Zwei Tage der Angst Two days of terror von Roy Sheldon
VORWORT: Immer wieder haben Wissenschaftler behauptet, daß es e...
40 downloads
770 Views
4MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Zwei Tage der Angst Two days of terror von Roy Sheldon
VORWORT: Immer wieder haben Wissenschaftler behauptet, daß es eine „Rassenerinnerung“ gibt. Eine Erinnerung also, die Erlebnisse unserer Urväter zu unserem Eigentum macht. Sie schlummert im Unterbewußtsein. Im wachen Zustand könnte niemand berichten, was der Urgroßvater, der Großvater, ja selbst der Vater dachte und fühlte. Und doch sind diese Erlebnisse ein Teil unseres Ich. Wie kommt es zum Beispiel, daß eine Frau, die tagsüber ihren Radioapparat bedient und mit modernen technischen Geräten in ihrer Küche herumhantiert, nachts bei einem Gewitter aufsteht und voller Angst in ihrer Wohnung auf und ab geht, ohne Schlaf zu finden? Diese Frau weiß, daß Blitzableiter ihr Haus schützen. Sie kann sich vielleicht sogar erklären, was ein Gewitter ist und wie es zustande kommt. Aber trotz dieses Wissens hat sie Angst. Wenn uns jemand eine solche Nacht schildert, dann sagt er vielleicht: „Ich weiß selbst nicht warum, aber ich fürchte mich schrecklich bei einem Gewitter.“ Diese uralte Angst, die wir uns heute kaum noch erklären können, ist eine Erinnerung an Zeiten, da es noch keine Blitzableiter, nicht einmal festgefügte Häuser gab. 3
Wenn es einem Wissenschaftler gelänge, einen Apparat zu konstruieren, der diese schlummernden Erinnerungen weckt, dann könnten wir als Beobachter die Geschichte des Fortschrittes verfolgen, ohne unsere Zeit zu verlassen. Und Professor Echert hat einen solchen Apparat erfunden. Seine Untersuchungslinse aber dient noch einem anderen Zweck. Doch das müssen Sie selbst lesen. PERSONEN: Professor Echert, Joe Garolson, Magdah, Garo, Leta,
Erfinder Sträfling Steinzeitmenschen
Professor Echert strahlte vor Befriedigung, als dieses Prachtexemplar hereingebracht wurde. Er befahl den Wächtern, den kurzen, dicken Körper des Mannes auf der Bank festzubinden, so daß sein Kopf unter die Untersuchungslinse zu liegen kam. Der Professor entließ die Wächter, während er die Versuchsperson untersuchte. Die massige Brust des Mannes hob und senkte sich in rhythmischen Bewegungen unter der tiefen Narkose. Seine Augenlider waren geschlossen; die zottigen Augenbrauen bildeten eine scharfe Linie unter der schräg Zurückliegenden Stirn. Seine Arme, die eng an den Körper gefesselt waren, zeigten eine ungewöhnliche Länge; die Hände waren übermäßig kräftig entwickelt, und auf den Fingern wuchsen an den Außenseiten pechschwarze Haare. Es war ein prachtvolles Exemplar innerorganischer Rückentwicklung, stellte der Professor fest. Primitiv, grausam, eigensinnig und verbrecherisch – darum war der Mann auch hier; er hatte seine Wahl getroffen zwischen diesem Versuch und dem elektrischen Stuhl. 4
Der Versuch! Echert hob seine Augen zu der großen Maschine über der Versuchsperson. Es war seine eigene Erfindung. Ein Wunder von angewandter Physik und Philosophie. Eine Maschine, die geheimste Tiefen des Unterbewußtseins sondieren, die rassischen Erinnerungen wecken und in Bildform auf eine Leinwand projizieren sollte. Der Ton würde auf einen Lautsprecher übertragen werden. Professor Echert schaltete den Strom ein, setzte sich vor die Leinwand und schaltete den Lautsprecher ein. Dann warf er den Hebel herum, und der Versuch konnte beginnen … Neuland Die Tage waren länger und wärmer geworden, und der Fluß war zu einem ganz beachtlichen Strom angeschwollen. Das rauschende Wasser der dahinschmelzenden Eisdecke schoß gurgelnd über die Steine des Flußbettes dahin und leuchtete ab und zu in hellen Farben auf, wenn ein überraschter Fisch vor Magdah und Garo angeschwemmt wurde. Die beiden Männer saßen schweigend da. Ihre Augen hielten sie auf die kleinen Fleischstückchen gerichtet, die am Ende einer Ranke im Wasser tanzten. Die Ranke war an einem starken Ast befestigt. Wenige Zentimeter unter der Oberfläche bewegte sich der Köder verlockend vor den Augen der Fische. Aber keiner kam nahe genug, um von Garos langstieliger Axt erreicht zu werden. Immer wieder erhob der Jäger seine Waffe, stets bereit, vorwärtszuspringen und seine Steinaxt auf einen der farbenprächtigen Lungenfische oder auf andere Bewohner des Flusses niederzuschmettern. Aber immer wieder fiel sein Schatten auf das Wasser vor ihm und verscheuchte die geängstigten Fische. Verärgert sank Garo jedesmal in seine hockende Stellung zurück. 5
Mit jedem dieser Versuche verrannen einige Sekunden – Sekunden einer anderen Zeit. Magdah und Garo lebten in der späten Steinzeit; sie wußten nichts von Städten, Flugzeugen und Radioapparaten. Die beiden Männer standen noch am Anfang einer Entwicklung, die sie selbst nie begriffen hätten. Magdah hatte die ganze Zeit über regungslos dagesessen, während Garo alle Augenblicke aufsprang und sich dann wieder niederhockte. Magdah hatte seinen Köder im Auge. Eigentlich nicht nur den Köder; er beobachtete gern, wie die kräuselnden Wellen das Sonnenlicht brachen, er liebte das kräuselnde Wasser selbst, wenn es in seiner wilden, ungestümen Art um die Felsbrocken brandete. Allerdings sollte er seine ganze Aufmerksamkeit auf die näher kommenden Fische richten, aber er war nicht hungrig. Die Luft war so warm, und aus der Ferne drang die Sinfonie des Dschungels hinter dem steilen Flußufer. Es war ein friedvolles Dasein. Garos fortwährendes Aufspringen störte ihn. Warum konnte der Mann nicht stillsitzen und warten, bis ein Fisch nach dem Köder schnappte? Warum mußte er immer in Bewegung sein – immer laufen, hin und her springen und mit der Axt auf ein gestelltes Wild einschlagen? Garo ist eben nur ein Jäger, dachte Magdah, nichts als ein Jäger, der töten muß; ein immer gespannter Körper, der selbst das Essen als Zeitverlust betrachtete. Nein, das stimmte nicht ganz. Garo konnte auch anders sein, netter – manchmal. Magdah wandte sich dem Fluß zu. Wieder sprang Garo auf, holte aus, fehlte und knurrte ärgerlich. Aber diesmal hockte er sich nicht wieder hin. Er stand aufrecht, wie es alle Männer seines Zeitalters taten, mit leicht eingeknickten Knien; seine buschigen Augenbrauen schützten die Augen vor der Sonne, die kurzen, dicken Finger baumelten lose an seiner Seite. Verdrossen gab er dem Ast, seiner Angelrute, 6
einen Fußtritt. Der rollte über den Felsen, der ihm als Halt diente, und war nahe daran, in den Fluß zu fallen. Garo, der jetzt seine Handlungsweise bereute, sprang vor und faßte den Ast, gerade ehe er im Wasser landete. Fast wäre er dabei auf dem schlüpfrigen Stein ausgerutscht. Mit einem Grinsen legte er den geretteten Ast auf den Boden und sah sich nach Magdah um. „Garo geht“, sagte er. „Garo nicht fischen. Garo fängt MoaVogel.“ Magdah sah ihn an, seine Mundwinkel zogen sich nach oben. In seinen Augen zeigte sich ein Glitzern, das dem Leuchten des Wassers glich. Er wußte, daß es so kommen würde, so war es bisher immer gewesen. Garo langweilte sich. Fischen befriedigte ihn nicht. Meist hielt er es eine Weile aus, um zu zeigen, daß er seinen Teil beitragen wollte. Aber fast immer wurde er dann unruhig, legte die Angelrute weg und machte sich auf die Suche nach einer lebhafteren Beute. Jetzt war es wieder so. „Gut“, grunzte Magdah. „Garo fängt viel Fleisch.“ Er hatte den Jäger bei diesen Anlässen nie getadelt. Wenn der eben so veranlagt war, mußte man ihm seinen Willen lassen. Schließlich hatte sich auch Garo nie beschwert, wenn Magdah den Sonnenuntergang oder das Wasser betrachtete, anstatt zu fischen oder Feuer zu machen. Er blickte hinter Garo drein, der langsam auf die Höhle zuging. Seine Gestalt war gespannt, sein ständiger Tätigkeitsdrang wurde nur von einem dünnen Schleier der Selbstbeherrschung überdeckt. Sein Körper zeigte viele Narben von Kämpfen mit Tieren und Menschen. Auch Magdah hatte solche Narben, aber weit weniger. Er wandte sich wieder dem Fluß zu und verlegte seinen Köder an eine andere Stelle. Das Wasser war ganz klar, so daß er jedes Steinchen auf dem Grunde des Wassers sehen konnte, ebenso die kleinen Sandstreifen, die von dem wirbelnden Was7
ser dauernd bewegt und verändert wurden. Fasziniert sah er zu. Aber ein Teil seines Selbst, ein kleiner Teil, spähte immer nach den großen, braunen Gestalten und langen, grünen Körpern, die sich den Schatten auf dem Wasser neugierig näherten. Jetzt hörte er patschende Schritte auf den Steinen hinter sich, und als er sich umsah, bemerkte er Leta, die von der Höhle auf ihn zukam. Er betrachtete ihre geschmeidige Gestalt, die von der Sonne überflutet wurde. In der warmen Luft konnte sie auf das Bärenfell verzichten. Wenn er sie so sah, erschien es ihm als ein großes Wunder, daß sie seine Gefährtin war. Seine Gefährtin, die vor einiger Zeit durch die Nacht zu ihm gekommen war und sich so natürlich und vollkommen in sein Leben eingefügt hatte. Als sie erschien, damals in der Regennacht, begleitet von Magdahs Sloth, dem entlaufenen Faultier, bekam Garo einen Wutanfall und war davongelaufen. Garo hatte keine Zeit für eine Gefährtin. Aber später, als er Letas Fertigkeit, Angreifer abzuwehren, erkannte – eine Geschicklichkeit im Kampf, wie sie bei Frauen selten war – hatte sich Garo beruhigt und Leta zum Bleiben ermutigt. Aber das Mädchen war auch jetzt noch nicht von seiner Freundschaft überzeugt. Sie wollte nie allein mit ihm in der Höhle bleiben – nicht, weil sie einen Angriff von ihm befürchtete, sondern weil sie ihn nicht reizen wollte. Magdah wußte es. Als er sie jetzt über die Felsbrocken klettern sah, freute er sich, daß sie zu ihm kam, obwohl sie in der Höhle viel Arbeit hatte. Sie half ihm dort, seine Bilder auszubessern, die kürzlich mutwillig zerstört wurden, als eine herumwandernde Familie die Höhle in Besitz nehmen wollte. Obwohl auch er hier zu tun hatte, würde es doch nett sein, sie neben sich zu wissen am Ufer des Flusses. Auch Leta liebte die tanzenden Lichtreflexe auf dem Wasser und den wirbelnden Sand. Am meisten interessierten sie jedoch die Fische. Magdah 8
wußte, wie sie aufgeregt herumhüpfte, wenn sie ein farbiges Leuchten erblickte und wie sie versuchte, einen Fisch, der in die Nähe des Ufers kam, zu fassen. Auch Leta liebte mehr Dinge als Jagen und Töten. Aber sie konnte jagen und töten, wenn es sein mußte. Sie kam jetzt heran und setzte sich auf einen Stein neben Magdah. Ihre braunen Augen blickten ihn lächelnd an. Oft hatte Magdah versucht, so zu lächeln, es war ihm aber nie gelungen. Nur Leta verstand, mit den Augen zu lachen. Über ihre Schulter blickte sie nach der Höhle zurück. Als sie ihm den Blick wieder zuwandte, war wieder die alte Fröhlichkeit in ihren Augen. „Garo jagen, eh?“ fragte sie. „Garo nicht gern fischen. Eh?“ Aus Magdahs Kehle drang ein leises Knurren. Leta hatte auch für Garo Verständnis. Sie erkannte den Jäger in ihm, sah die kraftvollen Muskeln, die unbarmherzige Absicht zu töten, wenn er eine Beute erblickte. Magdah wußte, daß sie Garo gern leiden mochte. Aber Leta war Magdahs Gefährtin. Sie saßen still und betrachteten das Wasser. Der Fluß war jetzt breiter als zu der Zeit, da Magdah zu der Höhle gekommen war. Das andere Ufer war volle hundertachtzig Meter entfernt. Man konnte das kaum noch als Fluß bezeichnen, nachdem die Eisdecke unter der warmen Sonne geschmolzen war. Magdah bemerkte, wie sich die Entfernung von der Höhle zum Ufer verringert hatte. Er brauchte längst nicht mehr so lange, um einen Kürbis voll Wasser zu holen. Das Fleisch des Köders tanzte unter der Oberfläche des Wasser, aber seine Lockung wurde von den Fischen nicht beachtet. Im Wasser zeigte sich keinerlei Bewegung. Magdah ließ seinen Blick über die Berge hinter dem anderen Ufer schweifen. Das Purpur des Morgens hatte sich in ein dunkles Grünblau verwandelt, das sich in Magdahs Augen mit dem Blau des Him9
mels mischte. Er überlegte, ob er nicht lieber Berge malen sollte statt wie bisher Tiere. Leta stieß einen Schrei aus. Magdah drehte sich um und sah, daß sie sich aufgerichtet hatte und auf das Wasser zeigte. Er folgte ihrem Blick und bemerkte einen prachtvollen, orangeund rotgefärbten Fisch, der den Lockungen des Köders nicht widerstehen konnte. Er war aber auch wirklich schön. Wie immer, war Leta ganz aufgeregt. Sie kniete am Ufer nieder und streckte ihre Arme nach dem Fisch aus. Magdah lächelte. Sie würde ihn nicht erreichen. So schnell sich ihre braunen Glieder auch bewegten, sie konnte nicht schneller sein als der Fisch. Dann verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht, als er sah, wie Leta das Gleichgewicht verlor, auf dem schlüpfrigen Stein ausrutschte und ins Wasser fiel. In der Nähe des Ufers war es ziemlich seicht, aber die rasche Strömung und die Kälte hatten eine Panikstimmung in Leta hervorgerufen. Sie plätscherte kopflos herum und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Aber dabei geriet sie immer tiefer in den Fluß. Bevor er nur die Hand ausstrecken konnte, war sie bereits außer Reichweite und in der schnellen Strömung der Flußmitte. Er unterdrückte seine Furcht vor dem durchsichtigen Naß und sprang sofort ins Wasser, von dem er wußte, daß es bereits viele verschlungen hatte. Rasch watete er auf Leta zu und stand bald bis zu den Hüften im Fluß. Dann erfaßte ihn die natürliche Tragfähigkeit des Wassers und riß die Beine unter ihm weg. Instinktiv schlug er mit Armen und Beinen um sich. Angst und Furcht ergriffen Besitz von jedem Muskel seines Körpers, als das eisige Wasser über seinem Kopf zusammenschlug und in seinen Mund drang. Er war noch nie im Wasser gewesen, oder doch nie weiter als bis zu den Knöcheln. Er fühlte sich allein und verlassen. Nirgends fand er Halt oder festen Boden 10
für seine Füße. Um ihn flutete nur die gewaltige, weiche Macht, die ihn nach Belieben weiterdrängte. Etwas Hartes berührte seine Hand. Automatisch griff er mit gierigen Fingern zu. Es war Fleisch, und das Fleisch klammerte sich mit der gleichen Entschlossenheit an ihn, wie auch er es umkrampfte. Sein Kopf kam wieder an die Oberfläche und blieb oben. Seine Füße stemmten sich noch immer gegen den Widerstand des Wassers. Jetzt konnte er wieder sehen und bemerkte Leta neben sich; ihre Augen hielt sie in panischer Angst weit aufgerissen. Er preßte sie mit sicherer Hand fest an sich und suchte das Ufer ab. Überall war Wasser. In Augenhöhe wirkte der Fluß wie ein einziger, riesiger Ozean, der kein Ende hatte und sich bis zu den Hügeln ausdehnte. Sie entfernten sich immer weiter von der Höhle. Magdah entdeckte mit einem kurzen Blick Garo, der das Ufer entlanglief; dann riß ihn das Wasser herum, und er sah wieder die Felsen des anderen Ufers. In den nächsten Minuten blieb das Bild unverändert. Um sie war nur die Loslösung von allem, was festen Halt bot, und die lähmende Erkenntnis einer unwiderstehlichen Macht. Dann wurde Magdahs Kopf von einem Gegenstand getroffen, der noch härter war als Fleisch. Er fühlte kaum den Schmerz. Vorsichtig löste er einen Arm von Leta und griff nach dem Ding, was immer es auch sein mochte. Es war ein Baumstamm. Ein langer, schwerer Stamm, der weiter oben in den Fluß gefallen sein mußte. Er trieb rasch ab, und Magdah mußte seine ganze Kraft aufbieten, um ihn festzuhalten. Schließlich wurden Leta und er mit dem Stamm weitergetrieben, schneller als zuvor, aber es war ein fester Gegenstand, den man fassen konnte, ein Ding, an dem man sich halten konnte, wo es keinen Halt gab. 11
Dann kam Magdah auf den Gedanken, auf den Baumstamm zu klettern. Er war groß und schwer und würde kaum auf den Grund des Flusses sinken, wie ihre eigenen Körper. Er rief eine kurze Anweisung für das Mädchen und half ihr auf den Stamm. Mit einem leisen Wimmern, als die Äste ihr kaltes, blaugefrorenes Fleisch ritzten, setzte sie sich rittlings auf den Stamm. Magdah kletterte hinter ihr hinauf und wäre beinahe wieder ins Wasser gefallen, als der Stamm auf seiner Seite tief eintauchte. Aber dann war auch er zunächst in Sicherheit. Mit gerunzelter Stirn blickte er zwischen seinen Beinen auf den Baumstamm, der sich etwa vierzig bis fünfzig Zentimeter unter der Oberfläche befand, während er hinter Leta weit über das Wasser emporragte. Magdah konnte es nicht begreifen. Aber schließlich gab es viele Dinge im Zusammenhang mit dem Wasser, die er nicht verstand. Darum betrachtete er es so oft und lange. Aber er hatte nie eine Erklärung gefunden. Der Stamm bewegte sich rasch flußabwärts. Die Ufer an beiden Seiten flogen an ihnen vorbei und verschwanden hinter ihnen. Magdah wandte einige Male den Kopf, aber von Garo war nichts zu sehen. Auch die Höhle war verschwunden; sie lag hinter einem steilen Ufer, hinter einer Biegung. Er blickte wieder nach vorne. Hier dehnte sich der Fluß unendlich weit. Er legte einen Arm um Letas Hüften und zog sie eng an sich. Sie lehnte sich zurück, bis ihr Haar sein Gesicht berührte. Es war naß und kalt. „Leta schlimm“, sagte sie. „Leta schlimm. Eh?“ „Nicht“, antwortete er und schob sich näher an sie heran. „Leta …“ Er suchte nach einem Wort, um Neugier auszudrücken, fand es aber nicht. „Leta nicht schlimm“, wiederholte er. Um sie war Neuland. Er war noch niemals so weit stromabwärts gekommen wie jetzt, soviel er wußte, war auch Leta noch nie hier gewesen. Aus ihrer Schilderung, wie sie von zu Hause weggelaufen war, wußte er, daß sich die Höhle ihrer Eltern wei12
ter stromaufwärts befunden hatte. Hier war für sie alles neu. Die Steilufer und Felsen sahen hier nicht viel anders aus – sie unterschieden sich nur in Einzelheiten – aber die Zusammensetzung der Felsblöcke war fremd. Als sie eine Flußenge durchfuhren, bemerkte Magdah überrascht, daß der Dschungel verschwunden war. Er hatte immer geglaubt, daß überall Dschungel sei. Statt dessen erblickte er eine weite Ebene, die mit wenigen Bäumen bewachsen war. Dann bemerkte er, daß sich das Ufer näherte – das Ufer, an dem sich auch ihre Höhle befand. Er wandte sich um und stellte verwundert fest, daß sich das gegenüberliegende Ufer weiter entfernt hatte. Er dachte einen Augenblick nach, dann erkannte er, daß sich der Baumstamm dem Ufer näherte. Er stieß Leta an und zeigte aufgeregt auf das Land. Die Strömung war noch immer sehr stark und brachte sie mit jeder Sekunde näher an das Ufer heran. Magdah wurde so erregt bei dem Gedanken, sie würden wieder auf festem Boden landen, daß sie beinahe beide ins Wasser gefallen wären. Aber eine kalte Dusche bis zu seiner Brust überzeugte ihn, daß es weit besser sei, sich ruhig zu verhalten. Er wartete ungeduldig, bis sie das Ufer erreichten. Als es endlich soweit war, stieß der Baumstamm gegen einen Felsbrocken und war schon im Begriff, sich frei zu machen und weiterzutreiben, als Magdah mit einem Satz auf den Felsen sprang, wobei er sich einen tiefen Riß an seinem Schenkel zuzog. Während er den Stamm einen Augenblick festhielt, kletterte Leta herunter, und der Stamm trieb weiter. Eine Weile betrachtete er Letas blauen Körper und ihre zitternden Glieder, dann hob er rasch den Kopf, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung bemerkte. Nicht weit entfernt auf dem Steilufer des Flusses bewegte sich eine Gruppe von Männern, die mit langen Stäben bewaffnet waren. 13
Sofort zog er Leta an Land und baute sich schützend vor ihr auf. Da Flucht zwecklos war, wollte er auf die Männer, warten und sehen, was sie tun würden. Seine Finger schlossen sich, als trage er eine Axt bei sich; in Wirklichkeit war er aber unbewaffnet. Mit finsteren Gesichtern kamen die Männer näher. Sie schwärmten aus und umringten die beiden; sowohl vorn als auch an beiden Seiten sperrten sie den Weg ab. Die erhobenen Stäbe ragten Magdah drohend entgegen, und er bemerkte, daß scharfe Steine in den Spitzen steckten. Wider Erwarten stürzten sie sich nicht sofort auf ihn, um ihn zu töten. Sie standen nur knurrend herum, anscheinend unentschlossen über ihr weiteres Vorgehen. Immer wieder blickten sie auf seine Hände, die keine Waffe hielten. Magdah wartete schweigend. Dann senkte einer der Männer, offenbar der älteste, seinen Speer und rief Magdah zu: „Gehen! Keine Höhle hier. Gehen!“ Magdah erkannte, daß sie ihn auf der Suche nach einer Höhle wähnten. Jeder Höhlenbewohner mußte ständig auf wandernde Familien achten, die vom Wässer oder von wilden Tieren aus ihren Höhlen vertrieben wurden. Magdah hatte das vor einiger Zeit selbst erlebt. Er tat einen Schritt vor und wandte sich an den alten Mann. „Nicht Höhle. Magdah hat Höhle. Dort hinten.“ Er zeigte stromaufwärts und hoffte, daß ihm die Männer glauben würden. „Warum kommen? Eh?“ fragte der alte Mann. „Wasser bringt Magdah und Leta“, antwortete Magdah. Er zeigte auf ihre tropfnassen Körper und dann auf den Baumstamm, der rasch flußabwärts trieb. „Leta hineinfallen. Magdah folgt Wasser herbringen. Nicht Höhle suchen.“ Die Männer unterhielten sich leise untereinander, aber Mag14
dah sah, daß sie die Speere senkten. Ihre Blicke schienen nicht mehr so feindlich. Einige sahen dem dahintreibenden Baumstamm nach und blickten dann stromaufwärts, als ob sie seine Höhle sehen müßten. Schließlich hatte sie sein offensichtlicher Ernst und das Fehlen jeglicher Waffen überzeugt. Ein Mensch, der nach einer Höhle suchte, würde eine Axt oder eine Keule tragen. Der alte Mann deutete das Ufer entlang. „Komm“, brummte er. Es bestand kein Zweifel, daß sie umringt und bewacht wurden. Aber Magdah und Leta schlossen sich den Männern unbekümmert an. Eine weitere Gruppe von Menschen war vor ihnen aufgetaucht, hauptsächlich Frauen. Als sie näher kamen, bemerkte Magdah, daß sie vor einer Höhle, besser gesagt, vor einer Reihe von Höhlen standen. Einige der Frauen starrten ihn und Leta an, während die anderen sich nicht bei der Arbeit stören ließen. Sie häuteten die Jagdbeute der Männer, reinigten die langen Knochen, die sie an den Enden schärften. Als sie bei den Höhlen angekommen waren, verloren die Frauen rasch das Interesse an Magdah und Leta. Sie arbeiteten weiter und ignorierten die Ankömmlinge. Auch die Männer teilten sich auf und kehrten wieder zu ihrer früheren Beschäftigung zurück. Nur der alte Mann führte sie an ein großes Feuer, das in einiger Entfernung von den Höhlen, in der Nähe des Flusses, brannte. Er bedeutete ihnen, sich zu wärmen. Unterdessen holte der Alte etwas Hirschfleisch und Obst. Er legte es vor ihnen nieder, brummte ermutigend und entfernte sich wieder. Leta näherte sich dem Feuer, soweit sie konnte, ohne sich zu verbrennen. Sie rieb ihre steifgefrorenen Glieder und stellte wimmernd fest, daß das Gefühl sich wieder einstellte. Magdah mußte ihr helfen und durch eine kräftige Massage ihren Körper erwärmen, bevor sie essen konnte. Aber schließlich waren beide 15
trocken, legten sich in die Wärme der Sonne und des Feuers, aßen das Fleisch und sahen dem Tun ihrer neuen Nachbarn zu. Kampf im Baumwipfel Garo hatte Magdah mit einem Gefühl der Erleichterung verlassen. Als er über die Felsen hinweg auf die Höhle zuging, dachte er, was doch das Fischen für eine langweilige Sache sei. Alles, was man tun konnte, war, ruhig am Ufer sitzen und ein Stück Fleisch beobachten; hatte sich dann ein Fisch genähert, so kam Garo doch immer mit seiner Axt zu spät. Und wenn der Fisch weg war, konnte man ihn nicht einmal verfolgen. Schon gar nicht in das trügerische Wasser, das die Bewohner des Festlandes schluckte, um sie später leblos und still wieder an Land zu spülen. Da war die Jagd auf den Moa-Vogel schon etwas anderes. Man konnte sich anschleichen, während er unter den Steinen nach Insekten suchte, um ihm mit einer raschen Bewegung einen Stein an die dünnen Beine zu schleudern, daß er kaum noch laufen konnte. Er würde zwar trotzdem laufen – mit den großen Flügeln schlagen, die für den Flug ungeeignet waren, während er quakende Töne ausstieß. Seine Bewegungen waren komisch – zum Lachen. – Mit einem raschen Wurf der Axt konnte man ihm das Rückgrat brechen, und der Vogel stürzte unter krampfhaften Zuckungen zu Boden. Mit einem weiteren Axthieb wurde er dann getötet. Garos Augen glänzten, als er die Höhle betrat, um seine Axt zu suchen und einen passenden Stein ausfindig zu machen. Schon jetzt lief ihm der Schweiß über das Gesicht, aber das machte ihm nichts aus – schon gar nicht, wenn Beute in Aussicht war. Leta begrüßte ihn mit einem Lächeln. Auch er brummte ei16
nen freundlichen Gruß. Es war ganz nett, Leta in der Höhle zu wissen. Sie konnte das Fleisch vom Feuer holen, dann schmeckte es viel besser, als wenn er oder Magdah es selbst holen mußten. Sie wußte auch, wie man Häute zur Kleidung zubereiten mußte, so daß sie nicht ins Fleisch schnitten und Blasen verursachten. Sie konnte sogar kämpfen und töten. Garo erinnerte sich, wie er vor einiger Zeit mit Magdah in die Höhle gekommen war und zwei Tote vorfand, die von Letas kräftigen Armen getötet worden waren. Ja, es war schon gut, Leta in der Höhle zu haben. Auch wenn er sich in ihrer Gegenwart nie ganz sicher fühlte. Sie war Magdahs Gefährtin, und obwohl Garo keine Zeit für Frauen hatte, so gab es doch manchmal Augenblicke, wenn das Licht ihren geschmeidigen Körper bestrahlte … Er war deshalb froh, wenn sie aufstand und die Höhle verließ, sobald sie allein waren. Zuerst hatte er sich Gedanken gemacht und befürchtet, daß sie Angst vor ihm haben könnte, aber dann vergaß er es wieder. Jetzt freute er sich, daß sie zu Magdah ging. Ohne jeden störenden Einfluß konnte er sich jetzt die beste Axt für sein Vorhaben aussuchen. Er nahm sie alle der Reihe nach auf und legte sie wieder weg. Diese war zu schwer für die Verfolgung. Jene war zu leicht, um damit das Rückgrat des Moas zu brechen. Eine andere hatte einen zu langen Stiel. Die nächste eine zu stumpfe Schneide. Endlich fand er die passende Waffe und trug sie hinüber zu dem Steinhaufen, den sie immer bereithielten, falls ein Bär oder Höhlenlöwe die Höhle für sich erobern wollte. Jetzt mußte er nur noch einen passenden Stein aussuchen, mit dem er nach den Beinen des Vogels werfen konnte. Aber er kam nicht mehr dazu. Als er die Axt niedergelegt hatte und nach einem Stein griff, hörte er den Schrei Magdahs. 17
