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Drabèks Glück oder: Wie der heldenhafte Kapitän Drabèk einmal ganz alleine vierzig blutrünstige Piraten besiegt...
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Drabèks Glück oder: Wie der heldenhafte Kapitän Drabèk einmal ganz alleine vierzig blutrünstige Piraten besiegte – nur mit einem Entermesser bewaffnet...
Eine Schattenherz-Kurzgeschichte
Drabèks Glück Eine Schattenherz-Kurzgeschichte von La Maga
Drabèks Glück, oder: Wie der heldenhafte Kapitän Drabèk einmal ganz alleine vierzig blutrünstige Eine Schattenherz-Kurzgeschichte
Piraten besiegte - nur mit einem Entermesser bewaffnet.
© La Maga, Eigenverlag Essen 2002
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Drabèks Glück Eine Schattenherz-Kurzgeschichte von La Maga
“Bist du sicher, dass du wirklich bist?“ (Merrit Althopian in “Spiegeltraum“)
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Vorbemerkung Die ersten Ideen zu einer Seeräubergeschichte hatte ich, als mein kleiner Neffe mit seinen Playmobil-Rittern durch war und begann, die Piratenserie in sein Spiel zu integrieren. Das funktionierte – zumindest in der Gedankenwelt eines Vierjährigen – mühelos. Warum sollten die Piraten nicht auch in den Schattenherz-Chroniken eine Bereicherung darstellen? In „Spiegeltraum“ hatte dann Drabèk seinen ersten Auftritt, ein parodistisch anmutender Pirat, der im Auftrag einer mysteriösen Auftraggeberin einen Magier verschleppen sollte. Drabèk hat sich sehr schnell verselbständigt und ein schon fast unheimliches Eigenleben entwickelt. Während einer sehr frühen Phase der Entstehung von „Spiegeltraum“ habe ich erfahren, dass es in den USA einen recht bekannten Baseballstar gibt, der mit Nachnamen tatsächlich Drabek heißt und für ein Team namens „Pirates“ spielte. Ein faszinierender Zufall und für mich ein Hinweis auf die besondere Vitalität, die sich hinter Drabèks Figur verbirgt. Der charmante Piratenkapitän ist außerdem in den Schattenherz-Chroniken ein ganz neuer Typ von Figur, frech, charismatisch und einem Abenteuer niemals abgeneigt... in keinerlei Hinsicht. Drabèk ist unwiderstehlich, und ich halte ihn für einen der interessantesten Charaktere, die in Librien und der Chroniken-Welt auftauchen. Drabèk und das System Librien boten unendlich viele Möglichkeiten, sich literarisch auszutoben. Hinter Librien steht ein ganzer Weltenentwurf – eine Realität, die nur in den Gedanken einer mächtigen Entität besteht, die sie dadurch abbildet, dass sie Geschichten darüber niederschreibt. Librien und die schreibende „Grosse Herrin“ sind eine Allegorie auf das Tun und Streben jedes Schriftstellers und Basis für Anspielungen und Zitate aus der Literatur und Schreibhandwerk, von denen es in „Bilderflut“ nur so wimmelt. Drabèk und seine Piratenkollegen sind Karikaturen, übersteigerte Variationen auf populäre und romantisch verklärte Romanfiguren. Aber gerade diese Parodie ist der Hintergrund für ihre persönliche Tragik. Sie wissen, dass sie im Grunde nichts anderes sind als geschriebene Worte, und ihr Streben nach der Wirklichkeit löst besondere Konflikte aus. „Drabèks Glück“ ist eine ergänzende Geschichte zu den „Librien“-Bänden „Spiegeltraum“ und „Bilderflut“. Sie erklärt, wie Drabèk und die Camès zueinander fanden, führt ein Stück tiefer in die librische Gedankenwelt aus Sicht der Figuren ein ... und erzählt endlich die mehrfach zitierte, legendäre Geschichte, wie Drabèk einmal vierzig blutrünstige Piraten besiegte ... nur mit einem Entermesser bewaffnet. La Maga
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I
n der Hafenspelunke „Matrosenfreude“ war alles wie immer. Es war eines der wenigen Szenarios, auf die man sich in Librien verlassen konnte. Wenn es etwas
gab, das einem unsteten Seemann in dieser Welt Halt bieten konnte, dann waren es die Pausen, die sich in der „Matrosenfreude“ einlegen ließen. Eine Auszeit
zwischen zwei Abenteuern und ein wenig Entspannung vor der nächsten großen Fahrt. Kapitän Drabèk wich einem tieffliegenden Rumbecher aus, indem er den Kopf ein wenig zur Seite neigte und streckte dann die Beine von sich. Das Gefäß verfehlte ihn um eine Handbreit und schlug einem Matrosen an den Hinterkopf, der am Tisch hinter ihm beim Kartenspiel saß. „He!“ Mit einem empörten Ausruf fuhr der Getroffene auf und sah sich nach dem Werfer um. Dann krempelte er seine Ärmel hoch und stapfte wutentbrannt los, um sich der Prügelei, die im entgegengesetzten Winkel der Taverne tobte, anzuschließen. „Ganz schön was los hier,“ sagte Drabèk zu dem Mädchen, das soeben an seinen Tisch trat und einen vollen Becher vor ihm abstellte. Sie lächelte, ohne ihn anzusehen. „Es ist noch früh am Tag, Kapitän. Die Männer sind noch nicht richtig in Schwung.“ Drabèk haschte nach ihr und zog sie auf seinen Schoß. Sie kicherte und ließ es sich widerspruchslos gefallen. Sie war dazu da, damit Männer sie anfassten. Der Kapitän versuchte, ihr in die Augen zu sehen. Ihr Blick war blau und ein wenig naiv, aber sie hatte ein so süßes Gesicht, und hinter der Maske ihrer schlichten Einfalt, die sie vor den Seeleuten zur Schau trug verbarg sich etwas, das ihn faszinierte. Etwas Tiefgründigeres. Mehr, als hinter dem bloßen Schein ihrer Rolle steckte. „Nun, meine Süße,“ flüsterte er ihr halblaut ins Ohr, „ich glaube, den nötigen Schwung habe ich schon jetzt. Oder soll ich heute Abend wiederkommen?“ „Nein,“ sagte sie augenblicklich, und nun sah sie ihm direkt ins Gesicht. „Heute Abend sind zu viele von denen da. Da werde ich keine Zeit haben.“ Er versuchte, etwas in ihrer Miene zu deuten, aber das war aussichtslos. Die Mädchen ließen sich nicht durchschauen, weil es in ihnen nichts zu durchschauen gab. So hatte die Herrin es gewollt, und so würde es immer aussehen. Er fasste sie um die Taille und drückte sie an sich. „Magst du mein Schiff sehen?“, fragte er leise. „Magst du mit mir kommen?“ Sie starrte ihn einen Augenblick lang verwirrt an. „Ich kann doch hier nicht weg,“ entgegnete sie dann perplex. „Ich bezahle gut dafür,“ antwortete er. „Das soll nicht deine Sorge sein.“ Sie blinzelte mit ihren großen und kindlich blickenden Augen. Sie war so unschuldig und niedlich, dass Drabèk ganz eng ums Herz wurde. Sie war ein Mädchen, das
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nicht hierher gehörte. Keine der Camès sollte hier sein. Das hier, der Spelunke, die gierigen Männer ringsum, das war... so würdelos. Aber hatten sie Würde? Begriffen sie, wozu sie sie hierher gebracht hatte? „Oh ja,“ sagte sie dann. „Das wäre so schön...“ Drabèk drückte ihr einen Kuss auf die Wange und schob sie dann von seinem Schoss hinunter. „Warte hier,“ wies er sie an und ging zur Theke hinüber, wo die Wirtin, eine hässliche, schlampige und abstoßend dicke Frau die Szene schon seit einiger Zeit beobachtet hatte. „Wie viel?“, fragte er sachlich. Die Wirtin polierte ihre Zinnbecher. Das tat sie immer. Drabèk hatte schon mehrfach den Frevel begangen, sich zu fragen, wie viele Becher es in dieser Spelunke eigentlich geben musste, dass ihre Reinigung die einzige Tätigkeit der Frau darstellte. Nein, das stimmte nicht. Sie war nicht nur damit beschäftigt, Becher zu polieren und ihre kleinen Augen, die in den Fleischmassen ihres Gesichtes saßen und denen gar nichts entging, über das übliche Treiben aus Saufgelagen und Handgemengen schweifen zu lassen, das in der Kneipe niemals verebbte. Sie beaufsichtigte gleichzeitig mit unerbittlichem Blick die Mädchen, die hier für sie tätig waren und den Hauptanziehungspunkt für die Seeleute darstellten. Die die Existenz der Spelunke sicherten, indem sie sich den Piraten verkauften. „Wie viel?,“ wiederholte er seine Frage, als sie ihm nicht sofort antwortete, sondern ihn von Kopf bis Fuß mit ihrem abschätzenden Blick taxierte. Vermutlich versuchte sie herauszufinden, welchen Preis sie nennen konnte, ohne ihn zu vergraulen. „Gute Prise gekapert?“, fragte sie knapp. „Handelskogge,“ antwortete er ebenso einsilbig. „Gewürze. Gold. Feine Stoffe.“ Sie musterte ihn unter halb geschlossenen Lidern. Er bemühte sich um eine ausdruckslose Miene. „Drei Goldstücke, sagte sie dann, und in ihren verfetteten Augen blitzte die Gier. „Das ist ein Missverständnis,“ gab er schroff zurück. „Ich will die Camè nicht kaufen.“ „Drei Goldstücke,“ wiederholte sie. „Das ist sie dir doch wert, nicht wahr? Kannst dir eine aussuchen.“ Drabèk seufzte, andererseits verspürte er keine Lust, mit der Wirtin um das Mädchen zu feilschen. Er wäre der Alten in jedem Fall unterlegen, so wollten es die Spielregeln, die es hier in Librien zu befolgen galt. Sie war die geldgierige, verschlagene und unsympathische Herrin dieses Szenarios, und er war ihr Gast und hatte sich nach ihren Anweisungen zu richten. Der Kapitän kramte in seinen Manteltaschen und förderte schließlich die gewünschten Münzen zu Tage. Es war ebenso Gesetz von Librien, dass er im Regelfalle über ausreichende Mittel verfügte, um sich so bescheidene Wünsche wie
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den nach der exklusiven Gesellschaft einer Camè erfüllen zu können. Drabèk war ein erfolgreicher Pirat, dem selten ein Beutezug misslang. Er legte die Münzen auf den Tresen und sah zu, wie die Wirtin das blitzblanke Gold einstrich und in ihrer Schürze verschwinden ließ. „Bedien dich,“ forderte sie ihn auf. „Aber sobald es dunkel wird, bringst du sie wieder zurück. Kann mir nicht leisten, wenn die Mädchen faulenzen.“ Drabèk bedachte sie mit einem geringschätzigen Blick und wandte sich dann ab, ging zurück an seinen Tisch, wobei er beiläufig dem Pulk ineinander verkeilter Matrosen auswich, die sich indes eine Massenschlägerei lieferten. Dass dabei ringsum Mobiliar zu Bruch ging, ignorierten die nicht in die Prügelei eingeplanten Librier geflissentlich, blickten nur uninteressiert auf, als einer der Piraten sich am Deckenleuchter vorbeischwang, ein Messer zwischen den Zähnen. Drabèk langweilten diese Kneipenschlägereien, und er nahm so gut wie nie an einer teil. Das war etwas für niedere Statisten, für gewöhnliche Matrosen. So ein Pirat war er nicht. Inmitten des Chaos aus fliegenden Fäusten und zuschellendem Geschirr saß an einem Ecktisch ein alter Seemann mit einer Kapitänsmütze, Augenklappe, Holzbein und einem zerrupften Papagei auf der Schulter, der eingedöst zu sein schien. Der alte Seebär studierte konzentriert ein Stück Papier und kratzte sich den Bart. Seine Umgebung nahm der Alte offensichtlich kaum wahr. Drabèk betrachtete den alten Mann einen Moment unverwandt und lächelte dann erfreut. Mit einem beinahe an Ehrfurcht grenzenden Gefühl näherte er sich dem Invaliden. „Käpt’n Loig?“, fragte er leise. „Villemel Loig?“ Der Alte blickte überrascht auf. „Was willst du?,“ polterte er dann misstrauisch mit lauter Stimme, die er kaum modulieren konnte. Drabèk konnte nicht widerstehen, einen neugierigen Blick auf das Papier zu werfen. Es handelte sich um eine primitive Schatzkarte, die im Wesentlichen aus der naiven Zeichnung einer Insel mit einer einzelnen Palme bestand, unter die ein großes Kreuz gemalt war. Der alte Seemann raffte die Karte an sich und musterte Drabèk mit düsterer Miene. „Kannst dir die Kommentare sparen,“ knarrzte er ungehalten. „Grünschnabel.“ Drabèk schüttelte den Kopf. „Nein, ich will dir deine Geschichte nicht verderben. Ich will dich nicht verspotten.“ Käpt’n Loig runzelte die Stirn. „Was willste dann von mir?“ Drabèk ließ die Schultern hängen. Er hatte nicht mit soviel Ablehnung gerechnet. Aber konnte man dem alten Kapitän seine Ruppigkeit übel nehmen? Drabèk wusste, dass der alte Mann mit den Schatzkarten unter den meisten Piraten Libriens als ein figürlich gewordener Witz galt, als eine Allegorie von Misserfolg und Klischee.
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Trotzdem bewunderte Drabèk den Seebären und hätte es ihm gerne gesagt. Seine Abenteuer waren aufrichtig und auf ihre Weise spannend gewesen... früher. „Nichts,“ sagte Drabèk stattdessen und wandte sich enttäuscht ab. Wortlos ließ er Loig sitzen und schlenderte, im Slalom um zu Boden gegangene und sich nach wie vor prügelnde Kneipengäste herum, wieder zurück an den Tisch, wo er die Camè hatte sitzen lassen. Das Mädchen wartete immer noch und blickte ihm gespannt aus ihren großen unschuldigen Augen entgegen. Drabèk ließ sich neben ihr nieder und setzte sein charmantestes Lächeln auf. Irgend etwas irritierte ihn an dem Mädchen, aber er wusste nicht sofort zu entscheiden, was es war. „Wollen wir gehen?,“ fragte er sie und trank nun einen Schluck von seinem Rum, aus dem wohl einzigen Becher in der ganzen Spelunke, der von der Schlägerei verschont geblieben war. „Sehr gerne, mein süßer Kapitän,“ gurrte sie und reckte sich vor. „Ich kann es kaum erwarten, dein ... Schiff zu besichtigen.“ Drabèk stellte den Becher ab. Jetzt wusste er, was ihn störte. „Warst du nicht vorhin noch blond?“, fragte er irritiert. „Ist das nicht egal?,“ forschte die Camè unbeeindruckt und strich sich aufreizend langsam seidiges, braunes Haar aus der Stirn. „Die Blonde musste mit einem Kunden weg. Sofort.“ Egal? Nun, das war es in der Tat. Eine Camè war wie die andere, ihre Geschichten glichen sich bis in kleinste Details hinein. Es war wirklich völlig gleichgültig, ob er diese hier mitnahm oder eine andere. Es war total unerheblich für die Geschichte. „Oder stehst du nur auf Blondinen?,“ fragte sie, und sie hörte sich gekränkt dabei an. „Du hast wunderschönes Haar,“ entgegnete er ernst. Die Camè ließ die Arme sinken und warf ihm einen perplexen Blick zu. „Wie bitte?“ „Hat dir das noch nie jemand gesagt?“ Er trank und versuchte, sich jedes Detail ihres Äußeren einzuprägen. Das war schwierig, denn sie glichen einander alle wie ein Ei dem anderen. Man verwechselte sie ständig. „Nein,“ gab sie zu. „Den anderen fallen höchstens Bemerkungen zu anderen meiner Vorzüge ein.“ Sie lächelte scheu. „Und lange nicht so etwas Nettes.“ Drabèk trank den letzten Zug Rum aus seinem Becher und setzte ihn dann auf die Tischplatte. „Komm,“ sagte er zu der Camè und erhob sich. „Gehen wir hinüber zum Schiff.“ Sie stand gehorsam auf und verharrte einen Moment lang unschlüssig. Offensichtlich wusste sie nicht so recht, wie sie sich verhalten sollte. Es kam sehr, sehr selten vor, dass einer der Seefahrer eine wie sie aus der Spelunke heraus führen wollte. In den meisten Fällen führte der Weg schnurstracks in die schäbigen
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Hinterzimmer oder hinauf in die Kämmerchen, in denen die Camès ihrem tristen Broterwerb nachgingen. Drabèk erlöste sie aus ihrer Unsicherheit, indem er ihr seinen Arm um die Taille und seine Hand besitzergreifend auf ihrem hübschen Po legte und sie durch das Gewühl von sich prügelnden Piraten und durch die Luft wirbelndem Mobiliar, von Lärm und dem Geruch von Tabaksqualm und Alkohol hinaus dirigierte, hinaus aus der Trostlosigkeit ihrer eigenen kleinen Geschichte hinein in die Strassen von Bel’e Tristika, die so pittoresk und wunderbar waren, dass es an Kitsch grenzte. Die Herrin hatte eine Schwäche für Kitsch. Und in diesem Kitsch ließ es sich aushalten. *
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ranìs Drabèk war ein junger Kapitän, und er war ein junger Kapitän gewesen, solange er denken konnte. Er hatte keine Vorstellung von Zeit, vom Kommen und Gehen der Jahreszeiten, von Alter und Veränderung, denn all diese Dinge
kamen und geschahen eben grade so, wie die Herrin sie für ihre Geschichten benötigte. Er hatte gelernt, Stürme mit Schnee und Eisbergen hinzunehmen, auf die Minuten später tropische Hitze und Taifune folgten. Es war ihm gleich, und er kam mit alldem zurecht. Die Herrin hatte es gut mit ihm gemeint, als sie ihm eine Geschichte gegeben hatte. Drabèk hatte das Glück, ein Pirat von anziehendem Äußeren geworden zu sein, ein Umstand, auf den er angesichts der vielen hässlichen und wild aussehenden Piraten ringsum recht stolz war. Sie hatte davon abgesehen, ihn mit einem Holzbein oder einer Augenklappe auszustatten, im Gegenteil, Drabèk war als ein großer schlanker Mann von eleganter Statur und ausgezeichneter Kondition gestaltet. Charmant und für einen Piraten bemerkenswert gebildet hatte sie ihn erdacht und ihm ein Charisma gegeben, das jedes Mädchen betörte, das auch nur in seine Nähe kam. Die anderen Piraten respektierten Drabèk, denn er war ein ausgezeichneter Seefahrer, wagemutig und geschickt sowohl mit dem Schiff als auch mit dem Säbel. Aber dennoch hatte er nicht nur Freunde unter den Piraten von Bel’e Tristika. Denn viele waren neidisch, neidisch auf seine erfolgreichen Beutezüge und neidisch auf den Erfolg, den er in seiner Existenz genoss. Das schloss auch die Mädchen ein. Drabèk lachte über die Anfeindungen, die er zwischen den Zeilen wahrnahm. Und er genoss seine Rolle als Schwarm aller Damen, die seinen Weg kreuzten. Das war angenehm, selbst für einen Piratenkapitän wie ihn. Denn einsam war er oft, wenn er mit der Schwarzen Galeone auf den Siebenundzwanzig Meeren kreuzte. Ganz allein. *
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rabèk schlenderte die Hafenpromenade von Bel’e Tristika entlang, vorbei an Grüppchen von Fischern in geringelten Hemden, die ihre Netze flickten, vorbei an Hafenarbeitern, die nach einem undurchschaubaren System
