Émile Zola
Ein Blatt Liebe Band 8 der Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem Zweiten Kais...
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Émile Zola
Ein Blatt Liebe Band 8 der Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem Zweiten Kaiserreich
Mit einem Nachwort von Rita Schober
Directmedia • Berlin 2005 Manni 2008
Erster Teil Kapitel I Das Nachtlicht brannte auf dem Kamin in einem bläulichen Glaszylinder hinter einem Buch, dessen Schatten die eine Hälfte des Zimmers ertränkte. Es war ein ruhiger Schein, der das Tischchen und das Ruhebett überschnitt, die schweren Falten der Samtvorhänge badete und den Spiegel des Palisanderschrankes, der zwischen den beiden Fenstern stand, azurblau färbte. Die bürgerliche Harmonie des Zimmers, dieses Blau der Wandbespannungen, der Möbel und des Teppichs, nahm zu dieser nächtlichen Stunde eine unbestimmte wolkige Zartheit an. Und den Fenstern gegenüber bildete auf der Schattenseite das gleichfalls mit Samt bespannte Bett eine schwarze Masse, die allein von der Blässe der Bettücher erhellt wurde. Mit gefalteten Händen lag Hélène da in der ruhigen Haltung einer Mutter und Witwe und atmete leicht. Inmitten der Stille schlug die Stutzuhr eins, die Geräusche des Stadtviertels waren erstorben. Nur Paris schickte sein fernes Schnarchen auf diese Höhen des Trocadéro. Hélènes leiser Atem war so sanft, daß er die keusche Linie ihres Busens nicht hob. Sie schlief einen schönen Schlaf, friedlich und fest, mit ihrem untadligen Profil und ihrem zu einem mächtigen Knoten geschlungenen kastanienbraunen Haar, hielt den Kopf geneigt, als sei sie beim Zuhören eingeschlummert. Im Hintergrund des Zimmers durchbrach die weitgeöffnete Tür eines Nebengemachs die Wand mit einem Viereck aus Finsternis. Aber kein Geräusch wurde laut. Es schlug halb zwei. Die Schwingungen des Pendels waren schwächer in die2
ser Gewalt des Schlafes, der das ganze Zimmer im Nichts versinken ließ. Das Nachtlicht schlief, die Möbel schliefen; auf dem Tischchen schlief neben einer ausgelöschten Lampe eine Handarbeit. Hélène, die eingeschlafen war, wahrte ihr ernstes und gütiges Aussehen. Als es zwei Uhr schlug, wurde dieser Friede gestört, ein Seufzer drang aus der Finsternis des Nebengemachs. Dann gab es ein Rascheln von Wäsche, und die Stille setzte von neuem ein. Jetzt war beengtes Atmen zu hören. Hélène hatte sich nicht gerührt. Doch jäh richtete sie sich auf. Das verworrene Stammeln eines Kindes, das leidet, hatte sie soeben geweckt. Noch schläfrig, führte sie die Hände an ihre Schläfen, als ein dumpfer Schrei sie aufspringen ließ. »Jeanne! – Jeanne! – Was hast du? Antworte doch!« fragte sie. Und da das Kind schwieg, murmelte sie, während sie schon lief, um das Nachtlicht zur Hand zu nehmen: »Mein Gott! Es ging ihr nicht gut, ich hätte mich nicht hinlegen sollen.« Rasch trat sie ins Zimmer nebenan, in dem wieder schweres Schweigen herrschte. Aber das mit Öl getränkte Nachtlicht verbreitete eine zitternde Helligkeit, die lediglich an die Zimmerdecke einen runden Fleck warf. Hélène, die sich über das Eisenbett beugte, konnte zunächst nichts unterscheiden. Dann gewahrte sie in dem bläulichen Schein inmitten der zurückgeschlagenen Bettücher Jeanne, die ganz steif war, mit hintenübergeworfenem Kopf, starren und harten Halsmuskeln. Eine Verzerrung entstellte das arme und liebenswerte Gesicht; die Augen waren offen, auf die Gardinenstange geheftet. »Mein Gott! Mein Gott!« schrie Hélène. »Mein Gott, sie stirbt!«
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Und sie stellte das Nachtlicht hin und betastete mit zitternden Händen ihre Tochter. Sie konnte den Puls nicht finden. Das Herz schien stillzustehen. Die Ärmchen, die Beinchen streckten sich heftig. Da verlor sie den Verstand, erschrak und stammelte: »Mein Kind stirbt! Hilfe! – Mein Kind! Mein Kind!« Sie kehrte ins Zimmer zurück, lief hin und her und stieß gegen die Möbel, ohne zu wissen, wohin sie ging; dann trat sie wieder ins Nebengemach und warf sich, immer noch um Hilfe rufend, von neuem vor das Bett. Sie hatte Jeanne in ihre Arme genommen, sie küßte ihr Haar, fuhr mit den Händen über ihren Körper hin und flehte sie an, ihr zu antworten. Ein Wort, ein einziges Wort. Wo tat es ihr weh? Ob sie ein bißchen Arznei von neulich haben wollte? Vielleicht hätte die Luft sie wiederbelebt? Und sie wollte unbedingt hören, daß sie etwas sagte. »Sag doch was, Jeanne, oh, sag doch was, ich bitte dich!« Mein Gott! Und nicht wissen, was tun! So plötzlich in der Nacht. Nicht einmal Licht. Ihre Gedanken verwirrten sich. Sie redete weiter mit ihrer Tochter, fragte sie und antwortete für sie. Sie hatte es im Magen; nein, im Hals. Es würde nichts sein. Ruhe war nötig. Und sie bemühte sich angestrengt, selber klaren Kopf zu behalten. Aber es zerriß ihr das Herz, ihre Tochter so starr in ihren Armen zu fühlen. Sie sah sie an, die zuckend und ohne Atem dalag; sie versuchte, vernünftig zu denken, dem Verlangen zu schreien zu widerstehen. Plötzlich schrie sie wider Willen auf. Sie eilte durch das Eßzimmer und durch die Küche und rief:
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»Rosalie! Rosalie! – Schnell, einen Arzt! – Mein Kind stirbt!« Das Dienstmädchen, das in einem kleinen Raum hinter der Küche schlief, brach in Schreckensrufe aus. Hélène war wieder zurückgelaufen. Sie tappte im Hemd umher und schien die Kälte dieser eisigen Februarnacht nicht zu spüren. Dieses Dienstmädchen würde ihr Kind noch sterben lassen! Kaum eine Minute war verstrichen. Sie kehrte in die Küche zurück, ging wieder ins Zimmer. Und im Finstern umhertastend, zog sie ungestüm einen Rock über und warf ein Tuch um ihre Schultern. Sie stieß die Möbel um und füllte mit der Heftigkeit ihrer Verzweiflung dieses Zimmer, darin ein so andächtiger Friede schlief. Dann stieg sie in Pantoffeln, die Türen offenlassend, selber die drei Stockwerke hinunter, in der Einbildung, daß allein sie einen Arzt mitbringen würde. Als die Concierge1 geöffnet hatte, stand Hélène draußen, mit brausenden Ohren, wirrem Kopf. Sie ging schnell die Rue Vineuse hinunter und läutete bei Doktor Bodin, der Jeanne schon behandelt hatte; nach einer Ewigkeit kam eine Dienerin und antwortete ihr, daß der Doktor bei einer Wöchnerin sei. Hélène blieb verstört auf dem Bürgersteig stehen. Sie kannte keinen anderen Arzt in Passy. Eine Weile lief sie die Straßen ab und sah die Häuser an. Ein schwacher eisiger Wind wehte; sie ging mit ihren Pantoffeln im lockeren Schnee, der am Abend gefallen war. Und immer sah sie ihre Tochter vor sich, in der Angstvorstellung, daß sie sie töte, wenn sie nicht sofort einen Arzt fände. Da hängte sie sich, als sie die Rue Vineuse wieder hinaufging, geradezu an einen Klingelzug. Sie wollte immerhin fragen; man würde ihr vielleicht eine Adresse geben. Sie klingelte abermals, weil man sich nicht beeilte. Der Wind klatschte ihr den dün5
nen Rock gegen die Beine, und die Strähnen ihres Haares flatterten auf. Endlich kam ein Diener öffnen und sagte ihr, daß Doktor Deberle sich schlafen gelegt habe. Sie hatte bei einem Arzt geklingelt, der Himmel ließ sie also nicht im Stich! Da schob sie den Diener beiseite, um einzutreten. Sie sagte immer wieder: »Mein Kind, mein Kind stirbt! – Sagen Sie ihm, daß er kommen soll!« Es war ein kleines vornehmes Haus voller Wandbehänge. Mit dem Diener ringend und auf alle Einwände entgegnend, daß ihr Kind sterbe, so stieg sie in den ersten Stock hinauf. Als sie in ein Zimmer gelangt war, wollte sie warten. Aber sobald sie hörte, wie nebenan der Arzt aufstand, trat sie näher und sprach durch die Tür: »Sofort, Herr Doktor, ich flehe Sie an ... Mein Kind stirbt!« Und als der Arzt in einer Hausjacke und ohne Krawatte erschien, zog sie ihn mit sich fort, sie ließ ihn sich nicht weiter ankleiden. Er hatte sie erkannt. Sie wohnte im Nebenhaus und war seine Mieterin. Daher erwachte in ihr, als er sie durch einen Garten führte und, um den Weg abzukürzen, eine Verbindungstür zwischen den beiden Grundstücken benutzte, jäh die Erinnerung. »Das stimmt ja«, murmelte sie. »Sie sind Arzt, und ich wußte es ... Sehen Sie, ich habe den Verstand verloren ... Beeilen wir uns.« Auf der Treppe wollte sie, daß er vorangehe. Sie hätte Gott nicht ehrerbietiger in ihr Heim geführt. Oben war Rosalie bei Jeanne geblieben, und sie hatte die Lampe angezündet, die auf dem Tischchen stand. Sobald der Arzt eintrat, nahm er diese Lampe und leuchtete rasch auf das Kind, das noch immer in schmerzlicher Starre 6
dalag; nur der Kopf war hinabgeglitten, schnelle Zuckungen liefen über das Gesicht. Eine Minute lang sagte er nichts, kniff die Lippen zusammen. Hélène schaute ihn ängstlich an. Als er diesen Blick der Mutter bemerkte, der ihn anflehte, murmelte er: »Es wird nichts weiter sein ... Aber man darf sie nicht hierlassen. Sie braucht Luft.« Mit einer kräftigen Bewegung trug Hélène sie auf ihrer Schulter fort. Sie hätte dem Arzt für sein gutes Wort die Hände küssen mögen, und eine Süße strömte in sie ein. Aber kaum hatte sie Jeanne in ihr großes Bett gelegt, als dieses arme Körperchen des kleinen Mädchens von heftigen Zuckungen geschüttelt wurde. Der Arzt hatte den Lampenschirm abgenommen, eine weiße Helligkeit erfüllte den Raum. Er machte ein Fenster einen Spaltbreit auf und befahl Rosalie, das Bett hinter den Vorhängen hervorzuziehen. Von neuem von Angst ergriffen, stammelte Hélène: »Sie stirbt ja, Herr Doktor! – Sehen Sie doch, sehen Sie doch! – Ich kenne sie nicht mehr wieder!« Er antwortete nicht, verfolgte den Anfall mit einem aufmerksamen Blick. Dann sagte er: »Gehen Sie in den Alkoven, halten Sie ihr die Hände, damit sie sich nicht kratzt ... So, behutsam, ohne Gewalt ... Beunruhigen Sie sich nicht, die Krise muß ihren Lauf nehmen.« Und über das Bett gebeugt, hielten sie beide Jeanne fest, deren Glieder sich in jähen Stößen entspannten. Der Arzt hatte seine Hausjacke zugeknöpft, um seinen nackten Hals zu verbergen. Hélène war in das Umschlagtuch gehüllt geblieben, das sie sich um die Schultern geworfen hatte. Aber Jeanne, die um sich schlug, zerrte an einem 7
Zipfel des Tuches, knöpfte den oberen Teil der Hausjacke auf. Die beiden merkten es gar nicht. Weder der eine noch der andere achtete auf sich. Mittlerweile legte sich der Anfall. Die Kleine schien in große Erschöpfung zu sinken. Obwohl der Doktor die Mutter über den Ausgang der Krisis beruhigte, blieb er weiterhin besorgt. Er betrachtete noch immer die Kranke, schließlich stellte er Hélène, die zwischen Bett und Wand stehengeblieben war, kurze Fragen. »Wie alt ist das Kind?« »Elfeinhalb Jahre, Herr Doktor.« Schweigen trat ein. Er schüttelte den Kopf, neigte sich vor, um Jeannes geschlossenes Augenlid zu heben und die Bindehaut zu betrachten. Dann setzte er, ohne zu Hélène hochzublicken, sein Verhör fort. »Hat sie Krämpfe gehabt, als sie klein war?« »Ja, aber diese Krämpfe sind ungefähr im Alter von sechs Jahren verschwunden ... Sie ist sehr zart. Seit ein paar Tagen habe ich gesehen, daß sie sich nicht wohl fühlt. Sie hatte Krämpfe, war geistesabwesend.« »Ist Ihnen etwas von Nervenkrankheiten in Ihrer Familie bekannt?« »Ich weiß nicht ... Meine Mutter ist an Schwindsucht gestorben.« Sie zögerte, von Schamgefühl ergriffen, da sie nicht eingestehen wollte, daß eine Großmutter in einer Irrenanstalt war. All ihre Vorfahren hatten ein tragisches Schicksal. »Gehen Sie acht«, sagte der Arzt rasch, »ein neuer Anfall!« Jeanne hatte soeben die Augen aufgeschlagen. Einen Augenblick schaute sie mit verstörtem Gesichtsausdruck 8
rings um sich, ohne ein Wort zu sagen. Dann wurde ihr Blick starr, ihr Körper warf sich mit gestreckten und steifen Gliedern hintenüber. Sie war hochrot. Auf einmal erbleichte sie, bekam eine fahle Blässe, und die Zuckungen setzten ein. »Lassen Sie sie nicht los«, sagte der Arzt. »Nehmen Sie sie auch bei der anderen Hand.« Er lief zu dem Tischchen, auf das er beim Eintreten einen kleinen Arzneikasten gestellt hatte. Er kam mit einem Fläschchen zurück, das er dem Kind zum Einatmen vorhielt. Aber das wirkte wie ein furchtbarer Peitschenhieb, Jeanne stieß dermaßen um sich, daß sie den Händen ihrer Mutter entglitt. »Nein, nein, keinen Äther!« schrie Hélène, die den Geruch erkannte. »Äther macht sie toll.« Sie reichten beide kaum aus, um sie zu halten. Sie hatte heftige Zuckungen, stemmte sich auf Fersen und Nacken hoch, so daß ihr Körper einen stumpfen Winkel bildete. Dann fiel sie zurück, sie bewegte sich unruhig in einem Schaukeln, das sie von einer Seite des Bettes auf die andere warf. Ihre Fäuste waren geballt, die Daumen gegen die Handfläche gebogen; für Augenblicke öffnete sie die Fäuste, und mit auseinandergespreizten Fingern versuchte sie, im Leeren nach etwas zu greifen, das sie zusammendrehen konnte. Sie stieß auf das Umschlagetuch ihrer Mutter, sie krallte sich daran fest. Aber besonders quälte es die Mutter, wie sie sagte, daß sie ihre Tochter nicht mehr wiedererkannte. Ihr armer Engel mit dem so süßen Gesicht hatte völlig entstellte Züge, die Augen waren in ihren Höhlen versunken und ließen nur den bläulichen Perlmuttglanz des Augapfels sehen. »Tun Sie etwas, ich flehe Sie an«, murmelte sie. »Ich habe keine Kraft mehr, Herr Doktor.« 9
Es war ihr eben wieder eingefallen, daß die Tochter einer ihrer Nachbarinnen in Marseille in einer ähnlichen Krise erstickt war. Vielleicht täuschte der Arzt sie, um sie zu schonen. Sie glaubte in jeder Sekunde auf ihrem Gesicht den letzten Hauch Jeannes zu spüren, deren stockender Atem aussetzte. Da blutete ihr das Herz, fassungslos vor Mitleid und Entsetzen weinte sie. Ihre Tränen fielen auf die unschuldige Nacktheit des Kindes, das die Decken zurückgeworfen hatte. Der Doktor führte inzwischen mit seinen langen, geschmeidigen Fingern leichte Druckbewegungen am Halsansatz aus. Die Intensität des Anfalles ließ nach. Nach ein paar schwächeren Bewegungen blieb Jeanne regungslos liegen. Sie war in die Mitte des Bettes zurückgefallen, hatte den Körper langgestreckt, die Arme ausgebreitet, der Kopf wurde vom Kissen gestützt und war auf die Brust herabgesunken. Man hätte sie für einen kindlichen Christus halten können. Hélène beugte sich herab und küßte sie lange auf die Stirn. »Ist es vorüber?« fragte sie halblaut. »Glauben Sie, daß weitere Anfälle kommen werden?« Er machte eine ausweichende Handbewegung. Dann antwortete er: »Auf jeden Fall werden sie weniger heftig sein.« Er hatte Rosalie um ein Glas und eine Karaffe gebeten. Er füllte das Glas halb, nahm zwei neue Fläschchen, zählte Tropfen, und mit Hilfe Hélènes, die den Kopf des Kindes anhob, führte er ihm zwischen die zusammengebissenen Zähne einen Löffelvoll von dieser Arznei ein. Die Lampe brannte sehr hoch mit ihrer weißen Flamme und beleuchtete die Unordnung des Zimmers, in dem die 10
Möbel umgestoßen waren. Die Kleidungsstücke, die Hélène beim Zubettgehen über die Lehne eines Sessels zu werfen pflegte, waren zu Boden geglitten und lagen auf dem Teppich im Wege. Der Arzt, der auf ein Korsett getreten war, hob es auf, damit es ihm nicht mehr zwischen die Füße kam. Verbenenduft stieg von dem zerwühlten Bett und von diesen verstreuten Wäschestücken auf. Da lag schonungslos ausgebreitet alles Intime einer Frau. Der Doktor holte selber die Waschschüssel, feuchtete ein Leinentuch an, legte es auf Jeannes Schläfen. »Madame, Sie werden sich erkälten«, sagte Rosalie, die vor Kälte zitterte. »Man könnte vielleicht das Fenster schließen ... Die Luft ist zu scharf.« »Nein, nein«, schrie Hélène, »lassen Sie das Fenster offen ... Nicht wahr, Herr Doktor?« Leichte Windstöße wehten herein und bauschten die Vorhänge. Sie spürte sie nicht. Dabei war das Umschlagetuch völlig von ihren Schultern gefallen und ließ den Brustansatz unbedeckt. Hinten hingen aus ihrem aufgelösten Haarknoten wirre Strähnen bis auf ihre Lenden herab. Sie hatte ihre nackten Arme frei gemacht, um behender zu sein, vergaß alles übrige, war nur noch von der leidenschaftlichen Liebe für ihr Kind erfüllt. Und geschäftig, dachte der Arzt in ihrer Gegenwart ebensowenig an seinen offenen Hausrock, an seinen Hemdkragen, den Jeanne soeben abgerissen hatte. »Richten Sie sie ein wenig auf«, sagte er. »Nein, nicht so ... Geben Sie mir Ihre Hand.« Er nahm ihre Hand, legte sie selber unter den Kopf des Kindes, dem er noch einen Löffel Arznei einflößen wollte. Dann rief er sie zu sich heran. Er bediente sich ihrer wie eines Krankenhelfers, und sie war von einem frommen Gehorsam, da sie sah, daß ihre Tochter ruhiger wirkte. 11
»Kommen Sie ... lehnen Sie ihren Kopf an Ihre Schulter, während ich abhorche.« Hélène tat, was er anordnete. Da beugte er sich über sie, um sein Ohr an Jeannes Brust zu legen. Er hatte mit der Wange ihre nackte Schulter gestreift, und während er das Herz des Kindes abhorchte, hätte er das Herz der Mutter schlagen hören können. Als er sich wieder aufrichtete, begegnete sein Atem dem Atem Hélènes. »Es ist nichts auf dieser Seite«, sagte er gelassen, und sie freute sich. »Legen Sie sie wieder hin, wir sollten sie nicht länger quälen.« Aber es kam zu einem neuen Anfall. Er war viel weniger schwer. Jeanne gab ein paar unzusammenhängende Worte von sich. Zwei weitere, in kurzen Abständen aufeinanderfolgende Anfälle kamen nicht voll zum Ausbruch. Die Kleine war in völlige Entkräftung gesunken, die den Arzt von neuem zu beunruhigen schien. Er hatte sie mit dem Kopf sehr hoch gebettet, die Decke unter das Kinn heraufgezogen, und fast eine Stunde lang blieb er da, wachte bei ihr und schien auf das normale Geräusch der Atmung zu warten. Auf der anderen Seite des Bettes wartete Hélène gleichfalls, ohne sich zu rühren. Nach und nach legte sich tiefer Friede auf Jeannes Gesicht. Die Lampe beschien sie mit blondem Licht. Ihr Antlitz nahm wieder sein liebenswertes, ein wenig längliches Oval an, das die Anmut und die Zartheit einer Antilope hatte. Ihre schönen, geschlossenen Augen hatten breite bläuliche und durchsichtige Lider, unter denen man den dunklen Glanz des Blickes erriet. Ihre schmale Nase atmete leicht, ihren ein wenig großen Mund um-
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spielte ein unbestimmtes Lächeln. Und so schlief sie auf dem Tuch ihres ausgebreiteten tintenschwarzen Haars. »Für diesmal ist es vorüber«, sagte der Arzt halblaut. Und er wandte sich um, ordnete seine Fläschchen, schickte sich an zu gehen. Hélène näherte sich flehend. »Oh! Herr Doktor«, murmelte sie, »verlassen Sie mich nicht. Warten Sie ein paar Minuten. Wenn sich nochmals Anfälle einstellen sollten ... Sie haben mein Kind gerettet.« Er gab ihr zu verstehen, daß nichts mehr zu befürchten sei. Dennoch blieb er, weil er sie beruhigen wollte. Sie hatte Rosalie zu Bett geschickt. Bald kam der Tag herauf, ein milder und grauer Tag über dem Schnee, der die Dächer weiß färbte. Der Doktor schloß das Fenster. Und beide wechselten inmitten der großen Stille mit sehr leiser Stimme hin und wieder ein paar Worte: »Sie hat nichts Ernstes, versichere ich Ihnen«, sagte er. »Nur ist in ihrem Alter sehr viel Pflege nötig ... Passen Sie vor allem auf, daß sie ein gleichmäßiges, glückliches Leben ohne Erschütterungen führt.« Nach einer Weile sagte nun Hélène: »Sie ist so zart, so nervös ... Ich bin nicht immer Herr über sie. Wegen Kleinigkeiten kommt es bei ihr zu Freuden- und Traurigkeitsausbrüchen, die mich beunruhigen, so heftig sind sie ... Sie liebt mich mit einer Leidenschaft, einer Eifersucht, die sie zum Schluchzen bringen, wenn ich ein anderes Kind liebkose.« Er schüttelte den Kopf und wiederholte dabei: »Ja, ja, zart, nervös, eifersüchtig ... Doktor Bodin behandelt sie, nicht wahr? Ich werde mit ihm über sie reden. Wir werden eine wirksame Behandlung festsetzen.
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Sie ist in dem Alter, das für die Gesundheit einer Frau entscheidend ist.« Als Hélène sah, daß er so aufopferungsvoll war, kam eine Anwandlung von Dankbarkeit über sie. »Ach, Herr Doktor! Wie sehr danke ich Ihnen für alle Mühe, die Sie sich gemacht haben!« Da sie lauter gesprochen hatte, beugte sie sich dann aus Angst, Jeanne aufgeweckt zu haben, über das Bett. Das Kind schlief, lag ganz rosig da, mit seinem unbestimmten Lächeln auf den Lippen. In dem nun wieder ruhigen Zimmer schwebte schlaffes Sehnen. Eine andächtige und gleichsam erleichterte Schläfrigkeit hatte die Wandbespannungen, die Möbel, die verstreuten Kleidungsstücke wieder umfangen. Alles ertrank und löste sich im Morgengrauen, das durch die beiden Fenster drang. Hélène blieb wieder zwischen Bett und Wand stehen. Der Doktor stand an der anderen Seite des Bettes. Und zwischen ihnen lag Jeanne, die mit ihrem sanften Atem schlummerte. »Ihr Vater war oft krank«, fing Hélène leise wieder an, auf seine Fragen zurückkommend. »Mir ist es gesundheitlich immer gut gegangen.« Der Doktor, der sie überhaupt noch nicht angeschaut hatte, blickte hoch und konnte nicht umhin zu lächeln, so gesund und kräftig fand er sie. Sie lächelte auch, mit ihrem guten, ruhigen Lächeln. Ihre schöne Gesundheit beglückte sie. Indessen wandte er den Blick nicht von ihr. Niemals hatte er eine makellosere Schönheit gesehen. Sie war groß, prachtvoll gebaut, eine Juno mit kastanienbraunem Haar, goldigem Kastanienbraun mit blondem Schimmer. Wenn sie langsam den Kopf wandte, nahm ihr Profil die 14
ernste Reinheit einer Statue an. Ihre grauen Augen und ihre weißen Zähne erhellten ihr ganzes Gesicht. Sie hatte ein rundes, etwas kräftiges Kinn, das ihr ein verständiges und entschlossenes Aussehen gab. Was aber den Doktor in Erstaunen setzte, war die herrliche Nacktheit dieser Mutter. Das Tuch war noch weiter herabgeglitten und hatte den Busen entblößt, die Arme waren nackt. Eine große Haarflechte von der Farbe gebräunten Goldes floß über die Schulter herab und verlor sich zwischen den Brüsten. Und in ihrem schlecht festgesteckten Unterrock, ihrem zerzausten Haar und all ihrer Unordnung bewahrte sie Hoheit, erhabene Ehrbarkeit und Schamhaftigkeit, die sie keusch bleiben ließ unter diesem Mannesblick, in dem eine große Verwirrung aufstieg. Sie selber musterte ihn einen Augenblick. Doktor Deberle war ein Mann von fünfunddreißig Jahren mit rasiertem, ein wenig langem Gesicht, klugen Augen, schmalen Lippen. Wie sie ihn ansah, bemerkte sie nun, daß sein Hals nackt war. Und so standen sie einander gegenüber, mit der kleinen eingeschlafenen Jeanne zwischen sich. Aber dieser eben noch unermeßliche Zwischenraum schien zusammenzuschrumpfen. Das Kind hatte einen zu leisen Atem. Da zog Hélène mit langsamer Hand ihr Tuch wieder hoch und hüllte sich darin ein, während der Doktor den Kragen seiner Hausjacke zuknöpfte. »Mama, Mama«, stammelte Jeanne im Schlaf. Sie erwachte. Als sie die Augen aufschlug, sah sie den Arzt und wurde unruhig. »Wer ist das? Wer ist das?« fragte sie. Doch ihre Mutter küßte sie. »Schlafe, mein Liebling, du bist ein bißchen krank gewesen ... Das ist ein Freund.«
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Das Kind schien überrascht zu sein. Es erinnerte sich an nichts. Der Schlaf umfing es von neuem, und es schlief wieder ein, zart dabei murmelnd: »Oh! Ich möchte heia machen! – Gute Nacht, meine liebe gute Mutter ... Wenn er dein Freund ist, wird er auch meiner sein.« Der Arzt hatte seinen Arzneikasten weggesteckt. Er grüßte schweigend und zog sich zurück. Hélène lauschte einen Augenblick auf das Atmen des Kindes. Mit abwesendem Blick saß sie gedankenverloren auf dem Bettrand und vergaß dann alles um sich her. Die Lampe, die man hatte brennen lassen, verblich im hellen Tageslicht. Kapitel II Am folgenden Tag überlegte Hélène, daß es sich gehören würde, zu Doktor Deberle zu gehen und ihm zu danken. Daß sie ihn so schroff gezwungen hatte, ihr zu folgen, daß er die ganze Nacht bei Jeanne verbracht hatte, das machte sie verlegen, weil es eine Gefälligkeit war, die ihr über die üblichen Besuche eines Arztes hinauszugehen schien. Dennoch zögerte sie zwei Tage lang, da ihr dieser Schritt aus Gründen, die sie nicht hätte nennen können, widerstrebte. Diese Unschlüssigkeit ließ sie den Gedanken an den Arzt nicht loswerden; eines Morgens traf sie ihn und versteckte sich wie ein Kind. Hinterher war sie sehr verärgert über diese Anwandlung von Schüchternheit. Ihre ruhige und aufrechte Natur verwahrte sich gegen diese Verwirrung, die in ihr Leben trat. Daher beschloß sie, noch am selben Tag zu dem Arzt zu gehen und ihm zu danken. 16
Die Kleine hatte die Krise in der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch gehabt, und nun war es Sonnabend. Jeanne war völlig wiederhergestellt. Doktor Bodin, der sehr beunruhigt herbeigeeilt war, hatte mit der Achtung, die er als armer alter Arzt des Stadtviertels für einen jungen, reichen und schon berühmten Kollegen hegte, von Doktor Deberle gesprochen. Verschmitzt lächelnd, erzählte er jedoch, daß das Vermögen von Papa Deberle stamme, einem Mann, den ganz Passy verehrte. Der Sohn habe lediglich die Mühe gehabt, eineinhalb Millionen und eine glänzende Praxis zu erben. Ein sehr tüchtiger Bursche übrigens, beeilte sich Doktor Bodin hinzuzufügen, und er sehe es als eine Ehre an, mit ihm eine Konsultation über die teure Gesundheit seiner kleinen Freundin Jeanne zu führen. Gegen drei Uhr gingen Hélène und ihre Tochter hinunter und hatten nur ein paar Schritte in der Rue Vineuse zu gehen, um an dem vornehmen Nachbarhaus zu klingeln. Beide trugen noch Volltrauer. Ein Kammerdiener mit Livree und weißer Krawatte öffnete ihnen. Hélène erkannte die geräumige, mit orientalischen Portieren ausgeschlagene Diele wieder; nur schmückte jetzt rechts und links eine verschwenderische Fülle von Blumen die kleinen Tische. Der Diener hatte sie in einen kleinen Salon mit Wandbehängen und resedafarbenen Möbeln eintreten lassen. Und er stand da und wartete. Da nannte ihm Hélène ihren Namen: »Madame Grandjean.« Der Diener stieß die Tür eines in Gelb und Schwarz gehaltenen Salons von außergewöhnlicher Pracht auf, und beiseite tretend wiederholte er: »Madame Grandjean.«
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Auf der Schwelle wich Hélène unwillkürlich zurück. Sie hatte soeben am anderen Ende in der Kaminecke eine junge Dame erblickt, die auf einem schmalen Kanapee saß, das von der Weite ihrer Röcke gänzlich eingenommen wurde. Ihr gegenüber saß eine ältere Dame, die zu Besuch gekommen war und weder ihren Hut noch ihr Umschlagetuch abgelegt hatte. »Verzeihung«, murmelte Hélène, »ich wollte gern Herrn Doktor Deberle sprechen.« Und sie nahm wieder Jeanne bei der Hand, die sie vor sich hatte eintreten lassen. Sie war verwundert und verlegen, weil sie so an diese junge Dame geraten war. Warum hatte sie nicht nach dem Doktor gefragt? Sie wußte doch, daß er verheiratet war. Frau Deberle beendete gerade mit schneller und etwas scharfer Stimme einen Bericht: »Oh! Das ist wunderbar, wunderbar! – Sie stirbt mit einem Realismus! – Sehen Sie, sie packt ihr Mieder, so, sie wirft den Kopf hintenüber, und sie wird ganz grün ... Ich schwöre Ihnen, daß man sie sehen muß, Mademoiselle Aurélie ...« Dann erhob sie sich, kam mit lautem Stoffrascheln bis zur Tür und sagte mit bezaubernder Liebenswürdigkeit: »Wollen Sie bitte eintreten, Madame ... Mein Mann ist nicht da ... Aber ich würde mich sehr, sehr freuen, ich versichere es Ihnen ... Das ist doch wohl das schöne Fräulein, das neulich nacht so krank war ... Ich bitte Sie, setzen Sie sich einen Augenblick.« Hélène mußte in einem Sessel Platz nehmen, während sich Jeanne schüchtern auf den Rand eines Stuhles setzte. Frau Deberle war wieder in ihrem kleinen Kanapee versunken und fügte mit hübschem Lachen hinzu: »Heute ist mein Empfangstag. Ja, ich empfange immer Sonnabend Besuch ... Henri führt dann alle möglichen 18
Leute bei uns ein. In der vorigen Woche hat er mir einen Oberst angebracht, der das Zipperlein hatte.« »Sind Sie toll, Juliette«, murmelte Fräulein Aurélie, die ältere Dame, eine arme alte Freundin, die sie schon hatte zur Welt kommen sehen. Ein kurzes Schweigen entstand. Hélène warf einen Blick auf die Pracht des Salons, auf die in Schwarz und Gold gehaltenen Vorhänge und Sessel, die Sternengeflimmer ausstrahlten. Blumen erblühten auf dem Kamin, auf dem Klavier, auf den Tischen; und durch die Fensterscheiben kam das helle Licht des Gartens herein, dessen entlaubte Bäume und nackte Erde man sehen konnte. Es war sehr warm, die gleichmäßige Wärme einer Zentralheizung; im Kamin lag ein einziges Holzscheit und verwandelte sich in Glut. Dann erfaßte Hélène mit einem weiteren Blick, daß der Glanz des Salons ein glücklich gewählter Rahmen war. Frau Deberle hatte tintenschwarze Haare und milchweiße Haut. Sie war klein, mollig, schmiegsam und anmutig. In all diesem Gold wurde ihr blasser Teint unter der dichten dunklen Haartracht, die sie trug, von purpurnem Schimmer vergoldet. Hélène fand sie wahrhaft anbetungswürdig. »Schrecklich, diese Krämpfe«, hatte Frau Deberle wieder begonnen. »Mein kleiner Lucien hat welche gehabt, aber im ersten Kindesalter ... Wie beunruhigt Sie sicher gewesen sind, Madame! Nun, das liebe Kind scheint jetzt ganz wohlauf zu sein.« Und während sie die Sätze dahinschleppte, betrachtete sie nun ihrerseits Hélène, war überrascht und entzückt von ihrer großen Schönheit. Niemals hatte sie eine Frau gesehen, die königlicher wirkte in solch schwarzen Kleidern, die die hohe und strenge Gestalt der Witwe umschlossen. Ihre Bewunderung äußerte sich durch ein 19
unwillkürliches Lächeln, während sie mit Fräulein Aurélie einen kurzen Blick wechselte. Beide musterten sie auf so naiv entzückte Weise, daß Hélène gleich ihnen leise lächelte. Dann streckte sich Frau Deberle behutsam auf ihrem Kanapee aus und nahm den an ihrem Gürtel befestigten Fächer. »Sie waren gestern nicht bei der Premiere im Théâtre du Vaudeville2, Madame?« »Ich gehe niemals ins Theater«, antwortete Hélène. »Oh, die kleine Noëmi war wundervoll, wundervoll! – Sie stirbt mit einem Realismus! – Sie packt ihr Mieder, so, sie wirft den Kopf hintenüber, sie wird ganz grün ... Die Wirkung war toll.« Einen Augenblick lang erörterte sie das Spiel der Schauspielerin, die sie übrigens verteidigte. Dann ging sie zu den anderen Pariser Neuigkeiten über: eine Gemäldeausstellung, auf der sie unerhörte Ölbilder gesehen hatte, ein stumpfsinniger Roman, für den man viel Reklame machte, ein gewagtes Abenteuer, über das sie mit verhüllten Worten mit Fräulein Aurélie sprach. Und so sprang sie unermüdlich mit flinker Zunge von einem Gegenstand zum anderen über, lebte darin, wie in einer ihr ureigenen Atmosphäre. Hélène, die dieser Welt fremd war, begnügte sich damit, zuzuhören, und brachte von Zeit zu Zeit ein Wort, eine kurze Antwort an. Die Tür öffnete sich, der Diener meldete: »Madame de Chermette ... Madame Tissot ...« Zwei Damen in großer Toilette traten ein. Frau Deberle ging rasch auf sie zu, und die mit Rüschen überladene Schleppe ihres schwarzen Seidenkleides war so lang, daß sie sie jedesmal, wenn sie sich um sich selber drehte, mit 20
einem kurzen Fersenruck beiseite fegte. Einen Augenblick herrschte ein lebhaftes Gewirr von flötenden Stimmen. »Wie liebenswürdig von Ihnen! – Ich bekomme Sie ja überhaupt nicht zu Gesicht ...« »Wir kommen wegen dieser Lotterie, wissen Sie?« »Ganz recht, ganz recht.« »Oh! Wir können uns nicht setzen. Wir haben noch zwanzig Häuser zu erledigen.« »Nun, Sie werden sich doch nicht gleich wieder davonmachen.« Und die beiden Damen setzten sich schließlich auf den Rand eines Kanapees. Dann legten die flötenden Stimmen noch schärfer wieder los. »Na, gestern im Théâtre du Vaudeville?« »Oh! Prachtvoll!« »Sie wissen, daß sie ihr Mieder aufhakt und ihre Haare herabfallen läßt. Darauf beruht die ganze Wirkung.« »Man behauptet, daß sie etwas schluckt, um grün zu werden.« »Nein, nein, die Bewegungen sind berechnet ... Aber man mußte sie erst einmal herausfinden.« »Es ist wunderbar.« Die beiden Damen waren aufgestanden. Sie empfahlen sich. Der Salon sank in seinen warmen Frieden zurück. Auf dem Kamin strömten Hyazinthen einen sehr durchdringenden Duft aus. Einen Augenblick hörte man vom Garten her den heftigen Streit eines Schwarms Spatzen, die sich auf einem Rasen niederließen. Bevor sich Frau Deberle wieder setzte, zog sie an einem Fenster ihr gegenüber den Store aus gesticktem Tüll zu; und sie nahm ihren Platz wieder ein im noch sanfteren Gold des Salons. 21
»Ich bitte Sie um Verzeihung«, sagte sie, »man wird geradezu überfallen ...« Und sehr herzlich plauderte sie in ruhigem Ernst mit Hélène. Sie schien ihre Geschichte zum Teil zu kennen, zweifellos durch das Geschwätz aus dem Hause, das ihr gehörte. Mit taktvoller Beherztheit, in die sie viel Freundschaft hineinzulegen schien, sprach sie zu ihr von ihrem verstorbenen Mann, von diesem schrecklichen Tod in einem Hotel, im Hotel du Var in der Rue de Richelieu. »Und Sie kamen neu hier an, nicht wahr? Sie waren vorher noch nie nach Paris gekommen ... Das muß gräßlich sein, dieser Trauerfall unter Unbekannten, so kurz nach einer langen Reise, und wenn man noch nicht weiß, wohin man seinen Fuß setzen soll.« Hélène nickte langsam. Ja, sie hatte furchtbare Stunden zugebracht. Die Krankheit, die ihren Mann dahinraffen sollte, war am Tage nach ihrer Ankunft gerade in dem Augenblick jäh zum Ausbruch gekommen, als sie zusammen ausgehen wollten. Sie kannte keine Straße, sie wußte nicht einmal, in welchem Stadtteil sie sich befand; und acht Tage lang war sie mit dem Sterbenden eingeschlossen geblieben, während sie ganz Paris unter ihrem Fenster grollen hörte, sich allein, verlassen, verloren fühlte, wie in tiefster Einsamkeit. Als sie zum erstenmal wieder den Fuß auf die Straße gesetzt hatte, war sie Witwe. Der Gedanke an dieses große kahle, mit Arzneiflaschen gefüllte Zimmer, in dem die Koffer noch nicht einmal ausgepackt waren, verursachte ihr noch heute einen Schauder. »Ihr Gatte, hat man mir gesagt, sei beinahe doppelt so alt gewesen wie Sie?« fragte Frau Deberle mit dem Ausdruck tiefer Anteilnahme, während Fräulein Aurélie beide Ohren spitzte, damit ihr kein Wort entging. 22
»Aber nein«, antwortete Hélène, »er war kaum sechs Jahre älter als ich.« Und ohne große Umschweife erzählte sie in ein paar Sätzen die Geschichte ihrer Ehe: Von der großen Liebe, die ihr Mann zu ihr gefaßt hatte, als sie mit ihrem Vater, dem Hutmacher Mouret, in Marseille in der Rue des Petites-Maries wohnte; vom starrköpfigen Widerstand der Familie Grandjean, einer reichen Zuckersiederfamilie, die über die Armut des jungen Mädchens außer sich war; und von der traurigen und heimlichen Hochzeit nach Erfüllung der gesetzlichen Formalitäten und ihrem unsicheren Leben bis zu dem Tag, an dem ein Onkel ihnen bei seinem Tode ungefähr zehntausend Francs Jahreszinsen vermacht hatte. Da hatte Grandjean, der einen Haß gegen Marseille hegte, beschlossen, sie würden sich in Paris niederlassen. »In welchem Alter haben Sie denn geheiratet?« fragte Frau Deberle noch. »Mit siebzehn Jahren.« »Sie müssen sehr schön gewesen sein.« Die Unterhaltung verebbte. Hélène schien gar nicht gehört zu haben. »Madame Manguelin«, meldete der Diener. Eine junge Frau erschien, die zurückhaltend und verlegen war. Frau Deberle erhob sich kaum. Es war eine ihrer Schutzbefohlenen, die ihr für eine Gefälligkeit danken kam. Sie blieb höchstens ein paar Minuten und zog sich mit einer Verbeugung zurück. Da nahm Frau Deberle die Unterhaltung wieder auf, indem sie vom Abbé Jouve sprach, den beide kannten. Das war ein bescheidener Pfarrverweser von NotreDame-de-Grâce, der Gemeinde von Passy; seine Barmherzigkeit machte ihn zu dem Priester des Viertels, den
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man am meisten liebte und auf den man am meisten hörte. »Oh! So salbungsvoll!« murmelte sie mit frommer Miene. »Er ist sehr gut zu uns gewesen«, sagte Hélène. »Mein Mann hatte ihn früher in Marseille gekannt ... Sowie er von meinem Unglück erfahren hat, hat er sich um alles gekümmert. Er hat uns nämlich in Passy untergebracht.« »Hat er nicht einen Bruder?« fragte Juliette. »Ja, seine Mutter hatte sich wieder verheiratet ... Herr Rambaud kannte meinen Mann ebenfalls ... Er hat in der Rue de Rambuteau ein großes Spezialgeschäft für Öle und Erzeugnisse des Südens gegründet, und er verdient, glaube ich, viel Geld.« Dann fügte sie mit Heiterkeit hinzu: »Der Abbé und sein Bruder sind mein ganzer Hofstaat.« Jeanne, die sich auf dem Rand ihres Stuhles langweilte, sah ihre Mutter mit ungeduldiger Miene an. Ihr feines Antilopengesicht litt, als bedaure sie alles, was man da sagte; und zuweilen schien sie die schweren und heftigen Düfte das Salons zu wittern, und mißtrauisch, durch ihre übermäßige Empfindsamkeit vor unbestimmten Gefahren gewarnt, warf sie heimliche Seitenblicke auf die Möbel. Dann richtete sie ihre Blicke mit tyrannischer Anbetung wieder auf ihre Mutter. Frau Deberle bemerkte das Unbehagen des Kindes. »Sieh da«, sagte sie, »ein kleines Fräulein, dem es langweilig ist, so vernünftig wie ein Erwachsener zu sein. Da, auf diesem Tischchen sind Bilderbücher.« Jeanne holte ein Album; aber ihre Blicke glitten mit flehendem Ausdruck über das Buch hinweg zu ihrer Mutter. Von der feinen behaglichen Umgebung, in der sie sich befand, eingenommen, rührte sich Hélène nicht; 24
sie hatte ruhiges Blut und blieb gerne stundenlang sitzen. Als jedoch der Diener Schlag auf Schlag drei Damen meldete, Frau Berthier, Frau de Guiraud und Frau Levasseur, glaubte sie aufstehen zu müssen. Aber Frau Deberle rief: »Bleiben Sie doch, ich muß Ihnen meinen Sohn zeigen.« Der Kreis erweiterte sich vor dem Kamin. All diese Damen redeten gleichzeitig. Eine war dabei, die sagte, sie fühle sich wie zerschlagen, und sie erzählte, daß sie seit fünf Tagen nicht vor vier Uhr morgens ins Bett gekommen sei. Eine andere beklagte sich bitter über die Ammen; man fände nicht eine mehr, die ehrbar sei. Dann kam das Gespräch auf die Schneiderinnen. Frau Deberle behauptete, daß eine Frau eine andere nicht richtig anziehen könne, das müsse ein Mann tun. Indessen flüsterten zwei Damen miteinander, und da Schweigen entstand, hörte man drei oder vier Worte: alle fingen an zu lachen und fächelten sich mit matter Hand Luft zu. »Herr Malignon«, meldete der Diener. Ein großer, untadelig gekleideter junger Mann trat ein. Er wurde mit leichten Ausrufen begrüßt. Frau Deberle reichte ihm, ohne sich zu erheben, die Hand und sagte: »Nun, gestern im Théâtre du Vaudeville?« »Ekelhaft«, rief er. »Wieso, ekelhaft! – Sie ist wundervoll, wenn sie ihr Mieder packt und den Kopf hintenüberwirft ...« »Lassen Sie doch! Das ist widerlich vor Realismus.« Nun stritt man darüber. Realismus war recht schnell gesagt. Doch der junge Mann wollte durchaus nichts von Realismus wissen. »Nirgends, verstehen Sie!« sagte er, die Stimme hebend. »Nirgends! Das würdigt die Kunst herab.« Man 25
würde schließlich hübsche Dinge auf den Brettern zu sehen bekommen! Warum trieb Noëmi es nicht bis zum Äußersten? Und er deutete eine Gebärde an, die alle anwesenden Damen entrüstete. Pfui! Wie abscheulich! Aber da Frau Deberle ihren Satz über die wunderbare Wirkung angebracht hatte, die die Schauspielerin erzielte, und Frau Levasseur erzählt hatte, daß eine Dame auf dem Rang in Ohnmacht gefallen war, kam man über ein, daß es ein großer Erfolg war. Dieses Wort setzte der Erörterung ein jähes Ende. Der junge Mann streckte sich mitten unter den ausgebreiteten Röcken in einem Sessel aus. Er schien ein sehr vertrauter Freund im Hause des Arztes zu sein. Er hatte gedankenlos eine Blüte von einem Blumentischchen genommen und zerkaute sie. Frau Deberle fragte ihn: »Haben Sie den Roman gelesen?« Doch er ließ sie nicht ausreden und antwortete mit überlegener Miene: »Ich lese nur zwei Romane im Jahr.« Was die Ausstellung des Künstlerklubs betreffe, so sei sie es wirklich nicht wert, daß man sich deswegen bemühe. Als dann alle Gesprächsthemen des Tages erschöpft waren, stützte er sich mit dem Ellenbogen auf das kleine Kanapee Juliettes, mit der er leise ein paar Worte wechselte, während die anderen Damen lebhaft miteinander plauderten. »Da! Er ist fortgegangen«, rief Frau Berthier und drehte sich um. »Vor einer Stunde habe ich ihn bei Madame Robinot getroffen.« »Ja, und er geht zu Madame Lecomte«, sagte Frau Deberle. »Oh! Er ist der meistbeschäftigte Mann von Paris.« Sie wandte sich an Hélène, die diese Szene verfolgt hatte, und fuhr fort: 26
»Ein sehr vornehmer Junge, den wir sehr gern haben ... Er ist bei einem Wechselmakler beteiligt. Sehr reich übrigens und über alles auf dem laufenden.« Die Damen gingen fort. »Leben Sie wohl, meine liebe Madame Deberle, ich rechne am Mittwoch auf Sie.« »Ja, ganz recht, bis Mittwoch.« »Sagen Sie mir, wird man Sie auf dieser Abendgesellschaft sehen? Man weiß nie, mit wem man zusammentrifft. Ich gehe, wenn Sie hingehen.« »Gut, ich werde gehen, ich verspreche es Ihnen. Meine besten Grüße an Herrn de Guiraud.« Als Frau Deberle zurückkam, fand sie Hélène in der Mitte des Salons stehend. Jeanne drängte sich dicht an ihre Mutter, deren Hand sie erfaßt hatte, und mit ihren zuckenden und streichelnden Fingern zog sie sie mit kleinen Rucken zur Tür. »Ach, richtig«, murmelte die Herrin des Hauses. Sie läutete nach dem Diener. »Pierre, sagen Sie Miß Smithson, sie möchte Lucien bringen.« Und in dem nun folgenden Augenblick des Wartens ging die Tür wieder auf, ohne daß man jemand gemeldet hätte. Ein schönes Mädchen von sechzehn Jahren trat ein, dem ein kleiner Greis mit pausbäckigem und rosigem Gesicht folgte. »Guten Tag, Schwester«, sagte das junge Mädchen und küßte Frau Deberle. »Guten Tag, Pauline ... guten Tag, Vater ...«, antwortete sie. Fräulein Aurélie, die sich nicht aus der Ecke des Kamins fortgerührt hatte, erhob sich, um Herrn Letellier zu begrüßen. Er hatte ein großes Seidengeschäft am Boulevard des Capucines. Seit dem Tod seiner Frau führte er 27
seine jüngste Tochter überall herum, auf der Suche nach einer guten Partie. »Warst du gestern im Théâtre du Vaudeville?« fragte Pauline. »Oh, wunderbar!« wiederholte mechanisch Juliette, die vor einem Spiegel stand und im Begriff war, eine widerspenstige Locke hochzustecken. Pauline schmollte wie ein verzogenes Kind. »Ist das aber ärgerlich, ein junges Mädchen zu sein, man darf nichts sehen! – Ich bin mit Papa um Mitternacht bis zur Tür gegangen, um zu erfahren, wie das Stück verlaufen ist.« »Ja«, sagte der Vater, »wir haben Malignon getroffen. Er fand es sehr gut.« »Sieh an!« rief Juliette. »Er war gerade hier, er fand es ekelhaft ... Man kennt sich nie in ihm aus.« »Hast du viel Besuch gehabt?« fragte Pauline, jäh auf ein anderes Thema überspringend. »Oh! Irrsinnig viel Besuch, all diese Damen! Es ist hier nicht leer geworden ... Ich bin tot ...« Dann fiel ihr ein, daß sie vergaß, eine Vorstellung in aller Form vorzunehmen, und sie unterbrach sich: »Mein Vater und meine Schwester ... Madame Grandjean ...« Und man begann eine Unterhaltung über die Kinder und über die Wehwehchen, die die Mütter so beunruhigen, da erschien Fräulein Smithson, eine englische Gouvernante, die einen kleinen Jungen an der Hand hielt. Frau Deberle richtete rasch ein paar Worte auf englisch an sie, um sie dafür auszuschalten, daß sie auf sich hatte warten lassen. »Oh, da ist ja mein kleiner Lucien!« rief Pauline, die sich mit lautem Röckerascheln vor dem Kind hinkniete.
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»Laß ihn, laß ihn«, sagte Juliette. »Komm hierher, Lucien; komm, sag diesem Fräulein guten Tag.« Der kleine Junge trat verlegen vor. Er war höchstens sieben Jahre alt, dick und untersetzt und mit puppenhafter Koketterie gekleidet. Als er sah, daß alle ihn lächelnd anschauten, blieb er stehen; und mit seinen erstaunten blauen Augen musterte er Jeanne. »Geh schon«, murmelte seine Mutter. Er fragte sie mit einem flüchtigen Blick um Rat, machte noch einen Schritt. Er legte dabei jene Schwerfälligkeit an den Tag, die Knaben eigen ist, hatte den Hals eingezogen, hatte starke und trotzige Lippen, leicht gerunzelte, heimtückische Brauen. Jeanne mußte ihm wohl Furcht machen, weil sie ernst, blaß und ganz in Schwarz gekleidet war. »Mein Kind, man muß freundlich sein, du auch!« sagte Hélène, da sie die steife Haltung ihrer Tochter sah. Die Kleine hatte das Handgelenk ihrer Mutter nicht losgelassen; und zwischen Ärmel und Handschuh fuhr sie mit ihren Fingern über die Haut hin. Sie hielt den Kopf gesenkt und erwartete Lucien mit dem unruhigen Ausdruck eines scheuen und nervösen Mädchens, das drauf und dran ist, einer Liebkosung zu entfliehen. Dennoch tat sie nun auch einen Schritt, als ihre Mutter sie sanft vorschob. »Mein kleines Fräulein, Sie werden ihm zuerst einen Kuß geben müssen«, fing Frau Deberle lachend wieder an. »Bei ihm müssen immer die Damen anfangen ... Oh! Dieses große Dummchen!« »Gib ihm einen Kuß, Jeanne«, sagte Hélène. Die Kleine blickte zu ihrer Mutter hoch; gleichsam gewonnen durch das dumme Aussehen des kleinen Jungen und von einer plötzlichen Rührung vor seinem verle29
genen, gutmütigen Gesicht ergriffen, zeigte sie ein liebes Lächeln. Ihr Gesicht hellte sich auf unter der jähen Woge einer großen inneren Leidenschaft. »Gern, Mama.« Und sie faßte Lucien bei den Schultern, hob ihn fast hoch und küßte ihn kräftig auf beide Wangen. Er wollte sie daraufhin auch küssen. »So ist's recht!« riefen alle Anwesenden. Hélène grüßte und erreichte in Begleitung von Frau Deberle die Tür. »Ich bitte Sie, Madame«, sagte sie, »würden Sie Herrn Doktor all meinen Dank übermitteln ... Er hat mich neulich nacht von tödlicher Sorge befreit.« »Henri ist also nicht da?« unterbrach Herr Letellier. »Nein, er wird spät heimkommen«, antwortete Juliette. Und als sie sah, daß Fräulein Aurélie sich erhob, um mit Frau Grandjean fortzugehen, fügte sie hinzu: »Aber Sie bleiben doch zum Abendessen bei uns, das ist abgemacht.« Das alte Fräulein, das jeden Sonnabend auf diese Einladung wartete, entschloß sich, das Umschlagetuch und den Hut abzulegen. Man erstickte im Salon. Herr Letellier hatte soeben ein Fenster geöffnet, vor dem er aufgepflanzt stehenblieb, und war ganz von einem Fliederstrauch in Anspruch genommen, der schon Knospen trieb. Pauline spielte mit Lucien Haschen inmitten der Stühle und Sessel, die durch die Besuche in eine heillose Unordnung geraten waren. Da reichte Frau Deberle mit freundschaftlich freimütiger Gebärde Hélène auf der Schwelle die Hand. »Sie erlauben doch«, sagte sie. »Mein Mann hat mir von Ihnen erzählt, ich fühlte mich hingezogen zu Ihnen. Ihr Unglück, Ihre Einsamkeit ... Kurzum, ich freue mich 30
sehr, Sie gesehen zu haben, und ich rechne damit, daß wir es nicht dabei bewenden lassen.« »Ich verspreche es Ihnen, und ich danke Ihnen«, antwortete Hélène, sehr gerührt von dieser Anwandlung von Zuneigung bei dieser Dame, die ihr etwas verdreht vorgekommen war. Ihre Hände blieben ineinander liegen, lächelnd schauten sie einander ins Gesicht. Juliette gestand mit schmeichelnder Miene den Grund ihrer plötzlichen Freundschaft: »Sie sind so schön, daß man Sie wohl gern haben muß!« Hélène begann fröhlich zu lachen, denn ihre Schönheit ließ sie unberührt. Sie rief Jeanne, die mit gedankenverlorenem Blick Luciens und Paulines Spiele verfolgte. Aber Frau Deberle hielt das Mädelchen noch einen Augenblick zurück und sagte: »Ihr seid von nun an gute Freunde, sagt euch auf Wiedersehen.« Und die beiden Kinder warfen sich eine Kußhand zu. Kapitel III Jeden Dienstag hatte Hélène Herrn Rambaud und Abbé Jouve zum Abendessen. Sie hatten sich in der ersten Zeit ihrer Witwenschaft mit Gewalt bei ihr Eingang verschafft und sich selber freundschaftlich ungezwungen zu Tisch geladen, um sie wenigstens einmal in der Woche der Einsamkeit zu entreißen, in der sie lebte. Dann waren diese Abendessen am Dienstag zu einer feststehenden Einrichtung geworden. Die Gäste fanden sich gleichsam pflichtschuldig mit der gleichen ruhigen Freude um Punkt sieben Uhr hier ein. 31
An diesem Dienstag befaßte sich Hélène, die an einem Fenster saß, mit einer Näharbeit und nutzte den letzten Schein der Dämmerung aus, während sie auf ihre Gäste wartete. Hier verbrachte sie ihre Tage in sehr sanftem Frieden. In diesen Höhen erstarben die Geräusche. Sie liebte dieses geräumige, so ruhige Zimmer mit seinem bürgerlichen Luxus, seinem Palisanderholz und seinem blauen Samt. Als ihre Freunde es eingerichtet hatten, ohne daß sie sich um irgend etwas kümmerte, hatte sie in den ersten Wochen ein wenig unter diesem plumpen Luxus gelitten, in dem Herr Rambaud sein Ideal von Kunst und Behaglichkeit erschöpft hatte, zur lebhaften Bewunderung des Abbés, der sich für nicht zuständig erklärt hatte; aber schließlich war sie sehr glücklich in dieser Umgebung, weil sie spürte, daß sie dauerhaft und schlicht war wie ihr eigenes Herz. Die schweren Vorhänge, die dunklen und stattlichen Möbel trugen zu ihrer Ruhe bei. Einen Blick auf den weiten Horizont zu werfen, auf das große Paris, das vor ihr die Dünung seines Dächermeers entrollte, das war die einzige Erholung, die sie sich während ihrer langen Arbeitsstunden gönnte. Ihr einsamer Winkel tat sich auf zu dieser Unermeßlichkeit. »Mama, ich kann nicht mehr deutlich sehen«, sagte Jeanne, die neben ihr auf einem niedrigen Stuhl saß. Und Paris betrachtend, das große Schatten ertränkten, ließ sie ihre Arbeit sinken. Meist machte sie wenig Lärm, ihre Mutter mußte ärgerlich werden, um sie zum Ausgehen zu bewegen; auf Doktor Bodins ausdrückliche Anordnung nahm sie sie jeden Tag für zwei Stunden in den Bois de Boulogne3 mit; und das war ihr einziger Spaziergang, sie waren in achtzehn Monaten nicht dreimal nach Paris hinuntergegangen. Nirgends schien das Kind fröhlicher zu sein als in dem großen blauen Zimmer. 32
Hélène hatte darauf verzichten müssen, der Kleinen Musikunterricht geben zu lassen. Eine Orgel, die in der Stille des Stadtviertels spielte, ließ sie erzittern und ihre Augen feucht werden. Sie half ihrer Mutter Windeln für die Armen des Abbé Jouve nähen. Es war völlig dunkel geworden, als Rosalie mit einer Lampe eintrat. Sie schien ganz durcheinander zu sein in ihrem Köchinneneifer. Das Abendessen am Dienstag war das einzige Ereignis der Woche, das das Haus in Aufregung versetzte. »Kommen denn die Herren heute abend nicht, Madame?« fragte sie. Hélène sah auf die Stutzuhr. »Es ist drei Viertel sieben, sie werden gleich kommen.« Rosalie war ein Geschenk von Abbé Jouve. Er hatte sie an dem Tage ihrer Ankunft am Gare d'Orléans4 abgeholt, so daß sie nicht einen Pflasterstein von Paris kannte. Ein ehemaliger Studiengefährte vom Priesterseminar, der Pfarrer eines Dorfes in der Beauce5, hatte sie ihm geschickt. Sie war untersetzt, fett, hatte ein rundes Gesicht unter ihrer schmalen Haube, schwarze und harte Haare, eine plattgedrückte Nase und einen roten Mund. Und sie feierte Triumphe mit den leckeren Gerichten, denn sie war im Pfarrhaus groß geworden bei ihrer Patin, der Magd des Pfarrers. »Oh! Da ist ja Herr Rambaud!« sagte sie und ging öffnen, bevor es geklingelt hatte. Herr Rambaud, der groß und vierschrötig war, hatte das breite Gesicht eines Provinznotars. Mit seinen fünfundvierzig Jahren war er schon ganz grau. Aber seine großen blauen Augen bewahrten den erstaunten, naiven und sanften Ausdruck eines Kindes. 33
»Und da ist ja der Herr Abbé, unsere ganze Gesellschaft ist beisammen!« fuhr Rosalie fort und öffnete abermals die Tür. Während sich Herr Rambaud, nachdem er Hélène die Hand gedrückt hatte, ohne ein Wort zu sprechen, hinsetzte und dabei lächelte wie jemand, der sich wie zu Hause fühlt, war Jeanne dem Abbé um den Hals gefallen. »Guten Tag, lieber Onkel!« sagte sie. »Ich bin sehr krank gewesen.« »Sehr krank, mein Liebling?« Die beiden Männer waren sehr besorgt, vor allem der Abbé, ein kleiner, dürrer Mann mit einem dicken Kopf, ohne Eleganz, der gottsjämmerlich angezogen war, dessen halbgeschlossene Augen sich vor Besorgnis weit öffneten und mit schönem zärtlichem Licht füllten. Jeanne hatte ihm eine Hand überlassen und die andere Herrn Rambaud gegeben. Beide hielten sie und sahen sie mit ängstlichen Blicken liebevoll an. Hélène mußte von der Krise erzählen. Der Abbé wäre beinahe böse geworden, weil sie ihn nicht benachrichtigt hatte. Und die beiden fragten sie aus: sei es denn wenigstens wirklich vorüber, habe das Kind nichts mehr gehabt? Die Mutter lächelte. »Sie lieben sie mehr als ich; Sie werden mir schließlich noch Angst machen«, sagte sie. »Nein, sie hat nichts mehr verspürt, nur etwas Schmerzen in den Gliedern und einen schweren Kopf ... Aber wir werden all das energisch bekämpfen.« »Es ist angerichtet, Madame«, meldete das Hausmädchen. Das Eßzimmer war mit Mahagonimöbeln eingerichtet, einem Tisch, einer Anrichte und acht Stühlen. Rosalie zog die Vorhänge aus rotem Rips vor. Eine sehr einfache Hängelampe, eine Lampe aus weißem Porzellan 34
in einem Kupferring, beleuchtete den gedeckten Tisch, die symmetrisch hingestellten Teller und die dampfende Suppe. Jeden Dienstag brachte das Abendessen die gleichen Gespräche. Doch an diesem Tage plauderte man natürlich von Doktor Deberle. Abbé Jouve hielt eine große Lobrede auf ihn, obgleich der Doktor nicht gerade fromm war. Er nannte ihn einen Mann mit aufrechtem Charakter, mildtätigem Herzen, einen sehr guten Vater und sehr guten Gatten und führte schließlich die besten Beispiele dafür an. Was Frau Deberle betraf, so war sie vortrefflich, trotz des etwas lebhaften Benehmens, das sie ihrer sonderbaren Pariser Erziehung verdankte. Mit einem Wort, eine reizende Familie. Hélène schien glücklich; sie hatte die Familie so eingeschätzt, und was ihr der Abbé sagte, veranlaßte sie, den Verkehr weiterzuführen, der sie zuerst ein wenig erschreckt hatte. »Sie schließen sich zu sehr ein«, erklärte der Priester. »Zweifellos«, pflichtete Herr Rambaud bei. Hélène sah sie mit ihrem ruhigen Lächeln an, wie um ihnen zu sagen, daß sie ihr genügten und daß sie jede neue Freundschaft fürchtete. Doch es schlug zehn Uhr, der Abbé und sein Bruder nahmen ihre Hüte. Jeanne war soeben auf einem Sessel im Zimmer eingeschlafen. Sie beugten sich einen Augenblick über sie, nickten mit befriedigtem Ausdruck, als sie den Frieden ihres Schlummers sahen. Dann gingen sie auf Zehenspitzen davon; und im Vorzimmer sagten sie, die Stimme senkend: »Bis Dienstag!« »Ich vergaß«, murmelte der Abbé, der zwei Stufen wieder hinaufstieg. »Mutter Fétu ist krank. Sie sollten sie besuchen.« 35
»Ich gehe morgen hin«, antwortete Hélène. Der Abbé schickte sie gern zu seinen Armen. Sie führten leise alle möglichen Gespräche miteinander, das waren ihre Angelegenheiten, über die sie sich ohne viel Worte verständigten und über die sie niemals in Gegenwart anderer sprachen. Am nächsten Tag ging Hélène allein fort; sie vermied es, Jeanne mitzunehmen, seitdem das Kind nach der Rückkehr von einem Wohltätigkeitsbesuch bei einem gelähmten Greis zwei Tage lang gezittert hatte. Draußen ging sie die Rue Vineuse entlang, nahm den Weg durch die Rue Raynouard und bog in die Passage des Eaux ein, eine seltsame, zwischen die Mauern der benachbarten Gärten gezwängte Treppe, eine abschüssige Gasse, die von den Höhen von Passy zur Uferstraße hinabführt. Am Fuß dieses Abhangs bewohnte Mutter Fétu in einem verfallenen Haus eine Dachstube, die durch eine runde Luke erhellt wurde und die ein elendes Bett, ein wackliger Tisch und ein Stuhl, der kein Strohgeflecht mehr hatte, ausfüllten. »Ah! Meine gute Dame, meine gute Dame ...«, begann sie zu wimmern, als sie Hélène eintreten sah. Mutter Fétu lag im Bett. Sie war trotz des Elends ganz rund, gleichsam aufgequollen, hatte ein gedunsenes Gesicht und zog mit ihren kältestarren Händen den Fetzen von Bettuch hoch, mit dem sie sich zudeckte. Sie hatte schlaue Äuglein, eine weinerliche Stimme und war von lärmender Unterwürfigkeit, die sie durch einen Schwall von Worten zum Ausdruck brachte. »Ach! Meine gute Dame, ich danke Ihnen! – Oje, wie ich leide! Das ist, als ob Hunde mir die Seite auffräßen ... Oh! Ganz bestimmt, ich habe ein Tier im Bauch. Da, dort ist es, sehen Sie. Die Haut ist nicht angegriffen, das Übel 36
sitzt drinnen ... Oje, oje, seit zwei Tagen hört das nicht auf. Du lieber Gott, ist denn das die Möglichkeit, so sehr zu leiden ... Oh! Meine gute Dame, danke! Sie vergessen die armen Leute nicht. Das wird Ihnen angerechnet werden, ja, das wird Ihnen angerechnet werden ...« Hélène hatte sich gesetzt. Als sie dann einen Topf Kräutertee auf dem Tisch dampfen sah, füllte sie eine Tasse, die daneben stand, und reichte sie der Kranken. Neben dem Topf lagen ein Paket Zucker, zwei Apfelsinen, andere Süßigkeiten. »Sie haben Besuch gehabt?« fragte sie. »Ja, ja, eine kleine Dame. Aber so was weiß nicht ... so was ist ganz und gar nicht das, was ich brauchte. Ach, wenn ich etwas Fleisch hätte! Die Nachbarin würde den Topf aufs Feuer stellen. Oje, das kneift mich heftiger. Wirklich, man möchte meinen, es ist ein Hund ... Ach, wenn ich etwas Fleischbrühe hätte ...« Und trotz der Schmerzen, unter denen sie sich krümmte, verfolgte sie mit ihren schlauen Äuglein Hélène, die damit beschäftigt war, in ihrer Tasche zu wühlen. Als sie sah, daß sie ein Zehnfrancsstück auf den Tisch legte, jammerte sie um so mehr und bot alle Kraft auf, sich aufzusetzen. Während sie sich noch abmühte, streckte sie den Arm aus, und das Geldstück verschwand, indes sie wiederholte: »Mein Gott! Schon wieder ein Anfall. Nein, ich kann das so nicht mehr aushalten ... Gott wird es Ihnen vergelten, meine gute Dame. Ich werde ihm sagen, daß er es Ihnen vergelten soll ... Da, das sind Stiche, die mir durch den ganzen Leib gehen ... Der Herr Abbé hatte mir ja versprochen, daß Sie kommen würden. Nur Sie wissen, was not tut. Ich werde ein bißchen Fleisch kaufen ... Jetzt geht es bis in die Schenkel runter. Helfen Sie mir,
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ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr ...« Sie wollte sich umdrehen. Hélène zog ihre Handschuhe aus, faßte die Alte so sanft wie möglich und legte sie wieder hin. Wie sie noch über sie gebeugt dastand, öffnete sich die Tür, und sie war so überrascht, Doktor Deberle eintreten zu sehen, daß ihr Röte in die Wangen stieg. Er machte also auch Besuche, von denen er nicht sprach? »Das ist der Herr Doktor«, stotterte die Alte. »Sie sind alle so gut, der Himmel segne Sie alle!« Der Arzt hatte Hélène mit höflicher Zurückhaltung gegrüßt. Seit er eingetreten war, wimmerte Mutter Fétu nicht mehr so stark. Sie behielt nur das leise pfeifende und unausgesetzte Klagen eines leidenden Kindes bei. Sie hatte wohl gesehen, daß die gute Dame und der Arzt sich kannten, und sie ließ sie nicht mehr aus dem Blick, der von einem zum anderen ging, während es dumpf arbeitete in den tausend Runzeln ihres Gesichts. Der Arzt stellte ihr ein paar Fragen, klopfte die rechte Seite ab. Dann drehte er sich zu Hélène um, die sich soeben wieder hingesetzt hatte, und murmelte: »Das sind Leberkoliken. Sie wird in einigen Tagen wieder auf den Beinen sein.« Er riß eine Seite aus seinem Taschenbuch, auf die er ein paar Zeilen geschrieben hatte, und sagte zu Mutter Fétu: »Da, Sie lassen das zum Apotheker in der Rue de Passy bringen, und alle zwei Stunden nehmen Sie einen Löffelvoll von der Arznei, die man Ihnen gibt.« Da brach sie von neuem in Segenswünsche aus. Hélène blieb sitzen. Der Arzt schien zu verweilen und schaute sie an, da begegneten sich ihre Augen. Dann grüßte er und zog sich taktvoll als erster zurück.
