Achim Volkers Wissen und Bildung bei Foucault
Achim Volkers
Wissen und Bildung bei Foucault Aufklärung zwischen Wiss...
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Achim Volkers Wissen und Bildung bei Foucault
Achim Volkers
Wissen und Bildung bei Foucault Aufklärung zwischen Wissenschaft und ethisch-ästhetischen Bildungsprozessen
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Monika Mülhausen / Tanja Köhler Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15484-8
Für Heike
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis .................................................................................. 11 Einleitung ........................................................................................................ 13 1 Foucaults Subjektphilosophie 1.1 Subjekt und Macht...................................................................................... 19 1.1.1 Machtbeziehungen ............................................................................... 20 1.1.2 Analyse von Machtbeziehungen .......................................................... 23 1.2 Das moralische Subjekt .............................................................................. 1.2.1 Nietzsches Genealogie der Moral ........................................................ 1.2.2 Naturalisierung der Moral.................................................................... 1.2.3 Entstehung des moralischen Subjekts .................................................. 1.2.4 Jenseits von Psychologie und Moral ....................................................
27 28 31 35 38
1.3. Anthropologie und Humanismus ............................................................... 1.3.1 Anthropologisches Denken .................................................................. 1.3.2 Unterwanderung des Humanismus ...................................................... 1.3.3 Vier Interpretationen der Humanismuskritik .......................................
41 42 44 47
1.4. Kritische Ontologie als Aufklärung ........................................................... 1.4.1 Aufklärung und Kritik bei Kant ........................................................... 1.4.2 Aufklärung als Haltung........................................................................ 1.4.3 Kritische Ontologie ..............................................................................
53 54 56 58
2 Professionelles Wissen 2.1. Macht und Wissen ..................................................................................... 61 2.1.1 Machttheorien ...................................................................................... 62 2.1.2 Macht als Disziplin und Macht als Führung ........................................ 67
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Inhalt
2.1.3 Produktivität der Machtbeziehungen ................................................... 2.1.4 Epistemische Autorität von Experten................................................... 2.1.4.1 Psychiatrische Gutachten ............................................................... 2.1.4.2 Sonderpädagogische Gutachten .....................................................
71 74 74 77
2.2. Erziehungswissenschaft und Pädagogik .................................................... 2.2.1 Pädagogik und ihre Wissenschaft ........................................................ 2.2.2 Aussagen und diskursive Praxis........................................................... 2.2.3 Wissen und Wissenschaften................................................................. 2.2.4 Rationalitätskontinuum bei Foucault?.................................................. 2.2.5 Praktische und theoretische Kritik .......................................................
79 80 84 88 91 95
3 Bildung durch Selbstsorge 3.1. Selbstveränderung statt Wissensvermittlung ............................................ 3.1.1 Aufklärung durch Wissensvermittlung ............................................... 3.1.2 Erweckung der Moral?........................................................................ 3.1.3 Von der Moral zur Ethik .....................................................................
101 101 104 107
3.2. Selbstsorge in der antiken Paideia ............................................................ 3.2.1 Sokratische Paideia ............................................................................. 3.2.2 Sophistik ............................................................................................. 3.2.3 Rhetorik .............................................................................................. 3.2.4 Wille zur Macht .................................................................................. 3.2.5 Platonische Paideia .............................................................................
109 111 113 115 117 119
3.3. Selbstsorge als Selbstpraktik..................................................................... 3.3.1 Wider die Selbsterkenntnis ................................................................. 3.3.2 Formen der Problematisierung............................................................ 3.3.3 Heautokratie – Ethik und Politik.........................................................
120 121 123 125
3.4. Selbstsorge als soziale Praxis.................................................................... 3.4.1 Verselbstständigung der Sorge um sich .............................................. 3.4.2 Gemeinschaftliche Selbstsorge ........................................................... 3.4.3 Klientenbeziehung ..............................................................................
128 129 132 134
3.5. Ethisch-ästhetische Bildungsprozesse....................................................... 136 3.5.1 Konzeption der Bildung ...................................................................... 137 3.5.2 Selbstsorge als Komplement ............................................................... 139
Inhalt
9
3.5.3 Selbstsorge als Surrogat ...................................................................... 143 3.5.4 Selbstsorge als Notwendigkeit ............................................................ 146 Literaturverzeichnis ...................................................................................... 149 Personenregister ............................................................................................ 155
Abkürzungsverzeichnis
Foucault WG: GK: AW: OD: ÜW: DW: AN: VG: GG:
Wahnsinn und Gesellschaft Die Geburt der Klinik Archäologie des Wissens Die Ordnung der Dinge Überwachen und Strafen Diskurs und Wahrheit Die Anormalen In Verteidigung der Gesellschaft Geschichte der Gouvernementalität 1: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung HS: Die Hermeneutik des Subjekts SW 1: Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit 1) SW 2: Der Gebrauch der Lüste (Sexualität und Wahrheit 2) SW 3: Die Sorge um sich (Sexualität und Wahrheit 3) WK: Was ist Kritik? Schriften 1-4: Schriften in vier Bänden Andere KpV: GMS: ApH:
Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft - : Grundlegung zur Metaphysik der Sitten - : Anthropologie in pragmatischer Hinsicht
ÜäE:
Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen
JGB: GM: UWL:
Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse - : Genealogie der Moral - : Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
Prot: Gor: Staat:
Platon: Protagoras - : Gorgias - : Der Staat
Einleitung
In einem Interview sagte Foucault, das zentrale Motiv für seine Arbeiten sei der Wunsch, „sich selbst zu verändern“, was für ihn vor allem bedeutete, hinter sich zu lassen „was in der Stille denkt“ (SW 2, 16). Dieser Wunsch ist Ausdruck theoretischer Überzeugungen und praktischer Anliegen, die bei ihm Hand in Hand gingen. Eine seiner zentralen theoretischen Überzeugungen ist, dass Denkformen mit gesellschaftlichen Handlungsformen eng verknüpft sind und nicht beanspruchen können, über bestehende Handlungszusammenhänge hinaus zu weisen. Als Zusatzarbeit zu seiner Dissertation Wahnsinn und Gesellschaft übersetzte er Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, eine Schrift, in der sich der subjektive Idealist Kant der Frage der Anthropologie, der generellen Erkenntnis des menschlichen Wesens zuwendet und sagt, diese sei ohne die ordnende Rolle der Philosophie nichts als „fragmentarisches Herumtappen“. Foucaults darauf folgende Arbeiten können so interpretiert werden, dass dieses Praktischwerden idealistischer Entwürfe immer normativ verfährt und so nicht das erschafft, was die Theorien zu ermöglichen vorgeben. Eine Folge dieser Überzeugung für Foucaults eigenes Werk ist, dass es kein philosophisches System darstellt bzw. darstellen soll, sondern vielmehr der Versuch ist, aus bestehenden theoretischen Dichotomien auszusteigen und neue Wege zu begehen. Die Ablehnung feststehender theoretischer Aussagen zwingt zu einer rein performativen Vorgehensweise, die bestehende Denkmuster des Lesers erschüttern soll. Dieses Methodik hat ihn nicht davor bewahrt, genau die markanten Thesen zu formulieren, für die sein Name heute steht und insofern werden sein Anliegen und sein Vorgehen immer im Widerspruch zu seinen Aussagen stehen und weiterhin paradoxe wie sich widersprechende Auslegungen nach sich ziehen. In der Auseinandersetzung mit Foucaults Werk werden verschiedne Möglichkeiten diskutiert, wie die Widersprüchlichkeit seines Werks auslegt werden soll. Einigkeit besteht hinsichtlich der Frage, wie Foucaults Anliegen, die Aufgaben, die er sich selbst gestellt hat, zu verstehen ist, da er gegen Ende seines Schaffens seine Arbeit ausdrücklich in die kantische Tradition der Aufklärung gestellt hat. Seine Methode zeigt hier wiederum an, dass Aufklärung seiner Meinung nach nicht durch Wissensvermittlung erreicht werden kann. Auch wenn er in seinen Werken enorme Mengen an historischen Fakten präsentiert, so dienen
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Einleitung
diese nur dazu, bestehende Beurteilungs- und Bewertungsmaßstäbe zu erschüttern. Fakten tauchen bei Foucault in erster Linie als Kontrastfolie auf und dienen nicht der argumentativen Legitimation bestimmter Beurteilungsmaßstäbe. Ein Zuwachs an Wissen kann für sich genommen nicht aufklären, denn nach Foucaults Analyse gesellschaftlicher Institutionen ist Wissen nichts, worüber frei verhandelt wird, sondern was als argumentatives Reservoir in Machtbeziehungen fungiert. Aus den Machtbeziehungen kann ein Mehr an Wissen nicht herausführen, es kann nur neue Machtbeziehungen hervorbringen. Wissen und Macht kreisen bei Foucault um den Begriff des Subjekts. Das Subjekt besitzt bei Foucault keine Intentionalität, die es in die Lage versetzten könnte, Wissen und Macht zu benutzen und es ist auch nicht konstitutiv für Wissen und Macht. Es handelt sich bei dem Subjekt vielmehr um einen Effekt, der durch das Zusammenspiel von Wissen und Macht erzeugt wird. Mit dieser Deutung verliert die Aufklärung als pädagogisches Projekt ihren Adressaten, denn Aufklärung richtet sich immer an das Subjekt, in dessen Namen Freiheit und Wirklichkeit eingefordert wird bzw. befördert werden soll. Laut Foucault kann das Subjekt nicht „zu sich selbst“ kommen, noch kann es durch Wissensvermittlung über bestehende Missstände aufgeklärt werden, um sich von diesen zu befreien. Wenn er sich selbst in die kantische Tradition der Aufklärung stellt, so ist das im Sinne von Aufklärung über die Aufklärung zu verstehen, gewissermaßen einer Aufklärung zweiter Ordnung. Wie keinem anderen gelingt es ihm, die Schattenseiten des humanistischen Projekts der Aufklärung aufzuzeigen, die sich seiner Meinung nach auf perfide Art und Weise gerade der humanistischen Fixierung auf das Subjekt verdanken. Dabei meint Foucault mit dem Subjektbegriff nicht den utilitaristischen Nutzenmaximierer, sondern die kantische Idee des autonomen Subjekts, das als vernunftbegabtes Subjekt seine Handlungen an moralischen Prinzipien orientieren kann. Die Idee einer moralisch autonomen Subjektivität, die einerseits pädagogisch verwirklicht werden soll und andererseits zur Legitimation pädagogischen Handelns herangezogen wird, wird von Foucault nicht als Ideologie, d. h. als Selbsttäuschung der Akteure kritisiert. Freiheit und Autonomie sind für ihn in einem einfachen Sinne real und dienen weder der Verschleierung latenter Zwangs- und Machtstrukturen noch der fadenscheinigen Legitimation offenkundiger Ungerechtigkeiten. Die ideologiekritische Argumentationsstrategie führt die Autonomie des Subjekts entweder als verschüttetes Potenzial oder als noch zu verwirklichende Möglichkeit gegen bestehende Verhältnisse ins Feld und muss damit immer einen eigentlichen Kern der Subjektivität des Menschen behaupten, der dann gegen bestehende Verhältnisse, beispielsweise gegen bestehende Strukturen in pädagogischen Institutionen, angeführt werden kann (siehe 1.1). Für Foucault ist das moralische Subjekt im kantischen Sinne aber in einem
Einleitung
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positiven Sinne bereits vorhanden und wirksam. Er führt als Kritiker deshalb keine transzendentalen Argumente an, mit denen er sich nur am „Wahrheitsspiel“ um das Subjekt beteiligen würde, sondern agiert als „kritischer Ontologe“. Die Behauptung, Aufklärung als Kritik sei nur noch als „kritische Ontologie“ möglich, setzt ein spezifisches Verständnis von Subjektivität, genauer gesagt des moralischen Subjekts, voraus. Im ersten Teil dieser Untersuchung wird der Versuch unternommen, Foucaults Subjektbegriff durch eine Reihe von Abgrenzungen darzustellen. Zentral ist dabei seine nietzscheanische Interpretation des moralischen Subjekts (siehe 1.2), die sich gezielt gegen die kantische Auffassung von Autonomie richtet. Die von Kant analysierte moralische Autonomie kann laut Nietzsche nicht beanspruchen, bestehende gesellschaftliche und kulturelle Verhältnisse zu transzendieren. Nietzsches Argumentation wird in diesem Zusammenhang auf seine Naturalisierung der Moral reduziert, die von Foucault eindeutig geteilt wird. Die Affinität zu Nietzsche ist von Foucault selbst und seinen Interpreten immer wieder betont worden. Obwohl die Affinität zu Nietzsche von Foucault selbst und seinen Interpreten immer wieder betont wird, teilt Foucault entscheidende Prämissen Nietzsches nicht. Ein wichtiger Unterschied besteht darin, dass Nietzsche unter anderem nicht allein naturalistisch, sondern auch subjektzentriert argumentiert, was als Psychologisierung sozialer Kämpfe auftritt, die Foucault ablehnt. Da Foucault ohne jede Verbindung zum subjektzentrierten Denken und Argumentieren Kritik üben will, steht er in diesem Punkt Heidegger näher, mit dem er die Auffassung teilt, dass menschliches Verhalten in seinem „Ereignischarakter“ verstanden werden muss und nicht auf intentionale Akte oder wissenschaftlich zu erforschende Naturvorgänge zurückgeführt werden kann. Auch wenn Foucault die heideggersche Sicht auf das menschliche Verhalten teilt und auch auf sein eigenes Schaffen anwendet und damit jede Form moralischer oder psychologischer Motivation von Kritik zurückweist – was man leicht als Immunisierungsstrategie gegen Kritik auslegen kann –, so ist er doch der Meinung, Kritik in Form einer kritischen Ontologie setze eine bestimmte innere Haltung beim Kritiker voraus. Diese „Haltung der Aufklärung“ bzw. „Haltung der Moderne“ ist in seiner Darstellung Ausdruck freier Individualität und könne nicht ein Produkt zwingender moralischer Prinzipien sein, sondern nur freiwillig gewählt werden (siehe 1.3 – 1.4). Vor dem Hintergrund dieses Subjektverständnisses kann die Frage aufgenommen werden, wie sich Pädagogik als Wissenschaft und als Praxis zu den Schattenseiten der Aufklärung verhält. Diese Frage bezieht sich auf den kritischen Ansatz aufklärerischer Pädagogik, in dem es um die Kritik falscher Theorien, schlechter Praxis und einschränkender politischer und kultureller Verhältnisse ging. Pädagogik in diesem kritischen Sinne hat als Wissenschaft und als
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Einleitung
institutionalisierte Praxis seit der Aufklärung ein moralisch-politisches Anliegen und die pädagogische Prämisse dieses Ansatzes lautet, Aufklärung könne nur durch Bildung geleistet werden. Unter Bildung wird hier nicht nur Ausbildung und Lernen verstanden, sondern die Transformation des Subjekts hin zu seiner Vervollkommnung (vgl. Gadamer 1990, 15ff.). Aus Foucaultscher Perspektive ist dieser Anspruch nicht haltbar, da für ihn die Pädagogik als Humanwissenschaft in dem Verdacht steht, mit ihren subjektzentrierten Fragestellungen (Bildung, Erziehung, Lernen etc.) Wissen zu produzieren, das unweigerlich neue Machtverhältnisse hervorbringt. Aus diesem Blickwinkel kann man nur zynisch von der Bildung des Subjekts sprechen, da diese Bildung nicht das Ziel hat, das Subjekt zu sich selbst zu führen oder es von Zwängen zu befreien, sondern neue Machtstrukturen produziert. Zu dieser kritischen Theorie, die keine sinnvolle Praxis zulässt und eng mit Nietzsches Verständnis von Moral und Recht zusammenhängt, hat Foucault erst gegen Ende seines Schaffens mit seiner Ethik der Selbstsorge eine Alternative entwickelt, in der sich das Subjekt tatsächlich frei entfalten und bilden kann. Diesen komplexen Zusammenhängen wird in zwei Schritten nachgegangen. In einem ersten Schritt gilt es zu analysieren, wie sich Pädagogik als Humanwissenschaft und Pädagogik als institutionalisierte Praxis vor dem Hintergrund der foucaultschen Theorie zueinander verhalten. Mit der Aufklärung wurde die Pädagogik nicht nur institutionalisiert, sondern auch wissenschaftlich betrieben. Wissen sollte frei von Ideologien und Vorurteilen wissenschaftlich hervorgebracht und vermittelt werden, um die Aufklärung voranzutreiben. Mit der Verwissenschaftlichung der Pädagogik betrat die „Kontrollpädagogik“ (vgl. Hügli 1999, 53ff.) die Bühne, die bereits früh von der Pädagogik selbst als Schattenseite der Aufklärung erkannt wurde (vgl. Krüger 1990, 7f.). Es stellt sich die Frage, ob die negativen Entwicklungen der wissenschaftlich betriebenen Pädagogik ein Produkt schlechter bzw. einseitiger Wissenschaft ist, die in der Regel mit den Schlagwörtern Positivismus und Szientismus bezeichnet wird, oder ob, wie von Foucault angenommen, bereits die Verknüpfung von Praxis mit Wissenschaft und Philosophie das Problem darstellt. Foucaults Position wirft die Frage auf, wie er zu dieser negativen Auffassung, die jede Form kritischer Bildung im Rahmen moderner, wissenschaftlicher Pädagogik ausschließt, kommt. Eine ausführliche Explikation des Zusammenhangs von Wissen und Macht ist unerlässlich, um die Position Foucaults nachvollziehen zu können (siehe 2.1). Die Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis wird innerhalb des pädagogischen bzw. erziehungswissenschaftlichen Diskurses vor allem in Bezug auf das Ausbildungsproblem untersucht, d. h. auf die Rolle des zu vermittelnden professionellen Wissens für die Ausbildung und die spätere Praxis. Die zentralen Überlegungen Foucaults, die mit diesem Fragenkomplex in Verbindung stehen, fin-
Einleitung
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den sich in der Archäologie des Wissens, wo er versucht, seinen eigenen Untersuchungsgegenstand und seine Methode zu erklären. Eine genaue Betrachtung dieser Ausführungen zeigt, dass dieses Buch einen Bruch zwischen der diskursanalytischen Kritik der Humanwissenschaften und der späteren genealogischen Kritik der institutionalisierten Praxis markiert. Zwar untersucht Foucault sowohl auf diskursanalytischer wie auf genealogischer Ebene (und später auf ethischer Ebene) die Subjektivierung des Menschen, aber hier einen praktischen, handlungstheoretischen Zusammenhang herzustellen, würde unweigerlich die These kausaler Zusammenhänge zwischen wissenschaftlichem Wissen und praktischem Handeln nach sich ziehen. Foucault ist sich dieses Problems in der Archäologie des Wissens vollkommen bewusst, nur liefern seine Ausführungen keine nachvollziehbare Alternative, sodass seine theoretische Kritik der Humanwissenschaften und seine spätere Kritik an der Praxis in Institutionen schon vor dem Hintergrund seiner eigenen Theorie getrennt betrachtet werden sollten (siehe 2.2). Foucault hält an der Kritik der Subjektivierung in Theorie und Praxis Zeit seines Lebens fest. Bildung kann demnach nicht durch Wissenschaft und pädagogische Institutionen erreicht werden, da diese letztlich immer auf Moralisierung und Psychologisierung der Subjekte ausgerichtet sind, die seiner Meinung nach keine Freiheit des Subjekts liefern (siehe 3.1). Da er selbst die Möglichkeit der „Haltung der Aufklärung“ und damit auch der Bildung postuliert, sucht er einen Ausweg und findet ihn im Bereich der „Ethik der Selbstsorge“, wobei Ethik in Abgrenzung zur Moral zu verstehen ist: Ethik bezieht sich auf Fragen der individuellen Lebensführung, Moral auf die Regelung zwischenmenschlichen Zusammenlebens. Aus der antiken Ethik übernimmt er den Gedanken, dass zwischen dem Verhältnis des Subjekts zu sich selbst und seinem sozialen Handeln ein Zusammenhang besteht. Um im öffentlichen, politischen Leben angemessen handeln zu können, muß das Subjekt einen ethischen Bildungsweg durchlaufen, der mit der Sorge um sich beschrieben wird. Um diesen Gedanken verständlich zu machen, lohnt sich ein Blick auf die Rolle der Selbstsorge in der Paideia der griechischen Antike (siehe 3.2), wo sich zeigt, dass Foucaults Herauslösung der Selbstsorge aus der antiken Paideia differenziert betrachtet werden muss, da sie sich vor allem gegen Platon abgrenzt, während sie zu Sokrates’ „didaktischen“ Überlegungen Affinitäten aufweist. Das ethische Konzept der Selbstsorge, in dem das eigene Leben als ästhetisch zu behandelnder und zu genießender Gegenstand definiert wird, soll laut Foucault nicht allein die Individualität des Subjekts bilden, sondern auch einen Bezug zur moralisch-politischen Ebene und somit einen Bezug zu den Mitmenschen beinhalten. Es handelt sich also nicht um ein individualistisches Unterfan-
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Einleitung
gen, sondern um einen Bildungsprozess mit eindeutig positiven Auswirkungen auf der sozialen Ebene (siehe 3.3 – 3.4). Foucault versucht damit den Gedanken der Aufklärungen aus den Fängen strenger moralischer Prinzipien zu befreien. Die Sorge um sich beruht auf einem freiwilligen Entschluss und hat laut Foucault wünschenswerte moralisch-politische Konsequenzen, obwohl das Subjekt seine individuellen Belange bearbeitet. Diese These lässt sich unterschiedlich stark interpretieren, wobei sich zeigt, dass nur die schwächste Behauptung, die zwischen Selbstsorge und zwischenmenschlicher Ebene keine zwingende Notwendigkeit postuliert, plausibel ist (siehe 3.5).
1 Foucaults Subjektphilosophie
1.1 Subjekt und Macht Anfang der 1980er-Jahre resümiert Foucault sein eigenes Werk mit folgenden Worten: „Es ging mir nicht darum, Machtphänomene zu analysieren oder die Grundlage für solch eine Analyse zu schaffen. Vielmehr habe ich mich um eine Geschichte der verschiedenen Formen der Subjektivierung des Menschen in unserer Kultur bemüht. Und zu diesem Zweck habe ich Objektivierungsformen untersucht, die den Menschen zum Subjekt machen.“ (Schriften 4, 269)
Foucault verstand sich gegen Ende seines Lebens als Theoretiker des Subjekts. Seine historischen Untersuchungen sollten als „kritische Geschichte des Denkens“ (Schriften 4, 776f., kursiv im Original) verstanden werden, die aufzeigen, wie Objektivierung und Subjektivierung des Menschen miteinander verschränkt sind (ebd.). Foucault hat im Laufe seines Schaffens drei Aspekte dieser Subjektivierung untersucht. In den 1960er-Jahren analysierte er die Eroberung des Menschen durch die Humanwissenschaften. Darauf folgte die Analyse gesellschaftlicher Praktiken räumlicher Trennung und sozialer Unterscheidung. Darüber untersuchte er, wie der Mensch sich selbst subjektiviert, indem er sich auf sich selbst bezieht (vgl. Schriften 4, 269f.; SW 2, 10f.). Dass Menschen aufgrund gesellschaftlicher Zusammenhänge zu Subjekten gemacht werden, ist seit Durkheim ein soziologischer Allgemeinplatz. Darüber hinaus ist das Subjekt, als erkenntnistheoretisches Subjekt, ein lange aufrecht erhaltener methodischer Ausgangspunkt für philosophische Reflexionen seit Descartes. Foucault möchte aber weder eine soziologische Theorie entwickeln noch möchte er an die philosophische Methode der Subjektphilosophie anknüpfen. Er untersucht stattdessen die These, dass der Mensch als Subjekt „auch in hochkomplexe Machtbeziehungen eingebunden“ (Schriften 4, 270) ist. Die Beschäftigung mit der Subjektivierung des Menschen ist für Foucault gleichbedeutend mit der Analyse von Machtbeziehungen. Max Weber hat Macht definiert als „Chance, innerhalb sozialer Beziehungen den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen“ (Weber 1980, 28). Zwar versteht Foucault Macht nicht
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1 Foucaults Subjektphilosophie
als die Durchsetzung eines eigenen Willens, aber er knüpft an diese Definition an, wenn er sagt, dass Machtbeziehungen auf „freie Subjekte“ (Schriften 4, 287) angewiesen sind. Von Macht kann man nur sprechen, wenn man es mit freien Subjekten zu tun hat (vgl. Wain 2007, 163ff.). Foucault unterscheidet zwischen Machtausübung, die auf den freien Willen der Subjekte angewiesen ist, um diesen zu beeinflussen, und physischem Zwang, der den freien Willen des Subjekts nicht berücksichtigt (vgl. Schriften 4, 287). Eine erste Annäherung an Foucaults Auffassung über den Zusammenhang von Subjektivierung und Macht soll anhand seiner Auseinandersetzung mit Habermas’ Handlungsmodell erreicht werden. In Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns wird Machtausübung als spezieller Handlungstyp beschrieben, der durch institutionalisierte Handlungsmuster begünstigt werden kann. D. h., die Handlungs- und Willensfreiheit der Akteure werde von externen Strukturen beeinflusst. Dagegen will Foucault Machtbeziehungen als empirische Tatsache verstehen, die jede Interaktion durchziehen. Hier wird der Einfluss externer Strukturen nicht geleugnet, aber Foucault will darauf aufmerksam machen, dass selbst vermeintlich freie soziale Beziehungen als Machtbeziehungen aufgefasst werden können bzw. sollten (1.1.1). Dieser Unterschied wird am Beispiel der institutionalisierten pädagogischen Handlungen illustriert (1.1.2). Eine ausführliche Darstellung von Foucaults Machtverständnis wird später unter 2.1 im Zusammenhang mit seinem Wissensbegriff vorgenommen. An dieser Stelle soll nur gezeigt werden, dass Foucault eine eigene Analysestrategie entwickelt. 1.1.1 Machtbeziehungen Was Foucault versteht unter Machtbeziehungen? Zur Erläuterung greift er in seinem Aufsatz Subjekt und Macht auf eine Unterscheidung von Habermas zurück, der soziale Handlungen zunächst von bloß instrumentellen Handlungen, mit denen man in die materielle Welt eingreift, trennt. Die instrumentellen Handlungen beruhen auf technischen Fähigkeiten, mit denen in die Umwelt zwecks Veränderung eingegriffen wird. Greift man in die soziale Welt verändernd ein, so spricht Habermas von strategischen Handlungen. Die strategischen Absichten können offen gelegt werden, sodass man von Machtausübung sprechen kann. Sie können aber auch verdeckt ausgeführt werden, was auf Manipulation hinausläuft. Neben den instrumentellen Handlungen und den strategischen Handlungen macht Habermas noch einen Handlungstyp aus, den er kommunikatives Handeln nennt und dem er eine wichtige normative Rolle innerhalb der sozialen Bezie-
1.1 Subjekt und Macht
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hungen einräumt (vgl. Habermas 1997 1, 446), weil dieser Handlungstyp das soziale Geschehen frei koordiniert. Diese Handlungstypen nimmt Foucault auf. Er geht ebenfalls davon aus, dass Macht auf die Natur oder auf andere Menschen ausgeübt werden kann. Im ersten Fall spricht er von zweckrationalem Handeln, im zweiten Fall von Machtbeziehungen im engeren Sinne. Daneben gibt es noch die Kommunikationsbeziehungen, in denen sich Menschen durch Zeichen- und Symbolsysteme miteinander verständigen (vgl. Schriften 4, 282f.). Foucault hält diese analytische Unterscheidung für wichtig, aber er weist darauf hin, dass diese Handlungstypen nicht zu trennen sind: „Es handelt sich hier um drei Arten von Beziehungen, die in Wirklichkeit miteinander verschränkt sind, sich gegenseitig als Instrument dienen.“ (ebd.). Je nach Institution kann einer dieser Handlungstypen stärker ausgeprägt sein als die beiden anderen. In einer Werkstatt oder einem Krankenhaus überwiegt der zweckrationale Handlungstyp, in einer Schule die Kommunikationsbeziehung (vgl. Schriften 4, 284). Keiner dieser Handlungstypen ist aber empirisch betrachtet in reiner Form anzutreffen. Es handelt sich immer um eine Koordination aller drei Arten von Beziehungen: „Man nehme zum Beispiel die schulische Institution: Die räumliche Anordnung; die penible Regelung des schulischen Lebens; die verschiedenen Tätigkeiten, die dort organisiert werden; die verschiedenen Personen, die darin leben oder dort zusammenkommen und jeweils ihre Aufgabe, ihren Platz, ihr Gesicht haben – all das bildet einen »Block« aus Fähigkeiten, Kommunikation und Macht.“ (Schriften 4, 283)
Wenn Foucault mit seinen historischen Untersuchungen zeigt, dass unsere moderne Gesellschaft mit Hilfe der Humanwissenschaften und bestimmten Praktiken zunehmend diszipliniert wurde, so will er damit nicht zum Ausdruck bringen, dass moderne Menschen gelernt haben, besser zu gehorchen oder zivilisierter wurden, sondern dass zwischen den drei Handlungstypen eine zunehmend besser kontrollierte Abstimmung entstanden ist (vgl. Schriften 4, 284). Wenn er Macht analysiert, dann immer als Handlung, die andere Handlungen hervorbringt. Damit ist Macht von Gewalt und Konsens abzugrenzen, da Gewalt auf den Körper zielt und der Konsens auf die Meinung (vgl. Schriften 4, 285). Zwar kann eine Machtbeziehung auch Gewalt hervorbringen, so wie eine Machtbeziehung auch auf gegenseitigem Einverständnis beruhen kann. Entscheidend bleibt jedoch, dass eine Machtbeziehung auf Handlungen beruht: „Sie ist ein Ensemble aus Handlungen, die sich auf mögliches Handeln richten, und operiert in einem Feld von Möglichkeiten für das Verhalten handelnder Subjekte. [...] Sie ist auf Handeln gerichtetes Handeln.“ (Schriften 4, 286)
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1 Foucaults Subjektphilosophie
Machtbeziehungen haben somit die Eigenart, Handlungen anderer Menschen zu strukturieren. Foucault wählt hierfür den Begriff des Regierens, womit er zum Ausdruck bringen will, dass die Machtbeziehungen weder rein juristisch, in Form von gesetzlichen Regelungen zu beschreiben sind, noch rein kriegerisch, in Form des sozialen Kampfes. Der Regierungsbegriff lässt sich laut Foucault sowohl auf Individuen als auch auf Gruppen von Individuen anwenden. Mit diesem Begriff ist neben der bereits erwähnten Freiheit der Subjekte noch die „Relativität des Willens“ (Schriften 4, 287) verknüpft. Bis hierhin zeigen sich viele Parallelen zu Habermas’ Handlungstheorie. Auch Habermas geht davon aus, dass die von ihm unterschiedenen Handlungstypen nicht in reiner Form anzutreffen sind. Er weist ebenfalls darauf hin, dass in einer Handlungssituation das Individuum eine unvertretbare Rolle einnimmt: Die eigene Handlungs- und Willensfreiheit kann nicht delegiert werden. Anders als Foucault wählt Habermas jedoch einen anderen Schwerpunkt in seiner Philosophie. Während Foucault die Machtbeziehung direkt analysieren will, geht Habermas den Umweg über einen normativen Handlungsbegriff, von dem seiner Meinung nach alle Machtbeziehungen (=strategische Handlungen) abhängig sind. Mit diesem indirekten Verfahren will Habermas einen normativen Maßstab offen legen, anhand dessen Machtverhältnisse einer Kritik unterzogen werden können. Dementsprechend legt Habermas in seiner Handlungstheorie großen Wert auf die Verteidigung des kommunikativen Handelns bzw. der Kommunikationsbeziehung, wie Foucault sagt. Laut Habermas besitzt die Sprache eine doppelte Funktion: Mitteilung und Verständigung. Die Verständigung ist der wesentliche Bestandteil sozialer Handlungen, ohne die auch die Mitteilung nicht funktionieren kann. Die Verständigungsfunktion beruht auf einer „quasi-transzendentalen“ bzw. pragmatischen Nötigung der Handelnden (vgl. Habermas 2005, 30f.). Soziales Handeln ist für Habermas immer deshalb kommunikatives Handeln, von dem das strategische Handeln notwendigerweise abhängig ist. Das kommunikative Handeln kann im Alltag für Machtausübung und Manipulation missbraucht werden. Vor dem Hintergrund der habermasschen Handlungstheorie stellt sich die Frage, weshalb Subjekte nicht kommunikativ sondern strategisch handeln. Zur Beantwortung dieser Frage verlässt Habermas die Ebene der Handlungstheorie und erweitert die Perspektive um systemtheoretische Versatzstücke. Er geht in seiner Gesellschaftstheorie davon aus, dass man soziale Prozesse nicht allein auf der Handlungsebene beschreiben kann, weil Interaktionen nicht ausschließlich von den Intentionen und Meinungen der Interaktionsteilnehmer abhängen. Ein Großteil sozialer Prozesse ist systemisch strukturiert und wird nicht über Ver-
1.1 Subjekt und Macht
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ständigungsprozesse organisiert, sondern über die Medien Geld und Macht und ist damit potenziell unabhängig von den jeweils vor Ort Handelnden. Diese modernen Zusammenhänge sind laut Habermas dann zu kritisieren, wenn soziale Prozesse, die auf kommunikatives Handeln angewiesen sind, den Imperativen der systemischen Zusammenhänge gehorchen. Auf der Handlungsebene entsteht dann das Phänomen, dass Handlungsabläufe entweder als offene Machtbeziehung oder als verdeckte Manipulation strukturiert sind und das kommunikative Handeln nur noch zum Schein aufrechterhalten wird. 1.1.2 Analyse von Machtbeziehungen Im habermasschen Theoriegebäude zielt die Analyse von Machtstrukturen automatisch auf die systemischen Zusammenhänge innerhalb von Institutionen, weil diese eine rechtliche und ökonomische Struktur besitzen, die das Handeln der Akteure beeinflussen. Dazu Foucault: „Man kann Machtbeziehungen durchaus innerhalb bestimmter Institutionen analysieren. Das ist vollkommen legitim, denn diese Institutionen eröffnen besonders gute Möglichkeiten, die Machtbeziehungen in vielfältigen, konzentrierten, geordneten und zu höchster Effizienz geführten Formen zu beobachten. Darum darf man erwarten, dort Form und Logik ihrer elementaren Mechanismen erkennen zu können.“ (Schriften 4, 288)
Eine solche theoretische Strategie soll anhand der Frage dargestellt werden, wie man professionelles pädagogisches Handeln mit Hilfe der Theorie des kommunikativen Handelns darstellen kann (zum Folgenden vgl. Volkers 2004, 128ff.). Wenn man mit Habermas davon ausgeht, dass Sozialisation auf kommunikatives Handeln angewiesen ist, dann steht der professionell handelnde Pädagoge vor der Aufgabe, sich soweit wie möglich in „verständigungsorientierter Einstellung“ dem Kind bzw. dem Jugendlichen zu nähern. Dem steht seine Eingebundenheit in institutionelle Zusammenhänge gegenüber, die ihm strategisches Handeln mit den Kindern und Jugendlichen abverlangen. Nun kann man nicht einfach behaupten, die Professionalität des Pädagogen würde sich darin zeigen, dass er entweder strategisch oder kommunikativ mit Kindern und Jugendlichen umgeht. Es handelt sich vielmehr um eine Balance zwischen diesen beiden Handlungstypen, die er aufrechterhalten muss. Da die pädagogische Aufgabe mit ihrer Zielorientierung für alle Beteiligten offensichtlich ist, handelt ein Pädagoge offen strategisch, wie Habermas es nennt. Nur ist dieses offen strategische Handeln nicht darauf ausgerichtet, persönliche Meinungen des Pädagogen
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1 Foucaults Subjektphilosophie
durchzusetzen oder seine Wünsche zu befriedigen. Seine Handlungen dienen vielmehr der institutionellen Aufgabe der Wissensvermittlung und der Erziehung. Deshalb muss der Pädagoge gezielt Situationen schaffen, in denen er mit den Kindern und Jugendlichen kommunikativ handeln kann, denn nur auf diesem Wege können wechselseitig Meinungen hinterfragt oder bestätigt werden. Gelingt diese Balance zwischen offen strategischem und kommunikativem Handeln, so kann man von erziehungsorientierten Handlungen sprechen (vgl. Volkers 2004, 151ff.). Wenn mit diesem theoretischen Modell Kritik an pädagogischen Strukturen geäußert werden soll, so kann dies nur über eine Kritik der institutionellen Strukturen geschehen. Die Institution ist rechtlich und ökonomisch strukturiert und verlangt dadurch spezifische Einschränkungen der Handlungsabläufe zwischen Pädagoge und Kind. Anders gesagt: Der Pädagoge kann zwar innerhalb der institutionellen Struktur Spielräume für kommunikatives Handeln schaffen, aber er kann nicht alles zur Diskussion stellen und vom Einverständnis der Kinder abhängig machen. Zu kritisieren ist eine pädagogische Institution, wenn diese Einschränkung der Interaktionsspielräume immer weiter vorangetrieben wird und sie den Pädagogen in eine rein instrumentelle Rolle drängt, die den Effekt hat, dass er die Kinder und Jugendlichen rein instrumentell behandelt. Der Pädagoge sorgt dann durch offene Machtausübung oder verdeckte Manipulation dafür, dass die institutionellen Erwartungen von Kindern und Jugendlichen befolgt werden. Zu kritisieren sind die Konventionen und Normen, auf denen die Institution aufbaut und die sie teilweise implizit, teilweise explizit einfordert. Wenn man die Analyse der professionellen Situation der Pädagogen bis hierhin verfolgt, dann steht die Legitimität bestimmter Konventionen und Normen zu Diskussion. Hierunter fallen alle Raum- und Zeitstrukturen sowie alle Verhaltenserwartungen, die die pädagogische Institution teilweise erst konstituieren und teilweise regulieren. Es kann sich in dieser Diskussion herausstellen, dass einige Normen und Konventionen sehr wohl variabel gehalten werden können, andere hingegen, beispielsweise moralische Verbote, weiterhin bestehen bleiben sollten. Das führt zu einer Form der Analyse, die Foucault juridisch nennt: Was ist legitim? Hier macht er zwei Schwierigkeiten aus: „Da ein großer Teil der eingesetzten Mechanismen der Selbsterhaltung der betreffenden Institution dient, läuft man Gefahr, vor allem in den »innerinstitutionellen« Machtbeziehungen nur die Reproduktionsfunktionen wahrzunehmen. Wenn man Machtbeziehungen auf der Basis der Institutionen untersucht, besteht zweitens die Gefahr, dass man in den Institutionen Ursprung und Erklärung der Machtbeziehungen sucht, letztlich also Macht durch Macht erklärt.“ (Schriften 4, 288)
1.1 Subjekt und Macht
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Die erste Gefahr besteht in einer leer laufenden funktionalistischen Erklärung, nach der die Machtmechanismen einer Institution vorhanden sind, damit diese sich selbst aufrechterhalten kann. Die zweite Gefahr ist ein Zirkelschluss, in dem behauptet wird, bestimmte Machtverhältnisse seien unumgänglich, weil Institutionen auf Macht gegründet wurden. Die theoretische Strategie, die Machtbeziehungen von der Institution aus zu erklären, hält Foucault nicht für falsch. Er selbst wählt jedoch einen anderen Weg (ebd.), da er der Meinung ist, dass Machtbeziehungen nicht allein auf einzelne Institutionen beschränkt werden können. Machtbeziehungen müssen in einem umfassenderen Sinne analysiert werden als in der herkömmlichen juridischen Vorgehensweise, die topologisch betrachtet von oben nach unten argumentiert. Für Foucault stellen sich Machtbeziehungen vielmehr als ein Geflecht dar, das die Gesellschaft durchzieht. Machtbeziehungen dienen der „Regierung“ von Menschen, in dem weiten Sinne, dass sie geführt werden. Die Menschen werden in modernen Gesellschaften auf vielfältige Weisen geführt, von denen die Führung durch Institutionen nur ein Beispiel ist. So betrachtet sind moderne Gesellschaften von Machtbeziehungen durchzogen. Eine Gesellschaft ohne Machtbeziehungen ist für Foucault eine reine Illusion. Sein Ziel ist es nicht, bestehende Machtverhältnisse zu beseitigen, sondern diese in ihrer historischen Kontingenz sichtbar zu machen. Dafür sind laut Foucault fünf Aspekte der Machtbeziehungen zu analysieren: 1. Das System der Differenzierungen. Machtbeziehungen verfestigen ökonomische, kulturelle und gesellschaftliche Differenzen ebenso wie Unterschiede in den Wissensbeständen. 2. Die Art der Ziele. Machtbeziehungen dienen der Aufrechterhaltung und dem Schutz von Privilegien, der Ausübung von Ämtern und Autorität. 3. Die instrumentellen Modalitäten. Die Umsetzung von Machtbeziehungen kann durch Worte, Gewalt, Kontrolle etc. umgesetzt werden. 4. Die Formen der Institutionalisierung. Hier können traditionelle Strukturen wie die Familie gemeint sein, wie auch einfache Institutionen wie eine Schule oder komplexe Institutionen wie der Staat. 5. Der Grad der Rationalisierung. Machtbeziehungen können unterschiedlich effizient umgesetzt werden. (vgl. Schriften 4, 289f.)
Eine Unterscheidung der habermasschen Handlungstheorie lehnt er aus konzeptionellen Gründen ab. Dieser unterscheidet nämlich zwei Arten strategischen Handelns: die offene Machtausübung und die verdeckte Manipulation. Die offene Machtausübung erzwingt bestimmte Handlungen beim anderen, indem Strafe oder Gewalt angedroht wird. Die verdeckte Manipulation kann entweder be-
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wusst angewandt werden, dann macht sich der manipulativ Handelnde einen Wissensvorsprung zu nutze, oder sie kann unbewusst angewandt werden, dann unterliegt der manipulativ Handelnde einer Selbsttäuschung. Diese Unterscheidung lässt sich ebenfalls auf die pädagogische Interaktion anwenden. Wenn ein Pädagoge in der Institution handelt, und die institutionellen Regeln sein Handeln beeinflussen, bedeutet das im schlechtesten Fall, dass er seine erziehungsorientierte Einstellung gegenüber dem Kind zugunsten der offenen Machtausübung oder der verdeckten Manipulation aufgeben muss. Es kommt zur Instrumentalisierung der Handlungen des Kindes durch den Pädagogen. Die verdeckte Manipulation kann vom Pädagogen auch unbewusst ausgeführt werden., wenn er sich dann über seine eigenen Intentionen täuscht. Betrachtet man die unbewusste Selbsttäuschung im Zusammenhang mit den bereits erwähnten institutionsbedingten Konventionen und Normen, so kann man unterstellen, dass ein Pädagoge fälschlicherweise behauptet, er würde sich mit diesen identifizieren. Als Selbsttäuscher würde er einer Ideologie erliegen, die seinen eigenen Intentionen im Wege steht. Die verdeckte Manipulation, egal ob bewusst oder unbewusst vollzogen, wird von Foucault nicht eigenständig analysiert. Er untersucht sie methodisch betrachtet immer als (bewusste) soziale Kämpfe: „Tatsächlich stehen Machtbeziehung und Kampfstrategie in einem Verhältnis ständiger Provokation, endloser Verkettung und ständiger Verkehrung. Die Machtbeziehung kann jeder Zeit zu einer Auseinandersetzung zwischen Gegnern werden – und wird dies gelegentlich auch. Umgekehrt führt Gegnerschaft innerhalb der Gesellschaft immer wieder zum Einsatz von Machtmechanismen.“ (Schriften 4, 293)
Wie noch zu zeigen sein wird, lehnt Foucault die Unterscheidung zwischen unbewusster und bewusster Machtausübung ab, weil Macht für ihn nicht von einzelnen Individuen ausgeübt wird und weil er die Psychologisierung menschlichen Verhaltens zurückweist. Die pädagogische Beziehung zwischen Kind und Pädagoge ist laut Foucault auch dann als Machtbeziehung zu verstehen, wenn der Pädagoge in der Lage ist, seine erziehungsorientierte Einstellung aufrecht zu erhalten. Dagegen treten im habermasschen Modell die Machtausübung und die verdeckte Manipulation streng genommen nur im Ausnahmezustand der offensichtlichen Unterdrückung oder der unbewussten Selbsttäuschung auf. In diesem Modell stellt sich die Frage, ob die Repression bzw. die Selbsttäuschung gerechtfertigt ist oder nicht. Im Gegensatz dazu betont Foucault, dass bereits im vermeintlich harmlosen „Normalfall“ Machtverhältnisse gegeben sind, die weder notwendig noch legitim sein müssen.
1.2 Das moralische Subjekt
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1.2 Das moralische Subjekt Zu Beginn der 1970er-Jahre hat er sich für die Analyse der Subjektivierung Nietzsches Methode der Genealogie angeeignet (vgl. Schriften 2, 166ff.), die Nietzsche am prägnantesten in der Genealogie der Moral angewandt hat. Neben der Aneignung der Methode finden sich bei Foucault auch inhaltliche Übereinstimmungen mit Nietzsche. Der entscheidende Anknüpfungspunkt für Foucault ist Nietzsches Auffassung, dass Gesellschafts- und Kulturkritik als Kritik der Moral anzusetzen sind. Diese Form der Kritik grenzt sich deutlich von einer marxistischen Gesellschaftskritik ab. Marxistisch betrachtet sind moderne Gesellschaften aufgrund ihrer politisch-ökonomischen Struktur zu kritisieren: Die politischökonomischen Verhältnisse produzieren eine Ungleichheit zwischen den Gesellschaftsmitgliedern, die aufgrund der moralisch geforderten Gleichheit der Menschen überwunden werden muss. Innerhalb der marxistischen Tradition, genauer gesagt in der ersten Generation der Kritischen Theorie, wurde bereits der Gedanke entwickelt, dass das moderne Bewusstsein selbst, und damit auch die Moral, Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse ist und deshalb als unbewusster Ausdruck bestehender Machtverhältnisse zu verstehen sei. Zwar klagte Adorno moralische Werte gegen die bestehenden Verhältnisse ein, aber er untersagte sich, dementsprechende bessere Gesellschaftsverhältnisse zu beschreiben. Nach Adorno hat Habermas dagegen behauptet, man könne durchaus angeben, wohin unsere Kritik führen sollte, da wir aufgrund unserer sprachlichen Fähigkeiten bereits gezwungen sind, eine freiere Gesellschaft zu unterstellen (vgl. Gmünder 1985). Eine andere Form der Gesellschaftskritik kann sich auf die Psychoanalyse berufen, die versucht, das psychische Leiden der Gesellschaftsmitglieder zu artikulieren und zu analysieren. Mit der Psychoanalyse ist der Gedanke verbunden, dass soziale Konflikte negative Auswirkungen auf die Psyche des Menschen haben können. Das Individuum steht laut Psychoanalyse notwendigerweise in einem Spannungsverhältnis zu seiner sozialen Umgebung. Dieser Gedanke ließ sich leicht zu einem Freudo-Marxismus erweitern, der innerpsychische Konflikte auf latente gesellschaftliche Konflikte zurückführt. Marxismus und Psychoanalyse sieht Foucault als die theoretischen Verlierer des 20. Jahrhunderts an, weil sie seiner Meinung nach noch zu sehr mit „der Macht“ verknüpft waren. Sowohl Marxismus als auch Psychoanalyse setzen bestimmte moralische Werte voraus und lassen diese somit von ihrer Kritik unberührt. Mit Nietzsche rücken die moralischen Werte selbst in den Blickpunkt. Das ist ein erklärungsbedürftiger Standpunkt, da er automatisch moralisch moti-
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vierte Kritik untergräbt. Im Marxismus konnte man noch mit dem hohen Wert der Gleichheit der Menschen argumentieren, in der Psychoanalyse mit der zu verwirklichenden Willensfreiheit der Individuen. Wenn sich die Moral jedoch selbst im Visier der Kritik befindet, dann verlieren die moralischen Werte ihre kritische Funktion. Das erklärt, weshalb innerhalb der Pädagogik Marx und Freud noch rezipiert werden konnten, Nietzsche jedoch Sperrgut geblieben ist (vgl. Prondczynsky 1998, 56ff.; Oelkers 2001, 146ff.). Mit Marx und Freud konnte die Pädagogik gesellschaftliche Missstände benennen, die ihrem eigenen Anliegen im Weg standen. Mit Nietzsche war dies nicht möglich, weil die Moral quasi das Zentrum der Pädagogik ausmacht. Seit der Aufklärung ging es der Pädagogik um die Entbindung der Vernunft im Kind, um es zu einem freien und mündigen Bürger zu machen, der die Gesellschaft anhand moralischer Prinzipien beurteilen und verbessern kann. Die Frage, die hier behandelt werden soll, lautet, wie Foucault die Moral kritisiert. Was meint er, wenn er sagt, er hätte sein eigenes Werk am liebsten mit dem Titel Genealogie der Moral überschrieben (vgl. Schriften 2, 931; Schriften 4, 904)? Zu diesem Zweck soll zunächst Nietzsches eigene Genealogie skizziert werden (1.2.1). Nietzsches Beurteilung der Moral beruht auf einem ausgeprägten Naturalismus, den er auf soziale Fragen anwendet (1.2.2). Hinsichtlich der Sozialisierung des Menschen zu einem moralischen Subjekt gibt es zwischen Foucault und Nietzsche wesentliche Gemeinsamkeiten (1.2.3). Anders als Nietzsche vertritt Foucault jedoch keine Anti-Moral, da er keine psychologische Argumentation heranzieht. Seine geschichtsphilosophischen Prämissen unterschieden sich ebenfalls deutlich von Nietzsche (1.2.4). 1.2.1 Nietzsches Genealogie der Moral Der wohl entscheidende Gedanke für die Kritik an der Moral ist, dass sie laut Nietzsche nicht das ist, was sie zu sein vorgibt. Sie entspringt weder der menschlichen Vernunft, um das soziale Leben verträglich zu gestalten, noch entspringt sie dem göttlichen Gebot, um das individuelle Heil zu sichern. Die Moral, so wie wir sie kennen, hat einen außermoralischen Ursprung. Aus diesem Grund bekundet er zu Beginn der Genealogie der Moral Sympathien für die „englischen 1 Psychologen“ , die versuchen, einen natürlichen Ursprung der Moral auszumachen. Diese Psychologen begehen laut Nietzsche den Fehler, dass sie den natürlichen Ursprung heranziehen, um die Moral zu rechtfertigen (vgl. GM, Erste 1 Gemeint sind damit die englischen Evolutionisten und Utilitaristen, zu denen auch Nietzsches Freund Paul Rée zählt (vgl. Marti 1988, 72).
