raum Washington angelegt hat, gilt als gesichert.« Die entsprechenden Rundmails waren Savage wohl
entgangen, und das ärgerte ihn. Statt zu antworten, presste er seine Lippen zu einem blutleeren Strich zusammen. »Durch bloßes Herumstehen finden wir bestimmt nicht heraus, was diese Beleuchtung zu bedeuten hat«, brummte er schließlich, um überhaupt etwas zu sagen. In diesem Punkt waren Miller und er ausnahmsweise einer Meinung. Als der Sergeant jedoch den Befehl zum Vorrücken gab, hielt Savage ihre Mannen zurück. »Nein, wer weiß, was es wirklich mit den toten Seelen auf sich hat, von denen die Barbaren gesprochen haben. Wir gehen besser kein Risiko ein und schicken zuerst einen RoCop hinein.« Der Sergeant warf ein, dass diese Maßnahme viel zu zeitraubend sei, doch Savage setzte sich kraft des Dienstrangs durch. Auf seinen Befehl hin zogen sich alle vier aus dem Eingangsbereich zurück. Von nun an ständig auf feindliche Attacken gefasst, suchten sie eine Stelle, die sich rasch als Landeplatz herrichten ließ. Nachdem sie fündig geworden waren, kehrte Lieutenant Savage zum Air-MAT zurück, während die anderen drei daran gingen, störendes Buschwerk mit Hilfe des Lasergewehrs abzuholzen. Als das Summen der Antigravitationsspulen erklang, trugen sie gerade die letzten Äste zur Seite. Der Air-MAT war nicht viel mehr als eine mit Stahlplatten gepanzerte Kabine, festgeschweißt auf einem schwebenden Oval. Trotzdem gelang es Savage, unter einigen überhängenden Ästen hindurch zu lavieren und auf der freigeräumten Fläche zu landen. Beim Aufsetzen patzte er zwar ein wenig, doch sonst hätte es Corporal Wiliams nicht besser machen können. Entsprechend zufrieden öffnete er den Ausstieg und winkte die anderen näher. Miller befahl den Gefreiten, das Gelände zu sichern, er selbst machte sich mit Savage daran, einen der beiden außen angeschnallten RoCops aus der Halterung zu lösen. Obwohl
der Roboter eine gewissen Ähnlichkeit mit der Rüstung von Jackson und Wiliams besaß, rührte er sich keinen Millimeter von der Stelle. Um selbständig zu agieren, fehlten ihm die Programmeinheiten. Alles was er noch konnte, war Funkbefehlen zu folgen. Nach Abschluss aller Vorbereitungen warf Savage einen Blick auf seine Armbanduhr. »Siebzehn Uhr Ostküstenzeit«, verkündete er. »Die ISS steht günstig. Ich gebe noch rasch einen Bericht durch, bevor wir beginnen. Mit etwas Glück lösen wir das Rätsel noch Einbruch der Dunkelheit.« Ohne dich könnten wir längst beim Abendbrot sitzen und die erbeuteten Waffen zählen, dachte sein Sergeant verärgert, enthielt sich aber jedes bissigen Kommentars. Stattdessen verfolgte er, wie Savage eine Meldung ans Hauptquartier durchgab. Die im Orbit kreisende Raumstation fungierte dabei als Relaisstation. Eine direkte Verbindung war leider unmöglich, da wegen der starken Kometenstrahlung am Boden die Funkwellen nicht weiter als zehn bis fünfzehn Kilometer reichten. Nachdem Savage ausführlich verkündet hatte, das er ein mutmaßliches Running Men Depot ausfindig gemacht hatte, in das er gleich einzudringen gedachte, beendete er das Gespräch, strich zufrieden über seinen metallverstärkten Dress und baute sich vor Miller auf. »Captain Porter zeigte sich sehr zufrieden mit den bisherigen Ergebnissen«, berichtete er fröhlich, obwohl Miller das Gespräch mitgehört hatte. »Das ganze Fort ist schon sehr gespannt auf unseren nächsten Bericht.« Miller schluckte eine bissige Bemerkung herunter, die ihm auf der Zunge lag, und ersetzte sie durch ein mildes: »Na dann los, mir knurrt schon der Magen.« Sein Vorgesetzter schien das für eine Art dankbares Schulterklopfen zu halten, denn seine schmalen Lippen
verzogen sich zu einem stolzen Lächeln, bevor er auf das Remote Command Facility Podest stieg. Sobald er die Hände auf die Sensorkugeln legte, leuchteten die Projektoren in dem holografischen Stahlkranz auf. Sekunden später entstand vor seinem Gesicht ein durchscheinendes Bild, das Bäume, Sträucher und die weit entfernt aufragenden Zwillingsspitzen zeigte. Alles das, was auch der aktivierte Roboter durch seine Kameralinsen sah. Der Wölbung des Hirnstromscanners entsprang ein blauweißes Licht, das den Offizier von Kopf bis Fuß in kalten Glanz tauchte. Die Wangenknochen in dem totenbleichen Gesicht ragten unnatürlich weit vor, während er mit den Beinen einen Schritt nach vorne imitierte. Draußen, auf der Plattform, wurde ein schweres Klacken laut. Der RoCop setzte sich in Gang. Die Erkundung des Felsbunkers hatte begonnen. *** Beide Hände locker auf den Sensorkugeln ruhend, ließ Lieutenant Savage den RoCop von der Plattform steigen und auf die nahe Felsöffnung zugehen. Zwanzig Zentimeter von seinem Gesicht flimmerte eine Holografie, die ihm die Sicht des Roboters übertrug. Mit ihr konnte er lenken, als wäre er selbst vor Ort. Das vor dem Eingang wuchernde Buschwerk stellte für mechanische Arme kein Problem dar. Äste, die den Weg versperrten, splitterten unter dem harten Griff der Plysteroxhände. Zweige und Ranken wurden achtlos zur Seite geschoben. Die Dornenspitzen, die über den künstlichen Körper schrammten, hinterließen keinen einzigen Kratzer auf der Oberfläche. Eine breite Schneise für sich und spätere Besucher bahnend,
tapste der RoCop die zugewucherten Stufen empor. Das Licht im Inneren der Höhle war erloschen, doch als er eintrat, reagierte der Bewegungsmelder. Die Leuchtröhren sprangen sofort wieder an. Kalter Neonschein erfüllte den grau verputzten Gang. Savage kreiste mit der linken Fingerkuppe über die Sensorkugel, um den Zoom zu aktivieren. Das Ende des Ganges rückte zum Greifen nahe heran, ohne dass sich dort etwas Verdächtiges ausmachen ließ. »Wird es keine Übertragungsprobleme geben, wenn der RoCop tiefer in den Berg vordringt?«, fragte Sergeant Miller aus dem Hintergrund. Beide Augenbrauen über der Nasenwurzel zusammengezogen, stand der Unteroffizier nahe der Ausstiegsluke und beobachtete mit skeptischem Blick, was auf der RCF-Plattform vorging. »Nur keine Sorge«, beruhigte ihn Savage, »die Verbindung wird über Relais gehalten.« Miller verschränkte beide Arme missmutig vor der Brust, stellte aber seine kritischen Kommentare ein. Um die Meinungsverschiedenheiten nicht noch weiter anzufachen, unterdrückte Savage ein aufsteigendes Lächeln. Er wusste, dass der bullige Sergeant nur darauf brannte, ihn erneut als hilflosen Schreibtischtäter abzustempeln, der vollkommen unfähig für praktische Einsätze war. Dass er mit seiner Entscheidung, den RoCop vorzuschicken, richtig lag, wurmte den Kerl natürlich. Tiefe Falten zerfurchten das grobschlächtige Gesicht, das von einem goldschimmernden Plysteroxhelm umrahmt wurde. Sicher blieb Miller nur in der Nähe, weil er auf ein Scheitern der Exkursion hoffte. Savage ließ sich davon nicht nervös machen. Routiniert lenkte er den Roboter den Gang entlang. An der ersten Abzweigung nahm er die Linke von der Steuerkugel und berührte den RCF-Harnisch mit einer sanften Geste zwischen Brustkorb und Bauchnabel.
Eine Rückmeldung über den Hirnstrommonitor signalisierte ihm, dass sich die an gleicher Stelle befindliche Materialklappe des RoCops öffnete. Savage entnahm eines der Verstärkerrelais und haftete es an die gegenüberliegende Wand. Dann bog er in den links abzweigenden Gang ein. Nicht mal ein Störstreifen durchlief die Projektion, als der Roboter hinter der Ecke verschwand. Mochte der Berg auch noch so gut abschirmen, dank der Relais drangen sie tief ins Innere vor, ohne das Leben eines Soldaten zu gefährden. Sicherheit besaß für Lieutenant Savage höchste Priorität. Nicht nur seine eigene, auch die der Untergebenen. Ihre Bunkergemeinschaft war viel zu klein, als dass sie das Leben der Bewohner leichtfertig aufs Spiel setzen durften. Nicht mal, wenn es sich dabei um solche Stinkstiefel wie Miller handelte, die sich selbst für unfehlbare Praktiker hielten. Der neue Flur unterschied sich vom ersten nur insofern, als dass von ihm mehrere türlose Räume abzweigten. Viel zu entdecken gab es nicht in ihnen. Im Prinzip sah einer wie der andere aus. Rechteckig, grau gestrichen und leer geräumt. Aber vor allem – penibel gereinigt. Letzteres erstaunte Savage am meisten. Irgend jemand musste den ganzen Trakt sauber halten, denn es gab nicht mal das kleinste Staubkorn zu entdecken. Weitere Abzweigungen folgten, doch überall das gleiche Bild: langgestreckte, grau verputzte Gänge mit angrenzenden Räumen, allesamt bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet. Sonst nichts. Welchen Zweck die Anlage besaß, war beim besten Willen nicht zu erkennen. Merkwürdig. Der RoCop haftete neue Funkrelais an und suchte weiter, bis er auf eine Abzweigung stieß, an der bereits ein kleiner schwarzer Blechkasten mit Stummelantenne angebracht war. Überrascht hielt Savage inne, eigentlich sicher, nicht im Kreis gegangen zu sein. Schweiß perlte in seinem Nacken auf,
während er noch einmal in Gedanken den zurückliegenden Kurs nachvollzog. Angesichts seines Missgeschicks besserte sich Millers Laune augenblicklich. »Verlaufen Sie sich nicht in dem Labyrinth, Sir«, riet er scheinheilig. Dabei malte er sich in Wirklichkeit bestimmt schon aus, wie er den verschollenen RoCop suchen und zurückbegleiten musste. Diesen Triumph wollte ihm der Lieutenant auf keinen Fall gönnen. Darum unterdrückte er alle aufsteigende Verunsicherung und entschloss sich, dem zuvor eingeschlagenen Kurs weiter zu folgen. Zu seiner Erleichterung wies die nächste Abzweigung kein Relais auf. Es gab also noch Neuland zu entdecken, und Räume, die mehr als klinisch reine Wände zu bieten hatten. Plötzlich wichen die Wände vor dem RoCop zurück und er trat in eine zehn mal fünfzehn Meter große Halle, in deren Rückwand eine drei Meter hohe, kreisrunde Stahltür prangte. Stolz durchflutete den Offizier. Er hatte also doch richtig gelegen. Ehe er jedoch seine Beinmuskulatur anspannen konnte, um den Neuroimpuls für »vorwärts gehen« auszusenden, sah er, wie sich etwas am linken Bildausschnitt verflüchtigte. Etwas Glänzendes, Rundes, das zu schnell verschwand, um Genaueres zu erkennen. Savage drehte den Kopf, um noch einen Blick auf das Objekt zu erhaschen, doch bis der Roboter die Bewegung ausführte, war es längst zu spät. Was auch immer da gewesen war, inzwischen war es verschwunden. Selbst als er den RoCop zu einer vollständigen 360-Grad-Drehung veranlasste, gab es nur kahle Wände zu sehen. »Was ist? Warum gehen Sie nicht zu der Tür?« Miller trat näher und verfolgte von der gegenüberliegenden Seite, was sich auf dem durchscheinenden Hologramm abspielte. Savage verspürte nicht übel Lust, den Sergeant deshalb
scharf zurecht zu weisen, denn es irritierte doch beträchtlich, die Übertragung zu verflogen und gleichzeitig in ein feistes, großporiges Gesicht zu starren. Die Nerven zu verlieren widersprach aber seinem Führungsstil, deshalb riss er sich zusammen und sagte einfach nur: »Sergeant, bitte!« Miller sah ihn zuerst überrascht an, aber dann trat ein Ausdruck des Verstehens in seine Augen. Mit einem knappen Nicken, das so etwas wie eine Entschuldigung sein sollte, trat er zurück ins Dunkel der Kabine. In der Sache blieb er jedoch hartnäckig. »Stimmt etwas nicht?«, fragte er. »Warum zögern Sie?« »Nur eine kurze Irritation«, wiegelte Savage ab, obwohl er ein flaues Gefühl im Magen verspürte. Aber was sollte er sonst antworten? Dass er eine undeutliche Erscheinung gesehen hatte? Eine, die den toten Seelen ähnelte, von denen Turnhout und Rounse berichtet hatten? Lieber hätte er mit der bloßen Hand in das Maul eines Lupas gegriffen. Längst bereit, die schemenhafte Erscheinung als Einbildung abzutun, übermittelte er dem RoCop, auf die gepanzerte Tür zuzugehen. Der Befehl wurde jedoch nicht ausgeführt. Stattdessen brach das gewölbte Hologramm übergangslos zusammen. Zuvor gab es keine Störung, kein Flackern und keine Drop-Outs. Nichts. Plötzlich war einfach nur Schluss. Die Kranzprojektoren leuchteten zwar noch, aber sie übertrugen kein Bild. »Was ist denn jetzt schon wieder los?«, nervte Miller sofort. »Keine Ahnung.« Lieutenant Savage war viel zu verblüfft, um sich den respektlosen Ton zu verbieten. »Die Verbindung steht jedenfalls noch.« Rasch spannte er alle Sinne an und lauschte in den Äther hinaus. Nichts wäre peinlicher gewesen, als jetzt zugeben zu müssen, dass ihm die Kontrolle des RoCop entglitten war. Seine Fingerkuppen wanderten über die Sensorkugeln in dem
verzweifelten Bemühen, ein Diagnoseprogramm aufzurufen. Savage war plötzlich unerträglich heiß unter dem RCFDress. Kalter Schweiß lief über sein gerötetes Gesicht, während er auf eine Rückmeldung wartete. Alles, was er empfing, war ein unangenehmes Ziepen, das schlagartig stärker wurde. Etwas Vergleichbares hatte er noch nie erlebt. Instinktiv versuchte er sich noch von dem Podest zu lösen, doch zu spät. Aus den Kugelsensoren schossen bereits Blitze hervor. Im Hirnstromscanner gab es ebenfalls eine Rückkopplung. Die umgestülpte Metallglocke überschüttete Savage plötzlich mit gleißendem Licht. Unbekannte Energien jagten durch seinen Körper. Der damit verbundene Schmerz durchfuhr ihn wie eine heiße Nadel. Jeder einzelne Nervenstrang wurde an die Grenze der Belastung geführt. Savages Muskeln verkrampften. Sein Körper bäumte sich auf und bog durch, als ob ihm jemand von hinten das Knie in die Wirbelsäule drucken würde. Ein Netz fein gesponnener Elmsfeuer tanzte seine Unterarme empor. Savage wollte schreien, doch mehr als ein gepresstes Stöhnen brachte er nicht mehr zustande. Es gelang ihm einfach nicht, die Lippen voneinander zu lösen, geschweige vom Podest zu springen, um den Entladungen, die ihn durchschüttelten, zu entgehen. Kurz bevor der Schmerz unerträglich wurde, tauchte Miller vor ihm auf. Im gleichen Moment fühlte er sich an den Schultern gepackt und nach vorne gerissen. Sekundenlang drohten die aufsteigenden Blitze auch auf den Sergeant überzugreifen. Zum Glück waren sie nicht stark genug, um die isolierende Plysterox-Panzerung zu durchdringen. Im gleichen Moment, da der RCF-Dress das Podest verließ, wurde der unheilvolle Kontakt unterbrochen. Die Entladungen endeten und das Interface fuhr herunter. Alle Muskeln im Krampf erstarrt, war Savage nicht mehr in
der Lage, sich aus eigener Kraft auf den Beinen zu halten. Miller hielt ihn jedoch sicher mit beiden Händen und ließ ihn vorsichtig zu Boden gleiten. »Alles halb so wild, das kriegen wir schon wieder hin.« Die beruhigenden Worte des Sergeanten standen in krassem Widerspruch zu seinem Gesichtsausdruck. Alle Häme und Ablehnung waren daraus verschwunden; nun stand echte Sorge darin zu lesen. Alleine dieser seltene Anblick war es beinahe schon wert, die Schmerzen zu ertragen. Darauf, dass Jackson und Wiliams in der Außenluke erschienen, und mit großen Augen herein sahen, hätte er allerdings gern verzichten können. »Steht nicht so blöd herum!«, fuhr Miller die beiden an. »Holt lieber die Erste-Hilfe-Box!« Savage lag inzwischen ausgestreckt auf dem Kabinenboden. Der Geruch von geschmolzenem Kunststoff belästigte seine Nasenflügel, ansonsten registrierte er kaum noch etwas. Miller stützte seinen Hinterkopf mit der linken Hand, während seine Rechte seitlich umhertastete, bis er eine der Schlafdecken zu fassen bekam, die tagsüber in einem angeschraubten Wandregal lagen. Fürsorglich schob er Savage den mehrfach gefalteten weichen Stoff unter und bettete seinen Kopf darauf. »Wie konnte das bloß passieren?«, fragte er, nachdem er kräftig durchgeatmet hatte. Der Lieutenant hörte seine Stimme nur noch wie aus weiter Ferne. Möglicherweise sogar mit mehrfachem Echo, er wusste es nicht genau. Mühsam setzte er zu einer Antwort an, doch es war eine Qual, die Lippen zu bewegen. »Keine Ahnung«, brachte er noch heraus. Mehr nicht. Danach versank alles in Dunkelheit. *** »Nur bewusstlos«, diagnostizierte Sergeant Miller, nachdem er den Puls gefunden hatte. Seine Erfahrung sagte ihm, dass der
