ALDOUS HUXLEY
ZEIT MUSS ENDEN ROMAN
DEUTSCHE BUCH-GEMEINSCHAFT BERLIN UND DARMSTADT
Die Originalausgabe erschien 194...
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ALDOUS HUXLEY
ZEIT MUSS ENDEN ROMAN
DEUTSCHE BUCH-GEMEINSCHAFT BERLIN UND DARMSTADT
Die Originalausgabe erschien 1945 im Verlag Chatto & Windus, London, unter dem Titel TIME MUST HAVE A STOP Übersetzung von HERBERTH E. HERLITSCHKA
Lizenzausgabe. Copyright by Aldous Hu und H. E. Herlitschka Gesamtherstellung: A. Seydel Druck und Buchbinderei G.m.b.H., Berlin Printed in Germany 1955
Doch Denken ist des Lebens Sklav, das Leben Der Narr der Zeit; und Zeit, die messend schaut Die ganze Welt, muß enden. SHAKESPEARE
1. KAPITEL Sebastian Barnack kam aus dem Lesesaal der Bezirksbücherei von Hampstead und blieb im Vestibül stehn, um seinen abgetragenen Mantel anzuziehn. Mrs. Ockham, die ihn da erblickte, fühlte ein Schwert im Herzen. Dieses schmächtige und wunderschöne Menschenkind mit dem seraphischen Gesicht und dem blaßblonden Lockenhaar war das lebende Abbild ihres eignen, ihres einzigen, ihres toten und entschwundenen Lieblings. Die Lippen des Buben, so gewahrte sie, bewegten sich, während er sich in seinen Mantel mühte. Sprach mit sich selbst — ganz wie ihr Frankie das immer getan hatte. Und nun wandte er sich dem Ausgang zu und kam an der Bank vorüber, auf der sie saß. “So ein rauher Abend!” sagte sie laut, einem jähen Impuls folgend, dieses lebende Phantom zurückzuhalten, die schmerzend scharfe Erinnerung tiefer in ihr wundes Herz zu bohren. Aus seinen Gedanken gerissen, blieb Sebastian stehn, wandte sich ihr zu und starrte sie ein paar Sekunden verständnislos an. Dann ging ihm die Bedeutung dieses sehnsüchtig mütterlichen Lächelns auf. Sein Blick wurde hart. So etwas geschah ihm nicht zum erstenmal. Sie behandelte ihn, als wäre er eins dieser entzückenden Kindchen in Kinderwagen, denen man den Kopf tätschelt. Der Funze wollte er's zeigen! Aber wie gewöhnlich fehlte es ihm an der nötigen Courage und Geistesgegenwart. Und so lächelte er nur schwächlich und sagte einfach, ja, es sei ein rauher Abend. Mrs. Ockham hatte mittlerweile ihr Handtäschchen geöffnet und einen kleinen weißen Karton hervorgezogen. “Möchten Sie nicht eine von mesen?”
Sie hielt ihm den Karton hin. Es war französische Schokolade, Frankies Lieblingsmarke — ihre eigne auch, übrigens. Mrs. Ockham hatte eine Schwäche für Süßigkeiten. Sebastian betrachtete sie ungewiß. Ihre Aussprache war einwandfrei und ihre Kleidung auf etwas saloppe, tweedige Art solid und von guter Qualität. Aber sie war dick und ältlich — mindestens vierzig, schätzte er. Er zögerte, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, diese lästige Person in die Schranken zu weisen, und einem nicht weniger starken Verlangen nach diesen köstlichen langues de chat. Wie ein Mops, sagte er sich, während er in dieses plumpe, weiche Gesicht da vor sich blickte. Ein rosiger, haarloser Mops mit schlechtem Teint. Worauf er das Gefühl hatte, daß er nun eine Katzenzunge annehmen könne, ohne seiner Integrität etwas zu vergeben. “Danke”, sagte er und schenkte ihr sein bezauberndes Lächeln, das Damen mittleren Alters immer ganz unwiderstehlich fanden. Siebzehn Jahre alt zu sein, einen Geist zu besitzen, von dem man fühlte, daß er alterslos erwachsen war, und dabei anzusehen wie ein Della-Robbia-Engel von dreizehn — es war ein widersinniges und erniedrigendes Schicksal. Aber letzte Weihnachten hatte er Nietzsche gelesen, und seither wußte er, daß er sein Schicksal lieben müsse. Amor fati — aber gemäßigt durch gesunden Zynismus. Wenn Leute bereit waren, einen dafür zu bezahlen, daß man jünger aussah, als man war, warum ihnen nicht geben, was sie wollten? “Wie gut die sind!” Wieder lächelte er sie an, und seine Mundwinkel waren braun von Schokolade. Das Schwert in Mrs. Ockhams Herzen machte abermals eine schmerzhafte Umdrehung. “Nehmen Sie den ganzen Karton!” sagte sie. Ihre Stimme zitterte, ihre Augen glänzten von Tränen. “Nein, nein, das könnte ich nicht ...” »Nehmen Sie ihn”, beharrte sie, “nehmen Sie ihn doch!”
Und sie drückte ihm den Karton in die Hand — in Frankies Hand. “Oh .. danke schön!” Es war genau, was Sebastian gehofft, ja erwartet hatte. Er hatte seine Erfahrungen gemacht mit diesen sentimentalen alten Schachteln. “Ich habe einen Buben gehabt ...”, sagte Mrs. Ockham mit gebrochener Stimme. “Ganz so wie Sie war er. Die gleichen Haare und Augen ...” Die Tränen flössen ihr über die Wangen herunter. Sie nahm die Brille ab und wischte die Gläser; dann schneuzte sie sich, erhob sich und eilte in den Lesesaal. Sebastian stand und sah ihr nach, bis sie seinem Blick entschwunden war. Mit einmal fühlte er sich schrecklich schuldig und gemein. Er blickte auf den Karton in seiner Hand. Ein Bub war gestorben, so daß nun er, Sebastian, diese Katzenzungen bekam; und wenn seine eigene Mutter am Leben wäre, wäre sie jetzt fast so alt wie diese armselige bebrillte Person. Und wenn er gestorben wäre, wäre seine Mutter genauso unglücklich und sentimental gewesen. Impulsiv machte er eine Bewegung, um die Schokolade wegzuwerfen; dann hielt er sich zurück. Nein, das wäre einfach dumm und abergläubisch. Er ließ den Karton in seine Manteltasche gleiten und trat in das nebelige Zwielicht hinaus. “Millionen und Millionen”, flüsterte er vor sich hin; und die Ungeheuerlichkeit des Jammers schien mit jeder Wiederholung des Wortes zu wachsen. Überall auf der Welt lagen Millionen von Menschen in Schmerzen; Millionen starben in diesem selben Augenblick; noch mehr Millionen trauerten um sie, die Gesichter verzerrt wie das dieser armen alten Person, und die Tränen rannen ihnen über die Wangen. Und Millionen hungerten, Millionen waren eingeschüchtert und krank und bekümmert. Millionen wurden beschimpft und gestoßen und geschlagen von andern, brutalen Millionen. Und überall der Gestank von Abfall und Fusel und ungewaschenen Körpern, auf allem der Mehltau der Dummheit und Häßlichkeit. Der Greuel war stets da,
auch wenn man sich zufällig wohl und glücklich fühlte, — stets da, gleich um die Ecke und hinter fast jeder Haustür. Während er die Straße hinabging, fühlte sich Sebastian von einer Ungeheuern unpersönlichen Traurigkeit überkommen. Nichts andres mehr schien Dasein zu haben oder von Bedeutung zu sein als nur Tod und Qual. Und dann kamen ihm diese Worte von Keats in Erinnerung: “The giant agony of the world!” Die Riesenqual der Welt. Er wühlte in seinem Gedächtnis, um die andern Zeilen zu finden. “None may usurp this height...” Wie ging es nur? None may usurp this height, returned that shade, But those to whom the miseries of the world Are misery, and will not let them rest... Wie recht der Schatten hatte! Nur denen war die höchste Höhe erreichbar, die das Elend der Welt elend machte und nicht ruhen ließ. Und vielleicht war es Keats eines kalten Frühlingsabends eingefallen, als er, genau so wie jetzt er selbst, die Anhöhe von Hampstead hinabging; hier hinabging und bisweilen stehnblieb, um ein Bröcklein seiner Lungen herauszuhusten und an seinen und auch an den Tod andrer Menschen zu denken. Sebastian begann abermals und sagte es sich vor. None may usurp this height, returned that shade, But those ... Aber, du gütiger Himmel, wie grauenhaft schlecht es klang, wenn man es laut sprach! None may usurp this height, returned that shade, but those ... Wie hatte er sich nur so etwas durchgehn lassen können! Aber natürlich war der gute Keats manchmal recht nachlässig gewesen. Und ein Genie zu sein, hatte ihn nicht vor den fürchterlichsten Geschmacklosigkeiten bewahrt. Es standen Sachen in Endymion, die einen schaudern machten. Und wenn man bedachte, daß es ein Äquivalent für Griechisch sein sollte ... Sebastian lächelte mit mitleidiger Ironie in sich hinein.
Eines Tags würde er der Welt zeigen, was sich mit griechischer Mythologie tun ließ! Mittlerweile kehrte sein Geist zu den Wendungen zurück, die ihm grade vorhin in der Bibliothek eingefallen waren, während er dieses Buch von Tarn über die hellenistische Kultur las. “Vergiß der trockenen Feigen!”, so sollte es beginnen. “Vergiß der trockenen Feigen ...” Aber getrocknete Feigen konnten immerhin gute Feigen sein. Für Sklaven gäbe es nie etwas andres als die Mißfrüchte und den Abfall der Ernte. Also: “Vergiß der fauligen Feigen.” Überdies hatte in dieser Klangverbindung “faulig” den passenderen Vokal und ergab Alliteration. Vergiß der fauligen Feigen, des muffigen Mehls, Der Sklavenpeitsche, der Greise voll Todesfurcht ... Aber das war scheußlich flach. Dampfgewalzt und makadamisiert wie schlechter Wordsworth. Wie wär's mit “vom Sterben geschreckt”? Vergiß der fauligen Feigen, der Trebern und Prügel, Der Greise, vom Sterben geschreckt, der Frauen ... Er zögerte, fragte sich, wie dieses trostlose Leben des Gynaikeions zusammenfassen. Dann sprang aus dem geheimnisvollen Quell von Licht und Energie hinten in seinem Schädel die vollkommene Phrase hervor: “ ... Frauen in Zwingern.” Sebastian lächelte über das Bild, das da auftauchte,— ein ganzer Zoo wilder, undomestizierbarer Mädchen, eine ohrenbetäubende Voliere adeliger Witwen. Aber die gehörten in ein andres Gedicht — ein Gedicht, mit dem er Rache nehmen würde an dem ganzen weiblichen Geschlecht. Im Augenblick hatte er sich mit Hellas zu befassen — mit der historischen Jämmerlichkeit, die Griechenland war, und mit der imaginären Herrlichkeit. Imaginär selbstverständlich nur, was ein ganzes Volk betraf, aber gewiß verwirklichbar von einzelnen, von einem Dichter vor allen. Eines
Tags, irgendwie, irgendwo, würde diese Herrlichkeit in seiner Reichweite sein; davon war Sebastian überzeugt. Inzwischen aber war es wichtig, keinen Narren aus sich zu machen. Die Leidenschaftlichkeit seiner Sehnsucht müßte im Ausdruck durch eine gewisse Ironie gemildert werden, die Pracht des ersehnten Ideals durch die Würze des Absurden. Den toten Buben und die Riesenqual der Welt völlig vergessend, gönnte er sich eine Katzenzunge aus dem Vorrat in seiner Manteltasche und nahm mit vollem Mund die berauschende Arbeit des Dichtens wieder auf. Vergiß der fauligen Feigen, der Trebern und Prügel, Der Greise, vom Sterben geschreckt, der Frauen in Zwingern. Das genügt fürs Geschichtliche. Nun zum Imaginären! In ewigem Frühling ... Er schüttelte den Kopf. “Ewiger Frühling”, das klang wie der Schulleiter, wenn er in einem dieser asininen Geographievorträge, die er hielt, vom Klima Ekuadors redete. “Chronischer Mai” bot sich als Alternative. Die Assoziationen mit Katarrh und Krampfadern entzückten ihn. In chronischem Mai welche Alkibiadesse Umdrängen Piatos Bart... Pfui Teufel! Dies war nicht der Ort für Eigennamen. “Muskelprotze” vielleicht? Dann fiel wie Manna “Schwergewichtler” vom Himmel. Ja, ja: “Welch schöngeistge Schwergewichtler.” Er lachte laut auf. Und wenn man “Weisheit” für “Plato” setzte, erhielt man: In chronischem Juni welch schöngeistge Schwergewichtler Umdrängen den Bart der Weisheit! Genießerisch wiederholte sich Sebastian die Worte ein paarmal. Und nun zum andern Geschlecht! Horch, ganz nah, Dies Klimpern und Flöten!
Stirnrunzelnd vor sich hin starrend, ging er weiter. Diese einherspringenden Bacchen, diese praxiteleischen Brüste und Popos, diese Tänzerinnen auf den Vasen — wie höllisch schwierig, irgendeinen Sinn aus ihnen herauszuholen! Kompression und Expression. Quetsche alle diese wollüstigen Visionen zu einem Klumpen und dabei ein Likörglas voll Wörtersaft aus ihnen heraus, zugleich herb zusammenziehend und süß zu Kopf steigend, zugleich ein Adstringens und ein Aphrodisiakum! Leichter gesagt als getan. Endlich begannen sich seine Lippen zu bewegen. “Horch”, murmelte er wiederum. Horch, ganz nah, Dies Klimpern und Flöten! Voraus, hinterdrein, Kreisel nach Kreisel, welch globische Elastoplastik Entfinstert, letzte Schleier gelöst, ihre Monde! Er seufzte und schüttelte den Kopf. Noch nicht ganz richtig; aber immerhin, vorläufig müßte es genügen. Und inzwischen war hier schon die Ecke. Sollte er geradenwegs heimgehn oder den Umweg über Bantry Place machen, Susan abholen und sie das neue Gedicht hören lassen? Sebastian zögerte einen Augenblick, entschied sich dann für das zweite und wandte sich nach rechts. Er fühlte sich in der Stimmung für ein Publikum und Applaus. ... welch globische Elastoplastik Entfinstert, letzte Schleier gelöst, ihre Monde! Aber vielleicht geriete das Ganze zu kurz. Es wäre vielleicht notwendig, noch drei oder vier Zeilen einzuschieben zwischen diese globische Elastoplastik und eine abschließende brillante Explosion bengalischer Lichter. Irgend etwas über den Parthenon, zum Beispiel. Oder vielleicht wäre etwas über Äschylos amüsanter. Tragisch auf Stelzen, Sublimitäten brüllend Durch ein verzerrtes Mundloch ...
Aber, du meine Güte! hier kamen diese bengalischen Lichter raketengleich, ununterdrückbar und unaufgefordert ihm in den Mund geschossen. Und allzeit, im flimmernden Glanz, auf einem Tausend Inseln, umschmiegt vom hyazinthenen Meer, Welches Bangen, Begehren ... Nein, nein, nein. Zu unbestimmt, zu fleischlos abstrakt! Welche Bullen und Buben, welch Rasen von Schwänen und Lenden, Welch strahlende Brünste, keuchend wie Schmiedebälge Von Feuer zu hellerem Feuer ... Aber “hellerem” hatte gar keine Resonanz, keine über sich selbst hinausgehende Bedeutung. Was er brauchte, war ein Wort, das, während es die wachsende Heftigkeit des Feuers beschrieb, auch die Substanz seines eigenen, leidenschaftlich gehegten Glaubens vermitteln sollte — die Äquivalenz aller Ekstasen, der poetischen, der sexuellen, sogar der religiösen (wenn man sich auf dergleichen einließ), und ihre Überlegenheit über alle bloß alltäglichen und gewöhnlichen Zustände. Er kehrte wieder zum Anfang zurück, weil er hoffte, auf diese Weise genug Wucht sammeln zu können, die ihn über das Hindernis trüge. Und allzeit, im flimmernden Glanz, auf einem Tausend Inseln, umschmiegt vom hyazinthenen Meer, Welche Bullen und Buben, welch Rasen von Schwänen und Lenden, Welch strahlende Brünste, keuchend wie Schmiedebälge Von Feuer ... von Feuer ... Er zögerte; dann kamen die Worte. Von Feuer zu reinerem Feuer, zu lauterstem Licht — Die inkandeszenten Kopulationen der Götter.
Aber hier um die Ecke war schon Bantry Place, und sogar durch die geschlossenen, von Vorhängen bedeckten Fenster von Nummer fünf konnte er Susan bei ihrer Klavierstunde hören, wie sie diesen Scarlatti spielte, den sie den ganzen Winter geübt hatte. Eine Musik, so fiel ihm ein, die entstünde, wenn die Bläschen in einer Champagnerflasche rhythmisch emporschössen und, sobald sie die Oberfläche erreichten, in Klänge zerplatzten, so trocken aromatisch wie der Wein, aus dessen Tiefen sie aufgestiegen. Der Vergleich gefiel ihm so sehr, daß ihm gar nicht bewußt wurde, nie Champagner geschmeckt zu haben; und als er schon an der Haustür klingelte, überlegte er weiter, daß diese Musik sogar noch trockener und aromatischer klänge, wenn's ein Cembalo wäre, auf dem sie gespielt würde, und nicht der saftige Blüthner des alten Pfeiffer. Über das Klavier weg erblickte Susan ihn, wie er das Musikzimmer betrat — mit diesen wunderschönen halbgeöffneten Lippen, das weiche Haar, durch das sie immer so sehnsüchtig gern mit den Fingern gefahren wäre und es gestreichelt hätte (aber das wollte er sie nie tun lassen), nun vom Wind zu einem bezaubernden Getümmel blasser Locken zerzaust. Wie lieb von ihm, einen Umweg gemacht zu haben, um sie abzuholen! Sie warf ihm ein schnelles frohes Lächeln zu, und dabei bemerkte sie plötzlich, daß winzig kleine Wasserperlen in seinen Haaren hingen, gleich diesen wunderschönen Tautropfen auf Kohlblättern — nur waren die hier viel kleiner und auf Florettseide aufgefädelt; und würde man sie berühren, wären sie kalt wie Eis. Schon der Gedanke daran genügte, um den Fingersatz ihrer linken Hand völlig zu verwirren. Der alte Dr. Pfeiffer, der im Zimmer hin und her schritt wie ein Tier im Käfig — ein kleiner, bäuchiger Bär in ungebügelter Hose und mit einem Walroßschnurrbart — nahm den zerkauten Zigarrenstummel aus dem Mundwinkel und schrie auf deutsch: “Takt halten! Takt halten!” Mit gewaltsamer Anstrengung vertrieb Sflsan den Ge-
danken an Tautropfen auf seidigen Locken aus ihrem Geist, riß die wackelnde Sonate zusammen und spielte weiter. Zu ihrem Ärger fühlte sie, wie sie errötete. Blutrote Wangen, und das Haar rötlichgelb, schon fast rot. Rote Rüben und Karotten, dachte Sebastian unnachsichtig; und wie sich beim Lächeln das Zahnfleisch zeigte — das war buchstäblich anatomisch. Susan ließ den Schlußakkord ausklingen und dann die Hände in den Schoß fallen und wartete auf das Urteil des Meisters. Dröhnend kam es auf einer Wolke Zigarrenrauchs einhergefahren. “Gut, verry gut!” Und Dr. Pfeiffer schlug ihr auf die Schulter, als munterte er einen Karrengaul auf. Dann wandte er sich an Sebastian. “Und hier 's dze liddle Ariel! Oder, perhaps, dze liddle Puck — not?” Er blinzelte zwischen zusammengekniffenen Augenlidern mit, was er dafür hielt, der spielerisch subtilsten, der exquisitesten und kultiviertesten Ironie hervor. Kleiner Ariel, kleiner Puck ... Zweimal an ein und demselben Nachmittag, und diesmal ohne jede Entschuldigung — einfach weil sich dieser alte Hanswurst einbildete, witzig zu sein. “Da ich nicht Deutscher bin”, gab Sebastian scharf zurück, “habe ich nichts von Shakespeare gelesen — also wüßte ich's wirklich nicht zu sagen.” “Dze Puck, dze Puck!” rief Dr. Pfeiffer und lachte so aus tiefster Brust, daß er seine chronische Bronchitis aufstörte und zu husten begann. Ein Ausdruck der Besorgnis erschien auf Susans Gesicht. Der Himmel allein mochte wissen, wo das noch enden würde! Sie sprang vom Klavierstuhl auf. Und sobald sich die Explosionen und das beängstigend schleimige Keuchen von Dr. Pfeiffers Husten einigermaßen gelegt hatten, verkündete sie, daß sie sogleich gehen müsse; ihre Mutter habe ihr besonders eingeschärft, heute zeitig heimzukommen.
Dr. Pfeiffer wischte sich die Tränen aus den Augen, biß abermals auf das schon sehr zerkaute Ende seiner Zigarre, traktierte Susan mit noch ein paar seiner schallenden Karrengaulliebkosungen und sagte ihr, sie solle um Gottes willen nicht vergessen, was er ihr über die Triller in der rechten Hand gesagt habe. Dann nahm er von einem Tischchen die mit Zedernholz ausgekleidete Silberkassette, die ein dankbarer Schüler ihm zum letzten Geburtstag geschenkt hatte, wandte sich an Sebastian, legte ihm eine gewaltige quadratische Tatze auf die Schulter und hielt ihm mit der andern die Zigarren unter die Nase. “Nehmen Sie eine”, sagte er zuredend. “Nehmen Sie eine schöne, große, dicke Havanna. Free of charge und garantiert, keinen Vomitus zu produzieren, nicht einmal bei einem Baby.” “Oh, seien Sie still!” schrie Sebastian in einer Wut, die an Weinen grenzte; und sich plötzlich duckend, schlüpfte er unter dem Arm seines Peinigers durch und lief aus dem Zimmer. Susan stand einen Augenblick unentschlossen, dann eilte sie ihm, ohne sich zu verabschieden, nach. Dr. Pfeiffer nahm die Zigarre aus dem Mund und schrie hinter ihr her. “Schnell! Schnell! Ein Taschentuch für unser kleines Genie!” Die Haustür wurde zugeschlagen. Seiner Bronchitis trotzend, begann Dr. Pfeiffer abermals kolossal zu lachen. Vor zwei Monaten hatte das kleine Genie eine seiner Zigarren angenommen und, während Susan ihr möglichstes mit der Mondscheinsonate tat, fast fünf Minuten lang gepafft. Dann kam ein panikhaftes Hinausstürzen ins Badezimmer; aber er war nicht mehr rechtzeitig hingelangt. Dr. Pfeiffers Sinn für Humor war mittelalterlich robust; für ihn war dieser Vomitus oben auf dem Treppenabsatz fast das Komischeste gewesen, was es seit den Spaßen im Faust gegeben hatte.
2. KAPITEL Er schritt so schnell aus, daß Susan laufen mußte; und auch so holte sie ihn erst unter der zweiten Laterne ein. Sie griff nach seinem Arm und drückte ihn herzlich. “Sebastian!” “Laß mich!” herrschte er sie an und schüttelte sie ab. Niemand sollte ihn begönnern und bemitleiden. O weh! Wieder hatte sie das Verkehrte getan. Aber warum mußte er so entsetzlich empfindlich sein? Und warum scherte er sich überhaupt um so einen alten Esel wie Pfeiffy? Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander dahin. Sie war die erste, die sprach. “Hast du heut was gedichtet?” “Nein!” log Sebastian. Diese inkandeszenten Kopulationen von Göttern waren erloschen und zu Asche geworden. Schon der Gedanke, diese Verszeilen jetzt, nach dem Vorgefallenen, zu rezitieren, machte ihm übel — wie kaltgewordene Überbleibsel einer Mahlzeit essen zu sollen. Wieder entstand ein Schweigen. Es war ein freier Nachmittag, dachte Susan, und weil die Prüfungen bevorstanden, gab's kein Fußballspiel. Hatte er ihn mit dieser gräßlichen Person, dieser Esdaile, verbracht? Unter der nächsten Laterne warf sie einen Seitenblick auf ihn. Ja, kein Zweifel, er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Die Schweine! Jäher Zorn erfüllte sie — Zorn, der einer Eifersucht entsprang, die besonders quälend, weil uneingestehbar war. Sie hatte keine Rechte; es war nie in Frage gekommen, daß sie etwas andres sein könnten als Cousin und Cousine, beinahe Bruder und Schwester; überdies war es nur allzu schmerzhaft deutlich, daß er es sich nicht einmal träumen ließ, irgendwie anders an sie zu denken. Und
übrigens, als er sie tatsächlich gebeten hatte, damals vor zwei Tahren, ihn sie ohne alle Kleider sehn zu lassen, hatte sie nein gesagt, in einer völligen Panik. Zwei Tage später hatte sie Pamela Groves davon erzählt; und Pamela, die in eine dieser fortschrittlichen Schulen ging und deren Eltern so viel jünger waren als Susans, hatte bloß gebrüllt vor Lachen. Was für ein Getue wegen gar nichts! Pah! Sie und ihre Brüder und ihre Cousins — sie sahen einander immerzu ohne was anzuhaben. Ja, und die Freunde ihrer Brüder auch. Also warum der arme Sebastian nicht, wenn er es so gern wollte? Diese ganze dumme Prüderie aus dem vorigen Jahrhundert! Susan fühlte sich fast beschämt, daß sie und ihre Mutter so altmodische Ansichten hatten. Nächstes Mal, wenn Sebastian sie darum bäte, wollte sie sogleich ihren Pyjama ausziehn und sich vor ihn hinstellen, in der Haltung — so entschied sie nach einigem Nachdenken — dieser römischen Matrone, oder was immer sie war, auf dem Stich nach Alma Tadeina im Arbeitszimmer ihres Vaters: lächelnd und mit erhobenen Armen sich das Haar aufbindend. Mehrere Tage lang probte sie die Szene vor ihrem Spiegel, bis sie in dem Ganzen absolut perfekt war. Aber leider wiederholte Sebastian seinen Wunsch nie, und sie besaß nicht die Keckheit, es selber vorzuschlagen. Was zum Ergebnis hatte, daß er die schauerlichsten Sachen trieb mit dieser Esdaile, diesem Luder, und sie gar kein Recht, gar keinen Grund hatte, auch nur zu weinen. Viel weniger noch, ihm eine herunterzuhauen, was sie gern getan hätte, und ihn zu beschimpfen und an den Haaren zu reißen und ... und ihn so weit zu bringen, daß er sie küsse. “Ich nehme an, du hast den Nachmittag mit deiner kostbaren Mrs. Esdaile verbracht”, sagte sie endlich und versuchte, es verachtungsvoll und überlegen klingen zu lassen. Sebastian, der mit gesenktem Kopf dahingeschritten war, blickte auf. “Was geht das dich an?” fragte er nach einer Pause. “Gar nichts.” Susan zuckte die Achseln und stieß ein
kleines Lachen aus. Innerlich aber war sie wütend über sich selbst und schämte sich. Wie oft hatte sie sich nicht schon gelobt, sich nie mehr neugierig auf diese eklige Affäre zu zeigen, sich nie wieder diese gräßlichen Einzelheiten anzuhören, die er ihr so lebhaft und mit so offenkundigem Genuß schilderte! Und merkwürdigerweise war die Neugier doch stets stärker als sie, und jedesmal hörte sie gierig zu, grade weil diese Berichte über sein Liebestreiben mit einer andern ihr schmerzlich waren. Und auch, weil so an seinen Liebeserlebnissen wenigstens theoretisch und in der Phantasie teilzunehmen, auf eine dunkle Art aufregend war für sie und selbst schon etwas wie ein sinnliches Band zwischen ihnen, eine gedankliche Umarmung, schrecklich unbefriedigend und nur aufreizend, aber doch eine Umarmung. Sebastian hatte weggeblickt; nun wandte er sich ihr plötzlich wieder zu, mit einem seltsamen, fast triumphierenden Lächeln, als hätte er soeben jemand überlistet. “Na schön also”, sagte er, “du hast's gewollt. Mach mir keinen Vorwurf, wenn's deine jungmaidliche Züchtigkeit verletzt.” Er brach mit einem ziemlich rauhen, kurzen Lachen ab und ging schweigend weiter, während er sich mit der Spitze seines rechten Zeigefingers nachdenklich den Nasenrücken rieb. Wie gut sie diese Gebärde kannte! Die war das untrügliche Zeichen, daß er ein Gedicht verfaßte oder über die beste Art nachdachte, eine seiner Geschichten zu erzählen. Diese Geschichten, diese außerordentlichen Geschichten! Susan hatte in den von Sebastian erschaffenen Phantasiewelten fast ebenso lange und ganz so intensiv gelebt wie in der wirklichen Welt; intensiver vielleicht, denn in der wirklichen Welt mußte sie sich mit ihrem eigenen, prosaischen Ich bescheiden, wogegen sie sich in der Geschichtenwelt mit Sebastians reicher Phantasie begabt fand und sich bewegt und erregt fühlte von Sebastians Wortfluten.
Die erste seiner Geschichten, deren sich Susan deutlich erinnerte, hatte ihr Sebastian auf dem Strand von Tenby erzählt, in jenem Sommer (es mußte 1917 gewesen sein), als fünf Kerzen um ihre gemeinsame Geburtstagstorte gebrannt hatten. Sie hatten unter Seetang einen alten, geplatzten braunroten Gummiball gefunden. Sebastian trug ihn zu einem kleinen Tümpel und schwemmte den Sand heraus, der den Ball füllte. Auf der feuchten Innenseite war ein kleiner warzenähnlicher Auswuchs. Warum? Das wußte offenbar nur der Fabrikant. Für ein fünfjähriges Kind war es ein unergründliches Geheimnis. Sebastian berührte die Warze mit prüfendem Zeigefinger. Das sei der Bauchknopf, flüsterte er. Sie sahn sich verstohlen um, ob auch gewiß niemand zuhörte: der Nabel war etwas, das ans Unerwähnbare grenzte. Bei jedem Menschen wachse der Bauchknopf nach innen so wie hier, fuhr Sebastian fort. Und als sie ihn fragte, woher er das wisse, legte er mit einem umständlichen Bericht darüber los, was er Dr. Carter mit einem kleinen Mädel hatte tun sehn, im Ordinationszimmer, letztes Mal, als Tante Alice ihn wegen seiner Ohrenschmerzen hingeführt hatte. Aufgeschnitten hatte er es — das hatte Dr. Carter getan — aufgeschnitten mit einem großen Messer und einer großen Gabel, um sich den Bauchknopf von innen anzusehn. Und wenn man zu zäh war für Messer und Gabel, dann mußte so eine Säge verwendet werden, wie die Fleischhauer sie zum Knochensägen hatten. Ja, tatsächlich und faktisch, beteuerte er, als sie ihrer entsetzten Ungläubigkeit Ausdruck gab, tatsächlich und faktisch! Und um es ihr zu beweisen, begann er mit der Kante seiner Hand auf den Ball loszusägen. Der gerissene Gummi klaffte unter dem Druck, die Wunde öffnete sich weiter und weiter, als die Säge immer tiefer in das einschnitt, was für Susan nun nicht mehr ein Ball, sondern der Bauch eines kleinen Mädels war — ja gradezu ihr eigner. “Ch-ch-ch-ch, ch-ch-ch-ch.” Sebastian rollte den Laut weit hinten in der Kehle. Es machte einem das Blut gerinnen, war wie das
Geräusch einer Fleischhauersäge. Und dann, fuhr er fort, wenn sie tief genug geschnitten hatten, öffneten sie einen. So — und er zog die beiden Hälften des Balls auseinander. Sie öffneten einen und stülpten einem den obern Lappen nach außen um — so; und dann schrubbten sie einem den Bauchknopf mit Wasser und Seife, um den Schmutz wegzukriegen. Er kratzte heftig an der geheimnisvollen Warze, und seine Nägel machten auf dem Gummi ein kleines, sprödes Geräusch, das für Susan unaussprechlich gruselig war. Sie stieß einen Schrei aus und hielt sich die Ohren zu. Noch jahrelang hatte sie sich immer schrecklich vor Dr. Carter gefürchtet und geschrien, so oft er ihr in die Nähe kam; und auch jetzt noch, wo sie doch wußte, daß das mit dem Bauchknopf alles Unsinn war, konnte der Anblick seiner kleinen schwarzen Instrumententasche oder der Schränke in seinem Ordinationszimmer, die voll waren von Glasröhrchen und Flaschen und vernickelten Apparaten, sie mit einer unbestimmten Angst erfüllen, die sie trotz allem Bemühn, vernünftig zu sein, nur schwer zu vertreiben vermochte. Onkel John Barnack war oft monatelang abwesend, wenn er im Ausland herumreiste und Artikel schrieb für dieses Soziblatt, das Susans Vater nicht einmal zum Feuermachen in seinem Haus duldete. Sebastian hatte daher einen großen Teil seines Lebens unter der Obhut seiner Tante Alice und in nächster Nähe ihres jüngsten Kinds verbracht, der kleinen Susan, zwischen der und ihm selbst nur ein Altersunterschied von einem einzigen Tag war. Mit dem Heranwachsen seines kleinen Körpers und dieses frühreifen und fieberisch phantasievollen Geistes wurden die Geschichten, die er ihr erzählte — oder vielmehr in ihrer anregenden Gegenwart sich selbst erzählte — immer verwickelter und immer reicher an Einzelheiten. Manchmal zogen sie sich durch Wochen und Monate hin, in einer endlosen Reihe von Fortsetzungen, die er auf dem gemeinsamen Schulweg verfaßte, oder wenn sie vor dem Gasofen im Kinderzimmer
ihr Abendbrot verzehrten oder miteinander auf dem offenen Oberdeck winterlicher Autobusse saßen, während ihre altern Begleiter prosaisch im Innern fuhren. Da war zum Beispiel dieses Epos gewesen, das fast ununterbrochen durch das ganze Jahr 1923 lief — das Epos von den Lurnimans. Oder vielmehr von den Luuurnimans — denn der Name wurde stets im Flüsterton ausgesprochen und mit einer gräßlich bedeutsamen Verlängerung der ersten Silbe. Diese Luuurnimans waren eine Familie menschlicher Oger, die in Tunnels lebte, welche strahlenförmig von einer zentralen Höhle ausgingen, die sich unmittelbar unter dem Raubtierhaus im Zoo befand. “Horch!” flüsterte Sebastian ihr jedesmal zu, wenn sie vor dem Käfig des sibirischen Tigers standen. “Horch!” Und dann stampfte er mit dem Fuß auf die Pflasterung. “Es ist hohl drunter, hörst du's nicht?” Und ganz gewiß, Susan hörte es, und während sie es hörte, schauderte sie bei dem Gedanken, wie diese Luuurnimans zwanzig Meter tief dort unten saßen, im Mittelpunkt einer surrenden riesigen Maschinerie, und das Geld zählten, das sie aus den Gewölben der Bank von England gestohlen, und die Kinder brieten, die sie durch geheime Falltüren im Keller entführt hatten, und Kobras züchteten, um sie in die Abflußrohre loszulassen, so daß plötzlich, eines schönen Morgens, grade wenn man sich hinsetzen wollte, ein bebrillter Schlangenkopf aus dem WC auftauchen und zischen würde. Sie glaubte natürlich gar nichts davon, aber auch wenn man's nicht glaubte, machte es einem doch Angst. Diese gräßlichen Luuurnimans mit ihren Katzenaugen und ihren patentierten elektrischen Pistolen und unterirdischen Rutschbahnen — sie wohnten nicht wirklich unter dem Raubtierhaus (obgleich der Boden wirklich hohl klang, wenn man dort aufstampfte). Aber das hieß nicht, daß sie nicht existierten. Der Beweis für ihre Existenz war die Tatsache, daß sie von ihnen träumte, daß sie jeden Morgen scharf nach diesen Kobras ausspähte.
Doch die Lurnimans waren jetzt wirklich schon eine alte Geschichte. Ihre Stelle war zunächst von einem Detektiv eingenommen worden; dann (nachdem Sebastian das Buch seines Vaters über die Russische Revolution gelesen hatte) von Trotzki; und dann von Odysseus, dessen Abenteuer während des Sommers und Herbsts 1926 abenteuerlicher gewesen waren als irgend etwas, das Homer je berichtet hatte. Gleichzeitg mit Odysseus tauchten zum erstenmal Mädchen in Sebastians Erzählungen auf. Gewiß, sie waren einigermaßen auch schon in den früheren Epen vorgekommen, aber nur als Opfer von Ärzten, Kannibalen, Kobras und Revolutionären. (Was immer es war, wenn es nur Susan einen Schauder über die Haut jagte und dieses entsetzte Aufquietschen ungläubiger Abwehr hervorrief!) In der Neuen Odyssee jedoch begannen sie eine andre Rolle zu spielen. Sie wurden verfolgt und geküßt, sie wurden durch Schlüssellöcher bespäht, ohne was anzuhaben, sie wurden entdeckt, wie sie um Mitternacht in einem phosphoreszierenden Meer badeten, und Odysseus ging dann auch schwimmen. Verbotene Themen, abstoßend fesselnd, abscheulich anziehend! Sebastian schlug sie gleichmütig und wie beiläufig an — pianissimo, sozusagen, und senza espressione, als eilte et über irgendeine langweilige Passage weg, eine Stelle bloßer Fünffingerübungen, die in die romantische Rhapsodie über seinen Odysseus eingeschoben war. Pianissimo, senza espressione, und dann — tschin! wie ein Akkord von Scriabine mitten in ein Haydn-Quartett — platzte er mit etwas ganz fürchterlich Schauderhaftem heraus! Und trotz allem Bemühn, es gleichgültig sachlich aufzunehmen, wie Pamela es aufgenommen hätte, war Susan immer so jäh erstaunt, daß sie einen Ausruf tat, daß sie errötete, sich die Ohren zuhielt und davonlief, als wollte sie kein einziges Wort mehr hören. Aber immer hörte sie wieder zu; und manchmal, wenn er seine Erzählung unterbrach, um ihr eine direkte und gräßlich indiskrete Frage zu stellen, da
sprach sie sogar selber über den unmöglichen Gegenstand, stammelnd, mit weggewendeten Augen, oder aber in unbeherrscht lautem Ton, der gegen ihren Willen in ein schrilles Gekicher überging. Allmählich versiegte die Neue Odyssee. Susan war mit ihrer Musik und ihrer Abschlußprüfung in der Schule beschäftigt, und Sebastian verwendete seine ganze Freizeit aufs Lesen griechischer und der englischen Dichter und schrieb eigene Werke. Es schien keine Zeit fürs Geschichtenerzählen zu bleiben, und wann immer sie sich für eine kleine Weile beisammen fanden, sprach er ihr am liebsten seine neuesten Gedichte vor. Lobte sie die — und das tat sie gewöhnlich, denn sie hielt sie wirklich für wundervoll, — so leuchtete Sebastians Gesicht auf. “Oh, es ist nicht gar zu schlecht”, sagte er dann wohl wegwerfend; aber sein Lächeln und das ununterdrückbare Glänzen seiner Augen verrieten, was er wirklich dachte. Manchmal jedoch kamen Zeilen vor, die sie nicht verstand oder nicht mochte; und wenn sie das zu sagen wagte, wurde er rot vor Zorn und nannte sie eine Idiotin, eine Philisterin; oder bemerkte sarkastisch, das sei nicht anders zu erwarten, da Frauen bekanntlich Spatzenhirne hätten; oder, es sei notorisch, daß Musiker kein Hirn, sondern nur Finger und ein Nervenzentrum in der Magengrube besäßen. Manchmal verletzten sie seine Worte; öfter aber riefen sie nur ein Lächeln hervor und gaben ihr das Gefühl, im Vergleich mit seiner durchsichtigen Kindlichkeit herrlich alt, weise und ihm trotz seiner blendenden Begabtheit überlegen zu sein. Wenn er sich so benahm, bekundete er sich damit ebenso als Kleinkind wie als Wunderkind und forderte sie gradezu heraus, ihn auch noch auf eine andre Art zu lieben — beschützerisch und mütterlich. Und dann plötzlich, ein paar Wochen nach Beginn des laufenden Trimesters, hatten die Erzählungen wieder angefangen — aber mit einem Unterschied. Diesmal waren sie nicht Dichtung, sie waren Selbstbiographie: er hatte be-
gonnen, ihr von Mrs. Esdaile zu erzählen. Das Kind in ihm war noch immer da, bedurfte noch immer dringend der Bemutterung, der Bewahrung vor den Folgen seiner Kindlichkeit; aber der herangewachsene Bub, den sie insgeheim mit einer ganz anders gearteten Leidenschaft anbetete, war nun der Liebhaber einer Frau — älter als sie selbst und hübscher und tausendmal erfahrener; reich obendrein, mit wunderschönen Kleidern und herrlich manikürt und hergerichtet; völlig außerhalb jeder Möglichkeit eines Wettbewerbs oder einer Nebenbuhlerschaft. Susan hatte ihn nie merken lassen, wie sehr es ihr zu Herzen ging; ihr Tagebuch aber war voll von Bitterkeit, und nachts, im Bett, hatte sie sich oft in Schlaf geweint. Und heute nacht hätte sie wiederum Grund, sich elend zu fühlen. Stirnrunzelnd warf Susan einen Seitenblick auf ihren Gefährten. Sebastian liebkoste noch immer nachdenklich seine Nase. “Recht so!” platzte sie mit einem jähen Aufwallen von Groll heraus. “Reib dir deinen viehischen kleinen Rüssel, bis du es alles parat hast!” Sebastian fuhr auf und wandte sich zu ihr. Ein Ausdruck der Beunruhigung erschien auf seinem Gesicht. “Bis ich was alles parat habe?” fragte er abwehrend. “Alle deine schönen Reden und witzigen Erwiderungen!” antwortete sie. “Du glaubst wahrscheinlich, ich kenn dich nicht? Pah, ich wette, du bist zu schüchtern, überhaupt etwas zu sagen, wenn du ...” Sie verstummte, unfähig, die Worte zu äußern, die das verhaßte Bild der Umarmung dieser zwei heraufriefen. Zu andrer Zeit hätte diese höhnische Anspielung auf seine Schüchternheit — auf dieses erniedrigende Stummbleiben oder Stammeln, von dem er befallen wurde, wann immer er sich in fremder oder eindrucksvoller Gesellschaft befand, — ihn aufgebracht und in Zorn versetzt. Diesmal aber war er nur belustigt.
“Darf ich denn nicht einmal die kleinste Lüge erzählen?” fragte er. “Bloß um der Kunst willen?” “Du meinst, um deinetwillen — damit du dich so wirken machen kannst wie jemand aus einem Stück von Noel Coward?” “Aus einem Stück von Congreve”, widersprach er. “Aus von wem du willst!” rief Susan, die glücklich war über diese Gelegenheit, ihrer aufgespeicherten Erbitterung Luft machen zu können, ohne deren wahre Natur und Ursache zu verraten. “Jede Lüge ist gut genug, solange du dich nur nicht so zeigen mußt, wie du wirklich bist ...” “Ein Don Juan ohne den Mut zu seinen Überredungskünsten”, warf er ein. Es war eine Phrase, die er erfunden hatte, um sich darüber zu trösten, daß er auf der Weihnachtsgesellschaft bei den Boveneys so klägliche Figur gemacht hatte. “Und du ärgerst dich, weil ich das Gespräch auf eine Höhe bringe, auf der es sich hätte bewegen sollen. Sei nicht so scheußlich buchstabengetreu!” Er lächelte sie so bezaubernd an, daß Susan einfach kapitulieren mußte. “Na gut”, murrte sie. “Ich werd dir glauben, auch wenn ich weiß, daß es eine Lüge ist.” Sein Lächeln verbreiterte sich; er wurde der heiterste aller Della-Robbia-Engel. “Auch wenn du's weißt”, wiederholte er und lachte laut. Es war wirklich der köstlichste Witz. Die arme, gute Susan! Sie wußte, daß die Berichte über seine Konversationsgewandtheit gefälscht waren; aber sie wußte auch, daß er mit einer wunderschönen dunkelhaarigen jungen Frau ins Gespräch gekommen war, auf dem Oberdeck eines Autobusses nach Hampstead; daß diese Frau ihn zum Tee in ihre Wohnung gebeten, sich seine Gedichte vorlesen lassen und ihm erzählt hatte, wie unglücklich sie mit ihrem Mann sei, dann mit einem Wort der Entschuldigung den Salon verlassen und fünf Minuten später gerufen hatte: “Mr.Barnack, Mr. Barnack!” — und er ihr nachgegangen war, über den
Flur und durch eine halboffene Tür in ein Zimmer, wo es stockfinster war, und plötzlich ihre bloßen Arme um sich und ihre Lippen auf seinem Gesicht gefühlt hatte. Susan wußte das alles und noch eine Menge mehr; und das Schönste daran war, daß Mrs. Esdaile gar nicht existierte, daß er ihren Namen im Telephonbuch gefunden hatte, ihr blasses ovales Gesicht in einem Band viktorianischer Stahlstiche und alles übrige in seiner Phantasie. Und das einzige, wogegen die arme Susan etwas hatte, war die Gewandtheit seiner Konversation! “Sie hat heute schwarze, durchbrochene Spitzendessous getragen”, improvisierte er, von seiner Belustigung zu einem betonten Beardsleyismus fortgerissen, den er zu gewöhnlichen Zeiten verachtete. “Sieht ihr ähnlich!” sagte Susan und dachte erbittert an ihre eigenen aus starker weißer Baumwolle. Sebastian aber sah vor seinem innern Auge eine Kallipyge, über und über von spinnwebzarten Arabesken in Nadelarbeit gemustert wie einer dieser dekorativen Apfelschimmel aus Porzellan, auf deren Croupe die Tüpfel aus Blättern und spiraligen Ranken bestehen. Er lachte innerlich. “Ich hab ihr gesagt, sie ist die neueste archäologische Entdeckung — die getüpfelte Aphrodite von Hampstead.” “Lügner!” sagte Susan emphatisch. “Du hast ihr gar nichts dergleichen gesagt.” “Ich werd ein Gedicht auf die getüpfelte Aphrodite schreiben”, fuhr Sebastian fort, ohne sie zu beachten. Ein ganzes Feuerwerk wunderschöner Phrasen begann in seinem Geist zu sprühn und zu prasseln. “Ihr Widerrist ein Gekräusel spiraliger Ranken, ihre samtige Croupe gescheckt von Brüsseler Rosen. Und um den Rumpf”, murmelte er, sich die Nase reibend, “um den Rumpf und die üppig geschmeidigen Flanken Spaliere von Muttermalen aus Klöppelspitzen.” Und, Herrschaft noch einmal, da war noch ein zweiter
tadellos guter Reim drin! Spiralen und Muttermalen — noch zwei starke Stifte, an die sich jede beliebige Menge von Spitzen und Göttinnenhaut hängen ließe. “Oh, sei still!” rief Susan. Aber seine Lippen bewegten sich weiter. “Getuscht auf die milchweiße Hinterhand, welche kunstvolle Kalligraphie, schwellend und schrumpfend bei jeder Bewegung.” Da hörte er plötzlich seinen Namen gerufen und den Klang von Laufschritten hinter sich. “Wer, zum Teufel...?” Sie blieben stehn und sahn sich um. “Es ist Tom Boveney”, sagte Susan. Und er war es! Sebastian lächelte. “Ich wette mit dir um fünf Schill, er sagt: ,Hallo, Susel, schon wieder im Dusel vom Fusel?'“ Zwei Meter groß, einen breit und einen halben dick, mit sandfarbenem Haar und übers ganze Gesicht grinsend, kam Tom herangerast wie der Cornwall-Expreß. “Basty”, rief er, “du bist grade der Mann, den ich suche! Oh, und hier ist ja auch Susan —hallo, Susel, schon wieder im Dusel vom Fusel?” Er lachte und war entzückt, als Susan und Sebastian ebenfalls lachten — mit ungewohnter Herzlichkeit lachten. “Also”, fuhr er fort, sich wieder an Sebastian wendend, “das Problem ist gelöst.” “Welches Problem?” “Wann ich die Gesellschaft gebe. Da du doch am Trimesterschluß gleich wegfährst, hab ich sie aufs Ende der Ferien verschoben.” Er grinste und klopfte Sebastian zutunlich auf die Schulter. Auch der! sagte sich Susan und überlegte weiter, daß fast jeder Mensch Sebastian gegenüber so fühlte — und er das ausnützte. Ja, er nützte es aus. “Freut's dich?” fragte Tom. Basty war seine Maskotte, sein Adoptivkind und zu-
gleich der erlesene und wunderbare Gegenstand einer Liebe, die sich einzugestehen, ja auch nur zu verstehn und ihr einen Namen zu geben, er von Natur viel zu heterosexuell war. Es gab nichts, was er nicht getan hätte, um das Wohlgefallen seines kleinen Basty zu erwecken. Doch statt entzückt übers ganze Gesicht zu strahlen, blickte Sebastian fast bestürzt drein. “Aber Tom”, stammelte er, “du darfst nicht . . . ich meine, du solltest dir meinetwegen keine Ungelegenheiten machen.” Tom lachte und gab Sebastians Achsel einen beruhigenden Quetscher. “Mach ich mir nicht.” “Aber die andern?” sagte Sebastian, sich an jeden Strohhalm klammernd. Tom wies darauf hin, daß es den andern gleich sei, ob er seine Abschiedsgesellschaft am Beginn der Ferien oder am Ende gebe. “Eine Sauferei ist immer eine Sauferei”, setzte er philosophisch hinzu, da fiel ihm Sebastian mit einer Heftigkeit ins Wort, die durch bloße höfliche Zuvorkommenheit ganz und gar nicht zu rechtfertigen war. “Nein, ich würde nicht im Traum daran denken!” rief er in einem Ton von Endgültigkeit. Es entstand ein Schweigen. Tom Boveney blickte verwundert auf ihn hinab. “Das klingt ja, als wolltest du nicht kommen?” begann er verdutzt. Sebastian begriff seinen Fehler und beeilte sich, zu beteuern, daß ihm selbstverständlich nichts lieber gewesen wäre. Was auch wahr war. Dinner im Savoy, eine Revue und zum Abschluß ein Nachtlokal — es wäre ein unerhörtes Erlebnis. Aber er mußte die Einladung ablehnen, und das aus dem demütigendsten und kindischesten Grund: er besaß weder einen Schwalbenschwanz noch ein Dinnerjackett. Und nun, nachdem er schon geglaubt hatte, eine so gute Ausrede zu haben, kam dieser Tom daher und rührte die
Sache von neuem auf. Verfluchter Kerl! Sebastian haßte den bärenhaften Lackel mit seiner betulichen Freundlichkeit gradezu. “Aber du willst doch kommen!” beharrte Tom mit einer schlichten Vernünftigkeit, die Sebastians Geduld erschöpfte. “Warum, um Himmels willen, sagst du dann nein?” Er wandte sich an Susan. “Kannst du irgendein Licht auf dieses Rätsel werfen?” Susan zögerte. Sie wußte natürlich genau von Onkel Johns Weigerung, Sebastian einen Abendanzug machen zu lassen. Es war schundig von ihm. Aber deswegen brauchte sich Sebastian doch nicht zu schämen! Warum sagte er es nicht ganz freimütig? “Tja”, begann sie zögernd, “ich vermute, der Grund i s t. ..” “Schweig! Schweig, sag ich dir!” In seiner Wut zwickte Sebastian sie so stark in den Arm, daß sie vor Schmerz aufschrie. “Geschieht dir recht!” flüsterte er ihr wild zu und wandte sich wieder an Tom. Susan war erstaunt, ihn sagen zu hören, daß er natürlich kommen werde und es wirklich schrecklich nett von Tom sei, sich all die Mühe mit der Verlegung auf ein andres Datum gemacht zu haben, schrecklich nett — und er brachte es wirklich fertig, Tom mit seinem engelhaften Lächeln anzusehn! “Du hast doch nicht gemeint, ich werd eine Gesellschaft geben ohne dich, Basty?” Abermals zermalmte beinahe mit einem freundschaftlichen Quetschen Tom Boveney seiner Maskotte die Achsel, seinem Adoptivkind, seinem Wunderkind und wunderschönen Liebling. “Und grade jetzt, wo ich nach Kanada soll — und wer weiß, wann ich dich wiederseh! Dich oder sonst einen von den Burschen hier”, fügte er hastig hinzu, und um das Alibi weiter auszubauen, wandte er sich scherzend an Susan: “Wenn's nicht ein Herrenabend war, würd ich auch dich
auffordern. Massenhaft Fusel für die gute Susel.” Er schlug ihr auf den Rücken. “Und jetzt muß ich mich schleunigst davonmachen. Hätt von Rechts wegen gar nicht stehnbleiben und mit euch quatschen sollen; aber es war so ein glücklicher Zufall, förmlich in euch hineinzurennen. Wiedersehn, Susel! Wiedersehn, Basty!” Er wandte sich ab und begann zu laufen, trotz seiner Größe und seinem Gewicht elegant wie ein Mittelstrecken-Professional zu laufen, in die Dunkelheit hinein, aus der er gekommen war. Die beiden setzten ihren Spaziergang fort. “Was ich einfach nicht verstehn kann”, sagte Susan nach einem langen Schweigen, “— warum sagst du nicht glatt die Wahrheit? Es ist doch nicht deine Schuld, daß du keinen Abendanzug hast. Und es besteht doch kein Gesetz dagegen, deinen Dunkelblauen zu tragen. Man wird dich nicht aus dem Restaurant weisen, nicht wahr?” “Oh, um Gottes willen!” rief Sebastian, fast zur Raserei getrieben durch die verrücktmachende Vernünftigkeit ihrer Worte. “Aber wenn du mir nur erklären wolltest, warum du's ihm nicht sagst”, beharrte sie. “Ich wünsche es nicht zu erklären”, entgegnete er mit würdevoller Endgültigkeit. Susan warf einen Blick auf ihn, dachte sich, wie lächerlich er dreinsehe, und zuckte die Achseln. “Du meinst, du kannst es nicht erklären?” Während des Schweigens, das nun entstand, kaute Sebastian weiter an seiner bittern Erniedrigung. Er wünschte es nicht zu erklären, weil er, wie Susan gesagt hatte, es nicht erklären konnte. Und zwar nicht etwa, weil ihm Gründe fehlten, sondern weil die Gründe, die er hatte, so qualvoll intim waren. Erst diese alte Kuh in der Bibliothek; nicht einmal ihr toter Sohn war eine Entschuldigung, daß sie ihn so beschlabbert hatte, als wäre er noch in den Windeln. Dann Pfeiffer und seine stinkenden Zigarren. Und
nun diese letzte Demütigung. Und nicht nur, daß er wie ein Kind aussah und dabei wußte, daß er hundertmal fähiger war als sogar die ältesten von ihnen, — es fehlte ihm auch das äußere Drum und Dran und Zubehör, das seinem wahren Alter angemessen war. Wenn er anständige Anzüge und genug Taschengeld hätte, wären die andern Demütigungen erträglich. Wenn er leichter Geld ausgeben könnte und seine Kleider einen andern Schnitt hätten, würde er das falsche Zeugnis seines Gesichts und seiner Statur Lügen strafen können. Aber sein Vater gab ihm nur einen Schilling wöchentlich, ließ ihn billige Konfektionsanzüge tragen, bis sie durchgewetzt und zu kurz in den Ärmeln waren, und weigerte sich glattweg, ihm ein Dinnerjackett zu kaufen. Seine Kleidung bestätigte das Zeugnis des Körpers, den sie so schofel bedeckte; er war ein Kind in Kinderkleidern. Und da fragte ihn diese blöde Susan, warum er Tom Boveney nicht die Wahrheit sage! “Amor fati”, zitierte sie. “Hast du nicht gesagt, das ist jetzt dein Wahlspruch?” Sebastian geruhte nicht, darauf zu antworten. Als sie ihn so ansah, wie er neben ihr herging, mit starrem Gesicht, den Körper seltsam steif und verkrampft, fühlte Susan ihre Gereiztheit in mütterliche Zärtlichkeit dahinschmelzen. Der liebe, arme Kerl! Wie gut es ihm gelang, sich elend zu machen! Und aus solchen idiotischen Gründen. Wegen eines Dinnerjacketts! Aber sie war bereit zu wetten, daß Tom Boveney keine Affäre mit einer schönen verheirateten Frau hatte. Bei der Erinnerung daran, wie sich Sebastians Miene vorhin, als sie Mrs. Esdaile erwähnte, aufgeheitert hatte, versuchte Susan es barmherzig noch einmal. “Du hast mir nicht zu Ende erzählt von der schwarzen Spitzenwäsche”, sagte sie endlich, das trübselige Schweigen brechend. Diesmal aber erfolgte keine Erwiderung; Sebastian schüttelte bloß den Kopf, ohne auch nur zu ihr herzublicken.
“Bitte!” schmeichelte sie. “Ich will nicht.” Und als Susan versuchte, darauf zu bestehn, wiederholte er mit mehr Nachdruck: “Ich sag dir doch, ich will nicht!” An Susans Leichtgläubigkeit war nicht länger etwas Komisches. Nüchtern betrachtet, in ihrem wahren Licht, war diese Esdaile-Geschichte nur wieder eine von seinen Demütigungen. Seine Gedanken sprangen zurück zu dem scheußlichen Abend vor zwei Monaten. Vor der Untergrundstation Camden Town dieses Mädel in Blau, auf eine ordinäre Art hübsch, mit grell geschminktem Mund und einer Masse gelbblonden Haars. Er ging zwei- oder dreimal hin und her, versuchte seinen Mut emporzuschrauben und fühlte fast Übelkeit, genauso wie vor einer dieser gräßlichen Unterredungen mit dem Schulleiter über seine mangelhaften Mathematikkenntnisse. Die Übelkeit der Schwelle — aber zuletzt, wenn man dann angeklopft hatte und hineingegangen war und sich hingesetzt hatte gegenüber diesem langen und außerordentlich glatt rasierten Gesicht, war es gar nicht so schrecklich. “Sie scheinen zu glauben, Barnack, daß Sie, weil Sie in einer Hinsicht hochbegabt sind, an nichts sonst zu arbeiten brauchen, was Ihnen nicht eben Freude macht?” Und das endete dann gewöhnlich damit, daß er an einem schulfreien Nachmittag zwei oder drei Stunden nachsitzen oder einen Monat lang jeden Tag zwei Extrabeispiele lösen mußte. Nichts gar so Schreckliches schließlich und nichts, was dieses Übelkeitsgefühl gerechtfertigt hätte. Aus dieser Überlegung schöpfte Sebastian Mut, ging auf die blaue Schnepfe zu und sagte: “Guten Abend.” Im Anfang wollte sie ihn gar nicht ernst nehmen. “So ein Kinderl wie du! Ich tat mich schämen an deiner Stell.” Es blieb ihm nichts andres übrig, als ihr die Widmung in der Anthologie griechischer Dichtung zu zeigen, die er zufällig in der Rocktasche stecken hatte. “Sebastian, zum siebzehnten Geburtstag, von seinem Onkel Eustace Bar-
nack 1928.” Die Blaue las die Worte laut, blickte ihm zweifelnd ins Gesicht und wieder auf das Vorsatzblatt. Dann schlug sie aufs Geratewohl eine Seite in der Mitte des Buchs auf. “Aber das is ja Jiddisch!” Sie sah ihn forschend an Das hätt ich mir nie denkt.” Sebastian klärte sie auf. Und du willst mir einreden, du kannst das lesen?” Er bewies ihr seine Fähigkeit an einem Chor aus dem Agamemnon. Das überzeugte sie. Jemand, der das imstande war, konnte kein Kind mehr sein. Aber habe er Geld? Er zog seine Brieftasche hervor und zeigte ihr die Pfundnote, die ihm noch von Onkel Eustaces Weihnachtsgeschenk verblieben war. “Is recht”, sagte die Blaue. Aber sie habe keine eigene Wohnung; wohin wolle er gehn? Tante Alice und Susan und Onkel Fred waren alle über das Wochenende weggefahren, und es war niemand im Haus zurückgeblieben außer der alten Ellen — und Ellen ging stets Punkt neun schlafen und war überhaupt so taub wie ein Stockfisch. Sie könnten zu ihm nach Haus gehn, schlug er vor; und er rief ein vorbeifahrendes Taxi heran. An den Alptraum, der folgte, konnte Sebastian nie ohne Schaudern denken. Dieses Gummikorsett und, als sie dann in seinem Zimmer lagen, ihr Körper, so teilnahmslos wie dessen Gehäuse. Die gelangweilten geschäftsmäßigen Küsse und ihr Atem, der nach Bier und Zahnfäule und Zwiebeln stank; seine Aufregung, so rasend, daß sie sich fast sogleich selber vereitelte; und dann, nicht wiedergutzumachen, diese scheußliche kalte Ernüchterung, die einen Ekel mit sich brachte vor dem, was da neben ihm lag, einen Abscheu wie vor einer Leiche — und die Leiche lachte und sprach ihm ihr spöttisches Beileid aus. Auf dem Weg zur Haustür hinunter fragte die Blaue, ob sie einen Blick in den “Salon” tun dürfe. Sie machte große Augen, als das Licht die bescheidene Pracht des Wohnzimmers enthüllte. “Handgemalt!” sagte sie bewundernd, ging zum Kamin und fuhr mit dem Finger über den Firnis auf dem Jubiläumsporträt von Sebastians Groß-
vater. Das schien für sie die Sache zu entscheiden. Sie trat vor Sebastian hin und verkündete, daß sie noch ein Pfund haben wolle. Aber er hatte nicht noch ein Pfund. Die Blaue setzte sich nachdrücklichst auf das Sofa. Also gut, sie werde hierbleiben, bis er eins finde. Sebastian leerte alle» Kleingeld aus seinen Taschen. Drei Schilling elf. Nein, dabei blieb sie, keinen Penny weniger als noch ein Pfund. Und mit einer heiseren tiefen Altstimme begann sie wie eine Litanei die Worte zu summen: “Ein Pfunderl, ein Pfund, ein Pfunderl”, — nach der Melodie von: “Wenn irische Augen .. . ” “Tun Sie das nicht!” bat er. Das Summen schwoll zu einem Singen aus voller Kehle an. “Ein Pfunderl, ein Pfund, ein Pfunderl, ein wunderschönes Pfunderl ...” Beinahe in Tränen, unterbrach Sebastian sie; ein Dienstbote schlafe oben, und sogar die Nachbarn würden es vielleicht hören. “Na, die solin nur alle kommen”, sagte die Blaue. “Mir kann's recht sein.” “Aber was würden die sagen?” Sebastians Stimme gickste, seine Lippen zitterten. Diese Person sah ihn verachtungsvoll an und brach dann in ihr lautes, häßliches Lachen aus. “Geschieht dir recht, Klaner, das würdens sagen. Will mit Mädeln gehn, statt daß er daheimbleibt und sich von def Mutter die Nasen putzen laßt.” Sie begann Takt zu schlagen. “Alsdann eins, zwei, drei, alle miteinander, meine Herrschaften: .Wann irische Pfunde pfundein ...' “ Auf dem Tischchen neben dem Sofa erblickte Sebastian das Schildpatt-Papiermesser mit Goldgriff, das Onkel Fred zum fünfundzwanzigsten Jahrestag seiner Verbindung mit der City & Far Eastern Investment Company geschenkt worden war. Es war viel mehr wert als ein Pfund. Er wollte es ihr in die Hand drücken. “Nehmen Sie das!” beschwor er sie. “Ja freili! Damit die Polizei grufen wird im Moment, wo i's verkaufen will?” Sie schob es beiseite. In einer andern Tonart und lauter denn je begann sie wieder: “Wann irische Pfunde ...” “Hören Sie auf”, rief er ver-
zweifelt “hören Sie doch auf! Ich werd Ihnen das Geld beschaffen, ich schwör's.” Die Blaue unterbrach sich und sah auf ihre Armbanduhr. “I gib dir fünf Minuten Zeit”, sagte sie. Sebastian eilte aus dem Zimmer und die Treppe hinauf. Eine Minute später hämmerte er im vierten Stock an eine Tür. “Ellen, Ellen!” Keine Antwort. Taub wie ein Stockfisch. Der Teufel hol die Alte! Er klopfte abermals und schrie. Plötzlich ging die Tür auf, und da stand Ellen in einem Schlafrock aus grauem Flanell, das graue Haar in zwei kleine Rattenschwänzchen geflochten und mit Köperband umwickelt, und ohne ihre falschen Zähne, so daß ihr rundes Apfelgesicht ganz eingeschrumpft zu sein schien, und als sie ihn fragte, ob es im Haus am Ende brenne, konnte er sie kaum verstehn. Mit großer Anstrengung setzte er sein engelhaftestes Lächeln auf — das Lächeln, mit dem er sie sein Leben lang herumgekriegt hatte. “Tut mir leid, Ellen, ich hätte dich nicht geweckt, wenn's nicht dringend war.” “Was denn sonst?” fragte sie und wandte ihm das Ohr zu, auf dem sie etwas besser hörte. “Glaubst du, könntest du mir ein Pfund leihen?” Sie sah ihn leer an, und er mußte sie fast anschreien. “Ein Pfund!” “Ein Pfund?” echote sie, maßlos erstaunt. “Ich hab's mir von einem Freund geborgt, und er wartet jetzt unten an der Haustür.” Zahnlos, aber wie immer mit ihrem nordenglischen Akzent, erkundigte sich Ellen, warum er es denn nicht morgen zurückzahlen könne. “Weil er wegfährt”, erklärte Sebastian. “Nach Liverpool.” “Oh, nach Liverpool”, sagte Ellen in einem andern Ton, als würfe das ein ganz neues Licht auf die Sache. “Nimmt er dort ein Schiff?” fragte sie. “Ja, nach Amerika”, brüllte Sebastian, “nach Philadelphia.” Fort nach Philadelphia in der Frühe. Er sah auf seine Armbanduhr. Nur noch etwa eine Minute, und die Blaue finge wieder an, dieses andre irische Lied zu singen. Er ließ Ellen ein noch bezaubernderes Lächeln sehn. “Wär's dir möglich, Ellen?” Die alte Frau lächelte auch, ergriff seine Hand und legte sie für einen Augenblick an ihre
Wange, dann wandte sie sich ohne ein Wort, um ihre Börse zu suchen. Und als die andern von dem Wochenende zurückgekommen waren — am Montagnachmittag, genau gesagt, während er mit Susan von dem alten Pfeiffer nach Hause ging, da hatte er ihr zum allererstenmal von Mrs. Esdaile erzählt. Die exquisite, kultivierte, toll wollüstige Esdaile in den Armen ihres triumphierenden jungen Liebhabers — das Bild auf der Medaille, deren Kehrseite das Mädel in Blau zeigte und einen angeekelten kleinen Buben, der sehr betreten und dem Weinen nahe war. An der Ecke der Glanvil Avenue trennten sie sich. “Du geh direkt nach Haus!” sagte Sebastian, das lange Schweigen brechend. “Ich will erst sehn, ob mein Vater heimgekommen ist.” Und ohne eine Antwort Susans abzuwarten, wandte er sich und schritt schnell davon. Susan stand da und sah ihm nach, wie er die Gasse entlangeilte, so zart und hilflos, aber mit so verzweifelter Entschlossenheit auf einen unvermeidlichen Mißerfolg losmarschierte. Denn, natürlich, wenn sich der arme Kerl einbildete, Onkel John herumkriegen zu können, da würde er sich nur wieder eine Beule holen. Unter der Gaslaterne dort belebte sich plötzlich das blasse Haar wie eine Aureole zausiger Flammen; dann bog er ein und verlor sich ihrem Blick. Und das war das Leben! überlegte Susan, während sie weiterging, — eine Reihenfolge von Straßenecken. Man traf etwas — etwas Fremdartiges, etwas Schönes und Begehrenswertes; und einen Augenblick später war man an der nächsten Ecke; und schon war es eingeschwenkt und verschwunden. Und auch wenn es nicht einschwenkte, war es verliebt in Mrs. Esdaile. Sie ging die Stufen zu Nummer achtzehn hinauf und drückte die Klingel. Ellen öffnete ihr die Tür und verlangte, bevor sie sie einließ, daß sie sich nochmals die Schuhe auf der Matte abstreife. “Das fehlt mir noch, daß du mir meine Teppiche
schmutzig machst”, sagte sie in ihrem gewohnten Ton brummiger Zuneigung. Im ersten Stock warf Susan, um guten Abend zu sagen, einen Blick in das Zimmer, wo ihre Mutter saß. Mrs. Poulshot schien mit ihren Gedanken beschäftigt zu sein, und ihr Kuß war eine bloße Geste. “Versuche, nichts zu tun, was deinen Vater ärgern könnte”, empfahl sie Susan. “Er fühlt sich heute abend ein bißchen verstimmt.” O Gott, dachte Susan, die, seit sie sich erinnern konnte, unter diesen Verstimmungen ihres Vaters gelitten hatte. “Und zieh dir dein Hellblaues an”, fügte Mrs. Poulshot hinzu. “Ich möchte, daß du vor Onkel Eustace möglichst hübsch aussiehst.” Was ihr schon daran lag, ob Onkel Eustace sie für hübsch hielt! Und überhaupt, überlegte sie, als sie weiter dieTreppen hinaufstieg, welche Hoffnung bestand denn, mit einer zu konkurrieren, die verheiratet gewesen war, die Geld hatte, die ihre Kleider in Paris kaufte und wahrscheinlich — obgleich Sebastian seltsamerweise das nie erwähnt hatte — gradezu triefte von einem höchst unanständigen Parfüm. Sie zündete den Gasofen in ihrem Zimmer an, entkleidete sich und ging eine halbe Treppe hinunter ins Badezimmer. Das Vergnügen, in heißem Wasser zu weichen, war dadurch beeinträchtigt, daß Mrs. Poulshot darauf bestand, in ihrem Haushalt dürfe keine andre als Karbolseife verwendet werden. Daher roch man, wenn man aus der Wanne stieg, nicht wie Mrs. Esdaile, sondern wie ein soeben gebadeter Hund. Susan beschnupperte sich, als sie nach dem Frottiertuch langte, und verzog das Gesicht vor Abscheu vor dem Gestank ihrer Sauberkeit. Sebastians Zimmer lag im selben Stock, dem ihren gegenüber, und da sie wußte, daß er nicht da war, ging sie kühn hinein, zog die oberste Lade seines Ankleidetisches
auf und nahm den Rasierapparat heraus, den er vor zwei Monaten gekauft hatte, um einen noch hypothetischen Bart niederzuhalten. Sorgfältig, als machte sie sich für einen Abend in ärmellosem Kleid und eine Nacht der Leidenschaft zurecht, rasierte sie sich die Achselhöhlen; dann blies und zupfte sie die verräterischen Härchen aus dem Apparat und legte ihn in seine Schachtel zurück.
3. KAPITEL Sebastian war inzwischen die Glanvil Avenue entlanggegangen, finster vor sich hin starrend und an der Unterlippe nagend. Dies war wahrscheinlich seine letzte Chance, das Dinnerjackett rechtzeitig für Tom Boveneys Gesellschaft zu kriegen. Sein Vater, das wußte er, hatte die Einladung der Tante für heute abend abgelehnt, und morgen in aller Früh mußte er nach Huddersfield oder sonstwohin zu einer Konferenz; käme nicht vor Mittwoch abend zurück, und am Donnerstagmorgen sollten sie miteinander nach Florenz fahren. Also jetzt oder nie. Frack und Smoking waren Klassensymbole, und es war ein Verbrechen, Geld für zwecklose Luxusdinge auszugeben, wenn Menschen hungerten, die ebensoviel wert waren wie man selbst! Sebastian wußte voraus, welches die Argumente seines Vaters sein würden. Aber hinter den Argumenten stand der Mann — dominierend, fanatisch rechtlich, hart gegen andre, weil er noch härter gegen sich selbst war. Wenn man sich dem Mann auf die richtige Art näherte, würden die Argumente vielleicht nicht bis zu ihrem logischen Schluß getrieben werden. Die Hauptsache war, wie Sebastian durch lange und bittere Erfahrung gelernt hatte, niemals den Anschein zu erwecken, sich etwas zu gierig und beharrlich zu wünschen. Er müßte bitten um das Dinnerjackett — aber so, daß sein Vater nicht auf den Gedanken käme, es liege ihm wirklich etwas daran. Das, so wußte er, hieße es herausfordern, daß ihm seine Bitte abgeschlagen würde — angeblich natürlich aus Gründen der Sparsamkeit und sozialistischen Ethik, in Wirklichkeit aber, wie er zu vermuten begonnen hatte, weil sein Vater ein gewisses Vergnügen daran fand, allzu deutlich bekundete Wünsche zu ent-
täuschen. Wenn er die Falle vermiede, allzu versessen zu erscheinen, wäre er vielleicht imstande, dem Vater die andern, eingestehbaren Gründe einer Verweigerung auszureden. Aber es bedürfte guten Schauspielerns, damit das klappte, und großer Geschicklichkeit und vor allem einer Geistesgegenwart, an der es ihm in kritischen Augenblicken immer so jämmerlich gebrach. Vielleicht aber, wenn er vorher einen Feldzugsplan entwürfe, ein Stückchen brillanter und genialischer Strategie ... Sebastian hatte seine Augen auf das Gehsteigpflaster vor seinen Füßen gerichtet gehalten; nun hob er den Kopf, als schwebte der vollkommene, der unwiderstehliche Plan dort oben in dem qualmig trüben Himmel und wartete nur darauf, erblickt und ergriffen zu werden. Er hob den Kopf, und plötzlich war dort drüben auf der andern Seite — nicht der Plan natürlich, sondern die Methodistenkapelle, seine Kapelle, das Ding, das zu sehn es sich lohnte, des Abends eigens durch die Norton Street zu gehn. Heute aber, ins Labyrinth seines Grams verloren, hatte er sie völlig vergessen gehabt, und hier stand sie nun vor ihm, getreulich sie selbst, der untere Teil der Fassade übergossen von dem grünlichen Gaslicht der Laterne davor und der obere Teil immer dunkler und dunkler, je höher er sich über das Licht erhob, bis zuletzt die stacheligen Fialen aus viktorianischem Ziegelwerk undurchsichtig schwarz droben in das nebelige Dämmer des Londoner Himmels ragten. Helle kleine Einzelheiten und Besonderheiten verschwammen nach oben hin zu einem einzigen unerkennbaren Geheimnis. Dort in der Höhe grenzenloses Dunkel eines Londoner Himmels; hier unten die hellen kleinen Einzelheiten und Besonderheiten. Sebastian stand und schaute; und trotz der Erinnerung an seine Demütigung und dem Bangen davor, was ihm jetzt bei seinem Vater bevorstehn mochte, fühlte er etwas von der seltsamen, unerklärlichen Erhebung, die dieser Anblick immer in ihm hervorrief.
Häuflein Elend! Verklärt zu Canterbury Und zu Chartres, zur Schönheit der Heiligkeit; Gaslichtentsprossen, ein Wunder von Elephanta; Aus dem Opferstock und dem Reverend Wilkins Aufgeblüht zu Poesie ... Er sprach sich die Anfangszeilen seines Gedichts vor und blickte dann wieder auf dessen Gegenstand. In der schlechtesten Zeit, aus dem schlechtesten Material erbaut. Bei Tag scheußlicher, als es zu glauben war. Aber eine Stunde später, sobald die Laternen angezündet waren, so wunderschön und bedeutsam wie nur irgend etwas, das er je gesehn hatte. Welches war die wirkliche Kapelle — die kleine Monstrosität, die jeden Sonntagvormittag den Reverend Wilkins und seine Schäflein aufnahm, oder dieses unerforschliche, bedeutungsschwangere Geheimnis da vor ihm? Sebastian schüttelte den Kopf und ging weiter. Solche Fragen ließen keine Antworten zu; das einzige, was man tun konnte, war, sie neu zu formulieren, in Ausdrücken der Poesie. Häuflein Elend! Verklärt zu Canterbury Und zu Chartres, zur Schönheit der Heiligkeit... Nummer dreiundzwanzig war ein hohes, schmales Haus mit Gipsmörtelverputz und allen andern in der Zeile genau gleich. Sebastian trat zwischen den beiden Säulen des Portikus ein, durchschritt den Flur und begann, neuerlich von der für einen Augenblick gebannten Bangigkeit ergriffen, die Stiege hinaufzusteigen. Eine Treppe, zwei Treppen, drei Treppen und noch eine, und er stand vor der Tür zur Wohnung seines Vaters. Sebastian hob die Hand zum Klingelknopf und ließ sie wieder sinken. Es war ihm zum Erbrechen, und sein Herz schlug heftig. Wieder war's ganz so wie mit dem blauen Strichmensch und dem Schulleiter: die Übelkeit der Schwelle. Er blickte auf seine Uhr. Sechs Uhr siebenundvierzig und
eine halbe Minute. Um sechs Uhr achtundvierzig wollte er klingeln und hineingehn und einfach irgendwie damit herausplatzen. “Vater, du mußt mir wirklich einen Abendanzug machen lassen...” Er hob abermals die Hand und drückte den Daumen fest auf den Knopf. Drinnen surrte die Klingel wie eine zornige Wespe. Er wartete eine halbe Minute und klingelte nochmals. Nichts rührte sich. Die letzte Chance war geschwunden. Enttäuschung mischte sich in Sebastians Gemüt mit einem tiefen Gefühl der Erleichterung, daß er die Stunde seines Ordals nun aufschieben durfte. Tom Boveneys Abendgesellschaft war noch vier Wochen weit weg; wogegen, wenn sein Vater daheim gewesen wäre, die gefürchtete Aussprache jetzt, in ebendiesem Augenblick vor sich ginge. Sebastian war erst eine einzige Treppe wieder hinabgestiegen, als der Klang einer vertrauten Stimme ihn stehnbleiben machte. “Zweiundsiebzig Stufen”, sagte sein Vater unten im Hausflur. “Dio!” sagte eine andre, eine ausländische Stimme. »Sie wohnen auf halbem Weg zum Paradies.” “Dieses Haus ist ein Symbol”, fuhr die volltönende, kultivierte englische Stimme fort, “ein Symbol des verfallenden Kapitalismus.” Sebastian erkannte dieses Konversationsgambit. John Barnack spielte es gewöhnlich gegen seine Besucher, wenn er sie zum erstenmal diese endlosen Treppen hinaufgeleitete. “Ehemals das Heim einer einzigen, wohlhabenden viktorianischen Familie.” Ja, so ging dieses Eröffnungsspiel weiter. “Jetzt ein Nest von Junggesellen und um ihre Existenz ringenden Frauen in kommerziellen Stellungen, mit ein oder zwei kinderlosen Ehepaaren als Zugabe.” Die Stimme wurde lauter und deutlicher, als ihr Besitzer sich näherte.
“.. . Und es ist auch das Ergebnis von steigender Arbeitslosigkeit und fallender Geburtenzahl. Mit einem Wort, von zu wenig Vergütung und zu viel Verhütung.” Und hierauf erfolgte die überraschende Explosion des lauten, metallischen Gelächters John Barnacks. “Herrgott!” flüsterte Sebastian vor sich hin. Es war das drittemal, daß er diesen Witz und den darauf folgenden Ausbruch dieses Lachens gehört hatte. Da er nicht den Anschein erwecken wollte, er habe hier gehorcht, begann er die Treppen hinabzulaufen, und als die beiden Männer um die Ecke in Sicht kamen, stieß er einen gut geheuchelten Ausruf der Überraschung aus. Mr. Barnack blickte auf und sah in der kleinen schmächtigen Gestalt, die da, sechs Stufen über ihm, gleichsam schwebte, nicht Sebastian, sondern Sebastians Mutter, Rosie,— an dem Abend des Maskenballs bei den Hilliards — Rosie als Lady Caroline Lamb und so wie einst diese, in einem Affenjäckchen und engen roten Samtkniehosen, als Byrons Page verkleidet. Drei Monate später war der Krieg ausgebrochen, und zwei Jahre danach hatte sie ihn verlassen, dieses lasterhaften Schwachkopfs wegen. “Ach, du bist's”, sagte Mr. Barnack, aber ohne auch nur dem leisesten Anzeichen von Überraschung oder Freude oder irgendeiner andern Gemütsbewegung zu erlauben, auf seinem gebräunten, lederartigen Gesicht zu erscheinen. Für Sebastian war das eine der beunruhigendsten Eigenschaften seines Vaters: man wußte nach seiner Miene nie, was er fühlte oder dachte. Er sah einen gerade und unentwegt an, mit seinen grauen, ausdruckslos glänzenden Augen, als wäre man ein völlig Fremder. Die erste Andeutung seines Gemütszustands kam stets in Worten, vorbildlich ausgesprochen mit dieser lauten, autoritativen Anwaltsstimme, die er hatte, und in diesen gemessenen und so sorgfältig gewählten Phrasen. Zuerst Schweigen oder vielleicht eine Erwähnung belangloser Dinge, und dann plötz-
lich, aus dem heitern Himmel dieser Unbewegtheit, eine Verkündung wie vom Sinai. Unsicher lächelnd ging Sebastian die paar Stufen hinab. den beiden entgegen. “Das ist mein Sprößling”, sagte Mr. Barnack. Der fremde Besuch hingegen war Professor Cacciaguida — der berühmte Professor Cacciaguida, fügte Mr. Barnack hinzu. Sebastian lächelte ehrerbietig und schüttelte ihm die Hand; das mußte der Antifaschist sein, von dem er seinen Vater hatte reden hören. Na, jedenfalls ein schöner Kopf, dachte er, als er sich abwandte. Ein Römerkopf aus der besten Zeit, aber mit einer inkongruenten Mähne grauen Haars, die romantisch von der Stirn zurückgebürstet war, als hätte — er warf einen zweiten verstohlenen Blick auf ihn — der Imperator Augustus versucht, wie Franz Liszt auszusehn. Aber wie seltsam, überlegte Sebastian weiter, während sie die letzte Treppe hinaufstiegen, ja sogar wie pathologisch der Körper des Fremden von diesem Herrscherhaupt abstach! Das Imperatorgenie schrumpfte zur Engbrüstigkeit und Schmalschultrigkeit eines Knaben zusammen und ging dann inkongruent in den Bauch und die breiten Hüften beinahe einer Frau in mittleren Jahren über und endete in einem Paar dünner Beinchen und winziger Knöpfelstiefeletten aus Lackleder mit Stoffeinsätzen. Wie eine Larve, die ihre Entwicklung begonnen hatte und dann steckengeblieben war, nur das Vorderende des Organismus voll erwachsen und der Rest kaum mehr als eine Kaulquappe. John Barnack öffnete die Tür zu seiner Wohnung und drehte das Licht an. “Ich werde lieber gehn und nach dem Essen sehen”, sagte er, “da Sie schon so bald wieder weg müssen, Professor.” Es war eine Gelegenheit, von dem Smoking zu reden. Aber als Sebastian sich erbötig machte, in die Küche mitzukommen und zu helfen, befahl ihm sein Vater gebieterisch,
zu bleiben, wo er war, und dem eminenten Gast Gesellschaf t zu leisten. “Und wenn ich fertig bin”, fügte er hinzu, “verzieh dich! Wir haben eine Menge Wichtiges zu besprechen.” Und nachdem er so Sebastian kurz und bündig in die Kinderstube verwiesen hatte, wandte sich Mr. Barnack um und ging mit schnellen, entschlossenen Schritten wie ein zum Wettkampf antretender Athlet aus dem Zimmer. Sebastian stand zögernd ein paar Sekunden da und entschied sich dann dafür, nicht zu gehorchen, sondern seinem Vater in die Küche zu folgen und die Sache an Ort und Stelle mit ihm auszutragen. In diesem Augenblick jedoch wandte sich der Professor, der sich neugierig in dem Zimmer umgeblickt hatte, mit einem Lächeln an ihn. “Das nenn ich mir fürwahr ein aseptisches Wohnen!” rief er mit seiner melodischen Stimme und mit dieser reizvollen Spur eines fremden Akzents, diesen wunderlichen, allzu literarischen Redewendungen, die nur den Zweck hatten, die Vollkommenheit der Beherrschung der fremden Sprache zu betonen. In diesem kahlen, freudlosen Wohnzimmer war alles, ausgenommen die Bücher, in der Farbe abgerahmter Milch lackiert, und der Fußbodenbelag war ein Stück glänzenden grauen Linoleums. Professor Cacciaguida setzte sich auf einen der Stahlrohrstühle und zündete sich mit zitternden, von Nikotin gefärbten Fingern eine Zigarette an. “Man erwartet jeden Augenblick, den Chirurgen eintreten zu sehn”, fügte er hinzu. Statt dessen trat John Barnack ein, der mit Tellern und einer Handvoll Eßbesteck zurückkam. Der Professor wandte sich ihm zu, sprach aber nicht sogleich, sondern führte die Zigarette an die Lippen, zog den Rauch ein, hielt den Atem ein paar Sekunden lang an und spie dann genießerisch Rauch durch die imperatorischen Nüstern. Worauf er, sein Lechzen für den Augenblick gestillt, seinem Gastgeber durchs Zimmer zurief:
“Es ist gradezu prophetisch!” Er wies mit einer umfassenden Handbewegung auf das Zimmer. “Ein Vorschuß auf die rationale und hygienische Zukunft.” “Ich danke Ihnen”, sagte John Barnack ohne aufzublicken. Er deckte den Tisch mit derselben konzentrierten Aufmerksamkeit, so gewahrte Sebastian, derselben, einen rasend machenden peinlichen Sorgfalt, die er an alles, was er tat, wendete, vom Wichtigsten bis zum Unbedeutendsten, — er deckte den Tisch, als handhabte er irgendeinen komplizierten Apparat in einem Laboratorium oder (ja, der Professor hatte ganz recht) als führte er die allerheikelste chirurgische Operation aus. “Immerhin”, fuhr der andre mit einem kleinen Auflachen fort, “wenn es um die Kunst geht, bin ich sentimental, muß ich gestehn. Da ist mir das Gestern lieber als das Morgen. Isabellas Gemächer in Mantua zum Beispiel. Zwar gewiß viel Staub in den Profilierungen und in dem vielen Schnitzwerk!” Er zeichnete mit dem Rauch seiner brennenden Zigarette eine Reihe Voluten in die Luft, “Voll von archäologischen Ablagerungen! Aber welche Wärme, welche Fülle!” “Gewiß”, sagte Mr. Barnack. Er richtete sich auf und stand kerzengerade und selbstbewußt da und blickte auf seinen Gast hinab. “Aber aus wie vielen Taschen kam diese Fülle?” Und ohne eine Antwort abzuwarten, marschierte er in die Küche zurück. Der Professor aber hatte eben erst begonnen. “Was meinen Sie?” fragte er, sich an Sebastian wendend. Die Worte waren von einem jovialen Lächeln begleitet; aber als er weitersprach, wurde es klar genug, daß ihn, was Sebastian meinte, nicht im geringsten interessierte. Er wollte nichts weiter als eine Zuhörerschaft. “Vielleicht ist Schmutz die nötige Vorbedingung der Schönheit”, fuhr er fort. “Vielleicht können Hygiene und Kunst niemals Bettgenossen sein. Schließlich gibt'» keinen Verdi ohne Sputum in Trompeten. Keine Duse, ohne daß
ein Haufen übelriechender Bourgeois einander mit ihren Koryzai anstecken. Und denken Sie nur an die uneinnehmbaren Schlupfwinkel für Mikroben, die Michelangelo in den Bartlocken seines Moses vorbereitet hat!” Er hielt triumphierend inne und wartete auf Applaus. Sebastian spendete ihn in Gestalt eines entzückten Lachens. Die mühelose Virtuosität, mit der der Professor sprach, entzückte ihn wirklich; und der italienische Akzent, der verwunderliche, unerwartete Wortschatz verliehn der Leistung einen zusätzlichen Reiz. Aber als die Improvisation sich verlängerte, ging mit Sebastians Gefühlen für sie eine Veränderung vor. Nach fünf Minuten wünschte er zu Gott, der alte Ödian hielte das Maul. Der Geruch und das Brutzeln bratender Lammskoteletten bewirkten endlich dieses sosehr ersehnte Ergebnis. Der Professor warf das edle Haupt zurück und schnupperte anerkennend. “Ambrosia! Ich sehe, wir haben einen zweiten Baronius im Reiche der Töpfe und Pfannen.” Sebastian, der nicht wußte, wer der erste Baronius war, wandte sich um und blickte durch die offene Tür in die Küche. Sein Vater stand dort, den Rücken ihm zugekehrt und den angegrauten Kopf und die breiten, kräftigen Schultern forschend über den Herd gebeugt. “Nicht nur ein großer Geist, sondern auch ein großer Koch”, sagte der Professor. Ja, das war das Malheur, dachte Sebastian. Und nicht nur ein großer Koch (obgleich sein Vater die äußerste Verachtung für alle hegte, denen am Essen um des Essens willen etwas lag), sondern auch ein großer Schreibtischordner, ein großer Bergsteiger, ein großer Aufstellungenund Abrechnungenmacher, ein großer Botanisierer und Ornithoskopierer, ein großer Briefebeantworter, ein großer Sozialist, ein großer Sechs-Kilometer-in-der-Stunde-Geher, Abstinenzler und Nichtraucher, ein großer Berichteleser und Statistikenwisser, kurzum ein großer Alles-und- Jedes,
was mühevoll, tüchtig, verdienstlich, gesund und gemeinsinnig war. Wenn er sich nur manchmal eine Ruhepause gönnte! Wenn seine Rüstung nur ein paar Lücken hätte! Der Professor hob die Stimme ein wenig, weil er offenbar hoffte, was er nun sagen wollte, werde durch das Geräusch des Abbratens hindurch auch in der Küche gehört werden. “Und der große Geist ist vereint mit einem Herzen und einer Seele, die sogar noch größer sind”, verkündete er in einem Ton bebender Feierlichkeit. Er beugte sich herüber und legte Sebastian eine kleine und, bis auf die gelb gefleckten Fingerspitzen, sehr weiße Hand aufs Knie. “Ich hoffe, Sie sind so stolz auf Ihren Vater, wie Sie es auch sein sollten”, sagte er. Sebastian lächelte vag und äußerte schwache, inartikulierte Laute der Zustimmung. Aber, wie irgendwer, der seinen Vater kannte, von dessen Großherzigkeit reden konnte, das begriff er wirklich nicht. “Ein Mann, der unter dem alten Parteiensystem die höchsten politischen Ehren hätte anstreben können, — aber er hatte seine Grundsätze, er schlug es aus, ihr Spiel zu spielen. Und wer weiß?” fügte der Professor parenthetisch, mit einem vertraulichen Senken der Stimme, hinzu. “Vielleicht wird er sehr bald belohnt werden. Der Sozialismus ist schon viel näher, als sich irgend jemand vorstellt, — und wenn er kommt, wenn er kommt ...” Er hob ausdrucksvoll die Hand, als prophezeite er Mr. Barnacks Apotheose. “Und wenn man bedenkt”, fuhr er fort, “wie viele Tausende er sich als einer vom Barreau hätte verdienen können! Viele, viele Tausende! Aber er gibt es alles auf, wie San Francesco. Und was er besitzt, das teilt er mit heroischer Großmut aus. Jeder guten und gerechten Sache, fortschrittlichen Bewegungen, leidenden Individuen — er gibt allen. Allen”, wiederholte er, nachdrücklich mit dem edlen Haupt nickend, “allen!” Allen bis auf einen, verbesserte Sebastian im stillen. Es
war also noch immer Geld genug für politische Organisationen da und, so schätzte er, für Professoren im Exil; wenn es sich aber darum handelte, seinen Sohn auf eine anständige Schule zu schicken, ihm ein paar anständige Anzüge und ein Dinnerjackett machen zu lassen, — da rührte sich nichts. Volltönend erneuerte der Professor seine rasendmachende Beredsamkeit. Fast platzend vor unterdrücktem Ärger, war Sebastian dankbar froh, als endlich die Ankunft der Koteletten dem Lobeshymnus ein Ende machte und ihn in Freiheit setzte. “Sag Tante Alice, ich komme nach dem Dinner hinüber”, rief Mr. Barnack ihm nach, der schon die Treppe hinablief, “und sieh zu, daß Onkel Eustace nicht weggeht, bevor ich komme. Ich muß noch Verschiedenes mit ihm vereinbaren.” Hier auf der Straße verdämmerte sein Häuflein Elend von einer Kapelle noch immer zu Poesie, zu unerklärlicher Bedeutsamkeit und Schönheit; Sebastian aber fühlte sich nun so bitter bekümmert, daß er nicht einmal hinsehn wollte.
