Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 614 Anti-ES - Xiinx-Markant
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 614 Anti-ES - Xiinx-Markant
Zone der Gefahren von Falk-Ingo Klee Der Höllenflug der TAUPRIN Die Verwirklichung von Atlans Ziel, das schon viele Strapazen und Opfer gekostet hat – das Ziel nämlich, in den Sektor Varnhagher-Ghynnst zu gelangen, um dort den Auftrag der Kosmokraten zu erfüllen –, scheint nun außerhalb der Möglichkeiten des Arkoniden zu liegen. Denn beim entscheidenden Kampf gegen Hidden-X wurde Atlan die Grundlage zur Erfüllung seines Auftrags entzogen: das Wissen um die Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst. Doch Atlan gibt nicht auf! Im Bewußtsein, sich die verlorenen Koordinaten wieder besorgen zu müssen, folgt der Arkonide einer vagen Spur, die in die Randgebiete der Galaxis Xiinx-Markant führt, wo die SOL in erbitterte Kämpfe verwickelt wird, die auf das unheilvolle Wirken der sogenannten Mental-Relais zurückzuführen sind. Inzwischen herrscht durch die Ausschaltung einiger Relais im Umfeld der SOL Ruhe. Dafür aber ist in der SOL selbst der hoffnungslos anmutende Kampf gegen das Manifest C entbrannt, das das Schiff völlig zu übernehmen und in die Vernichtung zu führen droht. Um sich die Handlungsfähigkeit und Chance zur Rettung der SOL zu bewahren, verläßt Atlan nebst einer Anzahl von Getreuen mit zwei Beibooten das Schiff. Dabei kommt es zur schicksalhaften Begegnung mit Tauprin und zum Eindringen in die ZONE DER GEFAHREN …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide an Bord des »Schwanenschiffs.« Tauprin - Manifest J auf dem Flug in die Zone der Gefahren. Hage Nockemann und Blödel - Das Scientologen-Team leistet medizinische Hilfe. Barleona und Tyari - Konkurrentinnen um Atlans Gunst. Tuk und Geef - Zwei Staubflieger. Yuz - Ein Wächter.
1. November 3807. Die Instrumente der TAUPRIN zeigten weder das Datum noch die Standardzeit an, doch das Häufchen aus Solanern und anderen Intelligenzen unter Atlans Führung wußte auch so, was die Stunde geschlagen hatte. Sie hatten sich an Bord des Manifests J begeben mit dem Ziel, in das Innere der geheimnisvollen Dunkelzone von Xiinx-Markant zu gelangen. Aber es war ein Flug ins Ungewisse. Wie sich gezeigt hatte, war es unmöglich, Kurs und Geschwindigkeit des exotischen Raumers zu beeinflussen, der mit seiner Stromlinienform an einen ausgestorbenen Plesiosaurier der terranischen Frühzeit oder an einen sanft dahingleitenden Schwan erinnerte. Dennoch hatten sich die gut zwanzig Personen, darunter Tyari und Barleona sowie der Vereiser Glogg, in der Hauptzentrale im schlanken »Kopf« der TAUPRIN eingefunden. Es geschah wohl mehr aus alter Gewohnheit, denn es gab weder etwas zu schalten noch zu sehen. Die Bildschirme waren eingeschaltet, zeigten jedoch nur ein tristes Grau ohne Konturen. Das Schiff selbst hatte gemeldet, daß es mit achthundertfacher Lichtgeschwindigkeit flog. Da das Einsteinuniversum eine solche Geschwindigkeit nicht zuließ, mußte es sich in einem übergeordneten Raum bewegen, doch welcher Art er war, darüber hatte sich die Steuerintelligenz nicht ausgelassen. Steuerintelligenz war eigentlich nicht ganz zutreffend, denn die TAUPRIN war nur der Körper Tauprins, der sich nicht nur als eine
Art Gehirn, sondern als selbständig denkendes und handelndes Wesen verstand – zumindest hatte er angedeutet, daß es seinem eigenen Selbstverständnis entsprach. Dem Arkoniden kamen die Dolans der Zeitpolizisten in den Sinn, gegen die Perry Rhodan gekämpft hatte, doch davon hatte sein Extrasinn nichts wissen wollen, weil die Dolans so etwas wie biologische Raumschiffe waren, die TAUPRIN dagegen rein technischer Natur war. Wer oder was Tauprin dagegen als solches nun wirklich war, mußte einstweilen dahingestellt bleiben. Fest stand eigentlich nur, daß es ein Manifest war, eben das Manifest J, und das bedeutete, daß es ein Werkzeug der anderen Seite war. Dabei hatte Tauprin bestritten, dem Bösen zu dienen. Bisher hatten sich auch keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dennoch war die kleine Gruppe mit dem Aktivatorträger an der Spitze mißtrauisch. Man hatte Janvrin und Pervrin, die Manifeste A und B, im negativen Sinn noch deutlich in Erinnerung, ganz zu schweigen von Erfrin, das SENECA beherrschte und die SOL in den Untergang steuerte. Anders als gegen Tremtrin, das Manifest D, das durch Tyaris Energiezelle vernichtet worden war, hatte man noch kein Mittel gefunden, das Manifest C auszuschalten. So unterschiedlich die einzelnen Manifeste auch waren und sich, gemessen an ihren Möglichkeiten, nicht auf einen Nenner bringen ließen – gemein war allen, daß sie nach menschlichem Ermessen schier unbezwingbar waren und es eigentlich nur glücklichen Umständen zu verdanken war, daß die Solaner bisher überlebt hatten. Würde auch Tauprin mit einer tödlichen Überraschung aufwarten? Atlan rechnete damit. Er war kein Narr, und er war kein Spieler. Er hoffte nicht auf ein gnädiges Schicksal oder darauf, daß er ein Günstling höherer Mächte war, obwohl er letztendlich im Auftrag der Kosmokraten handelte. Nein, er war auf sich selbst gestellt, und sein Gegner war kein geringerer als Anti-ES, eine Wesenheit, der Hidden-X nicht einmal das Wasser hätte reichen können.
Anti-ES war ein übermächtiger Feind, der die Menschheit schon einmal arg bedrängt hatte. Für Sanny stand fest, daß Atlan den Weg freimachen sollte, für die SOL, die wiederum nur ein Köder für Wöbbeking-Nar´Bon war. Es war zu erwarten, daß dieser den Solanern und dem Hantelraumer beistehen würde, wenn keine Rettungsmöglichkeit mehr bestand. Trat das ein, würde Anti-ES die Gunst der Stunde nutzen, um sich den abgespaltenen kleineren, positiven Teil wieder einzuverleiben. Der Logiksektor hielt die These der Molaatin auch für wahrscheinlich, aber er vermochte ebensowenig wie die Paramathematikerin, Überlegungen eines Überwesens nachzuvollziehen. In welch abstrakten Bahnen und Zeiträumen eine Wesenheit wie Anti-ES dachte, ließ sich kaum erahnen. Daß der Arkonide dieses Risiko ungeachtet aller Bedenken auf sich genommen hatte, lag daran, daß er die Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst zurückgewinnen und die SOL und SENECA vom unseligen Einfluß Erfrins befreien wollte. Vor allem der letzte Punkt war für alle Solaner Motivation genug, sich sogar in Lebensgefahr zu begeben. Ihr Leben war auf Gedeih und Verderb mit der Existenz des gewaltigen Generationenschiffs verbunden, und ihnen blieben noch gut einhundert Tage, um die SOL und ihre mehr als neunzigtausend Mitbewohner vor dem Untergang zu retten. Jeder klammerte sich dabei an den Strohhalm, der Hoffnung hieß. Pervrin, das Manifest B, hatte zwar versucht, die Heimat der Solaner zu vernichten, doch es war nicht grundsätzlich böse, sondern eher ein geknechtetes und beeinflußtes Wesen, das sich erleichtert gezeigt hatte, als es endlich frei denken konnte und nicht mehr seinem ungeliebten Bezwinger dienen mußte. Janvrin war ganz anders gewesen, aber konnte das Manifest J nicht Pervrin ähneln? Wie so oft war auch hier der Wunsch der Vater des Gedankens. Atlans Begleiter wußten das, doch ihr Argwohn wurde mit jedem zurückgelegten Lichtjahr geringer. Die Optimisten unter ihnen
irritierte nicht einmal, daß die Funkverbindung zur CHYBRAIN und zur FARTULOON, sowie Atlans Kontakt zu Wöbbeking abgerissen waren.
* Eine Tonfolge wie von einem Glockenspiel ertönte. »Rücksturz in den Normalraum in dreißig Sekunden«, meldete Tauprin mit seiner dunklen, angenehm klingenden Stimme. Atlan blickte auf sein Armbandchronometer. Wenn er die verstrichene Zeit in Relation zur bisherigen Geschwindigkeit setzte, mußten sie mittlerweile eine Strecke von fünf bis sechs Lichtjahren zurückgelegt haben. »Warum brichst du den überlichtschnellen Flug ab?« erkundigte sich der Arkonide. »Ist es ein Orientierungsaustritt?« »Auch, aber nicht nur. Es ist zu erwarten, daß die Materiekonzentration mit zunehmender Entfernung zu den Randgebieten ansteigt. Da der Übergang in den Normalraum aber mit annähernd Lichtgeschwindigkeit erfolgt, seid sowohl ihr als auch die TAUPRIN gefährdet, wenn der Schub zu groß und der Staub zu dicht ist.« Darauf hättest du auch selbst kommen können! ließ sich der Logiksektor spöttisch vernehmen. Es war eine rhetorische Frage, weil ich wissen wollte, was das Schwanenschiff plant, gab der Aktivatorträger gedanklich zurück. Aber ist dir aufgefallen, daß unser Freund sagte ›Es ist zu erwarten‹? Darauf wollte ich dich gerade hinweisen. Es kann eine Floskel sein, andererseits kann es auch bedeuten, daß sogar Tauprin die Dunkelzone unbekannt ist. Glaubst du, daß Anti-ES seine Helfer so schlecht präpariert? fragte Atlan lautlos.
Tauprins Aussage muß nicht der Wahrheit entsprechen. Du vermutest taktische Gründe? Ja, warum nicht? Würdest du nicht eher Verdacht schöpfen, wenn alles wie am Schnürchen klappt? Alter, du hast recht. Ich werde auf der Hut sein. Hoffentlich, Barbarenfreund. Von Zeit zu Zeit werde ich dich daran erinnern. Der Arkonide gab keine gedankliche Erwiderung, und auch der Extrasinn schwieg. Nachdenklich blickte Atlan auf einen der Bildschirme. Er zeigte nicht mehr dieses konturlose Grau, sondern fleckiges Schwarz, dunkle wallende Wolken, die sich auf eigentümliche Art zu bewegen schienen, als würde sie ein sanfter Wind vor sich hertreiben. »Tauprin, kannst du eine Funkverbindung zu unseren beiden Schiffen am Rand der Dunkelzone herstellen?« erkundigte sich Sanny. Die Antwort kam sofort. »Ich habe es versucht, aber es ist nicht möglich.« Atlan warf Federspiel einen fragenden Blick zu. Der Telepath verstand. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und schloß die Augen, seine Gesichtszüge veränderten sich, er wirkte konzentriert und entrückt zugleich. Niemand sprach ein Wort. Voll innerer Spannung beobachteten sie den Mutanten. Schafften seine Para-Sinne das, was der Technik nicht gelang? Oder waren sie ganz und gar von der SOL und der MT-1 sowie der MT-K-20 abgeschnitten? Die Lider Federspiels zuckten, er öffnete die Augen und setzte sich aufrecht. »Ich habe Kontakt mit Bjo gehabt. Dort ist alles unverändert.« »Und was ist mit der SOL?« »Es war nicht möglich, sie direkt zu erreichen. Bjo hat eine Relaisfunktion übernommen zu Sternfeuer. Die Verbindung wird immer schwächer, dennoch kam sie zustande. Es sieht für die SOL
nicht gut aus. Erfrin beherrscht SENECA und das Schiff nach wie vor, eine Veränderung im positiven Sinn zeichnet sich nicht ab.« Der schlanke Mutant erkannte die Enttäuschung, die sich auf einigen Gesichtern abzeichnete, andere reagierten mit einer trotzigen Jetzterstrecht-Miene. »Da war noch etwas.« Federspiel fuhr sich mit einer Hand durch das kurzgeschnittene weißblonde Haar. »Ich habe wieder den Impuls von Cpt' Carch geespert. Er kommt nach wie vor aus dem Innern des Galaxiskerns.« »Das ist auch unser Ziel«, meinte Atlan bedächtig. »Es hat den Anschein, als würden wir für alles dort eine Lösung finden.« »Ich halte eine böse Überraschung für wahrscheinlicher«, brummte Nockemann. »Mit Anti-ES ist noch weniger gut Kirschen essen als mit Anti-Homunk.« »Ich glaube nicht, Chef, daß Anti-ES deiner Einladung zum Verzehr von Früchten Folge leisten würde«, sagte Blödel vorlaut. »Meines Wissens sind solche Wesenheiten nicht auf derartige Nahrung angewiesen.« »Du sollst nicht immer alles wörtlich nehmen, Blödel«, schimpfte der Wissenschaftler. »Es ist eine Redensart, nichts weiter. Und nun verschone mich bitte mit deinen Albernheiten.« Die mobile Laborpositronik mit der Typenbezeichnung K-Bio-14/3 öffnete eine Klappe ihres Körpers. Wuschel kam zum Vorschein. »Wie du gehört hast, ist unser Chef denkbar schlechter Laune, also unterlasse alles, was ihn reizen könnte.« »Geht klar. Welchen Wutwert hast du ermittelt?« »4,3 auf der nach oben offenen Tobsuchtsskala.« »Rette sich, wer kann!« Der Baakwer stieß einen mißtönenden Pfiff aus und zog sich wieder in das Innere der Metallröhre zurück. Blödel schloß die Öffnung und betrachtete angelegentlich das Spiel bunter Lichter auf einer Instrumentenkonsole. Der Genetiker war aufgesprungen. Mit geballten Fäusten stand er
zornbebend da, sein Gesicht war rot angelaufen. Seine Mundwinkel zuckten, vergeblich suchte er nach Worten. Der Roboter wandte sich um, fixierte den Solaner kurz mit seinem einen Augen und wieselte dann auf seinen kurzen Beinen hinter Atlans Sitz. »Wutwert 5,5.« Blödels Stimme klang noch knarrender als sonst. »Geht in Deckung, er ist jetzt so brisant wie eine Sprengkapsel.« »Ich lasse dich einstampfen, du Scheusal!« brüllte Hage Nockemann. »Ich zerfetze dich in der Luft, jedes Barthaar werde ich dir einzeln ausreißen, dein Auge werde ich mit Farbe besprühen und deine Arme aneinanderketten lassen. Ich werde dich zu Boden werfen und auf dir herumtrampeln, ich werde dich zu einem lallenden Idioten machen, zu einem Reinigungsroboter, der nicht einmal Staub analysieren kann. Du wirst zu einer Space-Jet für Wuschel umgerüstet, ich lasse dich plattwalzen und als platte Plastik an die Wand hängen, ich werde …« Erschöpft und mangels weiterer Einfälle brach der aufgebrachte Wissenschaftler ab. Nun, da er seinem Ärger Luft gemacht hatte, fühlte er sich erleichtert und befriedigt zugleich. Natürlich wäre es ihm nicht einmal im Traum eingefallen, seinen positronischen Mitarbeiter demontieren zu lassen, doch in Augenblicken wie diesem tat es dem Selbstbewußtsein gut, der Phantasie freien Lauf zu lassen. Blödel tat zerknirscht und zwirbelte wie ein reuiger Sünder seinen Plastikbart, dabei war er als Automat in Wirklichkeit so betroffen wie eine Plastik aus Stein. Die Reaktion Tauprins und vor allem Federspiels Worte hatten selbst die Optimisten wieder ernüchtert, dennoch hatten sich die meisten erheitert abgewandt, und selbst Atlan konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Innerlich beglückwünschte er sich dazu, dieses Gespann, das sich in letzter Zeit hochtrabend »Scientologen« nannte, in sein Team aufgenommen zu haben. Er bezog das nicht nur auf die fachspezifische Qualifikation der beiden,
sondern auch auf ihren Wert als Laien-Komiker und Stimmungsmacher. Wann immer sie aneinandergerieten und sich stritten, blieb bei Zuhörern und Zuschauern so etwas wie eine Aura des Lachens zurück, ein lebensbejahendes Gefühl, das trübe Gedanken aufhellte und selbst Pessimisten einen Lichtblick gab. Gefahren wurden auch durch eine Erschütterung des Zwerchfells nicht kleiner, doch die kreatürliche Angst wurde nicht so übermächtig, daß Verstand und Logik durch Emotionen verdrängt wurden. Natürlich gab es auch da Grenzen. Ein Mensch, der um sein Leben kämpfte wie etwa ein Ertrinkender, würde durch nichts auf der Welt dazu zu bringen sein, seine mißliche Lage zu vergessen und zu lachen, doch darum ging es auch nicht. Hage und Blödel betrieben ungewollt eine Art moralischer Aufrüstung durch ihre oft konträren Dialoge, bauten Nervosität und innere Anspannung ab, machten die Furcht vor dem, was kommen konnte, erträglicher, bremsten ein Aufschaukeln der Gefühle ab, die dem eigenen Ich und seinem Selbstverständnis abträglich waren. Man besann sich auf die Möglichkeiten, die man hatte, und warf nicht schon vorher die Flinte ins Korn. Lachen war Leben, und wer lachte, wollte leben; wer aber leben wollte, verteidigte sich und gab nicht einfach auf. Willst du dich jetzt als Psychiater oder als Philosoph betätigen? fragte der Logiksektor bissig. Ich denke, wer andere führen will, muß von beiden Gebieten wohl ein bißchen verstehen, gab der Arkonide zurück. Wer nur mit Fakten agiert, kann weder Menschen begeistern noch ihnen ein Vorbild sein. Was willst du damit sagen? Halte es, wie du willst, du organische Rechenmaschine. Belustigt registrierte der Unsterbliche, daß der Extrasinn anscheinend beleidigt war und es vorzog, sich in vornehmes Schweigen zu hüllen.