Herzschlag des Lieutenants noch im Toleranzbereich lag, trotzdem nahm er ein Diagnosearmband aus der Erste-HilfeBox und legte es Savage ums Handgelenk. Sekunden später erschienen alle relevanten Messdaten auf dem grauen LCD-Display. Körpertemperatur und Herzfrequenz waren leicht erhöht, aber keineswegs so kritisch wie befürchtet. Die Auswertung der automatischen Blutprobe, die das Gerät mittels eines kurzen Nadelstichs selbständig ausführte, brachte nähere Erkenntnisse. Schockzustand, diagnostizierte das Display. Patient in eine ruhige Lage bringen und seine Atmung kontrollieren. Gegebenenfalls beatmen und Herzmassage einleiten. Sie klappten eine der Liegen von der Wand und hoben den Lieutenant zu dritt hinauf. Miller spritzte ihm ein Mittel zur Kreislaufstabilisierung. Da sich die Werte daraufhin verbesserten, entschied er, dass sie den Lieutenant eine Weile allein lassen konnten. »Gefechtsbereitschaft herstellen«, befahl er den anderen. »Wir müssen nachsehen, was da drinnen passiert ist.« Sie verschlossen die Außenluke und machten sich auf den Weg. Die Stille dieses sonnigen Nachmittags erschien ihnen auf einmal trügerisch, doch dies war nicht die Zeit für Gefühlsanwandlungen. Sich gegenseitig Deckung gebend, drangen sie in den Komplex ein. Die hell erleuchteten Gänge erstreckten sich weiter öde und leer. Unangenehme Stille lastete über allem, untermalt nur vom Summen der Neonröhren und den eigenen Schritten, die hier drinnen unnatürlich hohl klangen. »Nichts zu sehen«, meldete sich Wiliams zu Wort, weil die Spannung an seinen Nerven zerrte. »Klappe halten und die Umgebung beobachten« , wies ihn der Sergeant zurecht. Der erfahrene Soldat bildete die Speerspitze des Trupps, Jackson und Wiliams sicherten seine Flanken. Die Waffen im
Anschlag, starrten sie so lange auf das graue Einerlei der hellen Wände, bis die Augen schmerzten. Kein Wunder, dass die Barbaren hier drinnen irgendwann Gespenster gesehen hatten. »Was ist das?«, schrie Jackson plötzlich, wirbelte herum und feuerte in den hinter ihnen liegenden Gang. Der pulsierende Laserstrahl jagte schräg in die Höhe und hinterließ eine schwarz verkohlte Kerbe, die sich von der Wand bis an die Decke zog. Sonst war nichts Ungewöhnliches zu entdecken, vor allem nichts, worauf sich zu schießen lohnte. »Was ist los?«, fragte Miller, mit dem Blick ständig zwischen beiden Enden des Ganges hin und her pendelnd. »Haben Sie etwas Verdächtiges gesehen, Corporal?« »Ja«, behauptete Tiffany Jackson hastig, fügte dann aber kleinlaut hinzu: »Glaube ich zumindest.« »Geht’s vielleicht etwas genauer?«, herrschte er sie an. »Vielleicht kann es einem von uns das Leben retten, wenn Sie uns Ihre Beobachtung mitteilen. Das ist doch wohl nicht zu viel verlangt.« Unter dem Körperpanzer war nicht zu erkennen, wie Tiff auf die Zurechtweisung reagierte, doch ihre Stimme klang belegt, als sie zu einer neuen Erklärung ansetzte. »Ich glaubte eine schwebende Kugel gesehen zu haben, Sir«, meldete sie, von nun an um einen militärischen Tonfall bemüht. »Sie machte einen bedrohlichen Eindruck auf mich, deshalb habe ich auf sie geschossen, Sir.« »Eine Kugel?«, wiederholte Miller, um sicher zu stellen, dass er sich nicht verhört hatte. »Ja, Sir«, bestätigte Tiff, diesmal fest entschlossen. »Sie glänzte, Sir. Doch sie verschwand zu schnell hinter der Ecke, als dass ich sie treffen konnte, Sir.« Der inflationäre Gebrauch des Wortes »Sir« zeigte deutlich, dass die junge Frau wütend war. Ob auf ihn oder sich selbst, konnte er nicht sagen, und er fragte auch nicht. Stattdessen ging er zurück zur letzten Abbiegung und warf einen
vorsichtigen Blick um die Ecke. Außer gähnender Leere gab es dort aber nichts zu sehen. »Glauben Sie, dass es sich bei dieser schwebenden Kugel um eine tote Seele handelte?«, fragte Miller, als er zurück kam. »Nein, Sir. Ich glaube nicht an Spukgeschichten.« Wenn das mal stimmt. »Aber Sie haben wirklich etwas gesehen?« , bohrte er im Verhörton nach. »Oder haben Ihnen die Nerven nur einen Streich gespielt?« »Dort war irgendetwas, Sir«, gab sich die junge Frau felsenfest überzeugt. »Ich kann aber nicht sagen, was es war. Dazu bewegte es sich zu schnell. Zischte einfach zur Seite, in der Spanne eines Fingerschnippens.« Corporal Jackson war jung und beflissen, doch es mangelte ihr an Erfahrung. Ohne den Unfall am RCF hätte Miller die ganze Angelegenheit als nervöse Überreaktion eines Anfängers abgetan. So musste er zumindest in Erwägung ziehen, dass hier drinnen wirklich etwas lauerte, das sich lieber im Verborgenen hielt. »Ab sofort erhöhte Aufmerksamkeit«, ordnete er an. »Los, weiter. Ich will endlich wissen, was mit diesem verdammten Roboter los ist.« Angespannt setzten sie den Weg fort. Die an den Wänden haftenden Relais wiesen ihnen dabei die Richtung. An einer Ecke fehlte der markante kleine Kasten jedoch. Hatte Savage vergessen, hier einen zu setzen, oder hatte ihn jemand entfernt? Sergeant Millers innere Spannung wuchs weiter an. Nervös warf er einen Blick über die Schulter, obwohl Corporal Jackson für die rückwärtige Sicherung zuständig war. Im gleichen Moment sah er die schwebende Kugel! Dicht über den Boden glitt sie heran, nur schwer auszumachen vor dem grauen Hintergrund. Sie leuchtete keineswegs von innen heraus, sondern war mechanischen Ursprungs. Voll verchromt und zehn Zentimeter im Durchmesser. Ein schwebender Ball, ungewöhnlich schnell
und wendig, der geräuschlos näher kam. Miller besaß ein hohes Maß an Kampferfahrung. Der Anblick eines bewaffneten Feindes löste bei ihm keine Schrecksekunde mehr aus. In diesem Moment verlor er jedoch wertvolle Reaktionszeit, weil er verblüfft auf das seltsame Phänomen starrte. Als er endlich aus der Erstarrung erwachte, war es schon beinahe zu spät. Entsprechend hastig fiel sein Abwehrfeuer aus. Nur wenige Meter von ihm entfernt jagte das Drillergeschoss an der Kugel vorbei in den Boden. Mit lautem Knall wurde ein faustgroßer Krater in den Beton gesprengt. Graue Zementsplitter spritzten zu allen Seiten davon und prasselten wie Schrapnelle gegen seine Körperpanzerung. Einige trafen auch die Kugel, ohne deren Flugbahn zu beeinflussen. Noch vor dem Einschlag zog sie senkrecht nach oben, bis auf Augenhöhe, und beschleunigte wieder. Dieses Flugobjekt nahm keine Rücksicht auf aerodynamische Gesetze! Es flog einfach so, wie es wollte, und auf seiner Äquatorlinie ragte ein Abstrahlpol drohend hervor. Miller schoss erneut, doch die Chromkugel wich zur Seite. Gleichzeitig erwiderte sie das Feuer. In weniger als einer Sekunde überbrückte der Energiestrahl die Entfernung und schlug in seinen Brustharnisch. Der Sergeant spürte, wie sich die betreffende Stelle erwärmte. Da das Plysterox widerstand, breitete sich die thermische Wirkung über den ganzen Oberkörper aus. Die Oberfläche des Verbundkunststoffs begann zu glühen. Aus dem Schimmer brachen Energieäste hervor, die sich als vielfach gezackte Bahn in der Luft verloren. Unablässig weiter feuernd, kam die Kugel näher. Ein blassgelber Strahl aus Jacksons Lasergewehr kreuzte die Flugbahn, doch sie wich dem drohenden Kontakt mit einem weiteren abrupten Richtungswechsel aus.
Mit einem raschen Sprung zur Seite entging Miller einer weiteren Salve und ging zum Gegenangriff über. Die Sprenggeschosse verließen den Driller im Sekundentakt. Gemeinsam mit Jacksons Sperrfeuer woben sie ein dichtes Abwehrnetz, dem auch ein wendiges Objekt nicht auf Dauer entkommen konnte. Nicht auf diese kurze Entfernung. Ein Sprengkopf streifte über die obere Polkappe, kurz bevor der Strahler erneut auf ihn einschwenkte. Die Explosionswelle drückte die Kugel nach unten, genau in einen Laserstrahl aus Jacksons Gewehr. Die angerissene Chromhülle platzte unter dem Beschuss auseinander. Dabei wurden auch die Magnetfeldspulen in Mitleidenschaft gezogen. Plötzlich der Schwerkraft schutzlos ausgesetzt, stürzte die Kugel wie ein Stein in die Tiefe. Dunkler Qualm quoll aus dem Inneren, als sie auf dem Boden auseinander platzte. Den Driller weiter fest umklammert, stieß Miller die Luft aus seinen verkrampften Lungenflügeln. Erst jetzt, da die Gefahr langsam verblasste, spürte er die Anspannung der vergangenen Minute. Doch der befreiende Moment endete sofort, als er die entsetzlichen Schreie in seinem Rücken hörte. Im gleichen Moment, da er herumwirbelte, wurde ihm auch klar, warum Corporal Wiliams sie die ganze Zeit nicht unterstützt hatte. In dessen Rücken befanden sich nämlich fünf weitere Kugeln, die den Unglücklichen in ein wahres Gespinst aus weiß glühenden, sich vielfach verästelnden Energieblitzen hüllten. Wie Elmsfeuer zuckten sie über seine Rüstung. Sein Tak 03 lag auf dem Boden. Längst zu keiner Gegenwehr mehr fähig, stand er mit herunterhängenden Armen da und wurde kräftig durchgeschüttelt. Miller hob seine Waffe in den Schulteranschlag und zog durch. Die anvisierte Kugel zerplatzte in tausend Stücke. Jackson machte es ihm sofort nach, doch die
Chromwölbungen absorbierten ihren Laserstrahl. »Schnapp dir das Sturmgewehr«, befahl Miller und übernahm dafür den Feuerschutz. Die übrigen Flugkörper ließen inzwischen von Wiliams ab. Das ihn umgebende Energiegeflecht löste sich auf und er kippte haltlos nach vorne. Genau vor Jacksons Füße, die das Tak 03 gerade noch an sich reißen konnte. In dem sich nun entspinnenden Feuergefecht mussten die Ranger auf Dauer verlieren, weil zwei Kugeln sofort an ihnen vorbei rasten und sie von der anderen Seite unter Beschuss nahmen. Wie durch eine fremde Intelligenz gesteuert, koordinierten sie den Angriff so geschickt, dass sie sich dabei selbst nie ins Gehege kamen. In Wirklichkeit folgten sie aber nur einer internen Programmierung, denn sie vollführten viel zu komplizierte Manöver, als dass sie fremdgesteuert sein konnten. Wilden Insekten gleich, surrten sie immer wieder über die Köpfe der Ranger hinweg, sodass die beiden nicht schießen konnten, ohne sich gegenseitig zu gefährden. Als auch noch ein Halbes Dutzend weiterer Kugeln zur Verstärkung nahte, war das Ende zu gut wie besiegelt. Miller spürte bereits, wie seine Panzerung immer stärker an Wirkung verlor. »Wir müssen uns zum Air-MAT durchschlagen« , gab er an Jackson durch. »Dort haben wir vielleicht noch eine Chance.« Wiliams ließen sie zurück, es ging nicht anders. Gemeinsam rannten sie los, von purem Überlebenswillen getrieben. Die Reichweite der mörderischen Kampfmaschinen war zum Glück begrenzt. Jetzt kam es nur darauf an, schnell genug zu sein. Tiffany Jackson war jedoch schon angeschlagen. Sie schaffte es nicht, den Anschluss zu halten. Gemeinsam fielen die Verfolger über sie her und beharkten sie von allen Seiten. Erste Strahlenableger durchbrachen die Panzerung und bissen in ihre Haut. Die junge Frau schrie
schmerzerfüllt auf. Miller wirbelte herum und zielte auf denjenigen ihrer mechanischen Peiniger, der ihm am nächsten war, ohne zu bemerken, dass er selbst vor dem Durchgang zu einem angrenzenden Raum stand. In dem leeren Türrahmen schwebte plötzlich eine weitere Chromkugel, die den Ellbogen seines Waffenarms mit einem gezielten Schuss lahmlegte. Schlagartig verlor der Sergeant jedes Gefühl in den Fingern. Der Driller rutschte ihm aus der Hand und schlug klappernd auf den Boden. Mehr vor Wut als vor Schmerz heulend stieß er die Linke vor, erwischte die Kugel mitten im Flug und schleuderte sie mit einer raschen Körperdrehung gegen die nächste Wand. Damit ließ sie sich selbstverständlich nicht zerstören, aber er hatte Glück, denn der vorstehende Abstrahlpol prallte so hart auf, dass er zerbrach. Tiffany Jackson kniete längst kraftlos am Boden. Nur noch Sekunden, dann war sie erledigt. Danach würde sich die Meute ein neues Opfer suchen. Miller machte auf dem Absatz kehrt und rannte davon. Nicht aus Feigheit, sondern weil er ihr ohnehin nicht mehr helfen konnte. Sich selbst rechnete er auch keine großen Überlebenschancen aus, doch er wollte es wenigstens bis zum Air-MAT schaffen und Washington warnen. Der Ranger wusste zwar nicht, wo er hier hineingeraten war, doch es handelte sich zweifellos um mehr als eine verfluchte Höhle. Hier drinnen regierte eine Macht, die ihnen absolut ebenbürtig war. Ein Schlag gegen den Hinterkopf ließ Miller haltlos vorwärts stolpern. Verwirrt sah er auf und bemerkte, dass die Kugel mit dem zerbrochenen Abstrahlpol die Verfolgung aufgenommen hatte. In Ermangelung anderer Angriffsmöglichkeiten ging sie einfach auf Rammkurs. Diesmal jagte sie von vorne heran. Miller pendelte zur Seite und ließ sie über sein linkes
Schulterblatt hinweg zischen. Doch nur Sekunden später vollführte sie eine Kehrtwende und hämmerte gegen seinen Rücken. Der Schwung reichte nicht aus, um ihn zu gefährden, doch der nächste Ansturm lief bereits. Keuchend rannte der Ranger weiter. Steckte zwei weitere Einschläge ein und schließlich noch einen dritten in der linken Kniekehle, der ihn umgehend zu Fall brachte. Mit dem Gesicht voran knallte er in einen offenen Türrahmen. Sein Visier zersplitterte, doch zum Glück waren die Kunststoffscherben zu stumpf, um ihn zu verletzen. Völlig ausgepumpt wälzte er sich herum. Ein unerträglicher Druck lastete auf seiner Brust, das Atmen fiel ihm schwer. Miller öffnete den Kinnverschluss und schleuderte seinen Helm zur Seite. Blut sickerte in sein linkes Auge, trotzdem konnte er wieder etwas sehen. Zum Beispiel die chromglänzende Kugel, die direkt über ihm in der Luft verharrte, wie ein Greifvogel, der auf seine Beute lauert. Der Ranger erstarrte mitten in der Bewegung. Einen Moment lang schien die Zeit zu gefrieren. Plötzlich gab es nur noch ihn und diese seelenlose Maschine. Zum ersten Mal entdeckte er die Reihe winziger Kameralinsen, die die gedachte Äquatorlinie säumten. Ansatzlos schnellte die Kugel vor. Ausweichen war nicht möglich. Schneller als er mit den Augen folgen konnte, hämmerte sie oberhalb der Nasenwurzel gegen seine schweißnasse Stirn. Ein gleißendes Feuerwerk erfüllte Millers Sinne, gefolgt von einer gnädigen Ohnmacht, die ihn von der quälenden Frage erlöste, was das alles zu bedeuten hatte. *** Washington, 23. September 2520 Wissenschaftslabor des Weltratbunkers
»Ist Ihnen eigentlich der Ernst der Lage bewusst?« »Nein, Lieutenant, aber ich bin sicher, dass Sie ihn mir erklären werden.« Doktor Margaret Carter machte sich nicht die Mühe, von ihrem Mikroskop aufzusehen. Lieutenant Ramon Garcia, General Crows Adjutant, sagte ohnehin jeden Tag das selbe. »Der General wünscht Ergebnisse«, sagte Garcia und bestätigte so ihren Gedanken, »und es ist meine Aufgabe dafür zu sorgen, dass sich die Wünsche des Generals erfüllen.« »Dann sehe ich nur zwei Alternativen. Entweder beginnt der General realistischer zu wünschen, oder Sie machen sich auf die Suche nach einer anderen Aufgabe.« Margaret lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück. Seit vier Jahren leitete sie die experimentelle technische Forschungsabteilung. Sie hatte Crows Adjutanten kommen und gehen sehen, Garcia war zwar unangenehmer als die meisten anderen, aber Margaret nahm an, dass sie auch ihn überleben würde. »Ihre Unverschämtheit wird dem General nicht gefallen.« Der Lieutenant drohte sehr gerne damit, die Inhalte ihrer Unterhaltungen an Crow weiterzugeben. Margaret hob die Schultern. »Und mir gefällt seine Ungeduld nicht. Wir werden wohl beide damit leben müssen.« »Da wäre ich mir nicht so sicher.« Selbst für Garcias Verhältnisse war das eine gewagte Drohung. Es wurde still im Labor. Die anderen drei Wissenschaftler, die hier gemeinsam arbeiteten, hatten die Bemerkung kaum überhören können, aber zwei von ihnen schienen nicht zu wissen, wie sie reagieren sollten. Der dritte stand auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Das reicht, Lieutenant.« Garcia öffnete den Mund, aber der Anblick der massigen Gestalt raubte ihm wohl den Mut. Wortlos drehte er sich um und verließ das Labor. Die Tür schloss sich zischend hinter
