Kerstin Mlynkec
Drachentochter
Roman
Ein ungeheuer waches Mädchen wächst in den sechziger Jahren zwischen Ostseeküste...
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Kerstin Mlynkec
Drachentochter
Roman
Ein ungeheuer waches Mädchen wächst in den sechziger Jahren zwischen Ostseeküste und Spreewald heran. Die Mutter verzweifelt an ihr, die sorbische Großmutter versucht erst gar nicht, sie zu zähmen, und in den Heimen der DDR heißt es dann: Wer nicht ins Raster passt, wird passend gemacht. Aber die junge Wilde denkt nicht daran, sich ins Kollektiv einzuordnen. Dieser Roman sprengt jeden Rahmen: die Geschichte einer kämpferischen Außenseiterin, erzählt mit viel Sprachwitz und großer Bildkraft.
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« – das ist der Lebensbericht einer Außenseiterin. Das Besondere ist die Sprache – distanziert, extrem unterkühlt (bei der Beschreibung des eigenen Leids) und plötzlich melancholisch, Anteil nehmend und voller Ironie.» Neue Zürcher Zeitung
«Eines der überraschendsten und eigenwilligsten Erzähl-Debüts der letzten Jahre.» Süddeutsche Zeitung
Kerstin Mlynkec, 1958 in Totenwinkel an der Ostsee geboren, ist sorbischer Herkunft. Die Fotografin gewann 1993 mit ihrer ersten Erzählung den sorbischen Literaturwettbewerb. Sie lebt mit ihrer Tochter im In- und Ausland. «Drachentochter» ist ihr erster Roman.
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Kerstin Mlynkec
Drachentochter
Roman
Rowohlt Taschenbuch Verlag
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2005 Copyright © 2004 by Rowohlt • Berlin Verlag GmbH, Berlin Umschlagentwurf any.way, Cathrin Günther nach einer Fotovorlage von Kerstin Mlynkec Druck und Bindung Druckerei C. H. Beck, Nördlingen Printed in Germany
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ISBN 3 499 23972 8
Einem tanzenden Stern Meiner Tochter Katyrzinka zugeeignet
Mein besonderer Dank gilt Erla Mia, den Sorben und allen Meinen Pferden In letzter Instanz Patricia
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Vorspiel
Als mein Vater, eine dreißigjährige sorbische Rotznase, sich die Hosen hochzog, wußte er noch nicht, daß es aus seinem Ejakulat eine Überlebende geben würde. Ich begann einen körperlichen Raubbau an der Dreizehnjährigen, in die er mich leidenschaftlich hineingespritzt hatte. Meiner Mutter wurde bald täglich ybl von mir. Sie kotzte überallhin und sah nach, ob ich im Ausgewürgten schon dabei wäre. Zum selben Zeitpunkt hörte sie auf zu wachsen und überließ das mir. Die Mtr. verschwieg mich meinem Großvater. Dieser ehemalige Nazi stiefelte sie im siebenten Monat mit einem Bauchtritt aus dem Haus, als sichtbar wurde, daß sich die M., (das M. wird ausgesprochen wie Emm), also die Emm sich zu zweit an seinen karg gedeckten und mit vielen Kindern bereicherten Tisch setzte. Meine Großmutter konnte sich gegen ihren gestrengen Mann nicht durchsetzen, um die Emm zu verteidigen. Einerseits, weil sie eine hörige, wenn auch gütige Frau war, anderseits und erst recht, weil ein Uteruskrebs sie schon Jahre vorher vom Leben abgeschnitten hatte. Die Emm versteckte sich bei meinem Vater, der bereits ein eigenes Zimmer mit Kochnische angemietet hatte. Doch die Polizei hat eine geschulte Spürnase für unsittliche Verhältnisse, wenn sie von wohlmeinenden Nachbarn darauf gestoßen wird. Die Emm verbrachte man in ein Kinderheim, das fürderhin die Verantwortung für ihre Angelegenheiten übernahm. Das erste Mal gebrauchte ich meine Ellbogen rücksichtslos im Geburtsgang und brachte sechzig Zentimeter auf den Kreißsaaltisch. Damit war ich den meisten Mitgeborenen um zirka drei bis fünf Zentimeter vorausentwickelt. Ein Gong auf meinem flachen Hintern, den ich erst Schläge später mutlos beantwortete, erinnerte mich daran, mein Erdenleben anzutreten. Ein Mann, der sich als Ybl Meister auswies, holte mich vom Krankenhaus ab. Am Nackenfell trug er mich zum Pkw, doch kaum, daß ich auf ihn geprägt war und anspruchsvoll begann, seine Brust zu suchen, übernahm mich das Kinderbett Nummer sechsundneunzig im Auffanglager für danebengeborene Kinder dieses Küstenstädtchens und behielt mich bis zur Volljährigkeit der Gebärenden ein. Diese Erfahrung begabte mich mit grenzenloser Gleichgültigkeit und einem hieb- und stichfesten Fell. Beides Werkzeuge, die unerläßlich sind für jeden, der aus seinem Leben kein Drama machen will.
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1. Kapitel Wer nicht Vater noch Mutter hat Den erziehen Tag und Nacht Albanisches Sprichwort
Schwester Berthe war unter uns eine der ersten, die mit dem Leben aufhörte und mit dem Tod weitermachte, weil Kinderlähmung nicht nur durch rundum bewachte Waisen kriecht, sondern auch ihre Betreuer respektlos mit hineinzieht. Mich erfaßte die Epidemie als letzte in der Gruppe. Sie weichte meine Beckenknochen auf, bevor sie endlich im rechten Oberschenkel zum Stehen kam. Das war der Ort, wo sie das letzte Mal gesichtet wurde. Danach galt die Krankheit im sozialistischen Lager als ausgerottet. In einem Alter, wo sich unbeobachtete Kinder an einem Tischbein hochziehen und durch eine Rückwärtsrolle das Tuch mit den Frühstücksgedecken über den Kopf ziehen, saß ich spinnenäugig in der Ecke der Krabbelstube und versuchte, mich an den vorbeihuschenden Kittelschürzen festzuhalten. Hatte ich eine erwischt, schnutete ich mir den Schürzenzipfel zwischen die gerade durchstoßenden Milchzähne. Die aufgehaltene Schwester versuchte, mir liebevoll den Kittelsaum aus dem Mund zu nehmen. Als sie etwas ungeduldiger daran zog, biß ich meine Zähne zusammen. Sie rief eine andere Schwester hinzu. Beide versuchten mit Gewalt, aber in Notwehr, meine verkrampften Kiefer auseinanderzubekommen, bis mir die Augen heraustraten. Die Schwestern sahen darin erste Anzeichen eines epileptischen Anfalls und benachrichtigten einen Arzt. Der tastete meine Gesichtsmuskeln ab. Als er keine weiche Stelle mehr fand, empfahl er der einen Schwester als krampflösendes Mittel, ihren Kittel einfach auszuziehen. Ihren weiteren Dienst versah sie somit in einem neuen Kittel. Meine Kiefer lösten sich aus ihrer Verzahnung, als mir dämmerte, daß in dem Stoff kein Lebewesen mehr eingewickelt war. Für das Personal wurde es zur Routine, im Zwanzigminutentakt die Kittel zu wechseln, und bis zu meinem vierten Lebensjahr blieb ich ein auffallend ruhiges Kind. Ich wurde Fremden ausgehändigt. Sie zogen und trugen mich in den Zoo, wo ich vor Volieren und Käfigen abgesetzt wurde. Affen, Krokodile, Kraniche, Elche, Klofrauen und andere Augentiere besichtigten mich. Die Fremde kniete vor mir und legte ihren
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ungewohnten Arm um mich. Ich schmolz wie Holz. «Sag mal Mama, Ma-maaa ...!» verlangte sie. Meine Stirn legte sich in trotzige Falten. «So schnell geht das nicht, Emm», tröstete sie der Fremde. Die Fremde holte mich wieder ab. Dieser Spaziergang unterschied sich deutlich von den vorherigen. Auf einmal konnte die Emm meine Anstaltskleidung nicht mehr ertragen. Sie schob mich in ein Kaufhaus, suchte Farbenfrohes zusammen, das sie zum Anprobieren von den Bügeln abhängte. Ich steifte Arme und Beine und war weder an- noch auszuziehen. Leute sammelten sich um uns. Sie bemühten sich freundlich, meinem Dauerschrei die Frequenzen abzuschneiden. Erschöpft schlief ich ihnen ein. Es war beunruhigend, daß ich nicht im Auffanglager für Danebengeborene aufwachte. Die Emm beugte sich über mein Kinderbett ohne Nummer. Sie wollte mich zu ihren Besorgungen mitnehmen. Keine davon führte ins Auffanglager zurück. Auf der Straße nickte sie Bekannten zu. Sie wies mich an, ebenfalls zu grüßen. Ich weigerte mich. Dafür hatte ich nicht sprechen gelernt. Später zog ein Trupp Arbeiter vorbei, die alle einen gelben Streifen auf dem Rücken trugen und einen Aufpasser bei sich hatten. Ich grüßte jeden einzelnen. Gelächter setzte ein und ging in Pfiffe über, die der schmucken Emm galten.
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2. Kapitel
Die Emm wurde nicht mehr fertig mit mir. Mein Vater bot ihr an, mich seiner alten Mutter aufzuhalsen. Sie nahmen den Nachtzug. Der wiegte mich in den Schlaf. Ich wachte erst wieder auf, als ein Riegel zurückfuhr. Die knotige Hand einer gespenstisch beleuchteten Alten überfuhr mich. Ängstlich wie eine verflogene Fledermaus, krallte ich in der Jacke meines Vaters, dann schlief ich wieder ein. Der Morgen schickte die Sonne vor. Sie linderte das Grün der Weinblätter, die dem Fenster in die Stirn hingen. Die Emm trug mich auf den Hof, setzte mich in der Mitte ab, zog sich den Kittel über und half der Alten beim Melken. Mittags schlängelten aus dem Kochtopf breite Duftbänder. Die Alte kam, um mich aus den Schmetterlingen herauszuheben, zwischen denen ich erstarrt war. Sie trug mich an den Tisch. Als sich alle gesetzt hatten, bat sie einen Herrn Jesus, unser Gast zu sein und zu segnen, was er uns bescheret habe. Dabei hatte sie nicht mal einen Teller für ihn hingestellt. Nach den Mahlzeiten drückte ich mich an der kalkigen Zimmerwand entlang, zwängte mich durch die Tür, robbte über den Hof und rollte mich im Garten ein. Manchmal fand mich der Hund auch auf der Tenne oder bellte am Obstbaum hoch. Als ich den Geruch reifer Äpfel angenommen hatte, fuhren die Eltern ab. Mich ließen sie bei der Alten zurück. Als mein Vater das erste Mal alleine auf Besuch kam, war ich schon mit dem Hund befreundet. Er sprach mit seiner Mutter, der Alten, in einer zischelnden Sprache. Ich verfolgte das sorbische Gespräch mit läufigen Augen. Mein Vater schaute mich nachdenklich an, als Großmutter ihn mit slawischen S-Lauten zuspuckte. Ihr Finger zeigte auf meine Kleidung. Ich hatte sie nicht annehmen wollen. Deshalb hatte sie meine Anstaltskleidung versteckt und Hemdchen und Hose wie Rattengift ausgelegt. Einige Tage war ich drum herumgestrichen, ehe ich hineinschlüpfte. Danach hatte ich mich den Spielen zugewandt, die immer der Hund anführte. Eine Woche später kam die Emm den Pfad zum Haus herauf. Ich knickte meine Augenlider ein und rollte die Augen fort. Sie fand sich nicht damit ab, daß ihr vierjähriges Kind verwilderte. Ein Wunder wollte sie daraus machen. Ewigkeiten, die ihrer Geduld nicht standhielten, hatte ich Buchstaben zu schreiben. Unebenheiten im Schriftbild korrigierte sie mit dem Teppichklopfer. Als sie erneut zum Schläger griff, wieselte ich zur Tür hinaus, um mich zittrig in die Hundehütte zu verkriechen. Die angeleinte Töle ging auf die Emm los. Mein Beschützer fletschte die Zähne, wurde von der Kette
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zurückgerissen und fiel hin. Da zog die Emm den Schwanz ein, laut fluchte sie auf das Landleben. Meine Großmutter verhandelte mit dem Wolfsspitz und ihr. Kurz darauf verschwand die Emm mit wippendem Koffer den Pfad hinunter. Ich hatte Hunger und winselte meine Großmutter an. Sie korrigierte mich geduldig, bis ich die menschliche Sprache ebenfalls beherrschte. Als die Eltern an ihrem arbeitsfreien Wochenende mit am Tisch saßen, herrschte mich die Emm an, ich solle das Maul aufmachen. Wehlaut antwortete ich auf ihre Frage und entging knapp einer Ohrfeige. Der Hund heulte. Ich bellte ihm, daß ich noch nicht vom Tisch aufstehen dürfe, so versorgte mich die Emm mit der noch ausstehenden Maulschelle. Als mein Vater seinen Schlafanzug am Sonntagnachmittag verließ, versteckte ich mich darin. Den Geruch merkte ich mir. Ich folgte dem herben Mannesaroma und fand es in der Küche wieder. Still nahm ich seine Hand in meine. Sie roch entsetzlich nach der Emm. Ich ließ sie fahren, rannte über den Hof und versteckte mich in der Scheune. Am Abend raschelte eine Hundeschnauze das Heu beiseite. «Geh weg!» zischte ich. Der Spitz wartete hechelnd, bis meine Großmutter die Stiegen erklettert hatte. Ich wollte nicht mitgehen. Sie nahm mich auf den Arm und trug mich herunter. Die Eltern waren nicht mehr da, so verzieh ich dem Hund seinen Verrat. Eines Tages traf ein Pulk Leute ein. Sie lärmten die ländlichen Geräusche beiseite, blieben zwei Tage, verabschiedeten sich von ihren Kindern und ließen sie mir als Halbgeschwister da. Mein neunjähriger Bruder dichtete seine Zigarette mit den Hohlräumen seiner Hände ab, in geheimnisvollen Abständen ließ er Dampf heraus. Nachbarskinder verstanden die Rauchzeichen. Sie kamen, um mit ihm eine Jagdgemeinschaft zu bilden, die mich erlegen wollte. Ich hangelte die Dachbalken entlang, zum Leiterwagen hinunter, flitzte am Zaun entlang bis zur Sommerküche und drängte mich in die Rockfalten meiner Großmutter. Dort blieb ich, bis Langeweile das Vorhaben des Nachwuchspöbels niedergestreckt hatte. Bald konnte ich mich ihnen nähern, ohne daß sie mich wahrnahmen, so vertobten wir die Ferien meines Bruders. Die Erwachsenen kamen wieder, lagen sich die halbe Nacht mit weinnassen Mündern in den Ohren, schlugen nach Spreewaldmücken, reihten sie vor sich auf und würfelten um sie. Die Sonne kam mit der Restglut des vorherigen Tages hoch. Kaum waren meine Halbgeschwister gewaschen, gekämmt, in Seide und Rüschen verschnürt, wurden sie auf den Ochsenkarren gehoben. Sie verschwanden um die Wegbiegung, fortan waren sie abgeschafft.
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Nachbarskinder kamen mit einem Auftragszettel. Großmutter ging mit ihnen in den Garten, pflückte Bohnen, legte sie in deren Korb und nahm ihnen Geld ab. Die Kinder vernachlässigten den Korb. Sie fragten, ob sie an meiner Sandburg mitbauen dürften. Ich sagte nichts. Sie beteiligten sich einfach. Ein Pfotenwetter brach über unsere Architektur herein, das sie vollends zerstörte. Mit offenem Mund verfolgte ich, wie sie den Hund verjagten. Ich staunte über ihre Stärke und fragte, ob sie morgen wiederkämen. Noch in der Halbdämmerung sprang ich aus dem Bett. In die Bügelfalten eines Taschentuchs legte ich zwei Scheiben Leberwurst und hängte eine Feldflasche in die Badehose ein. Dann schlug ich eine Himmelsrichtung ein, die von der Menschheit noch nicht entdeckt worden war. Da ich schon unterwegs war, wußte sich die Sonne verspätet, zügig ging sie auf. Im Gehen nahm ich einen Zug aus der Flasche. Als ich sie absetzte, blieb ich erschrocken stehen. Der Schluck Milch tunnelte sich einen Weg aus beiden Nasenlöchern und beregnete Hornissen, die auf dem Feldweg meine nackten Füße umkrochen. Auf Zehenspitzen schlich ich aus der noch nicht entfachten Stechwut heraus. Der Wald machte einem Häuschen Platz, von dem ich gar nicht wußte, daß es die Wohnhülle meiner neuen Spielkameraden war. Ihre Löffel trieben der Milchsuppe den Dampf aus. Eine Mutter setzte mich auf den Stuhl und kellte mir einen Anteil aus, als wenn ich der Herr Jesus zu Gast wäre. Großmutter und der Hund näherten sich wie ein Tauziehen, das der Hund gewann. Ich schämte mich, so schnell aufgegriffen worden zu sein. Der Hund legte seine Pfoten auf meine Schultern, leckte mir die Milchsprossen vom Gesicht und hechelte. Die Erntesaison begann. Aus einer Scheunenritze zerrte ich einen Dreschflegel, um vorbeiziehende Hühnerkarawanen zu bezielen. Sie gackerten um Hilfe, bis meine Großmutter kam. Wortlos stellte sie das Altertum in die Bretterspalte zurück. Die Erwachsenen räderten ein Holzgerippe aus der Scheune. Sie spannten Pferde davor, dann bepackten stakende Frauen den Leiterwagen hochauf mit den Garben der Natur. Die Dreschmaschine war ein riesiger Holzkasten, dessen Gedärm als Keilriemen außen entlanglief, die Fuder ins Innere schlang und dort verdrosch. Hinter der Regenwand lag schon ein anderer Tag. Der verhangene Morgen zeitigte uns viele Nachbarn und einen blaugesichtigen Schlachter mit Automatik. Er setzte sie an die Stirn der Sau, drückte ab und verfehlte. Das panische Schwein lief auf das Hoftor zu, das ich breitbeinig versperrte. Auf ihrem Rücken nahm mich die Sau mit in ihre allerletzte Freiheit. Später bluteten die abhängenden Schweinehälften in die Eimer. Das entseelte Innere wurde in
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Wurstdärme gedrückt. Als alles übrige in Einweckgläser gefaßt war, kreuzten die Nachbarn ihre trunkenen Beingestelle und versuchten es nach Hause. Mein Vater kam von der Montage. Großmutter trug einen Topf Pellkartoffeln herein und setzte sie auf dem bauernfleckigen Tisch ab. Während wir sie schälten, flogen phlegmatisch Fliegen beiseite, um von der dampfenden Pelle nicht erschlagen zu werden. In die Mitte der Kartoffelhälften schnitten wir ein Schiffchen, in dem sich das Leinöl halten konnte, wenn wir sie aus der Tasse zogen. Dazu tranken wir Buttermilch und rissen mit der Gabel Löwenanteile aus dem sauren Hering. Nach dem Essen holte der Vater sein Akkordeon hervor. Auf der Tastatur wurden seine rissigen Schweißerhände wunderbar schön. Als er wieder wegfuhr, sang ich ihm das abgelernte Lied «Lilly Marleen» nach. Großmutter unterbrach meinen schweren Gedanken. Sie fragte, was ich da Tolles singe. Ich gab die Erklärung meines Vaters weiter, daß es ein Hitlerlied sei und deutsche Soldaten in ihren Schützengräben ... Sie griff nach dem Rutenbesen und schlug weinend auf mich ein. «Zwei meiner Söhne sind gefallen. Deinen Vater hätte mir der Hitler auch fast genommen.» Ich heulte. Mit den Dorfkindern spielte ich auch Krieg. Und wir fielen viel öfter, als ihre Söhne jemals gestorben waren. Nach einer Weile beruhigte ich mich. Meine Augenbrauen zogen sich zusammen und berieten boshaft. Alle Pflanzen, die auf dem Fensterbrett standen, knickte ich ab, danach verschwand ich. Zum Abendbrot war ich wieder da. Meine Großmutter saß lautlos weinend am Fenster. Aus Dresden kam ein Brief, der meine Großmutter ans Haus fesselte. Sie räumte, fegte, kochte und bezog ein Bett neu. Abends stand ihre gleichaltrige Cousine auf der Schwelle, mit dem Rheumakissen in der Hand. Ihre Geschenke waren karg, aber göttlich. Für meine Großmutter hatte sie auf Pappe vergoldete Bibelzitate und für mich das gleiche verbildlicht. Das tägliche Beten exerzierte. Während vieler gepflegter Spaziergänge richtete sie von Gott aus, daß er mich liebe, und redete mir seine Liedertexte ein. Als mein Vater an seinem freien Wochenende Fotos machte, stöhnte ich unter der Last ihrer faltigen Arme. Über meinem Brustkörbchen schlossen sich ihre Hände, die im Nachtschlaf noch schwerer wurden, ein Alptraum. Endlich krempelte sie ihre städtischen Artikel in die Koffer, preßte mich ans Herz, flaggte das Taschentuch und reiste ab. Von da an jubilierte wieder der Pfiff meiner Großmutter übers Land, wenn das Mittagessen fertig war. Die Büsche teilten sich. Ich trat verschwitzt heraus und setzte mich an den Tisch. Wir wagten, uns wieder anzulächeln.
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Der Dorfkindergarten wollte mich nun doch haben. Über mein wetterhartes Leder streifte die Großmutter ein hellblaues Kleidchen, rieb meine trockenen Hände mit Lavendelseife aus dem Westen ein, dann brachte sie mich hin. Keiner hatte mir gesagt, daß sie ohne mich nach Hause gehen würde. Ich rannte gegen die verschlossene Tür, heulte, rotzte, biß, schiß und bewegte Arme und Beine wie das Tagewerk einer Kreissäge. Der Dorfkindergarten wollte mich nun doch nicht mehr haben. Am nächsten Tag war ich wieder alleine unter der Spreewälder Bauernhofsonne. Sonntags ging meine Großmutter zur Kirche. Ich sah beim Anziehen zu. Sie hängte sich als letzte ihrer Ahnenreihe in die wendischen Röcke, kreuzte ein blumenverziertes Tuch über der Brust, kämmte die nur sonntags früh so langen Haare und kürzte sie zu einem Knoten ein. Dann verschwand die Schattenseite ihres Kopfes unter Schweißband und Haube. Abschließend band sie sich eine aufwendig bestickte Schürze um. Ich huschte hinaus und versteckte mich hinter dem Brunnen, um nicht mit in die Kirche zu müssen. Wohlriechend trat sie die Stufen hinunter, ihr Gesangbuch unter den Arm geklemmt wie eine Aktentasche. Sie rief nach mir. Ich meldete mich nicht, sondern vergewisserte mich nur, daß sie wirklich in die Kirche ging. Dann holte ich die Trittleiter und stellte sie in der Speisekammer auf. Ich stieg hoch und faßte im obersten Schrankfach ins Unerkundete. Die Leiter war nicht mehr zu halten. Sie kippte weg, immer tiefer, bis ihr Aufprall kaum noch zu hören war. Ich klammerte am Schrank. Der beugte sich vor und begrub mich lebend unter sich. Zweieinhalb Stunden später waren die Rischkes dazugekommen und bargen mich aus dem Obst- und Gemüseschutt. Auferstanden aus Ruinen, stand ich breitbeinig im Hof und entrümpelte mit dem Zeigefinger meine Nase. Ich überlegte, was anlag. Entschlossen schulterte ich im Schuppen einige Bretter beiseite und legte Schweinetröge frei. Mit dem größten zog ich zum Tor hinaus in den Obstbaumwald. Der kümmerte sich die meiste Zeit um sich selbst. Das Elefantengras wogte und trug meinen Kopf auf seinen Wellen ins Innere der Savanne. Ich überstieg einen Baum, der von Moos gewürgt wurde, obwohl er längst tot war, und gelangte an einen Teich. Dort schiffte ich mich in den Trog ein und paddelte ein Kanalsystem durch die Entengrütze. Ich robbte zum Rand der Wildnis zurück, stahl der Großmutter Decken und Proviant und baute eine Schilfhütte für die Nacht. In der Dämmerung ließ Großmutter ihren bekannten Pfiff zwischen zwei Fingern durch. Dressierte Schwärme von Mücken fielen über mich her und trieben mich dem Dschungel aus.
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Ein Traum kenterte meinen Nachtschlaf. Mein Magen gab das Abendbrot ab. Die Bettdecke fing es auf. Großmutter wusch mich, trennte das Fieberthermometer aus der Tischmöhle, balsamierte mich in Kräutertücher und legte mich in ihr Bett. Die tropische Hitze, von der mein Körper einige Tage befallen war, ebbte ab. Der Hund setzte sich ans Bett. Einige Hühner gakten durch die offengelassene Tür und siegelten auf den Teppich. Mit dem Besen jagte meine Großmutter den Krankenbesuch wieder hinaus. Wenig später brachen die Türen unter meinem Ansturm auf. Ich war wieder ins Jahreszeitliche eingegliedert. Ich lief zu den Hütejungen. Sie hieben einer Kuhrasse auf die Nase, die sich wie Raupen durch die verbotene Gerste fraß. Wir bauten Schützengräben um die Weide und beschossen uns. Zum Mittagessen desertierte ich nach Hause. Großmutter stach zu. Auf der Gabel zitterte ein Fettstück. Sie fragte, ob ich Senf oder Zucker draufhaben wolle. Mit dem Schweinebauch auf der Gabel gab ich mir Deckung, als ich auf die Kuhweide zurücklief. Die untergehende Sonne entschied das Unentschieden. Am nächsten Morgen erklärten wir uns erneut den Krieg. Die Sommerscheiben wurden gemust. Wochen später kullerten winterharte Äpfel in der Mitte des Kellerbodens zusammen. Dazwischen fasteten Mäuse, die auf Getreide aus waren. Meine Augenwimpern standen im Fellwechsel. Dürre Wälder ergrauten und schneiten ein. Eisblumen ätzten sich ins Fensterglas. Gleichgültigkeit meiner Großmutter, daß sie einfach die Gardine drüberzog. Im Kanonenöfchen donnerte ein Feuer voran. Ich saß unter dem Rocksaum meiner Großmutter und hauchte den Holzscheiten Leben ein, sie sollten mit mir spielen. Großmutter harrte vor dem Altar ihrer mit Stecknadeln befestigten Jesusbildchen, geweihte Lieder singend. Dann fielen ihre Hände in den Schoß. Mit ihren vom Gebet noch warmen Augen sah sie mich an. Sie ächzte vom Stuhl hoch und bedauerte, daß ich ein Heide sei. Ich fragte, was das zu bedeuten habe. Sie murmelte, wenn ich schon verloren sei, hätten meine Eltern wenigstens so anständig sein können, mich taufen zu lassen. Hinter dem Zaun grub ich einen gußeisernen Schlitten aus, der zur Hälfte im Schnee steckte. Er war nicht zu bewegen. Vor der Kuh fürchtete ich mich. Also spannte ich den verzottelten Hofhund davor und prügelte ihn vorwärts wie die Bauern ihre Schinder. Sein grausames Lachen biß er in meinen Arm hinein. Abschirren mußte ihn meine Großmutter, weil er mir nichts mehr glaubte. Ich versöhnte ihn mit einem Knochen, den ich aus dem unfertigen Eintopf geklaubt hatte. Der Hund zuckte seine Schnauze und Pfote weg, bis die Kochhitze abgeklungen war, dann grub er ihn ein. Ich
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fand, er solle jetzt fressen, und begann ihn auszubuddeln. Er keilte seine Zähne in meine unverheilte Bißwunde. Ohne erst zu weinen, ersann ich eine Rache. Meter für Meter ging ich mit ihm spazieren und band ihn an der Wasserpumpe fest. Ich grub seinen Knochen aus, als hätte ich ein gefräßiges Interesse daran. Verzweifelt riß der Hund an der Kette, dabei winselte er wie ein in den Wahnsinn getriebener Materialist. Das Buschwerk fror, Frost pelzte sein Geäst. Ein gebeugter Mann mit ausgeglühten Augen schob ein Fahrrad vorbei, das er nicht radeln konnte. Altersschwach stützte er seine Hände auf den Lenker. Seine Nase tropfte. Eines Tages wurde er vermißt. Wenigstens gab es eine Rotzspur im Schnee, der man nachgehen konnte. Er kam nie wieder vorbei, doch ich hatte immer noch Angst vor ihm. Die Leute sagten, daß er schon sehr alt gewesen sei. Dasselbe behaupteten sie von Großmutter. Die tropfende Nase prägte meine Vorstellung vom Alter, in die meine Großmutter nicht hineinpaßte. Sie kam in die Küche und schraubte die neue Gasflasche an den Herd. Ich hakte meine Finger in ihre verbogenen ein und kämpfte mit ihr. Als ich sie an den Schrank gedrückt hatte, schaute ich in ihr noch einigermaßen erhaltenes Gesicht. Sie tat mir leid, weil sie so unvorteilhaft groß und schwach war. Denn ich dachte, das sei schon immer so gewesen. Vertieft in meine Ahnungslosigkeit, begriff ich nicht, daß ich körperlich einmal genauso runterkommen könnte wie sie. Am Himmel klunkerten Sternbilder. Mein Vater nahm mich an die Hand. Wir stapften zum Weihnachtsgottesdienst ins Dorf. Die Großmutter verspätete sich in die Kirche, weil sie die Emm noch abgewartet hatte. Wir sangen schöne Lieder und kehrten als Eintracht an den Gabentisch zurück. Die Eltern blieben nur über die Feiertage. Weil sie hauptsächlich schliefen und sich von meiner Großmutter bedienen ließen, waren sie mir kaum lästig. Im Frühling schlüpften wieder gleichaltrige Kameraden aus. Wir trafen uns zum Versteckspielen. Als die Kinder gegangen waren, schlachtete Großmutter ein Lamm. Sie schnitt ihm den Hals auf und hängte es an den Baum zum Abtropfen. Dann zog sie ihm das Fell über die Ohren, salzte das Fleisch und schob es, mit dem Gemüse zusammen, in die Backröhre. Gäste waren gekommen. Ich scherte mich nicht um den vielen Besuch und aß meinen Anteil ohne nervliche Probleme auf. Wenige Tage später fing ich die Lieblingskatze meiner Großmutter ein. Ich übergab sie ihr mit der arglosen Bitte, wieder so einen schönen Braten daraus zu machen. Inzwischen pflückte ich die Gemüsebeilage im Garten. Doch zum Mittagessen gab es kein Fleisch dazu.
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Ostern schliefen die Eltern den ganzen Tag. Mittags durfte ich aufstehen. Ich suchte bemalte Eier und fragte auch sie, wo der Hase sie versteckt halten könnte. Sie drehten sich auf die andere Seite und pennten weiter. Spätabends vergab ich meinen Hoffnungen. Ich yblegte, wer Schuld an diesem Mißverständnis hatte. Erleuchtet riß ich die Tür zur Karnickelbucht auf. Das Tierchen schlotterte. «Du brauchst keine Angst zu haben!» schrie ich es an. «Wegen solcher Lappalien lege ich keinen um!» Die Emm wollte meinen Vater ganz haben und zog zu uns aufs Land. Sie suchte sich Arbeit in der Kaserne der fünf Kilometer entfernten Stadt. Jeden Freitagabend kam mein Vater von der Montage, blieb über das Wochenende und ließ sie alltags alleine zurück. Diese Vernachlässigung nötigte Fremde und Soldaten, sich einige Minuten in ihrem Schoß glücklich zu schwitzen. Einer ließ sogar die Axt unter dem Fenster stehen, falls mein Vater unverhofft zurückkäme. Großmutter räumte sie kopfschüttelnd weg und ging ihren gewohnten Tätigkeiten nach. Die Emm strickte viel und gern und einen Pullover, der mir zu klein war. Sie hatte meine Maße nur aus der Erinnerung genommen und grämte sich, umsonst gearbeitet zu haben. Jeder an seinem Ende, mußte ich mit ihr den Pulli in die Länge und Breite foltern. Unbeugsam zog er sich wieder zusammen. Sie schaute sich nach einem Prügel um. Als sie sich abreagiert hatte, lag ich in einem Schuppen eingesperrt. Den Pullover fühlte ich feucht neben mir. Er war aus Gumminudeln gestrickt. Frierend aß ich ihn auf. Als ich zum Einkaufen geschickt wurde, schenkten mir Nachbarsleute einen Beutel Kleider. Ich wollte sie nicht in meiner selbstabgezählten Welt haben. Wie ein Massenmörderchen war ich voller Gedanken, wo ich das unangenehme Zeug verscharren könnte. Die Emm erfuhr von meinem Reichtum. Den Kleiderbeutel sollte ich aushändigen. Statt dessen verscherbelte ich ihr ein Räubermärchen, und sie glaubte ernsthaft, ich sei von bösen Jungen überfallen und ausgeraubt worden. Im Dorf klapperten wir alle Gehöfte ab. Den Dieb sollte ich ihr zeigen. Ich klotzte Tränen heraus und gestand, hier könne man ihn bestimmt nicht finden, doch vielleicht im nächsten Dorf. Auch dort entdeckte ich niemanden, der wie ein Räuber aussah. «Ich glaube, der wohnt im dunklen Wald», schluchzte ich. Die Emm beherrschte sich. Doch daheim liefen ihre Muskeln über wie der süße Brei. Als ich im Schuppen erwachte, waren meine Schmerzen gleich für mich da. Ein Türknarren ging dem Lichtstreif voran. Großmutter schmuggelte Kuchen. Nach dem Kauen sollte ich mir aber den Mund abwischen! Zur Nacht ließ mich die Emm frei und setzte Essen vor. «Omi hat mir was Besseres ge-
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geben», verweigerte ich mich. Großmutter schreckte zusammen. Als sie mit mir alleine war, schüttelte die mich auch noch durch. Im Hochsommer drückte mein Vater die Emm an die Scheunenwand, um sie zu vermöbeln. Großmutter versuchte, die beiden auseinanderzubringen, und bekam auch noch eine vor den Latz. Ein Nachbar, der wegen einer Langweiligkeit gekommen war, mischte mit. Mein Vater ließ von der Emm ab und behauptete, daß die das brauche. Kurz darauf lag die Kuh röchelnd auf der Seite. Das Weiß ihrer verdrehten Augen jagte mich in den Schoß meiner Großmutter zurück. Der Trauernden, die nie gegen jene Zehn Gebote verstieß, die sie mich gelehrt hatte, vertraute ich an, daß auch ich niemals töten würde, solange ich jemand anders darum bitten konnte. «Wen hast du gebeten, die Kuh umzubringen?» fragte sie entsetzt. «Den Herrn Jesus», schmunzelte ich. Als Strafe für meine Geschwätzigkeit brüllte ein Unwetter auf. Großmutter und ich erschraken, wir konnten uns nicht mehr von der Stelle bewegen. Der Vater kam gelaufen und versuchte vergebens, uns ins Haus zu ziehen. Eine Wolke kam nieder und wattierte alle Geräusche. Das Scheunentor brach auf. Heraus geisterte der Ochsenkarren. Im Hof erstarrten wir zum Familienfoto. Unsere Augen setzten dem Karren Stück für Stück nach. Er durchfuhr jede vollgeliterte Pfütze, egal, ob sie auf seiner Route lag oder nicht. In den nassen Wetterspiegeln bäumte sich Staub. Der Karren fuhr wieder in die Scheune ein. Die Tore schlossen sich. Jene Wattewolke fuhr mit unserer seligen Kuh auf. Die Sonne erschien. Ihre Flammenzungen leckten die Wasserlöcher wie Teigschüsseln aus. Nur die Pfütze in der Mitte des Hofes nicht, deren düstere Unruhe noch wochenlang im Wellengang über die Oberfläche trabte. Wie gewohnt, schliefen die Eltern am Wochenende durch. Die Emm ließ mich nicht aufstehen, damit ich nicht ständig in der Stube herumpoltere. Unterbeschäftigt lag ich zwischen dem Liebespaar. Meine Finger gingen an Bord meines Vötzchens, bis der ganze Körper schlingerte. Die Emm riß meine Arme aus den Bettfedern. Sie schlief wieder ein. Die Hände ließ ich auf der Zudecke liegen. Mein Blick entrückte der Wirklichkeit. Verträumt schiffte ich den großen Zeh in das Möschen ein und zerritt die Langeweile. Die Emm nahm meinen Vater an die Hand, sie gingen spazieren. Unglaublich ... sie nahmen mich mit. Am Ende des Fußweges ließen sie sich fallen und herzten im Ufergras der Spree. Ich riß Schilfrohr ab, um es angelnd ins Wasser zu halten. Die eiligen Rücken der Fischchen reflektierten an der Oberfläche des Fließes. Ich zählte jedesmal zehn. Mit Großmutters Stimme hatte die Bibel mir von
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Judas erzählt, die silbernen Fischchen gaben ihm Gestalt. Für dreißig dieser jagenden Silberlinge hatte der Herr Judas den Herrn Jesus verraten. Mir ging nicht einer an die Angel. Das war leider zu wenig, um die Emm an den Herrn Pilatus ausliefern zu können. Endlich biß etwas an. Es war der Wassermann, vor dem meine Großmutter mich das Fürchten gelehrt hatte, damit ich mich nie in falscher Richtung vom Haus entferne. Er zog mich hinab und stopfte mir immer mehr Spree in den Mund. Ein Wasserstrudel gurgelte mich hinunter, wirbelte erst meine Haare und dann mich zum letzten Tanz herum. Da zog mich mein Vater am Schopf heraus. Fünf Wasserstrahlen aus Nase, Ohren und Mund erdeten mich wieder am tückischen Kanalufer. Die Emm klatschte mir eine und fragte, ob ich beim Spielen nicht aufpassen könne. Der fassungslose Vater bekam nicht mehr rechtzeitig seine Hand dazwischen, um ihren Ausbruch zu mildern. Er nahm mich auf den Arm und sprach an diesem Tag kein Wort mehr mit der Emm. Wind wirbelte, entfachte einen Herbststurm und drückte meinen selbstgefriemelten Drachen erst gegen das Dach, um ihn dann auf der Erde zu zerschmettern. Ich kniete mich hin und sah, wie er seine Lebenskraft verlor. Sein Blut flutete die Pfütze, die sich seit dem Ableben unserer seligen Kuh nie mehr beruhigt hatte. Ich stellte mich in das vom Drachenblut verdickte Wasser. Ein Vogel, der sich nur von Spreewaldblättern ernährte, schiß mir auf die Schulter. Ich tauchte in die Pfütze ein. Nach dem Blutbad blätterte die Vogelscheiße ab. Sie hinterließ meine einzige verwundbare Stelle. Der eingeteichte Lebenssaft verblaßte und klarte auf. Das Zauberwasser spiegelte, wie ich, unberührt von bösen Ahnungen, die großmütterliche Scholle verlasse. Nicht heute, nicht morgen, aber eines Übermorgens nachts ... ... wurde ich aus dem Bett gerissen und ruppig angezogen. Mein Vater versuchte, mich hier zu halten. Die Emm trommelte auf seiner Brust, zerkratzte sein Gesicht und zog mich weiter an. Dann hob sie mich verheult auf das Fahrrad. Der nächtliche Fahrtwind ratschte mir die Augen auf, der Gepäckträger zerlegte meinen geteilten Po in noch mehr Felder. Städtische Laternen hielten ihre Lichter dem Kaserneneingang hin. Am Ende der kahlen Gänge saß eine Schwester Anna hinter dem Schreibtisch. Die Emm erzählte ihr alles vom Schweinehund Vater. Dabei trank sie Tee, ohne den Löffel aus dem Glas zu nehmen. Ein Soldat juxte, ob sie ihr Auge im Getränk haben möchte. Die Emm bejahte es ernst. Er fuhr uns zur Eisenbahn. Deren Räder pleulten, bis ein Meer uns den Weg abschnitt.
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3. Kapitel
Im Hafenviertel der Großstadt bezogen wir zwei leere Zimmer. In einem saß die Emm auf einem geschenkten Sessel, im anderen verlor sich mein Kinderbett. Meine Augen platzten auf wie zertretene Kastanien, weil die Emm mich mit einer Ohrfeige aus dem Mittagsschlaf geholt hatte. Unter uns machte sich ein Säuferpaar übereinander her. Im Schneidersitz hörte ich ihrem Gekreisch zu, wenn die Emm die beiden nicht gerade jähzornig übertraf. Vergaß die Emm, mit dem Brüllen aufzuhören, oder war sie mit dem Schlagen fertig, schraubte ich die Leinölflasche auf und schnüffelte. Das machte gleichmütig, so wurde die Emm erträglicher. Sie wunderte sich erst, als sie die Schläge immer höher dosieren mußte, um mich zu erreichen. Überreizt riß sie mich von der Leinölflasche los und warf sie über Bord des Mülleimers. Ich verlor schlagartig an sorbischer Vergangenheit. In diesem Zustand wurde ich auf die Straße geschickt. Die Kinder waren okay, bis auf Neulli. Der ließ eine Kopfnuß los. Sie kegelte über kleiner werdende Gören und vermehrte sich, unterwegs zu mir, wie die Karnickel. Abends gingen alle in die Stuben. Ich wartete. Doch vor Morgenanbruch kam niemand zurück. So schlorrte ich im Dunkeln die Treppe hoch und klopfte. Überrascht öffnete die Emm die Tür. Ich schaute sie schuldig an, zuckte mit den Schultern und schlüpfte unter ihrem fettlichen Arm durch. Als bald wurde ich meiner Verwandtschaft vorgestellt. Onkel Hans bot mir eine Zigarre an. Er erklärte, wie man sich damit einen Keuchhusten macht, der die Zuschauer zum Lachen bringt. Eine Tante nahm mir die Qualmwurst weg und ersetzte sie durch einen Keks. Zu Tante Kätchen mußten wir in den Keller steigen. Mit ihrem Sitzfleisch fettete sie das ganze Sofa aus. Neben ihr saß die grausam alternde Tochter. Sie wurde von den Kerls zur Hochzeit gepfiffen, konnte jedoch nicht aufstehen, weil sie ihrer Mutter, die sie unter Schmerzen geboren und mit Entbehrungen großgezogen hatte, zu Dank verpflichtet war. So wartete sie ergeben auf der Mutter Tod. Dieser Zweig unserer Verwandtschaft ist inzwischen so ausgestorben wie die Dinosaurier. In der Wohnung von Onkel Karli nahm mich seine Frau mit in die Küche. Sie tischte ein Kompottschälchen auf. Noch nie in meinem Leben hatte ich in eine solch grüne Tiefe gestiert und schaute sie fragend an. «Iß!» sagte sie. Ich spatete den Löffel hinein. «Das zittert
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ja», sagte ich mitfühlend. – «Nun iß die Götterspeise schon», drängte sie. – «Tante, kannst du die vorher totmachen? Ich esse nix Lebendiges», bettelte ich. Sie trug mich ins Wohnzimmer. Meinen Umgang mit der grünen Kreatur erzählte sie den anderen als Witz. Onkel Karli verlängerte das allgemeine Gelächter, indem er mir den Rat gab, keiner Götterspeise etwas zuleide zu tun. Sie sei schließlich ein Lebewesen wie ich und er. Den Tränen nahe, zog ich die Mundwinkel nach unten. Ein Achtelmond, der das Kinn am Brustkörbchen feststeckt. Onkel Karli warf mich so lange in die Luft, bis ein windschiefes Dreieck andeutete, daß ich lächelte. Onkel Ferdinand bot Bonbons an. Mit neuneinhalb Fingern packte ich zu. Einen halben hatte ich noch in der Nase. Um die Emm zu entlasten, kaufte er Süßigkeiten und nahm mich mit in den Park. Nach einigen Spaziergängen wollte ich nie wieder mitgehen. Bevor er mich bei der Emm abgab, trichterte er mir ein, wir hätten ein Geheimnis, das ich niemandem erzählen dürfe. Sonst würde mir etwas ganz Schreckliches passieren. Ich wollte kein Geheimnis mit ihm haben. Doch die ahnungslose Emm sträubte mich in den Anorak und zog ihn brutal zu. Die beiden zerstritten sich aus einem anderen Grund, und die Spaziergänge brachen ab. Seither kann ich nicht mal meinen eigenen Finger ablecken, ohne würgen zu müssen. Tante Elfi hatte sich meinen Geburtstag gemerkt und kam mit einem Geschenk. Die Emm flitzte los, um einen Kuchen zu besorgen. Kakao verschmierte das Kleidchen, weil die Emm mir wegen herunterfallender Krümel eine gelangt hatte. Ein Nagel ragte aus der Wand und riß auch noch eine Dreiangel in mein Kleid. Die Emm schlug mir das ruinierte Stück um die Ohren. Nicht die Emm, sondern die schmerzenden Knöpfe brachten mich zum Heulen. «Du Nichtsnutz kostest nur Geld!» schrie sie. Tante Elfi rechnete ihr vor, daß ich ganz gut mitverdiene: Alimente, staatliches Kindergeld und Steuernachlässe. Sie riet der Emm, es sich nicht mit diesen Einnahmequellen zu verderben. So tröpfelten mir am sechsten Jahrestag unaufhörlich die Augen. Ich fragte mich, was ich im Leben zu suchen habe, und meine Todessehnsucht bekam nasse Füße. Ich wurde dem Schularzt vorgestellt. Mit einem Holzstäbchen öffnete er meinen Rachen und guckte sich im Hohlraum meiner Seele um. Seine Finger strichen über die Klangleiter meiner Rippen. Wegen Unterernährung schrieb er eine Kur auf. Die Emm reppelte zwei zerschossene Pullover auf und strickte ein Kostüm. Darin wurde ich zum Zug gebracht. Einmal in der Woche malten wir Briefe für unsere Eltern.
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Ich zeichnete eine Sonne, ein Haus, einen Gartenzaun, einen Singvogel und beschattete das Grundstück mit Wolken. «Du kannst andere Farben nehmen», lächelte die Betreuerin. Doch ich blieb bei Schwarz. Als mein Bild fertig war, merzte ich das verbliebene Weiß aus. Die Schwester arbeitete daraus einen Scherenschnitt, der glimpflich mit der Post abgehen konnte. Dann machten wir einen Ausflug in die Stadt. Kurz vor dem Bahnhof scherte ich aus. Im Park nahm mich ein Herr an die Hand und fragte mich aus. Ich widerstummte ihm. Im Café erfuhr er noch weniger, weil ich den Mund voller Kuchen hatte. Er brachte mich zur Polizei. Dort war ich wegen der Angaben der Kurleitung schon bekannt. Eine Amtskalesche brachte mich in das bewaldete Erholungsgebiet zurück. Eine Woche vor dem Kurende wurde uns mitgeteilt, daß wir bald nach Hause könnten. Das machte mein Essen ungenießbar. Die Betreuerinnen ließen mich vor dem vollen Teller nachsitzen. Dreimal täglich bekam ich eine Extraportion Höhensonne in den Mund geschaufelt. Der Appetit wuchs. Er quälte meinen Hunger. Ich bekam trotzdem nichts herunter. «Das Auge ißt mit», sagte eine Schwester zu der anderen, und sie garnierten das Essen. Meine Augen waren keine Mitesser, sondern Alleinesser. Alleinessen macht fett, bald schwammen in meinem hohlen Antlitz zwei satte Fettaugen. Nach Ablauf der Kur hatte ich zwei Kilogramm abgenommen. Die Emm begründete es ihren Bekannten damit, daß mir die vertraute Umgebung gefehlt hätte. Mein Vater besuchte die Emm und sagte etwas Unpassendes. Sie rupfte mich heulend vom Teppichboden. «Kümmere du dich um das Balg. Es ist schließlich deines!» Bevor er ging, stellte er mich auf den Boden zurück. Sie zog' mich an den Haaren, schmiß mich ihm hinterher und keifte, daß ich ihr nicht mehr über die Türschwelle komme. Vergeblich klopfte er an die verschlossene Wohnungstür. An Vaters Hand ging es zu seiner Ehefrau. Ich spielte mit meinen Halbgeschwistern, während die Ehefrau brüllte, was sie mit dem Kind seiner Mätresse solle. Er redete auf sie ein, bis ihr das Herz brach. Sie bezog ein Federbett neu und legte mich auf der Wohnzimmercouch schlafen. Anderntags meldete sie mich polizeilich um. Ich gewöhnte mich an den Gedanken, mit meiner gleichaltrigen Halbschwester bald in dieselbe Klasse zu gehen. Eine Woche vor Schulbeginn wurde meine Eingewöhnungszeit von den Faustschlägen der Emm an der Wohnungstür abgebrochen. Die Frauen rissen einander an den Haaren, bis es der Emm gelang, mich aus dem Kreis der Halbgeschwister zu greifen. Ich bedauerte, daß sie mich nicht mit einem von ihnen verwechselt hatte.
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4. Kapitel
Die Klassenlehrerin rief jemanden auf und sah dabei mich an. «Wie heißt du?» hinterfragte sie meinen Namen genauer. Ich wußte nicht, wovon sie sprach. «Wie wirst du zu Hause gerufen?» Ich überlegte mühsam. «Wie alle ... mit Du», stotterte ich. Der Name, mit dem sie mich ansprach, nachdem sie ins Klassenbuch geschaut hatte, blieb mir fremd. Doch ich lernte noch vor Ablauf des Schuljahres, nach ihm aufzuspringen. Zu Hause griff die Emm ein Schnapsglas und setzte es poliert einem Besucher an die Lippen. Darüber vergaß sie, die raumteilende Schranktür zu verschließen. Ich konnte mit anhören, daß es in Afrika einen Stamm gab, der das Erstgeborene opfere, wenn es ein Mädchen ist. «Na, darauf wirst du doch nicht trinken wollen», enträusperte sich der Besucher. Das Zechen wurde lauter, brach ab, ging in ein Keuchen über, dann fiel die Wohnungstür ins Schloß. Die Emm warf einen Blick hinter den Schrank. Sie sah Bettzipfel auf meine Daumen gesteckt, wie sie sich zunickten, kicherten und wisperten. Sie riß die Bettdecke fort und warf sie neu über mich: «Schlaf jetzt oder krepiere!» Dann öffnete sie das Fenster, schüttelte ihr Bett auf und weinte sich in den Schlaf. Für mich war kein Hortplatz frei. Also ging ich so lange nach Hause, wie ich wollte. Die Emm kam ohnehin erst um fünf Uhr von der Arbeit. Ich bog in einen Vorgarten ein, den eine Hecke begrenzte. Vor dem Kellerfenster lag Koks aufgeschüttet. Ich zielte ein Koksstück nach dem anderen auf die Straße. Eine Frau stöckelte vorbei und guckte herüber. Der schon versendete Kokser landete in der Krempe und zog den Hut über ihre Neugier. Mit erschrockenen Augen und abgespreizten Armen klebte ich an der Hauswand. Doch die Frau lief einfach nur an mir vorbei. Zum Tag der Nationalen Volksarmee wurde ich schließlich doch in den Hort aufgenommen. Wir malten Glückwunschkarten. Ich strichelte mit Lineal und Bleistift Regen auf das Hausdach. Wir fuhren mit den Bus, um Marinesoldaten in ihren Kajüten zu besuchen. Ein Matrose drehte meinen Glückwunsch zwischen den Fingern, bis mein Haus verbeulte. Ich ließ es geschehen. Mit der gleichen Hilflosigkeit zuckte er seine Schultern und schenkte mir schließlich eine kindskopfgroße Apfelsine. Ich stand immer noch fest. Der Matrose setzte mich in die Beuge seines Armes und trug mich an Deck. Dort entdeckte ich, wie privilegiert ich war, denn die anderen Kinder waren leer ausgegangen. Zurückgekehrt in den Hort,
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lag meine Apfelsine in der Hand der Erzieherin, die mich nicht dazu bringen konnte, die Südfrucht mit den anderen zu teilen. Der Herbst lag in den Wehen und quälte sich den Winter heraus. Häuser, Bäume und Straßen wurden vom Neuschnee gewindelt. Ich stempelte meine Schuhgröße in die Schneedecke, bis ich vor dem Krankenhaus innehielt. Dort stand das Denkmal von einem Jungen in der Kunstmode der Sechziger. Seine bronzene Statur körperte auf einem steinernen Sockel. Jeden Tag ging ich dichter daran vorbei. Ich streifte sie, stieg tags darauf an ihr hoch und faßte am Ende der Schulwoche dem Jungen zärtlich an den Hals. So, wie ich es bei den sommerlichen Liebespaaren sah, denen ich heimlich zum Stadtrand in den Wald folgte. Was sie dort taten, konnte ich nicht erkennen, weil sie es mit ihren schwitzenden Körpern verdeckten. Ich küßte die Statue täglich und immer wilder. Als ich eines Nachmittags von dem Bronzejungen abstieg, war ich von einer Ärztin und drei Pflegern umringt. In ihrem Viereck raste ich und entwischte durch den Lichtspalt, den ihre Kittel durchließen. Den Gedenkstein meiner Liebe ließ ich fortan links liegen und erkaltete. In der Börse war nie Geld für ein Paßfoto, das ich für den Pionierausweis brauchte. Erst als die Lehrerin eine Mahnung ins Mitteilungsheft setzte, war überhaupt was drin. Für den Fotografen sollte es die lila Strickjacke mit dem weißen Kragen sein. Die Emm fand sie nicht. Sie schrie herum, wo ich die gelassen habe, und holte mit einem Lederriemen aus. Das Gesicht ließ sie aus. Das bekam noch der Fotograf. Ich sollte aufhören zu heulen. Weil das nichts nutzte, trampelte sie das Geschluchze mit den Schuhen aus. Am nächsten Morgen, den ich, wie jeden anderen auch, ängstlich erwartete, ging die Sonne zuerst mit dem Arsch auf. Ansonsten passierte nichts. Die Jacke fand sich schließlich dort, wo die Emm sie hingelegt hatte. Der Fotograf fragte so gütig, wo denn das Vögelchen sei, daß ich lachen mußte. Und bis heute sagt jeder das: daß das das fröhlichste Kinderfoto von mir sei. Im Frühling bekam ich einen Bruder. Ich mußte nebenherlaufen, während er einen Kinderwagen mit Verdeck fuhr. Zwischen den Zähnen mahlte ich Vollkornbrot und fütterte es seinem sperrigen Mund ein. Die Emm sah das und tötete in einer ungleichen Rauferei meine erwachten Mutterinstinkte ab. Hinter dem Rücken des Wohzimmerschrankes stand immer noch mein Bett. Im Vorteil des Raumes rauchten die Emm und ihr baßflötender Herrenbesuch. Weil mir das Daumenlutschen abgewöhnt worden war, saugte ich an einer Reißzwecke. Sie rutschte aus, den Hals hinunter, meine Stimme riß gefährlich auf. Der alarmierte Baß rannte hinter den Schrank und trug mich in die Klinik.
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Im Krankenhaus mußte ich milchsaure Schlingpflanzen essen. Das Sauerkraut sollte die Reißzwecke einholen und verwickeln. Die Krankenschwester gab mir einen Nachttopf, der Kot kam täglich auf den Operationstisch der Ärzte. Auf meinem Zimmer lagen noch eine Blinddarmgeschichte und eine minderjährige Hepatitis. Die Hepatitis kratzte sich immerzu. Beide Zimmermädchen bekamen zur Besuchszeit Eltern und Verwandte. Meine Einsamkeit überbrückte ich mit Lesen. Die Hepatitis erzählte ihren Verwandten erschöpfend, wie ich eine Spinne über ihrem Bett fertiggemacht hatte. Schlagartig schauten alle zu mir. Ich hob den «Schatz im Silbersee» aus der Krankenhausbibliothek. Dahinter ging mein flammender Kopf unter wie die Abendsonne, die mir sogleich folgte. Am Ende der Woche hatte man den verschluckten Fremdkörper immer noch nicht gefunden. Ich sollte seziert werden. Eine Reinemachefrau entdeckte den vollgeschissenen Nachttopf vom ersten Tag in meinem Nachtschrank. In diesem fand sich die gewünschte Reißzwecke. Der Arzt trug sie auf der Pinzette herein und schickte mich lachend nach Hause. Die Emm mußte weg. Ihre Cousine nahm uns in Pflege. Meinen Bruder setzte sich die Cousine stolz auf den Schoß. Durch mich glich sie wieder aus. Die Emm kam erholt zurück. An jenem Tag brachte mich die Lehrerin nach Hause und erforschte die Herkunft meiner angeschwollenen Striemen. Die Cousine konnte es sich auch nicht erklären. Die beiden erhoben sich artig, um die Lehrerin zu verabschieden. Danach schiß die Emm ihre Verwandte zusammen, wie man ein Kind dermaßen mißhandeln könne. Dann dunkelte sie, wenn ich in der Schule noch mal etwas erzähle, würde sie mich in ein Kinderheim stecken. Ich war gar keine Erzählerin, doch ich hielt mich daran. Meine Zunge nahm ich auch im Unterricht nicht mehr aus dem Etui, selbst wenn ich gefragt wurde. Gegenüber wohnte eine lehmhaarige Frau. Immer mit einem anderen Säufer an der Seite, wurde sie niemals dünn. Obwohl sie schon das vierte Kind bekam, war immer noch Vorrat für Jahre im Bauch. Der Emm erzählte sie mal, was die Nachbarn über sie dachten. Die Emm war stinksauer und erzählte der Haarigen, was die Leute über sie abließen. Das war die Kernlegung ihrer Freundschaft. Sie tranken Kaffee, fuhren einkaufen, hielten aber auch bei Schwierigkeiten zusammen. Hatte ich zum Beispiel etwas ausgefressen, kochte die Emm Haferflocken ohne Zutaten. Da ich so was freiwillig nie essen würde, hielt die Nachbarin mir hinten die Arme zusammen. Die Emm konnte dann besser mit dem beladenen Löffel meine Zähne einstoßen und die Kiefer auseinanderhebeln. Ich aß trotzdem nicht auf. Daraufhin hängte die Emm den Teppichklopfer ab. Die
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Nachbarin setzte ihren Arsch auf meinen Nacken und hielt mir den Mund zu. Es war ein warmer Arsch. Von der Emm hatte ich aufgeschnappt, daß die Nachbarin ihren Männern nie Zeit ließ, ihn kalt werden zu lassen. Doch jetzt war die Emm damit beschäftigt, den Teppichklopfer über meinen lautlosen Körper zu wüten, der sich nach jedem Schlag elektrisiert vom Sofa abstieß. Stuhl, Tisch und Schrank waren Zeitzeugen, die sich mit Holpern, Schurren und Knarren einmischten. Später lernte die Emm einen Chemiestudenten kennen. Für mich war er eine gute Partie. Wenn die beiden allein sein wollten, spuckte er wie ein geknackter Automat Geld fürs Kino aus. Der Chemiestudent lief niemals weg. Wegen der beiden Kinder nicht und nicht einmal wegen der Emm. Er gab mir zwei Mark in die Hand. Ich kaufte mir ein kleines Postauto. Als ich wiederkam, stand der Möbelwagen vor der Tür und verschleppte uns in eine größere Wohnung. Meine Klassenlehrerin hoffte, daß ich mich in der neuen Schule verbessern würde. Ich hätte nun einen intelligenten Vater und in der anderen Wohnung mehr Platz zum Entfalten. «Entfalten?» dachte ich irritiert, weil ich weder ein Schmetterling noch eine Scheißhausfliege bin. Meine Flügel waren bereits zu Armen verstümmelt. Ich konnte froh sein, wenn die nicht auch noch abbrachen. Jeden Tag kotzte die Emm ins Neubauklo und war nicht mehr ansprechbar. Statt dessen zeigte sie auf den Chemiestudenten, zu dem wir Papa sagen sollten. Meinem Bruder machte es nichts aus, zwei Papas zu haben, weil er den ersten sowieso nicht kannte. Ich sprach nicht einmal meinen Vater mit Papa an und machte für den Studenten keine Ausnahme. Die Emm stellte sich bei der Bewältigung der Schwangerschaft ziemlich blöd an, deshalb kam sie mit Blaulicht ins Krankenhaus. Der Student schrieb an seiner Doktorarbeit und wollte das nur im Beisein von Ruhe. Mein Bruder war tagsüber in der Krippe, das ging schon. Das eigentlich Störende war ich. Der Student fragte, ob ich mir vorstellen könne, woanders zu wohnen. Ich wich mit Filmriß aus, bis ich damit nicht mehr durchkam. Als die Emm aus dem Krankenhaus entlassen wurde, aber noch nicht geboren hatte, ergriffen sie Maßnahmen.
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5. Kapitel
Eine Büroziege, die sich als Ybl Meisterin vorstellte, begrüßte die Eltern verständnisvoll. Was ich nicht verstehen sollte, sprachen sie hochdeutsch ab. Dann führte mich eine Schürze weg, bettete ein Spielzeug in meinen Arm und hatte keine Zeit mehr. Von hinten stieß mich jemand um. Er schraubte mir das Geschenk vom Körper und entkam in die Anonymität. Ich suchte die Eltern, doch sie waren im Labyrinth verlorengegangen. Zum Abendbrot mußte ich mit allen in den Speisesaal gehen, aber ich rührte nichts an. Den Tee inhalierte ich nur. Das Kondensat erhitzte mein Gesicht und lief mit den Tränen zusammen ab. Die Kinder standen auf. Nachdem sie in der Festung verhallt waren, kam die Küchenfrau, wischte mit dem Geschirrlappen das Tränenkondensat vom Tisch und tröstete. «Nu, nu ... wird schon ...» Als sie ihren Mantel anzog, war Dienstschluß. Ich warf mich heulend über den Tisch. An den Besuchstagen waren die Eltern nie da. Ich ybllege noch heute, wer mich damit stillte, daß ich nach Hause dürfe, sobald die Emm die Verstärkung geboren habe. Bei der Geburt war mein Bruder bloß ein Baby und noch kein Kerl. So dauerte ich in der Festung weitere zwei Jahre ab. «Festungskind, stirb geschwind ...», frotzelten meine Schulwegnachkommen. Sie luden ihre Finger durch, erschossen mich, und das nicht wenig. Doch in der Parallelklasse fand ich eine Freundin. Um sie zu orten, drehte ich meinen abnehmbaren Kopf auf dem erhobenen Zeigefinger und winkte sie mit dem anderen Zeigefinger heran. Nach der Schule klumpte sie ihr Gipsbein über die Eisenbahnschienen, wir waren bei ihr zu Hause. Im Bahnwärterhäuschen aßen wir regelmäßig zu Mittag. Jedesmal, wenn eine Lok kam, sprang ihre Mutter auf und stellte die Gleise um. Wir Kinder aßen das Gericht in einem Stück, sie in mindestens drei Zügen. In der Festung wußten sie Bescheid, so suchten sie erst nach dem Abendbrot nach mir. Die Lehrerin sang uns ein und verkündete, morgen sei Wandertag. Die Festungsküche schmierte ein Ganztagsstullenpaket, ich steckte es ein, dann zog ich zeitig los. Ein Regenbogen sprudelte aus der Erde, er hielt sich am Himmel, bis seine Spektralfarben abgeplatzt waren. Von dieser Laune des Himmels eingerahmt, aß ich die Gutwetterbrote alle auf einmal, damit mich der leckere Schmalzgeruch nicht mehr belästigte. Mit eingedrücktem Gewissen kam ich zum Treffpunkt. Die Lehrerin fragte, ob ich keine Brote dabeihabe.
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«Nee», druckste ich. — «Mit Festungskindern können sie es ja machen», nörgelte sie und gab mir ihre. Endlich bekam mein richtiger Vater heraus, wo ich seit Monaten festgehalten wurde. Eine Petze, deren richtiger Vater sie legal zu Hause und nicht heimlich am Schulzaun erwartete, erzählte der Klassenlehrerin, ich treffe mich mit einem fremden Mann und lasse mich von ihm mit Bonbons und Schokolade aushalten. Das war die volle Wahrheit. Doch wenn die ausblieb, dann auch die Süßigkeiten. Dafür wurde mein Vater vom Jugendamt gemaßregelt. Er teilte mir mit, daß er mich nicht mehr straffrei ausführen dürfe. Mit etwas Taschengeld ging ich in den Laden und kaufte reichlich Kaugummis. Ich steckte mir alle in den Mund und schlenderte der Petze hinterher. Auf der Toilette erwischte ich sie ohne ihre Leibgarde, die sie sich wegen meines Verfolgungswahnes erfreundschaftet hatte. Die durchgekauten Kaugummis magnetete ich an ihre Haare, dann mischte ich die Frisur mit eisernen Händen durch. Am nächsten Tag kam sie verheult und kurz geschoren zur Schule. Ich hatte ihr einen Verlust beigebracht. Sie mußte damit fertig werden, so wie ich ohne meinen Vater. Ich wußte nicht, was die Emm verbrochen hatte, denn plötzlich war auch sie in der Festung. Später erfuhr ich, sie habe die Instanzen davon überzeugt, daß ich ein Wunschkind sei. Die mitgebrachten Sachen waren mir zu klein. So blieb ich in der Festungskleidung eingerüstet. Ich wollte nicht nach Hause. Die Emm versprach mir ein besseres Leben und zerrte an mir. Mein Arm wurde länger und länger, bis sie die Wohnung erreichte und ich noch in der Festung steckte. Abschied nahm ich nur von der Bahnwärterstochter. «Kommst du wieder?» fragte sie. – «Ich glaube, nein», mischte sich die Küchenfrau optimistisch ein. «Denn wen die Reinkarnation in ein anderes Leben holt, den gibt sie so leicht nicht wieder her.»
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6. Kapitel
Die neue Klasse eiste sich ab, noch bevor ich mit ihr warm werden konnte. Es befremdete sie, daß ich ein ehemaliges Festungskind war. Bescheiden kämpfte ich gegen das Mißtrauen an. Es war nutzlos. Meine ausgebreiteten Arme fielen herunter wie abgeknallte Schädlinge. In der Pause fragte mich die Deutschlehrerin, warum ich in der Festung war. Mit einem Kloß im Hals erklärte ich, daß die Emm schwanger gewesen sei. «Zwei Jahre?» zweifelte sie. Ich stand blöd da und liebte sie. Lesen und schreiben konnte ich so gut wie jeder andere. Klar beherrschte ich das Alphabet, aber nicht in der richtigen Reihenfolge. Die Lehrerin beauftragte eine Mitschülerin. Wir trafen uns das einzige Mal bei mir zu Hause. «Aa ...», sprach sie vor. «Aa ...», sagte ich nach. «Bb, Cc .», sagte sie, und ich wiederholte alles sorgfältig bis zum G: «Gg ..., Ge ..., geh nicht.» Da war die Emm bereits hinter meinem Rücken aufgetaucht. Sie riß mein Ohr mit der Wurzel aus und brüllte hinein, wie ich dazu käme, fremde Leute in die Wohnung zu lassen. Meine Mitschülerin wich rückwärts aus und lief davon. «Das möchte ich nie wieder erleben», tobte sich die Emm nun richtig aus. Auf dem Schulweg schaute ich, nur so ... zu den Fenstern hoch und bekam eine Kartoffel aufs Auge. Der Werfer nahm mein blaues Auge zum Anlaß, die Klasse zu bespaßen. Ich bog ihn über die Schulbank und knallte ihn seriell auf, bis es klingelte. Meiner Deutschlehrerin tat er leid. Sie schwärmte, daß sie gern alle Schwachen trainieren würde, damit die Mädchen sie nicht mehr blamierten. Leider hatte die Lehrerin ein Holzbein und lief auf Krücken. Ich hörte mir ihre Illusionen gesenkten Kopfes an. Nicht beschämt, wie sonst, sondern wie ein aus den Nüstern qualmender Stier, den sein Pfleger gehörnt hatte. Hinausgehen durfte ich am Nachmittag nur gemeinsam mit meinen viel zu kleinen Brüdern. Spielte meine Altersgruppe Greif oder Gummitwist, wollte sie niemandes Kleinzeug dabeihaben. So guckte ich neidisch zu. Entfernte ich mich bloß einen Fingerbreit von meinen Brüdern, schrie die Emm aus dem Fenster, ich solle sie nicht vernachlässigen. Darauf stehe Festungshaft. Zimtdüfte durchzogen die Wohnung und rieben mir die Vorweihnacht unter die Nase. Dreist lugte ich durch die Küchentür. Ich bot der Emm an, beim Keksebacken zu helfen. «Verschwinde! Paß auf deine Brüder auf», sagte sie ärgerlich und drückte mir mit
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der Backform das Kainsmal auf die Stirn. Weil die Brüder wie vom Irrsinn genadelt spielten, nahm ich ein Buch. Die Emm erwischte mich und knallte mir eine. «Paß lieber auf deine Brüder auf!» Sie knallte mir noch eine, weil das Buch ihren erotischen Vorstellungen, aber nicht meinem Alter entsprach. Sie knallte mir eine weitere, weil ich es aus ihrem Schlafzimmer entwendet hatte. Dann hatte sie genug von mir. Ich holte mit dem Fuß aus und trat die Bauklötze meiner Brüder an die Wand. Der Ältere konnte schon sprechen, er ging petzen. Die Emm flügelte sich mit dem Teppichklopfer, schwebte herein und verprügelte mich mit der Rattanschwinge. Als der Vater erschöpft von der Arbeit kam, erzählte sie ihm von meiner Ungeheuerlichkeit. Er fragte, ob sein eigener oder der Stiefsohn der Architekt gewesen sei. Seinen Stammhalter rächte er mit einem Ledergürtel, während meine Brüder mit dem Wiederaufbau begannen. Später saß ich in der Ecke, gabelte zwei Finger und fuhr sie mir in die Augen. Die Tränendrüsen platzten auf wie Salzsäcke. Heraus rieselte eine Wüste. Einmal im Monat wurde ich herausgeputzt: Die Nachbetreuung der Festungshaft setzte sich mit mir und meinen Eltern zusammen. Freundlich gab die Emm über mein Unwesen Auskunft. Meine Zunge hatte auf alles eine Widerrede, konnte sich jedoch gegen die zusammengebissenen Zähne nicht durchsetzen. Die Emm war zufrieden mit dem, was ich verschwieg. Die Kommissionsmitglieder auch. Die Schulsekretärin protokollierte mit. Als sie mir den Reißverschluß des nur zu besonderen Anlässen getragenen Anoraks zuzog, spürte ich, daß sie die einzige war, der ich leid tat. «Armes Kind», murmelte sie mit einem Seitenblick auf die Eltern. Wütend riß ich mich von den Händen der fürsorglichen Kuh los. Damals arbeitete die Emm im Krankenhaus. Als sich die Dienstpläne änderten, wurde sie für die Spätschicht eingeteilt. Währenddessen blieb ich mit meinen Brüdern alleine, bis der Stiefvater kam. Die Emm kochte vorsorglich Grießbrei. Sie verteilte ihn gerecht auf die Teller, damit ich in ihrer Abwesenheit den Jungs nichts wegaß. Dann verschloß sie alle Zimmer, die Küche und die Wohnungstür. Beruhigt ging sie zur Arbeit. Wenn auf den wenigen Quadratmetern des Kinderzimmers nichts mehr los war, schnappten meine Finger über den Handgelenken meiner Brüder zu. Ich strich ein Streichholz an. Damit leuchtete ich die Körperstellen ab, die sie mit Schmerzlauten ansagten. Der Ältere heulte im kleinkindischen Deutsch alles der Emm, doch sie verstand nicht, was er mit Feuer meinte. Ich sollte es übersetzen. «Der spinnt», erklärte ich und wechselte die Methode. «Zucker essen?» fragte ich. Die Brüder öffneten die Schnäbel. Hatten sie einen Teelöffel voll intus, hielt ich ihren Mund zu, bis sie
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das Salz heruntergewürgt hatten. «Zucker!» lehrte ich sie das Wort für Salz, bis sie es deutlich aussprachen. «Zucker», liefen sie der Emm in die Arme, zeigten auf mich und heulten. Die Emm konnte nicht wirksam werden. Sie sah einfach nicht durch. Die Klassenlehrerin kündigte eine Fahrt in die Jugendherberge an. Das erforderte Geld und saubere Sachen für drei Tage. Ich wartete, bis der Stiefvater von der Arbeit kam, und fragte, ob er mir die Summe gebe. Er zahlte mich aus. «Wo ist das Geld!» schrie die Emm abends. «Ich werde dir helfen, deine Mutter so zu hintergehen!» Sie verdrosch mich, wagte jedoch nicht, das Geld von der Schule zurückzufordern. Die Herberge im Grünen roch nach Desinfektionsvorgängen. Ein Mann scharwenzelte um unsere Klassenleiterin herum und neckte sie in ungarisch verfärbtem Deutsch. Sie verdrehte die Augen auf halb ja und halb nein. Ihr richtiger Mann war zu Hause geblieben, und das Flirten tendierte schließlich zum Ja. Ich fragte, ob sie ihn liebe. Gleich hortnerte mich die Gruppenbegleiterin fort und schimpfte über meine Frechheiten. Da begriff ich, daß Liebe etwas Verbotenes ist. So gesehen, hatte ich ein ganz legales Zuhause. Nach der Fahrt ins Grüne kam es blau. Der Schwimmunterricht wurde eingeführt. Die Emm besorgte einen von vielen Wassern geschliffenen Badeanzug. Auf Kommando schwammen wir los. Ich schaufelte alles Wasser hinter mich. Als die anderen mitsamt der Brandung an den Beckenrand klatschten, hatte ich schon einen Förderungsvertrag für den Leistungssport unterschrieben. Es mußten nur noch Schule und Eltern zustimmen. Die Eltern unterschrieben wegen meiner schlechten Leistungen nicht, und die Schule gab ihnen recht. Eine neue Musiklehrerin brillte in die Klasse. Sie schnellte ihre elend lange Zunge heraus, an deren klebriges Ende ich nach vorne geholt wurde. Ich sang nicht und ließ mir auch kein Talent aufschwatzen. Mit dem Bleistift schrieb sie eine Fünf ins Klassenbuch. Sie bot mir an, sie in der nächsten Woche abzusingen. In einer unbeaufsichtigten Pause verblich die Fünf unter meinem Radiergummi und mußte von ihr mit einem Kugelschreiber nachgezogen werden. Auf dem Heimweg goß es. Hätte es im Himmel einen trockenen Platz für mich gegeben, wäre ich an den Regenschnüren hinaufgeklettert. Statt dessen schaute ich versunken zu, wie ein Bagger Erde aus dem Stadtpark becherte. Als er mich bemerkt hatte, stieg der Fahrer aus und guckte sich nach allen Seiten um. «Hast du schon mal gebumst?» fragte er mich. Ich hatte keine Ahnung, wovon er überhaupt redete. Ein Tick zuckte sein Auge, als er versuchte, mir wie ein Kinderspiel die dazugehörigen Handgriffe beizubringen.
