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Ein Arzt mit blutigen Händen Wer will Dr. Pullmann vernichten Von John Ball Kinley Hospital liegt zwischen Marylebone Road, Seymour Place und Enford Street, also nahe dem Zentrum Londons. Es ist ein typisches Großstadt-Krankenhaus, in dem die Patienten keine Namen haben, sondern anhand ihres Leidens identifiziert werden, wenn das Personal sich über sie unterhält: ,Der Blinddarm von Zwoachtunddreißig' oder ,Das Ulkus von der siebenten Station'. Die sterilen Gänge mit den spiegelnden Fußböden sind so lang und verwinkelt, daß ein Ortsunkundiger sich leicht darin verlaufen kann, versäumt er es, den Hinweisschildern zu folgen, die auf die einzelnen Stationen und die sonstigen Einrichtungen des Kinnley verweisen. Generationen haben an dem Krankenhaus gebaut. Der älteste Trakt stammt aus den Jahren vor der Jahrhundertwende. Den Bau, in dem die beiden Operationssäle untergebracht sind, hat man hingegen erst vor etwas mehr als zwei Jahren fertiggestellt. Sie gehen auf den kleinen Park hinaus, der zum Kinley gehört. Im Operationssaal 1 machte man sich für einen Eingriff bereit. Keine Routine-Operation, sondern ein schwieriger, riskanter Eingriff, der lange vorbereitet worden war. Vor allem hatte man den Patienten erst in eine Verfassung bringen müssen, in der einige Aussicht für ihn bestand, zu überleben. Ohne die Operation allerdings wären seine Überlebenschancen gleich Null gewesen. Dr. Jake Pullman, Oberarzt am Kinley Hospital, warf einen Blick durch die große Glasscheibe, hinter der manchmal ein paar Studenten der Universität saßen, in den Operationssaal, um sich vom Stand der Vorbereitungen zu überzeugen. Pullman war ein unauffälliger, gehemmt wirkender Mann. Er war oft unbeholfen und weltfremd. Manche Patienten liebten ihn gerade seiner sanften Art wegen. Tatsächlich flößte er den Kranken Vertrauen ein - was die Gesunden und die Kollegen oft nicht verstanden. Pullman blickte durch eine Brille mit ziemlich starken Gläsern in die Welt, was den geschilderten Eindruck noch verstärkte. Er hatte sich zunächst auf die Allgemeinmedizin konzentriert und promoviert. Anschließend jedoch hatte er noch die Facharztausbildung für Chirurgie hinter sich gebracht. Die, Oberarztstelle im Kinley schien für einen Mann wie ihn bereits berufliche Endstation
zu sein, und Jake Pullman war mit dieser Aussicht bestimmt nicht unzufrieden. Er hatte seine gesicherte Existenz (wenn er auch finanziell nicht auf Rosen gebettet war), besaß eine kleine Wohnung in Paddington, also nicht sehr weit vom Kinley entfernt, pflegte einige nicht sehr zeitraubende und kostenintensive Hobbies, und vor allem hatte er seine Arbeit im Hospital, der er sich mit Hingabe widmete. Ein Mann wie Pullman fällt nicht auf. Er bietet keine Reibungsflächen für mißgünstige Kollegen. Im Kinley Hospital pflegte man über Dr. Jake Pullman höchstens hin und wieder zu lächeln und ihn seiner Lebensweise wegen aufzuziehen. In ein paar Jahren würde er vielleicht zur komischen Figur werden. Er wußte das, aber es schmerzte ihn kaum. Als er jetzt durch die Glasscheibe in den Operationssaal sah, wußte er, daß er noch Zeit hatte, an einigen Krankenblättern zu arbeiten. Die Oberschwester hatte ihm schon gesagt, daß sich der Operationsbeginn verzögern würde, weil Mr. Ratherbone, der Chefarzt der Chirurgischen Abteilung des Kinley, der nebenbei einen Lehrauftrag an der Londoner Universität hatte, nicht pünktlich da sein konnte. Auf dem Weg zu seinem Zimmer begegnete Pullman seinem Kollegen Tender. Dr. Tender war wie Pullman Oberarzt, aber für ihn, darüber war man sich in Kollegenkreisen einig, war das nicht die Endstation, sondern der Anfang einer glänzenden Karriere. »Hallo, Jake. Kommst du aus dem OP?« »Ich hab' nur einen Blick auf die Vorbereitungen geworfen, William«, sagte Pullman bescheiden. »Zeitverschwendung, sich jetzt schon zu waschen und umzuziehen. Das dauert mindestens noch eine halbe Stunde.« »Der Alte ist noch gar nicht im Haus«, sagte Tender. »Ich weiß. Kommst du mit auf 'ne Tasse Kaffee zu den Schwestern?« Dr. Pullman lehnte dankend ab. Er dachte an seine Krankenblätter. In seinem Arbeitstag, der oft zwölf Stunden und mehr dauerte, gab es kaum Zeit für solche Pausen. Er sah das in seiner Unzulänglichkeit begründet. Kollegen wie Tender, aber auch Ponsonby, Winkle oder Crawford, die alle der gleichen Abteilung wie er angehörten, arbeiteten bestimmt nicht weniger, nur erfüllten sie ihr. Soll in erheblich kürzerer Zeit. Dr. Pullman arbeitete, über seinen weißmetallenen Schreibtisch
mit der Kunststoffplatte gebeugt, an den Krankenblättern, bis er in den OP gerufen wurde. Die anderen kamen ungefähr zur gleichen Zeit an. Sie trafen ihre Vorbereitungen. Der Patient war schon im Saal. Im letzten Augenblick rauschte Mr. Ratherbone herein, der Chef, gute Laune und Optimismus verströmend, sein Team begrüßend und voller Tatendrang. Während er sich fertigmachte und die anderen ihn im Halbkreis umstanden, gab er in knappen Worten den Status praesens des Patienten. »Irgendwelche Einwände?« Er sah sich um. »Pullman?« »Nein, Sir.« »Tender?« Dr. Tender schüttelte den Kopf. »Dann wollen wir anfangen.« Das Team setzte sich in Marsch. Im Operationssaal waren außer dem Patienten zwei Schwestern und der Anästhesist. Der schnurrte herunter, was er zu sagen hatte. Mr. Ratherbone liebte bei der Arbeit militärische Kürze und Präzision. Er nickte zufrieden. Pullman übernahm seine Pflichten mit der Selbstverständlichkeit eines kleinen Rädchens in einem großen Getriebe. Er bewunderte Mr. Ratherbone, der in seinen Augen wirklich ein guter Chirurg war. Kein großer, keiner, der bahnbrechende Methoden entwickelte. Aber ein zuverlässiger Praktiker, dem der Patient sich anvertrauen durfte. Es war still im Operationssaal bis auf die kurzen Anweisungen und Forderungen des Chefs. Alles schien reibungslos zu verlaufen. »Mehr Sauerstoff!« sagte Ratherbone. »Schon gesehen, Sir«, sagte Dr Crawford, der Anästhesist. »Noch mehr!« Crawford drehte an Reglern, tippte Schalter an, wurde nervös. »Sehen Sie nicht, was los ist?« brüllte Mr. Ratherbone, der sehr schnell die Geduld verlieren konnte. In diesem Fall allerdings hatte er allen Grund dazu, denn der Patient lief bereits blau an. »Der verdammte Apparat gibt nicht mehr her, Sir«, stotterte der Anästhesist. »Irgendwas stimmt nicht.« Dr. Tender behielt die Ruhe und die Übersicht. Er bereitete eine Injektion vor und murmelte außerdem in Crawfords Richtung: »An deiner Stelle würde ich die andere Maschine holen lassen.« Bevor er noch dazu kam, die Spritze aufzuziehen, begann das Beatmungsgerät, brummende Laute von sich zu geben. Das
Brummen verstärkte sich. Selbst Mr. Ratherbone geriet jetzt völlig aus der Fassung und starrte die Maschine an. statt sich um den dunkelblau anlaufenden Patienten zu kümmern. »Was, zum Teufel, hat das zu bedeuten, Crawford!« donnerte der Chefarzt. Er öffnete den Mund, um etwas Bösartiges hinzuzufügen, doch kam er nicht mehr dazu. Die Beatmungsmaschine flog in die Luft. Einige Mitglieder des Teams warfen sich geistesgegenwärtig zu Boden. Die Schwestern rannten kreischend davon. Mr Ratherbone stapfte vor Wut mit dem Fuß auf, zog es dann aber ebenfalls vor, sich in Sicherheit zu bringen. Nur Dr Pullman stand wie vom Schlag gerührt da und starrte durch seine dicken Brillengläser auf das Durcheinander. Mehrere Teile der explodierten Maschine waren haarscharf an ihm vorbeigeflogen. Er war blaß, aber trotzdem hatte er die Nerven weniger als seine Kollegen verloren. Jedenfalls war er der erste, der nach dem Patienten sah. Von den Trümmern der explodierten Beatmungsmaschine war der Mann mit dem offenen Bauch nicht getroffen worden. Aber er war nicht nur blau angelaufen, er war auch tot, wie Dr Jake Pullman auf den ersten Blick feststellte. Die Explosion war im ganzen Kinley Hospital gehört worden. Aus allen Richtungen liefen Menschen zusammen: Personal und auch neugierige Patienten, soweit sie fähig waren, sich aus ihren Betten zu erheben. Mr. Ratherbone gewann seine Fassung zurück. Ebenso wie Jake Pullman erkannte er, daß dem Patienten nicht mehr zu helfen war. Er bellte knappe Anweisungen und stapfte aus dem Operationssaal. Dr Pullman beteiligte sich an den Aufräumungsarbeiten. Er nahm dabei verschiedene Teile der detonierten Beatmungsmaschine in die Hand und betrachtete sie kopfschüttelnd. »Kannst du dir das erklären, Crawford?« fragte er den Anästhesisten. »Nein«, sagte der mit verkniffenem Gesicht und nahm Pullman aus der Hand, was der eben vom Boden aufgehoben hatte. »Hast du je gehört, daß so etwas passiert ist?« Pullman bekam keine Antwort. Als er sich umdrehte, blickte er in Dr Tenders Gesicht, das einen sonderbaren Ausdruck trug. Mißtrauen? Argwohn?
»Was ist denn los, warum starrst du mich so an, William?« Dr Tender schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Aber bevor er den Operationssaal verließ, warf er seinem Kollegen noch einen prüfenden Blick zu. Jake Pullman verließ das Kinley wenig später Eigentlich hatte er nur in den kleinen Park gehen wollen, um Luft zu schnappen. Doch dort hatte es ihn nicht gehalten. Am Pförtner vorbei war er hinaus auf die Straße gegangen, weiter und immer weiter. Vergeblich suchte man Dr Pullman im Krankenhaus, vergeblich wurde sein Name über die Sprechanlage ausgerufen. Der Pförtner meldete sich schließlich, um mitzuteilen, daß Dr Pullman das Kinley Hospital verlassen hätte. »Wohl verrückt geworden!« sagte Mr Ratherbone aufgebracht. »Während der Arbeitszeit, und ohne ein Wort zu sagen!« * Die Explosion der Beatmungsmaschine im Kinley Hospital machte nicht nur Schlagzeilen, sie setzte auch eine Untersuchung in Gang. Mr Ratherbone benahm sich sehr bestimmt. Er schloß die Möglichkeit, daß Dr Crawford einen Fehler in der Bedienung der Maschine gemacht hätte, kategorisch aus. Ebensowenig hielt er Sabotage für möglich. Für ihn war es ein technischer Defekt, der zu der Katastrophe geführt hatte; ein Defekt, der außerhalb der Verantwortlichkeit seiner Mitarbeiter lag. Doch so sehr er versuchte, sein Team und das Haus nach außen hin zu schützen, so unerträglich war er allen Untergebenen gegenüber, die während der nächsten Tage im Kinley mit ihm zu tun hatten. Dr Crawford beantragte und bekam Urlaub. Da gleichzeitig zwei andere Mitglieder aus Mr Ratherbones Mannschaft planmäßig in Ferien fuhren, war das Operationsteam, das sich freitags zusammenfand, ganz anders zusammengesetzt als das, das die Explosion der Beatmungsmaschine miterlebt hatte. »Sie sehen aus wie ausgespuckt. Pullman«, sagte Ratherbone, während er sich die Hände schrubbte. »Was ist los mit Ihnen? Steckt Ihnen die Geschichte immer noch in den Knochen?« »Ja, Sir«, sagte Pullman leise. »Sie sind doch kein altes Weib! Nehmen Sie sich zusammen,
Mann!« »Ja, Sir«, wiederholte Dr Pullman gehorsam. Aber er fühlte sich so miserabel, daß er am liebsten hinausgegangen wäre. Das Verlangen, zu fliehen, wurde fast übermächtig. Aber er wußte, er würde nie wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehren können, wenn er nachgab. Als er das Kinley nach der Explosion verlassen hatte, ohne Ratherbones Erlaubnis einzuholen oder auch nur irgendwem Bescheid zu sagen, war er nicht recht bei Sinnen gewesen. Er verstand nicht, wie er so etwas hatte tun können. Es war in seinen Augen eine Pflichtvergessenheit sondergleichen. Mr. Ratherbone mochte toben und schreien - er konnte Pullman nie und nimmer die Vorwürfe machen, die der sich selbst gemacht hatte. Ich habe meine Patienten im Stich gelassen, dachte Pullman. Alles Mögliche hätte passieren können, während ich weg war. Ein Wunder, daß es nicht ein zweites oder gar ein drittes Todesopfer gegeben hat. Er übertrieb zweifellos. Vielleicht tat er es, um sich vor einer Wiederholung zu schützen. Ganz sicher war, daß er sich in einer Krise befand und solche Hilfsmittel nötig hatte, um da durchzukommen. »Wo sind Sie eigentlich mit Ihren Gedanken, Pullman?« grollte Mr Ratherbone. »Haben Sie meine Frage nicht verstanden?« »Verzeihen Sie, Sir.« Dr. Pullmans Entschuldigung war ein Flüstern. »Wenn Sie nicht fähig sind, mir zu assistieren, lassen Sie sich ablösen, Mann!« »Ich - es geht schon, Sir. Ich bin in Ordnung. Eine momentane Absence. Ich bitte um Entschuldigung.« »Sind Sie Epileptiker?« fragte Ratherbone spöttisch. Es war gewiß nicht fein, daß der Chefarzt Witzchen auf Pullmans Kosten machte. Der Oberarzt wurde blutrot, während einige seiner Kollegen pflichtschuldigst lachten. Pullman biß die Zähne zusammen. »Was hatten Sie gefragt, Sir?« Diesmal klang seine Stimme fast grob. So etwas war man bei ihm nicht gewöhnt, und Ratherbone warf ihm einen forschenden Blick zu. Er wiederholte seine Frage. Die Antwort, die Dr. Pullman gab, war sachlich und präzise. »Na also«, murmelte Mr. Ratherbone. »Hätte mich auch gewundert. Sie sind doch sonst ein Mann, auf den ich mich verlassen
kann.« Die Operation verlief nahezu ohne Komplikationen. Dr. Pullman als erster Assistent funktionierte zu Mr. Ratherbones voller Zufriedenheit. Sie verstanden sich praktisch ohne ein Wort. Pullman spürte voraus, was der Chef im nächsten Augenblick tun würde und wußte sein eigenes Handeln darauf einzustellen. Im Vergleich mit Ratherbone und Pullman, die sich blind verstanden, wirkten die restlichen Mitglieder des Teams fast unbeholfen. Gegen Ende des Eingriffs erkannte Dr Pullman, daß die Blutungen etwas stärker wurden und wußte, daß Mr. Ratherbone dem zweiten Assistenten gleich Anweisung geben würde, ein gerinnungsförderndes Mittel zu injizieren. Pullman streckte die Hand ganz automatisch nach dem Tablett aus, auf dem die vorbereitete Spritze lag. Sie war schon vor Beginn der Operation für alle Fälle in Griffnähe deponiert worden. Mr Ratherbone nickte beifällig, der zweite Assistent wurde rot und verwünschte Dr. Pullman im stillen, und Pullman setzte die Spritze, obwohl das nicht zu seinen Aufgaben gehörte. »Fertig«, sagte Mr Ratherbone zwei Minuten später »Vergessen Sie nicht, ihn zuzunähen, Winkle.« Dr Winkle, der zweite Assistent, wurde erneut rot und stammelte: »Nein, Sir, selbstverständlich nicht.« Mr Ratherbone verließ den Operationssaal. Pullman sah Dr. Winkle zu, wie er die Nähte legte, um den Bauch des Patienten zu verschließen. Dann spürte er, daß sein Blick den Kollegen nervös machte. Winkle ließ seine sonstige Fingerfertigkeit vermissen. »Entschuldige, Alter«, sagte er. »Das war wirklich keine böse Absicht, vorhin. Ich hab' mir nichts dabei gedacht.« »Schon gut«, sagte Dr Winkle großzügig. »Dafür hab' ich über dich gelacht, als der Alte auf deine Kosten Witzchen riß.« Der Patient wurde in den Vorraum gebracht, wo er unter Beobachtung stand und eine Stunde später in sein Zimmer gefahren. Pullman sah nach einiger Zeit wieder nach ihm und hatte ein unangenehmes Gefühl, als er die Blässe der Haut und den flachen Puls konstatierte. »Sofort zurück in den OP«, flüsterte er der Schwester zu, die ihn begleitete. Er rannte den Flur entlang und stürzte in Mr. Ratherbones Zimmer, ohne anzuklopfen. Der Chefarzt sah unwillig von seinen Papieren auf.