ihm. Margaret drehte sich um. »Danke, Toby, aber ich wäre schon allein mit ihm klar gekommen.« »Auch ohne weitere Beleidigungen?« Toby Carter, ihr Ehemann und Forscherkollege setzte sich wieder. »Die Zeiten haben sich geändert, Maggie. Wir alle müssen vorsichtiger sein, auch du.« Er hatte Recht, und sie wusste es. Seit dem Tod des Präsidenten stand niemand mehr über Crow. Er war die letzte Instanz in allen Belangen, herrschte über die Streitkräfte, den Bunker, die Bevölkerung. Manchmal fragte sich Margaret, wie es je so weit hatte kommen können. »Dann sollten wir den General wohl nicht enttäuschen«, sagte sie und lächelte, obwohl ihr nicht danach zumute war. Seit Wochen beschäftigten sie und ihr Team sich mit den Maschinen, Computern und Trümmern, die man aus Takeos Enklave in Kalifornien gerettet hatte. Der Boden des Labors war bedeckt von verkohlten Fragmenten, verformtem Metall und geschmolzenem Plastik. Margaret schätzte, dass das meiste Schrott war, aber noch wusste sie zu wenig über Takeos Technologie, um Schrott von Schätzen unterscheiden zu können. Nur eines war jedem in diesem Labor klar: Der Mann – wenn man dem Androiden Takeo mit dieser Bezeichnung überhaupt noch gerecht wurde – war ein Genie. Margaret wandte sich an den erst zweiundzwanzigjährigen, schlaksigen Jeremy Cohen, der sich seit Beginn ihrer Forschungen mit einem großen, halb verkohlten Gerät beschäftigte. »Erzähl mir was, das den General nicht enttäuscht«, sagte sie. »Natürlich.« Jeremy wischte sich die Hände an seinem verrußten Laborkittel ab. »Ich kann definitiv erklären, dass es sich um einen Computer handelt.« Er machte eine Pause, als erwarte er Applaus. Die Stille
dehnte sich aus, wurde peinlich. Jeremy räusperte sich und fuhr fort: »Der Monitor ist natürlich geschmolzen, aber ich habe ein neues Gerät angeschlossen und an die Spezifikationen des Computers angepasst. Einen Teil der Speichermedien konnte ich rekonstruieren, ich schätze rund siebzehn, vielleicht sogar achtzehn Prozent. Die Stromversorgung funktioniert ebenfalls, die Sprachsteuerung leider nicht. Ich habe andere Eingabemechanismen zu Hilfe genommen, aber sie werden uns wohl kaum Zugang zu allen Funktionen gewähren.« Margaret nickte. »Sehr gute Arbeit. Und was macht dieser Computer?« »Ich habe keine Ahnung«, sagte Jeremy. Douglas Haverson, ein kleiner dicker KI-Experte, trat neben ihn und betrachtete die Drähte und Mikrochips in dem unbekannten Gerät. »Schalten wir ihn doch ein.« Toby seufzte. »Hatten wir nicht gerade über das Thema Vorsicht gesprochen? Miki Takeo hat hoch entwickelte Waffensysteme hergestellt. Wir wissen nicht, ob es sich bei diesem Gerät um so etwas handelt.« »Das sieht nicht aus wie eine Waffe«, widersprach Douglas. »Eine Bleikugel sieht auch nicht tödlich aus. Trotzdem ist sie es, wenn man sie abschießt.« Jetzt schüttelte auch Jeremy den Kopf. Das ist eine unpassende Analogie, Toby« sagte er. »Dieses Gerät steht völlig isoliert. Selbst wenn es verwendet wurde um Raketen zu steuern oder Minen zu aktivieren, ist es jetzt harmlos. Ich glaube nicht, dass es Sprengstoffe oder Giftgase enthält.« »Willst du für diesen Glauben unser Leben riskieren? Wir könnten den ganzen Bunker in die...« Margaret legte Toby die Hand auf den Arm und brachte ihn so zum Schweigen. Wenn sie den Computer untersuchten ohne ihn einzuschalten, vergingen vielleicht noch Wochen, bis sie herausfanden, zu welchem Zweck man ihn gebaut hatte. Sie bezweifelte, dass Crow so viel Geduld aufbringen würde.
»Schalt ihn ein, Jeremy«, sagte sie. »Sofort.« Jeremy legte seinen Zeigefinger auf den Knopf, der die Stromzufuhr regulierte, und Douglas trat einen Schritt zurück. Er lächelte nervös, als er die Blicke der anderen bemerkte. »Instinktgesteuertes Verhalten«, erklärte er. »Entschuldigung.« Jeremy fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Drei... zwei... eins«, zählte er. Margaret war noch nie aufgefallen, dass er einen Hang zur Dramatik hatte. »Null.« Der Computer erwachte summend zum Leben. Speicherkristalle knackten, dann flackerte der Bildschirm. »Das Gerät greift auf ein Programm zu«, sagte Jeremy und trat ebenfalls zurück. »Das habe ich vermutlich zufällig aktiviert.« Margaret blickte auf den flimmernden schwarzen Bildschirm. »Kannst du es auch wieder deaktivieren?« »Ich weiß nicht.« Die Schwärze verschwand von dem Monitor und wurde durch ein verschwommenes, verrauschtes Bild ersetzt. »Da liegt jemand«, sagte Toby. »Seht ihr das? Da liegt ein Mann auf einem Bett.« Es war tatsächlich ein junger, kräftig wirkender Mann, der nackt auf einer Matratze lag. Er bewegte sich rhythmisch. Jemand hockte auf ihm, eine Person, die anscheinend die Kamera in der Hand hielt, denn man sah nur ihren Blickwinkel. Auch sie bewegte sich. Ab und zu fielen lange rote Haare vor das Objektiv der Kamera. Douglas lachte plötzlich. »Die haben Sex«, sagte er. »Crow wird begeistert sein. Wir haben es geschafft, Miki Takeos Pornokonsole zu knacken.« Margaret hörte ihm kaum zu. Das Gesicht der unbekannten Person spiegelte sich im Metallknauf des Bettpfostens. Sie hob den Kopf, blickte direkt auf den Knauf. Margaret traute ihren
Augen nicht. »Das ist Lynne Crow.« Toby schluckte. »Ach du Scheiße.« *** »Na, endlich wach?« Aiko Tsuyoshi stemmte beide Arme in die Hüften und sah spöttisch auf Lieutenant Savage hinab. »Was?« Stöhnend rieb der Offizier über seinen Nacken und richtete sich auf der Liege auf. Zuerst schien er nicht ganz sicher, ob er glauben konnte, was er da vor sich sah, aber dann dämmerte ihm wohl doch, dass ein Fremder vor ihm stand. Sein Blick wanderte an dem Asiaten vorbei zu der mit Lasereinsatz aufgeschweißten Außenluke. Die Beschädigung schien ihn wohl zu ärgern. Der Ausdruck in seinem Gesicht verdunkelte sich. »Wer sind Sie?«, schnappte er. »Und was haben Sie hier zu suchen?« Aiko riss die Augen in übertriebener Überraschung auf. »Haben Sie wirklich keine Ahnung, wer ich bin?«, fragte er scheinbar empört. »Ich dachte eigentlich, mein Steckbrief gehört bei euch zum Pflichtprogramm. So wie der Hass auf alle, die es wagen, eine eigene Meinung zu vertreten. Sei es nun in London, El’ay oder Amarillo.« Als er die Enklave der Cyborgs nannte, dämmerte es Savage. »Aiko Tsuyoshi, natürlich«, erinnerte er sich. »Takeos Sohn, der mit den Running Men verkehrt.« »Na, na, nur mit einer, so viel Anstand müssen Sie mir schon zutrauen.« Lächelnd trat der japanischstämmige Amerikaner zur Seite und gab den Blick auf zwei Frauen frei, die im Hintergrund der Kabine standen. Eine von ihnen besaß eine gewisse Ähnlichkeit mit Tiffany Jackson, denn ebenso wie der Corporal war sie jung, schwarz und durchtrainiert. Sie stammte auch aus Waashton, wie die
Ranger, und doch gehörte sie einer ganz anderen politischen Fraktion an: den Running Men. Das Gesicht von Honeybutt Hardy kursierte tatsächlich in den Fahndungsdateien der WCA, allerdings wirkte sie auf der betreffenden Aufnahme wesentlich jünger und unschuldiger. Sie besaß zwar immer noch wunderbar weiche und mädchenhafte Züge, doch in ihren Augen lag ein trauriger Schimmer, als hätte sie schon mehr Leid gesehen, als einer jungen Frau ihres Alters gut tat. Mehr noch als diese Rebellin war Savage die andere Frau bekannt. Sie hatte ihre Haare blondiert und trug sie kürzer als früher, trotzdem erkannte er sie sofort wieder. Die Bevölkerung ihres Bunkers war nun mal sehr überschaubar und attraktive Frauen im heiratsfähigen Alter entsprechend rar gesät. Daynas Augenwinkel zierten inzwischen erste Falten, und im Gegensatz zu Honeybutt wirkte sie richtiggehend verbittert und vom Leben enttäuscht. Trotzdem besaß sie einen herben Charme, der durchaus anziehend wirkte. Nur nicht auf Lieutenant Savage, der plötzlich ein Gesicht zog, als ob er ausspeien müsste. »Dayna DeLano!« Seine Stimme troff nur so vor Verachtung. »Du miese Verräterin.« Dayna nahm die Beleidigung vollkommen gleichmütig hin, als besäße diese Beschimpfung für sie absolut keinen Wert. Beide Daumen hinter ihren Waffengurt geklemmt, sah sie den Offizier nur mit einem unergründlichen Blick ihrer grünen Augen an und antwortete: »Ein Mensch kann nur etwas verraten, an das er glaubt. Und an die Gerechtigkeit des Weltrates glaube ich schon lange nicht mehr.« Savage machte sofort Anstalten zu kontern, doch Aiko fiel ihm ins Wort, bevor das Ganze noch in einen fruchtlosen Streit ausarten konnte. »Schön, dass Sie so genau wissen, mit wem Sie es zu tun haben, Lieutenant«, bemerkte er sarkastisch. »Das erleichtert uns hoffentlich die Verständigung. Wir sind nämlich nicht zum Spaß hier.«
Savage hob das Kinn in dem Versuch, dieser Ankündigung mutig entgegen zu blicken, aber seine Nervosität konnte er nicht gänzlich verbergen. »Was wollen Sie?«, stieß er bebend hervor. »Habe ich Ihnen etwa den Anschlag auf mein Leben zu verdanken?« Aiko untersuchte seine Fingernägel, wie um zu prüfen, wann die nächste Reinigung fällig war. »Wenn wir vorgehabt hätten, Sie zu töten, wären Sie nicht noch mal aufgewacht«, erklärte er lapidar. »Wir haben Ihnen lediglich einen energetischen Schock verpasst, um Sie eine Weile ruhig zu stellen. Ihrem Team ist es ähnlich ergangen, allerdings haben die sich stärker zur Wehr gesetzt. Alle drei sind wohlauf, das sollten sie im Hinterkopf behalten. Wir sind also nicht auf Sie angewiesen.« »Nicht angewiesen?«, echote der Offizier und strich dabei unbehaglich über seine Arme. »Auf mich nicht angewiesen für was?« Aiko zögerte ein wenig mit der Antwort, um die Spannung zu erhöhen. Dann sagte er: »Wir haben diese Tropfsteinhöhlen nicht so aufwändig hergerichtet, nur um euch anzulocken. Ihr seid lediglich der Köder für einen größeren Fisch.« Savages Augen weiteten sich vor Entsetzen, doch er brachte kein Wort über seine sich lautlos bewegenden Lippen. Der Energieschock, der ihm das Bewusstsein geraubt hatte, steckte ihm noch in den Knochen. Erschöpft sank er auf die Liege zurück und realisierte dabei wohl zum ersten Mal, dass er sich in Gefangenschaft befand. Hilflos denen ausgeliefert, die Präsident Crow zu Erzfeinden Washingtons erklärt hatte. »Die WCA hat vor einigen Monaten eine Widerstandszelle der Running Men zerschlagen«, erklärte Aiko weiter. »Wir wissen, dass dabei fast alle Mitglieder getötet wurden, bis auf einen, der uns sehr am Herzen liegt. Ein Computerspezialist, dessen Fähigkeit in euren Zellen nur brachliegt. Mr. Hacker.« »Glaubt ihr ernsthaft, dass sich Präsident Crow auf einen
Tauschhandel mit euch einlassen wird?« Savage lachte in einem Anflug von Hysterie. »Das könnt ihr vergessen! ›Keine Verhandlungen‹, das ist Crows Motto. Auch wenn es das Leben der eigenen Leute kostet. Doch eins schwöre ich euch: Wenn wir sterben, wird Crow euch jagen lassen, bis...« »Aus diesem Grunde wirst du Mr. Hacker auch zu deiner Unterstützung anfordern«, unterbrach Aiko die Litanei. »Wie bitte?« Savage schnaufte empört. »Warum sollte ich das wohl tun?« »Weil du hier auf ein Depot der Running Men gestoßen bist, das besonders gut abgesichert wurde. Ohne Hackers Mithilfe ist es völlig unmöglich, an das gehortete Material zu gelangen. Diese Durchsage und einige Aufnahmen aus dem Inneren sollten sicher reichen, um Mr. Hacker einen Ausflug zu spendieren.« »Soll das ein Witz sein?«, fragte Savage kichernd. »Auf diesen Unsinn lasse ich mich selbstverständlich nicht –« »Das sollten Sie sich lieber noch einmal überlegen.« »Da gibt es nichts zu überlegen. Ich bin Offizier der amerikanischen Streitkräfte! Keine Folter dieser Welt könnte mich dazu bringen...« Aiko warf ihm nur einen mitleidigen Blick zu. Dann wandte er sich wortlos ab und ging auf das Remote Command Facility zu. Kurz vor dem Podest blieb er stehen und schlug nach dem Projektorkranz. Es war ein kurzer, ansatzloser Schwinger, trotzdem verbog sich das Metall unter der Faust. Wieder und wieder hämmerte auf den Stahl ein. Ein normaler Mensch hätte sich dabei beide Hände gebrochen, doch der schmächtige Asiate, dessen langer schwarzer Haarzopf bei jedem Schlag wild über den Rücken tanzte, fühlte nicht mal Schmerzen. Das Glas, das die Holoprojektoren abdeckte, splitterte unter den Erschütterungen. Schon bald liefen feine Risse durch den
Kranz. Aiko packte die bearbeitete Hälfte mit beiden Händen und drehe und zerrte an ihr, bis sie unter lautem Knirschen nachgab und er ein Stück des massiven Kranzes in Händen hielt. Nachdem er sein Ziel erreicht hatte, warf er die Beute achtlos zu Boden und kehrte an Savages Liege zurück. Die Haut über seinen Knöcheln war aufgeplatzt. Darunter schimmerte gräuliches Plysterox hervor, denn seine Prothesen reichten von den Fingerspitzen bis zu den Schultergelenken. »Ist Ihnen eigentlich klar, welche Möglichkeiten sich aus der Kraft meiner Hände ergeben?«, fragte Aiko lauernd. Und antwortete gleich selbst, indem er Savages Decke packte und zur Seite schleuderte. »Hey, was fällt Ihnen ein?«, rief der Ranger empört, doch schon Sekunden später verwandelte sich der Protest in überraschte Schmerzensschreie. Aiko hatte nämlich Savages Oberschenkel mit der Handspanne seiner Rechten umschlossen und drückte mit der Kraft einer Schraubzwinge zu. Die Metallschienen des RCF hatten dem nichts entgegen zu setzen. Weich wie Butter gaben sie nie nach. »Sie haben zwei Möglichkeiten, Lieutenant«, erklärte Aiko dabei. »Sie folgen meinen Anweisungen, oder ich zerquetsche Ihnen nacheinander alle vier Gliedmaßen, sodass sie amputiert werden müssen. Was halten Sie davon? Ich glaube nicht, dass in Washington so gute Implantate hergestellt werden wie in Amarillo.« »Das... das wagen Sie nicht«, keuchte Savage entsetzt. »Und ob ich das wage«, stieß der Cyborg böse hervor. »Ihr habt das Lebenswerk meines Vaters zerstört, und bei diesem Angriff sind Dutzende von unbeteiligten Barbaren verletzt und getötet worden. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Was glaubst du wohl, was ich da noch auf das jämmerliche Leben eines einzelnen Weltratgardisten gebe, hä?«
Er drückte erneut zu. So fest, dass Savage die Blutzufuhr abgedrückt wurde. Gellend schrie der Offizier auf. Ausgelaugt oder nicht, der Schmerz trieb ihn in die Höhe, doch Aiko packte ihn sofort mit der anderen Hand am Kragen und drückte ihn zurück auf die Liege. Keinem anderen wäre es möglich gewesen, einen tobenden Mann auf diese Weise ruhig zu stellen, doch angesichts seiner mechanischen Stärke war es für Savage, als ob man ihn in Eisen geschlagen hätte. »Bitte, lassen Sie mich«, flehte er. »Ich kann doch nicht.« »Ich breche Ihnen zuerst nur den Knochen«, bot Aiko an. »Danach können Sie es sich ja noch mal überlegen.« Die Kälte in seiner Stimme ließ selbst die Frauen erschaudern. Das war es, was Savage besonders erschreckte. Zumindest von Dayna DeLano wusste er, dass sie keine gute Schauspielerin war, die für einen abgesprochenen Bluff taugte. Dass sie nun angesichts der rohen Gewalt, mit der der Cyborg vorging, die Hand vors Gesicht schlug, ließ darauf schließen, dass zumindest sie glaubte, dass er seine Drohungen in die Tat umsetzen wollte. Und auch Honeybutt Hardy, die vergeblich versuchte, mäßigend auf den Tobenden einzuwirken, sah aus, als ob ihr sein Verhalten gleich zu viel werden würde. Von all dem ließ sich Aiko aber nicht beeindrucken und drückte weiter zu. Savages Herz begann zu rasen. Unsäglicher Schmerz tobte in seinem Körper, nur noch übertroffen von der Angst, gleich das Bein zu verlieren. Und wofür? Für einen Gefangenen, den er nie im Leben zu Gesicht bekommen hatte? Und überhaupt, war es nicht besser, jetzt unversehrt zu überleben und dafür später zu versuchen, das RebellenUnternehmen zu sabotieren? Dieses Argument leuchtete plötzlich so hell und rein über ihn wie ein Stern am Nachthimmel.
