Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 726
Zeit-Transfer Die Suche auf der Nullzeit-Spur
von H.G. Ewers
Auf Terra sch...
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Atlan Im Auftrag der Kosmokraten Nr. 726
Zeit-Transfer Die Suche auf der Nullzeit-Spur
von H.G. Ewers
Auf Terra schreibt man die Jahreswende 3818/19, als der Arkonide eine plötzliche Ortsversetzung erlebt. Atlans neue Umgebung ist die Galaxis Manam-Turu. Und das Fahrzeug, das dem Arkoniden die Möglichkeit bietet, die Spur des Erleuchteten, seines alten Gegners, wiederaufzunehmen, ist die STERNSCHNUPPE. Das Schiff sorgt für manche Überraschung – ebenso wie der junge Daila Chipol, der neue Gefährte des Arkoniden. In den sieben Monaten, die inzwischen verstrichen sind, haben die beiden schon manche Gefahr bestanden – immer auf der Spur jener Kräfte, die schon an anderen Orten des Universums für Leid und Unfrieden verantwortlich waren. In dieser Zeit hat Atlan schmerzliche Niederlagen hinnehmen müssen, aber er hat auch Erfolge für sich verbuchen können. So sind zum Beispiel die Weichen für eine Zusammenarbeit der verbannten Daila mit den Bewohnern ihrer Ursprungswelt gestellt worden – was sich positiv auf den Freiheitskampf der Daila gegen die Mächte des Neuen Konzils auswirken dürfte. Während Atlan gegenwärtig wieder neuen Nachstellungen seines alten Feindes ausgesetzt ist, blenden wir um zu Anima, Goman-Largo und Neithadl-Off, den drei merkwürdigen Reisenden durch Raum und Zeit. Auf sie wartet ein ZEIT-TRANSFER…
Die Hauptpersonen des Romans: Goman-Largo, Anima und Neithadl-Off – Drei verschiedenartige Wesen auf der Zeitspur. Enerschi-Upp – Eine phylosische Wissenschaftlerin. Brush-Onoton – Imperator der Phyloser. Donora – Sprecherin der Signer. Nussel – Ein sprechendes Einhorn.
1. Goman-Largo kniff die Augen zusammen und duckte sich, als der grelle Lichtblitz der Explosion durch die getönten Panzerglasscheiben des Beobachtungsbunkers stach. Die Explosion selber war völlig lautlos, denn sie fand auf der Oberfläche eines luftleeren Himmelskörpers statt. Aber das von ihr verursachte Mondbeben war so stark, daß die Erschütterungswellen mehrmals um die Oberfläche Niarmenas rasten und auch sein Inneres in Aufruhr versetzten. Schreie ertönten, als der Bunker zu schaukeln begann und entsetzliche Laute von sich gab: Knirschen und Krachen, Mahlen und Knistern. Das Innere des Bauwerks füllte sich mit hellgrauem Staub, Bildschirme implodierten, Stichflammen setzten kostbare Elektronik in Brand oder ließen sie bersten – und ein Trümmerregen ging auf die Anwesenden und die Reste der Einrichtung nieder. Schlagartig wurde es wieder still. Der Modulmann kroch unter dem Computertisch hervor, unter den er sich geworfen hatte, schüttelte Glassplitter aus seinem rotbraunen Lockenhaar und sah sich mit seinen wasserhellen Augen aufmerksam um. Seine Sorge galt zuallererst Neithadl-Off und Anima, seinen beiden Schicksalsgefährtinnen aus Raum und Zeit. Sie hatten zum Zeitpunkt der Explosion ziemlich weit weg von ihm gestanden. Zwar hatte der Staub sich bereits gelichtet, aber sie waren immer noch nicht zu sehen. Statt dessen wühlte sich ein anderes Lebewesen aus einem Hügel verwirrter Datenstreifen, Diagrammkarten, Plankontrollzetteln und Glassplittern heraus. Es war hominid wie Goman-Largo, aber nur halb so groß. Dafür wies es allerdings eine beachtliche Korpulenz auf, und die kurzen Arme und Beine schienen der Werbung für Wurstwaren zu dienen. Das Gesicht jenes Lebewesens hob sich gerade dem mattrötlichen Schein der Notbeleuchtung entgegen, als der Modulmann an ihm vorbei auf den Standort Neithadl-Offs zu eilte, deren Körperoberseite heftig vibrierte und sich so von Staub und Splittern befreite. Goman-Largo erschrak über den Gesichtsausdruck des Lebewesens. Er wirkte wie der eines Delinquenten, der vor dem Scharfrichter stand. Auch sonst sah die phylosische Hyperphysikerin arg mitgenommen aus. Ihr ehedem zu einem Knoten aufgestecktes graumeliertes Haar war derangiert, und der von einem Ohr herabbaumelnden schwarzen Hornbrille fehlte ein Glas. »Nur keine Panik!« versuchte der Modulmann sie zu trösten. »Das kriegen wir schon wieder hin, Enerschi-Upp.« Sie erwiderte nichts darauf, und er war froh darüber, denn er ahnte, daß die Explosion nicht das schlimmste Ereignis dieses Tages gewesen war, obwohl sie wahrscheinlich den gesamten Teilchenbeschleuniger vernichtet hatte. Diese Katastrophe stellte einen so schwerwiegenden Rückschlag für die Entwicklungs- und Forschungsarbeiten an dem phylosischen Hyperantrieb dar, daß die Regierung entweder scharf gegen die Verantwortlichen vorging oder ihren Sturz in Kauf nehmen mußte. Das alles bewegte den Modulmann allerdings vorläufig nur sekundär. Vorrangig war seine Sorge um die Gefährtinnen – und da besonders um Neithadl-Off, denn Anima konnte erheblich mehr ertragen als die zierliche Vigpanderin. Deshalb wunderte sich Goman-Largo auch nicht, als Anima sich unter einer zusammengebrochenen Konsole hervorgearbeitet hatte und gleichzeitig mit ihm bei Neithadl-Off ankam. Doch auch’ die Vigpanderin war noch einmal mit dem Schrecken davongekommen. Sie stakste halbbenommen und ein wenig schwankend aus einer Region etwas stärkerer Staubkonzentration
hervor und stand dann ruhig: äußerlich einem sechsgliedrigen Metallrahmen gleichend, der mit graugrüner, feucht schimmernder ledriger Haut bespannt war. Das alles war ihr Körper, und würde Goman-Largo jemals in seinem Leben ein Trampolin gesehen haben, er hätte die Vigpanderin im ersten Augenblick durchaus für ein solches Sprunggerät halten können. In eine solche Verlegenheit kam er mangels einschlägiger Erfahrung glücklicherweise nicht. Aber sie hätte auch nicht lange angehalten, denn auf den zweiten Blick überwogen die Unterschiede, die nicht nur darin bestanden, daß Neithadl-Off einen Schutzanzug aus enganliegender’ transparenter Folie trug und aus der vorderen Schmalseite ein gutes Dutzend roter Sensorstäbchen ragte. »Hast du alles gut überstanden, Prinzessin?« erkundigte sich Goman-Largo und beugte sich zu der nur halb so großen Vigpanderin hinab. »Ich bin doch nicht aus Glas, Modulmann«, erwiderte Neithadl-Off in den für sie charakteristischen hohen Pfeiftönen. »Hoffentlich ist sonst nichts weiter passiert.« »Nichts, außer daß der gesamte Teilchenbeschleuniger in die Luft beziehungsweise ins Vakuum geflogen ist«, stellte Anima trocken fest. »Es war Sabotage!« schrie eine Stimme auf phylosisch, das die drei Schicksalsgefährten längst einwandfrei beherrschten. »Agenten Tanc-Folls haben den Versuch sabotiert!« zeterte Enerschi-Upp weiter. »Dafür muß er zur Verantwortung gezogen werden!« Goman-Largo blickte zu der Wissenschaftlerin hin, und so etwas wie Mitleid regte sich in ihm, als er sah, daß die übrigen elf phylosischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich ebenfalls im Kontrollbunker aufhielten, von Energie-Upp abrückten. Diese zwergenhaften Hominiden kannten ihre Regierung – beziehungsweise den Imperator und seine Gefolgsleute. Sie wußten, daß die Regierung alles und jeden opfern würde, nur um nicht zurücktreten und die fetten Pfründe anderen Phylosern überlassen zu müssen. Sie würde sich an der Person schadlos halten, deren Name aufs engste mit der Entwicklung des Hyperantriebs verknüpft war und sie skrupellos der Staatsräson opfern. Wahrscheinlich würde der Imperator zusätzlich auch noch Tanc-Foll, den schärfsten Widersacher Enerschi-Upps und ihrer Pläne, beseitigen lassen, weil er am ehesten als Täter in Frage kam. Doch das würde im stillen geschehen, denn er konnte sich nicht mit mehr als einem Sündenbock verzetteln. Ob der wirkliche Schuldige jemals gefunden wurde, das interessierte den Herrscher sicher gar nicht. Es war sogar fraglich, ob es sich überhaupt um Sabotage gehandelt hatte. Viele Ursachen konnten die Katastrophe herbeigeführt haben. Möglicherweise war der entscheidende Fehler beim Bau der Anlage vor rund drei Jahrzehnten begangen worden, ohne daß eine Konstruktionsschwäche aus den damaligen Aufzeichnungen hervorging. Die Phyloser hatten eine Gesellschaftsordnung, die ihre Mitglieder zu Egoisten erzog – und die Folge waren Schlamperei, Korruption, Unterschlagungen und Betrügereien. »Was wird jetzt aus uns, Modulmann?« fragte Anima. »Wie kommen wir zu einem Schiff mit Überlichtantrieb? Ich muß Atlan wiederfinden.« »Ich mag auch nicht hierbleiben«, pflichtete Neithadl-Off ihr bei. Goman-Largo dachte an das Fünf-Sterne-Reich der Phyloser, das mitten in der Leere und Unendlichkeit des intergalaktischen Raumes stand: eine Sternengruppierung von fünf Sonnen, von der die anderen Galaxien des Universums so weit entfernt waren, daß die Phyloser ihre fünf Sonnen als das Universum angesehen hatten – und sich selbst dementsprechend als die Herren dieses Universums. Bis die drei Schicksalsgefährten aufgetaucht waren. Sie hatten ihr Weltbild zertrümmert. Sie hatten den Phylosern eine Illusion geraubt.
Sie wurden deshalb mehr gehaßt als geliebt. Wenn sie es nun wegen der Explosion des Teilchenbeschleunigers nicht schafften, den Phylosern den Weg ins wirkliche Universum zu zeigen, würden sie sich dann nicht in das Schneckenhaus ihres Irrglaubens zurückziehen, sich darin verschanzen und alles beseitigen, was diesen Irrglauben jemals ins Wanken gebracht hatte? »Wir müssen untertauchen«, stellte der Modulmann fest. »Enerschi-Upp hat Angst genug, uns dabei zu helfen, denn auch sie wird sich verkriechen wollen – und sie wird froh sein über jeden Gefährten, den sie dabei haben kann.« * Sie befanden sich auf der Flucht. Sie, das waren Goman-Largo, Anima und Neithadl-Off sowie die Phyloserin Enerschi-Upp – und vorläufig flohen sie nur vor der Zeit. Die Befürchtungen des Modulmanns hatten sich schneller bestätigt, als er selber erwartet hatte. Wenige Minuten nach der Explosion hatte das einzige intakt gebliebene stationäre Funkgerät des Beobachtungsbunkers angesprochen. Enerschi-Upp hatte es aktiviert. Auf der Bildscheibe war das Gesicht eines ausgesprochen fetten, weißbärtigen Phylosers erschienen: Brush-Onoton, der Imperator des Sternenreichs von Phylos. Er hatte über das Versagen der Hyperphysikerin getobt und sie mitsamt den drei »Fremdlingen« in Arrest gestellt. Sie sollten im Beobachtungsbunker bleiben, bis das »Rückführungskommando« sie abholte. Anfangs hatte Enerschi-Upp tatsächlich warten wollen, und es war Goman-Largo nicht leichtgefallen, ihr klarzumachen, daß das sogenannte Rückführungskommando in Wirklichkeit ein Verhaftungskommando sein würde und daß der Verhaftung eine Serie von Verhören und Gehirnwäschen folgen würde, die mit ihrer totalen Entwürdigung, einer erbarmungslosen Verurteilung und einer gnadenlosen Vollstreckung des Urteils enden mußte. Sie war schließlich davon überzeugt worden – und seitdem hatte sie mit den drei Schicksalsgefährten kooperiert. Gemeinsam hatte man die übrigen elf Phyloserinnen und Phyloser entwaffnet und gefesselt, dann waren die vier so unterschiedlichen Personen mit geschlossenen Raumanzügen hinausgegangen auf die Oberfläche von Niarmena. Erschaudernd hatten sie den zirka fünfhundert Meter tiefen und oben rund tausend Meter durchmessenden Krater gesehen, der praktisch alles war, was die Explosion vom Teilchenbeschleuniger übriggelassen hatte. Danach waren sie zum Mondfährenbunker gegangen. Von der kleinen Wachtruppe war keine Spur zu finden gewesen. Wahrscheinlich hatten die Soldaten sich im Freien aufgehalten, als die Explosion erfolgte – und was die Hitzestrahlung des Lichtblitzes anzurichten vermochte, das war an den versinterten Staubhügeln Niarmenas und den glasierten Bunkeroberflächen zu sehen. Glücklicherweise lag das Tor des Fährenhangars auf der Seite, die der Explosion abgewandt gewesen war. Dadurch funktionierte es noch einwandfrei. Schwere Elektromotoren bewegten die plumpe Startplattform nach draußen. Die Fähre, ein quaderförmiger Metallkasten mit einem Packen chemischer Triebwerke und einem Treibstofftank an der Unterseite, stand auf sechs weitgespreizten Landestützen mit ovalen Tellern auf der Plattform und war in keiner Weise gegen den Zugriff Unbefugter gesichert.
Die vier Flüchtlinge waren mühelos eingestiegen und hatten sich in kurzer Zeit mit den Schaltungen und Kontrollen vertraut gemacht. Danach waren sie mit der Fähre gestartet und hatten Kurs auf Phylos genommen, den dritten Planeten der weißgelben Sonne Ubnil, der die Ursprungswelt der Phyloser und die Hauptwelt ihres Mini-Sternenimperiums war. Die Langsamkeit, mit der die chemischen Triebwerke das Fahrzeug bewegten, hatten die Flüchtlinge für viele Stunden zur Untätigkeit verurteilt – und zur Ungewißheit über das Gelingen ihrer Flucht. Goman-Largo nutzte die Zeit, um die Ereignisse, die zur jetzigen Situation geführt hatten, vor seinem geistigen Auge Revue passieren zu lassen. * Er gehörte dem Volk der Tigganois an und war vor einer ihm unbekannten Zeitspanne, wahrscheinlich vor vielen tausend Jahren, an der Zeitschule von Rhuf zum Spezialisten der Zeit ausgebildet worden. Nach der Ausbildung war er faktisch ein anderes Lebewesen, denn er war durch das Aufpfropfen zahlloser winziger Funktionseinheiten, sogenannter Module, zum Modulmann geworden. Den Modulen waren spezielle Fähigkeiten genotronisch aufgeprägt, die ihm bei Bedarf zur Verfügung stehen würden, ihm jedoch vorerst noch weitgehend unbekannt waren. Noch tiefgreifender und wichtiger war seine psychische Konditionierung, die er an der Zeitschule erfahren hatte. Er kannte praktisch nur einen Wertkodex für sein Verhalten - und das war der, der alles seinen Aufgaben unterordnete. Gut war, was der Erfüllung seiner Mission diente – und schlecht war alles, was ihn dabei behinderte. Erschwerend für die eigene Beurteilung seines Verhaltens und die Fällung von Entscheidungen war nur, daß er seinen damaligen Auftrag vergessen hatte, mit dem er seiner Meinung nach aus der Zeitschule von Rhuf entlassen worden war. Er wußte nur noch, daß dieser Auftrag etwas mit dem Orden der Zeitchirurgen zu tun hatte, der seinerzeit ungeheuerliche Gefahren heraufbeschwor, weil er in ursprünglich gutgemeinter Absicht gezielte korrigierende Eingriffe auf allen Zeitebenen vornahm. Damit sollten Ansätze gefährlicher Entwicklungen sozusagen aus der Zeit herausoperiert werden, was auch oftmals gelang. Jedoch wirkten sich die dadurch herbeigeführten Paradoxe häufig viel schlimmer aus als die um diesen Preis vermiedenen Fehlentwicklungen. Dem sollte er entgegenarbeiten. Doch die Agenten des Ordens waren ihm zuvorgekommen. Sie hatten ihn gefangengenommen und den Wortlaut seines ursprünglichen Auftrags aus seiner Erinnerung gelöscht, bevor sie ihn in der Zeitgruft des Planeten Xissas in einem Stasisfeld konservierten. Dort hatte ihn die Vigpanderin Neithadl-Off entdeckt und befreit. Zwar konnte er seinem ursprünglichen Auftrag nicht weiter nachgehen, weil er ihn nicht mehr kannte, aber er machte sich nichts daraus, denn er war sicher, daß dieser sich inzwischen längst erledigt hatte. Während der Jahrtausende, vielleicht sogar Jahrhunderttausende seiner Gefangenschaft mußten sich die Verhältnisse grundlegend geändert haben. Er ging davon aus, daß es die Zeitschulen in der ihm bekannten Form längst nicht mehr gab und daß auch sein Volk seine Bedeutung innerhalb der anderen Völker geändert hatte. Aber er war noch immer ein Spezialist der Zeit – und so hatte er seinem inneren Drang nachgegeben, der von der ursprünglichen Konditionierung übriggeblieben war, und sich selbst neue Ziele gesetzt.
Sie hießen: Ermitteln, ob der Orden der Zeitchirurgen noch existierte, eventuell Wiederaufnahme des Kampfes gegen die Agenten des Ordens und nebenbei Nachforschungen über das Schicksal seines Volkes und darüber, ob es noch Zeitschulen gab und welche Aufgaben sie erfüllten. Goman-Largo war fest entschlossen, diese Ziele zu verfolgen, auch wenn die Befreiung durch Neithadl-Off und die Tatsache, daß sie durch eine Dimensionsschleuder der Zeitgruftwächter von Xissas unendlich weit in Raum und Zeit verschlagen worden waren, fast unüberwindlich erscheinende Erschwernisse aufgebaut hatten. Hinzu kam, daß Neithadl-Off und er unter dramatischen Umständen mit dem rätselhaften Wesen namens Anima zusammengetroffen waren und daß diese Anima mit geradezu fanatischem Eifer ein gänzlich anderes Ziel verfolgte, nämlich ihren Retter Atlan wiederzufinden und ihm in seinem Kampf gegen den sogenannten Erleuchteten beizustehen. Ganz davon abgesehen, daß sie ohne ein überlichtschnelles Raumschiff im Fünf-Sterne-Reich der Phyloser festsaßen und daß soeben der entscheidende Versuch, im Teilchenbeschleuniger der Phyloser auf Niarmena Materie so zu zertrümmern, daß aus der Verschmelzung der subatomaren Trümmer später ein mikroskopisch kleines Schwarzes Loch hergestellt werden konnte, das als Nukleus eines leistungsfähigen und sicheren asymptotischen Hyperantriebs diente, mit katastrophalen Folgen gescheitert war. Und daß sie heilfroh sein mußten, wenn sie vor dem Zorn des Imperators fliehen und untertauchen konnten, anstatt geopfert zu werden… * »Wo sollen wir eigentlich auf Phylos landen?« erkundigte sich Anima, nachdem die Fähre rund zwei Drittel der Entfernung zwischen Niarmena und dem Planeten zurückgelegt hatte. »Wir müssen vortäuschen, auf dem Raumhafen der Hauptstadt Mogen-Turh landen zu wollen«, antwortete Enerschi-Upp und restaurierte ihr lädiertes Make-up, indem sie ihr Gesicht mit rosa Farbe einpinselte. »Dann wird der Imperator sicher sein, uns in seine Gewalt zu bekommen und uns nicht abschießen lassen.« »Uns abschießen!« pfiff Neithadl-Off entrüstet. »Dabei hat er es nur uns zu verdanken, daß er wieder in Amt und Würden ist. Wenn wir nicht Krell-Nepethet ausgeschaltet hätten, der ihn gestürzt und eingekerkert hatte, wäre es immer noch ein Nichts.« Goman-Largo seufzte. »Ich wollte, Krell-Nepethet hätte uns eine Chance gegeben, sich mit ihm zu arrangieren. Der Hepather war ebenso ein Gegner des Ordens der Zeitchirurgen, wie ich es bin.« Er schüttelte bedauernd den Kopf und blickte dann die Vigpanderin vorwurfsvoll an. »Wenn du nicht behauptet hättest, die Siegelbewahrerin der Zeitgrüfte des Ordens der Zeitchirurgen zu sein, wäre Krell-Nepethet nicht in Panik geraten, sondern hätte vielleicht mit sich reden lassen.« »Aber es könnte doch sein, daß ich wirklich die Siegelbewahrerin der Zeitgrüfte des Ordens…«, wandte Neithadl-Off ein. »Niemals!« unterbrach’ der Modulmann sie schroff. »Dann hättest du mich nicht aus der Zeitgruft von Xissas befreit. Ich glaube, du kannst Lüge und Wahrheit nur sehr schwer auseinanderhalten .« »Das liegt daran, daß Lüge und Wahrheit in kosmischem Sinn beliebig austauschbar sind«, verteidigte sich Neithadl-Off. »Ich als Parazeit-Historikerin weiß das aus zahllosen Erfahrungen. Oft ist der Wahrheitsgehalt einer Lüge größer als der einer Wahrheit.«
Goman-Largo hob die Hände in verzweifelter Abwehr. »Bitte, hör auf damit!« sagte er. »Du wirst mich sonst noch davon überzeugen, daß nur Lügen wahr sind. Jedenfalls hast du uns die Chance einer Verständigung damals vermasselt.« »Es hat nie eine Chance gegeben«, ergriff überraschend Anima Neithadl-Offs Partei. »KrellNepethet litt unter Verfolgungswahn. Er hätte uns auf gar keinen Fall am Leben gelassen, weil er wußte, daß wir alles daransetzen würden, um wieder aus diesem Fünf-Sterne-Reich zu entkommen und das richtige Universum zu erreichen. In dem Fall aber, davon war er überzeugt, würden wir sein Geheimnis ausplaudern, und die Zeitchirurgen würden ihre Agenten schicken, um ihn abzuholen.« »Da hast du es, Modulmann!« sagte die Vigpanderin mit Genugtuung. »Schon gut!« gab Goman-Largo klein bei. »Vergessen wir das! Enerschi-Upp, das mit dem Vortäuschen einer Landung auf dem Raumhafen von Mogen-Turh klingt gut, aber wo sollen wir denn nun wirklich landen?« »Ganz in der Nähe von Mogen-Turh«, erklärte die Hyperphysikerin und vollendete ihre Schönheitsmaske. »Südlich davon gibt es die Neharan-Ebene mit den ausgedehnten WoogangSümpfen. Dort leben seit rund fünfzehn Jahren anderthalb Millionen Phyloser, die sich nach dem niedergeschlagenen Aufstand der Taah-Moralisten in dieses Gebiet flüchteten und sich bisher gegen alle Angriffe von Armee-Einheiten halten konnten. Sie werden uns aufnehmen.« »Ausgezeichnet!« rief Anima impulsiv. »Wir werden die Rebellen organisieren und mit ihrer Hilfe das Brush-Onoton-Regime stürzen, dann bekommen wir eine neue Chance, einen Hyperantrieb für Raumschiffe zu entwickeln – und ich kann meine Suche nach Atlan fortsetzen.« »Die Taah-Moralisten würden nach ihrer Machtübernahme jede Forschung und Arbeit an Raumfahrtprojekten verbieten«, wandte Enerschi-Upp ein. »Sie sind dagegen, daß wir Phyloser unsere Heimatwelt verlassen.« »Dennoch wird Brush-Onoton befürchten, wir könnten uns mit ihnen verbünden und ihm dadurch gefährlich werden«, erwiderte Goman-Largo. »Ganz abgesehen davon, daß sein Sessel schon ins Wanken gerät, wenn wir ihm nur entkommen. Ich fürchte, er wird unser Täuschungsmanöver durchschauen und uns einfach abschießen lassen.« »Aber was sollen wir denn sonst tun?« klagte Enerschi-Upp. Sie sprach leise und ohne das Gesicht zu verziehen, damit ihre Schönheitsmaske keine Risse bekam. »In jedem anderen Gebiet auf Phylos landen«, sagte der Modulmann. »Nur nicht in der Nähe von Mogen-Turh.« »Dann käme nur noch die Wildnis auf dem Kontinent Fraah-Nocher in Frage«, flüsterte die Hyperphysikerin mit kaum erkennbaren Mundbewegungen. Goman-Largo nickte, aber dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck plötzlich, und er richtete sich steif auf, als lauschte er. »Was ist los?« erkundigte sich Anima besorgt. »Zwei Objekte nähern sich uns«, flüsterte Goman-Largo. »Primitive Raumfahrzeuge mit noch primitiverer Bewaffnung, aber gegen unsere Fähre sind sie wahrscheinlich hochmodern ausgerüstet.« »Woher weiß er das?« wandte sich Enerschi-Upp an Largos Gefährtinnen und sprach unvorsichtigerweise laut. Sie stöhnte frustriert, als ihre rosa Maske überall rissig wurde. »Er ist der Modulmann«, antwortete Neithadl-Off, als ob das alles besagte. Anima hatte sich unterdessen an den Schaltungen des Ortungssystems zu schaffen gemacht. Nach kurzer Zeit wurde ein Bildschirm hell und zeigte zwei grell leuchtende, sich bewegende Punkte. Darunter erschienen die Daten einer Computeranalyse.