Er sah sich um. Hage hatte sich wieder in seinem Sitz niedergelassen, daneben stand Blödel und redete auf den GalaktoGenetiker ein. Anscheinend vertrugen sich die beiden Scientologen wieder. Eher beiläufig musterte Atlan Sanny, dann wanderte sein Blick weiter zu den Mitgliedern seines Teams und blieb an Barleona haften. Ein warmes Leuchten trat in seine Augen, ohne daß es ihm bewußt wurde. Er empfand für diese Frau, die eine Terranerin oder eine Solanerin sein mußte, eine unerklärliche Zuneigung, die er selbst nicht zu erklären vermochte. War es ihre Hilflosigkeit, die Beschützerinstinkte weckte, weil sie sich anfangs nicht artikulieren konnte und nicht einmal durch Zeichensprache deutlich machen konnte, was sie wollte? War es die Faszination, die unbestreitbar von ihr ausging, oder war es ihr Körper, ihre Anmut? Barleona war 165 cm groß, schlank und zierlich, in der Hüfte fast schmächtig, die hellbraune Haut wirkte bei künstlichem Licht bronzefarben. Die etwas zu groß geratenen Augen strahlten innere Ruhe und Wärme aus, sie beherrschten das Gesicht mit den nach innen gewölbten Wangen, der schmalen Nase und dem dunklen Grübchen an der rechten Kinnseite, auf das sie einen Finger zu legen pflegte, wenn sie nachdachte. Umrahmt wurde das Antlitz von gepflegt wirkenden, dunkelbraunen Haaren, die bis zu den Schultern reichten. Wann immer sie den Mund öffnete, war ein makelloses Gebiß zu sehen. Trotz der Bordkombination, die man ihr bei ihrer Ankunft auf der SOL verpaßt hatte, wirkte sie ausgesprochen weiblich. Ganz anders dagegen Tyari, die ein Stück von Barleona entfernt saß. Wie immer trug sie eine knapp sitzende Bluse und enge Hosen, die ihre üppigen Formen eher unterstrichen als verhüllten, gleichzeitig aber auch eine trainierte Muskulatur erkennen ließen. Sie war elf Zentimeter größer als Barleona, Gesicht und Wangen waren voller, rundlicher. Die schlohweißen Haare, gewellt und gelockt, reichten fast bis zur Hüfte, ohne die Stirn zu bedecken. Die
albinotische Röte der Augen verwandelte sich unter dem Einfluß von synthetischem Licht in ein helles Braun, ohne jedoch wirklich die Farbe zu wechseln. In gewisser Weise war sie ein feminines Ebenbild des Arkoniden, der die Frau durchaus apart und sympathisch fand. Die Stimme Tauprins riß ihn aus seinen Betrachtungen. »Meine Materieabweiser melden ein deutliches Ansteigen der Staubkonzentration. Schutzschirm Blau wurde eingeschaltet. Zu eurer Information habe ich zwei Datenschirme aktiviert.« Atlan drehte den Kopf. Zwei dunkle Vierecke hatten sich erhellt, über die mit Lesegeschwindigkeit vertraute Buchstaben und Symbole flimmerten. Der eine Monitor lieferte ausschließlich Kurswerte und Geschwindigkeitsangaben, der andere hatte die Funktion eines Ortungsschirms und gab ständig neue Informationen über die nähere Umgebung der TAUPRIN und ihre Reaktionen wieder. Den Daten war zu entnehmen, daß Schirmfeld Blau nur relativ wenig Energie benötigte und demzufolge ziemlich schwach sein mußte, derzeit aber wohl ausreichend war, jedenfalls war die Belastung nicht kritisch. Die Geschwindigkeit betrug mit 289.000 km/sec knapp Lichtgeschwindigkeit und war damit immer noch ziemlich hoch. In unregelmäßigen Abständen führte das Schiff Manöver durch, die es vom ursprünglichen Kurs abbrachten. Es lag auf der Hand, daß die TAUPRIN dichteren Materieansammlungen auswich, denn stets wurde das Schwanenschiff auf die gespeicherten Koordinaten zurück geführt. Hinter dem Raumer entstand ein regelrechter Korridor, der laut den Anzeigen eine wesentlich geringere Partikeldichte aufwies. In rascher Folge wechselte die Farbe der Schirmfelder. Blau machte Grün Platz, dann baute sich ein gelbes Feld auf, das einem weißen Schirm wich. Die TAUPRIN hatte ihre Geschwindigkeit auf ein Drittel LG gedrosselt, prasselnde Entladungen aus verglühenden
Teilchen hüllten sie ein, Tausende von Elmsfeuern schienen auf ihrer Hülle zu tanzen. Die Unterhaltung war verstummt. Die Augen aller wanderten zwischen den Bildschirmen und den Daten-Monitoren hin und her; Unbehagen machte sich breit. Es war eben etwas anderes, ob man sich einem robotgesteuerten solanischen Raumer anvertraute oder einem Schiff wie der TAUPRIN, der man auf Gedeih und Verderb ausgeliefert und die zu allem Überfluß auch noch ein Manifest war. Hinzu kamen die Unwägbarkeiten der Dunkelzone, die höchste Anforderungen an die Navigationskünste, Ortungssysteme und Schirmstrukturen stellte. »Bitte anschnallen!« Mechanisch griff der Aktivatorträger nach den Gurten und hakte sie ein, ohne den Blick von den Anzeigen zu lassen. Alle vier Schutzschirme waren aktiviert worden, die Desintegratorbatterien begannen zu feuern. »Das sieht nach einer kritischen Situation aus!« stieß Federspiel hervor. Er hatte kaum ausgesprochen, als das Schwanenschiff abrupt abbremste und mit heulenden Triebwerken nach unten wegtauchte. Die Solaner wurden tief in die Sitze gepreßt, in ihren Mägen breitete sich ein flaues Gefühl aus. Noch immer waren die Waffen in Betrieb, ein hohles Brausen erfüllte die Zentrale, aufgeregt flackerten gleich dutzendweise farbige Lämpchen. Der Boden erzitterte, die Schwingungen griffen auf die Wände über, Vibrationen durchliefen das unbekannte Material. Plötzlich gab es einen ohrenbetäubenden Knall, sekundenlang malträtierte ein häßliches Kreischen die Trommelfelle. Die Anzeigen der Schutzschirme schnellten nach oben, gleich darauf gab es einen heftigen Ruck, der die Männer und brauen nach vorn riß. Nur der Tatsache, daß sie angeschnallt waren, verdankten sie es, nicht haltlos davongewirbelt zu werden. Selbst Blödel hatte Mühe, auf
den Beinen zu bleiben. Die TAUPRIN neigte sich nach rechts, sie ruckte und schlingerte wie ein Schiff bei schwerer See. Der schwenkbare Hals machte einige Pendelbewegungen nach links und rechts, eine starke Erschütterung durchlief ihn, gefolgt von einem orgelnden Geräusch. Es gab nicht wenige, die sicher waren, daß ihr letztes Stündchen geschlagen hatte. Untätig, etwas zu ihrer Rettung unternehmen zu können, hingen sie in den Gurten. Ihre Gesichter waren bleich, die Augen schreckgeweitet. Sie wollten schreien, doch die Angst schnürte ihnen die Kehle zu. Kaum jemand schenkte den nach wie vor eingeschalteten Bildschirmen Aufmerksamkeit. Wer hatte auch die Nerven, in einer solchen Situation, den eigenen Untergang vor Augen, noch das beobachten zu wollen, was sich außerhalb des Schiffs tat? Atlan gehörte zu der Handvoll Leute, die auch in solch kritischen Augenblicken einen klaren Kopf behielten. Er registrierte, daß draußen unregelmäßig geformte Brocken und Gesteinstrümmer unterschiedlicher Größe vorbeirasten. Die Bewegungen der TAUPRIN stabilisierten sich, die Wände gerieten wieder ins Lot. Mittlerweile schwiegen auch die Waffen, der Lärm verebbte, und das Tosen der Triebwerke milderte sich ab, bis nur noch ein feines Summen die Luft erfüllte. »Die Gefahr ist vorüber, ihr könnt euch wieder losschnallen«, meldete Tauprin. »Bei allen Raumgeistern«, krächzte Nockemann. »Ich sah mich schon in Moleküle zerlegt als Bestandteil der Dunkelzone. Was ist überhaupt passiert?« »Wir haben einen ausgedehnten Trümmerring durchflogen«, gab die Tauprin-Intelligenz bereitwillig Auskunft. »Warum bist du nicht ausgewichen, anstatt dich auf ein solches Höllenmanöver einzulassen?« erkundigte sich der Wissenschaftler unfreundlich. »Es war nicht vorauszusehen.«
»Von sehen kann in dieser Finsternis wohl auch keine Rede sein«, ereiferte sich der Galakto-Genetiker. »Ich denke, du verfügst über Orter, oder fliegst du nach Gehör?« »Diesmal hast du etwas zu wörtlich genommen, Chef«, beschwerte sich Blödel, doch Nockemann winkte ärgerlich ab. »Selbstverständlich besitzt die TAUPRIN Ortungsanlagen, sogar sehr hochwertige, denn nur so ist ein gezielter Flug unter den hier herrschenden erschwerten Bedingungen möglich, aber verfälschte Meßdaten kann ich auch nicht auf Anhieb erkennen.« Der Arkonide wurde hellhörig. »Wie meinst du das?« »Die Instrumente meldeten eine ungewöhnlich dichte Materieansammlung von siebenhundert Metern Dicke, hinter der sich ein Hohlraum mit ionisiertem Gas befinden sollte. Tatsächlich war die kompakte Staubwand nur vierhundertsiebzig Meter stark, und der gasgefüllte Hohlraum entpuppte sich als die Trümmerzone.« »Hast du eine Erklärung dafür, was die Daten verfälscht haben könnte?« »Sogar mehrere, aber ob auch nur eine davon zutreffend ist, vermag ich nicht zu sagen. Teilweise haben wir es hier mit völlig anderen physikalischen Gegebenheiten zu tun als im freien Raum.« Entweder weiß Tauprin es wirklich nicht, oder er verschweigt die Wahrheit ganz bewußt, machte sich der Logiksektor bemerkbar. Ersteres vorausgesetzt, würde das bedeuten, daß unser Manifest J genauso schlau ist wie wir, was die Dunkelzone betrifft, gab Atlan lautlos zurück. Das steht allerdings deutlich im Gegensatz zu dem, was es bei der Kontaktaufnahme gesagt hat. Da muß ich widersprechen. Tauprin hat dich lediglich davor gewarnt, mit solanischen Schiffen in die Dunkelzone zu fliegen, da du das nicht überleben würdest und statt dessen angeboten, dich der TAUPRIN zu bedienen. Er hat sich selbst angepriesen, wie es ein Marktschreier nicht
besser hätte tun können, dachte der Arkonide. Und dann darf ich dich daran erinnern, daß er nie einen Hehl daraus gemacht hat, welche Möglichkeiten das Schwanenschiff besitzt. Das war später. Ob später oder früher, was spielt das für eine Rolle? Tatsache ist, daß die Dunkelzone selbst für die TAUPRIN ihre Tücken hat. Der Arkonide machte aus seiner Verstimmung keinen Hehl. Oder willst du das bestreiten? Tauprin kann dich und die anderen auch ganz bewußt täuschen, damit du ihn für loyal hältst. Um das zu erreichen, muß er sich nicht selbst der Gefahr der Zerstörung aussetzen, gab der Aktivatorträger gedanklich zurück. Tauprin kennt seine Möglichkeiten, Anti-ES auch. Alles muß echt aussehen, denn du bist mißtrauisch, also ist es wirkungsvoller, dick aufzutragen. Der Extrasinn wirkte amüsiert. Immerhin hast selbst du einen Moment lang um dein Leben gebangt. Es wäre auch dein Ende gewesen, dachte Atlan voller Ingrimm. Immerhin ist es sehr aufschlußreich, daß dir an meinem Tod mehr zu liegen scheint als meinen Feinden. Was willst du damit sagen? Daß ich in nächster Zukunft auf deine Ratschläge verzichte! Gut, dann halte dich an Tauprin, du vertrauensseliger Narr! Du wirst schon sehen, was du davon hast! Der Unsterbliche strafte seinen Logiksektor mit Verachtung und warf einen Blick auf die Wiedergabegeräte. Die Bildschirme zeigten eine scheinbar konsistente Masse in feinkörnigem Schwarz, in der die TAUPRIN zu verharren schien. Daß das ein Trugschluß war, bewies einer der beiden Monitoren: Mit mehr als 63.000 km/sec durcheilte das Schwanenschiff das unberechenbare Medium aus Vakuum, Staub und winzigen Brocken. Die vier eingeschalteten Schirmfelder verhinderten, daß der exotische Raumer durchlöchert wurde wie ein Sieb. Atlan erhob sich und setzte sich neben Sanny, die in ihrem Sessel
ein wenig verloren wirkte. »Was hältst du von der Sache? Ich meine diesen Zwischenfall mit dem Trümmerring. War es Absicht, Zufall oder nur ein Trick, der uns in Sicherheit wiegen soll?« »Fragst du mich das als Paramathematikerin?« »Wenn du meine Frage so interpretierst und auch beantworten kannst, wäre das sehr von Vorteil.« »In dieser Hinsicht muß ich dich enttäuschen. Ich erkenne keine Grundlage, mir fehlt die Basis.« Die kleine Molaatin versuchte, zu lächeln. »Es tut mir leid.« »Gräme dich nicht, schließlich bist du keine Maschine, die man einfach abfragen kann.« Der Aktivatorträger strich ihr sanft über den Kopf. »Wie denkst du als normale Sterbliche darüber?« »Denkt ein Unsterblicher anders?« erkundigte sich Sanny mit kokettem Augenaufschlag. »Nein, so wollte ich das nicht verstanden wissen.« Der Arkonide wurde tatsächlich ein wenig verlegen. »Sage mir einfach deine Meinung.« »Da kann ich mich mit wenigen Worten begnügen, denn ich glaube, daß uns das intelligente Schiff in jeder Beziehung unterstützt.« »Ach.« Atlan wirkte überrascht. »Für dich ist es also kein Widerspruch, daß Tauprin sich erst als Nonplusultra empfahl und nun eingestehen mußte, zumindest scheinbar widrigen Umständen ausgeliefert zu sein?« Sanny wurde einer Antwort enthoben, weil Tauprin sich erneut meldete. »Bitte begebt euch auf eure Plätze und schnallt euch an.« In gespielter Verzweiflung schlug Hage Nockemann die Hände vors Gesicht. »Nein, nicht schon wieder ein Trümmerring.« »Darum handelt es sich auch nicht. Die TAUPRIN wird angegriffen.«
Atlan hastete zu seinem Sitz. Kaum, daß er sich die Sicherheitsgurte umgelegt hatte, fragte er: »Von wem?« Anstelle einer Antwort wechselte das Bild auf den Sichtschirmen, rechnergestützte Aufnahmen wurden eingeblendet. Sie zeigten riesige Brocken, die mit Kratern bedeckt waren und zwischen drei und acht Kilometer durchmaßen. Wenn man den Anzeigen Glauben schenkte, mußten diese Gebilde eine mittlere Dichte von annähernd 4 g/ccm haben, übertrafen also die Krustendichte Terras mit 3 g/ccm und hatten damit Werte, die knapp über Marsdurchschnitt lagen. Grob überschlagen bedeutete das, daß jeder der nicht exakt kugelförmigen Giganten viele Millionen Tonnen wog. Sie hatten zwar Masse und Umfang eines Planetoiden, konnten aber keine sein, da sie nicht um einen gemeinsamen Schwerpunkt kreisten, sondern sich entlang einer Geraden bewegten. Abgesehen davon, daß sie für Meteoriten viel zu voluminös waren, wäre es ohnehin mehr als unwahrscheinlich gewesen, derartige Raumkörper hier zu treffen. Außerdem brachten sie es nur auf eine Geschwindigkeit von maximal 70 km/ sec, die Brocken bewegten sich jedoch um einen Faktor schneller, der zwischen zwölf und vierzehn lag. »Ich gebe zu, daß derartige Objekte in diesem Sektor ziemlich merkwürdig anmuten, aber wie kommst du darauf, daß sie uns angreifen?« erkundigte sich der Arkonide stirnrunzelnd. Eine Grafik wurde eingeblendet, die sowohl die Flugrichtung des Raumers als auch die der sieben Körper zeigte. Alle kamen aus verschiedenen Richtungen, doch ihnen war gemeinsam, daß sie die Bahn des Schwanenschiffs so kreuzten, daß die Kollision mit wenigstens einem Giganten unausweichlich schien. »Das sind die Standardwerte«, sagte Tauprin. »Ich führe nun eine Kursänderung durch.« Die ursprünglichen Daten auf dem Schirm blieben unverändert. Ein leuchtender Punkt zeigte die Position der TAUPRIN an.
Langsam, wie es schien, wich sie von den bisherigen Koordinaten ab. Eine blinkende Linie zeigte die Richtung an, die der Raumer nehmen würde, wenn keine Korrektur durchgeführt wurde. Und dann geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte, selbst Atlan nicht: Die Kolosse wurden plötzlich schneller, ohne daß eine Ursache dafür erkennbar war. Wie überdimensionale Kanonenkugeln rasten sie auf das Schiff zu, dabei schien die relativ dichte Materie sie kaum zu bremsen. Der Aktivatorträger schluckte. Was sich außerhalb des Schwanenschiffs tat, konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß die Riesenbrocken intelligent waren. Unbewußt schüttelte er den Kopf. Nein, es widersprach dem gesunden Menschenverstand, daß diese gewaltigen Objekte Lebewesen waren, ganz abgesehen davon, daß Federspiel in einem solchen Fall etwas bemerkt und ihn informiert hätte. Wahrscheinlicher war, daß sie gelenkt wurden, aber wer oder was steuerte sie? Gab es so etwas wie Wächter in diesem Teil der Dunkelzone oder automatische Stationen in der Art der MentalRelais, die auf diese Weise Eindringlinge abwehrten? Über welchen Antrieb verfügten die massigen Brocken? Eine junge Solanerin schrie gellend auf. »Sie wollen die TAUPRIN zertrümmern!« Panikerfüllt deutete sie auf den Ortungsschirm. »Seht ihr es denn nicht? Sie werden die TAUPRIN vernichten. Wir werden sterben – alle!« Mit bebenden Händen löste sie die Gurtverriegelung und sprang auf. »So tut doch endlich etwas!« Bevor es jemand verhindern konnte, rannte sie zu Atlans Sessel, packte ihn an der Kombination und schüttelte ihn. »Warum tust du nichts? Es ist deine Schuld, daß alles so gekommen ist!« Haltlos schluchzend sank sie vor ihm auf die Knie. »Du mußt uns retten! Bitte!« Zwanzig Augenpaare waren auf die Technikerin und den
Arkoniden gerichtet, dessen Gesicht maskenhaft starr war. Reflexhaft fuhr er der blonden Solanerin übers Haar. Was sollte er sagen? Daß er so hilflos war wie alle in diesem Raum? Daß er den Flug des Raumers nicht beeinflussen konnte? Daß sie gewußt hatten, daß dieses Unternehmen gefährlich war, und trotzdem freiwillig mitgekommen waren? Sollte er Durchhalteparolen ausgeben, versuchen, ihnen Heldenhaftigkeit einzureden oder neuen Mut in ihnen zu wecken? Es würden Gemeinplätze sein, Worte, leer und schal, mit einem bitteren Beigeschmack, denn in zwei, drei Minuten konnte alles zu Ende sein. Also stumm dasitzen und auf den Tod warten? Sollte sich sein Schicksal hier erfüllen – seins und das seiner Begleiter? War das die Aufgabe Tauprins, ihn zu diesem Punkt zu bringen, damit er fernab jeglicher Rettungsmöglichkeit getötet werden konnte? Schätzte Anti-ES ihn wirklich als einen so gefährlichen Gegner ein, daß es sogar die Vernichtung eines Manifests in Kauf nahm? Vertraute Geräusche drangen an sein Ohr. Die Desintegratorbatterien begannen wieder zu feuern, gleichzeitig verstärkte sich das Geräusch der Triebwerke zu einem dumpfen Dröhnen. Die Schiffszelle erzitterte, als die TAUPRIN ein Gewaltmanöver einleitete, um dem Angriff zu entgehen. Auf Nockemanns Veranlassung hin kümmerte sich Blödel um die junge Solanerin. Sie wirkte wieder ein wenig gefaßter, der Tränenstrom war versiegt, nur ab und zu schniefte sie noch. Die Blondine leistete keinen Widerstand, als der Roboter sie unterhakte und zu ihrem Sessel führte. Neue Hoffnung keimte in Atlan und den anderen auf. Aller Blicke waren auf den Monitor gerichtet, der von den Tastern und Ortern beschickt wurde. Mit angehaltenem Atem verfolgte die Gruppe den Kurs der Riesenbrocken und das Bemühen Tauprins, ihnen auszuweichen und zu entkommen. Drei der mächtigen Körper verfehlten die TAUPRIN um mehrere
Kilometer und sausten davon, ein vierter löste sich durch den konzentrierten Beschuß in Trümmer und Splitterstücke auf, doch die Gefahr war noch nicht gebannt. Seitlich versetzt, rasten die restlichen drei Kolosse heran. Atlan traute seinen Augen nicht: Sie änderten ihre Flugbahn und versuchten, dem Schwanenschiff den Weg abzuschneiden. Mit jeder Sekunde verringerte sich die Distanz um mehrere hundert Meter. Die Augen des Arkoniden begannen zu tränen, ein deutliches Zeichen für seine Erregung. Die Kieferknochen mahlten, krampfhaft umklammerte er die Sitzlehnen, ohne daß es ihm bewußt wurde. In der Zentrale herrschte eine unheilschwangere Stille, niemand sprach ein Wort. Einige hatten die Hände vors Gesicht gepreßt, weil sie den Anblick der rasch näherkommenden Planetoiden nicht mehr ertragen konnten, andere bewegten lautlos die Lippen, wieder andere saßen wie versteinert auf ihren Plätzen, den Blick starr auf den Schirm gerichtet und auf einen Punkt fixiert. Es schien, als wollten sie die todbringenden Objekte hypnotisieren und durch Geisteskraft ihren Kurs beeinflussen. Der nächste Riesenbrocken war nur noch drei Kilometer entfernt, und er kam rasch näher. Ein Leuchtpunkt auf der Datenanzeige erstrahlte in düsterem Rot – dort würde es zur Kollision kommen.
* Ohne Vorwarnung bremste die Tauprin so abrupt ab, daß ihre Passagiere nach vorn katapultiert und regelrecht in die Gurte gepreßt wurden. Vor den Augen der Männer und Frauen verschwamm alles, das Blut rauschte in den Ohren, der Brustkorb schien in einem Schraubstock zu stecken, Zentnergewichte legten sich auf sie, deren Gewicht sich mit jeder Minute zu potenzieren schien, dabei waren es nicht einmal 1,09 Sekunden, dann normalisierte sich die Schwerkraft wieder.
Als Atlan seine Umgebung wieder deutlich wahrnehmen konnte, galt sein erster Blick den Monitoren. Das rote Licht war erloschen, die Geschwindigkeit des Raumers betrug nur noch 54,000 km/sec, und sie sank weiter. Gleichzeitig war zu erkennen, daß das Schwanenschiff eine enge Parabel flog, die es auf den ursprünglichen Kurs zurückbrachte. Zwei der Kolosse rasten gefährlich nah an der TAUPRIN vorbei, aber es war noch ein Brocken übrig. Ihm gelang es, seine Bahn so zu verändern, daß ein Zusammenstoß unausweichlich war, also versuchte Tauprin es erneut mit dem Einsatz der Desintegratoren. Hin- und hergerissen zwischen der Hoffnung auf ein Wunder und kreatürlicher Furcht verfolgte das Häufchen Verlorener das verzweifelte Bemühen des intelligenten Schiffes, den Angreifer zu zerstrahlen, um so selbst der völligen Zerstörung zu entgehen. Rein äußerlich wirkte der Arkonide wie eine Statue, doch hinter seiner Stirn arbeitete es, seine Gedanken überschlugen sich förmlich. Er konnte und wollte nicht glauben, daß alles vorbei sein sollte, daß ein Leben von mehr als zehntausend Jähren ein so unrühmliches Ende finden sollte. Ein Jubelschrei aus einem Dutzend Kehlen erfüllte die Zentrale, erstarb jedoch sofort wieder. Der TAUPRIN war es zwar gelungen, den Riesenbrocken in drei unterschiedlich große Teile zu zerlegen, aber selbst der kleinste mußte noch ein Volumen von einem Kubikkilometer haben und besaß demnach eine Masse von rund vier Millionen Tonnen. Das war mehr als genug, um den Raumer trotz seiner Schutzschirme zu zertrümmern. Doch Tauprin gab nicht auf. Salve auf Salve wurde abgefeuert, jede traf und verwandelte die feste Materie tonnenweise in Atome, aber es hätte anderer Waffen oder stärkerer Desintegratoren bedurft, um die Brocken in der verbleibenden Zeit noch vernichten zu können. Noch einmal kam Hoffnung auf. Die Stoßrichtung der
Bruchstücke zeigte Abweichungen, die Bewegungen wurden unkontrolliert. Die Tauprin-Intelligenz reagierte blitzschnell. Ein kurzer Schub der Korrekturtriebwerke, ein Schwenk des beweglichen Halsteils, und Tauprin brachte tatsächlich das Kunststück fertig, einem der Kolosse in letzter Sekunde auszuweichen. Zum Greifen nah, im Abstand von vierzig Metern, driftete der massereiche Körper vorbei. Nur noch sechzig beziehungsweise neunzig Meter trennten das exotische Schiff von den beiden anderen Teilen, die ins Trudeln geraten waren. Die Desintegratorbatterien verstummten, die Triebwerke brüllten auf, als sie auf Vollast geschaltet wurden. Der Raumer bockte wie ein störrisches Maultier, Wände und Verstrebungen ächzten und knackten, als würden sie jeden Augenblick zerbrechen, ein schrilles Pfeifen überlagerte die anderen Geräusche. Heftige Vibrationen durchliefen den Raumer, als würde er von den Energien, die er selbst freigesetzt hatte, auseinandergerissen. Ein infernalisches Heulen war zu hören, dann erschütterte ein furchtbarer Schlag die TAUPRIN. Schlagartig erloschen die Kontrollen und die Bildschirme, das Licht flackerte, dann wurde es stockfinster, gleich darauf fiel die Gravitation aus. Schrilles Kreischen erfüllte die Dunkelheit; es klang wie überbeanspruchtes, gewaltsam zertrenntes Metall. Das Schiff wurde herumgewirbelt und verwandelte sich in eine überdimensionale Zentrifuge, oben und unten wurden eins. Ein ungeheurer Druck legte sich auf Brust und Ohren, hilflos wie Puppen kämpften die in ihre Sitze gepreßten Solaner und ihre Begleiter röchelnd um jeden Atemzug. Der Organismus war den auf ihn einwirkenden Kräften nicht gewachsen. Anti-ES hat sein Ziel erreicht, das ist das Ende, war Atlans letzter Gedanke, dann schwanden ihm die Sinne.
2.
»Hallo, Atlan, aufwachen!« Der Arkonide hörte nur die knarrende Stimmender Sinn der Worte blieb ihm verborgen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Verstand die Erkenntnis verarbeitete, daß sein Trägerkörper noch lebte. Blinzelnd öffnete er die Augen. Die Umgebung war fremdartig, aber bekannt: Es war die Zentrale der TAUPRIN. Sie war also nicht oder wenigstens nicht völlig zerstört worden. Du hast wieder einmal unverschämtes Glück gehabt, meldete sich der Logiksektor. Und du mit mir, gab der Arkonide gedanklich zurück. Zweifelst du immer noch an Tauprins Loyalität? Ich gebe zu, daß ich vielleicht ein wenig zu skeptisch war, antwortete das Extrahirn ausweichend. Atlan sah sich um. Neben ihm stand Blödel, Hage Nockemann war ebenso wie Tyari und Barleona bereits wieder bei Bewußtsein, und auch die anderen begannen sich zu regen. Zerstörungen gab es kaum, die Datenschirme waren wieder eingeschaltet, Beleuchtung und Gravitation zeigten keine Veränderung. »Hast du alle untersucht?« fragte der Aktivatorträger den Roboter. »Ja. Einige haben kleinere Blessuren, aber niemand ist ernsthaft verletzt worden.« »Es freut mich, daß ihr alles so gut überstanden habt«, sagte Tauprin. »Ich denke, es wird euch beruhigen, zu hören, daß auch die TAUPRIN keine ernsthaften Schäden davongetragen hat. Das Schiff ist nach wie vor voll einsatzfähig.« »Wie kommt es, daß die TAUPRIN dem Zusammenstoß standhalten konnte?« »Mir ist es noch einmal gelungen, ein Ausweichmanöver durchzuführen. Ein Trümmerbrocken hat das Schiff ganz kurz gestreift. Ich hoffe, es ist in deinem Sinn, Atlan, daß ich dem ursprünglichen Kurs folge.« Bevor der Arkonide antworten konnte, erhob sich lautstarker
Protest, einige Solaner zeigten deutliche Anzeichen von Panik. Zu frisch war noch die Erinnerung an die letzten Ereignisse. »Wir wollen zurück!« rief Tyari und machte sich damit zur Wortführerin der Verängstigten. »Die Dunkelwolke steckt voller Tücken und Gefahren. Wir werden sterben, ohne unser Ziel zu erreichen.« Beifälliges Gemurmel erklang, ein vierschrötiger Hüne applaudierte. »Tyari hat recht.« Seine Baßstimme übertönte die anderen mühelos. »Ein Weiterflug ist nicht zu verantworten.« »Warum wollt ihr aufgeben?« Barleona hatte sich losgeschnallt und war aufgestanden. »Tauprin hat alle Schwierigkeiten überwinden können. Ich vertraue ihm.« »Was nützt Vertrauen, wenn die Möglichkeiten beschränkt sind?« ereiferte sich die weißhaarige Frau. »Das war bereits das zweite Mal, daß wir in Lebensgefahr schwebten.« Der breitschultrige Solaner lachte gekünstelt. »Das ist die Untertreibung des Jahres. Wir haben dem Tod ins Auge gesehen und konnten nichts tun, als uns auf dieses verdammte Manifest zu verlassen. Ich muß verrückt gewesen sein, mich auf ein solches Abenteuer einzulassen.« Er schlug sich mit einer Hand vor die Stirn. »Ich Idiot!« Barleona breitete beschwichtigend die Arme aus. »Ich kann euch verstehen, aber wenn wir zurückfliegen, haben wir nichts von dem erreicht, was wir uns vorgenommen haben.« »Aber wir leben wenigstens noch!« Tyari warf Barleona einen wütenden Blick zu. »Du solltest nicht auf Barleona hören, Atlan«, gurrte sie und schenkte dem Arkoniden ein aufreizendes Lächeln. »Sie weiß nicht, wovon sie redet. Sie will dich beeinflussen.« »Das ist nicht wahr.« »Oh, doch. Du versuchst, Atlan den Kopf zu verdrehen, willst ihn zu einem Narren machen, der dir hörig ist.« Tyaris Augen funkelten.