»Aufhören!«, brüllte er aus Leibeskräften. »Ich mache alles, was Sie verlangen.« Die Schraubzwinge um sein Bein löste sich augenblicklich. Das aufgestaute Blut begann prickelnd zu zirkulieren. »Na also, es geht doch.« Aikos eben noch wutverzerrte Miene verwandelte sich übergangslos in ein sympathisches Antlitz. »Da drüben steht das Funkgerät. Aber keine Tricks bei der Durchsage! Schließlich haben wir einen ehemaligen WCAMajor auf unserer Seite, der sich mit euren Codes auskennt.« Mit tränennassen Augen sah Savage zu Dayna DeLano hinüber, die bereits an der ISS-Funkanlage Platz nahm. Verdammtes Biest, dachte der Lieutenant. Du raubst mir die letzte Chance, das Gesicht zu wahren. *** Die Rebellen überließen nichts dem Zufall. Statt direkt mit seiner vorgesetzten Dienststelle reden zu können, wurde Savage zu einer Aufzeichnung genötigt. Die Schmerzen im Oberschenkel raubten ihm fast den Verstand, trotzdem gelang es ihm im dritten Anlauf, überzeugend von einem Depot der Running Men zu berichten, das durch einen komplizierten Code gesichert wurde, den selbst der Bordcomputer nicht knacken konnte. Zusammen mit einigen Bildausschnitten aus dem RCF-Speicher, die das massive Stahltor zeigten, fand der vorproduzierte Text seinen Weg ins ISS-Relais. Mr. Hacker kam dabei nur insoweit zur Sprache, als dass ihn Savage zum vermutlichen Urheber des Codes erhob. Damit die Falle nicht zu offensichtlich wurde, musste die World Council Agency schon selbst ihre Konsequenzen daraus ziehen. Savage zweifelte aber nicht daran, dass das Kalkül der Rebellen aufgehen würde. Funktionsfähige Elektronik war ein viel zu wertvolles Gut, um nicht umgehend alle Hebel in Bewegung zu setzen.
»Die Anlage sichern und unter allen Umständen gegen jede Art von Eindringlingen halten«, lautete denn auch die unmittelbare Reaktion auf seinen Bericht. Und: »Wir schicken so schnell wie möglich ein Expertenteam zur Unterstützung.« Wenigstens brauchte er kein Dankeschön zu heucheln. Die ISS wanderte bereits aus dem Empfangsbereich und stand erst eine volle Erdumkreisung später wieder zur Verfügung. Niedergeschlagen trat Savage aus dem Air-MAT und ließ sich von einem Cyborg namens Rex Tumbler ins nahe Höhlensystem führen. Der schlanke Mann mit dem fein geschnittenen, fast femininen Gesicht, der zu Aiko Tsuyoshis Truppe gehörte, besaß gelbe Pupillen mit eingearbeiteten Grinsgesichtern, die ihm den Spitznamen Smiley eintrugen. Doch nicht nur seine Augen standen für gute Laune, er selbst schien ebenfalls eine Frohnatur zu sein. Insgeheim wunderte sich Savage ein wenig, dass ihm keine Fesseln angelegt wurden, doch noch ehe er einen Gedanken an Flucht verschwenden konnte, näherten sie sich einer chromglänzenden Kugel, die scheinbar schwerelos im Raum schwebte. »Das hier ist ein Autarker Protektor der zweiten Generation«, erklärte Tumbler in freundlichem Plauderton. »Er dient nicht nur zur automatischen Territorialsicherung, sondern auch zum humanen Strafvollzug.« Mit diesen Worten zog er eine fünf mal zwölf Zentimeter große Steuereinheit aus seiner weiten Cargohose. Nachdem er sich mittels eines Daumenabdrucks identifiziert hatte, tippte Tumbler mehrere Befehle ein. Sekunden später verließ die Chromkugel ihren angestammten Platz. Lautlos schwebte sie näher, bis Lieutenant Savage auf Höhe der Mittellinie eine stecknadelgroße Kamera entdeckte, die ihn mit kaltem Blick fixierte. Das Objektiv beständig auf ihn gerichtet, begann ihn
die Kugel in langsam abwärts führenden Spiralen zu umkreisen. »Der AP-Prozessor erstellt ein dreidimensionales Bild, anhand dessen er Sie zukünftig aus jeder Position zweifelsfrei erkennen kann«, erklärte Tumbler. »Tatsächlich?« Savage verspürte wenig Interesse an einem technischen Vortrag. »Ist ja hochinteressant.« Der Cyborg ließ sich nicht irritieren. »Die Bewaffnung besteht aus einem schweren Schockstrahler«, führte er weiter aus. »Dessen Auswirkung haben Sie ja schon zu spüren bekommen. Verlassen Sie also nie den zugewiesen Trakt, oder der AP ist berechtigt, Sie ohne Vorwarnung zu paralysieren.« Die Steuereinheit wanderte zurück in die aufgesetzte Beintasche. Danach drangen sie tiefer in das unterirdische Labyrinth ein. Der frisch programmierte AP positionierte sich dabei selbständig über Savages rechter Schulter und folgte ihm von nun an lautlos überall hin. Ziemlich nervenaufreibend, das Ganze. In diesem Moment wären Savage Fesseln lieber gewesen. »Was war hier eigentlich früher untergebracht?«, fragte er, um die unbehagliche Situation zu überspielen. »Ein Naturkundemuseum mit dem Schwerpunkt Geologie«, erklärte Tumbler bereitwillig. »In dieser Gegend gibt es unzählige Tropfsteinhöhlen.« Naturkundemuseum! Wäre Savage noch bewaffnet gewesen, hätte er den Driller unverzüglich gegen sich selbst gerichtet. Kein Wunder, dass auf unseren militärischen Plänen nichts über diesen Standort verzeichnet ist. Sie erreichten einen Gang, in dem leises Stimmengemurmel hörbar wurde. Es war nicht schwer zu erraten, wer da miteinander sprach, denn Millers markanter Bass hob sich deutlich von den übrigen Tonlagen ab. Die drei Ranger verstummten, als sie Schritte hörten, und
sahen erwartungsvoll auf. Savage mochte seinen Kameraden kaum in die Augen schauen. Wie sollte er nur die feige Kooperation mit dem Gegner erklären? »Gut, das endlich jemand kommt«, ergriff Miller das Wort. »Corporal Jackson geht es schlecht.« Die junge Frau wirkte tatsächlich sehr angegriffen. Beide Hände auf den Bauch gepresst, saß sie auf dem Boden, die Beine ausgestreckt, den Rücken an der Wand. Kalter Schweiß bedeckte ihr Gesicht, und das krause Haar hing angeklatscht am Kopf herunter. Wie ihre beiden Kameraden trug sie nur einen regulären Kampfanzug. Die Rüstung hatte man ihr abgenommen, ebenso alles, was sich als Waffe einsetzen ließ. Neben ihr knieten Miller und Wiliams, die kaum mehr tun konnten, als ihr Mut zuzusprechen. Über den Köpfen des Trios lauerten drei Autarke Protektoren auf verdächtige Bewegungen. Rex Tumbler ergriff sofort die Initiative. »Alle gesunden Gefangenen gehen bitte sofort in die linke hintere Ecke«, ordnete er an. »Wir wollen doch keine Situation schaffen, die von den APs als Angriff auf einen Dienstherren interpretiert werden kann. Oder?« Widerstrebend entfernten sich Miller und Wiliams von der Kranken. Savage trottete mutlos hinter den beiden drein. Sobald sie in der Ecke standen, formierten sich die ihnen zugeordneten Chromkugeln zu einem Sperrgürtel. »Was fehlt Ihnen denn?«, fragte Tumbler indessen. Er schien nicht sonderlich überzeugt von Tiffanys Zustand, denn er hielt einen Schritt Abstand zu ihr und sah von oben auf sie herab. »Haben Sie Fieber?« In seiner sonst so aufmunternden Stimme schwang ein lauernder Unterton, der Savage alarmierte. Natürlich! Viele dieser Cyborgs besaßen künstliche Augen, die Wärmebildaufnahmen ermöglichten! Auf diese Weise sah Tumbler auf Anhieb, ob ihre Temperatur erhöht war oder ganz
normal 37 Grad Celsius betrug. Zum Glück schüttelte Tiff den Kopf. »Alles halb so wild«, keuchte sie. »Das sind nur Magenkrämpfe. Ich habe nämlich...« Mit einem bedrohlichen Glucksen brach sie ab, schlug hastig die Hand vor den Mund und drehte sich zur Seite. Im nächsten Moment spritzte schon ein wässriger Schwall zwischen den Fingern hervor und klatschte zu Boden. Tiffanys Oberkörper schüttelte sich in wilden Krämpfen. Sie übergab sich noch ein zweites Mal, diesmal so heftig, das sie den Halt verlor und vornüber kippte. Der Cyborg reagierte blitzschnell, kniete neben ihr nieder und hielt sie fest. Eine fürsorgliche, menschliche Reaktion. Der zuständige AP handelte dagegen strikt nach Programmierung. Im gleichen Moment, da sich sein Schussfeld verschlechterte, fiel er seitlich ab, bis er, zehn Zentimeter vor Tiffanys Gesicht schwebend, den Abstrahlpol genau zwischen ihre Augen richtete. Tiff machte keine Anstalten, den Cyborg zu überwältigen. Im Gegenteil. Zitternd an Tumbler geklammert, kotzte sie sich die Seele aus dem Leib. Solange, bis nichts mehr im Magen war. Einen erleichterten Seufzer später lehnte sie wieder an der Wand. »Danke, jetzt geht es mir besser.« Tumbler reichte ihr ein sauberes Tuch für die Lippen. »Was ist los?«, fragte er, diesmal ohne Hintergedanken. »Leiden Sie noch unter den Auswirkungen der Paralyse?« »Nein, das ist es nicht.« Tiffany faltete das Tuch zusammen und nutzte die saubere Seite, um sich den Schweiß von der Stirn zu tupfen. »Es ist eher die Aufregung. Und weil...« Peinlich berührt sah sie einen Moment zur Seite, hob dann aber den Kopf, um direkt in die lächerlichen Smiley-Augen zu sehen. »Ich habe seit gestern meine Tage, wissen Sie. Die lösen bei mir öfters Krämpfe aus. Vielleicht... vielleicht können Sie
ja mit einer Ihrer Kolleginnen sprechen. Ob die vielleicht ein paar Tabletten haben, die in diesem Fall helfen.« Tumbler lächelte. »Kein Problem. In medizinischen Angelegenheit sind Sie bei uns in guten Händen.« Danach vergrößerte er den Abstand zwischen ihnen, worauf die APs den Sperrgürtel auflösten und in Richtung Decke aufstiegen. Savage, Miller und Wiliams konnten sich wieder frei bewegen. »Ihre Kameraden wissen bereits Bescheid« , sprach Tumbler den Lieutenant an, »aber ich möchte auch Sie aus erster Hand informieren. Ihr freier Bewegungsspielraum umfasst diesen Raum und die angrenzende Kammer.« Er deutete auf eine dunkle Türöffnung, der Savage bislang keine große Bedeutung beigemessen hatte. »Dort drüben gibt es vier Schlafsäcke, ein chemisches Klo und auch Putzzeug, mit dem sich das Erbrochene aufwischen lässt. Solange Sie nicht versuchen, auf den Gang hinauszutreten, halten sich die APs im Hintergrund. Versuchen Sie allerdings zu fliehen, werden Sie umgehend paralysiert. Die Entscheidung liegt bei Ihnen. Ansonsten: Trinkwasser ist bereits vorhanden, für Essen und notwendige Medikamente wird noch gesorgt. Wenn Sie sich friedlich verhalten, kehren Sie alle in wenigen Tagen unversehrt zu Ihrer Einheit zurück. Das wär‘s von meiner Seite. Auf Wiedersehen.« Die männlichen Ranger verkniffen sich eine Erwiderung des Abschiedsgrußes, nur Tiffany nickte dem davoneilenden Cyborg freundlich nach. »Wie steht’s mit Ihnen, Lieutenant?«, ergriff Miller zuerst das Wort. »Alles in Ordnung?« »Man hat mir fast das Bein gebrochen«, antwortete der Offizier, dessen Oberschenkel immer noch von pulsierenden Schmerzen gemartert wurde. Mit einem Mal besaß er die volle Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Darauf hätte er gern verzichtet, aber früher oder
später kam die Wahrheit ja sowieso ans Tageslicht. Also erzählte er ehrlich, was von ihm verlangt worden war. Und dass er eingewilligt hatte, Washington anzufunken. Beschämt sah er zu Boden, denn er hatte versagt. Dachte er zumindest. Miller rieb sich dagegen die Hände. »Sehr gut! Verstärkung ist also im Anmarsch.« »Ja, haben Sie denn nicht zugehört?«, fragte Savage ärgerlich. »Die WCA weiß doch gar nicht, dass sie hier von einem feindlichen Aufgebot erwartet wird.« »Noch nicht«, korrigierte Miller. »Aber wir bleiben schließlich nicht faul auf unseren Ärschen sitzen, sondern brechen aus und warnen unsere Leute.« »Wie bitte? Das ist doch lächerlich!« Bevor Sergeant Miller darauf antwortete, ging er zur offenen Flurtür und spähte vorsichtig nach draußen. Sein AP schloss sofort zu ihm auf, doch er beging nicht den Fehler, die unsichtbare Linie der Türschwelle zu überschreiten. Nachdem er überzeugt war, dass sie nicht belauscht wurden, nickte er Corporal Jackson zu. Deren leidende Miene verwandelte sich schlagartig in ein schalkhaftes Grinsen, das noch breiter wurde, als sie hinter ihrem Rücken Tumblers Steuereinheit hervorzog. »Die geborene Geheimagentin«, flachste Wiliams lachend. »Stiehlt und kotzt auf Befehl, wie ein Profi!« »Ach, na ja.« Die junge Frau errötete vor Stolz. »Ich bin allergisch gegen unsere Jodtabletten, und die Notfallboxen wurden uns ja nicht abgenommen. Ich musste nur drei von ihnen schlucken und mich solange zusammenreißen, bis jemand kommt. Der Rest ging fast von alleine.« Lieutenant Savage hörte nur mit einem Ohr hin. Sein Interesse galt den APs, die weiter auf Position blieben. »Die Chromdinger sind mit Kameras bestückt«, warnte er. »Was, wenn gerade jemand verfolgt, was hier vor sich geht?«
»Keine Sorge«, wiegelte Miller ab. »Das Felsmassiv schirmt viel zu stark ab, als dass Signale ohne Relais nach draußen gelangen könnten. Außerdem wären das keine autarken Sicherheitseinheiten, wenn sie von einer Zentrale aus gesteuert würden.« Ohne einen weiteren Einwand abzuwarten, sah er zu Tiffany hinüber und ordnete an: »Los Corporal, versuchen Sie Ihr Glück.« Auf diesen Befehl hatte die junge Frau nur gewartet. Mit vor Aufregung zitternden Händen begann sie auf den Steuertasten herumzudrücken. Allerdings ohne Erfolg. Außer dem nervigen Piepen, das immer dann erklang, wenn der Zugriff verweigert wurde, konnte sie dem Apparat nichts entlocken. »Zwecklos«, beharrte Savage auf seiner ablehnenden Haltung. »Zuvor muss die richtige Identität per Daumenabdruck geklärt werden.« Irgendwie wurmte es ihn, dass diese Gegenmaßnahme nicht von ihm, dem kommandierenden Offizier, stammte. Und freute er sich tatsächlich darüber, dass Tiffany Jackson an einem Punkt scheiterte, den er durch genaue Beobachtung vorhergesehen hatte. »Ach was«, begehrte die Kleine auf. »Solche Abfragen können jederzeit umgangen werden, besonders bei so kleinen Geräten.« Ohne diese Theorie weiter zu erklären, griff sie in ihr widerspenstiges Haar, das durch mehreren Klammern im Zaum gehalten wurde. Eine von ihnen besaß genau die richtige Stärke, um als Miniaturschraubendreher zu fungieren. Ihre rosafarbene Zungenspitze zwischen die dunklen Lippen geklemmt, machte sie sich mit Feuereifer daran, das Gehäuse aufzuschrauben. Dass Tiff etwas von dem verstand, was sie da machte, war allgemein bekannt. Nicht nur stehlen und erbrechen auf Kommando, sondern auch noch Elektronikexpertin. Tiffany war wirklich die geborene Agentin.