1.2 Das moralische Subjekt
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Abhandlung, § 4). Das ist für Nietzsche nicht akzeptabel. Er hält diese Versuche vielmehr für symptomatisch, da auf diesem Wege versucht wird, der Moral eine Legitimation wieder zu geben, die sie im Laufe der Geschichte verloren hat. War die Moral zunächst durch Gott gegeben und damit für alle Gläubigen verpflichtend, so wurde nach dem „Tod Gottes“ die Begründung der Moral in der menschlichen Vernunft gesucht. Beide Versuche sind laut Nietzsche gescheitert. Da die Menschen jedoch nach wie vor eine Legitimationsquelle für ihre sozialen Handlungen benötigen, müssen heute die Naturwissenschaften Begründungen für moralisches Handeln suchen. Nietzsche geht davon aus, dass moralische Begriffe ursprünglich keine präskriptive, sondern eine deskriptive Bedeutung hatten. Sie dienten „den Edlen“ bzw. den Adligen zur Abgrenzung von den Schwachen bzw. den „Schlichten“. Mit „gut“ war ursprünglich nicht die gute Handlung gemeint. Mit „gut“ bezeichneten sich „die Guten" einfach selbst. Nietzsche sieht hier eine ganze „aristokratische Werthgleichung (gut=vornehm=mächtig=schön=glücklich=gottgeliebt)“ (ebd., § 7). Gut waren die starken Menschen, die ihre eigene Stärke bejahten und sich damit von den schwachen Menschen abgrenzten. Die Schwachen waren nicht deshalb schwach, weil sie ihre Stärke verleugneten oder sich nicht trauten, sie auszuleben wie die Starken. Die schwachen Menschen waren tatsächlich schwach und somit die Leidtragenden dieses ursprünglichen Naturzustandes. Der Wandel in der Semantik moralischer Begriffe verdankt sich dem „Sklavenaufstand der Moral“ (ebd., § 7). Da die Schwachen naturgemäß nicht in der Lage waren, sich gegen die Starken durchzusetzen, bedienten sie sich eines Tricks: der Erfindung der Moral vermittelt durch die Religion. Mit der Moral wurde das Ideal der Gleichheit der Menschen in die Welt gesetzt, so dass von da an ein Mittelmaß für alle verbindlich war. Die Starken mussten sich zügeln, den Schwachen musste geholfen werden. Seitdem sind diejenigen gut, die sich an die Moral und ihre Ideale halten. Mit Hilfe dieser Genealogie hat Nietzsche den außermoralischen Grund für die Moral aufgedeckt: Die moralische Semantik dient dem sozialen Kampf der Schwachen gegen die Starken. In der zweiten Abhandlung der Genealogie der Moral zeigt er, welcher Techniken sich die Moral bedient, um einerseits den einzelnen Menschen „zur Vernunft zu bringen“, d. h. an die Moral zu binden, und wie diese Bindung generationsübergreifend erhalten wird. Beides ist auf den gleichen Mechanismus zurück zu führen: Den Menschen muss ein schlechtes Gewissen gegeben werden. Die dafür notwendige Psyche wird durch körperliche Sanktionen konstituiert:
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„Es gieng nie ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es für nöthig hielt, sich ein Gedächtnis zu machen; die schauerlichsten Opfer und Pfänder (wohin die Erstlingsopfer gehören), die widerlichsten Verstümmelungen (zum Beispiel die Castrationen), die grausamsten aller religiösen Culte (und aller Religionen sind auf dem untersten Grunde Systeme von Grausamkeiten) – alles Das hat in jenem Instinkte seinen Ursprung, welcher im Schmerz das mächtigste Hülfsmittel der Mnemonik errieth.“ (GM, Zweite Abhandlung, § 3)
Reduziert man diese dramatische Schilderung auf ihre formale Aussage, dann bleibt festzuhalten, dass für Nietzsche das schlechte Gewissen durch Konditionierung entsteht. Die Konditionierung vollzieht sich über körperliche Strafen und wird verinnerlicht als Angst vor der Strafe bzw. als schlechtes Gewissen bei Übertretung einer Regel. Diese Verinnerlichung setzt kognitive Fähigkeiten voraus, die Raum und Zeit überbrücken können und kausale Zusammenhänge konstruierbar machen. Mit den kognitiven Fähigkeiten konnte der Mensch schuldig werden. Seitdem ist das „Menschentier“ in den Käfig der Moral eingesperrt und stößt sich an dessen Gittern wund (ebd., § 16). Dass die Gattung dauerhaft an die Moral gekettet werden konnte, verdankt sich der christlichen Idee der Erbsünde, die dafür sorgte, dass die Menschen über Generationen hinweg mit einem schlechten Gewissen schwanger gehen konnten (ebd., § 19). Der „Geniestreich des Christentums“ (ebd., § 21) bestand darin, dass Gott sich selbst durch Jesus für seine schuldigen Menschen opferte, um sie von deren Schuld zu erlösen. Zwar zeigte Gott mit dieser Tat seine göttliche Gnade, aber er nahm den Menschen zugleich die Möglichkeit, ihre Schuld von sich aus zu begleichen. Von da an befanden sie sich gegenüber Gott in einer double-bind-Situation. Mit dem Glauben sind die moralischen Werte in die Welt gesetzt worden, die dem Menschen Verzicht abverlangen; die Menschen müssen Opfer bringen, ein asketisches Leben führen, um später, d. h. im Jenseits bzw. der Zukunft, ein besseres Leben leben zu können. Heute müssen Triebe und Wünsche dem guten Zusammenleben geopfert werden. Die Begründung für diesen Verzicht lieferte früher die Religion, heute, nachdem Gott selbst geopfert wurde, eine säkularisierte Moral (vgl. JGB, § 55). Die eigentlich Leidenden sind seitdem die Starken, die aufgrund der lebensverneinenden Werte der Religion, später der säkularisierten Moral, ihre lebensbejahenden Instinkte unterdrücken müssen.
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1.2.2 Naturalisierung der Moral Im Allgemeinen neigt man zu der Annahme, moralische Werte seien dazu da, das Zusammenleben der Menschen gütlich zu regeln. Die Moral diene dazu, das gegenwärtige Leben angemessen zu arrangieren und nach Möglichkeit auf die Zukunft hin zu verbessern. In Nietzsches Genealogie der Moral verwandelt sich die Moral dagegen zu einem taktischen Schachzug der Unterlegenen gegen die Starken. Die Schwachen haben die Moral erfunden, um die Starken zu unterdrücken. Die Moral macht alle zu schwachen Menschen und der schwache Mensch verlangt nur danach, dass der „Krieg, der er ist“ (JGB, § 200), später einmal ein Ende hat. Auf diesem Wege ist der Mensch seiner eigenen Natur fremd geworden. Die Moralisierung des Menschen zeichnet Nietzsche einerseits als latenten Krieg, in dem theoretische und moralische Ideen nur als Instrumente bzw. Waffen auftauchen, und andererseits als Verfallsgeschichte nach. Nietzsches Stellung zur Moral kann anhand seines philosophischen Stand2 punktes diskutiert werden, der mit der Genealogie rhetorisch evoziert wird. Die Entstehung der Moral wird von ihm streng empiristisch dargestellt. Weiterhin geht Nietzsche davon aus, dass die Geltungsansprüche moralischer Urteile nicht über die jeweilige Gesellschaft, in der sie entstanden sind, hinausweisen. Moral ist immer Unterdrückung, die durch Konditionierung der Menschen realisiert wird. Moralische Regeln, wie auch gesellschaftliche Konventionen, werden befolgt, weil sie durch körperliche Strafen verinnerlicht wurden. Diese empiristische Deutung der Rolle der Strafe bei der Entstehung der Moral ist bei Nietzsche strikt gegen Kant gedacht, so wie viele seiner Äußerungen im Grunde eine Auseinandersetzung mit Kants Moralphilosophie darstellen. Laut Nietzsche sind Strafen für die Einhaltung von Regeln konstitutiv. Wenn ein Mensch eine Regel einhält, so tut er dies aus Angst vor Strafe oder weil er die mögliche Strafe bereits als Gewissensbisse verinnerlicht hat. Die Strafe kann dagegen nach kantischer Auffassung nur eine indikative Rolle einnehmen. Sie ist erst dann für den Betroffenen eine Strafe, wenn er einsieht, dass die Regel, gegen die er verstoßen hat, zu Recht besteht. Fehlt diese Einsicht, dann ist eine Strafe keine Strafe, 2 Gegen Nietzsches Psychologie des Ressentiments als Erklärungsmodell für Religion und Moral existieren eine ganze Reihe historischer, sozialwissenschaftlicher und auch psychologischer Einwände, die Joas zusammengefasst hat (vgl. Joas 1999, 45ff.). Stellt man sich die Frage, wie es in diesem Denkmodell überhaupt zum Sieg der Schwachen über die Starken kommen konnte, wird Nietzsches Naturalisierung der Moral in sich widersprüchlich. Die starken Menschen, die daran gehindert werden ihre Größe zu entfalten, hätten aufgrund ihrer naturgegebenen Stärke keine Veranlassung dazu, sich der moralisch geforderten Mittelmäßigkeit und Leblosigkeit zu unterwerfen. Die einzige Erklärung für diesen Wandel wäre, dass sie sich mit der Moral identifizieren, was normative Einsicht voraussetzen würde und gegen eine naturalistische Moraltheorie spricht.
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sondern reine Willkür des Bestrafenden. Spricht man der Strafe dagegen eine konstitutive Rolle zu, dann spielt die Einsicht in eine moralische Regel keine Rolle, was bedeutet, dass das Subjekt nicht in der Lage sein muss Regel beurteilen zu können. Die Moral kann aus Nietzsches Perspektive nur ein reines Produkt der Gesellschaft sein. Autoritäten und Erziehung geben sie weiter. Die Erziehung zum moralischen Wesen setzt Nietzsche im Grunde mit der praktischen Umsetzung der psychischen Projektionen der Eltern gleich (vgl. JGB, § 194). Die Eltern projizieren in ihre Kinder, was ihnen selbst gesellschaftlich abverlangt wurde, und das ist in erster Linie Triebverzicht. Begründet wurde diese Erziehung früher durch das Christentum mit seinem Heilsversprechen im Jenseits, später durch die Demokratie mit ihren utopischen Gesellschaftsentwürfen. In beiden Fällen wird der Mensch bzw. das Kind auf die Zukunft vertröstet. Indem Nietzsche die Moral vollständig auf einen empirisch entstandenen Kanon von gesellschaftlichen Regeln reduziert, nimmt er moralischen Urteilen die Möglichkeit, bestehende Verhältnisse zu kritisieren. Diese Reduktion der Moral könnte man wiederum als moralisch motivierte Kritik an der bestehenden Kultur interpretieren. Dann würde man Nietzsche so auslegen, dass er im Grunde nicht die Moral als solche kritisiert, sondern nur eine ihrer Varianten, die man mit Kohlberg konventionelle Moral nennen könnte. Er nimmt dann den Umstand ins Visier, dass die Gesellschaftsmitglieder gezwungen sind, die Regeln ihrer Gesellschaft zu befolgen, ungeachtet dessen, ob es sich um Regeln handelt, die einem moralischen Prinzip im strengen Sinne folgen (z. B. das Tötungsverbot), oder um eine bloße Konvention (z. B. Interaktionsrituale). So betrachtet will Nietzsche eine post-konventionelle Moral entwickeln, die verhindern soll, dass die vergesellschafteten Subjekte blind den Regeln ihrer Gesellschaft folgen. Es wäre ein Aufruf zur Lebensbejahung, zur Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen, um den Menschen ein würdevolleres Leben zu ermöglichen. Ein Aufruf zu einer ausgefeilten moralischen Urteilsfähigkeit ist von Nietzsche eindeutig nicht gemeint, da er sich sonst einer kantischen Auffassung annähern würde. Eine solche Nietzsche-Interpretation ist durchaus möglich (vgl. die Literatur bei Joas 1999, 53). Sie reduziert Nietzsches Philosophie jedoch auf die Aufgabe, die er sich selbst gestellt hat: Die Suche nach einer höheren Kultur. Dabei wird sein spezifischer Lösungsvorschlag für diese Aufgabe vernachlässigt. So muss der anti-egalitaristische Zug seiner Genealogie als rhetorische Methode und nicht als unhinterfragte anthropologische Grundannahme ausgelegt werden, was nur schwer möglich ist (vgl. Tugendhat 2001, 237). Dagegen spricht weiterhin, dass Nietzsche zweifellos jede moralische Semantik auf ihren gesellschaftlichen
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und vermeintlich historischen Ursprung reduziert. Auch die mit einer postkonventionellen Moral verbundene Behauptung, man könne anhand moralischer Prinzipien für alle Menschen unabhängig von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen sprechen, weist er zurück. Nietzsches Standpunkt ist seiner Meinung nach nichts für den Durchschnittsmenschen, der an diesem Weltbild nur verzweifeln kann: „Cynismus ist die einzige Form, in welcher gemeine Seelen an Das streifen, was Redlichkeit ist; und der höhere Mensch hat bei jedem gröberen und feineren Cynismus die Ohren aufzumachen und sich jedes Mal Glück zu wünschen, wenn gerade vor ihm der Possenreisser ohne Scham oder wissenschaftliche Satyr laut werden.“ (JGB, § 26)
Die „gemeinen Seelen“ benötigen die ethische Verankerung in ihrer Gesellschaft, die die Starken nur belastet. Die Aussage: „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt“ (GM, dritte Abhandlung, § 24), kann man nicht jedem zumuten. Der genealogische Nachweis des nicht-moralischen Ursprungs der Moral ist ausschlaggebend dafür, dass sie für Nietzsche kein kritisches Potential enthalten kann. Die Reduzierung der Geltung auf die Genesis führt zur Zurückweisung universeller Geltungsansprüche. Ein solches Vorgehen scheint unweigerlich zur Zurückweisung des kritischen Potenzials der Moral zu führen. Dieser Zusammenhang wird offensichtlich, wenn man Nietzsches Position mit derjenigen Durkheims vergleicht. Durkheim ist, anders als Nietzsche, ein Moralist. Hinsichtlich des Zusammenhangs von Genesis und Geltung moralischer Urteile teilt er dessen Position. Für Durkheim kann es ebenfalls keine Moral geben, die über die bestehenden Verhältnisse hinausweisen kann, da sie voll und ganz den Anforderungen der jeweiligen Gesellschaft entspricht (vgl. Durkheim 1996, S. 116). So hat Durkheim entsprechende Probleme, eine post-konventionelle Moral in seiner Soziologie unterzubringen. Nietzsche behauptet jedoch, mit seiner Einschätzung die bestehende Kultur und Gesellschaft transzendieren zu können. Da er dies nicht auf moralischem Weg tun kann und will, bleibt methodisch nur noch der Ausweg der anthropologischen Unterscheidung zwischen Starken und Schwachen (vgl. Freier 1984, 349ff.). Nur auf diesem Wege kann er in seiner Konstruktion noch menschliches Leiden – einer bestimmten Gruppe von Menschen – plausibel machen. An dieser Stelle muss man fragen, was Nietzsche genau mit „Stärke“ meint. In der Genealogie der Moral gibt es mehrere Anzeichen dafür, dass hier physische Stärke gemeint ist. Der lebensbejahende, dionysische Rausch ist ein körperlicher Zustand. In Jenseits von Gut und Böse gibt es weiterhin viele Hinweise auf eine psychische Überlegenheit. Hier spricht Nietzsche von den tieferen Empfindun-
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gen, zu denen die Starken fähig sind. Das intensivere Leid ist für Nietzsche ein Zeichen ursprünglicher Größe, die sich kulturell nicht entfalten darf. Der von Nietzsche anvisierte kulturelle und gesellschaftliche Zustand jenseits jeglicher moralischer Semantik ist der freie Kampf, bei dem es unweigerlich Verlierer geben muss. Nur wären diesmal nicht mehr die Starken die Leidenden. Der gewünschte gesellschaftliche Zustand trägt eindeutig sozialdarwinistische Züge und es ist schwer, diesen Charakter seiner Philosophie auszublenden. Trotzdem muss darauf hingewiesen werden, dass in einem bestimmten Sinne hiermit tatsächlich ein Freiheitsgewinn verbunden sein kann. Die moralische Semantik macht den Handelnden für sein Tun verantwortlich und enthält damit auch immer das Potenzial, den Handelnden zu „verurteilen“. Verstößt der Handelnde gegen eine Regel, so kann er moralisch kritisiert und zur Rechtfertigung aufgefordert werden, woraus ein permanenter Zwang zur Selbstreflexion und Selbstprüfung folgt. Nietzsche will offensichtlich diesen Zwang zur Reflexion in der zwischenmenschlichen Interaktion überwinden und dadurch Freiheit gewinnen. Freiheit meint dann Freiheit von sozialen Zwängen, die in den sozialen Interaktionen potenziell angelegt sind. Die Schattenseite dieser äußeren Freiheit zeigt sich sofort, wenn man sich vorstellt, wie das soziale Zusammenleben nach der Eliminierung jeglicher moralischer Semantik aussehen würde. Ohne moralische Semantik könnte man Regelverstöße nicht mehr kritisieren, denn sie wären als solche nicht mehr kenntlich zu machen. Die Folge wäre ein Zusammenleben in permanenter Unsicherheit – ein Leben in ständiger Angst um Leib und Leben. Hinter Nietzsches Zurückweisung der Vorstellung, Menschen seien moralische Subjekte, die sich gegenseitig zur Verantwortung ziehen können, steht eine bestimmte sprachphilosophische Vorstellung. Hier ist ein Aspekt in Nietzsches Philosophie enthalten, der erst Jahrzehnte später insbesondere vom Pragmatismus und in sprachlicher Hinsicht vom späten Wittgenstein in den Mittelpunkt gerückt wurde. Nietzsche will zeigen, dass zwischenmenschliche Handlungen in erster Linie performativ zu betrachten sind und nicht als reflektierte bzw. intentionale Akte. Die Moral ist laut Nietzsche auf das Subjekt hinter der Handlung angewiesen, das für seine Handlung verantwortlich gemacht werden kann. Moral hat ein moralisches Subjekt zur Voraussetzung, das mit einem freien Willen ausgestattet ist. Das Subjekt hält er für eine Täuschung, die nicht zuletzt der Struktur unserer Sprache geschuldet ist. Ein Satz wird in der Regel mit Subjekt und Prädikat gebildet, so dass man geneigt ist, selbst da ein Subjekt anzunehmen, wo keines auszumachen ist („Der Wind weht.“). Dazu gehört das moralische Subjekt ebenso wie das erkenntnistheoretische Subjekt. Sowohl in der Moral als auch in der Erkenntnis gibt es für Nietzsche kein Subjekt, das handelt
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bzw. erkennt. In Theorie und Praxis ist Nietzsche ein pragmatischer Philosoph, d. h. er bindet Erkenntnis und Moral an deren praktischen Vollzug. Der praktische Vollzug ist bei Nietzsche Ausdruck des Lebens, das in erster Linie auf Selbstbehauptung aus ist. Die Selbstbehauptung, der „Wille zur Macht“, bedarf als natürlicher Grund keiner weiteren Begründung (vgl. GM, Zweite Abhandlung, § 12). So gesehen haben moralische wie theoretische Urteile keinen ontologischen Bezug. Keine Aussage kann für sich beanspruchen, auf einen Referenten zu verweisen. Die Suggestion eines ontologischen Bezuges verdankt sich unserer Grammatik. Nietzsche vertritt einen metaphysischen Irrationalismus, da es hinter unseren Aussagen nichts gibt, was ihnen Bedeutung verleihen könnte. Es gibt keinen Grund zur Annahme, unsere Aussagen, seien sie moralischer oder erkenntnistheoretischer Natur, würden etwas über „die Welt“ aussagen: Nietzsches Sprachphilosophie ist ein rückhaltloser Nominalismus. Die menschliche Geschichte besitzt in diesem metaphysischen Irrationalismus, den Nietzsche Nihilismus nennt, weder Sinn noch Zweck. Es gibt kein teleologisches Weltbild und keine Werte, die universale Gültigkeit beanspruchen können bzw. objektiv „wahr“ sein können. Damit verliert der Wahrheitsbegriff das ontologische Wahrheitskriterium. Was „wahr“ genannt werden kann verdankt sich allein der kontingenten Praxis der Menschen – man könnte diesen Wahrheitsbegriff einen pragmatischen nennen (vgl. Tugendhat/Wolf 1983, 237). Die Sprache hat für Nietzsche in erster Linie eine soziale Funktion, sie dient als Instrument im sozialen Kampf. Für die vermeintliche Bezeichnungsfunktion der Sprache bedeutet das, dass eine Interpretation der Welt nie wahr oder falsch ist, sondern in erster Linie ein Ausdruck sozialer Machtverhältnisse ist. Was wahr ist, bestimmt der Sieger des sozialen Kampfes. 1.2.3 Entstehung des moralischen Subjekt Wie Foucault häufiger erwähnte, hat ihn seine Nietzsche-Lektüre seit den 1950er-Jahren tief beeinflusst. So tief, dass er sich selbst weigerte, diesen Einfluss genauer zu bestimmen (vgl. Schriften 1, 784). Trotz dieser Weigerung kann man sehr genau Differenzen und Übereinstimmungen zwischen Nietzsche und Foucault ausmachen. Foucault hat immer wieder hervorgehoben, dass die Nietzsche-Lektüre ihm geholfen hat, sich aus den Fängen von Marxismus und Phänomenologie zu befreien, die nach dem zweiten Weltkrieg in Frankreich das intellektuelle Klima bestimmten. Nietzsche wurde in den 1950er-Jahren von vielen, so auch von
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Foucault, neu entdeckt. Zu Beginn der 1960er-Jahre stellte Foucault Nietzsche noch mit Marx und Freud auf eine Ebene, weil alle drei ein neues Interpretationsverständnis der Welt entwickelten (vgl. Schriften 1, 727ff.). Später erkannte Foucault, dass Nietzsches Philosophie die Möglichkeit eröffnet, außerhalb marxistischer Denkmuster kritisch Position zu beziehen (vgl. dazu Balibar 1991, 39ff.). Die entscheidende Intention, die Foucault direkt von Nietzsche übernimmt, ist der Versuch, neue Denkmuster zu erlangen, die jenseits der moralischen Semantik liegen. Foucault ist wie Nietzsche der Meinung, dass die typischen gegenwärtigen Erklärungsmuster für gesellschaftliche und kulturelle Konflikte und Probleme in erster Linie eine instrumentelle Rolle spielen. Sie dienen als Waffen im sozialen Kampf, um bestehende Verhältnisse zu rechtfertigen. Das gilt selbst für die vermeintlich progressiven Erklärungsmuster, die vorgeben, bestehende Verhältnisse im Namen höherer Werte zu kritisieren. Kritische Erklärungsmuster, die auf moralischen Werten wie Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit beruhen, können nicht beanspruchen, über bestehende Verhältnisse hinauszuweisen. Moralische Werte werden verinnerlicht und befolgt, weil sie mit Strafen verbunden sind. Die Strafe ist demnach konstitutiv für die Befolgung von Regeln und die Idee, man befolge die Regeln, weil diese bestimmte Werte verkörpern, ist nur ein Trugbild. Foucault hat diese konstitutive Rolle der Strafe für die Befolgung von Regeln in Überwachen und Strafen explizit dargestellt. Die Befolgung gesellschaftlichen Regeln, ist auf die Disziplinierung der Individuen zurück zu führen, die im Wesentlichen als Konditionierung zu verstehen ist: „Die Disziplinarstrafe ist zu einem Gutteil mit der Verpflichtung selbst identisch. Sie ist weniger Rache des verletzten Gesetzes als vielmehr Wiederholung, seine nachdrückliche Einschärfung. Der erwartete Besserungseffekt resultiert weniger aus Sühne und Reue als vielmehr direkt aus der Mechanik einer Dressur. Richten ist Abrichten.“ (ÜS, 232)
Er zitiert einen Pädagogen aus dem 18. Jahrhundert, der die Meinung vertritt, man solle zunächst „das Herz des Kindes gewinnen“, damit im Anschluss daran auch die Strafe als Strafe empfunden wird (ÜS, 233). Man könnte diese Idee so verstehen, dass der Pädagoge damit sagen will, das Kind müsse sich zuerst mit dem Pädagogen identifizieren, damit es eine vom Pädagogen verhängt Strafe als eine solche empfindet. Der Liebesentzug wäre dann die Strafe. Daraus ließe sich dann verallgemeinern, dass ein Heranwachsender sich mit den durch den Pädagogen verkörperten Normen identifizieren muss, damit er die Bestrafung des Normenverstoßes anerkennt und nicht als bloße Willkür versteht. Hier hätte
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dann die Strafe die bereits erwähnte indikative Rolle, die dem Individuum anzeigt, gegen etwas verstoßen zu haben, das es selbst für wertvoll erachtet. Foucault betont dagegen, dass auch die vorherige Identifikation (zuerst mit dem Pädagogen, später mit den gesellschaftlichen Normen), nur eine Etappe in einem „Zweitaktmechanismus“ (ebd.) darstellt. Dieser ermöglicht „eine Reihe von Operationen, die für die Disziplinarjustiz charakteristisch sind. Zunächst die Qualifizierung der Verhaltensweisen und Leistungen auf einer Skala zwischen Gut und Schlecht.“ (ebd.)
Im Anschluss daran kann die Strafe bei Verstoß gegen die vorweg qualifizierten Normen quantitativ bemessen werden. Dass Foucault die Disziplinierung der Gesellschaftsmitglieder über den Mechanismus der Konditionierung erklärt, ist bereits häufig festgestellt worden, beispielsweise von Giddens, wenn er hervorhebt, dass Foucaults Körper, auf die er die Gesellschaftsmitglieder in Überwachen und Strafen reduziert, nicht handeln (vgl. Giddens 1997, 209; Honneth 1989, 210; Brinkmann 1999, 263). Die Disziplinierung der Körper funktioniert mit Hilfe architektonischer Vorkehrungen, die die Körper im Raum anordnen, gruppieren und voneinander trennen und mit Hilfe detailliert geplanter Tagesabläufe, die sie im Zeitablauf positionieren (vgl. ÜS, 181ff.). Für Foucaults empiristische Deutung der Entstehung normgeleiteten Handelns gibt es einen wichtigen theoriestrategischen Grund. Ähnlich wie Nietzsche geht Foucault von einem „Willen zur Macht“ aus. Aber anders als Nietzsche will er diesen nicht mit Hilfe psychologischer oder subjektphilosophischer Mittel erklären. Seine Kritik gilt der modernen Form der Subjektivierung, die für ihn vor allem mit der Psychologisierung des menschlichen Handelns verbunden ist (vgl. VG, 220). Um diese Strategie konsequent verfolgen zu können, muss er die moderne Psyche oder Seele als reines Produkt von modernen Verkehrsformen und Sozialisationsprozessen behandeln: „In dieser Seele wäre also nicht ein wiederbelebtes Relikt einer Ideologie zu erblicken, sondern der aktuelle Bezugspunkts einer bestimmten Technologie der Macht über den Körper. Man sage nicht, die Seele sei eine Illusion oder ein ideologischer Begriff. Sie existiert, sie hat Wirklichkeit, sie wird ständig produziert – um den Körper, am Körper, im Körper – durch Machtausübung an jenen, die man bestraft, und im allgemeineren Sinn an jenen, die man überwacht, dressiert und korrigiert, an den Wahnsinnigen, den Kindern, den Schülern, den Kolonisierten, an denen, die man an einen Produktionsapparat bindet und ein Leben lang kontrolliert.“ (ÜS, 41)
Diese behavioristische Sicht erklärt sich durch die strikte Ablehnung jeder Form von Psychologie. Wenn man in der Psychologisierung des Menschen das eigent-
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1 Foucaults Subjektphilosophie
liche Problem lokalisieren will, bleibt methodisch nur noch der Körper des Menschen übrig. Die Psyche ist dann ein Effekt der Manipulation der Körper (vgl. Lichtblau 1999, 225), die dazu dient, den Körper und seine Regungen in gesellschaftlich gewünschte Bahnen zu lenken – „Die Seele: Gefängnis des Körpers“ (ÜS, 42). Diese Reduktion ist in erster Linie in Überwachen und Strafen auszumachen. In Der Wille zum Wissen relativiert Foucault diese Position, indem er die Subjektivierung des Menschen über die in Kommunikationssituationen eingelassenen Machtbeziehungen analysiert und die Psychologisierung sowie die damit verbundene Moralisierung des Menschen nicht allein als körperliche Konditionierung darstellt. Die behavioristischen Konnotationen verlässt Foucault vollends in den letzten beiden Bänden von Sexualität und Wahrheit. Hier nimmt er den oben erwähnten dritten Aspekt der Subjektivierung des Menschen in den Blick (siehe 1.1.1) und untersucht, wie ein Individuum durch das Verhältnis zu sich selbst subjektiviert wird. Dieser Gedanke muss an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden (siehe dazu 3.2 - 3.4). Es bleibt festzuhalten, dass Foucaults Bild der Entstehung des moralischen Subjekts empiristisch zu verstehen ist und damit ganz auf der Linie von Nietzsches Genealogie der Moral liegt. Foucault teilt auch Nietzsches Reduktion der Geltung moralischer Aussagen auf die Genesis. Moralische Aussagen werden von Foucault konstant mit dem Hinweis relativiert, dass sie als geschichtliches Produkt nur im Rahmen bestehender kultureller und gesellschaftlicher Verhältnisse Geltung beanspruchen können (vgl. die Diskussion mit Chomsky in: Schriften 2, 586ff.). 1.2.4 Jenseits von Psychologie und Moral Foucault teilt mit Nietzsche den genetischen Reduktionismus, aber er unterscheidet sich von ihm durch seine strikt diskontinuierliche Geschichtsphilosophie. Nietzsche stellt seine eigene Moralkritik in einer Form von Kulturgeschichte dar, die noch auf ein Ziel hinauszulaufen hat: Auf die Umwertung aller Werte. Der Lauf der menschlichen Geschichte ist erst auf halbem Wege: „Es ist Mittag“, heißt es bei ihm häufig. Nietzsche erwartet noch den kulturellen Umschwung, der die Menschen in einen Zustand jenseits der Moral versetzt. Eine teleologische Geschichtsauffassung liegt Foucault fern (zu Nietzsche vgl. hierzu Freier 1984, 330ff.). Der Verlauf der menschlichen Geschichte wird in Büchern wie Wahnsinn und Gesellschaft oder Die Ordnung der Dinge wie ein Kaleido-
1.2 Das moralische Subjekt
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skop beschrieben. Eine Epoche beruht auf einer bestimmten Episteme3, die als historisches Apriori die Erkenntnismöglichkeiten strukturiert. Die Episteme gibt das Muster vor, nach dem die Welt geordnet werden kann. Ein Epochenwechsel findet statt, wenn das Kaleidoskop geschüttelt wird. Hinter diesen Wechseln verbergen sich keine gefundenen Problemlösungen oder Weiterentwicklungen von Ideen (vgl. Frank 1983, 146). Die einzigen Zugeständnisse an evolutionäre Erklärungen macht er gelegentlich an die materialistische Auffassung, dass ökonomische Veränderungen eine Rolle bei der Gestaltung von Gesellschaften spielen. Eine Genealogie wie diejenige Nietzsches, die suggeriert, sich auf einen urzeitlichen Zeitpunkt zu beziehen, der bis in die Gegenwart hinein wirkt, ist deshalb bei Foucault nicht möglich. Bis in die 1970er-Jahre hinein interessiert er sich für einen vergleichsweise jungen Zeitabschnitt: Von der Aufklärung bis zum Beginn der Moderne in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Diese Untersuchungen sollen nicht zeigen, dass die hier behandelten Phänomene auch auf die Gegenwart zutreffen. Zwar sagen seine Leser, dass die von ihm beschriebenen Praktiken und Diskurse noch heute anzutreffen sind, aber er betont immer wieder, dass dieser Gegenwartsbezug nicht sein Ausgangspunkt oder Ziel ist (vgl. Schriften 4, 59). Er will zeigen, dass zwischenmenschliche Praktiken und Diskurse in sehr spezifischer Weise ein Produkt der jeweiligen Epoche darstellen und deshalb keine darüber hinausweisende Geltung beanspruchen können. Seine neutralen Beschreibungen jeder historischen Epoche und ihrer jeweiligen Praktiken bewahren ihn vor einer behaupteten Verfallsgeschichte oder 4 kulturellen Evolution. Wenn Foucault an Nietzsches Genealogie anknüpft, bleibt streng genommen nur noch die Methode übrig, die dem destruktiven Ziel dient, normative Gewissheiten zu erschüttern (vgl. Schriften 2, 186). Foucault stellt die Genealogie mit Nietzsche der „Historie der Historiker“ entgegen, die den Fehler begehe, die eigenen normativen Grundannahmen auf vergangene Epochen zu projizieren. Um diesen Fehler zu vermeiden, nähert sich Foucault 3
Mit Episteme bezeichnet Foucault in Die Ordnung der Dinge die verschiedenen Ordnungsstrukturen des Denkens im Lauf der Geschichte. Die Ordnungsstruktur der Neuzeit war durch eine Theorie der Zeichen bestimmt, die Ordnungsstruktur der Moderne ist dagegen durch den Menschen bestimmt. Die Episteme übernehmen bei Foucault die Rolle die das transzendentale Subjekts bei Kant inne hat. Sein Begriff der Episteme ist in Die Ordnung der Dinge deutlich vom Strukturalismus geprägt (vgl. hierzu Frank 1983, 142f.). 4 In Foucaults Geschichtsphilosophie treiben weder die Ideen noch die Menschen den Lauf der Geschichte voran. Er geht nicht der Frage nach, wie Veränderungen erklärt werden können, sondern beschränkt sich darauf, positiv zu beschreiben, wie Menschen in bestimmten Epochen gehandelt und gedacht haben. Für Veyne hat Foucault mit diesem Positivismus der menschlichen Pragmatik die Geschichtsschreibung revolutioniert (vgl. Veyne 1986 und 1992). Zu Foucaults (Sprach-)Pragmatik vgl. 2.2.2.
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1 Foucaults Subjektphilosophie
den historischen Daten als „fröhlicher Positivist“ und lässt die historischen Dokumente für sich sprechen. Auf diesem Wege soll die Genealogie etwas über die Herkunft und Entstehung unserer normativen Begriffe zeigen und diese weder rechtfertigen noch voraussetzen. Diese Methode hat etwas von einer Literaturgattung, die man in der Grundschule behandelt: Man liest mit den Kindern Fabeln, in denen in der Regel sprechende Tiere aufgrund egoistischer Haltungen in Konflikte oder Problemsituationen geraten, ohne dass die Lösung des Konflikts genannt wird. Die Diskussion des Textes führt unweigerlich zur Frage nach der Moral der Geschichte, die dann darin besteht, dass bestimmte Werte und Regeln als wichtig und vielleicht sogar notwendig erachtet werden. Fabeln zeigen anhand verfremdeter Situationen die Notwendigkeit von wertgeleiteten Normen auf, ohne sie explizit zu nennen. Die Genealogie verfährt ebenso, nur dass das Gegenteil aufgezeigt werden soll. Es handelt sich um eine negative Fabel, die unser normatives Selbstverständnis 5 nicht bestätigen, sondern erschüttern soll. Foucault untersucht bekanntermaßen einen anderen Objektbereich als Nietzsche. Dieser sieht vor allem im Christen- und Judentum den Ursprung für die Moral und ergeht sich in entsprechend abwertenden Äußerungen. Foucault teilt diese Einschätzung und nimmt aber darüber hinaus die Humanwissenschaften in den Blick, wo er den Ursprung der modernen Psychologisierung und Moralisierung des menschlichen Handelns ausmacht. Durch die Wissenschaften vom Menschen werden diese zu Objekten der Erkenntnis gemacht, wodurch, so die These in Wahnsinn und Gesellschaft, komplementär dazu die Idee des Erkenntnissubjekts entsteht. Mit Hilfe dieser Wissenschaften kam es zu neuen Formen der Ausgrenzung und Einsperrung von Menschen, die bestehende Normen nicht einhalten. Das zeigt einen ganz wesentlichen Unterschied zu Nietzsche, bei dem die vermeintlich zu höherem Berufenen an Phantomschmerzen leiden, weil sie ihre behauptete Größe nicht kulturell entfalten können. Foucault nimmt dagegen die tatsächlich Ausgegrenzten und Marginalisierten der Gesellschaft in den Blick. Da Foucault die vermeintlich anthropologische Unterscheidung zwischen stark und schwach nicht übernimmt, lässt sich bei ihm auch kein AntiEgalitarismus feststellen. Seine Kritik am normativen Selbstverständnis schlägt nicht in eine Antimoral um. Es ist offensichtlich, dass seine Beschreibungen der Entstehung der Psychiatrie oder des Gefängnisses auf das gegenwärtige morali5
Putnam nennt Foucault auch einen „Satiriker“, der mit seinen Genealogien in erster Linie nur das aufdecken will, was an gegenwärtigen gesellschaftlichen und kulturellen Auffassungen irrational ist und dabei die Auffassung ausblendet, die, vermutlich auch für Foucault, rational sind (vgl. Putnam 1995, 202ff.).
1.3 Anthropologie und Humanismus
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sche Vokabular angewiesen sind und immer wieder den repressiven Charakter institutionalisierter Praktiken und Diskurse bezeugen. Vor diesem Hintergrund ergibt sich Foucaults performativer Selbstwiderspruch, dass er Normativität in seinen Aussagen zurückweist und performativ immer voraussetzen muss. Auch sein Machtbegriff zeigt, dass er nie konsequent anti-moralisch argumentiert. Machtbeziehungen sind Gegenstand von Foucaults Kritik, da sie die Menschen regieren. Sein moralischer Impuls lautet: „Niemals Politik machen.“ (GG 1, 17). Insofern hat Macht bei Foucault immer auch negative Vorzeichen (siehe 2.1), während sie bei Nietzsche noch positiv besetzt ist: Der Wille zur Macht als Ausdruck des Lebens soll sich entfalten. Dieser Wille wandelt sich bei Foucault zu einem Willen zum Wissen, der sich von Nietzsches Biologismus befreit hat und einzig als soziales Phänomen analysiert wird (vgl. Marti 1988, 78). Da die sozialdarwinistische Vermengung von biologischen und sozialen Begriffen bei Foucault sonst nicht auftaucht, sollte seine Verwendung des Begriffs „Wille“ im Titel des ersten Bandes von Sexualität und Wahrheit als reine Metapher aufgefasst werden. 1.3 Anthropologie und Humanismus Mit der Anknüpfung an Nietzsche will Foucault eine Kritik ohne politischökonomische oder psychologische Erklärungsmuster entwickeln, die nicht unter der Hand bestehende Machtverhältnisse verteidigt. Sein tiefer gehendes Anliegen ist es, die Fixierung auf „das Subjekt“, sowohl in der Theorie als auch in der Praxis, als das eigentliche Problem heraus zu schälen. Theoretische Erklärungsmuster, die auf eine politische Ökonomie oder eine Psychologie zurückgreifen, sind auf das konstituierende und zu verändernde Subjekt angewiesen. In der Praxis dient die Unterstellung eines moralischen und psychologischen Subjekts dem Erhalt von Machtbeziehungen. Für Theorie und Praxis gilt, dass sie mit dem Festhalten an dem Subjektbegriff an der Erhaltung von Machtbeziehungen mitarbeiten. Psychologisierung und Moralisierung des Subjekts macht Foucault als die spezifisch moderne Form der Subjektivierung aus. Der moderne Mensch ist gezwungen, sich selbst als handelndes Subjekt zu verstehen, das seine Handlungen planen und diese verantwortlich gemacht werden kann. Die Moral wird so zum Hauptangriffsziel, das Foucault von Nietzsche übernimmt. Wenn Foucault die Zeit der Aufklärung bzw. der Klassik, wie er sie nennt, untersucht, so will er zeigen, wie diese Fixierung auf den Menschen und seine Handlungen entstanden ist. Gleichzeitig vertritt er die bekannte These, dass sich diese Fixierung bereits auflöst (1.3.1). Die Anthropologisierung, im Sinne der
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Zentrierung des Denkens auf den Menschen, stellt einen theoretischen und praktischen Fehltritt dar. Hier finden sich deutliche Parallelen zu Heideggers Seinsphilosophie, in der humanistisches Denken als eine Verfallserscheinung dargestellt wird (1.3.2). Foucaults Position bezüglich des Humanismus lässt sich unterschiedlich auslegen. Fraser hat drei in der Sekundärliteratur anzutreffenden Interpretationsmöglichkeiten unterschieden. Diesen drei Interpretationsmöglichkeiten muss noch einen vierte hinzugefügt werden, die sich auf Foucaults eigenes theoretisches Handeln bezieht (1.3.3). 1.3.1 Anthropologisches Denken Die Untersuchung der Entstehung des anthropologischen Denkens bestimmt insbesondere die frühen Werke in den 1960er-Jahre. In Wahnsinn und Gesellschaft zeigt Foucault, wie im Übergang zur Moderne die Psychiatrie entstanden ist und parallel dazu das erkenntnistheoretische Subjekt philosophisch erschaffen wurde. Im Übergang zur Moderne wird laut Foucault der Mensch als wissenschaftliches und philosophisches Thema „entdeckt“. Die historischen Epochen, die er bis in die 1970er-Jahre hinein untersucht, sind vornehmlich die Renaissance, die Klassik und die Moderne. Seine Untersuchungen sind Montagen historischer Daten, die belegen sollen, dass der Mensch erst in der Moderne zum Thema gemacht wurde. In der Renaissance war der Mensch eingelassen in ein Weltbild aus Ähnlichkeiten. Er war, ebenso wie Sprache und Natur, Bestandteil des Kosmos. Alles konnte zu den unterschiedlichsten Dingen verschiedener Kategorien in Beziehung gesetzt werden. Der Mensch verschwand in einem kosmologischen Spiegelspiel der Ähnlichkeitsbeziehungen, in dem Mikro- und Makrokosmos ständig aufeinander verwiesen (vgl. OD, 46ff.). Dieses kosmologische Weltbild wurde in der Klassik zugunsten der Kategorisierung der Welt aufgegeben. Es wurde begonnen, die Welt in Objektbereiche zu ordnen, die einzeln untersucht und tabellarisch strukturiert werden konnten. Ein Objektbereich wie das Leben wurde in Gattungen und Arten unterteilt (vgl. OD, 107ff.). Der Mensch hatte noch immer keine herausragende Rolle. Er war in der Wissenschaft vom Leben, dem Vorläufer der modernen Biologie, ein Lebewesen unter anderen. Ähnlich verhielt es sich in der Erforschung der Grammatik und der Ökonomie. Erst im Übergang zur Moderne macht Foucault den besonderen Bezug zum Menschen aus. Im Mittelpunkt des Interesses steht jetzt nicht mehr das Leben, die Arbeit, die Sprache, sondern der lebende, arbeitende und sprechende Mensch. Foucault nennt dies Anthropologie, womit er
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nicht die wissenschaftliche Disziplin, sondern die thematische Fixierung des Denkens auf den Menschen meint: „Vor dem Ende des 18. Jahrhunderts existierte der Mensch nicht“ (OD, 373). In der Moderne konnte so die Humanwissenschaften entstehen, die sich laut Foucault mit einer Reihe theoretischer Probleme konfrontiert sehen, die für die Moderne symptomatisch sind und daraus resultieren, dass der Mensch als „empirisch-transzendentale Dublette“ (OD, 384; vgl. auch Kant in ApH, BA 15f., Fußnote) auftaucht. Die Humanwissenschaften erheben den Menschen zum Objekt der Erkenntnis. Gleichzeitig untersuchen sie dieses Objekt immer als Subjekt, das seine Welt konstituiert. Wenn der Humanwissenschaftler erkennt, dass er selbst zum Objektbereich gehört, den er untersucht, dann stellt er fest, dass er ebenfalls ein konstituierendes Subjekt ist und sieht sich mit der Frage konfrontiert, ob seine Untersuchungen nicht immer nur Projektionen seiner selbst sind. Die Frage nach der „Objektivität“ der Humanwissenschaften ist damit unausweichlich. Scheinbar gibt es keinen genuin wissenschaftlichen Zugang zum eigenen Objektbereich wie in der Physik oder der Mathematik. Diese Problemlage ist nach Foucault einer nicht zu lösenden Spannung zwischen zwei Ordnungssystemen geschuldet. Das moderne Ordnungssystem stellt den Menschen in den Mittelpunkt und ordnet die Welt nach seinen Voraussetzungen, d. h. entsprechend seiner Eigenschaft, sprechendes, arbeitendes und lebendes Wesen zu sein. Das Subjekt als wissenschaftliches Objekt und der Mensch als konstituierendes Subjekt sind miteinander verstrickt (vgl. Schriften 1, 778), wodurch sich die Frage aufdrängt, wie der Mensch in dieser Situation zu interpretieren sei. Damit steht zur Debatte, wie sich der Mensch zu seiner eigenen Zeichenverwendung verhält. Die Ordnung der Zeichen ist für Foucault jedoch eine gänzlich andere als die Ordnung des Menschen. Die Ordnung der Zeichen ist die Episteme der Klassik (=Aufklärung, Neuzeit), in der nur die Repräsentation der Welt als solche analysiert wurde, wie Foucault behauptet. Wenn der Mensch selbst zum Zeichen verwendenden Tier wird, dann wird er sich selbst zum theoretischen Problem, weil er scheinbar darauf angewiesen ist, sich selbst zu verdoppeln: Er spricht und muss „hinter“ dem Sprechen Denken und sprachliche Zeichen koordinieren. Nur vor diesem theoretischen Hintergrund sind für Foucault Phänomene wie Psyche oder freier Wille problematisierbar. Würde man sich dagegen nur der Ordnung der Zeichen widmen, wie dies nach seiner Analyse im Zeitalter der Klassik der Fall war, gäbe es kein theoretisches Problem und freies Denken wäre für sich genommen wieder möglich, was für Foucault bedeutet, das Denken nicht zu moralisieren und damit zu normieren.
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Foucaults Diagnose lautet deshalb, dass die Humanwissenschaften, die im Namen des Menschen diesen selbst untersuchen, im Prinzip halb dem klassischen Denkmuster verhaftet sind, in dem die Repräsentation der Welt durch die Sprache noch ohne den Menschen analysiert wurde (vgl. OD, 98ff.). Die theoretischen Probleme der Humanwissenschaften, und damit auch des Humanismus im allgemeinen, sind Probleme, die sich erledigen würden, wenn man das souveräne Subjekt verabschieden würde, so wie es seiner Diagnose nach bereits in der Literatur, der Ethnologie und der Psychoanalyse geschehen ist.6 Den Humanwissenschaften gelingt diese Verabschiedung nicht, weshalb sie in zwei inkohärenten Ordnungssystemen stecken bleiben: „[...] es geht um die Tatsache, daß die Humanwissenschaften im Unterschied zu den empirischen Wissenschaften seit dem neunzehnten Jahrhundert und im Unterschied zum modernen Denken den Primat der Repräsentation nicht haben umgehen können. Wie das ganze klassische Denken ruhen sie in ihr. [...] Indessen kam man verstehen, warum man jedesmal, wenn man sich der Humanwissenschaften bedienen will, um zu philosophieren, um in den Raum des Denkens das zu bringen, was man dort hat lernen können, wo der Mensch zur Debatte stand, die Philosophie des achtzehnten Jahrhundert nachahmt, in der der Mensch noch keinen Platz hatte.“ (OD, 435f.)
Ein weiterer Aspekt, den Foucault insbesondere in seinen genealogischen Arbeiten und späteren Vorlesungen hervorhebt bzw. suggeriert, ist, dass die Humanwissenschaften einen Einfluss auf die gesellschaftlichen Institutionen haben. Sie sind mit ihnen auf strategische Weise verknüpft und konstituieren neue Machtbereiche. Im Verbund mit Justiz und Politik dienen sie der Normalisierung der Gesellschaft (siehe 2.2). 1.3.2 Unterwanderung des Humanismus Die Thematisierung des Menschen in Wissenschaft, Politik und Philosophie tritt als Humanismus auf, der sich zum Ziel gesetzt hat, mit Hilfe wissenschaftlicher und philosophischer Erkenntnisse den Menschen näher zu bestimmen, um ihm zum besseren Leben ohne Leiden zu verhelfen. Politik und Moral sollen diese 6 Foucault bezieht sich hier auf Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in denen zunehmend statt des Menschen die Sprache in den Mittelpunkt gerückt wurde. Hinsichtlich der Psychoanalyse bezieht sich diese Diagnose beispielsweise auf Lacan, der das Unbewusste als Sprache versteht. Hinter diesen Tendenzen steht Heideggers These, dass die Sprache spreche und nicht der Mensch (vgl. Heidegger 2003, 12).
