MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 104
Wulfsblut von Ronald M. Hahn
Nach Sonnenuntergang, als der Dreimaster mi...
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MADDRAX DIE DUNKLE ZUKUNFT DER ERDE Band 104
Wulfsblut von Ronald M. Hahn
Nach Sonnenuntergang, als der Dreimaster mit den roten Segeln vor der bewaldeten Küste vor Anker gegangen war, verzog sich die Besatzung in die Kojen, um sich von den Strapazen zu erholen. Hinter den Männern lag eine stürmische Fahrt. Sie waren froh, sich in letzter Minute von der unwirtlichen Insel Byorn abgesetzt zu haben. Die dort gemachten Geschäfte waren freilich nicht schlecht gewesen ... An der Reling stand die Nachtwache, ein hagerer Bursche, dessen zahlreiche Narben zeigten, dass in seinem Beruf Muskelm gefragter waren als Hirn. Neben ihm ein muskulöser, in graues Echsenleder gekleideter Glatzkopf. Seine intelligenten Augen musterten den Urwald, der sich vor dem Bug des Seglers ausbreitete. *** WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Asiens werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten ... für Jahrhunderte. Nach der
Eiszeit hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Länder und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den US-Piloten Matthew Drax, dessen Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Nach dem Absturz wird er von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde ... Seit einer Expedition zum Kratersee weiß Matthew Drax um die Bedrohung durch die Daa'muren. Körperlose Wesen kamen damals mit den Kometen auf die Erde und experimentierten mit der irdischen Flora und Fauna, um einen Organismus zu erschaffen, der zu ihren Geistern kompatibel ist. Nach unzähligen Mutationen haben sie ihn nun gefunden: eine humanoide Echse mit silbern schimmernden Schuppen. Auf der Flucht zu den englischen Communities versorgen Matt und seine Gefährten die Bunkermenschen mit einem Serum, das deren Immunschwäche aufhebt, und gewinnen weitere Verbündete. Auch den Weltrat, die skrupellosen Erben der USRegierung - hauptsächlich um die Angriffe von deren Barbarensöldnern zu unterbinden. Unterstützt wird Matt neben Aruula von Mr. Black, dem Klon des damaligen US-Präsidenten, dem Cyborg Aiko, der Rebellin »Honeybutt« Hardy, dem Albino Rulfan und seinem Staffelkameraden Professor Dave McKenzie. Die beiden Letzteren sind allerdings auf dem Weg von Russland nach England verschollen. Bisher weiß man nur wenig über die Pläne der Daa'muren. Besser informiert ist ein Mann, den die Aliens in ihrer Gewalt haben: der irre Professor Dr. Smythe, der einst mit Matt Drax den Zeitsprung machte. Er kennt die Herkunft der Daa'muren, einen glutflüssigen Lava-Planeten außerhalb der Milchstraße,
und weiß um ihre telepathischen und gestaltwandlerischen Fähigkeiten. Sie streben eine Kooperation mit ihm an. Ihrer beider Ziel: die Weltherrschaft! Inzwischen versuchen die Freunde um Matt, die Sippen und Bunkerzivilisationen Britanas zu einen. Auf Aiko und Honeybutt müssen sie dabei verzichten: Das Gehirn des Cyborgs wurde geschädigt, und die junge Rebellin begleitet ihn zurück nach Amarillo. In Southampton treffen Matt und Aruula einen alten Bekannten: den Nosfera Navok, der gegen die Sklaverei kämpft. Unwissentlich führen sie ein Kommando der Bluttempler zu ihm, das Navok im Namen des russischen Ordensoberhauptes töten soll. Doch Matt, der nach einer alten Nosfera-Prophezeiung der »Sohn der Finsternis« ist, nimmt Navok unter seinen Schutz ... *** »Endlich daheim, Morph«, sagte der Glatzköpfige mit einem Seufzer, aus dem Erleichterung klang. »Daheim in Britana.« »Jau, Syr«, brummte Morph und zog die Nase hoch. »In der zivilisierten Welt.« Der Mann im Echsenleder verzog die Lippen zu einem ironischen Lächeln. Offenbar erheiterte es ihn, dass ein Typ wie Morph von Zivilisation sprach. Hinter den beiden Männern spitzte ein drittes Wesen an Deck die Ohren. Es war mit einem Strick an einen Mast gebunden. Britana ... Wie alle Vertreter seiner Rasse verfügte auch Wulf über ein exzellentes Gehör. Der Lupa kannte die Bedeutung vieler Laute, mit denen die Zweibeiner sich verständigten. Er wusste, was Britana bedeutete. Britana war die Heimat seines Herrn. Der Ort, an dem dessen Freunde unter
der Erde lebten. Sie zu finden war sein Auftrag. »Na, dann hau ich mich mal in die Koje«, sagte der Mann in Echsenleder und klopfte Morph jovial auf die Schulter. »Halt die Augen auf. An dieser Küste treibt sich viel Gelichter herum.« »Okee, Syr.« Morph nickte und tippte sich an die Stirn. Der Mann in Echsenleder trennte sich von der Bordwache, und als er zu einer Tür in den Decksaufbauten ging, fiel sein Blick auf Wulf. Der saß nun hellwach und aufmerksam mit hechelnder Zunge auf den Planken. »Und du hilfst ihm dabei«, fügte der Mann hinzu. Klar, sagte Wulfs treuherziger Blick. Dann stieß der Lupa ein leises Winseln aus, wie zur Bestätigung seiner Pflicht. »Braver Hund«, sagte der Mann in Echsenleder und begab sich unter Deck. Als er verschwunden war, nahm Morph seine Runde in Angriff. Wulf kannte das Prozedere. Es wiederholte sich jede Nacht. Sobald der Hagere außer Sichtweite war, schlug Wulf seine vier Zahnreihen in den Strick, der ihn hielt. Seine Zähne waren nicht nur groß und kräftig, sondern auch spitz und so scharf. Das Material, aus dem der Strick bestand, schmeckte fürchterlich, doch er ließ sich nicht beirren. Als die Vibration der Planken etwas später andeutete, dass der Hagere zurückkehrte, lag Wulf bereits wieder auf dem Bauch und markierte den Schlafenden. Morph trat an die Reling, zündete sich eine Kiffette an und summte leise und falsch die Ballade von dem Jungen, der sich heimlich davonschlich, um zur See zu fahren, während seine Mutter noch schlief. Der Lupa ließ den Zweibeiner keine Sekunde aus den Augen. Als Morphs disharmonisches Gesumm seinen Höhepunkt erreichte, ruckte Wulfs kräftiger Hals zur Seite. Mit einem leisen Schrpfft riss der Strick. Morph - wie alle Menschen war er mehr oder weniger taub - bekam davon nichts
mit. Nach dem Ende seiner zu Herzen gehenden Ballade nahm er gleich die nächste in Angriff und schlenderte dabei an der Reling entlang. Als er hinter den Kisten, Säcken und Fässern verschwand, die sich an Bord stapelten, richtete Wulf sich auf und pirschte los. Nur wenige Sekunden später lagen die Tatzen seiner Vorderläufe auf dem Geländer. Sein eisblauer Blick wanderte über den glatten Wasserspiegel. Die kleine Bucht war seicht und die Bordwand nicht allzu hoch ... »He, du! Was soll das werden?« Wulfs Kopf ruckte herum. Morph stand in einiger Entfernung schräg hinter ihm. Seine Lichter blitzten hell, und sein Stimme zitterte leicht. Er hatte Angst! Er fürchtete den Zorn seines Herrn, des Glatzkopfs in Echsenleder, der es ihm wahrscheinlich übel nehmen würde, wenn er ihm sagte, dass sich sein neuer Hund davongemacht hatte. »Du willst doch wohl nicht abhauen?« Hätte Morph gewusst, wie man in Lupa-Augen liest, hätte er sich die Frage sparen können. Wulf hatte nicht vor zu bleiben. Er musste den Befehl seines Herrn ausführen. »Mach keinen Scheiß ...« Morph spuckte die Kiffette aus und eilte der Reling entgegen. Der Zweibeiner bemühte sich redlich, ein harmloses Gesicht aufzusetzen, was ihm kläglich misslang. Wulfs Muskeln spannten sich. Ein leises Knurren kam über seine Lefzen, das die Nachtwache verunsichert innehalten ließ. Gleichzeitig stieß Wulf sich mit beiden Hinterläufen ab, balancierte für einen Moment auf der schmalen Reling - und katapultierte sich dann der dunklen Wasserfläche entgegen. Im gleichen Moment, da Morph den Schiffsrand erreichte, erklang von unten ein nasses Klatschen. Als sich der Matrose mit großen Augen über die Reling beugte, sah er in der vom Mond erhellten Nacht nur einen weißen Fleck, der dem Land entgegen schwamm.
»Shiit!« Morph schlug mit beiden Fäusten auf die Reling ein. »Käpt'n Ukluk wird mich an den Mast hängen ...« Wulf durchpflügte mit festen Schwimmstößen das beinahe subtropisch warme Wasser. Vor ihm ragte festes Land auf, wo es Nahrung gab, die nicht nach Fisch und Tran oder Pökelsalz schmeckte. Hinter ihm lag bereits eine lange Reise. Doch gegen das, was ihm erst bevorstand, war sie ein unbeschwerter Ausflug gewesen ... * Tromsoy, Wochen zuvor Als Kapitän Boronin die gekaperte Sturmbraut mit einem fröhlichen russischen Lied auf den Lippen durch die nur Wenigen bekannte Fahrrinne ins Nordmeer steuerte, stand Laryssa neben ihm auf der Brücke. Sie blickte mit einem langen Messingfernrohr in die allmählich hinter ihnen im Nebel versinkende Bucht hinaus und behielt Ulaf im Auge. Ulaf war der Rudergast der Sturmbraut ... gewesen. Er hatte sich gegen die Entführung des Schiffes gewehrt, deswegen hatte Laryssa ihn kurzerhand über Bord geworfen. Nun kroch er klatschnass an Land, sprang wie ein zeternder Klabautermann auf und ab, schwang die Fäuste und wünschte Boronin und ihr alle Seeschlangen der sieben Meere an den Hals. Schließlich verschwand er hinter den Felsen. Wenn er erfuhr, dass Kapitän Orland auf der Insel in einen Hinterhalt geraten war - aus dem sie sich rechtzeitig abgesetzt hatte -, würde er gewiss staunen ... Doch Laryssas schadenfrohes Grinsen wurde schnell wieder von trüben Gedanken verdrängt. So sehr es ihr auch gefiel, dass Boronin die aus dem Skoothenland entführten Frauen befreit hatte, widerstrebte ihr die Vorstellung, dass ihren ehemaligen Kapitän nun die Sklaverei erwartete, die er seinen Gefangenen
zugedacht hatte. Und auch ihr Bursche Dave, den die Flybusta wegen seiner Nasengläser »Vierauge« nannten, war in die Hände der Truppen Skölnir Schädelspalters gefallen. Von Boronin wusste sie inzwischen, dass König Skölnir den Ruf eines üblen Patrons hatte. Wie fast alle Monarchen, hatte auch den König von Tromsoy nicht seine wirtschaftliche Kompetenz, sondern seine Tücke auf den Thron gebracht. Deswegen war er auch ständig in finanzieller Not und besserte den Staatsschatz auf, indem er jeden Mann, dessen Nase ihm nicht passte, möglichst gewinnbringend in die Sklaverei verkaufte. Laryssa zweifelte nicht daran, dass nun auch Kapitän Orland, Dave und seinem Gefährten »Rotauge« - ein Albino namens Rulfan - dieses Schicksal drohte. Nun ja, die Lage hatte es erfordert, sich auf Boronins Seite zu schlagen und den Anker der Sturmbraut zu lichten. Es war abzusehen gewesen, dass Orland und seine Flybusta beim Kampf mit Skölnirs Berserkern den Kürzeren ziehen wurden. Hätten sie, Boronin und die befreiten Frauen die Gelegenheit nicht genutzt - wie lange hätte es wohl gedauert, bis Skölnirs Truppen das Schiff geentert hätten? Laryssa seufzte leise. »Hast du schon ein schlechtes Gewissen, Mädchen?«, brummte der einäugige Boronin. Laryssa zuckte die Achseln. »Du trauerst Orland doch wohl nicht nach?« Boronin spähte angestrengt auf die Fahrrinne hinaus. »Er ist 'n Tschanki! Und Tschankis haben alle einen Schlag weg! Die verkaufen sogar ihre Mutter, wenn der Entzug einsetzt! Wie der sich aufgeführt hat, als er rauskriegte, dass ich gar kein Koox bei mir hatte! Wie 'n hysterisches Weib!« Es fehlte nicht viel und Boronin hätte auf den Boden gespuckt. Laryssa seufzte noch einmal. Sie war schließlich dabei gewesen. Orland hatte sich wirklich nicht wie der Kapitän
eines Schiffes benommen. Andererseits war er ihr gegenüber immer äußerst charmant gewesen. Hätte sie ihn nicht verdächtigt, der Mörder ihres Vaters zu sein, sie wäre vermutlich zurückgekehrt, um ihm zu helfen. Schon um sich höchstpersönlich an ihm zu rächen, wenn sich ihr Verdacht bestätigt hatte. »Ich frage mich, wie alt dieser Vogel wirklich ist«, sagte Boronin nachdenklich. »Ich schätze mal, fünf Jahre älter als ich.« Laryssa trat vom Brückenfenster zurück und schob das Messingfernrohr ineinander. Ja, so alt in etwa musste der Mörder heute sein ... »Fünf Jahre älter? Im Leben nicht!« Boronin warf ihr einen ungläubigen Blick zu. »Dann müsste er doch aussehen wie fünfzig.« »Wie? Was?« Laryssa drehte sich verwirrt herum. »Wieso das?« Boronin grinste plötzlich und strich sich übers Kinn. »Ich seh schon, Mädchen, du hast keine Ahnung. Hast du das Teufelszeug noch nie genommen? Nicht mal 'ne kleine Prise?« »Koox?« Laryssa schüttelte den Kopf. Sie fand es unglaublich, dass ihr jemand so etwas zutraute. »Ich bin doch nicht verrückt.« Boronin versetzte das Ruder in eine leichte Drehung. Die Ausfahrt war nicht mehr fern. Laryssa konnte das offene Nordmeer schon sehen. »Dann werd ich dich mal aufklären«, sagte er. »Alle Drogen haben irgendeine Nebenwirkung: Die einen machen dich blind, die anderen machen dich lahm. Die dritten machen dich impotent ... Koox führt dazu, dass jeder, der es regelmäßig nimmt, äußerlich schneller altert.« »Was?« Laryssa starrte ihn an. »Und da Ragnar Orland das Zeug fast ständig schnupft«, fuhr Boronin fort, »und nur fünf Jahre älter aussieht als du, muss er logischerweise junger sein!« Laryssa fühlte sich, als würde ihr der Boden unter den
Füßen weggezogen. Sie musste sich am Ruder festhalten. Damit kommt er als Mörder meines Vaters gar nicht in Frage!, durchzuckte es sie. Schließlich hatte sie den Mord als Fünfzehnjährige beobachtet und wusste, dass der Täter höchstens fünf Jahre älter war als sie selbst. »Und das ist wirklich sicher?«, fragte sie tonlos. »Glaub mir, ich kenn mich aus«, entgegnete Boronin. »Die meisten Kooxsüchtigen sehen nach ein paar Jahren älter aus als ihre eigenen Erzeuger. Verdammtes Teufelszeug ...« Das war es! Der Mörder musste Orlands Vater gewesen sein! Laryssa empfand Scham und Erleichterung zugleich. Scham, weil Orlands Ähnlichkeit mit dem Mörder ihren Verdacht begründet hatte; Erleichterung, weil sie die Möglichkeit hatte, ihren kaum überlegten Entschluss zu revidieren. Schon deswegen bin ich ihm etwas schuldig, dachte sie. Außerdem muss ich ihm ein paar Fragen stellen, die vermutlich nur er beantworten kann. Sie atmete tief durch. Natürlich musste sie vermeiden, dass der eingebildete Kerl auf die Idee kam, sie sei aus rein persönlichen Gründen auf sein Wohlergehen bedacht. Dass ihr prächtiger Busen ihm gefiel, war ihr nämlich nicht entgangen. Nein, nein ... Sie brauchte einen handfesteren Grund, um sich an seine Fersen zu heften. Hatte sie nicht noch ein anderes Motiv? Dann fiel es ihr ein: Dave Vierauge! Dave war ihr Bursche! Sie hatte ihm das Leben gerettet. Gab es in dem uralten Kodex der Freien Söldner nicht einen Paragraphen, der sie für ihn verantwortlich machte? Ich wette, Orland hat von unserem Kodex keinen blassen Schimmer. »Tut mir Leid, Kapitän, aber ich muss abmustern.« Laryssa öffnete die Brückentür. Frischer Wind wehte ihr um die Nase. »Was soll das heißen?« Boronin fuhr erschreckt herum und
musterte sie mit nervösen Blicken. »Willst du mich mit einem Dutzend Weibern allein an Bord lassen?« »Mein Bursche ist in die Hände feindlicher Truppen gefallen«, sagte Laryssa. Sie trat ins Freie. Der Wind griff in ihre rote Mähne und zerzauste sie. Er roch nach Salz und Fisch. »Ich kann ihn nicht im Stich lassen.« Sie knallte die Tür zu und eilte die schmale Stiege hinab, die an Deck führte. Boronin ließ das Ruder los, um hinter ihr her zu eilen, doch dann sah er, dass sich die Sturmbraut der schmalen Ausfahrt schnell näherte. Mit einem Fluch auf die gesamte Weiblichkeit des Erdenrunds sprang er zurück und konzentrierte sich. Nun galt es, die von hohen Klippen umsäumte Enge zu durchfahren, ohne den Rumpf des Schiffes zu Kleinholz zu verarbeiten. Laryssa winkte den skoothischen Weibern zu, die an Deck standen und mit dem einfältigen Smoytje schäkerten. Er war außer Boronin der einzige Mann an Bord - aber nicht Manns genug, um sie aufzuhalten. Ein schneller Blick zeigte ihr, dass sich kein Beiboot mehr an Bord befand. Musste sie etwa schwimmend nach Tromsoy zurückkehren? Die schmale Landenge, die Boronin zu durchfahren sich nun anschickte, kam schnell näher. Laryssa sprang an die Steuerbordreling und peilte die Lage. Wenn sie auf die vorletzte Relingsprosse kletterte, konnte sie vielleicht sogar trockenen Fußes übersetzen ... Schon ragte eine von spärlichem Grün bewachsene Felswand vor ihr auf. Laryssa überzeugte sich, dass der Säbel, den sie in der Kabine des Kapitäns gefunden hatte, fest in der Scheide steckte. Dann schwang sie sich auf die vorletzte Sprosse und suchte mit den Knien Halt. Hinter ihr wurde Geschrei laut, doch sie hatte keine Zeit, sich zu den Skoothenweibern umzudrehen. Schon fegte eine graubraune Felswand an ihr vorbei. Vor Laryssas Nase krallten sich die Wurzeln von Zwergbirken in
einen mehr als fragwürdig aussehenden Untergrund. Jetzt die Arme ausgestreckt ... Der erste Baum, dessen Äste sie erwischte, löste sich vom Gestein und kam ihr entgegen. Laryssa ließ ihn fallen und griff nach dem nächsten. Mist! Auch er klatschte zu ihren Füßen ins schäumende Wasser. Als sie den dritten Baum zu fassen bekam, spürte sie überrascht, dass sie in die Höhe gehoben wurde. Laryssas Knie schlugen gegen die Reling. Sie klammerte sich an die Äste der Birke und zog die Beine an. Schschsch ... Am Luftzug in ihrem Rücken spürte sie, dass die Sturmbraut an ihr vorbei rauschte. Schon krachte sie seitlich gegen die Felswand. Ihre Stiefelspitzen suchten instinktiv nach einem auch noch so kleinen Vorsprung. Die Birke knarzte verräterisch. Gleichzeitig fanden Laryssas Rechte in einer schmalen Felsspalte und ihr rechter Fuß auf einem kleinen Vorsprung Halt. Hinter ihr ließ das Rauschen nach. Sekunden später sah sie aus den Augenwinkeln das Heck des gewaltigen Katamaran an sich vorüberziehen. Die skoothischen Weiber und der Smoytje, die ans Heck gelaufen waren, winkten ihr zu. Schon lagen mehrere Meter zwischen Laryssa und der Sturmbraut. Als sie nach oben schaute, um zu sehen, wie weit sie noch klettern musste, wurde aus dem Knarzen des Bäumchens ein Krachen. Laryssa krallte sich in die Felsspalte, murmelte eine Verwünschung und prüfte mit dem rechten Fuß den Tritt, auf dem sie stand. Er wirkte stabil, aber würde er ihr ganzes Gewicht tragen? Im nächsten Moment lösten sich die Baumwurzeln gänzlich und sie hatte keine andere Wahl, als sich nach rechts zu schwingen. Die Birke schrammte an ihrer Schulter vorbei und stürzte ins Wasser. Laryssas Blicke flogen hin und her, dann entdeckte sie ein Stück oberhalb der Felsspalte einen kleinen Vorsprung, der sich als Griff geradezu anbot. Ihre Linke flog
darauf zu. Gerettet. Vorerst. Sie stand nun gerade und konnte sich ein Aufatmen leisten. Sie drehte sie den Kopf und schaute zum Nordmeer hin. Die Sturmbraut entfernte sich rasch. Ihr Ziel war Britana, wo man Boronin für die Befreiung der Frauen gewiss ein hübsches Sümmchen zahlen würde. Nun ja, Orland hatte Boronins Dampfer ausgeraubt und versenkt. Man konnte ihm seine Rache nicht verübeln ... Laryssa blickte nach oben. Die Sonne stand hoch am Himmel und blendete sie. Die Felswand war steil, aber nicht zu steil. Außerdem brauchte sie nur fünf Meter in der Senkrechten zu überwinden. Sie atmete tief ein, dann hielt sie konzentriert nach der nächsten Stelle Ausschau, die ihr Halt bot ... * Der Legende nach stammte ein gewisser Teil der Bewohner der Insel Tromsoy von monströsen Lebewesen ab, die vor der Großen Katastrophe in den Tiefen der Erde gelebt und sich während der Eisigen Zeit danach mit den Menschen gepaart hatten. Schlichte Gemüter neigten dazu, diese Mär zu glauben, zumal manche Tromsoyer fragwürdige Tischmanieren hatten und man anderen nachsagte, dass sie unter ihren groben Kattunhosen bepelzte Stummelschwänze verbargen. Laryssa jedoch gehörte als Kapitänstochter den gebildeten Ständen an und wusste aus den alten Folianten ihrer auf Spizborgh ansässigen Familie, dass die ursprünglichen Tromsoyer vermutlich Mutanten waren: Opfer der geheimnisvollen Mächte, die Kristofluu auf die Erde gebracht hatte. Weithin bekannt war auch die Heimtücke der Tromsoyer auch dies ein Ammenmärchen. Ein ausschließlich aus Räubern und Halsabschneidern bestehendes Volk hätte ohne ehrliche Stände, Bauern, Händler und Handwerker kein Jahr überlebt.