Die vier APs reagierten nicht im Geringsten auf ihre Aktivitäten. Die Steuereinheit stand wohl nicht auf der Liste der gefährlichen Gegenstände, bei denen einzuschreiten war. Insofern konnten sie völlig gefahrlos unter den Augen ihrer Wachen agieren. »Und was nützt es uns, wenn wir die Kugeln deaktivieren?«, nörgelte Savage weiter. »Ohne Waffen sind wir diesen mit Implantaten vollgestopften Cyborgs doch völlig unterlegen.« Tiffany warf ihm einen Blick zu, als ob er etwas Unappetitliches wäre, das an ihrem Absatz klebte. Wiliams sah gar nicht auf, sondern verfolgte gebannt, wie geschickt Tiff mit ihrem primitiven Werkzeug hantierte. Mit leisem Klacken hob sie bereits die obere Schale vom Gehäuse. »Wie es genau weitergeht, entscheiden wir, sobald wir den Raum verlassen können«, teilte Miller inzwischen in gedämpftem Ton mit. »Bis dahin müssen wir an einem Strang ziehen und dürfen uns nicht gegenseitig behindern. Verstanden?« Noch deutlicher konnte er Savages Befehlsgewalt eigentlich nicht in Frage stellen, ohne selbst in den Ruch der Meuterei zu kommen. Trotzdem schwieg der Lieutenant. Was blieb ihm auch anderes übrig? Während er dem Druck der Rebellen nachgegeben hatte, waren hier drinnen Fluchtpläne geschmiedet worden. Für ihre Ausführung wurde er nicht gebraucht, im Gegenteil. Je weniger er sich einmischte, desto besser. Plötzlich Außenseiter im eigenen Team zu sein, ließ seinen Blick eine Weile hin und her pendelnd. Zwischen Jackson und Wiliams, die an dem Steuergerät schraubten, auf der einen Seite, und Sergeant Miller, der weiter den Flur überwachte, auf der anderen. Savage machte sich auf den Weg in die angrenzende kleine Kammer, um Lappen und Eimer zu holen. Das Erbrochene anderer aufzuwischen, mehr blieb ihm kaum mehr zu tun. Und
angesichts seines Verrats hatte er wohl auch nichts anderes verdient. *** Washington, 23. September 2520 Büro des Präsidenten »Dann sagte sie: Und mir gefällt seine Ungeduld nicht. Mit seine meinte sie natürlich Ihre, Sir.« Garcia nahm Haltung an. »Das ist mir schon klar.« General Arthur Crow legte sein Buch zur Seite. Es war Friedrich Nietzsches Götzendämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert. Seit er den Bunker leitete – er nannte es stets den Bunker leiten, nie über den Bunker herrschen – las er oft darin. »Und was, Lieutenant«, fuhr er fort, »sollte ich Ihrer Meinung nach in diesem Fall unternehmen?« »Ersetzen Sie Doktor Carter.« In den ersten Wochen hatte es Garcia nicht gewagt, seine Meinung zu äußern. Erst bei dem Angriff von Takeos Cyborgs hatte er gezeigt, was wirklich in ihm steckte. Crow schätzte ihn, auch wenn er wusste, dass Garcia dazu neigte, die Macht, die er als sein Adjutant besaß, zu missbrauchen. »Doktor Carter ersetzen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich kenne niemanden, der sie ersetzen könnte. Setzen Sie sie nicht so unter Druck. Dann erhalten Sie auch keine patzigen Antworten,« »Sir.« Garcias Blick wich Crows aus und richtete sich auf die Wand. »Wenn ich Ihre Anweisungen weitergebe und beleidigt werde, ist das für mich so, als würden Sie beleidigt, Sir. Und man sollte Sie nicht beleidigen. Das war meine einzige Sorge.« Crow unterdrückte ein Lächeln, als er Garcias Manipulationsversuch bemerkte. Der junge Lieutenant hatte sich wirklich weiterentwickelt.
»Lassen Sie die Beleidigungen meine Sorge sein«, sagte er. »Es gibt wichtigere Dinge.« Er betrachtete den Monitor auf seinem Schreibtisch. »Ich habe den aktuellen Bericht der Ranger vorliegen. Sie leisten hervorragende Arbeit, genau wie ich angenommen hatte. Sie unterwandern die örtliche Bevölkerung, sie erkunden, sie sabotieren, wenn es sein muss.« »Sir, wenn Sie möchten, werde ich mich freiwillig...« »Seien Sie nicht albern, Garcia.« Garcia salutierte. »Nein, Sir.« Crow kehrte zurück zu seinem Bericht. Den Rangern war es tatsächlich gelungen, ein Depot der Running Men aufzuspüren. Das konnte ein empfindlicher Schlag für die ohnehin bereits stark dezimierte und versprengte Rebellengruppe werden. »Weniger erfreulich«, sagte er nach einem Blick auf die nächste Seite des Berichts, »ist allerdings die Tatsache, dass General Fudoh seinen Brückenkopf in El’ay ausgeweitet hat und in Kontakt mit den so genannten Unsterblichen in Amarillo getreten ist. Das könnte sich zu einem potentiellen Unruheherd ausweiten.« »Vielleicht sollten wir mehr Ranger einsetzen, Sir.« Garcias Vorschlag war zwar keine strategische Meisterleistung, entsprach aber Crows eigenen Gedanken. »Genau so sehe ich das auch, Lieutenant. Ohne eine vernünftige Defensive kann es auch keine Offensive geben.« Doch genau diese Offensive war es, die ihm Sorgen bereitete. Fudoh war dem Weltrat zahlenmäßig weit voraus, technologisch jedoch unterlegen. Eine Allianz mit den Cyborgs in Amarillo würde vielleicht neue Verhältnisse schaffen. Das Summen der Gegensprechanlage riss ihn aus seinen Gedanken. Garcia berührte den Schalter auf dem Tisch und sagte: »General Crows Büro.« »Hier ist Doktor Carter. Bitte richten Sie dem General aus, der er bei nächster Gelegenheit zu uns ins Labor kommen
möchte. Es ist dringend.« »Also gibt es doch bereits Ergebnisse?« Garcia lächelte, als wäre das sein Verdienst. Die Stimme am anderen Ende zögerte. »Es gibt Ergebnisse, aber vielleicht nicht die, die der General erwartet.« Crow hob die Augenbrauen. *** Die erlösende Nachricht ließ nur bis zur nächsten ISSUmkreisung auf sich warten. »Morgen früh trifft ein Spezialistenteam bei Ihnen ein«, teilte man Honeybutt mit, die am Funkgerät die Rolle von Corporal Jackson eingenommen hatte. »Unter dessen Mitgliedern befindet sich auch der mutmaßliche Programmierer der Sicherheitsanlage.« Sie holten Mr. Hacker also tatsächlich aus der Zelle und gaben ihn freiwillig in ihre Hände. Die Rebellin mit der Stupsnase und dem zu drahtigen Zöpfen geflochtenen Haar unterdrückte einen Freudenschrei, um sich nicht zu verraten. Sie wollte das Gespräch schon beenden, als noch eine Warnung folgte. »Hier liegt übrigens noch eine Meldung bezüglich der Lizaads vor, Patrouille fünf«, drang es mit sonorer Stimme aus dem Lautsprecher. »Die Auswertung einiger Berichte hat ergeben, dass es ausgerechnet Krieger dieses Stammes waren, die unsere Ranger in Altoona mit Brandbeschleunigern angegriffen haben. Dieser Stamm wird daher ab sofort als gefährlich klassifiziert und ist für Befriedungsmaßnahmen vorgesehen.« Befriedung stand in diesem Fall für massive Vergeltung, trotzdem bedankte sich Honeybutt freundlich bei dem Funker, der ihren Einsatz betreute. Allerdings nicht ohne darauf hinzuweisen, dass sich die Lizaads ihnen gegenüber sehr
kooperativ gezeigt hatten. Nachdem der Sender endlich ausgeschaltet war, sprang sie jauchzend aus dem Stuhl und eilte auf Aiko zu, der gemeinsam mit Dayna DeLano dem Gespräch die ganze Zeit über interessiert zugehört hatte. »Es klappt!«, rief sie, und warf sich dem Freund stürmisch an den Hals. »Morgen Abend um diese Zeit haben wir alles hinter uns.« Ein Lächeln huschte über seine Lippen, ohne die braunen Augen zu erreichen. Trotzdem schloss Aiko sie in die Arme und gab ihr einen langen Kuss. Für einen Augenblick schien alles wie früher, doch dann spürte sie, dass er ihre Gefühle nicht wirklich teilte. »Das Unternehmen ist erst abgeschlossen, wenn wir alle im Großraumgleiter sitzen und Richtung Amarillo fliegen«, ließ er die emotionale Fassade bröckeln. Darunter trat ein nüchtern denkender, manchmal etwas spröde wirkender Aiko hervor, der sein Wesen in letzter Zeit immer stärker dominierte. »Bis morgen kann noch viel schief gehen. Es gibt eine ganze Reihe von Unbekannten, denen wir individuell begegnen...« »Das weiß ich doch alles, Sweety.« Sie unterbrach ihn, indem sie seinen Wangen zwischen Daumen und Zeigefinger nahm und mit kräftigen Bewegungen vor und zurück schlackerte. »Kannst du dich nicht einfach schon über die Teilerfolge freuen, die wir errungen haben? Nur so, um heute Abend mit einem Lächeln einzuschlafen?« Früher hätte er sie für so eine kindische Attacke durchgekitzelt, jetzt behielt er sie nur weiter im Arm und ließ alles widerstandslos über sich ergehen. »Nein«, sagte er schließlich durch die Grimasse hindurch, die sie ihm schnitt. »Ich kann erst entspannen, wenn es vorüber ist. Alles andere wäre leichtsinnig.« Seufzend ließ sie von ihm ab, denn er war offensichtlich nicht gewillt, die Stimmung aufzulockern. Außerdem wurde
die Einstiegsluke von einer Gestalt verdunkelt, bei der es sich eindeutig nicht um Rex Tumbler handelte. Honeybutt erkannte erst, dass es einer der Lizaads war, als sie sich aus Aikos Armen löste. »Ich hoffe, es läuft alles nach Plan«, sagte Turnhout mit dem ihm eigenen, schweren Barbarenakzent. »Unser Schamane ist in großer Sorge, dass die Abmachungen auch wirklich eingehalten werden.« »Nur keine Sorge«, wehrte Aiko ab. »Die Stahlmenschen sitzen in sicherem Gewahrsam. Trotzdem solltet ihr euch weiter im Wald versteckt halten. Wenn man euch zusammen mit uns sieht, könnte es euch nach unserem Abflug schlecht ergehen.« Turnhout stieß ein lautes Schnauben aus, bevor er seine Verachtung in Worte hüllte. »Sollen die Ranger nur kommen! Die Macht der Lizaads ist groß, das haben wir ihnen schon in Aoona gezeigt.« »Und habt dabei zwei Krieger verloren«, erinnerte Aiko, um die Wahrheit ins rechte Licht zu rücken. »War das den Aufstand wert?« Er legte eine kurze Pause ein, um die Frage wirken zu lassen, fuhr aber rasch genug fort, um nicht das Wort an Turnhout zu verlieren. »Glaub mir, um gegen die überlegene Technik der Ranger zu bestehen, müssen wir listig und geschickt vorgehen. So haben wir es auch mit eurem Schamanen besprochen.« Der Lizaad nickte nur, ohne einen Deut von seiner Meinung abzurücken. Aiko ging zu ihm nach draußen, um beschwichtigend auf ihn einzuwirken. Honeybutt und Dayna blieben im Air-MAT zurück. »Früher hat er alles so locker gesehen«, sagte Honeybutt, sobald die beiden Männer außer Hörweite waren. »Jetzt ist er immer so ernst, ich verstehe überhaupt nicht warum.« Sie musste Dayna nicht erklären, von wem sie sprach. Die in Ungnade gefallene Weltratagentin wusste auch so, dass es um
Aiko ging. Die beiden Frauen verbrachten seit Wochen viel Zeit miteinander. Ihre Außenseiterstellung in Amarillo schuf eine natürliche Verbundenheit, die mittlerweile zu einem festen Band geworden war. Anfangs hatten sie sich vor allem darüber ausgetauscht, wie fremd sie sich unter den Cyborgs, RoCops und Androiden fühlten. Mit der Zeit waren die Gespräche aber auch persönlicher geworden. So wusste Honeybutt inzwischen von der kurzen aber heftigen Affäre, die es zwischen Dayna und Matthew Drax gegeben hatte. Es war schon merkwürdig. Noch vor wenigen Jahren hatten sie auf verschiedenen Seiten gestanden. Letztlich war es sogar Mr. Blacks Plan, Major DeLano mittels Posthypnose zur unfreiwilligen Running Men Agenten zu machen, der ihr zuvor so sicheres Leben zerstört hatte. Trotzdem fühlten sich die beiden einander nah, als ob sie gemeinsam aufgewachsen wären. »Das Leben in dieser dunklen Zeit geht nicht spurlos an den Menschen vorüber«, antwortete Dayna inzwischen. »Weder an Aiko, noch an dir oder mir. Wir alle werden ernster, weil wir nicht vergessen können, was wir sehen und erleben.« »Ja, sicher.« Honeybutt rieb fröstelnd über ihre Oberarme, dabei war es in der engen Stahlkabine stickig und warm. »Ich weiß, dass jeder Tag unser letzter sein kann, aber müssen wir deshalb alle Trübsal blasen? Ist es nicht viel besser, die guten Momente zu genießen, solange sie noch da sind? Schlimm genug, wenn morgen alles schief läuft, aber dann habe ich doch wenigstens heute noch gute Laune gehabt.« Daynas Lippen spalteten sich zu einem scheuen Lächeln. »Keine schlechte Philosophie«, lobte sie. »Ich bin sicher, Aiko wird sie früher oder später mit dir teilen, und sei es auch nur, weil es die Logik gebietet.« Honeybutt erwiderte das Lächeln, denn die Prognose ihrer Freundin ließ ihre gute Laune zurückkehren. Zufrieden griff sie zu einer Feldflasche, die ein prickelndes Erfrischungsgetränk
aus den Beständen des Weltrats enthielt. Sie trank davon und reichte es an Dayna weiter, die dankend annahm. »Ich wollte, ich wäre ein wenig mehr wie du«, sagte sie, bevor sie selbst ein wenig der schwarzen Flüssigkeit die Kehle hinunter rinnen ließ. »Dann würde ich vielleicht nicht mehr alles so schwer nehmen.« »Aber das tust du doch schon lange nicht mehr«, protestierte Honeybutt und hatte Recht damit. Daynas Schwermut hatte sich in den letzten Monaten nahezu verflüchtigt, und darüber freuten sich beide Frauen aus ganzem Herzen. *** Die abtauchende Sonne verwandelte den Horizont in ein blutrotes Meer, dessen Farbton auf unheimliche Weise mit der Körperzeichnung vieler Lizaads korrespondierte. Gut zwei Dutzend dieser mutierten Eidechsen, denen der Stamm der Baumhausmenschen seinen Namen verdankte, hockten im Gras und genossen die letzten warmen Strahlen des Tages. Große, kleine, schlanke und mit dornigen Auswüchsen versehene, sogar einige mit einem aufgestellten Lederkragen waren dabei. Eines war ihnen aber allen gemeinsam: Sie lebten in enger Symbiose zu Turnhout und Rounse, die mitten unter ihnen standen, als sei solche Gesellschaft das Normalste auf der Welt. Ihre naturverbundene Lebensweise äußerte sich auch in den blaugrünen Käfern, die sich an Rounses Laserverbrennung labten. »Wir verfügen über ein Regenerationsgel, dass solche Wunden wesentlich schneller heilt«, bot Aiko an, doch der Barbar lehnte dankend ab. »Die Doktorkäfer haben schon ganz andere Narben verschwinden lassen«, sagte er, sanft über die metallisch glänzenden Insektenkörper streichend. »Ich weiß, was ich an