»Was ist jetzt schon wieder?« fragte er, und das klang, als sei ausschließlich Dr. Pullman für sämtliche unangenehmen Zwischenfälle verantwortlich, die es jemals im Kinley gegeben hatte. »Der Bauch, Sir.« Pullman mochte sich Mühe geben, wie er wollte, er stotterte: »Der Patient von vorhin. Ich glaube, er hat innere Blutungen.« Mr. Ratherbone sagte kein Wort. Er stand auf und schob seinen Sessel so hart zurück, daß er gegen die Wand knallte. Mit langen Schritten stiefelte er an Dr. Pullman vorbei. Obwohl Ratherbone und sein Team sich alle Mühe gaben, war der Patient nicht mehr zu retten. Seine Bauchhöhle war voller Blut. Er war praktisch nach innen verblutet. Da nutzten alle Transfusionen nichts mehr. Er starb auf dem Operationstisch. Mr. Ratherbone verließ den Operationssaal ohne ein Wort. Aber kaum war er in seinem Zimmer, erging eine Flut von Anweisungen über die ganze Abteilung. »Kriegszustand«, sagte Dr. Winkle trocken. »Na, mir ist ein Gewitter lieber, als wenn der Alte tagelang mit einem drei Fuß langen Gesicht herumläuft. Ein Gewitter reinigt die Luft.« »Wie konnte das passieren«, sagte Dr. Pullman abwesend. Er meinte die Blutungen, denen der Patient zum Opfer gefallen war. Für ihn unbegreiflich. Das blutgerinnende Mittel war mehr als ausreichend dosiert gewesen. Nach menschlichem Ermessen, nach aller ärztlicher Erfahrung war eine solche Blutung in diesem Fall ausgeschlossen. Es sei denn… Als Dr. Pullman der Gedanke kam, schüttelte er sich. Ein eiskalter Schauer überlief seine Haut. Er verdrängte den Einfall. So etwas gab es nicht, durfte es nicht geben! Dann fiel ihm die Explosion wieder ein und der blau angelaufene, sterbende Mann auf dem Tisch und welche Beziehung es zwischen ihnen gegeben hatte. »Was ist los mit dir, Pullman?« fragte Winkle. »Hast du Schmerzen?« »Schmerzen?« fragte Pullman, der sich Mühe gab, in die Wirklichkeit zurückzukehren. »Du stöhnst, als hättest du Schmerzen!« »Ich stöhne?« Kopfschüttelnd ließ Winkle ihn stehen und ging hinaus. Die Untersuchung des verbluteten Patienten ergab, daß er statt
des gerinnungsfördernden ein gerinnungshemmendes Medikament bekommen hatte. Und Dr. Pullman hatte es ihm verabreicht. Allerdings vermochte Mr. Ratherbone nicht festzustellen, wer die Spritze bereitgelegt hatte. Dr. Pullman war in seinem Zimmer und stand vor dem Schreibtisch des Chefarztes wie ein armer Sünder. »Das ist ein Fall für die Polizei, Pullman«, grollte Mr. Ratherbone. »Sind Sie sich im klaren darüber, daß das ebenso ein geplanter, heimtückischer Mord sein kann wie eine bedauerliche Verwechslung?« »Ja, Sir«, murmelte Dr. Pullman. »Sie haben die Injektion verabreicht, Pullman!« »Aber ich war doch überzeugt, Sir, daß…« »Es war nicht Ihre Aufgabe, Pullman, die Spritze zu setzen!« donnerte Mr. Ratherbone. Das war ungerecht, und er wußte es. Dr. Pullman nahm es jede Möglichkeit zu einer Erwiderung. Er stand stumm und geschrumpft vor dem Schreibtisch und dachte: Soll er doch die Polizei holen! Sollen sie mich doch verhaften! »Es war ein Kunstfehler«, sagte Ratherbone. »Wir werden uns das zu Herzen nehmen und aufpassen, daß sich so etwas nicht wiederholt. Mir genügt die Untersuchung wegen der explodierten Beatmungsmaschine. Ich will nicht, daß sich Fremde hier als Dauergäste einnisten. Nur deshalb sehe ich von einer offiziellen Untersuchung ab, Pullman. Aber irgendwie, irgendwann bekomme ich doch heraus, wer für die Schlamperei verantwortlich war! Dem gnade Gott!« Dr. Pullman wußte später nicht zu sagen, wie er aus Mr. Ratherbones Zimmer herausgekommen war. Er fühlte sich miserabel. Außerdem dachte er immer wieder: Das geht doch nicht. So kann man den Tod eines Menschen nicht abtun. Wenn es nun keine zufällige Verwechslung war… Er ertappte sich auch bei der Überlegung, daß sein Kollege Winkle vielleicht absichtlich ,geschlafen' hatte, weil er sicher war, daß dann er, Pullman, nach der Spritze greifen würde… Am liebsten wäre er wieder davongelaufen. *
Zwei Wochen vergingen ohne weiteren Zwischenfall, und auch Dr. Pullman fand allmählich wieder zu sich selbst zurück. Er war vielleicht noch eine Spur schweigsamer und farbloser als sonst, aber anderes fiel den Kollegen an ihm nicht auf. Auch Mr. Ratherbone benahm sich seinem Oberarzt gegenüber einem der tüchtigsten, die er je gehabt hatte, und das wußte er sehr genau - wieder menschlich. Zum Beispiel dafür, daß er ihm verziehen hatte, übertrug er ihm die Stellvertretung für ein langes Wochenende, an dem er zu einem Chirurgenkongreß nach München fliegen wollte. Allerdings konnte er es sich nicht verkneifen, hinzuzufügen: »Heikle Fälle haben wir ja im Moment nicht auf der Station. Ich denke, Sie werden zurechtkommen.« »Ja, Sir«, sagte Dr. Pullman ergeben; das kleine Hoch, das am Horizont seiner Seelenlage aufgezogen war, schwand schon wieder. Freitags standen mehrere harmlose Operationen auf dem Programm: Zwei Blinddärme, eine Zyste und ein Mastdarmpolyp, der schon histologisch untersucht und als unbedenklich bestimmt worden war und elektrochirurgisch abgetragen und durch das Rektoskop verschorft werden sollte. Diesen Eingriff hatte Dr. Pullman an die Spitze der Liste gesetzt. Jeder im Team - er ausgenommen - machte ein paar Witzchen, wie das bei solchen Eingriffen üblich war. Sie hatten alle beträchtliche Barte. Dr. Pullman hätte aber wohl auch nicht darüber gelacht, wenn sie ihm neu gewesen wären. Er war nicht der Typ, der sich die Arbeit mit Gelächter würzte; ganz bestimmt nicht auf Kosten der Patienten. Er brachte die Zyste sowie die beiden Blinddärme hinter sich und ging in sein Zimmer, um die Schreibarbeit zu erledigen. Hier erwischte er sich dabei, daß er dachte: Gott sei Dank, es ist nichts passiert! Am Montag wird nur operiert, wenn wir einen akuten Fall haben. Morgen und übermorgen habe ich keinen Dienst. Dienstags ist Ratherbone wieder da. Wo war sein Selbstvertrauen? Freude an der Arbeit, die Genugtuung darüber, Menschen helfen zu können: Davon war keine Spur übrig. Wenn ein Arzt an diesen Punkt kommt, sollte er seinen Beruf aufgeben, dachte Dr. Pullman bitter. Aber was wird aus mir, wenn ich nicht mehr operieren kann? - Ich bin unfähig zu irgend etwas
anderem. Ich könnte nicht einmal Zeitschriftenabonnements oder Stärkungsmittel verkaufen. Er machte seine abendliche Visite, und sie lenkte ihn vorübergehend von seinen trüben Gedanken ab. Mit einigen Patienten, die schon länger im Kinley lagen, hatte er ein kurzes Gespräch. Sie lebten auf, wenn sie ihn sahen. Sie mochten Jake Pullman und hatten Vertrauen zu ihm. Eine warme Woge stieg in ihm auf: Vor Dankbarkeit hätte er die Patienten am liebsten geküßt. Auch als er begriff, wie lächerlich und - zumindest nach Ansicht der Kollegen - unwürdig solche Empfindungen für einen Arzt waren, änderte das nichts. Es machte ihn höchstens noch ein bißchen schüchterner. Die Frischoperierten befanden sich alle vier in guter Verfassung. Er brauchte sich nicht um sie zu sorgen. Dr. Pullman freute sich auf das Wochenende. Er hoffte, an den beiden freien Tagen frische Kraft zu schöpfen, ruhiger zu werden, Abstand von den unerfreulichen Ereignissen zu gewinnen. - Da er von Mr. Ratherbone ausdrücklich mit dessen Vertretung beauftragt war, würde er seine Wohnung so selten wie möglich verlassen. Er wies gleich mehrfach darauf hin, daß er jederzeit erreichbar sei. Bei der Oberschwester der Abteilung, in der Verwaltung, beim Pförtner, der auf seinen Wunsch einen entsprechenden Vermerk an den Haken hing, so daß auch seine Kollegen informiert waren. Sonntagnachmittag klingelte das Telefon in Jake Pullmans Wohnung. Arglos hob er ab und meldete sich. Er war beinahe fröhlich, und auch als das Kinley Hospital sich meldete, hatte er nicht die Ahnung drohenden Unheils. Im Gegenteil: Er freute sich, daß man ihn brauchte. Aber dann überzogen dunkle Schatten sein Gesicht. Was die Schwester ihm mitteilte, hörte sich wirklich nicht gut an. Der Zyste, dem Mastdarmpolypen und einem der Blinddärme ging es gut, beim zweiten Blinddarm jedoch hatten sich Komplikationen ergeben, die den diensthabenden Arzt, einen Assistenten, kaum der Universität entwachsen, bedenklich stimmten. »Ich komme sofort hinüber. In spätestens zehn Minuten bin ich da«, sagte Pullman. Er fand einen stöhnenden Patienten vor, der starkes Fieber hatte und ihn kaum erkannte. Pullman ließ ihn sofort in den OP bringen und suchte sich ein Operationsteam zusammen, was am
Sonntag gar nicht einfach war, zumal das Kinley nicht zu den Anstalten zählte, die normalerweise Unfallopfer aufnahmen; hierfür gab es nicht weit entfernt, drüben an Regent's Park, eine andere Klinik. Die Wundränder eiterten. Mit zusammengebissenen Zähnen stand Jake Pullman da und trennte die Fäden durch. Natürlich kamen Wundinfektionen vor, aber so etwas hatte er selten gesehen. Dafür gab es keinen plausiblen Grund. Nicht bei diesem Patienten, nicht nach einer harmlosen Blinddarmoperation. »Verdammt, das sieht ja scheußlich aus«, sagte der Anästhesist, den er aufgetrieben hatte und beugte sich neugierig herüber. »Passen Sie auf Ihre Maschine auf«, erwiderte Dr. Pullman und ärgerte sich im nächsten Moment über seine Unbeherrschtheit. Je tiefer er kam, desto erkennbarer wurde, wie es um den Patienten wirklich stand. »Schöne Bescherung«, murmelte Pullmans Assistent. Die ganze Bauchhöhle war vereitert. Dr. Pullman säuberte und schabte und entschloß sich nach kurzer Unterhaltung mit den anderen ärztlichen Mitgliedern des Teams zu einer Drainage. Den Gummidrain legte er geschickt und rasch und für den Patienten so schonend wie möglich. Die Ableitung der Wundflüssigkeit und hohe Gaben von Antibiotika - mehr konnte er im Augenblick nicht für den Bedauernswerten tun. Als er den Operationssaal verließ, spürte er die prüfenden Blicke der Schwestern und Pfleger. Oder täuschte er sich? Nein, ganz bestimmt nicht. Sie sahen ihn an wie einen Aussätzigen. Am nächsten Tag war Mr. Ratherbone wieder da. Er wirkte gelassen und ausgeruht und hörte sich ohne eine Zwischenfrage an, was Dr. Pullman zu berichten hatte. Pullman versuchte nicht, etwas zu beschönigen. Er legte aber auch Wert auf die Feststellung, daß er für die anormal starke Wundinfektion bei dem Blinddarmpatienten keine logische Erklärung habe. Mr. Ratherbone sah sich den Kranken an. Sein Zustand hatte sich verschlimmert. Ratherbone entschloß sich zu einer erneuten Nachbehandlung im Operationssaal. Hierbei wurde es Dr. Pullman zur Gewißheit: Seine Kollegen nahmen eine andere Haltung zu ihm ein. Er gehörte zwar zum Team, aber irgendwie stand er außerhalb. Die Kontakte beschränkten sich auf das Notwendige. Hinterher, als der Patient bereits wieder im Ruheraum lag, als Mr. Ratherbone sich stumm zurückgezogen hatte und die meisten
ihre Entspannungszigarette rauchten, sprach keiner ein Wort mit Jake Pullman. Trotzig versuchte er, sich in die Unterhaltungen einzuschalten. Themen wurden mittendrin abgebrochen, sobald er seine Meinung kundgetan hatte. Der Blinddarm-Patient starb in der Nacht zum Dienstag. Jake Pullman war bei ihm, als es geschah. Er ging stumm in sein Zimmer und setzte sich dort an den aktenübersäten Schreibtisch. Flüchtig kam ihm der Gedanke, daß er endlich wieder mal Ordnung schaffen müsse. Aber nicht jetzt. Er war, was die Schreibarbeit betraf, nur dort ordentlich, wo die Vorschriften es verlangten. Seine halbprivaten Aufzeichnungen hingegen befanden sich in einem chaotischen Zustand; das lag vor allem an der ständigen Überlastung, der er sich als Oberarzt des Kinley ausgesetzt sah. Eine Nachtschwester, die den Flur passierte, an dem Dr. Pullmans Zimmer lag, blieb stehen und lauschte ungläubig. Ein irres Lachen. Sie dachte an einen durchdrehenden Patienten. Dann ging das Lachen jäh in ein unartikuliertes Brüllen über. Die Schwester suchte die Tür zu bestimmen, hinter der das Brüllen ertönte. Sie dachte noch immer an einen Patienten, stellte jetzt aber fest, daß der Krach von der anderen Seite kam, von dort her, wo die Stationsräume lagen. In diesem Moment, so sagte sie aus, als sie danach gefragt wurde, dachte sie zum erstenmal an Dr. Jake Pullman. Als dann die ersten Gegenstände gegen die Wand krachten, als sie das Splittern von Glas und ähnlichem hörte, war sie ganz sicher, daß die Quelle des Lärms wirklich Dr. Pullmans Zimmer war. Sie lief hin und riß die Tür auf - nachdem sie angeklopft hatte. Dr. Pullman, so sagte sie aus, starrte sie aus blutunterlaufenen Augen an und hielt einen Moment ein, dann setzte er sein Zerstörungswerk fort. Unter irrem Schreien ergriff er alles, was nicht niet- und nagelfest war und warf es gegen die Wände. Auch gegen die Fensterwand, die hinterher keine heile Scheibe mehr aufwies. Das ganze Zimmer sah aus, als sei hier etwas explodiert. Da die Nachtschwester sich dem Tobenden allein nicht gewachsen fühlte, rannte sie davon. Drei Türen weiter war ein Schwesternzimmer. Von dort aus telefonierte sie. Mehrere Pfleger und der Pförtner setzten sich in Bewegung. Als sie Dr. Pullmans Zimmer erreichten, saß der in den Trümmern hinter seinem Schreibtisch und weinte haltlos vor sich hin.
* Mr. Ratherbone hatte die Verwaltung angewiesen, was zu tun sei: Dr. Jake Pullman war vorläufig vom Dienst suspendiert worden. Er schien das jedoch nicht zu begreifen, denn er erschien pünktlich an seiner Arbeitsstelle. Dort saß er in den Trümmern seines Zimmers und starrte ausdruckslos vor sich hin. Tun durfte er nichts. Das machte die resolute Oberschwester ihm klar. Seine ärztlichen Kollegen bekam er nicht zu Gesicht. Sie wichen ihm aus. Irgendwann hörte er dann zufällig, die Polizei sei im Haus. Er schüttelte sich unwillkürlich. Vergeblich sagte er sich selbst, daß er keinen Grund hatte, die Polizei zu fürchten. Er hatte nichts Strafbares getan. Er versuchte sich einzureden, daß die Beamten ihn gar nicht würden sprechen wollen. Was konnte er ihnen schon sagen? Und was untersuchten sie eigentlich? Jemand klopfte an seine Tür. Ein nicht unfreundlich aussehender Mann kam herein und stellte sich vor. »Inspektor Bond, Sir Scotland Yard. Darf ich Ihnen einige Fragen stellen?« »Worüber, Inspektor?« Der Mann vom Yard sah sich in dem zerstörten Zimmer um. Er tat, als bemerke er die Verwüstungen jetzt erst. Seine Abwesenheit war bestimmt gespielt. Das merkte auch Dr. Pullman. »Worüber? - Zum Beispiel über das hier.« Seine Handbewegung umfaßte das ganze Zimmer »Einbrecher, Dr. Pullman?« Der Arzt schüttelte stumm den Kopf. »Aber so sieht es bei Ihnen doch wohl nicht immer aus!« Ein schwacher Scherz, Bond merkte es selbst, als er in Pullmans regloses Gesicht starrte. Sein Lachen versackte jäh. »Ich - habe gestern die Nerven verloren«, sagte Pullman. »Warum?« Pullman zuckte die Achseln. »Na, ich glaube, ich kann Sie verstehen, Doktor.« Inspektor Bond schlug einen vertraulichen Ton an, den Pullman nicht mochte. Spontan begann er, diesen Polizisten zu verabscheuen. Am liebsten hätte er ihn aufgefordert, sein Zimmer zu verlassen. Er wußte es nicht genau, aber er glaubte, daß das Gesetz ihm das
Recht hierzu gab. Er brauchte sicher keine Fragen zu beantworten, wenn er sich nicht dazu in der Lage fühlte Zumindest konnte er sich zunächst mit einem Anwalt beraten. Nur war dies alles Theorie. In Wahrheit hatte Jake Pullman keine Kraft, sich gegen den Polizisten zu wehren, der sehr genau wußte, was er wollte und die Unterhaltung - das Verhör - allmählich dorthin lenkte, wo sein Ziel lag. »Knüppeldick, was da in der letzten Zeit auf Sie herabgeprasselt ist, Doktor«, sagte Bond. »Auf mich? - Wie meinen Sie das, Inspektor?« »Ich nehme an, es bedrückt Sie, Sir, daß Sie bei jedem der Zwischenfälle - anwesend waren.« Beteiligt waren, hatte er sagen wollen, aber in Dr. Pullmans Fall wäre das wahrscheinlich falsch gewesen. Einen solchen Waschlappen schaffe ich auf die sanfte Tour, dachte Inspektor Bond überzeugt. »Mich bedrückt, daß diese Zwischenfälle sich ereignet haben, Inspektor. Mich bedrückt, daß Menschen gestorben sind, die noch leben könnten.« »Finden Sie es auch sonderbar?« Bond ließ sein Opfer nicht aus den Augen. Er versuchte festzustellen, ob Pullman nervöser war als zu Beginn des Gesprächs. »Was?« »Daß Sie immer dabei sind, wenn hier im Hospital etwas passiert: Erst fliegt eine Beatmungsmaschine in die Luft. - Übrigens die erste, Dr Pullman, seit dieses Gerät überhaupt gebaut wird. Ich habe mich erkundigt. - Dann stirbt ein Patient an einem falschen Medikament.« Das wußte er also auch. Mr Ratherbone hatte seine Absicht geändert und darüber gesprochen. Oder hatte einer der anderen Kollegen es erzählt? - Pullman nickte stumm, als der Inspektor ihn fragend ansah. Bond fuhr fort: »Schließlich die Geschichte mit der Blinddarmoperation.« Bond schüttelte den Kopf. »Wie konnte das nur passieren? Was meinen Sie, Dr Pullman, wer schuld an der Wundinfektion ist?« »Schuld?« fragte Jake Pullman. »Was wollen Sie damit sagen?« Inspektor Bond gab sich überrascht. Er machte sein betroffenstes Gesicht, hob beide Hände, als wolle er sich entschuldigen und meinte: »Aber irgendwer muß doch schuld daran sein, oder nicht? Sa-
gen Sie's mir, wenn ich mich irre, Doktor!« »So etwas kann vorkommen«, murmelte der Arzt verwirrt. Was der Inspektor angedeutet hatte, war doch unvorstellbar. War es das wirklich? Konnte es sein, daß im Kinley ein Mörder herumlief? Vielleicht war die Explosion der Beatmungsmaschine kein Zufall gewesen, und irgendwer hatte dem armen Mr Shultz nach dem Leben getrachtet… Und an dem vertauschten Medikament sollte auch jemand sterben, es war absichtlich vertauscht worden. »Einen Schilling für Ihre Gedanken, Dr. Pullman«, sagte Inspektor Bond und versuchte, freundlich-vertraulich zu grinsen. »Ach, das ist nicht wichtig«, sagte Pullman, der spürte, daß sein Gesicht sich rötete. »Interessiert mich aber sehr. Los, los, Doktor! Rücken Sie schon heraus mit Ihren Überlegungen. Vielleicht helfen Sie mir damit bei meiner Arbeit. Ich wäre Ihnen wirklich dankbar« Dr. Pullman biß die Zähne aufeinander und schüttelte den Kopf. In seinen Augen mache ich bestimmt einen reichlich sonderbaren Eindruck, dachte er dabei. Was mag er von mir denken? »Sie sind vom Dienst suspendiert.« Bond betrachtete ihn wie ein Tier, völlig ungeniert. »Was ist das für ein Gefühl, Sir?« »Ein verflucht unangenehmes«, sagte Pullman spontan und heftig. »Wie, denken Sie, geht es weiter?« Darüber hatte er während der vergangenen Nacht - als er von der Suspendierung noch nichts gewußt hatte - und an diesem Tag während der einsamen Stunden in seinem zerstörten Zimmer fast pausenlos nachgedacht. Wie würde sein Lieben weitergehen? »Ich weiß es nicht«, sagte er ehrlich. »Haben Sie eine Erklärung dafür, warum diese Dinge immer passieren, wenn Sie im Operationssaal sind, Dr. Pullman?« fragte der Inspektor, und obwohl Pullman eigentlich mit der konkreten Frage gerechnet hatte, zumindest während der letzten Minuten, traf sie ihn jetzt wie eine unvermutete kalte Dusche. Er öffnete den Mund zweimal und hatte keine Luft, um zu sprechen. »Nein«, sagte er schließlich. Nach einer Pause fügte er hinzu: »Ich weiß nicht, was Sie mit der Frage bezwecken, Inspektor, aber ich war ja nicht allein im Operationssaal.« »Stimmt«, erwiderte Inspektor Bond und sah stirnrunzelnd in sein Notizbuch. »Tatsache ist aber, daß außer Ihnen jedesmal
andere Ärzte mit von der Partie waren. Bei den drei Vorfällen, über die wir sprechen.« Jake Pullman nahm sich zusammen, sagte sich, daß er ein erwachsener Mann war, daß er an den Zwischenfällen keine ihm selbst erkennbare Schuld trug und daß er als Arzt, der seit Jahren Verantwortung zu tragen gewohnt war, der mit seinen Patienten immer großartig ausgekommen war, sich unmöglich von einem simplen Scotland-Yard-Inspektor wie ein Schwachkopf behandeln lassen durfte. »Falls Sie mir irgendwas vorwerfen wollen, dann tun Sie es, Inspektor! Reden Sie nicht drum herum. Oder ist Ihre Zeit so wenig wert?« Er hatte selbst das Gefühl, das alles klinge ungeheuer scharf und aggressiv. »Warum so heftig, Doktor?« fragte Bond prompt und gab sich erschrocken. »Bin ich Ihnen irgendwie zu nahe getreten? - Lag nicht in meiner Absicht. Bestimmt nicht!« Jake Pullman hörte sich eine Entschuldigung murmeln. Er sah das Grinsen in Inspektor Bonds Gesicht und wußte, daß dessen Rechnung aufgegangen war und daß er einen Fehler gemacht hatte. »Haben Sie eine Erklärung dafür, weshalb die tödlichen Zwischenfälle immer in Ihrer Anwesenheit passieren, Doktor?« »Nein, Inspektor«, antwortete Pullman erschöpft. »Feinde?« »Wie bitte?« »Ich meine: Haben Sie Feinde, Sir?« »Nicht, daß ich wüßte.« Inspektor Bond blätterte in seinem Notizbuch. Seine Lippen formten Namen, sprachen sie aber nicht aus. Er hob den Kopf, sah Pullman an, so daß der seinen Blick erwidern mußte und fragte: »Wie war Ihr Verhältnis zu den drei Patienten, die hier im Kinley in der letzten Zeit unter sonderbaren Umständen gestorben sind?« Pullman wollte gegen die ,sonderbaren Umstände' protestieren, aber er war zu schwach. Deshalb murmelte er nur: »Ganz normal. Was soll die Frage?« »Ich wollte wissen, ob Sie vielleicht einen der Männer persönlich gekannt haben, Doktor. Sie verstehen schon: Gab's da eine Beziehung, die über das Arzt-Patent-Verhältnis hinausging? Waren
Sie mit einem der Toten befreundet? Kannten Sie ihn, bevor er hierherkam?« Pullman schüttelte den Kopf. * Inspektor Bond war nach Scotland zurückgekehrt und schickte sich an, seinem Vorgesetzten Bericht zu erstatten. In Chefinspektor Maughams Zimmer saßen zwei Männer, die Bond kannte. Er grüßte höflich und wollte sich zurückziehen. »Kommen Sie aus dem Kinley Hospital, Mr. Bond?« erkundigte der Lord sich. »Sie leiten doch die Untersuchung dort?« »Allerdings, Sir Edward.« Bond zögerte und suchte Hilfe bei Maugham. »Alles inoffiziell, Sir Edward. Erst muß mal geklärt werden, ob es sich nicht tatsächlich nur um eine Kette unglücklicher Zufälle handelt.« »Ich bin erstaunt, daß Sie überhaupt davon wissen, Sir Edward«, sagte der Chefinspektor. »Wir geben uns Mühe, nichts an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Bis jetzt ist uns das auch gelungen, von der explodierten Maschine im Operationssaal des Kinley abgesehen, die natürlich Schlagzeilen gemacht hat. Daß Sie sich dafür interessieren…« Der Lord winkte ab. Auch Rob Jones, sein Begleiter, sah ihn prüfend an. »Es kam mir nur in den Sinn, mich danach zu erkundigen, als Inspektor Bond eintrat. - Ich nehme an, Sie wollen mit Mr. Maugham über Ihre Untersuchungsergebnisse sprechen, Mr. Bond. Bleiben Sie nur hier, ich breche ohnehin auf.« Bevor Maugham protestieren konnte, hatte er sich schon erhoben. Er verabschiedete sich. Als die Tür sich hinter ihm und Hob Jones geschlossen hatte, atmete Bond tief durch, wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn und sagte: »Puh, der bringt mich immer wieder durcheinander, Sir. Woher konnte er wissen, daß ich aus dem Kinley komme und Ihnen berichten will?« »Er hat Ihre Gedanken gelesen, Bond«, gab der Chefinspektor trocken zurück. »Ich wundere mich, daß das immer wieder Menschen überrascht, die ihn kennen.« Nachdem Inspektor Bond seinen Bericht gegeben hatte, ent-
schied Walter Maugham, Bond solle seine Untersuchungen fortsetzen und diesen Dr. Pullman im Auge behalten. »Ein sonderbarer Kauz, Sir«, meinte Bond. »Auf Anhieb würde ich ihn in die Gruppe der Harmlosen einreihen. Ein bißchen weltfremd und unbeholfen. Aber er versucht, etwas zu verbergen.« »Finden Sie heraus, was es ist«, sagte Maugham. Als der Inspektor am nächsten Morgen wieder in Kinley kam, erkundigte er sich beim Pförtner nach Dr. Pullman. »Armer Kerl«, sagte der alte Mann mitfühlend. »Schleicht wie ein begossener Pudel herum.« »Er ist also im Haus?« »Und darf nicht arbeiten«, bestätigte der Pförtner nickend. »Ich an seiner Stelle würde mich hier nicht blicken lassen. Aber es soll ja solche Typen geben, die's gernhaben, wenn ihnen was wehtut.« »Masochisten«, sagte Bond. »Genau die mein' ich!« Der Pförtner nickte. Inspektor Bond führte an diesem Tag eine ganze Reihe scheinbar belangloser Gespräche mit Ärzten, Schwestern, Pflegern und Hilfspersonal. Immer wieder kam die Rede auf Dr. Pullman. Der Mann vom Yard bewies beträchtliche Geschicklichkeit. Auch solche Menschen, die sich auf der Hut glaubten und sich geschworen hatten, nichts Nachteiliges über den armen Pullman zu sagen, um dessen Haut es hier offenbar ging, merkten regelmäßig zu spät, daß Inspektor Bond sie auf den Leim geführt hatte. Und versuchten sie dann, etwas zurückzunehmen oder so zu tun, als fiele ihnen zum Thema Jake Pullman nun wirklich nichts mehr ein, hatten sie bei Mr. Bond auch kein Glück. Beharrlich wiederholte er seine Fragen; wenn's sein mußte, ein Dutzendmal. So lange, bis er selbst das Gefühl hatte, von seinem jeweiligen Gesprächspartner nun nichts Wissenswertes mehr erfahren zu können. In der Mittagspause setzte er sich an einen Tisch im Kasino des Kinley. Er blätterte in seinem Notizbuch und ging die verschiedenen Angaben, die er am Vormittag erhalten hatte, noch einmal durch. Sorgfältig sortierte er alles heraus, was Jake Pullman betraf. Er grinste zufrieden. Die Ausbeute war nicht schlecht, fand er. Irgendwie tat der schüchterne Oberarzt ihm leid. Aber seine Pflicht würde er trotzdem tun. Und die befahl ihm, Dr. Pullmann jetzt eine Reihe von Fragen zu stellen, die ihm sicher nicht alle angenehm waren.
Inspektor Bond verzehrte ein erstaunlich zartes Steak und trank mit Behagen ein zweites Glas Bier hinterher. Beim Zahlen erlebte er eine weitere Überraschung. Für die ganze Mahlzeit brauchte er kaum mehr hinzulegen als für drei Halfpints Bier in irgendeinem Pub. Die Überraschungen rissen nicht ab, doch war die nächste negativ. Als er an Dr. Pullmans Tür klopfte, bekam er keine Antwort. Er sah hinein. Das Zimmer war aufgeräumt, die schlimmsten Spuren der Zerstörung waren beseitigt. Von Jake Pullman war nichts zu sehen. Inspektor Bond trat ein und schloß die Tür hinter sich. Er vergewisserte sich, daß Pullmans Mantel nicht im Schrank hing. Dann nutzte er die Gelegenheit, sich wenigstens flüchtig umzusehen, auch wenn das seine Befugnisse überschritt. Aber er fand nichts. Er was schon wieder an der Tür, als das Telefon klingelte. Eigentlich ging ihn das nichts an. Nach kurzem Zögern ging er trotzdem hin und nahm den Hörer ab. Bevor er sich zu melden vermochte, sagte eine Männerstimme flüsternd: »Bist du ihn losgeworden, Pullman? Hat er dich tüchtig in die Zange genommen? Ich kann dir sagen, Fragen hat der gestellt!« Inspektor Bond legte auf. Er hatte das Gefühl, daß mit diesem Anruf etwas nicht stimmte. Wieso hatte der Mann am anderen Ende der Leitung sich nicht vergewissert, daß er tatsächlich mit Pullman sprach, bevor er loslegte. Weil er wußte, daß Bond hier war? Spielt keine Rolle, dachte der Inspektor. Nicht jetzt. Aber er verließ das Zimmer auch nicht. Er begann die Durchsuchung erneut, und diesmal ging er so vor, wie er's gelernt hatte. Gründlich und nach System. Er fand die Schublade in dem stählernen Aktenschrank, in die Dr. Pullman seine halbprivaten Aufzeichnungen geworfen hatte und zog den ganzen Wust ans Tageslicht. Sorgsam nahm er ein Blatt und einen Zettel nach dem anderen zur Hand. Plötzlich pfiff er durch die Zähne. Er las das Dokument mehrmals. Er schüttelte den Kopf. Konnte ein Mensch wirklich so leichtsinnig sein, das hier herumliegen zu lassen? Eigentlich war das kaum zu glauben. Aber ein weltfremder, ungeschickter Bursche wie Jake Pullman… Inspektor Bond verließ Pullmans Zimmer endgültig. Beim Pförtner erkundigte er sich, wann Pullman das Kinley verlassen hatte.