4. KAPITEL Das Glas Sherry in der Hand, stand Eustace Barnack auf dem Kaminteppich und blickte zu dem Porträt seines Vaters auf, das über dem breiten Sims hing. Aus dem schwarzen Hintergrund starrte das vierkantige, willensstarke Gesicht dieses baumwollespinnenden Philanthropen grell wie ein Autoscheinwerfer ins Leere. Nachdenklich schüttelte Eustace den Kopf. “Mehrere hundert Pfund”, sagte er, “wurden zusammengesteuert für dieses — diesen Kunstgegenstand. Und jetzt könnte man von Glück sagen, wenn man einen Fünfer dafür kriegte. Ich persönlich”, fügte er hinzu, sich der Sofaecke zuwendend, in der seine Schwester sehr schlank und sehr aufrecht saß, “ich persönlich wäre gern bereit, zehn Pfund für das Vorrecht zu geben, ihn nicht zu besitzen.” Alice Poulshot antwortete nichts. Sie dachte, während sie ihn ansah, wie erschreckend ihr Bruder gealtert war, seit sie ihn letztesmal gesehn hatte. Noch verfetteter als vor drei Jahren, und das Gesicht war wie eine Gummimaske, die lose an den Knochen hing, schlaff und weich und ungesund fleckig. Und erst der Mund . . . Sie erinnerte sich des prächtigen, lachenden Buben, auf den sie einst so stolz gewesen war; an ihm waren diese halbgeöffneten kindlichen Lippen einem amüsant erschienen, weil sie so gar nicht zu der männlichen Statur paßten, — amüsant und zugleich auch besonders rührend. Man konnte ihn nicht ansehn, ohne den Wunsch zu empfinden, ihn zu bemuttern. Jetzt aber — jetzt genügte der Anblick, einen schaudern zu machen. Die feuchte, bewegliche Schlaffheit dieses Mundes! Eine Verbindung von Greisenhaftigkeit mit etwas Säuglinghaftem, von Infantilität und Epikureertum. Nur in den humorvoll blinzelnden Augen konnte sie eine Spur des Eustace ent-
decken, den sie so sehr geliebt hatte. Nun aber war das Weiße dieser Augen gelb und blutgerötet, und unter ihnen waren Säcke verfärbter Haut. Mit einem dicken Zeigefinger tippte Eustace auf die Leinwand des Porträts. “Wäre er nicht wütend, wenn er wüßte? Ich erinnere mich, wie sehr er es damals übelnahm. All das viele gute Geld für ein bloßes Gemälde, wenn es doch für etwas wirklich Nützliches hätte ausgegeben werden können, etwa einen Trinkbrunnen oder sonst etwas einem öffentlichen Bedürfnis Dienendes.” Bei dem Wort “öffentliches Bedürfnis” sah sein Neffe, Jim Poulshot, vom Evening Standard auf und stieß ein prustendes Lachen aus. Eustace wandte sich ihm zu und betrachtete ihn forschend. “Recht so, mein Junge”, sagte er mit parodistischer Herzlichkeit. “Englischer Humor, der hat unser Weltreich zu dem gemacht, was es ist.” Er ging zum Sofa hinüber und ließ seine schwammige Körpermasse vorsichtig in eine sitzende Haltung darauf nieder. Mrs. Poulshot rückte weiter in die Ecke, um ihm Platz zu lassen. “Der arme gute Vater”, sagte er, das frühere Gespräch fortsetzend. “Was ist denn an ihm zu bedauern?” fragte Alice ziemlich scharf. “Ich hätte gedacht, wir sind die Bedauernswerten. Er hat schließlich was geleistet. Wo ist unsre Leistung, das möchte ich wissen?” “Wo?” wiederholte Eustace. “Na, gewiß nicht auf dem Hund, wo nämlich die seine ist. Fabriken, die nur die halbe Zeit arbeiten wegen der indischen und japanischen Konkurrenz. Individuelles, patriarchalisches Unternehmertum ersetzt durch staatliche Einmischung, die er für den leibhaftigen Gottseibeiuns hielt. Die Liberale Partei tot und begraben. Und ernster, sinniger Rationalismus in zynische Libertinage verwandelt. Wenn nicht der alte Herr zu bedauern ist, dann möchte ich wissen, wer sonst?” 53
“Es ist nicht das Ergebnis, worauf's ankommt”, sagte Mrs. Poulshot, den Standpunkt wechselnd. Sie hatte ihren Vater angebetet; und um ein Angedenken zu verteidigen, das sie noch immer wie etwas fast Göttliches verehrte, war sie bereit, auch viel mehr zu opfern als bloße logische Konsequenz. “Sondern Motive und Intentionen und harte Arbeit — ja, und Selbstentsagung”, fügte sie bedeutsam hinzu. Eustace lachte kehlig und ein wenig keuchend. “Wohingegen ich mich widerwärtig verwöhne”, sagte er, “und wenn ich dick bin, das ganz und gar meine eigne lasterhafte Schuld ist. Ist dir je bewußt geworden, meine Liebe, daß die Mutter, wenn sie länger gelebt hätte, wahrscheinlich so ungeheuerlich dick geworden wäre wie Onkel Charles?” “Wie kannst du nur so etwas sagen!” rief Mrs. Poulshot entrüstet. Onkel Charles war ein Monstrum gewesen. “Es lag in der Familie”, entgegnete er; und sich gleichmütig auf den Bauch klopfend, fügte er hinzu: “Und da liegt's auch heute noch.” Das Geräusch einer sich öffnenden Tür ließ ihn den Kopf wenden. “Aha”, rief er, “hier kommt mein prospektiver Gast!” Noch immer über die Ursache seiner zornigen Verbitterung und seines Elends grübelnd, sah Sebastian erstaunt auf. Onkel Eustace ... Völlig mit seinen eignen Angelegenheiten beschäftigt, hatte er ihn ganz vergessen. Nun stand er mit offenem Mund da. “ ,In leerem oder nachdenklichem Staunen'“, setzte Eustace jovial hinzu. “Ganz in der großen poetischen Tradition.” Sebastian trat vor und schüttelte die ihm entgegengestreckte Hand. Sie war weich, ziemlich feucht und überraschend kalt. Da ihm bewußt wurde, daß er einen kläglichen Eindruck machte, grade in dem Augenblick, wo er besonders vorteilhaft hätte wirken sollen, nahm seine Schüchternheit so zu, daß sie ihm die Rede verschlug. Aber
sein Geist arbeitete fort. In dem weiten grauen Rund dieses schlaffen Gesichts glichen die kleinen Äuglein, so dachte er, denen eines Elefanten. Ein eleganter kleiner Elefant in doppelreihigem schwarzem Rock und schwarzweiß karierter Hose. Oh, und sogar ein Monokel an einer Schnur, damit er nur ja ganz dem ältlichen Dandy auf der Operettenbühne gleiche! Eustace hatte sich seiner Schwester zugewendet. “Er wird Rosie mit jedem Jahr ähnlicher”, sagte er. “Es ist phantastisch.” Mrs. Poulshot nickte wortlos. Sebastians Mutter war ein Thema, das man am besten vermied. “Also, Sebastian, ich hoffe, du bist auf hübsch anstrengende Ferien gefaßt.” Wiederum tätschelte sich Eustace den Bauch. “Du siehst vor dir den größten Sehenswürdigkeitenfresser der Welt, den Verfasser von .Kurze Galoppe in Florenz', ,Auf Rollschuhen durch den Vatikan', ,Rundum im Louvre in achtzig Minuten'. Und meinen Geschwindigkeitsrekord für die englischen Kathedralen zu brechen, das ist nie auch nur versucht worden.” “Idiot!” sagte Mrs. Poulshot lachend. Jim stimmte brüllend in ihr Lachen ein, und trotz seinen Smokingschmerzen mußte auch Sebastian mitlachen. Die Vorstellung davon, wie dieser geschniegelte Elefant durch Canterbury galoppierte, in kleinkarierter Hose und ein Monokel im Auge, war unwiderstehlich grotesk. Mitten in ihre Lustigkeit öffnete sich, lautlos, abermals die Tür. Schon stark angegraut, mit einer Trauermiene auf seinem langen Pferdegesicht, das wie von einem Zerrspiegel wiedergegeben aussah, kam Fred Poulshot herein, als hätte er Filzsohlen an den Schuhen. Kaum daß sie ihn erblickten, unterdrückten Jim und Sebastian ihr Lachen. Er ging zum Sofa, um seinen Schwager zu begrüßen. “Du siehst gut aus”, sagte Eustace, als sie einander die Hand reichten. “Gut?” wiederholte Mr. Poulshot in gekränktem Ton.
“Laß dir gelegentlich von Alice von meinem Stirnhöhlenkatarrh erzählen.” Er wandte sich ab, und mit der sorgfältigen Genauigkeit, mit der jemand ein Abführmittel dosiert, schenkte er sich ein drittel Glas Sherry ein. Eustace betrachtete ihn, und wie schon so oft in vielen Jahren, tat ihm die arme Alice herzlich leid. Dreißig Jahre Fred Poulshot — sich das nur vorzustellen! Na, so war eben das Familienleben. Er fühlte sich sehr dankbar, daß er nun allein in der Welt war. Susans überstürzter Eintritt in diesem Augenblick dämpfte seine Dankbarkeit keineswegs. Gewiß, sie besaß den Ungeheuern zufälligen Vorteil, siebzehn Jahre alt zu sein; aber nicht einmal die perversen und ein wenig komischen Reize der Jugendreife konnten die Tatsache verbergen,daß sie eine Poulshot und, gleich allen andern Poulshots, unaussprechlich fade war. Das Beste, was sich von ihr sagen ließ, war, daß sie, bisher jedenfalls, ein gutes Stück besser war als Jim. Schließlich aber war der arme Jim mit fünfundzwanzig nur ein leeres Fach, das darauf wartete, von dem mäßig erfolgreichen Börsenmakler ausgefüllt zu werden, der er 1949 sein würde. Ja, das kam davon, wenn man sich jemand wie Fred zum Vater aussuchte. Wogegen Sebastian gescheit genug gewesen war, sich von einem Barnack zeugen und von der liebreizendsten aller gewissenlosen Zigeunerinnen empfangen zu lassen. “Hast du ihm von meiner Stirnhöhle erzählt?” fragte Mr. Poulshot beharrlich. Alice aber tat, als hätte sie nicht gehört. “Apropos Galoppe durch Florenz —”, fragte sie ziemlich laut, “kommst du je mit dem Sohn unsrer Cousine Mary zusammen, wenn du dort bist?” “Du meinst Bruno Rontini?” Mrs. Poulshot nickte. “Weiß der Himmel, warum sie je diesen Italiener geheiratet hat! Ich kann's mir einfach nicht vorstellen”, sagte sie in einem Ton der Mißbilligung.
“Aber sogar Italiener sind beinahe Menschen.” “Sei nicht läppisch, Eustace. Du weißt genau, was ich meine.” “Und wie unangenehm es dir wäre, wenn ich es dir zu sagen versuchte!” entgegnete Eustace lächelnd. Denn was sie meinte, war natürlich nichts weiter als glattes Vorurteil und Snobismus — eine insulare Abneigung gegen Ausländer, eine Bourgeois-Überzeugung, daß alle erfolglosen Menschen auf irgendeine Weise unmoralisch sein mußten. “Papa war endlos gütig zu diesem Menschen”, fuhr Mrs. Poulshot fort. “Wenn ich an alle die vielen Chancen denke, die er ihm gegeben hat!” “Und dieser kluge Carlo hat jede einzelne von ihnen verpfuscht!” “Klug?” “Na, er hat's zuwege gebracht, sich vier Pfund wöchentlich dafür zahlen zu lassen, aus der Baumwollbranche 'raus und nach Toskana zurück zu gehn. Nennst du das nicht klug?” Eustace trank den Rest seines Sherrys und stellte das Glas hin. “Der Sohn betreibt noch immer seine Antiquariatsbuchhandlung”, fuhr er fort. “Ich hab diesen komischen Kauz, diesen Bruno, wirklich sehr gern. Trotz seiner faden Religiosität. Er hat's nun einmal mit dem gasförmigen Wirbeltier !” Mrs. Poulshot lachte. In der Familie Barnack war Häckels Definition Gottes seit vierzig Jahren ein stehender Witz. “Das gasförmige Wirbeltier”, wiederholte sie. “Aber du mußt auch bedenken, wie er erzogen wurde! Mary hat ihn schon als kleinen Buben zu diesen Quäkerandachten mitgenommen, zu denen sie immer ging. Quäker!” wiederholte sie mit staunendem, fast ungläubigem Nachdruck. Das Stubenmädchen erschien und verkündete, daß das Essen aufgetragen sei. Energisch und sehnig, war Alice
vulgären persönlichen Angriffe, derselben mangelhaften Geschichtskenntnisse und unbegründeten Prophezeiungen! Und das war angeblich eines Mannes höchste Pflicht! Und weil er statt dessen das Leben eines zivilisierten menschlichen Wesens erwählt hatte, sollte er sich schämen? “Wirklich sehr hübsch”, wiederholte er. “Aber was für eine unversöhnliche Puritanerin du bist, meine Liebe! Und ohne die geringste metaphysische Rechtfertigung.” “Metaphysisch!” sagte Mrs. Poulshot in dem verachtungsvollen Ton eines Menschen, der über solche Narreteien erhaben ist. Die Suppenteller waren inzwischen abgeräumt und der Hammelrücken aufgetragen worden. Schweigend und ohne seine Miene unheilbaren Leidens irgendwie zu verändern, machte sich Mr. Poulshot ans Werk, den Braten vorzuschneiden. Eustace warf einen Blick auf ihn und dann wieder einen auf Alice. Sie, das arme Ding, sah Fred mit einem Ausdruck ängstlicher Bekümmernis an — wünschte zweifellos, daß das mürrische alte Baby vor Gästen sein bestes Benehmen hervorkehre. Und vielleicht, so überlegte Eustace weiter, vielleicht war das der Grund, daß sie sich so scharf gegen ihn selbst gewendet hatte. Um ihren Mann weißzuwaschen, schwärzte sie ihren Bruder an. Nicht sehr logisch, zweifellos, aber nur allzu menschlich. “Ich hoffe, er ist so gebraten, wie du's gern hast, Fred”, sagte sie über die Länge des Tisches hinüber. Ohne zu antworten oder auch nur aufzublicken, zuckte Mr. Poulshot die schmalen Schultern. Mit einiger Anstrengung schraubte Mrs. Poulshot ihre Miene wieder zurecht und wandte sich an Eustace. “Der arme Fred hat so entsetzlich unter seinem Stirnhöhlenkatarrh zu leiden gehabt”, sagte sie und versuchte damit gutzumachen, was sie vor Tisch an ihrem Mann gesündigt hatte. Als die alte Ellen mit dem Gemüse hereinkam, schlüpfte
ein Kätzchen ins Zimmer und kam herbei, um sich am Bein von Alices Sessel zu reiben. Sie bückte sich und hob es auf. “Na, Onjegin, was willst du denn?” sagte sie, es hinter den Ohren krauend. “Wir nennen ihn Onjegin”, erklärte sie strahlend ihrem Bruder, “weil er das Meisterstück unsres vielbetrauerten Pussikin ist.” Eustace lächelte höflich. Die Tröstungen der Philosophie, so überlegte er, der Religion, der Kunst, der Liebe, der Politik — keine von diesen gab es für die arme gute Alice. Nein, ihrer waren die Tröstungen eines eduardinischen Sinns für Humor und des allwöchentlichen Punch. Immerhin, es war besser, schlechte Wortspiele zu machen und witzig im Stil von 1910 zu sein, als in Selbstbedauern zu schwelgen oder vor den düstern Stimmungen Freds zu kapitulieren wie alle andern an diesem Tisch. Und, bei Gott, es war hübsch schwer, nicht zu kapitulieren! Wie Fred Poulshot da so hinter seinem Bollwerk eines Hammelrückens saß, strömte er förmlich Negativität aus. Man konnte förmlich fühlen, wie sie in Wellen gegen einen anbrandete — eine stetige, durchdringende Strahlung, die wahre Antithese des Lebens, die völlige Verneinung aller menschlichen Wärme. Eustace beschloß, eine kleine Ablenkung zu versuchen. “Na, Fred”, rief er in seinem lustigsten Ton, “was ist in deiner City los? Was macht die Pracht des Morgenlandes? Das Geschäft geht wohl recht gut?” Mr. Poulshot blickte auf, schmerzlich berührt, aber dann verzeihend. “Es könnte kaum schlechter gehn”, verkündete er. Eustace zog mit gespielter Bestürzung die Augenbrauen hoch. “Himmel! Wie wird sich das auf meine Dividende von der Yangtze and South China Bank auswirken?” “Es heißt, daß sie für dieses Jahr herabgesetzt werden soll.” “O weh!” “Von achtzig Prozent auf fünfundsiebzig”, ergänzte
Mr. Poulshot düster; und sich abwendend, um sich von den Gemüsen zu nehmen, verfiel er wiederum in ein Schweigen, das sich über die ganze Tafelrunde legte. Um wieviel weniger gräßlich dieser Mensch doch wäre, dachte Eustace, während er seinen Teller Hammelbraten mit Kohlsprossen aß, wenn er manchmal die Beherrschung verlieren oder sich betrinken oder mit seiner Sekretärin ins Bett gehn würde, — aber Gott helfe der armen Sekretärin, wenn er's täte! Doch Freds Benehmen war nie im geringsten unbeherrscht oder extrem gewesen. Abgesehn von seiner absoluten Unerträglichkeit, war er der ideale Gatte. Einer, der den Werkelgang der Ehe und Häuslichkeit liebte — Hammelrücken vorschneiden, Kinder zeugen — genau so wie er den Werkelgang liebte, der (was war er nur?) Sekretär und Schatzmeister der City and Far Eastern Dingsda zu sein. Und in alledem war er die Rechtschaffenheit und Regelmäßigkeit selbst. Fluchen, zornig werden, die arme gute Alice mit einer andern betrügen? Du lieber Himmel, da hätte er ebensogut die Bargeldkasse seines Konzerns unterschlagen können! Er brauchte erst gar nichts zu tun; er brauchte bloß zu sein, und sie alle welkten und verdorrten durch bloße Ansteckung. Plötzlich unterbrach Mr. Poulshot das Schweigen und verlangte mit Grabesstimme das Johannisbeerengelee. Aufgescheucht, als hätte eine Stimme aus dem Jenseits ihn gerufen, sah sich Jim verstört auf dem Tisch um. “Hier, Jim.” Eustace schob ihm die kleine Glasschüssel hin. Jim warf ihm einen dankbaren Blick zu und gab sie seinem Vater weiter. Mr. Poulshot nahm sie ohne ein Wort oder ein Lächeln, bediente sich und reichte sie dann mit der offenkundigen Absicht, noch ein Opfer in dieses Ritual des Ach-und-Wehs einzubeziehn, nicht Jim zurück, sondern Susan, die grade in diesem Augenblick ihre Gabel vom Teller zum Mund führen wollte. Wie Mr. Poulshot vorausgesehn und gewünscht hatte, mußte er warten, das Schüsselchen in
der Hand und mit einer Miene gemarterter Geduld, bis Susan hastig den Bissen Hammelfleisch in den Mund stopfte, Messer und Gabel mit Geklapper hinlegte und, blutrot geworden, ihm das ihr hingehaltene Gelee abnahm. Auf seinem Orchestersitz bei dieser menschlichen Komödie lächelte Eustace verständnisvoll. Welch exquisite Verfeinerung des Willens zur Macht, welch elegante Grausamkeit! Und welch eine erstaunliche Begabung für diese ansteckende Verdüsterung, die sogar die beste Laune zu dämpfen und schon die bloße Möglichkeit von Lebensfreude zu ersticken vermochte! Na, niemand konnte den guten Fred beschuldigen, sein Talent vergraben zu haben. Ein Schweigen, als stünde ein Sarg im Zimmer, hatte sich allsogleich auf die Tafelrunde gesenkt. Mrs. Poulshot versuchte verzweifelt, sich etwas einfallen zu lassen, was sie sagen könnte — etwas Heiteres, Gescheites, etwas herausfordernd Komisches, — konnte aber nichts finden, gar nichts. Fred hatte ihre Verteidigungsanlagen durchbrochen und mit Sack und Asche den Quell der Rede verstopft, ja des Lebens selbst. Sie saß leer da, nur der entsetzlichen Müdigkeit bewußt, die sich während dreißig Jahren unablässiger Verteidigung, unablässigen Wechsels von Verteidigung und Gegenangriff angesammelt hatte. Und als hätte das Kätzchen, das auf ihrem Schoß eingeschlafen war, irgendwie ihre Niederlage zu spüren begonnen, entrollte es sich, dehnte sich und sprang lautlos zu Boden. “Onjegin!” rief sie und streckte die Hand danach aus; aber der kleine Kater glitt seidig und Schlangenhaft unter ihren Fingern weg. Wäre Mrs. Poulshot jünger und nicht so vernünftig gewesen, sie wäre in Tränen ausgebrochen. Das Schweigen verlängerte sich, gemessen von dem nun vernehmlich werdenden Ticken der Bronzeuhr auf dem Kaminsims. Eustace, der anfänglich gedacht hatte, daß es amüsant wäre zu sehn, wie lange die unerträgliche Situation dauern könne, fühlte sich plötzlich von Mitleid und Entrüstung überkommen. Alice brauchte Hilfe, und es
wäre doch ungeheuerlich, wenn diese Kreatur dort, dieser Bandwurm, sich eines Triumphs erfreuen dürfte. Er lehnte sich zurück, wischte sich den Mund und blickte heiter lächelnd umher. “Nicht so düster, Sebastian!” rief er über den Tisch. “Ich hoffe, du wirst nicht so dreinsehn, wenn du nächste Woche bei mir bist.” Der Bann war gebrochen. Alice Poulshots Ermüdung fiel von ihr ab, und sie fand es wieder möglich, zu sprechen. “Du vergißt”, unterbrach sie schelmisch, als der Junge etwas als Antwort auf seines Onkels Herausforderung zu murmeln begann, “daß unser kleiner Sebastian das Temperament eines Dichters hat.” Und ihre R wie ein altmodischer Vortragskünstler rollen lassend, fügte sie hinzu: “ ,Trränen aus den Tiefen göttlicherr Verrzweiflung.' “ Sebastian errötete und biß sich auf die Lippe. Er hatte Tante Alice sehr gern — so gern, wie sie überhaupt jemand erlaubte, sie gernzuhaben. Und doch gab es Augenblicke — und dies war einer — wo er sie wirklich am liebsten umgebracht hätte. Sie frevelte mit einer solchen Bemerkung nicht nur an ihm selbst; auch an Schönheit, Poesie, Genialität, an allem, was über der Ebene des Abgedroschenen und Konventionellen lag. Eustace beobachtete den Ausdruck auf dem Gesicht seines Neffen, und der arme Kerl tat ihm leid. Alice konnte merkwürdig hart sein, dachte er, — grundsätzlich, genauso wie sie schlechte Küche vorzog. Taktvoll versuchte er, den Gesprächsgegenstand zu wechseln. Alice hatte Tennyson zitiert; was hielt die heutige Jugend von Tennyson? Aber Mrs. Poulshot erlaubte nicht, daß der Gesprächsgegenstand gewechselt werde. Sie hatte Sebastians Erziehung unternommen, und wenn sie ihm gestattete, seiner angeborenen Neigung zu mürrischen Stimmungen zu frönen, täte sie nicht ihre Pflicht. Nur weil Freds einfältige Mutter ihm immer und in allem nachgegeben hatte, benahm sich der jetzt so, wie er sich eben benahm.
Oder vielleicht”, fuhr sie fort, und ihr Ton wurde desto neckischer, je strenger erzieherisch ihre Absicht wurde, vielleicht ist's ein Fall von erster Liebe. ,Tief wie erste Liebe und stürmisch von Schwermut.'Natürlich nur.wenn's nicht einfach Epsomsalz ist, was der arme Junge braucht.” Bei dieser Erwähnung eines Laxativs brach Jim in ein schallendes Gelächter aus, das besonders explosiv war, da er durch die Nähe des Quells von Verdüsterung hinter dem Hammelrücken, unter stärkstem Druck stand. Susan warf einen besorgten Blick auf Sebastians sich rötendes Gesicht und sah dann mit einem zornigen Stirnrunzeln ihren Bruder an, der das aber gar nicht bemerkte. “Ich werde deinen Tennyson mit etwas von Dante übertrumpfen”, sagte Eustace, Sebastian abermals zu Hilfe kommend. “Erinnerst du dich? Im fünften Kreis der Hölle: Tristi fummo Nell' aer dolce che del sol s'allegra. Und weil sie traurig waren, waren sie dazu verdammt, die ganze Ewigkeit lang dort in dem Sumpf zu stecken; und ihr abscheulicher kleiner Weltschmerz kam mit dem Sumpfgas in Blasen durch den Schlamm heraufgequollen. Also solltest du lieber vorsichtig sein, mein Lieber”, schloß er mit gespielter Drohung, aber mit einem Lächeln, das anzeigte, daß er ganz auf Sebastians Seite war und seine Gefühle verstand. “Er braucht sich keine Sorgen zu machen um das Jenseits”, sagte Mrs. Poulshot mit mehr als einer Spur von Schärfe. Sie hegte sehr feste Überzeugungen, was diesen Unsterblichkeitsunsinn betraf, — so feste, daß sie gar nicht gern davon sprechen hörte, nicht einmal im Scherz. “Ich denke vielmehr daran, was ihm widerfahren wird, wenn er erst erwachsen ist.” Abermals lachte Jim. Sebastians Jugendlichkeit erschien ihm als fast ebenso spaßig wie die Möglichkeit, daß er ein Abführmittel brauche.
Dieses zweite Lachen spornte Mr. Poulshot zum Handeln an. Eustace war natürlich nur ein Hedonist, und auch von Alice konnte er nicht wirklich etwas Besseres erwarten. Sie hatte sich immer (es war ihr einziger Fehler, aber welch ungeheurer!) als entsetzlich fühllos gegen seine seelischen Leiden erwiesen. Jim aber war glücklicherweise anders. Nicht so wie Edward und Margery, die in dieser Hinsicht viel zu sehr ihrer Mutter glichen, hatte Jim stets gebührlichen Respekt und anständiges Mitgefühl gezeigt. Daß er sich so weit vergaß und zweimal lachte, war daher doppelt schmerzlich — schmerzlich als gröbliche Verletzung seiner Empfindlichkeit und Unterbrechung seiner traurigen und geheiligten Gedanken; schmerzlich auch, weil es so enttäuschend war, solch ein Schlag für den Glauben an des Jungen bessere Natur, den man gehegt hatte. Mr. Poulshot hob die Augen, die er entschlossen auf seinen Teller gerichtet gehalten hatte, und sah seinen Sohn mit einem Ausdruck von Kummer an. Jim wand sich unter diesem vorwurfsvollen Blick, und um seine Verwirrung zu kaschieren, füllte er sich den Mund mit Brot. Endlich, beinahe im Flüsterton, sprach Mr. Poulshot. “Weißt du, was für ein Tag heute ist?” fragte er. Den Verweis, der käme, vorausfühlend, errötete Jim und stammelte undeutlich durch das Brot hindurch, er glaube, es sei der Siebenundzwanzigste. “Der siebenundzwanzigste März”, wiederholte Mr. Poulshot. Er nickte langsam und nachdrücklich. “An diesem Tag, vor elf Jahren, wurde uns dein armer Großvater genommen.” Er sah ein paar Sekunden starr in Jims Gesicht, beobachtete mit Befriedigung die Anzeichen von dessen Zerknirschung, senkte dann die Augen, verfiel wieder in Schweigen und ließ den jungen Mann sich seiner selbst schämen. Am andern Ende des Tisches lachten Alice und Eustace miteinander über Kindheitserinnerungen. Mr. Poulshot tat sein möglichstes, sie ob ihrer Frivolität zu bedauern, die
sie so herzlos stumpf gegenüber den feinern Gefühlen andrer machte. “Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun”, sagte er sich; dann verschloß er seinen Geist gegen ihr müßiges Geplapper und wandte sich der Aufgabe zu, sich im einzelnen die Unterhandlungen zu rekonstruieren, die er noch am Abend des 27. März 1918 mit dem Geschäftsführer der Leichenbestattungsfirma begonnen hatte.
5. KAPITEL Nach dem Abendessen setzten sich im Wohnzimmer Jim und Susan zu einer Schachpartie, während sich die andern um das Kaminfeuer niederließen. Fasziniert sah Sebastian zu, wie sich sein Onkel Eustace die mächtige Romeo-undJulia anzündete, die er sich, da er Alices Grundsätze und Freds frugale Gewohnheiten kannte, wohlweislich mitgebracht hatte. Erst kam das Ritual des Anstechens; dann das Lächeln seligen Vorgenusses, als die Zigarre zum Mund gehoben wurde und die Lippen sich feucht und zärtlich um das Ende schlossen; dann wurde das Zündholz angestrichen, das Flämmchen eingesogen. Und plötzlich fühlte sich Sebastian an das Baby seiner Cousine Margery erinnert, wie dessen Lippen mit blinder, fast sinnlicher Begierde nach der Brustwarze suchten und es sie endlich zwischen diese weichen Greiflappen seines kleinen Mundes bekam und drauflosarbeitete, drauflossaugte in einer lautlosen Verzückung des Genießens. Gewiß, Onkel Eustace hatte etwas bessere Manieren; und diese Brustwarze hier war kaffeebraun und sechs Zoll lang. Bilder tauchten vor seinem geistigen Auge auf; Wörter, groteske und lächerlich heroische Wörter begannen sich zu ordnen: Alt, doch ein Säugling, belutscht er mit lustvollen Lippen Die feuchtbraune und, wenn er saugt, erglühende Zitze Einer erträumten Großkönigin Sämtlicher Hottentotten ... Er wurde durch ein heftiges Öffnen und lautes Schließen einer Tür aufgestört. John Barnack betrat das Zimmer und ging lebhaft auf das Sofa zu, wo Mrs. Poulshot saß. “Tut mir leid, daß ich nicht schon zum Essen bei euch sein konnte”, sagte er, ihr die Hand auf die Schulter le-
gend. “Aber es war meine einzige Gelegenheit, Cacciaguida zu sehn, der übrigens sagt -”, fügte er, sich an seinen Bruder wendend, hinzu, “daß Mussolini ganz bestimmt Kehlkopfkrebs hat.” Eustace nahm die Tabakzitze aus dem Mund und lächelte duldsam. So? Der Kehlkopf ist's diesmal? Meine Antifaschisten scheinen die Leber vorzuziehen.” John Barnack war gekränkt, bemühte sich aber, es nicht zu zeigen. “Cacciaguida hat sehr verläßliche Informationsquellen”, sagte er ein wenig steif. “Ich scheine mich zu erinnern, daß jemand etwas davon sagte, der Wunsch sei der Vater des Gedankens, oder irre ich mich?” fragte Eustace mit aufreizender Sanftheit. “Natürlich erinnerst du dich”, sagte John. “Du erinnerst dich, weil du einen Vorwand brauchst, um eine große politische Bewegung herabzusetzen und ihre Helden zu verkleinern.” Er sagte es in seiner gewohnten gemessenen Manier und mit seiner vorbildlichen Aussprache, aber in einem Ton, der seine innersten Gefühle dadurch verriet, daß er eine Spur lauter und ein wenig vibrierender war als sonst. “Zynischer Realismus — der ist des Intelligenzlers beste Ausrede dafür, in einer unerträglichen Situation gar nichts zu tun.” Alice Poulshot blickte von einem zum andern und wünschte um Himmels willen, daß ihre beiden Brüder nicht jedesmal, sobald sie zusammenkamen, miteinander stritten. Warum konnte sich John nicht einfach mit der Tatsache abfinden, daß Eustace eben ein bißchen ein Aas war? Aber nein, er ließ sich stets aus der Ruhe bringen, auf diese gräßliche beherrschte Art, die er hatte, und tat dann so, als wär's moralische Entrüstung. Eustace wieder forderte diese Explosionen absichtlich heraus, indem er politische rote Tücher schwenkte und vergiftete Wurfpfeile schleuderte. Sie waren beide wirklich unverbesserlich.
“König Klotz oder König Storch?” fragte Eustace mild. “Ich bin immer für den guten alten Klotz. Sich nur schön von Unfug fernhalten - das ist die höchste aller Tugenden.” Wie John Barnack so vor dem Kamin stand, die Arme an den Seiten herabhängen lassend, Beine gegrätscht, Rumpf sehr aufrecht und gestrafft, in der Haltung eines startbereiten Gewichtstemmers, blickte er auf seinen Bruder mit dem steten Blick hinab, den er vor Gericht für gegnerische Zeugen und Ausflüchte machende Beklagte aufsparte. Es war ein Blick, der, auch wenn er nicht auf ihn selbst gerichtet war, Sebastian mit einem bänglichen Schrecken erfüllte. Eustace aber ließ sich nur ein wenig tiefer in die Polsterung des Sofas sinken. Er schloß die Augen, küßte zärtlich das Ende seiner Zigarre und saugte. “Und du bildest dir vermutlich ein”, fragte John Barnack nach einem langen Schweigen, “daß du einer der großen Exponenten dieser Tugend bist?” Eustace blies eine Wolke aromatischen Rauchs von sich und antwortete, daß er sein möglichstes tue. “Du tust dein möglichstes”, wiederholte John. “Aber du hast, glaube ich, einen ganz behaglichen Anteil an der Yangtze and South China Bank?” Eustace nickte. “Und nebst dem Recht, dich an der Ausbeutung Chinas und Japans zu mästen, einen Haufen Juteaktien — stimmt das?” “Sehr gute Aktien obendrein”, bestätigte Eustace. “Sehr gute, gewiß. Dreißig Prozent, sogar in einem schlechten Jahr. Verdient für dich von Indern, die einen Taglohn kriegen, mit dem man kaum ein Drittel von einer deiner Zigarren kaufen könnte.” Mr. Poulshot, der, von allen unbeachtet, in düsterem Schweigen dagesessen hatte, mischte sich überraschend ins Gespräch. “Es war alles in Ordnung mit ihnen, bevor die Agita-
toren sie zu bearbeiten begannen”, sagte er. “Und Gewerkschaften organisierten und sie gegen die Unternehmer aufhetzten. Sie gehören erschossen. Ja, erschossen!” wiederholte er mit wütendem Nachdruck. John Barnack lächelte ironisch. “Sorg dich nicht, Fred! Die Londoner City wird schon dafür sorgen.” Was redet ihr da nur?” fragte Alice gereizt. “Die City ist doch nicht in Indien?” “Nein. Aber ihre Agenten sind dort, und sie sind die Kerle mit den Maschinengewehren. Freds Agitatoren werden prompt erschossen werden. Und Eustace hier wird sich auch weiterhin von Unfug fernhalten, mit der ganzen unnachahmlichen Grazie, die wir an ihm so sehr zu bewundern gelernt haben.” Es folgte ein Schweigen. Sebastian, der innig gehofft hatte, seinen Vater unterliegen zu sehn, blickte kläglich zu seinem Onkel hin. Aber statt niedergeschlagen und zermalmt dazusitzen, wurde Eustace von lautlosem Lachen geschüttelt. “Ausgezeichnet!” rief er, als er genug Atem fand, um sprechen zu können. “Ganz ausgezeichnet! Und jetzt, mein lieber John, solltest du den Sarkasmus fallenlassen und ihnen fünf Minuten schlichtes Pathos und Entrüstung zum besten geben; fünf herzerwärmende Minuten unumwundenen männlichen Gefühls. Worauf die Geschworenen mich schuldig befinden, ohne den Gerichtssaal überhaupt zu verlassen, und in einem Zusatz empfehlen, den Anwalt der klagenden Partei zum Volkstribunen zu machen. Zum Volkstribunen”, wiederholte er volltönend. “Alles in klassischen Maskenkostümen. Und nebenbei, wie heißt der Fachausdruck für die edle römische Toga, die die Herren von der Politik über den Willen zur Macht drapieren, wenn sie wollen, daß er reputierlich aussehe? Den kennst du doch, nicht wahr, Sebastian?” Und als Sebastian den Kopf schüttelte, rief er aus: “Du meine Güte, was lehrt man euch eigentlich heutzutage? Der Fachausdruck dafür
ist doch Idealismus. Ja, meine Liebe”, fuhr er fort und wandte sich dabei an Susan, die erstaunt von ihrer Schachpartie aufgeblickt hatte, “das ist's, was ich sagte: Idealismus.” John Barnack gähnte auffällig hinter der vorgehaltenen Hand. “Sie wird einem nachgerade ein wenig langweilig, diese Art von billiger Psychologie des siebzehnten Jahrhunderts”, sagte er. «Dann erzähle jetzt du uns”, entgegnete Eustace, “was du zu kriegen erwartest, sobald die richtigen Leute ans Ruder kommen. Die Kronanwaltschaft vermutlich?” “Also, Eustace”, sagte Mrs. Poulshot mit Entschiedenheit, “damit laß es genug sein!” “Genug?” wiederholte Eustace im Ton gespielter Entrüstung. “Du meinst, das ist genug — die Bagatelle einer Kronanwaltschaft? Meine Liebe, du unterschätzt deinen Bruder. Aber jetzt, John”, fügte er in anderm Ton hinzu, “wollen wir doch auf ernstere Dinge kommen. Ich weiß nicht, was deine Pläne sind: aber was immer geschieht, ich muß morgen nach Florenz zurück. Für Dienstag erwarte ich meine Schwiegermutter dort.” “Die alte Mrs. Gamble?” Alice blickte überrascht von ihrer Strickarbeit auf. “Willst du etwa damit sagen, daß sie noch immer in ganz Europa herumreist? In ihrem Alter?” “Sechsundachtzig”, sagte Eustace, “und, abgesehn davon, daß sie fast völlig starblind ist, kerngesund und springlebendig.” “Du meine Güte!” rief Mrs. Poulshot aus. “Ich hoffe wirklich, ich werde nicht so lange aushalten müssen!” Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf, entsetzt bei dem Gedanken an noch einunddreißig Jahre des Hausführens, der düsteren Stimmungen Freds und der völligen Sinnlosigkeit von allem und jedem. Eustace wandte sich wieder an seinen Bruder. “Und wann gedenkt ihr zu fahren, ihr beide?”
“Nächsten Donnerstag. Aber wir übernachten in Turin. Ich muß mich mit einigen von Cacciaguidas Leuten in Verbindung setzen”, erklärte John. Dann wirst du also Sebastian am Samstag bei mir abliefern?” Er wird sich vielmehr selber abliefern. Ich werde schon in Genua aussteigen.” “Oh, du selbst geruhst also nicht zu kommen?” John Barnack schüttelte den Kopf. Sein Schiff gehe noch am selben Abend von Genua ab. Er werde drei oder vier Wochen in Ägypten sein, und dann wolle sein Blatt, daß er über die Lage der Eingeborenen in Kenya und Tanganyika berichte. “Und wenn du schon dort bist”, sagte Eustace, “finde doch, bitte, heraus, warum meine ostafrikanischen Kaffeeaktien nicht etwas mehr abwerfen.” “Das kann ich dir gleich hier und jetzt sagen”, antwortete sein Bruder. “Vor ein paar Jahren war eine Menge Geld in Kaffee zu machen. Resultat: Millionen Hektar neuer Plantagen, und alle gadarenischen Schweine von London und Paris und Amsterdam und New York stürzten sich einen steilen Abhang hinunter in Kaffee. Jetzt herrscht ein solcher Überschuß an Bohnen, und der Preis ist so niedrig, daß nicht einmal die Schandlöhne der Schwarzen eine Dividende abwerfen können.” “Sehr schade!” “Meinst du? Warte nur, bis dein Sichfernhalten den großen Aufstand unter den geknechteten Völkern hervorgerufen haben wird und die Revolution daheim!” “Zum Glück”, sagte Eustace, “werden wir dann alle schon tot sein.” “Sei du nur nicht zu sicher!” “Wir werden's vielleicht alle so lange machen wie die alte Mrs. Gamble”, sagte Alice, die sich auszumalen versucht hatte, wie Fred und sie selbst 1950 aussehn würden. “Das ist gar nicht nötig”, sagte John Barnack mit offen-
kundiger Genugtuung. “Es kommt viel früher dazu, als eins von euch sich vorstellt.” Er sah auf seine Uhr. “Tja, ich hab noch an etwas zu arbeiten”, verkündete er. “Und morgen muß ich mit dem ersten Hahnenschrei auf. Also sag ich gute Nacht, Alice.” Sebastians Herz schlug so heftig, daß er plötzlich fast Übelkeit fühlte. Der Augenblick war endlich gekommen, die absolut letzte Gelegenheit. Er holte tief Atem, stand auf und ging zu seinem Vater vor den Kamin. “Gute Nacht, Vater”, sagte er. Und: “Oh, übrigens”, brachte er im beiläufigsten Ton hervor, dessen er fähig war, “glaubst du nicht, könnte ich ... ich meine, glaubst du nicht, ich sollte doch wirklich jetzt schon ein Dinnerjackett haben?” “Sollte?” wiederholte sein Vater. “Sollte?” Es ist ein Fall von kategorischem Imperativ, wie?” Und plötzlich, beunruhigend, stieß er ein kurzes, explosiv trompetendes Lachen aus. Überwältigt stammelte Sebastian etwas davon, daß es nicht nötig gewesen sei, als er das letztemal darum gebeten hatte; jetzt aber .. . jetzt sei es wirklich dringend: er sei zu einer Gesellschaft eingeladen. “Oh, du bist zu einer Gesellschaft eingeladen?” sagte Mr. Barnack, und der ekstatische Ton kam ihm in Erinnerung, in dem Rosie das verhaßte Wort auszusprechen pflegte; er erinnerte sich des Aufleuchtens ihrer Augen, wenn sie die Ballmusik hörte und das Stimmengewirr der festlichen Menge, und ihrer an Raserei grenzenden ausgelassenen Lustigkeit im weiteren Verlauf des Abends. “Das wird immer kategorischer!” fügte er sarkastisch hinzu. “Dein Vater hat in letzter Zeit eine Menge Ausgaben gehabt”, warf Mrs. Poulshot ein, in dem wohlgemeinten Bemühn, den armen Sebastian ein wenig zu polstern gegen den Anprall an die Unerbittlichkeit ihres Bruders. Schließlich hatte Rosie nicht ganz allein schuld gehabt. John war
immer hart und streng mit sich und andern gewesen, sogar schon als Junge. Und nun mußte er, um es noch schlimmer zu machen, andern Leuten das Leben vergiften mit seinen lächerlichen politischen Prinzipien! Aber diese Härte und die Prinzipien waren nun einmal Tatsachen; und eine Tatsache war auch Sebastians Empfindlichkeit. Alices Politik bestand stets in dem Versuch, einen Zusammenstoß zwischen den zwei Gruppen von Tatsachen zu verhindern. Diesmal erwies sich der Versuch jedoch als schlimmer denn vergeblich. “Meine liebe Alice”, sagte John Barnack im Ton eines höflichen, aber durchaus entschlossenen Debattenredners, “es ist nicht eine Frage, ob ich es mir leisten kann, dem Jungen sein Maskenkostüm zu kaufen.” (Das Wort beschwor ein Bild herauf: die rotsamtenen Kniehosen Lady Caroline Lambs als Byrons — als des jungen Tom Hilliards Page.) “Der Punkt, um den es sich hier dreht, ist der, ob es recht ist, es ihm zu kaufen.” Eustace nahm die Zitze aus dem Mund, um den Einspruch zu erheben, daß dies noch über Savonarola gehe. John Barnack schüttelte nachdrücklich den Kopf. “Es hat gar nichts gemein mit christlicher Askese, es ist einfach eine Frage der Anständigkeit — seine zufälligen Vorteile nicht auszunützen. Noblesse oblige.” “Sehr hübsch”, sagte Eustace. “Vorläufig aber beginnst du damit, die Noblesse zu obligieren. Es ist glatte Nötigung.” “Sebastian hat absolut kein Gefühl für soziale Verantwortlichkeit. Das muß er lernen.” “Ist das nicht genau dasselbe, was Mussolini vom italienischen Volk sagt?” “Und überhaupt”, warf Mrs. Poulshot ein, die froh war über diese Gelegenheit, von einem Verbündeten unterstützt für Sebastian kämpfen zu können, “warum dieses ganze Getue machen um ein armseliges Dinnerjackett?” “Um einen nichtigen Smoking”, führte Eustace das wei-
ter aus, in einem Ton, der den ganzen Streit auf das Niveau einer bloßen Posse verschieben sollte. “Um einen Dreigroschen-Tuxedo! Oh, und das erinnert mich an meinen jungen Mann aus Peoria — das hast du nicht gewußt, daß auch ich dichte, Sebastian, nicht wahr, nein? — Dem nicht wohl ist, wenn er nicht zuvor ja Zieht an den Tuxedo Und murmelt das Kredo Mitsamt dem Sanktus und Gloria. Und da bringst du es übers Herz, John, dein armes Kind der Wohltaten der Sakramente zu berauben!” In seiner ängstlichen Aufgeregtheit begann Sebastian lauter als gewöhnlich zu lachen; aber beim Anblick des ernsten, keine Spur von Lächeln zeigenden Gesichts und der entschlossen zusammengepreßten Lippen seines Vaters unterbrach er sich jäh. Eustace zwinkerte ihm mit den gedunsenen Augenlidern zu. “Danke schön für den Applaus”, sagte er. “Aber ich fürchte, Majestät sind nicht amüsiert.” Mrs. Poulshot griff abermals ein, um zu versuchen, die Wirkung des falschen Schritts, den Eustace getan hatte, zu beseitigen. “Schließlich und endlich”, sagte sie und versuchte die Diskussion wieder in ernste Bahnen zurückzulenken, “was ist denn schon Abendkleidung? Nichts als eine dumme, bedeutungslose Konvention?” “Dumm, das gebe ich zu”, sagte John auf seine gemessene, wohlüberlegte Art. “Aber wenn sie ein Klassensymbol beinhaltet, kann man eine Konvention nicht bedeutungslos nennen.” “Aber, Vater”, warf Sebastian ein, “alle die andern Burschen in meinem Alter haben schon ein Dinnerjackett.” Seine Stimme war schrill und schwankte vor Erregung. Über das Schachbrett gebeugt, hörte Susan es, erkannte das Gefahrsignal und hob sogleich die Augen. Sebastians
Gesicht war dunkel gerötet, und seine Lippen begannen zu zittern. Mehr denn je sah er aus wie ein kleiner Bub. Ein kleiner, verzweifelter Bub, ein hilfloser kleiner Bub, gegen den ein Erwachsener grausam war. Susan fühlte sich überwältigt von liebevollem Erbarmen. Aber wie schrecklich er die ganze Sache verpfuschte! dachte sie und empfand plötzlich Zorn gegen ihn, nicht trotz ihrer Liebe und ihrem Erbarmen, sondern grade weil sie ihn so liebhatte. Und warum nur konnte er nicht ein wenig Selbstbeherrschung aufbringen oder, wenn das unmöglich war, einfach den Mund halten? Ein paar Sekunden blickte John Barnack schweigend auf seinen Sohn, blickte gebannt auf das Abbild seiner kindischen Frau, die ihn betrogen hatte und nun tot war. Dann lächelte er sarkastisch. “Alle die andern Burschen”, wiederholte er. “Jeder einzelne von ihnen.” Und in dem Ton, den er im Gerichtssaal anschlug, um die Glaubwürdigkeit des gegnerischen Hauptzeugen zu erschüttern, fügte er mit verachtungsvoller Ironie hinzu: “In Südwales halten die Söhne der arbeitslosen Bergarbeiter ganz besonders darauf, sogar Schwalbenschwanz und weiße Binde zu tragen. Nicht zu vergessen die Gardenie im Knopfloch. Und nun”, befahl er gebieterisch, “geh schlafen, und daß du mir nie wieder mit dieser Narretei kommst!” Sebastian wandte sich ab und eilte wortlos aus dem Zimmer. “Du bist am Zug”, sagte Jim ungeduldig. Susan blickte wieder auf das Brett hinab, sah das rote Rössel unmittelbar vor ihrer Königin stehn und nahm es. “Hat ihm schon”, sagte sie mit grimmigem Genuß. Das rote Rössel war Onkel John. Triumphierend schob Jim einen Turm über das Brett und rief, ihre Königin nehmend: “Schach!”
Dreiviertel Stunden später kauerte Susan in ihrem Pyjama vor dem Gasöfchen ihres Schlafzimmers auf dem Boden und schrieb in ihr Tagebuch: “2 + in Geschichte, 2 in Algebra. Hätte schlechter sein können. Miß H. gab mir einen Tadelpunkt für Unordentlichkeit, fand aber bei ihrer geliebten Gladys nichts auszusetzen. Natürlich!!! Die Scarlatti ging besser, aber Pf eiff y versuchte, S. mit Zigarren zu frotzeln, und dann ist uns Tom B. begegnet und hat ihn aufgefordert, zu seiner Gesellschaft zu kommen, und S. war unglücklich, wegen dieses blöden Dinnerjacketts. Wenn das nicht gewesen wäre, hätte ich ihn gehaßt, denn er war heute wieder mit Mrs. E. beisammen, und sie hat schwarze Spitzen auf der bloßen Haut getragen .. . Aber er hat mir nur schrecklich leid getan. Und heute abend war Onkel J. ganz scheußlich wegen des Dinnerjacketts; ihn hasse ich wirklich manchmal. Onkel E. versuchte, für S. einzutreten, aber es half nichts.” Es hatte nichts geholfen, und was es noch schlimmer machte, sie hatte dort sitzen bleiben und warten müssen, bis erst Onkel J. und dann Onkel Eustace sich verabschiedeten; und auch als sie dann endlich schlafen gehen konnte, hatte sie es nicht gewagt, zu ihm zu gehn und ihn zu trösten, aus Furcht, ihre Mutter oder Jim könnten sie hören und heraufkommen und sie in seinem Zimmer finden, und wenn es Jim gewesen wäre, hätte der gefeixt, als hätte er sie im WC überrascht, oder wenn die Mutter gekommen wäre, hätte die eine kleine scherzhafte Bemerkung gemacht, die schlimmer gewesen wäre als der Tod. Jetzt aber — sie sah auf die Uhr auf dem Kaminsims — jetzt müßte es wohl ungefährlich sein. Sie stand auf, verschloß das Tagebuch in die Lade ihres Schreibtisches und versteckte den Schlüssel an seinem gewohnten Platz hinter dem Spiegel. Dann drehte sie das Licht ab, öffnete vorsichtig die Tür und blickte hinaus. Die Glühlampen auf den untern Treppenabsätzen brannten nicht mehr; im Haus war es so still, daß sie das starke Pochen ihres Herzens hören konnte. Drei Schritte brachten
sie über den Gang und vor seine Tür; der Türknauf ließ sich geräuschlos drehn, und geräuschlos schlüpfte sie hinein Das Zimmer war nicht ganz finster; denn die Rollgardine war nicht herabgezogen, und die Straßenlampe drüben auf der andern Seite warf ein Rechteck grünlichen Dämmerlichts auf die Zimmerdecke. Susan schloß die Tür hinter sich und stand still und lauschte — hörte zuerst nur ihr eignes Herz. Dann knarrten ganz schwach die Spiralfedern des Betts, und sie hörte einen langen schluchzenden Atemzug. Er weinte. Impulsiv trat sie vor; ihre ausgestreckte Hand berührte eine Messingstange, bewegte sich weiter, zu der Bettdecke dahinter, und glitt von Wolle auf die Glätte des umgeschlagenen Leintuchs. Das weiße Linnen schimmerte geisterhaft in der Dunkelheit, und auf dem undeutlich gesehnen Kissen war Sebastians Kopf ein schwarzer Schattenriß. Ihre Finger berührten ihn im Nacken. “Ich bin's, Sebastian.” “Geh weg”, stammelte er zornig. “Geh weg!” Susan sagte nichts, sondern setzte sich auf den Bettrand. Die kleinen Borsten, die die Schermaschine des Friseurs stehngelassen hatte, waren elektrisch unter ihren Fingerspitzen. “Du darfst dir nichts draus machen, Sebastian”, flüsterte sie. “Du darfst es dir nicht nahgehn lassen.” Sie begönnerte ihn natürlich; sie behandelte ihn wie ein Kind. Aber er fühlte sich aufs äußerste elend; und überdies war die Demütigung so weit gegangen, daß er nicht mehr die Energie des Stolzes hatte, an seinem Groll festzuhalten. Er lag ganz still, gestattete sich, die tröstende Gewißheit ihrer Nähe zu genießen. Susan hob die Hand von seinem Nacken und hielt sie, atemlos zögernd, in der Luft. Sollte sie es wagen? Würde er wütend sein, wenn sie es täte? Ihr Herz schlug noch heftiger gegen ihre Rippen. Dann schluckte sie fest und entschloß sich, es zu riskieren. Langsam bewegte sie die er-
hobene Hand durch die Dunkelheit vorwärts und abwärts, bis die Finger sein Haar berührten — das blaßblonde Haar, lockig und vom Wind zerzaust, nun aber unsichtbar, nun nur als ein kaum wahrnehmbares Gewirr lebendiger Seide für ihre Haut spürbar. Sie wartete angstvoll bebend, erwartete jeden Augenblick seinen zornigen Befehl zu hören, ihn in Ruhe zu lassen. Aber es kam kein Laut, und kühn gemacht durch sein Schweigen, senkte sie die Hand ein wenig tiefer. Regungslos gab sich Sebastian dieser Zärtlichkeit hin, die auszudrücken er ihr zu gewöhnlichen Zeiten nie gestattet hätte, und fand grade in dieser Selbsthingabe einen gewissen Trost. Plötzlich erinnerte er sich, daß dies eine der Situationen war, die er in seinen Träumen von einer Liebschaft mit Mary Esdaile herbeigesehnt hatte, — oder welchen Namen immer man der dunkelhaarigen Geliebten seiner Phantasie geben wollte. Er läge in der Finsternis regungslos da, und sie kniete neben dem Bett und streichelte ihm das Haar; und manchmal würde sie sich niederbeugen und ihn küssen — oder vielleicht wären es nicht ihre Lippen, was die seinen berührte, sondern ihre nackte Brust. Aber freilich, dies war nur Susan und nicht Mary Esdaile. Sie fuhr ihm nun mit der Hand durchs Haar, ganz offen und unverhohlen, genauso, wie sie es sich immer gewünscht hatte, — die Fingerspitzen von der glatten, gespannten Haut hinter den Ohren hinauf und durch die dichten Haare schiebend, daß die dicken, elastischen Locken zwischen ihren Fingern durchglitten, während sie die Hand so zum Scheitel seines Kopfes bewegte. Wieder und wieder, unermüdlich. “Sebastian?” flüsterte sie endlich; aber er antwortete nicht, und sein Atem ging fast unmerklich leise. Mit nun schon ganz an die Dunkelheit gewöhnten Augen sah sie hinab auf das schlafende Gesicht, und das Glück, das sie empfand, diese unaussprechliche Seligkeit, war wie
das Gefühl, das sie manchmal gehabt hatte, wenn sie Margerys Baby hielt, aber mit all diesem andern noch dazu — diesem Begehren und Bangen, diesem atemlosen Bewußtsein von Verbotenheit, diesem Spüren der elektrisierenden Berührung seiner Haare mit ihren Fingerspitzen und dieser schmerzenden Wonne in ihren Brüsten. Sie beugte sich über ihn und berührte seine Wange mit ihren Lippen. Sebastian regte sich ein wenig, erwachte aber nicht. “Liebster”, flüsterte sie immer wieder und, in der Gewißheit, daß er sie nicht hören konnte: “Mein Liebster, mein Herzallerliebster.”
6. KAPITEL Eustace erwachte am Samstagmorgen erst ein paar Minuten vor neun, nach einer Nacht traumlosen Schlafs, der durch kein stärkeres Mittel herbeigeführt worden war als durch eine Halbe dunkeln Biers, die er um Mitternacht zu einigen Anschovisbrötchen getrunken hatte. Das Erwachen war natürlich unangenehm; aber der Messinggeschmack im Mund war nicht so aufdringlich und diese schmerzende Müdigkeit in allen Gliedern entschieden minder heftig als gewöhnlich um diese bleierne Morgenstunde. Allerdings mußte er ein wenig husten, und dabei kam etwas Schleim herauf; aber der erschöpfende Krampf war schneller vorbei als sonst. Nach seiner Frühtasse Tee im Bett und einem heißen Bad fühlte er sich gradezu jung. Jenseits des runden Rasierspiegels und seines eingeseiften Gesichts darin lag die Stadt Florenz, eingerahmt von den Zypressen der abfallenden Terrassen seines Hauses. Über dem Monte Morello schwebten mollige kleine Wolken, wie die Cherubshinterbäckchen auf den Correggios in Parma; sonst aber war der Himmel makellos blau, und in den Blumenbeeten unter dem Badezimmerfenster sahn die Hyazinthen im Sonnenlicht wie aus Halbedelsteinen geschnitzt aus: weißer Jade und Lapislazuli und blaßrote Korallen. “Den Perlgrauen!” rief er seinem Kammerdiener zu, ohne sich umzublicken, und hielt dann inne, um zu überlegen, welche Krawatte wohl am besten zu dem Anzug und dem heitern Wetter stimmen würde. Eine schwarzweiß karierte? Aber die sähe zusehr nach flottem Börsenmakler aus. Nein, was Ort und Zeit verlangten, war etwas im Stil dieser schottischen Muster auf weißem Grund, die er in der Burlington-Passage gekauft hatte. Oder, noch besser,
diese deliziöse lachsfarbene von Sulka in der Bond Street. “Und die lachsrosa Krawatte”, fügte er hinzu, “die neue!” Weiße und gelbe Rosen standen auf dem Frühstückstisch. Wirklich recht hübsch angeordnet! Guido begann seine Sache zu lernen. Eustace zog eine jungfräulich weiße Knospe heraus und steckte sie ins Knopfloch; dann wandte er sich den Glashaustrauben zu. Es folgten ein Schüsselchen Hafergrütze, dann zwei poschierte Eier auf Röstbrot, ein gebratener Räucherhering und ein paar Stücke Gebäck mit Butter und Orangenmarmelade. Während er aß, las er seine Briefe. Da war zunächst einer von Bruno Rontini. Ob er wieder zurück in Florenz sei? Und wenn, ob er nicht bald einmal in den Laden kommen wolle, auf eine Plauderei und um sich Bücher anzusehn. Ein Katalog von Neuerwerbungen sei beigeschlossen. Dann zwei Aufrufe aus England zu wohltätigen Spenden — abermals diese gräßlichen Waisenkinder und ein nagelneuer Posten Unheilbarer, denen er zwei Guineen würde senden müssen, weil Molly Carraway im Komitee war. Aber um ihn für die Unheilbaren zu entschädigen, fand sich als nächstes eine erfreuliche Mitteilung vom Filialleiter seiner italienischen Bank. Durch Verwendung der zweitausend Pfund flüssigen Kapitals, die er den Leutchen zum Jonglieren gegeben hatte, war es ihnen gelungen, während des vergangenen Monats vierzehntausend Lire für ihn einzuheimsen. Einfach durch Kauf und Verkauf von Dollars und Francs. Vierzehntausend ... Ganz nett, wenn sie einem in den Schoß fielen. Er wollte den Unheilbaren einen Fünfer schicken und sich selbst ein kleines Geburtstagsgeschenk kaufen. Ein paar hübsche Bücher vielleicht; und er schlug Brunos Katalog auf. Aber wahrhaftig, wer wollte schon eine Erstausgabe von Scupolis Combattimento Spirituale? Oder die Opera Omnia des heiligen Bonaventura, herausgegeben von den Franziskanern von Quaracchi? Eustace warf den Katalog beiseite und machte sich an die
Aufgabe, das lange, unleserliche Geschreibsel von Pippa Schottelius zu entziffern, das er sich für zuletzt gelassen hatte. Mit Bleistift und in einer höchst verwirrenden Mischung aus Deutsch, Französisch und Englisch beschrieb ihm Pippa, was sie in Monte Carlo trieb; und was dieses Weibsen nicht trieb, das hätte man auf die Rückseite einer Briefmarke schreiben können. Wie entsetzlich gründlich diese Deutschen immer zu sein vermochte«, wie emphatisch! Im Geschlechtsleben nicht weniger als im Kriegführen — in der Philosophie, in der Wissenschaft. Tauchten tiefer hinab und schlammiger wieder auf als sonst irgendwer. Er beschloß, Pippa eine Ansichtskarte zu senden mit dem Rat, John Morleys Über das Kompromiß zu lesen. In Übereinstimmung mit ebendiesen Morleyschen Grundsätzen beschloß er, als er mit dem Frühstück fertig war, eine der kleinen Larranaga claros zu rauchen, die ihm so geschmeckt hatten, als er sie bei seinem Londoner Zigarrenhändler versuchte, daß er auf der Stelle ein Tausend von ihnen kaufte. Die Ärzte setzten ihm ewig zu wegen seiner Zigarren, und er hatte versprochen, täglich nur zwei zu rauchen: eine nach dem Lunch, eine nach dem Dinner. Aber diese kleinen Dinger waren so mild, daß es ein Dutzend von ihnen brauchen würde, um die Nachwirkungen einer seiner großen Romeo-und-Julia hervorzurufen. Wenn er also eine von den kleinen jetzt und eine zweite nach dem Lunch und eine dritte nach dem Tee rauchte, und nur eine einzige große nach dem Dinner, hielte er sich noch immer weit genug von Übermaß. Er zündete sich die Zigarre an, lehnte sich zurück und schmeckte genießerisch die zarte Köstlichkeit ihres Aromas. Dann stand er auf, und nachdem er dem Butler Auftrag gegeben hatte, die Casa Acciaiuoli anzurufen und sich zu erkundigen, ob die Contessa ihn am Nachmittag empfangen könne, begab er sich ins Bibliothekzimmer. Die vier oder fünf Bücher, die er gleichzeitig las, lagen in einem Stoß auf einem Tischchen neben einem Lehnstuhl, in den er sich nun vorsichtig nie-
derließ: Scaven Blunts Journals, der zweite Band von Sodome et Gomorrhe, eine illustrierte Geschichte der Stickkunst, der neueste Roman von Ronald Firbank ... Nach einem Augenblick des Zögerns entschied er sich für Proust. Zehn Seiten waren, was er gewöhnlich von irgendeinem Buch zu lesen imstande war, bevor ihn nach Abwechslung verlangte; diesmal aber verlor er schon nach sechseinhalb das Interesse und wandte sich statt dessen dem Kapitel über das Opus Anglicanum in der Geschichte der Stickkunst zu. Dann schlug die Uhr im Salon elf, und es war Zeit für ihn, in den Westflügel hinaufzugehn und seiner Schwiegermutter guten Morgen zu sagen. Grell geschminkt und in das denkbar eleganteste kanariengelbe Tailormade gekleidet, saß die alte Mrs. Gamble in voller Würde da, ließ sich die rechte Hand von ihrer französischen Jungfer maniküren, streichelte mit der Linken ihren Zwergspitz Foxi VIII. und hörte ihrer Gesellschafterin zu, die ihr aus Oliver Lodges Raymond vorlas. Bei Eustaces Eintritt sprang Foxi VIII. von ihrem Schoß herab, raste auf ihn los und bellte ihn, im Vorwärtsstürmen immer wieder zurückweichend, wütend an. “Foxi!” rief Mrs. Gamble in einem Ton, der von fast ebensolcher heiseren Schrille war wie der des Zwergspitzes. “Foxi!” “Du kleiner Höllenhund”, sagte Eustace gutmütig; und sich an die Vorleserin wendend, die mitten im Satz abgebrochen hatte, fügte er hinzu: “Bitte, lassen Sie sich durch mich nicht stören, Mrs. Thwale.” Veronica Thwale hob das untadelige Oval ihres Gesichts und sah ihn mit ruhiger Eindringlichkeit an. “Aber es ist nur ein Vergnügen”, sagte sie, “von allen diesen Geistern zurückzukehren zu einem Stückchen festem Fleisch.” Sie verweilte ein wenig auf dem letztem Konsonanten. Als “Fleischsch” nahm das Wort eine fleischigere Bedeutung an.
Wie eine Madonna von Ingres, dachte Eustace, als er ihren Blick mit einem Zwinkern erwiderte. Glatt und heiter, fast bis zur Unpersönlichkeit, und doch die ganze Sexualität dringelassen — und vielleicht noch ein wenig hinzugefügt. “Allzu fest, fürchte ich.” Mit einem Lachgluckser tätschelte er die glatte Wölbung seiner perlgrauen Weste. “Und wie geht's der Königin-Mutter heute?” fügte er hinzu, während er zu Mrs. Gambles Stuhl hinüberging. “Läßt sich die Krallen schärfen, wie ich sehe.” Die alte Dame stieß ein dünnes, zitteriges Lachen aus. Sie war stolz auf ihren Ruf, sich bedenkenlos deutlich auszudrücken und einer boshaften Witzigkeit die Zügel schießen zu lassen. “Du bist ein Frechdachs, Eustace”, sagte sie, und in der dünnen alten Stimme schwangen noch diese schnarrenden Intonationen von Autorität mit, die die Stimmen so vieler reicher und aristokratischer alter Damen klingen lassen wie Feldwebelsublimat. “Und wer spricht da von Fleisch?” fügte sie hinzu und wandte ihre sichtlosen Augen inquisitorisch von dort, wo sie sich Eustace vorstellte, dahin, wo sie Mrs. Thwale geglaubt hatte. “Setzt am Ende du Fleisch an, Eustace?” “Na, ich bin nicht ganz so sylphidenhaft wie du”, antwortete er und sah mit einem Lächeln auf die blinde kleine, verschrumpfte Mumie in dem Stuhl neben sich hinab. “Wo bist du?” fragte Mrs. Gamble, ließ die eine knorrige Hand der manikürenden Jungfer und tastete mit der andern in die Luft, fand dann den Aufschlag seines Rocks und glitt von da mit den Fingern über die perlgraue Wölbung tiefer unten. “Himmel”, rief sie aus, “ich hatte keine Ahnung! Du bist ja dick, Eustace, dick!” Die dünne Stimme schnarrte wieder wie ein Feldwebel. “Ned war auch dick”, fuhr sie fort und verglich im Geist den Bauch unter ihrer Hand mit dem erinnerten, der ihrem Mann gehört hatte.
Darum ist er auch so jung hinüber. Erst vierundsechzig. Kein korpulenter Mann hat je auch nur bis siebzig gelebt.” Das Gespräch hatte eine Wendung genommen, die Eustace nicht anders als ein wenig widerwärtig finden konnte Er entschied sich dafür, sich zu einem kongenialeren Gesprächsgegenstand durchzulachen. Das war deiner besten Form würdig”, sagte er munter. “Aber erzähl mir”, fügte er hinzu, “was geschieht mit dicken Leuten, wenn sie sterben?” “Sie sterben nicht”, sagte Mrs. Gamble. “Sie gehn hinüber.” “Wenn sie hinübergehn”, verbesserte sich Eustace in einem Tonfall, der das Wort zwischen Anführungszeichen setzte. “Sind sie dann noch immer dick, drüben auf der andern Seite? Ich möchte das gern bei deiner nächsten Séance fragen.” “Jetzt bist du frivol”, sagte die Königin-Mutter streng. Eustace wandte sich an Mrs. Thwale. “Ist es Ihnen endlich gelungen, eine tüchtige Hexe aufzuspüren?” “Leider sprechen die meisten nur Italienisch”, antwortete sie. “Aber jetzt hat uns Lady Worplesden eine englische genannt, die, wie sie sagt, sehr zufriedenstellend ist.” “Mir wäre ein Trompetenmedium lieber gewesen”, sagte Mrs. Gamble. “Aber auf Reisen muß man vorliebnehmen mit dem, was sich findet.” Geräuschlos erhob sich die französische Kammerjungfer, schob ihren Hocker hinüber und ergriff Mrs. Gambles Linke, die wie eine Klaue auf Foxis brandrotem Fell gelegen hatte, und begann die spitzen Nägel zu feilen. “Dieser junge Neffe von dir kommt heute an, nicht?” “Ja, heute abend”, antwortete Eustace. “Wir werden vielleicht ein wenig verspätet zum Dinner kommen.” “Ich hab Jungens gern”, verkündete die Königin-Mutter. “Das heißt, wenn sie anständige Manieren haben, was heutzutage bei den wenigsten der Fall ist. Und das erinnert mich an Mr. De Vries, Veronica.”
“Er kommt heute nachmittag zum Tee”, sagte Mrs. Thwale mit ihrer ruhigen, gleichmäßigen Stimme. “De Vries?” fragte Eustace. “Du hast ihn in Paris kennengelernt”, sagte die KöniginMutter. “Auf meiner Cocktailgesellschaft zu Neujahr.” “So?” sagte Eustace gleichgültig. Er hatte damals auch fünftausend andre Leute kennengelernt. “Amerikaner”, fuhr die Königin-Mutter fort. “Und hat einen riesigen Schwarm für mich gefaßt. Nicht wahr, Veronica?” “Ganz gewiß”, sagte Mrs. Thwale. “Ist den ganzen Winter mich beständig besuchen gekommen — beständig. Und jetzt ist er in Florenz.” “Reich?” Mrs. Gamble nickte. “Haferflocken”, sagte sie. “Aber wirklich interessiert er sich nur für Wissenschaft und lauter solches Zeug. Allerdings, wie ich ihm stets sage, Tatsachen sind Tatsachen, was immer sein Herr Einstein behaupten mag.” “Und nicht nur Herr Einstein”, sagte Eustace mit einem Lächeln, “auch Herr Plato, Herr Buddha, Herr Franz von Assisi.” Ein sonderbarer kleiner Grunzlaut ließ ihn den Kopf wenden. Mrs. Thwale lachte, aber fast tonlos. “Hab ich etwas so Amüsantes gesagt?” fragte er. Das blasse ovale Gesicht nahm wieder seine gewohnte heitere Gelassenheit an. “Ich mußte an den kleinen Scherz denken, den mein Mann und ich immer miteinander hatten.” “Ober Herrn Franz von Assisi?” Eine Sekunde oder zwei sah sie ihn an, ohne zu sprechen. “Über Bruder Eesel”, sagte sie endlich. Eustace hätte gern weiter gefragt, hielt es aber, da ihr Mann erst so kurz verstorben war, für taktvoller, das zu unterlassen. “Wenn du heute vormittag in die Stadt hinunterfährst”,
unterbrach Mrs. Gamble, “wär's mir lieb, du nähmst Veronica mit.” “Ich wäre entzückt.” Sie hat einiges für mich einzukaufen”, fuhr die alte Frau fort. Eustace wandte sich an Mrs. Thwale. “Dann wollen wir zusammen bei Betti ein kleines Lunch nehmen.” Aber es war die Königin-Mutter, die die Einladung ablehnte. “Nein, Eustace, ich will, daß sie gleich zurückkommt. In einem Taxi.” Er warf einen besorgten Blick auf Mrs. Thwale, um zu sehn, wie sie es aufnahm. Das Gesicht der Ingres-Madonna war ausdruckslos. “In einem Taxi”, wiederholte sie mit ihrer klaren, gleichmäßigen Stimme. “Gewiß, Mrs. Gamble.” Eine halbe Stunde später trat Veronica Thwale in der nüchternen Eleganz ihres schwarzen Kostüms in den Sonnenschein hinaus. Am Fuß der Türstufen stand der große dunkelblaue Isotta und sah ungeheuer kostspielig aus. Aber Paul De Vries, überlegte sie, als sie einstieg, war wahrscheinlich mindestens so wohlhabend wie Mr. Barnack. “Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen”, sagte Eustace und hob die Hand, in der er die zweite Zigarre des Tages hielt. Sie wandte ihm weit geöffnete Augen zu, lächelte, ohne die Lippen zu öffnen, und schüttelte den Kopf. Dann sah sie wieder auf ihre behandschuhten Hände, die schlaff gefaltet im Schoß lagen. Langsam rollte der Wagen die Zypressenallee entlang und durch das Gittertor hinaus auf die steilgewundene Straße. “Von allen Exemplaren meiner Sammlung”, sagte Eustace, das lange Schweigen unterbrechend, “ist, glaube ich, die Königin-Mutter vielleicht das bemerkenswerteste. Ein fossiler Skorpion aus der Steinkohlenzeit in fast vollkommener Erhaltung.”
Mrs. Thwale lächelte ihre gefalteten Hände an. “Ich verstehe nichts von Geologie”, sagte sie. “Und wie es sich trifft, ist das Fossil meine Arbeitgeberin.” “Das ist's, was ich am erstaunlichsten finde.” Sie sah fragend zu ihm auf. “Sie meinen, daß ich mich bei Mrs. Gamble als Gesellschafterin betätige?” Das vorletzte Wort, so bemerkte Eustace anerkennend, war leicht betont, so daß es seine volle, brontëische Bedeutung annahm. “Ja, das meine ich”, sagte er. Mrs. Thwale sah ihn abschätzend an, vermerkte den flott sitzenden Hut, den tadellos passenden perlgrauen Anzug, die Sulka-Krawatte, die Rosenknospe im Knopfloch. “Ihr Vater war nicht ein mittelloser anglikanischer Geistlicher in einer ärmlichen Londoner Vorstadt”, erklärte sie. “Nein, er war ein militanter Antiklerikaler in Bolton.” “Oh, ich denke dabei nicht an den Glauben”, antwortete sie mit einem leise ironischen Lächeln. “Sondern an das, was Ihre Schwiegermutter ,die Tatsachen' nennt.” “Wie etwa?” Sie zuckte die Achseln. “Frostbeulen zum Beispiel. In einem kalten Haus zu wohnen. Sich zu schämen, weil man nur so alte und schäbige Kleider hat. Aber Armut war noch nicht das Schlimmste. Ihr Vater hat nicht die christlichen Tugenden geübt.” “Im Gegenteil”, sagte Eustace. “Er war Berufsphilanthrop. Sie wissen doch — Trinkbrunnen, Krankenhäuser, Jugendheime.” “Ah, aber er gab nur das Geld her und ließ seinen Namen über die Tür setzen. Er mußte sich nicht selber in seinen scheußlichen Heimen betätigen.” “Wogegen Sie das tun mußten?” Mrs. Thwale nickte. “Seit meinem dreizehnten Lebensjahr. Und sobald ich sechzehn war, vier Abende in der Woche.”
“Hat man Sie gezwungen?” Mrs. Thwale antwortete nicht sogleich. Sie dachte an ihren Vater — an diese glänzenden Augen im Gesicht eines schwindsüchtigen Phöbus, diesen langen hageren Körper, vorgeneigt und engbrüstig. Und neben ihm ihre Mutter, winzig und sehr zart, aber die Beschützerin seiner hilflosen Weltfremdheit; ein kleiner, vogelhafter weiblicher Atlas, der das ganze Gewicht der materiellen Welt des Mannes trug. “Es gibt so etwas wie moralische Erpressung”, sagte sie endlich. “Wenn die Leute um einen herum sich unbedingt wie Frühchristen benehmen wollen, dann bleibt einem doch keine Wahl, nicht?” “Nicht viel, das gebe ich zu.” Eustace nahm die Zigarre aus dem Mundwinkel und atmete eine Rauchwolke aus. “Das ist einer der Gründe”, fügte er mit einem glucksenden Auflachen hinzu, “aus denen es so wichtig ist, die Gesellschaft der Guten zu meiden.” “Eine der Guten war Ihre Stieftochter”, sagte Mrs. Thwale nach einer kleinen Pause. “Wer? Daisy Ockham?” Sie nickte. “Oh, dann muß Ihr Vater dieser Kanonikus, wie heißt er nur? sein, von dem sie immer spricht.” “Kanonikus Cresswell.” “Stimmt — Cresswell.” Eustace sah sie strahlend an. “Na, ich kann nur sagen, Sie sollten sie hören, wenn sie von dem Thema anfängt!” “Das hab ich”, sagte Mrs. Thwale. “Sehr oft.” Daisy Ockham, Dotty Freebody, Yvonne Graves — die heiligen Frauen. Eine dick, zwei dürr. Sie hatte einmal eine Zeichnung von ihnen gemacht, wie sie am Fuß des Kreuzes hockten, an das ihr Vater von einem Trupp Pfadfinderjungen geschlagen wurde. Eustace unterbrach das Schweigen mit einem kurzen Auflachen auf Kosten seiner Stieftochter — und insgeheim
auch auf Kosten des Kanonikus Cresswell. Aber in diesem Fall schien es nicht nötig zu sein, auf kindliche Pietät Rücksicht zu nehmen. “Daisy und alle ihre guten Werke!” sagte er. “Aber natürlich”, fügte er mit mitleidigem Bedauern hinzu, “es gab nicht viel andres für das arme Ding, nachdem sie ihren Mann und ihren Sohn verloren hatte.” “Sie tat ihre guten Werke sogar schon vorher”, sagte Mrs. Thwale. “Da gibt's also wirklich keine Entschuldigung!” Mrs. Thwale lächelte und schüttelte den Kopf. Dann teilte sie ihm nach einer Pause aus freien Stücken mit, daß es Daisy Ockham gewesen war, die sie ursprünglich mit Mrs. Gamble bekannt gemacht hatte. “Ein seltenes Privileg”, meinte Eustace. “Aber ich hab doch in ihrem Haus Henry kennengelernt!” “Henry?” “Meinen Mann.” “Ach, natürlich.” Es entstand ein Schweigen, während dessen Eustace an seiner Zigarre saugte und sich zu erinnern suchte, was die Königin-Mutter von Henry Thwale erzählt hatte. Partner in einer Sollizitatorfirma, die das Vermögen Mrs. Gambles verwaltete. Ein sehr angenehmer und wohlerzogener Mensch; war aber mit einem perforierten Blinddarm hinübergegangen, erst — welches Alter hatte sie mit ihrer gewohnten dämonischen Genauigkeit in solchen Dingen erwähnt? — achtunddreißig, so schien er sich zu erinnern. Also mußte Henry mindestens zwölf oder vierzehn Jahre älter gewesen sein als seine Frau. “Wie alt waren Sie, als Sie heirateten?” fragte er. “Achtzehn.” “Grade das richtige Alter, wie Aristoteles behauptet.” “Aber nicht, wie mein Vater behauptete. Er wollte, ich solle noch zwei Jahre warten.”
Von Vätern heißt es, sie goutieren den Gedanken nicht, daß ihre jungen Töchter sich verheiraten.” Mrs. Thwale sah auf ihre gefalteten Hände hinab und dachte an ihre Flitterwochen, den Sommerurlaub am Mittelmeer. Das Schwimmen, die köstlich benommen machenden Sonnenbäder, die langen Siestastunden in dem Aquariumzwielicht der grünen Jalousien ihres Schlafzimmers. “Das wundert mich nicht”, sagte sie, ohne den Blick zu heben. Bei der Erinnerung an jene Extreme von Lust und Schamlosigkeit und Selbstpreisgabe lächelte sie ein wenig in sich hinein. “Laienpfründnerin der Natur, erst ich lehrte dich lieben.” Und dem Zitat hatte Henry als sein persönliches Zeugnis hinzugefügt, daß sie eine Musterschülerin sei. Aber er war freilich ein guter Lehrer gewesen; was ihn leider nicht gehindert hatte, auch von einem ganz abscheulich jähzornigen Temperament und knauserig mit Geld zu sein. “Na, ich bin froh, daß Ihnen die Flucht gelang”, sagte Eustace. Mrs. Thwale schwieg eine Weile. “Nach Henrys Tod”, sagte sie dann, “sah es fast so aus, als müßte ich dahin zurück, woher ich gekommen war.” “Zu den Armen und den Guten?” “Zu den Armen und den Guten”, echote sie. “Aber glücklicherweise brauchte Mrs. Gamble eine Vorleserin.” “Und so leben Sie jetzt unter den Reichen und Schlechten, wie?” “Als Schmarotzerin”, sagte Mrs. Thwale gelassen. “Als eine Art von glorifizierter Kammerzofe . . . Aber man muß eben das kleinere Übel wählen.” Sie öffnete ihr Handtäschchen, nahm ein Taschentuch heraus, hob es an die Nase und atmete sein Parfüm von Zibet und Blumen ein. In ihrem Elternhaus hing dauernd
der Geruch von Grünkohl und Kabeljau, und in den Mädchenhorten — na ja, der Geruch von Mädchen. “Ich persönlich”, sagte sie, während sie das Taschentuch wegtat, “bin lieber ein Anhängsel in einem Haus wie dem Ihren als selbständig mit — wieviel wär's gewesen? Ungefähr fünfzig Schilling in der Woche.” Nach einem kurzen Schweigen sagte Eustace: “In Ihrer Lage hätte ich vielleicht dieselbe Wahl getroffen.” “Das würde mich nicht wundern”, war Mrs. Thwales Bemerkung dazu. “Aber ich glaube, ich hätte die Grenze gezogen bei .. .” “Man zieht keine Grenzen, wenn man sich's nicht leisten kann!” “Nicht einmal bei fossilen Skorpionen?” Mrs. Thwale lächelte. “Ihre Schwiegermutter hätte lieber ein Trompetenmedium gehabt. Aber sogar sie muß mit dem zufrieden sein, was sie finden kann.” “Sogar sie!” wiederholte Eustace nach einem keuchenden Lachen. “Aber ich muß sagen, sie hat nicht wenig Glück gehabt, jemand wie Sie zu finden, nicht wahr?” “Nicht soviel Glück wie ich, Mrs. Gamble zu finden.” “Und wenn Sie beide einander nicht gefunden hätten, was dann?” Mrs. Thwale zuckte die Achseln. “Vielleicht hätte ich mir ein bißchen Geld mit Buchillustrationen verdient.” “Oh, Sie zeichnen?” Sie nickte. “Im geheimen.” “Warum im geheimen?” “Warum?” wiederholte sie. “Zum Teil aus bloßem Gewohnheitszwang. Sehn Sie, die Zeichnungen, die man machte, wurden daheim nicht sehr gewürdigt.” “Aus welchen Gründen? Ästhetischen oder ethischen?” Sie lächelte und zuckte die Achseln. “Schwer zu sagen!” Aber ihre Mutter war so entsetzlich verstört gewesen von der Entdeckung des Skizzenbuchs, daß sie sich für drei Tage mit Migräne ins Bett legte. Hernach hatte Veronica
nie mehr gezeichnet, außer im WC und auf Papier, das weggeworfen werden konnte ohne Gefahr, daß es im Abfluß steckenbliebe. Überdies”, fuhr sie fort, “ist Geheimhalten schon an und für sich ein solcher Spaß.” “Wirklich?” Sagen Sie mir nicht, Sie fühlen in dieser Beziehung wie mein Mann! Henry wäre Nacktkulturler gewesen, wenn er zehn Jahre später geboren worden wäre.” “Sie aber nicht, obgleich Sie tatsächlich zehn Jahre später geboren wurden?” Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf. “Ich würde nicht einmal eine Wäscheliste schreiben, wenn noch jemand im Zimmer ist. Aber Henry . .. Wirklich, die Tür seines Zimmers war nie geschlossen. Nie! Es machte mich ganz krank, ihn nur anzusehn.” Sie schwieg einen Augenblick. “Es gibt ein entsetzliches Gebet am Beginn der Kommunion”, fuhr sie fort. “Sie kennen es doch: ,Allmächtiger Gott, vor dem alle Herzen offen sind, der jedes Verlangen kennt und dem kein Geheimnis verborgen ist.' Wirklich entsetzlich! Ich machte Zeichnungen über das Thema. Das waren die, von denen meine Mutter am meisten bestürzt zu sein schien.” “Das will ich gern glauben”, sagte Eustace mit einem Lachgluckser. “Einmal”, fügte er hinzu, “werden Sie mir doch wohl einige Ihrer Zeichnungen zeigen?” Mrs. Thwale sah ihn forschend an und wandte die Augen weg. Ein paar Sekunden sprach sie nicht, dann gab sie ihre Antwort, langsam und im Ton eines Menschen, der ein Problem durchdachte und endlich zu einer Entscheidung gekommen ist. “Sie gehören zu den wenigen Leuten, denen ich sie nicht höchst ungern zeigen würde.” “Ich fühle mich geschmeichelt”, sagte Eustace. Mrs. Thwale öffnete ihr Handtäschchen und zog zwi-
sehen dessen parfümiertem Inhalt einen halben Bogen Briefpapier hervor. “Daran habe ich heute morgen, vor dem Frühstück, gearbeitet.” Er nahm das Blatt und klemmte sich sein Monokel ins Auge. Es war eine Federzeichnung und trotz ihrer Kleinheit außerordentlich detailliert und genau. Tüchtige Leistung, war Eustaces Urteil, aber unangenehm pitzlig. Er sah sie näher an. Die Zeichnung stellte eine Frau dar, in das strengste und korrekteste modische Tailormade gekleidet, wie sie, Gebetbuch in der Hand, durchs Schiff einer Kirche nach vorn ging. Hinter sich her, an einer Schnur, zog sie einen Hufeisenmagneten — aber einen, der so gebogen und gerundet war, daß er ein Paar sich bis zu den Knien verjüngender Schenkel andeutete. Auf dem Boden, ein kleines Stück hinter der Frau, lag ein riesiger Augapfel, so groß wie ein Kürbis, und die Pupille starrte wild auf den sich entfernenden Magneten. An den Seiten des Auges entsprossen zwei wurmartige Arme und endeten in einem Paar riesiger gekrümmter Hände, die sich in den Boden krallten. So stark war die Anziehung und so verzweifelt das vergebliche Bemühn zu widerstehn, daß die schleifenden Fingernägel lange Rillen in die Steinfliesen gerissen hatten. Eustace zog die linke Braue hoch und ließ sein Monokel fallen. “An der Parabel verstehe ich nur eins nicht” , sagte er. “Warum in einer Kirche?” “Ach, aus einer ganzen Anzahl von Gründen”, antwortete Mrs. Thwale, die Achseln zuckend. “Achtbarkeit erhöht die Anziehungskraft einer Frau immer. Und Entweihung gibt dem Vergnügen eine Extrawürze. Und schließlich ist eine Kirche der Ort, wo Leute heiraten. Überdies, wer sagt Ihnen, daß es nicht das Dekameron ist, was sie in der Hand trägt, in schwarzes Leder gebunden wie ein Gebetbuch?”
Sie nahm das Blättchen Papier und tat es in ihre Handtasche zurück. Es ist schade, daß Fächer aus der Mode gekommen sind”, fügte sie in anderm Ton hinzu, “Und diese großen weißen Masken, die Casanova erwähnt. Oder Gespräche mit einem Wandschirm dazwischen, etwa wie mit den Damen in der Geschichte von Genji. Wäre das nicht himmlisch?” “Wäre es das?” Sie nickte, und ihr Gesicht leuchtete von ungewohnter Belebung. “Man könnte die seltsamsten Dinge tun, während man mit dem Vikar plaudert über . .. na, sagen wir, den Völkerbund. Oh, die allerseltsamsten!” “Beispielsweise?” Ein kleines Grunzen, dieses fast tonlose Auflachen, war die ganze Antwort, die sie ihm gönnte. Es entstand eine Pause. “Und dann”, fügte sie hinzu, “denken Sie doch, welche Ungeheuerlichkeiten man hervorbringen könnte, ohne zu erröten!” “Und Sie haben das Gefühl, daß Sie Ungeheuerlichkeiten hervorbringen möchten?” Mrs. Thwale nickte. “Ich wäre eine gute Naturwissenschaftlerin geworden”, sagte sie. “Was hat denn das damit zu tun?” “Aber sehn Sie denn nicht?” fragte sie ungeduldig. “Sehn Sie denn nicht? Stückchen von Fröschen und Mäusen abzuschneiden, Krebsgewebe auf Kaninchen zu pfropfen, Dinge miteinander in Reagenzröhrchen zu kochen — nur um zu sehn, was draus wird, nur des Spaßes halber; mutwillig Monstrositäten hervorzubringen — aus mehr besteht Naturwissenschaft nicht.” “Und Ihnen würde das Freude machen außerkalb des Laboratoriums? “ “Nicht in der Öffentlichkeit, selbstverständlich.”
“Aber wenn Sie im Hinterhalt säßen, hinter einem Wandschirm, wo die Guten Sie nicht sehen könnten ...” “Im Hinterhalt, hinter einem Wandschirm”, wiederholte Mrs. Thwale gedehnt. “Und nun”, fuhr sie in anderm Ton fort, “werde ich aussteigen müssen. Irgendwo hier auf dem Lungarno ist ein Laden, wo man Gummiratten für Hunde bekommt. Ratten mit Schokoladegeschmack. Auf den ist Foxi sehr scharf, so scheint es. Ah, hier sind wir!” Sie neigte sich vor und klopfte an die Glasscheibe. Eustace sah ihr nach. Dann setzte er seinen Hut wieder auf und befahl dem Chauffeur, zu Greuil in die Via Tornabuoni zu fahren.