Garo lief sofort zu dem Eingang der Höhle. Sollten das Räuber sein, die seine Höhle stehlen wollten? Es war jedoch kein Fremder zu sehen. Aber Leta war im Wasser und Magdah sprang ihr nach. In das Wasser! In das trügerische, gefährliche Wasser! Garo lief schnell zum Ufer. Aber er traute sich nicht weiter. Der ganze Mut des Jägers war verschwunden, wenn es sich um das rasch fließende Wasser handelte. Er brachte einfach nicht den Mut auf, hineinzuspringen. Außerdem würde es nichts helfen. Magdah war ja schon dort, und wenn er nichts tun konnte, würde Garo auch nicht in der Lage sein zu helfen. Sehr bald sah er ein, daß Magdah tatsächlich nichts für Leta tun konnte. Er konnte sich nicht einmal selbst helfen. Garo sah zu, wie ihn die Flut in den Strom hinaustrug, bis er nur als winziger, dunkler Punkt erkennbar war. Dann sah er, daß Leta neben ihm auftauchte und daß Magdah sie festhielt. Der Fluß trug die beiden rasch davon. Garo rannte am Strand entlang, ohne einen bestimmten Plan zur Rettung zu haben. Er lief nur, weil er etwas tun mußte, und es schien ihm am besten, in der Nähe zu bleiben. Die verstreuten Steinbrocken behinderten seinen Lauf. Während er, so schnell es ihm möglich war, über die Steine sprang, mußte er feststellen, daß er immer noch zu langsam vorankam. Die zwei schwarzen Punkte, die Magdah und Leta markierten, entfernten sich immer weiter von ihm. Die scharfen Schalen der Muscheln, die auf den Steinen lagen, rissen ihm das Fleisch blutig und er stieß mit den Zehen gegen vorstehende spitze Steine. Aber mit jedem Meter, den er zurücklegte, entfernten sich die beiden schwarzen Punkte um zwei Meter. Trotzdem trieb es ihn mit aller Kraft vorwärts, bis ein steiler Fels ihm den Weg versperrte. Die Felsen zu seiner Linken hatten sich bis an den Fluß herangeschoben, und dort 18
gab es kein Weiterkommen. Er konnte ihn nicht umgehen, nur darüber hinwegklettern. Mehrere Steinbrocken ragten aus dem Felsen hervor. Garo sprang hoch, um einen zu fassen. Er zerbrach unter seinen Händen, und Garo landete wieder auf dem Boden. Nach mehreren vergeblichen Versuchen bekam er einen überhängenden Stein zu fassen, der sein Gewicht trug. Dann fand er weitere Griffe, bis es ihm gelang, sich zu dem Kliff hochzuarbeiten. Als er oben angelangt war, legte er sich ins Gras und ruhte einen Augenblick aus. Dann sprang er wieder auf die Füße und setzte seinen Weg fort. Aber als er einen Blick auf den Fluß warf, war von den schwarzen Punkten nichts mehr zu sehen. Das silberne Band vor ihm wand sich um einen weiteren Felsen, der ihm den Ausblick versperrte. Er hatte Magdah und Leta vollständig aus den Augen verloren. Garo hatte nicht auf die Entfernung geachtet während seines qualvollen Aufstiegs über die Felsen. Als er sich jetzt umwandte, stellte er fest, daß er sich eine beträchtliche Wegstrecke von der Höhle entfernt hatte. Er konnte gerade noch die Angelruten sehen, die weit hinten in den Fluß hingen. Vor ihm und etwas zu seiner Linken bemerkte er zu seiner Überraschung, daß der Dschungel von dem Fluß zurückwich und einer weiten Ebene Platz machte, die mit Bäumen bewachsen war. Er hatte sich noch nie so weit von seiner Höhle entfernt, selbst nicht bei seinen langen Jagdzügen. Vielleicht gab es hier eine neue Jagdbeute. Diese Bäume – da mochten sich Lebewesen befinden, die eines Besuches wert waren. Garo folgte dem landeinwärts gelegenen Abhang des Felsens bis auf die flache Ebene. Als er so mit leicht gebeugten Knien dahinschlurfte, tat es ihm leid, daß der Fluß Magdah und Leta entführt hatte. Garo wußte von vielen Dingen, die der Fluß verschluckt und wieder ausgeworfen hatte. Deshalb gab es keine 19
Hoffnung für die Rettung der beiden mehr. Nein, er war jetzt auf sich allein angewiesen. Es würde ihm schwerfallen – aber schließlich war er vorher schon allein gewesen, bevor er Magdah getroffen hatte, der in der Höhle lebte, in der seine Eltern gestorben waren. Er würde wieder allein sein können. Jedenfalls konnte er nichts daran ändern. Und dann wartete ja die Jagd auf ihn. Mit diesen Gedanken ging Garo über die Ebene auf die Bäume zu. Der Felsen hinter ihm verdeckte den Fluß und die Berge am anderen Ufer. Aber Garo hatte sowieso kein Bedürfnis, sich umzudrehen und die Öde Gegend zu betrachten. Hier standen Bäume, die er nie zuvor gesehen hatte. Eigentlich waren es die ersten Bäume, die er außerhalb des Dschungels sah. Sie waren ziemlich hoch, mit eng beieinanderliegenden Ästen und blaugrünem Blattwerk. Aber nicht der Wuchs der Bäume interessierte Garo, sondern die Überlegung, daß eine solch dichte Vegetation auch Leben beherbergen mußte. Wahrscheinlich sogar viele Arten. Jetzt wünschte er, daß er die Höhle nicht so überstürzt verlassen und sich wenigstens mit einer Axt versehen hätte. Schon oft hatte er Tiere mit seinen bloßen Händen getötet – schon oft. Aber diese Möglichkeiten waren begrenzt. So konnte er ohne Axt bestimmt keinen Moa-Vogel zur Strecke bringen. Mit einem Stein konnte er vielleicht seine Beine verletzen, aber er konnte ihn niemals mit seinen Händen töten. Der Moa sah ungefährlich aus, sein Gang war schwerfällig, aber seine Flügel und sein Schnabel besaßen ungeheure Kräfte. Garo war kein Jäger, der seine Beute unterschätzte. Solche Jäger kommen kaum jemals mit Beute zurück – wenn sie überhaupt zurückkehren. Aber vielleicht gab es in jenen hohen Bäumen dort drüben Tiere, die er mit der Kraft seiner Hände überwältigen konnte. 20
Dann kam ihm aber sein Nachteil zum Bewußtsein. Selbst Tiere, die ihr Leben im Schutze des Laubwerks verbringen, halten stets Ausschau nach Feinden. Sie beobachten nicht nur die umliegenden Zweige, sondern auch den Boden, denn viele flügellose Kreaturen sind in der Lage, einen Baum zu erklettern und seinen Bewohnern Tod und Verderben zu bringen. Und was immer in diesen Bäumen hausen mochte, würde ihn sicherlich bemerken, sobald er sich auf dem flachen Boden näherte. Es gab hier keine kleinen Sträucher oder Büsche, die er entwurzeln und als Tarnung benutzen konnte. Aber auch so würde er unbemerkt dicht an die Bäume herankommen, wenn er sich auf den Bauch warf und vorsichtig herankroch. Das tat er denn auch. Weich schmiegte sich das Gras unter seinen Körper, ohne ihm Schmerzen zu verursachen. Die Grashalme waren lang und ermöglichten ihm ein einwandfreies Anschleichen. Es gelang ihm auch, bis auf wenige Meter heranzukommen, bis ihm ein aufgeregtes Geschrei zeigte, daß ein weiteres Anschleichen zwecklos war. Obwohl sein eigenes Gesicht im Gras versteckt war, hatten ihn die Augen aus den Bäumen in seiner ganzen Länge erspäht. Eine große Wolke geflügelter Kreaturen erhob sich von dem nächsten Baum und rauschte aufgeregt in einem großen Bogen auf einen weiter entfernt stehenden Baum zu. Garo stand auf und starrte den Baum an. Konnte noch etwas in dem Laubwerk warten? Kaum. Höchstens ein Tier, das weder fliegen noch laufen konnte, sonst wäre es bestimmt mit den anderen geflohen. Ein gesundes Lebewesen wäre entweder weggeflogen oder durch das hohe Gras gehuscht, wie diese kleinen Pelztiere, die eben eiligst davonstoben. Aber es konnte nicht schaden, wenn er den Baum trotzdem genauer untersuchte. Tat er es nicht, dann wäre es sinnlos gewesen, überhaupt herzukommen. Er näherte sich dem Baum und blickte in die Zweige. Aber 21
da war nichts zu sehen. Kein Geräusch, keine Bewegung, außer dem Säuseln des Windes in den Blättern und dem Rascheln der Äste. Garo erkannte, daß ihm die dichtbelaubten unteren Äste die Sicht versperrten. Wenn er den Baum genau untersuchen wollte, mußte er hinaufklettern. Der unterste Ast befand sich etwa vier Meter über dem Boden. Mit einem geschmeidigen Sprung gelang es ihm, den Ast zu erreichen und sich hinaufzuziehen. Die Rinde war glatt und schimmernd, mit engen, schwarzen Ringen durchzogen. Die Berührung mit seiner Haut empfand Garo ganz und gar nicht als unangenehm. Aber man konnte sich nicht so leicht daran festhalten wie an der rauheren Rinde der Dschungelbäume. Ringsum hingen kleine Büschel grüner Blätter, die sein Gesicht berührten; es waren lange, enge Blätter, die wie eine Hand mit zwanzig Fingern aussahen. Die meisten trugen winzige, schwarze Punkte – es waren niedere Insekten und Blattwanzen. Garo griff nach dem nächsten Ast und zog sich empor. Der Aufstieg war verhältnismäßig leicht, und bald befand er sich gute fünfunddreißig Meter über dem Boden, der jetzt durch die dichten Zweige kaum noch sichtbar war. Wenn alle Baumbewohner hier oben gesessen hätten, dann hätte er sich dem Baum bis fast auf den Stamm nähern können, ohne gesehen zu werden. Aber die Vögel auf den untersten Ästen hatten Alarm geschlagen, und alle anderen Baumbewohner waren geflüchtet, ohne die herannahende Gefahr abzuwarten. Aber waren sie wirklich alle geflohen? Als Garo sich auf den nächsten Ast schwang, hörte er Flügelrauschen und wütendes Geschrei in seiner Nähe. Er stellte sich aufrecht auf einen Ast und lehnte sich mit der Brust an einen anderen. So gestützt, zerteilte er das Laubwerk und blickte in den blaugrünen Schimmer. Zuerst konnte er nichts sehen. Dann bemerkte er die Umrisse eines Nestes, an dessen Hand ein Vogel mit einem furcht22
baren Schnabel stand, der ihm mit roten Augen wütend entgegenblinzelte. Er stand auf einem Bein und hielt mit der Kralle den Rand des aus Zweigen gebauten Nestes fest umklammert. Während der ganzen Zeit starrte er krächzend auf Garo. Eine Weile blickten sich Mann und Vogel in die Augen. Ihre Blicke drückten Kampflust und Entschlossenheit aus. Dann drang Garo weiter vor. Selbst wenn es ihm nicht gelingen sollte, den Vogel zu erlegen, mußte er doch Eier in dem Nest finden, sonst wäre der Vogel nicht hier geblieben. Garo hatte schon lange kein Ei mehr gekostet. Die Vögel im Dschungel waren nicht leicht zu erlegen. Dieser jedoch … Das Nest lag etwas über Augenhöhe auf einem Ast. Garo rutschte auf seinem Ast weiter, bis er eine Stelle erreichte, wo sich die beiden Äste einander näherten. Dann schwang er sich rasch auf den Ast mit dem Nest, der sich unter seinem Gewicht schwankend hin und her bewegte. Der große Vogel plusterte sich auf und krächzte lauter, während seine Klauen das Nest festhielten. Aber er wich nicht zurück. Einige Male versuchte er, seine Flügel zu entfalten, aber der verfügbare Raum zwischen dem Laubwerk reichte nicht aus, und er mußte sie wieder falten. Das schien ihn zu ärgern. Seine Pupillen wurden größer, bis sie den ganzen Raum zwischen den Augenlidern ausfüllten. Der Vogel zitterte vor Wut. Garo arbeitete sich immer näher an das Nest heran. Die glatte Rinde erschwerte ihm das Vorwärtskommen, die Blätter schlugen ihm ins Gesicht und behinderten die Sicht. Als er sich weiterbewegte, bog sich der Ast plötzlich nach unten. Garo verlor für einen Augenblick das Gleichgewicht, rutschte ab und konnte sich nur mit Mühe festhalten. Aber das Gewicht seines Körpers war zuviel für die Rückenmuskeln, und er glitt seitlich vom Ast. Sofort schlossen sich seine Beine um das Holz, so daß er jetzt 23
mit Händen und Füßen am Ast hing und unter ihm hin und her schwang. Diesen Augenblick nutzte der Vogel für seinen Angriff. Mit einem leichten Flügelschlag stieß er sich von seinem Nest ab und landete zwischen Garos Händen und Füßen. Dann beugte er sich über den Ast und versuchte, nach Garos Gesicht zu hacken. Garo wandte den Kopf rasch ab, dabei erhaschte er einen kurzen Blick auf den grünen Abgrund unter sich. Wenn er jetzt fiel … Mit äußerster Anstrengung versuchte er, wieder auf den Ast zu kommen. Aber der Vogel war jetzt dicht neben ihm, seine Flügel zerfetzten das Laubwerk ringsum. Seine scharfen Krallen griffen Garo an und drangen ihm tief ins Fleisch. Gleichzeitig hackte der furchtbare Schnabel nach seinen Armen. Fast hätte er den Ast losgelassen. Aber der Gedanke an den Abgrund unter ihm zwang ihn, die Zähne zusammenzubeißen und seinen Griff zu festigen. Wieder bohrten sich die Krallen in sein Fleisch. Diesmal war es der Rücken. Wieder flatterte der Vogel und grub seine Fänge in Garos Körper. Jetzt riß er ihn am Haar. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er die kleinen, roten Augen dicht vor seinen eigenen, der Schnabel war zum Todesstoß erhoben. Da ließ der Jäger den Ast los und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Eine Sekunde später traf der Schnabel seine Finger. Immer wieder stieß der Schnabel zu, während Garo unter dem Baum hin und her baumelte, nur von seinen gekreuzten Beinen gehalten. Die Muskeln seiner Beine erlahmten. Er fühlte, wie er den Halt verlor. Nur noch wenige Minuten, und er würde in die Tiefe stürzen. Garo streckte die Hände aus und bekam ein weiches Federbündel zu fassen, das sich wild zuckend nach allen Richtungen gleichzeitig bewegte. Seine Finger umklammerten den Vogel und drückten ihn von seinem Gesicht weg, so daß der furchtbare 24
Schnabel nicht mehr nach seinen Augen hacken konnte. Während er sich bemühte, den Halt an dem Ast nicht zu verlieren, preßten sich Garos Finger immer tiefer in das Federknäuel und drangen bis in das Fleisch des Vogels. Der Vogel brachte es trotzdem fertig, wieder nach Garos Fingern zu hacken. Doch der Jäger achtete nicht auf den stechenden Schmerz, den die Hiebe verursachten. Seine Sinne waren nur auf zwei Dinge gerichtet. Alles übrige war für ihn vergessen. Er mußte seine Beine um den Ast schlingen und seine Finger mußten sich immer enger um den Vogel krallen. Er hielt die Augen geschlossen, um die schwankenden Äste ringsum nicht zu sehen, und versuchte, nicht an die Auf- und Abbewegungen seines eigenen Astes zu denken. Und seine Finger krampften sich immer enger um den Körper des Vogels. Und der Vogel wurde immer wilder und aufgeregter. Plötzlich hörte Garo ein Knacken, ein Schnappen dicht über seinem Kopf. Augenblicklich wurde der Vogelkörper in seinem Griff schlaff. Mit einer letzten Anstrengung spannte Garo jeden Muskel in seinen Fingern. Fast hätte er seine Beine gelöst. Dann war der Kampf erledigt – es gab keinen Gegner mehr. Das Hacken des Schnabels hatte aufgehört. Die Flügel hatten ihr Flattern eingestellt. Die Federn unter Garos Finger bewegten sich nur noch schwach. Er hörte kein Krächzen mehr. Er öffnete die Hände und ließ den Vogel fallen. Wie er so unter dem Ast hing, konnte er den Fall des Vogels beobachten. Das Tier fiel zwischen den grünen Blättern von Ast zu Ast der Erde entgegen. Über ihm schlossen sich die Zweige wieder, und es blieb nur eine einzelne Feder übrig, die langsam zu Boden flatterte. Noch ehe der Vogel ganz in der Tiefe verschwunden war, griff Garo nach dem Ast und zog sich hoch. Er legte sich der Länge nach auf den Ast; links und rechts hingen Hände und 25
Füße herunter. Langsam kehrte die Kraft wieder in seinen Körper zurück. Der Schweiß tropfte von seinem Gesicht auf die glatte Rinde und benetzte das Laubwerk um ihn. Minutenlang lag er still. Keuchend starrte er auf die grünen Blätter vor seinen Augen. Schon einmal hatte er festgestellt, daß das Leben in den Bäumen genauso mühsam sein konnte wie auf der Erde. Jetzt hatte er sich abermals davon überzeugt. Langsam richtete er sich auf, bis er eine sitzende Stellung erreicht hatte. Er war bereits im Begriff, hinunterzuklettern und den toten Vogel in Sicherheit zu bringen, bevor er die Beute eines anderen Tieres wurde, als ihm noch rechtzeitig das Nest einfiel. Das mußte er zuerst untersuchen. Als er die Zweige auseinanderzog, sah er es dicht vor sich. Einsam und verlassen klebte es am Ende eines langen Astes. Es sah seltsam unvollständig aus ohne den großen Vogel mit den roten Augen, der dazu gehörte. Langsam und vorsichtig bewegte sich Garo auf das Nest zu. Der Ast neigte sich bedenklich unter seinem Gewicht. Als er es erreicht hatte, sah er zwei gefleckte Eier auf dem weichen, gefederten Boden des Nestes. Sie waren nicht so groß, wie er nach der Größe des Vogels vermutet hätte, aber es war wenigstens etwas Genießbares. Wie immer nach einem Kampf, war Garo hungrig geworden. Er öffnete zuerst eines der Eier, indem er es gegen einen Ast schlug, und saugte den Inhalt mit Genuß aus. Die geschmacklose Eimasse war nur in geringen Mengen vorhanden. Garo untersuchte das Ei, bevor er es schluckte. Da er aber nicht über die ausgeprägte Neugierde verfügte, die Magdah auszeichnete, ließ er es dabei bewenden. Das Gefühl des Wohlbehagens und der Selbstsicherheit war wieder zurückgekehrt, nachdem er sich erfrischt und gestärkt hatte. Er kletterte hinab, um die größere Beute zu suchen. Der 26
Abstieg war leichter als der Aufstieg, denn in seiner Freude ließ er sich von Ast zu Ast fallen, wenn sie hinreichend nahe waren. Als er sich dem Boden auf etwa fünf Meter genähert hatte, war seine Freude rasch verschwunden. Wie erstarrt blieb er sitzen. Er konnte jetzt einen großen Teil des Erdbodens überblicken. Unweit des Baumes, auf dem er saß, äste ein Rudel Rehe. Einige waren ganz nahe. So nahe, daß er sie mit der Axt hätte erreichen können, wenn ihn die Zweige nicht daran gehindert hätten. Aber er hatte ja keine Axt. Ein Vogel war nichts im Vergleich zu einem Reh. Aber Garo hatte eben nur einen Vogel. Er mußte sich damit begnügen, während so viel Rehfleisch zum Greifen nahe war. Garo stellte sich vor, wie er das ganze Rudel zur Strecke bringen würde, wenn er nur eine Axt hätte. Aber er hatte keine Waffe. Er konnte nur Sitzenbleiben und warten, bis sie weggingen. Er konnte sich nicht dazu entschließen, hinabzusteigen und sie zu verscheuchen. Es war unvorstellbar, ein Rudel Rehe zu verscheuchen, ohne auch nur ein einziges zu verfolgen. Er war bis ins Innerste aufgerührt. Dieses wundervolle Fleisch! Anscheinend hatte noch jemand den gleichen Gedanken. Garo hob rasch den Kopf, als die Tiere unruhig wurden. Obwohl kaum etwas zu sehen war, wußte Garo, wer da kam. Eine Gruppe von Männern schlich sich vom Fluß her an. Austausch Magdah hatte seinen Appetit bald gestillt. Er war nicht sehr hungrig gewesen, bevor er in den Fluß gefallen war, so daß ein Stückchen Rehfleisch genügte, ihn zu sättigen. Das Feuer hatte ihn erwärmt, und er fühlte sich wieder wohl. Außerdem hatten die Speere der Männer sein Interesse geweckt. Er hatte noch nie etwas Ähnliches gesehen. 27
Er ließ Leta am Feuer sitzen und ging zu einem Mann, der neben einem Haufen von Feuersteinen hockte, die er bearbeitete. Der Mann blickte auf, als Magdahs Füße in sein Blickfeld kamen, und brummte einen Gruß. Magdah erwiderte den Gruß und hockte sich neben dem Mann auf den Boden. Daneben lag eine Speerspitze. Magdah hob sie auf und betrachtete sie näher. Sie war dünn, scharf und spitz – dünner und schärfer als eine Axt es jemals sein konnte. Er überlegte, wie sie wohl angefertigt wurde. Es war schon schwierig genug, eine Axt hinreichend zu schärfen. Es dauerte Stunden, bis Stück für Stück abgeschliffen war. Wenn diese Speerspitzen nach dem gleichen Verfahren angefertigt wurden, dann mußte es Tage in Anspruch nehmen, bis nur eine fertig war. Der Mann hatte gesehen, wie Magdah die Speerspitze betrachtete, und brummte eine Frage. Magdah, den die Freundlichkeit der Männer überraschte, erkundigte sich. „Wie machen? Eh?“ Der Mann sah ihn erstaunt an, so als ob er nicht richtig gehört hätte. Dann begriff er aber, hob ein Stück Stein auf und bedeutete Magdah, zuzusehen. Magdah sah, wie er einen anderen stumpfen Stein aufhob und ihn in einen Spalt des größeren Steines steckte. Die Muskeln des Mannes strafften sich, und der Stein brach entzwei. Das Verfahren wurde mit einer der beiden Hälften wiederholt, und dann wieder mit einer der restlichen Hälften, bis nur noch ein dünnes Stück übrigblieb. Als der Mann begann, winzige Teile von den Kanten des Steines zu lösen, starrte ihn Magdah verblüfft an. Ein Werkzeug, schärfer als jede Axt, war in wenigen Minuten unter seinen Augen entstanden – ohne jedes Hämmern und Schlagen. Nur durch einen kräftigen Druck an den Spalten. Eifrig griff er nach der anderen Hälfte. Mit einem zweiten Stein wiederholte er das Verfahren des Mannes und war sicht28
lich überrascht, daß es ihm ebenfalls gelang. Sein eigener Stein war zwar nicht ganz so dünn und scharf ausgefallen wie der seines Lehrmeisters, aber er übertraf bei weitem seine Erwartungen. Freudig lief er zu Leta und zeigte ihr die Speerspitze, die er angefertigt hatte. Auch sie zeigte Interesse und wollte wissen, wie er es gemacht hätte. Er führte sie zu dem Steinhaufen und verfertigte eine weitere Spitze, während sie zusah. Mit großem Vergnügen betrachteten beide das fertige Produkt. Hier hatten sie eine Waffe, mit der sie weit wirksamer jagen und töten konnten als mit einer Axt. Magdah überlegte, was wohl Garo zu der neuen Waffe sagen würde. Der Jäger würde bestimmt sofort losrennen, um sie an einem Raubtier zu erproben. Magdah fühlte sich tief in der Schuld des Mannes, der ihm diese großartige Entdeckung verraten hatte; aber was konnte er ihm geben? Er hatte bereits gesehen, daß sie Fischereigeräte besaßen; damit konnte er sie also nicht erfreuen. Sie hatten auch Kürbisschalen als Wasserbehälter, es war also zwecklos, ihnen das Aushöhlen der Kürbisse beizubringen. Er fand nichts, das er ihnen geben konnte. Plötzlich fiel es ihm ein. Seine Malereien. Vielleicht wußten diese Menschen noch nichts davon. Dann konnte er ihnen doch etwas geben. Er ließ den Mann mit seinen Steinen allein und ging an den Fluß, wo er mit Leta Lehm suchte. Die Kürbisschalen lagen in Haufen herum, und niemand kümmerte sich darum, als sie einige Wegnahmen. Ein oder zwei Leute sahen ihnen neugierig zu, als sie niederknieten und den Lehm und weiter unten die manganhaltige Erde in die Schalen füllten. Es war aber nur oberflächliche Neugier gewesen, die einige Höhlenbewohner herangelockt hatte, denn keiner folgte den beiden zurück zu den Höhlen. 29
Magdah ging hinein und suchte sich eine glatte Fläche an einer Wand aus. Leta stand neben ihm und hielt die Schale mit der Manganerde, während er mit schnellen Strichen ein Mammut zeichnete. Als Pinsel benutzte er einen Zweig, dessen Ende zerfasert war. Als er fertig war, bat er Leta, die Schalen zu tauschen. Dann füllte er den Zwischenraum mit der gelben Lehmfarbe aus. Er hörte ein Geräusch hinter sich, als einer der Männer in die Höhle gekommen war, um zu sehen, was die Fremden vorhatten. Magdah drehte sich um und lächelte dem Mann zu, dabei zeigte er auf seine Zeichnung. „Gut. Eh?“ fragte er. Der Mann starrte einen Augenblick auf die halbfertige Zeichnung und rannte mit einem wilden Schrei aus der Höhle. Nach einigen Augenblicken kam er mit mehreren Männern und Frauen wieder zurück. Eine der Frauen stieß einen Schrei aus und fiel in die Arme des Mannes hinter ihr. Die zweidimensionale Ähnlichkeit war zuviel für sie. Langsam begriffen die Umstehenden, daß es sich hier nicht um das leibhaftige Tier, sondern nur um eine Wiedergabe handelte. Sie umdrängten Magdah, betrachteten die Zeichnung und stießen kleine verwunderte und entzückte Rufe aus. Ihre Blicke folgten dem Arm Magdahs, der von den Schalen auf die Zeichnung deutete. Magdah wandte sich um und reichte den Malzweig einem der Männer. Dieser nahm ihn zögernd entgegen. Er stand stumm da und sah ihn an, dann nahm Magdah seinen Arm und führte ihn mit dem „Pinsel“ über die Wand. Der freudige Beifall war so stark, daß sich Magdah entschloß, eine weitere Zeichnung zu beginnen. Er führte den Mann an eine andere Stelle der Wand, wobei ihm die Blicke aller folgten. Blitzschnell führte er die Hand des Mannes über die Wandfläche und zeichnete den Kopf eines 30
Rehbocks mit dem Geweih. Er fühlte, daß der Mann schon begann, den Pinsel selbständig zu führen und trat zurück, wobei er dem Mann bedeutete, weiterzumachen. Das tat der auch und vervollständigte die Umrisse des Tieres – zwar nicht ganz zu Magdahs Zufriedenheit, aber doch ganz gut für den ersten Versuch. Dann zeigte ihm Magdah, wie er die Flächen ausfüllen solle. Während er noch damit beschäftigt war, verschwanden die Zuschauer – nur, um nach einigen Augenblicken mit eigenen Schalen und Zweigen zurückzukommen. Bald war die Höhle angefüllt mit Menschen, die sich mit Zweig und Lehm auf die Wände stürzten. Einige kopierten die Zeichnung Magdahs, aber viele begannen mit eigenen Zeichnungen von Rhinozeros Armadillo, dem Säbelzahn und dem Sloth. Magdah und Leta betrachteten sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Jetzt hatten sie ihnen doch auch etwas gegeben für die Preisgabe der Anfertigung von Speerspitzen. Ihr Leben hatte jetzt einen neuen Sinn bekommen, mit all diesen Menschen um sie – eine Bedeutung, die ihnen in der Einsamkeit ihres früheren Lebens gefehlt hatte. Magdah wünschte Garo herbei. Er beschloß, ihn zu holen. Er war eben im Begriff, die Höhle zu verlassen, als ein Schatten den Eingang verdunkelte. Ein Mann trat ein. Über seiner Schulter lag ein lebloser Körper. Der Mann ließ seine Last achtlos auf den Boden gleiten und schrie, um sich bei dem Geschnatter der Künstlerschar bemerkbar zu machen. Sie schwiegen augenblicklich und wandten ihre Blicke dem Ankömmling zu. Er berichtete, wie er mit seinem Kameraden weiter unten am Fluß gejagt hatte, als der andere vom Felsen fiel und am Fuße des Steilhanges starb. Die Frau des Mannes befand sich unter den Malern. Sie schrie auf und warf sich über den Toten. 31