Kisten und Fässer von einem Schiff auf das nächste schafften und vorbei an den am Kai liegenden prächtigen Großseglern, auf denen Kapitäne ihre Mannschaft anbrüllten oder hier und dort wehmütig der Klang eines Shanty erklang. Hier draußen, im grellen Tageslicht, inmitten der kunterbunten Hafenszene, wirkte die Camè an seiner Seite ganz anders als in der Spelunke, Sie war schön, wahrhaftig schön, aber sie wirkte traurig und gramerfüllt, während sie die Blicke umherschweifen ließ und offenbar begierig war, jedes Detail ihrer Umgebung in sich aufzusaugen. Er konzentrierte sich auf den Schwung ihrer Hüfte unter seiner Hand und betrachtete verträumt, wie die Sonne auf ihrem glänzenden Haar spielte. Würde die Wirtin es wohl bemerken, wenn er sie nicht wie abgesprochen am Abend zurück in die Spelunke brachte? Würde es irgend jemandem auffallen, wenn er die Camè mit auf sein Schiff nahm und sie entführte, auf eine schöne Insel, auf der immer die Sonne schien und es süße Früchte und weiße Sandstrände gab? Natürlich. Der Herrin würde es auffallen, wenn er versuchte, sich aus der Geschichte zu stehlen. Er konnte es nicht, konnte nicht einfach nach seinem eigenen Kopf die sich im Grunde immer gleichenden Bahnen seiner Abenteuer verlassen. Eine leidenschaftliche Liebesszene, das war in Ordnung. Dafür waren die Camès da. Aber mehr konnte und durfte aus seinen Empfindungen für die austauschbaren Freudenmädchen nicht werden. Nicht in dieser Geschichte. Drabèk spazierte mit dem Mädchen den Kai entlang und versuchte, sich eine interessante Bemerkung auszudenken, um ein Gespräch mit ihr zu beginnen. Aber worüber sollte man sich schon groß mit einer Camè unterhalten? Sie schaute ehrfürchtig zu den hohen Bordwänden der großen Segelschiffe auf, eine Welt, deren Teil sie indirekt war und den man ihr nur sehr selten zu sehen erlaubte. Drabèk fand das schade und entschloss sich, zu schweigen und sich an dem verlockenden Gefühl der Vorfreude zu erfreuen, das ihre Schritte unter seiner Hand auslösten. Diese Camè war süß und sie würden bestimmt ein paar sehr erfüllende Stunden miteinander verbringen. „Schaut mal,“ höhnte plötzlich unvermittelt von irgendwo her eine hämische Stimme durch die allgemeine Geräuschkulisse, „der Weiberheld hat eine Camè abgeschleppt!“ „He, Schönling!,“ schloss sich eine zweite Stimme an, „was ist los mit dir? Sind dir die willigen Mädchen ausgegangen?“ „Das war doch abzusehen, Lekal,“ spottete der Erste. „Umsonst macht es ihm doch keine mehr, dem Schlappschwanz!“
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Drabèk schaute sich ungehalten nach der Quelle des Spottes um. An der Reling der großen, klotzigen Galeone, an der er gerade mit seiner Begleitung vorbeiging, lehnten zwei verrufen aussehende Piraten und glotzten auf ihn herab. Der eine war ziemlich kurz geraten, machte den Mangel an Körpergröße aber durch übereifrig gemeines Gehabe wett. Der andere hatte ein Gesicht, dass mehr aus Narben als aus glatter Haut zu bestehen schien. Er trug den Namen Rasiermesser-Ejo, aufgrund seines Rufes als hervorragender und unfairer Messerstecher. Absurderweise verfügte er allerdings nur über mangelhaftes Geschick bei seiner eigenen Rasur. Drabèk ärgerte sich. Die beiden Piraten gehörten zur Besatzung der Kaper-Prise, des Schiffes des berüchtigten Kapitän Balck. Balck galt in ganz Librien als Schurke schlechthin und war einer der wenigen Gegner, vor denen Drabèk Respekt hatte. Und auch ein wenig Angst. „Und ihr?,“ rief er reizbar zu den Kaper-Prise-Piraten hinauf. „Was macht ihr an Bord? Hat Balck, dieser fiese Haifisch, euch den Landgang gestrichen?“ „He!“ Lekal tat entrüstet. „Wenn der Käpt’n erfährt, wie du von ihm redest, kannst du dich auf was gefasst machen.“ „Ja,“ bestätigte Ejo. „In kleinen Portionen wird er dich den Haifischen vorwerfen!“ Drabèk lachte herablassend, packte die Camè fester und drängte sie energisch, weiter zu gehen. „Ist wohl nicht mehr weit her mit dir, du Schönling,“ lästerte Lekal hinter ihm her. „Musst die Mäuschen jetzt schon im Verborgenen vernaschen!“ „He, Zuckerbienchen!,“ rief Ejo mit anzüglichem Unterton. „Komm danach doch einfach bei uns vorbei! Wir zeigen dir dann, wie es richtig geht!“ Die beiden Piraten lachten meckernd. Drabèk biss sich auf die Lippen und versuchte, die anzüglichen Bemerkungen zu ignorieren, nicht, weil sie ihn verletzt hätten, sondern weil er sich in Gegenwart der Camè nicht die Blöße geben wollte, die Beherrschung zu verlieren. Aus der Höhe der Kaper-Prise fühlten die beiden Piraten sich unangreifbar. Hätte sich die selbe Szene unten auf der Promenade abgespielt, hätte Drabèk die Sache mit einem kurzen Säbelgefecht für sich entschieden. Die Camè hatte den Wortwechsel schweigend angehört. Nun löste sie sich energisch aus Drabèks Griff und drehte sich zu den beiden Piraten um. Mit einer ziemlich ordinären Geste zeigte sie den beiden, was sie von ihnen hielt. Lekal und Ejo verschlug es die Sprache. Zumindest fiel ihnen nicht sofort eine Bemerkung dazu ein. Camè hakte sich bei dem verblüfften Drabèk ein und zog ihn von der Kaper-Prise weg. Der Pirat war ebenso konsterniert wie die beiden Spötter. Erst, als sie außer Hörweite waren, hatte er sich so weit gefasst, wieder ein Wort an sie zu richten. „Das war ziemlich... frech,“ sagte er lahm.
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„Na und? Die Kerle glauben wohl, sich alles herausnehmen zu können.“ „Aber wird das keinen Ärger geben, wenn du ihnen das nächste Mal... bei der Arbeit begegnest?“ Sie lächelte bitter. „Ach was. Sie können eine nicht von der anderen unterscheiden. Keiner von euch kann das. Und sie können nicht wagen, auf gut Glück jede einzelne zu verhauen. Da würden sie bei der Wirtin recht schnell Hausverbot bekommen .“ Drabèk wusste nicht so recht, ob er über die Logik der Camè beruhigt oder erschüttert sein sollte. Aber das Mädchen schien den Zwischenfall schon längst abgetan zu haben. Andererseits drängte es ihn, jegliches Missverständnis auszuräumen. „Was die zwei da angedeutet ,“ sagte er leise, „das entbehrt natürlich jeglicher Grundlage. Ich bin einer der besten Verführer, die je in Librien in einer Geschichte vorgekommen sind.“ „Du bist mein Kunde,“ sagte sie sachlich, aber in ihrem Blick lag etwas anderes, etwas wie eine scheue Sehnsucht, die ihn berührte. „Was du draus machst, ist deine Sache. Ich tue alles, was dir gefällt, Süßer.“ Sie schwiegen sich einen Augenblick lang an. „Meine Galeone liegt dort ganz hinten am Kai,“ brach Drabèk die Stille. „Warum stehen wir dann noch hier herum? Du sollst ja auch etwas bekommen für dein Geld.“ Drabèk seufzte lautlos. Es war so deprimierend, Liebe zu kaufen. Und es war noch deprimierender, dass sie welche feilbot. *
D
anach saß Drabèk am Tisch in seiner Kajüte und betrachtete sie nachdenklich. Sie hatte sich in den Kissen zusammengerollt und atmete sacht. Drabèk konnte sich schwer vorstellen, dass sie eingeschlafen war.
Natürlich, sie musste erschöpft und müde sein nach den berauschenden Stunden voller Leidenschaft und unbändiger Lust, die sie miteinander verbracht hatten. Aber
dass eine Camè im Bett eines Kunden einschlief, das war bizarr. Und putzig war auch die Art, wie sie dort lag, sich in sein weiches Bett kuschelte und vollkommen entspannt erschien. Wie ein schlafendes Kätzchen sah sie aus. Er stützte das Kinn auf die Hände und schaute sie verträumt an, wie ihre weiße Haut auf dem Leinen des Bettzeuges schimmerte, wie das Licht der Abendsonne durch das kleine Kabinenfenster fiel und auf ihrem glänzenden Haar spielte. Sie war so schön, so süß und wunderbar... und durfte nicht länger bleiben, wenn die Herrin nicht aufmerksam werden sollte. „Camè,“ rief er sie leise an. Sie regte sich und öffnete die Augen. Sie hatte also tatsächlich nicht geschlafen.
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„Ich will nicht zurück,“ sagte sie. „Es ist deine Geschichte,“ antwortete er zögernd. Sie setzte sich auf und warf ihm einen forschenden Blick zu. „Wo wirst du morgen sein?,“ fragte sie. „Wo immer die Herrin ein Abenteuer für mich hat.“ „Ich,“ entgegnete sie verbittert, „ich werde immer in der Spelunke sein.“ Er stand auf, ging zu ihr hinüber und setzte sich auf die Bettkante. Zärtlich streichelte er sie über die Wange. Sie schmiegte ihr Gesicht gegen seine Hand. „Bitte,“ wisperte sie, „noch ein paar Goldstücke... nur nicht so schnell zurück...“ „Du weißt, dass wir nicht anders können,“ bedauerte er. „Das würde sie nie erlauben.“ „Aber gefalle ich dir denn nicht?“ Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf und bot ihm verführerisch ausgestreckt ihre schönen Brüste dar. Ihr linkes Bein, lang und schlank, legte sie keck über seinen Oberschenkel. Drabèk lächelte und streichelte mit den Fingerspitzen ihr Schienbein. „Es bringt nichts, wenn wir es aufschieben. Es würde nur noch schwerer.“ „Warum hast du mich überhaupt mitgenommen?,“ fragte sie anklagend. „Warum hast du mich nicht im Hinterzimmer genommen wie alle anderen auch?“ „Hat es dir denn nicht gefallen?,“ fragte er sanft. „Hier, in meiner Geschichte?“ Sie setzte sich wieder auf. „Du bist so anders,“ wisperte sie. „Du bist ganz anders als die anderen Männer.“ „Ich bin ein Piratenkapitän wie alle anderen auch,“ widersprach er. „Nein, das bist du nicht, Franìs Drabèk. Mit dir...“ Sie zögerte und suchte eine Weile nach Worten. „Mit dir hat es Spaß gemacht,“ gestand sie dann. Er schmunzelte, aber die Belustigung verflog augenblicklich. „Du auch,“ sagte er dann. „Du bist nicht wie die anderen Camès.“ Die Camès, die in den meisten seiner Abenteuer vorkamen, waren einfältige, willige und ständig kichernde Wesen, die nicht sehr viel mehr taten und zu nichts anderem fähig waren, als den Seeleuten eine rasche, oberflächliche Befriedigung zu verschaffen. Das waren Statistencamès, die ihn niemals so berührt hatten wie diese hier. Denn in ihrer Gestalt war etwas anderes... etwas Tragisches. „Nimm mich mit,“ bettelte sie. „Entführe mich. Setz die Segel und bring mich weg aus Bel’e Tristika.“ „Das funktioniert nicht,“ bedauerte er. „Ich muss allein bleiben auf diesem Schiff. Und du musst zurück in die Kneipe. Piraten entführen keine Camès. Das wäre keine richtige Geschichte.“ Die Camè seufzte. Er legte die Arme um sie und drückte sie an sich. „Ich weiß, wo du sein wirst,“ raunte er ihr in ihr Ohr. „Und ich will dir etwas schenken.“
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Sie horchte neugierig auf. „Etwas schenken? Aber ich habe noch nie ein Geschenk bekommen!“ „Dann wird es höchste Zeit.“ Er beugte sich vor und zog unter der Koje eine kleine Schatulle hervor. Sie beobachtete gespannt, wie er sie öffnete. „Oh,“ machte sie dann bewundernd, „all der schöne Schmuck...“ Er lächelte und kramte in den Juwelen herum, die er vor einiger Zeit bei einem Beutezug von einer Handelskogge geraubt hatte. Ein reicher Händler war mitsamt seiner Gattin an Bord gewesen. Drabèk hatte auf seine Galeone geschafft, was an Wertgegenständen an Bord gewesen war. Den Großteil der Ware und ihre Leben hatte er den Seeleuten gelassen. Drabèk hatte nie ein Schiff versenkt oder einen Gefangenen misshandelt und getötet. Seine Fama in Librien war vielschichtig: er raubte und enterte, was er bekommen konnte, aber er verschonte seine Opfer. Damen schwärmten von dem charmanten Piraten, die Männer sprachen mit großem Respekt von ihm, wenn sie ihn auch für einen Galgenvogel hielten. Und die anderen Piraten... die meisten hielten Drabèk schlicht für ein bisschen verrückt. Vor den Augen der Camè zog er eine große, mit Edelsteinsplittern verzierte Spange aus Perlmutt hervor. Das Freudenmädchen wagte kaum, das kostbare Schmuckstück anzufassen, das aus der Schale einer Auster gefertigt und bestimmt von unschätzbarem Wert war. „Los,“ forderte er sie auf. „Steck sie dir ins Haar.“ „Aber,“ wagte die Camè, einzuwenden, „so etwas Wunderschönes... so etwas darf ich nicht besitzen.“ „Sie gehört dir,“ beharrte Drabèk. „Und ich möchte, das du sie trägst wenn, und nur dann wenn ich in der Spelunke bin. Verstehst du mich?“ Sie zögerte. Dann befestigte sie die Spange mit zitternden Fingern in ihrer dichten braunen Mähne. Drabèk lächelte. „Sie steht dir ausgezeichnet,“ versicherte er. Die Camè zögerte. Dann umarmte sie ihn und küsste ihn. Auf den Mund. Sehnsüchtig und leidenschaftlich. „Komm,“ wisperte sie und schmiegte sich an ihr. „Noch einmal. Und nur für dich...“ *
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rabèk bedauerte im Nachhinein, dass er die Camè in die schmuddelige Taverne hatte zurückbringen müssen, aber er machte sich keine Illusionen. So hatte es sein müssen, und er konnte nichts dagegen tun. Oh, natürlich
entführten Piraten gelegentlich vorzugsweise schöne junge Frauen, um ein ansehnliches Lösegeld für sie einzustreichen. Schurkische Piraten taten es manchmal auch aus weitaus niedrigeren Beweggründen.
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Drabèks Glück Eine Schattenherz-Kurzgeschichte von La Maga
Aber dass ein Pirat auf die Idee kommen könnte, eines der ungezählten, unwichtigen und austauschbaren Freudenmädchen zu entführen, wäre lächerlich und weit hergeholt gewesen. Drabèk wanderte allein zur Galeone zurück und überlegte, aus welcher Laune heraus er Lust gehabt hatte, das Mädchen mit an Bord zu nehmen. Er glaubte sich zu erinnern, dass es sich einfach um einen spontanen, aus aufgestauter Gier geborenen Einfall gehandelt hatte, die vage Vorstellung eines gewissen Etwas, sich das Mädchen nicht wie üblich im Hinterzimmer der Spelunke zu nehmen, sondern es in seiner eigenen Koje zu tun. Wo er das Sagen über das Szenario hatte. Wo sie ihn manchmal nicht beobachtete, Aber er ahnte, dass er sich selbst damit belog, denn in Wirklichkeit steckte etwas ganz anderes hinter seinem Verlangen. Etwas eigenes, etwas, das nur für ihn war, nicht etwas, wobei er einfach warten musste, bis er an der Reihe war... Drabèk schaute zum Mond auf, der voll und weiß am Himmel stand und das Meer vor Bel’e Tristika in einen unwirklichen blauen Schimmer tauchte. In den Parks der vornehmen Villen mochten nun romantisch gestimmte Liebespärchen eng umschlungen lustwandeln und eine andere Geschichte verfolgen als er. Ganz im Hintersten seines Herzens wünschte Drabèk sich nichts sehnlicher als das. Echte Liebe. So gefühlsduselig und schwülstig sich diese auch in den Geschichten der Herrin ausnehmen mochte. Doch was scherten die Herrin wohl seine Gefühle? Liebe hatte sie für seine Abenteuer nicht vorgesehen. Für Drabèk gab es nur Lust, Leidenschaft und willige Mädchen an jeder Straßenecke. Jede konnte und musste er haben, weil es so in seiner Geschichte stand, weil er, Franìs Drabèk einem amourösen Abenteuer, einer schnellen Befriedigung seiner immer schwelenden Wollust nicht entsagen durfte. Aber eigentlich war es nicht das, was er suchte. Drabèk wanderte den Kai entlang und war so sehr in Gedanken versunken, dass er die dunklen Gestalten, die ihn im Schatten der Segler verfolgten, erst bemerkte, als ihn ein kräftiger Hieb mit einem stumpfen Gegenstand in den Rücken traf. Drabèk keuchte überrascht auf. Das hatte weh getan, ihn aber nicht ernsthaft verletzt. Er stolperte einen Schritt vorwärts und wirbelte dabei herum, hatte seinen blanken Säbel in der Hand und schaute sich nach dem Angreifer um. Zu dritt standen sie nun auf der Promenade, waren zwischen den Stapeln von Kisten und Paletten hervor gekommen und zögerten nun unschlüssig, als sie die Waffe sahen. Lekal hatte einen kurzen Holzprügel in der Hand und wirkte etwas verwirrt. „Ich hab dir doch gesagt, lass mich das machen,“ zischte Ejo ihm zu. „Du bist zu klein, um Leute niederzuschlagen. „Aber ich wollte das doch immer schon mal machen,“ maulte Lekal.
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Der dritte Pirat, von dem Drabèk nur die Silhouette erkennen konnte, war viel größer als der normal gewachsene Ejo und hatte die Statur eines kapitalen Bären. „Kann dich doch hochheben,“ bot er Lekal gutmütig an. „Dann bist du groß genug!“ „Schnauze, Bubu,“ wies Ejo den Riesen an, und zog ein Messer unter seinem Gürtel hervor. Drabèk seufzte. „Leute, ich bin müde,“ sagte er gelangweilt. „Und wie das hier ausgeht, wisst ihr doch schon. Im Freien bin ich mit dem Säbel im Vorteil gegen dein Messer, Ejo, mit dem Zahnstocher kann dein kleiner Gefährte mir gar nichts. Und du, Bubu, nimm es mir nicht übel... du würdest auf die kleinste Finte hereinfallen und in den Kisten oder im Hafenbecken landen, je nachdem, was der Herrin gefällt und einen Lacher bringt. Wir können uns die Prügelei sparen.“ „Feigling,“ zischte Ejo. „Feiger eitler Geck...“ „Is’ gut, Ejo,“ mischte sich eine vierte Stimme ein, und ein weiterer Pirat trat zwischen den Kisten hervor, ein breitschultriger Mann, dessen Gesicht von einem wilden schwarzen Vollbart regelrecht überwuchert wurde. Beiläufig zog er seinerseits einen Säbel. „Mach’ es schon selber.“ Drabèk hob erstaunt die Brauen und packte seine Waffe unwillkürlich fester. „Käpt’n Balck?,“ fragte er überrascht. „Käpt’n Balck persönlich?“ Der andere Piratenkapitän baute sich breitbeinig vor Drabèk auf. „Hab’ gehört, hältst mich für’n Haifisch...“, knurrte der andere Kapitän heiser und sehr leise, kaum, dass seine Stimme das Geplätscher der Wellen gegen die Hafenmauer übertönt hätte. „Genaugenommen sprach ich von einem fiesen Haifisch,“ korrigierte Drabèk und fragte sich im selben Moment, ob er lebensmüde war oder ob die Herrin gerade leibhaftig in den Lauf der Geschichte eingriff und ihm Worte in den Mund legte. Kapitän Balck runzelte verärgert die Stirn. In seiner Miene braute sich etwas zusammen, das auf nicht unbeträchtliche Aggression schließen ließ. „Rattenkerl,“ grollte er. Drabèk lächelte nervös und schaute sich unauffällig nach einem Fluchtweg um. Wenn es zu einem Kampf mit Kapitän Balck, dem gemeinsten und schurkischsten aller Piraten der siebenundzwanzig Meere Libriens kam, ließ sich der Verlauf der Dinge nicht abschätzen. Im Regelfall ging natürlich er, Drabèk, der Held aus einem Duell als Sieger hervor, aber konnte man wissen, ob die Herrin nicht auch dem Widersacher einmal einen Triumph gönnen wollte? Drabèk hatte seine eigenen Ansichten über das richtige Verhalten in einer solchen Situation. Und die Anwesenheit des Schurken mit drei wenn auch etwas unterbelichteten Helfern sah für seinen Geschmack zu sehr nach einer Falle aus. Es ist, weil ich die Camè aus ihrem Szenario geholt habe, nicht wahr?, dachte Drabèk seufzend. Ich hätte das nicht machen sollen, stimmt es?