»Glaubst du, ich habe dich nicht durchschaut, du kleines Biest?« »Du lügst«, sagte Barleona, die den Tränen nahe war. »Warum sollte ich? Atlan weiß, daß ich mich um ihn sorge – und nicht nur um ihn, sondern um alle, die sich hier im Raum aufhalten. Noch ist es nicht zu spät, umzukehren.« Erneut wurde Zustimmung laut. Alle Solaner, die nicht zu Atlans Team gehörten, standen auf Tyaris Seite. »Es hat wenig Zweck, über etwas zu streiten, was sich unserem Einfluß entzieht.« Der Arkonide sprach ruhig und gelassen. »Tauprin ist weder weisungsgebunden noch haben wir Mittel, um ihn zu etwas zu zwingen.« Auf den Gesichtern spiegelte sich Betroffenheit wider. Das hatten sie nicht bedacht, dennoch wollte Tyari allein deswegen schon nicht aufgeben, weil das in ihren Augen ein Erfolg für Barleona war. »Wir haben die Möglichkeit, Tauprin unsere Gründe darzulegen und ihn zu bitten, umzukehren.« »Impulsivität und Emotionen sind schlechte Ratgeber.« Der Arkonide verschränkte die Arme über der Brust. »Was nützt uns ein Rückflug, was nützt er der SOL? Nichts, denn das Problem mit Erfrin wird dadurch nicht gelöst. Möglicherweise bedeutet es tatsächlich eine Lebensverlängerung für uns wenige hier, wenn wir umkehren, um in einigen Monaten zusammen mit dem Generationenschiff unterzugehen, aber haltet ihr das wirklich für eine erstrebenswerte Lösung? Würdet ihr euch nicht Selbstvorwürfe machen, könntet ihr die Anklagen – selbst wenn es nur Blicke sind – von über neunzigtausend Solanern und anderen intelligenten Wesen ertragen? Müssen wir nicht alles versuchen, um das drohende Unheil abzuwenden? Wo ist auf einmal euer Mut geblieben, den ihr so oft bewiesen habt?« Er musterte die Anwesenden der Reihe nach. Einige schlugen die Augen nieder, andere wichen seinem Blick verlegen aus. »In der Vergangenheit hat es sich gezeigt, daß es uns keinen Deut weiterhilft, vor auftretenden Schwierigkeiten die Augen zu
verschließen. Warum also sollten wir jetzt einfach kapitulieren, da wir die erste Hürde schon genommen haben? Wie gesagt, es geht um die Befreiung der SOL von Erfrin, aber da ist auch noch das Rätsel des Innenraums, da gilt es ferner, den Weg zu Anti-ES zu finden, und nicht zuletzt geht es um die Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst. Ist nicht ein Punkt allein schon Motivation genug?« Widerspruch blieb aus. Niemand vermochte sich Atlans Argumentation zu verschließen. Tyari schwieg ebenfalls, aber sie beschloß, es Barleona bei passender Gelegenheit heimzuzahlen. Daß sie sich nicht hatte durchsetzen können, betrachtete sie als persönliche Niederlage und als Sympathieverlust bei Atlan. »Bitte schnallt euch wieder an!« ließ sich Tauprin vernehmen. »Was ist es diesmal?« erkundigte sich der Aktivatorträger voll dunkler Vorahnung. »Es sind wieder diese Riesenbrocken! Nachdem der erste Angriff fehlgeschlagen war, tauchten wenig später weitere auf.« »Als wir bewußtlos waren?« »Ja.« »Und was geschah?« »Nichts, ich konnte ihnen ausweichen. Seitdem wiederholen sich die Attacken in kurzen zeitlichen Abständen.« »Warum hast du uns nicht darüber informiert?« »Ihr hättet euch nur unnötig geängstigt.« »Aber die Planetoiden sind somit eine ständige Gefahr für die TAUPRIN und damit auch für uns«, rief Tyari. Triumph leuchtete aus ihren Augen. »Bestimmt hätte sich Atlan anders entschieden, wenn er davon gewußt hätte.« »Nein, Tyari, das hätte ich nicht«, sagte der Arkonide mit Entschiedenheit. »Ich bin kein Abenteurer und hänge am Leben wie jeder andere, aber mein Verstand sagt mir, daß wir dieses Risiko auf uns nehmen müssen, um die SOL und damit letztendlich auch uns zu retten.«
»Die Sicherheit der TAUPRIN ist nach meinem Dafürhalten nicht so gefährdet, daß es kritisch ist«, wehrte Tauprin ab. »Die Angriffe erfolgen stets nach dem gleichen Schema, so daß ich mich darauf einstellen konnte. In diesem Zusammenhang sind mir mehrere Dinge aufgefallen.« »Und was ist das?« fragte der Aktivatorträger nach einem kurzen Blick auf den Ortungsschirm. »Wie gesagt, hinter diesen Attacken steckt ein gewisses System, doch außerdem ist mir aufgefallen, daß die Brocken nicht nur gelenkt zu sein scheinen, sondern auch nur aus zwei verschiedenen Richtungen kommen – jedenfalls hat es den Anschein.« »Du bist dir also nicht ganz sicher?« »Nein, aber die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß meine Beobachtung richtig ist. Ich halte es für richtig, die Ursache zu finden und wenn möglich zu beseitigen. Das dient nicht nur eurer und meiner Sicherheit, sondern erspart uns auch zeitraubende Ausweichmanöver und Kursänderungen.« Auf den Bildschirmen blitzte es auf. Die Desintegratorbatterien hatten zu feuern begonnen, gleichzeitig steigerte sich das Arbeitsgeräusch der Triebwerke. Der Boden der Zentrale neigte sich leicht nach vorn, so daß man den Eindruck gewann, daß das Schwanenschiff regelrecht nach unten wegtauchte. Einer der Datenschirme zeigte an, daß die Materie ziemlich dicht geworden war, die Geschwindigkeit betrug nur noch 47.000 km/sec. Vier der mehrere Kilometer durchmessenden bereits bekannten Objekte rasten auf die in ihre Schirmfelder gehüllte TAUPRIN zu. Jedes Mitglied der kleinen Gruppe hatte Tauprins Worte gehört, was seine Einschätzung der Gefahr betraf, dennoch machte sich eine gewisse Beklommenheit breit. Der Raumer respektive die ihn steuernde Intelligenz hatte bewiesen, wozu das Schwanenschiff fähig war, dennoch waren die angstvollen Minuten und die scheinbar unabwendbare Zerstörung nicht vergessen. Die Angst, daß es wieder so kommen könnte, machte die Menschen und ihre
Verbündeten stumm. Du bist dir auch nicht ganz sicher, wisperte der Logiksektor nicht ohne eine gewisse Ironie. Kann ich das denn, wenn ich pausenlos mit deinen pessimistischen Eindrücken bombardiert werde? dachte Atlan. Du hast es vorhin bestritten, ein Abenteurer zu sein, doch ohne meinen mäßigenden Einfluß und meine ständigen Warnungen wärst du ein Hasardeur reinsten Wassers. Ein unwilliger Impuls erreichte das Extrahirn. Wann siehst du endlich ein, daß deine Unsterblichkeit nur relativ ist? Jede Anwendung von Gewalt tötet dich wie jeden normalen Sterblichen auch. Es sei denn, jemand versucht, mir den Schädel einzuschlagen. Ich verstehe nicht. Wenn er nicht zu fest schlägt, erwischt er dich, und mein Gehirn bleibt unverletzt, gab der Arkonide amüsiert zurück. Wie findest du das? Geschmacklos und absurd. Gut, wechseln wir das Thema. Wer, glaubst du, steckt hinter diesen Attacken? Mangels Fakten habe ich mir noch kein endgültiges Urteil gebildet. Demnach bist du doch unsicher geworden, was Tauprin betrifft, gab der Aktivatorträger gedanklich zurück. Ein Manifest, daß uns ins Verderben führen soll, gleichzeitig aber angegriffen wird und uns unterstützt, sich also gegen seinen Herrn stellt, obwohl es ihm hörig sein müßte, sprengt jeden logischen Rahmen. Die Wesenheit, die die Dunkelzone geschaffen hat, muß nicht unbedingt mit jener identisch sein, der das Manifest J gehorcht, antwortete der Logiksektor sphinxhaft. Du hältst es also für möglich, daß dieser Sektor zum Machtbereich von Hidden-X gehört hat? Der Arkonide wirkte überrascht. Oder meinst du Anti-Homunk? Atlan korrigierte sich gedanklich. Nein, das ist keine Wesenheit, wie sie unserem Verständnis entspricht.
Meinst du etwa Seth-Apophis? Das würde manches erklären, aber es würde auch bedeuten, daß wir das Korn sind, das zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben wird. Diesmal bist du der Schwarzseher. Der Extrasinn gab sich erheitert. Nein, nach meinem Verständnis haben wir es letztlich nur mit einer SuperIntelligenz zu tun. Warum nennst du nicht ihren Namen? Ist es Anti-ES? Es ist Anti-ES, aber ich brauche mehr Informationen, also gedulde dich. Atlan hätte sich gern noch weiter mit diesem Themenkreis auseinandergesetzt, doch der Logiksektor war ganz offensichtlich nicht bereit, über Dinge zu diskutieren, deren Erkenntnis nicht gesichert war. Vielleicht hielt er auch den Zeitpunkt für falsch gewählt, denn zunächst galt es, den Angriff der vier Riesenbrocken zu überstehen. Der Arkonide beobachtete abwechselnd die Bildschirme und die Monitoren. Was er sah, ließ ihn und vor allem seine Begleiter ruhiger werden. Tauprin hatte nicht übertrieben und sich wirklich gut auf die Attacken eingestellt. Ein Koloß verging unter dem konzentrierten Feuer des Raumers und wurde zum Bestandteil der Dunkelwolke, bevor er dem Schiff gefährlich werden konnte. Durch blitzschnelle Ausweich- und Wendemanöver narrte die TAUPRIN die wesentlich trägeren Verfolger regelrecht und brachte sogar das Kunststück fertig, zwei der Giganten auf Kollisionskurs zu bringen. Sie versuchten noch, sich gegenseitig auszuweichen, schafften es aber nicht mehr und prallten aufeinander. Ein Brocken zerplatzte unter der ungeheuren Wucht, der andere verlor einen Großteil seiner Masse und driftete durch den Trümmerring von dem Schwanenschiff weg. Die Desintegratorbatterien nahmen den noch verbliebenen Planetoiden aufs Korn. Da die Zeit nicht reichte, ihn zu vernichten, bevor er auf die TAUPRIN traf, wandte die Tauprin-Intelligenz eine andere Taktik an. Sie floh und erreichte damit, daß der Riesenbrocken seine Bahn änderte und dem Schiff folgte, das nach
wie vor Treffer auf Treffer erzielte. Bei jeder Salve verlor der Gigant etliche Tonnen an Masse, er schrumpfte von Sekunde zu Sekunde, und dann, nach einer zwei, drei Minuten dauernden Verfolgungsjagd, war es um ihn geschehen. Nichts außer feinen und feinsten Partikeln blieb von ihm übrig. Die Nervenanspannung der Solaner machte sich in einem lauten Freudengeheul Luft, und selbst Atlan konnte sich ein anerkennendes Nicken nicht versagen. Vorausgesetzt, der unsichtbare Gegner ließ sich nicht eine neue Angriffsvariante einfallen, hatten sie gute Aussichten, ihr selbstgestecktes Ziel unversehrt zu erreichen. Im nachhinein fühlte er sich darin bestärkt, daß es richtig gewesen war, nicht einfach aufzugeben, sondern dem einmal eingeschlagenen Weg zu folgen. Tauprin, der während der Auseinandersetzung geschwiegen hatte, meldete sich wieder. Der Arkonide war sicher, daß es ihm möglich war, gleichzeitig zu kämpfen und sich zu unterhalten, aber er rechnete wahrscheinlich damit, daß seine Passagiere in solchen Situationen dem Geschehen draußen mehr Aufmerksamkeit schenkten als einem Gespräch und demzufolge nicht bei der Sache waren. »Um noch einmal auf die Ursache dieser Attacken zurückzukommen«, sagte Tauprin, ohne auf seine bravouröse Leistung auch nur mit einem Wort einzugehen, »ich halte es für zweckmäßig, wenn gleichzeitig in beiden verdächtigen Richtungen geforscht wird. Unsere Erfolgsaussichten verdoppeln sich dadurch.« »Das würde den Einsatz eines Beiboots bedeuten.« Nachdenklich rieb Atlan sich das Kinn. »Ist eine Besatzung erforderlich?« »Nein, aber es wäre vielleicht von Vorteil. TOCHTER und SOHN verfügen nur über eine automatische Zentrale im Kopf.« Blödel griff die Anregung sofort auf. »Das wäre natürlich eine Aufgabe für Scientologen, nicht wahr, Chef?« »Du sagst es, Blödel.« Hage Nockemann zwirbelte zufrieden
seinen Bart. »Nur Wissenschaftler von unserem Format können einen solchen Auftrag erfolgreich durchführen. Was uns zusätzlich qualifiziert, ist unsere Erfahrung mit der Dunkelzone.« »Ich komme mit euch«, rief Glogg. »Atlan, unser Team ist bereit.« Der Arkonide schmunzelte. Dieser Übereifer war typisch für den schrulligen Galakto-Genetiker. »Also gut, ihr drei übernehmt das Beiboot. Oder braucht ihr noch Verstärkung?« »Was soll denn das nun wieder heißen?« entrüstete sich die mobile Laborpositronik. »Mein Chef und ich wiegen jeder gut und gerne ein halbes Dutzend Spezialisten auf.« »Na, sagen wir fünf«, schwächte Nockemann ab. »Dann muß es sich aber schon um Experten der Spitzenklasse handeln«, tönte der von keinerlei Minderwertigkeitskomplexen geplagte Roboter. »Nun laß es gut sein, Blödel.« Der Wissenschaftler wandte sich an den Aktivatorträger. »Sollen wir sofort starten?« »Eine unerwartete Schwierigkeit ist aufgetaucht, die einen Weiterflug im Augenblick verhindert«, meldete Tauprin. »Die Orientierungssysteme sind derart nachhaltig gestört, daß eine gezielte Navigation nicht mehr möglich ist.« Betroffen blickten Atlan und seine Begleiter auf die Monitore. Der Orterschirm zeigte nur noch eine dunkle Fläche, die von nebulösen grauen Schlieren durchzogen wurde, die Optiken übermittelten lichtlose Schwärze. Die Geschwindigkeit war auf 9.000 km/sec gefallen, und wie erkennbar war, wurde die TAUPRIN mit hohen Werten abgebremst. Es war abzusehen, wann sie zum Stillstand kam. Einigermaßen ratlos wandte sich der Arkonide an Tauprin. »Das wirft unseren Plan über den Haufen. Vermutest du eine gezielte Störung durch Fremdeinfluß?« »Es ist nicht auszuschließen, aber die TAUPRIN verfügt über
Möglichkeiten, die Wirkung wenigstens teilweise zu neutralisieren. Dazu bedarf es einer Phase der Umorientierung.« Über das, was darunter zu verstehen war, ließ sich die Tauprin-Intelligenz nicht näher aus. »Ich werde die Zwangspause nutzen, um die TOCHTER für den bevorstehenden Einsatz zu präparieren. Sie funktioniert dann wahlweise als Vollrobot oder als halbautomatische Einheit, die über einen Kodegeber gesteuert werden kann. Die vorgesehene Besatzung kann bereits an Bord gehen.« Nockemann und Blödel steuerten auf den Ausgang zu, der Vereiser Glogg und Atlan folgten ihnen. Mittels der Antigravschächte des Halsteils gelangten sie in den schlanken Leib der TAUPRIN, der auch Sitz der Tauprin-Intelligenz war. Ohne sich aufzuhalten, hielten sie auf die Beiboothangars zu.
* Mit mäßiger Geschwindigkeit entfernte sich die TOCHTER von der TAUPRIN. Glogg, der seinerzeit die ZACK durch die Dunkelzone gesteuert hatte, hatte vor den Kontrollen Platz genommen, war aber zumindest im Augenblick als Pilot überflüssig. Das einundzwanzig Meter lange Beiboot, das einer Miniatur des Schwanenschiffs glich, folgte einem vorgegebenen Kurs. Alle Anlagen arbeiteten automatisch, auch der Schutzschirm hatte sich selbsttätig aktiviert. Der Raum, in dem sich Nockemann, Blödel und der Vereiser aufhielten, ähnelte bis auf die geringeren Abmessungen der Zentrale der TAUPRIN, allerdings fanden hier nur fünf Personen Platz. Die Verbindung zum Mutterschiff hielt Tauprin selbst aufrecht. Er war der einzige, der Kontakt zu SOHN und TOCHTER aufnehmen konnte. Eine Zeitlang betrachteten sie stumm die hereinkommenden Bilder und Daten, dann wandte der Wissenschaftler sich an den Roboter.