Aber es dauerte nicht lange. Nach einigen Minuten war sie schon wieder auf den Beinen und mit ihrer Zeichnung beschäftigt. Offenbar war damit ihre Trauerpflicht erfüllt. Gelegentlich würde sie einen neuen Gefährten finden und den alten vergessen – wenn sie ihn nicht bereits vergessen hatte. Verschiedene der Frauen hatten ihre Malausrüstung niedergelegt und näherten sich der Leiche. Auch einige der Männer kamen näher. Magdah beschloß, ihnen zu folgen, um die weiteren Ereignisse zu beobachten. Mit Leta an seiner Seite folgte er den Trägern der Leiche von der Höhle an das Flußufer. Dort wurde der Tote in den Sand gelegt, während sich die Frauen mit kurzstieligen Speeren bewaffneten. Der alte Mann, der Magdah zuerst begrüßt hatte, kam näher und hockte sich neben dem Kopf des Toten nieder. Offenbar war er der älteste der Männer, die anwesend waren, denn keiner versuchte, ihn zurückzuhalten, als er die Axt ergriff und zum Schlag ausholte. Magdah hielt ihm die Hand und zeigte mit einem Grunzen sein Mißfallen. Unfähig, seinen Einspruch zu begreifen, sahen ihn die anderen überrascht an. Seit er ihnen das Malen beigebracht hatte, betrachteten sie ihn als einen der ihren, und man mußte auf sein Wort hören. Magdah erklärte ihnen, Fleisch sei genug vorhanden, ohne daß man tote Kameraden essen müsse. Er machte ihnen verständlich, daß der Mann noch immer ihr Kamerad sei, auch wenn er sich nicht mehr bewege oder ihre Fragen beantworte. Es sei genauso, als wenn er noch als Mitglied ihrer Gemeinschaft an ihrem Leben teilnehme, wenn auch anders als früher. Unter dem Eindruck seiner Rede legten Männer und Frauen ihre Äxte und Speere nieder. Sie sahen einander etwas hilflos an – und blickten ängstlich auf den Leichnam. Langsam begriffen sie den Standpunkt Magdahs. Schließlich handelte es sich ja 32
nicht um ein Reh oder um einen Moa-Vogel. Es war ein Mensch. Auch wenn er sich nicht mehr bewegte und nicht mehr sprechen konnte – was lag schon daran? Welches Recht hatten sie, ihn wie ein Tier zu behandeln? Der alte Mann erhob sich mit reumütiger Miene und sah Magdah an. „Was tun? Eh?“ fragte er. Er war bestrebt, den Fehler wiedergutzumachen, denn wenn sein früherer Kamerad noch immer ein Mitglied ihrer Gruppe war, konnte er vielleicht wieder zu sprechen beginnen und sich bewegen … „Magdah tut. Komm“, forderte ihn Magdah auf. Er suchte die Höhle, in der der Mann mit seiner Frau gelebt hatte, ließ den Toten hinbringen und im Hintergrund niederlegen. Er bettete ihn so gut er konnte und zeigte den ehrfürchtigen Zuschauern, wie man die Waffen des Toten in der Nähe seines Kopfes niederlegen mußte, eine Schale mit Speisen bereitstellte für den Fall, daß er sich wieder bewegen würde … Dann ließ er drei flache Steine hereinbringen. Diese legte er über Kopf und Schultern der Leiche, um sie vor herabfallenden Steinen zu schützen, die sich manchmal von den Wänden lösten. Als sie gemeinsam aus der Höhle gingen und sich mit der Menge mischten, die draußen gewartet hatte, bemerkte Magdah, daß die frohe Stimmung, die seine Malerei hervorgerufen hatte, verflogen war. Die Menschen trennten sich wieder und begaben sich an ihre frühere Arbeit, die sie verlassen hatten, um Magdah zu beobachten. Als Magdah und Leta zu der Höhle gingen, um nachzusehen, ob sich noch jemand mit den Farben beschäftigte, bemerkten sie, daß einer der Männer langsam den Felsen erkletterte. Vielleicht wollte er dieser ungemütlichen Spannung enfliehen, die sich jetzt entwickelt hatte. Die Höhle war verlassen. Die vielen Schalen mit Lehm und 33
die zerfransten Zweige lagen überall verstreut. Die Wände waren voll mit unvollendeten Bildern. Eben wollte Magdah seine eigene Mammutzeichnung fortsetzen, als er einen Schrei hörte. Gefolgt von Leta rannte er aus der Höhle. Die Männer sprangen aufgeregt umher und suchten nach ihren Speeren. Die Gesichter der Frauen glänzten vor Vergnügen. Magdah überlegte, wodurch dieser rasche Wandel verursacht werde. Einige der Männer waren bereits im Begriff, den Felsen zu erklimmen. Er wandte sich an einen von ihnen und erkündigte sich, was geschehen sei. Der Mann berichtete ihm von einem Rudel Rehe, das gesehen wurde, als es auf der Ebene hinter dem Felsen äste – es war gutes Fleisch in unmittelbarer Nähe. Magdah wußte, wer die Nachricht gebracht hatte – jener Mann, den er bemerkt hatte, als er in die Höhle zurückging. Ein ganzes Rudel Rehe! Und hier waren etwa zwanzig bewaffnete Männer. Das Fleisch würde für alle wochenlang reichen. „Leta hierbleiben“, sagte er, als ihn ihre Hand berührte. „Leta wartet! Viel Fleisch kommt.“ Sie starrte hinter ihm drein, als er mit langen Sprüngen auf den Felsen zulief und daran hochkletterte, nachdem er sich mit einem Speer bewaffnet hatte. Die Männer zischten einander zu, sich ruhig zu verhalten. Es war äußerst wichtig, daß sie von den Rehen nicht gehört wurden, sonst wären die verschwunden, bevor die Männer auch nur fünf Meter zurückgelegt hätten. Magdah bemerkte, daß diese Männer in einer Harmonie zusammenarbeiteten, die schon auf eine lange Zusammenarbeit schließen ließ, dem Bauche kriechend, ausschwärmten dem Bauche kriechend ausschwärmten und am Felsen entlang vorgingen. Er kletterte gleichfalls hinunter und schloß sich den Männern an. Wenn er den Kopf hob, sah er, daß die Linie der Jäger genauso lang war wie die der Rehe. Langsam krochen sie auf das Rudel zu; das Ende der ausge34
schwärmten Linie bewegte sich etwas schneller als die Mitte, so daß sie bald einen Halbkreis bildeten. Als sich die Mitte des Halbkreises auf fünfzehn Meter genähert hatte, hielten sie an. Nur die Männer an den Flanken pirschten sich weiter vor, bis der Ring um die Herde geschlossen war. Jetzt mußten die Abstände zwischen den einzelnen Männern verringert werden. Dadurch wurde der Ring enger, die Männer kamen näher an die Tiere heran. Mit kräftigen Fingern faßte Magdah seinen Speer. Obwohl er sehr erregt war – er hatte noch nie ein ganzes Rudel Rehe gejagt – behielt er die Kontrolle über seine Muskeln. Wenn er durch das hohe Gras spähte, konnte er die ahnungslosen Tiere zehn Meter vor sich äsen sehen. Dann bemerkte er, wie ein Reh den Kopf hob und Witterung aufnahm. Eines nach dem anderen folgte. Das ganze Rudel geriet in Aufregung. Eines der Tiere machte sich plötzlich auf die Flucht. Die übrigen Rehe wurden angesteckt und folgten ihm. Sofort erhoben sich die Männer an den Flanken, schwenkten ihre Speere und schnitten die Fluchtrichtung ab. Die Tiere blieben stehen und rannten dann in die entgegengesetzte Richtung. Auch hier erhoben sich die Männer. Zu dieser Gruppe gehörte Magdah. Er stand auf und schwenkte seinen Speer wie die anderen. Jetzt war der ganze Ring der Männer auf den Beinen. Die Rehe liefen wild durcheinander, unentschlossen, wohin sie sich wenden sollten. Der Kreis hatte sich rasch geschlossen. Wild gestikulierend rannten die Männer vorwärts über die grasige Ebene. Jetzt durfte keine Kraft vergeudet werden. Man würde sie bald genug brauchen. Und dieser Zeitpunkt war auch bereits gekommen! Die geschlossene Formation der Tiere hatte sich gelockert und jedes strebte nach einer anderen Richtung. Nur wenige Männer war35
fen ihre Speere. Die meisten hielten ihre Waffen den angreifenden Tieren entgegen. Ein Reh brach zusammen, als es gegen eine Speerspitze anrannte. Ein anderes bog den Speer einfach mit seinem Gehörn zur Seite und durchbrach den Kreis. Magdah hatte keine Zeit mehr, die weiteren Ereignisse zu beobachten, denn ein großer Bock lief direkt auf ihn zu, um dicht neben ihm den Ring zu durchbrechen. Er wartete, bis das Tier mit ihm auf gleicher Höhe war, dann trat er zur Seite und sprang mit dem Speer vorwärts. Er fühlte, wie die Spitze des Speeres in die Seite des Tieres drang, dann wurde ihm die Waffe aus der Hand gerissen und das Reh raste über die weite Ebene. Der Speer ragte dicht hinter seinem Schulterblatt hervor. Jetzt war Magdah unbewaffnet und praktisch unnütz. Aber als er seinen Blick von dem flüchtenden Rehbock löste, sah er, daß sich einer der Männer zu seiner Linken auf dem Boden wälzte, über ihm ein Rehbock. Der Speer des Mannes lag außer Reichweite. Magdah lief hin und hob den Speer auf. Er konnte nicht begreifen, weshalb Mann und Tier sich in wildem Knäuel auf dem Boden wälzten und das Tier nicht aufstand und flüchtete, bevor der Mann es erneut angreifen konnte. Dann bemerkte er die Ursache. Das Gehörn des Bockes war im Leibe des Mannes steckengeblieben, und er konnte sich nicht rasch genug befreien. Magdah holte aus und stieß den Speer in den Körper des Tieres. Noch einmal bäumte sich der Bock auf, dann brach er über dem Manne zusammen. Magdah kniete nieder und versuchte, das Gehörn von dem Körper des Jägers zu lösen. Aber dieser schrie bei der ersten Berührung gequält auf. Magdah beschloß, ihn liegen zu lassen. Hier schien jede Hilfe aussichtslos. Er würde die Schmerzen des Jägers nur vermehren, wenn er versuchte, ihn zu bewegen oder bequemer zu betten. 36
Als Magdah aufstand, warf ihn ein kräftiger Stoß zu Boden. Ein noch unverletzter Bock hatte ihn von hinten angenommen. Sobald Magdah die Erde berührte, rollte er sich zur Seite, hatte aber die falsche Richtung gewählt, denn die Hufe des Tieres schlugen auf ihn ein, bevor der Bock selbst das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte. Ohne Rücksicht auf die schmerzenden Wunden, die die Hufe des Tieres verursacht hatten, sprang er wieder auf die Beine. Noch ehe der Rehbock ihn forkeln konnte, sprang ihm Magdah auf den Rücken und faßte die Krone des Gehörns mit eisernem Griff. Das Tier bewegte aufgeregt den Kopf, um sich von Magdahs Griff zu befreien. Magdah wurde beinahe abgeworfen. Seine Arme wurden fast aus den Gelenken gezerrt, als das Tier den Kopf ruckartig auf und ab bewegte. Dann versuchte es aufzustehen. Zuerst gelang es ihm, die Hinterbeine aufzurichten. Magdah rutschte über den Hals des Tieres hinweg auf den Boden, aber noch immer hielt er das Gehörn fest. Mit letzter Kraft riß Magdah den Kopf des Bockes zur Seite. Damit war der Kampf entschieden. Ein Gefühl der Erleichterung erfaßte Magdah, als er erkannte, daß der Bock tot war. Er ließ das Gehörn los und stand auf. Noch immer liefen einige Tiere des großen Rudels innerhalb des Kreises herum. Sie nahmen die Männer an, wurden von den Speeren getroffen und liefen in eine andere Richtung, nur um wieder von einem Speer getroffen zu werden. So jagte man hier Rehe. Man wollte sie ermüden und erst töten, wenn sie erschöpft zu Boden sanken. Magdah erkannte, daß dieses Verfahren weitaus besser war, als seine soeben angewandte Methode – selbst wenn es etwas länger dauerte. Hier und da lagen Männer auf dem Boden, entweder re37
gungslos oder sich in Schmerzen windend, wenn sie von den Böcken geforkelt worden waren. Einige der Männer waren im Kreis geblieben und schwenkten ihre Speere, obwohl ihre Schenkel von Blut trieften und der Schweiß ihre Körper glänzen ließ. Noch während Magdah zusah, fielen einige der Männer ohnmächtig und von Schmerzen übermannt zu Boden. Einer dieser Männer war in der Nähe eines Baumes zusammengebrochen. Magdah sah mit Überraschung, daß jetzt eine Gestalt aus dem Baum kletterte und sich dem Verwundeten näherte. Er überlegte, was der Mann wohl die ganze Zeit auf dem Baum gemacht hatte. Dann erhöhte sich seine Überraschung noch. Die Entfernung zu dem Baum war zwar beträchtlich, aber trotzdem hatte Magdah sofort den Mann erkannt. Es war Garo! Einen Augenblick starrte er regungslos auf die gedrungene Erscheinung seines Kameraden. Er hatte Garo in seiner Höhle geglaubt – und dabei stieg er jetzt hier vom Baum, nur wenige hundert Meter entfernt. Magdah sah, wie sich Garo mit dem Speer des Gefallenen aufrichtete. Als ein verängstigter Bock auf Garo zuraste, setzte sich auch Magdah in Trab. Er wollte einen Warnruf ausstoßen, kam aber zu spät. Kaum stand Garo auf den Beinen, als er von dem Tier auch schon zu Boden gerissen wurde. Er stand nicht auf, sondern hob nur den Arm und stieß mit dem Speer nach dem Tier. Der Rehbock nahm sich nicht Zeit zum Angriff mit dem Geweih, sondern folgte seinen wenigen Kameraden in die Freiheit. Magdah lief auf Garo zu. Die grüne Ebene war mit zerbrochenen Speerteilen und verendeten Tieren übersät. Mehrmals mußte er den verletzten Männern ausweichen. Der Kampf mit dem Rehbock hatte ihn ermüdet, und seine Schritte waren nicht so schnell wie gewöhnlich, obwohl er wußte, daß Garo verletzt war. 38
Plötzlich aber beschleunigte Magdah seinen Lauf, wobei er rasch über alle Hindernisse sprang. Er hatte zwei geschmeidige Körper erblickt, die aus dem Dschungel kamen. Vermutlich von dem schweren Blutgeruch angelockt, näherten sich zwei Säbelzahnlöwen der nächstgelegenen Beute – und das war Garo. Der große Kampf Voll böser Ahnungen sah Leta zu, wie Magdah den Felsen erkletterte. Seit den letzten furchtbaren Kämpfen mit Yak, Ling und Gora hatte er sie nicht aus den Augen gelassen. Es war das erstemal, daß sich Magdah von ihr entfernte, seit damals, als sie ihn in den Dschungel geschleppt hatten, um ihn als Köder für den Armadillo zu benutzen. Leta fürchtete ein Unheil während seiner Abwesenheit. Seufzend mußte sie aber zugeben, daß ein ganzes Rudel Rehe eine Menge Fleisch versprach. Als sie sich auf den Weg zu den Frauen machte, die alles für das große Fest vorbereiteten, überdachte Leta, daß sie eigentlich nur Furcht. Kampf und Schrecken erlebt hatte, seit sie von der Höhle ihrer Eltern weggelaufen war. Sie dachte nicht gern an ihre Mutter, die sie zu harter Arbeit gezwungen hatte. Und die Erinnerung an ihren Vater, der ihr keinen Bissen Fleisch gönnte, schob Leta weit fort. Es gab eine furchtbare Zeit, als sie im Dschungel mühsam nach Nahrung suchte. Die wenigen harten Zapfen der Zykladen hatten ihr nicht genügend Kraft gegeben, um den Gefahren der grünen Hölle gewachsen zu sein. Dann hatte sie das Sloth gefunden und es durch den endlosen Regen zu Magdahs Höhle geführt. Garo hatte sich geärgert, als Leta kam, und lief wütend davon. Am Morgen kam dann Yak mit seiner Familie. Es kam zum Kampf, und Yak zerstörte Magdahs Bilder. Dann schleppten die Fremden Magdah in den Dschungel. 39
Leta fühlte sich stark, wenn sie daran dachte, wie sie Yaks Sohn und seine Gefährtin getötet hatte und dann aus der Höhle geflohen war – nur um auf eine Mammutherde zu stoßen. Aber die Herde hatte Yak getötet und sie wieder mit Magdah vereinigt. Sie waren in die Höhle zurückgekehrt, und eine Zeitlang lebten sie ohne Kampf. Leta war ganz und gar glücklich gewesen. Aber nur für einige Wochen. Dann war sie in den Fluß gefallen, und das tückische Wasser hatte sie fortgetragen. Ab und zu hielt sie inne und blickte nach dem Felsen, um noch einen Blick auf Magdah zu erhaschen. Aber er war nirgends mehr zu sehen. Bald würden die Männer gegen die Rehe kämpfen. Ob das gefährlich war? Sie wußte es nicht. Sie war nie dabei gewesen, wenn Garo oder Magdah ein Tier verfolgten. Da sich jedoch die anderen Frauen keine Sorgen machten, nahm sie an, daß keine Gefahr damit verbunden sein könne. Inzwischen hatte man noch mehrere Feuer entzündet, und die Frauen häuften Zweige und Äste auf die Flammen. Leta half ihnen. Darüber hatte sie Magdah fast vergessen. Es gab so viel Arbeit. Einige Frauen schärften die aus Knochen verfertigten Messer, die sie zum Ausweiden und Zerlegen der Tiere brauchen würden. Andere füllten Kürbisschalen mit dem Wasser des rauschenden Flusses, brachten sie ans Feuer und holten wieder frische. Die jüngeren sammelten große, flache Steine, die sie auf die brennenden Zweige legten, um sie zu erhitzen und dann das Wasser in den Schalen zum Kochen zu bringen. Leta fühlte sich ziemlich überflüssig, während die anderen herumeilten und sie nur immer wieder frisches Holz auf das Feuer legte. Offensichtlich war dieses Verfahren schon oft geübt worden und eine zusätzliche Hilfe nicht notwendig. Jeder wußte, was er zu tun hatte; sie führten ihre Arbeit ohne jede weitere Anweisung aus. 40
Dann bemerkte Leta eine Frau, die sich nicht an der Arbeit beteiligte. Sie saß mit dem Rücken an einen Felsen gelehnt und nährte ihr Kind. Leta hatte noch nie ein so kleines Kind gesehen; sie ging also hin und setzte sich neben die Frau. Beide nickten eine kurze Begrüßung. Leta betrachtete das Baby. Es war ein winziges, rotes, lebendiges Ding, das gar nicht danach aussah, als ob es jemals zu einem Manne oder einer Frau heranwachsen würde. Seine zierlichen Finger sahen so zerbrechlich aus, und der Kopf hätte genau in Letas hohle Hand gepaßt. Im Augenblick hatte das Kleine den Kopf in den Armen der Mutter geborgen, während es die Nahrung gierig trank. Sehnsüchtig sah Leta zu. Sie wollte das Baby in ihren Armen halten und sein warmes Fleisch an ihrem Körper fühlen, wollte es nähren und mit den winzigen Fingern spielen. Sie streckte dem Kind ihre Arme entgegen und lächelte der Mutter zu. „Leta tun“, erbot sie sich. „Leta …“ Sie suchte nach einem Laut, der „nähren“ ausdrücken sollte, aber da sie ihn bisher nie gebraucht hatte, kam ihr keine Bezeichnung in den Sinn. „Leta tun“, wiederholte sie daher wieder. Die Frau blickte sie zweifelnd an. Dann legte sie das Baby in Letas Arme, stand auf und gesellte sich zu den anderen Frauen am Feuer. Leta bemerkte kaum, daß die Mutter verschwunden war. Alles um sie versank, als sie das Baby an sich drückte. Nur sie und das Kind allein waren noch da. Auch Magdah und das Rudel Rehe waren vergessen. Nur ein winziges, rosiges Lebewesen mit ganz kleinen Fingern gab es noch auf der Welt. Mit instinktiver Fürsorge drehte sie das Kind herum, so daß es jetzt die gleiche Lage einnahm wie in den Armen der Mutter. Unbewußt bewegte sie sich wiegend hin und her, während sie in die Au41
gen des Kindes schaute, die in die Sonne blinzelten. Kein Geräusch aus der Umwelt erreichte Letas Ohr. Es gab nur die friedliche, wiegende Stille. Aber das dauerte nicht lange. Das Baby merkte, daß seine Mahlzeit unterbrochen worden war, noch ehe es die Hälfte der Nahrung erhalten hatte. Leta erschrak, als das Kind den Mund öffnete und einen schrillen Schrei ausstieß. Gleichzeitig zeigten die winzigen Hände und Füße eine überraschende Kraft, als sie wütend um sich schlugen. Leta ließ das Baby fast fallen, als sie auf die Füße sprang und ihm ins Gesicht starrte, das sich rasch von der rosigen Fleischfarbe in ein tiefes Blau verwandelte. Zitternd blickte sie um sich. Der Lärm und das Leben der Umwelt kamen ihr wieder zum Bewußtsein. Die idyllische Ruhe war verschwunden. Das Baby war nicht mehr das beruhigende, friedvolle Wesen. Es hatte sich in ein gewalttätiges, furchterregendes Ungeheuer verwandelt, dessen Geschrei sie nicht begriff. Sie zitterte und starrte das Baby an, unfähig, ihren Blick von dem kreischenden Geschöpf zu lösen. Dann fiel ein Schatten auf die Erde vor ihren Füßen. Sie blickte auf und sah, daß sich die Mutter des Kindes mit finsterem Gesicht näherte. Auch die anderen Frauen sahen mit wütenden Blicken zu ihr herüber. Sie riefen einander ihre Mißbilligung zu. Verwünschungen ausstoßend, nahm ihr die Mutter das Kind aus den Armen. Die Erleichterung, die Leta fühlte, als sie das zappelnde und schreiende Kind nicht mehr in den Armen hielt, wurde durch den Ärger der Mutter gedämpft. Sie schien zu glauben, daß Leta dem Kind etwas angetan habe. Der gleichen Ansicht waren offenbar auch die anderen Frauen. Leta versuchte zu erklären, daß sie nichts getan habe, als das Kind anzusehen. Aber die Mutter wartete keine Erklärung ab. 42
Das Kind in den Armen wiegend und ihm beruhigend zusprechend, nahm sie es wieder an ihre Brust. Leta starrte hinter ihr drein; sie wußte genau, daß sie sich niemals mehr von dem Verdacht reinigen konnte, den die Frauen jetzt gefaßt hatten. Diese Frauen würden auf keine vernünftige Erklärung hören oder ihre Lage zu begreifen versuchen. Sie entfernten sich sogar von dem Feuer, als Leta darauf zuging. Sie wandten ihr den Rücken oder warfen ihr drohende Blicke zu. Sie hatten einfach nicht begriffen. Leta ging von den Frauen und dem Feuer weg auf den Fluß zu. Alles Wasser für die Vorbereitungen war bereits geholt worden, und das Flußufer lag verlassen. Als sie sich weiter entfernte, drangen die Geräusche der Siedlung nur mehr ganz entfernt an ihr Ohr. Das Knistern des Feuers und das Geplauder der Frauen konnte sie schon nicht mehr hören. Nur das Rauschen des Wassers über den Steinen, das Gurgeln des Strudels und das gelegentliche Geräusch eines Fisches waren um sie. Mit langsamen, schleppenden Schritten ging sie über die Steine, immer weiter stromaufwärts. Sie hielt den Kopf gebeugt und die Augen gesenkt, wobei sie die farbenprächtigen Muscheln an den Steinen kaum bemerkte. Schließlich kam sie zu einem flachen Felsbrocken, der dicht am Rande des Wassers lag. Sie setzte sich nieder und beobachtete die Lichtreflexe auf dem Wasser. Ein- oder zweimal blickte sie zurück auf die Menschengruppe am Feuer, die nur undeutlich sichtbar war. Dann gab sie es auf. Sie stützte den Kopf in die Hände und starrte blicklos auf die Steine zu ihren Füßen. Da fiel ihr wieder Magdah ein. Sie wünschte ihn herbei. Wollte seinen warmen Körper beruhigend neben sich fühlen. Die Steine unter ihrem Gesicht wurden allmählich feucht … Leta blickte erstaunt auf. War sie krank? Das hatte sie noch 43
nie erlebt. In der Brust tat es ihr weh, und aus ihren Augen tropfte eine Flüssigkeit. * Magdah hielt einen Augenblick inne, um den Speer eines Verwundeten aufzuheben. Dann zwang er seine Füße Schritt für Schritt weiter; er mußte so rasch wie möglich an die Seite des verwundeten Garo kommen. Er warf einen Blick über seine Schulter und sah, daß die übrigen Männer auf den Felsen flohen. Anscheinend hatten sie zu große Angst vor einem Säbelzahnlöwen. Obwohl ihn alle gesehen haben mußten, war keiner bereit, Magdah zu helfen. Magdah erkannte, daß diese in Gruppen lebenden Männer nicht so mutig waren, wie er geglaubt hatte. Schließlich war es kein besonderer Beweis von Tapferkeit, ein Rudel Rehe anzugreifen. Gewiß bestand auch da eine gewisse Gefahr, aber sie war mehr zufälliger Natur. Auf keinen Fall jedoch die bestimmte Gefahr, die mit dem Kampf gegen einen Säbelzahn verbunden war. Weder er noch Garo wären davongelaufen und hätten die anderen der unerbittlichen Wut dieser gefährlichen Bestie überlassen. Mit äußerster Kraft lief er über die grasbewachsene Fläche. Er wußte, daß der kommende Kampf viel härter sein würde, als jeder, den er bisher bestanden hatte. Er kannte Männer, die den Hieben des Säbelzahns erlegen waren, hatte gesehen, wie sie verbluteten, wenn die grausame Bestie ihre Fänge eingrub und die Männer dann in den Dschungel schleppte. Er wußte genau, was ihm bevorstand. Beide Tiere kamen langsam und sichernd über die Ebene geschlichen; den Kopf hatten sie gesenkt, die Lefzen bebten dem Geruch des Blutes entgegen. Vorsichtig kamen sie näher; sie schienen keine Eile zu haben. Sie wußten, daß sie mit wenigen 44
Sätzen am Ziel sein konnten, daß sie, wenn nötig, die doppelte Geschwindigkeit dieses Mannes erreichten. Trotz ihrer ungeheuren Kraft und der grausamen Waffen fühlten sie sich aber in der Gegenwart eines Menschen nicht sicher. Sie blieben gelegentlich stehen und sahen zum Felsen hinüber, auf dem die letzten Männer verschwanden. Dann blickten sie wieder auf Magdah. Ihren Bewegungen konnte man ihre Unentschlossenheit anmerken. Wenn ein Mann vor ihnen davonlief, wußten sie, daß er hilflos war, aber wenn er auf sie zukam, dann mußte er gefährlich sein. Als sie die Köpfe senkten und wieder auf Garo zuliefen, wünschte sich Magdah eine bessere Waffe. Aber er war nur mit einem einfachen Speer ausgerüstet, besaß jedoch die wilde Entschlossenheit, Garo zu helfen. Mit jedem seiner Schritte näherte er sich dem Baum. Magdah sah, daß sich Garo aufgesetzt und den Speer auf die anstürmenden Bestien gerichtet hatte. Als Magdah näher herankam, gelang es Garo, auf die Beine zu kommen und sich mit dem Rücken an den Baum zu lehnen. Magdah machte noch einige Sätze, dann stand er an Garos Seite. Er erhob seinen Speer und wartete. Beide Säbelzahnlöwen waren kurz vor ihm zum Stehen gekommen. Sie betrachteten ihn mit verschlagenen Blicken. Ihre Schwänze peitschten das Gras. Jeder hatte eine Vorderpfote sprungbereit erhoben. Beide stießen ein verhaltenes Knurren aus, das ihre Unsicherheit und unterdrückte Erregung verriet. Magdah merkte, daß Garo zitterte. Er warf einen raschen Blick auf den Jäger und stellte fest, daß seine Hüfte aufgerissen war und noch immer blutete. Er sah, daß Garo ohne die Stütze des Baumes nicht aufrecht stehen konnte. Er überlegte, wie lange der Jäger wohl durchhalten würde, wenn die Bestien erst einmal angriffen. Das konnte nicht mehr lange dauern. 45