»Raumjäger!« rief Enerschi-Upp erschrocken und versuchte, die abbröckelnde Maske mit den Händen aufzufangen. »Sie werden uns abschießen.« »Schließt die Raumanzüge!« sagte Goman-Largo. »Notfalls müssen wir aussteigen und uns so hinunterschleichen.« »Aber ich habe kein Flugaggregat«, wandte Enerschi-Upp ein. »Anima und ich nehmen dich zwischen uns«, beruhigte der Modulmann sie. »Nicht so voreilig!« mahnte Neithadl-Off und schaltete am Funkgerät. »Ich glaube, jemand ruft nach uns.« Es knisterte und knackte in dem Gerät, dann sagte die Stimme eines Phylosers: »Kommandeur Powidal-Orn vom Raumjagdgeschwader Nerzeil ruft Enerschi-Upp an Bord der Mondfähre! Enerschi-Upp, melde dich!« »Oh, oh!« jammerte die Phyloserin. »Mit diesem Gesicht kann ich doch mit niemandem sprechen.« Goman-Largo ignorierte die Tatsache, daß das Funkgerät an Bord der Fähre kein Bildsprechgerät war, ging zu Neithadl-Off und sagte ins Mikrophon des Funkgeräts: »Enerschi-Upp ist zur Zeit indisponiert. Hier spricht Goman-Largo. Was gibt es?« »Befehl vom Imperator!« bellte Powidal-Orn. »Ihr dürft nicht weiter nach Phylos fliegen, sondern sollt Kurs auf Preet nehmen und bei der FESTUNG landen. Nichtbefolgung dieses Befehls zwingt mich, euch abzuschießen.« »Auf Preet landen?« rief Anima erschrocken. »Aber Preet ist genauso luftleer wie Niarmena. Wir könnten uns nirgends verstecken, jedenfalls nicht für längere Zeit. Wenn wir uns nun wehren, Modulmann?« »Die Fähre ist unbewaffnet«, stellte Goman-Largo fest, nachdem er das Mikrophon mit der Hand zugehalten hatte. Er gab es wieder frei und sagte: »Goman-Largo an Powidal-Orn. Wir werden den Befehl des Imperators befolgen.« »Gut«, erwiderte der Kommandeur des Raumjagdgeschwaders. »Wir bleiben mit zwei Maschinen neben euch und werden euch überwachen, bis ihr auf Preet gelandet seid.« »Ende!« sagte Goman-Largo und schaltete das Funkgerät aus. »Das ist wirklich das Ende«, stellte Enerschi-Upp resignierend fest. »Hätten wir uns gegen den Befehl des Imperators aufgelehnt, wäre jetzt bereits alles zu Ende gewesen«, argumentierte der Modulmann. »So aber gibt es noch eine kleine Chance für uns.« »Die FESTUNG auf Preet wird von Truppen nur so wimmeln«, gab Enerschi-Upp zu bedenken. »Dort ist die Lage ausweglos für uns.« »Das kommt darauf an, ob Brush-Onoton den Transmitter des Hepathers hat absperren lassen oder nicht«, meinte Goman-Largo mit ausdruckslosem Gesicht. »Bei allen Zeitgrüften!« entfuhr es Neithadl-Off. »Das Gerät jagt mir Angst ein. Außerdem, was könnten wir dadurch gewinnen?« »Wenigstens einen Aufschub«, reduzierte der Modulmann seinen Optimismus etwas. »Wie heißt es doch: Zeit gewonnen, viel gewonnen.«
2. Auf makabre Weise fühlte sich Neithadl-Off in die Vergangenheit versetzt, als die Raumfähre in einen Orbit um Preet einschwenkte und im Steuerbord-Bildschirm das Abbild eines gigantischen Bauwerks auftauchte. »Die FESTUNG«, bemerkte Goman-Largo. Die knallroten Sensorstäbchen an Neithadl-Offs vorderer Schmalseite glänzten plötzlich so, als wären sie frisch lackiert worden. Die Parazeit-Historikerin schämte sich deswegen, denn es verriet, wie sehr der Modulmann ihre Gefühle in Wallung brachte. Aber sie beruhigte sich wieder, als sie sich daran erinnerte, daß dieses Zeichen nur für sie selbst verräterisch war. Niemand sonst vermochte es richtig zu deuten. »Fast ein halbes Jahr ist es her, seit wir die FESTUNG zum erstenmal sahen«, sagte Anima. »Wie haben wir seitdem gearbeitet und uns die Köpfe zerbrochen, um den Phylosern bei der Entwicklung eines brauchbaren Hyperantriebs zu helfen – obwohl wir wußten, daß es bis zur Fertigstellung des ersten Fernraumschiffs Jahre dauern würde -, und nun stehen wir vor den Scherben unserer Träume.« »Das passiert uns allen immer wieder«, gab Neithadl-Off zurück, während sie daran dachte, wie wenig sie doch über ihre wirkliche Herkunft und ihre wirkliche Vergangenheit wußte. Erschaudernd nahmen ihre Sensor-Stäbchen die optischen Eindrücke des riesigen Bauwerks auf der Oberfläche des größeren Mondes von Phylos auf. Der Grundriß der FESTUNG hatte die Form eines fünfzackigen Sterns und einen Durchmesser von rund achtzig Kilometern. Mindestens hundert Meter hoch ragten ihre stählernen Mauern aus der von Trichtern zerwühlten gewaltigen natürlichen Schuttmasse, die die Ebene ausfüllte, in der die FESTUNG stand. Und im Umkreis von mehr als tausend Kilometer verstreut lagen im Regolith die Wracks und Trümmer mittlerer und kleiner Raumschiffe, stumme Zeugen sturer Aggressivität. Die Vigpanderin erinnerte sich noch genau daran, was Enerschi-Upp erklärt hatte, als sie mit ihr vor zirka einem halben Jahr Phylos-Zeit zum erstenmal zur Landung auf Preet angesetzt hatten. Die Phyloser besaßen auf sieben der insgesamt dreißig Planeten ihres Fünf-Sonnen-Universums starke Kolonien, von denen immer mindestens eine sich im Kriegszustand mit der Mutterwelt befand und mit allen Mitteln versuchte, die FESTUNG zu erobern und den Imperator gefangenzunehmen. Neithadl-Off wurde nachdenklich. Vielleicht war es gar nicht so dumm von den Phylosern, daß sie ihren jeweiligen Imperator in einer uneinnehmbaren Festung auf einem ansonsten unbewohnten, unfruchtbaren und atmosphärelosen Mond residieren ließen. Dadurch konzentrierten sich die Angriffe der Kolonisten wenigstens nicht auf die dichtbesiedelte Mutterwelt, auf der sie sonst unermeßlichen Schaden angerichtet hätten. »Sie drehen ab«, sagte Goman-Largo. »Unsere Eskorte verläßt uns.« »Dann brauchen wir nicht auf Preet zu landen«, warf Anima ein. »Wo denn sonst?« fragte Neithadl-Off. »Mit dieser mickrigen Fähre können wir nicht einmal den achten Planeten der Sonne Ubnil erreichen, geschweige denn ein anderes System der fünf Sonnen anfliegen, um eventuell mit Kolonisten Kontakt aufzunehmen.« »Mit Kolonisten Kontakt aufnehmen?« echote Goman-Largo grübelnd. »Darüber muß ich nachdenken.« »Aber nicht zu lange, bitte!« wandte Enerschi-Upp ein. »Ich muß wissen, ob ich auf Preet landen
soll oder nicht – und zwar, bevor wir die FESTUNG überfliegen, sonst schaffen wir es höchstens beim zweiten Anflug.« »Lande jetzt!« sagte Neithadl-Off. »Die beiden Raumjäger hätten nicht abgedreht, wenn die Ortung der FESTUNG uns nicht fest im Griff hätte und unser Blechsarg jederzeit mit Abfangraketen runtergeholt werden könnte.« »Das denke ich auch«, stimmte Anima ihr zu. »Was meinst du, Modulmann?« wandte sich die Phyloserin an Goman-Largo. Vor Ärger darüber, daß Enerschi-Upp zu allem die Zustimmung des Modulmanns brauchte, blies Neithadl-Off ein Pheromon-Wölkchen ab. Es war eine vom Unterbewußtsein ausgelöste willentliche Reaktion, die vom Bewußtsein nicht gebilligt wurde. Deshalb stellte die Vigpanderin diese Aktivität auch sofort wieder ein, als sie ihr bewußt wurde. Sie hoffte nur, daß der angerichtete. Schaden sich in Grenzen halten würde. Ganz ohne Auswirkungen würde es jedoch nicht abgehen, denn sie und ihre Gefährten hatten die Schutzanzüge wieder geöffnet, nachdem sie den Anweisungen der Raumjäger nachgekommen waren. »Was soll ich tun?« klagte Enerschi-Upp. »Wie, bitte?« fragte Goman-Largo zerstreut. »Landen!« schrie Anima. »Bevor man uns abschießt!« Enerschi-Upp gehorchte, wenn auch widerstrebend und mit zittrigen Bewegungen. Allerdings verwechselte sie mehrmals verschiedene Schaltungen miteinander. Das hatte zur Folge, daß die Fähre sich einige Male um sich selbst drehte und ihr Abstieg sich durch die überhastet und mit zu großem Energieaufwand durchgeführten Korrekturschaltungen sich verzögerte. Neithadl-Off ahnte deshalb Böses, als das Funkgerät ansprach. Anima schaltete es ein. Auf dem Bildschirm erschien das sattsam bekannte Gesicht von Brush-Onoton, nur daß es diesmal hochgradig gerötet war. »Was sollen diese Ablenkungsmanöver?« tobte der Imperator. »Ich befehle euch, ohne weitere Verzögerung zu landen! Andernfalls werde ich euch bestrafen lassen.« Er lachte zornig. »KrellNepethet hat ja einige entsprechende Spielereien hinterlassen.« »Etwas funktioniert lila«, erwiderte Anima. »Aber wir sind schon tiefer als das Bodenniveau. Warte ein Lichtjahr, dann kommen wir wieder hinauf. Halte inzwischen schon Ausschau nach meinem Ritter!« Erschrocken erkannte die Vigpanderin, daß ihre Pheromone trotz der minimalen Dosis durchschlagend wirkten. Doch davon ahnte der Imperator natürlich nichts, deshalb schrie er wutentbrannt: »Ihr wollt mich zum Narren halten, ihr Verbrecher. Aber mit mir könnt ihr das nicht machen. Ich lasse euch abschießen.« Neithadl-Off spürte, wie ihre Haut heiß wurde vor Furcht. »Warte, Brush-Onoton!« pfiff sie. »Tue nichts, was du nur zu bald bereuen würdest! Ich habe dir noch nicht gesagt, daß ich nicht nur die Prinzessin des Sternenreichs der Xissaniten bin, sondern auch die Siegelbewahrerin der Zeitgrüfte des Ordens der Zeitchirurgen. Wenn ich durch deine Schuld umkomme, wird mein Vater, der Kaiser der drei Gindaveld-Galaxien, alle von Phylosern bewohnten Planeten verbrennen – und die Zeitchirurgen werden ihre Agenten schicken und eure Zukunft zu einem unentwirrbaren Paradoxon verknoten.«
Brush-Onoton schien sichtlich beeindruckt zu sein. »Vielleicht können wir uns arrangieren, Prinzessin«, erklärte er vorsichtig. »Aber du müßtest Enerschi-Upp und deine beiden anderen Begleiter schon veranlassen, die Landung nicht länger zu verzögern. Es sind mir nämlich…« Er unterbrach sich mit allen Anzeichen tödlicher Verlegenheit. »Es sind dir was?« fragte Neithadl-Off aufhorchend. Der Imperator verlor seine Ruhe wieder. »Landen, landen!« schrie er außer sich und fuchtelte mit den dicken Armen. »Alle Batterien – Feuer!« Neithadl-Off sprang mit allen sechs Gliedmaßen gleichzeitig in die Luft, als sie durch die Panzerglas-Sichtfenster sah, daß überall an der Oberfläche der FESTUNG Raketentriebwerke zündeten. Im ersten Moment dachte sie, ihre Pheromone hätten aus der Fähre hinaus und durch das Vakuum hindurch auf den Imperator eingewirkt, aber ihr Wissensstand ließ solche unwissenschaftliche Eingebungen des Unterbewußtseins sofort wieder gleich Seifenblasen zerplatzen. Allerdings verriet er ihr nicht den wahren Grund für Brush-Onotons aggressive Reaktion. Ihr blieb nur eines: sofort zu handeln, um das Schlimmste von sich und ihren Gefährten abzuwenden. Mit einem Satz befand sie sich an den Steuerkontrollen. Sie schubste Enerschi-Upp, die so gut wie handlungsunfähig war, beiseite und schaltete mit den versteiften Tastfäden ihrer Vordergliedmaßen. Es war eine schmerzhafte Prozedur, denn sie war es gewöhnt, zur Steuerung eines Raumschiffs nur Sensorpunkte zu berühren. Die Schalter einer ausgesprochenen Primitivtechnik ließen sich von ihr nur unter Aufbietung aller Körperkraft bewegen. Doch sie schaffte es. Die Fähre kippte mit dem Bug nach vorn und ging in den Sturzflug über, während hinter ihr eine Abwehrrakete explodierte und dem Fährschiff quasi einen Tritt versetzte. Verwundert stellte die Vigpanderin fest, daß die meisten der von der FESTUNG abgeschossenen Raketen weit über der Fähre explodierten und daß es auch unten bei der FESTUNG zu Explosionen kam. Sie konnte aber nicht lange darauf achten, sondern mußte alle ihre Kräfte und ihre Erfahrungen einsetzen, um die Fähre wieder aus dem Sturzflug abzufangen und in einen Kurs zu zwingen, der sie zum Raumhafen der FESTUNG bringen würde – auf einen Platz von rund fünfhundert Metern Durchmesser im genauen Zentrum des Bollwerks. »Wahnsinn!« stöhnte Goman-Largo. Hoffnungsvoll blickte die Vigpanderin zu ihm, in der Erwartung, daß er die negative Einwirkung ihrer Pheromone inzwischen überwunden hatte und ihr helfen konnte. Sie wurde enttäuscht. Der Modulmann kniete mitten in der Steuerkanzel, hielt die Augen geschlossen und wiegte den Oberkörper rhythmisch vor und zurück. Anscheinend hatten ihn die Pheromone vergessen lassen, wo er war und was um ihn herum vorging. Neithadl-Off verwünschte die Tatsache, daß ihre Pheromone, die doch eigentlich Artgenossen anlocken sollten, auf artfremde Lebewesen geistig verwirrend wirkten. Das hatte ihr zwar schon manchmal geholfen, weil sie sie als Waffe gegen Feinde einsetzen konnte. Aber wenn die Pheromone auch auf Freunde so verheerend wirkten, waren sie ein zweischneidiges Schwert. Eine feuerspeiende Rakete fuhr so dicht über die Fähre hinweg, daß Neithadl-Off das Röhren ihrer Triebwerke zu hören glaubte (was nur eine akustische Täuschung sein konnte), dann lag der unbefestigte Platz des Raumhafens direkt vor ihr. Schildbuckelartige Fahrzeuge kurvten wie wild auf ihm herum. Einige aber standen auch nur da, halb von Rauch und Staub verhüllt.
Bevor die Vigpanderin sich klar darüber werden konnte, was das bedeutete, setzte die Fähre so hart auf, daß sie jeden Halt verlor und auf das große Bugfenster zuschlitterte… * Sie konnte das Bewußtsein nur für kurze Zeit verloren haben, denn als sie wieder zu sich kam, hatte sich nicht viel verändert. Die Fähre stand schräg mit ihren Landestützen auf einem Schutthügel des Raumhafens. Ringsum ragten die hundert Meter hohen, stählernen Innenwände der FESTUNG ins Vakuum des Alls – und darüber spielte sich ein unerklärliches Feuerwerk ab. Jedenfalls war es unerklärlich für Neithadl-Off, so unerklärlich wie die Feststellung, daß die Kampfpanzer, die vor der harten Landung des Fährschiffs noch wie wild über den Raumhafen gekurvt waren, jetzt ebenso still dastanden wie diejenigen, die schon vorher reglos und in Staub und Rauch gehüllt herumgestanden hatten. Es war, als sei die Zeit eingefroren – jedenfalls in der näheren Umgebung. Die Parazeit-Historikerin rappelte sich vollends auf, trippelte herum und sah nach ihren Gefährten. Enerschi-Upp hing mit hervorquellenden Augen und blödem Gesichtsausdruck halb in ihrem Sessel an den Steuerkontrollen und bewegte tonlos die Lippen. Anima saß, an ein Schaltpult gelehnt, mit glückseligem Lächeln auf dem Boden und sang leise ein unbekanntes Lied. Goman-Largo kniete weiterhin - oder schon wieder, denn seine blutenden Lippen bewiesen, daß er bei der harten Landung vornübergefallen und mit dem Gesicht auf den Boden geprallt war. Doch im Unterschied zu vorher waren seine Augen weit geöffnet, und sein Gesichtsausdruck verriet Konzentration. Neithadl-Off erschauderte, als ihr klar wurde, daß der Modulmann sich trotz seiner scheinbar passiven Haltung in Aktion befand und sie alle es wahrscheinlich nur ihm zu verdanken hatten, daß sie noch lebten. Denn der Quasi-Stillstand der Zeit rings um das Fährschiff konnte nur von ihm mit Hilfe eines seiner geheimnisvollen Module bewirkt worden sein. Die Vigpanderin ahnte allerdings, daß sie damit nur eine kurze Frist gewonnen hatten, denn echte Wunder vermochte auch Goman-Largo nicht zu vollbringen. Es galt, selbst aktiv zu werden, bevor seine Kräfte oder die seines Moduls versiegten. »Wir müssen aussteigen und in die FESTUNG hinein!« pfiff sie und beobachtete mit steigender Furcht und wachsendem Begreifen, was sich hoch über dem Gelände der FESTUNG im All abspielte und auf die FESTUNG selbst überzugreifen drohte. Als ihre Gefährten nicht reagierten, trippelte sie zu Anima und stieß dicht vor ihrem Gesicht einen gellenden Pfiff aus. Die Hominidin fuhr heftig zusammen. Ihr Lächeln verschwand wie weggewischt aus ihrem Gesicht. Allmählich klärte sich ihr Blick. »Du mußt mir helfen, Anima!« pfiff Neithadl-Off. »Atlan, mein Ritter!« flüsterte Anima. »Ich bin nicht Atlan, sondern Neithadl-Off!« pfiff die Vigpanderin. »Aber wenn du deinen Atlan noch einmal wiedersehen willst, mußt du endlich zu dir kommen!«
Das half. Anima schien schlagartig wach zu werden. Sie blickte sich um. Ihre Augen weiteten sich, dann sprang sie auf die Füße, eilte zu Enerschi-Upp und begann, deren Schutzanzug zu schließen. Neithadl-Off kehrte ihr den Rücken zu und trippelte zu Goman-Largo. Der Modulmann hob warnend eine Hand. »Warte!« flüsterte er beschwörend. »Störe meine Konzentration nicht, bis ihr alle bereit seid, blitzartig die Fähre zu verlassen und in die FESTUNG zu fliehen. Ich kann mit Hilfe eines Moduls zwar die primitiven technischen und chemischen Prozesse in der näheren Umgebung aufhalten, aber nur dann, wenn meine Konzentration nicht zu sehr gestört wird.« »Was ist eigentlich dort oben los?« erkundigte sich die Vigpanderin. »Eine Invasion«, gab der Modulmann zurück. »Glücklicherweise nicht von technisch überlegenen Kräften. Wahrscheinlich handelt es sich um Landetruppen von einer rebellierenden Kolonie der Phyloser. Wir müssen schnell weg.« »Oh!« entfuhr es Anima. Sie arbeitete energischer an dem Schutzanzug der Phyloserin, die inzwischen lethargisch mit Armen und Beinen strampelte. »Dann müssen wir ja froh sein, wenn Brush-Onoton uns zu sich läßt.« Neithadl-Off schloß die »Gesichtsöffnung« ihres Folienanzugs, wodurch sich automatisch die Funksprechanlage aktivierte. »Leg mir Enerschi-Upp auf den Rücken!« wandte sie sich an Anima. »Ich werde sie tragen. Und öffne die Schleuse!« »Schließ aber vorher deinen Druckhelm!« mahnte Goman-Largo. Neithadl-Off sah, daß er seinen Druckhelm bereits geschlossen hatte und in der Nähe des Hauptschaltpults stand. Vor Erleichterung bedeckte sich ihre ledrige Haut mit warmer Nässe. Anima legte ihr die Phyloserin auf den Rücken und schloß den eigenen Druckhelm ebenfalls. Das Gewicht der Phyloserin fiel wegen der geringen Schwerkraft Preets kaum ins Gewicht. NeithadlOff spürte nicht viel davon. »Fertig?« fragte der Modulmann und erhob sich langsam, ohne in der Konzentration nachzulassen, die sich auf seinem Gesicht widerspiegelte. »Fertig!« pfiff Neithadl-Off. »Dann – los!« schrie Goman-Largo. Anima hatte inzwischen das Innenschott der kleinen Schleuse geöffnet. Die vier Personen befanden sich Sekunden später darin – und das Außenschott glitt auf, nachdem das Innenschott sich wieder geschlossen hatte. Als sie hinausstürmten, die Flugaggregate aktivierten und danach in geringer Höhe auf eine der Öffnungen zuflogen, die in den Innenwänden der FESTUNG klafften, setzten zirka zwei Drittel der Kampfpanzer sich wieder in Bewegung. Aus den Rak-Lafetten an ihren Längsseiten schossen in kurzen Intervallen glühende Punkte und zogen dünne helle Rauchspuren hinter sich her. Gleichzeitig brach rings um sie die Hölle in Form explodierender Raum-Boden-Raketen los. Ein getroffener Panzer explodierte lautlos, andere Kampffahrzeuge drehten sich mit zerschmetterten Gleisketten auf der Stelle und wieder andere glühten von innen heraus auf. Neithadl-Off hatte das Gefühl, als glühte ihr Körper ebenfalls auf, als sie sah, wie dicht neben Anima eine Rakete explodierte und wie die Hominidin mindestens zwanzig Meter durchs Vakuum geschleudert wurde und in einem offenen Tor der Festung verschwand. Sie beschleunigte nochmals, mußte aber gleich wieder abbremsen, als sie in dasselbe Tor
hineinschoß und wenige Meter vor sich eine Gruppe bewaffneter Phyloser in plumpen Raumanzügen sah, die sich um die auf dem Boden liegende Anima kümmerten. »Laßt sie in Ruhe!« pfiff Neithadl-Off auf phylosisch über die Außenlautsprecher ihres Schutzanzuges. »Ich kümmere mich um sie. Kümmert ihr euch um eure Schwester!« Sie wippte kräftig mit ihrem mattenartigen Körperteil und warf dadurch Enerschi-Upp ab. Die Phyloserin wurde von ihren Artgenossen aufgefangen. ’ »Komm nach, sobald du kannst!« pfiff Neithadl-Off ihr zu, dann trippelte sie neben die Hominidin, die soeben von Goman-Largo aufgehoben wurde und offenkundig bewußtlos war. »Sie hat innere Verletzungen«, konstatierte Goman-Largo besorgt. »Laß das ihre Sorge sein«, erklärte die Vigpanderin. »Lege sie mir auf den Rücken, Modulmann! Danach sieh zu, daß du den Weg zu Brush-Onoton findest!« Sie brauchte es nicht zweimal zu sagen. Die Ereignisse trieben den Modulmann zu größter Eile an. Auf dem Raumhafen der FESTUNG blitzte es ununterbrochen. Glutbälle wölbten sich auf, Trümmer und leblose Gestalten flogen durchs Vakuum. Anscheinend hatten sich dort die ersten Landungstrupps der Angreifer festgesetzt und einen Brückenkopf gebildet. »Beeil dich!« vernahm Neithadl-Off die Stimme des Modulmanns aus ihrem Funkgerät. »Die Angreifer haben den Auftrag, uns einzufangen.« Neithadl-Off bemerkte, daß Anima inzwischen auf ihrem Rücken lag und daß Goman-Largo über die Betonrampe schwebte, die ins Innere der FESTUNG führte. Sie startete ebenfalls wieder und folgte dem Modulmann. Ganz kurz nahm sie noch wahr, daß Enerschi-Upp aus eigener Kraft wieder auf die Füße kam, aber dann entbrannte dicht hinter ihr ein heftiges Gefecht zwischen Angreifern und Verteidigern – und sie konnte sich nicht länger um die Hyperphysikerin kümmern, sondern sah zu, daß sie Land gewann. Wie beim ersten Besuch der FESTUNG endete auch diesmal die Betonrampe in einer großen Schleusenkammer, nur daß die Vigpanderin sich damals mit ihren Gefährten in einem Fahrzeug befunden hatte, während sie diesmal »zu Fuß« waren. Sie atmete auf, als das Außenschott der Schleusenkammer sich geschlossen hatte und der Raum sich mit Luft füllte. Doch dann klopfte etwas von draußen an, und sie wußte, daß es explodierende Geschosse aus Rak-Automatiken waren. Der Feind stand vor dem Tor. Der Feind? überlegte Neithadl-Off. »Warum lassen wir uns nicht einfangen?« erkundigte sie sich bei Goman-Largo. »Als ich zuletzt mit Brush-Onoton sprach, schien er davon beeindruckt zu sein, daß ich die Siegelbewahrerin der Zeitgrüfte des Ordens der Zeitchirurgen bin. Aber ich bin nicht sicher, daß er seine Meinung ändern wird, sollten seine Truppen Oberwasser bekommen.« »Was sollten wir bei den Kolonisten!« gab Goman-Largo zurück. »Sie verfügen nicht über die technischen Möglichkeiten, einen Hyperantrieb zu entwickeln. Es tut mir leid, Prinzessin, aber ich fürchte, es bleibt uns nichts anderes übrig, als es bei Brush-Onoton auszuhalten und darauf zu vertrauen, daß wir ihn irgendwann wieder dazu bringen, unsere Hilfestellung bei der Entwicklung eines Überlichtantriebs anzunehmen.« Neithadl-Off konnte sich diesen Argumenten nicht verschließen, denn sie war genausowenig wie der Modulmann geneigt, bis an ihr Lebensende in einer Sterngruppierung auszuharren, die aus nur fünf Sonnen und acht bewohnten Planeten bestand und von den Galaxien des wirklichen Universums so weit entfernt war, daß diese sogar mit starken Radioteleskopen nur als matte Lichtflecken an den äußersten Grenzen des astronomischen Beobachtungsbereichs sichtbar gemacht werden konnten. Deshalb flog sie wieder hinter Goman-Largo her, als das Innenschott sich öffnete…
3. Goman-Largo war anfangs blindlings durch die Korridore der FESTUNG geflogen, denn hinter ihm, Neithadl-Off und Anima, waren die Angreifer durch mehrere Schotte gebrochen und drangen trotz des erbitterten Abwehrkampfs der Verteidiger anscheinend unaufhaltsam tiefer in die FESTUNG ein. Doch dann hatte der Modulmann an einer der überall angebrachten Markierungen den Fahrstuhl erkannt, mit dem sie vor zirka einem halben Jahr als Gefangene in die Tiefe und zu Krell-Nepethet verschleppt worden waren. Nach kurzem Überlegen kam er zu dem Schluß, daß Brush-Onoton sich angesichts der verzweifelten Lage, in der seine Truppen und er sich befanden, in die Tiefe zurückgezogen hatte, um sich dort zu verkriechen, wo der Hepather sich lange Zeit sicher gefühlt hatte. »Wir fahren hinunter!« gab er seine Entscheidung Neithadl-Off bekannt. Der Fahrstuhl befand sich oben, und die Tür öffnete sich auf einen simplen Knopfdruck hin. Das alles verriet, auf welcher niedrigen wissenschaftlich-technischen Entwicklungsstufe sich die Phyloser befanden. Für Goman-Largo war es ein weiterer Anlaß, darüber nachzudenken, ob seine Gefährtinnen und er nicht besser gefahren wären, wenn sie sich damals mit Krell-Nepethet arrangiert hätten anstatt mit den Phylosern. Doch diese Überlegung war rein hypothetisch. Der Hepather hatte ihnen damals keine Wahl gelassen, sondern völlig überstürzt ihren Tod verlangt. Allerdings war es dem Modulmann noch immer unbegreiflich, warum Krell-Nepethet nicht an die Möglichkeit gedacht hatte, daß sie in der Pseudolandschaft mit den Tulocks lange genug überleben könnten, um den darin verborgenen getarnten Transmitter zu entdecken und mit ihm in seinen Stützpunkt im All zu entkommen. Doch genau das war geschehen – und der Fremde, der Jahrtausende heimlich unter Phylosern gelebt hatte, war bei dem Versuch umgekommen, die drei Schicksalsgefährten einzuholen und zu töten. Ein Arrangement mit ihm war nicht mehr möglich. Doch Goman-Largo war nicht der Mann, der verpaßten Möglichkeiten nachtrauerte. Dadurch wäre er seinen Zielen um keine Sekunde und um keinen Millimeter nähergekommen. Er war entschlossen, nach der zweitbesten Möglichkeit zu greifen und, falls sie sich ebenfalls zerschlug, nach der drittbesten – und so weiter. Die Fahrstuhlkabine war rund zweihundert Meter hinabgefahren. Als sie anhielt, regte sich Anima wieder. »Wie geht es dir?« wandte sich Neithadl-Off an sie. »Gut«, antwortete sie und richtete sich auf. »Laß mich herunter, Neithadl-Off!« »Vielleicht solltest du dich noch etwas schonen«, wandte Goman-Largo ein. »Du hattest schwere innere Verletzungen.« »Ich weiß«, erwiderte die Hominidin. »Aber sie sind verheilt.« Der Modulmann wollte noch etwas sagen, da wurde er von einem Schwindel erfaßt, gegen den er sich kaum zu wehren vermochte. Er schwankte, dann taumelte er durch die sich öffnende Tür und in den dahinterliegenden Korridor hinein. Sofort war die Vigpanderin an seiner Seite. »Was ist mit dir los, Modulmann?« pfiff sie besorgt. »Bist du verletzt?« »Nein, schon gut«, erwiderte Goman-Largo matt, versuchte, sich an einer Wand abzustützen, griff daneben und schlug schwer hin.