Der Pförtner wußte nicht nur die Zeit. »Er fühlte sich nicht gut und sagte, er wolle heimgehen, Sir. Warum auch nicht, wo er hier doch ohnehin nichts zu tun hat!« »Warum auch nicht«, murmelte der Inspektor. »Geben Sie mir seine Privatadresse.« Inspektor Bond parkte seinen Dienstwagen eine Straße entfernt von Dr. Pullmans Wohnung. Er schlenderte auf der gegenüberliegenden Seite entlang und betrachtete die Reihen der Fenster. Im dritten Stock, hatte der Pförtner gesagt, liege Pullmans Wohnung. Er wußte das so genau, weil er einmal etwas hingebracht hatte. Alle Fenster des dritten Stockwerks waren geschlossen. Das Haus war groß. In jeder Etage mußte es mehrere Wohnungen geben. Wohnte hinter einigen dieser Fenster ein Mörder? Als der Inspektor klingelte, geschah zunächst nichts. Dann hörte er leise Schritte hinter der Tür. Er klingelte erneut. Flüchtig kam ihm die Dienstordnung in den Sinn. Strenggenommen durfte er diesen Besuch nicht allein machen. Nicht bei diesem Stand der Ermittlungen und dem Verdacht, den er seit etwa einer halben Stunde hegte. Aber er vermochte in Jake Pullman keine Gefahr zu sehen. Nicht einmal dann, wenn der Doktor wirklich ein Mörder war. So ein ungelenkes Bürschchen, dachte Bond, so eine halbe Portion… Die Schritte waren nach dem zweiten Klingeln verstummt. Bond pochte gegen die Tür, nannte seinen Namen, jedoch nicht seinen Dienstrang und fügte hinzu: »Warum öffnen Sie nicht, Dr. Pullman? Ich will mich mit Ihnen unterhalten!« Jetzt ging die Tür fast sofort auf. Pullman war bleich und nervös. Er lächelte, und dabei zuckte es in seinem Gesicht. »Ich wußte ja nicht, daß Sie es sind, Inspektor«, sagte er. »Sonst hätte ich sofort geöffnet. Kommen Sie bitte herein.« Inspektor Bond sah sich in der Wohnung um. JunggesellenGemütlichkeit. Durchschnitt, sah man von den vielen Büchern ab, die sich selbst in der Diele breitmachten und vermutlich auch im Schlafzimmer. In der Küche, deren Tür halb geöffnet war, stand schmutziges Geschirr. »Dort hinein, bitte. Nehmen Sie Platz, Inspektor. Kann ich Ihnen etwas anbieten?« Bond setzte sich umständlich und sah sich auch hier um, bevor er die Frage beantwortete. Jake Pullman schien eine Ablehnung
zu erwarten, denn er schickte sich ebenfalls an, sich zu setzen. »Warum nicht«, sagte Bond. »Was haben Sie denn anzubieten, Doktor?« »Oh, vielleicht einen Whisky? Ich habe auch Gin. - Oder ziehen Sie einen Tee vor? Das dauert allerdings ein paar Minuten.« Nicht nur, weil er an die unaufgeräumte Küche mit dem schmutzigen Geschirr dachte, sagte der Inspektor: »Ein Whisky wäre recht.« Dr. Pullman holte die Flasche und ein Glas aus dem Schrank rechts neben der Tür. Nach kurzem Zögern nahm er ein zweites Glas. Er würde aus Höflichkeit einen Schluck mittrinken. »Buchanan's de luxe«, sagte Inspektor Bond und schnalzte mit der Zunge. »Sie lassen sich's gutgehen, Doktor. Na ja, ein Oberarzt verdient sicher nicht schlecht.« »Ein Geschenk«, murmelte Jake Pullman und fragte sich, weshalb er schon wieder rot wurde. Es gab doch wirklich keinen Grund für diese Unsicherheit dem Inspektor gegenüber. Er entwickelte ohne jeden Grund Schuldbewußtsein. Oder doch fast ohne jeden Grund… »Zwölf Jahre alt«, seufzte Bond genüßlich und lehnte Eis und Soda ab. »Wäre eine Schande, einen alten Scotch nicht pur zu trinken«, sagte er und schlürfte ungeniert. Erst als er sein Glas liebevoll angeschaut und auf den Tisch gestellt hatte, wandte er sich wieder dem Arzt zu und fragte mit völlig geschäftsmäßiger Stimme: »Das ist doch so, oder?« »Was, Inspektor?« »Daß ein Oberarzt gut verdient.« »Na ja, man kann auskommen.« »Kann, Mr. Pullman? Heißt das, Sie kommen nicht aus mit Ihren Einkünften?« »Doch, ja… Warum stellen Sie mir solche Fragen, Inspektor?« »Haben Sie Schulden, Doktor?« »Schulden kann man das nicht nennen… Ich habe ein Darlehen noch teilweise zurückzuzahlen, das ich aufgenommen hatte, um meine Ausbildung zu finanzieren. So etwas ist durchaus üblich, verstehen Sie? Nicht jeder hat einen reichen Vater oder andere Möglichkeiten, über die Runden zu kommen, solange er studiert. Ein Stipendium zum Beispiel oder…« »Andere Verpflichtungen, Sir? Zahlungen für eine Frau, für ein
Kind oder so etwas?« »Nein, nein, wo denken Sie hin!« »Dieses Darlehen - wie hoch ist der Rest, den Sie noch bezahlen müssen?« »Etwa 1800 Pfund.« »Darf ich mal sehen?« fragte Bond beiläufig. »Was, Inspektor? Was wollen Sie sehen?« Jake Pullman flatterte. Er bekam sich nicht in den Griff. Ihm war längst klar, daß der Inspektor etwas wußte. Es wäre bestimmt besser gewesen, Schluß zu machen und ihm jetzt alles zu sagen, wo es quasi noch aus freien Stücken geschah. Wenigstens konnte man es mit etwas gutem Willen so betrachten. »Die Unterlagen, Doktor. Sie haben doch Unterlagen über dieses Darlehen und Ihre Rückzahlungen, oder?« »Gewiß. Ich verstehe aber nicht…« »Hören Sie, Sir, es ist eine Kleinigkeit, zu Ihrer Bank zu gehen und die Auskünfte dort einzuholen. Mit Hilfe einer richterlichen Anordnung. Wenn Ihnen das lieber ist…« »Ich habe das Darlehen dieser Tage zurückgezahlt. Ich muß Ihnen das erklären, Inspektor.« »Das denke ich auch«, sagte Bond trocken. »Es war so: Ich konnte das Geld von einem Freund als zinslosen Kredit bekommen. In Wahrheit habe ich die Darlehensschulden also immer noch, nur nicht an der gleichen Stelle. Verstehen Sie? Es ist ja ganz einfach.« Er lachte unsicher. »Als er mir's anbot, habe ich natürlich nicht nein gesagt. Mir war's lieber so.« »Natürlich«, sagte Bond. »Zinslos, nicht wahr?« »Richtig.« Bond nickte. Seine Stirn furchte sich ein klein wenig. Er wußte nicht, ob es stimmte, aber er ließ die Bemerkung als Versuchsballon los: »Die Darlehen für Studenten sind aber doch auch zinslos. Sie gewinnen also nichts, Doktor.« Pullman schwieg. Er spürte, wie alles Blut seinen Körper verließ und er eiskalt und starr wurde. Ich bin ein Narr, dachte er. Warum bin ich sehenden Auges in die Falle gerannt? Ich habe doch gewußt, daß es so oder ähnlich kommen würde. »Wie wär's, wenn wir das Versteckspiel aufgäben und ehrlich miteinander umgingen, Doktor?« Inspektor Bond schickte sich an,
die sturmreife Festung zu erobern. Er ließ sich seinen Triumph nicht anmerken. Aber er genoß doch schon Maughams Anerkennung. Natürlich war ihm der Zufall zu Hilfe gekommen, so daß er diesen Fall rasch und glatt erledigen konnte. Glückliche Zufälle kamen aber letztlich nur dem Tüchtigen zu Hilfe. »Also gut«, sagte Jake Pullman geschlagen. »Was wollen Sie wissen, Inspektor?« »Bleiben wir zunächst bei dem Geld, Doktor Sie haben es von wem?« »Von Mr Shultz«, murmelte der Arzt. »Wer ist Mr. Shultz, Doktor?« In diesem Stadium war Bond bereit, alle Geduld der Welt aufzubringen. Er hatte den Sieg ja schon in der Tasche. »Er war ein Patient des Kinley.« »War, Doktor?« »Sie wissen doch alles«, murmelte Pullman schwach. »Mr. Schultz ist bei der Explosion der Beatmungsmaschine umgekommen.« Der Inspektor nickte. Seine Stirn zeigte dicke Dackelfalten. Er war sehr betrübt. »Schlimmes Schicksal, das den armen Mr. Shultz getroffen hat, was? Und ausgerechnet, nachdem Sie das Geld von ihm bekommen hatten. Wieviel war es eigentlich, Doktor? Genau 1800 Pfund?« »Es waren 2000, Inspektor. Hören Sie, ich muß das erklären. Sie machen sich sonst womöglich ganz falsche Vorstellungen.« »Das wollen wir vermeiden«, sagte Bond ruhig. »Also legen Sie mal los mit Ihrer Erklärung.« »Mr. Shultz war zum zweitenmal im Kinley. Wußten Sie das?« Der Inspektor schüttelte den Kopf. »Ich hatte ihn schon einmal operiert.« »Sie allein, Sir?« »Nein, aber Mr. Ratherbone war damals in Urlaub, und ich leitete das Operationsteam. Als Mr. Shultz jetzt wieder ins Kinley kam, erinnerte er sich an mich, und wir hatten manches Gespräch miteinander. Mr. Shultz war ein sehr - freundlicher Mann.« »Was wollten Sie eben wirklich sagen, Doktor?« »Nun, er kümmerte sich um alles. Er interessierte sich für mein Leben. Er horchte mich geradezu aus. Ich - mir war das manchmal peinlich, aber andererseits…«
»… hatte Mr. Shultz eine Menge Geld, und deshalb sahen Sie darüber hinweg.« »Sie mißverstehen mich absichtlich, Inspektor«, sagte Pullman, und seine Stimme klang eher traurig als empört. »Besser, ich sage vorläufig gar nichts mehr, Doktor, dann kommt so etwas nicht mehr vor.« »Als Mr. Shultz von dem Darlehen erfuhr, das ich immer noch abzahlte, bot er mir Hilfe an. Ich dankte ihm und sagte nein. Aber er drängte mir das Geld geradezu auf.« Inspektor Bond beugte sich vor: »Das verstehe ich nicht, Doktor. Dieser Mr. Shultz war, nach allem, was ich weiß, ein Geschäftsmann. Er mußte sich doch sagen, daß Sie keinen Vorteil davon hatten: Zinsloses Darlehen hier oder da - wo war der Unterschied?« »Er sagte, ich könne es zurück zahlen, wie es mir gerade paßte. Verstehen Sie? Ich brauchte keine bestimmten Raten einzuhalten. Und außerdem… Es klingt ein bißchen komisch, Inspektor.« »Nur raus damit!« »Mr. Shultz sagte das nicht wörtlich, aber er ließ durchblicken, daß er ganz auf die Rückzahlung verzichten werde. Jedenfalls auf den größten Teil. Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß er nach geglückter Operation…« Dr. Pullman schluckte. Dann fügte er so leise hinzu, daß der Inspektor Mühe hatte, ihn zu verstehen: »Es war vielleicht nicht richtig von mir, das Geld anzunehmen. Aber ich konnte es ihm nicht abschlagen. Und 2000 Pfund sind für mich wirklich eine ganze Menge…« »Aber Sie wollten sich nicht darauf verlassen, daß er Ihnen das Geld schenkte«, sagte Bond laut und sachlich. »Sie zogen es vor, ihn zu ermorden, Dr. Pullman.« Er hatte gar keine heftige Reaktion erwartet. Deshalb war er auch nicht verwundert, daß der Arzt ganz ruhig sitzen blieb und ihn nur stumm anstarrte. Erst nach einer kleinen Ewigkeit sagte er, ohne sich zu rühren. »Sie müssen verrückt sein, Inspektor!« »Sie haben die Beatmungsmaschine präpariert, so daß sie während der Operation, aussetzte. Daß sie dabei in die Luft flog, liegt wahrscheinlich an Ihren miserablen Kenntnissen der Technik dieser Maschine, Doktor. Dann…« »Warum hätte ich so etwas tun sollen?« fragte Pullman, der den ungeheuerlichen Vorwurf erst jetzt richtig zu verstehen schien.
»Ich sagte es ja schon: Damit Sie sicher waren, das Geld nicht zurückzahlen zu müssen.« »Das ist Unsinn! Ich habe Mr. Shultz einen Schuldschein gegeben!« »Den Sie hinterher an sich nahmen. Das kann Ihnen nicht schwergefallen sein. Shultz hatte ja ein Einzelzimmer. Und Sie waren direkt nach dem Tod von Shultz verschwunden.« »Ich habe das Hospital verlassen, ja, ich brauchte frische Luft!« »Ich habe die Zeitangaben nachgeprüft Doktor. Sie hatten genügend Zeit, Mr. Shultz' Zimmer zu durchsuchen.« Jake Pullman schüttelte stumm den Kopf. »Sie hätten den Schuldschein nicht in Ihrem Zimmer aufbewahren sollen, Doktor«, sagte Bond, zog seinen Fund aus dem Stahlschrank des Arztes aus der Tasche, und glättete ihn auf dem Tisch neben dem Glas und der Flasche mit zwölf Jahre altem Buchanan's de luxe. »Das ist er doch, nicht wahr? Zweitausend Pfund, gegeben von Mr. Albert Shultz an Dr. Jake Pullman.« »Wo haben Sie das her, Inspektor?« fragte Pullman tonlos. Bond gab bereitwillig Auskunft. »Aber ich habe den Schuldschein nicht dort hingelegt. Ich habe ihn nicht mehr in der Hand gehabt, seit ich ihn unterschrieben habe.« Er sagte heftig: »Das ist direkt lächerlich, Inspektor! Mr. Shultz wollte gar keinen Schuldschein! Ich bestand darauf, daß wir's schriftlich machten! Ich wollte nicht…« Er schüttelte den Kopf und biß sich auf die Unterlippe. »Ich denke, das wird sich alles klären, Doktor«, sagte Bond. »Spätestens in der Hauptverhandlung. Vielleicht aber auch schon vor dem Leichenbeschauer.« »Sie werden die Sache vor den Leichenbeschauer bringen, Inspektor?« »Natürlich. Ist meine Pflicht.« »Und mich wollen Sie festnehmen?« »Ich komme wieder, wenn ich einen Haftbefehl habe«, sagte Bond und stand auf. »Ich glaube nicht, daß Sie abzuhauen versuchen, Doktor. Das wäre auch zwecklos.« »Haftbefehl«, sagte Pullman. Er hatte den Rest nicht mehr gehört. »Aber vorher stelle ich weitere Nachforschungen an, Mr. Pullman. Ich will wissen, weshalb die beiden anderen Patienten sterben mußten. - Oder wollen Sie mir das jetzt gleich erzählen?«
Dr. Pullman starrte ihn entsetzt und stumm an. Er brachte kein Wort heraus. Inspektor Bond verließ seine Wohnung. Bevor er aus dem Haus ging, telefonierte er aus der Hausmeisterwohnung mit dem Yard. Er wartete ab, bis die beiden Beamten eintrafen, die von nun an jeden Schritt des Arztes überwachen sollten. * Jake Pullman trank so gut wie nie. Ein Bier zum Essen, ein Glas Wein, wenn er in Gesellschaft war - was selten vorkam. Daß er Whisky trank, gehörte tatsächlich zu den ganz großen Ausnahmen. An diesem Tag, nachdem Inspektor Bond seine Wohnung verlassen hatte, kippte er den Schluck, den er sich höflichkeitshalber eingegossen hatte. Dann goß er nach. Er tat das noch ein paarmal. Als er damit aufhörte, war der Flüssigkeitsspiegel in der Vierkantflasche um gute drei Zoll gesunken. Jake Pullman stand auf, wankte ins Badezimmer und hielt seinen Kopf unter die Brause der Badewanne. Das nutzte jedoch nicht viel. Er zog sich aus und duschte. Dann legte er sich aufs Bett. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Da er unschuldig an Mr. Shultz' Tod war, gab es eigentlich keinen Grund zu ernsthaften Sorgen. Alles, womit der Inspektor gedroht, auch das, was er nur angedeutet hatte, war Nonsens. Gut, er würde seine Stellung im Kinley verlieren. Damit hatte er sich schon halb und halb abgefunden. Aber er würde weiter als Arzt arbeiten können. Irgendwo in der Provinz. Im Notfall ließ er sich dort nieder, wo die ärztliche Versorgung nicht gesichert war. Solche Orte gab es eine Menge auf der Landkarte. Er konnte auch im Entwicklungsdienst unterkommen, danach hatte er sich mal erkundigt, bevor es seinerzeit mit dem Kinley geklappt hatte. Aber daß man ihn vor Gericht stellte und als Mörder verurteilte das war doch ausgeschlossen. Er hatte mit Mr. Shultz' Tod so wenig zu tun wie mit dem der anderen Patienten. Im Sinn der Gesetze traf ihn nicht die geringste Schuld. Und die Vorwürfe, die er sich selbst machte, waren vor keinem Gericht der Welt zu verhandeln. So sehr er sich das alles auch einzureden versuchte, er wurde den Druck nicht los, den Inspektor Bonds finstere Drohung über
ihn verhängt hatte: Ich will wissen, weshalb die beiden anderen Patienten gestorben sind. Was er hinzu gefügt hatte, bewies, daß er ihn, Pullman verdächtigte, nicht einen, sondern drei Morde begangen zu haben. Erst jetzt begriff der Arzt, was es bedeutete, wenn Inspektor Bond nicht gelogen und den Schuldschein wirklich in seinem Zimmer gefunden hatte. Daß es einen Feind gab. Daß jemand versuchte, ihn zu vernichten. Pullman schüttelte sich. Wer war dieser Feind? Und was hatte er sich in den beiden anderen Fällen einfallen lassen, um den schrecklichen Verdacht auf ihn zu lenken? Er hielt es nicht mehr aus auf seinem Bett, in seiner Wohnung. Er zog sich an und verließ das Haus. Von seinen Verfolgern bemerkte er nichts. Zunächst lief er ziellos herum. Dann wandte er sich in Richtung Hyde Park. Kurz bevor er ihn erreichte, kam es zu einem jener Zufälle, die unglaubwürdig klingen und sich doch immer wieder ereignen. Für Dr. Pullman hatte der Zusammenstoß ungeahnte Folgen. Es handelte sich um einen Zusammenstoß im Wortsinn. Als Pullman Clarendon Place überquerte, achtete er nicht auf den Verkehr. Ein dunkelgrauer Rolls Royce, der von links kam, konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen. Er erwischte Jake Pullman mit dem rechten Kotflügel und schleuderte ihn auf die Straße. Im nächsten Augenblick stand der Wagen. Fahrer und Beifahrer stiegen aus und bemühten sich um den Verletzten. Es waren Rob Jones und der Lord. »Er ist nicht schwer verletzt, Sir. Sollen wir das nächste Krankenhaus ansteuern?« Der Lord betrachtete den blassen Mann, dem die Brille mit den dicken Gläsern von der Nase gerutscht war. »Wir nehmen ihn mit, Rob.« »Sir?« »Nach Chelsea Square. Rasch, setzen Sie ihn in den Fond.« Die beiden Polizisten, die den Auftrag hatten, Dr. Jake Pullman nicht aus den Augen zu lassen, waren ratlos. Sie hatten den Lord erkannt und deshalb nicht eingegriffen. Einer von ihnen setzte sich jetzt über Funk mit der Zentrale in Verbindung, bekam Inspektor Bond ans Empfangsgerät und schilderte seine Wahrneh-
mungen. »Sir Edward«, sagte Bond nachdenklich. »Nein, greifen Sie nicht ein. Folgen Sie seinem Wagen. Falls das Ziel innerhalb Londons liegt, genügt es, mich nach Ankunft zu unterrichten. Andernfalls melden Sie sich wieder, sobald der Wagen des Lords die Stadtgrenze überfährt.« »Kennen Sie den Mann, Sir?« erkundigte Rob Jones sich unterwegs. Er beobachtete den Verletzten, der leise stöhnte und sich an die Stirn faßte, im Rückspiegel. Der Lord nannte den Namen, und Rob Jones pfiff durch die Zähne. »Scheint ziemlich durcheinander zu sein.« »Ich glaube, er braucht Hilfe.« »Vor der Polizei, Sir?« »In zweiter Linie. Aber das wird wohl Aufgabe eines Rechtsanwalts sein.« Mehr sagte der Lord nicht. Sie hatten Kensington Garden umrundet und Chelsea erreicht. »Also doch«, murmelte Jones, bevor die dunkelgraue Limousine in die Tiefgarage glitt. »Wir werden verfolgt.« »Ein Polizeiwagen«, sagte der Lord. »Scotland Yard scheint wirklich starkes Interesse an Mr. Pullman zu haben.« »Wo bin ich? Wer sind Sie? Wohin haben Sie mich gebracht?« fragte Dr Pullman, der eben jetzt richtig zu sich kam. Der Lord beantwortete die Fragen so knapp wie möglich und fügte hinzu: »Kommen Sie mit hinauf in meine Wohnung, Dr. Pullman. Wir wollen uns dort über Ihren Fall unterhalten.« »Meinen Fall?« »Scotland Yard ist im Begriff, einen Fall daraus zu machen, oder irre ich mich?« Jake Pullman schüttelte den Kopf. Er begriff nichts. Was war geschehen, nachdem er in das Auto gelaufen war? Wie kam der geheimnisumwitterte Lord dazu, sich für ihn zu interessieren? Droben im Penthouse hatte Dr. Pullman eine weitere Gelegenheit, sich zu wundern: Der Lord versorgte die Platzwunde an seinem Kopf so fachmännisch, daß er es selbst nicht besser hätte machen können. Natürlich ahnte Dr. Pullman nichts von der Beziehung, die zwischen dem Lord und Dr. Morton bestand und daß sich der Lord bei Bedarf eben auch aller einschlägigen Fertigkeiten des Chirurgen zu bedienen wußte. Rob Jones war die ,Fahne' nicht entgangen, die Jake Pullman
verströmte. Deshalb sah er von seinem Plan ab, dem Verletzten einen Drink anzubieten. Stattdessen bereitete er einen starken Kaffee. Als er mit dem Tablett ins Zimmer kam, unterbrach Pullman seinen Bericht nur für einige Sekunden. Es drängte ihn, dem Lord alles zu berichten, was in den letzten Wochen geschehen war. Er hatte Vertrauen zu dem geheimnisumwitterten Mann gefaßt, der sich sonderbarerweise für sein Schicksal zu interessieren schien und ihn nicht nur mitgenommen hatte, um seine Wunde zu versorgen. Pullman vermochte nicht fließend zu berichten. Das lag daran, daß er sich große Mühe gab, die Dinge wirklich genau darzustellen. Er verwandte auch viel Zeit darauf, seine Selbstvorwürfe zu begründen. Der Lord gewann innerhalb der nächsten Stunde ein gutes Bild von diesem unbeholfenen Mann und den Vorgängen im Kinley, auch wenn er - noch - keine Ahnung hatte, wer der Verursacher von Dr Pullmans Schwierigkeiten war. »Glauben Sie mir, Sir Edward?« fragte Pullman unsicher, pls er seinen Bericht schließlich beendet hatte. »Ich glaube Ihnen, Dr Pullman.« Der Arzt atmete auf. Seine Hände umkrampften die Tasse, die Rob Jones noch einmal gefüllt hatte. Es klingelte. Der Lord und Rob Jones sahen sich an. »Polizei«, sagte der Lord. »Ich fürchte, Sie werden jetzt Unannehmlichkeiten bekommen, Dr Pullman, fügen Sie sich in das Unvermeidliche. Vor allem Verlieren Sie den Mut nicht.« Pullman versprach, sich Mühe zu geben. Inspektor Bond vermochte seine Verlegenheit nicht ganz zu kaschieren. Er wirkte gehemmt. Obwohl Jake Pullman damit zu tun hatte, seine Angst zu zügeln, spürte er das und erkannte den Grund Inspektor Bond schien dem Lord gegenüber Komplexe zu haben. Nach der Begrüßung und ein paar zeitschindenden Floskeln rückte der Inspektor mit dem Grund seines Besuchs heraus. Er wandte sich direkt an Dr Pullman, und dabei gewann er wieder an Sicherheit. »Sir, ich habe einen Haftbefehl gegen Sie.« »Haftbefehl«, echote Pullman und glaubte zu spüren, wie die Erde sich unter ihm auf tat. »Weshalb, Inspektor?« Seine Stimme war nur mehr ein Flüstern. »Verdacht eines Verbrechens des Mordes, begangen zum Nach-
teil des Albert Shultz«, schnarrte Inspektor Bond, der gleichzeitig mit den üblichen Formulierungen auch seine ,Polizeistimme' benutzte. »Sie machen einen Fehler, Mr Bond«, sagte der Lord ruhig. »Ich tue meine Pflicht, Sir«, schnarrte der Inspektor. »Die Verdachtsmomente gegen Dr. Pullman lassen nach Ansicht des Haftrichters keine andere Möglichkeit zu.« »Verdachtsmomente?« fragte Pullman, als höre er das Wort zum erstenmal in seinem Leben. »Was wollen Sie damit sagen, Inspektor?« »Nun, Doktor, ich denke, Sie wissen das alles sehr gut«, erwiderte Bond unbehaglich. »Aber zu allem anderen ist da noch ein Brief beim Yard eingetroffen. Darin steht, daß Sie vor dem Eingriff an Mr. Shultz längere Zeit allein im Operationssaal gewesen seien. - Sie hatten demnach Zeit, die Beatmungsmaschine zu präparieren.« »Aber das stimmt nicht!« sagte Pullman und blickte hilfesuchend von einem der Männer zum anderen. »Ich war nicht allein im OP! Von wem ist dieser Brief, Inspektor? Ich denke, ich habe ein Recht, das zu erfahren.« »Der Brief trägt keinen Absender«, mußte Inspektor Bond zugeben. »Wir betrachten ihn selbstverständlich nicht als Beweismittel, aber wir werden die darin gemachten Angaben überprüfen.« »Ein anonymer Brief«, sagte Jake Pullman bitter und schüttelte den Kopf. »Gehen Sie mit, Dr. Pullman«, sagte der Lord leise und beruhigend. »Ich kümmere mich um alles.« »Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf«, sagte Inspektor Bond und räusperte sich: »Es würde Dr Pullman bestimmt helfen, wenn er einen tüchtigen Anwalt bekäme.« * »Wenn Jake Pullman unschuldig ist, muß er einen sehr gerissenen Feind haben«, sagte Rob Jones am Morgen des nächsten Tages. »Einen Mann, der vor nichts zurückschreckt. - Oder eine Frau? Natürlich, es könnte auch eine Frau sein. Eine Ärztin zum Beispiel oder eine Schwester, die sich von ihm ungerecht behan-