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Passanten kamen. Als sie außer Sicht waren, sagte der Baggerfahrer durch seinen Nasenbalg, ich solle in einer Stunde wiederkommen. Da habe er Feierabend. Ich ging nach Hause. Auf meinem Bett liegend, aalte ich alles nach, was der Fahrer mit mir machen wollte, und bekam Lust darauf. «Ich muß weg», meldete ich mich bei der Emm ab. Sie ließ mich nicht gehen, weil es für den angeblichen Pioniernachmittag schon zu spät war. Nachdem alle Zimmertüren mit Schlössern versehen waren, bekam ich von der Emm einen Wohnungsschlüssel ausgehändigt, damit ich mich wenigstens im Flur aufhalten konnte. Ich sollte nicht auf der Straße gesehen werden, sonst gingen die Beschwerden beim Jugendamt nie zurück. Auf dem Nachhauseweg trödelte ich die Bordsteinkante entlang. Dann warf ich die Schulmappe im Halbdunkel des Korridors ab und dehnte sogar meine Hausaufgaben aus, um von der Langeweile nicht überboten zu werden. Damit war es vorbei, als ich unter dem abnehmbaren Deckel des Stromzählers die Schlüssel entdeckte. Die waren für den Elternteil bestimmt, der früher von der Arbeit kam. Ich schloß das verbotene Paradies auf. Im Schlafzimmerschrank fuchste ich aus den Manteltaschen von mir geehrte Pfennige und größeres Kleingeld. Aus dem Wohnzimmerregal zog ich Bücher, die für Kinder auf dem Index standen. Ich legte der Emms Lieblingsschlager von Romy Schneider auf den Plattenteller. Mit meinen Händen im Rüttelflug, ließ ich die Hüften so wild kreisen wie die sexy Brigitte Bardot, wenn sie ihr Westernfilmpferd zum Galopp überredet. Unerwartet bekam ich Publikum: Mit Geieraugen schaute die Emm zu. Statt Beifall zu spendieren, trieben mir die Eltern das Einbrechen noch am selben Abend aus. Der eine mit dem Ledergürtel, die andere mit dem Teppichklopfer. Mein Körper schlängelte im Slalom durch die blauen Flecken, ohne den Schmerz zu berühren. Die tränenschwere Emm entschlüsselte mich. Na was. Die Straße bot ohnehin mehr Abwechslung als die Sackgasse unseres ungelüfteten Korridors. Nachdem ich mich mit einem muskulösen Straßenbaum angefreundet hatte, nistete ich jeden Nachmittag in seinen Zweigen. Täglich kletterte ich ein wenig höher, bis die Fußgänger nur noch Schrumpfköpfe waren. «Von hier oben passen ALLE unter EINEN Pflasterstein», dachte ich, kletterte hinunter und kellnerte geschwind einen nach oben. «Den in dem Augenblick fallen lassen», dachte ich, «wenn die Emm spazierengeht.» Ich würde ihn mit der Intarsie ihres zermatschten Leibes aufheben, ein für Jahrmillionen konservierter Horror, ähnlich den in Bernstein eingelegten Mücken. Von dieser Phantasie kam ich nur mühsam los. Als ich in der Wirklichkeit angekommen war, setzte ich den Stein auf dem Ast ab. Er hatte keine
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Krallen, um sich daran festzuhalten. So fiel er vornüber, knallte auf, erbrach Splitter und tat nicht mal einem Autodach etwas zuleide. Eigenheimanlieger und Vorgartennachbarn tratschten zaunköniglich, nachdem sie den Vorfall beobachtet hatten. Sie vertrieben mich. Kam ich zurück, vertrieben sie mich wieder. Das hielt an, bis die Zahl der Vertreibungen die meiner Wiederkehrs knapp übertraf. Wenn der Stiefvater auf Dienstreise war oder in der Ehekrise, versorgte mich die Emm mit genügend anderen Vätern. Eine Mutter war nie dabei. Das betrübte mich nicht, weil ich sie mir in der Schule alleine ausguckte. Unterrichtende Frauen mußten sich meinen bewimperten Bohrern aussetzen, wenn ich in ihren Gesichtern etwas fand, das mir die Mutter ersetzen könnte. Dafür zog ich ihr Fach, das mir gar nicht lag, in den Zensurenhimmel. In den Pausen gab ich Pantomimevorstellungen, um ihre Aufmerksamkeit zu erkämpfen. Mich einzukratzen, zurückzulächeln oder freundlich ausfragen zu lassen war mir zu vertraulich. Ich dachte mehr an: meine Lieblingslehrerin anstarren, dabei vom Klassenzimmer abkommen und sich den Arm am Türdrücker auskugeln. Jede Hilfe heroisch ablehnen, die Schultasche in die andere Hand nehmen und ohne Stolpern abtreten. Das gelang mir nie, und so mußte ich mich mit Pädagogenklatsch zufriedengeben. Dazu richtete ich meiner Phantasie ein Lehrerzimmer ein. Letztendlich war es die Realität, die mir eine Gelegenheit verschaffte. Meine Mathelehrerin wohnte einige Neubaublocks weiter. Die Schüler begleiteten sie, bis jeder in seine Straße abfiel. Nur ich klammerte. «Was willst du?» Mit flirrendem Lidschlag formulierte ich, daß sie im Unterricht aus «Alice im Wunderland» vorgelesen habe: «Ich würde gerne das ganze Buch lesen.» Sie brachte es vor die Wohnungstür und borgte es mir für genau zwei Tage. Die Emm schleuderte allergisch aus meinem Besitz, was geborgt war. Sie unterstellte, daß es geklaut sei, sowieso kaputtgehen oder wegkommen würde. Gebeugt von diesen Vorurteilen, saß ich auf dem Spielplatz und ging mit Alice durch die Spiegel. Ich hatte es ausgelesen und wollte meiner Lehrerin durch die fixe Rückgabe des Buches imponieren. Dazu lehnte ich es gegen ihre Wohnungstür, klingelte und rannte hochrot davon. Am nächsten Tag lauerte ich auf ihre Reaktion, doch sie unterrichtete lediglich. Ihr Mann holte sie von der Schule ab. Ohne Schwierigkeiten bezog ich ihn in die Familie ein, die ich mit meiner Lehrerin gegründet hatte. Ich mußte mich durch viel Buschwerk von Nuancen schlagen, ehe ich begriff, daß ich nicht beider Wunschkind war. Der Urknall unserer Familienauflösung war ein Brief an die Emm. Sie solle doch bitte im Wunderland nachschauen, wo die Alice abgeblieben sei.
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Unter der Inquisition der Emm erfuhr ich vom Briefinhalt und rechnete mir aus, daß das Buch an den falschen Empfänger geraten war. Ich zerschnitt die familiären Bande zu meiner Mathematiklehrerin, haßte fortan ihren Unterricht und sie noch mehr. Meine Zensuren wurden wieder schlechter und neutralisierten sich auf dem alten Niveau. Ich hielt nach einem neuen Gesicht Ausschau. Es fand sich keines. Lehrer, die mich geschaut hatten, entdeckten hinter den Rissen ein Feuer, das mich auszehrte. Erschrocken zogen sie ihre Zuneigung zurück, weil sie Bedürfnisse ausmachten, die kein menschliches Wesen mehr stillen konnte. Meine erste richtige Freundin lernte ich auf dem Nachhauseweg kennen. Sie hieß Baila Lapunta, hatte neun Geschwister und ging in meine Klasse. Als die Erdkundelehrerin mich öfter als sonst drannahm und die mäßigen Antworten lobte, provozierte ich sie mit ausgeklügeltem Unsinn. Sie ermutigte mich mit einer Zwei. Ihre ungebremste Freundlichkeit war mir nicht geheuer. Die Klasse begann mich zu foppen, weil ich auf einmal so leistungsstark war. Baila Lapunta stand mir bei. In der Hofpause zeigte sie auf den Sohn der Erdkundelehrerin. Wir rempelten den Sommersprößling an und zimmerten ihm ein verschwollenes Gesicht. Dann rührten wir uns anonym in die Schulhofmassen ein. Mit jeder Hofpause wurde es komplizierter, ihn ausfindig zu machen. Wenn wir ihn hatten, drehte Baila Lapunta seine Arme auf den Rücken. Meine Faust fuhr ihm in die Magengrube und brachte sie ins Rutschen. Da nahm seine Mutter mich beiseite. Sie fragte, was er mir denn getan habe. Ich möge ihn in Ruhe lassen. Ein paar Tage später brachte Baila Lapunta Vogelstimmen mit. Wir legten sie uns auf die Zunge. Den Päuslingen, die sich nach uns umdrehten, zeigten wir einen Vogel und rannten zwitschernd davon. Da war er wieder. Wir packten den Sommersproß. Schon waren wir umringt von seinen Klassenkameraden. Die schlugen uns nieder. Mein Blut floß mit der Vogelstimme aus dem Mundwinkel, und sie wurde zertreten. Als ich mich abgeklopft hatte, kratzte ich den Dreck von der Vogelstimme: das tongebende Zellophan war eingerissen. Ich mußte sie wegwerfen. Die Erdkundelehrerin gab auf. Ich verschlechterte mich wieder und erließ ihrem Sohn die noch ausstehenden Magenschmerzen. Baila Lapunta balgte sich nicht mehr, denn sie hatte einen festen Freund gefunden. Die beiden knutschten. Ich solle nicht so glotzen wie ein Autoscheinwerfer. Das nächste Mal brachten sie Kematen a. d. Ybbs mit. Er sondierte meine Augen, während Baila Lapuntas Freund uns aus der Stadt führte, dahin, wo schon Stroh vorbereitet lag. Kematen a. d. Ybbs wollte mich küssen. Ich war dafür zu
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verhüten. Baila Lapunta schlug eine wirksame Methode vor: Wir sollten es mit einer Bierdeckelschranke probieren. Nach einer Weile zog Kematen a. d. Ybbs den Bierdeckel weg, unsere Münder nuteten auf Rille. Während die Lippen Schwerstarbeit kräuselten, hatten unsere Zungen ein Vierteljahr Zeit, sich in der Mundhöhle auszuschlafen. Die Emm fragte, ob ich schon einen Schatz habe. Ich wollte ihr die gute Laune nicht verderben und nutzte den günstigen Augenblick, um es zu erzählen. «Dann ist es also kein Gerücht, daß du dich mit diesem Hilfsschüler herumdrückst!» Sie griff nach dem Heilmittel aus dem Besenschrank und prügelte mir die unschuldige Liebe heraus. «Bringe du mir ein Kind von dem Geistesgestörten nach Hause ... ich schlage dich tot!» Als ich Kematen a. d. Ybbs wiedersah, erzählte ich ihm vom Verbot der Emm. «Na und? Wir können uns doch heimlich treffen», sagte er. Ich gestand, daß ich nicht die Knochen habe, mich gegen die Emm aufzulehnen. «Was für Knochen?» fragte er. «Knochen, die nicht an ihrer Wut zerbrechen», schnappte ich über. Alle zwei Wochen wechselte die Emm die Bettwäsche. Die neue roch nach Nelken- und Lavendelfeldern. Am Bezugstag fühlte ich mich wie ein gebührenfrei aufgenommener Landstreicher, der den ganzen Tag die Blumenanlagen durchwandert hat und sich abends dem Leben als Kuckucksei ins Nest legt. Am folgenden Morgen stand ich mit dem falschen Bein auf und war damit wieder auf der kaputten Seite des Alltags. Der Gruppenrat der Klasse fragte im Beisein meiner Klassenlehrerin, warum ich mich nicht, wenn schon nicht ordentlich, wenigstens sauber anziehe. Beschämt starrte ich auf meine Oberschenkel. Auf meinem Hosenbein stocherten Fliegen mit ihren Tutmündern in der Brandung eines getrockneten Soßenflecks. Alle warteten auf Antwort. Ungeduldig zogen sie die Luft ein und rümpften die Nasen. Nachdem auch die Lehrerin meinen Gestank in ihre Nase eingedost hatte, machte sie einen Hausbesuch und beschwerte sich bei der Emm über meine Sturheit. Von nun an sollte ich meine Klamotten selbst waschen, mit der Hand, damit sie ihre Waschmaschine nicht einsaute. Eines Tages verkündete die Emm, sie habe sich mit ihrem Bruder versöhnt. Wir fuhren mit der Straßenbahn über die Stadtgrenze. Es war nicht leicht, darüber hinauszukommen. Dazu muß man sich unser Küstenstädtchen als Asphaltteller vorstellen. Die Straßenbahn schaffte es über den Rand. Ich schloß die Augen, um die Katastrophe nicht zu sehen. Als ich sie wieder öffnete, fuhr die Bahn schon durch Grünzeug. Das lichtete sich, um die Sicht auf gepflegte Eigenheime
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freizugeben. Wir stiegen aus und liefen zu Fuß bis ins Ungepflegte. «Hier ist es», beendete die Emm unseren Gänsemarsch. «Nehmt Platz», lud uns der fleischerne Onkel Franz aufs Sofa ein. Als er sich dazusetzte, sprangen ihm vier Katzen auf den Schoß. Unter seiner unbekleideten Hängebrust machten sie es sich gemütlich wie Säuglinge. Die müde Tante Uschi schlurfte zwei Tassen Kaffee herbei. Meine reichliche Cousinschaft zupfte mich am Ärmel und schleppte mich auf die Wiese ab. Niedergetrampelte Gräser, alles kleine Don Quichottes, erhoben sich und lanzten ihre Spitzen in unsere Fußsohlen, als wir abermals über sie liefen. Den letzten Fußball fing die im Tor stehende Sonne auf. Wir mußten nach Hause. Aus meiner Windjackentasche rieselten Meilensteine, damit ich den Weg das nächste Mal ohne Straßenbahn fände. Danach besuchte ich meine reichliche Vetternschaft jeden Tag nach der Schule. Wir schnitzten Schwerter, bauten Höhlen, tauchten im Waldsee nach der versunkenen «Romy Schneider» und nahmen die leerstehende Pension «Brigitte Bardot» ein. Auf dem selten aufgeräumten Grundstück meiner Verwandtschaft gab es eine Abwassergrube. Die träge fließende Jauche mündete in einen tückischen Teich. Dieser speiste eine enorme Kastanie. Wenn wir sie erkletterten, riß die müde Tante Uschi das Fenster auf und holte uns mit lebensrettendem Gemecker vom Baum. Zwei Jahre zuvor war ein neunjähriges Kind in den Teich gefallen und konnte nur tot geborgen werden. Als einzige leistete ich es mir, die müde Tante Uschi zu überhören, weil mich die Kastanie anzog wie der gläserne Berg. Der Baum streifte mich vom Finger. Spießruten peitschten meinen Rücken, als ich sie durchflog. Kurz über dem blubbernden Grau verwinkelten meine Beine. Ich pendelte auf einem starken Ast aus. Die müde Tante Uschi toffelte wie ein entgleister Eilzug heran und verbot mir, noch einmal wiederzukommen. Also wandte ich mich wieder Baila Lapunta zu. Auf meine Frage, was sie denn da unter ihrem Pullover verstecke, gab sie an, daß ihr eine Brust wachse. «Zeig mal!» verlangte ich. Im Gegenzug bollerte ich meine Knospen heraus. «Das müssen wir heimlicher machen», wisperte sie. Einmal in der Woche trafen wir uns im Schülerklo und verglichen. Sie war eindeutig weiter als ich. «Ich bedauere mich», sagte ich. – «Wieso?» heuchelte die in Führung Liegende. – «Weil ich an deinen Titten sehe, was aus meinen mal wird», erwiderte ich und schaute dem Erwachsensein oder was ich bei Baila Lapunta dafür hielt, noch einmal ins Dekolleté. Als sie mich fragte, was ich immer mit diesem Kerl wolle, stellte ich Baila Lapunta meinen richtigen Vater vor. Dann verbot ich ihr den Mund. Zu dritt gingen wir ins Kino, hörten Märchenplatten und
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erfanden Ausreden fürs Zuspätkommen. Diese schönen Nachmittage bekamen einen Stich, als die Emm fragte, ob ich mich etwa mit meinem Vater herumtreibe. Ich verneinte, nahm meine Schultasche und wollte gehen. Die Emm prügelte die Wahrheit heraus. Der Stiefvater schlug meinen Auszug vor. Dann würde ich schon sehen, wie sich mein Sonntagsvater kümmere. Ich sollte einpacken, was ich für mein weiteres Leben brauche. Eine Puppe, die ich an einem längst veralteten Geburtstag bekommen hatte, nahm ich aus dem Kinderzimmerregal und legte sie zögernd in den Koffer. «Die bleibt hier. Deine Brüder können sie noch gebrauchen.» Die Emm legte die Puppe zurück und tauschte sie gegen Lumpen ein, die mir wirklich gehören durften. Dann war ich Straßenkind. Mein richtiger Vater fand das toll. Er baute das Feldbett auf und versprach eine Reise zu meiner sorbischen Großmutter. Am folgenden Tag kleidete er mich neu ein, dann fuhren wir los. Zur Begrüßung nahm mich meine Großmutter in die Arme. Ich hielt darin aus wie eine Schaufensterpuppe. Was heulte die denn? Meinen Wolfsspitz hatten Nachbarn erschossen, weil er sich die besten Stücke aus ihren Enten gerissen hatte. Jetzt hielt die Großmutter einen braven Taugenichts an die Leine geknastet. Ehemalige Spielkameraden gaben mir höflich die Hand. Sie waren zu weichlich, um sich in meine Spiele einzureihen. Auf dem Dachboden kramte ich im Sturmgepäck meiner im Krieg gefallenen Onkel. Als ich Großmutter Teile davon brachte, heulte die schon wieder. Sie wollte, daß ich der Emm schreibe, damit die sich keine Sorgen um mich mache. Ich biß dermaßen in eine Kartoffel, daß Leinöl an die Wand spritzte. «Wir müssen fahren», sagte mein richtiger Vater. Auch zum Abschied umarmte mich Großmutter. Wider meine Dressur leckte mir der Hund die Hände. Ich gab ihm einen Tritt, bevor wir zum Zug eilten. Mein Vater belegte Schulbrote. «Ich regele heute mit dem Jugendamt, daß du bei mir wohnen kannst», sagte er und fuhr mich mit dem Motorrad zur Schule. Ich grüßte alle Klassenkameraden, damit mich jeder auf dem schmucken Sozius sah. In der Hofpause tuschelte ich Baila Lapunta zu, daß nun alles gut werden würde. Zwei Lehrer bahnten sich einen Weg durch die Menge. Sie führten mich vom Schulhof ab und preßten mich in einen amtsschimmelgrauen Pkw.
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7. Kapitel
Das Motorengeräusch fräste sich stundenlang ins Ungewisse, bis wir im «Walter Ulbricht» abstiegen. Der Chauffeur legte meinen Beipackzettel auf einen Schreibtisch und verschwand. Der verbliebene Mann wies mir ein Zimmer zu. «Nicht gerade ein Zuhause, aber ein Dach über dem Kopf», grummelte er. Ständig öffnete sich die Tür und schlug wieder zu: Die Neue wurde besichtigt. Der Sternenhimmel erkaltete schon im Fensterrahmen, als mir die Stubenälteste befahl, ins Bett zu gehen. Sie bratschte, ich solle mich nicht so haben. Jeder hier habe seine Geschichte. Wie sich herausstellte, führte unser Schulweg an der Mülldeponie vorbei. Jedes durchsetzungsfähige Ulbrichtkind hatte dort seinen Claim. Zur Zeit wurde nach Kugellagern gegraben, auf die man den Sprengsatz eines Vorschlaghammers niedergehen ließ. Eine Stahler tauschten wir bei den beschränkten Stadtkindern gegen etliche Glasmurmeln ein, wucherten damit im «Walter Ulbricht» und verscherbelten den erhandelten Überschuß wieder in der Stadt. Als ich schon alle Kinder mit Namen kannte, untersuchte uns ein berühmter Arzt. Berühmt dafür, minderjährigen Mädchen, denen der Hals weh tat, zuerst in die Schlüpfer zu gucken. Bei uns Müllaktiven stellte er die Krätze fest und überwies uns zum Spezialisten. Der stocherte aus meinen Schwimmhäuten eine Milbe und legte sie zwischen zwei Glasplatten. Durch das Mikroskop sah ich, wie belebt mein ganzer Körper war. Wir wurden in Baracken verfrachtet, die von der Schule abtrieben, doch in Nähe des «Walter Ulbricht» ankerten. Eine bezahlte Märchenerzählerin brachte feinstes Essen in dampfenden Terrinen herein. Unbefallene Ulbrichtkinder, die nicht in die Schule wollten, klopften an die Fenster. Gegen Süßkram und andere brauchbare Dinge steckten wir sie an. Nach der Entwesung begann der Bildungsweg von vorne. Ein Schulwegerich drehte den Kragen meiner Jacke um, bis er den Kopf herausgewürgt hatte, und nahm mir Eigentum weg. Kelvin Winter, unser Ulbrichtsches Alphamännchen, hatte das Geschehen von weitem verfolgt und fragte mich aus. Als wir nachmittags im Schwimmbad waren, zeigte ich auf den Bösewicht. Kelvin Winter rottete die Kinder zusammen, mit denen ich mir einmal im Monat den Friseur teilte. Sie zogen den Knaben unter Wasser. Er war schon auf halbem Weg ins Jenseits, da ließ ihn der Bademeister wieder zu sich kommen. Meine Verteidiger wurden von der Ulbrichtleitung mit niederen Arbeiten diszipliniert. Der Bürgermeister ließ uns ausrichten, daß wir eine Gefahr für die Stadt seien.
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Die Gefahr sollte sich durch Neuzugang verstärken: Schweinezahn und seine blaugeschlagenen Schwestern. Das Personal trug ihre Sachen mit Mundschutz zur Abfalltonne und bettelte die Müllmänner an, die Tonne ja nicht zurückzubringen. Als das Badewasser der drei abgelassen wurde, fand auf dem Wannenboden eine Massenabwanderung toter Flöhe statt. Danach unterschieden sich die beiden Schwestern nicht mehr von uns. Schweinezahn fragten wir, bei welcher Gelegenheit sein letzter Zahn stehen geblieben war. Außer seiner Faust, die mit Schweiß, Rotz und Wut gefüllt war, ließ sich aus ihm nichts herausholen. Keinen Tag später brach Schweinezahn aus. Wir wurden als Suchtrupps in die Morgenbrühe geschickt. Ich verlor mich im Einzelkämpferschritt. Der Wald gab eine Burgruine frei, die sich im Efeu verhaspelte und deren Konturen der Nebel ausdünnte. Ein Baum entschlief beim Wachestehen, seine toten Äste dolchte er in den Himmel. Ich setzte mich auf einen Taustein und wußte nicht, was das ist ... Traurigkeit. Hatte ich nie gesehen, kannte sie nur aus Büchern. Dieses Landschaftsgemälde, in dem ich saß, schien daraus kopiert zu sein. Als sich der Nebel lichtete und Sonne den Wald schwemmte, war Schweinezahn gefangen. Wir feierten die Helden Rowald Gnicht und Messer Tambour. Beide traten in die Arbeitsgemeinschaft «Junge Feuerwehr» ein, wo man schon als Zehnjähriger ungestört rauchen konnte. Ich wurde auch Mitglied und erwischte die beiden. «Wenn du ein Wort sagst ...», zwängten die Nikotinisten aus ihren Mündern. Ich buhlte mit meiner Lieblingserzieherin und schwatzte. Rowald Gnicht und Messer Tambour versprachen ihr reumütig, daß es nie wieder vorkommen werde. Dann schleppten sie mich in den Wald und stiefelten mein Brustkörbchen ein. Meine Lieblingserzieherin fragte interessiert, wo ich es eingerannt hätte? Doch ich stand noch unter Schweigepflicht. Die Bürotür stand auf. Keiner da ... nur meine zufällig aufgeschlagene Akte. Darin war mein Diktat vom Vortag abgeheftet. Ich hatte das Gegenteil von dem geschrieben, was diktiert wurde. Zeitlich fiel das mit einer Sehnsucht zusammen, die ich meiner Lieblingserzieherin nicht beichten wollte. Eine Randglosse merkte an, daß ich in der Entwicklung zurück sei und das unbedingte Vertrauen meiner Erzieher und Lehrer benötige. Lebhaft sah ich auf. Im Fach Geographie hatte ich das Wort «Entwicklungshelfer» nie ausmessen können. Nun begann ich zu erfassen, was Entwicklungshelfer im «Walter Ulbricht» zu leisten hatten. Dort epidemierte eine neue Unart. Zwei Einweckglasgummis wurden zu einem großen zusammengezogen. Noch aus drei Meter
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Entfernung erlegte man damit zielsicher jede Fliege. Die Wände des Treppenhauses, der Zimmer und des Speisesaales waren bald mit dem Matsch toter Fliegen überzogen. Zur gleichen Zeit gerieten unter dem Schuppendach Schwalben ans Licht der Welt, deren Mutter ebenfalls den Gummis zum Opfer gefallen war. Kelvin Winter, Sohn eines notorisch betrunkenen Ornithologen, nahm sich der Jungvögel an. Ihm brachten wir die erlegten Insekten. Kelvin Winter speichelte sie ein und verfütterte sie an seine Kleinen. Eine naive Spinne latschte über die rohen Bretter der Sporthalle, schon riß Tina Mollner ihr Gummi aus dem Halfter. Die Spinne schlitterte ihre fetten Innereien über den Fußboden, bis die haarige Kugel aufgebraucht war. Ein Entwicklungshelfer, der das mit angesehen hatte, begriff, woher der Matsch auf den Wänden stammte. Noch vor dem Abendbrot mußten wir alle Waffen zu einem Haufen türmen. Die Kapitulation drückte uns auf die Stühle des Speisesaals. Damit ging ein bedeutender Geschichtsabschnitt zu Ende. Im «WalterUlbricht-Archiv» schlug ich ihn in Büchern nach. Dort hatten wir Stahlhelme auf. Unter den Fotos stand die Jahreszahl 1945. Nachdem wir uns von dieser Niederlage erholt hatten, wurden die Kleinen aus dem Sandkasten gestreßt. Jemand hatte ein Auto geschippt. Es wurden kompliziertere in den Sand getrieben, deren Armaturenbretter immer technischer blitzten. Man spatete in die Tiefe, und die Moderne schlug auf Höhlenbau um. Cliquen fusionierten, sie wuchsen sich zu feindlichen Heerlagern aus, die den ganzen Sportplatz untergruben. Abends wurden ihre Anführer mit der Lieblingswurst der Untergebenen hofiert, oder das Kompott war abgabepflichtig. Ich wollte mich keiner Partei anschließen. Belle Hinsdorf durfte nicht. Sie war allen zu dußlig. Also nahm ich ihr das Kompott ab. Von beiden Seiten unbemerkt, baute ich eine hohle Weide mit Sitz und Geheimfach aus. Sie war nur mit einem Trick zu erklettern. Belle Hinsdorf folgte mir sklavisch auf den Baum. Ich verurteilte sie zum Schweigen. Eines Tages saß sie mit anderen Schweigern vor dem ausgeräumten Geheimfach. Zum Mittagessen kam sie wieder angekrochen. Ich schlug ihr den Pudding aus der Hand und redete nie wieder ein Wort mit ihr. Nach der dritten Woche wurden die entstandenen Strukturen den Entwicklungshelfern zu anstrengend. Ganz «Walter Ulbricht» mußte die Höhlen zuschütten. Die Entwicklungshelfer trainierten ihre Wachsamkeit. Wo es danach aussah, daß sich Grüppchen mit undurchsichtigen Inhalten zusammenfanden, taten sie alles, um sie aufzulösen. Sie rekrutierten dafür sogar Spitzel aus unseren Reihen. Ein Gerücht machte die Runde, daß sich die Sechserpackbande formiert hätte. Wie sich herausstellte, war es gar keine richtige
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Bande. Sie unternahm keine Raubzüge auf die ertauschten Kostbarkeiten anderer, sie setzte sich nicht für die Rechte der Ulbrichtkinder ein und plante keine Meutereien. Das einzige, was ihr anhaftete, war der Ruf, die Stärksten zu vereinen. Für die Ulbrichtleitung war sie nicht greifbar, denn das Sechserpack war kein starres Gefüge. Jeder durfte ihm angehören. Einzige Bedingung war, daß die Mitgliederzahl von sechs nicht überschritten wurde. Kam ein Neuer dazu, mußte ein Alter gehen. Der mögliche Wechsel wurde per Mundpropaganda angekündigt. Er mutete an wie Untergrundfestspiele. Zwei erlebte ich mit. Beim ersten forderte Schweinezahn Gössel Rammich heraus. Alle Ulbrichtkinder trafen sich auf der Waldwiese hinter der Russenkaserne. An diesem Tag blieb mittags der Speisesaal leer. Gössel Rammich ging auf Schweinezahn los. Schweinezahn unterlag. Der Sieger ließ sich von uns feiern. Keiner bemerkte den blutverschmierten Schweinezahn, der einen Stein aufsammelte und ... ramm mich ... dem überraschten Gössel damit das Jochbein brach. Dessen Auge baumelte heraus, als wäre die Sehne ein Seil, an dem es wieder in den Kopf zurücksteigen wollte. Schweinezahn verwehrten wir, ein Sechstel des Packs zu werden, das wir alle so verehrten. Ich forderte meinen stärksten Freund heraus, Kelvin Winter. Er fragte, warum ich nicht gegen Ilma Wächter, die einzige Frau des Sechserpacks, kämpfen wolle. Gegen ihn hätte ich keine Chance. Doch ich wollte mich nicht dem Gespött aussetzen, das Weiber genießen, wenn sie aufeinander losgehen. Mir genügte die Ehre, überhaupt angetreten zu sein. Eines Tages wurde mir ein Päckchen ausgehändigt. Es war von den Entwicklungshelfern schon durchsucht und ansonsten von der Emm. Die Eltern wollten heiraten und versuchten, mich aus dem «Walter Ulbricht» zu bekommen. Auf einmal besuchten sie mich jeden zweiten Sonntag. Wir machten Spaziergänge. Sie ließen mich Rätsel lösen, die mich einen Scheißdreck interessierten. Kurz vor der Rückkehr ins «Walter Ulbricht» lehrte mich die Emm Texte, die ich nach Hause schreiben sollte. Später lagen die Briefe dem Jugendamt als Beweis dafür vor, daß sich die Mutter-Kind-Beziehung zeitweilig normalisiert hatte. Die Schwiegereltern verstanden nicht, was ihren Sohn an eine Frau fesselte, die ihren unangenehmsten Nachwuchs vom «Walter Ulbricht» aufziehen ließ. Deshalb ehelichte der Stiefvater die Emm heimlich. Die Frischvermählten holten mich ab, dann fuhren wir die Eltern des Stiefvaters besuchen. Ein Sonntagskuchen kam auf den Tisch. Meine angeheiratete Stiefoma beschien ihn düster. Egal was
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die Emm sagte, die Oma antwortete nicht. Der Emms Gespräch kam ins Stocken. Aus lauter Verzweiflung nahm sie an mir Anteil: ob ich schon Spielkameraden gefunden hätte und womit wir uns den ganzen Tag beschäftigten? Arglos erzählte ich, daß sich Röhrla Blink mit mir auf dem Dachboden immer in den ausrangierten Schränken treffe. «Erzählt ihr euch was Schönes?» fragte die Emm weiter. «Nein», sagte ich. «Röhrla Blink kann nicht sprechen, nur brummen. Wir machen andere Sachen.» – «Na, nun erzähl mal nicht solchen Blödsinn», sagte die Emm, von den Blicken der Schwiegermutter gehetzt. «Was macht ihr denn im Schrank?» fragte diese, von einem Verdacht erweckt. Ich suchte nach Worten, um zu beschreiben, wie die Entwicklungshelfer im Glauben, uns verhindern zu müssen, ständig die Schranktüren aufrissen. Röhrla Blink und ich liefen dann auseinander wie die Kakerlaken und trafen in einem anderen Schrank wieder zusammen. Die Emm zwängte sich in meinen Gedankengang und kappte ihn mit der Frage, warum Röhrla Blink nicht sprechen könne. «Röhrla Blink», führte ich aus, «ist ein typisches Stadtkind. Ihre Eltern haben sie nur deshalb nicht im Wald ausgesetzt, damit säugende Wölfe sie nicht zum Überleben zwingen. Sie legten sie unter einen Bus, der sie am nächsten Morgen überrollen sollte.» – «Der hat ihr dann die Brust gegeben, stimmt's?» versuchte mein neuer Großvater, witzig zu sein. «Das weiß ich nicht so genau. Auf jeden Fall hat er sich um sie gekümmert. Röhrla Blink ist nur wegen dem Sprechenlernen bei uns», erklärte ich dem schon etwas alten Opi. Die Stiefoma schaute ihren Sohn an. «Dagegen muß man etwas unternehmen!» Eine Diskussion setzte ein, von der die Emm und ich ausgeschlossen blieben. Als die Eltern mich wieder im «Walter Ulbricht» abgaben, baten sie eine Entwicklungshelferin um Aufklärung. «Wir haben hier keine Röhrla Blink», versicherte die Entwicklungshelferin. «Doch!» bockte ich. «Zeig uns mal die Röhrla Blink», hatte der Stiefvater eine Ermittlungsidee. Das war nicht schwierig, da sie sich, wie immer, in meiner Nähe aufhielt. «Das ist doch Hewa Klettmann», lachte die Entwicklungshelferin. «In den Akten vielleicht, aber nicht im Schrank», sagte ich. «Hewa, komm mal bitte!» wurde Röhrla Blink herangerufen. Die Emm fragte sie lieblich aus. Doch Röhrla Blink brummte nur wie ein anfahrender Bus. Die Erwachsenen glaubten sich kurz vor dem Ziel. Ihre Fragen wurden lauter. Wir konnten nun gar nicht mehr antworten. Schuldbewußt schluckten wir, bis wir uns gegenseitig im Hals feststeckten und nur noch unsere Beine herausbaumelten. Jetzt hatten sie wirklich Mühe, uns auseinanderzubekommen. Früher brauchte man dafür nur die Schranktür zu öffnen. Als die Eltern gegangen waren, erzählte ich
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überall herum, was wir in den Schränken machten. «Was denn?» fragte Wuta Frischmut. «Wir machen Liebe.» Wir gaben uns wirklich die Liebe, die jeder von den Seinen mitbekommen hatte. Röhrla Blink vom Autobus und ich von den Eltern. Ist doch klar, daß Röhrla Blink mir eine viel sanftere geben konnte, während sich meine blaufleckig über ihren Körper ausbreitete. Während der Nachtruhe beträufelte ich die schlafende Wuta Frischmut mit Blumenwasser. Munter geworden wie ein Fisch, brüllte sie: «Hör auf!» Ich goß auf ihrer Mühle noch etwas nach. Sie sprang auf, packte mich mit ihren Akkordeonhänden und schleuderte mich durch den Schlafraum. Ich segelte in ein krachendes Splittern. Eine messerlange Zacke blieb im Fensterrahmen stehen, die mich vom Arsch bis zum Schulterblatt zerteilte. Meine beiden Körperhälften liefen schreiend um den Tisch, und ich spritzte nach allen Seiten Blut ab. Wuta Frischmut versuchte, mich wieder zusammenzuklappen. Im Haus gingen die Lichter an. Bis ein Entwicklungshelfer vom Nachtwächter verständigt werden konnte, hatte sich jedes Ulbrichtkind meine Aufführung reingezogen. Die Totenbahre wurde hereingetragen. Die Treppe herunter grüßte ich schwach und wachte erst auf dem Operationstisch wieder auf. Sofort erstickte mich eine Schwester mit einer Maske. Als ich das nächste Mal die Augen aufschlug, saß eine Engelin an meiner Seite. Sie entpuppte sich als Klassenkameradin und war die Tochter meines Arztes. Zwanzig Zentimeter sei die Wunde tief. Einen halben Millimeter mehr, dann wäre ich mit angerissener Milz verstorben. Ha, ha. Auf zwanzig Zentimeter schätzte ich ja schon meinen Durchmesser. Scheinbar plapperte sie alles ihrem Vater nach. Ich wollte aufs Klo. So im Aufstehen riß ich Schläuche mit, die ich großzügig mit Blut versorgte. Eine Schwester bat die Arzttochter zu gehen und meldete, daß ich bewußtlos sei. Zwei Dekaden später brachte mich der Krankenwagen an den Tatort zurück. Ich schritt durch das Spalier jubelnder Ulbrichts und hatte schon einen Plan zurechtgewurstelt, wie ich Wuta Frischmut mit einem Faustkeil aus Fensterglas zerlege. Die war inzwischen in den Seitenflügel verlegt worden, wo sie auf dem Akkordeon klagte. Die Ulbrichtleitung talerte Wuta Frischmuts Geld auf mein Konto und sperrte es bis zu meiner Jugendweihe. Dieses Geld hatten wir auf LPG-Feldern für eine Reise in die Sowjetunion zusammengeackert. Wuta Frischmut ließ ich in Ruhe, weil mit ihr sowieso keiner mehr redete. Ich hatte Fußballverbot und durfte meine frisch vernähte Narbe nur in die Schule ausführen. Die Jungs beunruhigte, daß ich dennoch auf dem Spielfeld stand. Sie konnten mir keinen Wunsch abschlagen.
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Ein Späher meldete jeden Entwicklungshelfer. Am Morgen darauf schlug die leicht wasserköpfige Belle Hinsdorf die Hand vor den Mund und holte ungefragt einen herbei. Sie hatte noch nie ein Laken verbluten sehen. Alarmiert riß der Entwicklungshelfer meinen Pullover hoch. Die Narbe war aus dem Korsett ihrer Kreuznähte geplatzt. Er rief den Krankenwagen. Bald darauf war die Verletzung ein ausgetrockneter Fluß, der nur noch seine Ufer zurückließ. Später hieß es, das Land Kuba brauche Trecker. Schweren Herzens mußten wir uns alle in eine Spendenliste eintragen. Schweinezahn schrieb fünf Pfennige von seinem Taschengeld auf. Kelvin Winter erklärte ihm, daß alles unter einer Mark unangemessen sei. Schweinezahn wartete nicht, bis er begriffen hatte. Er schlug zu. Versehentlich geriet ich in die Umlaufbahn seiner Faust. Ich stand auf, stürzte nieder, stand auf, sackte zusammen, Runde für Runde ins K.o., bis ein Entwicklungshelfer ihm in den Arm fiel. Allabendlich verteilte eine Entwicklungshelferin den Gute-NachtSegen. Einmal rissen wir sie zu Boden und hockten sie zu. Nach einer Viertelstunde hatte sie fast jeden ins Bett geschleudert. Nur ich hing noch an ihrem Bein. «Stell dich hin», forderte sie mich zum Zweikampf. Sie stieß mir ihre flache Hand vor die Brust. Mit diesem Trick warf sie mich noch viele Male und immer heftiger um. Die Arena aufgeregter Ulbrichtkinder zählte jeden Wurf laut mit. Nicht mehr ganz da, rannte ich die Entwicklungshelferin reflex ein. Sie trat zur Seite. Ich wiederholte deutsche Seefahrergeschichte, als ich, kopflos wie Störtebeker, an meinen Kameraden vorbeilief und an die Wand knallte. «Das war's wohl.» Die Entwicklungshelferin kniete neben mir. Meine Schenkel zuckten eine Auferstehung. Ich kippte die überraschte Entwicklungshelferin über den Haufen. Daran zerschellte ich endgültig. Sie trug mich ins Bett. Ich legte mir ihre Hand unters Ohr und schlief ein, bevor ich eine Antwort anstrengen konnte. In der korkigen Halbschale ihrer Hand trieb ich auf dem schweigen Meer. Dort suchte ich nach meiner Sturmseele, nicht wissend, daß ich sie in mir verschlossen hielt. Eine Todesserie im «Walter Ulbricht» nahm mit Klira Matt ihren Anfang. Bis zum letzten Tag hoffte sie, nach Hause zu dürfen. Doch ihre Mutter war alleinstehend. Wenn sie mit Schaum vor dem Mund umfiel, konnte sich keiner um Klira Matt kümmern. Sie kam für immer längere Aufenthalte ins «Walter Ulbricht». Ein Entwicklungshelfer hatte etwas durchsickern lassen, so wußte Klira Matt ganz genau, was ein Vollzeitpatient ist: ihre Mutter ab sofort. Eine Darmschleife legte sich um Klira Matts Herz. Das andere Ende knotete sie am Fenstergriff fest und hängte sich daran auf.
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Nur zehn Tage später ging der Wagenschlag für Schweinezahn auf, weil der Oberst vom «Walter Ulbricht» die Schreibmaschine angeworfen und ihm eine Beurteilung ins Aktenpapier gemeißelt hatte. Schweinezahn sollte ins «Karl Marx» deportiert werden. Er wußte, was ihm dort blühte. Die Erzieher hatten ihm bei seinen Austickern oft genug damit gedroht. Im «Karl Marx» waren die Doppelstockbetten nicht aus Holz, sondern aus Schwermetall. Die übriggebliebenen Bauteile waren in Beton gegossen und vor den Fenstern angebracht. Schweinezahn flitzte los und stellte sich auf das Fensterbrett der obersten Etage. Auch diesmal half kein Zureden. Wieder fiel er aus dem Rahmen und sprang ins glotzende Miniaturgetümmel. Aus seinem Kopf räufelte Hirn. Anschließend wurde Schweinezahns Mutter zum Obersten bestellt. Wir erlauschten, wie man ihr herzliches Beileid aussprach. Lange wollte sie nicht begreifen, daß Schweinezahns Vater keine Alimente mehr für ihren verstorbenen Sohn zu zahlen brauchte. Jetzt wurde auch sie ganz traurig. Von diesen Ereignissen waren wir Ulbrichts überfordert. Die Heimleitung engagierte vier Gastpsychologen, die sich um unser Trauma kümmern sollten. Dessenungeachtet richtete man den Ältesten die Jugendweihe aus. Sie wurden zu Spezialschneider und Modefriseur geschickt. Okla Ahoma liefen die Tränen, weil sie ihre langen Haare einer toupierten Frisur opfern mußte. Eltern wurden eingeladen. Uns Jüngere puppte man in Festtrachten. Die Tische wurden in «U»- «L»- «B»- «R»«I»- «C»- «H»- «T»-Form gruppiert. Küchenmamsells stellten Speisetorten auf die eisgeblümten Tischtücher. Wir rammelten die Tür auf. Es gab lebhaftes Durcheinander, weil ein Erfinder der Tischordnung Platzkärtchen verteilt hatte. Der Oberst wandte sich mit seiner Eröffnungsrede an die Gefeierten, die nun als Erwachsene ins Leben hinaustreten würden. Nicht zuletzt war es der Fürsorge des Staates, den Entwicklungshelfern und ihm zu verdanken, wenn sich die Kraft des Sozialismus in unserer Erziehung entfalten konnte. Unser Dankeschön könnten wir damit ausdrücken, daß wir an unserer Gesellschaft, die keine Benachteiligten im Stich lasse, aktiv mitbauten. Heute schon mit guten Leistungen in der Schule und später am Arbeitsplatz. Ich applaudierte, weil ich seine Meinung teilte. Alle klatschten mit und waren von seiner weiteren Rede enttäuscht, weil sie uns vom Essen abhielt. Nach dem Abendbrot ging die jüngste Gruppe ins Bett und ich auf die Toilette. Als ich die Tür öffnete, fiel mir meine Lieblingsentwicklungshelferin in den Armen des Obersten entgegen. Ich hielt die beiden wie eine überforderte Amme fest. Dann folgte auch die mittlere Gruppe, und die
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Gefeierten mußten die betrunkenen Entwicklungshelfer alleine aushalten. Kurz nach der Jugendweihe erfuhren wir, daß auf den Erfassungslisten jeder fünftausendste Internierte angekreuzt worden war: die zukünftigen Patenkinder des echten Walter Ulbricht. Der Oberst gratulierte mir zu diesem Treffer. Von meinem Patenonkel standen mir jährlich ein Geburtstagsgruß und fünfhundert Mark zu. Über diesen großzügigen Onkel begann ich mir wohlwollend Gedanken zu machen. Er war sehr berühmt. Diese Prominenz hatte etwas mit seinen Parteireden zu tun. Sie waren so herausragend, daß man sie sogar in den spartanischen Tageszeitungen abdruckte. Wenn wir dienstags Politstunde hatten, lagen seine Ansprachen aus und illustrierten unsere Weltanschauung. Auch war es mutig von ihm, seinen Namen einem Haus zu leihen, das den miserabelsten Ruf der ganzen Gegend hatte. Das schien den Bürgern jedoch nichts auszumachen. Sie wählten ihn einstimmig wieder. Schüchtern klopfte ich an die Bürotür: «Ich möchte meinen Patenonkel kennenlernen.» Der Oberst kramte in der Schublade und gab mir eine Postkarte mit dem Bildnis meines Idols. «Haben Sie meinen Onkel nicht lebensgroß? Ich möchte ihn aufhängen.» Der Oberst bedauerte. Ich bettelte weiter: «Wenigstens das Bild an der Wand.» Der Oberst schüttelte den Kopf. «Geht nicht. Dieser Ulbricht steht auf der Inventarliste. Alle halbe Jahre wird überprüft, ob er noch da ist.» Mit dieser Antwort war ich entlassen. Meine Lieblingsentwicklungshelferin brachte aus der FDJ-Kreisleitung ein Plakat in Lebensgröße mit, das den Büro-Ulbricht weit in den Schatten stellte. «Gefällt dir mein Fund?» fragte sie. Natürlich gefiel er. Doch sie hatte ein Gesetz verletzt. Alle Wörter, die die Schwelle des «Walter Ulbricht» überschritten, mußten sich anpassen. Das hieß nicht, daß sich ihre Bedeutung änderte, doch sie hatten sich, Scheiße noch mal, uns anzupassen. Das Wort «Fund» hieß auf unserem Territorium «Findel». Ich plakatierte meinen Patenonkel, den Gamsbart, wie ich ihn liebevoll nannte, an die Wand und schrieb darunter: FINDEL GAMSBART. Ob ich privat oder gemeinnützig von ihm sprach, erkannte man daran, wie ich ihn betitelte. Immer seltener war er der Walter Ulbricht und dafür zunehmend der Findel Gamsbart. Die anderen hielten Gesellschaftliches und Privates nicht so gut auseinander, oder vielleicht fühlten sie sich einfach nur wohler, wenn sie von ihm als einem der Ihren sprachen und nur noch Findel Gamsbart sagten. Eines Tages wurde die gruppeninterne Politstunde in den Speisesaal für alle verlegt. Der Oberst verbat sich den unerhörten Kosenamen
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unseres sozialistischen Staatsoberhauptes. Mich bat er – Privateigentum wird abgeschafft –, das Plakat abzuhängen und in sein Büro zu kommen. Dort entschuldigte er sich für seine Fehlinformation. Ich war gar keine richtige Waise. Von allen Kindern hatte ich noch die anständigsten Eltern, weil die mich nur vorübergehend vom «Walter Ulbricht» erziehen ließen. Deshalb stehe mir mein Patenonkel nicht zu. Weil Kendl Bür alphabetisch nach mir rangierte, übernahm er meine finanzielle Zuwendung und die jährliche Glückwunschkarte zum Geburtstag. Ich bekam Schweigepflicht auferlegt, damit nicht DDR-weit die Folge aller Patenkinder um eines weitersprang. Eine Entonkelung, die gleich massenhaft auftrete, so befürchtete man besonders bei unserer Volksgruppe, könnte für die Gesellschaft unberechenbare und nicht mehr aufzuhaltende und rückgängig zu machende Folgen haben. Jener Tag war der letztgeborene des Frühlings. Grashalme erschollen. Wir liefen dem Hausmeister nach, der uns Stecken schnitzte. Damit schlugen wir die Pollen von den Büschen, die den Sommer befruchten. Eine große Wiese tat sich auf. Um die auseinandergefallenen Gruppen wieder zusammenzuziehen, rief der Hausmeister uns zu, wir sollten um die Wette laufen. Vor mir sprang Kelvin Winter unmotiviert in die Höhe. Ich lief gegen Draht und zuckte begriffslos in der Elektrik, die hauchdünn um die Weide gezogen war. Am Nachmittag kamen die Eltern. Diesmal sollten sie mich für immer mitnehmen. Eine Entwicklungshelferin redete noch auf mich ein. Wenn es Probleme gebe, ich könne schreiben. Auch wenn ich zurückwolle. «Versprichst du mir das?» Ich versprach gar nichts. Sie schob einen neuwertigen Fußball zwischen unsere Stirnen. Als ich zu den Eltern schaute, ahnte ich, daß der Ball zu Hause nur unausgerollt im Schrank liegen würde. Ich ließ ihn los, wie alle anderen, ohne mich richtig zu verabschieden.
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8. Kapitel
Der Stiefvater rief mich ins Arbeitszimmer. Auf seinem Schreibtisch hatte er einen Briefumschlag zu liegen, in dem Beige, das meine Klassenlehrerin verwendete, um Schüler bei ihren Eltern anzuschwärzen. Ihm assistierte die sitzende Emm, den Teppichklopfer unruhig zwischen den Beinen. Wieder schwärmte der Stiefvater von der rehäugigen Belle Hinsdorf aus dem «Walter Ulbricht». Die hätte er gerne adoptiert, weil sie mein Zuhause dankbar zu schätzen wüßte. Mir hingen die Rehaugen der Belle Hinsdorf schon zum Hals heraus. Dann las er mir die Beschwerde der Lehrerin vor und veranschlagte zehn Sekunden, damit ich mir eine Rechtfertigung überlegen konnte. Das Ultimatum lief ab. Er forschte, ob ich noch den letzten Wunsch habe, ihm zu antworten, und gab das Handzeichen. Die Emm schlug und trampelte, bis sie kurz vor einem Herzanfall von selbst aufhörte. Wir machten einen neuen Termin aus. Ich durfte ins Bett und windelte mir das Federbett unter. Die Daunen drückten schmerzhaft im Rücken. Am nächsten Morgen wachte ich kalligraphiert auf. Die Klassenlehrerin verlangte das Eintragungsheft: «Seit einer Woche fehlen Hausaufgaben, keine Wintersachen, von der Schultasche ist fast der ganze Boden ausgerissen, und seit drei Wochen lege ich dir das Essengeld aus.» Sie versprach einen Hausbesuch. Das war ein Grund zum Auswandern. Ich hielt mich an die Hauptstraße. Stunden später mündete sie in Bad Lobe ein. Bei Einbruch der Dunkelheit drückte ich meine Nase an einem Parterrefenster platt und sah der Familie beim Essen zu. Danach machte ich einen Verdauungsspaziergang. Ein Polizist guckte auf die Uhr. Er fragte, ob ich nicht schon längst zu Hause sein müßte. «Gleich», sagte ich und verduftete. Als ich mich umschaute, hielt er seinen Uhrarm immer noch unter das Kinn. Skeptisch glotzte er mir nach. Unter einer verwilderten Vortreppe lag ein diogenes Weinfaß. Ich siedelte ein und versuchte zu schlafen. Nach zehn Minuten rollte ich heraus, weil es grausam kribbelte: Ein wirbelloser Zugwind perlte seine frostigen Grade über mein Rückgrat. In der Bahnhofshalle wärmten sich verdächtige Transportpolizisten auf, so ging ich außen herum. Bahnschienen hellten silbern aus dem Dunkel, als ich angerufen wurde. Da ich keine Deckung fand, hockte ich mich hin. «Brauchst du 'ne Penne?» fragte eine zerkratzte Männerstimme. «Dahinten sind leere Waggons. Komm!» Ich stolperte hinterher. Dann saßen wir uns gegenüber. Er reichte mir
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seine Schnapsflasche. Ich hustete Feuer, das für Sekundenbruchteile das in tiefe Furchen zerfallene Gesicht eines Obdachlosen beleuchtete. «Du hast ja noch nicht mal einen BH», faßte er an meine Brust. «Bist du von zu Hause abgehauen?» Ich erstarrte. Angst zinnoberte eisbrecherisch durch meine Adern und hielt das Blut mühsam in Fluß. «Setz dich weiter weg, sonst bist du dran. Wenn du ficken willst ... du weißt ja, wo der Hammer hängt», grunzte er schon im Halbdämmer. Ich schlich zur Waggontür, schob die Quietsche auf und stromerte übermüdet weiter. Als die Kirchturmuhr die dritte Stunde anriß, machte ich mich auf den Rückweg. Die verheulte Emm ohrfeigte mich ins Wohnzimmer. «Wir sprechen uns, wenn Papa von der Arbeit kommt.» Mein Stiefvater schloß die Emm aus und fragte, wie und wo ich die Februarnacht überstanden hätte. Mein Mund blieb verschlossen. Er schimpfte mich lautstark aus, um der Emm das Lauschen zu lohnen. Dann entließ er mich mit der Bitte, nicht mehr wiederzukommen, falls ich noch einmal ausreiße. Diese Tür bliebe dann für immer verschlossen. Viel verläßlicher schwangen die Türen zur Schule auf. Als ich mich setzte, krampfte mein Bauch. Den fallenden Kopf federte die Bank ab. Unter mir breitete sich eine Sauerei aus, weil die Pubertät mich zerlegt und mit Verlust wieder zusammengesetzt hatte. Die Lehrerin schickte mich nach Hause. Als die Krämpfe mich in immer kürzeren Intervallen quälten, rollte ich mich im Hausflur ein. Die Emm schloß abends die Wohnungstür auf und meinte, das sei die Menstruation. «Darüber unterhalten wir uns morgen», doch den guten Vorsatz vergaß sie gleich wieder. Zwei Tage später hielt ich mir immer noch den Bauch. Mit der anderen Hand zottelte ich den «Mindestwortschatz Biologie» aus den Regalen der Stadtbibliothek. Aufgeklärt strömte mein Blut in die Gliedmaßen zurück und versorgte mich wieder mit dem aufrechten Gang. Eine Woche vor der Zeugnisausgabe begleitete mich die Emm in die Schule. Weinend bettelte sie um meine Versetzung. Sie würde sich in den Ferien darum kümmern, daß ich im neuen Schuljahr gleich den Anschluß fände. Es liege sicher an widrigen Umständen im letzten Halbjahr, wenn meine Zensuren sich auf einmal so verschlechtert hätten. Tatsächlich hatte ich eine Fünf nach der anderen eingefangen. Es waren so viele, daß ich Mengenrabatt bekam. Wegen der Vieren im ersten Halbjahr wurde ich dann doch versetzt. In der ersten Ferienwoche mußte ich zum Arzt, um mich für das Sommerlager tauglich schreiben zu lassen. Lagerleiter war der Stiefvater, er war auch der einzige, den ich kannte. Also besuchte ich ihn. Er setzte mich vor die Bürotür, damit ich Kontakt zu den
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anderen bekam. Als der Stiefvater sich mit der Gruppenleiterin besprach, fielen ihr die Brauen über das obere Halb der Augen. Forsch führte sie mich zu den anderen in den Schlafsaal und sagte, daß ich bei ihr nichts zu lachen hätte. Es reiche, daß ich meine Mutter kaputtspiele. Einmal mußte ich dann doch lachen. Ich wachte nachts auf, weil eine Troika Mücken ihre Rüssel in meine kitzlige Fußsohle bohrten. Aufgebracht zerlumpte die Morgensonne ihre Wolkendecke und lächelte hindurch. Sie heizte den Pferden ein, die gerade fürs Kinderlager ausgeladen wurden. Ich näherte mich ihnen wie eine Vogelspinne der Nestwärme von Jungvögeln. Mit ihrem Pfleger freundete ich mich an, um immer in ihrer Nähe bleiben zu dürfen. Pferdeatem bestrich wohltuend meinen Hals, trunken tatschten meine Hände über die trojanischen Körper. Wenn ich aus dem Stall kam, beherrschte ein warmes Lächeln meine Gesichtszüge. Noch beim Fußballspiel hielt ich den Kopf selig still, selbst als er von unserem Rettungsschwimmer angeschossen wurde, der diesen Ball in ein Tor verwandelte. Am vorletzten Ferienlagertag feierten wir Abschied, und alle tanzten zum Akkordeon Schieber. Eine Erzieherin forderte mich auf, weil ich die einzige war, die herumsaß. Ich lehnte bis zum Schlafengehen ab. Als das Licht gelöscht war, krochen die Mädchen zu ihren Freundinnen in die Betten und verurteilten die altmodische Mugge. Sie flüsterten von Rolling-Stones-Importen, die man sich bei den Jungs der Nachbarbaracke heimlich anhören könne. Vor der Abreise beeilte ich mich, jedem zu erzählen, daß ich die Lagerleitertochter wäre. Der Stiefvater wurde nun genauso verächtlich angeschaut wie ich während der ganzen Lagerzeit. Zu Hause meldete mich der Stiefvater zum Pferdesport an. Dafür mußte ich versprechen, nicht mehr sein Sorgenkind zu sein. Davon motiviert, schmiß ich den Haushalt. Die Trainingszeit raste bedrohlich näher. Das sah die Emm gelassener. Ich sollte noch zusätzlich die Speisekammer aus- und wieder einräumen. Als ich japsend im Stall ankam, konnte ich die Pferde nur noch durch die verriegelte Tür riechen. Das nächste Mal war ich verhindert, weil die Emm sich eine zu säubernde Dusche ausdachte. Scheiße. Ich rannte los und versprach, die Arbeit abends zu beenden. Glücklich sesselte ich mich im Pferderücken ein und fuhr mit dem Stiefvater auf seinem Moped zurück. Die Emm vergoß überzeugende Tränen über meine Faulheit. Der Stiefvater erboste und meldete mich vom Pferdesport ab. Machte gar nix, lockte mir nicht mal eine lahme Träne aus dem Lachsack.
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Anderntags trat die Emm im eleganten Mantel auf. Sie fragte, ob mir ihr alter Anorak gefalle. Ich durfte sie nicht kränken und bekam ihn mit viel Trara geschenkt. Schon die Kapuze: ein großzügig gearbeiteter Wasserkopfbehälter mit Kunstfellrand, dessen Farbe die Geduld verloren hatte und inzwischen an Depression litt. Damit wagte ich mich erst nach Einbruch der Dämmerung auf die Straße. Ein unbeleuchteter Schotterweg verband die Alt- und die Neustadt. Nur mutige Leute oder solche, die es eilig hatten, benutzten ihn abends. Wenn es dunkelte und die Emm noch auf Schicht war, sah man dort einen weißen Kunstfellrand auftauchen, doch nicht die grimmige Kälte darunter. In viel zu langen Ärmeln ballten sich Fäuste, sie warteten ab. Eine zierliche Frau mit eingezogenem Kopf stöckelte an mir vorbei. Ich jagte hinterher. Schneller werdend, erreichte sie die Neustadt. An der ersten Straßenlaterne war mein dämonischer Zauber gebrochen, so zog ich mich wieder ins Innere des Schleichwegs zurück. Die folgenden Abende blieb der Weg leer. Dann beobachtete ich ein Liebespaar. Es bildete mit dem Stück Weg ein gleichschenkliges Dreieck, bis der Kuß vorüber war. Ich ließ sie ziehen. Eine Frau war noch zu weit weg, um Freund von Feind unterscheiden zu können, und machte kehrt. Ich überholte sie und stellte mich ihr in die Quere. «Was wollen Sie?» fragte sie mit klitschnasser Angst in der Stimme. «Die Uhrzeit!» antwortete ich in einem Bariton, der noch kinderstubenrein war. «Da mußt du bis zur ersten Straßenlaterne mitkommen», sagte sie und tippelte zur Neustadt weiter. Meine Hände zitterten lüstern. Eine Katze blinkte auf. Ich bückte mich nach einem Stein. Er verfolgte das Tier im Zickzack, weil sich meine Hände immer noch nicht beruhigt hatten. Mit diesem Scharmützel trat ich würdig vom Schlachtfeld zurück. Schon entbrannte ein neuer Kriegsherd, diesmal in Vietnam. Dazu legte man uns eine Unterrichtsmeinung in den Mund. Die Schule ging noch einen Schritt weiter. Sie vertrieb Ho-Chi-Minh-Plaketten, die sie reißend los wurde. Doch die Vietnamfresse interessierte keinen: Ho wurde mit den attraktiveren Beatles, Stones oder Elvis Presley überklebt und gern am Revers getragen. Wir sollten äußern, wie man das verhindern kann. Einige stimmten darin überein, daß man mit den Entartern reden müsse, um sie von Ho Chi Minh zu überzeugen. Argumente gegen die drogensüchtigen Musiker aus dem kapitalistischen Ausland gebe es genügend. Ich sagte nichts und wurde aufgerufen. Mich an der Wand festguckend, erklärte ich, so eine Kampagne würde den Ho-Chi-Minh-Absatz nur drücken. Wer möchte schon mit so einem prahlen, weil er die Rolling Stones nicht tragen darf? Die Klasse rechnete mit einer Lehrerin, die ihren
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Schlagworten treu blieb. Doch sie ließ meine Meinung am Schluß der Diskussion stehen. Nach dem Unterricht balancierte ich auf dem Bordstein. Hinter mir hupte ein Auto. Die Lehrerin beugte sich aus dem Fahrzeugfenster und lobte meinen Mut. Von ihren Auspuffgasen eingemauert, machte ich einen Tanz daraus, auf ihre Sympathie zu scheißen. Als ich der Emm mitteilen mußte, daß ich bald Jugendweihe habe, blickte sie skeptisch. Bei meinem Cousin hatte sie letztes Jahr bemerkt, daß eine Feier geldaufwendig ist. Sie rechnete mir die billigste Variante aus, Kleid, Festessen, Pflichtgeschenk, dazu das Porto für die Einladungskarten. So kam sie immer noch auf vierhundertfünfzig Mark. Diese Ausgaben konnte ich sogar selber bestreiten. Das «Walter Ulbricht» hatte das Geld, das ich mir durch meinen Fenstersturz dank Wuta Frischmut so leicht verdient hatte, bis zur Jugendweihe festgelegt. «Mach dir darum keine Gedanken», sagte die Emm, «so schlecht, wie du dich benimmst, wird deine Jugendweihe gar nichts kosten.» Um mich nicht zäh lächelnd mit meinen Mitschülern auf die Jugendweihe freuen zu müssen, ging ich nicht mehr zu den dafür angesetzten Kulturveranstaltungen. Doch dann sollte die Stellordnung für die Gala eingeübt werden. Die Klassenlehrerin sagte, daß diesmal nicht auf meine Anwesenheit verzichtet werden könne. «Bei der Abschlußaufführung muß euer Stehen sitzen.» – «Ich bekomme keine Jugendweihe», rückte ich mit der Sprache heraus. Die Klassenlehrerin duldete keine Ausnahme und machte einen Hausbesuch. «Sie können Ihre Tochter wenigstens den offiziellen Teil mitmachen lassen», verwendete sie sich für mich bei der Emm. Die weinte und sagte, sie würde ja. Doch mein Verhalten erlaube es nicht. Dann zählte sie alle Ybltaten der letzten Woche auf. Einen Tag vor der Jugendweihe wies mich die Lehrerin einer Klasse zu, die das alles schon hinter sich hatte. Ich schwänzte und versommerte den Tag im Wald zwischen Singvogelgefasel und Hummeln, die offene Blüten mit ihrem Lärm elektrifizierten. Als ich heimkehrte, klingelten die Nachbarn. Sie beanstandeten, daß es unangenehm still sei für eine Jugendweihefeier. Ich druckste, daß ich keine habe. «Was?!» regten sie sich auf. Das ganze Haus habe für ein Geschenk gesammelt. Die Emm möchte doch bitte hochkommen und es sich ansehen. Sie verzichtete, und so kamen sie mit dem Päckchen herunter. Beschämt drückte ich die Tür zu. Als ich am nächsten Tag aus der Schule kam, empfing mich die Emm bester Laune. Sie hatte die neue Anbauwand besorgt, auf die
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sie bis zur Freigabe meines vom «Walter Ulbricht» eingerichteten Sperrkontos so geduldig hatte warten müssen.