»Du hättest dein Flugaggregat nicht abschalten sollen«, meinte Neithadl-Off und schwebte dicht neben seine Beine, um ihm die Möglichkeit zu geben, sich an ihr festzuhalten. »Leg dich auf mich, Modulmann!« Goman-Largo mußte trotz seiner unangenehmen Lage lächeln. Er hatte allerdings nicht vor, sich hinzulegen. Ihm war klar, was das in Wellen über ihn hinweggehende Schwindelgefühl verursachte: fünfdimensionale Schockfronten, die tiefgreifende Verwirrung in seinen Modulen stifteten und die sich infolge der zwischen ihm und diesen Funktionseinheiten bestehenden intensiven Rückkopplung unweigerlich auf Körper und Geist auswirken mußten. Nachgeben hätte deshalb nichts gebracht. Es gab nur eines: mit aller Willenskraft dagegen ankämpfen, um durch dieselbe Rückkopplung von seinem Bewußtsein aus stabilisierend auf die Module einzuwirken. Während er sich an der Wand und auf dem Knochenrahmen der Vigpanderin abstützte, trug er diesen Kampf in sich aus. Es dauerte Minuten, bis er seine Module wieder so unter Kontrolle hatte, daß er auch nach außen aktionsfähig war – und während dieser Zeit kam es ihm mehrmals so vor, als hätten einige der Module während seiner Stasis oder kurz davor Schäden davongetragen, die er nicht allein beheben, sondern bestenfalls kompensieren konnte. Er brach nicht unter dieser Erkenntnis zusammen, sondern er hakte das nur ab, um es für eine baldige Korrektur seiner Zielstellungen zu verwenden. Unter Umständen mußte er die Suche nach der Zeitschule von Rhuf oder einer anderen Zeitschule auf seiner Liste um eine Position nach oben verschieben. Doch Goman-Largo vergaß darüber nicht, daß es zur Zeit nur darum gehen konnte, sich gemeinsam mit Neithadl-Off und Anima in Sicherheit zu bringen und anschließend nach dem günstigsten Arrangement für die Wiederaufnahme des Projekts Hyperantrieb zu suchen. Als er sich aufrichtete und wieder klar zu sehen vermochte, war er schweißgebadet, aber zuversichtlich. »Dorthin geht es!« stellte er fest und deutete auf eine Abzweigung des Korridors, in dem sie sich befanden. »Machen wir Brush-Onoton unsere Aufwartung!« Er schaltete sein Flugaggregat wieder ein und schwebte vor seinen Gefährtinnen her. Die auf die Wände gemalten Symbole ermöglichten ihm eine mühelose Orientierung. Dennoch erreichten sie den ehemaligen Sicherheitstrakt des Hepathers nicht ohne Zwischenfall. Als sie wieder einmal eine Kreuzung überquerten, lösten sich aus zwei Korridornischen je drei schwerbewaffnete Phyloser, die Rak-Automatiken schußbereit auf die drei Gefährten gerichtet. Die Phyloser trugen Raumanzüge, weshalb Goman-Largo sie als Angehörige einer Elitetruppe des Imperators einstufte. Sie wirkten jedoch verunsichert und dadurch aggressiv. Aber das mochte daran liegen, daß sie soviel kleiner waren als der Modulmann und Anima und daß ihnen als echten Kindern ihrer isolierten Gesellschaft nicht klar war, wie wenig diese Tatsache den Fremden bedeutete, die schon mit Hunderten unterschiedlichster Intelligenzen zusammengetroffen waren. »Die Hände hoch!« befahl der Anführer des Trupps. Goman-Largo gehorchte widerspruchslos. Nicht nur, weil sie unbewaffnet waren, sondern auch, weil Widerspruch gegenüber unteren Chargen ohne Entscheidungsbefugnis sinnlos gewesen wäre. Nur Neithadl-Off gehorchte nicht, denn sie konnte nichts hochnehmen, was sie nicht hatte. Die Raumsoldaten akzeptierten das glücklicherweise ohne Wenn und Aber. »Wohin bringt ihr uns?« wandte sich Anima nach einer Weile an die Raumsoldaten, die sie zielstrebig weitertrieben. »Zum Imperator«, antwortete der Anführer. »Er will mit euch sprechen.«
»Und wir wollten mit ihm sprechen«, erwiderte Anima. »Euer Auftritt war also unnötig.« Die Phyloser gaben keinen Kommentar – und wenig später hielten sie und ihre Gefangenen vor dem silbrig schimmernden Panzerschott an, das den drei Gefährten bereits bekannt war. Nur fehlten diesmal die vier hominiden Roboter, die damals mit Strahlwaffen in den stählernen Händen davor postiert gewesen waren. Ohne den Hepather schien auch das meiste seiner über dem Niveau der Phyloser liegenden technischen »Spielereien« nicht zu funktionieren. Die Öffnungsautomatik des Panzerschotts funktionierte allerdings noch so gut wie zu KrellNepethets Zeiten. Die Raumsoldaten trieben ihre Gefangenen durch die Öffnung und befahlen ihnen, die Flugaggregate auszuschalten. Die drei gehorchten. Danach sahen sie sich Brush-Onoton gegenüber, der zusammen mit zwei weiteren schwerbewaffneten Elitesoldaten durch ein offenes Schott in der Rückwand des halbkreisförmigen Saales kam, es aber vermied, sich dem Kontrolltisch, der sich von einer Seite des Saales zur anderen spannte, weiter als drei Meter zu nähern. »Da sind wir, Brush-Onoton«, stellte Goman-Largo fest und ließ die Arme sinken, ohne daß jemand Einwände dagegen erhob. »Wir sind bereit, uns mit dir zu arrangieren.« Das faltige Gesicht des Imperators lief rot an, und besonders die von zahllosen blauen Äderchen durchzogenen Wangen glühten hektisch. »Von ›arrangieren‹ kann überhaupt keine Rede sein!« schrie er zornbebend. »Ganz im Gegenteil. Ich werden euch töten lassen. Es sei denn, ihr schaltet diese verdammte Apparatur aus, die ihr nach dem Tode des Fremden absichtlich nicht desaktiviert hattet, um mich unter Druck setzen zu können.« * »Aber wir haben nichts dergleichen getan!« pfiff Neithadl-Off entrüstet. »Welche Apparatur meinst du?« wandte sich Anima an den Imperator. »Was soll ich schon meinen!« schrie Brush-Onoton. »Diese verdammte Halle mit den Robotern und dem Zauberwürfel. Ihr wart dort gewesen. Das hattet ihr selbst ausgesagt. Bisher hatte sich dort nichts gerührt, aber vor kurzem wurden die Roboter aktiv und haben acht meiner Leute beschossen, die den seltsamen Erscheinungen auf den Grund gehen wollten, die dort stattfinden.« »Die Pseudolandschaft mit dem Transmitter!« entfuhr es Goman-Largo. »Ich hatte gleich so etwas befürchtet, als meine Module von Schockwellenfronten heimgesucht wurden.« Er taumelte, stieß versehentlich einen der phylosischen Raumsoldaten um und lehnte sich schwer atmend an eine Wand. Neithadl-Off wollte etwas fragen, aber plötzlich nahm die Umgebung einen Touch von Unwirklichkeit an, der ihr die Sprache verschlug. Alles wirkte nicht nur unscharf, auch alle Laute klangen nur noch gedämpft - und der Boden schien zu verschwimmen und erweckte den Eindruck, als wollte sich darunter ein Abgrund auftun. »Ein Bruch hat sich geöffnet«, wisperte sie kaum hörbar. »Er geht nicht nur durch Raum und Zeit, sondern durch alle Räume und alle Zeiten. Wir sind auf ewig verloren.« »Was redet sie da?« kreischte Brush-Onoton. »Ihr wollt mich zum Narren halten! Soldaten, tötet sie! Feuer!«
Die acht Raumsoldaten hoben ihre Rak-Automatiken, aber sie schossen nicht. Statt dessen ließen sie die Waffen plötzlich schreiend fallen und stoben auseinander, denn der Kontrolltisch, der den halbkreisförmigen Saal halbierte, hatte jählings seine »Festbeleuchtung« wieder »angesteckt«, die nach dem Tode Krell-Nepethets erloschen war – für immer, wie es damals geschienen hatte. Die Lichter und Leuchtflächen funkelten und gleißten diesmal noch stärker – und sie pulsierten in immer kürzeren Intervallen. Brush-Onoton hob die Arme schützend vor sein Gesicht und wich rückwärts zu dem offenen Schott zurück, durch das er vor wenigen Minuten gekommen war. »Wir müssen zu dieser Pseudolandschaft«, stellte Goman-Largo fest und trat näher an den Kontrolltisch heran. »Dort ist etwas angelaufen, das möglicherweise die gesamte FESTUNG mit Zerstörung bedroht, wenn nicht sogar viel mehr.« »Ein Raum-Zeit-Disruptor!« pfiff die Vigpanderin. »Er reißt die Normalraumstruktur auseinander und gibt uns einer Springflut interdimensionaler Gewalten preis. Vielleicht können wir das Verhängnis abwenden. Aber wir müssen hier entlang, Modulmann!« Sie trippelte auf das Tor zu, durch das sie in die ehemalige Residenz des Hepathers gekommen waren, doch ein Zuruf Goman-Largos hielt sie zurück. Ihre Sensorstäbchen glühten förmlich kirschrot auf und fielen beinahe aus ihrer vorderen Schmalseite, als sie sah, wie der Modulmann über den Kontrolltisch sprang. Hitzewallungen jagten sich auf ihrer Haut. Brush-Onoton hatte unterdessen das offene Schott erreicht. Er drehte sich um, blickte hindurch, kreischte noch einmal auf und verschwand dann darin. Und Goman-Largo traf Anstalten, dem Imperator zu folgen. »Aber es geht doch hier entlang!« protestierte Neithadl-Off und wollte sich abermals in Richtung Eingang in Bewegung setzen. »Nicht unbedingt«, entgegnete der Modulmann. »Es gibt offenbar einen zweiten Zugang. Komm, Prinzessin! Komm, Anima!« Als er bemerkte, daß seine Gefährtinnen zögerten, kehrte er zum Kontrolltisch zurück und streckte die Hände nach ihnen aus. Aber Neithadl-Off und Anima hatten noch nicht alles begriffen, was geschehen war. Sie schalteten ihre Flugaggregate ein. Erst als sich daraufhin nichts rührte, wurde ihnen klar, daß die dimensional übergeordneten Gewalten, die in der Tiefe der FESTUNG entfesselt worden waren, sich auch auf entsprechende Aggregate auswirkten. Anima sprang – und wurde von Goman-Largo aufgefangen. Neithadl-Off sprang ebenfalls. Sie schaffte es, aber sie streifte mit den unteren Seiten ihrer Extremitäten ganz leicht die Oberfläche des Schalttisches – und für den Bruchteil einer Sekunde war ihr, als müßte sie in einem Meer greller Lichtexplosionen ertrinken. Sie war halb wahnsinnig vor Furcht, als Goman-Largos Arme auch sie auffingen. Doch als sie merkte, daß der Modulmann sie fest umschlungen hielt, wurde sie wieder ganz ruhig. Goman-Largo keuchte und blickte sich mit so wild leuchtenden Augen um, als wäre er außer sich. »Wir müssen uns beeilen!« stieß er hervor. Neithadl-Off schlang zitternd ihre Gliedmaßen um ihn, als sie das Gefühl hatte, schwerelos geworden zu sein. Dieses Gefühl trieb sie fast in eine Panik hinein. »Nimm dich zusammen, Prinzessin!« mahnte der Modulmann schwankend. »Du bringst mich ja zu Fall.« »Oh, ja!« hauchte die Parazeit-Historikerin und riß die Gesichtsöffnung ihrer Schutzfolie auf, weil
ihr war, als bekäme sie in der Montur keine Luft mehr. Sanft, aber nachdrücklich befreite sich Goman-Largo aus ihrer Umklammerung uns stellte sie auf die »Füße«, dann winkte er ihr auffordernd zu und lief hinter Anima her, die in dem vor ihnen liegenden Korridor schon mindestens dreißig Meter zurückgelegt hatte. Der Korridor schien wie eine primitive Hängebrücke im Sturm hin und her zu schwingen, während für eine Weile nur das Trappen und Trippeln von Füßen in ihm zu hören war. Aber Goman-Largo spürte, daß sich etwas Entscheidendes anbahnte, denn er hörte aus scheinbar weiter Ferne einen Ton, der als leiser Schrei gequälter technischer Apparaturen anfing und sich allmählich in das immer schriller werdende Singen einer schwingenden Saite steigerte. Der Zeitpunkt, an dem etwas zerreißen würde, war nahe. Mitleidig blickte er auf den feisten, geröteten Nacken des zwergenhaften Imperators, der wie von Furien gehetzt vor ihm und seinen Gefährtinnen durch den Korridor jagte. Dieses Wesen tat ihm leid. Es war Kräften ausgesetzt, die es niemals verstehen würde und durch die es aufgrund seiner niedrigen Entwicklungsstufe und der dementsprechenden Mentalität zugrunde gehen mußte, wenn es ihrem Bannkreis nicht entkam. Doch genau das Gegenteil davon schien es zu wollen. Brush-Onoton bremste seinen Lauf ab – und der Modulmann erkannte auch, warum. Knapp zwanzig Meter vor ihm lief ein Spalt rings um Boden, Wände und Decke des Korridors, der aussah, als wäre er mit einem Schneidbrenner in Metallplastik gebrannt worden. Zu beiden Seiten des Spaltes hatte das Material sich bläulich verfärbt. Für einen Phyloser mußte das so aussehen, als handelte es sich um eine Falle, aus der abermals sonnenheiße Gluten schießen würde, sobald jemand hineinrannte. Fast verspürte Goman-Largo so etwas wie Bewunderung für den kleinen, dicken Herrscher, der nach kurzem Zögern weiterlief und sich damit in seiner Vorstellung der Gefahr aussetzte, zu Asche verbrannt zu werden. Brush-Onoton mochte ein skrupelloser Herrscher sein, aber er war zumindest kein Feigling, sondern setzte sein eigenes Leben beherzt ein, wenn er es für notwendig hielt. Lange konnte der Modulmann sich jedoch nicht mit solchen Überlegungen befassen. Wenige Meter hinter Brush-Onoton durchquerte er ebenfalls die durch den Ausbruch heftiger Energien gezeichnete Stelle – wobei er feststellte, daß der Spalt entstanden war, weil die Energiefeldprojektoren, die dort einst installiert waren, sich durch einen aus unbekannten Gründen entstandenen Kurzschluß selbst zerstört und dabei ihre Umgebung in Mitleidenschaft gezogen hatten. Aber mehr als das fesselte die Tatsache seine Aufmerksamkeit, daß der Korridor sich rund zehn Meter danach in eine nach unten führende spiralförmige Rampe verwandelte. Denn das war die Bestätigung dafür, daß sie sich auf dem richtigen Weg zu der Halle mit der Pseudolandschaft befanden, die allem Anschein nach die Quelle aller bedrohlichen fünfdimensionalen Phänomene war, die in den letzten Minuten stärker als zuvor aufgetreten waren. * Unterhalb der Spiralrampe ging es in einem Korridor weiter. Auch er schien heftig hin und her zu schwingen, und Goman-Largo strauchelte immer wieder, während er versuchte, den Imperator zu überholen. Immerhin wußte er, daß sich Anima noch ein ganzes Stück vor ihm befand – und er fürchtete, sie könnte in ihr Verderben laufen. Doch da wurde die bisher nur trübe Beleuchtung heller – und er entdeckte die Hominidin in zirka
sechzig Metern Entfernung innerhalb des Korridors. Anima beugte sich zu zwei phylosischen Raumsoldaten hinab, die offenkundig schwerverletzt waren. Strahlschußverletzungen! konstatierte der Modulmann, als er die verbrannten Monturen sah. Gleichzeitig erblickte er in rund siebzig Metern Entfernung das Schott der Schleuse, hinter der er die ehemalige Pseudolandschaft wußte. Zwischen diesem Schott und Anima lagen weitere verletzte Raumsoldaten am Boden. Ihr Anblick erinnerte Goman-Largo an Brush-Onotons Aussage, die Roboter in der Pseudolandschaft wären wieder aktiv geworden und hätten acht Raumsoldaten beschossen. Anscheinend waren sie danach entkommen und lebten noch. Wenn Anima sich um sie kümmerte, hatten sie eine relativ gute Überlebenschance. Vorausgesetzt, Anima konnte sich lange genug um sie kümmern. Doch genau das schien nicht möglich zu sein, denn das schrille Singen der imaginären Saite war hier, in der Tiefe der FESTUNG, so unerträglich geworden, daß es nach einer befreienden Handlung schrie. Auch Goman-Largo vermochte sich diesem Zwang nicht zu entziehen. Als Brush-Onoton eine Rak-Automatik aufhob, die neben einem schwerverletzten Raumsoldaten lag und danach auf das geschlossene Schott zuwankte, setzte der Modulmann zu einem Endspurt an. Er holte den Imperator ein, als das Schott sich öffnete. Neben ihm stolperte er in die darunterliegende Schleusenkammer. Brush-Onoton sah ihn erstaunt an. »Wo hast du deine Waffen?« erkundigte er sich verwundert. »Abgegeben«, antwortete Goman-Largo. »Aber das weißt du ebensogut wie ich.« Er war verblüfft, als der Imperator ihm die eigene Waffe hinhielt. »Was soll ich damit?« fragte er. »Du kannst besser kämpfen als ich«, erklärte Brush-Onoton. »Woher willst du das wissen!« gab Goman-Largo zurück. »Behalte deine Waffe!« »Wartet!« pfiff Neithadl-Off aus dem Korridor. Goman-Largo blickte hoch und sah, daß die Parazeit-Historikerin sie fast eingeholt hatte. Sie war höchstens noch fünf Meter von der Schleuse entfernt. Doch sie erreichte sie nicht, denn da glitten die Schotthälften zusammen und versperrten den Zugang zur Schleusenkammer. »Es ist bestimmt besser so«, sagte der Modulmann zu sich selbst. Da öffnete sich auch schon das Innenschott. Brush-Onoton keuchte vor Schreck, als er die vier hominiden, für jeden Phyloser sicher riesengroßen stählernen Roboter mit den furchteinflößenden Strahlwaffen in den metallenen Händen erblickte, die unweit der Schleuse in der ansonsten kahlen, kalkweiß erleuchteten Halle standen. Trotz seines Schrecks hob der Phyloser die Waffe und legte auf den ersten Roboter an. GomanLargo warf sich auf ihn und nahm ihm die Automatik weg. Er benutzte sie jedoch nicht, sondern ließ sie fallen und versetzte ihr einen Tritt, der sie zwischen die Roboter schlittern ließ. Als der nächststehende Roboter seine Strahlwaffe auf Brush-Onoton richtete, stellte sich GomanLargo vor den Imperator, hob die Arme und rief: »Nicht schießen! Wir kommen in Frieden!« Er hatte sich der phylosischen Sprache bedient – und in derselben Sprache antwortete der Roboter:
»Vier organische Individuen sind autorisiert, den Zugang zur Kapsel zu benutzen. Du gehörst dazu, aber das andere Individuum nicht. Ich gebe dir die Möglichkeit, es von hier zu entfernen. Falls du sie nicht nutzt, zwingt meine Programmierung mich zu seiner Ausschaltung.« »Ausschaltung!« tobte Brush-Onoton und versuchte, an dem Modulmann vorbei zu kommen und seine Waffe wieder an sich zu nehmen. »Ich bin doch keine Maschine, die man einfach ausschaltet!« »Für einen Roboter dieser Art bist du nicht viel mehr«, entgegnete Goman-Largo. »Ich kann dir nur dringend raten, diese Halle schnellstens zu verlassen. Andernfalls bist du wahrscheinlich so gut wie tot.« Der Imperator blickte mit wild flackernden Augen zu ihm auf. »Aber auch diese Halle befindet sich auf Preet«, stellte er mit bebender Stimme fest. »Folglich gehört sie dem phylosischen Volk, denn Preet ist ein Teil des von uns durch Naturrecht gehörenden Territoriums. Ich kann nicht zulassen, daß die Rechte meines Volkes von Fremden mit Füßen getreten werden.« »Du Narr!« fuhr Goman-Largo ihn an. »Was nützt dir ein verbales Recht, wenn du nicht die Macht besitzt, es durchzusetzen.« »Die Frist verstreicht!« mahnte der Roboter. »Öffne das Schott!« rief der Modulmann ihm zu. Das Innenschott öffnete sich. Goman-Largo packte den sich sträubenden Imperator, warf ihn über seine Schulter und trug ihn in die Schleusenkammer hinein. Gerade, als er ihn dort absetzen wollte, schloß sich das Innenschott. Dafür öffnete sich das Außenschott. »Modulmann!« rief Neithadl-Off aus dem Korridor. »Was ist passiert? Ich bin vor Angst um dich fast gestorben.« Goman-Largo verzog das Gesicht, als seine Nerven abermals von dem schrillen Singen der imaginären Saite gepeinigt wurden. Innerhalb des Saales war davon nichts zu hören und zu spüren gewesen. Das wurde ihm jetzt um so deutlicher bewußt. Er trug den Imperator bis in den Korridor hinaus, dann stellte er ihn einfach ab und betäubte ihn mit einem Handkantenschlag, damit er ihm nicht hinterher und in seinen Tod lief. Anschließend kümmerte er sich um Anima. »Ich bin gerade fertig«, stellte die Hominidin fest. Sie wirkte erschöpft. »Es war nicht leicht. Die Raumsoldaten hatten schwerste Verbrennungen.« »Was ist dort drin los?« pfiff Neithadl-Off erregt und deutete auf das Außenschott der Schleuse, das sich inzwischen wieder geschlossen hatte. »Ich weiß es nicht«, antwortete Goman-Largo. Im nächsten Moment fiel ihm wieder ein, was der Roboter ihm erklärt hatte. »Eine Kapsel!« rief er. »Ich nehme an, damit ist der Transmitter gemeint – und wahrscheinlich hat er sich infolge der Kämpfe um die FESTUNG aktiviert. Der Roboter sagte mir, vier organische Individuen wären autorisiert, den Zugang zur Kapsel zu benutzen. Damit können eigentlich nur wir gemeint sein.« »Wir sind nur drei«, stellte Anima fest. »Das vierte Individuum ist Enerschi-Upp!« rief NeithadlOff und sah sich suchend um. »Sie hat gemeinsam mit uns den Transmitter benutzt, und dabei sind wahrscheinlich ihre und unsere Individualschwingungen angemessen und gespeichert worden.« »Aber was sollen wir im Transmitter?« fragte Anima skeptisch. »Vielleicht zum Stützpunkt nahe dem Gasriesen Ebora abgestrahlt werden«, erwiderte GomanLargo nachdenklich. »Es fragt sich nur, was wir dort sollen.«