Andererseits war Laryssa so weit herumgekommen, um zu wissen, dass nicht alle Menschen auf ihrem Weg ihr wohl gesonnen waren. Auch auf Tromsoy gab es einen gewissen Prozentsatz an zweibeinigem Gelichter, und der knorrige kleine Wicht, der sich König Skölnir nannte, gehörte fraglos dazu. Natürlich konnte man Skölnir nicht verübeln, dass er in Ragnar Orlands Piratenbande unerwünschte Eindringlinge sah und dementsprechend mit ihnen umsprang. Zumal sie seine Insel schon mehrfach heimgesucht und ausgeplündert hatten. Dass sie nun heftig reduziert worden waren, war eigentlich nur gerecht. Trotzdem wollte sich Laryssa, die ihren Säbel an Kapitän Orland vermietet hatte, damit nicht abfinden. Sie war ihm - nun da sie wusste, dass er nicht der Mörder ihres Vaters sein konnte - Treue schuldig. Davon abgesehen konnte sie den Lumpen gut leiden. Aus diesem Grund war sie nun zur Hauptstadt Tromsoys unterwegs. Wie ein Schatten folgte sie dem Zug der sich erschöpft dahin schleppenden Gefangenen. In ihrer zerfetzten und von Blut bespritzten Kleidung boten sie wahrhaft keinen schönen Anblick. Dabei konnten sie von Glück reden, dass sie überhaupt noch lebten: Dort wo Skölnirs Schergen sie geschlagen und in Eisen gelegt hatten, sah es übel aus. Der Anblick der Leichen und Taratzenkadaver hatten Laryssa, der der Tod von Berufs wegen nicht fremd war, doch ziemlich mitgenommen. Unter den Toten hatte sie viele bekannte Gesichter gesehen. Nach Laryssas Schätzung hatten zwei Drittel der Flybusta ins Gras gebissen, aber auch viele Männer Skölnirs. Nun schwangen seine übellaunigen Schergen lange Lederpeitschen und trieben die Gefangenen vor sich her. Als sich der Abend über die Marschierenden senkte, der Mond silbernes Licht vergoss und der Fichtenwald hinter ihnen lag, schien der König sich abgeregt zu haben und seine Leute fielen
in einen gemütlicheren Trott. Vor ihnen, auf einem grünen Hügel, wurden die Lichter der Stadt sichtbar, und Laryssa, die schnuppernd den Kopf hob, roch, dass das Meer nicht mehr fern war. Als sie den Fuß des Hügels erreichte, trieben Skölnirs Männer die Gefangenen schon wie Vieh durch die Stadt. Die Bewohner ließen ihrer Wut auf die Freibeuter freien Lauf, beschimpften und bespuckten sie. Hier und da zückte man auch Spießruten und Knüppel und gerbte ihnen das Fell. Skölnir Schädelspalter, jeder Zoll ein Sieger, stolzierte mit hoch erhobenem Haupt an der Spitze des Zuges, als wollte er sagen: »Schaut her! So ergeht es allen, die es wagen, sich mit mir anzulegen!« Bald erspähte Laryssa, die sich in der Deckung der ein- bis dreistöckigen Holzhäuser hielt, die ersten Hafenanlagen und zahlreiche vertäute Schiffe. Eins dieser Schiffe - ein Dreimaster mit roten Segeln, die gerade gerefft wurden - war an der ganzen Festlandküste bekannt und berüchtigt. Es hieß Nordstern. »Jetzt geht's dem Räuberpack dreckig«, knurrte ein feister Kerl, der mit einem Humpen Biir in der Hand vor der Tür einer Taverne stand, und spuckte auf den Boden. »Wer an Ukluk verkauft wird, kann schon jetzt sein Testament machen.« Ukluk? Laryssas Hoffnung sank. Sie hatte sich also, was die Nordstern anbetraf, nicht geirrt. Die Gefangenen marschierten geradewegs der Gangway des Dreimasters entgegen. An Deck stand ein in Echsenleder gekleideter Mann. Er war etwa vierzig Jahre alt, kahlköpfig, hatte beeindruckende Muskeln und stand breitbeinig und mit vor der Brust verschränkten Armen da - wie jemand, der um seine Wichtigkeit wusste. Als er die Gefangenen sah, erhellte sich seine Miene. Er winkte König Skölnir zu. »Majestät! Welche Freude!« Skölnir blieb stehen, drehte sich um und brüllte: »Das
Ganze - haaalt!« Die Gefangenen erschlafften. Skölnirs Schergen standen stramm. Der König wandte sich wieder um und schritt die Gangway hinauf. »Ukluk! Wie angenehm, dich zu sehen. Lange ist es her ...« Der Mann im Echsenleder, der die kleine Majestät um drei Haupteslängen überragte, umarmte seinen Gast wie einen alten Freund. Dann fingen die beiden an zu tuscheln, und Laryssa nutzte die Gelegenheit, sich näher an die Gefangenen heranzuschleichen, um nach Kapitän Orland Ausschau zu halten. Obwohl der Hafen durch zahlreiche Laternen und Fackeln in helles Licht getaucht wurde, brauchte sie eine Weile, und als sie ihn schließlich erblickte, fuhr ihr ein Schreck durch die Glieder: Der gepflegte, gut gekleidete Mann war nur noch ein Schatten seiner selbst. Sein Gesicht war bleich wie der Tod, er zitterte am ganzen Leibe und konnte sich offenbar nur noch auf den Beinen halten, weil Dave und sein Freund Rulfan ihn von beiden Seiten stützten. Auch sie sahen reichlich mitgenommen aus, doch das hatte vermutlich mit dem Kampf und dem langen Marsch zu tun, der hinter ihnen lag. Kapitän Orland hingegen wirkte wie ein Gespenst. Im Namen aller Nordmeergötter, der Koox-Entzug musste die Hölle sein für den armen Kerl! »Ein Glück, dass der König uns dieses Natterngezücht nun ein für alle Mal vom Hals schafft«, trompetete der Dicke vor der Taverne. Laryssa schaute sich um und musste feststellen, dass sich mehrere Dutzend Gaffer um ihn versammelt hatten. »Fort mit ihnen!«, schrie jemand. »Verkauft sie ans Ende der Welt!« »Ja, nach Spizborgh, an den Tyrannen Rotbart!«, johlte eine für ihr Alter viel zu jugendlich gekleidete Frau. »Oder noch besser«, schrie der Feiste, »an König Eisenarm von Byorn, dem das Volk in Scharen davon läuft, weil es auf
seiner Insel nur ranzigen Fisch zu fressen gibt!« »Es lebe unsere geliebte Majestät, König Skölnir!«, krakeelte ein Schleimer, als stünde er als Werbefachmann im Sold des Herrscherhauses. Natürlich wusste er, dass es hier von Spitzeln nur so wimmelte und dass es sich immer gut machte, wenn diese Leute einen in positiver Erinnerung behielten. »Und auch die tapferen Berserker unserer geliebten Majestät!«, fügte denn auch gleich ein anderer Bürger hinzu. Laryssa, die all dies mit anhören musste, kochte auf kleiner Flamme vor sich hin. Was sollte sie tun, wenn der zwergenhafte Monarch seine Gefangenen wirklich ans Ende der Welt verkaufte? Spizborgh war ihr Zuhause, aber sie kannte auch die restlichen Nebelinseln. Was der Tromsoyer Mob über Eynar Rotbart sagte, war nicht gelogen. Und Bertyl der Siebente von Byorn - genannt König Eisenarm - verschliss in der Tat Scharen von Zwangsarbeitern, seit seine Untertanen es vorzogen zu emigrieren ... Ein weißer Blitz am Rand ihres Blickfelds riss Laryssas Kopf herum. Was war das gewesen? Ihr Blick fiel auf Rulfan Rotauge. Er stand inmitten der Gefangenen, war aber gut sichtbar. Auch er hatte die Bewegung am Rand des Kais wahrgenommen und reagierte mit offensichtlicher Unruhe darauf. Die Geste, die er mit der freien Hand vollführte, schien »Hau ab!« zu bedeuten. Einen Augenblick später wusste Laryssa auch, wem sie galt. Rechts von ihr, unter einem auf Pfählen stehenden Haus tauchte der weiße Lupa auf, der Kapitän Orland einst den Stiefel zerfetzt hatte. Er gehörte Rotauge, doch dieser legte großen Wert darauf, dass sich das Tier schleunigst davon machte. Der Lupa schien ihn zu verstehen, wirkte aber unwillig: Er wich einen Schritt zurück, wedelte mit dem Schweif, kam wieder vor, trat bei der nächsten Geste wieder den Rückzug an und zeigte, dass er einerseits gehorchen wollte, andererseits
jedoch nicht gegen sein Pflichtgefühl ankam. Was für ein rührender Treuebeweis, dachte Laryssa ergriffen. Den Lupa - wie hieß er doch gleich? Wulf? - zog es zu seinem Herrn. Und Rotauge wollte verhindern, dass man ihn fing. Der Mann im Echsenleder, der noch immer mit Skölnir redete, blickte nun über die Reling und erspähte den Lupa. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, doch als sich Wulf unter den Pfahlbau zurückzog und im Dunkel untertauchte, wandte er sich wieder Skölnir zu und klopfte ihm auf die Schulter. Auf der Nordstern geriet nun einiges in Bewegung. Allem Anschein nach waren sich die Männer handelseinig geworden. Skölnir gab seinen Soldaten einen Wink. Schon pfiffen die Peitschen. Die Gefangenen setzten sich unter dem Johlen der Menge in Bewegung und marschierten mit schleppenden Schritten und rasselnden Ketten über die Gangway. An Deck wurden sie von Ukluks Mannschaft im Empfang genommen und über einen Niedergang unter Deck gebracht. Als der letzte Flybusta verschwunden war, gingen Skölnirs Männer wieder an Land und warteten in einer Dreierreihe auf die Rückkehr ihres Monarchen. Skölnir ließ sie jedoch stehen und verschwand mit Ukluk unter Deck. Vermutlich ließ er sich auszahlen oder begoss den Geschäftsabschluss mit einem Humpen Voodka. Nun kehrten auch die Gaffer in die Tavernen und Läden zurück. Kurz darauf hatte sich der Kai weitestgehend geleert. Laryssa, hungrig und müde, schaute sich nach einem Plätzchen um, wo man sich stärken und den Segler im Auge behalten konnte. Ein kleines Gasthaus, das der Nordstern schräg gegenüber lag, schien ihr der passende Ort zu sein. Die Gaststube war völlig leer. Die Wirtin war ein kurzhaariges Mannweib, flachbrüstig und mit von Wind und Salz gegerbter Haut. Sie beäugte argwöhnisch den Säbel, der
an Laryssas Gurt baumelte, dann richtete sich ihr Interesse auf den Busen der Söldnerin. Laryssa erkannte sofort, dass die Wirtin kein Interesse an Männern hatte. »Was hat Eure Küche zu bieten?«, fragte sie, nachdem sie einen Platz am Fenster eingenommen hatte, von dem aus man die Nordstern im Auge behalten konnte. »Ach, nicht so förmlich«, erwiderte die Wirtin und grinste breit. »Nenn mich Ricki, das tun hier alle. Wie wär's mit gebratenem Seelax, dazu fritierte Tofanenstäbchen?« »Nur her damit«, sagte Laryssa und stellte sich vor. »Und dazu ein frisch Gezapftes. Ich hab Hunger wie ein Izeekepir.« »Bist du aus der Gegend?«, fragte Ricki kurz darauf interessiert, als Laryssa sich den Magen füllte. »Hab dich hier noch nie hier gesehen.« Laryssa schüttelte den Kopf, trank einen Schluck Biir und wischte sich den Schaum von den Lippen. »Ich komm vom Festland.« »Osloo?« »Unter anderem.« »Suchst du Arbeit?« Ricki zwinkerte Laryssa zu und schwang sich neben sie auf einen Hocker. Sie hatte eindeutige Absichten. »Nun ja ... Kommt drauf an.« »Auf was?« Laryssa lachte. »Auf die Bezahlung.« Ricki spitzte die Lippen. »Schon mal in der Gastronomie gearbeitet?« Laryssa verneinte. »Ich bin auf der Suche nach einer Heuer.« Sie deutete mit dem Kopf auf die Nordstern. »Vielleicht da drüben auf dem Kahn.« Ricki rümpfte die Nase. »Das da ist kein gewöhnlicher Kahn«, sagte sie leise, »das ist ein Menschenhändler. Der Kapitän ist ein Skoothe, glaub ich. Macht im ganzen Nordmeer seine schmutzigen Geschäfte.«
Dass Ricki Menschenhandel für ein schmutziges Geschäft hielt, machte sie Laryssa sympathisch. »Heißt er Ukluk?«, fragte sie. »Der große Glatzkopf mit dem Echseniederzeug?« Ricki nickte und schaute sie gleichzeitig besorgt an. »Du willst doch nicht wirklich bei dem anheuern?« Laryssa machte eine abwehrende Handbewegung, um sich Rickis Sympathie nicht zu verscherzen. »Wohl kaum«, log sie. »Aber es gibt ja auch noch andere Schiffe am Kai.« »Hm. Ja, die gibt es wohl ...« Die Andeutung, dass Laryssa am Job einer Schankmaid wohl kein Interesse hatte, kühlte Rickis Interesse an ihr ab. Sie rutschte vom Hocker, ging hinter den Tresen und spülte Humpen in einem hölzernen Zuber. Im gleichen Moment sah Laryssa im Schein der Hafenlaternen einen weißen Vierbeiner, der geduckt über den gepflasterten Kai pirschte. Wulf! Sie reckte den Hals, und als sie sah, dass er die im Freien gestapelten Kisten, Fässer und Säcke als Deckung nutzte, damit die Bordwache ihn nicht sah, musste sie unweigerlich schmunzeln. Was für ein gerissener Hund! Rechts von der Gangway, hinter eine große Kiste geduckt, lugte Wulf mit angelegten Ohren zur Reling hoch, an der die Wache stand. Vermutlich überlegte er sich gerade, wie er an Bord schleichen konnte, ohne dass der Mann ihn sah ... Unsinn!, schalt sich Laryssa. Das ist ein Tier, keine Mutation wie etwa Taratzen. Jedenfalls hatte sie noch nie von einem vernunftbegabten Lupa gehört. In diesem Augenblick flitzte eine fette Ratze vor dem Materialstapel her, hinter dem Wulf sich verborgen hielt. Der Mann an der Reling wurde durch die Bewegung aufmerksam. Er schaute hoch und entdeckte das weiße Fell des Lupa. Seine Hand zuckte an die lange Klinge an seinem Gürtel. Wulf wich augenblicklich zurück und tauchte im Dunkel unter.
* Hinter dem Flybusta Ulaf lag die typische Laufbahn eines Menschen, die geradewegs in die Existenz eines Tunichtguts mündete: Nach einer abgebrochenen Lehre als Schweinehirt auf Tromsoy hatte er sich als Gehilfe eines Schnapsbrenners betätigt. Dieser hatte sich jedoch mit den Steuereintreibern König Skölnirs einen ständigen Kleinkrieg geliefert, sodass die Enteignung seines Betriebs nur eine Frage der Zeit gewesen war. Anschließend hatte Ulaf monatelang im Hafen von Skölnirziti herumgelungert und die Festlandtouristen ausgenommen, die Rundfahrten durch die Slums der Stadt gemacht hatten. Nach einem peinlichen Zwischenfall mit der Gerichtsbarkeit Seiner Majestät hatte Ulaf ein Jahr lang im örtlichen Karzer gebrummt. Doch statt dabei über eine bessere Zukunft nachzudenken, hatte er sich mit einem trinkfesten Finni namens Akii angefreundet. Akii hatte ihn nach ihrer Entlassung mit in seine Heimat genommen. Dort hatte den Finni kurz nach der Ankunft sein Schicksal in Form eines spitzen Dolches ereilt, als ein Kumpan aus alten Zeiten eine noch offene Rechnung ziemlich endgültig beglich. Auf der Suche nach einem einträglichen, aber nicht allzu schweren Job war Ulaf dann Kapitän Ragnar Orland von der Sturmbraut begegnet, einem stets gut gekleideten Burschen mit formvollendeten Manieren. Orland war wortgewandt, kooxsüchtig und stammte Gerüchten zufolge von den Meera-Inseln. Er hatte Ulafs Qualitäten gleich erkannt und ihn als Spion eingesetzt: Ulaf hatte sich als Matrose auf Frachtschiffen anheuern lassen, deren Ladung für die Piraten interessant waren. Sein letztes Schiff war der Schaufelraddampfer Genosse Troozki - Heimathafen: Nydda, Ruland - gewesen. Leider war
er falschen Gerüchten aufgesessen, der einäugige Kapitän Boronin habe eine Riesenladung Koox in seinem Laderaum verstaut. Kapitän Orland war natürlich begeistert gewesen, zumal sein Vorrat des Teufelszeugs zu Ende ging. Weniger begeistert hatte ihn nach erfolgreichem Entern des Dampfers Boronins Auskunft, es sei gar kein Koox an Bord. Die ersten Entzugserscheinungen hatten ihn geradezu ausrasten lassen, sodass Kapitän Boronin, um seinen Hals zu retten, Orland aufgetischt hatte, das Koox befände sich in einem unterirdischen Labyrinth auf der Insel Tromsoy. Orland kannte die Insel gut; er hatte sie schon mehrfach überfallen und ausgeplündert. Als er und seine Männer die Finte erkannten, waren sie bereits in eine Falle getappt: König Skölnirs Truppen waren über sie hergefallen, hatten die dreißig Überlebenden in Eisen gelegt, in ihre Hauptstadt gebracht und an einen Sklavenhändler verkauft. Ulaf hatte das ganze Dilemma an Bord der Sturmbraut im Vollrausch verschlafen - und als er endlich raffte, was geschehen war, hatte ihn Laryssa über Bord geworfen. Nun stand er nach einem endlos langen Marsch im nächtlichen Hafen von Skölnirziti und fragte sich, wie er es drehen sollte, seine Gefährten zu befreien. Denn ohne sie und seinen Kapitän war er ein Nichts. Hier, in seiner alten Heimat, hatte er höchstens die Chance, wieder als Schweinehirt zu arbeiten. Ulafs Blick wanderte über Häuser mit roten Laternen und Hafenkaschemmen, und er erinnerte sich mit einem wehmütigen Seufzer an seine Jugendjahre. Sobald ein Soldat Seiner Majestät vorbeikam, drückte er sich in Hauseingänge oder Toreinfahrten. Obwohl ihn niemand auf Tromsoy mit den Flybusta in Verbindung bringen konnte, war er ein Gewohnheitstier. Eine von Ulafs weiteren Gewohnheiten bestand darin,
ständig nach Menschen Ausschau zu halten, die er um ihre Börse erleichtern konnte. Und der nobel gekleidete junge Mann, der da drüben gerade das dreistöckigen Freudenhaus verließ, sah so aus, als hätte er eine Menge Geld in der Tasche. Ulaf schaute sich um. Als er sicher war, dass niemand ihn beachtete, richtete er sein rotes Stirnband, schob die Hände in die Taschen seiner längs gestreiften Hose und folgte dem jungen Herrn. Ihr gemeinsamer Weg führte zum Kai. Der Nobelmann blieb vor dem Dreimaster mit den roten Segeln stehen, in den vor gar nicht langer Zeit Ulafs Genossen verladen worden waren. Die Nordstern war fraglos ein schmuckes Schiff. Doch der junge Herr interessierte sich nicht für ihren formschönen Rumpf: Sein Blick ruhte auf einer hoch gewachsenen Gestalt, die auf der Höhe des Hecks stand und den Hals reckte, als wolle sie den dort aufgemalten Namen des Schiffes lesen. Ich fass es nicht!, dachte Ulaf, als nun am Himmel eine Wolke aufriss und ihn ein heller Mondstrahl die Gestalt erkennen ließ. Sogleich wogte Hass in seinem Bauch auf. Ulafs Hand glitt zu dem Wurfmesser in seinem Gürtel - die einzige Waffe, die ihm verblieben war, als sich die verfluchte Söldnerin auf Boronins Seite geschlagen, seine Kameraden verraten und ihn ins Wasser geworfen hatte! Sie hatte den Tod verdient! Wäre es nach Ulaf gegangen, hätte er sie sofort beseitigt. Aber eins hatte er in seinem Leben gelernt: Es war unklug, jemandem das Leben zu nehmen, wenn Zeugen in der Nähe waren. Außerdem stand der junge Herr genau in seiner Wurfbahn. Und beide konnte er mit nur einem Messer nicht töten. Ulaf fluchte leise. Es war auch unklug, den jungen Herrn seiner Börse zu entkleiden, solange die Rothaarige in der Nähe
war. Auf Tromsoy - es war unglaublich! - durften nämlich auch Frauen vor Gericht als Zeugen aussagen. Na, dich krieg ich schon noch, du Säbelweib, dachte Ulaf zähneknirschend. Er zog sich in eine verwinkelte Gasse zurück. Ein großer weißer Lupa, der ihn dabei beobachtete, verschwand rasch in der Finsternis. * Eine Stunde später kehrte Skölnir mit einem zufriedenen Grinsen auf den Lippen und einem kleinen Leinenbeutel in der Hand zu seinen wartenden Männern zurück. Er brüllte ein Kommando. Die Abteilung setzte sich in Marsch, verließ den Liegeplatz der Nordstern und verschwand in den Gassen der Stadt. Als der Kai leer war und Ricki im Hinterzimmer mit Flaschen klirrte, nutzte Laryssa die Gelegenheit. Sie legte eine Münze auf den Tisch und trat ins Freie, um sich nach Rotauges Lupa umzusehen. Es war kühl geworden. Wulf war nirgendwo zu entdecken. Nach einer Weile gab sie es auf und spazierte an der Kaimauer entlang, um sich Ukluks Schiff aus der Nähe anzusehen. Die Bordwache und zwei, drei andere Gestalten, die sich an Deck herumtrieben, wirkten nicht gerade seriös, aber das galt auch für Ragnar Orlands Mannen. Als sich Laryssa gerade vom Heck abwandte, auf dem sie den aufgemalten Namen des Heimathafens - Noycossle - studiert hatte, bemerkte sie am Ausgang einer Gasse den Lupa, der genau wie sie das Schiff musterte. Beinahe so, als überlege er, wie er an Bord kommen sollte. Noch bevor Laryssa auf ihn zu gehen konnte, zog er sich in die Dunkelheit zurück. Eilig - aber nicht zu eilig - ging Laryssa zu der Gasse und rief leise Wulfs Namen. Doch entweder traute er ihr nicht oder war schon zu weit weg, um sie zu hören.