Er beobachtete die Raubtiere, und sie starrten mit seltsam menschlichen Augen zurück. Sie sahen nicht sehr selbstbewußt aus. Sie zeigten keine Lust, sich in einen Kampf mit bewaffneten Menschen einzulassen, und doch zwangen sie ihre Natur und ihr Instinkt dazu. Magda wußte auch, daß sie sich nach den ersten unsicheren Augenblicken todesmutig in den Kampf stürzen würden. Sein Arm schmerzte ihn von der Anstrengung, mit der er den Speer noch immer erhoben hielt. Er war bereits im Begriff, den Speer zu senken, als eines der Tiere die Lefzen zurückzog und ein wildes Knurren ausstieß. Gleichzeitig spannte es die Vorderläufe. Der Instinkt hatte gesiegt. Das Raubtier vergaß alle Vorsicht und sprang. In diesem Augenblick holte Magdah aus und ließ den Speer vorschnellen. Das war etwas, was er noch nie getan hatte; wahrscheinlich deshalb verfehlte er den Kopf des Säbelzahnes, und die Waffe landete in dessen Schulter. Aber noch ehe der Speer die Bestie traf, ließ sich Magdah auf die Knie fallen und rollte sich seitwärts aus der Sprungrichtung des Tieres. Als er durch das lange Gras rollte und sich bemühte, wieder auf die Beine zu kommen, bemerkte er, wie der andere Säbelzahn dem Beispiel des ersten gefolgt war und mit lautem Gebrüll auf Garo lossprang. Das war aber auch alles, was er von dem Kampf zwischen Garo und der Bestie sehen konnte. Das riesige Tier, das Magdah angesprungen hatte, landete am Baumstamm, wandte sich brüllend um und sprang erneut auf ihn zu. Der Speer steckte noch immer in seiner Schulter. Der schwere Körper streifte Magdah und riß ihn zu Boden. Mit einem dumpfen Schlag wälzte sich das Tier auf ihn. Während er sich freizukämpfen suchte, hörte er, wie die gewaltigen Kiefer zuschnappten, genau an der Stelle, wo sich 46
eben noch sein Kopf befunden hatte. Die scharfen Zähne zerrissen ihm die Schulter. Er rollte sich zur Seite und griff in das Fell des Angreifers. Eine Sekunde später waren sie weitergerollt, und der Säbelzahn kam jetzt unter ihn zu liegen. Seine Pranken hieben durch die Luft und zerkratzten die Haut Magdahs. Hin und her ging der Kampf in dem langen Gras, den sie mit aller Wildheit führten, die ihnen die Natur verliehen hatte. Der Speer löste sich aus der Schulter des Gegners. Ein Strom roten Blutes schoß über Magdahs Gesicht. Es nahm ihm die Sicht. Wieder schnappten die Kiefer zu, diesmal erwischten sie Magdahs Oberarm; der Schmerz zuckte wie Feuer durch seinen Körper, als sich die Zähne der Bestie eingruben. Er spannte seinen Körper, stieß sich plötzlich von dem Tier ab, griff nach dem Speer, der neben ihm zu Boden gefallen war, und hielt dem Säbelzahn die Spitze entgegen. Die Bestie sprang zu weit, und statt mit dem Speer den Bauch des Tieres zu treffen, gelang es Magdah nur, ihn in seinen Hinterlauf zu bohren. Der Schwung riß Magdah die Waffe aus der Hand, als das Tier über ihn hinwegsegelte. Im gleichen Augenblick war er wieder auf den Beinen, um sich gegen die Bestie zu stellen, die ihren Angriff erneuerte. Wieder riß ihn der Anprall des vor Schmerz halb wahnsinnigen Tieres zu Boden. Und wieder krümmte er sich unter dem gewaltigen Gewicht des Raubtieres. Wieder drangen die furchtbaren Zähne in sein Fleisch ein und die Klauen bissen tief in die Haut. Er keuchte erschöpft. Sein ganzer Körper war mit Schweiß und Blut bedeckt, das sich mit den Fellbüscheln des Angreifers mischte. Jeder Knochen schmerzte, und vor seinen Augen tanzte eine rosafarbene, schattenhafte Welt. Er glaubte das Ende nahe. 47
Aber der Kampf ging weiter. Einmal war er über der Bestie, dann kam er wieder unter sie zu liegen, fast zerdrückt von dem ungeheuren Gewicht. Zweieinhalb Meter Länge maß der Säbelzahn. Immer wieder gelang es Magdah, den zuschnappenden Zähnen um Haaresbreite auszuweichen und seinen Kopf in Sicherheit zu bringen. Aber seinen Körper konnte er nicht schützen. Überall wurde er geschlagen, gekratzt und gebissen. Dabei dröhnte ständig ein tiefes Knurren in seinen Ohren. Er konnte kaum unterscheiden, ob es von der Bestie oder von ihm selbst kam. Plötzlich lag er neben dem Tier. Es hockte angriffsbereit neben ihm. Das gab ihm Zeit, seine ganzen Kräfte zusammenzureißen und auf den Rücken des Säbelzahnes zu springen. Aber selbst als er auf dem Rücken gelandet war, schnappte die Bestie noch nach ihm. Mit dem Mut der Verzweiflung faßte er die Kiefer des Tieres. Wieder führte er seine ganze Kraft ins Treffen. Die Venen an seinen Armen schwollen an, als er mit aller Macht den Kiefer auseinanderriß. In wilder Pein überschlug sich das Raubtier. Aber Magdah lockerte seinen Griff keinen Augenblick, ließ sich mitreißen, hielt fest. – Dies war seine letzte Aussicht! Magdah sprang auf, griff den Speer und taumelte dem Raubtier entgegen, das zum letzten Sprung ansetzte. Ohne Rücksicht auf seine Verletzung oder durch den Schmerz angefeuert, ging der Säbelzahn nochmals zum Angriff über. Aber nur noch einmal, dann bohrte ihm Magdah den Speer in den Hals. Er zog ihn wieder zurück und stieß nochmals zu. Das Tier rollte zur Seite; die Läufe zuckten, dann war es zu Ende. Der gefährlichste Räuber des Dschungels war erlegt. Magdah hatte ihn besiegt. Obwohl es ihm schien, als habe der Kampf eine Ewigkeit gedauert, konnten doch nur wenige Minuten vergangen sein, 48
denn als sich Magdah nach Garo umschaute, sah er, daß sich der Jäger noch immer tapfer gegen seinen Angreifer verteidigte. Magdah kam ihm sofort zu Hilfe. Mann und Tier rollten genauso im Gras, wie er es vor wenigen Minuten selbst getan hatte. Garo war ebenfalls übel zerkratzt und zerbissen. Magdah bemerkte, daß der Verletzte alle Kraft aufwandte, um die Bestie von seinem Hals fernzuhalten. Zu diesem Zweck hielt er seinen Kopf eng an den der Bestie gepreßt, so daß sie ihn mit den Zähnen nicht erreichen konnte. Diese Umklammerung machte es Magdah unmöglich, seinen Speer zu werfen. Er trat ganz nahe an die beiden heran, hockte sich neben ihnen nieder und wartete, bis ihm der Säbelzahn eine Angriffsmöglichkeit bot. Sobald dies der Fall war, stieß er den Speer in den Rücken des Dschungelkönigs und zog ihn sofort wieder zurück. Die Bestie wollte sich Magdah zuwenden, aber der umklammernde Griff Garos hinderte sie daran. Magdah stieß immer wieder mit dem Speer zu. Er traf den Körper an verschiedenen Stellen und verletzte ihn schwer. Plötzlich sackte der Räuber des Dschungels in sich zusammen; schwer fiel er auf Garo. Der Jäger löste jedoch seinen Griff erst, als sich das Tier nicht mehr bewegte. Dann rollte er sich zur Seite. Dort blieb er liegen, mit dem Gesicht nach unten, und zog die Luft gierig in seine Lungen. Magdah fiel neben ihm zu Boden. Der Kampf war vorüber. Es war der schwerste Kampf, den die beiden Jäger jemals ausgefochten und gewonnen hatten. Nie zuvor mußten sie soviel Kraft und Schlauheit aufwenden. Noch nie hatten sie völlig erschöpft neben ihrer Beute gelegen. Und nie zuvor waren sie an so vielen Stellen und so schwer verwundet worden. Aber der König des Dschungels, der gefährlichste und gefürchtetste Räuber war besiegt. – Zwei Säbelzahnlöwen hatten sie erlegt. 49
Lange Minuten blieben sie ruhig liegen. Ohne zu sprechen, ohne sich zu regen – und fast ohne zu denken. Sie ließen die tiefe Ruhe vollständigen Friedens in sich einsickern. Sie ließen die Luft genießerisch in ihre Lungen dringen. Und sie ließen das Blut ihre Wunden verschließen. Nach langer Zeit hob Magdah einen Arm und legte ihn über sein Gesicht. Er hob das Knie und streckte es wieder, langsam öffnete er die Augen und blickte auf die wippenden Zweige über seinem Gesicht. Der späte Nachmittagswind spielte in den Blättern, und das Grün des Laubdaches wirkte beruhigend auf Magdahs Augen. Ruhe, Frieden, Sicherheit! Er schloß die Augen wieder. Später bemerkte er, daß sich Garo bewegte. Er schaute den Jäger an. Garo saß aufrecht und schüttelte den Kopf. Mit seinen wunden Fingern rieb er sich das Blut aus dem Gesicht. Dann wandte er sich an Magdah. „Gute Jagd. Eh?“ sagte er. „Nicht wie fischen.“ Magdah war überrascht über den ungebrochenen Geist des Mannes. Zerschlagen und verletzt lag er da; aber seine Gedanken galten nur triumphierend dem siegreichen Ausgang des Kampfes. Endlich war sein Jägerblut zufriedengestellt. Zwei Säbelzahnlöwen waren dazu nötig gewesen. Müde stand Magdah auf. Er ging zu einem der toten Tiere und faßte es am Schwanz. „Komm“, forderte er Garo auf. „Viel Fleisch hier.“ Als Garo widerstrebend aufstand und das andere Tier am Schwanz faßte, malte sich Magdah aus, was wohl die anderen sagen würden, wenn sie mit ihrer Beute zurückkehrten. Die anderen Männer hatten nur Rehe. Sie hingegen hatten zwei Säbelzahnlöwen. Sie konnten mit Recht eine freudige Begrüßung erwarten – und Leta würde stolz sein auf ihre Gefährten. Langsam schleppten sie sich durch das lange Gras davon. Ihre 50
Beute zogen sie am Schwanz hinter sich her. Die Rehe waren schon von den anderen in die Siedlung gebracht worden. Nur hier und da lag noch der Körper eines toten Mannes im Gras. Magdah beschloß, die Toten später zur Siedlung zu bringen und sie zu bestatten, sobald das Siegesmahl beendet war. Vorläufig mußten sie warten. Die beiden Jäger gingen schweigend auf die Felsen zu. Sie waren müde, und die Beute war schwer. Auch schmerzten ihre Wunden noch beträchtlich. Magdah malte sich in Gedanken den kommenden Abend aus. Zuerst würde ein großes Festessen am Feuer abgehalten werden. Das Fleisch würden sie mit kräftigen Schlucken warmen Wassers hinunterspülen. Und dann die beruhigende Behaglichkeit in Letas Armen … Seine Träumerei wurde plötzlich durch einen lauten Schrei unterbrochen. Sie waren jetzt bis dicht an den Felsen herangekommen. Eigentlich waren sie bereits im Begriff, ihn zu erklettern. Der Mann, der den Schrei ausgestoßen hatte, steckte jetzt seinen Kopf über den Felsen. Magdah konnte die Worte des Mannes zwar nicht verstehen, aber es mußte sich um etwas Wichtiges handeln. Er ließ den Schwanz seiner Beute los und rannte dem Mann entgegen. Seine Müdigkeit hatte er ganz vergessen. Jetzt sah er, wie sich der Mann über den Grat schwang, und Magdah konnte ihn verstehen. Das Wasser! Was mochte das zu bedeuten haben? Immer mehr Männer erschienen auf dem Felsen, einige zogen ihre Frauen hinter sich her. Magdah lief noch schneller, bis er den Felsen erreicht hatte. Dann blieb er stehen und blickte hinab. Der Fluß war über das Ufer getreten, und das Wasser kam auf die Höhlen zu. Schon jetzt waren mehrere Menschen vom 51
Wasser überrascht worden und standen bis zu den Hüften im Fluß. Die ganze Siedlung war in Aufregung. Laufend und schreiend versuchten sie, den Felsen zu erreichen, um sich in Sicherheit zu bringen. Dann hörte Magdah seinen Namen. Er wandte sich um und sah Leta, die den Fluß entlang auf die Siedlung zurannte. Das Wasser war nur noch wenige Meter von ihr entfernt. Überschwemmung Weiter stromaufwärts von der Stelle, an der Leta saß, hatten verfilzte Äste und Zweige den Fluß an einer engen Stelle angestaut. Sie hatten sich im Laufe der Zeit angesammelt, wie sie eben das Wasser aus den höher gelegenen Gebieten heranführte. Der Druck des Wassers war groß und hatte mit der Schneeschmelze auch noch zugenommen. Eis und Schnee verwandelten sich in gewaltige Wassermassen, die jetzt zu Tale stürzten. Diese Wasser wurden durch den natürlichen Damm fast zum Stehen gebracht. Dieser Damm konnte nur entstehen, weil auf beiden Seiten des Flusses große Felsbrocken lagen, die das Strandgut auffingen. Mit der Eisschmelze erhöhte sich der normale Wasserspiegel, bis der Fluß die Felsbrocken überspülte. Eben als Leta am Fluß saß und weinte, brachen die angesammelten Zweige, die dem Druck nicht mehr standhalten konnten. Krachend brach der natürliche Damm, und die Holztrümmer und Gesteinsbrocken zerstreuten sich nach allen Richtungen. Das angestaute Wasser ergoß sich über das Flußufer. Die riesige Welle strebte dem Meere zu … Leta hatte ihr Gesicht noch immer in die Hände gestützt. Der Stein, auf dem sie lag, war aber nicht mehr naß. Sie hatte aufgehört zu weinen. Tränenlos saß sie da, beobachtete den Fluß und sehnte sich nach Magdah. Sie wollte weg von diesen Men52
schen. Zurück in die eigene Höhle, wo sie ein Feuer hatte, das ihr allein gehörte. Weg von diesen Frauen, die sie nicht verstehen wollten. Der Tag ging zur Neige, und bald würde das Dunkel der Nacht hereinbrechen. Die Sonne näherte sich dem Horizont, und die Luft war kühler geworden. Wenn sie in ihrer eigenen Höhle gewesen wäre, hätte sie sich ein Bärenfell holen können, um sich damit zu bedecken. Hier mußte sie bleiben, wie sie war, nackt, frierend und unglücklich. Aber noch ertrug sie es, und das Wasser, das um ihre Füße spülte, störte sie nicht. Es kitzelte so angenehm an den Beinen. Auch gab es ihr einige Rätsel auf. Sie versuchte, darüber nachzudenken. Sie konnte sich nicht erinnern, daß sie ihre Füße jemals ins Wasser gestreckt hatte. Noch immer war sie sich nicht ganz darüber klar, wie sie überhaupt hierhergekommen war. Sie hatte sich so über die anderen Frauen geärgert. Es war so beschämend gewesen. Leta drehte sich um und warf einen Blick auf die Gestalten, die sich noch immer um das Feuer bewegten. Eine Welle der Verachtung überkam sie. Welches Recht hatten sie, sie so einfach wegzuschicken? Nur weil sie ein Kind gehalten hatte, dem es nicht gefiel? War es denn ihre Schuld, daß sich diese schreckliche, kleine Kreatur plötzlich in einen Teufel verwandelt hatte? Was hatte sie denn verbrochen, daß sie weinend hier sitzen sollte, während ein großes Fest vorbereitet wurde? Ihr Gesicht rötete sich vor Wut, und ihr Atem ging rascher. Sie fühlte fast etwas wie Haß in sich aufsteigen, als sie an die Frauen dachte, die fröhlich ihre Vorbereitungen trafen, während sie sich einsam und verbannt glaubte. Knurrend entblößte sie ihre Zähne. Ihre Finger krümmten sich unbewußt, um einen 53
unsichtbaren Feind zu zerkratzen. Ihre Augen verengten sich, als sie auf die undeutlich sichtbaren Gestalten starrte. Ein Kältegefühl an den Beinen brachte sie in die Wirklichkeit zurück. Jetzt bemerkte sie, daß das Wasser fast bis an ihre Knie reichte. Und es stieg immer höher. Sie sprang auf die Beine und starrte auf den Fluß. Sie konnte es nicht fassen. Das war noch nie vorgekommen. Als sie flußabwärts blickte, sah sie, daß sich das Wasser in einem großen Bogen über den Fluß ergoß. In einiger Entfernung hatte es bereits den Fuß des Felsens erreicht. Und diese schimmernde Wasserfläche kam rasend schnell näher. Leta drehte sich um und rannte den Frauen am Wasser entgegen. Sie bemerkte, daß einige der Männer bereits zurückgekehrt waren und überlegte, ob Magdah wohl dabei sei. Sie wunderte sich, daß er sie noch nicht geholt hatte. Das leise Plätschern des herankommenden Wassers zwang sie zu einem schnelleren Lauf, wobei sie laute Warnrufe ausstieß. Anscheinend hatten die ankommenden Männer viele Neuigkeiten gebracht, denn niemand hörte auf sie. Sie umstanden zusammengedrängt das große Feuer und schienen sie nicht zu hören. War es Wissen oder Instinkt, daß Leta auf den Felsen zuhielt? Dadurch wurde sie von der gewaltigen Welle verschont, die auf die Siedlung zueilte. Aber noch immer hörte niemand ihre Rufe. Plötzlich sah Leta, wie das Feuer erlosch, als es von der Welle überspült wurde. Einige Menschen, die in der Nähe des Ufers standen, waren bereits knietief im Wasser. Jetzt hatten sie alle ihre Unterhaltung vergessen und schrien entsetzt auf bei dem Anblick des steigenden Flusses. Dann schienen sie zu begreifen, daß man das Wasser nicht durch Geschrei aufhalten konnte. Sie flüchteten auf den Felsen zu und versuchten, ihn zu erklettern. Die meisten fielen wieder zurück und versuchten es erneut. 54
Stolpernd suchte sich Leta ihren Weg über die Steine, wobei sie sich Hände und Füße an den spitzen Steinen aufriß. Aber das Brodeln des Wassers hinter ihr ließ sie ihre Schmerzen vergessen, und die Angst trieb sie vorwärts. Sie hoffte, die Höhlen zu erreichen. Vorher war der Felsen zu steil, um hinaufzugelangen. Auch bei den Höhlen waren nur wenige Nischen und Anhaltspunkte für so viele Menschen. Aber sie mußte bis zu den Höhlen kommen … * Magdah zögerte keinen Augenblick, als er Leta am Fluß entlang laufen sah. Er schwang sich über die Kante des Felsens und kletterte, immer wieder haltsuchend, abwärts. Als er fast den halben Weg zurückgelegt hatte, griffen zwei Hände nach seinen Beinen und wollten ihn von dem überhängenden Felsbrocken ziehen. Er bemerkte eine verzweifelte Frau, die bemüht war, den Fels zu erklettern. Aber die Nische war zu schmal für beide. Er riskierte es und stieß sich von dem Felsen ab. Glücklicherweise waren die Steine, auf denen er landete, nicht spitz, und zerklüftet, er wurde nur ziemlich durchgerüttelt von dem Fall. Nach wenigen Sekunden war er wieder auf den Beinen und lief Leta über den steinigen Boden entgegen. Das Wasser berührte schon ihre Knöchel, als er sie erreichte. Die Schnitte an ihren Füßen hatten ihren Lauf beeinträchtigt, und das Wasser war ihr bedenklich nahe gekommen. Magdah beugte sich nieder, als sie herankam und ließ sie über seine Schulter fallen Während er sie mit seinen Armen festhielt, strebte er den Höhlen zu. Aber das Gewicht Letas drückte ihn wie ein Mühlstein nieder. Er konnte dem Wasser nicht entkommen. Er holte tief Atem, als ihn eine kalte Welle bis zu den Hüften umspülte, ihm 55
das Gleichgewicht nahm und ihn taumeln ließ. Sein Fuß rutschte aus, er stolperte und landete zwischen zwei Felsbrocken. Das Wasser reichte ihm bis an die Brust. Während er noch bemüht war, wieder auf die Beine zu kommen, bedeckte ihn die nächste Welle vollständig. Prustend und keuchend kam er schließlich wieder auf die Beine. Aber selbst auf den höhergelegenen Felsbrocken reichte ihm das Wasser noch bis an die Hüfte. Als er das Steilufer erreichte, stellte er Leta vor die Wand und half ihr, den Fuß auf den ersten Vorsprung zu bringen. „Leta geh“, keuchte er. „Leta geh schnell!“ Ringsum waren schreiende Menschen, die sich gegen die Wassermassen nicht wehren konnten. Viele stolperten und verschwanden in den Fluten. Nur einigen gelang es, den Felsen zu erreichen, aber die meisten konnten auf der schlüpfrigen Oberfläche keinen Halt finden. Ihre Hände rutschten ab, und sie versanken im Wasser. Magdah wartete, bis er Leta in Sicherheit wußte. Dann drehte er sich um und steuerte durch das Wasser auf den nächsten Ertrinkenden zu. Er bemerkte kurz, daß auch Garo in der Nähe war und eine der ängstlich schreienden Frauen auf seinem breiten Rücken zu dem Felsen trug. Einer oder zwei der anderen Männer folgten seinem Beispiel, aber die meisten dachten nur daran, ihre eigene Haut in Sicherheit zu bringen. Magdahs Kampfgeist erwachte, als er zusehen mußte, wie ein Mann eine Frau von dem Felsen zog und sie von den Fluten hinwegspülen ließ, während er selbst ihren Platz auf dem Felsen einnahm. Aber er hatte keine Zeit, sich jetzt in einen Kampf zu verwickeln. Die Frau war schon weit abgetrieben, und kein Mensch konnte ihr mehr helfen. Immer wieder sah Magdah, wie Frauen von den Fluten weggerissen wurden, während er sich anstrengte, andere in Sicherheit zu bringen. 56
Er schloß die Augen und wandte sich wieder dem Felsen zu. Die Frau in seinen Armen war fast besinnungslos, als er dort ankam. Er mußte ihr die Wangen mit der flachen Hand klopfen, bevor sie soweit zur Besinnung kam, daß sie auf den Felsen klettern konnte. Schließlich folgte er ihr. Aber auf halbem Wege rutschte sie aus und fiel ihm entgegen. Beide verloren den Halt und landeten mit lautem Klatschen im Wasser. Magdah ging unter und fühlte, wie er fortgerissen wurde. Seine suchenden Hände fanden einen Felsvorsprung, an dem er sich festhielt. Der Fluß gischtete und brodelte, und Magdah hatte schon eine Menge Wasser geschluckt, als er spürte, wie ihn kräftige Arme packten. Er ließ den Stein los und fühlte sich weggezogen. Durch einen Nebelschleier erkannte er Garo, der ihn zum Felsen führte. Dann verschwamm alles unter einem grünen Schleier. Er schlug gegen einen harten Gegenstand und merkte, wie die Haut von seiner Wange abgeschürft wurde. Garo hatte ihn losgelassen, und Magdah fühlte eine Nische des Felsens vor sich. Ohne zu sehen, zog er sich hoch und tastete nach dem nächsten Halt. Als er ihn gefunden hatte und die Beine nachzog, befand er sich außerhalb des Wassers. Er kletterte immer höher, ganz automatisch, ohne zu sehen, was er tat, bis seine Hände den obersten Rand erfaßt hatten. Er ließ sich in das Gras fallen und blieb still liegen. Es war ihm unmöglich, die nötige Kraft zum Aufstehen aufzubringen. Das Wasser war in seine Wunden gedrungen, und der ganze Körper brannte wie Feuer … „Garo“, keuchte er. „Garo nicht …“ Aber Letas Stimme beruhigte ihn. Garo war in Sicherheit und lag unweit von ihm im Gras. Leta streichelte ihm Gesicht und Haare und strich leicht über seine Glieder. Aber es war doch nicht vorsichtig genug. Ärgerlich schob er sie weg und 57
vergrub sein Gesicht im Gras. Er biß vor Schmerz die Zähne aufeinander. Dann lag er eine Weile still, bis er lindernde Kühle an seinen Gliedern fühlte. Mit der Kühle schien der Schmerz zu schwinden. Von weichen Händen wurden seine Wunden betupft. Neue Kraft strömte in seinen Körper. Er hatte sich aufgerichtet und blickte um sich. Leta hatte heilenden Fundus auf seine Wunden gelegt. Garo kroch durch das Gras auf ihn zu. Der Hand des Felsens war mit Menschen gesäumt, die hinunterstarrten und das Unglück bejammerten. „Garo auch“, stieß er hervor. „Leta Garo heilen.“ Magdah überließ Garo der Pflege Letas und ging an den Rand des Abgrundes. Hier konnte er feststellen, daß das Wasser rasch zurückging. Die Hauptmasse hatte sich bereits eine ganze Strecke von den Höhlen entfernt und bewegte sich rasch auf das Meer zu. Es hatte allerhand Dinge angeschwemmt, Gebrauchsgegenstände und Waffen, viele in Bärenfell verpackt. Bald war der Fluß wieder in sein normales Bett zurückgetreten. Aber noch wagte es niemand, wieder hinabzusteigen. Woher sollten sie auch wissen, daß die Flut nicht zurückkommen würde? Magdah bemerkte, daß sich auch Leta zu den anderen gesellt hatte. Sie blickten auf die Verwüstung hinunter, die von den Vorbereitungen zu dem Fest übrig geblieben war. Garo wandte sich an Magdah. Die herumstehenden Männer hörten ihn und kamen heran; offenbar waren sie dankbar für seine Führung. Er schwang sich über den Rand und winkte den anderen, ihm zu folgen. Magdah folgte ihm zuerst, und Leta schob die Männer zur Seite, so daß sie als dritte nachklettern konnte. Das Feuer war gelöscht, das Rehfleisch hatte die Flut hin58
weggespült. Selbst in den Höhlen lagen nur noch kümmerliche Reste. Es war schon kurz vor Einbruch der Dunkelheit und ziemlich kalt. Die Aussichten waren nicht sehr ermutigend. Da erinnerte sich Magdah an die beiden Säbelzahnlöwen. Das war genug Fleisch für alle und würde sogar noch einen kleinen Vorrat ergeben. Sie konnten ihr Fest also doch noch feiern. Aber zuerst brauchten sie Brennmaterial. Das sollte die Aufgabe der Frauen sein. Magdah zupfte Garo am Arm und gab den Vorschlag weiter. Bald wußten es alle Anwesenden und gaben durch freudige Schreie ihre Zustimmung kund. Magdah übernahm die Führung und sandte einige Männer aus, die das Fleisch holen sollten. Dann rief er die Frauen zusammen und wies sie an, Holz und Zweige von den nächstgelegenen Bäumen zu holen. Garo verteilte einige Äxte, um das Holz zu zerkleinern. Die Frauen verschwanden und kamen nach wenigen Minuten mit Ästen und Laub beladen wieder zurück. Die Reste des alten Feuers wurden weggeräumt und neue Flammen entfacht. Das Holz war feucht, große Rauchwolken stiegen auf und erwärmten und erhellten die dunkle, kalte Nacht. Es war schon ganz dunkel, als die Tierkadaver an das Feuer gebracht wurden. Eine Gruppe der Frauen machte sich sofort darüber her und zerlegte die Beute mit Äxten und Knochenmessern. In kurzer Zeit waren die Tiere in viele Teile zerschnitten. Die Felle wurden Magdah und Garo überreicht, die sie an Leta weitergaben. Sie waren noch ungegerbt und sonderten einen üblen Geruch ab, aber sie hielten wenigstens warm. Während das Fleisch zubereitet wurde, suchten sich Magdah und Garo einige Männer aus, die die Toten bargen und in die Höhlen brachten, um sie dort ordnungsmäßig zur Ruhe zu legen. Neben den Leichen wurden Speere griffbereit niedergelegt. Sie hatten aber nicht genug Steine für all die Toten, so daß einige 59