»Ich fürchte, die Antwort werden wir nur erfahren, wenn wir den Transmitter benutzen«, pfiff Neithadl-Off. »Und wir sollten nicht länger hier herumstehen, sonst bricht dieser ganze Mond auseinander.« Der Modulmann zögerte, denn es widerstrebte ihm, einen fremden Transmitter zu benutzen, der sich selbständig aktiviert hatte und von dem sie nicht wußten, warum sie sich ihm anvertrauen sollten. Doch er hörte und fühlte selbst, daß etwas Undefinierbares in der FESTUNG wühlte und zerrte und nicht nur die Existenz der FESTUNG, sondern von ganz Preet zu bedrohen schien. Und wenn der größte der beiden Monde des Planeten Phylos auseinanderbrach oder sich auflöste, hätte das auch verheerende Folgen für den Planeten selbst und würde wahrscheinlich Millionen Phylosern das Leben kosten. Das aber wollte Goman-Largo nicht verantworten. »Kommt!« sagte er mit belegter Stimme. Als sie dicht vor dem Außenschott standen, öffnete es sich abermals automatisch. Hinter ihnen zerriß kreischend der Korridor. Hellblaue Flammen schlugen aus den Rissen. Die drei Personen flüchteten förmlich in die Schleusenkammer. Sofort schloß sich das Außenschott wieder. Als das Innenschott auseinanderklaffte, liefen Goman-Largo, Anima und Neithadl-Off in die kalkweiß erleuchtete Halle. Die vier Roboter standen noch genauso da, wie der Modulmann es in Erinnerung hatte. Sie traten zur Seite und machten damit unmißverständlich klar, daß die drei Personen für ihre Programmierung autorisiert waren, die Halle zu betreten und den Transmitter zu benutzen. Die Kapsel! dachte Goman-Largo. Die Kapsel? hallte es in seinem Bewußtsein nach. Plötzlich war er sich gar nicht mehr so absolut sicher, daß mit »dem Zugang zur Kapsel« der Zugang zum Transmitter gemeint war. Doch weder ihm noch seinen Gefährtinnen blieb genügend Zeit, um so gründlich darüber nachzudenken, wie es normalerweise nötig gewesen wäre. Waren die bedrohlichen Phänomene nach dem Passieren der Schleuse anfangs draußen geblieben, so änderte sich das schlagartig. Die kalkweiß erleuchtete Halle bebte plötzlich. Gleichzeitig verschwammen die Wände, schienen sich in Nebel auflösen zu wollen, hinter denen schemenhaft »Geisterbilder« tanzten. Selbst der Boden wirkte nicht mehr massiv und stabil, sondern nachgiebig und nebelhaft, obwohl er den Füßen weiterhin Halt bot. Sekunden später verblaßte die kalkweiße Beleuchtung – und im selben Augenblick glühte tief im Innern der Halle etwas dunkelrot auf – eine quaderförmige Konstruktion aus Metallplastik, die auf einem Metallsockel stand, der aus dem Boden ragte. Der Transmitter der Hepathers! Die drei zögerten nicht länger. An den Robotern vorbei stürmten sie auf den Transmitter zu, der immer greller leuchtete und sich immer stärker gegen die verblassende Umgebung abhob. Der Boden schwankte heftiger. Nur der Transmitter schien das einzig Stabile zu bleiben. »Weiter!« rief Anima mit vor Erregung umkippender Stimme. Goman-Largo hatte das Gefühl, als drehte sich sein Magen um. Er blickte noch einmal zurück und sah zwischen den nebelhaften Wänden und dem nebelhaften Boden die vier Roboter zu Staub zerfallen. Nur das Innenschott der Schleuse war noch deutlich zu erkennen. Der Modulmann hatte plötzlich die dumpfe Ahnung, daß er dieses Bild zum letzten Mal sah, dann zogen ihn seine Gefährtinnen durch die Öffnung, die sich in dem Transmitterquader gebildet hatte.
Insgeheim befürchtete der Modulmann, daß ab diesem Moment alles anders verlaufen würde als vor einem halben Jahr. Doch er täuschte sich. Als die drei sich im Transmitter befanden und die Öffnung sich geschlossen hatte, reckte NeithadlOff sich hoch und drückte mit den Tastfäden der Vordergliedmaßen dieselbe Taste auf der mitten im Transmitterraum stehenden Säule, die sie bei der Flucht vor den beiden Tulocks bedient hatte, die ehedem die Pseudolandschaft bewohnt hatten. Wie damals schloß sich die Öffnung, dann glitten senkrechte Gitterstäbe aus den Wänden und engten den Raum für die drei Personen beängstigend ein. Doch das unangenehme Gefühl klang rasch wieder ab, als auf den Wänden vier quadratische Flächen heil wurden. Und auf einer der Bildflächen war plötzlich die Dunkelheit des Alls mit einem Ausschnitt des dottergelben Gasriesen Ebora mit einem Stück seines auf der Kante stehenden Ringsystems zu sehen – und auf einer anderen Fläche ein Teil das Innern der Meteoritenstation des Hepathers. »Krell-Nepethets Stützpunkt!« sagte Neithadl-Off erleichtert. »Vorerst sind wir in Sicherheit.« »Diesmal bleiben wir hier und stellen den Phylosern unsere Bedingungen«, sagte Anima. Im nächsten Moment schrie die Vigpanderin leise auf. Auch Goman-Largo hätte beinahe erschrocken geschrien, als er sah, daß die Abbildungen auf allen Bildflächen abrupt erloschen und einer SO absoluten Dunkelheit wichen, daß er sofort wußte, es war keine Dunkelheit des Weltraums, die er sah. »Die Kapsel!« flüsterte er tonlos. »Wir sind erst jetzt in der Kapsel. Aber es ist keine Raumkapsel, sondern eine Zeitkapsel.«
4. Beklemmendes Schweigen war die Antwort auf Goman-Largos Feststellung. Geisterhafte Lichtreflexe tanzten über die Gesichter der drei so verschiedenen Lebewesen, während die Bildflächen weiterhin eine wahrhaft abgrundtiefe Schwärze präsentierten. »Das kann nicht wahr sein!« flüsterte Anima nach einer Weile. »Ich weiß es nicht«, erwiderte der Modulmann, denn inzwischen stellten sich auch bei ihm Zweifel an der Aussage ein, die er ganz spontan gemacht hatte. »Es war nur mein erster Eindruck, als die Finsternis hereinbrach. Wir müßten uns in der Station umsehen, damit wir Gewißheit bekommen.« »Das ist nicht nötig«, pfiff Neithadl-Off. »Ich weiß Bescheid. Als Parazeit-Historikerin habe ich schon von solchen Zeitkapseln gehört.« Sie hielt kurz inne, weil sie sich fragte, ob sie tatsächlich schon von »solchen Zeitkapseln«, gehört hatte oder ob sie sich das nur einbildete. Aber sie kam zu keinem Schluß, denn ihr drängte sich eine weitere Erklärung auf, die in sich so vollkommen logisch wirkte, daß sie sie loswerden mußte. »Solche Zeitkapseln«, fuhr sie dozierend fort, »dienen dem Transfer von Zeitreisenden zwischen jeweils zwei Zeitgrüften, Vornehmlich aber werden sie von Agenten des Ordens der Zeitchirurgen benutzt.« »Des Ordens der Zeitchirurgen?« warf Goman-Largo zweifelnd ein. »Wann willst du das gehört haben, Prinzessin? Von der Existenz des Ordens der Zeitchirurgen hast du doch erst durch mich erfahren.« »Du irrst dich«, widersprach die Vigpanderin. »Ich wußte schon vorher Bescheid. Hätte ich mich beispielsweise bei den Wächtern der Zeitgruft von Xissas nicht als Eingeweihte in das Geheimnis des Ordens der Zeitchirurgen ausgewiesen, wärst du von ihnen niemals aus der Stasis erweckt worden.« »Aber da blufftest du doch nur«, stellte der Modulmann fest. »Alles, was ich damals sagte, war logisch fundiert«, erwiderte die Parazeit-Historikerin ausweichend. »Genauso, wie alles logisch fundiert ist, was ich jetzt sage. Hört mir also bitte genau zu!« »Ich höre!« wisperte Anima. »Sprich weiter!« forderte auch Goman-Largo. Warme Feuchtigkeit brach aus allen Poren Neithadl-Offs und überschwemmte ihre Haut, ein Zeichen der ungeheuren inneren Bewegung, von der sie ergriffen war. »Die Transfer-Kapseln des Ordens der Zeitchirurgen«, fuhr sie bedächtiger fort, weil sie sich ihrer Verantwortung gegenüber ihren Zuhörern bewußt geworden war, und ihrer Verpflichtung, daß die Geschichte, falls sie schon nicht der Realität entsprach, wenigstens in sich logischer als jede nur denkbare Realität zu sein hatte, »sind selbstverständlich auf die mentalen Ausstrahlungen ihrer Benutzer geeicht und damit an deren Anweisungen gebunden, solange sie leben. Das war auch bei dem Hepather der Fall.« »Krell-Nepethet war also ein Kurier der Zeitchirurgen?« hauchte Anima beeindruckt. »Des Ordens der Zeitchirurgen«, korrigierte Neithadl-Off. »Das ist ein feiner, aber wesentlicher Unterschied.« »Hm!« brummte Goman-Largo. »Das leuchtet mir bisher alles ein, Prinzessin. Ich bin schon gespannt auf die Fortsetzung.« »Verständlich«, Stellte Neithadl-Off selbstbewußt fest. »Ich habe übrigens nicht behauptet, daß
Krell-Nepethet ein Agent des Ordens der Zeitchirurgen war, obwohl ich das nicht ganz ausschließen möchte. Für wahrscheinlicher aber halte ich es, daß er – aus welchen Gründen auch immer - vom Orden verfolgt wurde und sich diese Zeit-Transfer-Kapsel aneignete, sie auf seine mentale Ausstrahlung programmierte und ihre Steuerung so manipulierte, daß sie den Transfer zwischen Ausgangspunkt und Zielpunkt unterbrach und zwischen den Zeitgrüften und damit zwischen den Zeiten hängenblieb.« »Zwischen den Zeiten?« echote Goman-Largo. »Natürlich!« erwiderte Neithadl-Off keck. »Der Transfer findet selbstverständlich auf einer Nullzeit-Spur statt, das heißt, innerhalb eines zeitneutralen Mediums, indem Zeit nur in sich vergeht, aber niemals relativ zur Umgebung außerhalb dieses Mediums, also im Normalraum.« »Das klingt hypertemporal!« entfuhr es dem Modulmann. »Nicht wahr?« gab Neithadl-Off selbstzufrieden zurück – und die warme Flüssigkeit auf ihrer Hautoberfläche blubberte leise. »Solange Krell-Nepethet lebte, hing seine Zeit-Transfer-Kapsel weitgehend desaktiviert zwischen Ausgangs- und Zielpunkt - und das änderte sich auch nicht, als er starb. Aber vorher tauchten wir auf- und irgendwie wurden wir von der verwaisten Transfer-Kapsel zu ihren neuen Herren erkoren. Als nun die Kämpfe um die. FESTUNG voll entbrannten, muß sich eine Notschaltung aktiviert haben. Dadurch wurden wir durch eine Serie von Effekten in die Tiefe der FESTUNG und in die Anlage des Hapathers gelockt – und schließlich in den Transmitter und in die Zeit-Transfer-Kapsel hinein.« »Auch dag klingt logisch«, meinte der Modulmann. »Schließlich sind wir beide, du, Neithadl-Off und ich, auf unsere Weise Spezialisten der Zeit. Kein Wunder, daß eine Zeit-Transfer-Kapsel des Ordens der Zeitchirurgen auf unsere mentalen Ausstrahlungen anspricht.« »Ja, natürlich!« pfiff die Vigpanderin. »Das war der Grund dafür, Modulmann! Du bist einfach hypertemporal!« »Na, na!« machte Goman-Largo verlegen. »Das alles klingt wirklich schön und gut«, stellte Anima fest. »Nur weiß ich deshalb noch lange nicht, warum die Zeit-Transfer-Kapsel uns bei sich haben wollte.« »Um uns in Sicherheit zu bringen, natürlich«, erklärte Neithadl-Off. »Aber wo?« rief die Hominidin. »In irgendeiner Zeitgruft«, stellte die Vigpanderin mit verblüffender Selbstverständlichkeit fest. »Nachdem die Zeit-Transfer-Kapsel sich reaktiviert hat, ist sie natürlich wieder auf die NullzeitSpur zurückgefallen. Wahrscheinlich setzt sie darauf die von Krell-Nepethet damals unterbrochene Reise fort.« »Und hält bei der Zeitgruft, auf die die Reise damals programmiert war«, ergänzte Anima. »Ja, auch das klingt logisch.« »Und es ist ausgesprochen ultramonotisch«, erklärte Goman-Largo trocken. »Denn wovor der Hepather sich damals auch immer fürchtete – und sein Halt bei den Phylosern beweist, daß er sich davor fürchtete, am eingestellten Ziel der Kapsel anzukommen -, es könnte auch uns das Fürchten beibringen, wenn nicht gar Schlimmeres.« * Sie hatten den Transmitter verlassen und waren dann in den eigentlichen Stützpunkt eingedrungen –
beziehungsweise in das Innere der Zeit-Transfer-Kapsel. Neithadl-Off musterte die Bildflächen, die es auch hier gab und die genau das gleiche abbildeten wie die Bildflächen innerhalb des Bordtransmitters, nämlich nichts – eine unergründliche Finsternis, die niemals identisch mit der Finsternis des interstellaren oder intergalaktischen Weltraums sein konnte. Zwar hatten die drei bisher weder Ortungsgeräte gefunden noch einen Computer, der ihnen Analysen erstellt hätte, aber der sechste Sinn, der ihnen allen aus unzähligen Erfahrungen mit Raum und Zeit erwachsen war, verriet es ihnen und ließ keine Zweifel aufkommen. Sie befanden sich jenseits von Raum und Materie auf einer sogenannten Nullzeit-Spur, einer dimensionslosen Spur mitten durch das Nichts. Nachdem sie Inventur gemacht und außer verschiedenen Werkzeugen und einigen undefinierbaren Gegenständen nichts von Bedeutung gefunden hatten, setzten sie sich zusammen – und zwar in Ermangelung von Mobiliar auf dem blanken Boden der zylindrischen Kammer, als die das Innere der Zeit-Transfer-Kapsel sich darbot. »Es gibt anscheinend keine Möglichkeit, die Kapsel unter unsere Kontrolle zu bekommen«, berichtete Goman-Largo als erster. »Allerdings halte ich das nicht gerade für einen Nachteil. Falls Neithadl-Off recht hat und die Kapsel den von Krell-Nepethet in der Vergangenheit eingeschlagenen Weg fortsetzt und ihr Ziel eine Zeitgruft ist, würde jedes Herumprobieren an einer Steuerung nur die Ankunft an diesem Ziel gefährden.« »Dennoch muß es eine Steuerung geben«, meinte die Vigpanderin. »Andernfalls hätte der Hepather die Kapsel nicht anhalten können, so daß sie aus der Nullzeit-Spur hinausfiel und im Normalraum innerhalb des Ubnil-Systems zum Stillstand kam.« »Selbstverständlich«, erklärte Goman-Largo. »Ich werde auch weitersuchen. Aber es gibt ein dringlichere Problem.« »Mein dringlichstes Problem ist es, eine Spur zu meinem Ritter zu finden«, wandte Anima ein. »Du irrst dich«, widersprach der Modulmann. »Unser dringlichstes Problem ist die Versorgung mit Wasser und Nahrung. Es gibt nämlich keine Vorräte an Bord, soviel ich festgestellt habe – und auch wir tragen keine Vorräte bei uns, weil niemand von uns auf diese Situation vorbereitet war. Falls die Kapsel länger als ein paar Tage unterwegs sein sollte…« Er ließ den Rest unausgesprochen, aber die Gefährtinnen begriffen auch so, in welcher Gefahr sie schwebten. In der Gefahr, verschmachten zu müssen. Für eine ganze Weile war es still, dann wurde die Stille von Anima gebrochen. »Ich könnte euch etwas von meiner Körpersubstanz abgeben…«, sagte sie verlegen. »Das ist gänzlich unannehmbar!« rief Goman-Largo abweisend. »Ich könnte niemals das Fleisch eines intelligenten Lebewesens verzehren!« »Ich schon«, meinte Neithadl-Off. »Aber natürlich würde ich niemals Biomasse eines Wesens zu mir nehmen, mit dem ich mich verbunden fühle wie mit dir, Anima.« »Aber es würde mir nichts ausmachen!« erregte sich Anima. »Ich könnte jeden Teil meines Körpers nachwachsen lassen, so, wie ich Wunden heile.« »Nein«, erklärte Neithadl-Off entschieden. »Von dir würde ich niemals etwas anrühren – und wenn deine Körpersubstanz noch so wohlschmeckend wäre. Aber ich erinnere mich, bei meiner ersten Untersuchung der Kapsel vor zirka einem halben Jahr in einet Tiefkühlkammer biologische Substanzen vorgefunden zu haben. Wir wissen inzwischen, daß es sich um Körpersubstanzen des Hepathers handelt, die er bei seinem Überwechseln in der Maske eines Phylosers nach Preet beziehungsweise Phylos zurückließ, weil seine Gesamtmasse zu groß für einen Phyloser gewesen wäre. Das ließe sich doch bestimmt als Nahrung zubereiten.«
»Das wäre möglich«, räumte Anima ein. »Na, ich weiß nicht!« gab Goman-Largo erschaudernd zu bedenken. »Ich könnte diese Substanz so umformen, daß sie pflanzlicher Biomasse entspricht«, schlug die Hominidin vor. »Ausgezeichnet!« pfiff die Vigpanderin erfreut. »Damit wären auch die Bedenken des Modulmanns zerstreut. Jetzt müßt ihr nur noch verraten, wohin ihr die Biomasse gebracht habt.« »Wohin?« echote Anima. »Ich habe sie überhaupt nicht gesehen, geschweige denn fortgebracht.« »Ich auch nicht«, erklärte Goman-Largo. »Ich habe diese Substanzen zwar gesehen, aber das war vor einem halben Jahr. Heute bin ich gar nicht in den Teil der Kapsel gekommen, in dem sich die Tiefkühlkammer befindet. Der gehörte zu deinem Durchsuchungsbereich, Neithadl-Off.« »Das ist richtig«, gab die Parazeit-Historikerin zu. »Aber als ich vorhin in die Kammer schaute, war sie leer.« Ihre Haut bedeckte sich mit lauwarmem Sekret, und ihre Sensorstäbchen glitten abwechselnd vor und zurück. »Ich fürchte mich«, pfiff sie kläglich. »Hätten wir damals nur außer den Überresten des als Phyloser getarnten Hepathers auch die tiefgefrorenen Substanzen seines Originalkörpers ins All geworfen! Jetzt haben sie sich womöglich zu einem schleimigen Monstrum geformt, das sich irgendwo hinter den Innenverschalungen der Kapsel verbirgt und darauf lauert, daß wir schlafen.« »Aber das ist doch nicht möglich, Prinzessin«, wandte der Modulmann begütigend ein. »Die Substanzen waren doch tiefgefroren, denke ich. Oder etwa nicht?« »Vor einem halben Jahr waren sie tiefgefroren«, pfiff Neithadl-Off. »Oh! Die Kammer war warm, als ich sie vorhin untersuchte.« »Aber wer sollte die Biomasse aufgetaut haben?« überlegte Anima laut. »Niemand«, meinte Goman-Largo. »Wahrscheinlich ist alles an Bord der Kapsel schalttechnisch miteinander verknüpft: die Transmitter-Aktivierung, die Nullzeit-Spur-Umstellung und die Tiefkühlkammer. Ich kann mir vorstellen, daß der Hepather die Kammer so programmiert hat, daß seine Restsubstanz aufgetaut wurde, sobald die Kapsel sich wieder in die Nullzeit-Spur einfädelte. In diesem Fall hätte er ja auf seine Phyloser-Maskierung verzichten und sich in seine ursprüngliche Gestalt zurückverwandeln können.« »Das klingt einleuchtend«, sagte Anima. »Es besteht also kein Grund zur Besorgnis, Neithadl-Off.« »Für mich doch!« pfiff die Parazeit-Historikerin erregt. »Da die Restsubstanz aus der Kammer verschwunden ist, muß sie sich selbstständig gemacht haben – und das bedeutet, daß sie ein denkendes und fühlendes Wesen ist und damit eine Gefahr für uns alle.« »Ich verstehe, was du meinst, Prinzessin«, sagte Goman-Largo. »Deshalb schlage ich vor, daß wir gemeinsam die Kapsel noch einmal untersuchen – und zwar gründlicher als vorhin. Wenn ich mich recht erinnere, hatte die Substanz eine Masse von etwa zehn Kilogramm – und zwar in gefriergetrocknetem Zustand. Unter Hinzufügung von Wasser müßte sie beim Auftauen eine Masse von rund fünfzig Kilogramm erreicht haben. Die kann sich nirgends lange verbergen.« Verwundert drehte er sich nach der Vigpanderin um, weil sie nicht reagierte. »Hast du verstanden, was ich meine, Prinzessin?« erkundigte er sich. »Ja«, antwortete Neithadl-Off halb abwesend. »Ja, ich denke schon. Durchsuchen wir also die Kapsel gründlicher.« Eine gute Stunde später schlossen die drei ihre Durchsuchung ab – ohne Ergebnis. Die restliche Biomasse des Hepathers blieb unauffindbar.