Da spürte Laryssa die Anwesenheit eines Menschen in der Finsternis. All ihre Sinne schrien Alarm. »Hier ist kein Wulf«, sagte eine Stimme, die so heiser wie schleimig klang. Eine Wolke süßlichen Parfüms wehte Laryssa entgegen. »Du kannst aber gern mit mir vorlieb nehmen.« Der Mann, der aus den Schatten trat, sah gar nicht mal übel aus. Er war zwar jünger als sie, wirkte aber nicht wie ein naiver Spund. Sein wacher Blick deutete Erfahrungen an, die man nur auf der Straße sammeln konnte, und seine Kleidung zeigte jenen geschmacklosen Schick, den man bei Kerlen fand, die ihr Leben an Kartentischen totschlugen, während junge Frauen ihre Körper für sie verkauften. Auch die protzige Goldkette, die seinen Hals zierte, ließ auf einen Zuhälter schließen. Auf Laryssas geheimer Liste hassenswerter Berufsstände kamen sie gleich nach den Sklavenhändlern - doch nur deswegen, weil sie ihre Geschäfte in kleinerem Rahmen betrieben. »Danke, aber mein Bedarf an Gesellschaft ist für heute gedeckt«, erwiderte Laryssa diplomatisch, denn sie hatte kein Interesse daran, die Aufmerksamkeit der Nordstern-Bordwache zu ziehen. Doch sie hatte die Hartnäckigkeit des Luden unterschätzt. Als sie sich umwandte, um zu Rickis Gasthaus zurückzukehren, legte sich plötzlich von hinten ein Arm um ihre Kehle und umklammerte sie mit stählernem Griff. Ein feuriger Adrenalinstoß fuhr durch Laryssas Leib. Ihre Rechte ging instinktiv zum Säbel. Als ihre Hand den Griff zu packen bekam, ragte plötzlich ein Messer vor ihrem Gesicht auf. Die Spitze der Klinge war genau auf ihr linkes Auge gerichtet. »Du gehst erst, wenn ich es sage«, zischte der parfümierte Kerl. Na, wunderbar! Laryssa schloss kurz die Augen, spannte die Muskeln an und konzentrierte sich.
»Ich bin Alrejk Canovas«, raunte der junge Mann ihr ins Ohr. »Der König der Unterwelt. Die Leute in Skölnirziti tun für gewöhnlich, was ich sage.« »Wenn du mich nicht loslässt«, erwiderte Laryssa kühl, »wirst du nie wieder etwas sagen.« Alrejk kicherte. Weder ließ sein Griff nach, noch wankte seine Messerhand. »Ich hab viel von euch Säbelweibern gehört«, raunte er. »Aber getroffen hab ich noch keins.« Er schnalzte mit der Zunge. »Ich bin auf der Suche nach Frischfleisch für meinen ›Palast der Tausend Freuden‹. Außerdem wollte ich schon immer wissen, ob ihr wirklich so wild seid, wie die Leute behaupten. Wenn du tust, was ich dir sage, mach ich dich reich.« »Vielen Dank«, gab Laryssa zurück. »Aber es gibt einen Grund, warum ich dein großzügiges Angebot nicht annehmen kann.« »Und was wäre das wohl?« Brutale Offenheit hatte Laryssa im Umgang mit üblen Elementen schon oft einen Vorteil verschafft. Weil niemand gern die Wahrheit hörte und sich damit leicht verunsichern ließ. »Ich verachte Parasiten, die auf Kosten Anderer leben. In meinen Augen bist du nicht mehr wert als Scheiße unter einer Stiefelsohle.« Es funktionierte auch diesmal. Die spitze Klinge vor ihrem Gesicht sank ein Stück abwärts und begann zu zittern. Im gleichen Moment winkelte Laryssa das linke Bein an und ließ es nach hinten zucken. Ihr Absatz knallte gegen Alrejks Kniescheibe, und als der sich vor Schmerz krümmte, umspannte Laryssas Linke die Messerhand des Zuhälters und drängte sie zur Seite ab. Gleichzeitig duckte sie sich, entkam dem Arm, der ihren Hals umfasste, und wirbelte wie der Blitz herum. Dann verließ sie das Glück. Bevor ihre Rechte den Säbel
gezückt hatte, traf sie ein kräftiger Boxhieb auf die Kinnspitze. Sie flog nach hinten und sah Sterne. Als sie auf das grobe Pflaster prallte, flog Alrejk bereits auf sie zu. Noch halb benommen zog Laryssa die Beine an und trat aus. Ihre Sohlen krachten in Alrejks Magen. Er stieß ein Röcheln aus und verlor sein Messer, das klirrend übers Gestein schepperte. Bevor Laryssa auf die Beine springen und den Säbel ziehen konnte, verschwand Alrejks Hand in einer Tasche seines Jacketts. Als er sie wieder hervor zog, richtete sich eine blauschwarz glänzende Pistole mit zwei Stummelläufen auf Laryssa. Seine Augen blitzten triumphierend, als er abdrückte. Im gleichen Moment hörte Laryssa ein Knurren und sah einen weißen Schatten durch die Luft fliegen. Ohrenbetäubender Donner dröhnte in ihren Ohren - aber sie spürte keinen Einschlag. Alrejk schrie auf. Der Derringer entglitt seiner Hand und rutschte zwischen ein Dutzend Fässer, die an einer Hauswand standen. Und Laryssa erkannte endlich, was Alrejk zur Seite gestoßen und sie gerettet hatte. Wulf! Schon setzte der Lupa zu einem weiteren Sprung an. Alrejk kam auf die Beine und stürzte panisch davon. Leider befand sich in dieser Richtung aber nur die Kaimauer. Bevor er seinen Blick von dem knurrenden Lupa lösen und nach vorn schauen konnte, trat sein Fuß bereits ins Leere. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte kopfüber in die braune Brühe, die durch Rohre aus den Häusern des Hafenviertels in das Becken geleitet wurde. »Hilfe!«, kreischte Alrejk und schlug wild um sich. »Helft mir! Ich kann nicht schwimmen!« Laryssa trat mit dem Säbel in der Hand an den Rand der Kaimauer und zwinkerte ihm zu. »Dann lern es - aber zügig!« Auch an der Reling der Nordstern ertönte nun eine Stimme. »Hallo, Froken! Ja, Sie da unten!« Laryssa ignorierte den kreischenden Luden, der weiter ins
Hafenbecken hinaus trieb. Sie hob den Kopf und sah den Mann in Echsenleder - Kapitän Ukluk - an der Reling stehen. »Gehört der Lupa da Ihnen?« Laryssa wandte sich verdutzt um. Wulf hatte es vorgezogen, diesmal nicht wieder zu verschwinden. Er saß neben ihr und sah zu Ukluk hoch, als verstünde er dessen Worte. »Nun, äh ... nicht direkt«, entgegnete Laryssa. »Ich hüte ihn für einen Freund, der gerade ... auf ... ähm ... Reisen ist.« »Ich mag diese Tiere«, sagte Kapitän Ukluk und deutete auf die Gangway. »Kommen Sie doch an Bord ...« * Whitley Bay: Einstmals ein an der Nordseeküste gelegener Urlaubsort mit einem hübschen Sandstrand. Heute ein von Sümpfen und Dschungel überwuchertes Gebiet, in dem tausend Gefahren lauerten. Weiter südlich, auf der anderen Seite einer größeren Bucht, ragten die Skelette rostzerfressener Öltanks und Schiffswerften in die Luft. Als Wulf durch eine Gasse fegte, die der Urwald noch nicht erobert hatte, und sich einen Weg über die zerbröselnden Reste der längst namenlosen Ortschaft bahnte, begegnete er Scharen von handtellergroßen Kellerasseln. Die sich am Wegesrand zuhauf stapelnden Autowracks waren von den Insekten in Beschlag genommen worden, deren schiere Masse sogar einen Lupa schrecken musste. Nach einem Sturz hätte er sich zweifellos binnen Sekunden unter einer wimmelnden Decke gepanzerter Leiber wiedergefunden. Nur indem er sein Tempo hielt, konnte er verhindern, dass sie in sein Fell gelangten. Als der Morgen graute, konnte Wulf ein fettes Gerulmännchen schlagen, das so dumm war, seinen Kopf gerade in dem Moment aus einem hohlen Baum zu recken, als der weiße Lupa des Weges kam. Das schmackhafte Fleisch des Raubsäugers wurde ihm
aber, kaum dass er halbwegs gesättigt war, von einem Wesen streitig gemacht, dessen schraubenförmig gewundener Schlangenleib urplötzlich aus dem Boden brach. Nachdem es sich den Gerul mit einem unglaublich dehnbaren Maul einverleibt hatte, verschwand es sofort wieder im Erdreich. Wulf schluckte seinen Zorn herunter, schickte dem unterirdischen Biest ein wütendes Knurren hinterher und setzte sich wieder in Bewegung. Er trabte den ganzen Tag in gleich bleibendem Tempo, bis in den Abendstunden Wasser vom Himmel fiel und er Unterschlupf in einem Kunststoffrohr fand. Da es einer Familie von Ratzen als Wohnung diente, konnte er sich gleichzeitig über ein Abendessen freuen. Während draußen der Wind fauchte, die Bäume bog und das Nass pausenlos vom Himmel fiel, lag Wulf mit dem Kopf auf den Pfoten da und erinnerte sich an den Auftrag, den sein Herr ihm erteilt hatte. Kurz nachdem er irgendetwas mit seinem Ohr getan hatte. Etwas Schmerzhaftes, das Wulf nur mit Widerwillen zugelassen hatte. »Salburrie, Wulf! Zuhause! Such nach Dedd!« Er durfte es nicht vergessen ... * Die alte Weisheit, dass böse Menschen kein Klavier haben, stimmt vielleicht an jenen Orten, an denen Holz knapp ist. Doch in der wohnlich eingerichteten Kabine des Skoothen Ukluk stand ein solches Instrument mit weißen und schwarzen Tasten, wie Laryssa in Osloo schon einige gesehen hatte. Sanftes Licht aus weißen Kerzen erhellte das Domizil des Glatzkopfs, dem die Nordstern gehörte. Gerahmte Kohlezeichnungen an den Wänden zeigten bärtige Männer; vermutlich Ahnen des Menschenhändlers. Kostbare Teppichläufer aus fernen Landen deuteten an, dass Ukluk weit herumgekommen war. Geschmack hatte er auch.
Die Möbel, die die große Kabine am Heck des Seglers schmückten, waren von Meisterhand gemacht, und der Stuhl hinter dem wuchtigen Schreibtisch, auf den Kapitän Ukluk sich sinken ließ, um eine bauchige Flasche zu entkorken, knarrte nicht einmal. Die Kabine wirkte so gemütlich wie ihr in Echsenleder gekleideter Bewohner sympathisch. Dass jemand, der Sklavenhandel betrieb, ein angenehmes Gegenüber abgeben konnte, wäre Laryssa nicht im Traum eingefallen. Aber wahrscheinlich sah der Skoothe sich als Kaufmann und es war ihm völlig schnuppe, ob seine Ladung aus Yakkdung, Voodka oder Menschen bestand. Die Flüssigkeit in dem Glas, das er Laryssa über den Tisch entgegen schob, roch süß und schmeckte ebenso. Ukluks Blick war auch nicht von der Lüsternheit geprägt, die Laryssa seit dem Tag so vertraut war, an dem ihr endlich Brüste gewachsen waren. Nein; als Frau schien Ukluk sie gar nicht wahrzunehmen. Dafür ließ er Wulf, der mit ihr an Bord gegangen war, keine Sekunde aus den Augen. »Ein wunderbares Tier«, sagte Kapitän Ukluk und deutete mit dem Kinn auf den Lupa, der nun auf dem Boden lag und ihm mit gespitzten Ohren lauschte, als verstünde er jedes Wort. »Was für einen klugen Blick er hat!« Ukluk wirkte geradezu entzückt. »Wissen Sie, dass Lupas bei uns den Ruf haben, fast unzähmbar zu sein?« Laryssa zuckte die Achseln. Dann fabulierte sie drauflos, Wulf sei ihrem »auf Reisen befindlichen Freund« als Welpe zugelaufen und bei ihm aufgewachsen. »Wollen Sie ihn verkaufen?« Laryssa schüttelte den Kopf. »Wie könnte ich das, Kapitän, wo er mir doch gar nicht gehört?!« »Gewiss, gewiss.« Ukluk griff an sein glatt rasiertes Kinn. »Verzeihen Sie. Es ist nur ... Ich habe zufällig beobachtet, wie er« - Ukluk deutete auf Wulf - »auf den Tagedieb losgegangen ist, der es auf Sie abgesehen hatte.« Er räusperte sich. »Und
auch Sie selbst scheinen zu wissen, wie man sich seiner Haut erwehrt.« »Ich kann es nicht bestreiten.« Laryssa spitzte die Lippen. Gleichzeitig fragte sie sich, in welchem Teil des Schiffes wohl die Gefangenen festgehalten wurden, und ob sie es allein mit den Wachen aufnehmen konnte. Wäre Kapitän Ukluk nicht bei ihnen, würde Wulf seinen Herrn gewiss schnell finden. »Deswegen habe ich mir die Frage gestellt«, fuhr Kapitän Ukluk fort, »ob Sie und Ihr vierbeiniger Freund daran interessiert wären, in meine Dienste zu treten. Ich muss dringend die Position eines Sharifs neu besetzen. Unser alter Sharif hat leider vor einigen Tagen ins Gras gebissen.« Er schaute Laryssa an und zuckte die Achseln. »Meine Leute sind ein raubeiniger, nicht immer disziplinierter Haufen. Deswegen brauche ich jemanden, der es versteht, mit dem Säbel umzugehen.« Ihr Götter, dachte Laryssa. Ich soll in die Dienste eines Menschenhändlers treten! Kann eine Söldnerin von Ehre tiefer sinken? Doch andererseits ... gab es eine bessere Möglichkeit, in Kapitän Orlands Nähe zu bleiben? Als Sharif konnte sie sich überall - auch in den Laderäumen - frei bewegen! »Und wohin geht die Reise?«, erkundigte sie sich. »Wir wollen im Morgengrauen nach Byorn auslaufen, um ein lukratives Geschäft zu tätigen, bevor es wieder zurück nach Britana geht.« »Nun ja, mein Ziel sind die Meera-Inseln, und Byorn liegt auf halber Strecke ...« Sie schaute Ukluk treuherzig an. »Wenn ich dort wieder abmustern kann, sage ich nicht nein.« Bis dahin sollte sie alle Vorbereitungen getroffen haben, Orland, Dave und Rotauge zu befreien. Ukluk runzelte die Stirn. »Zwar hätte ich Sie und Ihren Freund gern länger an Bord gehabt«, erwiderte er mit einem Seufzer, »aber Ihr Vorschlag ist besser als nichts.« Er nahm
sein Glas und prostete Laryssa zu. »Auf gute Zusammenarbeit.« »Skol.« Sie leerten ihre Gläser. Dann einigten sie sich über die Heuer und die Aufgabe, die Laryssa übernehmen sollte: Sie musste verhindern, dass die Mannschaft sich prügelte oder mit Messern traktierte. »Sobald sich zwei Burschen an die Gurgel gehen«, sagte Ukluk, »hetzen Sie den Lupa auf die beiden. Fragen Sie gar nicht erst, wer angefangen hat. Ich wette, nach dem ersten Zwischenfall wird Ihre bloße Anwesenheit genügen, um die Männer friedlich zu halten.« Laryssa nickte, obwohl ihr nicht wohl zumute war, Wulf einen solchen Befehl zu geben. Sie wusste zu wenig über Rotauges Begleiter; wenn sie Pech hatte, ließ der Lupa erst von den Streithähnen ab, wenn diese tot auf den Planken lagen. Dann ließ Ukluk ein Glöckchen bimmeln, und ein sommersprossiger Halbwüchsiger mit feuerrotem Haar und einer schwarzen Zipfelmütze riss von außen die Tür auf und schrie: »Zur Stelle, Kapitän!« Es war der Schiffsjunge, der Laryssa ins Frauenquartier führte - eine kleine Kabine mit drei schmalen Kojen, die momentan nicht belegt waren. »Gibt's nicht mal Bordschwalben auf diesem Schiff?«, erkundigte sich Laryssa, als Sommersprosse gehen wollte. Der Schiffsjunge schüttelte den Kopf. »Nicht mehr seit jenem ... Vorfall.« »Welcher Vorfall?«, hakte Laryssa nach, als er nicht weiter sprach. Der Schiffsjunge druckste herum. »Nun, äh ... nach einem Saufgelage auf der vorletzten Fahrt hat es die Mannschaft ... zu toll getrieben und die Frauen hart hergenommen. Seitdem will keine mehr das Risiko eingehen.« Laryssa schluckte schwer. Einerseits verstand sie nun Ukluks Wunsch nach einem Aufpasser, der die Männer in
Schach hielt. Andererseits war sie die einzige Frau auf dem Kahn, und wenn einer der Seeleute meinte, seinen Druck abbauen zu müssen, würde er es bei ihr versuchen vorausgesetzt, er war nicht schwul. Sie würde sich noch mehr vorsehen müssen als befürchtet. Als Sommersprosse gegangen war, nahm Laryssa auf einer Koje Platz und schaute sich um. Wulf hockte vor ihr und musterte sie aus eisblauen Augen. »Was machen wir jetzt?«, fragte Laryssa den Lupa. »Schleichen uns dann in den Laderaum, wenn alle schlafen oder warten wir ein paar Tage, bis wir alle Gegebenheiten an Bord kennen?« Wulf bewegte den Kopf. Es sah fast so aus, als sei auch er in dieser Frage noch unentschieden. »Na schön. Dann ruhen wir uns erst mal aus.« Laryssa schnallte ihren Säbel ab und legte sich flach auf die Koje, die Klinge neben sich und die Hand am Griff. Hinter ihr lag ein harter und ereignisreicher Tag. Als sie gerade einnickte, klopfte jemand an die Tür. Wulf sprang hoch und fletschte die Zähne. Laryssa fluchte leise, stand auf und öffnete die Tür. Es war Sommersprosse. Er hielt irgendeinen verdreckten Stofffetzen in der Hand, und es schien ihm unangenehm zu sein, die Nachtruhe des neuen Sharif stören zu müssen. »Ich komme im Auftrag des Kapitäns«, haspelte er verlegen. »Er bittet um Entschuldigung, dass er Ihre Dienste jetzt schon bemühen muss, aber ...« Sommersprosses Blick fiel auf Wulf. »Es geht um Allyn, unseren Smoytje. Der Kapitän meint, Ihr Lupa kann vielleicht das Problem lösen, mit dem wir zu kämpfen haben ...« Laryssa seufzte. »Komm rein.« Sie zog den Burschen in die Kabine. Vielleicht konnte sie einiges von ihm erfahren, das ihr nützlich war. »Erzähl's mir.« *
Die Art und Weise, mit der Laryssa mit dem jungen Luden umgesprungen war, hatte Ulaf nicht nur beeindruckt, sondern auch vorsichtig gemacht. Der Bursche hatte über eine Pistole verfügt - und doch war es der Frau gelungen, ihm eins auszuwischen. Na schön, die weiße Bestie, die Rotauge gehörte, hatte ihr beigestanden. Aber trotzdem ... Ulaf stand trübsinnig am Tresen eines gut besuchten Gasthauses, glotzte durch eine schmutzige Glasscheibe und trank dann und wann einen Schluck aus einem Meethumpen, der seiner Meinung nach mehr Schaum als Flüssigkeit enthielt. Noch etwas ging ihm gegen den Strich: Er hatte Laryssa und den Lupa an Bord der Nordstern gehen sehen. Der Glatzkopf, der sie in Empfang genommen hatte, sah stark und mächtig aus. Die Höflichkeit, mit der er die Verräterin begrüßt hatte, konnte nur bedeuten, dass sie das Große Los gezogen hatte. Vermutlich aalte sie sich jetzt in einer Zinkwanne in heißem, parfümierten Wasser, während der Smoytje des Glatzkopfs eine leckere Mahlzeit auftrug, an der sie sich stärken würde. Ja, Frau müsste man sein - und hübsch dazu, dachte Ulaf, dann war man besser dran. Er erinnerte sich an sein eigenes ärmliches Nachtmahl - einen salzigen Hering und einen Kanten altbackenes Brot. Schon der Gedanke an den halbgaren, grätenverseuchten Fisch ließ ihn säuerlich aufstoßen. Leider konnte auch die dünne Plörre, die ihm der schieläugige Halunke von Gastwirt als Meet vorgesetzt hatte, den üblen Geschmack nicht vertreiben. Ja, Frau müsste man sein ... Ulaf kochte dumpf vor sich hin, denn einer seiner niederen Charakterzüge - von denen er reichlich hatte - war die Missgunst. Deswegen schwelgte er in Rachefantasien, in denen er Laryssa an ihrer Mähne ans Hafenbecken schleifte, um sie in die Brühe zu tauchen, in die
eine knappe Stunde zuvor der junge Herr gestürzt war. Einige hundert Meter entfernt hatte er wohl endlich das Schwimmen erlernt und sich ans Ufer gerettet. Dann erhellte sich Ulafs Blick, denn er sah, dass die Rothaarige und der Lupa offenbar doch nicht auf dem Schiff bleiben konnten: Ein sommersprossiger Knabe führte die beiden gerade an die Gangway der Nordstern, wo er ein Wort mit der Wache wechselte. Laryssa und der Lupa kehrten an Land zurück. Ulaf kniff die Augen zusammen. Was hielt die Frau da in der Hand? Es sah aus wie eine fleckige Küchenschürze. Nun hielt sie den Stoff dem Lupa vor die Nase. Und schon trabte die weiße Bestie auf die Kaschemme zu, in der Ulaf am Fenster stand. Ulaf war nicht dumm: Auch in dem Schweinekoben, in dem er groß geworden war, wusste man, dass Lupas einen ausgezeichneten Geruchssinn hatten. Er sollte jemanden suchen. Wenn Ulaf aus der mit allerlei Essensresten besudelten Schürze den richtigen Schluss zog, müsste es sich um den Smoytje der Nordstern handeln. Wieso Laryssa und der Lupa Kapitän Ukluk bei der Suche nach einem Mitglied seiner Besatzung halfen, konnte nur einen Grund haben: Die beiden hatten sich schon an einen neuen Herrn vermietet. Ich mach dich kalt, du Schlampe, dachte Ulaf. Vorerst aber galt es, nicht erkannt zu werden. Bevor die Tür von außen aufging und der Lupa seine Nase herein schob, riss Ulaf schnell das verräterische rote Stirnband von seinem Kopf, hob den Humpen und hielt ihn vor sein Gesicht. Die feinfühlige Nase des Lupa erkannte schon nach einer Sekunde, dass der Gesuchte längst weiter gezogen war. Die Tür schlug wieder zu. Die Frau und die Bestie bogen nach links ab - in eine Gasse, die vom Liegeplatz des roten Seglers weg führte. Ulaf griff sich an den Gürtel, um sicher zu gehen, dass sein Messer noch da war, dann kippte er sich den letzten Mundvoll
Schaum hinter die Kiemen - immerhin hatte er dafür bezahlt und eilte hinaus. Ein eisiger Wind pfiff durch die Hafengassen. Ulaf begegnete nur wenigen Passanten, die mit hochgestelltem Kragen und unsicherem Schritt meist zum nächsten Gasthaus unterwegs waren. Nachdem er Laryssa und dem Lupa eine halbe Stunde durch das Hafenviertel gefolgt war und seine Nase an allerlei Glasscheiben platt gedrückt hatte, hinter denen schäumende Humpen geschwungen und Lieder gegrölt wurden, hatten die beiden Suchenden endlich Glück: In einer Lokalität mit einem langen Tresen stießen sie auf einen kahlen, knochigen Burschen, vor dem der Lupa verharrte, als wolle er sagen: Das ist er. Zwischen den schmalen Lippen des Kerls, der frappierend den Guulen glich, denen Ulaf vor Jahren an der Nordküste von Fraace begegnet war, klemmte eine schlampig gedrehte Kiffette. Der Mann war so steif wie ein Brett und sah aus, als würde er gleich von seinem Hocker fallen. Wenn das der Koch der Nordstern ist, dachte Ulaf und schüttelte sich, kann ich die Mannschaft nur bedauern. Als Seemann traute er nämlich nur dicken Köchen zu, dass sie ihr Handwerk verstanden. Kerle, die wie Hungerleider aussahen, hatten keinen Spaß am Essen; dementsprechend lieblos bereiteten sie den Fraß zu, den sie ihren Kameraden vorsetzten. Gleich darauf fiel der Smoytje tatsächlich von seinem Hocker - Laryssa genau in die Arme. Die Frau richtete den Hungerhaken auf, legte seinen linken Arm um ihren Hals, fasste ihn mit der Rechten um die Taille und führte ihn zur Tür. Der Lupa ging ihr voraus und sorgte mit leisem Knurren dafür, dass das Publikum Platz machte. Bevor sie die Tür erreichten, wich Ulaf schnell zurück und drückte sich in den Eingang des Nebenhauses. »Nein, ich bin keine Freudenmaid«, hörte er Laryssa sagen,
als sie das Klappergestell ins Freie schleifte. »Und ich hab auch nicht vor, dich zu entführen. Ich bin der neue Sharif der Nordstern - und genau dort bring ich dich jetzt hin ...« Aha, dachte Ulaf. Hab ich also doch Recht gehabt. Die falsche Schlange hatte bei dem Sklavenhändler angeheuert! Sie war Sharif - eine Respektsperson! Genau das hatte Ulaf auch immer werden wollen. Ja, ein Weib müsste man sein, dachte Ulaf und schäumte vor sich hin. Dann hätte man es leichter. Es war eine verdammte Schande, dass dieser Frau alles in den Schoß fiel, was er gern gehabt hätte. Und deswegen, dachte er, mach ich dich in der nächsten Gasse kalt. Laryssa bugsiert den trunkenen Smoytje zum Schiff. Der Lupa machte ihr in den engen Gassen den Weg frei. Je näher sie dem Liegeplatz des roten Seglers kamen, desto dünner wurde der Publikumsverkehr. Und schließlich sah Ulaf seine Chance. Die Gasse, in die Laryssa, der Lupa und der Trunkenbold nun einbogen, war menschenleer und stockfinster. Nur der Wind pfiff ein leises Lied. Ulaf zog sein Wurfmesser aus dem Gürtel. Jetzt, dachte er erhitzt, während ein Teil des sauren Herings wieder hochkam. Jetzt mach ich dich kalt! Doch was war das? Ulaf riss die Augen auf. Hinter einem Fässerstapel, der eine Toreinfahrt halb verbaute, trat eine Gestalt hervor und richtete eine Pistole auf den Lupa. »Jetzt«, sagte der junge Herr aus dem Hafenbecken - Ulaf erkannte ihn schon am Gestank -, »mach ich euch kalt!« Der Lupa verharrte in der Bewegung und knurrte. Laryssa und der Smoytje blieben stehen. Das heißt, nur Laryssa blieb stehen. Der dürre Koch stolperte weiter, entglitt prompt ihrem Griff und landete mit dem Hinterteil auf dem Pflaster. »Autsch!«
Ulaf konnte es nicht fassen. Wagte der Bursche es tatsächlich, ihn an der Ausübung seiner Rache zu hindern? Das durfte nicht sein! Mit einem Grunzen riss er sich aus seiner Starre und stürmte voran. Niemand war überraschter als die Rothaarige, als Ulaf unerwartet neben ihr - gleich hinter dem sitzenden Koch - aus dem Nichts auftauchte. »Verpiss dich!«, schnauzte er den verdutzten Alrejk an. »Sie gehört mir!« Der Jungmann fletschte aufgebracht die Zähne. Als Ludenkönig von Skölnirziti war er erstens nicht gewohnt, dass man derart mit ihm redete, und zweitens gehörte dieses Frauenzimmer ihm! Er hatte schon lüsterne Pläne mit ihr, nachdem der Lupa und ihr hagerer Begleiter tot am Boden lagen. »Du weißt wohl nicht, mit wem du redest«, knurrte Alrejk. »Ich werde dich lehren, dich mit Alrejk Canovas anzulegen, du miese Schmeißflegge!« Der Doppellauf seines Derringers schwang herum. Ulaf wartete nicht, bis die Mündungen auf ihn gerichtet waren. Im Gegensatz zu dem Luden redete er weniger und handelte mehr. Seine Hand zuckte hoch. Das Wurfmesser sauste lautlos durch die Nacht - und bohrte sich zielgenau zwischen Alrejks blaue Augen. Im gleichen Moment erfüllte ein Donnern die Luft, das Ulafs Trommelfelle vibrieren ließ. Gleich darauf spürte er, dass etwas Warmes, Feuchtes von seiner Stirn in seine Augen lief und seinen Blick rot färbte. Seine Kniekehlen wurden weich wie Gummi. Der Smoytje schrie. Laryssa machte sich klein. Der Lupa flog nach vorn. Seine Fänge schnappten nach Alrejks Kehle, dessen Waffenhand nun in die Luft wies und die Kugel im zweiten Lauf zu den Sternen jagte.