von ihnen ungeschützt blieben. Aber Magdah war jetzt zufrieden, nachdem auch diese Aufgabe hinter ihnen lag. Jetzt versammelten sich alle um das große Feuer. Die roten Flammen bestrahlten ihre müden Gesichter – besonders Magdah und Garo fühlten den Hunger und die Müdigkeit. Die Flammen loderten hell auf und verbreiteten eine solche Hitze, daß sich viele vom Feuer zurückziehen mußten. Die Männer hockten herum und wurden von den Frauen mit Fleisch versorgt. Magdah und Garo lagen auf dem Bauch und ließen sich von Leta das Fleisch bringen, wobei sie sich selbst ebenfalls reichlich versorgt. Eine friedliche Stimmung hatte sich um den Lagerplatz verbreitet. Das Fleisch schmeckte gut. Die Luft umfächelte sie warm. Sie waren vor wilden Tieren geschützt. Und sie hatten ihre Höhlen wieder. Jeder war mit den Gedanken an seine eigene Rettung beschäftigt. Alle schwiegen. Man hörte das Knistern der Flammen und das gleichmäßige Kauen von einigen Dutzend Menschen. Sie wollten nichts als still liegen, in die hellen Flammen blicken und sich über ihr Glück freuen. Sie ließen sich von dem Frieden ringsum einlullen. Magdah hatte seinen Hunger bald gestillt. Auch Leta schien satt zu sein. Sie blickten auf Garo, aber der Jäger war noch immer eifrig mit Essen beschäftigt. Magdah konnte sich nicht erinnern, daß Garo jemals mit soviel Genuß gegessen hatte. Vielleicht war es, weil er einen der Säbelzahnlöwen selbst getötet hatte – oder doch fast. Was immer auch die Ursache sein mochte, der Jäger hatte sein Mahl noch nicht beendet. Endlich stopfte auch Garo den letzten Bissen in den Mund und sah sich nach Leta um, die für weiteren Nachschub sorgen sollte. Sie hatte aber ihre Pflicht vernachlässigt und kein Fleisch bereitgelegt. Hastig griff sie nach einem Messer, um ein Stück für Garo abzuschneiden, als ihr Magdah in den Arm fiel. 60
„Nein“, brummte er. „Leta nicht! Garo selbst!“ Garo blickte überrascht auf. Er starrte auf das Messer in Letas Hand, dann auf das Fleisch und schließlich auf Magdah. Dann betrachtete er seine leeren Hände und wandte sich wieder an Magdah. Ein seltsames Lächeln zog über seine Züge. Er warf einen raschen Blick auf Leta. „Garo selbst“, stimmte er bei. „Magdah, Leta gehen. Eh?“ Magdah lächelte ihm zu, während Leta laut auflachte. Sie standen auf und ließen den Jäger mit seinem Fleisch allein. Sie entfernten sich von dem Feuer und suchten sich eine Höhle. Verschiedene andere Paare machten sich jetzt ebenfalls auf den Weg zu ihren Höhlen. Das Essen, die Wärme des Feuers und die Reaktion nach der Überschwemmung hatten sie ermüdet. Sie verschwanden in den dunklen Zufluchtsstätten. Magdah und Leta setzten sich am Eingang der Höhle nieder und blickten auf die Umrisse der Gestalten am Feuer. Es kauerten nur noch wenige Frauen bei der Gruppe. Magdah nahm an, daß die meisten Männer, die noch am Feuer saßen, ihre Gefährtinnen in der Überschwemmung verloren hatten. Sie taten ihm leid und er konnte sie verstehen. Wenn er nur schneller gewesen wäre, als er das ankommende Wasser bemerkt hatte. Wenn er … Leta schlang ihre Arme um ihn. Sie waren weich und warm unter dem Fell des Säbelzahnlöwen. Sie drängte sich eng an ihn – und er vergaß die Männer und ihre Gefährtinnen. Er vergaß das Feuer, das Fleisch und die Überschwemmung. Er vergaß auch Garo, der sich noch immer an dem gebratenen Fleisch gütlich tat. Als er Letas liebkosende Hand auf seiner Haut fühlte, hatte er alles ringsum vergessen. Nur den Schmerz in seinen Wunden konnte er nicht vergessen. Lange lagen sie so da. Ohne zu sprechen oder sich zu bewegen. Ruhig und schweigend lagen sie sich in den Armen, wäh61
rend in der Ferne das Feuer knisterte und der Fluß rauschte. Die Wände der Höhle wurden von einem schwachen Schein erhellt, und das Licht brach sich in ihren Augen, als sich ihre Blicke ineinander senkten. Jetzt kam ein Schrei aus der Richtung des Feuers, aber sie kümmerten sich nicht darum. Plötzlich hörten sie einen zweiten Schrei, lauter diesmal. Magdah setzte sich mit einem Ruck auf, der ihm seine Schmerzen wieder zum Bewußtsein brachte. Er sah nach dem Feuer, versuchte die Absicht der undeutlich sichtbaren Gestalten zu erraten. Irgend etwas war dort im Gange. Aber was? Er sprang auf die Beine, als er erkannte, daß ein Kampf unter den Männern ausgebrochen war. Einer von ihnen hatte eine Frau ergriffen und versuchte, sie nach einer Höhle zu schleppen. Andere halfen ihm, den Gefährten der Frau abzuwehren. Eine Gruppe mischte sich ein. Bald war die Luft von dem Brüllen der Kämpfenden erfüllt. Die ganze Siedlung war wach und in Aufruhr. Da bemerkte er, wie sich eine Gruppe von Männern auf die Höhle zu bewegte, in der Leta und er Zuflucht gefunden hatten. Eine aufregende Nacht Als sich die Gruppe näherte, konnte Magdah sehen, daß sie aus drei Männern bestand. Knurrend kamen sie in raschem Lauf näher. Magdah drehte sich um und schob Leta weiter hinein in die Höhle. „Leta, geh zurück“, flüsterte er. „Leta verstecken, schnell!“ Aber obwohl sie wußte, daß diese Männer es auf sie abgesehen hatten, schüttelte sie Magdahs Arm ab und blieb neben ihm stehen. „Leta bleibt!“ antwortete sie. 62
Es blieb keine Zeit mehr für eine weitere Auseinandersetzung. Die drei Männer waren bereits angelangt. Die drei Gestalten tauchten aus der Dunkelheit auf und warfen sich auf ihn. Mit vereinter Kraft warfen sie ihn zu Boden. Um sich schlagend wälzte er sich zur Seite und landete auf einem der Angreifer. Sofort ergriff er den Kopf des Mannes und schlug ihn gegen den Steinboden der Höhle, und die Hände des Mannes, die seinen Hals umklammert hatten, fielen herab. Aber der zweite hatte sich jetzt auf ihn geworfen. Seine Fäuste bearbeiteten Magdahs Körper, droschen auf seine alten Wunden, daß der Schmerz seinen ganzen Körper in Brand zu setzen schien. Magdah merkte, daß er nur gegen einen der Männer ankämpfte. Der andere mußte Leta angegriffen haben. Der Gedanke an sie vermehrte seine Kraft. Er unterdrückte seine Schmerzen und riß sich von dem Angreifer los. Aber der Mann folgte ihm und die beiden waren in wütender Umarmung umschlungen. Brüllend und knurrend wälzten sie sich auf dem Boden, holten wild mit den Fäusten aus und griffen den Gegner mit den Knien an. Durch den Kampflärm hörte Magdah Letas Schreie. Aber es waren keine verzweifelten Schmerzensrufe. Es waren Schreie äußerster Anstrengung und Wut. Sie mußte sich mit aller Kraft gegen den Angreifer verteidigen. Dann hörte Magdah ein anderes Geheul; laut und männlich. Während er versuchte, seine Finger um den Hals des Gegners zu legen, begriff er, daß sich Garo in den Kampf eingemischt hatte. Er half Leta. Aber zu weiteren Überlegungen blieb keine Zeit. Magdahs Gegner kniete auf ihm und hatte sein Haar mit beiden Händen ergriffen. Magdah wußte, was das bedeutete. Im nächsten Augenblick würde er seinen Kopf auf dem Steinboden zerschmettern. Mit einem furchtbaren Ruck wälzte er sich auf die Seite und 63
faßte beide Arme des anderen. Damit hatte der Angreifer seine günstige Stellung verloren. Die Knie des Mannes rutschten ab, und er landete neben Magdah auf dem Boden. Seine Hände hielten aber noch immer Magdahs Haar. Und Magdahs Wunden brannten schlimmer als zuvor. Er hatte viel Kraft auf der Rehjagd verloren und noch mehr im Kampf gegen den Säbelzahn; der Rest wurde während der Überschwemmung verbraucht. Die kurze Rast und das Fleisch hatten nicht ausgereicht, um seine ganze Kraft wiederherzustellen. Er war müde von den Anstrengungen und schwach von dem Blutverlust. Er fühlte, wie sein Griff schlapp wurde. Dann … Aber dann kam ein besonders wilder Schrei von Leta und ein Siegesgeheul von Garo. Magdah erriet, daß sie ihren Gegner überwältigt hatten und daß die Schreie sein Ende bedeuteten. Und dann merkte er, wie sein Gegner zur Seite gerissen wurde. Er versuchte aufzustehen, brach aber kraftlos zusammen – schwach wie eine Dschungelranke. Aber er konnte die Vorgänge um sich wieder sehen. Der Schein des Feuers drang in die Höhle und überflutete sie mit einem roten Schimmer. Garo hatte den Mann zu Boden geworfen und lehnte jetzt keuchend an der Wand. Bevor sich der Eindringling erheben konnte, bückte sich Leta, dann richtete sie sich rasch auf und schmetterte einen glänzenden Gegenstand auf den Kopf des Mannes. Er blieb regungslos liegen, streckte sich aus, als ob ihn die ganze Sache nichts mehr anginge und nahm teil an dem langen Schlaf seiner Kameraden. Die drei Menschen sahen einander an, dann betrachteten sie die drei Toten. Wieder hörte Magdah Schreie von draußen. Rufe und Gebrüll der Kämpfenden drangen in die Höhle. In kurzen Abständen hörte man das Krachen der Steine, mit denen sie sich bewarfen. Manchmal folgte dem dumpfen Geräusch ein Aufschrei. 64
Dann wieder strahlten helle Flammen über die Wände der Höhle. Als Magdah schwerfällig aufstand und zum Eingang der Höhle ging, sah er, daß diese von Feuerbränden herrührten, die über das Ufer geschleudert wurden. Die ganze Siedlung war zu einem Hexenkessel des Hasses geworden. Überall am Ufer bemerkte man undeutlich dunkle Schatten, die sich über den Sand wälzten, wo mindestens ein Dutzend Einzelkämpfe im Gange waren. Garo und Leta gesellten sich zu Magdah und betrachteten die unglaublichen Szenen, die sich hier abspielten, so ganz anders als das friedliche Bild, das sie aus ihrer Höhle stromaufwärts gewöhnt waren. Magdah und Garo waren müde. Überdrüssig des Kampfes gegen Natur und Menschen. Überdrüssig der ständigen Aufregungen im Kreise dieser Menschen und erschöpft von all den Mühen und Anstrengungen. Garo wandte sich an Magdah. „Gehen“, brummte er. „Garo, Magdah, Leta gehen. Eh?“ Leta war gleichfalls näher gekommen und fügte hinzu: „Nicht bleiben. Gehen, weg hier. Eh?“ Selbst wenn es die anderen nicht vorgeschlagen hätten, wünschte sich Magdah sehnlichst an sein eigenes Ufer zurück. Zurück zu der Ruhe und Stille ihrer Höhle. Zu seinen Zeichnungen und zu seinem Sloth. Schon das allein unterschied ihn von diesen Menschen in der Siedlung. Sie besaßen kein Sloth, das für sie arbeitete, obwohl er Reste dieser Tiere in einigen Höhlen gefunden hatte. Offenbar hatten sie es getötet und gegessen. Das Gemeinschaftsleben hatte eben auch Nachteile. Vorsichtig krochen sie aus der Höhle. Anscheinend waren die anderen mit ihren Kämpfen zu sehr beschäftigt, um sie zu bemerken. Jedenfalls kümmerten sie sich nicht darum, als Leta den Felsen erkletterte. Die beiden Männer folgten, wobei sie vorsichtig nach Nischen als Stütze für ihre Füße suchten. 65
Endlich waren sie oben angelangt und legten sich ins Gras. Eine Weile blieben sie ruhig liegen, um zu sehen, ob ihre Flucht bemerkt worden war. Aber die Menschen unten am Ufer waren noch immer mit sich beschäftigt. Die Feuerbrände schwirrten durch die Dunkelheit und landeten mit Funkenregen. Die Frauen schrien, und verschlungene Schatten rollten kämpfend über den Sand. Magdah stand auf und bedeutete den anderen, ihm zu folgen. Auf dem Gras war nur ein leichter Schimmer des Feuers am Ufer zu sehen. Alles übrige lag in tiefer Dunkelheit. Der Himmel war dicht mit Wolken behängen, die der Mond nicht durchdringen konnte. Als Magdah so mit dem Rücken gegen den Fluß stand, schien sich an seinen beiden Seiten ein tiefschwarzes Tuch auszubreiten. Er hielt es für das beste, auf der Höhe des Felsens entlangzuwandern, immer nach links und stromaufwärts. Aber in der undurchdringlichen Dunkelheit bestand die Gefahr, zu nahe an den Rand zu geraten und in die Tiefe zu stürzen. Er beschloß daher, zehn Schritte von dem Sande entfernt, parallel zum Fluß weiterzumarschieren. Das lange Gras erschwerte ihren Marsch, besonders da sie die jüngsten Erlebnisse ziemlich geschwächt hatten. Aber unentwegt setzten sie ihre Wanderung fort, immer in der Hoffnung, daß ihre Höhle nicht zu sehr unter der Überschwemmung gelitten hätte. Bald war auch der Schimmer des Feuers verschwunden. Sie waren allein in der kalten, dunklen Nacht, mit dem Schrei einzelner Tiere und dem Rauschen des Flusses, das die Stille unterbrach. Um überhaupt einen Laut zu hören, riefen sie sich bedeutungslose Töne zu. Dabei hofften sie, nicht über ein wildes Tier zu stolpern. Alle drei waren sehr müde. In diesem Zustand würde ihnen auch Garos Axt keine nennenswerten Dienste leisten. 66
Und wenn sie gezwungen waren, einem drohenden Kampf auszuweichen, konnten sie leicht über die Klippen stürzen. Mit angespannten Sinnen wanderten sie weiter, immer in der Erwartung zuschlagender Pranken, in ständiger Angst vor einem anschleichenden Raubtier. Als sie eine Weile gegangen waren, bemerkte Magdah ein neues Geräusch in der Luft. Er blieb stehen und bedeutete den anderen zu horchen. Es war der Wind in den Zweigen. Sie standen still und sahen einander an, konnten aber nichts sehen. Langsam gingen sie weiter. Sie fanden keine Erklärung. Hier konnten doch keine Bäume sein. Viele Meter rings um den Felsen war nur Gras und Sand zu finden. Als das Rauschen in den Zweigen lauter wurde, erkannten sie, daß sie geradewegs auf den Dschungel zugingen. Also hatten sie sich von dem Fluß entfernt, die grasige Ebene überquert und landeten nun im Dschungel. Wieder blieben sie stehen. Leuchtende Punkte tauchten vor ihnen auf und sagten ihnen, daß sie nur noch wenige Meter vom Dschungel entfernt waren. Es wäre Leichtsinn gewesen, hier nachts einzudringen. Da war es weit besser, wenn sie sich auf der Ebene zwischen dem Dschungel und dem Felsen hielten. Wilde Tiere gab es überall, aber im Dschungel waren sie zahlreicher. Die meisten der gefährlicheren Raubtiere hatten ihre Jagdgründe unter den Bäumen und waren jetzt unterwegs. Magdah und Garo berieten sich, während Leta frierend ihre Arme rieb. Sie kamen überein, daß es besser sei, auf der Ebene ihr Heil zu suchen als unter den Bäumen, wo die Bestien lautlos auf den Kücken eines Mannes sprangen, um ihn mit Zähnen und Krallen zu töten. Alle drei wandten sich um und gingen den gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren. Sie hatten keinerlei Anhaltspunkte für ihren Weg, nur ihren Instinkt. 67
Sie faßten sich bei den Händen und setzten ihren Weg fort. Als sie nach Magdahs Schätzung den halben Weg zurückgelegt hatten, wandten sie sich nach rechts. Wenn der Mond durch die Wolken käme, könnten sie sich nach den Bäumen des Dschungels richten, dachte Magdah. Aber die Dunkelheit erschwerte ihnen den Weg. Der Rand des Felsens konnte nicht mehr weit entfernt sein. Müde wanderten sie weiter. Magdah und Garo schleppten ihre Füße mühsam über den Boden. Ein dumpfer Schmerz umfing sie, der alles um sie auslöschte. Einige Male stolperten sie und fielen fast zu Boden. Sie hängten sich schwer an Letas Arme. Es fiel ihnen schwer, die Augen offenzuhalten. Schließlich konnten sie sich nicht mehr beherrschen. Sie schlossen die Augen und stolperten blindlings weiter. In ihnen war nur noch der Wille zu gehen. Selbst als Leta stehenblieb und ihre Arme schüttelte, dauerte es noch eine Weile, bevor es die beiden überhaupt merkten. Sie zwangen sich, die Augen zu öffnen und wandten sich an Leta. Waren sie schon an der Höhle? Waren sie in Sicherheit? Konnten sie sich jetzt hinlegen und endlich schlafen? „Dschungel“, sagte Leta einfach. „Wieder Dschungel.“ Es war tatsächlich so. Magdah ermunterte sich soweit, um horchen zu können. Wieder hörte er den Wind in den Zweigen der Bäume. Seine Augen erblickten gerade noch die leuchtenden Fungusflecke. Sie waren im Kreise gelaufen, und der Dschungel lag wieder einige Meter vor ihnen. Er wandte sich an Garo und brummte: „Hierbleiben. Nicht mehr gehen. Hierbleiben.“ Garo stand schwankend auf den Beinen und sah mit stumpfem Blick auf die leuchtenden Punkte. Er schien nicht zu begreifen, wo er sich befand und was um ihn vorging. „Nein“, antwortete er. „Nicht gehen. Hierbleiben.“ 68
Erleichtert durch Garos Zustimmung fühlte Magdah die Müdigkeit wieder stärker in seinem Körper. Er löste seinen Arm von Leta und sank auf den Boden in das lange, kühle Gras. Garo folgte ihm. Leta stand zwischen den beiden und starrte auf die reglosen Gestalten. Dann bückte sie sich und rüttelte Magdah wach. „Nicht hierbleiben“, grunzte sie. „Nicht sicher. Auf Baum gehen. Eh?“ Magdah bewegte sich mühsam und richtete sich auf. Dann verstand er ihre Worte. Er wußte, daß sie recht hatte. Auf einem Baum würden sie viel sicherer sein als auf dem Boden. Die größeren Nachttiere konnten sie dort nicht erreichen, während sie leicht Witterung nehmen und aus dem Dschungel kommen konnten, wenn sie auf dem Boden blieben. Magdah stellte sich auf die Beine und stupste Garo. Der Jäger wälzte sich herum und sah Magdah aus halbgeschlossenen Augen an. Magdah brummte eine Warnung, und Garo stand ärgerlich auf. Er war ungehalten, daß seine Rast schon wieder unterbrochen wurde. Aber Magdah erklärte ihm rasch die Lage und schlug vor, auf den Baum zu klettern. Garo hatte keine Lust, sich lange herumzustreiten und stolperte hinter Magdah und Leta her, wobei er dauernd vor sich hin murmelte. Die untersten Äste waren tief genug für alle drei, und sie fanden bald einen Platz, wo sie gemeinsam unterkommen konnten. Als sie so zusammengedrängt auf den rauhen Ästen saßen und sich gegenseitig wärmten, dachten sie sehnsüchtig an die warmen Felle in ihrer Höhle und das Feuer, das sie sonst die Nacht über unterhielten. Leta hatte eines der Säbelzahnfeile mitgeschleppt und spannte es jetzt aus, so daß es sie alle teilweise bedeckte. Magdah und Garo brummten beifällig, während sich Leta mit dem Rücken an den Stamm des Baumes lehnte. 69
„Leta wacht“, verkündete sie. „Leta bleibt wach.“ Die beiden Männer murmelten wieder. Diesmal ganz leise und unverständlich, dann sanken ihnen die Köpfe auf die Brust. Jetzt waren sie endlich zur Ruhe gekommen. Leta starrte in die Dunkelheit, bemüht, jedes Geräusch zu erhaschen. Ab und zu lief ein Insekt über ihre Beine, aber sie nahm sich kaum die Mühe, es abzuschütteln. Sie war an solche Dinge gewöhnt und fühlte sich jetzt ebenfalls sehr müde. Einmal flog eine Fledermaus vorbei und stieß komische Laute aus. Weiter unten konnte Leta das Quietschen von Mäusen hören, die von der Fledermaus aufgescheucht wurden. Als sie schon in einen dumpfen Halbschlaf gesunken war, verfolgten ihre Augen eine leuchtende Motte, die zwischen den Ästen herumschwirrte. Dann erschienen zwei Motten, die sich in einem wilden Hochzeitsreigen vereinten, immer höher stiegen, bis sie in dem grünen Laubwerk verschwanden. Letas Augen waren halb geschlossen, aber sie bemerkte noch einen schimmernden Fungus, der auf einem weit entfernten Ast klebte. Mit stierem Blick betrachtete sie den grünlichen Schimmer, den das Gewächs aussandte, und wie es teilweise von kleinen Tieren verdeckt wurde, die daran vorbeizogen. Sie starrte darauf, ohne es wirklich zu sehen. Es flackerte in der Dunkelheit, wurde für einen Augenblick unsichtbar, und schien dann wieder hell durch die Nacht. Plötzlich richtete sich Leta auf. Der Fungus hatte aufgehört zu flackern. Der Schimmer war überhaupt verschwunden. Nichts als Finsternis war um sie. Bedeutete es, daß der Schimmer von einem Tier verdeckt wurde? Von einem großen Tier? Oder war der Fungus vom Zweig gefallen? Man konnte es nicht feststellen. Leta konnte nur sitzenbleiben und auf den Fleck starren, wo sich der Fungus gezeigt hatte. Ängstlich suchte sie den Raum vor ihren Augen zu erforschen. 70
Nichts geschah! Sie lehnte sich wieder zurück und entspannte ihre Muskeln. Wahrscheinlich war die Schmarotzerpflanze doch vom Ast gefallen. Ein Tier hätte längst angegriffen. Oder nicht? Natürlich! Leta lehnte sich wieder bequem an den Baumstamm. Sie mußte versuchen, nicht einzuschlafen. Sie versuchte es auch. Die Männer neben ihr hatten keinen Ton von sich gegeben, seit sie eingeschlafen waren – nur gelegentlich bewegten sie ihre schmerzenden Glieder. Leta beneidete sie. Es mußte schön sein, schlafen zu können, seine Augen einfach zu schließen und alles ringsum zu vergessen, sogar die Dunkelheit. Während die Müdigkeit in ihre Glieder kroch, die Muskeln schlaff wurden und alle Schwere von dem Körper abfiel, träumte sie davon, wie es wäre, jetzt schlafen zu dürfen. – Bei diesem Gedanken sank ihr der Kopf auf die Brust … * Was war das? Letas Kopf fuhr herum, sie mußte sich festhalten, um nicht zu fallen. Sie hatte ein Geräusch gehört. Es war ein Kratzen in der Nähe ihrer Hand. Aber als sie vollkommen wach war, hatte das Kratzen aufgehört. Stille war wieder ringsum. Und jetzt strahlte der Fungus wieder an seinem alten Platz. Er war deutlich zu sehen. Sie horchte auf ihren eigenen raschen Atem und das tiefe Atmen der Männer. Sie versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen, aber außer den umherschwirrenden Motten war nichts zu sehen. Dann hörte sie es wieder. Ein kurzes Kratzen an der Rinde und das Knacken eines Zweiges. Es schien von den unteren Ästen zu kommen. Als es sich wiederholte, schien es aber von den Ästen direkt vor ihr zu kommen. Leta wußte, daß sie jetzt Magdah und Garo wecken sollte. 71
Aber sie wußte auch, wie erschöpft die beiden waren. Sie war überzeugt, daß nicht viele Männer in der kurzen Zeit soviel leisten konnten wie Magdah und Garo. Alles hatte seine Grenzen. Und Leta hätte sich vor den Jägern schämen müssen, wenn das Kratzen von einer Maus verursacht wurde. Auch Magdah würde sich ärgern, wenn sie ihn wegen einer Maus weckte. Und Garo … Aber das Kratzen kam immer näher und schien zu laut, um von einer Maus zu stammen. Was konnte es nur sein? Vielleicht gab es noch andere harmlose Tiere, die auf den Ästen herumliefen. Eine Fledermaus? Nein, Fledermäuse kratzten nicht an der Rinde. Ein Zankteufel? Auch nicht. Die schliefen jetzt. Ein gefleckter Cuscus? Die kratzten an der Rinde, aber man fand sie nur tief im Dschungel. Leta konnte sich einfach nicht vorstellen, von welchem Tier das Kratzen kam. Plötzlich senkte sich kaum zwanzig Zentimeter vor ihr ein Zweig unter dem Gesicht einer unsichtbaren Bestie. Leta erschrak und zuckte zusammen, als ein buschiger Schwanz über ihre Beine strich. Dann tasteten zwei Pfoten nach ihrem Körper. Sie griff zu und bekam einen haarigen Kopf mit spitzen Ohren zu fassen. Es war ein Galago! Leta schrie auf, als das nächtliche Gespenst seine Zähne in ihren Arm grub. Das Tier hing offenbar an einem Ast über ihr, wo es sich mit seinem ungewöhnlich langen Schwanz festhielt, und schlug nach ihr mit seinen langen Krallen. Es versuchte, sie vom Ast zu stoßen. Fast wäre es dem Galago auch geglückt. Nur dadurch, daß sie sich an Magdah klammerte, konnte sie sich vor dem Fall retten. Aber sie mußte den Kopf des Tieres loslassen und fühlte seine Zähne sofort in ihren Beinen. Die beiden Männer waren jetzt wach. Sie knurrten wütend 72
über die Störung. Magdah griff nach der Kreatur, aber sie entkam ihm und griff Garo an. Magdah hörte den Jäger auf heulen, als er versuchte, das Tier zu fassen. Dann ein Schrei und ein Knacken der Äste, als Garo in die Tiefe stürzte. Ein neuer Feind Letas schriller Schrei bohrte sich durch den tiefen Schlaf in Magdahs Ohren und verwirrte seine Gedanken. Zuerst wußte er nicht, was geschehen war. Dann war es nicht mehr nötig, darüber nachzudenken, denn der Galago hatte sich wütend auf ihn gestürzt. Die menschenähnliche Hand des Tieres bohrte sich in sein Fleisch, und scharfe Zähne griffen nach seinen Schultern. Die Nacht war so dunkel, daß Magdah überhaupt nichts sehen konnte. Aber er hörte das wütende Geschnatter des Galago und weiter weg das Stöhnen Garos. Jetzt erinnerte er sich. Garo war vom Baum gefallen. Der Galago hatte ihn vom Ast gestoßen, und der Kamerad war in die Tiefe gestürzt. Magdah setzte sich zurecht. Er schwang ein Bein über den Ast, dann rief er Leta zu: „Gehen! Leta gehen! Garo suchen!“ Er hatte keine Zeit, sich zu überzeugen, ob sie seiner Anweisung gefolgt war. Der Galago hatte seinen Angriff erneuert, und Magdahs Hände schlossen sich um den haarigen Körper, als er sich an ihn klammerte. Das Tier war zwar nur klein, verfügte aber über eine ungeheure Kraft. Magdah tastete den Körper des Angreifers ab, bis er den Kopf erreichte, versuchte, die Bestie wegzustoßen, aber die scharfen Krallen rissen wütend an seiner Haut und öffneten die Wunden, die er sich im Kampf mit dem Säbelzahn zugezogen hatte und die jetzt wieder wie Feuer brannten. Magdah hielt den Ast mit seinen Beinen umklammert und preßte sich eng an den Stamm in seinem Rücken. Er wand und 73
krümmte sich, um das Tier abzuschütteln. Aber es hatte seinen langen Schwanz um ihn geschlungen und ließ sich nicht fortdrängen. Immer wieder grub es seine Zähne in Magdahs Fleisch; den Kopf hatte es wieder freigekämpft. Wieder versuchte er, den Kopf zu fassen – und fühlte, wie sich die Zähne in seine Hand senkten. Jetzt versuchte er es auf andere Art. Er machte eine Hand frei und hielt das Tier mit der anderen fest, dann hieb er dem Feind die Faust in den Körper. Ein haariger Arm streifte sein Gesicht. Magdah öffnete den Mund und grub seine Zähne in das warme Fleisch. Der Galago schrie auf und tobte noch wilder; er versuchte mit allen Kräften, Magdah von dem Ast zu stoßen. Dem Galago war es nicht um das Fleisch des Menschen zu tun, er fraß auch nicht das Fleisch anderer Tiere. Er griff nur an, weil der Mensch in seinen Bereich eingedrungen war. Stolz, Eifersucht und Wut tobten in der kleinen Kreatur. Es wandte alle Kraft auf, um den Eindringling zu entfernen. Magdah merkte, wie das Tier zusehends schwächer wurde, während er fortfuhr, es mit der Faust zu bekämpfen. Seine Hände waren schwer und seine Knöchel scharf. Sie bohrten sich in den Körper des Tieres mit kräftigen, dumpfen Schlägen. Kalter Schweiß brach ihm aus, als der Galago ein Büschel Haare zu fassen bekam und sie gleich handvollweise ausriß. Magdah hörte mit den Faustschlägen auf und faßte gleichfalls in das Fell des Tieres und riß mit drehenden Bewegungen an seinen Haaren. Wieder stieß der Galago einen gequälten Schrei aus und schlug mit seinen Armen wild um sich. Magdahs Hand hielt das Tier weit von seinem Körper ab, so daß es ihm mit den Zähnen nicht mehr gefährlich werden konnte, aber sein schnatterndes Maul schnappte wütend um sich, und die langen Arme griffen gierig nach dem Jäger. Er ließ das Fell los und packte einen der Arme. Während er die Bestie mit einer 74