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„Mag’s nicht, „ grollte Balck. „Hast mich beleidigt.“ „Nimm es nicht persönlich, Balck,“ redete Drabèk sich heraus und wich ein paar Schritte gegen einen Kistenstapel zurück, als der größere und muskulösere Kapitän auf ihn zuging. Ein netzeflickender Fischer, der im Dunklen gesessen hatte und an seinem Fangnetz knotete, blickte flüchtig auf, raffte seine Sachen zusammen und ging einige Schritte weiter, setzte sich in sicherem Abstand zu den Piraten auf eine Taurolle und flickte weiter. „Rattenkerl,“ zischte Balck erneut. „Eitler Wicht!“ „Du wiederholst dich,“ antwortete Drabèk fahrig. Balck runzelte die Stirn und holte mit dem Säbel aus. „Auf ihn, Käpt’n,“ hörte Drabèk den kleinen Lekal begeistert seinen Kommandanten anfeuern, während er Hieb um Hieb parierte und der nächtliche Hafen vom Geklirr des Metalls wiederhallte. Bubu schloss sich an, er klatschte freundlich in die Hände und beobachtete mit großen leuchtenden Augen, wie Balck auf Drabèk eindrang und die Klinge durch die Luft wirbelte. Es schien ein Standardduell zu werden. Balck kämpfte so routiniert, wie er es immer tat. Die Herrin hatte ihn als einen konzentriert und effektiv fechtenden Haudegen erdacht, der mit sehr viel Kraft und Aggressivität vorging. Drabèk selbst war ein anderer Typ von Kämpfer, reagierte auf Balcks brutale Attacken mit Eleganz, Vorausschau und Erfindungsgabe. Wenn Drabèk an einen kräftemäßig überlegenen Gegner geriet, konterte er mit Geschick und Listenreichtum. Aber diesmal war die Situation anders als gewohnt. Wo es Drabèk in anderen Situationen schon längst gelungen wäre, Balck zu entwaffnen, musste er sich zu seiner größten Verblüffung mit sehr viel mehr Aufwand zur Wehr setzen. Balck war tatsächlich ziemlich wütend. Aber konnte er wirklich ob einer kleinen respektlosen Bemerkung so in Rage geraten? War das die Sache wirklich wert, dass sie sich hier zu nachtschlafender Zeit ein spektakuläres Gefecht lieferten? Außerdem nervten Bubu, Lekal und Ejo ganz gewaltig mit ihren übereifrigen Beifallskundgebungen. Oder nein... das Kriecherische hörte Drabèk eigentlich nur in Lekals Jubel. Bubu freute sich aufrichtig über den unverhofften Erfolg seines Kapitäns. Und Ejo... nun, er klang eher pflichtschuldig als enthusiastisch. Wie auch immer... Drabèk war dazu übergegangen, in bester Piratenmanier seine nähere Umgebung in seine Kampfaktionen einzubeziehen, so, wie es von ihm verlangt wurde. Um Balck und seinen wütenden Streichen auszuweichen, sich selbst in eine günstigere Position zu bringen, hätte Drabèk irgend etwas wie einen Deckenleuchter oder wenigstens ein Stück Takelage gebraucht. Was ihm zur Verfügung stand, war der Kistenstapel.
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Flink und wider alle Vernunft erklomm Drabèk die Kisten. Flucht nach oben... ein Standard. Ein ziemlich dummer Standard, der dennoch in den meisten Fällen Erfolg versprach. Balck musste seine Taktik verändern, denn aus seiner erhöhten Position zielte Drabèk nun mit dem Säbel anders als zuvor, mit ziemlich unbequemen Überhandstreichen versuchte der Piratenkapitän, die flinke Klinge des jüngeren Helden abzuwehren. Gleichzeitig ergab sich für Drabèk das Problem, dass seine Beine ziemlich ungeschützt in Reichweite des Kontrahenten gekommen waren. Balck erkannte das und zielte mehrfach auf seine Schenkel. Mit ein paar Schritten war Drabèk ganz oben auf dem Kistenstapel und erkannte im selben Moment, dass er von dort aus nicht weiter kam. Balck hatte ihn in eine Sackgasse gejagt, und von dort gab es kein Ausweichen mehr. Balck ließ den Säbel sinken, als er den frechen Kapitän nicht mehr erreichen konnte. „Ratte!,“ schnauzte er hinauf. „Feigling! Verkriechst dich!“ Drabèk balancierte ratlos auf der Spitze des Kistenstapels und sah sich im mondbeschienenen Hafen um. Unten näherten sich Lekal, Ejo und Bubu. Bubu streckte die Hand nach Drabèk aus, konnte den jungen Kapitän jedoch nicht berühren. Aber so hektisch Drabèk auch umher blickte, es befanden sich keine Takelageseile oder sonstige brauchbare Requisiten in seiner Nähe. Weit außerhalb jeglicher Sprungweite ragte die Bordwand einer Galeone auf, und hinter ihm, weit unten, gluckerte Wasser. „Balck,“ rief Drabèk zu dem großen, stattlichen Kapitän hinab, „lass es einfach gut sein, ja? Es ist schon spät, und diese Prügelei hat überhaupt keinen Sinn.“ „Mag’s nicht,“ raunzte Balck, „von oben angequatscht zu werden, Rattenkerl!“ Drabèk steckte den Säbel ein. Im Augenblick war die Waffe ihm zu gar nichts nütze. Der Kapitän ärgerte sich. Da saß er nun oben auf dem Kistenstapel fest wie ein unerfahrenes Schiffskätzchen auf der Mastspitze, und unten standen seine Gegner und hatten alle Zeit der Welt um zu warten, bis er sich ergab. Theoretisch konnten sie ihn hier oben aushungern lassen. Drabèk ärgerte sich über die Nachlässigkeit der Herrin, kein rettendes Tau in die Geschichte einzubauen, mit dem er sich auf die Galeone hätte herüberschwingen können. Es war auch nicht möglich, ohne Werkzeug eine der Kisten zu öffnen, um zu schauen, ob irgendwelche als Wurfmunition geeigneten Dinge darin sein mochten. „Runterkommen, Rattenkerl!,“ bellte Balck. „Komm du doch rauf,“ gab Drabèk genervt zurück. Der netzeflickende Fischer schaute kurz von seinen Maschen auf, schüttelte dann tadelnd den Kopf und knüpfte weiter. „So kommst du nicht weiter, Käpt’n,“ sagte Lekal ratlos. Balck runzelte die Stirn.
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„Bubu!,“ befahl er dann knapp. „Runterholen, den Kerl!“ „Mach ich, Käpt’n,“ freute Bubu sich und rieb sich erwartungsvoll die Hände. Über sein breites, dummes und kindlich naives Gesicht strahlte er. „Hol ihn dir runter, den Kapitän...“ Drabèk zögerte verwirrt. Wollte dieser Kleiderschrank von einem Mann tatsächlich diesen wackeligen Turm hinaufklettern? „Aber das ist doch albern, Balck! Wir...“ Weiter kam Drabèk nicht mehr. Bubu nahm Anlauf und rannte mit voller Wucht gegen den Kistenstapel. Der Halt brach unter Drabèks Füßen weg, die Kisten schwankten, und Drabèk blieb gerade noch genug Zeit, sich in Richtung des Beckens abzufedern und mit einem Satz in Richtung Galeone zu springen. Der Sturz in das faulig riechende Hafenwasser war nicht so schlimm. Drabèk war schon aus ganz anderen Höhen ins Wasser gesprungen, und ein guter Schwimmer war er ohnehin. Aber der Kiste, die neben ihm in die Fluten platschte und ihn dabei heftig am Kopf streifte, konnte er nicht mehr ausweichen. Das letzte, was er noch hörte, war Bubus Juchzen und Kapitän Balcks zufriedenes Gelächter. Dann wurde es sehr, sehr dunkel. *
D
as Wasser war sehr viel wärmer, als er es vermutet hatte, und außerdem duftete es nach Rosen. Drabèk stöhnte und schlug die Augen auf. Sanftes, goldenes Licht
schimmerte durch ein angenehmes Halbdunkel. Irgendwo in der Nähe tönte gedämpft wilde Musik und schrilles Gelächter. Geschirr klirrte. „Du Ärmster,“ sagte Camè und benetzte seine Stirn mit einem feuchten Tuch. „Das wird eine schlimme Schramme geben...“ Mit einem Schlag war er hellwach. Perplex starrte er das Mädchen an. Camè lächelte verführerisch. Sie trug ein Gewand aus ziemlich wenig zartem Stoff, das der Dampf des Badewassers fest auf ihre Rundungen geheftet hatte. Ihr dunkelbraunes Haar trug sie offen. „Wie komme ich hierher?,“ fragte Drabèk verwirrt und versuchte, sich zu erheben. Aber sie drückte ihn an den Schultern zurück in den Badezuber und begann mit kundigen Händen, seinen Nacken zu massieren. „Ein Fischer hat dich rausgezogen, bevor du ertrinken konntest,“ sagte die brünette Camè. „Er hatte zum Glück ein großes Netz dabei.“ „Und wie komme ich her?,“ erkundigte er sich und blinzelte umher. Sie hatte Kerzen rund um den Badezuber aufgestellt, und warmes Wasser mit viel Schaum umspielte
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ihn. Ein Luxusbad, mit Rosenöl, ein schwüler, angenehmer Geruch. „Und wer hat das hier arrangiert?“ Sie kicherte. Drabèk fand, dass sie eine sehr anmutige Art hatte, zu kichern. Ihre schlanke Hand verließ für einen Moment seine Schultern und begann, das Haar auf seiner Brust zu kraulen. „Ich,“ sagte sie leichthin. „Das Hafenwasser ist ziemlich dreckig. Du hast gestunken wie eine Kanalratte. Ich mag keine stinkenden Kerle. Sauberkeit muss sein. Sonst holt man sich doch nur eklige Krankheiten.“ Er fragte sich einen Moment, auf was für eine Art von Krankheit sie anspielen mochte und wieso sie an so etwas dachte. „Ich kann das doch nicht annehmen,“ zierte er sich. „Aber warum denn nicht? Du bezahlst doch dafür. Entspann dich. Lass es dir gut gehen. Ich stehe zu deiner uneingeschränkten Verfügung.“ Sie lachte anmutig, glitt seitlich neben dem Zuber auf die Knie und pustete eine Schaumflocke von ihren Fingern in sein Gesicht. Irgendwo zerbrach Porzellan, und eine Stimme keifte. „Warum machst du das?,“ fragte er fasziniert und konnte seine Augen nicht von ihr wenden. Sie war wunderschön. Er fragte sich, wieso die Herrin so viel Schönheit an die Spelunke verschwendet hatte. Dieses Mädchen gehörte nicht in ein Freudenhaus, sie gehörte in einen Königspalast. Sie lächelte, und für einen Moment sah sie traurig aus dabei. „Balck wollte dich umbringen,“ sagte sie leise. „Das glaube ich nicht,“ antwortete Drabèk. „Er würde seinen besten Gegner dabei verlieren. Die Tracht Prügel reichte ihm schon aus.“ Sie schenkte ihm einen verblüfften Blick und neigte sich zu ihm hinüber. Er konnte einen aufschlussreichen Blick in ihr Dekolletee werfen. „Du musst vorsichtiger sein, Süßer,“ sagte sie sachlich. „Die Piraten sind nervös. Irgend etwas tut sich.“ „Immer tut sich etwas,“ stimmte er zu. „Immer das selbe. Nur Wiederholungen von alten Motiven.“ Sie warf ihm einen skeptischen Blick zu, beugte sich dann über den Zuber, um von einem Bänkchen auf der anderen Seite eine Bürste zu nehmen. Drabèk lehnte sich zurück und bemühte sich, dem verlockenden Anblick ihrer vollen Brüste standzuhalten. Er war insgeheim dankbar dafür, dass der Schaum auf dem Wasser verbarg, was in diesem Augenblick darunter geschah. Immerhin hatte er sich nicht selbst in diese Situation gebracht, und das machte ihn verlegen. Aber warum gönnte die Herrin ihm diese Episode? War es das schlechte Gewissen wegen des fehlenden Seiles, das ihm diesen peinlichen Abgang beschert hatte? „Wieso hat mich der Fischer hierher gebracht?,“ fragte er, um sich abzulenken.
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„Hat er nicht,“ antwortete die Camè schlicht. „Er hat dich nur aus dem Wasser gezogen. Mehr ging ihn nicht an. Ich habe dich draußen gefunden.“ Er blinzelte vollends verwirrt, während sie begann, seine Haut mit Seife und Bürste zu bearbeiten. Sie tat das äußerst gefühlvoll. Drabèk schloss wohlig die Augen und streckte sich aus. Das war schön, das warme Wasser, der angenehme Duft, dieses entzückende Mädchen... und irgendwo oberhalb des Baderaumes hallte der Lärm aus der Spelunke hinab. Dort prügelten sie sich, spielten und betrogen, schmiedeten finstere Pläne, raunzten sich an, lachten miteinander und hantierten mit Eisen und Gold. Dort oben waren sie versammelt, die Piraten der Großen Herrin, jeder einzelne von ihnen mit einer Geschichte, in der er auf ewig gefangen sein würde. „Ich war einen Moment vor die Tür gegangen,“ sagte sie und ließ die Finger durch den Seifenschaum gleiten. „Die Wirtin sieht das nicht gerne, aber ab und zu müssen sogar wir einmal Luft holen und einen Blick auf das werfen, was vor der Tür geschieht. Und als ich also da stand und mir die Sterne anguckte, hörte ich den Lärm am Hafen. Ihr Männer seid immer so furchtbar laut und wild...“ Sie unterbrach sich. Drabèk schaute ihr tief in die Augen, versuchte, darin etwas zu finden, das sie von den übrigen Camès, den Namenlosen, austauschbaren unterschied. Da war irgend etwas, aber er konnte sich nicht festlegen, was es sein mochte. „Nun, ich war neugierig und ging nachschauen. Aber als ich auf dem Dock ankam, war schon alles vorbei, und der Fischer hatte dich aus dem Wasser gezogen. Er war ziemlich ratlos, was weiter mit dir geschehen sollte.“ „Mir wäre schon nichts geschehen,“ behauptete er großspurig und kam sich dabei lächerlich vor. „Ich bin eine Hauptfigur, ein Held. Helden ersaufen nicht im Hafenbecken.“ „Du warst bewusstlos,“ beharrte sie. „Und selbst, wenn du nicht ertrunken wärst, wie leicht hättest du zwischen die Mauer und den Rumpf eines Schiffes geraten können? Auch Helden finden manchmal ein tragisches Ende, Süßer.“ Drabèk seufzte, widersprach ihr aber nicht. Er hatte sich daran gewöhnt, dass er zu jener unverwüstlichen Protagonistensorte gehörte, die grundsätzlich im letzten Moment einen rettenden Ausweg aus aussichtslosen Situationen fand. Und wenn die Herrin tatsächlich einmal die Entscheidung traf, ihn aus der Großen Geschichte herauszuschreiben, dann würde das eine dramatische und sehr heldenhafte Abgangsszene werden. Kein Unfall im Hafenbecken von Bel’e Tristika. „Auf jeden Fall,“ fuhr die Camè fort und ihre Hand glitt beiläufig unter Wasser, „habe ich ihm das Problem gelöst und ihm gesagt, er solle dich hierher bringen. Und weil du so schmutzig warst von der Brühe, habe ich beschlossen, dich sauber zu machen.“ Drabèk krallte die Finger um den Rand des Badezubers und wand sich unruhig. „Ich glaube,“ stammelte er verschämt, „an jener Stelle bin ich sauber genug...“
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Sie kicherte. Es war nicht dieses enervierende, dümmliche und billige CamèKichern, das gelegentlich schrill sogar in die gedämpfte Ruhe des Baderaumes drang. Sie kicherte mit einer überlegenen Belustigung, die ihm Angst machte und erregte. „So schüchtern, Süßer? Da hat man mir aber ganz andere Dinge von dir erzählt...“ „Warum tust du das?“, fragte er und seufzte wonnetrunken. „Ich nahm an, dir gefällt das...“ „Nein, ich meine... warum hast du mich herbringen lassen? Wieso bereitest du mir solche... Freuden?“ Sie hielt inne und richtete sich auf. Nun suchten auf ihre Blicke etwas in seinen Augen. Drabèk konnte sich nicht daraus befreien, sie hatte ihn fest ergriffen und versuchte, hinter die Worte zu schauen, die ihm Gestalt und Charakter gaben. „Warum fragst du das, Franìs Drabèk? Musst du wirklich fragen, um es zu begreifen?“ Er war sich nicht sicher, ob er sie richtig verstand. Er wusste nur, dass er sie begehrte. Der Kapitän streckte seine Hand nach ihrer Wange aus und streichelte sie. Sie griff danach und küsste dann sacht seine Finger. „Bitte,“ wisperte sie, und für einen kurzen Moment war sie nicht Camè, eines der Freudenmädchen aus einer billigen Hafenspelunke, sondern etwas Älteres, Kostbares und unglaublich Schönes. Es war eine blitzartige Erkenntnis, wie jene in dem Moment, als er die Hellbraune geküsst hatte. „Bitte... erinnere dich an mich.“ Das war eine seltsame Bitte, aber er begriff. Wortlos griff er nach ihren Hüften und zog sie zu sich in den Badezuber, mitsamt ihrem ohnehin bereits klatschnassen Gewändern. Sie kreischte überrascht auf, ließ es aber ohne Protest geschehen. Dann presste sie ihren Körper an seinen. „Camè,“ flüsterte er in ihr Ohr, „süße Camè...“ Sie seufzte zaghaft. „Ich will mich erinnern,“ beteuerte er, „aber es gibt so viele von euch...“ Sie lehnte sich an seinen Hals und schwieg. „Ich bin im Preis inbegriffen,“ sagte sie dann sachlich. „Aber die Nacht ist kurz.“ Er lächelte und strich ihr nasse Strähnen ihrer dunklen Haare aus dem Gesicht. „Ich habe reiche Beute gemacht,“ wisperte er. „Ich muss nicht sparen.“ *
S
ie blieben beieinander und liebten sich, bis das kostbare Badewasser erkaltet war. Sie bemerkten es kaum, so gefangen waren sie in einer wilden, leidenschaftlichen Ekstase. Drabèk berauschte sich an dem Mädchen, und
sie schien Gefallen an ihm zu finden. Der Kapitän wusste, dass die Frauen ihn
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unwiderstehlich fanden, das stand so in seiner Geschichte und hatte so zu sein. Früher oder später landete er mit unausweichlicher Konsequenz mit allen in Frage kommenden weiblichen Charakteren, die ihm in seinen Abenteuern begegneten, in irgendeinem Bett oder zur Not auch in anderen dunklen Winkeln. Drabèk fragte sich manchmal, ob die Herrin ein voyeuristisches Vergnügen an seiner Person hatte, wieso sie es so übertrieb mit den erotischen Episoden in seinen Geschichten. Natürlich, er war ein Piratenkapitän, der auf einem Schiff hauste. Piraten lebten oft monatelang enthaltsam auf See und hatten als Ausgleich in jedem Hafen eine große Auswahl an Geliebten. Aber eine Gefährtin... nein, das war nichts für eine Figur wie ihn. Er gehörte genau hierher, in die Arme käuflicher Camès. Gelegentlich war Drabèk ziemlich deprimiert darüber, so angenehm die Gesellschaft der Frauen auch war. Sein Beieinander mit der brünetten Camè wurde brutal von der Wirtin beendet, die plötzlich unverhofft in der Tür stand und ihn unfreundlich darauf aufmerksam machte, dass er das Arrangement nur für drei Stunden bestellt habe und nun unverzüglich den Baderaum zu räumen habe. Die Camè huschte aus dem Zuber und raffte ein fleckiges Handtuch an sich. Durch die Tür fiel Licht in die Stube, überstrahlte die schummerigen Kerzen und ließ Drabèk erkennen, in was für einem schmuddeligen Raum er sich befand. Der Putz an den Wänden war stockfleckig, und die Einrichtung wirkte versifft. Seine Gewänder, zwischenzeitlich etwas getrocknet, lagen abseits auf einem wackeligen Stuhl. Wortlos erhob Drabèk sich aus dem Bad und ging hinüber, um das geforderte Geld aus seiner Börse zu kramen. Befremdet stellte er fest, dass sie nur wenige Goldstücke enthielt, wahrscheinlich gerade genug, um die Wirtin zu entlohnen. Hatte man ihn bestohlen? Aber warum hatte man ihm nicht den ganzen Beutel genommen? „Sieben Goldstücke“, nannte die Vettel ihren Preis. Dazu reichte seine Barschaft noch aus. Drabèk seufzte und zählte mit nassen Fingern die blitzblanken Münzen ab, während die Camè sich in eine Zimmerecke zurückgezogen hatte und sich rasch trocknete. „Du verdienst ganz gut an mir,“ sagte er und zuckte zusammen, als er aufblickte und feststellen musste, dass die fette, schlampige Alte ihn mit unverhohlenem Interesse anglotzte. Errötend haschte er nach seinen Hosen, schlüpfte hinein und legte seinen Gürtel an. Der lüsterne Blick der Wirtin irritierte ihn. „Hast es doch selbst so bestellt,“ wunderte sich die Alte kopfschüttelnd. Die Camè warf ihm einen flehenden Blick zu. Nein... sie hatte ihm kein Geld gestohlen. Die Münzen mussten einfach... verschwunden sein, bis auf das Allernötigste. Und... ja, es war noch da...