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Erkenntnisse in die Tat umsetzen bzw. die positiven Errungenschaften erhalten. Wenn das Leiden der Menschen als gesellschaftliches und kulturelles Problem verstanden wird, dann folgt daraus, dass die Verhältnisse, in denen die Menschen leben, verändert werden müssen. Die Verhältnisse zu verändern kann dann nur bedeuten, die Menschen zu verändern, die diese Verhältnisse selbst hervorbringen. Bildung und Erziehung sind im humanistischen Weltbild deshalb unverzichtbar. Der Mensch, d. h. der Humanismus, taucht erst in der Episteme der Moderne auf (vgl. Schriften 1, 679) und zieht nun nicht nur theoretische, sondern auch praktische Probleme nach sich, die für Foucault nicht lösbar sind: „Die größte Last, die wir aus dem 19. Jahrhundert geerbt haben – und von der wir uns unbedingt befreien sollten –, ist der Humanismus... Der Humanismus war ein Versuch, mit Begriffen wie Moral, Wert und Versöhnung Probleme zu lösen, die sich gar nicht lösen ließen. [...] Ich glaube man kann sagen: Der Humanismus gibt vor, Probleme zu lösen, die man sich gar nicht stellen kann.“ (Schriften 1, 667)
Das Hauptproblem des Humanismus ist, dass er das Versprechen des Glücks nicht einlösen kann: „Heute wird klar, dass der Mensch möglicherweise weder das theoretische Grundproblem noch das praktische Problem darstellt, das man in ihm gesehen hat, und das er nicht das Objekt ist, mit dem wir uns unablässig befassen müssen, und dies alles vielleicht, weil der Mensch sich nicht zum Glück eignet. Und wenn er nicht glücklich sein kann, welchen Sinn hat es dann, sie mit dieser Frage zu befassen?“ (Schriften 1, 832)
Foucault legt diese Diagnose nie pessimistisch aus. Insbesondere in den letzten Jahren seines Schaffens hat er immer wieder den bedingungslosen Optimismus seiner Forschungen betont. Sie sollten normative Gewissheiten erschüttern und Machtbeziehungen offen legen, nicht aber neue Ideale in die Welt setzen, die wiederum für Machtbeziehungen missbraucht werden könnten. Am humanistischen Projekt, die Menschen moralisch zu beeinflussen, um durch sie die Welt zu verbessern, will er nicht teilnehmen. Zwar verzichtet Foucault nicht vollends auf den Gedanken des Subjekts und der Subjektivierung des Menschen. Die humanistische Gegenüberstellung vom bildbaren, moralisch erziehbaren Subjekt und der Welt hält er jedoch nicht für notwendig. Mit seiner kritischen Haltung gegenüber dem Humanismus zeigt sich eine Verbundenheit mit Heideggers Seinsphilosophie (vgl. hierzu Forst 1990, 146ff.). Foucaults Beurteilung des Humanismus als theoretischen Irrweg und praktischer Chimäre stimmt in wesentlichen Punkten mit dem überein, was Heidegger in
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seinem Brief über den Humanismus darlegt. Heidegger geht hier in einem wichtigen Punkt über Nietzsche hinaus. Dessen Lebensphilosophie ist, auch wenn sie abstrakt vom Willen des Lebens zur Macht spricht, immer noch vom Subjekt aus gedacht, das der Welt gegenübersteht und in diese eingreift bzw. eingreifen will, um Effekte zu erzielen. Heidegger nennt diese philosophische Methodik der Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt kurz „Metaphysik“ (vgl. Heidegger 1998, 231ff.). Nach eigenem Selbstverständnis ist er der erste Philosoph, der diese Tradition, die für ihn bis auf Aristoteles und Platon zurückgeht, durchbricht, wenn er sagt, der Mensch sei immer schon „in der Welt“. Der Mensch wird von Heidegger zurückgeholt in das Geschehen des „Seins“, womit ausdrücklich nicht bloß die natürlichen Gegenstände gemeint sind („das Seiende“). Es gilt, den Menschen wieder als Bestandteil „des Seins“ zu verstehen, der mit seinem Denken die Welt als solche nicht transzendieren kann. Denken ist immer ein Seinsgeschehen und nicht die Verwirklichung der Intention eines souveränen Subjekts. Das gilt auch für die Handlungen des Menschen: „Man kennt das Handeln nur als das Bewirken einer Wirkung. Deren Wirklichkeit wird nach ihrem Nutzen geschätzt. Aber das Wesen des Handelns ist das Vollbringen. Vollbringen heißt: etwas in der Fülle seines Wesens entfalten, in diese hervorgleiten, producere. Vollbringbar ist eigentlich nur das, was schon ist. Was jedoch in allem »ist«, ist das Sein.“ (Heidegger 2000, 5)
Hinter einer Handlung wird nach Foucault seit dem 19. Jahrhundert das handelnde Subjekt vermutet, das einen Willen bildet. Seit dem herrscht die Vorstellung, Handlungen seien die instrumentellen Umsetzungen subjektiver Intentionen. Heidegger will dagegen betonen, dass Handlungen dem Menschen „geschehen“. Menschliche Handlungen sind phänomenologisch betrachtet nicht bewusst geplant, sondern Ereignisse, die sich praktisch vollziehen. Das gilt für das Denken: „Das Denken ist des Seins, insofern das Denken, vom Sein ereignet, dem Sein gehört. Das Denken ist zugleich Denken des Seins, insofern das Denken, dem Sein gehörend, auf das Sein hört.“ (Heidegger 2000, 8)
Sowie für das Sprechen: „Der Mensch muß, bevor er spricht, erst vom Sein sich wieder ansprechen lassen auf die Gefahr, daß er unter diesem Anspruch wenig oder selten etwas zu sagen hat.“ (Heidegger 2000, 11)
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Für das Handeln gilt dies ebenso, da Heidegger keinen Unterschied zwischen theoretischem und praktischem Verhalten macht (vgl. Heidegger 2000, 6). Wenn Heidegger die Metaphysik angreift, so ist die „technische Auslegung“ von Denken, Handeln und Sprechen gemeint. Dieser Vorwurf trifft immer auch den Humanismus, denn dieser versucht eine Wesensbestimmung des Menschen als sprechendes, arbeitendes oder lebendes Wesen vorzunehmen, wie Foucault sagt. Damit begeht der Humanismus den Fehler, dass er bestimmte Werte als humane Werte auszeichnet und diese damit schon entwertet, weil sie objektiviert und instrumentalisiert werden. Das kann laut Heidegger nur vermieden werden, wenn man den Menschen wieder in das Sein zurückholt und sich einer Bewertung enthält: „Das Denken gegen »die Werte« behauptet nicht, daß alles, was man als »Werte« erklärt – die »Kultur«, die »Kunst«, die »Wissenschaft«, die »Menschenwürde«, »Welt« und »Gott« – wertlos sei. Vielmehr gilt es endlich einzusehen, daß eben durch die Kennzeichnung von etwas als »Wert« das so Gewertete seiner Würde beraubt wird. Das besagt: durch Einschätzung von etwas als Wert wird das Gewertete nur als Gegenstand für die Schätzung des Menschen zugelassen. Aber das, was etwas in seinem Sein ist, erschöpft sich nicht in seiner Gegenständlichkeit, vollends dann nicht, wenn die Gegenständlichkeit den Charakter des Wertes hat. Alles Werten ist, auch wo es positiv wertet, eine Subjektivierung. Es läßt das Seiende lediglich als Objekt seines Tuns – gelten.“ (Heidegger 2000, 41)
Der Humanismus ist in sich paradox, weil er die Instrumentalisierung humaner Werte moralisch ablehnen und praktisch anwenden muss. Heidegger will den Humanismus unterwandern, indem er sich jeder Wertsetzung entzieht. Diese Enthaltsamkeit wird philosophisch mit dem Hinweis begründet, dass der Mensch als „Hirt des Seins“ seiner Würde beraubt wird, sobald man versucht, ihn aufgrund humanistischer Werte zu beeinflussen. Diese Philosophie muss sich gegenüber der Moral und der Politik, d. h. gegenüber allen zwischenmenschlichen Belangen, indifferent verhalten, weil sie sich sonst selbst verraten würde. Wenn man verstanden hat, dass der Mensch im Sein verankert ist, ist der Ruf nach einer Moralphilosophie oder Ethik hinfällig bzw. nur etwas für das „Massenwesen“, das diesen gedanklichen Sprung noch nicht gemacht hat (Heidegger 2000, 45). 1.3.3 Vier Interpretationen der Humanismuskritik Zum besseren Verständnis von Foucaults Ablehnung des Humanismus wird im Folgenden auf Nancy Frasers Interpretation des foucaultschen Werks eingegan-
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1 Foucaults Subjektphilosophie
gen, die zwischen drei Interpretationsmöglichkeiten unterscheidet. Ausgangspunkt für ihre Unterscheidungen ist die radikale Foucault-Kritik von Habermas (vgl. Fraser 1994, 56ff.). Habermas hatte in seinen Vorlesungen zum Philosophischen Diskurs der Moderne (vgl. Habermas 1998, 313ff.) Foucault den Vorwurf gemacht, er sei ein „Kryptonormativist“. Diese Kritik weitete er auf die Vertreter der Postmoderne insgesamt aus. Diejenigen, die die Moderne, d. h. die humanistische Moderne, als ganze ablehnen, könnten dies nur dann tun, wenn sie unter der Hand die Moderne an normativen Maßstäben bemessen. Nur weigern sich die Vertreter der Postmoderne, ihre impliziten Normen offen zu legen, da sie Normativität als Problem behandeln. Die pauschale Ablehnung der Moderne hat laut Habermas zweifelhafte politische Implikationen. Entweder sind die Postmodernen einfach anti-modern, womit die politische Ablehnung der Demokratie einhergeht, oder sie sind im Grunde doch noch modern. Wenn sie implizit der Moderne verhaftet bleiben, aber vorgeben, sie bereits überwunden zu haben, so läuft dies für Habermas darauf hinaus, dass sie letztendlich konservativ sind, da sie sich weigern, an politischen Weiterentwicklungen mitzuwirken. So kommt Habermas zu dem Schluss, dass Foucault wie auch die Vertreter der Postmoderne, „Jungkonservative“ sind. Fraser zeigt einerseits Sympathien für Habermas’ radikale Kritik an Foucault, denn sie macht auf das schwerwiegende Problem des performativen Selbstwiderspruchs in Foucaults Werk aufmerksam, dass er explizit (moralische) Normen zurückweist und sie implizit beanspruchen muss. Andererseits ist sie der Meinung, dass Habermas mit dieser Kritik einen Dialog mit Foucault erstickt und sich der Möglichkeit beraubt, Foucault weitere Fragen zu stellen, die ihn nötigen würden, seine Thesen zu präzisieren. Eine wichtige Frage an Foucault wäre laut Fraser, aus welchen Gründen Foucault den Humanismus (bzw. die Moderne, wie Habermas sagen würde) ablehnt. Hier macht sie drei verschiedene Antworten aus, die man in der Foucault-Rezeption wieder finden kann (vgl. Fraser 1994, 58). Erstens könnte man Foucault so verstehen, dass er den Humanismus aus rein konzeptuellen Gründen ablehnt. Zweitens könnte man behaupten, dass Foucault strategische und drittens sogar normative Gründe zur Ablehnung hat. Fraser geht davon aus, dass man für jede dieser drei Positionen Belege in Foucaults Werk finden kann. Sie will selbst keine dieser drei Möglichkeiten favorisieren, da sie der Meinung ist, dass Foucault nicht daran gelegen war, eine konsistente Theorie zu entwickeln (vgl. Fraser 1994, 59). Diese drei Interpretationen werden im Folgenden der Reihe nach dargestellt. Abschließend wird noch als vierte Möglichkeit vorgeschlagen, den Blick auf Foucaults Methode zu richten.
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Die konzeptuelle Ablehnung. Hiermit ist die philosophische Konzeption hinter dem Humanismus gemeint. Der Humanismus ist, wenn er auf moralische und politische Verbesserung der Lebensverhältnisse aus ist, auf die Trennung von Subjekt und Objekt (=materielle, soziale und individuelle Welt) angewiesen, denn es geht immer um das Subjekt, das gegen die Übermacht der Objektseite verteidigt werden muss. Die Ablehnung des Humanismus ist dann auf philosophischer Ebene nichts anderes als die Ablehnung der Trennung von Subjekt und Objekt, wie sie Descartes eingeführt hat. In diesem Punkt befindet sich Foucault in guter Gesellschaft, denn die Ablehnung des Cartesianismus ist gegenwärtig weit verbreitet. Diese Interpretation Foucaults rückt ihn in die bereits erwähnte Nähe von Heidegger, der die Trennung ebenfalls radikal abgelehnt hat. Foucaults Werk tritt dann als eine historische Untermauerung von Heideggers abstrakter Philosophie auf. Bei Heidegger war es ein bloßer Zufall, zudem ein verachtungswürdiger Zufall, dass die Menschen anfingen zu glauben, sie würden der Welt gegenüber stehen und müssten ihren Zugang zur Welt erst philosophisch und später wissenschaftlich erklären. Foucaults Untersuchungen machen die Kontingenz dieses Konzepts historisch deutlicher. Er zeigt, dass hinter dem Glauben an die Subjektivität bzw. an „den Menschen“ nichts Zwingendes steht; nichts, was ebenso zufällig wieder verschwinden kann, wie es entstanden ist. Foucaults Werk stellt nach dieser Interpretation dar, wie die Trennung von Subjekt und Objekt praktisch vollzogen wurde und dass Subjektivität etwas ist, das nur innerhalb von Machtbeziehungen existiert und deshalb nicht gegen äußere oder innere Zwänge verteidigt werden kann. Der Humanismus hätte kein Recht zu behaupten, es gelte die Subjektseite zu schützen und gegen äußere Zwänge zu verteidigen. Bei Foucault wird er vielmehr zum Komplizen der Machtverhältnisse, die er angeblich kritisiert (vgl. Fraser 1994, 62; kritisch dazu Frank 1991, 158ff.). Wenn man annimmt, dass Foucault den Humanismus nur aus konzeptuellen Gründen ablehnt, dann entsteht ein Bild, das zeigen soll, dass Kritik auch nach dem Humanismus möglich ist. Zwar verneint er die Trennung von Subjekt und Objekt, nicht aber Werte wie Freiheit und Autonomie, für die der Humanismus eintritt. Foucault will dann zeigen, dass die humanistischen Werte auch ohne Subjekt verteidigt und zur Kritik angewandt werden können, was ihn von Heidegger trennen würde. Fraser deutet auf die Attraktivität dieser Interpretation hin (vgl. Fraser 1994, 65), die zur Folge hätte, dass Foucault seine Kritik sogar mit vermeintlichen Gegnern wie Habermas Hand in Hand vortragen könnte, der ebenfalls eine Gesellschaftskritik entwickelt, die konzeptuell ohne das erkenntnistheoretische oder moralische Subjekt auskommt (vgl. hierzu Menke 1990, 191ff. und McCarthy 1993, 64ff.). Wenn man Foucault auf die eben beschriebe-
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ne Weise entschärft, zeigen sich hier viele Parallelen, denn Foucault ist in dieser Lesart ein Kulturkritiker, der verdeutlicht, wie das, was in der marxistischen Tradition seit Lukács „Verdinglichung“ genannt wird (vgl. Lukács 1988, 170ff.), in unserer Kultur verankert ist. Die strategische Ablehnung. Habermas’ Kritik an den fehlenden normativen Maßstäben bleibt bei der konzeptuellen Ablehnung bestehen. Die strategische Ablehnung des Humanismus versucht diese Kritik zu entkräften, indem sie Foucaults theoretische Errungenschaft des produktiven Machtbegriffs heranzieht (siehe 2.1), den er in Überwachen und Strafen entwickelt hat. Hier hat er zeigen wollen, dass ein repressiver Machtbegriff für moderne Machtverhältnisse unzureichend ist. Seine historischen Untersuchungen sollen belegen, wie durch institutionelle, wissenschaftliche und politische Maßnahmen die Subjektivität erst hervorgebracht wird. Körperliche und geistige Manipulation geht einher mit der Produktion von Subjektivität. Deshalb kann die Subjektivität nicht gegen diese Maßnahmen ausgespielt werden, wie es sich der Humanismus erträumt. Die humanistische Trennung von Subjekt und Objekt läuft aus konzeptuellen Gründen auf Unterdrückung der Subjekte hinaus. Wenn man Foucault so interpretiert, bleibt die konzeptuelle Ablehnung bestehen und wird um den Hinweis ergänzt, dass die Verabschiedung der Subjekt-Objekt-Trennung auch mit der dafür typischen Form von Kritik einhergehen muss. Diese Erweiterung der Kritik läuft darauf hinaus, dass die Werte des Humanismus, Autonomie und Freiheit, nicht mehr als kritische Maßstäbe fungieren können. Fraser weist zu Recht darauf hin, dass Foucault dann genötigt wäre, genauer zu bestimmen, was in der Moderne hervorgebracht wird: das psychologische Selbst oder sogar Kants transzendentales Subjekt? Seine machtanalytischen Untersuchungen zum Geständnis oder dem Gefängnis beziehen sich scheinbar auf die empirisch gegebene moderne Psyche als vermeintliche Individualität und Identität. Die früheren diskursanalytischen Untersuchungen, insbesondere Die Ordnung der Dinge, beziehen sich dagegen auf ein strukturalistisches Äquivalent zu Kants transzendentaler Subjektivität. Hier ist Foucault zu ungenau, was wiederum gegen die strategische Ablehnung ausgespielt werden kann, indem man zeigt, dass Foucaults strategische Kritik eigentlich auf etwas abzielt, das mit subjektbezogenen Werten wie Autonomie und Freiheit durchaus kritisiert werden kann. Geistige und körperliche Manipulation, so wie sie in Überwachen und Strafen oder Der Wille zum Wissen dargestellt wird, ist mit humanistischen Mitteln ohne weiteres kritisierbar (vgl. Fraser 1994, 71ff.). Die normative Ablehnung. Die normative Ablehnung ist die Variante, auf die Habermas’ Kritik abzielt. Foucault will demnach sagen, dass der Humanismus mit seinem Kampf um Freiheit und Autonomie Unrecht hat. Eine Verwirk-
1.3 Anthropologie und Humanismus
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lichung der Freiheit wäre seiner Meinung nach keine machtfreie Gesellschaft, sondern eine Gesellschaft, in der der Panoptismus7 Realität geworden wäre. Insbesondere in Der Wille zum Wissen scheint Foucault diese Lesart nahe zu legen, wenn er zeigt, wie gerade die Herstellung der Subjektivität des Menschen auf intersubjektiven Machtverhältnissen beruht. Im Panoptismus wären keine Therapeuten, Seelsorger, Pädagogen oder Wissenschaftler mehr nötig, weil alle Menschen zu jeder Zeit mit jedermann „frei“ über sich reden könnten. Die Verwirklichung dieser totalen Redefreiheit ist aus Foucaults Perspektive zugleich die totale Kontrollgesellschaft, in der jeder jeden kontrolliert. Machthaber wären nicht mehr nötig. Die humanistische Utopie der freien Gesellschaft, in der die Subjekte ohne äußeren Zwang miteinander leben könnten, wird bei Foucault zum Horrorszenario, zu Huxleys Brave new world, in der im Prinzip alle unterdrückt sind ohne es zu bemerken (vgl. Fraser 1994, 74ff.). Laut Fraser hat die normative Ablehnung das Problem, dass sie das moralische Ideal des Humanismus ablehnt und nicht angibt, was an dessen Stelle treten sollte. Gegen ein bekanntes Paradigma wird ein Paradigma x gehalten, ohne dass x ausgefüllt wird. Solange dies ungeklärt ist, könnten die Vertreter des Humanismus Foucault immer noch fragen, wieso er die Verwirklichung der humanistischen Utopie der freien Gesellschaft negativ und nicht positiv darstellt (vgl. Fraser 1994, 78). Damit wäre Foucault aufgefordert, sein moralisches Paradigma offen zu legen. Zu überlegen wäre dann, ob seine späteren ethischen Entwürfe, d. h. seine Ethik als Ästhetik des Lebens tatsächlich ein angemessenes Paradigma wäre (siehe 3.5). Neben diesen drei von Fraser behandelten Interpretationsmöglichkeiten sei abschließend noch auf eine vierte Variante hingewiesen. Diese stellt eine Kombination der strategischen und normativen Ablehnung dar und soll hier die methodische Ablehnung des Humanismus genannt werden, mit der die die performative Seite in Foucaults Werk betont werden soll (vgl. dazu Ewald 1990, 87ff.). Fraser hebt in ihrer Erörterung der strategischen und normativen Ablehnung zwei Aspekte hervor: Foucault verneint einerseits das Ziel und andererseits das Thema des Humanismus, wobei das Thema zugleich der Adressat des Humanismus ist, nämlich das Subjekt. Sein Ziel ist die Verbesserung der Lebensumstände des Subjekts, welche durch Bildungsprozesse erreicht werden soll. Fraser vernachlässigt, dass mit der Verwirklichung des Humanismus die Metho7 Foucault untersucht in Überwachen und Strafen Benthams architektonischen Entwurf des Panoptikums (vgl. ÜS, 251ff.). In diesem Gefängnisentwurf werden alle Zellen ringförmig um einen Wachturm angeordnet, sodass vom Wachturm aus alle Zellen beobachtet werden können, ohne dass die Insassen wissen, ob sie gerade beobachtet werden oder nicht. Die Ungewissheit führt unweigerlich zu ständiger Selbstbeobachtung. Das Panoptikum dient Foucault als Sinnbild für die moderne Seele, die sich als permanente Fremd- und Selbstbeobachtung verstehen lässt.
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de der Argumentation verbunden ist.8 Die Argumentation zwischen den Menschen gilt als die spezifisch gewaltfreie Methode, durch die Menschen voneinander lernen und gegenseitig zu vernünftigen Einsichten gelangen. Argumente sollen den Menschen zur Vernunft bringen. Wie Foucault insbesondere in Der Wille zum Wissen gezeigt hat, ist er nicht der Meinung, dass der Diskurs zwischen den Menschen ein machtfreier Ort ist. Foucault ist in dieser Hinsicht konsequent und versteht sein eigenes Werk nicht als Theoriegebäude. Theoretisch schlüssige Konzepte gehören für Foucault zu den „Wahrheitsspielen“, bei denen er sich standhaft weigert, mitzuspielen. Sein ganzes Werk ist eine Absage an den Wunsch des Lesers, eine konsistente Theorie vorgelegt zu bekommen, die durch schlüssige Argumentation überzeugt. Ebenso wenig versucht er den Leser zur Änderung seiner Meinung zu überreden. Seine historischen Werke zeigen, wie theoretische Konzepte, wissenschaftliche wie philosophische, immer wieder dazu genutzt werden konnten, Machtverhältnisse zu installieren und zwar gerade dann, wenn sie auf dem Humanismus beruhen. Dementsprechend will Foucault keine eigene Theorie, sei sie theoretischer oder moralischer Art, vorlegen, weil er weiß, dass diese nur wieder instrumentalisiert werden kann. Seine Bücher sind performativ zu verstehen: Wenn man nicht argumentieren kann, ohne von seinen Epigonen oder Kritikern instrumentalisiert zu werden, dann kann man den Leser nur irritieren, in der Hoffnung, dass seine vermeintlich humanistischen Vorurteile erschüttert werden 9 – allein das kann Veränderungen auslösen (vgl. Schriften 4, 960). Diese Lesart kann man auch pädagogisch auslegen. Die Verbesserung des Subjekts lässt sich nicht methodisch umsetzen. Autonomie kann nicht in methodischen Settings vermittelt werden, da sie nicht argumentativ im Subjekt erzeugbar ist. Pädagogisch betrachtet handelt es sich um eine Absage an Methoden, die Moral und Ethik als kognitiven Wissensbestand begreifen und versuchen, diesen entsprechend argumentativ an den Menschen zu bringen. Erziehung ist dagegen immer nur performativ zu verstehen. Wer Veränderungen beim Kind/Jugendlichen erreichen will, der ist auf die handelnde Auseinandersetzung angewiesen, wobei er nicht darauf bauen kann, dass die Auseinandersetzung in seinem Sinne verlaufen wird (vgl. Oelkers 2001, 265). 8
Vgl. hierzu insbesondere Kants Methodenlehre in KpV, A 269ff. Könnte man Foucault auf diesen performativen Aspekt reduzieren, so müsste man ihn mit Rorty als bildenden Philosophen bezeichnen, der im Gegensatz zu einem systematischen Philosophen keine konstruktiven Lösungsvorschläge sucht (vgl. Rorty 1987, 398f.; aus pädagogischer Perspektive hat Mollenhauer diese Interpretation vorgeschlagen (vgl. Mollenhauer 1979, 63ff.)). Rorty weist aber zu Recht darauf hin, dass Foucault mit seinen historischen Untersuchungen implizit eine Systematik der Geschichte unterstellt, womit er sogar in die Nähe von Hegel gerückt werden kann (vgl. Rorty 2003, 391f.).
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1.4 Kritische Ontologie als Aufklärung
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1.4 Kritische Ontologie als Aufklärung Eine Theorie, die sich kritisch zu bestehenden kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnissen äußert, muss auf der deskriptiven und explikativen Ebene wenigstens plausibel sein. Auf deskriptiver Ebene steht der Wert von Foucaults Arbeiten außer Frage. Hinsichtlich der explikativen Kraft können Bedenken geäußert werden, so wie beispielsweise durch den Hinweis unter 1.2.3, dass eine rein empiristische Erklärung der Entstehung des moralischen Subjekts wenig überzeugend ist. Ernsthafte Schwierigkeiten ergeben sich bekanntermaßen auf der normativen Ebene, d. h. hinsichtlich der Frage, anhand welchen normativen Maßstabs die Kritik vorgetragen wird. Wie Frasers Analyse zeigt, ist Foucaults Ablehnung des humanistischen Denkens, das auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der vergesellschafteten Subjekte aus ist, theoretisch nicht eindeutig zu fassen. Einerseits ist Foucaults Werk nach eigenem Selbstverständnis keine rein philosophische Fingerübung zur Überwindung der Subjektphilosophie, sondern soll gesellschaftliche und kulturelle Kritik sein. Andererseits ist seine Kritik aufgrund konzeptioneller Bedingungen in der ungemütlichen Lage, Kritik nicht mehr moralisch begründen zu können. Foucault verbietet sich, Freiheit, Gerechtigkeit oder Wohltätigkeit gegen bestehende Verhältnissen einzuklagen. Man kann Foucaults Umgang mit diesem Widerspruch so verstehen, dass er das Geltungsproblem in erster Linie performativ lösen will. Gegen Ende seines Schaffens, ab 1978, hat er sich diesem Problem auch direkt zugewandt. Einen ersten Anlauf findet man in dem Vortrag Was ist Kritik?, den er selbst nicht veröffentlicht hat. Seine Überlegungen münden in die letzten beiden Bände von Sexualität und Wahrheit. Diese Ausarbeitungen können zum einen als Alternative, d. h. als produktiver Gegenvorschlag, zum modernen Moralverständnis gelesen werden. Zum anderen kann man sie so interpretieren, dass Foucault damit das Geltungsproblem seiner eigenen Kritik lösen will. Am deutlichsten wird dieser Aspekt in dem Aufsatz Was ist Aufklärung?, in dem er sich auf den gleichnamigen Text von Kant bezieht. Foucault legt hier eine Legitimation seiner eigenen theoretischen Bemühungen vor, die er aus einer historischen These und einer Interpretation des modernen Selbstverständnisses heraus entwickelt. Foucault zeigt, dass Kants Verständnis des Aufklärungsproblems bis heute ungelöst ist und unbefriedigende bis negative Effekte hervorbrachte (1.4.1). Seiner Meinung nach lassen sich die Probleme der Aufklärung nur als private, frei zu wählende Haltung lösen. Auf diesem Wege ist moralischer Zwang und rationalistischer Dogmatismus vermeidbar (1.4.2). Foucault versteht sein eigenes Werk als Beitrag zur Aufklärung, die er von humanistischem Denken frei halten
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möchte. Aufklärung ist aus seiner Perspektive nur noch als kritische Ontologie möglich (1.4.3). 1.4.1 Kritik und Aufklärung bei Kant Foucault hat sich an verschiedenen Stellen mit Kants Philosophie auseinandergesetzt, wobei dessen Text Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? für ihn eine zentrale Rolle spielt (vgl. WK; Schriften 4, 687ff. und 837ff.). Er bezeichnet Kant den ersten Philosophen der Moderne. Seiner Meinung nach zeigt sich das besonders an diesem kleinen, in der Regel als zweitrangig eingestuften Text. Kant hat im Prinzip zwei neue Fragestellungen in die Philosophie eingeführt. Eine ist die bekannte transzendentalphilosophische Frage nach den Grenzen unserer eigenen Erkenntnis, für die Kant den Begriff der Kritik reserviert hat. Kritik meint in diesem Zusammenhang die philosophische Einsicht, dass die Behandlung metaphysischer Probleme und Fragen Klarheit darüber voraussetzt, welche Fragen überhaupt vom eigenen Verstand sinnvoll beantwortet werden können. Der Transzendentalphilosoph Kant macht sich zur Beantwortung dieser Frage auf die Suche nach den Bedingungen der Möglichkeiten unserer Erkenntnisfähigkeit und grenzt damit eben diese Fähigkeiten ein. Für Foucault hat aber Kants zweite Frage, was unter Aufklärung zu verstehen sei, größere Bedeutung. Zwar ist der Begriff der Aufklärung zu Kants Zeiten weit verbreitet – es ist das Zeitalter, das sich selbst das Etikett der Aufklärung anheftet (vgl. Schriften 4, 840). Anders als die Frage nach der transzendentalphilosophischen Kritik, ist die Frage nach der Aufklärung aber eine, „die zu beantworten die moderne Philosophie nicht imstande war, von der sie sich aber auch nie frei zu machen vermochte. Und unter unterschiedlichen Formen wiederholt sie sich jetzt bereits seit zwei Jahrhunderten. Von Hegel bis Horkheimer oder Habermas, über Nietzsche oder Max Weber, gibt es kaum eine Philosophie, die, direkt oder indirekt, nicht mit ebendieser Frage konfrontiert gewesen wäre: Was ist das für ein Ereignis, das man Aufklärung nennt und das zum Teil zumindest bestimmend ist für das, was wir heute sind, was wir heute denken und was wir heute tun?“ (Schriften 4, 687; kursiv im Original)
Charakteristisch für das Problem der Aufklärung ist seine Selbstbezüglichkeit. Der moderne philosophische Diskurs muss immer die eigene Rolle im Prozess der Aufklärung mit bedenken: „All dies, die Philosophie der Problematisierung einer Aktualität und als Befragung dieser Aktualität durch den Philosophen, der ein Teil von ihr ist und im Verhältnis
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zu ihr seinen Ort zu bestimmen hat, könnte durchaus für die Philosophie als Diskurs der Moderne und über die Moderne bezeichnend sein.“ (Schriften 4, 839)
Kant ist insofern der erste moderne Philosoph, als er in diesem Bewusstsein die Frage nach den aktuellen Verhältnissen und seine eigene Verstrickung in diese Verhältnisse gestellt hat. Foucaults historische These ist nun, dass die ursprünglich kritische Frage nach den transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis eine eigenwillige Verfallsgeschichte nach sich zog, aus der sich die positivistischen Wissenschaften, Staatsgebilde, die auf Rationalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft beruhen und schließlich eine Staatswissenschaft entwickelten (vgl. WK, 19). Diese drei Bereiche wurden als rational und damit als vernünftig ausgegeben. Auf philosophischer, wissenschaftlicher und politischer Ebene zog die Entwicklung eine „Analytik der Wahrheit“ (Schriften 4, 848) nach sich. Die Frage nach der Aufklärung blieb weiterhin virulent. Für Foucault ist entscheidend, dass Kant diese Frage nicht hinsichtlich einer utopischen, zukünftigen Vollendung eines Prozesses stellt, sondern rein negativ in Abgrenzung zur Vergangenheit (vgl. Schriften 4, 689). Durch Aufklärung lassen die Menschen ihre vergangene Unmündigkeit hinter sich, die dadurch charakterisiert ist, dass der individuelle Wille von Autoritäten geleitet wird und nicht von der eigenen Vernunft. Insofern ist Aufklärung der Entschluss, sich von Autoritäten los zu sagen. Von Aufklärung im umfassenden Sinne kann also nur dann gesprochen werden, wenn die Menschen individuell und kollektiv den Mut zur Selbstbestimmung aufbringen. Da Kant in diesem Zusammenhang von „der Menschheit“ spricht, stellt sich die Frage, ob Aufklärung als eine geschichtliche Veränderung zu verstehen ist, die sich auf das öffentliche Leben mit seinen politischen und institutionellen Bedingungen auswirkt, oder ob es sich um eine Veränderung des Wesens des Menschen handelt (vgl. Schriften 4, 691). Diese Zwiespältigkeit zeigt sich für Foucault in den zwei von Kant genannten Bedingungen für gelungene Aufklärung der Menschheit, die sowohl gesellschaftspolitisch als auch geistig bzw. ethisch gemeint sind. Eine Bedingung ist, dass gelungene Aufklärung nicht gleichbedeutend mit unreflektierter Gehorsamsverweigerung gegenüber den gesellschaftspolitischen Anforderungen sein kann. Der mit Aufklärung verbundene eigene Vernunftgebrauch kann keine Anarchie nach sich ziehen. Auch der aufgeklärte Mensch braucht Gesetze und Regeln, die zu befolgen sind, aber er sollte in der Lage sein, frei seine Vernunft einzusetzen. So weit läuft diese Bedingung nur darauf hinaus, dass die Gedanken frei sind, solange die Menschen nicht wahllos gegen die Gesellschaft rebellieren. Die zweite Bedingung für Aufklärung macht deutlicher, was Kant meint. Er unterscheidet zwischen privatem und öffentlichem Ver-
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nunftgebrauch, wobei der öffentliche Vernunftgebrauch in einer aufgeklärten Gesellschaft frei, der private dagegen eingeschränkt sein muss. D. h., die Menschen müssen sich weiterhin als Privatmenschen in die Gesellschaft einfügen, dabei aber gleichzeitig in der Lage sein, öffentlich ihre Meinung zur Geltung zu bringen: „Die Aufklärung ist also nicht nur der Prozess, durch den die Individuen sich ihrer persönlichen Denkfreiheit versichern. Es gibt Aufklärung, sobald allgemeiner Gebrauch, freier Gebrauch und öffentlicher Gebrauch der Vernunft zur Deckung kommen.“ (Schriften 4, 692; kursiv im Original)
Damit wird Aufklärung zur politischen Aufgabe und es stellt sich die Frage, wie einerseits der freie öffentliche Vernunftgebrauch geregelt sein soll, wenn die Menschen sich gleichzeitig anpassen sollen. 1.4.2 Aufklärung als Haltung Wenn Menschen ihre eigenen Geschicke mündig verhandeln sollen, dann ist die transzendentalphilosophische Frage nach den Grenzen des eigenen Vernunftgebrauchs unumgänglich. Das ist Kants Verknüpfung seiner philosophischen Aufgabe mit dem geschichtlichen Prozess der Aufklärung: Philosophische Kritik in seinem Sinne ist für Aufklärung unabdingbar. Foucault sieht in dieser Verknüpfung in erster Linie die Gefahr der Instrumentalisierung philosophischer Einsichten und Standpunkte für politische Zwecke, wodurch die philosophische Kritik zum Dogma verkommt. Diese Verfallsgeschichte hat Foucault in seinen genealogischen Arbeiten nachgezeichnet. So betrachtet bleibt Kants Philosophie für Foucault ein zweischneidiges Schwert. Eine Einschätzung, die er insbesondere mit der frühen Frankfurter Schule teilt. Die Modernität von Kants Frage nach der Aufklärung zeigt sich für Foucault darin, dass hier zum ersten Mal das eigene theoretische Unternehmen in Beziehung zur aktuellen historischen Situation gesetzt und damit die Aktualität des eigenen Werks befragt wird. Es zeigt sich, dass Kant eine bestimmte Haltung gegenüber seinem eigenen Werk und seiner Zeit eingenommen hat. Der aufklärerische Impuls ist ein ethischer und kein moralischer, denn er folgt nicht moralischen Prinzipien, sondern einem kritischen Verhältnis zu sich selbst. „Mit Bezug auf den Text von Kant frage ich mich, ob man die Moderne nicht eher als eine Haltung denn als Geschichtsperiode ansehen kann. Mit Haltung meine ich einen Beziehungsmodus im Hinblick auf die Aktualität; eine freiwillige Wahl, die von einigen getroffen wird, und schließlich eine Art und Weise zu denken und zu
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fühlen, und auch eine Art und Weise zu handeln und sich zu verhalten, die zugleich Zugehörigkeit bezeichnet und sich als eine Aufgabe darstellt. Ein wenig sicherlich wie das, was die Griechen ein ethos nannten.“ (Schriften 4, 695; kursiv im Original)
Foucault versteht sein eigenes Unterfangen als aufklärerisch – er grenzt sich damit eindeutig von den so genannten postmodernen Denkern ab, da Aufklärung für ihn ein modernes Unterfangen ist. Der Aufklärer folgt keiner moralischen Einsicht, die er argumentativ ausgearbeitet hat und vermitteln könnte. Das ist eine Absage an Kants Begriff der Autonomie, denn er handelt nicht, weil er von der Einsicht motiviert ist, dass kulturelle und gesellschaftspolitische Zusammenhänge bestimmten moralischen Prinzipien widersprechen. Der Aufklärer trifft eine „freiwillige Wahl“, also etwas, das der autonomen Handlung, die phänomenologisch betrachtet einem inneren moralischen Zwang folgt, entgegen gesetzt ist. Foucault will moralische und politische Zweideutigkeit vermeiden, indem er jede Form des öffentlichen Vernunftgebrauchs nach Kant zurückweist. Aufklärung in Foucaults Sinne ist ein individuelles Unterfangen. Nicht alle entschließen sich dazu und es sollte auch niemand zu diesem Entschluss gezwungen werden. Wenn Foucault versucht, diese Haltung zu beschreiben, dann spricht er interessanterweise ausschließlich von der „Haltung der Moderne“ und nicht von der „Haltung der Aufklärung“. Damit umgeht er die Frage, ob derjenige, der diese Haltung vertritt, aufgeklärt ist, nach Aufklärung strebt oder aufklären will. Um die Haltung der Moderne zu beschreiben, greift Foucault nicht mehr auf Kant, sondern auf Baudelaire zurück, bei dem er vier Bedingungen für die moderne Haltung ausmacht (vgl. Schriften 4, 695ff.). Zum einen versucht die Moderne die Gegenwart zu „heroisieren“, womit ein bestimmter Umgang mit der Feststellung gemeint ist, dass alles im Umbruch begriffen ist. Der Umbruch muss ohne romantische Verklärung der Vergangenheit anerkannt werden Zum zweiten darf diese Heroisierung der Gegenwart nicht vollkommen ernst genommen werden, denn das wäre ebenfalls ein Rückfall in dogmatische Vorstellungen, die es nach modernem Selbstverständnis nicht mehr geben kann. Die Heroisierung ist ironisch gebrochen. Die Gegenwart wird in moderner Haltung nicht einfach dargestellt und verherrlicht, sondern ihre heroische Darstellung immer wieder zerschlagen. Drittens impliziert die Haltung der Moderne eine asketische Einstellung dem eigenen Leben gegenüber. Das Individuum nimmt sich nicht einfach wie es ist, sondern macht sich zum Gegenstand ethischer und ästhetischer Gestaltung. Die vierte und letzte Bedingung ist, dass die ironische Heroisierung der Gegenwart nicht im öffentlichen und politischen Raum stattfinden kann, sondern nach Baudelaire in der Kunst den Ort ihrer Verwirklichung hat. Wie Foucaults eigene Arbeiten zur Ethik der Selbstsorge zeigen, überträgt er
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diesen Gedanken auf die individuelle Lebensführung in dem Sinne, dass auch das eigene Leben zum Kunstwerk stilisiert werden kann (siehe 3.3 – 3.5). 1.4.3 Kritische Ontologie Unter Aufklärung versteht Foucault keine vermittelbare Lehre, sondern ein Ethos, eine reflexive Haltung zur Gegenwart und sich selbst. Er grenzt sie von einer dogmatischen Haltung ab, die Aufklärung zum Glaubensbekenntnis stilisiert und die für ihn intellektuelle und moralische „Erpressung“ ist (Schriften 4, 699), da sie jeden Intellektuellen zwingen will, sich entweder zur Aufklärung zu bekennen oder als deren Gegner zu erkennen zu geben. Wer als Gegner der Aufklärung denunziert wird, gilt als Anti-Rationalist; wer sich dagegen zur Aufklärung bekennt, gilt als Rationalist. Diese Erpressung will Foucault ebenso wenig akzeptieren, wie die dialektische Auflösung dieses Entweder-Oders, die darauf hinausläuft, positive und negative Aspekte der Aufklärung abzuwägen. Er unterscheidet strikt zwischen Aufklärung als reflexiver Haltung und Humanismus als Thema von Politik, Religion und Philosophie. Während hinter der Aufklärung eine klar umrissene Haltung steht, existieren viele verschiedene Humanismen. Es gab den christlichen, marxistischen und existentialistischen Humanismus, ebenso wie den nationalsozialistischen und stalinistischen (vgl. Schriften 4, 700f.). Jeder beanspruchte, im Namen „des Menschen“ oder „der Menschheit“ zu argumentieren und zu handeln. Das zeigt, dass Humanismen der Haltung der Aufklärung bzw. der Haltung der Moderne sogar entgegenstehen können. Das Erscheinen des Ethos’ der Aufklärung muss laut Foucault auch Veränderungen hinsichtlich der philosophischen Methode nach sich ziehen. Wichtig ist die Zurückweisung der transzendentalphilosophischen Frage nach den universalen, notwendigen und zeitlosen Bedingungen unserer Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit. Kant war in diesem Sinne für Foucault nicht modern – wie man dementsprechend schließen muss. Da die moderne Haltung zur ständigen Revision zwingt, muss die transzendentalphilosophische Frage umgekehrt werden. Es muss gefragt werden, was an dem, was wir für universal, notwendig und zeitlos halten, sich historisch betrachtet bloßer Willkür verdankt (vgl. Schriften 4, 702). Wirkliche Kritik kann für Foucault nur als historisierende Kritik auftreten, die experimentellen Charakter haben muss, wenn sie sich nicht von vermeintlich feststehenden Grenzen der Erkenntnis und des Handelns einengen lassen will. Überraschenderweise scheint Foucault dieser experimentellen Zu-
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gangsweise aber einen, wenn auch eingeschränkten, politischen und moralischen Charakter zusprechen zu wollen10: „Ich meine, dass diese an den Grenzen unserer selbst geleistete Arbeit einerseits einen Bereich historischer Untersuchungen eröffnen und sich andererseits an der Realität und der Aktualität erproben muss, und zwar sowohl, um die Stellen zu erfassen, an denen Veränderung möglich und wünschenswert ist, als auch, um die genaue Form zu bestimmen, die dieser Veränderung gegeben werden muss.“ (Schriften 4, 703)
Er betont ausdrücklich, dass dieses Aufspüren von Veränderungspotenzialen nicht universal, sondern nur partiell funktionieren kann. Seine Untersuchungen sollen keine utopischen Gegenentwürfe liefern, da solche Gefahr laufen, politisch missbraucht zu werden. Bestehende Verhältnisse werden von ihm als ontologische Gegebenheiten behandelt, die es historisch zu untersuchen gilt, um deren Kontingenz aufzuzeigen. Aufklärung in diesem Sinne ist für Foucault kritische Ontologie. Foucault sieht selbst, dass an eine kritische Ontologie wiederum die transzendentalphilosophische Frage gestellt werden kann, ob sie nicht den Fehler begeht, sich von den allgemeinen Denkstrukturen blind leiten zu lassen und damit im Prinzip unkritisch im philosophischen Sinne ist. Diese Frage lässt sich auch auf politischer bzw. moralischer Ebene stellen: Begeht die kritische Ontologie durch die Zurückweisung universaler Kritik nicht den Fehler, sich unter der Hand wiederum von bestehenden Wertvorstellungen leiten zu lassen und diese nur nicht mehr zu benennen? Foucault scheint mit seiner „Haltung der Moderne“ der Frage nach der normativen Geltung seiner Aussagen nicht vollends zu entkommen. Um dieses Gegenargument zu entkräften verweist er darauf, dass jede Erkenntnis, auch diejenige von den eigenen universalen Strukturen, sich gegenüber zukünftigen Erkenntnissen als partiell erweisen kann. Wenn man mit dieser allgemeinen Annahme die Suche nach universellen Strukturen als Illusion zurückweist, muss dies für Foucault noch keine chaotische und ziellose Arbeit nach sich ziehen. Er stellt es als historische Tatsache hin, dass zwischen der Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten und der Entwicklung der individuellen Willensfreiheit keine Parallelen auszumachen sind. Seine genealogischen Arbeiten zeigen vielmehr, dass die zunehmenden Fähigkeiten des Menschen, gemeint sind damit sowohl technische als auch soziale und wissenschaftliche, auch eine Zunahme und Intensivierung der Machtverhältnisse nach sich zogen. 10
Diese Einschätzung findet sich ebenfalls in seinem Ethikentwurf (siehe 3.3.3 – 3.3.4).
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So betrachtet hat die kritische Ontologie die Aufgabe, dieses Paradox aufzuzeigen und zu fragen, wie sich solche unheilvollen Verknüpfungen auflösen lassen. Dafür muss untersucht werden, was die Menschen tatsächlich tun. Der Untersuchungsgegenstand muss immer die menschliche Praxis sein und nicht individuellen oder kollektiven Vorstellungen oder die Bedingungen, die solche Vorstellungen bestimmen. Selbst wenn die Untersuchung der tatsächlichen menschlichen Praktiken keine Allgemeingültigkeit beanspruchen können, so sind doch Foucaults Untersuchungen für uns immer gültig, da er nach eigenem Selbstverständnis Themen behandelt, die uns bis in unsere Gegenwart hinein beschäftigen. Ob Foucault mit dieser Argumentation sich wirklich von der Aufklärung als moralischem und politischem Programm abgrenzen kann, ist fraglich, denn sein Hinweis darauf, dass die kritische Ontologie historische Fakten untersuchen und wenn möglich auflösen muss, ist einerseits von seiner eigenen Interpretation der historischen Fakten abhängig und zum anderen leicht als moralisch geleitete Aufgabe, nämlich der Befreiung der Menschen von Zwang, zu erkennen. Sein Hinweis darauf, dass es gilt, die Praxis der Menschen ernsthaft in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen und nicht ihre eigenen Vorstellungen über sich selbst, ist dagegen sehr wichtig. Zwar ist der Unterschied zwischen Urteil und Handlung des Menschen psychologisch betrachtet hinreichend bekannt, aber er muss auch in historischen Untersuchungen ernst genommen werden. Durchaus verständlich ist auch Foucaults Ablehnung des Gedankens, Aufklärung sei als Wissenskomplex zu deuten, den es zu vermitteln gelte: „Die kritische Ontologie unserer selbst darf man sich nicht als eine Theorie, eine Lehre und noch nicht einmal als ein durchgängiges, in Akkumulation begriffener Wissenskorpus ansehen; man muss sie als eine Haltung, als ein ethos, als ein philosophisches Leben begreifen, bei dem die Kritik dessen, was wir sind, zugleich historische Analyse der uns gesetzten Grenzen und Probe auf ihre mögliche Überschreitung ist.“ (Schriften 4, 706f., kursiv im Original)
2 Professionelles Wissen
2.1 Macht und Wissen Foucaults Werk wird im wesentlichen gemäß der bereits genannten Dreiteilung wahrgenommen, die mit der ersten Phase der Archäologie der Humanwissenschaften beginnt, in den 1970er-Jahren einer genealogischen Machtanalytik weicht und mit einer Ethik der Selbstsorge ab Ende der 1970er-Jahre schließt. In der Pädagogik und der Erziehungswissenschaft wurde und wird Foucault vor allem als Machtanalytiker rezipiert, d. h. als Autor von Der Wille zum Wissen und Überwachen und Strafen. Balzer macht in ihrem Durchgang durch die pädagogische FoucaultRezeption im Wesentlichen drei Linien aus (vgl. Balzer 2004, 17ff.), die sich vor allem dadurch unterscheiden, dass sie die Machtanalytik im Verbund mit Foucaults Subjektkritik als fatalistisch und reduktionistisch ablehnen oder die Kritik unterschiedlich stark in die Diskussion einbringen wollen. Foucault als Machtanalytiker und Subjektkritiker in der Pädagogik ernst zu nehmen, hat in der Regel eine eigenwillige Konsequenz. Egal ob man Foucaults Methode auf die Geschichte der pädagogischen Institutionen überträgt (vgl. Pongratz 1989; Dreßen 1982; Gstettner 1982), die Differenz zwischen pädagogischer Theorie und Praxis aufzeigt (vgl. Glantschnig 1987) oder Foucaults philosophischen Standpunkt ernst nimmt und so aufzeigt, dass Autonomie und Heteronomie nicht gegeneinander ausgespielt werden können (vgl. Meyer-Drawe 2000; Schäfer 1996), fast immer scheint die Konsequenz zu lauten, dass erzieherische Bemühungen hoffnungslos in Machtbeziehungen verstrickt sind. Die institutionalisierte Pädagogik erscheint als ein einziges Machtdispositiv. Handelnde Pädagogen, insbesondere diejenigen mit sozialpädagogischen Anteilen in ihrer Arbeit, erleben ihre Praxis selten als Ausübung von Macht. Ihnen muss die These, sie würden Macht ausüben, regelrecht absurd vorkommen. Die Differenz zwischen theoretischer und praktischer Wahrnehmung hängt damit zusammen, dass der Machtbegriff im Alltag anders verwendet wird, als es Foucault tut. Im Folgenden soll seine Verwendungsweise schrittweise erläutert werden. Hierbei kommt es zunächst darauf an, seinen produktiven Machtbegriff von repressiven, negativen Vorstellungen abzugrenzen. Neben Foucaults eige-
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2 Professionelles Wissen
nen Ausführungen, insbesondere in Der Wille zum Wissen, ist hier die scharfsinnige Analyse von Detel hilfreich, der Foucaults Machtbegriff von einer Reihe anderer Machttheorien abgrenzt (2.1.1). Ein grundsätzliches Problem bei der Rezeption der Machtanalytik besteht in der Frage, ob der produktive Machtbegriff tatsächlich von einem rein negativen Machtbegriff abgegrenzt werden kann. Foucault erkannte, dass seine „Mikrophysik der Macht“ dies nicht leisten kann und wollte mit dem Begriff der „Gouvernementalität“ Abhilfe schaffen. Hinter diesem Konzept verbirgt sich eine Erweiterung seiner ursprünglich in Überwachen und Strafen entwickelten These, moderne Gesellschaften könnten als disziplinierte Gesellschaften beschrieben werden, dahingehend, dass Menschen nicht nur diszipliniert, sondern auch geführt werden (2.1.2). Um plausibel zu machen, was bei Foucault die Produktivität der Macht genau meint, unterscheidet Detel drei theoretische Modelle. Hier spielt die so genannt epistemische Autorität von Experten eine zentrale Rolle (2.1.3). Die epistemische Autorität und ihre produktive Wirkung stellt Foucault am Beispiel der Verwendung psychiatrischen Wissens innerhalb der Justiz dar. Ein analoges Beispiel lässt sich in der Sonderpädagogik ausmachen, da die Sonderpädagogen als diagnostische Experten für sonderpädagogische Förderbedürftigkeit gelten. Die jeweiligen Experten müssen ihr fachwissenschaftliches Wissen in Form eines epistemischen Diskurses über das zu untersuchende Individuum anwenden und produzieren dadurch neue Wahrheiten (2.1.4). 2.1.1 Machttheorien Foucault betont ausdrücklich, dass er keine Machttheorie entwickeln, sondern Macht nur analysieren will (vgl. SW 1, 102), doch selbstverständlich impliziert seine Machtanalytik eine Machttheorie. Diese kann von verschiedenen Machttheorien abgegrenzt werden. Am wichtigsten ist die Ablehnung repressiver Machttheorien, die laut Foucault das politische Denken bis heute beeinflussen (vgl. SW 1, 110) und nicht zuletzt auch im Alltag häufig anzutreffen sind. Seine eigene Machttheorie bschreibt Macht dagegen produktiv und somit nicht negativ sondern positiv. Diese Verwendungsweise des Machtbegriffs ist gelegentlich auch im Alltag anzutreffen. Beispielsweise sind Liebes- und Freundschaftsbeziehungen ohne weiteres als Machtbeziehungen definierbar. Die jeweiligen Partner in diesen Beziehungen können Macht aufeinander ausüben, ohne dass sie diese Einflussmöglichkeit negativ und einschränkend bewerten würden. Insofern ist die Behauptung, Macht sei positiv zu verstehen, einleuchtend. Anders verhält es sich mit der These, sie sei nicht allein positiv, sondern auch produktiv.