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9. Kapitel
Die Geschichtslehrerin fragte, wer ein politisches Schulungslager mitmachen möchte. Mein Arm schoß hoch. Mit Gewalt holte ich ihn wieder herunter. «Bleibt es dabei?» fragte sie. «Keine Chance», druckste ich. Daraufhin machte die Lehrerin einen Elternbesuch. Aufgeregt brachte ich den Kaffee, trat der Lehrerin versehentlich auf die Füße, stellte den Schwapp auf den Tisch und verlor endgültig das Gleichgewicht. Peinlichst krallte ich an den Schultern der Lehrerin, um nicht umzufallen, dann lief ich schamrot hinaus. Nach zehn Minuten war die Zustimmung erteilt. Sogar ein Drittel des empfohlenen Taschengeldes bekam ich mit auf die Reise. Vom politischen Schulungslager ist mir nur noch erinnerlich, daß ich mit der Geschichtslehrerin und der Pionierleiterin im gleichen Zimmer lag, zur Beobachtung, wie mir schien. Nach der täglichen Schulung waren wir alle zur Eisdiele gebummelt. Finanziell hatte ich bald nicht mehr mithalten können. Beschämt füßlerte ich zum Strand, wo krauses Grün die Zweige der knorren Bäume wimperte. Die frische Seebrise. Ich sog sie ein ... und würgte sie wieder aus. In den Schultrott zurückversetzt, sollte ich nach dem Unterricht Materialien aus dem Pionierzimmer holen. Ich schluckte: Da saß was ... die Pionierleiterin aus dem Schulungslager. Ich setzte mich dazu und schwieg. Lehrer und Schüler kamen herein. Sie vergewisserten sich, ob ich wirklich versteinert sei. Dann erzählten sie hemmungslos Privatgeschichten. Wegen der tagelangen Sehgewohnheit ließen die Rückfragen nach. Nur ein Spätzünder fragte, was ich hier mache. «Na nichts», antwortete die Pionierleiterin. «Darf ich mitmachen?» startete der Schüler einen Witz, für den ich nichts übrighatte. Als ich mit der Pionierleiterin wieder alleine war, spürte ich ein Seitenstechen. Es ging von ihrem Beobachterblick aus. Mein mißtrauisches und ihr nachdenklich versponnenes Gucken verketteten sich. Ich faßte es als Zuneigung auf. Mein Herz rülpste. So warf ich mich in Schale und rollte vor ihren Füßen aus. Die Pionierleiterin hob das Ei auf, beäugte es von allen Seiten und horchte an der zerbrechlichen Kalkwand. Von innen klopfte es — mit dem Flügelschlag eines Kuckucks war ich wieder da. Von dieser Metamorphose behielt ich Eierschalen hinter den Ohren. Ich zeigte sie einer aus meiner Klasse. Zu meiner Verblüffung schloß sie daraus, ich hätte einen Minderwertigkeitskomplex. Ich wollte es genauer wissen. Sie brachte zwei Seiten in Druckbuchstaben mit, systematisiert vom gerade aufgehenden Komplex bis zur knochen-
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harten Neurose. Damit klopfte ich an die Pionierzimmertür und gnurgelte, was auf mich zutreffen könnte? Das waren die ersten zusammenhängenden Worte, die ich wie heiße Kartoffeln aus dem Mund verlor. Frau Mia, die Pionierleiterin, hielt den Zeitpunkt für die Frage gekommen, welche Art von Beziehung ich zu meinen Eltern habe. Ich warf einen Stuhl, schmiß die Tür, trat von außen dagegen und kam nie wieder. Nie wieder? Frau Mia stand am Schulwaschbecken und spülte Tassen. Sie lächelte, als ob sie nichts angestellt hätte. «Kannst du mir ein paar abnehmen?» Argwöhnisch trug ich die Tassen ins Pionierzimmer. Sie erkundigte sich, ob ich schon mal Charles Dickens geblättert hätte. «Haben wir im Anbausatz stehen. Doch da komme ich nicht ran.» Sie brachte einen mit. Wir redeten nur noch über Bücher. Wenn sie persönlich wurde, schaukelte ich gesprächszersetzend mit dem Stuhl. Als sie fragte, ob ich sie besuchen möchte, pendelte mein Unterkiefer tonlos aus. Sie kritzelte eine Adresse aufs Papier, das ich mir unter die Herzklappe klemmte. Von da an strich ich jeden Tag ein wenig näher ums Haus am Waldrand, das Frau Mia bewohnte, bis ich es ganz eingeengt hatte. Ich geisterte geräuschlos nach oben, klingelte und polterte die Treppen wieder herunter. «Wer da?» beugte sie sich über das Geländer. Ich stieg erneut zu ihrer pappigen Dachwohnung auf. Ein Bücherregal bremste mich. «Möchtest du was essen?» fragte sie. Ihre Kinder starrten mich an, als ich erwiderte, daß ich bei Fremden nie esse. «Du kennst die gar nicht?» fragte ihre kleine Tochter Gerla. Die Emm ärgerte sich, weil ich an diesem Tag nicht rechtzeitig nach Hause kam. Hysterischer Atem hauchte dem Prügel Wut ein. Er verselbständigte sich und schlug mir Laute aus dem Leib. Die Laute ging zu Bruch. Schweigend traf ich bei Frau Mia ein. Sie entspannte mich damit, daß ich den Kindern Märchen vorlesen sollte. Mit den wiedergefundenen Lauten deutete ich das Geschehene an und bereute es sofort. Stumm besuchte ich sie weiterhin. Dann fuhr die Pionierleiterin mit ihren Kindern in die Winterferien. Trotzdem sah ich Licht im Fenster der Familie Mia. Es war nur die blumengießende Schwester, der ich auswich wie einem vorhersehbaren Überfall. Die Mias kamen wieder. Ob ich ein Glas Wein mit ihr trinke, lachte Frau Mia schmitzig. Ich zerkrümelte das Glas zwischen nervösen Fingern und fragte, wie sie es schaffe, mich zu ertragen. «Denkst du vielleicht, daß ich aus einem sonnigen Elternhaus komme? Mein Vater, ein bulliger Berufsoffizier und Familiengeneral, und die Mutter ihm hörig. Ich, die Große, der alle Interessen verboten wurden, damit die kleinen Geschwister jemanden haben, der sie in der Abwesenheit der Eltern bemuttert. Ich
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wollte so schnell wie möglich raus und habe mir unabsichtlich, aber zwanghaft eine böse Schwiegermutter angeheiratet. Die kam jeden Tag mit weißen Handschuhen Staub wischen. Die beiden Kinder wurden kurz nacheinander geboren. Mein Mann hat studiert, und ich verdiente als Tippse den Lebensunterhalt für alle. Als die Schwiegermutter das letzte Mal kam, nahm sie ihren ausstudierten Sohn gleich mit. Meinst du, wenn ich noch verheiratet wäre, könnte ich Verständnis für dich aufbringen? Du wärst mir, der Ehe zuliebe, scheißegal.» «Mann, hast du gerade ordentlich Luft bewegt», zuckte ich ehrfürchtig zusammen. Ich hüpfelte mit dem Bewußtsein nach Hause, daß wir etwas teilten, was sie schon hinter sich hatte, und kam vom Weg ab. Dabei stieß ich mit einer Straßenlaterne zusammen. Ich torkelte zwischen den mir entstandenen Sternen hindurch. An der Emm ernüchterte ich wieder. Wutentbrannt hob sie einen Prügel, weil ich beim Abwaschen einen Fettrand nicht behandelt hatte. Augenblicklich nahm ein Berufssoldat galant die Schlaghand der Emm und führte sie zwei- bis dreimal wöchentlich aus. Jetzt fragte der Stiefvater jeden Tag, ob er ihr schon gesagt habe, daß er sie liebe. Die Emm schwärzte sich die Wimpern und fragte sein bärtiges Spiegelbild, ob es ihr Taschengeld erhöhen könne. Stiefväterchen lud sie mit seinem Jahresabonnement ins Theater ein. Sie lehnte ab. Damit die Karte nicht verfiel, durfte ich mitgehen. Meistens spielten sie Opern in Frequenzhöhen, die den Liedern die Worte abschnitten. Ich bekam nur Bilder mit. Der Stiefvater kämmte seine durchsichtigen Seitenlagen über die Glatze. Er scherzte, daß man sich am Abend vielleicht zu viert in der City wiedersehe. Der Emm ließ dieser Satz keine Ruhe. Sie ließ ihr Rendezvous ausfallen, um ihrem Mann hinterherzuspionieren. Der traf sich mit einer Arbeitskollegin und machte ihr ein Kind. Die Emm schrieb Ansichtskarten an sein Institut. Sie sollten an die Arbeitskollegin weitergegeben werden, wenn alle sie gelesen hätten. In Schönschrift beschuldigte sie die Schlampe, drei Kindern den Vater wegzunehmen und eine glückliche Ehe zu zerstören. Die Emm verkraftete nicht, daß sich der Stiefvater um sein neues Kind kümmerte. Eine Viertelstunde bevor er von der Arbeit kam, schloß sie sich in der Küche ein und drehte den Gashahn auf. Der Gestank kroch durch alle Türritzen, bis er auch uns belästigte. Ich brachte meine Brüder zu den Nachbarn. Unter der Küchentür schob ich der Emm ein Streichholz mit Reißfläche zu. Doch sie zerknallte nicht. Der heimgekehrte Stiefvater warf sein Körpergewicht gegen die Preßpappetür. Die Emm lag auf dem Boden, mit den Füßen zum Eingang, so daß ihr jeder Eindringling unter den hochgerutschten
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Rock schauen konnte. Sie hatte ein angebrochenes Glas Süßkirschen neben sich stehen, die sie schon zu Lebzeiten am liebsten aß. Der Stiefvater riß das Fenster auf und drehte das Gas ab. Ich räumte das Streichholz mit der Reißfläche vom Fußboden ab, während er die Emm wachklopfte. Besoffen guckte sie ihn an. Nachdem sich der Stiefvater erfolgreich damit abgerackert hatte, seine Ehe wieder auf ein befahrbares Gleis zu stellen, verabschiedete er sich mit Küßchen von seiner Frau, den zwei Kindern, faßte meine Hand mit zwei Fingern und ging auf eine dreitägige Dienstreise. Von diesem Ausflug kam er in derselben Nacht zurück. Er zerscherbte das Glas der Schlafzimmertür, sah eine umgefallene Flasche Wein, Teller voller abgenagter Knochen und ein halbleeres Bett. Der nackte Berufssoldat hatte seine Sachen unter der Achsel klemmen, als er im Schlußsprung über das Fensterbrett flüchtete. Das alles erfuhr ich in der Schule von Nachbarskindern. Ich sollte Näheres berichten, weil ihre Eltern schon neugierig mit dem Mittagessen auf sie warteten. Gesehen hatte ich nur die zerbrochene Türscheibe, in die sich der Flurleuchter wie ein Schiffsanker gegraben hatte. Der Stiefvater packte, dann zog er zu seinem neuen Kind. Fortan besuchte er nur noch den eigenen Sohn. Jedesmal mußte er sich durch die kratzende und beißende Emm wühlen, um zu ihm zu gelangen. Buckelwale verschränkten die Hände hinter dem Rücken und zogen aufsichtsführend über den Schulhof. Sie sahen nichts. Kolbe Eismeer guckte mich nicht einmal an, als er mich an den Schulzaun drückte und versuchte, meinen Pullover auszubaggern. Seine Freunde feuerten ihn an. Mein Herz, das er zusammen mit meiner Brust aus der Wolle gerissen hatte, galoppierte in seinen Händen. Diesen stutzen Moment nutzte ich, um mich freizulaufen. Kolbe Eismeer erwischte mich dennoch an der linken Hand. Das riß meine Rechte herum, die beschickte sein Kinn. Erstaunt sah ich den Umdrehungen zu. Als Kolbe Eismeer austrudelte, führte ich mein faustschweres Schlagzeug mit einer schüchternen Kilometerstunde heran und schickte ihn ins nächste Sinfoniekonzert. Mit fünffingriger Tastatur spielte er über sein Kinn. Die Schulglocke vereitelte ihm die Wehrpflicht. Er und seine Freunde gingen in die Klassenräume. Alle anderen umstanden mich. Ich deklamierte, daß zeitgenössische Helden lediglich auf Schulhöfen zu finden sind, weil es den Krieg nur noch im russischen Spielfilm gibt, und hoffte, daß Erla Mia mich gesehen hatte. Mit meinem Hofstaat machte ich mich ins Schulgebäude auf, damit der Unterricht beginnen konnte. In der nächsten Hofpause zackelte meine Nase mit vollen Dampfkesseln knapp über den Boden. Ich suchte nach der alten Gefolgschaft. Doch umsonst.
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Ich hielt mich, sooft es ging, bei Erla Mia auf. Eine Umarmung war mir geglückt. Als ihr Abziehbild rutschte ich trunken aus Erla Mias Armlängen. Bei ihr sprach ich mich aus. Sie versprach, es für sich zu behalten. Als meiner Klassenlehrerin Striemen auffielen, die aus meinem Rollkragenpullover schlauften, antwortete ich auf keine ihrer Fragen. Während der Hofpause ging ich zufällig ins leere Klassenzimmer und hörte, wie Erla Mia ihr Versprechen brach. Sie klärte meine Klassenlehrerin auf. Unbemerkt zog ich mich zurück. In den Pausen rempelte ich Erla Mia an, ohne sie weiter zu beachten. Sie erwischte mich am Ärmel und fragte, warum ich mich so eigenartig verhalte. Ich nahm mein Herzblut zusammen, um es ihr vor die Füße zu spucken. «Du lügst», brüllte ich. Irr rasende Körperkräfte muskelten meine Fäuste, als sie das stählerne Treppengeländer zum Beben brachten. «Du hast dich nur aus Psychologieinteresse mit mir befaßt. Ich hasse dich!» Sie redete beruhigend, doch nutzlos auf mich ein. «Dann eben nicht.» Daß sie sich dabei von mir abwendete, verteuerte ihre letzten Worte bis ins Maßlose. Schülermassen, die von der Hofpause zurückkamen, nahmen mich in ihre Flut auf. Verschiedene Strömungen flossen in die Klassenräume, bis sie versiegten. Glotzäugig vereinsamte Erla Mia in der Steppe des Schulflures. Ich fror meine wenigen Worte ein und ließ niemanden mehr zu mir durch. Am Fenster beobachtete ich das Leben auf dem Schulhof. Ich dachte über den Freitod und seine Strickmuster nach. Von hinten legte sich ein Arm um mich. Erla Mia entschuldigte sich. Ich sturte mit gesenktem Kopf weiter. Gerla und Berla wollten angeblich Märchen vorgelesen bekommen. Den folgenden Sonntag war ich mit Erla Mia verabredet. Bevor ich anklopfte, hörte ich die abgedudelte Lehrerstimme ihrer Mutter. Die gab ihr den dringenden Rat, von mir die Finger zu lassen. Müde verteidigte mich Erla Mia. Ich atmete ein Stechen ein. Die beiden brüllten sich an. Als ich mich auf die Stufen setzte, schmiegte sich eine Katze an. Sie war so marmoriert wie ich, weil wir etwa im gleichen Zeitabstand den Überzieher wechselten. Ich nahm die Mieze auf und bleierte die Treppe hinunter. Unten klatschte ich das Mistvieh gegen die Hauswand. Mit ihren sechs anderen Leben lief sie davon. Am nächsten Tag fragte mich Erla Mia auf dem Schulhof, warum ich die Verabredung nicht eingehalten habe. Ich bastelte meine Arme, Beine und Kopf zu einem Faltbaby zusammen. Ein Windstoß fegte mich mit dem übrigen Straßendreck vor sich her. Als ich wieder bei Erla Mia einkehrte, öffnete sie geheimnisvoll eine Truhe, in der die äußeren Hüllen ihrer Teenagerzeit aufgebahrt lagen. Sie dekorierte jedes vorgeführte Kleidungsstück mit
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Erinnerungen. Ich durfte nehmen, soviel ich wollte, und entschied mich für eine Hüftjacke. Erla Mia guckte auf die Uhr. Ich mußte mich beeilen, wenn ich der Emm noch zuvorkommend die Tür aufhalten wollte. Die Emm linste auf die Hüftjacke und brüllte, woher ich die habe. «Von Erla», reizte ich Unbekanntes aus. – «Die ist geklaut, du verkommenes Stück!» Sie holte den Teppichklopfer. Im Kopf das Heiligenbildchen, auf dem Erla Mia mir Mut zusprach, setzte ich mich auf den Boden und stärkte mich mit einem Ferienlagerlied, das ich stimmlos mitsang: Siebzehnhundertzehn, zehn, zehn war ein kleiner Mord geschehn, schehn, schehn, eine Mutter hat ihr Kind, Kind, Kind mit der Gabel umgebringt, bringt, bringt. Die Emm holte zum Schlag aus. «Das Klauen wird dir schon noch vergehen.» Als sie so am Tische saßen, saßen und Kartoffelpuffer fraßen, fraßen, stritten sie sich wie die Raben, Raben, wer das größte Stück soll haben, haben Der Prügel zerbrach. Ich lag zusammengerollt unter der Emm, die mich zertanzte. sprach der kleine Paule, Paule, Mutter hat das größte Maule, Maule, sperrte ihn die Mutter ein, ein, ein, war der Paule ganz allein, -lein, -lein Sie fesselte meine Arme auf den Rücken, um das Gesicht freizulegen, und sprang darauf herum. Fing der Paule an zu toben, toben, Mutter laß mich doch nach oben, oben, ließ die Mutter ihn dann raus, raus, raus, streckte Paul die Zunge raus, raus, raus Die Emm schleifte mich an den Haaren weg und knallte den Kopf stetig an die Betonwand. Holt die Mutter eine Gabel, Gabel, stach den Paule in den Nabel, Nabel, wurd der Paule dann ganz rot, rot, rot, war der Paule dann ganz tot, tot, tot Haarbüschel in Soße verschmierten die Rauhfasertapete. Ein Blutfaden hing als unleserliches Spruchband aus meinem Mund. Ich trat aus dem Körper und sah, wie die Emm einen Unfall konstruierte. Sie kippte die Trittleiter so günstig, daß ich mir selber den Kopf eingeschlagen haben mußte. Dann rief sie den Rettungswagen. Ein Krankenpfleger verdrahtete mich mit Schläuchen. Er pulste seine
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Handflächen im Takt meines Herzens, bis es zu schlagen begann und mich in den Körper zurücksaugte. Erla Mia besuchte mich mit einer Fürsorgerin im Krankenhaus. Sie könnten nur helfen, wenn ich mich ihnen anvertraute. Ich hatte keinen Bock auf eine Zukunft im «Walter Ulbricht». Die beiden blieben erwartungsvoll an meinem Bett stehen. Klapp, klapp, klappten meine Augen zu, verschnürten Lippen das Ungesagte, und ich hörte erleichtert, wie sich die Krankenzimmertür von außen schloß. Aus dem Krankenhaus wurde ich gesund und mit einem Körper entlassen, der wieder etwas aushalten konnte. Eine Jugendhilfekommission sandte zwei ihrer Abgeordneten der Emm ins Haus. Erla Mia hatte ihre Kollegin zuvor gebeten, sie nicht namentlich vorzustellen. Die Emm klagte, seit der Name Erla aufgetaucht war, sei die Tochter widerspenstig und gehe mit der sogar in Kaufhäusern stehlen. Zum Beweis zeigte sie die Hüftjacke aus Erla Mias Bodentruhe. Jetzt stellte sich Erla Mia namentlich vor und klappte der Emms heruntergefallenen Unterkiefer höflich hoch. Die Emm bekam Auflagen. Sie versprach, sich daran zu halten. Wieder hatte ich soziale Fortschritte gemacht. Anwendungsgebiete waren meine Mitschülerinnen Utma Ransom und Banja Merden. Alles, was ich erzählte, setzte ich schwärmerisch zu Erla Mia in Beziehung. Sprachen wir über ein Thema, in dem sie nichts zu suchen hatte, baute ich die Sätze so um, daß sie doch darin vorkam. Nach Unterrichtsschluß gingen unsere Spaziergänge in Richtungen, die immer an Erla Mias Haus vorbeiführten. So oft kommentiert, wurde sie schon zu Lebzeiten eine Legende für meine beiden Begleiterinnen. Mit ehrfürchtig geöffnetem Mund und glasigen Augen verfolgte ich Mimik, Rhetorik und jede Bewegung Erla Mias, um sie gleich zu kopieren. Ihr Lieblingswort war derzeit «apart». Ich vertraute dem Sinn des Wortes und schickte es bei jeder Gelegenheit als Diplomaten vor, wenn meine Meinung gefragt war. «Sehr apart», erteilte ich meine Zustimmung oder verweigerte sie mit «nicht besonders apart». Erla Mia fragte mich eines Tages vor allen Versammelten, was ich unter «apart» verstehe. Da ich es aus dem Bauch heraus verstand, erübrigte sich eine Erklärung. Sie hielt mir das aufgeschlagene Wörterbuch vor die Augen. Ich studierte die Bedeutung des Wortes. «Sehr apart», doubelte ich sie ein letztes Mal und nur aus Gewohnheit. Sie benutzte es auch nicht mehr. Weil ich mit ihrem Lieblingswort so erbärmlich durchgefallen war, überspielte ich wenigstens noch Erla Mias warmes Timbre auf meine Stimmbänder. Die Pubertät fixierte es.
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Die folgende Zeit fing die Tage ein und verwebte sie zu Wochen. Achtlos lieferte ich sie dem Vergessen aus. Erst als die Emm ungewöhnlichen Besuch bekam, protokollierte mein Gedächtnis wieder mit. Ein schäbiger Mantel hing an der Flurgarderobe. Sein Nikotingestank biß sich auch durch alle Sachen, die darunter hingen. Neugier kullerte mein Auge ans Schlüsselloch der Wohnzimmertür. Dort sah ich eine alkoholisierte Alte sitzen. In ihren Gesichtsfalten versteckte sich Mürrisches, während sich von der Flamme eines Streichholzes zwei Schachteln Zigaretten hintereinander ernährten. Die Emm entschmeichelte der Alten Plaudereien über ihre Westverwandtschaft. So vertrug deren Cousine das Rauhfasertoilettenpapier unserer Nation nicht, man legte ihr Tempotaschentücher hin. Die Alkoholikerin klagte, daß ihr immer Geld fehle, nachdem sie bei uns gewesen sei. Die Emm verdrosch mich vor den Augen des Gastes. Sie versicherte, meine Hand sei jetzt so angeschwollen, daß sie nicht mehr in fremde Geldbörsen passe. Tage später erwischte ich meinen Bruder vor dem offenen Portemonnaie der Alten. Ich hielt seine Hand fest und kreischte die beiden herbei, ehe er es fallen lassen konnte. Die Alte zitterte, als sie sah, was für ein kleiner Bub sich an ihrer Rente beteiligte. Dann trat das ein, worauf die Emm wochenlang hingearbeitet hatte. Die Westcousine der Alten kam zu Besuch. Schnell schickte mich die Emm los, damit ich der betrunkenen Alten den Einkauf mache. Dann holte sie die Verwandte ihrer älteren Freundin ab. Die Besucherin war eine stattliche Monroe in den Fünfzigern und trug einen parfümierten Pelzmantel. Ihre Augen wurden von einer Designerbrille glasiert. Die Emm erwähnte, wie hilfsbereit ich mich um die gebrechliche Ostcousine kümmere. Die Monroe öffnete ihr schlangenledernes Handtäschchen und gab jedem Kind eine Tafel Schokolade. Sofort schob uns die Emm ins Kinderzimmer, um die Tafeln einzusammeln. Ich roch noch einmal dran, um eine Fährte zu haben. Dann beauftragte die Emm mich, den Kaffee zu bringen. Die Monroe lobte den üppigen Westen. Sie habe den Amerikanern schon damals mehr zugetraut als den Russen. Wenn sie ihre Cousine so dahinvegetieren sehe, wisse sie, warum sie sich rechtzeitig abgesetzt habe. Zum Abschied drückte die Emm der Besucherin ihre Paketadresse in die Hand und half ihr in den schweren Zobel. Von seiner Trägerin blieb als Erinnerung nur noch die auf dem Schuhschrank liegengelassene Adresse der Emm zurück. Die Wohnung verlor sich in der Stille, weil Wochentag war. So konnte ich in Ruhe austüfteln, wo die Emm ihr Schlüsselversteck hatte. Unsere Kinderschokoladen fand ich in der Vitrine ausgelegt. Ich lieh mir «Das Verbrechen des Pater Amaro». Die Emm hatte mir
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das Buch einmal während einer Lesestarre auf die Stirn geklopft, um meinen literarischen Sexualtrieb zu bändigen. Ich fand eine Geldkassette, in der noch der Schlüssel steckte. Beidhändig rührte ich die Dokumentensammlung auf und erfuhr, daß der ältere beider Brüder einen verstorbenen Zwilling hatte. Von einem Fachkollegen des Stiefvaters fand ich eindringlich bis höflich-herzliche Ersuchen, mich zur Adoption freizugeben. Der Fachkollege führte die finanziellen und emotionalen Bedingungen auf, unter denen ich bei ihm und seiner Frau aufwachsen könne. Ich nahm ihn wohlwollend in meine Tagträume auf. Die Emm durchsuchte noch am selben Abend das Kinderzimmer und beschlagnahmte das gefundene Schokoladenpapier. Sie schlug mich nicht, sondern legte das Beweismittel für meine Einbrüche der Jugendhilfekommission vor. Erla Mia schimpfte wie ein Straßenspatz, warum ich so dumm gewesen sei, das Papier aufzuheben. Mir gefiel es, weil ich mir damit ein Bild vom Westen machen konnte. Sie ärgerte sich, weil ich nach einem halben Jahr ihrer Geistespatenschaft immer noch nicht den Kitsch von der Kunst unterscheiden konnte. Anhand des Buches «Der Würger von London» begriff ich, daß meine Gewaltphantasien weder etwas Besonderes noch etwas Neues waren. Hier lebte sie eben Jack the Ripper aus. Ich las jedem daraus vor, von dem ich verstanden werden wollte. Die Seiten flatterten, verhedderten und lösten sich. Wie ein gründlicher Leser arbeitete sich ein Leberwurstkrümel von der ersten bis zur letzten Seite durch. Nach drei Wochen brachte ich Erla Mia das Buch zurück. Sie schiß mich zusammen, zu Unrecht. Noch heute denke ich, daß ein beliebtes Buch das Recht hat, es durch sein Äußeres zu zeigen. Sie wollte mir nie wieder ein Buch borgen. Vergebens diskutierte ich dagegen an. Also stahl ich ihr einen ladenneuen «Würger», der in ihrem Regal die anderen Bücher überblitzte. «Borgst du mir wieder eins?» fragte ich. Sie schüttelte sich zu einem heftigen Nein. «Dann klaue ich deine Bücher, bis ich sie ausgelesen habe», sagte ich versöhnlich. Erla Mia war dermaßen biblioman, daß sie keinen Spaß verstand, und ich gab ihr das schon entwendete Buch zurück. Ein Handwerker sollte die Elektrik verlegen. Die Emm hatte keine Zeit, und so assistierte ich ihm. Da ich von Erla Mia die Sozialsprache erlernt hatte, wurden wir schnell vertraulich. Nach der Mittagspause brachte er sein Tonband von zu Hause mit. Ich staunte, daß sich Musik nicht nur auf die Schlager der Emm beschränkte. «Gefällt sie dir?» fragte er. – «Die ist so hart und schnell. Meine Gefühle müssen erst mal lernen, sich im Sattel zu halten, bevor ich die gut finden kann», sagte ich und fragte, ob ihm seine Arbeit Spaß
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mache. «Man kommt viel herum», sagte er. «Vorgestern habe ich in einer Waschküche zwei Lampen legen müssen. Jede mit einem Extraschalter. Die beiden Damen waren so zerstritten, daß sie, auch nach außen hin, zwei verschiedenen Strömen angehören wollten. Du bist auch ulkig.» Warum, konnte er nicht erklären. Es war vielleicht die Art, wie ich den Mülleimer auskippte. «Andere rotzen nicht neben die Mülltonne.» Oder mit welcher Fassung ich meine Klamotten trug. Er fragte, ob ich das Tonband noch ein bißchen behalten möchte. Ich hätte es bitter nötig. Die Emm wunderte sich, daß ich so früh ins Bett ging. Sie riß die Bettdecke weg und erwischte mein Ohr, das mit dem Lautsprecher kopulierte. «Das bringst du zurück!» keifte sie. Daß ich noch am selben Tag vor der Tür des Elektrikers stand, erstaunte ihn nicht. Als die Grauschleier der Dämmerung Falten schlugen und sie zur Nacht schwärzten, juchzte Erla Mia erschrocken auf. So spät erwartete sie keinen Schülerbesuch. «Warum, Herrgottnochmal, gerade jetzt?» Glücklich hielt ich ihr mein Tagebuch hin. «Erst heute angelegt», glühte ich wie ein Revolutionsprediger. Damit die erste Seite nicht leer blieb, war ich über das Balkongitter abgehauen und hatte dieses Abenteuer Schritt für Schritt festgehalten. Ich wollte das Tagebuch bei Erla Mia hinterlegen, damit die Emm es nicht erschnüffelte. Erla Mia fand das überhaupt nicht genial. Sie sagte, daß ich meinen Gedankenhimmel lieber am Tag mit solchen Scheißhausideen besternen sollte. Dann schnippte sie eine Falte aus dem Nachthemd, schloß die Tür und ließ mich am anderen Ufer depressiv stehen. Die Emm fand jeden Tag neue Gründe, um sich aufzuputschen. Einer sorgte dafür, daß sie meinen Kopf an den Herd knallte, mich zusammentrat und im Zimmer einschloß. Dann war ich vergessen. Die Schule begann ohne mich. Etwas zu essen brachte schon lange keiner mehr. Ich trank Blumenwasser und pißte aus dem zweiten Stock. Den Romanhelden von «Lebenslänglich» hielt ich unter der Matratze versteckt. Er brachte mich über die Hungertage. Im Schloß drehte sich der Schlüssel. Die Emm brauchte mich zum Möbelrücken. Ich hatte aber fünf Tage nichts gegessen. «Dann bring den Mülleimer raus!» raunzte sie, bevor sie mich wieder einschloß. Ich kam ihr zuvor, weil ich nicht zurückging. Die folgenden Ereignisse brauchten ihre Zeit, um mich einander zuzuwerfen. «Wieso hast du nichts an?» fragte Erla Mia, als ich mir den Schnee aus dem T-Shirt klopfte. Sie stellte einen großen Teller mit belegten Broten vor mir ab. Ich bekam nur eine halbe Schnitte herunter. Mein Magen war zum Wellfleischball geschrumpft, der nichts mehr fassen wollte. «Soll ich die Jugendhilfe anrufen?» fragte
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sie. — «Damit die mich im <Walter Ulbricht> zum vierten Mal verstaatlichen?» Sie überlegte. «Du könntest bei meiner Mutter wohnen, bis wir eine andere Lösung finden.» — «Nein, ich will zu dir», bockte ich. — «Das kriegen wir nicht durch. Aber von meiner Mutter aus könntest du mich jeden Tag besuchen.» Ich gestand, ihre Mutter nicht leiden zu können, seit ich damals an der Tür ihrer abgedudelten Lehrerstimme gelauscht hatte. Es klingelte. Ich fuhr zusammen und hechelte: «Versteck mich.» — «Quatsch», sagte Erla Mia und öffnete. Es waren bloß Utma Ransom und Banja Merden. Sie berichteten, daß die Emm alles ablaufe, um mich zu finden. Wir saßen erregt bei einer Flasche Apfelwein, - bis die beiden gingen. Beim nächsten Klingelsturm fegte Erla Mias Freundin Suse herein. Die beiden brachten mich zu Bett. Erla Mia blieb zum Plaudern. «Ich bringe mich um», beschloß ich hörbar, weil ich Suse im Türrahmen nicht bemerkt hatte. Zusammen redeten sie auf mich ein. Ich verklebte meine Ohren mit Teilnahmslosigkeit. Morgens suchte Erla Mia für mich Mütze, Schal, Handschuhe und einen Anorak heraus. Suse begleitete uns ein Stück zur Schule. Die beiden verabschiedeten sich mit Küßchen. Neidisch fragte ich Erla Mia, ob sie mich auch gerne habe. «Würde ich das sonst alles für dich tun?» Ihre lapidare Gegenfrage bohrte sich in mein Herz. Ich zog den Pfeil, und mein Schmerz hatte einen Abfluß. Nach dem Unterricht sollte ich in das Direktorenzimmer kommen. Die verheulte Emm hatte Anziehsachen dabei. Ich verweigerte mich. Der Direktor stellte mich vor die Wahl, nach Hause zu gehen oder sofort in ein Heim für Schwererziehbare überwiesen zu werden. Ratlos stürzte ich ins Pionierzimmer. Erla Mias Teint war plötzlich ergraut, obwohl uns nur neun Jahre trennten. Ich nahm ihr Gesicht in meine linken Hände und fragte, was los sei. Erla Mia jammerte. Mit meiner illegalen Unterbringung habe sie sich was eingebrockt, nun sei sie der Emm ausgeliefert. Wenn sie Erla Mia anzeige, sei es aus mit ihrem Beruf. «Du hast mir doch geholfen», sagte ich verständnislos. – «Auch dagegen gibt es Gesetze.» Erla Mia begleitete mich nach Hause, weil sie unter vier Augen mit der Emm sprechen wollte. Die Emm erklärte, daß sie nur zurückschlage. Ich würde jedesmal beginnen. «Die lügt!» platzte ich ins Zimmer und riß meinen Pullover hoch. «Ich habe die Striemen und nicht sie.» – «Du hast unser Gespräch belauscht?» versauerte Erla Mia. Sie wollte mit dem ganzen Scheiß nichts mehr zu tun haben. Schwermütig ging ich fort. «Ich kann nicht mehr!» brüllte sie mir hinterher. Bis Weihnachten verdumpfte eine Woche, in der ich Erla Mia mied wie die Pest. Damit tat ich mir weh. Der Berufssoldat schenkte meinen Brüdern Spielzeuggewehre. Angewidert verließ ich das Fest
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des Friedens. Ich stapfte durch den Schnee und ging in der Menschenleere spazieren. Am zweiten Weihnachtsfeiertag brachte Erla Mia einen bunten Teller vorbei. «Was soll ich mit dem Blödsinn?» Sie hielt sich nicht bei mir auf. Im Nachtschrank der abwesenden Emm fand ich Schlaftabletten. Die mörserte ich. Dann zog ich die Papierrobe von der Schokolade. Ich öffnete auch deren Aluminiumunterwäsche, streute das Schlafpulver drauf und schob den Schokomix in die Ofenröhre. Als er verflüssigte, schlürfte ich die Alu-Auster leer. Aus war's. Mein Selbstmord war danebengegangen. Ich hatte lediglich den Nachtschlaf um einen Tag verlängert. Am Fußende des Bettes saß mein Schutzengel und veryblte mir, daß ich ihn alleine lassen wollte. Zur Strafe hatte er mich geweckt. Ich schlug ihm vor, das nächste Mal gemeinsam in den Tod zu gehen. Er war einverstanden. Doch nur unter der Bedingung, daß er die Todesart wählen dürfe. Ich sagte zu. Wir müssen jetzt noch ein wenig warten, weil er sich für Altersschwäche entschied. Im neuen Jahr nahm Erla Mia den Umgang mit mir wieder auf. Ich steigerte mich in ihre Zuwendung hinein, stemmte mich gegen den Ostwind und begleitete sie nach Hause. Sie hörte mir kaum zu. Ich fragte, ob ihr Schweigen etwas mit mir zu tun habe. Nein, das war es nicht. Außer mir gebe es noch andere Probleme. «Welche?» bohrte ich und knobelte schon eifrig daran, sie zu lösen. «Damit belaste ich dich nicht. Du hast mit dir zu tun.» Wir schwiegen, weil ich verarbeiten mußte, daß sie sich von mir nicht helfen ließ. Einen Augenblick später riet ich ihr im neu erworbenen Englisch: «Take it easy, Baby.» Sie bedankte sich für diesen Mist. «Come on. Der Mist ist gar nicht so ybl. Das wirst du später merken, wenn du deine Probleme im Rückspiegel betrachtest. Du wirst dich ärgern, nicht auf mich gehört zu haben.» Doch Erla Mia kotzte schon jetzt ab. Mit zerfetztem Grinsen stolperte ich ihrer Mißbilligung davon. Als ich am Abend nach Hause kam, öffnete mir niemand die Tür. In allen Fenstern brannte Licht. Ich warf Steinchen. Daraufhin verlöschte das Licht. Jede Stunde klingelte ich erneut. Um Mitternacht ging ich in den minusgradigen Schuppen. Da ich nichts zum Zudecken fand, zog ich die Beine an und legte mich zwischen meinen Ohrmuscheln schlafen. Nach dem Unterricht schlief ich bei Erla Mia aus. Abends klingelte ich wieder vergebens zu Hause an. Erla Mia wußte, daß in meiner Nähe die Russischlehrerin wohnte. Nur mit einer Zeugin sei die Emm zu überführen. Diese klopfte ich aus dem Feierabend. Hatte die Russischlehrerin einen anderen Stil zu klingeln? Die Emm öffnete sofort. «Da bist du ja, du kleiner Herumtreiber. Seit zwei Tagen
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warte ich auf dich», begrüßte sie uns. Die Lehrerin glaubte nicht, daß der Emms Unschuld nur eine schauspielerische Hochleistung war. Sie war eher erstaunt über den Liebhaber, der sich hinter dem Rücken der Emm klein machte, um nicht von der Frau seines Armeekameraden gesehen zu werden. «Hast du wirklich im Schuppen geschlafen?» fragten mich Utma Ransom und Banja Merden. Die Russischlehrerin hatte die beiden beiseite genommen. Sie sollten nicht alles glauben, was ich erzähle. Ich schaute mich im Himmel von Erla Mias Wohnzimmer um. Eine Unruhe aus chinesischen Schmetterlingen hielt ihn lebendig. «Ich ziehe nach Berlin», sagte sie und ereiferte sich über das fickrige Schwein von Schuldirektor, der ihr seit Jahren das Pionierzimmer einrenne und sie mit Erpressungen umwarb. «Du wirst dich jetzt ohne mich durchkämpfen müssen», bedauerte sie. – «Kann ich dir schreiben?» wurde ich hellhörig. Sie mauerte fix einen Vorwand hoch, um ihre Antwort ungesagt dahinter verschwinden zu lassen. Schuldbewußt öffnete ich meine Fäuste. Handlinien änderten ihren Lauf und bogen pflügend in meine Stirn ein. Die Berliner Schule lehnte Erla Mia ab. Das war mein Hintertürchen, durch das ich sie wieder besuchen kam. Erla Mia fragte, ob ich zum Essen bleibe. Ich entrüstete mich. Vorsorglich legte sie ein Schnitzel mehr in die Pfanne. «Ißt du nun mit?» kokettierte sie, und ich rührte mich. Gerade schnitt ich das Fleisch an, da riß die Türglocke heiser an der Kette. Ihre Freundin Suse brach mit einem völlig anderen Thema herein, setzte sich und legte ihr Neugeborenes an die Brust. Erla Mia teilte das Fleisch anders ein, um der Säugenden die besten Stücke vorzulegen. Sozial legte ich meinen Anteil dazu. «Für dein Baby», sagte ich. – «Für mein was?» lachte die Freundin. «Das ist doch noch zu klein zum Fleischessen.» – «So, so!» Ich sah dem niedlichen Freß- und Scheißpaket zu. «Dann frage ich mich, was es gerade schmatzt. Oder sind Titten kein Fleisch?» Als ich am nächsten Tag aus der Schule kam, war die Emm mit beiden Söhnen und dem Liebhaber bereits verzogen. Die Nachbarskinder fragten mich: «Wohin?» Ich war genauso überrascht wie sie. Wir lungerten noch auf der Treppe, als der Liebhaber seinem Auto entstieg. Er stieß mich beiseite und schloß die Tür auf. Ich fragte, wo die Emm neuerdings wohne. Er konterte mit Schweigen. Nachdem er in der Wohnung alles erledigt hatte, schloß er die Tür von außen ab. Die Stufen stieg er schneller runter als rauf. Das Triebwerk eines Arschtrittes, zu dem ich wütend ausgeholt hatte, ermächtigte ihn dazu. Mit geballten Fäusten drehte er sich um, sah mir im Halbrund der Nachbarskinder in die trumpfen Augen und
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verzichtete auf den Gegenschlag. Ungleichmäßig puffte er mit seinem Trabant davon. Ich fragte Erla Mia betont sorglos, ob sie wisse, wo ich schlafen könne. «Wende dich an deine Russischlehrerin. Wenn du hier bleibst, mache ich mich strafbar», sagte sie. So meldete ich mich bei der. Ihr Mann rief in der Kaserne an. Die Armee wußte, wo sich der Liebhaber und somit die Emm aufhielten, weil ein Militär sich stets mit Ortsangabe vom Objekt abmelden mußte. Es war noch hellreifer Tag, als ich an der Neubautür der Emm klingelte. Sie habe kein Quartier für mich. In meiner Abwesenheit waren alle Zimmer aufgeteilt worden. Ich ging in die Küche und belegte eine Scheibe Brot. «Du ißt hier nichts», zog sie mich an den Haaren aus dem Raum. Ihr Liebhaber half, mich ins Wohnzimmer zu schieben und hinter mir abzuriegeln. Ich zerschlug einen Sessel. Als die Scheiben des Schrankes klirrten, hatte die Emm ein Sesam gefunden, das die Zimmertür märchenhaft öffnete. Ihre Augen vergifteten mich wie synchron im Knochenteig tobende Kugelfische, denen zeitgleich die Galle geplatzt war. Ich flüchtete aus dem Fenster. Am Sims hielt ich mich fest. Fünf Stockwerke unter mir schloß die Tiefe mit einer Blumenrabatte ab. Ich hoffte loslassen zu können. Über mir die Emm, die versuchte, jeden einzelnen meiner Finger von der Neubaumaterie zu lösen. Auf der Straße brüllte ein Kind. Es rief alle zusammen, weil jemand an der Hauswand hing. Alarmiert stürzte der Liebhaber ins Zimmer. Er packte mein Handgelenk und schrie die Emm an, sie solle ihm helfen. Blut ölte die Schleifspuren meines Oberkörpers, als mich beide über das gratige Betonsims hineinzogen. Der Liebhaber brüllte der Emm zu, er mache das nicht mehr mit. Darüber vergaßen sie, die Tür abzuschließen. Auf dem Flur langte ich in den Werkzeugkasten und ergriff einen Hammer. Ich holte aus. Bestürzt duckte sich die Emm und erlaubte sich, todesfürchtig vor mir zu knien. Das Eisengeschoß verzischte knapp über ihrem Kopf. Der Türrahmen splitterte nach. Der Liebhaber griff mein Genick und drückte mich in die Besenkammer. Die Emm hauchte, er solle die Polizei holen. Sie sei in Lebensgefahr. Der Wachmann ließ sich die Besenkammertür öffnen, sah mich an und hörte der Emm zu. Sie zerbrach daran, daß der Liebhaber nichts gesehen haben wollte. Ich entwischte nach draußen. Meiner Klassenlehrerin erzählte ich alles im Ton einer längst ausgetrockneten Geschichte. «Du mußt da raus», entschied die U. – «Und dann ins <Walter Ulbricht>?» fragte ich mit angespannten Wegspringmuskeln. – «Deine Mutter überrumpeln wir. Du sagst nichts, wenn ich mit ihr rede.»
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Als die Emm die Tür öffnete, wirkte sie eingeschüchtert. Der Polizist und ihr Liebhaber hatten nur noch ihre drauswärts gerichteten Fußspuren im Korridor hinterlassen. Die U. stellte sich als Bevollmächtigte der Jugendhilfe vor. Sie beruhigte die Emm, sie habe nichts zu befürchten, wenn sie mich ihr mitgebe. Sie brauche bloß ihr schriftliches Einverständnis. Die Emm vergewisserte sich wieder und wieder, bevor sie endlich unterschrieb. Dann sollte sie noch Kleidung heraussuchen, die gerade mal einen halben Koffer füllte. Bei der U. schütteten wir seinen Inhalt auf den Boden. Sie sortierte alles als Lumpen aus. Ihre kleine Adoptivtochter brachte den vollgeplumpsten Mülleimer hinunter.
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10. Kapitel
Die U. suchte mir aus ihrem Kleiderschrank lange Hosen und eine Rüschenbluse heraus. Ich war sprachlos. «Nun zieh das schon an. Wir müssen los.» Ich schloß mich im Bad ein und zog die Sachen vom Vortag an. «So gehst du mir nicht in die Schule. Du blamierst mich ja», sagte sie. Unaufhaltsam ging ich die Treppe herunter. «Wir gehen Kleidung kaufen», verkündete die U. nach dem Unterricht. Sie hielt mir Röcke, Kleider und Blusen vor die Brust. Ich schmetterte sie ab und sollte selber Vorschläge machen. «Das ist nicht mein Geld. Ich habe es bei der Jugendhilfe bekommen», schmeichelte die U. vergebens, als hinter ihrem Rücken Utma Ransom und Banja Merden auftauchten. Sie waren begeistert, mich im Warenhaus zu treffen. Doch lächelten sie hauptsächlich die U. an. Beide luden uns auf einen Kaffee ein. Die U. lehnte ab und ermahnte mich, pünktlich nach Hause zu kommen. Ich trödelte zu Erla Mia. Die fragte, von der U. unterrichtet, ob ich mit ihr einkaufen gehen würde. Meine Ablehnung blendete sie mit dem Angebot aus, mir die restlichen Kleidungsstücke aus ihrer Teenagertruhe zu vermachen. Ich zog die Sachen an, doch sie hatten ihre Magie verloren. Nachts rüttelte mich die U. wach. Sie wollte wissen, was ich geträumt habe. «Gar nichts», sagte ich. — «Du hast deinen Kopf gegen die Wand geschlagen», sagte sie. Ich glaubte ihr nicht, weil ich mir nicht vorstellen konnte, daß man gut schläft, wenn der Kopf gegen die Wand hämmert. «Versuch weiterzuschlafen», sagte die U. weich und umarmte mich. Ich wich zurück, bis mir die Wand eine über den Schädel zog. Es schmerzte, als habe der Beton schon vorher ein paar Mal heimlich zugeschlagen. Zunehmende Abneigung bockte in den nächsten Tagen meinen Trotz auf und fuhr ihn der U. gegen die Schienbeine. Weil sie mir trotzdem leid tat, stammelte ich eine Entschuldigung. Wenn sie mich nicht mehr aushalte, könne sie mich ja zu Erla Mia geben. «Die wird sich gerade so ein Problem aufhalsen», schlug die U. guten Rat in den Wind. «Wenn du nicht so intelligent wärst, hätte ich mich gar nicht erst mit dir befaßt.» Erschrocken spurtete ich zu Utma Ransom und Banja Merden in die Cafeteria des Warenhauses. Beiden steckte ich, es sei bei meiner provisorischen Adoption gar nicht um mich gegangen, sondern um Intelligenz. Banja Merden glättete die Worte der U. und versuchte, sie für mich annehmbar zu übersetzen. Utma Ransom sah mir an, daß ich es nicht alleine verarbeiten würde. Sie brachte mich zu ihrem
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Vater. Der saß im Biedermeierpolster und steckte sich eine Pfeife an. «Wenn du erwachsener bist, erkläre ich dir, warum du deine Lehrerin nicht lieben kannst.» Ich stellte mich auf Zehenspitzen, damit er sah, daß ich schon groß bin. Das brachte ihn in Fahrt. Nachdem ich den Psychologievortrag intus hatte, nahm er seine Pfeife aus dem Mund, steckte seinen Glatzkopf durch den gelockten Rauch und sagte auf Wiedersehen. Mir war aufgefallen, daß die U. meine Rätsel in einem Tempo löste, das nur mit Hilfe von Erla Mia zu meistern war. Ich nahm mein Beschwerdebuch von der Klagemauer und schloß es vor Erla Mia weg. «Du bist so schweigsam geworden», bedauerte sie. Auf Anhieb befragte ich sie zu asiatischen Kulturgewohnheiten, Picassos Liebesleben während seiner Blauphase, dem Reflexverhalten gefangener Tiere, metaphysischen Umbauprozessen in erhitzten Festkörpern und mehr Kopfumspannendem. Ich war zufrieden mit der Unterhaltung, obwohl nicht ein einziges Wort über mich gefallen war. Wülma, die vorbildlich erzogene Adoptivtochter der U., machte alle meine Wohnstubengänge mit. Dabei rezitierte sie Auszüge aus dem Haushaltsgesetzbuch. Die für Wülma unüberwindlichen Dogmen übersprang ich spielend. Zum Beweis legte ich eine Schallplatte auf. Als die U. nach Hause kam, erklärte Wülma, daß sie mich gewarnt habe. «Petz nicht!» herrschte die U. in ihrem Reich. Die Abtastnadel pflügte Wagners «Tannhäuser» aus den Rillen. Ich bezeichnete den Komponisten als Faschisten. «Weißt du überhaupt, was Faschismus ist?» fragte die U. – «Ja, 'türlich. Die absterbende Form des Kapitalismus. Wagner hat nur deutsche Themen und führt die sentimentale Gewalt mit megamanen Orchestern auf. Von Hitler verehrt, gehört er jetzt unserem sozialistischen Kulturerbe an», trumpfte ich auf. – «Du weißt nicht, was du redest. Ich habe den Faschismus selbst erlebt ...», wetterte die U. – «Ja, ja», referierte ich aus ihrem drögen Unterricht: «Genau deshalb verstehe ich nicht, wie man Wagner, seinem antisemitischen Wegbereiter, zuhören kann, ohne auszurasten.» – «Wo hast du altkluges Kind das her?» stoppte sie den gelehrten Ausbruch. Mein Wissen hatte ich tatsächlich im Sprint von Erla Mia zu ihr getragen. Von dieser Staatsfeindlichkeit alarmiert, drosselte die U. den Ton auf eine beherrschtere Frequenz: «Es sind noch acht Wochen bis zur Abschlußprüfung. Lerne! Noch ein Jahr möchte ich dich nicht behalten.» Sie zündete sich eine Zigarette an und redete ein Loch in die Rauchwand. «Eigentlich dachte ich, dir sei zu helfen. Doch dazu ist es wohl schon zu spät. Erla Mia ist genauso enttäuscht wie ich.» – «Erla Mia?» Mir wurde ganz warm um den Stein meines Herzens.
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Die U. ließ sich nicht davon täuschen, daß ich tagelang konzentriert über dem aufgeschlagenen Schnellhefter saß. Sie trennte den Roman «Die Römerin» aus meinen Chemieseiten heraus. «Zum Lernen kann ich dich nicht zwingen», verließ sie die Kinderstube. Die Abschlußprüfung bestand ich knapp. Vor der Schulentlassungsfeier ratterte die U. auf ihrer «Singer» einen durchfallbraunen Rock herunter. Erla Mia wählte dazu eine passende Wickelbluse in steifem Glanz aus. Ich schlüpfte in die Pumps und gesellte mich zu Utma Ransom und Banja Merden. So flanierten wir am Führseil der streng blickenden U. zum Abschlußball. Erla Mia war die Zeremonienmeisterin. Sie gab jedem Schüler aufmunternde Worte mit ins sozialistische Arbeitsleben, dann überreichte sie uns die Abschlußzeugnisse. Die Kapelle setzte ein. Ein schnieker Bursche forderte mich auf. Ich stolperte ihm mit verlorenem und wiedergefundenem Schuh hinterher. Er lächelte immerzu, während er mir erzählte, daß ihm die U. vor vier Jahren eine ausgezeichnete Klassenlehrerin gewesen sei. Nach drei Tänzen druckste er die Bitte heraus, ihm ausführlich zu erzählen, wie es sich bei der zu Hause lebe. «Frag die verjährte SED-Quietsche selber, du Kriecharsch!» zischte ich. Er darbte von der Tanzfläche, und ich verlor den einzigen Tanzpartner dieses Abends.
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11. Kapitel
Spannungsgeladen schaute ich auf den Zeitzünder, der die letzten Minuten meiner Schulzeit vertickte. Die erwartete Explosion blieb aus. Lethargisch trug ich mein Gepäck der U. in ein Lehrlingswohnheim hinterher, wo ich zum «Zootechniker/ Mechanisator für Milchproduktion» ausgebildet werden sollte. Eine Menge belehrender Eltern standen ihren Kindern auf den Füßen. Ich knallte den Koffer als Trennwand zwischen mich und der U. Kurz darauf wurden wir an die Kaffeetafel gebeten. Der LWH-Leiter brummte uns eine Begrüßungsrede auf. Danach verzogen sich alle Eltern. Nach der U. sollte ich ins Büro kommen. Die Internatsleitung diktierte mir eine Hausordnung, aus der hervorging, daß sie über mich Bescheid wußte. Sie hämmerte mir ein, ich könne mich mit allen Problemen an sie wenden. Ich spannte meine Backenknochen an. Im Zimmer setzte ich mich träge auf das Eisenbett mit den blaukarierten Bezügen. Sie, ich, der Schlafraum und die Bäume da draußen, alles roch nach Kaserne. In einem der Anrainerbetten saß die dicke Wally Schlicks, mit ihrem Koffer auf dem Schoß. Den verteidigte sie durch Blicke, die mich wie Kettenhunde anfielen. Banja Merden richtete sich im Bett über mir ein. Trixi Fixi war noch unkenntlich, weil sie erst später anreiste. Ihr richtiger Name sollte bald vergessen sein. Sie hatte rote Haare, die schmerzlich auf ihren Schultern brannten, als sie von uns Lehrlingen den Spitznamen «Rostpuppe» zu ertragen bekam; zwei Ausbildungsjahre Gewöhnungszeit. Minka Ha, ein unerotisches Wunderwerk der Evolution, dem der Augenarzt zu allem Überfluß noch eine dickwandige Brille verpaßt hatte, war im Nebenzimmer untergebracht. Der einzige Junge unserer Lehrgruppe war Onan Bändiger. Seine Brille trug er mit Betongestell, dazu die ewig selben Bretterkordhosen. In seinen Haaren brachen sich Kämme, deren Wracks, zusammen mit herabfallendem Laub, verendeten Insekten und roten Druckstellen, seine Stirn säumten. Als der hellichte Tag zur Nacht verdarb, schlichen sich die Jungen vom zweiten Lehrjahr in die Mädchenzimmer. Sie legten sich in die Betten und weckten uns mit ihren Griffen. Banja Merden schubste ihren auf den Boden. Dann verteufelte sie alle vier auf den Flur. «Wir machen bei eurer Tradition nicht mit», zeterte sie, als sich einer mit dieser Ausflucht bei ihr entschuldigte. Ein Klopfgewitter prasselte ins Sperrholz der Tür und kürzte meinen Traum ein. Ich hatte mich als Gerippe geschaut, das versucht, ein Steinchen aufzuheben. Bei jedem Versuch brach ein Fingerknöchel
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ab. «Steh auf», rüttelte mich Banja Merden aus dem Thriller. Frühstück im Speisesaal: Ich hatte das Auffanglager für Danebengeborene, die Festung, das «Walter Ulbricht», zwei Ferienlager und die Schule hinter mir. Doch wenn mein Leben einen Speisesaal sah, kam es nicht daran vorbei. Speisesäle, Speisesäle, Speisesäle. Und seien sie noch so harmlos. «Sie werden mich ein Leben lang anziehen wie Katastrophen», dachte ich, während ich mir mißmutig das Frühstück reindrückte. Da nahte auch schon eine, aber nicht für mich. Der LWH-Leiter hatte etwas zu sagen, das alle anging. Bei seinem Nachtrundgang habe er Trixi Fixis und Herkules Lochers Beine entwirren müssen, stellte er die beiden bloß. Infolgedessen reimte sich «Trixi» auf «Fick sie!» Ein Kurzgedicht, das noch wochenlang aufgesagt wurde, wenn Rostpuppe zum Essen erschien. Mein erstes Lehrlingsgeld verklingelte vollständig in der Konsumkasse. Ich trug eine Kiste Süßigkeiten, die ich in meinem Leben so vermißt hatte, ans Bett. Und aß und aß und aß. Dann schlief ich durch, bis ich die Wackersteine verdaut hatte. Vom vierten Lohn bezahlte ich Herles Bunderill aus dem zweiten Lehrjahr. Er sollte mich beim Einkauf bewachen, damit ich Geld übrigbehielt. Vor dem Konsum stand ein witzig gekleideter Mann. Er fuchtelte mit den Armen und blödelte. «Lo schu ga te os minda la bes. I ha di scha Fäsge.» Das ließ ich mir nicht gefallen. Ich schaute ihm in die irren Augen, verdrehte meine eigenen und röhrte: «Vala mo geiti schi aste lamitsch o mifffl» Mit zurückgebeugtem Körper glubschte er angstvoll. Hilflos wandte er sich an die Umstehenden. Plötzlich brüllte er: «Okama futahe la hi.» Ehe ich reagieren konnte, zog mich der lachende Herles Bunderill von ihm weg. «Hör auf, dich so zu engagieren. Der spielt nicht. Der hat wirklich einen Jagdschein.» – «Echt?» Ich war baff. Jedes Wort hatte ich verstanden, sparte mir jedoch die Übersetzung, um nicht für seinesgleichen gehalten zu werden. Jeden Freitag wurden uns die Zimmerschlüssel abverlangt. Nur ein paar Agrotechnikerlehrlinge durften bleiben, um die Ernte mehrschichtig einzufahren. Ich wußte am Wochenende nie, wohin. Banja Merden schnauzte, mein Zuhause sei immer noch bei der U. «Ja, ja», sagte ich und täuschte die Heimreise vor. Das LWH-Fenster hatte ich nur angelehnt. Die Nacht rumpste vom Himmel. Ich stieg ein. Alle Betten waren abgezogen. Ich deckte mich mit der feuchten Röte ihrer Inletts zu, die meinen Schlaf wie Efeu umrankte. Dann hieß es, wir Lehrlinge sollten für Nachtschichten eingesetzt werden. Dafür mußten wir von den Eltern eine Erlaubnis einholen. «Ich habe keine», wandte ich mich an den Lehrmeister. Der nahm Rücksprache im Büro. Dann teilte er mit, daß ich sie mir von der U.
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geben lassen könne. Weil ich es nicht tat, drohte er, es auf der Elternversammlung zur Sprache zu bringen. Sie rückten an, unsere Eltern. Banja Merden bettelte mich an dazubleiben. «Ganz sicher nicht. Darauf kannst du dein häßliches Gesicht verwetten.» Sie wettete und war es los. Für sie war unsere ehemalige Klassenlehrerin immer noch die unangefochtene Domina. Fieberschauer der Willfährigkeit durchliefen Banja Merden, als sie der U. den Mantel abnahm. Auf dem Weg zum Kleiderhaken rutschte sie in ihrer eigenen Schleimspur aus. «Ein teurer Bohnerlappen, auf dem sie gesurft ist», klatschte mir die dicke Wally Schlicks, als ich vom Spaziergang heimkehrte. Keckernd bogen wir Achten durch das Geviert unserer Zöglingsbuchte. Banja Merden parierte mit der Behauptung, ich sei asozial, milieugeschädigt und irreparabel hin. «Kein Wunder bei einer Familie, in der die Mutter von ihrem Vater vergewaltigt worden ist.» Ich schreckte auf. «Du meinst ... die Emm von meinem Opa? ... Du lügst.» Es sei die reine Wahrheit. Banja Merden hatte sie aus dem Fachwerkmund der U. zu hören bekommen. Böse Gedanken fingen leise an zu zausen. War ich die Erbmasse dieses ehemaligen Nazis, die einer dreißigjährigen sorbischen Rotznase zahlungspflichtig untergeschoben worden war? Kummer zerknitterte meinen Nachtschlaf. Gleich am nächsten Morgen machte ich einen Gentest. Beim Gehn stellte ich fest, daß ich den Schritt eines Bauarbeiters draufhatte. Dieses Gen konnte nur ein Bauarbeiter weitergegeben haben. Mein sorbischer Vater war einer. Schon reiste ein neuer Gedanke an und zertrat den alten: Auf meinen täglichen Spaziergängen lag ein benachbartes Dorf ausgewürfelt. Der Dampf von über den Parcours gehetzten Pferden erkletterte meine Nasenschleimhäute. Ich bog ab und fragte, ob ich reiten dürfe. Dem Sektionschef war ich schon über, bevor wir richtig miteinander bekannt wurden. Er verkroch sich. Die Reiter grinsten, als sie sich auf die Suche nach ihm machten. «Du bist zu alt für diesen Sport», wimmelte mich der Wiedergefundene ab. – «Na dann, bis zum nächsten Mal.» «Da bist du ja schon wieder», regte sich der Sektionschef auf. Er drückte mir eine Forke in die Hand. Wochenlang gabelte ich für die Hoffnung, eines Tages aufs Pferd zu dürfen. Sonntags sattelte man wie immer zum Geländeritt. Die Gehsteine im Stall verklangen. Alles war mit Stille ausgeschlagen. Ein übriges Tier schnaufte. An anderen Sonntagen waren noch drei, vier Pferde verblieben, mit denen ich heimlich schnäbelte. Doch diesmal nur das Voltigierpferd, das seit fünfzehn Jahren linke Kreise galoppierte. Ich rammte meinen
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Kopf in seinen Hals und heulte. Die Zurückkehrenden sahen, daß ich mir ins Gesicht genäßt hatte. Sie klapperten übergeschäftig mit den Tränkeimern. Jemand wetterte, man nutze mich nur zum Arbeiten aus, und knallte die Boxentür zu. Das half. Als ich das nächste Mal kam, erklärte mir ein preußisches Sektionsmitglied lustlos, wie zu satteln sei. Die Zügel tanzten mit dem Pferdemaul hinfort. Ich mußte den Gaul wieder einfangen. «Aufsteigen!» befahl der Preuße. Zähnefletschend schrittelte das Pferd um mich herum, so daß meine Arme mit dem Zaumzeug verkordelten. Der Preuße entfesselte mich und hielt das wendige Pferd fest. Ich kam hinauf. Dann entfernte sich der Preuße. Ich solle gerade auf ihn zureiten. Das erklärte ich dem Pferd ... und verlor. Mich abstaubend, folgte ich dem Schimmel in den Stall. Die nächste Reitstunde war noch hoffnungsloser. Stieg ich auf der einen Seite auf, klatschte ich auf der anderen herunter. Der Sektionschef brodelte: «Fällst du noch einmal, noch ein einziges Mal, du kommst nie wieder aufs Pferd. Rauft» Angst schweißte mich ans Roß, und meine Schenkel festigten sich zu einem stahlharten Schließmuskel. Der Druck war so stark, daß es dem Schimmel die Ohren aufblies. Am Wochenende stieg ich, wie yblich, durch das Fenster ein und wurde erwischt. Der LWH-Leiter schickte mich «nach Hause». Eine Disco kreuzte meinen Weg. Ihr Stampfen wurde immer gleicher. Inzwischen waren es dreißig Tänzer, die auf den Knien nach «Smoke on the Water» trancten. Die Musik brach ab. Das hielt uns nicht vom Yippen ab. Der Diskjockey forderte uns auf, den Saal zu verlassen. Schließlich mußten uns die disziplinierteren Dörfler hinaustragen. Mitfühlend lud ich alle Geächteten ein. Zu einer Raupe formiert, schlängelten wir durch das LWH-Fenster. Als sie sich auf die vier Betten verteilte, zerfiel die Raupe. Ich bat ihre dreißig Segmente, leise zu sein, denn am Ende des Ganges hause der Heimleiter mit seiner Familie in einer Dienstwohnung. Kaum war meine Bitte von einem zum anderen weitergegrölt worden, drehte sich der Zimmerschlüssel im Schloß. Mit vorgehängten Haaren schlichen wir an dem LWH-Leiter vorbei. «Sie also auch», pickte er mich heraus. «Das wird disziplinarische Folgen haben.» Die Hippies gingen nach Haus – zwei kamen durch das Fenster wieder herein. Sie stellten sich flüsternd als die Musiker El Krug und Creo Sabinas vor. El Krug klimperte sich mit der Gitarre so mählich in mein träge schlagendes Herz. Bei ihm zu Hause schlachteten wir Tonbandgeräte aus und setzten sie zu einem funktionierenden zusammen. Als ich ihn am Wochenende unverhofft besuchte, ließ mich seine Mutter in sein Zimmer. Auf dem Stuhl lag, außer seiner Jeans, noch ein Müslikleid. Im Bett lag, neben El Krug, eine Powerflower. El Krugs
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Augen schlüpften aus den geschlossenen Lidern. «Du?» wunderte er sich. Die Mutter brachte Frühstück. Danach verabschiedete sich El Krugs Liebste. «Sie ist nicht meine Freundin», rechtfertigte sich El Krug ungefragt. Dann lud er mich zu einem Strandspaziergang ein. «Ich wage gar nicht, dich anzutasten. Wäre schade, wenn deine Aura einen Riß bekäme», raunte er mir ins Ohr. – «Aaach, da wäre ich ruppiger», schätzte ich. Fasziniert betrachtete ich die Sonne, wie sie über das Glanzparkett seiner roten Haare steppte. Abends zeigte mir El Krug drei Akkorde, die ich aus dem zahnlückigen Klavier locken sollte. Zusammen mit seiner E-Gitarre ersteigerten wir eine angriffslustige Melodie, die nach einer halben Stunde ihren Höhepunkt erreichte. Wir küßten uns. Seine Mutter brachte Wäsche herein. Zeitaufwendig sortierte sie die in den Schrank. «Meine Ma bringt immer Klamotten, wenn es im Zimmer still wird», erklärte El Krug. Hinter ihr schloß er ab, nahm seinen Kaugummi aus dem Mund und drückte ihn ins Schlüsselloch. «Meiner Mutter ins Auge», schelmte er. Dann wickelte er mich in seine endlosen Arme. Nachts wurde er unruhig, am Montagmorgen war ich entjungfert. Ich stäbelte meine Beine in die Nadelkordjeans und vermißte mich ins Wohnheim. Erst als ich mit Herles Bunderill aus dem zweiten Lehrjahr die Kneipe betrat, sah ich El Krug wieder. Für ihn ließ ich Herles Bunderill stehen. El Krug biesterte, er könne sich jetzt denken, wofür ich ihn eine ganze Woche lang im Stich gelassen habe. «El Krug», entrüstete ich mich. «Warum denkst du, daß es andere leichter haben als du?» Eingeschnappt nahm er seine Gitarre und ging. Von einer Mugge in Karl-Marx-Stadt schrieb er eine Ansichtskarte, gezeichnet: «El, ... El, der zerbrochene Krug.» Von allen Männern der Milchviehanlage, in der ich arbeitete, war Yayascha ä Tanz Rafära der schönste. Als Inseminator hatte er pro Jahr zweitausend Kühe zu befruchten. Manchmal wurde ihm ein Lehrling zur Seite gestellt. War es ein weiblicher, verbreiterte ein Grinsen seine Schönheit. Diesmal fragte er mich, ob ich am Wochenende aushelfen wolle. Ich nickte. Brünstige Kühe sollte ich mit frischer Scheiße ankreuzen. Am Ende der Schicht erklärte er, es sei nur Schikane gewesen. Er hätte dafür einen Fettstift zur Verfügung. Ich kapierte den Unterschied nicht. Angekreuzt ist angekreuzt. Das entband ihm einen Lacher. Wir holten frische Arbeitskleidung aus dem Lager. Er nahm mich in die Arme und fragte, ob er dürfe. Ich war kein Ja-Sager, also sagte ich nichts. Wir kippten in die Kleiderstapel. Freihändig fuhr ich mein Fahrrad ins LWH, legte mich ins Bett und packte meinen feuchten Schatz noch einmal aus.