ihnen habe.« Daraufhin erhob sich ein rotschwarz gestreifter Gecko, trottete auf Rounse zu und rieb seinen glatten Hals an dem wildledernen Hosenbein. »Der Streit hat sich wohl an den Lizaads entzündet?«, fragte Aiko aufs Geradewohl. »Die Ranger wollten uns einige von ihnen abkaufen, um sie am Spieß zu braten«, bestätigte Turnhout. Alleine die Erinnerung an diesen Frevel reichte, um seine Augen mit hartem Glanz zu überziehen. »Dabei weiß jeder in diesen Wäldern, dass man nicht so über unsere Wappentiere sprechen darf.« Aiko hatte gelernt, den Glauben fremder Völker niemals in Frage zu stellen. Deshalb nickte er, um Verständnis für die harte Reaktion zu zeigen, obwohl er es mehr als übertrieben fand, einen Menschen zu verbrennen, nur weil er Nahrungsmittel kaufen wollte. Andererseits wusste er nicht, wie höflich sich die Ranger erkundigt hatten. Im Großen und Ganzen waren sie ja nicht gerade für diplomatisches Auftreten bekannt. »Unser Unternehmen wird dem Weltrat schweren Schaden zufügen«, versicherte Aiko, um die Stimmung zu heben. »Glaubt mir, eure Unterstützung ist die beste Rache, die ihr euch wünschen könnt.« »Wir würden lieber Tote sehen«, bekannte Rounse freimütig. »Aber die würden sofort eine folgenschwere Strafaktion nach sich ziehen«, warnte Aiko. »Ihr schwebt ohnehin schon in großer Gefahr.« Turnhout winkte ab, zum Zeichen, dass er solcher Ratschläge müde war. »Schon gut, wir lassen dir und deinen Freunden freie Hand, so wie es mit unseren Schamanen abgesprochen ist. Aber wir bleiben in der Nähe und beobachten alles.«
Aiko verspürte einen dumpfen Schmerz angesichts solcher Widerborstigkeit. Das leise Pochen im Hinterkopf ignorierend, bemühte er sich die Fassung zu wahren, bevor er die Barbaren darum bat, sich zumindest von dem Stollensystem fernzuhalten. Die beiden Lizaads lächelten hintergründig, ohne sich eine Zusicherungen abringen zu lassen. »Keine Sorge, uns sieht man nur, wenn wir es selber wollen«, versicherte Turnhout zum Abschied, dann wandten sie sich schon ab und verschwanden mitsamt ihres wandelnden Zoos im angrenzenden Dickicht. Als erfahrene Waldläufer brauchten sie nur wenige Meter, um vollständig mit der Natur zu verschmelzen. Aiko verfolgte sie noch eine Weile im Wärmebildmodus, aber dann verlor er sie endgültig aus den Augen. Die Lizaads verschwanden in der gleichen Richtung, in der sie den Großraumgleiter unter Tonnen von grünen Ästen begraben hatten. Dieses Schiff war aber sicher nicht ihr Ziel. Vielmehr stand zu vermuten, dass die Lizaads nur einen Bogen schlugen, um doch noch, im Schutze der anbrechenden Nacht, in den Stollen zu schlüpfen. »Keine angenehme Gesellschaft, was?«, erklang es in Aikos Rücken. Seufzend drehte er sich zu Tumbler um, der auf der Plattform des Air-MATs stand und an den RoCops herumschraubte. Beide Roboter verfügten nun wieder über eine kybernetische Steuerung, die weitgehend autonomes Handeln ermöglichte. »Man kann sich seine Verbündeten nicht immer aussuchen«, gestand Aiko schulterzuckend ein. »So läuft es nun mal, wenn du gezwungen bist, mit Leuten wie Crow um die Macht zu pokern. Wenn wir nicht genauso link und schmutzig auftrumpfen wie er, haben wir das Spiel schon so gut wie verloren.« Tumbler warf die Wartungsklappe zu und sah in die Wildnis
hinaus. Das rote Spektrum der untergehenden Sonne verwandelte seine lächelnden Pupillen in blutüberströmte Monster. »Ich wünsche mir oft die Zeit zurück, in der sich unsere Enklave noch aus allem herausgehalten hat«, sagte er, an die Bäume gerichtet. Aiko fühlte sich trotzdem angesprochen. »Diese Zeit ist endgültig vorüber«, antwortete er. »Ob es uns gefällt oder nicht, Crow hat uns schon seit Jahren auf der Rechnung. Denk nur an den Computervirus, dem unsere Androidenfraktion zum Opfer gefallen ist. Nein, es hat keinen Zweck, sich vor ihm oder den Daa’muren zu verstecken. Wenn wir uns diesen Kerlen nicht rechtzeitig stellen, werden wir früher oder später von ihnen überrollt. Es ist nicht schön, aber so verlaufen sie nun mal, die Wege der Macht. Entweder du bist stark genug, dich zu wehren, oder du wirst niedergemacht.« Tumbler starrte die ganze Zeit weiter auf die Lichtung hinaus, ohne zu zeigen, ob er diese Ansichten teilte oder nicht. Erst als Aiko fragte, ob der Stollen gegen unbefugtes Betreten gesichert sei, kam wieder Leben in ihn. »Hat Honeybutt schon alles erledigt«, versicherte er. »Fünf APs sorgen dafür, das nur wir Vier ein- und ausgehen können. Jedes andere Lebewesen, sofern es größer als fünfzehn Zentimeter ist, wird paralysiert. Also auch unsere MiniGodzillas.« Smiley grinste, während er seine profunden Kenntnisse der japanischen Filmgeschichte einfließen ließ, denn er wusste, dass Aiko diese Leidenschaft mit ihm teilte. »Der Air-MAT wird heute Nacht ebenfalls durch APs geschützt«, fuhr er nach einem Augenzwinkern weiter fort. »Schließlich brauchen wir alle einen ruhigen Schlaf, damit morgen nichts schief geht.«
*** Washington, 23. September 2520 Wissenschaftslabor des Weltratbunkers Schweigend betrachtete er die Bilder auf dem Monitor. Die vier Wissenschaftler neben ihm blickten betreten zu Boden, Garcia richtete den Blick zur Decke. »Schalten Sie das ab«, sagte Crow. Er hatte die Zähne so fest zusammengepresst, dass sein Kiefer schmerzte. Ein junger Wissenschaftler, dessen Namen er nicht kannte, drückte auf einen Knopf und der Bildschirm wurde schwarz. Crow sah Margaret Carter an. »Was wissen Sie über diese Aufnahmen?« Sie lehnte sich an einen Schreibtisch und stützte die Hände auf die Kanten. »Wir wissen, dass es keine Aufnahmen im eigentlichen Sinne sind. Das wurde uns beim wiederholten... Studium dieser Szene klar. Es handelt sich um die Gedankeninhalte Ihrer Tochter.« Sie machte eine Pause. »Laienhaft gesprochen muss man davon ausgehen, dass Takeo ihr Gedächtnis angezapft hat.« Der junge Wissenschaftler nickte. »Wir verstehen noch nicht ganz, wie wir die Aufnahmen vor uns zurückspulen können, aber die Datenmenge weist darauf hin, dass sich Jahre, wahrscheinlich sogar Jahrzehnte ihrer Erinnerung auf diesem Speicherkristall befinden.« Crow wandte sich ab. Seine Tochter war seit mehr als einem Jahr vermisst, wahrscheinlich in der Gewalt der Daa’muren, wenn Matthew Drax und dieser Fischkopf Quart’ol nicht gelogen hatten. Vielleicht sogar tot inzwischen. Es wühlte ihn auf, an sie zu denken. »Aber wir haben noch eine weitere Überraschung, Sir«, mischte sich jetzt auch Toby Carter in das Gespräch ein. »Nicht nur die Gedächtnisinhalte Ihrer Tochter wurden eingescannt, sondern auch Ihre, die von Commander Drax
und...« »Was?« Crow fuhr herum und starrte ihn an. »Sie haben Drax’ Gedächtnis?« »Nein, Sir, nicht wirklich.« Es war der junge Wissenschaftler, der antwortete. Der ständige Wechsel irritierte Crow. »Also haben Sie es oder nicht?«, fragte er. »Wir haben den Speicherkristall, auf dem Drax’ Gedächtnis gespeichert wurde«, sagte der Wissenschaftler. »Leider ist er so stark beschädigt, dass wir außer dem Namen der Datei nichts rekonstruieren konnten.« »Sind Sie sicher?« »Absolut sicher, Sir«, sagte Margaret Carter. »Die Ihren sind lesbar...« Sie schien seinen Blick zu bemerken, denn sie setzte rasch nach: »Was wir nur wegen des intakten Speichers wissen. Wir haben uns die Aufnahmen selbstverständlich nicht angesehen.« Crow ignorierte ihre Beteuerungen. Er dachte daran, wie er Lynne zu Takeo gebracht hatte, um ihr einen künstlichen Arm zu verschaffen. Ihren eigenen hatte sie im Kampf gegen die Running Men verloren. Im Bunker wusste niemand etwas von dieser Reise. Damals hatte sich Drax ebenfalls in der Enklave aufgehalten. Crow nahm an, dass Takeo auch sein Gedächtnis heimlich kopiert hatte. Er streckte die Hand aus. »Gebe Sie mir meinen und Lynnes Kristall. Ich werde sie aus Gründen der Staatssicherheit vernichten.« »Ja, Sir.« Der junge Wissenschaftler zog zwei Kristalle aus dem halb zerstörten Computer und reichte sie Crow. Sie fühlten sich warm an. »Glauben Sie, dass sich das Gerät so weit reparieren lässt, dass wir es einsetzen können?« Margaret Carter hob die Schultern. »Wir werden es versuchen, Sir.«
»Danke.« Crow drehte sich um, aber die Stimme des jungen Wissenschaftlers hielt ihn auf. »Sir, wir haben einen weiteren Speicherkristall mit einem kompletten Gedächtnis retten können. Das wollte Toby Ihnen eben noch sagen.« »Tatsächlich? Wem gehört das Gedächtnis?« Der Wissenschaftler nannte ihm einen Namen. Crow lächelte. *** »Und? Wird das noch was?« Die Zungenspitze weiter in den Mundwinkel geklemmt, sah Tiff in die Höhe. »Im Prinzip lässt sich das schon überbrücken«, erklärte sie. »Aber dazu brauchte ich einen hochwertigen Leiter. Hast du zufällig einen parat?« Wiliams antwortete mit einem unwilligen Grunzen, denn es war klar, das er nichts dergleichen besaß. Ratlosigkeit breitete sich unter den Rangern aus. Nur Lieutenant Savage lächelte. »Kein Problem, davon habe ich gleich ein paar Dutzend Meter«, sagte er. Noch ehe jemand Zweifel anmelden konnte, griff er an den Oberschenkel seines RCF-Anzugs. Genau an die Stelle, an der Aiko Tsuyoshis Umklammerung eine seiner goldschimmernden Leitungsschienen zerbrochen hatte. Savages Fingerspitzen fuhren unter den losen Metallbesatz und trennten ihn mit einem schnellen Ruck ganz vom Stoff ab. Geschickt fingerte er eine der darunter liegenden Leitungen hervor und kappte sie zweimal mit den Zähnen. Danach streckte er Jackson ein gut zehn Zentimeter langes Ende entgegen, von dem mehrere Schwachstromsynapsen abzweigten, kleine Metallklammern, die normalerweise die Bewegungsimpulse für das Interface übertrugen. »Gute Idee, Lieutenant«, lobte Tiff, »das könnte
funktionieren..« Savage lächelte verschämt, denn die Anerkennung dieses halben Kindes bedeutete ihm mehr, als er eigentlich zugeben durfte. Zum ersten Mal seit dem erpressten Funkspruch beschlich ihn das Gefühl, seine Position als kommandierender Offizier zurückerobern zu können. Ja, mit dem Selbstmitleid war es nun vorbei! Ab sofort übernahm er wieder das Ruder und führte diese Truppe zum Sieg. Nur so konnte er die Ehre zurückgewinnen und seinen Rang erhalten. Corporal Jackson entfernte mittlerweile die Isolation zweier Kabel, die unterhalb des Daumenscanners hervor ragten, und verband sie mit den Metallklammern des RCF-Strangs. Ein kurzes Summen erklang, dann begannen die Befehlstasten zu leuchten. Mit einem zufriedenen Grinsen setzte sie die Halbschale zurück auf die Steuerung und ließ beides einrasten. »Alles klar, jetzt kann’s losgehen!« Die anderen konnten es kaum glauben, obwohl Tiff bereits munter auf dem Gerät herumzudrücken begann. Die Autarken Protektoren schwebten weiter bewegungslos unter der Decke. Ihre begrenzte Programmierung war schlichtweg nicht in der Lage, Tiffs Aktivitäten als Ausbruchsversuch zu werten. Keiner der Cyborgs hatte vorausgesehen, dass sie eine Steuerung in die Hand bekäme. »Raumüberwachung – deaktiviert«, sprach Tiff laut mit, was sie gerade machte. »Häftlingsprofile – löschen. So, das müsste es sein.« Alle sahen in die Höhe, doch die APs schwebten unverändert an ihren Plätzen. Ob sie wirklich harmlos geworden waren, ließ sich nicht erkennen. »Ich trete einfach durch die Tür«, schlug Savage vor. »Wir werden ja sehen, was passiert.« Seine Stimme klang ruhig und fest, er verspürte auch keinerlei Furcht. Mit diesem Vorschlag konnte er nur gewinnen, selbst wenn er paralysiert wurde. Die anderen würden dann Respekt empfinden, weil er für sie zu
Boden ging, das sah er ihren Gesichtern an. »Schon gut, nicht nötig«, machte ihm Tiff einen Strich durch die Rechnung. »Ich denke, ich weiß, wie ich auf Fernsteuerung umstellen kann.« Diesmal tippte sie solange auf den winzigen Befehlstasten herum, bis die Chromkugeln in Bewegung gerieten. Lautlos glitten sie zur Mitte des Raumes, formierten sich zu einer Linie und sanken synchron zu Boden. »Gute Arbeit«, lobte Sergeant Miller. Auch die anderen geizten nicht mit anerkennenden Bemerkungen. Tiffany Jackson wand sich vor Verlegenheit. »Ach was, das ist doch nichts Besonderes.« »Wie bitte?« Miller sprang in die Höhe. »Nichts Besonderes? Das soll wohl ein Witz sein!« Mit weit ausgreifenden Schritten eilte er in den Flur, ohne von Paralysestrahlen niedergestreckt zu werden. Tatendurstig kehrte er zurück. »Jetzt haben wir endlich genügend Bewegungsspielraum, um den Rebellen in den Arsch zu treten.« »Lassen sich die APs auch als Waffen einsetzen?«, fragte Savage, bevor ihm wieder die Befehlsgewalt aus der Hand glitt. Tiff nickte. »Ja, das müsste gehen.« Sie widmete sich erneut der Steuerung, und das mit Erfolg. Nur wenig später stiegen zwei Kugeln langsam aufwärts. Auf Augenhöhe hielten sie an. Die rechte begann sich zu drehen, fuhr ihren Abstrahlpol aus und feuerte auf das linke Gegenstück. Statt einzuschlagen, begann sich der Strahl jedoch zu verästeln und umtanzte in gezackten Mustern die glänzende Wölbung, ohne sie im Geringsten zu beeinflussen. Miller, der nicht allzu weit entfernt stand, wurde von einem abdriftenden Energiefaden am Arm getroffen. Fluchend hüpfte er zurück und begann ihn zu schütteln. »Was soll der Unsinn?«, herrschte er Tiffany Jackson an.