Ulaf, schon halb im Jenseits, taumelte zurück und gurgelte. Es war ihm zwar noch vergönnt, den Luden nach hinten fliegen und hart mit dem Hinterkopf auf das Pflaster knallen zu sehen. Dann verlor auch er den Boden unter den Füßen. Er fand sich auf dem Bauch liegend wieder und sah, dass der totenbleiche Smoytje - nun stocknüchtern - sich röchelnd auf das Pflaster erbrach. Laryssa war kaltblütiger: Sie zog das Messer aus Alrejks Stirn und schnitt ihm damit die Geldkatze vom Gürtel. Nun ja, dachte Ulaf noch. Die braucht er jetzt nicht mehr. Dann vernahm er den Lockruf des Schattenreiches und beschloss, ihm zu folgen. * Einst hatte Newark an einem Fluss namens Trent gelegen, in einer Grafschaft namens Nottinghamshire. Schon in den Zeiten der Angelsachsen hatten sich hier Menschen angesiedelt. Im Jahr 1055 hatten die Bischöfe von Lincoln den Ort unter ihre Fittiche genommen und bis 1549 behalten. Ein Bischof namens Alexander hatte in den Jahren 11231135 eine Burg und eine Brücke über den Trent bauen lassen. Mitte des 17. Jahrhunderts hatten Bürgerkriege Newark in Schutt und Asche gelegt. Die Menschen hatten die Stadt wieder aufgebaut und waren einige Jahrhunderte ihrem Tagwerk nachgegangen. Dann war ein Komet auf die Erde gefallen und hatte ihrem Leben und Newark ein endgültiges Ende gesetzt. Wulf wusste von all dem ebenso wenig wie 99,9 Prozent der momentan lebenden Menschen. Auch die Bewohner des Fleckens, der einst Newark genannt wurde, hatten die Geschichte ihrer Vergangenheit längst vergessen. Wenn Wulf sie so anschaute ... nun ja, hätte er sprechen können, hätte er sie vermutlich gefragt, ob sie überhaupt wussten, dass sie von Menschen abstammten.
Wenn man davon absah, dass sie zwei Arme und zwei Beine hatten und aufrecht gingen, ähnelten sie eher humanoiden Maulwürfen: Sie waren etwa einen Meter groß, von graubraunem Fell bedeckt, hatten einen runden Kopf mit einem vorspringenden Kiefer und wirkten äußerst kurzsichtig. Sie gruben mit ihren großen Händen ständig zwischen den Ruinen, zogen fingerdicke Würmer aus der Erde und verschlangen sie roh und laut schmatzend an Ort und Stelle. Begegneten sich zwei Exemplare dieser merkwürdigen Gattung, schlugen sie sich auf die Brust und blökten streitlustig. Dass diese Wesen Lupas ignorierten, machte den Tag für Wulf schön, und so konnte er endlich durch eine Ortschaft traben, ohne ständig auf der Hut sein zu müssen. Später machte er Bekanntschaft mit zwei rotfelligen Vierbeinern, die nur halb so groß waren wie er, doch mit langen und gefährlich aussehenden Fängen imponierten, sodass er es für klüger hielt, ihnen aus dem Weg zu gehen. An diesem Abend erlegte Wulf eine junge Androne. Nachdem er ihren Chitinpanzer nach langen Mühen endlich geknackt hatte, schmeckte sie jedoch dermaßen bitter, dass er sich sehnsüchtig an den Fraß erinnerte, den man ihm in der großen Holzschale vorgesetzt hatte. Damals, als sie das endlose Wasser überquert hatten ... * Sonnenaufgang Nachdem Laryssa nach vier Stunden schlaflosen Herumwälzens in der Messe ein aus Zwybakk, salzigem Fisch und einer Tasse Kafi bestehendes Frühstück eingenommen hatte, ging sie an Deck, um sich das Auslaufmanöver anzusehen. Sie fühlte sich wie gerädert. Wie sich ergab, hatte Allyn, der Smoytje, Kapitän Ukluk
schon von den Vorgängen der vergangenen Nacht berichtet. Ukluk bedankte sich bei ihr und warf Wulf einen Hering zu. Dann stellte er Laryssa seinen Offizieren vor und verkündete der abenteuerlich aussehenden Mannschaft, dass der neue Sharif nicht mit sich spaßen ließe. Nach dem Mittagsmahl - Zwybakk, Fisch, Kafi - frischte der Wind auf, der sie nach Norden brachte. Eine Stunde später hatte er Sturmformat angenommen. Laryssa ging es nicht besonders. Mehrfach musste sie sich über die Reling lehnen, um die Fische zu füttern. So verzichtete sie auf das aus Zwybakk, Fisch und Kafi bestehende Abendmahl und dachte stattdessen an die Gefangenen, die irgendwo unter Deck zusammengepfercht waren und vermutlich keine Gelegenheit hatten, den Inhalt ihres Magens ins Wasser zu entleeren. Vielleicht haben sie gar nichts im Magen, dachte sie. Auf alle Fälle galt es jetzt, nachdem sie einigermaßen mit den Gegebenheiten vertraut war, den Laderaum zu finden, in dem Kapitän Orland und seine Gefährten schmachteten. Auch wenn sie ihnen vermutlich noch nicht helfen konnte zumindest würde es ein Trost für sie sein, wenn sie wussten, dass sie und Wulf sich unerkannt an Bord geschmuggelt hatten. Unter Deck begegnete ihr Sommersprosse. Laryssa bat den Schiffsjungen, ihr jene Bereiche der Nordstern zu zeigen, die sie noch nicht kannte. Der Halbwüchsige führte sie und den Lupa zuerst in die Kombüse. Laryssa frischte ihre Bekanntschaft mit Allyn auf, dessen tätowierter Gehilfe gerade einen schweren Suppentopf aus der Kombüse schleppte. Anschließend besichtigte sie das vor dem Mast liegende, muffige Quartier der Mannschaft. Als Sommersprosse sie durch einen Niedergang ins unterste Deck führte, fing die Nordstern heftig an zu krängen. Über ihnen ertönten gebrüllte Befehle. Das Brausen des Windes steigerte sich zu einem Heulen. Sommersprosse verharrte
plötzlich an einer Gangkreuzung und drehte sich mit grünem Gesicht zu Laryssa um. »Sharif«, gurgelte er und presste sich eine Hand vor den Mund. »Ich glaub, ich muss ... Ich muss jetzt auch ...« »Mach die Flegge.« Laryssa nickte dem Jungen zu. So ist es mir ohnehin lieber ... Sommersprosse fegte wie der Blitz durch den Gang zurück und eilte nach oben. Laryssa lugte um die nächste Ecke. Da stand der tätowierte Kombüsengehilfe mit dem Suppentopf und wartete darauf, dass einer von zwei Bewaffneten ihm eine dicke Bohlentür öffnete. Ah ... Laryssa trat hinter die Männer, die sie nach der öffentlichen Vorstellung an Deck inzwischen kannten. Dann ging die Tür auf. Ihr Herz pochte vor Aufregung. * Draußen heulte der Sturm um das Schiff. Die Brecher droschen so heftig auf den hölzernen Rumpf des Sklavenhändlers ein, dass Professor David McKenzies Magen Purzelbäume vollführte. Um ihn herum, in der Finsternis des fensterlosen Laderaums stöhnten und jammerten Kapitän Orlands Männer. Sie hatten sich im ganzen Raum verstreut. Irgendwo in McKenzies Umgebung übergab sich jemand. Den Klängen des Geröchels zufolge schien es Orland zu sein. Wie lange würde er noch durchhalten? Der Drogenentzug machte dem Mann schwer zu schaffen. Schon auf dem Marsch in die Stadt war er mehrmals zusammengeklappt. Rulfan und er hatten ihn die meiste Zeit stützen müssen. Wie kann sich ein heller Kopf wie er nur auf Drogen einlassen?, fragte sich Dave. Dann fiel ihm seine eigene Studentenzeit ein. Na ja, jedenfalls sollte man wissen, wann man mit dem Scheiß aufhört ...
Um sich mit anderen Gedanken zu beschäftigen, fragte er sich, was wohl sein Freund Matthew Drax gerade machte. Ob er und die anderen England inzwischen erreicht hatten? Oder waren ihnen die Mutanten vom Kratersee noch immer auf den Fersen, nachdem sie sich in der russisch-amerikanischen Stadt Nydda getrennt hatten? Hatte es Matt vielleicht schon erwischt, oder war es ihm gelungen, die britischen Technos vor der Gefahr zu warnen, die der ganzen Welt aus den Tiefen des sibirischen Kratersees drohte? Hielten es die mysteriösen Daa'muren nach ihrer Entdeckung überhaupt noch für nötig, weiter im Geheimen zu operieren? McKenzie seufzte. Fragen über Fragen, und keine Antworten. Auch über seiner Zukunft stand ein dickes Fragezeichen. Genau wie über Rulfans, der neben ihm auf den Planken lag und vermutlich ebenso rabenschwarze Gedanken wälzte. Ihre Gefangennahme auf Tromsoy hatte ihren Fluchtplan zunichte gemacht und ihren unfreiwilligen Aufenthalt im Kreis der Piraten zementiert. Statt nach Großbritannien zu fliehen, wie sie es vorgehabt hatten, waren sie nun, wie sie vom Gehilfen des Kochs erfahren hatten, zu einer gottverlassenen Insel namens Byorn unterwegs - laut König Skölnir nicht gerade das Paradies und laut Rulfan die letzte Station vor dem Arsch der Welt. Ich glaub, jetzt können wir wirklich unser Testament machen, Micky, dachte er in stillem Gedenken an seinen Bruder. Der Spaß ist vorbei. Wer in dieser dunklen Epoche überleben will, muss aus anderem Holz geschnitzt sein ... McKenzie seufzte erneut, und Rulfan sagte in der Finsternis: »Was ist, Professor? Leiden wir an Weltschmerz?« »Es ist doch zwecklos, sich etwas vorzumachen«, erwiderte McKenzie. »Diesmal sitzen wir wirklich metertief in der Scheiße.« Er warf ratlos die Hände in die Luft. »Verdammt, hätte ich doch Philologie oder irgendein anderes Schwafelfach
studiert ... Dann wäre ich vermutlich Lehrer an einem Gymnasium geworden und nie bei der Air Force gelandet.« »Außerdem wärst du tot.« McKenzie zuckte zusammen »Stimmt auch wieder.« Rulfan rasselte leise mit seinen Ketten. »Wenn man sich selbst aufgibt, ist man verloren«, sagte er eindringlich. »Wir müssen jede Chance nutzen, um unsere Lage zum Guten zu wenden. Bis wir uns selbst helfen können oder Hilfe von außen kommt.« »Wie soll Matt je erfahren, wo wir sind?«, fragte McKenzie. »Vielleicht hat er selbst den Löffel längst abgegeben.« »Selbst wenn es so wäre«, erwiderte Rulfan, »er ist nicht der Einzige, der nach uns suchen wird. London und Salisbury ...« »Wenn unsere Gefährten gar nicht erst nach England gelangt sind, weiß niemand, wo er uns überhaupt suchen soll«, warf Dave pessimistisch ein. »Existiert die Gegend, in die wir unterwegs sind, überhaupt auf euren Landkarten?« »Wir haben vor langer Zeit Expeditionen ins Nordmeer geschickt«, erwiderte Rulfan. An der veränderten Stimme merkte McKenzie, dass er sich aufsetzte. »Unsere Leute sind ganz gut über die Barbaren dieser Gegend informiert.« Er wollte noch mehr sagen, aber in diesem Moment fing Kapitän Orland wieder an zu stöhnen. Er zuckte ganz in der Nähe auf dem Boden herum, hielt sich den Bauch und verfluchte seinen Vater. Kurz darauf schwang die Tür ihres finsteren Kerkers auf. Laternenlicht erhellte einen Teil des Raumes. McKenzie und Rulfan erkannten zwei bewaffnete Kerle im Türrahmen. Ein dritter Mann - der Hilfskoch - wuchtete einen großen dampfenden Aluminiumtopf über die Schwelle. Er verströmte den Geruch von Fischsuppe. Einige grüngesichtige Flybusta, die an der Tür hockten, hielten würgend die Hände vor den Mund und beeilten sich, den Essensdünsten zu entkommen.
Nachdem der Hilfskoch den Topf abgestellt hatte, drehte er sich um, ergriff einen vor der Tür deponierten Stapel mit hölzernen Schalen und Löffeln und warf beides achtlos in den Laderaum hinein. Obwohl McKenzies Magen knurrte und die Seekrankheit ebenso einen Bogen um ihn gemacht hatte wie um Rulfan, galt sein Interesse in diesem Moment weniger dem Topf als Kapitän Orland, dessen bleiche, schmerzverzerrte Miene eine merkwürdige Veränderung durchlaufen hatte. Noch am vorgestrigen Tag hätte David McKenzie Stein und Bein geschworen, dass der Mann etwa fünfunddreißig war. Nun jedoch sah er - trotz der Schmerzattacken - um Jahre jünger aus. »Fresst, ihr Lumpen!«, rief einer Bewaffneten an der Tür und lachte grob. »Damit ihr bei Kräften bleibt und einen guten Preis erzielt!« Die seekranken Piraten wanden sich ab. Die gesunden krochen mit rasselnden Ketten auf den Topf zu, bewaffneten sich mit Holzschalen und tauchten sie hungrig in die dampfende Brühe. Kurz bevor die Tür wieder zufiel, glaubte McKenzie eine vierte Gestalt auf dem Gang zu erkennen; eine mit üppigen Rundungen versehene Frau, deren rote Mähne Erinnerungen in ihm weckte. Aber das war natürlich unmöglich. Laryssa konnte nicht hier sein. Er musste sich getäuscht haben. »Lass uns was essen«, sagte er und stupste Rulfan in die Seite. Die Fischsuppe schmeckte zu seiner Überraschung recht erträglich. Als Dave satt war, sah die Welt gleich viel hoffnungsvoller aus. Auch Rulfan ließ es sich schmecken. Später kehrten sie nicht an ihren alten Platz zurück, sondern blieben bei der Tür: Nicht nur das Ächzen und Fluchen Orlands ging ihnen auf die Nerven, sondern auch das unappetitliche
Würgen der Seekranken. »Was Wulf jetzt wohl macht«, sagte Rulfan nach langem Schweigen. McKenzie erinnerte sich an Rulfans zahlreiche Versuche, den Lupa nach ihrer Gefangennahme zu verscheuchen: Wulf hatte nicht von seiner Seite weichen wollen. Es hätte nicht viel gefehlt und Skölnirs Schergen hätten sich im Dutzend auf den Lupa gestürzt, um ihn zu töten. Glücklicherweise war er ihnen entwischt. Während des Marsches in die Stadt war Wulf dann immer wieder in ihrer Nähe aufgetaucht. Zum letzten Mal hatte Dave ihn im Hafen gesehen. Doch bei aller Sorge um einen vierbeinigen Freund durfte man nicht vergessen, dass Wulf nicht darauf angewiesen war, dass man ihm täglich einen Napf mit Futter servierte: Er war wild und ausdauernd und gewiss auch klüger als mancher Mensch, der ihm in diesem barbarischen Zeitalter begegnet war. Wenn jemand wusste, wie man in der Wildnis überlebte, dann ein Lupa. * Am nächsten Morgen - auch in dieser Nacht hatte Laryssa kaum ein Auge geschlossen - legte sich der Sturm. Die Männer der Nordstern gingen ihrer Arbeit nach. Die Laune der Mannschaft besserte sich zusehends, und es dauerte nicht lange, bis zwei Skoothen der Übermut packte. Es begann mit einer wüsten gegenseitigen Beschimpfung und endete in einer Rauferei, bei der zuerst die Fäuste und dann die Dolche sprachen. Der Grund ihres Streits wurde Laryssa nicht ganz klar, da die Skoothen einen Dialekt sprachen, den sie nur mangelhaft verstand. Die Ursache schien ein »scharf nackicht Weybleyn« zu sein, das der eine Skoothe dem anderen irgendwann ausgespannt hatte.