Hand am Brustfell festhielt, zog er mit aller Kraft an einem der Arme. Jetzt setzte das Tier auch seine Füße in den Kampf ein und richtete damit fast ebensoviel Schaden an wie mit den Armen. Auf Armeslänge von Magdah entfernt, baumelte es in der Luft und schlug wütend um sich. Seinen Schwanz hatte es um Magdahs Bein geschlungen. Dann stieß es einen durchdringenden Schrei aus, der in Magdahs Ohren widerhallte. Magdah wußte, daß er dem Galago den Arm gebrochen hatte. Noch immer hielt er das Tier auf Armeslänge von seinem Körper ab. Jetzt packte er den Schwanz, der sich noch immer um sein Bein ringelte. Dann holte er weit aus und schleuderte den Gegner von sich. Ringsum splitterten Äste, und der Schrei des Galago wurde leiser und leiser. Er war Garo in die Tiefe gefolgt. Einen Augenblick lehnte sich Magdah zurück und ruhte aus. Die Arme schmerzten ihn. Tief sog er die frische Nachtluft in die Lungen. Gleichgültig streckte er einen Arm aus, um zu sehen, ob Leta noch an seiner Seite kauerte; aber sie war verschwunden. Sie mußte seinen Anweisungen gefolgt sein und sich um Garo gekümmert haben. Er konnte das Stöhnen des Jägers hören und wunderte sich, daß Garo von dem Fall soviel Aufhebens machte. Magdah hatte den Jäger noch nie so lange stöhnen gehört. Auch wunderte er sich, daß kein Galago dem Gefährten zu Hilfe geeilt war. Aber er hielt es für besser, aufzubrechen. Er schlang seinen Arm um den Ast und ließ sich zum nächsten hinabgleiten. Der Abstieg war schmerzhaft. Auch seine Müdigkeit war wieder zurückgekehrt. Während des Kampfes mit dem Galago hatte er sie nicht verspürt, aber jetzt wünschte er nichts sehnlicher, als die Augen zu schließen und sich auszuruhen. 75
Als er auf dem Boden angelangt war, bemerkte er Leta ganz in seiner Nähe. Sie beugte sich über Garo, der unter dem Baum lag und sich stöhnend in Schmerzen wand. Die beiden Gestalten waren kaum zu sehen in der Dunkelheit, aber Magdah bemerkte, daß Leta ihre Felle verloren hatte. Als er ihr die Hände auf die Schultern legte, fühlte er, daß sie vor Kälte und Angst zitterte. Magdah kniete neben Garo nieder und versuchte, ihn auf die Füße zu stellen. Garo setzte sich auf und versuchte, auf die Beine zu kommen, wobei er fortwährend stöhnte. Als er endlich zum Stehen kam, stieß er einen schrillen Schrei aus und brach zusammen. Magdah ließ ihn fallen und starrte auf die kraftlose Gestalt seines Kameraden. Er bückte sich und betastete den Körper seines Freundes, um die Ursache seiner Schmerzen festzustellen. Arme, Brust und Bauch waren in Ordnung. Er bemerkte nichts als Wunden, die aus den Kämpfen mit den Rehen und den Säbelzahnlöwen herrührten. Dann bewegte sich seine Hand weiter bis zu den Knien. Unter dem rechten Knie bemerkte er einen sonderbaren Auswuchs. Das Bein war hier nicht gerade, wie das andere, sondern wich in einem scharfen Winkel ab, und er fühlte, daß etwas durch die Haut herausstand. Als ihn Magdah dort berührte, schrie Garo gellend auf und schob rasch seine Hand weg. „Nicht“, sagte der Jäger. „Schmerzen.“ Seine Stimme verklang in einem Stöhnen. Es schien keinen anderen Ausweg für Magdah und Leta zu geben, als Garo aus dem Dschungel und zurück zur Höhle zu tragen, so bald wie möglich. Dort konnte man ihn mit Fungus behandeln und mit Flußgras seine Schmerzen lindern. Dort konnte er sich auch ausruhen. Magdah fielen immer wieder die Augen zu und er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Sein ganzer Körper lechzte nach Ruhe. Selbst sein Geist war müde und teilnahmslos. 76
Er erklärte seine Absicht und beugte sich nieder, um Garos Beine zu fassen. Leta griff nach den Schultern des Jägers, und gemeinsam hoben sie ihn hoch. Wieder schrie Garo auf. Magdah änderte seine Stellung, so daß er jetzt zwischen Garos Beinen stand und ihn an den Schenkeln fassen konnte, ohne den Unterschenkel mit dem hervorstehenden Knochen zu berühren. Garo stöhnte zwar noch immer, stieß aber wenigstens keine lauten Schreie mehr aus. Magdah rief Leta etwas zu und machte sich auf den Weg. Seine Augen waren halb geschlossen. Die Umwelt hatte für ihn aufgehört zu existieren. Verschiedentlich verfing sich sein Fuß in einer Wurzel oder in Strauchwerk; der Ruck brachte ihn immer wieder in die Wirklichkeit zurück. Dann senkte er den Kopf und wanderte weiter. Dabei war er dem Schlafe so nahe, wie es eben ein Mensch in aufrechter Lage nur sein kann. Hinter ihm schaukelte der Körper des Jägers im Takt zu seinem Stöhnen. Wie aus weiter Ferne hörte Magdah Letas beruhigende Worte, mit denen sie Garo über seine Schmerzen hinweghelfen wollte. * Dann rutschten ihm Garos Beine gänzlich aus der Hand. Mit einem gequälten Schrei fiel Garo zu Boden. Magdah brummte eine Entschuldigung und hob den Kameraden wieder auf. Mühsam stolperte er durch das hohe Gras, ohne eine bestimmte Richtung zu verfolgen. Er wollte nur vorwärtskommen. Den Zweck seiner Bemühungen hatte er fast vergessen. Er wußte nur noch, daß er weiterkommen mußte und seinen Griff um Garos Beine nicht lockern durfte. Und doch lockerte er ihn. Nachdem er etwa hundert Meter gegangen war, öffneten sich seine müden Finger und ließen die Beine des Jägers wieder fallen. Magdah ging noch einige 77
Schritte weiter, bevor es ihm zum Bewußtsein kam, daß er Garo verloren hatte. Dann drehte er sich um, kam die wenigen Schritte zurück und ließ sich mit einem unverständlichen Grunzen neben Garo zu Boden fallen. „Hier bleiben. Nicht mehr gehen. Eh? Magdah – Leta – Garo – hier – bleiben …“ Leta ließ Garos Oberkörper langsam zu Boden gleiten, dann ging sie zu Magdah und versuchte ihn wachzurütteln, aber er rührte sich nicht. Sie sprach ihm leise zu, bekam aber keine Antwort. Garo stöhnte nicht mehr so laut und antwortete nicht mehr, wenn sie zu ihm sprach. Um sie war immer noch Finsternis, die sich nur langsam über den weit entfernten Hügeln aufzuhellen schien. Sie schüttelte sich vor Kälte und legte sich dicht neben Magdahs heißen Körper. Dann schmiegte sie ihren Kopf in seinen gekrümmten Arm und vergaß die Nacht mit ihren vielfachen Schrecken. Als sich die schwarzen Schleier der Nacht über dem Dschungel zurückgezogen hatten, und dahinter der gelbe Tag herankroch, erwachte Leta steif und kalt. Sie stand auf und blickte sich um, bevor es ihr zum Bewußtsein kam, warum sie alle hier im Freien lagen. Dann kehrte die Flut der Erinnerungen zurück, sie beugte sich über Magdah und rüttelte ihn. Er murmelte unverständlich vor sich hin und schob ihre Hand weg, während er sein Gesicht in den langen Gräsern vergrub. Aber sie gab nicht nach, bis er sich aufsetzte und wild um sich starrte. „Garo“, sagte sie anklagend. „Garo verletzt. Magdah fallen lassen.“ Magdahs starrer Blick wurde milder, er wandte sich dem Verwundeten zu. Still und ruhig lag Garo da. Eine dünne Schweißschicht bedeckte seine Stirn, seine Wangen waren eingefallen. Selbst im Schlaf hatte er die Fäuste geballt, in denen er ein Grasbüschel krampfhaft festhielt. Sein Bein war ange78
schwollen und gerötet. Das Blut an dem gebrochenen Knochen war geronnen. Das gesplitterte Ende des Schienbeines ragte aus der Haut. Sein Atem ging keuchend. Magdah schüttelte vorsichtig den Arm des Jägers. Er bewegte sich und öffnete die Augen. Mit leerem Blick sah er Magdah an, als ob er durch ihn hindurchsehen könnte. Dann lächelte er grüßend. Einen Augenblick war sein Gesicht von Schmerz zerfurcht, aber dann lächelte er wieder. „Garo jetzt nicht Jäger“, murmelte er bedauernd. „Garo jetzt nur Fischer. Eh?“ Magdah wußte, was er damit sagen wollte. Sie hatten schon andere Männer gesehen, die, verkrüppelt und unbrauchbar, nur noch eine sitzende Tätigkeit ausüben konnten. Sie waren nur noch Schatten der einstigen Jäger, die so dahinvegetierten. Es würde ein bejammernswerter Zustand sein für Garo. Seine starken Muskeln würden die Angelrute auswerfen, statt in den Bäumen zu jagen oder sich im Kampf mit dem Säbelzahn zu messen. „Nein“, sagte Magdah. „Garo nicht fischen. Garo noch Jäger. Verletzung vergeht bald. Eh? Leta.“ Er erwartete eine Bestätigung seiner Worte, aber Leta liefen die Tränen über die Wangen. Erstaunt starrte er sie an. Bisher hatte er sie nur ein- oder zweimal gesehen, wenn die Tränen über ihr Gesicht rannen, und es überraschte ihn immer wieder, wenn er sie so sah. Ihr ganzer Körper wurde geschüttelt. Seltsame, erstickte Töne drangen aus ihrer Kehle. Das war ihm so fremd. Leta brummte zustimmend und streichelte Garos Kopf. Magdah merkte, wie Eifersucht von ihm Besitz ergriff. Warum sollte Leta Garo streicheln? War sie nicht seine Gefährtin? Er hatte Mühe, ein Gefühl der Feindseligkeit zu unterdrücken. Er dachte daran, daß Garo verletzt war und nicht gehen konnte. Der Jäger war jetzt an den Boden gebunden, während er, Mag79
dah, die höchsten Bäume erklettern und die wildesten Tiere bekämpfen konnte. Leta konnte unmöglich ihren Gefährten wechseln wollen. Magdah stand auf und streckte die Beine. Die Müdigkeit war fast verflogen. Auch seine Wunden schienen jetzt weniger schmerzhaft. Aber er fror und war hungrig. Er mußte etwas zu essen haben. Essen. Er ließ Leta neben Garo und ging auf den Dschungel zu. Mit langen, sicheren Schritten ging er dahin. Er stellte es sich einfach vor, ein Frühstück zu finden. Hatte er doch in den letzten Stunden zwei Rehe, zwei Säbelzahnlöwen und einen Galago getötet. Es mußte doch etwas im Dschungel zu finden sein, das er erbeuten konnte. Er würde etwas für Letas und Garos Frühstück zurückbringen; jetzt, da der Jäger auf ihn angewiesen war, mußte er für ihn sorgen. Nachdem er vergebens zwei kleinere Tiere gejagt hatte, die sich seitwärts in die Büsche schlugen, erkannte Magdah, daß die Schmerzen nicht so restlos verschwunden waren, wie er geglaubt hatte. Auch die Müdigkeit hatte ihn noch nicht ganz verlassen. Seine Beine taten schon weh von der Jagd, und die Beschwerden in der Hüfte, wo ihn der Säbelzahn gebissen hatte, machten sich auch bemerkbar. Seine Arme verweigerten fast den Dienst, als er einen Baum erklettern wollte. Er entschied sich für ein Obstfrühstück, das mindestens ebensogut schmeckte wie Fleisch, wenn nicht sogar besser. Außerdem hatten sie kein Feuer, um das Fleisch zu braten, da hier nirgends Feuersteine lagen. Als er nach einer reifen Melone griff, lobte er sich selbst für diesen Gedanken. Seine Finger gruben sich in die fleischige Frucht, sein Mund wässerte bei dem Anblick des Saftes, der ihm über den Arm tropfte. Magdah sammelte vier Melonen und brachte sie zurück zu dem wartenden Paar. Leta brachte Garo in eine sitzende Stel80
lung und lehnte seinen Rücken an ihre Knie. Dann fütterte sie ihn mit der saftigen Melone, während Magdah zustimmend grunzte und zusah, ganz von Großmut erfüllt. Großzügig und freundschaftlich ließ er es zu, daß seine Gefährtin Garo pflegte. Ein Gefühl der Zufriedenheit durchdrang seinen ganzen Körper. Er tat alles, was er konnte, für Garo. Als die Mahlzeit beendet war und sie den klebrigen Saft von ihren Gesichtern gewischt hatten, stand Magdah auf und bedeutete Leta, ihm zu folgen. Sie spuckte einige Melonenkerne aus und erhob sich. Magdah zeigte auf Garos Kopf. „Komm“, grunzte er. „Höhle finden! Garo bringen!“ Leta umfaßte Garos Schultern, während Magdah wieder seine Beine ergriff. Garo stieß einen wilden Schrei aus, machte eine ruckartige Bewegung und rutschte aus Letas Armen. Mit einem dumpfen Geräusch landete er auf dem Boden. Magdah ließ die Beine des Jägers los und betrachtete ihn nachdenklich. Offenbar wollte er nicht auf diese Art transportiert werden, sonst hätte er nicht so geschrien. Aber sie mußten ihn doch zur Höhle bringen. Wenn er nicht gehen konnte, mußte er eben getragen werden, und doch … Jetzt fiel es Magdah ein, wie ihn Yak und Ling in den Dschungel getragen hatten, als sie ihn als Köder für den Armadillo verwenden wollten. Das war die richtige Methode. Es würde immer noch schmerzhaft sein, aber weit besser als bisher. „Warte“, befahl er. „Magdah hilft.“ Hasch lief er auf den Dschungel zu. Im Laufen überlegte er sich, wie er sich die notwendigen Äste beschaffen sollte. Er hatte keine Axt, um sie von den Bäumen zu hacken. Obwohl er sehr kräftig war, glaubte er doch kaum, einen Ast vom Baum reißen zu können. Wenn er nur eine Axt hätte. Eine Axt. Plötzlich fiel ihm ein, daß Garo gestern abend eine Axt ge81
habt hatte. Er blieb stehen und sah zurück, aber er war sicher, daß keine Axt neben Garo lag. Sie mußte also unter dem Baum liegengeblieben sein, auf dem sie übernachtet hatten. Er sah sich um, aber jeder Baum glich dem anderen. Drei davon standen am Rande des Dschungels; einer von denen mußte es sein. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Boden unter den drei Bäumen abzusuchen. Die Suche unter dem ersten blieb ergebnislos, aber als er unter dem zweiten eine Weile herumgesucht hatte, sah er die Waffe in dem Gras liegen, wo sie hingefallen war. Unweit davon lag eine haarige Gestalt, die mit unzähligen schwarzen Punkten bedeckt war. Mit wenigen kräftigen Schlägen löste Magdah die untersten Äste von dem Stamm. Er ließ sie liegen und ging in den Dschungel, um Ranken zu holen, die er leicht von den Stämmen lösen konnte. Er trug sie zu den Ästen und brachte alles zusammen zurück zu Garo und Leta. Der Jäger fuhr erschrocken zusammen, als er die Äste und Ranken sah. Er wußte, wofür sie vorgesehen waren. Aber er folgte Magdahs Anweisungen und ließ seine Hände an die Enden der Äste binden. Dann band Magdah Garos linken Fuß an das andere Ende und schließlich die rechte Hüfte an den zweiten Ast. Leta stand am Kopf des Jägers und versuchte, die Äste zu heben, aber sie waren zu schwer für sie. Magdah ließ sie niederknien und legte die Äste auf ihre Schultern. Dann schulterte er selbst die anderen Enden. Er rief Leta zu, aufzustehen. Sie zuckte zusammen, als das Holz in ihr Fleisch schnitt, ertrug es aber mit Gleichmut. Obwohl nun sein verwundetes Bein frei in der Luft hing und mit jedem Schritt der Träger hin und her schwankte, waren die Schmerzen nicht so groß wie vorher, da ihn Magdah an den Schenkeln gepackt hatte. Das Bein schmerzte ständig, ob er es 82
nun bewegte oder nicht. Der Schmerz schien vom Schenkel aus höherzukriechen … Bevor sie sich auf den Weg machten, hatte Magdah einen raschen Blick auf die Landschaft geworfen. Heute sah er nicht nach der Schönheit der Gegend, ihn interessierte nur die geographische Lage. Er nahm an, daß der sanfte Abhang vor ihnen an dem Steilufer des Flusses auslief. Sie brauchten also nur dem Rande zu folgen, um zu ihrer Höhle zu kommen. Das taten sie auch. Sie stampften durch das Gras mit grimmig entschlossenen Gesichtern. Magdahs Augen wanderten über das Ufer, auf der Suche nach vertrauten Merkmalen. Er fühlte sich kräftig und überlegen. Garo war auf ihn angewiesen; er mußte den Jäger sicher nach Hause bringen. Nichts sollte ihn aufhalten, nichts durfte dem Kranken zustoßen. Bald bemerkte er eine Felsformation, die ihm bekannt erschien. Nach wenigen Schritten war er sicher, daß sie bald am Ende ihres Marsches angelangt waren. Dann erblickte er die beiden Angelruten; sie lagen nicht mehr an derselben Stelle. Fast wären sie von der Überschwemmung mitgerissen worden. Aber offenbar hatte die Flut hier nicht so gewütet. Sie warteten auf ihn, seit er Leta vor so langer, langer Zeit in den Fluß nachgesprungen war. Er lachte freudig und erzählte Garo über die Schulter hinweg von ihrem großen Glück. Aber Garo gab keine Antwort. Er hatte andere Gedanken im Kopf als Angelruten. * Endlich waren sie ihrer Höhle gegenüber angelangt. – Sie standen auf dem nahegelegenen Felsen. Jetzt begann das Problem des Abtransportes über die Steilwand. Magdah löste es, indem er Garo von den Ästen befreite und ihn so weit über den Rand 83
schob, daß er nur mehr mit den Händen an dem Felsen hing, dann ließ er sich selbst hinabgleiten und faßte Garo um die Hüften. Das Gewicht erwies sich als zu schwer für Magdah, und beide fielen zu Boden. Leta kletterte nach ihnen hinab und brachte den Jäger in eine bequeme Lage. Mit dem Rücken an den Felsen gelehnt, ließen sie ihn sitzen, während Magdah die Höhle untersuchte. Er hatte kaum den Eingang erreicht, als ihn ein lautes Brüllen zurückscheuchte. Der Schaden, den die Überschwemmung angerichtet hatte, war jetzt unbedeutend geworden im Vergleich zu dem Höhlenlöwen, der ihre Behausung in Besitz genommen hatte. Unerwartete Hilfe Während er sich aus der Höhle zurückzog, sagte sich Magdah, daß der Löwe nicht angreifen würde, solange man die Höhle nicht betrat. Wenigstens nicht, wenn er noch Fleischvorräte in der Höhle hatte. Und wahrscheinlich verteidigte er die eigene Beute. Magdah erstarrte. Blitzartig kam ihm die Erinnerung. Er hatte etwas vermißt bei seiner Ankunft, aber die Mühe, die ihnen Garo machte, hatte seine Gedanken abgelenkt. Jetzt fiel es ihm wieder ein und damit auch gleichzeitig die Erklärung. Das Sloth hatte ihn nicht begrüßt. Jetzt wußte er, daß es von dem Löwen überfallen und getötet worden war. Kampflust rötete sein Gesicht. Es hatte viele Tage gedauert, das Faultier zu fangen, das sich in einer Felsenhöhle versteckt hielt, und es dauerte noch viel länger, es zu zähmen. Jetzt war das wertvolle Tier fort. Es würde nie mehr Bäume für sie entwurzeln und schwere Lasten tragen. Die Treue des Tieres würde er künftig sehr vermissen. Es ließ eine Lücke, die schwer zu schließen war. Und alles wegen des Höhlenlöwen. 84
Er drehte sich um, als Leta mit einer stummen Frage in ihren großen Augen auf ihn zukam. Sie mußte das Brüllen gehört und Garo verlassen haben, um zu sehen, was passiert sei. Magdah zeigte wütend auf den Eingang zu der Höhle. „Löwe hier. Sloth tot. Höhle verloren.“ Er sagte es angriffslustig, wie eine kurze Erklärung, bevor er seine Axt packen und die Bestie angreifen würde. Trotz der Wut, die ihn erfüllte, wußte er genau, daß ein solches Unterfangen für alle Beteiligten katastrophal enden müßte. Und ganz besonders für ihn selbst. Ein Mann und eine Axt genügten nicht, um einen Löwen zu erlegen. Wenn er wenigstens einen Speer hätte. Das wäre eine Möglichkeit. Mit Speer und Feuer könnte er es schaffen. Aber er war zu schwach und nicht auf einen Kampf vorbereitet. Wenn er sich erst etwas ausruhte … Er führte Leta zurück zu Garo. Der Jäger saß noch immer auf dem gleichen Platz. Sein Rücken war an den Felsen gelehnt, das verfärbte, geschwollene Bein hatte er vor sich ausgestreckt. Er schien seine Umgebung nicht zu beachten. leeren Blicken starrte er auf den Fluß. Magdah beugte sich zu ihm nieder und fragte ihn, ob er essen wolle. Aber Garo schüttelte nur schweigend den Kopf. Er wollte weder essen, noch hatte er einen sonstigen Wunsch. Er wollte nur stillsitzen und seinen Blick über das Ufer schweifen lassen. Magdah sah auf den Fluß. Das meiste Brennholz vor der Höhle hatte die Flut weggeschwemmt, nur einzelne Stücke lagen noch zwischen den Felsen verstreut, aber sie waren feucht. Hier und da lag eine saftige Frucht, ein eigenartiges Bild in der allgemeinen Trostlosigkeit der Verwüstung. Hinter Magdah knurrte der Löwe zur Erinnerung an seine Anwesenheit. Leta wollte auf die Angelruten zugehen, aber Magdah hielt sie am Arm zurück. Er befürchtete, sie würde wieder in den 85
Fluß fallen. Er hatte keine Lust, die scheußlichen Erlebnisse zu wiederholen. Er wollte nicht wieder zurück zu der wilden Gruppe der Höhlenbewohner und Garo unbeaufsichtigt hierlassen. „Nein“, sagte er. „Leta, bleib hier! Leta bei Garo!“ Er sah zu, wie sie wieder zu dem verwundeten Jäger ging und sich neben ihm niederließ. Mit der Hand wischte sie ihm den Schweiß von der Stirn und strich ihm das Haar aus den Augen. Magdah mußte wieder gegen seine Eifersucht ankämpfen; er wandte sich der Höhle zu. In der Annahme, daß genügend Äxte in der Höhle sein würden, hatte er Garos Waffe auf der Ebene zurückgelassen. Jetzt brauchte er eine, um Brennmaterial zu sammeln und mußte sie vor den Augen des Löwen wegholen. Das war keine angenehme Aufgabe, aber sie mußte getan werden. Vorsichtig kroch er auf den Eingang zu, den Kopf hielt er dicht an den Boden gepreßt. Wenn er sich langsam bewegte, würde ihn der Löwe vielleicht nicht bemerken. Er schob den Kopf rasch um eine Felskante und bemerkte eine Axt, die dicht am Eingang der Höhle lag, keine zwei Meter von ihm entfernt. Ein Sprung, und dann rasch weg … Er hockte sich sprungbereit nieder. Mit einem gewaltigen Satz hatte er die Höhle erreicht. Die ausgestreckte Hand griff nach der Axt und ohne auch nur einen Augenblick innezuhalten, sprang er in weitem Bogen aus der Reichweite des Tieres. Der Löwe ließ ein wütendes Gebrüll hören, aber Magdah war bereits mit der Waffe verschwunden, bevor der Löwe Zeit hatte, zum Sprung anzusetzen. Über die Schulter hinweg sah Magdah, wie der Löwe an den Eingang der Höhle kam und ein gefährliches Knurren von sich gab. Aber er verfolgte ihn nicht weiter. Er würde nur ins Freie kommen, wenn er dazu gezwungen würde. Er peitschte den Boden mit dem Schwanz und trottete dann wieder zurück. 86
Magdah warf einen raschen Blick auf Garo und Leta. Als er sich überzeugt hatte, daß sie ihn nicht brauchten, kletterte er auf den Felsen. Zuerst mußte er Brennmaterial besorgen. Als er, mehrere Äste hinter sich herschleifend, zurückkam, war der Tag schon weit fortgeschritten. Ein leichter Wind wehte vom Fluß her. Magdah hob das Gesicht und lächelte befriedigt. Dieser Wind würde ihm helfen. Er warf die Äste, die er mit Ranken zusammengebunden hatte, über den Felsen, kletterte ihnen rasch nach und begann sie zu zerhacken. Bald hatte er genügend Holz für ein großes Feuer. Er wollte die Äste flußaufwärts sammeln, so daß er das Kleinholz nicht so weit zu transportieren brauchte. Während er damit beschäftigt war, näherte sich Leta – sie machte einen weiten Bogen um den Eingang der Höhle. Jetzt stand sie bei ihm, während er das Holz in einer Entfernung von einem Meter vor der Höhle aufschichtete. Er blickte auf und erkundigte sich grunzend, warum sie Garo allein ließ und was sie wolle. Leta antwortete schüchtern, denn Magdah hatte sich in den letzten Stunden verändert. „Garo sehr schlecht“, verkündete sie. „Leta Angst. Garo stöhnt und stöhnt. Garo nicht gut.“ Magdah warf einen Blick in die Richtung des Jägers, der sich in seinen Schmerzen krümmte. Seine beiden Hände waren an den rechten Schenkel gepreßt und drückten das Fleisch zusammen, in dem Bestreben, die Schmerzen zu lindern. Sein Gesicht war häßlich verzerrt, und sein Atem ging schwer und röchelnd. Magdah hatte ihn noch nie in diesem Zustand gesehen. Es mußte etwas geschehen. Er wandte sich an Leta. „Geh, bring Fungus“, befahl er. „Leg Fungus auf Garo! Schnell!“ Das Mädchen rannte auf die Nischen des Felsens zu. Magdah sah ihr nach, bis sie sicher oben angelangt war und 87
wandte sich dann wieder seinem Feuer zu. Im Augenblick konnte er nichts für Garo tun. Sie alle verließen sich auf ihn. Er sollte den Löwen erlegen und die Höhle frei machen. Er durfte sie nicht enttäuschen. Aber es war nicht so einfach, ein Feuer anzuzünden. Die geformten Feuersteine lagen in der Höhle. Im Augenblick konnte er unmöglich an sie herankommen. Er mußte sich mit einem rohen Stein behelfen, wenn er nicht Zeit fand, ihn zu bearbeiten. Plötzlich erinnerte er sich an den Speer. Es würde nicht viel helfen, ein Feuer zu entfachen und den Löwen auszuräuchern, wenn er keine Waffe besaß, mit der er ihn wirkungsvoll angreifen konnte. Es würde auch mit einem Speer noch sehr schwierig sein. Er ließ seine Augen über die Felswand schweifen und fand einen Steinblock von der gewünschten Größe. Unter Zuhilfenahme der Axt lockerte er ihn aus dem Felsen und brach ihn schließlich los. Der reichte aus, um zwei Speerspitzen und einen Feuerstein daraus zu formen. Zusammen mit zwei langen Ästen trug er alles zu Garo. Magdah hoffte, den Jäger für seine Arbeit interessieren zu können. Vielleicht würde es ihn etwas ablenken. Garo sah ihm aber nur müde zu, als er die Axt in die Spalten des Steines zwängte, um ihn zu zerteilen. Selbst als Magdahs Absicht klar erkenntlich war und er ihm die beiden Teile zeigte, die er an die Äste band, zeigte Garo nicht viel Interesse. Das störte Magdah. Er hatte erwartet, daß der Jäger munter würde beim Anblick der beiden Waffen. Garo mußte furchtbare Schmerzen haben. Endlich war Magdah für den Kampf gerüstet. Er fühlte sich jetzt stark und zuversichtlich. Das Bewußtsein, daß er der alleinige Beschützer von Leta und Garo war, gab ihm die nötige 88