»Unterdrücken Sie gefälligst Ihren Spieltrieb, Corporal, und führen Sie nur aus, was Ihnen befohlen wird.« Tiff zuckte zusammen, doch Savage nahm sie in Schutz. »Nur die Ruhe«, verlangte er von Miller. »Corporal Jackson hat lediglich überprüft, ob sich die APs gegeneinander einsetzen lassen. Der Test verlief zwar negativ, aber ich bin sicher, wir können die verdammten Dinger trotzdem als Waffe gegen die Rebellen einsetzen, oder?« Tiff nickte hastig, um seine Worte zu bestätigen. »Damit sind wir also bestens für einen Vorstoß gerüstet«, fuhr er fort. »Also, los geht’s. Jackson, Sie steuern die APs.« Damit befahl er nur, was sowieso anstand, doch indem er es befahl, etablierte er seinen Führungsanspruch. Miller, der sich schon selbst in dieser Rolle gesehen hatte, blickte entsprechend verdrossen, sagte aber kein Wort. Schweigend schlichen sie los. Tiffany, die er vor dem Rüffel des Sergeanten bewahrt hatte, war von nun an bestrebt, die APs ganz nach seinem Willen zu lenken. In den ersten Minuten kamen sie zwar nur langsam voran, weil sie erst mit der Steuerung zurecht kommen musste, doch die Bedienung war insgesamt so leicht, dass Tiff rasch damit vertraut wurde. Die APs koordinierten weiter selbständig alle Flugmanöver. Es reichte völlig aus, ihnen die Richtung vorzugeben. In dem grau verputzten Labyrinth hatte sich seit dem Nachmittag nichts verändert. Alles wirkte weiterhin wie ausgestorben. Sie waren alleine auf weiter Flur, nur die grellen Neonlampen begleiteten sie auf all ihren Wegen. Erste Lebenszeichen gab es erst, als sie sich dem Eingang näherten. Dort versperrten vier APs den Weg, die ihre Abstrahlpole ausfuhren, sobald sie näher kamen. »Zurück«, befahl Savage. »Die sind darauf programmiert, niemanden durchzulassen. Egal in welche Richtung.« Zum Glück entspannte sich die Lage wieder, als sie den
Abstand vergrößerten. Tiff versuchte die neuen APs mittels ihrer erbeuteten Fernsteuerung zu deaktivieren, doch das klappte nicht. Von draußen drang nächtliches Insektenzirpen herein, während sie das Menü ein ums andere Mal durchging. »Nichts zu machen.« Entmutigt gab sie schließlich auf. »Diese APs sind auf eine andere persönliche Steuerung geeicht.« »Ach was, gib mal her!« Sergeant Miller riss ihr das Gerät grob aus der Hand, streckte aber fünf Minuten später ebenfalls die Waffen. Savage kostete in Ruhe die Niederlage des Rivalen aus, bevor er die Situation wieder an sich zog. »Wenn es hier nicht weiter geht, sehen wir uns eben nach einem anderen Ausgang um. Los, keine Müdigkeit vorschützen. Wir haben noch viel vor uns.« *** Leise murrend kamen die anderen dem Befehl nach. Den größten Teil des ehemaligen Museums hatten sie ja schon erkundet, deshalb dauerte es nicht lange, bis sie vor der einzigen Möglichkeit standen, in neue Bereiche vorzustoßen: der großen runden Panzertür. Als Savage sie an der Vorderseite berührte, stellte er allerdings erstaunt fest, dass dem Material die typisch stählerne Kälte fehlte. Das konnte nur eins bedeuten. »Das Ding ist aus Plysterox«, gab er seine Beobachtung preis. Er griff nach dem Drehkreuz, das die Riegel bewegte. Zu seiner Überraschung konnte er problemlos daran kurbeln. Falls es tatsächlich eine irgendwie geartete Sicherung gab, so war sie nicht aktiviert. Vermutlich, weil sowieso alles von den APs gesichert wurde. Alleine konnte er die schwere Tür nicht öffnen, doch gemeinsam schafften sie es. Plysterox besaß zwar die Stabilität
von Stahl, war jedoch wesentlich leichter. Ein kühler Luftzug schlug ihnen entgegen, als das meterdicke Material zur Seite schwang. Hinter dem Tor ging es tiefer in den Berg hinein, so viel stand fest. Genaues ließ sich nicht erkennen, dazu war es zu Dunkel. »Augenblick«, meldete sich Tiffany Jackson zu Wort. »Vorhin habe ich hier doch etwas von Scheinwerfern gelesen.« Ihre Erinnerung trog nicht. Einige Menüschritte später öffneten sich in den APs kleine Klappen, hinter denen leistungsstarke Lampen zum Vorschein kam. Ihre stark gebündelten Strahlen schnitten tief in die Dunkelheit und verbreiterten sich zu scharf umrissenen Spots, die handtellergroße Bereiche der Höhle ausleuchteten. Einmal zum Spähen voraus geschickt, schwebten sie paarweise durch die Tür und formierten sich gleich darauf zu den vier Eckpunkten eines Suchquadrats, das von einem Meer aus ständig kreuzenden Lichtkegeln perfekt ausgeleuchtet wurde. Den Abmessungen nach zu urteilen handelte es sich um eine natürlich entstandene Höhle von ungeheurem Ausmaß. Zögernd traten sie ein und sahen sich um. Schroffer, von Tropfwasser zerfurchter Stein umgab sie. Die Höhe der Wölbung, die sich über ihnen erstreckte, war mit den Scheinwerfern nicht auszumachen, doch dem Echo nach zu urteilen musste es verdammt hoch sein. »Vorsicht«, warnte plötzlich Wiliams. »Hier links geht es steil bergab.« Seine Beobachtung erwies sich als richtig. Der Weg wurde ihnen auf dieser Seite nach wenigen Schritten durch eine unabsehbare Tiefe abgeschnitten. Rechts blieb das Niveau erhalten, allerdings stießen sie dort schon bald auf Wände oder steil aufragende Formationen, die, angesichts der schlechten Lichtverhältnisse, keiner von ihnen erklimmen konnte. Anfangs glaubten sie noch, alleine zu sein. Doch schon nach
kurzer Zeit entdeckten sie mehrere gelbe Augenpaare mit geschlitzten Pupillen. Bei der ersten Begegnung fuhr ihnen noch ein tiefer Schrecken durch alle Glieder, doch die Lichtkegel der APs entlarvten schnell, dass es sich um Lizaads handelte, die mit ihren klebrigen Pfoten selbst senkrechte Wände erklimmen konnten. Neugierig beäugten sie die ungebetene Besucher, die in ihrem Revier herum trampelten, machten aber keine Anstalten, sich aggressiv zu verhalten. »Mist, was soll das hier?«, fluchte Sergeant Miller. »Hier geht es ja nirgendwo heraus.« »Doch«, widersprach ihm Savage. »Spürst du nicht den Luftzug? Es muss irgendwo eine zweite Öffnung geben. Bei Tag könnten wir sie vielleicht sogar sehen, aber jetzt, wo es draußen dunkel ist...« »Tja, leider fehlt uns die Muße, den Sonnenaufgang in Ruhe abzuwarten«, entgegnete der Sergeant säuerlich. Savage wollte bereits mit einer schnippischen Antwort kontern, als er im Lichtkegel der APs etwas Grünes aufblitzen sah. Sein Interesse war sofort geweckt, besonders als sich die Reflektion an mehreren anderen Stellen wiederholte. Sofort beorderte er Corporal Jackson zu sich, damit sie diesen Abschnitt genauer ausleuchtete. Als die APs sich auf die besagte Stelle konzentrierten, schälten sich die groben Umrisse eines überdimensionalen Lizaads aus dem Meer der Finsternis. Es ließ sich nicht genau sagen, ob diese Gestalt nur zufällig entstanden oder von Menschenhand geschaffen worden war. Vermutlich traf ein wenig von beidem zu. Auf jeden Fall besaß der Tiergötze zwei aus grünen Kristallsplittern zusammengesetzte Augen. Zu seinen Füßen fanden sich noch einige größere Bruchstücke des oktagalen Gefäßes, das beim Absturz des Kometen »Christopher-Floyd«
hierher geschleudert oder zumindest in der Nähe niedergegangen sein musste. Später hatten die Barbaren darin wohl ein Geschenk der Götter gesehen und es deshalb mit einem – für ihren Geschmack – würdigen Kultplatz bedacht. Dafür sprach auch der große Aschenhaufen, der sich zu Füßen der Figur ausbreitete. Und mitten zwischen den schwarzen Flocken lag der verkohlte Überrest eines menschlichen Schädel, der sie, des Unterkiefers beraubt, höhnisch anzugrinsen schien. »Verdammt, was für ein Scheißkult läuft hier denn ab?«, polterte Wiliams los. »Keine Ahnung. Ist mir im Augenblick auch egal.« Savage griff ungeniert in die am Boden liegenden Überreste des Feuers, trat an den nahen Abgrund und warf die Aschenflocken in die Luft. Sie alle konnten im Licht der Scheinwerferkegel verfolgen, wie die rußigen Rückstände empor tanzten, und auf einem stetigen Luftstrom weit über den Abgrund hinweg getragen wurden. Die Öffnung nach draußen lag also irgendwo dort unten – unerreichbar für sie. »Was machen wir jetzt?«, fragte Tiffany verzweifelt. »Zurückgehen«, antwortete der Lieutenant. »Wenn wir nicht fliehen können, erwarteten wir eben unsere Feinde und stellen ihnen die gleiche Falle, die uns zugedacht war.« Nach kurzem Überlegen erklärten sich alle einverstanden mit dieser Idee. Was blieb ihnen auch anderes übrig? *** »Funkdurchsage!«, tönte es laut aus dem Air-MAT heraus. »Das Spezialistenteam befindet sich mit einem Großraumgleiter im Anflug!«
Dayna DeLano, die bereits im Eingangsbereich des Stollens stand, wusste, dass es Zeit war zu gehen. Mit Hilfe von Honeybutts AP-Steuerung deaktivierte sie die vier Chromkugeln, die noch im Eingang schwebten, und verstaute sie in einer Umhängetasche. Eine Kugel nach der anderen pflückte sie aus der Luft und steckte sie vorsichtig ein. Dann nahm sie die Tragebox mit den Nahrungsmitteln und trug sie den Gang hinab, zu den Gefangenen, die schon bald Gesellschaft erhalten sollten. Dayna verließ sich voll und ganz auf die Technik der Unsterblichen, deshalb verspürte sie auch keinen Argwohn, als sie den Trakt erreichte, in dem die Ranger einsaßen. Zu ihrer Überraschung schliefen die Vier nicht, sondern lehnten an der rückwärtigen Wand und sahen sie erwartungsvoll an. Die für ihre Überwachung zuständigen APs schwebten dicht unter der Decke. Alles schien völlig normal... bis aus der vordersten Kugel eine zackenförmige Entladung hervorbrach. Brennender Schmerz durchfuhr Dayna wie eine glühende Nadel, als sie getroffen wurde. Ihre Muskeln verkrampften, die Tragbox entglitt ihrer Hand und krachte zu Boden. Paralysiert brach sie zusammen, ohne auch nur einen einzigen Gedanken an das Warum und Wieso ihres Scheiterns verschwenden zu können. Corporal Wiliams bewahrte sie davor, mit dem Gesicht auf den Boden zu schlagen. Blitzschnell sprang er vor und fing ihren Sturz an den Schultern ab. Als sie ausgestreckt auf der Erde lag, nahm er das Tak 02 an sich, das sie geschultert hatte. »Ausgezeichnet«, freute sich Lieutenant Savage über den reibungslosen Ablauf seines Plans. »Wenn das so weitergeht, sind wir bald Herr der Lage.« »Was machen wir mit ihr?«, fragte Tiffany Jackson. »Soll ich einen der APs auf sie einstellen?« »Nein«, entschied der Lieutenant. »Wir brauchen alle zur Verfügung stehenden Protektoren für unsere
Entscheidungsschlacht. Wir fesseln und knebeln die Verräterin und sperren sie in die Tropfsteinhöhle. Konventionelle Kerker sind immer noch am sichersten.« Zu zweit hoben sie die Bewusstlose an und schleiften sie Richtung Stahltor davon. In der Höhle herrschte immer noch vollkommene Dunkelheit. Es genügte, Dayna DeLano einige Meter weit hinein zu tragen, dann war sie schon nicht mehr zu sehen. Das Tor ließen sie halb offen stehen, denn nach ihrem Plan würden Aiko Tsuyoshi und seine Kumpanen schon gefangen sein, wenn sie hier ankamen. »Los, schnell, wir müssen uns beeilen«, forderte Savage. »Die Falle muss zuschnappen, ehe sie unseren Zellentrakt erreichen. Andernfalls werden sie Verdacht schöpfen.« Miller und Wiliams machten sich sofort auf den Weg, während Tiffany Jackson ihn noch zurück hielt. Aufgeregt deutete sie auf die Umhängetasche, die sie Dayna abgenommen hatte. »Da sind vier weitere APs drin!«, verkündete sie aufgeregt. »Aber das Beste ist, dass die Schlampe auch ein Steuergerät bei sich hatte, das noch eingeloggt ist. Wir können diese Kugeln also ebenfalls für unsere Zwecke nutzen.« Savage schlug begeistert die Hände zusammen. Na also, jetzt konnte doch wirklich nichts mehr schief gehen! *** Die aufsteigende Sonne funkelte bereits hell zwischen den Baumwipfeln, doch es würde noch Stunden dauern, bis sich die kalte Bergluft richtig erwärmte. Aiko und seine Kameraden waren ganz froh über die niedrigen Temperaturen, denn sie trugen die Körperpanzer der Ranger, die ihnen jetzt schon viel zu warm vorkamen. Vermutlich war es aber auch die
Aufregung, die sie ins Schwitzen brachte. »Da sind sie!«, rief Smiley Tumbler und hob die Hand, um den lautlos anschwebenden Gleiter zu begrüßen. Es war ein Modell, wie sie es auch in Amarillo benutzten, doch es stammte aus dem Bestand von Miki Takeo. Aiko fühlte ein gewisses Maß an Stolz in sich aufsteigen, denn im Vergleich zu diesem majestätischen Anblick wirkte der zusammengeschusterte Air-MAT der Ranger wie ein erbärmlicher Schrotthaufen. Kein Wunder, dass die WCA auf ein reines Takeo-Produkt setzte, wenn es schnell gehen musste. Der Pilot mit dem halblangen, dunkelblonden Haar, der sich unter der Glaskanzel abzeichnete, beherrschte das Beutestück bereits so perfekt, als hätte er nie etwas anders geflogen. Die militärische Führung musste ihm viele Trainingsstunden zugestanden haben, und das war auch kein Wunder. Die Eroberung des Luftraums gehörte zu den wichtigsten Wegen, mit denen Crow die Macht des Weltrats ausbaute. »Jetzt wird es ernst«, sagte Honeybutt, als der Gleiter auf einer extra geschlagenen Schneise niederging. »Hoffen wir, dass alles gut geht.« Sie trug den silbernen Körperpanzer von Corporal Jackson, die in etwa die gleiche Figur besaß und der sie auch sonst sehr ähnlich sah, bis hin zur Hautfarbe. Eine perfekte Täuschung. Selbst nahestehende Freunde würden die echte Jackson kaum von ihr unterscheiden können. Aikos Rüstung war ihm eigentlich zu groß, denn Wiliams besaß wesentlich mehr Körpermasse als er, aber das machte nichts. Die ganze Maskerade sollte ja nur wenige Minuten dauern. Den schwierigsten Part hatte ohnehin Smiley, der, als einziger Weißer des Trios, mit Millers Halbpanzerung vorlieb nehmen musste. Der Gleiter setzte auf. Surrend fuhr die hintere Transportluke in die Tiefe. Sieben Personen stiegen aus, während der Pilot noch einige
Checks in der Kanzel durchführte. Aikos Interesse galt aber sowieso den Männern, die auf sie zu kamen. Er zählte drei bewaffnete Weltrat-Agenten im grauen Standarddress, drei Wissenschaftler in Zivil und einen mit Ketten an Händen und Füßen gefesselten Mann in einem schreiend orangefarbenen Overall. Das musste Mr. Hacker sein. Die Beschreibung stimmte jedenfalls: schwarz, kahlgeschoren und hager. Von den eingefallenen Wangen, die ihn aussehen ließen, als würde ihn ein schweres Los von innen her aufzehren, hatte Honeybutt nichts erzählt, aber für jemanden, der seit Wochen verhört wurde, hielt er sich noch wacker aufrecht. Tumbler übernahm die Begrüßungsfloskeln, die recht kurz ausfielen, weil die Computerexperten darauf brannten, sich das Depot näher anzusehen. Wie verabredet, wurden Aiko und Honeybutt abkommandiert, den Gästen den Weg zu weisen. Zwei der WCA-Agenten blieben zurück, um die Umgebung zu erkunden, der dritte wich Mr. Hacker nicht von der Seite. Gemeinsam mit den zivilen Wissenschaftlern machten sie sich auf den Weg. Kurz bevor sie den Stolleneingang erreichten, blieb Hacker jedoch stehen, fuhr sich mit seiner rechten Hand über den kahlen Schädel und schüttelte verständnislos den Kopf. »Heilige Scheiße!«, fluchte er. »Was soll das Ganze? Hier bin ich noch nie zuvor in meinem Leben gewesen!« »Schnauze halten!«, lautete der Kommentar seines Bewachers, der ihm obendrein einen Stoß versetzte, um ihn zum Weitergehen zu bewegen. Zum Glück stellte Hacker daraufhin sein Lamento ein und fügte sich in sein Schicksal. Aiko übernahm von nun an die Vorhut, während Honeybutt nach hinten absicherte. Auf diese Weise waren ihre Gegner in den engen Fluren zwischen ihnen gefangen. Dank ihrer massiven Panzerung konnte Honeybutt und ihm auch nicht viel