Da Laryssa Ukluks Anweisung gemäß die Schuldfrage gar nicht erst stellte, schlug sie dem ersten Störenfried einen hölzernen Belegnagel über den Schädel und trat dem anderen zwischen die Beine. Wulf hielt derweil etwaige Freunde der Streithähne in Schach, indem er sein Nackenfell sträubte und die Lefzen hochzog. Das genügte. Laryssa war froh, den Lupa nicht auf die Männer hetzen zu müssen; sie wusste nicht, wie das ausgegangen wäre. Nachdem Ruhe eingekehrt war, befahl sie die Skoothen in den Schiffskarzer zu schaffen, wo sie zwei Tage und Nächte darben mussten. Der Tag ging rasch vorbei und auch der nächste, denn nun wussten die Männer, dass mit der neuen Sharif nicht gut Fisch zu essen war. Im Morgengrauen des dritten Tages wurden die zerstrittenen Skoothen bleich und schmierig aus dem Karzer entlassen. Ihnen war jede Streitlust vergangen. Nur wenige Minuten später schrie der Mann im Krähennest: »Land! Land Steuerbord voraus!«, und alle Matrosen strömten an Deck und stierten ins Zwielicht hinaus. Es dauerte noch fast eine Stunde, bis man auch an Deck die Landmasse erkannte, die sich vor ihnen auftürmte. Als die Morgennebel sich hoben, stand Laryssa an der Reling, kniff die Augen zusammen und freute sich auf ein Geräusch, das ihr nach der stürmischen Überfahrt lieb und teuer war: das Rasseln der Ankerketten. Die Nordstern hatte jenes Gebiet erreicht, das man in der Zeit vor Kristofluu »Eismeer« genannt hatte. Vor ihnen, mitten in der atemberaubend schönen Weite des Ozeans ragte die Spitze des Jammerbergs in die Höhe. Eine herbe Frische strich übers Deck, als der Segler auf die Felseninsel Byorn zuhielt. In früheren Epochen hatte man sie Bäreninsel genannt. Wie Laryssa aus den Folianten ihres Vaters wusste, war Byorn neunzehn Kilometer lang und
sechzehn breit. Der 536 Meter hohe Jammerberg war ihr weithin sichtbares Wahrzeichen. Ein Mann namens Willem der Entdecker war in grauer Vorzeit auf die Insel gestoßen. Als sein Schiff an den Klippen anlegte, hatte Willem an Land ein großes braunes Tier gesichtet, das man »Bär« nannte, und das Eiland folglich Bäreninsel genannt. Heute gab es keine Bären mehr, weder auf der Insel noch sonstwo. Als die Klippen Byorns vor dem Bug der Nordstern lagen, änderte der Steuermann den Kurs. Kurz darauf segelte das Schiff längsseits zur Insel. Dann tauchte die Einfahrt auf und sie fuhren auf schäumenden Wogen in die Bucht, an die sich jene Stadt anschloss, über die Bertyl der Siebente - genannt Eisenarm - herrschte. Die Vegetation, die Laryssa durch das Fernrohr sah, war kaum erwähnenswert. Es dominierten Gräser aller Art sowie Löffelkraut und Sauerampfer. Obwohl es hier zu Willems Zeiten angeblich von »Rotgänsen« und »Polarfüchsen« gewimmelt haben sollte, zeigte sich keinerlei tierisches Leben. Dafür drängten sich eine Menge Zweibeiner an der Kaimauer und beobachteten das Einlaufen der Nordstern. »Halten Sie bloß Ihre Börse fest«, raunte Kapitän Ukluk Laryssa zu, als vier seiner Matrosen im Hafen von Byornia an Bug und Heck über Bord sprangen, um die dicken Taue zu befestigen. »Die Byorner sind ärmer als Kirchenmäuse.« Wenn Ukluk die Wahrheit sprach, musste sich seit ihrem letzten Aufenthalt auf Byorn allerhand verändert haben ... Nun ja, ein Zuckerlecken war das Leben auf dem Felsklotz nie gewesen. Wie man hörte, setzten sich in letzter Zeit immer mehr Untertanen Eisenarms zum Festland ab ... Als die Nordstern vertäut war und die Gangway an Land schrammte, sah Laryssa, dass es an der Wasserkante von zahlreichen Soldaten wimmelte. Sie hielten angestrengt zum Meer hin Ausschau, als erwarteten sie unwillkommenem Besuch.
Dann hieß Kapitän Ukluk ein Dutzend Männer mit Federhüten willkommen, deren Hosen und Jacken derart mit Gold- und Silberfäden protzten, dass Laryssa hinsichtlich der Armut der Byorner Zweifel kamen. Als Ukluk mit seinen Kunden redete, hörte sie zu. Die hiesige Lage war in der Tat schon besser gewesen: König Eisenarm hatte sich auf einem Festbankett der Herrscherhäuser der Meera-Inseln volltrunken mit dem Herrn von Spizborgh angelegt und befürchtete nun dessen Rache. Er brauchte dringend Arbeitskräfte, um seine Burg zu befestigen. »Wir haben viele kräftige Burschen mitgebracht«, sagte Ukluk, der sich angesichts dieser Information im Geiste die Hände rieb. Notlagen, das wusste jeder, konnte ein tüchtiger Kaufmann für sich nutzen, indem er die Preise in die Höhe trieb. Dann ging er mit den Herren unter Deck, wo Allyn ein kaltes Büffet zubereitet und mehrere Flaschen Voodka entkorkt hatte. Während Ukluks Kunden sich den Wanst vollschlugen, machte sich Laryssa bereit, den Plan in die Tat umzusetzen, den sie in den letzten Tagen ausgedacht hatte. »Es ist soweit«, sagte sie zu Wulf, als dieser neben sie trat und zu ihr aufblickte. »Aber du darfst nicht ungeduldig sein! Erst ist Orland dran, dann dein Herr. Vertrau mir einfach, okee?« Wulf legte den Kopf schief, als verstünde er sie genau. * In den Deckaufbauten öffnete sich eine Tür. Kapitän Ukluks Männer trieben den ersten Sklaven herauf. Die Kundschaft hatte es sich auf Deckstühlen bequem gemacht und wartete gespannt auf den Beginn der Auktion. Ukluk leitete sie persönlich. Die Kriterien, nach denen die Kunden auf die Sklaven
boten, war leicht zu durchschauen: Jemand, der einen Ladenschwengel für sein Schneidergeschäft brauchte, legte keinen Wert auf einen Muskelprotz. Wer auf einen Lustsklaven aus war - hier gab es gleich mehrere Herren - achtete in erster Linie nur auf Äußerlichkeiten. Für jemanden, der einen Türsteher für seine Lokalität benötigte, war es wichtig, dass dieser schon rein äußerlich abschreckend wirkte. Wer Schwerarbeiter für seinen Steinbruch, seine Holzfällerei oder sein Ausschachtungsunternehmen brauchte - wie im Falle der Vertreter des Königshauses - war auf Kerle erpicht, die nicht nur stark, sondern auch helle waren, denn sie mussten Konstruktionszeichnungen lesen und so viel von Statik verstehen, dass ihre Bauwerke nicht zusammenkrachten. Als »Posten 24« angekündigt wurde, kam Rotauge beziehungsweise Rulfan - an Deck. Laryssa hatte große Mühe, den Lupa daran zu hindern, auf der Stelle zu seinem Herrn zu eilen. Die Helligkeit blendete Rulfan nach dem langen Aufenthalt im finsteren Laderaum, und so brauchte er eine Weile, bis er erkannte, was hier vor sich ging. Da er jedoch sehr schlagfertig war und die Fragen, die ihm gestellt wurden, fast zur Gänze beantworten konnte, wollten gleich mehrere Kunden ihn trotz seines merkwürdigen Äußeren haben. Schließlich erhielt der Vertreter König Eisenarms den Zuschlag. Als zwei Wachen Rulfan von Bord führten, entdeckte er unter den Matrosen Wulf und Laryssa. Sein Schritt stockte, doch als Laryssa ihm mit der Hand ein Zeichen gab, bewies sich seine schnelle Auffassungsgabe erneut: Er nickte unmerklich und ließ sich an Land bringen. Gleich darauf folgte »Posten 25«, ein gut gebauter, schwarzhaariger, bärtiger Mann mit Nasengläsern und seltsamer Kleidung, dessen Grips dem seines Vorgängers in nichts nachstand: David »Vierauge« McKenzie. Schon seine Ausdrucksweise und sein akzeptables Benehmen nahmen die Kundschaft für ihn ein. Die Angebote überschlugen sich. Am
Ende triumphierte erneut der Vertreter des Königs. Laryssa hielt sich diesmal im Hintergrund. Sie wollte das Risiko nicht eingehen, dass Dave sie beide verriet, wenn er sie bemerkte. Rulfan würde ihm davon berichten, dass sie und Wulf an Bord waren. Jetzt kamen ein paar Jammergestalten zur Versteigerung, denen die Seekrankheit derart zugesetzt hatte, dass sie eher tot als lebendig wirkten. Sie gingen zu einem Schleuderpreis an einen Schweinezüchter, der Hirten brauchte. Den absoluten Tiefpunkt setzte der letzte Posten - ein bleiches, an allen Gliedmaßen schlotterndes Gespenst von etwa zwanzig Jahren, dessen Blick trübe und dessen Rede kaum verständlich war. Kapitän Ragnar Orland war so kraftlos, dass zwei von Ukluks Matrosen ihn stützten, damit er nicht zusammenbrach. »So was wagt Ihr uns anzubieten, Ukluk?«, rief jemand mit erboster Stimme. Die Kunden machten abfällige Bemerkungen. Die meisten standen auf und gingen zum Zahlmeister, um ihre Einkäufe zu begleichen. Laryssa brauchte eine Weile, um über den Schrecken hinweg zu kommen, der sie beim Anblick Orlands befallen hatte. Wie war das möglich?! Natürlich wusste sie, dass ein plötzlicher Drogenentzug einen Menschen zu einem körperlichen Wrack machte ... Aber wieso sah der Kapitän dabei so jung aus? Sie erinnerte sich an Boronins Worte über die Nebenwirkung der verfluchten Droge: Jeder, der regelmäßig Koox einnimmt, altert äußerlich schnell. Aber sie hatte nie damit gerechnet, dass eine Absetzung der Rauschgifts den gegenteiligen Effekt haben könnte. »Wenn ihn niemand haben will«, hörte sie Kapitän Ukluk plötzlich sagen, »können wir ihn vielleicht als Fischfutter verkaufen.« Laryssa hob schnell die Hand. »Ich will ihn haben!«
Die Kunden lachten. Einer deutete auf Ukluk und rief: »Was zahlen Sie dem Froken, Ukluk, wenn es Ihnen dieses Wrack abnimmt?« Noch mehr Gelächter. Obwohl Kapitän Orlands Augen recht trübe dreinblickten, schien er Laryssa nun zu erkennen. Er war aber zu schwach, um eine verräterische Bemerkung zu machen. Laryssa zückte die Geldkatze, die sie dem Zuhälter Alrejk abgenommen hatte. »Wie viel soll er kosten?« Ukluk riss die Augen auf. »Was wollen Sie mit dem?«, fragte er fassungslos. »Der wird Sie nicht ernähren - für den müssen Sie sorgen.« »Ach, der muss nur aufgepäppelt werden.« Laryssa hielt Ukluk eine Kupfermünze hin. In Osloo entsprach ihr Gegenwert einem Beutel Peenatz. Ukluk musterte die Münze und nickte. »Das Elend gehört Ihnen.« Dann fuhr er seufzend fort: »Wie schade, dass Sie uns verlassen. Ich hätte Sie wirklich gern weiter als Sharif an Bord gehabt. Wir kehren in sechs Tagen nach Britana zurück.« Sein Blick fiel auf Wulf, der sich mit den Pfoten auf die Reling stützte und vermutlich Rotauge und Vierauge zuschaute, die von den königlichen Soldaten an ihren Bestimmungsort gebracht wurden. »Und Sie wollen ihn ganz bestimmt nicht verkaufen?« Laryssa lächelte. »Es wäre unehrenhaft meinem Freund gegenüber.« Dann deutete sie mit dem Kinn auf das Hafenviertel. »Er ist gerade in Byornia und wartet sicher schon sehnsüchtig auf Wulf ...« Ukluk seufzte. »Da kann man nichts machen.« Seine Augen blitzten auf. »Falls Sie es sich noch überlegen oder falls Ihr Freund ihn verkaufen will ... Sie wissen, wo Sie mich finden.« Laryssa reichte ihm die Hand. »War nett, für Sie zu arbeiten, Kapitän Ukluk.« Auch wenn du ein verdammter Menschenhändler bist. »War nett, jemanden wie Sie an Bord gehabt zu haben,
Sharif.« Ukluk salutierte und begab sich zum Zahlmeister, um sich über die Einnahmen des Tages informieren zu lassen. Laryssa ging zu den beiden Seeleuten hinüber, die Orland noch immer zwischen sich hielten. Er glotzte sie nur an, sagte aber nichts. »Der Kerl kann allein nicht stehen«, sagte einer der Männer. »Sollen wir ihn für Sie an Land bringen?« Laryssa lächelte ihn an. »Das wäre furchtbar nett von euch. Ich gehe rasch voraus und miete mich in einem Gasthof ein. Wartet dort am Brunnen auf mich, dann ist für jeden von euch eine Kupfermünze drin ...« * In den Zeiten der Zivilisation hatte Bedford in einem fruchtbaren Tal gelegen. Ein Fluss mit dem mysteriösen Namen Great Ouse war durch das Tal geströmt. Geologische Verschiebungen hatten ihn inzwischen versiegen lassen und Abermillionen Tonnen Gestein aus der Tiefe an die Oberfläche geschoben. Die Stürme, die in der Zeit nach der Katastrophe über die Erde wehten, noch bevor die nukleare Eiszeit kam, hatten wiederum zahllose Tonnen Erdreich aus dem Raum Wladiwostok an diesen Ort getragen, sodass von Bedford nichts geblieben war. Nun wuchsen dort, wo sich in grauer Vorzeit römische Legionen mit den Angelsachsen geschlagen hatten, dichte grüne Fichtenwälder, in denen Jäger und Sammler lebten. Wie alle Menschen, die es nach dem Abklingen der Eisigen Zeit zu einer bescheidenen Kultur gebracht hatten, sahen auch sie in jedem Lebewesen, das mehr als zwei Läufe hatte, entweder eine Bedrohung oder einen Braten. Und so sah sich Wulf, als er in eine Ansiedlung kam, die auf meterhohen Pfählen am Ufer eines Baches aufragte,
unversehens der Attacke einer lautstarken Bande kleinwüchsiger Menschen ausgesetzt. Dabei hatte er an dem Wasser doch nur seinen Durst stillen wollen. Von einer Pfeil- und Lanzensalve verfolgt, sprang er in das kalte Nass und lief am anderen Ufer einen Hang hinauf. Dort begegnete er einem zehn Köpfe starken Kommando zurückkehrender Jäger in Deerfellen und Echsenhautstiefeln. Wulf schlug Haken wie ein Hase, und es war nur dem Auftauchen eines vom Lärm aufgeschreckten Wakudabullen zu verdanken, dass die Jäger schließlich von ihm abließen, um sich der größeren Beute zuzuwenden. An die Hügelkuppe schloss sich eine grasbewachsene Ebene an, deren Mittelteil merkwürdig flach, ja fast glatt war. Sein Rand wurde zu beiden Seiten hier und da von rostigen Metallstreifen eingefasst. Die Menschen dieser Zeit nannten solche Wege »Otowajiis«. Früher hatten sie »Autobahnen« geheißen. Der Weg, fand Wulf, war ziemlich bequem. Jetzt ging es nicht mehr ewig auf und ab, sondern gleichmäßig geradeaus. Eine Labsal für seine müden Pfoten. An diesem Abend fand er Quartier in einem rostigen Wrack, das einige Meter abseits von der ebenen Strecke halb im Boden vergraben war. In seinem Inneren roch es zwar nach Moder und Verfall, aber als es dann wieder anfing zu regnen und das Wasser auf das relativ gut erhaltene Eisendach fiel, fühlte Wulf sich heimelig untergebracht - wenngleich die in dem Menschenhaus auf der grauen Insel verbrachte Nacht ihm doch viel behaglicher erschienen war ... * Im Gasthof »Zum Rotnasigen Reen«, der dem Ankerplatz der Nordstern gegenüber lag, verfrachteten sie Orland ins Bett. Nachdem Laryssa sich bei den Matrosen bedankt und sie
entlohnt hatte, organisierte sie mit Hilfe der Wirtin einen im Nebenhaus praktizierenden Mediker, der Orland mit Hilfe von Kräutern, die er ihm in flüssiger Form einflößte, stabilisierte. Danach fiel der Kapitän in einen tiefen, einer Ohnmacht gleichen Schlaf. Als er in den Abendstunden zu sich kam, war sein Blick zwar klarer, nicht aber sein Geist. Er nannte Laryssa »Mama« und wollte essen. Da sie darauf vorbereitet war, fütterte sie ihn mit einer kräftigen Fleischbrühe. Dies strengte den jungen Mann dermaßen an, dass er gleich darauf weiter schlief. Als der nächste Morgen graute, schlug er wieder die Augen auf. Das Schlottern seiner Glieder war nun gänzlich abgeklungen, doch als er den Kopf hob, um seine Retterin anzusehen, zeigte sich, dass er noch viel zu schwach war: Er sank gleich wieder aufs Kissen zurück. »Wo bin ich hier?«, krächzte Orland. Er drehte den Kopf zum Fenster hin und erblickte Wulf, der sich mit den Pfoten auf die Bettkante stützte und ihn musterte. Ein heiserer Schrei entfuhr der Kehle des Kapitäns. Laryssa konnte ihm nicht verübeln, dass der Lupa ihn erschreckte: Bei ihrer ersten Begegnung hatte Wulf ihn angegriffen. »Laryssa?«, fragte Orland dann verdutzt. »Wo kommst du denn her?« Er machte einen Versuch, den Kopf zu heben, was ihm diesmal auch gelang. »Wo ist mein Schiff? Wo sind meine Männer?« Er sank wieder aufs Bett zurück. »Mein Gott, geht's mir dreckig ...« Laryssa bestellte ein Frühstück für ihn. Während sie Orland fütterte, fiel ihr auf, dass sein Gedächtnis nur bis zur Schlacht von Tromsoy zurückreichte. Nach der Niederlage hatte offenbar der Entzug eingesetzt: Den Marsch nach Skölnirziti, die Einschiffung, die Überfahrt nach Byorn und die Auktion hatte er gar nicht mitbekommen. Als Laryssa ihn über alles in Kenntnis gesetzt hatte, was seit
Tromsoy geschehen war, verfinsterte sich Orlands Miene, und schließlich ließ er sich mit einem dumpfen Seufzer aufs Bett zurückfallen. Er wirkte nun überhaupt nicht mehr wie der stolze FlybustaKapitän, vor dem das Festland zitterte. Er sah eher aus wie ein Halbwüchsiger nach einer Zechtour, die seine Kräfte überstiegen hatte. Sein jämmerlicher Zustand rief eine Welle des Mitleids in Laryssa hervor. Es war ihr unverständlich, wie sie hatte glauben können, er sei der Mörder ihres Vaters. Andererseits ... Je länger sie ihn ansah, desto ähnlicher wurde er dem Fähnrich, der vor zwanzig Jahren die Meuterei gegen ihren Vater angeführt und ihm eigenhändig die Kehle aufgeschlitzt hatte. Ja, er war dem Verbrecher wie aus dem Gesicht geschnitten ... »Was soll nun aus uns werden?« Orland lehnte sich mit einem Steine erweichenden Seufzer ans Oberteil des Bettes. »Wie kommen wir von hier weg?« Seine Mannschaft war über die ganze Insel verteilt. Die Chance, die Männer je wieder zu sehen - geschweige denn zu befreien -, lag bei Null. Außerdem hatten sie kein Schiff mehr. Dazu kam, dass die Byorner mit Krieg rechneten. Wenn hier bald die Kanonenkugeln flogen ... »Ich schlage vor, wir schauen uns im Hafen um. Vielleicht finden wir eine Passage nach Süden ...« Orland versuchte das Federbett zur Seite zu wuchten, doch zu seinem Schrecken war er nicht einmal dazu in der Lage. Er sank mit einem Fluch zurück. »Was hat dieser Dreck nur aus mir gemacht«, jammerte er. »Ich bin ein Wrack! Eine Memme!« »Sei froh, dass du das Koox endlich aus dem Leib hast ...« Laryssa flößte ihm einen Schluck Kafi ein. »Wie bist du an die Droge geraten? Hast du nicht gewusst, was sie mit dir macht?« Orland seufzte elend. »Ach, du hast ja keine Ahnung ... Wenn man Koox zum ersten Mal schnupft, fühlt man sich wie Wudan persönlich.« Er musterte Laryssa mit einem
undeutbaren Blick. »Dein Mut steigt um das Tausendfache ... Man fühlt sich nicht nur unglaublich stark, man ist es auch.« Seine Stimme wurde leiser. Er wandte den Blick von ihr ab. »Für jemanden, der nicht mit der Gewissenlosigkeit eines Halsabschneiders geboren wird, ist das Zeug die einzige Möglichkeit, in dieser Welt zu bestehen.« Laryssa schaute ihn verdutzt an. »Wieso sollte es für einen Menschen mit Gewissen erstrebenswert sein, sich wie ein Halsabschneider zu fühlen?« »Das verstehst du nicht.« Orland fuchtelte verlegen mit den Händen. »Das versteht keiner. Aber ... ein junger Mensch mit Gewissen, der in Kreisen aufwächst, in denen es völlig normal ist, abgefeimteste Verbrechen zu begehen, hat keinen leichten Stand. Der wird leicht als Memme eingestuft.« Er hustete nervös. »Mehr möchte ich ... dazu nicht sagen.« Laryssa nahm nachdenklich Platz. War dies der richtige Zeitpunkt, ihn über ihr wahres Wesen aufzuklären? Warum sie bei ihm angeheuert hatte? Nach wem sie suchte? Sie holte tief Luft. »Wenn du die Sache nicht vertiefen willst, belassen wir es dabei. Nur eine Frage habe ich noch: Was macht eigentlich dein Vater?« Orland zuckte zusammen. Sein kalkweißes Gesicht wurde noch um eine Nuance bleicher. »Der hat vor drei Jahren ins Gras gebissen«, zischte er dann. Laryssa atmete auf. * Der nächste Tag verging. Orland verbrachte ihn schlafend. Laryssa nutzte die Gelegenheit, um mit Wulf durch die Hafengassen zu stromern und sich mit den Örtlichkeiten vertraut zu machen. Nachdem sie in eine Taverne eingekehrt war, um sich eine kräftige Mahlzeit zu gönnen, begegnete ihr unverhofft der Schiffsjunge der Nordstern.