2.1 Macht und Wissen
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Detel hat die These, Macht sei in erster Linie positiv zu definieren, eindringlich analysiert (vgl. Detel 1998, 19ff.). In einem kurzen Überblick vorhandener Machttheorien macht er verschiedene kausale und kommunikative Machttheorien aus und hebt insbesondere das Handlungsumwelt-Modell positiv hervor. Kausale Machttheorien definieren Macht als die Fähigkeit, Effekte in der sozialen Welt hervorzurufen. Solche Machttheorien können behavioristisch interpretiert werden oder auf einem starken philosophischen Realismus beruhen. Macht über jemanden zu haben, ist dann als äußerlich zu beobachtender Effekt oder als natürliche Eigenschaft des Menschen zu verstehen (vgl. Detel 1998, 19f.). Solche kausalen Modelle können leicht mit dem Hinweis kritisiert werden, dass soziale Handlungen normativ strukturiert sind und nicht an kausale Verhältnisse der Natur assimiliert werden können. Wenn jemand Macht auf einen anderen ausübt, d. h. einen Effekt beim Gegenüber hervorruft, so nicht aufgrund kausaler Einwirkung, sondern aufgrund eines vorhandenen Einverständnisses bezüglich bestehender Normen. Kommunikative Machttheorien gehen insbesondere auf Arendt zurück. Sie lassen sich, ähnlich wie die kausalen Machttheorien, ebenfalls positiv verstehen, d. h. sie müssen nicht notwendigerweise mit der Idee der Einschränkung und Repression verbunden sein. Die kommunikativen Machttheorien, wie sie unter anderem auch von Habermas und Luhmann vertreten werden (vgl. Detel 1998, 22f.), weisen auf den ermöglichenden und strukturierenden Charakter von Machtbeziehungen hin. Macht wird hier von Gewalt und Autorität abgegrenzt und als notwendiges soziales Bindeglied aufgefasst. Die unterstellte Notwendigkeit kann bis zu einer holistischen Auffassung von Macht generalisiert werden, wie sie insbesondere in der Systemtheorie anzutreffen ist. Das so genannte Handlungsumwelt-Modell ist laut Detel das umfangreichste Machtmodell, weil es erlaubt, physische Gewalt, Einfluss, Repression, Herrschaft, Zwang etc. als jeweilige Spezialfälle von Machtausübung zu verstehen. Das wird erreicht, indem die Handlungsumwelt einer Person zunächst durch drei Faktoren bestimmt wird: Zum einen muss die Person Handlungsalternativen haben, zum anderen muss sie die Situation mit ihren Alternativen verstehen und sie muss schließlich die Alternativen bewerten können (vgl. Detel 1998, 23). Interessen, Formen oder Mittel der Machtausübung spielen in diesem Modell nur als spezielle Ausformungen eine Rolle. Die Macht beruht auf einer dyadischen Struktur, genauer gesagt einer asymmetrischen Beziehung. Gleichzeitig betont dieses Modell die soziale Ausrichtung, denn außen stehende Personen können sich ebenfalls an Machtbeziehungen orientieren und diese damit gleichzeitig aufrechterhalten:
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„Die dyadische Struktur zwischen Lehrern und Schülern hängt z. B. davon ab, daß Aktoren außerhalb dieser Beziehung die Manifestation dieser Machtbeziehung (das Zeugnis, das die Lehrer den Schülern ausstellen) geeignet interpretieren und in bestimmter Weise darauf reagieren, z. B. durch Verweigerung von Jobs bei schlechten Zeugnissen. Erst diese Reaktion macht die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern zu einer Machtbeziehung.“ (Detel 1998, 24)
Für Detel besteht der Vorteil dieses Modells darin, dass es Machtbeziehungen dynamisch darstellt. Machtbeziehungen werden immer neu hervorgebracht und von einer sozialen Struktur getragen und ein Wandel ist sowohl von der dyadischen Beziehung, als auch von der sozialen Struktur aus möglich. Gleichzeitig ist dieses Modell neutral gegenüber der Frage, ob Macht negativ ist oder nicht. Dagegen kann eingewendet werden, dass dieses Modell die zentrale Einsicht der kommunikativen Machttheorien, dass Machtbeziehungen ein normatives Einverständnis voraus setzen, vernachlässigt. Das Handlungsumwelt-Modell beschreibt die Machtbeziehungen im Vergleich dazu aus der Beobachterperspektive, d. h. es wird einer beobachtbaren sozialen Beziehungsform das Etikett „Machtbeziehung“ angeheftet, ohne dem normativen Einverständnis der Akteure Relevanz beizumessen. Die Frage, weshalb Machtbeziehungen zwischen zwei Menschen zustande kommen, kann das Handlungsumwelt-Modell letztendlich nicht beantworten. Detel weist zu Recht darauf hin, dass das Handlungsumwelt-Modell große Affinität zu Foucaults Machttheorie aufweist, der sich den Machtbeziehungen ebenso empiristisch nähert, wie das Handlungsumwelt-Modell. Detel definiert zur Erläuterung ein basales Verständnis von Macht: (M) Eine Person P1 hat die Macht, eine Person P2 zu veranlassen, X zu tun, falls (a) P1 über die Gelegenheit und über die Mittel verfügt, um P2 zu veranlassen, X zu tun; (b) P1 intendiert, P2 zu veranlassen, X zu tun; (c) P2 aufgrund des Einflusses von P1 gelegentlich X tut, ohne dass andere Personen P2 gezwungen hätten, X zu tun; (d) P2 ohne Einfluss von P1 X nicht getan hätte; (e) P1 gewöhnlich nicht identisch ist mit P2, ohne dass es ausgeschlossen wäre, dass P1=P2 ist; (f) daraus, dass P1 in diesem Sinne Macht über P2 hat, nicht folgt, dass auch P2 Macht über P1 hat. (vgl. Detel 1998, 26)
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Diese basale Definition von Macht betont mit (f) den asymmetrischen Charakter, wodurch nicht ausgeschlossen ist, dass Machtbeziehungen reziprok sein können. Wichtig an der Definition (M) ist, dass Macht nicht als repressives Phänomen beschrieben wird. Repressiv wird die Machtbeziehung in dieser Definition erst dann, wenn P2 hinsichtlich der Ausübung seiner Wünsche und Interessen durch die Machtausübung von P1 frustriert bzw. eingeschränkt wird. Diese unterdrückende Beziehung wird von der betroffenen Person P2 als solche erlebt und kann entsprechend geäußert werden. Neben dieser bewusst erlebten Unterdrückung kann man noch eine zweite, subtilere Form unterdrückender Machtbeziehungen beschreiben. Hierbei handelt es sich um die Ideologie einer Gesellschaft bzw. Kultur, die Machtbeziehungen entweder unkenntlich macht oder die Kritik an Machtbeziehungen gezielt unterdrückt. Die Personen, die in solchen Machtbeziehungen verstrickt sind, sind dann entweder nicht in der Lage ihre soziale Beziehung als Machtbeziehung zu erkennen oder sie erkennen zwar die Machtbeziehung, sind aber nicht in der Lage, Alternativen zu dieser Beziehungsform zu formulieren bzw. in die Tat umzusetzen. Diese beiden negativen Machtvorstellungen dienen in Form von Repressions- oder Ideologiekritik als gesellschaftskritische Folien. Foucault hält diese beiden Kritikformen nicht für falsch, nur ist er der Überzeugung, dass beide moderne Machtverhältnisse nur unzureichend beschreiben (siehe 1.1). Er hat aber auch grundlegende Einwände gegen diese Formen der Kritik. Die Ideologiekritik ist grundsätzlich auf eine Subjektphilosophie im Gefolge von Descartes angewiesen, denn wenn Ideologien in der Lage sein sollen, bestehende Machtverhältnisse in der Wahrnehmung der Betroffenen zu verschleiern, dann müssen die Betroffenen aufgrund der Ideologie falsche Wahrnehmungen ihrer sozialen Beziehungen ausbilden. Das Bewusstsein der Betroffenen muss von falschen Ideen entstellt sein, die sie daran hindern, die Wirklichkeit richtig zu erkennen. Foucault lehnt sowohl die Vorstellung eines ursprünglich richtigen Bewusstseins, als auch die Trennung von Idee und Wirklichkeit ab (vgl. Lemke 1997, 92). Die Repressionskritik leidet laut Foucault daran, dass sie einen viel zu kleinen Ausschnitt der Machtbeziehungen in den Blick nimmt. Hier wird Macht einzig und allein verneinend und zudem, ähnlich wie in den kausalen Machtmodellen, rein mechanisch konzipiert (vgl. SW 1, 106). Die These von der Unterdrückung der Individuen durch Machtbeziehungen setzt außerdem voraus, diese hätten ursprüngliche oder natürliche Interessen, Wünsche und Bedürfnisse, die den gesellschaftlichen (Macht-)Verhältnissen vorgelagert sind. Die Unterdrückten müssten demnach in der Lage sein, ihrer Unterdrückung eine Alternative
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entgegen zu stellen, die außerhalb der bestehenden Machtverhältnisse zu suchen ist (vgl. Lemke 1997, 93f.). Foucaults eigene Machttheorie versucht sich von Ideologie- und Repressionskritik abzugrenzen, ohne diesen Theorien ihre Berechtigung abzusprechen: „Es geht ihm also nicht um eine Leugnung von Ideologie und/oder Repression als Mittel der Politik; eher will er zeigen, dass diese Modalitäten der Macht nicht das gesamte Feld der Machtwirkungen abdecken und möchte die Selektivität dieser Modelle herausarbeiten, die sich allein auf die „negativen“ Effekte von Machtwirkungen konzentrieren. Wie aber lässt sich der „produktive“ und „positive“ Charakter von Machtbeziehungen analysieren, ohne auf das Doppel von Repression und Ideologie zurückzugreifen?“ (Lemke 1997, 94)
Darauf ist zunächst zu antworten, dass die beiden kritischen Modelle eine Gemeinsamkeit haben. Sowohl Ideologie- als auch Repressionskritik argumentieren im Namen der individuellen Freiheit, die durch die Machtverhältnisse eingeschränkt bzw. gar nicht erst als solche zu erkennen ist. Kritisiert werden Machtverhältnisse in beiden Fällen, weil sie als illegitime Machtverhältnisse entlarvt werden. D. h., sowohl positive als auch negative Machttheorien beruhen implizit auf einer juridischen Konzeptionalisierung von Macht. Seit der Neuzeit gelten beispielsweise politische Machtverhältnisse dann als legitim, wenn sie implizit auf einem Gesellschaftsvertrag beruhen. Solange dies gesichert ist, ist der Staat berechtigt, die Handlungsfreiheiten seiner Bürger einschränken. Ist eine solche Legitimation nicht vorhanden, sind gesellschaftliche Machtverhältnisse automatisch zu kritisieren. Illegitim sind Machtverhältnisse nicht zuletzt dann, wenn sie einzig und allein der Aufrechterhaltung ungleicher sozialer Verhältnisse dienen und so Ausdruck latenter oder manifester sozialer Kämpfe sind. Die juridische Konzeptionalisierung von Machtverhältnissen kann durchaus beanspruchen, den positiven wie produktiven Charakter von Machtbeziehungen zu berücksichtigen: Solange Machtverhältnisse legitim sind, sind sie konstitutiv für bestimmte gesellschaftliche Institutionen. Das Recht sorgt für legitime Machtverhältnisse, die bestehende Institutionen stützen und regeln. Mit einem juridischen Konzept werden rechtlich gestützte Machtbeziehungen im Endeffekt an Herrschaftsverhältnisse assimiliert. In diesem Bild gibt es einen Herrscher oder eine herrschende Gruppe, die mit Hilfe des Rechts über eine andere Gruppe von Menschen herrscht (vgl. Schriften 3, 235). Machtbeziehungen sind in diesem Bild an einen Besitzer der Macht gekoppelt, der diese zu Recht oder zu Unrecht innehaben kann. Weiterhin sind Machtbeziehungen topologisch von oben nach unten gedacht und scheinen in erster Linie der Aufrechterhaltung des Status quo zu dienen (vgl. Lemke 1997, 99). Von hier aus ist es nur ein kleiner
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Schritt zur marxistischen Vorstellung, dass rechtlich abgesicherte Machtbeziehungen einzig und allein der Aufrechterhaltung ökonomischer Verhältnisse dienen (vgl. Schriften 3, 224f.). Foucault möchte das juridische Konzept hinter sich lassen. Die Assimilierung von Machtbeziehungen an Herrschaftsverhältnisse evoziert ein falsches Bild und zieht falsche Fragestellungen nach sich: „Also nicht: Warum wollen manche herrschen? Was suchen sie? Welches ist ihre Gesamtstrategie? Sondern: Wie geschehen die Dinge in genau dem Moment, auf der Ebene, auf unmittelbarer Höhe der Unterwerfungsprozedur oder in diesen kontinuierlichen Prozessen, die die Körper unterwerfen, die Gesten ausrichten und die Verhaltensweisen lenken?“ (Schriften 3, 237)
Foucault will nicht die juridische Frage nach der Legitimität stellen, sondern exakt untersuchen, wie Machtverhältnisse funktionieren. Die Vorstellung, Macht werde von einigen Individuen besessen und ausgeübt, wird von Foucault verabschiedet, was jedoch nicht ausschließt, dass Betroffene unter Machtbeziehungen leiden können (vgl. Schriften 3, 238). Ebenso wenig ist auszuschließen, dass Machtbeziehungen mit Ideologien einhergehen können (vgl. Schriften 3, 242). 2.1.2 Macht als Disziplin und Macht als Führung Wie geschildert, versteht Foucault unter Macht die Führung von Menschen. Diese Auffassung hat er erst gegen Ende der 1970er-Jahre in Vorlesungen und Vorträgen entwickelt, nachdem sich seine frühere Machtanalytik, die als „Mikrophysik der Macht“ (vgl. ÜS, 38) bekannt geworden ist, als Sackgasse erwiesen hatte, da er mit ihr der juridischen Konzeption nicht entgehen konnte. Obwohl Foucault sich mit Der Wille zum Wissen explizit gegen die Repressionshypothese wendet, finden sich immer wieder Formulierungen, die die Subjektivierung durch gesellschaftliche Institutionen als „Unterwerfung“ beschreiben (vgl. ÜS, 177). Zwar hat er die ideologiekritische Vorstellung aus den oben genannten Gründen immer abgelehnt, die dahinter stehende Auffassung des sozialen Kampfes hat er jedoch, transformiert durch Nietzsches Genealogie der Moral, lange Zeit ganz bewusst vertreten: „Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.“ (SW 1, 114; vgl. ÜS, 217). Unterdrückung und sozialer Kampf bzw. Krieg konnte Foucault nicht ohne weiteres mit seiner Intuition in Verbindung bringen, dass Macht gerade nicht juridisch verstanden werden sollte, womit man sie unter der Hand an Herrschaft assimiliert. Moderne Machtbeziehungen lassen sich nicht mit Hilfe des Schemas Machthaber-Unterdrückter
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analysieren, in denen der Machthaber entweder legitime oder illegitime Macht besitzt (vgl. SW 1, 115). „Die Machtbeziehungen sind gleichzeitig intentional und nicht-subjektiv. Erkennbar sind sie nicht, weil sie im kausalen Sinne Wirkungen einer anderen sie »erklärenden« Instanz sind, sondern weil sie durch und durch von einem Kalkül durchsetzt sind: keine Macht, die sich ohne eine Reihe von Absichten und Zielsetzungen entfaltet. Doch das heißt nicht, daß sie aus der Wahl oder Entscheidungen eines individuellen Subjekts resultiert.“ (SW 1, 116)
Die Mikrophysik der Macht führte Foucault zu der Annahme, man könne Machtbeziehungen mit den disziplinierenden Techniken gesellschaftlicher Institutionen wie Schule, Krankenhaus oder Gefängnis gleichsetzen. Diese Institutionen beruhen auf disziplinierenden Techniken, die die Individuen räumlich und zeitlich koordinieren und durch die Verinnerlichung des „zwingenden Blicks“ (ÜS, 221), zu sich selbst kontrollierenden Subjekten machen. Diesen Reduktionismus lässt Foucault bereits am Schluss von Der Wille zum Wissen hinter sich, als er auf das historische Auftauchen der „Bio-Macht“ (vgl. SW 1, 166; VG, 282ff.) bzw. der „Bio-Politik“ (vgl. SW 1, 178) stößt. Hier geht es nicht mehr um die Disziplinierung einzelner Individuen durch gesellschaftliche Institutionen, sondern um die Führung einer Bevölkerung. Ein anderes Problem der Mikrophysik der Macht besteht in der Feststellung, dass Macht eben nicht nur von oben nach unten wirkt, sondern auch in umgekehrter Richtung möglich ist: „Kann man Konfrontation und Unterdrückung, zu denen es innerhalb einer Gesellschaft kommt und die charakteristisch für diese Gesellschaft sind, kann man diese Konfrontation, diesen Kampf, als Krieg bezeichnen? Sind Herrschaftsprozesse nicht komplexer und komplizierter als Krieg? Ich werde zum Beispiel in den kommenden Monaten eine Reihe von Dokumenten veröffentlichen, in denen es um die Internierung und Einkerkerung im 17. und 18. Jahrhundert geht [gemeint sind die lettres de caché, A.V.]. Dann wird man sehen, dass Internierung und Einkerkerung keine Autoritären, von oben auferlegten Maßnahmen waren, dass sie die Menschen nicht wie ein vom Himmel herabschießender Blitz trafen. In Wirklichkeit empfanden die Menschen selbst diese Maßnahmen als notwendig, sogar in den ärmsten Familien und gerade auch in Gruppen, in denen die größte Not herrschte.“ (Schriften 3, 505f.)
Foucault sah sich gezwungen, umzudenken: „Hatte Foucault der juridischen Machtkonzeption vorgeworfen, Macht nur negativ denken zu können, so realisiert er immer mehr, dass auch seine Konzeption der Macht als kriegerisches Verhältnis der Produktivität und Positivität einer Bio-Macht nicht gerecht werden kann.“ (Lemke 1997, 141)
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Mit „Bio-Macht“ ist die staatliche Regulierung der Bevölkerung gemeint. Moderne Staaten regulieren sich nicht allein über Disziplinierungsmechanismen, wie Foucault in Überwachen und Strafen suggeriert. Die Behauptung, der Übergang zur Moderne sei gekennzeichnet durch den Wechsel von einer souveränen zu einer disziplinierenden Staatsform, in der die Menschen durch Diszplindispositive, d. h. strategische Anordnungen geführt werden, lässt Foucault in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität hinter sich, indem er staatliche Vorkehrungen, die er Sicherheitsdispositive nennt, analysiert: „Die Disziplin regelt definitionsgemäß alles. Die Disziplin läßt nichts entkommen. Sie läßt nicht nur gewähren, sondern ihr Prinzip ist, daß selbst die kleinsten Dinge nicht sich selbst überlassen werden dürfen. [...] Das Sicherheitsdispositiv [...] läßt im Gegenteil gewähren. Nicht das man alles gewähren ließe, doch es gibt eine Ebene, auf der das laisser faire unerläßlich ist. Die Preise steigen lassen, die Knappheit sich aufbauen lassen, die Leute hungern lassen um etwas nicht gewähren zu lassen, nämlich, daß die allgemeine Heimsuchung des Nahrungsmangels einsetzt.“ (GG, 74; Hervorhebung im Original)
Die Sicherheit einer Bevölkerung wird weniger über strenge Kontrolle als vielmehr über bestimmte gesetzliche Festlegungen organisiert. Um eine Bevölkerung zu führen, muss die Regierung die individuelle Freiheit durch einen gesetzlichen Rahmen begünstigen. Der moderne Staat funktioniert, indem er den Individuen Freiheitsspielräume gibt und so den Austausch zwischen den Individuen ermöglicht. Dieser Austausch soll selbstverständlich immer auch ökonomischer Natur sein. Neben der Disziplinierung der individuellen Körper existiert demnach noch die Führung der Bevölkerung durch einen, im weitesten Sinne, liberalen Staat: „[E]ine Macht, die sich als Steuerung begreift, die nur durch die Freiheit und auf die Freiheit eines jeden sich stützend sich vollziehen kann, ist, denke ich, etwas absolut Grundlegendes. Das ist keine Ideologie [...]. Es ist zunächst und vor allem eine Machttechnologie [...].“ (GG, 79)
Diese Machttechnologie nennt Foucault Gouvernementalität.11 Mit diesem Begriff will Foucault verschiedene Phänomene zusammenfassen. Zum einen bezieht er sich auf eine Gesamtheit von Institutionen, Analysen, Verfahrensweisen etc., die sich an eine Bevölkerung richten. Zum anderen bezeichnet Gouvernementali11
Zur Verwendung der Gouvernementalität als sozialwissenschaftliches Konzept vgl. die Beitrage in Pieper/Rodríguez 2003 und Bröckling/Krasmann/Lemke 2000. Eine andere Form der Erweiterung der Mikrophysik der Macht schlägt Deleuze vor, wenn er darauf hinweist, dass die Disziplinierung zunehmend von Kontrollmechanismen abgelöst wird (vgl. Deleuze 1993, 254ff.).
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tät die für das Abendland typischen Machtformen, wie Souveränität und Disziplinierung, mit denen eine ganze Reihe von bürokratischen Apparaten und (human-)wissenschaftlichen Erkenntnissen verknüpft sind (vgl. GG, 162f.). Alle diese Regulierungen und Techniken haben, wie schon in der Mikrophysik der Macht, die Eigenschaft, selbst gesteuerte Subjekte hervorzubringen bzw. auf diese angewiesen zu sein (vgl. Halperin 1995, 18ff.). Insofern ist die Gouvernementalität ein Sammelbegriff für alle möglichen Beziehungsformen und sozialen Abläufe, die dadurch strukturiert sind, dass sie an die Selbststeuerung der Subjekte appellieren. Man kann gegen den Begriff der Gouvernementalität den gleichen Einwand erheben, wie er schon gegen die Mikrophysik der Macht erhoben wurde: durch ihn wird Macht zu einem alles umfassenden Begriff, der kein kritisches Potential mehr in sich trägt. Buchstäblich alle zwischenmenschlichen Beziehungen, gesellschaftliche Institutionen und staatliche Interventionen sind Sicherheitsdispositive. Die Menschen werden kontinuierlich von den Dispositiven geführt. Trotz dieses totalitären Machtbegriffs ist Foucaults Theorie ein eigenständiger Entwurf, ein Versuch, neue theoretische Pfade zu begehen. Foucaults Gouvernementalität versucht der theoretischen Alternative zu entgehen, Macht entweder handlungs- oder systemtheoretisch zu beschreiben. Die Abgrenzung von der handlungstheoretischen Auffassung wird dadurch erreicht, dass die Machtbeziehungen nicht mehr von den privaten Intentionen des handelnden Individuums aus analysiert werden. Macht ist nicht deshalb vorhanden, weil bestimmte Individuen sie ausüben wollen, sondern weil Individuen durch ihre Handlungen bestehende Machtbeziehungen aktualisieren. Foucaults Ablehnung des souveränen, autonom handelnden Subjekts funktioniert auf der analytischen Ebene und ist vollkommen plausibel. Machtbeziehungen sind in einer Institution, wie beispielsweise der Schule, nicht deshalb vorhanden, weil alle Pädagogen in dieser Institution genau diese Machtbeziehungen willentlich und bewusst ausüben wollen. Sie erleben sich häufig selbst als von Machtbeziehungen gesteuert. Die methodische Ablehnung des handelnden Subjekts bei der Analyse von Machtbeziehungen hat also seine volle Berechtigung (vgl. Detel 1998, 38). Die Auflösung des Machtbegriffs im systemtheoretischen Sinne als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium teilt Foucault ebenso wenig. Macht ist für ihn nicht nur eine Funktion im Kommunikationssystem, sondern hat auch einen produktiven wie repressiven Aspekt. Um diesem hervorzuheben, ja überhaupt namhaft zu machen, verzichtet er gerade nicht auf den Subjektbegriff. Der eigenwilligste Aspekt von Foucaults Machtbegriff in Gestalt der Gouvernementalität ist, dass mit der Ablehnung der juridischen Konzeption von
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Macht das Recht nicht mehr als kritischer Maßstab fungieren kann. So wie er mit Nietzsche bereits die Verwendung des moralischen Vokabulars zurückwies, so bietet nun auch das Recht keinen Zufluchtsort für eine kritische Position. 2.1.3 Produktivität der Machtbeziehungen Was produziert die Macht? Die Antwort liegt auf der Hand: selbstbestimmte Subjekte. Genauer gesagt, Subjekte mit Eigenschaften, wie z. B. bestimmten psychologischen oder moralischen Dispositionen. Diese produktive Eigenart der Macht führt Foucault auf einen intrinsischen Zusammenhang von Macht und Wissen zurück. Damit ist nicht gemeint, Macht sei mit Wissen identisch (vgl. Schriften 4, 833). Die Identität von Wissen und Macht ist handlungstheoretisch gedacht und besagt, dass man Macht ausüben kann, wenn man sich einen Wissensvorsprung zunutze macht, der durch Verschweigen zur Manipulation der Meinung oder Handlung eines anderen benutzt werden kann. Mit der Behauptung, zwischen Macht und Wissen bestehe eine intrinsische Beziehung wird auch die Gegenüberstellung von Wissen und Macht bestritten, nach der Wissen etwas ist, das mit Wahrheit in Verbindung steht und deshalb Macht aufdecken und auflösen kann. Die These des Zusammenhangs von Wissen und Macht versucht Foucault anhand des Geständnisrituals heraus zu arbeiten, das für ihn geradezu paradigmatische Bedeutung für die Führung der Menschen hat: „Im Abendland ist der Mensch ein Geständnistier geworden.“ (SW 1, 77) Den Ursprung des Geständnisses macht Foucault in der christlichen Seelsorge aus, in der sich der Hirte um das Seelenheil seiner Schafe kümmern muss (vgl. SW 1, 30f.), indem er ihnen beispielsweise die Beichte abnimmt, um sie von ihren Sünden zu befreien. Die Sünden müssen gestanden werden. Der Beichtvater benötigt entsprechendes Wissen von den möglichen inneren Antrieben und Wünschen, um erkennen zu können, ob die Beichte aufrichtig ist oder nicht. In der Zweiersituation der Beichte gibt der Sünder seine individuellen Vergehen preis und es entwickelt sich ein „Wahrheitsspiel“ in dem sich die Subjektivität des Beichtenden konstituiert (vgl. SW 1, 89). Es entsteht etwas, das man den „Mythos des Subjektiven“ (Detel 1998, 48; ausführlich dazu vgl. Davidson 1993, 84ff.) nennen kann, d. h. die Vorstellung, es gäbe einen nur dem Individuum zugänglichen, privaten Bereich, den es gegenüber einer anderen Person offenbaren oder verschweigen kann. Das Individuum wird aufgrund dieses Mythos zum möglichen Träger von Wünschen und Vorstellungen. Auf diesem Wege kann man auf den trivialen
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Umstand verweisen, dass erst durch die Thematisierung der subjektiven Innenwelt eben diese Innenwelt „existent“ wird (vgl. Macherey 1991, 175). Epistemische Diskurse über die Innenwelt eines Individuums sind notwendigerweise darauf angewiesen, diese Innenwelt als Gegenstand möglicher Aussagen formal zu unterstellen. Zur Seelenführung und der angemessenen Beurteilung der Beichten musste der Beichtvater bereits Wissen über die Seele des Menschen besitzen. Was der Sünder aber beichtete bzw. nicht beichtete, blieb ihm selbst überlassen, der Beichtvater konnte den Sünder nicht vernehmen. Es ist aber gerade die Praxis des Verhörens und Vernehmens, die Foucaults Aufmerksamkeit auf sich zieht. Paradigmatischen Charakter kann das Geständnisritual nur deshalb erlangen, weil aus der kirchlichen Beichtpraxis ein Zwang zur Erforschung der Seele geworden ist, die explizit verlangt und methodisch durchgeführt werden konnte. Erst auf diesem Wege konnte sich das Wissen um die Seele und die Hervorbringung der Seele auch mit repressiven Machtbeziehungen verbinden. Die Verknüpfung von Macht und Wissen führt zu einer systematischen Produktion der Wahrheit über das Subjekt. Die Produktion der Subjektivität der Individuen hängt für Foucault mit bestimmten Praktiken zusammen, die den Menschen moralisch und psychologisch problematisieren (vgl. SW 2, 19). Den Wandel von der kirchlichen Beichtpraxis zum verallgemeinerten Zwang zur Erforschung der Seele macht Foucault in Der Wille zum Wissen anhand der Gegenüberstellung von scientia sexualis und ars erotica deutlich (vgl. SW 1, 67ff.). In Der Wille zum Wissen behandelt Foucault die Sexualität des Individuums als „Chiffre der Individualität“ (SW 1, 174; vgl. Schriften 4, 212). Er postuliert zwei verschiedene Formen des Umgangs mit dieser intimsten Individualität. In der ars erotica wird das Individuum in die Geheimnisse der Sexualität praktisch eingeführt. Der Eintritt in die sexuelle Existenz wird über Initiationsrituale vollzogen, in denen der Schüler von einem Meister unterwiesen wird. Charakteristisch hieran ist, dass das Wissen von der Sexualität ein rein praktisches Wissen ist und entsprechend praktisch vermittelt wird. Es geht nicht um einen kognitiven Wissensvorrat, sondern um die praktische Tätigkeit des sexuellen Erlebens. Dieser Umgangsform stellt Foucault die scientia sexualis gegenüber, die sich im Anschluss an die kirchliche Geständnispraxis entwickelt haben soll und in der sich die Suche nach den Geheimnissen der individuellen Sexualität verselbstständigt hat. Für die Beziehung zwischen demjenigen, der in das sexuelle Leben eingeführt wird, und demjenigen, der den Betreffenden einführt, besteht nun eine kognitive und keine praktische Differenz. Sexuelles Wissen wird zu theoretischem Wissen, das entsprechend theoretisch vermittelt werden muss. Der Schüler steht nicht einem Meister gegenüber, sondern einem theoretischen Ex-
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perten. Anders als in der Beichtpraxis der Kirche steht es dem Beichtenden nicht mehr frei, über seine Innenwelt zu reden. Von nun an stellt ihm der Experte aufgrund seines vorhandenen Wissensvorsprungs Fragen und beurteilt dessen Innenleben unabhängig von ihm. Dieser Wechsel ist entscheidend für Foucaults Theorie, denn so kann er seine genealogische Machtanalytik mit seinen früheren archäologischen Arbeiten zu den Humanwissenschaften zumindest metaphorisch verknüpfen. Mit den Humanwissenschaften betreten humanistische Experten die Bühne, die eine epistemische Autorität beanspruchen. Experte und Klient führen einen epistemischen Diskurs über die Innenwelt des Klienten, wobei der Experte ein Wissensgefälle ins Spiel bringt. Ein solches Verhältnis ist nicht notwendigerweise manipulativ, d. h. der Experte ist nicht zwingend darauf aus, seinen Klienten zu einer bestimmten Meinung oder Handlung zu bewegen. Es geht in erster Linie um die Wahrheitsfindung. Detel stellt zur Explikation dieser Verknüpfung von Machtbeziehung und epistemischem Diskurs drei Modelle vor: (1) Die Verknüpfung von Macht und Wissen kann im Sinne des InvisibleHand-Modells verstanden werden, in dem die neuen Machtbeziehungen unbeabsichtigt entstanden sind. In einer Ursprungssituation (bei Foucault das Aufeinandertreffen von Geistlichem und Sünder) sollte die bestehende soziale Situation optimiert werden. Dies sollte der Rückgriff auf epistemische Diskurse leisten, die aber nicht-intendierte Effekte nach sich zogen. Einerseits wurde die „Existenz“ neuer Phänomene im oben genannten Sinne ermöglicht, andererseits wurde eine neue Form der Machtbeziehung hervorgebracht (vgl. Detel 1998, 44). Dieses Modell betont, dass die Machtbeziehung nicht willentlich entstanden sein muss, aber es liefert nur eine rein formale Beschreibung des Zusammenhangs von Wissen und Macht und der Entstehung ihrer Verknüpfung. (2) Weiterhin kann die Verknüpfung in einem performativen Modell aufgezeigt werden, mit dem die sprachpragmatische Auffassung vertreten wird, dass ein epistemischer Diskurs notwendigerweise mit sozialen Handlungen verknüpft ist. Zwar geht es im epistemischen Diskurs vornehmlich um die Wahrheitsfindung, aber diese ist verknüpft mit dem pragmatisch zu vollziehenden Eingeständnis von Schuld, der Verdammung bestimmter Taten, der Vergebung etc. Im epistemischen Diskurs unterwirft sich der Sünder bzw. der zu untersuchende Klient deshalbt immer sozialen Normen und aktualisiert ein Machtgefälle (vgl. Detel 1998, 46). (3) Schließlich kann Foucaults Verknüpfung von Wissen und Macht auch als kontrafaktisches handlungstheoretisches Modell verstanden werden. Damit ist ein Perspektivenwechsel gemeint, der einen Informationsgewinn nach sich zieht. Aus der Teilnehmerperspektive erscheint die soziale Situation im Ges-
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tändnisritual nicht notwendigerweise als Machtbeziehung, denn in der Beichtpraxis kommt der Sünder aus Angst um sein Seelenheil zum Priester. Der Priester hat wiederum die gute Absicht, dem Sünder zu helfen. Beide begeben sich in die Situation, um Ängste zu bewältigen und Schaden zu verhindern. Erst der Wechsel zur theoretischen Beobachterperspektive erlaubt es, die Beziehung auch als Machtbeziehung zu beschreiben. Die Beteiligten könnten diese Beschreibung durchaus akzeptieren, wenn man ihnen die Beobachterperspektive mitteilt (vgl. Detel 1998, 47f.). Detel stellt fest, dass Foucaults These der Verknüpfung von Wissen und Macht anhand seiner eigenen Beispiele (Geständnisritual und scientia sexualis) immer nur Teilaspekte dieser Verknüpfung aufdecken, die mit einem der drei genannten Modelle oder der epistemischen Autorität der Experten beschrieben werden können. Allgemein läuft diese Verschränkung von Wissen und Macht bei Foucault auf folgende These hinaus: „Diese spezifische Form regulativer Macht [Detels Bezeichnung für Foucaults produktiven Machtbegriff, A. V.] weist eine allgemeine Form epistemischer Produktivität auf: sie eröffnet den Spielraum für jene Redehandlungen oder diskursiven Praktiken, die auf die Produktion wahrer Sätze zielen.“ (Detel 1998, 60; kursiv im Original)
2.1.4 Epistemische Autorität von Experten Foucaults These lautet, dass das christliche Pastoral, die Seelenführung, in der Moderne zur wissenschaftlichen Erforschung und Behandlung der „Seele“ oder der „Psyche“ transformiert wurde. Experten mit humanwissenschaftlichem Hintergrund arbeiten an der Erforschung des Innenlebens des Subjekts und produzieren damit neue Wahrheiten. Das Individuum wird damit zum Subjekt mit bestimmten Attributen für die der humanwissenschaftliche Experte als epistemische Autorität gilt. Seine Autorität ist durch die Produktivität wahrer Aussagen über das Individuum definiert, wie im Folgenden anhand eines Beispiels von Foucault verdeutlicht wird. Im Anschluss wird ein sonderpädagogisches Beispiel in Analogie dazu gesetzt. 2.1.4.1 Psychiatrische Gutachten Mit der Disziplinierung der Menschen ab dem 18. Jahrhundert tritt die produktive Macht auf, die Foucault auch „Macht der Normierung“ (AN, 61) nennt:
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„Das 18. Jahrhundert hat mit dem System der »Disziplin mit Normalisierungseffekt«, mit dem System »Normalisierungsdisziplin« etwas eingeführt, was mir nicht als repressive, sondern als produktive Macht erscheint – wobei Repression nur als Neben- und Sekundäreffekt im Hinblick auf die Mechanismen fungiert, die ihrerseits im Verhältnis zur Macht zentral sind und fabrizieren, erzeugen und produzieren.“ (AN, 74)
Das Aufkommen des disziplinierten Individuums geht einher mit der Unterscheidung zwischen normalen und unnormalen Individuen. Die Rolle der humanwissenschaftlichen Experten in diesem Prozess der Normalisierung macht Foucault in seiner Vorlesung über Die Anormalen am Beispiel psychiatrischer Gerichtsgutachten deutlich, wozu er jeweils ein Gutachten aus den 1950erJahren und den 1970er-Jahren heranzieht. In beiden Fällen geht es um die Klärung der Frage, ob die Angeklagten – im ersten Fall ein Mann, der zusammen mit seiner Lebensgefährtin deren Kind getötet hatte und im zweiten Fall drei Homosexuelle, die wegen Erpressung und Diebstahl angeklagt wurden – schuldfähig sind oder nicht. Solche Gutachten entschieden über Schuld und Unschuld der Angeklagten, was zum damaligen Zeitpunkt eine Entscheidung zwischen Leben und Tod sein konnte. Ihre Macht erhielten die Gutachten aufgrund ihres wissenschaftlichen Status’ (vgl. AN, 19f.). Wenn ein Gutachten in einem Gerichtsprozess relevant sein soll, dann muss es etwas Wahres über das betreffende Individuum aussagen können, d. h. es muss in Form eines Beweises auftreten. Foucault unterscheidet zwei Arten von Beweisen, nämlich zwischen gerichtlichem Beweis und innerer Überzeugung. Der gerichtliche Beweis kann quantitativ angewendet werden. Je mehr Beweisstücke und Indizien zusammengetragen werden, desto schuldiger ist der Angeklagte. Dagegen hat die innere Überzeugung die Eigenschaft, im Extremfall ohne jeglichen Beweis verurteilen zu können. Das Prinzip der inneren Überzeugung beruht darauf, dass der Urteilende als neutrales Subjekt, d. h. frei von Vorurteilen, über den betreffenden Fall entscheiden soll (vgl. AN, 21ff.). Mit Hilfe dieser beiden Prinzipien urteilt die Justiz. Wenn keine vollständige innere Überzeugung entwickelt wird, weil eventuell nicht genügend Indizien vorhanden sind, zieht dies eine Strafmilderung nach sich. Foucault weist darauf hin, dass die Strafminderung keine Erfindung der Humanität der Justiz ist, sondern eingeführt wurde, damit in bestimmten Fällen überhaupt gestraft werden konnte. So konnten Gerichte früher bei Kindsmorden einer Mutter beispielsweise nur zwischen Leben und Tod entscheiden, was zur Folge hatte, dass viele Mörderinnen frei gelassen wurden, weil man die Todesstrafe für unangemessen hielt. Erst die Strafmilderung ermöglichte in diesen Fällen eine Bestrafung (vgl. AN, 24).
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Was genau zeigen nun die psychiatrischen Gutachten? Foucault betont, dass sie nichts Neues zeigen. Sie eröffnen keine neuen Schauplätze, auf denen neue Erkenntnisse gewonnen werden, stattdessen wird der bestehende Sachverhalt „verdoppelt“ (AN, 32). Ausgangspunkt für das Gutachten ist die begangene Straftat. In dem Moment, indem der Psychiater ein Gutachten über den Täter erstellt, entwickelt er ein „psychologisch-ethisches Doppel des Delikts“ (AN, 34). Unter den Augen des Gutachters wird das bisherige Verhalten in Beziehung zur Tat gesetzt. Das Delikt selbst steht nun eventuell mit der „Seinsweise“ (AN, 33) des Individuums in Beziehung. Die einfache Frage, ob die begangene Tat illegal war, verdoppelt sich zu der Frage, ob nicht auch die Seinsweise des Individuums bereits gefährlich, fragwürdig etc. sei: „In einem solchen Gutachten geht es mithin darum, die Serie dessen, was man Fehler ohne Vergehen oder Mängel ohne Gesetzesverstoß nennen könnte, nachzuzeichnen.“ (AN, 36)
Es steht nicht mehr nur die Tat zur Diskussion, sondern das „psychologischethische Doppel“, d. h. das Individuum als Subjekt mit seinen moralischen und psychologischen Attributen, die nun entsprechend wissenschaftlich untersucht werden können. Foucault weist, teilweise sarkastisch, darauf hin, dass der Diskurs psychiatrischer Gutachten ein eigenständiges Phänomen ist, das sich der Verknüpfung von Justiz und Medizin bzw. Psychiatrie verdankt. Diese Form des Diskurses, der mit dem Anspruch auftritt, die Wahrheit über des Individuum aufzudecken, kann dabei weder die Kriterien der juristischen noch der medizinischen Wissenschaft erfüllen. „Der Westen, der [...] fortgesetzt davon träumt in einer gerechten Stadt dem Wahrheitsdiskurs Macht zu verleihen, hat schließlich in seinem Justizapparat der Parodie und der als solcher anerkannten Parodie des wissenschaftlichen Diskurses unumschränkte Macht eingeräumt.“ (AN, 31)
Foucault bezeichnet die Gutachten als „Parodie“ weil er damit zum Ausdruck bringen will, dass man die Ergebnisse eines psychiatrischen Gutachtens nicht mit dem Stand der medizinischen und psychiatrischen Wissenschaft gleich setzen kann. Das würde dem Wissensstand dieser Disziplinen nicht gerecht werden (vgl. AN, 60). Auch wenn man Foucaults despektierlicher Bewertung der psychiatrischen Gutachten nicht zustimmt, ist doch der Hinweis darauf, dass diese Gutachten dem Stand des wissenschaftlichen Wissens nicht entsprechen, ernst zu nehmen. In einem einfachen Sinne können sie dies nicht leisten, weil sie sich weder im Wissenschaftssystem noch im juristischen System bewegen, sondern an der
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Schnittstelle zwischen Justiz und Wissenschaft. In dieser Grauzone wird keine Wahrheit aufgedeckt, sondern die epistemische Autorität des professionellen Psychiaters in eine bürokratische Funktion überführt. Die dadurch entstehende Praxis, ein Zwitter aus Wissenschaft und Justiz, ist laut Foucault keine Fehlentwicklung, sondern typisch für die Normalisierungsmacht der Moderne (vgl. AN, 28). Mit Hilfe dieser Grauzone wird die strafende Macht der Justiz ausgeweitet und nicht eingeschränkt. Durch die Etablierung des „psychologisch-ethischen Doppels“ kann die Strafe um eine ganze Reihe von Normalisierungstechniken erweitert werden. Der Täter wird zum pathologischen Subjekt, das mit Hilfe therapeutischer und sozialpädagogischer Maßnahmen zum normalen Subjekt transformiert werden kann (vgl. AN, 36). Der Täter wird ein zu therapierendes oder zu korrigierendes Subjekt. 2.1.4.2 Sonderpädagogische Gutachten Man kann darüber streiten, ob man dem pädagogischen Fachwissen einen ähnlichen Experten-Status zuschreiben kann, wie Foucault dem psychiatrischen und medizinischen Fachwissen. Innerhalb der stark ausdifferenzierten pädagogischen Praxisfelder kann man jedoch sagen, dass die Sonderpädagogen eine solche Expertenrolle einnehmen, da sie von anderen pädagogischen Berufen durch ihre Berechtigung zur Diagnose abgegrenzt werden können. Nur ein Sonderpädagoge ist berechtigt, einen Schüler zu testen, um festzustellen, ob dieser einen spezifischen Förderbedarf hat. Diese Kompetenz wird mit dem entsprechenden Fachwissen legitimiert. Wie dieses Fachwissen eingesetzt wird, soll im Folgenden anhand der Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen bzw. Lernbehinderungen dargestellt wer12 den. In diesem sonderpädagogischen Bereich werden Schüler in den Blick genommen, die den Leistungsanforderungen der Regelschulen, normalerweise der Grund- und Hauptschulen, nicht gerecht werden. Die Regelschulen müssen entscheiden, ob sie solche Schüler langfristig halten können oder ob ein Wechsel zur Förderschule der bessere Weg ist. Die Frage, ob ein solcher Schulwechsel angemessen ist oder nicht, muss von einem Sonderpädagogen beantwortet werden, wohingegen sich ein Wechsel zwischen den Regelschulen in erster Linie durch die Notengebung von selbst regelt. Steht ein Regelschullehrer vor dieser Frage, dann hat er die Möglichkeit, ein sonderpädagogisches Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs einzuleiten. 12
Zum Behinderungsbegriff und der Frage nach der Normalität in der Pädagogik vor dem Hintergrund von Foucaults Theorie vgl. die breit gefächerten Beiträge in Tremain 2005.
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2 Professionelles Wissen
Ein solches Verfahren ist in den einzelnen Bundesländern, mit länderspezifischen Abweichungen, gesetzlich geregelt. Stellvertretend soll dieses Verfahren anhand des nordrheinwestfälischen Schulgesetzes dargestellt werden. Hier ist dieses Verfahren durch § 52 des SchulG AO-SF (=Schulgesetz/Ausbildungsordnung-sonderpädagogische Förderung) festgelegt. Der Ablauf sieht vor, dass die Regelschule in einer Klassenkonferenz entscheiden muss, ob ein sonderpädagogisches Verfahren eingeleitet werden soll oder nicht. Wenn dies der Fall ist, muss die entsprechende Schulaufsichtsbehörde informiert werden. Diese ist von da an in allen Belangen der gesetzliche Entscheidungsträger (vgl. AO-SF § 12) und beauftragt eine entsprechende Förderschule mit der Überprüfung des Schülers. Ein Sonderschullehrer der Schule wird hierfür abgeordert und muss nun gemeinsam mit dem Regelschulpädagogen ein Gutachten verfassen. Im Falle eines lernbeeinträchtigen Kindes muss der Sonderpädagoge nun vor dem Hintergrund seines Fachwissens feststellen, ob die entsprechenden Leistungsprobleme „schwerwiegender, umfänglicher und lang andauernder Art sind“ (AO-SF, § 5). Hierfür soll unter anderem der bisherige Bildungsweg rekonstruiert, das Arbeits- und Sozialverhalten beobachtet und die Lebensumstände des Kindes untersucht werden (vgl. AO-SF § 11.1.2). Darüber hinaus kann der Sonderpädagoge Intelligenztests durchführen, auch wenn diese nicht vorgeschrieben sind. Ein weiterer Bestandteil des Gutachtens ist eine schulärztliche Untersuchung, die entsprechende körperliche Beeinträchtigungen feststellen soll (vgl. AO-SF, § 11.3.1). Unabhängig davon wie Sonderpädagogen diese Aufgabe konkret erfüllen, treffen doch die wesentlichen Einwände, die Foucault gegen die psychiatrischen Gutachten anführt, auch auf die sonderpädagogischen Gutachten zu. Was das Gutachten feststellen soll, ist im Grunde nur das, was die Regelschule bereits weiß. Formal betrachtet liefert ein sonderpädagogisches Gutachten also keine neuen Erkenntnisse über den betreffenden Schüler. Die Tatsache des Leistungsproblems wird mit der Erstellung des Gutachtens nur verdoppelt. Es werden entsprechend Indizien gesucht, die Auskunft über die subjektive Verfassung des Schülers geben sollen. Unabhängig davon, ob ein Sonderpädagoge die Leistungsproblematik als individuelles Versagen beurteilt oder auf ein konfliktgeladenes Milieu zurückführt, soll er mit dem Gutachten „beweisen“, ob diesen Problemen mit sonderpädagogischer Förderung begegnet werden soll oder nicht. Falls ja, dann wird der Schüler auf diesem Wege ein zu förderndes Subjekt. Wichtig ist Foucaults Hinweis darauf, dass auf diesem Wege etwas produziert wird, was es laut wissenschaftlichem Erkenntnisstand fragwürdig ist (zum Begriff der Lernbehinderung vgl. Balgo 2002; Werning 2002). Die anzuwendenden Methoden werden innerhalb der Fachwissenschaft ebenfalls verschieden
2.2 Erziehungswissenschaft und Pädagogik
79
beurteilt. Wenn der Sonderpädagoge beispielsweise einerseits den Bildungsweg und die Lebensumstände des Schülers in den Blick nimmt, dann konzipiert er die Leistungsprobleme des Schülers als Regression. Wenn er dagegen mit einem Intelligenztest den kognitiven Leistungsstand erfasst, dann konzipiert er das Problem als Retardierung. Ob das eine oder andere Konzept schlüssig ist bzw. ob beide Konzeptualisierungen miteinander verknüpft werden können, ist fachwissenschaftlich ungeklärt. Der Sonderpädagoge operiert in diesem Verfahren zwischen Fachwissenschaft und rechtlichen Bestimmungen. Aufgrund seines Fachwissens gilt er als Experte und muss zu einer entsprechenden Beurteilung des Leistungsproblems kommen, aber trotzdem ist seine Beurteilung keine rechtliche Entscheidung. Laut AO-SF ist der rechtliche Entscheidungsträger immer die Schulbehörde, die sich faktisch an die Beurteilung des Gutachtens hält. Auch ein Sonderpädagoge, der um die wissenschaftliche Fragwürdigkeit sonderpädagogischer Etikettierungen der Schüler weiß, ist trotzdem genötigt, eine solche Beurteilung zu fällen. Das sonderpädagogische Gutachten hat die Macht, über die schulische Laufbahn und damit auch über den Lebensweg eines Schülers zu entscheiden. Diese Macht ist durch strategische Vorkehrungen gesichert. Der Sonderpädagoge bringt sein Fachwissen ein, was faktisch die Entscheidung hervorbringen soll, ohne gleichzeitig als Entscheidungsträger auftreten zu dürfen. Sonderpädagoge, Schulaufsichtsbehörde und Familie bewegen sich in einer strategischen Situation, die neue Attribute des Schülers hervorbringt. Auf diesem Wege wird darüber entschieden, ob eine Leistungsproblematik noch normal ist oder nicht. Gleichzeitig gibt es keinen direkten Verantwortlichen hinter dieser strategischen Situation, in der sich alle drei Instanzen gleichermaßen befinden. Man hat es mit „Strategien ohne Plan“ (Taylor 1999, 213) und ohne Strategen zu tun. 2.2 Erziehungswissenschaft und Pädagogik Bei der Erörterung des produktiven Machtbegriffs drängte sich bereits ein Fragenkomplex auf, der für Foucaults Theorie eine erhebliche Rolle spielt: der Zusammenhang von humanwissenschaftlichem Wissen und praktischer Nutzung dieses Wissens. Auf die Pädagogik bezogen handelt es sich um die unter dem Stichwort „Professionalität“ behandelte Frage nach dem Zusammenhang von der wissenschaftlicher Ausbildung zukünftiger Pädagogen und ihrer praktischen Tätigkeit in pädagogischen Institutionen. Die Schwerpunkte dieses Themas sollen zunächst kurz skizziert werden (2.2.1). Vor dem Hintergrund der dort entwickelten Fragestellungen gilt es zu untersuchen, inwiefern mit Foucaults
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2 Professionelles Wissen
Theorie hier angeknüpft werden kann. Zur Bearbeitung dieser Frage entwickelt Foucault eine Theorie, nach der „Aussagen“ eine Mischung aus sprachlichen und nicht-sprachlichen Praktiken darstellen, die eine diskursive Praxis konstituieren (2.2.2). In solchen diskursiven Praxen wird Wissen verwendet. Foucault benutzt den Wissensbegriff im Anschluss an seinen Aussagenbegriff ebenfalls sowohl in Bezug auf das Sprechen als auch auf nicht-sprachliche Methoden, Vorgehensweisen und soziale Arrangements. Diesen Wissensbegriff unterscheidet er wiederum von den Wissenschaften im engeren Sinne. Zwischen Wissen und Wissenschaft stellt er einen Zusammenhang her, den er mit einer Theorie der Schwellenüberschreitungen von der Praxis zur Theorie beschreibt (2.2.3). Vergleicht man diese Ausführungen mit der Professionalitätsdebatte innerhalb der Erziehungswissenschaft, dann zeigt sich, dass Foucault seinen Wissenschafts- und Wissensbegriff von einem direkten Abbildungsverhältnis zwischen theoretischem Wissen und dessen praktischer Verwendung abgrenzen will, dies aber nicht gelingt (2.2.4). Letztendlich ist es theorieintern am plausibelsten, seine machtanalytische Kritik an der diskursiven Praxis der humanwissenschaftlichen Professionen von seiner theoretischen Kritik an der Wissenschaftlichkeit der Humanwissenschaften zu trennen. Seine wissenschaftstheoretische Kritik ist nur vor dem Hintergrund seines „Triëders des Wissens“ plausibel. Die eigentlich philosophische Kritik ist die unter 1.4 geschilderte Ablehnung des subjektzentrierten Denkens, die aber nicht vornehmlich die Humanwissenschaften trifft, sondern das Denken der Moderne als Ganzes (2.2.5). 2.2.1 Pädagogik und ihre Wissenschaft Foucault behandelt in seinen Macht- und Diskursanalysen Humanwissenschaften, die über ein praktisches Pendant verfügen, das mit der wissenschaftlichen Theoriebildung auf eine noch zu bestimmende Art und Weise in Verbindung steht. Damit untersucht Foucault zu einem nicht unerheblichen Teil Professionen, beispielsweise wenn er die Psychiatrie oder die Medizin in den Blick nimmt. Auch wenn die Frage, was unter einer Profession genau zu verstehen sei, nach wie vor in Definitionsversuchen stecken bleibt (vgl. Koring 1999, 319), so lassen sich doch in der Regel drei Merkmale festhalten, wodurch Professionen von anderen Berufen zu unterscheiden sind (vgl. Combe/Helsper 1999, 9; Horster u. a. 2005, 10): 1. Professionen arbeiten mit einem systematisch entwickelten Wissen, das wissenschaftlich erarbeitet und akademisch vermittelt wird. Der erfolgreiche Erwerb dieses akademischen Wissens wird in der Regel staatlich lizenziert.