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„Ich bin zufrieden mit deinen Mädchen,“ murmelte Drabèk nachdenklich. Die Alte gab ein hässliches Lachen von sich und wandte sich dann ab. „Los, Camè,“ rief sie ruppig nach dem Mädchen. „Oben wartet neue Kundschaft!“ Die Brünette zog den Kopf ein und nickte ergeben. Dann warf sie Drabèk einen bedauernden Blick zu und wollte sich ohne ein weiteres Wort abwenden. „Camè,“ wisperte er leise. Sie schaute zu ihm hinüber und fing dann geistesgegenwärtig etwas auf, das er ihr zuwarf. „Ich werde mich an dich erinnern,“ sagte Drabèk ruhig. „Das verspreche ich dir.“ Sie lächelte scheu, blickte glücklich auf das, was sie in der Hand hielt und beeilte sich dann, der Vettel, die vom Treppenabsatz aus schon ungeduldig nach ihr keifte, nachzulaufen. Drabèk schlüpfte in Hemd und Mantel, die tatsächlich übel rochen und den Rosenduft wieder übertönten. Die Stiefel waren noch so nass, dass er sich entschloss, barfuss zum Schiff zu gehen. Er erinnerte sich nicht genau, wann er das kostbare Medaillon irgend einer reichen Passagierin eines gekaperten Schiffes vom Hals gerissen hatte, wahrscheinlich begleitet von charmanter Rede, mit der er seine Piratenrolle entschuldigte. Achtlos hatte er es in seiner Börse mit sich herumgetragen. Aber er würde sich an dieses Medaillon erinnern, sobald er es am Hals einer Camè in einer dreckigen Hafenspelunke sah. *
I
n den nächsten Tagen hielt Drabèk sich von der „Matrosenfreude“ fern. Es hatte sich schnell im ganzen Hafen herumgesprochen, dass er innerhalb weniger als einen Tages zehn Goldstücke für die Dienste der Camès ausgegeben hatte, und
das hatte zum einen widerliche Anzüglichkeiten seitens spöttischer Piraten zur Folge gehabt, zum anderen hatten fremde Camès, die ihn auch nur von Weitem zu Gesicht bekamen, ihn mit sehr gierigen Blicken gemustert. Blicken, die nicht zu einer Camè passten und die ihm missfielen. Auf der Schwarzen Galeone gab es genug zu tun, wenn Drabèk auch überhaupt keine Ahnung davon hatte, was er da eigentlich machte. Den größten Teil des Tages kletterte er in der Takelage des Schiffes umher und tauschte Seilwerk aus, blätterte zerstreut in Seekarten und nahm alle seine Messgeräte auseinander und baute sie wieder zusammen. Nachts lag er in seinem Alkoven und übte sich in Keuschheit – eine der größten Herausforderungen, der er sich nur stellen konnte. Der Spott der anderen Seeleute ließ nach, die höhnenden Stimmen, die zunächst über Drabèks Verschwendungssucht und dann über seine plötzliche Sparsamkeit lästerten, ließen nach.
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In einer blauen Mondnacht lag Drabèk wach und schaute melancholisch auf das schimmernde Licht, das durch das große Heckfenster der Galeone fiel. Es beleuchtete auch das Bild einer barbusigen Nixe an der Wand, auf das der Kapitän lustlos seine Phantasien konzentrierte und im Stillen seufzte. Er dachte an die Camè mit der Haarspange und jene mit dem Medaillon, und der Gedanke, dass die beiden Süßen sich gerade in diesem Augenblick in den Armen irgend eines angetrunkenen Leichtmatrosen befinden mochten, versetzte ihm eifersüchtige Stiche ins Herz. Er versuchte sich einzureden, dass sie dabei an ihn denken mochten, aber ein wirklicher Trost war das nicht. Drabèk hob den Kopf, als von draußen, vom Kai, ein sonderbares Geräusch ertönte. Es war wie der Auftakt eines schrillen Kreischens, das jedoch abbrach, noch bevor es laut werden konnte. Drabèk runzelte misstrauisch die Stirn und erhob sich. An Deck angekommen, blickte er über die Reling zur Promenade hinüber. Dort saßen ein paar Fischer im Mondschein beieinander und flickten Netze. In den Kneipen wurde gelacht und getanzt, und offenbar waren auch mehrere Prügeleien in Gang. Alles schien in bester Ordnung zu sein. Wieder ein Geräusch, ein erstickter Laut, so als schriee jemand gegen Watte an. „He!,“ rief Drabèk zu den Fischern hinüber, „was geht da vor?“ Einer der Netzeflicker blickte knapp auf. Vielleicht war es jener, der ihn aus dem Hafenbecken gefischt hatte, vielleicht auch ein anderer. Auf jeden Fall blickte er zu dem Kapitän hoch und deutete dann schweigend ein Stück kaiaufwärts, dort, wo die Kaper-Prise wie ein bedrohlicher schwarzer Klotz auf dem muffigen Wasser dümpelte. Drabèk kniff die Augen zusammen und schaute hin. Ja, dort hinten bewegte sich etwas. Etwas, das ihm nicht gefiel. „Dieser miese Kerl,“ knirschte der Kapitän und war im nächsten Moment bei der Planke, die ihm als Steg von und auf das Schiff diente. Mit der Kraft des Zornes wuchtete er das schmale, federnde Brett von Bord. Es bog sich unter seinen Schritten durch, als er wie ein Geschoss an Land hastete und zur Kaper-Prise hinüber rannte. Obwohl Drabèk sich keine Mühe machte, sich leise zu verhalten, schien Rasiermesser-Ejo ihn nicht zu bemerken. Jedenfalls ließ er sich nicht bei dem stören, was er gerade tat. Dass die Camè nicht freiwillig dabei mitmachte, war deutlich zu erkennen. Das Mädchen hatte sich in Ejos Hand verbissen, mit der er ihr brutal den Mund verschloss und kratzte und trat nach ihm. Ejo hatte gewisse Probleme, sie gleichzeitig zum Schweigen zu bringen, festzuhalten, sich gegen ihre rabiate Verteidigung zu wehren und dabei noch seine Hose zu öffnen.
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Drabèks Glück Eine Schattenherz-Kurzgeschichte von La Maga
Drabèk baute sich hinter ihm auf, wartete noch eine Anstandssekunde – der in Bedrängnis geratenen Dame immer erst in letzter Sekunde zur Hilfe kommen, das war Spielregel – verlor dann aber doch die Geduld, packte den Piraten fest beim Kragen und riss ihn heftig von Camè weg. Ejo gab einen verblüfften Laut von sich und fuhr herum. Drabèk versetzte ihm einen gezielten Fausthieb, der ihn ohne viel Aufhebens ins Reich der Träume schickte. Mit einem abgrundtiefen Ächzen ging Ejo zu Boden und rührte sich vorerst nicht mehr. Camè schaute verdutzt zu ihrem Retter auf. Drabèk lächelte verlegen und rieb sich die Hand. „Alles in Ordnung, Kleines?“, erkundigte er sich dann lässig. Sie schwieg beeindruckt. „Danke,“ brachte sie endlich hervor und erhob sich. Ihr freizügiges Kleid war verrutscht, zerrissen und derangiert. Sie zeigte Drabèk so mehr von sich, als sie es wohl beabsichtigt hätte. Und was er sah, gefiel ihm. Sie war blond und hatte das selbe hübsche Gesicht wie ihre Kameradinnen in der „Matrosenfreude“. „Was ist passiert?,“ fragte er und bot ihr seine Hand an, um aufzustehen. „Der da,“ sagte sie und deutete anklagend auf den mattgesetzten Ejo, „der hat mich reingelegt. Sagte, er sollte seinem Käpt’n ein Mädchen holen. Hat die Wirtin natürlich erlaubt, weil die Kapitäne immer gut bezahlen. Aber dann hat er selbst seine schmutzigen Pfoten an mich gelegt, der Dreckskerl!“ Drabèk verstand. Offenbar konnte Ejo sich von seiner Heuer, so er überhaupt eine bekam, keine Camè leisten und hatte daher zur Selbstbedienung gegriffen. „Diese Burschen haben wirklich kein Benehmen,“ stimmte Drabèk dem Mädchen höflich zu. „Käpt’n Balck hat eine furchtbare Moral bei sich an Bord.“ „Davon verstehe ich nichts,“ antwortete die Camè ratlos. „Die Frage ist, wer mir jetzt den Arbeitsausfall bezahlt. In der Zeit, in der ich mit ihm hergekommen bin, hätte ich drei andere bedienen können. Drabèk machte ein entsetztes Gesicht. Wie weit war es nur mit diesen Mädchen gekommen, dass sie selbst in einer solchen Situation an ihr wunderliches Geschäft dachten? Dass sie gar keine anderen Gedanken haben durften? Die Camè lachte mädchenhaft und zupfte ihr Kleid zurecht. „Das ist wichtig, Süßer. Das gehört alles zu meiner Rolle.“ „Wie viel hättest du denn von Balck bekommen?,“ fragte Drabèk lahm und dachte an die Schatzkiste, die er im Laderaum der Galeone hortete, um sie bei der nächsten Gelegenheit auf einer einsamen Insel zu verbuddeln – niemand wusste so genau, warum alle Piraten das taten. Die Blondine errötete.
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„Fünfzehn Goldstücke für die ganze Nacht,“ sagte sie dann. „Aber dafür hätte er auch alles bekommen. Wirklich alles,“ betonte sie vielsagend. Drabèk warf einen angewiderten Blick auf Ejo, der sich regte und langsam wieder zu sich zu kommen schien. Eine Camè zu betrügen war in seinen Augen verwerflicher als eine Meuterei anzuzetteln. So etwas gehörte sich einfach nicht. „Ich gebe dir zwanzig,“ bot er ihr an. „Und ich will nur das, was dir selbst gefällt.“ Die Blondine maß ihn von Kopf bis Fuß und Drabèk fragte sich, ob sie bereit sein würde, mit einem Verrückten mitzugehen. „Weißt du was, Käpt’n Drabèk?,“ sagte sie dann sanft. „Du bist viel zu gut für diese schrecklichen Geschichten.. Du bist ein edler Held in einer Welt, die viel zu trivial für dich ist.“ „Möglich. Aber wenn wir noch lange zögern, ist gleich die gesamte Mannschaft der Kaper-Prise hier versammelt.“ Sie hakte sich wortlos bei ihm unter und dirigierte ihn zu seinem eigenen, namenlosen Schiff hinüber. Woher sie wissen mochte, welche der Galeonen die seine war, erfuhr er nie, mutmaßte aber, dass Statistinnen wie die Camès über eine Art kollektives Gedächtnis verfügen mussten. Oder über sehr scharfe Instinkte. *
D
ie Gesellschaft der Camè tat ihm nach der tagelangen Enthaltsamkeit gut. Vielleicht ging er ein wenig stürmisch mit ihr um, aber das schien ihr zu gefallen. Sie begegnete ihm mit echten Emotionen, und nichts erinnerte an
die Fadheit der Camès, die er bislang im klischeehaften Szenarien kennen gelernt hatte (oder sie gelegentlich auch nur achtlos benutzt hatte wie alle anderen es auch taten. Aber das war gewesen, bevor diese tiefsinnigen Gedanken sich seiner bemächtigt hatten, die womöglich nur moralische Fußnoten darstellte). Manche Piraten hatten echte Geliebte. Er konnte jede beliebige haben, aber keine für mehr als eine Nacht. Das schmerzte, und er dachte darüber nach, ob das gerecht war oder einfach nur schlecht konzipiert. Danach lag sie an ihn gekuschelt da und erinnerte ihn auf bizarre Weise an die Hellbraune, die ihn angefleht hatte, sie zu entführen und in eine neue Geschichte zu bringen. Sie waren sich so ähnlich, dass man sie verwechseln musste. Die Blondine blinzelte ihn aus großen, traurigen Augen an und streichelte seine Brust. „Kapitän,“ raunte sie, „du hast es doch auch begriffen, nicht wahr?“ „Was soll ich begriffen haben?“ Er küsste sie auf die nackte Schulter und dachte bedauernd daran, dass seine zwanzig Goldstücke sie ihm nicht mehr lange erhalten konnten.
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Als hätte sie geahnt, dass er über Geld nachdachte, sagte sie: „Hast du nicht bemerkt, wie verkommen und schmutzig die Spelunke bleibt, obwohl die Piraten mit vollen Händen ihr Gold ausgeben? Die Wirtin ist steinreich, mein süßer Kapitän, aber sie gibt kein Geld aus. Sie putzt den ganzen Tag ihre Becher und plagt uns Camès. Wohin verschwindet das Geld, Drabèk? Warum hat es nach dem Bezahlen keine Bedeutung mehr und ist fort aus der Geschichte? Warum ist alles in Librien so... unsinnig und leer?“ Drabèk setzte sich verblüfft auf. „Das sind sehr tiefsinnige Beobachtungen für eine Camè,“ entgegnete er zaghaft. Sie seufzte und kraulte seinen Nacken. Er schloss die Augen und genoss es. „Wir sind mehr, Drabèk,“ sagte sei. „Wir müssen einfach mehr sein als die Worte, die die Herrin über uns schreibt.“ Er war bestürzt. Sie sprach aus, was ihm seit langer Zeit durch den Kopf ging, so, als habe sie seine Zweifel an der Großen Geschichte gespürt. Kein Wunder, dass sie und ihre Gefährtinnen ihn so magisch angezogen hatten. Sie hatten einander verstanden. „Du frevelst gegen die, die dich erdacht hat, meine Süße,“ murmelte er unbehaglich. „Aber ist es nicht so? Sind die Dinge, die wir tun und lassen, nicht sonderbar?“ „Wir können es nicht ändern,“ sagte er und erstickte weitere Kommentare mit einem langen Kuss auf ihre vollen Lippen. Aber er wusste, dass er sie damit nicht lange zum Schweigen bringen würde. „Wir können nicht anders,“ sagte er. „Wir können einfach nicht anders handeln, als sie es uns erlaubt.“ „Können wir das wirklich nicht?,“ fragte sie lauernd. „Ist denn wirklich alles vorbestimmt in einem einzigen Buch?“ Das Mädchen kuschelte sich an ihn, und ihm wurde bewusst, dass da noch andere Gefühle waren als seine unstillbare Libido. Irgend etwas entstand zwischen ihm und der blonden Camè, ihr und den beiden anderen, und es hatte etwas mit seinem Herzen zu tun. „Warum,“ fragte sie und ihre Lippen streiften seine Haut und ließen ihn wohlig erschauern, „warum müssen wir so sein? Und was wird aus uns werden?“ Und in diesem Moment hatte Drabèk eine Vision, die nicht aus den Zeilen kam, die ihn formten. Sie war so schnell vorüber, dass er sie nicht fassen konnte, dass er nicht begriff, was seine Gedanken da durchzuckt hatte. Er umarmte die Camè und zog sie an sich. „Wirklichkeit...,“ wisperte er. Sie hob den Kopf und betrachtete ihn mit einem Blick, der ehrfürchtiges Entsetzen und Faszination spiegelte. „Wirklichkeit?,“ fragte sie leise, „was ist das?“ Etwas eiskaltes überkam ihn, ein Schaudern, ein markerschütterndes Entsetzen über jenen Gedanken, der sich in seinen Geist gebohrt hatte. Wirklichkeit...
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„Kapitän?,“ fragte sie ängstlich. „Kapitän? Was ist dir?“ Er schüttelte den Kopf und presste sie so fest an sich, dass sie stöhnte. „Frag nicht,“ stieß er mit trockener Kehle hervor, „frag es nicht... es ist zu groß...“ Sie befreite sich aus seiner schmerzhaften Umklammerung, setzte sich auf die Fersen und wich vor ihm zurück. Drabèk schloss die Augen. Eine Weile lang war es totenstill in der Kapitänskajüte. Dann hörte er, wie sie aufstand, ihre Sachen zusammenraffte und sich ohne ein weiteres Wort entfernte. Leise schloss sie die Tür hinter sich. Wirklichkeit... Wirklichkeit... wie eine hartnäckige Stimme hämmerte dieses eine Wort in Drabèks Kopf, setzte sich in seinem Denken fest wie eine Muschel am Rumpf eines Schiffes und ließ sich daraus nicht mehr entfernen. Zu spät realisierte er, das die Camè vor ihm geflohen war. Nur das Geld hatte sie mitgenommen. Erst am Ende des Docks holte er das Mädchen ein. Sie bemerkte, dass er hinter ihr her hetzte und drehte sich überrascht zu ihm um. Er hatte sich in der Eile nur seinen dunkelblauen Seemantel übergeworfen, war darunter nackt und barfuss. Die Netzeflicker, Hafenarbeiter und vorbeigehenden Piraten warfen ihm Blicke zwischen Befremden und Hohn zu. Bei ihrem Gerangel mit Ejo hatte ihr freizügiges Kleid einen tiefen Riss davongetragen. Er griff mit den Fingerspitzen nach den Rändern des Stoffes und steckte sie vorsichtig mit einer kostbaren Brosche zusammen, die einmal einer Königin gehört hatte. Sie fühlte danach und betastete mit zitternden Fingern den glänzenden Edelstein. Er lächelte verlegen, gab ihr dann noch einen Kuss auf die Wange und kehrte dann rasch und ohne sich noch einmal zu ihr umzudrehen auf sein Schiff zurück. Dass die Brosche und ein bisschen Kleingeld alles gewesen waren, dass er in der vor wenigen Minuten noch randvollen Goldtruhe gefunden hatte, aus der er ihre zwanzig Münzen genommen hatte, verschwieg er. Denn es verursachte ihm panische Angst. *
A
ls Drabèk das nächste Mal in der „Matrosenfreude“ einkehrte, saß Kapitän Loig immer noch mit seinem Papagei und den Schatzkarten in seiner Ecke. Womöglich war er in den letzten Wochen ständig dort gewesen.