delt fühlt oder zurückgewiesen oder…« »Verlieren Sie sich nicht in Spekulationen, Rob«, sagte der Lord und trank die zweite Tasse Tee aus. »Wissen Sie, ob Mr. Grimsby in London ist?« »Nein, Sir«, sagte Jones überrascht. »Aber das läßt sich rasch feststellen.« Er telefonierte mit dem Stadthaus Lord Mortons an Grosvenor Square und wurde an die Praxis in Harley Street verwiesen. Die hatte Grimsby gemeinsam mit Dr Morton jedoch wenige Minuten zuvor verlassen. »Dann versuche ich's mal mit einer der Funktelefon-Nummern«, murmelte Rob Jones. Diesmal hatte er Glück. Grimsby meldete sich. Sie sprachen kurz miteinander Jones hielt die Sprechmuschel zu, während er sich an den Lord wandte. »Sir Glenn und Mr Grimsby sind auf der Fahrt nach Brighton. Wollen Sie selbst sprechen, Sir?« Der Lord nickte. Jones hörte zu, als er William Grimsby um einen Gefallen bat. »Eine Kleinigkeit, Sir Edward«, sagte Grimsby. »Wann brauchen Sie das Ding?« »So rasch wie möglich.« »Ich bin am frühen Nachmittag wieder in London und könnte es Ihnen an Chelsea Square vorbeibringen.« »Was werden Sie damit tun, Sir?« fragte Jones, nachdem das Telefonat beendet war. »Ich werde es Dr Pullman bringen.« »Aber was kann er damit anfangen?« »Es wird ihm sehr nützlich sein«, erwiderte der Lord, und mit dieser Auskunft mußte Jones sich begnügen. Er wußte, wann es vergeblich war, in den Lord zu dringen. Der Lord telefonierte mit Chefinspektor Maugham. Der wunderte sich nicht über den Anruf. Er wußte sofort, wem das Interesse des Lords galt. Dr. Jake Pullman wurde noch im Yard festgehalten, und dort sollte er auch bleiben, bis die Untersuchungen abgeschlossen waren. »Es sieht gar nicht gut für den armen Burschen aus, Sir Edward«, sagte der Chefinspektor. »In seiner Unbeholfenheit und Weltfremdheit könnte er einem tatsächlich leid tun - wenn er kein Mörder wäre.« Der Lord ging nicht auf diesen letzten Satz ein. Er fragte: »Kann ich ihn sehen, Mr Maugham?«
Es blieb sekundenlang still am anderen Ende der Leitung. »Ich muß das fragen, Sir Edward. Warum?« »Weil ich ihm helfen will. Weil ich nicht daran glaube, daß er einen Menschen umgebracht hat.« Wieder machte Maugham eine Pause. Der Lord stellte sich sein besorgtes Gesicht vor und mußte lächeln. »Sie wissen, daß das eigentlich nicht ohne Formalitäten geht, Sir Edward. Aber in Ihrem Fall. Ich werde es verantworten.« »Danke, Mr Maugham. Sie sind sehr großzügig.« Jake Pullman richtete sich nicht von der Pritsche auf, als die Tür geöffnet wurde. Er starrte die Decke an. Erst als er merkte, daß es nicht der Aufseher oder irgendein Polizist war, der ihn besuchte, schoß er hoch und entschuldigte sich stotternd. »Schon gut«, sagte der Lord beruhigend. »Ich will mich noch einmal mit Ihnen unterhalten, Dr Pullman Erzählen Sie mir die ganze Geschichte noch einmal.« »Sie glauben mir auch nicht«, stellte der Arzt fest. Seine Empfindsamkeit stieg ständig, seit man ihm nachstellte und schließlich eingesperrt hatte. Manchmal kam er sich vor, als besäße er keine Haut. Der Lord sagte zunächst gar nichts. Aber dann ließ er durchblicken, daß er einen Vorwand gebraucht hatte, herzukommen. »Jetzt ist er gegangen.« »Wer?« »Der Aufseher. Er hat vor der Tür gestanden. Sie ist so konstruiert, daß man nahezu jedes Wort hören kann, das hier gesprochen wird. - Dr Pullman, nehmen Sie das und sehen Sie zu, daß es nicht gefunden wird. Ich glaube nicht, daß man Ihre Zelle durchsucht, zumal Sie, wie ich höre, außer mir noch keinen Besuch bekommen haben.« »Was ist das, Sir Edward?« fragte der Untersuchungshäftling und drehte das zigarrenschachtelgroße Kästchen zwischen den Fingern. »Ich kann mich mit Hilfe dieses kleinen Apparats bei Ihnen melden. Sie vernehmen einen Summton, der allerdings so leise ist, daß ihn nicht einmal der Polizeibeamte hören wird, der Ihnen bei einer Vernehmung gegenübersitzt. Sie müssen ihn auch gar nicht hören. Die Vibration des Kästchens ist so stark, daß Sie schon sehr tief schlafen müßten, um nicht davon geweckt zu werden.« »Ich schlafe fast überhaupt nicht«, sagte Dr Pullman bitter »Sie
wollten mir ein Präparat geben, ohne mir zu sagen, worum es sich handelt. Ich habe abgelehnt, es zu nehmen.« Der Lord winkte ab. Das war jetzt nicht wichtig. »Sie haben begriffen, worum es geht, Dr Pullman? Wenn Sie das Signal empfangen haben, erwidern Sie es - falls Sie können: Ein langes, ununterbrochenes Zeichen bedeutet, daß Sie meine Anweisungen nicht befolgen können, ein mehrfach unterbrochenes Signal, daß Sie zu tun bereit sind, was ich Ihnen jetzt erläutere.« »Ich verstehe zwar immer noch nicht, was Sie damit bezwecken, Sir Edward - aber ich bin bereit, alles zu tun, was Sie verlangen.« »Es ist nicht viel«, sagte der Lord. »Hören Sie nur genau zu. Als Arzt, der mit dem menschlichen Körper und wohl auch mit der Psyche vertraut ist, werden Sie keine langwierigen Erläuterungen brauchen.« Dr Pullman hörte zu. Vielleicht überschätzte der Lord ihn. Wahrscheinlich lag es an seinem Zustand, an seiner Nervosität und der Konzentrationsschwäche, daß er manches nicht mitbekam. Aber er wußte jedenfalls, wie er zu reagieren hatte, sobald das kleine Kästchen sich meldete. * Ein Mann - ein Herr? - in unauffälliger Kleidung stand schon geraume Zeit auf dem nördlichen Gehsteig von Marylebone Road und betrachtete die Fassade des Kinley. Dann überquerte er die Fahrbahn und ging mit raschen Schritten durchs Hauptportal. Es war Besuchszeit, niemand kümmerte sich um ihn oder fragte, was er hier suche. Der Unauffällige brauchte kaum die Hinweisschilder, um trotz der weitläufigen und verwinkelten Gänge zu Mr Ratherbones Abteilung zu finden. Es ging auch hier ziemlich turbulent zu. Die diensttuenden Schwestern sahen sehnsüchtig nach der Uhr, als könnten sie das Ende der Besuchszeit herbeischauen. Der Mann, den offenbar kein Patientenbesuch ins Kinley Hospital gelockt hatte, wartete einen günstigen Augenblick ab, um das Zimmer des in Untersuchungshaft sitzenden Dr Pullman zu betreten. Er schloß die Tür hinter sich und sah sich um. Langsam ging
er zum weißmetallenen Schreibtisch mit der Kunststoffplatte hinüber und nahm dahinter Platz. Die Spuren der Verwüstung waren immer noch zu erkennen. Sein Eindringen war nicht unbemerkt geblieben. Eine Schwester hatte die Tür von Dr Pullmans Zimmer gehen hören. Sie kannte das typische Knarren. Als sie auf den Flur kam, hatte der Türknauf sich noch bewegt. »Ist Jake Pullman wieder hier?« fragte sie eine Kollegin. »Der sitzt«, sagte die andere mit einem bedauernden Lächeln. »Den lassen sie bestimmt so schnell nicht los.« »Haben wir etwa diesen Inspektor wieder im Haus?« »Nein. - Wie kommst du nur darauf?« Die erste Schwester teilte ihre Beobachtung mit. Gemeinsam kamen sie zu dem Schluß, die Oberschwester müsse benachrichtigt werden. Die Oberschwester schüttelte den Kopf und sagte: »Warum habt ihr nicht nachgeschaut, wer in Pullmans Zimmer ist, ihr Mädchen? Warum kommt ihr nie von selbst auf das Nächstliegende?« Sie stampfte den Flur hinunter, drehte den Knauf und stieß die Tür energisch auf. Das Zimmer war leer. Argwöhnisch wandte sie sich zu den beiden Schwestern um. »Er ist aber ganz bestimmt hineingegangen«, sagte eine kleinlaut. »Er? Wer?« »Na, irgend jemand.« Die Oberschwester schnaubte und stampfte den Flur entlang, zurück zu ihrem eigenen Zimmer. Der unauffällige Mann wurde wenig später gesehen, als er Dr. Crawfords Zimmer betrat. Der Anästhesist war längst aus seinem Sonderurlaub zurückgekehrt, aber er hatte zur Zeit keinen Dienst. Eine Schwester, die sich nicht entsinnen konnte, den Mann je hier im Kinley gesehen zu haben, ging ihm nach, um ihn zu fragen, was er hier zu suchen habe. Sie fand ihn hinter Dr. Crawfords Schreibtisch und hatte schon eine scharfe Bemerkung auf der Zunge. Aber etwas in der Erscheinung des Fremden, der so unauffällig gekleidet war, machte sie vorsichtig. Geradezu freundlich fragte sie: »Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?« »Danke, Schwester. Sie wissen nicht zufällig, wo Dr. Crawford ist?«
»Nicht im Haus, Sir. Wenn Sie ihn sprechen wollen…« Der Mann hinter Crawfords Schreibtisch lächelte und machte eine abwehrende Handbewegung. Die Schwester wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie hörte Schritte im Flur und drehte sich um. Ein Pfleger ging vorbei und grinste sie vertraulich an. Sie wandte sich wütend wieder dem Zimmer zu. Es war leer. Sie mochte sich in allen Ecken umsehen, soviel sie wollte. Der Mann, der hinter Crawfords Schreibtisch gesessen hatte, war und blieb verschwunden. Kopfschüttelnd verließ die Schwester den Raum und zog die Tür hinter sich ins Schloß. Sie hatte eine anstrengende Woche hinter sich, das wußte sie, aber zu Halluzinationen hatte so etwas bisher noch nie geführt. Der unauffällig gekleidete Mann stattete noch mehreren anderen Räumen einen Besuch ab. Er wartete sogar, bis Mr. Ratherbone das Kinley verließ, um sich auch in dessen Büro umsehen zu können. Es war abgeschlossen, doch bereitete es dem Unauffälligen keine Schwierigkeit, trotzdem hineinzukommen. Sekundenlang war ein schwarzer Stock mit silbernern Knauf sichtbar gewesen, der rasch wieder unter dem Sakko verschwand. Auch hier im Zimmer des Chefarztes verzichtete der Lord darauf, den Schreibtisch oder andere Behältnisse zu durchsuchen. Er begnügte sich damit, still hinter dem Schreibtisch zu sitzen und den Raum auf sich wirken zu lassen. Dabei hatte er die Hoffnung, daß er es schon merken würde, wenn hier irgendwo etwas verborgen war, das ihm bei dem Versuch half, Dr. Pullman aus den Klauen von Scotland Yard und der Justiz zu befreien. Das Zimmer des Chefs lag in einem Winkel zwischen zwei Trakten des Kinley. Keine zehn Yards entfernt war ein Flurfenster, von dem aus man zwar nicht in Mr. Ratherbones` Zimmer hineinblicken konnte, weil die Vorhänge zugezogen waren. Aber einem aufmerksamen Beobachter entging trotzdem nicht, daß jemand in Ratherbones Zimmer war. Und dieser aufmerksame Beobachter es war Dr. Ponsonby - hatte sich eben noch mit dem Chefarzt unterhalten und ihn bis zum Ausgang begleitet. Außerdem wußte er, daß Ratherbone sein Zimmer stets abschloß und daß die Putzfrau früh am Morgen nur unter Aufsicht einer Schwester dort arbeiten durfte, die Ratherbones Vertrauen besaß. »Das ist doch sonderbar«, murmelte Dr. Ponsonby und versuchte vergeblich, durch die zugezogenen Vorhänge hindurch Einzel-
heiten zu erkennen. Er war schon bereit, anzunehmen, daß er sich geirrt hätte, als eine seiner Lieblingsschwestern neben ihm auftauchte. »Haben Sie ihn auch gesehen, Dr. Ponsonby?« »Wen? Von wem sprechen Sie, Liza?« »Von dem Phantom, das sich hier herumtreibt und das verschwindet, wenn man's zu genau anschaut.« Sie lachte amüsiert. Sie glaubte nicht an das Geschwätz, das in der ganzen Abteilung umging. Verblüfft sah sie Dr. Ponsonby nach, der es plötzlich furchtbar eilig hatte und der nicht ein einziges nettes Wort für sie fand, ganz im Gegensatz zu seinen sonstigen Gewohnheiten (bei denen er die netten Worte meist auch mit netten Handbewegungen verband, wogegen Schwester Liza durchaus nichts hatte, zumal Dr. Ponsonby noch Junggeselle war). Ponsonby eilte zum Aufenthaltsraum der Pfleger, wo er drei kräftige junge Männer vorfand. »Kommt mit, Boys«, sagte er burschikos. »Ich glaube, wir müssen ein bißchen Räuber und Gendarm spielen.« Als er die Tür des Chefarztzimmers öffnete, sah der unauffällige Mann hinter dem Schreibtisch überrascht auf. Allerdings zeigte er nichts, was man als Erschrecken oder gar Angst bezeichnen konnte. »Was machen Sie hier, Sir?« fragte Dr. Ponsonby scharf und gab den Pflegern ein Zeichen. Sie drängten hinter ihm ins Zimmer und gingen von zwei Richtungen aus auf den Schreibtisch zu. Der unauffällig gekleidete Mann erhob sich und lächelte. »Ich mache gar nichts, Dr. Ponsonby«, sagte er. »Ich habe nur hier gesessen und nachgedacht.« Niemand merkte ihm an, daß er alle seine Kräfte sammelte, und niemand hätte für möglich gehalten, was gleich darauf geschah. Der Lord bedauerte, zu einem so spektakulären Trick greifen zu müssen. Er bedauerte es vor allem, weil er dadurch seine Identität lüftete. Zwei der Pfleger hatten ihn fast erreicht. Sie wandten sich kurz nach Dr. Ponsonby um, mit einem Blick sein Einverständnis einzuholen. Als sie Zugriffen, griffen sie ins Leere. Sie stießen mit den Köpfen zusammen. Ihre Verblüffung war unbeschreiblich. Einer begann laut zu fluchen. Der andere war so geschockt, daß er kein Wort herausbrachte. Leichenblaß und zitternd ließ er sich
in Mr. Ratherbones Sessel fallen. Auch Dr. Ponsonby traute seinen Sinnen nicht, ebensowenig der dritte Pfleger, dem die Augen aus dem Kopf zu platzen schienen. »Er ist weg, Doktor!« krächzte er. »Verschwunden! Ich kann ihn nicht mehr sehen!« Dr. Ponsonby überlegte nicht lange. Er ging die wenigen Schritte zum Schreibtisch des Chefarztes, nahm den Hörer vom Telefon und wählte Mr. Ratherbones Privatnummer. Ratherbone hatte sein Haus schon erreicht. »Tut mir leid, Sie stören zu müssen, Sir«, sagte Ponsonby. »Aber ich halte es für unbedingt erforderlich, daß Sie so rasch wie möglich ins Kinley kommen.« * Mr. Ratherbone kam. Nicht nur Dr. Ponsonby und die drei Pfleger, die das Unglaubliche miterlebt hatten, wurden von ihm befragt, sondern nach und nach alle, die in seiner Abteilung arbeiteten und greifbar waren. Es stellte sich heraus, daß fast jeder den unauffällig gekreideten Mann gesehen hatte. Viele hatten sich auch über sein plötzliches Auftauchen und Verschwinden an verschiedenen Stellen gewundert. Mr. Ratherbone war ungehalten, daß niemand etwas unternommen hatte, ehe der ungebetene Besucher auch seinem Zimmer einen Besuch abstatten konnte. Er untersuchte selbst das Schloß an seiner Tür, konnte aber keinerlei Beschädigung entdecken. Die Schwestern und Helfer wurden weggeschickt. Die Ärzte blieben in Ratherbones Zimmer zurück. »Wer war es, Ponsonby?« fragte Ratherbone. »Nun mal heraus mit der Sprache: Sie haben ihn doch erkannt!« »Nein, Sir, ich habe ihn nicht erkannt«, erwiderte Dr. Ponsonby vorsichtig. »Er sah ganz anders aus als auf den Bildern.« »Aber Sie wissen, daß er es war, Mann!« sagte der Chefarzt ungehalten. »Ich vermute es, Sir.« »Der Lord?« fragte Dr. Winkle, und es war schwer zu entscheiden, ob er überrascht war oder die Überraschung nur spielte. »Guten Morgen, Winkle«, sagte Ratherbone boshaft. »Haben Sie auch schon ausgeschlafen?«
Winkle bekam einen roten Kopf und zog sich in den hintersten Winkel des Zimmers zurück. »Nehmen wir also an, es war dieser Lord«, sagte Dr. Tender. »Was kann er hier gesucht haben, Sir?« »Darf ich Sie daran erinnern, daß es in meiner Abteilung zu einigen unangenehmen Zwischenfällen gekommen ist, Tender?« sagte Mr. Ratherbone mit schneidendem Spott. »Darf ich Sie weiter daran erinnern, daß einer unserer Kollegen wegen Mordverdachts in Untersuchungshaft sitzt?« Tender war nicht Winkle. Er ließ sich überhaupt nicht beeindrucken. »Sie dürfen, Sir«, sagte er. »Aber ich hatte das keineswegs vergessen. Ich sehe nur keinen Zusammenhang zwischen unseren internen Schwierigkeiten und dem Lord.« »Er ist bekannt dafür, daß er sich um Dinge kümmert, die ihn eigentlich nichts angehen.« Die Unterhaltung lief in die Richtung, in die Tender sie hatte bringen wollen. Er nickte zufrieden: »Die ihn nichts angehen, ganz richtig. Ich finde, der arme Pullman sitzt schon tief genug in der Tinte. Vielleicht können die Leute von Scotland Yard ihm etwas anhängen, vielleicht auch nicht. Jedenfalls bin ich dagegen, daß wir tatenlos zusehen, wie ein Außenstehender sich einmischt und der Polizei vielleicht die Beweise liefert, die Jake - Dr. Pullman - für immer hinter Gitter bringen. Möglich, daß der eine oder andere von Ihnen gegenteiliger Meinung ist…« »Sie sind ja sehr besorgt um unser Unglückslamm«, stellte Mr. Ratherbone sarkastisch fest. »Er ist mein Freund«, sagte Tender ruhig. »Gut, gut! Sie brauchen mir nicht zu sagen, was ich zu tun habe, Dr. Tender! Ich denke ebensowenig wie Sie daran, diesen Lord hier herumstöbern zu lassen. Ich werde mich beschweren. Ich werde veranlassen, daß Scotland Yard ihn zur Rechenschaft zieht.« Mr. Ratherbone und sein Team diskutierten die Angelegenheit noch eine Weile, ehe der Chefarzt zum Telefon griff und sich eine Verbindung mit der Zentrale von Scotland Yard an Victoria Street geben ließ. Als Inspektor Bond hörte, um was es ging, spürte er eine Art Schüttelfrost. Hatte er's nicht die ganze Zeit geahnt, daß der Lord
sich nicht heraushalten würde? - Und Maugham hatte ihm ohne alle Formalitäten erlaubt, den Untersuchungshäftling zu sprechen. Allein! Ohne Aufsicht! In Dr. Pullmans Zelle! Die Sache ist mir zu heiß, dachte er. Soll Maugham sich die Finger doch selbst verbrennen. Er bat Mr. Ratherbone um einige Augenblicke Geduld, legte das Gespräch auf einen der Apparate in Chefinspektor Maughams Zimmer und ging rasch hinüber, um ihn zu informieren. Auch Maugham war nicht begeistert. Er versuchte zwar, Mr. Ratherbone zu besänftigen und meldete Zweifel daran an, daß der Eindringling tatsächlich der Lord gewesen sei. Aber als Mr. Ratherbone darauf bestand, man müsse Sir Edward zumindest zu der Angelegenheit befragen, andernfalls werde er die Anwälte des Kinley offiziell mit einer Beschwerde beauftragen, gab Maugham nach. Er rief im Penthouse an Chelsea Square an. Dort erreichte er nur Rob Jones. Der Lord war nicht zu sprechen. »Heißt das, er ist nicht da, Rob?« »Das heißt, er ist nicht zu sprechen, Walter«, wiederholte Jones geduldig. »Was haben Sie denn?« »Also doch«, murmelte Maugham. »Er braucht Ruhe, was? Er muß sich erholen - nach seinem Ausflug und dem raschen Abgang.« »Ich verstehe kein Wort«, behauptete Jones. »Hören Sie, Rob, wir brauchen uns doch nichts vorzumachen. Mr. Ratherbone vom Kinley Hospital hat angerufen…« Er berichtete alles, was er wußte und kombinierte und erwähnte schließlich die Zusage, die er dem Chefarzt gegeben hatte. »Verstehen Sie, in welcher Situation ich bin, Rob?« »In keiner beneidenswerten«, gab Jones zu. Er hatte bis jetzt auch nicht alles gewußt, denn der Lord war nach seiner Rückkehr viel zu erschöpft gewesen, um sich mit ihm zu unterhalten. Aus den Umständen seiner Rückkehr hatte Jones allerdings Schlüsse gezogen, die der Wahrheit sehr nahekamen, wie er jetzt feststellte. »Wann kann ich den Lord sprechen, Rob?« »Das wird er Ihnen sagen, sobald er ausgeschlafen hat, Walter.« Der Lord zog es vor, selbst nach Victoria Street zu fahren und Walter Maugham einen Besuch abzustatten. Mittlerweile hatte
auch Superintendant Russell von Mr. Ratherbones Anruf erfahren. Russell schäumte - solange der Lord nicht da war. Er schwor Stein und Bein, so etwas werde auch Sir Edward nicht durchgehen! »Und wenn ich den Minister persönlich… Na ja, wir werden sehen. Jedenfalls wünschte ich, daß Sie mich auf dem laufenden halten, Maugham.« »Ja, Sir«, sagte der Chefinspektor ergeben. Als der Lord im Hauptquartier des Yard erschien, brauchte Maugham seinen Vorgesetzten gar nicht benachrichtigen zu lassen. Russells persönlicher Nachrichtendienst hatte funktioniert. Der Lord war kaum durch eine Tür eingetreten, kam Russell durch die andere herein. »Was für ein Zufall, Mr. Russell«, sagte der Lord. »Wir haben uns lange nicht gesehen. Ich hoffe, es geht Ihnen gut.« Superintendent Russell zeigte sich der herzlichen Begrüßung nicht gewachsen. Viel fehlte nicht, und er hätte die Haltung verloren und mit rotem Kopf und vorquellenden Augen sinnloses Zeug gestottert. Natürlich hatte der Lord ihn durchschaut und wußte, daß sein Erscheinen kein Zufall war. Russell suchte schon nach einer Ausrede, um sich rasch wieder zurückzuziehen, aber dann siegte sein Trotz. Irgendwann würde er's dem Lord schon zeigen! - Warum den Versuch nicht jetzt machen? »Sie wollten mich sprechen, lieber Maugham. Da bin ich. Was kann ich für Sie tun?« Unbewegten Gesichts trug der Chefinspektor Mr. Ratherbones Beschwerde vor. »Und er nimmt an, ich sei das gewesen, der da in seinem Hospital… Und seine Leute haben tatsächlich einen Mann verschwinden sehen, auf offener Bühne sozusagen?« Der Lord zeigte sich amüsiert. In einem unbeobachteten Moment blinzelte er Maugham zu. Der schwitzte. Aber irgendwie fühlte er sich auch erleichtert, daß der Lord nichts zugab. Eigentlich hatte er das nicht erwartet. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, mußte er eingestehen, daß er überhaupt nicht wußte, was er erwartet hatte. »Sie waren also nicht im Kinley Hospital, Sir Edward?« fragte Rüssel. »Sie behaupten, daß Sie sich heute nicht dort aufgehalten und unter anderem das Zimmer des Chefarztes, Mr Ratherbone,
durchsucht haben?« »Das Zimmer eines mir völlig Fremden durchsucht! Ich muß schon sagen, Mr. Russell, daß Sie mir so etwas zutrauen, hätte ich nicht erwartet.« Unter dem Blick des Lords senkte der Superintendent die Augen. Er hüstelte und murmelte: »Nun, wenn Sie es sagen, Sir Edward, selbstverständlich…« »Noch weitere Fragen, Mr. Maugham?« »Nein, Sir Edward.« »Dann darf ich mich verabschieden.« Er war schon aufgestanden, als den Superintendenten die kalte Wut packte. Er wußte nicht, wie es Sir Edward gelungen war, spurlos aus dem Kinley Hospital zu verschwinden und nicht weniger als vier Männer zu täuschen. Er wußte hingegen, daß er im Augenblick machtlos war. Er konnte nichts beweisen. Und so, wie Maugham mit sich umspringen ließ, würde sich daran auch nichts ändern. Aber Russell hatte das Bedürfnis, irgend etwas zu tun! »Sir Edward!« »Mr Russell?« fragte der Lord liebenswürdig. »Sie haben also keine Zimmer im Kinley Hospital durchsucht, Sir?« »Ich habe alle Fragen beantwortet und nicht vor, mich zu wiederholen.« »Und Sie versprechen, auch künftig.« »Ich verspreche gar nichts, Superintendent«, sagte der Lord. Die Verbindlichkeit war wie weggeblasen. »Würden Sie keinen Unschuldigen einsperren, könnten Sie sich eine Menge Ärger ersparen. Guten Tag.« »Was meinte er damit, Maugham?« fragte Russell konsterniert. Aber da war der Lord schon draußen. Jake Pullman fuhr von seiner Pritsche hoch, als er die Vibration spürte. Das Summen war in der Tat so leise, daß er es nicht wahrgenommen hätte, aber die Vibration spürte er dafür um so deutlicher. Nur gut, dachte er, daß ich allein bin. Sonst hätte ich mich jetzt verraten. Und den Lord womöglich obendrein. Er rief sich Sir Edwards Anweisungen ins Gedächtnis. Hoffentlich machte er nichts falsch. Bevor er sich hinlegte, ging er in die Ecke mit dem Waschbecken und trank ein Glas Wasser. Als er auf der Pritsche lag, atmete er tief durch und versuchte, sich zu entspannen.