Offenbar hatte man ihm die Heuer ausbezahlt, die er nun in eine der zweifelhaften Damen investieren wollte, die draußen umher stolzierten. Als Laryssa ihn ansprach, war er furchtbar verlegen und wollte schnell das Weite suchen. Laryssa hielt ihn jedoch am Kragen fest und schleifte ihn ins »Robbenstübchen«, wo sie ihn bei einem Becher Brabeelensaft nach den Geschäften befragte, die Ukluk hier machte. Sommersprosse wusste zu erzählen, dass Eisenarms Zwangsarbeiter unter der Aufsicht des architektonisch begabten Prinzen Swayn seit vielen Monden eine neue Festung bauten. Diese lag - vom Meer aus gesehen - auf einer Anhöhe auf der rechten Seite der Byornia-Bucht und hieß Fort Nyflheim. Das Fort sollte die Hafeneinfahrt bewachen und mit Hilfe gigantischer Brandschleudern jede Flotte versenken, die es wagte, in die Bucht einzudringen. Auf der Anhöhe mühten sich weit über hundert Sklaven im Wechselschichtbetrieb ab: Die Zeit drängte. Eisenarms Spione auf den Meera-Inseln hatten angeblich in Erfahrung gebracht, dass Eynar Rotbart mit Hochdruck aufrüstete und fest entschlossen war, ihn zu vernichten. Diese üblen Nachrichten hatten in den letzten Wochen dazu geführt, dass noch mehr Byorner als üblich an die finnischen Küsten emigriert waren. Wenn die Gerüchte stimmten, hatte sich auch eine Anzahl Soldaten bei Nacht und Nebel davongemacht. »Man redet schon von Personalknappheit«, beendete Sommersprosse seinen Bericht. Laryssa bedankte sich bei ihm. Während der Schiffsjunge ins Freie trat und prompt von einer Hafenschwalbe angesprochen wurde, ließ sie sich von der Wirtin den kürzesten Weg zur Nyflheim-Anhöhe beschreiben. Eine halbe Stunde später kehrte sie mit Wulf ins »Rotnasige Reen« zurück, wo Kapitän Orland - eine heiße Fischsuppe schlürfend - aufrecht im Bett saß. Laryssa berichtete, was sie getrieben hatte. Als Orland
hörte, dass sie die Absicht hatte, sich beim Wachtpersonal in Fort Nyflheim um einen Posten zu bemühen, runzelte er die Stirn. »Warum in aller Welt willst du das tun?« Er deutete auf die an Laryssas Gürtel hängende Geldkatze. »Sind wir so knapp bei Kasse?« Laryssa schüttelte verlegen den Kopf. »Nein, es geht um meinen Burschen Dave. Ich muss ihn retten. Mein Ehrenkodex ...« Wulf knurrte, als hätte sie etwas Wichtiges vergessen, und so fügte sie schnell hinzu: »Es geht natürlich auch um seinen Gefährten Rulfan.« Ihr Blick fiel auf Wulf. »Ich bin es meinem Freund und Lebensretter einfach schuldig ...« Wulf knurrte erneut. Diesmal sichtlich zufrieden. Laryssa war sich inzwischen fast sicher, dass der Lupa weit mehr verstand, als ein Tier hätte verstehen dürfen. Orland runzelte die Stirn. »Vierauge und Rotauge sind fraglos helle und mutige Burschen. Ich habe es während der Schlacht auf Tromsoy gesehen ... Aber wäre es nicht besser, du verschiebst das Unternehmen auf morgen? Dann bin ich nämlich wieder auf den Beinen und kann dir helfen.« Laryssa musterte ihn abschätzend. Zwar war der Blick des Kapitäns nun relativ klar, aber bis er einen Säbel heben konnte, würden bestimmt noch einige Tage vergehen. Niemand, der Augen im Kopf hatte, würde ihn in seinem momentanen Zustand eine Meute Sklaven bewachen lassen. Nein, um Vierauge und Rotauge zu befreien, musste man fit sein und nicht nach fünf Schritten im Dunkeln über die eigenen Beine stolpern. Laryssa gab sich alle Mühe, dem Kapitän auf diplomatische Weise auszureden, ihr beizustehen. Es gelang ihr freilich erst, als sich Orland einer Kraft ergab, der er momentan nichts entgegensetzen konnte: Er hatte die Suppe kaum verzehrt, als der Gott des Schlafes zuschlug und seinen Kopf aufs Kissen sinken ließ. Er schnarchte, bevor er den Löffel aus der Hand legen konnte.
Laryssa packte ihren Kram zusammen. Da sie nicht wusste, wann sie zurückkommen würde, schrieb sie dem Kapitän ein paar Zeilen über ihre Pläne und legte einen Stapel Münzen auf den Nachttisch. Dann ging sie mit Wulf im Gefolge hinaus. Hundert Schritte vom Gasthof entfernt stieß sie auf eine von Yakks gezogene Droschke, und nachdem sie mit dem Kutscher handelseinig geworden war, ließ sie sich zum Fort Nyflheim chauffieren. * Eine erfahrene Söldnerin wie Laryssa wusste natürlich, mit welchen Waffen man in bestimmten Situationen am weitesten kam. Und obwohl sie es verabscheute, sich jener Waffen zu bedienen, die bei fast allen Männern wirkten, war sie sich doch bewusst, dass sie in entscheidenden Momenten notwendig waren. Schon die jungen Posten, die das Tor des etwa zehn Meter hohen Palisadenzauns bewachten, hinter dem Eisenarms neue Festung gebaut wurde, begafften Laryssa mit lüsternen Blicken. Um Zeit zu sparen, drückte sie den Busen heraus und ersuchte um eine Audienz bei der Bauleitung. Die Wachtposten reichten sie nach einigen dummen Anmach-Sprüchen an den Wachhabenden weiter - einen Typen mit Fischaugen und einer vorspringenden Wampe, auf der man einen Humpen hätte abstellen können. Auch der Wachhabende fand großen Gefallen an Laryssas Rundungen. Als er jedoch den tapsigen Versuch machte, seine fleischigen Hände darauf zu legen, reichte ein Knurren Wulfs völlig aus, um ihn an seine Pflichten zu erinnern. Sommersprosses Information, laut der man Wachtpersonal suchte, erwies sich als richtig. Der Wachhabende gab Laryssa an den Offizier vom Dienst weiter, einen Kommisskopf älteren Jahrgangs, der außer Waffen und Krieg nichts im Kopf hatte.
Neben Laryssas blitzendem Säbel und Wulfs beeindruckenden Doppelzahnreihen interessierte ihn nichts. Als Laryssa ihm aus seinem Büro folgte, fragte sie sich, ob der Kerl überhaupt gemerkt hatte, dass sie eine Frau war. Die nächste Station war das Büro des Bauleiters. An der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift: SEINE KGL. HOHEIT PRINZ SWAYN WER IHR KEINE ACHTUNG ENTBIETET, IST DES TODES Da Laryssa von Spizborgh stammte, verwunderte sie die Milde dieser Drohung. Die Herrscher des Nordens erfreuten sich nahezu ausnahmslos eines üblen Rufes, was kein Wunder war, denn die Welt, in der sie lebten, war so hart wie das Gestein ihrer Ländereien. Wer nicht beizeiten jeden köpfen ließ, der einem den Thron streitig machen konnte, hatte bald das Nachsehen. Prinz Swayn war, dies erkannte Laryssa auf den ersten Blick, ein Künstler. Im Gegensatz zu fast allen Künstlern, die ihre Wege bisher gekreuzt hatten, war er jedoch nicht auf die körperliche Schönheit des Mannes fixiert, sondern auf ... Oh, verdammt, dachte sie, als sie spürte, wie sich sein Blick an ihrem Busen festsaugte. Mit dem Kerl werde ich noch Ärger kriegen ... Der OvD stellte sie vor. Prinz Swayn lauschte ihm, ohne den Blick vom Oberkörper seiner Besucherin zu lösen. Dann winkte er den OvD wie eine lästige Flegge hinaus. »Sie wollen also in meine Dienste treten, Froken?« Er schnalzte mit der Zunge. »Na, wunderbar! Haben Sie eine Waffe?« Laryssa zückte ihren Säbel. »Fein, fein«, sagte Prinz Swayn, ohne ihm nur einen Blick zu schenken. Dass er nicht anfing zu sabbern, zeugte von guter Kinderstube. »Normalerweise stellen wir keine Frauen ein, aber ich will eine Ausnahme machen, weil Sie einen wirklich
prächtigen ...«, er räusperte sich, schien aus einer Trance zu erwachen und deutete auf Wulf, der zwar artig, aber auch argwöhnisch neben Laryssa saß, »... weil Sie einen wirklich prächtigen Hund haben, der sicher auch seine Qualitäten hat.« »Das will ich meinen«, erwiderte Laryssa. »Wuff«, machte Wulf und streckte sich zufrieden am Boden aus. Prinz Swayn bot Laryssa einen Stuhl an. Nachdem sie vor seinem mit technischen Zeichnungen überladenen Schreibtisch Platz genommen hatte, stellte er ihr die üblichen Fragen. Dass sie auf Spizborgh geboren war, dem Reich des Tyrannen Eynar Rotbart, der Byorn mit einer Invasion bedrohte, verschwieg Laryssa geflissentlich. Sie sei Söldnerin auf dem Festland, sagte sie, und die Abenteuerlust habe sie nach Byorn verschlagen. Sie klärten die Soldfrage, dann erkundigte sich Prinz Swayn, ob sie auf einer Unterkunft im Fort Wert lege. »Aber ja.« Swayns Augen blitzten freudig. »Wie schön! Ich übernachte nämlich auch hier! Dann werden wir uns ja öfters sehen!« Erneut massierte sein Blick Laryssas Busen. Es dauerte eine Weile, bis er wieder zu sich kam und eine Ordonnanz rief, die der neuen Mitarbeiterin das Quartier zeigte. Die Unterkunft des Wachtpersonals befand sich in einer einstöckigen Baracke. Sie bestand aus Holz wie die gesamte Festung. Die dienstfreien Wachen schliefen schon, sodass Laryssa niemandem begegnete, der Fragen stellte. Die Ordonnanz wies ihr - auf Anordnung Seiner Hoheit des Prinzen - eine Einzelkammer zu, das normalerweise Unteroffizieren vorbehalten war. »Unteroffiziere sind allerdings in letzter Zeit etwas knapp geworden«, hüstelte die Ordonnanz. Auch eine rund um die Uhr geöffnete Kantine gab es in dem langen Holzbau. Nachdem Laryssa und Wulf sich mit einem Dutzend Hartbrotscheiben und brauner Soße gestärkt hatten,
legten sie sich schlafen. * Am nächsten Tag hatte sich der graue Himmel über Byorn nahezu schwarz verfärbt. Ein wütender Sturm peitschte das Meer und ließ die im Hafen liegenden Schiffe auf den Wellen tanzen. Dann regnete es Bindfäden. Es wurde zu einem abenteuerlichen Unternehmen, die Festungsbaustelle zu betreten. Da man bei diesem Wetter nicht einmal einen Lupa vor die Tür jagte, ließ Laryssa Wulf im Quartier zurück. Sie selbst meldete sich in einem wasserdichten Umhang mit Kapuze zum Dienst. Als sie im strömenden Regen durch den Matsch watete und so tat, als beaufsichtige sie die schuftenden Zwangsarbeiter, sah sie Wulf am Fenster: Er hatte die Lauscher aufgestellt und die Pfoten auf die Fensterbank gelegt und beobachtete interessiert ihr Tun. Ob er wusste, dass sie nach seinem Herrn und dessen Freund Ausschau hielt? Leider gelang es ihr im ersten Anlauf nicht, Dave und Rulfan unter den fluchenden Sklaven auszumachen, denn auch sie waren aufgrund des prasselnden Regens mit Kapuzenumhängen bekleidet und glichen einander wie ein Ei dem anderen. Allzu nahe an sie herangehen wollte Laryssa nicht, um sich nicht verdächtig zu machen. Bei ihrem Rundgang konnte sie nun erstmals bei Tage die Dimensionen des Forts bewundern, dessen Schöpfer Prinz Swayn war: Es glich jenen Anlagen, die man in den abgelegenen Provinzen größerer Festlandsreiche sah und bestand im Wesentlichen aus einem von hohen, angespitzten Palisaden umgebenen Areal. Gleich hinter den Palisaden befanden sich die Unterkünfte der Mannschaften, Unteroffiziere und Offiziere, sowie die Stallungen, Wirtschafts- und Lagerräume der Garnison. Der Zaun war fertig, ebenso ein Großteil der Laufgänge. An allen
Orten wurde gesägt, gehämmert, genagelt und geleimt. Werkstätten gab es überall auf dem Gelände. Da es niemand für nötig hielt, sie mit Wänden zu versehen, da sie nach Beendigung der Bauarbeiten ohnehin wieder abgerissen wurden, bestanden sie nur aus Dächern, die auf Pfählen ruhten. Darunter stapelten sich Massen von Baumaterial und Werkzeug. Dutzende von Männern, offenbar vom Fach, schnitten Holz zu, das von Hilfskräften dann zu anderen Fachkräften geschleppt wurde, die es mit Nägeln, Bolzen oder Leim verarbeiteten. Nachdem sich Laryssa, gefrustet von der Erfolglosigkeit ihres Tuns, doch näher an die Arbeiter heran wagte, um ihnen unter die Kapuzen zu schauen, gab ihr ein derber Zimmermann mit Gebrüll zu verstehen, dass er es nicht schätzte, wenn man ihm im Wege herum stünde. Ein schnauzbärtiger Unteroffizier namens Gynnar riet ihr, die Nähe der Sklaven zu meiden: »Die Leute gehören zum übelsten Gelichter der Insel. Sie könnten die Gelegenheit nutzen, dir den Säbel zu entreißen und dich niederzumachen!« »Ich kann sehr gut auf mich aufpassen«, gab Laryssa zurück, ärgerlicher als gewollt. Sie trollte sich und hielt wieder Abstand. Später sah sie Gynnar unter einem Schutzdach stehen und mit Prinz Swayn reden. Als er sich umdrehte und auf sie zeigte, wusste sie, dass er sie gerade anschwärzte. Alte Petze, dachte sie wütend. Der Tag versoff im Regen, und als die Schicht in die Sklavenkantine einrückte, wurde es dunkel. Der Hof von Fort Nyflheim leerte sich. Mit Armbrüsten bewaffnete Wachen standen nun auf den Laufgängen, um das Gelände besser zu überschauen. Laryssa machte Feierabend und hatte beim Essen in der Kantine Gelegenheit, einige Kollegen kennen zu lernen. Die Stimmung war gedrückt. Nicht wenige Soldaten waren ursprünglich in Eisenarms Dienste getreten, weil Byorn so weit
vom Festland und den Meera-Inseln entfernt lag, dass ihnen ein Krieg nahezu unmöglich erschien. »Ich hab den Rock des Königs nur angezogen, damit der Pöbel mich respektiert«, lamentierte ein Mann, mit dem Laryssa bei einem Becher Biir am selben Tisch saß. »Wir leben auf 'ner Insel! Wir haben keine Nachbarn! Also kann es auch keine Grenzstreitigkeiten geben. Wie also hätte ich auf die Idee kommen sollen, dass ich eines Tages meine Rübe hinhalten muss, um gegen einen König zu kämpfen, dessen Reich dreißig Mal größer ist als das unsere?« Blöder Arsch, dachte Laryssa. Das haben wir gern! Den Rock des Königs anziehen, um das Volk zu schikanieren! Das gefällt dir - und auch der Sold. Die Aufgabe eines Soldaten besteht aber nicht darin, sich einen feinen Lenz zu machen, sondern für seinen König zu sterben. Da sie es für taktisch unklug hielt, ihr Gegenüber mit derlei Wahrheiten gegen sich aufzubringen, prostete sie ihm zu und heuchelte Verständnis für seine Lage. Später, unterwegs zu ihrem Quartier, bemerkte sie Prinz Swayn, der unter dem Vordach des Konstruktionsbüros stand und sie zu beobachten schien. Hatte irgendetwas in ihrem Verhalten seinen Argwohn erregt? Hatten Gynnars Worte dazu geführt, dass er seinen Entschluss, sie mit der Bewachung von Sklaven zu beauftragen, überdachte? Swayn war kein gewöhnlicher Bauleiter, sondern ein Sohn König Eisenarms. Von denen gab es angeblich so viele, dass sie seine gesamte Leibgarde stellten. Vielleicht hatte sie Swayn falsch eingeschätzt. Auch wenn er sich als Architekt und Künstler sah - als Leibgardist hatte er gewiss eine militärische Ausbildung erhalten und konnte Menschen beurteilen. Laryssa kehrte zu Wulf zurück. Als sie die Tür hinter sich schloss, schüttelte sie sich. Sie musste vorsichtiger sein, durfte keinen Verdacht erregen. Prinz Swayn konnte nicht ahnen,
warum sie hier war. Ich wette, es hat nichts zu bedeuten, redete sie sich ein und warf Wulf eine ordentliche Portion Fleisch aus der Kantine hin. Swayn ist nur scharf auf mich. Morgen knöpf ich ihn mir vor. * Auch am nächsten Tag meinte der Wettergott es nicht gut mit den Zwangsarbeitern und dem Wachtpersonal. Das größte Problem für Laryssa stellte jedoch Wulf dar, der ums Verrecken nicht bereit war, noch einen weiteren Tag im Quartier zu verbringen. Laryssa sah sich schließlich gezwungen, ihn mitzunehmen. Was natürlich zu ihrer Entlarvung führen konnte, wenn der Lupa seinen Herrn entdeckte und nicht mehr zu halten war. Zum Glück teilte der OvD sie für die Morgenstunden als Torwache ein, sodass sie Wulf zumindest in einem der Wachhäuschen, die den Eingang zu Fort Nyflheim säumten, unterbringen konnte. Der Soldat, mit dem Laryssa auf Posten stand, war zufällig der Mann, der am Abend zuvor geäußert hatte, er sei nur in Eisenarms Dienste getreten, damit der Mob ihn respektierte. Dass er kein Militär war, bewies er schnell, denn seine Dienstpflicht interessierte ihn weniger als die Schiffe im Hafen von Byornia, die man von hier oben gut beobachten konnte. Auch Laryssa überkam bald die Langeweile, und ihre einzige Freude war es, von Zeit zu Zeit von einem Bein aufs andere zu wechseln. Das änderte sich, als Abwechslung in Gestalt von Prinz Swayn nahte, einen Federhut auf dem Kopf und eine Papierrolle unter dem Arm. »Nun, wie ist die Lage?«, wandte er sich an Laryssa, während der zweite Mann erstmals seit Stunden stramm stand und wachsam dreinschaute. »Keine besonderen Vorkommnisse, Hoheit«, meldete
Laryssa. »Gut, gut ...« Prinz Swayn beugte sich vertraulich vor und erkundigte sich zu ihrer Überraschung, ob Froken Laryssa daran interessiert sei, heute Abend auf einem kleinen Empfang seines Bruders Leyf teilzunehmen. »Er feiert nämlich sein zwanzigstes Wiegenfest, und dazu würde ich gern an der Seite einer hübschen Frau erscheinen.« Laryssa wusste diese Ehre wohl zu schätzen, doch fiel es ihr nicht leicht, züchtig zu erröten, wie es einem Froken ihrer niederen Klasse geziemte. Dass sie es dennoch schaffte, schien Prinz Swayn zu ermutigen, denn nun wurde sein Blick eindeutig unziemlich. »Zuvor jedoch«, säuselte er, »treffen wir uns in meinen Privatgemächern.« Um dies nicht ganz so eindeutig stehen zu lassen, fügte er hinzu: »Natürlich nur, um ein Kleid für Sie auszusuchen. Schließlich sollen Sie die Schönste des Abends sein.« Laryssa machte sich keine Illusionen über das, was ihr tatsächlich bevorstand. Sie schluckte ihren Schreck jedoch herunter. »Gewiss, Hoheit, gewiss.« Prinz Swayn tippte an seinen Federhut, tat Laryssa kund, er werde sie zu gegebener Zeit von seinem Leibdiener abholen lassen, und ging seiner Wege. Die Morgenschicht endete schnell. Als Laryssa, Wulf bei Fuß, um die Mittagsstunde am Fenster der Kantine saß, hatte sie endlich das Glück, auf dem Gelände ihren Ex-Burschen Dave zu erspähen. Er stritt sich mit einem ungefähr zwei Meter großen, wüst tätowierten Sklaven, der einen Balken auf der Schulter trug. Offenbar hatte Dave ihm im Weg gestanden. Jetzt ließ er seine Last fallen, brüllte den Professor an und machte eindeutige Drohgebärden. Laryssa sprang auf. Doch eingreifen konnte sie nicht, dafür waren die beiden zu weit entfernt. Es war auch nicht notwendig. Als der Hüne ausholte und seine tellergroße Rechte auf Daves Kopf zu schoss, tauchte
neben ihm plötzlich eine Gestalt im Regenumhang auf. Ein Bein zuckte hoch und ein Stiefel bohrte sich in den Bauch des Mannes, der wie ein Sack Mehl nach hinten flog und im Matsch landete. Dave wollte dem Hünen nach, aber sein Helfer hielt ihn zurück. Als er dabei den Kopf schüttelte, konnte Laryssa kurz einige schlohweiße Haarsträhnen unter der Kapuze sehen. Sie bestätigten, was sie bereits geahnt hatte: Es handelte sich um Rotauge. Die beiden gingen zu den Sklavenbaracken hinüber. Laryssa schob ihren Stuhl an den Tisch und strebte dem Ausgang der Kantine entgegen. Als sie ins Freie trat, bekam Wulf die Witterung seines Hermin die Nase und ließ ein freudiges Jaulen hören. Laryssa beugte sich rasch vor und hielt ihm die Schnauze zu. Der Lupa stellte seinen Ruf ein, doch Rulfan hatte ihn schon gehört: Sein Kopf flog herum. Als er Laryssa und Wulf sah, wechselte er ein paar Worte mit David McKenzie und schlenderte an der Baracke entlang. Als er ihr Ende erreichte, zwinkerte er Laryssa zu, dann umrundete er das hölzerne Gebäude und verschwand aus ihrem Blickfeld. Laryssa warf einen unauffälligen Blick in die Runde. Es war niemand in der Nähe, der ein Auge auf sie hatte. Die Posten auf den Laufgängen beobachteten den Hafen, und die beiden Torwachen konnten sie nicht sehen. Als sie sicher war, dass sie das Risiko eingehen konnte, huschte sie zwischen zwei hohen Stapeln Bauholz hindurch und nahm die Verfolgung Rulfans auf. Als sie auf der Rückseite der Baracke ankam, griff ein Arm hinter einem Kistenstapel hervor ihr und zog sie in Deckung. Im nächsten Moment sprang Wulf an seinem Herrn hoch und winselte leise. Rulfan stieß eine schnelle Silbenfolge aus. Der Lupa machte leise »Wuff«, dann zog er sich diszipliniert zurück und verschwand aus Laryssas Blickfeld. »Du glaubst gar nicht, wie es mich freut, dich zu sehen«,
sagte Rotauge und deutete über seine Schulter. »Ich schätze mal, für den Professor gilt das Gleiche.« »Für den Professor?« Laryssa stutzte. »Meinst du meinen Burschen Dave?« Rotauge grinste. »Wir haben, was unsere Vergangenheit anbetrifft, nicht ganz die Wahrheit gesagt«, erwiderte er. »Wir beide waren gar nicht in politische Intrigen in Ruland verwickelt. Aber es würde zu weit führen, dir jetzt alles zu erklären.« Laryssa nickte. »Ich bin gekommen, um euch zu retten.« Sie berichtete in kurzen Sätzen, wie es ihr gelungen war, Kapitän Orland vor einem üblen Schicksal zu bewahren. »Momentan ruht er sich in einer Herberge aus, um neue Kräfte zu sammeln. Es geht ihm schon wieder ganz gut.« Es war nicht zu erkennen, ob Rotauge ebenso froh war, den Piratenkapitän auf dem Wege der Besserung zu wissen. Er blickte eher skeptisch drein. »Ich bin dir sehr dankbar, dass du all das auf dich genommen hast«, sagte er nachdenklich. »Aber wir dürfen die Realitäten nicht verkennen.« »Die Realitäten?« Rotauge nickte. »Machen wir uns nichts vor. Eine Flucht aus Fort Nyflheim mag ja noch möglich sein, aber von der Insel kommen wir nicht weg. Eisenarm rechnet täglich mit einer Invasion. Seitdem wird der Hafen so streng überwacht wie nie zuvor. Alle Schiffe, ein- wie auslaufende, werden gründlich gefilzt, von der Bilge bis zum Krähennest. Man will verhindern, dass Spione Byorn verlassen, um Rotbarts Truppen über Eisenarms Abwehrmaßnahmen zu informieren. Zwei entflohene Sklaven haben da keine Chance ...« Laryssa biss sich auf die Unterlippe. Verdammt, der Mann hatte Recht! Wie hatte sie nur so kurzsichtig sein können? »Und was sollen wir jetzt tun?« Rotauge dachte kurz nach. »Gegen Orland und dich liegt nichts vor ... ihr könntet problemlos von hier weg. Wenn ihr
unsere Freunde verständigt ...« »Und was sollten die ausrichten können?« Laryssa schüttelte den Kopf. »Wie du schon sagtest: Eisenarms Truppen sind voll bewaffnet.« »Das wäre kein Problem. Sie haben ... nun ja, fliegende Maschinen, mit denen sie uns mitten aus dem Lager holen können. Und Kanonen, die Blitze verschießen, falls es Probleme gibt.« »Fliegende Maschinen? Blitzkanonen? Du nimmst mich auf den Arm!« Laryssa war rechtschaffen empört. »Aber nein!«, versicherte ihr Rotauge. »Wie schon erwähnt: Als wir uns zum ersten Mal trafen, haben Dave und ich nicht ganz die Wahrheit gesagt, was unsere Herkunft angeht. Wir sind Forscher aus Britana und stehen im Sold unserer Königin. Sie muss erfahren, wo wir sind.« »Britana?« Laryssa riss die Augen auf. »Sie lebt in Landän«, fuhr Rotauge fort, »und wartet auf ein Lebenszeichen von uns.« Laryssa beäugte ihr Gegenüber argwöhnisch. Dass Könige und Königinnen Forscher in ferne Länder entsandten, wusste sie natürlich. Aber Britana war eine so riesige Insel, auf der so viele Menschen lebten, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass eine Königin die Zeit hatte, sich um das Schicksal zweier Forscher zu kümmern. Als sie ihre Zweifel aussprach, erwiderte Rotauge: »Unter normalen Umständen müsste ich dir Recht geben. Aber Queen Victoria hat uns persönlich den Auftrag erteilt. Sie erwartet ungeduldig unsere Forschungsergebnisse - und deswegen wird sie alles tun, um uns hier rauszuholen, wenn sie weiß, wo wir sind.« »Hm ...« »Ich brauche wohl nicht darauf hinzuweisen, dass unsere Königin dich und Kapitän Orland reich belohnen wird«, machte ihr Rotauge die Entscheidung leichter.