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Er war noch nicht ein Stockwerk hinuntergestiegen, als Mutter Fétu wieder mit ihrem Gewimmer anfing: »Ah! Was für ein tüchtiger Arzt! – Wenn sein Mittel mir nur etwas nützte! Ich hätte Talglicht mit Löwenzahn zerreiben sollen, das zieht das Wasser ab, das im Körper ist ... Ach! Sie können sagen, daß Sie da einen tüchtigen Arzt kennen! Sie kennen ihn vielleicht schon lange? – Mein Gott! Hab ich einen Durst! Ich habe Feuer im Blut ... Er ist verheiratet, nicht wahr? Er verdient es wirklich, eine gute Frau und schöne Kinder zu haben ... Schließlich freut es einen zu sehen, daß die guten Leute sich kennen.« Hélène war aufgestanden, um ihr zu trinken zu geben. »Nun denn! Auf Wiedersehen, Mutter Fétu«, sagte sie. »Bis morgen.« »Ganz recht ... Wie gut Sie sind! – Wenn ich bloß etwas Wäsche hätte! Sehen Sie mein Hemd, es ist entzwei. Ich liege auf einem Misthaufen ... Das macht nichts, der liebe Gott wird Ihnen das alles vergelten.« Als Hélène am nächsten Tage kam, war Doktor Deberle bei Mutter Fétu. Er saß auf dem Stuhl und schrieb ein Rezept, während die alte Frau mit ihrer weinerlichen Zungenfertigkeit redete: »Jetzt ist es wie ein Stück Blei, Herr Doktor ... Bestimmt, ich habe Blei in der Seite. Das wiegt hundert Pfund, ich kann mich nicht mehr umdrehen.« Aber als sie Hélène erblickte, hörte sie nicht mehr auf. »Ach, da ist ja die gute Dame ... Ich sagte es schon zu diesem lieben Herrn: sie wird kommen, und wenn der Himmel einstürzte, sie würde dennoch kommen ... Eine wahre Heilige, ein Engel aus dem Paradies, und schön, so schön, daß man auf der Straße in die Knie sinken möchte, wenn man sie vorübergehen sieht ... Meine gute Dame, es geht mir 39
nicht besser. Ich habe da jetzt ein Stück Blei ... Ja, ich habe ihm alles erzählt, was Sie für mich getan haben. Der Kaiser6 würde nicht mehr tun ... Oh! Da müßte einer schon sehr böse sein, wenn er Sie nicht liebt, sehr böse ...« Während sie diese Sätze von sich gab und dabei ihren Kopf mit den halbgeschlossenen Äuglein auf dem Kissen hin und her rollte, lächelte der Arzt Hélène zu, die sehr verlegen war. »Mutter Fétu«, murmelte sie, »ich bringe Ihnen etwas Wäsche ...« »Danke, danke, Gott wird es Ihnen vergelten ... Sie sind wie der liebe Herr Doktor, er tut den armen Leuten mehr Gutes als alle Menschen, deren Beruf das ist. Sie wissen nicht, daß er mich vier Monate lang behandelt hat; und Medikamente, und Fleischbrühe und Wein. Man findet nicht viele Reiche, die so sind, so gefällig zu jedem. Noch ein Engel vom lieben Gott ... Oje, ein richtiges Haus habe ich da im Bauch ...« Jetzt schien auch der Arzt verwirrt zu sein. Er stand auf, wollte seinen Stuhl Hélène geben. Doch obgleich diese mit der Absicht gekommen war, eine Viertelstunde dazubleiben, lehnte sie ab und sagte: »Danke, Herr Doktor, ich bin sehr in Eile.« Indessen hatte Mutter Fétu, während sie ihren Kopf weiter hin und her rollte, den Arm ausgestreckt, und das Wäschepaket war in der Tiefe des Bettes verschwunden. Dann redete sie weiter: »Oh, man kann wohl sagen, daß Sie beide zusammenpassen ... Ich sage das, ohne Sie beleidigen zu wollen, weil das wahr ist ... Wer den einen gesehen hat, hat den anderen gesehen. Die guten Leute verstehen sich. Mein
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Gott! Geben Sie mir die Hand, damit ich mich umdrehe! – Ja, ja, sie verstehen sich ...« »Auf Wiedersehen, Mutter Fétu«, sagte Hélène, die dem Arzt den Platz überließ. »Ich glaube nicht, daß ich morgen vorbeikommen werde.« Dennoch ging sie auch am folgenden Tag hinauf. Die alte Frau schlummerte. Sowie sie erwachte und Hélène erkannte, wie sie da ganz in Schwarz auf dem Stuhl saß, rief sie: »Er ist hiergewesen ... Wirklich, ich weiß nicht, was er mich hat einnehmen lassen, ich bin steif wie ein Stock ... Ach, wir haben von Ihnen gesprochen. Er hat mich alles mögliche gefragt, ob Sie gewöhnlich traurig wären und ob Sie immer dasselbe Gesicht machten ... Er ist ein so guter Mann!« Sie sprach mit langsamerer Stimme, sie schien auf Hélènes Gesicht die Wirkung ihrer Worte abzuwarten, mit jener schmeichlerischen und ängstlichen Miene der Armen, die den Leuten gefällig sein wollen. Zweifellos glaubte sie auf der Stirn der guten Dame eine Unmutsfalte zu sehen, denn ihr dickes, gedunsenes Gesicht, das angespannt und hochrot war, verlor auf einmal seine Farbe. Stammelnd fuhr sie fort: »Ich schlafe immerzu. Ich bin vielleicht ganz vergiftet ... Eine Frau in der Rue de l'Annonciation hat ein Apotheker umgebracht, weil er die Pillen verwechselt hat.« An jenem Tag verweilte Hélène fast eine halbe Stunde bei Mutter Fétu, hörte ihr zu, wie sie von der Normandie erzählte, wo sie geboren war und wo man so gute Milch trank. Nach einem langen Schweigen fragte Hélène wie beiläufig: »Kennen Sie den Doktor schon lange?« Die alte Frau, die auf dem Rücken ausgestreckt dalag, hob die Lider halb und schloß sie wieder. 41
»O ja, und ob ich ihn kenne!« antwortete sie mit fast leiser Stimme. »Sein Vater hat mich vor 18487 behandelt, und er begleitete ihn.« »Man hat mir erzählt, daß der Vater ein frommer Mann war.« »Ja, ja ... Ein bißchen verdreht ... Der Sohn ist noch besser, sehen Sie. Wenn er einen berührt, möchte man glauben, er habe Samthände.« Es trat erneut Schweigen ein. »Ich rate Ihnen, alles zu tun, was er Ihnen sagt«, begann Hélène wieder. »Er ist sehr gelehrt, er hat meine Tochter gerettet.« »Gewiß«, rief Mutter Fétu, die auflebte. »Man kann Vertrauen haben, er hat einen kleinen Jungen wieder zum Leben erweckt, den man schon fortschaffen wollte ... Oh! Sie werden mich nicht hindern, es zu sagen, es gibt nicht noch einen wie ihn. Ich habe eine glückliche Hand, ich gerate an die allerbesten Menschen ... Deshalb danke ich dem lieben Gott jeden Abend. Ich vergesse Sie alle beide nicht, das sage ich Ihnen! Sie sind zusammen in meinen Gebeten ... Der liebe Gott möge Sie schützen und Ihnen alles gewähren, was Sie wünschen können! Er überschütte Sie mit seinen Schätzen! Er bewahre Ihnen einen Platz in seinem Paradies.« Sie hatte sich aufgerichtet, und mit gefalteten Händen schien sie mit außergewöhnlicher Inbrunst den Himmel anzuflehen. Hélène ließ sie lange so gewähren, und sie lächelte sogar. Die geschwätzige Demut der alten Frau wiegte und schläferte sie schließlich sehr sanft ein. Als sie fortging, versprach sie ihr eine Haube und ein Kleid für den Tag, an dem sie wieder aufstehen würde. Die ganze Woche lang gab sich Hélène mit Mutter Fétu ab. Der Besuch, den sie ihr jeden Nachmittag mach42
te, wurde ihr zur Gewohnheit. Sie hatte besonders eine eigenartige Zuneigung zur Passage des Eaux gefaßt. Dieses abschüssige Gäßchen gefiel ihr wegen seiner Kühle und seiner Stille, wegen seines immer sauberen Pflasters, das an Regentagen ein Sturzbach abwusch, der von den Anhöhen herabfloß. Wenn sie herkam und sah, wie der steile Abhang der meist menschenleeren, kaum ein paar Bewohnern der Nachbarstraßen bekannten Passage des Eaux in die Tiefe hinabführte, hatte sie von oben aus einen seltsamen Eindruck. Dann wagte sie es und betrat sie durch ein Gewölbe unter dem Haus, das an der Rue Raynouard liegt; sie ging in kleinen Schritten die sieben Absätze mit breiten Stufen hinab, an denen eine mit Steinen ausgelegte Gosse entlangführte und die Hälfte des engen Durchganges einnahm. Die Mauern der Gärten rechts und links schwollen an, von grauem Aussatz zerfressen; Bäume streckten ihre Zweige aus, Laub regnete herab, ein Efeu breitete den Faltenwurf seines dichten Mantels aus; und all dieses Grün, das nur himmelblaue Zipfel durchblicken ließ, schuf ein sehr mildes und sehr verschwiegenes grünliches Licht. Auf der Mitte des Abhanges hielt sie an, um Atem zu schöpfen, interessierte sich für die Straßenlaterne, die da hing, lauschte dem Lachen in den Gärten hinter Türen, die sie niemals offen gesehen hatte. Manchmal stieg eine alte Frau herauf und zog sich dabei am schwarzen und glänzenden Eisengeländer hoch, das in das Mauerwerk zur Rechten eingelassen war; eine Dame stützte sich auf ihren Sonnenschirm wie auf einen Spazierstock; mit den Schuhen klappernd, purzelte eine Schar Straßenjungen hinunter. Aber fast immer blieb sie allein, und es war ein großer Zauber um diese andächtige und schattige Treppe, die einem Hohlweg in den Wäldern ähnlich war. Unten an43
gekommen, hob sie die Augen. Der Anblick dieses so steilen Abhanges, den sie sich soeben herabgewagt hatte, flößte ihr eine leichte Angst ein. Mit der Kühle und dem Frieden der Passage des Eaux in ihren Kleidern trat sie bei Mutter Fétu ein. Dieses Elends- und Schmerzensloch berührte sie nicht unangenehm. Sie schaltete und waltete hier wie zu Hause, öffnete die runde Dachluke, um frische Luft hereinzulassen, rückte den Tisch weg, wenn er sie störte. Die Kahlheit dieser Bodenkammer, die mit Kalk geweißten Wände, die krüppligen Möbel führten sie zu einer Einfachheit des Daseins zurück, von der sie manchmal als junges Mädchen geträumt hatte. Was sie aber besonders bezauberte, war die gerührte Stimmung, in der sie dort lebte: ihre Rolle als Krankenwärterin, das ständige Jammern der alten Frau, alles, was sie um sich her sah und fühlte, ließ sie in einem unermeßlichen Mitleid erschauern. Sie war schließlich dahin gekommen, mit sichtbarer Ungeduld auf Doktor Deberles Besuch zu warten. Sie befragte ihn über Mutter Fétus Zustand; dann plauderten sie einen Augenblick von etwas anderem, standen nahe beieinander und sahen sich offen ins Gesicht. Vertrautheit entstand zwischen ihnen. Sie waren erstaunt, als sie entdeckten, daß sie ähnliche Neigungen hatten. Sie verstanden sich oft, ohne den Mund aufzutun, das Herz plötzlich von derselben überströmenden Barmherzigkeit ertränkt. Und nichts war für Hélène süßer als diese Seelenverwandtschaft, die sich außerhalb des Alltäglichen anknüpfte und der sie ohne Widerstand nachgab, ganz weich geworden von Mitleid. Sie hatte zuerst Angst vor dem Arzt gehabt; in seinem Salon hätte sie die mißtrauische Kälte ihrer Natur gewahrt. Hier aber waren sie fern von der Welt, teilten sich in den einzigen Stuhl, freuten 44
sich fast über diese armen und häßlichen Dinge, die sie einander näherbrachten und sie zugleich rührten. Am Ende der Woche kannten sie sich, als hätten sie jahrelang Seite an Seite gelebt. Mutter Fétus Behausung füllte sich in dieser Gemeinsamkeit von beider Güte mit Licht. Die alte Frau erholte sich indessen recht langsam. Der Arzt war überrascht und beschuldigte sie, sie wolle sich verhätscheln lassen, als sie ihm erzählte, daß sie jetzt ein Stück Blei in den Beinen habe. Sie wimmerte noch immer, sie blieb auf dem Rücken liegen und rollte den Kopf hin und her; und sie schloß die Augen, um ihnen gleichsam volle Freiheit zu lassen. Eines Tages schien sie sogar einzuschlafen; doch unter den Lidern hervor belauerte sie ein Eckchen ihrer schwarzen Äuglein. Schließlich mußte sie aufstehen. Am nächsten Tag brachte Hélène ihr das Kleid und die Haube, die sie ihr versprochen hatte. Als der Arzt da war, rief die Alte plötzlich: »Mein Gott! Und die Nachbarin, die mich gebeten hat, nach ihrem Brühfleisch zu sehen!« Sie ging hinaus, sie zog die Tür hinter sich zu und ließ die beiden allein. Sie setzten zunächst ihre Unterhaltung fort, ohne gewahr zu werden, daß die Tür geschlossen war. Der Arzt drängte Hélène, zuweilen herunterzukommen und den Nachmittag in seinem Garten in der Rue Vineuse zu verbringen. »Meine Frau«, sagte er, »muß Ihren Besuch erwidern, und sie wird Ihnen nochmals meine Einladung aussprechen ... Das würde Ihrer Tochter sehr guttun.« »Aber ich lehne ja nicht ab, ich verlange nicht, daß man mich mit großer Feierlichkeit abholt«, sagte sie lachend. »Ich habe bloß Angst, zudringlich zu sein ... Nun ja, wir werden sehen.«
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Sie plauderten weiter. Dann sagte der Doktor verwundert: »Zum Teufel, wo ist sie denn hingegangen? Vor einer Viertelstunde ist sie wegen dieses Brühfleisches hinausgegangen.« Da sah Hélène, daß die Tür geschlossen war. Das berührte sie nicht sofort unangenehm. Sie sprach von Frau Deberle, die sie vor ihrem Gatten lebhaft lobte. Da aber der Arzt fortwährend den Kopf nach der Tür wandte, fühlte sie sich schließlich befangen. »Es ist recht seltsam, daß sie nicht zurückkommt«, murmelte sie nun. Ihre Unterhaltung brach ab. Hélène, die nicht wußte, was sie tun sollte, öffnete die Dachluke; und als sie sich wieder umwandte, vermieden sie es, einander anzusehen. Kinderlachen drang durch die Dachluke herein, die hoch oben einen blauen Mond in den Himmel schnitt. Sie waren völlig allein, allen Blicken verborgen, und nur diese runde Öffnung war da, die sie beide sah. Die Kinder verstummten in der Ferne; schauerndes Schweigen herrschte. Niemand wäre gekommen, sie in dieser entlegenen Bodenkammer zu suchen. Ihre Verwirrung wuchs. Mit sich selbst unzufrieden, sah Hélène den Arzt fest an. »Ich bin mit Krankenbesuchen überhäuft«, sagte er sogleich. »Da sie nicht wieder zum Vorschein kommt, mache ich mich davon.« Und er ging. Hélène hatte sich hingesetzt. Mutter Fétu kam unmittelbar danach mit einem Schwall von Worten zurück. »Ach, ich kann mich nicht fortschleppen, ich habe einen Schwächeanfall gehabt ... Er ist also fortgegangen, der liebe Herr Doktor? Gewiß, hier gibt es keine Be46
quemlichkeit. Sie sind alle beide Engel des Himmels, daß Sie Ihre Zeit mit einer Unglücklichen wie mir verbringen. Aber der liebe Gott wird Ihnen das alles vergelten ... Heute ist es mir in die Füße runtergegangen. Ich habe mich auf eine Stufe setzen müssen. Und ich wußte nicht mehr aus noch ein, weil Sie kein Geräusch machten ... Ach ja, ich würde gerne Stühle haben. Wenn ich bloß einen Lehnstuhl hätte. Meine Matratze ist ziemlich schlecht. Ich schäme mich, wenn Sie kommen ... Das ganze Haus gehört Ihnen, und ich würde für Sie durchs Feuer gehen, wenn es sein müßte. Der liebe Gott weiß es, ich habe es ihm oft genug gesagt. O mein Gott, laß den guten Herrn und die gute Dame in all ihren Wünschen Befriedigung finden. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen!« Hélène hörte ihr zu, und sie empfand eine seltsame Beklommenheit. Mutter Fétus aufgedunsenes Gesicht beunruhigte sie. Auch hatte sie noch niemals ein ähnliches Unbehagen in dem engen Raum verspürt. Sie sah seine schmutzige Armut, sie litt unter dem Mangel an Luft, unter allem hier eingeschlossenen Jammer des Elends. Sie beeilte sich, fortzukommen, fühlte sich verletzt durch die Segenswünsche, die Mutter Fétu ihr nachschrie. Ein anderer trauriger Eindruck erwartete sie in der Passage des Eaux. In der Mitte dieser Passage befindet sich, wenn man hinuntergeht, rechts in der Mauer eine Art Aushöhlung, irgendein verlassener, durch ein Gitter verschlossener Brunnen. Seit zwei Tagen hörte sie im Vorbeigehen das Miauen einer Katze auf dem Grunde dieses Loches. Wie sie hinaufging, begann das Miauen von neuem, aber so kläglich, daß es höchste Todesangst ausdrückte. Der Gedanke, daß das arme Tier, das man in 47
den alten Brunnen geworfen hatte, darin langsam verhungerte, brach Hélène plötzlich das Herz. Sie beschleunigte den Schritt und sagte sich, daß sie sich lange Zeit nicht mehr trauen würde, die Treppe entlangzugehen, aus Angst, hier dieses Todesmiauen zu hören. Es war gerade Dienstag. Als Hélène um sieben Uhr abends mit einem Jäckchen fertig wurde, ertönten die gewohnten beiden Klingelzeichen, und Rosalie öffnete die Tür und sagte: »Der Herr Abbé kommt heute als erster ... Ah! Da ist ja Herr Rambaud!« Das Abendessen verlief sehr fröhlich, Jeanne ging es noch besser, und die beiden Brüder, die sie verwöhnten, setzten es durch, daß sie trotz Doktor Bodins ausdrücklichem Verbot ein bißchen Salat essen durfte, für den sie so schwärmte. Als man dann in das Zimmer hinüberging, hängte sich das Kind, das sich ermutigt fühlte, der Mutter an den Hals und flüsterte: »Ich bitte dich, meine liebe gute Mutter, nimm mich morgen mit zu der alten Frau.« Aber der Priester und Herr Rambaud schalten als erste mit ihr. Man könne sie nicht zu den Unglücklichen mitnehmen, da sie sich dort nicht zu betragen wisse. Das letzte Mal hätte sie zwei Ohnmachtsanfälle gehabt, und drei Tage lang rannen die Tränen sogar während des Schlafes aus ihren geschwollenen Augen. »Nein, nein«, wiederholte sie mehrmals, »ich werde nicht weinen, ich verspreche es.« Da umarmte ihre Mutter sie und sagte: »Das ist nicht mehr nötig, mein Liebling, die alte Frau ist gesund ... Ich gehe nicht mehr fort, ich bleibe den ganzen Tag lang bei dir.«
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Kapitel IV Als Frau Deberle in der folgenden Woche Frau Grandjeans Besuch erwiderte, zeigte sie sich von schmeichlerischer Liebenswürdigkeit. Und als sie fortging, sagte sie auf der Schwelle: »Sie wissen, was Sie mir versprochen haben ... Am ersten schönen Tag gehen Sie in den Garten hinunter und nehmen Jeanne mit. Das ist eine Anordnung des Doktors.« Hélène lächelte. »Ja, ja, es ist abgemacht. Rechnen Sie auf uns.« Drei Tage später, an einem klaren Februarnachmittag, ging sie mit ihrer Tochter tatsächlich hinunter. Die Concierge öffnete ihnen die Verbindungstür. Hinten im Garten fanden sie in einer Art Gewächshaus, das in ein japanisches Gartenhäuschen verwandelt war, Frau Deberle in Gesellschaft ihrer Schwester Pauline, beide mit müßigen Händen, sie hatten ihre Stickarbeiten auf ein Tischchen gelegt und dort vergessen. »Ach, wie liebenswürdig von Ihnen!« sagte Juliette. »Bitte setzen Sie sich hierhin ... Pauline, schieb den Tisch beiseite ... Sie sehen, es ist noch ein wenig frisch, wenn man sitzen bleibt, und von diesem Gartenhäuschen aus können wir sehr gut auf die Kinder aufpassen ... Nur zu, spielt, Kinder. Nehmt euch vor allem in acht, daß ihr nicht hinfallt.« Die breite Türöffnung des Gartenhäuschens stand offen, und an jeder Seite hatte man einige Schiebefenster hochgezogen, so daß sich der Garten wie am Eingang eines Zeltes in gleicher Höhe mit dem Fußboden erstreckte. Es war ein bürgerlicher Garten mit einer Rasenfläche in der Mitte, die von zwei Blumenbeeten flankiert 49
wurde. Ein einfaches Gitter schloß ihn zur Rue Vineuse hin ab; doch es war ein solcher Vorhang von Grün dort emporgewachsen, daß von der Straße her kein Blick eindringen konnte; Efeu, wilder Wein, Geißblatt schmiegten sich eng an das Gitter und umrankten es, und hinter dieser ersten Laubwand erhob sich eine zweite aus Fliedersträuchern und Bohnenbäumen. Selbst im Winter genügten die immergrünen Blätter des Efeus und das Geflecht der Zweige, um niemand hereingucken zu lassen. Den Hauptreiz aber bildeten im Hintergrund ein paar hohe Bäume, prachtvolle Ulmen, die das schwarze Mauerwerk eines fünfstöckigen Hauses verdeckten. Sie brachten in dieses enge Gedränge der aneinandergrenzenden Bauten die Illusion von einer Parkecke und schienen dieses Pariser Gärtchen, das wie ein Salon gefegt wurde, größer zu machen. Zwischen zwei Ulmen hing eine Schaukel, deren Sitzbrett die Feuchtigkeit grün gefärbt hatte. Hélène schaute um sich, beugte sich vor, um besser sehen zu können. »Oh! Das ist ein schäbiges Loch«, sagte Frau Deberle lässig. »Aber in Paris sind Bäume so selten ... Man ist schon glücklich, ein halbes Dutzend für sich zu haben.« »Nein, nein, Sie haben es sehr schön hier«, murmelte Hélène. »Es ist reizend.« In den blassen Himmel legte an jenem Tag die Sonne einen Staub blonden Lichts. Zwischen den entlaubten Zweigen herrschte ein langsamer Strahlenregen. Die Bäume röteten sich, man sah, wie die feinen, blaßvioletten Knospen den grauen Ton der Rinde weicher stimmten. Und auf dem Rasen längs der Gartenwege hatten die Gräser und Kieselsteine Helligkeitsspitzen, die ein leichter Nebel dicht über dem Boden ertränkte und zer50
schmolz. Nicht eine Blume war vorhanden, allein die Fröhlichkeit der Sonne auf der nackten Erde kündete den Frühling an. »Jetzt ist es noch etwas traurig«, begann Frau Deberle wieder. »Im Juni werden Sie sehen, sitzt man hier in einem richtigen Nest. Die Bäume hindern die Leute von nebenan, herumzuspionieren, und wir sind dann ganz für uns ...« Aber sie unterbrach sich, um zu rufen: »Lucien, willst du wohl nicht die Wasserleitung anfassen!« Der kleine Junge, der Jeanne mit den Sehenswürdigkeiten des Gartens bekannt machte, hatte sie soeben vor eine Wasserleitung unterhalb der Freitreppe geführt, und dort hatte er den Hahn aufgedreht und hielt die Spitze seiner Stiefel darunter, um sie naß zu machen. Das war ein Spiel, für das er schwärmte. Sehr ernst sah Jeanne zu, wie er sich die Füße pitschnaß machte. »Warte«, sagte Pauline und stand auf, »ich werde ihn gleich zur Ruhe bringen.« Juliette hielt sie zurück. »Nein, nein, du bist unbesonnener als er. Neulich hätte man glauben können, ihr habt beide ein Bad genommen ... Seltsam, daß so ein großes Mädchen keine zwei Minuten ruhig sitzen kann.« Und sich umwendend, sagte sie: »Hörst du, Lucien, mach sofort den Hahn zu!« Erschrocken wollte der Knabe gehorchen, aber er drehte den Verschluß noch weiter auf, das Wasser strömte mit solcher Heftigkeit und solchem Getöse, daß er vollends den Kopf verlor. Bis zu den Schultern bespritzt, wich er zurück. »Mach sofort den Hahn zu!« wiederholte seine Mutter, deren Wangen eine Blutwoge purpurrot färbte. Da trat Jeanne, die bis dahin stumm gewesen, mit aller möglichen Vorsicht an die Wasserleitung heran, während 51
Lucien in Schluchzen ausbrach angesichts dieses toll gewordenen Wassers, vor dem er Angst hatte und das er nicht mehr aufzuhalten wußte. Sie klemmte ihren Rock zwischen die Beine, streckte ihre nackten Handgelenke aus, um sich nicht die Ärmel naß zu machen, und machte den Hahn zu, ohne einen einzigen Spritzer abzubekommen. Jäh hörte diese Sintflut auf. Erstaunt und von plötzlichem Respekt erfüllt, drängte Lucien seine Tränen zurück und blickte mit großen Augen zu dem Fräulein hoch. »Wahrhaftig, dieses Kind macht mich rasend«, begann Frau Deberle von neuem, die wieder ganz weiß wurde und sich wie zerschlagen vor Müdigkeit ausstreckte. Hélène glaubte eingreifen zu müssen. »Jeanne«, sagte sie, »nimm ihn an der Hand, spielt Spazierengehen.« Jeanne nahm Luciens Hand, und gewichtig gingen sie mit kleinen Schritten auf den Gartenwegen davon. Sie war viel größer als er, und er mußte seinen Arm hochhalten; aber dieses würdevolle Spiel, das darin bestand, mit Feierlichkeit um den Rasen herumzuschreiten, schien ihn ebenso wie sie ganz in Anspruch zu nehmen und ihnen eine große Wichtigkeit zu verleihen. Jeanne ließ wie eine richtige Dame ihre Blicke gedankenverloren umherschweifen. Lucien konnte hin und wieder nicht umhin, einen kurzen Blick auf seine Gefährtin zu riskieren. Sie sprachen kein Wort miteinander. »Sie sind drollig«, murmelte Frau Deberle lächelnd und beruhigt. »Man muß schon sagen, daß Ihre Jeanne ein reizendes Kind ist ... Sie ist so folgsam, so artig ...« »Ja, wenn sie bei anderen Leuten ist«, antwortete Hélène. »Sie hat schreckliche Stunden. Aber da sie mich
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vergöttert, bemüht sie sich, artig zu sein, um mir keinen Kummer zu machen.« Die Damen plauderten über die Kinder. Die Mädchen seien früher reif als die Knaben. Dennoch dürfe man sich nicht auf Luciens einfältiges Aussehen verlassen. Wenn er sich erst ein bißchen herausgemacht hätte, würde er vor Ablauf eines Jahres ein keckes Bürschchen sein. Und ohne sichtlichen Übergang kam man auf eine Frau zu sprechen, die ein kleines Gartenhäuschen gegenüber bewohnte und bei der sich wirklich seltsame Dinge abspielten ... Frau Deberle hielt inne, um zu ihrer Schwester zu sagen: »Pauline, geh doch eine Minute in den Garten.« Das junge Mädchen ging seelenruhig hinaus und blieb unter den Bäumen. Sie war daran gewöhnt, daß man sie jedesmal hinausschickte, wenn in der Unterhaltung etwas zu Derbes vorkam, worüber man nicht in ihrer Gegenwart sprechen konnte. »Gestern stand ich am Fenster«, fuhr Juliette fort, »und ich habe diese Frau sehr wohl gesehen ... Sie zieht nicht einmal die Vorhänge vor ... Das ist eine Unanständigkeit! Kinder könnten das sehen.« Sie sprach ganz leise, sah entrüstet aus, hatte jedoch ein feines Lächeln in den Mundwinkeln. Dann hob sie die Stimme und rief: »Pauline, du kannst zurückkommen.« Pauline stand unter den Bäumen, schaute mit gleichgültiger Miene in die Luft und wartete, bis ihre Schwester fertig war. Sie kam in das Gartenhäuschen zurück und nahm ihren Stuhl wieder ein, während Juliette, sich an Hélène wendend, weiterredete: »Sie haben niemals etwas bemerkt, liebe Madame Grandjean?«
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»Nein«, antwortete Hélène, »meine Fenster gehen nicht auf das Gartenhäuschen hinaus.« Obwohl für Pauline eine Lücke in der Unterhaltung bestand, hörte sie zu mit ihrem weißen Madonnengesicht, als habe sie verstanden. »Ach ja«, sagte sie und schaute durch die Tür immer noch in die Luft, »es sind ganz schön viel Nester in den Bäumen!« Indessen hatte Frau Deberle ihre Stickerei zur Hand genommen, um besser Haltung zu wahren. Sie machte alle Minuten zwei Stiche. Hélène, die nicht unbeschäftigt sein konnte, bat um die Erlaubnis, ein andermal eine Handarbeit mitzubringen. Und von leichter Langweile ergriffen, wandte sie sich um, betrachtete aufmerksam das japanische Gartenhäuschen. Die Wände und die Decke waren mit golddurchwirkten Stoffen bespannt, die bestickt waren mit auffliegenden Kranichschwärmen, Schmetterlingen und prangenden Blüten, Landschaften, in denen blaue Barken auf gelben Flüssen schwammen. Da waren Stühle und Blumentischchen aus Eisenholz, auf dem Fußboden feine Matten und, die Lackmöbel überladend, eine Unmenge von Nippsachen, kleine Bronzen, kleine japanische Vasen, absonderliches, mit grellen Farben bunt bemaltes Spielzeug. Im Hintergrund prangte ein großer Pagode aus Meißner Porzellan, hockte da mit nacktem und überquellendem Bauch, in ungeheurer Fröhlichkeit und wackelte beim geringsten Stoß wütend mit dem Kopf. »Na? Der ist ziemlich häßlich!« rief Pauline, die Hélènes Blicken gefolgt war. »Hör mal, Schwester, du weißt doch, daß alles, was du gekauft hast, Schund ist? Der schöne Malignon nennt deinen japanischen Kram ›den Dreizehn-Sous-Basar‹. Dabei fällt mir ein, ich habe ihn 54
getroffen, den schönen Malignon. Er war mit einer Dame zusammen, oh, mit einer Dame, mit der kleinen Florence vom Théâtre des Variétés8.« »Wo denn? Damit ich ihn hänseln kann!« fragte Juliette rasch. »Auf dem Boulevard ... Soll er nicht heute kommen?« Doch sie erhielt keine Antwort. Die Damen machten sich Sorgen um die Kinder, die verschwunden waren. Wo konnten sie sein? Und als sie sie riefen, erklangen zwei helle Stimmen: »Wir sind da!« Sie waren wirklich da, saßen mitten auf der Rasenfläche im Gras, halb verborgen durch einen Spindelbaum. »Was macht ihr denn?« »Wir sind im Gasthaus angekommen!« rief Lucien. »Wir ruhen uns in unserm Zimmer aus.« Einen Augenblick schauten sie sehr belustigt den Kindern zu. Jeanne ging willfährig auf das Spiel ein. Sie rupfte rings um sich Gras aus, zweifellos, um das Mittagessen zu bereiten. Ein Stück Brett, das sie in einem dichten Gebüsch aufgelesen hatten, stellte den Koffer der Reisenden dar. Nun plauderten sie. Jeanne ereiferte sich und wiederholte mehrmals mit Überzeugung, daß sie in der Schweiz seien und gleich aufbrechen würden, um die Gletscher zu besichtigen, was Lucien zu verblüffen schien. »Sie an! Da ist er ja!« sagte plötzlich Pauline. Frau Deberle wandte sich um und erblickte Malignon, der die Freitreppe hinabstieg. Sie ließ ihm kaum die Zeit, zu grüßen und sich zu setzen. »Nein so was! Sie sind ja nett! Überall zu erzählen, daß ich nur Schund in meiner Wohnung habe.«
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»Ach ja«, antwortete er gelassen, »dieser kleine Salon ... Gewiß, das ist Schund. Sie haben nicht einen Gegenstand, den zu betrachten sich lohnt.« Sie war gekränkt. »Wieso, der Pagode?« »Aber nein, aber nein, all das ist spießbürgerlich ... Man muß Geschmack haben. Sie haben mich nicht mit der Einrichtung beauftragen wollen ...« Da unterbrach sie ihn, war hochrot und wirklich zornig: »Ihr Geschmack, darüber läßt sich viel sagen! Sie haben einen hübschen Geschmack! Man hat Sie mit einer Dame getroffen ...« »Mit was für einer Dame?« fragte er, überrascht von der Schärfe des Angriffs. »Eine schöne Wahl, ich mache Ihnen mein Kompliment dafür. Eine Dirne, die ganz Paris ...« Doch sie schwieg, als sie Pauline sah. Sie hatte sie vergessen. »Pauline«, sagte sie, »geh doch eine Minute in den Garten.« »Ach nein, das wird mir schließlich lästig!« erklärte das junge Mädchen aufbegehrend. »Man stört mich immerzu.« »Geh in den Garten«, wiederholte Juliette strenger. Das junge Mädchen ging mit mürrischem Gesicht davon. Dann wandte es sich um, um hinzuzufügen: »Beeilt euch wenigstens.« Sowie sie nicht mehr da war, fiel Frau Deberle von neuem über Malignon her. Wie könne ein vornehmer junger Mann wie er sich öffentlich mit dieser Florence zeigen? Sie sei mindestens vierzig Jahre alt, sie sei zum Fürchten häßlich, das ganze Parkett duzte sie bei den Erstaufführungen. 56
»Seid ihr fertig?« schrie Pauline, die sich mit einer Schmollmiene unter den Bäumen erging. »Ich langweile mich.« Doch Malignon verteidigte sich. Er kenne diese Florence nicht; niemals habe er sie angesprochen. Man habe ihn wohl mit einer Dame sehen können, er begleite manchmal die Frau eines seiner Freunde. Übrigens, wer habe ihn denn gesehen? Man brauche Beweise, Zeugen. »Pauline«, fragte unvermittelt Frau Deberle, indem sie die Stimme erhob, »hast du ihn nicht mit Florence getroffen?« »Ja, ja«, antwortete das junge Mädchen, »auf dem Boulevard, gegenüber von Bignon.« Da rief Frau Deberle, die bei Malignons verlegenem Lächeln triumphierte: »Du kannst wiederkommen, Pauline. Wir sind fertig.« Malignon hatte für den nächsten Tag eine Loge im Théâtre des Folies-Dramatiques9. Er bot sie bereitwillig Frau Deberle an und schien ihr nichts nachzutragen; außerdem zankten sie sich immer. Pauline wollte wissen, ob sie sich das Stück, das gespielt wurde, ansehen könne; und als Malignon lachte und dabei den Kopf schüttelte, sagte sie, das sei recht blöd, die Bühnendichter hätten lieber Stücke für die jungen Mädchen schreiben sollen. Man erlaube ihr nur »Die Weiße Dame10« und klassische Dramen. Die Damen paßten indessen nicht mehr auf die Kinder auf. Auf einmal stieß Lucien ein furchtbares Geschrei aus. »Was hast du ihm getan, Jeanne?« fragte Hélène. »Nichts habe ich ihm getan, Mama«, antwortete das kleine Mädchen. »Er hat sich von selbst auf die Erde geworfen.« 57
Die Wahrheit war, daß die Kinder soeben nach den berühmten Gletschern aufgebrochen waren. Da Jeanne behauptete, man sei auf den Bergen angekommen, hoben sie beide die Füße sehr hoch, um über die Felsbrocken hinwegzusteigen. Aber Lucien, der durch diese Anstrengung außer Atem gekommen war, war fehlgetreten und mitten in einer Rabatte der Länge nach hingefallen. Als er erst einmal auf der Erde lag, ärgerte er sich sehr, es packte ihn die Wut eines kleinen Hemdenmatzes, und er brach in Tränen aus. »Heb ihn wieder auf«, rief Hélène. »Er will nicht, Mama. Er wälzt sich herum.« Und Jeanne wich zurück, gleichsam gekränkt und ärgerlich, weil sie sah, daß der kleine Junge so schlecht erzogen war. Er verstand nicht zu spielen, er würde sie sicherlich schmutzig machen. Sie verzog schmollend den Mund wie eine Herzogin, die sich etwas vergibt. Da bat Frau Deberle, die Luciens Schreie ungeduldig machten, ihre Schwester, ihn aufzuheben und zum Schweigen zu bringen. Pauline wünschte sich nichts sehnlicher. Sie lief, warf sich neben das Kind auf die Erde, wälzte sich einen Augenblick mit ihm herum. Aber der Junge sträubte sich, er wollte nicht, daß man ihn aufhob. Sie stand jedoch wieder auf und hielt ihn dabei unter den Armen; und um ihn zu beruhigen, sagte sie: »Schweig, du Schreihals! Wir gehen schaukeln.« Lucien schwieg unvermittelt. Jeanne verlor ihre ernste Miene, und eine glühende Freude erleuchtete ihr Gesicht. Alle drei liefen zur Schaukel. Pauline aber setzte sich auf das Schaukelbrett. »Stoßt mich ab«, sagte sie zu den Kindern.
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Sie stießen sie mit aller Kraft ihrer Händchen. Allein sie war schwer, sie bewegten sie kaum von der Stelle. »So stoßt doch!« sagte sie immer wieder. »Oh! Was seid ihr für große Dummköpfe, ihr könnt es nicht.« Im Gartenhäuschen hatte Frau Deberle soeben leicht gefröstelt. Sie fand es trotz dieses schönen Sonnenscheins nicht warm. Und sie hatte Malignon gebeten, ihr einen Burnus aus weißem Kaschmir herüberzureichen, der an einem Fensterriegel hing. Malignon war aufgestanden, um ihr den Burnus über die Schulter zu legen. Beide plauderten vertraulich über Dinge, die Hélène sehr wenig interessierten. Deshalb ging sie voller Unruhe und Besorgnis, daß Pauline ganz unbeabsichtigt die Kinder umriß, in den Garten und ließ Juliette und den jungen Mann über eine Hutmode reden, für die sie sich begeisterten. Sowie Jeanne ihre Mutter erblickte, näherte sie sich ihr mit schmeichelndem Ausdruck und einem Flehen in ihrer ganzen kleinen Person. »Oh, Mama«, murmelte sie, »oh, Mama ...« »Nein, nein«, antwortete Hélène, die sehr wohl begriff. »Du weißt, daß man es dir verboten hat.« Jeanne schwärmte fürs Schaukeln. Es komme ihr vor, als werde sie ein Vöglein, sagte sie. Dieser Wind, der ihr ins Gesicht wehte, dieses jähe Auffliegen, dieses ständige Hin und Her, das rhythmisch war wie Flügelschlagen, rief in ihr das köstliche Gefühl hervor, zu den Wolken emporzuschweben. Sie glaubte dort hinaufzufliegen. Nur nahm das immer ein schlimmes Ende. Einmal hatte man sie angetroffen, wie sie sich an die Seile der Schaukel festklammerte, ohnmächtig, mit weit aufgerissenen Augen, die voller Entsetzen waren vor der Leere. Ein an-
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dermal war sie heruntergefallen, starr wie eine von einem Schrotkorn getroffene Schwalbe. »Oh! Mama«, flehte sie weiter, »nur ein bißchen, ein ganz kleines bißchen.« Um Frieden zu haben, setzte ihre Mutter sie schließlich auf das Schaukelbrett. Das Kind strahlte mit andächtigem Ausdruck und einem leichten genußvollen Beben, das ihre nackten Handgelenke zittern machte. Und als Hélène sie sehr sanft schaukelte, murmelte sie: »Doller, doller!« Doch Hélène hörte nicht auf sie. Sie ließ das Seil nicht los. Und sie kam selbst in Wallung, ihre Wangen wurden rosiger und ihr ganzer Leib schwang mit bei den Stößen, die sie dem Schaukelbrett versetzte. Ihr gewohnter Ernst schmolz dahin in einer Art Kameradschaftsgefühl zu ihrer Tochter. »Es ist genug«, erklärte sie und hob Jeanne von der Schaukel. »Schaukle du jetzt, bitte, schaukle«, sagte das Kind, das an ihrem Hals hängenblieb. Sie sah es leidenschaftlich gern, wenn ihre Mutter aufflog, wie sie es nannte, und sie empfand noch mehr Freude dabei, ihr zuzusehen als selber zu schaukeln. Doch diese fragte sie lachend, wer sie wohl abstoßen solle; wenn sie spiele, dann sei das ernst gemeint: sie schaukle über die Bäume hinaus. Gerade in diesem Augenblick erschien Herr Rambaud, den die Concierge hergeführt hatte. Er hatte Frau Deberle hin und wieder bei Hélène getroffen und nun geglaubt, er dürfe sich einfinden, als er Hélène nicht in ihrer Wohnung antraf. Frau Deberle zeigte sich sehr liebenswürdig, war gerührt durch die Gutmütigkeit des würdigen Mannes.
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Dann vertiefte sie sich von neuem in eine sehr lebhafte Unterhaltung mit Malignon. »Unser lieber Onkel wird dich abstoßen! Unser lieber Onkel wird dich abstoßen!« rief Jeanne und hüpfte um ihre Mutter herum. »Willst du wohl schweigen, wir sind nicht zu Hause«, sagte Hélène, die sich Mühe gab, streng zu wirken. »Mein Gott!« murmelte Herr Rambaud. »Wenn Ihnen das Spaß macht, stehe ich zu Ihrer Verfügung. Wenn man nun mal auf dem Lande ist ...« Hélène ließ sich verlocken. Als junges Mädchen hatte sie stundenlang geschaukelt, und die Erinnerung an diese fernen Vergnügungen erfüllten sie mit einem heimlichen Verlangen. Pauline, die sich mit Lucien auf den Rand des Rasens gesetzt hatte, griff ein mit der ihr eigenen freien Art eines großen Mädchens, das sich etwas herausnahm. »Ja, ja, der Herr wird Sie abstoßen ... Nachher wird er mich abstoßen. Nicht wahr, mein Herr, Sie werden mich abstoßen?« Das gab bei Hélène den Ausschlag. Die Jugend, die in ihr war unter der kühlen Gemessenheit ihrer großen Schönheit, brach mit einer bezaubernden Harmlosigkeit hervor. Sie zeigte sich einfach und fröhlich wie ein Pensionatsmädchen. Vor allem kannte sie keinerlei Zimperlichkeit. Lachend sagte sie, sie wolle nicht ihre Beine zeigen, und sie bat um eine Schnur, mit der sie ihre Röcke über den Knöcheln zusammenband. Als sie dann mit ausgebreiteten Armen und sich an den Seilen haltend auf dem Brett stand, rief sie fröhlich: »Los, Herr Rambaud ... Langsam zuerst.« Herr Rambaud hatte seinen Hut an einen Zweig gehängt. Sein breites und gutmütiges Gesicht wurde von 61
einem väterlichen Lächeln erhellt. Er überzeugte sich von der Festigkeit der Seile, sah sich die Bäume an, entschloß sich, dem Brett einen leichten Stoß zu geben. Hélène hatte gerade zum erstenmal die Trauerkleidung abgelegt. Sie trug ein graues, mit malvenfarbenen Schleifen besetztes Kleid. Und aufrecht dastehend, begann sie langsam zu schweben, dicht über der Erde, als werde sie gewiegt. »Los! Los!« sagte sie. Da versetzte Herr Rambaud mit vorgestreckten Armen das Schaukelbrett, das er im Vorbeifliegen ergriff, in raschere Bewegung. Hélène schwebte hoch, bei jedem Aufflug gewann sie an Raum. Doch das Gleichmaß der Bewegung wahrte einen gewissen Ernst. Bis jetzt war sie noch immer beherrscht, ein wenig ernst, hatte sehr helle Augen in ihrem schönen stummen Antlitz; allein ihre Nasenflügel blähten sich, wie um den Wind zu trinken. Nicht eine Falte ihrer Röcke hatte sich bewegt. Eine Flechte ihres Haarknotens ging auf. »Los! Los!« Ein jäher Stoß trug sie empor. Sie stieg in die Sonne hinauf, immer höher. Ein leichter Wind ging von ihr aus und wehte durch den Garten; und sie flog so schnell vorbei, daß man sie nicht mehr deutlich erkannte. Jetzt lächelte sie wohl, ihr Gesicht war rosig, ihre Augen flitzten wie Sternschnuppen dahin. Die Flechte, die aufgegangen war, schlug auf ihren Hals. Trotz der Schnur, die ihre Röcke zusammenhielt, flatterten sie und enthüllten das Weiß ihrer Knöchel, und man spürte, wie sie sich wohl fühlte, mit freier Brust in den Lüften lebend wie in ihrer eigentlichen Heimat. »Los! Los!«
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In Schweiß gebadet, rot im Gesicht, bot Herr Rambaud seine ganze Kraft auf. Ein Schrei erscholl. Hélène stieg immer noch höher. »Oh, Mama! Oh, Mama!« rief Jeanne immer wieder voller Verzückung. Sie hatte sich auf den Rasen gesetzt, sie sah ihrer Mutter zu, hatte ihre Händchen auf die Brust gepreßt, als habe sie selber all diese Luft getrunken, die da wehte. Ihr stockte der Atem, unbewußt ahmte sie mit einer taktmäßigen Bewegung ihrer Schultern die langen Schwingungen der Schaukel nach. Und sie schrie: »Doller! Doller!« Ihre Mutter stieg immer noch höher. Oben berührten ihre Füße die Zweige der Bäume. »Doller! Doller! Oh, Mama, doller!« Doch Hélène war mitten im Himmel. Die Bäume bogen sich und knarrten wie unter Windstößen. Man sah nur noch den Wirbel ihrer Röcke, die mit einem Gewitterkrachen aneinanderklatschten. Wenn sie herabschwang mit ausgebreiteten Armen, vorgestrecktem Busen, senkte sie ein wenig den Kopf, schwebte sie eine Sekunde über dem Boden; dann trug ein Schwung sie empor, und sie sank wieder herab, den Kopf hingegeben, hintüberfallen lassend, fliehend und vor Wonne vergehend, mit geschlossenen Lidern. Das war ihre Lust, dieses Auffliegen und Herabschweben, das sie schwindlig machte. Oben flog sie in die Sonne hinein, in diese blonde Februarsonne, von der gleichsam Goldstaub herabregnete. Ihre kastanienbraunen Haare mit dem bernsteingoldenen Schimmer entbrannten; und man hätte glauben können, sie flamme über und über, während ihre Schleifen aus malvenfarbener Seide gleich Feuerblumen auf ihrem weiß wirkenden Kleid leuchteten. Rings um sie her brach der
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Frühling an, die blaßvioletten Knospen setzten ihren feinen Lackton auf das Blau des Himmels. Da faltete Jeanne die Hände. Ihre Mutter erschien ihr wie eine Heilige mit einem goldenen Glorienschein auf ihrem Flug ins Paradies. Und mit gebrochener Stimme stammelte sie noch immer: »Oh, Mama! Oh, Mama ...« Voller Interesse waren inzwischen Frau Deberle und Malignon unter den Bäumen näher getreten. Malignon fand diese Dame sehr mutig. Frau Deberle sagte mit erschrockener Miene: »Das Herz würde sich mir umdrehen, ganz gewiß.« Hélène hörte es, denn aus den Zweigen warf sie die Worte herab: »Oh, ich habe ein kräftiges Herz! – Los, los doch, Herr Rambaud.« Und ihre Stimme blieb tatsächlich ruhig. Sie schien sich nicht um die beiden Männer zu bekümmern, die da waren. Sie zählten zweifellos nicht. Ihre Flechten hatten sich vollends zerzaust; die Schnur mußte sich gelockert haben, und ihre Röcke knatterten wie Fahnen. Sie stieg höher. Aber auf einmal rief sie: »Genug, Herr Rambaud, genug!« Doktor Deberle war soeben auf der Freitreppe erschienen. Er kam herzu, umarmte liebevoll seine Frau, hob Lucien hoch und küßte ihn auf die Stirn. Dann schaute er Hélène lächelnd zu. »Genug, genug!« rief sie immer wieder. »Warum denn?« fragte er. »Störe ich Sie?« Sie antwortete nicht. Sie war ernst geworden. Die Schaukel, die in vollen Schwung gebracht war, hielt nicht an; sie behielt lange, regelmäßige Schwingungen bei, die Hélène immer noch sehr hoch emportrugen. Und überrascht und bezaubert, bewunderte der Arzt sie, so präch64
tig, so groß und so kraftvoll war sie, hatte die Reinheit einer antiken Statue, wie sie da in der Frühlingssonne weich geschaukelt wurde. Aber sie schien gereizt; und jäh sprang sie ab. »Halt! Halt!« schrien alle. Hélène hatte einen dumpfen Klagelaut ausgestoßen. Sie war auf den Kies eines Gartenweges gefallen, und sie konnte nicht aufstehen. »Mein Gott! Wie unvorsichtig!« sagte der Doktor, dessen Gesicht sehr blaß war. Alle bemühten sich um sie. Jeanne weinte so sehr, daß Herr Rambaud, der selber einer Ohnmacht nahe war, sie in seine Arme nehmen mußte. Indessen fragte der Doktor Hélène rasch: »Auf das rechte Bein sind Sie gefallen, nicht wahr? – Sie können nicht aufstehen?« Und da sie wie benommen verharrte und nicht antwortete, fragte er noch einmal: »Tut Ihnen etwas weh?« »Ein dumpfer Schmerz, da, am Knie«, sagte sie mühsam. Da schickte er seine Frau nach seinem Arzneikasten und Verbandzeug. Er sagte immer wieder: »Wir müssen nachsehen, wir müssen nachsehen. Es ist sicher nichts.« Dann kniete er auf dem Kies nieder. Hélène ließ ihn gewähren. Doch als er seine Hände ausstreckte, richtete sie sich mit Mühe auf, zog sie ihre Röcke um ihre Füße zusammen. »Nein, nein«, murmelte sie. »Aber«, sagte er, »wir müssen doch nachsehen ...« Sie erzitterte leicht, und mit leiser Stimme begann sie wieder: »Ich will nicht ... Es ist nichts weiter.« 65
Er sah sie zunächst erstaunt an. Eine rosige Färbung war ihren Hals hinaufgestiegen. Einen Augenblick lang begegneten sich ihre Augen und schienen auf dem Grund ihrer Seelen zu lesen. Da stand Doktor Deberle, der selber verwirrt war, langsam auf und blieb bei ihr, ohne sie noch zu fragen, ob er sie untersuchen solle. Hélène hatte Herrn Rambaud zu sich herangewinkt. Sie flüsterte ihm ins Ohr: »Holen Sie Doktor Bodin, erzählen Sie ihm, was mir zugestoßen ist.« Als Doktor Bodin zehn Minuten später eintraf, erhob sie sich mit übermenschlichem Mut, und sich auf ihn und Herrn Rambaud stützend, ging sie wieder zu ihrer Wohnung. Jeanne, die vor Weinen am ganzen Leibe bebte, folgte ihr. »Ich warte auf Sie«, hatte Doktor Deberle zu seinem Kollegen gesagt. »Kommen Sie uns dann beruhigen.« Im Garten wurde lebhaft gesprochen. Malignon rief, die Frauen hätten doch schnurrige Ideen in ihren Köpfen. Warum, zum Teufel, hat es dieser Dame Spaß gemacht, abzuspringen? Pauline war sehr verärgert über das Ereignis, das sie um ein Vergnügen brachte, und fand es unvorsichtig, sich so doll schaukeln zu lassen. Der Arzt sprach nicht, er schien besorgt zu sein. »Nichts Ernstliches«, sagte Doktor Bodin, als er wieder herunterkam, »eine harmlose Verstauchung ... Nur wird sie mindestens vierzehn Tage auf ihrer Chaiselongue liegen müssen.« Herr Deberle schlug jetzt Malignon freundschaftlich auf die Schulter. Er wünschte, daß seine Frau wieder hineingehe, weil es entschieden zu kühl sei. Und er nahm Lucien, und ihn mit Küssen bedeckend, trug er ihn selber fort. 66
Kapitel V Die beiden Fenster des Zimmers standen weit offen, und in dem Abgrund, der sich zu Füßen des steil auf der Höhe erbauten Hauses höhlte, entrollte Paris seine unermeßliche Ebene. Es schlug zehn Uhr, der schöne Februarmorgen war voller Frühlingslieblichkeit und Frühlingsduft. Hélène, die auf ihrer Chaiselongue ausgestreckt lag, das Knie noch immer von Binden umwickelt, las vor einem Fenster. Sie hatte keine Schmerzen mehr; aber seit acht Tagen war sie hier festgenagelt und konnte nicht einmal an ihrer gewohnten Näherei arbeiten. Da sie nicht wußte, was sie tun sollte, hatte sie ein Buch aufgeschlagen, das auf dem Tischchen herumlag, sie, die niemals las. Es war das Buch, das sie jeden Abend dazu benutzte, die Nachtlampe zu verdecken, das einzige Buch, das sie in achtzehn Monaten dem kleinen Bücherschrank entnommen, den Herr Rambaud mit sittsamen Werken ausgestattet hatte. Gewöhnlich kamen ihr die Romane falsch und kindisch vor. Dieser Roman hier, »Ivanhoe«11 von Walter Scott, hatte sie zunächst stark gelangweilt. Dann war eine seltsame Neugier über sie gekommen. Sie las ihn zu Ende, war zuweilen gerührt, von Müdigkeit befallen, und die Blicke starr auf den weiten Horizont geheftet, ließ sie ihn während langer Minuten aus ihren Händen fallen. An jenem Morgen zeigte Paris eine lächelnde Trägheit beim Erwachen. Ein Dunst, der das Seinetal entlangzog, hatte die beiden Ufer ertränkt. Es war ein leichter, gleichsam milchiger Brodem, den die nach und nach größer gewordene Sonne erhellte. Unter diesem gewitterfarbenen schwebenden Musselin konnte man nichts von der 67
Stadt unterscheiden. In den Vertiefungen wurde das verdichtete Gewölk um einen bläulichen Ton dunkler, während über weite Strecken hin Durchsichtigkeit von äußerster Zartheit entstand, goldener Staub, in dem man die Einbuchtungen der Straßen erriet; und weiter oben zerrissen Kuppeln und Turmspitzen den Nebel, indem sie ihre grauen Silhouetten in die Höhe richteten, noch mit den Fetzen des Dunstes umhüllt, den sie durchbohrten. Zeitweise lösten sich Bahnen gelben Rauchs davon ab mit dem schweren Flügelschlag eines Riesenvogels, zerschmolzen dann in der Luft, die sie zu trinken schien. Und über dieser Unermeßlichkeit, über dieser auf Paris herabgesunkenen und eingeschlafenen Wetterwolke, spannte ein sehr reiner Himmel von verwaschenem, fast weißem Blau sein hohes Gewölbe. Die Sonne stieg in gedämpftem Strahlenstieben empor. Eine blonde Helligkeit, mit dem unbestimmten Blond der Kindheit, zerklirrte in Regen, füllte den Raum mit ihrem lauen Schauer. Es war ein Fest, ein erhabener Friede und eine zarte Heiterkeit des Unendlichen, während sich die Stadt, von Goldpfeilen durchsiebt, faul und schläfrig, durchaus nicht entschließen konnte, sich unter ihrem Spitzengewebe zu zeigen. Hélène hatte seit acht Tagen diese Zerstreuung durch das große, vor ihr ausgebreitete Paris. Niemals wurde sie dessen müde. Paris war unergründlich und unstet wie ein Ozean, arglos am Morgen und entbrannt am Abend, und nahm Freude und Trauer des Himmels an, den es widerspiegelte. Ein Sonnenblick ließ Paris Goldwogen dahinwälzen, eine Wolke verdüsterte es und wühlte Gewitter in ihm auf. Immer erneuerte sich Paris: es gab orangefarbene Windstillen, Windstöße, die von einer Stunde zur anderen die Weite bleiern färbten, lebhafte und helle 68
Augenblicke, die einen Schimmer auf dem First jeden Daches entzündeten, Regengüsse, die Himmel und Erde ertränkten, den Horizont im chaotischen Zusammenbruch verwischten. Hélène kostete dort alle Schwermut und alle Hoffnungen des offenen Meeres aus; sie glaubte sogar, im Gesicht seinen starken Atem, seinen bitteren Geruch zu spüren; und alles, sogar das fortwährende Grollen der Stadt, vermittelte ihr das Trugbild der Flut, die gegen die Felsen einer Steilküste brandet. Das Buch entglitt ihren Händen. Sie träumte mit gedankenverlorenem Blick. Wenn sie das Buch so losließ, geschah es aus einem Bedürfnis, nicht weiterzulesen, sondern zu verstehen und zu warten. Sie empfand einen Genuß dabei, ihre Neugier nicht sofort zu befriedigen. Die Erzählung schwellte sie mit einer Ergriffenheit, die sie erstickte. Paris zeigte gerade an jenem Morgen die Freude und Verwirrung ihres Herzens. Es lag ein großer Zauber darin: nicht zu wissen, halb zu ahnen, sich einem langsamen Eingeweihtwerden zu überlassen mit dem dunklen Gefühl, daß sie ihre Jugend wiederbegänne. Wie diese Romane logen! Sie hatte schon recht, niemals welche zu lesen. Das waren Märchen, gut für die Hohlköpfe, die kein genaues Gefühl für das Leben haben. Und sie ließ sich dennoch betören, sie dachte unwiderstehlich an den Ritter Ivanhoe, der so leidenschaftlich von zwei Frauen geliebt wurde, von Rebecca, der schönen Jüdin, und von der edlen Lady Rowena. Es schien ihr, daß sie mit dem Stolz und der geduldigen Heiterkeit dieser letzteren geliebt haben würde. Lieben, lieben! Und dieses Wort, das sie nicht aussprach, das von selbst in ihr mitschwang, setzte sie in Erstaunen und ließ sie lächeln. In der Ferne schwammen blasse Flocken über Paris, von einem sanften Wind fortgetragen, gleich einem Schwarm 69
Schwäne. Große Nebeltücher verschoben sich; für einen Augenblick kam das linke Seine-Ufer zum Vorschein, zitternd und verschleiert wie eine im Traum erblickte Märchenstadt; aber eine Dunstmasse stürzte zusammen, und diese Stadt wurde von den Fluten einer Überschwemmung verschlungen. Jetzt rundeten sich die gleichmäßig über allen Stadtvierteln ausgebreiteten Dünste zu einem schönen See mit weißen und glatten Wassern. Allein eine dichtere Strömung bezeichnete mit einer grauen Krümmung den Lauf der Seine. Langsam schienen Schatten auf diesen weißen, so stillen Wassern Schiffe mit rosigen Segeln dahinziehen zu lassen, denen die junge Frau mit träumerischem Blick nachschaute. Lieben, lieben! Und sie lächelte ihrem Traum zu, der dahinschwebte. Indessen nahm Hélène ihr Buch wieder zur Hand. Sie war gerade bei der Episode vom Angriff auf das Schloß, als Rebecca den verwundeten Ivanhoe pflegt und ihn über die Schlacht unterrichtet, die sie durch ein Fenster verfolgt. Sie fühlte sich in einer schönen Lüge, sie erging sich darin wie in einem Traumgarten mit goldenen Früchten, in dem sie alle Illusion trank. Am Ende der Szene, wenn Rebecca, in ihren Schleier gehüllt, ihre zärtliche Liebe an der Seite des eingeschlafenen Ritters verströmt, ließ Hélène dann von neuem den Band sinken, ihr Herz war ihr so schwer vor Rührung, daß sie nicht weiterlesen konnte. Mein Gott! War das alles wahr? Und zurückgelehnt auf ihrer Chaiselongue, benommen durch die Reglosigkeit, die sie wahren mußte, betrachtete sie Paris, das ertränkt und geheimnisvoll unter der blonden Sonne lag. Da stand, durch die Seiten des Romans heraufbeschworen, ihr eigenes Dasein vor ihr auf. Sie sah sich als junges 70
Mädchen in Marseille, bei ihrem Vater, dem Hutmacher Mouret. Die Rue des Petites-Maries war schwarz, und das Haus mit seinem Zuber mit kochendem Wasser zur Herstellung der Hüte strömte selbst bei schönem Wetter einen schalen Feuchtigkeitsgeruch aus. Sie sah auch ihre immer kranke Mutter, die sie mit ihren blassen Lippen wortlos küßte. Niemals hatte sie einen Sonnenstrahl in ihrem Kinderzimmer gesehen. Rings um sie wurde viel gearbeitet, wurde mühsam ein Handwerkerwohlstand erworben. Das war dann alles; bis zu ihrer Heirat durchschnitt nichts diese Aufeinanderfolge gleichförmiger Tage. Als sie eines Morgens mit ihrer Mutter vom Markt zurückkam, hatte sie den jungen Grandjean mit ihrem Korb voll Gemüse angestoßen. Charles hatte sich umgewandt und war ihnen nachgegangen. Der ganze Roman ihrer Liebe rührte davon her. Drei Monate lang traf sie ihn unaufhörlich, der demütig und linkisch war und nicht wagte, sie anzureden. Sie war sechzehn Jahre alt, sie war ein bißchen stolz auf diesen Liebhaber, von dem sie wußte, daß er aus einer reichen Familie stammte. Doch sie fand ihn häßlich, sie lachte oft über ihn und schlief ungestörte Nächte hindurch im Dunkel des großen feuchten Hauses. Dann hatte man sie beide miteinander verheiratet. Diese Heirat setzte sie noch immer in Erstaunen. Charles betete sie an, warf sich abends, wenn sie zu Bett ging, auf die Erde nieder, um ihre nackten Füße zu küssen. Sie lächelte voller Freundschaft, während sie ihm vorwarf, ein rechtes Kind zu sein. Alsdann hatte ein graues Leben wieder begonnen. Sie konnte sich nicht erinnern, daß zwölf Jahre hindurch eine Erschütterung eingetreten sei. Sie war sehr ruhig und sehr glücklich, ohne Fieber der Sinne und des Herzens, steckte tief in den täglichen Sorgen eines ärmlichen Haushaltes. 71
Charles küßte noch immer ihre Marmorfüße, während sie sich nachsichtig und mütterlich ihm gegenüber zeigte. Nichts weiter. Und jäh sah sie das Zimmer im Hotel du Var, ihren toten Gatten, ihr auf dem Stuhl ausgebreitetes Witwenkleid. Sie hatte geweint wie an dem Winterabend, an dem ihre Mutter gestorben war. Danach waren die Tage noch immer dahingeflossen. Seit zwei Monaten fühlte sie sich mit ihrer Tochter von neuem sehr glücklich und sehr ruhig. Mein Gott! War das alles? Und was meinte denn dieses Buch, wenn es von diesen großen Liebesleidenschaften sprach, die ein ganzes Dasein erhellen? Am Horizont liefen, lange Schauer über den schlafenden See. Dann schien der See auf einmal zu bersten; Spalten entstanden, von einem Ende zum anderen gab es ein Krachen, das den Zusammenbruch ankündigte. Weiter oben griff die Sonne im triumphierenden Glorienschein ihrer Strahlen siegreich den Nebel an. Nach und nach schien der große See zu versiegen, als habe irgendein unsichtbarer Abfluß die Ebene entleert. Die eben noch so unergründlichen Dämpfe verdünnten sich, wurden durchsichtig, während sie die lebhaften Färbungen des Regenbogens annahmen. Das ganze linke Seine-Ufer war von einem zarten Blau, das langsam dunkler wurde und im Hintergrund, auf der Seite des Jardin des Plantes12, blaßviolett war. Auf dem rechten Ufer hatte das Viertel um die Tuilerien13 das verblaßte Rosa eines fleischfarbenen Stoffes, während es so aussah, als herrsche nach dem Montmartre zu gleichsam ein Glutschein, im Golde flammendes Karminrot; dann verdüsterten sich in weiter Ferne die Arbeitervorstädte mit einem Ziegelton, der mehr und mehr erlosch und in bläuliches Schief er grau überging. Man konnte noch nicht die zitternde 72
und zurücktretende Stadt erkennen, gleich einem jener Meeresgründe, die das Auge durch die klaren Wasser hindurch ahnt, mit ihren schreckenerregenden Wäldern hoher Gräser, ihrem schaurigen Gewimmel, ihren nur flüchtig geschauten Ungeheuern. Indessen fielen die Wasser immer noch. Sie waren nur noch feine, ausgebreitete Musselinschleier; und einer nach dem anderen enteilten die Musselinschleier, das Bild von Paris hob sich deutlicher ab und trat aus dem Traum hervor. Lieben, lieben! Warum kehrte dieses Wort in ihr mit dieser Süße wieder, während sie das Zerfließen des Nebels verfolgte? Hatte sie nicht ihren Mann geliebt, den sie wie ein Kind pflegte? Doch eine herzergreifende Erinnerung erwachte, die Erinnerung an ihren Vater, den man drei Wochen nach dem Tod seiner Frau erhängt gefunden hatte, hinten in einem Nebengelaß, in dem noch ihre Kleider hingen. Dort rang er mit dem Tode, erstarrt, das Gesicht in einen Rock vergraben, eingehüllt von diesen Kleidungsstücken, die ein wenig von der ausströmten, die er immer noch anbetete. Dann gab es in ihrer Träumerei einen jähen Sprung: sie dachte an Einzelheiten des Haushaltes, an die Monatsabrechnungen, die sie gerade an diesem Morgen mit Rosalie aufgestellt hatte, und sie fühlte sich sehr stolz auf ihre gute Ordnung. Sie hatte mehr als dreißig Jahre lang in unbedingter Würde und Festigkeit gelebt. Allein die Gerechtigkeit erfüllte sie mit Leidenschaft. Wenn sie ihre Vergangenheit befragte, fand sie nicht eine schwache Stunde, sah sie sich, wie sie gleichmäßigen Schrittes einer ebenen und schnurgeraden Straße folgte. Wahrlich, die Tage mochten dahinfließen, sie würde ihren ruhigen Gang fortsetzen, ohne daß ihr Fuß an ein Hindernis stieß. Und das machte sie streng, erfüllte sie mit Zorn und Verachtung gegen jedes lügneri73
sche Dasein, dessen Heldentum die Herzen verwirrt. Das einzige wahre Dasein war das ihre, das inmitten eines so weiten Friedens abrollte. Aber über Paris lag nur noch ein dünner Rauch, ein schlichter, zitternder Flor, der gleich auffliegen würde; und eine plötzliche Rührung bemächtigte sich ihrer. Lieben, lieben! Alles führte sie zu der Liebkosung dieses Wortes zurück, sogar der Stolz auf ihre Ehrbarkeit. Ihr Träumen ward so schwerelos, daß sie nicht mehr dachte, in Frühling gebadet, die Augen tränenfeucht. Indessen wollte Hélène gerade ihr Buch wieder zur Hand nehmen, da kam Paris langsam zum Vorschein. Nicht ein Windhauch war vorübergeweht, es war gleichsam eine Beschwörung. Der letzte Flor löste sich, stieg auf, verging in der Luft. Und die Stadt dehnte sich ohne einen Schatten unter der sieghaften Sonne aus. Hélène verharrte so, das Kinn auf die Hand gestützt, und schaute diesem riesigen Erwachen zu. Ein endloses Tal von übereinandergeschichteten Bauten. Auf der verlorenen Linie der Hügel hoben sich Dächeranhäufungen ab, während man spürte, wie die Welle der Häuser in der Ferne dahinrollte hinter den Geländefalten, in Gefilden, die man nicht mehr sah. Das war das offene Meer mit dem Unendlichen und dem Unbekannten seiner Wogen. Paris breitete sich aus, ebenso groß wie der Himmel. An diesem strahlenden Morgen wirkte die sonnengelbe Stadt wie ein Feld reifer Ähren; und das unermeßliche Gemälde war schlicht, hatte lediglich zwei Farbtöne, das blasse Blau der Luft und den goldenen Widerschein der Dächer. Der Regenguß dieser Frühlingsstrahlen verlieh den Dingen eine kindhafte Anmut. Man unterschied deutlich die kleinsten Einzelheiten, so rein war das Licht. Paris mit dem unentwirrbaren Chaos sei74
ner Steine schimmerte wie unter Kristall. Dann und wann jedoch wehte in dieser strahlenden und reglosen Heiterkeit ein Windhauch vorüber; und dann sah man Stadtviertel, deren Linien weicher wurden und zitterten, als betrachte man sie durch irgendeine unsichtbare Flamme hindurch. Hélène interessierte sich zunächst für die ausgedehnten Weiten, die sich unter ihren Fenstern ausgebreitet hatten, für den Abhang des Trocadéro14 und die Entfaltung der Uferstraße. Sie mußte sich vorbeugen, um das nackte Viereck des Champ-de-Mars15 zu erblicken, das im Hintergrund durch den düsteren Balken der Ecole militaire16 abgeschlossen wurde. Unten auf dem weiten Platz und auf den Bürgersteigen zu beiden Seiten der Seine unterschied sie die Vorübergehenden, eine geschäftige Menge schwarzer Punkte, die mit der Bewegung eines Ameisenhaufens fortgetragen wurden; der gelbe Kasten eines Omnibusses schleuderte einen Funken; Lastwagen und Droschken überquerten die Brücke, wirkten so klein wie Kinderspielzeug mit zierlichen Pferden, die beweglichen Figuren ähnelten; und zwischen anderen Spaziergängern längs der mit Rasen bewachsenen Böschungen bildete ein Hausmädchen in weißer Schürze einen Helligkeitsfleck auf dem Gras. Dann blickte Hélène auf; aber die Menge zerbröckelte und verlor sich, die Fahrzeuge selber wurden Sandkörner; da war nur noch das riesenhafte Gerippe der Stadt, die gleichsam leer und verödet war und allein durch das dumpfe Beben lebte, das sie in Aufregung versetzte. Dort im Vordergrund links leuchteten rote Dächer, die hohen Schornsteine der Militärbäckerei rauchten träge, während auf der anderen Seite des Flusses, zwischen der Esplanade und dem Champ-deMars, eine Gruppe großer Ulmen eine Parkecke bildete, 75
deren kahle Zweige und gerundete, schon mit grünen Spitzen gefärbte Wipfel man deutlich sah. In der Mitte breitete sich die Seine aus und strömte dahin, eingeschlossen in ihre grauen Uferböschungen, auf denen abgeladene Fässer, Umrisse von Dampfkränen, aneinandergereihte zweirädrige Wagen den Eindruck eines Seehafens hervorriefen. Hélène kam immer zu dieser blinkenden Wasserfläche zurück, auf der Boote gleich tintenfarbenen Vögeln vorüberzogen. Unwiderstehlich angezogen, schweifte sie mit einem langen Blick den prächtigen Lauf der Seine stromaufwärts. Das war gleichsam eine Silberlitze, die Paris entzweischnitt. An jenem Morgen führte das Wasser die Sonne mit sich, der Horizont hatte kein glänzenderes Licht. Und der Blick der jungen Frau traf zunächst die Pont des Invalides, dann die Pont de la Concorde, dann die Pont Royal; die Brücken setzten sich fort, schienen sich einander zu nähern, legten sich übereinander und bauten dabei seltsame, mehrstöckige Viadukte, die von Brückenbögen aller Formen durchbohrt waren, während der Fluß zwischen diesen schwerelosen Bauten immer entlegenere und schmalere Zipfel seines blauen Kleides zeigte. Sie blickte noch immer stromaufwärts: dort drüben teilte sich der Fluß in dem wirren Durcheinander der Häuser; die Brücken auf beiden Seiten der Cité17 wurden von einem Ufer zum anderen gespannte Fäden; und die über und über vergoldeten Türme von Notre-Dame reckten sich empor wie die Markzeichen des Horizonts, hinter denen der Fluß, die Bauten, die dichten Baumgruppen nur noch Sonnenstaub waren. Da ließ sie, geblendet, ab von diesem sieghaften Herz von Paris, in dem alle Herrlichkeit der Stadt zu flammen schien. Auf dem rechten Ufer breiteten inmitten der Hochwälder der Champs- Elysées18 76
die großen Glasfenster des Palais de l'Industrie19 schneeiges Weiß aus; weiter entfernt reckte sich hinter dem plattgedrückten Dach der Madeleine- Kirche, das einem Grabstein glich, die ungeheure Masse der Oper empor, und dann kamen noch andere Gebäude, Kuppeln und Türme, die Vendôme- Säule20, die Kirche SaintVincent-de-Paul, der Turm Saint-Jacques21, weiter vorn die schweren Würfel der Pavillons des neuen Louvre22 und der Tuilerien, halb in einem Kastanienwäldchen verborgen. Auf dem linken Ufer rieselten die Vergoldungen des Invalidendoms; jenseits davon verblaßten im Licht die beiden ungleichen Türme der Kirche SaintSulpice; und noch weiter hinten, rechts von den neuen Kirchturmspitzen von Sainte-Clotilde, beherrschte das bläuliche Panthéon23, das vierschrötig auf einer Anhöhe saß, die Stadt, entfaltete mitten im Himmel seinen feinen Säulenbau, stand reglos in der Luft mit dem seidenen Farbton eines Fesselballons. Jetzt umfing Hélène mit einem flüchtigen, träge umherschweifenden Blick ganz Paris. Täler höhlten sich dort, die man an den Abständen zwischen den Dächern erriet; der Butte des Moulins24 stieg mit einer brodelnden Woge alter Schieferdächer empor, während die Linie der großen Boulevards wie ein Bach talwärts floß, in dem ein dichtes Gedränge von Häusern versank, von denen man nicht einmal mehr die Dachziegel sah. Zu dieser Morgenstunde erhellte die schräge Sonne die dem Trocadéro zugewandten Fassaden nicht. Kein Fenster entbrannte. Allein einige Verglasungen auf den Dächern warfen Lichtscheine, lebhaftes Glimmergefunkel in das gebrannte Rot des sie umgebenden Keramikschmucks. Die Häuser blieben grau, von einem durch Widerschein erhitzten Grau; aber kurzes Aufblitzen von Licht durch77
brach die Stadtviertel, lange Straßen, die, von Hélène aus gesehen, schnurgerade dort hineinführten, durchschnitten den Schatten mit ihren Sonnenstreifen. Nur links bildeten der Hügel des Montmartre und die Höhen des Friedhofs Père-Lachaise25 Buckel am unermeßlichen flachen Horizont, der ohne einen Bruch gerundet war. Die im Vordergrund so deutlichen Einzelheiten, die unzähligen Auszackungen der Schornsteine, die kleinen schwarzen Schraffierungen der Tausende von Fenstern verwischten sich, verwoben sich mit Gelb und Blau, verschwammen im Durcheinander einer endlosen Stadt, deren den Blicken entrückte Vorstädte unter der großen ausgebreiteten und flirrenden Helligkeit des Himmels steinige, von blaßviolettem Nebel ertränkte Gestade zu erstrecken schienen. Ganz ernst schaute Hélène zu, da kam Jeanne fröhlich herein. »Mama, Mama, sieh doch!« Das Kind hielt ein großes Bund gelben Goldlack in der Hand. Und es erzählte unter Lachen, daß es Rosalie aufgelauert habe, als sie von den Einkäufen zurückkam, um in ihrem Korb nachzusehen. In diesem Korb zu wühlen, das war Jeannes Freude. »Sieh doch, Mama! Das war unten drin ... Riech mal, den guten Duft!« Die fahlroten, purpurgetigerten Blüten strömten einen durchdringenden Geruch aus, der das ganze Zimmer durchduftete. Da zog Hélène mit einer leidenschaftlichen Bewegung Jeanne an ihre Brust, während das Bund Goldlack auf ihre Knie fiel. Lieben, lieben! Gewiß, sie liebte ihr Kind. War das nicht genug, diese große Liebe, die ihr Leben bis dahin ausgefüllt hatte? Diese Liebe mußte ihr genügen, mit ihrer Süße und ihrer Ruhe, ihrer Ewigkeit, die kein Überdruß zerbrechen konnte. Und sie 78
drückte ihre Tochter noch fester an sich, um gleichsam Gedanken beiseite zu schieben, die sie von ihr zu trennen drohten. Indessen überließ sich Jeanne dieser unverhofften Flut von Küssen. Mit feuchten Augen schmiegte sie sich mit einer schmeichelnden Bewegung ihres zarten Halses an die Schulter ihrer Mutter. Dann legte sie einen Arm um sie und blieb ganz artig da stehen, die Wange an ihren Busen gelehnt. Zwischen sie legten die Goldlackblüten ihren Duft. Lange Zeit sprachen sie kein Wort. Ohne sich zu rühren, fragte Jeanne schließlich mit leiser Stimme: »Mama, siehst du da unten am Fluß diese Kuppel, die ganz rosig ist ... Was ist denn das?« Es war die Kuppel des Institut de France26. Hélène schaute einen Augenblick hin, schien nachzudenken. Und sanft sagte sie: »Ich weiß nicht, mein Kind.« Die Kleine gab sich mit dieser Antwort zufrieden, das Schweigen begann von neuem. Aber sie stellte bald eine andere Frage: »Und da, ganz nah, diese schönen Bäume?« fing sie wieder an und zeigte dabei mit dem Finger auf einen schmalen Durchblick in den Jardin des Tuileries27. »Diese schönen Bäume?« murmelte die Mutter. »Links, nicht wahr? – Ich weiß nicht, mein Kind.« »Ach!« sagte Jeanne. Dann fügte sie nach einem kurzen Träumen mit ernstem Schmollen hinzu: »Wir wissen gar nichts.« Sie wußten tatsächlich nichts von Paris. Seit achtzehn Monaten hatten sie es zu jeder Stunde vor Augen, aber sie kannten keinen Stein davon. Nur dreimal waren sie in die Stadt hinabgegangen; aber als sie wieder nach Hause 79
emporgestiegen waren und ihnen der Kopf krank war von einer solchen Unruhe, hatten sie inmitten des ungeheuren Durcheinanders der Stadtviertel nichts wiedergefunden. Jeanne war jedoch manchmal starrköpfig. »Ach! Du sollst es mir sagen!« forderte sie. »Diese ganz weißen Fenster? Das ist zu groß, das mußt du wissen.« Sie zeigte auf das Palais de l'Industrie. Hélène zögerte. »Das ist ein Bahnhof ... Nein, ich glaube, das ist ein Theater ...« Sie lächelte, sie küßte Jeannes Haar und wiederholte dabei ihre gewohnte Antwort: »Ich weiß nicht, mein Kind.« Dann fuhren sie fort, Paris zu betrachten, ohne sich weiter zu bemühen, es zu erkennen. Es war sehr wohltuend, Paris so vor sich zu haben und es nicht zu kennen. Paris blieb das Unendliche und das Unbekannte. Es war, als seien sie auf der Schwelle einer Welt stehengeblieben, deren ewigen Anblick sie hatten, während sie sich weigerten, in sie hinabzusteigen. Oft beunruhigte sie Paris, wenn es ihnen heiße und verwirrende Atemstöße hinaufsandte. Doch an jenem Morgen hatte es die Fröhlichkeit und Unschuld eines Kindes, sein Geheimnis wehte ihnen nur Zärtlichkeit ins Angesicht. Hélène nahm ihr Buch wieder zur Hand, während Jeanne, die sich an sie drückte, noch immer hinschaute. Am strahlenden und reglosen Himmel erhob sich kein Lüftchen. Die Rauchschwaden der Militärbäckerei stiegen kerzengerade empor, in leichten Flocken, die sich hoch oben verloren. Und auf gleicher Höhe mit den Häusern gingen Wellen über die Stadt hin, eine Schwingung von Leben, aus all dem dort eingeschlossenen Leben entstanden. Die laute Stimme der Straßen nahm in der Sonne eine glückliche Weichheit an. Doch ein Geräusch 80
zog Jeannes Aufmerksamkeit auf sich. Es war ein Schwarm weißer Tauben, der aus irgendeinem benachbarten Taubenschlag aufgeflogen war und dem Fenster gegenüber die Luft durchzog; sie erfüllten den Horizont, der fliegende Schnee ihrer Flügel verbarg die Unermeßlichkeit von Paris. Hélène, die wiederum hochblickte und gedankenverloren vor sich hin schaute, träumte tief. Sie war Lady Rowena, sie liebte mit dem Frieden und der Tiefe einer edlen Seele. Dieser Frühlingsmorgen, diese große, so sanfte Stadt, diese ersten Goldlackblüten, die ihre Knie umdufteten, das alles hatte nach und nach ihr Herz schmelzen lassen.
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Zweiter Teil Kapitel I Eines Morgens beschäftigte Hélène sich damit, ihren kleinen Bücherschrank aufzuräumen, dessen Bücher sie seit einigen Tagen durchstöberte, als Jeanne hüpfend und in die Hände klatschend hereinkam. »Mama«, rief sie, »ein Soldat, ein Soldat!« »Was? Ein Soldat?« fragte die junge Frau. »Was soll ich denn mit deinem Soldaten?« Aber das Kind hatte einen seiner Anfälle übermütiger Tollheit; es hüpfte noch mehr, es sagte immer wieder: »Ein Soldat, ein Soldat!«, ohne sich genauer zu erklären. Da erhob sich Hélène, weil die Kleine die Tür des Zimmers offengelassen hatte, und sie war ganz überrascht, im Vorzimmer einen Soldaten zu erblicken, einen kleinen Soldaten. Rosalie war fortgegangen; Jeanne mußte trotz des ausdrücklichen Verbotes ihrer Mutter auf dem Treppenabsatz gespielt haben. »Was wünschen Sie, junger Mann?« fragte Hélène. Sehr verwirrt durch das Erscheinen dieser Dame, die so schön und so weiß war in ihrem spitzenbesetzten Morgenrock, scharrte der kleine Soldat mit dem Fuß auf dem Parkett, grüßte, stammelte überstürzt: »Verzeihung ... Entschuldigung ...« Und ihm fiel nichts anderes ein, er wich, immer noch mit den Füßen schlurfend, bis an die Wand zurück. Da er nicht weitergehen konnte und sah, daß die Dame mit einem unwillkürlichen Lächeln wartete, wühlte er rasch in seiner rechten Tasche, aus der er ein blaues Taschentuch, ein Messer und ein Stück Brot zog. Er betrachtete jeden Gegenstand, 82
versenkte ihn wieder in die Tasche. Dann ging er zur linken Tasche über; darin befand sich ein Stück Schnur, zwei verrostete Nägel, in eine halbe Zeitung eingewickelte Bilder. Er steckte alles wieder ein, mit ängstlichem Gesichtsausdruck klopfte er sich auf die Schenkel. Und er stotterte bestürzt: »Verzeihung ... Entschuldigung.« Doch unvermittelt legte er einen Finger an seine Nase und brach in ein gutmütiges Lachen aus. Dummkopf! Er erinnerte sich. Er machte zwei Knöpfe seines Soldatenmantels auf, wühlte in seiner Brusttasche, in der er den Arm bis zum Ellbogen vergrub. Schließlich holte er einen Brief hervor, den er heftig schüttelte, als wolle er den Staub davon entfernen, bevor er ihn Hélène übergab. »Ein Brief für mich, sind Sie auch sicher?« sagte Hélène. Auf dem Umschlag stand wirklich ihr Name und ihre Adresse in einer plumpen Bauernhandschrift mit Grundstrichen, die wie Kartenmänner durcheinanderpurzelten. Und sowie sie anfing zu begreifen, bei jeder Zeile durch ungewöhnliche Wendungen und eine ungewöhnliche Rechtschreibung aufgehalten, lächelte sie von neuem. Es war ein Brief von Rosalies Tante, die ihr Zéphyrin Lacour schickte, den das Los getroffen28 hatte, Soldat zu werden, »trotz zweier vom Herrn Pfarrer gelesener Messen«. Da nun mal Zéphyrin Rosalies Liebster sei, bäte sie Madame, den Kindern zu erlauben, sich sonntags zu sehen. Es waren drei Seiten, auf denen diese Bitte in denselben, immer verworrener werdenden Ausdrücken wiederkehrte, mit einer ständigen Bemühung, etwas zu sagen, was noch nicht gesagt war. Dann schien die Tante es vor dem Unterschreiben auf einmal gefunden zu haben, und sie hatte geschrieben: »Der Herr Pfarrer erlaubt 83
es!« und ihre Feder ausgedrückt, wobei sie ringsumher Tintenkleckse verspritzt hatte. Hélène faltete den Brief langsam zusammen. Während sie ihn noch entzifferte, hatte sie zwei- oder dreimal den Kopf gehoben, um einen flüchtigen Blick auf den Soldaten zu werfen. Er stand immer noch an die Wand gepreßt, und seine Lippen bewegten sich, er schien jedem Satz mit einer leichten Bewegung des Kinns Nachdruck zu verleihen; zweifellos wußte er den Brief auswendig. »So, Sie sind also Zéphyrin Lacour?« sagte sie. Er fing an zu lachen, er wackelte mit dem Hals. »Kommen Sie herein, junger Mann; bleiben Sie nicht da stehen.« Er entschloß sich, ihr zu folgen, doch er blieb an der Tür stehen, während sich Hélène setzte. Sie hatte ihn im Dunkel des Vorzimmers nur undeutlich gesehen. Er hatte wohl gerade Rosalies Größe; ein Zentimeter weniger, und er wäre als dienstuntauglich entlassen worden. Er hatte rote, sehr kurz geschorene Haare, keinerlei Bart, ein ganz rundes, mit Sommersprossen bedecktes Gesicht, das zwei winzige Augen wie Bohrlöcher durchstachen. Sein neuer Soldatenmantel, der ihm zu groß war, machte ihn noch runder; und während er breitbeinig in seiner roten Hose dastand, sein Käppi mit dem großen Schirm vor sich schaukelte, wirkte er drollig und rührend, dieser kleine, einfältige gute Kerl in seiner Rundlichkeit, dem man unter der Uniform die Feldarbeit anmerkte. Hélène wollte ihn ausfragen, einige Auskünfte erhalten. »Sie sind aus der Beauce vor acht Tagen abgefahren?« »Ja, Madame.«
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»Und da sind Sie nun in Paris. Sie sind nicht böse darüber.« »Nein, Madame.« Er faßte sich ein Herz, er sah sich im Zimmer um, war sehr beeindruckt durch die Wandbespannungen aus blauem Samt. »Rosalie ist nicht da«, fing Hélène wieder an, »aber sie wird bald heimkommen ... ihre Tante teilt mir mit, daß Sie ihr Schatz sind.« Der kleine Soldat antwortete nicht; er senkte den Kopf, lachte unbeholfen und begann wieder, mit seiner Fußspitze auf dem Teppich zu scharren. »Und Sie werden sie heiraten, wenn Sie vom Militär entlassen werden?« fuhr die junge Frau fort. »Klar«, sagte er und wurde hochrot dabei, »klar, das ist beschworen ...« Und durch die wohlwollende Miene der Dame gewonnen, entschloß er sich zu reden und drehte sein Käppi zwischen den Fingern. »Oh! Das ist schon lange her ... Als wir ganz kleine Knirpse waren, sind wir zusammen stibitzen gegangen. Wir haben ganz hübsch was mit der Rute gekriegt; das ist schon wahr ... Sie müssen nämlich wissen, daß die Lacours und die Pichons in derselben Seitenstraße wohnten, nebeneinander. Also die Rosalie und ich – nicht wahr? –, wir sind sozusagen an demselben Napf groß geworden ... Dann sind all ihre Leute gestorben. Ihre Tante Marguerite hat ihr zu essen gegeben. Aber sie, das freche Ding, sie hatte schon Mordsarme.« Er hielt inne, da er fühlte, daß er sich entflammte, und er fragte zögernd: »Aber vielleicht hat sie Ihnen das alles erzählt?« »Ja, aber reden Sie ruhig weiter«, antwortete Hélène, die ihren Spaß an ihm hatte.