Es geht nicht, dachte er nach zwei oder drei Minuten verzweifelt. Ich schaffe es nicht. Aber er setzte den Versuch fort. Dann begann er zu zählen, wie der Lord es ihm aufgetragen hatte. Er bezweifelte jedoch, daß es etwas nutzte, wenn er sich vorher nicht zu entspannen vermocht hatte. Er zählte und zählte und zählte. Wie weit er kam, wie lange es dauerte, wußte er später nicht zu sagen. Irgendwann jedenfalls war er in Trance gefallen, ganz so, wie der Lord es ihm prophezeit hatte. Die Uhr im Flur des Zellentrakts im Hauptquartier von Scotland Yard zeigte zwanzig Minuten vor elf. Zwanzig Minuten vor elf zeigte auch die Uhr im Kinley Hospital, auf die der Pförtner eben geschaut hatte. Dann fiel sein Blick auf den Mann, der hereinkam, und er bekam vor Staunen den Mund nicht zu. Auch den Gruß des Ankömmlings erwiderte er erst, als der schon vorbei war und die Treppe erreicht hatte. »Tatsächlich, er ist frei!« sagte der Pförtner zu sich selbst. Er hatte schon nach dem Telefon gegriffen, um Mr. Ratherbone zu informieren, doch dann ließ er das bleiben. Der Chefarzt der Chirurgischen Abteilung wußte sicher längst Bescheid, und er hätte sich nur lächerlich gemacht und Mr. Ratherbone durch die überflüssige Störung verärgert. Die Flure, durch die der Mann ging, der den Pförtner so in Erstaunen versetzt hatte, waren allesamt leer. Ein Zufall? Als es an seine Tür klopfte, war Dr. Tender im Begriff gewesen, die Beine hochzulegen und die Augen für ein paar Minuten zu schließen. Seit Pullman nicht mehr da war, mußte er sehr hart arbeiten. Das spürte er. Sogar die Lust an den sogenannten Kaffeepausen bei den Schwestern war ihm vergangen. Mißmutig setzte er sich hinter dem Schreibtisch zurecht. »Herein!« Dann weiteten sich seine Augen, und er fragte fassungslos: »Jake, du?« »Tag, William«, sagte Jake Pullman und lächelte schüchtern durch die starken Gläser seiner Brille. »Wie geht es dir?« »Mann, ich bin erschossen. Soviel Arbeit… Aber wie geht es dir? Seit wann bist du… Ich meine: Wann hat man eingesehen, daß du unschuldig bist?«
Dr. Pullman nahm umständlich Platz. Er hatte die Frage noch nicht beantwortet. Mit der für ihn typischen Bewegung nahm er die Brille ab und putzte sie. »Jedenfalls bin ich mächtig froh, dich zu sehen, alter Junge. Blaß bist du, aber sonst scheint dir nichts zu fehlen.« »Ach, ich kann nicht sagen, daß es mir schlecht ergangen wäre… Obwohl: Zwischen dem Betrieb hier im Kinley und in den Zellen von Scotland Yard besteht doch ein gewisser Unterschied. Weißt du noch, wie oft du das Kinley ein verfluchtes Gefängnis genannt hast?« Er lachte herzlich. Dr. Tender stimmte nach drei Takten in das Lachen ein. Er konnte nicht umhin, Jake Pullman zu bewundern. In seiner Vorstellung war Pullman längst ein gebrochener Mann gewesen. »Jetzt bist du wieder frei«, sagte er. »Das und nichts sonst zählt. Ich freue mich für dich, Jake.« »Danke, William.« »Warst du schon beim Alten?« »Noch nicht. Ich dachte, ich schaue erst einmal zu dir herein.« »Nett von dir. - Weißt du, der Alte ist verdammt sauer auf dich. Hier wagt kein Mensch mehr deinen Namen zu nennen. Ich auch nicht, um bei der Wahrheit zu bleiben.« Jake Pullman zuckte die Schultern. Er hatte die Brille wieder aufgesetzt und lächelte bescheiden. »Denkst du, Ratherbone läßt dich wieder im Kinley arbeiten?« »Warum nicht?« »Na ja… Schließlich hat's hier allerhand Unruhe gegeben, und er sieht in dir den Schuldigen.« Er wehrte ab, als Dr. Pullman etwas sagen wollte: »Du magst ja völlig im Recht sein, und wahrscheinlich setzt du's auch durch, deine Stellung zu behalten, wenn du entschieden genug vorgehst…« »Du meinst, ich soll's nicht versuchen, William?« »Wenn du meinen ehrlichen Rat willst, Jake: An deiner Stelle würde ich mir 'nen anderen Job suchen. Schau mal, du bist ein empfindsamer Mensch. Du würdest hier keine glückliche Stunde mehr haben. Wir wissen doch beide, wie der Alte sein kann. Der macht einen fertig, wenn er nicht mag. Ich brauche dir die Beispiele nicht aufzuzählen, du hast sie selbst erlebt.« Pullman nickte betrübt. Unvermittelt fragte er: »Und du, William? Was hast du gegen mich?«
»Bist du verrückt, Jake?« Dr. Tender stand auf und kam um den Schreibtisch herum. Er zeigte Verblüffung. »Was ich gegen dich habe? Ich?« »Warum willst du, daß ich von hier verschwinde?« »Du mußt verrückt sein!« sagte Tender. »Was bildest du dir da ein? Ich hab' nur versucht, dich vor dem Alten zu warnen.« Er war eingeschnappt: »Aber bitte, wenn du mir etwas anderes unterstellst…« »Ich denke, ich gehe jetzt«, sagte Dr. Pullman und stand auf. Dr. Tender kehrte hinter seinen Schreibtisch zurück. Er nickte nur. Jake Pullmans Angriff hatte ihn getroffen. Er stützte das Kinn auf beide Fäuste und starrte ins Leere. Erst jetzt, da der andere sein Zimmer verlassen hatte, fielen ihm reihenweise Fragen ein, die er Jake noch hatte stellen wollen. Ob er ihm nachging? - Aber Pullman war jetzt vermutlich bei Mr. Ratherbone. Er würde später versuchen, ihn noch mal allein zu sprechen. Dann mußte es ihm auch gelingen, das dumme Mißverständnis aus der Welt zu schaffen. Als Dr. Tender sein Zimmer später verließ, lief er Inspektor Bond in die Arme. »Sie?« fragte er. »Ich dachte, Sie hätten die Arbeit in unserem Schlachthaus beendet, Inspektor.« »Es gibt noch eine Menge zu tun«, sagte Bond. Er mochte Tender nicht. Irgendwie hatte er das Gefühl, von dem Chirurgen mit Herablassung behandelt zu werden. »Eine neue Spur, Inspektor? Ich dachte, alles hätte sich als Irrtum herausgestellt.« »Wovon sprechen Sie, Sir? Ich fürchte, ich kann nicht ganz folgen.« »Na ja, wenn Jake Pullman doch unschuldig ist…« »Unschuldig?« Die beiden Männer starrten sich an. Keiner wußte, was er vom Geisteszustand des anderen halten sollte. »Das hätten Sie gern, Sir, nehme ich an. Keine angenehme Vorstellung, mit einem Mann Seite an Seite gearbeitet zu haben, der… Nun, ich will dem Spruch des Leichenbeschauers nicht vorgreifen. Die Verhandlung wird ja bald stattfinden.« »Inspektor, wie - wie geht es Jake Pullman?« fragte Dr Tender und erkannte seine eigene Stimme kaum.
»Er wird gut behandelt«, sagte Bond. »Wird er, tatsächlich?« Tender drehte sich plötzlich um und ging in sein Zimmer zurück. Inspektor Bond sah ihm kopfschüttelnd nach. Tender setzte sich hinter seinen Schreibtisch und legte den Kopf auf die kühle Platte. Ich muß verrückt sein, dachte er. Ich habe Halluzinationen. Jake Pullman sitzt in seiner Zelle im Yard, und ich unterhalte mich hier mit ihm, als wäre er leibhaftig anwesend. Er hob den Kopf und starrte den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs an, auf dem er Jake Pullman zu sehen geglaubt hatte. Er fühlte sich miserabel und war froh, als seine Dienstzeit um war. Noch vor Ratherbone verließ er die Abteilung, was er sonst nie tat. Drunten in der Halle beugte der Pförtner sich aus seinem gläsernen Verschlag und rief hinter ihm her. »Schön, daß er wieder da ist, Sir, nicht wahr?« Dr Tender hielt mitten im Schritt ein und drehte sich langsam um. Ein Fieberschauer schüttelte ihn. Er fragte mühsam. »Wer ist wieder da? Von wem reden Sie?« »Na von Dr Pullman, Sir!« »Dr Pullman sitzt in Untersuchungshaft. - Sind Sie betrunken?« Der Pförtner sagte gar nichts mehr. Er starrte offenen Mundes hinter Dr Tender her. Dann nahm er die Flasche aus dem Versteck und kontrollierte, wieviel er an diesem Tag genippt hatte. Unschlüssig kratzte er sich am Hinterkopf. * Dr Pullman tauchte nicht mehr im Kinley Hospital auf. Aber das kleine Kästchen meldete sich noch öfter in der Tasche des Untersuchungshäftlings. Er hatte sich mittlerweile besser in der Gewalt. Obwohl er nicht wußte, was geschehen war, während er in Trance auf der Pritsche gelegen hatte, fühlte er sich seither ruhiger und fast zufrieden. Wenn das Vibrieren begann, fuhr er nicht mehr in die Höhe, sondern traf in Ruhe seine Vorbereitungen, und wenn er auch immer wieder Befürchtungen hegte, sich nicht genügend entspannen zu können, hatte das Zählen doch jedesmal den von Sir Edward vorausgesagten Erfolg. Die nächste Begegnung, die einer der Kollegen aus dem Kinley
mit Pullman hatte, fand im Regent's Park statt. Dr Winkle hatte ein Mädchen aus bester Familie kennengelernt. Ein sehr junges Mädchen mit überaus romantischen Vorstellungen. Winkle wäre es lieber gewesen, sie hätten eine der durchaus herbeizuführenden Möglichkeiten genutzt, daß er ihren Eltern offiziell vorgestellt wurde. Aber sie bestand darauf, vorläufig noch alles geheimzuhalten, und so ging er mittags regelmäßig fort, seine Freundin zu treffen. Bei schlechtem Wetter in irgendeiner kleinen Teestube, bei trockenem Wetter im Regent's Park. Es kam vor, daß sie sich verspätete. Dr Winkle regte das nicht weiter auf. Er hatte für diese Gelegenheiten immer die Times oder anderen Lesestoff in der Tasche. Als er merkte, daß sich jemand anschickte, neben ihm auf der Bank Platz zu nehmen, sah er unwillig auf, denn seine Freundin konnte es nicht sein, die hätte er am Schritt erkannt. »Pullman!« sagte er atemlos und ungläubig. »Bist du's wirklich? Das gibt's doch nicht!« Pullman nahm schweigend und mit seinem schüchternsten Lächeln neben dem Kollegen aus dem Kinley Platz. Dann erst fragte er bescheiden: »Wie geht es dir, Winkle?« »Mir geht's prächtig! - Aber seit wann bist du aus dem Loch, Alter? Wann hat man dich laufen lassen? Ich bin wirklich ganz perplex. Dieser Tage erzählte der Inspektor noch, sie würden dir jetzt bald den Prozeß machen - oder ging's um die Voruntersuchung durch den Leichenbeschauer? Ja, jetzt erinnere ich mich genau: Er sprach vom Coroner, vor den sie sich in den nächsten Tagen bringen wollten!« »Wie sieht's aus im Kinley?« fragte Dr Pullman, ohne darauf einzugehen. »Habt ihr viel zu tun?« »Mächtig viel, alter Junge! Du fehlst an allen Ecken und Enden. Ratherbone verspricht zwar tagtäglich einen neuen Mann, aber.« Er brach ab und biß sich auf die Unterlippe. »Verzeihung«, murmelte er dann. »Das hätte ich wohl nicht sagen sollen.« »Ihr rechnet also nicht mehr mit mir? Glaubt nicht, daß ich zurückkomme?« »Um die Wahrheit zu sagen Nein, Alter. Wir dachten wirklich hm -, du hättest irgendwie die Nerven verloren und eine Dummheit gemacht. Aber wenn Sie dich rausgelassen haben, kann's ja nicht so schlimm sein.«
»Es ist schlimm«, widersprach Jake Pullman mit gerunzelter Stirn. »Sehr schlimm, Winkle. Und es kommt bestimmt noch viel schlimmer.« Er stand auf und schickte sich an, davonzugehen. Winkle wollte ihn zurückhalten. Im gleichen Augenblick hörte er jedoch seine hübsche, romantische kleine Freundin, und so machte er nur eine resignierende Geste hinter Jake Pullman her. Später erzählte er Tender von seiner Begegnung. »Fühlst du dich ganz wohl?« fragte William Tender. »Prächtig!« sagte Winkle und grinste in der Erinnerung an das, was die Süße ihm versprochen hatte. »Du kannst Jake Pullman gar nicht getroffen haben«, sagte Tender betont langsam und fixierte sein Gegenüber »Pullman sitzt. Und wenn du das nicht glaubst, geh' hin und frag' den Inspektor. Der treibt sich nämlich wieder mal im Haus rum.« Dr Winkle sah ihm kopfschüttelnd nach. Hatte Tender eine Macke? Crawford und Ponsonby sagten später, sie hätten sofort ,so ein komisches Gefühl' gehabt, als Dr Jake Pullman ihnen begegnete, dem einen in einem Restaurant in Soho, dem anderen auf dem Heimweg von Kinley. Erst als Mr Ratherbone eine Begegnung mit dem unter Mordverdacht in Untersuchungshaft sitzenden Arzt hatte, wurde im Hospital darüber und über die anderen Begegnungen gesprochen. Mr Ratherbone kam wutentbrannt ins Kinley, er stampfte wie ein Elefant durch die Gänge und schrie, seine Ärzte zusammen. Wie sich herausstellte, hatte er bereits mit Inspektor Bond telefoniert. Bond hatte ihm bestätigt, daß Jake Pullman in seiner Zelle in der Zentrale sei. »Deshalb ist mir völlig klar: Da steckt der verfl… da steckt dieser Lord dahinter!« sagte Ratherbone und sah sich im Kreis seiner Mitarbeiter um. »Als er hier herumschnüffelte, haben wir Scotland Yard vergebens aufgefordert, einzuschreiten. Diesmal lasse ich nicht locker, meine Herren, und ich bin überzeugt, Sie alle werden mich unterstützen. Oder irre ich mich, und Sie haben keine derartigen Begegnungen gehabt?« Schweigen in der Runde. Dr. Tender war schließlich der erste, der von seinem Erlebnis erzählte. Die anderen folgten, einer nach dem anderen. »Würden Sie uns sagen, wo er Ihnen begegnet ist, Sir?« fragte Dr Tender. »Und was er von Ihnen wollte?«
»Der Bursche besaß die Unverschämtheit, mir aufzulauern, als ich mein Haus verließ. Plötzlich stand er vor mir, wie aus dem Boden gewachsen.« »Wer denn eigentlich?« fragte Dr Winkle, der seine eigenen Gedanken spazierengeführt hatte. »Jake Pullman - oder der Lord?« Obwohl das gar keine dumme Frage war, fauchte Mr. Ratherbone ihn an und empfahl ihm, weiterzuschlafen. »Er stand also vor mir - und fragte mit seinem dummdreisten Grinsen, wie ich darüber dachte, wenn er ins Kinley zurückkehrte. Ich habe ihn gefragt, ob er bei Sinnen sei.« »Und er - hat seine Unschuld beteuert?« fragte Crawford. »So ist es. Er erzählte mir ein Märchen: Daß man ihn entlassen hätte, daß ihm Unrecht geschehen sei - und so weiter, und so weiter.« »Als ich ihn traf, wirkte er sehr überzeugend«, meldete sich Dr Winkle wieder zu Wort, der sich nie sehr lange über Mr. Ratherbones Anraunzer aufregte. »Nur zum Schluß war er irgendwie komisch. Als er behauptete, es sei schlimm, aber alles werde noch viel schlimmer…« Ratherbone warf ihm nur einen vernichtenden Blick zu. Dann berichtete er weiter von seiner Begegnung mit dem angeblichen Pullman. Als er geendet hatte, fragte Tender mit gerunzelter Stirn: »Ich möchte wissen, was das soll. Ich möchte es wirklich verdammt gern wissen.« Im Penthouse an Chelsea Square fragte Rob Jones den Lord: »Ich möchte wissen, Sir, was Sie sich davon versprechen. Ich weiß, wie anstrengend es für Sie ist, diese Begegnung zwischen Jake Pullman und seinen Kollegen vom Kinley Hospital zu arrangieren, während sein - hm - Körper in der Zelle auf der Pritsche liegt.« »Aber das ist doch sehr einfach, Rob«, gab der Lord zurück. Tatsächlich war er noch erschöpft vom letzten Versuch. »Ich hoffe, daß sich jemand verrät.« »Jemand, Sir?« »Der Mörder. Der Mann, der versucht, Jake Pullman zu vernichten.« Am nächsten Tag beschwerte Mr Ratherbone sich bei Scotland Yard über das, was er 'unverantwortliche Einmischung eines Außenstehenden in ein schwebendes Verfahren und in das Leben
unbescholtener, angesehener Bürger' nannte. Er war bis zu Superintendent Russell vorgedrungen, und der hatte Chefinspektor Maugham dazugebeten. Während der Superintendent ins Rudern geriet und nicht wußte, wie er sich zu Mr Ratherbones Vorwürfen und seinen Forderungen verhalten sollte, blieb Walter Maugham äußerlich ungerührt. Er sagte: »Selbstverständlich werden wir eingreifen, Sir. Sobald Sie uns beweisen, daß Lord Mullion Sie oder einen Ihrer Mitarbeiter belästigt. Ich nehme an, Ihnen sind die Folgen klar, für den Fall…« »Folgen?« brauste Mr Ratherbone auf. »...für den Fall, daß Ihre Anschuldigungen sich als unzutreffend herausstellen, Sir«, fuhr Maugham ungerührt fort. »Hier in den Mauern von Scotland Yard können Sie sich unbesorgt aussprechen. Nichts von dem, was Sie uns erzählen, wird an die Öffentlichkeit dringen. Sollte es jedoch anderswo eine lecke Stelle geben, dann darf ich Sie vorsorglich an die Gesetze unseres Landes erinnern. Was Verleumdungen betrifft, sind sie geradezu drakonisch. Ich sage das nur zu Ihrem Schutz, Sir. Ich habe Fälle erlebt, in denen die unbedachte Nennung eines Namens Existenzen ruiniert hat.« Als Mr. Ratherbone Scotland Yard verließ, war er weiß vor ohnmächtiger Wut. Droben in seinem Zimmer sagte ein ziemlich erledigter Superintendent zu Chefinspektor Maugham: »Eines Tages werden Sie Ihre Existenz ruinieren. Ich bin gespannt, wie Sie dann von Sir Edward reden werden.« * Inspektor Bonds Voraussage, die Verhandlung vor dem Coroner werde in allernächster Zeit stattfinden, ging nicht in Erfüllung. Stattdessen verbuchte Jake Pullmans Anwalt einen unerwarteten Erfolg: Seiner Haftbeschwerde wurde stattgegeben. Der zuständige Richter war der Ansicht, Scotland Yard sei es trotz ausreichender Zeit nicht gelungen, die Verdachtsmomente gegen Dr. Jake Pullman hinreichend zu untermauern. Der Beschuldigte sei deshalb vorläufig von der Haft zu verschonen und unter bestimmten Auflagen unverzüglich zu entlassen. Das kam für Jake Pullman so überraschend, daß er vorüberge-
hend nicht geradeaus denken konnte. »Mann, Sie haben Glück, Doktor«, sagte der Aufseher, der ihn aus seiner Zelle holte und ihn zu dem Schalter führte, an dem er seine persönlichen Gegenstände in Empfang nahm, soweit man sie ihm bei der Einlieferung abgenommen hatte. »Sie haben gleich doppeltes Glück.« Jake Pullman sah ihn durch die dicken Brillengläser verständnislos an. »Sie wartet drunten im Hof. Todschick und so eine Figur!« Er beschrieb die Figur mit den Händen. Dann meinte er: »Aber was erzähl' ich Ihnen! Das werden Sie ja besser wissen.« »Von wem sprechen Sie?« fragte Pullman endlich. »Von der Dame, die Sie abholt, Sir.« »Eine Dame? Sind Sie sicher?« »Ich werd' sie doch erkennen, wenn ich eine seh'!« griente der Aufseher. Er blickte dem Entlassenen nach, der den Zellentrakt mit unsicheren Schritten verließ; er hatte ihm den Weg zum Hof noch beschrieben. Pullman fuhr mit dem Aufzug ganz hinunter und folgte den Schildern, die zum Hof wiesen. Eine wohlproportionierte junge Dame trat auf ihn zu und fragte: »Dr. Pullman? - Sie wissen, wer mich schickt. Bitte, steigen Sie ein.« Sie lachte und wurde dadurch noch bezaubernder (und für Dr. Pullman verwirrender): »Wir wollen uns beeilen, ehe die da drin sich's anders überlegen.« Jake Pullman, unfähig, etwas zu sagen, nickte und lächelte und hätte nicht einmal sagen können, in welche Art von Wagen er einstieg. Er hätte die junge Dame gern von der Seite angesehen, aber er starrte geradeaus. Sie fuhr um das Hauptquartier von Scotland Yard herum und reihte sich in den Verkehr auf Victoria Street ein. »Ich nehme an, wir fahren direkt zu Sir Edward?« Jake Pullman hatte lange gebraucht, um die simple Frage zu formulieren. Er war froh, daß er sie so glatt über die Lippen brachte. »Nicht direkt«, sagte seine Fahrerin und lächelte. Aber sie sah ihn dabei nicht an. Sie mußte sich ja auch auf den Straßenverkehr konzentrieren. Der Lord war an diesem Tag mit einigen kleinen Problemen beschäftigt. Grimsby half ihm, ein paar Erkundigungen einzuziehen, die das Bild vervollständigen sollten, das er sich von verschiede-
nen Mitgliedern des Ärztestabs im Kinley Hospital gemacht hatte. Er kehrte erst spät am Abend nach Chelsea Square zurück. Am nächsten Morgen saß er noch bei einem reichhaltigen Frühstück (für das Rob Jones verantwortlich war, der es mit erkennbar größerem Vergnügen genoß als der Lord, dem ziemlich egal zu sein schien, was er aß), als das Telefon klingelte. Chefinspektor Maugham war am Apparat. Seine Stimme verriet Besorgnis, und sofort nach der Begrüßung sagte er zu seinem Freund Rob Jones: »Das fängt nicht gut an. Er wußte, daß er sich gestern abend melden mußte. Er ist ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht worden: Jeden Tag, auch an dem der Entlassung.« »Verraten Sie mir, wovon Sie sprechen, Walter.« »Von Jake Pullman, zum Teu… Entschuldigen Sie, Rob. Mir ist nicht nach Versteckspiel zumute.« Jones sah sich nach dem Lord um, schickte einen fragenden Blick über den Frühstückstisch. Der Lord streckte den Arm nach dem Hörer aus. »Was ist mit Jake Pullman, Mr Maugham?« Der Chefinspektor berichtete über die Entlassung, die Auflagen und daß Dr. Pullman sich nicht gemeldet hätte. »Wer hat ihn abgeholt?« »Sie wissen es nicht, Sir Edward? Heißt das, Sie haben die junge Dame nicht geschickt?« »Nein, Mr. Maugham. Ich bin in zehn Minuten drüben bei Ihnen.« Unterwegs, als sie sich durch den wie immer zähen Londoner Verkehr quälten, suchte Rob Jones nach einer Erklärung: »Jemand muß verfluchte Angst haben, daß die Wahrheit ans Tageslicht kommt. Dieser Jemand ist erstaunlich gut informiert. Und er hat eine Helferin, auf die er sich verlassen kann. Wenn wir nicht herausfinden, wer für Jake Pullmans Entführung verantwortlich ist, wird es so aussehen, als hätte der Doktor sich aus dem Staub gemacht. Das ist ja wohl der Zweck der Übung. Die Flucht wäre ein Eingeständnis seiner Schuld.« Der Lord sagte gar nichts. Er war tief in Gedanken versunken. Als sie Scotland Yard endlich erreichten, trafen sie auf einen mißmutigen Maugham, der sich Vorwürfe machte, weil er die junge Dame nicht genauer unter die Lupe genommen hatte. »Sie sah so unverdächtig aus, Sir Edward.« Es klang nicht wie