»Möglicherweise ist sie zu Staub zerfallen, als sie aufgetaut war und niemand kam, um sie sich einzuverleiben«, versuchte der Modulmann die Vigpanderin zu beruhigen. »Auch das könnte vorprogrammiert gewesen sein.« »Und wohin ist der Staub verschwunden?« fragte Neithadl-Off. »Von der Klima- und Luftreinigungsanlage weggesaugt«, erklärte Goman-Largo. »Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen.« »Nein«, erwiderte Neithadl-Off einsilbig. Damit war dieses Thema erledigt, soweit es Goman-Largo und Anima betraf. Die Vigpanderin war allerdings nicht ganz beruhigt, aber sie fürchtete sich davor, sich zu blamieren, wenn sie noch länger darauf herumritt. Deshalb schwieg sie ebenfalls. Und die Transfer-Kapsel raste weiter auf einer unsichtbaren Linie entlang durch ein Medium oder Nichtmedium, das sich gestaltorientierte Intelligenzen ebensowenig vorzustellen vermochten wie den Zustand des unergründlichen Wesens hinter allen Dingen.
5. Goman-Largo entdeckte den Zugang zur Kontrollwand durch reinen Zufall. Nach Animas Zeitmesser, auf dessen Einteilung sie sich als für alle gültig geeinigt hatten, waren sie den fünften Tag unterwegs zwischen den Dimensionen – und ihre Lage war annähernd unhaltbar geworden. Das Hungern war nur die beiden ersten Tage schmerzhaft gewesen. Inzwischen hatten sich ihre Körper darauf umgestellt, von den eigenen Reserven zu zehren. Es konnte noch lange dauern, bis alle Fettpolster und Muskelfasern aufgelöst und »verheizt« worden waren und der Tod durch Verhungern drohte. Soweit würde es gar nicht kommen, denn vorher würden ihre Körper an Flüssigkeitsmangel zugrunde gehen. Zwar hatten sie die Klimaanlagen ihrer Schutzanzüge »angezapft« und durch Abkühlung in der Tiefkühlkammer genügend Kondenswasser gewonnen, um sich bei äußerster Ruhe damit noch ein paar Tage lang am Leben zu erhalten, doch dann würde es prekär werden. Wesen, deren Lebensprozesse weitgehend vom Vorhandensein freien Wassers abhingen, konnten nun einmal ohne Körperflüssigkeit nicht auskommen. Es sei denn, die Lebensprozesse selbst würden verzögert oder ganz aufgehalten. Um die Anwendung dieser Möglichkeit zu überprüfen, hatte sich der Modulmann in die Tiefkühlkammer begeben und das Kühlaggregat durchgetestet. Seine Kapazität hatte sich dabei als ausreichend erwiesen, anderthalb Personen vom Durchschnitt der drei ständig im UnterkühlungsTiefschlaf zu halten. Aber das war ein theoretischer Wert. In der Praxis ließ sich’ das Verfahren nur auf eine Person anwenden, denn weder Goman-Largo noch Neithadl-Off oder Anima waren fähig, sich in zwei lebensfähige Stücke aufzuteilen. Bei dem Versuch, die Kapazität des Kühlaggregat mit Hilfe eines seiner Module so zu stimulieren, daß sie für zwei Personen ausreichen würde (die Vigpanderin hatte erklärt, sie käme notfalls ein ganzes Jähr ohne Flüssigkeitszufuhr aus), hatte sich die Isolierwand an der Rückseite der Kammer geteilt und auseinandergeschoben - und dahinter war ein enger Raum sichtbar geworden, dessen Rückseite aus einer nutzlosen schwarzen Platte von drei Metern Durchmesser zu bestehen schien. Goman-Largo hatte sich jedoch von der scheinbaren Nutzlosigkeit nicht entmutigen lassen, sondern mit Hilfe mehrerer Module einen Test nach dem anderen durchgeführt. Bis er schließlich fündig geworden war. Mit hörbarem Knacken war ganz unten aus der schwarzen Kreiswand ein quaderförmiger gläserner Kasten von knapp Unterarmlänge herausgeglitten, hatte sich oben geöffnet und den Blick auf ein beweglich aufgehängtes, liegendes Gebilde freigegeben, dessen Form den Modulmann stark an einen Planetariumsprojektor erinnerte, wie er ihn in ferner Vergangenheit einmal auf einer Welt gesehen hatte, deren Zivilisation sich am Ende der Maschinen- und am Anfang der Siliziumzeit befand. Das seltsame Gebilde mit den beiden »Projektionskugeln« oben und unten richtete sich auf, als Goman-Largo eine Hand darüber hielt. Unwillkürlich senkte er die Hand auf die obere »Projektionskugel« und umfaßte sie damit. Und hielt Einzug in eine Welt völlig neuer Wahrnehmungen, die nur innerhalb seines Bewußtseins stattfanden. Er »sah« plötzlich auf der schwarzen Kreiswand oder vielmehr in ihr, denn sie war für ihn transparent geworden, zahllose Lichtpunkte glühen und zwischen den Lichtpunkten nebelhaft matte
Linien aufblenden und wieder erlöschen – und er wußte mit einemmal, daß er die Wege durch das Nichts zwischen den Zeitgrüften sah, wenn auch »nur« indirekt über das vermittelnde Projektionsgerät (oder wie immer es in einer unbekannten Terminologie heißen mochte). Goman-Largo versenkte sein Bewußtsein noch tiefer hinein in die überspielten Wahrnehmungen – und er vermeinte plötzlich, so etwas wie den Wind der Zeit zu fühlen und darin ein Lied aufklingen 2u hören. Er bekam Angst und versuchte, wieder emporzusteigen, doch es gelang ihm nicht. Der Wind der Zeit schlug über ihm zusammen – und aus den lieblichen Klängen des Liedes wurde ein disharmonisches dumpfes Dröhnen, so, als hinge das Herz eines Riesen irgendwo in den Sturmwogen der Zeit und läutete. Tiefer und tiefer sank Goman-Largos Bewußtsein – und er hatte das Gefühl, bald schon den Grund zu erreichen, auf dem das ewige Vergessen begann. Noch einmal wehrte er sich dagegen, aber dann ließ er sich sinken. Und wurde zum Felsen am Ufer des Meeres, gegen den der Wellenschlag der Zeiten brandete, durchsetzt von Lichterfunken, die nichts anderes waren als die Mündungen zu verschiedenen Nullzeit-Spuren – und in ihnen hämmerte, klopfte und schlug das psionische Netz des Universums… * Der Modulmann wehrte sich mit allen Fasern seiner physischen und seiner psychischen Existenz, als unbekannte Kräfte ihn von den Mündungen des psionischen Netzes zu reißen versuchten, durch die er tief hinein in Dimensionen unglaublicher Verheißungen geschaut hatte. Doch schließlich unterlag er. Mit einem wilden Schrei kam er wieder zu sich und sah sich in den festen Griffen seiner Gefährtinnen, ohne gleich zu begreifen, wer sie waren. Doch er wehrte sich nicht länger gegen sie, denn etwas legte sich lähmend über seine Psyche. Er versank in Apathie. Wie lange er absolut teilnahmslos dahingedämmert war, hätte er anschließend nicht sagen können. Es war ihm auch egal. Irgendwann erwachte er wieder zu bewußtem Denken, und er hörte es leise flüstern. »Modulmann!« wisperte es. »Modulmann, komm zu dir! Du darfst mich nicht allein lassen, Modulmann. Ich brauche dich wie sonst nichts auf der Welt.« Einige Zeit lang wußte er nicht, wer zu ihm sprach, dann fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen. »Neithadl-Off!« flüsterte er. »Meine Prinzessin! Wo sind wir?« »Oh!« hörte er die Vigpanderin verzückt ausrufen. »Oh, Modulmann! Bitte, komm noch nicht ganz zu dir!« Diese Aufforderung verärgerte ihn, denn sein Unterbewußtsein drängte darauf, wieder die Initiative zu ergreifen. Dazu kam, daß einige seiner Module durch vorangegangene Ereignisse »aufgemöbelt« worden waren und Vibrationen unterschiedlichster Art durch Körper und Geist schickten. Er richtete sich abrupt in sitzende Haltung auf und starrte angestrengt um sich. Als erstes sah er Neithadl-Off und dahinter die kreisförmige schwarze und wieder nichtssagende Platte an der Rückwand des Kontrollraums, dann entdeckte er links neben sich eine liegende Hominidin.
»Anima!« entfuhr es ihm. Ein schmerzhafter Impuls raste durch seinen Körper und peitschte ihn auf. Er stemmte sich hoch, kroch auf Händen und Knien zu der Hominidin und beugte sich über sie. Ihre Augen blickten ins Leere – und als er sein Ohr auf ihre linke Brust legte und keinen Herzschlag vernahm, geriet er fast in Panik, weil er fürchtete, Anima sei tot. »Anima!« rief er schmerzerfüllt. »Sie ist nicht tot«, hörte er die ärgerliche Pfeifstimme Neithadl-Offs. »Sie befindet sich nur in Trance – und du hast irgend etwas damit zu tun.« »Ich?« entfuhr es ihm, aber die Entrüstung verwandelte sich sofort in Erleichterung, als er den Teil der Aussage der Vigpanderin begriff, der ihm mitteilte, daß Anima lebte. Er atmete auf. »Du liebst sie, nicht wahr?« vernahm er eine brüchige, nur noch matt pfeifende Stimme. Wäre er mit seinen Gedanken nicht so weit weg gewesen, er hätte die unüberhörbare Eifersucht darin nicht überhört. So entging ihm etwas, das vielleicht seinem ganzen weiteren Leben, bestimmt aber seiner Lebensphilosophie eine völlig neue und möglicherweise bedeutungsvolle Nuance gegeben hätte. Aber als er seine Gedanken aus der Versenkung löste, waren sie wieder total versachlicht. »Unsinn!« erwiderte er humorlos. »Wenn du dort gelegen hättest, ich wäre genauso besorgt gewesen, Prinzessin. Wir sind schließlich alle aufeinander angewiesen. Jeder von uns braucht jeden, und der Tod eines jeden von uns wäre für die Überlebenden ein großer Verlust gewesen.« »Aber woher wolltest du wissen, ob ich nicht ebenfalls halbtot war?« versuchte Neithadl-Off das Thema zurückzudrehen. Goman-Largo winkte nur unwillig ab. »Du warst und bist springlebendig, sonst hättest du mir nicht sagen können, daß Anima sich nur in Trance befindet«, erklärte er. »Was mich interessiert, ist, warum sie in Trance versunken ist.« »Ich weiß es nicht, Modulmann«, erwiderte Neithadl-Off – und in ihrer Stimme schwang Wehmut oder Trauer mit. »Jedenfalls kippte sie plötzlich um, als du aufhörtest, um dich zu schlagen. Es war, als wäre Starkstrom durch sie gefahren – und ich hätte vielleicht auch gedacht, sie wäre tot, wenn ihr Unterbewußtsein mir in diesem Moment nicht einige bildhafte Informationen zugespielt hätte.« »Bildhafte Informationen?« echote Goman-Largo. »Was für bildhafte Informationen, Prinzessin?« »Ein Meer!« pfiff Neithadl-Off. »Ich sah ein Meer vor meinen geistigen Sensoren – und ein Ufer, an dem ein Hominide stand, ein hochgewachsener Hominide mit weißem, im Winde wehenden Haar, edlen Zügen und durchdringendem Blick.« Sie gab ein paar undefinierbare Laute von sich, dann fuhr sie fort: »Es war ein männlicher Hominide, eine respekteinflößende Gestalt. Sie winkte – und plötzlich kehrten die Wellen, die das Ufer eben erreicht hatten und die Füße der Gestalt umspülten, zu mir zurück. Als der Wellenschlag mich traf, schien die Gestalt sich in zwei Gestalten zu verwandeln. Aber im gleichen Augenblick erlosch die Wahrnehmung.« »Symbolismus«, stellte der Modulmann nachdenklich fest. »Anima muß etwas Konkretes wahrgenommen haben und hat es deinem Bewußtsein in Form von symbolträchtigen Bildern überspielt. Das hat auf jeden Fall etwas zu bedeuten.« »Er war es!« hauchte eine Stimme kaum hörbar. »Wer war es?« pfiff Neithadl-Off wißbegierig. »Wer soll es schon gewesen sein!« hörte Goman-Largo sich sagen, »Atlan, ihr Ritter, natürlich.«
»Ja, Atlan!« flüsterte Anima und setzte sich plötzlich auf und öffnete die Augen so weit, daß der Modulmann für einen Moment glaubte, sie hätten sich in uferlose Seen verwandelt, in die sein Geist zu stürzen drohte. »Nein!« widersprach Anima sich selbst. »Nicht Atlan! Nicht Atlan allein!« Sie lächelte wehmütig. »Es war auch Hartmann! Hartmann vom Silberstern!« Goman-Largo brauchte nicht zu fragen, wer Hartmann vom Silberstern war – beziehungsweise gewesen war. Das halbe Jahr, das er mit Anima und Neithadl-Off auf Phylos und Niarmena verbracht hatte, war Zeit genug gewesen, um Erinnerungen an ihre früheren Lebensphasen auszutauschen. Deshalb wußte der Modulmann, daß Hartmann vom Silberstern der erste Ritter Animas gewesen war – und daß er längst tot war, umgekommen im Kampf gegen einen Feind namens Vergalo in der Galaxis Manam-Turu. Allerdings machte ihm die Tatsache zu schaffen, daß Animas Bewußtsein oder Unterbewußtsein sich unvermittelt derartig intensiv mit Atlan und Hartmann vom Silberstern beschäftigt hatte. Das mußte mehr als ein Zufall gewesen sein. Er geriet ins Grübeln – aber dieser Zustand wurde abrupt unterbrochen, als Neithadl-Off aufschrie. Der Modulmann blickte hoch und sah, daß die Vigpanderin auf die schwarze Platte deutete. »Es ist fort!« flüsterte Anima und seufzte schwer. Goman-Largo verschwendete keine Gedanken an die Überlegung, was die Hominidin gemeint haben könnte. Die Projektionsplatte zog ihn quasi magisch an. Er rappelte sich auf, kroch in den Kontrollraum zurück und ging vor der Platte in die Hocke, über deren Oberfläche ein geheimnisvolles Flimmern tanzte. Der Modulmann zögerte nur kurz, dann legte er wiederum eine Hand auf die obere Kugel des Kontakt- oder Steuergeräts. Sein Mund öffnete sich in Erwartung einer ganzen Schauers von Eindrücken zu einem Schrei - und schloß sich wieder, denn die erwartete Fülle blieb aus. Statt dessen sah er vor seinem geistigen Augen in einem Meer absoluter Finsternis einen matten, nebelhaft leuchtenden Halo und in seinem Mittelpunkt einen hektisch blinkenden Lichtfleck. Das war alles. Und es war ungeheuer bedeutungsvoll, wie der Modulmann nur wenig später begriff, als das Kontaktgerät ihm den Eindruck vermittelte, er schwebte durch den Halo hindurch und würde mit dem Lichtfleck in seinem Mittelpunkt verschmelzen. »Wir sind da!« stieß er hervor und ließ das Kontaktgerät los. »Draußen tut sich etwas!« pfiff Neithadl-Off außerhalb des Kontrollraums. Goman-Largo hastete gebückt durch die Öffnung zwischen Kontrollraum und Kühlkammer und in den zylindrischen Aufenthaltsraum der Kapsel zurück. Aufgeregt musterte er die Bildflächen, die nicht mehr nur abgrundtiefe Schwäne zeigten. Sie zeigten allerdings auch noch keine konkreten Darstellungen oder Objekte, sondern nur ein scheinbar unendliches Meer grell leuchtender Lichtfunken. »Das ist der Übergang von der Nullzeit-Spur ins vierdimensionale Raum-Zeit-Kontinuum«, pfiff die Parazeit-Historikerin. Goman-Largo sah sie prüfend von der Seite an. Er fragte sich, was von dem, das Neithadl-Off behauptete, echtem Wissen entsprang und was bloßer Spekulation. Dieses Wesen gab ihm immer neue Rätsel auf. Er hätte viel darum gegeben, wäre es ihm möglich gewesen, ein neues Präkognitiogramm für sich erstellen zu lassen. Sein letztes Präkognitiogramm war ja vor vielen tausend Jahren aufgestellt worden und hatte im wesentlichen ausgesagt, daß er in ein Stasisfeld geraten würde und daß es daraus nur einen Weg der Befreiung gäbe: eine Parazeit-Historikerin, die sich in ihn verliebte.