Der jüngere Pirat ging nahe an seinem Tisch vorbei und nickte dem alten Invaliden einen freundlichen Gruß zu. Zu seiner größten Überraschung rückte Loig zur Seite und lud ihn mit einer ungeduldigen Geste ein, sich zu ihm zu setzen. Drabèk stutzte und kam der Aufforderung des alten Seemannes nach.
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„Junge,“ sagte Loig ohne Vorrede und bemühte sich, seine laute, poltrige Stimme auf eine Art konspiratives Flüstern zu reduzieren, „der ganze Hafen redet über dich.“ „Ich weiß,“ sagte Drabèk. „Es geht mich ja nichts an,“ fuhr Loig fort. „Das ist eine andere Art von Geschichten als jene, in denen ich so herumschippere, beim Klabautermann! Hast du schon von meiner Fahrt zur Insel der rosa Riesenschildkröten gehört?“ „Nein,“ sagte Drabèk höflich. „Aber jene über den verschwundenen Heringspudding war sehr spannend.“ Loig gab einen Laut von sich, der wie ein kurzes Lachen klang und klopfte dem jüngeren Piraten dann jovial auf die Schulter. „Nett gesagt, mein Junge. Aber das, was sich im Augenblick über dir zusammenbraut, wird wohl kaum noch zu überbieten sein.“ Drabèk runzelte die Stirn. „Aber wieso? Ich habe lediglich ein wenig Gold an leichte Mädchen verschwendet. Das tun wir doch alle, oder?“ “Ich nicht,“ widersprach Loig mit einem Anflug von Bedauern. „Aber von deinem Liebesleben sprechen wir doch gar nicht.“ „Nicht?“ Drabèk grinste unbehaglich. „Gibt es denn ein interessanteres Thema?“ „Ja,“ raunte Loig und zwinkerte vielsagend mit seinem Auge. „Deine Geldsorgen. Scheint, dass deine Schätze... sagen wir... verschwinden.“ Der jüngere Kapitän starrte den alten Seefahrer mit offenem Mund an. „Woher...“ Loig streichelte geistesabwesend den Papagei. „Du hast begonnen, es auszugeben,“ knurrte er dann verschwörerisch. „Du hast dir Wünsche damit erfüllen wollen. Und nun ist das Geld futsch, und du bist pleite. Das billigste Kneipenmäuschen ist unerschwinglich für dich, mein Junge. Du kannst unter diesen Umständen nicht mehr lange in Bel’e Tristika bleiben. Du musst Beute machen. Und du solltest nicht hier sein. Ich wundere mich, dass du dich noch hier hinein wagst...“ „Wieso?,“ fragte Drabèk verdutzt. Loig warf einen flackernden Blick über seine Schulter hinweg in den Raum und griff dann rasch nach seinem Rumbecher. „He!,“ dröhnte eine lautstarke Stimme durch die Schankstube und brachte die allgemeine Geräuschkulisse zum Verstummen. „Rattenkerl!“ „Oh... deshalb,“ sagte Drabèk zu Loig und drehte sich seufzend auf der Bank um. Kapitän Balck war noch nicht sonderlich betrunken, aber er war wütend. Das Gesicht unter dem Gewirr seines wilden schwarzen Bartes und zotteligen Haares war in Zornesfalten gelegt, und den Säbel hielt er bereits in der Hand, als er eilig herbeigestapft kam. „Balck, alter Haifisch,“ grüßte Drabèk mit der Respektlosigkeit, die sie von ihm erwartete. „Kleine Pause vom Mannschaft schikanieren?“ „Raus,“ raunzte Balck. „Auf die Straße! Will endlich abrechnen!“
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Drabèks Glück Eine Schattenherz-Kurzgeschichte von La Maga
„He!“ Drabèk hob beschwichtigend die Hände. „Ich hab doch gar nichts gemacht!“ Balck schubste einen vorbeitorkelnden Betrunkenen beiseite und packte Drabèk beim Kragen. „Draußen,“ zischte er. „Duell. Sofort!“ „Ich will wissen warum,“ beharrte Drabèk. „Und lass mein Hemd los, du zerknitterst die Rüschen!“ Hinter Balck tauchten Ejo, Lekal und, mit einem großen Becher in der Hand, auch der Riese Bubu auf. Letzterer hatte eine weiße Oberlippe, woraus Drabèk flüchtig schloss, dass er Milch trank. Dem Atem, der von den beiden anderen zu ihm hinüberwehte, ließ auf den Genuss anderer Getränke schließen. „Mach ihn fertig, Käpt’n,“ forderte Ejo, dessen Zunge bereits schwer war. „Stopf ihm sein freches Maul!“ „Und du halt dich da heraus,“ zischte Drabèk verärgert. Immerhin schien dies hier eine Sache zwischen ihm und dem Kapitän der Kaper-Prise zu sein, wenn er auch nicht verstand, was eigentlich vor sich ging. Balck zog Drabèk auf die Füße und schubste ihn gegen den nächststehenden Tisch. Auf dem kamen Becher zu Fall, und verärgerte Ausrufe der Zecher wurden laut, aber Drabèk konnte sich darum nicht kümmern. „Verflucht,“ wetterte der junge Pirat los und fasste nach seinem Säbel, „jetzt sag mir doch wenigstens, warum du dich prügeln willst, Balck! Wir haben doch derzeit keine gemeinsame Geschichte!“ Balck stieß ein wütendes Brüllen aus, das sämtliche Gäste der Hafenspelunke zusammenzucken ließ, war dann mit einem einzigen großen Schritt bei seinem jüngeren Gegner und schwenkte seine Klinge durch die Luft. Aus den Augenwinkeln sah Drabèk, wie Bubu sich eingeschüchtert ein Stück weit zurück zog, aber er hatte keine Zeit, um darauf zu achten. „Rattenkerl,“ zischte Balck, „ist meine Geschichte! Ist meine Prise! Halt dich da raus!“ Drabèk stützte sich mit den Handflächen auf der Tischplatte ab und stemmte sich dann mit einem Ruck aufwärts. Mit einem gezielten Tritt vor Balcks Brust stieß er den großen Kapitän außer Reichweite und erwischte mit dem anderen Fuß dessen Hand. Der Säbel entglitt Balck, der von zufällig hinter ihm stehenden Spelunkengästen, vierschrötigen Matrosen, aufgefangen wurde, bevor er stürzen konnte. „Wovon redest du überhaupt?,“ erkundigte Drabèk und rieb sich den Knöchel. Es war ein harter Tritt gewesen. „Mir fehlen da wohl ein paar Zeilen. Du bist zu weit im Text!“ Balck hielt sich keuchend die schmerzende Brust und blinzelte misstrauisch in Drabèks Richtung. „Kogge,“ sagte er dann. „Kurs südöstlich vor Bel’e Tristika.“ Drabèk hob interessiert die Brauen. „Na und?“
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Balck richtete sich auf. In seinen Augen funkelte Misstrauen. „Schatzkiste,“ murmelte er. „Meine Schatzkiste.“ Drabèk schüttelte verständnislos den Kopf. „Und darum machst du so viel Aufhebens? Wegen einem Schatzfahrer? Davon gibt es doch wirklich genug da draußen.“ Balck bückte sich nach seinem Säbel und schien zu überlegen, ob er Drabèk erneut angreifen sollte. Aber er besann sich eines besseren. Mit einem verächtlichen Schnauben drehte er sich um und stiefelte zurück zum Tresen, wo die fette Wirtin kommentarlos einen weiteren Becher vor ihm abstellte. Drabèk schaute ihm sinnend nach. „Der fiese Haifisch benimmt sich wunderlich,“ sagte er dann in Lekals Richtung. Der kleine Nebencharakter-Pirat hob mit einer entschuldigenden Geste die Hände und trollte sich dann, um Bubu wieder aus der Ecke hervorzuholen, in der der Riese sich eingeschüchtert verkrochen hatte. Drabèk ließ sich auf der Tischplatte nieder, nahm einem der dort sitzenden Zecher den Becher fort und trank nachdenklich einen Schluck. Niemand erhob Einspruch. Immerhin war Drabèk eine Hauptfigur. Kapitän Loig am Tisch in der Ecke studierte scheinbar konzentriert seine Karte. Unvermittelt schoss Ejo mit einer heftigen Bewegung heran, und mit einem klackenden Geräusch bohrte sich seine Messerklinge tief in das Holz des Tisches. Von allen Seiten ertönte beinahe synchron der selbe kurze, spitze Schreckensruf. Alle Camès in der Spelunke zuckten zusammen. Drabèk schaute über den Rand des Bechers zu Ejo hin und dann langsam zu dem Messer hinab, das zwischen seinen Schenkeln steckte und von der Wucht des Stiches noch bebte. „Das nächste Mal,“ zischte Ejo leise, „wenn wir uns begegnen, dann werde ich besser zielen, Schönling.“ Drabèk schauderte innerlich, verstand es aber, die Ruhe zu bewahren. Dann schüttete er Ejo den Rest des Schnapses ins Gesicht. Geblendet sprang der Pirat zurück und rieb sich die Augen. Drabèk zog das Messer aus der Tischplatte, drückte es Ejo in die Hand und kehrte wieder zu Käpt’n Loigs Platz zurück. Dabei kam er an einer brünetten Camè vorbei. Das Mädchen lächelte ihm erleichtert zu. Sie trug ein Medaillon um den Hals. Drabèk schmunzelte zurück. „Nichts passiert,“ sagte er. „Ist noch alles dran.“ Sie kicherte errötend und wandte sich dann rasch wieder ihrem derzeitigen Kunden zu. Ringsum lachten einige Piraten den blamierten Ejo aus, aber sie verloren fast augenblicklich wieder das Interesse. Ejo steckte seine Waffe wütend wieder ein und
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verschwand dann mürrisch wieder an dem Tisch in einem finsteren Winkel, an dem der Großteil der Kaper-Prise-Mannschaft saß. „Was ist das für eine Kogge?,“ erkundigte Drabèk sich und tastete zaghaft dorthin, wo um ein Haar das Messer getroffen hätte. Im nachhinein wurde ihm fast übel. Loig setzte den Papagei von seiner Schulter herab auf die Tischplatte und schmunzelte. „Gute Reflexe, mein Junge,“ polterte er leise. „Hut ab!“ Der Alte neigte sich verschwörerisch über die Tischplatte und raunte: „Es heißt, es sei ein unvorstellbar großer Goldschatz an Bord. Das Schiff ist auf dem Weg nach Osten und fährt den Hafen von Bel’e Tristika nicht an. Wahrscheinlich ist ihre Fracht zu kostbar, als das sie sich damit in ein Piratennest wagen würden. Das Gerücht kam hier auf, ein paar Minuten, bevor du reingekommen bist. Hast deinen Auftritt verpasst, Junge.“ „Ein großer Goldschatz,“ sagte Drabèk nachdenklich. „Wäre das nicht auch für dich etwas, Käpt’n?“ „Sicher,“ stimmte Loig zu. „Sobald einer von Euch jungen Grünschnäbeln ihn erbeutet und auf einer einsamen Insel verbuddelt hat. Dann kommen Yllop und ich mit der Havarette, graben ihn aus und freuen uns.“ Drabèk lächelte. „Wann stichst du in See, Käpt’n?“ Loig zuckte die Achseln. „Wann immer die Herrin mich in ein Abenteuer schickt. Wenn sie mal wieder an mich denkt. Und du, Kapitän Drabèk? Bist auch schon so lange im Hafen... ganz ohne Gold...“ Drabèk versuchte, dem klugen, einäugigen Blick des alten Seebären Stand zu halten. „Morgen,“ antwortete er dann. „Kurs südost.“ Käpt’n Loig, der lustige Seefahrer und Held zahlloser Kindergeschichten lachte leise. Und Drabèk, der Protagonist aufregender Abenteuergeschichten grinste. *
D
rabèk hielt sich nicht lange in der „Matrosenfreude“ auf. Er trank zwei Becher billigen Rum, überzeugte sich sorgsam davon, dass die drei gekennzeichneten Camès wohlauf, wenn auch beschäftigt waren und
provozierte genüsslich den an der Theke still vor sich hin brütenden Rivalen durch seine Anwesenheit. Einmal trat die Hellbraune an ihn heran. Er warf einen zufriedenen Blick auf die schöne Haarspange, die in ihrem Seidenhaar glitzerte. „Süßer,“ sagte sie mit einem raschen Blick hinüber zur Wirtin, die Becher polierte und die Schlägereien und ihre Mädchen scharf im Blick behielt, „ich hätte gleich Zeit für dich...“ Drabèk lachte. „Du nimmst Voranmeldungen entgegen?“
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Sie seufzte entschuldigend und deutete zum Kaper-Prise-Tisch hinüber. „Der Winzling wartet schon,“ sagte sie. „Aber das wird nicht lange dauern...“ „Ich kann nicht,“ sagte er leise und folgte wissend ihrem Blick. „Ich habe ein Abenteuer... und kein Geld.“ Hinter der Theke erschien die Blondine. An ihrem Ausschnitt funkelte die Brosche. Sie gab vor, Becher für die Gäste zu füllen und stellte sie auf einem Tablett ab. „Du willst auslaufen?,“ erkundigte sie sich gedämpft. „Ich fahre nicht weit,“ raunte er den Mädchen zu und zuckte zusammen, als sich von hinten Arme um seinen Hals schlangen. Die hellbraune Camè umarmte ihn, ihr linkes Bein drängte sich an seine Hüfte. Ihr Rock war bis zum Gürtel geschlitzt. „Bitte,“ wisperte sie, „bitte...“ Er fasste an ihren nackten Oberschenkel und streichelte sie. „Ich werde in ein paar Tagen wieder da sein, meine Schönen.“ „Mädchen!,“ mischte sich die Wirtin barsch ein, „faulenzt nicht mit dem Käpt’n herum!“ Die Blondine stellte den Becher, den sie gerade gefüllt hatte, etwas zu geräuschvoll ab, ohne den Blick von Drabèk zu lassen. „Bitte, Drabèk,“ beschwor ihn die Brünette, „tu es für uns!“ Die Wirtin legte ihr Putztuch beiseite und wackelte kurzatmig heran. „Na,“ plapperte die Blondine geistesgegenwärtig los und kraulte über den Tresen hinweg Drabèks stoppeligen Bart, „wie wäre das? Nur du und wir drei... und alles nach deinen Wünschen...“ „Verführerisch,“ stammelte Drabèk träumerisch. „Aber...“ „Dreißig Goldstücke,“ unterbrach die Wirtin gnadenlos. „Für jede der drei.“ Drabèk schrak auf und räusperte sich. „Die Preise steigen hier aber ganz schön schnell,“ brachte er vor. „Das ist das Geschäft, Käpt’n,“ sagte die Wirtin mit einem beunruhigenden Grinsen. „Und dein Geld sitzt bekanntlich genauso locker wie dein Gürtel, mein Guter.“ Die Camès starrten das alte Weib an, und Drabèk erkannte in den großen naiven Mädchengesichtern eine Regung, die Statistinnen nicht zustand: Feindseligkeit. „Ich habe keine neunzig Goldstücke bei mir,“ sagte er dann knapp. „Dann lass die Pfoten von den Mädchen und halt sie nicht von der Arbeit ab,“ raunzte die Vettel ihn an. „Und ihr, macht euch an die Arbeit, sonst setzt es was!“ Die Hellbraune ließ von seinem Hals ab, nicht ohne zuvor mit ihrem erstaunlich biegsamen Unterschenkel seinen Unterleib zu streifen. Die Blondine nahm das Tablett auf, trug es ohne ein weiteres Wort in den Schankraum hinein und verteilte wahllos die Getränke, vornehmlich an Piraten, die gar nichts bestellt hatten. Schließlich zog sie einer der schon angetrunkenen auf seinen Schoß und betatschte sie. Lustlos ließ sie es mit sich geschehen. Drabèk starrte die Brünette an.
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„Der Zwerg,“ sagte sie tonlos und trollte sich enttäuscht. „Es sieht so aus,“ murmelte Drabèk in Richtung der Wirtin, die abwartend neben ihm stehen geblieben war, nach Schweiß stank und mit schlechten Zähnen feixte, „als hättest du dir dein eigenes Geschäft verdorben.“ „Möglich,“ sagte sie kalt. „Aber du kannst nicht von mir erwarten, das ich meine Pflichten so schleifen lasse. Ich werde immer mehr Gold von dir fordern, damit du deinen bescheidenen kleinen Spaß an den Mädchen hast.“ Er ekelte sich vor ihr und hatte zugleich unermessliches Mitleid. Sie hatte sich diese Rolle nicht ausgesucht. Und es hätte ihn ebenso treffen können. Er musste der Herrin dankbar sein, dass sie das aus ihm gemacht hatte, was er in seiner Geschichte war. Ein paar Schritte weit von ihm entfernt saß der alte Loig, verbittert, lächerlich und verkrüppelt. So war er immer gewesen. So war er selbst immer gewesen. Und so würden sie ewig sein, die Wirtin, die Camès, die Mannschaft von Balck, der schurkische Käpt’n, der dumme Bubu, der gemeine Ejo, der kriecherische Lekal, sie alle, alle, die sie in Bel’e Tristika waren. Es war ihre Gefangenschaft und ihr Los. Es waren die Ketten, in die die Herrin sie geschlagen hatte in dem Augenblick, in dem sie sie erschuf. „Lass es, Drabèk,“ sagte sie und hörte einen Augenblick lang auf, so widerlich zu grinsen. „Nimm Vernunft an. Du wirst dich ruinieren, wenn du dieses Spiel mitmachst.“ Er lehnte sich an die Theke und schaute dumpf zu, wie die anderen Piraten die Camès benutzten und nicht ahnten, das da dieses zarte Band zwischen seinem und ihren Herzen war. „Ich kann nicht aufhören,“ sagte er. „Sie selbst lenkt mich.“ „Sie spielt mit dir, Drabèk,“ widersprach die Wirtin sanft. „Und die Mädchen tun es auch.“ „Wenn ich wieder komme,“ murmelte er, „dann bringe ich dir einhundert Goldstücke. Aber ich muss das Gold erst besorgen.“ „Das ist absurd,“ versetzte sie hart. „Und wenn ich alle Schatzfahrer der siebenundzwanzig Meere kapern muss,“ fuhr er unbeirrt fort. „Und wenn ich Loigs Schatzkisten selbst ausgraben muss.“ „Bist du unsterblich, Drabèk?,“ fragte sie. „Schätzt die Herrin dich so sehr, dass du mit ewigem Erfolg gesegnet bist?“ Sie lachte verächtlich auf. „Irgendwann hat auch ein Held Pech. Irgendwann wirst du sie langweilen. Vielleicht vergisst sie dich, wie den armen alten Loig dort hinten in der Ecke. Oder sie gibt dir einen Gegner, dem du unterliegst. Wie wirst du aus der Geschichte scheiden, Kapitän Franìs Drabèk? Wird Balck deine Galeone versenken? Wird er dich über die Planke schicken? Oder werden dich in einem fremden Hafen Gerichtsherren an den Galgen bringen?“ Sie schüttelte den Kopf.