7. KAPITEL Greuil Frères, Bruxelles, Paris ... Eustace stieß die Tür auf und betrat den vollgeräumten Laden “Wo jedes Bild entzücket”, summte er, wie stets bei dieser Gelegenheit die Hymne des Bischofs von Kalkutta parodierend, “und nur der Mensch ein Greuil Frère, Bruxelles, Paris, Firenze, Wien.” Aber an diesem Vormittag bot sich seinem Blick nicht der, sondern das Mensch. Mme. Greuil war, als er eintrat, grade dabei, einen unverkennbaren anglo-indischen Colonel zum Ankauf eines Braque zu überreden. Der Versuch war so lächerlich und die Versucherin so hinreißend hübsch, daß Eustace Interesse für ein besonders häßliches Stück Majolika simulierte, um einen Vorwand zu haben, aus der Nähe beobachten und horchen zu können. Perlig, golden, köstlich rosig und rundlich — wie war dieses strotzende junge Geschöpf der Rubensleinwand entsprungen, die so offenkundig seine Heimstätte war? Und, gütiger Himmel! wie kam es, daß eine Gestalt aus Peter Pauls Mythologie Kleider trug? Doch auch in ihrer unpassenden Garnierung aus dem zwanzigsten Jahrhundert blieb Greuils flämische Venus scharmant. Was die Absurdität dessen, was sie da dem Colonel vorspielte, nur steigerte. Mit dem Ernst eines kleinen Mädchens, das sich die größte Mühe gibt, die so mühselig auswendig gelernte Lektion wortgetreu herzusagen, plapperte sie gewissenhaft die Unsinnsfloskeln nach, mit denen ihr Mann seine Suada so unvergleichlich zierte. “Taktik valeurs”, “Rhythmus”, “signifikante Formen”, “repoussoirs”, “kalligraphische Kontur” — Eustace erkannte alle die stereotypen Phrasen der zeitgenössischen Kunstkritik wieder und neben ihnen solche Produkte von Greuils eignem, üppig wucherndem
Genie, wie “vierdimensionales Volumen”, “couleur d'eternite” und “plastische Polyphonie”; das alles auf englisch mit einem so starken französischen Akzent vorgebracht, so unanständig “putzig”, so sehr an das “tres mechant” -Gezwitscher einer pariserischen Miss auf der englischen Operettenbühne erinnernd, daß das derbrote Gesicht des Colonels vor Lüsternheit förmlich glänzte. Plötzlich ertönten eilige Schritte und der laute, entzückte Ruf: “Monsieur Eustache!” Eustace wandte den Kopf. Untermittelgroß, breitschultrig, erstaunlich flink und agil, war es Gabriel Greuil selbst, der da, zwischen den Barockstatuen und den Cinquecentomöbeln durch, auf ihn zugeeilt kam. Er ergriff Eustaces Hand mit seinen beiden, schüttelte sie lange und überschwenglich, beteuerte ihm in einer Sturzflut von unverbesserlich belgisch klingendem Englisch, wie glücklich er sei, wie stolz, wie tief gerührt und geschmeichelt; und flüsterte dann, die Stimme senkend, dramatisch, daß er soeben etwas von seinem Bruder in Paris erhalten habe, eine Sendung von Schätzen, bei deren erstem Anblick er sich sogleich gesagt habe, daß er sie niemand zeigen wolle, keiner Seele, nicht einmal Pierpont Morgan selbst, bei Gott nicht! ehe nicht ce eher monsieur Eustache die Jungfernschaft aus dem Portefeuille gepflückt und es seiner erlesensten Süßigkeiten beraubt hätte. Und was für Süßigkeiten! Handzeichnungen von Degas, wie man nie ähnliche gesehn habe. Noch immer von Begeisterung übersprudelnd, ging er in einen Hinterraum voran. Auf einem üppig geschnitzten venezianischen Tisch lag eine schwarze Mappe. “Hier”, rief er und wies mit der Geste eines Menschen auf sie, der bei einem alten Meisterbild einigermaßen überflüssigerweise auf die Verklärung Christi oder das Martyrium des heiligen Erasmus aufmerksam macht. Einen Augenblick schwieg er, und während er dann seine Miene zum libidinösen Feixen eines Sklavenhändlers veränderte, der einem alternden Pascha ein paar Zirkassie-
rinnen anpreist, begann er die Bänder der Mappe zu entknüpfen. Die Hände, so bemerkte Eustace, waren geschickt und kräftig, ihre Rücken von einem Pelz schwarzer Haare bedeckt, die kurzen Finger exquisit manikürt. Schwungvoll schlug Monsieur Greuil den schweren Deckel aus Pappe zurück. “Schauen Sie doch!” Es klang triumphierend und selbstgewiß. Beim Anblick dieser frisch entsprossenen Brustwarzen, dieses unvergleichlichen Nabels, konnte kein Pascha, und wenn noch so übersättigt, auch nur im mindesten widerstehn. “Schauen Sie doch nur!” Sein Monokel einklemmend, schaute Eustace und sah die Kohleskizze einer nackten Frau, die in einer einem römischen Sarkophag gleichenden Blechbadewanne stand. Der eine Fuß, mißgeformt durch das Tragen zu enger Schuhe, war auf den Rand der Wanne gesetzt, und die Frau bückte sich, so daß Haar und Brüste nach der einen Seite hingen, während der Rumpf knochig nach der andern hinausstand und das eine Knie, im denkbar ungraziösesten Winkel, auswärts gebogen war, damit sie die Ferse scheuern könnte, die, wie man durch eine unanalysierbare Finesse der Zeichnung erriet, gelblich war und trotz Seife chronisch schmutzig aussah. “War dies das Antlitz ...?” zitierte Eustace halblaut. Aber es gab wirklich niemand, der Degas ganz gleichkam, niemand, der die kosigen, häuslichen Jämmerlichkeiten unserer physischen Existenz so eindringlich und in so erlesen schönen Formen wiederzugeben vermochte. “Sie hätten mir nicht den Magnasco verkaufen sollen”, sagte er laut. “Wie soll ich mir jetzt eine von diesen leisten?” Der Sklavenhändler warf einen Blick auf den Pascha und sah, daß die Zirkassierinnen die erwünschte Wirkung zu haben begannen. Aber sie seien so billig, widersprach er; und eine so sichere Anlage — so sicher wie Suezkanal-
Aktien. Und dann möge Monsieur Eustace sich doch diese hier ansehn! Er legte das erste Blatt beiseite; und es zeigte sich das Antlitz, das ein Tausend Schiffe in See gesandt, nun von hinten, wie es sich über den Blechsarkophag vorneigte und sich mit einem Handtuch kräftig den Nacken trockenrieb. Gabriel Greuil wies mit einem dicken, tadellos manikürten Zeigefinger auf die Hinterbacken. “Diese valeurs!” hauchte er ekstatisch. “Diese Volumen, diese Kalligraphie!” Eustace platzte mit einem Lachen heraus. Aber wie gewöhnlich war es Monsieur Greuil, der zuletzt lachte. Schritt für Schritt begann der übersättigte Pascha nachzugeben. Er werde es vielleicht in Erwägung ziehn — das heiße, wenn der Preis nicht allzu exorbitant ... Nur achttausend Lire, redete ihm der Sklavenhändler zu, nur achttausend, für etwas, das nicht nur ein Meisterwerk, das überdies eine sichere Kapitalsanlage sei. Es war ein ganz vernünftiger Preis; aber Eustace fühlte sich verpflichtet, ihn zu hoch zu finden. Nein, nein, keinen Centesimo weniger als achttausend. Aber wenn Monsieur Eustace zwei von ihnen nehme und bar zahle, könne er sie zusammen um nur vierzehn haben. Vierzehn, vierzehn ... Nach dem Brief von der Bank heute morgen konnte man fast sagen, man bekomme zwei Degas gratis, einfach geschenkt. Nachdem sein Gewissen beruhigt war, zog Eustace sein Scheckbuch hervor. “Ich nehme sie gleich mit”, sage er, auf die Fußwäscherin und die Nackentrocknerin weisend. Fünf Minuten später trat er, das rechteckige flache Paket unterm Arm, wieder ins Sonnenlicht der Via Tornabuoni. Von Greuils Kunsthandlung begab sich Eustace in die Leihbibliothek von Vieusseux, um zu sehn, ob die dort ein Exemplar von Lamettries L'Homme Machine hatten. Aber natürlich hatten sie keins; und nachdem er die neuesten französischen und englischen Zeitschriften durch-
geblättert hatte, in der vergeblichen Hoffnung, etwas zu finden, was man lesen könnte, trat er wieder ins Gedränge der engen Straßen hinaus. Nach einem Augenblick des Zögerns entschied er sich dafür, auf einen Sprung in den Bargello zu gehn und dann,' auf dem Weg zum Mittagessen, zu Bruno Rontini hineinzusehn und ihn zu bitten, für Sebastian die Erlaubnis zur Besichtigung der Villa Galigai zu beschaffen. Zehn Minuten genügten, um zwischen den Donatellos hindurchzueilen, und den Kopf voller heroischer Bronzeund Marmorgestalten, schlenderte er weiter, der Buchhandlung zu. Ja, es wäre sehr schön, dachte er, es wäre wirklich sehr schön, wenn das Leben, das man geführt hatte, von der Qualität dieser Statuen gewesen wäre. Adel ohne Affektation. Abgeklärtheit im Verein mit leidenschaftlicher Energie. Würde mit Anmut gepaart. Aber leider waren das nicht grade die Merkmale, die sein eignes Leben aufzuweisen hatte. Und das war zweifellos bedauerlich. Es hatte aber selbstverständlich seine entschädigenden Vorteile. Eine Donatellofigur zu sein, wäre für seinen Geschmack etwas ganz und gar zu Anstrengendes gewesen. So etwas war viel eher etwas für John — John, der sich immer als das Äquivalent einer Mischung aus Gattamelata und Johannes dem Täufer sah. In Wirklichkeit aber war sein Leben ... was? Eustace suchte nach der Antwort und entschied schließlich, daß Johns Leben sich am besten einem Kriegsbild vergleichen ließ, von einem dieser jämmerlichen Pinsler gemalt, die fürs Illustrieren von Magazinen geboren waren, aber unseligerweise die Kubisten zu Gesicht bekommen und sich die hohe Kunst angewöhnt hatten. Armer John! Er besaß keinen Geschmack, kein Stilgefühl .. . Doch hier um die Ecke war Brunos Laden. Er öffnete die Tür und betrat das Dunkel der kleinen, mit Büchern ausgekleideten Höhle.
Hinter dem Ladentisch saß ein Mann und las beim Licht einer grünbeschirmten Lampe, die von der Decke hing. Beim Erklingen der Türglocke legte er das Buch weg, und mit Bewegungen, die mehr Resignation angesichts der Unterbrechung als Erfreutsein angesichts einer Kundschaft ausdrückten, erhob er sich und ging dem Eingetretenen entgegen. Er war ein junger Mann Mitte der Zwanziger, hochgewachsen, grobknochig, mit einem schmalen konvexen Gesicht wie das eines angestrengt nachdenkenden und überernsten, aber doch nicht sehr intelligenten Widders. “Buon giorno”, sagte Eustace munter. Der junge Mann erwiderte seinen Gruß ohne jede Spur eines antwortenden Lächelns, nicht etwa, dessen fühlte sich Eustace gewiß, weil er unhöflich zu sein wünschte, sondern einfach, weil für ein solches Gesicht jedes Lächeln fast eine Unmöglichkeit war. Er fragte, wo Bruno sei, und erfuhr, daß Bruno nicht vor einer Stunde zurückkäme. “Strabanzt wie gewöhnlich herum!” bemerkte Eustace dazu, mit dieser unnötigen und recht witzlosen Scherzhaftigkeit, zu der ihn, wenn er Italienisch sprach, das Verlangen, seine vollkommene Beherrschung des toskanischen Idioms darzutun, so oft vorführte. “Wenn Sie es so ausdrücken wollen, Mr. Barnack”, sagte der junge Mann mit ruhigem Ernst. “Oh, Sie wissen, wer ich bin?” Der andre nicke. “Ich kam einmal in den Laden, im vergangenen Herbst, als Sie grade mit Bruno sprachen.” “Und als ich gegangen war, hat er Ihnen mit einer gründlichen Sezierung meines Charakters aufgewartet?” “Wie können Sie das sagen!” rief der junge Mann vorwurfsvoll. “Sie, der Sie Bruno so lange kennen!” Eustace lachte und klopfte ihm auf die Schulter. Der Bursche hatte natürlich keinen Humor; war aber in seiner Loyalität für Bruno und der feierlichen ovinen Aufrichtigkeit, mit der er sprach, seltsam rührend.
“Ich hab ja nur gescherzt”, sagte er. “Bruno ist der letzte, der über einen andern klatschen würde, sobald er den Rücken kehrt.” Zum erstenmal während des Gesprächs erhellte sich das Gesicht des jungen Mannes zu einem Lächeln. “Ich bin froh, daß Sie das begreifen”, sagte er. “Nicht nur begreifen, sondern manchmal sogar bedauern”, sagte Eustace ein wenig boshaft. “Nichts ruiniert Konversation so gründlich wie verzeihendes Verstehn. Und von den Tugenden andrer läßt sich schwer amüsant reden. Wie heißen Sie übrigens?” fügte er hinzu, bevor der junge Mann Zeit hatte, die schmerzliche Mißbilligung aus seiner Miene in Worte zu übersetzen. “Malpighi, Carlo Malpighi.” “Nicht etwa mit dem Avvocato Malpighi verwandt?” Der andre zögerte; ein Ausdruck der Verlegenheit erschien auf seinem Gesicht. “Er ist mein Vater”, sagte er endlich. Eustace verriet keine Überraschung; aber seine Neugier war geweckt. Warum der Sohn eines äußerst erfolgreichen Rechtsanwalts wohl antiquarische Bücher verkaufte? Er nahm sich vor, das herauszufinden. “Ich vermute, Bruno ist Ihnen sehr behilflich gewesen?” begann er und schlug damit den Weg ein, den er für den kürzesten zum Vertrauen des jungen Mannes hielt. Er täuschte sich nicht. Nach einer kleinen Weile hatte er Jung-Rammsnaseweis fast zum Schwatzen gebracht: von seiner kränklichen und konventionellen Mutter; von seines Vaters Vorliebe für die beiden älteren und gescheiteren Söhne; wie il Darwinismo auf ihn eingewirkt und er seinen Glauben verloren habe; daß er sich der Religion des Humanismus zuwendete. “Religion des Humanismus!” wiederholte Eustace feinschmeckerisch. Wie köstlich komisch, daß Leute noch immer an die Menschheit glaubten! Vom theoretischen Sozialismus zu einem aktiven Anti-
faschismus war es nur ein Schritt, ein kurzer und logischer — und in Carlos Fall ein besonders logischer gewesen, da beide Brüder Parteimitglieder und im raschen Emporklettern der Rangleiter begriffen waren. Carlo hatte zwei Jahre damit verbracht, verbotene Schriften zu verteilen, heimliche Zusammenkünfte zu besuchen und zu Bauern und Arbeitern zu sprechen, um sie, wie er hoffte, dazu zu überreden, der alles durchdringenden Tyrannei irgendeine Art von Widerstand entgegenzusetzen. Aber nichts geschah; er hatte keinerlei Erfolg seiner Bemühungen aufzuweisen. Insgeheim murrten die Leute und raunten einander Witze und schlüpfrige Geschichtchen über ihre Zwingherren zu; öffentlich schrien sie weiter: “Duce, Duce!” Und inzwischen wurde von Zeit zu Zeit einer von Carlos Gefährten erwischt und entweder auf die altmodische Art verprügelt oder auf die Insel verschifft. Das war alles gewesen; absolut alles. “Und auch wenn es nicht alles gewesen wäre”, warf Eustace ein, “auch wenn Sie die Leute dazu überredet hätten, etwas Gewaltsames und Entscheidendes zu tun, was dann? Eine kleine Weile hätte Anarchie geherrscht, und dann, um die Anarchie zu kurieren, wäre ein andrer Diktator gekommen, hätte sich einen Kommunisten genannt, zweifellos, aber sonst wäre er von seinem Vorgänger nicht zu unterscheiden gewesen. Gar nicht zu unterscheiden”, wiederholte er mit den fröhlichsten Lachglucksern. “Natürlich nur, wenn er nicht zufällig schlimmer gewesen wäre.” Der andre nickte. “Auch Bruno sagt etwas dergleichen.” “Ein verständiger Mensch!” “Er sagt aber auch noch etwas andres —” “Aha, das habe ich befürchtet!” Carlo ließ die Unterbrechung unbeachtet, und sein Gesicht glühte vor plötzlichem Eifer. “— daß es nur einen einzigen Winkel des Universums gibt, den verbessern zu können man gewiß sein kann, und
der ist das eigene Ich. Das eigene Ich”, wiederholte er. Also muß man da beginnen, nicht außen, nicht bei andern Leuten. Das kommt später, wenn man in seinem eigenen Winkel gearbeitet hat. Man muß gut sein, bevor man Gutes tun kann — jedenfalls bevor man Gutes tun kann, ohne gleichzeitig Schaden zu tun. Mit der einen Hand wohltun, mit der andern wehtun — das ist's, was der gewöhnliche Reformer tut.” “Wogegen der wahrhaft Weise”, sagte Eustace, “mit keiner etwas tut.” “Nein, nein”, widersprach der andre mit einem Ernst, der kein Lächeln kannte. “Der Weise beginnt damit, daß er sich umwandelt, um andern helfen zu können, ohne Gefahr zu laufen, dabei verdorben zu werden.” Und mit der Sprunghaftigkeit der Leidenschaft begann er von der Französischen Revolution zu reden. Die Männer, die sie machten, hätten die besten Absichten gehabt; aber diese guten Absichten seien hoffnungslos mit Eitelkeit und Ehrgeiz und Fühllosigkeit und Grausamkeit vermengt gewesen. Die unausweichliche Folge davon sei gewesen, daß, was als eine Freiheitsbewegung begonnen hatte, zu Terrorismus und einem Streit um die Macht entartete, zu Tyrannei und Imperialismus und in der ganzen Welt zu Gegenbewegungen gegen den Imperialismus. Und dazu müsse es einfach überall kommen, wo die Menschen versuchen, Gutes zu tun, ohne gut zu sein. Niemand könne mit schmutzigen oder mißgeformten Werkzeugen ordentliche Arbeit leisten. Es gebe keinen Ausweg, nur Brunos Weg. Und selbstverständlich sei Brunos Weg derjenige, auf den schon oft hingewiesen worden sei von ... Er verstummte plötzlich, und erst jetzt Eustace als möglichen Kunden wahrnehmend, sah er sehr schafsmäßig drein. “Entschuldigen Sie”, sagte er, “ich weiß nicht, warum ich so zu Ihnen rede. Ich hätte Sie fragen sollen, was Sie wünschen.” “Genau das, was Sie mir gegeben haben”, sagte Eustace
mit einem Lächeln belustigter und ein wenig ironischer Freundlichkeit. “Und ich bin bereit, jedes Buch zu kaufen, das Sie empfehlen, von Aretino bis zur Petite Fadette.” Carlo Malpighi sah ihn einen Augenblick zögernd und schweigend an, beschloß dann, ihn beim Wort zu nehmen, ging zu einem der Regale und kam mit einem ziemlich abgegriffenen Band zurück. “Kostet nur fünfundzwanzig Lire”, sagte er. Eustace klemmte sein Monokel ein, öffnete das Buch aufs Geratewohl und las laut: “ ,An Gnade fehlte es dir nicht, aber du fehltest der Gnade. Gott entzog dir nicht die Wirkung seiner Liebe, aber du entzogst seiner Liebe deine Mitwirkung. Gott hätte dich nie zurückgewiesen, wenn du ihn nicht zurückgewiesen hättest.' Sapperlot!” Er blätterte zurück zum Titelblatt. “Traktat von der Liebe Gottes, von St-Frangois de Sales”, las er. “Schade, daß es nicht de Sade ist. Allerdings”, fügte er, die Brieftasche hervorziehend, hinzu, “hätte es dann beträchtlich mehr als fünfundzwanzig Lire gekostet.”
8. KAPITEL Eustace hatte sich darauf verlassen, bei Betti irgendeinen Bekannten anzutreffen, mit dem er essen könnte, und hatte daher keine Verabredung zum Lunch getroffen. Unklugerweise, wie er nun einsah, als er das Lokal betrat. Denn Mario De Lellis war umringt von einer großen konvivialen Gesellschaft und konnte nur von fern einen Gruß winken. Und Pippas Vater, der feierlich ernste alte Schottelius, hielt zwei andern Deutschen einen pontifikalen Vortrag über Weltpolitik. Und Tom Pewsey, der saß dort so traulich mit einem so außerordentlich hübschen nordischen Jüngling, daß er das Erscheinen seines ältesten Freundes gar nicht bemerkte. Also setzte sich Eustace an den ihm angewiesenen Tisch und machte sich ziemlich betrübt darauf gefaßt, ein einsames Mahl zu verzehren, als ihm plötzlich über den Rand der Speisenkarte her eine eindringliche Anwesenheit bewußt wurde. Er hob den Blick und gewahrte einen schlanken jungen Mann, der mit der ganzen, wie auf einen Brennpunkt eingestellten Aufmerksamkeit zweier sehr heller brauner Augen und den unverwandt starrenden Löchern einer neugierig aufgeworfenen Nase auf ihn niedersah. “Sie erinnern sich vermutlich meiner nicht”, sagte der Fremde. Es war eine Stimme aus Neu-England; und ihr Tonfall verband auf sonderbare Weise angeborenen ungeduldigen Eifer mit einer anerzogenen akademischen Ausdruckslosigkeit, Bedächtigkeit und Eintönigkeit. Eustace schüttelte den Kopf. “Nein, ich fürchte, ich erinnere mich nicht”, gestand er.
“Ich hatte das Vergnügen, Ihnen im Januar in Paris vorgestellt zu werden. Bei Mrs. Gamble.” “Oh, Sie sind Mr. De Jong?” “De Vries”, verbesserte der junge Mann, “Paul De Vries.” “Über Sie weiß ich eine ganze Menge”, sagte Eustace. “Sie erzählen meiner Schwiegermutter von Einstein.” Sehr strahlend, als knipste er mit bewußter Absicht ein Licht an, lächelte der junge Mann. “Läßt sich ein anregenderes Thema denken?” “Keines — es sei denn das Thema des Mittagessens, wenn die Uhr sagt, daß es halb zwei ist. Wollen Sie mir bei einer Diskussion darüber Gesellschaft leisten?” Der junge Mann hatte offenbar just eine solche Einladung erhofft. “Ich danke Ihnen vielmals.” Er legte die beiden dicken Bücher, die er trug, auf den Tischrand, setzte sich, stützte die Ellbogen auf und neigte sich zu seinem Gefährten. “Jeder Mensch sollte etwas von Einstein wissen”, fing er an. “Einen Augenblick”, unterbrach ihn Eustace. “Beginnen wir, indem wir entscheiden, was wir essen wollen.” “Ja, ja, das ist sehr wichtig”, stimmte der andre bei, aber mit einem offenkundigen Mangel jeglicher Überzeugung. “L'estomac a ses raisons, würde Pascal sagen.” Er lachte, wie um einer Pflicht zu genügen, und griff nach der Speisenkarte. Als der Kellner die Bestellungen entgegengenommen hatte, stemmte er wieder die Ellbogen auf und begann von neuem. “Wie ich sagte, Mr. Barnack, jeder Mensch sollte etwas von Einstein wissen.” “Auch jeder, der nicht verstehn kann, was der zu sagen hat?” “Aber es kann's jeder”, widersprach der andre. “Es sind nur die mathematischen Operationen, die schwierig sind. Das Prinzip ist einfach — und schließlich ist es doch das
Verständnis des Prinzips, was Wertungen und Verhalten beeinflußt.” Eustace lachte laut heraus. “Ich kann meine Schwiegermutter ihre Wertungen und ihr Verhalten ändern sehn, um sie dem Relativitätsprinzip anzupassen!” Na ja sie ist natürlich schon ein wenig ältlich”, gab der andre zu. “Ich dachte mehr an Leute, die jung genug sind, um flexibel zu sein. Zum Beispiel die Dame, die als Mrs. Gambles Gesellschafterin fungiert ...” Aha, also das war's! Darum war er so beflissen in seinen Aufmerksamkeiten gegen die Königin-Mutter gewesen! Dann war aber die Zeichnung des magnetisierten Auges vielleicht nicht nur eine Parabel, sondern ein Stückchen Geschichte. “... mathematisch gesprochen, beinahe eine Analphabetin”, sagte der junge Mann. “Aber das hindert sie nicht, die Reichweite und Bedeutung der Einsteinschen Revolution zu begreifen.” Und was für einer Revolution! fuhr er mit steigender Begeisterung fort. Unvergleichlich bedeutungsvoller als alles, was in Rußland oder Italien geschehn sei. Denn dies sei die Revolution, die den ganzen Verlauf wissenschaftlichen Denkens verändert habe, den Idealismus wiedergebracht, den Geist dem Gewebe der Natur integriert und für immer diesem Alptraum ein Ende gemacht habe, dem Alptraum von einem Universum unendlich kleiner Billardkugeln, den das neunzehnte Jahrhundert geträumt hatte. “Wirklich schade”, sagte Eustace so nebenhin. “Ich habe diese kleinen Billardkugeln gradezu geliebt.” Er widmete sich dem Teller bandförmiger lasagne verdi, den der Kellner vor ihn gestellt hatte. “Erstklassig”, sagte er anerkennend mit vollem Mund. “Fast so gut wie im Pappagallo in Bologna. Kennen Sie Bologna?” fügte er hinzu und hoffte, damit das Gespräch auf kongenialere Themen abzulenken. Aber Paul De Vries kannte Bologna nur allzu gut; hatte
im vergangenen Herbst eine Woche dort verbracht und Unterredungen mit den interessantesten Leuten von der Universität gehabt. “Von der Universität?” wiederholte Eustace ungläubig. Der junge Mann nickte, legte die Gabel hin und erklärte, er habe während der letzten zwei Jahre eine Tour durch alle führenden Universitäten Europas und Asiens gemacht; sei dabei so ziemlich mit allen wirklich bedeutenden Leuten an einer jeden in Berührung gekommen; habe nämlich versucht, sich ihrer Mitwirkung für sein großes Projekt zu versichern —die Errichtung einer internationalen Austauschstelle von Ideen, die Schaffung eines Generalstabs, einer wissenschaftlich-religiös-philosophischen Synthese für den ganzen Planeten. “Mit Ihnen selbst als Chef?” konnte sich Eustace nicht enthalten einzuwerfen. “Nein, nein”, verwahrte sich der andre. “Nur als Verbindungsoffizier und Dolmetscher. Nur als Brückenbauingenieur.” Das sei das ganze Ausmaß seines Ehrgeizes: ein schlichter Brückenbauer zu sein, ein Pontifex. Nicht maximus, fügte er mit wieder so einem hellen, bewußt eingeschalteten Lächeln hinzu. Ein Pontifex minimus. Und er habe alle Hoffnung auf Erfolg. Die Leute seien außerordentlich freundlich und hilfreich und interessiert gewesen. Und nebenbei könne er Eustace versichern, daß Bologna seinem alten Ruf durchaus gerecht werde. Es würden dort gradezu aufregende Arbeiten über Kristallographie gemacht; und in seinen letzten Vorlesungen über Ästhetik mache Bonomelli Gebrauch von allen Hilfsquellen moderner Psychophysiologie und vieldimensionaler Mathematik. Etwas, das sich Bonomellis Ästhetik wirklich vergleichen lasse, sei noch nie dagewesen. Eustace wischte sich den Mund und trank ein wenig von dem Chianti. “Ich wollte, man könnte dasselbe von der heutigen ita-
lienisdien Kunst sagen”, bemerkte er, als er sein Glas aus dem bauchigen fiasco in dem Kippständer nachfüllte. Ja, gab der andre abwägend zu, es sei wohl wahr, daß Staffeleibilder im heutigen Italien nicht viel hießen, aber er habe höchst bemerkenswerte Beispiele sozialisierter und kommunaler Kunst gesehn. Klassisch-funktionale Postämter, giganteske Fußballstadien, heroische Wandgemälde. Und das werde doch schließlich die Kunst der Zukunft sein. Lieber Gott”, sagte Eustace, “ich hoffe nur, ich werd's nicht erleben, sie zu sehn!” Paul de Vries winkte dem Kellner, den fast unberührten Teller lasagne zu entfernen, zündete sich hungrig eine Zigarette an und sprach weiter. “Sie sind, wenn ich so sagen darf, ein Exemplar des individualistischen Menschen. Aber der individualistische Mensch weicht rapid dem sozialistischen.” “Ich hab's gewußt”, sagte Eustace. “Jeder, der der Menschheit Gutes tun will, endet stets dabei, sie in allem herumzukommandieren.” Der junge Mann widersprach. Er rede nicht von Reglementierung, sondern von Integrierung. Und in einer richtig integrierten Gesellschaft werde ein neues kulturelles Feld entstehn, innerhalb dessen neue Arten ästhetischer Werte entstehn würden. “Ästhetische Werte!” wiederholte Eustace ungeduldig. “Das ist eine von diesen Phrasen, die mich mit tiefstem Mißtrauen erfüllen.” “Was veranlaßt Sie, das zu sagen?” Eustace antwortete mit einer andern Frage. “Welche Farbe hat die Tapete Ihres Hotelzimmers?” fragte er. “Welche Farbe ... die Tapete?” echote der junge Mann in einem Ton des Erstaunens. “Keine blasse Ahnung.” “Ja, das hab ich mir gedacht”, sagte Eustace. “Und darum mißtraue ich ästhetischen Werten so sehr.” Der Kellner brachte die Truthahnbrust in Rahmsoße, und er verfiel in Schweigen. Paul De Vries drückte seine
Zigarette aus und nahm zwei oder drei Bissen, die er mit außerordentlicher Geschwindigkeit kaute, wie ein Kaninchen. Dann wischte er sich die Lippen, entzündete eine neue Zigarette und starrte Eustace mit seinen hellen Augen und glotzenden Nasenlöchern an. “Sie haben recht”, sagte er, “Sie haben durchaus recht. Mein Geist ist so eifrig damit beschäftigt, über Werte nachzudenken, daß ich keine Zeit habe, sie zu erleben.” Dieses Eingeständnis wurde mit so naiver Bescheidenheit gemacht, daß Eustace davon fast gerührt war. “Gehn wir nächstens einmal durch die Uffizien”, sagte er. “Ich werde Ihnen sagen, was ich bei den Bildern empfinde, und Sie werden mir sagen, was ich von den metaphysischen, historischen und sozialen Implikationen wissen sollte.” Der junge Mann nickte begeistert. “Eine Synthese!” rief er. “Der organismische Gesichtspunkt.” Organismisch ... Das gesegnete Wort entließ ihn aus der beengenden Welt der Tatsachen in die offenen Weiten der unkontaminierten Ideen. Er begann von Whitehead zu reden und davon, daß es so etwas wie absolute Lage nicht gebe, nur Lage innerhalb eines Feldes. Und je mehr man die Idee des organisierten und organisierenden Feldes erwäge, desto bedeutsamer erscheine sie einem, desto trächtiger und aufregender. Sie sei eine der großen Brückenideen, die ein Universum der Diskussion mit dem andern verbinden. Man habe da das elektromagnetische Feld in der Physik, das Individuationsfeld in der Embryologie und allgemeinen Biologie, das soziale Feld bei Insekten und Menschen — “Und vergessen Sie das sexuelle Feld nicht!” Paul De Vries blickte fragend auf. “Es ist etwas, das sogar Sie bemerkt haben müssen”, fuhr Eustace fort. “Wenn man gewissen jungen Damen in die Nähe kommt. Erinnert einen an Faradays Kraftröhren. Und man braucht kein Galvanometer, um es zu entdecken”, schloß er mit einem glucksenden Auflachen.
Kraftröhren”, wiederholte der junge Mann nachdenklich Kraftröhren.” Das Wort schien ihm großen Eindruck zu machen. Er blickte stirnrunzelnd vor sich hin. Und doch hat”, fuhr er nach einer kleinen Pause fort, auch die Sexualität natürlich ihre Werte - wenn Sie auch, wie ich weiß, eine Abneigung gegen das Wort haben.” Aber nicht gegen das Ding”, sagte Eustace versöhnlich. Sie kann verfeinert und zivilisiert werden; sie kann eine erweiterte Bestimmung bekommen.” Er machte eine Bewegung mit seiner Zigarette, um die Weite anzudeuten. Eustace schüttelte den Kopf. “Für meine Person”, sagte er, “sie ist mir im Naturzustand und eng lieber.” Es folgte ein Schweigen. Dann öffnete Eustace schon den Mund zu der Bemerkung, daß die kleine Thwale ein hübsch kräftiges Feld in sich habe, schloß ihn aber wieder, noch bevor die Worte heraus waren. Hatte keinen Sinn, sich selbst oder andern Unannehmlichkeiten zu machen. Überdies war der indirekt geführte Angriff gewöhnlich der wirkungsvollere; und da die Königin-Mutter sich für einen Monat bei ihm niedergelassen hatte, würde er Zeit haben, seine Neugier zu befriedigen, soviel er wollte. Nachdenklich begann Paul De Vries vom zölibaten Leben zu sprechen. Die Leute seien mißtrauisch geworden gegen Ideen von Gelübden und Orden; aber schließlich böten die einen einfachen und wirksamen Mechanismus, um den strebenden Intellektuellen aus den Gefühlsverstrickungen und ablenkenden Verantwortlichkeiten des Familienlebens zu lösen. Obgleich natürlich, so fügte er hinzu, gewisse Werte dabei geopfert werden müßten . .. “Nicht, wenn die Gelübde einsichtig durch ein wenig Unzuchttreiben gemildert werden.” Eustace sah ihn mit strahlendem Lächeln über sein Weinglas weg an. Aber die Miene des jungen Mannes blieb unnachgiebig ernst. “Vielleicht”, sagte er, “könnte es eine modifizierte Form des Zölibats geben. Ohne Ausschluß der romantischen
Liebe und der höhern Formen des Geschlechtlichen und nur mit dem Verbot der Ehe.” Eustace brach in ein Gelächter aus. “Aber schließlich”, verwahrte sich der andre, “ist's doch nicht die Liebe, was unvereinbar ist mit dem Leben eines eingeschworenen Intellektuellen; sondern die Ganztagsbeschäftigung, Frau und Kind zu haben.” “Und Sie erwarten, daß die Damen Ihre Ansichten teilen werden?” “Warum nicht — wenn sie auf dieselbe Art von Leben eingeschworen wären?” “Sie meinen, so ein Intellektueller würde nur mit Mathematikerinnen schlafen?” “Warum nur Mathematikerinnen? Dichterinnen, Wissenschaftlerinnen, Musikerinnen, Malerinnen.” “Mit einem Wort, mit jeder, die bei einem Examen durchgekommen ist oder Klavier klimpern kann. Oder sogar eine Zeichnung fertigbringt”, fügte er als nachträglichen Einfall hinzu. “Ihr modifizierten Zölibatären solltet nicht wenig Spaß haben!” Was für ein Esel! dachte Eustace, während er weiteraß, und wie jämmerlich durchsichtig! Da saß er, zwischen seinem Ideal und seinen Begierden, und versuchte sich einen Ausweg aus dieser absurd gemeinplätzigen Situation zu ertüfteln, indem er Quatsch über Werte und eingeschworene Intellektuelle und modifiziertes Zölibat redete. Es war wirklich herzergreifend. “Na, jetzt, da wir das sexuelle Feld behandelt haben”, sagte er, “können wir also zu den andern weitergehn.” Paul De Vries sah ihn eine Sekunde ohne zu sprechen an, schaltete dann sein helles Lächeln ein und nickte. “Ja, gehn wir zu den andern weiter”, sagte er. Er schob seine halbgegessene Truthahnportion beiseite, stemmte die Ellbogen auf den Tisch und hatte sich im nächsten Augenblick schon wieder in die offenen Weiten gestürzt. Man nehme zum Beispiel die psychischen Felder oder
sogar die spiritistischen. Denn wenn man sich die Sache mit willfährigem Geist und ohne vorgefaßte Ideen näher besehe müsse man einfach solche Dinge als Tatsachen hinnehmen - etwa nicht? Mußte man? Eustace zuckte die Achseln. Aber das Beweismaterial sei überwältigend. Wenn man die Sitzungsberichte der Gesellschaft für Parapsycholocische Forschung lese, könne man gar nicht anders als überzeugt sein. Darum unterließen es die meisten Philosophen so gewissenhaft, sie zu lesen. So sei das leider, wenn man seiner Tätigkeit innerhalb des altmodischen akademischen Feldes nachgehn müsse. Da könne man einfach nicht ehrlich über gewisse Dinge denken, auch wenn man wolle. Und, natürlich, wenn das ein starkes Feld sei, dann wolle man gar nicht. “Sie sollten mit meiner Schwiegermutter über Geister reden”, sagte Eustace. Der Rat war unnötig. Paul de Vries war schon bei einer ganzen Reihe von Seancen der alten Dame gewesen. Die Lücke zwischen den Phänomenen des Spiritismus und den Phänomenen der Psychologie und Physik zu überbrücken, war eine seiner Aufgaben als Pontifex minimus. Eine ungewöhnlich schwierige Aufgabe übrigens, da bisher noch niemand eine Hypothese in Begriffen formuliert hatte, in denen man über die zwei Gruppen von Tatsachen als einen einzigen Kontext denken konnte. Für die nächste Zeit war das beste, was man tun konnte, eben aus der einen Welt in die andre hin und her zu springen und inzwischen zu hoffen, daß man eines Tags eine Ahnung, eine erleuchtende Inspiration von der größeren Synthese bekäme. Denn eine Synthese mußte es da unbedingt geben, eine Gedankenbrücke, die dem Geist erlauben würde, diskursiv und logisch hin und her zu marschieren, von der Telepathie zum vierdimensionalen Kontinuum, von Klopfgeistern und den Geistern Abgeschiedener zur Physiologie des Nervensystems, Und außer den Vorgängen im Seancezimmer gab
es die Ereignisse im Bethaus und im Meditationsraum. Hier war das letzte, allumfassende Feld — das Brahma des Sankara, das All-Eine des Plotinus, der Grund Eckharts und Boehmes, das — “Das gasförmige Wirbeltier Häckels”, warf Eustace ein. Und innerhalb des letzten Feldes, fuhr der junge Mann hastig fort, entschlossen, sich nicht unterbrechen zu lassen, da seien die untergeordneten Felder — wie das von den Christen die Gemeinschaft der Heiligen genannte und von den Buddhisten — Aber Eustace konnte ihn nicht ungeschoren lassen. “Warum hier aufhören?” unterbrach er sarkastisch, während er eine Zigarre wählte und Vorbereitungen traf, sie anzuzünden. “Warum nicht auch die Unbefleckte Empfängnis und die Unfehlbarkeit des Papstes?” Er saugte das Flämmchen des Streichholzes in die Zigarre, und der Rauch strömte ihm jäh aus der Nase. “Sie erinnern mich”, sagte er, “an den alten Mann von Cape Cod, der die Quantentheorie anwandte auf Gott. . .” Und des andern Versuch, abermals zu beginnen, im Keim erstickend, rezitierte er anschließend eine Auswahl aus seiner Suite “Aus der Neuen Welt”, wie er sie nannte — das junge Ding aus Spokane, den jungen Mann aus Peoria, die Zwillingsschwestern aus Cheyenne. Paul De Vries' Lachen war, so gewahrte er, ein wenig gezwungen und geflissentlich; aber er fuhr dennoch fort — aus Prinzip; denn man konnte dem Kerl wirklich nicht erlauben, mit seinen Prätentionen so einfach durchzurutschen. Implizite zu behaupten, religiös zu sein, nur weil er soviel hochtrabendes Getute über Religion zu machen wußte! Ein bißchen ehrlicher Dung würde die Luft von philosophischem Cant reinigen und den Philosophierer selbst in den guten alten Menschenstall herunterholen, wohin er noch immer gehörte. Der rammsnasige Bursche in Brunos Laden war vielleicht absurd und Bruno selbst ein liebenswerter, wenn auch mißleiteter Schwachkopf; aber wenig-
stens waren sie nicht prätentiös; sie praktizierten, was sie predigten, und, was fast noch bemerkenswerter war, sie unterließen es, zu predigen, was sie praktizierten. Wogegen dieser junge Pontifex minimus hier ... Eustace nahm die Zigarre aus dem Mund, blies eine Rauchwolke hervor und rezitierte mit ein wenig gedämpfter Stimme seinen Limerick von dem Bischof von Connecticut.
9. KAPITEL Nach dem Essen schlenderte er zu seiner Bank hinüber. Als er vor dem Schalter auf das Geld für seinen Scheck wartete, erblickte ihn der Filialleiter und kam herbeigeeilt, um ihm begeistert mitzuteilen, er hoffe, im nächsten Monat noch mehr für ihn aus Kursdifferenzen zu erzielen. Die Bank habe einen neuen Korrespondenten in Zürich, einen gewissen Otto Loewe, der eine wahrhaft wundervolle Begabung fürs Arbitragegeschäft besitze — ein wahres Genie sei, könne man sagen, wie Michelangelo oder Marconi ... Noch immer seine Degas-Handzeichnungen und seinen Traktat von der Liebe Gottes unterm Arm, ging Eustace auf die Piazza, rief ein Taxi heran und nannte dem Fahrer Laurina Acciaiuolis Adresse. Der Wagen fuhr ab; er lehnte sich in die Ecke zurück und seufzte resigniert. Laurina war eins der Kreuze, die er zu tragen hatte. Es war schlimm genug, daß sie krank und aufdringlich und verbittert war. Aber das war das wenigste. Diese ausgemergelte arthritisch Verkrüppelte war einst die Frau gewesen, die er mit einer so heftigen Leidenschaft geliebt hatte, wie er sie nie vorher noch seither empfunden. Eine andre hätte sich damit beschieden, diese Tatsache zu vergessen. Nicht aber Laurina. In der Wunde wühlend, verbrachte sie ganze Nachmittage damit, ihm von ihrer entschwundenen Schönheit und gegenwärtigen Häßlichkeit zu sprechen, von ihren verflossenen Liebhabern und ihrem beständigen Einsamsein und Elend. Und wenn sie sich in genug Aufregung hineingeredet hatte, wandte sie sich gegen ihren Besucher, wies anklagend, mit geschwollenen Fingern, auf ihn und sagte ihm mit dieser tiefen Stimme (die einst so bezaubernd belegt geklungen hatte und nun heiser war von Krankheit
und zu vielem Rauchen und schier von Haß), daß er sie nur aus Pflichtgefühl besuchen komme, ja schlimmer, aus bloßer Schwäche; daß er für sie nur etwas übrig gehabt habe, solange ihr Körper jung und gerade gewesen, und daß er nun, wo sie alt und verkrüppelt und unglücklich sei, es kaum über sich bringe, auch nur Mitleid zu fühlen. Herausgefordert, diese nur zu peinlich offenkundigen Wahrheiten zu leugnen, sah sich Eustace in einem Sumpf heuchlerischer Plattheiten zappeln; und was er sagte, war gewöhnlich so wenig überzeugend, daß Laurina zuletzt laut herauslachte — mit einem wilden Sarkasmus, der selbstverständlich für sie selbst viel verletzender war als für ihn; denn schließlich hatte nicht er Arthritis. Aber auch so war es peinlich genug. Bänglich fragte er sich, was ihm heute nachmittag wohl wieder bevorstehe. Wieder eine dieser unaussprechlich öden Selbstmorddrohungen vielleicht? Oder aber — “Bebino!” rief eine durchdringende Stimme fast in sein Ohr. “Bebino!” Er wandte sich aufgeschreckt zur Seite. Durch die enge Straße voller Menschen kam das Taxi nur wie im Schritt vorwärts, und daneben her, ihre Hand auf dem Rahmen des offenen Fensters, trippelte die Person, die aus nur ihr und ihr allein verständlichen Gründen diesen grotesk infantilen Spitznamen für ihn erfunden hatte. “Mimi!” rief er aus und hoffte zu Gott, daß niemand von seiner Bekanntschaft in Seh- oder Hörweite sei. In diesem außerordentlichen knallroten Aufzug sah sie nicht nur wie das hübsche Kokottchen aus, das sie war, sondern wie die Karikatur eines hübschen Kokottchens in einem Witzblatt. Und das war es natürlich, was ihm an ihr gefiel. Das schlicht, unaffektiert Ordinäre ihres Stils war etwas schlechtweg Vollendetes. Er neigte sich vor und rief den Fahrer an; und als das Taxi hielt, öffnete er ihr die Tür. Mimi sähe im Innern weniger auffallend aus als draußen. “Bebino mio!” Sie kuschelte sich auf dem Sitz an ihn,
und er fühlte sich in das Odeur billigen Parfüms eingehüllt. “Warum bist du so lange nicht zu mir gekommen, Bebino?” Als das Taxi weiterfuhr, begann er ihr zu erklären, daß er zwei Monate in Paris und danach in England gewesen sei. Aber statt zuzuhören, überschüttete sie ihn weiter mit Vorwürfen und Fragen. Eine so lange, lange Zeit! Aber so seien die Männer eben — porchi, richtige porchi. Liebe er sie denn gar nicht mehr? Mache er ihr Hörner mit einer andern? “Ich sag dir doch, ich war zwei Monate in Paris”, wiederholte er. “Sola, sola”, fiel sie ihm im Ton tiefgefühlten Kummers ins Wort. “ ... Und dann ein paar Wochen in London”, fuhr er fort und sprach lauter, um sich Gehör zu verschaffen. “Und ich, die ich immer alles getan hab, was du nur verlangt hast!” Es standen tatsächlich Tränen in ihren braunen Augen. “Wirklich alles”, beteuerte sie weinerlich. “Aber ich sag dir doch, ich war verreist”, schrie Eustace ungeduldig. Unvermittelt ihre Miene ändernd, beschenkte ihn Mimi mit einem Blick und einem Lächeln unverhülltester Laszivität, griff schnell nach seiner Hand und drückte sie an ihren üppigen jungen Busen. “Warum kommst du nicht jetzt mit mir, Bebino?” schmeichelte sie. “Ich werd dich so glücklich machen.” Und sich zu ihm neigend, flüsterte sie im Kinderfrauenton: “Die Kopfbürste — der schlimme kleine Bebino muß es mit der Kopfbürste kriegen.” Eustace sah sie einen Augenblick unschlüssig an und befragte dann seine Uhr. Nein.es bliebe nicht Zeit für beides, bevor der Zug ankäme. Er mußte sich für das eine oder das andre entscheiden. Für die Vergangenheit oder die Gegenwart — mitleidvolles Bedauern oder erfreuliches Genießen. Er traf seine Wahl.
Pflücket den Apfel, weil noch das Lämpchen glüht”, sagte er auf deutsch, klopfte an die Glasscheibe und erklärte dem Fahrer, daß er es sich überlegt habe: er wolle anderswo hinfahren; und er gab ihm die Adresse von Mimis Wohnung in der Nähe von Santa Croce. Der Mann nickte und blinzelte ihm verständnisinnig zu. “Ich muß telefonieren”, sagte Eustace, als sie eintraten. Und während Mimi sich umkleidete, rief er zu Hause an und gab Auftrag, daß sein Wagen ihn um ein Viertel vor sechs vor dem Hauptportal von Santa Croce erwarten solle. Dann kam Laurina an die Reihe. Könne er mit der Contessa sprechen? Während er wartete, arbeitete er seine Märchenerzählung ein bißchen aus. “Eustace?” erklang eine tiefe, belegte Stimme, die einst die Macht gehabt hatte, “ihm, was sie wollte, zu befehlen”. “Ma chere”, begann er geläufig, “je suis horriblement ennuye ...” Höfliche Unaufrichtigkeit schien einem französisch leichter auf die Zunge zu kommen als englisch oder italienisch. Er brachte sie ihr allmählich bei, in einem Schwall fremdsprachiger Wörter, — die böse, böse Neuigkeit, daß ihm die kleine Vorrichtung gebrochen sei, die die Stelle verschwundener Zähne einnehmen müsse. Noch nicht ein voll ausgewachsener rätelier, Gott sei Dank! — plutôt un de ces Brücken — ces petits ponts, qui sont les Ponts des Soupirs qu'on traverse pour aller du palais de la jeunesse aux prisons lugubres de la sénilité. Er lachte glucksend in Anerkennung seines elegant gedrechselten Scherzes. Also, der langen Rede kurzer Sinn — er sei gezwungen gewesen, en häte zum Zahnarzt zu gehn, und müsse warten, bis seine Brücke repariert sei. Und das, hélas, werde ihn verhindern, zum Tee zu kommen. Laurina nahm es viel besser auf, als er zu hoffen gewagt hatte. Dr. Rossi, so sagte sie ihm, habe eine ganz neuartige Lampe aus Wien kommen lassen und ein wundervolles neues Medikament aus Amsterdam. Mehrere
Tage lang sei sie nun oft fast schmerzfrei, aber das sei noch nicht alles. Das Thema ihres Gesundheitszustands verlassend, warf sie mit einer Beiläufigkeit im Ton, die ihr Triumphgefühl maskieren sollte, tatsächlich aber verriet, die Bemerkung hin, daß vor kurzem d'Annunzio sie besuchen gekommen sei, sogar mehrmals, und so poetisch über vergangene Zeiten gesprochen habe .. . Und der liebe alte Van Arpels habe ihr seinen neuen Gedichtband geschickt mit einem ganz bezaubernden Brief. Und weil sie grade von Briefen spreche, sie sei ihre Sammlung durchgegangen — und er mache sich keinen Begriff davon, wie viele es seien, und wie interessant ... “Das müssen sie wohl sein”, sagte Eustace. Und er dachte an die fast wahnsinnige Intensität der Gefühle, die sie in den Tagen ihrer stärksten Anziehungskraft hervorgerufen hatte, an die Qualen von Begehren und Eifersucht. Und in so verschiedenartigen Männern — von reinen Mathematikern bis zu Gründern von Aktiengesellschaften, von ungarischen Dichtern bis zu englischen Baronets und estländischen Tennischampions. Und nun ... Er rief sich Laurinas Bild vor Augen, wie sie heute war, zwanzig Jahre nachher: die hagere Verkrüppelte in ihrem Rollstuhl und diese messinggelben Löckchen über einem Gesicht, das Dantes Totenmaske hätte sein können ... “Ich legte einige von deinen Briefen beiseite, um sie dir vorzulesen”, sagte die Stimme im Hörer. “Sie müssen hübsch albern klingen heute.” “Nein, nein, sie sind bezaubernd”, behauptete sie. ,So witzig; et en même temps si tendres — cosl vibranti!” “Vibranti?” wiederholte er. “Sag mir nicht, daß ich je vibrierte!” Ein Geräusch ließ ihn den Kopf wenden. In der offenen Tür stand Mimi. Sie lächelte ihn an und warf ihm eine Kußhand zu; dabei öffnete sich ihr weinroter Kimono. Am andern Ende des Drahts erklang ein scharfes Rascheln von Papier.
Hör dir das an!” sagte Laurinas heisere Stimme. “ ,Du hast die Macht, Begierden zu erregen, die unendlich sind, und da sie unendlich sind, nie gestillt werden können durch das Besitzen eines bloß endlichen Körpers und persönlichen Geistes.'“ Himmel”, sagte Eustace. “Hab ich das geschrieben? Es klingt wie Alfred de Musset.” Mimi stand jetzt neben ihm. Mit seiner freien Hand gab er ihr zwei freundliche Klapse hintenauf. Pflücket die Äpfel ... Die heisere Stimme las weiter. “ ,Also hat es ganz den Anschein, Laurina, als wäre die einzige Kur dagegen, in dich verliebt zu sein, ein Sufi zu werden oder ein Johannes vom Kreuze. Gott allein ist kommensurabel mit den Begierden, die du erweckst ...'“ “II faudrait d'abord l'inventer”, warf Eustace mit einem kleinen Auflachen ein. Aber damals, so erinnerte er sich, war es einem ganz vernünftig vorgekommen, so etwas zu sagen und zu schreiben. Was wieder einmal bewies, in was für einen Zustand die verfluchte Liebe einen vernünftigen Menschen herunterbringen konnte! Na, Gott sei Dank, mit dieser Art war er fertig! Er verabreichte Mimi noch einen sanften Klaps und blickte mit einem Lächeln zu ihr auf. “Spicciati, Bebino”, flüsterte sie. “Und hier ist noch etwas Bezauberndes, das du geschrieben hast”, sagte Laurinas Stimme im selben Augenblick. “ ,So zu lieben, wie ich dich liebe ...'“ Mimi zwickte ihn ungeduldig ins Ohr. “, . .. als wäre man in ein andres und intensiveres Leben wiedergeboren'“, las die Stimme im Telefon weiter vor. “Tut mir leid, meine eignen Ekstasen unterbrechen zu müssen”, sagte Eustace in die Sprechmuschel, “aber ich muß jetzt aufhören ... Nein, nein, keinen Augenblick länger, meine Liebe! Hier ist schon der Zahnarzt. Ecco il
dentista”, wiederholte er Mimis halber und begleitete seine Worte mit einem neckischen kleinen Zwicken ihres Ohrs. “Adesso commincia la tortura.” Er legte auf, wandte sich um, zog das Mädel auf seine Knie und begann mit dicken Spachtelfingern ihr die gutgepolsterten Rippen zu kitzeln. “No, no, Bebino ... no!” “Adesso commincia la tortura”, sagte er abermals, unter Kaskaden ihres hysterischen Gelächters.
10. KAPITEL Hinter dem Ladentisch seiner kleinen Bücherhöhle saß Bruno Rontini und war damit beschäftigt, Preise in einen jüngst gekauften Stoß Bücher einzutragen. Fünfzehn Lire, zwölf, fünfundzwanzig, vierzig ... Sein Bleistift wanderte von Vorsatzblatt zu Vorsatzblatt. Das Licht fiel fast senkrecht von der Hängelampe auf seinen Kopf und rief in den tiefen Augenhöhlen und unter den Backenknochen und der vorspringenden Nase schwarze Schatten hervor. Es war ein hagerer, kantiger Schädel, der sich über die Bücher neigte; aber wenn Bruno Rontini aufblickte, waren die Augen blau und leuchtend, und das ganze Gesicht trug fast einen Ausdruck von Fröhlichkeit. Carlo war nach Hause gegangen, und er war allein — ganz allein mit dem, was seine Zeiten des Alleinseins so trächtig machte von unaussprechlicher Glückseligkeit. Draußen vor der Glastür erklangen laut die Geräusche der Straße; hier innen in dem kleinen Laden aber war ein Kern von sozusagen quintessenzieller Stille, der gegenüber jeder Lärm nichtig war; die durch jede Unterbrechung hindurch fortbestand. Wie er so im Herzen dieser Stille saß, dachte Bruno, daß das durchstochene L, das er vor die Ziffern auf jedes Vorsatzblatt hinschrieb, nicht nur Lire bedeutete, sondern auch Liebe, auch Loslösung. Die Türglocke läutete, und eine Kundschaft betrat den Laden. Bruno hob den Kopf und erblickte ein junges, fast kindliches Gesicht, aber wie wunderlich verknappt! Als hätte sich die Natur, plötzlich sparsam geworden, geweigert, eine für Züge von voller Größe und ausgeprägter Bedeutung genügende Menge von Material beizustellen. Nur die unregelmäßigen und vorstehenden Zähne waren groß _ sie und die konkaven Brillengläser, durch die mit
einer scheuen, scharfen Verstohlenheit eine Intelligenz strahlte, die offenbar nicht als Instrument zur Entdeckung der Wahrheit verwendet wurde, sondern zu Selbstverteidigung und vor allem zur Wiederbehauptung des Selbstgefühls nach Demütigungen. Der Fremde hüstelte nervös und sagte, er hätte gern ein gutes Buch über vergleichende Religionsgeschichte. Bruno holte herbei, was er auf Lager hatte — ein weitverbreitetes italienisches Lehrbuch, eine populäre Darstellung in französischer Sprache und ein zweibändiges, aus dem Deutschen übersetztes Werk. “Ich empfehle Ihnen den Franzosen”, sagte er mit seiner weichen Stimme. “Hat nur zweihundertsiebzig Seiten. Sie werden kaum ein paar Stunden an den Mann verschwenden.” Er erhielt dafür ein verachtungsvolles Lächeln. “Ich suche etwas ein wenig Gediegeneres.” Es folgte ein kurzes Schweigen, während dessen der Fremde in den beiden andern Büchern blätterte. “Sie haben die Absicht, zu unterrichten, nehme ich an”, sagte Bruno. Der andre warf einen argwöhnischen Blick auf ihn. Dann, als er keine Spur von Ironie oder Unverschämtheit in der Miene des Buchhändlers fand, nickte er. Ja, er wolle Lehrer werden. Und zunächst einmal werde er die Übersetzung aus dem Deutschen nehmen. “Peccato”, sagte Bruno, nach den beiden dicken Bänden greifend. “Und wenn Sie es schließlich zum Universitätsprofessor gebracht haben, was dann?” Der junge Mann hielt das italienische Lehrbuch empor. “Ich werde selber schreiben”, antwortete er. Ja, er wird schreiben, sagte sich Bruno fast traurig. Und entweder aus Verzweiflung oder aus unschuldsvollem Respekt für Professoren überhaupt wird irgendein weibliches Wesen ihn heiraten. Und natürlich ist es besser, zu heiraten, als zu brennen; aber dieser hier, das war nur
allzu deutlich, würde weiterbrennen, auch nachdem er geheiratet hätte, — heimlich, verstohlen, aber mit der unauslöschlichen, für solche gebrechliche und nervöse Temperamente charakteristischen Heftigkeit. Und unter der Kruste von Respektabilität und sogar Ansehn würde das Leben gottverdunkelnden Phantasierens, der heimliche Hang zu selbstzugefügter Lust beharren bis fast ins hohe Alter. Aber natürlich, so mahnte er sich schnell, ließ sich nie etwas über irgendeinen Menschen mit Sicherheit voraussagen. Es gab stets den freien Willen, stets genug der Gnade, wenn man mit ihr nur zusammenarbeiten wollte. “Ich werde als Autorität schreiben”, fuhr der junge Mann fast angreiferisch fort. “Und nicht wie die Schriftgelehrten und Pharisäer”, murmelte Bruno mit einem schwachen Lächeln. “Aber was denn?” “Was dann?” wiederholte der andre. “Was meinen Sie mit ,was dann'? Ich werde weiterschreiben.” Nein, dieser Panzer wies noch keinen Spalt auf. Bruno wandte sich ab und begann, die Bücher in braunes Papier zu verpacken. Der junge Mann schien eine Scheu vor dem vulgären Von-Hand-zu-Hand-Gehn des Geldes zu haben, denn er legte die Münzen nebeneinander auf den Rand des Ladentisches. Für ihn gab es offenbar keine physischen Kontakte mit andern Menschen, außer den sexuellen. Und auch die, dachte Bruno, auch die würden sich stets als Enttäuschungen erweisen und sogar als ein wenig abstoßend. Er knüpfte den letzten Knoten und reichte das Paket über den Ladentisch. “Vielen Dank”, sagte er, “und falls Sie je genugkriegen von dieser Art von . ..” Er zögerte; in den tiefen Höhlen leuchteten die blauen Augen fast spitzbübisch auf. “... dieser Art von gelehrter Frivolität”, fuhr er fort und tippte mit dem Finger auf das Paket, “dann erinnern Sie sich, bitte, daß ich ein ganz beträchtliches Lager von wirklich ernsten Büchern über den Gegenstand habe.” Er
wies auf eine Abteilung der Regale an der andern Wand. “Scupoli, den Bhagavatgita, das Tao-teh-king, die Theologia Deutsch, die Gnaden des inneren Gebets .. .” Ein paar Sekunden lang hörte der junge Mann zu — mit der unbehaglichen Miene eines Menschen, der sich mit einem möglicherweise gefährlichen Wahnsinnigen eingeschlossen sieht; dann blickte er auf seine Armbanduhr, murmelte etwas wie, daß es sehr spät sei, und eilte aus dem Laden. Bruno Rontini seufzte und kehrte zum Auszeichnen seiner Bücher zurück. L für Lire, L für Losgelöstheit. Unter zehntausend würde nur ein einziger sich je völlig aus seinem Panzer loslösen. Kein hoher Prozentsatz. Aber aus all diesen Milliarden von Eiern, wie viele Heringe wuchsen je zu Fischen voller Größe heran? Und Heringe, das durfte man nicht vergessen, waren nur äußeren Unterbrechungen ihres Ausschlüpfens und Wachstums ausgesetzt. Wogegen bei diesem Vorgang seelischen Reifens jeder Mensch stets sein eigner schlimmster Feind war. Die Angriffe kamen von beiden Seiten, und von innen sogar noch heftiger und beharrlicher und zielbewußter als von außen, so daß schließlich der Rekord, daß einer von zehntausend Versuchen heranreifte, in Wirklichkeit etwas recht Anerkennenswertes war; etwas, das eher zu bewundern als zu beklagen war; etwas, dessentwegen man nicht, wie man so oft versucht war, mit Gott ob seiner Ungerechtigkeit hadern sollte, sondern dankbar sein mußte für diese göttliche Großmut, die so vielen eine so unverhältnismäßig große Belohnung gewährte. L für Losgelöstheit, L für Liebe ... Ungeachtet des ungeduldigen Hupens draußen, ungeachtet des Ratterns und Rumpeins des Verkehrs, war die Stille für Bruno Rontini wie ein lebendiger Kristall. Dann ertönte wieder die Türglocke, und aufblickend gewahrte er unter dem flott sitzenden weichen Hut das breite, schlaffe Gesicht Eustace Barnacks mit den Säcken unter den Augen und den lächeln-
den weichlichen Säuglingslippen. Und durch das Medium jenes lebendigen Kristalls nahm er diesen Menschen wahr, als läge der in einer Gruft, vom Licht abgesargt, eingemauert in eine undurchdringliche Entbehrung der Seligkeit. Und die Wände dieser Grabstätte waren aus denselben Trägheiten und Sinnlichkeiten gebaut, die er selbst in sich gekannt hatte und noch kannte und um deren Vergebung er noch immer zu Gott betete. Voll tiefsten Mitleids erhob sich Bruno und ging auf ihn zu, um ihn zu begrüßen. “Endlich gefunden!” rief Eustace. Er rief es auf italienisch, denn wenn man auf diese Weise höchst vollendet die Rolle eines jovialen Florentiner Bürgers spielte, war es leichter, sich vor der Gefahr zu bewahren, allzu ernst sprechen zu müssen, — und Bruno gegenüber war es besonders wichtig, nie ernst zu sein. “Ich hab dich schon den ganzen Tag gesucht.” “Ja, ich hörte, daß du vormittag hier warst”, antwortete Bruno auf englisch. “Und empfangen wurde ich”, sagte Eustace, noch immer seine toskanische Komödie spielend, “von einem höchst begeisterten jugendlichen Jünger von dir! Er brachte es sogar fertig, mir Erbauungsliteratur zu verkaufen — qualche trattatino sull'amor del vertebrato gasiforme”, schloß er leichthin. Und nun hatte das Büchlein seinen Platz zwischen einem Roman von Pittigrilli und einem eselsohrigen Traumbuch auf Mimis Nachttischchen gefunden. “Eustace, fühlst du dich ganz wohl?” fragte Bruno mit einem Ernst, der ganz und gar von des andern scherzhafter Tonart abstach. Eustace war so erstaunt, daß er in seine Muttersprache verfiel. “Hab mich nie wohler gefühlt”, antwortete er. Und als Bruno ihn weiter mit derselben betrübt forschenden Miene anblickte, kam ein Klang von Gereiztheit und Argwohn in seine Stimme. “Was ist denn?” fragte er scharf. 131
Konnte der Mensch etwas sehn, was ihm auf Mimi zu raten ermöglichte? Nicht, daß Mimi etwas gewesen wäre, dessen man sich hätte schämen müssen. Nein, das Unerträgliche daran war dieses Eindringen ins Privatleben. Und Bruno, so erinnerte er sich, hatte schon immer diese wunderliche, aufreizende Gabe besessen, Dinge zu wissen, ohne daß man ihm von ihnen erzählte. Und natürlich konnte es, wenn's nicht Hellseherei war, ganz leicht ein Schmierfleck von Lippenstift sein. “Warum starrst du mich so an?” Bruno lächelte wie abbittend. “Verzeih”, sagte er, “ich habe nur gedacht, du siehst ... na, ich weiß nicht ... so, wie Leute aussehn, wenn sie nahe daran sind, Influenza zu kriegen.” Es war das Gesicht eines eingesargten und nun ganz plötzlich in seinem Sarg bedrohten Menschen. Bedroht wovon? Erleichtert, daß es nicht Mimi war, was der andre entdeckt hatte, entspannte sich Eustace in einem Lächeln. “Na, wenn ich Influenza kriege”, sagte er, “werde ich wissen, wer sie mir angewünscht hat. Und jetzt bilde du dir nur nicht ein”, fuhr er munter fort, “daß ich hergekommen bin, bloß um meine Augen an deinem seraphischen Antlitz zu weiden. Ich möchte, daß du mir die Erlaubnis verschaffst, meinem jungen Neffen das Labyrinth in den Galigaigärten zu zeigen. Er kommt heute abend an.” “Welcher Neffe?” fragte Bruno. “Einer von AlicesSöhnen?” “Diese Tölpel?” erwiderte Eustace. “Gott behüte! Nein, nein. Johns Junge. Ein recht bemerkenswerter kleiner Kerl. Siebzehn, und kindisch für sein Alter; schreibt aber die erstaunlichsten Verse — steckt voller Talent.” “John muß ein hübsch schwieriger Vater sein”, sagte Bruno nach einer kleinen Pause. “Schwierig? Er ist nichts als ein polternder Narr. Und natürlich mag ihn der Junge nicht und verabscheut alles,
was der Vater repräsentiert.” Er lächelte. Es war wirklich ein Vergnügen, an die Fehler seines Bruders zu denken. “Ja, wenn die Leute nur begreifen würden, daß moralische Grundsätze wie die Masern sind ...” Die weiche Stimme erstarb in Schweigen und einem Seufzer. “Wie die Masern?” “Man muß sie erst kriegen. Und nur Leute, die sie haben, können andre mit ihnen anstecken.” “Zum Glück”, sagte Eustace, “gelingt es ihnen nicht immer, sie zu übertragen.” Er dachte an diese kleine Thwale. Reichlich genug Ansteckung von dem Kanonikus und seiner Frau; aber kein Anzeichen irgendeines moralischen oder pietistischen Ausschlags auf der weißen, wollüstigen Haut der Tochter. “Du hast recht”, sagte Bruno, “man braucht sich nicht mit Gutsein anzustecken, wenn man nicht will. Der Wille ist immer frei.” Immer frei. Die Menschen waren imstande gewesen, sogar zu Filippo Neri und Françis de Sales nein zu sagen, sogar zu Christus und dem Buddha. Als er sie im stillen nannte, schien das Flämmchen in seinem Herzen sich gleichsam auszudehnen und emporzustreben, bis es jenes andre Licht, das außerhalb und innerhalb davon war, berührte; und für einen Augenblick geschah das noch immer in einer zeitlosen inbrünstigen Sehnsucht, die zugleich Erfüllung war. Die Stimme seines Vetters holte seine Aufmerksamkeit wieder zurück zu den Vorgängen im Laden. “Es gibt nichts, was mir mehr Freude macht”, bemerkte Eustace mit Genuß, “als das Schauspiel, wie die Guten versuchen, ihre Ideen zu verbreiten, und dabei Ergebnisse erzielen, die das genaue Gegenteil ihrer Absichten sind. Es ist die höchste Komödie.” Er lachte glucksend und kurzatmig. Bruno, der dieses Lachen aus der Tiefe und Finsternis
einer Gruft heraufkommen hörte, war fast zur Verzweiflung gebracht. “Wenn du den Guten nur verzeihen könntest!” Die ruhige Stimme hob sich fast bis zu Heftigkeit. “Dann ließest du dir selbst vielleicht Verzeihung gewähren.” “Wofür?” erkundigte sich Eustace. “Zu sein, was du bist. Dafür, ein Mensch zu sein. Ja, Gott kann dir sogar dafür Verzeihung gewähren, wenn du sie wirklich willst; kann dir deine Gesondertheit so völlig verzeihen, daß du einswerden kannst mit ihm.” “Das feste Wirbeltier vereint mit dem gasförmigen?” Bruno sah ihn eine Weile schweigend an. Aus ihrer Fassung von müdem, weichem Fleisch blinzelten ihm Eustaces Augen belustigt entgegen; die Säuglingslippen waren zu einem ironischen Lächeln gekräuselt. “Und was ist's mit der Komödie der Gescheiten?” fragte er endlich. “Wenn sie Selbstzerstörung im Namen der Selbstsucht erzielen und Selbsttäuschung im Namen des Realismus? Ich glaube manchmal, das ist eine sogar noch höhere Komödie als die der Guten.” Er ging hinter den Ladentisch und kam mit einer sehr alten kleinen Reisetasche zurück. “Wenn du diesen jungen Neffen von dir etwa jetzt abholen willst”, sagte er, “komme ich mit dir zum Bahnhof.” Er nehme den Zug um sieben Uhr dreißig nach Arezzo, erklärte er. Dort lebe ein alter Professor im Ruhestand, der seine Bibliothek verkaufen wolle. Und Montag beginne eine sehr bedeutende Versteigerung in Perugia. Buchhändler aus dem ganzen Land kämen hin. Er hoffe einige von den “unbeachteten Kleinigkeiten aufzuschnappen”. Bruno schaltete das Licht ab, und sie traten in die Abenddämmerung hinaus, die rasch zu nächtlicher Dunkelheit wurde. Eustaces Wagen wartete in einer Seitengasse. Die beiden stiegen ein und wurden langsam zum Bahnhof gefahren. “Erinnerst du dich an das letzte Mal, wo wir miteinander
zum Bahnhof gefahren sind?” fragte Bruno plötzlich, nach einer Weile des Schweigens. “Das letzte Mal, wo wir miteinander zum Bahnhof gefahren sind?” wiederholte Eustace ungewiß. Dann kam ihm plötzlich die Erinnerung. Er und Bruno in dem alten Panhardwagen. Und das war grade nach Amys Begräbnis gewesen, und er fuhr zurück an die Riviera — zurück zu Laurina. Nein, sie war nicht sehr rühmlich gewesen, diese Episode seines Lebens; ganz entschieden nicht. Er schnitt eine kleine Grimasse, als hätte er eine Nasevoll verfaulten Kohls zu riechen bekommen. Dann zuckte er fast unmerklich die Achseln. Schließlich und endlich, was lag denn daran? In hundert Jahren wäre es alles eins; alles eins. “Ja, ich erinnere mich”, sagte er. “Du hast mir vom gasförmigen Wirbeltier erzählt.” Bruno lächelte. “O nein, ich hätte nicht gewagt, das Tabu zu brechen”, erwiderte er. “Du warst's, der davon angefangen hat.” “Vielleicht war ich's”, gab Eustace zu. Der Tod und jene wahnsinnige Leidenschaft und sein schmähliches Benehmen hatten sich verschworen gehabt und ihn dahin gebracht, daß er damals eine Menge sonderbarer Dinge tat. Er fühlte sich auf einmal außerordentlich niedergeschlagen. “Die arme Amy!” sagte er wie unter einem dumpfen Zwang, der stärker war als alle seine Entschlüsse, in Brunos Gegenwart nicht ernst zu sein. “Die arme Amy!” “Ich glaube nicht, daß sie zu bedauern war”, meinte Bruno. “Amy hatte sich ausgesöhnt mit dem, was ihr geschah. Menschen, die auf den Tod vorbereitet sind, brauchen einem nicht leid zu tun.” “Vorbereitet? Aber welchen Unterschied macht das?” Eustaces Ton war beinahe trotzig. “Sterben bleibt Sterben”, schloß er, froh, auf diese Weise aus Ernst in ein Wortgefecht entwischen zu können.
“Physiologisch vielleicht”, gab Bruno zu, “aber psychologisch, seelisch ...” Der Wagen kam vor dem ausgestreckten Arm eines Verkehrspolizisten zum Stillstand. “Also, bitte”, unterbrach ihn Eustace, “keinen Unsinn über Unsterblichkeit! Keinen von deinen Wunschträumen!” “Freilich”, sagte Bruno sanft, “völlige Vernichtung wäre recht bequem, nicht? Was ist's mit dem Wunsch, an die zu glauben?” Aus seiner Gruft von Entbehrung gab Eustace zuversichtlich Antwort. “Man wünscht nicht, an Vernichtung zu glauben”, sagte er. “Man akzeptiert einfach die Tatsache.” “Du meinst, man akzeptiert die Schlüsse, die man aus einer bestimmten Gruppe von Tatsachen zieht, und ignoriert die andern Tatsachen, aus denen sich andre Schlüsse ziehn ließen. Man ignoriert sie, weil man wirklich will, daß das Leben eine Mär, erzählt von einem Schwachkopf, sei. Einfach eine dumme Sache nach der andern, bis am Ende eine letzte dumme Sache kommt und hernach nichts mehr.” Das Pfeifchen des Polizisten schrillte, und der Wagen fuhr weiter. Licht aus einem Schaufenster glitt langsam über Eustaces Gesicht und ließ jeden hängenden Wulst, jede Falte und jeden Fleck auf der schlaffen Haut sichtbar werden. Dann schloß sich die Finsternis abermals — wie der Deckel eines Sarkophags; schloß sich unwiderruflich, so schien es Bruno; schloß sich für immer. Einem Impuls gehorchend, legte er dem andern die Hand auf den Arm. “Eustace”, sagte er, “ich beschwöre dich ...” Eustace fuhr überrascht auf. Etwas Seltsames ging vor. Es war ihm, als wären die Brettchen einer Jalousie plötzlich so gedreht worden, daß sie das Sonnenlicht einließen und die Weite eines sommerlichen Himmels. Ungehindert strömte eine ungeheure und beseligende Helle in ihn ein. Aber zugleich mit dieser Helle kam die Erinnerung daran, was Bruno im Laden gesagt hatte: “Verzeihung .. . Ver-
zeihung dafür,das zu sein, was du bist.” Mit einer Mischung aus Ärger und Furcht zog er seinen Arm weg. “Was tust du denn?” fragte er scharf. “Versuchst du, mich zu hypnotisieren?” Bruno antwortete nicht. Er hatte einen letzten, verzweifelten Versuch gemacht, den Deckel zu heben; aber aus dem Innern des Sarkophags war der wieder niedergezogen worden. Und selbstverständlich, so überlegte er, ist Auferstehn kein Muß. Wir sind zu nichts gezwungen, nur, zu beharren — zu beharren, wie wir sind, und immer ein wenig schlechter und schlechter zu werden; bis wir nach unbestimmt langer Zeit wünschen, als etwas andres als wir selbst aufzuerstehn; unerbittlich gezwungen, wenn wir es uns nicht gewähren lassen, auf erweckt zu werden.
11. KAPITEL Der Zug war unerwartet pünktlich, und als sie den Bahnhof erreichten, drängten sich die Fahrgäste bereits durch die Sperre. “Wenn du einen kleinen Cherub in grauer Flanellhose siehst”, sagte Eustace, während er sich auf die Zehenspitzen hob und über die Köpfe der Menge spähte, “das ist unser Mann.” Bruno wies mit einem knochigen Finger. “Entspricht das dort deiner Beschreibung?” “Was?” “Der kleine non Anglus sed angelus bei der Säule dort.” Eustace erhaschte den Anblick eines wohlbekannten Kopfs mit blaßblondem Lockenhaar und schob sich, die Hand schwenkend, näher an die Bahnsteigsperre heran. “Und das ist dein längst verlorengegebener Gliedcousin zweiten Grades, Bruno Rontini”, sagte er, als er eine Minute später mit dem Jungen zurückkam. “Handelt mit alten Büchern und will, daß jeder Mensch an das gasförmige Wirbeltier glaubt.” Und als die beiden einander die Hand schüttelten, fuhr er in spöttisch feierlichem Ton fort: “Laß dich warnen — er wird wahrscheinlich versuchen, dich zu bekehren.” Sebastian sah abermals Bruno an, und unter dem Einfluß der Worte seines Onkels sah er nur Torheit in den klaren Augen, nur Bigotterie in diesem hageren Gesicht mit den Höhlungen unter den Backenknochen und der Papageiennase. Dann wandte er sich Eustace zu und lächelte. “Also das ist Sebastian”, sagte Bruno gedehnt. Es war, ominös bezeichnend, der Name des zur Zielscheibe des Schicksals Vorbestimmten. “Ich kann mir nicht helfen, ich muß aus irgendeinem Grund immer an alle diese vielen
Pfeile denken”, fuhr er fort. “Die Pfeile der Lüste, die diese Schönheit erwecken und ihrem Besitzer zu befriedigen gestatten wird. Die Pfeile der Eitelkeit und Selbstzufriedenheit ...” .Aber Pfeile fliegen nach beiden Seiten”, entgegnete Eustace. “Dieser Märtyrer hier wird nichts schuldig bleiben, nicht wahr, Sebastian?” Er lächelte ihm wissend zu, ein Mann dem andern. Von diesem kundgetanen Vertrauen zu seiner Wehrfähigkeit geschmeichelt, lachte Sebastian und nickte. Mit einer herzlichen, fast besitzstolzen Gebärde legte Eustace dem Jungen die Hand auf die Schulter. “Andiamo!” rief er. Etwas wie Triumph lag in seinem Ton. Er war mit Bruno nicht nur dafür quitt geworden, was im Wagen vorgegangen war; er hatte ihm auch jede Möglichkeit abgeschnitten, Sebastian zu beeinflussen. “Andiamo”, sagte auch Bruno. “Ich begleite euch zum Wagen und hole mir meine Reisetasche.” Er griff Sebastians Handkoffer vom Boden auf und begann dem Ausgang zuzugehn. Die beiden andern folgten. Mit melodisch baritonalem Hupen wand sich der Isotta langsam durch die überfüllten Straßen. Sebastian zog die üppichweiche Decke ein wenig höher über die Knie herauf und dachte, wie wundervoll es sei, reich zu sein. Und sich sagen zu müssen, daß, wenn sein Vater nicht so idiotische Ideen hätte .. . “Dieser komische Bruno!” bemerkte sein Onkel in einem Ton belustigter Herablassung. “Aus irgendeinem Grund erinnert er mich immer an diese unwahrscheinlichen angelsächsischen Heiligen: St. Willibald und St. Wunnibald, St. Winna und St. Frideswide ...” Er ließ die Namen so lächerlich klingen, daß Sebastian laut herausprustete. “Aber ein durchaus freundlicher, sanfter Mensch”, fuhr
Eustace fort, “und in Anbetracht dessen, daß er einer von den Guten ist, kein allzu langweiliger Patron.” Er unterbrach sich, berührte Sebastian am Arm und wies durch das linke Fenster. “Dort oben sind die Mediceergräber”, sagte er. “Da redet man vom Erhabenen! Ich kann sie einfach nicht mehr ansehn. Donatello ist heutzumal für mich die Grenze. Aber es ist selbstverständlich durchaus wahr: die verdammten Dinger sind nun einmal die großartigsten Skulpturen der Welt! Und hier ist Rossi, der Schneider”, fuhr er ohne Übergang fort und wies abermals mit der Hand. “Bestell ihn dir aus ordentlichem englischem Stoff, und der Mann macht dir einen so tadellosen Anzug, wie du ihn nicht in der Savile Row kriegen kannst, und um den halben Preis. Wir werden uns reichlich Zeit von unsern Kunstwanderungen absparen, um dir für deinen Abendanzug Maß nehmen zu lassen.” Sebastian wagte kaum, seinen Ohren zu trauen, und sah ihn fragend an. “Du meinst ...? Oh, ich danke dir, Onkel Eustace!” rief er, als der lächelte und nickte. Eustace gewahrte beim vorbeigleitenden Licht einer Straßenlampe, daß sich das Gesicht des Jungen gerötet hatte und seine Augen glänzten. Gerührt tätschelte er ihm das Knie. “Kein Anlaß zu Dankbarkeit”, sagte er. “Wenn ich im Wer ist wer? stünde, wo ich aber nicht stehe, würdest du sehn, daß meine liebste Erholung .meinen Bruder ärgern' ist.” Sie lachten miteinander — zwei zum Boshaftsein Verschworene. “Und nun”, rief Eustace, “bück dich und guck durch dieses Fenster hinauf zu dem zweitgrößten Ei, das je gelegt wurde!” Sebastian tat es und erblickte hohe Marmorklippen und über den Klippen eine riesige Kuppel, die sich in den Himmel aufschwang und aufsteigend immer dunkler wurde,
von dem schwachen Lampenlicht, das noch um ihre Basis verweilte, bis zu einem Geheimnis, undurchdringlicher als die Nacht selbst. Es war diesmal die Verklärung nicht eines Häufleins Elend, sondern einer gewaltigen harmonischen Großartigkeit. “Erst Licht”, sagte Eustace, mit einem gedunsenen Finger hinweisend, der sich aufwärts bewegte, während er sprach, “dann Finsternis.” Sebastian sah ihn erstaunt an. Auch er . ..? “Es ist wie eine Spiegelgleichung”, fuhr der andre fort. “Man beginnt mit den Werten X und Y, und man endet bei einer unbekannten Größe. Die allerromantischeste Art der Beleuchtung.” “Ich hätte nicht gedacht, daß auch jemand andrer so was bemerkt”, sagte Sebastian. “Optimist!” Eustace lächelte nachsichtig. Welch ein Spaß, jung zu sein, überzeugt zu sein, sooft man eine Jungfernschaft verlor, daß so was noch nie zuvor geschehn sei! “Die Kupferstecher und Radierer des neunzehnten Jahrhunderts bemerkten kaum etwas andres. Alle ihre romantischen Matterhörner und Schloßruinen sind oben dunkler als an ihrem Fuß. Was die Spiegelgleichung nicht weniger amüsant macht.” Es folgte ein kleines Schweigen. Der Wagen bog vom Domplatz in eine sogar noch engere und von noch mehr Menschen gefüllte Straße ein als die, durch die sie vom Bahnhof gekommen waren. “Ich hab ein Gedicht darüber geschrieben”, vertraute Sebastian endlich Eustace an. “Nicht eins wie die ...” “Nicht eins wie die, die du mir zu Weihnachten gesandt hast?” Sebastian schüttelte den Kopf. “Ich hab nicht gedacht, daß es dir gefallen würde. Es ist ein bißchen .. . na, ich weiß nicht .. . ein bißchen religiös; das heißt, wenn es von Religion handeln würde, aber davon handelt's nicht. Aber
da du es auch bemerkt hast . . . ich meine, die Art, wie Dinge so von unten her beleuchtet sind ...” “Kannst du's auswendig?” Zwischen Schüchternheit und dem Wunsch, sich hervorzutun, hin und her gerissen, murmelte und stammelte Sebastian und bejahte zuletzt. Häuflein Elend! Verklärt zu Canterbury Und zu Chartres, zur Schönheit der Heiligkeit .. . In seine Ecke zurückgelehnt, lauschte Eustace der leisen, fast kindlichen Stimme und betrachtete, als die Lichter kamen und gingen, forschend das halb abgewandte Gesicht, wie es mit engelgleichem Ernst großäugig in die Dunkelheit schaute. Ja, da war wohl Begabung! Aber was ihn so tief bewegte, was ihn fast zu Tränen rührte, war dieses Dabeisein mit ganzem Herzen, diese arglose Gutgläubigkeit, diese Reinheit des innersten Wesens. Reinheit, dabei blieb er — obgleich man nicht wirklich sagen konnte, was das Wort bedeutete, oder auch nur seinen Gebrauch zu rechtfertigen vermochte. Denn ganz offenkundig war der Junge von Sexualität besessen — onanierte gewiß — hatte wahrscheinlich Affären, homosexuelle oder andre. Und doch war da eine gewisse Reinheit, eine wirkliche Reinheit. Die Rezitation endete, und es folgte ein langes Schweigen, ein so langes, daß Sebastian sich unbehaglich zu fragen begann, ob sein Häuflein Elend wirklich so gut sei, wie er glaubte. Onkel Eustace besaß Geschmack; und wenn er es nicht für gut hielt, dann ... Aber Onkel Eustace sprach endlich. “Das war sehr schön”, sagte er. Die Worte bezogen sich weniger auf das Gedicht als darauf, was er selbst beim Zuhören gefühlt hatte — dieses unerwartete Aufquellen starker Gemütsbewegung und beschützerischer Zärtlichkeit. “Sehr schön.” Er legte voll herzlicher Zuneigung Sebastian die Hand aufs Knie. Nach einer Pause fügte er lächelnd
hinzu: “Auch ich pflegte Gedichte zu schreiben, aber da war ich ein paar Jahre älter als du.” “Wirklich, du hast ...” “Dowson und Wasser”, sagte Eustace kopfschüttelnd. Mit einem gelegentlichen Schuß Oscar Wilde und Katzenpisse.” Er lachte. Genug der Sentimentalität! “Heutzutage versteige ich mich höchstens zu Limericks”, fuhr er fort. “Und da muß ich dir wirklich den von dem jungen Ding aus Spokane erzählen.” Und das tat er. Der Wagen war mittlerweile in eine geräumigere Dunkelheit hinausgelangt. Lichter schimmerten auf Wasser; sie fuhren über eine Brücke und rollten mit zunehmender Geschwindigkeit ein oder zwei Minuten einen breiten Kai entlang. Dann bogen sie nach rechts; ihre Straße begann sich zu winden, begann zu steigen. Durch das Fenster auf seiner Seite sah Sebastian fasziniert zu, wie die Scheinwerfer eine Reihe ineinanderfließender eng umgrenzter Welten aus dem Nichts schufen. Eine magere graue Ziege, auf den Hinterbeinen stehend und Wistariaknospen rupfend, die über eine abblätternde Stuckfläche hingen; ein Priester in langem schwarzem Talar, der ein Damenfahrrad die steile Steigung hinaufschob; eine große Steineiche, die sich wand wie ein hölzerner Oktopus; und am Fuß einer Treppenflucht ein aufgescheuchtes Liebespaar, sich aus seiner Umarmung lösend und mit einem Aufblinken von Augen und lachenden Zähnen dem Licht zuwendend, das die beiden hervorgerufen hatte und nun, weitergleitend, verschwinden ließ. Einen Augenblick später kam der Wagen vor einem hohen schmiedeeisernen Gittertor zum Stillstand. Melodisch, aber herrisch tutete er um Einlaß, und ein kleiner alter Mann kam aus dem Schatten herbeigelaufen, um die Riegel zurückzuschieben. Die Zufahrt wand sich unter schlanken Zypressen dahin; ein Beet blauer Hyazinthen leuchtete auf und erlosch, dann ein kleiner Brunnen in einer muschelförmigen Nische. Als
der Isotta die letzte Biegung nahm, riefen die Scheinwerfer ein halbes Dutzend verwitterter Nymphen ins Dasein, die nackt auf den Sockeln standen, und kamen dann, als wäre dies die letzte, die alles erklärende Offenbarung, auf einem Orangenbaum zur Ruhe, der aus einem großen irdenen Zuber wuchs. “Hier sind wir”, sagte Eustace, und im selben Augenblick öffnete ein Butler in weißer Jacke die Wagentür und neigte ehrerbietig den Kopf. Sie betraten ein hohes, geräumiges Vestibül mit Säulen und einem Tonnengewölbe wie eine Kirche. Der Butler nahm ihre Sachen, und Eustace ging voran, die steinerne Treppe hinauf. “Hier ist dein Zimmer”, sagte er, eine Tür aufstoßend. “Fürcht dich nicht vor dem”, fügte er hinzu und wies auf das riesige Himmelbett. “Nur die Schnitzerei daran ist antik. Die Matratze ist modern. Und dein Badezimmer ist dort drin.” Er schwenkte die Hand gegen eine zweite Tür. “Was glaubst du, kannst du in fünf Minuten gewaschen und gebürstet sein?” Sebastian war ganz gewiß, er könne das. Und fünf Minuten später war er unten in der Halle. Eine Tür stand einladend halb offen. Er trat ein und befand sich im Salon. Ein schwacher, würziger Duft von Potpourri geisterte in der Luft, und die Lampen des Kronleuchters, der von der kassettierten Decke hing, wurden als unzählige gewölbte Hochglanzlichter von porzellanenen und silbernen Oberflächen gespiegelt, von gedrechseltem Holz und skulptierter Bronze und Elfenbein. Berge von glasiertem Chintz, riesige Fauteuils und Sofas wechselten ab mit der kunstvoll geschnitzten und buntbemalten Unbequemlichkeit venezianischer Möbel des achtzehnten Jahrhunderts. Ein gelblicher chinesischer Teppich lag auf dem Boden, wie eine Weite milden und uralten Sonnenscheins. Die Bilderrahmen an den Wänden waren Türen, die in andre Welten führten. Die erste, in die er hineinsah, war ein seltsam buntes Universum,
intensiv lebendig und doch statisch, endgültig und abgeklärt — eine Welt, in der alles aus unzähligen Pünktchen reiner Farben gemacht war und die Männer schmalkrempige Ofenröhren trugen und die Turnüren der Frauen monumental waren wie ägyptischer Granit. Und gleich daneben ging es in eine andre, eine venezianische Welt, wo eine Gesellschaft von Damen in einer Gondel das Rosa ihrer Seidenkleider auf dem ergänzenden Jadegrün des Canale Grande einhertreiben ließ. Und hier, über dem Kamin, in der Welt eines Manischen, einer Welt von Kerzenlicht und bräunlichen bituminösen Schatten, saß ein Konvivium in die Länge gezogener Mönche schmausend unter dem Gewölbe einer Kathedrale . . . Die Stimme seines Onkels brachte ihn in die Wirklichkeit zurück. “Ah, du hast meinen kleinen Magnasco entdeckt?” Eustace kam herbei und ergriff ihn am Arm. “Amüsant, nicht wahr?” Aber noch bevor Sebastian antworten konnte, begann er abermals zu sprechen. “Und jetzt mußt du mitkommen und dir ansehn, was ich gestern getan habe”, sagte er und zog ihn weg. “Hier!” Er wies mit der Hand. In einer gewölbten Nische stand ein schwarzer Tisch aus Papiermache, mit vergoldeten Ranken und mit Perlmutter eingelegt, und darauf ein Strauß Wachsblumen unter einer Glasglocke und ein hoher zylindrischer Glaskasten mit ausgestopften Kolibris. An der Wand, zwischen den beiden Objekten und ein wenig über ihnen, hing ein kleines Gemälde des vierzehnten Jahrhunderts, auf dem junge Männer mit Pagenköpfen und Hosenbeuteln Pfeile auf einen heiligen Sebastian schössen, der an einen blühenden Apfelbaum gebunden war. “Dein Namensvetter”, sagte Eustace. “Aber der eigentliche Witz ist der, daß man nun endlich eine Verwendungsmöglichkeit für die kleineren Primitiven entdeckt hat. Selbstverständlich ist es lächerlich, solche Schwarten so zu
behandeln, als wär's ernste Kunst. Aber als Schwarten sind sie bezaubernd; man möchte sie nicht gern vergeuden. Na, hier ist der Ausweg aus dem Dilemma. Man mische sie mit dem Stil von etwa 1870! Das ergibt einen ganz köstlichen Salat. Und jetzt, mein Lieber, wollen wir hineingehn und essen. Das Speisezimmer ist dort drüben, durch die Bibliothek.” Sie durchschritten sie. Hinter der Tür am andern Ende des langen Büchertunnels erklang eine rauhe, brüchige Stimme und das Klirren von Besteck und Porzellan. “Also, hier sind wir endlich!” rief Eustace munter, als er sie öffnete. In einem stahlblauen Abendkleid und mit sieben Reihen Perlen um den mumienhaften Hals wandte die KöniginMutter die blinden Augen den Eintretenden zu. “Du kennst meine Gewohnheiten, Eustace”, sagte sie, und in ihrer Stimme geisterte der Feldwebel. “Nach sieben Uhr fünfundvierzig wird auf niemand mit dem Dinner gewartet. Auf niemand”, wiederholte sie mit Nachdruck. “Wir sind fast fertig.” “Noch etwas Obst?” fragte Mrs. Thwale sanft und drückte der alten Frau eine Gabel in die Hand, auf die das geschälte Viertel einer Birne gespießt war. Mrs. Gamble biß davon ab. “Wo ist der Junge?” fragte sie mit vollem Mund. “Hier.” Sebastian wurde vorwärts geschoben und ergriff behutsam die ihm entgegengestreckte juwelenbeladene Klaue. “Ich hab deine Mutter gekannt”, schnarrte Mrs. Gamble. “Sie war hübsch, sehr hübsch. Aber schlecht erzogen. Ich hoffe, du bist besser erzogen.” Sie vertilgte den Rest des Birnenviertels und legte die Gabel hin. Sebastian wurde blutrot und stieß abbittende unartikulierte Laute aus, die besagen sollten, daß auch er das hoffe. “Sprich lauter!” sagte Mrs. Gamble scharf. “Wenn ich
etwas nicht leiden kann, so ist's Mummeln. Alle jungen Leute mummeln heutzutage. Veronica?” “Ja, Mrs. Gamble?” “Oh, übrigens, Junge, das ist Mrs. Thwale.” Sebastian trat in eine Aura von Parfüm vor, und als er schüchterne Augen von den Falten eines taubengrauen Kleids erhob, schrie er fast auf vor staunender Verwunderung. Dieses ovale Gesicht in seiner Umrahmung von glattem schwarzem Haar — es war Mary Esdailes Gesicht. “Guten Abend, Sebastian.” Seltsamerweise hatte er mit seinem inneren Ohr Marys Stimme nie deutlich gehört. Nun aber war es nicht zu verkennen, daß dies ihr ureigenster Klang war — ziemlich tief, aber klar und köstlich rein. “Guten Abend.” Sie reichten einander die Hand. Nur in den Augen fand er einen Unterschied zwischen seinem Phantasiebild und dessen Verkörperung. Die Mary Esdaile seiner Tagträume hatte stets die Augen niedergeschlagen gehabt, wenn er sie ansah. Und wie fest und unentwegt und befehlerisch er sie angesehen hatte! Wie sein Vater. Aber dies hier war nicht Traum, sondern Wirklichkeit. Und in Wirklichkeit war er so schüchtern wie immer. Und diese dunkeln Augen waren nun mit einem stetigen und leicht ironischen Abschätzen auf ihn gerichtet, das ihn äußerst verlegen machte. Sein Blick schwankte und wich zuletzt aus. “Sie wissen, wie man des Königs Englisch spricht, Veronica”, krächzte Mrs. Gamble weiter. “Geben Sie ihm ein paar Lektionen, während er hier ist.” “Nichts würde mir mehr Vergnügen machen”, sagte Veronica Thwale, als läse sie aus einem viktorianischen Kompendium des guten Tons vor. Abermals blickte sie Sebastian ins Gesicht, und die Winkel ihres schöngeformten Mundes zuckten in einem winzigen Lächeln. Dann
wandte sie sich ab und beschäftigte sich mit dem Schälen des Rests von Mrs. Gambles Birne. “Laßt den armen Kerl doch zum Essen kommen!” rief Eustace, der sich gesetzt hatte und mit seiner Suppe bereits halb fertig war. Dankbar begab sich Sebastian an den ihm zugewiesenen Platz. “Ich hätte dich vor der Königin-Mutter warnen sollen”, fuhr Eustace scherzend fort. “Sie ist viel schlimmer, als sie tut.” “Eustace! Eine solche Impertinenz hab ich noch nicht gehört!” “Nur, weil du nie dir selbst zuhörst”, gab er zurück. Die alte Dame kackelte anerkennend und versenkte ihre falschen Zähne in ein zweites Stück Birne. Der Saft lief ihr übers Kinn und tropfte in das Büschel Orchideen an ihrem Kleid. “Und was Mrs. Veronica Thwale betrifft, so kenne ich die junge Dame zu wenig, um dir da einen Rat geben zu können. Du wirst selber draufkommen müssen, sobald sie dir deine Mummellektionen erteilt. Erteilen Sie gern Lektionen, Mrs. Thwale?” “Das kommt auf die Intelligenz des Schülers an”, antwortete sie ernst. “Und finden Sie, daß dieser hier intelligent aussieht?” Abermals sah sich Sebastian gezwungen, dem stetig prüfenden Blick dieser dunkeln Augen auszuweichen. Aber sie war schön in ihrem grauen Kleid, und der Hals war glatt wie eine weiße Säule; und die Brüste waren eher klein. “Sehr”, sagte Mrs. Thwale endlich. “Aber natürlich”, fügte sie hinzu, “wo es sich ums Mummeln handelt, kann man nie ganz sicher sein. Mummeln ist etwas ganz Spezielles, meinen Sie nicht auch?” Und bevor Eustace antworten konnte, stieß sie ihr wunderliches kleines, grunzendes Lachen aus. Nur eine Sekunde lang — dann nahm das Gesicht wieder seine
ernste, marmorne Gelassenheit an. Zierlich begann sie eine Mandarine zu schälen. Mrs. Gamble wandte sich in die Richtung, wo ihr Schwiegersohn saß. “Mr. De Vries kam nachmittag mich besuchen. Ich weiß also, wo du zum Lunch warst.” “,Und der kein Geheimnis verborgen ist'“, sagte Eustace. Mrs. Thwale hob die Augenlider, um ihm einen schnellen Blick der Mitwisserschaft zuzuwerfen, und sah dann wieder auf ihren Teller hinunter. “Ein höchst instruktiver junger Mann”, fuhr er fort. “Ich kann ihn gut leiden”, verkündete die KöniginMutter mit Nachdruck. “Und er betet dich einfach an”, sagte Eustace mit kaum verschleierter Ironie. “Und wie kommen Sie inzwischen mit Ihrem Einstein weiter, Mrs. Thwale?” “Ich tue mein möglichstes”, antwortete sie, ohne den Blick zu heben. “Darauf könnte ich wetten”, sagte Eustace im Ton gutmütiger Ironie. Mrs. Thwale sah auf; aber diesmal war keine Mitwisserschaft in ihrem Blick, keine Andeutung, daß auch sie belustigt sei — nur steinerne Kälte. Taktvoll wechselte Eustace das Thema. “Ich hatte ein langes Gespräch mit Laurina Acciaiuoli heute nachmittag”, sagte er, sich wieder an Mrs. Gamble wendend. “Was, die ist noch immer nicht hinüber?” Die KöniginMutter schien enttäuscht, ja beinahe betrübt zu sein. “Ich dachte, sie ist so krank?” fügte sie hinzu. “Offenbar nicht ganz so krank”, entgegnete Eustace. “Manchmal schleppen sie sich jahrelang hin”, schnarrte Mrs. Gamble. “Deine Mutter ist schon vor einiger Zeit hinüber, nicht wahr, Sebastian?” “Schon 1921.”