»Gib mir mal den Mentaltranslator, Blödel, ich möchte ihn noch einmal überprüfen und justieren.« Die mobile Laborpositronik öffnete ein Fach ihres Körpers und reichte dem Genetiker ein technisch wirkendes Gebilde, das zwanzig mal zwanzig Zentimeter Grundfläche besaß und dreiunddreißig Zentimeter hoch war. Zahlreiche Auswüchse gaben dem quaderförmigen Körper das Aussehen einer skurrilen Plastik. Beinahe liebevoll nahm Nockemann das Gerät und stellte es auf die Ablagefläche neben seinem Sessel. Als er einen Schalter umlegte, erhellten sich mehrere winzige Skalen und Diagrammanzeigen, deren Abdeckungen gleichzeitig die Funktion einer Lupe erfüllten. Aus drei Seiten wuchsen Antennen und Sensoren, ein schwenkbarer Arm entfaltete einen fünfundzwanzig Zentimeter durchmessenden Parabolspiegel. Er bestand aus zahllosen Quadraten von einem Millimeter Kantenlänge, die von einem feinen rosafarbenen Gespinst bedeckt wurden. »Was ist ein Mentaltranslator?« erkundigte sich der Haawer. Der Galakto-Genetiker machte ein geheimnisvolles Gesicht. »Du erinnerst dich doch sicherlich noch an die Staubflieger, denen wir bei unserer Flucht mit der ZACK in der Dunkelzone begegnet sind?« Als Glogg bejahte, fuhr Nockemann fort: »Ich habe es damals sehr bedauert, daß wir keinen Kontakt mit ihnen aufnehmen konnten. Aus diesem Grund habe ich dieses Gerät konstruiert. Wenn alles so klappt, wie ich es mir vorstelle, können wir uns mit den Staubfliegern verständigen vorausgesetzt natürlich, wir treffen auf sie.« »Chef, du hast meine Mitwirkung bei der Entwicklung des Mentaltranslators nicht erwähnt.« »Das ist auch eigentlich nicht der Rede wert. Du hast ein paar kleine technische Probleme gelöst, nichts weiter«, winkte der Solaner ab. »Als guter Freund von uns sollst du die Wahrheit erfahren, Glogg.«
»Es ist die Wahrheit!« »Du mußt wissen, daß mein Chef einige theoretische Grundlagen entwickelt und mir die Umsetzung dieser Gedanken überlassen hat«, fuhr Blödel unbeirrt fort. »Ich habe also das realisiert, was ihm vorschwebte, und das Ergebnis siehst du hier.« »Wichtig ist die Idee, und die stammt von mir«, zeterte der Galakto-Genetiker. »Jeder dämliche Automat ist in der Lage, etwas zu bauen, wenn er die Pläne dazu hat.« »Ganz recht, aber ich hatte weder Skizzen noch Pläne, von Zeichnungen ganz zu schweigen.« »Apropos schweigen: Warum verschweigst du Glogg, daß du, was die Konstruktion, Schaltanordnungen und anderes technisches Zeug betrifft, eine spezielle Positronik dafür eingesetzt hast?« »Du weißt davon?« erkundigte sich Blödel kleinlaut. »Wie du siehst.« Triumphierend blickte Nockemann seinen Assistenten an. »Was sagst du nun?« »Wir sollten das Thema wechseln.« »Ich verstehe. Es ist dir peinlich.« »Warum sollte es das? Ich kann nicht einmal erröten.« »Das würde auch noch fehlen. Du würdest ständig wie eine überreife Tamate herumlaufen.« »Tomate heißt diese zu den Nachtschattengewächsen zählende Frucht«, verbesserte Blödel. »Du weißt, daß ich diese Besserwisserei nicht ausstehen kann«, fauchte der Wissenschaftler. Der Vereiser kannte die beiden mittlerweile gut genug, um zu wissen, daß sie sich über kurz oder lang wieder in die Haare geraten würden. Teils als Ablenkungsmanöver, teils aus wirklichem Interesse fragte der Haawer: »Wie funktioniert denn der Mentaltranslator?« »Eigentlich sagt es das Wort selbst schon. Es ist eine Art Übersetzungsgerät auf rein geistiger Ebene. Verstehst du, was ich meine?«
»Ja.« »Äh, gut.« Nockemann war sichtlich erleichtert darüber, daß Glogg keine technischen Details wissen wollte. »Kernstück der Anlage ist dieses Gerät hier neben mir. Es ermöglicht vier Personen gleichzeitig, mit den Staubfliegern in Kontakt zu treten – umgekehrt natürlich auch. Du benötigst dazu nichts weiter als diese kleine Sonde, die drahtlos mit dem Mentaltranslator verbunden ist.« Der Solaner reichte dem Haawer eine flache Scheibe, die nicht einmal fünf Millimeter dick war und die Größe eines Daumennagels hatte. Abschätzend wog Glogg das bleigraue, nur wenige Gramm schwere Gebilde in seiner Hand. »Die eine Seite ist mit einer hautfreundlichen Selbstklebefolie beschichtet. Du brauchst dir diesen kleinen Sensor also nur an die Stirn oder die Schläfen zu pressen, damit er dort haften bleibt, und schon bist du in der Lage, die Staubflieger zu verstehen und mit ihnen zu sprechen.« »Vorausgesetzt, es funktioniert«, wandte der Roboter ein. »Das habe ich unterstellt, du Dummkopf, denn sonst könnte man sich ja auch einfach ein Plättchen aus Trockenproteinen an den Schädel kleben«, erregte sich der Genetiker. »Wutwert 3,5 auf der nach oben offenen Tobsuchtsskala.« »Ich verbitte mir derartige Respektlosigkeiten!« schnaubte Nockemann. »Außerdem ist es wissenschaftlicher Unsinn. Es gibt keine Skala, die nach oben offen ist. Alles ist exakt meßbar!« »Ich muß dir widersprechen, Chef. Beispielsweise die Richterskala kennt keine Höchstwerte. Ein Seismograph hat mir das gesagt.« Der Wissenschaftler stutzte, dann brach er in schallendes Gelächter aus. »Ein Seismograph hat ihm das gesagt.« Er wieherte vor Vergnügen. »Ein Seismograph!« Nockemann kugelte sich regelrecht in seinem Sessel. Immer wieder von Lachanfällen unterbrochen, stieß er hervor: »Das sind die Nachteile der Halbbildung, Blödel. Du meinst wahrscheinlich einen Seismologen, denn ein Seismograph ist
nur ein Gerät zur Aufzeichnung von Erdbeben.« Der Wissenschaftler hielt sich seinen Bauch. »Ich kann nicht mehr. Ein Seismograph, hahaha …« »Ich habe mich schon korrekt ausgedrückt, Chef. An Bord der SOL gibt es keine Seismologen mehr, nur noch drei seismographische Roboter, die reaktiviert wurden.« Abrupt brach das Gelächter ab. »Das war das letzte Mal, daß du mich zum Narren gehalten hast, du treulose Kreatur!« brüllte Nockemann. »Nach diesem Einsatz werde ich dich …« »Ich weiß, Chef. Einstampfen lassen, auf mir herumtrampeln, mich zu einem Reinigungsrobot degradieren und was der Dinge mehr sind.« »Es ist mir bitter ernst damit!« »Natürlich, Chef, aber wäre es nicht gegen alle Logik? Sieh mal, ich bin doch jetzt wertvoller geworden, da ich über eine eingebaute Sensor-Komponente verfüge, die es mir ermöglicht, gleich dir und Glogg mit den Staubfliegern in Verbindung zu treten. Stelle dir folgenden Fall vor: die TAUPRIN gerät in Not, ihr beiden und alle anderen seid bewußtlos, und nur die Staubflieger könnten uns noch retten. Ich bin vor Ohnmächten gefeit, kann aber nicht eingreifen, da ich demontiert bin oder niedere Dienste verrichte. Würdest du nicht ewig Schuldgefühle haben?« »Obwohl es sehr hypothetisch ist auszuschließen ist so etwas nie.« Nockemanns Stimme klang versöhnlich, er wirkte nachdenklich. »Also gut, Blödel, ich will dir noch einmal vergeben, aber bei der nächsten Beleidigung, egal, ob direkt oder indirekt, ist dein Schicksal besiegelt. Meine Geduld ist nicht unerschöpflich, und meine Milde hat ihre Grenzen.« »Es ist diese menschliche Größe, deine Güte, die dich vor allen anderen Solanern auszeichnet, Chef. Du bist ein Wissenschaftler, der seinesgleichen sucht, ein Scientologe, der nahezu unerreicht ist …« »Laß es gut sein, Blödel.« Hage Nockemann lächelte
geschmeichelt. »Vergessen wir nicht, weshalb wir hier sind.« Glogg hatte die flache Scheibe mittlerweile an seinem Kopf befestigt. »Ich empfange nichts.« »Die Reichweite ist natürlich begrenzt. Der maximale Radius beträgt schätzungsweise achtzig bis einhundert Kilometer. Bei entsprechender Energiezufuhr ist die Sende- und Empfangsleistung bestimmt größer, doch da es sich um einen Prototyp handelt, möchte ich erst greifbare Ergebnisse abwarten, bevor ich die endgültige Belastbarkeit teste.« »Da ist noch etwas, Chef, was wir Glogg sagen sollten.« »Wir haben keine Geheimnisse vor ihm.« »Es wäre ein Trugschluß, Glogg, nun zu glauben, daß wir, also speziell Hage und du, nun Telepathen wären. Das Gerät ist nicht in der Lage, die Gedanken von Lebewesen auszuspionieren. Der Mentaltranslator ist nicht so etwas wie ein technischer Mutant, sondern nur eine positronische Verständigungshilfe zur Kommunikation auf geistiger Ebene. Da ich beispielsweise über kein organisches Gehirn verfüge, werden meine Impulse gewissermaßen transformiert, moduliert und als angepaßte Schwingung abgestrahlt.« »Ich verstehe. Wir können also nur empfangen, was eine Intelligenz bewußt denkt, denken will.« »Genauso ist es«, freute sich der Genetiker. »Es ist die Umsetzung einer lautlosen Sprache. Was wirklich in dem betreffenden Bewußtsein vor sich geht, bleibt uns verborgen.« »Persönlicher Datenschutz«, knarrte Blödel. »Wir können nur hoffen, nicht an Lügner zu geraten.« Der Haawer gab das Äquivalent eines Lachens von sich. Wer sich ein wenig in der Fauna Terras auskannte, konnte ihn für einen Schimpansen halten. Der Vereiser war unbekleidet und etwa 1,50 Meter groß. Er wirkte kompakt, Arm- und Beinpaar waren stämmig und muskulös. Am ganzen Körper war er behaart, auch im Gesicht,
Hände und Füße waren jeweils fünfgliedrig. Wahrhaft furchterregend war das Gebiß mit den vier mächtigen Eckzähnen, das von einem Raubtier stammen konnte. So ähnlich hatten sich Glogg und seine von der Mentalstrahlung beeinflußten Artgenossen auch benommen. Erst als Nockemann und sein Assistent ein Neutralpolator genanntes Gegenmittel entwickelt und den Vereiser immunisiert hatten, war aus der organischen Kampfmaschine ein hilfsbereites Lebewesen geworden, dem es die Scientologen und Argan U zu verdanken hatten, daß ihnen die Flucht von der TEPPEW gelungen war und sie mit heiler Haut davongekommen waren. Natürlich brannte der Galakto-Genetiker darauf, den Mentaltranslator zu erproben, und er hoffte inständig, daß es zu einer Begegnung mit den Staubfliegern kam. Diese monströsen Riesen schienen in der Dunkelzone zu Hause zu sein, eine Lebensform, die sich – wie auch immer – an die extremen Bedingungen wie Vakuum und Weltraumkälte angepaßt hatte. Der Wissenschaftler konnte sich nicht erinnern, daß die Solaner jemals auf ein Volk gestoßen waren, das in einer derart lebensfeindlichen Umwelt existieren konnte. Allein das Wissen darum, daß es eine solche Art gab, war eine geistige Herausforderung an jeden, der sich für Biologie interessierte, nur – es würde sich wohl keine Gelegenheit dazu ergeben, dieses Phänomen zu erforschen. Natürlich bedauerte das niemand mehr als Hage Nockemann. An diesem Punkt seiner Überlegungen angelangt, kam dem Solaner wieder in den Sinn, daß er und seine Begleiter ja eine festumrissene Aufgabe zu erfüllen hatten. Bisher war die vergleichsweise winzige TOCHTER nicht angegriffen worden. Ein Blick auf Bild- und Datenschirm zeigte, daß auch zumindest in den nächsten Minuten nicht mit dem Auftauchten der Riesenbrocken zu rechnen war. Das war auf der einen Seite beruhigend, andererseits aber auch unbefriedigend, denn das bedeutete, daß das Beiboot sich immer weiter von der TAUPRIN entfernen mußte, um die Ursache
zu finden. Ein solches Manöver beinhaltete aber die Gefahr, daß das Schiffchen sich plötzlich mit anderen, bisher unbekannten Abwehrmechanismen konfrontiert sah, die die Möglichkeiten des Beiboots bei weitem überstiegen. Schwierigkeiten mit der Ortung gab es nicht. Ob das Tauprins Verdienst war oder ob die Störung als solche verschwunden war, wußte die kleine Crew nicht. Es interessierte sie auch nur am Rande. Ereignislos verstrich die Zeit, die anfängliche Wachsamkeit ließ nach. Zum Nichtstun verurteilt, saßen Hage Nockemann und Glogg in ihren Sesseln, ließen ihren Blick durch den Raum wandern oder beobachteten gelangweilt die Schirme und Anzeigen. Die TOCHTER legte in jeder Sekunde Zehntausende von Kilometern zurück, ohne daß sich an der trostlosen Eintönigkeit des Raums etwas geändert hätte. »Ich bin nicht versessen darauf, von den Planetoiden attackiert zu werden, aber je länger der Flug dauert, um so weniger gefällt mir die Sache«, brummte der Wissenschaftler. »Es hat fast den Anschein, daß wir in der falschen Richtung suchen.« »Wer oder was auch immer dahintersteckt – unser unsichtbarer Gegner könnte zu der Überzeugung gekommen sein, daß diese Methode nicht zum gewünschten Erfolg führt.« Blödel strich sich über seinen grünen Plastikbart. »Das wäre auch eine plausible Erklärung dafür, daß keine weiteren Angriffe erfolgen.« »Vielleicht ist es auch nur die Ruhe vor dem Sturm«, sagte Nockemann pessimistisch. »Ortung!« rief Glogg.
3. Kurz nachdem die TOCHTER ausgeschleust worden war, setzte sich auch das Mutterschiff wieder in Bewegung, allerdings schlug es die entgegengesetzte Richtung ein. Die technischen Anlagen
funktionierten wieder einwandfrei. Wenige Minuten vor dem Start hatte die Tauprin-Intelligenz Atlan und die anderen darüber informiert, daß das Schwanenschiff wieder einsatzbereit und ohne Abstrich flugtüchtig war. Die TAUPRIN beschleunigte mit Werten, die unter den hier herrschenden Verhältnissen vertretbar waren, ohne die Sicherheit des Raumers und seiner Besatzung zu gefährden. Alle Schutzschirme waren aktiviert, doch die Belastungsmarke überstieg selten die Achtzig-Prozent-Markierung. Allein das Bewußtsein, daß das Schiff noch über ausreichende Reserven in dieser Hinsicht verfügte, wirkte auf die Gemüter der Solaner beruhigend. Von Umkehr war keine Rede mehr. In Ermangelung irgendeiner sinnvollen Beschäftigung beschränkten sich die Männer und Frauen darauf, die Bildschirme und Monitoren im Auge zu behalten. Auch jetzt zeigte sich ein zuvor schon beobachteter, merkwürdiger Effekt: Den Anzeigen der Geräte war zu entnehmen, daß hinter der TAUPRIN eine Art materiefreier, zumindest aber materiearmer Korridor entstand. Während der ersten zehn, fünfzehn Minuten war es ruhig in der Zentrale. Insgeheim waren wohl alle auf einen neuen Angriff oder auf eine wie auch immer geartete Teufelei gefaßt, doch mit zunehmender Flugdauer lockerte sich die Atmosphäre. Man unterhielt sich, sogar gedämpftes Gelächter war zu hören. Mit Zufriedenheit registrierte Atlan, daß die vorher so verzagten Solaner, die nicht zu seinem Team gehörten, ihre Befangenheit und Furcht ablegten und zu ihrer alten Selbstsicherheit zurückfanden. Er selbst war ebenfalls zuversichtlich. Tauprin hatte sich bisher als verläßlicher Partner erwiesen, und nichts deutete darauf hin, daß sich das in naher Zukunft ändern würde. Dennoch war der Arkonide nicht so blauäugig, alles positiv zu sehen. Ein Mann wie er begegnete neuen Situationen mit einem gesunden Mißtrauen. Das war auch hier der Fall, zumal unbestreitbar war, daß sie sich einem Manifest anvertraut hatten, mit dem man in der Vergangenheit
denkbar schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Er hoffte, daß alles weiterhin so gut verlief, schloß aber gleichzeitig eine unangenehme Überraschung nicht aus. Der Aktivatorträger verfolgte das Geschehen mit wachen Sinnen. Stunde um Stunde verrann ereignislos, dann meldete sich plötzlich Tauprin. »Soeben haben die Taster angesprochen. Ein nicht näher identifizierbares Objekt ist angemessen worden. Eine Eigenbewegung wurde nicht registriert. Abstand derzeit etwa eine Astronomische Einheit, Standort vier Grad negativ vom bisherigen Kurs im N-Sektor mit einer Toleranz von einem Prozent.« Die Detonation einer Sprengkapsel hätte keine größere Wirkung haben können. Schlagartig verstummten die Gespräche, Sessel wurden gedreht, Köpfe ruckten herum, elektrisiert sprangen einige auf. Wie hypnotisiert starrten alle auf den von den Ortern beschickten Monitor. Das Bild war undeutlich und verschwommen. Ein Gebilde war zu sehen, das Ei- oder Kugelform haben konnte. Den eingeblendeten Werten war zu entnehmen, daß der Durchmesser zwischen 3.400 und 3.500 Kilometer betragen mußte. Die Daten weckten eine Erinnerung in Atlan, stimmten ihn fast ein wenig wehmütig. Eine AE, das waren 149,6 Millionen Kilometer, die mittlere Entfernung zwischen Terra und SOL, und die Größe des angemessenen Objekts entsprach den Werten Lunas. Hatte das eine Bedeutung? Werde nicht sentimental. Es ist ein Zufall, nichts weiter, rügte der Extrasinn. Der Arkonide seufzte unhörbar. Wahrscheinlich hast du recht, gab er lautlos zurück. »Kannst du keine genaueren Messungen anstellen, Tauprin?« »Leider nicht. Die Dichte der Materie läßt auf diese Entfernung hin nur Grobanalysen zu.« »Konntest du Energiereflexe registrieren?«
»Nein, negativ«, antwortete die Tauprin-Intelligenz. »Das muß nichts zu bedeuten haben«, sagte Atlan nachdenklich. »Bei einer entsprechenden Abschirmung ist es möglich, selbst verräterische Streuimpulse zu neutralisieren, doch der Aufwand wäre zu groß, da das Gebiet der Dunkelzone ohnehin tabu ist.« »Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß die Riesenbrocken von diesem Gebilde gesteuert wurden, wenn auch vielleicht nur indirekt.« »Gut, Tauprin, unterstellen wir deine Vermutung einmal als richtig, dann erhebt sich die Frage, um was es sich handelt. Für ein künstliches Gebilde wie etwa eine Wachstation ist dieses Ding eigentlich zu voluminös, obwohl Gigantismus im Zusammenhang mit Super-Intelligenzen negativer Art wohl eher die Regel ist.« »Daran wollte ich dich gerade erinnern.« Sanny lächelte. »Denke nur an die Landschaft im Nichts oder an das Flekto-Yn. Für uns war beides real, ebenso die Sonne Einauge, und doch waren diese und die Landschaft im Nichts nur Spiegelungen von Hidden-X. Sogar die Instrumente wurden genarrt.« »Unter diesem Aspekt betrachtet, hat es wohl wenig Zweck, weitere Spekulationen anzustellen.« Der Aktivatorträger folgte damit einem Hinweis seines Logiksektors. »Lassen wir es einstweilen dahingestellt sein, ob es ein Planet, eine Überwachungsstation, eine Raumfestung, eine Spiegelung oder ein Kunstplanet ist und warten wir erst einmal weitere Messungen ab.« »Deiner Meinung nach ist es also nicht ausgeschlossen, daß dieser Koloß da von Hidden-X geschaffen wurde?« fragte der hünenhafte Solaner. »Wenn man es mit Wesenheiten dieses Formats zu tun hat, ist eigentlich nichts unmöglich«, formulierte Atlan vorsichtig. »Man muß mit allem rechnen und wird trotzdem immer wieder überrascht. Es wäre ein nicht wiedergutzumachender, geradezu tödlicher Fehler, sich festzulegen. Wir überleben nur, wenn wir flexibel sind und selbst unlogische, lächerliche Beobachtungen und
Überlegungen ins Kalkül ziehen. Super-Intelligenzen lassen sich nicht in ein Schema pressen.« Die Anwesenden hatten aufmerksam zugehört und dachten noch über das eben Gesagte nach, als ein schriller Schrei ihre Aufmerksamkeit auf Barleona lenkte. Und dann sahen es alle: Ohne Vorwarnung war ein Wesen in der Zentrale aufgetaucht, das einem Alptraum entsprungen zu sein schien. Ein mehr als zwei Meter großes Monster mit zottigem Fell stand hinter Barleonas Sitz, das zu einer Fratze entstellte Gesicht wurde von einem glühenden Augenpaar und fingerlangen Hauern beherrscht, die aus dem breiten lippenlosen Mund wuchsen. Die Gestalt war durchaus real, wirkte aber gleichzeitig fiktiv wie eine Projektion, war auf gespenstische Weise wirklich und unwirklich zugleich. Die kleine Gruppe saß da wie vom Donner gerührt. Atlan faßte sich als erster. Er sprang auf, zog seinen Strahler und war mit wenigen Schritten bei Barleona. Mit der Linken zog er sie aus dem Sessel hoch und schob sie hinter sich, mit der Waffe in der Rechten bedrohte er den Eindringling. Hinter ihm materialisierte ein Zentaur, dann folgte eine Art Lindwurm, eine Schlange mit Menschenkopf wand sich züngelnd auf dem Boden. Ein Zweibeiner mit Haifischmaul erschien, ein in Lumpen gehülltes Skelett, ein wandelnder Baumstumpf mit Koboldgesicht. Zwei skurrile Gebilde tauchten auf, die frappierende Ähnlichkeit mit den Robotern Romeo und Julia hatten, ein langhalsiger Vogel mit einem Echsenschädel materialisierte, dessen Stummelflügel zu krallenartigen Fingern umgeformt waren. Immer schneller lief der unheimliche Vorgang ab, immer mehr Phantasiegestalten füllten den Raum. Die Zentrale verwandelte sich in ein Tollhaus. Von Entsetzen gepackt, verwirrt und angsterfüllt, drängten sich die Menschen dicht aneinander. Die Beherzteren hatten ihre Strahler gezogen und scharten sich um Atlan. Sie zögerten jedoch, das Feuer zu eröffnen, weil sie fürchteten, in dem
chaotischen Gewimmel einen Artgenossen zu treffen oder irreparable Schäden anzurichten. Die Eindringlinge bewegten sich ziellos hin und her, als wüßten sie selbst nicht so recht, warum sie eigentlich hier waren. Feste Materie war für sie kein Hindernis, sie gingen einfach hindurch. Das bestärkte den Arkoniden in seiner Annahme, daß es sich nicht um Lebewesen handelte. Sie scheinen etwas zu suchen, erkannte der Extrasinn. Auf euch haben sie es nicht abgesehen, sonst hätten sie euch schon in Kämpfe verwickelt. Also geht es ihnen um die TAUPRIN? dachte Atlan. Es hat den Anschein. Wenn sie das Schiff vernichten, sind wir auch verloren. Bisher haben sie kaum etwas zerstört. Vielleicht will derjenige, der die Spukgestalten geschickt hat, daß die TAUPRIN unversehrt in seinen Besitz gelangt. Das Fauchen eines abgefeuerten Strahlers übertönte den Lärm. Klirrend zersprang die transparente Abdeckung einer Schalttafel, eine Serie von Kurzschlüssen versprühte einen bläulichen Funkenregen. »Wir dürfen jetzt nicht die Nerven verlieren!« rief der Arkonide. »Kommt hierher!« Zögernd setzten sich einige Solaner in Bewegung, wichen jedoch wieder zurück, wenn die semimateriellen Wesen sich ihnen näherten. Der Aktivatorträger wandte sich an die Mitglieder seines Teams. »Los, wir müssen zu ihnen, bevor sie in Panik geraten und eine Dummheit begehen.« Der Arkonide richtete seine Waffe auf ein dreibeiniges Riesenei, aus dessen Körper Stielaugen und Tentakeln wuchsen. Da sie es nicht mit Lebewesen zu tun hatten, hatte er keinerlei Skrupel, seinen Strahler zu benutzen. Eine grelle Glutbahn raste auf das Pseudogeschöpf zu. Einen Augenblick lang sah es so aus, als ginge die Energie einfach durch
das Ei hindurch, dann verblaßte es, wurde transparent und löste sich auf, als wäre es entmaterialisiert. Dieses Erfolgserlebnis machte den Männern und Frauen neuen Mut. Wo immer sich die Möglichkeit bot, eines der Scheinwesen zu treffen, ohne jemanden zu gefährden oder die Einrichtung zu zerstören, wurden die Phantasiegestalten unter Feuer genommen. Eine überdimensionale Spinne mit großen Ohrmuscheln und Krebsscheren verschwand, gleich darauf ein tonnenförmiges Wesen mit Zwiebelkopf, von dem fransenartige, giftgrüne Auswüchse herunterhingen. Die Pseudogeschöpfe reagierten nicht auf die Aktionen Atlans und seiner Begleiter. Sie versuchten nicht, sich zu wehren oder selbst anzugreifen, wichen nicht einmal aus. Zielstrebig, aber ohne Hast, bewegten sie sich auf den geschlossenen Ausgang zu und gingen durch das massive Schott hindurch, als wäre es nicht existent. Der Arkonide registrierte das, ließ jedoch in seinem Bemühen nicht nach. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die semimateriellen Wesen, und auch die anderen beteiligten sich nach Kräften daran, die Zahl der Eindringlinge zu dezimieren. Nahezu unbeachtet von den anderen war es Tyari gelungen, sich zu Barleona durchzuschlagen, die Atlan nicht gefolgt war. Verschüchtert stand sie da und beobachtete mit großen Augen das Geschehen um sich herum. Sie wirkte ein wenig erleichtert, als Tyari neben ihr auftauchte, die lässig ihren Kombistrahler schwenkte. »Fürchtest du dich?« fragte die weißhaarige Frau halb spöttisch und halb belustigt. »Jedenfalls ist mir die Sache nicht geheuer.« »Setz dich, ich werde auf uns aufpassen.« Barleona schenkte der anderen einen dankbaren Blick und ließ sich in einem Sessel nieder. Sie sah nicht Tyaris triumphierendes Lächeln, weil diese den Kopf drehte und zwei Schritte zur Seite trat, und sie bemerkte im Gegensatz zu dieser auch nicht die glupschäugigen Monster, die sich ihr von hinten näherten. Sie
machten keine Anstalten, dem Sitz auszuweichen. Schon berührten die ersten mit ihren Körpern das Kunststoffmaterial. Noch hätte Tyari die Möglichkeit gehabt, einzugreifen, doch sie tat es nicht. Zwei, drei der gespenstischen Gestalten durchdrangen Barleona, die nichts zu spüren schien. Die Leiber der Scheinwesen verschmolzen mit dem der Frau, die scheinbar dupliziert wurde und für den Bruchteil einer Sekunde mehrfach zu sehen war, dann war der Spuk verschwunden. Der Platz, an dem Barleona gesessen hatte, war leer. Eine boshafte Genugtuung erfüllte Tyari. Nun hatte sie keine unliebsame Konkurrentin mehr um Atlans Gunst – er gehörte jetzt ihr allein. Sie blickte sich um. Niemand schien etwas bemerkt zu haben, alle Aufmerksamkeit war auf die Phantasiegestalten gerichtet, die immer weniger wurden. Zufrieden steckte sie die Waffe weg.
4. Ein Blick auf den Schirm genügte, um Nockemanns Betroffenheit in Erleichterung umschlagen zu lassen. Diese riesigen Kaulquappen, fünfundzwanzig Meter durchmessend und 25 bis 30 Meter lang, deren ballonförmige Umrisse in einer Art Schwanz endeten, hatte er noch deutlich in Erinnerung. »Es sind Staubflieger«, jubelte der Wissenschaftler. »Ja, es sind Staubflieger«, bestätigte Glogg. Ein Schwarm von etwa vierzig der seltsamen Lebewesen, die in dieser tödlichen Umgebung existieren konnten, war aufgetaucht. Sie hielten eindeutig auf den Raumer zu, der im Vergleich zu den Riesen filigran und zerbrechlich wirkte. Weder der Solaner noch der Haawer empfanden Furcht. Bei ihrer ersten Begegnung hatten sich die Staubflieger friedfertig gezeigt, sogar freundlich, obwohl es zu keiner direkten Verständigung gekommen war.