2.2 Erziehungswissenschaft und Pädagogik
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2. Professionen besitzen eine soziale Ausrichtung. Sie bearbeiten soziale Handlungsfelder und sind dadurch an bestimmte ethische Werte gekoppelt. 3. Die Ausbildungspraxis ist innerhalb des Fachgebietes autonom geregelt.
Inwieweit die Pädagogik zu den Professionen zu zählen ist, oder ob dieser Beruf noch professionalisiert werden muss, hängt von der Beurteilung des ersten Punktes ab. Die zentrale Frage ist also, welche Rolle das erziehungswissenschaftliche Wissen für die praktische Ausübung des Berufs tatsächlich hat bzw. haben sollte. An die Erziehungswissenschaft gerichtet, handelt es sich um die Frage nach dem Selbstverständnis des Fachs. Traditionell herrscht hier die Auffassung vor, es handele sich bei der Erziehungswissenschaft um eine praktische Wissenschaft, deren Lehre und Forschung zur Bereitstellung praktischen Wissens für das zukünftige Handeln diene bzw. dienen sollte (vgl. Lüders 2002, 585). Die Kenntnis pädagogischer Theorien oder empirischer Forschungsergebnisse ist letztlich nicht allein ausschlaggebend dafür, ob man später ein guter Lehrer, Sozialpädagoge etc. ist. Trotz dieses Einwands muss die Erziehungswissenschaft für die Praxis relevant sein, will sie nicht ein selbstgenügsames Unterfangen sein, wodurch sie ihre Legitimität verlieren würde. Bereits Herbart, Gründervater der wissenschaftlichen Pädagogik, hat hervorgehoben, dass zwischen wissenschaftlichem Wissen und pädagogischer Tätigkeit eine Kluft existiert. Wissenschaftliches Wissen kann nicht zweckrational angewandt werden, d. h. die pädagogische Tätigkeit ist keine 1:1-Abbildung vorher gewonnener wissenschaftlicher Erkenntnisse. Hierfür bedarf es vielmehr der praktischen Erfahrung, die gerade nicht in bloßer Anwendung theoretischen Wissens aufgehen darf. Der handelnde Pädagoge muss laut Herbart vielmehr ein Taktgefühl in der jeweiligen Situation bewahren, d. h. er muss ein Gefühl dafür entwickeln, wann er seine wissenschaftlich angeleiteten Vorüberlegungen nicht stur durchsetzen sollte: „Es gibt also – das ist mein Schluß – es gibt eine Vorbereitung auf die Kunst durch die Wissenschaft, eine Vorbereitung des Verstandes und des Herzens vor Antretung des Geschäfts, vermöge welcher die Erfahrung, die wir nur in der Betreibung des Geschäfts selbst erlangen können, allererst belehrend für uns wird. Im Handeln nur lernt man die Kunst, erlernt den Takt, Fertigkeit, Gewandtheit, Geschicklichkeit; aber selbst im Handeln lernt die Kunst nur der, welcher vorher im Denken die Wissenschaft gelernt, sie sich zu eigen gemacht hat, sich durch sie gestimmt und die künftigen Eindrücke, welche die Erfahrung auf ihn machen sollte, vorbestimmte hatte“ (Herbart 1997, 45: kursiv im Original)
Bekanntermaßen sollte der Pädagoge nach Herbart für seine zukünftige Tätigkeit einerseits psychologisches Wissen (vgl. Herbart 1997, 190ff.) mitbringen und
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2 Professionelles Wissen
andererseits durch eine verbindliche Ethik angeleitet werden (vgl. Herbart 1997, 187ff.). Diesem Modell, das von der Theorie auf die Praxis bezogen ist und gleichzeitig vor der bloßen, wissenschaftlich orientierten Methodik warnt, kann ein umgekehrtes gegenüber gestellt werden, in dem Praxis eine eigene Logik zugestanden wird, der sich die wissenschaftliche Forschung verpflichtet fühlen muss. In diesem Modell hat die Praxis immer den Vorrang und die Theorie steht in der Verantwortung, für die Praxis Orientierung und theoretische Legitimation zu besorgen. Hierbei handelt es sich, grob gesprochen, um das Modell der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, die der Verwissenschaftlichung der Pädagogik in Theorie und Praxis entgegensteht. Historisch betrachtet wurde dieses Modell mit der Entstehung der Erziehungswissenschaft in den 1960er-Jahren verabschiedet. Sozialwissenschaftliche Erkenntnisse sollten nun ernst genommen werden, um zu verhindern, dass schlechte Praxis weiter schlechte Praktiker hervorbringt (vgl. Lüders 1989, 155). Der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik mit ihrer in erster Linie hermeneutischen Ausrichtung wurde dies nicht zugetraut (vgl. Lüders 1989, 53ff.). Die pädagogische Wissenschaft sollte einen „wissenschaftlich ausgebildeten Praktiker“ (Lüders) hervorbringen, der sein Wissen und Handeln in der praktischen Erfahrung in Einklang bringen musste. Eine solche Verknüpfung von Theorie und Praxis wird aus verschiedenen Gründen zunehmend als problematisch angesehen. Seit Herbart hat sich dabei die Zurückweisung der Verwissenschaftlichung der Praxis als durchgängiger Tenor erhalten. Die reine Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse durch den technokratischen Experten gilt bis heute als Kontrastfolie für den wirklich professionell arbeitenden Pädagogen (vgl. Terhart 2001, 43f.). Fachintern wurde bereits von den Vertretern der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik festgestellt, dass die Erziehungswissenschaft nicht mehr in der Lage sei, die Ausdifferenzierung der pädagogischen Tätigkeitsfelder einheitlich zu behandeln (vgl. Combe/Helsper 1999, 27). Die Ausdifferenzierung der erziehungswissenschaftlichen Objektbereiche korrespondiert demnach mit der Ausdifferenzierung der Praxisfelder und daher kann die Erziehungswissenschaft nicht mehr mit dem Anspruch auftreten, pädagogische Tätigkeiten einheitlich 13 auf eine bestimmte Idee zu beziehen. Zu der fachinternen Ausdifferenzierung kommt noch die normative und politische Pluralisierung der Gesellschaft hinzu, die zur Folge hat, dass die praktische Pädagogik nicht beanspruchen kann, advo13
Diese Einschätzung wird nicht von allen geteilt. Einige Autoren verteidigen nach wie vor einen Bildungsbegriff als einheitlichen Bezugspunkt für die verschiedenen pädagogischen Handlungsfelder, der nur richtig verstanden werden müsse, damit er dies heute noch leisten könne (vgl. Benner 2005; Klafki 1996).
2.2 Erziehungswissenschaft und Pädagogik
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katorisch über den Werdegang ihrer Klientel entscheiden zu können (vgl. Giesecke 1999, 391). So sind Diskrepanzen zwischen Wissenschaft und Praxis unvermeidlich: „Ist Erziehungswissenschaft als handlungsleitende Wissenschaft nicht mehr möglich, entstehen zwangsläufig Kommunikationsprobleme, denn die Sichtweise der »Praktiker« ist eine andere. Der Bedarf an Handlungs- und Orientierungswissen steigt in dem Maße, wie die Gesellschaft komplexer und die Aufgaben in den gesellschaftlichen Feldern unüberschaubarer werden, was an den sich wandelnden Qualifikationsanforderungen an Pädagogen ablesbar ist.“ (Wimmer 1999, 407).
Die Beziehung zwischen Erziehungswissenschaft und Pädagogik als Praxis wird gegenwärtig nicht mehr als Rationalitätskontinuum gedacht. Trotz dieses „Verlustes“, soweit man denn behaupten kann, dieses Rationalitätskontinuum hätte jemals bestanden, hält die Erziehungswissenschaft an der praktischen Relevanz fest. Diese wird aber als theoretische Aufklärung über Möglichkeiten und die Grenzen pädagogischer Praxisfelder verstanden. Die zukünftigen Pädagogen sollen, mit Ausnahme bei didaktischen Fragestellungen, kein Handlungswissen vermittelt bekommen, sondern eine reflexive Haltung zu eigenen Handlungen, zur Institution, zur Kultur und zur Gesellschaft einnehmen können (vgl. Lenzen 2002, 20f.). Dieses Verständnis der Rolle der Erziehungswissenschaft kann als Konsens unterstellt werden. Deutliche Unterschiede bestehen in der Diskussion jedoch hinsichtlich der Frage, wie die Erziehungswissenschaft diese Rolle ausfüllen kann. In der Frage, wie sich die Erziehungswissenschaft zu den praktischen Problemen der Pädagogik stellen soll, sind zwei gegensätzliche Tendenzen auszumachen (vgl. dazu Koring 1999, 318; Wimmer 1999, 408f.). Auf der einen Seite wird dafür plädiert, dass die Erziehungswissenschaft die Nähe zu den praktischen Problemen suchen und diese theoretisch ergründen muss. Die Erziehungswissenschaft sollte demnach an die Teilnehmerperspektive der Praktiker anknüpfen (vgl. Ilien 2005, 35). Auf der anderen Seite wird dafür plädiert, dass zwischen Erziehungswissenschaft und Pädagogik eine Distanz bestehen muss, um zu vermeiden, dass sich die Erziehungswissenschaft voreilig den Anforderungen der Praxis anpasst und so ihre Kritikfähigkeit gegenüber Praxis und Gesellschaft verliert (vgl. Wimmer 1999, 408; Gruschka 2004). Die praktische Relevanz der Erziehungswissenschaft wird demnach weiterhin postuliert. Differenzen sind aber hinsichtlich der methodischen Vorgehensweise bzw. der Haltung, die vom Erziehungswissenschaftler gefordert wird, auszumachen.
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2 Professionelles Wissen
2.2.2 Aussagen und diskursive Praxis Nach seinen Untersuchungen über Wahnsinn, Medizin und dem Wandel der Episteme von der Renaissance zur Moderne sah Foucault sich genötigt, seine eigene Methodik zu erklären. Er musste die Frage beantworten, was genau sein eigener Objektbereich in diesen Werken ist. Seine Antwort läuft darauf hinaus, dass er nicht die wissenschaftlichen Erkenntnisse untersucht, sondern etwas, das er schließlich in der Archäologie des Wissens „Aussagen“ tauft. Foucault geht im Rückblick davon aus, dass er sowohl auf genealogischem (Machtanalyse) als auch archäologischem (Diskursanalyse) Wege untersucht hat, wie moderne Machtbeziehungen unterschiedliche Wissensarten in sich vereinigen konnten (vgl. Schriften 4, 833). Das Wissen eines Arztes ist ein anderes als das eines Pädagogen, Richters oder Architekten. Diese unterschiedlichen Wissensarten fließen in spezifische Machtverhältnisse ein. Zu klären ist die Frage, wie Foucault den Begriff des Wissens definiert, der mit der Aussage im Zusammenhang steht. Wissen ist in der „diskursiven Praxis“ zu suchen, denn Wissen zeigt sich in den Handlungen und Äußerungen der Menschen. Wenn Foucault die humanwissenschaftlichen Diskurse analysiert, so behandelt er diese durch und durch positivistisch. Es gibt für Foucault nichts „hinter“ der diskursiven Praxis, das analytisch aufgedeckt werden könnte oder müsste (vgl. Deleuze 1992, 78). Foucault grenzt sich von einer, wie er sagt, kommentierenden Tätigkeit ab: „[I]n dieser Tätigkeit verbirgt sich eine merkwürdige Haltung zur Sprache: der Kommentar setzt per definitionem einen Überschuß des Signifikats im Verhältnis zum Signifikanten voraus, einen notwendigerweise nicht formulierten Rest des Denkens, den die Sprache im Dunkeln gelassen hat, einen Rückstand, der dessen Wesen ausmacht und der aus seinem Geheimnis hervorzuholen ist.“ (GK, 14)
Er distanziert sich damit von der hermeneutischen Methode: „Was bei den Dingen, die die Menschen sagen zählt, ist nicht so sehr das, was sie diesseits oder jenseits der Worte gedacht haben mögen, sondern das, was sie von vornherein systematisiert, was sie für die Zukunft immer wieder neuen Diskursen und möglichen Transformationen aussetzt.“ (GK, 16)
2.2 Erziehungswissenschaft und Pädagogik
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Gleichzeitig grenzt sich Foucault vom Strukturalismus, dem Gegenpol der Hermeneutik, ab14. Er selbst untersucht nach eigener Aussage keine kognitiven oder sprachlichen Strukturen, sondern Episteme oder auch Ordnungen. Man kann mit guten Gründen bestreiten, dass Foucault die Abgrenzung von Hermeneutik (vgl. McCarthy 1993, 77 Fußnote) und Strukturalismus gelingt (vgl. Frank 1983, 214ff.), was aber für die weiteren Überlegungen keine Rolle spielt, da hier nur Foucaults eigene Ausführungen zu den Begriffen „diskursive Praxis – Wissen – Wissenschaft“ (AW, 260) dargelegt werden sollen. Wenn Foucault die diskursive Praxis, das Wissen und die Wissenschaft in ihrem historischen Wandel untersucht, unterstellt er, dass es feste und abgrenzbare Ordnungen in den untersuchten Diskursen geben muss, denn ohne sie könnte er seine typischen Epocheneinteilungen nicht vertreten. Was genau untersucht er nun in einer solchen Epoche? Seine Antwort lautet, er untersuche Aussagen, da Aussagen die diskursive Praxis ausmachen; Die Aussage ist das „Atom des Diskurses“ (AW, 117). Gemeinhin kann man die Sprache mit Morris und Carnap analytisch in die Bereiche Semantik, Syntaktik und Pragmatik einteilen (vgl. Levinson 2000, 1f.). Die Semantik untersucht Propositionen, die entweder wahr oder falsch sein können. Die Syntaktik untersucht den grammatikalischen Aufbau eines Satzes und die Pragmatik den performativen Aspekt einer sprachlichen Äußerung. Foucault sieht in dieser Dreiteilung keine befriedigende Beschreibung dessen, was er Aussage nennen möchte. Jeder dieser drei Bereiche ist für sich genommen ungenügend und alle drei Bereiche zusammen können immer noch nicht alle sprachlichen Phänomene abdecken, da Foucault beispielsweise auch sprachliche Phänomene wie Tabellen oder Diagramme, auf die er in Die Ordnung der Dinge hinweist, als Aussagen verstanden wissen will. Diese stellen keine Sätze und auch keine Sprechakte dar und sagen trotzdem etwas aus (vgl. AW, 120). Er definiert die Aussage als eine Funktion: „Die Aussage ist also nicht eine Struktur (das heißt eine Menge von Beziehungen zwischen variablen Elementen, die so eine vielleicht unendliche Zahl von konkreten Modellen gestattet); sie ist eine Existenzfunktion, die den Zeichen eigen ist und von der ausgehend man dann durch Analyse oder die Anschauung entscheiden kann, ob sie einen »Sinn ergeben« oder nicht, gemäß welcher Regel sie aufeinanderfolgen und nebeneinanderstehen, wovon sie ein Zeichen sind und welche Art von Akt sich durch ihre (mündliche oder schriftliche) Formulierung bewirkt findet.“ (AW, 126)
14 Foucaults Verhältnis zum Strukturalismus hat sich im Laufe seines Schaffens verändert. Zeitweise verstand er sich selbst als Strukturalist, insbesondere bis zum Erscheinen von Die Ordnung der Dinge. Später grenzte er sich immer mehr vom Strukturalismus ab (vgl. hierzu Dosse 1999, 288ff.).
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Eine Zeichenkette, ein Satz oder ein Diagramm werden dann zur Aussage, wenn sie sich von anderen möglichen Aussagen abgrenzen lassen. Gleichzeitig besteht eine Aussage aber nur innerhalb eines Aussagenfeldes. Aussagen müssen einerseits Beziehungen zu einem anderen Aussagefeld unterhalten und sich gleichzeitig von anderen Feldern abgrenzen. Eine Aussage ist weiterhin dadurch charakterisiert, dass sie zu einem Subjekt in Beziehung steht. D. h. sie muss praktisch von einem Subjekt hervorgebracht werden (mündlich oder schriftlich), wodurch das Subjekt in einer benennbaren Beziehung zur Aussage gesetzt werden kann, welche nicht zwingend die Autorenschaft sein muss (vgl. hierzu AW, 137f.). Das Verständnis dieser Definition wird durch zwei Probleme erschwert. Zum einen schwankt diese Definition zwischen einen Code-Modell der Sprache und einem rein pragmatischen Modell, das Sprache primär in ihrer performativen Funktion der Rede untersucht (1). Zum anderen verknüpft Foucault mit Begriff der Aussage sprachliche und nicht-sprachliche Determinanten (2). (1) Über weite Strecken beschreibt Foucault Aussagen gemäß dem strukturalistischen Code-Modell, in dem die Sprache als Zeichensystem die Struktur für mögliche Aussagen liefert. Eine Aussage ist dann immer nur ein Anwendungsfall von Regeln, die im Zeichensystem – dem zugrunde liegenden Code – angelegt sind. Was man wie über etwas aussagen kann, verdankt sich dann allein der Zeichenstruktur. Dem steht die immer durchscheinende Auffassung gegenüber, dass eine Aussage in erster Linie performativ zu verstehen sei, also pragmatisch vollzogen werden muss. Was man über etwas mit welchen Prädikaten aussagen kann, steht dann nicht allein in Beziehung zum Zeichensystem, sondern auch zu sozialen Konventionen. Foucaults Ausführungen stehen immer zwischen beiden Stühlen und er versucht sich gegen beide Alternativen abzugrenzen. Deleuze, der diesen Weg befürwortet und Foucaults Ausarbeitung als gelungen einschätzt, kommt zu dem Schluss, Foucault entwerfe mit dem Begriff der Aussage eine neue Pragmatik (vgl. Deleuze 1992, 20). Foucault hat gegen Ende der 1970er-Jahre in einem Brief an Searle seine Abgrenzung von der Sprachpragmatik dahingehend relativiert, dass mit Aussagen tatsächlich Sprechakte gemeint seien, die er unter einem anderen Aspekt untersuchen würde (vgl. Taureck 2001, 83). Diese Relativierung macht das Verständnis des Aussagen-Begriffs leichter, denn sie zeigt sofort, wie dieses Konzept mit dem später entwickelten Machtbegriff in Einklang zu bringen ist. Laut 15 Sprachpragmatik enthält jede Äußerung implizit zwei Sätze: einen performativen und einen Aussagessatz (=Proposition). Entscheidend für die Bedeutung der Proposition ist immer der performative Teil, der zu verstehen gibt, welche soziale Handlung mit der Proposition verknüpft ist. Die sozialen (Sprach-)Hand15
Vgl. hierzu Austin 1994; Searle 1983; Apel 1982; Levinson 2000
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lungen sind laut Foucault nun nicht einfach als konventionalisierte Handlungen zu analysieren, wie von Austin und Searle behauptet, sondern eben als Machtbeziehungen, die die diskursive Praxis performativ regeln und bestimmen, wie über was mit welchen Prädikaten redet werden darf (vgl. Schriften 2, 777; Waldenfels 1998, 531).16 (2) Die Verknüpfung der Aussage mit sprachlichen und nicht-sprachlichen Determinanten zeigt einen für Foucaults Philosophie charakteristischen Zug. Wissen ist nicht allein auf das beschränkt, was man sprachlich formulieren kann, d. h. Wissen ist nicht nur wahre, gerechtfertigte Überzeugung. In der Aussage ist auch das enthalten, was man sehen kann. „Das Sichtbare und das Sagbare“ (Deleuze 1992, 69) verbinden sich im Begriff der Aussage. Zur Doppeldeutigkeit der Aussage in Bezug auf Zeichensystem und Sprechen kommt noch die Vermengung mit der Metapher des Sehens hinzu, was erhebliche Verständnisprobleme aufwirft. „Foucault erklärt, daß es diskursive Beziehungen zwischen der diskursiven Aussage und dem Nichtdiskursiven gebe. Er behauptet jedoch niemals, daß das Nichtdiskursive auf eine Aussage reduzierbar sei, und sei es auch ein Residuum oder eine Illusion.“ (Deleuze 1992, 71)
Es ist heute ein sprachphilosophischer Allgemeinplatz, dass unser Zugang zu Welt immer sprachlich imprägniert ist. Die Rede von einem Zugang zur Welt, der nicht sprachlich vermittelt ist, kann nicht sinnvoll gedacht werden und daher ist es nur ein kleiner Schritt zu der Auffassung, dass wir einzig und allein in der Sprache leben. Jede sprachliche Äußerung verweist nur wieder auf eine andere sprachliche Äußerung. Foucaults Begriff der Aussage lässt sich nicht auf diese sprachphilosophische Position einengen, denn er räumt dem Denken und damit auch der Wahrnehmung wenigstens metaphorisch eine eigene Sphäre ein und grenzt sich so beispielsweise strikt von Derrida ab (vgl. Schriften 2, 300ff.). „Die Orte der Sichtbarkeit haben bei Foucault nie denselben Rhythmus, nie dieselbe Geschichte oder dieselbe Form wie Aussagenfelder, und der Primat der Aussage gilt nur insoweit, als er auf etwas Irreduzibles einwirkt. Wenn man die Theorie der Sichtbarkeiten vergißt, dann verstümmelt man die Vorstellung, die Foucault sich von der Geschichte macht, aber man verstümmelt auch sein Denken, die Vorstellung, die er sich vom Denken macht.“ (Deleuze 1992, 72)
16 Auch das später von Foucault untersuchte „Wahr-Sprechen“ (griech.: parrhesia) definiert er im sprachpragmatischen Sinne als soziale Handlung (vgl. DW, 11; siehe auch 3.4).
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2 Professionelles Wissen
Denken löst sich für Foucault nicht in dem auf, was das Individuum sprachlich formulieren kann. Hier zeigt sich wieder, dass Foucault dem Code-Modell der Sprache in eigenwilliger Form nahe steht, wobei die sprachlichen Zeichen seiner Meinung nach einerseits auf das Objekt, andererseits auf die Idee des Objekts verweisen (vgl. Schriften 1, 944ff.). Die Erschließung der Welt, d. h. die Vorstellungen, die man sich denkend von ihr macht, kann damit durchaus unabhängig von der Sprache gedacht werden, da diese für Foucault eine rein instrumentelle Rolle für das Denken spielen kann (vgl. dazu 2.2.5). 2.2.3 Wissen und Wissenschaften Foucault untersucht in seinen frühen Arbeiten die Humanwissenschaften, d. h. Wissenschaften, die ab der Moderne ihren Gegenstandsbereich auf den arbeitenden, lebenden und sprechenden Menschen beziehen, und nimmt damit diskursive Praktiken in den Blick, in denen sich Wissen manifestiert. Im Grunde ist die Behauptung, er untersuche (Human-)Wissenschaften, ausgesprochen irreführend, wie er am Ende der Archäologie des Wissens erklärt, denn er untersucht nicht die Wissenschaften im engeren Sinne, sondern das Wissen, das sich in diesen Praktiken konstituiert (vgl. AW, 278). Die Kriterien für die Wissenschaftlichkeit einer (vermeintlichen) Wissenschaft entnimmt Foucault den Naturwissenschaften, die mit der induktiven Methode und der experimentellen Überprüfbarkeit von Theorien den Maßstab liefern, den Foucault selbst nicht hinterfragt. Gemessen an diesen Kriterien sind alle Wissenschaften, die den Menschen in den Mittelpunkt rücken, automatisch Pseudo-Wissenschaften, da bei ihnen die naturwissenschaftliche Methodik und die enge Verknüpfung von theoretischer Erkenntnis und praktischer Anwendung nicht gegeben sind. Wenn Foucault darauf hinweist, dass er nicht die Humanwissenschaften im engeren Sinne untersucht, sondern diskursive Praktiken, dann nimmt er eine wichtige Trennung zwischen einem Bereich vor, in dem tatsächlich (vermeintliche) Erkenntnisse über den Menschen gesucht werden, also dem wissenschaftlichen Betrieb im engeren Sinne, und einem Bereich, der mit dem Anspruch auftritt, gemäß dieser Erkenntnisse zu handeln. Es handelt sich also im Grunde um die klassische Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis, wie beispielsweise zwischen dem theoretischen Diskurs in der Universität und dem praktischen Diskurs in der Schule. Diese Unterscheidung ist für die Einschätzung des Wissens und der Wissenschaften zentral, denn es zeigt sich an vielen Stellen, dass er gegenüber dem (human-)wissenschaftlichen Diskurs im engeren Sinne weit weniger Vorbehalte hat als gegenüber der angeblich wissenschaftlich orientier-
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ten Praxis (siehe 2.1.4). Wichtig an der Unterscheidung zwischen Wissenschaften und Wissen, das sich in diskursiven Praktiken manifestiert, ist ihre potenzielle Unabhängigkeit voneinander. Zwei typische Vorstellungen weist Foucault energisch zurück. Die erste behauptet, die Theorie werde auf die Praxis angewandt (1), die zweite, dass die Theorie aus der Praxis entspringt (2). Beide Fälle postulieren in jeweils gegensätzlicher Richtung ein Abbildungsverhältnis von Theorie und Praxis. (1) Man könnte sagen, Foucault untersuche Wissensgebiete, für die charakteristisch ist, dass sie ihre Organisation und ihre Form der Institutionalisierung einer wissenschaftlichen bzw. pseudo-wissenschaftlichen Theoriebildung verdanken. Am Beispiel der Psychiatrie macht er jedoch deutlich, dass das was in diesem diskursiven Feld geschieht, trivialerweise nicht auf das reduziert werden kann, was auf wissenschaftlicher Ebene über die entsprechenden Phänomene ausgesagt werden kann. Das Wissen der psychiatrischen Institutionen umfasst neben den wissenschaftlichen Erkenntnissen eine Reihe von Methoden, Praktiken und Prozeduren, die mit dem wissenschaftlichen Diskurs im engeren Sinne nichts zu tun haben (vgl. AW, 254). Umgekehrt muss man festhalten, dass wissenschaftliche Erkenntnisse wesentlich umfassender sein können als es für ein Praxisfeld nötig ist. (2) Andererseits könnte man behaupten, Foucault untersuche praktische Diskurse, die als Vorläufer für zukünftige wissenschaftliche Diskurse fungieren. In diesem Sinne wäre der wissenschaftliche Diskurs die Reflexion vorangegangener Praxis. Aber auch diese Vorstellung lehnt Foucault ab. Seine historischen Untersuchungen zeigen vielmehr, dass das, was in einem Wissensgebiet praktisch vollzogen wird, eigenen Regeln unterliegt, die später nicht zur systematischen Untersuchung herangezogen werden. Hier ist der wissenschaftliche Diskurs von der Praxis zu unterscheiden. Zwischen ihnen besteht demnach keine evolutionäre Beziehung, d. h. die eine Seite treibt die andere nicht an. „Man kann also die diskursiven Formationen weder mit Wissenschaften, noch kaum mit wissenschaftlichen Disziplinen, noch mit jenen Figuren, die die künftigen Wissenschaften von fern umreißen, noch schließlich Formen identifizieren, die von Anfang an jede Wissenschaftlichkeit ausschließen.“ (AW, 257f.)
Obwohl die diskursiven Praktiken des Wissens nicht zwingend mit der Wissenschaft verknüpft sein müssen, ist diese Verknüpfung laut Foucault nicht ausgeschlossen aber auch nicht notwendig: „Die diskursive Praxis fällt nicht mit der wissenschaftlichen Erarbeitung zusammen, der sie Raum geben kann; und das Wissen, das sie bildet, ist weder die grobe Skizze
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noch das tägliche Nebenprodukt einer konstituierenden Wissenschaft.“ (AW, 261; vgl. auch Schriften 1, 920)
Erkenntnisse über einen Gegenstandsbereich sind der betreffenden Wissenschaft vorbehalten. Der Begriff des Wissens im foucaultschen Sinne ist von Erkenntnissen deutlich zu unterscheiden: „Wissen ist keine Summe von Erkenntnissen – denn von diesen muss man stets sagen, ob sie wahr oder falsch, exakt oder ungenau, präzise oder bloße Annäherungen, widersprüchlich oder kohärent sind; keine diese Unterscheidungen ist für die Beschreibung des Wissens gültig, das aus einer Gesamtheit von Elementen (Gegenständen, Formulierungstypen, Begriffen und theoretischen Entscheidungen) besteht, die aus ein und derselben Positivität heraus im Feld einer einheitlichen diskursiven Formation gebildet sind.“ (Schriften 1, 921)
Wissen ist einfach das, wovon man in einem Diskurs sprechen kann, also der diskursive Bereich, in dem über Sachverhalte gesprochen wird, die zu wissenschaftlichen Objekten werden können, aber nicht müssen. In diesem Bereich kann ein Subjekt zu den betreffenden Sachverhalten Stellung nehmen, es kann sie beurteilen und über sie entscheiden. Wissen ist weiterhin dadurch bestimmt, dass die Aussagen untereinander koordiniert und zugeordnet werden. Es regelt, wo die entsprechenden Sachverhalte erscheinen, wie sie bestimmt werden und wie mit ihnen umgegangen werden kann. Wissen zeichnet sich auch dadurch aus, dass es mit anderen Wissensgebieten, d. h. anderen Diskursen und auch anderen nicht-diskursiven Praktiken in Beziehung gesetzt werden kann (vgl. AW, 259f.). Auch wenn Foucault hier eine wichtige Unterscheidung zwischen diskursiver Praxis und wissenschaftlichem Diskurs herausschält, sind diese beiden Bereiche nicht unabhängig von einander. Eine strikte Trennung zwischen Theorie und Praxis gibt es bei Foucault nicht. Er geht davon aus, dass zwischen Wissen und Wissenschaft vier Schwellen existieren, die vom Wissen zur Wissenschaft führen. Zunächst einmal muss sich ein Wissen als diskursive Praxis etablieren. Sind immer wieder dieselben Aussagen anzutreffen, dann übertreten diese die Schwelle zur Positivität und manifestieren sich als autonome diskursive Praxis. Sobald die Aussagen beginnen, gewissen Normen zu unterliegen, d. h. das Wissen anhand bestimmter Verfahren zu bewerten, dann wird die Schwelle zur Epistemologisierung überschritten. Hiermit ist noch kein wissenschaftlicher Diskurs etabliert. Für das Überschreiten der Schwelle der Wissenschaftlichkeit ist es notwendig, die Aussagen bestimmten formalen Konstruktionsgesetzen zu unterwerfen. Das so entstandene Theoriegebäude kann ein Eigenleben entwickeln und
2.2 Erziehungswissenschaft und Pädagogik
91
sich frei entfalten, so dass die Schwelle der Formalisierung überschritten wird (vgl. AW, 265f.). Diese Überschreitungen sind nicht im Sinne eines biologischen Reifeprozesses zu verstehen. Es gibt Bereiche, in denen die Positivierung und Epistemologisierung gleichzeitig erreicht wird, so wie dies auch hintereinander geschehen kann. Eine Wissenschaft wie die Mathematik hat laut Foucault alle Schwellen auf einmal genommen (vgl. AW, 268). Auch wenn Foucault eine evolutionistische Deutung der Schwellentheorie zurückweist, so muss doch festgehalten werden, dass es sich um einen diachronen Denkansatz handelt, der in seiner Theorie einen Fremdkörper darstellt, der zu seinen synchron angelegten genealogischen und diskursanalytischen Arbeiten in einem Spannungsverhältnis steht. Sein diachrones Modell arbeitet unweigerlich mit möglichen kausalen Beziehungen, wenn nicht kausalen Notwendigkeiten. Sowohl in seiner genealogischen Machtanalytik als auch in der früher entwickelten Theorie der Episteme (siehe 2.2.5) wählt Foucault ausdrücklich einen synchronen Denkansatz, um Fragen nach möglichen kausalen Zusammenhängen zu vermeiden. In der Theorie der Episteme, die die Diskursanalytik theoretisch untermauern soll, geht es um den Nachweis transzendentaler Strukturen, welche die Erkenntnistätigkeiten aller Wissenschaften in der Moderne bestimmen. Hier ließe sich noch ein kausaler Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis behaupten, wenn Foucault hätte zeigen wollen, dass die Episteme der Moderne für Wissenschaft und Wissen gleichermaßen bestimmend ist. Die Schwellentheorie wäre dann nur eine konkrete Ausformulierung, aus der sich ergeben würde, dass die Wissenschaft nur das reflektiert, was in der Praxis wirksam ist. Diese Theorie hatte die Konsequenz, dass der Wissenschaft eine aufklärende Rolle zugewiesen werden könnte, was wiederum mit seiner späteren Machtanalytik in Konflikt geraten würde. Wie gezeigt will Foucault in der Machtanalytik gerade die These vertreten, dass Wissensproduktion keineswegs aus Machtbeziehungen herausführen kann. 2.2.4 Rationalitätskontinuum bei Foucault? Formal betrachtet lassen sich vier Beziehungsformen zwischen Theorie und Praxis unterscheiden: Die Ableitung der Praxis aus der Theorie, die Ableitung der Theorie aus der Praxis, die prinzipielle Differenz zwischen Theorie und Praxis und schließlich ein produktiver Umgang mit der Differenz zwischen theoretischem und praktischem Wissen (vgl. Reiser 2005, 136). Die ersten beiden sind im Sinne des erwähnten Rationalitätskontinuums zwischen Theorie und Praxis gedacht, d. h. im deduktiven oder induktiven Sinne. Wie unter 2.2.3 ge-
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2 Professionelles Wissen
zeigt, weist Foucault diese beiden Sichtweisen in der Archäologie des Wissens zurück. Prondczynsky kommt in seiner Untersuchung des Theorie-PraxisVerständnisses von Foucault zum gegenteiligen Schluss: „Trotz aller vernunft- und subjektzentristischen Kritik scheint FOUCAULT sowohl in seiner diskurstheoretischen wie in der machtanalytischen Perspektive überraschenderweise an der Fortexistenz eines solchen Rationalitätskontinuums festhalten zu wollen.“ (Prondczynsky 1992, 247; Hervorhebung im Original)
Er folgert daraus, dass sich Foucaults Ausführungen zum Zusammenhang von Theorie und Praxis nicht auf dem erreichten Theorieniveau der gegenwärtigen Erziehungswissenschaft bewegen, die nicht mehr mit dem Dualismus TheoriePraxis arbeite, sondern mit der Trias Erziehungswissenschaft - Reflexion - erzieherisches Handeln, die wiederum Ergebnis des „Verlustes“ des Rationalitätskontinuums sei. Für diesen Wandel macht Prondczynsky jedoch nicht die unter 2.2.1 erwähnten fachinternen und gesellschaftlichen Veränderungen verantwortlich, sondern die erziehungswissenschaftlichen Reaktionen auf die wissenschaftstheoretische Kritik von systemtheoretischer Seite wie sie von Luhmann/Schorr vorgetragen wurde. Hier geht es um den Nachweis, dass die „Theorie im System“ unweigerlich dazu führt, dass sie als selbstreferentielles System nur noch mit sich selbst beschäftigt ist, wodurch ein Verständnis des eigenen Objektbereichs und der eigenen Operationen unmöglich wird. Die Zirkelstruktur der Erziehungswissenschaft wird immer nur scheinbar mit Hilfe von Externalisierungen durchbrochen, insbesondere durch den Bezug auf bestimmte Werte (vgl. Luhmann/Schorr 1999, 341). Diese Kritik haben Tenorth und Oelkers aufgenommen, ohne der impliziten Aufforderung zur „Selbstexekution der Erziehungswissenschaft“ (Prondczynsky 1992, 246) zu folgen. Stattdessen postulieren sie eine Aufgabenverteilung gemäß der genannten Trias, wodurch die Ansprüche auf Wirksamkeit und Wissenschaftlichkeit anders verteilt werden können: 1. 2.
Die Erziehungswissenschaft kann demnach wie jede andere Sozialwissenschaft ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit aufrechterhalten, weil sie unabhängig vom Druck der praktischen Wirksamkeit forschen kann. Neben dieser im engeren Sinne wissenschaftlichen Forschung existiert die Ebene der pädagogischen Reflexion, die im Wesentlichen der Ausbildung des pädagogischen Nachwuchses dient und in der pädagogisches Wissen produziert wird.
2.2 Erziehungswissenschaft und Pädagogik
3.
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Die elementare praktische Ebene bleibt das erzieherische Handeln, das weiterhin auf pädagogisches Wissen angewiesen ist, welches aus reflektierter Erfahrung und Traditionen geschöpft wird. (vgl. Prondczynsky 1992, 248)
Prondczynsky hebt hervor, dass sich Foucaults Macht- und Diskursanalysen nur auf die Ebenen der Reflexion und der erzieherischen Praxis beziehen, denen er in seiner Archäologie des Wissens eine Vorrangstellung bei der Wissensproduktion einräumt. Gleichzeitig diskriminiert er die Humanwissenschaften in der Ordnung der Dinge als rein praktische Wissenschaft, die gemessen am Ideal der formalen Wissenschaften nicht als Wissenschaften gelten können. Hinsichtlich der Wissensproduktion steht Foucault der Tradition der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik nahe, die eine „Dignität der Praxis“ (Prondczynsky 1992, 253) unterstellt. Wie unter 2.2.3 gezeigt geht Foucault davon aus, dass es immer zunächst eine diskursive Praxis geben muss, die entsprechende Schwellen überschreiten muss, wenn eine Wissenschaft entstehen soll. Prondczynsky stellt fest, dass nur eine genaue Explikation des Verhältnisses von produktiver Macht und Wissen die Kluft zwischen Erziehungswissenschaft, Reflexion und erzieherischer Tätigkeit überbrücken könnte. Es müsste eine Verbindung zwischen theoretischer und empirischer Forschung, pädagogischem Diskurs und praktischer Tätigkeit geben, in der Wissen und Macht miteinander plausibel verknüpft sind. Eine solche Verbindung ist bei Foucault nicht gegeben (vgl. Prondczynsky 1992, 254). Insbesondere seine späteren Machtanalysen sind nur auf der Ebene der Reflexion und der pädagogischen Praxis anwendbar und lassen die Erziehungswissenschaft unberührt. Dabei legt sein umfassender Machtbegriff nahe, dass auch erziehungswissenschaftliche Diskurse in Machtverhältnisse eingebettet sind (vgl. Koller/Lüders 2004, 72f.). Will man sie in Foucaults Theorie integrieren, so hat man es „entweder mit einer technologischen Variante des Theorie-Praxis-Zirkels oder der Auffassung von Pädagogik [besser: Erziehungswissenschaft, A.V.] als bloßer ›Systembetreuungssemantik‹“ (Prondczynsky 1992, 255) zu tun. Diese Beurteilung deckt sich mit der bisherigen Analyse. In der Archäologie des Wissens findet sich die Theorie der Schwellenüberschreitungen von der diskursiven Praxis bis zur formalen Wissenschaft, die laut Foucault nur in eingeschränktem Maße für die Humanwissenschaften gilt, weil diese, anders als die Naturwissenschaften, die Schwelle der Formalisierung nicht überschreiten können. Für den umgekehrten Weg von der Wissenschaft zur diskursiven Praxis gibt er keine Durchlässigkeiten oder Schwellen an. Wie in den Ausführungen unter 2.1.4 deutlich geworden ist, hält er es sogar für unredlich, einen direkten Zu-
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2 Professionelles Wissen
sammenhang zu behaupten, denn es würde dem Stand der Wissenschaften, und hier schließt er die Humanwissenschaften eindeutig mit ein, nicht gerecht werden, das Fachwissen der diskursiven Praxis mit den Erkenntnissen der Wissenschaften auf eine Stufe zu stellen. Insofern vertritt Foucault die Auffassung, dass die Humanwissenschaften in erster Linie dem Erkenntnisgewinn dienen und nicht der praktischen Ausbildung. Die Frage, ob in Foucaults Wissens- und Wissenschaftstheorie ein Rationalitätskontinuum unterstellt wird, muss zwiespältig beantwortet werden. Nach eigener Aussage lehnt er ein 1:1-Verhältnis zwischen Theorie und Praxis ab. Seine Schwellentheorie lässt sich jedoch nur so verstehen, dass der Praxis die primäre Rolle zugewiesen wird, ohne dass der Wissenschaft die Rolle einer bloßen „Systembetreuungssemantik“ ohne praktische Relevanz zugewiesen wird. Professionell Handelnde sind in der diskursiven Praxis gezwungen, erworbenes Fachwissen als vermeintliches Faktenwissen zu behandeln. Selbst die Kenntnis des hypothetischen Charakters wissenschaftlicher Erkenntnisse kann Machtverhältnisse, in denen das Fachwissen eine Rolle spielt, weder suspendieren noch auflösen. Ohne die wissenschaftliche Ausbildung wäre der Professionelle nicht in der Lage, seine Funktion in den Machtbeziehungen zu übernehmen, weil er seinen Status als Experte nicht legitimieren könnte. Wissenschaftliches Wissen ist für Foucault konstitutiv für soziale Machtverhältnisse zwischen professionell Handelnden und ihren Klienten, aber es kann in diesen Machtverhältnissen keine regulative Rolle einnehmen. Eine solche Einschränkung des fachwissenschaftlichen Wissens korrespondiert mit seiner grundsätzlich skeptischen Haltung gegenüber Moral und Recht, nach der weder moralisches noch rechtliches Wissen in der Lage ist, Machtverhältnisse zu transzendieren oder aufzulösen. Die Frage, ob die wissenschaftliche Ausbildung des professionellen Praktikers für dessen Praxis relevant ist, müsste man mit Foucault eindeutig bejahen, nur müsste man hinzufügen, dass dies nicht im erziehungswissenschaftlich intendierten Sinne zu verstehen ist: Das erworbene Wissen dient nicht der Aufklärung über das eigene Handlungsfeld, sondern konstituiert Machtverhältnisse. Foucault macht mit seiner Theorie auf kompliziertem Wege klar, was jeder Pädagoge als Bruch zwischen theoretischer Ausbildung und darauf folgender Praxis erfährt: Das Klassenzimmer ist kein Seminarraum. Das erworbene wissenschaftliche Fachwissen übernimmt in Foucaults Theorie in erster Linie eine strategische Rolle in sozialen Machtbeziehungen, in denen nicht mehr hypothetisch behandelt werden kann. Offen bleibt die von Prondczynsky gestellt Frage, inwiefern der wissenschaftliche Betrieb als Geflecht von Machtbeziehungen erklärt werden kann und wie diese Machtbeziehungen wiederum mit den Macht-
2.2 Erziehungswissenschaft und Pädagogik
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beziehungen der diskursiven Praxis in Verbindung stehen. Um die Frage in Foucaults Sinne zu beantworten, müsste man auf Kuhns Theorie der Paradigmenwechsel zurückgreifen. 2.2.5 Praktische und theoretische Kritik Nachdem gezeigt wurde, dass Foucaults Ausführungen zum Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Praxis widersprüchlich sind und teilweise nicht am Niveau der erziehungswissenschaftlichen Debatte anknüpfen können, bleibt zu fragen, wie seine Kritik an den Humanwissenschaften zu verstehen ist. Seine Überlegungen am Ende der Archäologie des Wissens stellen die Weichen für die späteren machtanalytischen Untersuchungen bis hin zur Entstehung der Gouvernementalität. Foucault entwickelt im Anschluss daran eine Kritik der Praxis, die vor allem pragmatisch ausgerichtet ist und in der diskursiven Praxis eine unheilvolle Verknüpfung von Wissen und Macht im oben geschilderten Sinne aufspürt. Seine Kritik der Theorie, d. h. seine Kritik an den Humanwissenschaften, arbeitet unabhängig von der Machtanalytik und ist im Wesentlichen in Die Ordnung der Dinge formuliert, wo er die Schwächen des „anthropologischen Schlafs“ herausarbeitet, in dem sich die Humanwissenschaften seit der Moderne befinden (siehe 1.3.1). Durch die Fixierung der Humanwissenschaften auf den Menschen ergeben sich eine Reihe nicht lösbarer Probleme. Diese Fixierung ist nach Foucaults Untersuchung ab dem 19. Jahrhundert entstanden. Er weist dies an der Ökonomie, der Biologie und der Linguistik nach. Während in der Klassik (ca. 17. bis 18. Jahrhundert) die Vorläufer dieser Wissenschaften noch Arbeit, Leben und Sprache untersuchten, wird in der Moderne plötzlich der arbeitende, lebende und sprechende Mensch in den Mittelpunkt gerückt. In der Klassik drang „das Sein“, wie Foucault in Die Ordnung der Dinge sagt, in erster Linie analytisch ins Bewusstsein, es wurde kategorisiert und tabellarisch dokumentiert. Dagegen wird das Sein in der Moderne historisch verstanden. Der Mensch nimmt nun als endliches Wesen eine besondere Rolle ein. Die Entstehung des historischen Bewusstseins wird im Allgemeinen als das entscheidende Charakteristikum des 19. Jahrhunderts betrachtet. Dagegen vertritt Foucault die These, dass dies nur ein abgeleitetes Phänomen ist, das vom Erscheinen des Menschen abhängig ist. Mit dem Auftauchen des Menschen in der Episteme der Moderne entstehen die Humanwissenschaften. Die in Die Ordnung der Dinge untersuchten Wissenschaften, Biologie, Ökonomie und Linguistik, dienen dem Nachweis, dass in der Episteme der Moderne die Ordnung des Menschen das Denken insgesamt be-
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2 Professionelles Wissen
stimmt. Mit Humanwissenschaften bezeichnet Foucault alle Wissenschaften, die den Menschen als arbeitendes, lebendes und sprechendes Wesen explizit zum Thema haben und gleichzeitig einen praktischen Widerpart ins Leben rufen, dem die spätere Kritik der Praxis gelten wird. Die Problematik der Humanwissenschaften liegt für Foucault darin begründet, dass sie mit anderen Wissensgebieten, die hier ganz allgemein verstanden werden und nicht im Sinne der diskursiven Praktiken wie in der Archäologie des Wissens, unglückliche Beziehungen unterhalten. Foucault macht drei klassische Wissensgebiete aus, zwischen denen Zusammenhänge möglich sind. In diesem „Triëder des Wissens“ (vgl. OD, 413) finden die Humanwissenschaften keinen angemessenen Platz. Die drei klassischen Wissensgebiete bezeichnet Foucault als deduktive (beispielsweise Mathematik) und empirische (beispielsweise Biologie) Wissenschaften auf der einen und philosophische Reflexion auf der anderen Seite. Die ersten beiden Gebiete können leicht Beziehungen zueinander aufbauen, beispielsweise wenn empirische Wissenschaften auf ihren Objektbereich die Mathematik anwenden (vgl. OD, 416). Die philosophische Reflexion unterhält traditionell zu beiden Gebieten eine Beziehung, da die empirischen Wissenschaften immer auch in Beziehung zur Philosophie des Lebens, zur Philosophie des entfremdeten Menschen oder zur Sprachphilosophie stehen. Ebenso teilt die Philosophie mit den deduktiven Wissenschaften die Eigenschaft, dass beide die Schwelle der Formalisierung überschritten haben. Diese vielfältigen Beziehungen will Foucault mit dem räumlichen Phantasiegebilde des Triëders17 veranschaulichen, in dem sich die Humanwissenschaften als Problem erweisen: „Aus diesem erkenntnistheoretischen Triëder sind die Humanwissenschaften wenigstens in dem Sinne ausgeschlossen, daß man sie in keiner dieser Dimensionen oder an der Oberfläche keiner der so bezeichneten Ebenen finden kann. Man kann aber ebensogut sagen, daß sie in das Triëder eingeschlossen sind, denn in dem Zwischenraum dieser verschiedenen Wissensgebiete, genauer in dem von ihren drei Dimensionen bestimmten Volumen finden sie ihren Platz.“ (OD, 417).
Im Prinzip machen die Humanwissenschaften ständig Anleihen bei jedem dieser Wissensgebiete: „Sie haben den mehr oder weniger verschobenen, aber konstanten Plan, sich eine mathematische Formalisierung zu geben oder auf jeden Fall auf der einen oder anderen Ebene eine solche zu benutzen. Sie produzieren gemäß den Modellen oder Begriffen, die der Biologie, der Ökonomie und den Wissenschaften von der Sprache 17
Das Tetraeder (= Pyramide mit Dreiecksflächen) ist der geometrische Körper mit der kleinsten Anzahl an Seitenflächen. Drei Flächen bilden keinen Körper.
2.2 Erziehungswissenschaft und Pädagogik
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entliehen sind. Sie wenden sich schließlich an jene Seinsweise des Menschen, die die Philosophie auf der Ebene der radikalen Endlichkeit zu denken versucht, während sie selbst deren sämtliche empirischen Manifestationen durchlaufen wollen.“ (ebd.)