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Montag paßte mich der verheiratete Yayascha ä Tanz Rafära nach der Schicht an der Dorfstraße ab. Er fragte, ob ich Lust verspüre, mit ihm in die Büsche zu gehen. «Natürlich», sagte ich, ging aber nicht mit. «Warum nicht?» Er strich mir über den Rücken. Ich bog durch wie eine gähnende Katze, haspelte ihm meine Liebe und daß ich sie schnell loswerden müsse. «Na denne», meinte er und ließ mich ziehen ... ... in den reiterlichen Feierabend, dem Sektionsstall entgegen. Der hatte zwei abgelaufene Stuten von der Trabrennbahn übernommen. Eine Füchsin, die sich am Brustkorb ihres Stammreiters schmiegte, und eine Braune, deren Vergangenheit die Stahltüren ihrer Seele zugeklappt hielt. Mein Reitpferd Hansi überrundete seinen dreißigsten Geburtstag. Zeitgleich ließ er einen Backenzahn fallen. Im Stall schaute sich der Sektionsleiter nach einem neuen Pferd für mich um. Er wählte die Braune. Ich bürstete das Geschenk ab. Es war groß und schwarzmähnig. Sein Hals war doppelt so lang wie der vom alten Hans. Meine Braune besuchte ich nun jeden Tag. Sie drehte sich so, daß ich nie etwas anderes als ihr Hinterteil zu sehen bekam. Den längeren meiner beiden Arme streckte ich aus, faßte das Halfter und hielt ihr eine Möhre unter. Unbeweglich felste im Weiß ihrer Augen die Pupille. Ich schob ihr das Gemüse zwischen die Zähne. Sie kaute erst, als ich die Box verlassen hatte. Der Sektionsleiter beobachtete, daß mich die Braune bald schnaubend begrüßte, sie mich beim Putzen nicht mehr an die Wand drückte und ihre Nüstern vertraulich meine Jackentaschen erkundeten. Wenn ich sachte meine Waden gegen ihren Bauch drückte, löste das keine Schachbrettsprünge mehr aus, mit denen sie sich ansonsten gegen den Parcours durchsetzte. «Traust du dir einen Geländeritt zu?» forderte der Sektionsleiter mich heraus. – «'türlich», sagte ich gebührlich, sattelte die Braune und schloß mich der Gruppe an. – «Anhalten!» stoppte er uns auf einer Weide, nachdem wir den Wald durchquert hatten. «Du drehst deinen Kaputtnik um, damit er von unserem Wettgalopp nicht angesteckt wird.» Die Pferde spurteten davon. Ich parierte einen Zügel, damit die Braune voll im Auge hatte, daß die Herde sie verließ. Sie drehte sich auf einem Huf, stieß mit beiden Hinterbeinen ab und holte auf. Ein Graben teilte die Wiese. Die Braune stürzte rechts weg. Ich galoppierte geradeaus weiter. Als sie ins Gras biß, spuckte ich meines schon wieder aus. Mühsam erkletterte ich ihren Rücken. Im Stall halfen mir die besorgten Reiter vom Pferd und schnitten den Klumpfuß aus dem Stiefel. Einer fuhr mich in die Praxis. Die Ärztin gipste meinen Knöchel. Sie fragte mich über den Reitsport aus. Meine Begeisterung
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wollte sie ihrer trägen Tochter vermitteln, damit diese sich ebenfalls anmelde. Da ich den Gips wie einen Siebenmeilenstiefel trug, zweifelte der Sektionsleiter nicht mehr an meinem Wohlbefinden. «Kann ich reiten?» fragte ich. Die Umstehenden lachten. Jährlinge neugierten am Koppelzaun. «Nimm dir einen dieser Junghengste», legte der Sektionsleiter einen Scherz auf. Ich fragte, ob er ihm den Kopf festhalten würde. Nach einem Vierminutenrodeo konnte ich mich nicht mehr halten und fiel. «Selbst wenn sie die mit einer Bahre vom Reitplatz tragen, würde die noch ein Pferd bespringen», mischte sich die zornige Voltigierlehrerin unter die Lacher. Inzwischen hatte die LWH-Leitung die U. angeschrieben: Ob ich mich an den Wochenenden bei ihr aufhalten würde? Postwendend hatte das Büro es schwarz auf weiß, daß ich log. Es hielt mir einen Vortrag. Ich sei noch nicht volljährig. Wenn mir an den unbeaufsichtigten Wochenenden etwas passiere, sei die U. haftbar. Ich hatte nichts dagegen einzuwenden. Damit ich wirklich bei der U. ankam, eskortierte mich Banja Merden. «Sie tut dir doch nichts.» – «Das verstehst du nicht», erwiderte ich, machte ihr eine lange Nase und lief ins LWH zurück. Das präparierte Fenster ließ sich nicht öffnen. Verzweifelt erträumte ich die Lösung des Problems: mein Kneipenbruder Herles Bunderill. Sein feines Lispeln lockte mich schon seit langem aus den Hohlblocksteinen des LWHs an den Strand. Immer wenn ich um El Krug trauerte, dämpfte er meinen Kummer mit dem Angebot, jederzeit für mich da zu sein. An sein Fenster klopfte ich in dieser Nacht. «Du?» Seine zittrigen Hände läuteten meinem Einstieg. Ich wollte alleine schlafen. Das hielt ihn von der Balz nicht ab. Die Laute des nestelnden Herles Bunderill minderte ich erheblich durch eine eigene Geräuschkulisse. Doch selbst diese feinen Abwehrmelodien gelangten über die Hohlblocksteine in die Dienstwohnung des LWH-Leiters. «Das wird disziplinarische Folgen haben», schimpfte der und schloß mir das Mädchenzimmer auf. Weil ich auch am nächsten Wochenende nicht wußte, wohin, ließ ich mir vom Fahrplan ein Ziel vorschlagen. Die Eisenbahn verdampfte am Horizont. Mir gegenüber saß eine Erwachsene im Trotzalter. «Was glotzt du so?» fragte sie. So kamen wir ins Gespräch. Ich erzählte von meiner angefangenen Lehre als Jockey. «Bist du nicht ein bißchen schwer für die leichten Pferde?» fragte sie und erzählte von sich. «Meine Lehre ist beschissen. In der teuersten Nobelhütte des Sachsenstädtchens bringt mir 'ne 0lle das Kochen bei. Eine einfache Frau, die einfach mal 'n Rad ab hat», beschwerte sie sich. Sie sollte Schnitzel panieren. Die Alte merkte nicht, daß sie an eine
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Anfängerin geraten war. Das fraß ihre Ausdauer auf. Sie nahm das Schnitzel aus dem Mehl, schlug es dem Lehrlingsmädchen links und rechts um die Ohren, dann in die Pfanne. «Und?» fragte ich. «Staubte eine Mehlwolke auf? Das nächste Mal möge sie versteinern und deine Köchin erschlagen.» Weil sie darüber lachen konnte, durfte ich bei ihr schlafen. D-zügig kehrte ich zurück. Mir ging auf, daß meine Aufmerksamkeit für Herles Bunderill nicht mehr von der Trauer um El Krug verschattet wurde. Auf dem Weg in die Schankwirtschaft bemerkte ich, wie groß, breitschultrig und gutaussehend mein Kneipenbruder war. Unsere Blicke verschleiften sich. Entschlossen zog mich Herles Bunderill an seinen Bärenlatz und schockte mit einem Zungenkuß. «Ausgerechnet mit DER?» lästerte Jason Feeltimer. – «Sie ist kein DER», verteidigte Herles Bunderill meine burschikos getarnte Weiblichkeit. Aufgebracht holte er zu einem Schlag aus. Zwar traf er damit nur Jason Feeltimer, doch prägte sich das so tief ins Kollektivgedächtnis des LWHs ein, daß niemand mehr eine ungute Bemerkung über mich wagte. Der Sommer brach unter der Last des Herbstes zusammen. Alkoholmutig schlug ich Banja Merden, der dicken Wally Schlicks, Rostpuppe und Minka Ha vor, baden zu gehen. Unterwegs rissen wir Jason Feeltimer mit. Er galt als verklemmt. Wir hielten inne, als wir vor dieser Anmut standen: Der Strand war sauberer als ein Bettlaken, weil ihn die Einsamkeit in Schuß hielt. Wellen stuften das Meer. Die spinnige Sonne seilte sich vom Himmel ab. Vorsichtig glitt sie ins Wasser. Aus unserer Erstarrung erwachend, keilten wir uns in die Ostseewellen. Jason Feeltimer blieb mit Strichmund am Ufer zurück und sah uns aus der Hocke zu. Das läufige Meer wälzte uns an den Strand. Wir gingen auf Jason Feeltimer zu. Der begann, in seinem Adamskostüm zu schwitzen. Im Streckgalopp keuchte er hinter die Sanddornbüsche, buddelte sich einen Arsch aus und quietschte seinen Orgasmus hinein. Als das zweite Lehrjahr begann, lassholte mich das Büro. Es verlas ein Gesetz. Da ich noch keine achtzehn sei, müsse ich notwendigerweise meinen Vormund behalten. Die Wochenenden brauchte ich jedoch nicht zur U. zu fahren. Ich könne im LWH bleiben oder sie bei Banja Merden verbringen. Die U. beziehe weiterhin das Sorgegeld von der Emm. Sollte ich etwas brauchen, könne ich es mir aushändigen lassen. Ansonsten bekäme ich es am Ende der Lehrzeit ausgezahlt. Ich nahm mein Brötchen aus dem Mundzipfel und verließ die wanken Büroplanken. Nach diesem Gespräch zitierte mich das Büro nie wieder zu sich.
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Zum allerletzten Mal träumte ich meinen nächtlichen Begleiter. Dieses Gerippe. Es nahm ein Steinchen auf, warf es durch einen Spiegel, der nicht splitterte, traf seine Abbildung, und beide Rippengestelle rauschten als Knochenlawine herunter. Ich erzählte Banja Merden davon. «Hat das was zu bedeuten?» fragte sie. – «Jaaa», rekelte ich mich. «Der Gott, dessen massiger Arsch mein Schicksal so drückend gestaltete, ist gestorben. Sein Thron ist jetzt mit den Hinterteilen von Romy Schneider und Brigitte Bardot bepflanzt.» Banja Merden zweifelte. «Ähhh? Die beiden würden sich nie für dich interessieren.» – «Das ist das Geheimnis meiner Freiheit. Sie kümmern sich einfach nicht.» Inzwischen war ein junger Apfelschimmel in unsere Sektion eingezogen. Ich öffnete die Boxentür, um ihn ganz in den Arm zu nehmen. Erschrocken berstete er seinen Kopf gegen den Türriegel, den meine Hand umfaßte. Das schlitzte mir die Schwimmhaut zwischen Zeigefinger und Daumen auf. Ich wickelte das Blutopfer in Zeitungspapier. Der Sektionsleiter hatte bereits Hindernisse aufstellen lassen, weil er den jungen Apfelschimmel ans Springen gewöhnen wollte. Gestiefelt stand er in der Mitte des Auslaufs und jagte das Pferd peitschenknallend über die Sprungbarrieren, bis es troff. «Komm mal her!» rief er der Sektionspfeife zu. Ich sollte aufsteigen. Gehorsam klitschte ich mich hinter den Widerist des nackten Pferdes. Dann peitschte der Sektionsleiter uns beide über die Hindernisse. Damit war es als Disziplin für alle eingeführt. Einer Verweigerin, die sich mit echten Steinen beringte, hielt er mein gelungenes Beispiel vor. Ahme sie es nicht sofortigst nach, würde er sie für die nächsten Turniere sperren. Verheult befolgte sie die Anweisung. Daß Onan Bändiger oft genug den derben Späßen der Jungs aus dem zweiten Lehrjahr zum Opfer fiel, hielt ihn nicht davon ab, sich im vollbesetzten Speisesaal über seine Peiniger lustig zu machen. Seine Witze boten bemerkenswerte Neuschöpfungen aus dem Abgestandenen der deutschen Sprache. Anerkennend zog ich meinen Fehdehandschuh aus und gab ihm die Hand. Er hielt sie fest. Als ich sie losließ, hielt ein fadenziehender Kaugummi unsere Verbindung aufrecht, bis ans Ende der Lehre und darüber hinaus. Wir Mädchen potenzierten diese Gemeinheiten noch. Zur Sommersonnenwende lichterte eine LWH-Disco zum Tanz auf. Onan Bändiger hatte noch 0,0 Promille, als er auf Rostpuppe zusteuerte. «Darf ich bitten?» drängelte er sein Becken vor und zurück. Rostpuppe stieß ihn in die Tanzmasse. Er kam wieder herausgekrochen. Nacheinander wählte er Banja Merden, die dicke Wally Schlicks, Minka Ha und mich an. Gemeinsam zogen wir ihn
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aus dem Flegelalter heraus. Wir schleiften ihn auf den Flur, zogen ihn nackt aus, trugen den Strampler in die überfüllte Disco und hielten von außen die Tür zu. Vom durchzechten Wochenende übermüdet, brach ich eigenmächtig die Frühschicht ab. Unterm Kopfhörer der Stadtbibliothek schlief ich mich aus. Jene vom Komponisten Jean Sibelius benotete Düsternis Skandinaviens, die von gelben Schmetterlingen durchbrochen war, gefiel mir bis zur vierten Sinfonie. Die Fünfte war Mathematik und sickerte nicht ein. Das Büro lauschte mit, als ich den Lehrlingen von der klassischen Musik vorschwärmte. Es fragte, ob ich Mozart mag. «Ich mag ihn nicht nur, ich liebe ihn sogar», sagte ich. «Nur seine beschissene Musik kotzt mich an.» Sich mit der inflationären Unterhaltungsmusik Mozarts abzugeben hätte auch die Intelligenz Yayascha ä Tanz Rafäras beleidigt. Dessen Kopf war mit einem anarchistischen Themenrepertoire gefüllt, das er großzügig mit mir teilte. Wir freuten uns auf jede Mittagspause. So wurden wir, abseits des Sinnlichen, intim. «Weiber sind blöd», beschwerte er sich. Drei hatte er gefragt, ob sie ihm am Wochenende helfen könnten. Sie kicherten beknackt. Vor den wachsamen Kollegen wollten sie sich nicht festlegen. Augenblicke später lauerten sie ihm auf und wollten alle drei. Nach neun Wochenenden hatte er alle Lehrlingsweiber herumbekommen. Ich sagte, er habe sich verrechnet, wir seien zehn Frauen. «Stimmt.» Die Übrige war Minka Ha mit ihrer Brille aus zwei verbügelten Kompottschalen. Ihr militärisches Elternhaus längte die Bravheit bis weit über die Pubertät hinaus. «Another day, another Donut.» Die folgenden Monate verklumpten zur Gleichförmigkeit. Doch ein Abend stach heraus. Als wir im LWH für ein Komsomolzentreffen alle Tische gedeckt hatten, trafen Busse mit Gnomaugen ein. Untergehakte Russinnen säumten den Speisesaal. Richtige Männer qualmten aus ihren Uniformjacken. Der Abend übergab sich schon zu Beginn mit offiziellen Ansprachen und schritt weiter aus. Reichlich Alkohol floß durch geübte slawische Kehlen, aber auch in die falschen Hälse minderjähriger Lehrlinge. Die Offiziellen beider Seiten blieben an der Stirnseite der Festtafel sitzen und lächelten einander sprachbehindert zu. Derweil federten im Vorgarten die Büsche ohne Windzufuhr. Durch sein Monokel sah der Mond den Sexspielen zu. Mein Blutalkohol klammerte an der russischen Soljanka. Ich erbrach und blümte die Wiese mit Suppenkohl neu aus. Nach diesem kulturellen Höhepunkt kränkelte ich noch zwei Tage. November dieselte den Spätherbst mit nassem Parfüm ein. Das Pfützenwasser gelierte. Mit zunehmendem Dezember wurde es zu
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Eis. Mich trieb es ins Städtchen. Dort zogen fröstelnde Berufsverkehrer die Köpfe ein, sie wollten nach Hause. Eine Straßenbahn fuhr an, heraus grüßte Erla Mia. Ich lief ein Stück mit und ging zu Fuß zu ihr. «Daß du dich nach fast zwei Jahren wieder blicken läßt!» Ich erzählte dies und das. Dann hörte ich ein Baby quaken. «Was ist denn das für 'n kleines Was?» fragte ich. Damit war klar, was sie in meiner Abwesenheit getrieben hatte. «Nach Gerla und Berla bin ich glücklich, daß es diesmal ein Junge ist», sagte sie, und daß er Cherla heiße. Sie erwähnte die U. «Noch ein Wort davon, dann lasse ich dich aus einem Baum bluten», dräute ich. Also leierte sie Charles Dickens an. «Aus diesem Alter bin ich raus. Jetzt lese ich Musil, Bukowski, Nietzsche, Hitler, Arno Schmidt, James Joyce und son Trala.» Sie staunte, wie sich mein Literaturgeschmack von ihrer Leine gerissen hatte. Anläßlich der Weihnachtsfeier verrückte ich vom LWH zum Pferdehof. Dort brutzelte schon ein Spanferkel am Spieß einer tonlosen Drehorgel. Der Sektionsleiter setzte sich zu mir. «Du hast dich gemausert. Tamasz Tigges steigt auf ein neues Pferd um. Du kannst seine Dollarspitze übernehmen und sie dir mit Wolge Poggia teilen», schlug er mir unser drittbestes Turnierpferd zu. – «Nö. Ich behalte die Braune», sagte ich sonnig. Perplex karpfte er seine Lippen. Die bewegten sich nur noch, um stimmlos Worte zu formen. Am Musikpult zankten Wolge Poggia und Tamasz Tigges. Wenn Wolge Poggia die «Led Zeppelins» auflegte, knallte Tamasz Tigges die Abtastnadel auf «Schwarzbraun ist die Haselnuß». Dafür ließ er alle zwei Minuten seine Tanzpartnerin stehen. Wolge Poggia zog ihm den Stecker. Daraufhin drosch ihm Tamasz Tigges die «Led Zeppelins» sonstwohin und traf sein Kinn. «Eine zerstrittene Mannschaft können wir uns nicht leisten!» ging der Sektionschef dazwischen. Ich verabschiedete mich, um in das feiertagsgeleerte Wohnheim zurückzukehren. Im Himmelsviereck der Polarnacht florte Schnee. Straßenbäume tollten im auflandigen Wind. Ich schloß mich ihren Fangspielen an. Nachdem wir uns im neuen Jahr ein paar Mal getroffen hatten, der alte Zauber von Erla Mia abgeblättert war und neuer aufgetragen, ärgerte ich mich, daß mir die Metaphern, mit denen ich die Gespräche hätte edel pflastern können, immer erst hinterher einfielen. Also beschrieb ich viele Briefpapiere mit dem Verpaßten. Am Schluß jedes Schreibens schickte ich die Buchstaben in Seenot, weil ich noch viele Innereien notieren, aber nichts mehr mitteilen wollte. Als ich keine Antworten bekam, befiel mich eine Ahnung. Ich probierte es mit einer letzten Postkarte. Darauf lockte ich, daß die antiquarisch unbeschlagene Familie von Rostpuppe einen edlen
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Schrank auf dem Dachboden verwittern lasse. Ich wußte, das würde Erla Mia scharf machen. Prompt klopfte es an die Kammertür des LWH-eigenen Fotolabors, in dem ich öfters werkte. Eine Ansichtskarte wurde durchgeschoben, die Erla Mias Gutgehen in kleinen Lettern buchstabierte. Das Großgeschriebene fragte an, ob ich mich nicht für sie ins Zeug legen könnte, um das Antiquar so billig wie möglich zu erstehen. «Shit ..., Meeerde Scheißääääääääääääääääääääääää!» Ich verfehlte den Schalenrand, fiel in die Fotolösung und nahm ein Entwicklerbad, bei dem ich meine Jugend gegen das Herb einer eigenen Meinung eintauschte. Dann fuhr ich zu Erla Mia, um ihr zu tröten, daß sie als Idol ausgedient habe. Was übriggeblieben sei, lohne den weiteren Umgang nicht. Sie öffnete die Tür, erfaßte mich intuitiv und fragte erst gar nicht. «Den Kindern habe ich ein Picknick auf dem Spiegelberg versprochen», lud sie mich dazu. Da ich nie wiederkommen wollte, nahm ich das Angebot an. Würdig langte ich nach einer Scheibe Käse. «Nun mal raus mit der Sprache. Was bedrückt dich?» nahm Erla Mia Anteil. Der Käse knatterte lappig aus dem Mundwinkel, als ich ihr meine Desillusionierung schimpfte, und segelte von dannen. Ich rannte ihm triebhaft hinterher. Ein Schwarm Krähen pickte das windige Hungertuch auf. Ich hastete den Hügel wie-der hinauf. Es waren nur noch Gesäßstempel im Gras. Unter wolkenverschmiertem Himmel war ein Zettel an den Berg genagelt: Liebe ... Liebe, liebe ... Liebe, liebe, liebe ... Hier wußte Erla Mia wohl nicht weiter. Mit ziehharmonisierten Beinen kehrte ich ins LWH zurück, warf mich auf das Bett und heulte dem größten Verlust meiner Pubertät nach. Ohne Erla Mia, dachte ich, ist mein Kopf nur noch ein Krater. Ich haßte keinen. Doch ich war auch keinem, weder Erla Mia noch sonstwem, besonders zugetan. Ich entschloß mich, trotzdem zu leben. Und das ist es, was mich so allgemeingefährlich macht. Steiniges Mondlicht füllte nach und nach meinen Kopf auf. Erla Mia merkte bald, daß sie von diesem ersetzt worden war. Weil Lehrlingsfänger ihm auf die Schleppe traten, kam der einblühende Sommer kaum voran. Sie räuberten die landwirtschaftlichen Berufsschulen, um für ein Agraringenieurstudium zu werben. Ein Zusatzstudium für Pferdezucht sei an der Fachschule ebenfalls möglich. Leises Wiehern weitete meine Nüstern. Windflügelig drehten sie sich um die Achse des Nasenbeins. Die letzten Wochen der Lehrzeit mußte ich ranklotzen, um mich auf die Abschlußprüfungen vorzubereiten. Doch wozu? Wie vermutet, war
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ich einigen Prüfern egal. Die andere Sorte versuchte, mich hereinzulegen. Da sie jedoch befürchteten, mich ein Jahr länger auf dem Hals zu haben, ließen sie mich bestehen. Ich sollte nur noch eine Beurteilung unterschreiben, die mich das Berufsleben gekostet hätte. Hilflos wandte ich mich an Erla Mia. Sie erklärte dem Büro, es gehe darum, mich in die Gesellschaft zu integrieren, das Büro aber grenze mich auf diese Weise aus. Mit einer neuen, neutral klingenden Beurteilung bewarb ich mich für das Agraringenieurstudium und wurde angenommen. Die Tage bis zum Auszug verbrachte ich abwechselnd am Hals von Herles Bunderill und der Braunen. Der Sektionschef klagte, daß er keinen neuen Reiter für sie finden werde. «Du bist die einzige, die sie handeln kann. Wir werden sie als billiges Fleisch abgeben müssen.» Ich machte einen ungeheuerlichen, aber wirksamen Vorschlag: Von nun an wurde sie Bewerbern und Gästen zugeteilt, die nie wiederkommen sollten. Davon konnte die Braune gut leben.
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12. Kapitel
Bis zum Studienbeginn blieb noch genügend Zeit, um eine DDRRundfahrt zu trampeln. Ich reparierte ein unabgeschlossen gefundenes Fahrrad. «So», klatschte ich in die öligen Hände und schnallte das Gepäck auf. Aus dem Heidesand einer Gegend reckten sich Kiefern. Spatzen schwiegen im Gegensatz zu einem SEDPlakat, das über dem Dorfkonsum hing. Ein zweisprachiges Ortsschild machte vor mir halt. «Oma Witkoijc ...?» Man erklärte mir die letzten Kilometer: «Eine Viertelstunde Landstraße, sieben Minuten Feldweg und dann einbiegen in die Ameisenstraße. Die führt direkt in die Küche deiner Großmutter.» Ein Hund im Kuhfell verbellte mich. Ich packte mein Reisebrot aus. Er setzte sich und schrägte den Kopf. Die Bemme wurde geteilt. Ihm schnipste ich die Schrotklappen zu, mit dem Wurstteppich legte ich meine Mundhöhle aus. Die Sonne warf mir meine Großmutter als Schatten vor die Füße. Zweiundachtzig Jahre hatten ihr Gesicht beschrieben, ohne einen Rand zu lassen. Sie begrüßte mich als meine Schwester. Ich stellte die Verwechslung richtig, und wir lagen uns wieder in den Armen. Ich sollte aus dem Dorfkonsum Kleinigkeiten holen. Die Dörfler drehten sich im Gleichschritt um. «Eine Witkoijc?» Mein undurchschaubarer Stammbaum zweigte aus ihren Mündern und vernetzte ein Viertel der Niederlausitz. Großmutter hatte derweil meinen Vater her telegraphiert. Ich bockte, weil ich eigentlich nur sie sehen wollte. Zum Familientreffen trug sie Leinöl und Pellkartoffeln auf. «War es nötig, mich zu machen?» Für eine Antwort holte mein Vater weit aus. «Schon gut, Alter», halbierte ich die Schuldzuweisung und verzieh ihm seinen Anteil an dem, was mein Ich vermasselt hatte. Dann ging ich Wein kaufen. «Ich vertrage nichts mehr», lehnte Großmutter dankend ab. Trotzdem plemperte ich die Schraubkappe voll. Sie tat mir den Gefallen und trank. Danach schlief sie ihren Rausch aus. Als sie sich erholt hatte, ging Großmutter auf den Acker. Ich saß daneben und hörte ihren Vertreibungen zu. Im Ersten Weltkrieg peitschten die Dörfler das Vieh in den Wald. Dort blieben sie verborgen, bis die Plünderer abgezogen waren. Im Zweiten lief ein Nachbar zu früh aus dem Versteck, um die russischen Befreier zu begrüßen. Er wurde erschossen. Großmutter stand auf, stolperte und fiel hin. Ich versuchte, sie hochzubringen. «Laß das», rief sie zornig. «Wenn ich alleine bin, muß ich mir selber helfen können.» Zu Hause wartete
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schon eine Nachbarin auf sie. Ich spielte beiden auf der Gitarre eine Eigenkomposition vor: Mein Liebster von der Weinmeerküste/ Seine Buchten heddern meine Brüste/ Legt sich unterm Lorbeerbaum/ Vertrödelt seinen Schlaf im Siegertraum/ Ich, sein nachtvergessener Konsonant/ Kurve sein Blut in sanfter Hand/ Bis sein Begehren nach mir rankt. Der Song ging noch unverklemmter weiter. Doch ich brach ab, weil ich Angst hatte, zuviel Sehnsucht unter die alten Leute zu bringen. Danach überredete ich Großmutter zu einem leckeren Spaziergang. Alle Voraussetzungen dafür schuf das Wetter. Eine naive Sonne strahlte, aromatischer Wind teilte Pollen aus, Königskerzen standen Spalier, und Flugzeuge schwirrten wie Wurfnadeln am Himmel. Aber meine Großmutter erwartete wieder Besuch. Sie hatte nur eine kurze Strecke Zeit, die uns an einer verfallenen Hütte vorbeiführte. Hier hatte die Solcina gehaust: nie verheiratet, von den Dörflern geächtet, doch geliebt von ihren Ziegen und Katzen. Sie war älter geworden, als man glaubt. Die Leute rechneten schon nicht mehr mit ihrem Ableben. In diesem unverhofften Moment starb sie. Tag und Nacht war die Hölle los. Die hungrigen Ziegen und Katzen konzertierten vergebliche Wiederbelebungsversuche. Als geerbt werden sollte, wurden ihre Wendenröcke am Dorfrand ausgelegt. Niemand nahm sie, als wolle sich keiner den Fluch anziehen, erfuhr ich, und daß die letzten, die sie lebend sahen, die knapp berockten Forscherinnen vom Sorbeninstitut waren. Sie hatten die letzte Märchenfrau der Niederlausitz auf ihre ORWO-Tonbänder überspielt. Großmutter las die Uhrzeit am Sonnenstand ab und krückte im Renngalopp nach Hause. Gassenjungenrot betrat ich nach ihr die Bauernstube. Während Großmutter auftrug, bat mich die Großtante aus Dresden, mir Hände und Gesicht zu waschen. Ich spuckte in die Hände und tat damit wie geheißen. «Das war nur die Vorwäsche», tröstete ich die Verärgerte, bevor ich zum Hauptwaschgang überging. Jetzt war ich würdig, ein christliches Lesebuch entgegenzunehmen. Ich riß mir eine für den Eigenbedarf gekaufte Schallplatte aus dem Herzen und schenkte sie der Großtante. Aufmerksam las sie die aus dem Französischen übersetzten Texte. «Behalte es.» Sie gab mir die Musikalie zurück, als habe sie ein Flugblatt aus dem Sündenpfuhl angeflattert. Großmutter sprach schlichtend das Tischgebet. Die Großtante senkte den Kopf und öffnete ein Auge. Es sollte erschielen, ob ich die Hände zu Ehren Gottes ineinandergelegt hatte. Großmutter flüsterte, die Großtante sei, zugegeben, eigensinnig, doch ich sollte ihr mehr zu Gefallen sein. Ich verbummelte mich unter den Apfelbaum am Hang der Landstraße. Die Sonne ging unter
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wie eine in Zeitlupe fallende Leselampe. Mein Buch sank mit. Als die Dämmerung mich kurzsichtig machte, war der spitze Winkel zwischen dem Abhang und meinem gebeugten Rücken nicht mehr auszuhalten. Ich kippte vornüber und klappte das Buch zu. Die Silhouette der Großtante an meiner Bettkante wurde im aufkeimenden Morgenlicht immer schwärzer, als sie mich zum Frühstück überredete. Verdrossen biß ich ins Brötchen. Pflaumenmus schmierte meine Zähne, die zu laufen begannen und das Angebissene hineinzogen wie eine Kettensäge. Weitere Schrotlinge folgten. Ich wußte, warum die Großtante mich nicht mochte. Es war nicht das Kettensägenmassaker, das ich dreimal täglich zu den Mahlzeiten veranstaltete, es waren meine Tischmanieren, denen das Vor- und Nachspiel des Waschzwanges fehlte. «Reiß dich wenigstens zusammen, wenn dein Großonkel kommt», resignierte sie. Mein Großonkel stellte die Koffer ab und sah mir tief in die Augen. «Mein Gott. Du bist ja schon eine richtige Frau», umarmte er mich. Er konnte sich von der Adria, die sich, ausufernd bewimpert, so wunderbar in meinen Augenhöhlen drehte, nicht losreißen. Innig hielt er meine Hände und erzählte, was ich früher alles angestellt hatte. Ich klopfte mir grölend auf die Schenkel, um seine warmen Hände loszuwerden. Wir redeten über Bücher. Kerouac, Virginia Woolf, Stalin, Marquis de Sade, His Divine Grace A.C. Bhaktivedanta Swami Prabhupada, Kito Lorenc ... Er hatte ja keine Ahnung. «Du bist jung und sollst dich daran erfreuen», gönnte er es mir. «Doch in meinem Alter ist nur die Bibel wichtig.» – «Nun gut, die Bibel», drehte ich auf, «kennst du diese Sprüche?» Ich zitierte: «Ein schön Weib ohn Zucht ist wie eine Sau mit güldenem Nasenring. Oder, der Hure Mund ist eine tiefe Grube. Wem der Herr ungnädig ist, der fällt hinein. Hardcorelyrik von olle Salomo.» Ich vertonte es sofortigst auf der Gitarre, dazu plumpste ich rhythmisch den Hintern. Der Großonkel lachte gutmütig. «Verschone bloß deine Großtante damit, sonst kriege ich auch noch eins auf den Deckel.» In diesem Augenblick betrat sie mit meiner Großmutter das Zimmer und wollte, daß ich mit in den Gottesdienst komme. Um sie von dieser Kirchenfrage abzulenken, erkundigte ich mich, ob sie bei der Zerstörung Dresdens live dabei war. Ihre Augen begannen zu tropfen. Atemlos hörte ich zu, weil es diesmal nicht von einer schulpflichtigen Lehrerin gesendet wurde. Es waren meine Verwandten, die hilflos mit ansehen mußten, wie brennende Menschen in die Elbe stürzten und stromabwärts weiterflackerten. Ausgebombte Zoolöwen legten sich ängstlich neben Menschen nieder. Wer Verwandtschaft auf dem Lande hatte, treckte hin. Meine Großmutter war glücklich,
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als alle vollzählig in ihrer Tür standen. Die Russen trugen viel weg, aber man hatte mehr zu essen als in der Stadt. Gott hatte sie nicht verlassen. Gerührt zog ich die drei Alten an meine Brust. Tags darauf fuhren die beiden ab. Familienpflichtig begleitete ich sie zum Bahnhof. Sie schwenkten das Taschentuch, ich lief ein Stück neben dem anfahrenden Zug her und bog ins Gehöft ein. Träge zupfte ich meine Gitarre. Schwalben eilten im Tiefflug heran, schnappten die Noten auf und verfütterten den Blues an ihre Jungen. Eine Schülerin aus der Zehnten erschien, um Großmutter zu betreuen. Ich sagte dem Aufwartemädchen, solange ich hier sei, brauche es nicht zu kommen. Doch so blöd war die Schülerin nicht. Es war ihr Geld, das verlorenging. Ihr Zuhause war ein überfülltes China mehr in dieser Welt. Hätte sich meine Großmutter damit einverstanden erklärt, wäre sie längst bei ihr eingezogen. Großmutter scherzte mit ihr. Kaum war das Mädchen weg, schimpfte Großmutter auf die Hexe, die ihrem Sohn den Kopf verdrehe. Nachts wache sie auf, weil das Bett im Nebenzimmer herumstampfe und die beiden ihr Stöhnen nicht mal mit der Bettdecke dämpften. Sie sei gezwungen, alles bis zum Schluß mitzumachen, so gehe sie unausgeschlafen in den Tag. Nach ihrer Tirade winkte mich Großmutter in die Stube. Sie verriegelte die Tür, zog die Gardinen vor, entfernte ein Fußbodenbrett und leierte ein Bündel zutage. «Du sparst für deine eigene Beerdigung?» fragte ich entgeistert. – «Ich möchte niemandem was schuldig bleiben, wenn ich gehe, und ich gehe bald.» – «Du bist noch keine hundert und machst dir schon trübe Gedanken?» sagte ich torschlußpanisch. – «Alter ist kein Segen. Zwei im Krieg gefallene Söhne auch nicht. Ich bin in Trauer gegangen, bis die Kleider nach acht Jahren abgetragen waren. Jetzt möchte ich ins Himmelreich zu Mann und Söhnen.» Draußen schleuderte ich einen Stein über das Dach und dachte bald an nichts Besonderes mehr. «Bäng, bäng, bäng ... bäääääng.» Nun war Großmutter dran, mich zu verabschieden. Sie verlor Tränen in meiner Halsbeuge. Sie verlor sie wie eine Wette. Gewonnen hatte ich daran ein schlechtes Gewissen, weil ich sie zurückließ. Ich zauberte aus der Tankwartsmütze ein Küken, vollbrachte das Kunststück, es über den Arm zu ihr desertieren zu lassen, und flüchtete mit dem Fahrrad ... hardcore bergauf. Im Küstenstädtchen angekommen, prahlte ich vor Onan Bändiger, ich sei mordsreich, wenn ich nur wolle. Die U. hielte den Unterhalt von der Emm gestaut. Der Gedanke, ihn dort abzuholen? Unangenehm. Onan Bändiger pfiff auf meine Bedenken. Er bot an, mich auf dem schweren Gang zu begleiten. Auf keinen Fall dürfe die Kohle verfallen. Im römischen Kampfwagen fuhren wir bei der U.
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vor. «Geld her!» schnauzte ich, auf Onan Bändiger gestützt, weil mein Nervengerüst unter der Last dieser Forderung beängstigend nachgab. Die U. schlug die Tür zu und pfiff durchs Schlüsselloch, sie werde es überweisen. «Sind das schmierige Papiere», sagte ich, als wir die Moneten in Tausendern von der Post abholten. Binnen zwei Tagen hatten wir es mit fünfzehn Leuten in den feinsten Restaurants verpraßt. Die meisten Mitesser kannte ich nicht. Onan Bändiger hatte sie in meinem Auftrag auf der Straße angesprochen. «Woher hast du das viele Geld?» fragte der Aufmerksamste unter ihnen. – «Von der U.», antwortete ich. Darunter konnte sich nur einer etwas vorstellen. Ich legte meine Beine auf den Tisch und gewöhnte mir das Pfeiferauchen im Stil von Al Capone an. Ein letztes Mal besuchte ich die Braune. «Sie vermißt dich», begrüßte mich der Sektionsleiter. «Zwei haben sich beim Geländeritt die Beine gebrochen, und einer ist beim Ausmisten zusammengetreten worden. Wir müssen sie abliefern.» Ich setzte mich für sie ein. Zwecklos. Der Lastwagen war schon bestellt. Die Braune lag im Stroh, hob mühsam den Kopf und wieherte kraftlos. Ich erstickte sie unter der Tankwartsmütze, bis ihr gerade noch so viele Atemzüge blieben, daß ich als Täterin nicht in Frage kam.
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13. Kapitel
Als das Agraringenieurstudium begann, wollte mir mein Vater behilflich sein. «Was brauchst du?» fragte er. – «Schreibzeug und ein Auto.» Das Schreibzeug kaufte er. Ich stand unschlüssig herum. «Worauf wartest du noch?» rief er ungeduldig von der Straße hoch. – «Auf ein eigenes Auto», brüllte ich aus dem vierten Stock. – «Steig in meines und hör auf zu spinnen.» Vor der Fachschule verabschiedete ich ihn. «Schreib deiner Großtante und dem Großonkel in Dresden. Wenigstens eine heile Hose hättest du anziehen können. Wenn es Probleme gibt, meine Telefonnummer im Betrieb hast du. So, auf Wiedersehen.» Er schlug die Autotür zu. Die Räder drehten durch, bis der Trabant aus seinem selbstgeschliffenen Graben auf die Zufahrtsstraße sprang. Ich schlurfte über die Schulflure. Studenten wimmelten an mir vorbei, alle suchten die Aula. Eine Dozentin stoppte mich. «Wieso haben Sie kein FDJ-Hemd an? In zehn Minuten beginnt die Eröffnungsveranstaltung.» Ich knöpfte mein Fleischerhemd auf und zurrte den Kragen des vorgeschriebenen Blauhemdes heraus. «Die Aula ist dort vorne», sagte sie und klapperte wie ein Pferdefuhrwerk auf ihren Stöckelschuhen vor mir her. Danach traf sich die Studentenschaft in der Dorfkneipe. Die Einheimischen frohlockten. Einer gab an, daß von den fünfhundert Einwohnern des Dorfes dreihundert Studenten seien. Von den Studenten seien neunzig Prozent Weiber, und davon werde er sich Anteile holen. Für Interessierte am Zusatzstudium Pferdezucht wurden Reitprüfungen ausgeschrieben. Weil mehr bestanden, als zugelassen werden konnten, erfragte man nachträglich die Anzahl der Reitjahre. Ich war so leichtsinnig, die Wahrheit zu sagen. Mindestens acht Jahre wurden vorausgesetzt. Mein Studium war sinnlos geworden. Apathisch schlürfte ich zwei Dosen süße Kondensmilch aus. «Ist mir schlecht», rülpste ich, bevor ich in den Tod eines sechzehnstündigen Schlafs fiel. Die erste, mit der ich gern zu tun hatte, war Halina Ferder. «Bist du in der SED?» fragte ich. – «Du nicht?» entgegnete sie. – «Ich mag nicht, was diese Partei sagt, weil sie die einzige ist, die in der DDR was zu sagen hat.» – «Doch was sie sagt, stimmt», erwiderte Halina. Dieser Satz hätte sie meine Sympathie gekostet, wäre sie nicht mit folgendem Erlebnis aus dem Wochenende gekommen: «Beim Anstehen in der Kaufhalle ist mir eine Münze runtergefallen. Es war Knochenarbeit, mit beiden Händen das Bein der Frau vor mir vom Boden zu heben, um mein Geld zu befreien.» Keiner verstand den
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Humor, den Halina Ferder offerierte. Viel zu ernst war es allen mit der Schraube, die sie locker hatte. Das Jugendamt fühlte sich meiner düsteren Vergangenheit verpflichtet und besorgte ein Obdach, um das ich nie gebeten hatte. Es schickte mir eine Wohnungszuweisung aus dem Küstenstädtchen, dem ich mich schon entwachsen glaubte. Der Absender reichte, um das Papier zu vermülleimern. Daraufhin ließ mir das Direktorat von der Biologiedozentin ausrichten, ich sollte mich schleunigst melden. Meine mit Unempfindlichkeit gemästeten Ohren nahmen nichts Autoritäres mehr auf. So holte mich der Direktor persönlich aus der Vorlesung: «Ihre Hauswirtin muß dem Jugendamt Rückmeldung erstatten.» Ich tauschte Stipendium gegen Fahrgeld, um meinen Verschlag in Beschlag zu nehmen. «Huh ... ist das kalt hier», rieb ich mir die eisigen Hände im Zugwind zwischen Tür und Fenster. «Warm wird's, wenn am Nachmittag die Sonne hereinstürzt», sagte der Enkel der Hauswirtin und übergab mir den Mansardenschlüssel. Gemütlich sockelte mich die Eisenbahn auf durchdrehenden Rädern ins dörfliche Studentenleben zurück. Im Seidenkleid wippte die Pol./Ök.-Dozentin durch die Tür, so haarscharf, daß unsere Kleidung einen Elektronenaustausch lispelte. Sie stellte sich unserer Seminargruppe als Parteisekretärin vor. Unsere Blicke trafen sich. Ich wollte ihr Lächeln erwidern. Doch mir gelang nur ein Grauen. Nach dem Unterricht hängte sich Halina Ferder kordial ein. Wir tippelten ans Meer. «Die Pol./Ök.-0lle hat ein Auge auf dich geschmissen», behauptete sie. – «Guck dir den irren Horizont an. Das Meer kann seine Wellen noch so gewaltig rollen, der Horizont knechtet es unter seinem Strich», lenkte ich ab. – «Ich habe nie das Glück, eine Lieblingsschülerin zu sein», setzte Halina Ferder fort. – «Wenn du recht hast», sagte ich konfus, «dann steckt ein deftiger Lebenslauf dahinter, den ein Amtsschlingel verfaßt hat. Vielleicht liegt er gerade auf dem Schreibtisch der R und erweckt Mitgefühl.» – «Hast du Eltern?» fragte Halina Ferder. – «Biologisch schon», sagte ich. «Obwohl ich lieber ein afrikanisches Rollfederhuhn wäre. Der Vogel legt seine Eier im Mist ab und läßt sie von der Sonne ausbrüten. Als Schlüpfling ist man mit allen überlebensnotwendigen Fähigkeiten ausgestattet. So braucht man den ersten Klecks, den man macht, nicht auf die Erziehung der Eltern zu scheißen.» Ich verbeugte mich und sah durch meine Beine die Sonne untergehen. «Die Sonne geht auf», rief ich aus der Rumpfbeuge. Halina Ferder bückte sich ebenfalls und sprach durch ihre Beingabel: «Die P. mag dich.» Mir dämmerte, worauf Halina Ferder hinauswollte. «Die P. ist ein spärlicher Elternersatz, wenn man von ihr nicht bemerkt wird.»
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Die tief-rote Sonne sank ins Meer und nahm ein Blutbad. Nacht verkohlte die Restglut des Feuerrades. Der Mond ging auf. Seine unterste Spitze ratschte einen Industrieschornstein. Funken sprühten. Goldregen stob auf die grünen Stielbögen der gleichnamigen Pflanze und kühlte zur Blütentraube ab. Am Wochenende fuhr ich ins Küstenstädtchen. Der Wohnungsschlüssel fremdelte in meiner Hand. «Geiler Fetenraum», konstatierte Onan Bändiger und lud seine Freunde zur Party ein. Zum Schlitz einer Sparbüchse gefaltet, ging eine Baskenmütze um. Vom Ersparten kauften wir Wein. Berühmte Rockgruppen wie Procul Harum, AC/DC und Rory Gallagher klampften, weil ich ihnen Strom spendierte. Die Hauswirtin klopfte. Sie appellierte, die Wohnung sei nur für mich bestimmt. Das Haus sei hellhörig, die Mieter angenehm ruhig und ob ich, außer leeren Weinflaschen, keine Einrichtung besäße. «Ich studiere. Da fehlt einem das Geld für andere Dinge», erläuterte ich und drehte das Tonband leiser. Über diesen Kompromiß versauerte ich. «Ich bin nicht so gräßlich, wie ich sein möchte.» Onan Bändiger tröstete mich. «Das lernst du schon noch im Zusammenleben mit denen.» Meiner selbst überdrüssig, beschloß ich die Entpersönlichung meines Ichs. Sie mußte einen Namen bekommen, dem ich meine Gefühle und Handlungen unterschieben konnte, um nicht mehr selbst betroffen zu sein. Ein passender Name fand sich sofort: ICH! Doch bevor ich von der ICH gedoubelt werde, ziehe ich erst mal über ICH her. Es ist eine der seltenen Gelegenheiten, meine Gehässigkeit an mir selber auszulassen. (Falls es sich bei ICH wirklich um mich handelt.) ICH ist weiblich, anämisch, pafft und ist hämisch, schafft und hemmt, penibelt und stemmt, sensibelt, garantiert, locht, galoppiert, kocht, speist, reist und kreist, immer um sich selbst. Sie gibt sich männlich. Doch ICH hat eine irre Weiblichkeit. Sie ist nur zu blöd, sich darin zu bewegen. ICH betrachtet sich nackt im Spiegel und leidet unter ihrer Fettleibigkeit. Sie stützt die Ellbogen auf das Geländer ihrer selbstverschuldeten Bauchwülste, so büßt ICH einiges von ihrer stattlichen Körperlänge ein. ICH macht das Beste daraus, indem sie sich Hosen besorgt, die ihr zu weit sind. Die Leute glauben dann, sie habe abgenommen. ICH fällt in deren Chorus ein, schnippt am Gummizug, sie sagt: «Da habe ich mal hineingepaßt», und glaubt es fast selbst. Daß ICH zwanghaft prahlt, nehme ich ihr nicht ybl. Von Haus aus wurden ihre Talente unterdrückt, so daß es nichts gibt, womit sie sich berechtigt hervortun könnte. Ihre einzige Chance, sich zu emanzipieren, bleibt das Angeben. Über das Angeben lernte ICH eine Rhetorik, deren Silbentausch so manches Wörterbuch verblüfft. Über die Rhetorik vereinnahmt ICH Menschen, die sich ansonsten
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nie mit ihr abgeben würden. So erschließt sie sich Bereiche, die Aktivitäten wie Töpfern, Schauspielern, Gitarrespiel und ähnliches umsonst fördern. Errungenschaften, mit denen ICH nun prahlt, ohne der Lüge überführt werden zu können. Das baut ihr Selbstbewußtsein auf. Später, wenn sie die Dreißig überschreitet und sich ihre Interessen mehr auf sorbischen Nationalismus, Menschenkenntnis, Rodeoreiten oder professionelle Fotografie verlegen, wird ihr Selbstbewußtsein dermaßen stark sein, daß ICH sich ohne Eitelkeitsverluste sogar Bescheidenheit leisten kann. Ihre Ausstrahlung wird Leute anziehen, die ihr wirkliche Achtung zollen. Doch will ich der ICH keine Zukunft vorschreiben, weil sie sich die im Moment noch nicht verdient hat. Also zurück in die Gegenwart. ICH hat keine eigene Meinung, aber sie geht zu jeder geäußerten hundertprozentig in Widerspruch. Das suggeriert allen Angegriffenen, sie hätte eine. ICH will anders sein als andere und hat dafür kräftig zu löhnen. Sie gilt als überkandidelt, dementsprechend wird sie belächelt. Hin und wieder findet sich trotzdem ein Bewunderer. Dem glaubt ICH bis zum Geht-nicht-mehr, ohne auch nur eins der erhaltenen Komplimente zu erwidern. Freunde, falls ICH überhaupt welche hat, stellt sie nur als Spiegel um ihren Narzissmus. Schon wieder gibt sie an. Dafür reicht der Fliegendreck auf ihrer Nasenspitze aus. Und wenn ICH erst mal vom Reiten faselt, o Gott, nicht schon wieder. Denn wenn sie reitet, dann REITET sie. Ich reite auch und kann das einschätzen. ICH und das Pferd sind dann ein und derselbe Blutkreislauf. Keiner würde ICH mit einem Sportreiter verwechseln. Jeder spricht nur von dem sich im Vollgalopp aufbäumenden Überflieger, einer Vorführung, prophezeie ich euch, die der Freireiterei neue Maßstäbe setzt. Ich habe Pferde erlebt, die ihre Reiter abwarfen und sich vor der ICH niederlegten, um sich von ihr in den Siebenten Himmel ausführen zu lassen. ICH ist dermaßen unmusikalisch, daß es schon an Taubheit grenzt. Dennoch hört sie hingebungsvoll Musik. Sibelius hat es ihr angetan. Es ist kein wirkliches Hinhören. Die Klänge bilden nur einen wachsenden Dornbusch um ihre verdammte Einsamkeit. Von diesem Stachelholz umgeben, träumt ICH. Was sie träumt, ist unter aller Sau. Sie sieht sich als Heldin in brenzligen Situationen. Der ICH traue ich zu, sich einen Killer zu mieten, der den Hals ihrer Bezugsperson mit einem Rasiermesser ritzen soll, damit ICH gerade zur rechten Zeit aus einer Seitengasse treten kann, sich ein wenig darüber wundernd, daß die Realität tatsächlich noch den Traum übertrifft, bevor sie mit galanten Verrenkungen den Mörder entwaffnet, ihn cäsarisch verscheucht und, wenn sich die gerettete Bezugsperson bedankt, auch noch lässig abwinkt. Es wäre überhaupt
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das erste Mal, daß ICH sich als echte Heldin erlebt, ansonsten kennt sie ihre wunderbaren Taten nur aus Selbstdarstellungen. Das Haus ihrer Erla Mia hätte ICH sicher schon angesteckt, wenn sie sicher wüßte, daß diese in der Wohnung hockt, und wenn ein Großfeuer nicht so unberechenbar wäre wie sie selbst. Doch Erla Mia reicht der polygamen ICH als Bezugsperson nicht aus. Die Angeberin braucht an jedem Aufenthaltsort eine. Um Aufmerksamkeit zu heischen, zieht ICH sich kauderwelsch an. Sie zwängt sich in eine Jacke, deren Knöpfe garantiert falsch vernäht sind. Damit die unmöglich verzogene Jacke sitzt, unternimmt ICH die wildesten Verrenkungen, was ziemlich behindert aussieht. Die Leute bedauern sie zwar, müssen aber zugeben, daß ICH einen geschickten Schneider hat. Dazu trägt ICH weiße OP-Hosen mit chinesischem Tapetenmuster. Diese Hose ist von einem aufgeklebten Zahnrad schon ganz ausgefranst. Unter dem Hut, den ICH aufhat, könnte sie Wohnung nehmen. Über die Schuhe, ganz gewöhnliche blankgeputzte Stiefeletten, braucht man nicht zu reden. Jeder hat sie schon am eigenen Leib oder an den Modetussis auf dem Stadtboulevard gesehen. Ich erwähne sie nur, weil sie aus ICHs Aufzug hervorstechen. Seit ICH von Erla Mia für psychologische Studien entdeckt wurde, entwickelte sie eine Leidenschaftlichkeit, die andere Charakterzüge weit übertrifft oder sie gar zu ersticken droht. Diese Leidenschaftlichkeit überträgt sie auch auf neue Bezugspersonen. Sie ist der Liebe sehr ähnlich. Doch Liebe gibt und nimmt. ICH nimmt nur. Sie nimmt so unverschämt, daß aus der Bezugsperson gar nicht so viel Liebe herauszuholen ist, wie an ICH versäumt wurde. ICH wird davon viel aufnehmen müssen, ehe sie in der Lage ist, selbst abzugeben. ICH würde nie direkt sagen, daß sie keine Eltern hat. Sie kokettiert damit, Vollwaise zu sein. ICH denkt, sie sei die einzige Betroffene, und gebärdet sich unvernünftig wie ein Unikat. Doch das bildet sich ICH nur ein. Ha! Manchmal zieht sie jemand mit einer treffenden Bemerkung aus, die ihr scheiße weh tut. ICH lacht dann spöttisch. Nicht, um sich über den Kritiker zu erheben, sondern, um ihn in die Irre zu führen. ICH hat heute noch kinderharte Augen. Ihre langen Wimpern fächeln eine leichte Depression, als ob ihr noch zu helfen wäre. Das animiert jeden, der eine pädagogische Herausforderung sucht. In einem Riesenabstand wird ICH dem Herausgeforderten folgen wie das Lorenzsche Entenküken. Doch Vorsicht! ICH experimentiert grenzenlos mit ihren Bezugspersonen und verscherzt sich dadurch jedes Bleiberecht. Arme ICH. Sucht wie bescheuert eine Mutter und findet nur hin und wieder einen Scherben. Das macht sie zum blutigen Beduinen, in dessen Haut ich
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nicht stecken möchte. Doch in der meinen fühle ich mich auch nur zu fünfundachtzig Prozent wohl. ICH wünschte sich von ihrem Vater ein vierspuriges Tonbandgerät. Die ganze DDR klapperte er nebenbei danach ab, während er hauptsächlich auf Montage war. Über Beziehungen bekam er schließlich das Gerät. «Hast du ein Mikrophon dazu gekauft?» fragte ICH maßlos. Ihr Vater schloß es an und fragte nach ihren Studienerfolgen. ICH spulte zurück und drückte auf Wiedergabe. Jetzt erkundigte sich das Tonband nach ICHs Studienerfolgen. «Die Großtante wartet auf Post von dir», sagte der Vater. – «Die Großtante wartet auf Post von dir», äffte der RFT-Kasten nach. – «Die Großtante wartet auf Post von dir», heulte ICH mit dem überdrehten Aufnahmegerät im Chor. ICHs Vater zog den Stecker. «Muß ich erst die Dozenten fragen, oder gibst du mir eine vernünftige Antwort?» – «Ich kann dir keine zukunftssichere Antwort geben, weil ich mir das Studium angezogen habe wie einen Kuhkörper, in den eigentlich ein Pferd gehört», murrte ICH. – «Das kann ich der Großtante nicht anbieten. Schreib ihr wenigstens, daß alles seinen Gang geht.» ICH stenografierte auf einer Postkarte mit und klebte eine Briefmarke auf. Sie vernetzte das Tonband mit der angegebenen Voltzahl, dann hielt sie das Mikrophon an den verlogenen Text des Kartengrußes. Den Mitschnitt löste sie mit der Schere aus dem Band und hob sich die Kopie auf, für den Fall, daß das Original nicht in Dresden ankommen würde. ICH lud ihren Vater zu einem hochprozentigen Obstsaft ins Strandrestaurant ein. Auf dem Weg dahin wurden beide von der studentischen Reitergarde überholt. ICH biß die Zähne zusammen, bis der Neid verflogen war. Langsam wurde ein Gespräch möglich, das auch den Vater befriedigte. Langeweile trieb ICH ins Unwetter hinaus. Ein Auto hielt, jemand fragte, wo es hingehen solle. Der Fahrer, ein Ploppendiek, hatte seinen Bauch als Proviantsack auf dem Schoß sitzen und erzählte von der LPG, die er leitete. Er hatte mit seinem Wartburg ein Reh durchgestrichen, nun mußte er das sanftäugige Opfer in der Försterei anzeigen. Der Ploppendiek fragte, was ICH so treibe, wenn sie sich nicht gerade Autos unausweichlich in den Weg stelle. ICH plauderte, sie sei an der gleichen Fachschule wie ihre Pflegemutter. Die unterrichte sie. Das interessierte den Ploppendiek. Vor der Försterei blieb er stehen und stieg erst aus, als ICH auch noch zwei Brüder und eine Schwester erwähnte. (Im Unterricht hatte die P. auch begeistert von ihren Kindern erzählt.) «Und dein Pflegevater?» fragte der Ploppendiek. – «Ach der», winkte ICH ab. «Den kenne ich fast nicht. Den ganzen Tag bevormundet er seine LPG, und abends
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bleibe ich im Wohnheim.» – «Mehr Attribute hat er nicht?» – «Wenn er nicht so abgearbeitet wäre, sähe er vielleicht nicht so aus wie jeder», sagte ICH mitleidig. Der Ploppendiek setzte ICH vor dem Internat ab. Sie bedankte sich für den großzügigen Umweg, stieg aus, latschte durch Pfützen und schlug die Wohnheimtür zu. Die klappte im Überschwang wieder auf, wie das Märchenbuch, aus dem ICH gerade vorgetragen hatte. Am folgenden Tag hatte ICH keinen Unterricht bei der P. Um sie anzutreffen, mußte ICH aus dem Seminarraum treten, über den Schulflur waten, das Ohr an die Tür ihres Dienstzimmers legen, anklopfen und ein «Herein» abwarten. ICH holte am Start tief Luft und ging los. Unerwartet kam ihr die P. auf dem Gang entgegen. Statt den Gruß zu erwidern, bekam ICH Herzklopfen. So kraftvoll, daß ihr Herz sie vor- und zurückwarf. «Du freust dich ja», interpretierte die P. total neben der Kappe. «Ich wollte gerade zu Ihnen», druckste ICH. Die P. schloß ihre Bürotür auf und bat ICH Platz zu nehmen. «Ich habe ein Problem», sagte ICH mit selbst aufgenötigtem Selbstbewußtsein. «Bitte welches?» fragte die P. kaufmännisch. ICH blieb jedes weitere Wort im Hals stecken. Es klingelte zum Stundenbeginn. ICH erhob sich nicht. «Du kannst mich gerne besuchen. Aber benutze mich nicht als Ausrede, wenn du zu spät zum Unterricht kommst.» Die P. schrieb auf, welchen Bus ICH zu nehmen hatte, wo sie aussteigen mußte und welches Gehöft das der P. war. ICH steckte den Zettel in die Hintertasche. Er brannte sich wie ein glühender Eisenstempel in ihren Fohlenarsch. ICH nahm den aufgeschriebenen Bus. Als sie ausstieg, duckten sich die meisten Häuser unter einer Schilfkappe. Dazwischen lag anonym der Bauernhof der P. Weil der Haupteingang verschlossen war, ging ICH hintenherum. Der Umweg war mit Steinen gepflastert. Zwischen den Ritzen leuchteten Grasbüschel wie Mündungsfeuer. ICH sprang, und sie explodierten unter ihrem Popo. Urlaub in der Bombardei, tätowierte sich ICH dieses Erlebnis auf die Hirnrinde. «Komm rein», forderte die P. ICH freundlich auf. «Das ist mein Mann», stellte sie ihr den am Tisch Sitzenden vor. Der Ploppendiek grinste. «He, wie geht's, LPG-Vorsitzender?» begrüßte ICH ihn nicht gerade überschwenglich. – «Ihr seid alte Bekannte!?» staunte die P. «Trang!» rief sie nach oben. Bruder Trang polterte die Treppen hinab. «Ich bin der Sohn.» – «Ich weiß, Bruder», mahlte ICH ihre Kiefer. Bruder Trang machte ICH mit seinem kleinen Bruder Jang und der älteren Schwester Bornje bekannt. Dann flog er sich eine Jacke über, um ICH zu einem leeren Strandabschnitt zu lotsen. «Interessiert dich Musik?» eröffnete Bruder Trang die Konversation. – «Was hörst du so?» fragte ICH. – «Kennst du Brainticket?» ICH
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paßte, und er fuhr fort. «The Residents? Witzig experimentell. Keith Richard? Sein Klavieranteil wird dich begeistern. Frank Zappa? Ein intelligentes Arschloch, wie er sich selber lobt. SBB? Aus Polen und nicht minder phantastisch. Suzi Quatro? Vergiß den Schrott.» Sie schlenderten zurück, ohne das Thema zu wechseln. Die P. hatte den einheimischen Perlenfischern Aal abgekauft, den sie gerade fritierte. Um den Abendbrottisch wurde es voll. «Du kannst in meiner Kammer schlafen», bot Schwester Bornje an. ICH tummelte sich ins Zimmer zu Bruder Trang. Der verkappte sie und sich mit Kopfhörern. ICH hörte sich im unbekannten Paradies um, bis sie ruhig einschlummerte. Morgens setzte ICH Kaffeewasser auf und ging mit Bruder Jang spielen. Seiner Entwicklungsphase entsprechend baute der Jüngste Baumhöhlen, danach jagte er mit dem Flitzebogen die Spatzen vom Dach. ICH borgte sich Bruder Jangs Waffe, um es ihm urmenschlich gleichzutun. Von nun an entwickelten sich die beiden gemeinsam. ICHs Entwicklung wäre beinahe vom pfeifenden Teekessel unterbrochen worden, den lange Zeit niemand hörte. Die P. nahm ihn schließlich als Kohlenstaub vom Gas und fragte ihre Kinder, wer es gewesen sei. «Keiner von ihnen», verteidigte ICH sie und zeigte auf sich. Die erzürnte Familienmutter grub ihr Gewitter wieder ein. Ihre Kinder ließen die Preßluft ab. «Na was denn?» stutzte ICH. – «Du hättest beinahe unsere Mutter kennenlernen können.» Nachts wachte ICH auf, weil ihr Herz Verdauungsstörungen bekam. Es hämmerte ihr ein, daß diese Familienidylle schon in den Morgenstunden vom Alltag an der Fachschule weggeschwemmt werden würde. ICH stieg aus dem Bus aus und, nach einem Kilometer zu Fuß, in die Kantine der Fachschule ein. Aufgeräumt schaute sie sich um. «Wie war dein Wochenende?» Halina Ferder setzte sich zu ihr. ICH antwortete korrupt: «Ich habe mir den Bauch mit Aal vollgeschlagen, bis er mir wie eine Ölzunge aus dem Mund schlappte.» – «Gib es auf. Mein Brötchen verekelst du mir nicht», sagte Halina Ferder gleichgültig. – «Rate mal, bei welcher Bäuerin ich den Fisch genossen habe?» verstieß ICH gegen ihren Vorsatz, eisern zu schweigen. – «Woher soll ich das wissen?» sagte Halina Ferder. – «Genossen! Genossen habe ... Den Fisch genossen habe ... », dehnte ICH ihre Worte. – «Genossen? Jemand aus der Partei? Die P.? Unsere Parteisekretärin? Nein!!! Erzähle», keuchte Halina Ferder. – «Nichts Besonderes», hub ICH an. «Dort geht es zu wie in jeder intakten Familie. Wären es meine richtigen Rollfederhühnereltern, würde ich dich einfach mitnehmen nach Afrika. Doch in der
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Gruppenpsyche der P.-Familie kenne ich mich nicht aus», gab ICH Aufschluß, bis sie vom Klingelzeichen gebremst wurde. An einem der nächsten Wochenenden versuchte ICH Bruder Jang eine Wildschweinjagd aufzuschwatzen. «Du bekommst das Fleisch und ich den Bettvorleger.» Bruder Jang lehnte ab. Mit seinen zwölf Jahren war er bereits auf dem Weg in die Anfänge der Zivilisation: Er hielt sich Haustiere. ICH entwickelte sich mit und kaufte ihm ein gegerbtes Schaffell ab. Kurz vor dem Ende von ICHs Semesterferien feierte Bruder Trang mit handverlesenen Freunden seinen 19. Geburtstag. ICH killte die Party durch Schweigen. Sie setzte sich vor die Tür. Drinnen erkundigte sich jemand, wer ICH sei. Vielleicht war es nur eine harmlose Frage, doch Bruder Trang führte weitschweifig aus, daß ICH eine Studentin sei. Seine Mutter habe einen Helferkomplex und schleppe jeden an, der sich quäle. «Ach, darum ist die so komisch», erklärte eine Besucherin es allen anderen. ICH war wütend. «Warum feierst du nicht mit?» fragte die P. – «Kein Bock», sagte ICH und wurde noch schwieriger. Bruder Jang befand sich gerade in der Bauhausphase. ICH ließ sich vom Fortschritt beeindrucken und zum Schafstallbau mitnehmen. «Nicht wir brauchen dich. Du brauchst uns. Hör also auf, unserer Mutter Kummer zu machen», las er ihr die Leviten. – «Leck mich», sagte ICH. ICH legte sich ins Bett. Auf Anweisung der P. ließ sie jeder in Ruhe. Am vierten Tag setzte ICH sich zu Tisch. Niemand machte ihr Vorwürfe. ICH formierte ihre widersprüchlichen Gefühle in Dreierreihen und riß sich zusammen. «Worüber denkst du nach?» fragte sanft der Ploppendiek. – «Wale haben auf jeder Seite ein Auge», erörterte ICH. – «Ja und? Wir Menschen doch auch», lachte der Ploppendiek. – «Das schon, aber unsere Blickfelder überschneiden sich. Doch wenn dem Wal ein Auge aussetzt, sieht er nur das halbe Meer. Jedenfalls wenn er nicht den gleichen Weg zurückschwimmt.» – «Was willst du uns sagen?» fragte der Ploppendiek. – «Ich meine, der Wal hat die besten Voraussetzungen, intelligenter als der Mensch zu sein. Er muß zwei getrennte Welten gleichzeitig im Hirn verarbeiten.» – «Ich bin Bauer», sagte der Ploppendiek. «Vielleicht bringt es dir was, wenn du dich mit den Fischern unterhältst.» – «Wenn der Wal ein Landsäugetier geblieben wäre, hätten die Menschen vielleicht gar nicht entstehen können», versuchte ICH das Gespräch zu halten. – «Was liegt dir an den Walen?» versuchte er auf ICH einzugehen. – «Gar nichts», erwiderte ICH. «Schon weil es arschlose Tiere sind. Die haben keine Hände, um etwas aufzubauen, und erst recht nicht den Arsch, um es wieder einzureißen. Sie bleiben Nomaden.» – «ICH spricht wieder»,
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flüsterte die P. ihren Kindern zu. Alle stiegen in das Gespräch ein und entlasteten den Ploppendiek. Es wurde ein mückenumschwärmter Abend, weil sie ihn mit zwei Flaschen Weißwein ins Freie verlegten. Bis zum Anbruch des Praktikums im neuen Semester hatte ICH noch einen Tag Zeit. Während ein Unwetter Mond und Sterne aus der Schwärze des Himmelsteppichs klopfte, klagte sie über geschwinde Magenumdrehungen. Die P., die sich über die Ursache im klaren war, trieb ICH morgens aus dem Bett. «Du bist immer willkommen, doch Arbeitsbummelei dulde ich nicht.» Bruder Jang ereilte ICH mit der Neuigkeit, daß seine Mutter sich beim Milcheimertragen den Knöchel gebrochen habe. ICH wurde Zeuge, wie der Ploppendiek sie auf Hünenarmen ins Wohnzimmer trug und auf dem Sofa ablegte. Als sie neben der weinenden P. stand, wünschte ICH sich, weit weg zu sein. Ihre Magenschmerzen nahmen sich das Leben. ICH sollte im LPG-Büro warten. Im Aschenbecher glomm eine Zigarette. Ihr Rauch schlängelte sich ums Telefon. ICH nahm den Hörer aus dem Nebel und wählte. «Ja bitte?» meldete sich die angenehme Stimme der P. ICH genoß diesen Ohrwurm noch einmal. «Mit wem spreche ich?» wurde die P. ungeduldig. Da ICH an diesem Tag noch kein Wort gesprochen hatte, brachte sie nur einen reibeisernen Laut heraus. Erschreckt legte sie auf und versuchte es noch einmal. «Jetzt reicht es aber, sag mal, bist du das ICH?» wurde sie angebrüllt. Sie erbleichte. Seitdem ist ICH nicht mehr zum Telefonieren zu bewegen. Der Hochsommer schwitzte durch alle Betonporen des LPG-Büros. «Sie sitzen immer noch hier?» fragte der LPG-Leiter ICH nach zwei Tagen. «Können Sie Trecker fahren?» ICH konnte immerhin ein Motorrad führen und sagte: «Yup.» Der Leiter brachte sie zu zwei Männern. Einer hatte seinen Arm durch die Elektrodrahttrommel gefädelt. Er ging voran. Der Nachfolger spießte Glasfiberstäbe mit Porzellanköpfen in die wiesige Erde und verdrahtete die Stäbe miteinander. «Könnt ihr jemanden gebrauchen?» rief der Abteilungsleiter den Drahtziehern zu. – «Eine Frau immer», grölten die beiden und glotzten ICH auf die unschwer zu lokalisierenden Brüste. ICH kotzte ab. Wütend speerte sie bis zum Feierabend Stäbe ins Gras. «Für Sie!» rief der Abteilungsleiter ICH ans Telefon. Onan Bändiger lud sie zu einer Räuber-und-Gendarm-Party ein. «Ich ko-komme. Do- doch rru-fe ni-nie mehr a-an. Te ... Telefonmacke.» – «Es wird schon wieder», überging er ICH taktlos. Als er sie noch einmal anklingelte, holte ICH einen Blitz vom Himmel und schlug den Zacken in die Telegrafenleitung. In einem prompt folgenden Brief
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entschuldigte sich Onan Bändiger, daß er nicht telefonieren könne. Ein Blitz habe eingeschlagen. Sein Telefon sei als Plastelava vom Couchtischchen geflossen. Am nächsten Tag zog ICH mit dem Trecker die Futtertröge eine Koppel weiter. In Schlammwolken gehüllte Rindviecher trampelten die Drahtzäune nieder. Die Drahtzieher reparierten sie. «Habt ihr keine Pferde?» fragte ICH beiläufig. Die Männer fragten ICH, was sie in der monotonen Rinderrückenlandschaft mit einem Pferd wolle. «Auffallen!» sagte ICH und erklärte es dann ernsthaft. Der Abteilungsleiter brachte eins. Er sah zu, wie ICH den Rennmuskel bestieg, an die Herde heranritt, vor ihr her galoppierte und in der Umsatzkoppel das Pferd zum Stehen brachte. Er staunte, als die Kühe ebenfalls anhielten. Die Drahtflickerei hatte ein Ende gefunden. Abends auf dem Dorftanz ging ein Jüngling um. Zuerst forderte er Brigitte Bardot auf. Die schubste ihn weiter zu Romy Schneider. Der Abgewiesene steuerte ICH an. Sie winkte Halina Ferder zu und erhob sich. Halina Ferder schmähte: «ICH. Bilde dir bloß nichts ein. Du bist erst die dritte Wahl.» – «Aber gleich nach Brigitte Bardot und Romy Schneider», feixte ICH, als sie dem Schönling auf die Tanzfläche folgte. Er brachte ICH an den Tisch zurück und bat Halina Ferder zum Tanz. «Du bist mir zu weiß», wies sie den Jüngling ab, weil sie auf einen Mosambikaner wartete. Am Strand küßte der Jüngling ICH. Sie sah Sterne. Die sprenkelten ihr Licht auf die Boote. Der Jüngling bog ICH über eines der umgewendeten Ruderboote. Ein Plasteschwert drückte sich ihr in den Rücken. Doch ICH hielt den auf ihr lastenden Jüngling tapfer aus. «Hast du schon mal?» fragte er unromantisch. «Natürlich!» antwortete ICH wahrheitsgetreu. «In deinem Alter?» Sportlich sprang der Jüngling auf. Selbstverständlich war ICH volljährig, aber ihr kindisches Gesicht verriet es nicht. Das mag ein Vorteil sein. Doch Vorteile haben auch ihre Nachteile. Der Jüngling glaubte ihr kein Wort. Nach Feierabend ging ICH nicht mehr mit Halina Ferder aus, sondern mit dem Jüngling. ICH fiel es schwer, sich zu verweigern, denn auf seinen grazilen Händen lag der Fluch von Zärtlichkeit. Auch die Sterne verunsicherten ICH. Es waren tausend Augen, die glotzten, weil sie keine Lider haben, um sie taktvoll zu schließen. Ein weiteres Tausend vermutete ICH hinter den Sanddünen in den Gesichtern der Spanner. Das letzte Tausend waren ICHs innere Augen, die darauf sahen, daß sie von dem Jüngling nicht für eine Hure gehalten werde. Als er mit dem aufgerichteten Mast im Segeltuch seiner Hose auf sie zulief, wurde er von einer Strandböe
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erfaßt. Er verfehlte ICH und krachte in den Bootsschuppen. ICH lachte. Sie kam sich nicht mehr so unerfahren vor. Das Praktikum war endlich. Eine andere Erklärung fiel ICH nicht ein, als sie sich einen Tag zu früh verabschiedete. Der Jüngling stand am Betriebstor und erwartete sie. Gleich nach dem Abendbrot gingen die beiden zu Bett. Der Jüngling zärtelte ICHs Brüste. «Hm», schnaufte ICH. «Der Sternenhimmel ist auch nicht mehr das, was er auf der Rinderhalbinsel vorgegaukelt hat, sondern nur noch ein Fensterausschnitt davon.» ICH hob den Kopf, um dem Firmament näher zu sein. Jetzt war das Universum ein ausgebreiteter Mantel mit innen angenähten Silberknöpfen. Ein aufkommender Sturm riß sie ab ... die Sterne ... Sie loderten vom Himmel, doch ICH war das schnuppe. «Ich liebe dich», arbeitete sich der Jüngling, Silbe für Silbe, bis in ihr Innerstes vor und breitete sich explosiv aus. Einen Tag später hatte ICH Geburtstag. Sie war nicht mehr volljährig, sondern schon ein Jahr darüber. «Du bist neunzehn?» fragte der Jüngling immer wieder. Seine Mutter schloß sich den Zweifeln an. Seine ältere Schwester konnte es auch nicht glauben. Sie rief die anderen Schwestern herbei. ICH hatte nun genügend Publikum, um ihre DDR-Hundemarke zu ziehen. Sie zeigte den von der Polizei verfaßten Bestseller herum. «Du siehst aus wie vierzehn», komplimentierte eine seiner Schwestern. – «Das Alter scheint ein Kelch zu sein, der auch dieses Jahr wieder an mir vorübergeht», ärgerte sich ICH. Der Jüngling legte Platten auf und sagte: «Hör zu, ICH. In unseren Breiten ist das Tanzen eine Kriegskunst.» ICH kopierte seine stampfende Schrittfolge. Dann gingen sie in die Disco. Die war speziell. Neben den gängigen Songs gelangten auch westdeutsche Ladenhüter wie die Bay City Rollers wieder zu einstigem Ruhm. Speziell war auch, daß der Jüngling und ICH tanzten, als hätten sie sich vorher nie gesehen. Nur eines schien sie zu verbinden ... ihre Sprünge aus der Tanzmasse heraus. «Wer ist sie?» fragte man den Jüngling. – «Meine feste Freundin», legte er keuchend den Arm um ICHs Schulter und stellte sie seinen Kumpels vor. Am letzten Tag brachte der Jüngling ICH zum Hauptbahnhof. «Meine Mutter mag dich. Sie haßt meine Drei-Tage-Liebschaften. In letzter Zeit habe ich ihr die gar nicht mehr vorgestellt. Sie setzt alle Hoffnungen in dich.» Er drückte ihr seine Adresse in die Hand. ICH begriff, daß er sie in eine feste Beziehung verstricken wollte. Diese Überforderung bewölkte ihre Stirn, breitete sich über ihr Gesicht aus und hüllte den ganzen Körper ein. So getarnt verschwand ICH. Erst Tage später ward sie wieder in der Fachschule gesehen.