»Jetzt wird es sich zeigen, ob der Mentaltranslator das hält, was ich mir davon verspreche.« Hage Nockemann schaltete das Gerät ein und nahm geringfügige Justierungen vor, dann lehnte er sich erwartungsvoll zurück. Er empfing so etwas wie geistiges Hintergrundrauschen, aber keinen verständlichen Impuls. »Es funktioniert nicht«, sagte der Vereiser enttäuscht. »Das ist noch nicht bewiesen«, ließ sich Blödel vernehmen. »Chef, vielleicht solltest du die Feineinstellung des Frequenz-Modulators minimal korrigieren.« »Danke für den Rat, du Schlaumeier, aber ich weiß selbst, was ich zu tun habe«, schnappte der Genetiker. »Laß es mich mit Shakespeare sagen, Chef: Nimm Rat von allen, aber spar dein Urteil.« »Ich verbiete dir hiermit ein für allemal, einen dieser Klassiker auch nur zu erwähnen geschweige denn zu zitieren«, zeterte Nockemann. »Hast du das verstanden, Blödel?« »Laut genug gesprochen hast du ja.« »Ich will, daß du dich auch daran hältst. Also?« »Vor lauter Verboten habe ich kaum noch freie Speicherkapazitäten«, maulte der Roboter. »Das läßt sich leicht ändern.« »Und wie?« »Lösche diese dämlichen Verse.« Der Solaner kicherte. »Das schafft nicht nur Platz für neue Informationen, sondern auch für weitere Verhaltensmaßregeln.« »Wenn du diesen Witz einem Reinigungsroboter erzählst, brennen bei dem vor Vergnügen bestimmt die Sicherungen durch.« »Keine Frechheiten, Blödel. Du weißt, dir droht dieses Schicksal eines solchen Daseins ebenfalls.« »Gewiß, Chef, aber sollten wir uns jetzt nicht lieber um den Mentaltranslator und die Staubflieger kümmern?« »Das könnte ich bereits seit zehn Minuten tun, wenn du endlich
schweigen würdest.« Die mobile Laborpositronik deutete eine menschlich wirkende Geste der Resignation an, ließ die schamlose Übertreibung, was die Zeit betraf, aber unwidersprochen im Raum stehen. Glogg hatte den Dialog amüsiert verfolgt, dabei die Anzeigen aber nicht aus den Augen gelassen. Mittlerweile waren die Staubflieger auf annähernd achtzig Kilometer herangekommen. Seit ihrem Auftauchen hatte er die Steuerung manuell übernommen und drosselte die Geschwindigkeit nun abermals. Währenddessen beschäftigte sich der Wissenschaftler nochmals mit dem Gerät, korrigierte hier und da eine Einstellung und pegelte dort einen Wert neu ein. Und er hatte Erfolg. ,Sie verstehen uns nicht, sonst hätten sie auf unsere geistigen Rufe schon geantwortet.' Selbst die zwischengeschaltete Technik ließ die Impulse des Staubfliegers, der da gedacht, also quasi gesendet hatte, noch enttäuscht, beinahe resignierend klingen. Begleiten wir sie noch ein Stück, dann kehren wir um.' ,Wir könnten ihnen durch Flugmanöver deutlich machen, welche Absicht wir haben, Tuk.' ,Gut, Geef, versuchen wir es.' »Der Mentaltranslator funktioniert.« Hage Nockemann war vor Freude schier aus dem Häuschen. »Meine Erfindung hat ihre Feuerprobe bestanden, Blödel, Glogg, wißt ihr, was das bedeutet? Wir können uns mit ihnen verständigen!« »Schon klar, Chef. Willst du vordenken?« »Natürlich, Blödel, wer denn sonst? Halte Datum und Uhrzeit fest – wir erleben eine Sternstunde der Solaner. Dieses Ereignis ist es wert, der Nachwelt überliefert zu werden.« Aufgeregt zwirbelte der Wissenschaftler seinen Bart. »Und nun bitte ich um absolute Ruhe und eine gedankliche Pause, denn ich beabsichtige, mit den Staubfliegern Kontakt aufzunehmen.« Natürlich ließ sich ein Gehirn nicht einfach abschalten wie eine Maschine, aber der Genetiker hatte seine Worte auch mehr im übertragenen Sinn verstanden wissen wollen. Der Mentaltranslator
verfügte über vier Kanäle, die jedoch nicht gleichzeitig für Sendungen benutzt werden konnten, sondern nur dem Empfang dienten. Spezielle Sensoren prüften über eine Vorstufe die Intensität der ausgestrahlten Gedanken und blockten dann die weniger intensiven ab. Das geschah automatisch und gewährleistete, daß es zu keinem Informationschaos auf geistiger Ebene kam. Eine manuelle Schaltung war zwar möglich, doch Nockemann widerstrebte es, ein solches Privileg für sich in Anspruch zu nehmen. Für ihn war selbst Blödel ein gleichberechtigter Partner, außerdem kam hinzu, daß er sich nie nach einer Führungsrolle gedrängt hatte. Die Formation der Staubflieger hatte sich geändert. Fünf von ihnen waren aus dem Verbund ausgeschert und manövrierten an der TOCHTER vorbei. Sie beschleunigten und hatten zweifellos vor, sich vor das Beiboot zu setzen, und es in eine bestimmte Richtung zu dirigieren. Es war für die gliedlosen Lebewesen die einzige Möglichkeit, ihr Begehren auszudrücken. ,Tuk, Geef, versteht ihr uns?' ,Ja, sehr gut', kam es überrascht zurück. Es ist das erste Mal seit Erschaffung dieser Zone, daß jemand unsere geistige Sprache versteht. Wer seid ihr?' ,Wir sind Solaner – Freunde', dachte Nockemann intensiv. ,Freunde, ihr müßt anders sein als wir. Wie seht ihr aus?' So gut es ging, beschrieb der Galakto-Genetiker seine Begleiter und sich selbst. ,Ich bin Hage, meine Freunde heißen Blödel und Glogg. Wer bist du?' ,Tuk, ich bin Tuk. Warte, ich gebe dir ein Zeichen, damit du mich erkennst.' Einer der Staubflieger, der an der Spitze flog, raste davon, beschrieb einen Kreis und kehrte zurück. ,Bist du der Anführer?' ,Was ist das?' ,Jemand, der das Kommando hat, der bestimmt, was zu tun ist.' ,Das kennen wir nicht. Jeder von uns kann tun, was er will.' ,Dann bist du also so etwas wie ein Sprecher?' ,Ja, so könnte man es nennen. Geef und ich formulieren nur das, was alle Gruppenmitglieder denken und wollen. Wir sind
Koordinatoren.' ,Gibt es viele von euch?' ,Nein, ich glaube nicht. Wir treffen äußerst selten auf andere Mitglieder unseres Volkes oder ihre Löcherplaneten. Der …' Der auf geistiger Ebene geführte Dialog wurde jäh unterbrochen, ein Impuls der Panik erreichte die Besatzung der TOCHTER. Erschreckt blickte der Wissenschaftler auf den Bildschirm, weil er an eine unerwartet aufgetauchte Gefahr dachte. Deutlich erinnerte er sich noch an seinen Aufenthalt auf einem Löcherplaneten. Damals hatten sich die riesigen Lebewesen schon in Sicherheit gebracht, bevor Janvrin auftauchte. Sie schienen einen Instinkt, ein besonderes Gespür für Bedrohungen zu haben, doch da war nichts – nichts außer ihnen selbst. »Sie scheinen sich diesmal geirrt zu haben …« Hage Nockemann wollte noch mehr sagen, aber sein Hals war vor Entsetzen wie zugeschnürt. Einer der Staubflieger war davongetrudelt, dann riß sein Körper an mehreren Stellen gleichzeitig auf und wurde regelrecht zerfetzt, als wäre in ihm etwas explodiert. Der Wissenschaftler spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Fassungslos starrte er auf den Schirm. Die Optiken zeigten nichts mehr von dem Drama, das sich vor wenigen Sekunden draußen im Raum abgespielt hatte. Der zerrissene Leib des toten Staubfliegers war schon zum Bestandteil der Dunkelzone geworden. Die aufgeregt hin- und herfliegenden ballonähnlichen Geschöpfe beruhigten sich langsam wieder und formierten sich erneut. ,Wir haben eure Anteilnahme empfangen. Eure Betroffenheit beweist, daß ihr wahre Freunde seid.' ,Was hat das zu bedeuten, Tuk?' Nockemann war immer noch erschüttert. Warum ist einer deiner Artgenossen auf so schreckliche Art ums Leben gekommen?' ,Wir wissen es nicht. Barr ist bereits der vierte unseres Volkes, der innerhalb kurzer Zeit auf diese Weise gestorben ist, dabei war er noch jung.' ,Warte ein wenig, Tuk, ich muß mich mit meinen Gefährten beraten. Ich melde mich wieder.' Der Wissenschaftler schaltete den Mentaltranslator ab. Kaum, daß das Gerät energetisch
tot war, platzte Blödel heraus: »Für mich besteht kein Zweifel daran, daß es sich um eine Krankheit handelt, vielleicht sogar um eine Seuche.« »Ich stimme deiner Beurteilung zu.« Nockemann wirkte ernst. »Wir haben die Staubflieger als hilfreiche Lebewesen kennengelernt, deshalb schlage ich vor, daß wir ihnen unsere Unterstützung anbieten.« »Dagegen ist nichts zu sagen«, stimmte Glogg zu. »Ich frage mich allerdings, was eine solche Epidemie auslösen könnte. In einem Raum wie diesem können keine Krankheitserreger existieren. Selbst für primitive Lebewesen sind die Bedingungen zu extrem.« »Und was ist mit den Staubfliegern?« erkundigte sich die mobile Laborpositronik. »Lassen wir die einmal beiseite. Ich meine organisches Leben in seiner einfachsten Form.« »Und was verstehst du darunter?« faßte der Roboter nach. »Nun, ein Wesen, das sich bewegt, Nahrung aufnimmt, sich fortpflanzt.« »Aha«, machte Blödel. »Es gibt da flüssige Kristalle des Paraazooxyzimtsäureathylester, die ein selbständiges Wachstum zeigen. Ihre Gestalt kann sich durch schlängelnde Bewegungen ständig verändern, und sie zeigen sogar eine Art Fortpflanzung ähnlich den einzelligen Lebewesen. Sie teilen sich nämlich einfach in zwei Individuen auf, wenn sie eine bestimmte Größe erreicht haben. Grundsätzlich reagieren sie also wie organische Lebewesen, und nun frage ich dich: Sind Kristalle Lebewesen?« »Blödel, hier und jetzt ist wirklich nicht die Zeit dafür, die Definition für organisches Leben auszuarbeiten«, sagte Nockemann ungehalten. »Du weißt genau, was Glogg gemeint hat, nämlich Bakterien oder ähnliche Mikroorganismen.« »So ist es«, bestätigte der Haawer. »Die Grundlage des Lebens, wie wir es verstehen, bilden Eiweißmoleküle, deren wichtigste Baugruppen die Aminosäuren
sind, die selbst wiederum als wichtigstes Element Kohlenstoff enthalten. An seine Stelle kann aber auch Silizium treten, denn beiden ist gemein, daß sie sich zu größeren Ketten verbinden beziehungsweise zusammenschließen können. Kommen wir nun auf die Eiweißmoleküle zurück. Diese Verbindungen sind die Bausteine für jeden Organismus, egal ob Einzeller oder Mensch. Diese Eiweißmoleküle haben nun die Eigenschaft, bei Temperaturen zwischen plus fünfzig und plus hundert Grad Celsius in kleinere Bestandteile zu zerfallen. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Wärme bedeutet eine höhere Geschwindigkeit der Atome und Moleküle, also eine Instabilität der eingegangenen Verbindungen. Vereinfacht gesagt: Bei einer Temperatur deutlich über einhundert Grad plus ist kein organisches Leben mehr möglich.« Der Galakto-Genetiker war in seinem Element. Blödel wollte etwas sagen, doch Nockemann bedeutete ihm mit einer Handbewegung, zu schweigen. »Auch nach unten hin gibt es eine Temperaturgrenze, doch in anderer Hinsicht. Bei größerer Kälte zerfallen die Eiweißmoleküle nicht, vielmehr erlahmt allmählich ihre Bereitschaft, mit anderen Stoffen chemische Umsetzungen einzugehen. Die Lebensäußerungen verlangsamen sich und kommen schließlich vollständig zum Stillstand. Man nennt das inaktives Leben. Erst nach anschließender Erwärmung nimmt das Lebewesen seine ursprünglichen Funktionen wieder auf. Man kann sagen, je primitiver und unkomplizierter ein Organismus ist, um so niedrigere Temperaturen kann er überstehen.« »Das ist aber sehr vereinfacht formuliert, Chef.« »Zum Teufel, du sollst mich nicht ständig unterbrechen. Ich will Glogg hier etwas erklären und ihn nicht mit einem wissenschaftlichen Vortrag langweilen.« Der Solaner warf seinem Assistenten einen wütenden Blick zu, dann wandte er sich wieder an den Vereiser. »Und nun kommt das Wesentliche: Es gibt Bakterienstämme, die sogar die absolute Temperatur von minus
273,15 Grad Celsius überleben. Natürlich sind sie dann als Erreger inaktiv, aber wenn sie in eine wärmere Umgebung kommen, werden sie wieder zu dem, was sie sind. Verstehst du?« »Ja, du hast das sehr einleuchtend geschildert.« Hage Nockemann lächelte geschmeichelt. »Wir können mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die Staubflieger eine Eigenwärme in ihren Körpern erzeugen, die wesentlich über der ihrer Umgebung liegt, also deutlich über dem Gefrierpunkt. Im gegenteiligen Fall wären sie nämlich, wie ausgeführt, nicht lebensfähig. Das setzt natürlich eine hervorragende Isolation voraus, aber das ist in diesem Zusammenhang unwichtig.« Der Wissenschaftler zwirbelte seinen Bart. »Die einzige Möglichkeit, wie Bakterien in den Organismus der Staubflieger gelangen können, besteht darin, daß sie mit der Nahrung aufgenommen werden. Unter dem Einfluß der Körperwärme werden sie dann aus der Starre erweckt, um sich anschließend zu vermehren.« »Das ist die einzig logische Erklärung, Chef.« Nockemann nahm den Mentaltranslator wieder in Betrieb. ,Tuk?' ,Ja, ich verstehe dich, Hage.' ,Meine Gefährten und ich sind Wissenschaftler. Wir möchten euch unsere Hilfe anbieten.' ,Wir danken euch dafür, aber was wollt ihr tun?' ,Wenn unsere Vermutung zutrifft, dann seid ihr alle gefährdet durch Krankheitserreger, die durch den Raum treiben oder auf eurer Wohnwelt existieren. Wir werden versuchen, ein Mittel dagegen zu entwickeln.' Eine kurze Pause trat ein, dann meldete sich der Koordinator wieder. ,Wir sind euch sehr dankbar und nehmen das Angebot an.' ,Gut. Bitte zeigt uns den Weg zu eurem Löcherplaneten.' ,Ihr wißt davon?' kam es erstaunt zurück. Der Solaner schmunzelte. ,Es ist erst ein paar Wochen her, daß wir Artgenossen von dir in der Dunkelzone getroffen haben. Sie haben uns damals geholfen,
hier wieder herauszufinden.' ,Das muß zu einem Zeitpunkt gewesen sein, als wir kosmisch bedeutsame Informationen aufnahmen, die eine Änderung der vierten Skulptur erforderten.' Nun war Nockemann überrascht. ,So war es in der Tat. Woher weißt du das?' ,Bitte halte mich nicht für undankbar, daß ich nicht jetzt antworte. Ich bin nur einer der Koordinatoren, und ich muß mich erst mit den anderen meines Volkes verständigen, um eine allen gerechte Formulierung zu finden. Ihr werdet auf alle Fragen eine Antwort bekommen.' Nachdenklich geworden, löste der Solaner die Sonde von seiner Schläfe und steckte sie in eine Tasche seines Raumanzugs. Auch der Haawer hatte die flache Scheibe von seiner Stirn entfernt, nur noch Blödel hielt Kontakt zu den Staubfliegern. Bedeutsame Informationen konnte er nicht vermelden. Fünf der riesigen Lebewesen flogen der TOCHTER voraus, die anderen eskortierten sie. Sie bedienten sich nichttechnischer Hilfsmittel, mußten also über so etwas wie einen körpereigenen Antrieb verfügen, ein biologisches Triebwerk, dennoch entwickelten sie eine ziemliche Geschwindigkeit. Wie schon zuvor, steuerte Glogg das Beiboot manuell. Es bereitete ihm keine Mühe, den Staubfliegern zu folgen.
* Die Dunkelzone hatte sich verändert. Materiepartikel und kosmischen Staub hatte das winzige Schwanenschiff hinter sich gelassen, es bewegte sich nun durch leuchtende Gaswolken, die ein eigentümliches, fast mystisches Licht verstrahlten. Es schien eine Eigenart der Staubflieger zu sein, derartige Zonen als unmittelbare Umgebung ihrer Wohnwelten zu wählen. Ein kugelförmiger Kleinplanet von einhundertvierzig Kilometer Durchmesser wurde auf dem Ortungsschirm angezeigt. Diesmal
war es für Hage Nockemann und seine Begleiter keine Überraschung mehr, daß er durchlöchert war wie ein Schweizer Käse. Eine aufgrund der sichtbaren Oberfläche angestellte Hochrechnung ergab, daß der atmosphärelose Gesteinsbrocken zwischen einhundertdreißig und einhundertsechzig der teilweise über dreißig Meter tiefen Trichter aufweisen mußte. In bezug auf die Erfahrungswerte bedeutete das, daß das hier lebende Volk der Staubflieger sich zahlenmäßig ebenfalls in diesem Rahmen bewegte. Tuk, Geef und die anderen sanken der Oberfläche des energetisch toten Planetoiden entgegen. Glogg leitete den Landeanflug ein. Diesmal hatte er keine Bedenken, das Schiff auf dem Löcherplaneten niedergehen zu lassen. Auf einem Geröllfeld, gut zweihundert Meter von den nächsten Schächten entfernt, setzte die TOCHTER auf. Nockemann schnallte sich los und sprang auf. Schon längst hatte er die Sonde wieder an seinem Kopf befestigt und den Schutzanzug überprüft. Von Tatendrang erfüllt, stapfte er zum Ausgang. »Na los, Blödel, worauf wartest du noch? Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen!« Der Roboter machte keinerlei Anstalten, dem Genetiker zu folgen. »Hektik ist stets von Übel, Chef«, sagte die mobile Laborpositronik mit ihrer knarrenden Stimme. »Du hast dich noch nicht mit Glogg abgestimmt, und eine Meldung von der TAUPRIN liegt auch nicht vor.« »Glogg und ich verstehen uns blind«, behauptete der Wissenschaftler. »Ist es nicht so, alter Freund?« Der Haawer verzog den Mund und entblößte sein Raubtiergebiß. »Man könnte es so nennen. Ich bleibe hier im Schiff auf Beobachtungsposten, um notfalls eingreifen zu können.« »Na, was sagst du nun?« Triumphierend blickte der Solaner seinen Assistenten an. »Und was die Verbindung zur TAUPRIN betrifft, bin ich sowieso von zwiespältigen Gefühlen erfüllt. Wir müssen den Funkverkehr der TOCHTER und ihrem Mutterschiff überlassen,
ohne selbst Kontakt aufnehmen zu können. In meinen Augen ist das ein unmöglicher Zustand, daß ich einer Robotik etwas mitteile, die dann ihrerseits darüber entscheidet, was wichtig ist und was nicht. Wer bin ich denn, daß ich mich dem Diktat einer Maschine beuge?« »Nicht alles, was mitteilsam erscheint, ist für den Empfänger auch wirklich von Wert«, wandte Blödel ein. »Man muß da unterscheiden, ob …« »Papperlapapp!« Der Genetiker wirkte verärgert. »Ich weiß, daß du von der Konstruktion her eine Positronik bist, aber aufgrund unserer langjährigen Zusammenarbeit habe ich mehr Loyalität mir gegenüber erwartet. Wie es den Anschein hat, fühlst du dich jedoch zu fremdartigen Datenverarbeitungsmonstren mehr hingezogen als zu mir.« »Jetzt bist du ungerecht, Chef. Du weißt, daß ich stets auf deiner Seite stehe, wenn es eben vertretbar ist.« »Und was ist deiner Meinung nach nun nicht vertretbar? Daß wir von Bord gehen und den unglücklichen Staubfliegern helfen? Oder daß wir hier gelandet sind? Möchtest du lieber im Schiff blieben und Gloggs Platz einnehmen? Willst du vielleicht meditieren oder mit der automatischen Zentrale des Beiboots plaudern?« Der Wissenschaftler hatte sich in Eifer geredet. »Du mußt es nur sagen, und schon wird dein Wunsch erfüllt. Schließlich machen wir ja Urlaub. Was kümmern uns schon die Realitäten des Alltags?« Der Roboter setzte sich in Bewegung. »Ich komme mit, Chef.« »Es freut mich, daß es mir gelungen ist, dich zu überzeugen.« »Es ist mehr Einsicht, Chef. Wenn jemand sarkastisch und zynisch zugleich wird, läßt sich das nicht durch Argumente entkräften.« Blödel stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Das Unzulängliche, hier wird's Ereignis.« Nockemann warf seinem Assistenten einen schiefen Blick zu. »Irre ich mich, wenn ich sage, daß es ein Goethe-Zitat ist?« »Entschuldige, Chef, es ist mir so herausgerutscht, aber du hast
recht, es stammt aus Goethes ›Faust‹.« »Hinaus mit dir, sonst wirst du meine Faust kennenlernen!« Fluchtartig verließ Blödel die Zentrale, verfolgt vom zeternden Hage Nockemann.