Foucault weist darauf hin, dass Anleihen der genannten Wissensgebiete bei den Humanwissenschaften problematisch sind und Vorwürfe des „Psychologismus“ und „Soziologismus“ zur Folge haben. Die Humanwissenschaften behaupten gelegentlich, ihre Komplexität sei dem Objektbereich geschuldet und die Anleihen bei anderen Wissensgebieten seien notwendig, weil die Beschäftigung mit dem Menschen komplexe Probleme aufwerfe, die entsprechend komplexe Überlegungen verlangen. Diese Legitimation weist Foucault als unhaltbar zurück, da für ihn die vermeintliche Komplexität nur ein Resultat der unmöglichen Anleihen bei den anderen drei Wissensgebieten ist (vgl. OD, 418). Die Humanwissenschaften beziehen ihre Forschungen per Definition immer auf den Menschen, aber auch die drei anderen Wissensgebiete sind laut Foucault seit der Moderne in den „anthropologischen Schlaf“ gefallen, weshalb die thematische Fixierung das entscheidende Charakteristikum der Moderne ist, die das Denken daran hindert, sich frei zu entfalten. In Bezug auf das freie Denken lässt Foucault in Die Ordnung der Dinge immer wieder Sympathien für die Klassik durchblicken. Die Episteme der Klassik beruhte nach seiner Einschätzung auf einer Ordnung der Zeichen. In der Ordnung der Zeichen wurde die Fähigkeit der Zeichenverwendung noch nicht einem denkenden Subjekt zugesprochen, sodass das Denken des Seins vollständig bei sich war. Die Zeichen hatten die Eigenart, dass sie einerseits das Sein repräsentierten und gleichzeitig repräsentierten, dass sie das Sein repräsentierten, was Foucault „Reduplizierung der Repräsentation“ nennt (vgl. OD, 98ff.). Diese merkwürdige Eigenschaft der sprachlichen Zeichen in der Klassik soll die Bildinterpretation von Velázquez’ Die Hoffräulein veranschaulichen. Das Bild zeigt eine Szene am spanischen Königshof, ist aber gleichzeitig eine Repräsentation dieser Repräsentation, denn man erkennt den Entstehungsprozess des Bildes. Nur der Maler, der diese doppelte Bedeutung der Darstellung handelnd hervorbringt, wird nicht gezeigt. Für Foucault ist dies ein Sinnbild für das klassische Denken, in dem das reflektierende Subjekt noch keine Rolle spielt und das Denken einfach sich selbst zeigt und insofern frei ist. Bei den Problemen, die Foucault mit dem Auftauchen des Menschen in der Episteme der Moderne ausmacht, handelt es sich um weit reichende philosophische Fragestellungen, die nicht nur für die Humanwissenschaften sondern für alle Wissensgebiete des Trieders relevant sind. Nach Foucaults Einschätzung ist es beispielsweise sinnvoller, die Sprache für sich zu untersuchen und nicht den
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2 Professionelles Wissen
sprechenden Menschen. Verknüpft man das Thema der Sprache mit dem Menschen, dann drängt sich ein Bild der Sprache auf, das bereits Nietzsche als Absurdität entlarvt hat, da die Erforschung des sprechenden Menschen einen Sprung von der Natur in den menschlichen Geist behaupten muss: „Ein Nervenreiz übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einen Laut! zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue.“ (UWL, 879)
Das entscheidende Problem ist jedoch das doppelte Erscheinen des Menschen als transzendentales und empirisches Wesen. Der Mensch wird in der Moderne empirisch als endliches Wesen begriffen, der eine Natur und eine Geschichte hat, die empirisch erforschbar sind. Die Philosophie wurde durch Kant darüber aufgeklärt, dass der Mensch, um empirische Erkenntnisse erlangen zu können, transzendentale Fähigkeiten besitzen muss. Natur und Geschichte des Menschen stehen mit dem erkenntnistheoretischen Konzept der notwendigen transzendentalen Fähigkeiten im Konflikt. Die transzendentalen Fähigkeiten markieren den philosophischen Ausgangspunkt, von dem aus die empirischen Erkenntnisse erst möglich sind. Die Wissenschaft der Moderne stellt fest, dass die Fähigkeiten des Menschen auf einem natürlichen Fundament beruhen, welches einer historischen Entwicklung unterliegt. Das muss bedeuten, dass die Fähigkeiten, die gegenwärtig als transzendentale Bedingungen gedacht werden, selbst ein Produkt der Naturgeschichte des Menschen sind und die vermeintlich transzendentalen Bedingungen der Erkenntnis lediglich kontingente Fähigkeiten sind. Das hat wiederum zur Folge, dass die vermeintlich sicheren empirischen Erkenntnisse über die Naturgeschichte nicht mit universellem Geltungsanspruch auftreten können. Kurz: Transzendentale Bedingungen verlieren ihre Notwendigkeit und empirische Erkenntnisse können nicht mehr als gesichert gelten. Mit dem Auftauchen der „empirisch-transzendentalen Dublette“ (OD, 384) handeln sich Philosophie und Wissenschaft den Konflikt zwischen Genesis und Geltung ihrer Aussagen ein. Jede Erkenntnis muss als provinziell gegenüber der Zukunft gelten. Jedes Wissen bleibt endlich. Festzuhalten bleibt, dass Foucaults Kritik der Theorie nicht in erster Linie die Humanwissenschaften trifft, sondern die Episteme der Moderne als ganze. Die Kritik des praktischen Widerparts der Humanwissenschaften ist nur in Verbindung mit der Machtanalytik vorhanden. Als Kritik an den Humanwissenschaften bleibt streng genommen nur die Feststellung, dass sie mit den anderen drei klassischen Wissensgebieten schwer vereinbar sind und problematisch werden, wenn sie bei ihnen Anleihen machen. Die Humanwissenschaften sind für Foucault durch die Unlösbarkeit ihrer Probleme zu definieren. Foucault über-
2.2 Erziehungswissenschaft und Pädagogik
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trägt mit dieser Kritik unhinterfragt die Ansprüche der naturwissenschaftlichen Disziplinen auf die Humanwissenschaften. Während die Naturwissenschaften nach eigenem Selbstverständnis praktische und theoretische Probleme lösen wollen, ist dieser Anspruch nur bedingt in der Erziehungswissenschaft anzutreffen. Wie gezeigt, versteht diese sich heute nach wie vor als praktische Wissenschaft, dessen Ausbildungsziel aber vornehmlich eine „reflektierte Haltung“ (Lenzen) der zukünftigen Praktikern ist, die der Verbesserung der beruflichen Praxis dienen soll. Die Verbesserung wird also nicht primär als Lösung praktischer oder theoretischer Probleme verstanden. Die Behauptung, die Erziehungswissenschaft stehe mit den anderen Wissensgebieten des Trieders in Konflikt ist nur bedingt haltbar. Sie unterhält beispielsweise traditionell eine Beziehung zur Philosophie – schon seit der Antike. Weiterhin ist das, was Foucault in seiner Kritik der Praxis in Form seiner Machtanalytik herausschält immer schon Bestandteil des erziehungswissenschaftlichen Diskurses. Seine praktische Kritik zeigt vornehmlich, dass professionelles Wissen zur Legitimation von Machtverhältnissen dient. Dieses Problem wird im normativen Diskurs der Erziehungswissenschaft behandelt. Insofern muss man Foucaults eigene Erklärung, er untersuche nicht die Humanwissenschaften, sondern das Wissen in der Grauzone zwischen Fachwissen und Justiz (siehe 2.2.3 und 2.1.4) ernst nehmen.
3 Bildung durch Selbstsorge
3.1 Selbstveränderung statt Wissensvermittlung Bis hierhin wurden Foucaults genealogische und diskursanalytische Arbeiten in Beziehung zum professionellen pädagogischen Wissen gesetzt. Seine Überlegungen zum Verhältnis von Macht und Wissen decken die fragwürdige Rolle professionellen Wissens in der Praxis auf. Ungeklärt bis widersprüchlich bleibt in seiner Theorie der Zusammenhang von Theorie und Praxis. Die theorieinternen Widersprüche lassen sich beheben, wenn man zwischen einzelnen Abschnitten seines Werks deutlich unterscheidet. Damit bleibt aber weiterhin die Frage unbeantwortet, ob und wie mit Foucaults Denken ein Bildungsweg hin zu einer kritischen Haltung beschrieben werden kann. Zur Beantwortung dieser Frage wird im Folgenden seine Ethik schrittweise als Bildungsphilosophie interpretiert. Zunächst werden die Gründe für Foucaults Auffassung, Bildung im eigentlichen Sinne könne nur ethisch gedacht werden, dargelegt. Relevant dafür ist zum einen seine Überzeugung, dass Bildung nicht als Wissensvermittlung zu verstehen ist (3.1.1). Aus seiner Perspektive kann Bildung zur „Haltung der Aufklärung“ bzw. „Haltung der Moderne“ ebenso wenig als moralische Bildung verstanden werden (3.1.2). Mit dem Wechsel von der Moral zur Ethik wandelt sich auch Foucaults Bild über den Zusammenhang von Subjekt und Moral (3.1.3). 3.1.1 Aufklärung durch Wissensvermittlung Wie in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt, ist Wissen für Foucault mit Machtstrategien verknüpft, die (sprach-)pragmatisch regeln, wer als Experte auftreten darf. Foucault redet deshalb häufig von einem „Macht/WissenKomplex“, in dem das professionelle Wissen als Medium fungiert. Diese Beschreibung trifft in erster Linie auf die institutionalisierte pädagogische Praxis zu, in der professionelle Pädagogen ihr Fachwissen als Experten ins Spiel bringen müssen. Die professionelle Wissensvermittlung verliert auf diesem Wege ihre Unschuld und kann nach Foucault nicht mit dem Anspruch auftreten, ihre Adressaten einzig und allein über bestehende Tatsachen und Sachverhalte auf-
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3 Bildung durch Selbstsorge
zuklären, um sie so auf die Welt vorzubereiten. Vor allem kann die pädagogische Praxis nicht mehr beanspruchen, Aufklärung im emphatischen Sinne zu betreiben und eine Erziehung zur Mündigkeit, zur Emanzipation von bestehenden Verhältnissen zu sein. Das Bild der pädagogischen Praxis, das Foucault mit seinen genealogischen Arbeiten evoziert, zeigt vielmehr, wie gerade dieser emphatische Anspruch auf Aufklärung und Emanzipation selbst integraler Bestandteil der Machtbeziehungen ist. Erst der in der Praxis implizit oder explizit vertretene Anspruch, aus unmündigen Kindern emanzipierte und aufgeklärte Erwachsene zu machen, sorgt dafür, dass sich die Kinder und Jugendlichen den Machtbeziehungen unterwerfen müssen, indem sie sich selbst als eigenständige Subjekte verstehen, die für ihre Meinungen und Handlungen moralisch verantwortlich gemacht und auf ihre psychologischen Motive hin befragt werden können. Zwischen Pädagoge und Kind besteht ein Wissensgefälle, das offensichtlich gegen das Kind ausgespielt werden kann. Der Pädagoge kann das Wissensgefälle gegenüber dem Kind als Machtanspruch behaupten und so Gefügigkeit erzwingen. Das Ausnutzen des Wissensgefälles als Machtgefälle ist leicht zu kritisieren. Aber Foucaults Perspektive geht einen Schritt weiter. Das Wissensgefälle kann als moralische Legitimation für den gesamten Bildungs- und Erziehungsprozess auftreten. Der Pädagoge kann sich als Experte für die Belange des Kindes verstehen und deshalb mit dem Anspruch auftreten, als Advokat des Kindes dieses selbst zu führen. Ziel ist die spätere Aufhebung des heteronomen Verhältnisses, wenn das Kind zum mündigen Erwachsenen geworden ist. Das pädagogische Verhältnis erscheint dann nicht als Machtverhältnis, sondern als Arbeitsbündnis, das das Kind am besten freiwillig eingehen sollte und es sogar würde, wenn es bereits wüsste, was es später als mündiger Erwachsener wissen wird. Eine solche Legitimationsstrategie ist mit Foucaults genealogischen Arbeiten nicht vereinbar (vgl. hierzu Schäfer 2004, 158f.). Die pädagogische Intention, die Persönlichkeit der Kinder und Jugendlichen durch pädagogische Handlungen zu bilden, wird in Foucaults Bild zur Machtstrategie, das sich kaum mit der Teilnehmerperspektive handelnder Pädagogen in Einklang bringen lässt, aus der der aufklärerische Impuls vielmehr als ohnmächtig gegenüber familiären und gesellschaftlichen Verhältnissen erlebt wird. Auf skurrile Art wird die pädagogische Praxis bei Foucault allmächtig: Aufgrund seines totalitären Machtbegriffs erscheint sie in einem ebenso totalitären Sinne effektiv wie produktiv. Die Seele des Kindes wird durch Disziplinierung und gouvernementale Führung fortwährend produziert. Die produktive Wirkung wird nicht der pädagogischen Praxis allein zugesprochen, da die Gouvernementalität alle öffentlichen und privaten Beziehungen durchzieht, aber die Pädagogik ist ganz zentral auf die Produktion der Subjektivität des Kindes bzw.
3.1 Selbstveränderung statt Wissensvermittlung
103
des Jugendlichen angewiesen. Die Effektivität bzw. die Allmacht der pädagogischen Praxis liegt darin begründet, dass sie die Subjektivität unabhängig davon hervorbringt, ob das Kind gelungene oder misslungene Beziehungen zu Pädagogen durchlaufen hat. In einer pädagogischen Beziehung wird es immer Träger bestimmter moralischer und psychologischer Eigenschaften. Ohne Subjekte, als zu bildende Subjekte, könnte keine pädagogischen Beziehung aufgebaut werden.18 Mit erzieherischen Eingriffen, die mit einer unterstellten Bildsamkeit des Subjekts legitimiert werden können, kann nicht erreicht werden, was seit der Aufklärung von der Pädagogik verlangt wird bzw. was sie sich als eigenen Anspruch auferlegt. Die Verbesserung der pädagogischen Praxis kann auch nicht dadurch erreicht werden, dass die Pädagogen wissenschaftlich aufgeklärt werden. Foucault zeigt, dass die pädagogische Praxis keiner ideologischen Selbsttäuschung unterliegt. Emanzipation und Aufklärung scheitern nicht an einem kognitiven Defizit der Pädagogen über ihre eigene gesellschaftliche Praxis, welches durch Wissensanhäufung und Wissensvermittlung behoben werden könnte. Dementsprechend muss die Erziehungswissenschaft hier keinen Mangel beseitigen. Das Problem liegt vielmehr darin begründet, dass das Wissen als propositionaler Vorrat in bestimmte sprachliche Praktiken eingebunden ist, die laut Foucault entsprechende Unterwerfungsrituale voraus setzten. Das Wissensgefälle wird benutzt, um in Machtbeziehungen das Subjekt zu prüfen, zu befragen, zu vernehmen etc. Die enge Verknüpfung von Wissen und Macht liegt in der sprachpragmatischen Verwendungsweise des Wissens begründet. Das Wissensgefälle als solches wird von Foucault nicht weiter problematisiert, solange es im Modus der reinen Mitteilung ins Spiel gebracht wird (vgl. Schriften 4, 899). Wissensvermittlung bleibt für Foucault wichtiger Bestandteil des Bildungssystems. Erst durch ihre Verknüpfung mit Machtbeziehungen verspielt die Bildung des Subjekts ihren aufklärerischen Anspruch und dient der Selektion: „Zu den Hauptfunktionen des Bildungswesens gehört neben der Bildung des Einzelnen die Bestimmung seiner gesellschaftlichen Stellung. Heute müsste man diese Funktion so ausgestalten, dass der Einzelne die Möglichkeit hat, sich nach seinen Wünschen zu verändern, und das ist nur möglich, wenn man Bildung zu einem »permanenten« Angebot macht.“ (Schriften 4, 135)
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Es handelt sich hierbei um einen Gedanken, der seit Herbart hinreichend bekannt ist und bis heute z. B. von Benner als konstitutives Prinzip pädagogischen Handelns positiv vertreten wird (vgl. Benner 2001, 71ff.).
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3 Bildung durch Selbstsorge
Bildung, so wie sie im Bildungssystem anzutreffen ist, dient nicht der Aufklärung sondern der Festlegung der Individuen. Das hängt für Foucault mit einer bestimmten Vorstellung von Subjkektivität zusammen, in der ein starres Subjekt den Objekten gegenüber gestellt wird. Die Wissensvermittlung wird gedacht als Aufnahme des Wissens durch das Subjekt, ohne dass es sich selbst verändert. „Bildung“ in diesem Sinne unterstellt, dass das mit sich selbst identisch bleibende Subjekt zunehmend mehr Erkenntnisse über sich und die Welt ansammelt (vgl. Schriften 4, 71). Wirklich bilden kann Wissen dagegen nur, wenn sich das Subjekt verändert. Bildung bedeutet für Foucault, dass sich das Subjekt von seiner bestehenden Sicht der Dinge und seinem bestehenden Verhältnis zu sich selbst losreißen kann. 3.1.2 Erweckung der Moral? Wenn das Individuum durch Bildung aufgeklärt werden soll, dann wird damit intendiert, im Individuum ein bestimmtes moralisches Bewusstsein zu erzeugen. Aufklärung ist ein moralisch-politisches Projekt, in dem es nicht allein um die Vermittlung von Faktenwissen geht, sondern ganz wesentlich um die Vermittlung des Wissens um die innere Freiheit, der Autonomie. Nach Kant ist die Autonomie zwar in den Fähigkeiten des transzendentalen Subjekts angelegt, aber sie muss erst durch Erziehung erweckt werden. Die Erkenntnis der eigenen inneren Freiheit, so Kant, würde im Individuum einen moralischen Willen herausbilden, der das Individuum dazu anhält, die eigenen Handlungen am Maßstab des kategorischen Imperativs zu beurteilen. Ziel der Pädagogik sei also, dass der Heranwachsende nicht nur gemäß bestehenden Gesetzen handelt, sondern auch einsieht, warum er nach bestimmten Prinzipien handeln sollte. Ein gebildeter Mensch sollte erkennen können, ob die bestehende Ordnung dem kategorischen Imperativ widerspricht oder nicht. Es geht nicht um die Bildung einer bloßen Legalität, sondern um einer Moralität des Handelns (vgl. KpV, A 269/270). Die Bildung des Individuums kann zwar nicht auf die Moral beschränkt werden, da ein wirklich gebildetes Individuum sich nicht allein durch moralische Handlungsweise auszeichnet – die Entwicklung der ästhetischen Urteilskraft oder eine Ausbildung zum Beruf gehörten immer schon zum Selbstverständnis der pädagogischen Bemühungen. Aber die moralische Bildung des Subjekts dient der Pädagogik sowohl als Ziel der eigenen Bemühungen wie auch zur Rechtfertigung der eigenen Praxis. Foucault ist der Meinung, dass die Moral das nicht leisten kann. Für ihn lässt sich die Bildung des moralischen Subjekts nicht im kantischen Sinne als Erweckung der inneren Freiheit verstehen. Das Subjekt
3.1 Selbstveränderung statt Wissensvermittlung
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wird für Foucault wie für Nietzsche vielmehr an die Moral gekettet. Wenn die moralische Bildung als pädagogisches Ziel definiert wird, so heißt das aus foucaultscher Perspektive, dass die Individuen auf bestimmte, gesellschaftlich geforderte Verhaltensweisen festgelegt werden. An dieser Interpretation hält Foucault bis zum Ende seines Schaffens fest. Bildung im öffentlichen Bildungssystem kann mit Foucault nur in ihrer konditionierenden und selektierenden Funktion in den Blick genommen werden. Erst seine später durchgeführten Untersuchungen zur Ethik der Sorge um sich eröffnen ihm eine neue Perspektive. Diese Ethik lässt sich in Foucaults Werk auf mindestens vier Arten einordnen: (a) Zum einen kann diese Ethik als produktiver Gegenentwurf zur bestehenden Moralisierung und Psychologisierung, letzten Endes also zur bestehenden Moral, gelesen werden (vgl. Hadot 1991, 221). So betrachtet wäre die Ethik der Sorge um sich Foucaults eigener positiver Vorschlag, vielleicht seine eigene Utopie. Eine solche Lesart passt schlecht zu seiner Haltung, positive Entwürfe aufgrund ihrer impliziten Normativität abzulehnen. Auch sein ausgeprägter Historismus steht solchen Entwürfen entgegen. Ein Zitat wie das oben genannte zum Bildungssystem lässt aber eine solche Lesart durchaus plausibel erscheinen, auch wenn er in Interviews eine solche Deutung gelegentlich zurück gewiesen hat (vgl. Schriften 4, 750f.). (b) Die erste Deutung kann entschärft werden, indem die Untersuchungen zur antiken Ethik der Selbstsorge nicht als Alternative zur Gegenwart, sondern als Nachweis einer Verfallsgeschichte gelesen werden. Foucault versucht dann zu zeigen, dass es bereits Alternativen zur Moralisierung und Psychologisierung gegeben hat, diese aber im Zuge der Verbreitung des Christentums verloren gegangen sind bzw. zur christlichen Moral transformiert wurden. Die sich hier anschließende philosophische Frage wäre, ob den antiken Ethikentwürfen heute überhaupt eine Bedeutung zugesprochen werden kann (vgl. Horn 1998, 244ff.). (c) Ein anderer Interpretationsansatz würde seine Ethik der Selbstsorge als Antwort auf die Widersprüche hinsichtlich seiner normativen Grundlagen auslegen. Das von ihm entwickelte Bild von Moralisierung und Psychologisierung in der Moderne ist ein totalitäres, in dem Foucault als Kritiker der Moderne selbst keinen Platz mehr hat. Demnach verlangt es die intellektuelle Redlichkeit, dass Foucault zeigt, wie die von ihm postulierte „Aufklärung als Haltung“ bzw. „Haltung der Moderne“ in seinem eigenen Bild der Moderne möglich ist. Im Gespräch mit Habermas hat Foucault seine Ethik der Selbstsorge als Antwort auf dieses Problem genannt (vgl. Miller 1995, 496). (d) Schließlich ist die von Foucault selbst hervorgehobene Kontinuität seines Werks zu nennen (siehe 1.1.1). Demnach handelt es sich bei der Hinwen-
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dung zur antiken Ethik nur um eine Verschiebung des Objektbereichs und des Zeitraums, nicht aber um einen thematischen Wechsel, da auch die Untersuchung der Sorge um sich dem Nachweis der Subjektivierung des Menschen dient. Mit der antiken Ethik will Foucault dann vornehmlich eine Lücke schließen: Zum einen hat Foucault das reziproke Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt analysiert, wobei mit „Objekt“ unter anderem Raum- und Zeitstrukturen gemeint sind. Zum anderen hat er das reziproke Verhältnis zwischen zwei Subjekten untersucht, beispielsweise in der Geständnispraxis und in Prüfungen. Die Sorge um sich behandelt nun die Frage, wie das Subjekt sich zu sich selbst verhalten kann und wie es sich selbst dadurch subjektiviert (bzw. objektiviert). Damit bewegt sich Foucaults Werk in einem traditionellen Denkmuster: Das Subjekt kann sich selbst, anderen Subjekten und Objekten gegenüber stehen. Die Sorge um sich musste in seinem Werk das fehlende Element des Selbstbezugs liefern. Die Möglichkeiten (a) und (c) sind für die Frage nach der Bildung bei Foucault die zentralen Anknüpfungspunkte. Mit (b) würde man die antike Ethik der Selbstsorge nur aus historischem Interesse zur Kenntnis nehmen, ohne ihr für die Gegenwart eine Bedeutung beizumessen. Möglichkeit (d) steht zu (a) und (c) in einem bekannten Gegensatz, denn die Arbeiten zur Selbstsorge sind demnach ebenfalls unter machttheoretischen Aspekten zu betrachten. Es ist offensichtlich, dass die Subjektivierung des Individuums durch eine Beschäftigung mit sich selbst ebenfalls unter Foucaults produktiven Machtbegriff fällt, sodass die Selbstsorge scheinbar nicht ohne weiteres als positiver Gegenentwurf zur Moderne fungieren kann. Trotzdem drängt sich die Ethik der Selbstsorge als Bil19 dungsphilosophie auf. Sie unterstellt etwas, das in Foucaults früheren Untersuchungen systematisch verneint bzw. als Machteffekt kritisiert wurde: Die Subjekte haben ein kognitives Verhältnis zu sich selbst und können bewusst handeln. In seiner Ethik wird die Subjektivierung allerdings pragmatisch und beweglich beschrieben, ohne sich auf eine feste Identität des Subjekts zu beziehen (vgl. Rajchman 1991, 100). Diese kognitive und handlungstheoretische Wende wurde von Foucault bereits mit dem Wechsel von den Machtdispositiven zur Gouvernementalität eingeläutet, in dem es ihm um den Nachweis ging, dass die Regulierung des öffentlichen Raumes nicht durch Disziplinierung erklärbar ist. Vielmehr konnte die Führung einer Bevölkerung im öffentlichen Raum nur durch die Eröffnung von Handlungsspielräumen ermöglicht werden. Foucault weist selbst darauf hin, 19
Eine andere Möglichkeit, Bildung im foucaultschen Sinne zu untersuchen, zeigt Lüders auf, wenn sie den „Diskurs“ als den eigentlichen Ort der Bildung interpretiert und nicht mehr das Subjekt (vgl. Lüders 2004, 54ff.).
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dass sein Begriff der Gouvernementalität auf die Subjektivierungsform des Selbstbezugs angewiesen ist (vgl. HS, 314). Die Sorge um sich liefert den analogen Nachweis, dass auch im privaten Raum die Eröffnung von Handlungsspielräumen möglich ist. Interpretiert man seine Ethik im Sinne von (a), dann ist dieser private Handlungsspielraum sogar notwendig, wenn Bildung der Subjekte möglich sein soll. 3.1.3 Von der Moral zur Ethik Die moralisch aufgeladene Wissensvermittlung ist keine Option für die Bildung des Subjekts im foucaultschen Sinne, nach dem Bildung nur bedeuten kann, dass das Individuum sich von eingespielten, festgefahrenen Denk- und Handlungsmustern löst. Das Individuum soll sich von dem befreien „was in der Stille denkt“ (SW 2, 16). Wie Foucault einräumt, spiegeln sich in seiner Suche nach der Möglichkeit, „sich von sich selber zu lösen“ (SW 2, 15) auch persönliche Motive wider, womit vermutlich nicht nur Lebenserfahrungen gemeint sind (vgl. Taureck 2001, 123; auch Miller 1995 und Halperin 1995), sondern auch das genannte performative Problem seiner eigenen normativen Grundlagen. Nach seinem restriktiven Moralverständnis erlaubt die Moral keine Loslösung von sich selbst, weil sie den Einzelnen nötigt „er selbst zu sein“ und eingefahrenen Denkmustern treu zu bleiben. Jede Moral besitzt laut Foucault zwei zu untersuchende Aspekte. Einerseits besitzt jede Kultur einen eigenen Moral-Code, in dem die Verhaltenserwartungen formuliert werden. Andererseits ist das tatsächliche Verhalten der Menschen nicht mit dem Moral-Code identisch. Das Subjekt hat die Möglichkeit, sich den Moral-Code individuell anzueignen, da es bestehende Regeln nicht blind übernehmen muss, sondern vielmehr die Möglichkeit hat, bestehende Regeln individuell zu deuten. Foucault nennt dies die „ethische Substanz“. Anders als in seinen genealogischen Arbeiten vertritt Foucault in diesem Rahmen die Auffassung, dass sich das Subjekt dem bestehenden moralischen Code unterschiedlich unterwerfen kann. Weiterhin stellt er fest, dass das Subjekt den moralischen Code unterschiedlich ausarbeiten kann. Außerdem kann ein Individuum aus verschiedenen Gründen einem moralischen Code folgen, d. h. es gibt individuelle moralische Teleologien (vgl. SW 2, 37ff.). Eine Norm wie die Treue in der Liebesbeziehung lässt sich beispielsweise sehr individuell ausgestalten. Als ethische Substanz bietet diese Norm die Möglichkeit, Treue gemeinsam mit dem Partner zu definieren, wodurch Spielräume möglich werden, die andere Partner vielleicht nicht akzeptieren würden. Wie sich das Individuum dieser Norm un-
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terwirft, kann ebenfalls sehr verschieden geschehen. Es kann die Norm stillschweigend akzeptieren oder auch öffentlich für ihre Einhaltung eintreten. Es können auch verschiedene Gründe genannt werden, weshalb man diese Norm einhalten will, beispielsweise um seinen Partner zu beglücken oder um einem Glauben zu folgen etc. Die Moral setzt sich damit für Foucault aus dem bestehenden Code und aus den möglichen individuellen Ausgestaltungsformen bzw. Selbstpraktiken zusammen. Je nach Schwerpunktlegung ergeben sich unterschiedliche Auswirkungen auf das Leben der Subjekte. Wird der Schwerpunkt auf den Moral-Code gelegt, so werden Autoritätsinstanzen und Justiz begünstigt. Legt man den Schwerpunkt auf die Selbstpraktiken, so werden Handlungsspielräume eröffnet. Keine dieser beiden Möglichkeiten existiert allein. Weder kann das christliche Abendland auf die Verrechtlichung des moralischen Codes reduziert werden, noch ist eine Selbstpraktik denkbar, die ohne einen rudimentären moralischen Code auskommen könnte (vgl. SW 2, 41ff.). Foucaults Beschäftigung mit der antiken Ethik der Selbstsorge muss als strikte Abgrenzung von der christlichen Moral verstanden werden. Erst unter dem Einfluss der christlichen Moral wurde im römischen Reich ein juristischer Apparat entwickelt, d. h. ein Moral-Code rechtlich verbindlich gemacht. Bis zu diesem historischen Umbruch standen die so genannten Selbstpraktiken im Mittelpunkt der philosophischen Reflexion und laut Foucault auch im Mittelpunkt des täglichen Lebens. Erst mit der Durchsetzung des Christentums kam es laut Foucault zur Verleugnung der Selbstpraktiken (vgl. SW 2, 122). Das macht Foucault am Thema der Sexualität deutlich. In der Antike war die Thematisierung der eigenen Sexualität in erster Linie eine Frage der Selbstpraktik und nicht eine Frage der strikten Unterwerfung unter bestehende moralische Gebote und Verbote. Hinter der Beschäftigung der Griechen mit der individuellen Sexualität standen keine „Moralisierungsbemühungen“ (SW 3, 55), obwohl auch hier der Ruf nach sexueller Strenge gegeben war. Dabei handelte es sich aber nicht um eine Durchsetzung des moralischen Codes, sondern um eine Intensivierung des 20 Selbstbezugs.
20 Die Verbindung von Sexualität und Moral ist in erster Linie vor dem Hintergrund der christlichen Religion nachvollziehbar. Für frühere Generationen, d. h. auch Foucaults Generation, war der Begriff der Moral im Alltag im Grunde gleichbedeutend mit sexueller Sittlichkeit; eine Verwendungsweise, die heute eher befremdlich wirkt. Insofern ist es heute weniger verwunderlich, dass die Griechen die Sexualität nicht moralisierten (vgl. Lemke 1997, 278), als vielmehr der Umstand, dass es in einer Buchreihe mit dem Titel Sexualität und Wahrheit tatsächlich um die individuellen sexuellen Möglichkeiten innerhalb des Moralcodes geht.
3.2 Selbstsorge in der antiken Paideia
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Diese Intensivierung sollte nicht mit einer Verherrlichung des Individualismus verwechselt werden. Foucault unterscheidet drei Formen des Individualismus, um diese Verherrlichung zurückzuweisen: 1. Individualismus als Wert des Einzelnen 2. Privatleben als hoher Wert 3. Individualismus als Intention, „sich umzubilden, zu verbessern, zu läutern, sein Heil zu schaffen“ (SW 3, 59
Diese drei Formen können gemeinsam aber auch getrennt auftreten. Die dritte Bedeutung ist für die Sorge um sich wesentlich, denn die Verbesserung, Läuterung und Bildung soll als eine „Kunst der Existenz“ (SW 3, 60) verstanden werden, in der sich das Subjekt um sich selbst sorgt. Da Individualismus hier nicht als die bloße Durchsetzung eigener Interessen gemeint ist, steht Foucaults Ethik dem entgegen, was man gelegentlich als „postmodernen Individualismus“ kritisiert. Foucault entwickelt mit seiner Ethik der Selbstsorge ein neues Bild des moralischen Subjekts. Bis zu seinen genealogischen Arbeiten waren die Individuen gezwungen, sich als moralische und psychologische Subjekte zu konstituieren, d. h. sich mit den bestehenden Verhältnissen vollständig zu identifizieren. Selbst die durch die Moral suggerierten Befreiungsperspektiven waren Bestandteil der totalen Identifikation. Moral und Subjekt schrumpften auf einen gemeinsamen Punkt zusammen. In der Ethik der Selbstsorge zieht die Moral dagegen einen Bannkreis um das Subjekt, innerhalb dessen es sich frei bewegen kann – das Subjekt gewinnt seine Individualität zurück (vgl. Frank 1991, 63). Obwohl die moralischen Regeln weiterhin zum Bestandteil der eigenen Subjektivität gemacht werden müssen, besteht die individuelle Freiheit darin, dass die Regeln eigenständig ausgearbeitet werden können. Es handelt sich hierbei um Foucaults Version einer „postkonventionellen Moral“, wie er selbst sagt (vgl. Dosse 1999, 421). 3.2 Selbstsorge in der antiken Paideia Foucault sah sich nach der Veröffentlichung des ersten Bandes von Sexualität und Wahrheit gezwungen, seine Vorgehensweise zu ändern. In dieser groß angelegten Untersuchung geht es um die Frage, wie Individuen durch ihr Verhältnis zur Sexualität subjektiviert werden. Dabei musste er einräumen, dass das sexuelle Verhalten für die Subjekte auch eine individuelle Erfahrung ist und nicht allein von außen an sie herangetragen wird. Wie schon im ersten Band der Reihe
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bleibt Foucault auf dem Standpunkt, dass es sich bei der Sexualität nicht um eine Naturkonstante handelt, die durch unterschiedliche Machtstrategien unterdrückt wird (vgl. SW 2, 19). Foucault sah keine Möglichkeit, die individuelle Konstitution der sexuellen Erfahrung mit den Mitteln der Genealogie und der Archäologie auf den Begriff zu bringen (vgl. SW 2, 11). Die „Hermeneutik des Subjekts“ konnte nur über die Möglichkeit eines Selbstbezugs plausibel werden und sollte mit Foucaults „Reise nach Griechenland“ (Schmid 2000, 9) ergründet werden. Im Mittelpunkt des Interesses steht nun das ethische Konzept bzw. die Kunst der Selbstsorge, wie es insbesondere von Sokrates verkörpert wurde. Dieses ethische Konzept hat laut Foucault eine eigenwillige Karriere hinter sich: „Die Kunst seiner selber wird [...] eine eigene Gestalt gegenüber der paideia annehmen, die ihren Kontext bildet, und gegenüber dem Moralverhalten, das ihr Ziel ist.“ (SW 2, 103)
Um diese These in ihrer Tragweite darzustellen, werden im Folgenden zunächst die sokratische Paideia und ihre Propagierung der Selbstsorge dargestellt (3.2.1). Die sokratische Paideia grenzt sich von zwei damals vorhandenen pädagogischen Gegenentwürfen, der Sophistik (3.2.2) und der Rhetorik (3.2.3), ab, die getrennt dargestellt werden. Beide Gegenentwürfe vertreten laut Sokrates implizit eine Erziehung zum Machtwillen, was darüber hinaus bedeutet, dass Erziehung nur eine Anpassung an die bestehende Verhältnisse meinen kann, da diese als natürlich gegebene vorausgesetzt werden (3.2.4). Die ausführliche Darstellung soll zeigen, welchen Stellenwert die Verknüpfung von Ethik und Politik in der sokratischen Paideia hat. Die mit der Selbstsorge verbundene Hoffnung, dass ein, später noch näher zu beschreibendes, ästhetisches Verhältnis zu sich selbst einen positiven Effekt auf die sozialen Beziehungen (Moral und Politik) hat, wird auch von Foucault geteilt. Die Selbstsorge der sokratischen Paideia kulminiert in der griechischen Antike in Platons philosophischem Entwurf eines erziehenden Staates, in dem die Selbstsorge Mittel zum Zweck wird (3.2.5). Foucault selbst bezieht sich hinsichtlich des Ursprungs der Ethik der Selbstsorge auf die platonische Paideia im weitesten Sinne. Im Folgenden wird dagegen mit Jaeger zwischen sokratischer und platonischer Paideia unterschieden. Dahinter steht die philologische Frage, welche Aussagen der platonischen Dialoge Sokrates selbst und welche Platon zugeschrieben werden können. Bei den Paideia-Konzepten kann man nach Jaeger unterschieden zwischen den frühen Entwürfen, in denen die platonische Metaphysik noch nicht entwickelt ist, und den späteren Werken wie dem Staat und den Gesetzen, die nur vor diesem Hin-
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tergrund betrachtet werden können 21 Die Trennung ist auch für die Untersuchung von Foucaults Ausführungen wichtig, weil er selbst die beiden späten Werke Platons als Ausnahmen hinsichtlich der Ethik der Selbstsorge bezeichnet (vgl. SW 2, 42).22 Der erziehende Staat nach Platon ist Foucaults Auffassung zur Aufklärung genau entgegen gesetzt (siehe 1.4). 3.2.1 Sokratische Paideia Sokrates kann als der Begründer des sozialphilosophischen Denkens gelten. Zwar haben auch schon die Vorsokratiker soziale Grundfragen erörtert, aber Sokrates wendet sich als erster diesen Fragen direkt zu, ohne sie in eine spekulative Kosmologie oder Naturphilosophie einzubetten (vgl. Jaeger 1989, 596; Horn 1998, 22ff.), was eine kritische Reflektion pädagogischer Fragen mit einschließt (vgl. Hügli 1999, 22ff.). Seine Sozialphilosophie geht aber nicht in einem systematischen Gedankengebäude auf: „Das „Philosophieren“, zu dem Sokrates sich hier bekennt, ist nicht bloß theoretischer Denkprozeß, sondern es wird gleichgesetzt dem Ermahnen und Erziehen. In dessen Dienst steht auch die sokratische Prüfung und Widerlegung jedes bloßen Scheinwissens und jeder nur eingebildeten Vortrefflichkeit (Arete).“ (Jaeger 1989, 603)
Es ist gerade diese methodische Verknüpfung von Theorie und Praxis, die als „sokratische Methode“ bzw. als „sokratisches Gespräch“ bis heute in pädagogischen Überlegungen Bestand hat (vgl. Horster 1994, 9ff.). Wie Jaeger im Zitat aber hervorhebt, hat Sokrates seine Gesprächspartner nicht nur mit Hilfe seiner dialektischen Methode zu der Einsicht gebracht, dass sie nur Scheinwissen besitzen, sondern sie darüber hinaus auch zur „bewußten Sorge um die Seele“ (Jaeger 1989, 603) ermahnt. Diese Ermahnung tritt in den platonischen Dialogen immer wieder auf und bildet den Kern von Sokrates’ Paideia. Sokrates unterscheidet zwischen Seele und Körper, womit sich unweigerlich die Frage stellt, was Sokrates unter „Seele“ (griech. „Psyche“) verstanden wissen will. Man kann mit Sicherheit sagen, dass hiermit keine Vorstellung eines „Geistes“ oder „Dämons“ gemeint ist, der den Körper bewohnen und verlassen kann. Ebenso wenig kann 21 Innerhalb der Platon-Forschung ist diese Trennung brüchig geworden und wird von einigen Interpreten abgelehnt (vgl. hierzu Annas 1993, 19). 22 Ausgeklammert werden hier die pädagogischen Überlegungen die man bei Aristoteles finden kann., da sie sich nicht ohne weiteres mit dem Konzept der Selbstsorge in Verbindung bringen lassen. Foucault geht auf Aristoteles’ Philosophie ebenfalls nur am Rande ein.
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man Sokrates die These von der Unsterblichkeit der Seele zuschreiben, wie sie im Phaidon dargestellt wird. Die im Menon behauptete Präexistenz der Seele ist ebenfalls Platon und nicht Sokrates zuzurechnen (vgl. Jaeger 1989, 606). Für Sokrates ist die Seele vielmehr Bestandteil der Natur des Menschen, womit er in der Tradition der vorsokratischen Naturphilosophie steht, die Körper und Geist in einem einheitlichen Kosmos verortet: „[W]ie durch das Zusammensehen des Körpers und der Seele als verschiedene Teile der einen menschlichen Natur diese körperliche Natur vergeistigt wird, so strahlt auf die Seele zugleich etwas von der körperlichen Existenz zurück.“ (Jaeger 1989, 608)
Sokrates kann seine Seelsorge deshalb auch in Analogie zur Arbeit des Arztes setzen, der sich um den Körper sorgt. Wenn Sokrates in seinen Gesprächen versucht zu ergründen, was es mit den jeweiligen Tugenden auf sich hat, nach denen gestrebt werden soll, dann ist diese Suche automatisch immer die Suche nach der richtig verstandenen menschlichen Natur. Sokrates verlegt diese Suche mit seiner Sorge um die Seele nach innen, womit sich die griechische Philosophie grundlegend änderte: „Der Aufruf des Sokrates zur „Sorge für die Seele“ war der eigentliche Durchbruch des griechischen Geistes zu der neuen Form des Lebens. Wenn der Begriff des Lebens, des „Bios“, der das menschliche Dasein nicht als bloßen zeitlichen Ablauf, sondern als anschauliche, sinnvolle Einheit, als bewußte Lebensform bezeichnet, fortan in der Philosophie und Ethik eine so beherrschende Stellung einnimmt, so hat in dieser Tatsache das wirkliche Leben des Sokrates eine Spur hinterlassen.“ (Jaeger 1989, 611)
Mit Selbstsorge als Sorge für die Seele ist eine bestimmte Form der Selbstbeziehung gemeint, die den Betreffenden davor bewahren soll, Sklave seiner eigenen inneren Triebe zu werden. Die Selbstsorge hat das Ziel der Selbstbeherrschung. Damit ist bei Sokrates aber nicht die einfache Unterdrückung der inneren animalischen Triebe gemeint. Es geht ihm um die Entwicklung einer inneren Freiheit. Jaeger weist ausdrücklich darauf hin, dass mit der sokratischen inneren Freiheit noch nicht die moderne Idee der Autonomie gemeint ist, da sie von Sokrates noch nicht auf die moralische und damit auch politische Sphäre übertragen wird. Sokrates’ Anliegen war der Nachweis, dass ein politischer Herrscher Sklave seiner eigenen Begierden sein kann. Seine Vorstellung von innerer Freiheit steht der Autarkie näher: Es geht darum, dass die Menschen lernen, „sich selbst zu helfen“. Diese Autarkie darf bei Sokrates selbstverständlich nicht auf das Ökonomische reduziert werden (vgl. Jaeger 1989, 620ff.).
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Auch Sokrates will seine Gesprächspartner zu einer „politischen Tugend“ erziehen. Aber dafür ist seine Paideia nicht einfach Mittel zum Zweck, denn es geht ihm nicht allein um die Vermittlung bestimmter Fähigkeiten oder Erkenntnisse. Die sokratische Paideia will das individuelle Lebensziel in den Mittelpunkt rücken. Die Suche nach diesem Ziel macht den Kern dieser Paideia aus. „Bildung im sokratischen Sinne wird zum Streben nach philosophisch bewußter Lebensgestaltung, die auf ein Ziel ausgerichtet ist, die geistige und sittliche Bestimmung des Menschen zu erfüllen. Der Mensch ist in diesem Sinne zur Paideia geboren. Sie ist sein einziger wahrer Besitz.“ (Jaeger 1989, 637f.)
Die Mahnung zur Seelsorge hat nur einen einzigen Zweck: Sie dient der Protreptik, der Hinwendung zu sich selber. Der Mensch soll angehalten werden, sein eigenes Werk zu verrichten. 3.2.2 Sophistik Sokrates’ Paideia wird von Platon im Protagoras der sophistischen Paideia gegenüber gestellt. Protagoras war einer der größten Vertreter der Sophisten, die als die ersten professionellen Pädagogen gelten. Als Vermittler einer höheren Bildung wanderten sie umher und gaben ihr Wissen an jeden weiter, der bereit war, dafür zu zahlen. Für Jaeger stehen die Sophisten für das, was er „Durchschnittserziehung“ (Jaeger 1989, 684) nennt, denn sie verkaufen wahllos ihr Wissen. Die Sophistik begeht dabei einen Fehler, auf den Sokrates im Dialog mit Protagoras aufmerksam machen will: Sie reflektiert ihre eigenen Grundlagen nicht und vertritt deshalb, ohne es zu wissen, naive und damit für Sokrates sogar gefährliche Ansichten. Nur aufgrund der mangelnden Reflexion ihrer theoretischen wie normativen Grundlagen können Sophisten einen bedingungslosen pädagogischen Optimismus vertreten: Sie beanspruchen, jedem Menschen alles vermitteln zu können. Damit geht einher, dass ihnen scheinbar selbst nicht klar ist, was sie eigentlich vermitteln. Platon schildert zu Beginn des Protagoras, wie Sokrates früh morgens von Hippokrates geweckt wird, der ihm aufgeregt mitteilt, dass Protagoras in der Stadt sei. Hippokrates erzählt, er wolle unbedingt bei Protagoras Unterricht nehmen, worauf Sokrates sofort wissen will, weshalb er denn Sophist werden wolle, denn wer Unterricht bei einem Arzt nimmt, der will Arzt werden, wer dementsprechend Unterricht bei einem Sophisten nimmt, der will offensichtlich Sophist werden. Hippokrates ist über diese Frage verblüfft: Er wolle nicht Sophist werden. Es gehe ihm nur um die allgemeine Bildung (vgl. Prot, 310-
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312). So spiegelt sich die Gedankenlosigkeit der sophistischen Paideia in der Sorglosigkeit ihrer Schüler wider, was für Sokrates ein Skandal ist. Die sophistische Paideia übergeht für Sokrates das Problem der wahren Tugendhaftigkeit, die nur durch die Hinwendung zur eigenen Seele erreichbar ist, und reduziert die Paideia unausgesprochen auf die intellektuelle Bildung (vgl. Jaeger 1989, 689). Sokrates provoziert Protagoras im Gespräch mit der Behauptung, die Menschen seien in moralischen und ethischen Belangen nicht belehrbar, um ihn dazu zu veranlassen, seinen eigenen pädagogischen Optimismus zu begründen (vgl. Prot, 320 c). Protagoras antwortet mit einer Mythologie, die den Menschen als Kulturwesen darstellt. Die Kultur, die Erziehung und Bildung mit einschließt, erscheint hier, modern und soziologisch gesprochen, als gesellschaftliche Funktion, die die natürlichen Mängel der Menschen ausgleichen muss (vgl. hierzu Müller 2003, 71ff.): Die Götter beschlossen, die Erde mit Lebewesen zu bevölkern. Nachdem sie die verschiedenen Lebewesen geformt hatten, beauftragten sie Prometheus und Epimetheus damit, die Lebewesen mit verschiedenen Fähigkeiten auszustatten, um ihnen das Überleben auf der Erde zu ermöglichen. Epimetheus wollte diese Aufgabe allein übernehmen. Er stattete jedes Wesen mit bestimmten Talenten aus, sodass sie gemeinsam eine sinnvolle Ordnung bildeten. Als die Menschen schließlich als letzte ihre Fähigkeiten bekommen sollten, merkte Epimetheus, dass er bereits alle Talente vergeben hatte. Prometheus sah sich gezwungen, den Menschen zu helfen. Er stahl den Göttern das Feuer und die Techne (= „Kunst“ im Sinne von Geschick, Dinge herzustellen). Damit war ihre ökonomisch-technische Basis gelegt. Da sie aber noch nicht über moralische und politische Fähigkeiten verfügten, gab es immer wieder Konflikte, die nicht beigelegt werden konnten. Um das Drama zu beenden, ließ Zeus den Menschen das Schamgefühl und das Rechtsempfinden durch Hermes zukommen. Diese Fähigkeiten wurden gleichmäßig auf alle Menschen verteilt (vgl. Prot, 322 c).
Trotz der in dem Mythos behaupteten gleichen Kompetenz der Menschen in moralisch-ethischen Fragen, findet in der Realität eine Belehrung der Menschen durch Strafe statt. Nach Protagoras straft der Mensch „der Abschreckung wegen“ (Prot, 324 c), zur Vermeidung zukünftiger Vergehen. Das ist für Protagoras der Beweis für die Lehrbarkeit von Moral und Ethik. Von der Geburt an bis ins Erwachsenenalter werden sie einer Zucht unterworfen, woraus geschlossen werden muss, dass Menschen in sozialen Fragen belehrbar sind, denn sonst wäre diese Praxis seltsam (vgl. Prot, 326 d). Im Laufe des Dialogs zeigt Sokrates, dass die empiristische Erklärung der „Vermittlung“ tugendhaften Verhaltens kein Beweis für die Lehrbarkeit der Tugend sein kann. In der sophistischen Paideia werden Ethik und Moral gerade
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nicht als ein Wissen behandelt, dass man anderen vermitteln könnte. Abschreckung in Form von Konditionierung, ist keine Wissensvermittlung. Dagegen vertritt die sokratische Paideia die Auffassung, dass eine Einsicht in den hohen Wert der Tugenden möglich sein muss und aus dieser Einsicht ein handlungsleitendes Wissen entstehen kann. Vor diesem Hintergrund wird die These, man könne sein Leben ethisch und moralisch verbessern und vervollkommnen erst möglich und vertretbar (vgl. Jaeger 1989, 299f.). So verkehren sich am Ende des Dialogs die Positionen: Sokrates ist nun der Vertreter der Lehrbarkeit und Protagoras muss eingestehen, dass er im Prinzip das Gegenteil vertritt (vgl. Prot, 361 a). 3.2.3 Rhetorik Während es in der Auseinandersetzung zwischen sokratischer und sophistischer Paideia darum ging, festzustellen, ob und wie ein tugendhaftes Leben vermittelbar sei, geht es in der Auseinadersetzung mit der Rhetorik vor allem um die Wahl der richtigen Methode. Die Methode ist in der sokratischen Paideia bereits ausschlaggebend dafür, ob ein tugendhaftes Leben überhaupt anvisiert werden kann oder nicht. Diese Auseinandersetzung hat Platon im Gorgias dargestellt. Sokrates trifft in diesem Dialog auf Gorgias und einige seiner Schüler. Gorgias bezeichnet sich selbst als einen der besten Rhetoriker, der die Redekunst wie kein zweiter beherrscht und auch Schüler in diese Kunst einführen kann. Wie schon im Protagoras interessiert Sokrates die Frage, was genau mit dieser Kunst eigentlich vermittelt wird. Gorgias erklärt, dass es im Wesentlichen um die Wirkung einer Rede geht (vgl. Gor, 450 e), woraus Sokrates folgert, dass es der Rhetorik in erster Linie der Überredung des Gesprächspartners geht und sie damit seiner eigenen Methode, der Dialektik, entgegensteht. Er deutet an, scheinbar ohne das Gorgias es bemerkt, dass die Rhetorik automatisch eine Immunisierungsstrategie ist, denn sie ist per Definition auf Erfolg ausgerichtet: Wer seine eigene Meinung nicht durchsetzen kann oder sogar die Meinung des anderen übernimmt, muss ein schlechter Rhetoriker sein. Es geht die Möglichkeit verloren, eigene Irrtümer im Gespräch einzusehen (vgl. Gor, 457 c). Nicht die Erlangung oder Erzeugung von Wissen ist das Ziel, sondern der „Gesprächspartner“ soll eine bestimmte Meinung, unabhängig von ihrem tatsächlichen Wahrheitsgehalt, für wahr halten. Wie Sokrates feststellt, besitzt die Redekunst, wenn sie denn beherrscht wird, eine große Macht über die Menschen. Sie impliziert im positiven wie negativen Sinne einen manipulativen Umgang und kann zur Verbreitung von Recht
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wie Unrecht gleichermaßen genutzt werden. Gorgias geht als altehrwürdiger Vertreter dieser Kunst selbstverständlich davon aus, dass die Rhetorik zur Verbreitung des Rechts genutzt wird. Er ist Sokrates gegenüber aber bereit zuzugeben, dass ein Schüler dieser Kunst das Wissen über Recht und Unrecht bereits mitbringen sollte. Falls er dies nicht tue, so steht es für ihn außer Frage, dass er als Lehrer die Unterscheidung von Recht und Unrecht auch vermitteln kann (vgl. Gor, 460 c). Ähnlich wie bei den Sophisten ist Sokrates auch bei den Rhetorikern der Meinung, dass sie zwar ausgereifte Mittel zur Beeinflussung der Menschen in der Hand haben, sich aber über ihre eigenen Grundlagen nicht im Klaren sind. Bei den Rhetorikern tritt die normative Schwierigkeit in den Mittelpunkt (vgl. Jaeger 1989, 712), da sie das Problem der Manipulation für ungerechte Zwecke kognitiv ausklammern müssen, um nicht zugeben zu müssen, dass sie selbst für unlautere politische Ziele instrumentalisiert werden können. Der Dialog zeigt, dass sich einem älteren Vertreter des Fachs wie Gorgias dieses Problem nur als theoretische Möglichkeit stellt, da er selbst moralisch gefestigt ist. Anders verhält es sich mit der jüngeren Generation seiner Schüler. Nachdem Sokrates die moralische Zwiespältigkeit der rhetorischen Methode offen gelegt hat, ergreift Gorgias’ Schüler Polos das Wort und bezichtigt Sokrates, diese Zwiespältigkeit nur durch Spitzfindigkeiten und verwirrende Fragen selbst hervorgebracht zu haben. Im Gespräch zwischen Polos und Sokrates zeigt sich nun, dass die jüngere Generation das moralische Problem sehr genau sieht. Polos vertritt diesbezüglich, anders als sein alter Lehrer, einen „zynischen Amoralismus“ (Jaeger 1989, 708), indem er Sokrates gegenüber unumwunden behauptet, dass die mit der Rhetorik gegebene Macht über andere doch ein beneidenswertes Instrument sei. Allein der Erfolg zähle und nicht die angeblich moralischen Ziele. Wenn die Rhetorik sogar in der Lage sei, ungerechtfertigtes Töten als gerechtfertigt erscheinen zu lassen, so sei das doch ein bewundernswerter Sachverhalt (vgl. Gor, 469 e). Im Gorgias läuft der Dialog auf eine Gegenüberstellung der Philosophie der Paideia mit einer Philosophie der Gewalt hinaus. Weder die Widersprüchlichkeit eines Gorgias, noch der Zynismus eines Polos ist mit der sokratischen Paideia vereinbar. Ihr Problem ist, dass sie sich nicht um eine Hinwendung zur eigenen Seele bemühen, sondern stattdessen auf äußere Effekte aus sind. Rhetorik wie Sophistik verfolgen beide hinsichtlich der ethisch-moralischen Bildung primitive Ziele, da sie das tugendhafte Leben nicht auf das Wissen um den Wert dieses Lebens zurückführen.