eine Entschuldigung. Er fügte wütend hinzu: »Superintendent Russell sitzt drüben in seinem Zimmer und bastelt an hirnrissigen Theorien. Er nimmt tatsächlich an, Sie stecken hinter Pullmans Verschwinden. Ich hab's aufgegeben, ihm Vernunft zu predigen.« »Was ist mit Pullman geschehen?« fragte der Lord und sah Rob Jones und Walter Maugham abwechselnd an. »Lebt er noch?« »Sie glauben doch nicht…« Der Chefinspektor verstummte. Dann nahm er sich zusammen und sagte: »Sir Edward, wenn Sie einen konkreten Verdacht haben, dann teilen Sie ihn mir bitte mit. Vielleicht können wir noch etwas retten, wenn wir rasch und gründlich zuschlagen. Notfalls überziehe ich meine Befugnisse und informiere Russell erst, wenn alles vorbei ist.« Der Lord schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, auf diese Weise ist Jake Pullman nicht zu helfen«, sagte er leise. »Aber Sie haben einen Verdacht!? - Einer von Pullmans Kollegen, Sir Edward?« »Einer von Pullmans Kollegen«, sagte der Lord. Maugham wurde nicht schlau daraus. War das nun eine Feststellung oder nur eine Wiederholung seiner Frage gewesen? * Als Jake Pullman zu sich kam, wußte er nicht, wo er sich befand. Er konnte nichts sehen, weil es dunkel war. Er konnte sich nicht rühren, weil er auf einer Art Stuhl saß und man ihn festgebunden hatte. Seine Hände und Füße waren abgestorben. In seinem Schädel spurte er ein Hämmern, das ihn wünschen ließ, in die Bewußtlosigkeit zurückzusinken. Als ihm das nicht gelang, begann er, sich Gedanken über das zu machen, was vorher gewesen war. Die Entlassung aus der Untersuchungshaft fiel ihm ein. Er hatte seine persönlichen Sachen an sich genommen. Er war der Anweisung des Aufsehers gefolgt und mit dem Lift bis ganz hinunter gefahren und zum Hof der Yard-Zentrale gegangen. Dort hatte die fremde junge Frau gestanden und ihn aufgefordert, in den Wagen zu steigen. Er hatte ganz fest angenommen, daß sie im Auftrag des Lords gekommen war. Er hatte keinerlei Argwohn gespürt.
Jake Pullman merkte, daß ihm Tränen über die unrasierten Wangen liefen. Bei dieser Gelegenheit stellte er auch fest, daß seine Brille fort war. Aber was für eine Rolle spielte das jetzt! Die tränen - sie bedeuteten Erschöpfung, Wut, Hilflosigkeit. Auch Aufgabe? Nein, keinerlei Argwohn, dachte Jake Pullman. Nicht einmal, als sie mich aus dem Zentrum hinausfuhr und keine andere Erklärung gab, als daß das Treffen an einem unverdächtigen Ort stattfinden werde. Ich Idiot! Welchen Grund hätte der Lord haben können, mich nicht in seiner Wohnung oder irgendwo sonst mitten in London zu empfangen? Er war nicht ganz sicher, aber er glaubte sich doch zu erinnern, daß sie ziemlich weit nach Osten gefahren waren. Und dort, bei einem dieser neuartigen Einkaufszentren, hatte die junge Frau ein Drive-In angesteuert. Er erinnerte sich noch genau seiner Frage: »Wird Sir Edward hierherkommen?« Die Vorstellung hatte ihn einigermaßen erstaunt, aber er hatte immer noch keinen Verdacht geschöpft, als seine Begleiterin nur genickt und gleichmütig gefragt hatte: »Tee oder Kaffee?« »Danke, gar nichts.« »Irgendwas müssen Sie nehmen, Dr. Pullman«, hatte sie gesagt, mit der gleichen, leicht gelangweilten Stimme. »Dann einen Tee, bitte.« Er wußte jetzt, wie es passiert sein mußte. Das Tablett war auf ihrer Seite in den Wagen gereicht worden. Sie hatte es sekundenlang mit ihrem Oberkörper verdeckt, während sie zahlte. Dabei mußte sie etwas in seinen Tee getan haben. Ein Mittel, das ohne Geschmack war und rasch wirkte. An den ersten Schluck Tee erinnerte er sich noch deutlich. Das Zeug war nicht sehr heiß gewesen und außerdem aus Beuteltee bereitet. Komisch, daß er sich jetzt noch an solch läppische Details erinnerte und an sonst nichts. Oder doch nicht komisch: An was sollte er sich denn noch erinnern, wenn er fast augenblicklich bewußtlos geworden war? Jedenfalls war der Lord nicht zu dem Drive-In gekommen. Er wußte auch nicht, wie und wann er selbst den Platz verlassen hatte. Er hatte nicht die mindeste Ahnung über die Richtung, in der man ihn von dort weggebracht hatte. Als ob mir das helfen könnte! dachte er.
Tränen liefen immer noch über seine Wangen. Er biß die Zähne zusammen und schalt sich einen Schwächling. Versuchte, sich zusammenzunehmen, spannte seine Muskeln. Vergeblich. Die Fesseln saßen fest und waren stark. Der Stuhl, auf dem er saß, schien aus schweren Brettern grob zusammengenagelt und war offenbar irgendwie am Boden oder an der Wand befestigt. Jedenfalls vermochte Pullman ihn nicht zu bewegen. Das Dunkel wich nicht. War draußen Tag oder Nacht? Wann kam jemand, sich um ihn zu kümmern? Vielleicht überhaupt nicht? - Vielleicht sollte er hier sterben. Sonderbarerweise regte die Vorstellung Jake Pullman im Moment nicht auf. Später quälte es ihn, daß er überhaupt kein Zeitgefühl hatte und keine Möglichkeit, die verrinnende Zeit zu kontrollieren. Waren nun Stunden vergangen oder nur Minuten, seit er das Bewußtsein wiedererlangt hatte? Die Zunge klebte ihm am Gaumen, er hatte auch Hunger. Gleichzeitig bezweifelte er jedoch, daß er Nahrung bei sich behalten würde, wenn er jetzt zu essen bekäme. Aber der Durst wurde peinigend. Er konnte bald an nichts anderes mehr denken als an große Gläser irgendeines köstlich-kalten Getränks. Plötzlich kam ihm der Gedanke, daß vielleicht jemand ganz in der Nähe war, nebenan, nur durch eine Wand von ihm getrennt. Er machte sich bemerkbar, indem er rief. Aber niemand kam. Auch als er seine Lungen voll Luft pumpte und schrie, so laut er konnte, hatte er keinen Erfolg. Entkräftet und nach der enttäuschten Hoffnung doppelt niedergeschlagen gab er auf. Er war eingeschlafen, und als er hochschreckte, geschah's, weil ein Geräusch in seinen Schlaf gedrungen war, das er zunächst für den Bestandteil eines wirren Traums hielt. Überhaupt fiel es ihm schwer, Traum und Wirklichkeit auseinanderzuhalten. Als er zu sich kam, spürte er sekundenlang so etwas wie Erleichterung, in der Annahme, der Alptraum sei beendet. Die Fesseln an Händen und Füßen belehrten ihn eines schlechteren. Aber das Geräusch wiederholte sich. Mehr: Es war eine ganze Skala von Geräusche, die er wahrnahm. Diesmal stimmte es: Nebenan war jemand. Er hörte das Rücken von Stühlen und das Klirren von Geschirr. Ob er rufen sollte? Oder besser noch wartete? Hinter seinem Rücken wurde eine Tür geöffnet. Trübes Licht fiel
herein. Er erkannte Bruchsteine und rohe Holzbalken. Der Fußboden war mit Unrat bedeckt. Unwillkürlich schluchzte Jake Pullman laut auf. Das Licht wurde schwächer, die Tür zum Nebenraum mußte bis auf einen Spalt geschlossen sein. Wenn Pullman sich nicht täuschte, brannte nebenan eine Lampe. Vermutlich war es Nacht. Er hörte jemanden hinter seinem Stuhl stehen, er hörte ihn atmen und wartete darauf, daß der andere ihn ansprach. Doch das geschah nicht. Als er versuchte, den Kopf zu wenden, erhielt er einen derben Schlag ins Gesicht. Er begriff und starrte geradeaus in die fast wieder komplette Dunkelheit. »Warum bin ich hier?« fragte er und wußte, daß er keine Antwort bekommen würde. Er versuchte es gleich noch einmal: »Sagen Sie doch, weshalb man mich hergebracht hat! Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?« Es war so still nach Pullmans Fragen, daß er fürchtete, wieder allein zu sein, und diese Vorstellung ließ sein Herz fast stillstehen. Aber dann hörte er das Schaben von Metall über Porzellan oder Steingut. Er kannte dieses Geräusch aus Krankenzimmern. Er kannte es so gut, daß er keine Sekunde brauchte, um es zu identifizieren. Ein Löffel berührte sein Kinn. Er öffnete den Mund, und der Löffel glitt hinein. Gierig schlang Pullman den Brei, obwohl er wußte, daß er ihm nicht bekommen würde. Er schlang auch den zweiten, den dritten Löffel. Dann begann er zu würgen und übergab sich. Da die Fesseln ihn daran hinderten, sich vorzubeugen, erbrach er sich über seine Kleidung. Er spürte die Nässe, die durch seine Hose drang und ekelte sich so sehr, daß er erneut zu würgen begann. Jetzt kam nur noch Galle. Er glaubte zu ersticken. Der Mann, den er nicht sehen konnte, war einen Schritt zur Seite getreten, blieb aber hinter dem Stuhl stehen und sagte auch jetzt kein Wort. »Wasser!« keuchte Dr. Pullman, als er wieder Luft bekam. »Wasser!« Er hörte Schritte. Sekundenlang wurde das Licht wieder stärker. Er wollte sich umdrehen, dem Unbekannten nachsehen, schaffte es aber nicht, weil er zu schwach war. Hilf- und kraftlos hing er in seinen Fesseln. Er bekam Wasser, das leicht süßlich schmeckte. Traubenzucker? Zum erstenmal kam Dr. Pullman der Verdacht, der unbekannte
Peiniger, der ihn hier gefangenhielt, könne ein Kollege sein. Ihm fielen die sonderbaren Eindrücke wieder ein, die er jeweils gehabt hatte, wenn er in der Zelle im Yard aus seinen Trancen zu sich gekommen war. Vergeblich hatte er immer wieder versucht, sie zu konkretisieren. Sie blieben vernebelt, ließen sich nicht fassen. Sooft er es versuchte, war das Ergebnis, daß sie noch mehr verschwammen. Die Verbindungstür war geschlossen, er war wieder allein. Aber aus dem Nebenraum hörte er hin und wieder ein Geräusch. Und obwohl er dort hinter der Wand einen Feind wußte, einen Todfeind vermutlich, hatten die Geräusche etwas ungeheuer Tröstliches für Jake Pullman. Sehr viel später, wenn sein Zeitgefühl nicht ganz und gar durcheinandergeraten war, kam der Unbekannte wieder mit dem Teller, und die Prozedur der Fütterung begann erneut. Diesmal war jeweils nur ein kleiner Breiklecks auf dem Löffel. Pullman zerdrückte ihn mit der Zunge am Gaumen und ließ ihn ganz, ganz langsam nach hinten rutschen, schluckte wie in Zeitlupe und spürte, wie das klebrige Zeug seine Speiseröhre hinabwanderte. Zwischen zwei Löffeln lagen längere Pausen. Sein Magen nahm die Nahrung an, revoltierte nicht. »Wasser«, sagte Pullman hinterher wieder. »Bitte, ich habe solchen Durst! Und sprechen Sie mit mir! - Warum sagen Sie kein Wort? Das ist unmenschlich!« Er bekam Wasser, aber keine Antwort. Und dann vernahm er ein Geräusch, dessen Identifizierung ihm ebenfalls leichtfiel. Eine Ampulle wurde aufgesägt. Er würde also eine Injektion bekommen. Wofür? Wogegen? Was beabsichtigte der Unbekannte damit? Bestimmt wollte er ihn nicht töten, denn sonst wäre die ganze Prozedur der Fütterung überflüssig gewesen. Jake Pullman hörte etwas, das wie Zähneklappern klang. Er begriff mit Verzögerung, daß es Zähneklappern war und er der Verursacher des Geräuschs. Er hatte Angst. Der Unsichtbare setzte die Spritze fachmännisch. Er fand die geeignete Vene auf dem Handrücken Pullmans hinter der Stuhllehne sofort. Ein Arzt, dachte Pullman. Ein Kollege. Jetzt hatte er keinen Zweifel mehr.
* »Eine Zeitlang war ich sehr unsicher«, sagte der Lord zu Rob Jones. »Ich hielt es für wahrscheinlicher, daß man ihn umgebracht hat. Aber jetzt glaube ich, daß er noch lebt.« »Sie wissen es nicht, Sir.« »Nein, ich weiß es nicht. Ich könnte es nicht beschwören.« »Und wo er sich aufhält…« »Wo er festgehalten wird, meinen Sie. - Ich wünschte, ich hätte wenigstens eine Ahnung, Rob.« »Was können wir tun, Sir?« Der Lord zuckte die Achseln. Die Unterhaltung fand im Penthouse an, Chelsea Square statt. Sie drehte sich mehrere Stunden um das gleiche Thema - und sie drehte sich im Kreis. Ein greifbares Ergebnis hatte sie nicht. »Wie ich es auch betrachte«, sagte der Lord seufzend, »ich komme nur immer wieder zu der Überzeugung, daß der Schlüssel zu allem im Kinley Hospital liegt.« »Sie wollen, mit anderen Worten, dort danach suchen, Sir.« »Haben Sie einen besseren Vorschlag?« »Ich fürchte, nein. Es sei denn, Sie trauen mir zu, den Schlüssel zu finden. Dann könnte ich ins Kinley gehen. Als Pfleger etwa. William Grimsby, denke ich, könnte mir alle notwendigen Fertigkeiten in kurzer Zeit vermitteln, so daß ich mich wenigstens für einige Tage halten kann. Falsche Dokumente zu beschaffen wäre auch keine Schwierigkeit.« »Danke, Rob«, sagte der Lord. »Der Einfall mit dem Pfleger ist nicht schlecht. Aber Sie können nicht gehen. Ich werde den Pfleger spielen.« »Sie brauchen dazu keine Anleitung, ich verstehe. Und Sie wissen, wonach Sie suchen.« »Hoffen wir's«, erwiderte der Lord. Er fand rasch heraus, daß das Kinley Hospital - wie fast alle anderen Krankenhäuser in London - Pflegepersonal benötigte. Lord Morton verhalf ihm zu den Papieren, die er brauchte. Er verschaffte ihm auch eine Empfehlung von dritter Seite, so daß er von der Verwaltung des Kinley ohne weitere Umstände akzeptiert wurde. Seiner angeblichen Vorbildung und seinen ebenfalls nur auf dem Papier stehenden Erfahrungen entsprechend wurde er
der Chirurgischen Abteilung zugewiesen und hatte sein erstes Ziel also ohne Zwischenfälle erreicht. Während der beiden ersten Tage konnte er nichts anderes als das tun, was man ihm auftrug. Er hatte Tagdienst, trat ihn früh um sieben Uhr an und verließ das Kinley um fünf Uhr nachmittags. Rob Jones hatte dann an Chelsea Square bereits ein lauwarmes Bad und eine leichte Mahlzeit vorbereitet. Die ungewohnte Arbeit nahm den Lord mit. Jones meldete Zweifel an, ob er auf diesem Weg tatsächlich an den ,Schlüssel' gelangen würde. »Das weiß niemand, Rob«, sagte der Lord. »Aber es ist ein Weg. Ich brauche nur eine Weile, um mich einzugewöhnen und mir einen Überblick zu verschaffen. Dann werde ich auch Zeit haben, zu suchen.« »Und niemand hat Sie bis jetzt erkannt?« Jones musterte den Lord kritisch. Die Maske war zweifellos gut, aber ihn hätte sie keine Minute getäuscht. »Mich wird auch niemand erkennen«, sagte der Lord zuversichtlich. Einige Tage später - von Jake Pullman hatte sich immer noch keine Spur gefunden, auch Scotland Yard suchte vergeblich - begann der Lord, die Kollegen des Verschwundenen zu beobachten. Er hatte jetzt alle Möglichkeiten, die sich hierzu boten, ausgekundschaftet. Natürlich mußte er seine Aufgaben vernachlässigen. Lange konnte das nicht gutgehen. Ein paarmal würde man ihn ermahnen und dann entlassen. Doch bis es soweit war, hoffte der Lord den entscheidenden Hinweis gefunden zu haben. Dr. Winkle war der erste, mit dem er zusammenstieß. Winkle fand ihn im Ruheraum der Ärzte und fuhr ihn an: »Was haben Sie hier zu suchen, Mann! Scheren Sie sich hinaus!« »Warum sind Sie so unfreundlich, Sir?« fragte, der falsche Pfleger bescheiden. »Sie sollen sich zum Teufel scheren!« schrie Dr. Winkle, der einen schlechten Tag und gerade eine Rüge von Mr. Ratherbone kassiert hatte. »Ich schulde Ihnen keine Erklärungen!« »Ein wenig Höflichkeit würde Ihnen nicht schlecht stehen, Sir«, sagte der Pfleger mit undefinierbarem Gesichtsausdruck. »Man sollte nicht glauben, daß Sie ein gebildeter Mensch sind. Mein Bruder behauptet immer, Ärzte seien in der Tat keine gebildeten
Menschen. Vor allem Chirurgen, meint er, seien eher mit Metzgern als mit anderen Akademikern zu vergleichen, und das färbe unweigerlich auf ihr Benehmen ab. Verzeihen Sie, Sir, das behauptet mein Bruder. Es ist selbstverständlich nicht meine Meinung.« Dr. Winkle schienen die Augen aus dem Kopf zu quellen. Aber er reagierte nicht so, wie der falsche Pfleger es erhofft hatte. Der Funke, auf den er wartete, sprang nicht. »Raus!« sagte Winkle, der sich gefangen hatte. »Sehen Sie zu, daß Sie mir nicht mehr unter die Augen kommen. Sonst sorge ich dafür, daß Sie fliegen.« »Ich kann nicht glauben, Sir, daß Sie mir wirklich drohen wollen«, sagte der Lord, aber er war schon auf dem Rückzug. Dr. Winkle strich er vorläufig aus seiner Liste. Es gelang ihm jetzt Tag für Tag, einen der Ärzte von Mr. Ratherbones Abteilung zu provozieren. Doch bei keinem trat das ein, was er erhoffte. Nicht bei Tender, nicht bei Ponsonby und auch nicht bei den anderen. Einmal hatte er das Gefühl, auf der richtigen Spur zu sein. Aber es ließ sich nicht zur Gewißheit verdichten. Jetzt standen nur noch zwei Ärzte aus, von denen einer nicht in Frage kam, weil es sich um Jake Pullmans Nachfolger handelte, der zur Zeit der rätselhaften Vorfälle noch gar nicht im Kinley gewesen war. Blieb Mr. Ratherbone, der Chefarzt. Der falsche Pfleger suchte zwei Tage lang vergeblich nach einer Gelegenheit, dann fand er sie, als er den Auftrag hatte, ein Tablett mit Proben fürs Zentrallabor des Kinley wegzubringen. Er zögerte das so lange hinaus, bis Mr. Ratherbone sein Zimmer verließ. Als er um die Ecke des Flurs bog, prallte er voll mit dem falschen Pfleger zusammen. Das Tablett krachte zu Boden. Die Fläschchen mit den Proben zerknallten in ungezählte Scherben. »Verflucht, können Sie denn nicht aufpassen!« schimpfte der Pfleger und starrte den Chefarzt wütend an. »Das konnte ich mir denken«, sagte Ratherbone mit erstaunlicher Ruhe. »Wieder Sie! Ich habe darauf gewartet, daß Sie mir auch unverschämt kommen. Sie können zur Personalabteilung gehen und Ihre Papiere abholen. Ich gebe dort Bescheid.« Damit drehte er sich um und ging in der Gegenrichtung davon. Das Spiel geht an ihn, dachte der Lord, zuckte bedauernd die
Schultern und beendete sein Gastspiel im Kinley. Hatte es ihm entscheidende Erkenntnisse gebracht? - Er war nicht mehr ganz so vom Mißerfolg überzeugt wie noch am Vortag. Unwägbarkeiten… Jetzt mußte er sehen, wie die Teilchen in das große Puzzle paßten. * Jake Pullman kam wieder einmal zu sich. Er war schon lange nicht mehr fähig, logisch zu denken, aber diesmal merkte er immerhin, daß er nicht mehr auf den Stuhl gebunden war. Er lag auf einer muffig riechenden Matratze. Behutsam versuchte er, sich zu bewegen. Erst den linken Arm, dann den rechten, dann ein Bein nach dem anderen. Er trug keine Fesseln mehr. Vor Dankbarkeit und Freude begann er zu schluchzen. Er heulte wie ein Tier und verschluckte sich an seinem Speichel und hustete lange, während seine Augen zu tränen begannen. Dr. Jake Pullman wußte es nicht, aber er war ein menschliches Wrack. Zu seinem Glück war ihm sein Zustand nicht bewußt. Sonst hätte er vermutlich versucht, sich umzubringen, wenn er schon nichts anderes tun konnte. Seine Kleider waren feucht und fleckig und stanken. Als seine Finger das Gesicht berührten, zuckten sie zurück, tasteten sich dann behutsam erneut vor und begannen, den Bart zu kraulen, der ziemlich unregelmäßig wuchs, aber an manchen Stellen schon wie ein struppiges Fell war. Er wälzte sich vom Bett und versuchte, sich aufzurichten. Vergeblich. Seine Kraft reichte nicht aus. Deshalb kroch er auf allen Vieren durch den Raum, beschmutzte sich noch mehr, tastete sich an den Wänden entlang, ohne jedoch eine Tür zu finden. Schließlich verrichtete er seine Notdurft in einer Ecke des Raums. Dann kehrte er in der Dunkelheit zu seiner Matratze zurück, die er erstaunlich rasch fand. Er war froh, sie gefunden zu haben. Es war wie eine Heimkehr nach einer langen, gefährlichen Expedition in unbekanntes Gebiet. Während er dort in der Dunkelheit lag, zusammengekauert wie ein Tier, unter einer schmutzigen Decke, beschäftigten seine wirren Gedanken sich manchmal mit früheren Phasen seines Lebens.