“Was?” schrie sie. “Was sagst du? Du mummelst schon wieder!” “Schon 1921”, wiederholte er lauter. “Brüll doch nicht so!” schnarrte der geisternde Feldwebel. “Ich bin nicht taub. Bist du mit ihr jemals in Verbindung gewesen seitdem?” “In Verbindung?” wiederholte er verdutzt. “Durch ein Medium”, erklärte Eustace. “Oh, ich verstehe. Nein. Nie.” “Nicht aus religiösen Bedenken hoffentlich?” Eustace lachte laut auf. “So eine ausgefallene Frage!” “Gar nicht ausgefallen”, bellte die Königin-Mutter zurück. “Wenn doch meine eigene Enkelin religiöse Bedenken hat. Die gehn hauptsächlich auf Ihren Vater zurück, Veronica”, fügte sie hinzu. Mrs. Thwale entschuldigte sich für den Kanonikus. “Nicht Ihre Schuld, Veronica”, sagte die Königin-Mutter großmütig. “Aber Daisy ist eine Gans, daß sie auf ihn hört. Da sitzt sie und hat einen Mann und ein Kind auf der andern Seite drüben und tut gar nichts dergleichen. Es macht mich gradezu krank.” Sie schob ihren Sessel zurück und erhob sich. “Wir gehn jetzt hinauf”, sagte sie. “Gute Nacht, Eustace!” Da sie ihn nicht sehen konnte, machte sich Eustace nicht die Mühe, aufzustehn. “Gute Nacht, Königin-Mutter!” rief er zurück. “Und du, mein Junge, du wirst morgen eine Mummellektion nehmen, verstanden? Also kommen Sie, Veronica!”
12. KAPITEL Mrs. Thwale schob ihre Hand unter den Arm der alten Frau und steuerte sie durch die Tür, die Sebastian geöffnet hatte. Als sie an ihm vorbeiging, stieg ihm ihr Parfüm süß in die Nase — süß, aber zugleich auch dunkel animalisch, als wäre perverserweise den Gardenien und dem Sandelholz ein Rüchlein Schweiß beigemischt worden. Er schloß die Tür hinter den beiden und kehrte an seinen Platz zurück. “Ein großer Spaß, unsre Königin-Mutter”, sagte Eustace. “Aber man ist immer recht froh, wenn er vorüber ist. Die meisten Leute sollten eigentlich nicht länger als jeweils fünf Minuten dasein. Diese kleine Thwale hingegen ... Ein richtiges Ausstellungsstück.” Er brach ab, um Einspruch zu erheben gegen die Unzulänglichkeit der Portion filetierter Seezunge, mit der Sebastian sich bedient hatte. Ein Rezept aus den Trois Faisans in Poitiers. Er habe den Chef bestechen müssen, um es zu bekommen. Gehorsam nahm sich Sebastian mehr davon. Der Butler ging weiter, an die Schmalseite des Tisches. “Ein richtiges Ausstellungsstück”, wiederholte Eustace. “Wäre ich zwanzig Jahre jünger, oder wärst du fünf Jahre älter ... Aber du brauchst natürlich gar nicht älter zu sein, nicht wahr? Oder doch?” Sein Gesicht strahlte vor verschmitzter Anzüglichkeit. Sebastian tat sein möglichstes, mit der richtigen Art von Lächeln zu erwidern. “Sapienti sat”, fuhr Eustace fort. “Und verschiebe nie auf morgen, was du heute kannst genießen.” Sebastian sagte nichts. Sein Genießen, dachte er verbittert, geschah nur in der Phantasie. Wenn sich die Wirklichkeit darbot, war er bloß verängstigt. Hätte er ihr nicht wenigstens in die Augen sehn können?
Eustace wischte sich die Sauce von den «dicken, schlaffen Lippen und trank ein wenig von dem Champagner, der ihm inzwischen eingeschenkt worden war. “Roederer 1916”, sagte er. “Er macht mir wirklich viel Freude.” Die Rolle eines genießerischen Kenners spielend, nippte Sebastian anerkennend ein oder zweimal und stürzte dann ein halbes Glasvoll herunter. Das Zeug schmeckte, so fand er, wie ein mit einem Stahlmesser geschälter Apfel. “Er ist fabelhaft gut”, sagte er aber, und sich an die von Susan gespielte Sonate erinnernd, zwang er sich hervorzustoßen: “Er ist wie . . . wie Scarlattis Musik fürs Cembalo”, und errötete, weil es so unnatürlich klang. Eustace jedoch war entzückt von dem Vergleich. “Ich bin froh”, sagte er, “daß du nicht deinem Vater nachgerätst. Diese Gleichgültigkeit gegen alle Verfeinerungen des Lebens — die ist wirklich etwas Schauderhaftes. Einfach Calvinismus, weiter nichts. Ein Calvinismus, der nicht durch Calvins Theologie entschuldigt ist.” Er schluckte den letzten Bissen seiner zweiten Portion Seezunge, lehnte sich zurück und blickte mit Vergnügen ringsum, auf den schön gedeckten Tisch, auf die Empiremöbel, auf die Landschaft von Domenichino über dem Kamin, auf die lebensgroßen Ziegen von Rosa di Tivoli über der Anrichte, auf die beiden Bedienten, die mit der geräuschlosen Präzision von Zauberkünstlern dort hantierten. “Nein, danke für Calvinismus!” sagte er. “Da ist mir immer noch der Katholizismus lieber. Pater Barnabas mit seinem Räucherfaß; Pater Theophil mit seinem Aspergill. Was die für einen Spaß haben mit allen ihren Scharaden und Verwandlungsrätseln! Wenn sie nicht darauf bestünden, unbedingt das Christentum hineinzumengen, ließe ich mich schon morgen bekehren.” Er neigte sich vor und baute mit überraschend geschickten
Fingern das Obst in der Silberschale zwischen den Kerzenleuchtern auf gefälligere Weise auf. “,Die Schönheit der Heiligkeit'“, sagte er, “ ,die Schönheit der Heiligkeit'. Ich bin entzückt, daß du diesen Ausdruck in deinem Gedicht verwendest. Und vergiß nicht, er paßt nicht nur auf Kirchen. So, das sieht besser aus.” Er rückte mit einem letzten Zupfen eine Glashaustraube an die richtige Stelle und lehnte sich wieder zurück. “Ich hatte einmal einen wundervollen alten Butler — keine Hoffnung, je wieder seinesgleichen zu finden.” Er seufzte und schüttelte den Kopf. “Der Mann brachte es fertig, daß sich eine Dinnergesellschaft mit der feierlichen Vollkommenheit eines Hochamts in der Madeleine abwickelte.” Eingemachtes Huhn folgte dem Fisch. Eustace erging sich in einer kurzen Abschweifung über das Thema Trüffeln, kehrte zur Schönheit der Heiligkeit zurück und ging von da auf das Leben als eine schöne Kunst über. “Aber eine nicht anerkannte schöne Kunst”, klagte er. Ihre Meister werden nicht bewundert; sie werden für Müßiggänger und Verschwender angesehn. Sittenkodexe sind immer von Leuten wie dein Vater verfaßt worden — oder bestenfalls von Leuten wie Bruno. Leute wie ich waren kaum imstande, auch nur ein einziges Wörtchen mitzureden, und wenn wir unser Wörtchen mitreden können — wie ein oder zweimal während des achtzehnten Jahrhunderts —, hört niemand ernstlich auf uns. Und doch stiften wir erwiesenermaßen viel weniger Unheil als die andern Gesellen. Wir fangen keine Kriege an oder Albigenser-Kreuzzüge oder kommunistische Revolutionen. . Leben und leben lassen' — das ist unser Wahlspruch. Während die Idee der andern vom Gutsein die des ,Sterbens und Sterbenmachens' ist. Laß dich umbringen für deine idiotische Sache und bring jeden andern um, der zufällig nicht einer Meinung ist mit dir! Die Hölle ist nicht nur gepflastert mit guten Vorsätzen; sie ist auch auf gemauert und eingedeckt mit ihnen. Ja, und auch möbliert.”
Sebastian erschien diese Bemerkung nach seinem zweiten Glas Champagner äußerst komisch, und er brach in ein kicherndes Gelächter aus, das zu seiner Verlegenheit in einem Rülpser endete. Das Zeug war so arg wie Ingwerbier. “Du kennst natürlich den alten Herrn aus Thailand?” “Du meinst den, der nicht glauben wollte an unsern Heiland?” Eustace nickte. “ .Darum gründete er behend'“, zitierte er, “,mit ihm selbst als Präsident' — obzwar das nicht zu seinem Charakter stimmt, siehst du, denn er würde gar nicht das Oberhaupt sein wollen; er würde sich einfach still unterhalten und gute Manieren haben wollen — ,den Kult des Benehmens mit Anstand'. Oder, mit andern Worten, den Konfuzianismus. Aber unglückseligerweise war China auch voll von Buddhisten und Taoisten und verschiedenen Kriegsherren. Leuten von despotischem Temperament und Leuten von gehemmtem, skrupulösem Temperament. Schrecklichen Leuten wie Napoleon und andern schrecklichen Leuten wie Pascal. Es war einmal ein alter Herr aus Korsika, der an nichts glauben wollte als an Macht. Und ein alter Herr aus Port-Royal, der sich selbst folterte, indem er an den Gott Abrahams und Isaaks und nicht an den der Philosophen glaubte. Die beiden miteinander geben dem armen alten Herrn aus Thailand auch nicht die Spur einer Chance. In China nicht und anderswo auch nicht.” Er machte eine Pause, um sich von dem Schokoladesoufflé zu nehmen. “Wenn ich die Kenntnisse hätte”, fuhr er fort, “und die Energie, würde ich einen Grundriß der Weltgeschichte schreiben. Nicht in Begriffen der Geographie oder des Klimas oder der Wirtschaft oder der Politik. Nichts von alledem ist grundlegend. Sondern in Begriffen des Temperaments. In Begriffen des ewigen Dreikampfs zwischen dem alten Herrn aus Thailand, dem alten Herrn aus Korsika und dem alten Herrn aus Port-Royal.”
Eustace unterbrach sich, um noch etwas mehr Schlagsahne zu verlangen; dann setzte er fort. Christus sei natürlich ein alter Herr aus Port-Royal gewesen, und das treffe auch auf Buddha und die meisten andern Hindus zu. Und auch auf Lao-tse. Mohammed aber habe sehr viel mit dem alten Herrn aus Korsika gemein. Und das stimme auch für eine recht große Zahl christlicher Heiliger und Kirchenväter. Das Ergebnis sei Mord und Raub, begangen von bekehrerischen Gewaltmenschen und gerechtfertigt in Begriffen einer von Introvertierten entworfenen Theologie. Und inzwischen werde der arme alte Herr aus Thailand von jedermann mit Fußtritten und Beschimpfungen traktiert. Vielleicht bei den Pueblo-Indianern, aber sonst nirgends, habe es eine vorwiegend thailändische Gesellschaftsform gegeben — eine Gesellschaftsform, in der es für unziemlich galt, ehrgeizig zu sein, für ketzerisch, eine persönliche Religion zu haben, für verbrecherisch, ein Führer zu sein, und für tugendhaft, es sich in Frieden und Ruhe wohl sein zu lassen. Außerhalb von Zuñi und Taos hätten sich die alten Herren aus Thailand damit begnügen müssen, ihre Proteste protokollieren zu lassen, die Bremsen anzuziehn, sich aufs breite Ende zu setzen und zu erklären, sich nicht von der Stelle rühren zu wollen, es wäre denn, man schleppte sie mit Gewalt weg. Konfuzius habe am meisten Erfolg dabei gehabt, das Wüten der Korsikaner und PortRoyalisten zu mildern; wogegen im Westen Epikur bloß ein geflügeltes Wort geworden sei, Boccaccio und Rabelais und Fielding als bloße Literaten betrachtet würden und sich niemand mehr die Mühe nehme, Bentham zu lesen oder auch nur John Stuart Mill. Und neuestens habe man begonnen, die alten Herren aus Port-Royal genauso schlecht zu behandeln wie die aus Thailand. Kein Mensch mehr lese Bentham; aber ebenso lese auch kein Mensch mehr Thomas von Kempten. Das herkömmliche Christentum sei im Begriff, etwas ebenso Diskreditiertes zu werden wie das Epikureertum. Die Philosophie des Handelns um
des Handelns willen, der Macht um der Macht willen, sei zu einer festgegründeten Orthodoxie geworden. “Du hast gesiegt, rafferischer Babbitt!” “Und nun”, schloß er, “wollen wir unsern Mokka trinken gehn, wo wir ein wenig bequemer sitzen können.” Sich behutsam und bedachtsam innerhalb der zerbrechlichen Welt seines beginnenden Schwipses bewegend, folgte Sebastian seinem Onkel in den großen Salon. “Nein, danke schön”, erwiderte er höflich, als ihm eine Zigarre angeboten wurde, die sogar noch länger und dunkler war als die Zigarren Dr. Pfeiffers. “Dann nimm dir eine Zigarette”, sagte Eustace, während er sich selbst zu einer Romeo-und-Julia verhalf. Feucht und liebevoll schlössen sich seine unentwöhnten Lippen um das Objekt seines Verlangens. Er hielt es ans Flämmchen der kleinen silbernen Lampe, saugte, und einen Augenblick später gab die Zitze ihre aromatische Milch, war sein Mund voll von Rauch. Eustace tat einen tiefen Seufzer der Zufriedenheit. Der Geschmack des Tabaks war so neu, eine so köstliche Offenbarung, wie er es für ihn als jungen Mann gewesen war; als wäre sein Gaumen jungfräulich und dies seine erste erstaunliche Einweihung in diesen Genuß. “Du solltest dich beeilen”, sagte er, “dir das Zigarrenrauchen anzugewöhnen. Es ist eine der größeren Seligkeiten. Und etwas viel Dauernderes als Liebe. Und kostet viel weniger an emotionellem Verschleiß und Verbrauch. Obwohl sich natürlich”, fügte er, sich Mimis erinnernd, hinzu, “auch die Liebe beträchtlich vereinfachen läßt. Sehr beträchtlich.” Er ergriff Sebastian herzlich am Arm. “Das Glanzstück der Sammlung hast du noch gar nicht gesehn.” Er führte ihn durchs Zimmer und drehte einen Schalter. Unter dem Licht sprang ein wunderschönes Stück Mythologie ins Dasein. In einem grünen Waldtal, mit dem Mittelmeer in der Ferne und zwei der Küste vorgelagerten Capris, lag Adonis träumend inmitten seiner schlafenden Hunde. Über ihn gebeugt stand eine blonde verliebte Venus und wollte soeben den
Schleier aus golddurchwirktem Flor, der seine einzige Bedeckung war, beiseite ziehn, während im Vordergrund ein Amor spielerisch ihre linke Brust mit einem Pfeil aus des jungen Jägers Köcher bedrohte. “Die inkandeszenten Kopulationen der Götter”, sagte sich Sebastian im stillen, als er bezaubert auf das Bild blickte. Andre Wendungen begannen ihm zuzufliegen. “Erleuchtet von göttlicher Lust.” “Des Himmels lautre buhlerische Unschuld.” Aber was grade diese Inkandeszenz hier so bezaubernd machte, war eine Spur von Ironie in ihrer Wiedergabe, eine Andeutung — sehr fein durch die zwei weißen Kaninchen im linken Vordergrund, den Gimpel zwischen dem Eichenlaub oben, die drei Pelikane und den Kentauren auf dem fernen Strand vermittelt — daß es alles ein ganz klein wenig absurd sei. “Die Praxis der Liebe”, bemerkte Eustace dazu, “ist selten ganz so anmutig wie in Piero di Cosimos Vorstellung.” Er wandte sich ab und begann die Handzeichnungen auszupacken, die er am Vormittag bei Greuil gekauft hatte. “Sie ist einem Degas beträchtlich ähnlicher.” Er reichte Sebastian die Skizze der Frau, die sich den Nacken trocknete. “Wenn du verführt werden wirst”, sagte er, “wird's wahrscheinlich eher von jemand so wie die hier sein als wie jene dort.” Er machte eine Kopfbewegung gegen Pieros Venus hin. Aus seiner privaten Champagnerwelt antwortete Sebastian mit einem Kichern. “Oder vielleicht bist du schon verführt worden?” Eustaces Ton war scherzhaft. “Aber das geht mich natürlich nichts an”, fügte er hinzu, als Sebastian abermals kicherte und errötete. “Drei Worte guten Rats möchte ich dir immerhin geben. Vergiß nicht, daß dein Talent wichtiger ist als dein Vergnügen. Und auch nicht, daß das Vergnügen einer Frau manchmal nicht nur mit deiner Begabung unvereinbar sein kann, sondern sogar mit deinem Spaß an der Sache. Und
ferner, daß, wenn sich das so trifft, die Flucht deine einzige Strategie ist.” Er schenkte etwas alten Kognak in die zwei riesigen Gläser, die gebracht worden waren, zuckerte die eine Tasse Kaffee und ließ sich schwerfällig auf das Sofa nieder, wobei er Sebastian winkte, sich neben ihn zu setzen. Ganz sachgerecht schwenkte Sebastian das Getränk in seinem Glas rundum und nippte. Es schmeckte wie der Geruch von Brennspiritus. Er tauchte einen Würfel Zucker in seinen Kaffee und knabberte daran, wie er es nach einer Dosis salpetersauren Chinins getan hätte. Dann blickte er abermals auf die Zeichnung. “Was ist das Äquivalent dafür in der Dichtung?” sagte er nachdenklich. “Villon?” Er schüttelte den Kopf. “Nein. Das hier ist nicht tragisch. John Donne ist eher ein wenig so — nur daß er ein Satiriker ist und dieser Mann hier nicht.” “Und Swift”, warf Eustace ein, “weiß nicht, wie er die Schönheit seiner Opfer vermitteln soll. Die faszinierenden Konturen des Hintergestells einer aristokratischen Witwe, die köstlichen grünen und blauroten Töne im Gesicht eines Schulmädchens — er sieht diese Dinge gar nicht, geschweige denn, daß er sie uns sehen macht.” Sie lachten beide. Dann schluckte Eustace den Rest in seinem Kognakglas herunter und schenkte sich noch ein wenig ein. “Was ist's mit Chaucer?” meinte Sebastian und blickte von einer neuerlichen Betrachtung der Zeichnung auf. “Du hast recht!” rief Eustace entzückt. “Du hast vollkommen recht. Er und Degas — sie kannten dasselbe Geheimnis: die Schönheit der Häßlichkeit, die Komik der Heiligkeit. Also angenommen, du hättest die Wahl?” fuhr er fort. “Die Göttliche Komödie oder die CanterburyErzählungen — welche geschrieben zu haben wäre dir lieber?” Und ohne Sebastian Zeit zu einer Antwort zu lassen, setzte er hinzu: “Ich würde die Canterbury-Erzäh-
lungen wählen. Oh, ohne Zögern! Und als Mensch — wie unendlich lieber man Chaucer wäre! Die vierzig katastrophalen Jahre nach dem Schwarzen Tod zu durchleben und nur ein einziges Mal in seinem gesamten Werk auf diese Nöte anzuspielen — und das mit einer komischen Anspielung! Ein hoher Verwaltungsbeamter und ein Diplomat zu sein und das nicht für wichtig genug zu halten, auch nur eine einzige Erwähnung zu verdienen! Wogegen Dante sich in Parteipolitik stürzen muß, und wenn er dann aufs falsche Pferd gesetzt hat, den Rest seines Lebens in Wut und Selbstbedauern hinbringt. Rächt sich an seinen politischen Gegnern, indem er sie in die Hölle tut, und belohnt seine Freunde, indem er sie ins Fegefeuer und ins Paradies avancieren läßt. Kann es etwas Alberneres oder Schofleres geben? Und selbstverständlich, wenn er nicht zufällig der zweitgrößte Virtuos der Sprache wäre, der je gelebt hat, fände kein Mensch ein gutes Wort für ihn.” Sebastian lachte und nickte zustimmend. Der Alkohol und die Tatsache, daß sein Onkel ihn ernst nahm, seine Meinungen mit Achtung anhörte, ließ ihn sich sehr glücklich fühlen. Er trank noch mehr Kognak, und während er an dem Zuckerwürfel lutschte, mit dem er den Nachgeschmack zu beseitigen suchte, blickte er abermals auf die Zeichnung der Frau mit dem Handtuch. Seine gehobene Stimmung befeuerte seine Begabung, und fast mit Blitzgeschwindigkeit hatte er einen Vierzeiler beisammen. Er zog Bleistift und Notizblock hervor und begann zu kritzeln. “Was schreibst du denn da?” Sebastian antwortete nicht mit Worten, sondern riß das Blatt ab und reichte es seinem Onkel. Eustace klemmte das Monokel ein und las laut: “Ein andrer braucht, daß ein Bild er mal', Den ganzen Ovid und das Passional; Degas gelingt's mit 'ner blechernen Butte, Zwei Steißbacken und einer pendelnden Dutte.” 159
Er klatschte Sebastian aufs Knie. “Bravo!” rief er. “Bravo!” Er wiederholte die letzte Zeile und lachte, bis er husten mußte. “Wir wollen einen Tausch machen”, sagte er, als der Anfall vorbei war und er noch eine Tasse Kaffee und noch etwas Kognak getrunken hatte. “Ich behalte das Gedicht, und du sollst die Zeichnung haben.” “Ich?” Eustace nickte. Es war wirklich ein Vergnügen, etwas für jemand zu tun, der so aus ganzem Herzen und mit so ungeheucheltem Entzücken darauf ansprach. “Du sollst sie dir mitnehmen können, wenn du nach Oxford gehst. Eine Zeichnung vonDegas über dem Kaminsims — das wird dir fast ebensoviel Ansehn geben, wie in der Achtermannschaft deines College zu rudern. Überdies”, fügte er hinzu, “weiß ich, daß du das Ding um seiner selbst willen gern haben wirst.” Und das war beträchtlich mehr, so fiel ihm plötzlich ein, als sich von seiner Stieftochter sagen ließ. Er selbst hatte nur den lebenslänglichen Zinsengenuß; nach seinem Tod fiele alles Daisy Ockham zu. Nicht nur die Aktien und Anteilscheine, sondern auch dieses Haus und alles, was darin war: die Möbel, die Teppiche, das Porzellan — ja, sogar die Bilder. Sein absurder kleiner heiliger Sebastian, seine beiden köstlichen Guardi, sein Magnasco, sein Seurat, Venus und Adonis — ein Bild, das Daisy ganz gewiß für zu unanständig hielte, um es in ihrem Salon aufzuhängen, wo am Ende ihre Pfadfinderinnen, oder was immer sie waren, es sehen und sich Ideen in den Kopf setzen könnten. Und vielleicht brächte sie diese Geschöpfe hierher, hier in die Villa. Schwärme weiblicher Pubertät, die Gesichter käsig und voller Pusteln, würden durch sein Haus trampeln und mit barbarischem Unverständnis über alles, was sie sähen, kichern. Der bloße Gedanke machte einem übel. Aber er wäre ja, daran gemahnte er sich, gar nicht mehr
da daß es ihm nahegehn könnte. Und sich im vorhinein übel werden zu lassen, ohne unmittelbaren Grund zu solchen Gefühlen, war einfach dumm. Nicht weniger dumm war es, an den Tod zu denken. Solange man lebendig war, existierte der Tod nicht, außer für andre Leute. Und wenn man tot war, existierte gar nichts, nicht einmal der Tod. Also warum sich kümmern? Besonders, da er sorgfältig darauf bedacht war, das Ereignis hinauszuschieben. Rauchte er doch nur eine einzige dieser himmlischen Romeo-undJulias, trank nur ein einziges Glas Kognak nach dem Abendessen . . . Nein: er hatte bereits zwei getrunken; dieses, das er soeben an die Lippen hob, war das dritte. Na, machte auch nichts; er würde schon achtgeben, daß es nicht wieder geschähe. Heute abend feierte er Sebastians Ankunft. Es kam nicht jeden Tag vor, daß man ein Wunderkind bewillkommte. Er nippte und ließ den Kognak im Mund rundum laufen; auf Zunge und Gaumen feierte der die glücklichste Vermählung mit dem anhaftenden Aroma der Zigarre. Er wandte sich an Sebastian: “Einen Penny für deine Gedanken.” Der lachte mit einer Spur von Verlegenheit und antwortete, daß sie nicht soviel wert seien. Aber Eustace ließ sich nicht abweisen. “Also, zunächst einmal”, sagte Sebastian, “hab ich ... hmja, ich hab mir gedacht, wie außerordentlich nett du zu mir bist.” Das war nicht ganz wahr; seine Phantasie war mit den Gaben beschäftigt gewesen, nicht mit dem Geber. “Und dann”, fuhr er ziemlich überstürzt fort, denn er begriff, wie gewöhnlich zu spät, daß sein pflichtgemäßer Tribut nicht sehr überzeugend klang, “hab ich daran gedacht, was ich alles täte, sobald ich einen Abendanzug hätte.” “Zum Beispiel die ganzen Gaiety Girls zum Souper zu Ciro ausführen, wie?” Bei der beschämenden Beschäftigung des Tagträumens
erwischt, errötete Sebastian. Er hatte sich vorgestellt, wie er im Savoy säße, zwar nicht mit der ganzen Girltruppe des Gaiety-Theaters, aber entschieden mit den beiden Mädeln, die zu Tom Boveneys Gesellschaft kämen. Und dann hatte sich eins der Mädel in Mrs. Thwale verwandelt. “Hab ich recht?” “Hm ... Nicht ganz”, antwortete Sebastian. “Nicht ganz!” wiederholte Eustace mit wohlwollender Ironie. “Du siehst selbstverständlich ein”, fügte er hinzu, “daß du stets enttäuscht sein wirst?” “Wovon?” “Von Mädeln. Von Unterhaltungen. Von Erlebnissen im allgemeinen. Niemand, der irgendeine Art schöpferischer Vorstellungsgabe besitzt, kann etwas andres als enttäuscht sein vom wirklichen Leben. Als ich jung war, war ich meist unglücklich, weil ich keinerlei Begabung besaß — nichts als ein bißchen Geschmack und Gescheitheit. Heute aber bin ich nicht so sicher, ob man nicht auf diese Weise glücklicher ist. Menschen wie du sind nicht wirklich mit demselben Maß zu messen wie die Welt, in der wir leben. Wogegen Leute wie ich ihr völlig angepaßt sind.” Er zog die Zitze zwischen seinen dicken, feuchten Lippen hervor, um von dem Kognak zu nippen. “Deine Aufgabe ist es nicht, Dinge zu tun”, nahm er seinen Gedankengang wieder auf, “ja nicht einmal, zu leben. Sondern Gedichte zu schreiben. Vox et praeterea nihil, das ist's, was du bist und was du sein solltest. Oder vielmehr voces, nicht vox. Alle Stimmen in der Welt. Wie Chaucer, wie Shakespeare. Die Stimme des Müllers und die Stimme des Pfarrers, die Stimme Desdemonas und Calibans und Kents und des alten Polonius. Sie alle, ganz unparteiisch.” “Unparteiisch”, wiederholte Sebastian nachdenklich. Ja, das war gut; das war genau das, was er selbst von sich zu denken versucht hatte, ohne daß es ihm je ganz gelungen wäre, denn solche Gedanken fügten sich nicht in die
ethischen und philosophischen Schablonen, die für unumstößlich zu halten man ihn erzogen hatte. Stimmen, alle Stimmen, die es gab, ganz unparteiisch. Er war begeistert von dem Gedanken. “Selbstverständlich”, sagte Eustace, “könntest du stets einwenden, daß du in deinem geistigen Weltersatz intensiver lebst als wir, die wir bloß in der wirklichen Welt schwelgen. Und ich wäre geneigt, das zuzugeben. Aber das Malheur ist, daß du dich nicht damit zufriedengeben kannst, bei deinem wunderschönen Ersatz zu bleiben. Du mußt hinabsteigen zu Abendkleidung und zu Ciro und Revuegirls — und vielleicht in die Politik und in Komiteesitzungen, Gott sei uns gnädig! Und mit beklagenswerten Ergebnissen. Weil du dich nicht zu Hause fühlst bei diesen klumpigen Stückchen von Materie. Sie bedrücken dich, sie verwirren dich, sie entsetzen dich und machen dir übel und machen einen Narren aus dir. Und doch bringen sie dich immer noch in Versuchung und werden dich weiter in Versuchung bringen, werden dich verlocken, dich auf Handlungen einzulassen, von denen du voraus weißt, daß sie dich nur elend machen und von dem einzigen ablenken können, das du ordentlich zu tun vermagst, von dem einzigen, dessentwegen die Menschen dich schätzen.” Es war interessant, so von sich selbst reden zu hören; aber die anregenden Wirkungen des Alkohols hatten sich verflüchtigt, und Sebastian fühlte fast plötzlich eine Benommenheit, die alle Gedanken an Gedichte, an Stimmen, an Abendanzüge auslöschte. Er gähnte verstohlen. Die Worte seines Onkels kamen wie durch einen Nebel zu ihm, der sich verdichtete und dann wieder lichter wurde, ihre Bedeutung für eine kleine Weile durchscheinen ließ, sich dann wieder hereinwälzte und alles verdunkelte. “... Fascinatio nugacitatis”, sagte Eustace grade. “Es wird immer ganz anders übersetzt. Aber wie wundervoll in der Vulgata! Die Magie der Trivialität — Gebanntsein von bloßem Tändeln. Wie gut ich diese Faszination kenne!
Und wie fürchterlich stark sie ist! Lappalien nur um der Lappalien willen. Aber was ist die Alternative dazu? Sich wie der alte Herr aus Korsika zu benehmen? Oder wie irgendein gräßlicher religiöser Fanatiker ...” Abermals drang Dunkelheit in Sebastians Geist ein, diese Benommenheit, in die nur zitternde Streifen von Schwindelgefühl und schwachem Brechreiz Abwechslung brachten. Er sehnte sich danach, im Bett zu liegen. Sehr deutlich und silbern schlug eine Uhr die halbe Stunde. “Halb elf, verkündete Eustace. “ ,Zeit, Zeit und eine halbe Zeit. Den Unschuldigen und Schönen ist nur die Zeit ein Feind.'“ Er gestattete sich ein Aufstoßen. “Das ist's, was ich an Champagner so gern habe — er stimmt einen poetisch. Der ganze wunderschöne Bodensatz aus fünfzig Jahren wahllosen Lesens kommt an die Oberfläche heraufgeschwommen. O lente, lente currite, noctis equi!” O lente, lente ... Begräbnishaft schwarze Pferde kamen in langsamem Schritt durch den Nebel. Und plötzlich wurde sich Sebastian bewußt, daß ihm das Kinn auf die Brust gesunken war. Mit einem Ruck wurde er wieder ganz wach. “ . . . einen Glauben”,sagt es ein Onkel grade. “Sie können es nie ohne einen Glauben aushalten. Immer dieses Bedürfnis nach irgendeinem unsinnigen Ideal, das sie blind macht für die Wirklichkeit und bewirkt, daß sie sich benehmen wie Verrückte. Und sieh dir die Ergebnisse in unsrer abendländischen Geschichte an!” Er nahm wieder einen Schluck Kognak und saugte wollüstig an seiner Zigarre. “Erst ist's Gott, an den sie glauben, — nicht drei gasförmige Wirbeltiere, sondern ein einziges. Und was geschieht? Sie kriegen den Papst, sie kriegen die Inquisition, sie kriegen Calvin und John Knox und die Religionskriege. Dann wird ihnen Gott langweilig, und nun gibt's Krieg und Massaker im Namen der Menschheit. Die Menschheit und der Fortschritt, der Fortschritt und die Menschheit! Übrigens, hast du je Bouvard et Pécuchet gelesen?”
Ziemlich verspätet fuhr Sebastian abermals aus seinem Duseln auf und verneinte. “Das ist ein Buch!” rief der andre aus. “Unvergleichlich das beste, das Flaubert je geschrieben hat. Es ist eine der ganz großen philosophischen Dichtungen der Weltliteratur _ wahrscheinlich die letzte, die je geschrieben werden wird. Denn nach Bouvard et Pecudiet gibt's natürlich nichts mehr zu sagen. Dante und Milton rechtfertigen bloß die Wege Gottes. Flaubert aber geht den Dingen wirklich auf den Grund. Er rechtfertigt die Wege des Tatsächlichen. Die Wege des Tatsächlichen, wie sie nicht nur den Menschen, sondern auch Gott betreffen — und nicht nur das gasförmige Wirbeltier, sondern alle die andern phantastischen Erzeugnisse menschlichen Schwachsinns, einschließlich natürlich unsres lieben alten Freundes, des unvermeidlichen Fortschritts. Unvermeidlicher Fortschritt!” wiederholte er. “Nur noch ein einziges unumgänglich notwendiges Massaker von Kapitalisten oder Kommunisten oder Faschisten oder Christen oder Ketzern, und wir sind schon da — wir sind schon in der goldenen Zukunft. Aber wie man gar nicht erst zu sagen braucht, liegt es bereits in der Natur der Dinge, daß die Zukunft gar nicht golden sein kann. Aus dem einfachen Grund, daß niemand je etwas für nichts kriegt. Für ein Massaker muß stets bezahlt werden, und sein Preis ist ein Zustand, der eine unbedingte Versicherung dagegen ist, je das Gute zu erzielen, das durch das Massaker hätte erzielt werden sollen. Und dasselbe trifft auch auf unblutige Revolutionen zu. Jeder nennenswerte Fortschritt in Technik oder Organisation muß bezahlt werden, und in den meisten Fällen ist das Soll mehr oder weniger dem Haben gleich. Ausgenommen natürlich, wenn es bedeutend größer als sein Gegenwert ist, wie zum Beispiel im Fall der allgemeinen Schulpflicht, des Rundfunks oder dieser verdammten Flugzeuge. In einem solchen Fall ist selbstverständlich der Fortschritt ein Schritt rückwärts und abwärts. Rückwärts und abwärts”, wiederholte er;
und die Zigarre aus dem Mund nehmend, warf er den Kopf zurück und stieß ein langes keudiendes Gelächter aus. Plötzlich verstummte er, und sein breites Gesicht zog sich zu einer Grimasse des Schmerzes zusammen. Er griff sich an die Brust. “Sodbrennen”, sagte er, den Kopf schüttelnd. “Das ist das Unangenehme an Weißwein. Ich habe Rheinwein und Riesling ganz aufgeben müssen; und zeitweise sogar Champagner ...” Eustace schnitt wieder eine Grimasse und biß sich auf die Lippe. Der Schmerz ließ ein wenig nach. Mit einiger Schwierigkeit hob er sich aus seinem tiefen Sitz auf die Beine. “Zum Glück”, fügte er mit einem Lächeln hinzu, “gibt's fast nichts, was ein wenig Speisesoda nicht behebt.” Er steckte die Zitze wieder in den Mund und ging aus dem Zimmer, durch die Halle und den kleinen Gang entlang, der zu der untern Toilette führte. Sich selbst überlassend, stand Sebastian auf, entkorkte den Kognak und schüttete, was noch in seinem Glas war, in die Flasche zurück. Dann trank er ein wenig Sodawasser und fühlte sich entschieden besser. Er trat an eins der Fenster, schob den Vorhang beiseite und blickte hinaus. Der Mond schien. Vor dem Himmel aufragend, waren die Zypressen Obelisken fester Finsternis. An ihrem Fuß standen die bleichen, gestikulierenden Statuen, und hinter ihnen und unterhalb, weit weg, blinkten die Lichter von Florenz. Und zweifellos gab es Elendsquartiere dort unten, gleich denen von Camden Town, und Dirnen in Blau an den Straßenecken und auch den ganzen Gestank und Stumpfsinn und alle die Miseren und Erniedrigungen. Hier aber gab es nur Ordnung und sinnvolle Absicht, Bedeutsamkeit und Schönheit. Hier war ein kleines Stück der Welt, in welcher menschliche Wesen von Rechts wegen leben sollten. Plötzlich, in einem Akt rein verstandesmäßiger Vor-
ahnung, war er sich des Gedichts bewußt, das er über diesen Garten schreiben würde. Nicht der Zufälligkeiten — der metrischen Anordnung, der Wörter und Sätze — aber seiner wesentlichen Form und des Geists, von dem es beseelt wäre; der Form und des Geists eines langen, besinnlichen lyrischen Gedichts; einer poetischen Reflexion, gesteigert bis zu Aufschrei und Gesang und in dieser Intensität erhalten durch etwas wie ein dauerndes Wunder. Einen Augenblick lang kannte er es vollkommen, sein ungeschriebenes Gedicht, — und diese Erkenntnis erfüllte ihn mit außerordentlicher Seligkeit. Dann war es dahin. Er ließ den Vorhang fallen, ging zu einem Lehnstuhl und setzte sich, um mit den Problemen der Abfassung zu ringen. Zwei Minuten später war er fest eingeschlafen. Auf dem Fensterbrett der Toilette stand eine Aschenschale aus Onyx. Sehr sorgfältig, um die fehlerlose Verbrennung nicht zu stören, legte Eustace seine Zigarre hin, wandte sich dann um und öffnete die kleine Hausapotheke über dem Waschbecken. Das Schränkchen war stets wohlversehn, damit er, wenn er je während des Tages irgendeine innere oder äußere erste Hilfe brauchte, nicht in sein Badezimmer hinaufgehn müßte. In zehn Jahren, so sagte er gern, habe er sich so viel Steigen erspart, wie es ihn gekostet hätte, auf den Everest zu gelangen. Aus der Reihe der Medikamente in dem oberen Fach nahm er das doppeltkohlensaure Natron, schraubte die Kappe ab und schüttelte vier der weißen Tabletten in die hohle Linke. Er wollte das Fläschchen soeben zurückstellen, als ein neuer Anfall dieses seltsam heftigen Sodbrennens ihn veranlaßte, die Dosis zu erhöhen. Er füllte ein Glas mit Wasser und begann die Tabletten eine nach der andern zu schlucken und nach einer jeden etwas Wasser zu trinken. Zwei, drei, vier, fünf, sechs ... und dann war plötzlich der Schmerz wie ein rotglühendes Eisen, das sich in seine Brust bohrte. Er fühlte sich schwindlig, und eine wirbelnde
Schwärze verfinsterte die Außenwelt. Blindlings tastend glitten seine Hände über die Wand und fanden den glatt emaillierten Wassertank der Toilette. Er ließ sich taumelnd auf den Sitz nieder und fühlte sich fast sogleich beträchtlich besser. Es mußte dieser verdammte Fisch gewesen sein! Das Rezept erforderte eine Menge Rahm, und er hatte sich zweimal davon genommen. Er schluckte die letzten zwei Tabletten, trank den Rest des Wassers und stellte mit ausgestreckter Hand das Glas auf das Fensterbrett. Eben als sein Arm völlig gestreckt war, kehrte der Schmerz zurück — aber in einer neuen Form; denn er war jetzt auf eine unbeschreibliche Art so ekelhaft wie qualvoll. Und auf einmal merkte er, daß er nach Atem rang, von einem Schrecken umklammert, der heftiger war als jegliche Furcht, die er je zuvor empfunden hatte. Es war für einige Sekunden ein völlig unbestimmter und unmotivierter Schrecken. Dann schoß der Schmerz auf einmal in seinen linken Arm — übelkeiterregend, abscheulich, als hätte ihm einHieb aufs Zwerchfell den Atem verschlagen, als hätte er einen Tritt in die Genitalien erhalten, — und blitzschnell kristallisierte sich die grundlose Furcht zu Angst vor einem Herzschlag, vor dem Tod. Der Tod, der Tod, der Tod. Und er erinnerte sich, was Dr. Burgess ihm gesagt hatte, als er das letztemal bei ihm in der Ordination gewesen war. “Die alte Pumpe kann Mißhandlungen nicht unbegrenzt aushalten.” Und Amy — auch sie ... Aber bei ihr war es nicht plötzlich gekommen. Das waren damals Jahre und Jahre gewesen, des Liegens auf Sofas, der Pflegerinnen und Strophantintropfen. Wirklich eine ganz angenehme Existenz. Dagegen hätte er gar nichts; er würde das Rauchen sogar ganz aufgeben. Qualvoller denn je kam der Schmerz wieder. Der Schmerz und diese entsetzliche Todesangst. “Hilfe!” versuchte er zu rufen. Aber alles, was er hervorzubringen vermochte, war nur ein schwaches, heiseres Jappen. “Hilfe!” Warum kam denn niemand? Diese ver-
fluchten Dienstboten! Und dieser verdammte Junge dort drüben, gleich auf der andern Seite der Halle, im Salon. “Sebastian!” Der Schrei erzeugte nicht mehr als ein Flüstern. “Laß mich nicht sterben. Laß mich nicht ...” Plötzlich keuchte er mit einem seltsamen, krähenden Laut. Er bekam keine Luft, keine Luft! Und mit einmal erinnerte er sich dieses scheußlichen Gletschers, auf den man ihn Bergsteigen geführt hatte, — zwölf war er damals gewesen. Keuchend und nach Luft schnappend hatte er dort im Schnee gelegen und sein Frühstück erbrochen, während sein Vater danebenstand, mit John und dem Schweizer Führer, und überlegen lächelte und ihm sagte, es sei nur ein Anfall von Bergkrankheit. Die Erinnerung schwand; und nichts blieb, nur dieses Krähen und Nach-Atem-Ringen, dieser Druck auf den verdunkelten Augen, dieses beschleunigte Hämmern des Bluts in den Ohren und der Schmerz, der immer stärker und stärker wurde, als zöge eine mitleidslose Hand eine Schraube an, bis zuletzt — ah, um Gottes willen! aber es war unmöglich, zu schreien, — etwas nachzugeben und zu brechen schien; und plötzlich war es wie ein Zerreißen. Der Stachel dieser verdoppelten qualvollen Angst brachte ihn auf die Beine. Er machte drei Schritte zur Tür und schob den Riegel zurück; doch bevor er öffnen konnte, versagten ihm die Knie, und er stürzte zu Boden. Mit dem Gesicht nach unten auf den Fliesen liegend, rang er noch ein wenig weiter nach Luft, immer röchelnder und röchelnder. Aber es war keine Luft da; nur ein Geruch von Zigarrenrauch. Jäh auffahrend erwachte Sebastian zu dem Bewußtsein, daß sein linkes Bein eingeschlafen war. Er blickte um sich, und ein paar Sekunden lang konnte er sich nicht erinnern, wo er war. Dann fand alles seinen Platz — die Reise und Onkel Eustace und die seltsame, beunruhigende, fleischgewordene Verkörperung Mary Esdailes. Sein Blick fiel auf die Zeichnung dort auf dem Sofa, wo sein Onkel sie
hingelegt hatte. Er beugte sich hinüber und ergriff sie. “Zwei Steißbacken und eine pendelnde Dutte.” Ein echter Degas, und Onkel Eustace wollte ihn ihm schenken! Und auch den Abendanzug! Er müßte ihn im Geheimen tragen und in den Zwischenzeiten verstecken, sonst wäre sein Vater ganz gut imstande, ihn ihm wegzunehmen. Susan würde ihm wohl erlauben, ihn in ihrem Zimmer aufzubewahren. Oder Tante Alice; denn in dieser Sache war sie ebensosehr auf seiner Seite wie Susan. Und zum Glück wäre sein Vater noch im Ausland, wenn Tom Boveney diese Gesellschaft gäbe. Melodisch schlug die Uhr auf dem Kaminsims ihr Bimbim und wiederholte sich dann. Bim-bim, bim-bim. Sebastian blickte auf und war erstaunt, zu sehn, daß es schon ein Viertel vor zwölf war. Und es war doch nur kurz nach halb elf gewesen, als Onkel Eustace das Zimmer verlassen hatte. Er sprang auf, ging zur Tür und blickte hinaus. Die Halle war leer, im ganzen Haus war es still. Aus Furcht, jemand zu wecken, wagte er nur einen gedämpften Ruf. “Onkel Eustace!” Es kam keine Antwort. War er hinaufgegangen und nicht mehr heruntergekommen? Oder vielleicht, so erwog Sebastian unruhig, vielleicht war er zurückgekommen, hatte ihn schlafen sehn und ihn gelassen, wo er war, — einfach nur so zum Spaß. Ja, das war es wahrscheinlich. Und morgen würde er es endlos zu hören bekommen. In einen Lehnstuhl gekuschelt wie ein müdes Kind! Sebastian war wütend über sich, weil er so leicht zwei Gläsern Champagner erlegen war. Der einzige Trost war, daß Onkel Eustace nicht unangenehm sarkastisch werden würde. Ihn nur ein bißchen necken würde, weiter nichts. Aber es bestand die Gefahr, daß er es in Anwesenheit andrer täte — vor dieser schauerlichen alten Teufelshexe und vor Mrs. Thwale; und die Aussicht, in
Gegenwart Mrs. Thwales wie ein kleiner Bub behandelt zu werden, war besonders widerwärtig und demütigend. Stirnrunzelnd, in ratloser Unentschiedenheit, rieb er sich die Nase. Dann beschloß er, da Onkel Eustace offenbar nicht die Absicht hatte, um diese Zeit nochmals herunterzukommen, einfach schlafen zu gehen. Er schaltete die Lampen im Salon aus und ging die Treppe hinauf in sein Zimmer. Jemand, so entdeckte er, hatte für ihn ausgepackt, während er beim Abendessen war. Sein verblaßter roter Schlafanzug war säuberlich auf dem feudalen Bett zurechtgelegt; der Zelluloidkamm mit den drei ausgebrochenen Zähnen und die Bürsten mit den Holzrücken hatten, wenig passend, ihren Platz inmitten der Kristall- und Silbergarnitur auf dem Ankleidetisch gefunden. Bei dem Anblick wand er sich ein wenig. Was mußten sich die Dienstboten denken? Während er sich entkleidete, fragte er sich, wieviel Trinkgeld er ihnen bei der Abreise wohl geben müßte. Es war spät; aber die luxuriöse Gelegenheit, ein Mitternachtsbad zu nehmen, durfte nicht versäumt werden. Den Schlafanzug über den Arm, betrat Sebastian das Badezimmer, und nachdem er aus gedankenloser Gewohnheit die Tür hinter sich sorgfältig verschlossen hatte, drehte er die Wasserhähne auf. Während er dann in der ihn köstlich einhüllenden Wärme dalag, dachte er an den Garten im Mondlicht und an das Gedicht, das er schreiben wollte. Es würde etwas werden wie Wordsworth' Tintern Abbey, wie dieses Dings von Shelley auf den Montblanc — aber natürlich ganz anders und zeitgemäß, denn er wollte von allen Hilfsmitteln der nichtpoetischen wie der poetischen Diktion Gebrauch machen; wollte das Lyrische durch Ironie verstärken, das Schöne durch Groteskes. “Ein Gefühl von etwas noch viel tiefer Einverwobnem” — das war vielleicht ganz in Ordnung im Jahre 1800, aber nicht heute. Für heute war es zu leicht, zu lässig selbstgefällig. Heutzutage müßte dieses einverwobne Etwas in Verbin-
dung mit den Greueln dargestellt werden, mit denen es verwoben war. Und das verlangte natürlich eine ganz andre Art von Versifizierung. Wechselnd und ungleichmäßig, um zum Thema zu passen, das aus Gott-Moll über Sex-Dur nach Weh-Dur modulieren würde. Er mußte lachen über seinen Einfall und beschwor das Bild Mary Esdailes in diesen mondhellen Garten. Mary Esdaile, mitten unter diesen Statuen, so mattweiß wie sie und zwischen dem Gegitter ihrer schwarzen Spitzendessous noch viel nackter. Aber warum Mary Esdaile? Warum nicht ihre Inkarnation, ihre wirkliche Gegenwart? So wirklich, daß sie beunruhigend war, aber schön und schrecklich begehrenswert. Und vielleicht war Mrs. Thwale so leidenschaftlich wie ihr imaginäres Gegenstück, so schamlos verbuhlt wie die Venus auf Onkel Eustaces Gemälde. Drei drollige Pelikane und ein Kentaur — und im Vordergrund “des Himmels lautre buhlerische Unschuld”, die inkandeszente Kopulation einer Göttin, die gewiß wußte, was sie wollte, und ihres sterblichen Geliebten. Solche Selbstvergessenheit, solch lachende Unbeschwertheit! Wollüstig sah er sich als einen einwilligenden Adonis.
13. KAPITEL Es war kein Schmerz mehr fühlbar, es war nicht mehr nötig, nach Luft zu ringen, und der Fliesenboden der Toilette hatte aufgehört, kalt und hart zu sein. Jeglicher Laut war verstummt, und es war ganz finster. Aber in der Leere und Stille bestand noch immer eine Art von Wissen, ein schwaches Bewußtsein. Bewußtsein nicht eines Namens oder einer Person, nicht gegenwärtiger Dinge, nicht irgendwelcher Erinnerungen an die Vergangenheit, nicht einmal eines Hier oder Dort _ denn es gab nichts Räumliches, nur ein Da-Sein, dessen einzige Dimension dieses Wissen davon war, unbesessen und besitzlos und allein zu sein. Das Bewußtsein wußte nur von sich selbst, und von sich selbst nur als einer Abwesenheit alles andern. Dieses Wissen erstreckte sich in die Abwesenheit, die sein Objekt war. Erstreckte sich in die Finsternis hinaus, weiter und weiter. Erstreckte sich in die Stille. Unbeschränkt. Es gab keine Grenzen. Das Wissen wußte von sich als einer grenzenlosen Abwesenheit innerhalb einer andern grenzenlosen Abwesenheit, die nicht einmal Bewußtsein besaß. Es war das Wissen von einer immer völligeren Abwesenheit, einer immer schmerzhafteren Entbehrung. Und es war bewußt durch eine Art wachsenden Hungers, aber eines Hungers nach etwas, das nicht existierte; denn es war nur ein Bewußtsein von Abwesenheit, von völliger Wesenlosigkeit. Abwesenheit währte immer länger werdende Dauern. Dauern von Ruhelosigkeit, Dauern von Hunger. Dauern, die sich ausdehnten und immer weiter ausdehnten, je
heftiger die rasende Unersättlichkeit wurde; die sich verlängerten zu Ewigkeiten der Verzweiflung. Ewigkeiten des unersättlichen, verzweifelnden Wissens von Abwesenheit innerhalb von Abwesenheit, überall und immer, in einem Dasein von nur einer Dimension ... Und dann war jählings noch eine Dimension da, und das Immerwährende hörte auf, das Immerwährende zu sein. Das, worin das Bewußtsein von Abwesenheit sich wußte, das, wovon es umschlossen und völlig durchdrungen war, war nicht mehr eine Abwesenheit, sondern war die Anwesenheit eines andern Bewußtseins geworden. Das Bewußtsein von Wesenlosigkeit erkannte sich als erkannt. In der dunkeln Stille, in diesem Entleertsein von allen Sinnesempfindungen, begann etwas, es zu kennen. Anfänglich sehr matt, aus unermeßlicher Ferne. Allmählich aber näherte sich die Anwesenheit. Die dämmerige Mattheit jenes andern Erkennens wurde heller, und mit einmal war das Bewußtsein ein Bewußtsein von Licht geworden — Licht der Erkenntnis, von der es erkannt wurde. In dem Bewußtsein, daß da etwas andres war als Abwesenheit, fand die Angst Beruhigung, der Hunger Befriedigung. An Stelle völliger Entbehrung war da dieses Licht, war da diese Erkenntnis, erkannt zu sein. Und diese Erkenntnis, erkannt zu sein, war eine befriedigte, ja sogar wonnevolle Erkenntnis. Ja, es war Wonne, erkannt zu sein, auf diese Weise eingeschlossen zu sein in eine leuchtende Gegenwart, auf diese Weise durchdrungen zu sein von einer leuchtenden Anwesenheit. Und weil das Bewußtsein in sie eingeschlossen war, ganz von ihr durchdrungen war, bestand auch eine Identifizierung mit ihr. Das Bewußtsein wurde nicht nur von ihr erkannt, sondern erkannte mit ihrer Erkenntnis. Kannte nun nicht Abwesenheit, sondern die leuchtende
Verneinung von Abwesenheit, nicht Entbehrung, sondern Seligkeit. Hunger war noch immer da, Verlangen nach noch mehr Erkenntnis einer noch völligeren Verneinung von Abwesenheit. Verlangen, aber auch die Stillung von Verlangen, auch Seligkeit. Und dann, je mehr das Licht zunahm, Sehnsucht nach noch tieferer Befriedigung, nach noch höherer Seligkeit. Seligkeit und Sehnsucht, Sehnsucht und Seligkeit. Und durch immer länger werdende Dauern hellte sich das Licht immer mehr aus Schönheit zu Schönheit. Und die Wonne, zu erkennen, die Wonne, erkannt zu sein, wuchs mit jedem Anwachsen dieser umarmenden und durchdringenden Schönheit. Heller, immer heller, durch aufeinanderfolgende Dauern, die sich zuletzt zu einer Ewigkeit von Wonne ausdehnten. Eine Ewigkeit strahlender Erkenntnis, gleichbleibender äußerster Seligkeit. Für immer und ewig. Allmählich aber begann das Gleichbleibende sich zu verändern. Das Licht verstärkte seine Helle. Die Anwesenheit wurde eindringlicher, die Erkenntnis erschöpfender und vollständiger. Unter dem Andrang dieser Verstärkung war das wonnevolle Bewußtsein, erkannt zu sein, das wonnevolle Teilhaben an dieser Erkenntnis, bis an die äußersten Grenzen seiner Seligkeit gedrängt, angedrängt mit einem immer stärkeren Druck, bis zuletzt diese Grenzen nachzugeben begannen und das Bewußtsein sich jenseits ihrer wußte, in einem andern Dasein. In einem Dasein, wo die Erkenntnis, in eine leuchtende Gegenwart eingeschlossen zu sein, ein Bewußtsein davon geworden war, von einem Übermaß von Licht bedrängt zu sein. Wo diese verklärende völlige Durchdringung als eine von innen her sprengende Kraft wahrgenommen wurde. Wo die Erkenntnis so eindringlich
leuchtend war, daß das Teilhaben daran die Fähigkeit dessen, was teilhatte, überstieg. Die Gegenwart näherte sich, das Licht wurde noch heller. Da, wo ewige Seligkeit gewesen war, war nun eine unendlich verlängerte Ängstlichkeit, eine unendlich verlängerte Dauer von Schmerz und, als der Schmerz sich verstärkte, längere und immer längere Dauer unerträglicher qualvoller Angst. Es war eine Angst, durch Teilhaben gezwungen zu werden, mehr zu erkennen, als dem Teilhabenden möglich war; Angst, erdrückt zu werden von der Wucht dieses Zuviels von Licht — zusammengepreßt zu werden zu immer größerer Dichte und Undurchsichtigkeit; und zugleich Angst, zersprengt und zerbrochen zu werden von dem Andrang dieser alldurchdringenden Erkenntnis von innen her, zersprengt zu werden zu kleinen und immer kleineren Bruchstücken, zu bloßem Staub, zu Atomen bloßen Nichtseins. Und dieser Staub und die immer mehr zunehmende Dichte dieser Undurchsichtigkeit wurden von der Erkenntnis, an welcher da teilgehabt wurde, als häßlich wahrgenommen. Wurden gerichtet und für abscheulich befunden, für aller Schönheit und Wirklichkeit entbehrend. Unerbittlich näherte sich die Gegenwart, wurde das Licht heller. Und mit jeder Zunahme von Dringlichkeit, jeder Verstärkung dieser von außen eindringenden Erkenntnis, jener von innen drängenden zersprengenden Helle, wuchs die Qual; der Staub und die verdichtete Dunkelheit wurden immer beschämender, wurden, durch Teilhaben, als die häßlichsten aller Abwesenheiten erkannt. Ewig beschämend in einer Ewigkeit von Scham und Schmerz. Aber das Licht wurde immer heller, qualvoll heller. Alles Sein wurde Helligkeit — alles außer diesem einen kleinen Klümpchen undurchsichtiger Abwesenheit, außer diesen zerstreuten Atomen eines Nichtseins, das sich durch
unmittelbare Wahrnehmung als undurchsichtig und abgesondert erkannte und zugleich, durch ein schmerzliches Teilhaben an dem Licht, als die häßlichste und beschämendste aller Entbehrungen. Helle, die die Grenzen des Möglichen überstieg, und dann ein noch stärkeres, näheres Erglühn, von außen andrängend, von innen zersprengend. Und gleichzeitig war da diese andre Erkenntnis, die, je heller das Licht, immer durchdringender und vollständiger wurde, diese Erkenntnis eines Zusammengeballtwerdens und eines Zersprengtwerdens, die immer beschämender zu werden schien, als die Dauern sich endlos verlängerten. Es gab kein Entfliehn, es gab nur eine Ewigkeit des Nichtentfliehnkönnens. Und während immer längerer, immer langsamer werdender Dauern vom Unmöglichen zum Unmöglichen nahm die Helle zu, kam bedrängender und qualvoller näher. Auf einmal war da eine neue, sekundäre Erkenntnis, ein bedingtes Bewußtsein davon, daß, wäre dieses der Helle Teilhaftigsein nicht, die halbe Qual verschwände. Es bestünde dann keine Wahrnehmung der Häßlichkeit dieser geballten oder zerfällten Entbehrung. Es gäbe nur noch eine undurchsichtige Gesondertheit, selbsterkannt als etwas andres denn das eindringende Licht. Ein unseliger Staub von Nichtsein, ein armes kleines, harmloses Klümpchen bloßer Entbehrung, von außen zermalmt, von innen zersprengt, aber noch immer trotz aller angstvollen Qual Widerstand leistend und sich noch immer weigernd, sein Recht auf ein gesondertes Sein aufzugeben. Jählings erfolgte ein neuer und überwältigender Blitz des Teilhabens an dem Licht, an der qualvoll beängstigenden Erkenntnis, daß es kein solches Recht auf ein Sonderdasein gab; daß diese klümprige, zerfällte Abwesenheit etwas Beschämendes war und verneint werden mußte, vernichtet werden mußte — unverzagt der Strahlung dieser
eindringenden Erleuchtung entgegengehalten und völlig vernichtet werden mußte, aufgelöst werden mußte in der Schönheit dieses unmöglichen Erglühens. Eine unermeßliche Dauer waren die beiden wie im Gleichgewicht — das Wissen, das sich gesondert wußte, das sich seines Rechts auf ein Sonderdasein bewußt war, und die Erkenntnis, die das Beschämende dieser Abwesenheit erkannte und die Notwendigkeit ihrer qualvollen Vernichtung in jenem Licht. Wie im Gleichgewicht, wie auf eines Messers Schneide zwischen einer unerträglichen Intensität von Schönheit und einer unerträglichen Intensität von Schmerz und Scham, zwischen einem Verlangen nach Undurchsichtigkeit und Gesondertsein und Abwesenheit und einer Sehnsucht nach noch vollständigerem Teilhaftigsein des Lichts. Und dann, nach einer Ewigkeit, kam eine Erneuerung dieser sekundären und bedingten Erkenntnis: “Wäre nur kein Teilhaben an dieser Helle, kein Teilhaben .. .” Und sogleich gab es gar kein Teilhaben mehr, nur noch ein Sichkennen des Klümpchens und des Staubs; und das Licht, das alles das erkannte, war eine andre, gesonderte Erkenntnis. Das qualvolle Durchdrungenwerden von innen und außen dauerte noch fort, aber es war keine Scham mehr da, nur ein Widerstand gegen Angriff, eine Verteidigung von Rechten. Allmählich begann die Helle etwas von ihrer Intensität zu verlieren und sozusagen zurückzuweichen und weniger bedrängend zu werden. Und plötzlich war es wie eine Verfinsterung. Etwas schob sich auf einmal zwischen das unleidliche Licht und das leidende Bewußtsein von dem Licht als einer, dieser klumpig zerfällten Entbehrung fremden Anwesenheit. Etwas von der Art eines Abbilds, etwas, das an einem Gedächtnis teilhatte. Ein Abbild von Dingen, ein Erinnern an Dinge — Dinge mit andern Dingen auf eine beglückend vertraute Art verbunden, aber noch nicht deutlich wahrnehmbar.
Fast völlig verdeckt, verweilte das Licht schwach und unbedeutend an den Rändern des Bewußtseins. Im Mittelpunkt waren nur Dinge. Noch nicht wiedererkannte Dinge, noch nicht völlig vorgestellt oder erinnert, ohne Namen oder auch nur Form, aber ganz bestimmt da, ganz bestimmt undurchsichtig. Und nun, da sich das Licht verfinstert hatte und es kein Teilhaben mehr gab, war Undurchsichtigkeit nichts Beschämendes mehr. Dichte war sich glücklich ihrer Dichte bewußt, Nichtsein seines undurchsichtigen Nichtseins. Dieses Wissen hatte nichts Beseligendes, aber etwas tief Beruhigendes. Und allmählich wurde dieses Wissen klarer, und die bewußten Dinge wurden deutlich und vertraut. Immer vertrauter, bis das Bewußtsein auf der Schwelle des Wiedererkennens schwebte. Ein geballtes Ding hier, ein zerfallenes Ding dort. Aber was für Dinge? Und was waren diese entsprechenden Undurchsichtigkeiten, von denen sie gekannt wurden? Es folgte eine ungeheure Dauer der Ungewißheit, ein langes, langes Tasten in einem Chaos unoffenbarter Möglichkeiten. Dann war, was sich bewußt war, jählings Eustace Barnack. Ja, diese Undurchsichtigkeiten waren Eustace Barnack, dieser Tanz erregter Stäubchen war Eustace Barnack. Und dies Klümpchen außerhalb seiner, dies andre Undurchsichtige, wovon er das Abbild hatte, war seine Zigarre. Er erinnerte sich seiner Romeo-und-Julia, wie sie sich langsam zwischen seinen Fingern in blaues Nichts aufgelöst hatte. Und mit der Erinnerung an die Zigarre kam die Erinnerung an eine Phrase: “Rückwärts und abwärts”, und dann die Erinnerung an ein Lachen. Worte in welchem Zusammenhang? Lachen worüber? Keine Antwort. Nur dieses “Rückwärts und abwärts” und dieser Stumpf von sich auflösender Undurchsichtigkeit.
“Rückwärts und abwärts” und dann das Gelächter und die jähe Glorie seines Triumphs. Weit weg, jenseits des Bilds dieses braunen, bespeichelten Zylinders von Tabak, jenseits der Wiederholung dieser drei Wörter und des sie begleitenden Lachens verweilte die Helle noch wie eine Drohung. Aber in seiner Freude, die Erinnerung an Dinge wiedergefunden zu haben, dieses Wissen von einem sich erinnernden Er-selbst-sein, war sich Eustace Barnack des Daseins jener Helle fast gar nicht mehr bewußt.
14. KAPITEL Sebastian hatte, bevor er ins Bett stieg, die Fenstervorhänge zur Seite gezogen, und bald nach halb acht berührte ein eindringender Sonnenstrahl sein Gesicht und weckte ihn. Draußen vor dem Fenster waren Vogelstimmen und Kirchenglocken laut, und zwischen den grauen und weißen Wölkchen war der Himmel so leuchtend blau, daß Sebastian beschloß, wie herrlich es sich auch in dem riesigen Bett lag, aufzustehn und ein wenig auf Entdeckungen zu gehn, bevor sonst jemand im Haus sich rührte. Er sprang aus dem Bett, nahm ein Bad, untersuchte Kinn und Wangen, ob es notwendig wäre, seinen Rasierapparat zu verwenden, entschied, daß es nicht notwendig war, kleidete sich mit Bedacht in ein reines Hemd, die neuere seiner grauen Flanellhosen und den weniger schäbigen seiner beiden ausgewachsenen Sportröcke, von denen sein Vater gesagt hatte, daß sie bis Juni aushalten müßten. Nachdem er seinen rebellischen Haaren ein paar letzte Bürstenstriche verabreicht hatte, ging er hinunter und trat aus dem Haustor. Der Garten enthüllte sich in allen Einzelheiten seiner architektonischen Anlage, mit allen Farben seines Laubwerks und seiner Frühlingsblumen als fast ebenso romantisch, wie er im Mondlicht gewirkt hatte. Sechs Göttinnen standen Posten auf der Terrasse, und zwischen dem Mittelpaar führte eine breite Treppenflucht durch eine Kolonnade von Zypressen zu einem mit Steinplatten belegten und mit einer Balustrade eingefaßten Absatz nach dem andern hinunter bis zu einem grünen Rasenplatz, den eine niedrige Mauer abschloß, über die der Blick weiter hinab und zu einem fernen Wirrwarr brauner und rötlicher Dächer wanderte und zu der hoch über ihnen, genau in der Mitte der
Aussicht schwebenden Kuppel des Doms. Sebastian ging die Treppe hinunter und blickte über die niedrige Mauer. Unten erstreckte sich ein Abhang mit noch unbelaubten Weinstöcken wie ein Acker von Totenarmen, die krampfhaft nach dem Licht langten. Und hier, neben dieser Zypresse, wuchs ein uralter Feigenbaum, ganz Knie und Knöchel und Ellbogenäste, die sich bleich wie Gebeine vom Himmel abhoben. Wenn man zu ihm emporblickte, welch ein verschlungenes Muster von Blau und Fahlgrau! “Himmelsfetzchen”, murmelte er vor sich hin, “gesehn durch ein Beinhaus. Ein hängender Karner von Gliederfüßern.” Und da waren sie wieder, diese Kirchenglocken, und ein Geruch von Holzrauch und Hyazinthen, und hier der erste gelbe Schmetterling! Und wenn man zurückging an den Fuß der Treppe und aufwärts blickte, war es, als wäre man innerhalb etwas von Milton; als schritte man im Lycidas umher oder in einem der Wortbilder im Verlorenen Paradies. Majestätische Symmetrie! Und dort oben, auf ihren hohen Sockeln, standen Artemis und Aphrodite steinfahl vor der perspektivisch verkürzten Fassade des Hauses. Schön und zugleich ein wenig absurd. Die passenden Ausdrücke begannen sich einzustellen. Diana mit ihrer Dogge; und Venus, wie Sie ihres Hügels Flechten schämig deckt Und ihren grünbemoosten Sandsteinbusen ... Und dann gewahrte er plötzlich, daß er, ganz unbeabsichtigt, das Sesam-öffne-Dich für sein ganzes Gedicht gefunden hatte. “Sandstein”—es war ganz beiläufig aufgetaucht, als ein einfaches beschreibendes Epitheton. Tatsächlich aber war es der Passierschein zu seinem ungeschriebenen Meisterwerk, der Schlüssel und Leitfaden. Und ausgerechnet der alte Macdonald mit seinem Walroßschnurrbart, der Physik- und Chemielehrer, war seine Ariadne. Er erinnerte sich der Worte, die ihn für einen Augenblick aus
dem Dösen geweckt hatten, in das er gewohnheitsmäßig während dieser Stunden verfiel. “Der Unterschied zwischen einem Stück Stein und einem Atom liegt darin, daß ein Atom aufs höchste organisiert ist, ein Stein dagegen nicht. Das Atom ist als ein bestimmtes Muster gebaut, und so auch ein Molekül, auch jeder Kristall; der Stein aber, obgleich er aus diesen Mustern besteht, ist ein bloßes Durcheinander. Erst wenn das Leben auftaucht, beginnt man etwas wie eine Organisation in größerem Maßstab vor sich zu haben. Das Leben nimmt die Atome und Moleküle und Kristalle, aber statt ein Durcheinander aus ihnen zu machen, wie der Stein das tut, setzt es sie zu seinen eignen, neuen und komplizierteren Mustern zusammen.” Die andern hatten nur die Wunderlichkeiten der schottischen Aussprache des alten Mac gehört. Wochenlang waren die “Moster aus Utommen” ein stehender Witz gewesen. Für Sebastian aber hatte der Witz einen dunkeln, unerkannten Sinn enthalten. Und plötzlich war nun der Sinn da, klar und verständlich. Erst die ursprünglichen Muster. Dann das aus Mustern gemachte Chaos. Und dann die lebenden Muster, aufgebaut aus Bruchstücken des Chaos. Und was dann? Lebendige Muster aus lebenden Mustern? Aber die Welt der Menschen war chaotisch häßlich und ungerecht und stumpfsinnig. Noch hoffnungsloser störrisch als sogar der Steinklumpen. Denn der ließ sich wenigstens zu Brüsten und Gesichtern behauen, wogegen fünftausend mühevolle Jahre der Zivilisation nur Elendsviertel und Fabriken und Büros zum Ergebnis gehabt hatten. Er erreichte den Kopf der Treppe und setzte sich auf die glatten Steinplatten am Fuß des Sockels der Venus. Und die menschlichen Einzelwesen? dachte er. Als lebende Muster im Raum, wie unglaublich verfeinert, reich und vielfältig! Aber die Spur, die sie in der Zeit hinterließen, das Muster ihrer Privatleben — mein Gott, was für ein greuliches Einerlei! Wie die Wiederholungen auf
einem Streifen Linoleum, wie die Reihenfolge ganz gleicher ornamentierter Kacheln an der Wand einer öffentlichen Klosettanlage. Oder wenn sie versuchten, sich auf irgend etwas Originelles einzulassen, dann waren die sich daraus ergebenden Schnörkel und Kringel gewöhnlich scheußlich. Und sowieso endeten die meisten solchen Versuche sehr schnell in einem Schmierfleck von Vergeblichkeit — und dann blieb es eben bei Linoleum und Klosettkacheln, Klosettkacheln und Linoleum bis zum bittern Ende. Er blickte am Haus hinauf und fragte sich, welches der vielen mit Läden verschlossenen Fenster Mrs. Thwales Fenster sei. Wenn diese fürchterliche alte Hexe wirklich wollte, daß er Sprechunterricht nehme, gäbe ihm das Gelegenheit, mit ihr zu reden. Würde er den Mut aufbringen, ihr von Mary Esdaile zu erzählen? Das wäre selbstverständlich ein wundervoller Eröffnungszug. Er stellte sich ein Gespräch vor, das mit einem witzigen und ironischen Geständnis der Phantasien eines Halbwüchsigen begann und dann mit — hm, es mochte mit allem möglichen enden. Er seufzte, blickte zwischen den Zypressen hinunter auf die ferne Kuppel und dann hinauf zu der über ihm aufragenden Statue. Was für ein merkwürdiger Anblick einer Göttin aus der Froschperspektive! Ein grün schillernder Rosenkäfer kroch langsam über ihr linkes Knie. Oder so erschien es wenigstens ihm. Aber was würde der Rosenkäfer sagen, was er da tue? Den sechsfachen Rhythmus seiner Beine fühlen, den Zug der Schwerkraft an seiner rechten Seite, den Reiz starken Lichts, das auf sein linkes Auge fiel, die Wärme und Härte einer Oberfläche, welche Unterschiede aufwies in Gestalt von Gruben und zackigen Stalagmiten und Pflanzlichem, das stark roch, aber uninteressant, da der Geruch nicht ein solcher war, der ihn, ob er wollte oder nicht, veranlaßte, runde Löcher in Blätter zu schneiden oder in Blüten zu wühlen? Und was, so fragte sich Sebastian, tat er selbst hier in diesem Augenblick? Über was für ein riesenhaftes Knie kroch er selbst? Auf
welches künftige Ereignis zu, welches vorbedachte Schnippen der Fingerspitze eines Riesen? Er stand auf und staubte seinen Hosenboden ab; dann langte er hoch und gab dem Käfer einen kleinen Stups. Der fiel auf den Sockel herab und lag da mit zappelnden Beinen auf dem Rücken. Sebastian bückte sich, um ihn sich anzusehn, und gewahrte, daß der gepanzerte Bauch von winzigen krabbelnden Zecken bedeckt war. Angeekelt kippte er das Insekt auf die Füße, wandte sich ab und ging dem Haus zu. Die Sonne, die für einen Augenblick hinter Wolken geglitten war, kam wieder hervor, und der ganze Garten erstrahlte, als wäre jedes Blatt und jede Blume von innen erleuchtet. Sebastian lächelte freudig und begann die Melodie des ersten Satzes von Susans Scarlattisonate zu pfeifen. Als er das Haustor öffnete, war er überrascht, Stimmengewirr zu hören, und als er über die Schwelle trat, fand er die Halle voller Leute — ein halbes Dutzend von der Dienerschaft, zwei alte Bäuerinnen mit Umhängetüchern über den Kopf und ein dunkeläugiges kleines Mädchen von zehn oder zwölf Jahren, das einen Säugling auf dem Arm trug und in der andern Hand eine große, reglos mit dem Kopf nach unten hängende gesprenkelte Henne an den Füßen hielt. Plötzlich verstummten sie alle. Aus dem dunkeln, gewölbten Korridor zur Rechten drang das Geräusch mühsam schleppender Schritte, und einen Augenblick später tauchte, rückwärts schreitend und ein Paar graubehoster Beine unter dem Arm, der Butler auf, und dann kamen, unter dem Gewicht der Leiche gebückt, der Hausdiener und der Chauffeur. Die eine dicke, gelbliche Hand schleifte, die Handfläche nach oben, auf dem Boden, und als die Männer einschwenkten, um ihre Last die Treppe hinaufzutragen, erblickte Sebastian das schwarze Klaffen eines offenen Mundes und zwei glanzlose, verfärbte Augen, die starr und blöde glotzten. Dann wurde Stufe für Stufe der
Leichnam hinauf und außer Sicht gehievt. Die gesprenkelte Henne, die von der Hand des kleinen Mädchens herabhing, ließ ein schwaches Gackern hören und versuchte, mit den Flügeln zu schlagen. Der Säugling brach in ein krähendes Lachen aus. Sebastian wandte sich jäh ab und flüchtete in den Salon. Die erste, rein animalische Reaktion auf Überraschung und Entsetzen hatte ihm fast den Magen umgedreht und heftiges Herzklopfen verursacht. Er setzte sich und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Es war ebenso schlimm wie jenes scheußliche Grausen damals in der Schule, als der alte Mac sie einen Katzenhai sezieren ließ und ihm übel wurde und er in einen der Ausgüsse im Laboratorium erbrach. Und so etwas war jetzt also der arme Onkel Eustace! Plötzlich ausgelöscht, nichts andres mehr als dieses grauenhafte Ding, das sie dort die Treppe hinaufgeschleppt hatten. Wie Männer ein Klavier transportierten. Und es mußte geschehn sein, während er selbst hier geschlafen hatte, hier in diesem selben Lehnstuhl. Vielleicht hatte Onkel Eustace nach ihm gerufen; und vielleicht hätte er, wenn er es gehört hätte, etwas tun können, um ihn am Leben zu erhalten. Aber er hatte nichts gehört; er hatte einfach weitergeschlafen. Geschlafen wie ein Sack, während dieser Mensch, der sein Freund war, dieser Mensch, der anständiger zu ihm gewesen war als irgend jemand sonst, soweit er sich überhaupt erinnern konnte, — der ihn mit so außerordentlicher Generosität behandelt hatte ... Plötzlich, wie ein Blitz, fiel ihm ein, daß er nun sein Dinnerjackett nicht bekäme. Gestern hatte Onkel Eustace es ihm versprochen; heute aber war niemand mehr da, das Versprechen zu halten. Das hieß, daß es aus war für ihn mit Tom Boveneys Abendgesellschaft; aus mit den zwei Mädeln, bevor er sie auch nur kennengelernt hatte. Das ganze Gebäude dieser Gruppe von Tagträumen — die so vernünftig und greifbar geworden waren, seit Onkel Eustace ihm auf dem Weg vom Bahnhof den Schneider-
laden gewiesen hatte—fiel in weniger als nichts zusammen. Der jähe Schmerz seiner Enttäuschung und seines Selbstbedauerns trieb Sebastian Tränen in die Augen. Hatte je ein Mensch solches Pech gehabt? Dann erinnerte er sich Onkel Eustaces — erinnerte sich seiner nicht als des Spenders von Abendanzügen, sondern als des freundlichen, lebhaften Mannes, der gestern abend sein Freund gewesen und nun nur noch etwas Abscheuerregendes war, — erinnerte sich und war von Scham über seine ungeheuerliche Selbstsucht überwältigt. “Gott, bin ich ein Scheusal” sagte er sich. Und um seinen Geist auf die wirklicheTragödie gerichtet zu halten, flüsterte er immer wieder: “Tot, tot.” Und dann ertappte er sich auf einmal beim Nachdenken darüber, welche Ausrede er sich für Tom Boveney erfinden könnte. Daß er krank sei? Daß er in Trauer sei um seinen Onkel? Eine Klingel ertönte, und durch die offene Tür sah Sebastian, wie der Diener durch die Halle zum Haustor ging. Ein paar italienische Worte wurden gewechselt, und dann wurde ein hochgewachsener hagerer Mann, der elegant gekleidet war und eine kleine schwarze Ledertasche trug, die Treppe hinaufbegleitet. Offenbar der Arzt, den man gerufen hatte, damit er den Totenschein ausstelle. Aber hätte man ihn gestern abend gerufen, wäre Onkel Eustace vielleicht noch zu retten gewesen. Und der Grund, daß man den Arzt nicht gerufen hatte, war der, so sagte sich Sebastian, daß er eingeschlafen war. Der Diener kam wie der herunter und verschwand in die Küchenregion. Es verging Zeit. Dann ließ die Uhr auf dem Kaminsims ein viermaliges Bim-bim ertönen und schlug neun. Einen Augenblick später trat der Diener durch die Tür des Bibliothekzimmers ein und blieb vor dem Lehnstuhl, in dem Sebastian saß, stehn und sagte etwas, das sich dieser nach dem fernen Aroma von Kaffee und gebratenem Speck als eine Ankündigung des Frühstücks auslegte. Er
antwortete mit einem “Danke”, erhob sich und ging in das Eßzimmer. Die von Überraschung und Entsetzen hervorgerufene Übelkeit hatte sich verflüchtigt, und er fühlte sich wieder hungrig. Er setzte sich und langte zu. Die Rühreier schmeckten einfach herrlich; der Speck war knusprig zwischen den Zähnen und köstlich räucherig; der Kaffee war traumhaft. Er hatte sich soeben zum zweitenmal von der Orangenmarmelade genommen, als ihm eine glänzende Idee kam. Diese Degaszeichnung, die Onkel Eustace ihm geschenkt hatte ... Was in aller Welt konnte er mit ihr während der nächsten zwei Jahre anfangen? Sie in seinem Schlafzimmer aufhängen, damit die alte Ellen sich beklage über so was Unanständiges? Sie wegschließen, bis er nach Oxford ginge? Wäre es nicht wirklich viel vernünftiger, das Ding zu verkaufen und das Geld für einen Abendanzug zu verwenden? Ein Einschnappen der Türklinke ließ ihn aufblicken. In Schwarz gekleidet, weiße Rüschchen an Hals und Handgelenken, war Mrs. Thwale lautlos eingetreten. Sebastian sprang auf, wischte sich hastig den Mund und sagte guten Morgen. Mit dem Bogen Briefpapier, den sie in der Hand hielt, winkte Mrs. Thwale ihn zurück auf seinen Sessel und setzte sich neben ihn. “Sie wissen natürlich, was geschehen ist?” Sebastian nickte schuldbewußt. “Man fühlt ... ja, man fühlt fast Scham über sich selbst.” Er versuchte gleichsam, es zu sühnen, daß er während des ganzen Frühstücks mit keinem Gedanken an Onkel Eustace gedacht hatte. “Scham darüber, wissen Sie”, fuhr er fort, “am Leben zu sein.” Mrs. Thwale sah ihn einen Augenblick lang schweigend an, dann zuckte sie die Achseln. “Aber so ist das Leben nun einmal”, sagte sie. “Die physiologische Verneinung von Ehrfurcht und guten Ma-
nieren und Christentum. Und Sie sind nicht einmal ein gläubiger Christ, nicht wahr?” Er schüttelte den Kopf. Mrs. Thwales nächste Worte waren eine anscheinend beziehungslose Frage. “Wie alt sind Sie?” “Siebzehn.” “Siebzehn?” Abermals sah sie ihn an; sah ihn so eindringlich an, mit einem Ausdruck so beunruhigender, unpersönlicher Belustigung, daß er zu erröten begann und die Augen niederschlug. “Dann ist's doppelt einfältig von Ihnen”, fuhr sie fort, “sich zu schämen, daß Sie leben. In Ihrem Alter ist man durchaus alt genug, um zu wissen, was wirklich das Wesentliche des Lebens ist. Schamlosigkeit, weiter nichts; pure Schamlosigkeit.” Ihr schönes Stahlstichgesicht zog sich zu einer komischen Maske zusammen, und sie stieß dieses leise, grunzende Lachen aus. Dann plötzlich wieder anmutig ernst, öffnete sie ihr Handtäschchen und holte einen Bleistift hervor. “Es müssen eine ganze Menge Telegramme abgesandt werden”, sagte sie in ruhigem, geschäftsmäßigem Ton. “Sie können mir bei einigen Adressen helfen.” Ein paar Minuten später kam der Butler und meldete, daß es ihm gelungen sei, Mr. Pewsey telefonisch zu erreichen, und daß Mr. Pewsey sich erbötig gemacht habe, alle nötigen Anordnungen für das Begräbnis zu treffen. “Danke, Guido.” Der Butler neigte fast unmerklich den Kopf, wandte sich um, und ebenso still ging er wieder. Das Ritual seines Diensts blieb makellos; aber Sebastian hatte sehen können, daß er geweint hatte. “Na, das ist eine große Erleichterung”, sagte Mrs.Thwale. Sebastian nickte. “Dieses ganze Drum und Dran bei Begräbnissen”, sagte er. “Es ist scheußlich.”
“Aber doch wohl weniger scheußlich als die Erkenntnis, daß das Sterben sogar noch schamloser ist als das Leben.” “Noch schamloser?” “Na, man verwest wenigstens nicht dabei, wenn man Liebe macht oder wenn man ißt oder exkretiert. Wogegen, wenn man stirbt ...” Sie schnitt eine kleine Grimasse. “Darum sind die Leute so bereit, Unsummen auszugeben für Sterbesakramente und Einbalsamierungen und Bleisärge. Aber was ist's mit diesen Telegrammen?” Sie blickte wieder auf ihre Liste von Namen. “Mrs. Poulshot”, las sie vor. “Wo kann man sie erreichen?” Sebastian wußte es nicht gewiß. Alice und Onkel Fred waren auf einer Autotour in Wales. Am besten, man sandte das Telegramm nach London und hoffte, sie werde es schon erhalten. Mrs. Thwale schrieb die Adresse nach seinem Diktat. “Weil wir grade von Schamlosigkeit sprachen”, sagte sie, während sie nach einem neuen Formular griff, “ich hab mal ein Mädel gekannt, die ihre Jungfernschaft in der Nacht des Karfreitags verloren hatte, in Jerusalem — genau über der Heiligen Grabeskirche. Also, was ist's mit Ihrem Vater, wo erreichen wir ihn?” “Er ist gestern abend nach Ägypten gefahren”, ... begann Sebastian. Durch die offene Tür drang plötzlich der rauhe, befehlende Ruf: “Veronica, Veronica!” Ohne zu antworten oder eine Bemerkung zu machen, erhob sich Mrs. Thwale und ging in den Salon, und Sebastian folgte ihr. Ein Sturm von schrillem Gebelfer begrüßte sie. Schritt für Schritt zurückweichend, während er auf sie losging, schrie ihnen Foxi VIII. seine Herausforderung entgegen. Sebastian blickte von dem Hund auf dessen Herrin. Das rotgeschminkte Gesicht der KöniginMutter, wie sie so, klein und verschrumpft, neben der regungslosen Gestalt ihrer Jungfer stand, wirkte noch
phantastischer knallig durch den Gegensatz zu dem Schwarz ihres Kleids und Huts. “Kusch!” rief sie blindlings in die Richtung des Lärms. “Nimm ihn auf, Hortense!” In Hortenses Armen begnügte sich Foxi mit einem gelegentlichen Knurren. “Ist auch der Junge da?” erkundigte sich Mrs. Gamble, und als Sebastian vortrat, fragte sie fast triumphierend: “Na, mein Junge, wie findest du das alles?” Sebastian murmelte, daß er es schrecklich finde. “Ich hab's ihm erst gestern gesagt”, fuhr die KöniginMutter im selben Ton fort. “Kein dicker Mann hat je die Siebzig erreicht. Und schon gar nicht ein annehmbares Alter. Sie haben doch ein Telegramm an Daisy geschickt, nicht wahr, Veronica?” “Es geht mit den andern in ein paar Minuten ab”, antwortete Mrs. Thwale. “Wenn man denkt, daß jetzt diese Nocke das alles erbt!” rief die Königin-Mutter. “Was kann sie damit anfangen, das möcht ich wissen? Alle seine Bilder und Möbel. Ich hab Amy immer gesagt, sie soll sie nicht alles haben lassen.” Plötzlich wandte sie sich an ihre Jungfer. “Wozu stehst denn du hier herum, Hortense? Geh weg und tu etwas Nützliches. Kannst du nicht sehn, daß ich dich nicht brauche?” Schweigend ging die Jungfer zur Tür. “Wo ist Foxi?” schrie die Königin-Mutter in die Richtung der sich entfernenden Schritte. “Gib ihn mir!” Sie streckte ein Paar juwelengeschmückter Klauen aus. Der Hund wurde ihr übergeben. “Kleiner Foxi-Woxi”, schnarrte Mrs. Gamble liebevoll und senkte den Kopf, um ihre Wange an dem Fell des Tiers zu reiben. Foxi erwiderte mit einem Lecken. Die KöniginMutter kackelte schrill und wischte sich das Gesicht mit den Fingern, wodurch sie das Lippenrot über ihr spitzes, ziemlich behaartes Kinn verschmierte. “Erst dreiund-
fünfzig”, fuhr sie fort, sich wieder an die andern wendend. “Es ist lächerlich. Aber was sonst kann man erwarten mit einem solchen Magen? Reich mir den Arm, Junge!” rief sie scharf. Sebastian tat es. “Zeig mir die Stelle, wo er tatsächlich hinüber ist!” “Du meinst ...?” begann er. “Ja, das mein ich”, bellte die Königin-Mutter. “Sie können hierbleiben, Veronica.” Langsam und vorsichtig setzte sich Sebastian zur Tür hin in Bewegung. “Warum redest du nicht?” wollte Mrs. Gamble wissen, nachdem sie ein paar Schritte schweigend gegangen waren. “Wenn du dich etwa für Fußball interessierst — ich verstehe eine ganze Menge davon.” “Mja, nicht eigentlich ... Ich interessiere mich mehr für ... also für Gedichte und dergleichen.” “Gedichte?” wiederholte sie. “Schreibst du Gedichte?” “Ein bißchen.” “Sehr sonderbar”, sagte die Königin-Mutter. Nach einer Pause fuhr sie fort: “Ich erinnere mich, daß ich einmal einige Zeit in einem Haus zu Gast war, wo sich auch Robert Browning unter den Eingeladenen befand. In meinem Leben hab ich niemand so viel zum Frühstück essen sehn. Niemand. Ausgenommen vielleicht König Eduard. Sie traten aus der Halle in den dunkeln kleinen Korridor. Die Tür am Ende stand noch immer halb offen. Sebastian stieß sie auf. “Das ist die Stelle”, sagte er. Mrs. Gamble ließ seinen Arm los, und noch immer den Hund haltend, tastete sie sich vorwärts. Ihre Hand kam in Berührung mit dem Waschbecken; sie drehte einen Hahn auf und drehte ihn wieder zu; dann tastete sie weiter, berührte den Handgriff, zog daran, und das Wasser ergoß sich in die Muschel. Foxi begann zu bellen. “Welcher von den römischen Kaisern war es?” fragte sie durch den Lärm des Gebells und des rauschenden Wassers.
Der, der im WC hinüberging. Marc Aurel oder Julius Caesar?” “Ich glaube, es war Vespasian”, wagte Sebastian zu behaupten. “Vespasian? Nie von ihm gehört”, sagte die KöniginMutter nachdrücklich. “Es riecht nach Zigarrenrauch hier”, fügte sie hinzu. “Ich hab ihm immer gesagt, er raucht zu viele Zigarren. Reich mir wieder den Arm!” Sie gingen durch die Halle zurück in den Salon. “Veronica”, fragte die Königin-Mutter, aufs Geratewohl in die Finsternis sprechend, aus der ihre Welt bestand, “haben Sie diese öde Person nochmals angerufen?” “Noch nicht, Mrs. Gamble.” “Ich möchte wissen, warum sie sich nicht gemeldet hat?” Der Ton der alten Dame war ungeduldig und verdrossen. “Sie wird ausgegangen sein”, sagte Mrs. Thwale ruhig. “Vielleicht zu irgendeiner Seance.” “Niemand hat Seancen um neun Uhr morgens. Und jedenfalls hätte sie jemand zurücklassen sollen, um Telefonanrufe zu beantworten.” “Sie kann sich wahrscheinlich kein Dienstmädchen leisten.” “Unsinn!” bellte die Königin-Mutter. “Ich hab nie ein gutes Medium gekannt, das sich nicht ein Dienstmädchen leisten konnte. Besonders in Florenz, wo sie spottbillig sind. Rufen Sie sie nochmals an, Veronica! Rufen Sie sie jede Stunde an, bis Sie sie erreichen. Und jetzt, Junge, will ich draußen auf der Terrasse ein wenig auf und ab gehn, und du sollst mir dabei vom Dichten erzählen. Wie fängst du es an, ein Gedicht zu schreiben?” “Mja”, begann Sebastian, “also gewöhnlich...” Er brach ab. “Es ist wirklich zu schwierig, es zu erklären.” Er wandte sich ihr zu und lächelte sie auf seine unwiderstehliche, seine engelhafte Art an. “So eine dumme Antwort!” rief die Königin-Mutter. “Es ist vielleicht schwierig, aber es ist gewiß nicht unmöglich.” Zeit muß enden
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Zu spät erinnerte sich Sebastian, daß sie sein Lächeln nicht zu sehn vermochte, und kam sich außerordentlich läppisch vor. Er entspannte seine Gesichtsmuskeln zu einer ernsten Miene. “Sprich weiter!” befahl die alte Dame. Stammelnd tat er sein möglichstes. “Mja, es ist, als ob ... ich meine, es ist, wie wenn man plötzlich etwas hört. Und dann scheint es von selbst zu wachsen — weißt du, wie ein Kristall in einer übersättigten Lösung.” “In was?” “Einer übersättigten Lösung.” “Was ist das?” “Oh, mja, es ist... es ist etwas, worin Kristalle wachsen. Aber tatsächlich”, fügte er hastig hinzu, “ist es nicht ganz der richtige Vergleich. Es ist mehr wie Blumen, die aus Samen hervorkommen. Oder sogar wie Modellieren — weißt du: kleine Klumpen von Lehm dazugeben, und am Ende ist's eine Statue. Oder noch besser könnte man's vergleichen mit —” Die Königin-Mutter schnitt ihm das Wort ab. “Ich versteh keine Silbe von dem, was du da redest”, schnarrte sie. “Und du mummelst ärger als je.” “Es tut mir schrecklich leid”, stammelte er, noch weniger hörbar. “Ich werde Veronica sagen, sie soll dir jeden Tag eine Lektion in des Königs Englisch geben, während ich meine Siesta halte. Und jetzt beginn nochmals, mir von deinen Gedichten zu erzählen!”