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3.2.4 Wille zur Macht Die Abgrenzungen der sokratischen Paideia von Sophistik und Rhetorik dienen dem Nachweis, dass diese beiden Philosophien hinsichtlich der Paideia uneingestanden eine Philosophie der Gewalt oder zumindest der Manipulation vertreten. Im Gorgias wird diese Gegenüberstellung am deutlichsten. Hinter keiner der beiden Denkrichtungen stehen feste Philosophien, die sich ihrer eigenen Grundlagen bewusst sind. Gerade durch diesen Mangel sind sie nicht in der Lage, eine wahre Paideia zu entwickeln, die den Menschen zu Vollkommenheit und Verbesserung führen kann. Sokrates’ Verdacht, dass sich hinter Sophistik und insbesondere hinter Rhetorik eine Philosophie der Gewalt verbirgt, macht Platon im Gorgias dadurch deutlich, dass er Kallikles auftauchen lässt. Kallikles spricht gegenüber Sokrates das aus, was Sophisten und Rhetoriker verschweigen oder verdrängen: Es geht um die Durchsetzung von Macht. Kallikles tritt unverhohlen als Machtmensch auf, was entsprechende Auswirkungen auf seine Vorstellungen von Paideia hat. Die Figur des Kallikles ist offensichtlich frei erfunden. Ihm kann, anders als vielen anderen Gesprächspartner in den platonischen Dialogen, bis heute keine historische Persönlichkeit eindeutig zugeordnet werden (vgl. Müller 2003, 106). So kann man wie Jaeger vermuten, dass es sich bei Kallikles um Platons eigenes früheres Ich handelt, bevor er auf Sokrates traf. Kallikles vertritt im Dialog eine aristokratische Haltung, die die Durchsetzung des Stärkeren als Naturrecht auslegt. Diese Haltung kann durchaus Platons eigene gewesen sein, da er selbst aus aristokratischen Kreisen stammte und es dementsprechend wohl als vorherbestimmt ansah, in die Politik zu gehen, um zu herrschen. Kallikles geht direkt auf Sokrates’ Forderung ein, man müsse wissen, was gerecht und ungerecht ist, damit man es auch entsprechend lehren kann. Was nun Recht und Unrecht ist, beantwortet Kallikles, indem er dem kulturellen Gerechtigkeitsbegriff einen natürlichen Gerechtigkeitsbegriff gegenüber stellt: „Meiner Ansicht nach sind es eben die sich schwach Fühlenden unter den Menschen und die große Masse, die die Gesetze geben. In ihrem eigenen Interesse und zu ihrem Nutzen geben sie die Gesetze und teilen Lob und Tadel aus. Um die kraftvolleren Menschen, die imstande sind sich Vorteile zu verschaffen, einzuschüchtern, und um selbst nicht ins Hintertreffen zu kommen, sagen sie, das Übervorteilen sei häßlich und ungerecht; und darin eben bestehe das Unrechttun, in dem Streben, die anderen zu übervorteilen. Denn was sie selbst anlangt, so sind sie als die Schwächeren, glaube ich, ganz zufrieden, wenn sie nur das Gleiche haben.“ (Gor, 483 b)
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Diese sozialdarwinistische Position – die später von Nietzsche übernommen wird – vertritt einen Willen zur Macht, der mit einer angeblich angeborenen Stärke begründet wird. Soziale Gerechtigkeitsauffassungen stehen dem Willen zur Macht im Wege und werden nur von schwachen Naturen ins Spiel gebracht. Oberflächlich betrachtet ist Kallikles ähnlicher Meinung wie Sokrates: Auch er propagiert, dass man sich selbst helfen solle. Aber diese Selbsthilfe ist anders als die sokratische Selbstsorge ein bloßes Ausleben der animalischen Triebe. Zum Herrscher muss man gemäß dieser „Paideia“ nicht erzogen, sondern geboren werden: „Kallikles kennt Erziehung nur als Dressur zur systematischen Irreführung und Täuschung der starken Naturen, um die Herrschaft der Schwachen aufrecht zu erhalten.“ (Jaeger 1989, 720)
Erziehung und Bildung sind deshalb nur für die schwachen Naturen notwendig, starke Naturen bedürfen ihrer nicht. Die Sorge um sich steht den konkurrierenden Formen der Paideia gegenüber, die entweder darauf aus sind, den eigenen Willen zur Macht auszuleben oder, in einer schwächeren Version, aus rein hedonistischen Motiven heraus zu handeln. Im Gespräch mit den Sophisten, den Rhetorikern oder den Machtmenschen zeigt Sokrates, die grundlegende Schwäche dieser Positionen: Sie fordern eine bestimmte Form der Führung des Staates und damit auch eine bestimmte Form der Erziehung ein, die sie implizit oder explizit nicht auf sich selbst anwenden wollen oder können. Sokrates’ Geschick besteht darin, seinen Gesprächspartner zunächst zu zeigen, dass sie Reziprozität und Symmetrie, als notwendige Bedingung für bestimmte Tugenden, und damit letztlich immer der „Tugendhaftigkeit“ als solcher, immer schon voraussetzen. Am Ende des Gesprächs müssen sie anerkennen, dass sie genau diese, implizit von ihnen erhobenen Voraussetzungen in ihrer eigenen Paideia nicht in die Tat umsetzen können. Sokrates deckt einen Widerspruch zwischen Innen und Außen auf. Bei Kallikles ist das am deutlichsten, wenn Sokrates gegen Ende des Dialogs feststellt: „Dieser Mann will es sich nicht gefallen lassen, daß man sich ihm nützlich erweise, und er will selbst nicht das über sich ergehen lassen, wovon die Rede ist, nämlich Züchtigung.“ (Gor, 505 d)
Kallikles ist als Machtmensch über diesen Nachweis wenig erfreut und schweigt für den Rest des Dialogs.
3.2 Selbstsorge in der antiken Paideia
119
3.2.5 Platonische Paideia Die platonische Paideia knüpft direkt an die sokratische an. Von Sokrates übernimmt Platon die klare Frontstellung gegen den Willen zur Macht und den Hedonismus, trotzdem besteht ein wesentlicher philosophischer Unterschied zwischen beiden Paideia-Konzeptionen. Platon sieht die Notwendigkeit einer theoretischen Begründung für Sokrates’ Idee, Tugendhaftigkeit könne als höchster Wert erkannt werden um das Handeln an ihr zu orientieren (vgl. Reichert 1990, 130ff.). Er entwickelt dafür einen objektiven Idealismus, der den Ideen des „Guten“, des „Gerechten“ etc. einen eigenen ontologischen Status zuspricht. Das Individuum ist in der Lage, diese Ideen zu erkennen, weil sie kein Produkt seiner Phantasie sind, sondern eine eigene Realität besitzen (vgl. Staat, 517 b). Die Erkenntnis der wahren Ideen besitzt, wie schon für Sokrates, keinen utilitaristischen Wert. Die wahren Werte sollen nicht erkannt werden, weil sie in sozialen Belangen nutzbringend eingesetzt werden können, sondern weil sie einen Wert an sich besitzen. Mit seiner Ideenlehre setzt Platon die Vorstellungen seines Lehrers auf ein metaphysisches Fundament. Die Erkenntnis der wahren Werte ist auch für Platon nicht auf rein kontemplativem Wege möglich. Der Mensch muss einen Bildungsweg auf sich nehmen: „Es gibt nach Platos Lehre für den Intellekt, er sei so scharf wie er wolle, keinen unmittelbaren Zugang zu der Welt der Erkenntnis der Werte, um die es in der platonischen Philosophie letzten Endes geht. [...] Das Gute kann nicht als etwas außer uns Liegendes formal-begrifflich erfaßt werden, ohne daß wir zuvor innerlich an seiner Natur teilgenommen haben; die Erkenntnis des Guten wächst in dem Menschen nur in dem Maße, wie es in ihm selbst Wirklichkeit wird und Gestalt annimmt.“ (Jaeger 1989, 821)
In den Dialogen weist Sokrates immer wieder darauf hin, dass die Ethik der Selbstsorge im Zusammenhang mit dem politischen Leben zu betrachten ist. Schon bei Sokrates ist erkennbar, dass er die Ethik als notwendige Bedingung für späteres gerechtes politisches Handeln verstanden wissen will. Seine Ausführungen zu diesem Zusammenhang von Ethik und Politik sind aber in der Regel Veranschaulichungen des ethischen Problems, d. h. eine Veranschaulichung dessen, welche Tragweite es haben kann, wenn man den wahren Wert der Tugenden nicht reflektiert. Insofern kann man sagen, dass Sokrates’ Ausführungen zum Zusammenhang von Ethik und Politik rein didaktischen Charakter haben. Erst in der platonischen Paideia ist dieser Zusammenhang explizit ausformuliert. Die Führung des Staates kann man nach Platon nur den wahrhaft Gebildeten überlassen. Wer eine Führungsposition einnehmen will, der muss einen entspre-
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3 Bildung durch Selbstsorge
chend langen Bildungsweg hinter sich haben (vgl. Staat, 540 a). Er muss letztendlich ein Philosoph werden, der den wahren Wert gerechtfertigter Normen erkannt hat und diese Normen reziprok und symmetrisch anzuwenden weiß. Damit geht die platonische Paideia einen deutlichen Schritt weiter als die sokratische. Platon weist nicht nur darauf hin, dass Erziehung und Bildung auf die Erkenntnis der wahren Werte ausgerichtet sein müssen, sondern dass auch der Staat darauf ausgelegt sein muss, Erziehung und Bildung seiner Bürger an dieser Idealvorstellung auszurichten. Bildung und Staat müssen gleichermaßen verbessert werden. Platon propagiert einen erziehenden Staat, eine Idee, die es vorher nur in Sparta gab und dort auch in die Tat umgesetzt wurde (vgl. Jaeger 1989, 800). Der erziehende Staat sorgt in einem totalitären Sinne für die richtige soziale Ordnung. Während es in der sokratischen Paideia nur darum ging, hervorragende Bürger zu bilden, die politisch mündig sind, geht es nun darum, auch diejenigen zu erziehen und zu bilden, die nicht für die bürgerlich-politische Öffentlichkeit geschaffen sind. Es wird strikte Arbeitsteilung propagiert, was die brisante Frage nach der Selektion der Gesellschaftsmitglieder impliziert. Wenn jeder Mensch genau die Funktion in der Gesellschaft übernehmen soll, für die er geeignet ist (vgl. hierzu Reichert 1990, 141ff.), dann muss es eine staatliche Instanz geben, die entsprechend die „Charakterprüfung“ übernimmt. In Platons Erziehungsstaat erhält die Erziehung eine alles umfassende Bedeutung. Hier zeigt sich der unerschütterliche Glaube an die richtige Erziehung, die das richtige Bildungsergebnis hervorbringt. Zwar kann in der platonischen Paideia nicht jeder zu allem erzogen werden, aber die Erziehung besitzt doch die wichtige Fähigkeit, den Verfall des Staates zu verhindern und jedes Individuum gemäß seinen Voraussetzungen zu bilden (vgl. Jaeger 1989, 827). Bei Platon nimmt die Paideia also genau die Rolle ein, von der Foucault die Selbstsorge abgrenzen will. Die Paideia dient bei Platon zwar der Erkenntnis des Guten, ist aber gleichzeitig ein Instrument zur Anpassung an die bestehende moralisch-politische Ordnung, die als einzig richtige verstanden wird. 3.3 Selbstsorge als Selbstpraktik Die Sorge um sich erlangt im Laufe der griechisch-römischen Antike eine eigenständige gesellschaftliche Rolle. Foucault will zeigen, dass mit der Sorge um sich eine Form der bildenden und verbessernden Selbstbeziehung institutionalisiert wurde, die von der platonischen Paideia-Konzeption zu unterscheiden ist. Wie gezeigt, wurde in den verschiedenen Paideia-Konzeptionen der Antike immer das Problem der Beziehung zwischen Ethik und Politik behandelt. Diesen
3.3 Selbstsorge als Selbstpraktik
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Zusammenhang stellt auch Foucault her, nur behandelt er die Selbstsorge ausschließlich unter pragmatischen bzw. technischen Aspekten ohne metaphysische Annahmen, wie sie bei Platon zu finden sind. Foucault grenzt die Selbstsorge in der von ihm gewohnten Weise von erkenntnistheoretischen Konzeptionen der Neuzeit ab. Die Selbstsorge beschreibt eine eigenständige, pragmatisch zu verstehende Beziehung des Subjekts zu sich selbst (3.3.1). Für den Selbstbezug macht Foucault in den antiken Texten zur Selbstsorge vier verschiedene Arten der Thematisierung bzw. Problematisierungen aus. Diese Thematisierungen der eigenen Seele zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht moralisierend auftreten, sondern die eigenen „Gelüste“ ethisch bearbeiten (3.3.2). Das Individuum muss sich auch im Konzept der Selbstsorge der herrschenden Moral anpassen. Das Ziel der Selbstsorge ist aber nicht die moralische Autonomie. Von dieser will sich Foucault nach wie vor abgrenzen, weil er der Autonomie keine transzendierende Kraft zusprechen will. Das Konzept der Selbstsorge zielt dagegen auf „Heautokratie“, d. h. auf die Beherrschung seiner selbst (3.3.3). 3.3.1 Wider die Selbsterkenntnis Die Sorge um sich ist eine Form der Subjektivierung, d. h. sie zwingt das Individuum dazu, sich selbst als Subjekt der Welt gegenüber zu stellen. Diese Gegenüberstellung ist in der Selbstsorge jedoch anders zu verstehen als in den später entwickelten neuzeitlichen Konzeptionen. Foucault macht den Unterschied anhand der Frage nach dem Bezug des Subjekts zur Wahrheit deutlich. In der neuzeitlichen, cartesisch verstandenen Konzeption, steht das Subjekt den Objekten statisch gegenüber. Um die Wahrheit zu erkennen, genügt es, „die Augen zu öffnen“ (HS, 241). Die Wahrheit wird vom Subjekt aufgenommen, ohne dass sie einen Einfluss auf die Subjektivität hat. In der antiken Konzeption dagegen ist die Wahrheitserkenntnis an eine Transformation des Subjekts gekoppelt: „[...] Zugang zur Wahrheit zu haben [heißt], Zugang zum Sein selbst zu haben, und der Zugang ist derart, daß das Sein, zu dem man Zugang hat, zugleich und rückwirkend die Transformation dessen bewirkt, der Zugang zu ihm hat.“ (HS, 243)
In der cartesischen Auffassung wird jede Form der Erkenntnis, auch die Selbsterkenntnis, an Objekterkenntnis assimiliert. Damit wird die Wahrheit in einen subjektiven und einen objektiven Bereich geteilt, wobei der subjektive wie ein objektiver Bereich betrachtet wird. In der antiken Auffassung sind diese Berei-
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3 Bildung durch Selbstsorge
che miteinander verschmolzen (vgl. HS, 319). Aufgrund dieser Verschmelzung ist die Sorge um sich immer auch mit der Selbsterkenntnis verbunden. Foucault unterscheidet zwischen zwei Arten der Selbsterkenntnis, dem platonischen Modell der Erinnerung und dem christlichen Modell der Selbstexegese. Nach platonischer Vorstellung beruht die Selbsterkenntnis auf einer Wiedererinnerung an vergessenes Wissen. Durch die Sorge um sich erinnert sich die Seele an das, was sie aufgrund ihrer Unsterblichkeit bereits gesehen hat und weiß so wieder, was sie ist. Im späteren Exegesemodell des Christentums bezieht sich das Individuum auf sich selbst, um dadurch die Wahrheit offenbart zu bekommen. Selbsterkenntnis ist hier keine Rückkehr zu sich selbst. Es sollen vielmehr Versuchungen der Seele aufgedeckt, um die Wahrheit zu befreien. Für Foucault ist dieses Modell mit Selbstverzicht verbunden (vgl. HS, 317ff.). Die Sorge um sich stellt dagegen ein drittes Modell dar, das keine erkenntnistheoretische Konnotation besitzt und von Foucault das „hellenistische Modell“ der Selbstsorge genannt wird. Die Selbstsorge hat sich von der Selbsterkenntnis emanzipiert und wird als rein pragmatisch zu vollziehende Beziehung zu sich selbst verstanden. Allein die Umkehr zu sich ist entscheidend (vgl. SW 3, 89). Das Subjekt soll nichts „Wahres“ über sich selbst bzw. das Sein herausfinden (vgl. SW 2, 118). Es geht um eine Beschäftigung mit der eigenen Seele, darum, die eigenen „Gelüste“ – gemeint sind alle Wünsche und Triebe – angemessen genießen zu können. Ziel ist die ästhetische Ausarbeitung der eigenen Seele, eine „Ästhetik der Existenz“ (ebd.). Der eigene Lebensvollzug wird behandelt wie eine Sache, die man bearbeiten und genießen kann (vgl. SW 3, 90).23 Foucaults historische These ist, dass die Sorge um sich eine eigene Form der Selbstkultur begründete, die frei war von der Suche nach den wahren moralischen Werten. Die Griechen und Römer beschäftigten sich mit sich selbst, um vor allem Herr über ihr eigenes Leben zu werden.
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Auf rein theoretischer Ebene trifft sich Foucault hier mit den Überlegungen Sartres. Dieser lehnt wie Foucault sowohl die Subjekt-Objekt-Relation ab wie auch die Behauptung, es gäbe einen zu erforschenden, vorbewussten Bereich (vgl. Sartre 1997, 86 und 91). Foucault hat diese theoretische Nähe seiner Ethik zu Sartres Subjekt-Theorie mit dem Argument zurückgewiesen, bei Sartre sei die Arbeit an sich selbst mit dem Gedanken der Authentizität des Subjekts verbunden, wovon er sich strikt abgrenzen wolle (vgl. Schriften 4, 474 und 758). Trotz dieser theoretischen Nähe gibt es keine Übereinstimmungen im Rahmen der praktischen Philosophie. Foucault propagiert mit der Selbstsorge keinen radikalen Dezisionismus wie Sartre.
3.3 Selbstsorge als Selbstpraktik
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3.3.2 Formen der Problematisierung Die Beschäftigung mit der eigenen Existenz kreiste in der Antike um vier Formen der Problematisierung eigener Gelüste: 1. Aphrodísia (=ethische Substanz) 2. Chrêsis (=Unterwerfungstyp) 3. Enkráteia (=Haltung) 4. Freiheit und Wahrheit
Diese vier Arten der Problematisierung des Selbst stellt Foucault in Sexualität und Wahrheit 2 anhand des Verhältnisses zum eigenen Körper, zur Führung der eigenen Familie und der pädophilen Homosexualität dar. Aphrodísia. Mit dem Begriff der Aphrodísia sind allgemein die „Gelüste“ gemeint aber auch die sexuellen Triebe im Besonderen. In der Sorge um sich musste das Individuum die eigenen Gelüste reflektieren, aber sie wurden nicht analytisch behandelt. Man trennte nicht in Begehren - Akt - Vergnügen. In der Sorge um sich wurden die eigenen Gelüste in erster Linie unter einem dynamischen Aspekt betrachtet und nicht hinsichtlich der Frage, ob beispielsweise das Begehren vertretbar sei, der entsprechende Vollzug dagegen nicht mehr etc. Die eigenen Gelüste waren zunächst moralisch unverdächtig. Die Dynamik der eigenen Gelüste konnte quantitativ betrachtet werden. Diese Betrachtung beinhaltete die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt für die eigenen Gelüste, wie auch die Frage nach dem richtigen Maß, das von Aristoteles immer als Mittelmaß bestimmt wurde. Ein anderer Aspekt der Dynamik war die „Polarität“ (vgl. SW 2, 59): Für die Griechen war es von entscheidender Bedeutung, ob ein Mann eine 24 aktive oder passive Rolle einnahm. Auch unter dynamischem Aspekt waren die Gelüste Gegenstand von Bewertungen, denn Maßlosigkeit widersprach ebenso wie Passivität dem angestrebten aristotelischen Ideal der Ausgewogenheit. Die eigenen Gelüste waren aber fester Bestandteil der eigenen Natur und wurden für sich genommen nicht negativ bewertet. Chrêsis. Wichtig in der Selbstsorge ist die Frage nach dem richtigen Gebrauch der Gelüste (chrêsis aphrodisíon = Gebrauch der Lüste). Die Sorge um sich findet im Rahmen bestehender Sitten und Gebräuche statt und nimmt auf sie Rücksicht. Die eigenen Gelüste können nicht einfach gegen bestehende Sitten ausgelebt werden, aber man kann sich ihnen flexibel anpassen: 24
Hier spiegeln sich die fehlende Reziprozität und Symmetrie in den gesellschaftlichen Beziehungen der griechischen Antike wider. Diesen moralischen Mangel kritisiert auch Foucault. Obwohl er aus der antiken Ethik ein positives und innovatives Ethik-Konzept herausarbeiten will, urteilt er hart über die tatsächlich gelebte Moral der griechischen Antike (vgl. Schriften 4, 466ff.).
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3 Bildung durch Selbstsorge
„So verstanden, kann die Mäßigung keine Form von Gehorsam gegenüber einem System von Gesetzen oder einer Kodifizierung von Verhaltensweisen sein, sie kann auch nicht Auslöschung der Vergnügen begründen; sie ist eine Kunst, eine Praktik der Lüste, die sich derjenigen Vergnügen zu bedienen versteht, die auf dem Bedürfnis beruhen und damit sich selber zu beschränken weiß.“ (SW 2, 76).
Enkráteia. Mit diesem Begriff wird die innere Haltung bezeichnet, mit der man seinen eigenen Gelüsten begegnet. Foucault grenzt mit Aristoteles die Enkráteia von der Sophrosýne ab. Mit Enkráteia ist die aktive Selbstbeherrschung gemeint, die Sophrosýne meint dagegen die passive Angleichung. Die Beschäftigung mit den eigenen Gelüsten darf nicht in der Haltung der Sophrosýne geschehen. Das Individuum soll nicht Sklave seiner eigenen Begierden werden. Damit ist wieder keine Verleugnung, Ausrottung oder ähnliches gemeint, sondern die „heautokratische Struktur des Subjekts in der moralischen Praktik der Lüste.“ (SW 2, 94) Diese Beherrschung seiner selbst ist nicht durch Wissensanhäufung über sich selbst zu erreichen, sondern bedarf der Übung, des Trainings, der Gewissensprüfung etc. Freiheit und Wahrheit. Das moralische Ziel der Selbstsorge ist die Heautokratie, die Beherrschung seiner selbst. Sie dient der Erlangung einer neuen inneren Freiheit, die sich durch einen Wahrheitsbezug zu sich selbst einstellt, der nicht als Selbsterkenntnis missverstanden werden darf: „Das Verhältnis zur Wahrheit ist eine strukturelle, instrumentelle und ontologische Bedingung der Einrichtung des Individuums als eines mäßigenden und maßvoll lebenden Subjekts.“ (SW 2, 118)
Sich selbst zu beherrschen meint immer, einen wahren Bezug zu sich selbst zu pflegen. Der wahre Selbstbezug enthüllt eine innere Ästhetik, die nichts anderes als eine innere Ordnung der Seele selbst darstellt (vgl. SW 2, 119). In diesen vier Formen problematisierten die antiken Griechen Konflikte zwischen ihren individuellen „Gelüsten“ und den öffentlichen Verhaltenserwartungen. Anders als in späteren Jahrhunderten wurde laut Foucault also nicht ein moralisches Verbot oder Gebot rechtlich durchgesetzt. Öffentliche Verhaltenserwartungen wurden als ethische Probleme individuell behandelt. Das Beispiel der „Knabenliebe“ (Foucault) ist in diesem Zusammenhang besonders interessant, denn sie stellt laut Foucault bereits für die Griechen ein moralisches Problem dar. Insofern hat sich der Moral-Code von der Antike bis heute kaum geändert, wohl aber die Art der Problematisierung. Wer sich heute als Päderast bekennt wird als krank und gefährlich eingestuft. Übt er diese Neigung aus, drohen Strafe und/oder Therapie. Für die Griechen ergab sich die moralische Fragwürdigkeit nicht dadurch, dass es sich um eine „unnatürliche“
3.3 Selbstsorge als Selbstpraktik
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Neigung handelte, denn sie unterschieden nicht zwischen hetero- und homosexuellen Neigungen. Einzig entscheidend war für sie die Frage der Polarität: Wer ist aktiv, wer passiv? Das Männlichkeitsideal der Griechen verlangte die aktive Rolle, wodurch die Knabenliebe ein Problem darstellte, weil der Päderast den Knaben in ein nicht-reziprokes, passives Verhältnis manövrierte. Es stand im Widerspruch zum Moral-Code, dass ein Junge des aristokratischen Standes, aus dem später ein freier Bürger werden sollte, passives Lustobjekt sein konnte (vgl. Schriften 4, 466; Nussbaum 2002, 196f.).25 Statt dieses Problem zu Moralisieren, gingen sie dazu über, den Päderasten zur Mäßigung seines Triebes anzuhalten. Der umworbene Adoleszente war als Aristokrat selbstverständlich vollkommen frei, eine Beziehung einzugehen, aber für ihn war es ausgesprochen schändlich, wenn er seinen Körper anbot. Jede Form von Penetration war verboten, da sie den Adoleszenten in die passive Rolle drängen würde (vgl. SW 2, 273ff.), an die er sich als zukünftiger aktiver Bürger nicht gewöhnen sollte. Der Päderast sollte einen maßvollen Umgang mit seinen Gelüsten pflegen (vgl. Schriften 4, 471f.). Um die Knabenliebe herum entwickelte sich so ein ausgefeiltes und stilisiertes gesellschaftliches Spiel zwischen Erwachsenen und Jungen, in dem der Erwachsene nur in geringem Maße seine Gelüste körperlich befriedigen konnte und der Junge immer gemäß seines Standes aktiv und frei handeln konnte. Foucault will an diesem Beispiel zeigen, dass soziale Konflikte innerhalb eines Moral-Codes gelöst werden können, ohne dass moralisch-rechtliche Sanktionen durchgesetzt werden müssen. 3.3.3 Heautokratie – Ethik und Politik Die Sorge um sich war in der griechischen Antike eingebettet in einen moralisch-politischen Zusammenhang, was ansatzweise für die sokratische Paideia und ausdrücklich für die platonische gilt. Die Verbesserung seiner selbst war nicht nur Selbstzweck, sondern stellt in der sokratischen wie platonischen Paideia eine moralische Forderung dar. Sie war für die Griechen als Ethik mit der Politik kausal und logisch verknüpft. Derjenige, der gelernt hatte, sich um sich selbst zu kümmern, war nach antiker Auffassung in der Lage, moralisch und politisch richtig zu handeln. Durch die Selbstsorge sollte das Individuum die innere Freiheit erlangen, nicht mehr Sklave seiner eigenen Triebe zu sein. Damit war die Hoffnung verbunden, dass der Machttrieb im Subjekt gezügelt werden 25 Im antiken Rom wurden die Knaben zunehmend aus dieser Praxis ausgenommen. Die Päderasten bedienten sich häufiger ihrer Sklaven (vgl. SW 3, 243ff.). Zum aktiven und passiven Rollenverständnis bei den Griechen vgl. Sennett 1997, 59ff.
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würde. Wer seine innersten Gelüste beherrschen konnte, war demnach auch in der Lage, Fremdherrschaft besonnen und richtig auszuüben. So war die Selbstsorge in der sokratischen und platonischen Paideia mehr als nur Ästhetik der Existenz. Bei Platon war sie darüber hinaus eingebunden in eine umfassende Metaphysik. Wenn die richtige Fremdbeherrschung Selbstbeherrschung zur Voraussetzung hat, dann muss erklärt werden, worin die damit verbundene Selbsterkenntnis besteht und wie sie möglich ist. Wenn das Ziel die Ausübung politisch richtiger Handlungen sein sollte, dann mussten diese richtigen Handlungen begründbar sein, um sie von den falschen sicher abgrenzen zu können. Die platonische Ideenlehre konnte das leisten. Durch sie wurden das „Gute“ und das „Gerechte“ nicht mehr dem bloßen Machtwillen überlassen, sondern zu erkennbaren Objekten. Die Selbstsorge sollte den Weg zur Erkenntnis dieser höchsten Tugenden garantieren, welche später auch das richtige politische Handeln anleiten würden. Wer diesen Weg nicht geht, der läuft nach Sokrates Gefahr, sich nur von seiner eigenen Unwissenheit leiten zu lassen, die immer Unrecht hervorbringen kann und Recht bestenfalls durch Zufall. Die Ethik der Selbstsorge war vor allem der Versuch, Recht und Gerechtigkeit philosophisch zu begründen. Foucault will die Sorge um sich sowohl systematisch wie auch historisch 26 aus diesem Begründungszusammenhang herauslösen. In seiner Darstellung setzt er die Sorge um sich explizit von moralischen Rechtfertigungen für individuelle Handlungen ab: „In dieser Moral konstituiert sich also das Individuum nicht dadurch als ethisches Subjekt, daß es die Regel seiner Handlungen verallgemeinert [wie bei Kant, A.V.]; sondern im Gegenteil durch eine Haltung und eine Suche, die seine Handlungen individualisieren und modulieren und ihr sogar einen einzigartigen Glanz geben können, indem sie ihr eine rationale und reflektierte Struktur verleihen.“ (SW 2, 82f.)
Trotz der Abgrenzung von der legitimierenden Rolle der Selbstsorge weist Foucault immer wieder darauf hin, dass sie im Zusammenhang mit der Moral steht. Die Mäßigung und Beherrschung seiner selbst ist immer auch moralische Askese (=Übung). So kommt Foucault regelmäßig auf den Zusammenhang von Politik und Ethik zu sprechen:
26 P. Hadot, von dem Foucault selbst die entscheidenden historischen Anregungen für seine Untersuchungen erhalten hat, kritisiert diesen Ansatz in beiderlei Hinsicht (vgl. Hadot 1991, 219ff.; Hadot 2005, 170ff.). Grundsätzlich stimmt er mit Foucault darin überein, dass die antike Ethik eine philosophische Lebensform beschreibt, die im Zuge des Christentums und der Aufklärung verloren gegangen ist (kritisch zu dieser These: Horn 1988, 12ff.).
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„Die moralische áskesis gehört zur paideia des freien Mannes, der in der Polis und gegenüber den anderen eine Rolle zu spielen hat; sie hat keine anderen Verfahren anzuwenden.“ (SW 2, 101f.)
Ihm kommt es zwar vornehmlich darauf an, die Selbstbeherrschung und die Selbstpraktik als eigenständige Praxis gegenüber moralischen Forderungen zu etablieren27, trotzdem befürwortet er den kausalen Zusammenhang von Ethik und Politik immer wieder. Teilweise bejaht er ihn ausdrücklich. In einem Interview wurde er gefragt, ob nicht die Gefahr bestünde, die Sorge um sich zu verabsolutieren und sich damit von der „Sorge um die anderen“ zu entfernen. Würde eine solche Verabsolutierung der Selbstsorge also nicht zu Selbstherrlichkeit und letzten Endes zur Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen führen? Der Interviewer fragte hier eindeutig nach der Möglichkeit antimoralischer Folgen der Selbstsorge. In seiner Antwort schließt Foucault die Möglichkeit kategorisch aus: Wer wirklich um seine Fähigkeiten, Wünsche und Ängste wisse, der laufe auch nicht mehr Gefahr, gegenüber anderen tyrannisch zu werden (vgl. Schriften 4, 885). Foucault will der Selbstsorge sowohl einen positiven ethischen (Vervollkommnung) als auch einen moralischen (gutes und gerechtes Verhalten) Effekt zusprechen, ohne einen philosophischen oder auch religiösen Hintergrund zu bemühen. Ohne solche universalen Ordnungsmuster soll die Ethik der Selbstsorge als Selbstbildung eine eigene innere Ordnung erschaffen, die nur durch regelmäßige Arbeit an sich selbst gelingen kann (vgl. Gros 2004, 648). Das Ziel der Selbstbeherrschung wird nicht als innerer Sieg, innere Unterdrückung verstanden, wie es Foucault zufolge später in der christlichen und modernen Moral gedacht werden wird, sondern in der Form des Besitzes. Man ist Herr seiner eigenen inneren Welt (vgl. SW 3, 90). Ein ethisches Leben zu führen bedeutet, in bestehenden rechtlich-moralischen Verhältnissen den eigenen freien Spielraum zu reflektieren und zu nutzen. Die Ethik ist für Foucault die „reflektierte Praxis der Freiheit“ (Schriften 4, 879). Statt moralisierend negative Seiten der eigenen Individualität oder auch der gesellschaftlichen Verhältnisse zu kritisieren, was für Foucault immer bedeutet, diese beseitigen zu wollen, kommt es seiner Meinung nach vielmehr darauf an, die praktische Möglichkeit der Freiheit zu suchen (vgl. Schriften 4, 877). Diese positiv beschriebene Selbstbeherrschung setzt Foucault in seiner Beschreibung der Problematisierung der 27
Bei Kant heißt es hierzu: „Die Denkungsart der Vereinigung des Wohllebens [Glückseligkeit, A.V.] mit der Tugend im U m g a n g e ist die H u m a n i t ä t. Es kommt hier nicht auf den Grad des ersteren an; denn da fordert einer viel, der andere wenig, was ihm erforderlich zu sein dünkt; sondern nur auf die Art des Verhältnisses, wie die Neigung zum ersteren durch das Gesetz des letzteren eingeschränkt werden soll.“ (ApH, B 244, A 245; Sperrung im Original) Für Kant bleibt die Sorge um das eigene Wohlbefinden sekundär gegenüber der moralischen Pflicht.
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Ehe in der Antike wieder ausdrücklich parallel zum zwischenmenschlichen Verhältnis: Wer Herrscher seiner eigenen Gelüste ist, der will andere nicht beherrschen. Die Heautokratie zieht seiner Meinung nach Symmetrie und Reziprozität automatisch nach sich, ohne sie moralisch einzufordern. Es kommt zur „Aufwertung des Anderen“ (SW 3, 195) Inwieweit seine systematische Auffassung über die Selbstsorge berechtigt ist, wird unter 3.5 genauer untersucht. Foucaults historische These, die Sorge um sich mit dem Ziel der Selbstbeherrschung sei in der späteren griechischrömischen Antike reiner Selbstzweck gewesen, lässt sich kaum aufrecht halten. Hinter der Aufforderung, Herrscher seiner selbst zu sein verbarg sich ganz wesentlich der politische Umstand, dass alle männlichen Bürger in einer griechischen Polis verpflichtet waren, ihre Polis zu verteidigen. Alle Bürger waren Bürger-Soldaten und mussten sich als Soldaten in körperlicher Abhärtung und Verzicht üben, um für den Kampf gerüstet zu sein (vgl. hierzu Detel 1998, 159ff.). Selbstbeherrschung stellt sich vor diesem Hintergrund in erster Linie als schlichte Selbstdisziplinierung im militärischen Sinne dar und nicht als selbstgenügsames, ästhetisches Unterfangen (vgl. Winkler 1990, 178ff.). Foucault blendet solche historischen Zusammenhänge strikt aus, um die Ethik der Selbstsorge im Kontrast zur christlichen und modernen Moral darstellen zu können. Wie schon für seine genealogischen und diskursanalytischen Arbeiten, gilt auch für seine Beschäftigung mit der antiken Ethik, dass sich eine ganze Reihe historischer Einwände finden lassen. Aber auch hier handelt es sich im Wesentlichen um eine negative Fabel, die vor allem bestehende moralische Gewissheiten erschüttern soll. Trotzdem gehen seine Arbeiten zur antiken Ethik nicht in der Aufgabe der Relativierung und Historisierung auf (vgl. Nussbaum 1999, 256f.), sondern stellen auch einen positiven Entwurf dar. Seine Ethik der Selbstsorge muss unabhängig von historischen Einwänden als eigenständiges Konzept behandelt werden. 3.4 Selbstsorge als soziale Praxis Die Sorge um sich markiert in Foucaults Theorie den Bereich, in dem sich das Individuum aktiv bilden kann. Durch Hinwendung zu sich selbst ist es in der Lage, eine positive innere Freiheit zu entwickeln. Diese innere Freiheit, die Heautokratie, wird von Foucault nicht als Selbstbindung des Willens an eine rationale Einsicht wie beim Konzept der kantischen Autonomie beschrieben. Die Heautokratie meint den souveränen Umgang mit eigenen Wünschen, Begierden und Antrieben, der gleichzeitig eine Quelle der Befriedigung bzw. des Lustge-
3.4 Selbstsorge als soziale Praxis
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winns ist. Bildung wird hier verstanden als Verbesserung hin zur Meisterschaft in der Ausübung der eigenen Fähigkeiten und nicht hin zum moralisch-politisch besseren Menschen. Um sich seiner eigenen Fähigkeiten bemeistern zu können, muss das richtige Maß getroffen werden, das die Meisterschaft als solche auszeichnet: „Die mesotes, die feine Linie des richtigen Maßes, ist nicht die schwächliche Mittelmäßigkeit, die sich vor der Kraft fürchtet, sondern die wahre, zielvolle Leistung. Der reine Ton, den ich singe, ist der schwerst zu findende und das beglückende Wunder im Gesang.“ (Nohl 1958, 82)
Bildung ist der Weg zu einem erfüllten Leben, das in seiner eigenen Ästhetik genossen werden kann. So gebildet ist das Individuum frei von falschem Ehrgeiz und Furcht vor der Zukunft (vgl. SW 3, 82). Die Herauslösung der Sorge um sich aus der antiken Paideia macht Foucault im Laufe des 1. und 2. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung aus, wo er die öffentliche Institutionalisierung der Selbstsorge verortet, die seiner Einschätzung nach vornehmlich als Selbstzweck durchgeführt wurde (3.4.1). Die Selbstsorge wurde zu einer durchgehenden sozialen Praxis, die in zwei Formen institutionalisiert wurde. Die eine ist die schulische Form, die sich dadurch auszeichnete, dass die Orientierung an Standesunterschieden aufgehoben wurde (3.4.2). Die andere ist die persönliche Beziehung, in der sich zeigt, dass die Selbstsorge als Seelenleitung oder Lebensberatung immer auf einen Lehrer bzw. Meister angewiesen ist. Die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler ist dabei von herkömmlichen Lehrer-Schüler-Verhältnissen abzugrenzen, da sie einen anderen Umgang mit der Frage nach der Wahrheit pflegen muss (3.4.3). 3.4.1 Verselbstständigung der Sorge um sich Die für die antike Paideia typische Verknüpfung von Ethik und Politik war an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Die Paideia mit ihrer Aufforderung zur Selbstsorge hatte aufgrund der damaligen Gesellschaftsstruktur aristokratische Züge. Es war ausschließlich der jeunesse dorée vorbehalten, sich im Alter der Politik zu widmen. Die Selbstsorge war entsprechend nur für diesen kleinen Kreis der gebildeten Oberschicht relevant, die entsprechend Zeit für die Selbstsorge aufbringen konnten und, wie bereits erwähnt, als potenzielle Soldaten auch mussten. Nur diese Schicht besaß die kulturellen und ökonomischen Voraussetzungen zur Ethik der Selbstsorge (vgl. HS, 105), die eine reine „Männermoral“ (SW 3, 97) war. Weiterhin arbeitet Foucault heraus, dass die Sorge um sich an
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ein spezielles pädagogisches Problemfeld gekoppelt war, dass er anhand von Platons Alkibiades darstellt. Alkibiades’ Lebensweg ist für ihn als jugendlichem Aristokraten vorgezeichnet: Er wird als Erwachsener in die Politik gehen. Zur Vorbereitung auf diese Aufgabe rät ihm Sokrates, sich um sich selbst zu sorgen. Hier taucht das pädagogische Problem des Übergangs von der Adoleszenz zum Erwachsenenalter auf. Die antike Paideia erkannte diesen Übergang als schwerwiegendes Problem, für das es keine institutionalisierte pädagogische Hilfestellung gab.28 Die Sorge um sich war ihre Antwort auf dieses Problem (vgl. HS, 118). Sie war die Ergänzung zur institutionalisierten Erziehung bis zur Adoleszenz, die vornehmlich für eine Grundbildung bestehend aus Lesen, Schreiben, Musik und Sport zuständig war (vgl. Prot 325f.). Bis zum 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. wandelt sich nun der Umgang mit der Selbstsorge, die als eigenständige soziale Praxis etabliert wird (vgl. SW 3, 71). Sie wird auch den aristokratischen Charakter hinter sich lassen und altersübergreifend auftreten, also den speziellen pädagogischen Aspekt hinter sich lassen und insgesamt eine therapeutische Wendung nehmen. Für die von Foucault untersuchte historische Epoche ist charakteristisch, dass das antike griechische Weltbild, geprägt von rationalistischer Philosophie und Glauben an die olympischen Götter, bereits Vergangenheit war und das Christentum sich noch nicht als monotheistische Staatsreligion durchgesetzt hatte. Das hatte für Religion und Philosophie entsprechende Auswirkungen: „Die im frühen Hellenismus folgenden Systeme der Stoiker und Epikureer bedeuten den Wendepunkt und zeigen den Abstieg von der schöpferischen Macht jener Periode. Die Philosophie wird eine Sammlung von Lehrsätzen und beschäftigt sich, obwohl sie auf einer bestimmten Vorstellung von Welt und Natur beruht, in erster Linie damit, das menschliche Leben durch philosophische Belehrung zu lenken und ihm eine innere Sicherheit zu verleihen, die nicht mehr in der Außenwelt gewonnen werden kann.“ (Jaeger 1963, 31)
Verbunden mit dieser allgemeinen Tendenz zur religiösen Sinnsuche war ein merklicher Verfall der philosophischen Bildung:
28 Für die adoleszenten Aristokraten ergab sich zusätzlich das Problem, dass sie von den erwachsenen Männern nicht mehr als begehrenswert wahrgenommen wurden. Mit dem Ende der homoerotischen Beziehungen zu älteren Männern verloren sie persönliche Begleiter und Vorbilder. Die Beziehungen zwischen Männern und Knaben waren immer auch verbunden mit einer Einführung der Knaben in das öffentliche Leben, das mit einem Initiationsritus abgeschlossen wurde (vgl. Halperin 1990, 55ff.). Die weitere Orientierung im öffentlichen Leben musste in der Übergangszeit von den Adoleszenten selbst bewerkstelligt werden.
3.4 Selbstsorge als soziale Praxis
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„Das eigentliche philosophische Fachstudium wurde mehr und mehr zur esoterischen Domäne einiger weniger gelehrter Kommentatoren, deren riesige Werke niemand las. Zur Zeit Ciceros zum Beispiel konnte, wie er mit wahrscheinlich nur leichter Übertreibung angibt, kein griechischer Philosoph den Aristoteles verstehen. Die philosophische Bemühung musste in ihrer literarischen Form sich dem Verständnis des lesenden Publikums anpassen. So wich die Darbietung in systematischem Zusammenhang mehr und mehr dem Essay oder der volkstümlichen Diatribe mit dem Schwergewicht auf theologischen Fragen.“ (Jaeger 1963, 32)
Die von Foucault herangezogenen Autoren wie Epiktet, Aurel, Plutarch und andere folgen dieser Tendenz. Im Zentrum steht die Frage nach dem persönlichen Glück, teilweise sogar verknüpft mit einer expliziten Ablehnung politischer Aktivitäten. In dieser Zeit des religiösen und metaphysischen Leerlaufs verschiebt sich das allgemeine Interesse aufs Private.29 Diese Verschiebung untersucht Foucault jedoch explizit nicht in ihrer religiösen Ausrichtung. Die allgemeine Hinwendung zum Privaten in Form der Selbstsorge deutet er als Öffnung des Konzepts, durch die die Selbstsorge ihren elitären Charakter verliert. Sie ist nicht länger beschränkt auf eine gebildete Oberschicht, die sich um sich selbst sorgen konnte, weil sie sonst keine Probleme hatte. Ebenso verliert sie ihre Einbettung in die Paideia: „Die Sorge um sich war nicht mehr diese Art Angelpunkt zwischen Erziehung durch Pädagogen und dem Erwachsenenleben, vielmehr war sie jetzt so etwas wie ein sich durch das ganze Leben ziehender Anspruch [...].“ (HS, 164)
Durch die Ausblendung des Aspekts der religiösen Sinnsuche kann Foucault sagen, die Selbstsorge sei in dieser Zeit reiner Selbstzweck geworden, der sich aus der platonischen Verklammerung von Ethik und Politik befreit hatte (vgl. HS, 114). Erst später sei durch das Christentum die Selbstsorge zur allgemeinen moralischen Pflicht zwecks Offenbarung der Wahrheit geworden bzw. in der Neuzeit von Kant als kategorische Pflichten gegen sich selbst gedeutet (vgl. GMS, BA55), womit Kant vor allem die moralische Pflicht meint, die eigenen Talente nicht verkümmern zu lassen. In der Übergangszeit zum Christentum sei die Selbstsorge dagegen noch kein universelles Gesetz gewesen (vgl. HS, 149). Wie Foucault jedoch selbst sagt, war diese Zeit geprägt von rivalisierenden religiösen Kulten und Sekten, die mit einer bestimmten philosophischen Ausrichtung (z. B. Neuplatoniker, 29
Brown, auf den sich Foucault bezieht (vgl. Schriften 4, 663), schätzt den Übergang vom römischen Reich zum Christentum anders ein: Die Zeit bis zum 2. Jhr. n. Chr. war demnach keine Epoche des sozialen Verfalls, sondern eine kreative Phase (vgl. Brown 1986, 19ff.; für die Zurückweisung der These von der metaphysischen und religiösen Leere vgl. Brown 1986, 31ff.).
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Stoiker etc.) um Mitglieder warben. Die Selbstsorge war für alle Gruppen fester Bestandteil der Sinnsuche. Ein Aspekt, den Foucault zur Bekräftigung seiner These anführt, sind die grundlegenden Veränderungen auf politischer Ebene. Nach dem Zerfall der griechischen Stadtstaaten ab dem 3. Jhr. v. Chr. bis zum imperialen römischen Reich verlor der aristokratische Stand seinen traditionellen Platz innerhalb der Gesellschaft. Es wurde eine neue Form von Verwaltungsapparat eingeführt, der eine „Dienstaristokratie“ (SW 3, 114) benötigte. Vor diesem Hintergrund erscheint die Hinwendung zur individuellen Ethik mehr als notwendige Veränderung zur Erfüllung neuer Aufgaben denn als Form religiöser Sinnsuche mit der Tendenz zur Abwertung politischen Handelns (vgl. SW 3, 117). Die Sorge um sich wurde laut Foucault auf zwei Arten zum allgemeinen sozialen Phänomen. Zum einen traten bestimmte „schulische“ Formen auf. Die Institutionalisierung durch öffentliche Schulen, Kultgemeinschaften und Sekten nennt er die hellenistische Form. Die andere Form, die durch einen individuellen Klientenbezug definiert ist, nennt er die römische Form (vgl. HS, 177). 3.4.2 Gemeinschaftliche Selbstsorge Die Öffnung der Selbstsorge illustriert Foucault unter anderem an Epiktets Schule, die teilweise in der bis heute typischen Form der Schule arbeitete. Sie besaß aber auch eine „offene Abteilung“, die für Erwachsene gedacht war (vgl. SW 3, 72). Hier konnten Erwachsene für einige Tage oder auch mehrere Wochen an der Schule teilnehmen und sich unter Anleitung des Lehrers um sich selbst sorgen (vgl. HS, 121f.). Neben solchen öffentlichen Einrichtungen, die wie Epiktets Schule stoizistisch geprägt waren, gab es auch Bruderschaften bzw. Freundeskreise, die sich am epikureischen Ideal der Freundschaft orientierten. Diese freundschaftlichen Gemeinschaften negierten explizit Standesunterschiede und waren für jedermann offen (vgl. HS, 153). Als weiteres Beispiel führt Foucault die „Therapeuten“ an, eine Gruppe, die in Vorstädten von Alexandrien in kleinen Gärten gemeinschaftlich lebten und ebenfalls für jeden offen waren. Neben religiösen Kulten sorgten sie sich auch um die Pflege und Bildung von Körper und Geist (vgl. HS, 154f.): „Die Sorge um sich ist an bestimmte Praktiken gebunden bzw. an die Organisation einer frommen Gemeinschaft, einer Bruderschaft, einer Schule oder Sekte.“ (HS, 150)
3.4 Selbstsorge als soziale Praxis
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Diesen Gruppen, die unterschiedliche philosophische und religiöse Ansichten vertraten, war eine egalitäre Einstellung gemein. Auch Frauen und Sklaven konnten in diesen Gruppen ihre Selbstsorge betreiben. Der in der platonischen Paideia verankerte Glaube, die Fähigkeit zur Selbstsorge sei mit dem jeweiligen gesellschaftlichen Stand verbunden, wird in diesen Gruppen zurückgewiesen. Statt einer vertikalen Differenzierung tritt nun eine horizontale Differenzierung in Kraft und es herrscht der Glaube, dass prinzipiell jeder das Recht habe, sich um sich selbst zu kümmern, so lange er dazu ökonomisch in der Lage ist. Ob es dem Individuum aber wirklich gelingt, einen Zustand der Heautokratie zu erreichen, wird sich im Prozess erst zeigen. Erfolg und Misserfolg sind naturgegeben und nicht standesabhängig. Dieser Aspekt findet sich später im Christentum wieder, wenn jeder zur Selbstprüfung aufgefordert ist, aber niemandem die Erlösung garantiert werden kann: „Universalität des Aufrufs und Seltenheit des Heils“ (HS, 159). Man kann das individuelle Heil niemandem versprechen, die Suche danach aber keinem verwehren. Mit der Öffnung dieser Gruppen für Menschen jeden Alters verändert sich das Ziel der Selbstsorge. In der antiken Paideia war sie eine Ergänzung der Erziehung, die für Erwachsene keine Relevanz hatte. Nun wird aus der Selbstsorge Selbstumbildung statt Selbstbildung und mit zunehmendem Alter rückt die korrigierende und kritische Rolle der Sorge um sich weiter in den Mittelpunkt: „Verbesserung/Befreiung viel mehr als Bildung/Wissen: Dies ist die Entwicklungslinie der Selbstpraxis [...].“ (HS, 127) Die Sorge um die eigene Seele hat im Alter eine therapeutische Funktion, die in Analogie zur medizinischen Behandlung des Körpers gesetzt wird. Es handelt sich um eine gemeinschaftliche Praxis als „seelentherapeutische Ambulanz“ (HS, 133). Die Beschäftigung mit sich selbst im hohen Alter lässt die Ambivalenz des Alters hervortreten. In der hellenistischen Kultur wurde dem Alter traditionell ein hoher Wert zugesprochen, der mit Lebenserfahrung und Weisheit begründet wurde. Gleichzeitig steigt im Alter die körperliche Abhängigkeit von anderen. Der individuelle Lebensentwurf läuft in hellenistischer Tradition aber auf das reife Alter als erstrebenswertes Ziel hinaus, dass es zu genießen gilt. Deshalb muss man sich auch im Alter um sich selbst kümmern, um leben zu können, wie es das Alter vorgibt. Vergangener Jugend oder gar Kindheit nachzutrauern ist kontraproduktiv (vgl. HS 146). Die Sorge um sich hat in jedem Alter die Funktion, sein Leben so zu genießen, wie es die natürliche Entwicklung vorgibt. Die Tatsache des Todes zeigt die eigene Vergänglichkeit, was die Sorge um sich umso wichtiger macht: Die Kürze des Lebens verpflichtet zum ästhetischen Genuss des eigenen Lebens (vgl. Schriften 4, 755).