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»Kurz und gut«, fuhr er fort, »sie war ganz hübsch kräftig, wenn auch nicht dicker als eine Lerche; sie schaffte Ihnen die Arbeit, das mußte man sehen! Sehen Sie, eines Tages hat sie jemandem, den ich sehr gut kenne, einen Klaps versetzt, oh, einen Klaps! Ich habe davon acht Tage lang einen blauen Arm gehabt ... Ja, das ist so gekommen. In unserm Ort haben uns alle Leute miteinander verheiratet. Nun ja, wir waren noch nicht zehn Jahre alt, als wir uns das in die Hand versprochen haben ... Und das hält, Madame, das hält ...« Er legte mit gespreizten Fingern eine Hand auf sein Herz. Hélène war jedoch wieder ernst geworden. Dieser Gedanke, einen Soldaten in ihre Küche zu lassen, beunruhigte sie. Der Herr Pfarrer konnte es gut erlauben, sie fand das etwas gewagt. Auf dem Lande ist man sehr frei, die Verliebten gehen tüchtig ran. Sie ließ ihre Befürchtungen durchblicken. Als Zéphyrin begriffen hatte, meinte er vor Lachen platzen zu müssen; aber aus Achtung hielt er an sich. »Oh! Madame, oh, Madame ... Man sieht wohl, daß Sie sie gar nicht kennen. Ich habe vielleicht Maulschellen bekommen! – Mein Gott! Die Burschen, die machen gern einen Spaß, nicht wahr? Ich hab sie manchmal gekniffen. Da hat sie sich umgedreht – und klatsch, mitten in die Schnauze! – Ihre Tante, die sagte ihr immer wieder: ›Siehst du, mein Mädchen, laß dich nicht kitzeln, das bringt kein Glück.‹ Auch der Pfarrer hat sich eingemischt, und es ist vielleicht eben darum, daß unsere Freundschaft immer noch hält ... Man sollte uns nach der Auslosung verheiraten. Dann, weiß der Teufel, ist die Sache schiefgegangen. Die Rosalie hat gesagt, daß sie nach Paris in Stellung geht, um sich eine Aussteuer zusammenzusparen, während sie auf mich wartet ... Und da, 86
und da ...« Er wiegte sich hin und her, schob sein Käppi von einer Hand in die andere. Doch da Hélène Schweigen wahrte, glaubte er zu verstehen, daß sie an seiner Treue zweifele. Das kränkte ihn sehr. Voller Feuer rief er aus: »Sie glauben vielleicht, daß ich sie betrügen werde? – Wenn ich Ihnen doch sage, daß es beschworen ist! Ich werde sie heiraten, sehen Sie, so wahr die Sonne uns bescheint ... Und ich bin bereit, Ihnen das zu unterschreiben ... Ja, wenn Sie wollen, werd ich es Ihnen schriftlich geben ...« Eine starke Gemütsbewegung wühlte ihn auf. Er ging im Zimmer umher, sah sich suchend um, oh er nicht eine Feder und Tinte erblickte. Hélène suchte ihn rasch zu beruhigen. Er wiederholte: »Ich möcht es Ihnen lieber schriftlich geben ... Was macht Ihnen das schon aus? Sie könnten dann ganz ruhig sein.« Doch gerade in diesem Augenblick kam Jeanne, die von neuem verschwunden war, tanzend und händeklatschend wieder herein. »Rosalie! Rosalie! Rosalie!« sang sie nach einer hüpfenden Melodie, die sie sich selber ausdachte. Durch die offenen Türen hörte man tatsächlich das Keuchen des Hausmädchens, das, mit einem Korb beladen, die Treppe heraufkam. Zéphyrin wich in eine Ecke des Zimmers zurück; ein lautloses Lachen spaltete seinen Mund von einem Ohr zum anderen, und seine bohrlochgleichen Augen glänzten in bäuerlicher Schelmerei. Rosalie kam geradewegs in das Zimmer, wie es ihre vertraute Gewohnheit war, um ihrer Herrin die Morgeneinkäufe zu zeigen.
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»Madame«, sagte sie, »ich habe Blumenkohl gekauft ... Sehen Sie nur! – Zwei für achtzehn Sous, das ist nicht teuer ...« Sie hielt ihren halbgeöffneten Korb hin, da erblickte sie, als sie den Kopf hob, den grinsenden Zéphyrin. Völlig verdutzt stand sie wie festgenagelt auf dem Teppich. Es verstrichen ein oder zwei Sekunden, zweifellos hatte sie ihn nicht sofort in der Uniform wiedererkannt. Ihre runden Augen wurden größer, ihr kleines, fettes Gesicht wurde blaß, während sich ihre harten schwarzen Haare bewegten. »Oh!« sagte sie lediglich. Und vor Überraschung ließ sie ihren Korb los. Die Einkäufe rollten auf den Teppich, die Blumenkohlköpfe, Zwiebeln, Äpfel. Jeanne stieß entzückt einen Schrei aus und warf sich mitten im Zimmer zu Boden, jagte den Äpfeln nach bis unter die Sessel und den Spiegelschrank. Rosalie, die immer noch gelähmt dastand, rührte sich indessen nicht und wiederholte mehrmals: »Wie! Du bist es! – Was machst du denn hier, sag? Was machst du denn hier?« Sie wandte sich zu Hélène um und fragte: »Sie also haben ihn reingelassen?« Zéphyrin sprach nicht, er begnügte sich, mit pfiffiger Miene zu blinzeln. Da stiegen Tränen der Rührung in Rosalies Augen, und um ihre Freude, ihn wiederzusehen, zu bekunden, fiel ihr nichts Besseres ein, als sich über ihn lustig zu machen. »Ach, geh!« begann sie näher tretend. »Hübsch siehst du aus, sauber siehst du aus mit diesem Anzug da! – Ich hätte an dir vorbeigehen können, ich hätte nicht einmal gesagt: Grüß Gott! – Wie du da herausstaffiert bist! Du siehst aus, als ob du dein Schilderhaus auf dem Rücken hast. Und sie haben dir ganz hübsch den Kopf geschoren; 88
du siehst wie Küsters Pudel aus ... Du lieber Gott! Wie häßlich siehst du aus, wie häßlich siehst du aus!« Ärgerlich entschloß sich Zéphyrin, den Mund aufzumachen: »Das ist nicht meine Schuld, bestimmt nicht ... Wenn man dich zum Militär schickte, würden wir ja mal sehen.« Sie hatten völlig vergessen, wo sie sich befanden, das Zimmer, Hélène und Jeanne, die weiter die Äpfel aufsammelte. Das Hausmädchen hatte sich vor dem kleinen Soldaten aufgepflanzt, die Hände über ihrer Schürze verschränkt. »Na, geht alles gut da unten?« fragte sie. »Aber ja, nur daß die Kuh von Guignards krank ist. Der Viehdoktor ist gekommen, und er hat ihnen gesagt, daß sie voll Wasser ist.« »Wenn sie voll Wasser ist, dann ist es aus ... Sonst geht alles gut!« »Ja, ja ... Der Feldhüter hat sich den Arm gebrochen ... Vater Cavinet ist gestorben ... Der Herr Pfarrer hat, als er von Grandval zurückkam, seinen Geldbeutel verloren, in dem dreißig Sous waren ... Sonst geht alles gut.« Und sie schwiegen. Sie sahen sich mit leuchtenden Augen an, hatten die Lippen zusammengekniffen und langsam zu einer zärtlichen Grimasse verzogen. Das mußte wohl ihre Art sein, sich zu küssen, denn sie hatten sich nicht einmal die Hand gereicht. Doch Rosalie erwachte plötzlich aus ihrer Versunkenheit, und sie war untröstlich, als sie ihr Gemüse auf der Erde liegen sah. Ein schöner Schlamassel! Er ließ sie ja nette Sachen anrichten! Madame hätte ihn auf der Treppe warten lassen sollen. Und während sie noch schimpfte, bückte sie sich, legte die Äpfel, die Zwiebeln, den Blumenkohl 89
wieder in den Korb zurück, zu Jeannes großem Ärger, die nicht wollte, daß man ihr half. Und als sie in ihre Küche ging, ohne Zéphyrin weiter anzusehen, hielt Hélène, die durch die ruhige, gesunde Art der beiden Liebesleute gewonnen war, sie zurück, um ihr zu sagen: »Hören Sie, meine Tochter, Ihre Tante hat mich gebeten, diesem Jungen zu erlauben, Sie sonntags zu besuchen ... Er wird nachmittags kommen, und Sie werden sich bemühen, daß Ihr Dienst nicht zu sehr darunter leidet.« Rosalie blieb stehen, wandte nur den Kopf. Sie war sehr erfreut, aber sie behielt ihre brummige Miene. »Oh! Madame, er wird mich schön stören!« rief sie. Und über ihre Schultern hinweg warf sie einen Blick auf Zéphyrin und schnitt ihm von neuem eine zärtliche Grimasse. Der kleine Soldat verharrte einen Augenblick reglos, und ein stummes Lachen spaltete seinen Mund. Dann ging er rücklings hinaus, bedankte sich und legte sein Käppi an sein Herz. Als die Tür schon geschlossen war, grüßte er noch auf dem Treppenabsatz. »Mama, ist das Rosalies Bruder?« fragte Jeanne. Hélène war ganz verlegen angesichts dieser Frage. Sie bedauerte die Erlaubnis, die sie soeben in einer plötzlichen Regung von Güte, über die sie sich jetzt wunderte, erteilt hatte. Sie besann sich einige Sekunden und antwortete: »Nein, das ist ihr Vetter.« »Ach!« sagte das Kind ernst. Rosalies Küche ging auf Doktor Deberles Garten hinaus und lag in der prallen Sonne. Im Sommer reichten durch das sehr breite Fenster die Zweige der Ulmen herein. Das war der freundlichste Raum in der Wohnung, ganz weiß von Licht, so hell sogar, daß Rosalie einen 90
Vorhang aus blauem Kattun hatte anbringen müssen, den sie nachmittags zuzog. Sie beklagte sich nur darüber, wie klein diese Küche war, die sich schlauchartig in die Länge zog, der Herd rechts, ein Tisch und ein Küchenschrank links. Aber sie hatte die Küchengeräte und die Möbel so gut untergebracht, daß sie am Fenster eine freie Ecke ausgespart hatte, in der sie abends arbeitete. Ihr Stolz war es, die Kasserollen, die Wasserkessel, die Schüsseln in wunderbarer Sauberkeit zu halten. Daher strahlte auch, wenn die Sonne kam, ein Glanz von den Wänden; die Kupfergefäße sprühten goldene Funken, die schmiedeeisernen Geräte hatten die helleuchtenden Rundungen silberner Monde, während die blauen und weißen Kacheln des Herdes ihren blassen Farbton in diese Feuersbrunst legten. Am folgenden Samstag hörte Hélène des Abends ein solches Gepolter, daß sie sich entschloß, nachsehen zu gehen. »Was ist denn los?« fragte sie. »Schlagen Sie sich mit den Möbeln herum?« »Ich scheuere, Madame«, antwortete Rosalie, die struppig und schwitzend an der Erde hockte und im Begriff war, mit aller Kraft ihrer kleinen Arme die Fliesen zu schrubben. Es war geschafft, sie wischte mit dem Schwamm nach. Niemals hatte sie ihre Küche so schön gemacht. Eine Braut hätte hier schlafen können, alles war hier blitzsauber wie zu einer Hochzeit. Der Tisch und der Küchenschrank schienen neugehobelt, so sehr hatte sie dabei ihre Finger abgemüht. Und man mußte die schöne Ordnung sehen, die Kasserollen und Töpfe der Größe nach geordnet, jedes Ding an seinem Nagel, sogar die Pfanne und der Bratrost, die ohne einen Rauchfleck blinkten. Hélène 91
blieb einen Augenblick schweigend stehen; dann lächelte sie und zog sich zurück. Jeden Sonnabend gab es nun ein solches Reinemachen, vier in Staub und Wasser verbrachte Stunden. Rosalie wollte am Sonntag Zéphyrin ihre Sauberkeit zeigen. Am Sonntag bekam sie Besuch. Eine Spinnwebe hätte ihr Schande bereitet. Wenn alles um sie her blitzte, stimmte sie das freundlich und brachte sie zum Singen. Um drei Uhr wusch sie sich noch die Hände, setzte sie eine Haube mit Bändern auf. Indem sie dann den Kattunvorhang halb vorzog, brachte sie das Dämmerlicht eines Boudoirs zustande und erwartete Zéphyrin inmitten der schönen Ordnung in einem guten Duft von Thymian und Lorbeer. Pünktlich um halb vier Uhr kam Zéphyrin; er ging auf der Straße auf und ab, bis die Turmuhren des Stadtviertels halb geschlagen hatten. Rosalie hörte seine derben Schuhe gegen die Stufen stoßen und öffnete ihm, wenn er auf dem Treppenabsatz stehenblieb. Sie hatte ihm verboten, die Klingelschnur anzurühren. Jedesmal wechselten sie dieselben Worte. »Du bist's?« »Ja, ich bin's.« Und sie blieben mit funkelnden Augen und zusammengekniffenem Mund einander dicht gegenüber stehen. Dann ging Zéphyrin hinter Rosalie her; aber sie ließ ihn nicht eintreten, bevor sie ihm seinen Tschako und seinen Säbel abgenommen hatte. Sie wollte das Zeug durchaus nicht in ihrer Küche haben, sie verbarg den Säbel und den Tschako hinten in einem Wandschrank. Dann setzte sie ihren Liebsten beim Fenster in die Ecke, die sie da ausgespart hatte, und sie erlaubte ihm nicht mehr, sich zu rühren.
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»Verhalt dich ruhig ... Wenn du willst, kannst du mir zusehen, wie ich Madames Abendessen herrichte.« Aber er kam fast nie mit leeren Händen. Gewöhnlich hatte er seinen Vormittag dazu verwandt, mit Kameraden die Wälder von Meudon zu durchstreifen, in endlosem Umherschlendern mit den Füßen schlurfend, müßig und die freie Luft trinkend, mit der unbestimmten Sehnsucht nach der Heimat. Um seine Finger zu beschäftigen, schnitt er Stöcke ab, schnitzte sie, verzierte sie unterwegs mit allerlei Arabesken; und sein Schritt verlangsamte sich noch mehr, er blieb an den Gräben stehen, hatte den Tschako in den Nacken geschoben, während er die Augen nicht mehr von seinem Messer ließ, das im Holz wühlte. Da er sich nicht entschließen konnte, seine Stöcke wegzuwerfen, brachte er sie dann am Nachmittag Rosalie mit, die sie ihm aus den Händen nahm und dabei ein bißchen zeterte, weil das ihre Küche schmutzig mache. In Wahrheit sammelte sie die Stöcke; sie hatte unter ihrem Bett einen Packen in allen Längen und Mustern. Eines Tages kam er mit einem Nest voller Eier an, das er unten in seinen Tschako gelegt und mit seinem Taschentuch zugedeckt hatte. Eierkuchen von Vogeleiern, sagte er, das schmecke sehr gut. Rosalie warf dieses greuliche Zeug fort, aber sie hob das Nest auf und tat es zu den Stöcken. Im übrigen hatte er seine Taschen immer zum Bersten voll. Er zog seltsame Dinge daraus hervor, durchscheinende Kieselsteine, die er am Ufer der Seine aufgelesen hatte, alte Eisenbeschläge, wilde Beeren, die vertrockneten, unkenntlichen Trödel, den die Lumpensammler nicht hatten nehmen wollen. Seine Leidenschaft waren vor allem Bilder. Auf den Straßen las er die Papiere auf, in die Schokolade oder Seife eingewickelt waren und auf denen man Neger und Palmen, Bajaderen und 93
Rosensträuße sah. Die Deckel aufgeplatzter alter Schachteln mit blonden und träumerischen Damen, die Lackbildchen und das Silberpapier der kandierten Äpfel, die man alle auf den Rummelplätzen der Umgegend weggeworfen hatte, waren seine großen Funde, die ihm das Herz schwellten. Diese ganze Beute verschwand in seinen Taschen; er wickelte die schönsten Stücke in ein Zeitungsblatt. Und sonntags, wenn Rosalie zwischen einer Soße und einem Braten einen Augenblick Zeit hatte, zeigte er ihr seine Bilder. All das war für sie, wenn sie wollte; aber da das Papier rundherum nicht immer sauber war, schnitt er die Bilder aus, was ihm viel Spaß machte. Rosalie wurde böse, Papierschnipsel flogen bis in ihre Schüsseln; und man mußte sehen, mit welcher weithergeholten Bauernschläue er sich schließlich ihrer Schere bemächtigte. Um ihn loszuwerden, gab sie sie ihm mitunter unwirsch. Währenddessen zischte eine braune Buttersoße in einer kleinen Pfanne. Rosalie paßte mit einem Holzlöffel in der Hand auf die Soße auf, während Zéphyrin, der den Kopf vorgeneigt hatte und dessen Rücken durch seine roten Schulterklappen noch breiter wirkte, Bilder ausschnitt. Seine Haare waren so kurz geschoren, daß man die Schädelhaut sah; und sein gelber Kragen klaffte hinten auf und ließ die Sonnenbräune des Halses sehen. Ganze Viertelstunden lang sagten beide kein Wort zueinander. Wenn Zéphyrin den Kopf hob, sah er mit tief interessierter Miene Rosalie zu, wie sie Mehl nahm, Petersilie hackte, salzte, pfefferte. Da entschlüpfte ihm dann und wann ein Wort. »Donnerwetter! Das riecht aber gut!« In ihrem Feuereifer geruhte die Köchin nicht, sofort zu antworten. Nach einem langen Schweigen sagte sie dann: 94
»Siehst du, das muß schmoren.« Und ihre Unterhaltungen gingen kaum darüber hinaus. Sie sprachen nicht einmal mehr von daheim. Wenn ihnen eine Erinnerung kam, verstanden sie sich mit einem Wort und lachten den ganzen Nachmittag in sich hinein. Das genügte ihnen. Wenn Rosalie Zéphyrin vor die Tür setzte, hatten sie sich beide hübsch amüsiert. »Los, geh jetzt! Ich muß gleich Madame das Essen auftragen.« Sie gab ihm seinen Tschako und seinen Säbel zurück, schob ihn vor sich her, und mit vor Freude glühenden Wangen bediente sie dann Madame, während er mit schlenkernden Armen zur Kaserne zurückkehrte und sich innerlich gekitzelt fühlte durch diesen guten Geruch nach Thymian und Lorbeer, den er mitnahm. In der ersten Zeit glaubte Hélène auf die beiden aufpassen zu müssen. Sie kam manchmal unverhofft in die Küche, um einen Auftrag zu erteilen. Und immer fand sie Zéphyrin in seiner Ecke zwischen Tisch und Fenster, neben dem Wasserbehälter aus Sandstein, der ihn zwang, die Beine einzuziehen. Sowie Madame erschien, erhob er sich wie beim Kommando »Achtung!« und blieb stehen. Wenn Madame das Wort an ihn richtete, antwortete er fast nur durch Verbeugungen und mit ehrfurchtsvollem Brummen. Nach und nach beruhigte sich Hélène, als sie sah, daß sie sie niemals störte und sie auf ihren Gesichtern den ruhigen Ausdruck geduldiger Liebesleute behielten. Rosalie wirkte damals viel aufgeweckter als Zéphyrin. Sie hatte schon einige Monate in Paris hinter sich, sie wurde hier gewitzter, obwohl sie nur drei Straßen kannte, die Rue des Passy, die Rue Franklin und die Rue Vineuse. Er, der beim Militär war, blieb ein Tölpel. Sie versicherte Madame, daß er »verdumme«, denn in der Heimat 95
war er bestimmt pfiffiger. Das komme von der Uniform, sagte sie; alle Jungen, die unter die Soldaten gerieten, würden stockdumm. Tatsächlich machte Zéphyrin, der verstört war durch seine neue Lebensweise, große Augen und watschelte wie eine Gans. Er behielt unter den Schulterklappen seine bäuerliche Schwerfälligkeit, die Kaserne brachte ihm weder die schöne Redeweise noch das siegreiche Auftreten eines jungen Pariser Stoppelhopsers bei. Ach! Madame könne unbesorgt sein! Er dächte nicht daran, zu schäkern. Daher auch zeigte Rosalie sich mütterlich. Sie kanzelte Zéphyrin ab, während sie den Bratspieß ansetzte, sparte nicht mit guten Ratschlägen wegen der Abgründe, denen er aus dem Wege gehen müsse; und er gehorchte, indem er jedem Ratschlag mit einem kräftigen Kopfnicken Nachdruck verlieh. Alle Sonntage mußte er ihr schwören, daß er zur Messe gegangen sei und fromm morgens und abends seine Gebete hergesagt habe. Sie ermahnte ihn auch noch zur Sauberkeit, bürstete ihn kurz ab, wenn er ging, nähte einen Knopf seines Waffenrockes fest, musterte ihn von Kopf bis Fuß, um zu sehen, ob nichts schlampig sei. Sie sorgte sich auch um seine Gesundheit und nannte ihm Mittel gegen alle möglichen Krankheiten. Um sich für ihre Gefälligkeiten erkenntlich zu zeigen, bot Zéphyrin ihr an, ihren Wasserbehälter zu füllen. Lange lehnte sie ab, aus Furcht, er würde Wasser verschütten. Doch eines Tages trug er die zwei Eimer herauf, ohne daß ein Tropfen auf die Treppe fiel, und von da an füllte er am Sonntag den Behälter. Er leistete ihr noch andere Dienste, verrichtete alle groben Arbeiten, kaufte tadellose Butter in der Molkerei, wenn Rosalie vergessen hatte, welche mitzubringen. Schließlich half er sogar in der Küche. Zunächst putzte er Gemüse. Später erlaubte 96
sie ihm zu hacken. Nach sechs Wochen rührte er zwar nicht an die Soßen, aber mit dem Holzlöffel in der Hand paßte er auf sie auf. Rosalie hatte ihn zu ihrem Gehilfen gemacht, und sie brach manchmal in Gelächter aus, wenn sie ihn mit seinen roten Hosen und seinem gelben Kragen geschäftig vor dem Herde sah, mit einem Wischtuch über dem Arm wie ein Küchenjunge. Eines Sonntags begab sich Hélène in die Küche. Ihre Pantoffeln dämpften das Geräusch ihrer Schritte, sie blieb auf der Schwelle stehen, ohne daß das Hausmädchen oder der Soldat sie gehört hätten. Zéphyrin saß in seiner Ecke am Tisch vor einer Tasse dampfender Fleischbrühe. Rosalie, die der Tür den Rücken zukehrte, schnitt ihm lange Brotstreifen zum Eintunken ab. »Iß man, mein Kleiner!« sagte sie. »Du marschierst zuviel, dabei magerst du ab ... So! Hast du genug? Willst du noch mehr?« Und sie umfing ihn mit einem zärtlichen und besorgten Blick. Ohne Umstände machte er es sich bequem über der Tasse, verschlang mit jedem Happen einen eingetunkten Brotstreifen. Sein von Sommersprossen gelbes Gesicht wurde rot im Dampf, in dem es badete. Er murmelte: »Potztausend! Das ist aber ein Saft! Was tust du denn da hinein?« »Warte«, begann sie wieder, »wenn du Porree magst ...« Doch als sie sich umwandte, erblickte sie Madame. Sie stieß einen leichten Schrei aus. Die beiden waren wie versteinert. Dann entschuldigte sich Rosalie mit einem jähen Schwall von Worten: »Es ist mein Teil, Madame, oh! wirklich ... Ich hätte nicht noch einmal Brühe genommen ... Glauben Sie, bei allem, was mir am heiligsten ist! Ich habe ihm gesagt: Wenn du meinen Teil von der Brühe haben willst, gebe 97
ich ihn dir ... Los, so rede doch, du! Du weißt genau, daß es so gewesen ist ...« Und beunruhigt durch das Schweigen, das ihre Herrin wahrte, glaubte sie, sie sei böse, und fuhr mit versagender Stimme fort: »Er war am Verhungern, Madame; er hatte mir eine rohe Mohrrübe gestohlen ... Man ernährt sie so schlecht! Und stellen Sie sich vor, daß er verteufelt weit gelaufen ist, am Fluß entlang, ich weiß nicht wo ... Sie selber, Madame, Sie hätten zu mir gesagt: Rosalie, geben Sie ihm doch eine Brühe ...« Da konnte Hélène vor dem kleinen Soldaten, der mit vollem Mund dastand und nicht zu schlucken wagte, nicht streng bleiben. Sie antwortete sanft: »Schon gut, meine Tochter, wenn dieser Junge Hunger hat, muß man ihn eben zum Essen einladen ... Ich erlaube es Ihnen.« Sie empfand angesichts der beiden jene Rührung, die sie schon einmal ihre Strenge hatte vergessen lassen. Sie waren so glücklich in dieser Küche! Der halb zugezogene Kattunvorhang ließ die untergehende Sonne herein. Die Kupfergefäße entfachten eine Feuersbrunst an der Wand im Hintergrund und erhellten mit rosigem Widerschein das Dämmerlicht des Raumes. Und dort in diesem goldenen Schatten hatten sie beide ihre kleinen runden Gesichter, die still und hell waren wie Monde. Ihre Liebe hatte eine so ruhige Gewißheit, daß sie die schöne Ordnung der Küchengeräte nicht störte. Bei den guten Gerüchen des Herdes gediehen beide mit fröhlichem Appetit und zufriedenem Herzen. »Sag, Mama«, fragte Jeanne am Abend nach langem Nachdenken, »warum küßt Rosalies Vetter sie denn nie?« »Und warum sollen sie sich denn küssen?« antwortete Hélène. »Sie werden sich an ihrem Namenstag küssen.« 98
Kapitel II An jenem Dienstag horchte Hélène nach der Suppe nach draußen und sagte: »Was für eine Sintflut, hören Sie? – Meine armen Freunde, Sie werden heute abend bis auf die Haut naß werden.« »Oh! Ein paar Tropfen«, murmelte der Abbé, dessen alte Soutane an den Schultern bereits naß war. »Ich habe ein tüchtiges Stück zu laufen«, sagte Herr Rambaud, »aber ich werde trotzdem zu Fuß nach Hause gehen; ich liebe das ... Übrigens habe ich ja meinen Regenschirm.« Jeanne dachte nach, während sie ernsthaft ihren letzten Löffel Nudelsuppe betrachtete. Dann sprach sie langsam: »Rosalie meinte, ihr würdet wegen des schlechten Wetters nicht kommen. Mama meinte, ihr würdet kommen ... Ihr seid beide sehr nett, ihr kommt immer.« Man lächelte am Tisch. Hélène nickte den beiden Brüdern herzlich zu. Draußen hielt der Platzregen mit dumpfem Prasseln weiter an, und jähe Windstöße ließen die Jalousien klappern. Es schien, als sei es nochmals Winter geworden. Rosalie hatte sorgsam die roten Ripsvorhänge zugezogen; das kleine, wohlabgeschlossene Eßzimmer, das vom ruhigen Schein der weißen herabhängenden Lampe erhellt wurde, nahm inmitten des Sturmgerüttels eine rührend trauliche Sanftheit an. Auf der Mahagonianrichte spiegelte Porzellangeschirr das ruhige Licht wider. Und in diesem Frieden plauderten die vier Tischgenossen ohne Hast und warteten angesichts der schönen bürgerlichen Sauberkeit des gedeckten Tisches darauf, daß das Hausmädchen beliebe, die Speisen aufzutragen. 99
»Ach! Sie haben gewartet, da kann man halt nichts machen!« sagte Rosalie vertraulich, als sie mit einer Schüssel hereinkam. »Das sind gebackene Seezungenfilets für Herrn Rambaud, und so was darf erst im letzten Augenblick zubereitet werden.« Herr Rambaud tat, als sei er nicht satt zu kriegen, damit Jeanne ihren Spaß und Rosalie, die sehr stolz auf ihr Köchinnentalent war, ihre Freude hatte. Er wandte sich zu ihr um und fragte: »Nun, was haben Sie heute angerichtet? – Sie bringen immer Überraschungen, wenn ich keinen Hunger mehr habe.« »Oh!« antwortete sie. »Es gibt drei Gerichte, wie immer, mehr nicht ... Nach den Seezungenfilets werden Sie eine Hammelkeule und Rosenkohl bekommen ... Wirklich, mehr nicht.« Doch Herr Rambaud sah Jeanne von der Seite an. Das Kind war sehr lustig, erstickte sein Lachen in seinen gefalteten Händen, schüttelte den Kopf, wie um zu sagen, daß das Hausmädchen schwindele. Da schnalzte er mit zweifelnder Miene mit der Zunge, und Rosalie tat so, als ärgere sie sich. »Sie glauben mir nicht«, begann sie wieder, »weil das Fräulein lacht ... Nun gut, verlassen Sie sich darauf, essen Sie sich nicht satt, und Sie werden ja sehen, ob Sie nicht noch mal essen müssen, wenn Sie nach Hause kommen.« Als das Hausmädchen nicht mehr im Zimmer war, überkam Jeanne, die immer mehr lachte, ein unbändiges Gelüst zu reden. »Du bist wirklich nicht satt zu kriegen«, begann sie. »Ich bin in der Küche gewesen ...« Aber sie unterbrach sich. »Ach! Nein, man darf es ihm nicht sagen, nicht
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wahr, Mama? – Es gibt nichts weiter, gar nichts. Um dich anzuführen, habe ich gelacht.« Diese Szene begann jeden Dienstag von neuem und hatte stets denselben Erfolg. Hélène war gerührt über die Gutmütigkeit, mit der Herr Rambaud auf dieses Spiel einging, denn sie wußte sehr wohl, daß er lange Zeit mit provenzalischer Genügsamkeit von einem Anschovis und einem halben Dutzend Oliven täglich gelebt hatte. Was Abbé Jouve betraf, so wußte er niemals, was er aß; man zog ihn sogar oft wegen seiner Unwissenheit und Zerstreutheit auf. Jeanne belauerte ihn mit ihren leuchtenden Augen. Als aufgetragen war, wandte sie sich an den Priester und sagte: »Der ist sehr gut, der Weißfisch!« »Sehr gut, mein Liebling«, murmelte er. »Sieh an, es stimmt, das ist ja Weißfisch; ich glaubte, es sei Steinbutt.« Und da alles lachte, fragte er treuherzig warum. Rosalie, die soeben hereingekommen war, schien sehr gekränkt. Ach! Der Herr Pfarrer in ihrem Heimatort wisse sehr viel besser Bescheid mit dem Essen; der könne das Alter eines Huhnes fast bis auf acht Tage angeben, wenn er es bloß zerlegte; der brauche nicht erst in die Küche zu kommen, um im voraus zu erfahren, was es zu essen gebe, der Geruch genüge. Lieber Gott! Wenn sie bei einem Pfarrer wie dem Herrn Abbé in Stellung gewesen wäre, würde sie jetzt nicht einmal einen Eierkuchen umwenden können. Und der Priester entschuldigte sich mit verlegener Miene, als sei das Fehlen jedes Sinnes für die Tafelfreuden bei ihm ein Fehler, den abzulegen er die Hoffnung aufgegeben hatte. Aber er hatte wahrhaftig zu viele andere Dinge im Kopf.
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»Das ist eine Hammelkeule«, erklärte Rosalie und stellte die Hammelkeule auf den Tisch. Wiederum fing alles an zu lachen, Abbé Jouve als erster. Er streckte seinen dicken Kopf vor und blinzelte mit seinen winzigen Äuglein. »Ja, gewiß, das ist eine Hammelkeule«, sagte er. »Ich glaube, ich hätte sie erkannt.« An jenem Tag war der Abbé übrigens noch zerstreuter als sonst. Er aß schnell, mit der Hast eines Menschen, den die Mahlzeit langweilt und der zu Hause im Stehen ißt; in Gedanken versunken, nur durch Lächeln antwortend, wartete er dann auf die anderen. Alle Minuten warf er seinem Bruder einen aufmunternden und besorgten Blick zu. Auch Herr Rambaud schien nicht seine gewohnte Ruhe zu haben; doch seine Befangenheit verriet sich durch das Bedürfnis, zu reden und auf seinem Stuhl hin und her zu rücken, was gar nicht in seiner bedächtigen Natur lag. Als Rosalie nach dem Rosenkohl mit dem Nachtisch auf sich warten ließ, entstand Schweigen. Draußen fiel der Regen mit größerer Heftigkeit, ein starkes Rauschen schlug an das Haus. Im Eßzimmer war es ein wenig atembeklemmend. Da kam es Hélène zum Bewußtsein, daß die Atmosphäre nicht mehr dieselbe war, daß es zwischen den beiden Brüdern etwas gab, was sie nicht sagten. Sie schaute sie mit liebevoller Sorge an, sie murmelte schließlich: »Mein Gott! Was für ein gräßlicher Regen! Das geht Ihnen auf die Nerven, nicht wahr? Sie wirken beide leidend!« Doch sie verneinten, sie beeilten sich, sie zu beruhigen. Und als Rosalie mit einer ungeheuren Schüssel ankam, rief Herr Rambaud, um seine Aufregung zu verbergen: 102
»Hab ich es nicht gesagt! Noch eine Überraschung!« Die Überraschung war an jenem Tage eine Vanillenspeise, eine der Glanzleistungen der Köchin, daher mußte man auch das breite und stumme Lachen sehen, mit dem sie sie auf den Tisch stellte. Jeanne klatschte in die Hände und rief immer wieder: »Ich hab's gewußt, ich hab's gewußt! – Ich hatte die Eier in der Küche gesehen.« »Aber ich habe keinen Hunger mehr!« fing Herr Rambaud mit verzweifelter Miene wieder an. »Es ist mir unmöglich, etwas davon zu essen.« Da wurde Rosalie ernst, war von verhaltenem Zorn erfüllt. Mit würdevoller Miene sagte sie lediglich: »Wie! Eine Vanillenspeise, die ich für Sie gemacht habe! – Nun gut! Versuchen Sie nur, nichts davon zu essen ... Ja, versuchen Sie's nur ...« Er schickte sich drein, nahm eine große Portion Vanillenspeise. Der Abbé blieb zerstreut. Er rollte sein Mundtuch zusammen, erhob sich vor Ende des Nachtisches, wie das oft bei ihm vorkam. Einen Augenblick ging er hin und her, den Kopf auf die Schulter geneigt; als dann Hélène auch vom Tisch aufstand, warf er Herrn Rambaud einen kurzen Blick des Einverständnisses zu und führte die junge Frau ins Schlafzimmer. Hinter ihnen vernahm man durch die offengelassene Tür fast sogleich danach ihre leisen Stimmen, ohne die Worte unterscheiden zu können. »Beeil dich«, sagte Jeanne zu Herrn Rambaud, der anscheinend einen Zwieback nicht schaffen konnte. »Ich will dir meine Arbeit zeigen.« Aber er beeilte sich nicht. Als Rosalie sich anschickte, den Tisch abzuräumen, mußte er dennoch aufstehen. 103
»Warte doch, warte doch«, murmelte er, während das Kind ihn ins Zimmer schleppen wollte. Und verlegen und ängstlich hielt er sich von der Tür fern. Als dann der Abbé lauter sprach, befiel ihn eine solche Schwäche, daß er sich wieder an den abgeräumten Tisch setzen mußte. Er hatte eine Zeitung aus seiner Tasche gezogen. »Ich werde dir ein Wägelchen machen«, sagte er. Auf einmal sprach Jeanne nicht mehr davon, ins Zimmer gehen zu wollen. Herr Rambaud versetzte sie in höchstes Erstaunen durch seine Geschicklichkeit, aus einem Blatt Papier allerlei Spielzeug herzustellen. Er machte Hühnchen, Schiffchen, Bischofsmützen, Karren, Käfige. Doch an jenem Tag zitterten seine Finger, als er das Papier faltete, es gelang ihm nicht, die kleinen Kniffe zustande zu bringen. Beim geringsten Geräusch, das aus dem Nebenraum drang, senkte er den Kopf. Inzwischen hatte sich Jeanne, die ganz bei der Sache war, neben ihm an den Tisch gelehnt. »Nachher machst du ein Hühnchen«, sagte sie, »das ich vor den Wagen spannen kann.« Im Hintergrunde des Schlafzimmers war Abbé Jouve in dem hellen Schatten stehen geblieben, mit dem der Lampenschirm das Zimmer ertränkte. Hélène hatte ihren gewohnten Platz vor dem Tischchen wieder eingenommen; und da sie sich am Dienstag vor ihren Freunden keinen Zwang antat, arbeitete sie, man sah nur ihre blassen Hände, wie sie unter dem Rund greller Helligkeit ein Kindermützchen nähten. »Jeanne macht Ihnen keine Sorge mehr?« fragte der Abbé. Sie schüttelte den Kopf, bevor sie antwortete.
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»Doktor Deberle schien gänzlich beruhigt«, sagte sie. »Aber der arme Liebling ist noch recht nervös ... Gestern habe ich sie bewußtlos auf ihrem Stuhl gefunden.« »Es fehlt ihr an Bewegung«, fuhr der Priester fort. »Sie schließen sich zu sehr ab. Sie führen kaum ein Leben wie alle Leute.« Er schwieg, Stille trat ein. Zweifellos hatte er den Übergang gefunden, den er suchte; aber im Augenblick, da er sprechen wollte, sammelte er sich. Er nahm einen Stuhl, setzte sich neben Hélène und sagte: »Hören Sie zu, meine liebe Tochter, ich hege seit einiger Zeit den Wunsch, ernsthaft mit Ihnen zu reden. Das Dasein, das Sie hier führen, ist nicht gut. In Ihrem Alter schließt man sich nicht ab, wie Sie es tun; und diese Entsagung ist für Ihr Kind ebenso schädlich wie für Sie ... Es liegen tausend Gefahren darin, Gefahren für die Gesundheit und noch andere ...« Hélène hatte mit einem Ausdruck von Überraschung den Kopf gehoben. »Was wollen Sie sagen, mein Freund?« fragte sie. »Mein Gott! Ich kenne die Welt wenig«, redete der Priester mit leichter Verlegenheit weiter, »aber ich weiß dennoch, daß eine Frau darin sehr gefährdet ist, wenn sie ohne Schutz bleibt ... Kurzum, Sie sind zuviel allein, und dieses Alleinsein, in das Sie sich versenken, ist nicht gesund, glauben Sie mir. Es muß ein Tag kommen, wo Sie darunter leiden werden.« »Ich beklage mich doch nicht, ich fühle mich doch sehr wohl, so wie ich lebe«, rief sie mit einiger Lebhaftigkeit. Der alte Priester schüttelte sanft seinen großen Kopf. »Gewiß, das ist sehr angenehm. Sie fühlen sich vollkommen glücklich, das verstehe ich. Jedoch auf dieser abschüssigen Bahn des Alleinseins und der Träumerei 105
weiß man niemals, wohin man geht ... Oh! Ich kenne Sie, Sie sind nicht imstande, Schlechtes zu tun ... Aber Sie könnten dabei früher oder später Ihre Ruhe verlieren. Eines Tages ist es zu spät, der Platz, den Sie um sich her und in sich leer lassen, würde von irgendeinem schmerzlichen und nicht einzugestehenden Gefühl ausgefüllt sein.« Im Schatten war Röte in Hélènes Antlitz gestiegen. Der Abbé hatte also in ihrem Herzen gelesen? Er kannte also die Verwirrung, die immer größer in ihr wurde, diese innere Erregung, die nun ihr Leben erfüllte und die sie selbst bisher nicht hatte prüfen wollen. Ihre Handarbeit sank auf ihre Knie. Eine Schlaffheit erfaßte sie, sie erwartete vom Priester gleichsam eine fromme Mitwisserschaft, die ihr endlich erlauben würde, jene unbestimmten Dinge laut zu bekennen und genau anzugeben, die sie in die Tiefe ihres Wesens zurückdrängte. Da er alles wußte, konnte er sie fragen, sie würde sich bemühen zu antworten. »Ich gebe mich in Ihre Hände, mein Freund«, murmelte sie. »Sie wissen wohl, daß ich Ihnen immer Gehör geschenkt habe.« Da schwieg der Priester einen Augenblick; dann sagte er langsam und ernst: »Meine Tochter, Sie müssen wieder heiraten.« Sie war sprachlos, ließ in der Bestürzung, die ein solcher Rat in ihr hervorrief, ihre Arme schlaff herabhängen. Sie erwartete andere Worte, sie begriff nicht mehr. Indessen redete der Abbé weiter und führte die Gründe näher aus, die sie zur Heirat bewegen sollten. »Bedenken Sie, daß Sie noch jung sind ... Sie können nicht länger in diesem abgelegenen Winkel von Paris bleiben, wo Sie kaum aus dem Haus zu gehen wagen und 106
nichts vom Leben kennen. Sie müssen ins gemeinsame Leben zurückkehren, wenn Sie nicht später Ihre Abgeschiedenheit bitter bereuen wollen ... Sie merken nicht das langsame Wirken dieses Einsiedlerdaseins, aber Ihren Freunden fällt Ihre Blässe auf, und sie machen sich Sorge.« Er hielt bei jedem Satz inne, in der Hoffnung, sie werde ihn unterbrechen und seinen Vorschlag erörtern. Aber sie blieb ganz kalt, gleichsam zu Eis erstarrt vor Überraschung. »Gewiß, Sie haben ein Kind«, begann er wieder. »Das ist immer heikel ... Nur bedenken Sie, daß gerade im Interesse Ihrer Jeanne der Arm eines Mannes hier von großem Nutzen wäre ... Oh! Ich weiß, daß man einen vollkommen guten Mann finden müßte, der ein wahrer Vater sein würde ...« Sie ließ ihn nicht ausreden. Mit außergewöhnlicher Empörung und Abneigung sagte sie jäh: »Nein, nein, ich will nicht ... Was raten Sie mir da, mein Freund! – Niemals, hören Sie, niemals!« Ihr ganzes Herz lehnte sich auf, sie war selber entsetzt über die Heftigkeit ihrer Weigerung. Der Vorschlag des Priesters hatte jenen dunklen Winkel in ihr aufgerührt, in dem zu lesen sie vermied; und durch den Schmerz, den sie fühlte, begriff sie endlich die Schwere ihres Leidens, sie war bestürzt vor Scham wie eine Frau, die spürt, wie ihr letztes Kleidungsstück herabgleitet. Da sträubte sie sich unter dem klaren und lächelnden Blick des alten Abbé. »Aber ich will nicht! Aber ich liebe niemanden!« Und da er sie immer noch anschaute, glaubte sie, er lese die Lüge auf ihrem Gesicht; sie errötete und stammelte: »Bedenken Sie doch, ich habe erst vor vierzehn Tagen meine Trauer abgelegt ... Nein, das ist nicht möglich ...«
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»Meine Tochter«, sagte ruhig der Priester, »ich habe viel nachgedacht, ehe ich sprach. Ich glaube, daß darin Ihr Glück liegt ... Beruhigen Sie sich. Sie sollen stets nur nach Ihrem Willen handeln.« Die Unterhaltung brach ab. Hélène bemühte sich, die Flut von Einwänden zurückzuhalten, die ihr auf die Lippen kam. Sie nahm ihre Arbeit wieder auf, machte gesenkten Kopfes ein paar Stiche. Und inmitten des Schweigens hörte man Jeannes Flötenstimme, die im Eßzimmer sagte: »Man spannt nicht ein Huhn vor einen Wagen, man spannt ein Pferd davor! – Kannst du denn keine Pferde machen?« »Ach nein, Pferde sind zu schwierig zu machen«, antwortete Herr Rambaud. »Aber wenn du willst, werde ich dir beibringen, wie man Wagen macht.« Immer hörte hier das Spiel auf. Jeanne sah sehr aufmerksam zu, wie ihr lieber Onkel das Papier in eine Unmenge kleiner Vierecke faltete; dann versuchte sie es auch; aber sie machte es falsch, stampfte mit dem Fuß auf. Sie konnte jedoch schon Schiffchen und Bischofsmützen machen. »Siehst du«, erklärte geduldig Herr Rambaud immer wieder, »du machst vier Ecken, so, dann drehst du das um ...« Seit einer Weile mußte er, angespannt horchend, einige der im Nebenzimmer gesprochenen Worte aufgefangen haben; und seine armen Hände zitterten noch mehr, er verhaspelte sich dermaßen beim Sprechen, daß er die Hälfte der Worte verschluckte. Hélène, die sich nicht beruhigen konnte, nahm die Unterhaltung wieder auf.
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»Wieder heiraten, und wen?« fragte sie plötzlich den Priester, während sie ihre Arbeit auf das Tischchen zurücklegte. »Sie denken doch dabei an jemand, nicht wahr?« Abbé Jouve war aufgestanden und ging langsam auf und ab. Er nickte bejahend, ohne stehenzubleiben. »Nun! Sagen Sie mir wen«, begann sie wieder. Einen Augenblick blieb er vor ihr stehen; dann zuckte er leicht die Achseln und murmelte: »Wozu! Da Sie sich doch weigern?« »Gleichviel, ich will das wissen«, sagte sie. »Wie könnte ich eine Entscheidung treffen, wenn ich das nicht weiß?« Er antwortete nicht sofort, blieb noch immer stehen und schaute ihr ins Gesicht. Ein etwas trauriges Lächeln trat auf seine Lippen. Fast leise sagte er schließlich: »Wie! Sie haben es nicht erraten?« Nein, sie erriet es nicht. Sie sann nach und wunderte sich. Da machte er lediglich ein Zeichen; mit einer Kopfbewegung wies er nach dem Eßzimmer. »Er!« rief sie, ihre Stimme dämpfend. Und sie wurde todernst. Sie verwahrte sich nicht mehr heftig dagegen. Auf ihrem Antlitz blieben nur Erstaunen und Kummer. Lange verharrte sie nachdenklich, die Augen auf den Boden gerichtet. Nein, wahrhaftig, sie hätte es niemals erraten; und dennoch fand sie keinen Einwand. Herr Rambaud war der einzige Mann, in dessen Hand sie ehrlich und ohne die geringste Furcht ihre Hand gelegt hätte. Sie kannte seine Güte, sie lachte nicht über seine bürgerliche Behäbigkeit. Aber trotz all ihrer Zuneigung für ihn durchdrang sie der Gedanke, daß er sie liebte, mit großer Kälte. 109
Indessen hatte der Abbé sein Wandern von einem Ende des Zimmers zum anderen wiederaufgenommen; und als er an der Eßzimmertür vorüberging, rief er Hélène leise. »Da, sehen Sie.« Sie erhob sich und schaute hin. Herr Rambaud hatte Jeanne schließlich auf seinen eigenen Stuhl gesetzt. Er, der sich zunächst an den Tisch gelehnt, hatte sich soeben zu Füßen des kleinen Mädchens niedergleiten lassen. Er kniete vor ihr und legte einen Arm um sie. Auf dem Tisch stand der mit einem Huhn bespannte Karren, außerdem Schiffchen, Schachteln, Bischofsmützen. »Nun, hast du mich lieb?« fragte er. »Sag es noch mal, daß du mich liebhast!« »Aber ja, ich habe dich lieb, du weißt es doch.« Zitternd, als solle er eine Liebeserklärung wagen, zögerte er. »Und wenn ich dich fragte, ob ich immer hier bei dir bleiben soll, was würdest du antworten?« »Oh! Ich würde mich freuen; wir würden zusammen spielen, nicht wahr? Das wäre lustig.« »Immer, hörst du, ich würde immer hierbleiben.« Jeanne hatte ein Schiffchen genommen, das sie zu einem Gendarmenhut umformte. Sie murmelte: »Ach! Mama müßte es erlauben.« Diese Antwort schien ihn wieder all seinen Ängsten auszuliefern. Sein Schicksal entschied sich. »Gewiß«, sagte er. »Aber wenn deine Mama es erlaubte, würdest du nicht nein sagen, nicht wahr?« Jeanne, die ihren Gendarmenhut fertigmachte, war begeistert und begann nach einer eigenen Melodie zu singen: 110
»Ich würde sagen ja, ja, ja ... Ich würde sagen ja, ja, ja ... Sieh doch, wie hübsch er ist, mein Hut!« Zu Tränen gerührt, richtete sich Herr Rambaud auf den Knien auf, umarmte sie, während sie selbst ihm die Hände um den Hals warf. Er hatte seinen Bruder damit betraut, Hélène um ihre Einwilligung zu bitten; er selbst bemühte sich, Jeannes Einwilligung zu erlangen. »Sie sehen es«, sagte der Priester mit einem Lächeln, »das Kind möchte gern.« Hélène blieb ernst. Sie entgegnete nichts mehr. Der Abbé hatte seine Verteidigungsrede wiederaufgenommen, und er betonte Herrn Rambauds Vorzüge. War das nicht der richtige Vater für Jeanne? Sie kannte ihn, sie würde nichts dem Zufall überlassen, wenn sie sich ihm anvertraute. Da sie Schweigen wahrte, fügte der Abbé dann sehr bewegt und sehr würdevoll hinzu, daß er, wenn er einen solchen Schritt auf sich genommen, keineswegs an seinen Bruder gedacht habe, sondern an sie, an ihr Glück. »Ich glaube Ihnen, ich weiß, wie sehr Sie mich lieben«, sagte Hélène lebhaft. »Warten Sie, ich will in Ihrer Gegenwart Ihrem Bruder antworten.« Es schlug zehn Uhr. Herr Rambaud kam ins Schlafzimmer. Sie ging ihm mit ausgestreckter Hand entgegen und sagte: »Ich danke Ihnen für Ihr Anerbieten, mein Freund, und ich rechne Ihnen das sehr hoch an. Sie haben gut daran getan, zu sprechen ...« Sie sah ihn ruhig an und behielt seine große Hand in der ihren. Er bebte am ganzen Leibe und wagte nicht, aufzublicken. »Nur bitte ich um Bedenkzeit«, fuhr sie fort. »Ich werde vielleicht lange brauchen.« 111
»Oh! Alles, was Sie wollen, sechs Monate, ein Jahr, oder mehr«, stammelte er, erleichtert, glücklich darüber, daß sie ihm nicht sofort die Tür wies. Da lächelte sie schwach. »Aber ich möchte, daß wir Freunde bleiben. Sie werden wie bisher kommen, Sie versprechen mir lediglich, zu warten, bis ich als erste wieder hierüber mit Ihnen rede ... Abgemacht?« Er hatte seine Hand zurückgezogen, er suchte fieberhaft seinen Hut, während er mit fortwährendem Kopfnicken auf alles einging. Im Augenblick des Hinausgehens fand er dann die Sprache wieder. »Hören Sie«, murmelte er. »Sie wissen nun, daß ich für Sie da bin, nicht wahr? Nun gut! Seien Sie sicher, daß ich immer für Sie dasein werde, was auch geschehen mag. Das ist alles, was der Abbé Ihnen hätte erklären sollen ... Noch in zehn Jahren, wenn Sie wollen, brauchen Sie mir nur einen Wink zu geben. Ich werde Ihnen gehorchen.« Und er nahm ein letztes Mal Hélènes Hand und preßte sie, als wolle er sie zerdrücken. Auf der Treppe wandten sich die beiden Brüder wie gewöhnlich um und sagten: »Bis Dienstag.« »Ja, bis Dienstag«, antwortete Hélène. Als sie ins Zimmer zurückkam, stimmte sie das Rauschen eines neuen Regengusses, der gegen die Jalousien prasselte, kummervoll. Mein Gott! Was für ein hartnäckiger Regen, und wie würden ihre armen Freunde wohl naß werden! Sie öffnete das Fenster, warf einen Blick auf die Straße. Jähe Windstöße bliesen die Gasflammen aus. Und inmitten der blassen Pfützen und der glitzernden Schraffierung des Regens erblickte sie den runden Rücken von Herrn Rambaud, der glücklich und tänzelnd in 112
der Finsternis davonging und sich nicht um diese Sintflut zu kümmern schien. Jeanne war indessen sehr ernst, seit sie ein paar von den letzten Worten ihres lieben Onkels erhascht hatte. Sie hatte gerade ihre Stiefelchen ausgezogen, sie blieb in tiefer Nachdenklichkeit im Hemd auf dem Rand ihres Bettes sitzen. Als ihre Mutter eintrat, um sie zu küssen, fand sie sie so vor. »Gute Nacht, Jeanne. Gib mir einen Kuß.« Da die Kleine nicht zu hören schien, hockte sich Hélène dann vor ihr nieder und legte ihre Arme um sie. Und sie fragte sie mit halber Stimme: »Es würde dir also Freude machen, wenn er bei uns wohnte?« Jeanne schien nicht erstaunt über die Frage. Sie dachte zweifellos an diese Dinge. Langsam nickte sie bejahend. »Aber du weißt«, fuhr die Mutter fort, »er würde immer dasein, bei Nacht, bei Tag, bei Tisch, überall.« Eine Unruhe wuchs in den klaren Augen des kleinen Mädchens. Es legte seine Wange auf die Schulter seiner Mutter, küßte sie auf den Hals, flüsterte ihr schließlich, über und über zitternd, die Frage ins Ohr: »Mama, würde er dich küssen?« Ein rosiger Farbton trat auf Hélènes Stirn. Sie wußte zunächst nicht, was sie auf diese kindliche Frage antworten sollte. Schließlich murmelte sie: »Er würde wie dein Vater sein, mein Liebling.« Da wurden Jeannes Ärmchen steif, sie brach jäh in heftiges Schluchzen aus. Sie stammelte: »Oh nein, nein, ich will nicht mehr ... O! Mama, ich bitte dich, sag ihm, daß ich nicht will, geh, sag ihm, daß ich nicht will ...« Und sie erstickte fast, sie hatte sich ihrer Mutter an die Brust geworfen, sie bedeckte sie mit ihren Tränen und ihren Küssen. 113
Hélène suchte sie zu beruhigen, indem sie ihr immer wieder sagte, man werde das schon in Ordnung bringen. Aber Jeanne wollte sofort eine entscheidende Antwort. »Oh! Sag nein, meine liebe gute Mutter, sag nein ... Du siehst doch, daß ich daran sterben würde ... Oh! Niemals, nicht wahr? Niemals!« »Nun gut! Nein, ich verspreche es dir; sei vernünftig, leg dich schlafen.« Noch ein paar Minuten umschloß das stumme und leidenschaftliche Kind sie fest mit seinen Armen, als könne es sich nicht von ihr trennen und als verteidige es sie gegen jene, die sie ihm nehmen wollten. Endlich könne Hélène Jeanne hinlegen; aber sie mußte einen Teil der Nacht bei ihr wachen. Ruckartige Stöße schüttelten sie in ihrem Schlaf, und alle halbe Stunde öffnete sie die Augen, vergewisserte sich, daß ihre Mutter da war, dann schlief sie wieder ein, den Mund auf ihre Hand pressend.
Kapitel III Es war ein köstlich milder Monat. Die Aprilsonne hatte den Garten grün gefärbt, mit einem Grün, das zart, leicht und fein war wie Spitze. An dem Gitter trieben die wuchernden Ranken des wilden Weins ihre winzigen Schößlinge, während das knospende Geißblatt einen zarten, fast süßen Duft ausströmte. Zu beiden Seiten des gepflegten und geschnittenen Rasens blühten rote Geranien und weiße Levkojen in den Blumenbeeten. Und die Ulmengruppe im Hintergrund breitete zwischen das dichte Gedränge der Nachbarbauten den grünen Behang seiner Zweige, deren Blättchen beim geringsten Hauch zitterten. 114
Länger als drei Wochen blieb der Himmel blau ohne eine Wolke. Es war wie ein Frühlingswunder, das die neue Jugend, das Aufblühen feierte, das Hélène in ihrem Herzen trug. Jeden Nachmittag ging sie mit Jeanne in den Garten hinunter. Ihr Platz war immer derselbe, dicht an der ersten Ulme rechts. Ein Stuhl erwartete sie; und am nächsten Tag fand sie auf dem Kies des Gartenweges noch die Fadenenden, die sie am Vortag verstreut hatte. »Sie sind hier zu Hause«, wiederholte jeden Abend Frau Deberle, die für sie eine jener Leidenschaften faßte, von denen sie sechs Monate lang lebte. »Bis morgen. Versuchen Sie doch, früher zu kommen, nicht wahr?« Und Hélène war dort wirklich wie zu Hause. Nach und nach gewöhnte sie sich an diesen grünen Winkel, erwartete sie mit kindlicher Ungeduld die Stunde, da sie hinunterging. Was sie in diesem bürgerlichen Garten bezauberte, war vor allem die Sauberkeit des Rasens und der Büsche. Nicht ein vergessener Grashalm störte das Ebenmaß des Laubwerkes. Die Gartenwege, die jeden Morgen geharkt wurden, waren unter den Füßen weich wie ein Teppich. Sie lebte da ruhig und in Frieden und litt nicht unter diesem Überströmen der Säfte. Es kam nichts Verwirrendes über sie von diesen so klar gezeichneten Blumenbeeten, von diesen Efeumänteln, aus denen der Gärtner die gelb gewordenen Blätter eines nach dem anderen entfernte. Unter dem abgeschlossenen Schatten der Ulmen, in diesem verschwiegenen Gartenwinkel, in den Frau Deberles Anwesenheit eine Prise Moschusduft brachte, konnte sie glauben, in einem Salon zu sein; und wenn sie hochblickte, erinnerte sie allein der Anblick des Himmels daran, daß sie im Freien war, und ließ sie tief atmen.
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Oft verbrachten sie beide den Nachmittag, ohne irgend jemand zu sehen. Jeanne und Lucien spielten zu ihren Füßen. Es gab lange Augenblicke des Schweigens. Dann plauderte Frau Deberle, die das Träumen zur Verzweiflung brachte, stundenlang, begnügte sich mit Hélènes stummer Zustimmung und legte beim geringsten Kopfnicken von neuem los. Es waren endlose Geschichten über die Damen ihres engsten Bekanntenkreises, Pläne für Empfänge im nächsten Winter, Betrachtungen einer geschwätzigen Elster über die Tagesereignisse, das ganze gesellschaftliche Durcheinander, das hinter dieser engen Stirn einer hübschen Frau aufeinanderstieß, und das alles vermischt mit jähen Liebesergüssen für die Kinder, mit gerührten Redensarten, die die Reize der Freundschaft priesen. Hélène ließ sich die Hände drücken. Sie hörte nicht immer zu; doch in der ständigen weichen Stimmung, in der sie lebte, zeigte sie sich sehr gerührt durch Juliettes Liebkosungen, und sie sagte, daß sie von großer Güte, von einer Engelsgüte sei. Manchmal stellte sich Besuch ein. Dann war Frau Deberle entzückt. Sie hatte seit Ostern mit ihren Sonnabenden aufgehört, wie es sich für diese Jahreszeit geziemte. Doch sie fürchtete das Alleinsein, und man beglückte sie, wenn man sie ohne Umstände in ihrem Garten besuchte. Ihre große Hauptsorge war es dann, das Seebad zu wählen, wo sie den Monat August verbringen würde. Bei jedem Besuch begann sie wieder dieselbe Unterhaltung; sie erklärte, daß ihr Mann sie nicht an die See begleiten werde; dann fragte sie die Leute aus und konnte ihre Wahl nicht treffen. Es sei nicht ihretwegen, es sei Luciens wegen. Wenn der schöne Malignon kam, setzte er sich rittlings auf einen Gartenstuhl. Er verabscheute das Landleben; man müsse verrückt sein, sagte 116
er, wolle man sich freiwillig aus Paris verbannen unter dem Vorwand, sich am Meeresstrand einen Schnupfen zu holen. Dennoch wog er Vorzüge und Nachteile der Seebäder gegeneinander ab; alle wären ekelhaft, und er erklärte, außer Trouville gäbe es absolut nichts, was ein bißchen sauber wäre. Hélène hörte jeden Tag dieselbe Auseinandersetzung, ohne zu ermüden, und war sogar glücklich über diese Eintönigkeit ihrer Tage, die sie in einem einzigen Gedanken wiegte und einschläferte. Am Ende des Monats wußte Frau Deberle noch nicht, wohin sie gehen würde. Als sich Hélène eines Abends zurückzog, sagte Juliette zu ihr: »Ich bin genötigt, morgen aus dem Haus zu gehen; aber daß Sie das nicht hindert, herunterzukommen ... Warten Sie auf mich, ich werde nicht spät heimkehren.« Hélène nahm an. Sie verbrachte einen köstlichen Nachmittag allein im Garten. Über ihrem Kopf hörte sie nur das Flügelschlagen der Spatzen, die in den Bäumen herumflatterten. Der ganze Zauber dieses kleinen sonnigen Winkels durchdrang sie. Und von diesem Tage an waren ihre glücklichsten Nachmittage jene, an denen ihre Freundin sie allein ließ. Immer engere Beziehungen knüpften sich zwischen ihr und den Deberles. Sie aß bei ihnen zu Abend als Freundin, die man nicht wegläßt, wenn man sich gerade zu Tisch setzen will; wenn sie sich unter den Ulmen verspätete, und wenn Pierre die Freitreppe herabkam und sagte: »Madame, es ist angerichtet«, flehte Juliette sie an zu bleiben, und sie gab zuweilen nach. Das waren Abendessen im Familienkreis, bei denen es durch die Ausgelassenheit der Kinder lustig zuging. Doktor Deberle und Hélène schienen gute Freunde zu sein, deren vernünftige, 117
ein wenig kühle Charaktere zueinander paßten. Daher auch rief Juliette oft: »Oh! Ihr würdet euch gut verstehen ... Mich bringt eure Ruhe hoch.« Jeden Nachmittag kam der Doktor gegen sechs Uhr von seinen Krankenbesuchen nach Hause. Er fand die Damen im Garten und setzte sich zu ihnen. In der ersten Zeit hatte sich Hélène absichtlich sofort zurückgezogen, um das Ehepaar allein zu lassen. Aber Juliette hatte sich über dieses plötzliche Aufbrechen so sehr geärgert, daß Hélène jetzt blieb. Sie gehörte halb und halb zum vertrauten Leben dieser Familie, die immer sehr einig schien. Wenn der Doktor ankam, hielt seine Frau ihm jedesmal mit der gleichen freundschaftlichen Bewegung die Wange hin, und er küßte sie; wenn dann Lucien an seinen Beinen hochkletterte, half er ihm dabei, behielt er ihn, während er plauderte, auf seinen Knien. Das Kind schloß ihm mit seinen Händchen den Mund, zog ihn mitten in einem Satz an den Haaren, betrug sich so schlecht, daß er es schließlich auf die Erde setzte und zu ihm sagte, es solle mit Jeanne spielen gehen. Und Hélène lächelte über diese Spiele, sie legte einen Augenblick ihre Arbeit aus der Hand, um mit einem ruhigen Blick den Vater, die Mutter und das Kind zu umfangen. Der Kuß des Gatten machte sie durchaus nicht verlegen, Luciens Ungezogenheiten stimmten sie weich. Man hätte meinen können, sie ruhe sich im glücklichen Frieden der Familie aus. Mittlerweile ging die Sonne unter und färbte die hohen Äste gelb. Eine heitere Ruhe senkte sich vom blassen Himmel herab. Juliette, die eine Sucht hatte, Fragen zu stellen, selbst bei Leuten, die sie am wenigsten kannte,
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fragte ihren Mann Schlag auf Schlag, oft ohne die Antworten abzuwarten: »Wo bist du hingegangen? Was hast du gemacht?« Dann erzählte er von seinen Krankenbesuchen, sprach von einem Bekannten, den er gegrüßt hatte, gab ihr einige Auskünfte über einen Stoff oder ein Möbelstück, das er in einem Schaufenster flüchtig gesehen hatte. Und oft begegneten seine Augen beim Sprechen den Augen Hélènes. Keiner von beiden wandte den Kopf ab. Sie schauten einander eine Sekunde ernst ins Gesicht, als hätten sie sich bis ins Herz gesehen; dann lächelten sie und senkten langsam die Lider. Juliettes nervöse Lebhaftigkeit, die sie mit einer einstudierten Schlaffheit ertränkte, erlaubte ihnen nicht, lange miteinander zu plaudern; denn die junge Frau warf sich bei allen Unterhaltungen dazwischen. Dennoch wechselten sie Worte, langsame und nichtssagende Redensarten, die einen tiefen Sinn anzunehmen schienen und die über den Klang ihrer Stimmen hinaus nachhallten. Bei jedem ihrer Worte stimmten sie einander mit einem leichten Nicken zu, als hätten sie stets gemeinsame Gedanken gehabt. Es war ein unbedingtes, inniges Einverständnis, das aus der Tiefe ihres Wesens gekommen war und das sich sogar in ihr Schweigen wieder einschloß. Zuweilen hielt Juliette in ihrem Elstergeschwätz inne, etwas beschämt darüber, daß sie immerzu redete. »Nun? Sie unterhalten sich wohl kaum?« sagte sie, »Wir sprechen über Dinge, die Sie überhaupt nicht interessieren.« »Nein, achten Sie nicht auf mich«, antwortete Hélène fröhlich. »Ich langweile mich niemals ... Es ist ein Glück für mich, zuzuhören und nichts zu sagen.«
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Und sie log nicht. Während ihres langen Schweigens genoß sie am besten den Zauber, dort zu weilen. Den Kopf über ihre Arbeit geneigt, dann und wann die Augen hebend, um mit dem Doktor jene langen Blicke zu tauschen, die sie aneinander banden, verschloß sie sich gern in den Egoismus ihrer inneren Bewegung. Sie gestand sich nun ein, daß es zwischen ihr und ihm ein heimliches Gefühl gab, etwas sehr Süßes, um so süßer, als niemand auf der Welt es mit ihnen teilte. Aber sie trug ihr Geheimnis ruhig in sich, ohne eine Trübung ihrer Ehrbarkeit, denn nichts Schlechtes bewegte sie. Wie gut er zu seiner Frau und seinem Kinde war! Sie liebte ihn noch mehr, wenn er Lucien auf seinen Knien hüpfen ließ und Juliette auf die Wange küßte. Seit sie ihn in seiner Häuslichkeit sah, war ihre Freundschaft noch größer geworden. Nun gehörte sie gleichsam zur Familie, sie dachte nicht daran, daß man sie entfernen könne. Und im Grunde ihrer selbst nannte sie ihn Henri, ganz selbstverständlich, weil sie ja immer wieder hörte, wie Juliette ihm diesen Namen gab. Wenn ihre Lippen »Herr Doktor« sagten, wiederholte ein Echo in ihrem ganzen Wesen »Henri«. Eines Tages traf der Doktor Hélène allein unter den Ulmen an. Juliette ging fast jeden Nachmittag aus dem Haus. »Sieh an! Meine Frau ist nicht da?« sagte er. »Nein, sie läßt mich allein«, antwortete sie lachend. »Allerdings kommen Sie heute früher heim.« Die Kinder spielten am anderen Ende des Gartens. Er setzte sich zu ihr. Ihre Zweisamkeit verwirrte sie nicht im geringsten. Fast eine Stunde lang plauderten sie über tausend Dinge, ohne einen Augenblick das Verlangen zu empfinden, eine Anspielung auf das zarte Gefühl zu 120
machen, das ihnen das Herz schwellte. Wozu davon sprechen? Wußten sie nicht, was sie sich hätten sagen können? Sie hatten einander kein Geständnis zu machen. Es genügte zu ihrer Freude, zusammen zu sein, sich in allen Dingen zu verstehen, ungetrübt ihr Alleinsein an eben diesem Platz zu genießen, wo er seine Frau jeden Abend in ihrer Gegenwart küßte. An diesem Tag zog er sie wegen ihrer Arbeitswut auf. »Wissen Sie«, sagte er, »ich kenne noch nicht einmal die Farbe Ihrer Augen; Sie richten sie immer auf Ihre Nadel.« Sie blickte auf, schaute ihm, wie sie es gewöhnlich tat, voll ins Gesicht. »Wollen Sie mich hänseln?« fragte sie sanft. Aber er fuhr fort: »Ach! Sie sind grau ... grau mit einem blauen Widerschein, nicht wahr?« Das war alles, was sie wagten; aber diese Worte, die erstbesten Worte, nahmen eine unendliche Süße an. Von diesem Tage an traf er sie oft allein in der Dämmerung. Unwillkürlich, ohne daß sie sich dessen bewußt waren, wurde jetzt ihre Vertrautheit größer. Sie sprachen mit veränderter Stimme, mit zärtlichem Tonfall, den sie nicht hatten, wenn man ihnen zuhörte. Und doch, wenn Juliette ankam und das geschwätzige Fieber ihrer Laufereien durch Paris mitbrachte, störte sie sie noch immer nicht, sie konnten die begonnene Unterhaltung fortsetzen, ohne verwirrt zu sein und ihre Sessel abrücken zu müssen. Es war, als ließe dieser schöne Frühling, dieser Garten, in dem der Flieder blühte, das erste Entzücken der Leidenschaft in ihnen länger andauern. Gegen Ende des Monats wurde Frau Deberle von einem großen Vorhaben in Aufregung versetzt. Plötzlich hatte sie den Einfall gehabt, einen Kinderball zu geben. 121
Die Jahreszeit war schon recht vorgerückt, aber dieser Gedanke erfüllte ihren leeren Kopf so sehr, daß sie sich mit ihrer wirbligen Betriebsamkeit sogleich in die Vorbereitungen stürzte. Sie wollte etwas ganz und gar Gelungenes. Es sollte ein Kostümball sein. Von nun an sprach sie nur noch von ihrem Ball, zu Hause, bei anderen, überall. Es gab im Garten endlose Unterhaltungen. Der schöne Malignon fand das Vorhaben etwas »doof«, aber er geruhte dennoch, sich dafür zu interessieren, und er versprach, einen Gesangskomiker aus seiner Bekanntschaft mitzubringen. Eines Nachmittags stellte Juliette, als alle unter den Bäumen versammelt waren, die schwerwiegende Frage nach den Kostümen für Lucien und Jeanne. »Ich schwanke sehr«, sagte sie, »ich habe an ein Pierrotkostüm aus weißem Atlas gedacht.« »Oh! Das ist mittelmäßig!« erklärte Malignon. »Sie werden ein gutes Dutzend Pierrots auf Ihrem Ball haben ... Warten Sie, es müßte etwas Originelles sein ...« Und er begann tief nachzusinnen, wobei er am Kopf seines Spazierstöckchens saugte. Pauline, die hinzukam, rief: »Ich habe Lust, mich als Kammerkätzchen anzuziehen ...« »Du!« sagte Frau Deberle überrascht. »Aber du verkleidest dich doch nicht! Hältst du dich denn für ein Kind, großes Dummerchen? – Du wirst mir die Freude machen, im weißen Kleid zu erscheinen.« »Ach! Das hätte mir Spaß gemacht«, murmelte Pauline, die trotz ihrer sechzehn Jahre und ihrer schönen mädchenhaften Rundungen leidenschaftlich gern mit den ganz kleinen Kindern herumsprang.
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Hélène arbeitete indessen auf ihrem Platz am Fuß ihres Baumes und hob zuweilen den Kopf, um dem Doktor und Herrn Rambaud zuzulächeln, die vor ihr standen und plauderten. Herr Rambaud hatte schließlich Zutritt zum engsten Familienkreis der Deberles gefunden. »Und Jeanne«, fragte der Doktor, »als was werden Sie sie anziehen?« Aber ihm wurde durch einen Ausruf Malignons das Wort abgeschnitten. »Ich hab's! – Ein Marquis aus der Zeit Ludwigs XV.29!« Und wie schwenkte er da mit triumphierender Miene sein Spazierstöckchen! Als man sich dann ringsum nicht gerade dafür begeisterte, schien er erstaunt zu sein. »Wie! Sie verstehen nicht? – Lucien empfängt seine kleinen Gäste, nicht wahr? Sie stellen ihn also an die Tür des Salons, als Marquis, mit einem großen Rosenstrauß an der Seite, und er macht Verbeugungen vor den Damen.« »Aber«, wandte Juliette ein, »wir werden Dutzende von Marquis haben.« »Was schadet das denn?« sagte Malignon seelenruhig. »Je mehr Marquis es geben wird, um so drolliger wird es sein. Ich sage Ihnen, das ist originell ... Der Hausherr muß als Marquis verkleidet sein, sonst steht es faul um Ihren Ball.« Er schien so sehr überzeugt, daß auch Juliette sich schließlich dafür begeisterte. Wirklich, das Kostüm eines Marquis aus der Zeit der Pompadour30 aus weißem, mit kleinen Sträußen durchwirktem Atlas, das wäre ganz köstlich. »Und Jeanne?« wiederholte der Doktor. Das kleine Mädchen hatte sich an die Schulter ihrer Mutter geschmiegt in jener schmeichelnden Haltung, die 123
es so gern einnahm. Als Hélène die Lippen auftun wollte, murmelte Jeanne: »Oh! Mama, du weißt, was du mir versprochen hast?« »Was denn?« fragte man um sie her. Da antwortete Hélène, während ihre Tochter sie mit Blicken anflehte, lächelnd: »Jeanne will nicht, daß man ihr Kostüm verrät.« »Es ist doch wahr!« rief das Kind aus. »Man macht überhaupt keinen Eindruck mehr, wenn man sein Kostüm verraten hat.« Man war einen Augenblick belustigt über diese Koketterie. Herr Rambaud zeigte sich zum Necken aufgelegt. Seit einiger Zeit schmollte Jeanne mit ihm; und der arme Mann, der in seiner Verzweiflung nicht wußte, was er anstellen sollte, damit ihn seine kleine Freundin wieder in Gnaden aufnahm, war schließlich dazu übergegangen, sie zu necken, um sich ihr wieder zu nähern. Er wiederholte mehrmals, indem er sie ansah: »Ich werde es sagen, ich werde es sagen ...« Das Kind war ganz blaß geworden. Sein süßes, leidendes Antlitz nahm einen Ausdruck grausamer Härte an, die Stirn von zwei großen Falten durchfurcht, das Kinn langgezogen und nervös. »Du«, stammelte sie, »du wirst nichts sagen ...« Und da er immer noch Miene machte zu sprechen, stürzte sie sich wie irre auf ihn und schrie: »Schweig, ich will, daß du schweigst! – Ich will es!« Hélène hatte nicht Zeit gehabt, dem Anfall zuvorzukommen, einem jener Anfälle von blinder Wut, die das kleine Mädchen zuweilen so furchtbar erschütterten. Sie sagte streng: »Jeanne, nimm dich in acht, ich werde dich strafen!« Aber Jeanne hörte nicht auf sie, verstand sie nicht. Am ganzen Leibe zitternd, mit den Füßen stampfend, wür124
gend, wiederholte sie: »Ich will! – Ich will!« mit immer heiserer und gebrochener klingender Stimme; und mit ihren verkrampften Händen hatte sie Herrn Rambauds Arm ergriffen, den sie mit außergewöhnlicher Kraft umdrehte. Vergeblich drohte ihr Hélène. Da sie sie nicht mit Strenge bändigen konnte, begnügte sie sich, sehr vergrämt über diesen Auftritt vor allen Leuten, sanft zu murmeln: »Jeanne, du machst mir viel Kummer.« Das Kind ließ sofort los, wandte den Kopf. Und als Jeanne ihre Mutter sah mit untröstlichem Gesicht und die Augen voller zurückgehaltener Tränen, brach sie selbst in Schluchzen aus und warf sich ihr an den Hals, wobei sie stammelte: »Nein, Mama ... nein, Mama ...« Sie fuhr ihr mit der Hand über das Gesicht, um sie am Weinen zu hindern. Ihre Mutter schob sie langsam beiseite. Da ließ sich die Kleine, der es das Herz zerriß, völlig fassungslos einige Schritte entfernt auf eine Bank fallen, wo sie noch stärker schluchzte. Lucien, dem man sie unaufhörlich als Beispiel vorhielt, betrachtete sie überrascht und irgendwie entzückt. Und als Hélène ihre Arbeit zusammenlegte und sich wegen eines solchen Auftritts entschuldigte, sagte Juliette, mein Gott, man müsse den Kindern alles verzeihen, im Gegenteil, die Kleine habe ein sehr gutes Herz, und sie jammere so sehr, das arme niedliche Ding, daß sie schon zu hart gestraft sei. Sie rief sie, um sie zu umarmen, aber Jeanne, die die Verzeihung zurückwies, blieb auf ihrer Bank sitzen, erstickt von Tränen. Herr Rambaud und der Doktor waren inzwischen näher getreten. Ersterer beugte sich zu ihr herab und fragte mit seiner guten, bewegten Stimme: 125
»Aber, mein Liebling, warum bist du denn böse? Was habe ich dir denn getan?« »Oh!« sagte das Kind, nahm die Hände herunter und zeigte sein verstörtes Gesicht. »Du hast mir Mama wegnehmen wollen.« Der Doktor, der zuhörte, fing an zu lachen. Herr Rambaud begriff nicht sofort. »Was sagst du da?« »Ja, ja, neulich am Dienstag ... Oh! Du weißt genau, du hast dich hingekniet und mich gefragt, was ich sagen würde, wenn du immer im Hause bliebest.« Der Doktor lächelte nicht mehr. Seine bleich gewordenen Lippen zitterten. Hingegen war Herrn Rambaud Röte in die Wangen gestiegen, er senkte die Stimme und stammelte: »Aber du hattest doch gesagt, daß wir immer zusammen spielen würden.« »Nein, nein, ich wußte nicht«, begann das Kind wieder mit Heftigkeit. »Ich will nicht, hörst du! – Sprich niemals, niemals mehr davon, und wir werden Freunde sein.« Hélène, die mit ihrem Handarbeitskorb dastand, hatte diese letzten Worte gehört. »Los, geh nach oben, Jeanne«, sagte sie. »Wenn man weinen will, langweilt man andere Leute nicht.« Sie grüßte und schob die Kleine vor sich her. Der Doktor, der sehr blaß war, sah sie starr an. Herr Rambaud war bestürzt. Was Frau Deberle und Pauline betraf, so hatten sie, unterstützt von Malignon, Lucien genommen und ließen ihn in ihrer Mitte sich drehen, während sie über die Schultern des kleinen Jungen hinweg lebhaft das Kostüm eines Marquis aus der Zeit der Pompadour besprachen. 126
Am nächsten Tag befand sich Hélène allein unter den Ulmen. Frau Deberle, die wegen ihres Balles herumlief, hatte Lucien und Jeanne mitgenommen. Als der Doktor früher als sonst nach Hause kam, ging er rasch die Freitreppe hinunter; aber er setzte sich nicht, er ging um die junge Frau herum, während er Borkenstückchen von den Bäumen abriß. Sie hob einen Augenblick die Augen, beunruhigt durch seine Erregung; dann tat sie mit leicht zitternder Hand wieder einen Stich mit ihrer Nadel. »Nun wird das Wetter wieder schlecht«, sagte sie, bedrückt durch das Schweigen. »Es ist fast kalt heute nachmittag.« »Wir sind ja erst im April«, murmelte er und bemühte sich dabei, ruhiger zu sprechen. Er schien weggehen zu wollen. Aber er kam zurück und fragte sie schroff: »Sie heiraten also wieder?« Diese rohe Frage überraschte sie so sehr, daß sie ihre Arbeit fallen ließ. Sie war ganz weiß. Durch eine großartige Willensanstrengung bewahrte sie ein marmornes Antlitz, hatte die weitgeöffneten Augen auf ihn gerichtet. Sie antwortete nicht, und er flehte: »Oh! Ich bitte Sie, ein Wort, ein einziges ... Sie heiraten wieder?« »Ja, vielleicht, was kümmert Sie das?« sagte sie schließlich in eisigem Ton. Er machte eine heftige Bewegung. Er rief: »Aber das ist unmöglich!« »Warum denn?« entgegnete sie, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Da mußte er schweigen unter diesem Blick, der ihm die Worte auf den Lippen festnagelte. Einen Augenblick noch blieb er da, die Hände an seine Schläfen hebend; dann entfernte er sich, erstickte und fürchtete, irgendeine 127
Gewalttätigkeit zu begehen, während sie so tat, als nähme sie ihre Arbeit ruhig wieder auf. Doch der Zauber dieser süßen Nachmittage war zerstört. Der Doktor mochte sich am nächsten Tag noch so zart und gehorsam zeigen, Hélène schien sich unbehaglich zu fühlen, sobald sie mit ihm allein blieb. Es war nicht mehr diese gute Vertrautheit, diese heitere Unbefangenheit, die sie ohne Verwirrung Seite an Seite verweilen ließ, in der reinen Freude beisammen zu sein. Trotz der Mühe, die er sich gab, sie nicht zu erschrecken, schaute er sie manchmal an, von einem plötzlichen Erbeben geschüttelt, das Gesicht von einer Blutwelle entflammt. Sie selbst hatte ihre schöne Ruhe verloren, Schauer überliefen sie, matt blieb sie sitzen mit müden und untätigen Händen. Alle Arten von Zorn und Verlangen schienen in ihnen erwacht zu sein. Hélène wollte schließlich nicht mehr, daß Jeanne sich entfernte. Der Doktor fand unaufhörlich zwischen ihr und sich diesen Zeugen, der ihn mit seinen großen klaren Augen überwachte. Besonders aber litt Hélène darunter, daß sie sich auf einmal in Gegenwart von Frau Deberle verlegen fühlte. Kam diese mit flatterndem Haar nach Hause und nannte sie »meine Liebe«, wenn sie ihr von ihren Laufereien erzählte, hörte sie ihr nicht mehr mit ihrer lächelnden und ruhigen Miene zu; im Grunde ihres Wesens stieg ein Tosen empor, Gefühle, die genauer zu bestimmen sie sich versagte. Es war etwas wie Scham und Groll dabei. Dann empörte sich ihre ehrliche Natur; sie reichte Juliette die Hand, doch ohne den körperlichen Schauder unterdrücken zu können, den die warmen Finger ihrer Freundin ihr über die Haut laufen ließen. Mittlerweile war das Wetter schlecht geworden. Regengüsse zwangen die Damen, im japanischen Garten128
häuschen Zuflucht zu suchen. Der Garten mit seiner schönen Sauberkeit verwandelte sich in einen See, und man wagte sich nicht mehr auf die Wege aus Angst, daß sie einem an den Schuhsohlen klebenblieben. Wenn noch ein Sonnenstrahl zwischen zwei Wolken hindurchschimmerte, trocknete das durchnäßte Grün, und der Flieder hatte an jeder seiner kleinen Blüten Perlen hängen. Unter den Ulmen fielen schwere Tropfen hernieder. »Also am Sonnabend«, sagte eines Tages Frau Deberle. »Ach! Meine Liebe, ich kann nicht mehr ... Nicht wahr? Seien Sie um zwei Uhr da, Jeanne soll den Ball mit Lucien eröffnen.« Und einer Aufwallung von Zärtlichkeit nachgebend, entzückt von den Vorbereitungen für ihren Ball, küßte sie die beiden Kinder; dann faßte sie lachend Hélène an den Armen und drückte auch ihr zwei schallende Küsse auf die Wangen. »Das soll meine Belohnung sein«, sagte sie fröhlich. »Wirklich! Ich habe sie verdient, ich bin genug herumgelaufen! Sie werden sehen, wie gelungen es sein wird.« Hélène blieb ganz kühl, während der Doktor über den blonden Kopf Luciens hinweg, der sich an seinen Hals gehängt hatte, die beiden betrachtete.