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In der darauf folgenden Woche wurden Klausuren geschrieben. ICH, die in den Vorlesungen nie mitschrieb, hatte kein Papierhirn vorrätig, das sie durchblättern konnte. Sie versuchte, sich die Mitschriften ihrer Kommilitonen zu borgen. Methel Kellerhahn sagte es am deutlichsten: «Wir müssen selber lernen.» ICH insistierte. «Ich habe Nachtdienst in der Pförtnerei. Vielleicht leihst du mir die Hefter während deiner Schlafenszeit aus.» Methel Kellerhahn schmiß ihr den Kram vor die Füße. Als sie sich entfernt hatte, hob ICH den Hefter auf und beförderte ihn mit einem Tritt zum Zugvogel. Dem folgte sie in die Pförtnerei. ICH lernte. Dabei wurde sie von einem erbarmungswürdigen «Miau» gestört. Als sie keine dazugehörige Katze sah, suchte sie nach einer Fehlerquelle in der Umgebung. «Na klar», schlußfolgerte ICH. Ihr Magen wollte aus dem gleichen Grund gefüttert werden wie eine vernachlässigte Katze. Die Fehlerquelle kam näher und setzte sich ihr zu Füßen. «Doch eine Katze», staunte ICH. Nach dem Essen vertrat sie sich die Beine am nahe gelegenen Strand. Als sie zurückkam, wollte ICH das Radio einschalten. Es war verschwunden. «Habe ich jetzt auch das Radio gefressen?» verzweifelte sie. Zum Kotzen ging ICH auf das Klo. Doch sie würgte nur eine Katze aus, die sich im Streckgalopp verlor. Am Morgen meldete ICH den Verlust des Gerätes. Die Dozentin runzelte die Stirn. So leid es ihr tat, ICH war ein Fall für die Konfliktkommission. Die mutmaßte, ICH habe das Radio gestohlen, konnte es jedoch nicht beweisen. ICH bekam einen Verweis wegen Vernachlässigung des Pförtnerdienstes und wurde nicht zur Physikprüfung zugelassen. «Sie wissen, was das bedeutet?» fragte der Vorsitzende. ICH mußte sich von der Fachschule verabschieden. «Unser Staat kann sich nur politisch zuverlässige und pflichtbewußte Betriebsleiter leisten. Sie sind ungeeignet!» schickte er hinterher. – «Bekomme ich das schriftlich?» verlangte ICH. – «Die mündliche Auskunft hat zu genügen.» Der Dorfpolizist gab ICH das Radio zurück. «Warum haben Sie es mitgenommen?» fragte ICH. – «Erziehungsmaßnahme, damit Sie Ihren Pförtnerdienst nicht mehr am Strand verbringen.» – «So kluuug?» revidierte ICH ihr Vorurteil über die Polizei. Beeindruckt erkundigte sie sich, ob der Polizist ein Wort mit drei «tz» kenne. Aber holla, auch da kannte er sich aus. «Woher denn nur?» machte ICH ihm den Hof. Er strahlte. «Von den hundert Wörtern, die ich kenne, ist Kreuzworträtsel das einzige, das mit drei geschrieben wird.» Das Seminar hatte längst begonnen. ICH besprang das Treppengeländer und rutschte abwärts, bis eine körperfremde Hand
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sie bremste. ICH faßte sich an die Bremsbacken, dann drehte sie sich um. Es war die P., die sich verstimmt die Treppe hocharbeitete. «Warum bist du nicht im Unterricht?» ICH erzählte von ihrer Entlassung und trottelte hinter der P. ins Dienstzimmer. «Schade um dich. Du hast die Möglichkeit, dein Studium nächstes Jahr fortzusetzen. Wirst du davon Gebrauch machen?» – «Keine Zeit», entschied ICH, denn die meisten Fehler beging sie nur einmal. Nach drei Tagen war ICHs Laufzettel abgetrabt. Sie ging in den Seminarraum, um sich zu verabschieden. Es klingelte zum Stundenbeginn. Der Philosophiedozent betrat den mit ICH verminten Klassenraum. Sie blieb sitzen und verpaßte ihrem Gesicht den seltenen Ausdruck von Aufmerksamkeit. Die Arbeiten wurden zurückgegeben. ICH ging nach vorne, um ihre in Empfang zu nehmen. «Weiter so», lobte der Dozent. Die Seminargruppe lachte. ICH beteiligte sich an der Diskussion. Mit ihren prosozialistischen Äußerungen löste sie Gewieher aus. Der Philosophiedozent stellte klar, daß ICH in seinem Unterricht bemerkenswerte Fortschritte mache. Er verbitte sich vom Studentenkollektiv, sie derart zu entmutigen. Das gab der Klasse den Rest. Nicht einmal das Klingelzeichen konnte die Lacher beruhigen. Der Dozent verließ den Seminarraum, diese aus dem Leim gegangene Welt, der er, wie er sich später berichten ließ, auf den Leim gegangen war. ICH trampte ins Küstenstädtchen. Kurz vor dem Ziel kam sie nur spärlich voran. ICH erlebte ein Wunder. Damals kam es höchst selten zu Autostaus, denn es gab nicht genug Fahrzeuge dafür. Schließlich wartete jeder Privatkäufer acht Jahre auf sein bestelltes. ICH kurbelte die Scheibe herunter und hängte die Nase in den Parkwind, den die Abgase der vor ihnen Haltenden verursachten. «Die Straße wird geteert», rief ICH dem Fahrer zu. Er scherte aus und fuhr an den Straßenrand. Dann überholten beide zu Fuß die Fahrzeuge, bis sie zu einer Menschenmenge gelangten, die mit gesenkten Köpfen den Autos voranging. Es waren Tausende von Kettenrauchern, die der Staat dazu verpflichtet hatte, auf das Kopfsteinpflaster zu husten. Der nachrollende Verkehr walzte das Ausgeworfene platt. Nun unterschied sich die Landstraße kaum noch von ihren Westschwestern, die auf ihre bessere Technologie so stolz waren. Tage später erhielt ICH eine Postkarte von der P. Die kündigte an, daß liegengelassene Sachen im Paketflug unterwegs seien. ICH wollte sie abholen. Ohne ein gültiges Dokument gaben die Postschalterbeamten sie nicht her. Also klebte ICH ihr Paßbild auf den Paketzettel. Darauf fielen die Bediensteten nicht herein. ICH agitierte, daß der Personalausweis sich im Paket befände. Die
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Neugier besiegte ihre Bürokratie. Sie ließen ICH auspacken. Doch ehe ICH den Personalausweis hervorfledderte, bestaunte sie Schafwollsocken. Von der P. gestrickt, der ICH beschlüpft, rasten die eigendynamisch los, sobald sie Boden berührten. «Den Ausweis», verlangten die Schalterangestellten, weil sie der im Kreis rennenden ICH die Neuauflage des «Kleinen Muck» nicht abnahmen. Ihre Geduld riß. Sie schubsten ICH um und zogen ihr die rotierenden Strümpfe von den Füßen. Als ICH sich ausgewiesen hatte, durfte sie den Schalterraum verlassen. Zu Hause entdeckte ICH im Paket ein Buch von Emile Ajar: «Du hast das Leben noch vor dir». Sie hätte es kaum beachtet, wären auf dem Schutzumschlag nicht afrikanische Rollfederhühner abgebildet gewesen. «Ich denke, die sind ausgestorben?» fragte ICH bei der P. schriftlich an. «Richtig», antwortete die P. «Es handelt sich ja auch um vorderasiatische. Doch es geht nicht um das Äußere des Buches, sondern darum, sich mit dem Inhalt zu verständigen.» ICH vertiefte sich sogleich darin und konnte erst aufhören, als sie die Hiobsbotschaft gefressen hatte. Die beschrieb den Sohn einer französischen Hure, den eine ausgediente Berufskollegin in Pflege nimmt, damit er der Mutter nicht von den Behörden abgenommen wird. Obwohl die Zahlungen der arbeitenden Hure ausbleiben, behält ihn die fette Madame Rosa. Sie betreut auch die Kinder anderer Nutten. Ihn bevorzugt sie. Vielleicht, weil er für sein Alter sehr männlich wirkt und/oder wegen seiner enormen Intelligenz. Seine Sprache, die einem achtjährigen Straßenkind entspricht, täuscht darüber nicht hinweg. ICH fand sich nicht in der Handlung des Buches, aber im Denken und Fühlen des Bastards wieder. Die jüdische Madame Rosa stirbt in dem Keller, wo sie sich vor den Nazis versteckt hielt. Ein Studentenpärchen nimmt sich des Jungen an und tröstet ihn mit den Worten: «Du hast das Leben noch vor dir.» Doch er hat das Leben längst hinter sich. Mit seinen zwölf Jahren weiß er alles. Die Erkenntnisscheiße, für die andere ein ganzes Leben brauchen und manche sogar mehr. Als ICH die letzte Zeile verdrückt hatte, suchte sie den Schlafsack. Ihr Vater hatte den gegen ein frischbezogenes Bett verschwinden lassen. Erschöpft schlief sie ein. ICH lebte ungesteuert. Logisch, daß sie im Traum völlig über Bord ging. Vor der Küste Kubas schlissen Haie das Meer. Auf ihren ruhigen Raubzügen sprinteten sie ihre Opfer an und ließen nur Teile der Taucherausrüstung übrig. Von ICH blieb GAR NICHTS über. Davor fürchtete sie sich auch im richtigen Leben und wachte verschwitzt auf. Ihr ladenneues Laken war zerschlissen. Kubanische Haie schwammen hindurch, teilten sich die schmackhafte ICH und ließen nur noch MICH übrig. Nachdem die
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Räuber abgezogen waren, lehnte ich mich erschöpft zurück. Von den Menschen hätte ich es erwartet, doch nie und nimmer von den Haien, daß sie mich meines ICHs berauben.
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14. Kapitel
Stets zogen Magnete meines Inneren Mich in Katapulte der Begeisterung Raja Lubinetzki
Der ZOO, die beliebteste Unterhaltungsbranche des Küstenstädtchens, stellte mich befristet ein. «Wie gefällt dir die Arbeit?» erkundigte sich Erla Mia. — «Tierisch gut», schwärmte ich. — «Und deine Arbeitskollegen?» traf sie meinen wunden Punkt. — «Quimmel Goldbrand ist ein Frauenheld, der es nicht auf mich abgesehen hat», verklickerte ich. «Brutalo Messino hingegen kommentiert jeden meiner Handgriffe damit, daß Frauen hundert Gramm Gehirnmasse weniger haben als Männer.» — «Meint der das ernst?» fragte sie. — «Das hat er aus einem Buch. Sobald er sich davon überzeugt hat, daß ich lesen kann, leiht er es mir», erklärte ich. — «Du gerätst immer an merkwürdige Leute», sagte Erla Mia zum Abschied. Ratlos setzte ich mich in Autos, die auf Handzeichen hielten, um die P. aufzusuchen. «Du bist unfähig, dich ins Kollektiv einzufügen. Nimm dich zurück und mache nicht andere für dein Versagen verantwortlich», kommentierte sie. Ich redete kein Wort mehr mit der P. und ihrer Familie. Nach drei Tagen verweigerte sie mir unter diesen Umständen das Asyl. Ich zündete einen Kondensstreifen und ward in ihrem Radarbereich nie wieder gesehen. Der Winter schickte ein Doppel Sonnenstrahlen über den Horizont, als ich meine Arbeit wiederaufnahm. In der Futterküche sollte ich für die Volierenadler Mäuse erschlagen. Dazu trenste ich den Esel auf und ritt ihn durch den Schloßpark. Am Ziel bat ich den Futtermeister, für mich zu morden. «Alles Routine.» Er füllte meinen Eimer mit toten Mäusen. Ich ritt einen Umweg zurück. Am Löwenkäfig brach der Esel aus und stürzte davon. Mein Gleichgewicht verrutschte. Doch im Kosakenhang konnte ich mich auf ihm halten. Aus dem fliegenden Eimer regneten Mäuse über die Besucher ab. Ich zwinkerte eine Entschuldigung. Brutalo Messino beschwerte sich beim Zoodirektor über meinem Schwarzritt. Der besuchte mich im Revier, um sich für den sowjetischen Rodeo zu bedanken, der ihn und seine Besucher begeistert habe. «Ins Standardprogramm kann ich das leider nicht aufnehmen. Sonst habe ich den Tierschutz auf dem Hals», bedauerte der Direktor.
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Wenig später war die Pißrinne zugefroren. Der Frauenheld taute sie mit heißem Wasser auf. Das Naß trat über und gefror wieder. Jetzt ließen sich nicht mal die Stalltüren schließen. «Setz Kaffeewasser auf», degradierte Brutalo Messino den Frauenheld. Mir drückte er einen Eispickel in die Hand. Breitbeinig und mit verschränkten Armen schaute er seinem Lohnhäftling zu. Eisstücke spritzten. Ich richtete mich auf, um die Schultern zu dehnen. «Du bist noch nicht fertig», mahnte Brutalo Messino zum Abbruch der Minipause. Ich schlug wieder zu und traf durch das Eis bis ins Mark des Pflastersteins. Brutalo Messino versteifte sich. Ich starrte auf seinen Hosenschlitz. «Du ybles Schwein.» Errötend verzog er sich. Ich blickte auf. Über meinem Kopf schwebten Vogelfedern und polierten die Windstille. Ein Arbeitskollege aus dem Tropenhaus jagte seinem als Zugvogel getarnten Papagei hinterher. Sonderrechte genießend, verbrachte der Vogel viel Zeit auf seiner Schulter. Der Kollege war so in Gedanken gewesen, daß er vergessen hatte, den Vogel an seine Sitzstange zu ketten, bevor er zum Mittagessen ging. Der Ara konnte sich in die freien Lüfte erheben und trug sein untrainiertes Gewicht über die Eisbären hinweg. Einer der Polarteddys schlug ihn mit der Tatze herunter, dann aß er die kreischende Südfrucht auf. Schon wieder dieser Eisbär. Er löste Großalarm aus, weil sein Pfleger vergessen hatte, die Falltür nach dem Füttern wieder zu schließen. Die Besucher wurden über Lautsprecher aufgefordert, das Zoogelände zu verlassen. Ein gefährliches Tier laufe frei herum. Panik staute sich am Eingangstor. Ehe die Kassierer das Lastwagentor aufschieben konnten, walzten die Menschenmassen den angrenzenden Maschendraht nieder. Ein Veterinär zog Schlafmittel auf. Er legte die Spritze ein und spannte die Armbrust für den Fall, daß der Eisbär angriff. Mit Gabelstaplern wurde der Pelzträger zu seinem Wohnbau getrieben. Gemeinsam sammelten wir die auf dem Zoogelände zurückgebliebenen Kinderwagen ein und trösteten die quäkenden Babys. Über Lautsprecher wurde bekanntgegeben, wo die Eltern ihre Strickwürste abholen könnten. An Weihnachten kochte der Futtermeister für die Menschenaffen Hühner und lud alle dienstschiebenden Kollegen dazu ein. «Menschenfett ist gelb», wußte der Koch zu berichten. Beim Kohlrübenschneiden war ihm einmal das Fleischmesser in den Bauch geraten. Er hatte sich über die graugelben Negerlippen erschrocken, die seiner geschlitzten Wampe ein blindes Gesicht gaben. «Menschenfett ist gelb», wiederholte er. – «Die Sonne ist gelber», sagte ich nicht von ungefähr.
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Von Australien kam der Herbst schräg über die Breitengradleiter geklettert, kondensierte in den Tropen zum Sommer und tropfte als Frühling über Europa ab. «Fünf Minuten vor zwölf für dich», frohlockte Brutalo Messino. «In drei Wochen hast du zu verschwinden. Dann tritt die ehemalige Schwangere ihre Arbeit an.» Ich erzählte Erla Mia davon. «Das können sie doch nicht machen», sagte sie und wälzte das Arbeitsgesetzbuch. Erla Mia fand einen Paragraphen, der den Zoo sogar verpflichtete, mir eine Facharbeiterausbildung zu gewähren, weil ich die vorgeschriebene Mindestarbeitszeit von einem halben Jahr schon abgeleistet hatte. Nachdem ich dem überforderten Abteilungsleiter diesen Vorschlag unterbreitet hatte, wurde ich in die Kaderleitung bestellt. Man sprach mir die Kündigung aus. Erla Mia war dafür, der Kaderleitung mein verkorkstes Vorleben vorzuheulen. «Wenn du keine Zeugen gegen deine sauberen Mitarbeiter beibringen kannst, mußt du Mitleid erregen.» – «Unmöglich», sträubte ich mich. «Dann gehe ich eben.» Einige Tage später brachte mir der Meister eine Beurteilung zur Unterschrift. Sie empfahl meinem künftigen Betrieb, mich in Bereichen einzusetzen, die keine Selbständigkeit erforderten. «Niemals», sagte ich. – «Sie haben nicht zu unterschreiben, weil Sie damit einverstanden sind, sondern weil Sie es zur Kenntnis nehmen. Wären Sie freiwillig gegangen und hätten Sie nicht diese Person eingeschaltet, wären wir nicht gezwungen, Ihnen diese Beurteilung zu schreiben. Wir müssen uns rechtlich absichern», erklärte er. Erla Mia riet mir, gerichtlich dagegen vorzugehen. Um als Werktätige gegen den Zoo aussagen zu können, ging ich mir neue Arbeit suchen. 1. Tag: Die Besitzerin eines Blumenladens gibt mir zu verstehen, daß mein Äußeres die Kunden davon abhalte zu bezahlen. 2. Tag: Im Schaufenster eines Fleischerladens sehe ich einen Aushang – Metzger gesucht. Ich gehe in den Laden und frage, was der denn verbrochen habe. 3. Tag: Bei einem Vorstellungsgespräch im Kindergarten stenographiert die Kaderleiterin meine Motive mit. Sie lehnt mich mit der Begründung ab, dies sei keine Tagesstätte für RAF-Kinder. 4. Tag: Ein Pathologe führt mich in seinem Kühlkeller herum. Ich kann mich nicht beherrschen und kotze ins Formalin. «Was soll das?» fragt der Pathologe. «Wir wollen die Toten konservieren und nicht Ihre holländischen Käsewürfel.» 5. Tag: Ein Polizist klopft an meine Wohnungstür. «Danke, ich möchte nicht zur Bullerei», sage ich und schlage die Tür wieder zu. – «Moment, Moment», stellt der Schutzmann seinen Plattfuß dazwischen. «Wir haben von den Nachbarn den Wink erhalten, daß
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Sie fast den ganzen Tag zu Hause sind. Wenn Sie nicht innerhalb einer Woche eine Arbeit nachweisen, erwartet Sie eine Gefängnisstrafe wegen Asozialität.» – «Ah», sagte ich. Meine Spaghetti kochten über, ringelten über den Topfrand und liefen über den Fußboden. Ehe sie den Polizisten hungrig anfielen, schmiß ich die Tür zu. Am achten Tag stellte ich mich in der Margarinefabrik vor. «Sobald Ihre Kaderakte eingetroffen ist, können Sie anfangen», entließ mich die Sachbearbeiterin. Ich fragte wieder an. «Ihre Kaderakte verweist auf unzureichenden Kollektivgeist.» Als man mir in der Bierbrauerei das Gleiche sagte, rutschte ich zusammen. Die Schreibmaschinistin fragte, wie ich zu so einer Beurteilung komme. «Wir versuchen es mit einer befristeten Einstellung. Unterschreiben Sie», bat sie mich ans Papier. Am Fließband sortierte ich die Scherben zerplatzender Bierflaschen aus. Dann löste ich die Kollegin an der Etikettiermaschine ab. Als ich neues Papier einlegte, erfaßte die rotierende Leimrolle meine langen Haare und schliff die linke Gesichtshälfte herunter. Bevor ich mich ganz durch die Rolle drehte, um als Etikett auf dem Bauch einer Bierflasche zu enden, erkannte der Schichtleiter, was los war. Er schaltete den Hauptstrom ab. Bei Gericht eröffneten die Schöffen das Kreuzfeuer auf Brutalo Messino. Meine Chancen standen gut, bis Brutalo Messino log, ich hätte aggressive Ratten ausgesetzt und einem Lehrling befohlen, sie einzufangen. Die Schöffin fragte, ob ich das überprüfen lassen möchte. Brutalo Messino reichte ihr das von einem Lehrling unterschriebene Schriftstück. Sie hatte kein Wort der Verteidigung mehr übrig. Mein von der Leimrolle entstelltes Gesicht sprach nun gegen mich. Immerhin wurde die Beurteilung dahingehend geändert, daß mein Charakter jenseits von Gut und Böse lag. Als ich das Gerichtsgebäude verließ, dachte ich darüber nach, wie ich den Ausgang des Prozesses feiern könnte ... Jawoll, ich leistete mir ein Straßenbahnticket. Beim Aussteigen entdeckte ich Erla Mia, die vor einem Schaufenster stand und nicht so richtig was fand. Wenn Erla Mia Klamotten kauft, tut sie es, weil das Herz ihr die Seele abdrückt. Ich grüßte. Dann provozierte ich eine Scharade. Die sollte ihr erleichtern, den Kummer in Worte zu fassen. «Gehen wir zu mir?» lockte ich sie in meinen Wohnbau. Erla Mia folgte mir die Treppe hoch. Meinen Gang kommentierte sie damit, daß ich immer weiblicher werde. Gerade hatte ich in der Straßenbahn einer duftenden Frau mit verdächtig ausgeprägtem Kehlkopf gegenüber gesessen. Fasziniert hatte ich jede ihrer anmutigen Bewegungen kopiert. Nun machte ich alleine weiter, als ich vor Erla Mia die
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Treppe nach oben stieg, beim Hinsetzen die Beine übereinanderschlug, mit gespitztem Mündchen den Tee nachgoß und Weisheiten in das Gespräch einpflegte. Zwölf Tage waren vom Stapel des Monats gefallen. Um den dreizehnten zu verlängern, ging ich in die Nacht hinaus. Ein schnittiger Montagsmond beleuchtete das Küstenstädtchen. Auf dem hochsommerlichen Boulevard verwitterte in der Menschenmenge ein blumiger Duft, der mir vertraut vorkam. Am Ende der Gaststättenstraße löste sich ein Matrose aus dem Gewimmel und verschwand im Schatten der einsamen Altstadt. Als er mich bemerkte, blieb der Matrose stehen. Sein Hals schlängelte wie eine vom seichten Wind bewegte Luftballonleine. «Was willst du?» fragte er. – «Deinen Geruch kenne ich, aber woher?» – «Ich saß dir in der Straßenbahn gegenüber. Du hast mich spiegelverkehrt nachgeahmt.» – «Du gehst in Frauenkleidern aus?» fragte ich verblüfft. – «Dich habe ich für einen Typen gehalten», erwiderte er. «Erst, als du ausgestiegen bist, konnte man dich als Frau erkennen.» – «Weil ich dich nachgemacht habe», kicherte ich. «Deine Uniform steht dir. Warum verkleidest du dich?» wollte ich wissen. Das erzählte er mir in einer Kneipe. Der Matrose, namentlich Ache Fran, kündigte sich Tage später mit einer Postkarte an. Kurz darauf stand er mit zwei Koffern vor meiner Tür und wollte sich gleich umziehen. Zum engen Rock wählte Ache Fran eine russische Armeejacke. Als er mit dem Schminken fertig war, steckte er sich militärische Auszeichnungen an, turtelte mit seinem Spiegelbild und stöhnte: «Ich bin die Ordensschwester aus Moskau!» – «Dein Look gefällt mir, Ache», sagte ich im vollen Ernst. – «Gewöhne dir das Ache Fran ab. Sobald der letzte Lidstrich gezogen ist, gibt es nur noch Pippilotti Popoke.» Ache Fran kam, sooft es sein Ausgang zuließ. «Mit wem ziehst du es vor auszugehen. Mit mir oder mit Pippilotti Popoke?» fragte er. – «Egal. Man kann sich mit euch beiden sehen lassen.» Nach den Konzerten, Kinobesuchen und Discos legte sich Ache Fran zu mir ins Bett. Wir streichelten einander und erzählten bis tief in die Nacht. «Es macht nichts, wenn du einschläfst, während ich erzähle», gönnte mir Ache Fran den Schlaf. – «Es wäre schade um das Erzählte», sagte ich. Mein Einverständnis voraussetzend, brachte Ache Fran einen Mariner an. Sie krachten auf die Stühle und atmeten den erlebten Tag aus. Beide waren für den Strandabschnitt x eingeteilt. Während sie Streife liefen, pökelten im Salzwasser der Ostsee Frauenärsche. Knie, Kopf und Brüste buckelten die Wasseroberfläche. Beide riefen die Weiber zur Ausweiskontrolle heraus. Denn schließlich war man bei guter Sicht schon fast in Dänemark. Nachdem die beiden ihre
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Macht gebraucht hatten, brachten sie mit den Hübschen keine Verabredung zustande. Sie zogen sich auf eine Koppel zurück. Die Muhherde drückte sich heran, um die Frühstücksgäste zu beglotzen. Der andere Mariner ließ die Rinder an der Schießschiene schnuppern und warf sie einer Kuh um den Hals. Die jagte panisch davon, obwohl sie bewaffnet war. «He!» würden sich die Mitkasernierten amüsieren. Nach dem Frühstück wollten die Mariner das Gewehr zurück, doch die aufgerüstete Kuh rutschte ihnen ständig aus den Händen. Schweißtropfen auf der Stirn der Marinesoldaten verglitzerten zu Angstäuglein, der Zeitdruck tat ein Übriges. «Wir müssen den Stier abknallen.» – «Laß das den Besitzer mitkriegen, und die Armee schrimpst uns», warnte Ache Fran. – «Mit fehlendem Gewehr antreten, und uns passiert das Gleiche.» Atemlos fragte ich, wie die Geschichte ausgegangen war. Ache Fran zündete sich eine Zigarette an. «Du ziehst dich gar nicht um?» fragte ich. – «Nein. Ich bin hier, um dich zum Eulenschießen einzuladen», sagte er schlicht. – «Was?» Ich war irritiert. «Laß dich überraschen», schmunzelte er verkehrt herum. Wir steuerten die Disco Nord an. Die Mariner begrüßten, uns pfeifend. Sie losten aus, wer eine Frau aufzufordern hatte. Demjenigen suchte man die Häßlichste aus. Um das Eulenschießen zu gewinnen, mußte er drei Tanzrunden durchhalten, während die anderen das Pärchen mit unflätigsten Bemerkungen torpedierten. Das Mädchen versteckte ihr Weinen in der Schulter des Tänzers. Als sich der Gewinner an die Bar setzte, stieß ich ihn in die Rippen. «He, Arschloch. Du lädst deine Eule sofort zu dem gewonnenen Sekt ein und erfragst ihre Qualitäten.» Er drehte sich weg. «Steh auf?» kreischte ich. – «Hättest du sie nicht zu Hause lassen können?» fragte der Ermahnte Ache Fran. – «Wenn du dir einen Skandal ersparen willst, dann mach, was sie sagt», riet er ihm. Die Sommernacht verbrachten wir an der Steilküste. Neben Pippilotti Popoke kam ich mir verdammt spröde vor. Überraschend fanden wir zu einem Kuß zusammen. Als wir uns voneinander lösten, sagte sie: «Wie aufregend. Deine Zunge fühlt sich an wie die Spitze eines Degens, den ein preußischer Offizier verschluckt hat.» – «Wie bitte?» kam ich auf den verschluckten Degen zurück. «Dein Vorgänger von der Rinderhalbinsel hat sich nie beschwert.» – «Papperlapapp», erwiderte sie. «Der ist nur ein Mann, und Männer haben keine Ahnung.» Pippilotti Popoke zog mich in den Lotossitz. Ihre Schmetterlingswimpern spazierten über meinen Körper. Meine Fingernägel zogen Vierspurbahnen über ihren muskulösen Rücken, bis eine Wanderdüne uns an der Mole absetzte.
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Eines Tages sagte Pippilotti Popoke, nun küsse ich sensibel wie eine Frau. «Ach was?» schwellte mich Stolz. «Wirklich», sagte sie traurig. Und daß es das Ende unserer Liebesbeziehung bedeute. Sie wünsche sich die Zeiten zurück, als ich noch ein Haudegen in ihrer Matrosenjacke war. Ache Fran, mein großer Bruder mit dem tausendfachen Blinzeln einer Faschingsnacht, faßte in seine Hosentasche und zog das Maßband heraus. Drei übrige Zentimeter standen für seine letzten Tage bei der Marine. «Wir schreiben und besuchen uns», tröstete er mich. – «Verabschiede dich in drei Tagen», heulte ich. Das Sterben sollte kein Ende nehmen. Ich erfuhr, daß meine Großmutter in den letzten Zügen lag. Ein Schlaganfall hatte sie halbseitig gelähmt. Zur Trauerfeier sagte ich ab, weil ich sie lebend in Erinnerung behalten wollte. Meine Großmutter war die einzige, die mich wirklich zur Waise gemacht hat. Ich drückte Wasser aus einem Stein und hielt mein ausgewrungenes Herz in der Hand. Ache Fran und Pippilotti Popoke fehlten mir. Ich verzog mich in einen schwerelosen Raum. Meine Küche. Ich hatte schon Schwierigkeiten, mir mit Hilfe der Erdanziehungskraft Essen in den Mund zu schippen. Ohne sie schwebten die Happen in verschiedene Richtungen davon. Ich bekam sowieso nichts hinunter. Als ich das Fenster öffnete, flogen Vögel herein. Die Bande ließ sich auf dem Rücken mit gespreizten Flügeln in der Schwerelosigkeit treiben und öffnete die Schnäbel. Meine Essenreste bedienten sie wie fliegende Imbißbuden. Ich fragte mich, was die Vögel in meiner Küche zu suchen hatten. Immerhin konnten einige von ihnen lässig die Erdatmosphäre durchstoßen. Eine aus Chile angereiste Kondorfamilie klagte, daß ihr der Weltraum zu leer wäre. Sie zöge das Bunterlei aller Rassen vor. Man könne sich vergleichen. In der Hierarchie sei man mühelos der Höchste. Anderen Vögeln war das egal, Hauptsache, sie sparten den Eintritt. So nahm ich an, daß Vögel denken wie Menschen, die mit einem Spatzenhirn ausgestattet sind. «Raus!» forderte ich die Besucher auf und schloß das Fenster. «Ach, Ache Fran!» begann ich einen Brief. Ich schrieb nur von den Vögeln. Enttäuscht antwortete er, daß mein Unterbewußtsein nur ans Vögeln denke. Als Ache Fran hinterm Horizont meiner Sehnsucht verschwunden war, besuchte ich Erla Mia. «Morgen bewerbe ich mich persönlich im Gestüt», eröffnete ich ihr. – «Das ist ein Elitejob, du Spinner. Wie kannst du an eine Einstellung glauben?» tadelte sie. – «Meine Sturheit verträgt sich nur mit einem Nachbarn: dem Glauben ans Pferd. Du kannst mir also jetzt schon zu meinem neuen Beruf
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gratulieren», trat ich nach dem Dämon ihres Vorurteils. – «Du Illusionist», half sie diesem wieder auf. Damit war ich entlassen. «Warum gerade dieser Beruf?» leitete der Gestütsleiter das Bewerbungsgespräch ein. – «Für den Umgang mit Pferden würde ich meine Mutter verkaufen», antwortete ich. Weil er nicht ahnte, daß ich sie sogar zum Schlachtpreis verscherbelt hätte, handelte er nicht und sagte: «Ihr Typ gefällt mir. Sie hören von uns.»
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15. Kapitel
Die Luft flatterte mich in Richtung des Zuchtstalles. Ich folgte der Wegbiegung. Wind schnitt mir den Weg ab. Ich überstieg ihn, bis ich vor dem Gestütsleiter stand. Er händigte mir Geschirr und eine Kochplatte aus. Die zugewiesene Bauernstube war mit einem Waschbecken möbliert, drei Schritte über dem Hof ging es zur Latrine. Dahinter begann Regen. Aus diesem Unwetter peitschte der Bauer seine Hühner in die Geflügelschlafstube. Als er mich sah, verzog sich sein Mund zu einem halben Lächeln. Die andere Hälfte hatte der Bauer im Krieg verloren, wie ich später erfuhr. Seine murmeläugige Frau gesellte sich dazu. Sie sagte, daß mir jährlich zwei Sack LPG-Roggen zustehen. Den würden sie mir gerne zum Überpreis abkaufen. Ich wolle dafür nicht mehr bekommen, als ich ausgeben müsse, also nichts, erwiderte ich. Als ich von der Arbeit kam, stand ein Schälchen gezuckerter Erdbeeren mit Milch vor meiner Zimmertür. Ich aß auf, was die davonstürmende Katze übriggelassen hatte. Am Wochenende hatte ich die Stutenställe meiner Kolleginnen mitzubetreuen. Die Hengste versorgte der Meister. Kalaschnikow, ein rotbrauner Russe mit Raubtieraugen, biß und trat nach ihm. «Dir werde ich's zeigen.» Ybllegen holte der Meister eine Peitsche aus der Sattelkammer. Währenddessen öffnete ich die Boxentür, um Kalaschnikow vorsichtig ans Halfter zu nehmen. Seine weichen Nüstern beatmeten meine Schulter. Angespannt trippelte er neben mir her. Als ich hinter ihm das Weidegatter schloß, brüllte der Meister, ich hätte nicht eigenmächtig zu handeln, und stiefelte peitscheschnalzend davon. Abends trieb er die Pferde wieder in den Stall. Der Hengst weigerte sich. Weil aus Kalaschnikows Rennpferdarsch eiserne Hufe flogen, sagte ich: «Vielleicht stört es ihn, daß Sie ein Männchen sind.» An meiner Seite tänzelte das Dürersche Muskelspiel problemlos in die Box. Dieser Tango wiederholte sich auch am Sonntag. Der Gestütsleiter lud den Meister und mich zur Aussprache in sein Büro. Er regte an, mich zu Moin Orat in den Jährlingsstall zu versetzen, dann nahm er mich beiseite. Mehr könne er für mich nicht tun. Das Dorf bestehe aus zwei verschwägerten und zerstrittenen Familien. Die eigentliche Macht läge in den Händen der Sippen. Ich hätte es versäumt, mich auf eine der beiden Seiten zu schlagen. Moin Orat ließ mich sein Mißfallen nur bei Kleinigkeiten spüren. Als ich die Jährlinge von der Koppel trieb, sammelte ich nebenher Wiesenpilze in den Arbeitskittel. «So was ißt du?» fragte er. Den
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unbehandelten Rohkostsalat stopfte ich mir vor seinen Augen in die Gusche. Bald kursierte das Gerücht, daß ich mich an Pilzen berausche. Ich bekam eine Vorladung von der Stadtpolizei. Auch vor den Uniformierten manschte ich mir die unwirksame Droge in den Mund. «Na so was!» Sie ließen mich laufen. Montagmorgen steuerte mein Kollege Eskimono Mohanan seine Zugpferde ans Tor. Wir hoben die Mistmatten der Boxenpferde auf den Anhänger, desinfizierten die Buchten und streuten Stroh. Für die letzten Fuhren begleitete ich ihn. Eskimono Mohanan erzählte, er und seine Familie seien die einzigen Gläubigen im Dorf. Er redete unaufhörlich. Doch auch die Worte seines Gegenübers bedeuteten ihm viel. Benutzte ich welche, zerlegte er sie etymologisch. Darüber erfuhr ich, was ich so daherredete. Er neugierte, wie ich das Wochenende verbracht hätte. «Mit einer Küstenfreundin habe ich chinesisch gekocht», antwortete ich. – «Statt mit Stäbchen zu spielen, solltest du dich bei uns an Thüringer Klößen satt essen», sagte er und sprach eine unwiderrufliche Einladung aus. Nach der Bibelstunde am Mittwoch zog mich Eskimono Mohanans Tochter in ihr Zimmer. Musealer Nippes paradierte im Glasschränkchen. Der Gong einer Standuhr ließ mich zum Erbstück ihrer Großmutter aufblicken. Zwei Goldfinger wischten über das Zifferblatt. «Heiratet ihr nur untereinander?» fragte ich. – «Meine Eltern streben es an. Sie betrachten mit Kummer, daß ich in Harf Kurfkas Bruder verliebt bin. Du mußt dich vor den Leuten in acht nehmen», wechselte sie das Thema. «Yble Gerüchte sind im Umlauf. Seit du da bist, lassen sie meinen Vater in Ruhe. Den Dorfleuten muß man sich offenbaren. Am besten mit Nebensächlichkeiten. Sie dulden keinen, von dem man nichts weiß», warnte sie mich zum Abschied. Schon schönte Herbst den Laubwald mit dem Gelbrot entsafteter Blätter. Wir sattelten die Pferde zum Geländeritt. Meine Falbine stolperte und rollte über den Rücken ab. Ich sprang ab, um von ihr nicht untergepflügt zu werden. Noch während sie sich aufrappelte, stieg ich wieder auf. Der Tetenreiter maßregelte, ich dürfe erst aufsitzen, wenn das Pferd stünde, dann wies er mich an, das Tier in den Stall zu reiten. Ich galoppierte verträumte Umwege. Über Wassergräben setzend, verlor die Falbine verquirltes Silber aus ihren Hinterhufen. Wir stürmten über das offene Stoppelfeld. Hinter uns schlugen Winde mit ihren Watteköpfen zusammen. Die Stute nahm ein Schaumbad in ihrem eigenen Schweiß. Ich zügelte sie in den Schritt und löste den Sattelgurt. Bis wir den Stall erreicht hatten, war die Anstrengung aus unseren Körpern verdampft.
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Die Falbine wurde mir entzogen. Ich hatte die Wahl, das Reiten ganz zu lassen oder die Schwarzine zu übernehmen. Ihr durchgehendes Temperament ließ sich angeblich nur mit einer Fahrradkette zügeln. Auf das Mittagessen verzichtend, trenste ich die Fahrradkette aus und setzte ein geschmeidiges Gebiß ein. Dann ritt ich die Schwarzine auf den Feldweg. Gedankenverloren parierte ich den Zügel. Sie brannte durch. Ich preßte mich an den Pferdehals, damit der Türbalken mir nicht den Kopf abschlug. Nun schwankte der Dorfklatsch zwischen Achtung für meinen Mut und Geißelung meiner Verantwortungslosigkeit. Ich mußte einen Vertrag unterschreiben, daß ich für jeglichen Schaden, den das Pferd durch meine Extravaganzen nehme, haften werde. Nach der Freitagsschicht hängte ich meine rüchigen Arbeitssachen an den Flurhaken, zog mich um und trampte mal eben nach Berlin. «Wo warst du?» fragte mich das Rentnerehepaar, bei dem ich zur Untermiete wohnte. «Die Gestütsleute haben den Wald mit Stöcken durchkämmt, weil du deine Zimmertür offengelassen hast.» Achtlos überging die Kälte meinen Bauhausgeschmack. Sie schnitt ein kitschiges Blumenmuster ins Fensterglas, während ich mit Handschuhen in der Hängematte lag und las. Eine Schüssel war noch halb mit Waschwasser gefüllt. Vier Minusgrade brachen das Gefrorene in zwei Teile. Eine Maus lief darauf Schlittschuh, als der Postbote klopfte. Ich quittierte den Empfang eines Telegramms. Onan Bändiger und seine Menschenmenge hatten über Erla Mia meine Adresse in Erfahrung gebracht. Jetzt meldeten sie ihren Besuch an. Ich knitterte die Kurzlektüre in den Umschlag zurück. Im Wechselschritt hüpfte ich zu der adventistischen Gottesanbeterfamilie und borgte für eine Woche Kohlen. «Sind deine Besucher auch solche Hippies wie du?» fragte Eskimono Mohanan. – «Schlimmer», antwortete ich opernarisch. Den Küstenstädtern lauerte ich schon in der Tür mit einer Umarmung auf. Ich zog sie in den Wärmeradius meiner angeschlagenen Teekanne und zündete festival eine Kerze. «Erzählt», bekniete ich sie. Um auch was verstehen zu können, preßten die Dörfler ihre Gesichter an der Fensterscheibe zu Flachreliefs. Erst als ich das Fenster aufstieß, um den maximal verdichteten Zigarettenrauch ziehen zu lassen, huschten sie davon. Nach Feierabend führte ich meine Besucher über das Feldlaken durch die Waldbürste zum Eisspiegel des Sees. «Wunderbar hier», staunten sie. – «Diese Naturschönheit schaue ich erst wieder durch eure Augen», sagte ich. Nach drei Tagen setzte Tauwetter ein. «Weil ich geheizt habe.» Traurig entließ ich das Küstenkonglomerat in eine andere Welt, denn von ihrer war ich nicht mehr.
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Als ich nach einem langen Tag von der Pferdepflege ausgehungert meine Stube betrat, nahm ich gleich das Brot vom Fensterbrett. Es war ausgehöhlt worden. Sicherlich von den gleichen Zwergen, die ihre Nagezähne durch die Butter gezogen hatten. Aus meinem Augenwinkel sprang eine Maus und machte sich wichtig. Sich den Hals mit der Hinterpfote kämmend, sah sie zu, wie ich aus einer zierlichen Astgabel einen Katschie baute. Damit schoß ich eine Speiseerbse ab. Pfiffig verschwand die Maus durch das Loch in der Rückwand meines Radios. Ich schaltete es ein, um die Faxenmacherin bei zweihundertzwanzig Volt verglühen zu lassen. Für den Stromschlag unerreichbar, saß sie auf einem Relais und putzte sich. Entnervt rüttelte ich das Gerät. Alle Teile lockerten sich, bis sie abfielen. Dazwischen flegelte die Maus. Um sie besoffen zu machen, wirbelte ich das Radio am Stromkabel herum. Danach schraubte ich die Rückwand ab. Im Elektroschrott war sie nicht mehr zu finden. Ich legte mich schlafen. In der stocken Dunkelheit sensibelte ich, wie sich Mäusebataillone durch Lehmwände bissen. Traumwandelnd fragte ich das Rentnerpaar, ob es mir ihre Katze leihe. Die folgenden Nächte verbrachte ich auf dem Heuboden. Als ich in der dritten die Tür aufschloß, sprang mich ein hohlwangig gewordenes Miau an und stürzte ins Freie. So stellte ich Fallen auf. Bis zum frühen Morgen entsorgte ich gebrochene Genicke. Als ich von der Arbeit heimkehrte, war die Falle wieder zugeschnappt ... aber leer. Daneben lag eine zarte Maus ... tot ... Sie hatte die Scherben ihres überängstlichen Herzens ausgekotzt. Das alte Ehepaar brauchte seine Fallen zurück. Alternativ füllte ich einen Eimer halb mit Wasser und stellte ein Brett an. Am Ende dieses Laufsteges lag eine Gabel, auf deren Zinken ein Kubikzentimeter Speck spießte. Geplansche weckte mich jedesmal aus dem Nachtschlaf. Als sie mich mit den Schwänzen der Zappelphilippe in der Hand sah, faßte die Katze wieder Vertrauen zu mir. Eines Nachts glitzerte im aufflammenden Lampenlicht die Krone der Mäusekönigin. Für sich und ihr Volk bettelte sie um Erbarmen. Ihren herbeieilenden Ministern zeigte ich die Spuren einer Mäuseallergie, die meinen ganzen Körper in purpurnen Fortpflanzungen pickelte. Wir verhandelten die Ausreisebedingungen, dann öffnete ich das Fenster. Der Flüchtlingszug besiedelte die Vorfrühlingssteppen ausgedehnter Pferdeweiden. Als ich am Morgen meine Wattejacke anzog, mußte ich einen Trottel aus der Tasche werfen, der den Exodus verschlafen hatte. Trunken galoppierte er in eine Richtung davon, die wir nicht ausgehandelt hatten. Auf dem Vorflur zu meinem Zimmer stand die geschminkte, blondierte und duttierte Ehefrau des Meisters. Mantelknöpfe preßten
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ihren aufwendig gepolsterten Atemapparat ein. Sie pfiff einen parfümierten Abendgruß. Nachdem sie fort war, klopfte das Rentnerehepaar an. Die Bäuerin erklärte, die Meistersfrau sei nur gekommen, um meine rüchigen Arbeitssachen zu inspizieren. Bergsteigende Temperaturen begannen den Winter auszumärzen. Stuten weiteten ihre Mösen und warfen Fohlen in den Mist. Als der Tierarzt die Neuankömmlinge untersuchte, wollte er die Jährlinge gleich mitimpfen. Mit dem Meister zusammen trieb er den ersten Jährling in die Stallecke. Das brutale Meisterlein drehte ihm den Schweif um. Schwanzwirbelknochen knackten, während der Arzt dem Jährling eine Spritze in den Hals rammte. Ich suchte den nächsten heraus, berührte den Punkt neben der Lunge, akupressierte einen entsprechenden auf dem Hinterteil und hielt ihn ohne Kraftaufwand dazwischen gefangen. Ruhig ertrug er den Einstich der Nadel. Inzwischen trieb der Meister den nächsten in die Ecke. Der Tierarzt deutete an, daß ich ihm als Assistentin genüge. Ich griente den Meister an. Der Ausgegrinste empfahl mir, gelegentlich die dreckigen Klamotten zu wechseln. «In welche?» fragte ich. «Die mir zustehenden haben Sie mir nie ausgehändigt.» – «Guck dir deine zerlatschten Schuhe an, dann weißt du, warum man dir keine neuen anvertrauen kann.» Ich guckte an mir herab: Die Schuhe waren dermaßen herunter, daß darin ein Trecker hätte wenden können. Der Meister bestieg einen, wendete in meinen Schuhen und verschwand. Er schaute wieder herein, um eine Delegation von der Berliner Trabrennbahn anzukündigen. Dann händigte mir der Meister bügelfaltige Kammgarnkleidung aus. Ich schnupperte daran und verlor die Illusion, daß Pferde diesem Geruch vertrauen würden. Am nächsten Morgen erschien ich in den gewohnten Sachen. Die Delegation traf ein. Für diesen Tag gab mir der Meister hartnäckig frei. Keine Zeit verschwendend, trampte ich ins Küstenstädtchen. Dort suchte ich Erla Mia auf. Sie erzählte, daß sie als Reiseleiterin in der Tschechei unterwegs gewesen war, und stellte mir ihren heiratswilligen Iren vor. «Aus der Reisegruppe?» fragte ich. Meine einzige Unterhaltung war, das Licht auf Kerzenschein herunterzudrehen und den auf dem Sofa Umschlungenen die Sehnsucht von den Gesichtern abzulesen. Das war nicht schwer, obwohl ich nur mit Gaszählern Erfahrung hatte. Ich entdeckte Parallelen, als unter Erla Mias halbgeschlossenen Lidern unzählige Pupillen abrollten. Als ich zurück war, hatte der Gestütsleiter eine neue Kollegin eingestellt. Wie erwünscht, rannte sie alle Haushalte ein und ließ sich gebrauchte Möbel zu überhöhten Freundschaftspreisen andrehen. Sie verbrachte ihre freien Tage auf den Festen der miteinander
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verschwägerten und verfeindeten Familien. Ihre Kontaktfreude riß mich in Gespräche mit den trinkfesten Kollegen. Nach drei Wochen beehrte sie der Sohn des Meisters mit einem Verlobungsantrag. Die Kollegin nahm ihn an. Damit schien der Dorffriede geboren zu sein. Das Heu war ausgegangen. Ich ging zum Stall der neuen Kollegin, um frisches zu holen. An der Tränke schlürfte eine Mutterstute. Die Kollegin stand daneben und hielt dem Fohlen ihre ausgepackte Titte hin. Es schutschte, dann stieß das Fohlen fordernd mit dem Maul nach. Befremdet verließ ich die Szenerie. In der Mittagspause schlug der Meister ihr den kräftigsten Deckhengst vor, damit die Kollegin in neun Monaten ein eigenes Fohlen nähren könne. Es mußte sie also noch jemand beobachtet haben, der es den anderen getratscht hatte. Die Kollegin hielt die Peinlichkeit nicht aus. Sie kündigte. Die Zeit sollte ihr recht geben. Noch im Jahr darauf ließ es sich gestütsfremden Besuchern als mitreißende Story erzählen. Der Arbeit für drei Tage nicht verpflichtet, trampte ich wieder ins Küstenstädtchen, besuchte Freunde und ließ unter keinen Umständen Erla Mia aus. Ihr ging es schlecht. Nachdem Kappa Dok, ihr irischer Ihriger, brieflich mitgeteilt hatte, daß er von der DDR keine neue Einreiseerlaubnis bekomme, hatte sie abtreiben lassen. Ununterbrochen hörte ich Kappa Doks verbliebene Schallplatten, schleppte mein Standgerät heran und überspielte sie. Nachdem mein Interesse gestillt war, versuchte ich, den Liebeskummerzombie zu trösten. Als ich Erla Mia zum Abschied umarmen wollte, ging sie durch mich hindurch und hielt mir die Wohnungstür auf. Verblüfft stand ich da. Statt Erla Mias hielten meine Hände nur mich an den Schultern fest. Bei den damaligen Wetterfestspielen unterlag der Winter. Er verlagerte seinen Heimvorteil auf die russische Tundra. Deutscher Frühling wanderte bis vor meine Haustür, frisches Grün wuchs den Pferden direkt ins Maul. Bis zur Rente blieb dem Gestütsleiter noch ein halbes Jahr Zeit. Er stellte uns einen Universitätsabgänger vor, der zukünftig den Betrieb leiten würde. Dessen Aura kollidierte mit meiner. Ich verdrängte es und lächelte dem Widerwart willkommen zu. Moin Orat brachte einen Plastebeutel für Pferdehaarproben, die im Labor auf Krankheiten untersucht werden sollten. Dann scherte er den Tieren waschlappengroße Flächen aus der Halsgegend. Meinen Schützlingen rasierte ich Verse von Rimbaud aus dem Fell und schickte die Gedichtsammlung auf die Koppel. «Wer war das?» trat der zukünftige Gestütsleiter sein Amt als Stellvertreter an. Er versprach mir ein Disziplinarverfahren. Ich argumentierte, daß Besucher meinen Pferden mehr Unterhaltung abgewinnen könnten
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als den Geierhälsen der Kollegenpferde. Der Wortwechsel amüsierte den alten Gestütsleiter. Er wiegelte das Disziplinarverfahren ab. Es wurde Zeit, die herangewachsenen Fohlen zu brechen. Auf dem Hof kämpften die Dompteure mit ihren schulterhohen Kleinpferden. Die Widerspenstigsten suchte ich für mich heraus. Mit ausgiebigem Streicheln beruhigte ich sie. Dann punktete ich zwei Finger in Brust und Hinterlauf, bis jeder von ihnen stand. Vorsichtig schob ich sie an. Sie folgten meiner Möhre. Am nächsten Tag ließ ich sie weg. Ich schlug den Kollegen mein Akupressurverfahren vor, in der Hoffnung, den Begriff «Fohlenbrechen» ein für alle Mal auszubürgern. Sie blieben bei ihren prügelnden Methoden. Fohlenbrechen war ein Abenteuer, das nur einmal im Jahr erlaubt war. Über das gab es viel zu reden. Unser Dorf, in dem ansonsten nichts los war, blieb diszipliniert ein Dorf, in dem ansonsten nichts los war. Als ich Erla Mia besuchte, platzte mein Mund auf. «Über das bulgarische Rilagebirge werde ich in den Westen flüchten.» Ob ich denn im Ernst glaubte, das Leben sei dort leichter. «Weniger eintönig», vermutete ich. Dann fuhr ich fort: «Von Westdeutschland aus geht's ab nach Indien. Die Tropenhitze sorgt für mein Nachtlager. Essen pflücke ich von den Bäumen.» – «In deinem Schlaraffenland verhungern Menschen zu Tausenden. Fallen dir solche Zeitungsartikel nicht auf?» plapperte Erla Mia Gemeinplätze. Ich konterte: «Sie verhungern, weil sie arme Inder sind. Doch ich wandere als sozialhilfebegüterte Schlaraffe ein. Dieser Siebzehnmillionenkäfig, in den unsere Regierung zu Weihnachten Orangen wirft, interessiert mich nicht. Das ist eine Freßfalle für Sicherheitsbedürftige wie dich. Auf den Wogen der Ungewißheit werde ich die Welt umsegeln und deinen Sesselfrieden mit schriftlichen Reiseerlebnissen zertrümmern.» Um Erla Mia nicht noch mehr zu beleidigen, wechselte ich das Thema. «Haben sich deine Heiratsaussichten mit dem Iren verbessert?» Sie war zu einem Treffen eingeladen worden, das die Staatssicherheit initiiert hatte. Den Gastraum teilte eine Glaswand. Dahinter hatte Kappa Dok schon Platz genommen. Während die beiden sich über Telefonhörer gegenseitig ihre Liebe versicherten, platzte über das Mikrophon ein Staatssicherheitsoffizier herein. Der berichtete dem streng katholischen Kappa Dok, an welchem Tag, um welche Uhrzeit Erla Mia sich von welchem Vorstandsmitglied eines Fußballverbandes beschlafen ließ. «Und? Stimmt's?» fragte ich. – «Auf die Minute genau», sagte sie. Kappa Doks Eifersucht sollte brieflich folgen. In den Telephonhörer des Gastraumes sprach er lediglich, daß ihn nichts davon abbringen werde, Erla Mia zu ehelichen. «Was hält
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dich hier?» fragte ich. – «Wurzeln, Freunde, die Zukunft meiner Kinder, ein sicheres Arbeitsverhältnis», sagte sie bestimmt. – «Ein beklopptes Fazit, wenn man so eine Sauerei durchhat», urteilte ich mit einundzwanzigjähriger Lebensweisheit -heit, -heit und heitete heiter weiter, um Freunde zu besuchen. Aus Berlin schickte die Trabrennbahn einen Pflegefall. Eine Gelenkpuppe aus Knochen und Sehnen, mit einem struppigen Fell bespannt. Seit das Schaf gestorben war, mit dem sie sich die Box geteilt hatte, nahm Benita kein Fressen an. «Die gibt ja nicht mal eine kräftige Brühe ab», schätzte der Meister das Pferd ein und überließ es mir. «Mähhh!» gurrte ich, wenn ich Hafer in ihre Krippe schüttete. Nachdem ich einige Nächte neben ihr geschlafen hatte, begann Benita zu kauen. Das brüllende Rot der Herbstblätter verblaßte zum altersfleckigen Braun, darin gravierte der Tod seine Botschaft. Wind riß die Flugblätter von den Bäumen, ungelesen segelten sie zu Boden. Mit meiner Schwarzine patrouillierte ich die Sonntagslandschaft, während Benita am langen Zügel hinterhertrabte. Der breite Feldweg sonnte sich im Flachland wie eine träge Anakonda. Ich galoppierte an einer Gruppe Spaziergänger vorbei. Als ich mich Kilometer später nach ihnen umdrehte, waren die Fußgänger von der trägen Anakonda schon zu kleinen Klümpchen verdaut. Ich dachte darüber nach, dem Schlingfraß ein ganzes Pferd zu schenken, denn Benita, inzwischen voll ausgerundet, sollte auf die Rennbahn zurück. Seufzend nahm ich den Führzügel wieder auf, changierte zum sattellosen Pferd und ritt die beiden zum Gestüt zurück. Bevor der Gestütsleiter mit einem Betriebsfest seinen Ausstand gab, rief er mich zu sich. «Mein junger Nachfolger haßt Sie.» Gütig nahm er meine Hände in seine. Auch mir war nicht entgangen, daß mich der Neue verfolgte wie eine Fliege, die einem ständig um die Nase kriecht und nach der man so lange schlägt, bis man sich selbst erschlagen hatte. Die Belegschaft hüllte sich in Abendkleider und Nadelstreifenanzüge. Die Feier war eröffnet. Zwei Kollegen nahmen mit Geldprämien bestückte Urkunden für hervorragende Arbeitsleistungen in Empfang. Durchgereichte Schnapsflaschen lösten alte Feindschaften auf. Sie verursachten sabbernde Umarmungen und zügelloses Schulterklopfen. Der Sohn des Meisters setzte sich zu mir. Er goß ein, was ich ansonsten nie trank. Ich trank, weil uns alle gespannt zuschauten. Den Meistersohn beeindruckte, daß alle Dorfburschen bei mir bisher auf Granit gebissen hatten. So blieb es ihm vorbehalten, mich zu knacken. Er drückte seinen sinnlichen Mund auf die puritanischen Schmalspuren meiner Lippen, wendete
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mit seiner Zunge meine um und forderte mich zum Tanz auf. «Vollenden wir die Show», war ich einverstanden. Vollgepumpt mit Promillen, ruderten mich meine Füße an ihm vorbei zur Toilette. Besorgt klopfte es an der Tür. Mein entleerter Magen riß sich zusammen. Im Spiegel kontrollierte ich das eingefallene Gesicht, liftete es mit Fingern, dann schloß ich die Tür auf. Meisterlich dienerte mich der Sohn zum Tisch. Ich lümmelte ihn beiseite, legte Eiswürfel auf die Augenlider und lehnte mich nach hinten. Meine arktischen Klötzer schossen nach vorne, als neben mir Stuhl und Tisch umfielen. Mein Verehrer kämpfte doch tatsächlich seinen sechzigjährigen Kollegen zu Boden. Diesem warf er vor, daß Auszeichnung und Geldprämie den Falschen getroffen hätten. Heuer wäre er dran gewesen. Kollegen brachten die beiden auseinander. Ich stützte mich hoch, um einen Abgang zu machen. Die Kollegen wollten mich nach Hause bringen. Trunken lehnte ich ab. Nur der Sohn des Meisters blieb hartnäckig. Wo der Lichtkegel der einzigen Dorfstraßenlaterne endete, ragte Nachtschwarz auf. Mühsam erkletterte ich diese Steilwand, hängte den Sohn des Meisters ab und fiel angezogen in die Hängematte. Germania stand kurz vor dem Abfohlen. Eskimono Mohanan sah alle zwanzig Minuten nach ihr. Behutsam half er dem Fohlen auf die Welt. Dann ging er ins Büro, drehte demütig seine Adventistenkappe in den Händen und fragte den neuen Gestütsleiter, ob man es nicht nach seiner ältesten Tochter Gerlinde benennen könne. Sie habe am gleichen Tag Geburtstag. Der Neue gab zu bedenken, daß wir Rennpferde züchten. Schnittige Namen seien gefragt. Eine altmodische Gerlinde würde dem Wettpublikum wohl kaum einheizen. Eskimono Mohanan badete in den Tränen seiner Wut und verließ das Büro. Die Dörfler waren vom Schneid des sanftmütigen Adventisten überrascht. Als das letzte Fohlen geboren war, beantragten alle für das Germaniafohlen den Namen Gerlinde. Der Nachtwächter meldete zwei Pferde in verwechselten Boxen. Anlaß für den Neuen, mich ins Büro zu bestellen. «Deine Beurteilung wird beinhalten, daß du nicht selbständig arbeiten kannst», schmierte die Ölfrucht eines Lächelns seine Mundwinkel. – «Du bist bekloppt», sprach meine Zunge aus, bevor ich es denken konnte. – «Schade, daß wir soeben keinen Zeugen hatten. Verschwinde.» Ich knallte die Tür. Der Meister sprach mich auf die vertauschten Pferde an. «Was ist schlimm daran?» fragte ich. – «Daß DU sie verwechselt hast», rief er mir nach. – «Was hast du?» sorgte sich Moin Orat. – «Der neue Direktor ist ein Arschloch und der Meister genau ein Loch weiter», brüllte ich. – «Nicht so laut», bremste er mich.
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Zu Wochenbeginn kam die Frau des neuen Gestütsleiters in den Aufenthaltsraum, weil sie eine DFD-Gruppe gründen wollte. Einen Frauenverband, der in Zukunft das Dorf mit Blumenbeeten verschönert, ausgedienten Kinderpullovern in der Dritten Welt ein neues Zuhause gibt, Kaffeekränzchen nicht ausgeschlossen, und was sonst noch für die Stärkung des Sozialismus nötig ist. Alle machten sich darüber lustig und traten ein. Ich machte mich darüber lustig und trat nicht ein. «Von der sind wir Extrawürste gewohnt.» – «Kein Wunder, wenn sie keiner mag.» – «Bißchen Entgegenkommen kann man ja wohl erwarten», ließ sich der kollektive Ärger an mir aus. Der Neue rief mich wieder ins Büro. «Was willst du?» fragte ich herrisch. Er lehnte sich zurück und betrachtete seine Nägel. Mit der Feile hob er einen Dreckspan ab, dann ließ er den Ringel fallen. «Hast du dir inzwischen überlegt, dem DFD beizutreten?» Ich fragte: «Soll ich dir mein Nein noch einmal aufbügeln?» Genüßlich sagte er: «Wir werden dich aus dem Reitverein ausschließen.» – «Ich trete auch aus der FDJ aus», verhaspelte ich mich in meiner Wut. In der Mittagspause ritt ich die Schwarzine aus. Auf dem heranwachsenden Wiesenbunt tanzten Nonnen in Hellblau: die hiesigen Schmetterlinge. Ich klopfte der Schwarzine den Hals. «Vielleicht ist das unser letzter Ritt.» Unbeeindruckt trabte sie weiter und so fort. «Du hast dir ein Disziplinarverfahren eingehandelt», empfing mich der Neue im Stall. – «Kann nicht sein. Erst, wenn ich es schriftlich habe, betrachte ich mich als aus dem Reitverein ausgeschlossen.» – «Aber sofort», sagte er beherrscht und begab sich ins Büro. Im Küstenstädtchen angelangt, erzählte ich Erla Mia von der Beschneidung. «Du und beschnitten?» rief sie erstaunt. – «Diese Schweine», puffte Wut durch das Abgasrohr meines Mundes. «Sie haben mir die Betreuung der Pferde entzogen und mich in die Agrarbrigade versetzt: um Hänger zu entrosten. Mich sozusagen beschnitten.» – «Und nun?» fragte Erla Mia. Wie ein Wäschestück hing ich über der Lehne des Küchenstuhls und wußte es selbst nicht. Die ausgeleierten Enden seines Herzmundes kitzelten die Ohren des Neuen, als er meine Kündigung entgegennahm. «Ich verkaufe!» schlug ich ein Papier am Dorfkonsum an. Alle Kollegen fanden sich ein. Die meisten, um zu sehen, wie ich gehaust hatte. Harf Kurfka schulterte den Kühlschrank, den Eskimo Mohanan nicht zurückhaben wollte. Das alte Ehepaar leistete sich einen Weinkrug von der Rente. Eine Kollegin tauschte Pferdeplakate gegen mein Wildschweinfell. Die Sekretärin rechnete meinen Lohn nach der alten Tabelle aus, obwohl der Neue sie angewiesen hatte, mich wie einen Hilfsarbeiter zu bezahlen.
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Eskimono Mohanan bat mich in sein Haus. Ich nahm Platz und äste einen Apfel vom Tisch, bevor der Hauptgang aufgetragen wurde. «Tut es dir leid?» fragte er. – «Eigentlich nur um die Schwarzine.» In sentimentalen Satzkarawanen bedauerte ich, man werde ihr wieder die Fahrradkette durch die empfindlichen Lefzen ziehen. Ihre Fellhaare würden sich entlang von Peitschenhieben aufstellen, wenn jemand anderer als er, Eskimono Mohanan, den Mist aus den Ställen fahre. Die Jahreszeiten werde sie nur noch auf der Asphaltstraße erleben. Mit aufgeschnalltem Rucksack trat ich in den Morgen. Auf dem Feldweg fiel die Schwarzine in einen schmucken Galopp. Mein Rückenmöbel sprang auf und ab. Die Sonne kroch auf den Zenit zu und grillte den Sommerwind. Kurz vor der Stadt stieg ich ab. Ich verscheuchte die Schwarzine, mich darauf verlassend, daß Pferde den Rückweg alleine finden.
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16. Kapitel
Im Küstenstädtchen schloß ich die Tür meines Dachzimmers auf und öffnete alle Fenster. Die abgestandene Luft entwich. Unten auf der Straße zückten Fußgänger ihre Taschentücher, versenkten ihre Nasen darin und bogen um rettende Ecken. Ich folgte ihnen ein Stück, um bei der Polizei ein Bulgarienvisum zu beantragen. Danach kaufte ich mittels Erla Mias sportgeschäftlicher Beziehungen einen Daunenschlafsack. Im Gegenzug wählte sie altertümliche Kleinmöbel aus meinem Besitz aus. Ich fragte, ob sie mir helfen würde, den Rest zu verscheuern. Endlich fragte Erla Mia nach dem Warum. «Ich flüchte über das Rilagebirge in den Westen, wie angekündigt.» – «Darüber sollten wir uns morgen in Ruhe unterhalten.» Sie lud mich zu sich nach Hause. Als ich zur Bushaltestelle ging, begann es zu regnen. Leute spannten Schirme auf, im Nu verpilzte die Straße. Der Bus wischte die Wartenden auf. Mich spuckte er vor Erla Mias Haustür wieder aus. Sie zündete Wachskerzen. Dann legte sie die leichtverdauliche Musikempfehlung ihrer Lehrerkollegin auf den Plattenteller und goß Rotwein in die Gläser. Ich erzählte, daß ich viel Zeit im Wald verbringe. Dort ernähre ich mich von Sauerampfer, Fladen aus geschroteter Birkenrinde und selbstgespeerten Fischen. Nebenher lobte ich Erla Mias luxuriöses Essen. Sie zeigte mir einen Bildband über die Swamps in der Umgebung von New Orleans. Für den beigelegten Brief ihres amerikanischen Freundes war sie zur Stasi vorgeladen worden. Erla Mia fragte, ob noch jemand von meinem Fluchtvorhaben wisse. «Bist du wahnsinnig? Wenn ich auffliege, wüßte ich nicht, wer gequatscht hat», sagte ich. – «Ist auch besser so. Falls du es schaffst, schick mir eine Ansichtskarte aus Pompeji.» Neuerlich ging ich zur Polizei. Der Diensthabende sattelte seine Brille auf der Nase zurecht und lehnte meinen Visumsantrag ab. Fassungslos verlangte ich eine Begründung. «Ich habe Ihnen nichts zu erklären», wimmelte er mich ab. Ich taumelte hinaus. Bitterer Schweiß rauschte meinen Rücken hinab. Im Straßenwind verdampfte er, das verbliebene Rinnsal versalzte. Lethargiegedopt fiel ich aufs Bett. Das Tageslicht sprang aus, doch der Nachtschlaf wollte sich nicht einstellen. Meine Phantasie ist ein Scheißdreck gegen die Realität. Sie war zu schwach, mir auszumalen, daß Erla Mia mich verpfiffen haben könnte. Im Radio verglich ein Schlagersänger die vom Hochsommer blondierten Weizenfelder mit goldenen Haarzöpfen, als es klopfte.