Sicherheit. Wenn er zwei Säbelzahnlöwen töten konnte, würde er wohl auch mit einem Höhlenlöwen fertig werden. Er zweifelte keinen Augenblick daran. Er mußte den Eindringling töten. Die beiden verließen sich auf ihn. Er trug die Speere und den Feuerstein zurück zu der Stelle, wo er das Holz aufgestapelt hatte. Die Speere legte er griffbereit zurecht, dann kniete er neben den Zweigen nieder und begann, den Feuerstein mit der Axt zu schlagen. Die Funken stoben aus dem Stein und sprühten in die Zweige. Schneller und schneller schlug er zu, bis die Funken in einem Sprühregen auf das Holz niedergingen. Dann erschien die erste winzige Flamme, und er verdoppelte seine Bemühungen. Endlich erfaßte das Feuer auch andere Zweige. Magdah legte die Axt und den Feuerstein weg. Er senkte seinen Kopf und blies in die Flammen, die er zu einem gewaltigen Feuer entfachte. Knisternd und sprühend verbrannte das Holz. Dann kam der Wind, und der ganze Haufen wurde zu einer einzigen lodernden Flamme. Aber das entsprach nicht dem Wunsch Magdahs. Flammen allein genügten nicht. Flammen spendeten Licht und Wärme. Er aber brauchte Rauch. Er bemerkte einige Schalen, die auf den Felsen herumlagen, trug sie an den Fluß und füllte sie mit Wasser. Rasch brachte er es an das Feuer und besprengte die Flammen damit. Er nahm nicht zuviel. Nur gerade genug, um die stärksten Flammen zu dämpfen, die sich in eine dicke Rauchwolke verwandelten. Der Wind peitschte die blaue Rauchwolke und trug sie über das Ufer des Flusses. Magdah war zurückgetreten, er sah, daß noch eine Menge Rauch in die Höhle eindrang. Der Löwe mußte jetzt bald keuchend im Eingang erscheinen, da er in der Höhle nicht mehr atmen konnte. Magdah ergriff beide Speere und stellte sich bereit. Seine 89
Glieder zitterten in Erwartung des Kampfes, der jetzt folgen mußte. Es gab keinen Ausweg. Er mußte den Kampf bestehen – und siegen. Er stellte fest, daß sein Atem viel zu schnell ging und suchte sich zu beherrschen. Ruhe war jetzt vor allen Dingen notwendig. Die Ruhe, die allein eine richtige Beurteilung der Lage ermöglichte, wenn er der Bestie gegenübertrat. Ruhe! Während der Rauch in die Höhle drang und die ersten wütenden Laute das baldige Erscheinen des Löwen anzeigten, zwang sich Magdah zur Ruhe. Er zwang sich, seine Gedanken auf Leta und Garo zu beschränken, die sich auf ihn verließen. Garo war verwundet und lag in Schmerzen. Und da war der Fluß, auf dem die Sonnenstrahlen tanzten. Und die Berge mit ihrem Purpurschein. Und die leuchtenden Steinchen in der Felswand. Jeder Gedanke war angenehmer als die Aussicht auf einen Löwen, der sich zum Sprunge duckt. Alles, nur nicht die scharfen Zähne in dem knurrenden Rachen. Ruhe …! Dann kam er. Mit zwei raschen Sprüngen setzte der Löwe durch den Eingang und landete außerhalb der Rauchwolke. Sofort drehte er sich um und stellte sich gegen Magdah. Sein Blick war genauso, wie ihn sich Magdah vorgestellt hatte. Die Zähne zeigten sich zwischen den zurückgezogenen Lippen. Sein Schwanz peitschte hin und her; mit dumpfen Schlägen traf er die Steine. Magdah erhob seine Speere. Einen Augenblick standen sie sich beide gegenüber. Dann konnte der Löwe, der nicht so vorsichtig war, wie es bei katzenartigen Raubtieren üblich ist, nicht mehr warten. Er spannte seine Glieder und sprang. Dabei stieß er ein machtvolles Gebrüll aus. Magdah erhaschte einen kurzen Blick auf die ausgestreckte Vorderpfote mit den gefährlichen Tatzen, dann sprang er zur Seite. Noch im Sprung stieß er den Speer in die Seite des Löwen, 90
während der an ihm vorbeiflog. Er hielt die Waffe fest und riß sie wieder aus der Wunde, aus der das Blut hervorspritzte. Der Löwe hatte keine Zeit, seine Wunde zu lecken. Mit lautem Gebrüll wandte er sich um und sprang abermals auf Magdah los. Wieder glitt der zur Seite, aber diesmal war er nicht schnell genug gewesen. Eine der mächtigen Klauen des Tieres traf ihn an der Schulter und warf ihn auf die Steine. Ein scharfer Schmerz durchzuckte seinen Rücken, aber er kümmerte sich nicht darum und zwang sich wieder auf die Beine. Kaum stand er wieder aufrecht, als ihn der Löwe wieder annahm und zu Boden riß. Der schwere Körper des Tieres riß ihn auf die Steine. Der mächtige Kopf des Tieres befand sich direkt über ihm, Speichel tropfte aus seinem Rachen, während er ihm wütend in die Augen starrte. Diese Gewohnheit des Löwen rettete Magdah das Leben. Im Gegensatz zu den Katzen, die sofort zubeißen, starren die Löwen ihren Gefangenen erst einen Augenblick an, bevor sich ihr Rachen um das Opfer schließt. Während ihn der Löwe anstierte, rannte, ihm Magdah einen seiner Speere in den Bauch. Die Bestie sah keinerlei Verbindung zwischen dem Gesicht unter ihm und dem plötzlichen Schmerz. Er schrie auf und wandte sich fauchend gegen einen vermeintlichen Angreifer in seinem Rücken. Aber er sah keinen. Die kurze Pause hatte jedoch Magdah Zeit gegeben, sich von der schweren Pfote zu befreien. Ein Speer war nun verloren, er steckte noch immer in den Eingeweiden des Löwen. Um Zeit zu gewinnen, trat Magdah etwas zurück. Der Löwe folgte ihm; Rachegelüste und Raubgier mochten ihn dazu veranlassen – der Geruch von Magdahs Blut, das unter den Schlägen seiner Pranken hervorquoll, berührte seine Nase wie ein süßes Aroma. Als er über die Steine sprang, getrieben von seinem primitiven Instinkt – seine Bewegungen waren fast automatisch – fiel 91
der Speer aus seiner Wunde und landete klappernd auf den Steinen. Sie kämpften jetzt ganz in Garos Nähe, und Magdah sah mit einem raschen Blick, daß den Jäger der Kampf lebhaft interessierte. Er freute sich darüber, hatte aber für nichts Zeit als für den Löwen. Er hockte sich nieder, als der Löwe zum Sprung ansetzte. Die Spitze des Speeres hatte er dem Angreifer entgegengerichtet, das andere Ende stützte er auf den Boden. Anders als der Säbelzahn, hatte der Löwe die Entfernung richtig geschätzt. Er sprang genau auf den Speer, der ihm durch den Körper drang und am Schulterblatt wieder austrat. Seine Wut war durch den Schmerz hundertfach vermehrt. Vielleicht überkam ihn eine Vorahnung seines Todes, und er schien entschlossen, seinen Mörder zu erledigen, bevor sich die ewige Nacht um ihn senkte. Blut strömte aus seinem Rachen und tropfte auf Magdahs Arm, während er sich zur Seite wälzte. Aber wieder folgte ihm der Löwe, seine schwere Pranke traf ihn und quetschte ihm die Luft aus den Lungen. Er hatte keinen Speer mehr. Es schien, als ob er den Kampf nur auf Kosten seines Lebens gewonnen hätte. Aber auch jetzt gab er nicht auf. Nicht, solange er noch am Leben war. Leta und Garo verließen sich auf ihn! – Daran mußte er denken! Als der Kopf des Löwen näherkam, drückte Magdah den Unterkiefer des Tieres mit aller Kraft zur Seite. Mit beiden Händen griff er in das Fell und versuchte, den Löwen an sich zu pressen. Wenn er seinen Kopf losließe … Dann sah er eine Gestalt, die sich über ihm und dem Löwen aufrichtete. Sie stand einen Augenblick still und fiel dann auf den Rücken des Tieres. Eine Sekunde später krachte eine Speerspitze dicht neben Magdahs Brust in den Boden. Die Kraft des Löwen hatte nachgelassen, der schwere Körper 92
wurde schlaff und sank auf ihm zusammen. Er kämpfte sich frei und sah, daß der Löwe tot war – ein Speer hatte seinen Hals durchbohrt. Und neben ihm, ausgestreckt auf dem Boden, lag Garo. Magdah kniete nieder und bot dem Jäger seinen Arm. Aber Garo war zu schwach, um aufzustehen, selbst wenn ihm geholfen wurde. Er hatte Magdahs Not gesehen und seine restliche Kraft mit übermenschlicher Anstrengung zusammengenommen. Er mußte auf den Speer zugekrochen sein, der aus dem Bauche des Löwen gefallen war, und sich daran aufgerichtet haben. Dann war er auf den Kopf des Löwen gefallen und hatte ihm den Speer durch den Hals gestoßen. Damit hatte er Magdahs Leben gerettet. Aber jetzt mußte er seine Tapferkeit büßen. Zu seiner Rechten hörte Magdah dumpfe Aufschläge. Er nahm sich nicht die Mühe, danach zu sehen, denn er wußte, wodurch sie verursacht wurden. Er starrte auf Garos schmerzverzerrtes Gesicht und sein Bein, das bis zu den Hüften angeschwollen war. Der Knochen ragte immer noch durch die aufgedunsene Haut. Dann hörte er die Schritte nackter Füße auf dem Fels, sah einen Schatten, und Leta stand neben ihm. Sie schrak zurück, als sie Magdahs blutverschmiertes Gesicht sah, aber er versicherte ihr rasch, daß er wohlauf sei. Ihre Augen wanderten von ihm zu dem toten Löwen und wieder zurück. „Garo erlegt“, sagte er. „Nicht Magdah. Löwe Magdah fast töten. Garo Löwe erlegt.“ Noch während er es aussprach, erkannte er, daß sie doch nicht so ganz auf ihn angewiesen waren, wie er geglaubt hatte. Ohne Garo würden jetzt zwei Tote hier liegen. Und ohne Leta gäbe es keinen heilenden Fungus für Garos Wunden. Er erinnerte sich an die dumpfen Aufschläge und sah zu dem Felsen hinüber. Wie vermutet, lag dort ein Haufen Fungus, den 93
Leta heruntergeworfen hatte, bevor sie selbst herabkletterte. Sie mußten so bald wie möglich auf Garos Wunden gelegt werden. Magdah bedeutete Leta, ihm bei dem Jäger zu helfen. Diesmal faßte ihn Leta um die Schultern, und Magdah ergriff seine Schenkel. Dann hoben sie ihn auf. Sie hörten nicht auf die gequälten Schreie des Mannes und taumelten zur Höhle, wobei sie es nicht vermeiden konnten, daß der Körper des Jägers ruckweise hin und hergerissen wurde, wenn sie über die Steine kletterten. Ein Blick auf Leta zeigte ihm, daß sie über Garos Schreie weinte. Endlich erreichten sie die Höhle und setzten Garo auf den Boden, wobei sie ihn mit dem Rücken an die Wand lehnten. Magdah stand auf und rief Leta zu: „Leg Fungus auf Garo, schnell!“ Ärgerlich über seine Unfähigkeit, dem Kameraden zu helfen, ging Magdah zu dem toten Löwen und zerlegte ihn. Sein Fell würde Garo nachts warmhalten und das Fleisch würde ihnen für lange Zeit Nahrung geben. Mit dem Speer löste Magdah das Fell von dem Fleisch der Bestie und legte es auf den Felsblock, um es in der Sonne zu trocknen. Dann ging er an den Fluß und spritzte Wasser über Gesicht und Hände, um sich von dem Blut des Löwen zu reinigen, das inzwischen eingetrocknet war und ihn juckte. Noch während er sich wusch, beschloß er, vor allen Dingen noch Feuerholz zu sammeln. Den Löwen konnte er später zerlegen, wenn er mehr Zeit hatte. Jetzt war es wichtig, viel Holz vorrätig zu haben, um Garo warmzuhalten. Das Feuer, mit dem er den Löwen ausgeräuchert hatte, war niedergebrannt. Er schüttete das Wasser über seinen Körper und ging zur Höhle zurück. Hier herrschte ein beizender Geruch. Es roch nach verwesendem Fleisch. Bei der schwachen Beleuchtung durchsuchte Magdah den rückwärtigen Teil der Höhle und fand 94
die Überreste des Faultiers. Ein Fell, ein paar Knochen, das war alles, was der Löwe übrig gelassen hatte. Er wandte den Kopf zur Seite und zerrte die Reste rasch aus der Höhle. Er brachte sie an das niedergebrannte Feuer und warf sie in die Flammen. Er wollte nichts von dem Sloth essen … Dann ging er wieder in die Höhle zurück. Leta hatte Garo einen Fungusverband angelegt. Er sagte ihr, daß er Feuerholz holen wolle und machte sich auf den Weg zu dem Felsen. Er war schon zu weit oben, um Letas Schrei zu hören, als Garo sie mit der flachen Hand schlug und Verwünschungen ausstieß. Seltsame Wirkung Leta blickte auf und nickte, als ihr Magdah sagte, er wolle Holz holen. Dann beschäftigte sie sich wieder mit Garos verletztem Bein. Vorsichtig drückte sie den Saft des Fungus über Garos Wunde aus. Dann legte sie die Pflanze auf die verfärbte Haut und formte mit den Händen eine feste Masse, die auf der Wunde liegenbleiben sollte. Es würde das heiße Fleisch kühlen und beruhigen. Dabei überdachte sie die Beweggründe für ihre Handlungsweise. Obwohl sie Magdahs Gefährtin war, hatte sie doch die meiste Zeit während der vergangenen Stunden mit Garo verbracht. Alles, was sie für Magdah getan hatte war, seine Wunden aus dem Kampf mit dem Säbelzahn zu kühlen. Seither hatte sie sich kaum wie seine Gefährtin benommen. Aber sie wünschte noch immer, Magdahs Gefährtin zu bleiben. Sie trug kein Verlangen nach Garo. Es war nur – weil Garo so tapfer war und solche Schmerzen ertragen mußte. Magdah war zwar auch tapfer, aber nicht in der Art wie Garo. Er brauchte ihre Pflege auch nicht so dringend. Trotz seiner Wunden war er 95
in einer besseren Verfassung als Garo. Magdah hatte kein gebrochenes Bein. Es störte sie etwas, daß Magdah so bereitwillig damit einverstanden war, daß sie Garo pflegte. Insgeheim hatte sie Eifersucht erwartet, mehr als nur seinen Einspruch gegen ihre Hilfeleistung bei dem Festmahl. Magdah war es sehr angenehm gewesen, daß sie sich um Garo kümmerte. Vielleicht war er gar ihrer überdrüssig … Aber sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Es bestand kein Grund, ihrer nach so kurzer Zeit überdrüssig zu sein. Wahrscheinlich war es nur seine enge Freundschaft mit Garo, die ihn veranlaßte, sie bei seiner Pflege zu ermutigen. Und sie wollte tun für ihn, was sie nur konnte. Er war doch in einem so bedauernswerten Zustand. Und außerdem hatte er Magdah das Leben gerettet. – Mehr als einmal schon. Liebevoll legte sie den Fungus auf das Bein des Verletzten und setzte sich eben zurück, bereit, Garo aufzurichten, als er sich selbst aufrichtete und sie mit der flachen Hand ins Gesicht schlug. Leta schrie auf und starrte ihn überrascht an. Was hatte sie ihm denn getan? Garo, der nie einen Finger gegen sie erhoben hatte? Der Jäger versuchte aufzustehen und schleuderte ihr unzusammenhängende Schimpfworte entgegen. Sie wollte ihn beruhigen, aber er schob sie zur Seite und schrie. „Geh! Weg! Geh aus Höhle.“ Er atmete schwer, und seine Augen sahen böse und gefährlich aus. Das ganze Gesicht war von Schmerz und Wut entstellt. Wildes Entsetzen hatte sie erfaßt, als seine Hände nach ihr griffen. Rasch riß sie sich los; auf ihren Armen zeigten sich rote Striemen, wo seine Finger sie umkrampft hatten. Sie rannte aus der Höhle. 96
Verwirrt und aufgeregt glaubte sie, Garo mit Fleisch beruhigen zu können. Sie ging zu dem toten Löwen und schnitt ein saftiges Stück ab. Dann hielt sie es ans Feuer, bis das angenehme Aroma ihre Nase reizte und sie selbst Hunger fühlen ließ. Dann brachte sie es in die Höhle. Sie trat vorsichtig ein. Garo wälzte sich tobend in seiner Ecke und versuchte, sich kriechend fortzubewegen. wobei er das kranke Bein nachschleppte. In seinen Augen leuchtete ein wildes Feuer, als er ihr entgegenstarrte und abgehackte Worte schäumte. Seine Lippen waren zurückgezogen; er stieß ein drohendes Knurren aus. „Nicht fischen“, raste er. „Säbelzahn tot! – Höhlenlöwe tot. Garo lebt! – Nicht fischen!“ Mit aufheulendem Gelächter beendete er seine Rede. Letas Haare sträubten sich. Dann griff er nach einem kleinen Stein, den sie in der Höhle für die Jagd auf Moa-Vögel aufbewahrten. Er warf ihn nach Leta, wobei er ihr aus vollem Halse entgegenschrie: „Geh! Nicht hierbleiben. Garo tötet!“ Aber seine Verletzung behinderte ihn, so daß er nicht richtig zielen konnte, und der Stein sauste an Letas Kopf vorbei. Mit einem dumpfen Krachen landete er an der Höhlenmauer. Sie kniete neben ihm nieder und hielt ihm das Fleisch entgegen. Eine Hand hatte sie auf seine Schulter gelegt und versuchte, ihn festzuhalten. Dabei sprach sie ihm beruhigend zu. „Garo essen. Eh? Fleisch für Garo. Garo essen. Eh? Leta nicht gehen.“ Aber er schob ihre Hand weg und schleuderte das Fleisch auf den Boden. Dann faßte er sie am Arm, und diesmal konnte sie sich nicht losreißen. Er zog sie zu sich auf den Boden. Sie schrie und wehrte sich – da sie ihm aber nicht weh tun wollte, war sie trotz seiner Schwäche im Nachteil. Sie wollte nur von ihm loskommen. 97
Er hielt sie eisern umklammert. Seine riesigen Kräfte hielten sie auf den Boden gepreßt, und mit plötzlicher Wut griffen seine Finger nach ihrem Hals, wo sie sich tief ins Fleisch bohrten. Mit beiden Händen faßte sie seine Gelenke, versuchte mit aller Kraft, ihn wegzustoßen, aber alle Anstrengungen waren vergebens. Sie konnte die zähen Sehnen seiner Arme fühlen, als sich seine Muskeln spannten. Sein heißer Atem brannte auf ihrem Hals. Leta senkte ihre Zähne in Garos Arm. Er ließ sofort los. Sobald sich seine Muskeln entspannten, konnte sie seinen Arm ohne viel Mühe festhalten. Dann biß sie in den anderen Arm; auch der wurde schlaff. Sie wälzte sich herum, ließ plötzlich seine Hände los und sprang auf die Füße, wobei sie sich aus seiner Reichweite entfernte. Sie starrte auf die verkrümmte Gestalt, die sich vergeblich bemühte, auf die Beine zu kommen, aber immer wieder mit einem schmerzlichen Stöhnen zurücksank, sobald er sein Gewicht auf das kranke Bein verlagerte. Der Schaum vor seinem Mund war verschwunden; er rang nach Luft. Leta überlegte, ob ihm Wasser helfen würde. Sie lief hinaus und fand die Schale in der Nähe des Feuers. Es befand sich noch etwas Wasser darin, das sie Garo brachte. Sie hatte Angst, sich in seine Nähe zu begeben und stellte die Schale in seiner Reichweite nieder. „Wasser für Garo“, sagte sie. „Garo trinken. Eh?“ Aber er beachtete weder sie noch die Schale; er schien nur etwas zu entdecken, das an der Wand der Höhle hängen mußte. Mit wilden Blicken starrte er darauf und versuchte, es zu erreichen. Leta folgte seinem Blick, konnte aber nichts sehen; nur die üblichen Maserungen in dem Gestein. Hastig trat sie zurück, als Garos Hand über den Boden glitt und nach einer Axt griff. Sie war entsetzt, als sie sah, wie sich 98
seine Finger um den Stiel der Waffe schlossen. Er stützte sich auf die andere Hand und erhob die Axt hoch über seinen Kopf. Dann schmetterte er sie in weitem Bogen gegen den Felsen. Immer wieder erhob er die Waffe und brachte sie unter lautem Geheul krachend auf das Gestein nieder. Leta hatte nie etwas Ähnliches gesehen. Sie hatte noch nie erlebt, daß ein Mann mit einer Felswand kämpfte und sie mit lauten Verwünschungen überhäufte. Sie konnte es einfach nicht begreifen. Sie konnte nichts tun, als sich in starrem Entsetzen an die rückwärtige Wand zu pressen und dem Schauspiel zuzusehen. Schließlich ließ Garo die Axt fallen und lachte brüllend auf. Dann prallte er der Länge nach auf den Boden, wo er regungslos und schweigend liegen blieb. Leta ging mit der Schale auf ihn zu. Sie kniete neben seinem Kopf nieder und versuchte, ihn aufzuheben. Aber er wehrte sich eigensinnig. Schließlich zwang sie ihn in eine sitzende Stellung. Seine Augen waren geschlossen, und Schweiß bedeckte sein Gesicht. Vorsichtig fuhr sie über seine Wange. Dann hob sie die Schale, setzte sie an seine Lippen und neigte sie, bis das Wasser über das Kinn auf seine Brust tropfte. Das kalte Wasser mußte ihn wieder zum Bewußtsein gebracht haben; er öffnete die Augen und starrte sie an. Es waren kalte, leere Augen ohne jeden menschlichen Ausdruck. Augen, die zu einem Toten gepaßt hätten. Sie starrten sie einen Augenblick an, während sie ihm das Wasser einzuflößen versuchte. Dann waren sie plötzlich von Haß erfüllt. Sie wurden eng, und seine Lippen zogen sich mit einem wütenden Knurren zurück. Der Atem drang zischend zwischen den Zähnen hervor. Es war eine sonderbare Situation, wie die beiden so dasaßen und sich gegenseitig anstarrten. Leta war wie gelähmt von der sonderbaren Verwandlung. Die Schale fiel aus ihren kraftlosen Fingern auf Garos Schulter. 99
Bevor sie auf die Beine kommen konnte, hatten seine Arme sie fest umfangen und an seine Brust gepreßt. Sie fühlte, wie sich seine Muskeln spannten und konnte nur mit Mühe atmen. Immer fester drückten sie seine Arme an sich, bis die Luft um sie von kleinen, feurigen Punkten besät war, die vor ihren Augen tanzten. Ein dumpfes Dröhnen erfüllte alles um sie her. Jetzt gab es nur noch einen Ausweg. Bei dem Gedanken daran, stieg eisige Angst in ihr auf; Angst um sie selbst und Angst um Garo. Aber es gab keine andere Möglichkeit, wenn sie nicht langsam in Garos Armen sterben wollte. Sie holte tief Atem und schlug ihm die Faust unters Kinn. Garos Arme fielen kraftlos von ihr ab; sie war frei. Sie wartete nicht ab, was weiter geschah, sondern rannte aus der Höhle und das Ufer entlang. Weg, weit weg, irgendwohin – wenn sie nur die gequälten Schreie des Jägers nicht mehr erreichten. Nur weg … Während sie über die Steine auf eine Felsspalte zulief, wußte sie, daß sie die Erinnerung an die grauenhafte Szene immer verfolgen würde. Die Erinnerung an den Augenblick, da ihre Faust den Verletzten getroffen hatte. * Magdah war, ohne Zeit zu verlieren, in den Dschungel gegangen. Er hielt Ausschau nach drohenden Gefahren. Nicht weit vom Rande des Dschungels entfernt hatte er einen Baum gewählt und hackte mehrere Äste ab. Gleich über seinem Kopf hingen Früchte, die ihn lockten. Aber er hatte im Augenblick keine Zeit, sie zu sammeln. Jetzt war es wichtig, das Feuer in Gang zu halten und den Löwen zu zerlegen. Er band die Äste mit den Ranken lose zusammen und schleppte sie auf den Felsen. Dann warf er sie über den Rand, daß das Büschel krachend am Ufer landete. Er schwang sich 100
selbst hinüber und kletterte hinterdrein. Unten angekommen, nahm er das Holz auf und schleppte es mühsam zum Feuer. Als er an der Höhle vorbeikam, warf er einen kurzen Blick in das Innere, wo er Leta mit der Pflege Garos beschäftigt glaubte. Er blieb plötzlich stehen und ließ das Holz fallen. Leta war nicht da. In dem Zwielicht der Höhle konnte er Garos Gestalt lang ausgestreckt auf dem Boden liegen sehen. Ärger stieg in ihm auf. Warum hatte Leta den Jäger allein gelassen? Eine warme Welle des Mitleids überkam ihn, als er Garo so einsam, ohne Nahrung, ohne Wasser und ohne einen Menschen um sich, liegen sah. Er betrat die Höhle. Das Feuer hatte er ganz vergessen. Er hatte kaum einige Schritte getan, als er das gebratene Fleisch auf dem Boden der Höhle liegen sah. Garo konnte das nicht getan haben. Dann bemerkte er die Schale – sie mußte ihm auch Wasser angeboten haben. Sein Ärger verflog, als er diese Anzeichen von Letas Fürsorge bemerkte. Die Lage war also nicht so schlimm, wie er geglaubt hatte. Als er seine Augen zu Garo schweifen ließ, hörte er einen Laut, der ihn überraschte. Garo weinte. Als er näherkam, bemerkte er, wie sich der Körper des Jägers schüttelte bei jedem Laut, den er von sich gab. Und da war Blut auf dem Boden. Frisches Blut, das noch nicht eingetrocknet war. Er beugte sich nieder und hockte sich neben Garo. Er drehte ihn um und sah die weißen Streifen auf dem Gesicht, wo sich die Tränen einen Weg gebahnt hatten. Garos Augen lagen tief in den Höhlen, seine Wangen waren eingesunken und hager. Aber die Augen glänzten, als das Licht von dem Eingang her auf sein Gesicht fiel. Magdah fiel fast um vor Überraschung, als Garo eine Hand hob und ihn wegschob. Seine Sinne verwirrten sich, als er den Ausdruck des Hasses in den Augen des Kameraden bemerkte 101
und den harten Griff des Jägers an seinem Arm fühlte. Das unfaßbare Verhalten Garos lähmte ihn, während dieser wilde Schläge mit der geballten Faust nach seinem Körper führte. Was wollte sein Freund, daß er sich so sonderbar benahm? Wasser? Magdah zog sich vor den Fäusten zurück und reichte ihm die Schale. Er hielt sie an den Mund des Kameraden – aber der stieß sie mit einer wilden Bewegung zur Seite. Magdah sprang rasch zur Seite, als Garo die Zähne fletschte und ihn angreifen wollte. „Geh!“ stieß der Jäger zwischen den Zähnen hervor. „Nicht hierbleiben! Gehen!“ Mit einem kräftigen Schlag traf er Magdahs Kopf. Jetzt sammelte Garo seine schwindenden Kräfte, fletschte mit wütendem Knurren die Zähne und kroch auf Magdah zu. Magdah war verwirrt und aufgeregt. Die ganze Welt war ihm unbegreiflich geworden. Es war, als ob ihn Garo überhaupt nicht erkannte. War denn das möglich? Konnte der verwundete Mann glauben, er sei ein Fremder, der ihn aus der Höhle vertreiben wollte? Und wo war Leta? Er warf einen ängstlichen Blick auf den Hintergrund der Höhle und fühlte sich erleichtert, als er nur Sand und Steine bemerkte. Keine Tote, das war ihm erspart geblieben. Wo immer sie auch sein mochte, sie war in Sicherheit vor Garo und seiner schrecklichen Wut. Aber jetzt blieb keine Zeit, an Leta zu denken. Mit seiner heißen Hand hatte Garo Magdahs Knöchel gepackt. Der Jäger riß daran mit so ungeheurer Kraft, daß die Adern auf seiner Stirn anschwollen. Das Unerwartete des Angriffs überraschte Magdah; er verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Garo knurrte und weinte gleichzeitig. Magdah erriet, daß er furchtbare Schmerzen litt. Er hatte einen kurzen Blick auf das Bein geworfen, bevor er zu Boden stürzte, und es schien ihm, 102
als ob der gebrochene Knochen jetzt weiter aus dem Fleisch herausragte als zuvor. Dann hockte er auf dem Boden und versuchte, seinen Körper gegen die Schläge des Jägers zu schützen. Eine Hand Garos hielt ihn noch immer fest, während ihn die andere mit wilden Schlägen bearbeitete. Während der ganzen Zeit klang ihm das Weinen und Knurren in den Ohren. Er versuchte, Garos Hand zu fassen, aber jedesmal, wenn er seine Haut ungeschützt ließ, gruben sich Garos Finger in sein Fleisch. Er wollte nicht zurückschlagen, wollte Garo nicht weh tun. Er wollte nur seine Schläge abwehren. Aber es schien keine Möglichkeit zu geben. Er konnte nur warten, bis sich die Wut des Jägers legte. Er brauchte nicht lange zu warten. Als er noch dort hockte und die Schläge des Jägers geduldig ertrug, und während er wußte, daß sich der andere nur so benahm, weil er ihn nicht erkannte, fühlte er, wie Garos Kraft erlahmte. Die Schläge hatten an Kraft verloren und berührten ihn kaum. Aber er wartete regungslos, bis sie gänzlich aufhörten. Den Kopf hielt er in stummer Verzweiflung gesenkt. Jetzt hatten die Schläge auf gehört. Gleichzeitig lockerte sich Garos Griff und seine Hand glitt zu Boden. Er nahm die Hände vom Gesicht. Garo lag auf dem Rücken, sein Mund stand offen und die Augen starrten auf die Decke der Höhle. In kurzen Zwischenräumen wurde sein Gesicht immer wieder von Schmerz überzogen und leises Stöhnen drang über seine Lippen. Magdah nahm wieder die Schale und reichte sie Garo. Aber der Jäger beachtete ihn nicht. Magdah brachte die Schale näher, hielt den Rand an seine Lippen und ließ einige Tropfen überlaufen. Garo streckte die Zunge aus und saugte die kühle Flüssigkeit gierig auf. Magdah bemerkte, daß die Zunge ganz rauh 103