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„Wenn sie es will, dann lässt sie uns sterben,“ sagte sie. „Wenn du existieren willst, mein Lieber, dann bleib in Bel’e Tristika, bleib unter deinesgleichen. Nimm dir billige Camès für ein paar Kupferstücke. Aber lass dich nicht auf den Wahnsinn ein, der dich ergriffen hat.“ Wirklichkeit... zuckte es durch Drabèks Gedanken. „Lass mich in Ruhe,“ fertigte er die Alte unwirsch ab, packte seinen Hut und verließ strammen Schrittes die Spelunke. Er musste sich dazu zwingen, nicht zu rennen. *
I
m Morgengrauen lief die namenlose schwarze Galeone von Kapitän Drabèk aus dem Hafen von Bel’e Tristika aus und setzte Kurs auf südost. Die Morgensonne tauchte den Himmel über Librien in ein wuchtiges, kunterbuntes Farbenspiel,
das anmutete, als käme es aus einem Farbkasten. Drabèk achtete nicht darauf. Er stand am Steuerrad seines Schiffes, eines großen, eleganten Dreimasters aus librischer, formloser Schwärze. Der Piratenwimpel knatterte stolz und gegen die Windrichtung am Toppmast und das Schiff war genauso lautlos und leicht wie ein Schatten. Und genau das war es. Ein schiffsförmiger Schatten aus potentiellem Gedankenstoff, der seiner Regie gehorchte. Drabèk hatte, anders als Balck und die meisten anderen Kapitäne, keine Crew an Bord seines Schiffes. Die Herrin hatte nie die Notwendigkeit gesehen, ihm Gefährten zur Seite zu stellen, andere Männer, die das Schiff bedienten und sich unter seinem Kommando an den Beutezügen beteiligten. Die meisten Kapitäne hatten Mannschaften nur, um jemanden befehligen zu können, ihre Autorität hervorzukehren, Leute einher zu scheuchen und anbrüllen zu können. Manche, wie Balck, hatten eine Schar sonderbarer Nebencharaktere bei sich, die seinen Status betonten und für die Dramaturgie gut waren. Librische Seeleute waren eines mit ihren Schiffen, und so hatte Drabèk niemals Matrosen unter sich gebraucht, um mit seinem Schiff auf große Fahrt zu gehen. Manchmal kam er sich albern vor, wenn er ganz allein ein schwerbewaffnetes Schiff enterte. Aber andererseits wäre die Gesellschaft von Gestalten wie Rasiermesser-Ejo wohl doch die unangenehmere Wahl gewesen. Die Galeone glitt durch die himmelblauen librischen Fluten, ohne Laut, mit vollen Segeln und absurder Geschwindigkeit. Drabèk stand, die Hände am Steuer, und versuchte, sich auf seinen Kurs zu konzentrieren. Mehr brauchte er nicht, um die Galeone zu lenken. Es war so einfach und doch so kräftezehrend. Der Segler gehorchte ihm, aber er verlangte ihm große Anstrengungen ab. Jedes einzelne Segel, die Takelage, das Ruderwerk, all das stand nun in Verbindung zu Drabèks Gedanken, gehorchte seinen geistigen Kommandos wie eine gewaltige, komplizierte
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Maschine und kümmerte sich nicht um die Naturgesetze, die in Librien ohnehin nicht zwingend gültig waren. Die Galeone war seine Szenerie, sein Reich, über das er gebot und auf der seine Regeln galten, in dem Maße, wie die Herrin sie ihm zubilligte. Auf der Galeone war der Kapitän beinahe sein eigener Herr. Aber es war eine seltsame Bindung, die er mit dem Schiff eingegangen war, denn die Kontrolle über das Gebilde aus librischem Gedankenstoff zehrte an seinen Kräften. Und manchmal fühlte Drabèk sich auf sonderbare Weise von dem Schiff... nun ja... beobachtet. Und gefesselt. Drabèk ließ die Galeone gegen alle Vernunft so schnell fahren, wie er nur konnte. Um gar keinen Preis durfte ihn die andere Galeone überholen, die kurz nach ihm das Hafenbecken von Bel’e Tristika verlassen hatte. Drabèk lächelte schadenfroh. Balck musste getobt und gewütet haben, als er feststellte, dass sein ewiger junger Rivale ihm um nur eine halbe Stunde zuvor gekommen war, schon unterwegs war, um den Schatzfahrer mit dem unermesslichen Goldschatz an Bord abzufangen. Das Gold, dass er so dringend brauchte, nachdem die Herrin ihm seine Schätze genommen hatte. Die Kaper-Prise war schnell, sie fuhr mit vollen Segeln und wirkte, je näher sie an die namenlose Galeone heranfuhr, wie ein wütendes, schwarzes Raubtier. Drabèk wusste, dass Balck ihn vorerst nicht einholen konnte, musste er doch die Kontrolle über eine noch von der Zecherei in der vorausgegangenen Nacht verkaterte Mannschaft halten. Das bremste die Kaper-Prise, und es verschaffte Drabèk eine nicht unerhebliche Befriedigung. Seine Gedanken glitten einen Moment lang vom Schiff fort. Ja, er hatte beschlossen, Balck zuvor zu kommen, die Kogge zu kapern, das Gold auf die Schwarze Galeone zu schaffen und dann wieder nach Bel’e Tristika zurückzukehren. Denn er würde Gold brauchen. Gold und viel Geschmeide, Spangen, Broschen und Ketten, um die drei Camès glücklich zu machen. Um sich und ihnen das Glück zu kaufen, das zarte Band zwischen ihren Herzen zu spüren. Drabèk war sich bewusst, dass es Wahnsinn war, auf das Spiel der Großen Herrin einzugehen, dessen Werkzeug die Wirtin war, Kapitän Balck und seine Leute. Warum tat sie das? Was für eine Geschichte ersann sie gerade um ihn, und warum quälte sie ihn? Wollte sie ausprobieren, wie weit und glaubhaft sie ihn dazu treiben konnte, die Nähe der Camès zu suchen? Amüsierte sie sich über seine hilflosen Pläne, die nötigen Mittel heranzuschaffen, um die Camès haben zu dürfen? Das Schiff zehrte an seinen Kräften, aber er hatte in all seinen Abenteuern gelernt, das zu ignorieren. Er war ein starker Kapitän. Er war eine Hauptfigur. Und es war nur gerecht, wenn er das Gold nahm, um damit Glück zu kaufen, anstatt dass Balck und seine Mannschaft ihre Prise versoffen und gedankenlos die Mädchen benutzten. „Für Camè,“ murmelte Drabèk. „Und für Camè. Und Camè.“
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Die Schwarze Galeone beschleunigte. Drabèk zückte mit einer Hand sein Fernglas und suchte den Horizont nach dem Segel des Schatzfahrers ab. Es dauerte nicht lange, bis er es gefunden hatte und den Kurs darauf ausrichtete. „Ich will nur den Schatz,“ murmelte der Kapitän und überprüfte beiläufig den Sitz von Säbel und Mantel. In seinem Stiefelschaft steckte gut verborgen ein Entermesser. Es konnte nicht schaden, die richtige Waffe zu führen, wenn jemand wie Ejo ihn in einem geschlossenen Raum überraschte. *
D
er Schatzfahrer mit dem protzigen Namen „Prachtjuwel“ war eine unbewaffnete Kogge, die unter der Flagge eines librischen Königshauses fuhr, das in anderen Geschichten der Herrin eine Rolle spielte. Wo es
herkam und warum es mit seinem Schatz so dicht am Piratennest Bel’e Tristika, der wunderschönen, pittoresken Hafenstadt vorbeigefahren war, spielte keine Rolle für das Geschehen. Es kostete Drabèk nur ein gewagtes Segelmanöver, um der altmodischen, langsamen Kogge den Weg abzuschneiden und sich mittels eines Takelageseiles dort an Bord zu schwingen. Wie erwartet fand er die typische Opferbesatzung eines solchen Schiffes vor. Eine kümmerliche Handvoll bewaffneter Marinesoldaten, die er nach einem kurzen und unglaubwürdigen Gefecht entwaffnet und außer Gefecht gesetzt hatte, feige Matrosen, die sich im Segelwerk versteckten und hofften, dass niemand sie dort entdeckte, ein dickbäuchiger, prächtig gewandeter Kapitän, der nicht sehr viel mehr an Seefahrerkunst beherrschen konnte als einen graden Kurs zu halten sowie ein paar hysterisch kreischende Damen. Nur die Herrin mochte wissen, warum die an Bord waren. „Glaub mir,“ sagte Drabèk, während er den Dicken mit der Säbelspitze gegen den Mast drängte, „es ist euer Glück, dass ich euer Schiff gekapert hatte und nicht die
Bande auf der Galeone dort drüben.“ Er deutete hinüber zur Kaper-Prise, die in
einiger Entfernung vor der Kogge vor Anker gegangen war. Etwas blitzte dort an Bord in der Sonne auf. Kapitän Balck beobachtete durch sein Fernrohr die Szene. „Du übler Schurke,“ ereiferte sich eine schon etwas verbraucht aussehende Edeldame und griff sich mit dramatischer Geste ans Herz. „Unseren Schatz magst du nehmen, aber unsere Ehre werden wir verteidigen, Unhold!“ Drabèk schaute sie verblüfft an. Dann griff er nach ihrer Hand und hauchte einen galanten Kuss darauf. „Holde Dame,“ sagte er mit seinem charmantesten Herzensbrecher-Lächeln, „an Eure Ehre werde ich nicht rühren. Ich bin nur interessiert an den Schätzen an Bord dieses Schiffes.“
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Die hysterischen Damen verstummten. Einige schauten etwas enttäuscht drein. „Und du,“ wandte der Kapitän sich sachlich an jenen der Kogge, „solltest mir besser das Versteck des Schatzes verraten. Ich bin ein wenig in Eile.“ „Nur über meine Leiche!,“ rief der Kapitän mit zitternder Stimme aus. „Du wirst nichts aus mir herausbekommen, Schurke!“ Drabèk seufzte. Er hasste unkooperative Charaktere. „Wenn du mir den Schatz nicht auslieferst,“ sagte er diplomatisch, „dann fragen die da drüben dich. Weniger geduldig. Und sehr viel nachdrücklicher.“ „Und wenn du mich aufspießt mit deinem Säbel, ich werde schweigen!“ Drabèk verdrehte die Augen. Soviel Heroismus wirkte lächerlich an diesem Statisten. Die ganze Geschichte war fade, albern und dahingeschludert. „Bring mich nicht auf Ideen,“ warnte er höflich und piekste wohldosiert in den Wanst des Dicken. „Im Frachtraum,“ gab der Koggenkapitän bereitwillig Auskunft. „Ein dummes Versteck.“ Drabèk schüttelte den Kopf und klopfte dem Kapitän beruhigend auf die Schulter. „Ich bin gleich wieder weg, mein Guter. Ihr müsst keine Angst haben. Für eure Geschichte wird es keine Rolle spielen.“ *
D
ie Schatzkiste an Deck und an Bord der Galeone zu schaffen, war nicht einfach. Die Herrin dachte einfach nie daran, dass einem einzelnen Piraten der Transport einer schweren Truhe erhebliche Probleme bereitete. Aber die
Geschichte sah vor, dass es ihm gelang. Als er – gut sichtbar für Kapitän Balck – die Schatzkiste an Bord der Galeone gebracht hatte und Kurs auf Bel’e Tristika setzte, kam erneut Leben in den Kapitän der „Prachtjuwel“.
„Schurke!,“ brüllte er empört hinter Drabèk her. „Der König wird seine gesamte Kriegsflotte auf dein Schiff hetzen! An den höchsten Galgen von ganz Librien gehörst du!“ „Gib auf dich acht, Kapitän!,“ rief eine der jüngeren Damen besorgt und meinte Drabèk. Er lachte und warf der Schönen eine Kusshand zu. Sie errötete verschämt und verbarg das Gesicht vornehm hinter ihrem Fächer. „Rattenkerl!,“ dröhnte da von der anderen Seite und mühelos über die Entfernung hinweg und gegen die Brandung an die Stimme von Kapitän Balck, „haste nicht umsonst gemacht!“ Drabèk winkte der Kogge zu und rannte dann in den Bug der Galeone. Sein Schiff nahm Fahrt auf.
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„Nicht umsonst,“ brüllte er übermütig zur Kaper-Prise hinüber. „Eine fette Prise habe ich dir weggeschnappt, Balck!“ Die Kaper-Prise wendete und setzte sich ins Kielwasser der Schwarzen Galeone. Drabèk hetzte zurück auf die Brücke. Wenn Balck ihn nun verfolgte, war eine spannende Wendung nicht ausgeschlossen. Das war vorhersehbar gewesen, nachdem beide Schiffe nur kurze Zeit nacheinander mit dem selben Ziel ausgelaufen waren. „He, Kapitän!“, rief Ejo irgendwo von oben aus den Wanten der Kaper-Prise, „wir sollten doch die Mannschaft massakrieren! Was...“ „Schnauze!,“ brüllte Balck. „“Will die Kiste! Nicht trödeln! Parallelkurs! Volle Segelfläche!“ Drabèk griff das Steuer und schloss die Augen. „Komm schon,“ flüsterte er dem Schiff zu. „Du gehörst dem guten Piraten! Du bist schneller als der stinkende Kahn!“ Die Kaper-Prise fiel zurück, scherte aus und beschleunigte, obwohl es nach wie vor fast windstill war. Nach einem Blick durch das Teleskop stellte Drabèk fest, dass Balck nun selbst Hand an das Steuerrad gelegt hatte. Der Kapitän übernahm die Kontrolle über die Kaper-Prise. Und er war ein ausgezeichneter Schurke. Drabèk stöhnte und blickte auf die Schatztruhe, die mitten auf dem Vorderdeck stand. Wieso war Balck so versessen auf diese Truhe? Warum wollte Balck ihm sein Glück nehmen? *
B
alck musste tatsächlich ernstlich wütend sein. Die Kaper-Prise sprühte geradezu vor der zornigen Energie, mit der ihr Kapitän sie hinter der Galeone her hetzte. Drabèk ließ sein Schiff nur so über die Wellen dahin
jagen, ging auf einen schlingernden, hakenschlagenden Kurs wie ein Kaninchen auf der Flucht vor der Meute und vollbrachte mit dem großen Segler navigatorische Kunststücke, die in den Bereich des Phantastischen einzuordnen waren. Vermutlich saß die Herrin in der Bibliothek und amüsierte sich köstlich über die absurde Jagd, die die beiden Kapitäne sich quer über den Ozean vor Bel’e Tristika lieferten. Drabèk wusste, dass Balck einen Feuerkatapult an Bord, aber noch kein Geschoss auf die Schwarze Galeone abgefeuert hatte. Die Schatzkiste musste ihm sehr viel bedeuten, schloss Drabèk daraus, wenn er nicht riskieren wollte, das Schiff mitsamt der Truhe zu versenken. Das stachelte den Piraten in Drabèk noch mehr an. Ganz gleichgültig, was sich in der Kiste befand, es war etwas, das Balck wertvoll war. Wenn er es für sich
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verteidigen konnte, schuf ihm das einen noch unerbittlicheren Feind, aber auch ein noch viel größeres Prestige. Die Kaper-Prise holte auf. Und zog dann so scharf zur Schwarzen Galeone hinüber, dass die Schanzkleider der beiden Schiffe mit einem grausigen Knirschen aneinander schabten. Drabèk fuhr herum. Die Gedanken über die Truhe hatten ihn zu sehr abgelenkt, als dass er so schnell auf dieses überraschende Manöver hätte reagieren können. Balck erschien seitlich an der Reling der Kaper-Prise. Die Schiffe waren annähernd gleich hoch und fuhren nun Seite an Seite, nur eine Armlänge voneinander entfernt. Drabèk umkrampfte das Steuerrad. Der kleinste Fehler konnte eines der beiden Schiffe nun beschädigen. Librische Schiffe verhielten sich zueinander wie völlig normale Materie. Und wenn Balcks Kaper-Prise stärker war... „Balck!“, wetterte Drabèk, „das ist doch Selbstmord! Halt gefälligst Abstand!““ Der schwarzbärtige Schurke warf dem jungen Rivalen einen glühenden Blick zu. „Entern!“, brüllte er dann zu seiner Mannschaft hinüber. Über die gesamte Längsseite der Kaper-Prise erschienen Piraten, das grimmige, brutale Volk, das unter Balcks Kommando segelte. Enterhaken wurden geworfen, Statistenhände zogen an, fesselten die Galeone an die Seite der Kaper-Prise. Drabèk wich vom Steuerrad zurück und löste sich vom Schiff. Die Schwarze Galeone bremste. Drabèk hatte das undeutliche Gefühl, dass ein Segler eigentlich nicht sollte bremsen können, aber das war egal. Er konnte sich nun nicht um das Schiff kümmern. Die Taue ächzten, die immer noch mit hoher Geschwindigkeit dahinsausende Kaper-
Prise riss vorwärts. In einem Regen aus aufsprühender Gischt schwenkten beide
Schiffe herum und begannen, zu trudeln. Bedrohlich neigten die Piratensegler sich zur Seite. „Rattenkerl!“, zeterte Balck irgendwo hinter dem Wasser. Das Wasser brannte in seinen Augen. Drabèk rieb sich mit dem Ärmel das Gesicht, was nicht viel nützte, da auch sein Hemd nun nass am Körper klebte. Sein Plan war misslungen, das Bremsmanöver hatte die Enterhaken der Kaper-Prise nicht abschütteln können. Und die Wut ihres Kapitäns trieb die Mannschaft voran. Balck flankte mit einer für einen Mann seiner Statur sonderbar anmutigen Eleganz über die Reling und zog den Säbel. Sie alle kamen an Bord. Alle fluteten an Deck der Galeone. Alle wetzten Messer und Klingen und sahen aus, als seien sie zum Äußersten entschlossen. „Gib mir die Kiste,“ sagte Balck und baute sich vor Drabèk auf. Der jüngere Kapitän hielt unentschlossen den Säbel in der Hand und sah sich hektisch um. Noch nie hatte er es mit so vielen Gegnern zugleich zu tun gehabt. „Die gehört mir,“ antwortete er automatisch. „Habe ich rechtmäßig erbeutet.“ „Rattenkerl,“ knurrte Balck. „Schurkenstück, das. Wirste bereuen.“
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Drabèks Glück Eine Schattenherz-Kurzgeschichte von La Maga
Drabèk sah sich eingekreist von einer unübersichtlichen, brutalen Horde, hauptsächlich zusammengesetzt aus Gestalten, die nur dazu konzipiert waren, den Kommandos ihres Gebieters zu gehorchen. Meistens waren diese Figuren leichte Opfer für einen Helden. Manchmal aber dienten sie der Herrin auch dazu, ungehorsame Protagonisten in ziemlich unangenehme Situationen zu bringen. Gib ihm die dumme Kiste, sagte eine innere Stimme, die er für die seiner Vernunft hielt, zu Drabèk. Gib sie ihm einfach.