* Eigentlich war ein Funkgerät überflüssig, denn sowohl der Genetiker als auch der Roboter konnten sich mit Glogg über den Mentaltranslator verständigen, dennoch bestand zusätzlich noch eine Funkverbindung. Ein kombiniertes Sendeund Empfangsportable solanischer Fertigung war eingeschaltet und auf die Helmfunkfrequenz eingestellt. Um nicht bei jedem Schritt eine akrobatische Einlage zeigen zu müssen, hatten Nockemann und Blödel ihre Schwerkraftregler auf die an Bord der SOL übliche Gravitation eingepegelt. Nebeneinander stapften sie durch Sand und Geröll und wirbelten dabei meterhohe Fontänen hoch, die zeitlupenhaft wieder in sich zusammensanken. Begleitet wurden die beiden von Tuk und Geef, die gleich überdimensionalen Ballons neben ihnen herschwebten. Ihr Ziel war eines der Wohnlöcher. Gleich nach Verlassen der TOCHTER hatte Tuk mit den Scientologen Kontakt aufgenommen und berichtet, daß einer der Staubflieger in seinem Trichter auf die gleiche mysteriöse Art umgekommen war wie Barr, dessen Ende der Wissenschaftler und seine Begleiter miterlebt hatten. Auf ihrem Weg dorthin kamen sie auch an fünf Skulpturen vorbei, denen sie in gleicher Form schon einmal auf dem anderen Löcherplaneten begegnet waren. Es waren überdimensionale Figuren aus Gestein, die alle etwas anderes zeigten. Das erste Gebilde zeigte zwei elliptische Scheiben, die sich gegenseitig im rechten Winkel durchdrangen und von der Seite aus
gesehen einem Kreuz glichen. Weder Nockemann noch die Laborpositronik konnten damit etwas anfangen, wohl aber mit den Plastiken Nummer zwei und drei. Die zweite Skulptur war hominid mit zwei Armen und Beinen, aber es waren keine Details herausgearbeitet worden. Der Körper war nackt und glatt, geschlechtslos, die Füße einfach ein Stück ohne erkennbare Zehen. Der kahle Schädel zeigte ein konturenloses Gesicht mit kreisrunden Augen und einer Nase, die nur angedeutet war. Lippen, Brauen und die charakteristische Mundpartie fehlten – die Darstellung eines Androiden. »Anti-Homunk«, entfuhr es dem Genetiker. »Und neben ihm steht eine Nachbildung Atlans.« »Genau wie auf dem anderen Löcherplaneten«, bestätigte Blödel. »Sogar die Reihenfolge stimmt. Was mag das zu bedeuten haben, Chef?« »Wir werden unsere Freunde fragen, doch laß uns erst einmal die restlichen Gebilde in Augenschein nehmen.« Das vierte Kunstwerk verblüffte den Solaner nicht minder. Es stellte eindeutig das Manifest J dar, während die letzte Figur eine weibliche Gestalt zeigte. Sie hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Barleona, aber auch mit Tyari, war aber nicht so charakteristisch, daß die Frau mit Sicherheit identifiziert werden konnte. ,Tuk, Geef, was für eine Bedeutung hat diese Galerie? Was hat es mit der Reihenfolge auf sich, warum sind es ausgerechnet fünf Figuren? Wie errichtet ihr diese gewaltigen Skulpturen?' ,Du stellst viele Fragen auf einmal, Hage.' Diesmal war es Geef, der antwortete. ,Wir waren nicht immer so, wie wir jetzt sind. Unsere Vorfahren waren hochintelligent und verfügten über geistige Kräfte, die uns nicht mehr innewohnen, sie sahen auch anders aus. Sie bewohnten ein Planetensystem in diesem Sektor, lebten glücklich und zufrieden und unterhielten freundschaftliche Kontakte zu anderen Rassen. Ringsumher war eine Oase des Friedens, Kriege waren unbekannt. Und dann tauchte eines Tages eine gewaltige leuchtende Maschine
auf, die wir Struktor nennen.' ,Ihr müßt wissen, daß die Dunkelzone noch nicht lange besteht', warf Tuk ergänzend ein. ,Nach der Zeit unserer Väter sind etwa fünfzig Sonnenumläufe vergangen, bezogen auf unsere Ursprungswelt.' »Also etwa fünfzig bis einhundert Jahre, wenn man davon ausgeht, daß sich der Planet in der Ökosphäre befand«, sagte Blödel über Funk. ,Dieser Struktor verwandelte eine Unzahl von Sonnensystemen zur Materie dieser Dunkelzone', griff Geef den Faden wieder auf. ,Für alle Zivilisationen war es eine Katastrophe von unvorstellbaren Ausmaßen. Planeten wurden aus ihren Bahnen gerissen, die Gestirne ihrer Masse beraubt. Die Gravitationskräfte gerieten in Unordnung, ein Sonnensystem nach dem anderen kollabierte. Einige Völker wurden vertrieben, andere wurden ausgelöscht oder gingen mit ihren zerstörten Welten unter. Gegen den Struktor gab es kein Mittel.' Der Genetiker erschauderte. Wie fremd, wie abartig und wie durch und durch böse mußte ein Wesen, eine Wesenheit sein, die unendliches Leid und den Tod von Milliarden von Intelligenzen nicht nur billigend in Kauf nahm, sondern bewußt geplant hatte? ,Es war abzusehen, daß alles Leben vernichtet wurde', fuhr der Koordinator fort. Unserer Rasse drohte ebenfalls der Untergang. Viel Zeit, dieses Schicksal abzuwenden, blieb nicht. Eine Evakuierung konnte aus vielerlei Gründen nicht erfolgen, eine Flucht war sinnlos, und für eine allmähliche Anpassung an die veränderten Bedingungen hätten unsere Vorfahren Tausende von Jahren benötigt. Die einzige Möglichkeit, um zu überleben, war eine Radikalkur. Sie war so gravierend, daß die meisten Wissenschaftler eher bereit waren, zusammen mit der Bevölkerung zu sterben, als an diesem Projekt mitzuarbeiten.' ,Ging es um eine künstlich herbeigeführte Mutation?' dachte der Solaner. ,Ja. Ein kleines Team nahm die Arbeit auf, bestehend aus Medizinern, Biologen, Genetikern, Ingenieuren, Physikern, Biochemikern und Gen-Technikern. Sie hatten nicht viel Zeit, um in
Versuchen die Lebensform zu ermitteln, die eine optimale Chance hatte, in einer Materiewolke ohne Sonne zu leben, ganz abgesehen von den Problemen der Nahrungsbeschaffung und -Verwertung. Organismus und Skelett mußten grundlegende Änderungen erfahren, und das war nur durch eine Umstrukturierung der Erbanlagen möglich. Wir sind das Ergebnis der Experimente, aus Wasserbewohnern wurden wir Staubflieger, deren Medium das Vakuum ist.' ,Und was ist aus euren Ahnen geworden?' ,Sie sind alle umgekommen bis auf die Gruppe, die Geef erwähnte', antwortete Tuk. Mehrere Sonnenumläufe lang existierten auch noch die Spezialisten, denen wir unser Leben verdanken. Sie hatten ihre Körper durch Geisteskräfte dem Leben in der Dunkelzone angepaßt, starben aber dennoch, bevor sie wirklich alt waren. Wir wissen nicht, ob die veränderte Umwelt für ihren Tod verantwortlich ist oder ob sie ihr Dasein einfach nicht mehr ertrugen. Für sie muß es schlimm gewesen sein, daß alles, was ihnen vertraut war, nur noch Erinnerung war. Ihre Heimat war ebenso vernichtet wie die Sonne, die sie seit ihrer Jugend kannten. Die gewohnte Technik stand ihnen nicht mehr zur Verfügung, das Wasser fehlte, sie hatten keinen inneren Bezugspunkt mehr. Schlimmer als all das wird jedoch gewesen sein, daß sie praktisch nur noch ein intelligentes Gehirn in einem Körper waren, den sie nur als eine lebenserhaltende Hülle betrachteten, der ihnen fremd war und wohl auch fremd blieb. Sie hatten ihre Sprechwerkzeuge ebenso eingebüßt wie ihre Extremitäten, sie waren wie wir, und dieser Preis erschien ihnen wahrscheinlich auf die Dauer zu hoch. Sie sahen in ihrem Leben keinen Sinn mehr.' ,Und ihr?' fragte der Wissenschaftler gedanklich. ,Wir suchen noch nach einer Antwort. Vielleicht besteht unsere Daseinsberechtigung in einer unbewußt wirkenden Fähigkeit. Als Kollektiv vermögen wir kosmisch bedeutsame Strömungen und Informationen aufzunehmen und daraus diese Skulpturen zu formen. Sie haben mit der Gegenwart und der Zukunft zu tun, aber wir verstehen ihre Bedeutung nicht, wir wissen nicht einmal,
warum es stets fünf Figuren sind.' ,Drei der Gebilde sind uns bekannt, nämlich Atlan, Anti-Homunk und Tauprin. Die beiden erstgenannten Plastiken haben wir bereits auf dem anderen Löcherplaneten gesehen. Da sie auch hier auftauchen und nicht durch andere Skulpturen ersetzt wurden, vermute ich, daß diese beiden im Mittelpunkt des Geschehens stehen. Sie sind die eigentlichen Widersacher in der derzeitigen Auseinandersetzung.' »Und was ist mit Anti-ES, Chef?« »Ich wollte, ich wüßte es. Diese sich durchdringenden Scheiben sind es sicherlich nicht, obwohl ich nicht weiß, welches Symbol man für eine Wesenheit wie Anti-ES verwenden soll.« »Ob es sich bei der ersten Figur um eine Darstellung der Dunkelzone handelt?« ,Nein, das ist nicht möglich', antwortete Tuk. Er hatte die gesprochenen Worte als vom Mentaltranslator umgesetzte Gedanken und Schwingungsimpulse empfangen. ,Die Dunkelzone ist ein Ellipsoid, dessen Stärke einschließlich der Innenzone eintausendzweihundert bis eintausendsechshundertfünfzig FerTrepp beträgt.' Mit dieser Maßeinheit konnten die Scientologen natürlich nichts anfangen. Zwischen Blödel und den Koordinatoren entwickelte sich ein regelrechtes Frage-und-Antwort-Spiel, dann stand fest, daß die vertikale Ausdehnung des künstlich geschaffenen sonnenlosen Sektors zwischen achttausend und elftausend Lichtjahren schwankte. Über die Innenzone wußten die Staubflieger nichts zu berichten. Ihnen war praktisch nur bekannt, daß es sie gab. Nach der Mentalstrahlung befragt, mußten die riesigen Lebewesen ebenfalls passen. Ihrer Natur nach waren sie friedlich, hilfsbereit und freundlich. Nie hatte eines von ihnen den inneren Drang verspürt, sich bewähren zu müssen, Kampf und Krieg waren für sie eher abstrakte Begriffe. Diese Aussage ließ den Solaner vermuten, daß die Strahlung in der Dunkelzone nicht wirksam war, jedoch von der Innenzone ausging. Jemand hatte sich hier einen mächtigen Schutzwall geschaffen, aber wer?
»Chef, sollten wir nicht endlich mit unserer Arbeit beginnen?« »Äh – ja natürlich. Gehen wir.« Die Koordinatoren hatten alles verstanden und drifteten langsam voraus, gefolgt von Nockemann und dem Roboter. Die steinige Öde des Planetoiden wirkte nicht weniger bedrückend als das Fehlen der Atmosphäre. Weiche Übergänge gab es nicht, Felsen, Erhebungen und Gesteinsbrocken erschienen überzeichnet, die Konturen waren hart und eckig, die Schatten förmlich herausgemeißelt. Dieser Löcherplanet glich dem, auf den der Genetiker und sein Assistent den Fuß gesetzt hatten, und doch war er anders, düsterer. War er es wirklich, oder war es nur Einbildung? Nach wenigen Minuten verhielten die Staubflieger vor einem gewaltigen Trichter. Vorsichtig näherte sich der Genetiker dem Rand und warf einen Blick in die Tiefe. Viel war nicht zu erkennen. Mit Phantasie und gutem Willen waren auf dem Grund der gut fünfundzwanzig Meter tiefen Grube zwischen Steinen und Geröll die sterblichen Überreste eines Staubfliegers auszumachen. Die ursprüngliche Körpergröße ließ sich nicht einmal, erahnen. Hautstücke beziehungsweise Teile der Körperhülle lagen in dem Loch, maximal einen Quadratmeter groß. Die Oberfläche besaß die Struktur eines atmosphärelosen Planeten, der ständig einem Meteoritenbombardement ausgesetzt war, grau-braun gefärbt, zerfurcht und mit winzigen Kratern übersät. ,Das hilft uns nicht weiter.' Blödels umgesetzte Impulse klangen bedauernd. ,Das Vakuum wirkt sich zudem erschwerend auf unsere Untersuchungen aus. Optimal wäre die Untersuchung eines intakten Organismus, der zudem schon infiziert ist.' ,Nach meinem Verständnis ist das bereits bei allen der Fall', erwiderte Hage Nockemann gedanklich. ,Wir stellen uns zur Verfügung', übermittelte Geef. Äußerlich wird sich so gut wie nichts feststellen lassen. Wir benötigen Gewebeproben der inneren Organe und müssen
Zellabstriche machen.' ,Dann nehmen wir euch einfach in uns auf.' Der Genetiker schüttelte sich unwillkürlich. Allein der Gedanke daran, durch den Verdauungstrakt des Riesen zu kriechen, war ihm sehr suspekt. Sogar der Roboter fand keinen Gefallen an dem Vorschlag. ,Ihr werdet nicht verschlungen wie Nahrung. Wir Staubflieger sind zweigeschlechtlich. Neben der Schlund- und Magenöffnung besitzen wir noch eine, die in den Körper selbst führt. Durch sie gelangen unsere Nachkommen zu den Saugstellen, um die aufbereitete Nahrung aufzunehmen.' Der Wissenschaftler war völlig perplex. Schon so war diese Lebensform recht ungewöhnlich, doch sie vermochte anscheinend mit zusätzlichen Überraschungen aufzuwarten, die selbst abgeklärten Forschern noch die Sprache verschlug. Wo gab es schließlich intelligente Zwitter, die ihre Jungen über eine Art Euter im Körperinneren säugten? ,Ihr seid über unsere Fremdartigkeit ziemlich verwundert, nicht wahr?' ,Es ist eure Einmaligkeit', beeilte sich Nockemann zu versichern. Noch nie sind wir Wesen wie euch begegnet. Immerhin haben wir den Hinweis auf eine weitere Infektionsmöglichkeit bekommen. Es ist nicht auszuschließen, daß die Krankheitskeime durch eure Nachkommen in eure Körper gelangen.' ,Wir vertrauen euch. Ihr werdet es feststellen.' Der Staubflieger mit Namen Geef ließ vorne eine Öffnung entstehen, die an das aufgerissene Maul eines Pottwals erinnerte. ›Ich bin bereit.‹ Zögernd trat der Solaner vor den Staubflieger. Groß genug war der Pseudomund allemal, um ihn und seinen Assistenten aufzunehmen, aber die Körperöffnung besaß keinen nach innen führenden Gang oder Durchlaß. Das Gebilde wirkte wie eine Felsenhöhle, die nur einen Ausgang besaß. Es waren die positiven Impulse der Riesen, die Nockemann veranlaßten, den Fuß auf das gleich einer Rampe abgesenkte Vorderteil zu setzen. Blödel folgte ihm. Gemeinsam machten sie einige Schritte nach vorn, dann schloß sich die gewaltige Öffnung, es wurde stockfinster.
Was auch immer geschah – sie waren Geef nun auf Gedeih und Verderb ausgeliefert und würden dieses organische Gefängnis nur verlassen können, wenn er es zuließ.
5. Die Spukgestalten waren aus der Zentrale des Schwanenschiffs verschwunden, niemand war zu Schaden gekommen, die Zerstörungen waren kaum der Rede wert, aber das spurlose Verschwinden Barleonas hatte bei der Gruppe Betroffenheit ausgelöst, besonders bei Atlan. Er machte sich Vorwürfe, daß er nicht an ihrer Seite geblieben war. Versuche, mit Tauprin Kontakt aufzunehmen, scheiterten ebenso wie Federspiels Bemühungen, Bjo Breiskoll zu erreichen. Der mondgroße Koloß strahlte so stark, daß er selbst Mentalimpulse überlagerte. Wie den Anzeigen zu entnehmen war, war die Funkverbindung zur TOCHTER abgerissen, der Geschwindigkeitsmesser verharrte auf der Nullstellung. Addierte man die negativen Aspekte, war die Lage alles andere als rosig. »Wir haben einen Pyrrhussieg errungen.« Der Arkonide sprang aus seinem Sessel hoch. »Ich habe nachgedacht und bin zu dem Schluß gekommen, daß der Auftritt dieser Gespensterarmee nicht uns galt, sondern Tauprin. Sie wollen zu ihm vorstoßen, und nur deshalb blieben wir unbehelligt.« Er fuhr sich über den Kopf. »Ich muß mit Blindheit geschlagen gewesen sein, daß ich das nicht gleich erkannt habe, dabei lag es auf der Hand. Ich hätte spätestens dann stutzig werden müssen, als alle auf einmal zum Ausgang drängten und niemand versuchte, den Raum in einer anderen Richtung zu verlassen. Unverständlich bleibt, was mit Barleona passiert ist.« »Vielleicht gibt es eine Verbindung zwischen ihr und diesen Erscheinungen«, warf Tyari ein. »Möglicherweise war sie gar nicht die, die sie vorgab zu sein. Wäre es nicht denkbar, daß sie uns in
eine Falle locken wollte, uns und die TAUPRIN? Schließlich war sie es, die dafür plädierte, den Flug fortzusetzen.« »Dein Verdacht ist absurd.« Der Aktivatorträger gab sich keine Mühe, seinen Ärger zu verbergen. »Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß sie gegen uns arbeitet, ich halte sie im Gegenteil für durchaus loyal.« Die Frau wollte etwas erwidern, doch zu aller Überraschung meldete sich Tauprin. »Es sieht nicht gut aus. Ich drohe zu unterliegen.« »Warum hast du nicht reagiert, als ich dich gerufen habe?« fragte Atlan. »Ich mußte alle meine Möglichkeiten einsetzen, um mich der Eindringlinge zu erwehren, doch ich hatte keinen Erfolg. Die Masse der Scheinwesen ist mir über, ich konnte sie nicht aufhalten.« »Tauprin, wir stehen dir bei, aber du mußt uns sagen, wie wir dir helfen können. Wir wissen nichts über dich. Wer bist du wirklich, was bist du?« »Ich stehe kurz vor der Ausschaltung. Viele der Phantasiegestalten sind schon in mir und verzehren mich. Bald bin ich zu schwach, um überhaupt noch Widerstand zu leisten.« Er darf auf gar keinen Fall ausgeschaltet werden. Ohne ihn seid ihr hier in der Dunkelzone verloren, warnte der Logiksektor. Atlan wußte, daß sein Extrasinn recht hatte. Eindringlich sagte er: »Tauprin, du kannst auf uns zählen, aber um wirksam eingreifen zu können, mußt du uns einige Angaben über dich machen.« »Gefährdeter als jetzt kann ich nicht sein. Ich bin in einer absoluten Notlage. Bevor ich meine Existenz verliere, sollst du daher die Wahrheit über mich erfahren.« Die Stimme klang spröde, hatte einen resignierenden Unterton, der selbst in den kritischen Situationen vorher nicht zu hören gewesen war. »Ich bin das Manifest J. Anti-ES hat mich dazu gemacht, ich bin nur ein Instrument, das mißbraucht wird und gehorchen muß. Anti-ES will dich unbedingt in das Zentrum von Xiinx-Markant locken. Ich
kenne die Gründe dafür nicht, sonst würde ich sie dir nennen. Ich bin alles andere als ein williger Helfer von Anti-ES, aber bis jetzt ist es mir nicht gelungen, mich von seinem Zwang zu befreien.« Glaubst du nun, daß ich mit meiner Beurteilung richtig lag? Hebe dir deinen Triumph für später auf, gab der Arkonide gedanklich zurück. »Tauprin, du hast davon gesprochen, daß die Eindringlinge in dir sind. Kann ich auch in dich hinein, ich meine, körperlich?« »Ja.« »Ich will dir helfen. Laß mich in dich hinein.« Eine Pause entstand. Atlan befürchtete schon das Schlimmste, als sich die Tauprin-Intelligenz wieder meldete. »Ich werde dir das Tor öffnen. Komm allein, aber komm schnell. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit.« Akustisch und durch optische Zeichen hatte Tauprin den Aktivatorträger in das Mittelteil des Schwanenschiffs geleitet. Als er am Ziel war, hatte sich im abgeschotteten und unzugänglichen Sektor der Tauprin-Intelligenz ein Durchlaß geöffnet. Durch die schnelle Gangart ein wenig außer Atem, passierte Atlan die Öffnung und fand sich in einem kugelförmigen Raum wieder, der etwa fünf Meter durchmessen mochte. Abgesehen davon, daß der Hohlkörper vor Spukgestalten nur so wimmelte, war er völlig leer. Es gab kein Mobiliar, keine Gegenstände, nicht einmal Erhebungen oder Nähte. Die spiegelblanke Innenwand aus einer unbekannten Legierung wirkte wie poliert. Der optische Eindruck wurde für einen Augenblick zurückgedrängt, weil das Gehirn eine im Gedächtnis gespeicherte Information abrief, die ihm wichtiger war als die Realität. Durch den temporären Reinkarnationseffekt hatte Wöbbeking den Arkoniden bereits mehrfach in die Vergangenheit geführt, so auch zur Basis des Ersten Zählers. Damals hatte er die Anwesenheit des unsichtbaren und körperlosen Ersten Zählers gefühlt, obwohl er direkt nichts wahrnehmen konnte, und hier war es ähnlich. Zu
sehen war nichts, aber er spürte, daß hier etwas war. Und er war sicher, daß es nicht von den Pseudogeschöpfen ausging – ein geistiger Hauch streifte ihn, etwas, das mit den Sinnen nicht zu erfassen war. Du mußt endlich eingreifen, tadelte der Logiksektor. Ernüchtert richtete Atlan seinen Strahler auf die glatte Wand und betätigte kurz den Auslöser. Das silbrige Material zeigte keinerlei Beschädigungen. Nun hatte er keine Bedenken mehr, die Waffe gezielt einzusetzen. Er visierte einen Pulk der durcheinanderwogenden semimateriellen Wesen an und eröffnete das Feuer. Wieder war auf den ersten Blick keine Wirkung zu erkennen, dann verblaßten die getroffenen Gestalten, wurden transparent und lösten sich auf, als wären sie entmaterialisiert. Drohend näherten sich die Kopien von Romeo und Julia. Atlan war kaltblütig genug, einfach stehenzubleiben und die Pseudoroboter aufs Korn zu nehmen. Schon waren sie zum Greifen nahe, als sie unter Einwirkung der vernichtenden Energiestrahlen Auflösungserscheinungen zeigten und verschwanden. Die Zahl der gespenstischen Erscheinungen wurde immer geringer, doch zunehmend wandten sie sich gegen den Arkoniden. Der ließ sich jedoch nicht beeindrucken und wich und wankte nicht. Pausenlos feuerte er auf die Eindringlinge, schwenkte die Waffe nach links und nach rechts, nach oben und unten. Die Monster und Alptraumgestalten wurden weiter dezimiert, bis endlich alle ausgeschaltet waren. Atlan war allein in der Kugel, in der es ziemlich heiß geworden war. Er schwitzte am ganzen Körper. »Ich danke dir, Atlan.« Tauprins Stimme klang matt. »Ich bin ziemlich erschöpft, aber ich verspreche dir, daß ich dir vorbehaltlos helfen werde.« Eine Art geistiger Impuls erreichte den Aktivatorträger, der nur von der Tauprin-Intelligenz stammen konnte und sicherlich nicht für ihn bestimmt war. Tauprin wollte nichts sehnlicher als seine
Befreiung. »Bitte geh jetzt. Die unmittelbare Gefahr ist beseitigt.« Atlan steckte seinen Strahler ein und verließ den Hohlkörper. Hinter ihm schloß sich das Tor. Tauprin war wieder unzugänglich geworden.
* Atlans Hoffnung, daß Barleona nach der Vernichtung der Phantasiegestalten wieder auftauchen würde, erfüllte sich nicht. Mittlerweile hatte die TAUPRIN Fahrt aufgenommen und näherte sich dem gewaltigen Koloß, der einem überdimensionalen Staubflieger glich. Von seinem Platz aus beobachtete der Arkonide die Bild- und Datenschirme. In der Zentrale war es still geworden, aller Aufmerksamkeit war auf den Giganten draußen im Raum gerichtet. »Ich habe den Impuls von Cpt'Carch verloren«, murmelte Sternfeuer. »Dafür empfange ich die Gedanken des Riesenbrockens. Es handelt sich um ein Multiwesen.« Obwohl der Mutant nicht sehr laut gesprochen hatte, hatten die anderen seine Worte gehört. Erwartungsvolle Blicke richteten sich auf ihn, auf einigen Gesichtern zeichnete sich Überraschung ab. Mit einem solch voluminösen Lebewesen, das zudem noch aus einzelnen Individuen bestand, hatte kaum jemand gerechnet. »Kannst du gezielte Informationen espern?« fragte der Arkonide gespannt. »Noch nicht, die Gedanken sind verworren.« Federspiel wirkte entrückt. »Jetzt werden sie deutlicher, klarer. Das Wesen beschäftigt sich mit seiner Aufgabe, die es zu erfüllen hat.« Wie in Trance sprach der Telepath weiter. »Es versteht sich als so etwas wie ein Wächter. Von ihnen gibt es mehrere, dieser hier kontrolliert einen Sektor von etwa zehn
Lichtjahren Ausdehnung. Ihm obliegt es, Eindringlinge in die Dunkel- beziehungsweise Innenzone abzuwehren und zu vernichten. Er tut das durch geistige Lenkung von Materiebrocken.« »Nun wissen wir also, wer hinter den Attacken auf die TAUPRIN steckt.« Klüger sind wir dadurch auch nicht geworden, ließ sich der Extrasinn vernehmen. Wir wissen, daß Tauprin von Anti-ES geschickt wurde, aber in wessen Auftrag handeln die Wächter? Wenn du es schon nicht weißt, wie soll ich dann eine Antwort darauf geben können? dachte der Aktivatorträger. Nun, ich habe eine gewisse Vermutung, über die ich mich aber noch nicht äußern will. Deine Geheimniskrämerei geht mir langsam auf die Nerven, gab Atlan unwillig zurück. Verschone mich bitte mit dunklen Andeutungen. Wie du willst. »Atlan, ich schlage vor, dieses Wesen unter Beschuß zu nehmen«, meldete sich der Hüne lautstark zu Wort. »Es versteht sich selbst als Wächter, wer weiß, über welche Möglichkeiten es noch verfügt. Wir sollten es vernichten, bevor es mit einer weiteren Teufelei aufwartet.« »Ich lehne deinen Vorschlag ab«, sagte der Aktivatorträger kategorisch. »Abgesehen davon, daß die Waffen der TAUPRIN dazu zu schwach sind, liegt mir an einer friedlichen Lösung. Daß eine Verständigung nicht unmöglich ist, hat Federspiel ja bewiesen.« Der stämmige Solaner hatte eine heftige Erwiderung auf der Zunge, als plötzlich eine geistige Stimme zu der kleinen Gruppe sprach. Jeder verstand sie. ,Ich bin Yuz, der Wächter. Ich gebe auf. Durch die Vernichtung der Yuz-Yuz, meiner geistig-materiellen Ableger, bin ich meiner Kraft beraubt worden. Meine Yuz-Yuz haben ein Wesen entführt, das zu euch gehört. Es ist bei mir, ihr könnt es abholen.' »Das kann nur Barleona sein«, rief Atlan aufgeregt. »Tauprin, ich benötige die
SOHN, um sie hierher zurückzubringen.« »Ich bin dagegen«, sagte die Tauprin-Intelligenz. »Das ist eine Falle. Gib deinen Plan auf.« »Wie kannst du dir dessen so sicher sein?« ereiferte sich der Aktivatorträger. »Ich kann dir keine stichhaltige Begründung dafür liefern, aber ich warne dich noch einmal.« »Atlan, du solltest auf Tauprin hören.« Tyari schlug sich eindeutig auf dessen Seite, denn ihr lag wenig daran, daß ihr Barleona erneut in die Quere kam. »Vergiß nicht, daß es dieses Wesen war, das mit allen Mitteln versucht hat, die TAUPRIN zu vernichten.« »Yuz sagt die Wahrheit«, mischte sich Federspiel ein. »Seine Gedanken sind ohne Hinterlist.« Der Aktivatorträger war nach der wiederholten Warnung Tauprins und Tyaris Worten in seinem Entschluß wankend geworden, doch nach Federspiels eindeutiger Stellungnahme fühlte er sich in seiner Ansicht bestärkt, richtig zu handeln. »Ich bin entschlossen, Barleona zurückzuholen. Wir dürfen sie nicht einfach im Stich lassen. Tauprin, du hast mir deine Unterstützung zugesagt. Ich nehme dich hiermit beim Wort und bitte dich nochmals um das Beiboot.« »Anti-ES will, daß ich dir helfe. Das ist auch mein persönlicher Wille, aber ich kann nicht so handeln, wie ich es für richtig halte. Anti-ES hat das unmöglich gemacht, ich muß mich dem Zwang fügen.« Deutlich war herauszuhören, in welchem Zwiespalt Tauprin sich befand. »Wider besseres Wissen muß ich deinem Wunsch nachkommen, dabei spüre ich instinktiv, daß du einen Fehler begehst.« »Um keinen anderen zu gefährden, werde ich allein mit der SOHN fliegen. Ich bin es also, der sein Leben riskiert.« »Das Beiboot ist startbereit, doch noch kannst du es dir überlegen und deine Entscheidung rückgängig machen.« »Mein Entschluß steht fest.« Ohne sich noch einmal umzudrehen,
verließ Atlan die Zentrale. Er war auf unangenehme Überraschungen gefaßt, aber welche Gefahr tatsächlich auf ihn und die TAUPRIN zukam, ahnte er nicht einmal.