Tja, was sollte Laryssa dazu sagen? Wie Orlands Entscheidung ausgefallen wäre, wusste sie. Er brauchte dringend Geld für ein neues Schiff. Aber nach Landän in Britana war es ein weiter Weg ... »Kapitän Ukluk läuft morgen früh nach Britana aus«, fiel ihr plötzlich ein. »Er hat gesagt, er würde mich gern wieder an Bord haben ...« »Kapitän Ukluk?« »Der Sklavenhändler, der euch hierher gebracht hat. Ein Skoothe.« Rotauge fasste sie bei den Schultern. »Etwas Besseres könnte dir doch gar nicht passieren! Nimm sein Angebot an! Schifft euch nach Britana ein, reist nach Landän und verlangt die Königin zu sprechen. Dann können unsere Freunde binnen weniger Tage hier sein und uns befreien!« In wenigen Tagen? Laryssa konnte es zwar kaum glauben, doch sie nickte. Und reichte Rotauge die Hand, um ihren Pakt zu besiegeln. Im gleichen Moment fiel ein Schatten in die Nische zwischen den Kisten, und die Stimme des Prinzen Swayn sagte hinter ihr: »Wer wird binnen weniger Tage hier sein? Ihr redet doch nicht etwa von Rotbarts Schergen?« Laryssa fuhr herum. Er sah sie fast traurig an, während er seinen Säbel auf sie und Rulfan richtete. »Zu schade, dass ich mich in dir getäuscht habe. Es wäre eine unvergessliche Nacht geworden ...« Und bevor Laryssa das Gegenteil behaupten konnte, brüllte er auch schon los: »Wache! Zu mir! Ich habe zwei Spione gestellt!« * Laryssa brauchte eine Sekunde, um den Schock zu überwinden. Rulfan fing sich etwas schneller. »Runter!«, zischte er. Sie ging augenblicklich in die Knie - und wie von Rotauge
erhofft folgte der Degen ihrer Abwärtsbewegung. Über Laryssas Kopf hinweg schoss seine Faust nach vorn und grub sich in Prinz Swayns Antlitz. Der Königssohn taumelte zurück, während Blut aus seiner Nase spritzte. Aber er fiel nicht. Im Gegenteil: Er riss den Degen hoch und machte Anstalten, wieder nach vorn zu stürmen. Solche Nehmerqualitäten hätte Rulfan dem Burschen gar nicht zugetraut. Doch es blieb bei den Anstalten. Ein struppiger weißer Schatten fegte von der Seite heran und riss den Prinzen aus Rulfans und Laryssas Blickfeld. Wulf kam spät, aber rechtzeitig. Seine Fänge schlugen sich in Swayns Schwertarm, sodass er die Waffe fallen ließ und wie eine Sirene los kreischte. »Verdammter Mist«, zischte Laryssa und schaute sich nervös um. »Wir müssen weg, bevor es hier von Soldaten wimmelt ...!« Rotauge war aus der Deckung getreten und ließ die Faust auf den Kopf des Prinzen niederfahren. Swayns Schrei endete abrupt. Seine Augen wurden glasig, bevor er rücklings in den Matsch klatschte. »Lass ihn, Wulf!«, sagte er zu dem Lupa, der augenblicklich gehorchte. Und an Laryssa gewandt: »Zu den Palisaden! Schnell!« »Moment«, fiel ihr ein. »Was ist mit Dave?« Rotauge schüttelte den Kopf. »Keine Chance ... Wir holen ihn später.« Er packte Laryssas Arm und zog sie durch die Gänge zwischen den Bauholzstapeln. Wulf folgte ihnen. Swayns Gezetere zeigte bereits Wirkung: Das Tor des Forts war geschlossen; davor hatte sich ein halbes Dutzend Wachen versammelt. Überall wimmelten Behelmte herum. »Hier lang!«, zischte Rulfan. In der Deckung einiger Holzstapel liefen sie geduckt zur Rückseite des Forts. Dann ragte der Palisadenzaun vor den Flüchtenden auf. Gleich davor befand sich ein Werkstatt-Schutzdach. Rotauge
hechtete zu einem Stützbalken, an dem ein Seil hing. Er riss es an sich, entrollte es und versah ein Ende mit einer Schlinge. Während Laryssa und Wulf nach den Häschern Ausschau hielten, schwang der Albino die Schlinge über seinem Kopf und warf sie zu den Palisaden hinauf. Zwei Würfe genügten, dann zog sie sich an einem angespitzten Pfahl fest. »Da rauf, schnell!« Rulfan winkte Laryssa zu sich. Sie steckte den Säbel in die Scheide, packte das Seil und hangelte sich geschickt hoch. Nach drei Metern hielt sie an und schaute sich um. »Was wird aus Wulf?« »Weiter klettern!«, drängte Rotauge ungehalten. Er nahm das Ende des Seils, beugte sich zu dem Lupa hinunter und band es ihm um den Oberkörper; hinter den Vorderläufen, damit es sich nicht um den Hals des Tieres zuziehen konnte. Als sich Laryssa endlich auf den Laufgang schwang und umdrehte, war Rotauge schon hinter ihr. Er zog das Seil samt Wulf hinauf, wuchtete den Lupa über die Palisadenpfähle und ließ ihn an der Außenseite wieder hinab. Wulf knurrte verhalten, hatte aber genug Vertrauen zu seinem Herrn, um die Unannehmlichkeiten zu ertragen. »Jetzt runter, Lady, aber fix ...« In diesem Moment riss die Wolkendecke auf, und das silberne Licht des Mondes machte Laryssa erstmals klar, wie hoch zehn Meter waren - und wie weh es tun musste, wenn man sie im freien Fall zurücklegte. Zum Glück gab es jedoch außer zwei heißen Händen keine Komplikationen beim Rutschen in die Freiheit. Kurz nachdem sie unten angekommen war, sank Rotauge neben ihr zu Boden und befreite Wulf von der Schlinge. »Auf nach Byornia ... am besten in euer Quartier. Da können wir über unsere nächsten Schritte nachdenken.« *
Kurz darauf kamen sie an den steilen Hang, unter dem sich Byornia ausbreitete. Da es zu riskant gewesen wäre, über die Serpentine zu laufen, ließen sie sich auf eine halsbrecherische Kletterei ein. Wulf, der in der Finsternis am besten sah, führte seine beiden menschlichen Begleiter über den von niedrigem Buschwerk bewachsenen Hang in die Tiefe. Hoch über ihnen, am Tor, wurde ein Klirren und Scharren laut, und als sie nach oben blickten, sahen sie Prinz Swayn an der Spitze eines berittenen Kommandos die Serpentine abwärts preschen. Sein Arm war notdürftig verbunden, und ein weiterer rot durchnässter Verband zog sich quer über sein Gesicht. Offenbar hatte jemand das Seil gesichtet, mit dem sie die Palisade überwunden hatten, und den richtigen Schluss gezogen. Dass der Prinz das Kommando trotz seiner Verletzungen persönlich anführte, machte deutlich, wie groß seine Rachsucht war. Dann tauchte der Stadtrand vor Laryssa und Rulfan auf. Die Flüchtlinge verschmolzen mit den Schatten zwischen den Gebäuden. In der Gegend, die sie nun durchquerten, war niemand unterwegs. Ihre Schritte hallten in den engen Gassen, bis Rotauge schließlich stehen blieb. »Wo ist die Herberge?« Laryssa schnappte nach Luft. »Beim Hafen.« Sie deutete nach Süden. »Ungefähr dort, wo die Nordstern angelegt hat.« Rotauge zerbiss einen Fluch zwischen den Lippen. »Heißt das, wir müssen die ganze Stadt durchqueren?« Laryssa nickte. »Das passt mir gar nicht.« Rulfan deutete auf sein weißes Haar. »Ich bin zu auffällig. Jeder Trottel wird sich an mich erinnern, wenn ein Steckbrief ausgegeben wird.« »Moment ...« Laryssa kramte in ihren Hosentaschen und zog schließlich ein Kopftuch hervor. »Das braucht man, wenn man mit langen Haaren in die Wanten klettert«, erklärte sie auf
Rulfans fragenden Blick und reichte es ihm. Glücklicherweise war das Tuch in sattem Rot gehalten und hatte kein Blümchenmuster. Rulfan raffte sein schulterlanges weißes Haar zusammen, legte den Stoff darum und verknotete ihn im Nacken. So liefen sie weiter, hielten sich in den Schatten und wechselten in eine unauffällige Gangart, wenn sie Passanten begegneten. Wo immer es möglich war, ließ Rulfan den Lupa in Seitengassen verschwinden, bis die Straße wieder leer war. Auf dem letzten Drittel des Weges, der zum »Rotnasigen Reen« führte, hörten sie aus allen Richtungen hallenden Hufschlag und blieben stehen. Sie hatten sich gerade in einen Hauseingang zurückgezogen, als zwei berittene Soldaten an ihnen vorbei preschten. Der Hufschlag verklang in der Ferne, aber es war eindeutig, dass die Männer zum Hafen unterwegs waren. »Verflucht.« Rulfan schaute sich nervös um. »Die scheinen zu ahnen, wohin wir wollen.« »Das ist nur Routine«, erwiderte Laryssa leise. »Sie riegeln wahrscheinlich die Zugänge zu den Schiffen ab, die bald auslaufen. Dumm ist nur, dass das ›Rotnasige Reen‹ so nahe am Kai liegt. Sie werden uns sofort sehen, wenn wir dort auftauchen.« »Dann müssen wir erst mal anderswo Zuflucht suchen«, entschied der Albino. Sie bogen, Wulf im Gefolge, um mehrere Ecken und standen schließlich vor den rot erleuchteten Fenstern einer Taverne namens »Trollheim«. Von außen wirkte der Laden zwar wie eine üble Kaschemme, doch gerade zum Atemholen und Nachdenken waren Lokalität dieser Art besonders geeignet. Nachdem sie sich angesehen und einander zugenickt hatten, traten sie über die Schwelle. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss ...
* Die »Trollheim«-Gäste waren ein wildes Sammelsurium aus Totschlägern und Hafenratten, Dieben und Säufern. Dazwischen buhlten bemalte Bordsteinschwalben mit kurzen Röcke um die Gunst der hier Versammelten. Auf einer schmalen Bühne gab ein Damen-Trio ein Lied zum Besten, das so klang, als quäle jemand eine Katze. Und gleich neben der Bühne saß ein mit einem Lendenschurz bekleideter VierZentner-Mann, dem ein spitznasiger Tätowierer mit dem arroganten Blick eines Künstlers den Rücken verschönerte. Rulfan schnaubte leise. »Ich war schon in besserer Gesellschaft. Wenigstens ist das Risiko gering, dass sich ein Kommando des Prinzen hier rein traut.« Sie setzten sich an einen Zweiertisch am Fenster und orderten zwei Humpen Biir. »Ins ›Rotnasige Reen‹ können wir jedenfalls nicht«, sagte Laryssa. »Wenn wir dort gesehen werden, geht es auch Kapitän Orland an den Kragen.« »Du sorgst dich wie eine Mutter um ihn«, grinste Rulfan. »Na ja, bei dem Vater ...« »Was soll das heißen?«, hakte Laryssa nach. Rotauge zuckte die Achseln. »Ich weiß noch, wie sein Entzug einsetzte, kurz nach der Niederlage auf Tromsoy. Auf dem Schiff ging es dann richtig los. Er hat gestöhnt und geschrien und im Schlaf geredet ...« Seine Stirn legte sich in Falten. »Orland hatte keine gute Kindheit.« »Wie kommst du darauf?« Laryssa trank einen Schluck Meet und beugte sich über den Tisch. »Nun, er hat im Delirium ständig Sachen gewinselt wie: ›Nein, Papa, ich bin keine Memme ...‹ oder ›Nicht schlagen! Ich wollte dir keine Schande machen!‹ Und so weiter. Ich schätze, sein alter Herr war wohl nicht gerade ein Menschenfreund. Der muss ihn ganz schön fertig gemacht haben.« Rulfan seufzte. » Ich hab schon mehr als einen Mann
getroffen, den sein Alter verkorkst hat. Manche Jungs überwinden das nie. Um ihre Kindheit zu vergessen fangen sie an zu saufen oder nehmen irgendein Dreckszeug. Das macht sie mutig. Und irgendwann werden sie dann so, wie sie nie werden wollten.« Laryssa schluckte. Sie hatte sich fast so etwas gedacht. Ragnar Orland war kein schlechter Kerl. Was für eine schreckliche Vergangenheit musste hinter ihm liegen? »Doch nun zu wichtigeren Dingen.« Rotauge hob seinen Humpen. »Wulf und ich sind zu auffällig. Wir müssen uns trennen. Schaffst du es allein zur Nordstern?« Er hatte den Satz kaum beendet, als er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn schlug. »Verdammt, das geht jetzt auch nicht mehr ... Swayn hält dich für eine Spionin Rotbarts.« »Eben.« Laryssa nickte. »Ich käme jetzt genauso wenig an Bord eines Schiffes wie du. Nicht mal, wenn Ukluk mein Gönner wäre. Swayns Schergen werden auch die Nordstern bis in den letzten Winkel absuchen.« Sie räusperte sich. »Wulf ist der Einzige von uns, der problemlos von hier weg käme.« Rulfan schaute überrascht auf. »Wieso?« »Weil Ukluk ein Hundenarr ist«, erwiderte Laryssa. »Ich habe es nur Wulf zu verdanken, dass ich überhaupt mit ihm bekannt geworden bin.« Sie berichtete von dem Zwischenfall mit dem Zuhälter auf Tromsoy. »Er wollte mir Wulf unbedingt abkaufen.« »Ach, wirklich?« Rulfans Gestalt straffte sich. Als Laryssa ihn anschaute, hatte sie den Eindruck, dass sich hinter seiner Stirn Räder drehten. Dann wandte er sich um. Sein Blick wanderte zur Bühne hin - und fiel auf den Tätowierer, der seine Arbeit an dem Vier-Zentner-Mann gerade beendete. Der Koloss stand auf und drehte sich um, damit alle Anwesenden das Kunstwerk betrachten konnten, das der Meister ihm auf den Rücken tätowiert hatte: ein Coca-Cola-
Schriftzug im Kreis, nach der Vorlage aus einem vergilbten Walmart-Prospekt vom Oktober des Jahres 2011. Rotauge fing plötzlich an zu grinsen. Dann beugte er sich unter den Tisch, winkte den dort liegenden Lupa hervor und begab sich mit ihm zu dem Künstler. Laryssa trank einen Schluck Biir und fragte sich, was um alles in der Welt dieser merkwürdige Mensch vorhatte. * Luton: Irgendwie wurde Wulf den Eindruck nicht los, schon mal hier gewesen zu sein. Sein Herr war oft mit ihm durch die Lande gereist, als Späher in den Diensten des Rudelführers von Salisbury, der seit viele Jahren lang Expeditionen in unbekannte Gefilde entsandt hatte. Von der ehemaligen Industriestadt, die in den alten Zeiten vorrangig durch die Produktion von Strohhüten und motorisierten Fahrzeugen bekannt geworden war, existierte jedoch nicht mehr viel: Die Eiszeit hatte die Wohnhäuser der Stadt und die Werkshallen der Industrie zermalmt. Zwischen den Ruinen wucherte jetzt der Dschungel. Im porösen Gestein der Mauerreste flitzten fauchend kleine Echsen umher, die ihre gezackten roten Kämme aufstellten und sich gegenseitig so lange provozierten, bis die eine der anderen die Kehle durchbiss. Unter der Erde, in der Kanalisation, lebten kleine bleichhäutige, Fetzen tragende Abkömmlinge von Menschen mit riesengroßen Augen und langen Ohren. Sie jagten Ratzen mit Pfeil und Bogen und verständigten sich mit einer pfeifenden Sprache, die in Wulfs empfindlichen Lauschern so entsetzlich schrillte, dass er Reißaus nahm, als er einem ihrer Rudel begegnete. Doch die kleinen Mutantenwesen schienen auch einen
Lupabraten nicht zu verschmähen. Sie hefteten sich an Wulfs Fersen und hetzten ihn mit ihrem schrecklichen Geschrei, bis er sich gezwungen sah, einen von ihnen im Nacken zu packen und so lange hin und her zu schleudern, bis er sich nicht mehr rührte. Die anderen - nun offenbar von seiner Gefährlichkeit überzeugt - suchten eilig das Weite. Am Abend fand Wulf am Rand der Stadt die Ruine einer turmlosen Kathedrale, in der es von Gerulen wimmelte. Obwohl sie bei seinem Anblick fiepend in alle Richtungen spritzen, konnte er sich eins der kaninchengroßen Biester schnappen und seinen Hunger stillen. Ein Lager für die Nacht fand er in einem kleinen Raum, dessen halbe Wand eingestürzt war und in dem sich vom Wind angewehtes Holz, Laub und Gestrüpp fast bis an die Decke türmte. Der hier herrschende Geruch erinnerte ihn an seine letzte Nacht auf der grauen Insel. Auch dort hatte er mit seinen Menschengefährten auf den Anbruch eines neuen Tages gewartet ... * Als der Morgen graute, fegte kalter Wind durch die engen Gassen von Byornia und die Aufregung schien sich zu legen. Einige Nachtschwärmer, denen Laryssa und Rulfan nach dem Verlassen des »Trollheims« begegneten, sprachen über Razzien in den unmittelbar an der Wasserkante gelegenen Lokalitäten, aber auch von Schiffsdurchsuchungen, die außer dem Fund von Schmuggelware nichts erbracht hatten. Die meisten Soldaten aus Fort Nyflheim waren auf den Hügel zurückgekehrt, um die Sklaven zu beaufsichtigen. Nur am Kai hielt sich Gerüchten zufolge noch ein Kommando unter der Leitung Prinz Swayns auf, das aber wohl auch bald abrücken würde. Die Geschichte über das »Attentat« auf Seine Hoheit machte
ebenso die Runde wie die Mär, der heldenhafte Prinz Swayn habe höchstpersönlich einen Spionagering des Tyrannen Rotbart ausgehoben. In einem Waffenladen erstand Laryssa für ihren Begleiter ein neues Schwert. Wieder zahlte sie mit der Barschaft des toten Luden und schickte ihm posthum ihren herzlichen Dank für die prall gefüllte Geldkatze. Als die Gassen Byornias sich füllten, sodass es einfacher war, in der Masse unterzutauchen, spazierten Laryssa, Rulfan und Wulf zu den Kaianlagen hinunter. Ihr Ziel war der Liegeplatz der Nordstern. Um kein klares Feindbild abzugeben, gingen sie getrennt auf verschiedenen Straßenseiten. Wulf lief vornweg. Laryssa gelangte immer mehr zu der Überzeugung, dass er ein besonderes Exemplar war, dessen Intelligenz über der eines normalen Lupa lag. Wieso hatte sie eigentlich nicht schon viel früher gemerkt, dass Rulfan Rotauge, Dave und der struppige Vierbeiner mehr waren als sie vorgaben? Sie zweifelte nun nicht mehr daran, dass die Männer in Britana wichtige Persönlichkeit waren. Die Chancen standen gut, dass ihre Gefährten daheim alles tun würden, um sie zu retten. Es war nun das Wichtigste, dass sie erfuhren, wo sie waren. Aus eben diesem Grund musste es ihnen gelingen, in die Nähe von Ukluks Schiff zu gelangen ... Als sie dem Dreimaster mit den roten Segeln in einer zugigen Gasse hinter einer Ansammlung hölzerner Fässer gegenüber standen, stieß Rulfan einen Fluch aus. An Deck waren mehrere Soldaten zu sehen. Kapitän Ukluk stand an der Gangway, fuchtelte mit den Händen und redete wie ein Wasserfall auf sein Gegenüber ein - den an seinem Federhut leicht erkennbaren Prinzen Swayn. Offenbar ließ Swayn die Nordstern gerade auf den Kopf stellen und sabotierte so ein pünktliches Auslaufen. Da
Seeleute nicht nach Lust und Laune aufs Meer hinaus fuhren, sondern sich nach den Gezeiten richten mussten, war Ukluks Unmut verständlich. Als Hoflieferant Eisenarms machte er vermutlich gerade irgendwelche Privilegien geltend und zeigte dem Prinzen, dass er über dessen Behandlung erbost war. Viel Erfolg schien er damit aber nicht zu haben. Dann kehrte ein halbes Dutzend Schergen aus dem Bauch der Nordstern an Deck zurück. Ihre enttäuschten Mienen zeigten, dass sie nicht fündig geworden waren. »Ich hab's doch gesagt«, nölte Kapitän Ukluk so laut, dass Laryssa und Rulfan es hörten. Swayn zuckte die Achseln. Dann streckte er Ukluk die Hand entgegen. Ihm war wohl nicht daran gelegen, ausgerechnet den Mann zu vergrätzen, der seinen Vater mit Arbeitskräften versorgte. Ukluk schüttelte ihm die Hand, dann wandte Swayn sich seinen Männern zu und gab den Befehl zum Verlassen des Schiffes. Als der Trupp von Bord marschierte und in die Gasse einbog, an deren Ecke das »Rotnasige Reen« stand, nutzte Rulfan den Augenblick. Er beugte sich zu Wulf hinab und sagte in einem beschwörend klingenden Tonfall: »Salisbury, Wulf ... Zuhause! Such nach Dad ...« Der Lupa lauschte aufmerksam, dann jaulte er leise, als sei er mit dieser Anweisung nicht ganz einverstanden. »Es geht um unseren Hals, mein Freund«, hörte Laryssa Rotauge mit Nachdruck sagen. »Du musst es nach Hause schaffen, sonst sieht es nicht gut für uns aus.« Dann deutet er auf die Gangway der Nordstern. »Mach das Beste draus, alter Knabe«, sagte er. »Halt die Ohren steif und grüß mir die Heimat.« Er seufzte und kraulte Wulf im Nacken. »Und jetzt los!« Der Lupa gehorchte und trottete brav auf die Gangway zu. Als er an Bord kam, schaute Kapitän Ukluk ihn verdutzt an. Dann reckte er den Hals, um seine vermeintliche Herrin am Kai zu entdecken. Doch so sehr er auch nach ihr Ausschau
hielt, er sah sie nirgendwo. Und so zuckte er schließlich die Achseln, kraulte Wulfs Kopf und gab den Befehl zum Ablegen. Vier Hafenarbeiter lösten die Leinen des Seglers. Zwei Matrosen bückten sich und zogen die Gangway an Bord. Die Nordstern löste sich von ihrem Liegeplatz und glitt tiefer ins Hafenbecken hinein. Wulf stand an der Reling und warf einen traurigen Blick in die Gasse, wo er seinen Herrn wusste. Laryssa atmete auf. Nun konnten sie und Rotauge sich um Kapitän Orland kümmern und einen Plan schmieden, der sie so lange überleben ließ, bis die Retter aus Britana hier eintrafen ... Dachte sie. Doch als sie sich zu ihrem Begleiter umdrehte, fiel ihr Blick auf etwas, das sie nicht erwartet hatte: Sechs hartgesichtige, grinsende Soldaten, angeführt von Unteroffizier Gynnar, standen mit gezückten Schwertern hinter ihnen. Auch Rotauge fuhr herum. »Auf sie!«, rief Gynnar kampflustig. Rulfans Schwert zuckte in die Höhe und biss tief in die Schulter des ersten vorspringenden Schergen. In der gleichen Sekunde hatte auch Laryssa ihren Säbel gezückt und stürzte sich mit Todesverachtung in den Kampf. Funken stoben, metallisches Klirren erfüllte die enge Gasse. Doch hier kämpften fünf gegen zwei, und so mussten sie langsam zurückweichen. In den umgebenden Häusern öffneten sich Fenster. Hälse wurden gereckt, Gesichter tauchten auf und verschwanden schnell wieder. Als sich der zweite Soldat nach einem Säbelhieb an die Brust griff und ächzend zu Boden ging, ertönte hinter ihnen das laute Getrappel genagelter Stiefel. In einer zwei Sekunden währenden Atempause warf Laryssa einen Blick über ihre Schulter, und ihr Magen tat einen Satz: Prinz Swayn und seine Leute hatten den Kampflärm gehört, kehrt gemacht und kamen Gynnars Trupp zur Hilfe.