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Ich paddelte mein Matratzenfloß durch den Korridor und öffnete. Mein Vater wunderte sich, mich anzutreffen. Bei dieser Gelegenheit erfuhr er, daß mich das Gestüt entlassen hatte. Er warnte mich: Nachbarn hätten ihn auf der Treppe angesprochen. Ich sollte mich um Arbeit kümmern, ehe es zur Anzeige komme. In der Schwimmhalle stellte man mich befristet ein. Ich lieh Badekappen an Schlafmützen aus, stellte die Duschen mit dem Schraubenschlüssel an, half den Kleinen nach dem Schwimmunterricht in die Klamotten und wischte schwappende Fußspuren auf. Danach saß ich mit meiner häkelnden Kollegin bei Kräutertee im Aufenthaltsraum. Was sie dahererzählte, wurde von Tag zu Tag unwesentlicher. Ich hätte mir eine Fernbedienung gewünscht, um ihr Gequatsche abzustellen. Andererseits tat sie mir leid. Bestimmt war sie in ihrem vorigen Leben ein Radio, das man ständig ausgeschaltet hatte. Nun gut. Damit mein Schweigen nicht Löcher in das Miteinander riß, antwortete ich auf ihre Fragen. Dann holte ich sie aus. Sie antwortete, ihre Kinder seien erwachsen, der Mann verstorben und sie in der Schwimmhalle wenigstens unter Leuten. «Wollen Sie noch mal heiraten?» fragte ich, berührt vom Alleinsein der Frau. – «0 nein!» schrie sie auf. Vierzig durchgelegene Ehejahre hätten gereicht. Ihr prügelnder Mann habe ganz recht daran getan zu sterben. Nun sei sie noch vor ihrem Tod zur Ruhe gekommen, und das solle lange so bleiben. «Erla Mia», brüllte ich sie am Wochenende an und erzählte im selben Ton, was ich erlebt hatte ... mich in den Maschen pilgernder Straßenmissionare verfangen. «Eine Atheistin», hatten sie auf ihrem Fragebogen angekreuzt, dann nahmen sie mich mit ins evangelische Hauptquartier. «Das sind ja bekehrte Ansichten, die du von dir gibst», schlußfolgerte Erla Mia. – «Ist doch 'ne Alternative zum Mono-Ton unseres sozialistischen Alltags», erklärte ich. – «Wenn das so ist, solltest du bleiben. Mein Seelsorger muß gleich kommen.» – «Ungewöhnlicher Besuch für eine Pionierleiterin», sagte ich. – «Das darf in der Schule auch niemand wissen.» Ich freute mich auf den Seelsorger, weil ich wußte, daß Erla Mia menschliche Kuriositäten sammelte. Zunächst fiel mir an dem kirchlichen Seelenknacker nur auf, daß seine Wirbelsäule mit dem Nasenbein begann, seinen Kopf helmte, sich elegant in eine S-Kurve legte und als Arschhaken spurlos in der frischgebügelten Hose verschwand. Drum herum war die Knochenkette so fleischern verpackt, daß sie mit dem kugelrunden Sessel auf Kante abschloß. Ich brachte Tee. «Klatschmohn», sagte ich. Er fragte, ob das trinkbar sei. «'ne blutig schöne Farbe hat er», ließ ich ihn im Ungewissen. Er nahm mir den Tee ab und wendete meine
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blaßblauen Finger in seinen vorgewärmten Handtellern. Eine Menge Antworten erwartete er auf seine heißen Fragen. Beim grünen Tee wurde Erla Mia eins mit ihm. Sie vergaßen mich. Ihre neuerliche Abtreibung begründete sie damit, ihre Probleme nicht einem unschuldigen Säugling aufschweren zu wollen. Es wäre nicht sicher, ob sie Kappa Dok heiraten dürfe. Der Seelsorger verurteilte ihren Schritt aufs schärfste. Denn jeder, auch das Ungeborene, habe ein Recht zu leben. Und sie da? Erla Mia zeigte auf mich. «Wenn DAS letztendlich das Ergebnis ist ...» Ich riß die Augen auf. So ybl fand ich mich gar nicht. Wütend nahm ich die Verfolgung des Gesprächs auf. Der Seelsorger schien meine Spannung zu spüren und wählte seine nächsten Worte sehr genau aus. «Wenn sich Paare schon nicht vor der Ehe beherrschen können, sollten sie wenigstens verhüten.» Verkniffen schaute er mich an. Erla Mia stand auf, um den letzten Brief von Kappa Dok zu holen. Ich folgte ihr und zischelte, was sie an diesem Typ so anmache. «Er hat mir durch viele Krisen geholfen. Lerne ihn erst mal richtig kennen», zischte sie zurück. Beim Abschied lud mich der Seelsorger ein, ihn jederzeit zu besuchen. Ich sagte, daß er mir nicht erst tschüs sagen müsse, weil ich gleich mitkäme. Er wohnte windig an der Ostküste. Verheiratet war er mit einer selbstbewußten Frau. Die begründete ihre Blutarmut damit, daß sie ihm jedes Jahr ein Kind gebar. Nach dem vierten und letzten war nur noch ein halber Liter Blut übrig. Als Spende für die «Caritas», vermute ich mal. Ich bot dem Paar an, die Kinder auf Spazier mitzunehmen. Als ich zurückkam, erzählte ich von mitreißenden Meereswogen und beißfreudigem Strandwind, der nicht eher von einem abließ, bis man den aufgewirbelten Sand in seinen Schuhen nach Hause schleppte. Der Seelsorger krauste die Stirn. «Von Erla Mia habe ich schon gehört, daß du alles krankhaft auf dich beziehst. Das macht dir das Leben so schwer.» Ich schloß die Augen über das Rätsel, das mir seine Logik aufgab. Grußlos wetzte ich los, wetzte ab um die Galaxie meines Rennens, bis ich verbraucht in der Bahnhofskneipe ankam. Dort setzte ich mich zu Tisch. Meinen Kopf legte ich auf dem Unterarm ab. Das Pochen meiner Schläfen hämmerte ihn bis auf den Knochen platt. Die Kaderleiterin der Schwimmhalle bestellte mich zu sich und fragte, wie mir die Arbeit zusage. Sie habe nur Lobendes über mich gehört. «Geht so», sagte ich. Sie verwickelte mich in ein zweistündiges Gespräch. «Mit dieser Intelligenz passen Sie nicht hierher», konstatierte die Kaderleiterin. Sie schlug mir eine Arbeit im Fotolabor vor. Eigentlich habe sie den Job für ihre künftige Schwiegertochter besorgt, doch nun sei sie schwanger geworden. Ein
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Anruf genüge, dann sei der Job meiner. «Danke!» Ich riß ihre Hand von der Schreibtischplatte an meine Brust und rannte raus.
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17. Kapitel
Mit einem Empfehlungsschreiben der Kaderleiterin stellte ich mich im Colorlabor vor. Die Betriebsleiterin legte einen Fragebogen vor. Ich gab unterhaltsame Antworten, die sie beim Eintragen amtsgrau ankleidete. Ob ich vorbestraft sei, lugte sie zwischen ihren Augen durch. Als ich verneinte, blies sie erleichtert Spannung aus. Dann wurde ich meiner Brigadierin vorgestellt. Sie hatte Papierhände. Wir raschelten eine Begrüßung. Sämtliche Kolleginnen versuchten zu erfahren, wie ich an den Job gekommen war. Als die Weiber persönlich wurden, plauderte ich aus, was ich via Gerüchteküche über mich erfahren hatte. Doch das wußten sie schon alles. Sigrit Service, die Vorsprecherin der Frauenabteilung, ging einen Schritt weiter und sprach eine Einladung zu sich nach Hause aus. Sie gab mir ihre Telefonnummer. — «Entschuldige. Ich kann nicht telefonieren», lächelte ich. — «Wieso? An jeder Ecke gibt es Telefonzellen. Die zwanzig Pfennige spendiere ich.» Ich begann zu flüstern: «Versteh mal. Wenn ich anrufe, bekomme ich Gefühle.» Dann kam ich ihr ... rasend atmend ... näher, um sie mit Augen, Irrsinn am Stiel, zu durchbohren. «Ich bin ein latenter Telefonkiller.» Die Schürze der Bedrängten wurde von den Rollen der Hochglanzpresse erfaßt. Bevor Sigrit Service selbst zwischen die Backen der Maschine geriet, half ich ihr aus dem Arbeitskittel. Der wurde mit einigen Hochglanzfotos durchgemangelt. «Zeig diesen Stoffrest allen, die mehr erfahren wollen, als ich mitteilen kann», sagte ich und behielt ihre Telefonnummer als Geisel. Meine Augen bildeten sich zurück. Sie bekamen einen natürlichen Glanz und drückten die Auflagenhöhe unangenehmer Nachfragen. Für meine Robe sollte ich einen namentlich gekennzeichneten Kleiderbügel mitbringen. In klopsigen Buchstaben malte ich eine Weisheit Baudelaires auf das Holz, Beischlaf ist die Lyrik des Pöbels, und hängte den Kittel in den Schrank. Als ich zur Spätschicht kam, war der Spind von lesenden Weibern bedrängt wie das Einflugloch eines Bienenstockes. «Platz da», kämpfte ich mich zu meinem Bügel durch. In der Pause packten sie belegte Brote aus, ein paar legten eine Tomate dazu. Ich stellte ein Glas Apfelmus auf den Tisch, schlug den Deckel mit dem Ellenbogen ein und aß ihn ganz normal auf. Jeder andere Apfelmusesser hätte es genauso getan. Doch unmerklich war es zu einem Ereignis zerklatscht worden, das es wert war, der Laborchefin hinterbracht zu werden. «Könnte mein Sohn sein», lachte sie.
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Der einzige Mann des Großlabors arbeitete in der Ansatzabteilung für Fotolösungen. Er las Nietzsche, den er mir lässig borgte. Als ich das Buch ausstudiert hatte, wollte ich es zurückgeben. Er hofierte gerade die Laborchefin. «Hey ... dein Buch», stieß ich die unermüdliche Schwatzbirne an. Nicht einen Augenblick hatte er Zeit. In unwürdigem Ton befahl er mir, das Werk auf seinen Schrank zu legen. So weit brauchte er nicht mehr zu gehen. Das Buch stolperte ins Säurefaß und versprudelte an der Oberfläche, bis es nichts mehr wert war. Auf dem Betriebsfest setzte sich die Laborchefin zu mir. Das Besondere, das mir zuteil wurde, merkte ich am plötzlichen Aufschwung des Klatsches. Sie habe gehört, daß ich die Gitarre zupfe. Ihr Sohn hatte nach sieben Jahren Muß sein Klavier in pubertärer Aufmüpfigkeit zerknautscht, damit seine Eltern ihm eine Gitarre kaufen. Weil er musikalisch nicht auf die schiefe Bahn geraten sollte, fragte sie mich, ob ich ihrem Sohn Tim Tocker nicht das Handwerk beibringen könne? Nach drei auswendigen Gitarrenakkorden improvisierten Tim Tocker und ich mit reisgefüllten Blechschachteln und ins Tambourin einfließenden Erbsen. Wir setzten sein Hauskaninchen auf das Gebiß der Klaviatur. Wenn es hoppelte, liefen wir flamencen mit den Gitarren nebenher. Seine abwesende Mutter spielte den Terminboten für unsere Übungsstunden. Als die Kolleginnen zufällig mithörten, mutmaßten sie ganz andere Spiele. Geknickt erzählte mir Tim Tocker, nach Ansicht seiner Mutter habe er genug gelernt. Zu Hause gab er vor, ohnehin keine Lust mehr zu haben. Seine Mutter duldete diese Unzuverlässigkeit nicht. Kichernd komponierten wir Lieder auf die Einfältigkeit besorgter Mütter. Freitags mußte der Umkleideraum gereinigt werden. Wir trugen uns reihum in den Wandkalender ein. Wenn ich fällig war, hatten die Kolleginnen nach der Säuberung immer etwas auszusetzen. Als Vertretung trug ich Romy Schneider und Brigitte Bardot ein. Zuerst konnten noch alle darüber lachen. Doch als die beiden nie zum Putzen erschienen, wurde ich zur Verantwortung gezogen. In der Arbeitspause fläzten wir auf der Raucherinsel und stoben die Neonsonne mit F6-Wolken zu. Arglos fragte ich, ob jemand zu Hause Hitlers «Mein Kampf» zu stehen habe. «Ja, mein Vater. Der muß sich damit beruflich auseinandersetzen», sagte eine Kollegin. Geborgt bekam ich das Buch nicht. Doch ich dürfe es bei ihr lesen, solange der Alte nichts merke. Einige Tage später wurde ich von der Betriebsleitung vorgeladen. Kolleginnen hätten gemeldet, daß ich
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faschistische Ideen unter das Laborvolk bringe. «Stimmt nicht», verteidigte ich mich. «Aber ja!» widersprachen die Kolleginnen, stützten ihre Ellenbogen auf und masturbierten den Zusammenschiß. Montags übertrumpften sie sich gegenseitig mit ihren Familienerlebnissen. Dann fragten sie, wie ich das Wochenende verbracht habe. Ich erzählte, wie oft ich beim Tramp nach Berlin umsteigen mußte, und berichtete von den Eigenheiten der Autofahrer. «Hast du keine Angst, daß mit dir mal einer abfährt und dich vergewaltigt?» Eingeschnappt schürzte ich die Lippen. «Mit mir fährt ja keiner ab.» Mein musikalisches Suchtpotential führte mich in ein Jazzkonzert. Als ich nach Karten anstand, fragte ich in die Menge, welches Becken meines drücke. Einer, der sich als Chrischna Maulhält vorstellte, entschuldigte sich für die unausweichliche Enge. Mit ihm diskutierte ich nach der Darbietung Trommelpassagen und Saxophoneinsätze. Als mich der anbrechende Tag zur Frühschicht rief, wünschte mir Chrischna Maulhält viel Spaß bei der Zwangsarbeit. Zum Abschied schrieb er seine Berliner Adresse auf und kicherte die Unumgänglichkeit eines Wiedersehens. Den Freitag darauf trampte ich zu Chrischna Maulhält. Wir besuchten seine alleinstehenden Freunde. Die Sechzehnjährigen hatten ihre Eltern verstoßen, weil die ihnen mit Verhaltensvorgaben das Leben erschwerten. Sie besetzten leerstehende Wohnungen, legten Schlafsäcke hinein, stellten Aschenbecher auf und boten allen Unentschlossenen Zuflucht. Als ich mit Chrischna Maulhält in so einem Lebensraum alleine blieb, flüsterte er mir wie eine Tuba ins Ohr, daß er mich gern habe. Mein Kopf fand sich nicht mehr im Kissen zurecht. Ich gab alles her. Um unsere fotochemisch verseuchten Knochen zu lüften, stand uns ein Ausflug ans Meer zu. Wir zogen los. Sigrit Service und ihr Lebensgefährte umkreisten mich im Grasflug mit der Wohnlichkeit ihres Lächelns. Ich unterhielt sie mit Problemen, die nur die Weltöffentlichkeit angingen. Der Lebensgefährte war enttäuscht. Nach allem, was Sigrit Service so von der Arbeit erzähle, habe er von mir eine Art Comedy-Show erwartet. Ich erwiderte, es sei geschmacklos, über die Hungersnot in Afrika, die Folgen des Vietnamkrieges, den Holocaust und die schrecklichen Erdbeben in Indonesien Witze zu reißen. Er fragte, ob ich ihn absichtlich mißverstehe. Verärgert entzog er mir seine Sympathie. Die Laborchefin beraumte ein Gespräch unter vier Augen an. Sie fragte, ob ich meinen Facharbeiter machen möchte. Da ich erst ein halbes Jahr im Labor arbeite und nicht die vorgeschriebenen zwei,
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stünde mir das Studium eigentlich nicht zu. Sie glaube jedoch nicht, daß ich dem Betrieb mit seinen monotonen Arbeitsbedingungen treu bleibe. Deshalb würde sie mir gerne eine Ausbildung mit auf die Wanderschaft geben. Schon beim Einstellungsgespräch habe sie den Eindruck gehabt, entweder werde mich das Kollektiv aussortieren oder ich würde die Führung übernehmen. Mit Interesse beobachte sie meine Andersartigkeit, die es zum Luftholen immer wieder an die Oberfläche schaffe. Sonnenstrahlen brachen durch das Bürofenster. Der Goldzahn, den das Lächeln der Laborchefin freilegte, bündelte sie. Ich entblößte das Weiß meiner Zähne und dankte ab. Zur Fortentwicklung meines Talents vermittelte mir die Laborchefin eine Ladenfotografin. Zunächst wies mich ein Assistent am Vergrößerungsgerät ein. Auf einem Auge war er blind, auf dem anderen hatte er stets eine Kamera. Im Studio zeigte er, wie ich das Kunstlicht zu richten habe, damit die Porträts wirken. Der Assistent bat einen Kunden, Platz zu nehmen. Der alte Mann setzte sich und machte ein Gesicht. Das sollte ich mir im Lichtschacht des Fotoapparats ansehen. Doch statt einer belanglosen Fresse sah ich nur hochgereckte Beine. «Der Sessel hat eben keine Rückenlehne», erklärte mir der Assistent diese Kameraeinstellung und half dem alten Mann wieder auf die Beine. Die Nacht strich den Freitag ein. Sonnabend tagte. Ich besuchte Erla Mia. In letzter Zeit hatte immer eine ältere Frau bei ihr auf dem Sofa gesessen, die nichts ausließ, um mich zu ironisieren. Da ich Erla Mia diesmal alleine antraf, fragte ich nach Sohatte der Ratte. Die war nicht einmal im Nebenzimmer. Ich konnte frei sprechen. «Sohatte die Ratte ist eifersüchtig auf mich.» Erla Mia rügte: «Das bildest du dir ein.» Es klingelte. Sohatte die Ratte begrüßte mich mit der für sie nicht unyblichen Frage: «Was suchst du schon wieder hier?» Erla Mia klopfte Schnitzel in die Breite, als ob nichts wäre. Ich schlug ihr Tandoori-Masala zur Verfeinerung vor. Zusammen mit anderen Gewürzen trug ich es in einem Patronengurt aus den Kosakenkriegen ständig um die Hüfte. Vorsichtig pulverte ich. Sohatte die Ratte riß es mir aus der Hand und kippte das ganze Gläschen über das Fleisch aus. «Mal sehen, wie sich dein Gewürzvorschlag auf unseren Zungen macht.» Ich guckte Erla Mia an. «Sohatte», sagte sie verärgert, nahm die Fleischrohlinge und wusch sie ab. Sohatte die Ratte verzog sich eingeschnappt ins Wohnzimmer. «Wo hast du denn diesen Frankenstein aufgegabelt?» fragte ich. – «Sie ist die einzige Lehrerin, mit der man sich vernünftig unterhalten kann. Du kennst ja meine vom jahrzehntelangen Schuldienst eingedumpften Kolleginnen. Sohatte braucht eine Weile, ehe sie Menschen annehmen kann.» – «Warum ist sie jeden Tag hier?» fragte ich. – «Sie hat Depressionen. Ihr Sohn
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ist aus dem Haus, und der Mann fährt zur See. Das kannst du doch verstehen, oder nicht?» «Quatsch», sagte ich. «Sohatte die Ratte braucht Depressionen. Sie schöpft daraus Kraft, um ihren täglichen Frankenstein zu stehen.» – «Ihr müßt euch schon einig werden», sagte Erla Mia und trug den Fleischteller wie einen rauchenden Schornstein vor sich her. «Ach ja. Ich habe einen Mantel für dich.» Nach dem Essen überreichte mir Erla Mia einen schwarzen Samtumhang. Ich zog ihn gleich über und ging in den Regen hinaus. Im Spiegel eines Schaufensters sah ich gebrochene Rabenschwingen. Die Nässe hatte den Mantel verzogen. Die Schwingen ließen sich auch nicht kurieren, als ich den Stoff in Form zog und in der Sonne auslegte. Ganz im Gegenteil. Beim Trockenvorgang krallten die Ränder im Gras fest. Während des Einlaufens riß er in verschiedenfarbige Fetzen auseinander. «Sohatte du Ratte», fluchte ich, als ich erfuhr, wer ihn gestiftet hatte. Ich überredete Onan Bändiger und Konsorten zu einem Besuch bei Erla Mia. Wir packten Gesellschaftsspiele ein, kauften Rotwein und klingelten. Erla Mia öffnete die Tür. Sie bekam sie erst wieder zu, als der letzte durch war. Berla und Gerla lockte unser Gewieher aus ihren Zimmern. Sie setzten sich weit weg von Sohatte der Ratte. «Seitdem die Hexe das Schulessen in Thermosbehältern mitbringt, kocht Mutti nicht mehr», flüsterte mir Berla zu. Ich hatte von Erla Mia kochen gelernt. Mir war klar, daß dies einem Entzug gleichkam, für den es kein wirksames Kompensat gab. Kaffee wurde gewünscht. Auf dem Teppich ihrer guten Laune flog Erla Mia in die Küche. Ich folgte ihr. Sie hatte eine gute Nachricht parat: Ihr Kappa Dok habe eine unbefristete Einreiseerlaubnis erhalten. In zwei Monaten werde geheiratet. Wir seien alle eingeladen. «He, endlich», klopften wir der Durchhälterin auf die Schulter. Ihre gute Laune wurde nur von meiner Frage getrübt, ob Kappa Dok auch ihre garstige Sohatte die Ratte mitheiraten müsse. Ich trampte nach Berlin. Bis tief in die Nacht wurde ich durch Chrischna Maulhälts Abwesenheit geprellt. Vergewaltigungsphantasien ließen mich wieder von der Parkbank aufstehen, die ich mir zum Schlafen ausgesucht hatte. Ich stromerte durch die Treppenhäuser des angrenzenden Stadtviertels. Punks überholten mich. Mit ihnen schlüpfte ich durch die Tür, dann schulterte ich Pogotänzer zur Seite, bis ich eine freie Ecke gefunden hatte. Am nächsten Morgen drehte ich den schlafenden Punks bierleere Pfandflaschen aus der Hand und gab sie an der Spätverkaufsstelle ab. Davon bezahlte ich ein großzügiges Frühstück im Café «Eck», bevor
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ich mich über die Autobahn zur küstenstädtischen Spätschicht beeilte. Nach dieser erlebnisstarken Tour entschloß ich mich zu kündigen. Die Brigadierin verfaßte meine Abschlußbeurteilung. Sie schrieb, ich sei nicht anpassungsfähig und könne deshalb nicht im Kollektiv arbeiten. Die Laborchefin sollte diese Beurteilung unterschreiben. Sie zerfetzte das Papier und formulierte, daß ich einen kreativen Individualismus pflege, der sich fruchtbar auf die Arbeit im Kollektiv auswirken würde, wenn man es verstehe, ihn nutzbringend einzusetzen. Sie wünschte mir viel Glück und empfahl, mein fotografisches Talent auszubauen. Mein Vater besorgte eine Kamera. Ich schoß damit in der Gegend herum. Von meinem vorletzten Geld kaufte ich ein Vergrößerungsgerät und installierte es in seinem Badezimmer. Als meine nackten Füße Entwickler und Fixierlösung auf seinen Teppich panschten, schloß er Wohnzimmer und Küche ab. Ich war auf das unwohnliche Bad reduziert. Wenn mein Vater auf Montage war, mußte ich durch die mörderische Dunkelheit nach Hause. In einer dieser Nächte erschrak ich, weil meine Tür nur angelehnt war. Ich ging auf die Außentoilette und windelte einen Stein in den Scheuerlappen. Die Enden drehte ich zu einem Griff zusammen. Mit diesem Morgenstern wagte ich mich in die Wohnung. Die wenigen Gegenstände waren an ihrem vermöhlten Platz. Auch die drei Hundertmarkscheine, die ich an die Tapete geheftet hatte, knisterten noch in der Atemluft. «Staatssicherheit», dachte ich. In der leerstehenden Wohnung mir gegenüber klappte die Tür. Durch den Spion sah ich einen Mann in Anzug und mit Aktentasche. Er eilte seines Weges, ohne auf meine Gedanken zu antworten. Die Treppen herab sank er immer tiefer, bis die Unsichtbarkeit über ihm zusammenschlug. Sein Hut war leichter als die Unsichtbarkeit und wirbelte nach oben. Ich verzichtete darauf, dem Mann nachzutauchen, weil ich Angst hatte, es nicht mehr an die Oberfläche zu schaffen. Inzwischen hatte der Ire Kappa Dok seinen Sprung in den Sozialismus bürokratisch gemeistert und war mit Erla Mia zusammengezogen. Der Ire war etwas Besonderes. Er roch nach DoveSeife. Das inselte ihn exotisch. Leute pilgerten zu dem Pärchen. Für Erla Mia hatten sie ein Lächeln übrig. Doch Kappa Dok lachten sie so eifrig an, daß Erla Mia sich benachteiligt fühlte. Der Zulauf war so stark, daß sie einen englischsprachigen Gesprächskreis gründete. Er fand einmal in der Woche statt. Langsam kehrte für den Rest der Woche wieder Privatleben ein. Erla Mia sprach mit Kappa Dok in verschiedenen Betrieben vor. Die Arbeitslosigkeit war er gewöhnt, doch er vermißte die Sozialhilfe. Er
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fragte Erla Mia nach dem sicheren Arbeitsplatz, der jedem im Sozialismus zustehe. Sie erwiderte, wenn man erst mal einen habe, sei der auch sicher. Nach diesen Mißerfolgen guckte Kappa Dok nur noch Fußball und legte Punktetabellen an. «Wie primitiv», ließ sich Erla Mia aus, als wir alleine in der Küche hantierten. Kappa Dok hüpfte in die Küche und feierte mit erhobenen Händen den Sieg von Hansa Rostock. Angewidert drehte sich Erla Mia weg, um den Tisch zu decken. Seit Kappa Dok bei ihr lebte, hatte sie zu ihrer erlesenen Kochkunst zurückgefunden. Während wir aßen, las er eine englische Tageszeitung und manschte sich die Kulinarien achtlos in den Mund. Danach verschwand Kappa Dok wieder im Wohnzimmer. «Mit diesem Kerl verbringe ich gerade meinen Urlaub.» – «Stürzt dein Kartenhaus zusammen?» fragte ich. – «Wir hatten keine Chance, das Zusammenleben vorher auszuprobieren. Ich kann ihn nicht einfach nach Hause schicken», resignierte Erla Mia. Ein Sturm drückte gegen das Fenster und preßte den Herbst herein. Die Hochzeit war ein starkes Stück. Irische Geigenbögen gingen wie die Nähnadeln drei einiger Hausfrauen auf und nieder. Deutsche stimmten an: «Es gibt kein Bier auf Hawaii, es gibt kein Bier ...» Erla Mia übersetzte es Kappa Doks Bruder, der über diesen Schwachsinn lachen konnte. Ein aufgeklärter Ire improvisierte im gebrochenen Deutsch einen Volkspolizistenblues. Es hätte, dem Deutsch nach zu urteilen, von einem echten Volkspolizisten stammen können. Dann kniete der Ire vor einer Erwählten und vogelweidete die Liebeslieder seiner grünen Insel ab. Sie erhörte ihn. Kappa Dok riet ihm, nicht in die gleiche Falle zu tappen wie er. Über dieser Szenerie thronte Erla Mia. Ihr barock fallendes Kleid hatte ein Luxusschneider aus purpurroten und dunkelblauen Damastschindeln zusammengesetzt. Ich ließ mich von Freunden füttern, die einen Teller ergattert hatten. Sohatte, die miese Ratte, trat auf mich zu. «Das Geschirr für die Gäste ist abgezählt. Du bist eine zuviel. Hau ab.» Später wurde ein Teller frei, weil ein Kreislauferschöpfter mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren wurde. Da es nicht Sohatte die Ratte erwischt hatte, nahm ich die Rache selbst in die Hand. Sie hofierte gerade einem anderen Iren. Ihr Schatten verfolgte ihn durch alle Räume. Ich stellte mich dazu und präsentierte mit Augenaufschlägen meine Jugend. Er blitzte auf mich um. «Du Hure!» rief Sohatte die Ratte uns beiden nach. – «Du unfruchtbare Seemannsmatratze», erwiderte ich. Daraufhin besudelte die Gischt ihres Mundes meinen Rücken.
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18. Kapitel
Entsetzlich. Am Morgen wachte ich als Koloß auf. Nicht daß ich körperlich zugelegt hätte. 0 nein, ich war so fett wie immer. Nur das Küstenstädtchen war mir einige Nummern zu klein geworden. Um mich auf die Gefahren des Hauptstadtlebens vorzubereiten, hatte ich die wichtigsten Passagen aus «Sindbad der Seefahrer» auswendig gelernt. Mit diesem Wissen angereichert, stellte ich mich an die Autobahn. Ein Lkw-Fahrer, der mir keine Unterhaltung abverlangte, fuhr bis Berlin durch. Dort angekommen, mischte ich mich unter die Prenzelberger und wurde wegen meiner Provinzkleidung sofort wieder ausgesiebt. Ich klingelte bei einem Freund von Chrischna Maulhält, zu dem er mich einmal mitgenommen hatte. Doch als ich auf dem Sofa mit den abgebrochenen Beinen Platz nahm, wurde klar, daß Proc Sunk die Begegnung vergessen hatte. Trotzdem kamen wir ins Gespräch. Proc Sunk bot mir einen Schlafplatz an. Ich sollte bloß wissen, daß seine Lebensgefährtin, acht Katzen und ungezählte Gesprächsfreunde, die abends nicht nach Hause fanden, in der Einzimmerwohnung gleichberechtigte Nutzer waren. Gegen Abend wurde die Bude brechend voll. Die Gesprächsabläufe machten mir zu schaffen. Inhaltlich konnte ich ihnen folgen, doch mir fehlte das Berlinspezifische. Auch strukturell blieben sie ein Rätsel. Alles schien sich auf Proc Sunk zuzubewegen. Man schaute zu ihm auf, in Erwartung eines huldvollen Nickens. Trug ihm ein Aufdringling seine Freundschaft an oder heulte er ihm seine Lebensgeschichte vor, erwiderte Proc Sunk, daß ihn das in etwa so viel angehe wie ein Dackel, der einen auf der Straße anspringt. Proc Sunk war der Meinung, gute Nachbarn seien mehr wert als Freunde. Als ich die Musikkulissen, die sich im Hinterhof gegenseitig überlagerten, das besoffene Gestreite und das Gestöhn Geschlechtsverkehrender bei offenem Fenster vernahm, konnte ich ihn verstehen. Bis vier Uhr morgens hielt ich das Geplauder durch. Dann fielen mir die Augenlider über das Gesicht. Wenn mein Körper zur Seite kippte, wurde ich wieder wach. Nach drei Tagen sagte Proc Sunk belustigt, es wäre kein Verstoß gegen die Hausordnung, wenn ich schlafen gehe, bevor das letzte Wort gesprochen sei. Am vierten Tag übertrug das Westfernsehen ein Nina-HagenKonzert. Die Massen sahen es sich bei Proc Sunk an. Dazwischen jagten Hunde. Sie paarten sich auf den Schößen der Zuschauer, weil kein Zentimeter Fußboden frei war. Auch die berüchtigte Mulattin
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Polda Wünschinger kam und bewarf ihre weißen Feindbilder mit Biergläsern. Ich hätte die gar nicht als solche erkannt, denn das Gegenlicht des Bildschirms negerte jeden. Proc Sunk schmiß sie raus. Polda Wünschinger ätzte, sie habe es nicht nötig, einen Fernseher anzuhimmeln, schon als fünfjähriges Diplomatenkind habe sie live auf Nina Hagens Schoß gesessen. Proc Sunk schlug ein Frühstück vor, das niemand bezahlen konnte. «Hast du Geld?» fragte er mich. Ich konnte nicht lügen, wollte es aber auch nicht herausrücken, da es mein letztes war. «Gib her», sagte er grob. Meckernd räumte ich meine Taschen. Nach einem Monat floß das Leben immer noch munter, ohne mir die angeschwemmten Kilos abzuverlangen. Geld hatte seine Gewalt über mich verloren. So entstand eine Sorglosigkeit, die immer noch blauäugig meine Zukunft anstrahlt. Wenn Proc Sunk seine Wohnung leeren wollte, was selten vorkam, schlug er einen Kneipenbesuch vor. Ich blieb daheim und belauschte meine Reglosigkeit. «Brauchst du nie Ruhe?» fragte ich den Heimkehrer. Er erklärte, seine Lebensart sei der Kleinstadt entlehnt. In Berlin habe sie lediglich eine Publikumsverschiebung erfahren. In die Kleinstadtwohnung kamen vormittags schulschwänzende Zigeunerkinder zu Besuch. War Proc Sunk kurz aus, zündeten sie ein Lagerfeuer. Im Rußfleck an der Zimmerdecke verewigten sie sich. Dabei lernte manches Zigeunerkind schreiben. Am Nachmittag fand sich die Schuljugend ein. Die Vormittagsgäste flüchteten. Proc Sunk achtete streng darauf, daß niemand Literatur einschleppte, die dem Geschmack der Kinder nachhaltig schaden könnte. Nach Berlin kam Proc Sunk, um Theologie zu studieren. Sein Latein beeindruckte, weil diese tote Sprache in ihm noch einen Sprecher hatte. Ich fragte, ob er es nicht bereue, keine lebende erlernt zu haben. Davon abgesehen, daß Latein die Wurzel aller romanischen Sprachen sei, erzählte er, wie er sich damit einmal in Rumänien hatte verständigen können. Dort hatten ihn Zigeuner belagert. Wollte er sein Gepäck behalten, müßte er ihnen eine blödsinnige Schallplatte abkaufen. «Typisch», sagte ich. Proc Sunk belegte historisch, daß sie sich bloß das in Raten zurückholten, was ihnen einstmals genommen wurde. Die Platte aber wollte er den Zigeunern nur abkaufen, wenn sie ihm ein Ersatzteil für seine Geige besorgten. Ratlos zottelten ihn die Romas zu ihrem Oberhaupt. Der sollte das Gegenwort führen. Proc Sunk sprach ihn lateinisch an. Der Oberzigeuner verstand kein Wort. Also verschriftlichte Proc Sunk sein Gesprochenes. Das verstand der und antwortete rumänisch. Mit ihren Geigen improvisierten die beiden eine Session, die allen in die Beine ging. Daß die Romas ihn angenommen hatten, war zu merken. Keinem fiel ein, sich an seinen
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herumliegenden Sachen zu bereichern. Mit dem Zigeunerlager überschritt Proc Sunk den Horizont. «Wow. So weit kommen die wenigsten Touristen», sagte ich. Allmählich stellte Proc Sunks Freundin fest, daß ich bei ihnen wohnte. Sie gab mir Bettzeug. Zu Ehren ihrer Aufmerksamkeit erfragte ich ihren Namen. Proc Sunk war älter als Tuone Mentira und neunmal klüger. Unterhielten sich die beiden, widerlegte Proc Sunk seine Freundin geschickt, indem er ihre Meinung zunächst ergänzte, um dann behutsam Widerspruch einzulegen. Seine Rede war Kopf, in ihrer überwog das Gefühl. Als die beiden sich später trennten, war ich überrascht. Nie hatte ich Streit zwischen ihnen erlebt. Proc Sunk hatte wegen Päderastie gesessen, einer Sexvariante, über die ich alles erfahren wollte. Narrenfreiheitlich fragte ich. An meine Vorurteile gewöhnt, antwortete er so, daß ich nach einem mehrstündigen Vor und Zurück einige abbaute. Eines der Argumente blieb haken, wie ein Schmetterling, der sich in meiner Hirnrinde ein Füßchen einklemmt. Proc Sunk erklärte, Kinder hätten selbstverständlich eine Sexualität. Ihn habe mal ein fünfjähriger Knabe angesprungen. Nicht aus Überzeugung, sondern gesetzeskundig habe er ihn von sich abgehalten. «Und Tuone Mentira?» überschritt ich die Grenze des Persönlichen. Proc Sunk schulmeisterte, daß er ihr kindliches Wesen genieße. In so einem Fall spiele das Alter keine Rolle. Ich schlang die Arme um mich und fragte nach seiner Gefängniszeit. Es war unyblich, mit seinen Verbrechen aufzudrehen. Man gab lediglich den Verurteilungsparagraphen bekannt. Proc Sunk war seinem Paragraphen nach der Rangniedrigste, was er auch zu spüren bekam. Um sich vor Übergriffen zu schützen, suchte sich jeder einen Spannemann. Mit dem wurde geteilt, verteidigt und angegriffen. Proc Sunk blieb allein und wurde zum Nadelkissen für die Aggressionen aller anderen. Sie ließen nur von ihm ab, wenn der Staat schwer zu finanzierende Bauvorhaben hatte. In solchen Zeiten verurteilte man zuhauf die Zeugen Jehovas wegen Wehrdienstverweigerung. Im Gefängnis unterwarfen sich die Jünger nicht den ungeschriebenen Gesetzen der Gesetzlosen, sondern missionierten sie mit einem Erfolg, der auf der Straße viel dürftiger ausgefallen wäre. Jeden Abend dankten sie Gott für die Goldgrube, in die man sie gesteckt hatte. Tätowieren war zwar verboten, gehörte aber zur Imagepflege. Ein Schnapsdeckel voll Ausziehtusche wurde zu Preisen gehandelt, die jene des Nachkriegsschwarzmarktes um ein Vielfaches übertrafen. Verbotene Messer, Eßwaren und selbstgefertigte Drogen wurden wasserdicht verpackt und ins Klobecken hinabgelassen. Da ich solche Geschichten schon von anderen Ehemaligen gehört hatte, brach ich
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das Gespräch an dieser Stelle ab. Danach las ich «Malina» von der Bachmann, um noch jemand anderem die Chance zu geben, mich in Lebensgeschichte zu unterrichten. Proc Sunk und Tuone Mentira hatten selten Geld, weil es unter ihrer Würde war, kommerzielle Musikaufträge anzunehmen. Brachte ihnen eine Mugge einen oder mehrere Tausender ein, bezahlten sie Schulden und kauften zwei Reisetaschen voll Lebensmittel und Wein. Bei dem Ansturm rücksichtsloser Freßlinge, der ihre Küche täglich durchzog, reichte es nie länger als für eine Mahlzeit. Später entdeckte ich, daß die beiden ihre eisernen Reserven in einem Einkaufsnetz aus dem Fenster hingen. Wein wurde in Ofenlöchern, im Mülleimer oder der Katzenstreu versteckt. Von manchen Flaschen wußten sie nur noch, daß es sie geben mußte, aber nicht mehr, wo. Enge Freunde schlossen sich dann der Raumforschung an. Wenn sie eine Flasche fanden, entkrampften sich ihre Gesichter und beinhalteten nur noch Konversationsfreude. Nach und nach häuften sich Besucher, die einen Antrag auf Ausbürgerung aus der DDR gestellt hatten. Wer keine Möglichkeit sah, ins Kapitalistische zu heiraten, begründete seinen Antrag mit den politischen Unzulänglichkeiten unseres Staates. Einer von ihnen kam gerade aus dem MfS-Revier in der Magdalenenstraße, als ich mich beim Spülen am Metallrand einer Kelle schnitt. Kolonien geröteter Abwaschmittelblasen trieben an die Oberfläche, als hätten tuberkulöse Silberfischchen ihre Lungen ausgewürgt. «Scheiß Osten», fluchte ich, obwohl ich persönlich nicht mehr an ihm auszusetzen hatte als die Billigkelle und meine an den sozialistischen Staatsgrenzen abbrechenden Trampkilometer. Wenn sich abends reichlich Tonabnehmer eingefunden hatten, zierte Proc Sunk seine Sätze mit Lieblingsworten. Seine Anhänger dankten es ihm mit einem hundertfachen Echo. «Affenknittergeil» wurde abgelöst von «Du hast ja ein Ei auf den Kopf». Proc Sunk und Tuone Mentira brachten das Gerücht auf, die Mime Ä. Haat Schlokolowski sei allwissend. Wenn die beiden Fragen hatten, schlugen sie nicht das Lexikon auf, sondern einen Haken zu der Mime. Proc Sunk sollte den Pantomimezug mit seiner Geige begleiten. Ich ging mit, um Rummel in meine Anfängerfotos zu bringen. Die Mime nahm mich kurz zur Kenntnis, dann nistete sie ihre Vogelnase wieder im Vollbart ein. Den Rest des häßlichen Gesichts beschirmte eine Nickelbrille. Es folgte ein Austausch von Banalitäten, den ich so niemals für möglich gehalten hätte. Die Mime nannte die Dinge bei ihren Synonymen, ästhetisierte den Slang ins Pejorative und verstieg sich in gewitzte Assoziationen. Dabei wurde sie von ihrem Meisterschüler Proc Sunk infantil umhüpft. Die Mime hatte keine
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Freunde, nur Gefolge. Trotz ihrer Dominanz blieb sie Einzelgänger. Wenn Proc Sunks Anhänger in seiner Wohnung zusammenliefen, publizierte er jede Menge Ä.-Haat-Schlokolowski-Redekreationen, so daß sie nicht nur einer Elite vorbehalten blieben. Rächa Lederbeil lernte ich kennen, als sie Tuone Mentira besuchte. Beide tranken Tee, um die alten Zeiten warmzuhalten. Rächa Lederbeil war so dünn, daß ihre Rippen mit den Lungenflügeln verzahnten. Ihr Gesicht war ein Sieb, in das sich Nasenlöcher gerissen hatten. Doch die Symmetrie hielt es so in Ordnung, daß sie sich damit überall sehen lassen konnte. Manchmal kam Rächa Lederbeil nur, um sich im Spiegel zu betrachten. Stundenlang, bis sich ihr Spiegelbild angekotzt abwendete. Dann sah sie die anderen wieder und immer öfter auch mich. «Bist du lesbisch?» fragte sie. Lippenknallend verneinte ich. «Du bist es. Du weißt es nur nicht», machte sie mir mit einem Slogan angst, der neuerdings auch die Öffentlichkeit heimsuchte. Ich verkroch mich hinter Tuone Mentira. Rächa Lederbeil lugte über deren Schulter und fragte, ob ich mit ihr schache. Das Spiel verlor ich in drei Zügen. Am nächsten Tag in vier. Am übernächsten sagte ich, daß ich lieber lesen möchte. Sie brachte einen historischen Roman ... als ob ich mit Bildung zu ködern sei. «Verschwindet», sagte Tuone Mentira, die sich nicht länger mit der Rolle einer nichtssagenden Zuschauerin zufriedengab. Ich folgte Rächa Lederbeil. In ihrer Wohnung spielte sie mir Liebeslieder auf der Gitarre vor. Ihre verlangenden Blicken konnte ich nicht mit gleichwertigen vergüten. Also lenkte ich sie mit einer Herausforderung zum Schach ab. Nach sechsundvierzig verlorenen Spielen veräußerte ich mich an die Menschenleere nebelverklebter Straßen. Doch Proc Sunks Haustür war verschlossen. Das beste Frostschutzmittel schien mir Rächa Lederbeils Wohnung zu sein. Sie war erfreut, mich so schnell wiederzusehen. Wir fielen ins Bett. So, wie ich mich in der Latzhose eingeigelt und verknotet hatte, bekam mich Rächa Lederbeil nicht auf. Doch ich sagte auch nicht, daß sie die Finger von mir lassen solle. «Wo warst du?» empfing mich Tuone Mentira am nächsten Morgen. – «Bei Rächa Lederbeil.» – «Gute Wahl», sagte sie, als hätte ich sonst keinen Geschmack. Über die Weihnachtsfeiertage wurden nicht nur Tuone Mentira, sondern auch alle Proc-Sunk-Besucher von ihren Eltern abgezogen. Proc Sunk legte seine Geige ab und steckte sich eine Pfeife an. Unser Schweigen schläferte selbst die Sprünge der Katzen ein. Meine Gedanken tasteten unsicher im Schwulen. «Selbst wenn du mit einer Frau schlafen würdest, Homosexualität steckt nicht an. Es sei denn, du bist es schon», setzte Proc Sunk eine Unterhaltung in Gang.
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Nach den Feiertagen machte ich Rächa Lederbeil einen Antrag. Ihre Hände gingen auf eine Wanderschaft, bei der ich meinen Körper gleich mitentdeckte. Als sie meinen Rücken sensibilisierte, fragte Rächa Lederbeil, woher die gewaltige Narbe stamme. Keine Ahnung. Die Hauptstadt hatte meine Vergangenheit ausgelöscht. Als sie meinen Hintern erreichten, vertierten ihre Hände. Sie fragte, was ich empfinde. «Nach diesem Vorspiel? Lust auf einen Kerl», antwortete ich. Sie wollte wissen, was mich an Männern anmache. Als ich es beschrieb, hielt sie sich die Ohren zu. Am nächsten Morgen schwärmte sie von der geilen Linienführung meines Körpers, wenn er sich im Schlaf auskrampfe. Weil Rächa Lederbeil es nicht länger ausgehalten hatte, war sie ins Nebenzimmer gerannt und hatte sich selbst gefickt. Selbst volltrunken sprach Rächa Lederbeil noch überdurchschnittliche Gedanken aus. Die Umgebung verlor die Achtung davor, weil ihr Lallen kaum zu entziffern war. «Daß deine Grauen noch keine Todeszellen sind», bewunderte ich ambivalent und nahm ihr die Flasche weg. Sie stieß mich gegen den Tisch. Die Alkoholabhängigkeit verlieh ihr eine Stärke, die mir den Unterarm brach. Durch Flucht rettete ich meinen anderen. Ernüchtert versprach sie, nie wieder zu trinken. «Das würdest du für mich tun?» Ich führte Rächa Lederbeils Hände an meine Wangen. Dabei fiel mir auf, daß die eine von Fingern gezackt war und die andere von einer Bierflasche. Wir trennten uns. Ich sollte ihr noch sagen, ob sie schöne Hände habe. Jemand habe ihnen Unförmigkeit vorgeworfen. «Wenn die auf Wanderschaft sind, gibt es keine schöneren», gab ich ehrlich zu. Zusammen mit mir platzte ein Punkduo bei Proc Sunk herein, das er noch begrüßte, bevor er die Geige schulterte, um seinen Kunstauftrag am Theater zu erfüllen. Das Punkpärchen blieb mit mir alleine. In ihre Spiele verknäult, bemerkten sie mich nicht einmal. Ihre Körper fielen befriedigt auseinander wie die Blütenblätter einer Blume. Dem welken Pflanzenkelch entstieg ein blonder Bursche. «Eh, Alter. Wie kommst du hierher?» blafften die beiden. – «Seid ihr blöde? Wir sind verabredet», erklärte der Blonde. Er setzte sich auf meine Sessellehne und fragte nach Proc Sunk. Ich verwies ihn ans Schauspielhaus. Der Bursche rührte sich nicht. Den frisch gebrühten Tee nahm er mir ab, ohne meine Hand loszulassen. Als Proc Sunk spätabends mit einem Schweif Leute hereinfegte, hockten wir in zufriedenen Zweierreihen vor der Besatzungsmacht. Proc Sunk riß den Blonden mit der Bitte hoch, Wein zu kaufen. Der Bursche sah mich zweifelnd an. «Geh doch», sagte ich und legte mich schlafen. Ich wachte auf, als Proc Sunk und der Blonde
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dasselbe Federbett rappelten. Leise fragte er Proc Sunk, ob er zu mir dürfe. Dann hob er meine Decke und kroch unter. Prinzessen schlug ich die Augen auf. Als unser Liebesspiel schon fortgeschritten pleulte, stutzte ich. Ich saß auf einem Mann mit drei Brustkörben. Zwei davon waren seine Hände, die meine Brüste körbelten. «Bin ich zu fett?» flüsterte ich. – «Das ist ja das Geile an deinem Übergewicht», kostete er mich nun vollends aus. Das Zimmer nachts mit einer durchscheinenden Jalousie zu verdunkeln, hielt ich für einen Widerspruch. Wenige Stunden später löste er sich auf, als die Sonne aufging. Egal wie die Witterung war, die gelbe Jalousie ließ sie durchscheinen wie ein Sonnenrad, das man vor die Wolken rollt. Mit der gelben Jalousie sei anschaulich gemacht, daß nicht etwa schlechtes Wetter die Ursache dafür war, wenn Proc Sunk und seine Besucher erst nachmittags aufstanden. Danach verrichteten sie Tätigkeiten, die in der Wahrnehmung stark abgeschwächt sind, weil man sie mit Spießern gemeinsam hat: ein Gähnen abschicken, Urinperlen ins Becken klingeln, Eßbares einschlucken, Wäsche mit handelsüblichen Granulaten entkeimen und Geld beitreiben. Für mich wurden sie wieder augenfällig, weil ich in einem Fotolabor Arbeit gefunden hatte. Die Reihenfolge der Verrichtungen war nicht mehr dem Zufall überlassen, das Sattwerden auch nicht. Ich hatte feste Arbeitszeiten und ein regelmäßiges Einkommen. Gemeinsam mit Tuone Mentira rätselte ich, warum die Leute so nachtaktiv waren. Sie unterstellte, tagsüber würden sie sich langweilen. Abends suchten sie nach sozialen Herausforderungen, um doch noch mit einer Spannung einzuschlafen. Meinen Feierabend verbrachte ich im Fotolabor mit dem Vergrößern eigener Werke. Bis die Laborbesitzer einmal unverhofft hereinschauten. Ich zeigte ihnen meine Fotos: Proc Sunks geschirrbergsteigende Katzen; eine Punkerin, die ihr Baby auf dem Bordstein stillt; ein Transvestitenpärchen, das sich auf einer Vorstadtfete schnäbelt; einen Briefkasten, auf den jemand «Freiheit» geschrieben hatte; eine abgeblätterte Hauswand mit der Aufschrift «Fröhlich muß man sein». «Schön wa?» versuchte ich sie auf das vorhersehbare Lob einzustimmen. – «Wenn das ein Kunde sieht, sind wir unseren Laden los. Du bist entlassen!» brüllte die Unternehmerin und zerriß die Fotos. Ihr Mann sagte etwas ruhiger: «Was wollt ihr Jungschen mit eurer künstlich aufgesetzten Depression erreichen?» – «Eh!» wurde ich zornig. «Das Fotopapier habe ich bezahlt.» – «Hannes! Gib ihr unseres!» schrie sie ihren Mann an. – «Ich habe mehr verbraucht»,
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sagte ich. – «Gib ihr alles!» gellte sie. Ungläubig ließ ich mir von Hannes die Arme volladen, dann taumelte ich hinaus. Die Vorladung zum Ministerium für Staatssicherheit händigte mir Tuone Mentira aus. Ein Beamter breitete Bilder aus und fragte, ob ich die kenne. «Klar kenne ich meine Fotos», sagte ich. Als er fragte, was ich am Sozialismus auszusetzen hätte, konnte ich immerhin meine an der Westgrenze abbrechenden Trampkilometer vorbringen. Da ich schon mal hier war, stellte ich gleich einen Ausreiseantrag. Er bot mir einen Arbeitsplatz an. Ich wünschte mir den gleichen Job wie bisher, doch bei anderen Leuten. Er sagte, daß ich in der Fotobranche wohl nie wieder Arbeit finden werde. Jetzt hatte ich einen triftigen Grund, die DDR zu verlassen. Bei einem Spaziergang über die Dächer schraubte ich das Teleobjektiv auf die Kamera und stellte es auf die Fenster leerstehender Wohnungen scharf. Danach öffnete ich einige zur Besichtigung. Hörte ich das Schlurfen einer alten Frau, ließ ich den Aufschluß sein. In einem Hinterhaus glaubte ich, das Richtige gefunden zu haben. Ich fragte Tuone Mentira, ob sie ein Federbett verleihe, da ich ausziehe. «Wird auch Zeit», sagte sie. Ich war erschüttert. «Ich habe doch gar nichts gemacht?» – «Deshalb. Du hast nur im Bett gelegen, so daß Proc Sunk und ich keine Minute für uns hatten, wenn die Wohnung mal leer war.» Meine Gedanken verselbständigten sich wie der Vernunft entwöhnte Teufelchen. «Du hättest was sagen können», brüllte ich. Wütend warf sie mir das Federbett zu. Nach vier Tagen versiegelten Polizisten meine besetzte Wohnung. «Das nächste Mal erwartet Sie eine Ordnungsstrafe von dreitausend Mark», verwarnten sie mich. «Obdachlos», stöhnte ich. Außer Proc Sunk, Tuone Mentira und ihren Besuchern kannte ich niemanden. Bei keinem hatte ich mich um Freundschaft bemüht. So zog ich ziellos einen gefundenen Schlafsack hinter mir her, verbrachte ihn schließlich auf den Dachboden und verpuppte mich darin. Mit starren Augen und steifen Ohren erkundete ich das Schattenland. Zerbrochene Stühle, durchhängende Wäscheleinen und ein offenes Dachfenster gespensterten. Aus den abgehangenen Fledermäusen tropfte Dunkelheit das Mondlicht zu. Frierend schlief ich ein. Die nächsten Abende drückte ich mich ohne Bezahlung am Kartenabreißer des «Babylon» vorbei. Mein letztes Gehalt gab ich für Currywürste aus. Ich aß sie, bis mir ybl wurde, so daß sich die Ausgaben dafür auch bald erübrigten.
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19. Kapitel
Auf einer Parkbank lernte ich Plünda Zwilling kennen. In Stimmung gebracht, erzählte sie ihren Lebenslauf. Ich brachte meinen zur Sprache. Das schlug an. Wir Lebensläuferinnen gingen in ihr Zimmer, wo sie mir eine schlafsackgroße Ecke freiräumte. «Ich muß noch mal weg.» Gesagt, getan, tänzelte ich zum Dachboden zurück, um meine Schlafdecke zu holen. Die Kälte gelebter Obdachlosigkeit noch in den Knochen, ritzte ich über meinen ehemaligen Schlafplatz: «Hier ruhten meine Gebeine, ich wünschte, es wären deine.» Das Faulenzen machte Plünda Zwilling bettlägerig, ihr Tagesablauf war ohnehin merkwürdig regelmäßig. Ich fragte sie, wie sie in den Prenzlauer Berg geraten sei. «Weil ich die Nase voll hatte von Eltern, die mich von allen Problemen fernhielten.» So hatte sie sich mit ihrer besten Freundin besoffen. Im Angesicht einer überraschenden Polizeistreife knickte sie eine DDR-Fahne ab. Nun war sie selbst ein Problem, welches das Abitur abbrechen mußte. Sie vertraute sich ihrem Bruder an. Der räumte seine Dunkelkammer aus. «Und du konntest ungehindert mit einem Kleinmöbelwagen fliehen, ohne die Familie ernsthaft verlassen zu müssen», beendete ich die einseitig gewordene Unterhaltung. Wir hatten kein Geld. Plünda Zwilling meinte, am Wochenende könnten uns ihre Eltern versorgen. «Ah ... aber ...», beanstandete ich. «So fremd bist du ihnen auch wieder nicht. Ich habe von dir erzählt.» Und damit basta, trampten wir in ihre Heimatstadt. Als wir eintrafen, verplemperten Springbrunnen das Stadtbild. Wir unternahmen viel, doch vor allem aßen wir. Plünda Zwillings Eltern demonstrierten Liebe. Am zweiten Tag lockerten sich die Umarmungen. Dafür fiel ich in den Goldtopf ihres Lächelns. Plünda Zwillings Freunde reigten zum Sonntagskaffee auf. Ich wurde albern. Sie lachten und bauten mein Witzeln aus, so daß auch ich lachte. «Wenn du dich eingelebt hast, gehst du ab wie eine V1», behauptete Plünda Zwillings Papa und zog wieder seine Arme um mich zu. Mit prallen Bäuchen und Essenresten vom Wochenende trampten wir zurück in die Armut. «Wie findest du meine Eltern?» fragte Plünda Zwilling. – «Im öffentlichen Telefonbuch», flötete ich durch die Röhre einer fleischbehangenen Hühnerkeule. – «Nein. Ich meine menschlich», lenkte sie vom Manöver ab. – «Deine Eltern sind ganz schön einengend, besonders wenn sie einen umarmen. Eine ganze Kindheit möchte ich nicht an der Kette ihrer Erziehung gelegen haben.» – «Hat dir das Wochenende gar nichts gegeben?» Sie schien
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enttäuscht. – «Doch, doch», milderte ich ab. «Sie haben mich trainiert. Ich kann jetzt hemmungsloser Leute umarmen, an denen mir nichts liegt.» In mein ausgewogenes Raum-Zeit-Gemisch tröpfelte immer noch das Konzentrat von Geldmangel. Zwei Nächte stand ich in der Lampenfabrik «NARVA» am Fließband. Den zusammengejobbten Einkauf stemmte ich die vier Treppen zu Plünda Zwilling hoch. Eine Überraschung beulte ihre winzige Wohnung: die Eltern. Als sie mich sahen, verkam ihr überschwengliches Lächeln zur Ruine. «Was hast du erzählt?» lachte ich Plünda Zwilling hinterm Rücken ihrer Eltern aus. – «Darauf sage ich nichts mehr.» Den Spätsommer vertrödelten wir und waren überrascht, als die Kälte auf uns einpickte. «In der Stadt ist schon hohlwangiger Winter, doch in den Wäldern noch buntscheckiger Herbst», erzählte ich, mit Schlehen vom Alleingang zurückkehrend. Noch am selben Tag schlug der Richtungsanzeiger meiner Sehnsucht aus, weil mir Erla Mia in den Sinn kam. Ich trampte flugs ins Küstenstädtchen. Erla Mia war längst geschieden. Sie betäubte meine stundenlange Aufmerksamkeit mit dem Bitterstoff, der Kappa Dok nichts mehr anhaben konnte. In den Luftkammern zwischen ihren Sätzen zündete mein Erzähltes. Klingeln unterbrach uns. «Du?» begrüßte ich Sohatte die Ratte. Ich fing mit der zweiten Hälfte des angebrochenen Satzes wieder an. Erla Mia hörte mir nun anders zu. Ihr Grinsen zwillingte das gehässige von Sohatte der Ratte. «Du hast immer noch keine eigene Wohnung?» stichelte Erla Mia. – «Ich habe in der Wohnung von Plünda Zwilling was Eigenes», gab ich zum Besten. – «Was soll die mit 'ner Wohnung? Abbröckelnde Wände vom einzigen Stuhl aus anstarren?» lästerte Sohatte die Ratte. «Na dann.» Ich gab das Vorhaben auf, ihr die Fresse mit meiner Faust zu schmieren und stellte mich wieder an die Straße. Eisheilige hielten. Auf den Kufen ihrer Autos schlitterte ich in die Hauptstadt. Plünda Zwilling stand schon im Flur und band sich ihren Schal um. Ich lockerte ihn, damit sie bei den Eltern nicht erhängt ankäme. Das würde auf mich zurückfallen. Ihr Seifenduft spiralte noch im Treppenhaus, da bimmelte es. Ich öffnete einer versoffenen Rothaut. Ihr Bruder drängelte sich im Offiziersschritt vorbei. Ein Aufmarsch schwerer Möbel stoppte ihn. «Plünda hat mich dagelassen. Du kannst verschwinden», sagte ich. – «Paß mal auf, du militantes Biest. Ich kümmere mich, während du deiner Familiengeschichte längst verlorengegangen bist», sagte er aufgebracht. – «Was du Plünda als Liebe andrehst, ist Macht.» – «Seine Stärke für Schwache einzusetzen ist Liebe», vermählte er seine Widerrede mit meinem Vorwurf. – «Andere zu verantworten ist Anmaßung, Alter.» Von der
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Schlagwortknüppelei entnervt, stand er ziegenbeinig auf: «Du weißt ja nicht, wovon ich rede.» – «Oh doch. Nur lasse ich mir den Superlativ Liebe von dir nicht zur Sau machen», sagte ich. «Ha, ha, ha», lachte er zuletzt. Ich schloß die Tür hinter ihm. Der Regentag scherzte eine Schneeflocke auf das Fensterbrett. Ich tat sie in den Kühlschrank. Treckerspuren unter meinen Augen zeigten an, daß ich die Nacht auswärts verbracht hatte. Plünda Zwilling fragte, wo genau. Als ich es ihr erzählte, schaute sie abscheulich. Ich erklärte, im Gegensatz zu ihr wolle ich nicht warten, bis ihr Bruder mich glücklich verheiratet hätte. Mit sanfter Neugier erfragte sie Details. «Du treibst es mit ziemlich jedem?» Ihre Stimme festigte sich wieder. «Mit JEDEM», überbot ich. «Mit absolut jedem, der mir gefällt.» Rächa Lederbeil flanierte mir auf der Straße entgegen. Ein Bursche hielt sie im Arm. Ich lud beide ins Café ein. Der Typ verabschiedete sich. Ich staunte über Rächa Lederbeils Sinneswandel. Angeblich könnten nur Frauen mit Frauen, wegen der ähnlichen Körperarchitektur und so. «Dieser Ansicht bin ich noch», sagte sie verständnislos. – «Und dein Freund?» fuhr ich mein stärkstes Argument auf. – «Das ist eine Freundin.» Sie fackelte ein amüsiertes Lachen ab. Maßlos schüchtern fragte ich (Schüchternheit pflege ich, um nicht maßlos zu werden): «Hat die schon mal mit einem Mann?» – «Einmal und nie wieder», rollte Rächa Lederbeil abfällig die Augen. – «Sie ist eine KV», klassifizierte ich. – «Du Provinzmaus. Unsere Liebe ist kein Nachäffen von Heterosex. Ich gebe dir ein Aufklärungsbuch. Dort findest du alle Schweinereien zwischen Frauen beschrieben.» Auf dem Weg zu Rächa Lederbeils Wohnung trafen wir Plünda Zwilling. Ihr Unterkiefer landete im damenhaften Ausschnitt, als ich ihr meine lesbische Freundin vorstellte. Abends gab Plünda Zwilling vor umzuräumen und rückte die Matratze von meiner ab. «Keine Angst. Mich interessieren lediglich KVs, und die auch nur theoretisch.» – «Was ist eine KV?» fragte sie zögerlich. Ich lehrte, es sei die Abkürzung für Kesser Vater. Kesse Väter seien Frauen, deren Vagina nur oberflächlich aufgeklebt wäre. Die verlören sie beim ersten Geschlechtsverkehr. Weil Männer ihre Schwänze dann nicht mehr reinstecken können, wenden sich die KVs Frauen zu, denen es nicht aufs Reinstecken ankäme. So hatte ich es jedenfalls dem Aufklärungsbuch entnommen. Plünda Zwilling riß es an sich und gab mir das Buch erst wieder, als sie es zerlesen hatte. Als ich Rächa Lederbeil die Lektüre zurückbrachte, hatte sie zwei Frauen im Arm. Ich ließ mir ihre Namen sagen, legte die vier Worte über Kreuz und löste das Rätsel. «Ihr seid lesbisch?» fragte ich
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Romy Schneider und Brigitte Bardot. – «Ihr seid es, ihr wißt es nur nicht», versuchte Rächa Lederbeil wenigstens eine der beiden für sich zu behalten. Doch die Prominenten hatten es eilig, an die Öffentlichkeit zu kommen. Als ich die beiden abends im Fernseher sah, bedauerte ich, ihnen nicht nachgerannt zu sein. Plünda Zwillings Bruder hatte Schneeglöckchen und Krokusse im Hinterhof gepflanzt. Von da aus grassierte der Frühling durch Berlin. Ich saß unterm Straßenbaum und konzentrierte mich auf nie gehörte Klänge. Als ich die Kassette umdrehte, war ein Mann in die Knie gegangen und skizzierte mich. Eitel bat ich um die Herausgabe der Zeichnung. Er sagte, ich könne mit ins Atelier kommen. Wir tranken Tee, den er siebenmal aufgoß. Die Gerbsäure zog meinen Magen zusammen. Er verkümmerte. Ich versprach dem Maler einen frischen Tee bei Plünda Zwilling, die eine Tür weiter wohne. Auf dem Weg fragte er, was ich so mache. Ich erzählte von fotografischen Fortschritten. Er kannte auch jemanden, den er mir bei Gelegenheit vorstellen wollte. Doch der Fotograf saß längst bei Plünda Zwilling: ihr Bruder. Der Maler, schon lange mit dem Bruder befreundet, staunte, wie sich das vierjährige Mädchen von damals zur Frau entpolstert hatte. Er bot Plünda Zwilling einen Nebenverdienst an. Dazu organisierte er Malinteressierte. Jeden Mittwoch stand sie Akt. Ein junger Abbildner zündete sein Flämmchen an ihrer regungslosen Erotik. Zurückhaltend näherte er sich ihr. Ich saß noch auf dem Fensterbrett, als der Mond ins Zimmer schien. Sein Licht tätowierte eine Goldsichel in meinen Barfuß. Plünda Zwilling erzählte flattrig, daß sie entjungfert sei und schwanger. Ihr Bruder dürfe davon nichts wissen. «Von dem jungen Abbildner?» fragte ich. – «Nein, vom besten Freund meines Bruders», wimmerte sie. – «Wovor hast du Angst?» tröstete ich. «Der Maler ist zwar ein uralter Zausel, aber es wird schon nicht Rosemarys Baby dabei herauskommen.» Am Morgen darauf klopfte es in einer unentschlossenen Lautstärke. Ich krempelte gähnend den Schlafsack von den Schultern. «Ja doch!» bat ich um Geduld. Sorgengefältelt stand der Maler in der Tür. Knautschiges giebelte seinen Graukopf. Ich hielt es für eine zusammengeschobene Autokarosse, doch dann erkannte ich den Filzhut. Er nahm Platz. Von Neugier ungequält, setzte ich mich dazu. «Ich liebe Plünda. Ich möchte sie und das Kind nicht im Stich lassen. Morgen habe ich den ersten Gerichtstermin. Unsere Ehe war harmonisch. Meine Frau hat die Scheidung einfach nicht verdient», jammerte er. – «Ist man verpflichtet, Probleme zu haben, wenn man sich trennen will?» fragte ich, einen Bildband des russischen Malers Jewgenij Tulotzmotz hervorkramend. «Guck mal, was mir gefällt»,
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schob ich ihm die Ablenkung über den Tisch. – «Ja, den habe ich Plünda geschenkt», kam er auf sein Thema zurück und weinte. Tage darauf gaben mir der alte Maler und Plünda Zwilling zu verstehen, daß sie zur Unterhaltung nicht nur ihre Köpfe zusammenstecken wollten. Deshalb besiedelte ich mit meiner Sofadecke das Hausdach. Der Horizont halbierte die Abendsonne. Für neun Stunden schloß ich die Augen. Als ich sie wieder aufschlug, klammerte am gegenüberliegenden Horizont die andere Hälfte. Ich stand auf, kaufte wohltätig Fisch, briet und säuerte ihn. Auf jeden zubereiteten Meeresbewohner legte ich das Bullauge eines Zwiebelringes. «Was für einen Grund hast du zu feiern?» fragten Plünda Zwilling, ihr Bruder und der alte Maler. Ich stopfte mir Brathering in den Schlund, um mit Schweigen antworten zu dürfen. Dann riß ich mich aus ihrem Zusammenhang. Mit einer Flasche Apfelsaft in der Hand trat ich die ein paar Straßen weiter gelegene Wohnungstür ein. Der Punk über mir ekelte, ob ich einziehen wolle. Im Laufschritt setzte ich das Schloß ein. In der besetzten Wohnung feierte ich die Flasche Apfelsaft zu Ende. Ich riß eine neue an. Mein Blick spazierte aus dem Fenster und gongte an die gegenüberliegende Hauswand. Das Jahrhundert hatte sich in ihre Ziegel gefressen. Tauben polsterten den entstandenen Vorsprung für ihre Nachkommen aus. Weil der Strom abgeklemmt war, zündete ich ein Streichholz. Davor saß ich noch, als mich der Schlaf zu sich holte.