Kapitel IV In der Diele des kleinen vornehmen Hauses stand Pierre in Livree und weißer Krawatte und öffnete die Tür bei jedem Wagenrollen. Ein Stoß feuchter Luft drang herein, ein gelber Widerschein des regnerischen Nachmittags erhellte die schmale, mit Portieren und grünen Pflanzen
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angefüllte Diele. Es war zwei Uhr, das Licht nahm ab wie an einem trüben Wintertag. Doch sowie der Diener die Tür zum ersten Salon aufstieß, blendete strahlende Helligkeit die Gäste. Man hatte die Jalousien heruntergelassen und die Vorhänge sorgfältig zugezogen, kein Schimmer des trüben Himmels kam hindurch; und die Lampen, die auf den Möbeln standen, die brennenden Kerzen im Kronleuchter und die kristallenen Wandleuchter entzündeten dort den feierlichen Glanz einer Trauerkapelle. Im Hintergrund des kleinen Salons, dessen resedafarbene Wandbespannungen den Glanz der Lichter etwas dämpften, strahlte der große schwarzgoldene Salon, wie für den Ball geschmückt, den Frau Deberle jedes Jahr im Januar gab. Inzwischen trafen allmählich Kinder ein, während Pauline sehr geschäftig Stuhlreihen im Salon vor der Tür des Eßzimmers aufstellen ließ, die man ausgehoben und durch einen roten Vorhang ersetzt hatte. »Papa«, rief sie, »hilf doch ein bißchen. Wir schaffen es nie.« Herr Letellier, der die Arme auf dem Rücken hielt und den Kronleuchter eingehend musterte, beeilte sich, ein bißchen zu helfen. Pauline selbst trug Stühle herbei. Sie hatte ihrer Schwester gehorcht und ein weißes Kleid angezogen; nur ihr Mieder war viereckig ausgeschnitten und ließ ihren Busen sehen. »So, wir sind soweit«, begann sie wieder. »Die Gäste können kommen ... Aber was denkt sich denn Juliette? Sie wird mit dem Ankleiden von Lucien nicht fertig.« Eben brachte Frau Deberle den kleinen Marquis. Alle Anwesenden stießen Bewunderungsrufe aus. Oh! Dieses liebe Kerlchen! Er war auch wirklich allerliebst mit seinem Frack aus weißem, mit Sträußen durchwirktem Atlas, seiner großen goldgestickten Weste und seinen Knie130
hosen aus kirschroter Seide! Sein Kinn und seine zierlichen Hände ertranken in Spitze. Ein Degen, ein Spielzeug mit großer rosa Schleife, schlug an seine Hüfte. »Also, bitte, empfange schon die Gäste«, sagte seine Mutter zu ihm, während sie ihn in das erste Zimmer führte. Seit acht Tagen übte sie das mit ihm. Nun stellte er sich wie ein Mann von Welt fest auf seine kleinen Beine, seinen gepuderten Kopf etwas zurückgeneigt, seinen Dreispitz unter dem linken Arm; und jeder eingeladenen Dame, die eintraf, machte er eine Verbeugung, bot ihr den Arm, grüßte und kam auf seinen Platz zurück. Man lachte rings um ihn, so ernst war er, mit einem Anflug von Keckheit. So führte er Marguerite Tissot, ein Mädelchen von fünf Jahren, das ein entzückendes Milchmädchenkostüm anhatte und dem das Milchtöpfchen am Gürtel hing; er führte die beiden kleinen Berthiers, Blanche und Sophie, von denen eine als Torheit und die andere als Kammerkätzchen verkleidet war; er wagte sich sogar an Valentine de Chermette heran, ein großes Mädchen von vierzehn Jahren, das seine Mutter immer als Spanierin anzog; und er wirkte so schmächtig, daß sie ihn zu tragen schien. Doch seine Verlegenheit stieg aufs äußerste angesichts der Familie Levasseur, bestehend aus fünf Fräulein, die der Größe nach auftraten, die jüngste kaum zwei und die älteste zehn Jahre alt. Alle fünf waren als Rotkäppchen verkleidet und trugen Häubchen und Kleider aus hochrotem Atlas mit schwarzen Samtbändern, von dem die breite Spitzenschürze sich abhob. Tapfer faßte er einen Entschluß, warf seinen Hut fort, nahm die beiden größten an seinen rechten und seinen linken Arm und hielt seinen Einzug im Salon, gefolgt von den drei anderen. Das erregte große Heiterkeit, ohne 131
daß er nur im geringsten die schöne Selbstsicherheit eines kleinen Mannes einbüßte. Frau Deberle schalt währenddessen in einer Ecke mit ihrer Schwester. »Ist denn das die Möglichkeit, einen so weiten Ausschnitt zu tragen!« »Na und? Was macht das schon? Papa hat nichts gesagt«, antwortete Pauline seelenruhig. »Wenn du willst, werde ich mir einen Strauß anstecken.« Sie pflückte eine Handvoll natürlicher Blumen von einem Blumentischchen und steckte sie sich zwischen die Brüste. Aber schon wurde Frau Deberle von Damen, von Mamas in großer Stadttoilette, umringt und zu ihrem Ball beglückwünscht. Als Lucien vorbeikam, strich seine Mutter eine Locke seiner gepuderten Haare zurück, während er sich auf die Zehenspitzen stellte, um sie zu fragen: »Und Jeanne?« »Sie wird gleich kommen, mein Liebling ... Paß gut auf, daß du nicht fällst ... Beeil dich, da ist die kleine Guiraud ... Ah! Sie kommt als Elsässerin.« Der Salon füllte sich, die Stuhlreihen gegenüber dem roten Vorhang waren fast alle besetzt, und ein Lärm von Kinderstimmen stieg empor. Knaben trafen scharenweise ein. Es waren schon drei Harlekine, vier Hanswürste, ein Figaro, mehrere Tiroler und Schotten da. Der kleine Berthier war als Page verkleidet. Der kleine Guiraud, ein Bübchen von zweieinhalb Jahren, trug sein Pierrotkostüm so drollig, daß ihn alle, an denen er vorbeiging, hochhoben, um ihn zu küssen. »Da ist Jeanne«, sagte auf einmal Frau Deberle. »Oh, sie ist wundervoll.«
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Ein Gemurmel lief durch den Raum, Köpfe beugten sich unter leisen Rufen vor. Jeanne war auf der Schwelle des ersten Salons stehengeblieben, während ihre Mutter, die noch in der Diele war, ihren Mantel ablegte. Das Kind trug ein Japanerinnenkostüm von wunderbarer Eigenartigkeit. Das mit seltsamen Blüten und Vögeln bestickte Kleid fiel bis auf Jeannes Füßchen herab, die es bedeckte, während die zurückgeschlagenen Rockschöße unterhalb des breiten Gürtels ein Unterkleid aus grüner, gelbschillernder Seide sehen ließen. Nichts hatte einen fremdartigeren Zauber als ihr feines Gesicht unter dem hohen, von langen Nadeln durchstochenen Haarknoten, mit dem Kinn und den schmalen und glänzenden Antilopenaugen, das ihr das Aussehen einer wahren Tochter Yedos31 gab, die in einem Duft von Mandelblüten und Tee dahinschritt. Und sie blieb zögernd da stehen mit dem krankhaften Sehnen einer fernen Blüte, die von der Heimat träumt. Doch hinter ihr erschien Hélène. Als sie beide jäh aus dem fahlen Tageslicht der Straße in diesen grellen Glanz der Kerzen traten, blinzelten sie wie geblendet und lächelten dennoch. Dieser warme Hauch, dieser Geruch des Salons, in dem Veilchenduft vorherrschte, benahm ihnen ein wenig den Atem und rötete ihre frischen Wangen. Jeder Gast zeigte beim Eintreten den gleichen Gesichtsausdruck von Überraschung und Zögern. »Nun, Lucien?« sagte Frau Deberle. Der Kleine hatte Jeanne nicht bemerkt. Er stürzte auf sie zu, nahm ihren Arm und vergaß dabei, seine Verbeugung zu machen. Und sie waren beide so zierlich, so zart, der kleine Marquis in seinem Sträußchenfrack, die kleine Japanerin in ihrem purpurbestickten Kleid, daß man zwei fein bemalte und vergoldete Meißener Porzellanfigürchen 133
vor sich zu haben meinte, die plötzlich lebendig geworden waren. »Du weißt, ich habe auf dich gewartet«, flüsterte Lucien. »Es langweilt mich, immerzu den Arm zu reichen ... Wir bleiben zusammen, nicht?« Und er ließ sich mit ihr auf der ersten Stuhlreihe nieder. Er vergaß völlig seine Hausherrnpflichten. »Wirklich, ich war schon besorgt«, sagte Juliette wiederholt zu Hélène. »Ich fürchtete, daß Jeanne unwohl sei.« Hélène entschuldigte sich, man werde niemals mit den Kindern fertig. Sie stand noch in einer Ecke des Salons inmitten einer Gruppe von Damen, als sie fühlte, daß der Doktor hinter ihr näher kam. Er war tatsächlich soeben eingetreten, indem er den roten Vorhang beiseite schob, hinter den er noch einmal seinen Kopf gesteckt hatte, um eine letzte Anweisung zu geben. Aber jäh hielt er inne. Auch er erahnte die junge Frau, die sich jedoch nicht umgewandt hatte. Niemals war ihre Schönheit königlicher als in diesem schwarzen Seidenkleid. Und er erschauerte in der Kühle, die sie von draußen mitbrachte und die von ihren Schultern und ihren Armen auszuströmen schien, die unter dem durchsichtigen Stoff nackt waren. »Henri sieht niemanden«, sagte Pauline lachend. »Na, guten Tag, Henri.« Da kam er näher und begrüßte die Damen. Fräulein Aurélie, die dort stand, hielt ihn einen Augenblick zurück, um ihm von weitem einen Neffen zu zeigen, den sie mitgebracht hatte. Er blieb entgegenkommenderweise stehen. Wortlos reichte Hélène ihm ihre Hand im schwarzen Handschuh, die er nicht allzusehr zu drücken wagte. 134
»Wie? Da bist du?« rief Frau Deberle, die wieder auftauchte. »Ich suche dich überall ... Es ist kurz vor drei Uhr; man könnte anfangen.« »Gewiß«, sagte er. »Sofort.« Jetzt war der Salon voll. Rings im Raum gaben die Eltern unter der großen Helligkeit des Kronleuchters mit ihren Stadttoiletten den dunklen Rahmen ab; Damen rückten ihre Sessel zusammen und bildeten Gesellschaften für sich; Herren standen unbeweglich entlang den Wänden und füllten die Zwischenräume aus, während sich an der Tür zum Nebensalon die Gehröcke, die hier noch zahlreicher waren, schier erdrückten und hochreckten. Das ganze Licht fiel auf die kleine lärmende Gesellschaft, die sich in der Mitte des weiten Raumes tummelte. Es waren nahezu hundert Kinder da, bunt durcheinander, in der vielfarbigen Fröhlichkeit der hellen Kostüme, aus der Blau und Rosa hervorstrahlten. Es war ein Feld blonder Köpfe, alle Schattierungen von Blond, vom feinen Aschblond bis zum roten Gold, belebt durch Schleifen und Blumen, eine Ernte blonder Haarschöpfe, die lautes Lachen wie unter sanftem Windhauch wogen ließ. Zuweilen wandte sich in diesem Gewirr von Bändern und Spitzen, von Seide und Samt ein Gesicht um, eine rosige Nase, zwei blaue Augen, ein lächelnder oder schmollender Mund, die gleichsam verloren wirkten. Es gab kleine Kerlchen darunter, die kaum drei Käse hoch waren, sich unter muntere Burschen von zehn Jahren drängten und die die Mütter aus der Ferne suchten, ohne sie wiederfinden zu können. Knaben standen verlegen mit dummem Gesicht neben Mädelchen, die gerade ihre Röcke bauschten. Andere zeigten sich schon sehr unternehmungslustig, stießen mit dem Ellenbogen Nachbarinnen an, die sie 135
nicht kannten, und lachten ihnen ins Gesicht. Doch die kleinen Mädchen blieben die Königinnen; drei oder vier Freundinnen saßen zusammen und rutschten auf ihren Stühlen herum, als wollten sie sie zerbrechen, und redeten dabei so laut, daß man einander nicht mehr verstand. Alle Augen waren starr auf den roten Vorhang gerichtet. »Aufgepaßt!« sagte der Doktor und klopfte dreimal leicht an die Tür des Eßzimmers. Der rote Vorhang ging langsam auf; und im Türrahmen kam ein Puppentheater zum Vorschein. Nun herrschte Stille. Auf einmal sprang Hanswurst aus der Kulisse hervor und gab ein so wildes Quieken von sich, daß der kleine Guiraud mit einem erschreckten und entzückten Ausruf darauf antwortete. Es war eines jener schrecklichen Stücke, in denen Hanswurst, nachdem er den Kommissar verprügelt hat, den Polizisten tötet und mit grimmiger Fröhlichkeit alle göttlichen und menschlichen Gesetze mit Füßen tritt. Bei jedem Stockschlag, der die hölzernen Köpfe spaltete, stießen die mitleidslosen Zuschauer schrilles Gelächter aus; und die Dolchstöße, die die Brüste durchbohrten, die Zweikämpfe, in denen die Gegner einander auf die Schädel schlugen wie auf leere Kürbisse, das Gemetzel von Beinen und Armen, aus dem die Puppen zu Brei geschlagen hervorgingen, verdoppelten die Lachsalven, die von allen Seiten losgingen und kein Ende mehr nahmen. Als dann Hanswurst dem Polizisten auf dem Bühnenrand den Hals absägte, war der Höhepunkt erreicht. Der Vorgang rief eine so ungeheure Freude hervor, daß die Zuschauerreihen durcheinanderpurzelten, wobei die einen über die anderen fielen. Ein rosiges und weißes kleines Mädchen von vier Jahren preßte selig seine Händchen an sein Herz, so nett fand sie das. Andere klatschten Beifall, während die Knaben mit 136
offenem Munde als Begleitung zu den flötenden Tonleitern der kleinen Damen tief lachten. »Wieviel Spaß sie haben!« murmelte der Doktor. Er hatte sich wieder in Hélènes Nähe gestellt. Sie war ebenso lustig wie die Kinder. Und er, der hinter ihr stand, berauschte sich an dem Duft, der von ihren Haaren aufstieg. Bei einem Stockhieb, der heftiger war als die anderen, wandte sie sich um und sagte zu ihm: »Nein, wissen Sie, ist das drollig!« Die aufgeregten Kinder aber mischten sich jetzt in das Stück ein. Sie antworteten den Schauspielern. Ein Mädelchen, das das Stück kennen mußte, erklärte, was geschehen werde: »Gleich wird er seine Frau totschlagen ... Jetzt wird man ihn aufhängen.« Die kleine Levasseur, die jüngste, die zwei Jahre alt war, rief plötzlich: »Mama, wird man ihn bei trocken Brot einsperren?« Dann folgten Ausrufe, laut angestellte Betrachtungen. Indessen suchte Hélène unter den Kindern. »Ich sehe Jeanne nicht«, sagte sie. »Ob sie wohl Spaß daran hat?« Da neigte sich der Doktor vor, schob seinen Kopf neben den ihren und murmelte: »Da, dort hinten zwischen dem Harlekin und der Normannin sehen Sie die Nadeln von Jeannes Haarknoten ... Sie lacht so recht von Herzen.« Und er blieb gebeugt stehen und spürte auf seiner Wange die Wärme von Hélènes Gesicht. Bis dahin war ihnen kein Geständnis entschlüpft; dieses Schweigen beließ sie in jener Vertrautheit, die allein eine unbestimmte Verwirrung seit einiger Zeit störte. Doch inmitten dieses schönen Lachens wurde sie angesichts dieser 137
ausgelassenen Jungen und Mädchen wieder zum Kinde, gab sie sich hin, während Henris Atem ihren Nacken wärmte. Die dröhnenden Stockschläge riefen ein Beben in ihr hervor, das ihren Busen schwellte; sie wandte sich mit leuchtenden Augen zu ihm um. »Mein Gott! Ist das dumm!« sagte sie jedesmal. »Nein! Wie sie drauflosschlagen!« Er antwortete zitternd: »Oh! Sie haben einen stabilen Kopf.« Das war alles, was sein Herz zu sagen fand. Sie ließen sich beide in Kindereien gehen. Hanswursts wenig vorbildliches Leben machte sie schlaff. Als dann bei der Lösung des Dramas der Teufel auftrat und eine allerschlimmste Prügelei, ein allgemeines Abschlachten stattfand, warf sich Hélène zurück und zerdrückte schier Henris Hand, die er auf die Lehne ihres Sessels gelegt hatte, während die Zuschauerschar der kleinen Knirpse schreiend und händeklatschend die Stühle vor Begeisterung zum Krachen brachte. Der rote Vorhang war gefallen. Da kündigte mitten in dem Getöse Pauline mit ihrer gewohnten Redensart Malignon an: »Ah! Da ist der schöne Malignon!« Außer Atem und die Stühle umreißend, kam er an. »Nein, was für ein schrulliger Einfall, alles zuzumachen!« rief er überrascht und zögernd aus. »Man könnte glauben, zu Toten zukommen.« Und sich an Frau Deberle wendend, die hinzutrat, sagte er: »Sie können stolz darauf sein, daß Sie mich so haben herumrennen lassen! – Seit heute früh suche ich Perdiguet, Sie wissen schon, meinen Sänger ... Da ich ihn nicht habe erreichen können, bringe ich Ihnen nun den großen Morizot mit ...«
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Der große Morizot war ein Laienkünstler, der die Salons mit Zauberkunststücken ergötzte. Man überließ ihm ein Tischchen, er vollführte seine schönsten Tricks, ohne jedoch die Zuschauer auch nur im geringsten zu begeistern. Die armen lieben Kleinen waren sehr ernst geworden. Ganz kleine Bübchen schliefen ein und lutschten dabei am Daumen. Andere, größere, wandten den Kopf ab, lächelten den Eltern zu, die selber diskret gähnten. Daher war es für alle eine Erleichterung, als der große Morizot sich entschloß, sein Tischchen fortzuschaffen. »Oh! Er hat viel los«, murmelte Malignon dicht an Frau Deberles Hals. Doch der rote Vorhang war von neuem auseinandergegangen, und ein zauberhafter Anblick hatte alle Kinder auf die Beine gebracht. Unter der strahlenden Helligkeit der Mittellampe und zweier zehnarmiger Leuchter erstreckte sich das Eßzimmer mit seinem langen Tisch, der gedeckt und geschmückt war wie zu einem großen Abendessen. Fünfzig Gedecke waren aufgelegt. In der Mitte und an den beiden Enden erblühten Büsche von Blumen in flachen Körben, getrennt durch hohe Obstschalen, auf welchen sich Wundertüten häuften, deren vergoldetes und buntbemaltes Papier leuchtete. Außerdem gab es da Kuchenberge, Pyramiden gefrorener Früchte, Stapel von belegten Broten und weiter unten eine richtige symmetrische Anordnung zahlreicher Teller voller Zuckerwerk und feinem Gebäck; Napfkuchen, Windbeutel mit Schlagsahne, Brioches32 wechselten mit Biskuits, Krachgebäck, kleinen Mandelkuchen. Gelees zitterten in kristallenen Gefäßen. Kremspeisen füllten Porzellanschalen. Und die handgroßen Champagnerflaschen, die der Größe der Gäste angemessen waren, ließen rings um den Tisch ihre silbernen 139
Helme aufblitzen. Man hätte meinen können, es sei eine jener riesenhaften Kaffeetafeln, wie sie sich die Kinder wohl im Traum ausmalen, eine Kinderkaffeetafel, bei der mit derselben Gewichtigkeit wie bei einem Abendessen für Erwachsene aufgetragen wurde, die märchenhafte Heraufbeschwörung der elterlichen Tafel, über die man das Füllhorn der Pastetenbäcker und der Spielzeughändler ausgeschüttet hatte. »Jungens, reicht den Damen den Arm!« sagte Frau Deberle und lächelte über das Entzücken der Kinder. Doch der Zug konnte sich nicht formieren. Lucien hatte triumphierend Jeannes Arm genommen und ging voran. Die anderen hinter ihm schubsten sich ein bißchen. Die Mamas mußten kommen und sie aufstellen. Und sie blieben da, vor allem hinter den Allerkleinsten, auf die sie aufpaßten aus Furcht, es könne ein Unglück geschehen. Die Gäste wirkten freilich zunächst sehr verlegen; sie sahen einander an, sie trauten sich nicht, all die guten Dinge zu berühren, weil sie irgendwie beunruhigt waren durch diese verkehrte Welt, in der die Kinder bei Tisch saßen und die Eltern standen. Schließlich faßten sich die Größten ein Herz und streckten die Hände aus. Als sich dann die Mamas hineinmischten, Kuchen aufschnitten und den Kindern ringsum auflegten, ging es munterer und bald sehr geräuschvoll bei der Kaffeetafel zu. Die schöne Symmetrie der Tafelgedecke wurde wie von einem Windstoß durcheinandergewirbelt; alles wurde gleichzeitig herumgereicht inmitten von ausgestreckten Armen, die die vorbeikommenden Platten leerten. Die beiden kleinen Berthiers, Blanche und Sophie, lachten ihren Tellern zu, auf denen von allem etwas lag, Eingemachtes, Kremspeise, Kuchen, Obst. Die fünf Fräulein Levasseur nahmen eine Ecke mit Leckereien für sich in 140
Beschlag, während Valentine, stolz auf ihre vierzehn Jahre, die vernünftige Dame spielte und sich ihrer Nachharn annahm. Indessen entkorkte Lucien, um seine Ritterlichkeit zu zeigen, eine Champagnerflasche, und das so ungeschickt, daß er ihren Inhalt beinahe über seine Kniehose aus kirschroter Seide gegossen hätte. Das gab eine Aufregung. »Willst du wohl die Flaschen in Frieden lassen! Den Champagner mache ich auf«, rief Pauline. Sie machte sich außerordentlich zu schaffen und hatte dabei auch ihren Spaß. Sowie ein Diener ankam, entriß sie ihm die Schokoladenkanne und machte sich das höchste Vergnügen daraus, die Tassen mit der Behendigkeit eines Cafékellners zu füllen. Dann trug sie Eis und Saftgläser herum, ließ alles im Stich, um irgendein kleines Mädchen vollzustopfen, das man vergaß, lief wieder davon und fragte bald die einen, bald die anderen: »Was willst du, mein Dicker? Wie? Eine Brioche? – Warte, mein Liebling, ich reich dir gleich die Apfelsinen rüber ... Eßt doch, ihr großen Dummchen, nachher könnt ihr spielen!« Frau Deberle, die ruhiger war, sagte immer wieder, man solle die Kinder in Frieden lassen, sie würden schon irgendwie zurechtkommen. An einem Ende des Raumes lachten Hélène und einige Damen über den Anblick der Tafel. All diese rosigen Mäulchen knabberten mit weißen Zähnen tüchtig drauflos. Und nichts war drolliger als ihr Benehmen wohlerzogener Kinder, die sich zuweilen in den übermütigen Streichen junger Wilder vergaßen. Sie faßten ihre Gläser mit beiden Händen, um sie bis auf den Grund zu leeren, beschmierten sich, beklecksten ihre Kostüme. Der Lärm schwoll an. Man plünderte die letzten Teller. Sogar Jeanne tanzte auf ihrem Stuhl herum, als sie hörte, wie eine Quadrille im Salon gespielt wurde; 141
und als ihre Mutter herantrat und ihr vorhielt, sie habe zuviel gegessen, sagte sie: »Oh! Mama, ich fühle mich heute so wohl!« Doch die Musik hatte auch andere Kinder auf die Beine gebracht. Nach und nach leerte sich die Tafel, und bald blieb nur noch ein kleines Dickerchen da in der Mitte der Tafel. Der schien sich nicht um das Klavier zu kümmern. Er hatte eine Serviette um den Hals und sein Kinn lag auf dem Tischtuch, weil er so klein war, er riß die Augen sperrangelweit auf und streckte den Mund vor, sooft seine Mutter ihm einen Löffel voll Schokolade hinhielt. Die Tasse leerte sich, er ließ sich die Lippen abwischen, schluckte immer noch und riß die Augen noch weiter auf. »Donnerwetter! Alter Freund, dir geht's gut!« sagte Malignon, der ihn mit träumerischem Ausdruck ansah. Jetzt fand die Verteilung der Wundertüten statt. Die Kinder nahmen beim Verlassen des Tisches je eine der großen goldenen Tüten, die sie eilig zerrissen; und sie holten daraus Spielzeug, wunderliche Kopfbedeckungen aus dünnem Seidenpapier, Vögel und Schmetterlinge hervor. Das Hauptvergnügen aber waren die Knallbonbons. Jede Wundertüte enthielt einen Knallbonbon, den die Jungen tapfer abzogen, glücklich über den Lärm, während die kleinen Damen die Augen zumachten und mehrmals von neuem ansetzten. Einen Augenblick lang hörte man nichts als das trockene Knattern dieses Musketenfeuers. Und inmitten des Heidenspektakels kehrten die Kinder in den Salon zurück, wo das Klavier unaufhörlich Quadrillenfiguren spielte. »Ich würde gern eine Brioche essen«, murmelte Fräulein Aurélie, während sie sich setzte.
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Jetzt ließen sich an der frei gewordenen, noch mit dem heillosen Durcheinander von diesem gewaltigen Nachtisch bedeckten Tafel einige Damen nieder. Es waren etwa zehn, die klugerweise gewartet hatten, um noch etwas zu essen zu bekommen. Da sie keines Dieners habhaft werden konnten, bemühte sich Malignon. Er leerte die Schokoladenkanne, sah nach, ob noch etwas in den Flaschen war, es glückte ihm sogar, noch Eis aufzutreiben. Doch während er sich aufmerksam zeigte, kam er immer wieder darauf zurück, was für einen seltsamen Einfall man gehabt hätte, die Jalousien herunterzulassen. »Tatsächlich«, sagte er immer wieder, »man ist hier wie in einer Gruft.« Hélène war stehengeblieben und plauderte mit Frau Deberle. Diese kehrte in den Salon zurück, und sie schickte sich an, ihr zu folgen da fühlte sie, wie sie sanft berührt wurde. Der Doktor stand lächelnd hinter ihr. Er wich ihr nicht von der Seite. »Nehmen Sie denn gar nichts?« fragte er. Und in diese abgedroschene Redensart legte er eine so flehentliche Bitte, daß sie eine große Verwirrung empfand. Sie verstand wohl, daß er von etwas anderem zu ihr sprach. Eine Erregung griff allmählich auf sie über in dieser Fröhlichkeit, die sie umgab. Dieses hüpfende und schreiende Völkchen steckte sie an mit seinem Fieber. Mit rosigen Wangen und funkelnden Augen lehnte sie zunächst ab. »Nein danke, gar nichts.« Da er nicht nachließ, sagte sie dann, weil sie von Unruhe erfaßt war und ihn loswerden wollte: »Nun gut! Eine Tasse Tee.« Er eilte davon, brachte die Tasse. Seine Hände zitterten, als er sie ihr reichte. Und während sie trank, näherte er sich ihr, die Lippen geschwellt und zitternd von dem 143
Geständnis, das aus seinem Herzen emporstieg. Da wich sie zurück, hielt ihm die leere Tasse hin und entfloh, während er die Tasse auf einen Anrichtetisch stellte, und ließ ihn im Eßzimmer mit Fräulein Aurélie allein, die langsam kaute und die Teller planmäßig untersuchte. Das Klavier spielte sehr laut im Hintergrund des Salons. Und von einem Ende zum anderen wogte der Ball in köstlicher Possierlichkeit. Man bildete einen Kreis um die Quadrille, in der Jeanne und Lucien tanzten. Der kleine Marquis brachte die Figuren ein wenig durcheinander; es ging nur gut, wenn er Jeanne anfassen mußte; dann nahm er sie mitten um den Leib und drehte sich mit ihr. Jeanne wiegte sich wie eine Dame und war ärgerlich, daß er ihr Kostüm zerknitterte; von der Freude mitgerissen, ergriff sie ihn dann auch, hob ihn vom Boden hoch. Und der Frack aus weißem, mit Sträußen durchwirkten Atlas vereinigte sich mit dem mit seltsamen Blumen und Vögeln bestickten Kleid, die beiden Figürchen aus Altmeißener Porzellan nahmen die Anmut und die Fremdartigkeit einer Nippfigur an. Nach der Quadrille rief Hélène Jeanne, um ihr Kleid wieder festzustecken. »Das ist seine Schuld, Mama«, sagte die Kleine. »Er reibt sich an mir, er ist unerträglich.« Rings im Salon lächelten die Eltern. Als das Klavier wieder einsetzte, fingen alle Kinder von neuem an zu hüpfen. Sie wurden jedoch mißtrauisch, als sie sahen, daß man ihnen zuschaute; sie blieben ernst und mäßigten sich beim Hopsen, um so zu wirken, wie sich's gehört. Einige konnten tanzen; die meisten bewegten sich, da sie die Figuren nicht kannten, auf der Stelle und wußten nicht, wohin mit ihren Gliedern. Aber Pauline kam ihnen zu Hilfe. 144
»Ich muß mich darum kümmern ... Oh, die Dummköpfe!« Sie warf sich mitten in die Quadrille, nahm zwei von den Kleinen an den Händen, den einen links, den anderen rechts, und gab dem Tanz einen solchen Schwung, daß die Parkettbrettchen krachten. Man hörte nur noch das heillose Durcheinander der Füßchen, die zur falschen Zeit mit den Absätzen auftappten, während das Klavier ganz allein weiter im Takt spielte. Andere Erwachsene mischten sich auch darein. Als Frau Deberle und Hélène verschämte Mädelchen erblickten, die sich nicht trauten, nahmen sie sie in das dichteste Gedränge mit. Sie führten die Figuren an, schoben die Kavaliere vorwärts, bildeten die Reigen; und die Mütter gaben ihnen die kleinsten Knirpse herüber, damit sie sie einen Augenblick hüpfen ließen, sie dabei an beiden Händen haltend. Jetzt hatte der Ball seinen Höhepunkt erreicht. Die Tanzenden amüsierten sich großartig, sie lachten und stießen sich gleich Pensionatsschülern, die plötzlich von freudiger Tollheit ergriffen werden, weil der Vorsteher nicht da ist. Und nichts war von hellerer Fröhlichkeit als dieser Kinderkarneval, diese winzigen Damen und Herren, die dort in einer verkleinerten Welt die Moden aller Völker, die Phantasien des Romans und des Theaters miteinander vermischten. Die rosigen Münder und die blauen Augen, diese so zarten Gesichter verliehen den Kostümen eine kindliche Frische, man hätte meinen können, das sei das große Fest aus einem Märchen mit verkleideten Liebesgöttern zur Verlobung irgendeines Zauberprinzen. »Man erstickt ja«, sagte Malignon. »Ich gehe frische Luft schöpfen.« Er ging hinaus und machte die Salontür dabei ganz weit auf. Das volle Tageslicht der Straße drang jetzt mit 145
einem plötzlichen fahlen Schein herein, der den Glanz der Lampen und der Kerzen trübte. Und alle Viertelstunden riß Malignon die Tür auf. Doch das Klavier hörte nicht auf zu spielen. Die kleine Guiraud mit dem schwarzen Schmetterling einer Elsässerin auf ihrem blonden Haar tanzte am Arm eines Harlekins, der zweimal so groß war wie sie. Ein Schotte wirbelte Marguerite Tissot so schnell herum, daß sie unterwegs ihr Milchtöpfchen verlor. Die beiden Berthiers, Blanche und Sophie, die unzertrennlich waren, sprangen zusammen herum, das Kammerkätzchen am Arm der Torheit, deren Schellen läuteten. Und man konnte keinen Blick auf die tanzende Gesellschaft werfen, ohne ein Fräulein Levasseur zu sehen; die Rotkäppchen schienen sich zu vermehren; überall gab es Häubchen und Kleider aus hochrotem Atlas mit schwarzen Samtbändern. Indessen hatten sich große Jungen und Mädchen, um bequem tanzen zu können, in den Hintergrund des anderen Salons geflüchtet. In die Mantille einer Spanierin gehüllt, vollführte Valentine de Chermette dort kunstvolle Schritte vor einem jungen Herrn, der einen Frack trug. Auf einmal gab es Gelächter, man rief die Leute herbei, damit sie sich das ansahen: in einem Winkel hinter einer Tür den kleinen Guiraud, den zweijährigen Pierrot, und ein kleines, als Bäuerin verkleidetes Mädchen seines Alters, die sich umarmt hielten, sich fest aneinanderdrückten, weil sie Angst hatten hinzufallen, und sich wie Heimlichtuer Wange an Wange ganz allein drehten. »Ich kann nicht mehr«, sagte Hélène und lehnte sich an die Tür des Eßzimmers. Sie fächelte sich Kühlung zu, war rot, weil sie selber umhergesprungen war. Ihre Brust hob sich unter der 146
durchsichtigen Seide ihres Mieders. Und auf ihren Schultern spürte sie abermals den Atem Henris, der noch immer hinter ihr stand. Da begriff sie, daß er sprechen würde; aber sie hatte nicht mehr die Kraft, sich seinem Geständnis zu entziehen. Er kam näher, er sagte ihr sehr leise ins Haar: »Ich liebe Sie! Oh, ich liebe Sie!« Es war gleichsam ein glühender Hauch, der sie von Kopf bis Fuß versengte. Mein Gott! Er hatte gesprochen, sie würde den so süßen Frieden der Unwissenheit nicht mehr vortäuschen können. Sie verbarg ihr purpurrot gewordenes Gesicht hinter ihrem Fächer. Im Überschwang der letzten Quadrillen tappten die Kinder stärker mit den Absätzen auf. Silberhelles Lachen erklang, Vogelstimmen stießen unwillkürlich leichte Freudenrufe aus. Eine Frische stieg auf von diesem Reigen unschuldiger Kindlein, die losgelassen waren in einem Galopp kleiner Dämonen. »Ich liebe Sie, oh, ich liebe Sie!« wiederholte Henri. Sie erschauerte von neuem, sie wollte nicht mehr hören. Kopflos flüchtete sie ins Eßzimmer. Aber dieser Raum war leer; nur Herr Letellier schlief friedlich auf einem Stuhl. Henri war ihr gefolgt. Er wagte es, auf die Gefahr eines Skandals hin, ihre Handgelenke zu fassen, mit einem von der Leidenschaft so verstörten Gesicht, daß sie davor zitterte. Er wiederholte immer wieder: »Ich liebe Sie ... ich liebe Sie ...« »Lassen Sie mich«, murmelte sie schwach, »lassen Sie mich, Sie sind toll ...« Und dieses Tanzen nebenan, das mit dem heillosen Durcheinander der Füßchen weiterging. Man hörte die Schellen von Blanche Berthier, die die gedämpften Klän147
ge des Klaviers begleiteten. Frau Deberle und Pauline klatschten in die Hände, um den Takt anzugeben. Es war eine Polka. Hélène konnte Jeanne und Lucien sehen, die, einander umfassend, lächelnd vorübertanzten. Da machte sie sich mit einem jähen Ruck los, rettete sich in einen angrenzenden Raum, eine Geschirrkammer, in die das volle Tageslicht hereinfiel. Diese plötzliche Helligkeit blendete sie. Sie bekam Angst, sie war außerstande, mit dieser Leidenschaft, die man ihr vom Gesicht ablesen mußte, in den Salon zurückzukehren. Und sie ging durch den Garten und stieg, um sich wieder zu fassen, in ihre Wohnung hinauf, verfolgt vom tanzenden Lärmen des Balles.
Kapitel V Oben in ihrem Zimmer, in dieser klösterlich abgeschiedenen süßen Ruhe, die sie wieder vorfand, meinte Hélène zu ersticken. Sie wunderte sich über dieses Zimmer, das so ruhig, so wohlverschlossen, so verschlafen war unter den Wandbespannungen aus blauem Samt, während sie den kurzen und glühenden Atem der Erregung, die sie bewegte, dort hineinbrachte. War das ihr Zimmer, dieser tote Einsamkeitswinkel, darin sie nicht genug Luft bekam? Da öffnete sie ungestüm ein Fenster und schaute hinaus auf Paris. Der Regen hatte aufgehört, die Wolken zogen davon gleich einer ungeheuren Herde, deren in Unordnung geratener Zug in den Nebeln des Horizontes versank. Eine blaue Lücke war über der Stadt entstanden und verbreiterte sich langsam. Doch Hélène, deren Ellbogen auf der Brüstung zitterten und die noch außer Atem war, 148
weil sie zu rasch hinaufgestiegen war, sah nichts, hörte nur, wie ihr Herz mit starkem Pochen gegen ihren wogenden Busen schlug. Sie holte tief Atem, es schien ihr, als habe das unermeßliche Tal mit seinem Fluß, seinen zwei Millionen Menschen, seiner riesigen Stadt, seinen fernen Hügeln nicht genug Luft, um ihr die Regelmäßigkeit und den Frieden ihres Atems wiederzugeben. Ein paar Minuten lang blieb sie fassungslos dort stehen in dieser Krise, die sie völlig gefangenhielt. Es war in ihr gleichsam ein starkes Rauschen von Gefühlen und verworrenen Gedanken, dessen Raunen sie daran hinderte, sich selber zu hören und sich zu begreifen. Ihre Ohren sausten, ihre Augen sahen breite helle Flecken, die langsam dahinwanderten. Sie überraschte sich dabei, wie sie ihre Hände aufmerksam musterte; sie trug noch ihre Handschuhe und erinnerte sich plötzlich, daß sie vergessen hatte, einen Knopf am linken Handschuh wieder anzunähen. Dann sprach sie laut, wiederholte sie mehrere Male mit immer leiser werdender Stimme: »Ich liebe Sie ... Ich liebe Sie ... Mein Gott, ich liebe Sie ...« Und mit einer unwillkürlichen Bewegung legte sie das Gesicht in ihre gefalteten Hände und drückte die Finger auf die geschlossenen Lider, wie um die Nacht zu vertiefen, in die sie hinabtauchte. Es überkam sie ein Wille, ins Nichts zu versinken, nicht mehr zu sehen, allein zu sein auf dem Grunde der Finsternis. Ihr Atem wurde ruhiger. Paris sandte ihr seinen mächtigen Odem ins Gesicht; sie fühlte, daß Paris da war, wenn sie es auch nicht sehen wollte, und war dennoch von Angst erfaßt bei dem Gedanken, vom Fenster wegzugehen, nicht mehr diese Stadt unter sich zu haben, deren Unendlichkeit sie beruhigte.
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Bald vergaß sie alles. Die Szene des Geständnisses erstand gegen ihren Willen wieder. Auf tintenschwarzem Grund tauchte Henri mit seltsamer Deutlichkeit auf, so lebendig, daß sie das kleine nervöse Zucken seiner Lippen erkennen konnte. Er kam näher, er neigte sich vor. Da warf sie sich wie von Sinnen zurück. Aber trotzdem spürte sie, wie ein Brennen ihre Schultern streifte, hörte sie eine Stimme: »Ich liebe Sie ... Ich liebe Sie ...« Als sie dann mit äußerster Anstrengung die Erscheinung verjagt hatte, sah sie, wie sie sich weiter entfernt wieder formte, langsam größer wurde: und wiederum war es Henri, der sie ins Eßzimmer verfolgte mit denselben Worten: »Ich liebe Sie ... ich liebe Sie ...«, deren Wiederholung in ihr die anhaltende Klangfülle einer Glocke annahm. Sie hörte nur noch diese Worte, die mit vollem Schwung in ihren Gliedern nachzitterten. Das sprengte ihr die Brust. Sie wollte jedoch nachdenken, sie bemühte sich abermals, Henris Bild zu entkommen. Er hatte gesprochen, niemals würde sie es wagen, ihn von Angesicht zu Angesicht wiederzusehen. Seine Mannesroheit hatte soeben beider zärtliche Liebe zuschanden gemacht. Und sie beschwor die Stunden herauf, da er sie liebte, ohne die Grausamkeit zu haben, es zu sagen, jene Stunden, die sie hinten im Garten in der erhabenen Heiterkeit des erwachenden Frühlings verbracht hatten. Mein Gott! Er hatte gesprochen! Dieser Gedanke setzte sich in ihrem Kopf fest, wurde so groß und so schwer, daß ein Blitzschlag, der Paris vor ihr zerstört hätte, ihr nicht ebenso bedeutungsvoll erschienen wäre. Es war in ihrem Herzen ein Gefühl entrüsteter Auflehnung, stolzen Zornes, gemischt mit einer dumpfen und unbesiegbaren Wollust, die aus ihrem Innersten aufstieg und sie berauschte. Er hatte gesprochen, und er sprach noch immer, er tauchte 150
hartnäckig vor ihr auf mit jenen brennenden Worten: »Ich liebe Sie ... ich liebe Sie ...«, die ihr ganzes vergangenes Leben als Gattin und Mutter auslöschten. Jedoch war sie sich bei diesem Heraufbeschwören der ausgedehnten weiten Flächen bewußt, die sich hinter der Nacht, mit der sie sich blind machte, unter ihr entrollten. Eine laute Stimme klang herauf, lebendige Wellen breiteten sich aus und hüllten sie ein. Die Geräusche, die Gerüche, ja selbst die Helle schlugen ihr ins Gesicht, obwohl sie nervös die Hände davorpreßte. Für Augenblicke schienen jähe Lichtschimmer durch ihre geschlossenen Lider zu dringen; und in diesen Lichtschimmern glaubte sie zu sehen, wie sich die Denkmäler, die Turmspitzen und die Kuppeln vom matten Licht des Traumes abhoben. Da nahm sie die Hände fort, schlug die Augen auf und war geblendet. Der Himmel höhlte sich, Henri war verschwunden. Man erblickte ganz im Hintergrund nur noch einen Balken von Wolken, die sich auftürmten wie übereinandergestürzte Kreidefelsen. Nun zogen in der reinen, tiefblauen Luft nur leichte weiße Wolkenschwärme vorüber, langsam dahinschwimmend wie Flottillen, deren Segel der Wind blähte. Im Norden lag über dem Montmartre ein Geflecht von äußerster Feinheit, wie ein Netz aus matter Seide, das dort in einem Winkel des Himmels für irgendeinen Fischfang in diesem ruhigen Meer ausgespannt war. Doch im Westen konnte Hélène in Richtung der Höhen von Meudon nichts sehen, dort mußte ein Ausläufer des Regengusses noch die Sonne ertränken, denn Paris blieb unter dem lichten Strich düster und feucht, ausgelöscht im Dunst der trocknenden Dächer. Es war eine Stadt in einförmigem Farbton, im bläulichen Grau des Schiefers, auf dem die Bäume schwarze Fle151
cken bildeten, sehr deutlich jedoch mit den scharfen Kanten und den Tausenden von Fenstern der Häuser. Die Seine hatte den matten Glanz eines alten Silberbarrens. Die Baudenkmäler auf beiden Ufern schienen mit Ruß übertüncht zu sein; der wie von Rost zerfressene Turm Saint- Jacques reckte seinen Museumsplunder empor, während das Panthéon über dem verdüsterten Stadtviertel, das es überragte, den Umriß eines riesigen Katafalks annahm. Allein der Invalidendom bewahrte das Schimmern in seinen Vergoldungen; und man hätte meinen können, es seien am hellen Tage angezündete Lampen von träumerischer Schwermut inmitten der dämmerigen Trauer, die die Stadt verhüllte. Die Flächen fehlten. Von einer Wolke verschleiert, hob sich Paris schwarz auf dem Horizont ab, gleich einer riesigen und zarten, unter dem klaren Himmel sehr kräftigen Kohlezeichnung. Angesichts dieser düsteren Stadt sann Hélène darüber nach, daß sie Henri nicht kannte. Sie war sehr stark, jetzt da sein Bild sie nicht mehr verfolgte. Eine Empörung trieb sie dazu, diese Besessenheit zu leugnen, die sie in wenigen Wochen mit diesem Manne erfüllt hatte. Nein, sie kannte ihn nicht. Alles an ihm war ihr unbekannt, seine Handlungen, seine Gedanken; sie hätte nicht einmal sagen können, ob er sehr intelligent sei. Vielleicht fehlte es ihm mehr noch an Herz als an Geist. Und sie erschöpfte so alle Vermutungen, ließ ihr Herz vor Bitterkeit schwer werden, die sie auf dem Grunde jeder Vermutung fand, stieß sich immer wieder an ihrer Unwissenheit, an dieser Mauer, die sie von Henri trennte und die sie daran hinderte, ihn zu kennen. Sie wußte nichts, sie würde niemals irgend etwas wissen. Sie stellte ihn sich nur noch rücksichtslos vor, wie er ihr Flammenworte zuflüsterte, ihr die einzige Verwirrung brachte, die das bis zu dieser 152
Stunde glückliche Gleichgewicht ihres Lebens zerstört hatte. Woher kam er denn, daß er sie dermaßen untröstlich machte? Auf einmal fiel ihr ein, daß sie noch vor sechs Wochen nicht für ihn vorhanden war, und dieser Gedanke war ihr unerträglich. Mein Gott! Nicht dazusein füreinander, vorüberzugehen, ohne sich zu sehen, sich vielleicht gar nicht zu begegnen! Sie hatte verzweifelt die Hände gefaltet, Tränen netzten ihre Augen. Da blickte Hélène starr auf die Türme von Notre- Dame in weiter Ferne. Ein Strahl, der zwischen zwei Wolken herabschoß, vergoldete sie. Sie hatte einen schweren Kopf, gleichsam zu voll von den stürmischen Gedanken, die sich darin stießen. Es war eine Qual, sie hätte sich gern für Paris interessiert, ihre Heiterkeit wiedergefunden und ihre gewohnten ruhigen Blicke über das Meer der Dächer schweifen lassen. Wie oft hatte zur gleichen Stunde das Unbekannte der großen Stadt sie in der Stille eines schönen Abends in einen rührseligen Traum gewiegt! Unterdessen erhellte sich Paris vor ihr durch einzelne Sonnenstrahlen. Dem ersten Strahl, der auf NotreDame gefallen war, waren andere gefolgt, die die Stadt trafen. Das Gestirn ließ bei seinem Untergang die Wolken auseinanderkrachen. Da dehnten sich die Stadtviertel in einem Kunterbunt von Schatten und Lichtern. Einen Augenblick war das ganze linke Ufer bleigrau, während runde Lichtschimmer Tigerflecke auf das rechte Ufer setzten, das am Rand des Flusses wie ein riesenhaftes Fell entrollt war. Dann wechselten die Formen und änderten ihren Platz, dem Winde preisgegeben, der die Wolken davontrug. Über dem Goldton der Dächer segelten schwarze Tücher alle in derselben Richtung mit demselben sanften und stillen Gleiten. Es waren ungeheuer große dabei, die mit der majestätischen Haltung eines 153
Admiralschiffes dahinschwammen, umringt von kleineren Schiffen, die die Symmetrie eines Geschwaders in Schlachtordnung wahrten. Ein ungeheuer, langgestreckter Schatten, der einen Krokodilsrachen aufriß, versperrte einen Augenblick Paris, das er anscheinend verschlingen wollte. Und als er sich hinten am Horizont verloren hatte, zur Größe eines Regenwurms zusammengeschrumpft, fiel ein Strahl, dessen Lichtpfeile wie Regen aus dem Riß einer Wolke hervorsprühten, in das leere Loch, das er zurückließ. Man sah seinen Goldstaub wie feinen Sand dahineilen, sich zu einem unermeßlichen Kegel erweitern, ohne Unterlaß auf das Viertel um die ChampsElysées herabregnen, das er mit tanzender Helligkeit bespritzte. Lange währte dieser Funkenplatzregen mit seinem anhaltenden Raketenstieben. Nun ja! Die Leidenschaft war schicksalhaft, Hélène wehrte sich nicht mehr. Sie fühlte sich am Ende mit ihrer Kraft gegen ihr Herz. Henri mochte sie nehmen, sie gab sich hin. Jetzt genoß sie ein unendliches Glück dabei, nicht mehr zu kämpfen. Warum sollte sie sich denn noch länger versagen? Hatte sie nicht genug gewartet? Die Erinnerung an ihr vergangenes Leben schwellte sie mit Verachtung und Heftigkeit. Wie hatte sie leben können in dieser Kälte, auf die sie einst so stolz gewesen? Sie sah sich wieder als junges Mädchen in Marseille in der Rue des Petites-Maries, in jener Straße, in der sie immer vor Kälte gezittert hatte; sie sah sich wieder als Braut, zu Eis erstarrt an der Seite jenes großen Kindes, das ihre nackten Füße küßte, während sie sich tief in ihre Sorgen einer guten Hausfrau flüchtete; sie sah sich wieder zu allen Stunden ihres Daseins, mit demselben Schritt demselben Wege folgend, ohne eine Erregung, die ihre Ruhe gestört hätte; und diese Einförmigkeit, dieser Schlaf, den die 154
Liebe, den sie geschlafen hatte, brachte sie jetzt auf. Wenn sie bedachte, daß sie sich glücklich geglaubt hatte, dreißig Jahre lang so geradeaus zu gehen mit stummem Herzen, während sie, und die Leere ihres Daseins zu füllen, nichts hatte als ihren Stolz als ehrbare Frau! Ach! Was für ein Schwindel, diese Strenge, diese Bedenken, das Rechte zu tun, die sie in die unfruchtbaren Genüsse der Betschwestern einschlossen! Nein, nein, es war genug, sie wollte leben! Und eine schreckliche Verhöhnung ihrer Vernunft überkam sie. Ihre Vernunft! Wirklich, sie tat ihr leid, diese Vernunft, die ihr in einem schon langen Leben insgesamt nicht soviel Freude gebracht hatte, wie sie Freude seit einer Stunde genoß. Sie hatte den Sündenfall geleugnet, sie hatte in schwachsinniger Prahlerei geglaubt, daß sie so bis ans Ende gehen würde, ohne daß ihr Fuß auch nur an einen Stein stoße. Nun denn! Heute erheischte sie den Sündenfall, hätte sie ihn am liebsten unmittelbar und tief gewünscht. Ihr ganzes Aufbegehren mündete in dieses gebieterische Verlangen ein. Oh! Vergehen in einer Umarmung, in einer Minute alles erleben, was sie nicht erlebt hatte! Indessen weinte in ihr eine große Traurigkeit. Es war eine innere Beklemmung, mit einem Gefühl der Leere und Dunkelheit. Da verteidigte sie sich. War sie nicht frei? Wenn sie Henri liebte, betrog sie niemanden, verfügte sie, wie es ihr gefiel, über ihre Liebe. Und dann, entschuldigte nicht alles sie? Was war ihr Leben seit fast zwei Jahren? Sie begriff, daß alles sie weich gemacht und vorbereitet hatte für die Leidenschaft; ihre Witwenschaft, ihre unumschränkte Freiheit, ihre Einsamkeit. Die Leidenschaft mußte in ihr schwelen während der langen Abende, die sie zwischen ihren beiden alten Freunden, dem Abbé und seinem Bruder, verbracht hatte, diesen 155
schlichten Menschen, deren heitere Ruhe sie einwiegte; sie schwelte in ihr, wenn sie sich so eng einschloß, außerhalb der Welt, angesichts von Paris, das am Horizont grollte; sie schwelte in ihr jedesmal, wenn sie sich auf dieses Fenster gestützt hatte, von einer dieser Träumereien befallen, die sie früher nicht kannte und die sie nach und nach so kraftlos machten. Und eine Erinnerung kam ihr, die Erinnerung an jenen hellen Frühlingsmorgen mit der Stadt, die weiß und klar war wie unter Kristall, einem ganz kindheitsblonden Paris, das sie so träge betrachtet hatte, ausgestreckt auf ihrer Chaiselongue, ein Buch auf ihren Knien. An jenem Morgen erwachte die Liebe, ein Schauer kam, den sie nicht zu benennen wußte und gegen den sie sich recht stark wähnte. Heute stand sie an derselben Stelle, aber die siegreiche Leidenschaft verzehrte sie, während vor ihr eine sinkende Sonne die Stadt in Brand setzte. Es schien ihr, als habe ein Tag genügt, als sei dies der purpurne Abend jenes klaren Morgens, und sie glaubte zu fühlen, wie alle diese Flammen in ihrem Herzen brannten. Aber der Himmel hatte sich verwandelt. Die Sonne, die sich gegen die Höhen von Meudon hin niedersenkte, hatte soeben die letzten Wolken vertrieben und glänzte auf. Ein Glorienschein entflammte das Himmelsblau. Am Hintergrund des Horizontes türmten die übereinandergestürzten Kreidefelsen, die die Fernen von Charenton und von Choisy-le-Roy, versperrten, karminrote, mit grellem Lack eingefaßte Blöcke auf; die langsam über Paris im Blau dahinschwimmende Wölkchenflottille bedeckte sich mit Purpursegeln, während das feine Geflecht, das Netz aus weißer Seide, das über den Montmartre ausgespannt war, plötzlich aus goldener Schnur zu bestehen schien, deren regelmäßige Maschen gleich die aufgehenden 156
Sterne fangen würden. Und unter diesem umgluteten Gewölbe dehnte sich die ganz gelbe, von großen Schatten gestreifte Stadt. Unten auf dem weiten Platz längs der Avenuen kreuzten sich die Droschken und Omnibusse inmitten eines orangefarbenen Staubs in der Menge der Fußgänger, deren schwarzes Ameisengewimmel erblondete und sich mit Lichttropfen erhellte. Die Zöglinge eines Priesterseminars, die in eingeschlossenen Reihen den Quai de Billy hinuntergingen, brachten den ockerfarbenen Schweif ihrer Soutanen in diese matte Helligkeit. Dann verloren sich die Fahrzeuge und die Fußgänger, man ahnte nur noch ganz in der Ferne auf irgendeiner Brücke eine Reihe von Kutschen, deren Laternen funkelten. Links ließen die hohen, geraden und rosigen Schornsteine der Militärbäckerei dichte Wirbel feinen Rauches von zarter fleischfarbener Tönung aufsteigen, während auf der anderen Seite des Flusses die schönen Ulmen des Quai d'Orsay eine düstere, von plötzlich aufblitzenden Sonnenstrahlen durchbohrte Masse bildeten. Die Seine wälzte zwischen ihren Ufern, die die schrägen Strahlen der ganzen Länge nach bestrichen, tanzende Wellen dahin, in denen Blau, Gelb und Grün sich in bunter Streuung brachen; doch stromaufwärts nahm dieses Farbengekleckse eines orientalischen Meeres einen immer blendender werdenden Goldton an; und man hätte die Seine für einen Goldbarren halten können, der am Horizont aus irgendeinem unsichtbaren Schmelztiegel hervorgekommen war und sich in dem Maße, wie er erkaltete, mit einer Unstetigkeit greller Farben ausdehnte. Auf diesen gleißenden Strom warfen die gestaffelten Brücken, deren leichte Bögen immer dünner wurden, graue Balken, die sich in einem lichterloh brennenden Häuserhaufen verloren, auf dessen Gipfel die beiden 157
Türme von Notre-Dame wie Fackeln rötlich loderten. Rechts und links flammten die Baudenkmäler. Die Glasfenster des Palais de l'Industrie breiteten inmitten der Hochwälder der Champs-Elysées ein Bett glühender Scheite aus; weiter entfernt schien hinter dem plattgedrückten Dach der Madeleine-Kirche die ungeheure Masse der Oper ein Block aus Kupfer zu sein; und die anderen Gebäude, die Kuppeln und die Türme, die Vendôme-Säule, die Kirche Saint-Vincent-de-Paul, der Turm Saint- Jacques, etwas näher die Pavillons des neuen Louvre und der Tuilerien bekränzten sich mit Flammen und errichteten an jeder Straßenkreuzung riesige Scheiterhaufen. Der Invalidendom stand in Feuer und funkelte so stark, daß man in jeder Minute fürchten konnte, man werde ihn einstürzen sehen, das Stadtviertel mit den Funken eines Gebälks zudeckend. Jenseits der ungleichen Türme der Kirche Saint-Sulpice hob sich das Panthéon mit mattem Glanz vom Himmel ab, gleich einem Königspalast der Feuersbrunst, der sich in Glut verzehren würde. Ganz Paris entzündete sich jetzt, je tiefer die Sonne sank, an den Scheiterhaufen der Baudenkmäler. Lichter liefen über die Dachfirste, während in den Tälern schwarze Rauchschwaden schliefen. Alle dem Trocadéro zugewandten Fassaden färbten sich rot und schleuderten das Glitzern ihrer Fensterscheiben, einen Funkenregen, der von der Stadt aufstieg, als habe irgendein Blasebalg diese riesige Schmiede unaufhörlich in Tätigkeit gesetzt. Immer wieder neu erstehende Garben entsprangen den Nachbarvierteln, in denen sich die Straßen düster und ausgebrannt höhlten. Selbst in den Fernen der Ebene leuchteten aus der Tiefe fahlroter Asche, die die zerstörten und noch heißen Vorstädte unter sich begrub, verlorene Raketen auf, die aus irgendeinem plötzlich wieder158
belebten Herd hervorschossen. Bald war es ein Feuerofen. Paris brannte. Der Himmel hatte sich mit noch mehr Purpur überzogen, die Wolken bluteten über der unermeßlichen roten und goldenen Stadt. Gebadet von diesen Flammen, sich der Leidenschaft hingebend, die sie verzehrte, schaute Hélène zu, wie Paris flammte; da legte sich eine kleine Hand auf ihre Schulter und ließ sie zusammenzucken. Es war Jeanne. »Mama! Mama!« rief sie. Und als sich Hélène um gewandt hatte, redete die Kleine weiter: »Ach! Das ist ja gut! – Hörst du denn nicht? Zehnmal rufe ich dich schon.« Die Kleine, die noch immer als Japanerin verkleidet war, hatte leuchtende Augen und vor Freude rosige Wangen. Sie ließ ihrer Mutter keine Zeit zu antworten. »Du hast mich schön im Stich gelassen ... Weißt du, man hat dich zuletzt überall gesucht. Wenn mich Pauline nicht bis unten an die Treppe begleitet hätte, würde ich nicht gewagt haben, über die Straße zu gehen.« Und mit einer niedlichen Bewegung näherte sie ihr Gesicht den Lippen ihrer Mutter und fragte ohne Übergang: »Hast du mich lieb?« Hélène küßte sie, doch zerstreut. Sie war überrascht, fast ungehalten, daß sie ihre Tochter so schnell wiederkommen sah. War es wirklich schon eine Stunde her, seit sie dem Ball entflohen? Und um auf die Fragen des Kindes zu antworten, das sich Sorgen machte, sagte sie, sie habe sich tatsächlich ein wenig unwohl gefühlt, die Luft tue ihr gut. Sie brauche etwas Ruhe. »Oh, hab keine Angst, ich bin zu müde«, murmelte Jeanne. »Ich werde ganz brav hierbleiben ... Aber, meine liebe gute Mutter, ich darf doch erzählen, nicht wahr?« Sie setzte sich neben Hélène und schmiegte sich an sie, glücklich, daß man sie nicht sofort auszog. Ihr purpurge159
sticktes Kleid, ihr Rock aus grünlicher Seide entzückten sie; und sie schüttelte ihren feinen Kopf, um die Gehänge an den langen Nadeln, die in ihrem Haarknoten steckten, klappern zu hören. Ein Schwall hastiger Worte kam jetzt über ihre Lippen. Sie hatte mit ihrer einfältigen Miene, als verstehe sie nichts, alles beobachtet, alles gehört und alles behalten. Jetzt entschädigte sie sich dafür, daß sie artig gewesen war, den Mund gehalten und gleichgültige Augen gemacht hatte. »Weißt du, Mama, es war ein alter Mann mit grauem Bart, der den Hanswurst bewegte. Ich habe ihn deutlich gesehen, als der Vorhang auseinandergegangen ist ... Der kleine Guiraud hat geweint. Ach, ist der dumm! Dann hat man ihm gesagt, der Polizist würde kommen und ihm Wasser in seine Suppe tun, und man hat ihn wegtragen müssen, so sehr schrie er ... Genauso war es bei der Kaffeetafel, Marguerite hat sich ihr Milchmädchenkostüm ganz mit Eingemachtem bekleckert. Ihre Mama hat sie abgewischt und dabei geschrien: ›Oh, du Schmutzfink!‹ Marguerite hat sich sogar die Haare damit vollgeschmiert ... Ich habe nichts gesagt, aber es hat mir einen Heidenspaß gemacht, wie sie alle über die Kuchen hergefallen sind. Sie sind schlecht erzogen, nicht wahr, meine liebe gute Mütter?« In eine Erinnerung versunken, unterbrach sie sich einige Sekunden; dann fragte sie mit nachdenklicher Miene: »Sag mal, Mama, hast du von den gelben Kuchen mit der weißen Sahne drin gegessen? Oh! Das schmeckte gut! Das schmeckte gut! – Ich habe die ganze Zeit den Teller neben mir behalten.« Hélène hörte nicht auf dieses kindliche Geschwätz. Jeanne redete aber, um sich Erleichterung zu verschaffen, sie hatte den Kopf zu voll. Sie legte wieder los mit einer ungewöhnlichen Fülle von Einzelheiten über den 160
Ball. Die geringsten kleinen Begebenheiten nahmen eine ungeheure Wichtigkeit an. »Du hast es gar nicht gemerkt, als es anfing, da ist doch mein Gürtel aufgegangen. Eine Dame, die ich nicht kenne, hat mir eine Nadel angesteckt. Ich habe zu ihr gesagt: ›Ich danke Ihnen schön, Madame.‹ Dann hat sich Lucien beim Tanzen gestochen. Er hat mich gefragt: ›Was hast du denn da vorn, was so sticht?‹ Ich wußte es nicht mehr, ich habe ihm geantwortet, daß ich nichts habe. Pauline hat bei mir nachgesehen und die Nadel wieder zurechtgesteckt ... Nein! Du hast ja keine Vorstellung! Man hat sich herumgestoßen, ein großer dummer Junge hat Sophie einen Schubs in den Hintern gegeben, daß sie beinahe gefallen wäre. Die Fräulein Levasseur sprangen mit geschlossenen Füßen. So tanzt man doch bestimmt nicht ... Aber das Schönste, siehst du, das war der Schluß. Du warst nicht mehr da, du kannst es nicht wissen. Man hat sich bei den Armen gefaßt und sich im Kreise gedreht; es war zum Totlachen. Ein paar erwachsene Herren haben sich auch mitgedreht. Wirklich, ich schwindele nicht! – Warum willst du mir nicht glauben, meine liebe gute Mutter?« Hélènes Schweigen ärgerte sie schließlich. Sie schmiegte sich noch fester an sie, schüttelte ihre Hand. Als sie dann sah, daß sie nur kurze Worte aus ihr herausbrachte, verstummte sie nach und nach selber und glitt gleichfalls in Träumerei hinüber, dachte an diesen Ball, der ihr junges Herz erfüllte. Dann verweilten beide, Mutter und Tochter, stumm angesichts des in Brand gesetzten Paris. Es war ihnen noch unbekannter, so erleuchtet durch die blutenden Wolken, gleich irgendeiner sagenhaften Stadt, die für ihre Leidenschaft unter einem Feuerregen büßt. »Man hat im Kreise getanzt?« fragte plötzlich Hélène, als sei sie aus dem Schlafe hochgeschreckt. 161
»Ja, ja«, murmelte Jeanne, nun auch in Nachdenken versunken. »Und der Doktor? Hat er auch getanzt?« »Ich denke schon, er hat sich mit mir gedreht ... Er hat mich hochgehoben und mich gefragt: ›Wo ist denn deine Mama? Wo ist denn deine Mama?‹ Dann hat er mich geküßt.« Hélène lächelte unbewußt. Sie freute sich über seine Zärtlichkeiten. Was brauchte sie Henri zu kennen! Es schien ihr süßer, nichts von ihm zu wissen, niemals etwas von ihm zu wissen und ihn als den zu empfangen, auf den sie seit langem wartete. Warum hätte sie sich wundern und beunruhigen sollen? Zur bestimmten Stunde fand er sich auf ihrem Wege. Das war gut. Ihre offene Natur nahm alles hin. Ruhe senkte sich in sie hinab, hervorgegangen aus dem Gedanken, daß sie liebte und geliebt wurde. Und sie sagte sich, daß sie stark genug sein würde, ihr Glück nicht zuschanden zu machen. Inzwischen kam die Nacht, ein kalter Wind strich durch die Luft. Verträumt, schauerte Jeanne zusammen. Sie legte den Kopf an die Brust ihrer Mutter; und als hinge die Frage mit ihren tiefen Überlegungen zusammen, murmelte sie ein zweites Mal: »Hast du mich lieb?« Da nahm Hélène, immer noch lächelnd, Jeannes Kopf zwischen ihre beiden Hände und schien einen Augenblick auf ihrem Antlitz zu suchen. Dann drückte sie die Lippen lange auf eine Stelle neben ihrem Mund, oberhalb eines kleinen rosigen Zeichens. Dorthin, sie sah es deutlich, hatte Henri das Kind geküßt. Der düstere Kamm der Anhöhen von Meudon verdeckte bereits einen Teil der Sonnenscheibe. Über Paris waren die schrägen Sonnenstrahlen noch länger geworden. Der unmäßig vergrößerte Schatten des Invalidendomes er162
tränkte das ganze Viertel von Saint- Germain, während die Oper, der Turm Saint-Jacques, die Säule und die Turmspitzen schwarze Zebrastreifen auf dem rechten Ufer bildeten. Die Reihen der Fassaden, die Vertiefungen der Straßen, die erhöhten Inselchen der Dächer brannten mit dumpferer Kraft. In den finster gewordenen Fensterscheiben erstarb der entflammte Flitter, als seien die Häuser in Glut zusammengesunken. Ferne Glocken läuteten, Lärm rollte auf und legte sich wieder. Und der beim Nahen des Abends weiter gewordene Himmel rundete sein blaßviolettes, golden und purpurn geädertes Tuch über der rötlich glimmenden Stadt. Auf einmal gab es ein ungeheures Wiederaufflackern der Feuersbrunst. Paris schleuderte ein letztes Aufflammen, das sogar die entlegenen Vorstädte erhellte. Dann schien es, als falle graue Asche hernieder, und die Stadtviertel standen da, schwerelos und schwärzlich wie erloschene Kohlen.