Er erinnerte sich dann auch daran, daß er einmal Arzt gewesen war und an das Kinley. Diese Erinnerungen hatten nichts Aufregendes. Er trauerte der Vergangenheit nicht nach. Sie war einfach ein anderer Abschnitt seiner Existenz und damit Schluß. Weshalb das so war, warum sein Wille mehr und mehr ausgeschaltet wurde und sein Verstand eine Dimension nach der anderen verlor, wußte er nicht. Er nahm die Injektionen kaum mehr wahr, die er allnächtlich erhielt. Tag und Nacht existierten nicht mehr für ihn. Er vegetierte in der ewigen Dunkelheit wie ein Nachttier, und einige seiner sinnlichen Fähigkeiten begannen, sich in geringem Umfang darauf einzustellen. Wenn von nebenan die Geräusche zu ihm drangen, richtete er sich auf und begann zu schmatzen. Speichel lief ihm im Mund zusammen. Es war die Zeit der Fütterung. Er bekam seinen Brei, er bekam das süßlich schmeckende Wasser, von dem eine Blechkanne neben sein Lager gestellt wurde, Vorrat für die nächsten 24 Stunden. Da er nicht mehr gefesselt war, konnte er den Kopf drehen und wenden, wie er wollte. Er sah die Umrisse des Mannes, der ihn fütterte, aber er erkannte ihn nicht. Manchmal redete der Mann ihn jetzt an, stellte belanglose Fragen. Jake Pullman antwortete gehorsam. Er gab sich große Mühe, den Sinn der Fragen zu verstehen. Trotzdem machte er offenbar hin und wieder Fehler. Dann versetzte der Mann, den er nur in Umrissen sah, ihm derbe Schläge ins Gesicht, und Pullman krümmte sich wimmernd auf der Matratze zusammen. Er selbst war zu einer solchen Überlegung nicht mehr fähig: Hätte ihn jemand beobachten können, er wäre sicher auf den Vergleich mit einem Tier gekommen, das dressiert wird. * Walter Maugham war eine ganze Weile nicht mehr ins Penthouse an Chelsea Square gekommen. Als er sich jetzt anmeldete, tat er's, ohne den Grund zu nennen. »Ich freue mich, Sie zu sehen, Mr. Maugham«, begrüßte der Lord ihn. »Diese Jake-Pullman-Sache hat uns ein wenig auseinandergebracht, nicht wahr? Ich bedaure das. Ich hoffe aber auch, wir kommen beide darüber hinweg.« »Das hoffe ich ebenfalls, Sir Edward«, sagte Maugham und ver-
riet Erleichterung. »In der Pullman-Sache gibt es übrigens Neuigkeiten, die Sie wissen sollten. Ich bin auch deshalb hergekommen.« »Hat man ihn gefunden, Walter?« fragte Rob Jones. Der Chefinspektor schüttelte den Kopf. Er setzte sich ein wenig umständlich, stopfte seine kurzstielige Pfeife und zog die Stirn kraus. »Mir gefällt das alles gar nicht. Ich war dagegen, die Suche nach Dr. Pullman einzustellen.« »Die Suche ist eingestellt?« fragte Jones verblüfft. »Wie ist das möglich?« »Eine Entscheidung, die auf höherer Ebene gefallen ist. Besser, ich berichte der Reihe nach.« Er sah zu, wie Rob Jones sein Glas füllte. Jones kannte seinen Lieblings-Whisky und stellte die Flasche in Griffnähe. Der Lord zeigte keine Ungeduld. Er hatte sich in seinem Sessel zurückgelehnt und sah den Chefinspektor schweigend an. »Die Suche eingestellt!« sagte Jones noch einmal und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie Sie das finden, Sir. Vielleicht paßt es in Ihre Pläne. Aber wie kann Scotland Yard die Suche nach einem Mann einstellen, der entführt worden ist und über dessen Schicksal völlige Unklarheit herrscht!?« »Das ist der springende Punkt«, sagte Maugham, nachdem er einen Schluck von dem alten Scotch getrunken hatte: »Die Entführung. Scotland Yard glaubt offiziell nicht daran, daß Jake Pullman entführt wurde. Nach Meinung meiner Vorgesetzten hat er die Haftverschonung dazu benutzt, sich abzusetzen, unterzutauchen.« »Interessant«, sagte der Lord. »Dann hält man Jake Pullman wohl auch nicht mehr für einen Mörder. Denn sonst…« Chefinspektor Maugham nickte: »Inspektor Bond ist ein bemerkenswerter Mann. Nachdem er zunächst anscheinend stichhaltige Beweise für Jake Pullmans Schuld zusammengetragen hatte, kamen ihm selbst Zweifel. Er gab ihnen nach und suchte nach allem und jedem, was gegen Dr. Pullmans Schuld an den Todesfällen im Kinley Hospital sprach. Dabei war er noch erfolgreicher. Als man schließlich beides auf die Waage legte - Schuldbeweise und ihr Gegenteil - neigte die Waage sich deutlich zugunsten Jake Pullmans.« »Viel Aufwand für ein letzten Endes unbefriedigendes Ergebnis«,
sagte der Lord. »Aber eine Behörde mußte wohl so vorgehen. Ich war von Anfang an davon überzeugt, daß Jake Pullman kein Mörder ist. Hoffentlich haben Inspektor Bonds Untersuchungen wenigstens Hinweise auf den wirklichen Schuldigen gebracht.« Maugham schwieg, zog an seiner Pfeife und machte ein etwas säuerliches Gesicht. »Also nicht«, sagte Jones nach einem Blick auf den Freund. »Dr. Jake Pullman ist keine juristisch erhebliche Schuld nachzuweisen. Seinen Kollegen vom Kinley Hospital ebensowenig.« »Und wie geht es weiter, was Scotland Yard betrifft, Walter?« »Überhaupt nicht. Es geht nicht weiter, Rob. Die Ermittlungen sind eingestellt. Inspektor Bond bearbeitet bereits einen anderen Fall. Die Akten, ein hübsches, dickes Paket, werden irgendwo in der Ablage vermodern. Über kurz oder lang wird man sie Mikrofilmen und die Originale vernichten. Sie nehmen zu viel Platz weg…« »Kein sehr überzeugendes Ende einer Affäre«, murmelte Rob Jones. »Bei Gott nicht?« pflichtete der Chefinspektor ihm bei. »Sie sind also in Wahrheit hergekommen, weil Sie hoffen, daß ich nicht so rasch aufgebe wie Scotland Yard«, sagte der Lord und lächelte. »Ich bin durchschaut, Sir Edward.« Maugham grinste und breitete die Arme aus, eine Geste der Unterwerfung. »Glauben Sie, daß Jake Pullman noch lebt?« »Ich hoffe es, und wenn nicht, dann hoffe ich, daß seine Leiche gefunden wird und uns zu dem Mörder führt.« »Er lebt«, sagte der Lord versonnen. »Ich hoffe, den Mörder zu finden, bevor er auch Pullmans Mörder wird.« »Könnten wir uns nicht zusammentun, Sir Edward? Ich bin bereit, meine Dienstvorschriften gründlich zu vergessen. Ihnen brauche ich nichts vorzumachen: Es wäre mir eine große Genugtuung, einigen Leuten im Yard zu beweisen, daß sie in dieser Affäre falsch reagiert haben und daß der größte Fehler der war, die Untersuchung jetzt, nach Jake Pullmans Verschwinden, überhaupt einzustellen.« Der Lord schwieg lange. Dann schüttelte er den Kopf und sagte bedauernd. »Nein, Mr. Maugham, ich fürchte, ich kann Sie nicht gebrauchen. Noch nicht. Wie soll ich's Ihnen erklären? - Wir bilden ein
Dreieck, Jake Pullman, der Mörder und ich. Aber bis jetzt weiß das von den Beteiligten nur einer.« »Sie, Sir Edward.« »Es ist eine ganz empfindsame Geschichte. Ein falscher Schritt kann alles durcheinanderbringen und die feinen Fäden, die zwischen den drei Punkten gesponnen sind, zerreißen. Sie, Chefinspektor, wären ein Fremdkörper. In diesem Fall überwiegt das Risiko die mögliche Hilfe.« »Ich verstehe«, murmelte Maugham und zog an seiner Pfeife, nur um festzustellen, daß sie ausgegangen war. »Da kann man nichts machen, Sir Edward. Sie sollen, aber wissen, daß ich mich nach Möglichkeit auf Abruf bereithalte. Sollten Sie sich etwas davon versprechen, dann verfügen Sie über mich.« »Oh, ich hoffe zuversichtlich, daß zum Schluß eine Verhaftung fällig wird, Mr. Maugham.« Rob Jones hielt sich zurück, obwohl die Frage ihn brennend interessierte, ob der Lord ihn auch nur als Fremdkörper betrachtete oder ob er in seinen Plänen vorkam. Er schenkte von dem alten Scotch nach, dessen Duft im Raum schwebte, sich mit dem Rauch aus Maughams neuentzündeter Pfeife mischte und eine Atmosphäre von Geborgenheit suggerierte, die nicht zu dem Gespräch der drei Männer paßte. »Was Sie uns freundlicherweise mitgeteilt haben, Mr. Maugham - ist das schon offiziell?« »Man will kein großes Aufheben davon machen, Sir Edward. In den Pressemitteilungen von Scotland Yard stehen bestimmt nicht mehr als zwei, drei Zeilen darüber, und die sind so formuliert, daß niemand etwas damit anfangen kann, der die Angelegenheit nicht verfolgt hat.« »Aber Dr. Pullmans Kollegen im Kinley Hospital werden doch alles erfahren?« »Sicher.« Maugham begriff plötzlich und beugte sich vor: »Ist es wichtig, Sir Edward, daß man im Kinley eine besondere Version von der Geschichte erhält? Ich hätte noch Zeit, daran zu drehen.« »Sie riskieren Ihre Karriere, Mr Maugham«, sagte der Lord amüsiert. Er wurde gleich wieder ernst »Schönen Dank für Ihr Angebot, aber mir ist es lieb, wenn das Hospital ebenso beiläufig wie die Öffentlichkeit informiert wird. Die Untersuchungen sind eingestellt - und fertig.«
* Der Rover bog von der geteerten Straße ab und rollte mit mäßigem Tempo den Feldweg entlang. Der Fahrer schien jedes Loch und jeden Stein zu kennen. Er mußte die Strecke oft gefahren sein. Außer ihm war niemand im Wagen. Im Kofferraum lag ein Kleiderbündel. Es bestand aus einem getragenen, aber sauberen Anzug, einem Hemd, Unterwäsche, Socken und Schuhen sowie aus einem ziemlich breitkrempigen Hut. Im Handschuhfach des Rover lag außerdem eine Sonnenbrille. Der Fahrer hatte sie nicht für sich dort deponiert. Er hatte ein intelligentes Gesicht mit hoher Stirn und gepflegtem dunklem Haar. Sein Mund war vielleicht eine Spur zu schmal. Der Eindruck mochte aber daher rühren, daß er ihn jetzt ständig zusammenkniff. Auch die senkrechte Falte auf der Stirn mochte seinen üblichen Ausdruck verändern. Während er den Rover über den Feldweg und in den Wald hineinsteuerte, wo er das Tempo noch weiter drosseln mußte, weil es jetzt recht steil bergan ging, dachte er ununterbrochen über die Einzelheiten des Unternehmens nach. Bis jetzt war alles reibungslos gegangen. Nicht die kleinste Panne hatte es gegeben. Das beruhigte ihn, trübte jedoch nicht seinen Blick für die Tatsache, daß das schwierigste Kapitel erst bevorstand. Immerhin, er war der Lösung, dem Schlußpunkt nahe. Bis vor zwei Tagen hatte er nicht gewußt, ob es überhaupt jemals möglich werden würde, diesen Schlußpunkt zu setzen. Im schlimmsten Fall wären alle Mühen umsonst gewesen. Er hätte die investierte Zeit (und das Geld, für seine derzeitigen Verhältnisse eine recht beträchtliche Summe) abschreiben müssen. Doch das Glück schien endgültig auf seiner Seite zu sein. - Auf der Seite der Tüchtigen, dachte er, und sekundenlang überzog ein Lächeln sein ernstes Gesicht. Er warf einen Blick auf die Uhr und rechnete. Er hatte den Zeitplan genau im Kopf und wußte auch so, daß er nicht in Bedrängnis kommen würde. Aber es gab ihm Sicherheit, auch solche Kleinigkeiten immer wieder durchzugehen und dabei festzustellen,
daß er perfekt geplant hatte. Noch eine halbe Stunde Fahrzeit, vielleicht einige Minuten mehr. Das Objekt, das im Mittelpunkt seines Plans stand, zu präparieren - dafür hatte er ebenfalls eine halbe Stunde angesetzt. Wesentlich mehr Zeit würde er auf die Beseitigung aller Spuren verwenden. Wenn er wieder losfuhr, würde die Dämmerung hereinbrechen. Er wollte die Straße erreichen, wenn es schon dunkel war. Für den Rückweg würde er eine recht umständliche, genau festgelegte Strecke benutzen. An einem sicheren Ort, wo er bestimmt keine neugierigen Zuschauer hatte, wurden dann die Nummernschilder wieder gegen die echten ausgetauscht, die großen Zusatzscheinwerfer (die nicht angeschlossen waren) abgenommen, ebenso wie die Zierstreifen an den Seiten und einiges andere, wodurch er seinen sonst so unauffälligen Wagen äußerlich gründlich verändert hatte. Wo er wohnte, sah man gegen elf Uhr abends nur noch vereinzelte Passanten auf den Straßen. Eine Stunde später war die ganze Gegend regelmäßig wie ausgestorben. Er würde samt seinem Begleiter nicht vor Mitternacht dort anlangen und ihn über die hintere Treppe, die ohnehin so gut wie nie - und bestimmt nicht mitten in der Nacht - benutzt wurde, nach oben bringen. Hatte er das geschafft, war das drittletzte Kapitel abgeschlossen. Das vorletzte bot keine Schwierigkeiten und würde auch nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Dachte er an das letzte, das entscheidende, dann lief ihm manchmal ein kalter Schauer über den Rücken. Er wußte jedoch, wenn es soweit war, würde er die notwendige Kaltblütigkeit aufbringen und sich auch durch Zwischenfälle nicht aus der Rolle bringen lassen. Der Weg, über den er den Rover im Schrittempo steuerte, wand sich an der Flanke des Berges entlang und hatte eine gefährliche Seitenneigung. Links ging's etwa sechzig bis siebzig Fuß steil abwärts. In der Dämmerung würde er sehr genau darauf achten müssen, daß er der Wegkante nicht zu nahe kam. Eine falsche Bewegung des Lenkrads konnte den Absturz bedeuten. Im Stillen pries der Mann noch einmal den Zufall, der ihn vor Jahren die steinerne Hütte hier oben hätte finden lassen. Sie war exakt so gewesen, wie er sie die ganze Zeit über in seiner Vorstellung bewahrt hatte. Als sich die Möglichkeit abzeichnete, daß er ein solches Versteck brauchen würde, hatte er viel Zeit hier draußen verbracht, um die Gegend zu beobachten. Er hatte auch
vorsichtige Erkundigungen eingezogen. Schließlich war er sicher gewesen, daß die Hütte das richtige Versteck war und die Aussicht, daß sich jemand hierher verirrte, so gut wie Null. Der Weg endete in einer Kehre, die selbst für den Rover zu eng geworden war, weil Unkraut und Unterholz sich im Laufe vieler Jahre immer weiter vorgeschoben hatten. Der Mann wendete den Wagen, indem er mehrmals vor- und zurücksetzte. Er schloß die Tür ab und entnahm dem Kofferraum das Kleiderbündel. Hinter dem Reserverad steckten die echten Nummernschilder. Bis zur Hütte waren es von hier aus noch gut 300 Yards. Sie lag so versteckt, daß man sie erst sah, wenn man dicht davorstand. Ihre starken Bruchsteinmauern ließen an eine mittelalterliche Burg denken, und vor den wenigen winzigen Fenstern waren starke, von innen gesicherte Läden. Man konnte von hier aus nicht sehen, daß sich zwischen Läden und Fensterscheiben dicke Lagen von Lumpen befanden, die verhinderten, daß irgendein Geräusch nach draußen drang. Als ein sehr heller Lichtschein in sein Gefängnis fiel, richtete Jake Pullman sich auf. Er mußte die Augen schließen. Die Helligkeit blendete ihn. In seiner Dumpfheit, seiner Verwirrung spürte er instinktiv, daß dies eine besondere Stunde war. In seinem Dasein würde sich etwas ändern. Er war nicht neugierig. Eher spürte er Angst vor der Veränderung. Immerhin hatte er in der letzten Zeit Essen und Trinken gehabt und relative Ruhe, die ihm willkommen war. »Das ist ein Gestank«, murmelte der Ankömmling. »Pfui Teufel!« Er hatte eine Lampe entzündet und die Außentür vorsichtshalber wieder geschlossen. Die Lampe trug er jetzt, in Jake Pullmans fensterloses Verließ. Pullman blinzelte ins Licht, das zwar auch hell, aber besser erträglich als das ungewohnt grelle Tageslicht war. »Steh auf, Jake«, sagte der Mann. »Zieh dich aus. Deine Kleider fallen dir fast in Fetzen vom Leib.« Dr. Pullman gehorchte. Er hatte das Gesicht abgewandt, aber zwischendurch blinzelte er doch immer wieder zu der Lampe und dem Mann hin, der sie hielt. Er wartete auf die gewohnte Züchtigung, doch blieb sie heute aus. »Kennst du mich, Jake? Weißt du, wer ich bin?« Es war sonderbar, nach so langer Zeit wieder eine menschliche Stimme zu hören, mit seinem Namen angesprochen zu werden,
einen anderen Menschen und die Dinge rundherum deutlich zu sehen. Wobei ,deutlich' ein relativer Begriff war; noch tränten seine Augen so stark, daß er sie ständig mit dem Handrücken auswischte, während er der Anordnung nachkam und sich von seiner schmutzstarrenden, zerfetzten Kleidung trennte. »Warum sagst du nichts, Jake? Du hast doch die Sprache nicht verloren?« Aus Pullmans Kehle drang ein Laut, der wirklich eher an ein Tier als an einen Menschen denken ließ. Er setzte mehrmals zum Sprechen an. Die Stimme gehorchte ihm nicht. »Wird schon wieder«, sagte der andere. »Wenn du weißt, wer ich bin, kannst du nicken. Na, was ist?« Jake Pullman nickte. Ja, er wußte, wer in seine Einsamkeit gekommen war. Aber es berührte ihn kaum. Er machte sich keine Gedanken darüber. Begriffe wie ,Peiniger', ,Mörder', ,Retter' standen ihm nicht zu Gebote. Teile seines Gehirns schienen lahmgelegt. Er empfand nichts für diesen Menschen, der zu einem anderen Teil seines Lebens gehört hatte. - Immerhin empfand er jetzt auch weniger Angst vor den tiefgreifenden Veränderungen, die sich abzeichneten. Als er nackt dastand, betrachtete der andere ihn voller Ekel. Er warf das Kleiderbündel auf die Matratze und sagte: »Zieh das an. Ich hoffe, du kommst damit zurecht. Wenn nicht, laß es mich wissen.« Die halbe Stunde, die er für diesen Abschnitt des Kapitels vorgesehen hatte, war fast vorbei. Er mußte jetzt beginnen, alles zu beseitigen, war irgendwann, wenn ein dummer Zufall Neugierige hierherführte, Verdacht erwecken und eine Untersuchung in Gang setzen konnte. Als er in Jake Pullmans Verlies zurückkam, versuchte der, das Hemd anzuziehen. Er half ihm und knöpfte es auch gleich zu. Dabei nahm er immer wieder unwillkürlich den Kopf zurück. Von Dr. Pullman ging ein bestialischer Gestank aus, und er war froh, daß im Handschuhkasten außer der tarnenden Sonnenbrille auch eine Flasche Kölnisch Wasser lag. Er würde reichlich davon nehmen müssen, damit bei einer eventuellen Kontrolle niemand Verdacht schöpfte. Nach knapp zwei Stunden war alles geschafft. Zwei Bündel lagen bereit, die in den Kofferraum des Rover paßten und die er später endgültig beseitigen würde. Eins der Bündel mußte Jake
Pullman tragen, das andere lud sein Begleiter sich auf. Er sah sich noch einmal in der steinernen Hütte um. Perfekt! dachte er triumphierend. Aber als er daran dachte, wie er Pullmans Exkremente hatte beseitigen müssen, kam es ihm hoch; um ein Haar hatte er sich übergeben. Auf dem Rückweg zum Wagen warf er auch noch einen Blick auf die Stelle, an der er einiges vergraben hatte, was sich binnen kurzer Zeit total zersetzen würde. Er war zufrieden. Selbst für ihn war die Stelle nur erkennbar, weil er genau wußte, wo sie lag. »Hier bleibst du stehen, Jake, bis ich dich hole«, befahl er leise, als sie in der Nähe des Wagens waren. Er legte das zweite Bündel ab und ging vorsichtig weiter. Beim Wagen war alles in Ordnung. Als er zurückkam, stand Dr. Pullman noch da, wo er ihn verlassen hatte. Er führte ihn zum Rover. Dort mußte er sich auf den linken Vordersitz setzen und wurde mit dem Sicherheitsgurt angeschnallt. Kritisch prüfte der andere das Arrangement und rückte den Hut noch etwas weiter in Pullmans Stirn. Er nahm die Sonnenbrille aus dem Handschuhfach und setzte sie ihm auf. Dann griff er zu der Flasche mit Kölnisch Wasser und verspritzte etliches davon im Wageninneren. Im Kofferraum verstaute er die beiden Bündel. Sie füllten ihn völlig aus. Die Fahrt nach London mit der Unterbrechung für die Veränderung des Wagens verlief ohne jeden Zwischenfall und genau nach dem Zeitplan. Über die Hintertreppe brachte der Mann Jake Pullman in seine Wohnung hinauf. Erst jetzt, da alles gelaufen war, zeigte sich eine gewisse Reaktion. Als er sich einen Whisky eingoß, zitterte er so stark, daß er die Flasche mit beiden Händen packen mußte. »Zieh dich aus, Jake«, sagte er müde. Er hätte sich gern hingelegt, um ein paar Stunden zu schlafen. Aber das konnte er sich nicht leisten. Jake Pullman gehorchte willenlos. Er wurde gebadet und rasiert. Sorgfältig schnitt der andere Pullmans Nägel und kürzte ihm das Haar, das in der Hütte bis auf den Kragen gewachsen war. Pullman saß nackt auf einem Schemel im Badezimmer. Er starrte in den Spiegel und erkannte ein Gesicht aus einer vergangenen Zeit wieder. Durch die Diele kamen rasche Schritte. Die Badezimmertür, die nur angelehnt war, wurde ganz geöffnet. Ein Mäd-
chen, das eben noch gelächelt und den Mund zu einer fröhlichen Begrüßung geöffnet hatte, erstarrte und wurde leichenblaß. Die Leichenblässe war ein Vorgriff… * Eine Faust, eiskalt und hart wie Stahl, schien sich um das Herz des Mannes zu legen. Er hatte einen unverzeihlichen Fehler begangen. Er hatte die Möglichkeit nicht einkalkuliert, daß Mariann ihren Urlaub an der Westküste früher beenden könnte. Mariann war seine Freundin und hatte einen Schlüssel zu seiner Wohnung. Mariann war auch früher zu den unmöglichsten Zeiten hergekommen. Er warf die Nagelschere auf die Ablage unter dem Spiegel und drängte das Mädchen aus dem Badezimmer. Bis jetzt hatte keiner ein Wort gesagt. Er zog die Tür ins Schloß, griff nach Marianns Arm und zog sie mit sich ins Wohnzimmer hinüber. Zwischen Diele und Treppenhaus gab es nur eine hölzerne Tür. Es schien ihm zu riskant, sich dort mit Mariann auseinanderzusetzen. »Darling, was ist denn los?! Du tust mir weh! - Sag' mal, das ist doch Jake Pullman!? Wie kommt er hierher? Was macht er in deinem Badezimmer? Wieso ist er nackt?« Der Mann sah sie schweigend an. Er hatte schon alle Möglichkeiten in Betracht gezogen. Alle beide. Er bedauerte ehrlich, daß nur eine in Frage kam. Erklärungen waren sinnlos. Jede Verzögerung konnte gefährlich werden. Aber er mußte seine Rolle gut spielen, denn wenn sie auch nur eine Sekunde zu früh begriff, wenn sie zu schreien versuchte… »Ja, das ist eine verzwickte Geschichte«, sagte er und hörte sich selbst zu. Klang seine Stimme einigermaßen überzeugend? »Du weißt ja, wie man dem armen Jake mitgespielt hat.« Er drehte sich um und nahm die Zigarettenpackung vom Tisch. Als er sie Mariann hinhielt, schüttelte sie nur schweigend den Kopf. Sie sah ihn forschend an, gespannt auf die Fortsetzung der Erklärung. Der Mann sah sich suchend um, obwohl er genau wußte, wo der schwere Aschenbecher stand. Er nahm ihn vom Kaminsims und schickte sich an, ihn zum Tisch zu tragen. Als er in der Höhe des Mädchens war, schlug er blitzschnell zu. Mariann erkannte ihr Schicksal im letzten Augenblick. Sie wollte
instinktiv schreien. Sie versuchte auch, auszuweichen. Beides mißlang. Der bronzene Aschenbecher zertrümmerte ihren Schädel. Mariann war tot. Er hatte in einer unvorhergesehenen Situation richtig gehandelt, aber das hatte ihm eine ebenso unvorhergesehene Leiche eingebracht. Er mußte sie beseitigen, und zwar noch in dieser Nacht. Das bedeutete eine Änderung seiner Pläne. Es bedeutete, daß er nicht einmal ein oder zwei Stunden Schlaf bekommen würde. Und es bedeutete zusätzliche Risiken. Er biß die Zähne zusammen. Innerhalb weniger Minuten hatte er sich vollkommen auf die veränderte Situation eingestellt. Jake Pullman saß noch immer auf dem Schemel im Badezimmer. Der Mann betrachtete ihn kritisch. Pullman gab den Blick gleichgültig zurück. Er erkundigte sich mit keiner Silbe nach dem Mädchen. Er stellte überhaupt keine Frage. »Komm mit, Jake«, sagte der Mann müde. Er führte ihn in die Abstellkammer hinter seinem Schlafzimmer, die eigentlich als begehbarer Kleiderschrank gedacht war. Hier lag eine Matratze auf dem Fußboden, neuer und sauberer als die in der Hütte. »Leg dich hin.« Er deckte Jake Pullman zu wie ein Kind. Auch ihn würde er bald loswerden müssen. Als Leiche. Was er heute nacht mit dem leblosen Körper Marianns tun mußte, konnte er als Generalprobe betrachten. Bevor er die Abstellkammer verschloß und den Schlüssel abzog, verpaßte er Jake Pullman eine weitere Injektion. Diesmal handelte es sich um ein starkes Schlafmittel, das innerhalb von zwei Minuten wirkte. Er konnte jetzt sicher sein, daß Pullman von selbst nicht vor acht bis zehn Stunden aufwachte. Mariann wurde in einen großen Kleidersack gepackt. Leise ging der Mann in die Garage hinunter. Hier war alles still. Er schaffte im Kofferraum Platz. Die beiden Bündel, die er ebenfalls noch beseitigen mußte, preßte er zwischen Vorder- und Rücksitze. Dann kehrte er in die Wohnung zurück und holte den Kleidersack mit der Leiche seiner Freundin. Er fuhr etwa dreißig Meilen weit, ehe er den Ort fand, den er schon vor einiger Zeit als letzte Ruhestätte für Dr. Jake Pullman ausgesucht hatte. Jetzt nahm sie die mittlerweile kalt und starr gewordene Mädchenleiche auf. Als der Mann schon beginnen wollte, sie unkenntlich zu machen, schüttelte er plötzlich den Kopf.