Es ist aus, dachte Laryssa. Rulfan war nicht gewillt, aufzugeben. Er warf sich gegen die gestapelten Fässer und stürzte sie um. Die Gasse entlang rollend, brachten sie die vordersten Schergen zu Fall und behinderten die nachfolgenden in ihrem Vorwärtsdrang. Doch auch das brachte ihnen nur einen Aufschub. Von beiden Seiten drangen die Angreifer auf sie ein, und es war nur eine Frage der Zeit, bis die erste feindliche Klinge einen von ihnen erwischte. Laryssa hörte neben sich einen dumpfen Seufzer und sah, dass Rotauge zu Boden ging: Vor ihm schwang der letzte Mann aus Gynnars Trupp triumphierend sein Schwert, das er dem Albino mit der flachen Seite über den Schädel gezogen hatte. Gleichzeitig waren die meisten von Swayns Männern den rollenden Fässer ausgewichen und umzingelten Laryssa, deren Klinge wie ein Dreschflegel kreiste. Als schon alles verloren schien, sprang gegenüber die Tür eines Waffenladens auf und ein junger Mann trat mit einem Säbel in der Hand ins Freie. Trotz seiner Blässe wirkte Kapitän Ragnar Orland wieder recht fit. »Fresst Stahl, ihr Lumpen!«, schrie er und stürzte sich auf Swayns Männer. Heisere Schreie kündeten von Überraschung, und bevor sie sich auf den unverhofften neuen Gegner eingestellt hatten, lagen zwei von ihnen schon am Boden und wälzten sich in ihrem Blut. »Macht sie nieder!«, konterte Prinz Swayn. »Keine Gefangenen!« Orland und Laryssa wehrten sich heldenhaft gegen die Übermacht, doch sie konnten nicht verhindern, dass ein Dutzend Klingen sie an eine Hauswand drückten. Dann fegte der wuchtige Hieb eines narbigen Schergen Laryssa den Säbel aus der Hand, und als sie mit ihrem Leben abschloss, sah sie,
dass neben ihr vier spitze Klingen auf Kapitän Orlands Kehle gerichtet waren. »Na schön«, sagte Orland frech und ließ die kurz zuvor erworbene Klinge aufs Pflaster klirren. »Ihr habt gewonnen. Ich ergebe mich.« »Du hast seine Hoheit gehört: Wir machen keine Gefangenen«, raunzte einer der Soldaten, der auf seinen Adamsapfel zielte. Sie schienen aber dennoch auf die Order des Prinzen zu warten, den Spionen den Garaus zu machen. Der schien die Situation voll auskosten zu wollen. Betont langsam hob er den Schwertarm und öffnete seinen Mund ... Doch was im nächsten Moment aufklang, war kein Befehl zur Hinrichtung - sondern ein donnerndes Krachen, gefolgt von einer Druckwelle, die alle von den Füßen warf. Am Rand des Kais tat sich die Erde auf und spuckte Dreck und Steine in ihre Richtung. Erst dann folgte der Knall einer Kanone. Ihm folgten eine zweite und eine dritte Kugel - und alle waren so gut gezielt, dass niemand bezweifelte, dass es jemand auf größtmöglichen Schaden anlegte. Laryssa und Orland rappelten sich vom Boden hoch. Als sie den Hals reckten, sahen sie die Segel einer Flotte und die weithin sichtbare Banner derer von Spizborgh. Mehrere Dutzend Schiffe fuhren in die Bucht ein. »Die Invasion!«, schrie Swayn totenbleich. Er kam taumelnd auf die Beine. Sein Kopf zuckte hektisch hin und her. »Zurück zur Festung! An die Kanonen!« »Und die Gefangenen?«, fragte der Narbige. Offenbar wollte er auch beenden, was er begonnen hatte. »Nehmt sie mit und legt sie in Eisen!«, befahl Prinz Swayn und bewies damit strategisches Geschick. »Vielleicht können sie uns noch nützlich sein!« Was durchaus möglich gewesen wäre, hätte einer von ihnen tatsächlich zu Rotbarts Spionagetruppe gehört ... Jemand drehte Laryssa die Arme auf den Rücken. Dann
schnappten eiserne Handschellen zu. Sie atmete auf und warf Kapitän Orland einen Blick zu. Der zuckte traurig die Achseln. »Zum ersten Mal im Leben hatte ich das Gefühl, wirklich frei zu sein ... Und jetzt das.« Er seufzte, dann beugte er sich zu Laryssa hinüber und küsste sie auf die Wange. »Ich bin wirklich froh, dich kennen gelernt zu haben ...« Zwei Schergen rissen den stöhnenden Rulfan von Boden hoch. Im Eilschritt ging es zurück nach Fort Nyflheim ... * Als die Nordstern an Eynar Rotbarts Flotte vorbei fuhr, tauschte Kapitän Ukluk mit Hilfe von Signalfahnen mit dem König von Spizborgh freundliche Grüße aus und wünschte ihm »gutes Gelingen bei seinem gerechten Kampf gegen den tyrannischen Hundesohn Eisenarm«. Er selbst hatte nicht das Geringste von der Invasionsflotte zu befürchten, denn als Kaufmann, der sich um Politik nicht scherte, betrieb er natürlich auch einen schwunghaften Handel mit Eisenarms Feinden. Zu dem Zeitpunkt, als Rotbarts Schiffskanonen die Hafenanlagen Byornias zu Klump schossen, erreichte die Nordstern das offene Meer und schlug den Kurs nach NordBritana ein. Ukluk stand an der Reling und schnupperte die salzige Meeresluft, als ihm eine merkwürdige Tätowierung im linken Ohr des Lupa auffiel. Und da er neugierig war, ergriff er es und schaute sich die merkwürdigen Symbole an. D&R Meera-Inseln stand da. Selbst wenn Kapitän Ukluk länger darüber nachgedacht hätte, wäre er wohl nicht darauf gekommen, dass es sich um einen Hilferuf handelte, adressiert an Sir Leonard Gabriel, Rulfans Vater in der Community Salisbury. So aber hielt er die Schriftzeichen für das Markenzeichen eines Züchters und
dachte sich nichts weiter dabei ... * »Aiyahhh! Aiyahhh!« Das urplötzlich ertönende Kampfgeheul war so schrill, dass Wulf, der die Nacht in einer Eisenwanne in einem Menschenhaus verbracht hatte, erschreckt hochfuhr. Dann brach in seiner unmittelbaren Umgebung die Hölle los: Es krachte und donnerte, es dampfte und schrie. Über ihm und vor dem alten Gemäuer, in das das Unwetter des vergangenen Abends ihn getrieben hatte, schien die Welt zu explodieren. Das Geschrei, das die Menschenkehlen anstimmten, erinnerte ihn an manche Schlacht, die er an der Seite seines Herrn erlebt hatte. Kein Zweifel - um dieses Gebäude wurde gestritten. Als Wulf aus der Wanne sprang und durch den Kellerraum jagte, brach dort, wo er gerade noch geschlafen hatte, die Decke ein. Gestein, Dreck und Staub breitete sich aus. Ein blutverschmierter Mensch, in grobes Leinen gekleidet und mit zotteligem Haar, fiel von oben inmitten des Chaos in die Wanne. Er war mit einem langen Donnerstock bewaffnet, und kaum dass er in der Wolke am Boden gelandet war, sprang er mit einem Blick auf, aus dem Angst oder Irrsinn oder beide sprachen und schoss um sich. RA-TA-TA-TA-TA! Wulf legte die Ohren an. Er flitzte in den langen finsteren Gang, von dem er wusste, dass er an einer Treppe endete, die wiederum ins Freie führte. PENG! PENG! PENG! Vor und hinter und über ihm krachte es. Dann machte es KA-WUMM!, und Wulf hatte den Eindruck, dass alle Wände zugleich auf ihn zukamen. Als er, in eine Staubwolke gehüllt, die seine Nüstern verklebte, die abgetretene Treppe hinauf lief, fegten vor der
Tür irgendwelche Schatten umher, die Donnerstöcke schwangen und Blitze auf das Gebäude schleuderten. Wulf hatte die Türschwelle kaum überwunden, als er in den Schatten Menschen erkannte, die sich mit schwarzen Umhängen vor dem noch immer strömenden Regen schützten. Ihre Gesichter waren unsichtbar, denn sie trugen Kapuzen aus Leder, hinter denen tote Augen funkelten. Die Menschen im Haus wehrten sich gegen die Schatten, indem auch sie ihre Donnerstöcke sprechen ließen. Viel Geschrei und Gestöhne lag in der Luft, dann machte es wieder KA-WUMM! - diesmal noch lauter -, und Wulf, der dicht am Boden durch den weißen Staubnebel flog, hatte den Eindruck, das Gebäude bräche hinter ihm zusammen. Die überall herumgeisternden Schatten schwangen ihre Donnerstöcke und schrien triumphierend. Einer, dessen Lichter vielleicht schärfer waren als die der anderen, deutete auf den Vierbeiner. »Lupa!«, schrie er. »Lupa! Lupa!« Gleich darauf - Wulf hatte es fast bis zu dem Wäldchen geschafft, hinter dem sich ein Grasebene erstreckte - fing es wieder an zu knallen, obwohl die Menschen im Gebäude doch längst hätten tot sein müssen. Erst als der brennende Schmerz in seine Seite einschlug, schlimmer als alles, was er bisher ertragen hatte, dämmerte es Wulf, dass nun er der Feind war ... * Drei Tage später Community Salisbury / Stonehenge-Bunker Gegen Mitternacht summte es am rechten Ohr Sir Leonard Gabriels. Da er noch nicht geschlafen hatte - finstere Gedanken hinderten ihn seit Tagen daran, die Nachtruhe zu genießen -, richtete er sich von seinem Lager auf und schaltete den
Bildschirm ein. »Verzeihen Sie die Störung, Sir«, sagte der Offizier vom Dienst, »aber die Außenkameras haben etwas aufgezeichnet, das Sie sich ansehen sollten.« »Her damit«, sagte Sir Leonard. Der Bildschirm flackerte nicht einmal, als man ihm die Aufzeichnung überspielte. Sir Leonard erkannte den Lupa seines Sohnes sofort. »Holen Sie ihn rein«, sagte er schnell, und sein Herz beschleunigte seinen Schlag. »Und benachrichtigen Sie einen Veterinär.« »Schon geschehen, Sir«, meldete der OvD. »Wulf hat eine Schussverletzung. Er ist übel dran ... sagt der Doktor. Tut mir aufrichtig Leid, Sir ...« Leonard Gabriel erinnerte sich an den Namen des Offiziers: Sean Dunbar. Ein Tierliebhaber, der bis vor kurzem - bis zur Einführung des Immunserums - darunter gelitten hatte, Rulfans Lupa nur im Schutzanzug begegnen zu können. Ein Glück, dass ausgerechnet er heute Dienst hatte! »Schon gut.« Sir Leonard nickte knapp. »Geben Sie mir den Veterinär.« Eine Sekunde später hatte er ihn auf dem Bildschirm. »Wie geht's Wulf?«, fragte der Prime der Community Salisbury anstelle einer Begrüßung. »Wie stehen seine Chancen?« »Er hat viel Blut verloren, Sir. Außerdem ist er sehr erschöpft. Irgendein verdammter Arsch hat auf ihn geschossen. Ich kann nur hoffen, dass es keiner von unseren Leuten war.« »Kommt er durch?«, fragte Sir Leonard. In seinem Kopf kreisten unzählige Gedanken. Wulf war der erste Hinweis auf seinen Sohn seit Monaten. Seit sich Commander Drax in Nydda von ihm und Professor McKenzie getrennt hatte. Bedeutete seine Anwesenheit, dass auch Rulfan in der Nähe war? »Er hat eine entzündete Schusswunde und, wie gesagt, viel
Blut verloren, Sir«, erwiderte der Tierarzt. »Aber ich denke, ich kriege ihn wieder hin. Auch wenn es einige Zeit dauern wird.« Sir Leonard stieß erleichtert die Luft aus. »Da ist noch was, Sir«, fügte der Arzt hinzu. »Ja?« »Bei der Untersuchung habe ich in Wulfs Innenohr eine merkwürdige Tätowierung entdeckt, die er meines Wissens früher nicht hatte.« Sir Leonard horchte auf. »Eine Tätowierung? Welcher Art?« »Es ist ein Text, Sir ... Da steht: D&R - Meera-Inseln. Können Sie damit etwas anfangen.« Die Sonne ging auf im Gesicht von Sir Leonard Gabriel. »Das sieht Rulfan ähnlich«, murmelte er. Und fügte laut hinzu: »Und ob. Sieht ganz so aus, als hätte mein Sohn seinen Lupa gewissermaßen als Kurier eingesetzt. Danke, Doktor Llewellyn.« Er stellte eine Verbindung mit dem OvD her. »Machen Sie mir eine ISS-Verbindung mit Commander Drax in London, Captain Dunbar.« Eine halbe Minute später sagte eine volltönende Stimme: »Hier Matthew Drax.« »Ich bin's, Commander Drax: Leonard Gabriel.« »Nett, von Ihnen zu hören, Sir. Wenn auch zu barbarisch später Stunde.« Matt, der sich momentan im Bunker der Community London aufhielt, gähnte demonstrativ. Natürlich wusste Sir Leonard, unter welchem Stress er und die anderen Militärs und Wissenschaftler in Königin Victorias Reich standen. Wie hätte Wulf auch wissen können, dass er in einem Moment hier ankam, in dem überall hektische Aktivität herrschte? Sämtliche EWATs waren im ständigen Einsatz, um weitere Techno-Bunker in Lande ausfindig zu machen und die Barbarenstämme auf die Bedrohung durch die Daa'muren vorzubereiten.
»Wir haben gerade eine Nachricht von Rulfan erhalten«, sagte Sir Leonard. »Er lebt! Und Ihr Freund David McKenzie ebenfalls.« Er hörte Commander Drax aufatmen. »Sie glauben nicht, wie es mich freut, das zu hören, Sir«, kam die Antwort. »Wie geht es den beiden?« »Darüber sagt die Botschaft nichts aus. Sie besteht nur aus ein paar Buchstaben, in Wulfs Ohr eintätowiert: D&R - MeeraInseln.« »D&R ... Dave und Rulfan«, vermutete Matt. »Genau«, stimmte Gabriel zu. »Sie befinden sich offensichtlich auf den wilden Inseln zwischen Britana und Norweeje. Und das wohl nicht freiwillig, sonst hätte mein Sohn andere Mittel gefunden, uns zu benachrichtigen.« Matthew Drax zerbiss einen Fluch zwischen den Zähnen. »Auch auf das Risiko hin, dass die hiesigen Strategen die Krätze bekommen, weil uns so gut wie keine freien Kapazitäten zur Verfügung stehen: Sie können jederzeit über mich und meine Gefährtin Aruula verfügen, Sir.« »Ich danke Ihnen, Commander«, sagte Sir Leonard erleichtert. Er mochte diesen Yankee. »Den EWAT, den wir brauchen, um die beiden aufzuspüren, werde ich dann wohl ... ähm ... requirieren müssen«, fuhr Matthew Drax fort. »Einen fähigen Piloten nebst Aufklärer habe ich schon im Auge.« Sir Leonard lächelte. Er mochte diesen Yankee wirklich.
EPILOG Die alte Festung König Eisenarms war gefallen. Das zu vier Fünfteln fertige Fort Nyflheim stand in Flammen. Überall, wohin man schaute, stolzierten Eynar Rotbarts bis an die Zähne bewaffneten Streitkräfte durch die Straßen der Hafenstadt.
Die Byorner jubelten ihnen zu und feierten sie als Befreier, denn das kam bei Besatzern immer gut an. Bertyl der Siebente und seine Söhne waren feige untergetaucht. Seine Stabsoffiziere hatten nicht etwa kapituliert, sondern ihre Waffen, Helme und Rangabzeichen weggeworfen und gaben sich nun als brave Bauern und Fischersleute aus. In ein paar Wochen, wenn die Lage sich konsolidiert hatte, würde sich das Blatt vermutlich wenden: Wenn Eynar Rotbart erst merkte, wie teuer Invasionen kamen und wie schnell seine Unterstützer auf Spizborgh maulen würden, wenn ihnen klar wurde, dass es außer Fisch hier nichts zu holen gab, würde er sich den Bart raufen. Außerdem, so nahmen die Byorner an, gab es bestimmt noch ein paar beinharte Getreue Eisenarms, die die Besatzer mit Nadelstichen zur Verzweiflung treiben würden: Drei hinterrücks gemeuchelte Eindringlinge pro Tag ergaben 1095 im Jahr. Das war mehr als Rotbart sich leisten konnte. Da die Invasoren sich nicht die Mühe gemacht hatten, zwischen Soldaten und Fischhändlern zu unterscheiden, lagen viele Leichen auf den Straßen herum. Überall qualmten in Trümmern liegende Wohnhäuser. Den Palast des Herrschers zu beschießen hatte man aus taktischen Gründen unterlassen: Gebäude dieser Art bargen oft wertvolle Kunstschätze und Berge von Gold, die man ansonsten erst mühselig hätte wieder ausgraben müssen. Ironischerweise war auch der aus massivem Stein gebaute Kerker Byornias unbeschädigt geblieben. In ihm saßen unzufriedene Bürger, in Ungnade gefallene Minister und mutmaßliche ausländische Spione ein. Nachdem Eynar Rotbart an Land gegangen war, zog es ihn auch zu diesem Kerker, denn natürlich hatte er schon Jahre vor der Invasion Spione nach Byorn eingeschleust. Man führte ihm die Insassen paarweise vor, damit es
schneller ging. Nachdem Eynar jede Person verhört hatte, machte er eine Bewegung, die ihr Schicksal besiegelte. Daumen aufwärts hieß: Ordensverleihung und schnelle Rückführung nach Spizborgh. Daumen abwärts hieß: Ausgleich der Kriegskosten. Weg damit, auf die Sklavenmärkte der östlichen Meera-Inseln. Von den etwa zweihundert Männern und Frauen, die in klirrenden Ketten vor ihm Aufstellung nahmen, waren ganze sieben Spione: drei Lakaien und zwei Zofen aus Eisenarms Haushalt, sowie zwei Offiziere seines Heers. Rotbart belobigte die Patrioten und ließ sie frei. Dann wurden ihm ein muskulöser Albino mit einer langen weißen Mähne und einer Stirnbeule und ein schwarzbärtiger Bursche mit Augengläsern vorgeführt. Normalerweise hörte Eynar Rotbart sich an, was die Menschen zu sagen hatten, über die er befinden musste. Es hätte ja sein können, dass sie seinem Reich und seinem Ruhm nützlich sein konnten. Doch die Intelligenz, die er in den Augen der beiden Fremdlinge erkannte, machte sie ihm sofort unsympathisch. Intelligente Menschen neigten zur Opposition. Und so war Rotbarts Urteil gefällt, noch ehe sich Rulfan und David McKenzie die Gelegenheit bot, den Mund aufzumachen. Deportation auf den nächsten Sklavenmarkt. Oder, um es mit David McKenzies Worten auszudrücken: Vom Regen in die Traufe ... ENDE
Das Abenteuer geht weiter! In vierzehn Tagen lesen Sie:
Der Ruf nach Freiheit von Stephanie Seidel Endlich ein Lebenszeichen von Rulfan und Dave McKenzie! Natürlich zögert Matt Drax nicht, den Gefährten zur Hilfe zu eilen. Auf der Eilov Duum, der nördlichsten Meera-Insel, werden er und Aruula fündig. Leider umgibt aber ein seit Jahrhunderten streng gehütetes Geheimnis die Bewohner der Insel - und wer es kennt, darf die Eilov Duum unter keinen Umständen lebend verlassen. Matt hat vor, mit dieser Tradition zu brechen ...