Er hatte zwar eine Parazeit-Historikerin kennengelernt, nämlich Neithadl-Off – und er war auch aus dem Stasisfeld befreit werden. Aber es wäre ihm einfach lächerlich vorgekommen, anzunehmen, ein von ihm so völlig verschiedenes Wesen wie die Vigpanderin könnte sich in ihn verlieben. Darum glaubte er auch nicht daran, daß er bereits wieder frei war. Er fürchtete, nur eine kurze Frist erhalten zu haben, nach der erneute Gefangenschaft drohte. Und manchmal fragte er sich – so wie jetzt –, ob Neithadl-Off überhaupt eine Parazeit-Historikerin war oder ob sie sich das nur einbildete – oder ob sie einfach nur so perfekt log, daß niemand erkannte, wann sie eventuell die Wahrheit sagte und wann nicht. Er schüttelte diese Überlegungen von sich ab und wandte sich Anima zu, die, offenbar in sich gekehrt, auf dem Boden saß. »Vielleicht begegnen wir am Ziel deinem Ritter Atlan«, versuchte er sie aufzumuntern. Doch Anima schüttelte heftig den Kopf. »Nein«, entgegnete sie leise. »Wir werden weder Atlan noch Hartmann vom Silberstern begegnen.« Der Modulmann verkniff sich die Bemerkung, daß sie ihrem ersten Ritter sowie nicht begegnen könnten. Er hielt Anima für geistig verwirrt. Im nächsten Moment vergaß er, was sie gesagt hatte. Denn da erloschen die Lichtfunken, und an ihre Stelle traten kreiselnde Nebelschwaden, die sich langsam zerstreuten und aus denen sich die Konturen des Zielorts herausschälten…
6. Die drei Schicksalsgefährten beobachteten schweigend. Sie wußten, daß die Nullzeit-Spur »hinter« ihnen lag – und sie wußten auch, daß sie in einer materiellen Umgebung innerhalb des vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuums angekommen waren. Aber sie hatten nicht die geringste Ahnung, wo das war. Im ersten Augenblick, als die Lichtfunken erloschen, hatte Neithadl-Off vermutet, die Zeit-TransferKapsel würde an einem Ort herauskommen, der weitgehend dem glich, von dem sie gekommen war, nämlich irgendwo im Weltraum. Doch als die kreisenden Nebelschwaden sich zerstreuten und erste Konturen sichtbar wurden, erkannte sie, daß es ein fester Himmelskörper war, auf dem sie gelandet waren. Die Bildflächen zeigten in nächster Nähe mehrere hohe Trilithen: Dreisteine aus zwei aufrechtstellenden Steinen und einem quer darüber gelagerten. Neithadl-Off zählte fünf solcher, etwa fünf Meter hoher Trilithen, die einen an einer Seite offenen Kreis bildeten. Aber dahinter zog sich ein weiterer Kreis aus einer noch größeren Anzahl hochragender, säulenartiger Vierkantblöcke herum, von denen ebenfalls je zwei von einem flachliegenden Block überspannt wurden. Über allem aber hing eine hellgraue Nebeldecke, die in spiralförmigen Streifen um einen Mittelpunkt wirbelte gleich den Spiralarmen einer Galaxis, nur viel schneller. »Hört!« flüsterte Anima. Die Vigpanderin fuhr ihre Sensorstäbchen so weit aus wie möglich und lauschte mit angespannten Sinnen. Verwundert registrierte sie intervallartig kommende und gehende Schallwellen, die in ihrem Bewußtsein die Assoziation zu den gedämpften Stimmen eines Chores von Geisterbeschwörern hervorrief. Sie überlegte, wo sie etwas Ähnliches schon einmal gehört hatte und kam darauf, daß es auf einer der großen Inseln des Planeten Banikwadwe gewesen sein mußte, auf dem sie gegen ihren Willen Zeugin geworden war, wie Angehörige eines Geisterbeschwörerkults die Touristengruppe von Korsham, die entgegen dem Verbot der Raumkontrollbehörde auf Banikwadwe gelandet war, um Großwild zu jagen, zeremoniell entseelt und verspeist hatten. »Du zitterst ja«, hörte sie Goman-Largo sagen. »Woran denkst du, Prinzessin?« »An die Stimmen der Toten, die aus der Zeitgruft unter uns aufsteigen und uns hinablocken wollen«, antwortete die Vigpanderin. »Zeitgruft!« rief Anima verächtlich. »Wo soll denn hier eine Zeitgruft sein? Das scheint mir eher eine Kultstätte Primitiver darzustellen. Dafür spricht auch der Gesang. Er wird nicht durch die Stimmen von Töten erzeugt, sondern durch die gesummten Vokallaute einer großen Menge intelligenter Wesen.« »Nein«, widersprach Goman-Largo. »Es muß etwas anderes sein als Gesang. Ich kann keine Menge entdecken.« »Ich sagte doch schon, es sind die Stimmen der Toten aus der Zeitgruft unter uns!« erregte sich die Vigpanderin. »Hört doch endlich genau hin!« »Es ist weg«, stellte Anima fest. »Ja, es ist still geworden«, bekräftigte der Modulmann. Neithadl-Offs Haut brannte unter den Hitzewellen, die über sie hinwegjagten. Sie merkte ebenfalls, daß es totenstill geworden war. Sogar die spiralförmige Nebeldecke über der Transferkapsel und ihrer Umgebung schien plötzlich stillzustehen. Im nächsten Moment verflüchtigte sie sich und
machte einem hellblauen, wolkenlosen Himmel Platz, an dem ein weißer, bläulich angehauchter und merkwürdig glattflächiger Mond hing, angestrahlt von einer aus der Entfernung handflächengroß anzusehenden blau-weißen Sonne. In ihrem Licht wirkten die angestrahlten Seiten der Vierkantblöcke goldfarben und gleißend – und die von ihnen geworfenen schwarzen Schatten hatten messerscharfe Konturen. Neithadl-Off bemerkte außerdem, daß der Boden innerhalb der beiden, Steinkreise aus goldfarbenem Sand bestand. Außerdem erweiterte sich ihr Gesichtskreis, und sie erblickte zirka hundert Meter hinter dem äußeren Steinring einen tiefen Graben und an dessen Außenseite einen Ringwall aus aufgeworfenem Erdreich, das durch Flechtwerk aus Zweigen befestigt war. Die ganze Anlage aber schien sich auf einem Hügel zu befinden, denn jenseits des Ringwalls senkte sich der Boden ab – und der gesamte Hügel außer der Fläche innerhalb der Steinkreise war von kurzem, zersausten hellgrünen Gras bewachsen. »Keine intelligenten Lebewesen«, stellte Goman-Largo fest. »Jedenfalls nicht in unmittelbarer Nähe. Auf dieser Welt müssen allerdings welche leben, denn nur sie können die Steinkreise und den Ringwall errichtet haben, die zweifellos eine Kultstätte sind.« »Bevor sich die Nebel vollends lichteten, war mir, als hätte ich eine Gestalt gesehen, die schnell davonlief«, sagte Anima und deutete auf eine Bildfläche, auf der der Sektor der Steinkreise zu sehen war, der sich nach außen öffnete. Von dort führte ein schmaler und so gerader Sandweg, daß er tatsächlich wie mit einer Schnur gezogen aussah, bis über den Graben und den Ringwall hinaus. »In diese Richtung«, ergänzte die Hominidin. »Jetzt ist von ihr jedenfalls nichts mehr zu sehen«, meinte Neithadl-Off. »Wie sah sie denn aus?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Anima. »Damals war alles noch so undeutlich. Aber ich hatte den vagen Eindruck von Schmalheit und wehendem hellgrauen Haar.« »Hellgrau?« fragte Goman-Largo. »Nicht silbergrau?« »Nicht silbergrau«, bestätigte Anima. »Wie kamst du auf silbergrau?« »Es hätte ja sein können, daß wir auf der Welt gelandet sind, auf der Atlans Volk lebt«, meinte der Modulmann. »Nein«, erklärte Anima entschieden. »Atlans Heimatwelt, der Planet Arkon, ist totalkultiviert. So berichtete er mir. Dort gibt es keine ursprünglichen Naturlandschaften mehr.« »Jedenfalls sind wir in weitem Umkreis allein«, stellte Neithadl-Off fest. »Ich schlage vor, wir verlassen die Kapsel und sehen uns draußen um, bevor vielleicht Eingeborene kommen.« »Es könnte nicht schaden, wenn wir uns etwas die Füße vertreten würden«, pflichtete der Modulmann ihr bei. Neithadl-Off trippelte zum Schott und berührte es mit den versteiften Tastfäden ihres linken Vordergliedes. Danach wartete sie ungeduldig, daß es sich öffnete. Aber es blieb geschlossen. »Das begreife ich nicht«, pfiff die Vigpanderin. »Zweimal habe ich dieses Schott schon so geöffnet.« »Ich brauche es gar nicht erst zu versuchen«, warf Anima ein. »Bei mir hat es sich nicht gerührt.« Der Modulmann trat lächelnd zum Schott und legte eine Hand darauf. Als es sich nicht rührte, konzentrierte er sich auf seine Module, um das herauszufinden, mit dessen Hilfe er – vielleicht – das Schott zu öffnen vermochte. Sein Lächeln verschwand wie weggewischt von seinem schmalen Gesicht. »Was ist los?« fragte Neithadl-Off. »Ein fünfdimensionales Feld«, antwortete Goman-Largo ratlos. »Es versperrt mir jede
Einflußnahme. Ich frage mich nur, wie du das Schott früher öffnen konntest, wenn es da auch schon vorhanden war, Prinzessin.« »Da war es vielleicht noch nicht vorhanden«, meinte Anima und klopfte mit einem Fingerknöchel gegen das Schott. »Ich fürchte, da hilft nur Gewaltan…« Sie unterbrach sich und starrte fassungslos auf den Spalt, der sich in der Mitte des Schotts gebildet hatte und sich zusehends verbreiterte, bis das Schott vollständig geöffnet war. »Mir scheint, ihr habt eure Rollen vertauscht«, kommentierte Goman-Largo und trat durch die Öffnung und auf eine große Plattform aus goldgelbem Sandstein, die im genauen Zentrum der Steinkreise stand und auf der die Zeit-Transfer-Kapsel gelandet war. Neithadl-Off trippelte an ihm vorbei, über die Plattform und sprang an ihrem Rand den dreiviertel Meter hinab, den der Sandboden des Planeten entfernt war. Im nächsten Augenblick verfärbten sich ihre ohnehin roten Sensorstäbchen zu noch tieferer Röte. »Biomasse!« pfiff sie verblüfft und musterte die Schalen, Körbe und Krüge, die rings um die Plattform auf dem Sandboden standen und mit Früchten, Körnern, Knollen und kleinen gebratenen Tieren gefüllt waren. Mit einem Sprung stand der Modulmann neben ihr. »Opfergaben«, stellte er nach einem Rundblick fest. »Anima hatte recht. Das hier ist eine Kultstätte primitiver Eingeborener.« Er hob unbehaglich die Schultern. »Es paßt mir gar nicht, daß wir genau hier gelandet sind. Wenn wir nicht schnell wieder verschwinden und von Eingeborenen entdeckt werden, stiften wir unnötige Verwirrung und werfen womöglich ihre bisherige Entwicklung aus dem Gleichgewicht.« Er sprang wieder auf die Plattform und streckte die Hände der Vigpanderin entgegen. »Komm, Prinzessin!« bat er. »Wir sehen zu, daß wir weiterkommen!« »Nicht sofort, Modulmann«, widersprach Neithadl-Off. »Ich möchte erst einmal die Nahrungsmittel versuchen – und vielleicht sollten wir sie und die mit Flüssigkeit gefüllten Krüge mitnehmen, damit wir auf der nächsten Nullzeit-Spur nicht verschmachten.« »Nehmt euch Zeit«, sagte Anima. »Es ist sowieso zu spät, um sang- und klanglos zu verschwinden. Ich sehe mindestens dreihundert Eingeborene, die schnell näher kommen und sie haben uns zweifellos auch schon entdeckt.« * Neithadl-Off wirbelte herum. Auf dem schnurgeraden Sandweg, der von außen in den Ring der Steinkreise führte, stob eine Schar anscheinend hominider Lebewesen auf den Rücken unbekannter Reittiere heran – und hinter der Staubwolke, die die Hufe der Tiere aufwirbelten, waren weitere Hominide zu sehen, die den Reitern zu Fuß folgten. »Wie geben sich Götter?« fragte die Viganderin, an Goman-Largo gewandt. Der Modulmann sprang erneut von der Plattform. »Jovial, denke ich«, antwortete er. »Als Parazeit-Historikerin solltest du so etwas aber wissen.« »Wieso?« wollte Neithadl-Off wissen. »Vor allem dürfen wir niemals überheblich sein«, erklärte Anima und stellte sich neben die Gefährten. »Das hat mir Atlan eingeschärft. Auch wenn Intelligenzen, die weniger technisch
orientiert sind als wir, uns als Götter ansehen, dürfen wir niemals behaupten, Götter zu sein. Wir sollen ihnen helfen, ohne sie zu gängeln – und wir sollen uns nicht zu gut dünken, um Hilfe von ihnen abzuschlagen.« »Dein Atlan hat einen edlen Charakter«, stellte Goman-Largo fest. »Ich hoffe, daß diese Eingeborenen uns erlauben, ebenfalls so edel zu sein. Jedenfalls möchte ich ihnen nicht dadurch helfen, daß ich ihren Speisezettel bereichere.« »Oh!« entfuhr es Neithadl-Off, als sie sich erschrocken einer Tatsche bewußt wurde, die unter Umständen einen schweren Nachteil bedeutete. »Wir besitzen keine einzige Waffe mehr.« Goman-Largo blickte über die Schulter zur Kapsel und atmete auf, als er sah, daß das Schott immer noch geöffnet war. »Wenigstens steht uns ein Fluchtweg offen«, meinte er. »Aber ich hoffe nicht, daß wir ihn benutzen müssen.« Die Spitze der Reiterschar hatte inzwischen den äußeren Steinkreis erreicht. Die Reiter zügelten ihre Tiere, und die drei sahen, daß es sich um vierbeinige Huftiere mit silbergrauen Fellen, weißen Mähnen und Schwänzen handelte und daß sie auf den Stirnen ihrer langgestreckten Schädel ein elfenbeinfarbenes, unterarmlanges Horn hatten. Die Reiter saßen nicht auf Sätteln, sondern auf bunten Decken, die mit Bauchgurten befestigt waren – und sie schienen die Einhörner mit Hilfe von vier Lederriemen zu dirigieren, von denen je zwei auf einer Seite der roten »Gesichtsmaske« befestigt waren, die jedes Tier trug. In einer Staubwolke kam die Reiterschar zum Stehen. Die Hominiden saßen ab, legten ihren Tieren die Riemen über die Hälse und verließen sich danach anscheinend darauf, daß sie brav stehen blieben. Jedenfalls kümmerten sie sich nicht weiter um sie, sondern kamen gemessenen Schrittes auf die drei zu. Wenige Schritte vor den Fremden blieben sie stehen, dann sanken sie langsam vornüber, bis sie platt auf den Bäuchen lagen. Zum erstenmal hatte die Vigpanderin Muße, die Eingeborenen genau zu mustern. Vorher war sie zu aufgeregt dafür gewesen. Sie sah, daß es sich um echte Hominiden handelte, denn ungefähr die Hälfte von ihnen bestand aus Frauen – und die Brüste unter der blusenartigen bunten Oberbekleidung verrieten die Säugetierabstammung. Die durchschnittliche Größe mochte 1,80 Meter betragen, die Haut war bei Frauen und Männern dunkelgrau, die Behaarung, die aus einem hochstehenden Schopf auf dem Schädel und einer durch einen Kleidungsschlitz auf dem Rücken ins Freie ragenden kurzen Mähne bestand, war hellgrau. Außer den mehr oder weniger weiten Blusen trugen sowohl Frauen als auch Männer gelbe Pluderhosen und weiche rote Stiefel – und überall dort, wo die Haut unbedeckt war, glitzerten und funkelten wasserhelle Kristalle, die offenkundig in die Haut hineingetrieben worden waren. »Steht auf!« sagte Anima, als die Eingeborenen etwa eine Minute lang im Sand gelegen hatten. Neithadl-Off zwitscherte belustigt, denn sie konnte sich denken, daß die Eingeborenen kein Wort der Sprache verstanden, auf die die drei sich geeinigt hatten und die Interkosmo hieß, wie Anima ausgesagt hatte. Es war die von ihrem zweiten Ritter meistgebrauchte Sprache. Die Eingeborenen schienen allerdings aus dem Klang herauszuhören, was von ihnen verlangt wurde, denn sie erhoben sich zögernd und richteten ihre roten Augen auf Anima. In vorausschauende Weise zupfte Neithadl-Off ihr Kombinationsgerät (das ein Terraner auf den ersten Blick für eine Mundharmonika gehalten hätte) aus dem Futteral und drehte es so, daß die Aufnahmezellen von ihrer Mundleiste weg wiesen, anstatt zu ihr hin. In dieser Stellung funktionierte das Gerät als Universal-Translator, das jede fremde Sprache im Nu zu analysieren
sowie »hin und zurück« zu übersetzen vermochte, was die Vigpanderin stets damit begründete, daß es von Wesen konstruiert und gebaut wurde, die sich erst in ferner Zukunft entwickeln würden. Den Einwand der Modulmanns, daß niemand in seine Realzukunft zu gehen vermochte, hatte sie mit der verblüffenden Behauptung pariert, das Gerät wäre nicht geholt, sondern gebracht worden. »Was soll ich ihnen sagen?« fragte Anima gequält. »Mir fällt nichts weiter ein. Wenn Atlan hier wäre…« »Brauchtest du mich nicht zu fragen«, schnitt die Vigpanderin ihr das Wort ab. »Am besten wäre es, du könntest die Eingeborenen zum Singen veranlassen, Anima«, meinte Goman-Largo. »Dadurch bekäme das Kombinationsgerät unserer Prinzessin am schnellsten genug Sprachelemente zum Verarbeiten.« »Singt!« rief Anima den Eingeborenen zu. »Das haben sie nicht verstanden«, erklärte Neithadl-Off, als die Eingeborenen nicht reagierten. »Du mußt ihnen etwas vorsingen!« »Das kann ich nicht«, erwiderte Anima verschämt. »Atlan würde es zumindest versuchen«, stichelte die Vigpanderin. Das verfehlte seine Wirkung nicht. Anima holte tief Luft, dann stimmte sie ein Lied an. Es klang nicht einmal schlecht, auch wenn sie es in einer Sprache sang, die weder Neithadl-Off noch GomanLargo verstanden. Und die Eingeborenen reagierten! Es dauerte keine Minute, dann sangen sie alle voller Inbrunst – und etwa eine weitere Minute später fing Neithadl-Offs Kombinationsgerät zu übersetzen an. »Das genügt!« rief die Parazeit-Historikerin und trippelte aufgeregt vor und zurück. Da ihr Gerät sofort übersetzte, hörten die Eingeborenen zu singen auf. Einer von ihnen, es war eine Frau, trat vor, dann sank sie vor Goman-Largo auf die Knie. »Willkommen, ihr Götter!« übersetzte das Kombinationsgerät. »Wir danken euch, daß ihr unsere Bitten erhört habt und zu uns herabgestiegen seid. Bitte, erweist uns die Ehre und nehmt Speise und Trank von uns an! Nicht das alte Zeug, das hier herumsteht, sondern das, was die Unmündigen euch bringen werden.« Sie wartete keine Erwiderung ab, sondern erhob sich wieder, drehte sich um und klatschte in die Hände – die nur drei Finger und einen Daumen hatten, wie Neithadl-Off erst jetzt bemerkte. Ihre Begleiterinnen und Begleiter bildeten eine Gasse – und durch sie eilten muskulöse Frauen und Männer, die bis auf Lendenschurze völlig nackt waren und Körbe, Schüsseln und Krüge trugen. Bis auf die Kleidung unterschieden sie sich nicht von den Eingeborenen, die auf ihren Reittieren gekommen waren. Aber sie schienen einer niedrigeren Kaste anzugehören oder Sklaven zu sein. Die Unmündigen stellten die Gefäße vor und neben den »Göttern« ab, dann zogen sie sich wieder zurück. »Frisches Obst, frisches Fleisch und frisches Gemüse«, stellte Neithadl-Off fest. »Wir sollten es uns schmecken lassen, nachdem wir so lange hungerten.« »Vorsicht!« warnte der Modulmann. »Fremde Nahrungsmittel…« »Können Gift für uns sein«, fiel Neithadl-Off ihm ins Wort. »Was denkst du von mir, Modulmann! Als Parazeit-Historikerin bin ich bestimmt mehr als du herumgekommen und kenne alle Probleme, die sich auf fremden Welten ergeben. Aber meine Körperoberfläche nimmt grundsätzlich nur solche Substanzen auf, die ich auch vertrage.« »Und mein Organismus scheidet alle giftigen Stoffe unverdaut wieder aus«, erklärte Anima.
Goman-Largo lachte. »Dann sind wir ja unschlagbar. Ich kann mit Hilfe zweier Module rechtzeitig erkennen, was für mich eßbar, ungenießbar und giftig ist. Machen wir uns also ans Werk, damit wir die Eingeborenen nicht enttäuschen!« Mit der Zurückhaltung der Vornehmen sprachen die drei den Speisen und Getränken zu. NeithadlOff bevorzugte das in den Krügen enthaltene alkoholische Getränk. Ihr Nervensystem wurde von Alkohol nicht nur angegriffen, sondern ihr Metabolismus funktionierte auf Dauer nur dann optimal, wenn sie ihm größere Mengen Alkohol zuführte – und dazu hatte sie längere Zeit keine Gelegenheit gehabt. Während des Mahles horchten die drei ganz nebenbei die Eingeborenen aus und eigneten sich so ein Grundwissen über sie, ihre Welt und die darauf herrschenden Verhältnisse an. Der Planet wurde von ihnen Mohenn genannt. Sie selbst nannten alle intelligenten Bewohner und sich selbst Mohennas und sie wußten auch, daß ihr Planet der vierte der blauweißen Sonne war, die sie Anzat nannten. Donora, die Sprecherin der Reitergruppe, die anscheinend ein hohes Amt bekleidete, erzählte auch, aus welchem Grund die Eingeborenen nach den Göttern gerufen hatten. Auf dem Hauptkontinent Dorkh, auf dem man sich befand, lebten zwei Volksstämme der Mohennas, die Signer (die vor den drei standen) und die Xorer. Während die Signer fleißige, friedliebende Ackerbauern, Viehzüchter und Handwerker waren, sollten die Xorer barbarische Nomaden sein, die die umliegenden Völker immer wieder überfielen und ausraubten. Zur Zeit hatten ihre Truppen wieder einmal die Grenzen des Signerreichs überschritten und drangen unaufhaltsam weiter vor, hinter sich verbrannte Dörfer, geplünderte Kornkammern und Viehställe sowie geschändete Frauen und erschlagene Greise zurücklassend. Den Signern war angesichts ihrer Ohnmacht gegenüber den kriegerischen Xorern weiter nichts eingefallen, als ihre Götter um Beistand zu bitten. Aus der Tatsache, daß die »Götter« ihren Speisen und Getränken so heißhungrig zusprachen, schlossen sie verständlicherweise, daß ihnen dieser Beistand sicher war. »Morgen müssen wir uns etwas einfallen lassen«, kommentierte Goman-Largo die Lage, nachdem er sich den Bauch prallvoll geschlagen hatte. Er rülpste und fügte hinzu: »Ich möchte mich jedenfalls nicht blamieren.« »Natürlich nicht!« pfiff Neithadl-Off giftig und beobachtete, wie Donora auf »Tuchfühlung« zum Modulmann ging. Seltsamerweise machte sie das beinahe rasend, obwohl Goman-Largo die Avancen der Eingeborenen in keiner Weise erwiderte.
7. Goman-Largo hatte, als die Nacht hereinbrach und die Eingeborenen außerhalb der Kultstätte Zelte aufschlugen, darauf bestanden, daß er mit Neithadl-Off und Anima in einem Zelt übernachtete. Seine Motivation war dabei absolut sauber gewesen, denn ihm war noch nie der Gedanke gekommen, sich seinen Gefährtinnen zu nähern. Es wäre ihm absurd erschienen, wenn er daran gedacht hätte. Aber, wie gesagt, darauf kam er gar nicht. Der Grund, warum er ein Zelt mit ihnen teilen wollte, war der, daß ihm die Annäherungsversuche Donoras nicht entgangen waren – und er wollte Zeugen haben, daß er darauf nicht einging, denn ganz abgesehen davon, daß er ein strikter Gegner von Paarungen zwischen Arten war, die untereinander wegen ihrer Fremdartigkeit unfruchtbar waren, haßte er Komplikationen durch Eifersucht. Er bereute seinen Entschluß allerdings schon bald, denn Neithadl-Off veranstaltete im Schlaf ein derartiges Pfeifkonzert, daß er kein Auge zubekam. Anima dagegen schlief tief und fest. Nach rund zwei Stunden entschloß sich der Modulmann deshalb dazu, das Risiko einzugehen, Donora in die Hände zu fallen. Aber natürlich forderte er dieses Risiko nicht unnötig heraus, sondern schob sich schlangengleich und nahezu lautlos unter der Zeltwand hindurch. Draußen leuchteten der glattflächige Mond und zahlreiche Sterne vom dunklen Nachthimmel. Die Konstellationen waren dem Modulmann allerdings ausnahmslos unbekannt. Er blickte sich um und lauschte. Von den Eingeborenen war niemand zu sehen, und es ließ sich auch niemand hören. Nur von dort, wo die Einhörner standen, klangen Scharren, Stampfen und andere, unerklärliche, Geräusche herüber. Die Zeit-Transfer-Kapsel ragte als dunkle zylindrische Masse über die Sandsteinplattform hinaus – und als dort etwas knirschte, horchte Goman-Largo alarmiert auf. Ihm fiel ein, daß das Schott immer noch offengestanden hatte, als sie die Kapsel verlassen hatten – und ihn durchlief es siedendheiß, als er daran dachte, daß sich ein Eingeborener an der Inneneinrichtung zu schaffen machen könnte. Er gab sich einen Ruck und hastete geduckt in Richtung Kapsel. Dabei kam er an den Einhörnern vorbei – und plötzlich wurde er angesprochen. »He, hallo!« flüsterte jemand. Goman-Largo zuckte zusammen, blieb stehen und sah sich suchend um. Er vermochte allerdings keinen Eingeborenen zu sehen. »Ich bin es!« flüsterte es, als er sich gerade wieder in Bewegung setzen wollte. »Wer spricht da?« flüsterte er zurück. »Ich, Nussel«, bekam er zur Antwort, ohne daß er einen Eingeborenen sah. »Wie heißt du?« »Bei allen Zeitlöchern!« entfuhr es dem Modulmann. »Wer spricht denn da?« Eines der Einhörner löste sich aus der Herde und trabte zu ihm. Vor ihm blieb es stehen und schnaubte leise. »Ich bin Nussel«, sagte es klar und deutlich – und auf Interkosmo. »Nein!« rief Goman-Largo gedämpft. »Ich habe doch kaum Alkohol getrunken! Wieso bilde ich mir dann ein, ein Einhorn sprechen zu hören, noch dazu auf Interkosmo?« »Du bildest es dir nicht ein«, erklärte das Einhorn. »Aber verrate mir doch, wie du heißt!« »Goman-Largo«, antwortete der Modulmann. »Und du?«
»Nussel«, sagte das Einhorn. »Entschuldige, Goman-Largo, aber ich muß dir sagen, daß jemand sich in eurem Götterfahrzeug zu schaffen macht.« »Was?« entfuhr es dem Modulmann – und er erinnerte sich wieder daran, daß er von der Kapsel her ein Geräusch gehört hatte, was der Grund dafür gewesen war, daß er überhaupt in diese Richtung lief. Er lauschte, aber diesmal vernahm er von der Kapsel her keinen Laut. Dennoch setzte er sich wieder in Bewegung und kam kurz darauf bei dem Gefährt an. Nichts Verdächtiges war zu sehen und zu hören. Dennoch schlich Goman-Largo nur ganz vorsichtig näher und ließ einige seiner Module »spielen«, um herauszufinden, ob an der Zeit-Transfer-Kapsel unbefugte Schaltungen vorgenommen worden waren. Das schien nicht der Fall zu sein. Dennoch war in der Kapsel nicht mehr alles so, wie es während der Fahrt auf der Nullzeit-Spur gewesen war. Etwas schien zu fehlen. Noch vorsichtiger drang Goman-Largo in die Kapsel ein. Er merkte gar nicht, daß das Einhorn namens Nussel ihm folgte. Natürlich aktivierte sich die Innenbeleuchtung, als er die Kapsel betrat. Dennoch dauerte es einige Minuten, bis er herausgefunden hatte, was darin fehlte. Das Steuergerät! Der »gläserne« Kasten befand sich noch offen unterhalb der schwarzen Projektions- oder Kontrollscheibe, aber das doppelfaustgroße Ding, das darin beweglich aufgehängt gewesen war, war verschwunden. Zwischen den Achsen der Aufhängung flackerte ein weißes Licht, als wollte es auf den Diebstahl aufmerksam machen. Denn um einen Diebstahl handelte es sich, da war der Modulmann ganz sicher. Er fragte sich nur, was ein Eingeborener mit einem Steuergerät anfangen wollte, von dessen Funktionen er nicht die geringste Ahnung hatte, und das außerhalb der Zeit-Transferkapsel sowieso nicht funktionierte. Seufzend richtete er sich auf, trat einen Schritt zurück – und stieß mit dem Rücken gegen etwas Spitzes. Er vollführte einen Luftsprung, wirbelte herum und starrte das Einhorn an, während er wieder auf dem Boden landete. »Verzeihung, bitte!« sagte das Tier. In dem Augenblick schloß sich das Schott der Kapsel mit dumpfem Klang. Erschrocken eilte Goman-Largo hin und versuchte alles Mögliche, um es wieder zu öffnen – vergebens. Schließlich gab er es auf, drehte sich nach dem Einhorn um, lehnte sich mit dem Rücken ans Schott und fragte: »Was hat das alles zu bedeuten, Nussel?« »Ich weiß es nicht, Goman-Largo«, erklärte das Einhorn. »Ich weiß es nicht!« echote der Modulmann. »Du kannst doch sprechen. Also mußt du auch intelligent genug sein, um mir zu erklären, was hier gespielt wird.« »Ja, spielen«, sagte Nussel und nickte heftig mit dem Kopf. Da begriff der Modulmann, daß er es tatsächlich nur mit einem Tier zu tun hatte – das infolge einer Laune der Natur zwar sprechen konnte, aber anscheinend doch keine echte Intelligenz im Sinne der Fähigkeit bewußten Denkens, Abstrahierens und so weiter besaß. Er strich ihm über die Nüstern.