15. KAPITEL Rückwärts und abwärts”, Gelächter, Zigarre. Während langer Dauern war nichts andres da. Dies war alles von sich, was er besaß, alles von sich, was er zu finden vermocht hatte. Nichts als die Erinnerung an diese drei Wörter, an ein plötzliches Triumphgefühl und einen bespeichelten Zylinder aus Tabak. Aber es genügte. Das Wissen war köstlich und beruhigend. Indessen verweilte an den Rändern des Bewußtseins das Licht noch immer; und plötzlich, zwischen zwei Wellen der Erinnerung, gewahrte er, daß es sich irgendwie verändert hatte. Anfangs war die Helle überall gewesen, und überall ein und dieselbe, eine leuchtende Stille, grenzenlos und gleichförmig. Und im Wesen war sie noch immer makellos, noch immer unbestimmt. Und doch war es, während sie blieb, was sie stets gewesen, als wäre diese ruhige Grenzenlosigkeit des Seligseins und Erkennens gestört, beschränkt worden durch das Eindringen einer Tätigkeit; einer Tätigkeit, die zugleich ein Gittermuster war, eine Art lebendigen Rasters; überall vorhanden, unendlich vielfältig, von äußerster Zartheit. Ein ungeheures, überall vorhandenes Geflecht sich verknüpfender und auseinanderlaufender Linien, von Parallelen und Spiralen, von komplizierten Figuren und ihren seltsam verzerrten Projektionen — alle leuchtend und aktiv und lebendig. Abermals kam sein einziges Bruchstück von Selbstheit zu ihm zurück — dasselbe wie immer, diesmal aber auf irgendeine Weise verbunden mit einer bestimmten Figur in diesem hellen Geflecht vielfältig verschlungener Beziehungen, sozusagen lokalisiert auf einen der unzähligen Knotenpunkte einander schneidender Bewegungen.
“Rückwärts und abwärts”, und dann das plötzliche Triumphgelächter. Aber dieses Muster von Überschneidungen war die Projektion eines andern Musters, und innerhalb dieses andern fand er plötzlich ein zweites, größeres Bruchstück seiner selbst — das Erinnerungsbild eines kleinen Jungen, der aus einem Wassergraben herauskrabbelte, naß und schlammig bis über die Knie. Und: “Ätsch, John, ätsch!” erinnerte er sich, gerufen zu haben; und auf des Jungen “Spring selber, Feigling!” hatte er nur abermals “Ätsch!” gerufen und vor Lachen gebrüllt. Und das Lachen brachte die Zigarre wieder, ganz bespeichelt, und zugleich mit der Zigarre, irgendwo anders inmitten des überall sich ausbreitenden Geflechts, die Erinnerung an einen zwischen den Lippen gefühlten Daumen, die Erinnerung an den Genuß, endlos lange auf dem WC zu sitzen, die Knabenzeitung zu lesen und an einer strähnigen Lakritzenstange zu lutschen. Und wieder zurück von der Projektion zum Projektor, und hier war das Bild eines riesenhaften festfleischigen Wesens, das nach Karbolseife roch. Und wenn er nicht hübsch brav “Töpfchen gemacht” hatte, legte ihn Fräulein Anna entschlossen übers Knie, gab ihm zwei Klapse und ließ ihn dann, Gesicht nach unten, auf seinem Gitterbett liegen, während sie die “Spritze” holen ging. Ja, die Spritze, die Spritze ... Und es gab auch andre Namen dafür, englische Namen; denn manchmal war es seine Mutter, die die lustvolle Qual des Klystiers verabreichte. Und wenn das geschah, roch das überragende Wesen nicht nach Karbol, sondern nach Veilchenwurzel. Und obgleich er natürlich hätte “Töpfchen machen” können, wenn er gewollt hätte, wollte er nicht — grade um dieser qualvollen Lust willen. Die Linien lebendigen Lichts flossen auseinander und kamen dann in einem andern Knoten wieder zusammen; und dies war nicht mehr Fräulein Anna oder seine Mutter;
dies war Mimi. Spicciati, Bebino! Und mit einem Aufwallen von Jubel erinnerte er sich des weinroten Schlafrocks, der Wärme und Elastizität des Fleisches unter der Seide. Durch die Zwischenräume des Geflechts hindurch wurde er des andern Aspekts des Lichts gewahr — der Ungeheuern, unterschiedslosen Stille, der Schönheit, der reinen und strengen, aber fesselnden, begehrenswerten, unwiderstehlich anziehenden. Die Helle näherte sich, wurde stärker. Er wurde ein Teil der Seligkeit, wurde ein und dasselbe wie die Stille und die Schönheit. Für immer, für immer. Aber mit dem Teilhaben an der Schönheit kam Teilhaben an der Erkenntnis. Und plötzlich erkannte er diese wiedergefundenen Bruchstücke seiner selbst als das, was sie so beschämend waren; erkannte sie als bloße Gerinnsel und Zerfallsei, als bloße Abwesenheiten von Licht, als undurchsichtige Entbehrungen, als Nichtse, die vernichtet werden mußten, emporgehalten werden mußten in diese helle Glut, in all ihrer Häßlichkeit betrachtet werden mußten im Licht dieses leuchtenden Schweigens, betrachtet und begriffen und dann abgetan und verworfen, vernichtet, um der Schönheit Platz zu machen, der Erkenntnis, der Seligkeit. Der weinrote Schlafrock fiel vorn auseinander, und er entdeckte noch ein Bruchstück seines Seins — die Erinnerung an runde Brüste, wachsweiß, an den Spitzen mit einem Paar blinder brauner Augen bekrönt. Und in dem molligen Fleisch tief eingebettet, hatte der Nabel, so erinnerte er sich, die absurde Prüdigkeit eines viktorianischen Mundes. “Prünellen und Prismen geben den Lippen eine hübsche Form.” Adesso commincia la tortura. Jählings, fast heftig verstärkten sich die Schönheit des Lichts und die qualvolle Angst, an seiner Erkenntnis teilzuhaben; verstärkten sich über die Grenzen des Möglichen hinaus. Im selben Augenblick aber begriff er, daß es in seiner Macht lag, seine Aufmerksamkeit abzuwenden, sich
zu weigern teilzuhaben. Absichtlich beschränkte er “ein Bewußtsein auf den weinfarbenen Schlafrock. Das Licht erstarb wieder zu Bedeutungslosigkeit. Er war in Ruhe gelassen samt seinem kleinen Hort an Erinnerungen und Bildern; durfte sie hegen, endlos genießen — sie bis zur Identifizierung mit ihnen genießen, bis zur Transsubstantiation in sie. Wieder und wieder, während behaglicher Dauern von Zigarren und Schlafröcken und Gelächter und Fräulein Anna und wieder Zigarren und Schlafröcken ... Und dann kam plötzlich, innerhalb des Geflechts, eine jähe Verschiebung des Bewußtseins, und er entdeckte noch ein Bruchstück seiner selbst ... Sie aßen in dieser Kirche in Nizza, und der Chor sang grade Mozarts Ave verum corpus — und Männerstimmen füllten die ganze hohle Dunkelheit mit leidenschaftlichem Kummer und Sehnen, und die hohen Knabenstimmen gingen zwischen ihnen ein und aus, harmonisch, aber herrlich unabhängig in ihrem jungfräulichen Anderssein wie das aller Dinge vor dem Sündenfall, vor der Entdeckung von Gut und Böse. Mühelos bewegte sich die Musik von einer Schönheit zur andern. Da war Erkenntnis von Vollkommenheit, ekstatisch selig und zugleich traurig, traurig bis zur Verzweiflung. Ave verum, verum corpus. Bevor die Motette halb vorbei war, liefen ihm die Tränen über die Wangen. Und als er und Laurina die Kirche verließen, war die Sonne schon untergegangen, und über den dunkeln Häuserdächern war der Himmel leuchtend und heiter. Sie stiegen in ihren Wagen und fuhren auf der Corniche nach Monte Carlo zurück. An einer Straßenbiegung sah er zwischen zwei schlanken Zypressen den Abendstern. “Schau!” sagte er. “Wie die Knabenstimmen.” Aber zwanzig Minuten später waren sie im Kasino. Es war der Abend, an dem Laurina ihre außerordentliche Glückssträhne hatte. Zweiundzwanzigtausend Francs. Und in ihrem Zimmer, um Mitternacht, hatte sie das Geld über den ganzen Teppich ausgebreitet — hunderte von Goldstücken, Dutzende und Dutzende von Hundertfrancs-Schei-
nen. Er setzte sich neben sie auf den Boden, schlang den Arm um ihre Schultern und zog sie eng an sich. “Ave verum corpus”, sagte er lachend. Dies war der wahre Leib. Und nun war er bei einem andern, aber fast identischen Knoten des Geflechts und erinnerte sich, wie er im hohen Gras am Rand des Kricketplatzes der Schule lag; wie er schläfrig durch halbgeschlossene Augenlider hinaufblickte in die dunstige, fast greifbare Bläue eines englischen Sommernachmittags. Und als er so hinaufblickte, geschah etwas Außerordentliches. Nichts bewegte sich, aber es war, als wäre da eine ungeheure kreisförmige Geste gewesen, als wäre etwas wie ein Vorhang weggezogen worden. Allem Anschein nach blieb dieser blaue, sehnsuchterweckende Baldachin gleich über den Bäumen dort völlig ungestört. Und doch war plötzlich alles anders, alles war in Stücke zerfallen. Der schulfreie Nachmittag, der gewohnte Verlauf des Spiels, die Freundlichkeit vertrauter Dinge und Geschehnisse — alles war in Stücken. Zertrümmert, sosehr sie auch physisch unversehrt waren, durch ein unsichtbares Erdbeben. Etwas war durch die Kruste gewohnter Erscheinung durchgebrochen. Ein Lavaerguß aus einer andern, einer wirklichen Art des Seins. Nichts hatte sich verändert; aber er nahm alles als völlig anders wahr, nahm sich selbst als fähig wahr, auf völlig neue Weisen zu handeln und zu denken, die diesem umstürzenden Anderssein der Welt gemäß waren. “Wie wär's, wenn wir nach dem Spiel in die Stadt hineingingen?” Er blickte auf. Es war Timmy Williams — aber auch Timmy Williams, so gewahrte er plötzlich, war etwas andres, Besseres, Bedeutungsvolleres als der frettchengesiditige Bengel, mit dem er über Literatur zu reden und zu schweinigeln pflegte. “Etwas sehr Merkwürdiges ist mir heute nachmittag passiert”, vertraute er ihm eine halbe Stunde später an, als
sie beim Konditor saßen und Erdbeeren mit Süßrahm schmausten. Aber als die Geschichte erzählt war, lachte Timmy nur und sagte, jeder Mensch habe manchmal Pünktchen vor den Augen. Die Ursache sei wahrscheinlich nur Verstopfung. Das war natürlich nicht wahr. Aber nun, da die zertrümmerte Welt sich wieder zusammengefügt hatte, nun, da der Vorhang wieder zugefallen und der Lavaausbruch dahin zurückgeflossen war, woher er gekommen, — wie hübsch und behaglich nun alles war! Besser, man machte sich nichts wissen. Besser, man benahm sich weiter, wie man sich immer benommen hatte, und riskierte es nicht, etwas Seltsames oder Unbehagliches tun zu müssen. Nach einem Augenblick des Zögerns stimmte er in Timmys Gelächter ein. Wahrscheinlich nur Verstopfung. Ja, wahrscheinlich nur Verstopfung. Und wie mit einem Eigenleben ausgestattet, begann der Refrain sich zu leiern, nach der Melodie von “Unter den Bambusstauden”. Wahrscheinlich nur, Wahrscheinlich nur, Wahrscheinlich nur Verstopfung; Wahrscheinlich nur, Wahrscheinlich nur, Wahrscheinlich nur Versto - sto - pfung. Und da capo, da capo — wie diese Drehorgel, die die Melodie vor dem Standesamt in Kensington gespielt hatte, an jenem Vormittag, als er und Amy heirateten. Unter den Barn, Unter den Bus, Wahrscheinlich nur Versto ...
16. KAPITEL “Also”, sagte Mrs. Thwale, als Foxis Gebell und das dünne Krächzen der königin-mütterlichen Koseworte in der Ferne verklangen, “jetzt sind Sie mein Schüler. Vielleicht hätte ich mich doch mit einer Rute ausrüsten sollen. Straft man euch mit der Rute in Ihrer Schule?” Sebastian schüttelte den Kopf. “Nicht? Wie schade! Ich war immer der Ansicht, daß solche Züchtigungen beträchtlichen Reiz haben.” Sie sah ihn mit einem leisen Lächeln an; dann wandte sie sich ab, um von dem Mokka zu nippen. Es folgte ein langes Schweigen. Sebastian hob die Augen und studierte verstohlen ihr halb abgewandtes Gesicht — das zum Leben erwachte Gesicht Mary Esdailes, das Gesicht der Frau, mit der er in der Einbildung erforscht hatte, was er für die äußersten Gebiete der Sinnenlust hielt. Und hier saß sie, züchtig in Schwarz, mitten in der farbigen Üppigkeit des Zimmers, ohne eine Ahnung von der Rolle, die sie in seinem privaten Universum gespielt, von alledem, was sie da getan und mit sich hatte tun lassen. Messalina in seinem, Lukrezia in ihrem Kopf. Aber natürlich war sie nicht Lukrezia, nicht mit solchen Augen, nicht mit dieser Art, stillschweigend den Raum rings um sich mit ihrer animalisch weiblichen Gegenwart zu durchtränken. Mrs. Thwale blickte auf. “Selbstverständlich”, sagte sie, “müssen wir zu allererst ausfindig machen, warum Sie mummeln, wenn es doch ebenso leicht ist, deutlich und zusammenhängend zu sprechen. Warum tun Sie's?” “Mja, wenn man schüchtern ist ...” “Wenn man schüchtern ist”, sagte Mrs. Thwale, “ist es
am besten, so habe ich immer gefunden, sich vorzustellen, wie der Mensch, dem gegenüber man schüchtern ist, aussähe, wenn er oder sie in einer Sitzwanne hocken würde.” Sebastian kicherte. “Es ist ein fast unfehlbares Mittel”, fuhr sie fort. “Alte und häßliche Leute sehn da so grotesk aus, daß man kaum ein ernstes Gesicht bewahren kann. Wogegen die jungen, hübschen so attraktiv aussehn, daß man jede Befangenheit verliert und sogar jeden Respekt. Also jetzt machen Sie die Augen zu und versuchen Sie's!” Sebastian warf einen Blick auf sie, und das Blut raste ihm ins Gesicht. “Sie meinen ...?” Er fühlte plötzlich, daß er die Frage nicht vollenden konnte. “Ich habe nichts dagegen”, sagte Mrs. Thwale gelassen. Er schloß die Augen; und da war Mary Esdaile in schwarzen Spitzen, Mary Esdaile auf einem blaßroten Diwan in der Haltung von Bouchers Petite Morphil. “Na, fühlen Sie sich jetzt weniger schüchtern?” fragte sie, als er die Augen wieder geöffnet hatte. Sebastian sah sie einen Moment an; überwältigt von Verlegenheit bei dem Gedanken, daß sie nun etwas davon wußte, was sich in der Welt seiner Phantasie abspielte, schüttelte er nachdrücklich den Kopf. “Nein? Nicht? “fragte Mrs. Thwale, und die tiefe Stimme modulierte in einem Gurren nach oben. “Das ist schlimm. Es sieht fast danach aus, daß Sie ein Fall für chirurgische Behandlung sind. Chirurgische”, wiederholte sie und nippte abermals an ihrer Mokkatasse und sah ihn die ganze Zeit mit ironisch funkelnden Augen über den Rand an. “Immerhin”, fügte sie hinzu, als sie sich den Mund wischte, “es wird vielleicht doch noch möglich sein, die Heilung mittels psychologischer Methoden zu erzielen. Zum Beispiel durch Anwendung einer Ungeheuerlichkeit.” “Durch Anwendung einer Ungeheuerlichkeit?”
“Na, Sie wissen doch, was eine Ungeheuerlichkeit ist? Ein non sequitur im Handeln. Etwas Folgewidriges. Zum Beispiel, ein Kind fürs Bravsein zu belohnen, indem man es tüchtig verhaut und zu Bett schickt. Oder noch besser, es verhaut und zu Bett schickt aus gar keinem Grund. Das ist die vollkommene Ungeheuerlichkeit — völlig desinteressiert, absolut platonisch.” Sie lächelte vor sich hin. Diese letzten Worte waren dieselben, die ihr Vater gern gebrauchte, wenn er von der christlichen Caritas sprach. Von dieser verfluchten Caritas, mit der er ihre Kindheit und Jugend vergiftet hatte; in deren Namen er sich mit einer Horde der Mühseligen und Beladenen umgeben, was ein Daheim hätte sein sollen, in ein bloßes Wartezimmer, einen öffentlichen Durchgang verwandelt, sie inmitten der Jämmerlichkeiten und Häßlichkeiten der Armut auferzogen, sie erpresserisch in einen Dienst gezwungen hatte, den zu leisten sie nicht gewillt war; sie gezwungen hatte, ihre Mußestunden mit stumpfsinnigen und ungebildeten fremden Leuten zu verbringen, während sie doch nur danach verlangte, allein zu sein. Und als wollte er dem Schaden noch den Spott hinzufügen, hatte er sie jeden Sonntagabend Korinther I, 13 hersagen lassen. “Absolut platonisch”, wiederholte Mrs. Thwale und hob den Blick abermals zu Sebastian. “WieDanteundBeatrice.” Und nach ein paar Sekunden fügte sie nachdenklich hinzu: “Eines Tages wird dieses hübsche Gesicht, das Sie haben, Sie in Unannehmlichkeiten verwickeln.” Sebastian lachte unbehaglich und versuchte, den Gesprächsgegenstand zu wechseln. “Aber wo bleibt die Schüchternheit?” fragte er. “Sie bleibt nicht”, antwortete sie. “Sie verschwindet. Die Ungeheuerlichkeit verjagt sie.” “Welche Ungeheuerlichkeit?” “Na, die Ungeheuerlichkeit, die man sich leistet, wenn
man einfach nicht weiß, was sonst man tun oder sagen soll.” “Aber wie kann man das? Ich meine, wenn man schüchtern ...” “Man muß sich selbst Gewalt antun. Als beginge man Selbstmord. Man muß den Revolver an die Schläfe ansetzen. Noch fünf Sekunden, und dann geht die Welt unter. Inzwischen ist alles eins.” “Aber es ist nicht alles eins”, widersprach Sebastian. “Und die Welt geht nicht wirklich unter.” “Nein. Aber sie ist wirklich verwandelt. Die Ungeheuerlichkeit schafft eine völlig neue Situation.” “Eine unangenehme Situation.” “So unangenehm”, bestätigte Mrs. Thwale, “daß man gar nicht einmal mehr daran denken kann, schüchtern zu sein.” Sebastian sah zweifelnd drein. “Sie glauben mir nicht?” fragte sie. “Also gut, wir werden eine Probe inszenieren. Ich bin Mrs. Gamble und verlange, Sie sollen mir sagen, wie Sie ein Gedicht schreiben.” “Herrgott, war das nicht schauderhaft!” rief Sebastian. “Und warum war es schauderhaft? Weil Sie nicht den Verstand hatten, zu sehn, daß es die Art von Frage war, die nicht beantwortet werden kann, außer durch eine Ungeheuerlichkeit. Ich habe lachen müssen, als ich Sie da von psychologischen Feinheiten herumstottern hörte, die die alte Dame unmöglich begreifen konnte, auch wenn sie hätte wollen. Und natürlich wollte sie gar nicht.” “Aber was sonst hätte ich tun können? Da sie doch wissen wollte, wie ich eins schreibe?” “Ich werd's Ihnen sagen”, antwortete Mrs. Thwale. “Sie hätten mindestens fünf Sekunden lang nicht sprechen sollen; dann hätten Sie sehr langsam und deutlich sagen müssen: ,Madam, ich schreibe es mit Tintenstift auf eine Rolle Klosettpapier.' So, jetzt sagen Sie's!”
“Nein, ich kann nicht .. . Wirklich ...” Er sah sie mit seinem flehenden, unwiderstehlichen Lächeln an. Aber statt sich erweichen zu lassen, schüttelte Mrs. Thwale verachtungsvoll den Kopf. “Nein, nein”, sagte sie, “ich bin ganz und gar nicht kinderlieb. Und Sie, Sie sollten sich schämen, solche Kniffe anzuwenden. Mit siebzehn sollte ein Mann Babys in die Welt setzen, nicht versuchen, selber eins zu sein.” Sebastian errötete und kicherte nervös. Ihre Unverblümtheit war wirklich schrecklich peinlich; und doch war er mit einem Teil seines Wesens froh, daß sie so sprach, froh, daß sie nicht, wie das alle übrigen taten, ihn wie ein Kind behandeln wollte. “Und jetzt”, fuhr Mrs. Thwale fort, “dieses Mal, werden Sie's sagen — verstanden?” Der Ton war so kühl befehlend, daß Sebastian ohne weiteres Zögern gehorchte. “Madam, ich schreibe es mit Tintenstift —”, begann er. “Das ist keine Ungeheuerlichkeit”, unterbrach ihn Mrs. Thwale. “Das ist ein Gelispel.” “Ich schreibe es mit Tintenstift — “, wiederholte er lauter. “Fortissimo!” “— mit Tintenstift auf eine Rolle Klosettpapier ...” Mrs. Thwale klatschte in die Hände. “Ausgezeichnet!” Sie stieß ihr zart grunzendes Lachen aus. Erleichtert stimmte Sebastian ein. “Und jetzt”, fuhr sie fort, “sollte ich Ihnen ein paar Ohrfeigen geben. Ein paar feste, daß es wehtut. Und Sie werden so verblüfft und zornig sein, daß Sie mich anschreien werden: Du verfluchtes Aas! — oder mit etwas von ähnlicher Bedeutung. Und dann wird der Spaß losgehn. Ich werde zu kreischen beginnen wie ein Papagei, und Sie werden anfangen ...” Die Tür des Salons wurde geöffnet. “II Signor De Vries”, meldete der Diener. Mrs. Thwale brach mitten im Satz ab und veränderte
sogleich ihre Miene. Es war eine ernste Madonna, die ihr Gesicht dem Eintretenden zuwandte, der durchs Zimmer auf sie zueilte. “Ich war den ganzen Vormittag aus”, sagte Paul De Vries atemlos, ihre hingestreckte Hand ergreifend. “Erhielt Ihre telefonische Nachricht erst, als ich ins Hotel zurückkam, nach dem Lunch. Es ist erschütternd!” “Erschütternd”, wiederholte Mrs. Thwale und nickte. “Übrigens”, fügte sie hinzu, “dies ist der Neffe de« armen Mr. Barnack, Sebastian.” “Es muß ein schrecklicher Schlag für Sie sein”, sagte De Vries und drückte ihm die Hand. Sebastian nickte und kam sich als ein rechter Heuchler vor, während er bestätigend mummelte. “Schrecklich, schrecklich”, wiederholte der andre. “Aber man darf natürlich nie vergessen, daß auch der Tod leine Werte hat.” Er wandte sich wieder an Mrs. Thwale. “Ich kam her, um zu sehen, ob ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann.” “Das ist sehr freundlich von Ihnen, Paul.” Sie hob die Augenlider und warf ihm einen eindringlichen, bedeutungsvollen Blick zu; die ungeöffneten Lippen bebten in einem leisen Lächeln. Dann blickte sie wieder hinab auf ihre weißen, im Schoß gefalteten Hände. Das Gesicht Paul De Vries' leuchtete vor Freude auf; und plötzlich, mit blitzartiger Einsicht, gewahrte Sebastian, daß der Kerl in sie verliebt war und daß sie es wußte und es sich gefallen ließ. Er wurde von wütender Eifersucht überkommen, von einer um so schmerzlicheren, als ihm ihre Vergeblichkeit bewußt war, und um so heftigeren, als er zu jung war, um sie bekennen zu können, ohne sich lächerlich zu machen. Wenn er ihr sagte, was er fühlte, würde sie ihn einfach auslachen. Es wäre nur eine neuerliche Demütigung.
“Ich glaube, ich sollte lieber gehn”, murmelte er und machte ein paar Schritte zur Tür. “Sie wollen doch nicht am Ende davonlaufen?” sagte Mrs. Thwale. Sebastian blieb stehn und blickte sich um. Ihre Augen waren fest auf ihn gerichtet. Er wich ihrem dunkeln, rätselhaften Blick aus. “Ich hab noch .. . noch ein paar Briefe zu schreiben”, erfand er; er wandte sich und eilte aus dem Zimmer. “Haben Sie das gesehn?” fragte Mrs. Thwale, als die Tür sich geschlossen hatte. “Der arme Junge ist eifersüchtig auf Sie.” “Eifersüchtig?” wiederholte De Vries im Ton ungläubigen Staunens. Er hatte gar nichts bemerkt. Aber er bemerkte natürlich selten etwas. Es war eine Eigenheit, von der er wußte, auf die er sogar recht stolz war. Wessen Geist mit wirklich wichtigen, aufregenden Dingen beschäftigt ist, kann sich nicht mit den trivialen kleinen Ereignissen des täglichen Lebens abgeben. “Tja, Sie werden wohl recht haben”, sagte er mit einem Lächeln. “Das Verlangen der Motte nach dem Licht. Es ist wahrscheinlich sehr gut für den Jungen”, fügte er im Ton eines weisen, wohlwollenden Humanisten hinzu. “Hoffnungslose Leidenschaften gehören zu einer gründlichen Erziehung. Auf diese Weise lernen junge Menschen, wie man Sexualität sublimiert.” “So? Lernen sie das?” fragte Mrs. Thwale mit einem so absoluten Ernst, daß ein scharfsichtigerer Mann die Ironie dahinter erraten hätte. Aber Paul De Vries nickte nur nachdrücklich. “Indem sie die Werte romantischer Liebe entdecken”, sagte er. “Auf diese Weise gelingt ihnen die Sublimierung. Havelock Ellis weiß einiges sehr Schöne darüber zu sagen in einem seiner ...” Da er sich plötzlich bewußt wurde, daß das ganz und gar
nicht war, worüber er wirklich mit ihr reden wollte, unterbrach er sich. “Zum Teufel mit Havelock Ellis!” knurrte er, und es folgte ein langes Schweigen. Mrs. Thwale saß ganz still und wartete auf das, was, wie sie wußte, als nächstes geschehn werde. Und — ja, er setzte sich plötzlich auf das Sofa neben sie, ergriff ihre Hand und drückte sie zwischen seinen beiden. Sie hob die Augen, und Paul De Vries erwiderte ihren Blick mit einem zitternden Lächeln heftigsten Schmachtens. Aber Mrs. Thwales Gesicht blieb unveränderlich ernst, als wäre Liebe etwas zu Schwerwiegendes, um darüber zu lächeln. Mit diesen Nasenlöchern, so dachte sie, sah er aus wie ein hilflos ergebener Hund. Lächerlich, aber zugleich auch ein wenig widerlich. Doch es lief immer darauf hinaus, zwischen zwei Übeln zu wählen. Sie blickte wieder zu Boden. Der junge Mann hob ihre teilnahmslosen Finger an die Lippen und küßte sie mit etwas wie religiöser Verehrung. Aber das Parfüm war von einer schwülen und betäubenden Süße; ihr Hals war makellos glatt und weiß; unter der gespannten schwarzen Seide konnte er sich die Festigkeit ihrer kleinen Brüste vorstellen. Schmachten verdichtete sich jäh zu Begehren. Er flüsterte ihren Namen und legte ihr plötzlich und ziemlich ungeschickt den Arm um die Schultern und hob mit der andern Hand ihr Gesicht zu dem seinen. Aber bevor er sie küssen konnte, war Mrs. Thwale von ihm weggerückt. “Nein, Paul, bitte, nicht!” “Aber meine Liebste ...” Er ergriff ihre Hand und versuchte, sie abermals an sich zu ziehn. Sie war unnachgiebig und schüttelte den Kopf. “Ich sagte, nicht, Paul!” Ihr Ton war gebieterisch; er ließ ab. “Mögen Sie mich denn gar nicht, Veronica?” fragte er kläglich.
Mrs. Thwale sah ihn schweigend an und fühlte sich einen Augenblick lang versucht, dem Narren zu antworten, wie er es verdiente. Aber das wäre unklug gewesen. Sie nickte ernst. “Ich habe Sie sehr gern, Paul, aber Sie scheinen zu vergessen”, fügte sie mit einem plötzlichen Lächeln und in verändertem Ton hinzu, “daß ich bin, was man eine anständige Frau nennt. Manchmal wünsche ich, ich wäre es nicht. Aber so ist's eben!” Ja, so war's eben — ein unübersteigliches Hindernis auf dem Wege zum modifizierten Zölibat. Und dabei liebte er sie, wie er nie jemand geliebt hatte. Liebte sie unbeherrschbar, über allen Verstand, bis an den Rand des Wahnsinns. Liebte sie so sehr, daß der Gedanke an sie ihn verfolgte, daß er besessen war von dem schönen Dämon ihres Begehrenswertseins. Die kleine reglose Hand, die er gehalten hatte, erwachte plötzlich zum Leben und entzog sich ihm. “Überdies”, fuhr sie ernst fort, “vergessen wir den armen Mr. Barnack.” “Zum Teufel mit Mr. Barnack!” konnte er sich nicht enthalten herauszuplatzen. “Paul!” sagte sie tadelnd, und ihr Gesicht nahm einen Ausdruck von Kummer an. “Nein, wirklich ...” “Verzeihen Sie!” sagte er durch die Zähne. Die Ellbogen auf den Knien, den Kopf zwischen den Händen, starrte er ohne zu sehn auf das Stück chinesischen Teppichs unter seinen Füßen. Er dachte grollend daran, wie der Dämon ihn beim Lesen überfallen werde. Es gab keinen Schutz, kein Austreibungsmittel; sogar die aufregendst neuen und wichtigen Bücher waren machtlos gegen diese Besessenheit. Statt der Quantenmechanik, statt des Individuationsfeldes wäre es plötzlich das blasse Oval ihres Gesichts, was seinen Geist füllen würde; es wären ihre Stimme und die Art, wie sie einen ansah, und ihr Parfüm und die weißen Rundungen ihres Halses und ihrer Arme.
Und dabei hatte er sich doch seit jeher geschworen, nie zu heiraten, seine ganze Zeit und alle seine Gedanken und Energien diesem seinem großen Werk zu widmen, diesem Brückenbauen, das so offenbar und, wie von der Vorsehung bestimmt, sein Beruf war. Ganz plötzlich fühlte er die Berührung ihrer Hand auf seinem Haar, und als er aufblickte, sah er sie ihn fast zärtlich anlächeln. “Sie dürfen nicht traurig sein, Paul.” Er schüttelte den Kopf. “Traurig und verrückt und wahrscheinlich auch schlecht.” “Nein, sagen Sie das nicht”, entgegnete sie und legte ihm mit einer schnellen Bewegung ihre Finger leicht auf den Mund. “Nicht schlecht, Paul; niemals schlecht.” Er ergriff ihre Hand und bedeckte sie mit Küssen. Widerspruchslos überließ sie sie für ein paar Sekunden seiner Leidenschaft und zog sie dann sanft zurück. “Und nun”, sagte sie, “möchte ich ausführlich von dem Besuch bei dem Mann hören, von dem Sie mir gestern erzählt haben.” Sein Gesicht hellte sich auf. “Sie meinen Loria?” Sie nickte. “Oh, das war wirklich aufregend. Er ist der Mann, der Peanos Arbeit über mathematische Logik weitergeführt hat.” “Ist er so bedeutend wie Russell?” fragte Mrs. Thwale, die sich eines früheren Gesprächs über denselben Gegenstand erinnerte. “Das ist grade die Frage, die ich selbst mir gestellt habe”, rief der junge Mann entzückt. “Große Geister haben die gleichen Gedanken”, sagte Mrs. Thwale. Mit einem bezaubernd spielerischen Lächeln klopfte sie mit den Knöcheln erst an ihre eigne Stirn, dann an seine. “Und jetzt möchte ich von Ihrem aufregenden Professor Loria hören.”
17. KAPITEL Nach der Melodie von “Unter den Bambusstauden”, zur Begleitung von Timmy Williams' wissendem Gelächter, wieder und wieder: Wahrscheinlich nur, Wahrscheinlich nur, Wahrscheinlich nur Verst ... Aber das war natürlich nicht wahr. Er hatte immer gewußt, daß das nicht wahr war. Und abermals kam ein Bewußtsein von einer alles durchdringenden Stille, die leuchtete und lebendig war. Sie war schön, von einer größeren Schönheit als sogar Mozarts Musik, als der Himmel nach Sonnenuntergang, als der Abendstern zwischen den Zypressen. Und von diesen Zypressen schien er wegzugleiten über das Geflecht und entdeckte sich plötzlich in Paestum, in der windigen Dämmerung eines Herbstabends, und dann im Tal des Weißen Pferdes in Berkshire, wo der Julisonnenschein wie mit unwiderstehlicher Inbrunst herabflutete aus einer blauen Bucht zwischen bergigen Kontinenten von Gewitterwolken. Und hier wieder war der Maisgott aus Copan und hier das Letzte Abendmahl des heiligen Hieronymus. Und dieses Bild von Constable im Viktoria-undAlbert-Museum und — ja! — Susanna im Bade. Aber dies war nicht Tintorettos blasse Silhouette einer marmorgleichen und majestätischen Nacktheit. Dies war Mimi. Mimi, wie sie auf dem Diwan hockte, kurzbeinig, opak weiß gegen die grellbunten Kissen. Und plötzlich hatte er wieder Teil an der unbarmherzigen Erkenntnis einer so gräßlichen Abwesenheit, daß
nichts mehr da war als Abscheu vor sich selbst, nichts als Scham, Selbstverurteilung und Verdammnis. Um der Pein zu entfliehn, wandte er sich abermals dem sich öffnenden Schlafrock zu, dem Getätschel und Getändel, der Zigarre und dem Gelächter. Diesmal aber wollte sich das Licht nicht verdunkeln lassen. Es wurde im Gegenteil heller bis zur Unmöglichkeit; wurde noch viel, und unerträglich, schöner. Angst und Schrecken verwandelten sich in Groll, in leidenschaftliche Raserei von Wut und Haß. Und wie durch Zauber hatte er sich auf einmal wieder in Besitz aller seiner vier Wortschätze von Obszönität gesetzt — des heimatlichen englischen, der mit Fleiß erworbenen deutschen und französischen und italienischen. Das Aufwallen seines Zorns, der Sturzbach dieser Wörter brachten ihm unverzüglich Erleichterung. Die Eindringlichkeit des Lichts verminderte sich, und nun gab es kein Teilhaben mehr an der Erkenntnis, durch die er gezwungen war, sich selbst als schändlich zu verurteilen. Nichts blieb, nur fern im Hintergrund diese Schönheit wie der Himmel nach Sonnenuntergang. Nun aber hatte er diese Lieblichkeit durchschaut, wußte, sie war nur ein Köder, um ihn in eine gräßliche Art von Selbstmord hineinzulocken. Selbstmord, Selbstmord — alle versuchten sie einen dazu zu überreden, Selbstmord zu begehn. Und hier war wieder ein Bruchstück seiner selbst, dargestellt durch Bruno in seiner Buchhandlung, Bruno unterwegs zum Bahnhof. Wie er einen ansah mit diesen seinen Augen und so sanft von der Notwendigkeit redete, sich Verzeihung gewähren zu lassen, und sogar versuchte, einen zu hypnotisieren! Einen in Selbstvernichtung hineinzuhypnotisieren! Sozusagen abgleitend, auf eine andre Ebene des Geflechts, befand er sich ganz plötzlich in Fühlung mit einem Bewußtsein, von dem er sogleich wußte, daß es Brunos war; mit dem matten und belanglosen Bewußtsein von einem kahlen Hotelzimmer und gleichzeitig einem überwältigen-
den von dem Licht. Zart blau war es diesmal, blau und irgendwie musikalisch. Eine Systole und Diastole milden Strahlens, das tonlos innerhalb der Windungen einer unsichtbaren Muschel sang. Schönheit undFrieden und Zärtlichkeit — sogleich erkannt und sogleich zurückgewiesen. Erkannt, nur um gehaßt zu werden, nur um idiomgerecht in vier Sprachen unflätig beschimpft zu werden. St. Willibald, der im Zimmer eines viertklassigen Hotels betete! St. Wunnibald, der seinen Nabel beschaute. Es war eselhaft. Es war verachtungswert. Und wenn der Narr sich einbildete, daß er einen durch solche Tricks beschämen konnte, bis man Selbstmord begehn wollte, irrte er gründlich! Wer, glaubte er denn, war er, daß er da mit diesem verdammten Licht herumhokuspokte? Aber was immer er glauben mochte, Tatsache blieb, daß er einfach derselbe alte Bruno war, einfach ein verstaubter kleiner Buchhändler mit einem unterentwickelten Verstand und einer überentwickelten Suada. Und dann wurde ihm bewußt, daß Bruno nicht allein war, daß Brunos Erkenntnis dieses Lichts nicht die einzige Erkenntnis war. Da war eine ganze Milchstraße verschiedener Bewußtsein. Alle leuchtend durch ein Teilhaben an dem Licht, durch ein Einssein mit dem Licht, das ihnen ihr Sein gab. Einsgeworden und doch, innerhalb der allumfassenden Möglichkeit, als Möglichkeiten erkennbar, die verwirklicht worden waren. In dem Hotelzimmer wurde die Erkenntnis dieses zarten, wohltönenden Strahlenglanzes immer vollständiger. Und dabei hellte sich die Bläue zu einem noch reineren Erglühen auf, das Tönen modulierte von Bedeutsamkeit über erhöhte Bedeutsamkeit nach der letzten Vollkommenheit von Stille. “Willibald, Wunnibald. In einem viertklassigen Hotel. Und hoffentlich ist ein deutsches Hochzeitspärchen im Nebenzimmer!” Bruno, der sich da produzierte, was er alles mit dem Licht aufführen konnte! Aber das bewahrte ihn
nicht davor, ein dummer kleiner Altwarenhändler zu sein, ein Trödler von schimmeligem Plunder. “Und wenn er sich ernstlich einbildet, er kann einen einschüchtern, bis man sich beschämt fühlt ...” Jählings war sich Eustace der Erkenntnis des andern bewußt. Nicht nur von außen her, sondern durch einen Akt der Identifikation mit ihm. Und sogleich war er sich wieder der unaussprechlichen Häßlichkeit seines eignen, undurchsichtigen und bruchstückhaften Seins bewußt. Beschämend, beschämend ... Aber er weigerte sich, sich zu schämen. Er wollte verdammt sein, wenn er sich in Selbstmord hineinkommandieren ließ! Ja, er wollte verdammt sein, er wollte verdammt sein ... In der Helle und der Stille waren seine Gedanken wie Klumpen von Auswurf, wie das Geräusch des Erbrechens. Und je abstoßender sie zu sein schienen, desto rasender wurde sein Zorn und sein Haß. Verdammtes Licht! Verfluchter kleiner Lumpensammler! Aber nun war keine Ruhe, kein Aufschub mehr im Zornigsein zu finden. Sein Haß flammte, aber er flammte ins Angesicht einer unverdunkelt strahlenden Helle. Die vier Vokabulare von Obszönität erbrachen sich in eine Stille, mit der er auf irgendeine Weise identifiziert war, in eine Stille, die die Häßlichkeit dessen, wovon sie unterbrochen wurde, nur noch mehr betonte. Das ganze Hochgefühl von Zorn und Haß, diese ganze ablenkende Erregung verebbte, und es blieb ihm nichts als die nackte, negative Empfindung von Ekel, selber schmerzhaft und zugleich die Ursache vermehrten Schmerzes. Denn das unverdunkelte Licht, die ununterbrechbare Stille, die beide Gegenstand seines Ekels waren, zwangen ihn abermals, sich als einen Gerichthaltenden zu erkennen, der sich verurteilte. Andre Bruchstücke seiner selbst tauchten auf. Zehn Seiten Proust und ein schneller Rundgang durch den Bargello; der heilige Sebastian zwischen den Wachsblumen und den
ausgestopften Kolibris und der junge Mann aus Peoria. Fascinatio nugacitatis. Aber alles Getändel, das ihn einst bezaubert hatte, war nun nicht nur äußerst ermüdend, sondern auch, auf eine negative Art, äußerst böse. Und doch mußte dabei verharrt werden; denn die einzige andre Wahl war eine völlige Selbsterkenntnis und Selbstpreisgabe: einzig auf das Licht zu achten und sich ihm völlig auszusetzen. Also kam jetzt wieder Mimi dran. Und in der Helle, mit der er nun unentrinnbar identifiziert war, mußte auch bei diesen verharrt werden — diesen langen Nachmittagen in der kleinen Wohnung hinter Santa Croce. Endlose kalte Friktionen; das endlose raspelnde Striegeln, aber ohne jeden Kitzel. Adesso commincia la tortura. Und es hörte nie auf, weil er es nicht aufhören lassen konnte, aus Furcht vor dem, was sonst geschähe. Es gab kein Entkommen außer auf dem einen Weg, der ihn nur noch weiter in Gefangenschaft führte. Auf einmal regte sich Bruno Rontini ein wenig und hustete. Eustace hatte, um einen Grad entfernt, teil an einem verstärkten Bewußtsein von dem kahlen kleinen Hotelzimmer und dem Geräusch der Autos, die im niedrigsten Gang die steilen Straßen nach Perugia heraufkamen. Dann wurde dieses nebensächliche Bewußtsein ruhig beiseite geschoben, und es war wieder nur Stille und Helle da. Oder gab es vielleicht einen andern Weg? Einen Weg, der einen um diese exkrementalen Klumpen von altem Gelebtem und die Verurteilung, die sie einem auferlegten, herumführte? Die Stille und Helle waren schwanger von der unzweideutigen Antwort: es gab keinen Weg darum herum, es gab nur einen Weg hindurch. Und über den wußte er natürlich Bescheid. Er wußte genau, wohin der führte. Aber wenn dieser Weg doch eingeschlagen würde, was geschähe dann mit Eustace Barnack? Eustace Barnack wäre dann tot. Ganz und gar tot. Ausgelöscht. Vernichtet. Nichts
wäre dann da als dieses verdammte Licht, diese diabolische Helle in der Stille. Sein Haß loderte abermals auf, und dann wurde fast sogleich diese genußreiche und aufheiternde Hitze gedämpft. Nichts blieb ihm außer einem kalten, erschrockenen Grauen und der schmerzenden Erkenntnis, daß sein Haß und sein Grauen gleichermaßen abscheulich waren. Aber lieber diesen Schmerz als die Alternative; lieber das Wissen von seiner eignen Abscheulichkeit als das Auslöschen jeglichen Wissens. Alles lieber als das! Sogar diese Ewigkeiten leerer Narretei, diese Ewigkeiten einer allen Genusses entleerten Luft. Zehn Seiten Proust und die Gegenüberstellung von Wachsblumen und dem heiligen Sebastian. Wieder und wieder. Und danach wieder diese leichenkalten Sinnlichkeiten, das Tätscheln, das Tändeln, das endlose obligate Betapsen zur Begleitung von “Wahrscheinlich nur Verstopfung” und “Ein junger Mann aus Peoria”. Tausende Male, hunderttausende Male. Und der kleine Witz von St. Willibald, der kleineWitz von St.Wunnibald. Und Pater Barnabas mit seinem Räucherfaß, Pater Theophil mit seinem Pater Theophil mit seinem Pater Theophil . . . Und wieder dieselben zehn Seiten Proust, dieselben Wachsblumen und der heilige Sebastian, dieselben blinden braunen Brustaugen und die Folter erzwungener Lust, während der junge Mann aus Peoria immerzu das Kredo murmelte, das Sanktus murmelte, eine Reihe tadellos idiomatischer Obszönitäten murmelte, in einer leuchtenden Stille, die jede dieser Millionen Wiederholungen nur noch sinnloser als die vorangegangene erscheinen ließ, und nur noch jämmerlicher abscheulich. Doch es gab keine andre Wahl, keine außer der einen, dem Licht nachzugeben, in dieser Stille aufzugehn. Aber alles lieber als das, alles, alles lieber ... Und dann war plötzlich Erlösung da; ein Bewußtsein, zunächst einmal, daß da noch andre Bewußtsein waren. Nicht wie bei Brunos scheußlicher Verschwörung mit dem Licht. Nicht wie diese Milchstraße unzähliger Bewußtsein
innerhalb der Erkenntnis aller Möglichkeit. Nein, nein, diese Bewußtsein hier waren dem seinen anheimelnd ähnlich. Und alle waren sie mit ihm selbst befaßt, mit seiner eignen geliebten und undurchsichtigen Selbstigkeit. Und diese Beschäftigung mit ihm war wie die flatternden Schatten einer Schar von Flügeln, wie das Geschrei und Gezwitscher unzähliger aufgeregter kleiner Vögel und schloß das unerträgliche Licht aus, zerschmetterte die verfluchte Stille, brachte Aufschub und Erleichterung, brachte das beglückende Recht, er selbst zu sein und sich dessen nicht zu schämen. Er ruhte da in dem köstlichen zwitschernden Wirrwarr, dessen Mittelpunkt er geworden war, und wäre glücklich gewesen, für immer so zu ruhn. Aber noch Besseres war ihm aufgespart. Plötzlich und ohne vorherige Andeutung dämmerte eine neue, beseligende Phase seiner Erlösung. Er war im Besitz von etwas unendlich Wertvollem, von etwas, dessen er, wie er nun begriff, während der ganzen Dauer dieser fürchterlichen Ewigkeit beraubt gewesen war, — einer Gruppe körperlicher Empfindungen. Da waren diese erregend unmittelbaren und unverzüglichen Wahrnehmungen der warmen, lebendigen Dunkelheit hinter geschlossenen Augenlidern; schwach vernehmlicher Stimmen, nicht erinnerter, sondern tatsächlich dort außen gehörter; eines Anflugs von Hexenschuß im Kreuz; eines Tausends undeutlicher kleiner Zug- und Druck- und Spannungsempfindungen von innen und von außen. Und was für eine sonderbare Schwere im tieferen Innern; was für wunderlich unvertraute Empfindungen von Gewicht und Umschnürtsein hier vorn vor der Brust! “Ich glaube, jetzt ist sie soweit”, sagte die KöniginMutter in einer Art von krächzendem Bühnengeflüster. “Sie scheint jedenfalls sehr schnarchend zu atmen”, stimmte ihr Paul De Vries bei. “Schnarchen deutet immer
auf Entspannung”, fügte er belehrend hinzu. “Darum können magere, nervöse Leute so selten ...” Mrs. Gamble schnitt ihm das Wort ab. “Lassen Sie meine Hand los!” sagte sie. “Ich will mich schneuzen.” Ihre Armbänder klirrten in der Dunkelheit. Dann ertönte ein Rascheln und ein Schnauben. “Also, wo sind Sie?” fragte sie und tastete mit ihrer Klaue nach seiner Hand. “Ah, hier! Hoffentlich halten alle fest.” “Ich bestimmt”, erwiderte der junge Mann. Er sagte es keck; aber der Druck, den er der weichen Hand zu seiner Rechten gab, war sehnsüchtig zärtlich. Zu seinem Entzücken wurde der Druck schwach, aber ganz deutlich erwidert. In ihrem Hinterhalt in der Dunkelheit dachte Mrs.Thwale an das schamlose Wesen der Liebe. “Und was ist's mit Ihnen, Sebastian?” fragte sie, den Kopf wendend. “Alles in Ordnung”, antwortete er mit einem nervösen Kichern. “Ich halte fest.” Aber das tat auch dieser stinklausige De Vries! Hielt fest und wurde festgehalten. Wogegen falls er ihr die Hand drückte, sie das wahrscheinlich der übrigen Gesellschaft verkünden und die dann alle einfach vor Lachen brüllen würden. Dennoch hatte er nicht übel Lust, es zu tun. Als eine Ungeheuerlichkeit — genauso, wie sie gesagt hatte. De Vries war verliebt in sie. Und soviel er zu wissen glaubte, war sie in De Vries verliebt. Also gut: das größtmögliche non sequitur unter diesen Umständen wäre es, wenn er irgend etwas sagte oder täte, was zeigen würde, daß er selbst in sie verliebt sei. Aber als er tatsächlich so weit war, daß er die Ungeheuerlichkeit begehn sollte, ihr die Hand zu drücken, entdeckte er, daß er zögerte. Hatte er den Mut dazu, oder hatte er ihn nicht? War es das Wagnis wert oder nicht?
“Es heißt, daß Händehalten einen Einfluß auf die Schwingungen hat”, verkündete die Königin-Mutter von ihrem Ende der Kette her. “Tja, es ist nicht unmöglich”, sagte Paul De Vries bedächtig. “Im Lichte der allerneuesten Forschungen über das elektrische Potential der verschiedenen Muskelgruppen ...” In fünf Sekunden, sagte sich Sebastian, den imaginären Revolverlauf abermals an die Schläfe gedrückt, in fünf Sekunden werde das Ende der Welt gekommen sein. Es sei alles eins. Aber noch immer tat er nichts. Es sei alles eins, alles eins, sagte er sich immer wieder verzweifelt, da spürte er auf einmal ihre Hand in der seinen lebendig werden. Ihre Fingerspitzen begannen erstaunlicherweise kleine Kreise auf seiner Handfläche zu ziehn. Wieder und wieder köstlich, elektrisierend. Dann gruben sich ohne Warnung ihre spitzen Fingernägel in sein Fleisch. Nur für eine Sekunde, und dann streckten sich die Finger und entspannten sich, und er fühlte, daß er eine Hand hielt, die so schlaff und passiv und reglos war wie zuvor. “Und ferner”, dozierte Paul De Vries, “muß man die Möglichkeit bedenken, daß mitogenetische Strahlungen ein Faktor bei den Phänomenen ...” “Pst-pst! Sie sagt etwas.” Aus der Dunkelheit vor ihnen kam eine quiekende, kindliche Stimme. “Ich bin Bettina”, sagte die Stimme. “Guten Abend, Bettina!” rief die Königin-Mutter in einem Ton, der munter und einnehmend klingen sollte. “Wie geht's drüben auf der andern Seite?” “Fein”, sagte das Quieken, das, wie Mrs. Byfleet vor dem Abdrehn des Lichts erklärt hatte, einem kleinen Mädchen gehörte, das beim Erdbeben von San Franzisko hinübergegangen war. “Allen geht's fein. Alles fühlt sich wohl. Aber die arme gute Gladys hier —die ist ganz krank.”
“Ja, es tut uns allen leid, daß Mrs. Byfleet sich nicht wohlfühlt.” “Sie fühlt sich gar nicht wohl.” “Äußerst bedauerlich!” sagte die Königin-Mutter mit kaum verhehlter Ungeduld. Sie war es gewesen, die darauf bestanden hatte, daß Mrs. Byfleet die Seance trotz ihrer Indisposition gebe. “Aber ich hoffe, es wird die Botschaften nicht stören.” Das Quieken sagte etwas wie “unser möglichstes tun”, wurde unzusammenhängend und verstummte. Das Medium seufzte tief und schnarchte ein wenig. Dann herrschte Stille. Was bedeutete das? fragte sich Sebastian. Was um Himmels willen konnte das bedeuten? Sein Herz klopfte wie ein Schmiedehammer. Abermals den Lauf des Revolvers an die Schläfe gesetzt! Noch fünf Sekunden, dann würde die Welt untergehn. Eins, zwei, drei ... Er drückte ihr die Hand. Wartete eine Sekunde. Drückte noch einmal. Aber es kam kein Gegendruck, keine Andeutung irgendwelcher Art, daß sie auch nur bemerkt hatte, was er getan. Sebastian fühlte sich von qualvollster Verlegenheit überkommen. “Ich hab immer gern meine erste Seance so bald als möglich nach der Bestattung”, bemerkte die KöniginMutter. “Sogar schon vorher, wenn es sich einrichten läßt. Man muß das Eisen schmieden, solange es heiß ist.” Es folgte eine Pause. Sie wurde von Paul De Vries' eifriger, aber tonloser Stimme unterbrochen. “Ich muß immer an die Grabrede Mr. Pewseys heute nachmittag denken”, sagte er. “Sehr ergreifend — fanden Sie nicht auch? Und so glücklich in der Wortwahl. ,Freund der Künste und Künstler der Freundschaft'. Er hätte es nicht besser ausdrücken können.” “Was ihn nicht hindert”, schnarrte die Königin-Mutter, “die ekelhaftesten Gewohnheiten zu haben. Wenn Veronica und dieser Junge nicht hier wären, würde ich Ihnen einiges von dem erzählen, was ich zufällig über Tom Pewsey weiß.”
“Es ist jemand hier”, verkündete das Quieken überraschend. “Er möchte dringend mit euch Leutchen in Verbindung kommen.” “Sagen Sie ihm, wir warten”, sagte die Königin-Mutter in einem Ton, in dem man einem Lakaien einen Befehl gibt. “Eben erst angekommen”, fuhr das Quieken fort. “Scheint nicht recht zu wissen, daß er hinüber ist.” Für Paul De Vries waren die Worte, was die frische Spur eines Hasen für einen witternden Hund; wie der Blitz war er hinterher. “Ist das nicht interessant!” rief er aus. “Er weiß nicht, daß er hinüber ist. Aber das sagen sie alle, von den Mahayana-Buddhisten bis zu —” Das Quieken hatte etwas zu stammeln begonnen. “Stören Sie doch nicht immer!” fuhr ihn die KöniginMutter an. “Verzeihung”, murmelte er. In der Dunkelheit drückte ihm Mrs. Thwale mitfühlend die rechte Hand, und im selben Augenblick, desinteressiert und platonisch, krümmte sie zart ihren rechten Zeigefinger und zeichnete mitten auf Sebastians linke Handfläche die fünf Buchstaben L, I, E, B, E, und dann eine andre, uneingestehbare Buchstabenverbindung und noch eine. Prickelnde Bläschen von Lachen stiegen lautlos in ihr auf. “Er freut sich so, daß ihr alle hier seid”, sagte das Quieken, das plötzlich deutlich wurde. “Er kann gar nicht sagen, wie glücklich es ihn macht.” “Man hätte es vielleicht nicht mit ganz so pathetischem Nachdruck ausgedrückt”, dachte Eustace. “Aber im Grund genommen ist's die Wahrheit.” Das verdammte Licht war nun ganz entschieden erloschen; und diese eben erst wiedergewonnenen Empfindungen, die da hopsten und zwitscherten wie zwanzigtausend Spatzen, ließen der Stille keine Möglichkeit mehr. Und wie köstlich sogar ein Hexenschuß sein konnte; und sogar dieses undeutliche und unvertraute Bauchgrimmen!
Und die Reibeisenstimme der Königin-Mutter — kein Mozart hatte je süßer geklungen! Natürlich war es ein unglückseliger Umstand, daß aus irgendeinem Grund alles durch den Filter dieses Mittlerhirns gehn mußte. Oder vielmehr dieser eingeschobenen Hirnlosigkeit; denn es war einfach ein Klumpen mit Organen ausgestatteten Schwachsinns, weiter nichts. Man gab ihm ausgesucht gute Witze, und viermal unter fünfen kamen sie als reinster Unsinn heraus. Wie jämmerlich war zum Beispiel das zugerichtet worden, was er gesagt hatte, als dieser Amerikaner über psychische Faktoren, oder was es sonst war, zu reden begann! Und als er Sebastians Verszeile von den zwei Steißbacken und einer pendelnden Dutte zitieren wollte, hatte dieser Lehmklumpen immerzu verdattert von Pennytüten geredet. Von Eiswaffeln und Pennytüten. Wirklich idiotisch! Immerhin, es war ihm gelungen, wenigstens den einen guten Hieb auf die Königin-Mutter anzubringen, und fast wörtlich! Denn nicht einmal eine Halbidiotin konnte das Wort “Krallen” mißverstehn. Und dann geschah etwas sehr Merkwürdiges. “Ist es wahr”, fragte Mrs. Thwale plötzlich im Ton übermäßiger und ganz und gar unwahrscheinlicher Unschuld, “ist es wahr, daß es dort, wo Sie sind, weder ein Freien noch ein Gefreitwerden gibt?” Die Worte schienen auf einen Hahn zu drücken; es folgte eine Art geistigen Stoßes, eine fast gewaltsame Verschiebung des Bewußtseins — und Eustace entdeckte, daß er sich wie in lebhafter Erinnerung gewisser Ereignisse bewußt war, die nicht er selbst erlebt hatte. Ereignisse, die, das wußte er irgendwie, sich noch gar nicht ereignet hatten. In einem breitschultrigen Pelzmantel und mit einem unglaublichen Hut, der aus einem Porträt der Kaiserin Eugenie von Winterhalter hätte sein können, saß Mrs. Thwale auf einem Podium, umgeben von einer Schar von Marineoffizieren, während ein Mann mit zersaustem Haar und der Aussprache des Mittelwestcns in ein Mikrophon schrie.
“Freiheitsschiff”, sagte er immer wieder, “vierhundertundneunundfünfzigstes Freiheitsschiff.” Und ganz gewiß, diese riesige Klippe von Eisen, dort draußen zur Linken, war der Bug eines Schiffs. Und nun hatte sich Mrs. Thwale erhoben und schwang eine Champagnerflasche am Ende einer Schnur, und dann begann die Klippe hinwegzugleiten, und laute Hurrarufe ertönten. Und während Mrs. Thwale zu einem Admiral und einigen Kapitänen emporlächelte, kam De Vries herbeigelaufen und begann ihnen von den aufregenden neuen Entwicklungen in der Ballistik zu erzählen ... “Ich bin's nicht, der ans Heiraten denkt”, sagte Eustace scherzend. Aber was die Schwachsinnige tatsächlich äußerte, war: “Bei uns hier denken wir nicht ans Heiraten.” Eustace wollte Einspruch erheben, wurde aber von seinem Ärger durch das Auftauchen einer zweiten solchen klaren Erinnerung an noch nicht Geschehenes abgelenkt. Die kleine Thwale, auf einem Diwan mit einem sehr jungen Offizier, einem dieser bartlosen Kinder, die man während des Kriegs zu sehn bekam. Und wirklich, nein wirklich, was die sich alles gestattete! Und immer mit diesem leicht ironischen Lächeln, diesem Ausdruck unbeteiligter Neugier in den glänzenden dunkeln Augen, die stets weit offen blieben und beobachteten, was immer auch vorgehn mochte. Wogegen der Junge bei seinem Bemühen, das Lustgefühl einzubehalten, Scham und Verlegenheit auszuschließen, seine Augen fest geschlossen hielt. Die vorbeiziehenden Bilder schwanden ins Nichts dahin, und bei dem Gedanken an De Vries' Hörner und den unvermeidlichen Zusammenhang zwischen Mars und Venus, zwischen den heiligsten Kreuzzügen und den heillosesten Kopulationen, begann Eustace zu lachen. “Rückwärts und abwärts, christliche Krieger!” sagte er in der Pause zwischen zwei Heiterkeitsausbrüchen. “Er sagt, wir sind alle christliche Krieger”, verkündete 223
das Quieken; und dann, fast sogleich, rief es: “Lebt wohl, Leutchen, lebt wohl, lebt wohl!” Lachen; ein Krescendo von Lachen. Dann, ganz plötzlich, merkte Eustace, daß das beglückende Erleben von Sinnesempfindungen von ihm wegzuebben begann. Die Stimmen dort außen wurden matter und verworrener; das kleine, dunkle Bewußtsein von Druck, Berührung und Spannung verblaßte. Und zuletzt blieb nichts übrig, nicht einmal der Hexenschuß, nicht einmal die idiotische Dolmetscherin. Nichts als die Gier nach dem, was er verloren hatte, und diese aus ihrer langen Verdunkelung hinter der Undurchsichtigkeit und dem köstlichen Lärm wieder auftauchende leuchtende Stille des Lichts. Heller und immer dringlicher, immer ernster und drohender schön. Eustace, der diese Gefahr wahrnahm, richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf die kleine Thwale und ihren uniformierten Jüngling, auf den Ungeheuern kosmischen Witz von Kreuzzügen und Kopulationen. “Rückwärts und abwärts, christliche Krieger!” wiederholte er. Und mit einer entschlossenen Anstrengung lachte er herzlicher denn je.
18. KAPITEL Es war erst ein wenig nach sieben, als Sebastian am nächsten Morgen herunterkam, um ungestört wiederum durch den Garten zu schlendern — einen zweiten Spaziergang durch Lycidas in der Richtung auf sein eignes, noch unbetiteltes und ungeschriebenes Gedicht zu unternehmen. Es müßte, so hatte er entschieden, mit der Venus auf der Balustrade — vom Geist aus der Gestaltlosigkeit des Steins gestaltet — beginnen. Ordnung, aus einem Chaos geboren, das selbst aus unzähligen geringeren Ordnungen zusammengesetzt war. Und die Statue wäre das Sinnbild eines individuellen Lebens von möglicher und idealer Vortrefflichkeit, ebenso wie der Garten als Ganzes das Symbol des ideal vortrefflichen Lebens einer ganzen Gesellschaft wäre. Vom ideal Vortrefflichen wollte er auf die Tatsachen der Häßlichkeit, Grausamkeit, Dummheit und des Sterbens übergehn. Und danach, in einem dritten Teil, würden Ekstase und Verstand die Brücken bilden, die vom Tatsächlichen zum Idealen führten — von der blauen Schnepfe und seines Vaters Unerbittlichkeit und Strenge zu Mrs. Thwale und Mary Esdaile, von der Leiche in der Toilette zu Theokrit und Andrew Marwell. Sebastian erwog, wie er das alles klarmachen könnte, ohne daß es langweilig würde, als etwas geschah, was den Fluß seiner Gedanken unterbrach. Das kleine Mädchen, das er gestern, an dem gräßlichen Morgen, in der Halle gesehn hatte, erschien plötzlich von der Treppenflucht her und trug diesmal nicht ein Wickelkind oder ein Huhn, sondern einen großen Korb. Ein wenig erschrocken über seine unerwartete Anwesenheit, blieb die Kleine stehn und sah ihn ein paar Sekunden ungewiß und fast furchtsam an. Sebastian lächelte ihr zu. Beruhigt durch diese Schaustellung von
Wohlwollen seitens eines der furchteinflößenden signori, lächelte auch die Kleine, querte, vor übertriebener Ehrfurcht auf den Spitzen ihrer plumpen Schnürstiefel gehend, die Terrasse und begann das Blumenbeet zu jäten, das sich als schmaler Streifen von Farbe und Duft am Fuß der langen Villafassade hinzog. Sebastian setzte seine Promenade fort. Aber die Anwesenheit der Kleinen erwies sich als ein unüberwindliches Hindernis für ein Weiterarbeiten an seinem Gedicht. Sie machte nicht etwa Lärm oder gestattete sich irgendwelche heftige Bewegungen, nein, die Ursache lag tiefer. Was ihn ablenkte, war die Tatsache, daß sie da mühsam in der Erde wühlte, während er, die Hände in den Hosentaschen, hin und her schlenderte. Die Nähe armer Leute verursachte ihm stets ein unbehagliches Gefühl. Und zu diesem Unbehagen kam, wenn sie arbeiteten und er anscheinend nichts tat, ein Gefühl von Scham. Solche Empfindungen hätten ihn, so vermutete er, in den Fußstapfen seines Vaters folgen lassen sollen. Aber Politik erschien ihm immer als etwas so Vergebliches und Unwichtiges. Gewöhnlich reagierte er auf Scham und Unbehagen mit Flucht aus der Situation, die sie hervorgerufen hatte. Und heute war die Situation sogar noch schlimmer als gewöhnlich, denn der Mensch, der da arbeitete, war ein Kind, das hätte spielen sollen; und als Gegensatz zu der umgebenden Pracht wirkte die Armut besonders verletzend. Sebastian warf einen Blick auf seine Uhr, und für den Fall, daß die Kleine zu ihm hersähe (was sie aber nicht tat), übertrieb er das Gehaben eines Menschen, der sich plötzlich bewußt wird, daß es schon spät ist für etwas Wichtiges, das er zu tun hat, und eilte ins Haus zurück. Auf halbem Weg zur Eingangstür erinnerte er sich plötzlich, daß er tatsächlich Grund hatte, sich zu beeilen. Er wollte nach dem Mittagessen in die Stadt hinunter, vorgeblich, um sich einige Sehenswürdigkeiten anzusehn. In Wirklichkeit hatte er aber bereits beschlossen, sich für einen Abendanzug Maß nehmen zu las-
sen — vorausgesetzt, daß er vorher seinen Degas verkaufen könnte. Er lief in sein Zimmer hinauf und kam dann mit seinem kleinen Necessairekoffer herunter. Der Salon war leer, und der alte, hartnäckige Geruch von Onkel Eustaces Zigarren hatte sich so weit verflüchtigt, daß es hier nur noch nach Potpourri duftete. Ein langer Finger von Sonnenlicht durchstach den Raum und erhellte wie mit rätselvoller Absicht die drei Pelikane im Hintergrund von Pieros Gemälde. Die Handzeichnungen lagen auf dem Tisch mit der Marmorplatte, der in der mittleren Fensternische stand. Sebastian ging hin, schlug das braune Papier auseinander und zog zwischen den zwei schützenden Pappendeckeln sein Erbteil hervor. Zwei Steißbacken und eine pendelnde Dutte. Er legte die Zeichnung in den Necessairekoffer und schloß ihn. Dann faltete er sorgfältig das Packpapier, wie es gewesen war. Ein Degas oder ein Dinnerjackett — nun, da der alte, arme Onkel Eustace tot war, gingen sie niemand mehr etwas an als nur ihn selbst. Ein hohes, dünnes Stimmchen, das plötzlich leise zu singen begann, schreckte ihn auf. Er blickte durch das offene Fenster hinaus. Da, fast unmittelbar unter ihm, hockte die Kleine, vor der er soeben geflohen war. Ihre kleinen, erdbeschmutzten Hände bewegten sich vorsichtig zwischen den Hyazinthen, zogen hier ein Unkraut, dort ein paar Grashalme heraus, damit alles tadellos und in Ordnung wäre für die signori. “Gobbo rotondo”, sang sie vor sich hin, “che fai in questo mondo? Dann wurde sie sich irgendwie der fremden Anwesenheit über sich bewußt, sah auf und erblickte Sebastian. Ein Ausdruck von Schuld und Schrecken kam in ihre Augen; die fast farblosen Wangen wurden dunkelrot. “Scusi, signore”, murmelte sie mit zitternder Stimme. “Scusi.”
Sebastian, der fast ebenso verlegen war wie das kleine Mädchen, zog hastig den Kopf zurück, entfernte sich vom Fenster, bückte sich und ergriff seinen Necessairekoffer. “Was tun Sie denn da?” fragte eine tiefe, klare Stimme hinter ihm. Er fuhr zusammen und wandte sich um. Aber ohne auf seine Antwort zu warten, war Mrs. Thwale ans Fenster getreten und blickte hinaus. “Cosa fai?” fragte sie. Von der Terrasse draußen gab ein verschrecktes Stimmchen eine unverständliche Antwort. Mrs. Thwale zuckte die Achseln und wandte sich ins Zimmer zurück. “Was haben Sie denn mit der Kleinen gesprochen?” “Ich hab nicht”, stammelte Sebastian. “Ich hab nur ... sie hat gesungen.” “Und Sie haben ihr zugehört? Und jetzt werden Sie sich wohl hinsetzen und ein Gedichtchen à la Wordsworth darüber schreiben — ,Die einsame Jäterin'?” Er lachte unbehaglich. “Da drin sind vermutlich Ihre Manuskripte?” Sie wies auf den Necessairekoffer. Nur allzu dankbar für diese Vermutung, nickte Sebastian. “Na, legen Sie sie hin und kommen Sie in den Garten hinaus!” Gehorsam folgte er ihr durch die Halle und die Haustür. “Und wie haben Sie sich bei der Seance unterhalten?” fragte sie, als er sie auf der Terrasse einholte. “Oh, es war interessant”, antwortete er unverbindlich. “Interessant?” wiederholte sie. “Weiter nichts?” Sebastian errötete und wandte die Augen ab. Sie gab ihm eine Gelegenheit, etwas darüber zu sagen, was sich gestern abend abgespielt hatte, — sie zu fragen, was es bedeute; ihr von Mary Esdaile zu erzählen. Aber die Worte wollten nicht kommen, wollten einfach nicht. Mrs. Thwale blickte auf das errötete, qualvoll verlegene Gesicht neben sich und hätte fast laut herausgelacht. Was
für köstlich komische Situationen sich ergeben könnten mit einem Menschen, der zu schüchtern war, um zu sprechen! Die aufreizendsten Handlungen, und kein Wort dabei geäußert, keine Anspielung nachher. Offiziell wäre nichts geschehn; denn es gäbe kein Communique. Tatsächlich aber, tatsächlich .. . “Was für ein Kasperltheater”, sagte sie endlich, das lange Schweigen brechend. “Sie meinen die Séance?” Mrs. Thwale nickte. “Trotzdem, es schien ganz echt zu sein, nicht? Ich meine, manchmal”, fügte Sebastian hinzu, um sich ein wenig zu decken, denn er fürchtete, sich gezwungen zu sehn, eine allzu deutlich ausgesprochene Meinung verteidigen zu müssen. Aber die Vorsichtsmaßregel war unnötig. “Durchaus echt”, stimmte sie bei. “Der Tod, wie er Ehrfurcht und Pietät eine Nase dreht, genauso, wie das Leben das tut.” Sie hatten das obere Ende der Treppenflucht erreicht, und sie blieb stehn, um zwischen den Zypressen auf die Dächer von Florenz hinabzusehn. Schamlosigkeit im Innersten; aber an der Oberfläche Brunelleschi und Michelangelo, gute Manieren und Kleider von Lanvin, Kunst und Wissenschaft und Religion. Und der Reiz des Lebens bestand grade in der Unvereinbarkeit von Wesen und Erscheinung, und die Kunst des Lebens in einer heiklen Akrobatik von sauts périlleux aus der einen Welt in die andre, einer Prestidigitation, die stets das obszöne Karnickel auf dem Grund auch des spiegelndsten Zylinders zu entdecken vermochte und, umgekehrt, die elegante Anständigkeit eines Huts zur Verfügung hatte, um auch das trächtigste und laszivste Nagetier zu verbergen. “Na, wir können hier nicht ewig stehnbleiben”, sagte Mrs. Thwale endlich. Sie schritten weiter. Wie zufällig und gedankenlos legte sie Sebastian die Hand auf die Schulter.
19. KAPITEL “Eine Handzeichnung zu verkaufen?” Monsieur Greuil setzte die gelangweilte, verachtungsvolle Miene auf, die er stets bei solchen Gelegenheiten annahm. Aber als der Junge sein Köfferchen öffnete und den Degas zum Vorschein brachte, der erst vor vier Tagen ce pauvre monsieur Eustache verkauft worden war, konnte er eine Geste der Überraschung nicht unterdrücken. “Woher haben Sie dieses Blatt?” fragte er. “Es ist mir geschenkt worden”, antwortete Sebastian. “Geschenkt?” Tout est possible, sagte sich Monsieur Greuil, aber nichts hatte, soweit er sich erinnerte, jemals darauf gedeutet, daß der alte Schlemmer homosexuell war. Im Bewußtsein, sich verdächtig gemacht zu haben, errötete Sebastian. “Von meinem Onkel”, sagte er. “Sie haben ihn wahrscheinlich gekannt. Mr. Barnack.” “Ihr Onkel?” Monsieur Greuils Miene veränderte sich. Er lächelte; er nahm Sebastians Hand zwischen seine beiden und schüttelte sie. Einer seiner geschätztesten Kunden. Einer seiner treuesten Freunde, erlaube er sich zu sagen. Er sei bouleverse gewesen von der tragischen Nachricht. Ein unersetzlicher Verlust für die Kunst. Er könne nur sein aufrichtigstes Beileid aussprechen. Sebastian stammelte seinen Dank. “Und der gute Onkel, er hat Ihnen dieses Blatt geschenkt?” Sebastian nickte. “Grade ein paar Stunden vor ...” “Vor dem suprême adieu”, ergänzte Gabriel Greuil poetisch. “Welchen Gefühlswert es für Sie besitzen muß!”
Sebastian errötete noch tiefer. Um sich zu rechtfertigen, mummelte er etwas davon, daß er keinen Platz habe, wo er die Zeichnung hinhängen könne. Überdies handle es sich um eine Geldsumme, die sogleich bezahlt werden müsse, — beinahe eine Ehrenschuld, fügte er als pittoresken Nachgedanken hinzu. Andernfalls hätte er nicht im Traum daran gedacht, sich von dem Geschenk seines Onkels zu trennen. Monsieur Greuil nickte mitfühlend; aber seine Augen glänzten vor berechnender Gier. “Sagen Sie mir”, fragte er, “aus welchem Grund haben Sie sich in dieser Angelegenheit grade an mich gewendet?” “Aus gar keinem Grund”, antwortete Sebastian. Monsieur Greuils Laden sei zufällig die erste Kunsthandlung gewesen, die er gesehn habe, als er die Via Tornabuoni entlanggegangen sei. Das hieß, daß er nicht wußte, wo das Blatt gekauft worden war. Monsieur Greuil lachte fröhlich und klopfte Sebastian auf die Schulter. “Der Zufall”, sagte er sentenziös, “ist oft unser sicherster Führer.” Er blickte auf die Zeichnung hinab, zog die Brauen zusammen und legte kritisch den Kopf schief. “Hübsch”, sagte er. “Hübsch. Aber nicht grade eine der besten Arbeiten des Meisters.” Er tippte mit dem Finger auf die Hinterbacken. “Man merkt, daß seine Sehkraft schon nachgelassen hat, hein?” “Na, ich kann das nicht finden”, sagte Sebastian mit einem mannhaften Bemühn, sein Eigentum gegen abfällige Beurteilung zu verteidigen. Es folgte eine kleine Pause. “Falls Ihr guter Onkel Ihnen andre Sachen geschenkt hat”, sagte Monsieur Greuil leichthin und ohne aufzublicken, “würde ich mich sehr glücklich schätzen, Ihnen ein Angebot zu machen. Das letztemal, als ich die Ehre hatte, seine Sammlung zu besichtigen, haben mir, wie ich
mich erinnere, einige der chinesischen Bronzen großen Eindruck gemacht.” Seine dicken, beweglichen Hände trafen einander in der Höhe seines Gesichts, als umschlösse und liebkoste er ein fast geheiligtes Objekt. “Welche Volumen!” rief er enthusiastisch. “Welche rhythmische Sinnlichkeit! Und dabei klein, ganz klein. Man könnte diese Dinger fast in der Westentasche tragen!” Er wendete sich Sebastian zu und lächelte einschmeichelnd. “Ich könnte Ihnen ein sehr gutes Angebot für die Bronzen machen”, sagte er. “Aber sie gehören nicht mir. Ich meine ... Er hat mir nur das hier geschenkt.” “Nur das?” wiederholte der andre in einem Ton des Unglaubens. Sebastian schlug die Augen nieder. Dieses Lächeln, dieser beharrliche funkelnde Blick bereiteten ihm Unbehagen. Was versuchte der Kerl anzudeuten? “Nichts als diese Zeichnung”, beteuerte er und wünschte um Gottes willen, er wäre an einen andern Händler geraten. “Aber natürlich, wenn Sie kein Interesse haben ...” Er schickte sich an, die Zeichnung in den Necessairekoffer zurückzutun. “Aber nein, aber nein!” rief Monsieur Greuil, ihm die Hand auf den Arm legend. “Im Gegenteil. Ich interessiere mich für alles und jedes von Degas — auch für das Kleinste, Unbedeutendste.” Zehn Minuten später war das Ganze vorbei. “.. . neunzehn, zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig. Stimmt, kein?” “Danke sehr”, sagte Sebastian. Er ergriff den dicken Stoß Hundertlirescheine und stopfte ihn in seine Brieftasche. Sein Gesicht war gerötet. Seine Augen glänzten vor Aufregung und ununterdrückbarem Triumph. Der Mann hatte damit begonnen, ihm nur tausend zu bieten. Sehr kühn
hatte er dreitausend verlangt. Sie hatten sich zuletzt auf zweitausendzweihundert geeinigt. Zehn Prozent über dem Preis, der die Differenz zwischen Nachfrage und Angebot halbiert hätte. Im Gefühl, daß er mit Recht stolz auf sich sein könne, steckte Sebastian die Brieftasche ein und sah, aufblickend, den Händler ihn mit fast väterlichem Wohlwollen anlächeln. “Ein junger Mann, der seine Ware zu verkaufen weiß”, sagte Monsieur Greuil, ihm abermals die Schulter tätschelnd. “Sie werden eine ganz brillante Karriere im Geschäftsleben machen.” “Das Geschäftsleben ist nichts für mich”, sagte Sebastian. Und als der andre fragend die Brauen hochzog, fügte er hinzu: “Sehn Sie, ich bin Dichter.” Ein Dichter? Aber das war Monsieur Greuils eigner jugendlicher Ehrgeiz gewesen, die Lyrik eines Herzens auszudrücken, das leidet ... “Les chants désespéres sont les chants les plus beaux, Et j'en sais d'immortels qui sont de purs sanglots. De purs sanglots”, wiederholte er. “Mais, hélas, die Pflicht führte mich andre Wege.” Er seufzte und fragte dann Sebastian über seine Familie aus. Zweifellos herrsche in einem so kultivierten Milieu eine Tradition der Poesie und der schönen Künste? Und als Sebastian antwortete, daß sein Vater Rechtsanwalt sei, bestand Monsieur Greuil darauf, daß Mr. Barnack eine dieser Leuchten des Barreaus sei, die ihre Muße den Musen widmen. Die Vorstellung, daß sein Vater je Muße habe oder, wenn er sie hätte, sie etwas anderm widmen würde als Blaubüchern, war so komisch, daß Sebastian laut herauslachte. Aber Monsieur Greuil sah gekränkt drein; darum unterbrach er sich hastig mit einer Erklärung seiner Heiterkeit.
“Sehn Sie”, sagte er, “mein Vater ist recht eigenartig.” “Eigenartig?” Sebastian nickte und begann in seinem abgerissenen, unzusammenhängenden Stil eine Schilderung von John Barnacks Laufbahn. Und irgendwie schien es in seiner gegenwärtigen Stimmung die natürlichste Sache von der Welt zu sein, dieses Bild heroisch zu gestalten — die Erfolge seines Vaters als Verteidiger zu betonen, seine politische Bedeutung hervorzuheben, seine Selbstaufopferung zu unterstreichen. “Nein, solche Großherzigkeit!” rief Monsieur Greuil. Sebastian reagierte auf die Worte, als wären sie ein ihm selbst geltendes Kompliment gewesen. Eine prickelnde Wärme lief ihm das Rückgrat hinauf. “Er hat massenhaft Geld”, fuhr er fort, “aber er schenkt es alles weg. Für politische Flüchtlinge und dergleichen Zwecke.” Das Vergnügen, stellvertreterisch prahlen zu können, hatte ihn für den Augenblick seinen Haß gegen diese Blutsauger vergessen lassen, die nahmen, was von Rechts wegen ihm gehörte, und ihn sogar ohne Dinnerjackett ließen. “Da ist zum Beispiel ein Mann namens Cacciaguida ...” “Sie meinen den Professor?” Sebastian nickte. Monsieur Greuil sah sich schnell in dem Laden um und setzte, obgleich niemand da war, das Gespräch in leiserem Ton fort. “Ist das ein Freund Ihres Vaters?” “Er kam zum Abendessen zu uns”, antwortete Sebastian gewichtig, “grade bevor wir nach Florenz fuhren.” “Ich persönlich”, flüsterte Monsieur Greuil, nachdem er abermals im Laden umhergeblickt hatte, “halte ihn für einen großen Mann. Aber erlauben Sie mir, Ihnen einen guten Rat zu geben.” Er blinzelte ausdrucksvoll, hob den Zeigefinger an die schwungvoll modellierten Lippen und schüttelte den Kopf. “Schweigen ist Gold”, verkündete er orakelhaft.
Das plötzliche Schrillen der Türklingel ließ die beiden jäh zusammenfahren und sich umblicken wie ein Paar Verschwörer. Zwei Damen anfangs der Vierzig, die eine ziemlich behäbig und dunkel, die andre blond, sonnengebräunt und sportlich, betraten den Laden. Ein Ausdruck freudiger Verzückung erschien auf Monsieur Greuils Gesicht. “Gnädigste Baronin”, rief er aus, “y la reina de Buenos Aires!” Sebastian beiseite schiebend, sprang er über einen Gassettone, duckte sich unter dem rechten Arm eines lebensgroßen gekreuzigten Christus und eilte auf die beiden Damen zu und küßte ihnen ekstatisch die Hand. Unauffällig schlüpfte Sebastian aus dem Laden und schlenderte vor sich hinpfeifend flott die Via Tornabuoni entlang, in der Richtung zum Dom und Onkel Eustaces Schneider.
20. KAPITEL Christliche Krieger, kopulierende Krieger. Und alle diese Kreuzzüge, diese heiligen Kreuzzüge — und darauf das Echo: Lüge, Lüge! Der Schlachtengott auch immer der Schlampengott. Der Gott der großen Bataillone immer und unvermeidlich auch der Gott der großen Bordelle . .. Eustace Barnack brauchte sich nicht mehr anzustrengen, das Lachen zu steigern. Es ertönte nun von selbst, zerschmetterte, was von dieser abscheulichen Stille noch übrig war, verdunkelte und verschluckte das letzte ferne Schimmern von Licht. Das ganze Weltall wackelte vor Belustigung, widerhallte von Ungeheuern Heiterkeitsausbrüchen. Ein ganzer Teil seines intellektuellen Wesens war ihm plötzlich zurückgegeben. Er erinnerte sich seiner Sammlung geschichtlicher Witze. Eine Million Toter und Verwundeter im amerikanischen Bürgerkrieg und die Ansprache von Gettysburgh und dann diese unterwürfigen furchtsamen Neger, die man in den kleinen Städten von Georgia und Louisiana sah. Der Kreuzzug für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und dann der Aufstieg Napoleons; der Kreuzzug gegen Napoleon und dann der Aufstieg des deutschen Nationalismus; der Kreuzzug gegen den deutschen Nationalismus, und dann diese Arbeitslosen, die wie lebende Leichname im Regen an den Ecken ärmlicher Straßen standen. Und dies war Johns Stimme, die ihm da in Erinnerung kam, — bebend vor unterdrückter Begeisterung redete sie vom Ende des Laisser-faire und von Produktion für den Verbrauch und von der Russischen Revolution. Mit andern Worten, die zweieinhalbfache Bevölkerung Londons ausgerottet, damit der einen Gruppe Gewaltmenschen politische Macht genommen und einer andern gegeben würde;
damit der Verlauf der Industrialisierung um ein Weniges beschleunigt und um ein Beträchtliches rücksichtsloser gemacht würde, als er sonst gewesen wäre. “Rückwärts und abwärts, antichristliche Krieger!” Das Gelächter wurde immer lauter. Er war erfüllt von einem Ungeheuern Hochgefühl, von der Glorie der Weltverspottung, der Ekstase der Menschenverachtung. Albernheit und Mord, Dummheit und Zerstörung! Er fand die Phrasen auf ihn warten. Und der Beweggrund war stets Idealismus, die Mittel waren stets Tapferkeit und Treue — die heroische Tapferkeit und die heroische Treue, ohne die die Menschen nie imstande wären, bei ihrem langewährenden Morden und Selbstmorden auszuharren. Und alle diese Wissensschätze, die so ohne jedes Zögern in den Dienst der Leidenschaften gestellt wurden! Alles Genie und alle Intelligenz dem Versuch gewidmet, Ziele zu erreichen, die entweder unmöglich oder teuflisch waren! Alle vom letzten Kreuzzug hinterlassenen Probleme gelöst durch Methoden, die automatisch hundert neue Probleme schufen! Und jedes neue Problem würde einen neuen Kreuzzug verlangen, und jeder neue Kreuzzug hinterließe neue Probleme, damit neue Kreuzzüge sie lösten und vervielfältigten, nach der guten alten Weise. Und dazu noch die Triumphe der Religion und Naturwissenschaft. Der reformierende Protestantismus — der Pate kapitalistischer Ausbeutung. Franz von Assisi, auf wunderbare Weise einen mystischen Leib aufrechthaltend, welcher auch eine politische Organisation und ein Geschäftskonzern war. Faraday und Clerk Maxwell und Hertz, unermüdlich arbeitend, damit der Äther endlich ein Vehikel für Lügen und Stumpfsinn würde. Und dann der Triumph der Bildung — dieser Göttin, der sein armer Vater fünfzigtausend Pfund dargebracht hatte und ein polytechnisches Institut aus gelbglasierten Ziegeln. Schulbildung, zwangsweise und unentgeltlich. Jedermann war lesen gelehrt worden, und das Ergebnis waren Zeitungs-
magnaten wie Northcliffe und seitenfüllende Reklame für Zigaretten und Abführmittel und Whisky. Jeder Mensch ging zur Schule, und überall war die Schulzeit zu einer Vorstufe militärischer Dienstpflicht gemacht worden. Und was für herrliche Ausbildungskurse in Geschichtsfälschung und Selbstbeglückwünschung! Was für eine gründliche Schulung in den Religionen des Nationalismus! Kein Gott mehr; aber einige vierzig unfehlbare Außenämter. Abermals schüttelte sich das ganze Weltall vor Lachen.
21. KAPITEL Es würde bloß ein ganz intimes kleines Abendessen sein; und Eustace war schließlich nur ein angeheirateter, kein Blutsverwandter gewesen. Die Königin-Mutter hatte daher keinen Grund gesehn, ihre Annahme der Einladung Lady Worplesdens zu widerrufen. Und zu Hause zu bleiben, um mit Daisy züsammenzusein, die an diesem Abend einträfe, — der Gedanke kam ihr gar nicht. “Du wirst allein meine Enkelin unterhalten müssen”, verkündete sie Sebastian am Teetisch. “Allein? Aber ich dachte, Mrs. Thwale ...?” “Veronica kommt natürlich mit mir.” Mrs. Thwale warf ein Wort der Beruhigung ein. “Sie werden sie nicht im geringsten einschüchternd finden.” “Einschüchternd!” Der Ton der Königin-Mutter war voll Verachtung. “Sie ist wie Mandelmilchgelee.” “Also wird's keine Entschuldigung fürs Mummeln geben. Oder dafür, gar nichts zu reden”, fügte Mrs. Thwale beiläufig hinzu, während sie nach einem Stück Zucker langte. “Das ist nämlich ein kleiner Fehler von Ihnen, den ich bemerkt zu haben scheine.” “Das erinnert mich”, sagte die Königin-Mutter. “Wie kommt er bei seinen Mummellektionen vorwärts?” “Ich hoffe, er wird Ihnen dieser Tage einmal eine Demonstration geben können”, antwortete Mrs. Thwale ernst. “Eine Demonstration? Was für eine Demonstration?” Es erfolgte nicht sogleich eine Antwort. Sebastian hob die Augen und warf Mrs. Thwale einen angstvoll flehenden Blick zu. Aber das Lächeln, mit dem sie ihn erwiderte, war ein Lächeln völlig unpersönlicher Belustigung — als säße sie bei einer Gesellschaftskomödie im Theater.
“Wie schreiben Sie ein Gedicht?” flüsterte sie fast unhörbar. “Was sagen Sie da?” fragte die Königin-Mutter scharf. Auf dem schrumpeligen Schildkrötenhals wandte sich der Greisinnenkopf mit einer Folge blitzschneller, blinder Bewegungen fragend von einer Seite zur andern. “Was?” “Nicht, bitte, nicht!” flehte Sebastian, indem er die Worte stimmlos mit Lippen formte, die vor Bestürzung zitterten. “Bitte nicht!” Eine gräßliche Sekunde lang wurde er in Ungewißheit gelassen, was sie als nächstes sagen würde. Dann wandte sie sich an Mrs. Gamble. “Ach, nichts”, sagte sie. “Nur ein kleiner, dummer Scherz, den wir miteinander bei unsern Mummellektionen haben.” “Ich hab's nicht gern, wenn Leute kleine Scherze miteinander haben”, schnarrte die alte Frau in grollendem Ton. Mit blicklosen Augen starrte sie gereizt über den Teetisch Mrs. Thwale an. “Ich hab's nicht gern”, wiederholte sie. “Ganz und gar nicht.” Schweigend betrachtete Mrs. Thwale den fossilen Skorpion aus der Steinkohlenzeit. “Es wird nicht wieder vorkommen, Mrs. Gamble”, sagte sie endlich. Aber als sie bedachte, was die unterwürfigen Worte wirklich bedeuteten, leuchteten ihre Augen auf, und um ihre Lippen spielte ein kleines Lächeln heimlichen Triumphs. Am Vormittag hatte ihr ein Expreßbote einen Brief von Paul De Vries gebracht — sechs Seiten maschinegeschriebener Raserei und langer Wörter. Noch kein richtiger Heiratsantrag. Aber es war kaum zu verkennen, daß Mrs. Gamble sich bald eine neue Gesellschafterin suchen müßte. Sie stand auf, trat leise hinter Sebastians Sessel, ergriff eine einzelne seiner skandalös bezaubernden Locken und zog an ihr mit einem kurzen, aber sehr schmerzhaften RißDann ging sie, ohne ihn auch nur mit einem Blick zu streifen,
zu dem Sessel der Königin-Mutter weiter und nahm ihr die Tasse aus den klauenartigen Händen. “Lassen Sie midi Ihnen frischen Tee geben”, sagte sie mit ihrer tiefen melodischen Stimme. Eine andre wäre vielleicht verärgert gewesen, sich auf eine solche nachlässige und unhöfliche Art behandelt zu sehn. Daisy Ockham aber fehlte es so sehr an einem Gefühl ihrer eignen Wichtigkeit, daß sie kaum auch nur überrascht war, als der Butler ihr mitteilte, was Mrs. Gamble ihr hatte sagen lassen. “Meine Großmutter ist zum Dinner ausgegangen”, erklärte sie ihrem Begleiter. “Also werden wir heute abend allein sein.” Der Angeredete neigte den Kopf, und mit einer Aussprache, die verriet, daß er nicht an einer der ehrwürdigeren und kostspieligeren Bildungsstätten erzogen worden war, sagte er, das werde ihm bloß ein Vergnügen sein, dem er gern entgegensehe. Mager, von scharfen Zügen und mittlerem Alter, mit braunem, feucht über eine kleine Glatze zurückgebürstetem Haar, war Mr. Tendring für die Rolle eines hervorragenden Verteidigers oder eines gesuchten Spezialarzts gekleidet, aber leider nicht sehr naturgetreu; denn die dunkle, gestreif te Hose war schon in ihren besten Tagen von schäbigem Stoff gewesen, und der schwarze Rock war unverkennbar fertig gekauft. Nur der steife Kragen erreichte volle Beruf sgemäßheit — er war hoch, hatte ausladende Ecken und eine ungewöhnlich weite Öffnung, aus der Mr. Tendrings Hals mit dem vorstehenden Adamsapfel jämmerlich ausgemergelt und dabei recht unangenehm, fast unanständig nackt hervorsah. Eine schwarze Aktentasche, die offenbar zu Wichtiges enthielt, um dem Diener anvertraut zu werden, der ihm den Überzieher abgenommen hatte, war unter den rechten Arm geklemmt.