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20. Kapitel
Der Ekelpunk vom Vortag stellte sich freundlich als Co Mähni vor. Hilfsbereit klemmte er den vom Energiekombinat abgeschalteten Strom an. Ich versprach, ihn dabei nie gesehen zu haben. Co Mähnis Begleiter fragte, wovon ich lebe. Ich zuckte die Schultern. Er streckte sich aus, schlief ein und weckte mich morgens um vier. Nachdem ich ihm in seinen russischen Militärmantel geholfen hatte, stiegen wir die unbeleuchtete Treppe hinab. Auf dem Bürgersteig spiegelte sich der Mond. Ehe ich ihn zertreten konnte, saß er auf meinem Oberschenkel. Co Mähnis Freund drückte eine Haustür auf. «Jetzt leise», flüsterte er. Wir standen im Hof einer Bäckerei. Die Angestellten hatten einen Kessel Pudding zum Abkühlen rausgestellt. Lautlos füllten wir Schüsseln und trugen sie dampfend nach Hause. «Jeden Tag Pudding», schnauzte ich, fiel satt zurück und schlief bis Mittag durch. Dann schleifte ich ein Gardinenbrett, das die Kellertür versperrt hatte, nach oben, maß es aus, sägte und paßte es auf halber Höhe an der Längswand ein. An die Gardinenhalter knipste ich meine Klamotten. Darüber war der Tag alt geworden. Ich durfte das Frühstück bei Plünda Zwilling nicht verhutzeln lassen. Als ich abends mit dem Fahrrad zurückkam, sperrte Co Mähni die Straße. Fasziniert betrachtete ich seine betonten Backenknochen, die abgerundete Nase und ein versträuchertes Kinn, drei unterschiedliche Gegenden, die zu einer attraktiven Fresse zusammenfanden. «Willst du mich anmachen? Oder was glotzt du so blöd?» Ich fragte, warum er mich von der Rostfarbigen heruntergeholt habe. «Die Bullen sind da. Besser, du gehst nicht nach Hause», sagte er. Das Zigarettengeld in der Jackentasche kühlte meine nervösen Finger. Ich legte es für zwei Kinofilme hin. Als ich zurückkam, war das untere Viertel der Tür eingetreten. Ich kroch durch. Nachnutzer des staatlichen Einbruchs hatten die Gitarre von der Gardinenstange abgeknipst. Auch das Tonband war verschwunden. Ich schiß drauf und startete den Neubeginn. Der nächtliche Begleiter schlief wieder bei mir. «Wie heißt dein Freund?» fragte ich Co Mähni auf halber Treppe. – «Das ist nicht mein Freund», sagte er kratzbürstig. Ich fragte ihn selber. «Meine Freunde nennen mich Go», sagte Co Mähnis Nichtfreund, bevor er seine Augenlider senkte. Seit Tagen beobachtete Meine-Freunde-nennen-mich-Go einen verrosteten Barkas, der bis unter das Dach mit leeren Erdbeerkörben
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beladen war und nie gefahren wurde. «Pro Korb zwei Mark Pfand, wenn wir an die herankommen.» – «Wir brechen das Auto auf?» begriff ich entsetzt. In einem passantenfreien Moment löste er sich von der Hauswand. «Anfänger», sagte ich, als er ohne Obstkörbe zurückkam. – «Mit Kellerschlössern kenne ich mich besser aus», grollte er und zeigte, wie nachgiebig die verschlossene Tür eines Bauwagens ist. Obwohl ich mich nur als Zuschauer beteiligte, gab er acht Mark ab. «Genau die Hälfte», staunte ich. – «In der Theatergarderobe habe ich mehr verdient», prahlte er. – «Das ist gutgegangen?» fragte ich. «Zwei Jahre Jugendwerkhof.» Mit Meine-Freunde-nennen-mich-Go baute ich mein Diebestalent zur Perfektion aus. Wir steckten nur Lebensnotwendiges ein. Mit halbvollen Rucksäcken begaben wir uns in die nächste Kaufhalle und fragten die Kassiererin, ob sie auf das Gepäck aufpassen könne. Dann schlugen wir uns die Jackentaschen voll, holten die Rucksäcke ab und bedankten uns. Zu Hause verglichen wir, wer am teuersten gestohlen hatte. Bekannten erzählte ich bescheiden, aber unüberhörbar, von meinen Erfolgen. Ich war überrascht zu erfahren, daß jeder klaute, außer Tuone Mentira. Nachdem ich ihr Butter geschenkt hatte, fragte sie, ob ich sie mitversorge. Das lehnte ich ab. Sollte ich erwischt werden, würde sie mich auch nicht ersetzen können. Erst als ich im Deckenspiegel einer Kaufhalle erkannte, daß sich mein kindliches Gesicht in das eines finsteren Ganoven verwandelt hatte, nahm ich mir vor, nie mehr zu stehlen. Das teilte ich MeineFreunde-nennen-mich-Go mit. Unsere Wege trennten sich. Die Abwesenheit von Meine-Freunde-nennen-mich-Go füllte meine Gegenwart mit Inhaltsleere. So seitete ich mich wieder an Rächa Lederbeil. Sie nahm mich mit zu ihrem schwul-lesbischen Arbeitskreis. Der organisierte sich straffer, um rekrutierte Mitglieder gegen den § 175 auszuschicken. Egal, wie heimlich sie sich trafen, die Mulattin Polda Wünschinger schneite als Laufkundschaft herein. Kaum hatte sie sich hingesetzt, stellte sie auf jeden die Augen scharf, der ihren bösen Blick erwiderte. Für die Prenzelberger blieb ich ein Frischling, wegen meiner provinziellen Angewohnheit, jeden zu grüßen, der mir einmal begegnet war. So winkte ich auch Polda Wünschinger zu. Es nervte sie, von einer Unbekannten angesprochen zu werden. Also erfragte sie meinen Namen und lud mich zu einem Kaffee ein, den sie bezahlen wollte. Die Häuptlingstochter des kongolesischen Schildkrötenclans erzählte, sie habe einen steinreichen Vater, der sie aus der DDR befreien werde. Beim MfS hatte sie schon mal ihre Ausbürgerung beantragt. Auf die Frage des Beamten: «Weshalb?» erwiderte sie: «Man sieht doch schon an meiner Hautfarbe, daß ich
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nicht hierhergehöre!» Mit einer Bierblume vor dem Mund kippte die Quartalsepileptikerin vom Stuhl. Ich bezahlte und richtete die Zukunft so ein, daß ich nur jedes zweite Mal Geld dabeihatte. Ihr fiel es dann leichter, auch mal meine Zeche zu bezahlen. Proc Sunk gab eine Knoblauchbrotparty. Ich kam als zweite. Polda Wünschinger hielt bereits ihr Ohr an den Lautsprecher, um schwarzen Jazz zu kapieren. Es kam Werbung. Ich fragte, ob sie einen anderen Sender einstellen könne. «Ich bin nicht dein Nigger.» Die gleiche Antwort kam, wenn Gäste darum baten, ein wenig zu rücken oder die Weinflasche herüberzureichen. Die Irritation eines jeden verriet mir, wie froh Polda Wünschinger war, nicht in deren weißer Haut zu stecken. «Hallo Nigger», begrüßte sie volltrunken einen anderen Mulatten. Er stellte sie zur Rede. «Ich sage das als Betroffene zu dir und nicht als Weiße.» – «Aber vor Weißen», klagte er. – «Nicht so verbissen, Brüderchen.» Polda Wünschinger trollte sich. Im Korridor schlief sie auf den abgelegten Mänteln ein. Bei einer Malerin, die den Winter nicht alleine in ihrem riesigen Atelier verbringen wollte, konnte jeder seinen Schlafsack aufschlagen, der Kohlen mitbrachte. Polda Wünschinger brachte keine, also wurde sie wieder weggeschickt. Sie kam mit einer Reisetasche voll zurück und sollte den Ofen heizen. Dazu pellte sie die Reisetasche von einem riesigen Kohleklumpen, den sie ins viel zu kleine Ofenloch zu schieben versuchte. «Die ist so blöde, diese Niggerin ... Schmeiß die raus», sagte eine Tunte aus Warschau und tuckte ins Nebenzimmer. Daß die Tucke überhaupt mit Polda Wünschinger den Winter ertrug, hatten sie gemeinsamen Trinkgelagen zu verdanken. Einträchtig zogen sie sich am Treppengeländer zu ihrem Asyl hoch. Unterwegs belegten sie eine Mitmieterin, ob sie Leichen fresse, so stinke es jedenfalls, wenn sie das Klo auf halber Treppe verlasse. Doch solche Beschimpfungen Dritter brachte die beiden einander nicht näher. Der eisige Wind verlor einen Schuh und trieb ihn vor sich her. Polda Wünschinger kam mir auf der Straße entgegen. Arm in Arm liefen wir zusammen weiter. Alleine war ich sehr auffallend. Doch neben der negriden Polda Wünschinger verblaßte ich hoffnungslos. Männer streuten ihr Blumen, weil sie noch nie einen afrikanischen Busch in Brand gesteckt hatten. Auch unter den Heteras gab es Schwärme probierender Frauen, denen die Köpfe abknickten, wenn Polda Wünschinger nach aufgebrauchter Lust die nächste Blüte anflog. Als sie geboren wurde, hatte ihre arische Mutter sie in den Halsring ihrer fünf Finger genommen und zugedrückt. Die Krankenschwestern kamen gerade noch rechtzeitig, um ein zweites Mal um Polda Wünschingers Leben zu kämpfen. Sie adressierten das Baby an den
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schwarzen Mann. Der wollte sie bei seiner Familie im Kongo abliefern, die sich rührend um die Häuptlingstochter gekümmert hätte. Aber 1961 baute die DDR eine Staatsgrenze um den guten Vorsatz. Der Vater brachte sie für ein paar Wochen zu seiner Ausländerbetreuerin. Jahrelang versprach er, das Kind zu sich zu nehmen. Doch seine Karriere als europäischer Medizinmann erlaubte es nicht. Schon als Kind mußte sich Polda Wünschinger gefallen lassen, daß fremde Tanten ihre Bäckchen abschmatzten. Das Haus, in dem sie mit ihrer Pflegemutter wohnte, wurde von Dörflern heruntergebrannt. Sie duldeten keine «Negerhure» in ihrer inzesten Zusammengehörigkeit. So wanderten sie in die Stadt aus. Die Lehrer lohnten ihr dunkles Aussehen mit verboten guten Zensuren oder ließen sie unerträglich lange nachsitzen. Bewarb sich Polda Wünschinger um eine Lehrstelle, fragte der Kaderleiter, ob sie überhaupt die deutsche Sprache beherrsche. Daß ich heute, wo sie ausgewachsen ist, neben ihr verblasse, neide ich ihr nicht mehr. Jede von uns beiden kennt die Geschichte der anderen. Doch können wir uns gegenseitig keinen Halt geben. Unsere Suche geht weiter. In der Unendlichkeit des Unmöglichen wird sich schon was finden. Mein Leben richtete ich so ein, daß ich nicht mehr auf Gelegenheitsarbeit angewiesen war. Dabei half mir Polda Wünschinger. Sie schlug die Zeitung auf und strich Ausstellungseröffnungen an. Ich stellte die günstigsten U-Bahn-Verbindungen zusammen, dann zogen wir los. Ich aß, Polda Wünschinger soff. Bei den empörten Künstlern wurde sie durch ihre Randale bekannt. So hatte sie sich schon einen Namen gemacht, als sie erste Gedichte gegen großzügige Trinkgelder verschleuderte. Das nächste Mal traf ich Polda Wünschinger wieder auf der Straße. Unglaublich, sie lehnte meine Einladung in die Kneipe ab. Zur Begründung zeigte sie ein gekochtes Ei, das sie ihrer kranken Mutter bringen wollte. Mich wunderte, daß die Häuptlingstochter überhaupt eine hatte. Neugierig eskortierte ich sie. Polda Wünschinger überreichte ihrer Mutter das Ei. Die alte Frau mit den Indianerzöpfen murmelte es sich dankbar in den Mund. «Hoffentlich wird sie gesund», betete ihre Tochter. «Dann borge ich Geld und kaufe ihr einen warmen Teppich.» Die Mutter genas. Polda Wünschinger hob sich nun ihren guten Vorsatz für den Ernstfall auf. Noch immer staunte ich, was für eine gute Mutter Polda Wünschinger ihrer alten Mutter war. Das sagte ich ihr auch. Seitdem wirft mir Polda Wünschinger nicht mehr vor, daß ich sie andeutsche. Als die Silbersaat der Sterne aufging, brach Polda Wünschinger durch meine Wohnungstür. «Meiner Frau habe ich mit einem dekorativen Blumentopf das Fenster eingeworfen. Statt mich nach
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diesem Liebesbekenntnis in die Arme zu nehmen, hat sie mich rausgeschmissen. Am Telefon versprach ich, die Scheibe zu ersetzen. Was antwortet meine Angebetete? Auf das Geld pfeife sie. Aus meiner Liebe solle ich Gedichte schmieden, statt meinen Kummer auf sie zu verwenden.» – «Das ist doch wunderbar konkret. Laß sie in Ruhe und suche dir eine andere Schnepfe», sagte ich. – «Bist du scharf auf sie?» verdächtigte mich Polda Wünschinger. Ich lachte. «Wie denn? Ich kenne sie gar nicht.» – «Meine Erzählungen machen dich scharf», argwöhnte sie. Hi! An einer geschiedenen Frau mit drei Kindern blieb Polda Wünschinger endlich backen. Die lernte sie auf einer privaten Lesung kennen. Als alle anderen abgezogen waren, hielt Denka Ärtschpi Polda Wünschinger zurück, indem sie ihr einfach die Kleider vom Leib riß. Am nächsten Morgen verdrückte sich Polda Wünschinger in den Industrienebel, der über der Stadt lag. Denka Ärtschpi warf das Lasso. Nun hatte Polda Wünschinger keine Skrupel mehr, sich den Komfort eines geregelten Familienlebens einzuverleiben. «Liebst du sie?» fragte ich, weil die Beziehung das gewohnte Zeitmaß schon überschritten hatte. «In Denka Ärtschpi war ich nie so verliebt wie in meine anderen Frauen. Sie habe ich lieben gelernt», sagte Polda Wünschinger offenen Auges. Von jetzt an traf ich Polda Wünschinger immer im Warmen. Denka Ärtschpi übersah mich in ihrer eigenen Wohnung. Doch hatte Polda Wünschinger soviel mit mir zu besprechen, daß sich Denka Ärtschpi zu sorgen begann. Eines Tages fragte sie, wer ich überhaupt sei. Diszipliniert zügelte ich meine Offenbarungen und fragte, was sie so treibe. Denka Ärtschpi stolzte, sie sei die Haushälterin von Isa Olf. Ihr oblägen alle Verrichtungen im Haus, vom Kloausbürsten bis zum Abtippen der Manuskripte. Als sich Isa Olf noch keine Haushälterin leisten konnte, verbrachte sie ihre Jahre damit, als Schriftstellerin berühmt zu werden. Nebenher wuchs ihr Sohn auf. Als er aus dem Haus ging, stammelte er, daß der Vater ihm mehr gegeben habe, als sie je wiedergutmachen könne. «An mir macht sie ihre Versäumnisse wieder gut. Doch wenn er die Familie besucht, fühle ich mich als Ersatztochter nicht mehr wohl.» Denka Ärtschpi besuchten Leute, die selbst keinen heißen Draht zu Isa Olf hatten, doch ihrem Ruhm so nahe sein wollten. Sie sprachen von der genialen Literatur, die Isa Olf, den widrigen gesellschaftlichen Umständen zum Trotz, so clever für die DDR erwirtschaftete. Denka Ärtschpi staffierte die Gespräche mit Privatgeschichten aus, derentwegen alle gekommen waren. Ich hingegen wollte Polda Wünschinger nur zum Kinobesuch abholen. Nach diesen unfreiwillig aufgeschnappten Konversationen und als
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auch noch Polda Wünschinger der Schriftstellerin restlos verfallen war, bekam ich von Isa Olf kein Buch mehr hinunter. Ich war bereits von deren Privatleben überfordert. Polda Wünschinger versprach mir einen Trip. Für DDR-Verhältnisse trampten wir in den hohen Norden. Ein Fahrer fand Gefallen an ihrem braunen Arsch, doch das Angebot verklemmte im Wirrwarr seiner Formulierungen. Polda Wünschinger setzte sich die Bierflasche an den Hals. «Was erwartest du? Rotkäppchen auf dem Strich?» blubberte sie aus dem Bierschaum. Beschämt propellerte der Fahrer ein anderes Thema an. «Wo wollt ihr hin?» Polda Wünschinger nannte ihm eine Landschaft, in der Isa Olf ihr Arbeitsschloß zu stehen hatte. «Die wollt ihr besuchen? Ich bring euch hin», bot er an. Die Schriftstellerin erkannte Polda Wünschinger. Sie ließ uns eintreten. Der Fahrer hockte sich Isa Olf zu Füßen, rezitierte aus ihrem neuen Buch und stellte Fragen. Die Antworten ließ sie fallen wie Bröckchen, mit denen man einen bettelnden Hund um sein Hauptgericht prellt. Danach ging Isa Olf lobend auf Texte von Polda Wünschinger ein, die man ihr hinterbracht hatte. Die Haushälterin Denka Ärtschpi servierte einen Imbiß, den man mit Messer und Gabel zu sich nehmen sollte. Das macht einen nicht mehr anfällig fürs Händewaschen. «Du hast Talent. Arbeite daran», redete Isa Olf auf Polda Wünschinger ein, um ihr den Sinn des Lebens als Dichterin zu erschließen. Polda Wünschinger bekam kein Wort heraus. Ich zwang mich wegzuhören, weil von Arbeit, von sehr harter Arbeit die Rede war. So schaute ich meinem Blick hinterher. Der geriet aus dem Fenster. Eine Reitergruppe schattierte das entfernte Seeufer. Ein Berittener führte ein Strichpferdchen neben seinem her. Mein Glasauge vergrößerte das freie Pferd um ein Vielfaches. Das Besteck fiel mir aus der Hand. Auf dem Teller klapperte es los wie ein Morgenwecker. Ich riß das Fenster auf, schrie und fuchtelte. Die Gruppe kam heran. Ich fragte, ob ich den Ungesattelten reiten dürfe. Ich durfte. Schließlich kam ich aus dem Hause Olf. Durch das Plankton der mecklenburgischen Wiesen preschte ich meinen Nachfolgern davon. Zurück im Hause Olf, stellte ich für jede meiner Arschhälften einen Stuhl auf, um die wundgerittene Mitte zu schonen. Dann fragte ich Polda Wünschinger, warum alle so kniefällig würden, wenn sie sich im Energiefeld der Schriftstellerin befänden. Polda Wünschinger bestätigte, daß sie ihr nicht einmal richtig zuhören konnte. Die ganze Zeit habe sie durch graue Schleier gesehen. Ich konnte das nicht nachvollziehen. Meine Dresdener Großtante hatte mich schon in Kinderjahren gelehrt, daß berühmte Leute aus dem gleichen Loch schissen wie wir.
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In Berlin wütete ich einen Ergänzungsantrag nach dem anderen an das MfS. Daraufhin wurde ich vorgeladen. Doch in meinem Ausreiseantrag fehlten noch Angaben zu den Eltern. «Vollwaise», sagte ich. – «Sie hatten einen Vormund», erwiderte der Beamte aktenkundig. Das erinnerte mich an die U., die versucht hatte, aus mir milieuverunglücktem Äffchen einen anständigen Menschen zu evolutionieren. Co Mähni erzählte ich, daß jemand Elternloses ausreisen wolle. Ich sollte konkreter werden. Daraus schloß er: «Keine Chance. Ein mißratenes Parteisekretärziehkind behält die DDR hier, um dem Westen keine pädagogischen Schwachstellen preiszugeben.» Ich wurde bleich. Co Mähni erkannte, daß mir der elternlose Jemand tatsächlich am Herzen lag. «So mitfühlende Berliner gibt es nur durch Zuzug aus der Provinz», äußerte er verständnislos. Meine Verzweiflung klammerte sich an einen Strohhalm. Ich trampte ins Küstenstädtchen und besuchte Onan Bändiger. Er hatte als Grenzsoldat gedient. Nachdem ich ihn detailliert über seinen ehemaligen Grenzabschnitt ausgefragt hatte, schenkte er mir seine wärmsten Unterhosen und ein Notpäckchen Medikamente. Meine ORWO-Filmnegative brachte ich zu Plünda Zwilling. Sentimental fragte ich, ob sie mir in den Knast schreibe. Ihr herabfallender Kaffee tintete den Teppich. «Kannst du in der DDR nichts finden, was dir den Spaß am Weltreisen ersetzt?» Im Wechselrahmen der Witterung sprießte ich den Daumen. Ein Trabant 5m hielt. Ich ließ mich vor Einbruch der Dunkelheit an der Abfahrt aussetzen. Ein Mähdrescher entkorkte gerade Roggen, das abgeschnittene Blondhaar des Sommers hinter sich werfend. Dann machte der Kornfresser Feierabend. Ich rollte den Schlafsack aus. Aufziehende Wolken verstrüppten den Himmel, so daß er für den Mond nicht schiffbar war. Ein gleichmäßiger Regen setzte ein, er synchronisierte meinen Herzschlag, bis ich einschlief. Der letzte Fahrer vor der Landesgrenze nahm mich bis Wernigerode mit. Er fragte, wo ich hinwolle. Onan Bändiger hatte mir zu einer festen Adresse geraten, weil es im Vorfeld der Grenze Kopfgeldjäger aus der Zivilbevölkerung gab. Vermutlich hatte auch diese Stadt eine Thälmannstraße. Vor der Nummer dreizehn ließ ich mich absetzen, kaufte beim Bäcker ein Kilobrot, steckte es in den Rucksack und setzte mir den Buckel auf. Im öffentlichen Klo lullerte die Feldflasche voll. Ich verschraubte den Sprudel und hängte das stille Wasser im Gurt ein. Außerhalb der Stadt nordete ich den Kompaß. Bis zum Grenzgebiet nutzte ich die ausgeschriebenen Wanderwege, hinter dem Warnschild kletterte ich über blaubeerkrautbezogene Steine den Brocken hoch. Die Tannen standen jetzt dichter. In
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jahrzehntelanger Menschenleere waren ihre untersten Äste ausgewachsen, sie spiralten in die Erde. Ein Geweih-träger brach aus dem Gebüsch, starrte mich an und hirschte davon. Vor einer Serpentine duckte ich ab, weil sich ein Motorengeräusch aus der Stille sägte. Nach sechs Stunden zog ich den verschwitzten Pullover aus. Ich robbte zum Waldrand. Dort fand ich die Grenze fast genauso vor, wie Onan Bändiger sie mir beschrieben hatte. Die Selbstschußanlagen waren noch nicht demontiert, obwohl die Tageszeitungen es versprochen hatten. Dafür fehlten Kettenlaufhunde. Eine Streife passierte schwatzend die Kurve. Ich schaute auf die Uhr und maß den Abstand bis zur nächsten aus. Als sie vorüber war, zog ich die Schuhe aus und lief zum Grenzzaun. Dort war es so steinig, daß auf den geharkten Streifen verzichtet worden war. Die Zehen bekam ich nur mühsam zwischen die Maschen, so zog ich mich hauptsächlich an den Händen hoch. Auf halber Höhe sah ich das Silberauge des drei Kilometer entfernten Wachturms. Eilig kletterte ich ab. Diese Nacht wollte ich noch in der DDR verbringen, um für den Westen ausgeruht zu sein. Ich schlich zum Rucksack und fand ihn nicht. Mein Herz schlug am Hals durch, als ich mir ausmalte, vorzeitig über den Zaun zu müssen oder die Nacht auf Steinen frierend zu verbringen. Panisch suchte ich die Umgebung ab. Nach einer Dreiviertelstunde lugte mein Rucksack unter dem Felsen hervor, wo ich ihn eingeklemmt hatte. Erleichtert legte ich den Schlafsack aus, zog die Armeeplane darüber und kuschelte mich ein. Die Dämmerung dämpfte das Vogelzwitschern. Sie gebar kleine Beißfliegen, die sich auf dem Gesicht niederließen und an meinem Blut besoffen. Ich rieb sie mit meiner Halswindel von Stirn und Wangen, dann deckte ich damit den Kopf ab. Darunter sog ich den gebrauchten Atem ein und befahl mich in den Schlaf. Das erste Mal weckten mich schwere Schritte, vor denen der Lichtkegel einer Taschenlampe tänzelte. Ich lag zu dicht am Trampelpfad. Um keine Geräusche zu machen, schlief ich wieder ein. Beim zweiten Aufwachen packte mich die Hand eines Grenzers zwischen den Schulterblättern. Aus dem Traum erwachend, schrie ich auf. «... sss ... sss ... sss», hüpfte ein Kilotier von meinem Rücken und sprang durch das Blaubeerkraut davon. Am Morgen leuchtete die Sonne den Höhleneingang aus, vor dem ich geschlafen hatte. Ich rollte Schlafsack und Plane ein, frisierte mir Rattenschwänze, zog mich bis auf das T-Shirt und die leichten Hosen aus, versteckte den Rucksack und pirschte vor. Eine Streife lief vorbei. Ich rannte zum Zaun und hangelte hoch. Ein Armeelaster kündigte sich rechtzeitig mit Motorenlärm an. Ich ließ mich fallen, schlug mir ein
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Knie auf und hechtete in den Wald. Als der Laster passierte, versuchte ich es noch einmal. Fast oben, schon in Sichtweite des Wachturms, hörte ich einen Pkw heransurren. Eilig ließ ich mich hinab. Mit den nackten Füßen aufkommend, starrte ich eine Doppelsekunde dem Fahrer in Zivil ins Gesicht. Erledigt ging ich in den Wald und wartete den Großalarm ab. Ich setzte mich auf einen Stein. Dort nahm ich den Kopf in meine Hände, damit er mein Problem nicht alleine zu tragen hatte. Um mir die Zeit bis zur Gefangennahme zu vertreiben, suchte ich meinen Rucksack. Nach einer Stunde fand ich ihn. Langsam schöpfte ich den unglaublichen Verdacht, daß ich gar nicht angezeigt worden war. Vielleicht hatte der Fahrer an eine Halluzination geglaubt. Vielleicht liefen des öfteren rattenschwänzige Offizierstöchter an der Grenze herum, und ich wurde als solche toleriert. Ich verzichtete auf eine verschmorte Plastehülse, die sich beim Auslösen verbogen hatte und schon Moos ansetzte. Mein Kilobrot war zu winzig, um sie darin einzudrehen. «Zurück», feigelte ich. Der Ärger darüber zog wie eine Beutelschnur meinen Magen zusammen. Den Kompaß ließ ich gleichgültig in der Tasche und ging nur noch schräg an der Sonne vorbei. Die Naturbilder des Hinwegs liefen rückwärts ab. Hinter dem Warnschild wurden die Blaubeeren schlagartig klein und staubig. Am Abend trödelte ich in die Grenzstadt ein. Ich überkletterte einen kniehohen Gartenzaun und stolperte zum Schlafen in den Rhododendronbusch. Am nächsten Morgen guckten meine Beine bis zur Hüfte aus den Zweigen. Jemand stieß mir seine Schuhspitze gegen die Fußsohle. Mein Oberkörper rauschte aus den Blättern des Busches. Der Jemand fragte, was mir fehle. «Ein sozialistischer Lebensinhalt», parierte ich. Sein Zeigefinger, auf den Mund gelegt, stoppte weitere Ausführungen. Er fragte, woher ich sei. «Wieder so ein Berliner», rief er seiner am Fenster zusammengedrängten Familie zu und lud mich zur Morgenwäsche ein. «Was habt ihr gegen Berliner?» kaute ich Kuchen. – «Für sie ist alles selbstverständlich oder unter aller Würde.» – «Es gibt noch andere Berliner, solche wie mich», widersprach ich. – «Wieder so ein Berliner», sagte er. Um Erla Mia mit meinem todesmutigen Mißerfolg zu erschüttern, trampte ich ins Küstenstädtchen. Dort warf ich mich in ihren Kugelsessel. Als ich vom gescheiterten Grenzübertritt erzählte, fieberte sie offenen Mundes mit. «Hast du, neben deinen Ohren, noch ein drittes Schalloch nötig, um mich zu verstehen?» fragte ich. Erla Mia schloß den Mund. «Warum hast dich nicht vorher verabschiedet?» bemängelte sie. – «Du und mein Fluchthelfer, ihr kennt euch. Hätten sie mich geschnappt, wären alle meine Freunde durch den Fleischwolf der Verhöre gegangen. Unwissenheit schützt,
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denke ich mal.» Erla Mias vor einem Jahr geborene Tochter Perla tapste herein. Sie blieb wankend im Zimmer stehen und rannte dann mit offenen Armen ihre Mutter ein. Den Kopf in ihrem Schoß vergraben, ningelte sie, bis Erla Mia ihr ein Breichen fütterte. «Kannst du nicht deine Ausreisebewilligung abwarten?» fragte sie. – «Bis zur Rente? Der innenpolitische Beruf der U. ist mein Handicap», sagte ich zum Abschied, bevor Perla in den Mittagsschlaf gesungen wurde. «Wo hast du Sohatte die Ratte verbuddelt?» fragte ich in der Tür. – «Dieses Luder wirst du hier nie mehr erleben. Wegen ihrer Zanklust lassen sich hier kaum noch Freunde sehen.» In Berlin umarmte mich Plünda Zwilling. Sie bereitete mir ein Schaumbad in der Wohnung ihres abwesenden Bruders. Dann stellte sie einen Teller belegter Brötchen auf den Wannenrand. «Kannst du damit leben, daß du wieder zurück bist?» forschte sie. – «Ich habe ein Vorne für meinen Rückweg gefunden», sagte ich und tauchte unter. – «Was für ein Vorne?» empfing mich ihre Frage, als ich an die Oberfläche kam. Ich stieß einen Walfischstrahl aus. Darauf tanzte das belegte Brötchen. Wenn ich es auf der Fontäne halten wollte, mußte ich mir einstweilen die Antwort verkneifen.
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21. Kapitel
Ich radelte zur Kaufhalle und schloß mein Fahrrad an ein Straßengeländer, das gerade rot-weiß gestrichen wurde. Als ich mit den Einkäufen herauskam, sah es von weitem aus wie verschwunden. Ich schloß es wieder ab. Auffällig wie ein Straßengeländer bewegte ich mich im Verkehr. Die Häuser verloren an Höhe, ihre grüner werdenden Zwischenräume weiteten sich. Mein Herz, diese europäische Buschtrommel, gaukelte mir das südpolare Ende der DDR vor, wo meine sorbischen Vorfahren angeblich auf ihr Recht zum Überleben pochten. Weit hinter Berlin fragte ich in einem Gehöft, ob ich in der Scheune übernachten dürfe. Die Bäuerin wand sich damit heraus, daß Heu brennbar sei. «Ich bin Nichtraucher», versicherte ich. Doch das änderte nichts daran, daß Heu brennbar ist. Ich mußte weiterziehen. In die Lausitz eingeradelt, riß ich mir die Kamera von der Schulter und heftete eine sorbische Trachtenomi aufs Negativ. Dann fragte ich sie, ob ich mein Zelt auf ihrem Wiesenklecks aufbauen dürfe. Sie sichelte Unkraut, um mir den Platz zu ebnen. Als ihre Enkel von den letzten Strahlen der Sonne abstiegen, sahen sie mich befremdet an. Sie lachten erst, als ich den Fotoapparat auf sie richtete. Dann warfen sie mir einen Ball zu. Ich schoß das Rund zurück. Wir bildeten zwei Mannschaften, deren Gelächterschollen überlappten, bis die Großmutter uns zum Abendbrot rief. Vollgeschlagen kroch ich in den Schlafsack. Bevor ich einschlummern konnte, zeichneten meine zeltumspannten Sinne ein geschäftiges Trappeln auf. Der Hofhund schlug an. Das Schritteln hielt inne, registrierte den angeketteten Wächter und setzte wieder raschelnd ein. «Wer da?» rief ich in die Finsternis. Ich riß den Zelteingang auf. Rehe stoben davon. Den Eingang ließ ich offen und versuchte zu schlafen. Wieder näherten sich die Sorbenantilopen. Ihre Lispeleien verdichteten sich zur Masse. «Wo es unbekümmerte Rehe gibt, hat der Wolf gute Überlebenschancen», rechnete ich mir aus. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Räuber ihre polare Schneedecke schultern würden, um in dieses Rotwildparadies einzubrechen. Ich mochte nicht daran denken, daß Wölfe mir diese bringen würden, wenn über Nacht die Klimakatastrophe hereinbräche. Während ich in meinem Visionennetz zappelte, ästen sich unerbittlich die Rehe des Grauens heran. Im Halbschlaf warf ich Gegenstände nach ihnen, die ich am Morgen wieder zur Ausrüstung zusammenstellen wollte. Die Rehe bekamen militärischen Nachschub. Schwadronen Spreewälder Mücken flogen zierliche
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Luftangriffe. Ihr Napalm streckte mich nieder wie eine Überdosis Schlafmittel. Als die Sonne den Zelteingang flambierte, fanden die Enkel nur noch Überreste meines verbeulten Körpers. Ihre Großmutter rief mich ins Haus und belebte mich mit einem nahrhaften Frühstück. Danach begleiteten mich alle zum Fahrrad. Ich verbeugte mich. Dann deutete ich auf den Spätsommerhimmel und verschwand. Statt meiner flogen Schwalben zwischen den Flugzeugen. Sie verschleiften die Kondensstreifen zu einem Dankeschön. Zwei Dörfer weiter war Hahnenrupfen. In kurzgeschnallten Steigbügeln trabten die Reiter unter dem Festgalgen durch und streckten sich nach den angebundenen Zigarettenpackungen, der Schnapsflasche und dem Räucherschinken. Als die Gewinner ihre Trachtenmädchen mit diesen Genußmitteln beschenkten, hielt ich die Veranstaltung für beendet. Ich fragte einen Bauern, ob er mir seinen rotbrüstigen Junghengst ausleihe. «Sein oller Besitzer macht's auch», lachten die Biernachbarn. Ich verpfändete meine Kamera und galoppierte durch die beiseite springenden Zuschauer auf den Wald zu. «Der galoppiert ja», staunte sein Besitzer, als ich zurückkam. Ihm stand ein Lächeln im Gesicht, das durchhing wie eine Ziehharmonika. «Heirate die. Dann biste nägstes Jahr Erntekönig», berieten ihn seine betrunkenen Anwälte in sauberen Arbeitshosen. Die Umbaupause war beendet. Am Querholz baumelte ein Hahn. «Lebt der noch?» litt ich. Der Bauer verneinte. «Bleib drauf und reite mit», sagten die lachenden Anwälte. So warf ich mich in den Hahnenkampf. Nach einigen Durchläufen waren die beiden Flügel abgerissen. Ich galoppierte an, stellte mich in den Steigbügeln auf und hing mit beiden Händen am Gefieder des tierischen Toten. Im Sand ausrollend, hielt ich die Trophäe hoch. Jetzt lachte niemand mehr. Unwissentlich hatte ich einen Brauch durcheinandergebracht: Der Sieger durfte die Dorfschönste auf sein Pferd heben und vor der Blaskapelle vom Festplatz reiten. Ein kecker Slawenjüngling erlöste mich von der Qual der Wahl. Er sprang auf, schenkelte mich ein und nahm mir die Zügel aus der Hand. Küßchen hafteten auf meiner Wange wie Schnecken am Salatblatt. Am nächsten Tag saß ich am Fußende eines Friedhofs. Die Sonne schwor nur noch zwei Finger über den Horizont. Großmütter füllten ihre Gießkannen und verzollten mich mit skeptischen Blicken. Aus dem lecken Wasserhahn klickte die Zeit. Als alle gegangen waren, betrachtete mich eine Nachzüglerin und bat mich zu sich ins Haus. Im Kaffeedampf kollerten erste Worte aus den Tiefen meiner Mundhöhle. «Ist das eine schreckliche Gegend.» Dabei bezog ich mich auf die Unterlippe einer Braunkohlegrube, die fast bis ans Haus wulstete. Meine Gastgeberin faltete den Lageplan ihres Schicksals
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auseinander: «Schon einmal sind wir umgesiedelt worden. Das hat der Mann nicht überstanden, als er heuer auf dem Amt erfuhr, daß wir wieder wegmüssen, und ist gestorben. Sind die Bagger heran, muß ich ins Altersheim.» Ich versuchte, sie mit Hitler von der brutalen Volkswirtschaft abzulenken. «Ja, Sprache und Tracht hat der uns verboten», ging sie darauf ein. «Doch wer hat sich, so fern von Berlin, schon an Verbote gehalten? Der Hitler hat dann Listen eingeführt. Rechts sollten sich die Sorben eintragen, links die Deutschen. Darin waren wir uns aber einig. In unserem Dorf gab es keine Sorben. Unser deutscher Bürgermeister hat uns gedeckt. Die Nazis sortierten daraufhin nach Familiennamen. Daß unsere Männer in die polnischen Kohlengruben sollten und die Frauen und Kinder in die Gaskammer, das erfuhren wir doch erst von den russischen Soldaten. Und auch, wer der Mengele war. Den Hitler hat doch keiner für ernst genommen.» Die Alte trug das Geschirr hinaus und zog sich in ihre Schlafkammer zurück. Ins Sofa sinkend, starrte ich durch das Fenster auf den vergilbenden Horizont. Über mir schlugen zwanzig Kisschen zusammen, aus denen eine Katze schreckte. Mein Fahrrad rollte auf verlassene, zwangsgeräumte Häuser zu. Abgebrochene Gerätschaften lagen als Andenken da und stießen Wehlaute aus. Reben krochen auf mich zu wie Kriegsverletzte. Ein Grubenwächter roch Menschenfleisch. Er fragte, ob ich mich als Braunkohlearbeiterin ausweisen könne. «Fotografierer haben hier nichts zu suchen», brummte er. Wenig später erzählte er vertraulich, daß er hier gewohnt habe. «Mein Haus und das Grundstück haben die mir für viel zu niedrig angesetzte Preise abgeluchst. Für viertausend Mark Auslöse bekomme ich woanders nichts Gleichwertiges.» Das hatte seine Großfamilie in drei ungleiche Teile zerrissen, sie in verschiedene Städte mit bezahlbaren Mietwohnungen geschleudert. Doch immerhin verdiene er als Grubenwächter am Abriß. So erlebe er, wie Menschenscharen in Lastwagenkolonnen vorfahren, um sich am Exodus zu laben. Als er noch in seinem Haus wohnte, trieb er wenigstens mit dem Besen die Einbrecher zur Dachluke zurück, über die sie eingestiegen waren. Ein anderer Grubenbulle ratterte heran. «Was suchen Sie hier?» fragte er. – «Aus dem Sumpf der Hauptstadt bin ich in das Land meiner Ahnen zurückgekehrt. Fotografieren werde ich es ... vom Aufgang der Sonne bis zum Untergang der Sorben», sagte ich, der jüngste Mohikaner, und stampfte mit der Aluminiumstange meines Nylontipis auf. – «Verschwinde!» wies er mich vom Gelände. Ein kurzes Stück knurrte sein Motorrad neben meinem Fahrrad. Bald hatte mich Ferne so verkleinert, daß ich keinen Schaden mehr anrichten konnte.
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Tags darauf zog ich eine tarnfarbene Wattejacke und Gummistiefel an. Ich radelte wieder ins Sperrgebiet. Stundenlang war ich das einzige Überlebsel des Braunkohleschlages. Eine Holztreppe, die mitten im Feld anfing, führte mich auf den Dachboden. Ich quadratete mich vor die Kamera und entwickelte einen Blickwinkel zur Braunkohlegrube. Rücksichtslos gab der lehm-kuhmist-legierte Untergrund nach. Ich zentimeterte dreihundertmal in die Tiefe. Parallel zum entstandenen Loch wartete meine Kamera auf dem Stativ. Dem Horizont entlöste sich ein Pony. Seine Reiterin war sechs Jahre alt und die Grube ihr Mondabenteuerspielplatz. Fünfhundert Meter weiter stand ihr Haus. Es war das einzig bewohnte der Gegend. Episodär umriß die Kleine Nachbarn, Verwandte und Spielkameraden. Ihre Mutter, eine Kunstmalerin, fuhr viel herum und ölte verbliebene Dorfansichten auf Leinwände. Lauter als der Grubenwächter schimpfte sie über die Schweinereien. «Unser Dorf hätte stehenbleiben können, wenn nicht drei Einige, der Prämie halber, die Kohleproben von einem Bohrloch zum anderen getragen hätten. Unter uns gibt es nur eine unrentable Sohle. Doch um Bögen zu sparen, mußte das Dorf, nach Aufdeckung des Betruges, doch weichen. In den anderen Gemeinden werden Kirchen gesprengt. Aus den Trümmern birgt man schildbürgerlich Kunstschätze. Zwischen den gesprengten Häusern übt die Nationale Volksarmee die Erhaltung des Friedens.» Ich verließ die beiden. Angesattelt trieb ich vorbei an eisernen Embryos, die sich ringsum nahrhafte Kohle auszupften. Ein Baggerfahrer pfiff mir kollegial hinterher. Ich folgte seinem Lockruf, wiegelte sein Gebalze ab und fragte ernsthaft, wie man hier arbeiten könne. «Ich habe die Leute nicht rausgesetzt», rechtfertigte er sich. «Der Sprengtrupp ist ein anderer, und wieder andere senken das Grundwasser. Mit irgendeinem Beruf muß man sein Geld verdienen.» Mit der verrohenden Melancholie seiner Kaste betrachtete er die von Slawen entschlackte Landschaft, die zum Saufen anregte. Er bot mir einen versöhnlichen Schluck aus seiner Flasche an. Spremberger Pfarrersleute fragte ich, ob sie mich beherbergen würden. Sie verlangten, daß ich mir den verräterischen Kohlestaub aus der Wäsche klopfe, bevor ich mich ins frischbezogene Bett lege. Die Stadt fatalisierte zwischen Abriß und Denkmalschutz. Das Altersheim war leicht zu finden. Über ihm weißten Möwen den verrußten Himmel. In ihren Schnäbeln trugen sie die Herzscherben Ausgerotteter in die Erinnerungstaubheit des sozialistischvolkswirtschaftlichen Gewissens. Die Durchschnitts-Spremberger standen schadenfroh dabei. Es gab nicht einen Spielplatz, obwohl Eingaben aus der Bevölkerung regelmäßig ihre Bahnen zogen.
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Schlampig hochgezogene Neubauten stützten sich auf ihre abrißfälligen Urahnen. Auf einem Industriegelände heimkinderten die Sandsteinfiguren vernichteter Schlösser. Hinter vorgehaltener Hand raunten die Pfarrersleute etwas von einem Oberstufenlehrer. Mit seiner Schülergruppe hatte er die Grube fotografierend umzirkelt. Eine Momentaufnahme später starrte er ungläubig in die Mündungen durchgeladener Schußwaffen. Das Gericht verurteilte ihn wegen angeblich beabsichtigter Informationsweitergabe an den Westen. Bevor ich am Morgen weiterfuhr, kaufte ich Proviant. Eine seit tausend Jahren eingeschüchterte Trachtenomi hatte zwei Artikel im Einkaufswagen. Sie fragte eine überladene Deutsche, ob sie vorgehen dürfe. Diese blies sich ein Luftpolster auf das Fettpolster ihrer Backen. «0lle Wendschen! Kaufen alles weg! Was sucht ihr überhaupt hier? Geht hin, wo ihr hergekommen seid!» – «Wo die herkommen, wächst nichts mehr», mischte ich mich ein. Später machte ich mir Vorwürfe, nicht lautstärker Solidarität trompetet zu haben. Wäre ich ganz bei mir gewesen, hätte ich der Fetten die gesamte Lausitzkohle reingedrückt und sie als aufplatzenden Brikettsack über den Landschaftsfriedhof rieseln lassen. An dieser Stelle bog mein Lebenslauf linksradikal ab. Mein Fahrrad tat es ihm gleich. Yblgelaunter Dunst schwappte mich aus der Stadt. Zur Erholung fuhr ich in die Oberlausitz. Vor Wittichenau kämmte ich mir mit den Fingern die letzten Nebel aus den Haaren. Zu spät sah ich die Frau in sorbisch-katholischer Tracht, die mir entgegenradelte, geradewegs in ihr Braunkohleunglück. Farbgenehme Häuschen leuchteten über Gartenzäune ihre Nachbarkästchen an. Vor den Häusern und an Straßenkreuzungen hingen bleiche Jesusse, die ihr Kreuz nie loswerden würden. In den Giebeln und Hauswänden beanspruchte Maria mit dem Gottessäugling knappe Gelasse hinter Glas. Vorwurfsvoll schwieg sie atheistischen Passanten hinterher. Ein Mann schrägte die Straße, ohne den Blick von mir zu lassen. Ich schwenkte die Kamera. Eilig verschwand er in den Ritzen seines Häuschens. Hinter dem Städtchen plusterten Himbeerbüsche die Abstände zwischen den Bäumen. In einer Mühle fragte ich, ob mein Zelt auf der angrenzenden Wiese willkommen sei. «Mein Sohn kommt erst am Wochenende. Sie kann solange in seinem Bett schlafen», lud mich die Müllerin ins Haus ein. Sonnige Außenseiterstrahlen brachen durch das Kammerfensterchen, faßten zu und hoben mich aus dem Bett. Ich schnupperte Kaffeeduft. Die Müllerin sang und fragte, ob ich Rica Deus auch so möge. Während sie das Frühstück zubereitete, hatte ich Zeit, mich um den eigenen Arsch zu drehen.
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Die sorbische Frauentracht, die Tapete, die Übergardinen, der Teppich, alles war textil mit Blumen bepflanzt. Das sollte sich in vielen Haushalten dieser Gegend wiederholen. «Hat sie denn einen Freund?» fragte die Müllerin. – «Im Moment nicht», antwortete ich. – «Will sie denn mal heiraten?» – «Nein», sah ich mich vor der Ehe vor. – «Will sie denn keine Kinder haben?» – «Doch.» – «Wie will sie das denn anstellen, ohne zu heiraten?» Von der katholischen Logik überlistet, lachte ich auf und fragte: «Gab es hier Leute, die ins Konzentrationslager mußten?» – «0 ja», sagte die Müllerin. «Ein Mädchen, gleich ein Dorf weiter. Die ist von einem Paar aufgezogen worden, weil die selber keine Kinder bekommen konnten. In Tracht, hübsch und alles. Aber Jüdin. Wer denen das wohl gesteckt hat? Sie wurde von der Gestapo abgeholt. Wo will sie denn hin?» – «Fotografieren.» Schon stapfte ich auf der schwammigen Wiese. Tautropfen schlummerten auf dem Halmgrün. Diesen Eindruck vergrößerte ich mit dem Fotorohr. «Mag sie zu Mittag Hähnchen essen?» Die Müllerin köpfte einen fälligen Hahn. Draußen klapperte Pferdeschuhwerk. Zwei Haflinger nüsterten vor einer nie gesehenen Grashaumaschine. Mein Interesse belohnte der Bauer mit kürzestmöglichen Antworten. Dessen Frau versammelte die chlorophyllblutenden Halme mit der Heuharke. Sie erzählte freigebig, daß sie ihr Dorf noch nie verlassen habe und niemals diese ungewohnten deutschen Kleider anziehen werde. Ich entdeckte die Leichtigkeit, mit der man sich für eine Nacht in katholischen Pfarrhäusern einquartieren konnte. Stets öffnete eine Haushälterin die Tür und bezog mir ein Bett im Gästezimmer. Abendbrot aßen wir zusammen mit dem Pfarrer. Deren Lebensstil war üppiger als der ihrer evangelischen Kollegen. Vor dem Pfarrhaus in Ralbitz fegte eine gebrechliche Alte. «Was wollen Sie hier?» fragte sie robust. – «Ist der Pfarrer zu Hause?» dienerte ich ungewohnte Höflichkeit. – «Der hat auswärts zu tun.» – «Kann ich wiederkommen?» – «Weiß nicht», sagte sie, fegte heftiger und ließ mich im aufgewirbelten Staub stehen. «Ich komme zurück», sagte ich, während ich mir den Acker aus der Hose klopfte. Dann bummelte ich durch das Dorf. Seite an Seite ging ich mit einer gebückten Frau, die Fallobst einsammelte. Uns trennte nur der Gartenzaun. Ich fragte, ob ich einen ihrer Äpfel essen dürfe. Sie schüttete mir die volle Schürze in den Schoß. «Danke», sagte ich. Dabei vergaß ich, daß ich diese Vokabel sorbisch beherrschte. Hinter dem Ortseingang setzte ich mich an das froschkalte Ufer des Teiches und warf Steine. Ringe trieben auf mich zu, sie verzogen die gespiegelten Wolken zu Wellblech. Ich schlenderte zurück. Leute kamen aus den Häusern, stellten sich zu den Nachbarn oder blieben
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alleine in der Tür stehen. Gemeinsam war allen, daß sie mich anfinsterten. «Der Pfarrer erwartet Sie», sagte die sorbische Besenhexe und bürstete mir kräftig den Nacken aus. – «So so», betrachtete er mich von oben bis unten. «Wer sind Sie?» Ich antwortete mit einem abgedroschenen Vagabundenvers. «Ich bin ... ich weiß nicht, wer. Ich komme ... ich weiß nicht, woher. Ich gehe ... ich weiß nicht, wohin. Und wundere mich ... daß ich so fröhlich bin.» Das war ihm zu ungenau. Er verlangte den Personalausweis. «Werden Sie gesucht?» – «Ich glaube nicht», bezweifelte ich meine Wichtigkeit. – «Dann schreibe ich mir Ihre Personalien auf, falls Anfragen kommen», sagte er schon freundlicher. «Geben Sie ihr etwas zu essen», beauftragte er seine Bedienstete. Die schlitterte ein Brotbrettchen, Tasse und Besteck über den Tisch, ballerte Wurstund Käsesorten dazu und fragte, ob ich saure Gurken oder salzige vorzöge. «Schon gut», begnügte ich mich. Sie verschwand im angrenzenden Kämmerchen. Ich ging an die Abendluft. Formschöne Hallelujas schepperten die Kirche. Ein Mann sang ganz besonders. «Schön», sprach ich das Wort aus, das hinter dem Besonderen noch fehlte. – «Unsere edelste Stimme. Die trägt alle fort», lobte die Chorleiterin. – «Ein wahrer Kirchenschatz», hielt ich die Unterhaltung am Leben. Die anderen falteten ihre Hände im Schoß und ließen nur die Choroberin antworten. Aus deren Stimme ließ sich bald nichts mehr herausholen. Ich ging zurück, dann blieb ich im Dunkel der Pfarrküche sitzen. Meine Anwesenheit hatte das Dorf verhext. Verlassenheit breitete sich in mir aus. Ich wartete darauf, daß sie noch einen Schritt weitergehen und mich töten würde. Aus der angelehnten Tür des Kämmerchens flimmerte Fernsehlicht. Die Haushälterin stemmte sich altersschwach aus dem Sessel, stieß die Tür ganz auf und schaltete das Licht an. Mein döses Lächeln stand plötzlich im Rampenlicht. «Sie können nach oben gehen. Ihr Zimmer ist fertig.» – «Ja», sagte ich und blieb auf der Stuhlfläche haften. Die Hände in die Hüften gestemmt, schaute sie mich eine Unentschiedenheit lang an. «Wollen Sie fernsehen?» fragte sie ratlos. Ich lächelte. «Die Leute sagen, Sie wären ausgebrochen. Stimmt das?» – «Ja, aus Berlin», bestätigte ich und erzählte die näheren Umstände. «Sie sind ein komischer Vogel, über den man noch lange reden wird. Wir Sorben sind es gewohnt, unter uns zu bleiben. Nein, so was aber auch», staunte sie unvermittelt, als ich erzählte, daß sorbisches Blut meinen Kreislauf auf Trab hielt. «Nein, so was», lachte ich, als sie Dorfanekdoten zum Besten gab. Kichrig wünschten wir uns gute Nacht. Am Morgen schlüpfte sie für mich in die sorbische Festtracht. Vor der Kirche ließ ich sie neben dem Schild «Denkmalschutz» posieren. «Wenn Sie wieder in der Gegend
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sind, dann schauen Sie herein», sagte sie zum Abschied. Die Zukunft sollte meine Besuche als alljährliche Ostertradition etablieren. Wind verfitzte die Gesangstückchen einer katholischen Prozession. Wie ein Wegelagerer fiel ich fotografierend über sie her. «Noch nie 'ne Tracht gesehen?» zischte ein sorbischer Kohlrabe. Der Festzug erreichte die Kirche und verteilte sich auf die Sitzbänke. «Fotografierst du für die Zeitung?» flüsterte mir eine Druschka zu. – «Nein. Nur um Beute zu machen», sagte ich. Nach dem Gottesdienst verflüssigte sich die Unterhaltung. Sie lud mich zum Abendbrot ein. Bevor ich bei ihrer Familie eintraf, zog ich mich um. Ich wählte ein Hemd, das mir Plünda Zwilling aus Hosenschlitzen genäht hatte, um meinen provokanten Geschmack zu strafen. Nie hätte ich gewagt, damit einer sorbischen Familie meine Aufwartung zu machen. Doch es war das letzte saubere Wäschestück. Sorgsam schloß ich alle Hosenschlitze und ließ nur einen offen, um meinen Kopf hindurchzubekommen. Dann klopfte ich an die Tür des gepflegten Eigenheimes. Die Gardine schwebte zur Seite. Jemand rief eine Nachricht ins Innere. Die Druschka öffnete. Ohne die Jungferntracht erkannte ich sie kaum wieder. Sie bat mich zu Tisch. Der war so beladen, daß ich fürchtete, mein Magen würde gar nicht alles wegtragen können. «Was motiviert deine Fahrradtour?» fragte ihre Mutter. Ich charakterisierte mich als Niedersorbin, die ihren nationalen Instinkt freilege. Sie fand es charmant, daß sich eine Deutsche bemühte, Sorben kennenzulernen. Ihre jüngste Tochter schmiegte sich an sie und äugte mißtrauisch zu mir. Ein Sohn goß Tee nach. Die Druschka sagte, ich könne die Nacht im Gästezimmer verschlafen. Als ich nach dem Frühstück mein Fahrrad bestieg, standen die Eltern, die Druschka und ihre vielen Geschwister in der Haustür. «Gott sei mit dir. Falls dich dein Weg wieder ins Dorf führt, bist du herzlich willkommen.» Ich war gerührt. Eines meiner beiden Herztürchen quietschte in den Angeln und verriet es.
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22. Kapitel
Ein ehemaliger Flirt aus Cottbus hatte mir die Adresse eines Sorbenhassers geschenkt. An die erinnerte ich mich, als ich ins regennasse Bautzen einfuhr. Ich stieg die muffige Altstadttreppe hoch und tropfte vor der Tür ab. Niemand öffnete. «Ist einer von euch Becher Draufsaat?» fragte ich zwei Heraufkommende. — «Ich», sagte der Schließer. — «Liebe Grüße von Tolken Bak Bak», richtete ich aus. — «In welcher Beziehung stehst du zu ihm?» — «In keiner mehr.» Ich folgte Becher Draufsaat in den Korridor. Sein stattliches Mitbringsel setzte Teewasser auf. Die beiden alberten herum, ohne mich zu beachten. «Was hast du gegen die Sorben?» fragte ich übergangslos. — «Ich arbeite am Theater mit denen. Das reicht. Nationalismus kann man auch übertreiben.» — «Ich bin Sorbin», stellte ich mich. — «Das auch noch», fluchte er und schob mir die Teetasse zu. Wir stritten unsachlich, bis Becher Draufsaat das Gespräch abbrach. «Gehen wir essen. Kommst du mit?» In der Gaststätte bestellten die beiden Sorbenblut. Der Kellner wußte, was gemeint war, er servierte Schwarzbier. Die Vampire prosteten mir zu. «Kommst du mit zum Arbeitskreis?» fragte Becher Draufsaat sein Mitbringsel. — «Aha!» dehnte ich meine Stimmbänder. Dann rollte ich die beiden so lange aus ihrem Ekelpaketeinwickelpapier, bis ihr guter Kern schwul dastand. «Was hast du gegen Homos?» wütete Becher Draufsaat. — «Genauso viel wie gegen Sorben. Und gegen mich habe ich nichts», grinste ich. So begann eine langjährige Freundschaft, deren empfindlichste Stelle das Sorbenthema bleiben sollte. Nach einigen Tagen kannte mich Becher Draufsaat gut genug, um festzustellen: «Für eine Sorbin sprichst du verdammt gut deutsch.» Da ich nicht reagierte, bohrte er die Schwachstelle aus. «Peinlich, daß ich als Deutscher besser sorbisch spreche als du.» Das griff. Ich fragte, woher er seine interessenfremde Bildung habe. Das Theater hatte ihn zum Sprachkurs verpflichtet, weil er beruflich weiterkommen wollte. Immerhin habe es ihn angeregt, Tschechisch zu lernen. Angefixt von Becher Draufsaats Sorbischkenntnissen, die mir als Nationalistin besser zu Gesicht stünden, hetzte ich mein Fahrrad nach Milkel. Der Sprachkurs hatte längst begonnen. Das Mäulchen des Direktors ging in den Spagat, weil sich jemand freiwillig zum Kurs meldete. Der Sprachlehrer musterte mich. Sein Gesicht verschwand hinter Büschen zusammengezogener Augenbrauen, als
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ich mich in die Bank warf und nicht mitschrieb. «Muß ich Sie extra auffordern?» brustkörbelte er auf und ab. — «Merke ich mir so», sagte ich unbekümmert. Krampfadern schwollen seine Stirn. «Dobry dien!» begrüßte ich meine Mitschüler und erfuhr, daß fast alle von ihren Betrieben an die Sprachschule delegiert worden waren. Sie hatten eingewilligt, weil die versprochene Gehaltserhöhung ihren Spaß am Lehrgang förderte. Nur meinem Banknachbarn Keil Winkler strotzte der Stammbaum vor Sorben. Die Sprachschule okkupierte das Pücklerschlößchen im Dorf. Der Park wurde durch ein Bächlein geteilt. Zwei weiße Holzbrückchen klammerten ihn wieder zusammen. Während ich für meine Spaziergänge den Park bevorzugte, suchte Keil Winkler die einzige Kneipe auf, in der noch sorbisch gesprochen wurde. Kurz darauf belächelte er unser Schulsorbisch nur noch. Die anderen legten ihm das als Arroganz aus. «Sind eben bloß bezahlte Deutsche», sagte ich. Keil Winkler fand sich damit ab. Mein Herztürchen knarrte. Ich kilometerte das monotone Grau der Landstraße ab und klopfte. «Du lernst unsere Sprache?» leuchtete die Familie der Druschka. Die zensurenfreien Veranstaltungen des Sprachkurses hatten mich darüber aufgeklärt, daß die Sorben gut daran taten, ihre nach 1945 angestrebte Autonomie an die SED abzugeben. Die SED dankte, indem sie ihnen Kultur- und Sprachfreiheit zusicherte. Gute sorbische Führer wurden durch noch bessere, weil SED-Getreue, ersetzt und die DOMOWINA staatlich bezuschußt. Der sorbische Schriftsteller Jurij Brézan dichtete, daß die DDR das erste wirkliche Vaterland der Sorben sei. «Die wenigsten von uns sind seiner Meinung», wehrte sich meine sorbische Familie. «Unserer DOMOWINA treten immer mehr Deutsche bei. Sie überstimmen unsere Interessen. Echtes sorbisches Leben findet im religiösen Alltag statt. Würden unsere Pfarrer nicht sorbisch predigen, wäre unsere Sprache genauso rückläufig wie die der Niedersorben.» Das Wetter hatte sich erkältet. Oktoberstürme trieben mein Fahrrad vor sich her. Unentschlossene Winde suchten Schutz in meinen Haaren und türmten sie zu waghalsigen Gespinsten auf. Ich rieb mir die eisigen Hände und trat ins Haus. Nachdem ich alle begrüßt hatte, half ich, Speisekartoffeln mit dem Messer zu entkleiden. Die Mutter verkochte sie mit Gemüseknollen zu einer schmackhaften Suppe. Die Schwestern deckten den Tisch und riefen zum Gebet. Für mich wurde immer ein Extrateller aufgetragen. An diesem Sonntag vergaßen sie ihn. Mein Löffel verklingelte mit den anderen auf dem Grund der Suppenterrine. Es war derselbe Sonntag, an dem ich über das ganze Gesicht strahlte.
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Zur nächsten zensurenfreien Veranstaltung kam ein sorbischer Komponist. Er spielte Ausschnitte seiner Werke vor. Ich fragte, was daran sorbisch sei. Doch ihm ging es nicht darum, Folklore zu entstauben, sondern zu zeigen, daß die Sorben gleichrangige Musik machen können. Ich nannte eine Punkband, die sich ihrer irischen Wurzeln nicht schämte. «Sie möchten es extrem», schlußfolgerte er und legte Atonales auf. Der Komponist beschrieb, daß ihn eine gefällige Sinfonie mehr Zeit koste als Atonales. «Das hört man», lästerte ich. Das Gelächter aller Zuhörer bootete ihn aus. Meine Kursmitschülerin Mame Gimpel bot sich bestens an. Sie hatte sich am Dresdener Theater als Opernsängerin beworben und war durchgefallen. Das Sorben-Ensemble nahm sie unter der Bedingung, daß sie den Sprachkurs absolviere. Zwar gingen die Sorben zuhauf ins Theater, doch beruflich wollte das Bauernvolk seine Kinder nicht auf der Bühne hampeln sehen. So fehlte es an Nachwuchs, für den die deutsche Mame Gimpel einsprang. Ihr altmodisches Gehabe und die gezierte Überempfindlichkeit entsprachen dem Klischee ihres Metiers. Ja, genau! Wegen ihres affektierten Gehabes bot sie sich bestens an, als der Brustkörbler A4-Blätter austeilte. Je zwei Schüler sollten sich eins teilen. Ich riß es durch und behielt die kleinere Hälfte. «Willst du nicht die größere?» fragte sie besorgt. Dann meldete ich mich, weil das Diktat nicht aufs Papier paßte. Der Brustkörbler regte sich auf. «Mame Gimpel hat sich die große Hälfte gekrallt», beschwerte ich mich. Hochrot rechtfertigte sie sich. Ich dozierte: «Bescheidenheit zahlt sich aus. Ich hoffe, du hast deine Lektion gelernt.» Uneinsichtig stieß sie mir ihren Kugelschreiber in den Rücken. «Kennst du Becher Draufsaat?» fragte ich Keil Winkler in der Kneipe. Der Name sagte ihm nichts. «Klar kennen wir uns vom Sehen», begrüßte ihn Becher Draufsaat. «Bist du schwul?» provozierte er Keil Winkler. – «Nein.» – «Dann spiele es wenigstens», fiel Becher Draufsaat balgend über ihn her. – «Vielleicht kriegst du ihn über die Sorben», scherzte ich. Das Thema kochte auf. Sein schlimmstes Erlebnis hatte Becher Draufsaat bei der Armee. «Wir mußten in einer Reihe stehen, die Hosen herunterlassen und uns bücken, damit der Sorbe loslassen konnte: <Jetzt befehlen wir euch deutschen Arschlöchern.>» Keil Winkler entschuldigte das nicht, setzte jedoch sein Kneipenerlebnis dagegen. Ein Biertrinker hatte verlangt, daß deutsch gesprochen werde. Der angesprochene Sorbe erklärte, er habe mit seiner Frau Internes zu besprechen. Dafür brauche er keine Fremdsprache. Entweder fehlte dem Biertrinker das Gegenargument, die Einsicht oder die Geduld. Jedenfalls goß er sein Bier ins Gesicht des Sorben. «Mit Einzelbeispielen verbringen wir
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noch Monate. Gehen wir spazieren?» sagte ich, weil der Himmel so friedlich mit Sonnenstrahlen geschient war. Das Thema interessierte mich nicht. So schwänzte ich die zensurenfreie Veranstaltung, um meine Familie zu besuchen. Die Küche füllte sich mit Nachbarn. Der Dorfklatsch schwoll an, trat über die Ufer und lockte neue Leute herbei. Ich kam mit einem sorbischen Kriegsveteranen ins Gespräch. Er erzählte als Sachse. «Mein Spreewaldurgroßonkel war genau so ein begeisterter Soldat wie Sie, aber Preuße», stellte ich den Verstorbenen vor. – «Wo und wann?» fragte der Sachse, öffnete seine Geldbörse und zeigte drei goldene Haare, die er seinerzeit einem Preußen abgenommen hatte. «Der Direktor wirbt bei uns allen für deinen Rausschmiß», flüsterte Keil Winkler, als meine Rückkehr das SED-Liebchen von Sprachschule wieder mit dem Prosorbischen bereicherte, das ihr fehlte. – «Singt mit. Unser Abschlußprogramm soll das der Parallelklasse übertreffen», unterbrach uns Mame Gimpel. – «Ich kann nicht», warnte ich sie. Sie gab mir ein paar Gesangsminuten Extra-Unterricht. Meine Tonlagen bildeten das Sprungtuch, das die Noten der anderen in falsche Höhen katapultierte. Das wollte sie nicht verantworten, somit war ich entlassen. Die Abschlußprüfungen begannen. «Keine Angst», lächelte mir der Brustkörbler zu und leitete ein ruhiges Gespräch ein. Mit einer politischen Frage fuhr der Direktor dazwischen. Der Brustkörbler löste ihn ab. Der Direktor zerriß den Faden, um ihn wieder an sein politisches Thema zu knüpfen. Als ich den Raum verließ, zwinkerte mir der Brustkörbler zu. «Liebe auf den letzten Blick», erzählte ich den anderen Prüflingen. Meine Sprachleistung hatte der Brustkörbler mit einer Eins beurteilt, der Direktor mit einer Fünf. Nach dem Abschlußprogramm in der Aula erhielten wir Zeugnisse. Auf meinem war das vorgedruckte «Bestanden» vom Direktor durchgestrichen. «Ich bin mit einer durchgefallen», krakeelte ich, den Wisch mit eiserner Thälmannfaust hochhaltend. Musik setzte ein. Wir zertanzten sie unter Stöckelschuhen und Herrenabsätzen. Danach sprengte der stellvertretende Direktor einen friedlichen Dialog, den ich mit Keil Winkler führte. «Sie Kanaille», stützte er sich betrunken auf das Tischtuch. Spuckefäden fransten seine Sätze. «Meine schöne Freizeit. Ich mußte recherchieren, wo Sie Ihre Wochenenden verbracht haben.» – «Auftrag vom Direktor?» fragte ich. – «Nicht der Direktor. Für Sie interessieren sich Vertreter einer Institution, vor der Sie wirklich Angst haben sollten.» Beim letzten Frühstück stiftete ich Keil Winkler an, mich zu meiner sorbischen Familie zu begleiten. Der Zusatzbesuch irritierte die Mutter. Sie wischte sich die fettigen Finger an der Schürze ab und
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reichte ihm den Handknöchel. Keil Winkler plauderte gemütlich. Ich stückelte mein unterlegenes Sorbisch dazu. Die Mutter sah mich fragend an. «Aus Strebern werden Sprachgenies», lobte ich Keil Winkler. Nachdem er sich verabschiedet hatte, rief die Mutter ihre Familie zusammen und ordnete an, daß sich jeder strafbar mache, der noch deutsch mit mir rede. Nach dem Abendbrot bekam ich Hunger und schlich in die leere Küche. Den Tisch inselte ich mit einem Brotbrettchen, das Brettchen mit einer Scheibe Brot, die Scheibe Brot mit einer Lage Wurst, die Lage Wurst mit einem Zwiebelring, den Zwiebelring mit ... «Hab ich mich erschrocken.» Ich sprang auf. – «Warum schläfst du noch nicht?» wischte sich die älteste Tochter den Klebeschlaf aus den Augen. – «Soll ich dir auch eine Insel bauen?» bot ich an. – «Was für 'ne Insel?» fragte sie. – «Na so eine, wie sie gerade aus der Wachssee eures Tischtuches ragt.» Nun wurde sie endgültig wach. «Du kommst doch zu meiner Hochzeit?» vergewisserte sie sich. – «Ja klar. Gehst du als Jungfrau in die Ehe?» – «Nee, das nicht, aber behalte es für dich. Eigentlich darf man dann nicht mehr in Tracht heiraten. Früher haben sie den Brautkranz eingeschnitten, damit jeder die Übertretung sah. Heute weichen die Leute klugerweise auf den deutschen Hochzeitsausstatter aus. Meiner Ma würde es das Herz brechen, wenn ich nicht in der Kleidung der Vorfahren heiraten könnte.» Sie ging wieder ins Bett. Ich schlief am Tisch ein. Als ich erwachte, war es mondhell. Auf der Wange klebte eine Fliege, die sich vorher in meinen tödlichen Schatten gesetzt hatte. An meinem vorläufig letzten Nachmittag in der Oberlausitz richtete die Mutter ein Fest für ihre Verwandten aus und kochte. Da ich wählen durfte, entschied ich mich für das niedersorbische Nationalgericht, Pellkartoffeln mit Leinöl. «Bei uns gibt's was Richtiges zu essen. Hochzeitssuppe, Rindfleisch mit Meerrettich und was unser Acker noch so hergibt», sagte sie. Ich beugte mich den fetten Böden der Oberlausitz. Als die Gäste eintrafen, stellte sie eine Flasche Leinöl vor meinem Teller ab. Neben mir saß eine Schriftstellerin. Ich gab ihr die Hand und sagte, daß auch ich kein Analphabet sei. «Sie schreiben?» fragte sie, dann entlockte sie mir den Namen. «Ich kenne alle jungen DDR-Schriftsteller. Sie sind nicht dabei.» So lauschte ich dem, was die Mutter zu erzählen hatte. Sensibel wie ein Rauchmelder, öffnete der Vater das Fenster, um den Qualm einer einzigen Zigarette abzulassen. Wind wehte herein, schlaufte um die Wachslichter und trug sie zum nacht-schwarzen Himmel, um Sternbilder zu setzen. Ich wunderte mich, daß sich die Schriftstellerin dieses Naturereignis nicht notierte. Also hob ich es für meine eigene Nacherzählung auf. Nach dem Essen
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verabschiedete ich mich. Es ging zurück nach Berlin. «Wir wollen dich wiedersehen», umarmten mich die Mutter, die Familie, die naßbraune Kuh und ganz Sorbien dazu.
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23. Kapitel
Ich löste eine Zugfahrkarte für mein Fahrrad. Mich selbst versteckte ich auf der Toilette. Das Schloß zeigte «frei» an, so konnte sich der Schaffner den Kontrollblick in dieses Kabuff sparen. In Berlin löste ich das Fahrrad aus und schob es durch die Nacht. Fremde Stiefel hatten die Tür meiner besetzten Wohnung gelocht. Spinnweben, in denen Eistropfen weihnachteten, verschleierten den Durchblick zum Inneren des vermüllten Zimmers. Mißmutig suchte ich den Dachboden auf, schlitzte die Silhouette eines Kleidersackes auf und rollte mich in den gefundenen Mantel ein. Wo die Morgensonne auf meinen Körper traf, schüttelten ihn Fröste. Ich wachte mit Co Mähnis Hand auf der Stirn auf. «Wie kommst du hierher?» fragte ich mit pelziger Zunge. — «Schreibmaschinengeklapper hat mich auf den Dachboden gelockt. Als Lärmquelle war nur dein Gebiß auszumachen. Du mußt zum Arzt», insistierte er. — «Ich bin nicht versichert.» — Er half mir hoch. «Ich bringe dich zu einer Freundin.» Meine Gastgeberin bezog das Bett neu und instruierte mich. «Wenn der Arzt kommt, gibst du dich als Trokka Dia aus. Hier ist meine Versicherungskarte.» Der Mediziner stellte eine Lungenentzündung fest, die ich zu Hause ausliegen könne. Nach der Entwarnung schlief ich ein und wurde nur zur Medikamenteneinnahme geweckt. «Tut mir leid», sagte ich, als mir die gute Besserung wieder eine akzeptable Stimme verlieh. «Mir nicht», sagte Trokka Dia. «Den Krankenschein habe ich abgeschickt, so kann ich vom Scheißjob mal länger ausspannen.» Bis ich in der Stadtbibliothek Arbeit als Garderobiere fand, hatte ich für Trokka Dias Dreipersonenhaushalt eingeklaut. Außer ihr und mir gab es noch Roza Dé. Mit dem ersten Gehalt konnte ich zur Miete beisteuern, bezahlte anteilig die Kohlen und häutete mich vom schlechten Gewissen. Das öffnete mich für längere Gespräche. Trokka Dias schwarzem mähnigem Haar war ein mittel-braunes Antlitz unterfacht. In ihr verloren sich Männer wie taumelnde Spatzen im Nachtlicht. Als ihr Mann sie verließ, bedauerte sie nur den Anlaß. «Man verletzt einander mit viel schlimmeren Dingen. Aber gerade der Seitensprung wird herausgepickt, um auseinanderzugehen.» Ich bewunderte Trokka Dia, weil sie an Schönlingen die Perfektion genoß und bei anderen die Vielfalt ihrer Häßlichkeit. «Schönheit ist so offenkundig. Schnell macht sie der Gewohnheit Platz. Doch den Ungestalten ihren Liebreiz zu entreißen ist immer wieder eine Herausforderung», schwärmte sie. Trokka
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Dias mächtiges Bio riß sie in Affären, die für mich nicht mehr verstehbar waren. Denn die Haut, in der ich stecke, ist von Vorurteilen gesprödet. Etwas Materie hatte sich im Weltall zusammengezogen. Als sie durch das Dach von Roza Dés Geburtshaus schlug, überraschte sie ihre Eltern im Schlaf. Sie fanden sich mit dem Meteoriten ab und fingen sogar an, ihn zu bemuttern. Anders konnte sich Roza Dé ihre Existenz nicht erklären. Als Kind war sie an die Geige gezwungen worden. Volljährig verließ sie ihre Eltern und warf die Geige weg. Sie entdeckte sie wieder, als Trokka Dia ihre Klarinette auspackte. Für ein Bachstück wurde ein zweites Instrument benötigt. Da mein musikalisches Talent sich auf das Applaudieren beschränkte, wurde ich ins Publikum abgeschoben. Die Treppe bog um die düsterste Ecke, als ich Trokka Dia in ihre Wohnung nachstieg. «Bist du Jüdin?» fragte ich. – «Nein», kürzte sie meine Neugier ein. – «Warum hast du dann soviel jüdische Literatur und anderen Klimbim zu stehen?» obsessierte ich. – «Wieso interessierst du dich für meine Bücher?» – «Weil daran geschichtlich abzulesen ist, was im Kleinen mit den Sorben passierte», sagte ich. Trokka Dia erzählte, daß ihre halbe Verwandtschaft mütterlicherseits in den KZs vergast worden war. Die Vaterverwandten hatten prächtige Nazis hervorgebracht. Keiner von denen erzählte etwas. Außer einem Onkel, wenn er betrunken war. Auch die jüdische Seite war das Reden nicht gewohnt. Sie habe versucht, sich in der Synagoge Gemeindemitgliedern zu nähern. Doch die Vorschriften seien unerträglich. Trokka Dia wolle Identität, keinen Zionismus. Daraufhin erzählte ich, daß ich gerne SoloEinlagen als sorbische Nationalistin gebe: «Ein bißchen wird man von der Umgebung dazu gezwungen. Entweder sie beneiden dich um deinen anderen Himmel, oder sie stellen fest, daß Hitler nicht voll aufgeräumt hat. Zumindest aber, daß dieses Volk zu popelig ist, um Ansprüche stellen zu dürfen. Du kannst die Anpassung probieren, um nicht mehr Zielscheibe ihres Spottes zu sein, du kannst aber auch das Slawische stolzieren. Ich stolziere und nütze damit selbst den Deutschen. Bei der Tendenz zur Gleichschaltung läßt vorhandene Toleranz nach, gerade weil unsere Mutlosigkeit zum Besonderen wächst. Ich verstehe nicht, warum du dich versteckst?» Trokka Dia hatte einmal erlebt, wie jemand seinen hochbekam, indem er sich in das Jahr 1937 zurückversetzte. Damals wäre es ihm verboten gewesen, mit einer Jüdin zu schlafen. Zu solch einem perversen Rausch möchte sie keinen mehr verleiten. «Wenn über Judenwitze gelacht wird, ist jeder Nichtbetroffene besser in der Lage, die Juden zu verteidigen.»