6. Hage Nockemann hatte einer Tasche seines Schutzanzugs einen leistungsstarken Handscheinwerfer entnommen und ihn eingeschaltet. Ein leises Zischen war zu hören, linker Hand entstand im Hintergrund eine runde Öffnung, die sich rasch vergrößerte. Der Wissenschaftler richtete die Lampe darauf. Der tastende Lichtfinger verlor sich in der dahinterliegenden Dunkelheit. »Das scheint eine Art Schleuse zu sein, die durch einen mächtigen Schließmuskel betätigt wird«, murmelte der Solaner. »Exakt, Chef. Sieh mal auf deine Instrumente.« Der Genetiker tat es und stieß einen lauten Pfiff aus. Das Vakuum war verschwunden, an seine Stelle war eine Lufthülle getreten, die mehr als achtzig Prozent reinen Sauerstoff enthielt. Der Druck entsprach fast solanischem Standard, die Temperatur betrug 36,7 Grad Celsius. »Fast habe ich so etwas erwartet, dennoch bin ich überrascht. Komm, Blödel, wir sehen uns weiter drinnen einmal um.« Hintereinander tappten die Scientologen durch die scheunentorgroße Öffnung und gelangten in den eigentlichen Körper Geefs. Stück für Stück leuchtete Nockemann die nähere Umgebung aus. Wieder wurde er überrascht, diesmal jedoch in anderer Hinsicht. Ausgehend von den äußeren Abmessungen hatte er Organe erwartet, die es an Größe mit denen irdischer Wale aufnehmen konnten, doch das war nicht der Fall. Im Vergleich zu den Körpermaßen waren sie fast zierlich zu nennen, das biologische Lebenserhaltungssystem nahm nur etwa die Hälfte des gesamten Volumens ein.
Langsam, um alles in sich aufnehmen zu können, bewegten sich Mensch und Maschine nach hinten. Sie wollten erst einmal einen Überblick gewinnen, bevor sie sich ihrer eigentlichen Aufgabe widmeten. Große Unterschiede zu humanoiden Lebewesen oder Säugetieren ganz allgemein gab es nicht, was Vorhandensein und Anordnung der inneren Organe betraf. Auffallend war der relativ kurze Darm. Immerhin ist der eines maximal zwanzig Meter großen Pottwals 160 Meter lang, der des Staubfliegers zog sich nahezu windungslos wie ein Rohr zum Körperende hin. Er endete in einer ledrig wirkenden Blase, die vier Meter durchmessen mochte und faltig war wie ein leerer Beutel. Ein weiterer Unterschied war eine Darmabzweigung, die nicht länger war als ein Mensch und abrupt und widernatürlich ohne Fortsatz in der Leibeshöhle endete. Sie war verschlossen. Nockemann betastete sie. Im Gegensatz zu dem Hauptstrang, der sich fest und unverformbar wie Kunststoff anfühlte, war dieses Stück weich und nachgiebig, wie es für diesen Teil des Verdauungstrakts typisch war. »Es gibt einige Ungereimtheiten, aber allmählich sehe ich klarer.« »Und was siehst du, Chef?« »Nach eigenem Bekunden waren die Vorfahren der Staubflieger Wasserbewohner. Ich denke, sie gehörten zur Ordnung der Waltiere, was ihren Körperbau betrifft.« Hage Nockemann faßte sich an die Stirn. »Du bringst mich ganz durcheinander. Natürlich waren es keine Tiere, sondern Intelligenzen, die den terranischen Walen ähnelten. Der gravierendste Unterschied besteht darin, daß das innere Skelett zu einem äußeren umgeformt wurde. Was noch schwerer wirkt, ist die Erkenntnis, daß sie im Vakuum existieren können, dennoch Sauerstoffatmer geblieben sind, denn sie verfügen über funktionierende Lungen. Wir bewegen uns in einem atembaren Luftgemisch, und das bedeutet, daß sie imstande sind, Oxygen selbst zu erzeugen. Sie sind Selbstversorger, sie atmen die Gase ein, die ihr eigener Körper produziert und auch speichert. Das ist ein
Phänomen, Blödel.« »Dieser Überzeugung bin ich auch, Chef. Ich habe mir erlaubt, die Atmungsorgane ein wenig genauer zu untersuchen. Dabei habe ich festgestellt, daß die Knorpelringe, die üblicherweise die Luftröhre und die großen Bronchien beispielsweise bei Solanern offen halten, sich bis in die kleinsten Verzweigungen der Bronchien fortsetzen. Sogar im übrigen Lungengewebe finden sich federnde Fasern, jedes einzelne Lungenbläschen kann durch einen kleinen Ringmuskel geschlossen werden. Das ist wichtig für die Atmung beim Tauchen, vor allem in großen Tiefen. Zweifellos waren die Vorfahren der Staubflieger Meeresbewohner, denn darauf deutet auch das immer noch bestehende, aber verkümmerte ›Wundernetz‹ hin. Ursprünglich hatte es die Aufgabe, Blut kurzfristig zu verknappen oder bei plötzlichem Druckabfall sofort wieder zur Verfügung zu stellen, denn in diesen klappenlosen Adern kann das Blut in beiden Richtungen fließen.« »Ich schätze, daß die Stammform etwa halb so groß war und fünfzig bis sechzig Tonnen wog. Auch das deutet auf Wasserbewohner hin, denn Knochen und Muskeln wären nicht imstande, an Land eine so große Körpermasse zu tragen und fortzubewegen. Wenn nämlich ein Lebewesen größer wird, so wächst sein Gewicht in der dritten Potenz, das Tragvermögen der Knochen und Muskeln aber, solange sich der Bauplan nicht ändert, nur mit der zweiten Potenz. Das bedeutet, daß ein Geschöpf von doppelter Länge das achtfache Gewicht hat, seine Knochen und Muskeln aber nur das Vierfache tragen können, weil es nur von ihrer Breite und Dicke bestimmt wird und nicht von ihrer Länge.« »Das deckt sich mit meinen Erkenntnissen. So gesehen ist das Vakuum ein noch idealeres Medium als Wasser.« Blödel deutete auf ein großes Organ, das aussah wie ein an zwei Stellen eingeschnürter Sack. »Der Magen. Da sie sich von galaktischer Materie und Gestein ernähren, muß es sich um einen Konvertermagen handeln, in dem chemische Prozesse stattfinden, die die so nicht verwertbaren
Molekülketten aufspalten.« »Jeder Verdauungstrakt funktioniert so.« »Richtig, Chef, nur findet hier keine mechanische Zerkleinerung statt wie etwa durch Zähne oder Steinchen in Vogelmägen. Und was besonders gravierend ist: Die freigesetzten Sauerstoffatome müssen daran gehindert werden, eine neue Verbindung einzugehen. Ich tippe darauf, daß sie in den abgezweigten Darm gelangen und in den Hohlraum abgegeben werden, während die verbrauchte Luft, vornehmlich also Kohlendioxid, nach außen abgegeben wird und den Antrieb bewirkt.« »Ja, so könnte es sein.« Der Genetiker schwenkte den Scheinwerfer. »Doch jetzt sollten wir mit der Untersuchung beginnen. Ich denke, wir beginnen mit Zellproben der Organe.« Wortlos kam die mobile Laborpositronik der indirekten Aufforderung nach. Sie fuhr Sonden und Instrumente aus und machte sich an die Arbeit. Allen wichtigen Organen wurden winzige Zellverbände entnommen und analysiert. Man fand über ein Dutzend Mikrolebewesen und Bakterien, die aber allesamt nicht als Killermikroben in Frage kamen, sondern eine Stoffwechselfunktion erfüllten. »Nehmen wir uns die Innenseite der Körperhülle vor«, sagte Nockemann ein wenig entmutigt. Er hatte geglaubt, schneller zum Ziel zu kommen. Der Roboter trottete auf das Außenskelett zu, der Wissenschaftler leuchtete ihm. Das helle, schwammig wirkende Gewebe war von einer Unzahl feiner Äderchen durchzogen und reich durchblutet. Als Nockemann mit einem Finger die Festigkeit prüfte, gab es sofort nach. »Fast wie Schaumgummi. Es muß eine ausgezeichnete Isolationsfähigkeit besitzen.« Unterdessen hatte Blödel eine Art körpereigenes Sonargerät in Betrieb genommen. »Diese Schicht ist sechzig Zentimeter dick, die eigentliche
Körperhülle besitzt eine Stärke von zwölf Zentimetern.« Der Solaner nickte nur. »Fang endlich an.« Wieder entnahm der Roboter einige Proben und untersuchte sie anschließend in seinem eingebauten Labor, und diesmal wurde er fündig. »Geschafft, Chef. Die Staubmikroben sind Stäbchenbakterien. Es ist mir sogar gelungen, eine Spore zu entdecken, also eine Dauerform, die außerhalb dieses Körpers inaktiv überleben kann.« »Brav, Blödel. Und daß es sich um Bakterien handelt, ist ein Glücksfall, denn die sprechen im Gegensatz zu Viren auf Antibiotika an. Bei Viren wäre es insofern problematisch geworden, weil sie sich nicht selbst fortpflanzen können, sondern ihre genetische Information in die angegriffenen Zellen einbringen, so daß diese gezwungen werden, bis zur Selbstzerstörung neue Viren nach dem Muster des Angreifers zu bilden.« Der Wissenschaftler wirkte aufgekratzt. »Wie wirken die Staubmikroben?« »Ihre Stoffwechselprodukte greifen die Substanz des Außenskeletts an, machen sie spröde und porös. Vielleicht lösen sie sie auch auf, aber das müßte in einem Langzeitexperiment nachgewiesen werden. Sicher ist jedenfalls, daß die Körperhülle an dieser Stelle dem Innendruck nicht mehr standzuhalten vermag. Der Sauerstoff bahnt sich einen Weg nach draußen, der betreffende Staubflieger explodiert regelrecht durch die Dekompression.« »Eine wahrhaft teuflische Krankheit«, murmelte Nockemann. »Ich bin sicher, daß das Wohlbefinden des infizierten Staubfliegers in keiner Weise beeinträchtigt wird, und trotzdem trägt er die todbringenden Keime in sich.« »Ganz offensichtlich werden sie durch die Nachkommen eingeschleppt, wenn diese sich in den Körper ihres Elter begeben, um gesäugt zu werden. Wahrscheinlich ist der ganze Löcherplanet hier verseucht. Die geringe Gravitation reicht aus, um die Sporen der Staubmikroben anzuziehen.«
»Wir müssen sie also dazu bringen, diesen Planetoiden aufzugeben und vorab ein Mittel entwickeln, das die Bakterien abtötet. Ideal ist ein Antibiotikum, das seine Wirkstoffe in Gasform freisetzt.« »Ist schon in Arbeit, Chef. Ich stelle mir Kapseln vor, deren Überzug durch Sauerstoffeinfluß zerstört wird. Ich produziere eine ausreichende Menge davon, und jeder Staubflieger kann das Medikament dann aufnehmen.« »Manchmal bist du wirklich ein heller Bursche, Blödel«, lobte der Genetiker. »Wieviel Zeit benötigst du?« »Wenn keine unerwarteten Schwierigkeiten auftauchen, rechne ich mit zwei Stunden.« »Die sollten wir lieber im Raumschiff verbringen. Hier komme ich mir nämlich selbst wie eine Mikrobe vor.« »Dann herausspaziert aus Geef, die TOCHTER erwartet euch«, meldete sich Glogg über Funk. »Erst muß ich unseren Gastgeber bitten, uns hinauszulassen«, witzelte Nockemann. ›Geef, wir hatten Erfolg. Bitte öffne dich.‹ ,Ihr müßt nach vorn kommen, damit ich meinen Körper verschließen kann.' Eilfertig bewegten sich die beiden Scientologen in die genannte Richtung. Auf die Dauer war das Innere eines Körpers doch nicht der richtige Aufenthaltsort, mit den im Vergleich zum Menschen riesigen Organen, die allerlei merkwürdige Geräusche verursachten und auf eigentümliche Art ein Eigenleben führten wie der pulsierende Herzmuskel und die kontrahierenden Lungenflügel. ,Wir sind bereit.' ,Gut.' ,Der mächtige Schließmuskel zog sich zusammen und verschloß die Öffnung, doch das Maul oder was immer es war, öffnete sich nicht. Hage Nockemann wurde ungeduldig. ,Was ist, Geef?' ,Ich stelle einen allmählichen Druckausgleich her.' »Chef, ich bin erschüttert. Manchmal übersiehst du die einfachsten Dinge.«
»Das muß ich mir von dir nicht sagen lassen – von dir nicht!« brauste der Wissenschaftler auf. »Tu deine Pflicht als Laborpositronik und kritisiere nicht ständig deinen Herrn und Meister.« Ein schwacher Sog machte sich bemerkbar, dann entstand eine Öffnung, die sich rasch vergrößerte. Diffuses Licht drang in die organische Höhle. Ein wenig erleichtert trat der Solaner ins Freie, wie ein Schatten folgte Blödel. ,Wir bringen euch zurück.' Gemächlich setzten sich die Koordinatoren in Bewegung. Als die kleine Gruppe an den Skulpturen vorbeikam, erlebte Nockemann eine faustdicke Überraschung: Die erste Figur hatte sich verändert, die sich durchdringenden Scheiben waren verschwunden. Statt dessen erhob sich dort ein überdimensionales Gebilde, das eindeutig Blödel darstellte. »Schau, Chef, sie haben mir ein Denkmal errichtet, mir, ihrem Retter. Findest du das nicht reizend?« »Ich wußte gar nicht, daß du kosmische Bedeutung besitzt«, ärgerte sich der Wissenschaftler. »Außerdem ist es ungerecht, daß die Figur nur dich zeigt und nicht auch mich. Immerhin sind wir ein Team.« »In diesem Fall war deine Tätigkeit wohl mehr beratender Natur, Chef.« »Ich hätte nicht übel Lust, dir dein metallenes Fell zu gerben, du geltungssüchtiger Roboter.« Ohne seinen Assistenten noch eines Blickes zu würdigen, stapfte Hage Nockemann auf das Beiboot zu. In diesem Augenblick war es ihm egal, daß auch die Staubflieger empfingen, wie wütend er war.
* Tatsächlich
schaffte
es
die
mobile
Laborpositronik,
das
Antibiotikum in der vorausgesagten Zeit herzustellen. Der Solaner hatte den Mentaltranslator desaktiviert und sich die Zeit mit einem Plausch mit dem Haawer vertrieben. Beide beunruhigte, daß sich die TAUPRIN nicht mehr gemeldet beziehungsweise die Automatik der TOCHTER keinen Kontakt angezeigt hatte. Nockemann beschloß daher, den Löcherplaneten nach ihrer Rettungsaktion auf dem schnellsten Weg zu verlassen. »Ich bin bereit, Chef.« »Dann laß uns gehen.« Der Genetiker erhob sich und schaltete den Mentaltranslator wieder ein. »Glogg, du kannst schon die Startvorbereitungen treffen.« »Geht in Ordnung.« Die Scientologen verließen die Zentrale und begaben sich zur Außenschleuse. Tuk und Geef erwarteten sie bereits. ,Du bist in Sorge um Freunde von dir?' erkundigte sich Tuk. ,Ja. Wir wurden von Riesenbrocken angegriffen, als wir tiefer in die Dunkelzone eindrangen. Mit dem Beiboot sind wir dann losgeflogen, um die Ursache dieser Angriffe herauszufinden.' ,Ihr habt in der falschen Richtung gesucht.' Dem Wissenschaftler fielen fast die Augen aus dem Kopf. ,Willst du damit sagen, daß ihr wißt, wer dahintersteckt?' ,Es sind andere Staubflieger. Mehrere Planetenumläufe nach unserer Entstehung verbündeten sie sich mit einer anderen Macht. Sie trennten sich von uns und schlossen sich zu planetengroßen Gebilden zusammen, um Überwachungsmaßnahmen zu erfüllen. Sie sind es, die die Brocken lenken und jeden vernichten, der in die Dunkelzone einzudringen versucht. Sie sind negativ, wir schämen uns ihrer, aber wir können es nicht ändern, ebenso wenig wie diesen Sektor, obwohl uns sehr daran gelegen wäre.' ,Die eigentliche Gefahr für Atlan und die TAUPRIN geht also von den übergelaufenen Staubfliegern aus.' Nockemanns Gedanken wirbelten durcheinander. ,Wir müssen das Schwanenschiff finden, bevor es zu spät ist. Komm, Blödel, gib die Medikamente aus.' Der
Roboter öffnete einige Klappen seines Körpers und legte mehrere hundert weiße Kapseln von Nußgröße auf den Boden. ,Ihr müßt jeder zwei davon in euch aufnehmen', erklärte der Solaner, ,aber nicht durch die Nahrungsöffnung, sondern durch die andere. Ferner ist es notwendig, daß ihr euch einen anderen Planeten als Wohnstatt sucht. Dieser hier ist von Staubmikroben verseucht, und ihr würdet immer wieder erkranken.' ,Wir haben verstanden, und wir werden tun, was du sagst. Laßt euch danken im Namen aller, die hier leben.' ,Es war unsere Pflicht, euch beizustehen', wehrte der Wissenschaftler ab. ,Jeder Solaner hätte das an unserer Stelle auch getan.' ,Vielleicht können wir uns erkenntlich zeigen und euch helfen. Erlaubt uns, daß eine Gruppe euch begleitet. Wir wissen, wo sich der nächstgelegene Zusammenschluß der negativen Staubflieger befindet.' ,Ich nehme euer Angebot mit Freuden an.' Nockemann wandte sich an seinen Begleiter. »Los, Blödel, zurück ins Schiff. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.« »Mein Ruhm war nur von kurzer Dauer, Chef.« »Die erste Skulptur. Sie hat sich wieder verändert.« Unwillig blickte der Genetiker zu den Statuen. Blödels Abbild war verschwunden und hatte einem Gebilde Platz gemacht, das aussah wie ein großes, leuchtendes Auge. Alle anderen Figuren waren unverändert. Daß die TAUPRIN nicht verschwunden war, hielt er für ein gutes Omen, mit dem leuchtenden Auge vermochte er allerdings nichts anzufangen. »Deine kosmische Bedeutung war nur von kurzer Dauer.« Nockemann gab sich keine Mühe, seine Schadenfreude zu verbergen. »Nun bist du wieder das, was du schon immer warst und auch bleiben wirst: Die Laborpositronik von Hage Nockemann, kurz und prägnant ›Blödel‹ genannt.« »Ist das eine Drohung oder ein Versprechen, Chef?« »Beides.« Schmunzelnd verschwand der Genetiker im Schiff, dichtauf gefolgt von seinem Assistenten.
Kurz darauf hob die TOCHTER ab. Fünfzig geheilte Staubflieger begleiteten das Beiboot.
7. Mit Barleona an Bord gelangte die SOHN unbehelligt zur TAUPRIN zurück. Rein äußerlich war die Frau unversehrt, was mit ihr geschehen war, wußte sie nicht. In Atlans Begleitung kehrte sie in die Zentrale zurück. »Du hast den Tod für alle in die TAUPRIN gebracht«, sagte die Tauprin-Intelligenz anstelle einer Begrüßung. »Ich wüßte nicht, in welcher Form«, sagte der Arkonide ärgerlich. »Barleona wird unser Verderben sein. Ich spüre es, ich weiß es instinktiv.« »Ich kann beim besten Willen keine Veränderung an ihr feststellen. Sie ist wie immer.« »Nein, sie ist nicht mehr die, die sie war, bevor sie verschwand. Tyari hätte nicht zulassen dürfen, daß die Yuz-Yuz sie entführten.« Mehr als ein Dutzend Augenpaare richteten sich auf die weißhaarige Frau. »Was haben Tauprins Worte zu bedeuten?« fragte der Aktivatorträger mit schneidender Stimme. »Heißt das, du hattest die Möglichkeit, das zu verhindern, und hast nicht eingegriffen?« »Wenn du es genau wissen willst – ja.« »Wer sagt mir, daß du nicht mit Yuz oder wem auch immer unter einer Decke steckst?« Man spürte förmlich das Mißtrauen, das Atlan Tyari entgegenbrachte. »Das ist doch lächerlich.« Die Frau lachte gekünstelt. »Ich gebe ja zu, daß es ein Fehler von mir war, aber …« »Wahrscheinlich war es eine nicht wiedergutzumachende Dummheit, wenn Tauprin recht hat«, schnaubte der Arkonide.
»Außerdem zeugt es von einem niederträchtigen Charakter. Unterlassene Hilfeleistung nennt man das. Eine solche Tat ist nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch strafbar.« In diesem Augenblick meldete Yuz sich wieder. ,Ihr könnt nun ungehindert zur Innenzone fliegen.' Von Zweifeln geplagt, ging Atlan auf und ab. Konnte er Yuz trauen? Was aber, wenn Tauprins Ahnungen zutrafen? War wirklich etwas mit Barleona? Was war mit ihr? Welche Beweggründe hatte Tyari für ihre Handlungsweise? »Tauprin, Barleona muß untersucht werden. Ich will Gewißheit haben, ob sie manipuliert wurde.« »Das Schiff verfügt nicht über derartige Möglichkeiten.« »Dann starte. Wir müssen von hier weg.« Nichts geschah, die Anzeigen verharrten in Ruhestellung. »Was ist?« »Mich beherrschen widerstreitende Gefühle. Ich will dir helfen, der Zwang, den Anti-ES auf mich ausübt, sagt, ich muß dir helfen und deine Befehle befolgen.« »Ich sehe darin keinen Unterschied.« »Kontakt! Ich habe wieder Verbindung mit der zurückkehrenden TOCHTER. Nockemann, Glogg und Blödel sind wohlauf. Die beiden Scientologen werden feststellen, was mit Barleona ist.« »Also gut, warten wir ihre Ankunft ab.« Atlan ließ sich in seinen Sessel sinken. Er warf Tyari einen unfreundlichen Blick zu, doch die Frau bemerkte es nicht. Nervös nagte sie an ihrer Unterlippe. Wie sollte sie Atlan klarmachen, daß sie ihn noch brauchte und eine Zerstörung der TAUPRIN ganz und gar nicht in ihrem Sinn war? Sie konnte unmöglich zugeben, daß sie eine exzellente Telepathin war und Yuz' Plan durchschaut hatte. »Atlan, du mußt versuchen, mich zu verstehen«, gurrte Tyari. »Ich habe andere Ziele, doch die sind nun gefährdet.« »Es freut mich, das zu hören«, gab der Arkonide bissig zurück.
»Das glaube ich nicht, denn Barleona«, sie machte eine Kunstpause, »ist eine Bombe.« Der Aktivatorträger sprang aus seinem Sitz auf und starrte die Frau durchdringend an. »Du bist ja verrückt!« entfuhr es ihm. »Dann muß Tauprin es auch sein.« Du solltest die nötigen Maßnahmen in die Wege leiten, meldete sich drängend der Extrasinn. Dann glaubst du Tyari also? dachte Atlan. Das hat mit glauben nichts zu tun. Es ist eine Frage der Vorsicht und der Sicherheit. »Tauprin, ich benötige noch einmal die SOHN. Barleona muß sofort von Bord!« »Das wäre ein Riesenfehler«, widersprach Sanny. »Yuz würde merken, daß wir ihn durchschaut haben.« Als wäre damit ein Stichwort gefallen, meldete er sich erneut. ,Warum startet ihr nicht? Der Weg ist frei.' »Federspiel, übermittle ihm, daß wir noch auf das Beiboot mit drei von unseren Leuten warten.« Eine Weile verging, dann ertönte wieder die geistige Stimme von Yuz. ,Ich warte und halte euch den Weg frei.' Selbst der Mutant erkannte nicht die wirklichen Gedanken von Yuz, dem Wächter. Ihm kam es mehr als gelegen, daß Nockemann und seine Begleiter noch an Bord der TAUPRIN gingen. So konnte er alle auf einmal vernichten.