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3.4.3 Klientenbeziehung Neben der hellenistischen Form der schulischen Ausbildung entwickelte sich die römische Form der individuellen Beziehung zwischen einem Individuum, das für sich selbst sorgt und einem Meister bzw. Lehrer, der dem Individuum mit Rat und Tat zur Seite steht (vgl. SW 3, 72f.). Solche Beziehungen traten in unterschiedlichen Formen auf. Es gab regelrechte Berufsphilosophen, die ihre Seelsorge für Geld anboten und in ihrer Rolle als Seelsorger immer auch Vertreter einer bestimmten philosophischen Schule waren. Vor dem Hintergrund der von ihnen vertretenen Philosophie fungierten sie als Lebensberater. In dieser Funktion sahen sie sich dem Vorwurf ausgesetzt, sie würden aus ökonomischen statt philosophischen Motiven heraus handeln (vgl. HS, 195). Die Aufgabe der Berufsphilosophen wurde im Laufe der Zeit zunehmend auch von guten Freunden übernommen, in diesen frei gewählten Beziehungen bleibt aber eine Asymmetrie zwischen Meister und Schüler bestehen. Foucault 30 schildert exemplarisch den Schriftverkehr zwischen Marc Aurel und seinem Rhetorik-Lehrer Fronto. Aurel gibt gegenüber Fronto regelmäßig schriftlich Rechenschaft über seinen Alltag ab und reflektiert gewissenhaft die für die Selbstsorge typischen Themen: den Umgang mit dem eigenen Körper (Diätik), die Arbeit im eigenen Haus (Ökonomik) und die eigene Sexualität (Erotik) (vgl. HS, 208). Die römische Form der Institutionalisierung zeigt deutlich, worin der soziale Aspekt der Selbstsorge besteht: Sie ist auf einen anderen Menschen angewiesen, der die Sorge um sich begleitet, so wie auch die Wissensvermittlung und die Erziehung auf einen Lehrer angewiesen sind: „Die Konstituierung eines Selbstverhältnisses verbindet sich ganz offensichtlich mit den Beziehungen seiner selbst zu anderen.“ (HS, 200)
Ein Lehrer in der Rolle eines Lebensberaters oder Seelsorgers muss aber eine besondere Beziehung zu seinem Klienten aufbauen. Foucault grenzt diese Beziehung von drei typischen Lehrer-Schüler-Beziehungen ab, in denen der Lehrer eine Vermittlerrolle innehat. Einerseits kann der Lehrer ein für den Schüler erstrebenswertes – oder abschreckendes – Vorbild sein. Weiterhin kann der Lehrer aufgrund seiner inhaltlichen Kompetenz den Schüler führen, wobei vornehmlich die Vermittlung von Fachwissen und Können im Mittelpunkt steht. Schließlich kann der Lehrer in einer sokratischen Funktion auftreten. Hier geht es um die 30
Zum Thema Schriftverkehr vgl. Schriften 4, 507ff. und 863f.
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Verunsicherung bestehender Meinungen des Schülers, um wahres Wissen zu entdecken. Alle drei Formen der Anleitung des Schülers beziehen sich auf ein Zusammenspiel von Nichtwissen und Erinnern. Sie arbeiten mit dem Gedächtnis des Schülers, wie Foucault sagt (vgl. HS, 168), denn er soll sich zukünftig an erlebte Vorbilder, erworbene Kompetenzen und die eigene Fehlbarkeit als Grundlage neuen Wissens erinnern. Die Notwendigkeit eines Anderen zur Erlangung neuen Wissens wird insbesondere in der sokratischen Beziehung deutlich, in der neues Wissen und Können erst in der Interaktion mit dem Lehrer erlangt wird. Die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler in der Selbstsorge beruht, wie auch in den drei genannten Beziehungsformen, auf einem Wissengefälle, das Grundlage der Beziehung ist. Im Falle der Selbstbildung ist es eine tatsächliche Unwissenheit, im Falle der Umbildung durch Selbstsorge im Alter handelt es sich um Unwissenheit aufgrund von „Verbildung“. Aber der Lehrer vermittelt weder neue Einsichten, noch liefert er ein Rollenvorbild. Die mit der Sorge um sich verbundene Selbstveränderung, die Transformation der Seinsweise, zielt nicht auf das Gedächtnis. Der Lehrer wird in seiner Funktion als Lebensberater bzw. Seelsorger zum reinen Wirkelement im Prozess der Umbildung. Er erkennt im Schüler die fehlende Beziehung zu sich selbst und hilft ihm, sich zu sich selbst hinzuwenden: „[...E]s geht um ein bestimmtes Einwirken auf das Individuum, dem die Hand gereicht wird und das aus dem Zustand des Stultus, der Lebensweise, der Seinsweise, in der es sich gegenwärtig befindet, herausgeholt wird [...].“ (HS, 175)
Mit „Stultus“ bezeichnet Seneca einen zerstreuten, einfältigen Menschen, dessen Leben verrinnt, weil er sich nicht auf sich selbst beziehen kann; „stultitia“ meint, der äußeren Welt verfallen zu sein, sich vom äußeren, öffentlichen Leben gefangen nehmen zu lassen. Die Frage ist, wer zu einer solchen geistigen, spirituellen Führung in der Lage ist. Die typische Antwort in der hellenistischen und römischen Antike war, wie die verschiedenen Formen der Institutionalisierung der Selbstsorge zeigen, der Philosoph,. Später konnte die Selbstsorge zwar auch von anderen Personen begleitet werden, aber das Aufsuchen eines anderen blieb obligatorisch (vgl. SW 3, 73). Nach Foucault ist diese Beziehungsform von den anderen genannten drei Formen durch einen ganz wesentlichen Unterschied getrennt. Diesen Unterschied macht er mit dem Begriff der „Parrhesia“ deutlich. Das Wort lässt sich mit „Freimütigkeit“ übersetzen, meint im Zusammenhang mit der Sorge um sich aber auch eine Interaktionstechnik des Lehrers. Will der Lehrer eine Seinsveränderung bei seinem Klienten erreichen, so muss er immer wieder sein Wissen und
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seine Erkenntnisse über den Klienten diesem mitteilen. Im Rahmen seines Wissensvorsprungs muss er das, was dem Individuum bei der Selbstveränderung hilft, auch sagen. Die Parrhesia ist in Foucaults Darstellung eine Umkehrung dessen, was er an den Beziehungen zwischen Experten und ihren Klienten ab der Neuzeit kritisiert: Es ist nicht mehr der Klient, der sich vor dem Hintergrund des Expertenwissens verteidigen muss, weil er zur Wahrheit, im Sinne von Aufrichtigkeit, verpflichtet ist (siehe 2.1.4). In der Parrhesia ist es der Lehrer, der die Wahrheit sagen muss. Die Parrhesia als „Wahr-Sprechen des anderen“ hat deutliche Parallelen zur Rhetorik, die der Überredung des anderen dient. Die Parrhesia hingegen soll nicht nur die Meinung ändern, sondern darüber hinaus die Seinsweise des Subjekts. Die Seinsveränderung wird nicht durch Überredung bewerkstelligt, sondern durch die Aufnahme der Wahrheit über sich selbst durch das betreffende Individuum. Das setzt beim Schüler die Fähigkeit des Schweigens voraus, wenn 31 der Lehrer redet. Er muss in der Lage sein, die wahre Rede des Lehrers über sich schweigend in sich aufzunehmen. Foucault nennt die Parrhesia deshalb auch eine „nicht-rhetorische Rhetorik“: „Damit das Schweigen des Jüngers ein fruchtbares Schweigen ist, damit sich die wahren Worte des Meisters wirksam auf den Grund dieses Schweigens senken können und damit der Jünger aus diesen Worten seine eigene Sache machen kann, so daß er eines Tages fähig ist, selbst Subjekt der Veridiktion, des Wahr-Sprechens zu werden, darf die vom Meister angebotene Rede keine künstliche, keine fungierte sein, es darf keine Rede sein, die den Gesetzen der Rhetorik folgt und in der Seele des Jüngers lediglich auf pathetische Effekte abzielt; es darf keine betörende Rede sein.“ (HS, 449)
Auch wenn die Parrhesia wie eine moralische Forderung an den Lehrer klingt, will Foucault sie selbstverständlich als reine Technik verstanden wissen, die allein Selbstveränderung herbeiführen kann. 3.5 Ethisch-ästhetische Bildungsprozesse Foucaults Ethik ist keine Moralphilosophie, die im modernen Sinne untersuchen soll, welchen Geltungsanspruch moralische Urteile beanspruchen können oder wie moralische Urteile zu begründen sind. Sie ist eine Ethik, die sich um die individuelle Lebensführung bemüht. Diese Ethik ist gleichzeitig eine Ästhetik, 31
Zu Foucaults Wertschätzung des Schweigens vgl. Schriften 4, 641ff.
3.5 Ethisch-ästhetische Bildungsprozesse
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weil sie die individuelle Lebensführung als frei gewählte und zu genießende künstlerische Gestaltung des eigenen Lebens beschreibt. Abschließend soll untersucht werden, wie solche ethisch-ästhetischen Bildungsprozesse interpretiert werden können. Dafür wird das ethisch-ästhetische Bildungskonzept zunächst zusammengefasst (3.5.1). Will man Foucaults Ethik als kritische Bildungstheorie interpretieren, d. h. als den Bereich innerhalb seiner Theorie, in dem das Individuum Veränderungsmöglichkeiten besitzt, die positive Auswirkungen das soziale Zusammenleben haben sollen, dann bieten sich drei Interpretationsmöglichkeiten an, die den ethisch-ästhetischen Bildungsprozessen einen zunehmend stärkeren Geltungsanspruch zugestehen (3.5.2 bis 3.5.4). 3.5.1 Konzeption der Bildung In den frühen genealogischen und diskursanalytischen Arbeiten Foucaults fungiert das Individuum bereits als bildbares Subjekt. Es ist in diesen Arbeiten sogar beliebig veränderbar, da er die Geschichte der Denksysteme und Diskursformationen ohne Teleologie oder Anthropologie versucht zu beschreiben, wobei Foucaults Werk trotz allem in dieser Phase einen anthropologischen Standpunkt voraus setzt (vgl. Brinkmann 2004, 70ff.). Da Genealogie und Diskursanalyse nicht die subjektive Bedeutung von Diskursordnungen und Machtdispositiven untersuchen, kann man hier nicht von einer Bildungstheorie sprechen. Vielmehr handelt es sich um eine funktionale Beschreibung von Erziehungsprozessen, in denen Erziehung mit Konditionierung gleich gesetzt wird. Erst die spätere Ethik der Selbstsorge billigt dem Individuum aktive Bildungsprozesse zu. Wie gezeigt, grenzt sich dieses Konzept von einer ganzen Reihe theoretischer Zugänge ab. Eine Interpretation der Selbstsorge als Bildungstheorie muss dieses Konzept in die Pädagogik erst wieder re-importieren, da Foucault in seinen historischen Untersuchungen an der Abgrenzung zur antiken Paideia, vornehmlich der platonischen, festhält. Diese Abgrenzung muss er aus systematischen Gründen beibehalten, denn das Bildungssystem erscheint vor dem Hintergrund seiner eigenen genealogischen Arbeiten in erster Linie als Machtdispositiv, das mit der epistemischen Autorität von Erziehungsexperten arbeitet. Aus dem gleichen Grund muss er die Selbstsorge von psychologischen Therapien abgrenzen, wenn er die Selbstsorge in modernen Verhältnissen nicht wiederum als Normalisierungsmacht erscheinen lassen will. Mit diesen Abgrenzungen von humanwissenschaftlichen Konzeptionen geht die Ablehnung bestimmter philosophischer Konzeptionen einher. Auf theoreti-
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scher Seite stellt Foucault die Selbstsorge den erkenntnistheoretischen Entwürfen der Neuzeit gegenüber, die das Subjekt auf abstrakter wie auch praktischer Ebene von der objektiven Welt trennen. Die Selbstsorge betont hingegen die pragmatische oder auch praxeologische Seite der Bildung. Sich um sich selbst zu sorgen meint nicht, innerlich auf der Suche nach der eigenen Wahrheit zu sein, sondern soll pragmatisch als „Bemächtigung“ des eigenen Lebens verstanden werden. Auf praktischer Seite ist die Abgrenzung von modernen moralphilosophischen Vorstellungen zentral. Die Sorge um sich darf nicht als eine moralische Forderung an das Individuum verstanden werden, weshalb Foucault immer wieder betont, dass es sich vielmehr um „Techniken“ und „Praktiken“ handelt, die freiwillig gewählt werden können. Die freie Wahl ist hier strikt gegen alle Arten moralischer Sollsätze gedacht. Zwar wird mit der Selbstsorge eine Vervollkommnung des Subjekts angestrebt, nur ist diese nicht als moralisch gefordertes Ziel gemeint. Übrig bleibt ein schmales Bildungskonzept jenseits von Psychologie, Moral und Erkenntnis. Es ist hinreichend bekannt, dass man Bildungsprozesse nicht auf ihren kognitiven Aspekt reduzieren sollte (vgl. Benner 2005, 29ff.) und zwar unabhängig davon, ob man Foucaults Meinung bezüglich der Wissensvermittlung (siehe 3.1.1) teilt oder nicht. Bildungsprozesse, und mit ihnen auch die pädagogische Praxis, zu psychologisieren, wird innerhalb des pädagogischen Diskurses ebenfalls skeptisch betrachtet (vgl. Reichenbach/Oser 2002). Die Abgrenzung der Selbstsorge von moralischen Ansprüchen und Anforderungen ist erklärungsbedürftig und muss genauer ausgeführt werden. Hier spielt auch die Frage nach der politischen Relevanz solcher ethisch-ästhetischen Bildungsprozesse eine Rolle. Wie gezeigt, ist Foucault in diesem Punkt zwiespältig. Moral und Recht bieten in seinem Koordinatensystem keine Möglichkeit der Kritik, was impliziert, dass die Vermittlung von Moral und Recht keine Aufklärung bewirken kann. Die Ethik der Selbstsorge, verstanden als eine Ästhetisierung des eigenen Lebens, soll aber nicht nur als Selbstzweck betrieben werden, sondern auch politisch relevant sein. Die in der antiken Paideia vertretene Verknüpfung von Ethik und Politik genießt seine Sympathie, wobei Foucault der sokratischen Auffassung am nächsten steht. So ist auch sein Vorschlag zu verstehen, die Selbstsorge im Bildungssystem zu berücksichtigen. Auch wenn die ethisch-ästhetische Bildung auf theoretischer Ebene von moralischen Bildungsprozessen und moralisch-politischen Ansprüchen abgegrenzt werden soll, so soll sie pragmatisch mit ihnen verbunden bleiben. Gerade diese pragmatische Verbindung zu moralisch-politischen Veränderungsprozessen kann bestritten werden. So weist Rustemeyer darauf hin, dass bloße Selbstveränderung noch nicht implizieren muss, dass damit moralisch wünschenswerte
3.5 Ethisch-ästhetische Bildungsprozesse
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politische Veränderungen ausgelöst werden können (vgl. Rustemeyer 2004, 91). Rustemeyer argumentiert, dass hierfür ein Bezug zur Vernunft nötig ist, um der Selbstveränderung eine moralische Richtung zu geben, d. h., im Grunde müsste die Selbstsorge wie in der platonischen Paideia verstanden werden. Weil Foucault sie aber genau davon abgrenzen will, besteht sogar die Gefahr, dass solche ethisch-ästhetischen Bildungsprozesse nicht vor „ideologischem Missbrauch“ (Reichenbach 2004, 193) geschützt werden können bzw. davor schützen. Solche Fragen stellen sich nur dann, wenn man Bildung nicht allein als privates Unterfangen versteht, sondern mit dem Bildungsbegriff im klassischen Sinne einen kritischen und normativen Anspruch verknüpft (vgl. Mollenhauer 1968, 65). Wenn man Foucault zugesteht, dass er normative Aussagen ablehnt, weil sie seiner Meinung nach mit Machtproduktion identisch sind, bleibt nur der kritische Aspekt der Bildung übrig. Zu untersuchen ist hier, mit welchem Geltungsanspruch ein Konzept auftreten kann, dass eine kritische Haltung radikal als freiwillig zu erarbeitende Haltung versteht. Hierfür werden im Folgenden drei Interpretationsmöglichkeiten unterschieden. 3.5.2 Selbstsorge als Komplement Die unproblematischste Möglichkeit, Selbstsorge als kritisches Bildungskonzept zu verstehen, wäre, sie als Ergänzung zu bestehenden Bildungskonzepten aufzufassen. Der kritische Aspekt beschränkt sich dann einzig auf den Hinweis, dass mit der Selbstsorge etwas aufgenommen wird, das in herkömmlichen Bildungskonzepten vernachlässigt wird. Diese Interpretationsmöglichkeit gibt es auch auf philosophischer Ebene. Moderne Moralphilosophien beschränken sich seit Kant ausschließlich auf den Pflichtaspekt zwischenmenschlichen Handelns. Alle ethischen und ästhetischen Handlungen gelten seitdem als Privatsache und spielen deshalb in moralphilosophischen Reflexionen eine sekundäre Rolle. Hier liegt die entscheidende Differenz zwischen antiken Ethiken und modernen Moralphilosophien: Die Antike fragte nach dem Glück, die Moderne nach der Gerechtigkeit. Damit geht einher, dass die antiken Ethiken zwischenmenschliche Konflikte und moderne Moralphilosophien das individuelle Glück nur am Rande diskutieren (vgl. Tugendhat 1984, 44; ausführlich dazu Horn 1998, 192ff.). Foucaults Ethik wäre vor diesem Hintergrund als Ergänzung zur modernen Moralphilosophie zu verstehen, ohne dass sie deren Reflexion ersetzen könnte (vgl. Horster 1999, 109f.). Es findet sich auch die die negative Beurteilung, dass Foucaults Ethik keine Ergänzung
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darstellen kann, weil sie als ethisches Konzept zu abstrakt und undifferenziert angelegt ist (vgl. Krämer 1995, 238f.). Wenn man dem klassischen deutschen Bildungsbegriff eine kognitive, moralische, praktische und ästhetische Dimension zuspricht (vgl. Klafki 1996, 30ff.), dann drängt sich die ethische als komplementäre Dimension auf. Die Selbstsorge würde darauf hinweisen, dass die Beherrschung des eigenen Lebens mit dem Ziel der Erlangung einer inneren Vollkommenheit als individuelles, ethisches Ziel pädagogisch nicht vernachlässigt werden darf. Dieser Gedanke wurde bereits in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik entwickelt, wo darauf hingewiesen wurde, dass man verschiedene Typen pädagogischer Haltungen unterscheiden kann, die unterschiedliche Aspekte des Lebens betonen und beeinflussen. Die von Foucault für die Selbstsorge beschriebene Interaktionsform und der damit verbundene Bildungsaspekt finden hier bereits einen Platz. Foucaults Unterscheidung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses in der Selbstsorge ist rein formaler Natur. Wie gezeigt unterscheidet er einschließlich der Beziehung in der Selbstsorge vier Möglichkeiten einer bildenden Beziehung: Veränderung aufgrund der Vorbildfunktion, durch Wissensvermittlung, durch Verunsicherung und durch „Wahr-Sprechen des anderen“. Die Sorge um sich benötigt die zuletzt genannte Form der Beziehung die vom Schüler freiwillig eingegangen wird. Ein Zwangsverhältnis steht per Definition im Widerspruch zur Selbstsorge, da sich das Individuum um sich selbst sorgen soll, wozu der Lehrer nur als Instrument dienen kann. Der Lehrer ist in der Beziehung nur ein Wirkelement, wie Foucault sagt, und nicht das Wirkzentrum, wie bei den anderen drei Beziehungsformen. Auffällig ist weiterhin die Exklusivität dieser Schüler-Lehrer-Beziehung. Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass ein Lehrer mehrere Schüler haben kann, aber für den Schüler ist diese Beziehung die einzige. Mit ihm tauscht er sich – am besten schriftlich – über seine Lebenspraxis aus, von ihm erfährt er die Wahrheit über sich selbst. Was Foucault hier beschreibt, ist der pädagogische Traum, eine Erziehungspraxis zu ermöglichen, die weder als technischer Eingriff in Erscheinung tritt, noch sich auf bloßes Wachsen-lassen beschränkt und trotzdem die Bildung beeinflusst. Die Suche nach dieser Möglichkeit hat eine lange Tradition. In der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik finden sich hierzu Überlegungen, die deutliche Parallelen zu Foucaults Konzept aufweisen. Dort wurden vier Typen von Erziehungshaltungen beschrieben, durch die ein Pädagoge handelnd Einfluss auf den Schüler nehmen kann (vgl. hierzu Flitner 1997, 79ff.; Nohl 1923, 100ff.). Unterschieden wurde zwischen einer sozialen, realistischen, humanistischen und seelsorglichen Haltung des Pädagogen. Aus jeder dieser vier Haltungen können
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sich Fehlformen entwickeln, die sie zu Manipulationstechniken verkommen lassen. Die soziale Haltung des Pädagogen ist vor allem geprägt von Fürsorglichkeit, einer fast schon mütterliche Liebe zu allen Menschen. Diese Fürsorglichkeit stärkt den sozialen Zusammenhalt. Die realistische Haltung steht im Dienst der Sache. Der Schwerpunkt liegt in der Hinführung zur Realität und zur Ausstattung mit den dafür benötigten Fähigkeiten und Kenntnissen. Diese Haltung ist vornehmlich dann bildend, wenn der Pädagoge seine Inhalte als Person vertritt und nicht als bloßer Erfüllungsgehilfe. Die humanistische Haltung will die „Weitergabe der Fackel des Geistes“ gewährleisten (Flitner 1997, 80). Nicht jeder Schüler ist in der Lage, die Fackel zu tragen, was dem Lehrer-SchülerVerhältnis einen aristokratischen, elitären Charakter verleiht. Die seelsorgerliche Haltung hat, auch wenn sie aus der christlichen Seelsorge entspringt, was sie aus foucaultscher Perspektive fragwürdig erscheinen lässt, die größte Affinität zu der von ihm beschriebenen Beziehung zwischen Lehrer und Schüler. Sie wurde von Bollnow vor dem Hintergrund der Existenzphilosophie – er bezieht sich auf Kierkegaard, Heidegger und Jaspers – beschrieben. Aus der Existenzphilosophie zieht Bollnow den Schluss, dass das herkömmliche pädagogische Denken, das Bildung im Zuge des Neuhumanismus als organisches Wachstum und Entfaltung des Subjekts versteht, um zwei wichtige Einsichten ergänzt werden muss. Zum einen geht Bollnow davon aus, dass es im Individuum einen subjektiven Kern gibt, der sich der Bildung grundsätzlich entzieht. Zum anderen ist der Gedanke der kontinuierlichen Entwicklung problematisch. Das Subjekt entwickelt und entfaltet sich nicht nur, sondern durchlebt auch existenzielle Krisen, die es grundlegend verändern (vgl. Bollnow 1962, 14ff.). Um diese beiden Einsichten in der pädagogischen Beziehung berücksichtigen zu können, greift er auf Ideen der christlichen Seelsorge zurück und säkularisiert sie mit Hilfe der Existenzphilosophie. So entwickelt Bollnow einige Ansichten über die pädagogische Beziehung, die den Pädagogen ebenfalls nicht als das Wirkzentrum sondern als ein Wirkelement präsentieren. Eine wirklich existenzielle Veränderung kann nicht pädagogisch initiiert werden, aber dem Pädagogen muss klar sein, dass dieses existenzielle Element in der Beziehung vorhanden sein kann. Die Beziehung kann zu dem werden, was Bollnow „Begegnung“ nennt, nämlich einem Zusammentreffen von Pädagoge und Schüler, das Rollenmuster hinter sich lässt, ohne dass dies intendiert gewesen wäre. Der Pädagoge kann Appelle an den Schüler richten, die die Eigenart haben, den Schüler zu etwas aufzufordern, ohne dass der Pädagoge das Befolgen der Aufforderung einklagen kann, wie bei einem Befehl oder einer Ermahnung innerhalb von Rollenmustern (vgl. Bollnow 1962, 64ff.).
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Der Lehrer kann auch beratend tätig sein, wobei Bollnow ausdrücklich darauf hinweist, dass die beratende Tätigkeit beispielsweise der Lehrerrolle, die auf Vermittlung ausgelegt ist, prinzipiell entgegensteht. Der Lehrer kann einen Schüler nur am Rande des institutionalisierten pädagogischen Geschehens beraten, so wie sich jede existenzielle „Begegnung“ zwischen Lehrer und Schüler in der Regel am Rande pädagogischer Handlungsfelder abspielt. Bollnows Vorschlag läuft auf ein komplementäres Beziehungsmuster neben dem herkömmlichen institutionalisierten Betrieb hinaus. Seine Beschreibung der existenziellen Krisen, die einer zwischenmenschlichen Begegnung zwischen Pädagoge und Kind/Jugendlichem bedürfen, deckt sich funktional mit Foucaults Beschreibung der Transformation der Seinsweise des Individuums in der Selbstsorge. Das „Wahr-sprechen des anderen“ tritt bei Bollnow als zwischenmenschlicher Appell außerhalb fester Rollenerwartungen auf.32 Die Geisteswissenschaftliche Pädagogik hat mit der seelsorgerlichen Vorgehensweise des Pädagogen eine bestimmte Erziehungshaltung beschrieben, die von anderen pädagogischen Haltungen zu unterscheiden ist und sich darin mit Foucaults Beschreibung deckt. Der mit der seelsorgerlichen Haltung verbundene methodische Aspekt ist im pädagogischen Diskurs wie auch der pädagogischen Praxis bereits weit verbreitet: die Beratung. Was Bollnow noch als Begegnung beschrieben hat, die in erster Linie am Rande des pädagogischen Geschehens stattfinden kann, ist inzwischen institutionalisiert worden. Diese Form der Institutionalisierung steht dem foucaultschen Konzept der ethischen Bildung entgegen, denn die pädagogische Beratung versteht sich zwar in einem weiten Sinne auch als Hilfe zur Selbsthilfe bzw. Lebenshilfe, aber anders als im Konzept der Selbstsorge beschrieben, geht es weniger um Bildungsprozesse als vielmehr um konkrete Problemlösungen, die – teilweise mit Hilfe methodischer Arrangements, welche auf unterschiedlichen psychologischen Theorien beruhen (vgl. Gröning 2006) – im Beratungsgespräch gefunden werden sollen. Für solche pädagogischen Arrangements ist Foucault ein schlechter philosophischer Gewährsmann, denn in der Selbstsorge sucht der Betreffende nicht einen bestimmten Rat, sondern die langfristige Beschäftigung mit sich selbst. Die Beratung erscheint aus foucaultscher Perspektive als ein Verlust an Selbstbestimmung. Zu der Auffassung, das Bildungskonzept der Selbstsorge könne vor allem als Komplement zu herkömmlichen Bildungsarrangements verstanden werden, müssen auch die Äußerungen von Schmid gezählt werden, der die Selbstsorge mit Bildung gleich setzt, wenn er sagt, sich bilden heiße vor allem Leben lernen 32 Bollnow selbst nennt das Beispiel des Doktorvaters, der seinem Doktoranden sagt, dass sein Dissertationsunterfangen ein Irrweg ist: Gelegentlich muss der Pädagoge dem anderen die Wahrheit sagen, auch wenn sie ihn in eine existenzielle Krise stürzen wird.
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(vgl. Schmid 1998, 310ff.). Er propagiert eine „Pädagogik der Lebenskunst“, die, wie schon die Geisteswissenschaftliche Pädagogik, der Interaktion zwischen Pädagoge und Kind/Jugendlichem ein eigenes Recht zuspricht und dabei der Persönlichkeit des Pädagogen eine wichtige Rolle zuspricht (vgl. Schmid 1998, 316f.). In dieser Pädagogik wird großen Wert auf die Eigenständigkeit von Bildungsprozesse gelegt, was seiner Meinung nach vor allem bedeuten müsste, der individuellen Wahlmöglichkeit größeren Raum zu geben. Die individuelle Wahlmöglichkeit soll interessanterweise sogar das ermöglichen, was auch für Schmid das Ziel jeder Bildung sein muss: moralische Autonomie (vgl. Schmid 1998, 316). Schmids Äußerungen zur pädagogischen Umsetzung der Selbstsorge beruhen auf einer sehr weiten und nicht zuletzt normativen Interpretation der Bildung durch Selbstsorge, die mit dem hier entwickelten engeren Verständnis nicht in Einklang zu bringen ist. Durch die großzügige Auslegung dieses Konzepts kann er Formen demokratischer Erziehungsprinzipien ebenso umstandslos an die Selbstsorge assimilieren wie bestimmte Unterrichtsinhalte (vgl. Schmid 1998, 314 und 323f.). 3.5.3 Selbstsorge als Surrogat Für Reichenbach ist die Selbstsorge als Bildungskonzept nicht in der Lage über ein komplementäres Verhältnis zu herkömmlichen Bildungskonzepten hinaus zu gelangen. Die These, dieses Konzept lasse sich weder als politische Ethik noch als pädagogische Programmatik auslegen (vgl. Reichenbach 2004, 199), soll im Folgenden durch eine Verschärfung des kritischen Anspruchs untersucht werden. Die Selbstsorge als Komplement zu verstehen, tritt nur mit dem schwachen Anspruch auf, unterbelichtete Aspekte der Bildung zu erhellen. Einen Schritt weiter geht die bereits in der Antike entwickelte These, die Selbstsorge sei ein Mittel zum Zweck moralisch-politischer Bildung, welche auf zwei Arten interpretiert werden kann. In einer schwachen Interpretation kann die Selbstsorge heute als ein möglicher Ersatz für eine verloren gegangene sittliche Einbindung in das soziale Gefüge betrachtet werden. Diese These soll im Folgenden untersucht werden. Im Anschluss daran wird die stärkere Interpretation untersucht, die besagt, die Selbstsorge sei der einzig mögliche Weg zu einer wahren, kritischen Bildung. Die modernen Moralphilosophien beschäftigen sich in erster Linie mit der Frage nach dem moralischen Sollen und seiner Begründung. Innerhalb der moralphilosophischen Diskussion wird dann auf antike Ethikkonzeptionen zurückgegriffen, wenn das Problem der moralischen Motivation untersucht wird. Fra-
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gen des individuellen Glücks und der Selbstentfaltung, werden in der Moderne im politischen Sinne liberal gehandhabt. In der Antike wurde dagegen das individuelle Wohl mit dem Gemeinwohl in Verbindung gebracht, indem unterstellt wurde, das wahre individuelle Glück liege im moralischen Handeln. Seit Kant gezeigt hatte, dass die Frage nach dem individuellen Glück eine rein empirische ist, deren Beantwortung nicht verallgemeinerbar ist (vgl. GMS, BA 90f.), wird eine solche These nicht mehr vertreten. Da das individuelle Glück mit dem eigenen Willen zusammenhängt, stellt sich aber auch heute analog dazu die Frage, inwiefern moralische Gebote und Verbote mit dem eigenen Willen im Zusammenhang stehen. Nur wenn die Befolgung von Normen auch gewollt ist, verlieren diese ihren Zwangscharakter und können Bestandteil des individuellen Glücks werden. Auch autonome Handlungen im kantischen Sinne müssen vom Individuum gewollt sein. Aus diesem Grund ergibt sich laut Tugendhat die Notwendigkeit, auf die antike Fragestellung zurück zu greifen: „Es geht mir dann wohl, wenn das, worauf mein Wille gerichtet ist, zur Erfüllung kommt; und welche Formel auch immer wir für Moralität wählen mögen – z. B. die kantische, niemanden nur als Mittel, sondern immer zugleich als Zweck anzusehen –, so heißt das, daß dies, also etwa das Wohl der anderen, wenn es etwas von mir um meiner selbst gewolltes ist, ein Bestandteil meiner Glückskonzeption ist. Dieser Satz erscheint mir zwingend, aber er ist natürlich nur ein Wenn-dann-Satz: Wenn jemand autonom moralisch handelt, dann nur, weil er das selbst will, und das heißt, weil das zu seinem Glück gehört.“ (Tugendhat 1984, 49)
So kann behauptet werden, eine antike Konzeption wie die Selbstsorge, liefere eine Verbindung zwischen Sollen und Wollen, mit der eine Leerstelle geschlossen werden könnte, die in religiösen Kulturen durch den Glauben oder in der antiken Polis durch eine vollständige Identifikation der Individuen mit der Gemeinschaft überbrückt wurde. Das moderne, nackte Sollen schaffe diese Verknüpfung angeblich nicht. Zwischen Tugendhats Vorschlag und Foucaults Ethik besteht natürlich eine erhebliche Differenz: Die Selbstsorge soll gerade nicht der Moral Geltung verschaffen, sondern die individuelle Vervollkommnung verwirklichen, um dadurch eine ästhetische Beziehung zu sich selbst herbei zu führen. Ebenso wie Tugendhat (vgl. Tugendhat 1984, 55) betont Foucault die freie Wahl, den bloß hypothetischen Charakter seines Konzepts, im Gegensatz zum kategorischen Sollen nach Kant. Tugendhat stellt eine Frage, die sich im Zusammenhang mit Foucaults Konzeption geradezu aufdrängt, wenn Foucault beispielsweise mit Seneca davon spricht, die Selbstsorge solle das Individuum in die Lage versetzen, nicht länger Sklave innerer oder äußerer Anreize („Stultus“, siehe 3.4.3) zu sein:
3.5 Ethisch-ästhetische Bildungsprozesse
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„Die große Frage ist nun, ob und wie wir den Griechen heute auch noch darin folgen können, diesen Begriff der Gesundheit bzw. Funktionsfähigkeit [in Bezug auf den Körper, A. V.] auch auf die seelische Verfassung auszudehnen. Ist die Rede von seelischer Gesundheit und Klarheit nur eine Metapher, oder lässt sich ihr ein klarer Sinn geben?“ (Tugendhat 1984, 52)
Wie gezeigt ist Foucault der These nicht abgeneigt, dass jemand, der es versteht, sich um sich selbst zu kümmern, grundsätzlich in der Lage sein müsste, moralisch und politisch angemessen zu handeln. Diese Annahme zeigt, dass Foucault in seiner Ethik ein harmonisches Bild des Selbst bzw. der Seele vertritt (vgl. Besley 2007, 61; siehe 3.3.2), denn nur mit einem solchen Modell kann man behaupten, dass mit der Beherrschung der eigenen Innenwelt bereits ein „vernünftiger“ oder „moralisch richtiger“ Wille einhergeht, der die Handlungen entsprechend binden kann, was ihn mit antiken Vorstellungen, insbesondere wieder mit Sokrates, verbindet (vgl. Horn 1998, 183ff.). Trotzdem würde er sich zur Konkretisierung dieser These nicht Tugendhat anschließen, wenn dieser sagt, man könne an die griechische Tradition anknüpfen und ihr den metaphorischen Charakter nehmen, indem man die seelische Gesundheit formal versucht mit Hilfe psychoanalytischer Begriffe zu formulieren (vgl. Tugendhat 1984, 53ff.). So betrachtet würde innere Freiheit bedeuten, frei von inneren Zwängen zu sein, was wiederum ein Konfliktmodell der Seele impliziert. Das psychoanalytische Konfliktmodell steht zu stark im Visier von Foucaults Genealogie und Diskurs33 analyse, als dass er es in seine Ethik umstandslos integrieren könnte. Deshalb kann Foucaults Modell eine unbestreitbare Tatsache nicht erklären: Selbstentfaltung und Selbstbeherrschung können scheitern. Die offenkundige Möglichkeit des Scheiterns aufgrund innerer Zwänge und Selbsttäuschungen muss als primäres pädagogisches Problem betrachtet werden. Die Ästhetisierung und Stilisierung, die mit der Selbstsorge propagiert wird, setzt bereits voraus, dass eine gelungene Welt- und Selbstaneignung vollzogen wurde: „Foucault hat zwar die Kategorie der Selbstsorge durch das Konzept der Selbstpraktiken und -techniken vorzüglich veranschaulicht und zur Evidenz gebracht, aber die der Selbstsorge inhärierende praktische Problematik wiederum nicht zum Thema gemacht. Es wird nicht deutlich, daß Selbstwahl und -sorge gehemmt und blockiert sein und scheitern oder nur partiell glücken können, etwa im Falle der Wahlinkom33
Dabei geht es insbesondere um das topologische Modell von Unbewusstem und Bewusstsein, sowie um die Triebtheorie, d. h. um die Frühformen der Psychoanalyse. Inwieweit Foucault die verschiedenen Strukturmodelle (Ich-Psychologie, Objektbeziehungstheorie und Selbstpsychologie) ablehnt, kann man nur vermuten.
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petenz oder der Unfähigkeit zur Selbststilisierung oder Ausübung einer Praktik [...].“ (Krämer 1995, 238f.)
Selbstsorge als bildungstheoretische Brücke zum gelingenden Leben setzt demnach zu hoch an, da sie das grundlegende Problem der gescheiterten Welt- und Selbstaneignung, an der auch die Pädagogik eine Teilschuld haben kann, nicht berücksichtigt. Darüber hinaus führt die These, richtiges moralisch-politisches Handeln hänge mit der Fähigkeit zur Selbstbeherrschung zusammen, im Umkehrschluss zu der kaum haltbaren Annahme, moralisch-politisches Fehlverhalten sei selbst verschuldet. Das ist eine überzogene Gegenthese, die man in dieser Form weder Foucault noch den antiken Autoren unterstellen kann (vgl. Horn 1998, 148ff.), aber sie macht deutlich, dass wir heute sehr genau wissen, dass die eigene Lebensführung nicht vollständig vom eigenen Willen abhängt. Insofern greift die von Foucault suggerierte Hoffnung, die Ermöglichung der Selbstsorge auch in pädagogischen Institutionen hätte ein politisches Potenzial, sogar vor seinen eigenen machttheoretischen Ausführungen zu kurz. 3.5.4 Selbstsorge als Notwendigkeit Mit dem negativen Ergebnis, ethisch-ästhetische Bildungsprozesse als Surrogat zu interpretieren, scheint sich eine Untersuchung der Frage, ob diese Bildungsprozesse eine zwingende Notwendigkeit darstellen, bereits erledigt zu haben. Sie soll jedoch gesondert behandelt werden, um die Konturen dieser Konzeption deutlicher hervortreten zu lassen. Die zu behandelnde These besagt, dass ethisch-ästhetische Bildung nicht nur eine von eventuell mehreren möglichen Brücken, sondern der einzig mögliche Weg zur wahrhaften Bildung ist. Der bildungstheoretisch bekannteste Ansatz hierzu findet sich bei Schiller, der die Ästhetik als notwendiges Mittel zur Bildung beschreibt. Unter ästhetischer Bildung versteht Schiller zweierlei: Einerseits sollen die schönen Künste bzw. die Schönheit im Allgemeinen das Medium der Bildung sein (vgl. ÜäE, 33). Andererseits ist damit eine ästhetische Utopie gemeint, in der die Menschen einen künstlerischen Umgang miteinander haben. Künstlerisch in diesem zweiten Sinne meint, dass die Menschen einen spielerischen Umgang pflegen, in dem die moralische geregelte Interaktion nicht als auferlegter Zwang empfunden wird (vgl. ÜäE, 57). Die ästhetische Bildung soll das Bindeglied zwischen zwei widerstrebenden Anteilen im modernen Menschen sein. Nach Schillers Diagnose, hat sich der moderne Mensch durch Technik und Politik von seiner Natur entfremdet. Diese Entfremdung versteht Schiller allerdings dialektisch. Obwohl für ihn im An-
3.5 Ethisch-ästhetische Bildungsprozesse
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schluss an Kant die moralisch-politische Gesinnung der Moderne ein Fortschritt darstellt, scheint ihm eine Versöhnung zwischen Natur und Geist, Veränderungswille und der Wunsch nach gesetzlicher Verlässlichkeit, Entwicklung und Konstanz nicht möglich zu sein. Weder kognitive noch moralische Bildung kann diese wünschenswerte Versöhnung leisten: „Die Aufklärung des Verstandes, deren sich die verfeinerten Stände nicht ganz zu Unrecht rühmen, zeigt im Ganzen so wenig einen veredelnden Einfluß auf die Gesinnungen, daß sie vielmehr die Verderbniß durch Maximen befestigt. Wir verläugnen die Natur auf ihrem rechtmäßigen Felde, um auf dem moralischen ihre Tyranney zu erfahren, und indem wir ihren Eindrücken widerstreben, nehmen wir unsre Grundsätze von ihr an.“ (ÜäE, 19)
Das Wahre und das Gute können nur durch das Medium des Schönen im Menschen wirklich werden, wodurch der soziale Umgang miteinander selbst ästhetisch wird: „Mit einem Wort: indem es [das Leben, A. V.] mit Ideen in Gemeinschaft kommt, verliert alles Wirkliche seinen Ernst, weil es k l e i n wird, und indem es mit Empfindungen zusammen trifft, legt das Nothwendige den seinigen ab, weil es l e i c h t wird.“ (ÜäE, 61; Sperrung im Original)
Der wirklich gebildete Mensch erfüllt seine moralisch-politischen Pflichten nicht mehr aus Zwang. Sie fallen ihm leicht; er genießt sie. Der Mensch ist für Schiller dann ganz Mensch, wenn er spielt (vgl. ÜäE, 62f.). Dieser Denkansatz ist mit Foucaults Entwurf nur schwer zu vergleichen, denn anders als Foucault will Schiller tatsächlich auf ästhetischem Wege die Moral verwirklichen und verfolgt damit ein normatives Ziel. Er versucht eine Utopie zu entwickeln, in der die kantische Moralphilosophie Wirklichkeit sein könnte, ohne dass die menschliche Vernunft unvernünftig wird (vgl. Ilien 2005, 127f.). Bereits dieses Ziel ist mit der Ethik der Selbstsorge nicht vereinbar, denn Foucault will nicht die Möglichkeit der Moral aufzeigen, sondern die Möglichkeit von Veränderung, die seiner Meinung nach nicht mit Moral oder Recht gegeben ist. Innerhalb Foucaults Theorie ist die ethisch-ästhetische Bildung hierfür tatsächlich das einzige Mittel bzw. die einzige Technik, wie Foucault sagen würde, aber der explizit freiwillige Charakter der Selbstsorge ist mit dem Gedanken einer normativen Notwendigkeit ethisch-ästhetischer Bildungsprozesse nicht verinebar. Entschließt man sich, diesen Bildungsweg zu gehen, so muss man die dafür notwendigen Techniken anwenden. Nur in diesem hypothetischen Sinne kann man eine Notwendigkeit formulieren, wenn man Foucaults Anliegen, die Selbstsorge nicht moralisch-politisch zu instrumentalisieren, ernst nimmt.
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3 Bildung durch Selbstsorge
Das hier genannte Problem der Instrumentalisierung der Selbstsorge für die Moral versucht Wain in seiner pädagogischen Interpretation zu umgehen, indem er Foucaults Ethik so auslegt, dass sie auf einen nicht hintergehbaren, notwendigen Zusammenhang von Selbstsorge (Ethik) und Sorge für andere (Moral) hinweist (siehe 3.3.3): „[H]e [Foucault, A. V.] is very clear […] that one’s care for the other is intrinsic to one’s care for oneself, not something that follows it, just as one’s self-refusal occurs together with, in the very process of one’s self-affirmation not prior to it.“ (Wain 2007, 178)
Anders als in Schillers Entwurf wird von Wain unterstellt, die Selbstsorge als Beherrschung seiner selbst schließe den angemessenen Umgang mit anderen bereits mit ein (ebd.). Diese These ist von Wain rein analytisch gemeint, womit die Selbstsorge zur logischen und nicht wie bei Schiller zur kausalen Notwendigkeit wird. Auch diese These ist mit Foucaults Insistieren auf dem rein freiwilligen Charakter der Selbstsorge nicht vereinbar, da sie automatisch einen normativen Zusammenhang herstellt. Nach Wains Interpretation würde nur derjenige moralisch handeln, der implizit oder explizit Herrscher seiner selbst sein will, was der Phänomenologie moralischer Handlungen nur begrenzt gerecht wird, da diese in jedem Fall einen verpflichtenden Charakter besitzen. Der einzige Bereich sozialer Handlungen, in dem man im foucaultschen Sinne einen notwendigen Zusammenhang zwischen Selbstsorge und Sorge für die anderen behaupten kann, ohne der strikten Freiwilligkeit zu widersprechen, wäre der besondere Bereich der supererogatorischen Handlungen. Diese Handlungen sind im moralischen Sinne nicht verpflichtend oder verboten, ihre Unterlassung wird nicht sanktioniert, aber ihre Umsetzung genießt hohe soziale Anerkennung. Es handelt sich um die Handlungen von Heiligen und Helden (vgl. Urmson 1958, 198ff.). Das weckt Assoziationen zu Foucaults Beschreibung der modernen, aufgeklärten Haltung im Anschluss an Baudelaire (siehe 1.4.2). Die allgemeine bildungsphilosophische Aussage, ethisch-ästhetische Bildungsprozesse gipfelten notwendigerweise in heroische oder märtyrerische Handlungen, ist aber zu hoch gegriffen.
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Personenregister
Mit A gekennzeichnete Seitenzahlen beziehen sich auf Anmerkungen in den Fußnoten.
Epikur 130, 132 Epimetheus 114 Ewald, François 50
Adorno, Theodor W. 27 Alkibiades 130 Annas, Julia 111A Apel, Karl-Otto 86A Aristoteles 46, 111A, 131 Ardent, Hannah 63 Aurel, Marc 131, 134 Austin, John L. 86A, 87
Flitner, Wilhelm 140f. Forst, Rainer 45 Foucault, Michel 13-18, 19-29, 35-62, 64-80, 84-100, 102-111, 120-132, 134-142, 144-148 Frank, Manfred 39, 49, 85, 109 Fraser, Nancy 42, 47-51, 53 Freier, Hans 33, 38 Fronto 134
Balgo, Rolf 78 Balibar, Étinne 36 Balzer, Nicole 61 Baudelaire, Charles 57, 148 Benner, Dietrich 82A, 103A, 138 Besley, Tina 145 Bollnow, Otto F. 142f. Brinkmann, Malte 37, 137 Brown, Peter 131A Bröckling, Ulrich 69A Cicero 131 Combe, Arnold 80, 82 Davidson, Donald 71 Deleuze, Gilles 69A, 84, 86f. Derrida, Jaques 87 Detel, Wolfgang 62-64, 71, 73f., 128 Dosse, François 85A, 109 Dreßen, Wolfgang 61 Durkheim, Emile 19, 33 Epiktet 131f.
Gadamer, Hans-Georg 16 Gestettner, Peter 61 Giddens, Anthony 37 Giesecke, Hermann 83 Glantschnig, Helga 61 Gmünder, Ulrich 27 Gorgias 115-117 Gros, Frédéric 127 Gröning, Katharina 142 Gruschka, Andreas 83 Habermas, Jürgen 20-23, 25-27, 48-50, 54, 63, 105 Hadot, Pierre 105, 126A Halperin, David M. 70, 107, 131A Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 52A, 54 Heidegger, Martin 15, 42, 44A, 45-47, 49, 141 Helsper Werner 80, 82 Herbart, Johann Friedrich 81f., 103A Honneth, Axel 37 Horkheimer, Max 54
156 Horn, Christoph 105, 111, 126A, 139, 145f. Horster, Detlef 80, 111, 139 Hügli, Anton 16, 111 Ilien, Albert 83, 147 Jaspers, Karl 141 Jaeger, Werner 110-120, 130f. Joas, Hans 31A, 32 Kallikles 117f. Kant, Immanuel 13-15, 31f., 39A, 43, 50, 52A, 53-58, 98, 104, 126, 127A, 128, 131, 139, 144, 147 Kierkegaard, Sören 141 Klafki, Wolfgang 82A, 140 Koller, Hans-Christoph 93 Koring, Bernhard 80, 83 Krämer, Hans 140, 146 Krasmann, Susanne 69A Krüger, Heinz-Herman 16 Lemke, Thomas 65f., 69, 108A Lenzen, Dieter 83, 99 Levinson, Stephen C. 85, 86A Lichtblau, Klaus 38 Lüders, Christian 81f. Lüders, Jenny 93, 106A Luhmann, Niklas 63, 92 Lukács, Georg 50
Personenregister
Oelkers, Jürgen 28, 52, 92 Oser, Fritz 138 Pieper, Marianne 69A Platon 46, 110-113, 115, 117, 119-122, 125f., 130f., 133 Plutarch 131 Polos 116 Pongratz, Ludwig A. 61 Prometheus 114 Prondczynsky, Andreas von 28, 92-94 Protagoras 113-115 Putnam, Hilary 40A Rajchman, John106 Reichenbach, Roland 138f., 143 Reichert, Waltraud 119f. Reiser, Helmut 91 Rodríguez, Encarnación Gutiérrez 69A Rorty, Richard 52A Rustemeyer, Dirk 138f. Sartre, Jean-Paul 122A Schäfer, Alfred 61, 102 Schorr, Karl Eberhard 92 Schiller, Friedrich 146-148 Schmid, Wilhelm 110, 142f. Searle, John R. 86f. Seneca 135, 144 Sennett, Richard 125A Sokrates 110-119, 126, 130, 145
Macherey, Pierre 72 Marti, Urs 28A, 41 McCarthy, Thomas 49, 85 Menke, Christoph 49 Meyer-Drawe, Käte 61 Miller, James 105, 107 Mollenhauer, Klaus 52A, 139 Müller, Reimar 114, 117
Taureck, Berhard H. 86, 107 Taylor, Charles 79 Tenorth, Heinz-Elmar 92 Terhart, Ewald 82 Tremain, Shelly 77A Tugendhat, Ernst 32, 35, 139, 144f.
Nietzsche, Friedrich 15f., 27-41, 46, 54, 67, 71, 98, 105, 118 Nohl, Herman 129, 140 Nussbaum, Martha C. 125, 128
Urmson, James O. 148
Wolf, Ursula 35
Veyne, Paul 39A Volkers, Achim 23f.
Personenregister
Waldenfels, Bernhard 87 Wain, Kenneth 20, 148 Weber, Max 19f., 54 Werning, Rolf 78 Wimmer, Michael 83 Winkler, John J. 128
Wittgenstein, Ludwig 34
157