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Dritter Teil Kapitel I An einem Morgen im Mai kam Rosalie aus ihrer Küche angelaufen, ohne das Wischtuch wegzulegen, das sie in der Hand hielt. Und mit der Vertraulichkeit eines verwöhnten Dienstmädchens rief sie: »Oh! Madame, kommen Sie schnell ... Der Herr Abbé ist unten im Garten des Doktors und gräbt eben die Erde um!« Hélène rührte sich nicht. Aber Jeanne war schon hingeeilt, um nachzusehen. Als sie zurückkam, rief sie: »Ist Rosalie aber dumm! Er grabt gar nicht die Erde um. Er steht bei dem Gärtner, der Pflanzen in ein Wägelchen legt ... Frau Deberle pflückt alle ihre Rosen ab ...« »Das muß wohl für die Kirche sein«, sagte Hélène ruhig, die gerade sehr beschäftigt mit einer Stickarbeit war. Einige Minuten später schlug die Klingel an, und Abbé Jouve erschien. Er kam, mitzuteilen, daß man am nächsten Dienstag nicht auf ihn rechnen solle. Seine Abende seien durch die Feierlichkeiten des Marienmonats in Anspruch genommen. Der Pfarrer habe ihn beauftragt, die Kirche zu schmücken. Es würde prächtig werden. Alle Damen schenkten ihm Blumen. Er erwarte noch zwei vier Meter hohe Palmen, um sie rechts und links vom Altar aufzustellen. »Oh, Mama ... Mama ...«, murmelte Jeanne, die zuhörte, aufs höchste verwundert. »Nun gut, wissen Sie was, mein Freund?« sagte Hélène lächelnd. »Da Sie nicht kommen können, werden wir 164
Sie besuchen ... Sie haben mit Ihren Sträußen Jeanne geradezu den Kopf verdreht.« Sie war nicht eben fromm, sie ging sogar niemals zur Messe, wobei sie die anfällige Gesundheit ihrer Tochter vorschützte, die immer fröstelnd aus der Kirche kam. Der alte Priester vermied es, über Religion zu ihr zu sprechen. Mit gutmütiger Duldsamkeit sagte er lediglich, daß die schönen Seelen durch ihre Sittsamkeit und ihre Barmherzigkeit ihr Heil ganz allein bewirken. Gott werde sie eines Tages wohl zu rühren wissen. Bis zum nächsten Abend dachte Jeanne nur an den Marienmonat. Sie fragte ihre Mutter aus, sie träumte von der mit weißen Rosen erfüllten Kirche mit Tausenden von Kerzen, himmlischen Stimmen, lieblichen Düften. Und sie wollte nahe beim Altar sein, um das Spitzenkleid der Muttergottes besser zu sehen, ein Kleid, das ein Vermögen wert sei, wie der Abbé sagte. Doch Hélène beruhigte sie, indem sie ihr drohte, sie nicht hinzuführen, wenn sie sich schon vorher krank mache. Endlich brachen sie am Abend nach dem Essen auf. Die Nächte waren noch kühl. Als sie in der Rue de l'Annonciation ankamen, wo sich die Kirche Notre- Damede-Grâce befindet, zitterte das Kind vor Kälte. »Die Kirche ist geheizt«, sagte seine Mutter. »Wir werden uns in die Nähe einer Heizung setzen.« Als sie die gepolsterte Tür aufgestoßen hatte, die weich zurückfiel, umfing sie beide wohlige Wärme, während grelles Licht und Gesänge erstrahlten. Die Andacht hatte begonnen. Als Hélène sah, daß das Mittelschiff schon besetzt war, wollte sie eines der Seitenschiffe abgehen. Aber sie konnte nur mit allergrößter Mühe näher an den Altar herankommen. Sie hielt Jeanne an der Hand, sie arbeitete sich geduldig vor; dann verzichtete sie dar165
auf, weiterzugehen, und nahm die ersten beiden freien Stühle, die sich fanden. Ein Pfeiler verdeckte ihnen die Hälfte des Chores. »Ich kann nichts sehen, Mama«, murmelte die Kleine ganz bekümmert. »Wir haben sehr schlechte Plätze.« Hélène hieß sie schweigen. Da fing Jeanne an zu schmollen. Sie sah vor sich nur den ungeheuren Rücken einer alten Dame. Als ihre Mutter sich umwandte, sah sie sie auf ihrem Stuhl stehen. »Willst du wohl runtersteigen!« sagte sie, ihre Stimme dämpfend. »Du bist unerträglich.« Doch Jeanne war starrköpfig. »Hör doch, da ist Frau Deberle ... Sie ist da drüben in der Mitte. Sie winkt uns.« Eine plötzliche Verärgerung veranlaßte die junge Frau zu einer ungehaltenen Gebärde. Sie rüttelte die Kleine, die sich nicht hinsetzen wollte. Seit dem Ball hatte sie es drei Tage lang vermieden, in das Haus des Doktors zurückzukehren, indem sie tausend Beschäftigungen vorschützte. »Mama«, fuhr Jeanne mit der Hartnäckigkeit von Kindern fort, »sie sieht dich an, sie grüßt dich.« Da mußte Hélène wohl die Augen hinwenden und grüßen. Die beiden Frauen tauschten ein Kopfnicken. Frau Deberle in einem feingestreiften, mit weißen Spitzen besetzten Seidenkleid saß in der Mitte des Kirchenschiffes, zwei Schritte vom Chor entfernt, wirkte sehr frisch, sehr auffallend. Sie hatte ihre Schwester Pauline mitgebracht, die lebhaft mit der Hand herumfuchtelte. Die Gesänge ertönten weiter, die breite Stimme der Menge rollte über eine absteigende Tonleiter, während sehr hohe Kinderstimmen hier und da den schleppenden und wiegenden Rhythmus des Chorals anstachelten. 166
»Sie meinen, daß du hinkommen sollst, das siehst du doch!« begann Jeanne triumphierend von neuem. »Das ist unnötig; wir sitzen hier vorzüglich.« »Oh! Mama, laß uns doch zu ihnen gehen! – Sie haben zwei Stühle für uns.« »Nein, steig runter, setz dich.« Da die Damen jedoch mit vielem Lächeln darauf bestanden, ohne sich auch nur im geringsten darum zu kümmern, daß sie leises Ärgernis erregten, sich im Gegenteil freuten, daß sich die Leute nach ihnen umwandten, mußte Hélène nachgeben. Sie schob die entzückte Jeanne vor sich her, sie versuchte, sich mit vor verhaltenem Zorn zitternden Händen einen Weg zu bahnen. Es war durchaus keine leichte Angelegenheit. Die frommen Frauen wollten nicht gestört werden, und offenen Mundes, ohne im Singen innezuhalten, musterten sie sie wütend von oben bis unten. So arbeitete sie sich fünf reichliche Minuten inmitten des Sturmes der stärker schnaubenden Stimmen weiter. Wenn sie nicht durchkommen konnte, betrachtete Jeanne all diese leeren und schwarzen Münder, und sie drängte sich an ihre Mutter. Endlich erreichten sie den vor dem Chor frei gelassenen Raum, und sie hatten nur noch ein paar Schritte zu tun. »Kommen Sie doch«, murmelte Frau Deberle. »Der Abbé hatte mir gesagt, Sie würden kommen, ich habe Ihnen zwei Stühle frei gehalten.« Hélène dankte, während sie sogleich in ihrem Meßbuch blätterte, um die Unterhaltung abzubrechen. Doch Juliette bewahrte die Anmut einer Dame von Welt; sie fühlte sich hier sehr wohl, war bezaubernd und geschwätzig wie in ihrem Salon. Daher beugte sie sich herüber und redete weiter: 167
»Sie lassen sich ja überhaupt nicht mehr sehen. Ich wäre morgen zu Ihnen gekommen ... Sie sind doch zumindest nicht krank gewesen?« »Nein, danke ... Allerlei Beschäftigungen.« »Hören Sie, Sie müssen morgen zum Abendessen kommen ... Ganz in der Familie, niemand außer uns ...« »Sie sind zu gütig, wir werden sehen.« Und sie schien sich zu sammeln und dem Choral zu folgen, entschlossen, nicht mehr zu antworten. Pauline hatte Jeanne neben sich genommen, um mit ihr die Heizöffnung zu teilen, auf der sie sanft schmorte, mit der seligen Wonne eines Mädchens, das leicht fröstelt. Im aufsteigenden warmen Hauch reckten sich beide neugierig und musterten alles aufmerksam, die niedrige, in getäfelte Paneele unterteilte Decke, die gedrungenen, durch Rundbögen, von denen Kronleuchter herabhingen, verbundenen Säulen, die Kanzel aus geschnitztem Eichenholz; und über die wogenden Köpfe hinweg, die die Dünung des Chorals bewegte, gingen sie bis in die düsteren Winkel der Seitenschiffe, zu den entlegenen Kapellen, deren Gold leuchtete, zur Taufkapelle, die ein Gitter neben der großen Tür abschloß. Doch sie kehrten immer wieder zum Glanz des Chores zurück, der in lebhaften Farben gemalt war und von Vergoldungen strahlte; ein über und über flammender kristallener Kronleuchter hing vom Gewölbe herab; ungeheure Armleuchter reihten stufenweise Kerzen nebeneinander, die mit einem Regen gleichmäßiger Sterne die finsteren Hintergründe der Kirche durchstachen und den Hauptaltar im Licht hervorhoben, der einem großen Strauß von Laub und Blüten glich. Oben hielt in einer reichen Ernte von Rosen eine in Atlas und Spitze gekleidete, mit Perlen bekränzte Mut-
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tergottes ein Jesuskind in langem Gewand auf ihrem Arm. »Na, ist dir warm?« fragte Pauline. »Das tut ordentlich gut.« Aber verzückt betrachtete Jeanne die Muttergottes inmitten der Blüten. Ein Schauer überlief sie. Sie bekam Angst, daß sie nicht mehr artig sei, und sie schlug die Augen nieder und trachtete ihre Aufmerksamkeit auf den schwarzweißen Fliesenfußboden zu lenken, um nicht zu weinen. Die dünnen Stimmen der Chorknaben legten ihr leichten Lufthauch ins Haar. Indessen wich Hélène, die das Gesicht über ihr Gebetbuch hielt, jedesmal beiseite, wenn sie spürte, daß Juliette sie mit ihren Spitzen streifte. Sie war überhaupt nicht auf diese Begegnung vorbereitet. Trotz ihres sich freiwillig auferlegten Schwurs, Henri keusch zu lieben, ohne ihm jemals zu gehören, empfand sie ein Unbehagen bei dem Gedanken, daß sie diese Frau betrog, die so vertrauensselig und so fröhlich an ihrer Seite saß. Ein einziger Gedanke beherrschte sie: sie würde nicht zu diesem Abendessen gehen; und sie überlegte, wie sie nach und nach Beziehungen abbrechen könne, die ihre Rechtschaffenheit verletzten. Doch die schnaubenden Stimmen der Sänger einige Schritte von ihr entfernt hinderten sie am Nachdenken; sie fand nichts, sie gab sich dem Wiegen des Chorals hin und genoß ein frommes Wohlbehagen dabei, das sie bisher niemals in einer Kirche verspürt hatte. »Hat man Ihnen die Geschichte von Madame de Chermette erzählt?« fragte Juliette, von neuem ihrer Redseligkeit nachgebend. »Nein, ich weiß nichts.«
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»Nun also, stellen Sie sich vor ... Sie haben doch ihre große Tochter gesehen, die für ihre fünfzehn Jahre so lang ist? Es ist die Rede davon, daß man sie im nächsten Jahr verheiraten will, und zwar mit diesem kleinen Brünetten, der immerzu in den Röcken der Mutter steckt ... Man redet viel, man redet davon ...« »Ach!« sagte Hélène, die nicht zuhörte. Frau Deberle führte andere Einzelheiten an. Aber jäh brach der Choral ab, die Orgel ächzte und hielt inne. Da schwieg Frau Deberle, überrascht vom starken Schall ihrer Stimme inmitten des andächtigen Schweigens, das entstand. Ein Priester war soeben auf der Kanzel erschienen. Ein Beben ging durch die Menge; dann sprach er. Nein, Hélène würde gewiß nicht zu diesem Abendessen gehen. Die Augen starr auf den Priester geheftet, stellte sie sich dieses erste Zusammentreffen mit Henri vor, das sie seit drei Tagen fürchtete; sie sah ihn bleich vor Zorn, wie er ihr vorwarf, sich zu Hause abzuschließen; und sie fürchtete, nicht genug Kaltblütigkeit zu zeigen. In ihrem Träumen war der Priester verschwunden, sie erhaschte nur einzelne Sätze, eine aus der Höhe herniedertönende durchdringende Stimme, die sprach: »Es war ein unaussprechlicher Augenblick, als die Muttergottes, das Haupt neigend, antwortete: ›Ich bin die Magd des Herrn.‹« Oh! Sie würde tapfer sein, ihre ganze Vernunft war zurückgekehrt. Sie würde die Freude auskosten, geliebt zu werden, sie würde niemals ihre Liebe bekennen, denn sie fühlte wohl, daß dies der Preis des Friedens war. Und wie tief würde sie lieben, ohne es zu sagen, sich mit einem Wort Henris, mit einem dann und wann ausgetauschten Blick begnügend, wenn ein Zufall sie wieder einander näherbrächte! Es war ein Traum, der sie mit 170
einem Ewigkeitsgedanken erfüllte. Die Kirche um sie her wurde ihr vertraut und süß. Der Priester sprach: »Der Engel verschwand. Und überflutet von Licht und Liebe versenkte sich Maria in die Betrachtung des göttlichen Mysteriums, das sich in ihr vollzog ...« »Er spricht sehr gut«, murmelte Frau Deberle und neigte sich vor. »Und ganz jung, kaum dreißig Jahre, nicht wahr?« Frau Deberle war gerührt, die Religion gefiel ihr als eine Gemütsbewegung von gutem Geschmack. Der Kirche Blumen schenken, ein bißchen mit Priestern, höflichen, verschwiegenen und wohlriechenden Leuten zu schaffen haben, in allem Staat zur Kirche kommen, wo sie so tat, als gewähre sie dem Gott der Armen einen weltlichen Beistand, das alles verschaffte ihr besondere Freuden, um so mehr, als ihr Gatte die Vorschriften der Kirche nicht befolgte und ihre Andachtsübungen den Geschmack der verbotenen Frucht annahmen. Hélène sah sie an, antwortete ihr nur durch ein Kopfnicken. Beide hatten ein vor Wonne vergehendes und lächelndes Antlitz. Lautes Stühlerücken und Taschentücherzücken erhob sich, der Priester hatte soeben die Kanzel verlassen und dabei folgende letzte Schreie hinausgeschleudert: »Oh, breitet eure Liebe aus, fromme Christenseelen. Gott hat sich euch geschenkt, euer Herz ist voll von seiner Gegenwart, eure Seele fließt über von seiner Gnade!« Die Orgel rauschte sofort auf. Die Marienlitaneien rollten dahin mit ihren Anrufungen glühender Liebe. Von den Seitenschiffen, aus dem Dunkel der entlegenen Kapellen tönte ferner und gedämpfter Gesang herüber, als habe die Erde den Engelsstimmen der Chorknaben geantwortet. Ein Odem wehte über die Köpfe hin, ließ die aufrechten Flammen der Kerzen länger werden, während 171
die göttliche Mutter in ihrem großen Rosenstrauß, inmitten der Blüten, die, ihren letzten Duft ausströmend, einander schier zerdrückten, das Haupt gesenkt zu haben schien, um ihrem Jesuskind zuzulächeln. Von einer instinktiven Unruhe ergriffen, wandte sich Hélène plötzlich um. »Du bist doch nicht krank, Jeanne?« fragte sie. Sehr weiß, mit feuchten Augen, gleichsam fortgerissen im Liebesstrom der Litaneien, betrachtete das Kind den Altar, sah, wie die Rosen immer mehr wurden und als Regen herniederfielen. Jeanne murmelte: »Oh, nein, Mama ... Ich versichere dir, ich bin glücklich, sehr glücklich ...« Dann fragte sie: »Wo ist denn mein lieber Onkel?« Sie meinte den Abbé. Pauline bemerkte ihn; er saß in einem Chorstuhl. Aber man mußte Jeanne hochheben. »Ah, ich sehe ihn ... Er sieht uns an, er macht kleine Augen.« Der Abbé »machte kleine Augen« nach Jeannes Meinung, wenn er innerlich lachte. Hélène tauschte jetzt ein freundschaftliches Kopfnicken mit ihm. Das war für sie gleichsam eine Friedensgewißheit, ein letzter Grund zu erhabener Heiterkeit, der ihr die Kirche teuer machte und sie in einer nachsichtsvollen Glückseligkeit einschläferte. Weihrauchfässer wurden vor dem Altar geschwenkt, leichte Rauchschwaden stiegen auf; und der Segen wurde erteilt, eine Monstranz gleich einer Sonne wurde langsam erhoben und über die zur Erde gesenkten Stirnen geschwungen. Hélène verharrte in einem glücklichen Benommensein anbetend auf den Knien, da hörte sie, daß Frau Deberle sagte: »Es ist zu Ende, gehen wir.«
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Stuhlrücken und Getrampel rollten unter dem Gewölbe dahin. Pauline hatte Jeanne bei der Hand genommen. Und während sie mit dem Kind voranging, fragte sie es: »Du bist noch nie ins Theater gegangen?« »Nein. Ist das noch schöner?« Die Kleine, die schwer seufzte und der zum Weinen zumute war, schüttelte kurz den Kopf, als wolle sie erklären, daß nichts schöner sein könne. Doch Pauline antwortete nicht; sie hatte sich soeben vor einem Priester aufgepflanzt, der im Chorhemd vorüberging; und als er bis auf einige Schritte heran war, sagte sie ganz laut: »Oh, so ein schöner Kopf!« mit einer Überzeugung, daß sich zwei fromme Frauen umdrehten. Inzwischen hatte sich Hélène wieder erhoben. Neben Juliette trat sie unruhig von einem Fuß auf den anderen inmitten der Menge, die sich nur schwer verlief. Von zärtlicher Liebe durchtränkt, gleichsam müde und kraftlos, empfand sie keinerlei Verwirrung mehr dabei, sie so nahe neben sich zu fühlen. Einen Augenblick streiften sich ihre nackten Handgelenke, und sie lächelten einander zu. Sie bekamen keine Luft. Hélène wollte, daß Juliette vorangehe, um sie zu schützen. All ihre Vertrautheit schien zurückgekehrt. »Es ist abgemacht, nicht wahr?« fragte Frau Deberle. »Wir rechnen morgen abend auf Sie.« Hélène hatte nicht mehr die Willenskraft, nein zu sagen. Auf der Straße würde sie sehen. Endlich traten sie als letzte hinaus. Pauline und Jeanne erwarteten sie auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig. Aber eine weinerliche Stimme hielt die beiden Frauen auf. »Ach! Meine gute Dame, wie lange habe ich nicht mehr das Glück gehabt, Sie zu sehen!« Das war Mutter Fétu. Sie bettelte an der Kirchentür. Hélène den Durch173
gang versperrend, als habe sie ihr aufgelauert, fuhr sie fort: »Ach, ich bin recht krank gewesen, immer noch da, im Bauch, Sie wissen ja ... Jetzt sind es beinahe Hammerschläge ... Und rein gar nichts, meine gute Dame ... Ich habe nicht gewagt, Ihnen das sagen zu lassen ... Der liebe Gott möge es Ihnen vergelten!« Hélène hatte ihr ein Geldstück in die Hand gleiten lassen und ihr versprochen, an sie zu denken. »Sieh an!« sagte Frau Deberle, die in der Vorhalle stehengeblieben war. »Da spricht jemand mit Pauline und Jeanne ... Aber das ist ja Henri!« »Ja, ja«, begann Mutter Fétu wieder, die ihre dünnen Blicke über die beiden Damen gleiten ließ, »das ist der gute Doktor ... Ich habe ihn während der ganzen Andacht gesehen, er hat den Bürgersteig nicht verlassen, er hat ganz bestimmt auf Sie gewartet ... Das ist ein frommer Mann! Ich sage das, weil es die Wahrheit ist, vor Gott, der uns hört ... Oh, ich kenne Sie, Madame; Sie haben da einen Gatten, der es verdient, glücklich zu sein ... Der Himmel erhöre Ihre Wünsche, all sein Segen sei mit Ihnen! Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen!« Und in den tausend Runzeln ihres Gesichtes, das schrumplig war wie ein alter Apfel, wanderten ihre unruhigen und boshaften Äuglein immerfort zwischen Juliette und Hélène hin und her, ohne daß man genau wissen konnte, an welche von beiden sie sich wandte, während sie vom guten Doktor sprach. Sie begleitete sie mit einem ständigen Gebrummel, in dem Fetzen weinerlicher Redensarten sich mit frommen Ausrufen mischten. Hélène war überrascht und gerührt von Henris Zurückhaltung. Er wagte kaum, die Blicke zu ihr zu erheben. Da seine Frau ihn ob seiner Ansichten geneckt hatte, 174
die ihn daran hinderten, eine Kirche zu betreten, erklärte er einfach, er sei den Damen entgegengegangen und habe dabei eine Zigarre geraucht; und Hélène verstand, daß er sie hatte wiedersehen wollen, um ihr zu zeigen, wie unrecht es von ihr war, irgendeine neue Rücksichtslosigkeit zu fürchten. Zweifellos hatte er sich wie sie geschworen, sich vernünftig zu zeigen. Sie prüfte nicht, ob er aufrichtig gegen sich selbst sein konnte, es machte sie zu unglücklich, ihn unglücklich zu sehen. Daher sagte sie auch heiter, als sie sich in der Rue Vineuse von den Deberles verabschiedete: »Also gut! Abgemacht, bis morgen um sieben Uhr.« Nun knüpften sich die Beziehungen noch enger, ein bezauberndes Leben begann. Für Hélène war es, als habe Henri niemals einer Minute der Torheit nachgegeben; sie hatte das geträumt; sie liebten sich, aber sie würden es sich nicht mehr sagen, sie würden sich damit begnügen, es zu wissen. Köstliche Stunden, in denen sie, ohne von ihrer Liebe zu sprechen, sich fortwährend darüber unterhielten, mit einer Gebärde, mit einem veränderten Tonfall, mit einem Schweigen sogar. Alles brachte sie zu dieser Liebe zurück, alles badete sie in einer Leidenschaft, die sie überallhin mit sich nahmen, wie die einzige Luft, in der sie leben konnten. Und sie hatten die Entschuldigung ihrer Rechtschaffenheit, sie spielten mit bestem Gewissen diese Komödie ihres Herzens, denn sie erlaubten sich nicht einen Händedruck, was dem einfachen »Guten Tag«, mit dem sie einander begrüßten, eine Wollust ohnegleichen verlieh. Jeden Abend machten die Damen einen Spaziergang, um sich zur Kirche zu begeben. Entzückt genoß Frau Deberle hier ein neues Vergnügen, das ihr etwas Abwechslung von den Tanzabenden, den Konzerten, den 175
Theaterpremieren brachte; sie schwärmte für die neuen Gemütsbewegungen, man traf sie nur noch mit Nonnen und Abbés. Der Rest Religion, den sie noch vom Pensionat her hatte, stieg der wirbligen jungen Frau wieder zu Kopf und äußerte sich in kleinen Andachtsübungen, die ihr Spaß machten, als habe sie sich der Spiele ihrer Kindheit erinnert. Hélène, die ohne jede fromme Erziehung aufgewachsen war, gab sich dem Zauber der Andachten des Marienmonats hin, glücklich über die Freude, die Jeanne daran zu finden schien. Man aß früher zu Abend, man drängelte Rosalie, um ja nicht zu spät einzutreffen und einen schlechten Platz zu bekommen. Dann holte man Juliette im Vorbeigehen ab. Eines Tages hatte man Lucien mitgenommen, doch er hatte sich so schlecht betragen, daß man ihn nun zu Hause ließ. Und beim Eintreten in die warme, von Kerzen ganz erglühende Kirche überkam sie ein Gefühl von Weichheit und Besänftigung, das Hélène nach und nach unentbehrlich wurde. Wenn sie im Laufe des Tages Zweifel gehegt hatte, wenn eine unbestimmte Bangigkeit sie beim Gedanken an Henri ergriffen hatte, schläferte die Kirche sie am Abend wieder ein. Die Choräle stiegen mit dem Überströmen göttlicher Leidenschaften empor. Die frisch geschnittenen Blumen machten die stickige Luft unter dem Gewölbe mit ihrem Duft noch schwerer. Sie atmete dort die ganze erste Trunkenheit des Frühlings, die Anbetung des bis zum Kult erhöhten Weibes, und sie berauschte sich an diesem Mysterium von Liebe und Reinheit, angesichts der mit ihren weißen Rosen umkränzten Mutter und Jungfrau Maria. Jeden Tag verharrte sie länger auf den Knien. Sie ertappte sich zuweilen mit gefalteten Händen. Wenn dann die Andacht zu Ende war, kam die Süße des Heimwegs. Henri wartete an der Kirchentür, 176
die Abende wurden lau; wenige Worte wechselnd, ging man durch die dunklen und schweigsamen Straßen von Passy nach Hause. »Sie werden ja fromm, meine Liebe!« sagte eines Abends lachend Frau Deberle. Es stimmte, Hélène ließ die Frömmigkeit in ihr weit offenes Herz eingehen. Niemals hätte sie geglaubt, daß es so guttue zu lieben. Sie ging immer wieder in die Kirche wie an eine Stätte der Rührung, wo es ihr erlaubt war, feuchte Augen zu haben, ohne einen Gedanken zu verweilen, völlig versunken in stummer Anbetung. Eine Stunde lang an jedem Abend wehrte sie sich nicht mehr; das Erblühen der Liebe, die sie in sich trug, die sie den ganzen Tag über zurückhielt, konnte endlich aus ihrer Brust heraufsteigen, sich in Gebeten entfalten, in Gegenwart aller, inmitten des frommen Erschauerns der Menge. Die gestammelten Gebete, das Niederknien, das Grüßen, diese unablässig wiederholten unbestimmten Worte und Gebärden wiegten sie ein, schienen ihr die einzige Sprache, immer dieselbe Leidenschaft zu sein, die ihren Ausdruck fand in demselben Wort oder demselben Zeichen. Sie hatte das Bedürfnis, zu glauben, sie war hingerissen von der göttlichen Barmherzigkeit. Und Juliette neckte nicht nur Hélène, sie behauptete, Henri, selber wende sich der Frömmigkeit zu. Komme er nicht jetzt herein, um in der Kirche auf sie zu warten! Ein Atheist, ein Heide, der erklärte, er habe die Seele mit seinem Skalpell gesucht und sie noch nicht gefunden! Sowie Juliette ihn im Rücken der Kanzel, hinter einer Säule stehend, erblickte, stieß sie Hélène mit dem Ellbogen an. »Schauen Sie doch, er ist schon da ... Sie müssen wissen, daß er vor unserer Hochzeit nicht hat beichten wol177
len ... Nein, er macht ein unbezahlbares Gesicht, er betrachtet uns mit einem so drolligen Ausdruck! Schauen Sie ihn nur an!« Hélène hob nicht sogleich den Kopf. Die Andacht ging ihrem Ende entgegen, der Weihrauch dampfte, die Orgel rauschte jubelnd auf. Doch da ihre Freundin nicht die Frau war, die sie in Ruhe gelassen hätte, mußte sie antworten. »Ja, ja, ich sehe ihn«, stammelte sie, ohne die Augen hinzuwenden. Sie hatte ihn erahnt beim Hosianna, das sie aus der ganzen Kirche emporsteigen hörte. Es war ihr, als komme auf dem Fittich der Lobgesänge Henris Atem bis zu ihrem Nacken, und sie glaubte hinter sich seine Blicke zu sehen, die das Kirchenschiff erhellten und sie, die da kniete, in einen goldenen Strahl einhüllten. Da betete sie mit so großer Inbrunst, daß ihr die Worte fehlten. Er war sehr ernst, hatte die untadelige Miene eines Gatten, der die Damen von Gott abholte, als warte er im Foyer eines Theaters auf sie. Doch wenn sie inmitten des langsamen Hinausgehens der Frommen wieder zusammentrafen, fanden sich beide gleichsam noch mehr verbunden, vereint durch diese Blumen und Gesänge; und sie vermieden es, miteinander zu sprechen, denn sie trugen ihr Herz auf den Lippen. Nach vierzehn Tagen wurde Frau Deberle der Sache überdrüssig. Sie sprang von einer Leidenschaft zur anderen über, gequält von dem Bedürfnis, zu tun, was alle Welt tat. Jetzt widmete sie sich den Wohltätigkeitsverkäufen, stieg an einem Nachmittag sechzig Stockwerke hinauf, um Ölgemälde bei den bekannten Malern zu erbetteln, und benutzte ihre Abende, um mit einer Klingel in den Versammlungen der Wohltätigkeitsdamen den 178
Vorsitz zu führen. Deshalb waren an einem Donnerstagabend Hélène und ihre Tochter allein in der Kirche. Als nach der Predigt die Sänger das Magnificat33 anstimmten, wandte die junge Frau, auf ein Stechen in ihrem Herzen hin, den Kopf: Henri stand da am gewohnten Platz. Da verharrte sie in Erwartung des Heimwegs mit gesenkter Stirn bis zum Ende der Andacht. »Ach, ist das nett, daß Sie gekommen sind!« sagte Jeanne beim Hinausgehen mit ihrer kindlichen Vertraulichkeit. »Ich hätte Angst gehabt in diesen stockdunklen Straßen.« Aber Henri tat, als sei er überrascht. Er glaubte seine Frau zu treffen. Hélène ließ die Kleine antworten, sie folgte ihnen, ohne zu sprechen. Als sie alle drei durch die Vorhalle gingen, jammerte eine Stimme: »Barmherzigkeit ... Gott vergelte es Ihnen ...« Jeden Abend ließ Jeanne ein Zehnsousstück in Mutter Fétus Hand gleiten. Als diese den Doktor allein mit Hélène erblickte, schüttelte sie nur den Kopf mit einem Ausdruck des Einverständnisses, anstatt wie sonst in lärmende Danksagungen auszubrechen. Und da sich die Kirche geleert hatte, begann sie ihnen mit ihren schlurfenden Füßen zu folgen, dumpfe Worte vor sich hin brummelnd. Anstatt durch die Rue de Passy heimzukehren, gingen die Damen manchmal, wenn die Nacht schön war, durch die Rue Raynouard zurück und machten so den Weg um fünf oder sechs Minuten länger. An jenem Abend schlug Hélène die Rue Raynouard ein, erfüllt von dem Wunsch nach Dunkel und Schweigen, sich dem Zauber dieser langen menschenleeren, Straße überlassend, die eine Gaslaterne dann und wann erhellte, ohne
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daß der Schatten eines Vorübergehenden sich auf dem Straßenpflaster bewegte. Zu dieser Stunde, in diesem abgelegenen Stadtviertel, schlief Passy schon mit dem leisen Atem einer Provinzstadt. Zu beiden Seiten der Bürgersteige reihten sich aneinander vornehme Privathäuser, stockdunkle und verschlafene Mädchenpensionate, Speisehäuser, deren Küchen noch leuchteten. Kein einziger Laden durchbrach das Dunkel mit dem Lichtstrahl seines Schaufensters. Und diese Einsamkeit war eine große Freude für Hélène und Henri. Er hatte nicht gewagt, ihr den Arm anzubieten, Jeanne ging zwischen ihnen mitten auf dem Fahrdamm, der wie ein Parkweg mit Sand bestreut war. Die Häuser hörten auf, Mauern zogen sich hin, über die Mäntel von wildem Wein und Büschel blühenden Flieders herabfielen. Große Gärten lagen zwischen den vornehmen Häusern, ein Gitter ließ für Augenblicke düstere Vertiefungen von Grün sehen, in denen Rasenflächen mit zarterem Ton zwischen den Bäumen verblaßten, während in Vasen, die man undeutlich ahnte, Schwertliliensträuße die Luft balsamisch durchdufteten. Alle drei verlangsamten den Schritt unter der lauen Wärme dieser Frühlingsnacht, die sie mit Wohlgerüchen durchtränkte; und als Jeanne in kindlichem Spiel mit zum Himmel erhobenem Gesicht voranging, sagte sie immer wieder: »Oh, Mama, sieh doch, wie viele Sterne!« Doch hinter ihnen schien Mutter Fétus Schritt der Widerhall ihrer eigenen Schritte zu sein. Sie kam näher; man hörte dieses Stück eines lateinischen Satzes: »Ave Maria, gratia plena34«, das unaufhörlich in demselben undeutlichen Gestammel wiederholt wurde. Mutter Fétu betete auf dem Heimweg ihren Rosenkranz.
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»Ich habe ein Geldstück übrig, ob ich es ihr gebe?« fragte Jeanne ihre Mutter. Und ohne die Antwort abzuwarten, entschlüpfte sie, lief zu der Alten, die gerade in die Passage des Eaux einbiegen wollte. Mutter Fétu nahm das Geldstück, während sie alle Heiligen des Paradieses anrief. Doch sie hatte gleichzeitig die Hand des Kindes ergriffen; sie hielt sie fest und fragte mit veränderter Stimme: »Ist denn die andere Dame krank?« »Nein«, antwortete Jeanne erstaunt. »Ach! Der Himmel erhalte sie! Er überschütte sie mit Glück, sie und ihren Mann! – Laufen Sie nicht fort, mein gutes kleines Fräulein. Lassen Sie mich ein Ave Maria für Ihre Mama beten; und Sie werden mit mir Amen sagen ... Ihre Mama erlaubt es, Sie werden sie wieder einholen.« Indessen bebten Hélène und Henri am ganzen Leibe, weil sie sich auf diese Weise jäh allein sahen im Schatten einer Reihe großer Kastanienbäume, die die Straße säumten. Sie taten sacht ein paar Schritte. Die Kastanienbäume hatten ihre kleinen Blüten herabregnen lassen, und sie wandelten auf diesem rosaroten Teppich. Dann blieben sie stehen, das Herz war ihnen so übervoll, daß sie nicht weitergehen konnten. »Verzeihen Sie mir«, sagte Henri einfach. »Ja, ja«, stammelte Hélène. »Ich flehe Sie an, schweigen Sie.« Doch sie hatte seine Hand gespürt, die die ihre streifte. Sie wich zurück. Glücklicherweise kam Jeanne zurückgelaufen. »Mama! Mama!« rief sie. »Sie hat mich ein Ave sagen lassen, damit es dir Glück bringt.«
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Und alle drei bogen in die Rue Vineuse ein, während Mutter Fétu die Treppe der Passage des Eaux hinabstieg und dabei ihren Rosenkranz zu Ende betete. Der Monat floß dahin. Frau Deberle zeigte sich noch zwei- oder dreimal bei den Abendandachten. An einem Sonntag, am letzten Sonntag, wagte Henri abermals, auf Hélène und Jeanne zu warten. Der Heimweg war köstlich. Dieser Monat war in einer außergewöhnlichen Lieblichkeit vergangen. Die kleine Kirche schien gleichsam vorhanden zu sein, um die Leidenschaft zu beschwichtigen und vorzubereiten. Hélène war zunächst ruhiger geworden, glücklich über diese Zuflucht der Religion, in der sie glaubte, ohne Schande lieben zu können; aber das dumpfe Wirken war weitergegangen, und als sie aus ihrem frommen Benommensein erwachte, fühlte sie sich übermannt, durch Fesseln gebunden, die ihr das Fleisch herausgerissen hätten, wenn sie sie hätte sprengen wollen. Henri blieb ehrerbietig. Jedoch sah sie wohl, wie ihm wieder eine Flamme ins Antlitz stieg. Sie fürchtete, er könne sich hinreißen lassen von irrem Verlangen. Sie hatte vor sich selber Angst, weil sie von jähen Fieberanfällen geschüttelt wurde. Als sie eines Nachmittags mit Jeanne von einem Spaziergang zurückkehrte, schlug sie die Rue de l'Annonciation ein und trat in die Kirche. Die Kleine klagte über große Müdigkeit. Bis zum letzten Tag hatte sie durchaus nicht eingestehen wollen, daß die Abendandacht sie völlig erschöpfte, solch tiefe Freude genoß sie dabei; doch ihre Wangen waren bleich wie Wachs geworden, und der Doktor riet, sie lange Spaziergänge machen zu lassen. »Setz dich dahin«, sagte ihre Mutter. »Du wirst dich ausruhen ... Wir bleiben nur zehn Minuten.«
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Sie hatte sie neben einen Pfeiler gesetzt. Sie selber kniete ein paar Stühle weiter. Arbeiter nahmen im Hintergrund des Kirchenschiffes Wandbehänge ab, räumten Blumentöpfe fort, weil die Marienandachten seit gestern vorbei waren. Hélène, die das Gesicht in ihren Händen hielt, sah nichts, hörte nichts, während sie sich voller Bangigkeit fragte, ob sie nicht Abbé Jouve die schreckliche Krise eingestehen solle, die sie durchmachte. Er würde ihr einen Rat geben, er würde ihr vielleicht ihre verlorene Ruhe wiedergeben. Doch tief in ihr stieg aus eben dieser Angst eine überströmende Freude empor. Sie liebte ihr Leiden zärtlich, sie zitterte, daß es dem Priester gelänge, sie zu heilen. Die zehn Minuten verflossen, eine Stunde verging. Sie versank in das Ringen ihres Herzens wie in einen Abgrund. Und als sie endlich mit tränenfeuchten Augen wieder aufblickte, gewahrte sie Abbé Jouve neben sich, der sie mit bekümmerter Miene betrachtete. Er leitete die Arbeiter an. Er war näher getreten, als er Jeanne erkannt hatte. »Was haben Sie denn, mein Kind?« fragte er Hélène, die rasch aufstand und ihre Tränen trocknete. Sie fand keine Antwort und fürchtete, wieder auf die Knie zu sinken und in Schluchzen auszubrechen. Er trat noch näher heran, er fuhr sanft fort: »Ich will Sie nicht ausfragen, aber warum vertrauen Sie sich mir nicht an, dem Priester und nicht mehr dem Freund?« »Später«, stammelte sie, »später, ich verspreche es Ihnen.« Währenddessen hatte sich Jeanne zunächst artig geduldet und sich die Zeit damit vertrieben, die Kirchenfenster, die Statuen am Haupteingang, die Stationen des Kreuzweges, die längs der Seitenschiffe in kleinen Basre183
liefs dargestellt waren, zu betrachten. Allmählich hatte sich die Kühle der Kirche wie ein Leichentuch auf sie herniedergesenkt; und in dieser Mattigkeit, die sie sogar am Denken hinderte, kam ein Unbehagen über sie aus dem frommen Schweigen der Kapellen, aus dem tönenden Nachhallen der geringsten Geräusche, aus dieser heiligen Stätte, an der ihr war, als werde sie bald sterben. Doch ihr größter Kummer war es, daß sie sah, wie man die Blumen fortschaffte. Je mehr die großen Rosensträuße verschwanden, zeigte sich der Altar nackt und kalt. Dieser Marmor ohne Kerze, ohne Weihrauchschwaden ließ sie zu Eis erstarren. Einen Augenblick schwankte die in Spitzen gekleidete Muttergottes, fiel dann rücklings zwei Arbeitern in die Arme. Da stieß Jeanne einen schwachen Schrei aus, ihre Arme breiteten sich aus, sie wurde steif, wand sich in dem Anfall, der ihr seit einigen Tagen drohte. Und als Hélène, wie von Sinnen, sie in eine Droschke schaffen konnte, wobei ihr der untröstliche Abbé half, drehte sie sich mit ausgestreckten und zitternden Händen zur Vorhalle um. »Diese Kirche ist schuld! Diese Kirche ist schuld!« wiederholte sie mit einer Heftigkeit, in der Reue und Vorwurf gegen den Monat frommer Liebe lag, die sie dort genossen hatte.
Kapitel II Am Abend ging es Jeanne besser. Sie konnte aufstehen. Um ihre Mutter zu beruhigen, bestand sie darauf und schleppte sich ins Eßzimmer, wo sie sich vor ihren leeren Teller setzte. 184
»Es wird nichts weiter sein«, sagte sie und versuchte zu lächeln. »Du weißt ja, daß ich ein anfälliges Ding bin ... Iß du doch. Ich will, daß du ißt.« Und da sie sah, daß ihre Mutter, ohne einen Bissen herunterbringen zu können, beobachtete, wie sie blaß wurde und vor Kälte zitterte, täuschte sie schließlich selbst ein ganz klein wenig Appetit vor. Sie würde ein bißchen Eingemachtes zu sich nehmen, sie schwor es. Da aß Hélène schleunigst, während das immer noch lächelnde Kind mit einem leisen nervösen Zittern des Kopfes sie mit seinem schwärmerischen Ausdruck betrachtete. Beim Nachtisch wollte Jeanne dann ihr Versprechen halten. Doch Tränen erschienen am Rand ihrer Augenlider. »Es geht nicht, siehst du«, murmelte sie. »Du mußt mich nicht schelten.« Sie empfand eine schreckliche Müdigkeit, die ihr alle Kraft nahm. Ihre Beine kamen ihr wie abgestorben vor, eine eiserne Hand preßte ihre Schultern. Doch sie hielt sich tapfer, sie unterdrückte die leisen Schreie, die stechende Schmerzen im Hals ihr abzwangen. Einen Augenblick vergaß sie sich, weil ihr Kopf zu schwer war und sie zusammenschrumpfte unter dem Schmerz. Und als ihre Mutter sie so abgemagert sah, so schwach und so liebebedürftig, konnte sie die Birne, die sie gerade mühselig herunterwürgte, nicht aufessen. Schluchzen schnürte ihr die Kehle zu. Sie ließ ihre Serviette fallen, nahm Jeanne in ihre Arme. »Mein Kind, mein Kind ...«, stammelte sie, und der Anblick dieses Eßzimmers, in dem die Kleine sie so oft durch ihre Naschhaftigkeit erheitert hatte, wenn sie gesund war, zerriß ihr das Herz. Jeanne richtete sich wieder auf, versuchte ihr Lächeln wiederzufinden.
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»Quäle dich nicht, es wird nichts weiter sein, bestimmt nicht ... Jetzt, wo du fertig bist, kannst du mich wieder zu Bett bringen ... Ich wollte dich bei Tisch sehen, weil ich dich kenne, du hättest keinen Bissen Brot runterbekommen.« Hélène trug sie fort. Sie hatte ihr kleines Bett nahe neben das ihre ins Schlafzimmer gerollt. Als sich Jeanne ausgestreckt hatte und bis zum Kinn zugedeckt war, fühlte sie sich viel wohler. Sie klagte nur noch über dumpfe Schmerzen im Hinterkopf. Dann wurde sie zärtlich; seit sie litt, schien ihre leidenschaftliche Liebe zu wachsen. Hélène mußte sie küssen und dabei schwören, daß sie sie sehr liebhabe, und ihr versprechen, sie noch einmal zu küssen, wenn sie selber zu Bett ginge. »Auch wenn ich schlafe, das macht nichts«, sagte Jeanne immer wieder. »Ich fühle dich trotzdem.« Sie schloß die Augen, sie schlief ein. Hélène blieb neben ihr und beobachtete ihren Schlaf. Als Rosalie auf Zehenspitzen kam, um zu fragen, ob sie sich zurückziehen könne, antwortete Hélène zustimmend mit einem Kopfnicken. Es schlug elf Uhr, Hélène saß noch immer da, als sie ein leises Klopfen an der Flurtür zu hören glaubte. Sehr überrascht nahm sie die Lampe und ging nachsehen. »Wer ist da?« »Ich, öffnen Sie«, antwortete eine gedämpfte Stimme. Es war Henris Stimme. Sie öffnete rasch, weil sie diesen Besuch durchaus natürlich fand. Zweifellos hatte der Doktor soeben von Jeannes Krise erfahren, und er eilte herbei, obwohl sie ihn nicht hatte rufen lassen, von einer Art Scham bei dem Gedanken erfaßt, ihn für die Gesundheit ihrer Tochter mitverantwortlich zu machen.
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Aber Henri ließ ihr keine Zeit zum Sprechen. Zitternd, hochrot im Gesicht, war er ihr ins Eßzimmer gefolgt. »Ich bitte Sie, verzeihen Sie mir«, stammelte er und ergriff ihre Hand. »Seit drei Tagen habe ich Sie nicht gesehen, ich habe dem Verlangen, Sie zu sehen, nicht widerstehen können.« Hélène hatte ihre Hand losgemacht. Die Augen auf sie gerichtet, wich er zurück und redete weiter: »Fürchten Sie nichts, ich liebe Sie ... Ich wäre vor Ihrer Tür geblieben, wenn Sie mir nicht geöffnet hätten! Oh, ich weiß wohl, daß all das unsinnig ist, aber ich liebe Sie, ich liebe Sie ...« Sehr ernst und mit stummer Strenge, die ihm Qual bereitete, hörte sie ihn an. Bei diesem Empfang ergoß sich die ganze Woge seiner Leidenschaft. »Ach, warum spielen wir diese gräßliche Komödie? – Ich kann nicht mehr, mein Herz würde zerspringen; ich würde irgendeine Torheit begehen, schlimmer als die heute abend; ich würde Sie vor aller Welt in die Arme nehmen und davontragen ...« Ein wildes Verlangen ließ ihn die Arme ausstrecken. Er war näher gekommen, er küßte ihr Kleid, seine fiebrigen Hände verirrten sich. Aufrecht stand sie da, blieb eisig. »Sie wissen also nichts?« fragte sie. Und da er ihr nacktes Handgelenk unter dem offenen Ärmel des Morgenrockes ergriffen hatte und es mit gierigen Küssen bedeckte, machte sie schließlich eine ungeduldige Bewegung. »Lassen Sie das! Sie sehen doch, daß ich Sie nicht einmal höre. Als ob ich an solche Dinge dächte!« Sie beruhigte sich, sie stellte zum zweitenmal ihre Frage: »Sie wissen also nichts? – Meine Tochter ist krank. Ich freue mich, Sie zu sehen, Sie werden mich beruhigen.« 187
Sie nahm die Lampe und ging voran; doch auf der Schwelle wandte sie sich um, um in hartem Ton, mit ihrem klaren Blick zu ihm zu sagen: »Ich verbiete Ihnen, hier wieder mit diesen Dingen anzufangen ... Niemals, niemals!« Er trat hinter ihr ein, zitterte noch und begriff nicht recht, was sie ihm sagte. Im Schlafzimmer atmete er zu dieser nächtlichen Stunde inmitten der umherliegenden Wäschestücke und Kleider von neuem diesen Verbenenduft, der ihn am ersten Abend so verwirrt hatte, als er Hélène mit aufgelöstem Haar und mit ihrem von den Schultern geglittenen Tuch gesehen hatte. Wieder hiersein und niederknien, all diesen Liebesduft trinken, der da im Raum schwebte, und anbetend so den Tag erwarten und sich in der Besessenheit seines Traums vergessen! Seine Schläfen zersprangen, er stützte sich auf das kleine Eisenbett des Kindes. »Sie ist eingeschlafen«, sagte Hélène leise. »Schauen Sie sie an.« Er hörte nicht, seine Leidenschaft wollte nicht schweigen. Sie hatte sich vor ihm niedergebeugt, er hatte ihren goldenen Nacken erblickt mit den feinen Haaren, die sich kräuselten. Und er schloß die Augen, um dem Verlangen zu widerstehen, sie auf diese Stelle zu küssen. »Doktor, sehen Sie doch, sie glüht ... Es ist doch nicht ernst, wie?« In dem wahnsinnigen Verlangen, das in seinem Schädel hämmerte, fühlte er jetzt mechanisch Jeannes Puls und gab damit seiner Berufsgewohnheit nach. Doch der Kampf war zu schwer, er verharrte einen Augenblick regungslos und schien nicht zu wissen, daß er diese arme kleine Hand in der seinen hielt. »Nicht wahr, sie hat hohes Fieber?« 188
»Hohes Fieber, glauben Sie?« wiederholte er. Die kleine Hand erwärmte die seine. Neues Schweigen trat ein. Der Arzt erwachte dabei. Er zählte die Pulsschläge. In seinen Augen erlosch eine Flamme. Allmählich erblaßte sein Gesicht, er beugte sich unruhig nieder und betrachtete Jeanne aufmerksam. Und er murmelte: »Der Anfall ist sehr heftig. Sie haben recht ... Mein Gott, das arme Kind!« Sein Verlangen war tot, in ihm war nur noch die Leidenschaft, ihr zu dienen. Seine ganze Kaltblütigkeit kehrte zurück. Er hatte sich gesetzt, stellte der Mutter Fragen über die Vorfälle, die der Krise vorausgegangen waren, da erwachte die Kleine stöhnend. Sie klagte über gräßliches Kopfweh. Die Schmerzen im Hals und in den Schultern waren so heftig geworden, daß sie keine Bewegung mehr machen konnte, ohne zu schluchzen. Hélène, die an der anderen Seite des Bettes niedergekniet war, redete ihr gut zu, lächelte sie an, und es brach ihr das Herz, da sie sie so leiden sah. »Ist denn da jemand?« fragte Jeanne, als sie sich umwandte und den Doktor erblickte. »Es ist ein Freund, du kennst ihn.« Nachdenklich und gleichsam zögernd musterte ihn das Kind einen Augenblick. Dann glitt ein zärtlicher Schimmer über ihr Antlitz. »Ja, ja, ich kenne ihn. Ich habe ihn sehr lieb.« Und mit ihrer schmeichelnden Art fügte sie hinzu: »Sie müssen mich gesund machen, Herr Doktor, damit Mama sich freut, nicht wahr? – Ich werde alles trinken, was Sie mir geben, bestimmt.« Der Doktor hatte wieder ihren Puls genommen, Hélène hielt ihre andere Hand; und zwischen ihnen liegend, schaute Jeanne sie beide abwechselnd an mit dem leich189
ten nervösen Zittern ihres Kopfes, mit aufmerksamem Ausdruck, als habe sie sie niemals so gut gesehen. Dann schüttelte sie ein Unbehagen. Ihre Händchen verkrampften sich und hielten beide fest. »Geht nicht fort; ich habe Angst ... Schützt mich, laßt nicht all diese Leute näher kommen ... Ich will nur euch, ich will nur euch beide, ganz nahe, oh, ganz nahe bei mir, zusammen ...« Zuckend zog sie sie nahe zu sich heran und wiederholte mehrmals: »Zusammen, zusammen ...« Der Fieberwahn kehrte so mehrere Male wieder. In den Augenblicken der Ruhe wurde Jeanne von Schläfrigkeit überwältigt, in der sie ohne Atemhauch wie tot dalag. Wenn sie aus diesem kurzen Schlummer jäh auffuhr, hörte sie nicht mehr, sah sie nicht mehr, die Augen von weißen Rauchschwaden verschleiert. Der Doktor wachte einen Teil der Nacht, die sehr schlecht war. Er war nur einen Augenblick hinuntergegangen, um selber ein Mittel einzunehmen. Als er gegen Morgen ging, begleitete Hélène ihn angstvoll ins Vorzimmer. »Nun?« fragte sie. »Ihr Zustand ist sehr ernst«, antwortete er, »aber zweifeln Sie nicht, ich bitte Sie inständig; rechnen Sie auf mich ... Ich werde, heute morgen um zehn Uhr wiederkommen.« Als Hélène wieder ins Zimmer trat, saß Jeanne im Bett und schaute sich mit verstörtem Ausdruck suchend um. »Ihr habt mich allein gelassen, ihr habt mich allein gelassen!« schrie sie. »Oh, ich habe Angst, ich will nicht ganz allein sein.« Ihre Mutter küßte sie, um sie zu trösten, aber Jeanne suchte noch immer. »Wo ist er? Oh, sag ihm, daß er nicht fortgehen soll ... Ich will, daß er hierbleibt, ich will ...« 190
»Er wird wiederkommen, mein Engel«, sagte Hélène immer wieder, die ihre Tränen in die des Kindes mischte. »Er wird uns nicht verlassen, ich schwöre es dir. Er hat uns zu sehr lieb ... Nun sei artig, leg dich wieder hin. Ich bleibe da, ich warte, bis er wiederkommt.« »Wirklich, wirklich?« murmelte das Kind, das allmählich in tiefe Schläfrigkeit zurücksank. Jetzt begannen entsetzliche Tage, drei Wochen gräßlicher Ängste. Das Fieber ließ nicht eine Stunde nach. Jeanne fand nur dann ein wenig Ruhe, wenn der Doktor da war und sie ihm ein Händchen überlassen hatte, während ihre Mutter das andere hielt. Sie suchte bei ihnen Zuflucht, sie teilte zwischen ihnen ihre tyrannische Vergötterung, als hätte sie verstanden, unter welchen Schutz glühender Liebe sie sich stellte. Ihre außergewöhnliche, durch die Krankheit noch verfeinerte nervöse Empfindsamkeit sagte ihr ohne Zweifel, daß nur ein Wunder von beider Liebe sie retten könne. Stundenlang schaute sie sie an, die zu beiden Seiten ihres Bettes saßen, mit tiefem und ernstem Blick. Alle menschliche Leidenschaft glitt, flüchtig geschaut und erahnt, in den Augen des kleinen todkranken Mädchens vorüber. Sie sprach nicht, sie sagte ihnen alles mit einem warmen Händedruck und flehte sie an, sich nicht zu entfernen, gab ihnen zu verstehen, welche Erquickung es für sie war, wenn sie sie beide so sah. Wenn der Arzt nach einer Abwesenheit wieder erschien, war das für sie ein Entzücken, ihre Augen, die sich nicht von der Tür abgewandt hatten, füllten sich mit Helligkeit; dann schlief sie friedlich ein, war beruhigt, sie beide, ihn und ihre Mutter, zu hören, wie sie sich um sie her bewegten und leise dabei sprachen.
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Am Tage nach dem Anfall war Doktor Bodin gekommen. Doch Jeanne hatte geschmollt, hatte den Kopf abgewandt und sich geweigert, sich untersuchen zu lassen. »Der nicht, Mama«, murmelte sie, »der nicht, ich bitte dich.« Und als er sich am folgenden Tage wieder einstellte, mußte Hélène ihm von der heftigen Abneigung des Kindes erzählen. Daher betrat der alte Arzt das Zimmer nicht mehr. Er kam alle zwei Tage herauf, erkundigte sich nach dem Befinden, sprach zuweilen mit seinem Kollegen Doktor Deberle, der sich seinem hohen Alter gegenüber ehrerbietig zeigte. Übrigens durfte man nicht versuchen, Jeanne zu täuschen. Ihre Sinne waren von außergewöhnlicher Feinheit. Der Abbé und Herr Rambaud kamen jeden Abend, setzten sich, verbrachten dort eine Stunde in herzzerreißendem Schweigen. Als eines Abends der Doktor aufbrach, bedeutete Hélène Herrn Rambaud, er solle dessen Platz einnehmen und die Hand der Kleinen halten, damit sie das Fortgehen ihres guten Freundes nicht bemerke. Aber nach zwei oder drei Minuten öffnete Jeanne, die eingeschlafen war, die Augen, zog jäh ihre Hand zurück. Und sie weinte und sagte, man spiele ihr böse Streiche. »Hast du mich denn nicht mehr lieb, willst du denn nichts mehr von mir wissen?« fragte der arme Herr Rambaud immer wieder mit Tränen in den Augen. Sie sah ihn an, ohne zu antworten, sie schien ihn nicht einmal mehr erkennen zu wollen. Und der würdige Mann kehrte schweren Herzens in seinen Winkel zurück. Schließlich trat er nur noch geräuschlos ein und schlich sich in eine Fensternische, wo er, halb verborgen hinter einem Vorhang, den ganzen Abend über verharrte, benommen vor Kummer, die Blicke starr auf die Kranke 192
geheftet. Auch der Abbé war da mit seinem dicken, ganz blassen Kopf auf seinen mageren Schultern. Er schneuzte sich geräuschvoll, um seine Tränen zu verbergen. Die Gefahr, in der seine kleine Freundin schwebte, brachte ihn so durcheinander, daß er darüber seine Armen vergaß. Doch mochten die beiden Brüder auch in den Hintergrund des Zimmers zurückweichen, Jeanne fühlte, daß sie da waren; sie waren ihr lästig, sie wandte sich mit einem Ausdruck von Unbehagen um, selbst wenn sie vom Fieber betäubt war. Dann beugte sich ihre Mutter über sie, um die Worte zu vernehmen, die sie stammelte: »Oh! Mama, mir tut es weh ... All das erstickt mich ... Schiele die Leute weg, sofort, sofort ...« Hélène erklärte den beiden Brüdern so sanft wie möglich, daß die Kleine schlafen wolle. Sie verstanden, sie gingen mit gesenktem Kopf davon. Sowie sie fort waren, atmete Jeanne tief auf, warf einen kurzen Blick rings in das Zimmer, richtete dann wieder mit unendlicher Sanftheit ihre Blicke auf ihre Mutter und den Doktor. »Guten Abend«, murmelte sie. »Ich fühle mich wohl, bleibt hier.« Drei Wochen lang hielt sie so beide fest. Henri war zunächst zweimal am Tage gekommen, dann verbrachte er dort ganze Abende, er widmete dem Kind alle Stunden, über die er verfügen konnte. Anfänglich hatte er Nervenfieber befürchtet; doch es stellten sich dermaßen widersprüchliche Krankheitserscheinungen ein, daß er bald völlig ratlos war. Er sah sich zweifellos einem jener anämischen Leiden gegenüber, die so ungreifbar sind und deren Komplikationen sich furchtbar auswirken in dem Alter, da sich die Frau im Kinde heranbildet. Nacheinander befürchtete er einen Herzfehler und eine beginnende 193
Schwindsucht. Was ihn besorgte, war Jeannes nervöse Überreizung, die er nicht zu beruhigen wußte, war vor allem dieses heftige, hartnäckige Fieber, das dem wirksamsten Heilverfahren nicht weichen wollte. Er wandte bei dieser Kur all seine Tatkraft und all sein Wissen an, mit dem einzigen Gedanken, daß er sein Glück, sein Leben selbst pflege. Eine große Stille voll feierlicher Erwartung entstand in ihm; nicht ein einziges Mal in diesen drei Wochen des Bangens erwachte seine Leidenschaft; er erschauerte nicht mehr unter Hélènes Atem, und wenn ihre Blicke sich trafen, lag darin die freundschaftliche Traurigkeit zweier Wesen, die ein gemeinsames Unglück bedroht. Dennoch verschmolzen mit jeder Minute ihre Herzen mehr. Sie lebten nur noch von demselben Gedanken. Sobald er kam, erfuhr er, wenn er sie nur anschaute, wie Jeanne die Nacht verbracht hatte, und er brauchte nicht zu sprechen, damit sie erfahre, wie er die Kranke fand. Mit der Gefaßtheit einer Mutter hatte sie ihn übrigens schwören lassen, sie nicht zu täuschen, seine Befürchtungen auszusprechen. Da sie immer auf den Beinen war und in zwanzig Nächten keine drei Stunden hintereinander geschlafen hatte, legte sie übermenschliche Kraft und Ruhe an den Tag, während sie ohne eine Träne ihre Verzweiflung bezwang, um in diesem Kampf gegen die Krankheit ihres Kindes einen klaren Kopf zu behalten. Es war eine unermeßliche Leere in ihr und um sie her entstanden, in der die Welt, die sie umgab, ihre alltäglichen Empfindungen, ja das eigentliche Bewußtsein ihres eigenen Daseins versunken waren. Nichts war mehr vorhanden. Sie hing am Leben nur noch durch dieses teure, im Sterben liegende Geschöpf und diesen Mann, der ihr ein Wunder versprach. Ihn, und nur ihn allein sah sie, hörte 194
sie, ihn, dessen unbedeutendste Worte höchste Wichtigkeit annahmen, ihn, dem sie sich rückhaltlos überließ mit dem Traum, in ihm zu sein, um ihm etwas von ihrer Kraft zu verleihen. Dumpf, unbezwinglich, vollzog sich diese Besitzergreifung. Wenn Jeanne eine gefahrvolle Stunde durchmachte, was fast jeden Abend zu dem Zeitpunkt der Fall war, da das Fieber stieg, waren sie da, schweigend und allein, in diesem feuchtwarmen Zimmer; und wider ihren Willen, als hätten sie spüren wollen, daß sie zu zweit gegen den Tod standen, trafen sich ihre Hände auf dem Rande des Bettes, ein langer Händedruck brachte sie einander näher, die vor Unruhe und Mitleid zitterten, bis ein schwacher Seufzer des Kindes, ein ruhiger und regelmäßiger Atemzug ihnen sagte, daß die Krise vorüber war. Dann beruhigten sie einander mit einem Kopfnicken. Ihre Liebe hatte wieder einmal gesiegt. Und jedesmal wurde ihr Händedruck fester, schlossen sie sich enger zusammen. Eines Abends erriet Hélène, daß Henri ihr etwas verbarg. Seit zehn Minuten untersuchte er Jeanne, ohne ein Wort zu sprechen. Die Kleine klagte über unerträglichen Durst; sie würgte, ihre ausgetrocknete Kehle ließ ein ständiges Pfeifen hören. Dann hatte Schläfrigkeit sie befallen, ihr Gesicht war sehr rot, sie war so betäubt, daß sie nicht einmal mehr die Lider heben konnte. Und sie blieb regungslos liegen, man hätte sie für tot halten können, wäre nicht das Pfeifen ihrer Kehle gewesen. »Sie finden, daß es recht schlecht um sie steht, nicht wahr?« fragte Hélène in ihrer knappen Art. Er antwortete, nein, es sei keine Veränderung eingetreten. Aber er war sehr blaß, er blieb sitzen, niedergeschmettert von seiner Machtlosigkeit.
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Da sank sie trotz der Anspannung ihres ganzen Wesens auf einem Stuhl an der anderen Seite des Bettes zusammen. »Sagen Sie mir alles. Sie haben geschworen, mir alles zu sagen ... Ist sie verloren?« Und da er schwieg, fuhr sie heftig fort: »Sie sehen doch, daß ich stark bin ... Weine ich denn? Bin ich verzweifelt? – Sprechen Sie. Ich will die Wahrheit wissen.« Henri sah sie starr an. Er sprach langsam: »Nun gut«, sagte er, »wenn sie binnen einer Stunde nicht aus dieser Schlaftrunkenheit erwacht, ist es aus.« Hélène schluchzte nicht auf. Sie war ganz kalt, von einem Entsetzen erfüllt, bei dem sich ihr die Haare sträubten. Ihre Augen senkten sich auf Jeanne, sie fiel auf die Knie und nahm ihr Kind mit einer erhabenen Gebärde des Besitzergreifens in ihre Arme, um es gleichsam an ihrer Schulter zu bergen. Während einer langen Minute neigte sie ihr Gesicht ganz nahe zu dem des Kindes herab, trank es mit ihrem Blick, wollte ihm von ihrem Atem, von ihrem Leben geben. Das keuchende Atmen der kleinen Kranken wurde kürzer. »Kann man denn nichts tun?« begann sie wieder und hob den Kopf. »Warum bleiben Sie da sitzen? Tun Sie etwas.« Er machte eine mutlose Gebärde. »Tun Sie etwas ... Weiß ich es denn? Gleichviel was! Es muß doch etwas zu tun sein ... Sie werden sie doch nicht sterben lassen. Das ist nicht möglich!« »Ich werde alles tun«, sagte der Doktor lediglich. Er hatte sich erhoben. Jetzt begann ein äußerster Kampf. Seine ganze Kaltblütigkeit und Entschlossenheit eines praktischen Arztes kehrten zurück. Bisher hatte er 196
nicht gewagt, Gewaltmittel anzuwenden, da er fürchtete, diesen schon so lebensarmen kleinen Körper noch mehr zu schwächen. Doch er zögerte nicht mehr, er schickte Rosalie zwölf Blutegel holen; und er verbarg der Mutter nicht, daß das ein verzweifelter Versuch war, der ihr Kind retten oder töten konnte. Als die Blutegel da waren, sah er, daß Hélène für einen Augenblick einer Ohnmacht nahe war. »Oh, mein Gott«, murmelte sie, »mein Gott, wenn Sie sie töten ...« Er mußte ihr die Einwilligung entreißen. »Meinetwegen! Setzen Sie sie an, aber der Himmel sei mit Ihnen!« Sie hatte Jeanne nicht losgelassen, sie weigerte sich, wieder aufzustehen, weil sie ihren Kopf an ihrer Schulter behalten wollte. Sein Gesicht war kalt, er sprach nicht mehr, war vertieft in die Anstrengung, die er unternahm. Zunächst faßten die Blutegel nicht. Die Minuten verrannen, allein das Pendel der Uhr in dem großen, in Dunkel getauchten Zimmer tickte unbarmherzig und hartnäckig. Jede Sekunde trug eine Hoffnung davon. Im gelben Lichtkreis, der vom Lampenschirm herniederfiel, lag Jeanne da in anbetungswürdiger und leidender Nacktheit von wächserner Blässe inmitten der zurückgeschlagenen Bettücher. Mit trockenen Augen und zugeschnürter Kehle betrachtete Hélène diese kleinen schon abgestorbenen Glieder; und um einen Tropfen vom Blut ihrer Tochter zu sehen, hätte sie gern all ihr Blut hergegeben. Endlich kam ein roter Tropfen zum Vorschein, die Blutegel faßten. Einer nach dem anderen saugte sich fest. Das Leben des Kindes entschied sich. Es waren furchtbare Minuten höchster quälender Angst. War das der letzte Atemzug, 197
dieser Seufzer, den Jeanne ausstieß? War das die Rückkehr des Lebens? Einen Augenblick glaubte Hélène, die sie steif werden fühlte, daß sie hinüberginge, und sie hatte das rasende Verlangen, diese Tiere abzureißen, die so gierig tranken; doch eine höhere Macht hielt sie zurück, sie verharrte offenen Mundes und zu Eis erstarrt. Das Pendel fuhr fort zu ticken, das angsterfüllte Zimmer schien zu warten. Das Kind bewegte sich. Seine trägen Augenlider hoben sich, dann schloß es sie wieder, gleichsam verwundert und müde. Gleich einem Hauch lief ein leises Beben über sein Antlitz. Jeanne bewegte die Lippen. Gierig, gespannt, beugte sich Hélène in wilder Erwartung vor. »Mama, Mama«, murmelte Jeanne. Henri trat jetzt an das Kopfende neben die junge Frau und sagte: »Sie ist gerettet.« »Sie ist gerettet ... sie ist gerettet«, wiederholte Hélène stammelnd, von einer solchen Freude überflutet, daß sie neben dem Bett zur Erde geglitten war, und schaute bald ihre Tochter, bald den Doktor mit entrücktem Ausdruck an. Und mit einer ungestümen Bewegung erhob sie sich, warf sie sich Henri an den Hals. »Ach, ich liebe dich!« rief sie. Sie küßte ihn, sie umschlang ihn. Das war ihr Geständnis, dies so lange zurückgehaltene Geständnis, das ihr in dieser Krise ihres Herzens endlich entschlüpfte. Die Mutter und die Liebende verschmolzen miteinander in diesem köstlichen Augenblick; sie bot ihre Liebe dar, die von ihrer Dankbarkeit glühte. »Ich weine, siehst du, ich kann weinen«, stammelte sie. »Mein Gott! Wie ich dich liebe, und wie glücklich wir sein werden!« Sie duzte ihn, sie schluchzte. Der seit drei Wochen versiegte Quell ihrer Tränen rann über ihre Wangen. Sie 198
war in seinen Armen geblieben, schmeichelnd und zutraulich wie ein Kind, fortgerissen von diesem Aufblühen all ihrer Zärtlichkeiten. Dann fiel sie wieder auf die Knie, sie nahm wieder Jeanne, um sie an ihrer Schulter einzuschläfern; und während ihre Tochter ruhte, blickte sie dann und wann mit vor Leidenschaft feuchten Augen zu Henri auf. Es war eine Nacht der Glückseligkeit. Der Doktor blieb sehr lange. Jeanne, die ausgestreckt in ihrem Bett lag, die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen, ihren feinen braunen Kopf in der Mitte des Kopfkissens, schloß erleichtert und völlig erschöpft die Augen, ohne zu schlafen. Die Lampe auf dem Tischchen, das man neben den Kamin gerollt hatte, erhellte nur eine Ecke des Zimmers und ließ Hélène und Henri, die auf ihren gewohnten Plätzen zu beiden Seiten der schmalen Bettstatt saßen, in einem unbestimmten Dunkel. Doch das Kind trennte sie nicht, brachte sie vielmehr einander näher, erhöhte durch seine Unschuld das Glück ihres ersten Liebesabends. Beide genossen eine Beruhigung nach den langen Tagen der Angst, die sie soeben durchlebt hatten. Endlich fanden sie sich Seite an Seite wieder mit ihren weit aufgetanen Herzen; und sie verstanden wohl, daß sie sich noch mehr liebten in diesen gemeinsamen Schrecken und Freuden, aus denen sie erschauernd hervorgingen. Das Zimmer wurde mitschuldig, das so warm, so verschwiegen, von jener Frömmigkeit erfüllt war, die ihr bewegtes Schweigen um das Bett eines Kranken breitet. Hélène erhob sich für Augenblicke, ging auf Zehenspitzen, um einen Arzneitrank zu holen, die Lampe höher zu schrauben, Rosalie eine Anweisung zu geben, während der Doktor, der ihr mit den Augen folgte, ihr winkte, leise zu gehen. Wenn sie sich dann wieder setzte, tauschten sie 199
ein Lächeln. Sie sprächen kein Wort, ihre Aufmerksamkeit galt allein Jeanne, die gleichsam ihre Liebe selber war. Aber wenn sie sich mit ihr beschäftigten, wenn sie die Bettdecke wieder hochzogen oder ihr den Kopf höher legten, begegneten sich zuweilen ihre Hände, vergaßen sich einen Augenblick dicht aneinander. Das war die einzige Liebkosung, eine unwillkürliche und verstohlene Liebkosung, die sie sich gestatteten. »Ich schlafe nicht«, murmelte Jeanne, »ich weiß wohl, daß ihr da seid.« Da wurden sie froh, weil sie sie sprechen hörten. Ihre Hände trennten sich, sie hatten kein anderes Verlangen. Das Kind befriedigte und beruhigte sie. »Es geht dir gut, mein Liebling?« fragte Hélène, als sie sah, daß sich Jeanne bewegte. Jeanne antwortete nicht sofort. Sie sprach wie in einem Traum. »Oh, ja, ich fühle nichts mehr ... Aber ich höre euch, das macht mir Freude.« Nach einer Weile machte sie dann eine Anstrengung, hob die Augenlider, schaute sie an. Und mit einem überirdischen Lächeln schloß sie wieder die Augen. Als sich am nächsten Tag der Abbé und Herr Rambaud einstellten, machte Hélène unwillkürlich eine ungehaltene Bewegung. Sie störten sie in ihrem bißchen Glück. Und als sie sie voller Angst, eine schlechte Nachricht zu erhalten, nach Jeannes Befinden fragten, hatte sie die Grausamkeit, ihnen zu sagen, es gehe dem Kind nicht besser. Sie gab diese Antwort, ohne zu überlegen, getrieben von dem selbstsüchtigen Verlangen, die Freude, sie gerettet zu haben und allein darum zu wissen, für sich und Henri zu behalten. Warum wollte man an ihrem Glück teil haben? Es gehörte ihnen beiden, es wäre ihr 200
geringer erschienen, wenn es jemand gekannt hätte. Sie hätte geglaubt, ein Fremder dringe in ihre Liebe ein. Der Priester hatte sich dem Bett genähert. »Jeanne, wir sind es, deine guten Freunde ... erkennst du uns nicht?« Sie nickte ernst. Sie erkannte sie, aber sie mochte nicht reden, nachdenklich sah sie mit Blicken des Einverständnisses zu ihrer Mutter auf. Und die beiden guten Leute gingen fort, das Herz blutete ihnen noch mehr als an den anderen Abenden. Drei Tage danach gestattete Henri der Kranken das erste weichgekochte Ei. Das war ein ganz großes Ereignis. Jeanne wollte es unbedingt allein mit ihrer Mutter und dem Doktor bei geschlossener Tür essen. Da Herr Rambaud gerade da war, flüsterte sie ihrer Mutter, die schon eine Serviette als Tischdecke auf dem Bett ausbreitete, ins Ohr: »Warte, bis er fort ist.« Sowie er sich entfernt hatte, sagte sie dann: »Schnell, schnell ... Es ist netter, wenn keine Leute da sind.« Hélène hatte sie aufgesetzt, während Henri zwei Kissen hinter sie legte, um sie zu stützen. Und die Serviette vor sich ausgebreitet, einen Teller auf den Knien, wartete Jeanne mit einem Lächeln. »Ich werde es dir aufschlagen, willst du?« fragte ihre Mutter. »Ja, Mama, tue das.« »Und ich werde dir drei Brotstreifen schneiden«, sagte der Doktor. »Oh, vier, ich werde sicher vier essen, du wirst sehen.« Sie duzte den Doktor nun. Als er ihr den ersten Brotstreifen gab, ergriff sie seine Hand, und da sie die ihrer Mutter festgehalten hatte, küßte sie beide Hände, eine 201
nach der anderen, mit derselben leidenschaftlichen Zuneigung. »Komm, sei vernünftig«, begann Hélène wieder, die sah, daß sie nahe daran war, in Schluchzen auszubrechen. »Iß schön dein Ei, um uns Freude zu machen.« Da begann Jeanne zu essen, doch sie war so schwach, daß sie sich nach dem zweiten Brotstreifen ganz müde fühlte. Sie lächelte bei jedem Bissen und sagte, sie habe weiche Zähne. Henri redete ihr gut zu, Hélène hatte Tränen an den Wimpern. Mein Gott! Sie sah ihr Kind essen! Sie folgte jedem Bissen Brot, dieses erste Ei rührte sie bis ins Innerste. Der jähe Gedanke, Jeanne läge tot, starr und steif unter einem Laken, ließ sie zu Eis erstarren. Und die Kleine aß, sie aß so artig mit ihren langsam gewordenen Bewegungen, dem Zögern einer Genesenden! »Du wirst nicht mit mir schimpfen, Mama ... Ich tue, was ich kann, ich bin schon bei meinem dritten Streifen ... Bist du zufrieden?« »Ja, sehr zufrieden, mein Liebling ... Du weißt gar nicht, was für Freude du mir machst.« Und in dem Glücksüberschwang, der sie erstickte, vergaß sie sich, lehnte sie sich an Henris Schulter. Beide lachten dem Kinde zu. Doch dieses schien langsam von einem Unbehagen befallen zu werden: es warf verstohlene Blicke auf beide, dann senkte es den Kopf und aß nicht mehr, während ein Schatten von Mißtrauen und Zorn sein Antlitz erbleichen ließ. Man mußte es wieder hinlegen.
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Kapitel III Die Genesung dauerte Monate. Im August lag Jeanne noch immer im Bett. Sie stand gegen Abend ein oder zwei Stunden auf, und es war eine ungeheure Anstrengung für sie, bis zum Fenster zu gehen, wo sie in einem Sessel ausgestreckt blieb, im Angesicht von Paris, das von der untergehenden Sonne in Brand gesetzt war. Ihre armen Beine weigerten sich, sie zu tragen; wie sie mit einem blassen Lächeln sagte, hatte sie nicht einmal soviel Blut wie ein Vögelchen, man müsse warten, bis sie viel Suppe essen würde. Man schnitt ihr rohes Fleisch in die Brühe. Sie mochte das schließlich, weil sie gern hinuntergegangen wäre, um im Garten zu spielen. Diese Wochen, diese Monate, die verflossen, gingen eintönig und bezaubernd dahin, ohne daß Hélène die Tage zählte. Sie ging nicht mehr aus dem Haus, sie vergaß bei Jeanne die ganze Welt. Keine Nachricht von draußen drang bis zu ihr. Angesichts von Paris, das den Horizont mit seinem Rauch und seinem Lärm erfüllte, war das eine Abgeschiedenheit, entlegener und abgeschlossener als die heiligen, in den Felsen verlorenen Einsiedeleien. Ihr Kind war gerettet, diese Gewißheit genügte ihr; sie füllte die Tage damit aus, nach der Wiederkehr der Gesundheit zu spähen, glücklich über jede leichte Besserung, über einen strahlenden Blick, eine lustige Gebärde. Mit jeder Stunde fand sie immer mehr ihre Tochter wieder mit ihren schönen Augen und ihren Haaren, die wieder weich wurden. Es war ihr, als schenke sie Jeanne ein zweites Mal das Leben. Je langsamer die Auferstehung vor sich ging, um so mehr kostete sie deren Wonnen aus, entsann sich der fernen Tage, da sie sie stillte, und wenn sie sie wieder zu Kräften kommen 203
sah, empfand sie eine noch lebhaftere Rührung als damals, da sie ihre beiden Füßchen in ihren gefalteten Händen maß, um herauszubekommen, ob sie bald laufen würde. Dennoch blieb ihr eine Unruhe. Mehrmals hatte sie diesen Schatten bemerkt, der Jeannes Antlitz erbleichen ließ, die plötzlich mißtrauisch und scheu wurde. Warum veränderte sie sich so jäh mitten in der Fröhlichkeit? Tat ihr etwas weh, verbarg sie ihr ein Erwachen der Schmerzen? »Sag mir, mein Liebling, was hast du? – Eben hast du noch gelacht, und jetzt ist dir so zu weinen zumute. Antworte mir, hast du irgendwo ein Wehweh?« Doch Jeanne wandte heftig den Kopf ab, vergrub ihr Gesicht in das Kissen. »Ich habe nichts«, sagte sie kurz. »Bitte, laß mich.« Und sie grollte oft einen ganzen Nachmittag, hatte die Augen starr auf die Wand geheftet, war eigensinnig und verfiel in große Traurigkeit, die ihre untröstliche Mutter nicht begreifen konnte. Der Doktor wußte nicht, was er sagen sollte; die Anfälle stellten sich immer ein, wenn er da war, und er schrieb sie dem nervösen Zustand der Kranken zu. Vor allem empfahl er, man solle vermeiden, ihr zu widersprechen. Eines Nachmittags schlief Jeanne. Henri, der sehr mit ihr zufrieden gewesen war, hatte sich, mit Hélène plaudernd, die wieder mit ihren ewigen Handarbeiten vor dem Fenster beschäftigt war, im Schlafzimmer verweilt. Seit der furchtbaren Nacht, in der sie ihm in einem Aufschrei der Leidenschaft ihre Liebe gestanden hatte, lebten beide ohne eine Erschütterung, überließen sich diesem süßen Wissen, daß sie sich liebten, unbekümmert um den nächsten Tag, die Welt vergessend. An Jeannes Bett, in 204
diesem Zimmer, das noch vom Todeskampf des Kindes ergriffen war, schützte sie Keuschheit vor jeder Überrumpelung der Sinne. Er beruhigte sie, Jeannes Atem, den Atem dieses unschuldigen Kindes zu hören. Jedoch je mehr die Kranke wieder zu Kräften kam, desto mehr nahm auch beider Liebe an Kraft zu; Blut strömte ihr zu, zitternd, die gegenwärtige Stunde genießend, verweilten sie Seite an Seite, ohne sich fragen zu wollen, was sie tun würden, wenn Jeanne wieder auf den Beinen wäre und ihrer beider Leidenschaft frei und gesund hervorbräche. Stunden hindurch begnügten sie sich mit ein paar Worten, die dann und wann mit leiser Stimme gesprochen wurden, um die Kleine nicht aufzuwecken. Mochten die Worte auch alltäglich sein, sie rührten sie tief. An jenem Tag waren sie beide sehr bewegt. »Ich schwöre Ihnen, daß es ihr viel besser geht«, sagte der Doktor. »Keine vierzehn Tage mehr, und sie wird in den Garten hinuntergehen können.« Hélène stichelte eifrig mit ihrer Nadel. Sie murmelte: »Gestern ist sie wieder sehr traurig gewesen ... Aber heute früh hat sie gelacht, sie hat mir versprochen, artig zu sein.« Ein langes Schweigen trat ein. Das Kind schlief noch immer mit einem Schlummer, der sie beide in Frieden einhüllte. Wenn sie so ruhte, fühlten sie sich erleichtert, gehörten sie einander noch mehr. »Sie haben den Garten nicht mehr gesehen?« begann Henri erneut. »Er ist jetzt voller Blumen.« »Die Margeriten sind gewachsen, nicht wahr?« fragte sie. »Ja, das Beet ist prachtvoll ... Der wilde Wein ist bis in die Ulmen geklettert. Ein richtiges Blätternest.«
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Wieder trat Schweigen ein. Hélène, die zu nähen aufhörte, hatte ihn mit einem Lächeln angeschaut, und ihr gemeinsames Denken führte sie beide auf den tiefen Gartenwegen spazieren, wunderbaren, schattendunklen Gartenwegen, auf die Rosenregen niederging. Er hatte sich zu ihr hinabgeneigt und trank den leichten Verbenenduft, der von ihrem Morgenrock aufstieg. Doch ein Rascheln von Wäsche störte sie. »Sie erwacht«, sagte Hélène und hob den Kopf. Henri war zurückgewichen. Er warf ebenfalls einen Blick nach dem Bett. Jeanne hatte gerade ihr Kopfkissen in ihre Ärmchen genommen; und sie vergrub das Kinn in die Federn und wandte ihnen jetzt das Gesicht voll zu. Doch ihre Lider blieben geschlossen; sie schien von neuem einzuschlafen mit wieder langsamem und regelmäßigem Atem. »Nähen Sie denn immer?« fragte er und kam wieder näher. »Ich kann nicht mit müßigen Händen dasitzen«, antwortete sie. »Das tue ich ganz mechanisch, das ordnet meine Gedanken ... Stundenlang denke ich ohne Ermüdung an dasselbe.« Er sagte nichts mehr, er folgte ihrer Nadel, die mit einem kleinen rhythmischen Geräusch in den Kaliko stach; und es war ihm, als nehme dieser Faden ein wenig von ihrer beider Dasein mit und verknüpfe sie. Sie hätte stundenlang nähen können, er wäre dageblieben, um die Sprache der Nadel zu vernehmen, dieses Wiegen, das in ihnen immer dasselbe Wort hervorrief, ohne sie jemals zu ermüden. Das war ihr Verlangen; Tage, die man so in diesem friedlichen Winkel damit verbrachte, sich auseinanderzuschmiegen, während das Kind schlief und sie vermieden, sich zu bewegen, um seinen Schlaf nicht zu 206
stören. Köstliche Regungslosigkeit, Schweigen, in dem sie ihre Herzen hörten, unendliche Süße, die sie in einem einzigartigen Gefühl von Liebe und Ewigkeit entzückte! »Wie gut Sie sind, wie gut Sie sind«, murmelte er mehrmals, da er nur dieses Wort fand, um die Freude auszudrücken, die er ihr verdankte. Sie hatte wiederum den Kopf gehoben und empfand keine Verlegenheit dabei, sich so glühend geliebt zu fühlen. Henris Gesicht war ihrem Gesicht nahe. Einen Augenblick betrachteten sie einander. »Lassen Sie mich arbeiten«, sagte sie leise. »Ich werde sonst nie fertig.« Aber eine instinktive Unruhe veranlaßte sie in diesem Augenblick, sich umzuwenden. Und sie sah Jeanne, die sie mit ganz blassem Gesicht aus ihren weit aufgerissenen, tintenschwarzen Augen ansah. Das Kinn in den Federn vergraben, das Kopfkissen immer noch zwischen seine Ärmchen pressend, hatte sich das Kind nicht gerührt. Es hatte nur eben die Augen geöffnet, und es sah sie beide an. »Jeanne, was hast du?« fragte Hélène. »Bist du krank? Willst du etwas?« Jeanne antwortete nicht, sie rührte sich nicht, senkte nicht einmal die Lider über ihren großen, starren Augen, aus denen eine Flamme hervorbrach. Der scheue Schatten hatte sich auf ihre Stirn niedergesenkt, ihre Wangen erbleichten und fielen ein. Schon bog sie die Handgelenke nach hinten wie beim Nahen eines Krampfanfalls. Hélène erhob sich rasch und bat sie flehentlich, zu sprechen; aber die Kleine wahrte ihre eigensinnige Starrheit, sie heftete so finstere Blicke auf ihre Mutter, daß diese schließlich errötete und stammelte: »Doktor, sehen Sie doch, was fehlt ihr denn?« 207
Henri hatte seinen Stuhl von Hélènes Stuhl abgerückt. Er trat ans Bett, wollte eines von den beiden Händchen packen, die das Kissen so heftig umschlangen. Da, bei dieser Berührung, schien Jeanne einen Stoß zu bekommen. Mit einem Aufbäumen drehte sie sich zur Wand um und schrie: »Lassen Sie mich, Sie! – Sie tun mir weh!« Sie hatte sich unter die Decke verkrochen. Vergeblich versuchten beide eine Viertelstunde lang, sie mit sanften Worten zu beruhigen. Da sie nicht nachließen, richtete sie sich dann auf und flehte mit gefalteten Händen: »Ich bitte euch, laßt mich ... Ihr tut mir weh! Laßt mich!« Verstört setzte Hélène sich wieder an das Fenster. Aber Henri nahm seinen Platz neben ihr nicht wieder ein. Sie hatten endlich begriffen, Jeanne war eifersüchtig. Sie fanden keine Worte mehr. Der Doktor ging eine Minute schweigend auf und ab, dann zog er sich zurück, als er die bangen Blicke sah, die die Mutter auf das Bett warf. Sowie er sich entfernt hatte, kehrte sie zu ihrer Tochter zurück, nahm sie gewaltsam in ihre Arme. Sie sprach lange zu ihr. »Hör zu, mein Liebling, ich bin allein ... Sieh mich an, antworte mir ... Tut dir auch nichts weh? Also habe ich dir Kummer gemacht? Du mußt mir alles sagen ... Mir bist du böse? Was hast du denn auf dem Herzen?« Doch sie mochte sie noch so viel fragen, ihren Fragen alle möglichen Formen geben, Jeanne schwor, daß sie nichts habe. Dann schrie sie, sagte immer wieder: »Du hast mich nicht mehr lieb ... du hast mich nicht mehr lieb.« Und sie brach in heftiges Schluchzen aus, sie schlang ihre zuckenden Arme um den Hals ihrer Mutter und bedeckte ihr Gesicht mit gierigen Küssen. 208
Mit wundem Herzen, vor unsäglicher Traurigkeit erstickend, hielt Hélène sie lange an ihrer Brust, mischte ihre Tränen mit den ihren und leistete ihr den Schwur, niemals jemand so liebzuhaben wie sie. Von diesem Tag an erwachte Jeannes Eifersucht um eines Wortes, eines Blickes willen. Solange sie in Gefahr gewesen, hatte ein Instinkt sie diese Liebe hinnehmen lassen, die sie so zart rings um sich fühlte und die sie rettete. Doch jetzt wurde sie wieder kräftig, wollte sie ihre Mutter nicht mehr teilen. Sie faßte einen Groll gegen den Doktor, einen Groll, der heimlich größer wurde und in Haß umschlug, je besser es ihr ging. Das schwelte in ihrem eigensinnigen Kopf, in ihrem kleinen argwöhnischen und stummen Wesen. Niemals willigte sie ein, sich darüber deutlich auszusprechen. Sie selber wußte es nicht. Da tat es ihr weh, wenn der Doktor ihrer Mutter zu nahe kam; und sie legte beide Hände auf ihre Brust. Das war alles, das brannte in ihr, während ein wütender Zorn sie würgte und blaß werden ließ. Und sie konnte das nicht verhindern; sie fand die Menschen sehr ungerecht, sie sperrte sich noch mehr und antwortete nicht, wenn man sie schalt, weil sie so böse war. Hélène, die zitterte und nicht wagte, sie dazu zu drängen, sich über ihr Mißbehagen klarzuwerden, wandte die Augen ab vor diesem Blick eines elfjährigen Kindes, darin zu früh das ganze Leidenschaftsleben einer Frau aufglänzte. »Jeanne, du machst mir viel Kummer«, sagte sie mit Tränen in den Augen zu ihr, wenn sie sie in einem Anfall tollen Jähzorns sah, den sie zurückhielt und an dem sie erstickte. Aber dieses einst allmächtige Wort, das sie sonst tränenüberströmt in Hélènes Arme zurückführte, rührte sie nicht mehr. Ihr Charakter veränderte sich. Zehnmal an 209
einem Tage zeigte sie verschiedene Launen. Meistens hatte sie einen knappen und gebieterischen Ton an sich, wenn sie zu ihrer Mutter sprach, als spräche sie zu Rosalie, störte sie um der kleinsten Handreichungen willen, wurde ungeduldig, beklagte sich immerfort. »Gib mir eine Tasse Kräutertee ... Wie lange du machst! Man läßt mich vor Durst umkommen. – Es ist kein Zucker drin ... Ich will den Tee nicht.« Ungestüm legte sie sich wieder hin, sie stieß ein zweites Mal den Kräutertee zurück und sagte, es sei zuviel Zucker drin. Man wolle sie nicht mehr pflegen, man tue das absichtlich. Hélène, die fürchtete, sie noch mehr aufzuregen, antwortete nicht, sah sie an mit großen Tränen auf den Wangen. Jeanne hob ihre Wutanfälle vor allem für die Stunden auf, wenn der Arzt kam. Sowie er eintrat, legte sie sich flach im Bett hin, senkte sie tückisch den Kopf wie jene wilden Tiere, die Fremde nicht an sich herankommen lassen. An manchen Tagen weigerte sie sich zu sprechen, überließ ihm willenlos ihren Puls, ließ sich untersuchen, unbeweglich, die Augen auf die Zimmerdecke gerichtet. An anderen Tagen wollte sie ihn nicht einmal sehen, und sie hielt sich so wütend beide Hände vor die Augen, daß man ihr die Arme hätte verrenken müssen, um sie wegzuziehen. Eines Abends sagte sie, als ihre Mutter ihr einen Löffel Arznei hinhielt, dieses grausame Wort: »Nein, das vergiftet mich.« Hélène war erschüttert, ihr Herz von einem scharfen Schmerz durchbohrt, und sie fürchtete, dieses Wort zu ergründen.