passieren, selbst wenn es zur Gegenwehr kam. Dachte er zumindest. Aiko führte sie vier Abzweigungen weit in den Komplex, bis er sicher sein konnte, dass kein Laut bis nach draußen drang, auch wenn es gleich Geschrei gab. Unversehens drehte er sich um und richtete das Tak 03 in seiner Hand auf völlig überraschten Männer. Selbst Mr. Hacker zuckte zusammen, als er die schwarze Mündung des Sturmgewehrs auf sich gerichtet sah. »Keine Dummheiten, meine Herren«, verlangte Aiko. »Dies ist keine Übung, sondern blutiger Ernst. Verhalten Sie sich alle ruhig, dann passiert niemanden etwas.« Keiner der Angesprochenen antwortete darauf, einige fixierten aber plötzlich einen Punkt hinter Aiko. Der Cyborg wäre auf einen so alten Trick nicht hereingefallen, doch Honeybutts Warnruf überzeugte ihn davon, dass es kein Trick war: »Achtung! Über dir!« Er hob den Kopf – und blickte auf vier APs, die sich an der Decke sammelten. Im gleichen Moment brach das Gewitter auch schon über ihn herein. Honeybutt erging es nicht besser. Auch sie wurde beschossen. Derart eingekeilt, warfen sich Hacker und die Weltrat-Crew zu Boden, selbst der bewaffnete Agent. Aiko spürte, wie die lähmende Wirkung der Paralysestrahlen, die auf ihn einprasselten, durch seine Panzerung drang. Aber noch waren es nicht viel mehr als Nadelstiche, die sich verschmerzen ließen. Da er nicht schießen wollte, schwang er sein Gewehr wie eine Keule. Tatsächlich gelang es ihm, einen der Protektoren zur Seite zu schlagen. Doch die anderen feuerten unbeirrt weiter. Unter und Oberlippe fest aufeinander gepresst, holte Aiko zum zweiten Mal aus – als die Blitze plötzlich abbrachen. »Machen Sie keinen Unsinn, Tsuyoshi«, erklang dafür eine Stimme. »Sie wollen doch nicht, dass ihre Freundin stirbt,
oder?« Als er sich umsah, erstarrte Aiko vor Schreck. Dort stand Lieutenant Savage, der eine Tak 02 auf Honeybutts Kopf gerichtet hatte. Da ihr Helm am Boden lag, war sie dieser Bedrohung schutzlos ausgeliefert. »Na los, machen Sie schon«, drängte der Offizier. »Oder ich ziehe es auf die harte Tour durch.« Innerhalb von Sekunden überschlug Aiko alle offenen Möglichkeiten und kam zu dem Schluss, dass es besser war, zunächst nachzugeben. Klappernd prallte seine Waffe auf nackten Beton. Diese Runde ging eindeutig an den Weltrat. *** »Sie haben die Höhle betreten?«, rief Aiko entsetzt, als man ihn durch die Tür stieß. »Sind Sie verrückt geworden? Wissen Sie nicht, was das bedeutet?« »Dass ich einen sicheren Platz gefunden habe, an dem ich euch traurige Gestalten festhalten kann?«, fragte Savage, der das Kommando führte, spöttisch. Das zurückeroberte Tak 03 in der Hand, überwachte er, wie Aiko und Honeybutt die Rüstungen vom Leib gerissen wurden. Mr. Hacker staunte nicht schlecht, als er das Gesicht seiner alten Kampfgefährtin sah. Trotz der miserablen Lage, in der sie alle steckten, stiegen ihm Tränen der Rührung in die Augen, weil Honeybutt alles aufs Spiel gesetzt hatte, um ihm zu helfen. »Sie verstehen mich wohl nicht«, beharrte Aiko weiter auf seinem Standpunkt. »Diese Höhle ist eine religiöse Kultstätte und deshalb tabu. Darüber gibt es ganz klare Abmachungen.« »Tatsächlich? Aber bestimmt nicht mit mir.« Lieutenant Savage lachte laut, denn er fühlte sich als Sieger auf ganzer Linie. Und das konnte er auch. Vier seiner fünf Gegner befanden sich bereits in seinem
Gewahrsam, und die Chance, dass der letzte ebenfalls vor der Übermacht kapitulieren musste, war nicht eben gering. Aiko, der mit Hilfe seiner Thermosicht ein ganz anderes Bild von der Situation hatte, ging seufzend in die Knie und zerriss Daynas Fesseln mit der Kraft seiner künstlichen Hände. »Sie werden schon sehen, wohin das führt, Savage«, warnte er ein letztes Mal. »Das wird nicht gut ausgehen, für keinen von uns.« »Albernes Geschwätz«, wiegelte der Ranger ab. »Wir lassen euch jetzt hier zurück und versiegeln die Tür. Und wenn wir auch noch euren Freund mit den Grinseaugen einkassiert haben, geht es zurück nach Washington. General Crow freut sich schon auf euren Besuch.« Der Lieutenant begann gerade den Abzug zu koordinieren, als eine neue Stimme erklang, die ihm seltsam bekannt vorkam, ohne dass er sie gleich einordnen konnte. »Du gehst nirgendwo mehr hin, Ketzer!«, rief sie und machte dabei keine Anstalten, ihren Standort zu verbergen. Als mehrere Scheinwerfer in die entsprechende Richtung geschwenkt wurden, schälte sich Turnhout aus der Dunkelheit. Inmitten einiger hundert Lizaads hockte der Barbar in unmittelbarer Nähe der grünäugigen Steinfigur. Die Tiere reckten allesamt den Hals, als würden sie etwas Bestimmtes fixieren, aber für solche Feinheiten besaß Savage keinen Sinn. »Abknallen, den Kerl!«, befahl er. Unmittelbar darauf explodierte etwas, und zwar genau in seinem Gesicht. Ein Feuerball, scheinbar aus dem Nichts erschienen, doch von solcher Hitze, dass seine langen, weich fallenden Haare unmittelbar in Flammen aufgingen. Brüllend schlug der Offizier die Hände vors Gesicht, in dem verzweifelten Versuch, sich vor der Hitze zu schützen. Weitere Feuerbälle, die um ihn herum explodierten, machten das Vorhaben zunichte. Heulen floh er in die
Dunkelheit, während hinter ihm ein wahres Flammenfeuerwerk abbrannte. Hunderte von feurigen Kugeln materialisierten plötzlich aus dem Nichts und blähten sich zu riesigen Sphären auf. Eine gewaltige Feuerwand entstand. In unmittelbarer Nähe dieses Stakkatos wurde es so heiß wie vor einem Hochofen. Aiko spürte, wie die Hitze in seine geröteten Wangen biss, doch das war nichts im Vergleich zu dem, was im Zentrum der Eruptionen vor sich ging. Wissenschaftler und Soldaten standen in Flammen, überall dort, wo sie nicht rechtzeitig auf dem Absatz kehrt gemacht und dem Inferno entflohen waren. Brüllend stolperten sie durch die Tür. Hinter ihnen wurde die Tür zugeworfen und verriegelt. Die panischen Schreie waren trotzdem noch für einige Sekunden zu hören. In der Höhle ging es längst ruhiger zu. Die Hitzebomben hatte sich zu einem Dutzend ruhig abbrennender Leuchtbälle gewandelt, die den natürlichen Dom erleuchteten. Turnhout saß weiter ganz entspannt auf seinem Fels, denn er musste nicht die geringste Kraft für dieses Phänomen aufwenden. Aiko vermutete sogar, dass die zerstörerische Kraft alleine von den mutierten Lizaads ausging, die unter dem Einfluss der CFStrahlung zu Pyrokineten geworden waren. Anders war die Vielzahl von präzise gesteuerten Feuerbällen gar nicht zu erklären. Da sie die Flammen nicht ausspien, sondern per Willenskraft in der gewünschten Entfernung entstehen ließen, waren Ursache und Wirkung nicht eindeutig zu erkennen. So war es schon den Rangern in Aoona gegangen. Aiko wischte sich über das erhitzte Gesicht und sah zu Turnhout hinüber. »Danke, dass du uns verschont hast.« Der Barbar lächelte. »Schon gut. Ihr seid gegen euren Willen verschleppt worden.« Danach wurde er jedoch übergangslos ernst. »Ihr müsst hier so schnell wie möglich
verschwinden, schon allein um euren Kameraden zu retten.« Um Smiley machte Aiko sich eigentlich keine allzu großen Sorgen, trotzdem stimmte er einem schnellen Abzug zu. Vor allem, als ihm Turnhout das Kletterseil zeigte, mit dem er den steil abfallenden Hang erklommen hatte. »Gut zweitausend Schritte von hier gibt es einen schmalen Durchschlupf, der nicht weit von eurem Stahlvogel aus dem Berg führt«, erklärte der Barbar. »Doch um dorthin zu gelangen, müsst ihr hier in die Tiefe steigen.« Für die Lizaads war die Strecke kein Problem; mit ihren klebrigen Pfoten strömten sie in Scharen die senkrechte Wand hinab, um unten in der Tiefe den Weg zu beleuchten. Mr. Hacker begann dagegen mit den Zähnen zu klappern, denn er litt unter Höhenangst. »Wir schaffen das schon«, machte ihm Honeybutt Mut. »Los, komm. Ich gehe vor und gebe dir Halt.« Turnhout kletterte als Erster, um ihnen zu zeigen, wie sie sich an den Knoten festhalten und mit den Füßen abstützten mussten. Honeybutt und Hacker warteten, bis der Barbar unten angekommen war, und folgten als nächstes. Hacker stellte sich dabei geschickter an als befürchtet. Er durfte einfach nur nicht in die Tiefe sehen, dann ging es. Während die beiden schon dem leuchtenden Pfad folgten, schwang sich Dayna fröhlich über die Klippe. Trainiert wie sie war, waren bei ihr die wenigstens Probleme zu erwarten. Doch kaum hatte sie sich vier Meter weit hinab gehangelt, hörte Aiko ein verdächtiges Geräusch in seinem Rücken. Noch ehe er herumwirbeln konnte, hallte eine Sturmgewehrsalve als vielfaches Echo von den Wänden wider. Der unverkennbare Klang einer Tak 03! Die Schüsse galten jedoch nicht ihm, sondern dem Seil, an dem Dayna pendelte! Gut fünfzehn Meter lagen noch unter ihr; nackter, unnachgiebiger Fels. Wenn sie aus dieser Höhe aufschlug, war es um sie geschehen.
Aiko setzte seine Implantate ein, um die Quelle der Schüsse zu lokalisieren. Mit Hilfe des Restlichtverstärkers entdeckten seine künstlichen Pupillen eine verbrannte Gestalt in einem verkohlten RCF-Dress, dessen Metallbesatz sich tief in seine Haut gebrannt hatte. Lieutenant Savage! Sein einstmals so fein geschnittenes Gesicht bestand nur noch aus rohem, dampfenden Fleisch. Der Schmerz musste ihn fast wahnsinnig machen, trotzdem hob er die Waffe erneut an, einzig von dem Wunsch aufrecht gehalten, noch Rache zu nehmen. Wieder feuerte er auf die geflochtene Schlinge, die um einen Fels lief. Diesmal lagen die Kugeln gut im Ziel. Der Strang wurde zweimal getroffen, nur zur Hälfte zwar, aber den Rest besorgte Daynas Gewicht. Ratschend rissen die einzelnen Fasern auseinander. Dayna schrie auf. Das Seil verschwand in der Tiefe. Doch Aiko hatte sich schon mit beiden Füßen abgestoßen und hechtete hinterher. Wie in Zeitlupe verschwand das Ende hinter der Kante, als er mit der Hand danach schnappte. Seine Landung auf dem Fels trieb ihm die Luft aus den Lungen, doch er hielt weiter fest, denn er spürte das Gewicht, das an seinem Arm zerrte. Jedem anderen hätte es die Hand zerfetzt, doch mit seinen Plysterox-Prothesen gelang das Unglaubliche. Er bremste Daynas Sturz, obwohl ihn der Ruck fast über die Kante zerrte. Im letzten Augenblick gelang es ihm, sich mit der anderen Hand an einem Vorsprung festzukrallen. »Kletter weiter!«, rief er in die Tiefe. »Schnell!« »Du willst wohl den Helden spielen, was?«, fragte Savage, nur fünf Meter von ihm entfernt. »Von mir aus, dann ist eben erst mal deine kleine Freundin dran.« Mit diesen Worten legte er auf Honeybutt an, die beim
Aufklingen der Schüsse stehen geblieben war. »Honeybutt! In Deckung!«, schrie ihr Aiko zu, der sich gleichzeitig noch ein weiteres Stück nach vorne lehnte, um zu sehen, ob Dayna schon weiter nach unten geklettert war. Sie hing jedoch noch immer auf gleicher Höhe, eine Platzwunde am Kopf, die sie sich wohl beim Aufprall an die Felswand zugezogen hatte. Sie konnte sich nur noch festklammern und auf Hilfe hoffen, mehr war nicht drin. »Schwere Entscheidung, häh?«, höhnte Savage, der sich offensichtlich an Aikos Dilemma weidete. »Rettest du Blondie oder lieber die Schwarze? Beides geht nicht.« Mit diesen Worten nahm er Honeybutt ins Visier, die endlich zu laufen begann. Zu spät! Mit der Tak 03 konnte sie der Ranger auf diese Entfernung gar nicht verfehlen. In diesem Moment sah Aiko die Lage völlig klar. Savage wollte sie alle töten, einen nach dem anderen. Erst Honeybutt, dann ihn und damit Dayna. Und die Chance, Dayna rechtzeitig hochzuziehen, wenn er Honeybutt opferte, lag bei unter 1000 zu 1. Honeybutt, die Frau, die er liebte, gegen Dayna, eine Frau, die er bestenfalls mochte. Die Logik sprach in diesem Fall eine deutliche Sprache. Aiko ließ das Seil los, federte in die Höhe und sprang auf Savage zu. Mit der untrüglichen Schärfe seiner bionischen Augen sah er, wie der Abzug bereits nach hinten wanderte, doch Aiko war schneller. Zeige- und Mittelfinger durchgedrückt, hämmerte er seine Rechte mit aller Kraft dem Gegner in die ungeschützte Flanke. Präzise durch die Rippenbögen, mitten ins Herz. Savage starb, zu keiner Regung mehr fähig, ohne einen Ton von sich zu geben. Aiko schlug dem Toten das Gewehr aus der Hand und stieß ihn in die Tiefe. Noch während der Leichnam aus seinem Gesichtsfeld verschwand, hörte er unter sich Dayna aufschlagen.
Sie hatte nicht mal geschrien. Von einem Moment seltener Klarheit erfüllt, sah er zu Honeybutt hinunter, die immer noch lief und nicht gesehen hatte, was passiert war. Zum Glück. *** »Du darfst dir keine Vorwürfe machen«, bat Honeybutt, während er den Gleiter in Richtung Eingangsstollen lenkte. »Du konntest ja nicht wissen, dass das Seil reißen würde.« »Ja«, log er, wohl wissend, dass sie die Wahrheit nicht ertragen hätte. Er selbst ertrug sie dagegen besser als erwartet, und genau das machte ihm zu schaffen. Rund um den Air-MAT bot sich das erwartete Bild. Mit Hilfe der reaktivierten RoCops hatte Smiley sämtliche WeltratSchergen entwaffnet. Einen der stählernen Roboter hatte er sogar damit beauftragt, die Brandwunden von Wissenschaftlern und Rangern zu versorgen. Während die Roboter ihren Abzug deckten – sie sollten etwa fünf Stunden lang vor Ort bleiben und sich dann mit einem Infiltrationsauftrag in die Wälder verabschieden – enterte Smiley den Großraumgleiter aus Washington. Der AirMAT sollte für den Rückflug der Weltrat-Leute reichen, meinte er. Mit einem befreiten Mr. Hacker und einer erbeuteten Maschine kehrten sie nach Amarillo zurück. Eigentlich ein Erfolg auf der ganzen Linie, insbesondere weil ihnen Hacker eine Information lieferte, mit der sie den brüchigen Waffenstillstand zu ihren Gunsten festigen konnten. Trotzdem fühlte sich Aiko elend. Weil er sich nicht schuldig fühlte. Im Gegenteil. Alles in ihm sagte, dass er vollkommen korrekt gehandelt hatte. Und dafür konnte es nur eine
Erklärung geben. Mit bleichem Gesicht bat er Honeybutt, für ihn das Steuer zu übernehmen. Danach verabschiedete er sich in einen Erfrischungsraum, der auch ein Waschbecken mitsamt Spiegel bot. Nachdem er hinter sich abgeschlossen hatte, ließ er den Interface-Dorn, der in seinem Handgelenk verborgen war, hervorspringen, holte noch einmal tief Luft und begann den Stahl knapp oberhalb des Ohres in den Kopf zu bohren. Immer wieder und wieder, bis er etwa einen fingerlangen Schnitt in seiner Schädeldecke geschaffen hatte. Einem normalen Menschen wäre so etwas niemals gelungen. Doch er war kein normaler Mensch mehr. Das sah er, als er die Wundränder auseinander bog. Und auf ein stählernes Gehirn starrte, dem jede biologische Komponente fehlte. ENDE
Das Abenteuer geht weiter! Im nächsten Band lesen Sie:
Auf dem Insektenthron von Susan Schwartz In 14 Tagen begrüßen wir eine prominente Gastautorin, die den SF-Fans vor allem durch ihre Mitarbeit bei PERRY RHODAN und BAD EARTH bekannt ist. Für ihren Einstand bei MADDRAX nahm sie sich einer Handlung an, die damals in Band 13 »Das Milliardenheer« von Timothy Stahl begonnen wurde. Aachen hatte sich verändert. Das ganze Umland hatte sich verändert! Von Horizont zu Horizont sah es aus, als hätten sich alle Insekten des Erdballs hier versammelt... gespenstisch! Und irgendwo in diesem wimmelnden, raschelnden Ozean war das EWAT-Team um Rulfan verschollen! Es wiederzufinden und zu befreien, war Matthew Drax’ Job. Viel Hoffnung hatte er nicht...