“Sie werden wohl vor dem Essen in Ihr Zimmer hinauf -gehn wollen?” sagte Mrs. Ockham. Wieder neigte er den Kopf, diesmal ohne zu sprechen. Als sie beide dem Butler zur Treppe folgten, sah sich Mr. Tendring mit zusammengekniffenen, abschätzenden Augen um — nahm die Säulen und das Tonnengewölbe der Halle zur Kenntnis, schoß durch die hohe Flügeltür einen Blick in die lange, üppige Vista des Salons, gewahrte die Bilder an den Wänden, das Porzellan, die Teppiche. Der Gedanke an das viele Geld, das ausgegeben worden sein mußte, um das Haus zu dem zu machen, was es war, bereitete ihm ein fast sinnliches Vergnügen. Er hegte eine hohe, desinteressierte Achtung für Reichtum, eine zärtliche und bewundernde Liebe für Geld als solches und ohne Beziehung auf sich oder seine unmittelbaren Bedürfnisse. Von dieser exotischen und unvertrauten Pracht umgeben, fühlte er keinen Neid; nur Verehrung, gemischt mit einer heimlichen Befriedigung, daß er, der Sohn des Grünzeughändlers, der ehemalige Bürolehrling, sich dieser Pracht nun von innen erfreute, als Gast, als unentbehrlicher finanzieller Berater, Steuersachverständiger und Buchhalter ihrer neuen Eigentümerin. Plötzlich entspannte sich das graue, scharfgeschnittene Gesicht, und wie ein Schuljunge, dem es gelungen ist, seine Kameraden zu übertrumpfen, grinste Mr. Tendring beinahe. “Das ist ja ein richtiges Palais”, sagte er zu Mrs. Ockham und ließ dabei zwei Zahnreihen sichtbar werden, die der Vorstadtzahntechniker so gleißend perlig gemacht hatte, daß sie sogar im Mund eines Revuegirls unwahrscheinlich ausgesehn hätten. “Ja”, sagte Mrs. Ockham zerstreut, “ja.” Sie dachte, wie ergreifend vertraut ihr alles zu sein schien. Als wäre es erst gestern gewesen, daß sie ein Schulmädchen war, das jede Weihnachten und Ostern nach Florenz kam, um hier die Ferien zu verbringen. Und nun waren alle die andern tot. Zuerst ihr Vater; so alt und
ehrfurchtsgebietend, so hoch gewachsen, mit so buschigen Augenbrauen und so entrückt eingesponnen, daß sein Hingang wirklich gar keinen Unterschied gemacht hatte. Dann aber ihre Mutter; und für Daisy Ockham war ihre Mutter zweimal gestorben — das eine Mal, als sie Eustace heiratete, und das andre Mal, für immer, fünf Jahre später. Und nach Überwindung dieses Seelenleids hatte sie selbst geheiratet, und es waren die Jahre der Glückseligkeit mit Francis und dem kleinen Frankie gekommen. Nahezu vierzehn Jahre reichsten, intensivsten Lebens. Und dann waren die beiden an einem herrlichen Ferienmorgen, als die Möven schrien und die Luft voll von windverwehter Sprühe war und die großen grünen, glasigen Wellen längs des Strands zu Schaum explodierten, zum Baden hinuntergegangen; Vater und Sohn, des Mannes Hand auf des Knaben Schulter, im Gehn miteinander scherzend. Eine halbe Stunde später, als sie ihnen mit der Thermosflasche voll heißer Milch und den Keks an den Strand hinunter folgte, begegnete sie den Fischern, die die beiden Leichen vom Wasser herauftrugen ... Und nun der arme Eustace, den ihre Mutter geliebt und den sie selbst, aus diesem Grund, leidenschaftlich gehaßt hatte. Aber dann war ihre Mutter gestorben, und Eustace hatte sich aus ihrem Leben entfernt. Er war ein Zufallsbekannter geworden, dem sie gelegentlich in andrer Leute Häusern begegnete, — und etwa einmal im Jahr, wenn es Geschäftliches zu besprechen gab, trafen sie einander nach Verabredung beim Anwalt, und dann führte er sie, sobald alles erledigt war, gewöhnlich zum Lunch ins Savoy, und sie hörte da seiner sonderbaren, verwirrenden Art zu reden zu, die so völlig anders war, als alles, was sie daheim hörte, aber sie mußte lachen und sagte sich, daß er bei alledem wirklich sehr nett sei auf seine komische Art, wirklich sehr nett und sehr gescheit, und es schade sei, daß er nicht irgend etwas anfing mit seiner vielseitigen Begabung und all dem vielen Geld. Ja, nun war er tot, und all das viele Geld gehörte ihr
— all das Geld und damit auch all die Verantwortung, es so zu verwenden, wie es verwendet werden sollte, wie es Gottes Wille wäre, daß es verwendet würde. Beim bloßen Gedanken an die künftige Bürde seufzte Mrs. Ockham tief. Dieses Haus zum Beispiel — was sollte sie nur damit anfangen? Und die vielen Dienstboten? Es mußten ihrer ein Dutzend sein. “Es kam schrecklich plötzlich”, sagte sie auf italienisch zu dem Butler, als sie die Stiege hinaufzugehn begannen. Der Mann schüttelte den Kopf, und ein Ausdruck echter Trauer erschien auf seinem Gesicht. Der signore sei so gut gewesen, tanto buono, tanto buono. Tränen standen ihm in den Augen. Mrs. Ockham war gerührt. Und doch konnte sie diese vielen Dienstboten einfach nicht alle behalten. Vielleicht ihnen einen Jahreslohn anbieten, sobald sie ihnen kündigte, — oder besser einen Jahreslohn und das Geld für die Verpflegung ... Aber Mr. Tendring würde das nie erlauben. Sie warf einen furchtsamen Blick auf das graue Gesicht mit der scharfen Nase und dem verpreßten, beinahe lippenlosen Mund. Nie, sagte sie sich abermals, nie. Und schließlich war das ja, wofür er da war, — sie in Zaum zu halten, sie davor zu bewahren, irgend etwas allzu Dummes zu tun. Sie erinnerte sich, was Kanonikus Cresswell ihr immer einhämmerte. “Zu einem Schwindel gehören zwei — der Schwindler und die Person, die sich beschwindeln läßt. Wenn Sie sich zu der hergeben, machen Sie sich zur Anstifterin des Verbrechens — Sie führen einen Unschuldigen in Versuchung. Also tun Sie's nicht. Tun Sie's nicht!” Goldeswerter Rat — aber wie schwer es ihr geworden war, ihm zu folgen! Und nun, da sie statt ihrer schon allzu auskömmlichen jährlichen zwölf hundert Pfund sechstausend haben würde und dazu ein ganzes Vermögen an Gebäuden und Möbeln und Kunstwerken, wäre es sogar noch schwerer, denn sie sähe sich um so viel mehr ausgestreckten Händen
gegenüber. Sie hatte Mr. Tendring abgesehn von andern Gründen, angestellt, damit er sie vor ihrer eigenen Sentimentalität schütze. Und doch konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, daß die Dienstboten außer dem Jahreslohn auch das Geld für die Verpflegung bekommen sollten. Es war doch schließlich nicht die Schuld dieser armen Leute, daß Eustace so plötzlich gestorben war; und einige von ihnen waren seit Jahren und Jahren bei ihm gewesen ... Sie seufzte abermals. Wie schwer, zu wissen, was recht war! Und dann, wenn man es wußte, mußte man nach diesem Wissen handeln. Das war ziemlich leicht, wenn niemand außer einem selbst davon betroffen wurde. Meist aber konnte man nicht tun, was recht war, ohne fast ebensovielen Leuten wehzutun, wie man wohltat. Und dann ließen ihre Enttäuschung und ihre Verbitterung einen zweifeln, ob man wirklich recht getan hatte. Und dann begann das ganze Hin-und-her-Überlegen von neuem. Eine halbe Stunde später, erfrischt durch ein heißes Bad und einen Kleiderwechsel, betrat Mrs. Ockham den Salon. Sie hatte erwartet, daß sie hier allein sein werde; und als aus den Tiefen eines der riesigen chintzüberzogenen Fauteuils eine kleine Gestalt plötzlich die Beine vorstreckte und achtungsvoll aufsprang, stieß sie einen fast erschrockenen Ruf der Überraschung aus. Schüchtern näherte sich die Gestalt, und als sie in Sehweite ihrer ziemlich kurzsichtigen Augen kam, erkannte Mrs. Ockham den Buben, den sie in der Bezirksbibliothek Hampstead angesprochen hatte; der sie an ihren Frankie erinnert hatte; der, wie ihr herzzerreißend geschienen hatte, tatsächlich Frankie war; der ihr kleiner Liebling war, wie er geworden wäre, wenn sie ihn noch ein paar Jahre hätte behalten dürfen ... Wie oft hatte sie sich seit dieser zufälligen Begegnung vor zwei Wochen Vorwürfe gemacht, daß sie nicht die Geistesgegenwart gehabt hatte, ihn zu
fragen, wie er heiße und wo er wohne! Und nun stand er unglaublicherweise hier in Eustaces Salon. “Sie?” flüsterte sie fassungslos. “Aber ... aber, wer sind Sie?” Der lebendige Geist Frankies lächelte sie schüchtern an. “Ich bin Sebastian”, antwortete er. “Onkel Eustace ist... mja, er war mein Onkel”, schloß er lahm. Plötzlich und recht schwerfällig — denn sie fühlte sich seltsam schwach in den Knien — setzte sich Mrs. Ockham auf den nächststehenden Sessel. Noch einen Augenblick, und sie wäre vielleicht ohnmächtig geworden. Sie schloß die Augen und tat ein paar tiefe Atemzüge. Es entstand ein langes Schweigen. Verlegen und unbehaglich trat Sebastian von einem Fuß auf den andern und fragte sich, ob er dicht etwas sagen sollte — “So ein komischer Zufall!” oder: “Das war schrecklich gute Schokolade, die Sie mir geschenkt haben.” Aber sie hatte ja ihren Sohn verloren; darüber sollte er etwas sagen. “Ich hatte damals gar nicht Zeit, Ihnen zu sagen, wie leid es mir tut.” Aber das war auch nicht das Richtige, denn man konnte ja sehn, wie verstört sie offenbar war, das arme Ding. Mrs. Ockham blickte auf. “Die Hand der Vorsehung”, sagte sie leise. Es standen Tränen in ihren Augen, doch dabei lächelte sie — ein Lächeln, das das weiche, stumpfe Gesicht verklärte, es fast schön machte. “Gott will ihn mir wiedergeben.” Sebastian wand sich. Dies war wirklich gräßlich! Gott wollte ihr ihren Frankie wiedergeben, dachte Mrs. Ockham; ja, und vielleicht sich selbst ihr wiedergeben. Denn Frankie war das lebendige Sakrament gewesen, die Offenbarung, das unmittelbare Erlebnis der Gottheit. “Gott ist die Liebe”, sagte sie leise. “Aber was ist Liebe? Ich hab's nie gewußt, erst bis mein kleiner Bub geboren war. Dann begann ich zu lernen. Und jeden Tag hab ich
ein bißchen mehr gelernt. Verschiedene Formen von Liebe, tiefere Innigkeiten — jeden Tag, fast vierzehn Jahre lang.” Sie schwieg wieder und dachte an jenen windigen Sommermorgen und die Fischer, die sich langsam den Strand heraufmühten; sie erinnerte sich jener ersten Wochen fast wahnsinniger, empörerischer Verzweiflung und dann der Monate der Leere: erstarrt, hoffnungslos, halb tot. Kanonikus Cresswell war es gewesen, der sie ins Leben zurückbrachte. Nach dem Unglück hatte sie sich geweigert, ihm in die Nähe zu gehn. Gegen ihr besseres Wissen — denn sie wußte im Herzen, daß er ihr helfen konnte, und wollte sich doch nicht helfen lassen; sie wollte leiden, in Einsamkeit, immerdar. Dann fand Mrs. Cresswell irgendwie heraus, wo sie sich aufhielt; und eines regnerischen Novembernachmittags standen die beiden plötzlich vor ihr auf der Schwelle des ungemütlichen kleinen Häuschens, das sie sich zum Versteck gewählt hatte. Und statt ihr sein Beileid auszusprechen, mit ihr ihre Tragödie zu bejammern, statt ihr mitfühlend zu sagen, wie schlecht sie aussehe, zwang Kanonikus Cresswell sie, sich hinzusetzen und zuzuhören, wie er sie eine feige, sich selbst nachgebende Gefühlsschwelgerin nannte, eine Meuterin gegen Gottes Vorsehung, eine eigenwillige Sünderin, die der unentschuldbarsten Verzweiflung schuldig sei. Eine Stunde später half Mrs. Cresswell ihr das Häuschen in Ordnung bringen und die Koffer packen. Schon am Abend dieses Tags war sie wieder in dem Freizeitheim für junge Mädchen, und am nächsten Tag, einem Sonntag, ging sie zur Frühkommunion. Sie war ins Leben zurückgekehrt — aber es war ein verringertes Leben. In der Vergangenheit war Gott fast jeden Tag mit ihr gewesen. Zum Beispiel, wenn sie Frankie Gutenachtsagen gekommen war und er aus dem Bett stieg und sich hinkniete in seinem rosa Schlafanzug und sie miteinander das Vaterunser beteten — da war Er dagewesen, Unser Vater in dem Himmel ihrer Liebe. Nun aber vermochte nicht einmal die Kommunion
Ihn ihr nahezubringen. Und obgleich sie die armen Kinder in dem Heim liebhatte, obgleich sie bereit war, nun viel mehr für sie zu tun als früher, wo ihre Arbeit nur ein Dankopfer für so viel Glückseligkeit gewesen war, war nun das alles doch nur ein Zweitbestes; es gab niemand, der Frankies Stelle ausfüllte. Sie hatte gelernt, den Willen Gottes hinzunehmen; aber es war der Wille jemandes in der Ferne — der sich entzog, nicht sich enthüllte. Mrs. Ockham nahm ein Taschentuch aus ihrem Handtäschchen und wischte sich die Augen. “Ich weiß, Sie halten mich für eine schrecklich sentimentale Person”, sagte sie mit einem kleinen Lachen. “Nicht im geringsten”, widersprach Sebastian höflich. Aber dies eine Mal zumindest hatte die Königin-Mutter recht gehabt: Mandelmilchgelee war das richtige Wort für sie. “Sie sind vermutlich der Sohn Johns?” Er nickte. “Dann ist Ihre ... deine Mutter ...” Mrs. Ockham ließ den Satz unvollendet. Aber ihr Ton und der Ausdruck von Betrübnis, der in ihren grauen Augen erschien, deuteten genügend an, was sie hatte sagen wollen. “Ja, sie ist tot”, erwiderte Sebastian. “Deine Mutter tot”, wiederholte sie langsam. Aber sich den armen kleinen Frankie nur vorzustellen, ganz allein in einer rauhen, gleichgültigen Welt, und niemand, der ihn liebhatte, wie sie allein fähig war, ihn liebzuhaben! Zu der Liebe in ihrem Herzen fügte sich ein überwältigendes Mitleid. Mandelmilchgelee, dachte Sebastian. Mandelmilchgelee mit Jesussoße. Dann kam zu seiner großen Erleichterung der Butler herein und meldete, daß das Dinner aufgetragen sei. Mit einem Seufzer steckte Mrs. Ockham ihr Taschentuch weg und sagte dann dem Mann, er solle es auch dem
signore melden. Sie wandte sich wieder an Sebastian und begann, Mr. Tendring zu erklären. “Du wirst finden, daß er ein wenig ... na, du weißt schon, nicht ganz ...” Die wegwerfende Geste deutete zur Genüge an, was er nicht ganz war. “Aber darunter eine gute Seele”, beeilte sie sich hinzuzufügen. “Er ist Unitarier, und er hat zwei Kinder. Und er zieht Tomaten in dem süßesten kleinen Glashaus in seinem Hintergarten. Und in geschäftlichen Dingen — also ich weiß nicht, was ich diese letzten fünf Jahre ohne ihn angefangen hätte. Darum habe ich ihn aufgefordert, jetzt mit mir herzukommen, — um mit alledem hier fertigzuwerden.” Mit einer schlaffen Bewegung allumfassender Untüchtigkeit wies sie auf Eustaces Kunstschätze. “Ich wüßte nicht einmal, wo beginnen”, schloß sie verzagt. Der Klang von Schritten ließ sie sich umwenden. “Ah, ich habe grade von Ihnen gesprochen, Mr. Tendring. Ich habe Sebastian — er ist übrigens Mr. Barnacks Neffe — soeben gesagt, wie völlig verloren ich wäre ohne Sie.” Mr. Tendring quittierte das Kompliment mit einer leichten Verneigung, schüttelte Sebastian schweigend die Hand, wandte sich dann von ihm ab und entschuldigte sich bei Mrs. Ockham dafür, daß er sie hatte warten lassen. “Ich legte einen Katalog der Einrichtung meines Zimmers an”, erklärte er; und als Bestätigung seiner Worte zog er ein kleines schwarzes Notizbuch aus der Seitentasche seines Rocks und hielt es zur Besichtigung hoch. “Einen Katalog?” wiederholte Mrs. Ockham mit einigem Erstaunen, während sie sich von ihrem Sessel erhob. Mr. Tendring machte seine verpreßten Lippen noch schmäler und nickte gewichtig. In der weiten Öffnung seines anwältlich steifen Kragens regte sich der Adamsapfel wie ein von eigenem, spasmodischem Leben erfülltes Ding. Wohlüberlegt und in den Phrasen geschäftlicher Korrespondenz und gerichtlicher Aktenstücke begann er zu sprechen.
“Sie haben mich davon unterrichtet, Mrs. Ockham, daß der verstorbene Eigentümer keine Versicherung gegen Feuer oder gegen Diebstahl eingegangen war.” Überraschenderweise stieß Mrs. Ockham ein kleines, üppig sprudelndes Lachen aus. “Er hat immer gesagt, er kann es sich nicht leisten. Wegen des hohen Zolls auf Havannazigarren.” Sebastian lächelte; Mr. Tendring aber zog die Brauen zusammen, und der Adamsapfel stieg und fiel heftig, als wäre auch er schockiert von einer solchen Lästerung weiser Voraussicht. “Für meine Person”, sagte er streng, “bin ich nicht dafür, über so ernste Dinge zu spaßen.” Mrs. Ockham beeilte sich, ihn zu beschwichtigen. “Ganz recht”, sagte sie, “ganz recht. Aber ich sehe nicht ein, was das mit Ihrem Anlegen eines Katalogs zu tun hat, daß er nicht versichert war.” Mr. Tendring gestattete sich ein Lächeln. Die RevuegirlZähne blinkten triumphierend. “Letztere Tatsache”, sagte er, “stellt einen präsumptiven Beweis dafür dar, daß der Verblichene sich nie die Anlegung eines Inventars seines persönlichen Eigentums angelegen sein ließ.” Er lächelte abermals, offenbar entzückt von der Schönheit seiner Ausdrucksweise. “Also das ist's, was Sie in ihr schwarzes Büchlein einschreiben?” sagte Mrs. Ockham. “Ist es wirklich notwendig?” “Notwendig?” wiederholte Mr. Tendring fast entrüstet. “Es ist eine sine qua non.” Das war endgültig und zermalmend. Nach einem kleinen Schweigen schlug Mrs. Ockham vor, zum Essen hineinzugehn. “Willst du mich nicht zu Tisch führen, Sebastian?” fragte sie. Sebastian bot ihr zuerst den falschen Arm und war schrecklich verlegen und beschämt, als Tante Daisy lächelte
und ihm sagte, er solle auf die andre Seite herüberkommen. Sich so zu blamieren vor diesem gräßlichen kleinen Proleten ... “Zu dumm von mir”, murmelte er. “Ich weiß es ganz gut, wirklich.” Aber Mrs. Ockham war bezaubert. “Genau wie Frankie!” rief sie entzückt. “Frankie hat sich nie merken können, welchen Arm man der Dame reicht.” Sebastian sagte nichts; aber er begann Frankie satt zu kriegen. Vertraulich drückte ihm Mrs. Ockham den Arm, während sie miteinander ins Eßzimmer gingen. “Was für ein glücklicher Zufall, daß die andern ausgegangen sind an unserm ersten Abend!” sagte sie, fügte aber schnell hinzu: “Nicht, daß ich die arme liebe Großi nicht sehr gern habe. Und Veronica ist so ...” Sie zögerte, weil sie sich erinnerte, wieviel Sorge den Cresswells der beunruhigende Geist gemacht hatte, der aus den stillen, glänzenden Augen der Tochter zu gucken begann, noch bevor die aufgehört hatte, Hängezöpfe zu tragen. “So hübsch und gescheit”, schloß sie den Satz. “Aber trotz alledem bin ich schrecklich froh, daß sie nicht hier sind. Ich hoffe, du bist's auch?” fügte sie hinzu, ihn verschmitzt anlächelnd. “Oh, sehr”, antwortete Sebastian ohne viel Überzeugung.
Aber schließlich, so mußte er sich, lange bevor der Abend vorbei war, eingestehn, war sie gar keine so üble alte Schachtel. Bißchen Mandelmilchgelee, natürlich; aber wirklich sehr anständig. Sie wollte ihm alle Bände griechischer und lateinischer Klassiker schenken, die ihr Mann in seiner Bibliothek gehabt hatte. Und die Donne-Ausgabe der Oxford Press. Und Saintsburys zwei Bände Kleinere Dichter der Stuartzeit. Und sie war nicht nur gütig — sie war gar nicht so dumm. Allerdings, sie hatte eingestanden, daß sie “Verweil bei mir” nie singen könne, ohne zu weinen; aber sie liebte auch George Herberts Gedichte. Und obgleich sie die rasendmachende Gewohnheit hatte, von jedem Menschen, den sie kannte, als dem “lieben guten Sound-so” zu reden oder im allerschlimmsten Fall und unbarmherzigst als dem “armen lieben”, besaß sie recht viel Sinn für Humor, und einige der Anekdoten, die sie erzählte, waren wirklich sehr komisch. Ihre wertvollste Eigenschaft aber war die, daß sie einem nie ein Gefühl der Schüchternheit gab. In dieser Hinsicht war sie wie Onkel Eustace; und bei beiden, so schien es Sebastian, lag das Geheimnis in einem gewissen Fehlen von Anmaßung, einer Zurückhaltung davon, auf Rechten oder Privilegien oder Würde zu bestehen. Wogegen diese teuflische alte Königin-Mutter nur allzusehr auf ihrer Würde bestand; die ging darauf aus, auf der andrer Leute herumzutrampeln. Und verfeinerter tat Mrs. Thwale, so begehrenswert sie auch war, dasselbe. Es war, als gebrauchte sie einen stets auf die eine oder andre Weise zur Förderung ihrer ganz persönlichen Zwecke — und diese Zwecke waren beunruhigend rätselhaft und unvorhersagbar. Bei Tante Daisy dagegen war er selber der Zweck, und sie verlangte
von ihm nur, daß er ihr erlaube, das anbetende Mittel zu seiner eigenen Verherrlichung zu sein. Und das war wirklich sehr angenehm. So angenehm sogar, daß Sebastian bald mehr tat, als ihr gegenüber bloß nicht schüchtern zu sein. Er begann sich aufzuspielen und seine Ansichten mit apodiktischer Gewißheit zu verkünden. Mit Ausnahme von Susan — und Susan zählte nicht wirklich — hatte er nie jemand gekannt, der bereit war, so achtungsvoll zuzuhören, was er zu sagen hatte. Von ihrer Bewunderung angeregt und ganz unbehindert durch Mr. Tendring, der auch nicht eine Silbe einwarf und einen seine Anwesenheit völlig vergessen ließ, wurde er, besonders nach seinem zweiten Glas Wein, außerordentlich gesprächig. Und wenn eigne Einfälle ihn im Stich ließen, zögerte er nicht, bei Onkel Eustace Anleihen zu machen. Seine Bemerkungen über die innere Verwandtschaft des mittvictorianischen englischen mit dem italienischen Primitivismus wurden für sehr originell und brillant gehalten. Immerhin, auch als der Wein ihm Mut gemacht und seine Zurückhaltung überwunden hatte, wagte er es nicht, zu wiederholen, was Onkel Eustace im Zusammenhang mit Pieros Venus und ihrem Adonis gesagt hatte. Es war Mrs. Ockham, die schließlich das Schweigen brach, das sich auf sie beide gesenkt hatte, als sie nach dem Essen vor dem Bild standen und es betrachteten. “Die Kunst ist doch etwas Sonderbares”, sagte sie, den Kopf schüttelnd. “Wirklich sehr sonderbar, manchmal.” Sebastian sah sie mit einem belustigten und bedauernden Lächeln an. Ihre Bemerkung hatte ihm das Gefühl köstlicher Überlegenheit gegeben. “Kunstwerke sind keine Sittenpredigten”, sagte er anzüglich. “Oh, das weiß ich, das weiß ich”, stimmte ihm Mrs. Ockham bei. “Aber dennoch ...” “Aber dennoch was?” “Nun, warum sich so viel mit so etwas abgeben?”
Sie hatte sich nicht abgegeben—außer, natürlich, negativ, insofern sie stets gefühlt hatte, daß die ganze Sache etwas durchaus Unangenehmes sei. Und nach all den unbestimmten, aber furchterweckenden Warnungen ihrer Mutter vor dem männlichen Ges'chlecht war sie nur froh gewesen, daß sich ihr geliebter Francis wirklich sehr wenig abgegeben hatte. Warum also fanden andre Leute es nötig, soviel darüber nachzudenken und zu reden, alle diese Bücher und Gedichte zu schreiben und solche Bilder zu malen wie dieses, das sie da betrachteten? Bilder, die man, wenn sie nicht hohe Kunst wären, nicht im Traum in einem anständigen Haus dulden würde, wo unschuldige Buben wie Frankie, wie Sebastian hier ... “Manchmal”, fuhr sie fort, “kann ich einfach nicht verstehn -” “Entschuldigen Sie”, unterbrach Mr. Tendring sie und drängte sich zwischen die beiden und die mythologischen Nuditäten. Erst horizontal und dann vertikal legte er ein Meßband an das Gemälde. Dann nahm er den Bleistift aus den perligen Zähnen und machte eine Eintragung in sein Notizbuch. Ölgemälde: Antonius und Kleopatra. Antik. 41 Zoll X 20 1/2 Zoll. Gerahmt. “Danke”, sagte er und ging weiter, zu dem Seurat. Sechsundzwanzig mal sechzehn; und der Rahmen, statt vergoldet und echt handgeschnitzt, ein ganz billig aussehender, in verschiedenen Farben bemalt wie eins dieser getarnten Schiffe während des Kriegs. Mrs. Ockham setzte sich mit Sebastian auf das Sofa, und während sie den Mokka tranken, begann sie ihn über seinen Vater auszufragen. “Er hat sich nicht sehr gut mit dem armen lieben Eustace vertragen, nicht wahr?” “Er haßte Onkel Eustace.” Mrs. Ockham war entsetzt. “So etwas darfst du nicht sagen, Sebastian.” 254
“Aber es ist wahr”, beteuerte er. Und als sie begann, es alles mit ihrem weichen, sentimentalen Mandelmilchgelee zu ersticken, und drauflosmuhte, daß Brüder vielleicht nicht immer einer Meinung seien, aber nie einander haßten, nie wirklich vergäßen, daß sie Brüder seien, — begann er sich zu ärgern. “Du kennst meinen Vater nicht”, stieß er hervor. Und das Heldenporträt ganz vergessend, das er für Gabriel Greuil entworfen hatte, legte Sebastian mit einer erbitterten Schilderung von John Barnacks Charakter und Benehmen los. Sehr betrübt versuchte Mrs. Ockham ihn zu überzeugen, daß es alles einfach nur ein Mißverständnis sei. Wenn er älter würde, begriffe er, daß sein Vater stets in der besten Absicht handle. Aber diese wohlgemeinten Beschwichtigungen bewirkten nur, daß Sebastian zu einer immer maßloseren Ausdrucksweise angeregt wurde. Und dann wurde durch einen ganz natürlichen Übergang sein Groll zu einer Klage. Er tat sich plötzlich außerordentlich leid und begann das auch zu sagen. Mrs. Ockham war gerührt. Sogar wenn John Barnack nicht so schlecht war, wie er gemalt worden, sogar wenn er nicht schlechter war als ein vielbeschäftigter Mann mit rauhem Wesen und keiner Zeit für Herzensregungen, wäre das ganz genug, ein zartbesaitetes Kind unglücklich zu machen. Mehr als je fühlte sie sich, während sie Sebastian zuhörte, davon überzeugt, daß Gott es gewesen war, der sie beide zusammengeführt hatte, den armen, mutterlosen Buben, die arme Mutter, die ihr Kind verloren hatte, — sie zusammengeführt hatte, damit sie einander helfen sollten und, indem sie einander halfen, gestärkt würden, Gottes Werk in dieser Welt zu tun. Mittlerweile hatte Sebastian begonnen, die Geschichte von dem Abendanzug zu erzählen. Mrs. Ockham erinnerte sich, wie anbetungswürdig Frankie in dem Dinnerjackett ausgesehn hatte, das sie ihm zum dreizehnten Geburtstag schenkte. So erwachsen und so
rührend kindlich. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Indessen aber schien es wirklich hart für den armen Sebastian zu sein, daß sein Vater ihn einem bloßen politischen Vorurteil aufopferte. “Oh, wie gütig von dem lieben Eustace, ihn dir zu schenken!” rief sie, als er in seiner Erzählung so weit gekommen war. Sebastian war gekränkt durch diesen Ton von Ende-gutalles-gut, in dem sie das sagte. “Onkel Eustace hat ihn mir nur versprochen”, entgegnete er düster. “Dann ... mja, dann ist das geschehn.” “Also hast du ihn gar nicht bekommen?” Er schüttelte den Kopf. “Armer Kerl, du hast wirklich Pech!” Für Sebastian, in seiner Stimmung von Selbstbedauern, war es Balsam, sich so bemitleidet zu hören. Sich in diesem Ton sagen zu lassen, daß er wirklich Pech gehabt hatte, war so köstlich, daß es fast ein Sakrileg gewesen wäre, die Handzeichnung zu erwähnen, die zweitausendzweihundert Lire, den Besuch beim Schneider. Ja, der Gedanke kam ihm gar nicht, daß er das alles erwähnen sollte. Wie seine Stimmung und seine Gefühle gegenwärtig waren, erschien ihm das alles dermaßen belanglos, daß es so gut wie gar nicht existierte. Plötzlich aber trat es in den Vordergrund der unmittelbaren Wirklichkeit hervor. Mrs.Ockham neigte sich zu ihm und legte ihm die Hand aufs Knie; ihr sanftes, abgeplattetes Gesicht war von einem Lächeln inniger, sehnsüchtiger Zärtlichkeit verklärt. “Sebastian, ich möchte dich bitten, mir einen großen Gefallen zu tun.” Er lächelte bezaubernd und zog fragend die eine Braue hoch. “Eustace hat dir ein Versprechen gegeben”, erklärte sie. “Ein Versprechen, das er nicht mehr einlösen konnte. Aber ich kann es einlösen. Willst du mir das erlauben, Sebastian?”
Er sah sie einen Augenblick an, ungewiß, ob er sie richtig verstanden hatte. Dann, als ihm klar wurde, daß ihre Worte nur den einen Sinn haben konnten, stieg ihm jäh das Blut in die Wangen. “Du meinst ... den Abendanzug?” Er wandte verwirrt den Blick ab. “Ich möchte es so gern tun”, sagte sie. “Es ist schrecklich nett von dir”, stammelte er. “Aber, wirklich, ich ...” “Es war ja ein letzter Wunsch des armen Eustace.” “Ich weiß, aber .. . ” Er zögerte und fragte sich, ob er ihr von der Handzeichnung erzählen solle. Aber sie dächte vielleicht, wie dieser Mensch, dieser Greuil, offenbar gedacht hatte, daß er sie nicht verkaufen hätte sollen — nicht so schnell, nicht gleich nach dem Begräbnis. Und ihr konnte er nicht sagen, daß es einer Ehrenschuld wegen geschah. Obendrein, wenn er die Zeichnung überhaupt erwähnen wollte, hätte er das schon längst tun müssen. Sie jetzt zu erwähnen, hieße zugeben, daß er unter falschen Vorspiegelungen Tante Daisys Mitgefühl genossen und ihre Freigebigkeit herausgefordert hatte. Und als was für ein Narr stünde er da und auch als was für ein Schwindler! “Schließlich”, sagte Mrs. Ockham, die sein Zögern einer ganz verständlichen Scheu zuschrieb, ein Geschenk von einer ihm so gut wie Fremden anzunehmen, “schließlich gehöre ich ja wirklich zur Familie. Eine Stiefcousine ersten Grads, genau gesagt.” Wie zartfühlend er war! Liebevoller denn je lächelte sie ihn an. Aus der Tiefe seines Unbehagens versuchte Sebastian ihr Lächeln zu erwidern. Es war nun zu spät für eine Erklärung. Es blieb nichts übrig, als vorwärts- und darauf einzugehn. “Ja, wenn du wirklich glaubst, daß es recht ist?” sagte er. “Oh, gut, gut!” rief Mrs. Ockham. “Dann wollen wir
zusammen zum Schneider gehn. Das wird ein großer Spaß werden, nicht?” Er nickte und sagte, es werde ein großer Spaß werden. “Es muß aber der beste Schneider in der Stadt sein.” “Ich hab einen in der Via Tornabuoni bemerkt”, sagte er, entschlossen, sie unbedingt von dem Laden beim Dom fernzuhalten. Aber was für ein Narr er gewesen war, in solcher Eile zu sein, die Zeichnung loszuschlagen! Statt sich Zeit zu lassen und abzuwarten, was sich ergeben würde. Und jetzt stand er da — mit zwei Abendanzügen. Und es ginge nicht einmal, sich den einen für später aufzuheben. In zwei, drei Jahren hätte er beide ausgewachsen. Na, schließlich kam es nicht wirklich darauf an. “Wenn wir wieder in London sind”, sagte Mrs. Ockham, “wirst du hoffentlich manchmal in deinem Abendanzug zu mir zum Dinner kommen.” “Furchtbar gern”, erwiderte er höflich. “Du wirst meine Entschuldigung dafür sein, zu allen Theaterstücken und Konzerten zu gehn, zu denen ich nie allein ginge, weil ich nicht das Herz oder die Energie dazu hätte.” Theater und Konzerte ... Seine Augen leuchteten auf bei der Aussicht. Sie begannen von Musik zu sprechen. Tante Daisy schien zu Lebzeiten ihres Mannes eine große Konzertbesucherin gewesen zu sein; sie war nach Salzburg gefahren, um Mozart und die Modernen, nach Bayreuth, um Wagner, nach Mailand, um Othello und Falstaß zu hören. Alledem hatte Sebastian nur einige armselige Abende in der Queen's Hall gegenüberzustellen. Schier aus Notwehr sah er sich gezwungen, sich mit einer Art von prahlerischem Besitzerstolz über das wundervolle Spiel eines Pianisten zu verbreiten, eines alten Freundes, der sich zwar schon vom Konzertpodium zurückgezogen habe, aber noch immer so brillant spiele wie nur je, — ein gewisser Dr. Pfeiffer; sie
habe wahrscheinlich von ihm gehört. Nicht? Aber zu seiner Zeit sei er eine europäische Berühmtheit gewesen. Im Hintergrund hatte mittlerweile Mr. Tendring alle Gemälde gemessen und arbeitete sich nun durch das Porzellan, den Jade und das Elfenbein durch. Tausende von Pfunden, sagte er sich von Zeit zu Zeit und kostete wollüstig die Phrase aus, Tausende von Pfunden ... Er fühlte sich außerordentlich glücklich. Um ein Viertel nach zehn entstand plötzlich ein kleiner Aufruhr in der Halle, und einen Augenblick später erklang wie von einem gespenstischen Exerzierplatz die Stimme der Königin-Mutter. “Da ist die arme liebe Großi!” rief Mrs. Ockham, Sebastian mitten in einem Satz unterbrechend. Sie stand auf und eilte zur Tür. In der Halle hatte die Kammerjungfer Mrs. Gamble den Umhang abgenommen und war grade dabei, ihr den Zwergspitz einzuhändigen. “Kleiner Foxi-Woxi!” rief die Königin-Mutter. “Hat er seine alte Großi-Woßi vermißt? Ja? hat er sie vermißt?” Foxi VIII. leckte ihr das Kinn und richtete dann sein Gekläff gegen die Hinzutretenden. “Meine liebe Großi!” Glitzernd wie ein ganzer Kronleuchter aus Diamanten, schwang Mrs. Gamble dahin herum, woher die Stimme kam. “Bist du das, Daisy?” schnarrte sie. Und als Mrs. Ockham bejaht hatte, hielt sie ihr eine welke, ziegelrote Wange hin und senkte dabei Foxi außer Beißweite, damit ihre Enkelin während der pflichtgemäßen Begrüßung in Sicherheit sei. Mrs. Ockham küßte sie und blieb unversehrt. “Wie ich mich freue, dich zu sehn!” sagte sie in das Gekläff hinein. “Warum ist deine Nase so kalt?” fragte die KöniginMutter scharf. “Du bist doch nicht etwa erkältet, hoffe ich?” Mrs. Ockham beteuerte ihr, daß sie sich nie wohler gefühlt habe, und wandte sich dann an Mrs. Thwale, die
ein wenig abseits stehngeblieben war, eine schweigende, aufmerksame, lächelnde Zuschauerin. “Und die liebe kleine Veronica”, sagte sie und streckte ihr beide Hände hin. Mrs. Thwale fiel auf das Stichwort ein, indem auch sie beide Hände ausstreckte. “Und sie ist schöner denn je!” rief Mrs. Ockham in einem Ton herzlichster Bewunderung. “Also, Daisy”, schnarrte die Königin-Mutter, “hör um Himmels willen auf, so daherzureden wie ein überspannter Backfisch!” Zu hören, wie in ihrer Gegenwart andern Leuten Komplimente gezollt wurden, war ihr zuwider. Aber statt den Wink zu beachten, machte Mrs. Ockham ihr Vergehn mir noch schlimmer. “Das tu ich gar nicht”, widersprach sie, während sie ihre Großmutter beim Arm nahm und zur Salontür steuerte. “Es ist einfach die Wahrheit.” Die Königin-Mutter schnaubte ärgerlich. “Ich hab Veronica noch nie so strahlend aussehend gefunden wie heut abend”, fügte Mrs. Ockham hinzu. Nun, wenn das wahr war, dachte Mrs. Thwale, während sie den andern folgte, so bedeutete es, daß sie in einem Narrenparadies gelebt hatte. Da hatte sie sich nun mit der Überzeugung geschmeichelt, daß sie sich aus ihrem Gesicht ein ehernes Alibi geschaffen habe, und dabei konnte man sie lesen wie ein offenes Buch! Sie schüttelte stirnrunzelnd den Kopf über sich. Es war schlimm genug, einen hypothetischen Gott zu haben, der in alle Herzen sah und alle geheimen Wünsche kannte. Aber sich ins Herz sehn zu lassen von einer Daisy Ockham, ausgerechnet von ihr, — das war die äußerste Demütigung. Allerdings, es gab Entschuldigungen. Es geschah nicht jeden Abend, daß einem ein Paul De Vries einen Heiratsantrag machte. Aber anderseits waren es grade die außergewöhnlichen und wichtigen Gelegenheiten, bei denen es
am nötigsten war, andern Leuten zu verheimlichen, was man wirklich fühlte. Und sie hatte den Symptomen ihrer Jubelstimmung gestattet, sich so deutlich zu zeigen, daß sogar eine dicke dumme Gans wie Daisy sie entdecken konnte! Für diesmal war freilich nicht viel Schaden angerichtet. Aber es bewies einem wieder, wie vorsichtig man sein mußte, wie wachsam. Abermals zog Mrs. Thwale die Stirn in Falten; dann entspannte sie ihre Gesichtsmuskeln und bemühte sich, eine Miene distanzierter Gleichgültigkeit anzunehmen. Kein verräterisches Strahlen mehr. Für die Außenwelt nichts als das undurchsichtige Symbol einer sich ziemlich fernhaltenden und leise belustigten Höflichkeit. Aber dahinter, für sie selbst, was für heitere, bunte Geheimnisse, welch ein Prickeln stummen Lachens und heimlichen Triumphs! Es hatte sich nach dem Abendessen ereignet, als der alte Lord Worplesden, der Amateurastronom war, darauf bestand, Mrs. Thwale und die kleine Contessina auf den Turm hinaufzuführen, auf dem er seinen sechszölligen Refraktor installiert hatte. Ein erstklassiges Instrument, so rühmte er; von Zeiß in Jena. Aber bei den jungen Damen der Nachbarschaft war es aus andern Gründen berühmt. Der Sterngucker nahm einen mit hinein unter die Kuppel seines Liliput-Observatoriums, und unter dem Vorwand, das Fernrohr und einen selbst in die richtige Stellung zu bringen, um die Satelliten des Jupiter zu sehn, griff er einen ab und dröhnte die ganze Zeit dabei über Galilei drauflos. Und dann, wenn man sich nicht allzusehr gesträubt hatte, zeigte er einem die Saturnringe. Und schließlich gab's noch die Spiralnebel. Die erforderten mindestens zehn Minuten mühsam genauesten Einsteilens. Junge Damen, die einen Spiralnebel gesehn hatten, erhielten nächsten Tags eine große Flasche Parfüm und gleichzeitig eine neckische Einladung, mit eingeprägter Krone und unterzeichnet “Ihr untertänigster W.”, bald wiederzukommen und einmal gründlich den Mond zu erforschen.
Der Parfümvorrat der Contessina war offenbar fast erschöpft gewesen; denn es verging fast eine halbe Stunde, bevor sie und der alte Herr wieder aus dem Observatorium hervorkamen. Zeit genug für Paul, der unaufgefordert auf den Turm mitgegangen war, zum Nachthimmel emporzustarren und ein bißchen über Eddington zu reden; hinabzublicken auf die Lichter von Florenz und laut zu erwägen, daß sie schön seien, daß auch die Erde ihre Konstellationen habe; eine kleine Weile zu schweigen und dann etwas über Dante und die Vita Nuova zu sagen; und wieder zu schweigen und ihre Hand zu halten; und endlich, fast atemlos und für dieses eine Mal um Worte verlegen, sie zu bitten, ihn zu heiraten. Das Ganze war, wie es sich abgespielt hatte, so durchaus lächerlich und sie selbst in einer solchen Hochstimmung gewesen, daß sie fast laut herausgelacht hätte. Endlich! Der Magnet hatte sein Werk getan; das philosophische Auge war zu guter Letzt der wesentlichen Schamlosigkeit des Lebens unterlegen. Bei dem Tauziehn zwischen Erscheinung und Wirklichkeit hatte die Wirklichkeit gesiegt, wie sie immer siegen mußte, immer. Lächerliches Schauspiel! Aber für sie zumindest hätte der Spaß wichtige und ernste Folgen. Er bedeutete Freiheit; er bedeutete Macht über ihre Umgebung; er bedeutete eine kleine, weich gepolsterte private Welt auch außerhalb ihrer selbst, nicht bloß innerhalb, — ein eigenes Haus, nicht bloß eine eigene Loge; ein Appartement im Ritz, nicht bloß ein innerliches Fürsichsein und eine üppige Phantasie. “Wollen Sie mich heiraten, Veronica?” wiederholte er angstvoll, als ihr abgewandtes Schweigen sich von Sekunde zu Sekunde verlängerte. “Oh, meine Liebste, sagen Sie ja!” Als sie sich endlich zutrauen konnte, zu sprechen ohne sich zu verraten, hatte sie sich ihm wieder zugewendet. Lieber Paul ... unaussprechlich gerührt ... so völlig überrascht ... ein, zwei Tage warten und erst dann eine endgültige Antwort ... 262
Die Tür zu dem kleinen Observatorium hatte sich geöffnet, und man hörte Lord Worplesden laut der Contessina empfehlen, die populäreren der Bücher von Sir James Jeans zu lesen. Das Auge, so überlegte Mrs. Thwale, war in diesem Fall ein astronomisches und prokonsulares; aber es war derselbe alte Magnet, ein und dieselbe Schamlosigkeit. Noch ein paar Jahre, und es käme die letzte Schamlosigkeit, die des Sterbens. Unterdessen reagierte hier im Salon die Königin-Mutter auf Mr. Tendrings Akzent genauso, wie ihre Enkelin es befürchtet und erwartet hatte. Seine höflichen Erkundigungen nach ihrer Gesundheit hatte sie bloß damit beantwortet, daß sie verlangte, er solle seinen Namen buchstabieren; und als er das getan hatte, sagte sie: “Äußerst merkwürdig!” und wiederholte das Wort “Tendring” ein paarmal in einem Ton äußersten Abscheus, als müßte sie gegen ihren Willen von Skunken oder Exkrementen sprechen. Dann wandte sie sich an Daisy und fragte sie mit krächzendem Bühnengeflüster, warum, um Himmels willen, sie einen so schrecklich gewöhnlichen Menschen mitgebracht habe. Zum Glück vermochte Mrs. Ockham die Worte der alten Dame dadurch zu übertönen, daß sie einen lauten und begeisterten Bericht von ihrer ersten Begegnung mit Sebastian begann. “Oh, er ist ganz wie Frankie, so?” sagte die KöniginMutter, nachdem sie eine kleine Weile still zugehört hatte. “Dann muß er sehr jung aussehn für sein Alter, sehr babyhaft.” “Er sieht süß aus!” rief Mrs. Ockham mit einer sentimentalen Salbung, die Sebastian fast ebenso demütigend fand, wie die Grobheit ihrer Großmutter beleidigend war. “Ich hab's nicht gern, wenn Jungens süß aussehn”, fuhr Mrs. Gamble fort. “Nicht, wenn Kerle wie Tom Pewsey auf der Lauer liegen.” Sie senkte die Stimme. “Wie ist's mit deinem kleinen Mann da, Daisy, — ist er, wie er sein soll?”
“Aber, Großmama!” rief Mrs. Ockham entsetzt. Sie blickte sich ängstlich um und fühlte sich erleichtert, als sie sah, daß Mr. Tendring auf die andre Seite des großen Zimmers gegangen war und die Capo-di-MonteFiguren in der Vitrine zwischen den Fenstern katalogisierte. “Gott sei Dank”, hauchte sie, “daß er dich nicht gehört hat!” “Ich hätte nichts dagegen”, sagte die Königin-Mutter mit Nachdruck. “Zuchthaus — das verdienen diese Kerle!” “Aber er ist nicht so einer”, beteuerte Mrs. Ockham in erregtem und entrüstetem Flüsterton. “Das glaubst vielleicht du”, gab die Königin-Mutter zurück, “aber wenn du dir einbildest, auch nur das geringste davon zu wissen, dann irrst du sehr.” “Ich will auch gar nichts wissen”, sagte Mrs. Ockham schaudernd. “Es ist etwas Entsetzliches!” “Warum dann davon anfangen? Besonders vor Veronica. Veronica”, rief sie, “haben Sie zugehört?” “Bruchstückweise”, gestand Mrs. Thwale züchtig. “Siehst du?” sagte die Königin-Mutter im Ton vorwurfsvollen Triumphs zu ihrer Enkelin. “Aber zum Glück war sie verheiratet. Was man von dem Jungen nicht behaupten kann. Junge”, rief sie befehlerisch in ihre Dunkelheit, “sag mir was du von dem Ganzen hältst!” Sebastian errötete. “Du meinst .. . von ... das mit dem Zuchthaus?” “Zuchthaus?” wiederholte die Königin-Mutter gereizt. “Ich frage dich, was du davon hältst, daß du wieder mit meiner Enkelin zusammengetroffen bist.” “Oh, das! Ja, das ist natürlich höchst merkwürdig. Ich meine, es ist ein komischer Zufall, nicht?” Impulsiv legte Mrs. Ockham ihm den Arm um die Schultern und zog ihn an sich. “Nicht grade komisch”, sagte sie. “Herzerfreuend, wenn du willst, — eine besonders glückliche göttliche Fügung. Ja,
wirklich eine göttliche Fügung”, wiederholte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, die ihr so leicht kamen. Ihre Stimme bebte von Gefühl. “Göttlich oder nicht göttlich”, schnarrte die KöniginMutter, “du redest zuviel von Gott.” “Man kann gar nicht genug von ihm reden oder an ihn denken.” “Das ist Blasphemie.” “Aber hat etwa nicht Gott ihn mir gesandt?” Und wie um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, zog Mrs. Ockham Sebastian enger an sich. Widerstandslos ließ er sich umarmen. Er fühlte sich entsetzlich verlegen. Sie machte ihn öffentlich lächerlich — und genau wie lächerlich, das verriet ihm Mrs. Thwales Miene. Es war dieselbe Miene, die er an ihr an jenem Nachmittag gesehn hatte, als sie ihn mit ihrem Gerede davon quälte, wie er Mrs. Gamble eine Demonstration einer Ungeheuerlichkeit geben solle, — die belustigte, unpersönliche Miene der Zuschauerin bei einer entzückenden, herzlosen kleinen Sittenkomödie. “Und nicht nur Blasphemie”, fuhr die Königin-Mutter fort. “Es ist geschmacklos, immerzu von Gott zu reden. Wie wenn man seine Perlen den ganzen Tag trägt, statt nur am Abend, wenn man entsprechend gekleidet ist.” “Apropos Abendkleidung”, sagte Mrs. Ockham mit dem Versuch, das Gespräch auf ein unverfänglicheres Gebiet zu lenken. “Sebastian und ich haben vereinbart, miteinander sehr viel ins Theater und in Konzerte zu gehn, sobald wir wieder in London sind. Nicht wahr, Sebastian?” Er nickte und lächelte unbehaglich. Dann nahm, zu seiner Ungeheuern Erleichterung, Mrs. Ockham ihre Hand von seiner Schulter, und er vermochte ein wenig von ihr abzurücken. Durch den Vorhangspalt ihrer inneren Loge beobachtete Mrs. Thwale das alles und war entzückt von dem Stück. Diese heilige Frau da kribbelte es förmlich vor unbefrie-
digter Mütterlichkeit. Aber gar nicht so unnatürlicherweise fand der Junge wenig Geschmack daran, zum Opfer dieser besondern Art von Gelüst gemacht zu werden. Also mußte die arme fromme Seele Bestechungen anbieten, Theater und Konzerte, um ihn zu bewegen, ihr Gigolobaby zu werden, sich als Mittel zur Befriedigung ihrer mütterlichen Libido gebrauchen zu lassen. Aber es gab schließlich auch andre Formen der wesentlichen Schamlosigkeit — Formen, die ein Halbwüchsiger anziehender als Muttersehnsucht fände; es gab, so schmeichelte sie sich, beträchtlich stärkere Magnete als Daisys Mopsgesicht, Daisys keuschen, aber überquellenden Busen. Es wäre vielleicht ein amüsantes, ja sogar interessantes wissenschaftliches Experiment ... Sie lächelte innerlich. Ja, doppelt amüsant grade deswegen, was sich heute Abend auf Lord Worplesdens Sternwarte ereignet hatte; und wissenschaftlich bis zur monströsesten Ungeheuerlichkeit. Bei der Erwähnung von Konzerten hatte die KöniginMutter, die nie das Gefühl ertragen konnte, von etwas ausgeschlossen zu bleiben, darauf bestanden, mit von der Partie zu sein, so oft die beiden gingen. Aber moderne Musik, bei der habe es für sie natürlich seine Grenze. Und bei Bach fühle sie immer den Wunsch, einzuschlafen. Und Streichquartette — sie könne dieses öde Gekratze und Gewinsel einfach nicht aushalten ... Plötzlich erschien Mr. Tendring wieder auf der Szene. “Gestatten Sie”, sagte er, als die Königin-Mutter mit ihren musikalischen Abneigungen zu Ende war; und er händigte Mrs. Ockham einen kleinen Zettel ein. “Was ist das?” fragte sie. “Eine Diskrepanz”, antwortete Mr. Tendring mit dem ganzen Ernst, der einem solchen Wort gebührte, das bei beeideten Bücherrevisoren in Gebrauch stand. Foxi, der des reichen Hundes untrügliche Augen, Ohren und Nase für Angehörige der untern Klassen hatte, begann zu knurren.
“Schon gut, schon gut!” beschwichtigte ihn die KöniginMutter und wandte sich an Mrs. Ockham. “Wovon redet der Mann da?” bellte sie. “Von einer Diskrepanz”, erklärte Mr. Tendring, “zwischen dieser Quittung, die dem gewesenen Besitzer am Tage seines ... äh ... Hinscheidens ausgestellt wurde, und der Zahl der Gegenstände, die tatsächlich in dem Paket enthalten waren. Er kaufte zwei Stück, aber nun ist nur eins davon vorhanden.” “Eins wovon?” fragte Mrs. Ockham. Mr. Tendring lächelte beinahe verschmitzt. “Ja, vermutlich würden Sie ,Kunstwerke' sagen.” Sebastian wurde plötzlich fast übel. “Wenn Sie vielleicht hier herüberkommen wollten?” fuhr Mr. Tendring fort. Alle folgten ihm zu dem Tisch beim Fenster. Mrs. Ockham betrachtete den einen verbliebenen Degas und dann den Zettel, auf dem G. Greuil die Bezahlung von zweien bestätigt hatte. “Gib her!” sagte die Königin-Mutter, als ihr die Sachlage erklärt worden war. Schweigend befingerte sie den Karton des Passepartouts und die dünne Quittung und reichte dann beide Mrs. Ockham zurück. Ihr altes Gesicht leuchtete auf. “Die andre muß gestohlen worden sein”, sagte sie mit Genuß. Gestohlen! Sebastian wiederholte das Wort im stillen. Das war es; sie würden alle glauben, sie sei gestohlen worden. Und natürlich hatte er, wie ihm jetzt zum erstenmal einfiel, keine Möglichkeit, zu beweisen, daß Onkel Eustace ihm die Zeichnung geschenkt hatte. Nicht einmal der kleine Scherz zwischen ihnen bei der Seance war wirklich ein Beweis. “Eiswaffeln und Pennytüten” — für ihn war es nicht mißzuverstehn gewesen. Aber wäre es auch nicht mißzuverstehn, wenn er versuchte, es andern zu erklären? Indessen hatte Mrs. Ockham der unbarmherzigen Ver-
mutung ihrer Großmutter widersprochen. Aber die alte Dame ließ sich nicht davon abbringen. “Es ist natürlich jemand von der Dienerschaft”, dabei blieb sie mit fast frohlockender Genugtuung. Und dann erzählte sie ihnen von dem Butler, den sie gehabt hatte, der fast drei Dutzend Flaschen ihres besten Kognaks getrunken, von dem Hausmädchen, bei dem man Amys Rubinbrosche gefunden, von dem Chauffeur, der bei Benzinkäufen und Reparaturen betrogen hatte, von dem Untergärtner, der ... Und daß er sogleich hingegangen war und das Ding verkauft hatte — das sähe natürlich bös aus. Wenn er die Sache nur gleich, als die Leiche gefunden wurde, erwähnt hätte! Oder aber bei der Seance; die wäre eine großartige Gelegenheit gewesen. Oder heute vormittag Mrs. Thwale etwas davon gesagt hätte. Oder es vorhin, als Mrs. Ockham sich erbötig machte, ihm einen Abendanzug zu schenken, erwähnt hätte — sogar da, auf die Gefahr hin, daß es so ausgesehn hätte, als haschte er unter falschen Vorspiegelungen nach Mitleid. Wenn er nur, wenn er nur ... Denn nun war's zu spät. Wenn er es ihnen nun sagte, sähe das aus, als täte er es, weil er ertappt worden war. Und die Geschichte von Onkel Eustaces Generosität klänge so wie etwas, das er, der Eingebung des Augenblicks folgend, erfunden hatte, um seine Schuld zu bemänteln, — wie eine besonders dumme und unüberzeugende Lüge. Und doch, wenn er es ihnen nicht sagte, mochte der Himmel wissen, was noch daraus würde. “Aber wir haben kein Recht, auch nur zu denken, daß sie gestohlen wurde”, sagte Mrs. Ockham, als die Erinnerungen der Königin-Mutter an unehrliches Hausgesinde vorderhand versiegten. “Der arme Eustace hat sie wahrscheinlich aus dem Paket genommen und irgendwo hingetan.” “Er kann sie nicht irgendwo hingetan haben”, gab die Königin-Mutter zurück, “weil er nirgends hingegangen ist. Eustace war in diesem Zimmer, mit dem Jungen, bis er
ins W.C. ging und hinüber ist. Die ganze Zeit — stimmt das nicht, Junge?” Sebastian nickte wortlos. “Kannst du nicht antworten?” fuhr ihn der spukende Feldwebel an. “Oh, entschuldige! Ich hab vergessen . . . Ich meine, ja, er war hier, die ganze Zeit.” “Hören Sie sich das an, Veronica!” sagte die KöniginMutter. “Er mummelt ärger als je.” Mrs. Ockham wandte sich an Sebastian. “Hast du gesehn, ob er an dem Abend irgend etwas mit der Zeichnung getan hat?” Eine Sekunde lang zögerte Sebastian; dann schüttelte er in einer ihm jede Überlegung raubenden Panik den Kopf. “Nein, Tante Daisy.” Er merkte, daß er heftig errötete, wandte sich ab und beugte sich, um sein verräterisches Gesicht zu verbergen, noch tiefer über die Handzeichnung auf dem Tisch. “Hab ich dir nicht gesagt, sie ist gestohlen worden?” hörte er die Königin-Mutter triumphieren. “Ach, Mr. Tendring, warum haben Sie das nur entdecken müssen!” jammerte Mrs. Ockham. Mr. Tendring begann etwas Würdevolles von seiner Berufspflicht zu sagen, als er von der Königin-Mutter unterbrochen wurde. “Jetzt hör zu, Daisy”, sagte sie. “Ich will nicht, daß du dich wie eine sentimentale Schwachsinnige benimmst und plärrst wegen einer Horde nichtsnutziger Dienstboten! Pah, sie bestehlen dich wahrscheinlich hinten und vorn, eben in diesem Augenblick.” “Nein, das tun sie nicht”, rief Mrs. Ockham. “Ich will so etwas einfach nicht glauben. Und überhaupt, warum sollen wir uns um die dumme Zeichnung kümmern? Wenn sie so häßlich ist wie diese hier ...” “Warum wir uns kümmern sollen?” wiederholte Mr. Tendring im Ton eines Menschen, dessen heiligste Gefühle
verletzt wurden. “Aber stellen Sie sich doch, bitte, nur vor, was der gewesene Besitzer für das Objekt gezahlt hat!” Er ergriff die Quittung und reichte sie abermals Mrs. Ockham. “Siebentausend Lire, Madam! Siebentausend Lire!” Sebastian fuhr zusammen und starrte ihn an; seine Augen wurden immer größer, der Mund blieb ihm offen stehn. Siebentausend Lire? Und dieser Hundsfott hatte ihm tausend geboten und ihn zu seiner Geschäftstüchtigkeit beglückwünscht, weil er den Preis auf zweitausendzweihundert hinaufgeschraubt hatte! Zorn und Demütigung trieben ihm eine jähe Blutwelle ins Gesicht. Was für ein Narr er gewesen war, was für ein unbeschreiblicher Idiot! “Siehst du, Daisy, siehst du?” sagte die Königin-Mutter triumphierend. “Die könnten das Ding für eine Summe verkaufen, die einem Jahreslohn gleichkäme.” Es folgte ein kleines Schweigen; dann hörte Sebastian hinter sich die tiefe, melodische Stimme Mrs. Thwales. “Ich glaube nicht, daß es jemand von der Dienerschaft war”, sagte sie und verweilte mit zarter Geziertheit auf dem Zischlaut. “Ich glaube, es war jemand anders. Nicht wahr, Sebastian?” Sebastians Herz begann sehr schnell und stark zu klopfen, als hätte er Fußball gespielt. Ja, sie mußte ihn durch die Tür gesehn haben, als er die Zeichnung in sein Köfferchen tat. Und als sie nun seinen Namen aussprach, war er dessen ganz gewiß. “Sebastian!” wiederholte Mrs. Thwale leise, als er nicht antwortete. Widerstrebend richtete er sich auf und sah sie an. Mrs. Thwale lächelte abermals so, als wäre sie Zuschauerin einer Komödie. “Ich vermute, Sie wissen's genau so gut wie ich”, sagte sie. Er schluckte krampfhaft und blickte weg. “Etwa nicht?” fragte Mrs. Thwale leise.
“M-mja”, begann er fast unhörbar, “vermutlich meinen Sie ...” “Selbstverständlich”, unterbrach sie ihn. “Selbstverständlich! Das kleine Mädel, das draußen auf der Terrasse war.” Und sie wies in die Finsternis hinter den Fenstern. Überrascht sah Sebastian sie abermals an. In den dunkeln Augen tanzte etwas wie ein jubelndes Licht, die lächelnden Lippen sahen aus, als wollten sie sich im nächsten Augenblick öffnen, um ein Lachen durchzulassen. “Das kleine Mädel?” echote die Königin-Mutter. “Was für eine kleines Mädel?” Mrs. Thwale begann zu erklären. Und plötzlich, mit einem überwältigenden Gefühl der Erleichterung, begriff Sebastian, daß er begnadigt worden war.
23. KAPITEL Sebastians Gefühl der Erleichterung wich sehr bald Verwirrung und Ungewißheit. Allein in seinem Zimmer, während er sich entkleidete und sich die Zähne putzte, fragte er sich immer wieder, warum die Begnadigung gekommen war. Glaubte sie wirklich, das Kind habe es getan? Offenbar, so versuchte er, sich selbst zu beteuern, mußte sie das glauben. Aber es gab einen Teil seines Geistes, der sich hartnäckig weigerte, diese einfache Erklärung hinzunehmen. Und wenn es wahr war, warum hatte sie ihn dann so angesehn? Was war es nur, was sie so köstlich amüsant gefunden hatte? Und wenn sie nicht glaubte, daß die Kleine es gewesen sei, was in aller Welt hatte sie bewogen, das zu sagen? Die auf der Hand liegende Antwort war, daß sie ihn die Zeichnung nehmen gesehn hatte, glaubte, daß er kein Recht darauf habe, und nun versuchte, ihn zu decken. Aber wenn er sich dagegen ihres seltsamen Lächelns erinnerte, dieses fast ununterdrückbaren Belustigtseins, ergab die auf der Hand liegende Antwort keinen Sinn. Nichts, was sie getan hatte, ergab irgendeinen Sinn, und mittlerweile mußte er immerzu an diese arme Kleine denken. Man würde sie gewiß ausfragen und einschüchtern; und dann würden auch die Eltern in Verdacht geraten; und zuletzt bestünde Mrs. Gamble natürlich darauf, die Polizei kommen zu lassen .. . Er schaltete das Licht aus, bis auf die Leselampe über dem Nachttischchen, und stieg in das riesige Bett. Während er dann mit offenen Augen dalag, verfertigte er zum tausendsten Mal eine Reihe von Szenen, in denen er so nebenbei Onkel Eustaces Vermächtnis gegenüber Mrs. Thwale und der Königin-Mutter erwähnte, dieser Tante Daisy sagte, daß er sich ein Dinnerjackett machen lasse von
dem Geld, das er für die Handzeichnung bekommen habe, und lächelnd Mr. Tendrings argwöhnische Vermutungen erstickte, bevor sie ausgebrütet waren. Wie einfach es alles war und wie lobenswürdig er aus der ganzen Sache hervorging! Aber die Wirklichkeit unterschied sich so peinlich und demütigend von diesen tröstlichen Phantasien, wie die blaue Schnepfe sich von Mary Esdaile unterschieden hatte. Und nun war es zu spät, ihnen allen zu sagen, was wirklich geschehn war. Er stellte sich die Bemerkungen der KöniginMutter über sein Benehmen vor — wie Schmirgelpapier in ihrer Unbarmherzigkeit. Und Mrs.Thwales leises Lächeln und ironisches Schweigen. Und die Entschuldigungen, die Tante Daisy für ihn vorbrächte, mit einer so überquellenden Sentimentalität, daß ihre Großmutter doppelt bissig würde. Nein, es war unmöglich, es ihnen zu sagen. Es gab nur eins — die Zeichnung von Monsieur Greuil zurückzukaufen und sie dann irgendwo im Haus zu “finden”. Aber der Schneider hatte auf einer Anzahlung bestanden, und daher waren zehn von den zweiundzwanzig kostbaren Banknoten binnen einer Stunde, nachdem er sie erhalten hatte, futsch gewesen. Und er hatte noch hundert Lire für Bücher ausgegeben und sechzig für eine Zigarettendose aus Schildpatt. So blieben ihm nur noch etwas mehr als tausend. Würde Greuil ihm für den Rest Kredit geben? Niedergeschlagen schüttelte Sebastian den Kopf. Er würde sich das Geld borgen müssen. Aber von wem? Und mit welcher Begründung? Plötzlich erklang ein schwaches Klopfen an der Tür. “Herein!” rief er. Mrs. Ockham trat ins Zimmer. “Ich bin's”, sagte sie; sie kam zum Bett herüber und legte ihm die Hand auf die Schulter. “Es ist schon sehr spät, fürchte ich,”, fuhr sie, wie sich entschuldigend, fort. “Großi hat mich endlos aufgehalten. Aber ich konnte einfach nicht widerstehn, noch hereinzukommen und dir gute Nacht zu sagen.”
Höflich richtete sich Sebastian auf einen Ellbogen auf. Doch sie schüttelte den Kopf, und ohne zu sprechen drückte sie ihn sanft auf das Kissen zurück. Es folgte ein langes Schweigen, während sie auf ihn niederblickte — auf den kleinen Frankie niederblickte und ihr gemordetes Glück, auf die lebendige Gegenwart, diese zweite lockenköpfige Verkörperung göttlicher Wirklichkeit niederbückte. Rosig und golden, ein kindlicher Kopf auf einem Kissen. Als sie ihn so vor sich sah, quoll überwältigende Liebe in ihr auf wie eine Flut, die aus den Tiefen dieses großen Ozeans hervorbrach, von dem sie so lange abgeschnitten gewesen war durch die Ablagerungen einer hoffnungslosen Dürre. “Frankie hat auch immer rosa Pyjamas getragen”, sagte sie mit einer Stimme, die trotz ihrem Bemühn, leichthin zu sprechen, vor heftiger Gemütsbewegung bebte. “So?” Sebastian schenkte ihr eins seiner bezaubernden Lächeln — nicht bewußt diesmal, nicht absichtlich, sondern weil er sich gerührt und eine erwidernde Zuneigung zu dieser absurden Frau fühlte. Und plötzlich wußte er, daß dies der Augenblick war, ihr von der Zeichnung zu erzählen. “Tante Daisy ...” begann er. Im selben Augenblick aber, und getrieben von einem so intensiven Sehnen, daß es sie nicht merken ließ, er versuche etwas zu sagen, sprach auch Mrs. Ockham. “Würdest du es sehr übelnehmen”, flüsterte sie, “wenn ich dir einen Kuß gäbe?” Und bevor er antworten konnte, hatte sie sich hinabgebeugt und seine Stirn mit ihren Lippen berührt. Dann richtete sie sich ein wenig auf und fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar — und es war Frankies Haar. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Abermals beugte sie sich hinab und küßte ihn. Plötzlich, überraschend, kam eine Unterbrechung. “Oh, entschuldigen Sie ...”
Mrs. Ockham richtete sich auf, und beide blickten sie dorthin, woher die Stimme gekommen war. In der offenen Tür stand Veronica Thwale. Ihr dunkles Haar hing ihr in zwei Zöpfen über die Schultern, und sie war in einen langen weißen Seidenschlafrock eingeknöpft, der sie wie eine Nonne aussehn ließ. “Es tut mir leid, Sie zu unterbrechen”, sagte sie zu Mrs. Ockham, “aber Ihre Großmutter . . .” Sie ließ den Satz unvollendet und lächelte. “Soll ich nochmals zu Großi kommen?” “Sie hat Ihnen noch etwas zu sagen — wegen der vermißten Zeichnung.” “O du meine Güte!” Mrs. Ockham seufzte tief. “Na, ich sollte lieber gehn, vermutlich. Soll ich das Licht hier abdrehn?” fügte sie hinzu, sich wieder an Sebastian wendend. Er nickte. Mrs. Ockham drehte den Schalter, legte dann für einen Augenblick ihre Hand an seine Wange, flüsterte: “Gute Nacht”, und eilte in den Korridor hinaus. Mrs. Thwale folgte ihr und schloß die Tür. Allein in der Finsternis, fragte sich Sebastian beunruhigt, was es sei, was die Königin-Mutter so dringend über die Zeichnung zu sagen wünsche. Natürlich, wenn er Zeit gehabt hätte, Tante Daisy davon zu erzählen, dann käme es nicht darauf an, was Mrs. Gamble zu sagen hatte. So aber .. . Er schüttelte den Kopf. So aber würde, was immer die alte Teufelshexe sagte oder tat, alles ganz gewiß komplizieren und könnte es nur noch schwieriger für ihn machen. Und dabei käme eine solche Gelegenheit, wie er sie grade vorhin gehabt hatte, vielleicht nicht wieder; und zu Tante Daisy zu gehn und ihr kalten Bluts die Sache zu erzählen, wäre fast zu entsetzlich, um es zu überstehn. So entsetzlich, daß er sich zu fragen begann, ob es am Ende nicht doch besser wäre, den Versuch zu machen, die Zeichnung von Greuil zurückzubekommen. Er war mitten in einer imaginären Unterredung mit dem Kunsthändler, als er hörte,
wie die Tür hinter ihm leise geöffnet wurde. Auf der Wand, gegen die er blickte, erschien ein Lichtstreifen, wurde breiter und dann schmäler, und als die Klinke einschnappte, war es wieder ganz finster. Sebastian wandte sich im Bett herum, dem Rascheln ungesehner Seide zu. Sie war zurückgekommen, und nun konnte er ihr alles sagen. Er fühlte sich ungeheuer erleichtert. “Tante Daisy!” sagte er. “Oh, ich bin so froh ...” Durch die Bettdecke berührte eine Hand sein Knie, wanderte hinauf zu seiner Schulter, zog mit einem Ruck die Decke weg und schlug sie zurück. Abermals raschelte Seide, und eine Welle von Parfüm drang an seine Nase — der süßliche, hitzige Duft, der eine Mischung aus Blumen und Schweiß war, aus Frühlingsfrische und einer moschusschwülen Animalität. “Oh, Sie sind's ...” stammelte er in erstauntem Flüsterton. Aber da neigte sich schon ein ungesehnes Gesicht über ihn; ein Mund berührte sein Kinn, fand dann seine Lippen; und Finger bewegten sich an seinem Hals abwärts und begannen die Knöpfe seiner Pyjamajacke zu öffnen.
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24. KAPITEL Göttlich unschuldig, eine durch hellste Glut zu reinster Ekstase emporkeuchende Sinnenlust; und in den Pausen die zärtliche und doch kultiviert witzige Laszivität einer Mary Esdaile — so würde es sein, hatte sich Sebastian vorgestellt. Das war, was er sich erwartet hatte. Gewiß nicht diese absichtsvollen Hände in der Finsternis, dieses fast chirurgische Forschen nach der wesentlichen Schamlosigkeit. Und auch nicht die zarte Völlerei dieser weichen Lippen, die plötzlich Zähnen und spitzigen Nägeln wichen. Und auch nicht diese herrisch geflüsterten Befehle; nicht diese langen Spannen schweigender introvertierter Raserei, diese unter seinen schüchternen und fast entsetzten Liebkosungen sich verlängernden Agonien einer verzweifelten Unersättlichkeit. In seiner Phantasie war die Liebe eine Art heiteren, ätherischen Rausches gewesen; aber die Wirklichkeit dieser Nacht war eher wie Wahnsinn gewesen. Ja, schier Wahnsinn; zwei Verrückte, die in moschusschwüler Finsternis miteinander rangen. “Zwillingskannibalen im Tollhaus ...” Die Phrase fiel ihm ein, während er die roten und bläulichen Zähnespuren auf seinem Arm besah. Zwillingskannibalen, die ihre eigne und einer des andern Identität verschlangen; die letzten Reste von Vernunft und Anständigkeit auffraßen; die rudimentärsten Konventionen der Zivilisation unkenntlich machten. Und doch hatte grade darin, in diesem kannibalischen Toben, das wirklich Anziehende gelegen. Jenseits des körperlichen Lustgefühls lag das noch hinreißendere Erlebnis, völlig außer Rand und Band zu sein, völlig außer sich, in der Ekstase einer vollständigen Selbstentfremdung. Mrs. Thwale hatte ihr taubengraues Kleid angelegt und
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trug um den Hals das kleine Goldkreuz mit Rubinen, das ihre Mutter ihr am Konfirmationstag geschenkt hatte. “Guten Morgen, Sebastian”, sagte sie, als er das Eßzimmer betrat. “Wir scheinen den Frühstückstisch für uns allein zu haben.” Sebastian blickte bestürzt auf die leeren Sessel und unentfalteten Servietten. Aus irgendeinem Grund hatte er angenommen, daß auch Tante Daisy dasein werde, als diaperonne bei diesem schrecklich peinlichen Wiedersehn. “Ja, ich hab mir gedacht ... Ich meine, die Reise ... Die beiden müssen wohl recht müde gewesen sein ...” Aus ihrer Loge bei der Komödie sah Mrs. Thwale ihn mit glänzenden ironischen Augen an. “Da mummelt er schon wieder!” sagte sie. “Ich werde wirklich eine Rute kaufen müssen.” Um seine Verwirrung zu bemänteln, ging Sebastian zur Anrichte und begann unter die Deckel der Silberschüsseln zu gucken, um zu sehn, was es auf der Wärmplatte gab. Was er natürlich hätte tun sollen, so begriff er, während er sich Hafergrütze nahm, was er hätte tun sollen, als er sah, daß sie allein waren, war, einfach hinzugehn und sie auf den Nacken zu küssen und ihr etwas über diese Nacht zuzuflüstern. Und vielleicht war es noch jetzt nicht zu spät dazu. Drücke die Mündung des Revolvers an die rechte Schläfe, zähle bis zehn,und dann stürz dich hinein und tu's! Eins, zwei, drei, vier . .. Den Teller Hafergrütze in der Hand, ging er auf den Tisch zu. Fünf, sechs ... “Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen”, sagte Mrs. Thwale mit ihrer tiefen, klaren Stimme. Er sah sie bestürzt an und schlug dann die Augen nieder. “O ja”, murmelte er, “ja, ... sehr gut, danke.” An diesen Kuß war gar nicht mehr zu denken. “So? Wirklich?” Mrs. Thwale verlieh ihrer Frage erstaunten Nachdruck. “Trotz den Käuzchen?” “Den Käuzchen?” “Sie wollen doch nicht sagen”, rief sie, “daß Sie die
Käuzchen nicht gehört haben? Beneidenswerte Jugend! Ich wollte, ich könnte so fest schlafen wie Sie. Ich war die halbe Nacht wach!” Sie nahm einen Schluck Kaffee, wischte sich zierlich den Mund, biß ein Stückchen bebutterten Röstbrots ab, und als sie es geschluckt hatte, wischte sie sich abermals den Mund. “Wenn ich Sie wäre”, sagte sie, “würde ich heute nicht unterlassen, mir die Fra Angelicos in San Marco anzusehn.” Die Tür ging auf, und Mr. Tendring kam herein, und einen Augenblick später Mrs. Ockham. Auch sie hatten die Käuzchen nicht gehört — obgleich Mrs. Ockham stundenlang nicht hatte einschlafen können, weil sie sich dieser unglückseligen Zeichnung wegen Gedanken gemacht hatte. Ja, diese unglückselige Zeichnung, diese gottbeschissene Zeichnung! In seiner Machtlosigkeit leistete sich Sebastian im stillen einen recht kindischen Ausbruch kräftigen Schimpf ens, während er seine Rühreier aß. Aber Schimpfen brachte ihn der Lösung seiner Schwierigkeiten nicht näher. Und statt die Atmosphäre seines Gemüts zu klären, verstärkten Blasphemie und Obszönität die bedrückende Stimmung nur, indem sie ihn sich seiner selbst schämen ließen. “Werden Sie die Polizei verständigen?” erkundigte sich Mrs. Thwale. Sebastians Herz schien auszusetzen. Den Blick nicht vom Teller hebend, hielt er im Kauen inne, um mit ungeteilter Aufmerksamkeit zuhören zu können. “Großi will, daß ich's tue”, sagte Mrs. Ockham. “Aber ich will's nicht tun, noch nicht. Nicht, bevor wir nicht überall gründlich gesucht haben.” Sebastian begann wieder zu kauen — zu früh, wie sich ergab; denn Mrs. Thwale war durchaus dafür, das kleine Mädchen holen zu lassen und ins Kreuzverhör zu nehmen. “Nein, ich werde hingehn und zuerst mit den Eltern reden”, entgegnete Mrs. Ockham. Gott sei Dank! sagte Sebastian im stillen. Das hieß, daß
er wahrscheinlich den ganzen Tag Zeit hatte. Und das war immerhin schon etwas. Aber wie in aller Welt sollte er es anstellen? Eine Berührung am Ellbogen schreckte ihn aus seiner Geistesabwesenheit auf. Der Diener neigte sich über ihn, und auf der silbernen Anbietplatte lagen zwei Briefe. Sebastian nahm sie. Der erste war von Susan. Ungeduldig steckte er ihn ungeöffnet in die Tasche und besah den zweiten. Der Umschlag war in einer unbekannten Schrift adressiert und trug eine italienische Marke. Wer konnte ihm nur ...? Und dann wurde eine Hoffnung geboren, wuchs und verwandelte sich im nächsten Augenblick in eine Überzeugung, in die positive Gewißheit, daß der Brief von dem Mann in der Kunsthandlung war; erklärte, daß alles ein Irrtum, ein Mißverständnis sei; überschwängliche Entschuldigungen; beigeschlossen ein Scheck ... Hastig öffnete er den Umschlag, entfaltete das Blatt billigen Geschäftspapiers und sah nach der Unterschrift. Bruno Rontini, las er. Seine Enttäuschung machte sich in jähem Zorn Luft. Dieser Narr, der an das gasförmige Wirbeltier glaubte! Dieser leisetreterische Jesus, der versuchte, Leute zu seinen eignen Idiotien zu bekehren! Sebastian begann den Brief zu falten, um ihn ungelesen in die Tasche zu stecken, beschloß aber dann doch zu sehn, was der Mensch zu sagen hatte. “Lieber Sebastian”, las er, “bei meiner Rückkehr gestern hörte ich die aus mehr als einem Grund betrübliche Nachricht vom Tod des armen Eustace. Ich weiß nicht, ob Deine Pläne durch das Geschehene eine Abänderung erfahren haben; aber wenn Du in Florenz bleibst, vergiß, bitte, nicht, daß ich einer der ältesten Einwohner bin und auch eine Art von Cousin und mich sehr freuen werde, Dir zu helfen, Dich zurechtzufinden. Du wirst mich für gewöhnlich vormittags in meiner Wohnung antreffen und nachmittags in der Buchhandlung.” “In der Buchhandlung”, wiederholte Sebastian ironisch
im stillen. “Und dort kann er auch bleiben, verflucht nochmal.” Und dann fiel ihm ganz plötzlich ein, daß dieser Narr ihm am Ende von einigem Nutzen sein könnte. Ein Buchhändler, ein Kunsthändler — sehr leicht möglich, daß sie einander kannten. Greuil wäre vielleicht bereit, dem andern einen Gefallen zu tun. Und Onkel Eustace hatte gesagt, der gute Bruno sei bei aller Beschränktheit recht anständig. Nachdenklich faltete Sebastian den Brief und steckte ihn in die Tasche.
25. KAPITEL Ja, das ganze Weltall lachte mit, lachte kosmisch über den kosmischen Scherz, wie es sich selbst zuschanden machte; lachte schallend von Pol zu Pol über die uralte AUerweltshanswurstiade vom Unheil, das guter Absicht auf dem Fuße folgt. Ein kontrapunktisches Hohngelächter unzähliger Stimmen — schneidend schrillen voltairischen Gekläffs, triumphierend über die ratlosen Agonien des Stumpfsinns und der Dummheit; dröhnenden rabelaisischen Gegröls wie von Baßgeigen und Fagotten; jubilierend über Gedärm und Kot und Kopulation, entzückt kollernd beim Schauspiel unflätiger Roheit, unentrinnbarer Tiernatur. Im Einklang mit der universalen Lustigkeit schüttelte er sich vor Lachen während langer Dauern zunehmenden Behagens, steigender Erheiterung und stolzer Glorie. Und mittlerweile war da wieder dieses Licht, war da dieser Kristall leuchtenden Schweigens und strahlte still durch alle Scharten des zackenden Gelächters. Gar nicht furchterweckend diesmal, sondern sanft und zärtlich blau wie vorhin, als er Bruno bei seinen Tricks damit erwischt hatte. Eine blaue, liebevolle Stille, allgegenwärtig, trotz dem Gekläff und den Fagotten, aber ohne sich aufzudrängen; schön, aber nicht von dieser strengen, unerträglichen ernsten Eindringlichkeit, sondern flehend, als bäte sie bescheiden darum, bemerkt zu werden. Und da war kein Teilhaben mehr an einer Erkenntnis, kein Selbstzwang zu Scham und Verurteilung. Nur diese Zärtlichkeit. Aber so leicht war er nicht zu fangen, er war gewappnet gegen alle diese kleinen Listen. Dem flehenden Werben dieses blauen Kristalls von Stille erwiderte er nur mit den Explosionen seines verachtungsvollen Gelächters, immer schriller, je
zärtlicher schön das Licht wurde, je demütiger das Schweigen, je sanfter und liebkosender sie um seine Aufmerksamkeit warben. Nein, nein, nichts dergleichen! Er dachte wiederum an die Triumphe der Bildung, die Triumphe der Wissenschaft, Religion und Politik, und seine Lustigkeit steigerte sich zu einer Art von Raserei. Ein kosmischer Paroxismus nach dem andern. Welche Lust, welche Macht und Herrlichkeit! Auf einmal aber gewahrte er, daß das Gelächter seiner Beherrschung entwachsen war, daß es eine riesige autonome Hysterie geworden war, die gegen seinen Willen beharrte, der Pein zum Trotz, die sie ihm verursachte; mit einem eignen Leben beharrte, das seinem Leben fremd war, mit einem eignen Zweck, der mit seinem Wohlbefinden völlig unverträglich war. Dort außen, hier innen leuchtete diese Stille mit einer blauen, beschwörenden Zärtlichkeit. Aber nur nichts dergleichen, nichts dergleichen! Das Licht war immer sein Feind. Immer, ob es blau oder weiß war, rosenrot oder erbsengrün. Er wurde wieder von einem langen peinigenden Krampf höhnischen Gelächters geschüttelt. Dann erfolgte unvermittelt eine Verschiebung des Bewußtseins. Wiederum gelangte er zu etwas noch nicht von einem andern Erlebtem. Erbebend von der universalen Epilepsie, zeigte sich ihm ein offenes Fenster; und da stand der gute John und blickte hinunter auf die Straße. Und was für ein Gewühl dort unten, was für ein gellendes Geschrei in diesem goldenen Gewölk von Staub! Dunkle Gesichter, verzerrt und mit offenem Mund, dunkle Hände, die sich hochreckten und sich ballten. Tausende und Tausende. Und von rechts, aus dem in hellem Sonnenlicht liegenden Platz, und aus der schmalen Gasse unmittelbar gegenüber dem Fenster drängten sich Trupps beturbanter, schwarzbärtiger Polizisten in die Menge und schwangen ihre langen Bambusknüttel. Auf Köpfe und Schultern, auf dünne Handgelenke, zum Schutz der erschrockenen, schreienden Gesichter erhoben, — Schlag
auf Schlag, ganz methodisch. Wieder ein Lachkrampf. Die Gestalten schwankten und zerbrachen wie Spiegelbilder in einem vom Wind gekräuselten Teich und kamen dann wieder zusammen, als die lachende Raserei erstarb. Oberhalb, die blaue Zärtlichkeit, war nicht bloß der Himmel sondern der helle Kristall lebendiger Stille. Methodisch droschen die Polizisten weiter drauflos. Der Gedanke an dieses harte oder weiche, auf Knochen oder Fleisch treffende Aufschlagen war übelkeiterregend deutlich. “Entsetzlich!” stieß John zwischen den Zähnen hervor. “Entsetzlich!” “Es wäre ein noch viel schlimmerer Anblick, wenn die Japaner nach Kalkutta kämen”, bemerkte eine andre Stimme. Langsam, widerstrebend, nickte John. Der berufsmäßig Liberaldenkende, der verzeihliche Gründe für einen Knüttelangriff der Polizei fand! Wieder ein quälender Lachkrampf und wieder einer. Spöttisches Gelächter riß weiter an ihm, wie die Stöße eines Orkans an zerfetzten Segeln; kratzte die eigenste Substanz seines Wesens wie mit eisernen Kämmen und Krallen. Aber durch die Pein hindurch gewahrte Eustace verschwommen, daß unmittelbar unter dem Fenster ein junger Bursche bewußtlos hingefallen war, von einem Schlag auf die Schläfe gefällt. Zwei andre junge Leute beugten sich über ihn. Plötzlich drang durch das Gekläff und die Fagotte sozusagen eine Erinnerung an wilde, schrille Schreie und angstvolles wiederholtes Rufen einer unverständlichen Phrase. Eine Linie von Stahlhelmen bewegte sich über den Platz vorwärts. Es folgte eine panikartige Bewegung der Menge, weg von der sich nähernden Gefahr. Gestoßen und stolpernd gelang es den beiden jungen Leuten dennoch, ihren Gefährten vom Boden aufzurichten. Wie bei einem geheimnisvollen Ritual wurde der schlaffe Körper des Burschen schulterhoch gegen die blaue beschwörende Zärtlichkeit der Stille gehoben. Nur für weriige Sekunden. Dann warf der Ansturm des furchtgepackten Mobs die drei um. Die Retter
und der Gerettete waren verschwunden, verschlungen von dem Getrampel und Gedränge. In blindem Schrecken bewegte sich die Menge weiter. Ein Sturm freudlosen, wundreißenden Lachens blies sie in Vergessenheit. Nur die leuchtende Stille blieb, zärtlich, beschwörend. Aber Eustace war allen ihren Finten gewachsen. Und auf einmal war da ein andres blutüberströmtes Gesicht. Nicht das Gesicht des namenlosen jungen Inders; sondern ausgerechnet Jim Poulshots Gesicht. Ja, Jim Poulshot! Dieses leere Sortierfach, so offenkundig dazu bestimmt, den mäßig erfolgreichen Börsenmakler von 1949 zu enthalten. Aber Jim war in Uniform und lag am Fuß eines Dickichts von Bambusrohr, und drei oder vier kleine gelbe Männer mit Gewehren in den Händen standen um ihn herum. “Verwundet!” stöhnte Jim immer wieder mit schwacher, gebrochener Stimme. “Doktor holen, schnell! Verwundet, verwundet ...” Die kleinen gelben Männer brachen alle zugleich in lautes, fast gutmütiges Gelächter aus. Und wie von einer Art heimlicher Sympathie ergriffen, schüttelte sich das ganze Universum und johlte im Chor. Dann hob plötzlich der eine der Männer den Fuß und stampfte auf Jims Gesicht. Ein Schrei wurde hörbar. Der Absatz des schweren, gummibesohlten Stiefels senkte sich abermals und, mit noch größerer Gewalt, zum drittenmal. Blut strömte aus dem zerfetzten Mund und der zerquetschten Nase. Das Gesicht war kaum noch erkennbar. Entsetzen, Mitleid, Entrüstung — aber im selben Augenblick riß ein Stoß rasenden Gelächters wie mit Krallen an seinem Wesen. “Das leere Fach”, johlten seine Erinnerungen weiter. Und dann, mit ununterdrückbarer Schadenfreude: “Der Börsenmakler von 1949, der mäßig erfolgreiche Börsenmakler.” Vor dem Bambusdickicht lag der Börsenmakler von 1949 regungslos und stöhnte.
Unter den Bam, Unter den Bus, Wahrscheinlich nur Verstopfung. Die Drehorgel vor dem Standesamt in Kensington und Timmys Erklärung für das, was auf dem Cricketplatz der Schule geschehn war. Wahrscheinlich nur, Wahrscheinlich nur Versto ... Die kleinen gelben Männer hatten eine kurze Weile in triumphierendem Schweigen dagestanden. Dann sagte der eine von ihnen etwas, und wie um zu veranschaulichen, was er meinte, stieß er sein langes Bajonett Jim Poulshot in die Brust. Grinsend folgten die andern seinem Beispiel — ins Gesicht, in den Bauch, in den Hals und die Geschlechtsteile — wieder und wieder, bis endlich das Schreien verstummte. Das Schreien verstummte. Aber das Lachen tönte fort — das Gejohle, das epileptische, das unbeherrschbare, alles zerreißende Hohngelächter. Und mittlerweile hatte die Szene sich wiederholt. Das blutüberströmte Gesicht, der Greuel der Bajonette, aber alles irgendwie vermengt mit Mimi in ihrem weinroten Schlafrock. Adesso commincia la tortura — und dann das Getändel, das Getätschel, das Geschmudel. Und zur selben Zeit das Stampfen, das Stechen. Und dazu der heilige Sebastian, umgeben von den Wachsblumen, und die arme gute Amy, bebend auf dem Standesamt in Kensington, und Laurina in Monte Carlo, ave verum corpus, der wahre Leib, der prüde viktorianische Mund, die braunen, blinden Brustaugen. Und während die Bajonette immerzu stachen und stachen, war da diese beschämende Belanglosigkeit einer Lust, die zuletzt zu einer kalten, sich immer wiederholenden Friktion wurde, automatisch und zwanghaft.
Und immerzu das Kläffen und die Fagotte, die eisernen Zähne, die die eigenste Substanz seines Wesens kämmten und kratzten. Auf immer und ewig-, eine ewige Qual. Aber er wußte, worauf das Licht es abgesehn hatte. Er wußte, was zu tun ihn diese blaue Zärtlichkeit der Stille beschwor. Nein, nein, nur das nicht! Mit voller Absicht wandte er sich abermals dem sich auftuenden Schlafrock zu, dem zermalmten und unkenntlichen Gesicht, der unerträglichen Pein von Hohngelächter und kalter Lust, der selbsterzwungenen, selbstauferlegten; auf immer und ewig.
26. KAPITEL Es waren fast ebensoviele Treppenstufen wie in der Norton Street, aber endlich war der fünfte Stock erreicht. Bevor Sebastian auf den Klingelknopf drückte, hielt er inne, um wieder zu Atem zu kommen und sich zu sagen, daß diesmal die Übelkeit der Schwelle doch gewiß völlig unbegründet sei. Wer war denn Bruno Rontini überhaupt? Einfach ein gutmütiger alter Schöps, viel zu anständig, nach allem, was er gehört hatte, um sarkastisch oder tadlerisch zu werden, und viel zu sehr ein Fremder, trotz der etwas unbestimmten Verwandtschaft, um das Recht zu haben, einem Unangenehmes zu sagen, auch wenn er wollte. Überdies war es gar nicht so, als wäre er, Sebastian, im Begriff seine Sünden zu beichten oder etwas dergleichen zu tun. Nein, nein, er wollte doch nicht auf dieser Grundlage um Hilfe bitten! Es würde sich darum handeln, die Sache ganz beiläufig ins Gespräch einfließen zu lassen, so, als wäre sie schließlich nicht sehr wichtig. “Übrigens, kennst du zufällig einen Mann namens Greuil?” Und so weiter, nebenbei, leichthin. Und da Bruno nicht sein Vater war, gäbe es keine unangenehmen Unterbrechungen; alles ginge ganz wie geplant. So daß es wirklich keine erdenkliche Entschuldigung dafür gab, sich so übel zu fühlen. Sebastian tat drei tiefe Atemzüge und drückte auf den Klingelknopf. Die Tür wurde fast sogleich geöffnet, und da stand der alte Bruno, seltsam leichenhaft und hakennasig, in einem grauen Sweater und roten gewirkten Pantoffeln. Sein Gesicht leuchtete in einem begrüßenden Lächeln auf. “Gut”, sagte er, “gut!” Sebastian ergriff die ihm hingestreckte Hand, murmelte etwas davon, daß es riesig freundlich von Bruno sei, geschrieben zu haben, und wandte dann das Gesicht ab, in
einem Übermaß der lähmenden Verlegenheit, die ihn stets befiel, wenn er mit Fremden sprach. Mittlerweile aber waren in seinem Schädel der Beobachter und der Wortbildner eifrig am Werk. Bei Tageslicht, so hatte er bemerkt, waren die Augen blau und sehr leuchtend. Blaue Feuer in Knochenbechern, aber nicht einfach nur von Wahrnehmung entfacht, und gewiß nicht von der unbeteiligten, unmenschlichen Neugier, die aus Mrs. Thwales dunkeln Augen gefunkelt hatte, als sie in der vergangenen Nacht plötzlich das Licht einschaltete und er sie erblickte — auf Händen und Knien über ihn gewölbt wie ein Bogen von weißem Fleisch. Eine halbe Minute sah sie ihn wortlos lächelnd an. In den schwarzen, glänzenden Pupillen konnte er mikroskopisch klein sein blasses Spiegelbild erkennen. “,Laienpfründner der Natur, erst ich lehrte dich lieben'“, hatte sie dann gesagt. Und die reine Maske hatte sich zu einer Grimasse zerknittert, sie hatte diesen kleinen Grunzer eines Lachens ausgestoßen, den schlanken Arm nach der Lampe gestreckt und das Zimmer abermals in Finsternis getaucht. Mit einiger Anstrengung exorzisierte Sebastian seine Erinnerungen. Er blickte abermals in die leuchtend heitern und außerordentlich freundlichen Augen da vor ihm auf. “Weißt du”, sagte Bruno, “ich habe dich beinahe erwartet.” “Mich erwartet?” Bruno nickte, wandte sich um und schritt ihm voraus durch eine dunkle Kiste von Vorraum in ein kleines Wohnschlafzimmer, worin der einzige Luxusgegenstand, außer der Aussicht über Hausdächer auf ferne Berge, ein Viereck von Sonnenlicht war, das wie ein riesiger Rubin auf dem Fliesenboden glühte. “Setz dich!” Bruno wies auf den bequemeren der zwei Stühle, und als sie sich niedergelassen hatten, sagte er nach einer Pause: “Der arme Eustace!” Er hatte eine Art, so bemerkte Sebastian, Zwischenräume zwischen seinen Worten zu lassen, so daß alles, was er sagte, gewissermaßen in
eine Fassung von Schweigen eingesetzt war. “Erzähl mir, wie es geschehn ist.” Atemlos vor Schüchternheit und ein wenig unzusammenhängend begann Sebastian zu erzählen. Ein Ausdruck von Betrübnis erschien auf Brunos Gesicht. “So plötzlich!” sagte er, als Sebastian geendigt hatte. “So ganz ohne Vorbereitung!” Die Worte gaben Sebastian ein köstliches Uberlegenheitsgefühl. Innerlich lächelte er ironisch. Es war fast unglaublich, aber der alte Idiot schien tatsächlich ans Höllenfeuer und ein seliges Ende zu glauben. Mit einem gewollt ernsten Gesicht, aber innerlich noch immer vergnügt lachend, blickte er auf und sah die blauen Augen auf sein Gesicht gerichtet. “Du denkst dir, das klingt recht komisch?” sagte Bruno nach der gewohnten Sekunde absichtlichen Schweigens. Überrascht errötete Sebastian und stammelte: “Aber ich hab doch ... Ich meine, ich .. .” “Du meinst, was jeder Mensch heutzutage meint”, sagte der andre in seinem ruhigen Ton. “Den Tod ignorieren bis zum letzten Augenblick; dann, wenn er nicht länger ignoriert werden kann, sich mit Morphium vollspritzen lassen und in einem Koma abkratzen. Durchaus vernünftig, menschlich und wissenschaftlich, wie?” Sebastian zögerte. Er durfte nicht grob werden, weil er schließlich wollte, daß der alte Schöps ihm helfe. Überdies schrak er davor zurück, sich auf einen Wortstreit einzulassen, bei dem er durch seine Schüchternheit im voraus dazu verurteilt wäre, sich lächerlich zu machen. Dennoch, Unsinn war Unsinn. “Ich sehe nicht, was daran unrecht ist”, sagte er vorsichtig, aber mit einem leisen Unterton fast wie von Trotz. Er saß verdrossen abgewendet da und wartete auf eine rechthaberische Entgegnung des andern. Die kam aber nicht. Auf einen Angriff vorbereitet, sah sich sein Wider-
stand einem freundlichen Schweigen gegenüber und wurde irgendwie absurd und belanglos. Bruno sprach endlich. “Ich vermute, Mrs. Gamble wird sehr bald eine ihrer Seancen veranstalten?” “Das hat sie schon getan”, sagte Sebastian. “Armes altes Geschöpf! So eine Gier nach beruhigender Gewißheit.” “Ich muß schon sagen ... Na, es ist ziemlich überzeugend, glaubst du nicht ...” “Oh, irgend etwas geht wohl dabei vor, wenn du das meinst.” Sich der Bemerkung Mrs. Thwales erinnernd, kicherte Sebastian wissend. “Etwas recht Schamloses”, sagte er. “Schamloses?” wiederholte Bruno und blickte erstaunt auf. “Das ist ein sonderbares Wort dafür. Wie kommst du dazu, es zu gebrauchen?” Sebastian lächelte verlegen und schlug die Augen nieder. “Ach, ich weiß nicht”, sagte er. “Es schien mir grade das richtige Wort zu sein, weiter nichts.” Wieder folgte ein Schweigen. Durch den Rockärmel tastete Sebastian nach der Stelle, wo sie die Spur ihrer Zähne hinterlassen hatte. Ein Berühren schmerzte immer noch. Zwillingskannibalen im Tollhaus ... Und dann erinnerte er sich der verdammten Zeichnung und, daß die Zeit verging, verging. Wie, zum Teufel, sollte er von der Sache anfangen? “Schamlos”, sagte Bruno nachdenklich. “Schamlos . . . Und doch kannst du nicht einsehn, warum man sich aufs Sterben vorbereiten soll?” “Na, er schien vollkommen glücklich zu sein”, antwortete Sebastian, sich gleichsam verteidigend. “Gut aufgelegt und amüsant, weißt du, wie er im Leben war. Das heißt, wenn es wirklich Onkel Eustace war.” “Wenn”, wiederholte Bruno. “Wenn.” “Du glaubst nicht ...?” fragte Sebastian mit einiger Überraschung.