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»Was sagst du, mein Kind?« fragte sie. »Weißt du denn, was du sagst? – Die Arzneien schmecken niemals gut. Du mußt das hier nehmen.« Doch Jeanne wahrte ihr starrköpfiges Schweigen, wandte den Kopf ab, um die Arznei nicht hinunterschlucken zu müssen. Von diesem Tage an war sie launenhaft, nahm die Medizin ein oder nahm sie nicht, je nach ihrer augenblicklichen Stimmung. Sie schnupperte an den Fläschchen, musterte sie mißtrauisch auf dem Nachttisch. Und wenn sie eins davon zurückgewiesen hatte, erkannte sie es wieder; sie wäre eher gestorben, als daß sie einen Tropfen davon getrunken hätte. Der würdige Herr Rambaud allein konnte sie manchmal dazu bewegen. Sie überschüttete ihn jetzt mit übertriebener Zärtlichkeit, besonders wenn der Doktor da war; und sie ließ leuchtende Blicke zu ihrer Mutter hinübergleiten, um zu sehen, ob sie unter dieser Zuneigung litt, die sie einem anderen bezeugte. »Ach, du bist es, lieber Onkel?« rief sie, sowie er erschien. »Komm, setz dich hierher, ganz nah .... Du hast Apfelsinen?« Sie richtete sich auf, sie stöberte lachend in seinen Taschen, in denen er immer Leckereien hatte. Dann küßte sie ihn, spielte dabei eine richtige Liebeskomödie, war befriedigt und gerächt durch die Qual, die sie auf dem blassen Gesicht ihrer Mutter zu erraten glaubte. Herr Rambaud strahlte, daß er auf diese Weise Frieden mit seinem kleinen Liebling geschlossen hatte. Doch im Vorzimmer hatte Hélène, die ihm entgegengegangen war, ihn soeben durch ein rasches Wort unterrichtet. Da schien er plötzlich die Arznei auf dem Tisch zu erblicken. »Sieh mal an! Du trinkst also Saft?« Jeannes Gesicht verfinsterte sich. Sie sagte halblaut:
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»Nein, nein, das schmeckt schlecht, das stinkt, ich trinke das nicht!« »Wie! Du trinkst das nicht?« erwiderte Herr Rambaud mit heiterer Miene. »Aber ich wette, daß das sehr gut schmeckt ... Willst du mir erlauben, etwas davon zu trinken?« Und ohne die Erlaubnis abzuwarten, goß er sich einen großen Löffel davon voll und schluckte es ohne eine Grimasse hinunter, wobei er so tat, als finde er eine feinschmeckerische Befriedigung daran. »Oh! Ausgezeichnet!« murmelte er. »Das ist aber nicht recht von dir ... Warte, nur ein kleines bißchen.« Jeanne, die ihren Spaß daran hatte, sträubte sich nicht mehr. Sie wollte gern alles nehmen, was Herr Rambaud gekostet hatte, sie folgte aufmerksam seinen Bewegungen, schien auf seinem Gesicht die Wirkung der Arznei zu erforschen. Und der gute Mann stopfte sich so einen Monat hindurch mit Medizin voll. Als Hélène ihm dankte, zuckte er die Achseln. »Lassen Sie doch! Das schmeckt sehr gut!« sagte er schließlich, war selber überzeugt davon und nahm zu seinem Vergnügen die Medizin der Kleinen mit ein. Er verbrachte die Abende bei ihr. Der Abbé kam regelmäßig alle zwei Tage. Und sie hielt sie so lange wie möglich fest, sie wurde böse, wenn sie sah, daß sie ihre Hüte nahmen. Jetzt fürchtete sie sich sehr davor, mit ihrer Mutter und dem Doktor allein zu sein, sie hätte gewünscht, daß immer Leute da wären, um die beiden zu trennen. Oft rief sie ohne jeden Grund Rosalie. Wenn sie allein blieben, ließen ihre Blicke sie nicht mehr los, verfolgten sie in alle Winkel des Zimmers. Sie erblaßte, sobald ihre Hände sich berührten. Wenn sie leise ein Wort wechselten, richtete sie sich gereizt auf und wollte es wissen. Sie duldete nicht einmal mehr, daß das Kleid 212
ihrer Mutter auf dem Teppich den Fuß des Doktors streifte. Sie konnten sich einander nicht nähern, sich nicht anblicken, ohne daß sie sogleich von einem Zittern befallen wurde. Ihr schmerzensreicher Leib, ihr armes kleines unschuldiges und krankes Wesen war von einer äußerst empfindlichen Reizbarkeit, die sie sich jäh umwenden ließ, wenn sie ahnte, daß sich die beiden hinter ihrem Rücken zugelächelt hatten. An den Tagen, da sie sich mehr liebten, spürte sie das in der Luft, die sie mit zu ihr brachten, und an diesen Tagen war sie noch finsterer, litt sie, wie nervöse Frauen beim Herannahen eines heftigen Gewitters leiden. In Hélènes Umgebung sah jedermann Jeanne als gerettet an. Sie selbst hatte sich allmählich dieser Gewißheit hingegeben. Daher behandelte sie schließlich die Krisen wie die unwichtigen Wehwehchen eines verwöhnten Kindes. Nach sechs Wochen der Angst, die sie gerade durchgemacht hatte, empfand sie das Bedürfnis zu leben. Ihre Tochter konnte jetzt ihre Pflege stundenlang entbehren; es war für sie eine köstliche Entspannung, eine Erholung und eine Lust, diese Stunden zu erleben, für sie, die seit so langer Zeit nicht mehr wußte, ob sie lebte. Sie durchstöberte ihre Schubfächer, fand voller Freude vergessene Gegenstände wieder, beschäftigte sich mit allerlei kleinen Verrichtungen, um den glücklichen Gang ihres täglichen Lebens wiederaufzunehmen. Und in diesem neuen Frühling wuchs ihre Liebe. Henri war gleichsam die Belohnung, die sie sich dafür zubilligte, daß sie so sehr gelitten hatte. In der Tiefe dieses Zimmers befanden sie sich außerhalb der Welt und hatten die Erinnerung an jedes Hindernis verloren. Nichts trennte sie, nur noch dieses Kind, das von ihrer Leidenschaft geschüttelt wurde. 213
Und gerade Jeanne war es, die beider Begierden aufpeitschte. Immer war sie zwischen ihnen und zwang sie mit ihren Blicken, die sie belauerten, zu einer ständigen Zurückhaltung, zu einer geheuchelten Gleichgültigkeit, aus der sie noch bebender hervorgingen. Tagelang konnten sie kein Wort wechseln, weil sie fühlten, daß sie sie belauschte, selbst wenn sie von Schlummer umfangen schien. Eines Abends hatte Hélène Henri hinausbegleitet; im Vorzimmer wollte sie gerade stumm und überwältigt in seine Arme sinken, als Jeanne hinter der wieder geschlossenen Tür mit wütender Stimme »Mama! Mama!« zu schreien anfing, als hätte sie die Rückwirkung des glühenden Kusses empfangen, mit dem der Arzt das Haar ihrer Mutter streifte. Rasch mußte Hélène zurückgehen, denn sie hatte soeben gehört, wie das Kind aus dem Bett sprang. Sie traf Jeanne dabei an, wie sie zitternd vor Kälte und außer sich im Hemd angelaufen kam. Jeanne wollte nicht mehr, daß man sie allein ließ. Von diesem Tag an blieb ihnen nichts als ein Händedruck beim Kommen und beim Gehen. Frau Deberle war seit einem Monat mit ihrem kleinen Lucien im Seebad; der Doktor, der über seine Mußestunden frei verfügen konnte, wagte nicht, mehr als zehn Minuten bei Hélène zu verbringen. Sie hatten ihre langen, so süßen Plaudereien vor dem Fenster eingestellt. Wenn sie einander ansahen, entbrannte eine immer größer werdende Flamme in ihren Augen. Was sie ganz besonders quälte, das waren Jeannes wechselnde Stimmungen. Sie zerfloß eines Morgens in Tränen, als der Doktor sich über sie neigte. Einen ganzen Tag lang schlug ihr Haß in eine fiebrige Zärtlichkeit um; sie wollte, daß er an ihrem Bett bliebe, sie rief ihre Mutter zwanzigmal, wie um sie beide Seite an Seite zu sehen, bewegt und lächelnd. Beglückt träumte Hélène schon von 214
einer langen Reihe ähnlicher Tage. Aber als Henri am nächsten Morgen kam, empfing ihn das Kind gleich so schroff, daß die Mutter ihn mit einem Blick anflehte, sich zurückzuziehen; die ganze Nacht hatte Jeanne sich hin und her geworfen in dem wütenden Bedauern, gut gewesen zu sein. Und alle Augenblicke wiederholten sich ähnliche Szenen. Nach den köstlichen Stunden, die das Kind ihnen in seinen Augenblicken leidenschaftlicher Zärtlichkeit gönnte, kamen die schlechten Stunden wie Peitschenhiebe, die in ihnen das Verlangen weckten, einander anzugehören. Da ließ ein Gefühl des Aufbegehrens Hélène allmählich in Zorn geraten. Gewiß, sie wäre für ihre Tochter gestorben. Aber warum quälte das bösartige Kind sie in dem Maße, jetzt, da es außer Gefahr war? Wenn sie sich einer dieser Träumereien überließ, die sie einwiegten, irgendeinem unbestimmten Traum, in dem sie sich mit Henri in unbekannten und zauberhaften Landen wandeln sah, erhob sich plötzlich Jeannes starres Bild; und ständig waren stechende Schmerzen in ihrem Schoß und in ihrem Herzen. Sie litt zu sehr unter diesem Kampf zwischen ihrer Mutterschaft und ihrer Liebe. Eines Nachts kam der Doktor trotz Hélènes ausdrücklichem Verbots. Seit acht Tagen hatten sie kein Wort wechseln können. Sie weigerte sich, ihn zu empfangen; doch er schob sie sanft in das Schlafzimmer, wie um sie zu beruhigen. Dort glaubten beide ihrer selbst sicher zu sein. Jeanne schlief tief. Sie setzten sich an ihren gewohnten Platz am Fenster, fern von der Lampe; und ruhiges Dunkel hüllte sie ein. Zwei Stunden lang plauderten sie, ihre Gesichter einander nähernd, um leiser zu sprechen, so leise, daß kaum ein Hauch sich in dem großen verschlafenen Zimmer rührte. Zuweilen wandten sie 215
den Kopf und warfen einen kurzen Blick auf das feine Profil Jeannes, deren gefaltete Händchen mitten auf dem Bettuch ruhten. Doch sie vergaßen sie schließlich. Ihr Gestammel wurde lauter. Hélène erwachte plötzlich, befreite ihre Hände, die unter Henris Küssen brannten. Und sie empfand kaltes Entsetzen vor der Schandtat, die sie da beinahe begangen hätten. »Mama! Mama!« stammelte Jeanne, die jäh unruhig wurde, wie von einem Alpdruck gequält. Mit schlafschweren Augen warf sie sich in ihrem Bett hin und her, während sie versuchte, sich aufzusetzen. »Verstecken Sie sich, ich flehe Sie an, verstecken Sie sich«, wiederholte Hélène voller Angst, »Sie töten sie, wenn Sie dableiben.« Henri verschwand rasch in der Fensternische hinter einem der blauen Samtvorhänge. Aber das Kind klagte weiter: »Mama, Mama, oh, wie tut das weh!« »Ich bin ja da, hier bei dir, mein Liebling ... Wo tut es dir denn weh?« »Ich weiß nicht ... Es ist dort, siehst du. Das brennt mich.« Sie hatte die Augen geöffnet, das Gesicht verzerrt, und sie legte ihre Händchen auf ihre Brust. »Das hat mich auf einmal gepackt ... Ich habe geschlafen, nicht wahr? Ich habe so etwas wie ein großes Feuer gespürt.« »Aber jetzt ist es vorüber; du spürst nichts mehr?« »Doch, doch, noch immer.« Und mit unruhigem Blick schaute sie im Zimmer umher. Jetzt war sie völlig wach. »Du bist allein, Mama?« fragte sie. »Aber ja, mein Liebling!« Sie schüttelte den Kopf, blickte um sich, witterte die Luft mit wachsender Erregung.
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»Nein, nein, ich weiß es genau ... Es ist jemand da ... Ich habe Angst, Mama, ich habe Angst! Oh, du betrügst mich, du bist nicht allein ...« Ein Nervenanfall brach aus, sie warf sich schluchzend in das Bett zurück und versteckte sich unter der Bettdecke, um gleichsam irgendeiner Gefahr zu entgehen. Wie von Sinnen, hieß Hélène Henri auf der Stelle fortgehen. Er wollte bleiben, um das Kind zu behandeln. Doch sie drängte ihn hinaus. Sie kam zurück, sie nahm Jeanne wieder in ihre Arme, während diese jene Klage wiederholte, die jedesmal ihr großes Leid zusammenfaßte: »Du hast mich nicht mehr lieb, du hast mich nicht mehr lieb!« »Still doch, mein Engel, sag das nicht«, rief die Mutter. »Ich habe dich mehr lieb als alles auf der Welt ... Du wirst schon sehen, ob ich dich lieb habe.« Sie umsorgte sie bis zum Morgen, war fest entschlossen, ihr Herz zu opfern, und entsetzt darüber, ihre Liebe so schmerzlich in diesem teuren Geschöpf widerhallen zu sehen. Ihre Tochter lebte ihre Liebe. Am nächsten Tage ließ sie den Hausarzt kommen. Doktor Bodin kam wie zufällig und untersuchte die Kranke, die er scherzend abhorchte. Dann hatte er eine lange Unterredung mit Doktor Deberle, der im Nebenzimmer geblieben war. Beide stimmten darin überein, daß der gegenwärtige Zustand keineswegs bedenklich sei, aber sie befürchteten Komplikationen, sie befragten Hélène ausführlich, da sie fühlten, daß sie hier vor einem jener Nervenleiden standen, die eine Geschichte in den Familien haben und die Wissenschaft verwirren. Da sagte sie ihnen, was sie schon zum Teil wußten, daß ihre Großmutter im Irrenhaus von Les Tulettes, einige Kilo217
meter von Plassans entfernt, eingesperrt war, daß ihre Mutter nach einem Leben voller Wirrnis und Nervenkrisen plötzlich an einer akuten Schwindsucht gestorben war. Sie selbst glich mehr ihrem Vater, dem sie im Gesicht ähnelte und dessen kluge Ausgeglichenheit sie hatte. Jeanne hingegen war ganz das Ebenbild der Großmutter; doch sie blieb schmächtig, sie würde niemals deren hohen Wuchs und deren starken Knochenbau bekommen. Die beiden Ärzte wiederholten noch einmal, daß große Schonung vonnöten sei. Man könne nicht Vorsichtsmaßregeln genug treffen bei diesem anämischen Leiden, die die Entwicklung so vieler grausamer Krankheiten begünstigen. Henri hatte dem alten Doktor Bodin mit einer Ehrerbietung zugehört, die er niemals einem Kollegen entgegengebracht hatte. Er zog ihn wegen Jeanne zu Rate und wirkte dabei wie ein Schüler, der an sich selber zweifelt. Die Wahrheit war, daß er schließlich vor diesem Kinde zitterte, es entglitt seinem Wissen, er fürchtete, es zu töten und die Mutter zu verlieren. Eine Woche verging. Hélène empfing ihn nicht mehr im Zimmer der Kranken. Da stellte er, ins Herz getroffen, krank geworden, von selbst seine Besuche ein. Gegen Ende August konnte Jeanne endlich aufstehen und in der Wohnung umhergehen. Sie lachte erleichtert; in vierzehn Tagen hatte sie nicht einen Anfall gehabt. Ihre Mutter, die ganz ihr gehörte, immer bei ihr war, hatte genügt, um sie zu heilen. In der ersten Zeit blieb das Kind mißtrauisch, kostete ihre Küsse, folgte beunruhigt ihren Bewegungen, verlangte, daß sie ihr die Hand hielt vor dem Einschlafen, und wollte sie während des Schlafes nicht loslassen. Als sie dann sah, daß niemand mehr heraufkam, daß sie ihre Mutter mit niemand mehr teilen 218
mußte, hatte sie wieder Vertrauen gefaßt, war glücklich, ihr gutes Leben von früher wieder zu beginnen, da sie beide allein vor dem Fenster arbeiteten. Mit jedem Tag wurde sie rosiger. Rosalie sagte, sie blühe sichtlich auf. An manchen Abenden jedoch ließ Hélène sich bei Anbruch der Dunkelheit gehen. Seit der Krankheit ihrer Tochter blieb sie ernst, ein wenig blaß, mit einer großen Falte auf der Stirn, die sie vorher nicht hatte. Und als Jeanne einen dieser Augenblicke der Ermattung, eine dieser verzweifelten und leeren Stunden bemerkte, fühlte sie sich selbst sehr unglücklich, das Herz war ihr schwer von unbestimmten Gewissensbissen. Sanft und ohne zu sprechen hängte sie sich an ihrer Mutter Hals. Dann fragte sie leise: »Bist du glücklich, meine liebe gute Mutter?« Hélène zuckte zusammen. Sie antwortete hastig: »Aber ja, mein Liebling.« Das Kind ließ nicht nach. »Bist du glücklich, bist du glücklich? – Ganz gewiß?« »Ganz gewiß ... Warum soll ich nicht glücklich sein?« Da schloß Jeanne sie fest in ihre kleinen Arme, um sie gleichsam zu belohnen. Sie wolle sie so sehr lieben, sagte sie, so sehr, daß man in ganz Paris keine ebenso glückliche Mutter hätte finden können.
Kapitel IV Im August war Doktor Deberles Garten eine wahre Laubgrotte. Am Gitter verflochten der Flieder und die Bohnenbäume ihre Zweige miteinander, während die Kletterpflanzen, Efeu, Geißblatt, wilder Wein, von allen 219
Seiten zahllose Schößlinge trieben, die sich schlängelten, sich umeinanderwanden, wieder herabregneten, bis zu den Ulmen im Hintergrund drangen, nachdem sie die Mauern entlanggelaufen waren; und man hätte meinen mögen, dort sei ein Zelt von einem Baum zum anderen gespannt, die Ulmen reckten sich in die Höhe wie mächtige und dichtbelaubte Pfeiler eines Salons aus lauter Grün. Dieser Garten war so klein, daß das geringste Stück Schatten ihn zudeckte. In der Mitte bildete die Sonne mittags einen einzigen gelben Fleck und hob die Rundung der Rasenfläche mit ihren zwei Blumenbeeten an den Seiten hervor. Dicht an der Freitreppe stand ein großer Rosenstrauch, riesige Teerosen, die zu Hunderten erblühten. Wenn abends die Hitze nachließ, wurde ihr Duft durchdringend, unter den Ulmen lastete schwer warmer Rosengeruch. Und nichts war bezaubernder als dieser verlorene, so balsamisch durchduftete Winkel, in den die Nachbarn nicht hineinschauen konnten und der einen Urwaldtraum heraufbeschwor, während Drehorgeln in der Rue Vineuse Polka spielten. »Madame«, sagte Rosalie jeden Tag, »warum geht das kleine Fräulein nicht in den Garten hinunter? – Sie würde sich unter den Bäumen hübsch wohl fühlen.« In Rosalies Küche hinein wucherten die Zweige einer Ulme. Sie riß die Blätter mit der Hand ab, sie lebte voller Freude über diesen riesigen Strauß, hinter dem sie nichts mehr sehen konnte. Aber Hélène antwortete: »Sie ist noch nicht kräftig genug, der kühle Schatten würde ihr schaden.« Rosalie war jedoch starrköpfig. Wenn sie einen guten Einfall zu haben glaubte, ließ sie ihn nicht so leicht fahren. Madame sei im Unrecht, wenn sie glaube, der Schat220
ten könne schaden. Es geschehe wohl vielmehr deshalb nicht, weil Madame fürchte, die Leute zu stören; aber sie täusche sich, das Fräulein würde ganz gewiß niemanden stören, denn es sei niemals eine Menschenseele da, der Herr lasse sich nicht mehr blicken, die Dame werde bis Mitte September im Seebad bleiben; das sei so gewiß, daß die Concierge Zéphyrin gebeten habe, im Garten kurz zu harken, und Zéphyrin und sie seit zwei Sonntagen dort den Nachmittag verbrächten. Oh, das sei schön, unglaublich schön! Hélène weigerte sich noch immer; Jeanne schien große Lust zu haben, in den Garten zu gehen, von dem sie während ihrer Krankheit oft gesprochen hatte; doch ein eigentümliches Gefühl, eine Befangenheit, die sie die Augen niederschlagen ließ, schien sie zu hindern, bei ihrer Mutter darauf zu bestehen. Schließlich erschien am folgenden Sonntag das Hausmädchen ganz außer Atem und sagte: »Oh! Madame, es ist niemand da, ich schwöre es Ihnen, nur ich bin da und Zéphyrin, der den Garten harkt ... Lassen Sie sie herunterkommen. Sie können sich nicht vorstellen, wie schön es da ist. Kommen Sie doch ein bißchen, bloß ein bißchen, um mal zu sehen.« Und sie wirkte so überzeugt, daß Hélène nachgab. Sie hüllte Jeanne in ein Umschlagetuch ein und sagte zu Rosalie, sie solle eine große Decke nehmen. Das Kind, das entzückt war, in einem stummen Entzücken, das nur seine großen leuchtenden Augen zu erkennen gaben, wollte ohne Hilfe die Treppe hinabgehen, um seine Kraft zu zeigen. Hinter ihm streckte seine Mutter die Arme vor, bereit, es zu stützen. Unten stießen beide einen Schrei aus, als sie die Füße in den Garten setzten. Sie erkannten ihn nicht wieder, so wenig glich dieses undurchdringliche 221
Dickicht dem sauberen und bürgerlichen Fleckchen Erde, das sie im Frühling gesehen hatten. »Habe ich es Ihnen nicht gesagt!« meinte Rosalie triumphierend immer wieder. Die dichten Sträucher hatten sich ausgebreitet, verwandelten die Gartenwege in schmale Pfade und bildeten ein richtiges Labyrinth, in dem die Röcke beim Vorübergehen hängenblieben. Man wähnte sich in fernem Waldesdickicht unter dem Laubgewölbe, das ein grünes zauberhaft mildes und geheimnisvolles Licht hindurchfallen ließ. Hélène suchte die Ulme, an deren Fuß sie im April gesessen hatte. »Aber ich will nicht«, sagte sie, »daß Jeanne dort bleibt. Im Schatten ist es zu kühl.« »Warten Sie doch«, entgegnete das Hausmädchen. »Sie werden gleich sehen.« Mit drei Schritten war man durch diesen Wald gegangen. Und dort mitten in dem Nest aus grünem Laub fand man auf dem Rasen den Sonnenschein, einen breiten Goldstrahl, der warm und still wie in einer Lichtung herniederfiel. Wenn man hochblickte, sah man nur Zweige, die sich anmutig wie Gipurespitze vom blauen Tuch des Himmels abhoben. Die Teerosen des großen Rosenstrauches, ein wenig welk durch die Hitze, schliefen auf ihren Stielen. Auf den Blumenbeeten woben rote und weiße Margeriten in einem altmodischen Farbton das Muster von alten Wandteppichen. »Sie werden gleich sehen«, wiederholte Rosalie. »Lassen Sie mich nur machen. Ich mach das schon.« Sie hatte die Decke zusammengelegt und am Rande eines Gartenweges an der Stelle ausgebreitet, wo der Schatten aufhörte. Dann sagte sie zu Jeanne, deren Schultern von ihrem Umschlagetuch bedeckt waren, sie solle sich hinsetzen 222
und ihre Beinchen ausstrecken. Auf diese Weise hatte das Kind den Kopf im Schatten und die Füße in der Sonne. »Fühlst du dich wohl, mein Liebling?« fragte Hélène. »O ja«, antwortete Jeanne. »Du siehst, mir ist nicht kalt. Ich möchte meinen, ich wärme mich an einem großen Feuer ... Oh, wie man aufatmet, wie gut das tut!« Hélène, die mit unruhigem Ausdruck die geschlossenen Fensterläden des vornehmen Hauses betrachtete, sagte jetzt, sie gehe für einen Augenblick wieder nach oben. Und sie richtete alle erdenklichen Ermahnungen an Rosalie: sie solle gut auf die Sonne achten, sie solle Jeanne nicht länger als eine halbe Stunde dort lassen, sie solle nicht die Augen von ihr wenden. »Hab doch keine Angst, Mama!« rief die Kleine lachend. »Hier kommen ja keine Wagen vorbei.« Als sie allein war, nahm sie Hände voller Kieselsteine, die neben ihr lagen, und spielte damit, indem sie sie von einer Hand in die andere regnen ließ. Währenddessen harkte Zéphyrin. Als er die gnädige Frau und das kleine Fräulein gesehen, hatte er schleunigst seinen Soldatenrock wieder angezogen, der an einem Ast hing; und ehrerbietig blieb er stehen und harkte nicht weiter. Während Jeannes Krankheit war er wie üblich jeden Sonntag gekommen; doch er schlich so behutsam in die Küche, daß Hélène niemals etwas von seiner Anwesenheit geahnt hätte, wenn Rosalie nicht jedesmal in seinem Namen nach dem Befinden gefragt hätte, wobei sie hinzufügte, daß er an dem Kummer des Hauses Anteil nehme. Oh, er gewöhnte sich an gutes Benehmen, wie sie sagte; er schliff sich hübsch ab in Paris. Daher nickte er, auf seine Harke gestützt, Jeanne mitfühlend zu. Als sie ihn erblickte, lächelte sie. »Ich bin sehr krank gewesen«, sagte sie. 223
»Ich weiß, Mademoiselle«, antwortete er und legte die Hand aufs Herz. Dann wollte er sich etwas Nettes einfallen lassen, einen Scherz, der die Stimmung aufheitern sollte. Und er fügte hinzu: »Ihre Gesundheit hat sich ausgeruht, sehen Sie. Jetzt wird tüchtig losgelegt.« Jeanne hatte wieder eine Handvoll Kiesel genommen. Zufrieden mit sich, still vor sich hin lachend mit einem Lachen, das ihm den Mund von einem Ohr zum anderen spaltete, fing er wieder an, mit der ganzen Kraft seiner Arme zu harken. Die Harke machte auf dem Kies ein regelmäßiges und kreischendes Geräusch. Nach ein paar Minuten entfernte sich Rosalie, die sah, daß die Kleine glücklich und recht ruhig in ihr Spiel vertieft war, Schritt um Schritt von ihr, gleichsam angelockt vom Knirschen der Harke. Zéphyrin war auf der anderen Seite des Rasens in der prallen Sonne. »Du schwitzt wie ein Ochse«, murmelte sie. »Zieh doch deinen Rock aus. Das Fräulein wird nicht beleidigt sein!« Er zog seinen Rock aus und hängte ihn wiederum an einen Ast. Seine rote Hose, die am Bund durch einen Riemen, festgehalten wurde, reichte ihm sehr hoch hinauf, während sein Hemd aus grober ungebleichter Leinwand, das ein Schnürchen am Hals zusammenhielt, so steif war, daß es sich bauschte und ihn noch rundlicher machte. Er krempelte die Ärmel hoch und wiegte sich in den Hüften dabei, bloß um Rosalie wieder einmal zwei flammende Herzen zu zeigen, die er sich beim Militär hatte eintätowieren lassen mit dem Wahlspruch: Auf ewig! »Bist du heute früh zur Messe gegangen?« fragte Rosalie, die ihn jeden Sonntag diesem Verhör unterzog.
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»Zur Messe ... zur Messe ...«, wiederholte er grinsend. Seine beiden roten Ohren standen ab von dem sehr kurz geschorenen Kopf, und seine ganze runde, kleine Gestalt drückte eine zutiefst spöttische Haltung aus. »Freilich bin ich zur Messe gegangen«, sagte er schließlich. »Du lügst!« entgegnete Rosalie heftig. »Ich sehe genau, daß du lügst, deine Nase wackelt! – Ach! Zéphyrin, du richtest dich zugrunde, du hast nicht einmal Religion mehr ... Nimm dich in acht!« Statt aller Antwort wollte er sie mit einer galanten Handbewegung um den Leib fassen. Doch sie schien entrüstet zu sein, sie rief: »Du mußt deinen Rock wieder anziehen, wenn du nicht anständig bist! – Schämst du dich nicht! Das Fräulein sieht zu dir her.« Da harkte Zéphyrin noch tüchtiger. Jeanne hatte tatsächlich aufgeblickt. Das Spiel ermüdete sie etwas; nach den Kieselsteinen hatte sie Blätter aufgelesen und Gras abgerissen; doch eine Schlaffheit überkam sie, sie spielte lieber gar nichts tun, die Sonne begucken, die allmählich an ihr höher stieg. Vorhin waren allein ihre Beine bis zu den Knien in dieses warme Strahlenbad getaucht; jetzt reichte es ihr bis zur Taille, und die Wärme stieg noch immer, sie fühlte sie in sich wachsen wie eine Liebkosung, die sie sehr nett kitzelte. Vor allem machten ihr die runden Flecke von schönem goldenem Gelb Spaß, die auf ihrem Umschlagetuch tanzten. Man hätte meinen können, es seien Tiere. Und sie bog den Kopf hintüber, um nachzusehen, ob sie ihr bis ins Gesicht klettern würden. Unterdessen hatte sie ihre Händchen im Sonnenschein gefaltet. Wie mager sie wirkten! Wie durchsichtig sie waren! Die Sonne schien hindurch, und sie kamen ihr dennoch hübsch vor, rosig wie Muscheln, fein und länglich gleich 225
den Patschhändchen eines Jesusknaben. Die frische Luft, diese großen Bäume um sie her, diese Hitze hatten sie dann ein wenig benommen gemacht. Sie glaubte zu schlafen, und dennoch sah sie, hörte sie. Das war sehr schön, sehr lieblich. »Mademoiselle, wenn Sie sich etwas zurücksetzen wollten«, sagte Rosalie, die zu ihr zurückgekommen war. »Die Sonne wärmt Sie zu sehr.« Aber mit einer Gebärde lehnte Jeanne ab, sich von der Stelle zu rühren. Sie fühlte sich zu wohl. Jetzt beschäftigte sie sich nur noch mit dem Hausmädchen und dem kleinen Soldaten und gab damit der Neugierde nach, die Rinder für die Dinge haben, die man vor ihnen verbirgt. Verstohlen senkte sie die Augen und wollte glauben machen, sie schaue nicht hin; und zwischen ihren langen Wimpern hindurch spähte sie, während sie ganz eingeschlummert zu sein schien. Rosalie blieb noch ein paar Minuten da. Sie konnte dem Geräusch der Harke nicht widerstehen. Von neuem holte sie Schritt für Schritt, gleichsam unwillkürlich, Zéphyrin wieder ein. Sie schalt ihn wegen seines neuen Benehmens aus; doch im Grunde war sie tief beeindruckt, im Innersten gepackt und voller heimlicher Bewunderung. Der kleine Soldat legte sich bei seinen langen Bummeleien mit den Kameraden im Jardin des Plantes und auf dem Place du Château- d'Eau, wo seine Kaserne stand, das schlagfertige und blumige Gehabe eines Pariser Stoppelhopsers zu. Er lernte dessen Wortgeklingel, die galanten Ergüsse, den geschraubten Stil, der so schmeichelhaft für die Damen ist. Manchmal blieb ihr die Luft weg vor Vergnügen, wenn sie Redensarten anhörte, die er mit einem Wiegen der Schultern anbrachte und in denen Worte, die sie nicht verstand, sie ganz rot 226
werden ließen vor Stolz. Die Uniform behinderte ihn nicht mehr; er warf mit kecker Miene die Arme, als wolle er sie sich ausrenken; er hatte vor allem eine Art, seinen Tschako im Nacken zu tragen, so daß sein rundes Gesicht, mit der Nase voran, unbedeckt blieb, während der Tschako lässig das Schlingern des Körpers begleitete. Zudem nahm er sich Freiheiten heraus, trank ein Schnäpschen, faßte die Frauen um den Leib. Sicher kannte er sich jetzt besser als sie darin aus, mit seiner Art zu grinsen und in Andeutungen zu reden. Paris machte ihn zu gewitzigt. Und entzückt und wütend, pflanzte sie sich vor ihm auf und schwankte zwischen dem Verlangen, ihn zu kratzen oder sich Dummheiten sagen zu lassen. Inzwischen hatte Zéphyrin harkend auf dem Gartenweg seine Runde gemacht. Er befand sich hinter einem großen Spindelbaum und warf Rosalie heimlich verliebte Blicke zu, während er sie mit seiner Harke nach und nach an sich zu ziehen schien. Als sie ganz nah war, kniff er sie derb in die Hüfte. »Schrei nicht, das mache ich, weil ich dich liebe!« murmelte er und rollte das R dabei. »Und nimm das noch dazu!« Er küßte sie auf gut Glück aufs Ohr. Als Rosalie ihn dann auch bis aufs Blut kniff, drückte er ihr noch einen Kuß auf, diesmal auf die Nase. Sie war scharlachrot, im Grunde recht glücklich und außer sich, weil sie ihm wegen des Fräuleins keine Ohrfeige langen konnte. »Ich habe mich gestochen«, sagte sie, als sie zu Jeanne zurückkam, um den leichten Schrei zu erklären, den sie ausgestoßen hatte. Doch das Kind hatte durch die dünnen Zweige des Spindelbaumes hindurch die Szene gesehen. Die rote Hose und das Hemd des Soldaten bildeten einen grellen Fleck im Grün. Jeanne sah langsam zu Rosalie hoch, 227
schaute sie einen Augenblick an, während diese mit ihren feuchten Lippen und ihrem zerzausten Haar noch mehr errötete. Dann senkte sie von neuem die Lider, nahm wieder eine Handvoll Kiesel, hatte nicht die Kraft zu spielen; und sie blieb sitzen, hatte beide Hände in der warmen Erde, war schläfrig im starken Flimmern der Sonne. Eine Woge von Gesundheit stieg wieder in ihr auf und benahm ihr den Atem. Die Bäume kamen ihr riesenhaft und gewaltig vor, die Rosen ertränkten sie in Duft. Überrascht und entzückt, dachte sie an unbestimmte Dinge. »Woran denken Sie denn, Mademoiselle?« fragte Rosalie unruhig. »Ich weiß nicht, an nichts«, antwortete Jeanne. »Ach doch, ich weiß ... Siehst du, ich möchte gern sehr alt werden ...« Und sie konnte diesen Ausspruch nicht erklären. Er sei ein Gedanke, der ihr eben gekommen, sagte sie. Doch als sie am Abend nach dem Essen versonnen dasaß und ihre Mutter sie fragte, stellte sie plötzlich die Frage: »Mama, heiraten sich Vettern und Kusinen?« »Gewiß«, sagte Hélène. »Warum fragst du mich danach?« »Bloß so ... Bloß um 's zu wissen ...« Hélène war übrigens an ihre seltsamen Fragen gewöhnt. Das Kind fühlte sich so wohl durch die im Garten verbrachte Stunde, daß es an allen Sonnentagen hinunterging. Hélènes Widerwille schwand allmählich; das Haus blieb geschlossen, Henri zeigte sich nicht, sie war schließlich geblieben und hatte sich zu Jeanne auf einen Zipfel der Decke gesetzt. Doch am folgenden Sonntag
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wurde sie unruhig, als sie am Morgen die Fenster offen sah. »Na ja, man lüftet halt die Zimmer«, sagte Rosalie, um sie zu bewegen hinunterzugehen. »Aber bei meiner Seele, es ist niemand da!« An jenem Tage war es noch wärmer. Ein Hagel von Goldpfeilen durchsiebte das Laub. Jeanne, die kräftig zu werden begann, ging fast zehn Minuten auf und ab, auf den Arm ihrer Mutter gestützt. Dann kehrte sie ermüdet auf ihre Decke zurück und machte Hélène ein Plätzchen frei. Beide lächelten einander zu und hatten ihren Spaß daran, sich so auf der Erde zu sehen. Zéphyrin, der mit Harken fertig war, half Rosalie Petersilie pflücken, die in verlorenen Büscheln längs der Mauer im Hintergrund wuchs. Auf einmal gab es großen Lärm im Haus, und als Hélène zu entfliehen gedachte, erschien Frau Deberle auf der Freitreppe. Laut sprechend und sehr geschäftig kam sie im Reisekleid daher. Doch als sie Frau Grandjean und ihre Tochter auf der Erde vor dem Rasen erblickte, stürzte sie auf sie zu, überschüttete sie mit Liebkosungen und machte sie benommen mit Worten. »Wie! Sie sind es! – Ach, wie freue ich mich, Sie zu sehen! – Gib mir einen Kuß, meine kleine Jeanne. Du bist recht krank gewesen, nicht wahr, mein armes Kätzchen? Aber es geht besser, du siehst ja ganz rosig aus ... Wie oft habe ich an Sie gedacht, meine Liebe! Ich habe Ihnen geschrieben, haben Sie meine Briefe erhalten? Sie müssen schreckliche Stunden durchgemacht haben. Nun, das ist vorbei ... Wollen Sie mir erlauben, Sie zu küssen?«
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Hélène war aufgestanden. Sie mußte sich zwei Küsse auf die Wangen drücken lassen und sie erwidern. Diese Liebkosungen ließen sie zu Eis erstarren, sie stammelte: »Sie werden entschuldigen, daß wir in Ihren Garten eingedrungen sind.« »Sie wollen wohl scherzen!« entgegnete Juliette stürmisch. »Sind Sie nicht hier wie zu Hause?« Sie verließ sie einen Augenblick, stieg die Freitreppe wieder hinauf, um durch die weit offenstehenden Zimmer zu rufen: »Pierre, vergessen Sie nichts, es sind siebzehn Gepäckstücke!« Aber sie kam sofort zurück und erzählte von ihrer Reise. »Oh, eine köstliche Saison. Wir waren in Trouville, wie Sie wissen. Eine Menschenmenge am Strand, zum Erdrücken. Und alles, was zur besten Gesellschaft gehört ... Ich habe eine Unzahl Besuche gehabt, oh, eine Unzahl Besuche! – Papa hat vierzehn Tage mit Pauline dort verbracht. Wie dem auch sei, man freut sich, wieder nach Hause zu kommen ... Ach, ich habe Ihnen nicht gesagt ... Doch nein, ich erzähle Ihnen das später.« Sie bückte sich, küßte Jeanne von neuem, wurde dann ernst und stellte die Frage: »Bin ich braun geworden?« »Nein, ich merke nichts«, antwortete Hélène, die sie anschaute. Juliette hatte ihre klaren und leeren Augen, ihre molligen Hände, ihr hübsches liebenswürdiges Gesicht. Sie alterte nicht; selbst die Seeluft hatte ihrer heiteren Unbekümmertheit nichts anhaben können. Sie schien von einer Besorgung in Paris, von einem Rundgang zu ihren Lieferanten zurückzukehren, mit dem Widerschein der Schaufenster auf ihrer ganzen Gestalt. Sie floß jedoch über vor Herzlichkeit, und Hélène war um so verlegener, als sie selber steif und schlecht war. Jeanne rührte sich nicht auf ihrer Decke; sie hob nur ihren feinen leidenden
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Kopf, hatte die Hände fröstelnd in der Sonne zusammengepreßt. »Warten Sie, Sie haben Lucien noch nicht gesehen«, rief Juliette. »Sie müssen ihn sehen ... Er ist toll.« Und als man ihr den kleinen Jungen gebracht hatte, dem das Stubenmädchen gerade den Reisestaub abwusch, schob sie ihn hin und her, drehte sie ihn herum, um ihn zu zeigen. Lucien, der dick, pausbäckig, ganz sonnenverbrannt war vom Spielen am Strand im Seewind, strotzte vor Gesundheit, er war sogar ein wenig schwerfällig und machte ein mürrisches Gesicht, weil man ihn eben gewaschen hatte. Er war noch nicht richtig abgetrocknet, eine Wange war noch feucht, rosig vom Reiben mit dem Handtuch. Als er Jeanne erblickte, blieb er überrascht stehen. Sie schaute ihn an mit ihrem armen abgemagerten Gesicht, das bleich war wie Linnen in dem schwarzen Geriesel ihrer Haare, deren Locken bis auf die Schultern fielen. Ihre schönen, großen und traurigen Augen beherrschten ihr ganzes Gesicht, und trotz der starken Hitze zitterte sie ein wenig, während sie ihre fröstelnden Hände immer noch wie vor einem großen Feuer ausstreckte. »Na! Willst du ihr keinen Kuß geben?« sagte Juliette. Doch Lucien schien Angst zu haben. Endlich entschloß er sich dazu mit viel Vorsicht, die Lippen vorschiebend, um der Kranken möglichst wenig nahe zu kommen. Dann wich er schnell zurück. Hélène standen große Tränen in den Augen. Wie gesund dieses Kind war! Und ihre Jeanne war so außer Atem, nur weil sie einmal um den Rasen gegangen war! Es gab doch recht glückliche Mütter! Juliette begriff mit einem Male ihre Grausamkeit. Da wurde sie ärgerlich auf Lucien. 231
»Ach, du bist ein Dummkopf! – Küßt man so ein Fräulein? – Sie haben keine Vorstellung, meine Liebe, er ist unmöglich geworden in Trouville.« Sie verhaspelte sich. Zu ihrem Glück erschien der Doktor. Sie half sich mit einem Ausruf aus der Verlegenheit. »Ach, da ist ja Henri!« Er erwartete sie erst am Abend. Aber sie hatte einen anderen Zug genommen. Und sie erklärte lang und breit, warum, ohne daß es ihr gelang, sich klar auszudrücken. Der Doktor hörte lächelnd zu. »Kurz und gut, ihr seid da«, sagte er. »Das ist die Hauptsache.« Er hatte einen stummen Gruß an Hélène gerichtet. Sein Blick fiel einen Augenblick auf Jeanne, dann wandte er verlegen den Kopf ab. Die Kleine hatte diesem Blick ernst standgehalten; und während sie ihre Hände voneinander löste, griff sie mit einer instinktiven Bewegung nach dem Kleid ihrer Mutter und zog sie zu sich heran. »Ah! Der Prachtkerl!« sagte mehrmals der Doktor, der Lucien hochgehoben hatte und ihn auf die Wangen küßte. »Er wächst, daß es eine Freude ist.« »Nun, und ich, vergißt man mich denn ganz?« fragte Juliette. Sie bot ihm die Lippen. Er ließ Lucien nicht los, sondern behielt ihn auf dem Arm, während er sich niederbeugte, um seine Frau gleichfalls zu küssen. Alle drei lächelten einander zu. Hélène, die sehr blaß war, sagte, sie wolle nach oben gehen. Doch Jeanne weigerte sich; sie wollte sehen, ihre langsamen Blicke verweilten auf den Deberles, kehrten dann zu ihrer Mutter zurück. Als Juliette ihrem Gatten die Lippen zum Kusse geboten hatte, war eine Flamme in den Augen des Kindes entbrannt.
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»Er ist zu schwer«, fuhr der Doktor fort und stellte Lucien wieder auf die Erde. »Nun, die Saison ist gut gewesen? – Ich habe gestern Malignon gesehen, er hat mir von seinem Aufenthalt dort unten erzählt ... Du hast ihn also vor euch abreisen lassen?« »Oh, er ist unausstehlich!« murmelte Juliette, die ernst wurde, mit verlegenem Gesichtsausdruck. »Er hat uns die ganze Zeit über scheußlich geärgert.« »Dein Vater hatte wegen Pauline gehofft ... Unser Mann hat sich also nicht geäußert?« »Wer? Der? Malignon?« rief sie überrascht und fast beleidigt. Dann machte sie eine verdrießliche Gebärde. »Ach, laß doch, ein Tollkopf! – Wie glücklich ich bin, wieder zu Hause zu sein.« Und ohne ersichtlichen Übergang folgte einer jener Zärtlichkeitsausbrüche, die bei ihrem reizenden, aber flatterhaften Wesen immer wieder überraschten. Sie schmiegte sich an ihren Gatten und schaute zu ihm hoch. Nachsichtig und zärtlich hielt er sie einen Augenblick in seinen Armen. Sie schienen vergessen zu haben, daß sie nicht allein waren. Jeanne ließ sie nicht aus den Augen. Ihre farblosen Lippen zitterten vor Zorn, sie hatte wieder das Gesicht einer eifersüchtigen und boshaften Frau. Der Schmerz, unter dem sie litt, war so lebhaft, daß sie die Augen abwenden mußte. Und gerade in diesem Augenblick gewahrte sie hinten im Garten Rosalie und Zéphyrin, die weiter Petersilie suchten. Zweifellos hatten sie sich, um die Gesellschaft nicht zu stören, ins dichteste Gesträuch geschlichen und hockten dort beide. Zéphyrin hatte heimtückisch einen von Rosalies Füßen ergriffen, während sie ihm wortlos Klapse versetzte. Jeanne sah zwischen zwei Zweigen das Gesicht des kleinen Soldaten, ein gutmütig 233
kindliches, sehr rotes Mondgesicht, das bei einem verliebten Lachen geradezu barst. Bei diesem Geknuffe rollten plötzlich der kleine Soldat und das Hausmädchen hinter das Grün. Die Sonne fiel senkrecht hernieder, die Bäume schliefen in der warmen Luft, ohne daß sich ein Blatt bewegte. Unter den Ulmen drang ein Geruch hervor, der fette Geruch der Erde, die niemals mit dem Spaten umgegraben wurde. Langsam ließen die letzten Teerosen ihre Blütenblätter eines nach dem anderen auf die Freitreppe herniederregnen. Da richtete Jeanne beklommenen Herzens die Augen wieder auf ihre Mutter; und als sie sie angesichts dessen, was da geschah, unbeweglich und stumm fand, hatte sie für sie einen Blick höchster Angst, einen jener tiefen Kinderblicke, die man nicht zu befragen wagt. Indessen war Frau Deberle wieder näher getreten und sagte: »Ich hoffe, wir werden uns bald sehen ... Da Jeanne sich wohl fühlt, muß sie jeden Nachmittag herunterkommen.« Hélène suchte schon nach einer Ausrede, gab vor, sie wolle sie nicht überanstrengen. Doch Jeanne griff rasch ein: »Nein, nein, die Sonne tut so gut ... Wir werden herunterkommen, Madame. Sie halten mir meinen Platz frei, nicht wahr?« Und da der Doktor im Hintergrund blieb, lächelte sie ihm zu. »Herr Doktor, sagen Sie doch Mama, daß die Luft mir nicht schadet.« Er trat vor, und diesem Mann, der an das menschliche Leid gewöhnt war, stieg eine leichte Röte in die Wangen, weil dieses Kind sanft zu ihm sprach. »Gewiß«, murmelte er, »die frische Luft kann die Genesung nur beschleunigen.« 234
»Ah, siehst du wohl, meine liebe gute Mutter, wir müssen kommen«, sagte sie mit einem lieben zärtlichen Blick, während Tränen ihr die Kehle zuschnürten. Doch Pierre war wieder auf der Freitreppe erschienen; die siebzehn Gepäckstücke von Madame waren hereingebracht. Gefolgt von ihrem Gatten und Lucien, enteilte Juliette, und sie erklärte, sie sei zum Fürchten schmutzig und werde gleich ein Bad nehmen. Als sie allein waren, kniete Hélène auf der Decke nieder, als wolle sie das Umschlagetuch wieder um Jeanne knüpfen. Dann sagte sie leise: »Bist du denn nicht mehr böse auf den Doktor?« Das Kind schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, Mama.« Schweigen entstand. Hélène schien mit ihren zitternden und ungeschickten Händen den Knoten des Tuches nicht festziehen zu können. Da murmelte Jeanne: »Warum hat er noch andere lieb? – Ich will nicht ...« Und ihr schwarzer Blick wurde hart, während ihre ausgestreckten Händchen die Schultern ihrer Mutter liebkosten. Hélène wollte ihr heftig widersprechen, doch sie fürchtete die Worte, die ihr auf die Lippen kamen. Die Sonne sank; beide gingen wieder nach oben. Mittlerweile war Zéphyrin mit einem Strauß Petersilie wieder zum Vorschein gekommen, und während er die Petersilie verlas, warf er Rosalie mörderische Blicke zu. Das Mädchen, das sich in einiger Entfernung hielt, war jetzt mißtrauisch, da niemand mehr da war; und als er sie in dem Augenblick kniff, da sie sich bückte, um die Decke zusammenzurollen, versetzte sie ihm einen Faustschlag auf den Rücken, der wie ein hohles Faß dröhnte. 235
Das erfüllte ihn mit Behagen. Er lachte innerlich noch darüber, als er wieder in die Küche trat und immer noch seine Petersilie verlas. Von diesem Tage an bestand Jeanne eigensinnig darauf, in den Garten hinunterzugehen, sowie sie dort Frau Deberles Stimme hörte. Sie lauschte gierig dem Geschwätz Rosalies über das vornehme Nachbarhaus, machte sich Gedanken über das Leben, das man dort führte, schlüpfte zuweilen aus dem Zimmer und kam selber ans Küchenfenster, um hinunterzuspähen. Wenn sie aber im Garten saß, tief in einem kleinen Sessel versunken, den Juliette ihr aus dem Salon hatte bringen lassen, schien sie die Familie zu überwachen, war zurückhaltend Lucien gegenüber, unwillig über seine Fragen und Spiele, besonders wenn der Doktor da war. Dann streckte sie sich wie ermüdet mit offenen Augen aus und schaute umher. Für Hélène waren diese Nachmittage eine große Qual. Sie kam dennoch wieder, sie kam wieder trotz des Aufbegehrens ihres ganzen Wesens. Jedesmal, wenn Henri beim Nachhausekommen einen Kuß auf Juliettes Haar drückte, versetzte ihr das einen Stich ins Herz. Und wenn sie in jenen Augenblicken, um ihr verstörtes Antlitz zu verbergen, so tat, als beschäftige sie sich mit Jeanne, fand sie, daß das Kind bleicher war als sie selbst, mit seinen weitgeöffneten schwarzen Augen und dem vor verhaltenem Zorn verkrampften Kinn. Jeanne erduldete ihre Qualen. An den Tagen, an denen ihre Mutter, am Ende mit ihrer Kraft, vor Liebe fast zugrunde ging und die Augen abwandte, war sie selber so düster und so gebrochen, daß man sie hinauftragen und zu Bett bringen mußte. Sie konnte nicht mehr sehen, daß sich der Doktor seiner Frau näherte, ohne daß sich ihr Gesichtsausdruck veränderte, weil sie am ganzen Leibe 236
bebte, ihn mit dem flammenden Blick einer verratenen Geliebten verfolgte. »Ich huste morgens«, sagte sie eines Tages zu ihm. »Sie müssen kommen, nach mir sehen.« Regen fiel. Jeanne wollte, daß der Doktor seine Besuche wiederaufnehme. Es ging ihr jedoch viel besser. Ihre Mutter hatte, um sie zufriedenzustellen, zwei oder drei Abendessen bei den Deberles annehmen müssen. Das Kind, dessen Herz so lange von einem dunklen Kampf zerrissen wurde, schien ruhiger zu werden, als seine Gesundheit endlich wieder vollkommen hergestellt war. Es wiederholte seine Frage: »Du bist glücklich, meine liebe gute Mutter?« »Ja, sehr glücklich, mein Liebling.« Da strahlte die Kleine. Man müsse ihr ihre Bosheiten von früher verzeihen, sagte sie. Sie sprach davon wie von einem Anfall, der von ihrem Willen unabhängig war, wie von Kopfschmerzen, die sie urplötzlich befallen hatten. Irgend etwas schwoll in ihr an, sie wußte freilich nicht was. Alle möglichen Vorstellungen kämpften miteinander, unbestimmte Vorstellungen, häßliche Träume, die sie nicht einmal hätte weitererzählen können. Aber das war vorbei, sie wurde jetzt gesund, das würde nicht wiederkommen.
Kapitel V Die Nacht brach herein. Vom erblaßten Himmel, an dem die ersten Sterne funkelten, schien feine Asche auf die große Stadt herniederzuregnen und sie langsam und unablässig in ein Leichentuch zu hüllen. Große Schattenhaufen füllten schon die Vertiefungen aus, während wie 237
eine Tintenwoge aus der Tiefe des Horizontes eine Springflut heraufzog und die Reste des Tags, die zögernden Lichter verzehrte, die sich gen Westen zurückzogen. Unterhalb von Passy waren nur noch ein paar weite Dächerflächen deutlich zu erkennen. Dann rollte die Woge heran, es herrschte Finsternis. »Was für ein warmer Abend!« murmelte Hélène, die vor dem Fenster saß, ermattet von dem lauen Hauch, den Paris ihr sandte. »Eine schöne Nacht für die armen Leute«, sagte der Abbé, der hinter ihr stand. »Der Herbst wird rauh werden.« An jenem Dienstag war Jeanne beim Nachtisch eingeschlummert, und ihre Mutter hatte sie zu Bett gebracht, weil sie sah, daß die Kleine etwas müde war. Sie schlief schon in ihrem Bettchen, während Herr Rambaud ernsthaft damit beschäftigt war, auf dem Tischchen ein Spielzeug auszubessern, eine sprechende und gehende mechanische Puppe, die er ihr geschenkt und die sie entzwei gemacht hatte; er verstand sich vortrefflich auf solche Arbeiten. Hélène, die mehr Luft haben wollte und die unter dieser letzten Septemberwärme litt, hatte soeben das Fenster ganz weit geöffnet, fühlte sich erleichtert durch dieses Schattenmeer, diese schwarze Unermeßlichkeit, die sich vor ihr erstreckte. Sie hatte einen Sessel herangeschoben, um allein zu sein, sie war überrascht, den Priester sprechen zu hören. Er fuhr sanft fort: »Haben Sie die Kleine gut zugedeckt? – Die Luft ist immer scharf in dieser Höhe.« Doch sie folgte einem Bedürfnis zu schweigen, sie antwortete nicht. Sie genoß den Zauber der Dämmerung, das letzte Auslöschen der Dinge, das Einschlummern der 238
Geräusche. Ein Nachtlichtschimmer glomm am äußersten Ende der Turmspitzen; die Kirche Saint-Augustin verlosch zuerst, das Panthéon bewahrte einen Augenblick einen bläulichen Schein, der glänzende Invalidendom ging wie ein Mond in einer Wolkenflut unter. Das war der Ozean, die Nacht mit ihrer weiten Ausdehnung in der Tiefe der Finsternis, ein Abgrund von Dunkelheit, darin man eine Welt ahnte. Ein unermeßliches und mildes Wehen kam von der unsichtbaren Stadt. In der anhaltenden brausenden Stimme stiegen noch Töne auf, abgeschwächt und deutlich, ein jähes Omnibusrollen auf der Uferstraße, das Pfeifen eines Zuges, der die Brücke am Point-du- Jour überquerte; und angeschwollen durch die letzten Gewitter, floß die Seine sehr breit dahin mit dem starken Atmen eines lebenden Wesens, das ganz unten in einer Schattenfalte hingestreckt lag. Ein warmer Geruch dampfte von den noch brennenden Dächern, während der Fluß in dieses langsame Ausdünsten der Tagesgluten einen leisen kühlen Hauch brachte. Das verschwundene Paris hatte die träumerische Ruhe eines Riesen, der sich von der Nacht einhüllen läßt und dort einen Augenblick reglos mit offenen Augen verharrt. Nichts stimmte Hélène weicher als diese Minute des Stillstehens im Leben der Stadt. Seit den drei Monaten, da sie nicht mehr das Haus verließ, weil sie an Jeannes Bett gefesselt war, hatte sie keinen anderen Gefährten bei der Nachtwache am Bett der Kränken als das große, am Horizont ausgebreitete Paris. Bei der Hitze im Juli und August blieben die Fenster fast ständig offen, sie konnte nicht durch das Zimmer gehen, sich bewegen, den Kopf wenden, ohne Paris vor sich zu sehen, das sein ewiges Bild entrollte. Paris war da, zu allen Zeiten, nahm Anteil an ihren Schmerzen und ihren Hoffnungen wie ein 239
Freund, den man nicht abweisen kann. Sie kannte Paris noch immer nicht, sie war Paris niemals so fern gewesen, hatte sich niemals weniger um seine Straßen und sein Volk gekümmert; und Paris erfüllte ihre Einsamkeit. Diese wenigen Quadratfuß, dieses Schmerzenszimmer, dessen Tür sie so sorgsam schloß, tat sich mit seinen beiden Fenstern ganz weit auf nach Paris. Sehr oft hatte sie geweint, wenn sie Paris schaute, wenn sie sich dort hinauslehnte, um ihre Tränen vor der Kranken zu verbergen; eines Tages, an dem Tage, da sie sie verloren geglaubt hatte, war sie hiergeblieben, erstickt, erwürgt, und hatte den auffliegenden Rauchschwaden der Militärbäckerei nachgesehen. Oft auch hatte sie in den Stunden der Hoffnung den Jubel ihres Herzens den entlegenen Fernen der Vorstädte anvertraut. Es gab kein Bauwerk mehr, das sie nicht an eine traurige oder glückliche Stimmung erinnerte. Paris lebte ihr Dasein mit. Doch niemals liebte sie es mehr als in der Dämmerung, wenn es sich nach beendetem Tagewerk eine Viertelstunde der Beruhigung, des Vergessens und der Träumerei gönnte, bis die Gaslaternen angezündet wurden. »Wie viele Sterne!« murmelte Abbé Jouve. »Sie funkeln zu Tausenden.« Er hatte sich einen Stuhl genommen und sich zu ihr gesetzt. Da schaute sie hoch und betrachtete den Sommerhimmel. Die Sternbilder setzten ihre goldenen Nägel darauf. Fast in Höhe des Horizonts glänzte ein Planet wie ein Karfunkel, während ein Staub fast unsichtba rer Sterne das Gewölbe mit Sand aus Funkengeflitter bestreute. Der Große Wagen zog langsam seine Bahn, mit der Deichsel nach oben. »Sehen Sie«, sagte sie nun, »dieser kleine blaue Stern in jenem Winkel des Himmels, den finde ich jeden A240
bend wieder ... Aber er zieht fort, er weicht jede Nacht weiter zurück.« Jetzt störte der Abbé sie keineswegs. Sie fühlte ihn an ihrer Seite wie noch einen Frieden. Sie wechselten ein paar Worte, zwischen denen lange Schweigepausen lagen. Zweimal fragte sie ihn nach Namen von Sternen; immer hatte der Anblick des Himmels sie geängstigt. Aber er zögerte, er wußte es nicht. »Sehen Sie«, fragte sie, »diesen schönen Stern, der einen so reinen Glanz hat?« »Links, nicht wahr?« sagte er. »Neben einem anderen, weniger großen, grünlichen ... Es gibt zu viele, ich habe es vergessen.« Sie schwiegen, blickten noch immer hinauf, waren geblendet und von einem leichten Schauer erfaßt angesichts dieses Ameisengewimmels von Gestirnen, das immer größer wurde. Hinter den Tausenden von Sternen tauchten aber Tausende von Sternen auf, und das ohne Unterlaß in der unendlichen Tiefe des Himmels. Es war ein ununterbrochenes Erblühen, eine entfachte Weltenglut, die mit dem ruhigen Feuer von Edelsteinen brannte. Schon schimmerte die Milchstraße weiß, entfaltete ihre Sonnenstäubchen so zahllos und so fern, daß sie an der Rundung des Firmaments nur noch eine Lichtschärpe waren. »Das macht mir angst«, sagte Hélène sehr leise. Und sie senkte den Kopf, um nicht mehr zu sehen, sie lenkte ihre Blicke wieder auf die gähnende Leere, in der Paris verschlungen zu sein schien. Dort war noch kein Licht, war völlige, gleichmäßig ausgebreitete Nacht; eine blendende Finsternis. Die laute und lange nachhallende Stimme hatte eine zartere Lieblichkeit angenommen.
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»Sie weinen?« fragte der Abbé, der ein Schluchzen gehört hatte. »Ja«, antwortete Hélène lediglich. Sie sahen einander nicht. Sie weinte lange mit einem Raunen ihres ganzen Wesens. Indessen breitete Jeanne hinter sie die unschuldige Ruhe ihres Schlafs, während Herr Rambaud, in seine Arbeit vertieft, seinen ergrauenden Kopf über die Puppe beugte, deren Glieder er auseinandergenommen hatte. Doch er ließ ab und an trockene Geräusche von Spiralfedern hören, die auseinanderschnellten, Kinderstammeln, das seine dicken Finger dem aus den Fugen geratenen Mechanismus so sanft wie möglich entlockten. Und wenn die Puppe zu laut gesprochen hatte, hielt er beunruhigt und ärgerlich sogleich inne und schaute, ob er Jeanne auch nicht aufgeweckt habe. Dann machte er sich mit Vorsicht wieder an seine Bastelei, bei der er kein anderes Werkzeug hatte als eine Schere und einen Pfriem. »Warum weinen Sie, meine Tochter?« begann der Abbé wieder. »Kann ich Ihnen denn keine Erleichterung bringen?« »Ach, lassen Sie«, murmelte Hélène. »Diese Tränen tun mir wohl ... Nachher, nachher ...« Sie rang zu sehr nach Atem, als daß sie hätte antworten können. Schon einmal hatte an diesem selben Platz ein Weinkrampf sie zerbrochen; aber sie war allein gewesen, sie hatte in der Finsternis schluchzen können, ohnmächtig wartend, bis der Born der Erregung, die sie schwellte, versiegt war. Dennoch wußte sie um keinen Kummer: ihre Tochter war gerettet, sie selber hatte den eintönigen und reizvollen Gang ihres Daseins wiederaufgenommen. Jäh war in ihr gleichsam das stechende Gefühl eines ungeheuren Schmerzes, einer unergründlichen Leere, die sie niemals ausfüllen würde, einer grenzenlosen Ver242
zweiflung, in der sie mit allen, die ihr teuer waren, unterging. Sie hätte nicht sagen können, was für ein Unglück sie so bedrohte, sie war ohne Hoffnung, und sie weinte. Schon in der von den Blumen des Marienmonats durchdufteten Kirche waren ähnliche rührende Stimmungen über sie gekommen. Der weite Horizont von Paris berührte sie in der Dämmerung mit einem tiefen religiösen Eindruck. Die Ebene schien sich auszuweiten, Schwermut stieg auf von diesen zwei Millionen Leben, die auslöschten. Wenn es dann stockdunkel war, wenn die Stadt mit ihren ersterbenden Geräuschen in Ohnmacht gesunken war, zersprang ihr beklommenes Herz, flossen ihre Tränen über angesichts dieses erhabenen Friedens. Sie hätte ihre Hände falten und Gebete stammeln mögen. Ein Bedürfnis nach Glauben, nach Liebe, nach Demütigung vor Gott ließ sie zutiefst erschauern. Und dann erschütterte sie das Aufgehen der Sterne mit heiliger Wonne und heiligem Schrecken. Nach langem Schweigen fuhr Abbé Jouve beharrlich fort: »Meine Tochter, Sie sollten sich mir anvertrauen. Warum zögern Sie?« Sie weinte noch immer, doch mit kindlicher Sanftheit, gleichsam müde und kraftlos. »Die Kirche erschreckt Sie«, fuhr er fort. »Einen Augenblick habe ich geglaubt, Sie seien für Gott gewonnen. Aber es ist anders gewesen. Der Himmel hat seine Absichten ... Nun gut, da Sie kein Vertrauen zum Priester haben, warum wollen Sie dem Freunde länger Ihr Vertrauen verweigern?« »Sie haben recht«, stammelte sie, »ja, ich bin betrübt, und ich brauche Sie ... Ich muß Ihnen diese Dinge beichten. Als ich klein war, ging ich kaum in die Kirche; heute 243
kann ich einer Feierlichkeit nicht beiwohnen, ohne zutiefst verwirrt zu sein ... Und sehen Sie, was mich vorhin hat schluchzen lassen, das ist diese Stimme von Paris, die dem Rauschen einer Orgel gleicht, das ist diese Unermeßlichkeit der Nacht, das ist dieser schöne Himmel ... Ach, ich möchte glauben. Helfen Sie mir, lehren Sie mich.« Abbé Jouve beruhigte sie, indem er leicht seine Hand auf die ihre legte. »Sagen Sie mir alles«, antwortete er lediglich. Angstvoll sträubte sie sich einen Augenblick. »Ich habe nichts, ich schwöre es Ihnen ... Ich verberge Ihnen nichts ... Ich weine ohne Grund, weil ich ersticke, weil meine Tränen von selbst hervorquellen ... Sie kennen mein Leben. Ich könnte darin zu dieser Stunde nicht eine Traurigkeit, nicht ein Vergehen, nicht einen Vorwurf finden ... Und ich weiß nicht, ich weiß nicht ...« Ihre Stimme erlosch. Da ließ der Priester langsam das Wort fallen: »Sie lieben, meine Tochter.« Sie zuckte zusammen, sie wagte nicht, zu widersprechen. Das Schweigen begann von neuem. In dem Meer von Finsternis, das vor ihnen schlief, hatte ein Funke aufgeleuchtet. Es war zu ihrem Füßen, irgendwo in dem Abgrund, an einer Stelle, die sie nicht genau hätten bestimmen können. Und nach und nach erschienen weitere Funken. Sie erstanden mit einem jähen Aufspringen urplötzlich in der Nacht und verharrten starr, wie Sterne schimmernd. Es schien, als sei das ein neues Aufgehen von Gestirnen auf der Oberfläche eines düsteren Sees. Bald zeichneten sie eine doppelte Linie, die vom Trocadéro ausging und in leichten Lichtsprüngen auf Paris zulief; dann wurde sie von anderen Lichtpunktlinien 244
überschnitten, Bogen hoben sich ab, ein Sternbild breitete sich aus, seltsam und großartig. Hélène sprach noch immer nicht und folgte mit dem Blick diesem Geflimmer, dessen Feuer den Himmel unterhalb des Horizontes in einer Verlängerung der Unendlichkeit fortsetzten, als sei die Erde verschwunden und man habe von allen Seiten das Himmelsrund erblickt. Und sie fand dort die Erregung wieder, die einige Minuten zuvor sie zerbrochen hatte, als der Große Wagen langsam seine Bahn um die Polarachse angetreten hatte, mit der Deichsel nach oben. Das sich entzündende Paris dehnte sich schwermütig und tief, brachte die schreckenerregenden Träumereien von einem Firmament, an dem es von Welten wimmelt. Währenddessen flüsterte der Priester ihr lange ins Ohr mit jener eintönigen und sanften Stimme, die ihm im Beichtstuhl zur Gewohnheit geworden war. Er habe sie eines Abends gewarnt, er habe ihr wohl gesagt, daß die Einsamkeit nicht gut für sie sei. Man stelle sich nicht ungestraft außerhalb des gemeinsamen Lebens. Sie habe sich zu sehr abgeschlossen, sie habe gefährlichen Träumereien die Tür geöffnet. »Ich bin recht alt, meine Tochter«, murmelte er, »ich habe oft Frauen gesehen, die zu uns kamen mit Tränen, Gebeten, einem Bedürfnis, zu glauben und niederzuknien ... Daher kann ich mich heute kaum täuschen. Diese Frauen, die Gott so eifrig zu suchen scheinen, sind nur arme, von der Leidenschaft verwirrte Herzen. Was sie in unseren Kirchen anbeten, das ist der Mann ...« Sie hörte ihm nicht zu in der höchsten Erregung, in der Anstrengung, die sie unternahm, um endlich in sich klarzusehen. Leise entrang sich ihr mit erstickter Stimme das Geständnis:
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»Nun ja, ich liebe ... Und das ist alles. Mehr weiß ich dann nicht, mehr weiß ich nicht.« Jetzt vermied er es, sie zu unterbrechen. Sie sprach im Fieber, in kurzen kleinen Sätzen; und sie hatte eine bittere Freude daran, ihre Liebe zu beichten, mit diesem Greis ihr Geheimnis zu teilen, das ihr seit so langer Zeit den Hals zuschnürte. »Ich schwöre Ihnen, daß ich nicht in mir lesen kann ... Es ist gekommen, ohne daß ich wüßte wie. Vielleicht ganz plötzlich. Doch ich habe erst mit der Zeit gemerkt, wie süß es ist ... Warum soll ich mich übrigens stärker machen, als ich bin? Ich habe nicht versucht zu fliehen, ich war zu glücklich; heute habe ich noch weniger Mut ... Sehen Sie, meine Tochter war krank, fast hätte ich sie verloren; nun, meine Liebe war ebenso tief wie mein Schmerz, sie ist allmächtig wiedergekehrt nach diesen schrecklichen Tagen, und sie beherrscht mich, und ich fühle mich fortgerissen ...« Zitternd schöpfte sie Atem. »Kurz, ich bin am Ende meiner Kraft ... Sie hatten recht, mein Freund, es verschafft mir Erleichterung, Ihnen diese Dinge anzuvertrauen ... Aber ich bitte Sie, sagen Sie mir, was geht im Grunde meines Herzens vor. Ich war so ruhig, ich war so glücklich. Ein Blitz hat in mein Leben eingeschlagen. Warum ich? Warum nicht eine andere? Denn ich hatte nichts dazu getan, ich glaubte mich geschützt ... Und wenn Sie wüßten! Ich kenne mich nicht mehr wieder ... Ach, helfen Sie mir, retten Sie mich!« Als der Priester sah, daß sie schwieg, stellte er mit der ihm gewohnten Ungezwungenheit des Beichtvaters mechanisch eine Frage: »Der Name, sagen Sie mir den Namen?« Sie zögerte, als ein eigentümliches Geräusch sie den Kopf wenden ließ. Es war die Puppe, die in Herrn Ram246
bauds Händen allmählich wieder ihr mechanisches Leben annahm; sie hatte soeben mit dem Knirschen des noch schlecht gehenden Räderwerks drei Schritte auf dem Tischchen gemacht; dann war sie rücklings umgekippt, und ohne den würdigen Mann wäre sie auf die Erde geprallt. Voll väterlichem Bangen folgte er ihr mit ausgestreckten Händen, bereit, sie zu stützen. Als er sah, daß Hélène sich umwandte, lächelte er ihr vertrauensvoll zu, wie um ihr zu versprechen, daß die Puppe bald wieder gehen werde. Und er machte sich wieder daran, mit seiner Schere und seinem Pfriem an dem Spielzeug herumzuwerkeln. Jeanne schlief. Da flüsterte Hélène, durch diese friedliche Umgebung entspannt, dem Priester einen Namen ins Ohr. Dieser rührte sich nicht. In der Dunkelheit konnte man sein Gesicht nicht sehen. Nach einem Schweigen sprach er: »Ich wußte es, aber ich wollte Ihr Geständnis entgegennehmen ... Meine Tochter, Sie müssen viel leiden.« Er ließ keine alltägliche Redensart über Pflicht verlauten. Vernichtet, sterbenstraurig über dieses gelassene Erbarmen des Abbés folgte Hélène von neuem den Funken, die den dunklen Mantel von Paris mit Goldflitter bestreuten. Sie vervielfältigten sich ins Unendliche. Das glich jenen Feuerfunken, die in der schwarzen Asche eines verbrannten Papiers hin und her huschen. Zuerst waren diese leuchtenden Punkte von Trocadéro ausgegangen und auf das Herz der Stadt zugelaufen. Bald tauchte links, zum Montmartre hin, ein anderer Herd auf; dann ein anderer rechts, hinter dem Invalidendom, und weiter hinten noch einer in der Richtung des Panthéon. Von all diesen Herden zugleich stiegen Schwärme kleiner Flammen hernieder. 247
»Sie erinnern sich an unser Gespräch«, begann der Abbé langsam von neuem. »Ich habe meine Ansicht nicht geändert ... Sie müssen heiraten, meine Tochter.« »Ich?« sagte sie niedergeschmettert. »Aber ich habe Ihnen doch eben gestanden ... Sie wissen genau, daß ich nicht kann ...« »Sie müssen heiraten«, wiederholte er mit mehr Nachdruck. »Sie werden einen ehrbaren Mann heiraten ...« Er schien in seiner alten Soutane gewachsen zu sein. Sein lächerlich wirkender dicker Kopf, der sich gewöhnlich mit halbgeschlossenen Augen auf eine Schulter neigte, richtete sich wieder auf, und seine Blicke waren so weit und so hell, daß sie sie leuchten sah in der Nacht. »Sie werden einen ehrbaren Mann heiraten, der Ihrer Jeanne ein Vater sein wird und der Sie zu all Ihrer Rechtschaffenheit zurückführen wird.« »Aber ich liebe ihn nicht ... Mein Gott! Ich liebe ihn nicht ...« »Sie werden ihn lieben, meine Tochter ... Er liebt Sie, und er ist gut.« Hélène wehrte sich, senkte die Stimme, als sie das leise Geräusch hörte, das Herr Rambaud hinter ihnen machte. Er war so geduldig und so stark in seiner Hoffnung, daß er sie seit sechs Monaten nicht ein einziges Mal mit seiner Liebe belästigt hatte. Er wartete mit vertrauensvoller Ruhe, seiner Natur nach bereit zu den größten und schwersten Entsagungen. Der Abbé wollte sich umwenden. »Soll ich ihm alles sagen? – Er wird Ihnen die Hand reichen, er wird Sie retten. Und Sie werden ihn mit unermeßlicher Freude überschütten.« Bestürzt hielt sie ihn zurück. Ihr Herz empörte sich. Sie jagten ihr Schrecken ein, diese so friedlichen und so 248
zartfühlenden Männer, deren Vernunft neben dem Fieber ihrer Leidenschaft so kühl blieb. In welcher Welt lebten sie denn, daß sie in dieser Weise leugneten, worunter sie so sehr litt? Der Priester machte eine ausladende Handbewegung und wies auf den weiten Raum. »Meine Tochter, sehen Sie diese schöne Nacht, diesen höchsten Frieden angesichts Ihrer Erregung ... Warum weigern Sie sich, glücklich zu sein?« Ganz Paris war angezündet. Die tanzenden Flämmchen hatten das Meer von Finsternis von einem Ende des Horizonts bis zum anderen durchsiebt, und jetzt brannten ihre Millionen Sterne mit starrem Glanz in der erhabenen Heiterkeit einer Sommernacht. Von keinem Windhauch, von keinem Schauer waren diese Lichter verstört, die gleichsam im Raume aufgehängt zu sein schienen. Paris, das man nicht sah, war in die Tiefe der Unendlichkeit zurückgewichen, ebensoweit wie ein Firmament. Unterhalb der Abhänge des Trocadéro durchschnitt indessen ein rascher Lichtschein – die Laternen einer Droschke oder eines Omnibusses – das Dunkel mit dem fortgesetzten Aufblitzen einer Sternschnuppe; und dort im Strahlen der Gaslaternen, die gleichsam einen gelben Wrasen ausströmen ließen, unterschied man undeutlich wirre Häuserfronten, baumbestandene Winkel vom grellen Grün einer Theaterdekoration. Auf der Pont des Invalides kreuzten sich die Sterne unablässig, während darunter, längs eines Streifens dichterer Finsternis, sich ein Wunder abhob, eine Schar von Kometen, deren goldene Schweife sich in Funkenregen hinzogen; das war der Widerschein der Brückenlaternen in den schwarzen Wassern der Seine. Doch darüber hinaus begann das Unbekannte. Die lange Krümmung des Flusses war durch eine 249
doppelte Kette von Gaslaternen bezeichnet, die stellenweise weitere Ketten miteinander verbanden; man hätte meinen mögen, es sei eine Leiter aus Licht, die quer über Paris geworfen war und die ihre beiden äußersten Enden am Rande des Himmels, in den Sternen, anlegte. Links zog sich ein weiterer Durchbruch herab, die ChampsElysées führten einen regelmäßigen Aufmarsch von Sternen vom Arc de Triomphe35 zum Place de la Concorde, wo das Funkeln eines Siebengestirns leuchtete; dann bildeten die Tuilerien, der Louvre, die Häuserquadrate am Flußufer, das Hôtel de Ville36 ganz im Hintergrund dunkle Balken, die dann und wann durch das leuchtende Viereck eines großen Platzes getrennt wurden; und weiter hinten in dem heillosen Durcheinander der Dächer verstreuten sich die Lichter, ohne daß man etwas anderes wiedererkennen konnte als die Vertiefung einer Straße, die Ecke eines Boulevards, die in Brand gesetzte Verbreiterung einer Straßenkreuzung. Am anderen Ufer zeichnete sich rechts allein die Esplanade mit ihrem Flammenrechteck deutlich ab, gleich einem Orion der Winternächte, der sein Wehrgehänge verloren hat; die langen Straßen des Saint-Germain-Viertels zeigten in Abständen traurige Helligkeit; darüber hinaus verglühten die volkreichen Stadtteile, von dichtgedrängten kleinen Feuern angezündet, und leuchteten in nebelhafter Verschwommenheit. Bis zu den Vorstädten und rings um den Horizont war ein Ameisengewimmel von Gaslaternen und erleuchteten Fenstern, gleich einem Staub, der die Fernen der Stadt mit diesen Myriaden von Sonnen erfüllte, mit diesen Planetenteilchen, die das menschliche Auge nicht entdecken kann. Die Gebäude waren versunken, nicht eine Laterne war an ihrem Mastwerk angebracht. Für Augenblicke hätte man glauben können, es handele 250
sich um irgendein gigantisches Fest, um ein festlich erleuchtetes zyklopisches Bauwerk mit seinen Treppen, seinen Geländern, seinen Fenstern, seinen Giebeln, seinen Altanen, seiner steinernen Welt, dessen Lampionslinien die seltsame und ungeheure Architektur in phosphoreszierenden Zügen nachzeichneten. Doch man hatte immer wieder das Gefühl, daß Sternbilder erstanden, daß der Himmel sich ständig vergrößerte. Während Hélène der weit ausholenden Handbewegung des Priesters folgte, hatte sie einen langen Blick über das angezündete Paris schweifen lassen. Auch dort kannte sie nicht den Namen der Sterne. Gern hätte sie gefragt; was für ein heller Schein das dort unten links sei, den sie jeden Abend betrachtete. Andere Lichter interessierten sie. Es waren welche dabei, die sie liebte, während einige sie unruhig und verdrossen machten. »Mein Vater«, sagte sie und gebrauchte zum erstenmal diesen zärtlichen und ehrerbietigen Namen, »lassen Sie mich leben ... Die Schönheit dieser Nacht, die erregt mich ... Sie haben sich getäuscht, Sie könnten mir zu dieser Stunde keinen Trost geben, denn Sie können mich nicht verstehen.« Der Priester breitete die Arme aus, ließ sie dann mit ergebungsvoller Langsamkeit wieder sinken. Und nach einem Schweigen sprach er mit leiser Stimme: »Gewiß, es mußte so kommen ... Sie rufen um Hilfe, und Sie nehmen das Heil nicht an. Wie viele verzweifelte Geständnisse habe ich entgegengenommen, und wie viele Tränen habe ich nicht verhindern können! – Hören Sie, meine Tochter, versprechen Sie mir nur eines: wenn das Leben jemals zu schwer für Sie wird, dann denken Sie daran, daß ein ehrbarer Mann Sie liebt und daß er auf Sie
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wartet ... Sie brauchen nur Ihre Hand in die seine zu legen, um die Ruhe wiederzufinden.« »Ich verspreche es Ihnen«, antwortete Hélène ernst. Und als sie diesen Schwur leistete, hörte man im Zimmer ein leises Lachen. Es war Jeanne, die soeben aufgewacht war und zusah, wie ihre Puppe auf dem Tischchen herummarschierte. Herr Rambaud, der entzückt war, daß er das geschafft hatte, streckte noch immer die Hände aus vor Angst, daß irgendein Unglück geschehen könne. Doch die Puppe war jetzt wieder ganz; sie tappte auf mit ihren kleinen Fersen, sie drehte den Kopf und ließ bei jedem Schritt mit ihrer Papageienstimme dieselben Worte hören. »Oh, ist das ein Spaß!« murmelte Jeanne noch schlaftrunken. »Was hast du denn mit ihr gemacht, sag? Sie war zerbrochen, und jetzt ist sie wieder lebendig ... Gib mal her, laß sehen. Du bist zu lieb ...« Indessen stieg über dem angezündeten Paris eine leuchtende Wolke herauf. Man hätte meinen können, es sei der rote Hauch einer Kohlenglut. Zunächst war sie nur ein blasser Schimmer in der Nacht, ein kaum wahrnehmbarer Widerschein. Dann wurde sie, je mehr der Abend vorrückte, nach und nach blutrot; und unbeweglich über der Stadt in der Luft hängend, zusammengesetzt ans all den Flammen und all den dumpf grollenden Leben, die von ihr ausströmten, war sie wie eine jener Gewitter- und Brandwolken, die den Krater der Vulkane krönen.