war, wie Schwämme, die man manchmal im Fluß fand, und die eine Rinde wie eine Melone hatten. Er goß mehr Wasser daneben, das nur über Garos Gesicht lief. Der Jäger war zu schwach, er konnte nicht einmal trinken und nur wenige Tropfen gelangten in seinen Mund. Magdah bog Garos Kopf zurück und versuchte ihm das Wasser einzuflößen. Aber es füllte nur den Mund und lief wieder heraus. Garo hustete und keuchte, rollte die Augen in seinen Schmerzen. Magdah setzte die Schale ab. Sie war jetzt leer, und er wollte Garo nicht verlassen, um sie wieder zu füllen. Er richtete Garo auf, lehnte seinen Rücken an die Wand und setzte sich neben ihn nieder. Garo wandte ihm den Kopf zu. Seine Augen schienen durch Magdah hindurchzusehen und an den Felswänden zu haften. Er versuchte zu sprechen, aber es drangen nur unartikulierte Laute aus seiner Kehle. Er hob die Hand, als ob er Magdah berühren wollte, aber sie sank kraftlos herunter. Die Augen, die auf Magdah gerichtet waren, blinzelten, die Brauen zogen sich zusammen in dem Bestreben, seinen Augen einen bestimmten Ausdruck zu geben, Magdah eine Nachricht zu übermitteln, die er nicht mehr anders mitteilen konnte. Plötzlich erkannte es Magdah. Garos Augen drückten die ganze Freundschaft aus, die zwischen ihnen gewesen war von Anfang an. Die Kameradschaft, die sie durch alle Kämpfe begleitete, die sie mit der Natur und den Menschen ausgefochten hatten. Sie drückten Zuneigung, Stolz und Besorgnis aus. In ihnen lag eine tiefe Bitte um Verzeihung für die Angriffe auf Magdah und seine Gefährtin, an die sich Garo nur ganz dunkel erinnern konnte. Und dann spürte Garo, wie ihm der Durst in der Kehle brannte. Er versuchte, seinen Freund mit den Augen zu bitten. Seine Lippen bewegten sich, aber keinen Ton brachte er hervor. 104
„Durst“, dachte Garo. „Durst – Durst!“ Professor Echert beugte sich ganz nahe hinunter zu dem Mann auf dem Untersuchungsbett. Der Wissenschaftler versuchte, das Stöhnen zu deuten. Jetzt hatte er begriffen und richtete sich auf. „Durst – Durst!“ stöhnte der dunkelhaarige Mann unter dem Strahlapparat. Professor Echert holte eine Kunststoffflasche vom Regal, packte den Mann an der Schulter und träufelte ihm einen durststillenden Saft in den geöffneten Mund. Ein dankbarer Blick traf den Wissenschaftler, dann ließ sich der Geschwächte zurückgleiten. „Was meinen Sie, Herr Professor, wird er durchkommen?“ fragte der Assistent, der nun ebenfalls herangekommen war. „Das glaube ich ganz sicher“, lächelte Echert zuversichtlich. „Wenn wir nur einen Weg finden, ihm einige Hilfsmittel in seine eingebildete Steinzeit mitzugeben.“ „Sollte das möglich sein?“ Echert wandte sich zu seinem Assistenten um. „Warum nicht? Er erlebt die Geschichte eines Urahns, der fast an einem Beinbruch gestorben wäre. Da sich unsere Versuchsperson mit diesem Steinzeitmenschen identifiziert, wird er uns hier auf dem Bett sterben, wenn der andere nicht durchkommt. Also müssen wir seinen Urahn retten.“ „Aber wir haben doch beobachtet, Herr Professor, daß die Versuchsperson Garolson nicht einen Bruchteil der Erinnerung besitzt, wenn sie sich in ‚Garo’, den Steinzeitmenschen, verwandelt.“ „Ich habe nie behauptet, daß es einfach sein würde.“ Professor Echert war plötzlich sehr einsilbig geworden. – „Aber auch damals haben Menschen solche Verletzungen überlebt“, fuhr er plötzlich auf. Und dann zögernd: „Geben Sie mir einen Stock!“ Während der Assistent kopfschüttelnd das Labor durchsuchte, 105
beugte sich Echert wieder zu seiner Versuchsperson hinunter. Er sprach zu dem Mann, der nur halb bei Bewußtsein war, in der Sprache, die er seit Stunden gehört hatte. „Garo leben. – Garo Bein gesund.“ Der Dunkle lächelte matt. Hatte er den Professor verstanden? Jetzt trat der Assistent mit einer Holzlatte an das Laborbett. Echert hob den Oberkörper des Mannes noch einmal an. Dann legte er die Latte neben das Bein und markierte das Richten des Knochens, während der Assistent den Dunkelhaarigen hielt. Echert wiederholte diesen Vorgang so oft, bis die Augen Garolsons aufleuchteten. „Garo verstanden?“ fragte der Professor, und der Dunkle nickte. Vorsichtig ließ der Assistent den Mann auf einen Wink des Professors zurückgleiten, und dann zog Ediert die große Linse wieder heran und stellte das grüne Licht auf die Versuchsperson ein. „Und Sie glauben wirklich …?“ Echert unterbrach den Assistenten. „Still jetzt! – Wenn er nur einen Funken von Erinnerung mitnimmt, dann haben wir gewonnen.“ Auf der Suche Magdah saß lange bewegungslos neben Garo, der dalag wie ein Toter. Dann schreckte er plötzlich hoch und sprang auf die Füße. Aber auch jetzt wußte er noch nicht, was er tun sollte. Schmerz erfüllte ihn; eine Lücke war entstanden, die alles andere unwichtig erscheinen ließ. Es fiel ihm schwer, das zu begreifen. So unglaublich schien es ihm, daß Garo jetzt still und reglos dalag wie ein Tier, das in den Fluß gefallen war. 106
Es ging über Magdahs Begriffe, daß er nun allein jagen sollte. Er hatte die Tatsache erkannt, aber wie es nun weitergehen sollte, das konnte sich Magdah nicht vorstellen. Es war ja nicht, als wenn der Jäger den Klauen einer grimmigen Bestie oder der Axt eines hinterlistigen Angreifers zum Opfer gefallen wäre. Nie hatte es einen Kampf gegeben, aus dem Garo nicht siegreich hervorgegangen war. Selbst ihren größten Kampf – mit den zwei Säbelzahnlöwen – hatten sie als Sieger durchgestanden. Garo hatte nie verloren. Er hatte immer bis zur Vernichtung seines Gegners gekämpft. Und doch war er einfach von einem Baum gefallen, herabgestoßen von einem winzigen Galago, den Magdah mit seinen bloßen Händen getötet hatte, und hatte sich das Bein verletzt. Und jetzt, wenige Stunden später, war Garo kein Jäger mehr. Er lag leblos auf dem Boden, ohne Willenskraft. Seine Augen starrten blicklos zur Höhlendecke. Und die große, entsetzliche Wahrheit war, daß er nie wieder aufwachen würde. Nie. Magdah löste seinen Blick von dem Freund und schaute auf den Fluß. Er sah die beiden Angelruten. Seine eigene und die Garos, über die sich der Jäger vor so kurzer Zeit noch geärgert hatte. In Zukunft würde niemand mehr dort fischen. Magdah wandte sich wieder der Höhle zu. Er beugte sich nieder und nahm Garos Körper in seine Arme. Dann trug er ihn in den hintersten Winkel, wo er ihn sorgfältig auf den Boden legte. Dann nahm er Garos Axt und einige Steine, die der Jäger bei der Verfolgung des Moa-Vogels benutzt hatte. Zusammen mit den Speeren legte er alles neben den Freund. Schließlich ging er zu dem toten Löwen, schnitt ein großes Stück Fleisch ab, röstete es am Feuer, füllte die Kürbisschale mit Wasser und brachte alles in Reichweite von Garos Händen. 107
Die Arme des Jägers legte er auf seine Brust, brachte des verletzte Bein sorgfältig in eine bequeme Lage und packte Fungus auf die Wunde. Jetzt trat er zurück und betrachtete Caro noch einmal. Wenn er aufwachen sollte, lagen Speise, Wasser und Waffen für ihn bereit … Mit Anstrengung riß er sich los, warf ein Bärenfell über die Schulter und verließ, mit einem zweiten Fell unter dem Arm und einer Axt bewaffnet, die Höhle. Draußen suchte er sich zwei lange Äste. Wie er es weiter unten am Fluß gelernt hatte, brach er zwei scharfe Speerspitzen aus dem Stein und befestigte sie an den Stöcken. Er warf noch einen langen Blick in das Dunkel der Höhle, dann machte er sich auf die Suche nach Leta. Er ging am Ufer entlang, denn mit seiner Last konnte er den Felsen nicht erklettern, auch liebte er das Gurgeln des Wassers am Ufer. * Heiße Tränen rannen Leta über die Wangen, während sie über die Steine dahinstolperte. Ihre Brust hob sich unter verhaltenem Schluchzen. Fast blind strebte sie vorwärts; nur weg von der Höhle und der grauenhaften Erinnerung. Vergeblich suchte sie ihr Gewissen zu beruhigen. Sie hätte ja nicht anders handeln können. Sonst wäre ihr Tod sicher gewesen – und Garo wollte sie ja gar nicht töten, davon war sie überzeugt. Er mußte vollkommen außer sich gewesen sein. Sobald er sich wieder besser fühlte, würde ihm der Angriff auf sie bestimmt leid tun, Und er würde ihr gerne verzeihen. Ganz bestimmt würde er ihr verzeihen. Er mußte doch wissen, daß sie ihn nicht aus Feindschaft oder Wut geschlagen hatte. Sie wollte nicht, daß er Schmerzen hatte, 108
sie wollte ihm nicht weh tun. Sie wollte sich nur von ihm befreien. Leta hatte nicht die Absicht, über den Felsen zu klettern. Das wäre zu langsam gewesen für den Aufruhr in ihrem Innern. Sie mußte laufen, vorwärtsstreben, um so rasch wie möglich von allem wegzukommen. Sie hatte kein Ziel und es war ihr auch ganz gleichgültig. Sie erreichte den Felseinschnitt und lief weiter, ohne es durch ihren Tränenschleier überhaupt zu bemerken. Immer weiter lief sie stromaufwärts, riß sich die Glieder blutig an den scharfen Kanten der Steine. Dann wurde sie von der Müdigkeit überwältigt. Die Beine knickten ein, und ihre Lungen rangen nach Luft. Als sie über einen Stein stolperte und der Länge nach hinfiel, blieb sie liegen, zerkratzt und elend. Leise weinte sie vor sich hin. Lange lag sie so da, mit dem Gesicht dem Boden zugewandt, während der Wind mit linden Fingern über ihren Körper strich. Ihr Schluchzen hatte einem leisen Wimmern Platz gemacht. Kalte Schauer überliefen sie, als sie so dalag, ohne auf ihre Umgebung zu achten. Sie dachte nicht an Skorpione oder Käfer, die sich in ihr Fleisch verbeißen konnten. Eine wohlige Müdigkeit überkam sie und verscheuchte ihre Sorgen. Der Schlaf der vergangenen Nacht war oft unterbrochen worden und hatte sie nicht erfrischt. Langsam schloß sie die Augen, die vom Weinen brannten. Das tat ihr gut. Eine Welle des Mitleids mit sich selbst durchflutete sie. Die Dunkelheit, die sie jetzt umfing, löschte die Erinnerung an die Aufregungen des Tages. Sie hatte noch nicht lange so gelegen, als rauhe Hände nach ihr griffen und sie festhielten. Nach einer Weile fühlte sie, wie sie jemand auf den Rücken drehte und ihre Schultern auf den Boden preßte. Ein Knie legte sich über ihre Beine und drückte sie gegen die Steine. 109
Entsetzt blickte sie auf und sah die zottigen Umrisse eines Kopfes, die sich gegen die Sonne abzeichneten. Das Gesicht konnte sie nicht erkennen, aber der Mann war breitschultrig und stark behaart. Er schwieg. Vergeblich suchte sie sich den harten Griffen des Mannes zu entziehen. Sie wollte ihn beißen, konnte aber nicht in die Nähe seiner Arme kommen. Sie wand und krümmte sich, soweit es ihr möglich war. Der Mann löste eine Hand von ihrer Schulter und schlug sie ins Gesicht. Dann packte er wieder ihre Schulter. Mit übermenschlicher Anstrengung befreite sie ein Knie und stieß nach seinem Körper. Sie drückte den Mann zur Seite und wälzte sich von ihm weg. Keuchend betrachtete sie die dahingestreckte Gestalt des Mannes, der das Gesicht im Sand vergraben hatte. Er stöhnte auf und legte sich auf den Rücken. Verblüfft starrte sie in sein Gesicht. Er war alt. Jetzt erkannte sie ihn – ihr Vater! Heißer Zorn erfüllte sie. Sie war von daheim fortgelaufen, um all diesen Schrecken zu entkommen. Sie hatte lieber die tausendfachen Gefahren des Dschungel auf sich genommen, als zu Hause zu bleiben und von ihrer Mutter tyrannisiert und von ihrem Vater geschlagen zu werden. Sie hatte Tage und Nächte grauenhafter Angst ertragen, nur um ihre Freiheit zu gewinnen. Und jetzt traf sie ihn wieder. Sie war von diesem finsteren, alten Mann nur schlecht behandelt worden. Er konnte nicht einmal mehr einen Baum erklettern, um Früchte für seine Familie zu holen. Alle schwere Arbeit hatte er den beiden Frauen überlassen. Selbst die Jagd, die doch Männerhandwerk war. Er war überrascht worden und lag noch einen Augenblick hilflos neben ihr. Aber dann knurrte er wütend und kam auf sie zu. Ein heftiger Faustschlag warf Leta gegen die Felsen, wo sie 110
sitzenblieb und sich die Schulter rieb. Aber das dauerte nur einen Augenblick. Dann war sie wieder auf den Beinen und warf sich auf ihn wie eine verwundete Tigerin. Sie prallte gegen ihn, als er sich eben wieder erheben wollte; kämpfend landeten beide auf den scharfen Steinen. Zuerst hatte sie Oberhand. Aber dann landete er einen Faustschlag in Letas Gesicht. Sie fiel zurück. Blut strömte aus ihrer Nase. Er stürzte sich sofort auf sie, traf sie wiederholt mit der Faust und riß an ihren Haaren. Vergeblich suchte sie sich zu einer Kugel zusammenzurollen, um ihren Körper vor den Schlägen zu schützen, aber ihr Vater kniete neben ihr und hielt sie fest. Schluchzend versuchte sie wieder, sich zu befreien, und auch diesmal gelang es ihr. Als sie von ihm weg taumelte, hörte sie einen Schrei und sah einen hochgewachsenen Mann auf dem Felsen. Es war Magdah. Er hatte den Felseinschnitt passiert und nach Leta Ausschau gehalten. Und jetzt sah er sie im Kampf mit dem Fremden. Sein Gesicht rötete die Kampfeslust. Er ließ ein Bärenfell und die Axt fallen. Dann warf er einen Speer gegen den alten Mann, der sich eben wieder erhoben hatte. Aber die Entfernung war zu groß. Der Speer verfehlte sein Ziel und prallte hinter ihm auf einen Stein. Sofort warf Magdah den zweiten Speer, aber auch der traf nicht. Ohne weitere Zeit zu verlieren, schwang sich Magdah über den Rand des Felsens und begann den Abstieg. Leta konnte die Angst in den Augen ihres Vaters bemerken. Er fürchtete sich vor Magdah. Aber Magdah kam nur langsam vorwärts, da er kaum Halt für seine Füße fand. Und Letas Vater wollte die wertvolle Arbeitskraft nicht wieder verlieren, nachdem er das Mädchen jetzt gefunden und überwältigt hatte. Er kam rasch auf sie zu und versuchte sie hochzuheben. Sie 111
flüchtete, aber er folgte ihr, da er ja wußte, daß er keine Zeit verlieren durfte, wenn er entkommen wollte, bevor Magdah auf dem Boden angelangt war. Der Alte hatte sie fast erreicht, als sich Leta bückte und einen Speer ergriff. Als der Alte mit einem Satz auf sie zusprang, hielt sie ihm die Spitze der Waffe entgegen. Dicht über dem Herzen drang sie in seine Brust. Der Anprall riß Leta die Waffe aus der Hand. Der Alte fiel auf den Rücken und war sofort tot. Leta starrte einige Augenblicke auf ihn nieder. Magdah hatte alles beobachtet. „Leta, komm!“ rief er ihr zu. Sie aber schien ihn nicht zu hören. „Leta, herkommen!“ Sie richtete sich nicht auf. Magdah erschrak. Sollte der Angreifer sie so schwer verletzt haben? Aber sie hockte doch vor ihm. Leta konnte nicht tot sein, sonst wäre sie zu Boden gefallen. So schnell er konnte, kletterte Magdah des letzte Stück der Felswand herunter. Dann, als er leichtfüßig zu Boden sprang, hob Leta den Kopf. Er drehte sich um und rannte auf sie zu. Dicht vor ihr blieb er stehen und erblickte den Gefallenen. Sein Blick wanderte von Leta zu dem Speer und wieder zu ihr zurück. Das war der dritte Mensch, den sie getötet hatte. Er schüttelte leicht den Kopf, führte die Widerstrebende an den Fluß und wusch ihr das Blut aus dem Gesicht und vom Körper, während er ihr beruhigend zuredete. Ihr Körper zeigte zahlreiche Quetschungen, wo der Alte sie geschlagen hatte. Magdah streichelte sie mit zärtlichen Fingern. Dann fragte er, wer der Angreifer gewesen sei. Sie sagte es ihm. Sie sprach nur wenig und berichtete keine Einzelheiten. Sie sagte ihm nur, daß der Alte sie angegriffen und sie ihn abgewehrt hatte, bevor Magdah erschien. Es war vorbei. Wozu sollte man also noch weiter darüber reden? – 112
Dann kehrten Magdahs Gedanken wieder zu der Höhle zurück. „Warum Leta Garo verlassen? Eh?“ fragte er. „Garo will Leta toten“, antwortete sie. „Garo wild und wütend. Sagt seltsame Dinge und will Leta töten.“ Magdah nickte. Das hatte er selbst erlebt. Der arme Jäger hatte sich zu Leta genauso benommen wie zu ihm auch. Das war eine gute Entschuldigung für Letas Flucht. Selbst Magdah hatte sich der Angriffe des Jägers in diesem Zustand des Deliriums kaum erwehren können. Er führte Leta zu dem Felsen und ließ sie nach oben klettern. Da keine Nischen vorhanden waren, brauchte sie seine Hilfe, aber schließlich gelangten sie doch auf den Gipfel des Felsens. Magdah hatte die Speere mitgenommen. Er legte sie jetzt neben die Axt auf den Boden und nahm das Bärenfell, das er für Leta mitgebracht hatte. Sie hängte es um ihre Schultern. Dann sah sie ihm in die Augen. Sie blickten sich eine Weile an, dann zog Magdah sie in seine Arme und drückte sie zärtlich an sich. Stumm und regungslos standen sie minutenlang nebeneinander. Für einen Augenblick waren die Schrecken der zwei vergangenen Tage vergessen. Im Augenblick gab es nur noch sie beide in der ganzen Welt; ihre Herzen schlugen dicht beieinander … Magdah ließ seine Gefährtin los und nahm seine Waffen auf. Er machte sich auf den Weg stromabwärts, als Leta seinen Arm berührte. „Garo gesund?“ fragte sie. „Wir Garo helfen!“ sagte Magdah. „Helfen, solange krank!“ Leta fühlte, wie sie von Panik erfaßt wurde. Sie hörte wieder die Schmerzensschreie, die Garo ausgestoßen hatte, als sie ihn schlagen mußte. Diesen armen, verwundeten Jäger. Seine Schreie klangen noch immer in ihren Ohren. Schrille, durchdringende Schmerzensschreie. 113
Vielleicht starb er, weil sie ihn geschlagen hatte. Sie kauerte sich auf den Boden und vergrub ihr Gesicht im Gras. Magdah legte ihr eine weiche Hand auf die Schulter und sprach ihr zärtlich zu. Sie sollte nicht weinen, sich nicht aufregen. Sie beide mußten Garo helfen, solange er noch atmete. Leta mußte tapfer sein. Endlich hörte sie auf zu weinen und hob ihr tränenüberströmtes Gesicht Magdah entgegen. Sie faßte seinen Arm und bat: „Leta nie allein mit Garo?“ Er zögerte einen Augenblick, dann nickte er zustimmend. Sollte Garo noch am Leben sein, dann würde er sie nicht mit ihm allein lassen, solange er krank war. Aber Magdah glaubte nicht daran, daß Garo noch lebte. Sie wanderten auf der Grasfläche stromabwärts. Beide schwiegen, bis sie in die Nähe der Höhle kamen. Dann bedeutete ihr Magdah, ihm zu folgen. Sie kletterten über den Rand des Felsens hinunter. Als sie unten ankamen, wandte sich Magdah dem Fluß zu. Die ersten Schatten des Spätnachmittags hatten sich über das Wasser gesenkt. Die Hügel am anderen Ufer zeigten sich in ihrem purpurblauen Gewande, durch das nebelhaft die Bäume schimmerten. Einzelne Vögel kreisten in der Luft. Eine schimmernde weiße Wolke zog den Hügeln entgegen. Friede und Ruhe schienen auf Erden eingekehrt zu sein. Vorsichtig schlichen sich Magdah und Leta zu ihrer Höhle. Der Mann ging voraus. Leta kauerte sich am Felsen nieder und wartete. Plötzlich hörte sie einen lauten Freudenschrei. Sofort sprang sie auf und rannte zum Eingang der Höhle. Magdah kam ihr entgegen. „Garo nicht tot. – Garo lebt.“ Ungläubig und zögernd trat Leta näher. Zuerst konnte sie im Dunkel nichts erkennen. Dann sah sie den Jäger liegen. Scheu 114
glitten ihre Blicke zu dem verwundeten Bein. Fast wäre sie zurückgetaumelt. Was hatte Garo mit dem verwundeten Glied gemacht? Der Knochen war nicht mehr zu sehen. Dafür hatte Garo sich einen Speerschaft mit Fellstreifen um den Unterschenkel gebunden. Matt lächelte er ihr zu und bat sie, den Fungus zu erneuern. „Garo hat sich geholfen. Viel Schmerz. Vielleicht wieder gesund.“ Schon bei den letzten Worten fielen ihm vor Schwäche die Augen zu. Leta schaute Magdah mit glänzenden Augen an. Dann kniete sie rasch nieder und legte neuen Fungus auf die Wunde. Rings um die Verletzung war das Fleisch noch immer dick angeschwollen. Magdah wandte sich dem Ausgang zu. „Magdah brät Fleisch. Garo viel essen, wenn aufwacht. Eh, Leta?“ Die junge Frau lächelte ihm glücklich zu. „Garo essen, damit gesund“, nickte sie und wandte sich ihrem Schützling zu. * Das Bild auf dem Schirm verschwand. Der Lautsprecher schwieg. Professor Echert, der ganz in die Betrachtung versunken war, brauchte einige Augenblicke, um wieder in die Wirklichkeit zurückzufinden und sich von dieser anderen Welt zu lösen. Er fragte sich, was wohl weiter geschehen wäre, wenn er nicht abgeschaltet hätte. Was war noch im Unterbewußtsein der Versuchsperson vorgegangen? Echert hörte ein Geräusch hinter seinem Rücken, bemerkte eine Bewegung. Er drehte sich um – Entsetzen hatte ihn erfaßt, als er aufsprang und nach der Pistole griff, die er an der Hüfte trug. 115
Die Versuchsperson, Mister Joe Garolson, wegen Totschlags zum Tode verurteilt, war nicht mehr unter Narkose. Er war auch nicht mehr gefesselt. Mit der Kraft eines Steinzeitmenschen hatte er die Stahlbänder gesprengt. Jetzt ließ er seine schweren Beine zu Boden gleiten. Gebückt stand er einen Augenblick vor Echert, seine Hände reichten weit bis unter die Knie. Unter schrägen, buschigen Brauen glotzten dem Professor die schwarzen Augen entgegen – sie ähnelten den Augen gefangener Raubtiere. Echert betrachtete die Pupillen, die immer näher kamen. Dann fühlte er den Druck einer haarigen Hand, die sich um sein rechtes Handgelenk schloß und die Waffe aus seinen gefühllosen Fingern riß. Echert atmete erleichtert auf, als das Gesicht seines Assistenten hinter Garolson auftauchte. Zwei starke Arme packten zu. Der Verbrecher wandte sich um, einer gutgezielten Faust entgegen. Ohne einen Laut sackte Garolson in sich zusammen. Der Assistent rieb sich die schmerzende Rechte. „Sie sind verdammt leichtsinnig, Professor. Das hätten Sie nicht überlebt. Forschungsdrang in Ehren, aber wenn man …“ „Schon gut“, winkte Echert ab. „Bedanke mich für die Rettung. – So, ich glaube, wir machen uns gleich an den Bericht.“ Der junge Mann nickte, während er den bewußtlosen Sträfling auf das Laborbett wuchtete. „Wissen Sie, Herr Professor, es war doch leichtsinnig früher, die Sträflinge hinzurichten, ehe man ihr Unterbewußtsein untersuchte. Dieser Garolson zum Beispiel kann nach der Operation noch ein ganz vernünftiger Staatsbürger werden. Bei aller Primitivität ist er doch kein schlechter Mensch. Dafür haben wir ja zahlreiche Beweise auf dem Film.“ Echert lächelte. „Sie erinnern mich an die Menschen des 20. Jahrhunderts, mein Lieber. Die konnten sich auch nicht vorstel116
len, daß ein Mensch ohne Radio und Television auskommt. – Haben Sie wirklich schon vergessen, daß der Echert-Analysator heute zum erstenmal ausprobiert wurde?“ Der Assistent schaute seinen Vorgesetzten betroffen an. Dann brach er in ein schallendes Gelächter aus. „Tatsächlich, Herr Professor, das hätte ich beinahe vergessen. – Aber eins kann ich Ihnen sagen! Nach diesem Versuch wird kein Sträfling mehr hingerichtet werden, ehe man sein Unterbewußtsein und vor allem seine Erbanlagen, die ja in der unterbewußten Erinnerung schlummern, untersucht hat. Ich könnte mir sogar vorstellen, daß ‚Garo’, der Steinzeitmensch, ein Exempel wird. Man könnte diese Untersuchung sogar ‚Garolisierung’ nennen.“ „Sie sind ein Träumer“, winkte der Professor ab. „Wenn Sie mit Ihren Gedanken immer in die Zukunft dringen wollen, werden Sie nie ein exakter Wissenschaftler.“ Der junge Mann steckte die Zurechtweisung ein, ohne sich zu verteidigen. – Echert konnte nicht wissen, daß gerade dieser junge Träumer es eines Tages durchsetzen würde, daß jeder Verurteilte vor der Vollstreckung „garolisiert“ wurde. Schon fünfzig Jahre später hatte sich dieser Begriff tatsächlich durchgesetzt. Und Echerts Erfindung rettete viele vor dem Elektrischen Stuhl. * Vier Monate später lagen der Operationsbericht und der Beobachtungsbefund auf Echerts Schreibtisch. „… auf Grund von zahlreichen Versuchen mußte festgestellt werden, daß der Patient Joe Garolson bei allen Untersuchungen eine durchaus normale Reaktion zeigte. Die Befürchtung, daß Garolson zu weiteren Gewalttätigkeiten in der Lage wäre, besteht nicht mehr. Die Wissenschaftliche Untersuchungsstelle 117
‚A-208-X’ befürwortet daher die straffreie Entlassung des Patienten.“ Mit einem zufriedenen Lächeln schloß Echert den Aktendeckel. Einige Minuten blickte er noch auf den grünen Umschlag, dann griff seine schmale Greisenhand zum nächsten Hefter. •••••
Lesen Sie nächste Woche als UTOPIA-Zukunftsroman Nr. 162 über die Versuche eines genialen Geistes, der mit Hilfe einer selbst konstruierten Maschine die Gedanken materialisiert. Jimmy Guieu schrieb diesen erregenden Zukunftsroman unter dem Titel:
Ungeheuer aus dem Nichts •••••
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Two days of terror UTOPIA Zukunftsroman erscheint wöchentlich im Erich Pabel Verlag, Rastatt (Baden), Pabel-Haus (Mitglied des Remagener Kreises e V.) Einzelpreis DM 0,60. Anzeigenpreis laut Preisliste Nr. 7. Gesamtherstellung und Auslieferung: Druck- und Verlagshaus Erich Pabel, Rastatt (Baden). Alleinauslieferung für Österreich: Eduard Verbik, Salzburg, Gaswerkgasse 7 Nachdruck, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlegers gestattet. Gewerbsmäßiger Umtausch, Verleih oder Handel unter Ladenpreis vom Verleger untersagt. Zuwiderhandlungen verpflichten zu Schadenersatz. Für unverlangte Manuskriptsendungen wird keine Gewähr übernommen. Printed in Germany. Scan by Brrazo 01/2012
118