»Ich bin ein Trottel«, murmelte er. »Wie kann ich solche Dummheiten begehen?« Er zog der toten Mariann alles aus, was sie auf dem kalten, steifen Leib hatte. Die Kleider, deren Reste eine Identifizierung ermöglichen konnten, würde er zusammen mit den beiden Bündeln aus der Hütte vernichten. Er nahm das Fläschchen aus seinem Arztkoffer und öffnete es. Die Säure zischte, als sie auf das Fleisch traf und im Nu große Löcher fraß. Bald war das Gesicht völlig zerstört. Mariann hatte keine Narben, die es zu berücksichtigen galt. Auch um ihr Gebiß brauchte er sich nicht zu kümmern. Er wußte, daß es einwandfrei war. Sie hatte nie einen Zahnarzt gebraucht. Er ließ auch ihre Fingerkuppen von der Säure zerfressen - für den Fall, daß die Abdrücke irgendwo registriert waren. Nach der Vernichtung der beiden Bündel aus der Hütte und von Marianns Kleidern kehrte der Mann nach London und in seine Wohnung zurück. Er war todmüde. Statt sich hinzulegen, injizierte er sich selbst ein Aufputschmittel. Dann trank er einen starken Kaffee und aß eine Kleinigkeit. Es war Zeit, Jake Pullman zu wecken und mit ihm zu üben. Pullman würde seine Rolle einwandfrei spielen. Er besaß keinen eigenen Willen mehr. Er würde so agieren, wie es notwendig war, damit die allerletzte Szene der genialen Inszenierung mit Erfolg über die Bühne ging. * Mitten in der Nacht wurde Rob Jones von einem Gepolter geweckt, das aus der Richtung des Schlafzimmers von Sir Edward kam und das ihn veranlaßte, nach dem schweren Colt-Revolver zu greifen und ihn zu entsichern, während er hinüberlief. Er stieß die Tür auf, die Waffe im Anschlag. Im Licht, das ins Zimmer fiel, sah er eine verblüffende Szene: Der Lord war aus dem Bett gefallen. Da begannen beide zu lachen, wie auf Kommando. Der Lord wurde jedoch rasch wieder ernst. Er erhob sich. »Haben Sie sich wehgetan, Sir?« fragte Jones. »Nein, nein«, murmelte der Lord abwesend. »Ehrlich gesagt, ich verstehe nicht, wie man aus einem so breiten Bett fallen kann.« »Ich auch nicht. Es sei denn…« Er sprach nicht aus, was er
dachte. Aber er wußte, daß er nicht wieder einschlafen würde. »Danke, daß Sie nach mir gesehen haben, Rob.« »Dann kann ich mich wohl wieder hinlegen.« »Das halte ich für eine vernünftige Lösung.« Aber in der Stimme des Lords war kein Gran Spott. Er nickte Rob Jones flüchtig zu und schien ihn schon nicht mehr zu sehen. Als Jones gegangen war, setzte der Lord sich auf die Bettkante, um seine Gedanken zu ordnen. Der seltsame Zwischenfall war ein Anstoß gewesen. Er sah jetzt schon klarer. Etwas Entscheidendes bahnte sich an. Er brauchte jetzt seine ganze Kraft und Konzentration, um rechtzeitig und richtig zu handeln. Er ging in das angrenzende Badezimmer und ließ kaltes Wasser über sein Gesicht laufen. Zurück im Schlafzimmer, legte er sich auf das Bett, faltete die Hände über der Brust und schloß die Augen. Ein unbefangener Betrachter hätte geschworen, daß er schlief und sich höchstens darüber gewundert, daß er das ohne Decke tat, denn es war relativ kühl im Zimmer. Einem Beobachter wäre aber auch aufgefallen, daß sich schon nach wenigen Minuten Schweißtropfen auf der Stirn des Lords bildeten. Dicke Schweißtropfen, die dann herabperlten und das Kissen tränkten. Außerdem hob und senkte der Brustkorb des scheinbar Schlafenden sich jetzt heftig, und verschiedene Muskelpartien zeigten unregelmäßige Kontraktionen. Als Rob Jones morgens gegen acht Uhr anklopfte, bekam er keine Antwort. Das Schlafzimmer war leer. Jones überzeugte sich davon, daß der Lord die Wohnung verlassen hatte. Er fand keine Nachricht vor. Aber wenig später klingelte das Telefon. Als Jones die Stimme des Lords erkannte, atmete er erleichtert auf. Bevor er die Wohnung an Chelsea Square ebenfalls verließ, telefonierte er mit Chefinspektor Maugham. Er wußte nicht, ob das dem Lord recht war, aber er hielt es für besser. Maugham mußte ihm versprechen, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nichts zu unternehmen. »Verstanden, Rob«, sagte der Chefinspektor. »Aber wenn Sie bis dahin nicht angerufen oder mich auf andere Weise verständigt haben, habe ich freie Hand.« »Hoffen wir, daß Sie sie nicht zu benutzen brauchen«, murmelte Jones.
* Dr. Jake Pullman war etwas blaß und hatte tief in den Höhlen liegende Augen, aber nichts deutet darauf hin, daß er nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war, als er aus dem Rover stieg und in Begleitung eines anderen Mannes das Haus an Temple Place betrat, in dem als eine von vielen die Notariatspraxis von Mr. Hatfield lag. »Du weißt, was du zu tun hast. Du wirst funktionieren, Jake.« »Ja«, sagte Pullman einsilbig und mit unmodulierter Stimme Jake Pullmans Ankunft war nicht avisiert, und so mußten die beiden Männer einige Minuten warten, ehe der Notar sie empfing. Er konnte seine Neugier nicht unterdrücken, denn selbstverständlich hatte er einiges über Pullmans Schicksal erfahren und wußte auch, daß die Ermittlungen gegen ihn eingestellt waren. »Ich bin ein Freund. Dr Pullman hat mich gebeten, ihn zu begleiten. Sie verstehen, Mr Hatfield. Er ist in juristischen Dingen nicht sehr bewandert.« »Aber bitte«, sagte der Notar höflich. »Ich habe gegen das Arrangement nichts einzuwenden.« Er deutete auf die Stühle vor seinem Schreibtisch. Seine Sekretärin brachte eine Mappe herein, in der sich die Unterlagen der Erbschaftssache Ann Couley befanden. Der ,Freund' stieß Dr. Pullman leicht an. Mechanisch griff er in die Innentasche seines Sakkos und zog einen Umschlag heraus. Er reichte ihn über den Tisch. Notar Hatfield öffnete ihn und nahm die Hälfte eines der Länge nach durchgeschnittenen Briefbogens heraus. In der Mappe fand sich die andere Hälfte. Er fügte beide auf der Schreibtischplatte zusammen. Sie paßten. Lächelnd lehnte Mr. Hatfield sich zurück: »Mrs. Couley war eine etwas - sonderbare alte Dame«, sagte er. »Mit Verlaub, meine Herren. Ich hatte nicht das Vergnügen, sie persönlich zu kennen, aber wir standen in einem regen Briefwechsel miteinander. Das hier war das letzte, was sie mir sandte. Mit einem Begleitschreiben.« Er deutete auf die Hälfte des Briefbogens, die sich bei seinen Unterlagen befunden hatte. »Sie, Dr. Pullman, haben Mrs. Couley ja wohl sehr viel besser gekannt.« »Ja«, sagte Jake Pullman und schwieg dann wieder. »Dr Pullman ist noch etwas mitgenommen, Sir. Sie verstehen?« »Aber ja doch. Mr - Sie sind ein Kollege des Erben?«
»Wie? - Nein, nein, wir sind nur befreundet. Ich glaube, Sir, Dr Pullman wäre Ihnen sehr dankbar, wenn wir diese - äh - Sitzung, nicht länger als notwendig ausdehnten. Gibt es irgendwelche Probleme mit Mrs Couleys Testament?« »Probleme? Wie meinen Sie das?« »Nun, ist irgend etwas nicht in Ordnung?« »Doch, doch, alles in Ordnung. Zwar, die Form ist ziemlich ungewöhnlich, aber juristisch ist nichts auszusetzen. Mrs. Couley hat mir kurz vor ihrem Tod die eine Hälfte ihres Testaments zugesandt und dafür gesorgt, daß Mr Pullman die andere Hälfte nach ihrem Ableben erhielt. So stand es im Begleitschreiben. Ich habe mich davon überzeugt, daß Dr Pullmans Hälfte zu der meinigen paßt.« »Aus seiner Hälfte ging nicht hervor, um was es bei der Erbschaft geht«, sagte Pullmans Begleiter und beugte sich vor. Wie zufällig legte der Notar eine Hand auf das in der Mitte geteilte Blatt und lachte meckernd. »Sehr geschickt, nicht wahr? War eine schrullige Person, die alte Dame, aber auch sehr, sehr geschickt. Alle Achtung!« »Jake, wenn es dir zuviel wird.« Pullman starrte seinen Begleiter stumm an, aber Notar Hatfield begriff und sagte: »Kommen wir also zur Sache. Ich verlese das Testament.« Er begann mit der Verlesung. Mrs. Couley erging sich in weitschweifigen Lobeshymnen auf die Ärzte des Kinley, die in geradezu ekstatischer Bewunderung der Kunst und Seelenwärme Dr Jake Pullmans gipfelten. Als Mr Hatfield die materiellen Einzelheiten verlas, lehnte Pullmans Begleiter sich zurück und versuchte, nicht zu auffällig durchzuatmen. Es hat sich gelohnt, dachte er. »Soweit das Testament«, sagte Mr Hatfield. »Es genügt, denke ich, wenn Sie meinem Freund jetzt noch sagen, wann und wie er über die Erbschaft verfügen kann, Sir.« »Er macht durchaus nicht den Eindruck, als könne er meinen Ausführungen nicht mehr folgen, Sir«, sagte Mr. Hatfield sichtlich ungehalten. Er griff nach den anderen Papieren, die in der Mappe lagen und sah Dr Pullman fragend an. Pullman gab den Blick stumm glotzend zurück. Mr Hatfield räusperte sich und begann zu lesen. Er hatte eine Aufstellung von Mrs. Couleys Wertpapieren vor sich. Jake Pullmans ,Freund' hatte die Arme vor der Brust
verschränkt und blickte düster drein. Mehr konnte er im Augenblick nicht tun. Als der Notar sich mitten im Satz unterbrach und scheinbar auf Jake Pullman starrte, richtete der andere sich auf. »Verzeihung«, sagte eine sanfte Stimme. »Ich glaube, ich muß mein Eindringen erklären, Mr. Hatfield. Mein Name ist Mullion.« Jake Pullmans Begleiter zwang sich, langsam aufzustehen und sich ebenso langsam umzudrehen. Er sah den Lord mit kalter Mißbilligung an. »Nur eine Minute, Sir«, sagte er, griff in die Tasche seines Sakkos und richtete den Lauf der kleinen Automatik so auf den Lord, daß der Notar nichts davon bemerkte. »Nur eine einzige Minute. Mein Freund wird die nötigen Unterschriften leisten, und dann werden wir gehen.« »Wollen Sie nebenan warten, Sir Edward?« fragte Mr. Hatfield. »Aber das ist durchaus nicht notwendig!« widersprach Jake Pullmans ,Freund' mit erhobener Stimme und verlieh dem, was er damit meinte, Nachdruck, indem er den Lauf der Automatik etwa einen halben Zoll senkte, so daß er nun exakt auf den Magen des Lords gerichtet war. »Ich bitte Sie, Mr. Hatfield«, sagte der Lord mit der gleichen sanften Stimme. »Nur keine Umstände. Ich warte gern, bis Dr. Pullman seine Angelegenheiten erledigt hat.« Er hatte den schwarzen Stock mit dem silbernen Knauf, und in bestimmten Situationen war das eine Waffe, die einer Pistole durchaus ebenbürtig war - wenn nicht überlegen. Aber er schreckte davor zurück, den Stock zu benutzen. Ihn würde der Mann mit der Pistole nicht treffen. Aber vielleicht Jake Pullman. Oder Mr Hatfield. Der Notar beeilte sich, dem in stoischer Ruhe dasitzenden Dr. Pullmann die Papiere vorzulegen, auf denen er seine Unterschrift benötigte. Er wunderte sich über die Langsamkeit und Steifheit, mit der Pullman schrieb. »Das wär's dann wohl«, sagte der ,Freund' und sah den Lord an. »Wir gehen jetzt. Der Gesundheitszustand Dr. Pullmans ist wirklich nicht gut. Ich fürchte um sein Leben, falls etwas Unvorhergesehenes geschieht.« Das war eine deutliche Warnung an die Adresse des Lords. Jake Pullman war aufgestanden. Er nickte den beiden Männern zu und ließ sich von seinem Begleiter zum Ausgang bugsieren.
Die automatische Pistole war auf seinen Rücken gerichtet. Jake Pullman trat durch die Tür ins Vorzimmer. Sonderbarerweise waren alle drei Schreibtische unbesetzt. Auch seinem Begleiter fiel das auf, aber bevor er reagieren konnte, sauste eine schwere Hand herab und traf seine Schulter, daß er dachte, sein Schlüsselbein sei gebrochen. Instinktiv hatte er sich weggeduckt und dem Schlag so die letzte Wucht genommen. Jetzt ließ er sich fallen, rollte sich ab und schoß. Die erste Kugel blieb dicht neben Rob Jones' Kopf in der Wand stecken. Jones gab Dr. Pullman einen derben Stoß, so daß der zwischen den Schreibtischen entlangstolperte und hinfiel. Jones warf sich im gleichen Augenblick zu Boden und entging so der zweiten Kugel. Er hatte den schweren Colt-Revolver schon in der Hand. Die erste Kugel traf. »Tut mir leid, Sir. Ich wollte ihn nur kampfunfähig schießen. Aber er lag so ungünstig.« Die Kugel aus Jones' Colt-Revolver war von oben in den Schädel des Mannes gedrungen und am Hals wieder ausgetreten. Die grauenhafte Verletzung machte es schwer, den Toten zu erkennen, als die Perücke und die hauchdünne Gummimaske abgenommen waren. * Auf Chefinspektor Maughams ausdrückliche Bitte war der Lord mit Rob Jones nicht direkt nach Chelsea Square zurückgekehrt, sondern im Hauptquartier von Scotland Yard vorbeigekommen, um dort alles zu erklären. So konnten auch Superintendent Russell und Inspektor Bond aus erster Hand erfahren, welche Lösung der ,Fall Jake Pullman' gefunden hatte. »Alles begann damit, daß Dr. William Tender eine große Enttäuschung erlebte«, sagte der Lord. »Er verstand sich so gut mit Mrs. Couley, und sie hatte so oft davon gesprochen, daß er fest davon überzeugt war, der Begünstigte zu sein. Wie wir wissen, starb Mrs. Couley sehr überraschend. Dr. Tender suchte und fand das Testament, aus dem zwar nichts über die Höhe der Erbschaft hervorging, aber desto klarer, wer sie erhalten sollte: Dr Jake Pullman.« »Hatte der sich keine Hoffnungen gemacht, Sir Edward?« fragte Russell.
»Offenbar nicht. Jake Pullman, denke ich, war viel zu naiv für derartige Spekulationen.« »So naiv, wie Dr. Tender gerissen war«, sagte Rob Jones. »Und krank vor Haß und Rachsucht.« »Richtig«, sagte der Lord. »Haß und Rachsucht. - Wenn er die Erbschaft nicht bekam, sollte Jake Pullmann sie auch nicht haben. Er beschloß, seinen Kollegen zu vernichten.« »Ich verstehe«, sagte Russell, dem noch längst nicht alles klar war, der aber wenigstens an den Stellen, an denen er durchblickte, seine Intelligenz beweisen wollte. »Im Kinley Hospital begannen die Zwischenfälle…« »Ja, und dabei ging Tender außergewöhnlich geschickt vor. Er verzichtete darauf, Jake Pullman sofort in den Mittelpunkt der Verdächtigungen zu bringen. Nicht wahr, Mr. Bond?« »Allerdings, Sir Edward«, stotterte der Angesprochene. »Irgendwann kam Dr. Tender dann auf die Idee, daß das Geld vielleicht doch noch nicht für ihn verloren sei. Die Entwicklung spielte ihm in die Hände. Er hatte keine Mühe, den Fall im Auge zu behalten, zumal Mr. Ratherbone, wie ich zwischenzeitlich erfahren habe, in ständigem Kontakt zu Dr. Pullmans Anwalt stand. Auf diesem Umweg erfuhr Dr. Tender von der bevorstehenden Haftentlassung.« »Da hat er unwahrscheinlich schnell reagiert«, sagte Rob Jones. »Man könnte ihn bewundern - wäre er kein Verbrecher gewesen.« »In der Tat, Tender handelte schnell und präzise. Er weihte seine Schwester ein, die offenbar ähnlich skrupellos ist, wie er es war.« »Genaues werden wir hoffentlich von ihm selbst erfahren«, mischte der Superintendent sich wieder ein. »Gerade dieser Punkt findet mein besonderes Interesse. Eine Entführung quasi aus dem Hauptquartier der britischen Polizei! Eine Unverschämtheit, das!« »Ich schätze, wir werden noch eine Weile warten müssen, bevor wir von Dr. Pullman irgendeine Auskunft bekommen, Sir«, sagte Maugham. »Er ist sehr krank. Ob er sich überhaupt wieder völlig erholt…« »Doch«, sagte der Lord. »Wohin hat man Jake Pullman gebracht, Sir? Ist er hier in London versteckt gehalten worden?« »Das weiß ich nicht. Ich denke, wir sollten Mr. Russell und sei-
nen Leuten nicht alle Arbeit abnehmen…« Er lächelte leicht ironisch, doch bekam das außer Maugham niemand mit. Und der hatte volles Verständnis. »Ich weiß nicht, wo, aber ich weiß, wie Dr. Tender seinen Kollegen behandelt hat. Mit Hilfe von Psychodrogen und körperlichen Leiden hat er seinen Willen gebrochen, hat ihn zu einem Werkzeug gemacht, das er perfekt zu handhaben wußte. Zweifellos wäre sein teuflischer Plan aufgegangen…« »… wenn Sie nicht in letzter Sekunde dazwischengefunkt hätten, Sir Edward.« Es war Superintendent Russell, der das gesagt hatte, und zwar mit spürbarer Anerkennung. Daß der alte Mann von Scotland Yard, dessen Vorbehalte dem Lord gegenüber allgemein bekannt waren, sich auf diese Weise überwinden konnte, machte vorübergehend alle Anwesenden sprachlos. ENDE