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Vierter Teil Kapitel I Man hatte die Spülschalen gereicht, und die Damen trockneten sich zierlich die Finger. Ein Augenblick Schweigen entstand rings um den Tisch. Frau Deberle blickte umher, um zu sehen, ob alle fertig seien; dann erhob sie sich wortlos, während ihre Gäste mit lautem Rücken der Stühle ihrem Beispiel folgten. Ein alter Herr, der rechts von ihr stand, hatte sich beeilt, ihr den Arm zu bieten. »Nein, nein«, murmelte sie und führte ihn selber zu einer Tür. »Wir wollen den Kaffee im kleinen Salon nehmen.« Andere Paare folgten ihr. Zum Schluß kamen zwei Damen und zwei Herren, die eine Unterhaltung fortsetzten und nicht daran dachten, sich dem Zug anzuschließen. Doch im kleinen Salon ließ die Gezwungenheit nach, die heitere Stimmung vom Nachtisch kam wieder auf. Der Kaffee war schon auf einem Tischchen auf einem großen lackierten Tablett serviert. Frau Deberle ging umher mit der Liebenswürdigkeit einer Hausfrau, die sich um die verschiedenen Wünsche ihrer Gäste kümmert. In Wahrheit aber war Pauline am rührigsten und behielt es sich vor, die Herren zu bedienen. Es waren ein Dutzend Personen anwesend, die ungefähr übliche Anzahl, die die Deberles ab Dezember jeden Mittwoch einluden. Abends gegen zehn Uhr kamen viele Leute. »Herr de Guiraud, eine Tasse Kaffee?« sagte Pauline, die vor einem kleinen kahlköpfigen Mann stehengeblieben war. »Ach nein, ich weiß, Sie trinken keinen ... Dann vielleicht ein Glas Chartreuse?« 253
Doch sie verwechselte manches beim Bedienen, sie brachte ein Glas Kognak. Und lächelnd machte sie mit ihrem sicheren Auftreten die Runde bei den Gästen, schaute den Leuten in die Augen und schwebte leicht umher mit ihrer langen Schleppe. Sie trug ein prächtiges weißes Kleid aus indischem Kaschmir, mit Schwan besetzt und mit viereckigem Brustausschnitt. Als alle Herren ihre Tasse hatten und stehend in kleinen Schlucken ihren Kaffee tranken, wagte sie sich an einen großen jungen Mann heran, an den jungen Tissot, der ihrer Ansicht nach einen schönen Kopf hatte. Hélène hatte keinen Kaffee haben wollen. Sie hatte sich abseits gesetzt, sah ein bißchen abgespannt aus und hatte ein schwarzes Samtkleid ohne Besatz an, das sie streng umschloß. Man rauchte im kleinen Salon, die Zigarrenschachteln standen neben ihr auf einer Konsole. Der Doktor trat herzu, suchte sich eine Zigarre aus und fragte sie: »Jeanne geht es gut?« »Sehr gut«, antwortete sie. »Wir sind heute in den Bois de Boulogne gegangen, sie hat wie eine Wilde gespielt ... Oh, jetzt wird sie wohl schlafen.« Beide plauderten freundschaftlich mit der lächelnden Vertraulichkeit von Menschen, die sich alle Tage sehen. Doch jetzt erhob sich Frau Deberles Stimme. »Warten Sie, Madame Grandjean kann es Ihnen sagen ... Nicht wahr, ich bin um den zehnten September herum aus Trouville zurückgekommen? Es regnete, am Strand war es unerträglich.« Drei oder vier Damen umringten sie, während sie von ihrem Aufenthalt an der See sprach. Hélène mußte aufstehen und sich der Gruppe anschließen.
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»Wir haben einen Monat in Dinard verbracht«, erzählte Frau de Chermette. »Oh, eine köstliche Gegend, reizende Leute!« »Hinter der kleinen Villa war ein Garten, außerdem auf der Seeseite eine Terrasse«, fuhr Frau Deberle fort. »Sie wissen, daß ich mich entschlossen hatte, meinen Landauer und meinen Kutscher mitzunehmen ... Das ist sehr viel bequemer für die Spazierfahrten ... Aber Madame Levasseur hat uns besucht ....« »Ja, an einem Sonntag«, bestätigte diese. »Wir waren in Cabourg ... Oh, Sie waren dort ausgezeichnet untergebracht, ein bißchen teuer, glaube ich ...« »Was ich sagen wollte«, unterbrach Frau Berthier und wandte sich an Juliette, »hat Herr Malignon Ihnen nicht das Schwimmen beigebracht?« Hélène bemerkte auf Frau Deberles Gesicht eine Verlegenheit, eine plötzliche Verärgerung. Schon mehrmals hatte sie den Eindruck gehabt, als verdrieße es Juliette, wenn Malignons Name unvermutet in ihrer Gegenwart fiel. Aber die junge Frau hatte sich wieder gefaßt. »Ein schöner Schwimmer!« rief sie aus. »Wenn der schon jemals jemandem Stunden gibt! – Ich habe eine fürchterliche Angst vor dem kalten Wasser. Allein beim bloßen Anblick der Badenden klappern mir schon die Zähne.« Und sie fröstelte allerliebst, indem sie ihre molligen Schultern in die Höhe zog wie ein naß gewordener Vogel, der sich schüttelt. »Dann ist es also ein Märchen?« fragte Frau de Guiraud. »Aber ganz sicher. Ich wette, daß er es erfunden hat. Er kann mich nicht mehr ausstehen, seit er dort unten einen Monat mit uns verbracht hat.« 255
Allmählich trafen noch mehr Gäste ein. Die Damen, die einen Blütentuff im Haar trugen und rundliche Arme hatten, lächelten mit einem Wiegen des Kopfes; im Frack und den Hut in der Hand, verbeugten sich die Herren und versuchten, sich eine nichtssagende Redensart einfallen zu lassen. Immer noch plaudernd, reichte Frau Deberle den vertrauten Freunden des Hauses die Fingerspitzen, und viele sagten nichts, grüßten und gingen vorüber. Indessen war Fräulein Aurélie eingetreten. Sie geriet sofort in Verzückung über Juliettes Kleid, ein Kleid aus marineblauem, gepreßtem Samt mit Taftbesatz. Jetzt erst schien den anwesenden Damen das Kleid aufzufallen. Oh, köstlich, wahrhaft köstlich! Es war gerade erst von Worms geliefert worden. Man plauderte fünf Minuten lang darüber. Der Kaffee war getrunken, die Gäste hatten die leeren Tassen hingestellt, auf das Tablett, auf die Konsolen, wie es sich gerade ergab; nur der alte Herr wurde nicht fertig, weil er bei jedem Schluck innehielt, um mit einer Dame zu plaudern. Ein warmer Geruch, das mit den leichten Parfüms der Toiletten vermischte Aroma des Kaffees stieg auf. »Sie wissen doch, daß ich nichts bekommen habe«, sagte der junge Tissot zu Pauline, die mit ihm über einen Maler sprach, zu dem ihr Vater sie geführt hatte, um Gemälde zu besichtigen. »Wie! Sie haben nichts bekommen? – Ich habe Ihnen eine Tasse Kaffee gebracht.« »Nein, Mademoiselle, ich versichere es Ihnen.« »Aber Sie müssen unbedingt etwas bekommen ... Warten Sie, da ist Chartreuse!« Frau Deberle hatte mit einer Kopfbewegung unauffällig ihren Gatten herangewinkt. Der Doktor hatte verstanden und öffnete selber die Tür zum großen Salon, in den 256
man hinüberging, während ein Diener das Tablett forttrug. Es war fast kalt in dem weitläufigen Raum, den sechs Lampen und ein Kronleuchter mit zehn Kerzen mit grellem weißem Licht erleuchteten. Es waren schon einige Damen da, die im Kreis vor dem Kamin saßen; nur zwei oder drei Herren standen zwischen den ausgebreiteten Röcken. Und durch die offengelassene Tür des resedafarbenen Salons hörte man die helle Stimme Paulines, die mit dem jungen Tissot allein geblieben war. »Jetzt habe ich ihn eingeschenkt, und Sie werden ihn auch trinken ... Was soll ich denn damit machen? Pierre hat das Tablett fortgetragen.« Dann erschien auch sie im großen Salon, wirkte ganz weiß in ihrem schwanbesetzten Kleid. Mit einem Lächeln, das ihre Zähne zwischen den frischen Lippen sehen ließ, verkündete sie: »Da ist der schöne Malignon.« Das Händedrücken und die Begrüßungen gingen weiter. Herr Deberle hatte sich an die Tür gestellt. Frau Deberle, die mitten unter den Damen auf einem sehr niedrigen Puff saß, stand alle Augenblicke auf. Als sich Malignon einfand, wandte sie absichtlich den Kopf ab. Er war sehr korrekt gekleidet, mit der Brennschere frisiert, trug das Haar durch einen Scheitel geteilt, der ihm bis zum Nacken reichte. Auf der Schwelle hatte er mit einer leichten Grimasse »voller Schick«, wie Pauline mehrmals betonte, ein Monokel in sein rechtes Auge geklemmt; und er ließ seinen Blick rings durch den Salon schweifen. Lässig drückte er dem Doktor die Hand, ohne etwas zu sagen, dann ging er auf Frau Deberle zu, vor der er seine lange, in einen schwarzen Frack gezwängte Gestalt tief verbeugte.
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»Ach, Sie sind es!« sagte sie so, daß man sie hören mußte. »Sie scheinen neuerdings zu schwimmen.« Er verstand nicht, aber er antwortete trotzdem, um geistreich zu wirken. »Gewiß ... Einmal habe ich einen Neufundländer vor dem Ertrinken gerettet.« Die Damen fanden das reizend. Frau Deberle selber schien entwaffnet. »Ich erlaube Ihnen die Neufundländer«, antwortete sie. »Sie wissen doch genau, daß ich in Trouville nicht ein einziges Mal gebadet habe.« »Ach so, die Stunde, die ich Ihnen gegeben habe!« rief er. »Nun, habe ich Ihnen nicht eines Abends in Ihrem Eßzimmer gesagt, daß man Füße und Hände bewegen muß?« Alle Damen begannen zu lachen. Er war köstlich. Juliette zuckte die Achseln. Man konnte nicht ernsthaft mit ihm reden. Und sie erhob sich, um einer Dame entgegenzugehen, die eine sehr begabte Pianistin war und die zum erstenmal zu ihr kam. Hélène, die in ihrer schönen Ruhe nahe beim Feuer saß, schaute und hörte zu. Besonders Malignon schien sie zu interessieren. Sie hatte gesehen, wie er einen geschickten Stellungswechsel vornahm, um sich Frau Deberle zu nähern, die sie hinter ihrem Sessel plaudern hörte. Plötzlich änderten sich die Stimmen. Sie lehnte sich zurück, um besser zu hören. Malignons Stimme sagte: »Warum sind Sie gestern nicht gekommen? Ich habe bis sechs Uhr auf Sie gewartet.« »Lassen Sie mich, Sie sind verrückt«, murmelte Juliette.
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Hier wurde Malignons Stimme lauter, er schnarrte das R: »Ach, Sie glauben die Geschichte mit meinem Neufundländer nicht! Aber ich habe eine Medaille bekommen, ich werde sie Ihnen zeigen.« Und er fügte sehr leise hinzu: »Sie hatten mir versprochen ... Erinnern Sie sich ...« Eine ganze Familie kam, Frau Deberle erging sich in Komplimenten, während Malignon mit seinem Monokel im Auge wieder bei den Damen auftauchte. Hélène war ganz blaß geworden bei den hastigen Worten, die sie soeben erhascht hatte. Es war ein Blitzschlag für sie, etwas Unerwartetes und Ungeheuerliches. Wie konnte diese so glückliche Frau mit dem so ruhigen Gesicht, mit den weißen und gesunden Wangen, ihren Mann betrügen? Sie hatte sie stets als eine Frau mit einem Spatzenhirn, mit einem Anflug von liebenswürdigem Egoismus gekannt, der sie vor den Verdrießlichkeiten einer Torheit bewahrte. Und noch dazu mit einem Malignon! Jäh sah sie die Nachmittage im Garten wieder, Juliette lächelnd und zärtlich bei dem Kuß, mit dem der Doktor ihr Haar streifte. Sie liebten sich doch. Aus einem Gefühl heraus, das sie sich nicht erklären konnte, war sie voller Zorn gegen Juliette, als sei sie persönlich hintergangen worden. Das demütigte sie um Henris willen, eine eifersüchtige Wut erfüllte sie, ihr Unbehagen war so deutlich auf ihrem Gesicht zu lesen, daß Fräulein Aurélie sie fragte: »Was haben Sie denn? – Ist Ihnen nicht gut?« Das alte Fräulein hatte sich neben sie gesetzt, als es sie allein sah. Es bekundete eine lebhafte Freundschaft für sie und war entzückt über die wohlwollende Art, mit der
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diese so ernste und schöne Frau stundenlang ihren Klatschereien zuhörte. Aber Hélène antwortete nicht. Sie hatte nur ein Verlangen, nämlich Henri zu sehen, augenblicklich zu erfahren, was er tat, was für ein Gesicht er machte. Sie erhob sich, suchte ihn im Salon, fand ihn schließlich. Er plauderte, vor einem dicken bleichen Herrn stehend, und er war sehr ruhig, sah zufrieden aus mit seinem feinen Lächeln. Einen Augenblick musterte sie ihn. Sie empfand für ihn ein Mitleid, das ihn ein wenig herabsetzte, und gleichzeitig liebte sie ihn nur noch mehr, und zwar mit einer Zärtlichkeit, zu der eine unklare Vorstellung, ihn zu schützen, hinzukam. Sie spürte, wenn auch noch sehr verworren, daß sie ihm zu dieser Stunde das verlorene Glück ersetzen müsse. »Ach«, murmelte Fräulein Aurélie, »das kann ja heiter werden, wenn Madame de Guirauds Schwester zu singen anfängt ... Zum zehnten Male höre ich nun schon die ›Turteltauben‹. Sie hat nichts weiter als das in diesem Winter auf ihrem Repertoire ... Sie wissen, daß sie von ihrem Mann getrennt lebt. Sehen Sie diesen brünetten Herrn dort hinten an der Tür? Sie verstehen sich aufs beste. Juliette ist wohl gezwungen, ihn zu empfangen, sonst würde sie nicht kommen ...« »Ach!« sagte Hélène. Frau Deberle ging lebhaft von Gruppe zu Gruppe und bat um Schweigen, damit man Frau de Guirauds Schwester zuhören könne. Der Salon hatte sich gefüllt, etwa dreißig Damen saßen flüsternd und lachend in seiner Mitte; zwei jedoch waren stehen geblieben und plauderten lauter mit reizenden Schulterbewegungen, während fünf oder sechs Herren sich sehr ungezwungen benahmen, als seien sie hier zu Hause, und sich gleichsam 260
verloren unter den vielen Röcken. Einige Male lief ein diskretes »Pst!« durch den Raum; der Stimmenlärm legte sich, die Gesichter nahmen einen unbeweglichen und gelangweilten Ausdruck an; und man vernahm nur noch das Schlagen der Fächer in der warmen Luft. Frau de Guirauds Schwester sang, aber Hélène hörte nicht zu. Jetzt betrachtete sie Malignon, der die »Turteltauben« zu genießen schien und eine maßlose Liebe zur Musik zur Schau trug. War das denn die Möglichkeit! Dieser Bursche! Zweifellos hatten sie in Trouville irgendein gefährliches Spiel gespielt. Die von Hélène erhaschten Worte schienen darauf hinzudeuten, daß Juliette noch nicht nachgegeben hatte; aber ihr Fall war wohl nahe. Malignon, der vor ihr saß, gab mit entzücktem Wiegen den Takt an; Frau Deberle legte gefällige Bewunderung an den Tag, während der Doktor geduldig und liebenswürdig schwieg und auf den Schluß des Stückes wartete, um seine Unterhaltung mit dem dicken bleichen Herrn wiederaufzunehmen. Leichter Beifall erhob sich, als die Sängerin schwieg. Und einige Stimmen vergingen geradezu vor Wonne. »Köstlich! Hinreißend!« Doch der schöne Malignon streckte über die Frisuren der Damen hinweg die Arme aus und, da er noch seine Handschuhe anhatte, klatschte er geräuschlos, wobei er immer wieder »Bravo! Bravo!« rief mit einer singenden Stimme, die die anderen übertönte. Sofort legte sich die Begeisterung, die entspannten Gesichter lächelten einander zu, einige Damen erhoben sich, während die Unterhaltung inmitten allgemeiner Erleichterung wieder einsetzte. Die Wärme nahm zu, unter dem Schlagen der Fächer wirbelte Moschusduft von den Toiletten auf. Zuweilen erklang im Gemurmel 261
der Plaudereien ein perlendes Lachen, ein laut gesprochenes Wort, bei dem sich die Köpfe umwandten. Dreimal schon war Juliette in den kleinen Salon gegangen, um die Herren, die sich hierhergeflüchtet hatten, anzuflehen, die Damen nicht so im Stich zu lassen. Sie folgten ihr; und zehn Minuten später waren sie abermals verschwunden. »Es ist unerträglich«, murmelte sie mit ärgerlicher Miene, »man kann nicht einen zurückhalten.« Inzwischen nannte Fräulein Aurélie Hélène, die erst zum zweiten Mal zu den Abendgesellschaften des Doktors kam, die Namen der Damen. Das ganze vornehme Bürgertum von Passy war hier, sehr reiche Leute. Dann neigte sie sich vor und sagte: »Tatsächlich, es ist abgemacht ... Madame de Chermette verheiratet ihre Tochter an diesen großen Blonden, mit dem sie selber achtzehn Monate verkehrt hat ... Das ist wenigstens eine Schwiegermutter, die ihren Schwiegersohn lieben wird.« Doch sie unterbrach sich, völlig überrascht. »Schau, schau, Madame Levasseurs Mann plaudert mit dem Geliebten seiner Frau ... Juliette hatte doch geschworen, sie nicht mehr zusammen zu empfangen.« Hélène ließ ihren Blick langsam durch den Salon schweifen. Gab es denn in dieser würdigen Gesellschaft, in diesem dem Anschein nach so ehrbaren Bürgertum nur sündige Frauen? Ihre provinzielle Sittenstrenge war erstaunt über das anstößige Durcheinander, das vom Pariser Leben geduldet wurde. Und bitter verspottete sie sich, daß sie so sehr gelitten, wenn Juliette ihr die Hand gegeben hatte. Wirklich, sie war hübsch dumm, sich so schöne Bedenken zu bewahren! Gewürzt durch einen Anflug von koketter Spitzfindigkeit, bürgerte sich der Ehebruch 262
da auf eine stillzufriedene Weise ein. Frau Deberle schien jetzt mit Malignon wieder versöhnt; sie war klein, kuschelte ihre Rundungen einer hübschen verzärtelten brünetten Frau in einen Sessel und lachte über die Geistreicheleien, die er sagte. Herr Deberle kam gerade vorüber. »Ihr streitet euch heute abend also nicht?« fragte er. »Nein«, antwortete Juliette sehr heiter. »Er sagt zu viele Dummheiten ... Wenn du all die Dummheiten wüßtest, die er uns sagt ...« Es wurde wieder gesungen. Aber es war noch schwieriger, für Schweigen zu sorgen. Der junge Tissot sang ein Duett aus der »Favoritin37« mit einer sehr reifen Dame, die wie ein Kind frisiert war. Pauline, die an einer Tür mitten unter den schwarzen Fräcken stand, betrachtete den Sänger mit einem Ausdruck offener Bewunderung, wie sie ihn bei Leuten gesehen hatte, die Kunstwerke betrachteten. »Oh, was für ein schöner Kopf!« entfuhr es ihr während einer gedämpften Phrase der Begleitung, und zwar so laut, daß der ganze Salon es hörte. Es war spät am Abend, Müdigkeit ertränkte die Gesichter. Damen, die seit drei Stunden in demselben Sessel saßen, wirkten unbewußt gelangweilt, aber dennoch glücklich, sich hier zu langweilen. Zwischen zwei Stücken, denen man nur mit halbem Ohr zugehört hatte, setzte das Geplauder wieder ein, und es war, als töne der hohle Nachklang des Klaviers weiter. Herr Letellier erzählte, daß er nach Lyon gefahren sei, um die Ausführung einer Seidenbestellung zu überwachen; das Wasser der Saône mische sich nicht mit dem Wasser der Rhone, das habe ihn sehr verblüfft. Herr de Guiraud, ein Justizbeamter, gab schulmeisterliche Redensarten über die Notwendigkeit von sich, das Laster in Paris einzudäm263
men. Man umringte einen Herrn, der einen Chinesen kannte und Einzelheiten darüber zum besten gab. In einer Ecke tauschten zwei Damen vertrauliche Mitteilungen über ihre Dienstboten aus. Indessen sprach man in der Gruppe von Frauen, in der Malignon thronte, über Literatur: Frau Tissot erklärte Balzac für unlesbar; er verneinte das nicht, er machte nur darauf aufmerksam, daß es bei Balzac dann und wann eine gut geschriebene Seite gäbe. »Ein bißchen Ruhe!« rief Pauline. »Sie will spielen.« Gemeint war die Pianistin, die Dame, die eine so schöne Begabung hatte. Alle Köpfe wandten sich ihr aus Höflichkeit zu. Doch mitten in die Andacht hinein hörte man tiefe Männerstimmen, die sich im kleinen Salon unterhielten. Frau Deberle schien verzweifelt. Sie gab sich unendliche Mühe. »Sie sind unerträglich«, murmelte sie. »Sollen sie dort hinten bleiben, wenn sie nicht kommen wollen; aber sie sollen wenigstens schweigen!« Und sie schickte Pauline hinüber, die entzückt davoneilte, um das auszurichten. »Sie wissen doch, meine Herren, daß gleich gespielt wird«, sagte sie mit der gelassenen Kühnheit einer Madonna in ihrem königlichen Kleid. »Sie werden gebeten zu schweigen.« Sie sprach sehr laut, ihre Stimme klang durchdringend. Da sie aber bei den Herren blieb und mit ihnen lachte und scherzte, wurde der Lärm noch viel lauter. Die Unterhaltung ging weiter, Pauline beteiligte sich eifrig. Im Salon litt Frau Deberle Höllenqualen. Im übrigen hatte man genug von Musik, man blieb kühl. Die Pianistin setzte sich wieder, verkniff die Lippen trotz der übertriebenen Komplimente, die die Herrin des Hauses ihr aussprechen zu müssen glaubte. 264
Hélène litt. Henri schien sie nicht zu sehen. Er hatte sich ihr nicht mehr genähert. Zuweilen lächelte er ihr von weitem zu. Zu Beginn des Abends hatte sie es als Erleichterung empfunden, ihn so vernünftig zu finden. Doch seit sie die Geschichte der beiden anderen kannte, hätte sie am liebsten irgend etwas herbeigewünscht, sie wußte nicht was, ein Zeichen zärtlicher Liebe, selbst auf die Gefahr hin, bloßgestellt zu werden. Ein wirres, mit allerlei schlimmen Gefühlen gemischtes Verlangen bewegte sie. Liebte er sie denn nicht mehr, daß er so gleichgültig blieb? Da hatte er seine Stunde bestimmt richtig gewählt. Ach, wenn sie ihm alles hätte sagen, ihn von der Unwürdigkeit dieser Frau hätte unterrichten können, die seinen Namen trug! Während auf dem Klavier kleine, rasche Läufe dahinperlten, wiegte ein Traum sie jetzt ein: Henri hatte Juliette davongejagt, und sie lebte mit ihm als seine Frau in fernen Ländern, deren Sprache sie nicht kannte. Eine Stimme ließ sie zusammenfahren. »Nehmen Sie denn nichts?« fragte Pauline. Der Salon war leer. Man war zum Tee ins Eßzimmer hinübergegangen. Hélène erhob sich mühsam. Alles verwirrte sich in ihrem Kopf. Sie dachte, sie habe das geträumt: die Worte, die sie vernommen, Juliettes nahe bevorstehender Fall, der bürgerliche Ehebruch, der lächelnd und friedlich geschah. Wenn diese Dinge stimmten, wäre Henri an ihrer Seite, hätten beide dieses Haus schon verlassen. »Sie nehmen doch sicher eine Tasse Tee?« Sie lächelte, sie dankte Frau Deberle, die ihr einen Platz am Tisch frei gehalten hatte. Teller mit Kleingebäck und Zuckerwerk bedeckten das Tischtuch, während eine große Brioche und zwei Kuchen symmetrisch auf 265
Kompottschalen in die Höhe ragten; und da es an Platz fehlte, berührten sich die Teetassen fast, die je zwei und zwei durch schmale graue Servietten mit langen Fransen voneinander getrennt waren. Allein die Damen saßen. Sie hatten die Handschuhe ausgezogen und aßen mit den Fingerspitzen kleines Backwerk und eingemachte Früchte, reichten einander die Sahnenkanne und schenkten mit zierlichen Bewegungen selber ein. Drei oder vier jedoch hatten sich geopfert und bedienten die Herren, die längs der Wände standen und tranken, wobei sie allerlei Vorsichtsmaßregeln trafen, um sich vor unwillkürlichen Ellbogenstößen zu hüten. Andere Herren, die in den beiden Salons geblieben waren, warteten darauf, daß die Kuchen zu ihnen kämen. Das war die Stunde, da Pauline triumphierte. Man plauderte lauter, Lachen und kristallhelles Klirren von Silbergeschirr ertönten, der Moschusgeruch wurde noch durch die durchdringenden Düfte des Tees erhitzt. »Reichen Sie mir doch die Brioche herüber«, sagte Fräulein Aurélie, die sich gerade neben Hélène befand. »All dies Zuckerwerk ist nichts Ernsthaftes.« Sie hatte schon zwei Teller geleert. Mit vollem Mund fuhr sie dann fort: »Die Leute ziehen sich schon zurück ... Jetzt wird es gleich gemütlich.« Einige Damen gingen tatsächlich fort, nachdem sie Frau Deberle die Hand gedrückt hatten. Viele Herren waren unauffällig aufgebrochen. Die Wohnung leerte sich. Nun setzten sich auch einige Herren an den Tisch. Aber Fräulein Aurélie räumte den Platz nicht. Sie hätte gern ein Glas Punsch gehabt. »Ich werde Ihnen eins holen«, sagte Hélène und erhob sich.
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»Oh, nein, danke ... Machen Sie sich nicht diese Mühe.« Seit einer Weile paßte Hélène auf Malignon auf. Er hatte dem Doktor die Hand gedrückt, er grüßte jetzt Juliette auf der Türschwelle. Sie hatte ihr weißes Gesicht, ihre hellen Augen, und nach ihrem gefälligen Lächeln hätte man glauben können, er beglückwünsche sie zu ihrer Abendgesellschaft. Da Pierre den Punsch auf einem Anrichtetisch neben der Tür einschenkte, trat Hélène vor und richtete es so ein, daß sie hinter der Rückseite des Türvorhanges verborgen war. Sie horchte. »Ich bitte Sie«, sagte Malignon, »kommen Sie übermorgen ... Ich werde Sie um drei Uhr erwarten ...« »Können Sie denn nicht ernst sein?« antwortete Frau Deberle lachend. »Sie reden aber Dummheiten zusammen!« Doch er ließ nicht locker und wiederholte immerfort: »Ich erwarte Sie ... Kommen Sie übermorgen ... Sie wissen doch wohin?« Da murmelte sie hastig: »Nun gut, ja, übermorgen.« Malignon verbeugte sich und ging. Frau de Chermette zog sich mit Frau Tissot zurück. Juliette begleitete sie heiter ins Vorzimmer, wobei sie mit ihrer liebenswürdigsten Miene zu Frau de Chermette sagte: »Ich werde Sie übermorgen besuchen ... An dem Tage habe ich eine Menge Besuche zu machen.« Hélène war unbeweglich und sehr bleich stehengeblieben. Indessen reichte ihr Pierre, der den Punsch eingeschenkt hatte, das Glas. Sie nahm es mechanisch, sie trug es Fräulein Aurélie hin, die sich über die eingemachten Früchte hermachte.
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»Oh, Sie sind zu nett!« rief das alte Fräulein. »Ich hätte Pierre schon ein Zeichen gegeben. Sehen Sie, es ist nicht recht, den Damen keinen Punsch anzubieten ... Wenn man in meinem Alter ist ...« Doch sie unterbrach sich, als sie Hélènes Blässe bemerkte: »Ihnen ist bestimmt nicht gut ... Nehmen Sie doch ein Glas Punsch.« »Danke, es ist nichts ... Es ist so heiß ...« Sie taumelte, sie kehrte in den menschenleeren Salon zurück und ließ sich in einen Sessel fallen. Rötlich brannten die Lampen; die Kerzen des Kronleuchters waren sehr heruntergebrannt und drohten die gläsernen Leuchtertüllen zum Platzen zu bringen. Aus dem Eßzimmer waren die Abschiedsworte der letzten Gäste zu hören. Hélène hatte diesen Aufbruch übersehen, sie wollte dableiben, um nachzudenken. Es war also kein Traum, Juliette würde zu diesem Mann gehen. Übermorgen; sie wußte den Tag. Oh, sie würde sich keinen Zwang mehr antun, das war der Schrei, der in ihr immer wiederkehrte. Dann dachte sie, daß es ihre Pflicht sei, mit Juliette zu sprechen, sie an dem Fehltritt zu hindern. Doch dieser gute Gedanke ließ sie zu Eis erstarren, und sie schob ihn als lästig beiseite. Im Kamin, in den sie starrte, knisterte ein erloschenes Holzscheit. Die träge und schläfrige Luft bewahrte noch den Geruch der Haare. »So, da sind Sie ja!« rief Juliette hereinkommend. »Ach, das ist nett, daß Sie nicht gleich fortgegangen sind ... Endlich atmet man auf!« Und als Hélène überrascht Miene machte, sich zu erheben, redete sie weiter: »Warten Sie doch, nichts drängt Sie ... Henri, gib mir mein Riechfläschchen.« Drei oder vier Personen verweilten noch, vertraute Freunde. Man setzte sich vor das erloschene Feuer, man plauderte mit reizender Ungezwungenheit in der schon 268
schlaftrunkenen Müdigkeit des großen Raumes. Die Türen standen offen, man sah den leeren kleinen Salon, das leere Eßzimmer, die ganze noch erleuchtete und in ein dumpfes Schweigen versunkene Wohnung. Henri zeigte sich seiner Frau gegenüber von zarter Aufmerksamkeit; er hatte soeben aus ihrem Schlafzimmer ihr Riechfläschchen geholt, an dem sie roch, langsam die Augen schließend; und er fragte sie, ob sie nicht zu überanstrengt sei. Ja, sie fühle sich etwas überanstrengt; aber sie war entzückt, alles war gut gegangen. Da erzählte sie, daß sie an den Abenden, da sie Gäste habe, nicht einschlafen könne und sich bis sechs Uhr morgens in ihrem Bett hin und her werfe. Henri lächelte, man scherzte. Hélène betrachtete sie beide, und sie fröstelte in dieser schläfrigen Benommenheit, die nach und nach das ganze Haus zu befallen schien. Es waren allerdings nur noch zwei Personen da. Pierre war einen Wagen holen gegangen. Hélène blieb als letzte. Es schlug ein Uhr. Henri, der sich keinen Zwang mehr antat, stellte sich auf die Fußspitzen und pustete zwei Kerzen des Kronleuchters aus, die die Leuchtertüllen heiß machten. Es war wie ein Schlafengehen, die Lichter verloschen eines nach dem anderen, das Zimmer ertrank in einem Alkovendunkel. »Ich hindere Sie, zu Bett zu gehen«, stammelte Hélène und erhob sich jäh. »Schicken Sie mich doch fort.« Sie war sehr rot geworden, der Blutandrang benahm ihr den Atem. Die beiden begleiteten sie ins Vorzimmer. Aber da es dort kalt war, machte sich der Doktor Sorge um seine Frau, deren Mieder sehr weit ausgeschnitten war. »Geh wieder hinein, du holst dir sonst noch was ... Du bist zu erhitzt.« 269
»Nun gut! Leben Sie wohl«, sagte Juliette und küßte Hélène, wie ihr das in ihren zärtlichen Stunden in den Sinn kam. »Besuchen Sie mich öfter.« Henri hatte den Pelzmantel genommen, hielt ihn ausgebreitet, um Hélène hineinzuhelfen. Als sie in die beiden Ärmel geglitten war, schlug er selber den Kragen hoch und kleidete sie so mit einem Lächeln an vor einem riesigen Spiegel, der eine Wand des Vorzimmers einnahm. Sie waren allein, sie sahen sich im Spiegel. Da warf sie sich plötzlich, ohne sich umzuwenden, in ihren Pelz eingehüllt, in seine Arme. Seit drei Monaten hatten sie nur freundschaftliche Händedrücke getauscht; sie wollten sich nicht mehr lieben. Er hörte auf zu lächeln; sein Gesicht veränderte sich, wurde glühend und gedunsen. Wie irre preßte er sie an sich, er küßte sie auf den Hals. Und sie bog den Kopf nach hinten zurück, um seinen Kuß zu erwidern.
Kapitel II Hélène hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Fiebrig wälzte sie sich hin und her, und wenn sie in Schlummer hinüberglitt, ließ dieselbe Angst sie immer wieder aus dem Schlaf auffahren. Im Alptraum dieses Halbschlafes wurde sie von einer fixen Idee gepeinigt: sie wollte durchaus den Ort des Stelldicheins herausbekommen. Ihr war, als würde ihr das Erleichterung bringen. Es konnte nicht Malignons kleine Wohnung im Zwischenstock in der Rue Taitbout sein, von der man bei Deberles oft sprach. Wo nur? Wo nur? Und ihr Kopf arbeitete wider ihren Willen, und sie hatte alles vergessen über diesem 270
Abenteuer, um sich voll nervöser Erregung und dumpfer Begierden in dieses Nachforschen zu vertiefen. Als der Tag anbrach, kleidete sie sich an, und sie ertappte sich dabei, wie sie ganz laut sagte: »Morgen also.« Sie hatte erst einen Strumpf angezogen, die Hände hingen schlaff herab, und sie sann nun darüber nach, daß es vielleicht in irgendeinem Stundenhotel sei, in einem abgelegenen, für einen Monat gemieteten Zimmer. Dann widerstrebte ihr diese Vermutung. Sie stellte sich eine reizende Wohnung vor mit dichten Wandbehängen, mit Blumen, mit großen hellen Feuern, die in allen Kaminen brannten. Und nicht mehr Juliette und Malignon waren darin, sie sah sich mit Henri in der Tiefe dieses weichen Schlupfwinkels, wohin die Geräusche von draußen nicht drangen. Sie fröstelte in ihrem schlechtgeschlossenen Morgenrock. Wo war es nur? Wo nur? »Guten Morgen, meine liebe gute Mutter!« rief Jeanne, die nun erwachte. Seit sie gesund war, schlief sie wieder in dem Nebengemach. Sie kam barfuß und im Hemd wie alle Tage, um sich Hélène an den Hals zu werfen. Dann lief sie wieder zurück, verkroch sich noch ein Weilchen in ihrem warmen Bett. Das machte ihr Spaß, sie lachte unter der Bettdecke. Dann fing sie ein zweites Mal von vorn an: »Guten Tag, meine liebe gute Mutter!« Und sie lief wieder davon. Dieses Mal lachte sie hellauf, sie hatte das Bettuch über ihren Kopf geworfen, sie sagte darunter mit tiefer, erstickter Stimme: »Ich bin nicht mehr da ... Ich bin nicht mehr da ...« Doch Hélène spielte nicht mit wie an den anderen Morgen. Da schlief Jeanne gelangweilt wieder ein. Es war noch zu früh.
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Gegen acht Uhr zeigte sich Rosalie und begann, von ihren morgendlichen Erlebnissen zu erzählen. Oh, ein schöner Matsch draußen, ihr wären beinahe die Schuhe im Schmutz steckengeblieben, als sie ihre Milch holen ging. Ein rechtes Tauwetter; die Luft sei mild dabei, man ersticke schier. Dann fiel ihr plötzlich ein: eine alte Frau habe gestern abend Madame sprechen wollen. »Da!« rief sie, als sie es klingeln hörte. »Ich wette, das ist sie!« Es war Mutter Fétu, aber sehr sauber und stattlich mit einer weißen Haube, einem neuen Kleid und einem über der Brust gekreuzten Schottentuch. Ihre weinerliche Stimme behielt sie jedoch bei. »Meine gute Dame, ich bin's, ich habe mir erlaubt ... Ich möchte Sie nämlich um etwas bitten ...« Hélène schaute sie an, ein wenig überrascht, sie so herausgeputzt zu sehen. »Es geht Ihnen besser, Mutter Fétu?« »Ja, ja, es geht mir besser, wenn man so sagen kann ... wissen Sie, ich habe zwar noch immer was recht Komisches im Bauch; das haut mich, aber immerhin geht es besser ... Jetzt habe ich Glück gehabt. Das hat mich gewundert, weil das Glück und ich, sehen Sie ... Ein Herr hat mich beauftragt, ihm den Haushalt zu besorgen. Oh, das ist eine Geschichte ...« Ihre Stimme wurde langsamer, ihre flinken Äuglein gingen hin und her in den tausend Falten ihres Gesichts. Sie schien darauf zu warten, daß Hélène sie fragte. Aber Hélène, die am Feuer saß, das Rosalie soeben angezündet hatte, hörte nur zerstreut zu und sah in Gedanken versunken und leidend aus. »Worum wollten Sie mich bitten, Mutter Fétu?« fragte sie. 272
Die Alte antwortete nicht sofort. Sie musterte das Zimmer, die Palisandermöbel, die Wandbespannungen aus blauem Samt. Und mit der demütigen und schmeichlerischen Miene einer armen Frau murmelte sie: »Es ist wirklich hübsch bei Ihnen, Madame, entschuldigen Sie ... Mein Herr hat auch so ein Zimmer, aber das ist rosa ... Oh, eine ganze Geschichte! Stellen Sie sich vor, ein junger Mann aus der guten Gesellschaft hat eine Wohnung in unserem Haus gemietet. Ich sag das nicht bloß so, aber im ersten und zweiten Stock sind die Wohnungen bei uns sehr nett. Und dann ist es so ruhig! Kein Wagen, man könnte denken, man ist auf dem Lande ... Die Arbeiter sind länger als vierzehn Tage dagewesen; sie haben ein Schmuckstück aus dem Zimmer gemacht ...« Sie hielt inne, als sie sah, daß Hélène aufhorchte. »Es ist wegen seiner Arbeit«, fuhr Mutter Fétu fort und sprach noch schleppender. »Er sagt, daß es wegen seiner Arbeit ist ... Wir haben keine Concierge, wissen Sie. Und das gefällt dem Herrn. Er liebt die Conciergen nicht, dieser Herr, und wirklich, er hat recht ...« Doch sie unterbrach sich von neuem, als sei ihr plötzlich ein Einfall gekommen: »Warten Sie mal! Sie müssen ihn kennen, meinen Herrn ... Er besucht eine Ihrer Freundinnen.« »Ach!« sagte Hélène, die ganz blaß war. »Ganz gewiß, die Dame von nebenan, die, mit der Sie zur Kirche gegangen sind ... Sie ist neulich hingekommen.« Mutter Fétus Augen wurden kleiner, während sie verstohlen die Erregung der guten Dame beobachteten. Hélène bemühte sich, in ruhigem Ton eine Frage zu stellen: »Sie ist zu ihm hinaufgegangen?«
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»Nein, sie hat es sich anders überlegt, sie hatte vielleicht etwas vergessen ... Ich, ich war gerade an der Tür. Sie hat mich nach Herrn Vincent gefragt; dann hat sie sich wieder in ihre Droschke verkrochen und hat dem Kutscher zugerufen: ›Es ist zu spät, kehren Sie um!‹ – Oh, es ist eine sehr lebhafte, sehr nette, sehr vornehme Dame. Der liebe Gott setzt solche nicht massenweise auf die Erde. Außer Ihnen ist sie die einzige ... Der Himmel segne sie alle!« Und mit der Fertigkeit einer Betschwester, die mit den Rosenkranzübungen wohlvertraut ist, reihte sie weiter leere Redensarten aneinander. Im übrigen wurde die heimliche Arbeit, die in den Runzeln ihres Gesichtes vor sich ging, dadurch nicht unterbrochen. Sie strahlte jetzt sehr befriedigt. »Also«, fuhr sie ohne jeden Übergang fort. »Ich möchte gerne ein Paar gute Schuhe haben. Mein Herr ist zu nett gewesen, ich kann ihn nicht um so was bitten ... Sie sehen, ich habe anzuziehen, bloß ein Paar gute Schuhe brauche ich. Meine Schuhe sind voller Löcher, schauen Sie her, und bei diesem Schmutzwetter holt man sich Leibschneiden ... Wirklich, gestern habe ich Leibschneiden gehabt, ich habe mich den ganzen Nachmittag gekrümmt ... Mit ein Paar guten Schuhen ...« »Ich werde Ihnen ein Paar bringen, Mutter Fétu«, sagte Hélène und verabschiedete sie mit einer Handbewegung. Als dann die Alte unter Verbeugungen und Danksagungen rückwärts hinausging, fragte sie sie: »Um welche Zeit trifft man Sie allein an?« »Mein Herr ist niemals nach sechs Uhr da«, antwortete sie. »Aber machen Sie sich nicht diese Mühe, ich komme selber und hole mir die Schuhe bei Ihrer Concierge ab ... Doch wie Sie wollen. Sie sind ein Engel aus dem Paradies. Der liebe Gott wird Ihnen das alles vergelten.« 274
Man hörte, wie sie sich noch auf dem Treppenabsatz in Ausrufen erging. Hélène blieb sitzen, bestürzt über die Nachricht, die diese Frau ihr soeben gebracht hatte und die so seltsam gelegen kam. Sie wußte jetzt wo. Ein rosa Zimmer in diesem alten baufälligen Haus! Sie sah die vor Feuchtigkeit beschlagene Treppe wieder, die gelben Türen in jedem Stockwerk, die von den fettigen Händen schwarz geworden waren; dieses ganze Elend, das im vorigen Winter ihr Mitleid erregte, als sie Mutter Fétu besuchte; und sie versuchte, sich das rosa Zimmer inmitten dieser Häßlichkeiten der Armut vorzustellen. Doch als sie in tiefe Träumerei versunken verweilte, legten sich zwei warme Händchen auf ihre durch die Schlaflosigkeit geröteten Augen, während eine schelmische Stimme fragte: »Wer ist das? – Wer ist das?« Es war Jeanne, die sich soeben ganz allein angezogen hatte. Mutter Fétus Stimme hatte sie geweckt; und als sie die Tür zum Nebengemach geschlossen sah, hatte sie sich sehr beeilt, um ihre Mutter zu ertappen. »Wer ist das? – Wer ist das?« wiederholte sie, mehr und mehr von Lachen erfaßt. Als dann Rosalie hereinkam und das Frühstück brachte, sagte sie: »Du weißt es, sag's nicht ... Man hat dich nicht gefragt.« »Hör schon auf, Närrchen!« sagte Hélène. »Ich ahne wohl, daß du es bist.« Die Kleine ließ sich auf die Knie ihrer Mutter gleiten, und hintenübergelehnt schaukelte sie sich dort, war glücklich über das, was sie sich ausgedacht, und fuhr mit überzeugter Miene fort: »Ei! Das hätte ja auch ein anderes kleines Mädchen sein können ... Ein kleines Mädchen, das dir einen Brief von seiner Mama bringt, um dich zum Abendessen einzuladen ... Dann hätte es dir die Augen zugehalten ...« 275
»Hab dich nicht so dumm«, erwiderte Hélène und stellte sie hin. »Was erzählst du da? – Gießen Sie uns ein, Rosalie.« Doch das Hausmädchen musterte die Kleine und sagte, das Fräulein habe sich drollig herausstaffiert. Jeanne hatte in ihrer Eile tatsächlich nicht einmal ihre Schuhe angezogen. Sie war im Unterrock, einem kurzen Flanellunterrock, aus dessen Schlitz ein Hemdzipfel herausguckte. Ihre nicht zugehakte Moltonunterjacke ließ Jeannes Kleinmädchennacktheit sehen, eine flache Brust von erlesener Zartheit, auf der sich mit den kaum blaßroten Flecken der Brustwarzen zitternde Linien andeuteten. Und mit dem wirren Haar und ihren verkehrt angezogenen Strümpfen umherlaufend, war sie allerliebst, ganz weiß in ihrer gottsjämmerlichen Wäsche. Sie sah an sich herunter, brach dann in Lachen aus. »Ich seh ja nett aus, Mama, gucke doch! – Sag, wenn du willst, dann bleibe ich so ... Das sieht nett aus!« Hélène, die eine unwillige Bewegung unterdrückte, stellte die allmorgendliche Frage: »Bist du schon gewaschen?« »Oh, Mama«, murmelte das Kind, plötzlich bekümmert, »oh, Mama ... Es regnet, es ist zu häßliches Wetter ...« »Dann wirst du kein Frühstück bekommen ... Waschen Sie sie, Rosalie.« Für gewöhnlich paßte sie dabei auf. Doch sie fühlte sich wirklich unwohl, obgleich das Wetter sehr milde war, rückte sie fröstelnd dicht an die Flamme. Rosalie hatte das Tischchen nahe an den Kamin herangeschoben, eine Serviette aufgelegt und zwei weiße Porzellanschalen darauf gestellt. Vor dem Feuer summte der Milchkaffee in einer silbernen Kanne, einem Geschenk von Herrn 276
Rambaud. Zu dieser Morgenstunde herrschte in dem unaufgeräumten Zimmer, das noch verschlafen und von der Unordnung der Nacht erfüllt war, eine lächelnde Traulichkeit. »Mama, Mama!« rief Jeanne hinten aus dem Nebenzimmer, »sie reibt mich zu sehr, das zieht mir die Haut ab ... Oh, ist das kalt!« Die Augen starr auf die Kanne gerichtet, war Hélène in tiefes Träumen versunken. Sie wollte Bescheid wissen, sie würde hingehen. Es erregte und verwirrte sie, an das Geheimnis des Stelldicheins in diesem schmutzigen Winkel von Paris zu denken. Sie fand, daß dieses Geheimnis von abscheulichem Geschmack zeugte, sie erkannte Malignons Geist, eine romanhafte Phantasie, eine Schrulle, die Lusthäuschen der Régence38 auf billige Art wiedererstehen zu lassen. Und doch blieb sie trotz ihres Widerwillens fieberhaft erregt, fühlte sich hingezogen, und ihre Sinne waren beschäftigt mit der Stille und dem Halbdunkel, die wohl in dem rosa Zimmer herrschten. »Mademoiselle«, sagte Rosalie immer wieder, »wenn Sie nicht stillhalten, rufe ich gleich Ihre Mutter ...« »Halt! Du machst mir Seife in die Augen«, entgegnete Jeanne mit tränenschwerer Stimme. »Ich habe genug davon, laß mich los ... Die Ohren bleiben für morgen.« Doch das Plätschern von Wasser dauerte an, man hörte, wie der Schwamm in die Waschschüssel ausgedrückt wurde. Es ertönte ein Kampfgetöse. Das Kind weinte. Fast unmittelbar danach kam es fröhlich wieder zum Vorschein und rief: »Fertig, fertig ...« Und die Kleine schüttelte sich mit noch feuchten Haaren, war ganz rosig vom Reiben und von duftender Frische. Beim Zappeln war ihre Unterjacke herabgeglitten; 277
ihr Unterrock ging auf; ihre Strümpfe rutschten herunter und ließen ihre Beinchen sehen. Jetzt sähe das Fräulein wie ein Jesuskind aus, sagte Rosalie. Doch Jeanne war sehr stolz darauf, sauber zu sein; sie wollte sich nicht wieder anziehen lassen. »Sieh her, Mama, sieh dir meine Hände an und meinen Hals und meine Ohren ... Ach, ich möchte mich wärmen, ich fühle mich zu wohl ... Du kannst nicht sagen, daß ich mein Frühstück heute nicht verdient habe.« Sie hatte sich vor dem Feuer in ihren kleinen Sessel gekuschelt. Dann goß Rosalie den Milchkaffee ein. Jeanne nahm ihre Schale auf die Knie und tunkte mit dem Gehabe einer Erwachsenen bedächtig ihr Röstbrot ein. Hélène verbot ihr gewöhnlich, so zu essen. Aber sie war in Gedanken. Sie ließ ihr Brot liegen, begnügte sich damit, den Kaffee zu trinken. Beim letzten Happen bekam Jeanne Gewissensbisse. Gram bedrängte ihr Herz, sie stellte die Schale hin und warf sich ihrer Mutter an den Hals, weil sie sah, daß sie so blaß war. »Mama, bist jetzt du etwa krank? – Sag, ich habe dir doch keinen Kummer gemacht?« »Nein, mein Liebling, du bist im Gegenteil sehr artig«, murmelte Hélène und küßte sie. »Aber ich bin ein wenig müde, ich habe schlecht geschlafen ... Spiel, mach dir keine Sorgen.« Sie dachte, der Tag werde entsetzlich lang werden. Was sollte sie bis zum Abend tun? Seit einiger Zeit rührte sie keine Nadel mehr an, die Arbeit schien ihr eine ungeheure Last. Stundenlang saß sie mit müßigen Händen da, erstickte schier in ihrem Zimmer, hatte das Bedürfnis hinauszugehen, um Luft zu schöpfen, und rührte sich dennoch nicht. Dieses Zimmer, das machte sie krank; sie konnte es nicht ausstehen, war erbost über die 278
zwei Jahre, die sie hier verlebt hatte; sie fand es widerwärtig mit seinem blauen Samt, seinem unermeßlichen Ausblick über die große Stadt, sie träumte von einer kleinen Wohnung im Lärm einer Straße, der sie betäubt hatte. Mein Gott! Wie träge waren die Stunden! Sie nahm ein Buch zur Hand, doch die fixe Idee, die in ihrem Kopf hämmerte, ließ ständig dieselben Bilder zwischen ihren Augen und der begonnenen Seite erstehen. Inzwischen hatte Rosalie das Zimmer gemacht, Jeanne war gekämmt und angezogen. Während sich die Mutter am Fenster zu lesen bemühte, begann jetzt die Kleine, die beute ihren Tag voll lärmender Fröhlichkeit hatte, zwischen den aufgeräumten Möbeln ein großes Spiel. Sie war ganz allein; doch das brachte sie kaum in Verlegenheit, mit sehr drolliger Überzeugung und Wichtigkeit spielte sie gut und gerne drei oder vier Personen. Zuerst spielte sie die Dame, die auf Besuch geht. Sie verschwand im Eßzimmer, dann kam sie, grüßend, lächelnd, kokett den Kopf drehend, wieder herein. »Guten Tag, Madame ... Wie geht es Ihnen, Madame? – Man hat Sie so lange nicht gesehen. Es ist wirklich eine Ewigkeit her. – Mein Gott! Ich war leidend, Madame. Ja, ich habe die Cholera gehabt, das ist sehr unangenehm ... Oh, man sieht es Ihnen aber gar nicht an, Sie werden immer jünger, mein Ehrenwort. Und Ihre Kinder, Madame? Ich habe seit dem letzten Sommer drei bekommen ...« Sie verbeugte sich fortwährend vor dem Tischchen, das zweifellos die Dame darstellte, bei der sie zu Besuch war. Dann rückte sie Stühle aneinander, unterhielt ein allgemeines Gespräch, das mit einer wahrhaft außergewöhnlichen Fülle von Redewendungen eine Stunde dauerte.
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»Sei nicht so albern, Jeanne«, sagte ihre Mutter dann und wann, wenn der Lärm sie ungeduldig machte. »Aber Mama, ich bin doch bei meiner Freundin ... Sie spricht mit mir, ich muß ihr doch antworten ... Nicht wahr, wenn einem Tee angeboten wird, steckt man keine Kuchen in seine Taschen?« Und sie fuhr fort: »Leben Sie wohl, Madame. Ihr Tee war köstlich ... Die besten Grüße an Ihren Herrn Gemahl ...« Auf einmal war etwas anderes im Gange. Sie fuhr im Wagen aus, sie wollte Einkäufe machen und saß rittlings auf einem Stuhl wie ein Junge. »Jean, nicht so schnell, ich habe Angst ... Halten Sie doch an! Wir sind bei der Putzmacherin ... Mademoiselle, wieviel kostet dieser Hut? Dreihundert Francs, das ist nicht teuer. Aber er ist nicht hübsch. Ich möchte einen Vogel darauf haben, einen so großen Vogel ... Los, Jean, fahren Sie mich zum Kaufmann. Sie haben keinen Honig? Doch, Madame, da ist welcher. Oh, der ist gut! Ich will keinen; geben Sie mir für zwei Sous Zucker ... Aber passen Sie doch auf, Jean! Nun ist der Wagen umgekippt! Herr Polizist, der Karren hat uns angefahren ... Sie haben sich doch nicht weh getan, Madame? Nein, mein Herr, keineswegs ... Jean, Jean! Wir fahren nach Hause. Hoppla! Hoppla! Warten Sie, ich will Hemden bestellen. Drei Dutzend Damenhemden... Ich brauche auch Schnürstiefel und ein Korsett ... Hoppla! Hoppla! Mein Gott, man schafft es nicht mehr!« Und sie fächelte sich Luft zu, sie spielte die Dame, die nach Hause kommt und auf ihr Personal schimpft. Niemals kam sie ins Stocken; es war ein Fieber, ein ständiges Entfalten wunderlicher Phantasien, der ganze Abriß des Lebens, das in ihrem Köpfchen brodelte und bruchstückweise hervorkam. Am Vormittag, am Nachmittag ging sie umher, tanzte, schwatzte; wenn sie müde war, genügten ein Hocker, ein 280
Sonnenschirm, den sie in einer Ecke erblickte, ein Lappen, den sie vom Fußboden aufhob, um sie auf ein anderes Spiel zu bringen, in dem sie neue Phantasieraketen aufsprühen lassen konnte. Sie erfand alles, die Personen, die Orte, die Szenen; sie hatte ihren Spaß daran, als sei sie mit zwölf Kindern ihres Alters zusammen. Endlich kam der Abend. Es schlug gleich sechs Uhr. Hélène, die aus der unruhigen Schläfrigkeit erwachte, in der sie den Nachmittag zugebracht hatte, warf ein Umschlagetuch um ihre Schultern. »Du gehst fort, Mama?« fragte Jeanne erstaunt. »Ja, mein Liebling, eine Besorgung im Stadtviertel. Ich werde nicht lange bleiben ... Sei artig.« Draußen hielt das Tauwetter an. Ein Strom von Schmutz floß auf den Fahrbahnen dahin. Hélène ging in der Rue de Passy in ein Schuhgeschäft, wo sie mit Mutter Fétu schon gewesen war. Dann kehrte sie in die Rue Raynouard zurück. Der Himmel war grau, Nebel stieg vom Straßenpflaster auf. Vor ihr versank die Straße, menschenleer und beunruhigend trotz der nicht späten Stunde, mit ihren wenigen Gaslaternen, die im feuchten Dunst gelbe Flecken bildeten. Sie beschleunigte den Schritt, hielt sich dicht an den Häusern und verbarg sich, als ginge sie zu einem Stelldichein. Doch als sie jäh in die Passage des Eaux einbog, blieb sie, von wahrhaftiger Angst ergriffen, unter dem Gewölbe stehen. Die Passage des Eaux tat sich zu ihren Füßen wie ein schwarzes Loch auf. Sie sah nicht seinen Grund, sie gewahrte mitten in diesem finsteren Schlauch nur den zittrigen Schimmer der einzigen Laterne, die ihn erhellte. Endlich entschloß sie sich, sie griff nach dem Eisengeländer, um nicht zu fallen. Mit den Fußspitzen tastete sie die breiten Stufen entlang. Rechts und links drängten sich die Mauern enger 281
zusammen, wirkten durch das Dunkel der Nacht übermäßig in die Länge gezogen, während die kahlen Zweige der Bäume undeutliche Umrisse riesenhafter Arme mit ausgestreckten und verkrampften Händen darüber legten. Sie zitterte bei dem Gedanken, die Tür eines der Gärten könnte sich öffnen und ein Mann würde sich auf sie stürzen. Niemand ging vorüber, so schnell wie möglich ging sie hinab. Auf einmal trat ein Schatten aus dem Dunkel hervor; ein Schauer ließ sie zu Eis erstarren, als der Schatten hustete; es war eine alte Frau, die mühsam hinaufstieg. Da fühlte sie sich beruhigt, sie raffte sorgsamer ihr Kleid, dessen Schleppe im Straßendreck schleifte. Der Schlamm war so dick, daß ihre Stiefel an den Stufen klebenblieben. Unten wandte sie sich mit einer instinktiven Bewegung um. Die Feuchtigkeit tropfte von den Zweigen in die Passage, die Laterne hatte den Schein einer Grubenlampe, die an der Seite eines Schachtes aufgehängt ist, den durchsickerndes Wasser gefahrvoll gemacht hat. Hélène stieg geradewegs zum Dachboden hinauf, wohin sie so oft gekommen war, oben in dem großen Haus in der Passage des Eaux. Doch soviel sie auch klopfte, nichts rührte sich. Da ging sie sehr verwirrt wieder nach unten. Mutter Fétu war sicher in der Wohnung im ersten Stock. Allein Hélène wagte nicht, sich dort zu zeigen. Sie blieb fünf Minuten im Hausflur stehen, den eine Petroleumlampe erhellte. Dann stieg sie wieder hinauf, zögerte, betrachtete die Türen; und sie wollte eben fortgehen, als sich die alte Frau über das Geländer beugte. »Wie, Sie sind auf der Treppe, meine gute Dame!« rief sie. »Aber kommen Sie doch herein! Bleiben Sie nicht draußen, sonst holen sie sich noch was ... Oh, die Treppe
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ist heimtückisch, da kann man wahrhaftig das Fieber kriegen ...« »Nein, danke«, sagte Hélène, »hier sind Ihre Schuhe, Mutter Fétu ...« Und sie betrachtete die Tür, die Mutter Fétu hinter sich offengelassen hatte. Eine Herdecke war zu sehen. »Ich bin ganz allein, ich schwöre Ihnen«, sagte die Alte immer wieder. »Treten Sie ein ... Das hier ist die Küche ... Ach, Sie sind nicht stolz zu den armen Leuten. Das kann man wohl sagen ...« Da folgte ihr Hélène trotz ihres Widerwillens und schämte sich dessen, was sie da tat. »Hier sind Ihre Schuhe, Mutter Fétu ...« »Mein Gott, wie soll ich Ihnen danken? – Oh, die guten Schuhe! – Warten Sie, ich werde sie gleich anziehen. Das ist genau meine Größe, das sitzt wie ein Handschuh ... Das lass' ich mir gefallen, damit kann man wenigstens ausgehen, ohne daß man den Regen fürchten muß ... Sie retten mich, Sie verlängern mir das Leben um zehn Jahre, meine gute Dame ... Das ist keine Schmeichelei, das ist, was ich denke, so wahr wie da eine Lampe uns beleuchtet. Nein, ich bin keine Schmeichlerin ...!« Sie wurde rührselig, während sie sprach, sie hatte Hélènes Hand ergriffen und küßte sie. In einer Kasserolle wurde Wein warm gemacht; auf dem Tisch reckte neben der Lampe eine halbleere Flasche Bordeaux ihren dünnen Hals. Außerdem standen da nur vier Teller, ein Glas, zwei Pfännchen, ein Kochtopf. Man spürte, daß sich Mutter Fétu häuslich eingerichtet hatte in dieser Junggesellenküche, deren Herdfeuer sie nur für sich anzündete. Als die Alte sah, daß sich Hélènes Augen auf die Kasserolle richteten, hustete sie und tat wehleidig. 283
»Es packt mich wieder im Bauch«, stöhnte sie. »Der Arzt kann sagen, was er will, ich muß einen Wurm haben ... Und ein Tropfen Wein bringt mich wieder auf die Beine ... Ich bin sehr geplagt, meine gute Dame. Ich wünsche mein Leiden niemandem, es ist zu schlimm ... Nun ja, ich verhätschele mich jetzt ein bißchen; wenn man soviel durchgemacht hat, darf man sich doch wohl mal verhätscheln, nicht wahr? – Ich habe das Glück gehabt, an einen sehr freundlichen Herrn zu geraten. Der Himmel segne ihn!« Und sie tat zwei große Stücke Zucker in ihren Wein. Sie wurde noch fetter, ihre Äuglein verschwanden in ihrem aufgedunsenen Gesicht. Eine stille Glückseligkeit verlangsamte ihre Bewegungen. Der Ehrgeiz ihres ganzen Lebens schien endlich befriedigt. Dafür war sie geboren. Als sie ihren Zucker verwahrte, erblickte Hélène hinten in einem Schrank Leckereien, einen Topf Eingemachtes, ein Paket Zwieback, sogar Zigarren, die sie dem Herrn gestohlen hatte. »Nun gut, leben Sie wohl, Mutter Fétu, ich gehe«, sagte sie. Doch die Alte schob die Kasserolle auf die Ecke des Herdes und murmelte: »Warten Sie doch, der ist zu heiß, ich werde ihn nachher trinken ... Nein, nein, gehen Sie nicht dort hinaus. Ich bitte Sie um Verzeihung, daß ich Sie in der Küche empfangen habe ... Sehen wir uns die Wohnung an.« Sie hatte die Lampe ergriffen und war auf einen schmalen Gang hinausgetreten. Hélène, deren Herz pochte, ging hinter ihr her. Der rissige, verräucherte Gang schwitzte die Feuchtigkeit aus. Eine Tür drehte sich in den Angeln, Hélène ging jetzt auf einem dicken Teppich. Mutter Fétu war mitten in einem 284
abgeschlossenen und stillen Zimmer ein paar Schritte gegangen. »Nun?« sagte sie und hob die Lampe hoch. »Das ist doch hübsch.« Es waren zwei quadratische Räume, die miteinander durch eine Tür verbunden waren, deren Türflügel man herausgenommen hatte; nur ein Vorhang trennte sie. Beide waren mit demselben rosa Kretonne mit Medaillons im Louis-Quinze-Stil39 ausgeschlagen, mit pausbäckigen Liebesgöttern, die sich zwischen Blumengirlanden tummelten. Im ersten Zimmer standen ein Tischchen, zwei Polstersessel, einige Lehnstühle; im zweiten, dem kleineren, nahm ein riesiges Bett den ganzen Platz ein. Mutter Fétu machte auf eine kristallene Nachtlampe aufmerksam, die an vergoldeten Ketten von der Decke herabhing. Diese Nachtlampe stellte für sie den Gipfel des Luxus dar. Und sie gab Erläuterungen. »Sie können sich nicht vorstellen, was für ein drolliger Kauz das ist. Am hellichten Tage zündet er alle Lampen an, er bleibt da, raucht eine Zigarre, schaut in die Luft ... Das scheint ihm Spaß zu machen, diesem Herrn ... Gleichviel, er muß eine Menge Geld ausgegeben haben!« Wortlos ging Hélène durch die Zimmer. Sie fand sie anstößig. Sie waren zu rosa, das Bett war zu groß, die Möbel zu neu. Man spürte hier einen Verführungsversuch, der in seiner Geckenhaftigkeit verletzend war. Eine Modistin wäre sofort unterlegen. Und dennoch wurde Hélène nach und nach von einer Verwirrung ergriffen, während die Alte augenzwinkernd fortfuhr: »Er läßt sich Herr Vincent nennen ... Mir ist das gleich. Wenn er nur bezahlt, dieser Bursche ...« »Auf Wiedersehen, Mutter Fétu«, sagte Hélène, die hier erstickte. 285
Sie wollte fortgehen, öffnete eine Tür und befand sich in einer Flucht von drei kleinen Zimmern, die entsetzlich kahl und schmutzig waren. Die abgerissenen Tapeten hingen herunter, die Zimmerdecken waren schwarz, Gipsbrocken lagen auf den zerbrochenen Fliesen umher. Geruch nach altem Elend sickerte hervor. »Nicht da lang, nicht da lang!« rief Mutter Fétu. »Gewöhnlich ist diese Tür doch abgeschlossen ... Das sind die anderen Zimmer, die, die er nicht hat herrichten lassen. Freilich, das hat ihn so schon genug gekostet ... Ach, das ist allerdings weniger hübsch ... Hier lang, meine gute Dame, hier lang ...« Und als Hélène wieder durch das elegante Damenzimmer mit den rosa Wandbespannungen ging, hielt die Alte sie an, um ihr abermals die Hand zu küssen. »Das kann ich Ihnen sagen, ich bin nicht undankbar ... Ich werde immer an diese Schuhe da denken. Sie passen mir, und sie sind warm, und ich könnte drei Meilen damit laufen! – Um was könnte ich nur den lieben Gott für Sie bitten! O mein Gott, erhöre mich, mach, daß sie die glücklichste der Frauen ist! Du, der Du in meinem Herzen liest, Du weißt, was ich ihr wünsche. Im Namen des Vaters, des Sohnes, des Heiligen Geistes, Amen!« Eine fromme Überspanntheit hatte sie plötzlich ergriff en, sie bekreuzigte sich unaufhörlich, sie beugte das Knie vor dem großen Bett und vor der kristallenen Nachtlampe. Dann öffnete sie die Tür, die auf den Treppenflur hinausging, und flüsterte Hélène mit veränderter Stimme ins Ohr: »Klopfen Sie an die Küchentür, wann Sie wollen, ich bin immer da.« Hinter sich blickend, als verlasse sie einen verdächtigen Ort, stieg Hélène ganz benommen die Treppe hinunter, ging die Passage des Eaux hinauf und befand sich 286
dann wieder in der Rue Vineuse, ohne zu wissen, wie sie dahingelangt war. Dort erst wunderte sie sich über den letzten Satz der alten Frau. Nein, sie würde dieses Haus bestimmt nicht wieder betreten. Sie hatte keine Almosen mehr dorthin zu bringen. Warum also hätte sie an die Küchentür klopfen sollen? Im Augenblick war sie befriedigt, sie hatte es gesehen. Und sie empfand Verachtung für sich und für die anderen. Was für eine Gemeinheit, daß sie dorthin gegangen war! Die beiden Zimmer mit ihrem Kretonne tauchten unaufhörlich vor ihren Augen auf; sie hatte mit einem Blick die geringsten Einzelheiten erfaßt, sogar den Platz, den die Sessel einnahmen, und die Falten der Vorhänge, die das Bett umhüllten. Doch immer zogen danach die drei anderen kleinen Zimmer, die schmutzigen, leeren und verlassenen Zimmer, an ihr vorüber; und diese Vorstellung, diese aussätzigen Wände, die unter den pausbäckigen Liebesgöttern verborgen waren, erregten in ihr ebensoviel Zorn wie Ekel. »Na ja, Madame«, rief Rosalie, die auf der Treppe lauerte, »das Essen wird gut schmecken! Seit einer halben Stunde brennt alles an!« Bei Tisch überschüttete Jeanne ihre Mutter mit Fragen. Wohin sie gegangen sei? Was sie gemacht habe? Als sie nur kurze Antworten erhielt, vergnügte sie sich dann allein, indem sie Puppenmahlzeit spielte. Neben sich hatte sie ihre Puppe auf einen Stuhl gesetzt. Schwesterlich gab sie ihr die Hälfte von ihrem Nachtisch ab. »Vor allem müssen Sie anständig essen, Mademoiselle ... Wischen Sie sich doch den Mund ab ... Oh, so ein kleiner Schmutzfink, sie kann nicht einmal die Serviette umbinden ... Da, Sie sehen schön aus ... Hier ist ein Zwieback. Was sagen Sie? Sie wollen Konfitüre darauf? 287
– Hier! So ist es besser ... Lassen Sie mich Ihnen den Viertel Apfel abschälen ...« Und sie legte den Anteil der Puppe auf den Stuhl. Doch als ihr Teller leer war, nahm sie die Leckerbissen einen nach dem anderen wieder zurück, aß sie und sprach dabei für die Puppe. »Oh! Das ist köstlich! – Niemals habe ich so gute Konfitüre gegessen. Wo kaufen Sie denn diese Konfitüre, Madame? Ich werde meinem Mann sagen, daß er mir einen Topf davon mitbringt ... Pflücken Sie diese schönen Äpfel in Ihrem Garten, Madame?« Sie schlief beim Spielen ein, sie sank mit ihrer Puppe in den Armen vom Stuhl. Seit dem Morgen hatte sie nicht innegehalten. Sie konnte sich nicht mehr auf ihren Beinchen halten, die Anstrengung des Spiels hatte sie niedergestreckt; und im Schlaf lachte sie noch, sie träumte wohl, daß sie noch immer spiele. Ihre Mutter brachte sie zu Bett, die reglos, hingegeben dalag und im Begriff war, irgendein großes Spiel mit den Engeln zu spielen. Nun war Hélène allein im Zimmer. Sie schloß sich ein, sie verbrachte einen gräßlichen Abend am erstorbenen Feuer. Ihr Wille entglitt ihr, nicht einzugestehende Gedanken arbeiteten dumpf in ihr. Es war, als spräche eine böse und sinnliche Frau, die sie nicht kannte, zu ihr mit einer gebieterischen Stimme, der sie den Gehorsam nicht verweigern konnte. Als es Mitternacht schlug, begab sie sich mühsam zur Ruhe. Aber im Bett wurden ihre Qualen unerträglich. Sie schlief nur halb, wälzte sich hin und her wie auf glühenden Kohlen. Die Schlaflosigkeit vergrößerte noch die Bilder, die sie verfolgten. Dann setzte sich ein Gedanke in ihrem Schädel fest. Sie mochte ihn noch so sehr zurückdrängen, der Gedanke grub sich ein, schnürte ihr die Kehle zu, nahm ganz und gar von ihr Besitz. Gegen zwei Uhr erhob sie sich mit der Starre und 288
der bleichen Entschlossenheit einer Schlafwandlerin, sie zündete die Lampe wieder an und schrieb mit verstellter Handschrift einen Brief. Es war eine unklare Denunzierung, ein Briefchen von drei Zeilen, in dem Doktor Deberle gebeten wurde, sich am selben Tage zu der und der Stunde an den und den Ort zu begeben, ohne Erklärung, ohne Unterschrift. Sie versiegelte den Umschlag, steckte den Brief in die Tasche ihres Kleides, das sie auf einen Sessel geworfen hatte. Und als sie sich wieder hingelegt hatte, schlief sie sofort ein, lag da ohne Atemhauch, von einem bleischweren Schlaf übermannt.
Kapitel III Am nächsten Tag konnte Rosalie den Milchkaffee erst gegen neun Uhr auftragen. Hélène war spät aufgestanden, wie gerädert, ganz bleich vom Alptraum der Nacht. Sie wühlte in der Tasche ihres Kleides, fühlte den Brief, schob ihn tiefer hinein und setzte sich wortlos an das Tischchen. Auch Jeanne hatte einen schweren Kopf und sah mürrisch und unruhig aus. Sie verließ ihr Bettchen ungern, denn sie hatte an diesem Morgen keine Lust zum Spielen. Der Himmel war rußfarben, trübes Licht machte das Zimmer traurig, während jähe Regengüsse von Zeit zu Zeit gegen die Fensterscheiben peitschten. »Mademoiselle hat ihren schwarzen Tag«, sagte Rosalie, die ganz allein redete. »Sie kann nicht zwei Tage hintereinander in rosiger Stimmung sein ... Das kommt davon, daß sie gestern so herumgesprungen ist!« »Bist du krank, Jeanne?« fragte Hélène.