Nein, entgegnete Drabèk der Stimme. Das ist mein Glück. Das sind die Kennzeichen für meine Camès. Das ist der Strick, der dir den Hals brechen wird, beharrte die Stimme. Die warten doch nur darauf, dich an deinem eigenen Rahsegel aufzuknüpfen. Wirst schon sehen. Balck war nun so nahe heran, dass Drabèk ihn nicht mehr länger ignorieren konnte und unterbrach den inneren Monolog. Mechanisch hob Drabèk die Waffe an. Balck grinste grimmig führte den ersten Streich. Die Statisten griffen nicht ein. Noch nicht. Dies war eine Sache zwischen den Kapitänen. Aber Drabèk wusste, wenn es ihm gelingen sollte, Balck zu entwaffnen, dann würden sie sich im nächsten Augenblick auf ihn stürzen und die Niederlage ihres Herrn rächen. Die Situation war eindeutig gegen ihn. Drabèk focht mit aller Eleganz, die ihm zur Verfügung stand, jedoch geschwächt von dem Kraftakt, sein Schiff auf diese mörderische Art und Weise geführt zu haben. Balck war wütend, nur auf den Kampf konzentriert. Der jüngere Kapitän versuchte, ihm auszuweichen, stehendes Gut zwischen sich und den Schurken zu bringen, stellte dabei befremdet fest, dass er sich tatsächlich von Balck in die Enge treiben ließ. Nie zuvor hatte er den Gegenspieler so erlebt. Immer war es ihm schnell gelungen, ihn zu überlisten. In die Wanten flüchten? Den Bösen die Schatzkiste überlassen? Das Schiff aufgeben? Die Säbel klangen aneinander. Drabèk war entsetzt, als er bemerkte, dass er zu taumeln und zu stolpern begann. Die Gedanken, die nun in seinem Inneren abspulen sollten, ein fein ausformuliertes Nacheinander von Attacken, Finten und Tricks, sie wurden gestört von Bildern von Spangen in seidenem Haar, Medaillons auf herrlichen Dekolletees, blitzenden Broschen, unter denen zarte Haut zwischen zerrissenem Stoff hervorblitzte. Und eine andere Stimme, die ganz bestimmt nicht die seiner Vernunft war, zischte ihm zu – Wirklichkeit, Wirklichkeit, Wirklichkeit... Und dann war etwas anders. Etwas Fehlendes. Drabèk schreckte auf, als er erkannte, dass er kein Metall mehr hörte. Wie lange er schon mit leerer Hand focht, wusste er nicht zu sagen. Aber die Gesichter der Piraten ringsum zeigen irritierte Verblüffung. Selbst Bubu kratzte sich am Kopf.
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Balck hielt beide Säbel in der Hand und schüttelte mit einem mitleidigen Hohn den Kopf. „Rattenkerl,“ sagte er mit aller Gehässigkeit in der Stimme, die ihm zur Verfügung stand, „jetzt isses aus.“ Drabèk wich zurück, stolperte über die verfluchte Kiste und blieb auf dem Rücken liegen. Der Himmel über dem Schiff war blau, die Sonne heiß, und eine Möwe kreiste um den Mast. Hier... mitten auf dem offenen Meer. „Bitte,“ murmelte er in Balcks Richtung, „nimm mir mein Glück nicht weg.“ Mehrere Piraten stürzten sich auf ihn zu, er fühlte sich von kräftigen Händen gepackt und hochgezerrt. „Glück?,“ fragte Balck gedehnt. „Was’n für’n Glück?“ Der jüngere Kapitän erwog für einen Augenblick, es ihm zu sagen, ihm von den Camès zu erzählen, zu berichten, wie es sich anfühlte, dieses Band, das sein Herz umschlang und diese vage Idee, die sich in seinem Verstand eingeschlichen hatte. Diese vage Idee von einer Existenz außerhalb der Worte. Balck würde das nicht verstehen. Sein ganzer Charakter war darauf angelegt, böse und erbarmungslos zu sein. Das war seine Rolle, seine Geschichte. „Ach, nichts,“ flüsterte Drabèk daher nur lahm. „Was machen wir nun mit ihm, Käpt’n?,“ erkundigte Lekal sich. Balck lehnte sich respektlos an Drabèks Steuer und verschränkte die Arme. Nachdenklich musterte er seinen besiegten Feind. „Aufknüpfen,“ verfügte er dann, so wie die Stimme es schon vorhergesehen hatte. „Und dann abfackeln, den stinkenden schwarzen Kahn.“ Hab ich doch gesagt, triumphierte die Stimme der Vernunft altklug. Drabèk schloss die Augen. Das war kein glorreicher Abgang für einen Helden. „Überleg dir das, Balck,“ stieß er hervor, obwohl er wusste, dass es für den Schurken da gar nichts zu überlegen gab. Schließlich waren es nicht dessen eigenen Ideen, die ihm in den Kopf kamen. Irgendwo saß sie, und sie verfasste diese hanebüchene Farce. „Ohne mich wirst du dich schnell langweilen.“ „Warst’n harter Gegner, Rattenkerl,“ sagte Balck beinahe freundlich. „’n guter verfluchter eitler Geck.“ Ejo grinste, zückte sein Messer und schnitt damit vor Drabèks Augen ein passendes Stück Seil von einer Taurolle zurecht. Die Möwe landete auf dem Quermast des mittleren Mastbaumes. Drabèk schaute unbehaglich zu dem Vogel auf. Irgendwie spürte er, dass der Vogel etwas mit ihm zu tun hatte. Dass er zu warten schien. Beobachtete. Bubu kam eifrig näher, als Ejo mit dem Seil auf Drabèk zutrat. Der Riese hüpfte unruhig von einem Fuß auf den anderen. „Darf ich?,“ fragte er begierig und etwa so, wie ein kleines Kind es tun würde, dass ein Kunststück vorführen will. „Darf ich den Knoten machen?“
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Balck runzelte verwirrt die Stirn. „Ich habe ihm ein paar neue Knüpftricks gezeigt,“ erklärte Lekal verlegen in Richtung seines Herrn. „Macht er schon ganz gut...“ Käpt’n Balck nickte huldvoll. „Gut. Soll auch Spaß haben. Ist’n guter Pirat.“ Bubu riss Ejo freudestrahlend das Seil aus der Hand. Der Messerstecher warf dem gutmütigen Dummkopf einen feindseligen Blick zu, fügte sich aber. Mit erstaunlich geschickten Fingern knüpfte Bubu eine Schlinge. Drabèk schaute kaum hin und fühlte sich leer und verbittert. Nun war es also geschehen. Die Herrin war seiner überdrüssig geworden, hatte beschlossen, ihn, einen der Helden, der Hauptfiguren, jener Wesen, die die Achsen von Librien darstellten und um die die Geschichten sich drehten und ineinander griffen, aus ihren Erzählungen zu tilgen, und das auch noch auf eine völlig triviale Weise. Als Opfer von Balck würde er aus Librien verschwinden, und der Schurke würde triumphieren, ein seltenes Mal Glück haben und sowohl den Gegner als auch die Schatzkiste für sich beanspruchen. Nun, womöglich war das so besser, als in Vergessenheit dahinzuvegetieren wie der arme alte Loig. Dennoch... Was sollte nun mit den Camès geschehen? Wer sollte ihnen nun Schmuck schenken und sie glücklich machen... sie, sie allein, und nicht etwa irgend eine von ihnen? Wer sollte nun den wohligen Schmerz fühlen, den die Bande um das Herz verursachten? Balck nahm Bubu die Schlinge ab und legte sie kommentarlos Drabèk um den Hals, klopfte ihm gönnerhaft auf die Schulter. „Gibt keine Haifische, hier,“ verspottete er den Kapitän. „Wäre lustiger gewesen...“ „Kein Problem,“ entgegnete Drabèk tonlos. „Du gibst dein bestes.“ Balck musterte sein Opfer verblüfft. „Rauf,“ raunzte er dann. „Hoch zur Rah. Ejo, Lekal...“ Drabèk wehrte sich nicht. Die Camès kamen ihm in den Sinn, all die Dinge, die sie miteinander und mit viel Vergnügen angesellt hatten. Jede einzelne von ihnen war entzückend und lieb gewesen. So süß... und nun verloren und ohne Hoffnung, eingesperrt in ein schmutziges Bordell, in dem er nie wieder einkehren und sie für einige Stunden geliebt und glücklich machen würde. Glücklich... wirklich glücklich... „Ich kann allein klettern,“ sagte Drabèk automatisch und griff nach den nächststehenden Wanten. „Ihr müsst mich nicht fesseln und raufschleppen.“ „Keine faulen Tricks, Schönling,“ zischte Ejo. „Denk an die Kneipenmäuschen. Auf die passt jetzt keiner mehr auf.“ „Ja,“ murmelte Drabèk. „An die werde ich denken.“ Er begann, das Reep zu erklimmen. Er war ein guter und flinker Kletterer, bewegte sich in der Takelage seines Schiffes lässig und sicher wie eine Spinne im Netz. Die Herrin hatte einen ausgezeichneten Seemann aus ihm gemacht. Sein Gleichgewichtssinn war unfehlbar, und an Höhenangst hatte er nie gelitten. Während
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er nun zum Mast hinauf stieg, das schwarze, lichtschluckende Deck der Galeone tief unter sich ließ und der übertrieben blaue Himmel näher rückte, wurde ihm mehr denn je bewusst, dass auch dies etwas war, das ihn glücklich machte. Das Schiff, das unendliche Wasser, dass sich in schwindelnder Tiefe erstreckte und die Segler wiegte. Das Meer, der Himmel, beides so weit... und das Schiff. Wo war das Wasser zuende, wo der Himmel? Und was war dahinter? Was war südlich vom Turm von Fìk’Cion, dem äußersten Punkt Libriens? Lekal kletterte hinter Drabèk, Ejo hatte das Ende des Seiles gepackt und war um eine halbe Körperlänge voran. Am Quermast angekommen, schlang er den Strick herum und knotete ihn fest. Ein sauberer Knoten. Drabèk ließ sich mit den Ellbogen in den Wanten hängen und schaute auf das Meer. Im Halbkreis standen unten auf Deck Balck und seine grimmigen Statisten. Ganz klein sah er die Schatzkiste. Und ringsum das Meer. „Camè,“ wisperte er sehnsüchtig. Die Möwe, die auf dem entgegengesetzten Ende der Rahstange saß, spreizte die Flügel, flog aber nicht ab. Ihre starren runden Vogelaugen waren fest auf ihn gerichtet. Ein hübscher Vogel war es, groß und elegant, mit schön silberweißem Gefieder.
Komm, mein Kind, mischte sich eine dritte, fremde Stimme in seinen Verstand ein,
nicht die, die seine Vernunft war, nicht die, die von Wirklichkeit raunte. Eine freundliche, eine gütige Stimme. Eine, die er zu kennen glaubte. Komm zurück...
komm zu mir... bleib fort...fort von ihr...
Die Möwe blinzelte. Drabèk starrte sie an. „Was bist du?,“ wisperte er. „Ich kenne dich...“ „Auf die Rah!,“ brüllte Balck ungeduldig von unten und riss ihn aus seiner Benommenheit. „Hab’s eilig!“ „Los, Drabèk,“ schloss Lekal sich mit triefender Häme in der Stimme an. „Zeig uns, wie gut du balancieren kannst!“ Fliehen? Die Schlinge abstreifen und flüchten? Aber wohin? Im Segelwerk würden sie ihn einfangen. Und ins Wasser springen? Nein... aus so großer Höhe war das zu riskant, wusste er doch nicht, wie tief es hier war. Das Spiel mitspielen und in Würde und mit Heldenstolz vernichtet werden? „Es tut mir leid,“ raunte er. „ihr süßen Mädchen... es tut mir so leid...“ „Hast den Käpt’n gehört,“ knurrte Ejo erbarmungslos, und Drabèk spürte das Messer in seinen Rippen. Nicht nachdenken. Am besten überhaupt nicht mehr denken... Er griff nach der Stange und kletterte hinauf, balancierte halb in der Hocke auf der einen Seite, während die Möwe am entgegengesetzten Ende saß und die Flügel gespreizt hatte.
Komm zu mir... zum Beginn, zum Ursprung, nach Hause, zurück zu mir...
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„Aber ich liebe sie doch,“ wandte Drabèk mit belegter Stimme ein und glitt weg in einen benommenen Wahn, fühlte, wie sich etwas in ihm ins Freie drängte und die Geschichte abschütteln wollte. „Ich konnte nicht anders...“ „Spring,“ befahl Ejo und hob das Messer an. Drabèk starrte die Möwe an, die den Schnabel aufsperrte und lockend kreischte. Die blonde Camè hatte so ein niedliches Muttermal am Fuß gehabt, und die Brünette... „Spring endlich, verflucht!“ Ejo reckte sich an der Stange empor und sein Messer fuhr auf die Hand zu, mit der Drabèk sich festhielt. Die Möwe zischte. Drabèk schreckte auf und kam ins Taumeln, fuhr in die Höhe, spürte den Widerstand des Strickes... ... und fand sich, ohne jeden Übergang, unvermittelt und schockierend, in der schummerigen Dunkelheit einer Bibliothek wieder. *
D
ie Gestalt, die hinter dem Schreibpult stand, war in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Nur die Kerze auf dem Tisch schuf eine indirekte Beleuchtung. Drabèk stand da, blickte auf schlanke Hände, die eine silberweiße
Schreibfeder hielten und nun über den Seiten eines dicken Buches verharrten. Neben
dem Buch stand ein Glasfläschchen mit Tinte. Nein, keiner richtigen Tinte... mit etwas, das war wie flüssige Schwärze, wie Leere, wie ungeformte Gedanken. Mehr konnte er nicht sehen. Aber er verstand. „Willkommen, Kapitän Drabèk,“ sagte die große Herrin mit einer leisen, wohltönenden Stimme. Er wusste nicht, was er tun, denken und fühlen sollte. Er war überwältigt, als er begriff, wo... nein, was er war. Und er geriet in Panik. Mit einem Wimmern kauerte er sich auf dem Boden zusammen und verbarg das Gesicht in den Händen. Die Herrin schien kaum darauf zu achten. „Was soll ich mit dir machen, Franìs Drabèk?,“ fragte sie nebenbei. „Es sieht so aus, als hätten die Schurken dich diesmal erwischt. Wenige Zeilen stehen zwischen dir und dem Ende.“ Er wagte nicht, ihr zuzuhören. Er hockte verängstigt vor ihrem Pult und zitterte am ganzen Leib. Das hier war eine Situation, der ein Pirat nicht gewachsen war. Sie wusste alles über ihn. Sie kannte ihn bis in die letzte Silbe seines Daseins. Sie hatte ihn erschaffen. Und sie würde ihn vernichten. Sie hatte ihm das Gold genommen, und nun würde sie ihm die Worte nehmen, das Buch zuklappen und vergessen.
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Sie schwieg, wartete womöglich auf eine Antwort, so absurd das sein mochte, denn sie allein konnte wissen, was er ihr antworten würde. Nackt und hilflos fühlte er sich, und das war für einen Helden eine sehr schockierende Erfahrung. „Ich habe dich gefragt, was ich mit dir machen soll, mein heldenhafter Kapitän,“ fuhr sie fort, geduldig, aber fordernd. „Ich habe mich noch nicht entschieden. Du kannst leben, Drabèk, kannst im allerletzten Moment noch gerettet werden. Aber du kannst auch jämmerlich an deinem eigenen Segel aufgehängt die Geschichte verlassen. Mir ist es gleich. Ich kann jederzeit einen neuen Kapitän erschaffen, der mir besser gefällt.“ „Warum,“ krächzte Drabèk leise, „fragst du mich dann, Herrin? Warum tust du nicht das, was dir in den Sinn kommt?“ „Willst du leben?,“ fragte sie, anstatt ihm eine Antwort auf seine Frage zu geben. „Ich frage dich, ob du leben willst. Ob du weiter in der Geschichte deine Rolle spielen willst.“ Drabèk blickte auf. Und er dachte an die Camès. Sie lachte leise, amüsiert. Wahrscheinlich machte sie sich lustig über ihn. „Franis Drabèk,“ fuhr sie fort, „ich werde dir eine Chance geben, wenn du mir dafür einen Gefallen tust. Ich werde dich aus dieser hoffnungslosen Situation herausschreiben. Der Geschichte eine überraschende Wende geben.“ Drabèk zuckte zusammen und rappelte sich auf. „Einen Gefallen?,“ fragte er verwirrt. „Aber wie könnte ich dir...“ Sie legte die Feder beiseite und trat hinter ihrem Pult weg. Drabèk sah ihren Schatten näher kommen und wich zurück. „Siehst du die Bücher, Drabèk?,“ fragte sie und deutete um sich, über die unendlichen und sich in der Schwärze verlierenden Reihen der Regale, die voller Bücher standen, Bücher aller Form und Größe, die den Raum völlig ausfüllten und Korridore bildeten, deren Mittelpunkt das Schreibpult mit der Kerze war. Er sah dicke Folianten, schmale Broschüren, kleine und große Romane und eine Menge einzelner Blätter und gerollter Dokumente. Er sah Librien. Er sah Librien, wie es wirklich war, außerhalb der Großen Geschichte. „Ja,“ wisperte er. „Ja, die sehe ich.“ „Ich möchte, dass die Worte lebendig werden,“ sagte sie. „dass aus ihnen Wirklichkeit entsteht.“ Drabèk erschrak bis ins Mark, während er wieder diese Stimme hörte, die süß und verführerisch wisperte. „Wirklichkeit...“ „Willst du mir helfen, Kapitän Drabèk?,“ fragte sie. Sie stand nun unmittelbar vor ihm, und ihr Anblick entsetzte und erschütterte ihn. Keinen klaren Gedanken konnte er fassen. Er lag zu Füßen seiner Schöpferin, und sie hatte die Macht, ihn auszulöschen, mit ein paar Buchstaben. „Herrin,“ klagte er. „Herrin...“
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„Du bist einer der besten,“ sagte sie. „Der geschickteste all meiner Seefahrer. Ich möchte dir einen Auftrag geben...“ „Was du willst,“ hauchte er. Er hätte es nicht gewagt ihr zu widersprechen. Sie lachte leise. „Du wirst für mich in See stechen,“ sagte sie dann. „Sobald ich euch ausschicke, dich und die Kapitäne. Du wirst für mich auf Beutefahrt gehen. Und du wirst mir etwas bringen, nach dem ich derzeit noch suche.“ Er konnte nicht zu ihr aufblicken. Sie war zu groß und erhaben, dass er sie auch nur hätte bewusst wahrnehmen dürfen. Nun, die Librier wussten, dass es sie gab, was
sie tat... und was sie selbst waren. Und keiner von ihnen war darauf vorbereitet, ihr auf diese Weise zu begegnen. Und doch... nun stand er hier, inmitten des Zentrums von Librien. Den Ort, wo sie alle entstanden waren. Er, Balck, Loig... und die Camès. Die süßen Camès... sie alle waren hier, hier in der Bibliothek, er konnte ihre Anwesenheit spüren. Aber hier, in der Bibliothek der Großen Herrin... da schliefen sie. Da waren sie nur Tinte auf Papier, und sie waren es, bis ein fremder Geist sie zum Leben erweckte.
Drabèk begriff die Regeln Libriens, die so einfach und doch so zwiespältig waren in ihrer Auswegslosigkeit. „Oh,“ machte er hilflos, „Herrin... wonach...“ „Du wirst Librien verlassen,“ fuhr sie fort. „Wenn ich es verlange. Du wirst dich auf ein großes Abenteuer jenseits der Grenzen Libriens machen. Du wirst Librien hinter dir lassen und alles, was Librien für dich ist, nur für den Auftrag, den ich dir geben werde. Sobald ich es gefunden habe.“ Drabèk schauderte. Etwas sagte ihm, dass sich etwas Unheilvolles zwischen diesen Zeilen verbarg. Dass sie versuchte, ihn zu überlisten. „Bist du bereit, Kapitän Franìs Drabèk?,“ fragte die Herrin. „Soll ich dich erhalten, damit du mir dienen kannst?“ Drabèk zögerte nur einen Augenblick. Sie suchte nach Wirklichkeit. Nach Wirklichkeit für alle, die hier in der Bibliothek in den Worten geboren und gefangen waren. Wirklichkeit, wie er sie ahnte und ersehnte. Für sich und die Camès, die mehr sein mussten als erotische Staffage in abenteuerlichen Romanen. Die Möwe fiel ihm ein, die schöne Möwe und die gütige Stimme, die ihn zu sich rief, an einen anderen Ort, einen, der besser für ihn war. Einen Ort, an den ihn möglicherweise der Strick bringen würde. Was verstanden Möwen schon von Piratenherzen und der Sehnsucht nach den süßen Mädchen? „Lass mich entkommen,“ bat er scheu. „Wenn du meine Dienste willst, dann bring mich aus dieser misslichen Lage heraus. Und ich werde für dich fahren, wohin du auch willst.“ Sie schwieg. Dann schritt sie lautlos wieder hinter ihr Pult und nahm die Feder auf.