»Schon gut, Nussel!« sagte er. »Du kannst nichts dafür. Immerhin hast du mich gewarnt. Leider hat es mir nichts mehr genützt. Wenn sich wenigstens das Schott nicht geschlossen hätte!« »Nicht hinaus?« fragte Nussel. »Ganz recht«, antwortete Goman-Largo. »Wir kommen nicht hinaus.« »Gut so«, erwiderte das Einhorn. »Dann sind wir wenigstens sicher vor Narunn und seinen Horden.« Der Modulmann horchte auf. »Narunn?« So hieß nach Donoras Aussage der Anführer der xorischen Reiterei, die ins Land der Signer eingefallen war. Aber er mußte mit seiner Streitmacht doch mindestens einen Tagesritt entfernt sein. »Wenn wir nicht bald hinauskommen, stecken wir immer noch fest, sobald Narunn mit seinen Horden hierher kommt«, meinte er. »Er ist schon hier«, erklärte das Einhorn. »Und ich kann mich unsichtbar machen!« höhnte Goman-Largo. »Machen!« forderte Nussel ihn auf. Der Modulmann stöhnte – und verstummte, als die Bildflächen in der Kapsel sich erhellten, wenn auch nur schwach. Aber das, was sie zeigten, genügte, um Nussels Behauptung zu bestätigen. Im matten Feuerschein der abgebrannten und in sich zusammengesunkenen Zelte waren Hunderte von Einhorn-Reitern zu sehen, die auf ihren Tieren wild im Kreise ritten und an ihrer ausgesprochen kriegerischen Kleidung als Angehörige der Horden Narunns zu erkennen waren. Goman-Largo begriff, daß die Xorer sich angeschlichen hatten, während er das Fehlen des Steuergeräts festgestellt hatte. Er begriff auch, daß es nicht auf übernatürliche Fähigkeiten zurückzuführen war, daß Nussel den beinahe lautlosen Überfall mitbekommen hatte. Das lag ganz einfach an seinen schärferen tierischen Sinnen. »Bei allen Zeitgrüften!« entfuhr es ihm. »Da sind wir hier drin ja wirklich sicher. Ich frage mich nur, was aus Neithadl-Off und Anima geworden sein mag.« Darauf allerdings vermochte das Einhorn ihm nicht zu antworten. Aber er sah es wenig später, als die Xorer Fackeln anzündeten und in ihrem Lichtschein vorbeizogen und ihre Gefangenen mit sich führten. Unter ihnen erkannte er Donora – und auch seine Gefährtinnen. Vier stämmige Xorer gingen zu Fuß und trugen die Parazeit-Historikerin – und auf Neithadl-Off lag, gefesselt und geknebelt, die schöne Anima. Goman-Largo lachte, denn er wußte, daß niemand Anima mit derart primitiven Mitteln fesseln und knebeln konnte, wenn sie es nicht absichtlich zuließ. Das bedeutete, daß die Xorer mit ihr noch ihr blaues Wunder erleben würden. Und mit Neithadl-Off auch. * Er selbst schickte sich darein, den Ablauf der weiteren Ereignisse vorerst unfreiwillig innerhalb der Zeit-Transfer-Kapsel abzuwarten.
Um so überraschter war er, als das Schott sich plötzlich öffnete, nachdem die xorischen Horden draußen vorbeigezogen waren. – Mißtrauisch wartete er, aber als sich draußen nichts rührte, verließ er die Kapsel unter Beachtung aller Vorsichtsmaßnahmen. Seine Befürchtung, das Einhorn könnte ihn durch Stampfen oder Schnauben verraten, erwies sich glücklicherweise als grundlos. Nussel benahm sich, als wäre es für lautlose Unternehmungen abgerichtet. Es ging mit behutsamen Bewegungen hinter ihm her. Draußen lauschte der Modulmann erst einmal in die Nacht. Es dauerte nicht lange, bis er wußte, was er wissen wollte. Ein Feuerschein in wenigen Kilometern Entfernung verriet schon, daß die Xorer ein Nachtlager aufgeschlagen hatten – und wo die Xorer waren, konnten auch ihre Gefangenen nicht weit sein. Grölen und Kreischen sagten außerdem einiges über die nächtlichen Beschäftigungen der Eroberer aus. Goman-Largo umrundete die Sandsteinplattform, auf der die Kapsel lag, einmal. Danach wollte er sich in Richtung auf das xorische Lager in Bewegung setzen. Er überlegte gerade, ob er sich dazu auf den Rücken des Einhorns schwingen sollte, als es sagte: »Ich könnte dir Tempel zeigen, Goman-Largo. Das wäre besser, als Kampf zu riskieren.« »Tempel?« echote der Modulmann fragend. »Tief unten«, antwortete Nussel. Hätte es dabei nicht mit dem Horn unter den Rand der Plattform gedeutet, Goman-Largo hätte vermutlich lange gerätselt, was das Tier meinte. So begriff er schnell – und als er sich bückte, um in den Zwischenraum zwischen Plattform und Boden zu blicken, der durch kubische Steine unter der Felsplatte zustande kam, entdeckte er den quadratischen Rahmen aus Metallplastik und darin den Anfang eines Treppenschachts mitsamt den obersten Stufen. Er fühlte, wie die Härchen in seinem Nacken sich aufrichteten. Metallplastik! Das paßte ganz und gar nicht zur technologischen Entwicklungsstufe der Mohennas. Die Treppen allerdings bestanden aus Steinquadern. Sie konnten demnach durchaus Erzeugnisse der Eingeborenen sein. Goman-Largo wandte den Kopf und blickte zu Nussel. Dabei bemerkte er zum erstenmal, daß er es mit einem männlichen Einhorn zu tun hatte. Es bewegte den Kopf, als nickte es ihm zu. »Was ist das für ein Tempel dort unten?« wollte der Modulmann wissen. »Geheimnis«, erwiderte Nussel. »Götter haben den Tempel gebaut, aber Mohennas gehen ein und aus. Sie haben auch die Trümmer hinabgebracht, die von Narunn gefunden wurden.« »Narunn?« echote Goman-Largo verständnislos. »Aber so heißt doch der Anführer der xorischen Horden!« »War lang her Priesterschüler am Tempel«, erklärte Nussel. »Sah Götter kommen, als es dunkel war, und gab Alarm. Aber andere Mohennas fanden keine Götter, als sie nachsahen. Nur Trümmer lagen oben. Narunn wurde geschlagen und verbannt. Jetzt ist er zurückgekommen, um sich zu rächen.« »Das ist verständlich«, meinte der Modulmann nachdenklich. »Aber die Trümmer, von denen du sprachst…« Er schaltete durch Gedankenbefehl über einen seiner Module die im Brustteil seiner Kombination installierte, superflache Lampe ein und bückte sich, um zum Treppenschacht zu gehen, denn der Zwischenraum zwischen Sandsteinplatte und Boden betrug höchstens achtzig Zentimeter. In seinem Kopf jagten sich die Gedanken, als er die ersten Stufen hinabstieg, denn er sah, daß die
Treppe nachträglich in einen ehemals senkrecht hinabführenden, zylindrischen Schacht gebaut worden war, dessen Wandung mit Mauerwerk aus Steinen verblendet worden war. Diese Steine waren teilweise abgefallen. Dadurch ließ sich die ehemals zylindrische Konstruktion erkennen. Etwa zwanzig Meter tiefer erreichte Goman-Largo den Boden des Treppenschachts und damit gleichzeitig den Boden eines ehedem großen, jetzt aber teilweise verschütteten Raumes, von dem immer noch zu erkennen war, daß er ursprünglich einen kreisrunden Grundriß gehabt hatte. Es war kühl und feucht, aber nicht muffig. Die Luft roch im Gegenteil so klar und sauber wie auf der Höhe eines Schneegebirges. Goman-Largo löste die Lampe von seiner Kombination und leuchtete umher. Als erstes fielen ihm die säuberlich zu einem Kreis aufgestellten Trümmer auf, die ebensowenig zur technologischen Entwicklungsstufe der Mohennas paßten wie der Metallplastikrahmen des Treppenschachts. Denn sie bestanden ebenfalls aus Metall. Was aber noch verblüffender war: Der Modulmann brauchte sie nur wenige Minuten anzusehen – und schon formte sich in seinem Bewußtsein das Gebilde, zu dem die Trümmer ursprünglich gehört hatten. Und es ähnelte verblüffend der Zeit-Transfer-Kapsel des Hepathers! Goman-Largos Knie waren plötzlich so weich, daß er sich setzen mußte – und er setzte sich zufällig auf einen quaderförmigen Kasten. Es wurde ihm erst bewußt, als er saß. Im nächsten Moment fuhr er wieder hoch und starrte auf den Kasten, dann kratzte er etwas von der dunklen Schicht weg, die sich auf seiner Oberfläche angesetzt hatte. Darunter kam das gleiche glasartige Material zum Vorschein, aus dem in der Kapsel des Hepathers der Behälter für das Steuergerät bestand. Er holte tief Luft, dann drehte er den Behälter um, denn er lag mit der Unterseite nach oben vor ihm. Seine wasserhellen Augen funkelten, als er die leere Aufhängevorrichtung innerhalb des Kastens erblickte. Er ging davor in die Hocke und dachte nach. Für ihn gab es keinen Zweifel daran, daß der Priesterschüler Narunn seinerzeit keiner Halluzination zum Opfer gefallen war, sondern tatsächlich die Ankunft der Götter – beziehungsweise einer ZeitTransfer-Kapsel – beobachtet hatte. Nur war die Kapsel entweder unbemannt gewesen – oder ihr Passagier hatte bei der Ankunft oder schon unterwegs den Tod gefunden. Goman-Largo runzelte die Stirn. Nein, falls er hier den Tod gefunden hätte, wäre sein Leichnam von den Mohennas gefunden worden, und sie hätten vermutlich nicht an den Worten des Priesterschülers gezweifelt. Wahrscheinlich war er unterwegs, bei einem Zwischenstopp, ums Leben gekommen. Nach der Verbannung Narunns mußten dann einige Signer die Trümmer genauer untersucht haben und zu dem Schluß gekommen sein, daß sie sich auf jeden Fall innerhalb des Tempels besser ausnahmen als auf irgendeinem Müllhaufen. Sie hatten sie hierher transportiert und fein säuberlich zu einem Kreis ausgerichtet, damit sie größeren Eindruck auf die Göttergläubigen machten. »He, hallo!« rief jemand und ließ den Modulmann aus seinen Gedanken aufschrecken. Er mußte erst überlegen, bevor er wußte, wer da gerufen hatte. Es kam ihm noch immer absonderlich vor, daß ein Einhorn, also ein Tier, sich der Sprache intelligenter Wesen bediente. »Was gibt es, Nussel?« rief er nach oben. »Große Aufregung im Lager der Xorer«, berichtete das Einhorn. »Viel Geschrei und Geheule.«
Um Goman-Largos Lippen zuckte es. Er hatte so eine Ahnung, wer diese Aufregung bei den Xorern verursacht hatte. »Ich komme hoch!« rief er zurück. Er befand sich bereits auf der untersten Treppenstufe, als ihm noch etwas einfiel. Unwillkürlich schnappte er nach Luft, denn seine Erkenntnis war so ungeheuerlich, daß es ihm schwerfiel, sich einzugestehen, was sich logisch daraus ergab. Sowohl die Zeit-Transfer-Kapsel, deren Trümmer im Tempel lagen, als auch die eigene ZeitTransfer-Kapsel waren auf der Sandsteinplattform über dem Tempel erschienen – aus der NullzeitSpur heraus materialisiert wahrscheinlich. Das konnte jedoch kein Zufall sein. Folglich hatte der Tempel, der ja auch Konstruktionselemente einer hochentwickelten Technologie enthielt, früher einem ganz anderen Zweck gedient. Dem Zweck, Ziel- und Startpunkt von Zeit-Transfer-Kapseln zu sein. Er war eine Zeitgruft gewesen! Und das bedeutete unter anderem, daß die Geschichte, die Neithadl-Off über die Zeitkapseln, den Orden der Zeitchirurgen und über die Zeitgrüfte als Ziele und Startpunkte der Zeit-Transfer-Kapseln erzählt hatte und die er, Goman-Largo, insgeheim als kunstvolles Lügengebilde belächelte, einen echten Wahrheitsgehalt besaß. »Das ist hypertemporal und ultramonotisch zugleich!« stieß der Modulmann hervor.
8. Von einem Hügel, der dicht mit fruchtbehangenen Bäumen bewachsen war, hatte Goman-Largo einen guten Ausblick auf das Lager der Xorer. Es befand sich auf einer Wiese am Ufer eines Baches. Seine Zelte standen dichtgedrängt beieinander - aus gutem Grund, denn rings um die Wiese erstreckten sich bewässerte Felder der Signer. Dort war der Boden zu naß für die Aufstellung von Zelten. Aber diese Überlegungen beschäftigten den Modulmann nicht lange. Das, was sich zwischen den Zelten abspielte, fesselte seine Aufmerksamkeit. Die xorischen Krieger, martialisch mit Lederharnischen, Lederröcken und Lederstiefeln sowie ledernen Helmen ausgestattet, hatten ihre Waffen zu unordentlichen Haufen zusammengetragen und sich zu einer Reihe formiert, wobei die Hintermänner ihre Hände auf die Schultern der Vordermänner legten. Das war aber noch nicht alles. Die ganze Reihe stampfte und tanzte ausgelassen zu einer rhythmischen Melodie, deren Herkunft dem Modulmann rätselhaft war, bis er im Mittelpunkt der Reihe, die sich um das ganze Lager herumschlängelte, Neithadl-Off stehen und auf ihrem Kombinationsgerät blasen sah. Goman-Largo mußte lachen – bis er Anima entdeckte. Die geheimnisvolle Hominidin befand sich auf der Flucht vor einem einzelnen Xorer, der einen besonders prächtigen Brustharnisch sowie im Unterschied zu den anderem Kriegern einen goldenen Helm trug. Der Anführer! Narunn! Goman-Largo zweifelte keinen Moment daran, daß es sich bei dem einzelnen Xorer um Narunn handelte. Nur er konnte über die Disziplinlosigkeit seiner tapferen Krieger so außer sich geraten, daß er die vermeintliche – und vielleicht auch tatsächliche – Verursacherin mit solcher Erbitterung verfolgte und zu töten versuchte. Der Modulmann vermutete, daß Anima mit ihrer besonderen Fähigkeit die Nahrung oder die Getränke der Xorer so manipuliert hatte, daß ihr Genuß zu Halluzinationen und besonderer Sensibilität gegenüber Hypnose und Suggestion führte. Den Rest hatte dann Neithadl-Offs Musik vollbracht. Goman-Largo hielt den Atem an, als ein Speer, den Narunn von einem Haufen Waffen genommen und geschleudert hatte, Anima nur knapp verfehlte. Der Xorer meinte es ernst. Anima schrie auf, als sie in ein Erdloch trat, dann hinkte sie schnell zwischen die gefangenen Signer, die Rücken an Rücken gefesselt waren. Narunn folgte ihr und schwang sein Schwert. »Er wird sie töten«, sagte jemand hinter Goman-Largo. Der Modulmann fuhr heftig zusammen, dann erinnerte er sich an das sprechende Einhorn und drehte sich langsam um. Tatsächlich stand Nussel hinter ihm. »Er will sie töten«, erwiderte er. »Aber er wird es nicht schaffen.« »Narunn ist großer Krieger«, sagte das Einhorn. »Er kann jeden töten, wenn er die richtige Waffe benutzt.« »Ja, wahrscheinlich«, gab Goman-Largo widerwillig zu. »Wenn Anima tödlich getroffen wird, kann
sie sich unter Umständen nicht mehr selbst heilen.« Er mußte lachen, als Narunn lang hinschlug. Anscheinend hatte ihm ein Gefangener ein Bein gestellt. Anima nutzte die Gelegenheit und rannte in weiten Sprüngen aus dem Lager, genau auf den Hügel zu, auf dem der Modulmann stand. Als Narunn sich wieder aufgerappelt hatte, sah er sich vergeblich nach ihr um. »Sie ist ihm entkommen«, wandte er eich wieder an das Einhorn. »Aber wieso kannst du eigentlich sprechen – und weshalb Interkosmo?« »Wir sind alle sehr sprachbegabt«, antwortete Nussel. »Früher waren wir die Herren Mohenns. Durch eine Mutation veränderten sich unsere Gehirne. Wir verloren die Fähigkeit zu planvollem Handeln. Die Mohennas errangen die Herrschaft und machten uns zu ihren Dienern. Und die Sprache, die du ›Interkosmo‹ nennst, habe ich Anima abgelauscht. Manchmal spricht sie aber auch eine andere Sprache. Can you speak English?« Goman-Largo schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht verstanden. Anima hat noch nie so zu mir gesprochen. Bestimmt hat sie auch diese Sprache von ihrem Ritter Atlan. Ich bin gespannt, ob wir ihn jemals kennenlernen.« »Nicht, wenn Anima hier stirbt«, erklärte Nussel. »Narunn legt Pfeil auf sie an.« »Was?« rief Goman-Largo erschrocken. Er suchte Anima mit den Augen und entdeckte sie auf der freien Grasfläche zwischen Lager und Hügel. Das Gras dort war trocken und brannte. Jemand mußte Brandpfeile abgeschossen haben. Im Licht der züngelnden Flammen war die Hominidin natürlich gut zu sehen - und zwischen den beiden äußersten Zelten des Lagers stand Narunn, hatte einen Bogen gespannt und einen Pfeil aufgelegt, mit dem er auf Animas Rücken zielte. Wenn er sich durch ihr Herz bohrte, war und blieb sie tot! Die Angst um die Schicksalsgefährtin ließ den Modulmann vergessen, daß er noch nie auf einem Reittier gesessen hatte. Er schwang sich auf das Einhorn, packte die vier an der »Gesichtsmaske« befestigten Lederriemen, hielt sie an den Holzknebeln an ihren Enden und versuchte, das Tier anzutreiben. Wahrscheinlich machte er alles falsch. Aber Nussel begriff sofort, was sein ungeschickter Reiter wollte. Er galoppierte an und stürmte auf Narunn los. Goman-Largo stieß einen spitzen Schrei aus, ließ die »Zügel« fahren und flog mit hilflos hochgereckten Armen und Beinen über das Hinterteil des Einhorns. Er landete mitten in einem stacheligen Gestrüpp. Der Schock paralysierte ihn für ein paar Sekunden – und als er abklang, hörte er Geschrei, Getrappel, Schnauben und Ächzen. Dann war es still. Goman-Largo wartete noch ein paar Sekunden. Als sich dann immer noch nichts rührte, rappelte er sich auf, zerstach und zerkratzte sich Hände und Gesicht und arbeitete sich aus dem Gestrüpp heraus. Als er blutend ins Freie taumelte, sah er ungefähr zehn Meter weiter das Einhorn stehen und daneben Anima, die sich an die Kruppe des Tieres lehnte. Das Gras schwelte nur noch, und von Narunn war nichts zu entdecken. »Anima!«rief der Modulmann und stolperte auf die Hominidin und das Einhorn zu. Vom Sturz taten ihm alle Knochen im Leibe weh, und über Gesicht und Hände rannen Blutfäden. Anima wandte sich um; ihre Augen weiteten sich. »Wie siehst du denn aus?« rief sie erschrocken.
Goman-Largo winkte ab. »Das ist alles nicht schlimm«, erwiderte er. »Aber wohin ist Narunn verschwunden?« Anima wandte sich ab und blickte aufs verkohlte Gras zwischen Hügel und Lager, ohne zu antworten. Goman-Largo verzog unwillig das Gesicht. Da sah er, daß Nussels Horn nicht mehr elfenbeinfarben, sondern rot war – und plötzlich wußte er, was aus Narunn geworden war. Er eilte an Animas Seite und sah dorthin, wohin sie blickte. Der ehemalige Priesterschüler lag langausgestreckt im verkohlten Gras. In seinem ledernen Brustharnisch klaffte ein Loch, und ringsherum hatte sich der Harnisch rotverfärbt. Neben der rechten Hand des Xorers lag ein Dolch. »Es war keine Absicht«, sagte Nussel. »Narunn ließ den Bogen fallen, als er mich sah und lief mir mit gezücktem Dolch entgegen. Ich konnte nicht schnell genug anhalten.« »Der Xorer war völlig außer sich«, bestätigte Anima. »Der Anblick des Einhorns muß ihn in Raserei versetzt haben. Er stürzte sich mit dem Dolch auf ihn und rannte dabei in das Horn hinein. Nussel kann wirklich nichts dafür.« »Ich glaube es euch«, sagte Goman-Largo, kniete neben dem Heerführer nieder und beugte sich über ihn. »Ist er tot?« Als ihm weder Anima noch Nussel darauf antworteten, legte er ein Ohr an den Hals Narunns und tastete mit einer Hand nach dem Puls am rechten Handgelenk des Xorers. Er vermochte keinen Pulsschlag zu spüren, aber als er sich wieder aufrichtete, sah er, daß das linke Auge Narunns zuckte. »Anima!« sagte er vorwurfsvoll. Die Hominidin sagte auch darauf nichts. Goman-Largo blickte zu ihr hoch und sah, daß ihr Gesicht sich verschlossen hatte. »Was ist los?« fragte er. »Er hat noch Leben in sich. Warum hilfst du ihm nicht?« »Er ist mir unheimlich«, erklärte Anima mit flacher Stimme. »Weil er dich töten wollte?« gab der Modulmann zurück. »Das ist doch verständlich – jedenfalls, wenn man sich in die Mentalität eines Kriegers und Heerführers versetzt. Du hattest seine Krieger durcheinandergebracht – und das versetzte ihn in blinde Wut.« »Das ist es nicht«, widersprach Anima stockend. »Aber was ist es dann?« regte Goman-Largo sich auf. »Narunn lebt nicht«, sagte Nussel. »Lebt nicht?« echote Goman-Largo verblüfft und unwillig, denn er sah, daß das linke Auge Narunns abermals zuckte. »Und was ist das?« fragte er und deutete darauf. »Eben das kommt mir unheimlich vor«, erklärte Anima. »Etwas von diesem Körper oder in diesem Körper lebt noch. Aber es ist kein Xorer.« »Narunn liegt im Sterben«, entgegnete Goman-Largo. »Das verändert die Psyche. Bitte, versuche wenigstens, ihm zu helfen! Er war nicht immer so kriegerisch – und er ist ein intelligentes Wesen.« »Du hast noch einen anderen Grund, nicht wahr?« erkundigte sich Anima. Goman-Largo seufzte. »Du hast mich durchschaut«, gab er zu. »Ja, ich habe noch einen anderen Grund. Jemand hat das Steuergerät unserer Zeit-Transfer-Kapsel gestohlen. Ich nehme an, daß es Narunn war. Er hat nämlich früher schon ›Götter‹ ankommen sehen – beziehungsweise ihre Zeit-Transfer-Kapsel. In
dem Tempel unter der Steinplatte liegen ihre Trümmer – und der Behälter für das Steuergerät ist leer. Vielleicht hatte Narunn vor, unser Steuergerät dort einzusetzen.« Er runzelte die Stirn. »Obwohl das wenig sinnvoll wäre, denn diese Trümmer lassen sich bestimmt nie mehr im ursprünglichen Sinn verwenden. Aber, egal! Irgendwo hat Narunn unser Steuergerät versteckt – und wenn du Atlan wiedersehen willst, mußt du ihn retten, damit er uns das Versteck verraten kann. Sonst kommen wir nämlich nie mehr von dieser Welt weg.« »Oh!« rief Anima. »Wenn das so ist, werde ich alle Kraft einsetzen, um dieses Wesen zu retten. Dennoch ist und bleibt es mir unheimlich. Bitte, verhaltet euch still!« * Goman-Largo hob warnend die Hand, als er aus den Augenwinkeln sah, daß Neithadl-Off sich mit Hilfe ihres Flugaggregats schwebend näherte. Die Parazeit-Historikerin verlangsamte ihren Flug und landete etwa fünf Meter von Narunn entfernt, der noch immer langausgestreckt im Gras lag und sich nicht rührte, von einem gelegentlichen Zucken seines linken Auges abgesehen. Goman-Largo blickte an Neithadl-Off vorbei und sah, daß die meisten xorischen Krieger sich in ihre Zelte zurückzogen. Nur einige wenige Bewaffnete standen noch im Lager herum. Aber sehr brauchbar waren sie als Wachtposten nicht. Sie schienen im Stehen zu schlafen. Der Modulmann konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf Narunn. Und schluckte trocken. Denn der Körper des Xorers verfiel zusehends – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Die Haut wurde trocken und überzog sich mit zahllosen Rissen, das hellgraue Haar wurde farblos und löste sich unter den schwachen Böen des Nachtwinds, wirbelte davon oder rieselte zu Boden. Der gesamte Körper schien zu schrumpfen. Der Helm rollte zur Seite. Der Harnisch war viel zu groß geworden. Das rechte Auge verschwand plötzlich. Nur das linke Auge blieb – und es Zuckte noch heftiger als zuvor. Nussel schnaubte erregt, tänzelte zurück und bewegte den Schädel heftig auf und nieder. Das Einhorn schien sich vor Narunn zu fürchten. Aber ist das überhaupt noch Narunn? überlegte der Modulmann. Was hatte Anima gesagt? Narunn lebt nicht. Das, was in diesem Körper noch lebt, ist kein Xorer. »Was ist es dann?« dachte Goman-Largo laut. Das, was vom Körper Narunns noch übrig war, zerfiel endgültig zu Staub. Darunter kam etwas zum Vorschein, das mit einem Xorer nichts mehr gemein hatte. Nicht einmal mit einem x-beliebigen Hominiden. Goman-Largo Sah einen teils schlangen-, teils amphibienartigen Leib und dennoch kein Zwischending zwischen Schlange und Amphibium, sondern etwas völlig anderes, ein anscheinend aus Tausenden von silbrig schimmernden und glitzernden daumennagelgroßen Plättchen zusammengesetztes Lebewesen, dessen schlanker Leib oben und unten mit je einem Paar handflächengroßer Flossen besetzt war. Das Fremdartigste daran war der Kopf, sofern es sich überhaupt um einen Kopf handelte. Er war langoval, von der Masse zweier Männerfäuste, mit einem kreisrunden kleinen Mund, aus dem zwei schnurähnliche Greifzungen hingen.