* Gleich nach Verlassen des Hangars trafen Nockemann, Blödel und Glogg auf Atlan und Barleona. Natürlich war der Arkonide froh, daß die drei wohlbehalten zurückkehrten, aber es war keineswegs
reine Wiedersehensfreude, die ihn veranlaßt hatte, ihnen entgegenzugehen. Seiner Meinung nach war Eile geboten, und der Weg in die Zentrale bedeutete nur einen unnötigen Zeitverlust. »Wir wissen jetzt, wer für die Attacken auf die TAUPRIN verantwortlich ist«, sprudelte der Wissenschaftler hervor. »Es sind negative Staubflieger, die für eine unbekannte Macht arbeiten. Dort draußen ist so ein Koloß, aber das wißt ihr ja wohl schon.« »Ja, der Wächter heißt Yuz, und er soll uns …« »Von dem haben wir nichts zu befürchten«, unterbrach der Solaner. »Bei unserer Suche begegneten wir positiven Staubfliegern, die eine tödliche Krankheit in sich trugen. Es gelang uns, sie zu heilen, und zum Dank dafür haben sie uns hierher gelotst und versprochen, ihre bösen Vettern nicht aus den Augen zu lassen.« Er kicherte albern. »Dabei weiß ich noch nicht einmal, ob sie Augen haben.« »Es geht um …« »Keine Sorge, unsere Freunde passen auf. Der Mentaltranslator ist noch eingeschaltet, wir stehen mit ihnen in ständiger Verbindung. Sie können alle bewußten Gedankengänge von uns dreien verfolgen, wir umgekehrt natürlich auch. Bei passender Gelegenheit muß ich dir das Gerät einmal vorführen.« »Hage, ich muß …« »Gleich. Weißt du, wie die Vorfahren der Staubflieger aussahen? Es waren walähnliche Wasserbewohner. Als die Dunkelzone künstlich geschaffen wurde, brachten sie es innerhalb kürzester Zeit fertig, durch geistige Kräfte und …« Verdutzt brach er ab. »Was hast du denn, warum hüpfst du auf einem Bein herum und schneidest Grimassen?« »Weil es mir anders nicht möglich war, deinen Redefluß zu unterbrechen. Wenn es stimmt, was Tyari sagt – und Tauprin äußert sich ähnlich –, dann ist Barleona eine lebende Bombe.« Verdutzt musterte Nockemann die Frau, dann lachte er schallend. »Sie und eine Bombe?« Er wieherte vor Vergnügen. »Höchstens
eine Sexbombe.« Abrupt brach das Gelächter ab, er schluckte. »Verzeihung, ich wollte niemandem zu nahe treten. Es ist mir nur so herausgerutscht.« »Hage, Blödel, ihr müßt sie untersuchen. Barleona ist damit einverstanden. Sie ist völlig verunsichert.« Blödel fuhr sofort seine Sensoren aus und begann mit der Untersuchung. »Es ist ja auch eine Schnapsidee, hübsche junge Damen als Bombe zu bezeichnen. Wie kam es überhaupt dazu?« Mit wenigen Worten berichtete der Aktivatorträger vom Überfall der Phantasiegestalten und Barleonas Entführung zu Yuz. Er vergaß auch nicht zu erwähnen, daß Tauprin davor gewarnt hatte, sie zurückzuholen. »Unsere Hoffnungen ruhen auf euch beiden. Ihr seid die einzigen, die uns Gewißheit verschaffen und eine Gefahr dieser Art beseitigen könnt.« »Dann war es doch nicht übertrieben, daß mir kosmische Bedeutung zukommt«, sagte Blödel, während er Zellproben entnahm. »Was meint er damit?« erkundigte sich Atlan irritiert. »Für einen lächerlich kurzen Zeitraum haben die Staubflieger eine Skulptur geformt, die ihn darstellte. Darauf bildet er sich nun eine Menge ein.« »Ein Bildnis von dir fehlte jedenfalls, Chef.« »Dafür besteht die Figur von Atlan und Anti-Homunk immerhin schon seit Wochen. Und die TAUPRIN hat deine Nachbildung ebenfalls überdauert.« »Was habt ihr noch gesehen?« »Eine Frau. Vielleicht Tyari, vielleicht Barleona, auf jeden Fall ein weibliches Wesen, das menschliche Formen hatte.« Der Genetiker zwirbelte seinen Bart. »Ursprünglich waren da auch noch zwei Scheiben, die sich durchdrangen. Diese Skulptur wurde durch Blödel abgelöst und wenig später entstand an der gleichen Stelle ein
großes Auge, das irgendwie leuchtete. Kannst du dir etwas darunter vorstellen?« »Ich werde darüber nachdenken. Was ist mit Barleona?« »Blödel, wir sind gefordert, also voran.« Die Untersuchungen waren für die junge Frau völlig schmerzfrei. Wann immer die mobile Laborpositronik einen winzigen Eingriff vornehmen mußte, wurde das betreffende Gewebe örtlich betäubt. Barleona ließ alles mit einem gewissen Gleichmut über sich ergehen, was sie dachte oder empfand, war ihr nicht anzusehen. Atlan dagegen machte ein besorgtes Gesicht. Hage Nockemann bemerkte es. »Keine Sorge, wenn es ein biologisches Problem ist, werden wir schon dahinterkommen.« Blödel arbeitete schnell, zugleich aber auch mit der gebotenen Sorgfalt. Sofort nach Entnahme wurde jede Probe analysiert. Das erste halbe Dutzend brachte negative Ergebnisse. »Den üblichen Rahmen haben wir jetzt abgesteckt und überprüft, nun wird es differenzierter«, erklärte der Wissenschaftler. »Und je schwieriger eine Aufgabe ist, um so reizvoller ist sie auch.« »Ich habe etwas ermittelt, Chef.« »Heraus mit der Sprache, damit ich die Diagnose stellen kann.« »Der Stoffwechsel arbeitet völlig irregulär, das Lymphsystem ist quasi vom Blutgefäßsystem abgekoppelt, und die Lymphknoten sind stark angeschwollen. Die Zuflüsse funktionieren, die Abflüsse sind verschlossen.« Der Genetiker ächzte. »Das kann nicht wahr sein, so etwas gibt es nicht.« Mit einer fahrigen Geste fuhr er sich durchs Haar. »Es ist nicht möglich.« »Die Lymphknoten enthalten C3H5(NO2)3.« »Hm«, machte Nockemann. »Ein uraltes Mittel. Es wird in kleiner Menge gegen Angina pectoris und Arterienverkalkung verabreicht, aber warum läßt es sich ausgerechnet in den Lymphknoten nachweisen?«
»Weil es, alle Lymphknoten zusammengenommen, pfundweise vorhanden ist. Es wird von Barleonas Körper produziert.« »Nein!« In diesem einen Wort steckte mehr Verzweiflung als in allen antiken Tragödien zusammen. Der Solaner hatte die Hände vors Gesicht geschlagen, ein trockenes Schluchzen schüttelte seinen Körper. Fast eine Minute lang stand er so da und versuchte vergeblich, seine Fassung wiederzugewinnen. »Warum ich? Warum muß ich immer mit derartigen Unmöglichkeiten konfrontiert werden?« Seine Stimme klang gebrochen. »Warum kann es nicht ein Gen-Defekt sein, eine Zellanomalie oder eine Hormonstörung? Nein, nichts dergleichen, immer sind es Verrücktheiten, die mich an den Rand des Wahnsinns treiben.« »Was ist mit Barleona?« »Sie ist eine lebende Bombe«, sagte Hage Nockemann tonlos. »Und eine chemische Fabrik zugleich. Sie enthält und produziert Nitroglyzerin, hochempfindlich gegen Schlag, Stoß oder plötzliche Erhitzung.« Atlan war blaß geworden. »Könnt ihr etwas dagegen tun?« »Nein.« Müde schüttelte der Wissenschaftler den Kopf. »Dagegen sind wir machtlos.« »Wir müssen sie von Bord schaffen.« Blödel hatte noch einige Untersuchungen vorgenommen und die Frau dabei behandelt wie ein rohes Ei. Nun fuhr er sein Instrumentarium wieder ein. »Ich fürchte, dazu reicht die Zeit nicht mehr«, sagte er. »Bei Barleona hat eine Art Fieber eingesetzt, ihre Körpertemperatur steigt sprunghaft an. Der Fieberstoff Pyrexin, der aus Keimen, Bakterien, aber auch aus zerfallenden körpereigenen Geweben und Zellen entsteht, konnte nicht festgestellt werden. Typisch für Fieber ist eine Erhöhung des Sauerstoffbedarfs des Organismus um jeweils zwölf Prozent pro 0,1 Grad Celsius und eine Erhöhung der Herzschlagzahl
um zehn Schläge pro Minute bei einem Grad Temperaturerhöhung. Die Werte, die ich ermittelt habe, widersprechen sich teilweise, sind also abnormal. Es ist ein unerklärlicher Prozeß, der sich durch Medikamente nicht rückgängig machen läßt.« Unbewußt ballte Atlan die Fäuste. Er wollte nicht einfach aufgeben, wollte um sein Leben und das der anderen kämpfen, aber da war kein direkter Gegner, nur Barleona, die nichts dafür konnte, daß sie zur biologischen Bombe geworden war. Vergeblich zerbrach er sich den Kopf darüber, wie die TAUPRIN und seine Begleiter doch noch zu retten waren, aber er sah keine Möglichkeit mehr. »Atlan, alter Freund, wir sind am Ende unseres Lebenswegs angekommen, aber ich hätte dir und mir einen anderen Tod gewünscht.« In Hage Nockemanns Augen glitzerte es verdächtig. »Wir haben viel gewagt und alles verloren. Leid tut es mir um die SOL und ihre Besatzung. Nun kann ihr niemand mehr helfen.« »Bringt Barleona zu mir, ich werde das Tor noch einmal öffnen«, meldete sich überraschend die Tauprin-Intelligenz. »Sie ist eine Bombe!« »Ich weiß, Atlan, es ist mir nicht entgangen. In mir kann Barleona ruhig explodieren, denn in mir kann nichts geschehen. Anti-ES hat dafür gesorgt.« Tauprin sprach besonnen wie immer, aber der Arkonide vermutete, daß er zutiefst verzweifelt war und sich selbst vernichten wollte. Motive dafür gab es genug. Es gibt keinen anderen Ausweg! erkannte der Logiksektor. »Barleona?« Die Frau nickte stumm. »Ich bin einverstanden.« Der Aktivatorträger nahm sie bei der Hand und geleitete sie vorsichtig auf den Gang, der zu der abgeschotteten TauprinIntelligenz führte. Die Sekunden dehnten sich zu Ewigkeiten. Ein unbedachter Schritt, ein Stolpern, ein Stoß konnte das Ende bedeuten.
Endlich standen sie vor dem Tor. Fürsorglich begleitete Atlan sie ein paar Schritte. Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln und zog sich dann zurück. Die Öffnung schloß sich wieder. »Jetzt können wir nur noch hoffen«, murmelte der Arkonide. »Nach meiner Berechnung bleiben uns noch neunzig Sekunden«, sagte Blödel mit Grabesstimme. »Maximal zwei Minuten.« Atlan begann zu laufen, die anderen rannten hinter ihm her. Instinktiv versuchten sie, einen möglichst großen Abstand zwischen sich und den Explosionsherd zu bringen. Mit wachsender Entfernung rechneten sie sich eine größere Überlebenschance aus, dabei war fraglich, ob die TAUPRIN nach Ablauf der Frist überhaupt noch existieren würde.
* Atemlos erreichten die vier die Zentrale, ohne daß eine Detonation das Schwanenschiff erschüttert oder gar zerrissen hätte. Atlans erster Blick galt den Datenschirmen. Die Instrumente zeigten an, daß der Raumer bewegungslos auf der Stelle verharrte. »Hat Yuz sich noch einmal bemerkbar gemacht?« s Federspiel schüttelte den Kopf. »Wo habt ihr Barleona gelassen?« erkundigte sich Sanny. »Tauprin hat sie in sich aufgenommen. Blödel und Hage haben festgestellt, daß sie tatsächlich zu einer lebenden Bombe umfunktioniert wurde. Zeit, sie von Bord zu schaffen, blieb uns nicht mehr, da hat Tauprin seine Hilfe angeboten.« »Entsetzlich«, hauchte die Kleine. »Und wem haben wir das zu verdanken?« grollte der Hüne. »Ihr da!« Anklagend deutete er auf Tyari. Feindselige Blicke trafen sie. »Ihr wißt, daß ich das nicht gewollt habe.« »Du hast Barleona auf dem Gewissen, und wenn das Schiff
zerrissen wird …« »Der kritische Zeitpunkt ist bereits vorüber.« Der Arkonide ließ sich seine innere Bewegung und Trauer über Barleonas Tod nicht anmerken. »Wir müssen davon ausgehen, daß die TauprinIntelligenz nicht mehr existiert.« »Du meinst, Tauprin hat sich geopfert, um das Schiff zu retten?« fragte der Genetiker. »Ja, vielleicht war es aber auch eine Verzweiflungstat. Gerettet sind wir keineswegs, wir haben allenfalls einen Aufschub erhalten. Die TAUPRIN ist führungs- und steuerlos.« »Wir könnten versuchen, sie auf manuelle Schaltung umzustellen«, meinte Glogg. »Ich fürchte, wir werden damit nicht viel Erfolg haben. Dieser Raumer mit seinen besonderen Möglichkeiten ist speziell auf Tauprin zugeschnitten. Beide bildeten …« »Yuz wird unruhig!« rief Federspiel. »Ich kann seine Gedanken empfangen. Er war es, der Barleona manipuliert hat. Die selbstgesetzte Zeitspanne ist verstrichen, und nun hat er gemerkt, daß sein hinterhältiger Plan nicht aufgegangen ist. Er will die TAUPRIN angreifen.« Die Männer und Frauen wurden unruhig. Auf den Schirmen war zu erkennen, daß sich der Koloß in Bewegung setzte und auf das Schwanenschiff zuhielt, während sich die TAUPRIN nicht vom Fleck rührte. Und dann geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte: Eine gewaltige Öffnung entstand in Yuz, ein riesiges Maul, das groß genug war, um den zierlichen Raumer zu verschlingen. »Er will die TAUPRIN zermalmen!« gellte es durch den Raum. Panikerfüllt sprangen einige Solaner auf und stürmten zum Ausgang. Atlan verstellte ihnen den Weg. »Wo wollt ihr hin?« »Zur Schleuse. Wir verlassen das Schiff.« »Glaubt ihr wirklich, daß ihr euch mit den Anzugtriebwerken in Sicherheit bringen könnt?«
»Ja, das glauben wir.« Ein schmächtiger Mann hatte plötzlich einen Strahler in der Hand. »Und nun laß uns durch, oder …« Er ließ die Drohung unausgesprochen, begleitete seine Worte aber mit einer nachdenklichen Bewegung der Waffenhand. , »Laß den Unsinn und steck das Ding wieder weg. Ich verstehe eure Beweggründe, aber ihr seid nicht die einzigen, die um ihr Leben fürchten. Wir dürfen jetzt nicht die Nerven verlieren …« »Du kannst uns nicht aufhalten!« schrie der Solaner unbeherrscht. Sein Blick flackerte, die Gesichtszüge waren angstverzerrt, verrieten zugleich aber auch wilde Entschlossenheit. »Mach Platz!« Die Waffe ruckte hoch. Bevor der Mann den Auslöser betätigen und Atlan paralysieren konnte, wurde ihm der Strahler entrissen. Blödel hatte einen seiner Teleskoparme ausgefahren und schwenkte den Kombistrahler hin und her wie ein Pendel. »Sei froh, daß ich Scientologe bin und kein gewalttätiger Rohling, sonst würde jetzt eine schillernde Beule deinen Schädel zieren«, tönte der Roboter. »Mit solchen Mordinstrumenten treibt man keine Scherze, und Freunde bedroht man damit schon gar nicht.« »Was verstehst du hirnloser Idiot denn davon?« brüllte der Schmächtige. Seine Stimme bekam einen weinerlichen Unterton. »Das Ding da draußen wird uns verschlingen, wir werden alle sterben. Wir müssen fliehen!« . »In der Dunkelzone haben wir keine Überlebenschance«, versuchte Atlan zur Besonnenheit zu mahnen. »Hier an Bord etwa?« »Die Staubflieger greifen ein!« rief Nockemann begeistert. Aller Augen hatten sich auf Atlan und die paar Leute konzentriert, die das Schwanenschiff notfalls mit Gewalt verlassen wollten, nun ruckten die Köpfe herum. Gebannt starrten alle auf die Bildschirme. Die Staubflieger hatten sich zu einem Keil formiert, der mit großer Geschwindigkeit auf Yuz zuhielt. Bevor dieser die TAUPRIN erreichte, waren die ballonförmigen Lebewesen heran und stürzten sich gleich Kamikaze-Fliegern in den drohend geöffneten
Pseudorachen. Abrupt stoppte der Koloß. »Ich habe Verbindung mit Tuk und Geef, den beiden Koordinatoren unserer Freunde.« Der Wissenschaftler strahlte. »Sie wollen versuchen, die von Yuz ausgehende Gefahr zu beseitigen.« Neue Hoffnung kam auf, aber nur für ein paar Sekunden. »Wie wollen sie das ohne Waffen denn anstellen?« »Ich weiß es auch nicht.« Hage Nockemann wirkte betroffen. »Wahrscheinlich setzen sie ihre besonderen Fähigkeiten ein.« »Und welcher Art sind die?« »Sie sind beispielsweise in der Lage, durch Geisteskraft gewaltige Steinskulpturen entstehen zu lassen.« »Yuz ist keine tote Materie.« Der Schmächtige ließ nicht locker. »Oder hoffst du, daß deine paar Staubflieger aus dem Koloß ein Denkmal machen werden?« Er lachte schrill. »Es sind Winzlinge gegen ihn.« »Die Angst scheint deinen Verstand getrübt zu haben«, erwiderte der Galakto-Genetiker ärgerlich. »Du solltest eine Hygieneeinheit aufsuchen.« »Warum?« »Weil du die Hosen gestrichen voll hast.« »Hage, hast du Tuks Mitteilung empfangen?« fragte der Haawer. »Ja, aber wie soll ich mich konzentrieren, wenn ich dauernd provoziert werde?« »Tuk ist überzeugt davon, daß er und seine Artgenossen es schaffen werden.« Nockemann gab keine Antwort. Er hatte den Kopf schiefgelegt und lauschte. »Sie ringen mit Yuz«, murmelte er geistesabwesend. »Dessen Gegenwehr wird schwächer.« Außer Federspiel waren alle, die nicht über den Mentaltranslator mit den Staubfliegern verbunden waren, auf übermittelte Informationen angewiesen. Zum einen lieferten sie Nockemann und Glogg, zum anderen die Bildschirme.
Eine optische Veränderung zeichnete sich ab. Die Körperumrisse von Yuz verformten sich amöbenhaft, der kugelförmige Leib bekam Beulen, wurde instabil. Und plötzlich flog er auseinander, unzählige Brocken von fünfzehn bis zwanzig Meter Länge wirbelten davon. »Geschafft, sie haben es tatsächlich geschafft!« Jubelnd riß der Genetiker die Arme hoch. »Yuz ist besiegt, die Gefahr ist beseitigt. Danke, Tuk, danke Geef, Dank euch allen.« Hochrufe erfüllten die Zentrale, Applaus und befreites Lachen. Wieder einmal war eine drohende Gefahr abgewendet worden, wieder einmal waren sie auf geradezu wunderbare Weise gerettet worden. »He, seid mal ruhig, Geef will uns noch etwas mitteilen.« Der Lärm ebbte ein wenig ab. »Yuz als solcher existiert nicht mehr, aber im übertragenen Sinn lebt er noch.« Nockemanns Gesicht nahm einen erstaunten Ausdruck an. »Die Brocken, die wir gesehen haben, sind nicht die Reste seines Körpers, sondern positive junge Staubflieger. Sie haben nichts Böses im Sinn und verstehen sich nicht als Wächter. Die anderen Staubflieger werden sich in Zukunft um sie kümmern.« »Hage, übermittle ihnen nochmals unseren Dank«, sagte der Arkonide. ,Tuk, Geef, ich soll euch und allen anderen noch einmal in Atlans Namen danken. Ihr habt uns das Leben gerettet.' ,So wie ihr das unsrige. Wir sind froh, daß wir euch helfen konnten. Lebe wohl, Freund Hage, und grüß Blödel von uns. Ihr beide werdet in unseren Gedanken fortleben als die Retter unseres Volkes.' ,Wir werden uns immer in Dankbarkeit an euch erinnern, Tuk. Alles Gute für dich und die anderen.' Der Pulk der kleinen Staubflieger geriet in Bewegung. Sie scharten sich um ihre ausgewachsenen Artgenossen wie die Küken um die Henne. Ein halbes Dutzend Staubflieger trieb gemächlich durch das Gewimmel der tropfenähnlichen Körper und setzte sich an die Spitze der Formation, in die allmählich Ordnung kam. Anfangs langsam, dann immer schneller werdend, entfernte
sich die Schar der so ungewöhnlichen Lebewesen. Ein wenig wehmütig löste der Wissenschaftler die winzige Sonde von seinem Kopf und schaltete den Mentaltranslator aus. Er rechnete nicht damit, daß sie den Staubfliegern noch einmal begegnen würden, dabei hätte er sich gern noch näher mit den hilfsbereiten Geschöpfen beschäftigt, um das Geheimnis ihrer Anpassung an diesen lebensfeindlichen Sektor in allen Einzelheiten zu ergründen. »Ich habe wieder Kontakt zu Bjo!« rief Federspiel. »Bei ihm ist alles unverändert. Er will wissen, ob er mit der CHYBRAIN und der FARTULOON folgen soll.« Atlan dachte kurz nach. »Übermittle ihm, daß die TAUPRIN eine Art Korridor geschaffen hat, der durch die Dunkelzone führt. Gib ihm auch die entsprechenden Daten durch, damit er mit den beiden Raumern nachkommen kann, aber veranlasse ihn, vorsichtig zu sein.« »Gut.« Der Mutant lehnte sich zurück und schloß die Augen. Mit seinen Para-Kräften stellte er erneut eine Verbindung zu Breiskoll her. »Es war mir nicht möglich, selbst einzugreifen, aber ich habe alles beobachtet. Der Flug kann fortgesetzt werden.« »Tauprin!« Der Arkonide war völlig überrascht. »Ich habe nicht damit gerechnet, daß du die Explosion überstehen würdest.« »Nicht nur ich habe sie verkraftet, sondern auch Barleona. Sie ist ebenso unversehrt wie ich selbst. Ich habe doch gesagt, daß Anti-ES dafür gesorgt hat, daß in mir nichts geschehen kann.« Der Aktivatorträger hätte am liebsten einen Freudenschrei ausgestoßen, beherrschte sich aber. »Wo ist Barleona jetzt?« »Sie ist bereits auf dem Weg in die Zentrale.« »Ich gehe ihr entgegen!« Von positiven Gedanken und Gefühlen beflügelt, stürmte Atlan aus dem Raum.
Er brauchte nicht weit zu laufen. Lächelnd kam die Frau auf ihn zu, unverletzt und faszinierend wie eh und je. Überwältigt schloß er sie in die Arme. »Tauprin hat die Wahrheit gesagt, du bist unverändert.« Barleona löste sich aus der Umarmung. »Nicht ganz. Der Prozeß hat bewirkt, daß ich wieder etwas über meine Vergangenheit weiß. Mein wirklicher Name ist Iray Vouster.«
ENDE
Das Eindringen in die Dunkelzone glich einem Höllenflug. Doch damit nicht genug: Atlan, der zum Zentrum von Xiinx-Markant will, trifft auf einen Gegner, der unbesiegbar zu sein scheint. Erstes Anzeichen für die Existenz dieses Gegners ist der ANGRIFF DER UNSICHTBAREN … ANGRIFF DER UNSICHTBAREN – das ist auch der Titel des Atlan-Bandes 615, der von Hans Kneifel geschrieben wurde.