Bruno beugte sich vor und legte ihm die Hand aufs Knie. “Wir wollen uns ganz klar über die Sache werden”, sagte er. “Eustaces Körper plus ein unbekanntes, nichtkörperliches x ist gleich Eustace. Und für unsere gegenwärtigen Zwecke wollen wir annehmen, daß der arme Eustace so glücklich und gut aufgelegt war, wie du zu glauben scheinst. Schön. Es kommt ein Augenblick, wo Eustaces Körper abgetan ist; aber angesichts dessen, was bei der Seance der alten Mrs. Gamble geschieht, sind wir gezwungen zu glauben, daß x fortbesteht. Doch bevor wir weitergehn, wollen wir uns fragen, was es wirklich war, was wir bei der Seance erfahren haben. Wir haben erfahren, daß x plus dem Körper des Mediums gleich ist einem zeitweiligen Pseudo-Eustace. Das ist eine Erfahrungstatsache. Aber was, genau, ist bei alledem x? Und was geschieht mit dem x, wenn es nicht mit dem Körper des Mediums verbunden ist? Was geschieht mit ihm?” “Der Himmel mag's wissen.” “Sehr richtig. Also wollen wir nicht vorgeben, daß wir es wissen. Und wir wollen nicht in den Trugschluß verfallen, zu glauben, daß, weil x plus den Körper des Mediums glücklich ist und gut aufgelegt, dieses x allein auch glücklich und gut aufgelegt sein muß.” Er nahm die Hand von Sebastians Knie und lehnte sich auf seinem Sessel zurück. “Die meisten Tröstungen des Spiritismus”, fuhr er nach einer kleinen Pause fort, “scheinen von schlechter Logik abzuhängen — von Fehlschlüssen aus Tatsachen, die bei Seancen beobachtet wurden. Wenn die alte Mrs. Gamble vom ,Sommerland' hört und Sir Oliver Lodge liest, fühlt sie sich beruhigt; sie ist überzeugt, daß das Jenseits genau so sein wird, wie das Diesseits ist. Tatsächlich aber sind Sommerland und Lodge durchaus vereinbar mit Katharina von Genua und ...” er zögerte, “ja, und sogar mit dem Inferno.” “Dem Inferno?” wiederholte Sebastian. “Aber du stellst dir doch gewiß nicht vor ... ?” Und mit einem letzten
verzweifelten Versuch, sich zu vergewissern, daß Bruno einfach ein alter Schöps sei, lachte er laut heraus. Sein spöttisches Lachen fiel in einen Abgrund wohlwollenden Schweigens. “Nein”, sagte Bruno endlich. “Ich glaube nicht an die ewige Verdammnis. Aber nicht aus irgendeinem Grund, den ich bei Seancen entdecken kann. Und noch weniger aus irgendeinem Grund, den ich im Leben dieser Welt entdecken kann. Aus andern Gründen. Gründen, die zusammenhängen mit dem, was ich weiß vom Wesen ...” Er machte eine Pause, und mit einem vorwegnehmenden Lächeln wartete Sebastian darauf, daß er mit dem Wort “Gott” daherkomme. “ . . . des gasförmigen Wirbeltiers”, schloß Bruno. Er lächelte traurig. “Der arme Eustace! Es gab ihm ein soviel größeres Gefühl der Sicherheit, diesen Namen zu verwenden. Als änderte sich die Tatsache durch den Namen. Und doch lachte er immer über andre Leute, wenn sie maßlose Ausdrücke gebrauchten.” Jetzt wird er mit seinem Bekehrungsfeldzug beginnen, sagte sich Sebastian. Statt dessen aber stand Bruno auf, ging zum Fenster, und ohne ein Wort fing er geschickt die dicke Schmeißfliege, die gegen die Glasscheibe surrte, und schleuderte sie hinaus in die Freiheit. Am Fenster stehnbleibend, wandte er sich um und sprach wieder. “Du hast etwas auf dem Herzen, Sebastian”, sagte er. “Was ist es?” Aufgescheucht, in einer Art panischen Argwohns, schüttelte Sebastian den Kopf. “Nichts”, beteuerte er; aber einen Augenblick später verfluchte er sich dafür, die Gelegenheit verpaßt zu haben. “Und doch bist du, um davon zu sprechen, hergekommen.” Das Lächeln, das die Worte begleitete, entbehrte jeder
Spur von Ironie oder Gönnerhaftigkeit. Sebastian war beruhigt. “Ja, also tatsächlich ...” Er zögerte einige Sekunden und zwang sich dann zu einem recht theatralischen Auflachen. “Weißt du”, sagte er und bemühte sich, es lustig klingen zu lassen, “ich bin beschwindelt worden. Beschwindelt”, wiederholte er mit Nachdruck; denn auf einmal hatte er gesehn, wie sich die Geschichte erzählen ließe, ohne Mr. Tendrings Entdeckung zu erwähnen oder die erniedrigend mißlungenen Versuche, die Wahrheit zu bekennen, — einfach als eine Geschichte vertrauensseliger Unerfahrenheit und (ja, das wollte er zugeben) kindischer Einfältigkeit, die schamlos ausgebeutet worden waren und nun um Hilfe flehten. Immer zuversichtlicher werdend, erzählte er diese redigierte Version des Geschehenen. “Mir eintausend zu bieten, wenn er sie Onkel Eustace für siebentausend verkauft hatte!” schloß er entrüstet. “Es ist einfach glatter Betrug.” “Tja”, sagte Bruno gedehnt, “sie haben sonderbare Begriffe, diese Händler.” Und keiner sonderbarere, hätte er auf Grund einer einstigen Begegnung mit dem Mann hinzusetzen können, als Gabriel Greuil. Jedoch es wäre nichts damit gewonnen und könnte vielleicht wirklich Schaden anrichten, wenn er Sebastian erzählte, was er wußte. “Aber”, fuhr er fort, “was denken denn die oben in der Villa von der ganzen Sache? Die müssen sich doch gewiß wundern?” Sebastian fühlte, wie er errötete. “Sich wundern?” wiederholte er fragend und hoffte dabei und gab vor, nicht zu verstehn, was damit angedeutet war. “Sich wundern, daß die Zeichnung einfach so verschwinden konnte. Und du mußt wohl nicht wenig beunruhigt sein, nicht wahr?” Es folgte eine Pause. Dann nickte Sebastian wortlos. “Es ist schwierig, eine Sache zu entscheiden”, sagte Bruno
sanft, “wenn man nicht alle Tatsachen kennt, die von Belang sind.” Sebastian fühlte sich tief beschämt. “Es tut mir leid”, flüsterte er. “Ich hätte erklären sollen ...” Etwas dämlich begann er die Einzelheiten nachzutragen, die er vorher weggelassen hatte. Bruno hörte ihn zu Ende, ohne etwas dazu zu bemerken. Dann fragte er: “Und du wolltest wirklich das Ganze Mrs. Ockham erzählen?” “Ich fing grade davon an”, beteuerte Sebastian, “und dann wurde sie weggerufen.” “Du hast nicht daran gedacht, es, statt ihr, Mrs. Thwale zu erzählen?” “Mrs. Thwale? Gütiger Himmel, nein!” “Warum, Gütiger Himmel, nein'?” “Hm, ja ...” Verlegen suchte Sebastian nach einer möglichen Art, darauf zu antworten. “Ich weiß nicht. Ich meine, die Zeichnung gehörte ja nicht ihr. Sie hatte nichts damit zu tun.” “Aber du sagst doch, daß sie es war, die das kleine Mädchen verdächtigte.” “Ich weiß, aber ...” Zwillingskannibalen im Tollhaus — und als das Licht aufflammte, hatte aus den Augen über ihm der Blick einer Zuschauerin gefunkelt, die durch den Vorhangspalt einer allereigensten Loge eine Komödie genoß. “Mja, irgendwie ist mir das gar nicht eingefallen.” “Ach so”, sagte Bruno und schwieg ein paar Sekunden. “Wenn ich die Zeichnung für dich zurückbekommen kann”, fuhr er endlich fort, “versprichst du mir, sie sogleich Mrs. Ockham zu geben und ihr die ganze Geschichte zu erzählen?” “Oh, das verspreche ich!” rief Sebastian eifrig. Der andre hielt eine knochige Hand empor. “Nicht so schnell, nicht so schnell! Ein Versprechen ist etwas Ernstes. Bist du sicher, daß du imstande sein wirst, dieses zu halten, wenn du es mir gibst?”
“Gewiß! Ganz sicher!” “Das war auch Simon Peter. Aber Hähne haben die Gewohnheit, im allerungelegensten Augenblick zu krähen ...” Bruno lächelte humorvoll, aber auch mit einer Art mitleidvoller Zärtlichkeit. “Als ob ich krank wäre”, dachte Sebastian, während er dem andern ins Gesicht sah, und war gerührt und zugleich geärgert — gerührt von so viel Besorgnis seinetwegen, aber geärgert durch das, was sie beinhaltete: nämlich, daß er krank sei (todkrank, nach dem Blick dieser leuchtend blauen Augen zu urteilen), erkrankt an der Unfähigkeit, ein Versprechen zu halten. Und das war wirklich ein bißchen stark ... “Na”, sagte Bruno, “je schneller wir zu Werk gehn desto besser, eh?” Er schälte sich aus seinem Sweater, öffnete einen Kasten und nahm einen alten braunen Rock heraus. Dann setzte er sich, um seine Schuhe zu wechseln. Über die Schnürriemen gebeugt, begann er wieder zu sprechen. “Wenn ich etwas Unrechtes tue”, sagte er, “oder auch nur etwas Dummes, finde ich es sehr nützlich — na, nicht grade eine Bilanz aufzustellen, nein, eher eine genealogische Tabelle anzulegen, wenn du verstehst, was ich meine. Eine Art Stammbaum der Missetat. Wer oder was waren die Eltern, die Vorfahren, die Seitenverwandten? Welches werden voraussichtlich die Nachkommen sein — in meinem eignen Leben und in dem andrer Menschen? Es ist erstaunlich, wie weit ein bißchen ehrliches Nachforschen bringt: hinunter in die Rattenlöcher des eignen Charakters; zurück in die Geschichte des Längstvergangenen; hinaus in die Umwelt; vorwärts in die möglichen Folgen. Es macht einen begreifen, daß nichts, was man tut, unwichtig ist, und nichts ganz nur eigne Angelegenheit.” Der letzte Knoten war geknüpft; Bruno stand auf. “Ja, ich glaube, das ist alles”, sagte er, als er den Rock anzog. “Nur noch das Geld”, mummelte Sebastian unbehaglich.
Er zog seine Brieftasche hervor. “Ich hab nur noch etwa tausend Lire davon. Wenn du mir den Rest leihen könntest ... Ich werd's zurückzahlen, sobald ich nur irgendwie ...” Bruno nahm das Bündel Scheine und reichte einen davon Sebastian zurück. “Du bist kein Franziskaner”, sagte er. “Jedenfalls noch nicht — allerdings eines Tages vielleicht, aus bloßer Selbstverteidigung gegen dich selbst ...” Er lächelte fast spitzbübisch, stopfte das übrige Geld in die Hosentasche und griff nach seinem Hut. “Ich glaube nicht, daß ich sehr lange weg sein werde”, sagte er, von der Tür zurückblickend. “Du wirst reichlich genug Bücher finden, um dich zu amüsieren, — das heißt, wenn du ein Betäubungsmittel willst, — was du hoffentlich nicht willst. Ja, ich hoffe, du willst das nicht”, wiederholte er mit plötzlichem, eindringlichem Ernst. Dann wandte er sich um und ging. Sich selbst überlassen, setzte sich Sebastian wieder. Es war natürlich ganz anders verlaufen, als er es sich vorgestellt hatte; aber sehr gut. Besser, tatsächlich, als er je zu hoffen gewagt hatte, — nur daß er wirklich wünschte, er hätte nicht damit angefangen, diese redigierte Version des Geschehnen zu erzählen. Erst zu versuchen, bessere Figur zu machen, und dann erniedrigend eingestehn zu müssen, daß es nicht wahr war! Jeder andre hätte die Gelegenheit ergriffen, ihm eine fürchterliche Pauke zu halten. Nicht Bruno, allerdings. Er war dem Mann von Herzen dankbar für seine Duldsamkeit. Die Anständigkeit zu besitzen, ihm zu helfen, ohne es ihn erst durch eine Predigt entgelten zu lassen, — das war wirklich außerordentlich. Und er war auch gar kein Dummkopf. Was er da gesagt hatte, über die Genealogie einer Missetat zum Beispiel ... “Die Genealogie einer Missetat”, flüsterte er in die Stille hinein, “der Stammbaum ...” Er begann an die Lügen zu denken, die er gebraucht hatte, und an alle ihre verzweigten Vorbedingungen und
Begleiterscheinungen und Folgen. Er hätte natürlich nicht lügen sollen; aber andrerseits, wenn nicht diese idiotischen Grundsätze seines Vaters gewesen wären, hätte er nicht zu lügen brauchen. Und wenn nicht die Elendsviertel und die reichen Männer mit Zigarren, wie der arme Onkel Eustace, gewesen wären, hätte sein Vater nicht diese idiotischen Grundsätze gehabt. Und doch war Onkel Eustace grundgütig und anständig gewesen. Wogegen dieser antifaschistische Professor — man würde ihm nicht über den Weg trauen. Und wie langweilig die meisten dieser linksstehenden Freunde seines Vaters aus den untern Klassen waren! Wie unaussprechlich öde! Aber öde und langweilig, so mahnte er sich, für ihn; und das war wahrscheinlich sein Fehler. Genau so, wie es sein Fehler war, daß dieser Abendanzug ihm so unentbehrlich vorgekommen war — weil andre Burschen einen hatten; weil diese Mädel zu Tom Boveneys Abend kämen. Aber man sollte sich nicht darum kümmern, was andre Leute taten oder dachten; und die Mädel würden sich wahrscheinlich nur als wieder ein Vorwand für sinnliches Tagträumen erweisen, dem von nun an bestimmt war, durchgeistert zu werden von Erinnerungen an die Wirklichkeit der gestrigen Nacht unvorstellbarer Schamlosigkeit und Selbstentfremdung. Kannibalen im Tollhaus — und die Tür dieses Tollhauses war verschlossen worden und hatte die letzte Möglichkeit, die Wahrheit zu sagen, ausgeschlossen. Mittlerweile beteuerte in einem überfüllten Häuschen am entlegensten, unbesuchten Ende des Gartens vielleicht grade in diesem Augenblick bei einem zornigen Kreuzverhör ein Kind unter Tränen seine Unschuld. Und wenn Schläge und Drohungen der Kleinen nicht entreißen könnten, was sie nicht wußte, würde diese alte Teufelshexe, diese Mrs. Gamble, darauf bestehn, die Polizei rufen zu lassen; und dann würden alle ausgefragt werden, alle — und natürlich auch er selbst. Aber wäre er imstande, bei seiner Geschichte zu bleiben? Und wenn die Polizei sich einfallen ließe, zu Greuil zu
gehn und ihn zu befragen, welchen Grund hätte der, ihr die Wahrheit vorzuenthalten? Und dann ... Sebastian schauderte. Aber jetzt war, Gott sei Dank, der gute Bruno ihm zu Hilfe gekommen. Die Zeichnung würde zurückgekauft werden; er würde Tante Daisy die ganze Sache eingestehn — auf seine unwiderstehliche Art, so daß sie zu weinen begänne und sagen würde, er sei genau so wie Frankie, — und alles wäre in Ordnung. Die Kinder seiner Lügen blieben entweder ungeboren oder würden in der Wiege erwürgt, und die Lüge selbst wäre wie nie ausgesprochen. Ja, für alle praktischen Zwecke könnte man nun sagen, daß sie nie ausgesprochen worden sei. “Nie”, sagte sich Sebastian mit Nachdruck, “nie!” Seine Stimmung hob sich. Er begann zu pfeifen, und plötzlich gewahrte er in blitzartiger, lustvoller Erleuchtung, wie gut dieser Gedanke einer Genealogie des Übeltuns in den Plan seines neuen Gedichts passen würde. Muster aus Atomen; aber ein Chaos von Molekülen im Stein. Bestimmte Muster aus lebenden Zellen und Organen und physiologischen Funktionen; aber ein Chaos menschlichen Tuns und Verhaltens in der Zeit. Und doch waren sogar in diesem Chaos Gesetzmäßigkeit und Logik; es gab da eine Geometrie sogar der Verderbnis. Das Quadrat der Lust war sozusagen gleich der Summe aus den Quadraten der Eitelkeit und des Müßiggangs. Die kürzeste Entfernung zwischen zwei Begierden war die Gewalttat. Und was war's mit den Lügen, die er erzählt hatte? Was war's mit Verrat und gebrochenen Versprechen? Wortgebilde begannen sich in seinem Geist zu formen. Belial, seine wulstigen Lippen, und Geiz, Einen fallenfest schließenden Sphinkter gespitzt, Geben den lustvoll verlängerten Judaskuß ... Er zog Bleistift und Notizblock hervor und begann zu schreiben. “ ... den lustvoll verlängerten Judaskuß.” Und
nach Judas die Kreuzigung. Aber der Tod hatte viele Vorfahren außer Habgier und Falschheit; noch viele andre Formen außer freiwilligem Märtyrertum. Er erinnerte sich eines Artikels, den er irgendwo gelesen hatte, über die Art des nächsten Kriegs. “Die toten Kinder”, schrieb er, “Die toten Kinder wie Unrat auf den Straßen, Sobald es die Bomber geschaßt, der herzensträge Biedermann mordet sie, während er schnarcht. Es mordet Calvin, der Vater eines Tausends Huren, Auf Kanzeln, vernunftgemäß, als logischen Schluß ...” Eine Stunde verging, dann knarrte ein Schlüssel in der Wohnungstür. Erstaunt, und zugleich ärgerlich über die unwillkommene Unterbrechung, tauchte Sebastian aus den Tiefen seiner selbstvergessenen Versunkenheit auf und blickte zur Tür. Bruno begegnete seinem Blick und lächelte. “Eccolo!'' sagte er und hielt ein flaches rechteckiges Paket in braunem Papier hoch. Sebastian sah hin und konnte sich eine Sekunde lang nicht denken, was es war. Dann erkannte er es; aber so völlig hatte er sich selbst überzeugt, daß Bruno Erfolg hätte und all seine Schwierigkeiten bereits überstanden seien, daß der tatsächliche Anblick der Zeichnung ihn fast gleichgültig ließ. “Ach, das Dingsda”, sagte er, “der Degas.” Dann wurde ihm klar, daß er schon aus bloßer Höflichkeit etwas wie Dankbarkeit und Freude zeigen müsse, und er hob die Stimme und rief: “Oh, ich danke dir, ich danke dir! Ich kann dir gar nie ... Ich meine, du warst so unglaublich gütig ...” Bruno sah ihn an, ohne etwas zu sagen. “Ein kleiner Cherub in grauer Flanellhose”, dachte er, sich der Phrase erinnernd, die Eustace auf dem Bahnhof gebraucht hatte.
Und es war wahr: dieses Lächeln war engelhaft, wenngleich berechnet. Dieser junge Mensch hatte etwas schön und übernatürlich Unschuldiges, auch wenn er, wie jetzt, so offenkundig Theater spielte. Und nebenbei, warum sollte er Theater spielen? Und wenn man die Panik in Betracht zog, in der er vor einer Stunde gewesen, warum fühlte er sich nun nicht aufrichtig froh und dankbar? Während Bruno in der zarten Schönheit dieses Gesichts da vor ihm forschte, suchte er vergebens nach einer Antwort auf seine Fragen. Er konnte nichts andres darin finden als die grobe Tatsache dieser seraphischen Naivität, die unter der kindischen Heuchelei bezaubernd hervorschien; dieser Arglosigkeit sogar absichtlicher Verschlagenheit. Und eben dieser Arglosigkeit wegen würden die Menschen ihn immer lieben — immer, zu welchem Tun oder Lassen er auch verführt würde. Aber das war noch keineswegs die gefährlichste Folge davon, ein Seraph zu sein — und zwar ein Seraph außerhalb des Himmels, der seligen Schau beraubt, ja sogar ohne eine Ahnung vom Dasein Gottes. Nein, die gefährlichste Folge wäre die, daß er, was immer er tun oder lassen mochte, infolge der Schönheit seiner ihm innewohnenden Unschuld dazu neigen würde, sich die heilsamen Qualen der Zerknirschung zu ersparen. Da er engelhaft war, würde er geliebt werden, nicht nur von andern, sondern auch von sich selbst — durch dick und dünn, mit einer Liebe, die von keiner geringeren Gewalt als der eines großen Unglücks zu bezwingen wäre. Wiederum fühlte sich Bruno von einem tiefen Mitgefühl bewegt. Sebastian, der zur Zielscheibe Vorbestimmte, das zarte und strahlende Ziel Gott allein wußte welcher unvermuteter Schwärme von Pfeilen — durchdringender Genüsse, mit Lob vergifteter und mit Widerhaken versehener Erfolge; und dann, wenn die Vorsehung so gnädig wäre, ein Gegengift zu senden, welcher Schmerzen und Demütigungen und Niederlagen ... “Du hast etwas geschrieben?” fragte er endlich, Block
und Bleistift bemerkend und sie zum Vorwand nehmend, um das lange Schweigen zu brechen. Sebastian errötete und verstaute beides in seine Taschen. “Ich habe darüber nachgedacht, was du sagtest, grade bevor du weggingst”, antwortete er. “Darüber, daß Dinge Stammbäume haben, weißt du ...” “Und du hast die Stammbäume der Fehler ausgearbeitet, die du gemacht hast?” fragte Bruno hoffnungsvoll. “Nein, nicht grade das. Ich habe ... Mja, siehst du, ich arbeite an einem neuen Gedicht, und das alles schien so gut hineinzupassen . . .” Bruno dachte an die Unterredung, von der er soeben kam, und lächelte mit einer Spur ziemlich wehmütiger Belustigung. Gabriel Greuil hatte zu guter Letzt nachgegeben; aber keineswegs gute Miene dazu gemacht. Gegen seinen Willen — denn er hatte sein möglichstes getan, die Szene zu vergessen, — erinnerte sich Bruno der häßlichen Worte, die gesprochen worden waren, der leidenschaftlichen Gesten dieser behaarten und wunderschön manikürten Hände, des wutverzerrten blassen Gesichts. Er seufzte, legte seinen Hut und die Handzeichnung auf ein Büchergestell und setzte sich. “Das Evangelium der Dichtkunst”, sagte er gedehnt. “Im Anfang waren die Wörter, und die Wörter waren bei Gott und die Wörter waren Gott. Hier endet die erste, letzte und einzige Lektion.” Es wurde sehr still. Sebastian saß ganz regungslos, mit abgewandtem Gesicht, und starrte zu Boden. Er schämte sich und nahm es zugleich übel, daß er gezwungen worden war, sich zu schämen. Schließlich war doch nichts Schlechtes am Dichten. Also warum sollte er nicht dichten, wenn er sich dazu aufgelegt fühlte? “Darf ich sehn, was du geschrieben hast?” fragte Bruno endlich. Sebastian errötete abermals, mummelte, daß es nichts tauge, reichte dem andern aber schließlich den Schreibblock.
“ ,Belial, seine wulstigen Lippen' “, begann Bruno und las dann stumm weiter. “Gut”, sagte er, als er zu Ende war. “Ich wollte, ich könnte die Sache so kraftvoll ausdrücken. Wenn ich's imstande gewesen wäre”, fügte er mit einem leisen Lächeln hinzu, “hättest du die Zeit vielleicht damit ausgefüllt, deinen Missetatenstammbaum zu ermitteln statt etwas zu schreiben, das andre Leute vielleicht dazu bewegen könnte, den ihren zu ermitteln. Aber du hast eben das Glück gehabt, als Dichter geboren zu werden. Oder ist es ein Unglück?” “Ein Unglück?” wiederholte Sebastian. “Jede gute Fee ist potentiell auch eine böse Fee.” “Warum?” “Weil es leichter ist, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ...” Er ließ den Satz unvollendet. “Aber ich bin doch nicht reich”, widersprach Sebastian und dachte grollend daran, was die Knauserigkeit seines Vaters ihn zu tun gezwungen hatte. “Nicht reich? Lies deine eigenen Verse!” Bruno gab ihm den Schreibblock zurück. “Und wenn du das getan hast, sieh dir dein Bild im Spiegel an!” “Oh, ich verstehe . . .” “Und in Frauenaugen — denn die sind auch Spiegel, wenn sie nahe genug kommen”, fügte Bruno hinzu. Wenn sie nahe genug kommen — und hinunterblicken auf die Komödie, und wenn in ihrem Glanz das mikroskopische Bild des Laienpfründners der Natur erscheint. In heftigstem Unbehagen fragte sich Sebastian, was dieser Mensch wohl als nächstes sagen werde, aber zu seiner großen Erleichterung nahm das Gespräch eine weniger persönliche Wendung. “Und doch —”, fuhr Bruno nachdenklich fort, “einer gewissen Anzahl der innerlich Reichen gelingt es wirklich, durch das Nadelöhr zu gehn. Bernhard, zum Beispiel. Und vielleicht auch Augustin, obgleich ich mich stets frage, ob
er nicht etwa das Opfer seines unvergleichlichen Stils war. Und Thomas von Aquino. Und offenbar Franz von Sales. Aber es sind wenige, sehr wenige. Die große Mehrzahl der Reichen bleibt stecken oder versucht es überhaupt nicht. Hast du je eine Lebensbeschreibung Kants gelesen?” fragte er wie nebenhin. “Oder Nietzsches?” Sebastian verneinte stumm. “Na, vielleicht solltest du's auch lieber nicht”, sagte Bruno. “Wenn man sie liest, fällt es einem schwer, nicht unnachsichtig zu sein. Und gar Dante ...” Er schüttelte den Kopf, und es folgte ein Schweigen. “Onkel Eustace sprach von Dante”, versuchte Sebastian das Gespräch wieder in Gang zu bringen. “Am letzten Abend — kurz bevor ...” “Was sagte er?” Sebastian versuchte, so gut er konnte, das Wesentlichste des Gesprächs wiederzugeben. “Und er hatte vollkommen recht”, sagte Bruno, als Sebastian zu Ende war. “Nur daß Chaucer natürlich keine Lösung des Problems ist. Auf eine gewisse Art weltlich zu sein und unübertrefflich gut über diese Welt zu schreiben, ist auch nicht besser, als auf eine andre Art weltlich zu sein und hervorragend gut übers Jenseits zu schreiben. Nicht besser für einen selbst, heißt das. Was die Wirkung auf andre betrifft ...” Er lächelte und zuckte die Achseln. “ ,Mag Augustin nur seine Plage haben' oder ,e la sua volontate e nostra pace; ell'è quel mare al quäl tutto si move, ciò ch'ella crea e ehe natura face.' Ich weiß, welchen von beiden ich wählen würde. Kannst du übrigens Dante im Original lesen?” Sebastian schüttelte den Kopf, versuchte aber sogleich, sein Eingeständnis von Unwissenheit durch ein wenig Prahlen wettzumachen.
“Wenn's Griechisch wäre oder Lateinisch oder Französisch .. .” “Leider ist's Italienisch”, warf Bruno völlig sachlich ein. “Aber Italienisch ist des Lernens wert, und wär's nur um dessentwillen, was diese Verse für einen tun können. Und doch —”, fügte er hinzu, “wie wenig sie für den Mann getan haben, der sie tatsächlich schrieb! Der arme Dante — die Art, wie er sich auf die Schulter klopft dafür, daß er einer so vornehmen Familie angehört! Ganz zu schweigen davon, daß er der einzige Mensch ist, dem es je erlaubt war, den Himmel zu besuchen, bevor er starb! Und nicht einmal im Paradies kann er aufhören, über zeitgenössische Politik zu zetern und zu toben. Und sobald er zur Sphäre der Kontemplativen gelangt, wovon läßt er da Benedikt und Peter Damian reden? Nicht von der Liebe oder der Befreiung oder von der Übung der Gegenwart Gottes — nein, nein, sie verbringen ihre ganze Zeit so, wie Dante die seine zu verbringen liebte: indem sie den schlechten Lebenswandel andrer anprangern und ihnen mit dem Höllenfeuer drohn.” Traurig schüttelte Bruno den Kopf. “So eine Verschwendung so ungeheurer Gaben — es ist zum Weinen!” “Warum, glaubst du wohl, hat er sich auf diese Weise verschwendet? “ “Weil er wollte. Und wenn du fragst, warum er es auch dann noch wollte, als er geschrieben hatte, daß Gottes Wille unser Friede sei, so ist die Antwort darauf, daß das eben die Art ist, wie das Genie arbeitet. Es hat Einblicke in das Wesen der letzten Wirklichkeit, und es gibt der so erlangten Erkenntnis Ausdruck. Gibt ihr entweder explizite Ausdruck, in Zeilen wie ,e la sua volontate è nostra pacé, oder implizite, zwischen den Zeilen sozusagen, indem es schön schreibt. Und natürlich kann man über alles schön schreiben, angefangen von Chaucers Frau aus Bath bis zu Baudelaires affreuse juive und Grays im Goldfischglas ertrunkener Katze Selima. Und überdies
vermitteln einem die ausdrücklichen Aussagen über die Wirklichkeit nicht sehr viel, wenn nicht auch sie poetisch geschrieben sind. Schönheit ist Wahrheit, Wahrheit Schönheit. Die Wahrheit über die Schönheit steht in den Zeilen und die Schönheit der Wahrheit zwischen den Zeilen. Wenn diese weißen Zwischenräume bloß leer sind, sind die Zeilen bloß ... bloß die frommen Lieder im Gesangbuch.” “Oder ein später Wordsworth”, warf Sebastian ein. “Ja, und vergiß den sehr frühen Shelley nicht!” sagte Bruno. “Der Puerile kann ebenso albern sein wie der Senile.” Er lächelte Sebastian an. “Nun, also wie ich sagte”, fuhr er in anderm Ton fort, “explizite oder implizite geben Genies ihrer Erkenntnis der Wirklichkeit Ausdruck. Aber sie selbst handeln sehr selten nach ihrer Erkenntnis. Und warum? Weil ihre ganze Energie und Aufmerksamkeit von der Arbeit des Schaffens in Anspruch genommen wird. Sie befassen sich mit Schreiben, nicht mit Handeln oder Sein. Aber da sie sich nur mit dem Schreiben über das befassen, was sie erkannt haben, hindern sie sich dadurch, mehr zu erkennen.” “Was meinst du damit?” fragte Sebastian. “Erkenntnis ist dem Sein proportional”, antwortete Bruno. “Man erkennt kraft dessen, was man ist; und was man ist, hängt von dreierlei ab: was man ererbt hat, wie die Umgebung auf einen einwirkte und, was man mit Umgebung und Erbteil zu tun beschließt. Ein genialer Mensch erbt ein ungewöhnliches Vermögen, in die letzte Wirklichkeit Einsicht zu haben und dem, was er sieht, Ausdruck zu verleihn. Ist seine Umgebung halbwegs günstig, wird er imstande sein, seine Kräfte zu betätigen. Verwendet er aber alle seine Energien aufs Schreiben und versucht nicht, sein ererbtes und erworbenes Sein im Lichte dessen, was er erkannt hat, zu verbessern, kann es ihm nie gelingen, seine Erkenntnisse zu vermehren. Im Gegenteil, er wird fortschreitend weniger wissen, statt mehr.”
“Weniger statt mehr?” wiederholte Sebastian fragend. “Weniger statt mehr”, bestätigte der andre. “Wer nicht besser wird, wird schlechter, und wer schlechter wird, ist in einer Lage, wo er immer weniger und weniger vom Wesen der letzten Wirklichkeit weiß. Umgekehrt natürlich, wenn man besser wird und mehr weiß, wird man versucht sein, mit dem Schreiben aufzuhören, weil die einen ganz in Anspruch nehmende Arbeit des Dichtens ein Hindernis aut dem Weg zu weiterer Erkenntnis ist. Und das ist vielleicht einer der Gründe, daß die meisten genialen Menschen sich solche unendliche Mühe geben, nicht Heilige zu werden, — aus reinem Selbsterhaltungstrieb. So haben wir einen Dante, der engelhafte Verse über den Willen Gottes schreibt und mit dem nächsten Atemzug seinen Rachegelüsten und Eitelkeiten Luft macht. So erhält man einen Wordsworth, der Gott in der Natur anbetet und Bewunderung, Hoffnung und Liebe predigt, während er die ganze Zeit einen Ichkult treibt, der die Leute, die ihn persönlich kennen, einfach starr vor Staunen macht. So erhält man einen Milton, der ein ganzes Epos dem ersten Ungehorsam des Menschen widmet und beharrlich einen Stolz zeigt, der seines eigenen Luzifers würdig ist. Und zuletzt”, fügte er mit einem kleinen Auflachen hinzu, “erhält man Jung-Sebastian, der die Wahrheit eines wichtigen allgemeinen Grundgesetzes erkennt — der Wechselbeziehung alles Bösen — und seine ganze Energie darauf verwendet, nicht etwa nach seiner Erkenntnis zu handeln — was langweilig wäre, sondern sie in Verse zu verwandeln — was ihm ein reiner Genuß ist. ,Calvin, der Vater eines Tausends Huren' ist recht gut, das gebe ich dir zu; aber etwas Persönliches und Praktisches wäre vielleicht noch besser gewesen, meinst du nicht? Immerhin, wie ich schon sagte, im Anfang waren die Wörter, und die Wörter waren bei Gott, und die Wörter waren Gott.” Er stand auf und ging zur Küchentür. “Und nun wollen wir sehn, was wir zu einem Lunch zusammenkratzen können.”
27. KAPITEL Nach dem Mittagessen gingen sie ein paar Sehenswürdigkeiten besichtigen, und als Sebastian sich endlich auf den Heimweg machte, war seine Phantasie von den Fresken in San Marco und von den Mediceergräbern erfüllt. Die Sonne stand bereits tief, als er die steile, staubige Straße zur Villa hinaufging; da waren Schätze von blauen Schatten, Flächen, nicht von Mauerwerk oder Stuck, sondern von Bernstein, Bäume und Gras, die von übernatürlicher Bedeutsamkeit glühten. Glückselig, in einer Stimmung müheloser Wachheit und Passivität wie ein offenäugiger Schlafwandler, der sieht, dessen Sehvermögen aber irgendwie nicht sein eignes ist, der fühlt und denkt, aber auf eine Weise, die keine persönliche Beziehung mehr hat, und mit einem völlig freien und unbedingten Geist, so wanderte er durch den ihn tatsächlich umgebenden strahlenden Glanz, durch die Erinnerung an das erst vor so kurzer Zeit Gesehene und Gehörte — an die riesigen glatten Marmorgestalten, die wie von Licht durchfluteten Heiligen an den weißgetünchten Wänden der Klosterzellen, die Worte, die Bruno gesprochen hatte, als sie aus der Mediceerkapelle kamen. “Michelangelo und Fra Angelico — Apotheose und Deifikation.” Apotheose — die Persönlichkeit erhoben und gesteigert, vergöttert, bis die Person aufhört, bloß Mensch zu sein, und gottgleich wird, einer der Olympier wie dieser leidenschaftlich nachdenkliche Krieger, wie diese mächtigen Titaninnen, die nackt über dem Sarkophag sinnen. Und im Gegensatz zur Apotheose Vergottung — die Persönlichkeit vernichtet in Allerbarmen, in Vereinigung, so daß der Mensch endlich sagen kann: “Nicht ich, sondern Gott in mir.”
Indessen war hier wieder die Ziege, die an den Wistariablüten geknabbert hatte im Licht der Autoscheinwerfer, am ersten Abend, dem letzten mit Onkel Eustace. Diesmal aber hatte sie eine halbgekaute Rose aus dem Mundwinkel hervorstehn — wie Carmen in der Oper, so daß sie nun zu den vorgestellten Klängen des “Auf in den Kampf, Toreador” an das Gittertor des Gartens herankam und ihn, noch immer langsam an der Rose kauend, durch die Stäbe ansah. In den gelben Augen waren die Pupillen zwei schmale Schlitze reinster, schwärzester Geistlosigkeit. Sebastian streckte die Hand aus und streichelte die lange Krümmung einer edeln semitischen Nase, liebkoste sechs warme und muskulöse Zoll eines Hängeohrs und ergriff dann eins der Teufelshörner. Carmen begann ungeduldig rückwärtszutreten. Er packte fester zu und versuchte, sie vorwärtszuziehen. Mit einer jähen, kraftvollen Kopfwendung befreite sich die Ziege und sprang die Stufen hinauf, und ihr großes schwarzes Euter schwabbelte. Auf der obersten Stufe blieb sie stehn, ließ ein halbes Dutzend Exkrementpillen fallen, reckte den Hals und rupfte sich eine andre Rose, für ihr Auftreten im zweiten Akt. Sebastian wandte sich ab und ging schlafwandlerisch glücklich weiter durch den Sonnenschein des Spätnachmittags und seine Erinnerungen. Aber auf dem Grund seiner Gedanken war er sich unbehaglich der andern, unbeachteten Wirklichkeiten bewußt — der Lügen, die er gebraucht hatte, der bevorstehenden Aussprache mit Tante Daisy. Und vielleicht war dieses unglückselige kleine Mädchen ausgefragt, verprügelt, mit Essenentzug bestraft worden? Aber nein, er weigerte sich, sein Glücksgefühl aufzugeben, bevor es unbedingt nötig wäre. Carmen mit ihrer Rose und ihrem weißen Bart; Marmor und Fresken; Apotheose und Deifikation. Aber warum nicht Apotragose und Caprifikation? Er lachte laut heraus. Und doch hatte ihm, was Bruno sagte, als sie auf der Piazza del Duomo standen und auf die Tram warteten, tiefen Eindruck gemacht. Apotheose und
Deifikation — die einzigen Wege, um dem unaussprechlichen Überdruß zu entkommen, dem albernen und entwürdigenden Greuel, einzig nur man selbst zu sein, nur menschlich zu sein. Zwei Wege; wirklich aber führte nur der zweite hinaus ins Freie. Der erste erwies sich, obgleich er offenbar viel mehr versprach und bei weitem anziehender war, ausnahmslos nur als eine großartige Sackgasse. Unter Triumphbogen, durch Alleen von Statuen und Springbrunnen, marschierte man mit großem Pomp auf endgültige Vereitelung los, feierlich und heroisch, und stieß mit voller Wucht an die unübersteigliche Schranke der eignen Selbstheit. Und diese Schranke war natürlich aus solidem Marmor und mit den Kolossalstatuen der eignen Kraft, Großmut und Weisheit geschmückt, aber darum nicht weniger eine Mauer als das grotesk häßlichste der Laster dort unten in dem alten, allzu menschlichen Gefängnis. Wogegen der andre Weg ... Aber da war schon die Tram gekommen. “Du warst unglaublich gut zu mir”, hatte er gestammelt, als sie einander die Hand drückten, und dann, plötzlich von seinem Gefühl fortgerissen: “Du hast mich so viel sehn machen ... Ich will wirklich versuchen ... wirklich .. .” Der gebräunte hakennasige Schädel hatte gelächelt, und die Augen in ihren tiefen Höhlen hatten aufgeleuchtet von Zärtlichkeit und, abermals, von Mitleid. Ja, hatte sich Sebastian wieder gesagt, während die Tram durch die engen Gassen zum Fluß kroch, er wollte es wirklich versuchen. Versuchen, ehrlicher zu sein, weniger an sich selbst zu denken, mehr mit Menschen und wirklichen Ereignissen zu leben und nicht so ausschließlich mit Wörtern. Wie gräßlich er war! Selbsthaß und Reue mischten sich harmonisch mit den Gefühlen, die durch das Spätnachmittagslicht und die fesselnde Fremdheit dessen, was es beleuchtete, hervorgerufen waren, durch San Marco und die Mediceerkapelle, durch Brunos freundliche Güte und alles, was er gesagt hatte. Und allmählich hatte seine Stim-
mung aus ihrer ursprünglich ethischen Tonart nach einer andern moduliert — aus der Exaltation von Reue und guten Vorsätzen in die Seligkeit losgelöster poetischer Kontemplation, in diesen himmlischen schlafwandlerischen Zustand, worin er sich noch immer befand, als er um die letzte Kehre der Straße kam und die schmiedeeisernen Torflügel zwischen den schlanken Steinpfeilern erblickte, die feierliche Prozession von Zypressen, die sich zur Villa hinzog und um die Kontur des Abhangs dem Blick entschwand. Er trat durch die kleine Pforte für Fußgänger. Der feine Kies der Allee machte ein köstlich knirschendes Geräusch unter seinen Füßen. Da kam plötzlich zwischen zwei hohen Zypressen, zwanzig oder dreißig Schritte vor ihm, eine kleine schwarze Gestalt in die Zufahrt herausgelaufen. Mit einem Aufschrecken und einem gräßlichen Gefühl jäher Leere im Magen erkannte Sebastian das kleine Mädchen mit dem Jätkorb, erkannte die Inkarnation seines unbeachteten schuldbewußten Gewissens, die Botin einer Wirklichkeit, die er in seinem schlafwandlerischen Losgelöstsein vergessen hatte. Als die Kleine ihn erblickte, hielt sie inne und stand und starrte ihn mit runden schwarzen Augen an. Ihr Gesicht, so gewahrte Sebastian, war blasser als gewöhnlich, und sie hatte offenbar geweint. O Gott! . . . Er lächelte ihr zu, rief ein “Hallo” und schwenkte freundlich die Hand. Aber bevor er noch fünf Schritte weitergegangen war, hatte die Kleine sich umgewendet und war wie ein furchtsames Tier auf dem Fußpfad, den sie gekommen war, hinweggeeilt. “Bleib doch!” rief er ihr nach. Aber natürlich blieb sie nicht; und als er zu der Lücke zwischen den Bäumen kam, war sie nirgends mehr zu sehn. Und auch wenn er ihr nachgegangen wäre und sie gefunden hätte, so überlegte er, hätte es nichts genützt. Sie verstand kein Englisch, und er sprach nicht italienisch. Düster machte er kehrt und ging weiter, auf das Haus zu.
Niemand von der Dienerschaft war zu sehn, als er eintrat, und er hörte keinen Laut aus dem Salon. Gott sei Dank, die Luft war rein! Er ging auf den Zehenspitzen durch die Halle und begann die Treppe hinaufzusteigen. Auf der letzten Stufe vor dem ersten Stock hielt er an. Laute waren an sein Ohr gedrungen. Irgendwo, hinter einer dieser geschlossenen Türen sprachen Leute. Sollte er durch die unsichtbare Blockade schlüpfen und weitergehn oder den Rückzug antreten? Sebastian zögerte noch, als die Tür des Raums, der das Zimmer des armen Onkels Eustace gewesen war, aufgestoßen wurde und die alte Mrs. Gamble heraustrat, in dem einen Arm dieses Hundevieh, am andern von Tante Daisy geführt. Ihnen folgte eine blasse, kuhähnliche Person, in der Sebastian das Medium erkannte. Dann kam Mrs. Thwale und dicht hinter ihr — zu seinem Entsetzen — Gabriel Greuil und, offenbar, Mme. Greuil. “... so ganz anders als die okzidentale Kunst”, hörte er Greuil sagen. “Sie, zum Beispiel, würden wohl kein Verlangen haben, sich als gotische Madonna zu fühlen — nicht wahr, Madame?” Greuil schlängelte sich an Mrs. Thwale und dem Medium vorbei und ergriff Mrs. Ockham am Ärmel. “Nicht wahr?” wiederholte er dringlicher, als sie stehnblieb und sich ihm zuwandte. “Also ich weiß wirklich nicht...” erwiderte Mrs. Ockham ungewiß. “Was sagt er da?” fragte die Königin-Mutter scharf. “Ich kann kein Wort verstehn.” “So ein Trecento-Faltenwurf —” fuhr Monsieur Greuil fort, “viel zu hart und emphatisch!” Er schnitt eine Grimasse der Qual und umfaßte mit der linken mitleidig liebkosend die Finger seiner rechten Hand, als hätten sich die soeben in einer Mausefalle gefangen. “Qué barbaridad!” Noch immer die Augen fest auf die Gefahr am andern Ende des Korridors gerichtet, trat Sebastian lautlos von der höchsten Stufe auf die nächsttiefere zurück.
“Ein chinesisches Objekt hingegen —”, fuhr Monsieur Greuil fort, und statt gequält sah sein volles ausdrucksfähiges Gesicht verzückt aus, “un petit bodhisattva, par exemple ...” Noch eine Stufe zurück und hinunter. .... mit seinen Gewändern in Verflüssigung. Wie Butter im August. Keine Heftigkeit, keine gotischen Falten — einfach quelques volutes savantes et peu profondes ...” Wollüstig liebkoste die dicke blasse, behaarte Hand die Luft. “Welch ein Fest für die Fingerspitzen! Was für eine sublime Sensualität! Welche ...” Noch eine Stufe. Aber diesmal war seine Bewegung zu jäh. Foxi VIII. wandte seine untrügliche Nase dem Treppenhaus zu und begann, in Mrs. Gambles Umarmung zappelnd, wie rasend zu kläffen. “Aber das ist ja Sebastian!” rief Mrs. Ockham entzückt. “Komm doch und laß dich Monsieur und Madame Greuil vorstellen!” Mit dem Gefühl eines Verbrechers auf dem Weg zur Hinrichtung stieg Sebastian langsam die letzten drei Stufen des Schafotts hinauf und ging auf den Block zu. Das Gekläff wurde noch hysterischer. “Sei still, Foxi!” schnarrte die Königin-Mutter. Dann milderte sie Befehl durch vernünftiges Zureden. “Er ist ja schließlich “, fügte sie hinzu, “ein völlig harmloser Junge. Völlig harmlos.” “Sebastian Barnack, der Neffe meines Stiefvaters”, erklärte ihn Mrs. Ockham den Greuils. Sebastin blickte auf und erwartete einem Lächeln ironischen Wiedererkennens zu begegnen, einer wortreichen Erklärung, daß Greuil ihn bereits kenne. Aber die Frau neigte nur höflich den Kopf, während ihr Mann ihm die Hand entgegenstreckte und sagte: “Entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen.” “Sehr erfreut”, erwiderte Sebastian murmelnd und ver-
suchte, so auszusehn und sich so zu benehmen wie bei einem gewöhnlichen, bedeutungslosen Vorgestelltwerden. “Ohne Zweifel”, sagte Monsieuer Greuil, “teilen Sie die Kunstliebe Ihres Onkels?” “Oh, ganz gewiß .. . Ich meine, ich ...” “Die chinesische Sammlung allein!” Monsieur Greuil schlug die Hände zusammen und blickte himmelwärts. “Und daß er das meiste davon in seinem Schlafzimmer behielt”, fuhr er fort und wandte sich zurück an Mrs. Ockham, “für keine andern Augen als die seinen! Welches Zartgefühl, welche Sensibilität!” “Ich würde das ganze Zeug verkaufen, wenn ich du wäre, Daisy”, warf die Königin-Mutter ein. “Verkaufs gegen bar und kauf dir einen Rolls. Es ist eine Ersparnis, zu guter Letzt.” “Wie wahr!” hauchte Monsieur Greuil im Ton eines Mannes, der ehrfürchtig einem Ausspruch Rabindranath Tagores Bewunderung zollt. “Also, ich weiß nicht recht, was den Rolls betrifft”, sagte Mrs. Ockham, die darüber nachgedacht hatte, wie sie das Geld verwenden könnte, um ihren armen Mädchen zu helfen. Dann wechselte sie, um weitere Diskussion zu vermeiden, hastig den Gesprächsgegenstand. “Ich wollte mit Monsieur Greuil wegen der Zeichnung sprechen”, fuhr sie fort, sich an Sebastian wendend. “Darum hat Veronica ihn nach dem Lunch angerufen, und er hat die Liebenswürdigkeit gehabt, sogleich herzukommen.” “Gar keine Liebenswürdigkeit”, widersprach Monsieur Greuil. “Ein Vergnügen und zugleich eine heilige Pflicht gegenüber dem Andenken unseres teuren Dahingeschiedenen.” Er legte die Hand aufs Herz. “Monsieur Greuil ist sehr optimistisch”, fuhr Mrs. Ockham fort. “Er glaubt nicht, daß sie gestohlen wurde. Tatsächlich ist er fest überzeugt, daß sie sich wiederfinden wird.” “Daisy, du redest Unsinn”, kläffte die Königin-Mutter. “Niemand kann überzeugt sein, was diese Zeichnung be-
trifft, außer Eustace. Darum habe ich Mrs. Byfleet wieder herbestellt — und je schneller wir zu unserer Seance kommen, desto besser.” Es entstand ein Schweigen, und Sebastian wußte, daß dies der Augenblick war, sein Versprechen zu halten. Wenn er nicht jetzt handelte, wenn er nicht sogleich die Zeichnung übergab und erklärte, was geschehn war, könnte es vielleicht zu spät sein. Aber in der Öffentlichkeit sein Geständnis zu machen, vor diesem gräßlichen Menschen und der Königin-Mutter und Mrs. Thwale — die Aussicht war entsetzlich. Und doch hatte er es versprochen, er hatte es versprochen! Er schluckte krampfhaft und fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. Aber es war Mrs. Gamble, die sein Schweigen unterbrach. “Nichts wird mich überzeugen, daß sie nicht gestohlen wurde”, sagte sie mit Nachdruck. “Nichts außer einer Versicherung aus Eustaces eigenem Mund.” “Nicht einmal die Tatsache, daß sie sich schon gefunden hat?” fragte Monsieur Greuil. Seine Augen blinzelten, sein Ton und Ausdruck waren die eines Mannes auf der Schwelle eines entzückten Gelächters. “Sich schon gefunden hat?” wiederholte Mrs. Ockham. Wie ein Zauberkünstler ein Kaninchen zum Vorschein kommen läßt, streckte Monsieur Greuil die Hand aus und zog mit einem kleinen Ruck das dünne, flache Paket unter Sebastians linkem Arm hervor. “In der Originalverpackung”, sagte er, während er den Bindfaden abstreifte. “Ich erkenne mein papier d'emballage.” Und mit einem Schwung, als wäre es diesmal nicht ein Kaninchen sondern ein Einhornjunges, zog er die Zeichnung hervor und überreichte sie Mrs. Ockham. “Und unser jeune farceur hier”, fuhr fort, “der sich ganz still verhält und gar nichts sagt, mit einer Trauermiene wie bei einem Begräbnis ...” Er platzte mit einem lauten Auflachen heraus und schlug Sebastian auf die Schulter.
“Was ist das, was ist das?” schrie die Königin-Mutter und schoß blinde Blicke von einem Gesicht zum andern. “Der Junge hat sie gefunden? So?” “ ,Elle est retrouvee' “, deklamierte Monsieur Greuil. “,Elle est retrouvée. Quoi? L'éternité. C'est la mer allée Avec le soleil.' Aber ernsthaft, mein Freund, ernsthaft ... wo? Doch nicht etwa an dem Ort, wo, wie ich immer sagte, sie sein müsse? Nicht im ...?” Er machte eine Pause, neigte sich dann vor und flüsterte Sebastian ins Ohr: “... an dem Ort, wohin sogar der König zu Fuß geht — enfin, dans le cabinet de toilette?” Sebastian zögerte einen Augenblick und nickte dann. “Es ist dort ein kleiner Zwischenraum zwischen der Hausapotheke und der Wand”, murmelte er.
28. KAPITEL Pein und Gejohle. Alpträume von Grausamkeit und kalter Lust, und dieses ununterdrückbare Hohngelächter, das unablässig am Kern seines Wesens riß. Immerzu, ohne Ende. Und die Dauern wurden länger und zunehmend länger mit jeder Wiederholung der sich immer mehr steigernden Qual. Nach einer Ewigkeit kam die Erlösung wie mit einem Ruck, wie durch ein Wunder, kam mit einem plötzlichen Sturz aus bloßem unzusammenhängendem Nacheinander in die vertraute Geordnetheit der Zeit; kam mit dem vielfältigen Gezwitscher von Sinneswahrnehmungen, dem flatternden Bewußtsein, einen Körper zu haben. Und dort draußen lag der Raum; und in dem Raum waren Körper — sinnlich wahrgenommene Beweise für andre, verwandte Geister. “Es sind zwei alte Bekannte bei uns heute abend”, hörte er die Königin-Mutter mit ihrer gespenstischen Feldwebelstimme sagen. “Monsieur und Madame — wie ist übrigens der Name?” “Greuil”, und “Gabriel Greuil”, antworteten eine weibliche und eine männliche Stimme gleichzeitig. Und ganz gewiß, es waren die flämische Venus und ihr grotesker Vulcan. “,Wo jedes Bild entzücket'“, singsangte er, “,und nur der Mensch ein Greuil Frere, Bruxelles, Paris, Firenze Aber wie gewöhnlich verstand die schwachsinnige Dolmetscherin es alles falsch. Indessen hatte der Kunsthändler zu ihm über die chinesischen Bronzen zu sprechen begonnen. Welch einen Geschmack der Sammler solcher Schätze besitze, welche Kennerschaft, welches Feingefühl! Dann kam in feierlichem Ernst, der in lächerlichem Gegensatz zu
ihrem soubrettenhaften französischen Akzent stand, Madame Greuil mit etwas über die kalligraphische Polyphonie dieser Bronzen herausgerückt. Wie köstlich absurd! “Er findet Sie komisch”, quiekte die Dolmetscherin und brach in ein schrilles Kichern aus. Aber diese Greuils, so gewahrte Eustace plötzlich, waren viel mehr als bloß komisch. Auf irgendeine Weise waren sie ungeheuer bedeutungsvoll und wichtig. Auf irgendeine geheimnisvolle Weise waren sie epochemachend — ja, es gab kein andres Wort dafür. Sie waren unbedingt epochemachend. Er glaubte an der Schwelle der Entdeckung zu sein, genau wie und warum sie epochemachend waren, als plötzlich die Königin-Mutter hineinplatzte: “Ich vermute, du beginnst dich nun schon zu Hause zu fühlen auf der andern Seite”, schnarrte sie. “Zu Hause”, wiederholte er mit sarkastischem Nachdruck. Aber diese Schwachsinnige brachte das Wort als eine recht überschwengliche Feststellung einer Tatsache hervor. “Na klar, er fühlt sich ganz wie zu Hause”, quiekte sie. Dann äußerte die Königin-Mutter, es wäre vielleicht nett für diejenigen, die noch nie an einer Séance teilgenommen hatten, wenn er ihnen etwas Beweiskräftiges sagte; und sie begann eine Reihe ganz idiotischer Fragen auf ihn abzufeuern. Wieviel habe er für diese Handzeichnungen gezahlt, die er von Monsieur Greuil kaufte? Wie heiße das Hotel, wo er in Paris gewohnt habe? Welche Bücher habe er gelesen an dem Tag, in dem er hinübergegangen sei? Und dann ließen sich auch Mrs. Thwale und die beiden Greuils vernehmen. Und das Gespräch wurde so unzusammenhängend, so sinnlos trivial, daß er verwirrt wurde, es schwierig fand, geradlinig zu denken oder sich auch nur der vertrautesten Tatsachen zu erinnern. Rein aus Notwehr wandte er seine Aufmerksamkeit von der Bedeutung dessen, was zu ihm gesprochen wurde, ab und
konzentrierte sich dafür auf den bloßen Klang der Wörter, auf Tonhöhe und Klangfarbe und Stärke der verschiedenen Stimmen. Und kontrapunktisch zu diesen Lauten von außen vernahm er die gedämpften Rhythmen von Blut und Atem, den ununterbrochenen Strom der Botschaften von diesem, seinem zeitweiligen Körper. Wärmeempfindungen und Druckempfindungen, Feuchtendes und Kitzelndes, ein Dutzend kleiner Schmerzchen und Steifheiten, obskurer eingeweidlicher Unzufriedenheiten und Befriedigungen: Schätze körperlicher Wirklichkeit, unmittelbar erlebt und selber schon so fesselnd, daß es gar nicht nötig war, sich um andre Leute zu kümmern, daß es gar keinen Sinn hatte, zu denken oder Mitteilungsversuche zu machen. Es genügte, einfach dieses Gefühl von Raum und Zeit und den Lebensvorgängen zu haben. Nichts sonst war erforderlich. Dies allein schon war das Paradies. Und dann wurde Eustace sich durch das dunkle, zwitschernde Vogelhaus seiner Sinnesempfindungen hindurch abermals jener blauen, leuchtenden Stille bewußt. Zart, unaussprechlich schön, wie die Essenz aller Himmel und Blumen, wie das stumme Prinzip und der Keim aller Musik. Und liebevoll, sehnsüchtig, flehend. Unterdessen aber strömte langsam durch die Nasenlöcher Luft ein und aus, kühl beim Einatmen, warm, fast bis zur Unspürbarkeit, beim Ausatmen; und wenn die Brust sich ausdehnte und zusammenzog, folgte auf die Anstrengung eine herrliche Mühelosigkeit, auf Spannung ein Entspannen, wieder und wieder. Und welche Lust, den Wellen des Bluts zu lauschen, wie sie an die Trommelfelle schlugen, das Pochen unter der Haut der Schläfen zu fühlen! Wie fesselnd, die vermischten Geschmäcke von Knoblauch und Schokolade, Rotwein und — ja — gerösteten Nieren, die auf Zunge und Gaumen geisterten, zu analysieren! Und dann wurden auf einmal durch etwas wie ein köstlich harmonisches und koordiniertes Erdbeben aller Muskeln des Mundes und der Kehle die Ansammlungen von Speichel
geschluckt; und einen Augenblick später verkündete ein schwaches Kollern von unterhalb des Zwerchfells, daß die Vorgänge der Verdauung rastlos weitergingen. Das schien die letzte Bestätigung zu bringen, sein Gefühl paradiesischer Behaglichkeit zu vervollständigen und zu vervollkommnen. Und auf einmal entdeckte er, daß er sich des heiligen Sebastians erinnerte und der ausgestopften Kolibris, des Geschmacks von Zigarrenrauch auf einem von altem Kognak erwärmten Gaumen, daß er sich Mimis erinnerte und des jungen Mannes aus Peoria und seiner Sammlung von Tatsachen zur Veranschaulichung der lächerlichen und katastrophalen Folgen des Idealismus; sich alles dessen nicht mit Scham oder Selbstverurteilung erinnerte, sondern mit unverhohlenem Genuß oder schlimmstenfalls mit belustigter Nachsicht. Das Licht blieb und war überall gegenwärtig; aber sein Gefühl innerhalb eines Leibes zu sein, war eine wirksame Schranke gegen alle Einbruchsversuche dieses Lichts. Hinter seinen Sinnesempfindungen war er sicher vor jedem Zwang, sich selbst zu erkennen, wie er erkannt wurde. Und diese Greuils, so gewahrte er nun, diese Venus mit ihrem schwärzlichen Vulcan, konnten die Werkzeuge seiner dauernden Erlösung von dieser grausigen Erkenntnis werden. Eine lebendige uterine Finsternis erwartete ihn dort, ein vegetativer Himmel. Von der Vorsehung für ihn bereit gehalten, von einer Vorsehung lebendigen Fleisches, begierig, ihn ganz in sich aufzunehmen, voll sehnsüchtigen Verlangens, ihn zu halten und zu hätscheln und zu wiegen, ihn zu nähren mit der ureigensten Substanz ihres köstlich fleischlichen und blutlichen Seins. Flehend verstärkte das Licht seine leuchtende Stille. Er aber wußte, worauf es aus war. Er war gewappnet gegen solche Listen. Und übrigens war es möglich, sich das Beste aus Mozart und aus dem Kasino zu holen — von Mimi und dem Abendstern zwischen den Zypressen; durchaus möglich, immer vorausgesetzt, man besaß einen Körper, der einen gegen die Listen des Lichts schützte. Und dieser
Schutz war einfach auf Verlangen zu haben; oder wurde einem vielmehr angeboten, eifrig, mit einer Art geistloser Begeisterung ... Auf einmal hörte das Gequieke der Schwachsinnigen auf, nichts andres als eine Sinnesempfindung zu sein, und begann wieder etwas zu bedeuten. “Lebt wohl, Leutchen, lebt wohl!” Und von dort, von außerhalb der Finsternis, kam ein antwortender Chor von Lebewohlen, die mit jedem Augenblick matter, undeutlicher und verworrener wurden. Und alle diese köstlichen Botschaften von seinem Körper da — auch die schwanden. In der Volière hörte alles Gezwitscher und Geflatter auf. Und plötzlich gab es ihm etwas wie einen Ruck, und er war wieder draußen aus der behaglichen Welt, in der die Zeit eine regelmäßige Aufeinanderfolge und jeder Ort bestimmt und fest war, — draußen im Chaos und Delirium des entfesselten Geistes. In diesem undeutlichen Fließen von herrenlosen Bildern und Gedanken und Worten und Erinnerungen, die nahezu selbständig und unabhängig waren, blieben zwei Dinge bestehn: die zarte Allgegenwart des Lichts und das Wissen, daß es eine nährende Finsternis von Fleisch und Blut gab, worin er, wenn er wollte, Erlösung von dem Licht finden konnte. Aber hier war wiederum das Geflecht von Beziehungen und er selbst mitten drin, und er bewegte sich von Knotenpunkt zu Knotenpunkt, von einer, einem Muster angehörenden Figur zu ihrer seltsam verzerrten Projektion in einem andern Muster. Bewegte sich, glitt, und auf einmal war er da und legte vorsichtig seine Zigarre in die Onyxschale und wandte sich, um die Hausapotheke zu öffnen. Es folgte etwas wie ein seitliches Abrutschen, sozusagen ein Sturz durch die Verschlingungen des Geflechts — und er wußte, daß er sich an Ereignisse erinnerte, die noch nicht stattgefunden hatten. Er erinnerte sich eines Tags gegen Ende des Sommers, eines heißen, wolkenlosen Tags, und Flugzeuge dröhnten über den Himmel — durch die leuch-
tende Stille. Denn die Stille war noch immer da, leuchtend und allgegenwärtig liebevoll; war noch immer da, trotz allem, was auf der langen geraden Landstraße zwischen den Pappeln geschah. Tausende von Menschen, die sich alle in der einen Richtung bewegten, alle von derselben Furcht gejagt. Menschen zu Fuß, die Bündel auf dem Rücken trugen, Kinder auf den Armen trugen; Menschen, die auf hochbeladenen Karren hockten; Menschen, die Fahrräder schoben, an deren Lenkstangen Koffer geschnallt waren. Und hier war Greuil, dickbäuchig und kahlköpfig, und schob einen grünen Kinderwagen, vollgestopft mit ungerahmten Bildern und holländischem Silber und chinesischem Jade, mit einer bemalten Holzmadonna, die wie betrunken schwankend dort stand, wo der Kopf des Kindes hätte sein sollen. In der größeren Üppigkeit ihrer herannahenden mittleren Jahre humpelte die vlämische Venus ihm nach, keuchend unter der Last einer blauen Maroquin-Reisekassette und ihres Sealskinmantels. “Je n'en peux plus”, stöhnte sie immer wieder, “je n'en peux plus.” Und manchmal, verzweifelnd: “Suicidons-nous, Gabriel!” Über den Kinderwagen gebeugt, antwortete Greuil nicht und sah sich nicht einmal um, aber der kleine, spindelbeinige Junge, der in lächerlich weiter Golfhose neben ihr herging, drückte der Mutter die Hand, und wenn sie ihm ihr tränenfleckiges Gesicht zuwandte, lächelte er ermutigend zu ihr auf. Zur Linken, jenseits einer lohfarbenen Weite von Stoppelfeldern und einigen Marktgärtnereien, brannte eine ganze Stadt, und der Rauch, der hinter den Türmen einer von der Sonne beleuchteten Kirche in der Vorstadt aufwallte, breitete sich, als er höherstieg, durch die leuchtende Stille zu einem Ungeheuern Trichter bräunlichen Dunkels aus. Das Geräusch fernen Geschützfeuers erschütterte die Sommerluft. Aus der Nähe, von einem verlassenen Bauerngehöft, kam das rasende Muhen ungemolkener Kühe, und plötzlich waren die Flugzeuge wieder über dem Ganzen. Die Flugzeuge — und fast im selben Augenblick wurde ein
andres Dröhnen vernehmbar: auf der Straße, hinter allen diesen Menschen. Undeutlich zuerst; aber die Kolonne fuhr mit voller Geschwindigkeit, und mit jeder Sekunde schwoll der Lärm erschreckend an. Rufen und Schreien und ein panisches Drängen zum Straßengraben — die Raserei und blinde Heftigkeit der Furcht. Und plötzlich stand da Greuil, wie ein Irrsinniger heulend, neben seinem umgekippten Kinderwagen. Ein Pferd scheute, wieherte, bäumte sich zwischen den Deichseln; der Karren bewegte sich mit einem plötzlichen Ruck rückwärts und streifte Madame Greuil mit wuchtigem Anprall an der Schulter. Sie taumelte ein paar Schritte, versuchte das Gleichgewicht wiederzugewinnen, da fing sich einer ihrer hohen Absätze an einem Stein, und sie fiel aufs Gesicht. “Maman!” schrie der kleine Junge auf. Aber bevor er sie von der Straße wegzerren konnte, war das erste der riesigen Lastautos über den zappelnden Körper gerollt. Für eine Sekunde entstand eine Lücke in der Schreckensszene und ließ zwischen den Bäumen die ferne Kirche sichtbar werden, hell vor dem wallenden Rauch, im Sonnenschein leuchtend wie ein geschliffenes Juwel. Dann fuhr, ganz gleich dem ersten, das zweite Lastauto vorbei. Der Körper lag völlig regungslos. Eustace aber war wieder allein mit dem Licht und der Stille. Allein mit dem Urgrund aller Himmel, aller Musik und liebevollen Zärtlichkeit. Und auch mit den Möglichkeiten alles dessen, was Himmel und Musik und sogar liebevolle Zärtlichkeit zu offenbaren unfähig waren. Für einen Augenblick, für eine Ewigkeit, war es ein völliges Teilhaben und Einssein. Dann kehrte qualvoll die Erkenntnis des Gesondertseins zurück, die beschämende Wahrnahme seiner eignen, häßlichen und obszönen Undurchsichtigkeit. Doch im selben Augenblick war auch die Erinnerung an diese epochemachenden Greuils da, das Wissen, daß sie ihm, wenn er wollte, Befreiung von diesem Übermaß des Lichts bringen könnten. Immer neue Lastautos rollten einher, alle vom selben
Graugrün, voll von Männern und klirrendem Metall. In der Pause zwischen dem vierten und fünften gelang es Leuten, die Leiche von der Straße wegzuziehn. Ein Mantel wurde über sie geworfen. Noch immer weinend ging Greuil nach einiger Zeit zurück, um zu sehn, ob er nicht doch Bruckstücke von der Krone und den Fingern der Holzmadonna finden könne. Eine dicke, rotwangige Frau legte dem Knaben den Arm um die Schultern und führte ihn weg, ließ ihn sich am Fuß einer Pappel hinsetzen. Der Knabe kauerte da, das Gesicht in den Händen, und sein Körper zitterte und wurde von Schluchzen erschüttert. Und plötzlich wurde nicht mehr von außen an ihn gedacht. Die Qual dieses Schmerzes und Grauens wurde unmittelbar gekannt, durch ein identifizierrendes Mitleiden — nicht als eine seine, sondern als eine meine. Eustace Barnacks Bewußtsein von dem Knaben war eins geworden mit dem Bewußtsein des Knaben von sich selbst; es war dieses Bewußtsein. Dann erfolgte wieder eine Verschiebung, und wieder war das Bild des kleinen Knaben nur eine Erinnerung an ein andres Wesen. Entsetzlich, entsetzlich! Und doch, trotz diesem Entsetzlichen, welch eine Wonne war es, die Wellen des Bluts in den Ohren pochen und pochen zu fühlen! Er erinnerte sich der warmen, köstlichen Empfindung, voll von Speise und Trank zu sein, und des Gefühls von lebendigem Fleisch, des aromatischen Geruchs von Zigarrenrauch ... Aber hier war wieder das Licht, das Leuchten der Stille. Nur das nicht, nur das nicht! Entschlossen und entschieden wandte er sich davon ab.
29. KAPITEL Gleich nach dem Frühstück schlüpfte Sebastian aus dem Haus und eilte, rannte beinahe, den Abhang hinab zur Haltestelle der Tramway. Er mußte Bruno sehn, mußte mit ihm sobald als möglich sprechen und ihm erzählen, was geschehn war. Während er dann auf die Tram wartete, wechselte in seinem Gemüt ein überwältigendes Schuldbewußtsein mit einem anklägerischen Gekränktsein ab, daß er einem moralischen Druck ausgesetzt worden war, dem zu widerstehn über die Kräfte jedes gewöhnlichen Menschen gegangen wäre. Er hatte sein Versprechen gebrochen — das Versprechen, das halten zu können er so prahlerisch zuversichtlich gewesen war, und nun kam zu seiner Missetat noch diese Demütigung. Aber wer hätte sich auch vorstellen können, daß Greuil dabeisein werde? Wer hätte vorhersehn können, daß der Kerl sich auf diese außerordentliche Weise benehmen werde? Eine ganze Geschichte zu erfinden, damit er, Sebastian, sie erzähle, und sie ihm förmlich aufzuzwingen! Ja, ihn zum Lügen zu zwingen, sagte er sich immer wieder zu seiner Rechtfertigung. Ihn gegen sein besseres Urteil, gegen seinen Willen zu zwingen! Denn war er nicht wirklich grade daran gewesen, mit der Wahrheit herauszurücken, dort im Korridor, vor ihnen allen? Als dann die Tram kam, hatte sich Sebastian nun schon überredet, daß es so gewesen war. Er hatte grade den Mund geöffnet, um Tante Daisy alles zu sagen, als aus einem unbekannten und dunkeln Grund dieser Aaskerl sich eingemischt und ihn gezwungen hatte, sein Versprechen zu brechen. Aber das Pech mit dieser Geschichte war, so überlegte er, als die Tram über den Lungarno ratterte, daß Bruno sie anhören und dann nach einem kurzen Schweigen
ganz ruhig ein paar Fragen stellen würde, durch die sie zusammenfiele wie ein angestochener Ballon. Und er stünde dann da und würde sich an die schmählichen Restchen noch einer Lüge klammern und doch der Notwendigkeit nicht entgehn, die frühere Unwahrheit einzugestehn. Nein, es wäre besser, Bruno von vornherein die jämmerliche Wahrheit zu sagen — daß er gleich begonnen hatte, davonzulaufen, und dann, als er sich in die Enge getrieben sah, Greuil nur allzu dankbar gewesen war dafür, ihm den Weg gezeigt zu haben, sein Versprechen zu brechen und seine kostbare Haut in Sicherheit zu bringen. Aber hier war die Ecke, wo es zu Brunos Wohnung ging. Die Tram hielt; er stieg aus und begann die schmale Gasse entlangzugehn. Ja, im Grund war er diesem Greuil tatsächlich dankbar gewesen dafür, ihm das Lügen so leicht zu machen. “Herrgott, ich bin gräßlich”, flüsterte er vor sich hin, “wirklich gräßlich!” Der teerige Geruch von Bologneserwurst kam ihm in die Nase. Er blickte auf. Ja, hier war sie schon — die kleine pizzicheria neben dem Haus, wo Bruno wohnte. Er trat durch das hohe Tor und begann die Treppe hinaufzusteigen. Auf dem zweiten Absatz merkte er, daß Leute von einem höheren Stockwerke herabkamen; und plötzlich erblickte er jemand, der aussah wie ein Soldat oder Polizist und mit einer dämlichen Miene angenommener Majestät über den Treppenabsatz herstolzierte. Sebastian drückte sich an die Wand, um ihn vorbeizulassen. Eine Sekunde später kamen drei Männer um die Biegung der Treppe in Sicht. Ein Mann in Uniform voran, ein Mann in Uniform als letzter, und zwischen ihnen, seine alte Reisetasche in der Hand, schritt Bruno. Als er Sebastian erblickte, zog er sogleich die Stirn in Falten, spitzte die Lippen, um die Notwendigkeit des Schweigens anzudeuten, und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Dem Wink folgend, schloß Sebastian den schon geöffneten Mund und
versuchte leer und unbeteiligt dreinzusehn. Schweigend gingen die drei Männer an ihm vorbei, wandten sich dann einer nach dem andern und verschwanden die Treppe hinunter. Sebastian stand da und horchte auf den Klang der sich entfernenden Schritte. Wo sein Magen hätte sein sollen, war eine gräßliche ahnungsvolle Leere. Was bedeutete das alles? Was konnte es nur bedeuten? Die waren jetzt am Fuß der Treppe, und nun gingen sie durch den Hausflur. Dann plötzlich war nichts mehr zu hören; sie waren auf die Straße hinausgegangen. Sebastian eilte ihnen nach, und hinausspähend sah er grade noch den letzten der Polizisten in ein wartendes Auto steigen. Die Tür wurde zugeschlagen, der alte schwarze Fiat fuhr an, bog gleich nach dem Wurstladen links ein und verschwand. Lange Zeit starrte Sebastian ohne zu sehn auf die Stelle, wo das Auto gestanden hatte, und begann dann langsam den Weg zurückzugehn, den er gekommen war. Eine Berührung am Ellbogen ließ ihn zusammenfahren und den Kopf wenden. Ein hochgewachsener, knochiger junger Mann ging neben ihm her. “Sie kamen, um Bruno zu sehn?” fragte er in schlechtem Englisch. Sebastian, der sich der Erzählungen seines Vaters von Polizeispitzeln und agents provocateurs erinnerte, antwortete nicht sogleich. Sein Argwohn drückte sich aber wohl in seiner Miene aus; denn der junge Mann runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. “Nicht haben Sie Furcht”, sagte er fast zornig. “Ich sein Brunos Freund. Malpighi — Carlo Malpighi.” Er wies mit der Hand. “Gehn wir hier hinein.” Vier breite Stufen führten zum Eingang einer Kirche. Sie stiegen sie hinauf und schoben den schweren Ledervorhang beiseite, der in der offenen Tür hing. Am andern Ende des hohen, gewölbten Tunnels brannten einige Kerzen gelb in dem vom Geruch schalen Weihrauchs erfüllten
Zwielicht. Außer einer Frau in Schwarz, die am Altargitter betete, war niemand zu sehn. “Was ist geschehn?” flüsterte Sebastian, als sie im Innern waren. Mit seinem gebrochenen Englisch kämpfend und vor kummervoller Gemütserregung unzusammenhängend stammelnd, versuchte der junge Mann zu antworten. Ein Freund Brunos — ein Angestellter bei der Polizeidirektion — sei gestern abend gekommen, um ihn davor zu warnen, was man vorhabe. In einem schnellen Auto hätte er leicht die Grenze erreichen können. Es gebe eine Menge Leute, die fast jedes Wagnis unternommen hätten, um ihm zu helfen. Aber Bruno habe sich geweigert; er wollte nicht, er wollte einfach nicht. Die Stimme des jungen Mannes brach, und in dem Dämmerlicht konnte Sebastian sehn, daß ihm große Tränen über die Wangen herabrollten. “Aber was haben die gegen ihn gehabt?” fragte Sebastian. “Er ist denunziert worden, daß er mit einigen von Cacciaguidas Agenten in Verbindung steht.” “Cacciaguida?” wiederholte Sebastian, und mit einer neuerlichen Woge dieses gräßlichen Gefühls innerer Leere erinnerte er sich des Triumphgefühls, als er die zweiundzwanzig Banknoten in seine Brieftasche gestopft hatte, und seines dummen Prahlens mit alledem, was sein Vater getan hatte, um den Antifaschisten zu helfen. “War es — war es dieser Kerl, dieser Greuil?” flüsterte er. Eine scheinbar ungeheuer lange Zeit sah der junge Mann ihn an, ohne zu sprechen. Tränennaß und seltsam verzerrt zuckte das schmale, überlange Gesicht unbeherrschbar. Er stand ganz still, die Arme hingen schlaff herab; aber die großen Hände ballten sich immer wieder zu Fäusten, als wären sie von einem gequälten eigenen Leben bewegt. Und endlich sprach er. “Es ist alles wegen Sie”, sagte er sehr langsam und in
einem Ton von so konzentriertem Haß, daß Sebastian furchtsam vor ihm zurückwich. “Alles wegen Sie!” Einen Schritt vortretend, schlug er Sebastian mit dem Handrücken ins Gesicht. Der stieß einen Schmerzenslaut aus und taumelte zurück an einen Pfeiler. Mit zusammengebissenen Zähnen und erhobenen Fäusten stand der andre drohend vor ihm; dann, als Sebastian sein Taschentuch hervorzog, um das Blut zu stillen, das ihm aus der Nase quoll, ließ er plötzlich die Hände sinken. “Verzeihung”, stammelte er, “Verzeihung!” Und sich schnell umwendend, eilte er aus der Kirche. Um ein Viertel vor eins war Sebastian wieder zurück in der Villa, mit nichts Schlimmerem, was Zeugnis geben konnte von seinem Abenteuer am Vormittag, als einer ein wenig geschwollenen Lippe. In der Kirche hatte er sich auf zwei Stühle gelegt, bis seine Nase aufhörte zu bluten, hatte seinem Gesicht eine vorläufige Waschung mit Weihwasser zuteil werden lassen und war dann gegangen, um sich ein neues Taschentuch zu kaufen und seine Reinigung im Toiletteraum des Britischen Instituts zu vervollständigen. Die Ziege war wieder da, als er den Abhang hinaufging; aber Sebastian fühlte dunkel, daß er kein Recht hatte, stehnzubleiben und sie anzusehn; fühlte sich zugleich viel zu gräßlich schuldig, um auch nur zu wünschen, sich poetischen Phantasien hinzugeben. Er ging weiter die Straße hinauf, durch das Gittertor und zwischen den hochragenden Zypressen dahin, fühlte sich elend und wünschte, er wäre tot. Auf der niedrigen Mauer der Terrasse vor der Villa, am Fuß des Sockels, auf welchem eine moosgrüne Pomona ihr Füllhorn mit Früchten emporhielt, saß die KöniginMutter ganz allein und streichelte den kleinen Hund auf ihrem Schoß. Als Sebastian sie erblickte, blieb er stehn. Würde es möglich sein, sich an ihr vorbei ins Haus zu schleichen, ohne gehört zu werden? Die alte Frau hob plötzlich den Kopf und sah blicklos zum Himmel auf. Zu
seiner Überraschung und Verwirrung gewahrte Sebastian, daß sie weinte. Was konnte nur los sein? Dann bemerkte er die Art, wie Foxi auf ihrem Schoß lag — schlaff wie ein solches Stückchen braunen Fells, das Frauen um den Hals schlingen, die Pfoten herabbaumelnd, den Kopf tiefer als der Körper. Es war unverkennbar: der Hund war tot. Da er fühlte, daß es nicht recht wäre, sich unbemerkt vorbeizustehlen, begann Sebastian mit so schweren Tritten als möglich über den knirschenden Kies zu gehn. Die Königin-Mutter wandte den Kopf. “Bist du das, Daisy?” Und als Sebastian seinen Namen nannte, sagte sie in einem Ton fast grollender Enttäuschung: “Ach, du bist's, Junge?” und dann: “Komm und setz dich hierher!” Sie tappte mit der Hand auf die sonnenwarme Mauer, zog ein besticktes Taschentuch hervor und wischte sich die Augen und die nassen, geschminkten Wangen. Sebastian setzte sich neben sie. “Der arme kleine Foxi ... Was ist denn geschehn?” Die alte Frau tat ihr Taschentuch weg und wandte ihm ihren blinden Blick zu. “Weißt du's nicht?” Sebastian erklärte, daß er den ganzen Vormittag in der Stadt verbracht hatte. “Diese dumme Gans, Daisy, glaubt, es war ein Unglücksfall”, sagte die Königin-Mutter. “Aber es war keiner. Ich weiß, es war keiner. Die haben ihn umgebracht.” Ihre dünne, schneidende Stimme zitterte vor wildem Haß. “Ihn umgebracht?” Sie nickte mit heftigem Nachdruck. “Um sich zu rächen. Weil wir dachten, ihre Kleine hat die Zeichnung gestohlen.” “Glaubst du das?” flüsterte Sebastian bestürzt. Bruno verhaftet, und nun der kleine Hund getötet — und alles dessentwegen, was er getan oder zu tun unterlassen hatte. “Glaubst du das wirklich?”
“Ich sag dir, ich weiß es”, schnarrte die Königin-Mutter ungeduldig. “Sie haben ihm Rattengift gegeben — das war's, Rattengift. Veronica hat ihn nach dem Frühstück tot auf der Terrase gefunden.” Plötzlich stieß sie einen gräßlich unmenschlichen Laut aus. Sie hob den kleinen, schlaffen Körper von ihrem Schoß, hielt ihn dicht an sich und drückte ihr Gesicht in das weiche Fell. “Kleiner Foxi”, jammerte sie gebrochen. “Kleiner FoxiWoxi ...” Und dann verwandelte sich die knittrige Grimasse der Verzweiflung abermals in eine Miene heftigen Hasses. “Die Bestien!” rief sie. “Diese Teufel!” Sebastian sah sie entsetzt an. Dies war seine Schuld, dies alles war seine Schuld. Das Surren eines sich nähernden Autos ließ ihn den Kopf wenden. “Es ist der Isotta”, sagte er, froh, einen Vorwand zu haben, um von etwas anderm zu sprechen. Der Wagen fuhr im Bogen an den Eingangsstufen vorbei und kam dicht vor ihnen zum Stehn. Der Schlag öffnete sich, und Mrs. Ockham sprang heraus. “Großi”,rief sie aufgeregt, “wir haben einen gefunden!” Und unter ihrem Mantel brachte sie eine kleine runde Handvoll gelbroten Fells zum Vorschein, mit zwei glänzenden schwarzen Augen darin und einer schwarzen, spitzen Schnauze. “Sein Vater hat drei erste Preise gewonnen. Hier! Halt die Hände auf!” Mrs. Gamble streckte ein Paar schwerberingter Klauen in die Dunkelheit, und das winzige Hundejunge wurde hineingelegt. “Wie klein er ist!” rief sie aus. “Vier Monate alt”, sagte Mrs. Ockham. “Das war's doch, was die Frau uns sagte?” fügte sie hinzu, sich nach Mrs. Thwale umwendend, die ihr aus dem Wagen gefolgt war. “Vier Monate letzten Dienstag”, bestätigte Mrs. Thwale.
“Er ist nicht schwarz, nicht wahr?” fragte die alte Frau. “O nein! Richtig fuchsrot.” “Dann ist er auch ein Foxi”, sagte die Königin-Mutter. “Foxi der Neunte.” Sie hob das kleine Geschöpf an ihr Gesicht. “So ein weiches Fell!” Foxi IX. wandte den Kopf und leckte ihr ein wenig das Kinn. Die Königin-Mutter gab ein glückseliges Gekakel von sich. “Liebt er mich, ja? Liebt er seine alte Großi?” Dann blickte sie auf, in die Richtung, wo Mrs. Ockham stand. “Fünf George”, sagte sie, “sieben Eduarde, acht Heinriche. Aber noch nie war einer der Neunte.” “Und Ludwig der Vierzehnte?” warf Mrs. Ockham ein. “Ich habe von England gesprochen”, verwies die Königin-Mutter sie. “In England ist man nie weiter gekommen als bis zu einem Achten. Klein-Foxi hier ist der erste, der ein Neunter ist.” Sie senkte die Hände. Foxi IX. beugte sich aus den ihn einschließenden Fingern und beschnupperte forschend die Leiche Foxis VIII. “Meinen ersten Zwergspitz hab ich im Jahre sechsundsiebzig gekauft”, sagte die Königin-Mutter. “Oder war es vierundsiebzig? Jedenfalls war's das Jahr, in dem Gladstone sagte, er werde die Einkommensteuer abschaffen, — aber er hat sie nicht abgeschafft, der alte Gauner. Vorher hatten wir Möpse. Aber Ned hat es nicht leiden können, wie sie schnarchten. Er schnarchte selber — das war der Grund. Aber der kleine Foxi-Woxi”, fügte sie in anderm Ton hinzu, “der schnarcht nicht, nicht wahr?” Und wieder hob sie das winzige Hündchen an ihr Gesicht. Geräuschlos wie ein Geist erschien der Butler und meldete, daß der Lunch aufgetragen sei. “Lunch?” rief die Königin-Mutter. Und ohne zu warten, daß ihr jemand helfe, war sie fast mit einem Sprung auf den Beinen. Mit einem kleinen dumpfen Plumps fiel der Leichnam Foxi VIII. zu Boden. “O du meine Güte, ich hatte ganz vergessen, daß er auf meinem Schoß lag! Heb ihn auf, Junge, sei so gut! Hortense macht einen kleinen
Sarg für ihn. Sie hat ein Stück von einem alten rosa Seidenkleid von mir, mit dem wird sie ihn dann schön ausschlagen. Reichen Sie mir den Arm, Veronica!” Mrs. Thwale trat vor, und sie begannen auf das Haus zuzugehn. Sebastian bückte sich und hob mit einer Anwandlung von Widerwillen den toten Hund auf. “Armes kleines Tier”, sagte Mrs. Ockham; und als sie den andern folgten, legte sie Sebastian herzlich die Hand auf die Schulter. “Hast du einen schönen Vormittag in der Stadt gehabt?” fragte sie. “Ganz hübsch, danke”, antwortete er. “Dir Sehenswürdigkeiten angesehn?” begann sie und unterbrach sich dann. “Aber ich hab ganz vergessen! Ein Telegramm von deinem Vater ist gekommen, als du schon weg warst.” Sie öffnete ihr Handtäschchen, entfaltete ein Telegrammformular und las laut:” ,ANNAHM KANDIDATUR KOMMENDE ERGAENZUNGSWAHL RUECKKEHRE SOGLEICH VERANLASSET SEBASTIAN MICH TREFFE VIER NM MITTWOCH COOK GENUA.'
Es ist zu schade!” sagte sie, den Kopf schüttelnd. “Ich hoffte, wir könnten dich hier bei uns haben bis zum Ende der Ferien. Ach, und jetzt wird keine Zeit bleiben, dir deinen Abendanzug machen zu lassen!” “Nein, das fürchte ich auch”, sagte Sebastian. Keine Zeit, dachte er, den einen wie den andern Anzug zu kriegen; denn das Dinnerjackett, das er bei Onkel Eustaces Schneider bestellt hatte — bestellt, ja, und bezahlt — sollte zur ersten Probe grade an dem Tag fertig sein, an dem er in Genua sein mußte. Es war alles für nichts gewesen — alle diese Qualen, die er durchgemacht hatte, alle Schuld und Brunos Verhaftung und dieser jämmerliche kleine Hund. Und mittlerweile blieb das Problem des Abends, den Tom Boveney gab, noch immer ungelöst und würde mit jedem Tag, der verginge, quälender dringlich. “Es ist zu schade!” wiederholte Mrs. Ockham.
“Was ist schade?” fragte die Königin-Mutter über die Achsel. “Daß Sebastian uns so bald verlassen muß.” “Keine Mum-mellektionen mehr”, sagte Mrs. Thwale, ein wenig auf dem Wort verweilend. “Aber vielleicht wird er sich erlöst fühlen.” “Ihr werdet die Zeit, die noch bleibt, so gut als möglich ausnützen müssen”, sagte die Königin-Mutter. “Oh, das werden wir, das werden wir!” beteuerte ihr Mrs. Thwale und stieß ihren zarten kleinen Lachgrunzer aus. “Jetzt sind wir an den Stufen”, setzte sie ernst hinzu. “Fünf Stufen, wenn Sie sich erinnern. Niedrig und sehr breit.”
30. KAPITEL EPILOG Die Abwehrkanonen von Hampstead krachten wie rasend drauflos; und obgleich die Wüste weit weg war, obgleich der Alptraum unter jenen niedersausenden Flugzeugen lange vorbei war, empfand Sebastian etwas von der alten, bebenden Spannung — als wäre er eine Violine, deren Saiten gestimmt wurden, qualvoll scharf und immer schärfer, bis zum äußersten, bis zum Zerreißpunkt. Bewegung brächte vielleicht Erleichterung, dachte er und sprang auf — aber zu jäh. Die beschriebenen Blätter, die auf der Armlehne des Fauteuils lagen, flatterten zu Boden. Er bückte sich und griff nach ihnen, um sie im Fallen zu erwischen, — griff nach ihnen mit der nähern seiner Hände; aber die nähere seiner Hände war nicht da. Idiot! sagte er sich. Es war lange her, daß er so etwas getan hatte. Er zwang sich, methodisch zu sein, und hob die Blätter sogleich mit der ihm verbliebenen Hand auf. Währenddessen verklang der Lärm draußen; und plötzlich herrschte wieder wohltuende Stille. Er setzte sich. Scheußlich, abermals diese Erfahrung machen zu müssen! Aber es hatte wenigstens dies eine Gute: es verhinderte einen, die Illusion zu hegen, daß man identisch sei mit einem Körper, der sich in genauem Gegensatz zu allen Wünschen und Vorsätzen benahm. Neti, neti — nicht das, nicht das! Darüber war kein Zweifel möglich. Und natürlich, so überlegte er, hatte es darüber auch in früheren Zeiten keinen Zweifel gegeben, wenn er seiner Sinnlichkeit nein sagen wollte und es nicht konnte. Der einzige Unterschied war der, daß es unter den damaligen Umständen
ein Spaß gewesen war, seinem fremden Körper zu unterliegen, wogegen es unter diesen nun gräßlich war. Das Telephon klingelte; er hob ab und sagte: “Hallo?” “Sebastian, mein Lieber!” Eine Sekunde lang glaubte er, es sei Cynthia Poyns, und begann sogleich, sich Ausreden auszudenken, um die bevorstehende Einladung abzulehnen. “Sebastian?” fragte die Stimme, als er nicht antwortete; und zu seiner Ungeheuern Erleichterung erkannte er, daß er sich geirrt hatte. “Oh, du bist's, Susan?” sagte er. “Gott sei Dank!” “Wer sonst, hast du denn geglaubt?” “Oh, jemand anders ...” “Eine von deinen verflossenen Freundinnen vermutlich, die anruft, um dir eine Eifersuchtsszene zu machen?” Susans Ton war scherzhaft, aber doch vorwurfsvoll sarkastisch. “Sie war nicht hübsch genug für dich — das war's wohl?” “Das war's”, stimmte Sebastian bei. Aber Cynthia Poyns war nicht nur passiv bildhübsch, sie war auch aktiv sentimental und ein literarischer Snob und hatte, obgleich sie eine so exemplarische junge Mutter war, eine notorische Schwäche für Männer. “Sollten wir einander nicht ,Glückliches Neujahr' wünschen?” fragte er in einem andern Ton. “Deswegen hab ich angerufen”, sagte Susan. Und sie setzte hinzu, sie hoffe, er habe das Jahr glückbringend begonnen, indem er innig genug gewünscht habe, daß 1944 endlich den Frieden bringen möge. Vorläufig aber seien alle drei Kinder erkältet und Robin habe sogar ein wenig Temperatur. Kein Grund zu Besorgnis, natürlich, — aber man sei eben doch immer besorgt. Ihrer Mutter dagegen gehe es glücklicherweise viel besser, und sie selbst habe soeben von Kenneth gehört, daß eine Chance bestehe, er werde auf einen Posten in England versetzt werden, — und was für ein wundervolles Neujahrsgeschenk das wäre! Dann übernahm Tante Alice den Apparat und eröffnete mit ihrem Lieblingsgambit: “Was macht die Literatur?”