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Klirrer Winter und kochendheißer Sommer trafen böse aufeinander. Aus ihren kämpferischen Luftströmungen schleuderte der Frühling empor. Roza Dé zog aus. «Das ist Messer Mc Knife», stellte Trokka Dia einen neuen Mitbewohner vor. Er war Maler. Das große Zimmer wuchs zur Staffelei heran. Messer Mc Knife befand sich in seiner Orangephase. Trokka Dia bezog die Betten apfelsinefarben, stimmte die Schlafanzüge und den Nachttopf darauf ab und gewann seine Liebe. Jedesmal, wenn ich das Zimmer betrat, hingen sie wie Frösche aufeinander. So glotzten sie auch. Messer Mc Knife grundierte ein Laken, das er in eine Relieflandschaft verwandelte. Wie ein richtiger Maler trat er einige Schritte zurück, um es ausgiebig zu betrachten. Trokka Dias Gefühle überlebten seine Selbstvergessenheiten. Mehr noch, sie wurden dadurch gestärkt. Um den Superlativ mit einem i-Punkt zu bemützen, teilte sie mir mit, sie fühle sich schwanger. Das bestätigte ihr einige Tage später ein Arzt, der ihr Gefühl mit verchromten Geräten überprüfte. «Lernt mein Volk von der prunkvollsten Seite kennen», lud ich Roza Dé und Trokka Dia zum Osterreiten in die Lausitz ein. Als wir auf den Osterzug trafen, ließen wir das drei Kilometer währende Pferdegetrappel passieren. Kurz vor dem Dorf schlossen die Reiter auf. Ihre katholischen Lieder sangen sie, beim Einmarsch einheitlich grölend, von Faltblättern ab. Das weibliche Dorfpublikum war in Festtrachten gepummelt. Es rief den reitenden Männern und Söhnen Komplimente zu oder Ermahnungen, wenn ein Frack verrutschte. Kaum waren die Reiter auf der Verbindungsstraße zum nächsten Ort, drehten sie sich nach der extravagant gekleideten Trokka Dia um. Sie glaubten, den Witz ihrer Bemerkungen noch zu steigern, indem sie Trokka Dia sorbisch ansprachen. Ich flüsterte ihr zu, sie solle den Witzbolden ein «Rozumju wso» entgegenschreien, (Ich verstehe alles). Nach kurzer Verblüffung reichten die Osterreiter ihre Schnapsflaschen vom Pferd und fragten Trokka Dia auf deutsch, wo sie so gut sorbisch sprechen gelernt habe. «Schauen wir zu meinen Leuten rein?» fragte ich die beiden. Mit ihnen unterhielt sich meine Familie angeregt. Mich übersahen sie. Ich ging ins Bad und heulte. Die älteste Tochter kam, um zu fragen, was los sei. «Das weiß ich nicht. Deshalb heule ich ja», schluchzte ich. Sie erklärte, Mama sei aufgebracht, weil ich die Familie fünf Monate vergessen hatte und nun wieder an allem teilhaben wollte. Jetzt hatte ich einen Grund. Wasser tropfte auf den Wannenrand. Ich überprüfte, ob es mir aus dem Auge rann. «Ich kann weinen! Das sind meine ersten Tränen nach achtzehn Jahren und gleich so viele...» Ich rannte in die Küche. «Minutenlang lang fresse ich Depressionen in mich rein ... Und dann küßt mich mein sorbisches
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Volk, dieser garstige Frosch, und alle Brünnlein fließen.» Meine Familie wartete ab, was noch so alles passieren würde. Ich hielt inne. Ihre Kälte detonierte, sie brach ein Loch zur Straße heraus, das hinter mir verschüttete. Ich besprang das Fahrrad. Das ganze Dorf begleitete mich, finster wie ein gefensterter Augapfelbaum, zum Ortsausgang. Ich setzte mich an die Böschung. Die Arme legte ich wie einen Trauermantel um mich. So fanden mich Trokka Dia und Roza D. Ihre Hände behinderten sich gegenseitig auf meinem Rücken, als sie mich zu trösten versuchten. In mir klarte das Bewußtsein auf, daß ich meine Familie verloren hatte. Außer Trokka Dia und Roza Dé bekam niemand mit, wie bedeutend meine Tränen waren. So zog ich als Schausteller durch die DDR. Auf Marktplätzen sammelte ich die Leute um mich und tränte. Das MfS vermutete politische Zusammenrottungen. Es schickte seine Mitarbeiter vor, um sie zu zersetzen. Nach einer kurzen Karriere verschwand ich aus der Politik und besuchte mit Roza Dé den jüdischen Friedhof. Sie stehe nicht auf Postkarten, erklärte Roza D. Doch die Atmosphäre beim Osterreiten habe sie dermaßen beeindruckt, daß sie welche kaufen mußte. Ich sagte, nach dem Knacks mit meiner Familie sei ich trotzdem glücklich, keine Deutsche zu sein. «Trokka Dia ist wenigstens halb jüdisch, du sorbisch. Doch ich habe nur mich», trauerte Roza D. Aber worauf sollte ich stolz sein? Auf die Schwäche meines Völkchens, das immer am Seilende der Politik schaukeln wird? «Es hat gar keine Chance, sich an fremden Völkern zu vergreifen, weil niemand diesen demütigen Zwerg für voll nimmt. Ins weit gespannte Netz der NSDAP sind die Sorben zuhauf gerannt, um von Zeiten nicht ausgeschlossen zu sein. Dann das Verbot alles Sorbischen. Die Pronazis mußten raus aus der Partei und sich auf ihre Nationalität und deren Nachteile beschränken. Heute sind sie ALLE stolz darauf, niemandem geschadet zu haben.» Und doch: «Durch sie bekamen meine schwanken Füße einen Boden. Eine Identität, mit der ich verhältnismäßig unbelastet die Welt betrachten kann.» Roza Dé sagte: «Hauptsache, du fühlst dich wohl damit.» Der Glimmer ihrer Neugier bestärkte mich darin, erneut in die Verteidigung zu gehen. «Das ist das Ende des Frühlings», wischte ich mir die in Tropfen eingeschweißten Temperaturen von der Stirn. Ich hüpfte aus dem Hochbett und sommerte mich in Shorts. Zwischen den Backen eines Koffers lugte ein Zettel. Dem Datum nach hatte ich ihn seit Tagen übersehen. Trokka Dia schrieb, daß ihr Baby das kleine Zimmer beanspruchen würde. Außerdem wolle sie mit Messer Mc Knife ungestört sein. Ich solle es ihr bitte nicht ybl nehmen. Sie wüßte von einer leerstehenden Wohnung. Ich ging ins Nebenzimmer, wir
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tranken Tee. «Es ist genauso harmonisch wie in den letzten fünf Tagen. Man merkt dir nicht an, daß du mich rausschmeißen willst», gratulierte ich ihr zum Übermaß an Menschlichkeit. – «Ich hatte vor, dich spätestens morgen für deine Ignoranz zu tadeln. Du hast meinen Zettel tatsächlich übersehen?» – «Jaaaaaa.» Ich nickte, bis mir im Kugellager der Halswirbel das Öl ausging. Trokka Dia schaltete das zwischen zwei Sendern flackernde Radio ab. «Mit dem Ausziehen kannst du dir Zeit lassen.» «Meine sorbische Mitbewohnerin», stellte Co Mähni mich groß heraus, nachdem ich bei Trokka Dia ausgezogen war. «You are Sorbish. What the hell does that mean?» Co Mähnis walisischer Freund Blick Black bestand darauf, daß ich ihm alles darüber erzähle. Während meines ganzen volkswirtschaftsfeindlichen Monologes grübelte ich, warum sich das englische Blick Black nicht auf das deutsche Klick Klack reimt. Da unterbrach mich Co Mähni mit der Idee, mir für die Umwelt-und Ethnosauerei Öffentlichkeit zu besorgen. Er drückte mir sein Mitstenographiertes als Vortrag in die Hand. Tage später half mir Co Mähni im Versammlungsraum der Umweltbibliothek, meine Lausitzfotos mit Büroklammern an die Leine zu hängen. Vor der Veranstaltung umarmte ich Keil Winkler und den Sorbenhasser Becher Draufsaat. Er stellte mir den Obersorben Fortun Müßiggang vor, der in Berlin sein Lehrerstudium absolvierte. Co Mähni begrüßte die Anwesenden und bat um Ruhe. Meine Hände raschelten die DIN-A4-Seite, als wollte ich einem Schokoladenweihnachtsmann seinen Wintermantel über die Ohren knistern. Nach einem siebenminütigen Sprint durch die tausendjährige Geschichte schloß ich abrupt mit den Worten, ob noch jemand Fragen habe. Es folgten Sekunden des Schweigens. «Dann kann ich ja gehen.» Co Mähni riß mich auf den Stuhl zurück. Ein älterer Herr regte sich. Er sagte, daß er seinen regulären Urlaub meistens im Spreewaldkahn absitze. Braunkohlelöcher seien ihm nie aufgefallen. Ein Punk, der zwei Jahre in der Braunkohle gearbeitet hatte, sprang mir bei. Jemand zweifelte die Diskriminierung der Sorben an. «Dazu können sich die sorbischen Gäste äußern.» Ich gab die Frage an Fortun Müßiggang und Keil Winkler weiter. «Ganz so schlimm ist es nicht», relativierte Fortun Müßiggang. – «Als Obersorbe kann er das nicht beurteilen. Unter seinem Arsch wird nicht gebaggert», schaltete sich Becher Draufsaat ein. Er berichtete, wie konträr die Zusammenarbeit am Deutsch-Sorbischen Theater verliefe. «Deutsche Stücke sind selbstverständlich. Bringen die Sorben eins heraus, muß jede Zeile erkämpft werden. Und das bei einem
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Theaterleiter, der Jude ist.» Aus der Schminkmaske einer Abiturientin platzte ein Lächeln, als sie Fortun Müßiggang fragte, ob die sorbischsprachigen Schulen wirklich so rücksichtslos germanisiert würden. Er verbeispielte, daß in seinem zu siebenundneunzig Prozent von Sorben bewohnten Dorf die Armee eine Fallschirmspringerschule gebaut habe. Die Kinder deutscher Soldaten verstehen kein Sorbisch. Dadurch sank der Klassendurchschnitt. Das schrieben die Behörden der Unfähigkeit der Sorben zu, ihre eigene Sprache zu verstehen. Sie führten die deutsche ein. Der Leistungsdurchschnitt stieg, und sie rühmten sich, recht behalten zu haben. Aus zeitlichen Gründen brach Co Mähni die Veranstaltung ab. Er schlug ein Café vor, in dem Interessierte weiterdiskutieren könnten. Fortun Müßiggang setzte sich an meine Seite. «Dein Vortrag klang, als hättest du ihn aus dem Stern abgeschrieben.» – «Andersherum», antwortete ich sorbisch. «Tatsachen erschlagen die Leute. Das sind sie von den hiesigen Medien nicht gewohnt.» Mein anderer Sitznachbar fragte, woher ich mein Sorbisch habe. «Ich bin Sorbin», sagte ich. — «Verstehe», entschuldigte er sich. «Zuerst habe ich dir mißtraut, weil ich es anmaßend finde, wenn sich eine Deutsche mit Sorbenproblematik brüstet.» Ich gab mir Mühe, damit mein Sorbisch nicht holperte. «Ihr habt Wörter aus dem Deutschen übernommen», kritisierte er. — «Welche?» fragte ich. — «Maschina, Politika, Televisor habe ich herausgehört.» Ich hakte nach. «Deutsche Wörter?» Fortun Müßiggang legte mir einen Vortrag über die Sorben hin, den er seinen Mitstudenten halten wollte. Darin verglich er die kulturelle Förderung durch den Staat mit einem Fischteich, den man mit zuviel Sauerstoff anreichert. Daran gingen die Flosser dann zugrunde. «Nicht ein solidarisches Wort zu den Niedersorben», verriß ich ihn. — «Gott wird Gründe haben, die Obersorben länger zu erhalten als die Niedersorben», argumentierte er abergläubisch. — «Die Niedersorben werden euch eines Tages fehlen, wenn man euch gottgewollte Obersorben plattmacht. Dein Vortrag ist übrigens mit Zitaten überfrachtet und verwäscht sich ins Unkonkrete», bemängelte ich weiter. — «Kannst du Co Mähni eine Kopie davon geben, für das Umweltblättchen?» bat er mich. — «Schlage deinen Mist selber los.» Auf der Spiegelfläche des Morgens schritt ich durch das Küstenstädtchen. Erla Mias Baby hatte sich zum kindlichen Kappa Dok gemausert. «Das fällt dir als erstes auf, wenn du mich nach drei Jahren besuchst?» fragte sie. — «Und fett bist du geworden», sagte ich. Nach Stunden belanglosen Geschwätzes stellte ich fest: «Du hast
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Esprit verloren und deine Ideale aufgegeben.» — «Das bringt das Alter mit sich. Schon Goethe beschrieb das Leben als fortschreitende Desillusionierung.» Ich setzte Fromm dagegen, daß wechselnde Umstände Persönlichkeitsveränderungen nach sich zögen. Endlich schaltete sie den Fernseher ab und fragte: «Willst du noch ausreisen?» — «Mehr denn je. Ich habe nur das Gefühl, daß man mich nicht gehen lassen will.» Erla Mia yblegte. «Aus meiner Pionierleiterzeit kenne ich eine Berlinerin. Ich weiß, daß Melancha Meß Leuten Pässe aus der spanischen Botschaft besorgt hat. Versuch's. Sag aber nicht, daß du von mir kommst.» Ich schrieb mir die Adresse auf. «Kannst du dir noch ein anderes als dein langweiliges Leben vorstellen?» fragte ich. — «Ich habe mich eingerichtet», sagte sie. «Meinen Freund erziehe ich gerade für die Ehe. Ich hoffe, daß es meine letzte wird.» — «Na, immerhin Zukunftspläne», stellte ich fest und fuhr nach Berlin zurück. Eine pralle Blase zwang mich nachts auf das Außenklo. Als ich die Tür öffnete, versperrte eine lebensgroße Statue den Ausgang. Sie kippte mir entgegen und riß mich zu Boden. Ich arbeitete mich unter ihr heraus. Dann besichtigte ich sie genauer. In ihrer Brust arbeitete ein Motor, der dafür sorgte, daß aus Nase und Mund gleichmäßig Alkoholgestank puffte. Ich rüttelte die restlos betrunkene Polda Wünschinger an der Schulter. Nichts zu machen. Also schleifte ich sie mit einem Möbelträgergurt ins Zimmer. Bis zum nächsten Morgen zog ich mich samt Schlafsack in die Küche zurück. Polda Wünschinger entknitterte ihre Stimme und forderte unerbittlich Frühstück. Ich gab ihr Geld, sie daran erinnernd, daß die Hälfte der gekauften Brötchen mein Eigentum sei. Vielleicht kehrte sie ja zurück. «Lassen wir die Brötchen gleich eingepackt und gehen zu Melancha Meß», schlug die tatsächlich zurückkehrende Polda Wünschinger vor. — «Melancha Meß? Woher kennst du die?» — «Melancha Meß! Woher kennst DU die?» Wir trabten los. Melancha Meßt ging in die Knie. Sie ballte die Fäuste und sprang Polda Wünschinger freudig an. Dann tranken sie Rotwein, wie man am Weinrot ihres Blutes sah. Ich wagte nicht, die Intimität der beiden zu stören, nicht einmal mit dem Anliegen, mir einen Paß von der spanischen Botschaft zu besorgen.
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24. Kapitel
«Es ist Frühling!» Fortun Müßiggang legte sich in die Kurven. Aus der Erde schossen Bäume. Sie verästelten so schnell wie die Erdrisse einer verdurstenden Landschaft. «Was ist draußen los?» fragte Fortun Müßiggang. Ich antwortete: «Es war Frühling. Doch holla. Er startet wieder neu.» Co Mähni kümmerte anderes. Er ließ sich eine Kotztüte aushändigen. Nach dem Mittagessen, das uns Fortun Müßiggangs Großmutter auftischte, ging ich mit Co Mähni zum verantwortlichen Pfarrer. Ich fragte, wo ich meine Fotos aufhängen solle. Der Pfarrer musterte Co Mähni vom Iro bis zu den Springerstiefeln. «Ihr? Fortun Müßiggang hat etwas von Sorbenfotos erzählt.» Ich lüftete meine Achsel. Die gewünschten Bilder flatterten hervor. Mißmutig wies er uns den Maschendrahtzaun zu, der die Kundgebung für zweitausend Pilger in Grenzen halten sollte. Dieser Tag gebrach, der Mond ging auf. Als wir ein wenig im Dorf spazierten, trat eine Frau aus dem Haus. Co Mähni grüßte, ihr fiel der Blechkuchen aus der Hand. «Eihij», lachte die Verunfallte entgeistert. Co Mähni hob das Blech auf und legte es ihr in den Arm zurück. «Solange ich den Leder-UFO an der Kette führe, passiert Ihnen nichts», sagte ich. Sie flüchtete ins Nachbarhaus. Als wir die Hütte von Fortun Müßiggangs Großmutter betraten, war der gekippte Blechkuchen schon im Gespräch. Anderntags mischte ich mich unter die Pilger. Denen, die meine Bilder lobten, gab ich mich zu erkennen. «Wirklich deine Bilder?» drehte sich eine junge Frau nach mir um. – «Wie geht es dir?» fragte die Tochter meiner sorbischen Familie. Ich überschwemmte sie mit der Eissee eines Lächelns. «Dein Sorbisch ist sehr gut geworden. Komm uns besuchen», bot sie an. – «Schmerz abholen? Nö!» Als der katholische Rummel endete, löste sich Co Mähni irokäsig aus dem Waldsaum und half beim Abbauen. Wir gaben dem Pfarrer die geborgten Bilderrahmen zurück. Er strichelte ein Lächeln im Halbbogen, das seinen Gesichtskreis teilte. Man war versucht, die untere Hälfte abzureißen. Mit beiden Händen schüttelte er die Flauheit aus meinen und bedankte sich für die wunderbare Ausstellung. Fortun Müßiggang rief ich zu, daß wir jetzt abreisebereit wären. «Der Westen ist grausamer als der Tod», quittierte ich Monate später ein Paket aus München, das mir der Postbote reichte. Auf den Westen schimpfte ich, weil er sich nicht alle Jahre bescheiden aus meinem Freundeskreis bediente, sondern mir innerhalb eines einzigen den ganzen nahm. Ein Freund, der sich nicht bürokratisch vom MfS über den Tisch ziehen ließ, war Becher Draufsaat. Ihm
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gelang auf allen vieren die Flucht über die ungarisch-österreichische Grenze. Der Dreitageabenteurer schickte ein Süßwarenpaket, dessen Packpapiergrinsen von der Paketschnur zerschnitten war. Ich befreite es mit der Schere und setzte mich auf den Boden der rissigen Papierrose. Umgeben von gartenfruchtigen Kaubonbons, mit einem Turbanträger getürkten Sarotti-Schokoladen, Keksen aus den geschroteten Knochen von Alfred Bahlsen und Luxseife, deren Wohlgeruch auf die amerikanischen Kartoffelchips übergriff, saß ich, fraß um mich und lebte eine Stunde lang wie die Ostmade im Westspeck. Becher Draufsaat war der einzige, dem ich in den Westen antwortete. Dann war auch er für mich gestorben. Messer Mc Knife wurde verhaftet. Seit er seinen politisch begründeten Ausreiseantrag laufen hatte, bekam er keine Aufträge mehr. Freunde aus Westberlin schickten ihm per Taxi Computer zu. Er verscheuerte sie über eine Mittelsfrau vom An- und Verkauf, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Als Co Mähni nach dessen Verhaftung fragte, wer die Computer erstanden habe, vertraute ihm die Ladenbesitzerin an, es sei das MfS gewesen. Seit das Ministerium die schneller arbeitenden Westcomputer in Secondhandläden entdeckt habe, kaufe es alle auf. Der Laden sei verpflichtet worden, sich die Adressen der Anbieter ausweispflichtig geben zu lassen. Wenig später wurde die Umweltbibliothek gestürmt. Die Stasi beschlagnahmte die Vervielfältigungsmatrize und nahm die politischen Schwarzarbeiter fest. Co Mähni entkam. Er klapperte alle linken Haushalte ab, um zur Demonstration aufzurufen. Wir halfen ihm beim Flugblätterverwirbeln und Plakatekleben, dann versteckten wir ihn abwechselnd. Aus allen Teilen der Republik reisten Demonstranten an. Sie schwenkten Schilder, mit denen sie Freiheit für die Festgenommenen forderten. Das ganze Land nahm das Politgewimmel Berlins unter die Lupe. Derart vergrößert, hielten wir die Spannung selbst kaum aus. Die Gethsemanekirche wurde immer voller. Aus dem Publikum kletterten Leute auf den Altar, täglich hielten sie Bürgerkriegsreden, im Wechsel mit Kirchenleuten, die zu friedlichen Kundgebungen aufriefen, um der Staatsmacht so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Dann wurde die Gethsemanekirche abgeriegelt. Leute stellten Kerzen ins Fenster und jubelten uns Demonstranten zu. Eine U-Bahn hielt mitten auf der Schönhauser Brücke. Sie hupte solidarisch, ehe sie weiterfuhr und die Fahrgäste am regulären Bahnhof aussteigen ließ. Bullenjeeps fuhren Kollegennachschub zur Kirche. «Essen fassen!» rief eine Frau den schon anwesenden Polizisten zu. Wir lachten noch schallender, als ein Betrunkener vor der Absperrkette lallte: «Sonst sehe ick nur doppelt, wa. Aber dieset Mal habe ick so
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ville jeschluckt, dat sich die Grünen jleich verhundertfacht ham.» Mit Lkws schob die Bullerei Demonstranten zusammen. «Ihr Schweine!» schrie eine Frau aus dem Fenster. Der aus Schweden importierte Wasserwerfer schwenkte und bepinkelte mit Hochdruck die kreischende Frau. Ich wurde auf das MfS bestellt und bekam den Laufpaß. Während ich die KWV, das Elektrizitätswerk und das Schuldneramt ablief, rief die DDR den Notstand aus. Mütter wurden aufgefordert, ihre Kinder bis vierzehn Uhr aus den Kindergärten abzuholen. Krankenhäuser bekamen die Auflage, sich für Masseneinlieferungen zu wappnen. Ärzte schlossen sich zusammen, um per Unterschriftslisten zu verweigern. Nach siebzehn Uhr durfte kein Bürger die Straße betreten. Das lockte auch den letzten auf den Asphalt. Auf den staatlichen Laufzettel setzte ich noch eine Privatperson. Erla Mia konnte mir keine Audienz gewähren, da sie inzwischen verheiratet und verzogen war. Sie hatte sich radikal auf das Altenteil zurückgezogen und ließ eine kuhäugige Freundesschar im Provinzlärm zurück, ohne ihre neue Adresse mitgeteilt zu haben. Im Selbstgespräch kam ich dahinter, daß ich sie gar nicht mehr nötig hatte. Gegen das Leben war ich resistent geworden. Auf Springerstiefeln gesäult, meisterte ich es ganz gut alleine. Ich fiel nur noch durch meine Pferdemacke auf. Zum Beispiel, wenn ich meine Purpurmähne zu einem Nein schüttelte oder meine riesigen Zähne zu einem Lächeln sortierte. «Die Grenze ist auf», empfing mich Co Mähni. – «Ostler, du träumst», sagte ich. Die Tagesnachrichten gaben ihm recht. Wir rannten den Volksscharen hinterher. Die ersten kehrten schon mit Coca-Cola-Kisten in den Osten zurück. Westler begrüßten uns mit Hochrufen und klopften die vorbeiziehenden Trabant-Dächer ein. Einer fragte: «Kennt ihr das?» – «Gurken aus Afrika, auf westdeutsch: Banane», verulkten wir sein Vorurteil. – «Okay, dann etwas für Fortgeschrittene. Was ist das?» Ich hatte noch nie eine CD gesehen. Auf dem Rückweg bot uns ein türkischer Gemüsehändler Arbeit an, drei Mark die Stunde. «Du spinnst wohl», fauchte Co Mähni, weil er den gewerkschaftlich ausgehandelten Mindestlohn der Westarbeiter nicht drücken wollte. Nach uns griffen andere nach dem Westgeld. Nur wenige Tage später hatte auch Ostgeld eine berauschende Wirkung, weil man sich damit plötzlich ein Flugticket nach Paris kaufen konnte. Als ich den Briefkasten öffnete, überraschte mich eine Geschmacklosigkeit. Jemand hatte herausbekommen, daß ich mit der Emm Kunst verwandt sei, und mir eine Einladung zu ihrer Beerdigung eingeworfen.
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Die Rastazöpfe sprayte ich mir hellblau. Dann zog ich Blumendraht ein und formte sie zu einer Rose. Hinter der Hecke verborgen, beobachtete ich den Trauerzug. Er setzte sich überwiegend aus Menschen ihres Arbeits- und Wohnumfeldes zusammen. Die kannten sie als penible fleißige Kollegin oder hysterische, zuweilen auch freundliche Nachbarin. Der bestellte Priester sprach Emm Kunst heilig, in Anwesenheit meiner beiden Brüder, ihrer Frauen, eines gelackschuhten Enkels, ihres Sexgefährten der letzten sechzehn Monate, Onkel Karlis und seiner weisen Blondine, des Pförtners der HNO-Klinik, in der sie bis zum Schluß gearbeitet hatte, und eines schaulustigen Friedhofsgärtners. Die guten Taten der Emm steigerte der Priester ins Unermeßliche, weil es eine Sünde ist, den Toten Schlechtes nachzusagen. Er tat es mit reinem Gewissen, denn er hatte sie nie kennengelernt. Zum Schluß der Ansprache trieb mich die Neugier doch aus den Büschen. Womöglich bezog sich dieses Sammelsurium positiver Eigenschaften gar nicht auf die Emm. Ich wollte sichergehen, daß ich meinen wieder aufflackernden Haß keiner Unschuldigen mitgab. «Wie ist sie denn gestorben?» näherte ich mich flüsternd meinem Bruder. – «Ihr Herz», heuchelte er Tristesse und lockerte seine Fliege am verschwitzten Hals. Mit traulichem Zureden entlockte ich ihm Weiteres. Die ständigen Eskapaden ihres letzten Lebensgefährten hatten die Emm zu sehr aufgeregt. Als der eines Nachts besoffen mit Blumen nach Hause kam und sie nach fremder Frau stinkend umarmte, beschimpfte die Emm ihn als Hurenbock, dessen dreckigen abgekauten Schwanz sie nie wieder bei sich eintunneln wollte. Ihr fehlerhaftes Herz klopfte verzweifelt an die Brustkörbe der beiden und verlangte Ruhe. Die Emm überhörte es wie gewöhnlich, sie brüllte weiter. Ihr gestiefeltes Herz trat kräftig nach oben aus. Sie erlag einem Hirnschlag. Mit einer halben Drehung kippte sie um. Ihr Liebhaber, ein Gummistiefelhersteller und kein Mediziner, tickte nicht, daß sie tot war. Er hielt ihre Reglosigkeit für eine Spielart der Liebe und vögelte sie lokomotiv, ehe sie es sich anders ybllegen würde. Als er seinen Rausch ausgeschlafen hatte, brachte er ihr das Sonntagsfrühstück ans Bett. Weil er die Emm nicht wach bekam, rief er per Telefon meinen Bruder zur Hilfe. «Tot», diagnostizierte dieser vorwurfsvoll. Sehr vorwurfsvoll, denn die Emm hatte uns Kindern damals vorausgesagt, daß wir sie mit unseren Unarten ins Grab bringen würden. Der Stiefelmacher glaubte meinem Bruder erst, als der Notarzt ihm den Totenschein reichte. Er sank über seiner Lebensgefährtin zusammen und wimmerte schuldbewußt: «Ich habe sie totgefickt ... meine beste
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Liebesmaschine ... irreparabel totgefickt.» Auch wenn es nicht stimmte, zu ihrem Leben hätte es gepaßt. Drei neurotische Kinder hatte die Emm dem sozialistischen Staat geschenkt. Mit dem einsetzenden Kapitalismus der neunziger Jahre sollten sie weniger auffällig werden, weil die aufkommende Arbeitslosigkeit noch ganz andere Leute verrückt machte. Verrückt auf Türken, Juden und Affendeutsche, wie die Mulatten betitelt wurden. «Wer sind Sie eigentlich?» fragte mein Bruder, der seine Redseligkeit schon bereute. – «Eine lebenstüchtige Heckenrose, die sich den tschechenslawischen Wurzeln der Emm Kunst terroristisch verbunden fühlt, doch nie mehr ihre Verwandtschaft wählen würde», antwortete ich. Sargträger ließen die Pappelholzkiste in die Grube gleiten. Alle Anwesenden verabschiedeten sich mit einer Handvoll Erde von der Emm. Ich ging vorzeitig, ohne sie mit Dreck zu bewerfen. Eines Nachts kam ich wieder. Inzwischen war ihr Grabstein gemeißelt und aufgestellt, ein steiniger schwarzer Ausweis mit Goldlettern: EMM KUNST; SIE RUHE IN FRIEDEN. Meine Taschenlampe erhellte das Zeilenblabla. Dann ging sie aus. Das Vollmondritual begann. Ich hüpfte kichernd um das Grab, klatschte in die Hände und jubelte: «Die Kunst ist tot, die Kunst ist tot!», als wäre die Emm ihr letzter Vertreter gewesen. Erschöpft fiel ich ins Gras. Meine lunarsensible Haut speicherte Mondlicht, bis sie zu schuppen begann. Nach qualvollen zwanzig Minuten hatte ich mich vollständig in ein Reptil verwandelt. Nachtragend riß ich die Erde auf und exhumierte die Emm. Sie lebte. Alle Samen vom letzten Erguß des Stiefelmachers waren aufgegangen. Die geschlüpften Maden bewegten ihren Körper. Hirnlos sprühte ich Hakenkreuze auf das Gewimmel. Nicht alle kamen in Schönschrift auf. Die aufgehende Sonne beendete das Massaker. Mein Schuppenpanzer schmolz. Zunehmende Wärme gab ein Wesen wieder frei, das ich mit Prinzessinnen gemein habe. Ich raffte mein Brokatkleid, flüchtete über die Friedhofsmauer und schaffte es unerkannt in die Straßenbahn. Ein Anwohner entdeckte das offene Grab und holte die Hakenkreuzleiche mit dem Fernglas zu sich heran. Als erstes rief er nicht die Polizei, sondern die B-Zeitung an. Zehn Minuten später klingelten sie an der Tür des Stiefelmachers. Der lag noch auf der Nebelbank des Alkohols. Mühsam versuchte er aus seiner Brechpappe zu platzen, die er sich nachts auf den Bauch gereihert hatte. Der Klingelsturm dauerte rücksichtslos an. Weil der Stiefelmacher sich noch vor siebzehn Uhr hochkämpfte, um die Tür zu öffnen,
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erschien er neben dem Foto seiner Frau in der Morgenausgabe: SKINS SCHÄNDETEN FRAUENLEICHE. Diesen Muntermacher kauften die müden, zur Arbeit eilenden B-Zeitungsleser und lasen in der Straßenbahn weiter: «Muß sich der deutsche Normalbürger auch nach dem Tod bedroht fühlen?» Eine seriöse Zeitung griff den Fall auf. Bei Recherchen deckte sie den tschechischen Mädchennamen der Emm auf. Die Seriösen vermuteten ein statuiertes Exempel zur Abschreckung aller Slawen. Danach erreichte ein brauner Brief die Redaktion. Drei anonyme Vertreter des nekrophilen Flügels der REPs bekannten sich zur Tat. Sie drohten mit Nachfolgeaktionen, wenn die Ausländerpolitik von den regierenden Parteien weiterhin so lax gehandhabt werde. Mit meiner Sprühdose und Hitlers Vierzack war aus der Emm doch noch was Brauchbares geworden, jedenfalls für die Medien. Ich ging zum Psychologen. «Sie sind einer der drei Skins?» fragte er. Beleidigt antwortete ich: «Keiner der drei bin ich, sondern alle drei zusammen.» Ich gestand, der gute Leumundder Emm mache mir zu schaffen. Am meisten litt ich darunter, daß der Emm auf ihrem zweiten Begräbnis 8500 Sympathisanten nachgelaufen waren. Ihre Getreuen vom letzten Mal und eine Demonstration gegen Ausländerhaß, die am Hansaplatz losging. Eine halbe Stunde später war die Demo in den Trauerzug mit eingeschwenkt, weil Wasserwerfer der Einsatzpolizei ihre transparenten Führungsreihen fortgeblasen hatten. Eine private Beerdigung zu stören, hatten sich die Polizisten nicht getraut. «Damals in der Tatnacht wurde ich zum Reptil, um Böses mit Bösem zu vergelten», heulte ich auf. Mit einem Mindestwortschatz an Biologie erklärte mir der Psychologe, daß REP-tile nicht mit Reptilen zu verwechseln seien. Reptile sind Tiere und REP-tile Untiere. Menschen werden nur zu Untieren, wenn sie übertrieben menschlich handeln. An meiner Stelle würde er einfach verduften, statt sich von den Medien als hakenkreuzsprühende Nichtfaschistin zum Neonazi krönen zu lassen. Er fragte noch, ob ich eine Bezugsperson hätte, der ich mich anvertrauen könne. Meinen Fall mochte er nicht behalten, weil er zwischen Schweigepflicht und seinem Gewissen schwanke.
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25. Kapitel
Romy Schneider war tot. Brigitte Bardot war nicht tot genug, um sich der Öffentlichkeit zu entziehen. Von Paris aus löste ich eine Fahrkarte in ihr südfranzösisches Dorf. Als ich ausstieg, bewegte die Bahnhofsuhr ihren großen Zeiger wie eine schlecht eingearbeitete Hure den linken Schenkel. Meine Milchglasbrille vernebelte das landesübliche Hochgebirge. Vom Bahnhof aus machte sich der Weg auf den Weg, entlang der Hauptstraße und dann über die Felder. Welke Gräser, die Barthaare des Herbstes, stichelten das monotone Erdengrau. Geduldig fraß er sich durch Unterholz und endete im Delta einer Tierschutzfarm. Ein Pförtner bremste mich. «Sie wünschen?» fragte er ins blaue Nichts meiner Augen. — «Ich möchte mich, weil ich Romy Schneider verpaßt habe, von Brigitte Bardot verabschieden», erklärte ich. Autogramme könne ich bei ihm an der Pforte bekommen. Doch mir ging es nicht ums Autogramm. Von meinem Widerspruch irritiert, zogen sich seine Augenlider zurück wie Vorhäute. Mundgeruch bildete die Luftbrücke, über die er die Worte «Hau ab» spazieren ließ. Meine Augen vergrößerten sich zu Wasserringen, weil ich in der Ferne eine Matrone mit Pferd sah: Brigitte Bardot kam aus der Tierklinik. Der Pförtner sprang auf und gab ihr Feuerschutz. «Laß sie durch. Sie ist seit Jahren wieder der erste Belagerer», sagte Brigitte Bardot. — «Ein lahmendes Pferd ... ist das nicht ein rührender Jasager?» eröffnete ich das Gespräch. «Man kann ihm im Laufen erzählen, was man will. Es wird immer nicken.» Wir setzten uns an den Springbrunnen. Fontänen schossen heraus, die auf ihrem Höhepunkt erschlafften. An Spinnenbeinen liefen die Wasserstrahlen wieder hinab. «Was interessiert Sie?» fragte Brigitte Bardot. — «Wie kommt es, daß Sie so fett sind?» Sie straffte sich. «Nachdem ich die Schauspielerei aufgab, hatte ich keine Orientierung mehr. Es ist schrecklich, keine zu haben, weil man dann in alle Richtungen auseinandergeht. Als ich mich für den Tierschutz entschied, war es bereits zu spät. In meinem Alter sind Kilos anhänglicher als Fans. Die Fans gehen zurück, meine Kilos nicht», klagte sie. Ich erwiderte: «Fans können gehen, Kilos müssen getragen werden. Ein Kilo pro Meter? Was haben sich unsere Sprachen bloß dabei gedacht.» Prompt revanchierte sich die Bardot mit einem Rechenbeispiel. «Mein Pförtner verlangt ein Kilo Äpfel. Denken Sie, die Verkäuferin weiß noch, daß ein Kilo für die Zahl Tausend steht? Wieviel Äpfel bekommt er? Höchstens zwölf kleine.» Wind kam auf und bestäubte unsere Kleidung mit Fontä-
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nenwasser. «Wieder ein Kilo mehr», sagte Brigitte Bardot. Was sagte ich? «Tschüs!» Der französische Grenzpolizist guckte tief ins Archiv meines DDRReisepasses. Er fand heraus, daß ich mit dem Ausweis eines Landes reise, das schon längst von der Weltkarte verschwunden ist. «Der Weltuntergang fängt ganz klein an», sagte ich, und er ließ mich bis zum Krater passieren, in dem die DDR verschwunden war. So kam ich nach Berlin, gerade noch rechtzeitig, um die alte Währung gegen die Hälfte der neuen einzutauschen.
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26. Kapitel
Kaum hatten meine regennassen Füße den Boden meiner Wohnung gestempelt, besuchte mich Fortun Müßiggang. Er warb mich als Arbeitskraft für das von ihm gegründete Sorbische Kulturzentrum. Dann stellte er seinen Bruder Fortuno, die Schwester Fortuna, Schwägerin Fortunja und Cousin Fortunato als Vorstand des neuen Sorbenvereins vor. «Stört es keinen, daß ihr alle Müßiggang heißt?» fragte ich. Er lächelte yblegen und lud uns zum Essen ein, das er neuerdings von der Steuer absetzen konnte. Auf der ersten Mitgliederversammlung hatte niemand etwas zu sagen. Ich schaute in die von Teilnahmslosigkeit gezeichneten Gesichter und schlug vor, zum Thema «Kunstmotiv schwul» einen sorbischen Schriftsteller einzuladen. «Es gibt keine homosexuellen Sorben», meinte Fortuna Müßiggang. — «Dann habt ihr einen Rückstand aufzuholen», legte ich alle auf die erste Veranstaltung fest. «Meine Büroecke», sagte ich und nadelte am ersten Arbeitstag die wilde Malerei von Messer Mc Knife an die Tapete. Fortun Müßiggang schritt ein. «Du bist nicht zur anarchistischen Ausgestaltung der Räume angestellt.» Marmole Fischklang, die Bibliothekarin, tippte sich an die Stirn. Doch eigentlich war sie gekommen, damit ich ihr helfe, die Bücherkisten hochzutragen. Bei der ersten Arbeitsbesprechung drückte mir Fortun Müßiggang ein Pensum auf, das nicht einmal in zehn täglichen Stunden zu schaffen war. «Als FRAU vom FACH werde ich nur für SECHS bezahlt», wies ich ihn in seine Schranken. «Der hat nur Sexfachfrau verstanden», erklärte ich Marmole Fischklang, als sie fragte, warum Fortun Müßiggang meine Büroecke so erregt verlassen habe. «Eine Galerie aufmachen? Du hast alle Vereinsräume privat vermietet!» Ich wunderte mich über Fortun Müßiggangs Kulturvorhaben. — «Hm», verharrte er ratlos. — «Vielleicht auf dem Dachboden», kurbelte ich ihn wieder an. Für das kommende Wochenende rief er einen Subbotnik aus. Mitglieder des Sorbenvereins kamen gemütlich in den Sonnabend spaziert. Sie stellten Kuchen, Fladenbrote, Nudeln und Ketchup in den Kühlschrank. Fortun Müßiggang verteilte Hämmer, Zangen und Eimer. Dann wurden so lange Zwischenwände herausgerissen, Nägel aus dem Gebälk gezogen und Putz abgestemmt, bis wir in den explosiven Kalkwolken aufgingen. Am Ende setzten sich alle zu Tisch. Die Frauen trugen Essen auf und fragten, ob ich nicht helfen wolle. «Nein.» Ich blieb sitzen. «Du verwechselst dich wohl mit den
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Kerlen», zischte Fortuna Müßiggang, als sie den Teller vor mir abstellte. «Mpffffah», kicherte ich, als ich der katholischen Bediensteten das Besteck abnahm. Fortuna Müßiggang schubste ihren Freund Pleppo Kartäuser an, er solle für die anderen auch was übriglassen. Der entwurmte seinen übervollen Mund von Spaghetti und fragte, ob jemand was abhaben möchte. Fortun Müßiggang wollte auch von seiner Freundin ermahnt werden, darum schaufelte er Nachschlag auf seinen Teller. «Ihr freßt wie die Schweine. Dafür bekommt ihr nichts vom Kuchen ab», schimpfte die Seine wie erwartet. «Bescheidenheit ist nicht nur Frauensache», sagte ich und deutete auf zwei Akademiker, die nichts abbekommen hatten. Ihre langen Gesichter verdummten hinter Nickelbrillen. Mutig hielten sie ihre Teller den Vielfraßen hin. Die gaben etwas vom verschmierten Müllplatz auf ihren Tellern ab. Als der Kuchen aufgeschnitten war, bekamen Fortun Müßiggang und Pleppo Kartäuser tatsächlich nichts. Ihre Frauen verzichteten auf das süße Achtel und fütterten es in die Mannsmünder. «Man oh man, sind Sorbenweiber blöd!» bespiegelte ich die patriarchalische Zeitinsel unseres Vereins. Während die Made Fortun Müßiggang von seiner Ische gestopft wurde, rettete er die Ehre der beleidigten Frauen. «Sie sind es, die uns Sorben am Leben erhalten.» Ich wälzte den Katalog, um sorbische Künstler zu entdecken, die in Berlin lebten. Zwei schrieb ich an. Einer lud mich zur Besichtigung seiner Bilder ein. Durch eine Drehtür betrat ich seine Welt. Die Gemälde waren nach Farben sortiert. Ein Familienbetrieb kratzte sie von den Leinwänden und recycelte sie in die ausgedrückten Tuben. Ich nahm ihn unter Vertrag. Früher Morgen zog der Nacht lautlos das ergrauende Fell ab. Reste davon blieben als Augenringe in meinem Gesicht stehen. Durch diese Brille sah ich in den Tag und machte mich auf den Weg zu der anderen Grafikerin. Ihre Augen, zwei liebe Nullen, salutierten meinem Eintritt. «Willst du einen Kaffee?» fragte sie. Nach dem Cappuccino fragte ich, was sie ausstellen wolle. Sie zeigte Politschinken. «Oje. Unsere Galerie wird sich nicht mit deinen Megas vertragen», befürchtete ich. Indessen hatte ich den Fußboden gestrichen, die Galeriedecke mit Seidentüchern abgespannt und gefundene Stühle an Freunde verteilt, die sie phantasievoll mit den sorbischen Nationalfarben musterten. Fortun Müßiggangs deutsche Freundin setzte sich auf einen frisch gestrichenen. Als geflaggter Sorbenarsch stand sie wieder auf. Auch Fortun Müßiggang sah sich in der Galerie um. «So was kann man der Öffentlichkeit nicht anbieten.» Wieder mal zog er sich zur Größe eines Arschlochs zusammen.
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Zum Mittagessen ging Fortun Müßiggang regelmäßig in die gegenüberliegende Bundesadlerbraterei. Einmal vertilgte er einen in Eichenlaub gebeizten Schinken. Damit war der Raubvogel einbeinig. Das war so Fortun Müßiggangs sorbische Art, den Nationalstolz der Deutschen zu kränken. «Wie sinnlos. Welcher Deutsche hat noch Nationalstolz?» tauschte ich mich mit Marmole Fischklang am Fenster aus. «Sieh nur», belehrte sie mich eines Besseren. Auf der Straße bildete sich ein Schlagring von fünf Neonazis, die Fortun Müßiggang niederstreckten. Zum Aufstehen brauchte er Stunden. Wir nutzten die Zeit, um in Büroakten zu stöbern. Marmole Fischklang, die Durchblick hatte, las das Statut. «Als Vereinschef darf der nicht auch noch Geschäftsführer sein.» Bei den Anschaffungen waren ein Computer und Büromöbelausstattung aufgeführt. «Jetzt verstehe ich, was es mit seiner Wohnzimmereinrichtung auf sich hat», ging der Mond der Erkenntnis an Marmole Fischklangs neu geschwärztem Himmel auf. «Und mir macht er Büroklammern streitig, weil man die kaufen muß. Ha!!!» Sie lachte entsetzlich. «Der bietet sogar seine sorbisch berockte Großmutter den Opelwerken für ihre Autowerbung feil.» Ich schlug Marmole Fischklang vor, ihn damit öffentlich aufzuziehen. «Das geht nicht», sagte sie. Fortun Müßiggangs an die Opelwerke verkloppte Großmama wohnte im selben Dorf wie Marmole Fischklangs Mutter. Zwischen den beiden lieben Omis wollte sie keinen ferngesteuerten Krieg entfachen. Am Morgen zählte mir Fortun Müßiggang die Minuten vor, die ich zu spät gekommen war. «Du kannst bis drei zählen?» sprach ich ihm meine Bewunderung aus. Dann legte ich Quittungen hin, um mir meine Auslagen für die Galerie erstatten zu lassen. – «Deine eigene Dummheit. Der Verein hat kein Geld.» – «In den Einladungen zur Ausstellungseröffnung werde ich deine Korruptionen auflisten», ließ ich verlauten. Seine Finger gründelten nervös in den Akten. Er legte mir meine Entlassungspapiere zur Unterschrift vor. «Wenn dir deine Arbeit keinen Spaß macht, kannst du gehen. Meine Leistungen wird niemand in Frage stellen.» Als ich unbeeindruckt sitzen blieb, schwoll seine Halsader an wie eine Adrenalinrennbahn. «Raus!» brüllte Fortun Müßiggang. «Und wage nicht, mich anzuscheißen. Den Kürzeren ziehst du.» – «Flieg, Pleitegeier, flieg», breitete ich seine Arme aus und ging. Gerade zwitscherte ich gemütlich ein Vollkornfrühstück, da stürzte Marmole Fischklang herein. «Fortun Müßiggang wird die Vorstandswahlen vorziehen, weil du den Verein angeblich mit erlogenen Vorwürfen zerstören willst.» – «Ist die Versicherung für die Ausstellung abgeschlossen?» fragte ich sachlich. – «Nichts von
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alledem», versicherte sie. Ich trat mein Fahrrad in unzulässigem Tempo über das Kopfsteinpflaster und fragte den sorbischen Maler, ob er seine Bilder auch ohne Versicherung ausstellen würde. «Ist der Galeriezugang gesichert?» fragte er. Ich mußte passen. Zufällig rempelte ich den Ölmaler Messer Mc Knife und fragte, ob er jemanden kenne, der ausstellen würde. «Mich», jubelte er. – «Das geht nicht. Ich muß das Thema bedienen.» – «Ich gehöre einer an.» – «Duuuu?» rief ich überrumpelt. «Ich bin Sachse und unter Berlinern eine Minderheit.» – «Ach, hör uff», lachte ich. Er vermittelte mir einen Korsaren. Zur angekündigten Mitgliederversammlung waren alle gekommen. «Wußtest du, daß es noch so viele Sorben gibt?» flüsterte ich Marmole Fischklang zu. Fortuna Müßiggang gab bekannt, daß ich nach der Vorstandswahl etwas Nebensächliches zu sagen hätte. «Wegen dieser Nebensächlichkeit sind wir alle hier», sagte Ethno King. Fortun Müßiggang verteilte Stimmzettel. «Vorher gibt es noch Beiläufiges zu klären», erteilte mir Marmole Fischklang das Wort. Ich erzählte von meiner Behinderung. «Fortun Müßiggang ist daran schuld.» Heiser rechtfertigte er sich damit, daß meine Arbeitsmethoden einer strengen Kontrolle bedurften. Einer fragte, wie er sich das vorstelle. Fortun Müßiggang hatte bei der Armee gedient. Er wisse, wie ein Verein zu laufen habe. Buhrufe tosten. Ich erklärte, daß Marmole Fischklang und ich nicht mehr zu Schlafsackabenteuern bereit wären, um nachts Ausstellungen zu bewachen. Jemand bot an, die Sicherheitstür einzubauen. Daura Mimauka stellte sich als neue Kollegin vor. «Noch eine Müßiggang», stöhnte Marmole Fischklang. «Sie ist Fortuns Tante.» Die Vorstandswahlen wurden vertagt. Weil lediglich Fortun Müßiggangs Sympathisanten eine Einladung zur nächsten Vorstandswahl erhielten, fand sich nur ein Drittel der Vereinsmitglieder ein. Die Hälfte davon stimmte für ihn. Er gab seine eigene Stimme ab und gewann. Verdrossen zog ich mich in den Schatten meiner Büroecke zurück. Ein Kugelblitz barst die Tür auf. Es war Pleppo Kartäusers Bierbauchtonne. Er betätigte den Lichtschalter. «Mach den Schatten wieder an», bat ich. – «Was machst du im Dustern», fragte er. – «Ich baue aus Nasensteinen einen Wochenendbungalow. Was willst du?» – «Tja, auf der ersten Versammlung hattest du alle Trümpfe in der Hand. Du hättest die Leute bei der Stange halten sollen. Inzwischen hat sie dir Fortun Müßiggang weggeschnappt.» – «In euren Granitköpfen flattert ein Schmetterlingsvölkchen sinnloser Illusionen. Laut Vereinssatzung müssen mindestens zwei Drittel der Mitglieder ihre Stimme abgeben. Die Wahl ist ungültig», grinste ich ihn unaufhörlich zur Tür hinaus.
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Einige Tage später eilte ich zu der von mir einberufenen Mitgliederversammlung. Die war bereits in zwei Lager zerfallen. Die Truppen der sorbischen Hisbolla um Fortun Müßiggang saßen dem Häuflein um Marmole Fischklang gegenüber. Die Truppen verlangten meine Entlassung, weil auf meinen aufklärerischen Rundbrief hin viele Vereinsaustritte erfolgt waren. Ich verlangte einen Untersuchungsausschuß und wurde verlacht. «Dann wende ich mich ans Arbeitsgericht», wirbelte ich das Gelächter in ihre offenen Münder zurück. Der Untersuchungsausschuß wurde gebildet. Fortun Müßiggang meldete sich freiwillig als Vorsitzender. Pleppo Kartäuser riß dem Dummbrot den Meldearm herunter. Die Truppen stellten den größten Anteil der Kommission. Aus dem Häuflein bewarben sich Marmole Fischklang und Ethno King um das Sichten der Vereinsakten und Quittungen. Lauffeuer der Resignation erstickten Marmole Fischklangs aufständische Gefühle. «Wenn sie dich feuern, gehe ich auch. Ich schäme mich für die Sorben.» – «Rechenblödel Müßiggang wird sein Päckel nehmen müssen», sagte ich zuversichtlich. Marmole Fischklang, die Durchblick hatte, zweifelte: «Glaubst du nach dieser Versammlung noch an einen fairen Ausgang?» – «Yup.» Sie lachte ungläubig und putzte sich eine Träne aus dem chinesischen Augenwinkel. Weil der Verein Porto sparen mußte, ging die Einladung zur wiederholten Vorstandswahl von Hand zu Hand. Ethno King schneite als letzter herein. «Kann mir jemand das unleserlich gewordene Papier verdeutlichen?» japste er. Den Untersuchungsbericht wertete Pleppo Kartäuser aus. Was niemand öffentlich aussagte, hatten Einzelgespräche zutage gefördert. Das Ausmaß der Beschwerden habe ihm, dem Chef des Untersuchungsausschusses, bewußt gemacht, daß ich kein Einzelfall sei. Viele trugen Vorschläge für einen liberaleren Verein vor. Fortun Müßiggangs Leistungen wurden gelobt, doch beanstandete man seinen unsensiblen Umgang mit Menschen. Mir wurde Kreativität bescheinigt. Aber meine Überspanntheiten hätten das Vereinsleben empfindlich gestört. Dann wurde der Redestab an Ethno King weitergereicht. Der räusperte eine Verlegenheit. «Die Korruptionsvorwürfe haben sich bestätigt.» Er führte neue Beispiele auf. Schweigen starrte die Anwesenden. Niemand wagte, Fortun Müßiggang wiederzuwählen. Der bedankte sich gehässig bei Pleppo Kartäuser für die angebliche Unterstützung, dann zog er sich weinend zurück. Ich war versucht, ihn zu trösten. Auch Adam und Eva hatten einer Versuchung nachgegeben ... und verloren dafür das Paradies. Also ließ ich es.
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Herbst wirbelte die greisen Blätter zum Totentanz. Winter schrotete die Wolken zu Schnee. Der legte die Vereinsprobleme unter seinem schmutzigweißen Fell schlafen. Frühling kleidete die Bäume neu ein, und an einem Maitag waren unsere ABM-Stellen abgelaufen. Bei Trokka Dia entwich mir die Kraft, die mich zusammengehalten hatte. So erklärte ich mir jedenfalls das vergangene Jahr, diesen schwarzen Millimeterbalken auf der Meßlatte meines Lebens. «Ist ja alles vorbei», tröstete sie mich und brachte einen Toast auf die bekloppten Sorben aus. Ich schränkte ihn müde auf die Vereinsslawen ein, die zwar so konservativ sind wie die Lausitzer Sorben, denen die sagenumwobene Gastfreundschaft aber nichts mehr bedeute. «Die Bande hat es geschafft, meinen blauäugigen Nationalismus zu entmachten. Meine Identität ist nur noch ein Käfig, aus dem der Papagei längst entflogen ist.»
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27. Kapitel Über den breiter werdenden Rücken meiner Gelassenheit rollten die Tage träge ab. Ein schlichter Brief stellte schlagartig ein Ereignis her. Ich meldete mich beim Absender und nahm Einsicht in die Stasiakten. Unter dem Decknamen Sommerfeld hatte Erla Mia meine Republikfluchtvorhaben an die deutsche demokratische Staatssicherheit verkauft. Dafür wurde ihr die Heirat mit dem Iren Kappa Dok ermöglicht. Der zweite Teil der Akte war ein Witz. Als die Stasi mir erfolgreich eine Schlinge aus freiwilligen Mitarbeitern umgelegt hatte, verlor sie mich aus den Augen. Erst ein halbes Jahr später muhte dieses Trampel von wasserköpfiger Bürokratie ins Amtspapier, daß ich vom Berliner Vorderhaus in den Seitenflügel gezogen war. Wieder zu Hause, trug ich einen Stuhl ins Freie und rauchte. Nikotin band mein Adrenalin und fällte es aus. «Ufff?» Meine schüchterne Zurückhaltung hatte damals auch die mit spanischen Pässen handelnde Melancha Meß vor dem Knast bewahrt. Ich aschte die Zigarette ab. Dem glutenden Balkonsilvester schaute ich über der Brüstung nach. Es trudelte selbstmörderisch in die Tiefe.
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28. Kapitel
Nicht abbrechende Wolkenkarawanen waren die düsteren Poeten des nächsten Tages. Unter ihren Schlagschatten fuhr mich das Taxi zum Flughafen. Der hinduistische Fahrer erzählte, daß auf seinem Subkontinent die Kakerlaken so riesig seien wie hierzulande Haustiere. Angeekelt gab ich das Flugticket zurück. Ich stieg in die Regionalbahn nach Mecklenburg. Es pißte. Verschiedenfarbige Erdlappen flickten die vorbeiziehende Landschaft. Als ich den Zug verließ, kroch die Sonne aus den Wolken, zerschmolz auf meinem Regenmantel und kleckerte auf die Erde. Ich trippelte auf das Dorf zu, das die erstarkende Sonne aus dem Nebel wusch. «Sowjeto», las ich auf dem Ortsschild. Co Mähni hatte es mir als hinterwäldlerisch beschrieben. Ich grüßte eine Frau und fragte, ob sie hier, im Mittleren Westen der ehemaligen DDR, heimisch sei. «Der DDR», verbesserte sie mich. Der Mittlere Westen war so rückständig, daß er nicht einmal den Mauerfall bemerkt hatte. Doch wie Co Mähni erzählte, war er einst so fortschrittlich, daß er nach 1945 als erster die Deutsche Demokratische Republik ausgerufen hatte. Ihm folgten die Bezirke Rostock, Schwerin, Neubrandenburg, Potsdam und Suhl. Dresden schloß sich nur an, weil die Russen Druck machten. Nach dem Mauerfall reisten Politiker in den Mittleren Westen. Sie warben für den Anschluß an die BRD. Die Mittelwestler blieben stur. So lockten die Politiker mit dem Angebot, sie der ehemaligen DDR, also den neuen Bundesländern zuzuordnen. Der Mittlere Westen bewaffnete sich. Seine Wehrkraft sprach sich herum. Viele, die der DDR nachtrauerten, siedelten in den Mittleren Westen um, wo man noch mit den Sparstrumpfeinlagen in alter Währung bezahlen konnte. Um die politischen Schwierigkeiten zu tarnen, setzte der Staat ein Irrenhaus in die Mitte und erklärte den gesamten Mittleren Westen für verrückt. Bald klang die Aufregung ab. Der Mittlere Westen vereinsamte zur DDR-Scholle. Das änderte sich schlagartig, als die Mittelwestler Erdöl fanden und ihre Enklave industrialisieren wollten. Der großdeutsche Nachbarstaat stellte Besitzansprüche. Mit Panzern schützte er die Aufstellung von Erdölraffinerien. Oppositionelle aus allen Teilen Deutschlands reisten an. Sie blockierten die Erdöllager. Ich lief dazu und setzte mich an eines der Lagerfeuer. Am nächsten Tag fand eine Demonstration statt, die das Irrenhaus rammte. Eine Mauer riß ein. Die Irren strömten heraus.
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Demonstranten rissen Pflastersteine aus dem Bürgersteig, die Bullen treffen sollten. Jedoch pflasterte einer davon mir eine Wunde an den Kopf. Polizeikolonnen stürzten sich in die Demo und häckselten den homogenen Aufmarsch durch ihre Schlagstöcke. Aus der fadenscheinig gewordenen Menge fischten die Ärzte im Fahrwasser der Polizei Leute heraus, die sie für ihre Patienten hielten. Als sie mich packten, sagte ich, daß ich Sorbin sei. «Ach ja?» erwiderte einer im breit ausgefächerten Dialekt. «Dann passen Sie ja hervorragend zu unseren Kaisern und Gottessöhnen.» Im Krankenwagen saßen schon einige. «Jesus», gab mir jemand die Hand. «Napoleon», stellte sich ein anderer vor. «Sorbin», sagte ich, und beide waren sich einig, daß es etwas Neues zu erobern gab. Ich kam auf die Frauenstation. «Was glotzt ihr so?» fragte ich zwei eingehakte Frauen. – «Du mußt uns doch kennen?» sagte eine der beiden. – «Woher denn?» Einstimmig sagten sie: «Aus dem Kino. Wir sind Romy Schneider und Brigitte Bardot.» Erst als sie sich die Plakate vor die Gesichter hielten, erkannte ich sie. Eine Schwester trat ein und verband meine Kopfwunde. Danach brachte sie das gewünschte Glas Milch. Ich bohrte den Trinkhalm ins Getränk wie sie einige Minuten später die Kanüle ins Weißfleisch meines Armes. Ein seliger Schlaf federte mich auf dem Steinfußboden ab. Die Spritze bekam ich, weil nach Einlieferung der vielen Demonstranten die Zwangsjacken ausgegangen waren. Das kapitalistische Deutschland verlangte die Auslieferung der politischen Patienten. Der Arzt legte eine Krankenakte an. Er fragte nach meinem Problem. «Ich bin Sorbin. Ob das ein Problem ist, weiß ich nicht, ein Politikum auf jeden Fall», hegte ich die Hoffnung, aus der Rest-DDR abgeschoben zu werden. Er schrieb sich die Daten meiner Eltern auf, entnahm eine Blutprobe und schickte mich aufs Zimmer. Am besten verstand ich mich mit den Alkoholikern von der Männerstation. Sie boten mir eine Zigarettensorte an, bei der man schon nach dem ersten Zug den Filter in der Lunge hatte. Ihre Trinkbrüder nahmen ihnen die letzte Mark ab, wenn ihre Köpfe volltrunken im Rinnstein lagen. Sie klagten über Entzugsqualen, die vorbeigingen, wenn sie nach der Entlassung wieder kräftig einen hoben. Schwestern unterbrachen unser angeregtes Gespräch, um Spritzen zu verabreichen. «Faßt mich nicht an», schrie ich. Gegen acht Klapsmühlenkittel mußte ich kämpfen. Später erwachte ich mit einem Muskelkater. Dieser Fleischanzug lag so eng an, daß jede Bewegung drohte, mir die Knochen zu brechen. Alle Politischen waren ausgeliefert worden. «Warum bin ich noch hier?» — «Weil Sie gelogen haben», antwortete der Arzt. «Ihre
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Blutgruppe stimmt nicht mit der Ihrer angegebenen Eltern überein. Wenn Sie jetzt immer noch behaupten, Sorbin zu sein, muß ich Sie ganz hierbehalten.» — «Dann ... dann bin ich auf der Entbindungsstation verwechselt worden?» — «Oh! Babyvertauschungen haben wir genügend auf der Station. Sie werden viel Zeit haben, mit denen zu plaudern.» Ein neues Psychopharmakon wurde eingeführt. Es sollte den Klienten die Aggressionen nehmen. Doch in Wirklichkeit hielt es sie nur gestaut. Die entluden sich, als sich die ersten Patienten einen Harakiri in den Bauch löffelten. Das Personal schaffte alle gefährlichen Gegenstände beiseite. Bestecke, Verbandszeug und Bettkanten wurden entsorgt, der Strom abgestellt. Schließlich riß man das ganze Haus ab, weil einige gefährlich gegen die Wände rannten. Verblüfft schauten wir zu. Wir waren frei. Lediglich unsere Akten lagen noch herum, freilich ohne den harten Pappdeckel, mit denen man sich ein Auge hätte ausstechen können. Ich fand meine. Als ich entdeckte, daß ich tatsächlich das Opfer einer Babyverwechslung war, schluchzte ich. Alle Mütter, die an meinem Geburtstag entbunden hatten, waren im Jahre 2004 unter dem Vorwand einer Reihenuntersuchung zur Blutentnahme ins Krankenhaus bestellt worden. Die Adresse meiner richtigen Eltern war mit dem Hinweis des MfS behaftet, die Verwechslung nicht aufzuklären. Man wollte in einer politisch akzeptablen Familie keine Verwirrung stiften. Mit der Akte, den entzogenen Ausweispapieren und meinem Anspruch auf Fahrgeld meldete ich mich beim Bürgermeister von Sowjeto. Er zahlte mich aus und wünschte gute Fahrt. Der Kleinkindmorgen krabbelt aus dem Priesterrock der Nacht und wächst zum stattlichen Freitag heran. Schwarzer Freitag! Eine Vorstellung parodiert meine Trostlosigkeit. Sie bebildert, wie ich mit dem Maschinengewehr die Tür meiner wahren Eltern einschieße. Meine wirkliche Mutter wirft sich verteidigend vor die Frau, die angeblich ihre Tochter ist. Ich schreie ihre Tochter an. «Bin ich Jesus, daß ich ein Leben lang dein Kreuz trage?» (Liebe Kinder. Ahmt es bitte nicht nach. Und wenn, dann geht wirklich auf die Barrikaden.) Schwarzer Freitag! Die Wirklichkeit steigert meinen Tagtraum aufs Unertäglichste. Es beginnt damit, daß ich nicht wage, die Wohnungstür meiner nordischen Eltern einzuschießen. Auf mein Klingeln öffnet ein Punk, dessen Milchgesicht von riesigen Ohren gesegelt wird. Er hilft mir aus der Lederjacke. «Habt ihr Familienalben?» frage ich. Er kramt sie aus der Schublade. Das Album beginnt mit dem Hochzeitsbild meiner Eltern. Ich habe die
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Gesichtszüge meiner Mutter. Ihr Antlitz kann nichts für sich behalten und veräußert als erstes die Backenknochen. Die schmalen Lippen hat mir mein Vater genetisch aufgestrichen. Bei den Augen sind keine Ähnlichkeiten festzustellen. Zu verwüstet sind die meinen von der Kindheit. Dann folgen Fotos der angeblichen Tochter. Baby beim Wickeln, Baby manscht sich Breichen ins Gesicht, Baby läuft Papa in die Arme, Baby wächst, Baby gedeiht! «Baby macht mich wahnsinnig!» knalle ich das Fotoalbum auf den Tisch, weil ich zu jener Zeit mit fünf anderen Kindern durch die Parkidylle des Waisenhauses geschoben wurde. «Hey, Endstation», hielt der Zug an, rüttelte mich ein Punk wach, dessen Milchgesicht von riesigen Ohren gesegelt wurde. Meine Springerstiefel pflügten den Schnee. Ich fühlte mich leer wie ein Krug, dessen Bodensatz nie ausgeputzt worden war, und schloß die Tür auf. Die Nacht rüsselte durch das offene Fenster. «Entwurzelt», war das Wort, das mir bis in den Traum nachtrottete, das mich am nächsten Morgen überredete, den Rucksack aufzuschnallen, ohne mich von den Abschiedsumarmungen meiner Freunde an dieses Land binden zu lassen. Niemandes Erwartungen mehr entsprechen zu müssen, auf Kosten der Geborgenheit. So stellte ich mir die Freiheit vor und nahm sie beim Wort.
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Nachspiel
Nachdem ich durch Südostasien getrampt war, fand ich eine feste Adresse in Ha Tinh. Dort arbeitete ich als Hausmeisterin in einem von der UNICEF betriebenen Kinderheim. Man fragte, ob ich die Kinder nicht lieber als Entwicklungshelfer betreuen wolle. Ich scheute Verantwortung. Doch als verdeckter Entwicklungshelfer war ich für meine Schützlinge da. Sie hingen in meinen Achselhöhlen wie Küken im Gefieder ihrer Eltern. Gerade als ich an einem kinderfreien Nachmittag auf dem Goldrand meiner Seele spazierenging, kam ein Anruf. «Mir geht es gut», beantwortete ich Trokka Dias Frage und wedelte den lästigen Opiumrauch beiseite. «Ich habe gehört, daß in Südostasien Hunde gegessen werden. Stimmt das?» schwatzte sie weiter. – «Kann gut sein. In der Gaststätte bezahle ich mein Essen immer anständig und habe noch nie gefragt, was drin ist.» Ich legte auf. Damit war ich von Deutschland völlig abgeschnitten. Mit der Zeit wurde die Hausmeisterei tödlich. Das Tödliche waren nicht die Bürgerkriegsschicksale der Kinder. Es war die Gewohnheit, die mich für ihre Leiden unempfänglich machte. Als Entwicklungshelfer, selbst als verdeckter, registrierte ich sie bald nur noch wie eine Hitlermaschinerie, die nicht tötet. An meinem fünfzigsten Geburtstag verschickte ich meine Memoiren und globedackelte nach Südamerika. Der Mond, voll ausgerundet, tellerte ein Guckloch in die Nachtwand. Ich saß am Ende des Bootssteges und ließ meine Beine im Wasser stecken wie Trinkröhrchen. Ein Indianer saß rittlings hinter mir. Feinfühlig schälte er mich aus den südostasiatischen Stoffen. Seine Einbaumhände brachten meinen Körper auf tropische Temperaturen. Glatt und muskulös stemmte er sich in meinen Wellengang. Wir schlugen ans Ufer der Realität, tauschten die Körper und fickten weiter. Das wurde meinem Verleger zuviel. Er riß mich an der Schulter aus der Romanze: «Wenn du nichts mehr zu sagen hast, solltest du an dieser Stelle dein Buch beenden.» Ich stopfte die Buchstabenwolke in den Stadtrucksack und brachte das Manuskript zur Druckerei. Weit schritt ich aus. Federnd kam ich auf. Leicht trug ich daran. So leicht wie an meiner Kindheit, die, zu Papier gebracht, angeblich nichts mehr wiegt ... ihr Arschlöcher.
ENDE 197