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Drabèks Glück Eine Schattenherz-Kurzgeschichte von La Maga
Wie viel mochte sie von den Camès wissen? Was ahnte sie von dem Gefühl im Herzen? Woher wusste sie, dass sie ihm trauen konnte? Sie hob die Feder auf und tauchte sie in das gläserne Tintenfass. Die unwirkliche Tinte schimmerte auf. „Du wirst dich nicht an sie erinnern, Drabèk,“ sagte sie ernst. „Nicht, nachdem ich euch entsendet habe. Nicht außerhalb von Librien.“ Drabèk schaute auf die Bücher. Die Bücher waren gut. Sie waren warm, vertraut, freundlich. Diese Bücher konnte er nie mehr vergessen. Und mit einem Mal begriff er, dass dieser Ort, diese Bibliothek, seine Heimat und sein Grab war. Ein gewaltiger, ausbruchssicherer Kerker aus Papier und Ketten aus Buchstaben. Er blickte an sich herab, und er konnte sie sehen, die Sätze, die ihn umschlangen. Er spürte ihr Gewicht nicht, aber sie waren unzerreißbare Bande, die ihn einschnürten und würgten, wenn er versuchte, sich dagegen zu stemmen. Aber sie, sie bot ihm ein Abenteuer, an dessen Ende die Wirklichkeit lockte, eine Fahrt, aus der er als Held hervorgehen konnte. Als der, der den Schlüssel fand, diese Bande aus Worten zu lösen. „Herrin,“ flüsterte er, „oh, Herrin... Mutter der Bücher...“ Sie lächelte. Er wusste es, obwohl er es nicht sah. In ihrem Lächeln lag Triumph. Sie hatte ihm deutlich gemacht, wer er war. Was sie mit ihm machen konnte. Und was sie von ihm erwartete. Leise und zufrieden lachend setzte sie die Feder auf das Papier. *
D
rabèk rutschte von der Querstange ab, seine Füße fanden keinen Halt, und er fiel. In einem blitzschnellen Reflex fuhr seine Hand an den Strick, um die Schlinge am zuziehen zu hindern.
Ein Aufschrei ging durch die Reihen der Statisten unten an Deck. Der Ruck, der durch das Seil fuhr, zerrte an seinem Handgelenk, schmerzhaft und hart. Aber die Schlinge zog sich nicht zusammen, sondern glitt langsam auf und öffnete sich, als er danach haschte. Einen schrecklichen Augenblick lang pendelte Drabèk in der Luft, die Finger weiß verkrampft um die Basis des Knotens geschlungen, der ihm langsam durch die Finger rutschte. Er sah sich gegenüber in den Wanten Ejo, der ihn verblüfft anstarrte, und etwas weiter unten den Zwerg Lekal, der sich ängstlich in das Reep krallte. Ejo dachte nicht lange nach, richtete sich auf und schleuderte das Messer gegen den Strick. Die Klinge durchtrennte sauber den Hanf.
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Aber Drabèk stürzte sich nicht zu Tode. Er sprang im selben Augenblick mit seinem Galgenstrick in der Hand hinüber ins Reep und rammte Ejo den Absatz seines Stiefels so fest vor die Brust, dass der Messerstecher den Halt verlor und abstürzte, mit rudernden Armen mitten hinein in die blauen librischen Fluten, und in einer Fontäne aufspritzendem Wassers verschwand. Offenbar war es doch recht tief an dieser Stelle. Drabèk kümmerte sich nicht um seinen Schrei, haschte nah dem Reep und streifte die Schlinge ab, die ihm soeben das Leben gerettet hatte. Er warf einen interessierten Blick auf den Rest des Knoten. „Das sollte ein Slipstek sein, nicht wahr?,“ fragte er dann gelassen zu Lekal hinunter. „Hübsch. Aber zu locker. Lass Bubu weiter üben.“ Lekal kommentierte das nicht. Der kleine Pirat zeigte ein nervöses Nicken und wieselte dann, wie ein hektisches Eichhörnchen, auf Deck hinab, in den Kreis seiner Kameraden. Drabèk zog das Entermesser aus seinem Stiefelschaft hervor, klemmte es sich zwischen die Zähne und setzte ihm mit einem grimmigen Triumph in der Miene nach. Kapitän Balck, der immer noch beide Säbel in der Hand hielt, starrte hinauf in das Segelwerk der Galeone. Aus der Entfernung hatten die Kaper-Prise-Piraten nicht richtig erkennen können, was dort oben vor sich gegangen war. Aber was sie jetzt sahen, dass war unglaublich. Das war selbst für librische Verhältnisse so weit hergeholt und absurd, dass sie verblüfft und ratlos standen und nicht zu reagieren wussten. Franìs Drabèk, der Kapitän der Schwarzen Galeone, soeben durch einen Akt des unglaublichen Zufalls – und die Unwissenheit des unterbelichteten Bubu - dem Tode entronnen, griff an... griff vierzig blutrünstige Piraten an und war nur mit einem Entermesser bewaffnet. Das letzte Stück sprang er einfach aus dem Reep hinab und mitten hinein in den Kreis der verdutzen Schurken, genau vor Kapitän Balcks Füße. „Rattenkerl...,“ murmelte Balck hilflos, „verdammter Halunke...“ Drabèk nahm das Messer in die Hand. „Das ist meine Schatzkiste,“ beharrte er leise. „Meine rechtmäßige Beute. Und darum kämpfe ich. Ich kämpfe um mein Glück!“ Kapitän Balck umklammerte den Griff seines Säbels und blickte dem edlen Piraten verstört in die Augen, die in einem Feuer flackerten, das halb Wahn, halb Entzücken war. Dann hob er die Waffe mit einem heiseren Brüllen und holte zum Schlag aus. Mit einem leisen, resignierten Krächzen erhob sich die Möwe in die Luft und flatterte davon... nach Süden. Hinüber zum Turm von Fìk’Cion am Rande Libriens, dorthin, wo das Chaos begann.
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*
A
ls die Lichter von Bel’e Tristika wieder in Sicht kamen, saß Drabèk auf der Empore der Brücke und starrte nachdenklich ins Leere. Er war müde, sehr, sehr müde. Und er sehnte sich nach den fürsorglichen Mädchen, die ihn
trösten und pflegen sollten. Nie zuvor hatte ihn ein Kampf so viel Kraft gekostet. Es wurde langsam dunkel, das strahlende Tagesblau des Himmels ging beinahe übergangslos in das kitschige Mondblau über, nur unterbrochen von einem falschen und bombastischen Sonnenuntergang. Während er beiläufig den Kurs korrigierte und mit seinem Messer spielte, lehnte er den Kopf an den Sockel des Steuerrades und spähte durch die fein gedrechselten Relingstreben der Galeone hindurch auf das Wasser hinaus. Die Kaper-Prise hatte Positionslichter gesetzt und zog in respektvollem Abstand neben der Galeone her. An Bord war bedeutend mehr Licht als er es von den Schurken, die stets den Schutz der Dunkelheit suchten, gewohnt war. Wahrscheinlich waren die Kaper-Prise-Piraten damit beschäftigt, ihre Wunden zu verarzten. Der junge Kapitän kicherte leise und irre in sich hinein. Er hatte tatsächlich mit einem einzigen lächerlichen Messer bei einem Kampf auf offenem Deck eine Horde blutrünstiger Schurkenpiraten besiegt und sie in die Flucht getrieben, einen nach dem anderen. Wie die Ratten waren sie in Panik vor dem besessenen Kämpfer über die Reling geflohen und hatten sich hinüber zur Kaper-Prise gerettet. Die ersten, die wieder an Bord des eigenen Schiffes waren, lösten in ihrer Panik sogar die Enterhaken, um schnell von der Galeone weg zu kommen. Die Nachfolger mussten, unter Fluchen und Protest, zu ihrem Schiff hinüber schwimmen. Insgeheim war Drabèk erleichtert gewesen, dass sich das Abenteuer nicht in Haifischgewässer abgespielt hatte. Er mochte keine Todesopfer in seinen Geschichten. Kapitän Balck war als einziger, als letzter übrig geblieben. Verblüfft hatte der Schurke hingenommen, dass Drabèk ihn mit dieser lächerlichen kurzen Klinge entwaffnet hatte – wider alle Logik, und Drabèk sollte nie erfahren, wie er das eigentlich gemacht hatte. Die Herrin hatte es so niedergeschrieben in ihrem Buch, und so war es geschehen. Dadurch war es keine glaubhafte Geschichte geworden, kein befriedigendes Abenteuer, in sich stimmig und geschlossen. Aber er konnte sich nicht beklagen. Er existierte, seine Geschichte ging weiter. Und die Schatzkiste, das Gold und Geschmeide... das gehörte ihm. War für die Camès. War für die Mädchen, mit denen zusammen er wirklich werden wollte. War für das Glück. „Rattenkerl,“ hatte Balck zwischen den Zähnen hindurch geknurrt, „hast mich lächerlich gemacht.“ „Ja,“ hatte Drabèk geantwortet. „Ich weiß. Und ich werde es wieder tun. Ich bin der gute Pirat. Du bist der Bösewicht. Wir können es nicht ändern.“
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Einen Moment lang hatten die beiden sich lauernd und abschätzend angelächelt. „Werd sie mir wiederholen, die Kiste,“ hatte Balck dann noch gesagt. „Ich freue mich darauf,“ antwortete Drabèk und ließ sich auf dem Gegenstand des Interesses nieder, damit Balck nicht noch im letzten Moment auf dumme Gedanken kam. Lekal und Ejo hatten sich unterdessen mit einem Beiboot so weit an die Galeone heran gewagt, dass ihr Kommandant bequem und würdevoll mit einem Fallreep von Bord gehen konnte. Drabèk hatte ihn nicht aufgehalten. Der dumme Bubu saß am Ruder und winkte vergnügt zu Drabèk hinauf. Für den Riesen war das Gefecht eine spaßige Rauferei gewesen. Seine Kameraden, beide arg ramponiert und triefend nass, sahen aus, als hätten sie ihm am liebsten eine Tracht Prügel für den fast perfekten Schlaufenknoten versetzt. Aber über solche Angriffe war Bubu ob seiner imposanten Größe und Kraft erhaben. Drabèk hatte zurück gewunken. Drabèk erhob sich nun von seinem Platz und schlenderte hinüber zur Schatzkiste. Liebevoll klopfte er auf den Deckel und kniete dann nieder, um das Schloss mit dem Messer zu knacken. Das ging einfach. Voller Vorfreude klappte der Kapitän den Deckel hoch. Ein paar silberne Kerzenständer. Ein wenig Besteck aus Elfenbein, ein geschmacklos verziertes Tablett, abscheuliche Goldpokale mit eingravierten Szenen von üppigen Damen und Herren beim Gelage und ein großer Stapel erlesener Servietten. Drabèk hockte einige Minuten sprachlos vor seiner Beute. Plunder. Einfach nur Plunder. Er hatte die Tischausstattung des fetten Kapitäns erbeutet. Drabèk starrte in die Kiste, hob schließlich einen der Leuchter, ein Zeugnis von Kitsch und Hässlichkeit hoch und stellte fest, dass das Metall bereits anlief und sogar Wachsflecken aufwies. Nicht einmal die dämlichsten Hehler der Stadt würden ihm diesen Ramsch abnehmen und zu brauchbarem Gold machen. Fassungslos ließ er den Kerzenständer wieder in die Kiste fallen und verspürte zugleich den unbändigen Wunsch, ihn dem Koggenkapitän über den Schädel zu hauen. Mit diesem Beutezug, fürwahr, hatte Franìs Drabèk, der heldenhafte Piratenkapitän, zum Gespött von Bel’e Tristika gemacht. Wenn das bekannt wurde, konnte er sich in der Stadt nie wieder sehen lassen. Ob Balck gewusst hatte, was in der Kiste war? Hatte der Koggenkapitän in seiner Angst die falsche Truhe herausgerückt? Ihn absichtlich betrogen? Hatte er überhaupt die richtige Kogge gekapert, oder waren sowohl er als auch Balck einer Verwechselung oder einem wilden Gerücht aufgesessen? Drabèk klappte die Truhe zu und kicherte, während ihm Tränen der Hysterie über die Wangen liefen. Ja, Herrin, das war ein ausgezeichneter Witz. Kein Glück für das
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Drabèks Glück Eine Schattenherz-Kurzgeschichte von La Maga
Herz, keine Wonne und kein süßer Schmerz. Nur ein... ein billiger Lacher auf seine Kosten. Kein Gold. Kein Geschmeide. Kein Glück. Nicht aus diesem Abenteuer. Sie strafte ihn für seine Eigenmächtigkeit, für das Verlangen, das er beim Anblick der Camès empfand. Und wahrscheinlich stand sie nun an ihrem Pult und amüsierte sich über den dummen kleinen Heldenkapitän, der ganz allein an Bord der Galeone hockte, reicher um Damastservietten und einen Kelch, auf dem sich füllige Männer mit Trauben füttern ließen. In Bel’e Tristika warteten drei Mädchen auf ihn. Aber er würde nicht zu ihm kommen in dieser Nacht. Drabèk erhob sich, ging hinüber zum Steuer und änderte den Kurs der Galeone, drehte bei und fuhr südwärts, weg von Bel’e Tristika, hinauf auf das offene Meer. Dort irgendwo würde er eine kleine einsame Insel finden, auf der ein einzelner Palmenbaum wuchs. Dort würde er die Schatzkiste mit dem Goldgeschirr vergraben und eine Karte davon zeichnen. Irgendwann würde der alte Kapitän Loig mit der Havarette dort vorbeifahren und den Schatz heben. Und er und Yllop, der lustige Papagei, würden ihren Heringspudding von einer Tafel essen können, die gedeckt war wie für einen König. Das würde eine gute Geschichte sein. Eine lustige Geschichte, eine, die Kinder glücklich machen würde. Eine Geschichte, in der die bitteren Piratentränen untergingen und bedeutungslos wurden. *
W
enn in der Folge in Librien von den Schurkenstücken, den waghalsigen Kaperfahrten des Kapitän Drabèk berichtet wurde, sei es nun im Gespräch der Piraten untereinander oder in denen der Ausgeraubten, wunderte man sich über die befremdliche Angewohnheit des Piraten, nur noch gezielt Geschmeide, Edelsteine und vor allem Gold aus den Laderäumen der Schatzfahrer zu rauben. Er ließ alle Schatztruhen öffnen und sich den Inhalt zeigen, selbst wenn ihm eine halbe Flotte Piratenjäger auf den Fersen war. Er nahm sich immer die Zeit, seine Beute zu prüfen. Drabèk blieb ein Stammgast in der Spelunke „Matrosenfreude“. Die Wirtin hatte nichts dagegen einzuwenden, solange er die Preise zahlte, die sie für die Camès verlangte. Und die stiegen stetig. Aber niemand bemerkte die Schmuckstücke, die an dreien der leichten Mädchen auftauchten, sobald die Schwarze Galeone im Hafen ankerte. Und niemand bemerkte, wie glücklich die Augen der Mädchen strahlten, wenn Drabèk im Schankraum erschien und ihnen zulächelte und sie aus der Menge heraus erkannte und auswählte.
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Kapitän Balck verfolgte Drabèk unnachgiebig mit seinem Hass. Sie lieferten sich aufregende Duelle und spektakuläre Seegefechte und stellten sich gegenseitig Fallen, überlisteten einander und verabscheuten sich. Sie waren perfekte Gegenspieler. Wenn Balck über die besagte Schatzkiste lamentierte, und das tat er bei jeder sich bietenden Gelegenheit, so groß war sein Ärger über Drabèks Schurkenstück, ließ er zumindest nicht erkennen, was er über ihren Inhalt gewusst hatte. Und das war gut so. Und es hätte ewig so weitergehen können, denn in Librien gab es nicht wirklich Zeit, nicht wirklich Veränderung. Doch dann fand die Große Herrin das, wonach sie Ausschau gehalten hatte. Das, wonach sie gierte, was sie unbedingt haben musste, und was ihr nur die Piraten bringen konnten. Denn es ging um Raub. Um Menschenraub. Um eine spektakuläre Entführung. Und Einundzwanzig Galeonen stachen in See, südwärts, hinein in das Chaos und mitten hindurch. Einundzwanzig Kapitäne vergaßen all das, woran sie ihnen nicht erlaubte, zu erinnern. Was ablenkte von ihrem Auftrag. Was belanglos war für die Geschichte, die sie nun schreiben wollte. Was süßen Schmerz verursachte im Herzen und entzückend war und gut. Drei Camès blieben in Bel’e Tristika zurück, um zu warten. Auf den Seemann zu warten, der in den Weiten des Meeres verschwand. Der Turmwärter von Fìk’Cion blickte den einundzwanzig Schiffen nach, die ins Chaos fuhren und im Nebel verschwanden. Auf dem Fensterbrett des Leuchtturms hockte eine große hübsche Silbermöwe neben ihm. Ringsum kreisten, schrieen und zankten Tausende mehr von ihrer Art. Rânyxki klopfte nachdenklich an seine Pfeife und streichelte die Möwe über den Rücken. „Flieg, mein Kind,“ sagte er zu dem Vogel. „Begleite ihn. Sei eins mit ihm. Freundlich ist er, stark und verwegen. So, wie ich ihn mir vorgestellt habe.“ Die Möwe senkte ehrfürchtig den Schnabel vor ihrem Herrn. Und schwang sich dann in die Luft, verließ den Schwarm der ewig kreisenden Ideen rings um den Turm und machte sich daran, die Schwarze Galeone zu verfolgen.
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Register zu Wortspielereien in der Geschichte Personen: Franìs Drabèk Villemel Loig -
Kapitän Balck -
Rânyxki
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Yllop (Papagei) -
Lautmalerische Anspielung auf Francis Drake bzw. Störtebeker Anagramm von Melville Iglo. Melville: Autor von „Moby Dick“. Optisch ist Loig eine „pirateske“ Parodie an die „klassische“ Version von Käpt’n Iglo (der mit den Fischstäbchen) – wohl die erste Kapitänsfigur, die ein kleines Kind kennen lernt. Balck wird zu Black, der Kapitän hat einen schwarzen wilden Bart und ist an den legendären historischen Blackbeard (alias Edward Teach) angelehnt, den Prototypen des „bösen“ Piraten. Lautmalerische Anspielung auf einen bekannten (wirklichen) „Hüter der Literatur“ Palindrom für „Polly“ (... möchte einen Keks...)
Schiffe: Havarette
-
Kaper-Prise –
Das Schiff von Loig, in „Bilderflut“ als halbgesunkenes, verwahrlostes Bötchen beschrieben. Wortspiel mit „Prise kapern“. Man könnte Prisen auch entern, aber der Name Enter-Prise war schon anderweitig geschützt...
Orte: Librien Bel’e Tristika Fìk’Cion -
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„Libri“, italienisch für „Bücher“ Belletristik, Fiktion
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© La Maga 2002
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