“Noch immer bei Bewußtsein”, antwortete Sebastian. “Aber sie verfällt rapid.” Scherzhaftigkeit war, wann immer man mit Tante Alice über Kunst oder Philosophie oder Religion sprach, stets de rigueur. “Ich hoffe, bei dir ist ein neues Stück unterwegs”, erklang die helle, flotte Stimme. “Glücklicherweise”, sagte er, “habe ich noch etwas davon übrig, was ich vor fünf Jahren mit dem letzten verdiente.” “Also folg meinem Rat: investier's nicht im Fernen Osten!” Tapfer über finanziellen Ruin scherzend, stieß Tante Alice ein kleines, glockenhelles Lachen aus; dann fragte sie, ob er schon die Geschichte von dem amerikanischen Korporal und dem Erzbischof von Canterbury gehört habe. Er hatte sie gehört, mehrmals; doch da er Tante Alice nicht einer ihrer Freuden berauben wollte, bat Sebastian darum, sie zu hören. Und als sie sie ihm bereitwilligst erzählt hatte, gab er alle angemessenen Laute von sich. “Aber hier ist diese Susan schon wieder”, schloß sie. Und Susan hatte vergessen, ihn zu fragen, ob er sich Pamelas erinnere, des Mädels mit einer Stumpfnase, die auch in die fortschrittliche Schule gegangen sei. Sie habe sie seit Jahren aus den Augen verloren gehabt, bis erst vor ein paar Wochen. Ein wirklich wundervolles Mädel! So intelligent und sie wisse soviel! Arbeite an Statistiken für die Regierung und sei wirklich sehr anziehend, auf diese pikante, originelle Art, die sie habe, — er wisse schon. Sebastian lächelte im stillen. Wieder einer dieser prospektiven Ehegemahlinnen, die Susan stets unermüdlich für ihn aufstöberte. Na, eines Tags würde sie vielleicht die richtige aufstöbern — und er wäre natürlich sehr dankbar. Inzwischen aber ... Inzwischen, so sagte Susan, werde Pamela nächste Woche wieder in London sein. Sie müßten alle zusammenkommen. Endlich war sie zu Ende, und er legte auf, mit dem Ge-
fühl dieser sonderbaren Mischung aus humorvoller Zärtlichkeit und völliger Verzweiflung, die solche Gespräche immer in ihm hervorzurufen schienen. Sie warfen ein Problem auf, nicht das Problem des Bösen sondern des Gutseins — das marternde Problem gesunden, ehrlichen überdurchschnittlichen Gutseins. Er dachte an die liebe Tante Alice, die unermüdlich ganz in guten Werken aufging, trotz dem sie unaufhörlich plagenden Rheumatismus. Sie machte undramatisch weiter, ohne je zu versuchen, die Rolle (und was für eine dankbare Rolle!) eines Menschen zu spielen, der weitermacht. Der arme Jim in Malaya gefallen; ihr Haus durch eine Brandbombe niedergebrannt, mit allem, was sie besaß; neun Zehntel ihrer Ersparnisse durch den Fall von Singapur und Java dahin; Onkel Fred zusammengebrochen unter dem Schock und der Überanstrengung und zuletzt in Wahnsinn geflüchtet. Sie sprach nicht zu viel von diesen Dingen, und sie sprach nicht, sie zu sehr unterdrückend, zu wenig von ihnen. Und dabei wurde die alte, fast metallische Heiterkeit des Gehabens beibehalten; die kleinen Scherze und die schlagfertigen Antworten wurden noch immer geäußert. Als hätte sie beschlossen, mit fliegendem, an den Mast genagelten Sinn für Humor unterzugehn. Und dann Susan und die drei bewundernswert auferzogenen Kleinen, die beispiellos kostbaren Briefe von Kenneth aus irgendwo im Mittleren Osten und Susans eigne Kommentare zu Krieg und Frieden, Leben und Tod, Gut und Böse, die aus den Tiefen einer noch immer fast unerschütterten Mittelstandsweltanschauung sprudelten. Mutter, Tochter, Schwiegersohn — wie er sie so mit den Augen eines Dramatikers betrachtete, konnte er sie als drei köstlich komische Charaktere sehn. Aber in dem andern Sinn des Wortes und vom Gesichtspunkt des Moralisten waren sie drei Charaktere von höchst solidem Wert, mutig und verläßlich und selbstaufopfernd, wie er selbst nie gewesen war und nur bescheiden hoffen konnte,
vielleicht zu werden. Ein unbedingtes, unverfälschtes Gutsein, aber beschränkt durch eine undurchdringliche Unkenntnis von Ziel und Zweck des Daseins. Ohne Susan und Kenneth und Tante Alice und alle ihresgleichen zerfiele die menschliche Gesellschaft. Mit ihnen versuchte sie unaufhörlich, Selbstmord zu begehn. Sie waren die Stützen, aber auch das Dynamit; die Trame und zugleich die Trockenfäule. Grade dank ihrem Gutsein funktionierte das System so glatt, wie es lief; und dank ihren Beschränktheiten war das System im Grunde wahnsinnig — so wahnsinnig, daß Susans entzückende drei Kleinen fast gewiß heranwachsen würden, um Kanonenfutter zu werden, Flugzeugfutter, Panzerfutter, Futter für irgendeine eines Tausends größerer und besserer Vorrichtungen für den Krieg, mit denen bis dahin junge, geschickte Ingenieure wie Kenneth die Welt bereichert haben würden. Sebastian seufzte und schüttelte den Kopf. Es gab selbstverständlich nur ein einziges Heilmittel; das aber wollten sie nicht versuchen. Er griff nach dem Ringbuch, das neben seinem Armsessel auf dem Boden lag. Fünfzig oder sechzig Seiten gelegentlicher Aufzeichnungen, von Zeit zu Zeit während der letzten paar Monate hingeschrieben. Dieser erste Tag des Jahrs war eine gute Gelegenheit zur Bestandsaufnahme. Er begann zu lesen: Es gibt einen höheren Utilitarismus, wie es einen gewöhnlichen oder Wald- und Wiesen-Utilitarismus gibt. “Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes, so wird euch solches alles zufallen.” Das ist der klassische Ausdruck für den höheren Utilitarismus — und auch dies: “Ich zeige euch Trübsal” (die Welt gewöhnlicher, netter, unregenerierter Menschen) “und das Ende der Trübsal” (die Welt derjenigen, welche die mit dem göttlichen Urgrund vereinigende Erkenntnis erlangt haben). Stelle dem die Schlagwörter gegenüber, die im niede-
ren, populären Utilitarismus impliziert sind. “Ich zeige euch Trübsal” (die Welt, wie sie heute ist) “und das Ende der Trübsal” (die Welt, wie sie sein wird, wenn der Fortschritt und noch ein paar unentbehrliche Kriege, Revolutionen und Liquidationen ihr Werk getan haben werden). Und ferner: “Trachtet am ersten nach solchem allem — Achtung einbringenden Tugenden, sozialen Reformen, belehrenden Plaudereien im Rundfunk und dem Allerneuesten, was die angewandte Wissenschaft zu bieten hat, — und irgendwann, im einundzwanzigsten oder zweiundzwanzigsten Jahrhundert, wird euch das Reich Gottes zufallen.” Alle Menschen werden mit einem gleichen, unabdinglichen Recht auf Desillusion geboren. Solange sie sich also nicht entschließen, auf dieses Recht zu verzichten, bleibt's bei einem dreifachen Hoch auf den technischen Fortschritt und die Hochschulbildung für jedermann. Lies, was Äschylos über die Nemesis sagt. Sein Xerxes nimmt aus zwei Gründen ein böses Ende. Erstens weil er ein aggressiver Imperialist ist, zweitens weil er versucht, zuviel Herrschaft über die Natur zu erlangen — im besondern durch Überbrückung des Hellesponts. Wir begreifen das Teuflische der politischen Äußerungen des Machtgelüsts; aber die seinen technischen Manifestationen anhaftenden Übel und Gefahren haben wir so völlig ignoriert, daß wir, ungeachtet unverkennbarster Tatsachen, auch weiterhin unsre Kinder lehren, es gebe keine Sollseite der angewandten Wissenschaft, nur eine fortlaufende und sich immer mehr ausdehnende Habenseite. Die Idee des Fortschritts beruht auf dem Glauben, ungestraft überheblich sein zu können. Der Unterschied zwischen der Metaphysik der Gegenwart und der Metaphysik der Vergangenheit ist der Unterschied zwischen bloßer Wortemacherei, die für
niemand einen Unterschied macht, und einem Gedankensystem, das mit einer umwandelnden Disziplin verbunden ist. “Ohne das Absolute erreicht zu haben, kann Gott nicht ruhen, und hat er es erreicht, ist er verloren und Religion mit ihm.” Das ist F. H. Bradleys (des Verfassers von “Erscheinung und Wirklichkeit”) Ansicht, die moderne Ansicht. Sankara war ein ebenso eifriger Absolutist wie Bradley — aber mit welch einem Ungeheuern Unterschied! Für ihn gibt es nicht nur eine diskursive Erkenntnis des Absoluten, sondern auch die Möglichkeit (und letztlich die Notwendigkeit) einer unmittelbaren intellektuellen Intuition, die den befreiten Geist zur Identifizierung mit dem Objekt seiner Erkenntnis führt. “Unter allen Mitteln zur Befreiung steht Bhakti oder andächtige Hingabe obenan. Die eigne wahre Natur zu erkennen suchen — dies, heißt es, ist Bhakti. Mit andern Worten, Bhakti läßt sich definieren als die Suche nach der Wirklichkeit des eigenen Atman.” Und der Atman ist naürlich das spirituelle Prinzip in uns, das identisch ist mit dem Absoluten. Den älteren Metaphysikern ging Religion nicht verloren, sie fanden sie in der höchsten und reinsten aller möglichen Formen. Das Trügerische in den meisten Philosophien ist der Philosoph. Da wir, wie es sich trifft, das Vorrecht genießen, mit Professor X. bekannt zu sein, wissen wir, daß, was immer er persönlich sich über das Wesen und den Wert des Daseins ausdenken mag, unmöglich wahr sein kann. Und was ist's (Gott helfe uns!) mit unsern großen Gedanken? Aber glücklicherweise hat es Heilige gegeben, die schreiben konnten. Uns und dem Professor steht es frei, von den uns Überlegenen abzuschreiben. Es ist wunderbar leicht, den Lastern zu entgehn, zu denen man zufällig keinen Hang verspürt. Ich hasse es, lange bei einer Mahlzeit zu sitzen, bin gleichgültig gegen “gutes Essen” und habe einen Magen, der sich
umdreht, wenn ihm mehr als zwei oder drei Kubikzentimeter Alkohol eingeflößt werden; kein Wunder also, daß ich mäßig bin. Und was ist's mit der Liebe zum Geld? Zu wohlerzogen und zu schüchtern, um protzen zu wollen, zu ausschließlich mit Wörtern und Begriffen beschäftigt, um etwas für Grundbesitz oder Erstausgaben oder “schöne Sachen” übrig zu haben, zu wenig vorsorglich und zu skeptisch, um mich mit Kapitalsanlagen abzugeben, habe ich immer (mit Ausnahme von ein, zwei Jahren studentischer Dummheiten) mehr als genug gehabt für meine Bedürfnisse. Und für jemand mit meiner Muskulatur, meiner Art von Begabung und meiner verhängnisvollen Fähigkeit, stets mit einem blauen Auge davonzukommen, ist Machtgier sogar noch weniger ein Problem als Geldgier. Wenn es aber zu den verfeinerten Formen von Eitelkeit und Stolz kommt, zu Gleichgültigkeit, negativer Grausamkeit und Mangel an Barmherzigkeit, wenn es dahin kommt, sich zu fürchten und zu lügen, wenn es zur Sinnlichkeit kommt... Ich gedenke — ich gedenke stets der Stätte, wo j'ai plus de souvenirs que si j'avais nulle ans, wo “Gefühl in Ruh erinnert” wird, wo es nessun maggior dolore gibt als lebendig Totes, — jener holden Zeit, die, ach! niemand zurückbringt. Und alles übrigen. Denn die neun Musen sind die Töchter der Mnemosyne; Erinnerung- ist der wahre Stoff und die Substanz der Poesie. Und Poesie ist natürlich das Beste, was das menschliche Leben zu bieten hat. Aber es gibt auch das Leben des Geistes, und das Leben des Geistes entspricht, auf einer höhern Windung der Spirale, dem Leben des Tiers. Der Weg führt aus der tierischen Ewigkeit in die Zeit, in die streng menschliche Welt der Erinnerung und Vorahnung; und aus der Zeit, wenn man sich fürs Weitergehn entscheidet, in die Welt der geistigen Ewigkeit, in den göttlichen Urgrund. Das Leben im Geiste
ist ausschließlich ein Leben in der Gegenwart, nie in der Vergangenheit oder Zukunft; das Leben hier und jetzt, nicht ein Leben, dem man entgegensieht oder dessen man sich erinnert. Es ist ganz und gar kein Platz darin für Pathos oder Reue oder ein wollüstiges Wiederkauen des köstlichen Futters von vor dreißig Jahren. Sein intelligibles Licht hat gar nichts zu tun mit der Sonnenuntergangsverklärung jener herzzerreißenden guten alten Zeiten vor dem vorletzten Krieg und auch nichts mit dem Neonschein aus dem technischen Neuen Jerusalem jenseits des Horizonts der nächsten Revolution. Nein, das Leben des Geistes ist ein Leben außerhalb der Zeit, das Leben in seiner Wesenheit und in seinem ewigen Prinzip. Und darum behaupten sie alle — alle Menschen, die die beste Eignung haben, es zu wissen, — daß das Gedächtnis überlebt werden und man ihm zuletzt absterben muß. Wenn es einem gelungen ist, das Gedächtnis abzutöten, sagt Johannes vom Kreuze, sei man in einem Zustand, der nur um einen einzigen Grad weniger vollkommen und heilbringend ist als der Zustand des Einsseins mit Gott. Das ist eine Behauptung, die ich beim ersten Lesen unverständlich fand. Aber nur weil ich mich damals vor allem mit dem Leben der Poesie befaßte, nicht mit dem Leben des Geistes. Heute weiß ich durch demütigende Erfahrung, was alles das Gedächtnis tun kann, um die Erkenntnis des ewigen Grundes zu verdunkeln und zu hindern. Abtötung ist stets die Bedingung des Vorgeschrittenseins. “Abtötung” — das Wort ließ ihn weit abschweifen. Statt an die Gefahren der Erinnerung zu denken, erinnerte er sich. Erinnerte sich an Paul De Vries im Jahre 1939 — an den guten armen Paul, wie er so eintönig eifrig, so intelligent absurd dagesessen und sich über das Tischchen in dem kleine Café in Villefranche geneigt und geredet hatte, geredet und geredet. Das Thema war natürlich eine seiner
berühmten “Brückenideen” gewesen, durch die er die InselWeltalle des Gesprächs zu verbinden liebte. Eine besonders “aufregende “ Idee, dabei blieb er und ritt auf dem Wort herum, das Sebastian immer sosehr aufgereizt hatte, — eine Verallgemeinerung, die, vielleicht ein bißchen unsicher, die Klüfte überspannte, welche Kunst, Wissenschaft, Religion und Ethik voneinander trennten. Diese Brücke war überraschenderweise Abtötung. Abtötung des Vorurteils, des Todsicherseins und sogar des Gemeinverstands, um der völligen Objektivität in der Wissenschaft willen; Abtötung des Begehrens nach Besitz oder Ausbeutung, um der Betrachtung einer vorhandenen Schönheit oder der Schaffung einer neuen willen; Abtötung der Leidenschaften, um eines Ideals von Vernünftigkeit und Tugend willen; Abtötung des Selbst in allen seinen Aspekten, um der Befreiung, um der Vereinigung mit Gott willen. Sebastian erinnerte sich, daß er mit beträchtlichem Interesse zugehört hatte — aber gönnerhaft, wie man einem sehr gescheiten Mann zuhört, der nebstbei auch ein Narr ist, und mit dessen Frau man überdies, wie es sich traf, am vorangegangenen Abend wieder einmal Ehebruch begangen hatte. An jenem Abend übrigens hatte Veronica für ihn dieses Sonett Verlaines abgeschrieben: Ah! les oaristys! les premières maitresses! L'or des cheveux, l'azur des yeux, la fleur des chairs, Et puis, parmi l'odeur des corps jeunes et chers La spontanéité craintive des caresses ... Nun war in Veronicas Fall nichts Schüchternes an dieser chirurgischen Spontaneität, und trotz Elizabeth Arden war der Körper nun fünfunddreißig Jahre alt; und “teuer” — das war er ihm nie gewesen, nie. Er war nur unwiderstehlich gewesen, der gefürchtete und fesselnde Vermittler einer noch vollständigeren Selbstentfremdung, als er mit irgendeiner andern aller der Frauen gekannt, die er geliebt
hatte oder von denen er sich hatte lieben lassen. Und im selben Augenblick erinnerte er sich seiner Frau und ihrer unsäglichen Müdigkeit unter der Last ihrer Schwangerschaft, die so seltsam beziehungslos zu sein schien zu einem so kleinen, vogelflinken und überaus zarten Geschöpf, wie Rachel gewesen war; erinnerte sich der Versprechen, die er ihr gegeben hatte, als er Le Lavandou verließ und zu längerem Aufenthalt zu den De Vries fuhr; der Treuegelübde, von denen er, sogar schon als er sie aussprach, wußte, daß er sie nicht halten werde — obgleich sie ganz gewiß dahinterkäme. Und natürlich war sie dahintergekommen, viel früher, als er erwartet hatte. Sebastian erinnerte sich, wie sie einen Monat später in dem Krankenhaus lag, nach der Fehlgeburt, als die Blutvergiftung eingesetzt hatte. “Es ist alles deine Schuld”, flüsterte sie anklagend; und als er in Tränen neben ihrem Bett kniete, wandte sie ihr Gesicht von ihm weg. Als er am nächsten Morgen kam, fing ihn Dr. Bulloz am Fuß der Treppe ab. “Etwas Mut, mein Freund! Wir 'aben sleckte Novellen über Ihre Frau.” Schlechte Novellen, und es war alles seine Schuld, seine Schuld, parmi l'odeur des corps, inmitten des Geruchs von Jodoform und der Erinnerung an Tuberosen auf dem Sarg. Rachels Sarg, Onkel Eustaces Sarg. Und an beiden Gräbern hatte Veronica gestanden, klösterlich elegant in ihrer Trauerkleidung, und nur die Extremitäten dieses blutwarmen weißhäutigen Werkzeugs der Selbstentfremdung hatten unter der Verkleidung hervorgesehn. Und kaum zwei Wochen nach Rachels Begräbnis abermals die Kannibalen im Tollhaus ... “Es ist alles deine Schuld.” Die Worte hatten sich immerzu wiederholt, auch in den äußersten Stadien eines Erlebens von Anderssein, das in seiner Art fast so absolut war wie das Anderssein Gottes. Aber er hatte es weiter so getrieben, grade weil es etwas so Niedriges war, und eigens zu dem Zweck, noch eine Dosis und immer wieder den widerlichen Geschmack dieser Mischung
aus Sinnlichkeit, Abscheu und Selbsthaß zu genießen, die für ihn das nur allzu faszinierende Thema zu guter Letzt einen ganzen Band ergebender Gedichte geworden war. Er war grade in das köstliche Ringen um eins dieser Gedichte vertieft gewesen, als sich jemand neben ihn auf seine Lieblingsbank auf der Promenade des Anglais setzte. Erbost wandte er den Blick, um zu sehn, wer in sein ureigenstes Heiligtum eingedrungen war. Es war Bruno Rontini — aber Bruno zehn Jahre nachher, Bruno, der entlassene Häftling, nun im Exil und sehr weit vorgeschritten in seiner letzten Krankheit. Ein alter Mann, gebeugt und entsetzlich abgemagert. Doch die blauen, leuchtenden Augen in dem hakennasigen Schädel waren voller Freude und belebt von einer innigen und doch irgendwie unbeteiligten Zärtlichkeit. Sprachlos und von etwas wie Grauen überkommen, ergriff Sebastian diese dürre Skeletthand, die ihm hingestreckt wurde. Dies war sein Werk! Und was es schlimmer machte — er hatte alle diese Jahre hindurch was er nur konnte getan, um das Bewußtsein seiner Missetat zu verschütten. Es hatte mit Entschuldigungsgründen und Alibis begonnen. Er war noch ein halbes Kind gewesen; und überhaupt, wer hatte nicht schon gelegentlich eine kleine Lüge gebraucht? Und er hate ja nur aus einer bloßen Schwäche geflunkert, nicht aus Selbstsucht oder Böswilligkeit. Niemand wäre es eingefallen, eine große Sache daraus zu machen, wenn nicht dieser unglückselige Zufall gewesen wäre. Und offenbar war Brunos Maß ohnedies schon voll gewesen. Bruno hatte seit Jahren auf ihrer schwarzen Liste gestanden. Diese jämmerlich unbedeutende Sache mit der Zeichnung war eben zum Vorwand für ein Eingreifen genommen worden, das früher oder später doch erfolgt wäre. Nicht mit Aufbietung aller Phantasie war er, Sebastian, dafür verantwortlich zu machen. Und zwei Tage nach Brunos Verhaftung war er auf der Heimreise gewesen; und sein Vater hatte ihn auf die Wahlkampagne mitge-
nommen — und die war ein großer Spaß gewesen. Und im nächsten Trimester hatte er ungeheuer angestrengt auf ein Stipendium hingearbeitet und es zu seiner und jedermanns Überraschung auch wirklich gewonnen. Und als er dann im Herbst nach Oxford ging, hatte ihm Tante Daisy insgeheim einen Scheck für dreihundert Pfund gegeben, um seinen Monatswechsel aufzubessern; und in dem berauschenden Gefühl, dieses Geld ausgeben zu können, und mit all der neuen Freiheit und der neuen Erfolge von Liebesabenteuern war es nun nicht mehr notwendig gewesen, Entschuldigungsgründe zu finden oder Alibis zu erhärten: er hatte das Ganze einfach vergessen. Der Vorfall entglitt ihm und wurde völlig unbedeutend. Und nun war plötzlich aus dem Grab seines Vergessens dieser gealterte todkranke Mann mit den blauen Augen auferstanden wie ein ununterdrückbarer Lazarus — zu welchem Zweck? Vorwürfe, Gericht, Verurteilung? “Die Pfeile!” sagte Bruno endlich. “Alle diese vielen Pfeile!” Aber was war mit seiner Stimme geschehn? Warum sprach er in diesem fast unhörbaren Flüsterton? Grauen verstärkte sich zu nacktem Entsetzen. Brunos Lächeln hatte etwas wie humorvolles Mitgefühl ausgedrückt. “Die scheinen ja schon ganz tüchtig zu schwirren begonnen zu haben”, hatte er geflüstert. “Auf die vorbestimmte Zielscheibe ...” Sebastian schloß die Augen, um sich besser das kleine Haus in Vence in Erinnerung zu rufen, das er für den Sterbenden gemietet hatte. Mit einem unfehlbar schlechten Geschmack möbliert und eingerichtet. Aber Brunos Schlafzimmer hatte Fenster auf drei Seiten, und es war eine breite Veranda da, windgeschützt und von der Frühlingssonne erwärmt, und von ihr konnte man über die terrassierten Felder jungen Weizens und die Haine von Orangen und Ölbäumen hinabsehn aufs Mittelmeer.
“II tremolar della marina”, pflegte Bruno zu flüstern, wenn der Widerschein des Sonnenlichts in gewaltigem Glanz auf dem Wasser lag. Und manchmal liebte er es, Leopardi zu zitieren: ... e sovrumani Silenzi, e profondissima quiete. Und dann, oft und oft und stimmlos, so daß Sebastian die Worte nur aus den Lippenbewegungen erraten konnte: E'l naufragar m'è dolce in questo mare. Die kleine alte Madame Louise hatte das Kochen und den Haushalt besorgt; aber ausgenommen die letzten paar Tage, für die Dr. Borely auf einer Berufspflegerin bestanden hatte, war die Pflege des Kranken ausschließlich Sebastian zugefallen. Jene fünfzehn Wochen zwischen der Begegnung auf der Promenade des Anglais und dem fast komisch eindruckslosen Begräbnis (das, wie er Bruno hatte versprechen müssen, nicht mehr kosten durfte als zwanzig Pfund) waren die denkwürdigste Zeit seines Lebens gewesen. Die denkwürdigste und in einem gewissen Sinn die glücklichste. Freilich, es hatte auch Traurigkeit gegeben und den Kummer, dem Ertragen eines Leidens zusehn zu müssen, das zu erleichtern er machtlos war. Und mit dem Kummer und der Traurigkeit war das nagende Schuldbewußtsein einhergegangen, die angstvolle Befürchtung und das Vorgefühl eines unwiederbringlichen Verlusts. Aber da war auch der Anblick dieser freudigen Abgeklärtheit Brunos gewesen und, nicht allzu entfernt mit ihr verwandt, eine Art Teilhabens an der Erkenntnis, deren natürlicher und unvermeidlicher Ausdruck diese Freudigkeit war, — an der Erkenntnis einer zeitlosen und unendlichen Gegenwart; an der unmittelbaren und untrüglichen Einsicht, daß es, außer dem Verlangen nach einem Sonderdasein, kein Gesondertsein gab — nur eine Wesenseinheit.
Mit der fortschreitenden Verschlimmerung des Kehlkopfkrebses wurde das Sprechen für den Kranken immer schwieriger. Aber diese langen Zeiten des Schweigens auf der Veranda oder in dem Schlafzimmer waren über grade die Dinge beredt, zu deren Vermittlung Worte ungeeignet waren, — bestätigte Wirklichkeiten, die ein zur Beschreibung zeitlicher Erscheinungen erfundener Wortschatz nur indirekt, mittels Verneinungen andeuten konnte. “Nicht das, nicht das!” war alles, was Sprechen klarzumachen vermochte. Brunos Schweigen aber war geworden, was es erkannt hatte, und konnte rufen: “Dies!”, konnte triumphierend und freudig rufen: “Dies, dies, dies!” Es hatte natürlich Umstände gegeben, unter denen Worte unentbehrlich waren; und da hatte sich Bruno mit Schreiben beholfen. Sebastian erhob sich und nahm aus einer Lade seines Schreibtisches den Briefumschlag, worin er alle die kleinen Zettel aufbewahrte, auf die Bruno mit Bleistift seine seltenen Wünsche geschrieben hatte, seine Antworten auf Fragen, seine Bemerkungen und Ratschläge. Er setzte sich wieder und begann, aufs Geratewohl wählend, zu lesen. “Wäre es sehr verschwenderisch, einen Strauß Freesien zu kaufen?” Sebastian lächelte, als er sich erinnerte, wieviel Freude die Blumen gebracht hatten. “Wie Engel”, hatte Bruno geflüstert, “sie riechen wie Engel.” “Nimm's nicht schwer”, begann die nächste hingekritzelte Mitteilung. “Heftige Gemütsbewegungen sind nur eine Sache des Temperaments. Gott kann auch ohne alle Gefühle geliebt werden — mit dem Willen allein. Und so auch dein Nächster.” Und daran hatte Sebastian noch eine Aufzeichnung über dasselbe Thema geheftet. “Es gibt keine geheime Formel oder Methode. Zu lieben lernt man durch Lieben — indem man achtsam ist und tut, was, wie man dadurch entdeckt, getan werden muß.”
Er griff nach einem andern der kleinen Zettel. “Zerknirschung ist der Ersatz, womit der Stolz die Reue ersetzt; die Ausrede des Ich dafür, Gottes Verzeihung nicht anzunehmen. Die Bedingung dafür, daß einem verziehen wird, ist völlige Selbsthingabe. Der Stolz zieht Selbstvorwürfe vor, so schmerzlich sie sein mögen, — weil das Ich, dem die Vorwürfe gemacht werden, nicht preisgegeben wird; es bleibt intakt.” Sebastian dachte an den Zusammenhang, in welchem diese Worte niedergeschrieben worden waren, — seine Leidenschaft für Ekel vor sich selbst, sein fast hysterisches Verlangen nach irgendeiner dramatischen Sühne für das, was er getan hatte; danach, Buße zu zahlen für seine Schuld gegenüber Bruno, der am Sterben war, gegenüber der verzweifelten und verbitterten Rachel, die gestorben war. Wenn er sich doch nur einem großen Schmerz, einer großen Demütigung hätte aussetzen, irgendeiner heroischen Handlungsweise hätte unterziehen können! Er hatte dafür uneingeschränkte Billigung erwartet. Aber Bruno hatte ihn ein paar Sekunden lang in abschätzendem Schweigen angesehn; dann hatte er mit einem fast spöttisch aufglänzenden Blick geflüstert: “Du bist keine heilige Johanna, weißt du. Nicht einmal eine Florence Nightingale.” Und dann hatte er nach Bleistift und Block gegriffen und zu schreiben begonnen. Damals, so erinnerte sich Sebastian, hatten ihn die Zeilen durch ihren ruhigen und von ihm gradezu als zynisch empfundenen Realismus schockiert. “Du würdest nichts leisten und Deine Begabung nur vergeuden, und Dein heroischer Altruismus würde eine Menge Schaden stiften, weil Du so gelangweilt und so voller Groll wärst, daß Dir schon der Gedanke an Gott unausstehlich wäre. Übrigens würdest Du, zu Deinem guten Aussehn dazu, als so edel und rührend erscheinen, daß alle Weiber in Deinem Umkreis Dir nachliefen. Nicht fünfzig Prozent von ihnen wie jetzt, sondern alle. Als Mütter, als Bettgenossinnen, als Schülerinnen — jede einzelne. Und natürlich würdest
Du nicht widerstehn — sag selbst!” Er hatte widersprochen, hatte etwas von der Notwendigkeit des Opferbringens gesagt. “Es gibt nur ein einziges wirksam erlösendes Opfer”, hatte die Antwort gelautet. “Die Aufopferung des Eigenwillens, um Platz zu machen für die Erkenntnis Gottes.” Und ein wenig später, auf einem andern Zettel: “Versuch nicht, die Rolle eines andern zu spielen. Du mußt herausfinden, wie Du Dein inneres Nicht-Selbst in Gott werden kannst und dabei in der Welt Dein äußeres Selbst bleibst.” Verdutzt und ein wenig enttäuscht hatte Sebastian aufgeblickt und gewahrt, daß Bruno ihn anlächelte. “Du meinst, das ist zu leicht?” war im Flüsterton gekommen. Dann hatte sich wiederum der Bleistift betätigt. Sebastian suchte unter den raschelnden Zetteln. Hier war, was der Bleistift geschrieben hatte: “Wunder zu vollbringen in einer Krise — viel leichter, als Gott selbstlos zu lieben in jedem Augenblick jedes Tags! Und darum entstehn die meisten Krisen — weil die Menschen es so schwer finden, sich in gewöhnlichen Zeiten zu benehmen, wie es sich gehört.” Als er damals diese hingekritzelten Zeilen las, war er plötzlich tief erschrocken über die Größe der ihm gestellten Aufgabe. Und bald, sehr bald, wäre kein Bruno mehr da, um ihm zu helfen. “Allein werde ich es nie imstande sein!” rief er. Aber der Kranke war unerbittlich. “Es kann von niemand anderm getan werden”, schrieb der Bleistift. “Andre können Dich nicht mit ihren Augen sehn machen. Bestenfalls können sie Dich ermutigen, Deine eignen Augen zu gebrauchen.” Dann hatte er als Nachgedanken, auf einem andern Blatt des Schreibblocks, hinzugefügt: “Und wenn Du einmal begonnen hast, Deine eignen Augen zu gebrauchen, wirst Du natürlich sehn, daß ein Alleinsein gar nicht in Frage kommt. Niemand ist allein, wenn er nicht allein sein will.”
Und wie um zu veranschaulichen, was er meinte, hatte er den Bleistift hingelegt und auf die von der Sonne beleuchtete Landschaft und das Meer geblickt. Seine Lippen hatten sich bewegt. “ ,Das Korn war auferstehender und unsterblicher Weizen' .. . Ell'e quel mare al quäl tutto si move . . . E'l naufragar m'è dolce ... der Schiffbruch in jenem Meer ...” Er hatte die Augen geschlossen. Nach ein oder zwei Minuten hatte er sie wieder geöffnet, Sebastian mit einem außerordentlich liebevollen Lächeln angeblickt und ihm die knochige Hand hingehalten. Sebastian hatte sie ergriffen und gedrückt. Der Kranke hatte ihn noch ein wenig länger mit demselben Lächeln angesehn und dann die Augen wieder geschlossen. Es war eine lange Stille gefolgt. Plötzlich war aus der Küche die dünne, piepsende Stimme Madame Louises gekommen, die ihren Lieblingswalzer von vor vierzig Jahren sang. “Lorsque tout est fini ...” Brunos abgezehrtes Gesicht hatte sich zu einem Ausdruck von Belustigung zusammengezogen. “Zu Ende?” hatte er geflüstert. “Zu Ende?” Und als er die Augen öffnete, waren sie von innerem Lachen erhellt gewesen. “Aber es hat grade erst begonnen!” Lange Zeit saß Sebastian völlig still da. Doch leider war die Erinnerung an die Erkenntnis, die ihm an jenem Tag geworden war, etwas ganz andres als die Erkenntnis selbst. Und am Ende würde vielleicht sogar diese Erinnerung abgetötet werden müssen. Er seufzte und wandte sich wieder seinem Merkbuch zu. Kriegsschuld — die Schuld an London und Hamburg, an Coventry, Rotterdam, Berlin. Gewiß, man hat nichts mit Politik oder Finanz zu tun; man hat das große Glück, nicht in Deutschland geboren zu sein. Aber auf eine weniger offenkundige, mehr fundamentale Art ist man schuldig, einfach weil man undurchdringlich man selbst war, weil man es zufrieden war, spirituell ein Embryo zu bleiben, unentwickelt, unerlöst, uner-
leuchtet. Zum Teil zumindest bin ich selbst für meine Verstümmelung verantwortlich, und an der Hand, die mir blieb, ist Blut und der schwarze ölige Schmierfleck von verkohltem Fleisch. Man sehe sich jede beliebige Bilderzeitschrift oder irgendein Magazin an. Sensationsberichte (und nur Böses ist Sensation, niemals Gutes) wechseln mit Unterhaltungslektüre ab, Bilder von Waffen, Leichen, Ruinen mit Bildern halbnackter Weiber. Wie ein Pharisäer pflegte ich zu glauben, es bestehe kein ursächlicher Zusammenhang zwischen diesen Dingen und ich hätte als strikter Sinnenmensch und Ästhet keine Verantwortung für das, was in der Welt geschieht. Aber indem man sich Sinnlichkeit und reines Ästhetentum zur Gewohnheit macht, macht man sich gottdicht. Sich dieser Gewohnheit hinzugeben, heißt ein spiritueller Regenmantel werden, das kleine Winkelchen Zeit, dessen Mittelpunkt man ist, vor dem geringsten Tropfen ewiger Wirklichkeit beschirmen. Aber die einzige Hoffnung für die Welt der Zeit liegt darin, beständig von dem, was jenseits der Zeit liegt, durchtränkt zu werden. Als garantiert Gottdichte schließen wir aus unsrer Umgebung den einzigen Einfluß aus, der die verheerenden Energien des Ehrgeizes, der Lüsternheit und der Machtgier zu neutralisieren vermag. Unsre eigne Verantwortlichkeit mag weniger auffallend deutlich sein als die der andern; aber sie ist nicht weniger wirklich. Der Regen ist vorüber, an den Spinnennetzen hängen unabgeschüttelt die Wasserperlen, über den Baumwipfeln ist der Himmel wie ein geschlossenes Augenlid, und diese Felder und Wiesen sind die flachen, kahlen Symbole einer vollständigen Resignation. Unsichtbar in der Hecke, löst ein Zaunkönig periodisch den Sperrhaken von seinem winzigen schwirrenden Uhrwerk. Aus den nassen Ästen oben fallen und
fallen die Tropfen im unvorhersagbaren Rhythmus einer absolut fremden Musik. Aber die herbstliche Stille bleibt makellos, und sogar das Rumpeln eines vorbeifahrenden Lastautos, sogar das lange Krescendo und verhallende Brausen einer Staffel Flugzeuge, sogar meine Erinnerungen an jene Explosionen und alle die langen Schmerzensnächte sind irgendwie belanglos und können unbeachtet gelassen werden. Auf der Oberfläche der Kugel welch ein Geklirr von Eisenzeug! Aber hier, in ihrem glasigen Mittelpunkt, stehn die drei alten Hainbuchen und das Gras, die Brombeerranken und der Stechpalmenstrauch und warten. Und zwischen den Wiederholungen seiner geistlosen kleinen Erklärung persönlicher Unabhängigkeit, dort unten am Ende der Hecke, hält sogar der Zaunkönig gelegentlich inne, um einen Augenblick lang der Stille innerhalb der Stille zu lauschen; legt den Kopf schief und ist für eine Sekunde oder zwei seiner selbst bewußt, wie er wartet, in der laubigen labyrinthischen Dunkelheit eine Erlösung erwartet, von der er keine Ahnung haben kann. Wir aber, die wir, wenn wir wollen, zu einer vollen Erkenntnis dieser Erlösung gelangen können, haben ganz vergessen, daß es etwas zu erwarten gibt. Ein wenig der Glückseligkeit, die er während des langen Alleinseins unter den tropfenden Bäumen gefühlt hatte, kam ihm wieder. Natürlich war es noch nicht annähernd damit getan, auf diese Weise die Bedeutsamkeit von Landschaften und Lebewesen zu empfinden. Wordsworth mußte durch Dante ergänzt werden, und Dante durch . . . nun ja, durch jemand wie Bruno. Aber wenn man nicht götzendienerisch die Manifestation für das Prinzip nahm, wenn man spirituelle Völlerei vermied und begriff, daß diese ländlichen Ekstasen nur eine Aufforderung dazu waren, zu etwas anderm vorzudringen, dann war es natürlich ganz in Ordnung, gleich Shelley einsam wie eine Wolke dahin-
zuwandern und das sogar dem Papier anzuvertrauen. Er begann wiederum zu lesen. Zur großen Überraschung der Neuhumanisten und der liberalen Kirchenangehörigen hinterließ die Abschaffung Gottes eine wahrnehmbare Leere. Aber die Natur verabscheut ein Vakuum. Nation, Klasse und Partei, Kultur und Kunst drangen sogleich ein, um die leere Nische zu füllen. Für Politiker und für diejenigen von uns, die zufällig mit einem Talent geboren wurden, waren die neuen Pseudoreligionen äußerst profitable Aberglauben, sind es noch immer und werden es (bis sie das ganze Gebäude der menschlichen Gesellschaft zerstört haben werden) auch bleiben. Aber betrachte sie leidenschaftslos, sub spezie aeternitatis: wie unsagbar wunderlich, dumm und satanisch sind sie da! Geschwätz, Tagträumen, Beschäftigung mit den eignen Stimmungen und Gefühlen — sie sind alle verhängnisvoll für das Leben im Geiste. Unter anderm aber ist sogar das beste Theaterstück oder der beste Roman nur verherrlichtes Geschwätz und künstlerisch gebändigtes Tagträumen. Und lyrische Poesie? Einfach nur “Ah!” oder “Oje!”, “Hu-hu!” oder “Ham-ham!” oder “Verdammt!” oder “Schatzi!” oder “Ich bin ein Schwein!” — entsprechend umgeschrieben, allerdings, und entwickelt. Und darum haben manche theozentrische Heilige alle Kunst mit Stumpf und Stiel verworfen, und nicht nur Kunst — auch Wissenschaft, Gelehrsamkeit und philosophische Spekulation. Oder man denke an Thomas von Aquino: der vollendete Philosophievirtuose — aber nachdem er die einende Erkenntnis der urgründigen Tatsache erlangt hatte, über welche er so lange Zeit Theorien gesponnen hatte, weigerte er sich, auch nur noch ein einziges Wort Theologie zu schreiben. Wie aber, wenn er zwanzig Jahre früher zur Einswerdung gelangt wäre? Hätte es dann keine Summa gegeben?
Und wenn nicht, wäre das etwa zu bedauern gewesen? “Nein”, hätten wir vor ein paar Jahren geantwortet. Nun aber beginnen sich einige Physiker zu fragen, ob scholastischer Aristotelismus nicht vielleicht die beste Philosophie ist, in deren Begriffen sich die Entdeckungen unsrer zeitgenössischen Wissenschaft ordnen lassen. (Mittlerweile aber ist natürlich die zeitgenössische Wissenschaft, in den Händen zeitgenössischer Menschen, damit beschäftigt, nicht nur Dinge und Lebewesen zu vernichten, sondern ganze Kulturformen. Also sehn wir uns nur wieder einer neuen Reihe von Fragezeichen gegenüber.) Für den Künstler oder den Intellektuellen, der etwa auch Interesse für die wahre Wirklichkeit hegt und nach Befreiung verlangt, scheint der Ausweg, wie das gewöhnlich so ist, auf eines Messers Schneide hinzuführen. Erstens darf er nicht vergessen, daß, was er als Künstler oder Intellektueller tut, ihn nicht zur Erkenntnis des göttlichen Urgrunds bringt, auch nicht, wenn sein Werk unmittelbar mit dieser Erkenntnis zu tun hat. Im Gegenteil, an und für sich ist das Werk selbst eine Ablenkung. Zweitens, daß Talente den Begabungen fürs Heilen oder Wunderwirken analog sind. Aber “ein Quentlein heiligender Gnade ist ein Fuder jener Gnaden wert, die von den Theologen ,unverdiente' genannt werden, zu welchen die Begabung für Wunder gehört. Es ist möglich, solche Gaben zu erhalten und dabei im Stande der Todsünde zu sein; und sie sind auch nicht zur Erlösung nötig. In der Regel werden unverdiente Gnaden den Menschen nicht sosehr zu ihrem eigenen Nutzen, sondern zur Erbauung ihrer Mitmenschen verliehen.” Aber Franz von Sales hätte hinzufügen können, daß Wunder nicht notwendigerweise erbauen. Und das tun selbst die besten Kunstwerke nicht. In beiden Fällen ist Erbauung nur eine Möglichkeit. Und eines Dritten muß er gedenken, nämlich, daß
Schönheit ihrem innersten Wesen nach erbaulich ist; dagegen Geschwätz, Tagträumen und, der eignen Persönlichkeit Ausdruck zu geben, ihrem innersten Wesen nach nicht erbaulich sind. In den meisten Kunstwerken heben diese positiven und negativen Elemente einander auf. Gelegentlich aber werden die Anekdoten und die Tagträume gedanklich auf Grundprinzipien bezogen und so dargestellt, daß die Intervalle zwischen den sie bildenden Elementen eine neue, vorher nicht dagewesene Art von Schönheit schaffen. Wenn das geschieht, werden die Möglichkeiten der Erbauung voll verwirklicht, und die unverdiente Gnade eines Talents findet ihre Rechtfertigung. Allerdings kann das Komponieren eines solchen vollkommenen Kunstwerks keine geringere Ablenkung sein als das Komponieren von Schwingmusik oder Reklametexten. Es ist möglich, über Gott zu schreiben und in dem Bemühn, gut zu schreiben, seinen Geist der Gegenwart Gottes völlig zu verschließen. Es gibt nur ein einziges Mittel gegen solches Vergessen — beständige innere Sammlung. Nun, er konnte nicht sagen, daß er sich nicht gebührend gewarnt hatte, überlegte Sebastian lächelnd, während er umblätterte. “Minimum einer Arbeitshypothese” lautete die Überschrift der nächsten Aufzeichnung. Erforschung der materiellen Wirklichkeit mittels kontrollierter Sinneserfahrungen — Forschung, die von einer Arbeitshypothese in Gang gesetzt und gelenkt, durch logisches Schließen zur Formulierung einer rationalen Theorie führt und deren Anwendung durch entsprechendes technisches Handeln zum Ergebnis hat: das ist Naturwissenschaft. Keine Arbeitshypothese zu haben, heißt keinen Beweggrund dazu haben, mit der Forschung zu beginnen, keinen Grund dafür, ein bestimmtes Experiment und nicht ein andres zu machen, keine rationale Theorie, um
mittels ihrer Sinn oder Ordnung in die beobachteten Tatsachen zu bringen. Hingegen bedeutet ein Zuviel an Arbeitshypothese, daß man nur findet, wovon man dogmatisch weiß, daß es da ist, und alles übrige unbeachtet läßt. Unter anderm ist auch Religion Forschung: von der Erforschung, mittels reiner intellektueller Intuition, der nichtsinnlichen, nichtpsychischen, rein geistigen Wirklichkeit bis herab zum Formulieren rationaler Theorien über die Ergebnisse und zum entsprechenden ethischen Handeln im Licht solcher Theorien. Was für eine Arbeitshypothese und wieviel von ihr brauchen wir, um diese Forschung zu motivieren und (in ihren Anfangsstadien) zu lenken? Gar keine, sagen die sentimentalen Humanisten; nur ein ganz klein wenig Pantheismus, sagen die guten Leute, die es mit dem blauen Dom der Natur halten. Ergebnis: sie haben keinen Beweggrund, die anstrengenderen Versuche anzustellen; sie sind unfähig, solche nicht-sinnliche Tatsachen, wie ihnen etwa begegnen, zu erklären; sie machen sehr geringe Fortschritte in der Nächstenliebe. Am andern Ende der Skala stehn die Römisch-Katholischen, die Juden, die Mohammedaner, sie alle mit ihren historischen, hundertprozentig offenbarten Religionen. Diese Menschen haben Arbeitshypothesen über die nicht-sinnliche Wirklichkeit — das heißt, sie haben einen Beweggrund, etwas zu tun, um einiges über sie zu erfahren. Aber weil ihre Arbeitshypothesen allzu ausführlich dogmatisch sind, entdecken die meisten nur das, was sie zu glauben gelehrt wurden. Und was sie glauben, ist eine Mischung von Gutem, weniger Gutem und sogar Schlechtem. Aufzeichnungen großer Heiliger über ihre unfehlbaren Intuitionen von der höchsten geistigen Wirklichkeit sind da vermischt mit solchen über die weniger verläßlichen und unendlich
weniger wertvollen Intuitionen spiritistischer Medien von den niedereren Stufen nicht-sinnlichen Seins; und zu diesen kommen noch bloße Phantasien hinzu, diskursive Gedankengänge und Gefühlsschwelgereien, in eine Art sekundärer Objektivität projiziert und verehrt, als wären sie göttliche Tatsachen. Aber zu allen Zeiten, und trotz dem durch diese übermäßig ausgearbeiteten Arbeitshypothesen auferlegten Vorgabegewicht, setzen einige wenige leidenschaftlich Beharrliche die Forschung bis zu dem Punkt fort, wo sie des intelligiblen Lichts gewahr werden und vereinigt sind mit dem göttlichen Urgrund. Für diejenigen von uns, die nicht von Veranlagung Mitglieder einer organisierten Kirche sind; die entdeckt haben, daß Humanismus und der blaue Dom der Naturverehrung nicht genügen; die nicht zufrieden sind damit, in der Finsternis spiritueller Unwissenheit, im Sumpf des Lasters oder diesem andern Sumpf, bloßer Achtbarkeit, zu verbleiben, scheint das Minimum einer Arbeitshypothese ungefähr folgendes zu sein: Daß es eine Gottheit oder einen Urgrund gibt, die oder der das unmanifestierte Prinzip aller Manifestationen ist. Daß der Urgrund transzendent und immanent ist. Daß es dem Menschen möglich ist, den Urgrund zu lieben, zu erkennen und von virtueller, der Anlage nach vorhandener, zu aktueller, verwirklichter Selbigkeit mit dem Urgrund zu gelangen. Daß diese einende Erkenntnis zu erlangen, diese höchste Identität zu verwirklichen, das letzte Ziel und der Zweck menschlichen Daseins ist. Daß es ein Gesetz oder Dharma gibt, dem der Mensch gehorchen muß, ein Tao oder einen Weg, dem er folgen muß, wenn er sein letztes Ziel erreichen soll. Daß je mehr vom Ich, von mir und dem Meinen vorhanden ist, desto weniger vom Grund vorhanden ist;
und daß daher das Tao ein Weg der Demut und des Mitgefühls ist, das Dharma ein Gesetz der Entselbstung und eines über das Ich hinausgehenden Bewußtseins. Und das erklärt natürlich die Tatsachen der Menschheitsgeschichte. Die Menschen lieben ihr Ich und wollen es nicht verleugnen; sie wollen nicht einsehn, warum sie nicht “ihre Persönlichkeit ausdrücken” und “es sich gut gehn lassen und herrliche Zeiten haben” sollten. Sie tun das und haben ihre herrlichen Zeiten, aber auch und unvermeidlich Kriege und Syphilis und Revolutionen und Trunksucht und Tyrannei und, mangels einer hinreichenden religiösen Hypothese, nur die Wahl zwischen irgendeinem irrsinnigen Götzendienst wie Nationalismus und einem Gefühl völliger Vergeblichkeit und Verzweiflung. Unsägliches Elend! Aber im ganzen Verlauf der aufgezeichneten Menschheitsgeschichte haben die meisten Menschen der Gefahr, ja der positiven Gewißheit solchen Unheils den Vorzug gegeben vor der mühseligen Vollbeschäftigung, danach zu streben, den göttlichen Grund alles Seins zu erkennen. Auf die Dauer wird uns genau das gegeben, worum wir bitten. Das war ganz richtig, soweit es ging, überlegte Sebastian. Aber eine der Aufgaben des neuen Jahres wäre es, die notwendigen Entwicklungen und näheren Bestimmungen hinzuzufügen. Zum Beispiel, die Beziehungen zu erwägen zwischen dem Urgrund und seinen höheren Manifestationen — zwischen der Gottheit und dem persönlichen Gott und dem menschlichen Avatar und dem befreiten Heiligen. Und ferner gälte es auch, die beiden Methoden religiöser Annäherung zu erwägen: den unmittelbaren Zugang, der auf eine identifizierende Erkenntnis des Urgrunds abzielt, und den mittelbaren, der durch die Rangordnung der materiellen und spirituellen Manifestationen aufsteigt, — und beides stets unter der Gefahr, unterwegs irgendwo
steckenzubleiben. Inzwischen aber — wo war die Notiz, die er sich als einen Kommentar zu einigen Versen in Percy Heißsporns letzter Rede gemacht hatte? Er blätterte suchend. Hier war sie. Wenn man ganz und gar alles sagt, dann neigt das alles dazu, sich gegenseitig zu nichts aufzuheben. Darum läßt sich keine ausdrückliche Philosophie aus Shakespeare hervorschürfen. Aber als eine einbegriffene Metaphysik, als ein System von Schönheitswahrheiten, das aus den poetischen Wechselbeziehungen der Szenen und Verse besteht und den Pausen und Zwischenräumen innewohnt, sogar zwischen Worten wie “erzählt von einem Schwachkopf, nichts bedeutend”, kommen diese Dramen einer großen theologischen Summa gleich. Und selbstverständlich, wenn man die aufhebenden gegenteiligen unbeachtet zu lassen gewillt ist — was für außerordentliche einzelne Kundgebungen einer vollkommen ausdrücklichen Weisheit finden sich da! Ich denke dabei zum Beispiel an die zweieinhalb Zeilen, in die der sterbende Percy Heißsporn so nebenbei eine Erkenntnislehre, eine Ethik und eine Metaphysik zusammenfaßt. Doch Denken ist des Lebens Sklav, das Leben Der Narr der Zeit; und Zeit, die messend schaut Die ganze Welt, muß enden. Drei Sätze, von denen das zwanzigste Jahrhundert nur den ersten beachtet hat. Die Versklavung des Denkens durch das Leben ist eines unsrer Lieblingsthemen. Bergson und die Pragmatiker, Adler und Freud, die Burschen mit dem dialektischen Materialismus und die Behaviouristen — alle tuten sie ihre Variationen darüber. Der Geist ist nichts als ein Werkzeug zur Verfertigung von Werkzeugen; gelenkt und beherrscht von unbewußten Trieben, entweder sexuellen oder aggressiven; das Produkt gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Kräfte; ein Bündel bedingter Reflexe.
Alles durchaus wahr, soweit es geht; aber falsch, wenn es nicht weitergeht. Denn wenn der Geist nur eine Art von Nichts-als ist, liegt es auf der Hand, daß keine seiner Behauptungen Anspruch auf Allgemeingültigkeit hat. Aber alle Nichts-als-Philosophen erheben einen solchen Anspruch, daher können sie nicht wahr sein; denn wären sie wahr, wäre das der Beweis dafür, daß sie falsch sind. Das Denken ist der Sklave des Lebens — zweifellos. Aber wenn es nicht auch etwas andres wäre, könnten wir nicht einmal diese wenigstens teilweise gültige Verallgemeinerung machen. Die Bedeutung des zweiten Satzes liegt hauptsächlich im Praktischen. Das Leben ist der Narr der Zeit. Indem sie einfach vergeht, läßt die Zeit aus allem bewußten Planen und Trachten des Lebens Unsinn werden. Keine bedeutende Handlung hat je alle oder nur die von ihr erwarteten Ergebnisse gehabt. Außer unter kontrollierten Verhältnissen oder unter Umständen, wo es möglich ist, Individuen unbeachtet zu lassen und sich nur an große Zahlen und Durchschnittswerte zu halten, ist genaue Voraussicht unmöglich. In jeder aktuellen Lebenslage sind mehr veränderliche Größen im Spiel, als der menschliche Geist in Rechnung zu ziehn vermag; und je mehr Zeit vergeht, desto mehr neigen diese Variablen dazu, sich zu vervielfachen und ihren Charakter zu ändern. Das sind wohlbekannte und selbstverständliche Tatsachen. Und doch ist der einzige Glaube einer Mehrheit der Europäer und Amerikaner des zwanzigsten Jahrhunderts der Glaube an eine Zukunft — die größere und bessere Zukunft — von der sie wissen (!), daß der Fortschritt sie hervorzaubern wird wie Kaninchen aus einem Zylinderhut. Um dessentwillen, was ihnen ihr Glaube über eine künftige Zeit erzählt, die doch, wessen ihr Verstand sie versichert, völlig unerkennbar ist, sind sie bereit, ihren einzigen greifbaren Besitz, die Gegenwart, zu opfern.
Seit ich, vor zweiunddreißig Jahren, geboren wurde, sind ungefähr fünfzig Millionen Europäer und Gott weiß wieviele Asiaten in Kriegen und Revolutionen liquidiert worden. Warum? Damit es den Ururenkeln derer, die jetzt hingeschlachtet oder dem Hungertod preisgegeben werden, absolut wundervoll gehe im Jahre des Heils 2043. Und wir befassen uns (je nach Geschmack und politischer Gesinnung unter den von Wells, Marx, Kapitalisten und Faschisten gelieferten Entwürfen wählend) feierlich ernst damit, uns die wundervollen Zeiten auszumalen, die diese Glückspilze haben werden. Genau so wie unsre Ururgroßväter um 1840 Visionen davon hatten, was für wundervolle Zeiten wir um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts haben würden. Wahre Religion befaßt sich mit dem Zeitlosen als etwas Gegebenem. Götzendienerische Religion ist jede, in der die Ewigkeit durch die Zeit ersetzt ist — entweder vergangene Zeit in der Form einer starren Tradition oder künftige Zeit in der Form des Fortschritts zur Utopie. Und beide sind Moloche, beide fordern Menschenopfer in ungeheurer Zahl. Der spanische Katholizismus war ein typisches götzendienerisches Kulttreiben mit vergangener Zeit. Nationalismus, Kommunismus, Faschismus, alle die sozialen Pseudoreligionen des zwanzigsten Jahrhunderts, sind götzendienerisches Kulttreiben mit künftiger Zeit. Welches waren die Folgen davon, daß wir seit kurzem unsre Aufmerksamkeit von der Vergangenheit auf die Zukunft verschoben haben? Ein intellektueller Fortschritt vom Garten Eden zum Lande Utopia; ein moralischer und politischer Vormarsch von erzwungener Rechtgläubigkeit und dem Gottesgnadentum der Herrscher zu allgemeiner militärischer und industrieller Dienstpflicht, zur Unfehlbarkeit der politischen Lokalpäpste und zur Vergötzung des Staates. Von vorn oder
von hinten, die Zeit kann nie ungestraft angebetet werden. Aber Heißsporns Zusammenfassung hat einen letzten Satz: Zeit muß enden. Und sie muß das nicht nur, im ethischen Imperativ und als eschatologische Hoffnung, sondern sie hat ein Ende, im Indikativ, als nacktes, brutales Erleben. Nur wenn wir auch die Tatsache der Ewigkeit in Betracht ziehn, können wir den Geist aus seiner Versklavung an das Leben befreien. Und nur indem wir entschlossen unsre Aufmerksamkeit der Ewigkeit zuwenden und vor allem ihr treu ergeben sind, können wir die Zeit hindern, unser Leben in ein sinnloses oder diabolisches Narrenspiel zu verwandeln. Der göttliche Urgrund ist zeitlose Wirklichkeit. Trachte am ersten nach dem, so wird dir solches alles — alles, angefangen von einer sinnvollen Auslegung des Lebens bis zur Befreiung von zwanghafter Selbstvernichtung — zufallen. Oder, das Thema aus der Tonart der Evangelien in die Shakespeares transponiert: Sei nicht mehr “der stolze Mensch, des wenigst kundig, wes er meist gewiß, seins glasig Wesens”, und du wirst aufhören, er zu sein, der “wie ein zorniger Affe solch tolle Possen vor dem Himmel treibt, als Engel weinen machen.” Eine Nachschrift zu dem gestern Geschriebenen. In der Politik hegen wir einen so festen Glauben an die offenbar unerkennbare Zukunft, daß wir bereit sind, Millionen Leben dem Traum eines Opiumrauchers vom Lande Utopia oder von Weltherrschaft oder von dauernder Sicherheit aufzuopfern. Wo es sich dagegen um Naturschätze handelt, opfern wir eine recht genau vorhersagbare Zukunft unsrer gegenwärtigen Habgier auf. Wir wissen zum Beispiel, daß der Boden, wenn wir ihn mißbrauchen, seine Fruchtbarkeit verliert; daß unsre Kinder, wenn wir Massenmord an den Wäldern begehn, kein Holz haben und ihre Hochländer ver-
karstet und ihre Täler überschwemmt sehn werden. Dennoch mißbrauchen wir den Boden weiter und mißbrauchen den Wald weiter. Mit einem Wort, bei allen den komplexen Angelegenheiten des menschlichen Lebens, wo Voraussicht unmöglich ist, bringen wir die Gegenwart der Zukunft zum Opfer; aber bei den verhältnismäßig einfachen Angelegenheiten der Natur, wo wir ganz gut wissen, was wahrscheinlich geschehn wird, opfern wir die Zukunft der Gegenwart auf. “Wen die Götter verderben wollen, den schlagen sie zuvor mit Wahnsinn.” Seit viereinhalb Jahrhunderten sind die weißen Europäer eifrig damit beschäftigt, die farbigen Völker, welche die übrige Erde bewohnen, anzugreifen, zu bedrücken und auszubeuten. Die katholischen Spanier und Portugiesen begannen damit; dann kamen die protestantischen Holländer und Engländer, die katholischen Franzosen, die griechisch-orthodoxen Russen, die lutherischen Deutschen, die katholischen Belgier. Immer und überall folgten der Handel und die Flagge, Ausbeutung und Bedrückung dem proselytenmachenden Kreuz oder begleiteten es. Opfer haben ein langes Gedächtnis — eine Tatsache, die Bedrücker nie begreifen können. In ihrer Großmut vergessen sie den Knöchel, den sie sich verstauchten, als sie auf dem Gesicht ihres Mitmenschen herumtrampelten, und sind aufrichtig erstaunt, wenn der sich weigert, die Hand zu schütteln, die ihn prügelte, und keinen großen Eifer bekundet, sich taufen zu lassen. Es bleibt aber auch Tatsache, daß eine gemeinsame Theologie eine der unentbehrlichen Voraussetzungen des Friedens ist. Aus unverkennbaren und unliebsamen geschichtlichen Gründen will die Mehrzahl der Asiaten das Christentum nicht annehmen. Und es ist auch nicht zu erwarten, daß Europäer und Amerikaner etwa den ganzen Brahmaismus schlucken werden. Aber die kleinste
erforderliche Arbeitshypothese ist auch der größte gemeinsame Faktor. Drei Telegraphenstangen liegen auf einem Wiesenfleck vor meinem Fenster in diesem Landgasthaus — liegen da ein wenig im Winkel zueinander, aber alle drei perspektivisch verkürzt, alle leidenschaftlich die (nun auf einmal unaussprechlich geheimnisvolle) Tatsache der dritten Dimension betonend. Zur Linken ist die Sonne eben im Aufgehn. Jede Stange hat ihren zugehörigen Schatten, einen oder anderthalb Meter breit, und die alten Radspuren im Gras, die zu Mittag fast unsichtbar sind, gleichen Schluchten voll blauer Dunkelheit. Als “Aussicht” kann es nichts geben, was belangloser wäre; und doch enthält sie irgendwie die ganze Schönheit, die ganze Bedeutsamkeit und den Stoff aller Poesie. Der industrielle Mensch — ein fühlender WechselstromMotor mit fluktuierender Leistung, gekuppelt an ein ehernes Rad, das sich mit gleichbleibender Geschwindigkeit dreht. Und da wundern wir uns, warum das unsre das goldene Zeitalter der Revolutionen und Geistesstörungen ist. Demokratie heißt, dem Machthaber nein sagen zu können, und man kann ihm nicht nein sagen, wenn man nicht genug besitzt, um auch dann essen zu können, wenn man die Gunst des Machthabers verloren hat. Es kann keine Demokratie geben, wo ... Sebastian blätterte ein paar Seiten weiter. Dann wurde sein Blick durch die Anfangsworte einer Aufzeichnung gefangen, die “am Weihnachtsabend” datiert war. Heute kam es zu einem fast mühelosen Erlangen von Stille — Schweigen des Verstandes, Schweigen des Willens, Schweigen sogar der geheimsten und ganz unterbewußten Begierden. Dann ein Übergang durch
diese Zustände des Schweigens in die intensiv aktive Ruhe der lebendigen und ewigen Stille. Oder ich könnte eine andre Reihe unzulänglicher Wortzeichen verwenden und sagen, daß es eine Art von Verschmelzen mit dem harmonierenden Intervall war, das Schönheit schafft und ist. Indes aber jede besondere Manifestation von Schönheit — in der Kunst, im Denken, im Tun, in der Natur — immer eine Beziehung zwischen Existenzen ist, denen selbst keine Schönheit innewohnt, war dies eine Wahrnehmung, ein tatsächliches Teilhaftwerden des Paradoxons einer Beziehung als solcher, ganz getrennt von irgend etwas Bezogenem; das unmittelbare Erleben reinen Intervalls und des Prinzips der Harmonie, getrennt von alledem, was in diesem oder jenem konkreten Fall gesondert, aber harmonisiert ist. Und irgendwo, irgendwie besteht dieses Teilhaben und dieses Erleben auch jetzt noch, während ich dies niederschreibe. Besteht trotz dem höllischen Lärm der Abwehrkanonen, trotz meinen Erinnerungen und Befürchtungen und gedanklichen Beschäftigungen. Wenn es immerfort bestehn könnte ... Aber die Gnade war ihm wieder entzogen worden, und in den letzten Tagen ... Sebastian schüttelte traurig den Kopf. Staub und Asche, die Affenteufel, die schwachsinnige Unheiligkeit der Zerstreuung. Und weil Erkenntnis, die echte Erkenntnis, jenseits von bloßer Theorie und Buchwissen, immer ein Teilhaftwerden war, das einen in das Erkannte umwandelte, ließ sie sich nie mitteilen — nicht einmal dem eignen Ich, wenn es in einem Zustand des Nichterkennens war. Das beste, was man mittels Worten zu tun hoffen konnte, war, sich selbst daran zu gemahnen was man einmal unitiv verstanden hatte, und, in andern den Wunsch nach einem ähnlichen Verstehn zu erwecken und einige der Vorbedingungen dafür zu schaffen. Er öffnete sein Merkbuch wieder.
Verbrachte den Abend damit, Leuten zuzuhören, die über die künftige Organisation der Welt redeten, — Gott steh uns allen bei! Vergessen sie, was Lord Acton über Macht sagte? “Macht korrumpiert immer. Absolute Macht korrumpiert absolut. Alle großen Männer sind schlecht.” Und er hätte hinzufügen können, daß alle großen Nationen, alle großen Klassen, alle großen Religionen oder Berufsgruppen schlecht sind — schlecht in genauem Verhältnis zu dem Ausmaß, in dem sie ihre Macht ausnützen. In der Vergangenheit hat es ein Zeitalter Shakespeares, ein Zeitalter Voltaires, ein Zeitalter Dickens' gegeben. Das unsre ist nicht ein Zeitalter eines Dichters oder Denkers oder Romanschriftstellers, sondern der Reportage. Unser “Repräsentativer Mann” ist der reisende Zeitungsberichterstatter, der zwischen zwei Aufträgen seines Blattes ganz schnell einen Bestseller hinschreibt. “Tatsachen sprechen für sich selbst.” Welche Illusion! Tatsachen sind Bauchrednerpuppen. Sitzen sie einem Weisen auf dem Schoß, lassen sie sich dazu bringen, Worte der Weisheit zu äußern; anderswo sagen sie nichts oder reden Unsinn oder erlauben sich wahre Teufeleien. Muß nachlesen, was Spinoza über Mitleid sagt. Soviel ich mich erinnere, hält er es dem Wesen nach für unerwünscht, insofern es eine Leidenschaft ist, aber relativ für erwünscht, insofern es mehr Gutes als Schaden bewirkt. Mußte gestern die ganze Zeit daran denken, während ich mit Daisy Ockham beisammen war. Die gute Tante Daisy! Ihr leidenschaftliches Mitleid veranlaßt sie, alles mögliche Gute und Schöne zu tun; aber weil es eben nur eine Leidenschaft ist, verbiegt es ihr Urteil, ist die Ursache, daß sie alle möglichen lächerlichen und schädlichen Irrtümer begeht, und verwandelt
sich in eine höchst absurd sentimentale und grundfalsche Auffassung vom Leben. Sie liebt es zum Beispiel davon zu reden, daß Menschen durch Leiden verwandelt und gebessert werden. Aber es ist völlig klar — wenn einen die Leidenschaft des Mitleids nicht blind macht — daß das nicht wahr ist. Leiden kann eine Art Gefühlsaufschwungs und zeitweise Steigerung von Mut, Duldsamkeit, Geduld und Nächstenliebe hervorbringen, und tut das auch oft. Aber wenn der Druck des Leidens zu lange währt, kommt es zu einem Zusammenbruch und zu Teilnahmslosigkeit, Verzweiflung oder heftiger Selbstsucht. Und wird der Druck beseitigt, erfolgt sogleich ein Rückfall in normale Zustände von Ungeneriertheit. Für kurze Zeit erwecken Luftangriffe Gefühle allgemeiner Brüderlichkeit; aber dauernde Wandlung und Besserung —die kommen nur ausnahmsweise vor. Die meisten Leute, die ich kenne, sind unverändert aus der Schlacht zurückgekehrt; beträchtlich viele sind schlechter, als sie vorher waren; und einige wenige — solche mit einer entsprechenden Philosophie und einem Verlangen danach, ihr gemäß zu handeln, — sind besser. Daisy tun alle so leid, daß sie behauptet, sie seien alle besser. Ich sprach ihr ein wenig von dem armen Dennis C. und davon, was Leiden bei ihm bewirkt hat — Trinken, Rücksichtslosigkeit, Unbekümmertsein um einfachste Ehrlichkeit, einen völligen Zynismus. Buddhisten unterscheiden in ihren Schriften zwischen Mitgefühl und dem “Großen Mitgefühl” — Mitleid im Rohzustand, als einer bloßen Störung der Eingeweide und des Gemüts, und grundsätzlichem Mitleid, erleuchtet von Einsicht in das Wesen der Welt, bewußt der Ursachen des Leidens und der einzigen Abhilfe. Tun hängt vom Denken ab, das Denken aber in großem Ausmaß vom Wortschatz. Ein Wortschatz, der auf den Jargons der Wirtschaftslehre oder der Psychologie oder einer sentimentalen Religiosität beruht, das heißt der
Wortschatz, in dessen Begriffen wir heutzutage über Wesen und Bestimmung des Menschen nachdenken, ist so ziemlich das schlechteste . . . Plötzlich ertönte die Türklingel. Überrascht blickte Sebastian auf. Wer konnte das sein um diese Stunde? Dennis Camlin wahrscheinlich. Und wahrscheinlich wieder tüchtig betrunken. Wie, wenn er die Tür nicht öffnete? Aber nein, das wäre unbarmherzig. Der arme Kerl schien in seiner Gegenwart etwas wie Trost zu finden. “Das ist alles wahr”, sagte er dann meist. “Ich hab immer gewußt, daß es wahr ist. Aber wenn man sich zugrundrichten will — na, warum nicht?” Und dann wurde sein Ton trotzig und seine Worte wurden äußerst unflätig und blasphemisch. Doch ein paar Tage später war er wieder da. Sebastian stand auf, ging in den Vorraum und öffnete die Wohnungstür. Die Gestalt eines Mannes stand da im Dunkel — sein Vater. Er schrie fast auf vor Erstaunen. “Aber wieso bist du nicht auf der andern Seite des Atlantik?” “Das ist der Reiz des Reisens in Kriegszeiten”, sagte John Barnack in dem vorsätzlich unerregten Ton, den er fürs Abschiednehmen und Wiedersehn aufsparte. “Schluß mit dem Unfug der Fahrpläne oder telegraphischer Verständigungen. Kannst du mich für die Nacht unterbringen, übrigens?” “Selbstverständlich.” “Nicht, wenn's dir die geringste Mühe macht”, fügte sein Vater hinzu, während er seinen Handkoffer abstellte und den Mantel aufzuknöpfen begann. “Ich habe mir nur gedacht, es wäre leichter für mich, meine Wohnung erst bei Tageslicht wieder herzurichten.” Er betrat mit energischen Schritten das Wohnzimmer, setzte sich, und ohne auch nur zu fragen, wie es Sebastian ging, oder das Geringste über seine eigne Person zu sagen, begann er von seiner Tour durch Kanada und die Ver-
einigten Staaten zu reden. Diese bemerkenswerte Schwenkung nach links in dem Dominion — ein so auffallender Gegensatz zu dem, was jenseits der Grenze vorgehe. Aber ob die Republikaner die Präsidentenwahl wirklich gewinnen würden, sei eine andre Sache. Und jedenfalls werde die künftige Politik der USA. nicht durch irgendeine Partei oder irgendeinen Präsidenten entschieden werden, sondern durch die nackte Gewalt der Umstände. Wer immer gewählt würde, es gäbe nur noch mehr staatliche Kontrolle, noch mehr Zentralisierung, um mit dem Nachkriegschaos fertigzuwerden; hohe Steuern auch weiterhin ... Sebastian machte die Gebärden und Geräusche verständnisvoller Aufmerksamkeit, aber seine wirkliche Anteilnahme galt dem Sprecher, nicht dem Gesprochenen. Wie müde sein Vater aussah, wie alt! Vier Kriegsjahre Überarbeitung, daheim, in Indien, wieder zurück in England, hatten ihn erschöpft und heruntergebracht; und nun hatten diese zwei Monate ununterbrochenen Umherreisens im Winter, täglicher Vorträge und Konferenzen ein übriges getan. Fast plötzlich war John Barnack aus kraftvoller Reife ins beginnende Greisenalter geraten. Aber natürlich, so überlegte Sebastian, wäre sein Vater viel zu stolz, um das zuzugeben, viel zu willensstark und eigensinnig, um seinem müden und geschrumpften Körper Zugeständnisse zu machen. Er, der um des Asketentums willen asketisch war, würde sich weiter antreiben, sinnlos, bis zum endgültigen Zusammenbruch. “... ein kompletter Trottel”, sagte John Barnack grade mit einer Stimme, der Verachtung noch lautere Artikulation verlieh. “Und wenn er nicht Jim Tooleys Schwager wäre, wäre es natürlich keinem Menschen auch nur im Traum eingefallen, ihm diesen Posten zu geben. Aber freilich, wenn man die Schwester des Weltmeisters im Speichellecken zur Frau hat, darf man nach den höchsten öffentlichen Ämtern langen.” Er stieß ein lautes, blechernes, wie Eselsgeschrei klin-
gendes Gelächter aus und erging sich dann in einer lebhaften Abschweifung über oben herrschenden Nepotismus. Sebastian hörte zu — nicht den Worten, sondern dem, was sie verbargen und doch so deutlich ausdrückten: seines Vaters bitteres Gefühl von Zurücksetzung und seinen Groll gegen eine Partei und eine Regierung, die ihn alle diese Jahre in Reih und Glied gelassen hatte, ohne Amt, ohne irgendeine Stellung von Autorität. Sein Stolz erlaubte ihm nicht, sich zu beklagen, — er mußte sich mit diesen grimmig sardonischen Hinweisen auf die Dummheit und Verworfenheit von Männern begnügen, welchen zuliebe er selbst übergangen worden war. Allerdings, wenn man sich nicht davon zurückhalten konnte, zu seinen Kollegen zu sprechen, als wären sie geistig zurückgebliebene und wahrscheinlich verbrecherisch veranlagte Kinder, durfte man wirklich nicht erstaunt sein, wenn sie die Rosinen anderen zuteilten. Alt, müde, verbittert. Aber das war noch nicht alles, sagte sich Sebastian, während er das tiefgefurchte, lederartige Gesicht betrachtete und der nun ungemäß lauten und herrischen Stimme lauschte. Das war noch nicht alles. Auf eine kaum merkliche und kaum erklärliche Weise machte sein Vater einen Eindruck von Verkrüppelung — als hätte er sich plötzlich in einen Zwerg oder Buckligen verwandelt. “Wer nicht besser wird, wird schlechter.” Aber das drückte es zu stark und zu summarisch aus. “Wer sich nicht entwickelt, entwickelt sich zurück.” Das war treffender. Ein solcher Mann endete sein Leben vielleicht nicht als ein ausgereifter Mensch sondern als ein gealterter Fötus. Völlig erwachsen an Weltklugheit und Berufstüchtigkeit; embryonisch an Geist und sogar (trotz allen stoischen und bürgerlichen Tugenden, die er erworben haben mochte) an Charakter. Mit fünfundsechzig versuchte sein Vater, noch immer zu sein, was er mit fünfundfünfzig, fünfunddreißig gewesen war. Aber dieser Versuch, derselbe zu sein, machte ihn wesentlich zu einem andern. Denn damals war er gewesen, was ein vielbeschäftigter Politiker in jungen oder
mittleren Jahren sein sollte. Nun aber war er, was ein alter Mann nicht sein sollte. Und hatte sich so, indem er danach strebte, unverändert zu bleiben, in etwas schauerlich Anomales verwandelt. Und natürlich war er in einem Zeitalter, das die Gestalt eines Peter Pan, des Knaben, der nicht erwachsen werden will, erfunden und die Monstrosität gehemmter Entwicklung zum Rang eines Ideals erhoben hatte, keineswegs eine Ausnahme. Die Welt war voll von Siebzigern, die sich darin gefielen, Dreißigjährige oder noch Jüngere zu spielen, statt sich auf den Tod vorzubereiten, statt zu versuchen, die spirituelle Wirklichkeit hervorzugraben, mit deren Verschüttung unter einem ganzen Berg von Abfall sie ihr Leben verbracht hatten. Bei seinem Vater war der Abfall natürlich von allerhöchster Qualität gewesen — strenge Lebensweise, Dienst an der Öffentlichkeit, umfassendes Wissen, politischer Idealismus. Aber die spirituelle Wirklichkeit war nicht weniger wirksam verschüttet, als sie es etwa unter einer Leidenschaft fürs Glücksspiel gewesen wäre oder unter einem Besessensein von geschlechtlicher Genußgier. Ja vielleicht war sie tatsächlich noch viel wirksamer begraben, denn der Hasardeur und der Hurer bildeten sich nicht ein, daß ihre Betätigungen rühmlich seien, und hatten also die Möglichkeit, dahin gebracht zu werden, sich ihrer zu schämen und sie aufzugeben; wogegen der wohlunterrichtete gute Bürger so gewiß war, moralisch und intellektuell im Recht zu sein, daß er selten die Möglichkeit, seinen Lebenswandel zu ändern, auch nur ins Auge faßte. Die Zöllner waren es gewesen, die das ewige Heil erlangten, und nicht die Pharisäer. Mittlerweile war die Rede von Nepotismus abgeschwenkt und hatte sich unvermeidlich darin festgefahren, was wohl nach dem Krieg geschehn werde . . . Bis vor ganz kurzem, so dachte Sebastian, während er zuhörte, war dieser unerschütterliche Götzendiener der künftigen Zeit von seiner Gottheit mit der Gnade einer unerschöpflichen Energie im
Dienste seiner sozialen Lieblingsreformen belohnt worden. Nun jedoch war er statt Pfründner das Opfer dessen, was er anbetete. Die Zukunft und ihre Probleme hatten ihn zu verfolgen begonnen wie ein schlechtes Gewissen oder eine verzehrende Leidenschaft. Da war zunächst die unmittelbare Zukunft. Auf dem Kontinent ein so fürchterliches Chaos, daß Millionen Menschen die Kriegsjahre im Rückblick buchstäblich als eine Zeit des Wohlstands erscheinen würden. Und sogar in England würde sich nebst einem Ungeheuern Gefühl der Erleichterung ein gewisses Heimweh nach den Einfachheiten der Kriegswirtschaft und kriegszeitlicher Organisation geltend machen. Und in Asien indessen welch ein politisches Wirrsal, wieviel Hungersnot und Seuchen, was für Abgründe des Rassenhasses, welche bewußten und unbewußten Vorbereitungen für den kommenden Krieg der Hautfarben! John Barnack hob die Hände und ließ sie mit einer Gebärde äußerster Hoffnungslosigkeit wieder sinken. Denn das war natürlich noch nicht alles. Wie von Furien gehetzt, machte er sich nun daran, die entfernteren Strecken der Zeit zu erkunden. Und da erhoben sich vor ihm, bedrohlich wie ein unentrinnbares Schicksal, die fast zur Gewißheit gewordenen zukünftigen Bevölkerungskurven. Ein England, ein Westeuropa, ein Amerika, in dreißig Jahren kaum stärker bevölkert als gegenwärtig, und ein Fünftel der Einwohner Altersrentner. Und gleichzeitig mit dieser Hinfälligkeit ein Rußland von mehr als zweihundert Millionen, vorwiegend jugendlich und so auftrumpfend zuversichtlich und so imperialistisch gesinnt, wie England es an einem entsprechenden Punkt seiner längstvergangenen Phase wirtschaftlicher und demokratischer Expansion gewesen war. Und östlich von Rußland dann ein China von vielleicht fünfhundert Millionen im ersten Auftrieb des Nationalismus und der Industrialisierung. Und südlich des Himalaya vier- oder fünfhundert Millionen hungernder Inder, die verzweifelt versuchen,
die Erzeugnisse ihrer um Schandlöhne arbeitenden Fabrikarbeiter gegen die Mittel zu tauschen, grad lange genug leben zu können, daß sich die Bevölkerungszahl um noch einmal fünfzig Millionen vermehre und die im Durchschnitt zu erwartende Lebensdauer sich um noch ein oder zwei Jahre verringere. Das Hauptergebnis des Kriegs, so fuhr er düster fort, werde die Beschleunigung von Vorgängen sein, die sonst viel allmählicher und weniger katastrophal verlaufen wären. Das Vordringen Rußlands zur Beherrschung Europas und des Nahen Ostens; Chinas Vordringen zur Beherrschung des übrigen Asiens; und das Vordringen ganz Asiens zur Industrialisierung. Die Märkte der Weißen von Sturzbächen billiger Fabrikswaren überschwemmt. Und die Reaktion der Weißen auf die Sturzbäche der casus belli für den kommenden Hautfarbenkrieg. “Und wie dieser Krieg aussehn wird ... ” John Barnack ließ den Satz unvollendet und begann statt dessen von dem gegenwärtigen Elend Indiens zu reden — Hungersnot in Bengalen, pandemische Malaria, die Gefängnisse überfüllt mit Männern und Frauen, an deren Seite er selbst noch vor ein paar Jahren für swaraj gekämpft hatte. Ein Ton verzweifelter Bitterkeit kam in seine Stimme. Nicht nur weil er seine politischen Sympathien hatte aufopfern müssen. Nein, die Wurzeln seiner Verzweiflung reichten tiefer — bis hinab in die Überzeugung, daß politische Grundsätze, so vortrefflich sie auch sein mochten, fast belanglos waren für das wirkliche Problem, das ein rein arithmetisches war: eine Sache des Verhältnisses von Nutzfläche zu Bevölkerung. Zuviele Menschen, zuwenig Ackerland. Dank der Fortschritte der Technik und Medizin und dank der Pax Britannica war der Alptraum eines Malthus für ein Sechstel der Menschheit zur alltäglichen Wirklichkeit geworden. Sebastian ging in die Küche, um Tee zu kochen. Durch die offene Tür hörte er ein jähes Schmettern von Trom-
peten und Saxophonen, dann den jämmerlichen Schwall gefühlvoll sein wollender Sängerinnen, dann die ruhigere Intonation einer männlichenStimme, die redete und redete. Sein Vater hörte offenbar Nachrichten. Als er ins Wohnzimmer zurückkam, waren die vorbei. Mit geschlossenen Augen lag John Barnack in den Lehnstuhl zurückgesunken und schlief beinahe. So unversehens überrascht, verrieten das Gesicht und der schlaffe Körper unsägliche Müdigkeit. Eine Teetasse klirrte, als Sebastian das Tablett hinstellte. Sein Vater fuhr in die Höhe und setzte sich auf. Das abgespannte Gesicht nahm wieder seinen gewohnten Ausdruck fast einschüchternder Entschlossenheit an, der Körper war wieder gestrafft und alert. “Hast du schon von dieser Sache mit den Russen und den Tschechen gehört?” fragte er. Sebastian schüttelte den Kopf. Sein Vater klärte ihn auf. Weitere Einzelheiten des zwanzigjährigen Pakts kämen nun erst heraus! “Siehst du”, schloß er fast triumphierend, “sie fängt schon an — die russische Hegemonie in Europa.” Vorsichtig reichte ihm Sebastian eine randvolle Tasse Tee. Vor gar nicht so langer Zeit, dachte er, hätte es nicht geheißen “russische Hegemonie” sondern “sowjetischer Einfluß”. Aber das war gewesen, bevor sein Vater begonnen hatte, sich für Bevölkerungsprobleme zu interessieren. Und Stalin hatte die alte revolutionäre Politik in bezug auf Religion jetzt ins Gegenteil verkehrt. Die griechischorthodoxe Kirche wurde wieder als Werkzeug des Nationalismus verwendet. Es gab jetzt Seminare und einen Patriarchen, der aussah wie Sankt Nikolaus, und Millionen Menschen bekreuzigten sich vor Ikonen. “Noch vor einem Jahr”, fuhr John Barnack fort, “hätten wir den Tschechen das nie erlaubt. Nie! Jetzt haben wir keine Wahl.” “Unter diesen Umständen”, meinte Sebastian nach einem kurzen Schweigen, “wäre es vielleicht ganz gut, ge-
legentlich an manches zu denken, wobei wir eine Wahl haben.” “Was meinst du damit?” fragte sein Vater, argwöhnisch aufblickend. “Russen hin, Russen her, es steht einem doch immer frei, dem wahren Wesen der Dinge einige Aufmerksamkeit zu schenken.” John Barnack nahm eine Miene verachtungsvollen Bedauerns an und brach dann in ein Gelächter aus, das klang, als würde eine Karrenlast Alteisen auf den Abladeplatz geleert. “Vierhundert Divisionen”, sagte er, als der Anfall vorbei war, “gegen ein paar hochklassige Gedanken über das gasförmige Wirbeltier!” Es war eine Bemerkung ganz im guten alten Stil — aber mit diesem Unterschied, daß der gute alte Stil nun der neue Stil eines selbstverbutteten Zwergs war, der es fertig gebracht hatte, seine eigene spirituelle Abtreibung zu vollziehen. “Und doch”, sagte Sebastian, “wenn wir daran dächten bis . . . bis ...” Er zögerte. “Ja, bis wir tatsächlich einer seiner Gedanken würden, wären wir offenbar ganz anders, als wir gegenwärtig sind.” “Daran ist nicht im geringsten zu zweifeln”, sagte John Barnack sarkastisch. “Und diese Art von Anderssein ist ansteckend”, fuhr Sebastian fort. “Und mit der Zeit würde sich die Ansteckung vielleicht so weit verbreiten, daß diejenigen, die die größeren Bataillone haben, tatsächlich gar nicht wünschen würden, sie zu verwenden.” Noch eine Ladung Alteisen wurde auf die Rutsche gekippt. Diesmal stimmte Sebastian in das Gelächter ein. “Ja”, gab er zu, “es hört sich wirklich recht komisch an. Aber schließlich ist eine Chance von eins in einer Million besser als gar keine, und gar keine, das ist's, was du dir erwartest.”
“Nein, das habe ich nicht gesagt”, verwahrte sich sein Vater. “Es wird natürlich einen Waffenstillstand geben — sogar einen recht langen.” “Aber keinen Frieden?” John Barnack schüttelte den Kopf. “Nein, fürchte ich. Keinen wirklichen Frieden.” “Weil Friede nicht für diejenigen kommt, die bloß für den Frieden arbeiten, — sondern nur als Nebenprodukt von etwas anderem.” “Einem Interesse für gasförmige Wirbeltiere, wie?” “Stimmt”, sagte Sebastian. “Friede kann nur bestehn, wo es eine Metaphysik gibt, die alle gelten lassen und die zu begreifen einigen wenigen tatsächlich gelingt.” Und als sein Vater ihn fragend ansah, setzte er hinzu: “Durch unmittelbare Intuition. Auf die Weise, wie man der Schönheit eines Gedichts innewird — oder auch der einer Frau.” Es folgte ein langes Schweigen. “Du erinnerst dich vermutlich deiner Mutter nicht sehr gut, nicht wahr?” fragte John Barnack unvermittelt. Sebastian schüttelte den Kopf. “Du warst ihr sehr ähnlich, als du noch ein Junge warst”, fuhr sein Vater fort. “Es war sonderbar ... fast beängstigend.” Er schüttelte den Kopf und setzte dann, nach einer kleinen Pause, hinzu: “Ich hätte mir nie vorgestellt, daß du einmal so werden würdest.” “Daß ich wie werden würde?” “Du weißt schon — worüber wir gesprochen haben. Natürlich halte ich's alles für Unsinn”, setzte er hastig hinzu. “Aber ich muß sagen ...” Ein Ausdruck ungewohnter Verlegenheit erschien auf seinem Gesicht. Vor einer allzu nachdrücklichen Äußerung von Zuneigung zurückscheuend, schloß er abwägend: “Es hat dir jedenfalls nicht geschadet.” “Danke schön”, sagte Sebastian. “Ich erinnere mich an ihn, wie er ein junger Mann war”, fuhr sein Vater fort, die Teetasse am Mund. “Erinnerst dich an wen?”
“Den Sohn des alten Rontini. Bruno — hieß er nicht so?” “Ja, so hieß er”, sagte Sebastian. “Er hat mir nicht viel Eindruck gemacht, damals.” Sebastian fragte sich, ob irgend jemand seinem Vater je viel Eindruck gemacht habe. Er war immer zu sehr beschäftigt gewesen, hatte sich zu sehr mit seiner Arbeit und seinen Ideen identifiziert, um sich andrer Menschen sehr bewußt zu sein. Er kannte sie als Verkörperungen juridischer Probleme, als besondere Fälle politischer oder wirtschaftlicher Typen, nicht als individuelle Menschen. “Und doch muß er vermutlich in mancher Hinsicht recht bemerkenswert gewesen sein”, setzte John Barnack fort. “Schließlich, du hast ihn dafür gehalten.” Sebastian war gerührt. Es war das erste Mal, daß sein Vater ihm das Kompliment zollte, zuzugeben, daß er vielleicht kein absoluter Narr sei. “Ich kannte ihn um so viel besser als du”, sagte er. Mit einer offenbar recht mühsamen Anstrengung richtete sich John Barnack aus der Tiefe des Lehnstuhls auf. “Höchste Zeit, schlafen zu gehn”, sagte er, als verkündete er eine allgemeine Wahrheit, nicht, als drückte er damit seine eigne Müdigkeit aus. Er wandte sich nach Sebastian um. “Was war es eigentlich, was du an ihm gefunden hast?” fragte er. “Was es war?” wiederholte Sebastian gedehnt. Er zögerte und wußte nicht recht, was er antworten sollte. Es gab da so vieles, was man erwähnen konnte. Diese Aufrichtigkeit, zum Beispiel, diese außerordentliche Wahrhaftigkeit. Oder seine Schlichtheit, dieses Fehlen jeglicher Anmaßung. Oder ein Zartgefühl, so innig und doch so völlig unsentimental und sogar unpersönlich — aber von einer Unpersönlichkeit, die auf irgendeine Weise oberhalb der Ebene des Persönlichen lag, nicht unterhalb; nicht so, wie etwa seine eigene Sinnlichkeit unpersönlich gewesen war. Oder auch, daß dann, gegen das Ende zu, Bruno nicht viel mehr gewesen war als eine Art dünner, durch-
scheinender Schale, die etwas unvergleichbar anderes als ihn selbst umschloß — eine überirdische Schönheit von Frieden und Stärke und Erkenntnis. Aber das, so sagte sich Sebastian, war etwas, das sein Vater nicht einmal zu verstehn wünschen würde. Er blickte endlich auf. “Eins von den Dingen, die mir am meisten auffielen”, sagte er, “war dies, daß Bruno einen irgendwie überzeugen konnte, es sei alles sinnvoll. Nicht durch sein Reden natürlich; einfach durch sein Sein.” Statt abermals zu lachen, wie Sebastian erwartet hatte, stand John Barnack schweigend da und rieb sich das Kinn. “Wenn man klug ist”, sagte er endlich, “fragt man nicht, ob es alles irgendeinen Sinn hat. Man tut seine Arbeit und überläßt das Problem des Bösen seinem Metabolismus. Der ist ganz gewiß sinnvoll.” “Weil er nicht man selbst ist”, sagte Sebastian. “Nicht menschlich, sondern ein Teil der Weltordnung. Darum haben die Tiere keine metaphysischen Sorgen. Da sie mit ihrer Physis identisch sind, wissen sie, daß es eine Weltordnung gibt. Wogegen die Menschen sich, sagen wir, mit dem Geldverdienen identifizieren oder mit Trinken oder Politik oder Literatur. Und nichts von alledem hat etwas mit der Weltordnung zu tun. Also sind sie natürlich der Meinung, daß nichts sinnvoll ist.” “Aber was ist da zu tun?” Sebastian lächelte, und während er aufstand, ließ er einen Fingernagel über das Netzgitter des Lautsprechers gleiten. “Man kann entweder Nachrichten hören — und natürlich sind Nachrichten immer schlechte Nachrichten, auch wenn sie gut klingen, — oder man kann seinen Geist darauf einstellen, etwas anderes zu hören.” Mit herzlicher Zuneigung ergriff er seinen Vater am Arm. “Wie wär's, wenn wir nachsehn gingen, ob du im Zimmer drüben noch etwas brauchst?”