Den meisten Platz aber nahm das Auge ein. Es befand sich ungefähr da, wo Narunns linkes Auge gewesen war, aber es sah völlig anders aus. Seine Masse betrug etwa die Hälfte des gesamten Kopfes, und es saß schwarz und eiförmig in einer an den beiden Schmalseiten des Schädels offenen Höhlung: eine Art Trivideo-Ovulum. Das jedenfalls fuhr Goman-Largo durch den Kopf, als er sah, daß sich in dem faustgroßen eiförmigen Organ nicht die Umgebung widerspiegelte, sondern eine Landschaft aus sandigem Steppenboden und schattigen Baumgruppen. Nussel wieherte panikerfüllt, ging vorne hoch und raste dann blindlings davon. »Was ist das?« pfiff Neithadl-Off. »Jedenfalls kein Mohenna«, stellte der Modulmann fest. »Kannst du es uns verraten, Anima?« Die Hominidin keuchte, sank auf die Knie und schien sich vor Schmerzen zu krümmen. »Nein!« stieß sie hervor. »Nein, nicht das!« In dem Trivideo-Ovulum des fremden Wesens spiegelte sich eine Sumpflandschaft mit hohen Gräsern, die von einer dunkelgrünen Sonne beleuchtet wurde – und aus dem Sumpf ragte eine Art stählerner Insel aus silberweißem Metall, eine kreisrunde Plattform mit einer – ebenfalls kreisrunden – Öffnung in der Mitte. Neithadl-Off stieß einen schrillen Pfiff aus. »Ich weiß«, sagte Goman-Largo dumpf. »Es sieht aus wie der Eingang der Zeitgruft auf Xissas, einmal davon abgesehen, daß der sich im Meer befindet.« Der schlangenhafte Leib des fremden Wesens bewegte sich; der Kopf ruckte nach oben, pendelte hin und her, dann richtete sich das Wesen so auf, daß der Leib aufrecht stand und sich auf das untere Flossenpaar stützte. Die Kleidung fiel von ihm ab. »Geh nicht weg!« warnte Anima. »Ich weiß nicht, wer oder was du bist, aber du bist noch lange nicht in Ordnung. Du hattest dich, wie auch immer, hinter dem Erscheinungsbild eines Xorers versteckt – und ich hatte mich an der Physis und dem Metabolismus eines Xorers orientiert, als ich die Wiederherstellung durchführte. Dadurch muß es zu Diskrepanzen gekommen sein, die sich verheerend auf dich auswirken können, wenn du deinen Körper gebrauchst und ihm Leistung abverlangst.« Im Trivideo-Ovulum des Fremden spiegelte sich eine Zeit-Transfer-Kapsel vor einem sternenübersäten Hintergrund. »Wir sollten uns verständigen«, sagte der Modulmann. »Vielleicht können wir uns gegenseitig helfen. Sag irgend etwas! Prinzessin, benutze dein Kombinationsgerät, bitte!« Neithadl-Off trippelte näher, das Kombinationsgerät zwischen ihren Vordergliedmaßen haltend. Der Fremde ließ die Greifzungen im Mund verschwinden, der sich daraufhin schloß, dann drehte er sich plötzlich, ließ sich fallen und bewegte sich schlangengleich und ungeheuer schnell davon. »Haltet ihn auf!« rief Anima. Goman-Largo schnellte sich vorwärts, dem Fremden hinterher. In seinem Eifer und seiner Erregung achtete er nicht auf Harnisch, Helm und die übrige Ausrüstung Narunns, die das Wesen leer zurückgelassen hatte. Er stolperte und schlug lang hin. Noch im Fallen erinnerte er sich an sein Flugaggregat. Er schaltete es ein, erhob sich und drehte sich schwebend. Aber er konnte den Fremden nicht mehr sehen. Nur die plötzliche Unruhe unter den gefangenen Signern im Lager der Xorer schien darauf hinzudeuten, daß sich der Fremde dorthin geflüchtet hatte.
»Das Steuergerät!« entfuhr es dem Modulmann. »Er hatte es nicht bei sich. Wahrscheinlich befindet es sich im Zelt Narunns.« »Ich weiß, wo es steht«, pfiff Neithadl-Off. »Folgt mir!« Die Vigpanderin startete und jagte dicht über dem Boden zum Lager zurück. Goman-Largo flog hinterher. Nur Anima blieb wie angewurzelt stehen. Anscheinend war sie noch nicht darüber hinweggekommen, daß sie die Fremdartigkeit des in Narunn verborgenen Wesens zu spät in ihrem ganzen Ausmaß erkannt hatte. Neithadl-Off und Goman-Largo aber schwebten ins Lager hinein und auf ein besonders großes und buntes Rundzelt zu. Das mußte das Zelt des xorischen Heerführers sein. Doch als die Parazeit-Historikerin und der Modulmann dort ankamen, stürzten sich von allen Seiten Signer auf sie, die sich offenbar heimlich von ihren Fesseln befreit und an das Zelt des xorischen Heerführers herangeschlichen hatten, um ihn zu überrumpeln. Es dauerte einige Zeit, bis sie von ihrem Kampfesrausch soweit ernüchtert waren, daß sie ihren Irrtum einsahen. Zu lange. Als Neithadl-Off und Goman-Largo sich, zerzaust und zerschlagen, aufrappelten und gemeinsam mit den reumütigen Signern, nach dem Fremden suchten, war er über alle Berge. Das Gerangel, das im ganzen Lager zwischen den befreiten Gefangenen und den benommenen xorischen Kriegern im Gange war, mußte seine Flucht noch begünstigt haben. Auf jeden Fall aber hatte er dadurch unbemerkt entkommen können. »Jetzt können wir lange suchen«, meinte die Vigpanderin. Goman-Largo wollte ihr schon beipflichten, da fiel ihm ein, was der Fremde vorhatte – und er erschrak. »Schnell, zur Kapsel!« rief er. »Wenn er das Steuergerät hat, wird er damit fliehen wollen!« Ohne sich weiter um Neithadl-Off zu kümmern, startete er und raste mit Höchstgeschwindigkeit durch die sternenhelle Nacht auf den Hügel zu, auf dessen Sandsteinplatte ihre Zeit-Transfer-Kapsel stand und unter dem sich der Eingang zu einer Zeitgruft – oder zu einer ehemaligen Zeitgruft – verbarg. Unterwegs sah er Nussel wieder. Das Einhorn jagte in gestrecktem Galopp demselben Ziel zu – und auf seinem Rücken saß vornübergeneigt Anima. Fast gleichzeitig kamen die drei zusammen mit dem Einhorn im innersten Steinkreis und vor der Zeit-Transfer-Kapsel an. Das Schott war offen. Aus dem Innern fiel blauweißes Flackerlicht und drangen Geräusche. Goman-Largo war ein wenig schneller zu Fuß als seine Gefährtinnen. Als er vor dem Kontrollraum abstoppte, befanden sich Anima und die Vigpanderin noch hinter ihm. Sie drängten sich an seine Seiten, sahen dasselbe wie er und erstarrten förmlich. Das fremde Wesen lag, halb zusammengerollt, vor dem offenen Behälter und hatte das Steuergerät in die Aufhängung zurückbefördert. Seine beiden Greifzungen waren weit aus der Mundöffnung gestreckt und hatten sich um die obere Kugel des Steuergeräts geschlungen. Aber die Projektionsplatte blieb dunkel, und auch sonst rührte sich nichts in der Kapsel. Es hat das Steuergerät demoliert! war das erste, was Goman-Largo erbittert und enttäuscht zu denken vermochte. Damit ist auch die Kapsel als Transfergerät unbrauchbar. Durch den Leib des Fremden ging ein Zittern. Die Greifzungen lösten sich von der oberen Kugel
des Steuergeräts, streckten sich und zeigten auf Anima. Animas Gesicht überzog sich mit einem Netz feiner Schweißperlen. Ihre Augen flackerten. Sie zitterte am ganzen Körper. Der Fremde gab ein dumpfes Geräusch von sich, dann kippte er um, entspannte sich und erstarrte. »Er ist tot«, stellte Anima tonlos fest und brach blitzartig zusammen.
9. »Das ist ein Grab«, erklärte Anima und deutete auf den Erdhügel am Fuß des Heiligtums der Signer, unter dem sie die sterblichen Überreste des Fremden bestattet hatte. »Ein Grab«, wiederholte Goman-Largo. »Und wie nennst du das?« Er zeigte auf das fast vollkommen rechteckige Stück Metallplastik, das Anima aus dem Tempel geholt hatte und jetzt mit einem schweren Stein in die lockere Erde am Kopfteil des Grabes trieb. »Grabmal«, antwortete Anima und rieb mit einem Tuch Schmutz und Patina von der Metallplatte. »Das alles hat Atlan mir beigebracht.« Ihr Blick verdunkelte sich. »Nun werde ich ihn wohl nie wiedersehen, wenn wir dazu verurteilt sind, auf diesem Planeten zu bleiben.« »Kommt Zeit, kommt Rat«, meinte Neithadl-Off und richtete ihre Sensorstäbchen auf das Grabmal. »Das sind doch Schriftzeichen«, stellte sie fest. »Ziemlich primitiv aufgetragen. Nicht wegwischen, Anima!« »Schriftzeichen?« fragte Goman-Largo. Anima rückte dichter an das Grabmal heran und musterte die undeutlichen Zeichen, die anscheinend mit einer Art Harz aufgetragen worden waren. »This is a Time-Shuttle«, las sie vor. »Dahinter stand noch etwas, aber das habe ich schon abgerieben.« »Eine fremde Sprache«, bemerkte Neithadl-Off. »Englisch«, sagte eine vertraute Stimme. Die drei blickten auf und sahen, daß Nussel sich ihnen genähert hatte. Donora saß auf seinem Rücken. »Richtig«, erklärte Anima. »Es ist Englisch.« »Was bedeutet es?« fragte Goman-Largo. »Ich weiß es nicht genau«, sagte das Einhorn. »Das ist ein Zeit-Pendler«, übersetzte Anima. »Zeit-Pendler«, wiederholte Neithadl-Off nachdenklich. »Time-Shuttle. Das klingt irgendwie gut, besser jedenfalls als Zeit-Transfer-Kapsel.« »Richtig«, pflichtete Goman-Largo ihr bei. »Aber es ist fast unglaublich«, flüsterte Anima. »Englisch ist eine Sprache, die nur in zwei winzigen Gebieten im Kosmos gesprochen wird: auf einem Planeten namens Erde und von einer Handvoll Terraner-Abkömmlingen, die eine Welt in der Galaxis Alkordoom bewohnen. Wie kommt dann diese Aufschrift auf das Trümmerstück einer Zeit-Transfer-Kapsel?« »Eines Time-Shuttles«, korrigierte Neithadl-Off. »Das ist doch egal!« erregte sich Anima. »Es ist ganz einfach unwahrscheinlich, daß sich ein Terraner irgendwann im Besitz der Kapsel befunden haben soll, mit der der Fremde einst auf Mohenn strandete.« »Aber es war so«, stellte der Modulmann fest. »Vielleicht kannte dieser Terraner sogar deinen Atlan.« »Das würde uns auch nichts nützen«, meinte Anima wehmütig. »Mit einem Time-Shuttle ohne funktionierendes Steuergerät kommen wir auf keine Nullzeit-Spur, über die wir zu einer anderen Zeitgruft kämen, von der aus wir vielleicht eine Spur entdecken könnten, die zu meinem Ritter
führt.« »Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben!« sagte Goman-Largo mitfühlend. Er wandte sich an die Vigpanderin. »Du hast bewiesen, daß du eine Menge über Zeitkapseln, Nullzeit-Spuren und Zeitgrüfte weißt, Prinzessin. Ehrlich gesagt, ich kann dich deswegen nur bewundern.« »Aber nicht doch!« pfiff Neithadl-Off verschämt. »Das ist doch ganz natürlich. Als ParazeitHistorikerin kenne ich mich selbstverständlich in allen diesen Dingen aus. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich schon als Kind mit Zeitkapseln gespielt.« »Etwas Ähnliches sagtest du einmal«, erwiderte der Modulmann listig. »Dann dürfte es dir nicht allzu schwerfallen, herauszubekommen, warum das Steuergerät nicht mehr funktioniert.« »Ja!« rief Anima mit neugeweckter Hoffnung. »Du mußt dich darum kümmern, Neithadl-Off!« »Ich könnte es versuchen«, versprach die Vigpanderin halbherzig und widerstrebend. »Aber zuerst sollten wir uns um die Signer und Xorer kümmern.« Sie wandte sich an Donora. »Die Barbaren haben sich ergeben, nachdem ihr Anführer verschwunden war«, stellte sie fest. »Was habt ihr Signer mit ihnen vor? Schickt ihr sie nach Hause?« Donora lächelte verschmitzt. Sie schien die Scheu gegenüber den »Göttern« weitgehend überwunden zu haben, aber sie hatte auch bisher keine weiteren Annäherungsversuche bei GomanLargo unternommen. »So leicht kommen sie nicht davon«, antwortete sie. »Ihr werdet sie doch nicht umbringen?« rief der Modulmann. Donora lachte. »Aber woher denn! Im Gegenteil. Die meisten von ihnen haben signerischen Frauen Gewalt angetan – jedenfalls mehr oder weniger. Zur Strafe dafür werden sie ihre Opfer ehelichen müssen – und weil dadurch bei uns so viele Frauen und Mädchen ausfallen, wollen viele unsere jungen Männer ins Land der Xorer ziehen und sich dort Frauen suchen, mit denen sie eine Familie gründen.« »Bravo!« rief Anima. »So sollten alle Kriege enden.« »Hast du auch einen Mann gefunden?« pfiff Neithadl-Off. »Nein«, antwortete Donora. »Ich gehe mit ins Land der Xorer und werde mir dort ein paar kräftige Burschen suchen, die für mich arbeiten und den Haushält besorgen.« Sie warf einen schiefen Blick auf Goman-Largo. »Bei Göttern habe ich ja doch kein Glück.« »Es hätte keinen Wert für dich«, erwiderte der Modulmann. »Willst du dich gleich verabschieden oder begleitest du uns zum Time-Shuttle?« »Ich reite jetzt gleich«, erklärte Donora. »Wir sehen uns ja doch wieder, wenn ich von den Xorern zurückkomme.« Sie trieb ihr Einhorn an und trabte davon, zu den zahlreichen Signern und Xorern, die sich in einiger Entfernung sammelten. * »Ich war einmal auf einer Zeitebene, auf der es noch Reste der Urzivilisationen gab«, erzählte Neithadl-Off, während sie ihre Tastfäden auf die obere Kugel des Steuergeräts legte und die Mitte der schwarzen Projektionsplatte mit ihren Sensoren fixierte. »Dort hörte ich zum erstenmal von den
Zeitgrüften – und ich erfuhr, wie man es anstellen muß, um mit Hilfe eines Time-Shuttles in die Zukunft zu gelangen.« »Time-Shuttle!« echote Goman-Largo. »Dort hießen die Kapseln aber bestimmt anders.« »Was spielt das für eine Rolle«, gab die Vigpanderin zurück. »Als Parazeit-Historikerin verwende ich stets die neueste Terminologie.« »Vielleicht solltest du einmal die neueste Technik verwenden«, wandte Anima ungehalten ein. »Bisher hast du immer nur mit deinen Barthaaren auf dem Steuergerät herumgespielt.« »Tastfäden!« korrigierte Neithadl-Off aufgebracht. »Es sind Tastfäden und keine Barthaare. Aber wenn du alles besser weißt, warum probierst du es dann nicht mal!« »Streitet euch nicht!« rief Goman-Largo beschwichtigend. »Wir verfolgen doch alle dasselbe Ziel.« »Ach, nein!« entgegnete Anima. »Und warum mit so unterschiedlicher Intensität? Beziehungsweise mit gar keiner Intensität, was Neithadl-Off betrifft?« »Jetzt reicht es mir!« stellte die Vigpanderin fest und räumte den Platz im Kontrollraum. »Ich bin gespannt darauf, was du mit diesem komischen Steuergerät erreichst.« »Die Enttäuschung hat euch reizbar gemacht«, sagte Goman-Largo. »Für heute sollten wir die Versuche beenden.« »Nein!« erwiderte Anima entschieden, hockte sich vor die Projektionsplatte und umfaßte die obere Kugel des Steuergeräts mit der rechten Hand. Sie zuckte genau wie ihre Gefährten erschrocken zusammen, als plötzlich matte Lichterscheinungen über die schwarze Wand huschten. »Ich sehe alles so, wie du es beschrieben hattest, Modulmann!« schrie sie mit überschnappender Stimme. »Was bedeutet das?« Goman-Largo atmete hörbar auf. »Es bedeutet, daß du unser Time-Shuttle auf dich eingestellt hast, Anima«, erklärte er. »Ihr erinnert euch sicher an das, was Anima symbolisch in Neithadl-Offs Bewußtsein überspielte. Zu diesem Zeitpunkt muß Anima eine psionische Spur erfühlt haben – und dadurch hat sie die Kapsel auf sich eingestellt. Deswegen funktioniert sie nur noch, wenn sie das Steuergerät berührt.« »Atlan!« jubelte Anima. »Nun werde ich ihn doch wiederfinden!« »Vielleicht«, dämpfte der Modulmann ihren Optimismus. »Und wenn, dann wird es noch ein langer Weg durch Raum und Zeit – und ein gefahrvoller.« ENDE
Auch der nächste Atlan-Band hat die abenteuerlichen Erlebnisse von Anima, Neithadl-Off und Goman-Largo zum Thema. Die Suche auf der Nullzeit-Spur wird zur Hetzjagd durch das Nichts - und führt in die Tiefen der Zeit… DIE TIEFEN DER ZEIT – das ist auch der Titel des Atlan-Bandes 727, der ebenfalls von H. G. Ewers geschrieben wurde. p
ATLANS EXTRASINN Blick in die Vergangenheit Das Wiederauftauchen des alten Lehrmeisters Fartuloon in Atlans Leben weckt seltsame Erinnerungen in mir. Es führt mich aber auch an eine Grenze meines Wissens, denn jenseits eines bestimmten Punktes in Atlans Vergangenheit bin ich logischerweise nie gewesen. Ich meine den Zeitpunkt, an dem ich geweckt wurde. Atlan war damals 18 Jahre alt gewesen, als durch die ARK SUMMIA ein bislang ungenutzter Sektor seines Gehirns aktiviert wurde. Von Atlan und Fartuloon weiß ich einiges über die Zeit vor meiner »Geburt«, aber doch nicht alles. Doch bleiben wir zunächst bei Fartuloon, den ich den Geheimnisvollen nennen möchte. Bei unserer letzten Begegnung vor der Preisgabe seiner Gestalt als Colemayn nannte er sich der »letzte Calurier« – ohne zu erklären, was damit gemeint war. Seine damalige Ankündigung, er würde Atlan in der fernen Zukunft unter anderem Namen wieder begegnen, hat sich erfüllt. Ansonsten weiß ich direkt nur wenig über ihn. Er war zur Zeit von Atlans Erziehung und auch später bei den Auseinandersetzungen mit Orbanaschol einfach dagewesen, hatte seinen Part gespielt, aber sein eigenes Ich und damit das Flair, das ihn umgab, nie in den Vordergrund gestellt. Von seinem Kurzschwert, dem Skarg, hatte er sich nie getrennt. Und mir scheint, er besitzt noch heute die gleiche Waffe. Zu welchen geheimnisvollen Aktionen das Skarg fähig ist, haben wir jüngst erlebt, als das Pre-Lo Atlan zu vernichten drohte. Schutzschirme scheinen für das Skarg kein Hindernis zu sein. Und der Fluchtweg, den es schuf, besaß eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem Dimensionstunnel. Nicht weniger geheimnisvoll sind die OMIRGOS-Kristalle, diese exotisch glitzernden Dinger, die Unmögliches wahr werden lassen. Fartuloon war seit jeher Arzt, Wissenschaftler und Philosoph gewesen, aber auch Kämpfer, Lehrer und nicht zuletzt der Leibarzt von Gonozal VII. Atlans Vater. Den habe ich aber nie erlebt, denn bei seiner Ermordung war Atlan gerade vier Jahre alt gewesen. Sein eigentlicher Geburtsname war Mascaren gewesen. Nach der Ermordung seines Vaters durch dessen Bruder Orbanaschol, der selbst nach dem Amt des Imperators strebte und die Tötung zunächst als Jagdunfall tarnen konnte, erhielt der kleine Mascaren auf Wunsch seiner Mutter Yagthara und dem Fartuloons den Namen Atlan. Das war schon aus Tarnungsgründen erforderlich gewesen, denn der Junge war der rechtmäßige Erbe und Nachfolger Gonozal des Siebten gewesen und trug automatisch auch den Namen des neuen Imperators von Arkon, nämlich Gonozal VIII. Für seine Mutter Yagthara, über deren weiteres Leben ich nichts weiß, war es klar gewesen, daß der verräterische Schwager Orbanaschol auch nach dem Leben des Jungen trachten würde. Atlan behielt diesen neuen Namen fortan für sein ganzes Leben. Er wuchs verborgen im Vielvölkergemisch der terraähnlichen Welt Gortavor auf, wo es ihm mit Fartuloons Hilfe über Jahre hinweg gelang, seine Existenz zu verbergen und den Mordkommandos seines Onkels, des inzwischen mit militärischer Gewalt zum Imperator Orbanaschol III. aufgestiegenen Verwandten, zu entkommen. Im Alter von 18 Jahren trat ich in Atlans Leben. Dann folgte ein fünfjähriger Untergrundkampf gegen Orbanaschol III. Er endete mit dem Sturz des unrechtmäßigen Imperators durch die
Raumflotte des Imperiums, ohne daß Atlan daran direkt beteiligt gewesen war. Atlan wird jedoch als Kristallprinz von Arkon offiziell anerkannt. Orbanaschol stirbt in einer Robotfalle. Zu diesem Zeitpunkt verschwand dann auch Fartuloon, der letzte Calurier, unter Hinterlassung der geheimnisvollen Ankündigung, daß man sich in ferner Zukunft wiedersehen würde. Und obwohl es zu dieser Begegnung kam, haben sich die Geheimnisse, die Fartuloon umgeben, nicht gelüftet. Im Gegenteil. Der alte Erzieher des Arkoniden hat neue Rätsel aufgegeben, die auf eine Antwort warten. Ich gebe zu, daß es mir trotz meiner präzisen Kenntnisse und guten Erinnerungen aus der Vergangenheit keine Sekunde in den Sinn gekommen ist, daß sich hinter dem gutmütigen Sternentramp Fartuloon verbergen könnte. Aus Gründen, die ich mir selbst nicht erklären kann, habe ich mich nie mit dem letzten Calurier nachhaltig in meinen Überlegungen befaßt. Ich habe ihn – nicht nur wegen der über 10.000 Jahre Zeitdifferenz – für längst verstorben gehalten. Ich bin eines Besseren belehrt worden, und das ist Grund genug, mir über diesen geheimnisvollen Mann Gedanken zu machen. Auf den ersten Blick erscheint es mir unlogisch, daß er gerade hier in Manam-Turu sein wahres Ich zeigt. Ebenso unlogisch wirkt es zunächst, wenn ich daran denke, daß die erste Begegnung in Alkordoom stattgefunden hatte. Die Frage drängt sich dann aber auf, wenn man diese Tatsachen akzeptiert hat. Sie lautet: warum gerade hier in dieser Szene, in der es gegen den Erleuchteten geht? Eine genaue Antwort kann ich nicht kennen. Aber ich sehe die besondere Bedeutung, die darin liegt. Atlans Mission muß sich in zumindest einem Punkt von allen früheren unterscheiden. Ich meine damit nicht, daß sie etwa gefährlicher ist und daß dadurch Fartuloon auf die Bühne gerufen wurde. Es muß heißen: diese nunmehr aus freien Stücken übernommene Aufgabe, die aus dem Auftrag der Kosmokraten resultiert, ist anders. Der Gegner ist anders. Die Gefahr ist anders. Dabei bin ich mir sicher, daß Colemayns Selbstentblößung nicht die letzte Überraschung ist, die uns Fartuloon geboten hat. Wird er an Atlans Seite bleiben oder wieder scheinbar ohne Motiv verschwinden, so geheimnisvoll, ohne Erklärung?