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»Nein, Mama«, antwortete die Kleine. »Das macht dieser garstige Himmel.« Hélène verfiel wieder in ihr Schweigen. Sie trank ihren Kaffee aus, blieb in Gedanken versunken sitzen, die Augen auf die Flamme gerichtet. Als sie sich erhob, sagte sie sich, daß ihre Pflicht ihr gebiete, mit Juliette zu sprechen, sie zum Verzicht auf das Stelldichein am Nachmittag zu bewegen. Wie? Das wußte sie nicht; doch die Notwendigkeit dieses Schrittes war ihr plötzlich klargeworden, und in ihrem Kopf war nur noch der Gedanke an dieses Unterfangen, der sich ihr aufdrängte und sie nicht mehr losließ. Es schlug zehn Uhr, sie zog sich an. Jeanne schaute ihr zu. Als sie sah, daß sie ihren Hut nahm, preßte sie ihre Händchen zusammen, als fröre sie, während sich ein Schatten von Leid auf ihr Gesicht senkte. Gewöhnlich war sie sehr eifersüchtig auf die Ausgänge ihrer Mutter, denn sie wollte ihr nicht von der Seite weichen und verlangte, daß sie überallhin mitgehe. »Rosalie«, sagte Hélène, »beeilen Sie sich mit dem Zimmer ... Gehen Sie nicht fort. Ich komme gleich wieder zurück.« Und sie beugte sich nieder, küßte Jeanne schnell, ohne ihren Kummer zu bemerken. Kaum war sie fortgegangen, als das Kind, das seinen Stolz dareingesetzt hatte, nicht zu klagen, in Schluchzen ausbrach. »Oh, wie häßlich, Mademoiselle!« sagte das Hausmädchen immer wieder in tröstendem Ton. »Mein Je! Man wird Ihnen Ihre Mama nicht stehlen. Man muß sie schon ihre Angelegenheiten erledigen lassen ... Sie können nicht immer an ihren Röcken hängen.« Hélène war währenddessen um die Ecke der Rue Vineuse gebogen und eilte an den Mauern entlang, um sich vor einem Regenguß zu schützen. Pierre öffnete ihr; doch er wirkte verlegen. 290
»Ist Madame Deberle zu Hause?« »Ja, Madame; nur, ich weiß nicht ...« Und als Hélène als vertraute Freundin des Hauses auf den Salon zuging, erlaubte er sich, sie aufzuhalten. »Warten Sie, Madame, ich werde sehen.« Er schlich sich ins Zimmer, wobei er die Tür sowenig wie möglich öffnete, und sofort war Juliettes ärgerliche Stimme zu hören: »Wie! Sie haben jemand hereingelassen! Ich hatte Ihnen ausdrücklich verboten ... Das ist unglaublich, man wird nicht eine Minute in Ruhe gelassen.« Entschlossen, das zu erfüllen, was sie für ihre Pflicht hielt, stieß Hélène die Tür auf. »Ach, Sie sind es!« sagte Juliette, als sie sie erblickte. »Ich hatte nicht recht verstanden ...« Doch sie behielt ihre verärgerte Miene bei. Offensichtlich war ihr die Besucherin lästig. »Störe ich Sie?« fragte Hélène. »Nein, nein ... Sie werden verstehen. Wir bereiten nämlich eine Überraschung vor. Wir proben ›Eine Laune40‹, um sie an einem meiner Mittwochabende zu spielen. Wir haben gerade den Vormittag gewählt, damit niemand etwas ahnen kann ... Oh! Bleiben Sie jetzt nur da. Sie werden ja nichts weitererzählen.« Und während sie in die Hände klatschte und sich an Frau Berthier wandte, die mitten im Salon stand, fuhr sie fort, ohne sich weiter um Hélène zu kümmern: »Vorwärts, vorwärts, an die Arbeit ... Sie legen nicht genug Schärfe in diesen Satz: ›Hinter dem Rücken ihres Gatten eine Börse sticken, das würde in den Augen vieler Leute für etwas mehr als romanhaft gelten ...‹ Wiederholen Sie das.« Hélène, die sehr erstaunt war über die Beschäftigung, bei der sie Frau Deberle antraf, hatte sich in den Hinter291
grund gesetzt. Man hatte die Stühle und Tische an die Wände geschoben, so daß der Teppich frei blieb. Frau Berthier, eine zierliche Blondine, sprach ihren Monolog und blickte dabei zur Decke hoch, um die Worte zu suchen, während die kräftige Frau de Guiraud, eine schöne Brünette, die die Rolle der Frau de Léry übernommen hatte, in einem Sessel auf ihren Auftritt wartete. Diese Damen, die in kleiner Morgentoilette waren, hatten weder ihre Hüte noch ihre Handschuhe abgelegt. Und vor ihnen stand Juliette mit dem Band Musset in der Hand, mit zerzaustem Haar, in einen großen Morgenrock aus weißem Kaschmir gehüllt, und nahm das selbstüberzeugte Gebaren eines Regisseurs an, der den Künstlern zeigt, wie sie zu betonen und auf der Bühne zu spielen haben. Da das Tageslicht sehr trübe war, hatte man die kleinen Vorhänge aus gesticktem Tüll hochgenommen und auf dem Fenstergriff übereinandergelegt, so daß man den Garten sehen konnte, der, schwarz vor Feuchtigkeit, versank. »Sie sind nicht bewegt genug«, erklärte Juliette. »Legen Sie mehr Absicht hinein, jedes Wort muß treffen. ›Wir werden also, meine liebe kleine Börse, deine letzte Toilette machen ...‹ Fangen Sie noch einmal an.« »Ich werde das sehr schlecht machen«, sagte Frau Berthier matt. »Warum spielen Sie das nicht an meiner Stelle? Sie würden eine köstliche Mathilde abgeben.« »Oh, ich nicht! – Zunächst einmal muß es eine Blondine sein. Dann bin ich zwar ein sehr guter Lehrmeister, aber ich selber kann nicht spielen ... An die Arbeit, an die Arbeit!« Hélène blieb in ihrem Winkel sitzen. Ganz ihrer Rolle hingegeben, hatte sich Frau Berthier nicht einmal umgewandt. Frau de Guiraud hatte ihr leicht zugenickt. Und 292
Hélène fühlte, daß sie überflüssig war, daß sie es hätte ablehnen sollen, sich zu setzen. Was sie zurückhielt, war nicht mehr so sehr der Gedanke, eine Pflicht zu erfüllen, als vielmehr ein tiefes und verworrenes seltsames Gefühl, das sie zuweilen empfunden hatte. Sie litt unter der gleichgültigen Art, mit der Juliette sie empfing. Juliette hatte fortwährend launenhafte Freundschaften; sie schwärmte drei Monate lang für die Leute, warf sich ihnen an den Hals, schien nur für sie zu leben; dann schien sie sie eines Morgens, ohne zu sagen warum, nicht mehr zu kennen. Zweifellos gehorchte sie hierin wie in allen Dingen einer Mode, dem Bedürfnis, die Personen zu lieben, die man um sie her liebte. Dieses jähe Umspringen zärtlicher Zuneigung verletzte Hélène sehr, deren weiter und ruhiger Sinn stets von Ewigkeit träumte. Sie war oft sehr traurig von den Deberles fortgegangen, wahrhaft verzweifelt darüber, wie wenig man auf die menschliche Zuneigung bauen konnte. Doch an jenem Tag, in der Krise, die sie durchmachte, war der Schmerz noch heftiger. »Die Szene mit Chavigny übergehen wir«, sagte Juliette. »Er wird heute morgen nicht kommen ... Sehen wir uns den Auftritt von Madame de Léry an. Sie sind dran, Madame de Guiraud ... Merken Sie sich Ihr Stichwort.« Und sie las: »Stellen Sie sich vor, ich zeige ihm diese Börse ...« Frau de Guiraud hatte sich erhoben. Mit Kopfstimme sprechend, einen übermütigen Ausdruck annehmend, begann sie: »Schau, das ist recht hübsch. Wollen doch mal sehen.« Als der Diener Hélène geöffnet hatte, hatte sie sich eine ganz andere Szene vorgestellt. Sie meinte Juliette nervös und sehr blaß vorzufinden, zitternd bei dem Ge293
danken an das Stelldichein, schwankend und doch hingezogen; und sie sah sich selbst, wie sie sie beschwor, es sich zu überlegen, bis die junge Frau, von Schluchzen erstickt, sich in ihre Arme warf. Dann hätten sie zusammen geweint, Hélène hätte sich zurückgezogen mit dem Gedanken, daß Henri nunmehr für sie verloren sei, aber daß sie sein Glück gefestigt habe. Und nichts dergleichen; sie platzte in diese Probe hinein, von der sie nichts verstand; sie traf Juliette mit ausgeruhtem Gesicht an, da sie bestimmt gut geschlafen hatte, unbefangen genug, um Erörterungen über Frau Berthiers Gebärdenspiel anzustellen, und sie machte sich nicht die allergeringsten Gedanken um das, was sie am Nachmittag tun wollte. Diese Gleichgültigkeit, diese Leichtfertigkeit ließen Hélène, die über und über brannte vor Leidenschaft, zu Eis erstarren. Sie wollte etwas sagen. Sie fragte aufs Geratewohl: »Wer spielt denn den Chavigny?« »Malignon«, sagte Juliette und wandte sich dabei erstaunt um. »Er hat den Chavigny den ganzen letzten Winter hindurch gespielt ... Das ärgerliche ist, daß man ihn nicht zu den Proben bekommen kann ... Hören Sie zu, meine Damen, ich werde Chavignys Rolle lesen. Sonst werden wir niemals damit fertig.« Und von nun an spielte auch sie mit, indem sie den Mann darstellte mit einem unwillkürlichen Anschwellen der Stimme und weltmännischem Gehabe, das sie, mitgerissen von der Situation, annahm. Frau Berthier gurrte, die dicke Frau de Guiraud gab sich unendliche Mühe, lebhaft und geistreich zu wirken. Pierre kam herein, um Holz ins Feuer zu legen; und mit einem verstohlenen Blick musterte er die Damen, die er komisch fand. 294
Indessen versuchte Hélène, die trotz der Beklommenheit ihres Herzens immer noch an ihrem Entschluß festhielt, Juliette beiseite zu nehmen. »Eine Minute nur. Ich habe Ihnen etwas zu sagen.« »Oh! Unmöglich, meine Liebe ... Sie sehen doch, ich bin beschäftigt ... Morgen, wenn Sie Zeit haben ...« Hélène schwieg. Der unbefangene Ton der jungen Frau reizte sie. Sie empfand Zorn darüber, sie so ruhig zu sehen, während sie selber seit gestern abend eine so schmerzvolle Qual erduldete. Einen Augenblick war sie drauf und dran, aufzustehen und den Dingen ihren Lauf zu lassen. Sie war schön dumm, diese Frau retten zu wollen; der ganze Alptraum der Nacht begann wieder; ihre Hand, die den Brief in ihrer Tasche gesucht hatte, preßte ihn zusammen und brannte vor Fieber dabei. Warum sollte sie denn die anderen lieben, da die anderen sie nicht liebten und nicht wie sie litten? »Oh, sehr gut!« rief Juliette plötzlich. Frau Berthier lehnte den Kopf an Frau de Guirauds Schulter, schluchzte dabei und wiederholte: »Ich bin sicher, daß er sie liebt, ich bin dessen sicher.« »Sie werden einen tollen Erfolg haben«, sagte Juliette. »Lassen Sie sich Zeit, nicht wahr? – Ich bin sicher, daß er sie liebt, ich bin dessen sicher ... – Und lassen Sie Ihren Kopf so. Das ist hinreißend ... Sie sind dran, Madame de Guiraud.« »Nein, mein Kind, das kann nicht sein; das ist eine Laune, eine Einbildung ...«, deklamierte die dicke Dame. »Ausgezeichnet! Aber die Szene ist lang. Nicht wahr? Ruhen wir uns einen Augenblick aus ... Wir müssen diese Stelle gut hinkriegen.« Jetzt besprachen alle drei, wie die Möbel im Salon stehen müßten. Links die Tür zum Eßzimmer würde zum 295
Auftritt und Abgang dienen; man würde rechts einen Sessel, im Hintergrund ein Kanapee aufstellen und den Tisch an den Kamin rücken. Hélène, die sich erhoben hatte, folgte ihnen, als interessiere sie sich für diese Platzanordnung. Sie hatte auf das Vorhaben verzichtet, eine Auseinandersetzung herbeizuführen, sie wollte nur einen letzten Versuch unternehmen und Juliette daran hindern, sich zum Stelldichein einzufinden. »Ich kam«, sagte sie zu ihr, »Sie zu fragen, ob Sie nicht heute einen Besuch bei Madame de Chermette machen.« »Ja, heute nachmittag.« »Dann werde ich Sie abholen, wenn Sie es erlauben, denn ich habe Madame de Chermette seit langem versprochen, sie zu besuchen.« Juliette war eine Sekunde verlegen. Aber sie faßte sich sofort wieder. »Sicher, ich würde mich sehr freuen ... Nur, ich habe eine Menge Besorgungen, ich gehe zuerst zu meinen Lieferanten, und ich weiß wirklich nicht, wann ich bei Madame de Chermette sein werde.« »Das macht nichts«, erwiderte Hélène, »auf diese Weise habe ich auch Bewegung.« »Hören Sie, ich kann ja offen mit Ihnen reden ... Nun gut! Bestehen Sie nicht darauf, Sie würden mich stören ... Lassen wir es für nächsten Montag.« Das wurde ohne jede Erregung, so unumwunden, mit einem so ruhigen Lächeln gesagt, daß Hélène verwirrt nichts hinzufügte. Sie mußte Juliette zur Hand gehen, die das Tischchen sogleich an den Kamin tragen wollte. Dann trat sie zurück, während die Probe weiterging. Nach dem Schluß der Szene stieß Frau de Guiraud in
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ihrem Monolog mit viel Nachdruck die beiden folgenden Sätze hervor: »Welch ein Abgrund ist doch das Männerherz! Ach, meiner Treu, wir sind mehr wert als sie!« Was sollte sie jetzt tun? Und in dem Aufruhr, den diese Frage in ihr hervorrief, hatte Hélène nur noch wirre, gewalttätige Gedanken. Sie verspürte das unwiderstehliche Bedürfnis, sich wegen Juliettes schöner Ruhe zu rächen, als sei diese Heiterkeit eine Beleidigung des Fiebers, das sie selber schüttelte. Sie erträumte Juliettes Verderben, um zu sehen, ob sie dann immer noch ihre kaltblütige Gleichgültigkeit bewahren würde. Dann verachtete sie sich, daß sie Zartgefühl und Bedenken gehabt hatte. Zwanzigmal hätte sie zu Henri sagen sollen: »Ich liebe dich, nimm mich, laß uns fortgehen!« Und sie hätte nicht zittern, sondern das weiße und ausgeruhte Antlitz dieser Frau zur Schau tragen sollen, die drei Stunden vor einem ersten Stelldichein zu Hause Komödie spielte. Noch in dieser Minute zitterte sie mehr als Juliette; daß sie sich ihrer Zornesaufwallung bewußt war, inmitten des heiteren Friedens dieses Salons, daß sie Angst hatte, auf einmal in leidenschaftliche Worte auszubrechen, das brachte sie schier um den Verstand. War sie denn feige? Eine Tür hatte sich geöffnet, sie hörte plötzlich, wie Henris Stimme sagte: »Lassen Sie sich nicht stören ... Ich komme nur mal vorbei.« Die Probe ging ihrem Ende entgegen. Juliette, die immer noch die Rolle des Chavigny las, hatte soeben Frau de Guirauds Hand ergriffen. »Ernestine, ich bete Sie an!« rief sie in einer Aufwallung voller Überzeugung.
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»Lieben Sie denn Madame de Blainville nicht mehr?« rezitierte Frau de Guiraud. Doch Juliette weigerte sich, weiterzumachen, solange ihr Mann dablieb. Die Männer brauchten nicht alles zu wissen. Der Doktor zeigte sich den Damen gegenüber sehr liebenswürdig, er sagte ihnen Komplimente, er versprach ihnen einen großen Erfolg. Er kehrte von seinen Krankenbesuchen heim, hatte schwarze Handschuhe an und sah untadelig aus mit seinem glattrasierten Gesicht. Beim Hereinkommen hatte er Hélène lediglich mit einem leichten Kopfnicken gegrüßt. Er hatte in der ComédieFrançaise41 eine sehr große Schauspielerin in der Rolle der Madame de Léry gesehen; und er gab Frau de Guiraud Spielanweisungen. »In dem Augenblick, da Chavigny Ihnen zu Füßen fällt, nähern Sie sich dem Kamin, werfen Sie die Börse ins Feuer. Ganz kühl, nicht wahr? Ohne Zorn, wie eine Frau, die mit der Liebe spielt ...« »Gut, gut, laß uns nur machen«, sagte Juliette mehrmals. »Das wissen wir alles.« Und als er endlich die Tür zu seinem Arbeitszimmer aufstieß, begann sie die Stelle von neuem. »Ernestine, ich bete Sie an!« Bevor Henri hinausgegangen war, hatte er Hélène wieder mit dem gleichen Kopfnicken gegrüßt. Sie war stumm sitzen geblieben und machte sich auf irgendeine Katastrophe gefaßt. Dieses unmittelbare Auftauchen des Gatten schien ihr äußerst bedrohlich. Doch als er nicht mehr da war, kam er ihr lächerlich vor mit seiner Höflichkeit und seiner Blindheit. Auch er beschäftigte sich mit dieser albernen Komödie! Und in seinem Blick hatte keine Flamme aufgelodert, als er sie dort sah! Da wurde 298
für sie das ganze Haus feindselig und eisig. Es stürzte alles zusammen, nichts hielt sie mehr zurück, denn sie verabscheute Henri ebensosehr wie Juliette. Tief in ihrer Tasche hatte sie den Brief wieder in ihre verkrampften Finger genommen. Sie stammelte ein »Auf Wiedersehen«, sie ging fort in einem Schwindelanfall, bei dem sich die Möbel rings um sie drehten, während die folgenden Worte, die Frau de Guiraud sprach, in ihren klingenden Ohren widerhallten: »Leben Sie wohl. Heute zürnen Sie mir vielleicht, doch morgen werden Sie etwas Freundschaft für mich empfinden, und, glauben Sie mir, das ist mehr wert als eine Laune.« Als Hélène die Tür hinter sich wieder geschlossen hatte, zog sie auf dem Bürgersteig mit einer ungestümen und gleichsam mechanischen Bewegung den Brief hervor und ließ ihn in den Briefkasten gleiten. Dann blieb sie einige Sekunden stumpfsinnig stehen und Betrachtete die schmale Messingklappe, die wieder herabgefallen war. »Es ist geschehen«, sagte sie mit halber Stimme. Sie sah wieder die beiden mit rosa Kretonne ausgeschlagenen Zimmer, die Polstersessel, das große Bett; Malignon und Juliette waren da; auf einmal spaltete sich die Wand, der Gatte trat ein; und mehr wußte sie nicht, sie war sehr ruhig. Unwillkürlich schaute sie sich um, ob niemand bemerkt habe, wie sie den Brief einsteckte. Die Straße war leer. Sie bog um die Ecke, sie ging wieder zu sich hinauf. »Du bist artig gewesen, mein Liebling?« sagte sie und küßte Jeanne. Die Kleine, die noch auf demselben Sessel saß, hob ihr schmollendes Gesichtchen. Ohne zu antworten, warf sie beide Arme um den Hals der Mutter, sie küßte sie und 299
stieß dabei einen tiefen Seufzer aus. Sie hatte schon ihren Kummer. Beim Mittagessen wunderte sich Rosalie. »Madame hat wohl einen weiten Weg gemacht?« »Warum denn?« fragte Hélène. »Weil Madame mit einem solchen Appetit ißt ... Seit langem hat Madame nicht mehr so gut gegessen ...« Es stimmte. Sie hatte großen Hunger, eine jähe Erleichterung regte ihren Magen an. Sie fühlte in sich unsagbaren Frieden, unsagbares Wohlbehagen. Nach den Erschütterungen dieser beiden letzten Tage war eine Stille in ihr entstanden, ihre Glieder waren entspannt, geschmeidig wie nach einem Bad. Sie hatte nur noch das Gefühl einer Schwere irgendwo, eine unbestimmte Last, die sie bedrückte. Als sie wieder ins Schlafzimmer trat, richteten sich ihre Blicke unmittelbar auf die Stutzuhr, deren Zeiger fünfundzwanzig Minuten nach zwölf anzeigten. Juliettes Stelldichein war um drei Uhr. Noch zwei und eine halbe Stunde. Sie stellte mechanisch diese Berechnung an. Im übrigen hatte sie keine Eile, die Zeiger wanderten, niemand auf der Welt hatte jetzt die Macht, sie aufzuhalten; und sie ließ die Dinge ihren Lauf nehmen. Seit langem lag ein angefangenes Kindermützchen auf dem Tischchen herum. Sie nahm es zur Hand und begann vor dem Fenster zu nähen. Tiefe Stille schläferte das Zimmer ein. Jeanne hatte sich an ihren gewohnten Platz gesetzt; doch sie ließ die müden, müßigen Hände im Schoß liegen. »Mama«, sagte sie, »ich kann nicht arbeiten, es macht mir keinen Spaß.« »Na schön, mein Liebling, dann tu eben nichts ... Da, du kannst meine Nadeln einfädeln.« 300
Stumm, mit langsamen Bewegungen beschäftigte sich das Kind damit. Jeanne schnitt sorgfältig gleich lange Fadenenden, brauchte unendlich viel Zeit, das Nadelöhr zu finden; und sie kam gerade damit zurecht, ihre Mutter brauchte nacheinander die Nadeln, die sie fertigmachte. »Siehst du«, murmelte sie, »das geht schneller ... Heute abend werden meine sechs Mützchen fertig sein.« Und sie wandte sich um, um nach der Uhr zu sehen. Zehn Minuten nach eins. Fast zwei Stunden noch. Jetzt mußte Juliette mit dem Ankleiden beginnen. Henri hatte den Brief erhalten. Oh, er würde sicher hingehen. Die Angaben waren genau, er würde sofort hinfinden. Aber das alles schien ihr noch sehr fern und ließ sie kalt. Sie nähte in regelmäßigen Stichen mit dem Fleiß einer Arbeiterin. Die Minuten verrannen eine nach der anderen. Es schlug zwei Uhr. Ein Klingeln setzte sie in Erstaunen. »Wer ist denn das, meine liebe gute Mutter?« fragte Jeanne, die auf ihrem Stuhl zusammengefahren war. Und als Herr Rambaud eintrat, sagte sie: »Du bist es! – Warum klingelst du denn so stark? Du hast mir Angst eingejagt.« Der würdige Mann schien bestürzt. Er hatte in der Tat eine etwas schwere Hand gehabt. »Ich bin heute nicht nett, mir ist schlecht«, fuhr das Kind fort. »Man darf mir keine Angst einjagen.« Herr Rambaud machte sich Sorgen. Was fehlte denn dem armen Liebling? Und er setzte sich erst beruhigt hin, als er bemerkte, daß Hélène ihm einen leisen Wink gab, um ihn zu verständigen, daß das Kind seinen schwarzen Tag habe, wie Rosalie sagte. Gewöhnlich kam er sehr selten am Tage. Daher wollte er auch sogleich seinen Besuch erklären. Er kam wegen eines Landsmannes, 301
eines alten Arbeiters, der wegen seines hohen Alters keine Arbeit mehr fand und mit seiner gelähmten Frau in einer kleinen Stube lebte, die kaum größer war als ein Handteller. Man könne sich ein solches Elend nicht vorstellen. Heute früh sei er zu ihnen hinaufgestiegen, um sich ein Bild zu machen. Ein jämmerliches Loch unter dem Dach mit einem Fledermausfenster, dessen zerbrochene Scheiben den Regen hereinließen; darin ein Strohsack, eine Frau, die in einen alten Vorhang eingewickelt war, und der Mann, der abgestumpft auf der Erde hockte und nicht einmal mehr den Mut aufbrachte, kurz auszufegen. »Oh, die Unglücklichen, die Unglücklichen!« sagte Hélène immer wieder, zu Tränen gerührt. Nicht der alte Arbeiter brachte Herrn Rambaud in Bedrängnis. Den würde er zu sich nehmen, er würde schon Beschäftigung für ihn finden. Aber die Frau, diese gelähmte Frau, die ihr Mann nicht einen Augenblick allein zu lassen wagte und die man wie ein Paket rollen mußte, wohin sollte man sie bringen, was mit ihr tun? »Ich habe an Sie gedacht«, fuhr er fort, »Sie müssen sie sofort in einem Krankenhaus unterbringen ... Ich wäre direkt zu Herrn Deberle gegangen, aber ich habe gedacht, Sie kennen ihn besser, Sie würden mehr Einfluß haben ... Wenn er sich damit befassen will, wird die Angelegenheit schon morgen erledigt sein.« Ganz blaß und unter einem Mitleidsschauer erzitternd, hatte Jeanne zugehört. Sie faltete die Hände und murmelte: »Oh, Mama, sei gut, bring die arme Frau im Krankenhaus unter ...« »Aber gewiß!« sagte Hélène mit zunehmender Erregung. »Sowie ich kann, werde ich mit dem Doktor spre302
chen, er wird sich selber mit den notwendigen Schritten befassen ... Geben Sie mir Namen und Adresse, Herr Rambaud.« Herr Rambaud schrieb auf dem Tischchen eine Notiz. Dann stand er auf und sagte: »Es ist zwei Uhr fünfunddreißig. Sie können den Doktor vielleicht zu Hause antreffen.« Sie war gleichfalls aufgestanden, sie sah auf die Stutzuhr und zuckte zusammen. Es war wirklich zwei Uhr fünfunddreißig, und die Zeiger wanderten. Sie stammelte, sie sagte, der Doktor müsse schon zu seinen Krankenbesuchen aufgebrochen sein. Ihre Blicke ließen die Uhr nicht mehr los. Indessen blieb Herr Rambaud mit dem Hut in der Hand stehen und begann seine Geschichte von neuem. Diese armen Leute hätten alles verkauft, sogar ihren Ofen; seit dem Beginn des Winters brächten sie die Tage und Nächte ohne Feuer zu. Ende Dezember seien sie vier Tage ohne Essen gewesen. Hélène schrie schmerzvoll auf. Die Zeiger zeigten zwanzig vor drei. Herr Rambaud brauchte noch zwei reichliche Minuten, ehe er fortging. »Nun gut! Ich zähle auf Sie«, sagte er. Und während er sich niederbeugte, um Jeanne zu küssen, fügte er hinzu: »Auf Wiedersehen, mein Liebling.« »Auf Wiedersehen ... Sei unbesorgt, Mama wird es nicht vergessen, ich werde sie daran erinnern.« Als Hélène aus dem Vorzimmer zurückkam, wohin sie Herrn Rambaud begleitet hatte, stand der Zeiger auf drei Viertel drei. In einer Viertelstunde würde alles vorüber sein. Reglos stand sie vor dem Kamin, und wie eine jähe Vision sah sie den Auftritt, der sich abspielen würde: 303
Juliette war schon da, Henri kam herein und überraschte sie. Sie kannte das Zimmer, sie sah die geringsten Einzelheiten mit erschreckender Deutlichkeit vor sich. Da fühlte sie, die noch erschüttert war von Herrn Rambauds jammervoller Geschichte, wie ein Schauder ihr von den Gliedern ins Gesicht stieg. Und es schrie auf in ihr. Das war eine Niederträchtigkeit, was sie getan hatte, dieser Brief, diese feige Denunzierung. Auf einmal erschien es ihr so in blendender Helle. Wirklich, sie hatte eine solche Niederträchtigkeit begangen! Und sie erinnerte sich der Handbewegung, mit der sie den Brief in den Kasten geworfen hatte, sie sah das so bestürzt wie jemand, der zuschaut, wie ein anderer eine schlechte Tat begeht, und dabei nicht auf den Gedanken kommt, einzugreifen. Sie erwachte wie aus einem Traum. Was war denn geschehen? Weshalb stand sie da und verfolgte immer noch die Zeiger auf dem Zifferblatt? Zwei weitere Minuten waren verstrichen. »Mama«, sagte Jeanne, »wenn du willst, gehen wir heute abend zusammen den Doktor besuchen ... Da habe ich einen kleinen Spaziergang. Ich ersticke heute.« Hélène hörte nicht. Noch dreizehn Minuten. Sie konnte doch nicht zulassen, daß eine solche Abscheulichkeit geschah. Bei diesem wilden Erwachen war in ihr nur noch der wütende Wille, das zu verhindern. Es mußte sein, sie würde sonst nicht mehr leben können. Und wie irre lief sie ins Schlafzimmer. »Ah, du nimmst mich mit!« rief Jeanne freudig. »Wir besuchen den Doktor gleich, nicht wahr, meine liebe gute Mutter?« »Nein, nein«, antwortete sie, während sie ihre Stiefel suchte und sich bückte, um unter dem Bett nachzusehen. Sie fand sie nicht; unbekümmert zuckte sie die Achseln, 304
weil ihr einfiel, sie könne wohl in den kleinen Hausschuhen hinübergehen, die sie an den Füßen hatte. Jetzt wühlte sie im Spiegelschrank, um ihr Umschlagetuch zu finden. Jeanne war schmeichelnd näher gekommen. »Du gehst also nicht zum Doktor, meine liebe gute Mutter?« »Nein.« »Nimm mich doch trotzdem mit ... Oh, nimm mich mit, du würdest mir so viel Freude machen!« Aber Hélène hatte endlich ihr Umschlagetuch gefunden, sie warf es sich über die Schultern. Mein Gott! Nur noch zwölf Minuten, gerade die Zeit, um hinzulaufen. Sie würde hingehen, sie würde irgend etwas tun, gleichviel was. Unterwegs würde sie schon sehen. »Meine liebe gute Mutter, nimm mich mit«, wiederholte Jeanne mit einer Stimme, die immer leiser und rührender wurde. »Ich kann dich nicht mitnehmen«, sagte Hélène. »Ich gehe irgendwohin, wo Kinder nicht hingehen ... Geben Sie mir meinen Hut, Rosalie.« Jeannes Gesicht war bleich geworden. Ihre Augen verdunkelten sich, ihre Stimme wurde schroff. Sie fragte: »Wohin gehst du?« Die Mutter antwortete nicht, war damit beschäftigt, die Bänder ihres Hutes zu knüpfen. Das Kind redete weiter: »Du gehst jetzt immer ohne mich fort ... Gestern bist du fortgegangen; heute bist du fortgegangen; und jetzt gehst du schon wieder weg. Ich, ich gräme mich zu sehr, ich habe Angst hier ganz allein ... Oh, ich werde sterben, wenn du mich verläßt ... Hörst du, ich werde sterben, meine liebe gute Mutter ...« Dann klammerte sie sich 305
schluchzend, von einem Anfall von Schmerz und Wut gepackt, an Hélènes Rock. »Was soll das! Laß mich los! Sei vernünftig! Ich komme gleich wieder«, sagte Hélène mehrmals. »Nein, ich will nicht ... nein, ich will nicht ...«, stammelte das Kind. »Oh, du hast mich nicht mehr lieb, sonst würdest du mich mitnehmen ... Oh, ich spüre genau, daß du die anderen mehr lieb hast ... Nimm mich mit, nimm mich mit, oder ich bleibe hier auf der Erde liegen, du wirst mich auf der Erde wiederfinden.« Und sie schlang ihre Ärmchen um die Beine ihrer Mutter, sie weinte in die Falten ihres Kleides, klammerte sich an sie und machte sich schwer, um sie am Gehen zu hindern. Die Zeiger wanderten, es war zehn Minuten vor drei. Da fiel Hélène ein, daß sie nicht mehr zeitig genug hinkommen werde; und sie verlor den Kopf und stieß Jeanne heftig zurück und rief: »Was für ein unausstehliches Kind! Das ist ja eine wahre Tyrannei! – Wenn du weinst, bekommst du es mit mir zu tun!« Sie ging hinaus, schloß heftig die Tür. Jeanne war taumelnd bis zum Fenster zurückgewichen, die Tränen versiegten jäh angesichts dieser Roheit, sie war starr und ganz weiß. Sie streckte die Arme nach der Tür aus, rief noch zweimal: »Mama! Mama!« Und auf ihren Stuhl zurückgesunken, verharrte sie dort, die Augen weit aufgerissen, das Gesicht verstört durch den eifersüchtigen Gedanken, daß ihre Mutter sie hintergehe. Auf der Straße beschleunigte Hélène ihren Schritt. Der Regen hatte aufgehört; nur dicke Tropfen, die von den Dachrinnen herabfielen, machten ihr die Schultern naß und schwer. Sie hatte sich vorgenommen, draußen nachzudenken, einen Plan aufzustellen. Doch sie hatte nur noch das Bedürfnis hinzugelangen. Als sie in die Passage 306
des Eaux einbog, zögerte sie eine Sekunde. Die Treppe hatte sich in einen Sturzbach verwandelt, die Gossen der Rue Raynouard flossen über und stürzten sich hinab. Längs der Stufen sprühte zwischen den eng beieinanderstehenden Mauern Gischt auf, während die vom Regenguß blankgewaschenen Spitzen der Pflastersteine schillerten. Ein fahles Schlaglicht, das vom grauen Himmel fiel, ließ die Passage des Eaux zwischen den schwarzen Zweigen der Bäume weiß wirken. Sie raffte ihren Rock nur wenig und stieg hinab. Das Wasser reichte ihr bis an die Knöchel, ihre kleinen Schuhe wären beinahe in den Pfützen steckengeblieben; und während sie hinabstieg, hörte sie um sich her ein helles Flüstern, gleich dem Murmeln der Bäche, die in der Tiefe der Wälder unter den Gräsern dahinfließen. Plötzlich befand sie sich im Treppenhaus vor der Tür. Keuchend, zermartert blieb sie dort stehen. Dann erinnerte sie sich und zog es vor, an der Küche zu klopfen. »Wie, Sie sind es!« sagte Mutter Fétu. Sie sprach heute nicht mit weinerlicher Stimme. Ihre schmalen Augen funkelten, während das Lachen einer alten Kupplerin in den tausend Runzeln ihres Gesichts zuckte. Sie tat sich keinen Zwang mehr an, sie tätschelte ihr die Hände, während sie ihren abgerissenen Worten zuhörte. Hélène gab ihr zwanzig Francs. »Gott vergelte es Ihnen!« stammelte Mutter Fétu aus Gewohnheit. »Alles, was Sie wollen, meine Kleine.«
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Kapitel IV In einen Sessel zurückgelehnt, die Beine vor dem flammenden Feuer ausgestreckt, wartete Malignon gelassen. Er hatte den raffinierten Einfall gehabt, die Fenstervorhänge zuzuziehen und die Kerzen anzuzünden. Das erste Zimmer, in dem er sich befand, war durch einen kleinen Kronleuchter und zwei Kandelaber hell erleuchtet. Im Schlafzimmer dagegen herrschte Dunkelheit; nur die kristallene Hängelampe brachte ein halberloschenes Dämmerlicht hinein. Malignon zog seine Uhr. »Donnerwetter!« murmelte er. »Sollte sie mich heute wieder sitzenlassen?« Und er gähnte leicht. Er wartete seit einer Stunde, was ihm nicht gerade Spaß machte. Indessen erhob er sich, warf einen kurzen Blick auf die Vorbereitungen. Die Anordnung der Sessel gefiel ihm nicht, er rollte ein kleines Sofa vor den Kamin. Die Kerzen brannten mit rosa Widerschein auf den Wandbespannungen aus Kretonne, das Zimmer erwärmte sich, war still und schwül, während draußen jähe Windstöße wehten. Dann besichtigte er ein letztes Mal das Schlafzimmer und genoß dabei eine Befriedigung seiner Eitelkeit: er fand es sehr gut, durchaus »schick«, ausgepolstert wie ein Alkoven, das Bett in wollüstigem Dunkel verloren. In dem Augenblick, da er die Spitzen der Kopfkissen schön zurechtlegte, klopfte es dreimal rasch nacheinander. Das war das Zeichen. »Endlich«, sagte er laut mit triumphierender Miene. Und er lief öffnen. Mit herabgelassenem Gesichtsschleier, in einen Pelzmantel eingemummt, trat Juliette ein. Während Malignon die Tür sacht wieder schloß, blieb sie einen Augenblick unbeweglich stehen, ohne daß man die Erregung gewah308
ren konnte, die ihr die Sprache verschlug. Doch bevor der junge Mann Zeit gehabt hatte, ihre Hand zu ergreifen, schlug sie ihren Schleier zurück, zeigte sie ihr lächelndes, ein wenig blasses, sehr ruhiges Gesicht. »Sieh an, Sie haben Licht gemacht«, rief sie aus. »Ich glaubte, Sie verabscheuten so was, Kerzen am hellichten Tag.« Malignon, der sich anschickte, sie mit einer leidenschaftlichen Gebärde, die er genau berechnet hatte, in die Arme zu schließen, geriet aus der Fassung und erklärte, das Tageslicht sei zu häßlich, seine Fenster gingen auf unbebautes Gelände hinaus. Außerdem schwärme er für Nacht. »Man kennt sich bei Ihnen niemals aus«, erwiderte sie, mit ihm scherzend. »Bei meinem Kinderball im letzten Frühjahr haben Sie eine große Geschichte daraus gemacht: man komme sich vor wie in einer Gruft, man hätte meinen können, zu einem Toten hereinzukommen ... Nun, nehmen wir an, Ihr Geschmack hat sich geändert.« Sie schien auf Besuch zu sein und täuschte eine Selbstsicherheit vor, die ihre Stimme etwas lauter werden ließ. Das war das einzige Anzeichen ihrer Verwirrung. Zuweilen verzog sich leicht ihr Kinn, als verspüre sie eine Beklemmung in der Kehle. Doch ihre Augen funkelten, sie kostete das lebhafte Vergnügen ihrer Unvorsichtigkeit aus. Das brachte ihr Abwechslung, sie dachte an Frau de Chermette, die einen Geliebten hatte. Mein Gott! Es war immerhin komisch. »Sehen wir uns Ihre Einrichtung an«, begann sie wieder. Und sie machte einen Rundgang durch das Zimmer. Er folgte ihr und überlegte dabei, daß er sie sofort hätte küssen sollen; jetzt konnte er nicht mehr, er mußte warten. 309
Jedoch sie betrachtete die Möbel, musterte die Wände, hob den Kopf, trat zurück und redete immerfort dabei. »Ihren Kretonne mag ich nicht gerade. Er wirkt gewöhnlich! Wo haben Sie dieses abscheuliche Rosa gefunden? – Nein, dieser Stuhl da könnte hübsch sein, wenn das Holz nicht so vergoldet wäre ... Und kein Bild, keine Nippesfigur; nichts als Ihr Kronleuchter und Ihre Kandelaber, die nicht sehr stilvoll sind ... Na, mein Lieber, ich kann Ihnen raten, sich noch einmal über mein japanisches Gartenhäuschen lustig zu machen!« Sie lachte, sie rächte sich für seine früheren Angriffe, die sie ihm immer noch nachtrug. »Einen hübschen Geschmack haben Sie, reden wir nicht davon! Aber Sie wissen ja nicht, daß mein Pagode mehr wert ist als Ihr ganzes Mobiliar! – Nicht einmal ein Modewarenverkäufer hätte dieses Rosa da haben wollen. Sie haben wohl geträumt, Ihre Wäscherin zu verführen.« Malignon, der sehr verärgert war, antwortete nicht. Er versuchte, sie ins Schlafzimmer zu führen. Sie blieb auf der Schwelle stehen und sagte, sie gehe nicht dorthinein, wo es so finster sei. Im übrigen sähe sie genug, das Schlafzimmer sei auch nicht mehr wert wie der Salon. All das stamme aus dem Faubourg Saint-Antoine42. Und vor allem die Hängelampe erheiterte sie. Sie war unbarmherzig, sie kam unaufhörlich auf diese kitschige Nachtlampe zurück, den Traum kleiner Arbeiterinnen, die nicht in ihren eigenen Möbeln wohnen. Solche Ampeln fände man in allen Warenhäusern für sieben Francs fünfzig. »Ich habe neunzig Francs dafür bezahlt«, rief Malignon schließlich ungeduldig. Da schien sie entzückt, ihn in Zorn gebracht zu haben.
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Er hatte sich wieder beruhigt und fragte sie hinterhältig: »Wollen Sie Ihren Mantel nicht ablegen?« »Doch«, antwortete sie. »Es ist ja eine Hitze bei Ihnen!« Sie nahm sogar ihren Hut ab, den er samt dem Pelz auf das Bett trug. Als er zurückkam, saß sie vor dem Feuer und schaute sich noch immer um. Sie war wieder ernst geworden; sie bequemte sich, versöhnlich zu sein. »Das ist sehr häßlich, aber Sie haben es trotzdem hier nicht schlecht getroffen. Die beiden Zimmer könnten sehr nett sein.« »Oh! Dazu, was ich damit machen will!« ließ er sich mit einer sorglosen Gebärde entschlüpfen. Er bereute sofort diese törichte Bemerkung. Man konnte weder plumper noch ungeschickter sein. Sie hatte den Kopf gesenkt, hatte wieder eine schmerzhafte Beklemmung in der Kehle. Einen Augenblick lang hatte sie vergessen, weshalb sie hier war. Er wollte wenigstens die Verwirrung ausnutzen, in die er sie gebracht hatte. »Juliette«, murmelte er und neigte sich zu ihr. Mit einer Handbewegung gebot sie ihm, sich zu setzen. Im Seebad, in Trouville, hatte Malignon, der sich beim Anblick des Ozeans langweilte, den schönen Einfall gehabt, sich zu verlieben. Seit drei Jahren schon lebten sie in einer zänkischen Vertraulichkeit. Eines Abends nahm er ihre Hand. Sie wurde nicht böse, scherzte zunächst. Da ihr Kopf leer und ihr Herz frei war, bildete sie sich dann ein, sie liebe ihn. Bis zu diesem Tag hatte sie ungefähr all das getan, was ihre Freundinnen rings um sie taten; aber eine Leidenschaft fehlte ihr, die Neugier und das Bedürfnis, wie die anderen zu sein, trieben sie dazu. 311
Hätte der junge Mann sich gleich zu Anfang rücksichtslos gezeigt, wäre sie unfehlbar unterlegen. Aber er war so dünkelhaft, durch seinen Geist siegen zu wollen, er ließ zu, daß sie sich an das kokette Spiel gewöhnte, das sie spielte. Daher hatte sie ihn auch gleich bei seiner ersten Zudringlichkeit in einer Nacht, da sie zusammen wie ein Operettenliebespaar das Meer betrachteten, davongejagt und war erstaunt und verärgert, daß er diesen Roman störte, an dem sie ihren Spaß hatte. In Paris hatte Malignon sich geschworen, geschickter zu sein. Er hatte sie wieder für sich eingenommen in einer Zeit der Langenweile, am Ende eines ermüdenden Winters, als ihr die wohlbekannten Vergnügungen, die Abendessen, die Bälle, die Premieren, durch ihre Eintönigkeit auf die Nerven zu gehen begannen. Der Gedanke an eine eigens dafür eingerichtete möblierte Wohnung in einem entlegenen Stadtteil, das Geheimnisvolle eines solchen Stelldicheins, der Anflug von Anrüchigkeit, den sie witterte, hatten sie verlockt. Das schien ihr noch nicht dagewesen zu sein, man mußte eben alles sehen. Und sie hatte im Grunde ihrer selbst eine so schöne Ruhe, daß sie bei Malignon kaum verwirrter war als bei den Malern, zu denen sie hinaufstieg, um Gemälde für ihre Wohltätigkeitsverkäufe zu erbetteln. »Juliette, Juliette«, wiederholte der junge Mann und trachtete danach, seiner Stimme einen einschmeichelnden Tonfall zu geben. »Spaß beiseite, seien Sie vernünftig«, sagte sie einfach. Und sie nahm einen chinesischen Fächer vom Kamin, sie fuhr sehr behaglich fort, als befände sie sich in ihrem eigenen Salon: »Sie wissen, daß wir heute morgen geprobt haben ... Ich fürchte sehr, daß ich keine glückliche Hand gehabt habe, als meine Wahl auf Madame 312
Berthier fiel. Sie spielt eine weinerliche, unausstehliche Mathilde. Dieser hübsche Monolog, wenn sie zu ihrer Börse spricht: ›Arme Kleine, ich küßte dich vorhin ...‹, nun ja, sie sagt es auf wie eine Pensionatsschülerin, die ein Kompliment einstudiert hat ... Ich hin sehr besorgt.« »Und Madame de Guiraud?« fragte er, rückte dabei seinen Stuhl näher und nahm ihre Hand. »Oh, sie ist vortrefflich ... Ich habe da eine ausgezeichnete Madame de Léry ausfindig gemacht, die Bissigkeit und Schwung haben wird ...« Sie überließ ihm ihre Hand, die er zwischen zwei Sätzen küßte, ohne daß sie es zu bemerken schien. »Das schlimmste aber ist, sehen Sie, daß Sie nicht da sind«, sagte sie. »Zunächst einmal können Sie ein paar kritische Bemerkungen zu Madame Berthier machen; außerdem ist es unmöglich, daß wir zu einem guten Zusammenspiel gelangen, wenn Sie niemals kommen.« Es war ihm geglückt, einen Arm um ihre Taille zu legen. »Sobald ich meine Rolle kann ...«, murmelte er. »Ja, das ist sehr gut; nur muß die Inszenierung geregelt werden ... Es ist nicht gerade nett von Ihnen, daß Sie uns nicht einmal drei oder vier Vormittage widmen.« Sie konnte nicht fortfahren, denn er ließ einen Regen von Küssen auf ihren Hals niedergehen. Jetzt mußte es ihr wohl auffallen, daß er sie in seinen Armen hielt, sie stieß ihn zurück und schlug ihm dabei mit dem chinesischen Fächer, den sie in der Hand behalten hatte, leicht ins Gesicht. Zweifellos hatte sie sich geschworen, ihn nicht weitergehen zu lassen. Ihr weißes Gesicht errötete unter dem glühenden Widerschein des Feuers, ihre Lippen kniffen sich schmollend zusammen wie bei einer neugierigen Frau, die sich über das wundert, was sie 313
Aufregendes erlebt. War es wirklich nur das! Man hätte bis zum Schluß abwarten müssen; und Angst erfaßte sie. »Lassen Sie mich los«, stammelte sie und lächelte gezwungen. »Ich werde noch böse werden ...« Aber er glaubte, sie gerührt zu haben. Er dachte sehr kühl: Wenn ich sie so, wie sie gekommen ist, von hier fortgehen lasse, ist sie für mich verloren. Worte waren unnütz, er ergriff wieder ihre Hände, wollte bis zu den Schultern hinauf tasten. Einen Augenblick lang schien sie sich hinzugeben. Sie brauchte nur die Augen zu schließen, dann würde sie alles wissen. Es gelüstete sie danach, und im Grunde ihrer selbst stellte sie mit großer Hellsichtigkeit Erörterungen darüber an. Allerdings war es ihr, als riefe jemand nein. Sie selber hatte es gerufen, noch ehe sie sich geantwortet hatte. »Nein, nein«, wiederholte sie. »Lassen Sie mich los, Sie tun mir weh ... Ich will nicht, ich will nicht.« Da er noch immer nichts sagte und sie zum Schlafzimmer drängte, machte sie sich heftig los. Sie gehorchte seltsamen Regungen, die außerhalb ihrer Wünsche lagen; sie war über sich selbst und über ihn verärgert. In ihrer Verwirrung entschlüpften ihr zusammenhanglose Worte. Wahrhaftig, er vergelte ihr ihr Vertrauen recht schlecht. Was erhoffe er denn, wenn er solche Roheit an den Tag lege? Sie schalt ihn sogar einen Feigling. Niemals im Leben würde sie ihn wiedersehen. Aber er ließ sie sprechen, damit sie sich betäube, er verfolgte sie mit einem bösen und albernen Lachen. Schließlich stammelte sie nur noch, hatte sich hinter einen Sessel geflüchtet, war auf einmal besiegt und begriff, daß sie ihm gehörte, bevor er noch die Hände ausge-
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streckt hatte, um sie zu nehmen. Es war eine der unangenehmsten Minuten ihres Lebens. Und sie standen einander gegenüber mit verändertem, beschämtem und erregtem Gesicht, da brach Lärm los. Sie begriffen zunächst nicht. Man hatte eine Tür geöffnet, Schritte kamen durch das Schlafzimmer, während eine Stimme ihnen zurief: »Fliehen Sie, fliehen Sie ... Sie werden gleich überrascht.« Es war Hélène. Verdutzt sahen die beiden sie an. Ihre Verwunderung war so groß, daß sie darüber das Peinliche ihrer Lage vergaßen. Juliette zeigte zunächst keine Verlegenheit. »Fliehen Sie«, wiederholte Hélène. »Ihr Mann wird in zwei Minuten hiersein.« »Mein Mann«, stammelte die junge Frau, »mein Mann ... Warum? Wieso?« Sie verlor völlig den Verstand. Alles verwirrte sich, in ihrem Kopf. Es kam ihr wie ein Wunder vor, daß Hélène da war und zu ihr von ihrem Mann sprach. Aber Hélène machte eine zornige Bewegung. »Ach, wenn Sie glauben, ich habe Zeit, Ihnen das zu erklären ... Er wird gleich dasein. Sie sind gewarnt. Gehen Sie rasch fort, gehen Sie alle beide!« Da geriet Juliette in höchste Aufregung. Verstört lief sie in den Zimmern umher und gab unzusammenhängende Worte von sich: »Ach, mein Gott, ach, mein Gott! – Ich danke Ihnen. Wo ist denn mein Mantel? Wie albern ist doch dieses ganz finstere Zimmer! Geben Sie mir meinen Mantel, bringen Sie eine Kerze her, damit ich meinen Mantel finde ... Meine Liebe, beachten Sie das nicht, wenn ich Ihnen nicht danke ... Ich weiß nicht, wo die Ärmel sind; nein, ich weiß nicht mehr, ich kann nicht 315
mehr ...« Die Angst lähmte sie, Hélène mußte ihr helfen, den Mantel anzuziehen. Sie setzte ihren Hut verkehrt auf, knüpfte nicht einmal die Bänder zusammen. Das schlimmste aber war, daß man eine reichliche Minute damit verlor, ihren Schleier zu suchen, der unter das Bett gefallen war ... Sie stammelte und tastete mit fahrigen und zitternden Händen an sich herum, ob sie nichts vergessen hätte, was sie bloßstellen könne. »Das soll mir eine Lehre sein! Das soll mir eine Lehre sein! – Ach, nun ist es aber aus! Restlos aus!« Malignon, der sehr blaß war, machte ein blödes Gesicht. Er trat von einem Fuß auf den anderen und fühlte sich verabscheut und lächerlich. Die einzige klare Überlegung, zu der er imstande war, war die, daß er entschieden kein Glück habe. Es kam ihm nur die armselige Frage über die Lippen: »Sie glauben also, daß ich auch fortgehen muß?« Und da man ihm nicht antwortete, nahm er seinen Spazierstock, während er weiterredete, um eine schöne Kaltblütigkeit vorzutäuschen. Man habe reichlich Zeit. Es gab nämlich noch eine andere Treppe, eine kleine verlassene Dienstbotentreppe, die man aber noch benutzen konnte. Frau Deberles Droschke war vor der Haustür stehengeblieben, sie würde sie alle beide über die Uferstraße fortbringen. Und er sagte immer wieder: »Beruhigen Sie sich doch. Das geht ja sehr gut so ... Hier geht es lang.« Er hatte eine Tür geöffnet, man erblickte die Flucht der drei kleinen schwarzen und baufälligen Räume, die man in all ihrem Schmutz belassen hatte. Ein Schwall feuchter Luft wehte herein. Bevor Juliette sich in diese Erbärmlichkeit begab, empörte sie sich ein letztes Mal und fragte ganz laut:
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»Wie habe ich nur kommen können? Wie abscheulich! – Niemals werde ich mir das verzeihen.« »Beeilen Sie sich«, sagte Hélène, die ebenso angsterfüllt war wie sie. Sie drängte sie hinaus. Da warf sich die junge Frau ihr weinend an den Hals. Es war eine Nervenreaktion. Scham befiel sie; sie hätte sich verteidigen mögen, hätte sagen mögen, weshalb man sie bei diesem Mann angetroffen. Dann raffte sie mit einer unwillkürlichen Bewegung die Röcke, als müsse sie über eine Gosse steigen. Malignon, der vorangegangen war, schob mit der Stiefelspitze die Gipsbrocken aus dem Wege, die auf der Dienstbotentreppe herumlagen, so daß man kaum treten konnte. Die Türen fielen ins Schloß. Hélène war währenddessen in der Mitte des kleinen Salons stehengeblieben. Sie lauschte. Schweigen hatte sich um sie her ausgebreitet, ein tiefes Schweigen, ein warmes und abgeschlossenes Schweigen, das nur das Knistern der glühenden Holzscheite störte. Ihr klangen die Ohren, sie hörte nichts. Doch nach einer Zeit, die ihr endlos schien, dröhnte jähes Wagenrollen. Es war Juliettes Droschke, die davonfuhr. Da seufzte sie und machte ganz für sich allein eine stumme Dankesgebärde. Der Gedanke, daß sie nicht ewig Gewissensbisse haben müsse, weil sie gemein gehandelt hatte, ertränkte sie in einem Gefühl voller Süße und unbestimmter Dankbarkeit. Sie fühlte sich erleichtert, sehr gerührt, doch plötzlich so schwach nach der gräßlichen Krise, die sie überstanden hatte, daß sie nicht mehr die Kraft in sich spürte, sich nun auch zu entfernen. Im Grunde dachte sie, Henri werde kommen und er müsse jemanden hier vorfinden. Es klopfte, sofort öffnete sie.
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Das gab zunächst eine große Überraschung. Henri trat ein, beunruhigt durch diesen Brief ohne Unterschrift, den er empfangen hatte, das Gesicht bleich vor Besorgnis. Doch als er sie erblickte, entfuhr ihm ein Schrei. »Sie! – Mein Gott! Sie waren das!« Und es lag in diesem Schrei mehr noch Bestürzung als Freude. Er rechnete kaum mit diesem Stelldichein, das mit solcher Kühnheit gewährt wurde. Dann wurden all seine Mannesbegierden geweckt durch ein so unvermutetes Anbieten in dem wollüstigen Geheimnis dieses Schlupfwinkels. »Sie lieben mich, Sie lieben mich«, stammelte er. »Endlich sind Sie da, und ich, ich hatte nicht begriffen!« Er breitete die Arme aus, er wollte sie nehmen. Hélène hatte ihm zugelächelt, als er hereingekommen war. Jetzt wich sie ganz blaß zurück. Zweifellos hatte sie auf ihn gewartet; sie hatte sich gesagt, daß sie einen Augenblick miteinander plaudern würden, daß sie eine Geschichte erfinden würde. Und jäh wurde ihr die Situation bewußt. Henri glaubte an ein Stelldichein. Niemals hatte sie das gewollt. Sie lehnte sich auf. »Henri, ich flehe Sie an ... Lassen Sie mich ...« Doch er hatte ihre Handgelenke ergriffen, er zog sie langsam an sich, als wolle er sie sofort mit einem Kuß besiegen. Die Liebe, die Monate hindurch in ihm gewachsen, später durch das Abbrechen ihrer Vertrautheit eingeschlafen war, so daß er Hélène schon zu vergessen begann, brach um so heftiger hervor. Alles Blut seines Herzens stieg in seine Wangen; und sie wehrte sich, als sie dieses glühende Gesicht sah, das sie wiedererkannte und das sie erschreckte. Schon zweimal hatte er sie mit diesen irren Blicken angesehen. »Lassen Sie mich, Sie machen mir angst ... Ich schwöre Ihnen, daß Sie sich täuschen.« 318
Da schien er abermals überrascht zu sein. »Sie haben mir doch geschrieben?« fragte er. Sie zögerte eine Sekunde. Was sollte sie sagen, was erwidern? »Ja«, murmelte sie schließlich. Sie konnte doch Juliette nicht ausliefern, nachdem sie sie gerettet hatte. Es war gleichsam ein Abgrund, in den sie sich selber hinabgleiten fühlte. Henri musterte jetzt die beiden Zimmer und wunderte sich über ihre Beleuchtung und Ausstattung. Er wagte sie zu fragen: »Sie sind hier zu Hause?« Und da sie schwieg: »Ihr Brief hat mich sehr gequält ... Hélène, Sie verbergen mir etwas. Um Gottes willen, beruhigen Sie mich.« Sie hörte nicht zu, sie dachte, er habe allen Grund, an ein Stelldichein zu glauben. Was hätte sie hier wohl tun sollen, weshalb hätte sie ihn erwarten sollen? Ihr fiel nichts ein. Sie war nicht einmal mehr sicher, ob sie ihm dieses Stelldichein nicht wirklich gewährt hatte. Eine Umarmung hüllte sie ein, in der sie langsam verging. Er drückte sie noch fester an sich. Er fragte sie ganz nah, seine Lippen auf ihren Lippen, um ihr die Wahrheit zu entreißen: »Sie haben mich erwartet, Sie haben mich erwartet?« Da überließ sie sich ihm kraftlos, wieder von dieser Mattigkeit und Süße ergriffen, die sie zerbrachen, sie willigte ein, zu sagen, was er sagte, zu wollen, was er wollte. »Ich habe Sie erwartet, Henri ...« Ihre Münder kamen einander noch näher. »Aber warum dieser Brief? – Und ich finde Sie hier! – Wo sind wir denn?«
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»Fragen Sie mich nicht, suchen Sie niemals zu erfahren ... Das müssen Sie mir schwören ... Ich bin es, ich bin bei Ihnen, Sie sehen es wohl. Was verlangen Sie mehr?« »Sie lieben mich?« »Ja, ich liebe Sie.« »Sie sind mein, Hélène, ganz mein?« »Ja, ganz.« Ihre Lippen ruhten aufeinander und sie küßten sich. Sie hatte alles vergessen, sie gab einer höheren Macht nach. Das schien ihr jetzt natürlich und notwendig. Es war Friede in ihr geworden, nur noch Empfindungen und Erinnerungen aus ihrer Jugend kamen ihr in den Sinn. An einem solchen Wintertag wäre sie als junges Mädchen in der Rue des Petites-Maries beinahe gestorben in einem Zimmer ohne Luft, vor einem großen Kohlenfeuer, das man angezündet hatte, um etwas zu plätten. An einem anderen Tag im Sommer hatten die Fenster offengestanden, und ein Buchfink, der sich in der düsteren Straße verirrt hatte, war mit einem Flügelschlag einmal durch ihr Zimmer geflogen. Warum dachte sie denn an ihren Tod, warum sah sie diesen Vogel davonfliegen? Sie fühlte sich voller Schwermut und Kindlichkeit in dem köstlichen Vergehen ihres ganzen Wesens. »Aber du bist ja naß«, murmelte Henri. »Bist du denn zu Fuß gekommen?« Er senkte die Stimme, um sie zu duzen, er flüsterte ihr ins Ohr, als hätte man ihn hören können. Jetzt, da sie sich hingab, zitterte sein Verlangen vor ihr, er umgab sie mit einer glühenden und schüchternen Zärtlichkeit, er wagte nicht mehr und zögerte die Stunde hinaus. Eine brüderliche Besorgnis um ihre Gesundheit wurde in ihm wach, er hatte das Bedürfnis, sich in irgendwelchen vertraulichen und unbedeutenden Dingen mit ihr zu beschäftigen. »Du hast nasse Füße, du 320
wirst krank werden«, sagte er immer wieder. »Mein Gott! Hat das denn Sinn und Verstand, mit solchen Schuhen durch die Straßen zu laufen!« Er hatte sie vor dem Feuer Platz nehmen lassen. Sie lächelte, ohne sich zu wehren, und überließ ihm ihre Füße, damit er ihr die Schuhe ausziehe. Ihre kleinen Hausschuhe, die in den Pfützen der Passage des Eaux aufgeplatzt waren, waren schwer wie Schwämme. Er zog sie ihr aus, stellte sie zu beiden Seiten des Kamins hin. Auch die Strümpfe waren feucht, bis zum Knöchel mit Schlamm beschmutzt. Da zog er sie ihr, ohne daß sie daran dachte, zu erröten, mit einer unwilligen und in ihrer Barschheit doch zärtlichen Bewegung aus und sagte: »So erkältet man sich. Wärme dich.« Und er hatte einen Hocker herangeschoben. Die beiden schneeigen Füße wurden vor der Flamme von rosigem Widerschein überhaucht. Es war fast zum Ersticken. Im Hintergrund schlummerte das Schlafzimmer mit seinem großen Bett; die Nachtlampe war erloschen, ein Teil des Türvorhanges, der sich aus seinem Halter gelöst hatte, verdeckte zur Hälfte die Tür. Im kleinen Salon hatten die Kerzen, die mit sehr hoher Flamme brannten, jenen warmen Duft verbreitet, wie er am Ende einer Abendgesellschaft herrscht. Zuweilen hörte man draußen das Rauschen eines Regengusses, ein dumpfes Rollen in dem tiefen Schweigen. »Ja, es ist wahr, ich friere«, murmelte sie und fröstelte trotz der großen Wärme. Ihre schneeigen Füße waren eiskalt. Da wollte er sie durchaus in seine Hände nehmen. Seine Hände seien brennendheiß, sie würden sie sogleich wieder erwärmen.
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»Fühlst du sie?« fragte er. »Deine Füße sind so klein, daß ich sie ganz umschließen kann.« Er preßte sie in seinen fiebrigen Fingern. Nur die rosigen Spitzen schauten hervor. Sie zog die Fersen hoch, man hörte, wie die Knöchel sich leicht berührten. Er öffnete die Hände und betrachtete einige Sekunden die so feinen, so zierlichen Füße mit ihrer ein wenig abstehenden großen Zehe. Die Versuchung war zu stark, er küßte sie. Als sie zusammenzuckte, sagte er: »Nein, nein, wärme dich ... Wenn dir wieder warm ist ...« Beide hatten das Bewußtsein von Zeit und Raum verloren. Sie hatten das unbestimmte Gefühl, als sei es spät in einer langen Winternacht. Diese Kerzen, die in der schlaftrunkenen Feuchtigkeit des Zimmers herunterbrannten, ließen sie glauben, daß sie wohl stundenlang gewacht hatten. Doch sie wußten nicht mehr wo. Um sie her dehnte sich eine Einöde; kein Geräusch, keine menschliche Stimme, der Eindruck eines dunklen Meeres, über das ein Sturm hinwegbrauste. Sie waren außerhalb der Welt, tausend Meilen von der Erde entfernt. Und dieses Vergessen der Bande, die sie an die Wesen und Dinge fesselten, war so schrankenlos, daß es ihnen war, als würden sie da in ebendiesem Augenblick geboren und als müßten sie dort sterben, nachher, wenn sie einander in die Arme nehmen würden. Sie fanden nicht einmal Worte mehr. Die Worte gaben ihre Empfindungen nicht mehr wieder. Vielleicht hatten sie sich anderswo gekannt, doch diese frühere Begegnung zählte nicht. Allein die gegenwärtige Minute war da, und sie lebten sie lange, ohne von ihrer Liebe zu
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sprechen, schon aneinander gewöhnt wie nach zehn Jahren Ehe. »Ist dir warm?« »O ja, danke.« Eine Unruhe veranlaßte sie, sich vorzubeugen. Sie murmelte: »Niemals werden meine Schuhe wieder trocken.« Er beruhigte sie, nahm die kleinen Schuhe, lehnte sie gegen die Feuerböcke und sagte sehr leise: »So werden sie trocken, ich versichere es dir.« Er wandte sich wieder um, küßte noch einmal ihre Füße, tastete bis zu ihrer Taille hinauf. Die Glut, die den Kamin füllte, verbrannte sie beide. Sie begehrte nicht auf gegen diese tastenden Hände, die sich vor Verlangen abermals verirrten. In dem Auslöschen all dessen, was sie umgab und was sie selber war, blieb allein die Erinnerung an ihre Jugend noch, an ein Zimmer, in dem eine ebenso starke Hitze herrschte, an einen großen Ofen mit Bügeleisen, über den sie sich beugte; und sie erinnerte sich, daß sie ein ähnliches Vergehen empfunden hatte, daß dieses Vergehen hier nicht süßer war, daß die Küsse, mit denen Henri sie bedeckte, ihr keinen wollüstigeren langsamen Tod gaben. Als er sie plötzlich in seine Arme nahm, um sie in das Schlafzimmer zu führen, hatte sie dennoch ein letztes Angstgefühl. Sie glaubte, jemand habe gerufen, es schien ihr, als vergäße sie jemand, der im Dunkeln schluchzte. Doch das war nur ein Schauer, sie blickte im Zimmer umher, sie sah niemand. Dieses Zimmer war ihr unbekannt, kein Gegenstand sprach zu ihr. Ein heftigerer Regenguß ging mit anhaltendem Tosen nieder. Wie von einem Schlafbedürfnis ergriffen, sank sie auf Henris Schulter herab und ließ sich forttragen. Hinter ihnen rutschte der andere Teil des Türvorhangs aus seinem Halter. 323
Als Hélène auf nackten Füßen zurückkam, um ihre Schuhe vor dem ersterbenden Feuer zu holen, dachte sie, daß sie sich niemals weniger geliebt hätten als an diesem Tage.
Kapitel V Die Augen auf die Tür gerichtet, blieb Jeanne in dem großen Kummer über das jähe Fortgehen ihrer Mutter zurück. Sie wandte den Kopf, das Zimmer war leer und still; doch sie hörte noch das Nachhallen der Geräusche, hastige Schritte, die sich entfernten, das Rascheln eines Rockes, die Flurtür, die heftig zugeschlagen wurde. Dann war nichts mehr da. Und sie war allein. Ganz allein, ganz allein. Über dem Bett hing das in vollem Schwung hingeworfene Morgenkleid ihrer Mutter mit ausgebreitetem Rock, ein Ärmel über der Kopfrolle, in der seltsam niedergeschmetterten Haltung eines Menschen, der dort, schluchzend und durch einen unermeßlichen Schmerz gleichsam ausgehöhlt, niedergesunken war. Wäschestücke lagen umher. Ein schwarzes Halstuch bildete auf der Erde einen Trauerfleck. In der Unordnung der umgestoßenen Stühle und des vor den Spiegelschrank geschobenen Tischchens war sie ganz allein, sie fühlte, wie die Tränen sie würgten, als sie diesen Morgenrock ansah, in dem ihre Mutter nicht mehr steckte; wie er in der Magerkeit einer Toten ausgereckt dalag. Sie faltete die Hände, sie rief ein letztes Mal »Mama! Mama!« Doch die Wandbespannungen aus blauem Samt dämpften den Klang im Zimmer. Es war aus, sie war allein. Doch die Zeit verstrich. Die Stutzuhr schlug drei. Ein mattes und trübes Tageslicht drang durch die Fenster 324
herein. Rußfarbene Wolken zogen vorüber, die den Himmel noch mehr verdüsterten. Durch die leicht beschlagenen Fensterscheiben erblickte man ein verworrenes, im Wasserdampf verwischtes Paris mit Fernen, die sich in großen Rauchschwaden verloren. Die Stadt selber war nicht da, um der Kleinen Gesellschaft zu leisten, wie an jenen klaren Nachmittagen, da es ihr vorkam, als könne sie, wenn sie sich ein wenig vorbeugte, die Stadtviertel mit der Hand berühren. Was sollte sie tun? Ihre verzweifelten Ärmchen preßten sich an ihre Brust. Ihre Verlassenheit erschien ihr schwarz, grenzenlos, von einer Ungerechtigkeit und Bosheit, die sie in Wut brachten. Sie hatte niemals etwas ebenso Garstiges erlebt, sie dachte, alles werde verschwinden, nichts werde jemals wiederkommen. Dann erblickte sie neben sich in einem Sessel ihre Puppe, die, den Rücken an ein Kissen gelehnt, mit ausgestreckten Beinen dasaß und sie wie ein Mensch anschaute. Es war nicht ihre mechanische Puppe, sondern eine große Puppe mit einem Pappkopf, mit gekräuselten Haaren und Emailleaugen, deren starrer Blick sie manchmal verwirrte; in den zwei Jahren, da sie sie auszog und wieder anzog, war der Kopf am Kinn und an den Wangen abgeschrammt, waren die rosigen, mit Kleie ausgestopften Glieder schlaff und schlotterig geworden wie alte Wäschestücke. Im Augenblick war die Puppe im Nachtgewand, nur mit einem Hemd bekleidet, hatte die Arme verrenkt, den einen nach oben, den anderen nach unten. Da fühlte sich Jeanne, als sie sah, daß jemand bei ihr war, einen Augenblick weniger unglücklich. Sie nahm die Puppe in ihre Arme, drückte sie recht fest an sich, während der Kopf mit gebrochenem Hals hintenüberbaumelte. Und sie sprach mit ihr: sie sei am artigsten, sie habe ein gutes 325
Herz, niemals ginge sie fort und ließe sie ganz allein. Sie sei ihr Schatz, ihr Kätzchen, ihr liebes Herzchen. Über und über zitternd und sich zusammennehmend, um nicht noch mehr zu weinen, bedeckte sie sie mit Küssen. Dieser leidenschaftliche Ausbruch von Liebkosungen rächte sie ein wenig, die Puppe fiel wie ein Lumpen aus ihrem Arm zurück. Sie war aufgestanden, sie schaute hinaus, die Stirn an eine Fensterscheibe gelehnt. Der Regen hatte aufgehört, die Wolken des letzten Regengusses rollten, von einem Windstoß fortgetragen, am Horizont dahin, auf die Höhen des Père-Lachaise zu, den graue Schraffierungen ertränkten; und von einem gleichmäßigen Licht erhellt, nahm Paris vor diesem Gewitterhintergrund eine einsame und traurige Größe an. Es schien entvölkert, gleich jenen Städten aus Alpträumen, die man im Widerschein eines toten Gestirns sieht. Gewiß, das war nicht gerade hübsch. Unbestimmt dachte sie an die Menschen, die sie geliebt hatte, seit sie auf der Welt war. Ihr ältester guter Freund in Marseille war eine große rote Katze, die sehr schwer war; sie nahm sie unter dem Bauch auf und preßte sie mit ihren Ärmchen an sich, so trug sie sie von einem Stuhl zum anderen, ohne daß die Katze böse wurde; dann war sie verschwunden, das war die erste Bosheit, an die sie sich erinnerte. Danach hatte sie einen Sperling gehabt; der war gestorben, sie hatte ihn eines Morgens im Käfig vom Boden aufgehoben; das waren schon zwei Bosheiten. Ihre Spielsachen zählte sie nicht, die entzweigingen, um ihr Kummer zu bereiten, allerlei Ungerechtigkeiten, unter denen sie sehr litt, weil sie zu dumm war. Vor allem eine Puppe, die nicht viel größer als die Hand war, hatte sie dadurch zur Verzweiflung gebracht, daß sie sich den Kopf hatte zertreten lassen; sie liebte sie sogar so sehr, daß sie sie 326
heimlich in einer Ecke des Hofes begraben hatte; und später, als sie das Verlangen, sie wiederzusehen, überkommen und sie sie ausgegraben hatte, war sie vor Angst krank geworden, als sie sie so schwarz und häßlich wiederfand. Immer hörten die anderen zuerst auf, sie zu lieben. Sie versanken im Abgrund, sie gingen fort; kurz, es war deren Schuld. Warum nur? Sie, sie veränderte sich nicht. Wenn sie jemand liebte, dauerte es das ganze Leben. Sie begriff das Verlassen nicht. Das war eine ungeheure, gräßliche Sache, die in ihr kleines Herz nicht eindringen konnte, ohne es zu zersprengen. Ein Schauer überlief sie bei den verworrenen Gedanken, die langsam in ihr erwacht waren. Man ging also eines Tages auseinander, jeder ging seiner Wege, man sah sich nicht mehr, man liebte sich nicht mehr. Und die Augen auf Paris gerichtet, das unermeßlich und schwermütig dalag, blieb sie ganz kalt angesichts dessen, was die Leidenschaft ihrer zwölf Jahre von den Grausamkeiten des Daseins erahnte. Indessen hatte ihr Atem die Fensterscheibe noch mehr getrübt. Sie wischte mit der Hand den Hauch ab, der sie am Sehen hinderte. Vom Regenguß abgewaschene Bauwerke in der Ferne schillerten wie braun angelaufene Spiegel. Saubere und klare Häuserreihen mit ihren blassen Fassaden ähnelten inmitten der Dächer ausgebreiteten Wäschestücken, irgendeiner riesigen Wäsche, die auf Wiesen mit rotem Gras trocknete. Das Tageslicht verblich, der Schwanz der Wolke, die die Stadt noch mit Dampf zudeckte, ließ das milchige Strahlen der Sonne durchdringen; und man spürte eine zögernde Heiterkeit über den Stadtvierteln, gewisse Winkel, in denen der Himmel gleich lachen würde. Jeanne sah zu, wie unten auf der Uferstraße und auf den Hängen des Trocadéro das 327
Leben der Straßen wieder begann nach diesem heftigen Regen, der in jähen Güssen niedergegangen war. Die Droschken nahmen ihr langsames Gerumpel wieder auf, während die Omnibusse in der Stille der noch menschenleeren Straßen mit doppelt lautem Dröhnen vorüberfuhren. Regenschirme wurden zugeklappt, Fußgänger, die unter den Bäumen Schutz gesucht hatten, wagten sich von einem Bürgersteig zum anderen mitten im Geriesel der Pfützen, die in den Rinnstein abflossen. Jeanne interessierte sich besonders für eine Dame und ein kleines Mädchen, die sehr gut gekleidet waren und die sie unter dem Zelt einer Spielwarenhändlerin bei der Brücke stehen sah. Zweifellos hatten sie sich, vom Regen überrascht, dorthin geflüchtet. Die Kleine plünderte geradezu den Laden, quälte die Dame, um einen Reifen zu bekommen; und beide gingen jetzt fort, das Kind, das lachend und ausgelassen davonlief, trieb den Reifen auf dem Bürgersteig vor sich her. Da wurde Jeanne wieder sehr traurig, ihre Puppe erschien ihr abscheulich. Einen Reifen wollte sie haben, und dort unten sein, und laufen, während ihre Mutter mit kleinen Schritten hinter ihr herging und ihr zurief, sie solle nicht so weit gehen. Es verschwamm alles vor ihren Augen. Jede Minute wischte sie die Fensterscheibe ab. Man hatte ihr verboten, das Fenster zu öffnen; doch sie fühlte sich von Auflehnung erfüllt, sie konnte dann wenigstens hinausschauen, wenn man sie schon nicht mitnahm. Sie öffnete das Fenster, sie stützte sich mit den Ellbogen auf wie eine Erwachsene, wie ihre Mutter, wenn sie sich dort hinstellte und nicht mehr sprach. Die Luft war mild, von einer feuchten Milde, die ihr sehr gut vorkam. Ein Schatten, der sich allmählich über den Horizont ausdehnte, veranlaßte sie, den Kopf zu 328
heben. Sie hatte das Gefühl, als schwebe über ihr ein Riesenvogel mit ausgebreiteten Schwingen. Zunächst sah sie nichts, der Himmel blieb klar; aber ein düsterer Fleck zeigte sich an der Kante des Daches, trat über den Rand hinaus, überzog den Himmel. Es war ein neuer Regenschauer, der von einem furchtbaren Westwind getrieben wurde. Der Tag war rasch zur Neige gegangen, die Stadt lag schwarz da in einem fahlen Schein, der den Häuserfronten eine Tönung von altem Rost gab. Fast unmittelbar darauf ging der Regen nieder. Die Straßen wurden leergefegt. Schirme wurden vom Wind umgestülpt, Spaziergänger, die nach allen Seiten flohen, verschwanden wie Strohhalme. Eine alte Dame hielt mit beiden Händen ihre Röcke fest, während der Regenguß schwer wie aus einer Dachtraufe auf ihren Hut klatschte. Und der Regen wanderte, man konnte den Flug der Wolke an dem rasenden Lauf des Wassers auf Paris verfolgen; die Flut der dicken Tropfen ergoß sich über die Ufer straße und auf den Hängen des Trocadéro das Leben der Straßen wieder begann nach diesem heftigen Regen, der in jähen Güssen niedergegangen war. Die Droschken nahmen ihr langsames Gerumpel wieder auf, während die Omnibusse in der Stille der noch menschenleeren Straßen mit doppelt lautem Dröhnen vorüberfuhren. Regenschirme wurden zugeklappt, Fußgänger, die unter den Bäumen Schutz gesucht hatten, wagten sich von einem Bürgersteig zum anderen mitten im Geriesel der Pfützen, die in den Rinnstein abflossen. Jeanne interessierte sich besonders für eine Dame und ein kleines Mädchen, die sehr gut gekleidet waren und die sie unter dem Zelt einer Spielwarenhändlerin bei der Brücke stehen sah. Zweifellos hatten sie sich, vom Regen überrascht, dorthin geflüchtet. Die Kleine plünderte geradezu den Laden, quälte die Dame, 329
um einen Reifen zu bekommen; und beide gingen jetzt fort, das Kind, das lachend und ausgelassen davonlief, trieb den Reifen auf dem Bürgersteig vor sich her. Da wurde Jeanne wieder sehr traurig, ihre Puppe erschien ihr abscheulich. Einen Reifen wollte sie haben, und dort unten sein, und laufen, während ihre Mutter mit kleinen Schritten hinter ihr herging und ihr zurief, sie solle nicht so weit gehen. Es verschwamm alles vor ihren Augen. Jede Minute wischte sie die Fensterscheibe ab. Man hatte ihr verboten, das Fenster zu öffnen; doch sie fühlte sich von Auflehnung erfüllt, sie konnte dann wenigstens hinausschauen, wenn man sie schon nicht mitnahm. Sie öffnete das Fenster, sie stützte sich mit den Ellbogen auf wie eine Erwachsene, wie ihre Mutter, wenn sie sich dort hinstellte und nicht mehr sprach. Die Luft war mild, von einer feuchten Milde, die ihr sehr gut vorkam. Ein Schatten, der sich allmählich über den Horizont ausdehnte, veranlaßte sie, den Kopf zu heben. Sie hatte das Gefühl, als schwebe über ihr ein Riesenvogel mit ausgebreiteten Schwingen. Zunächst sah sie nichts, der Himmel blieb klar; aber ein düsterer Fleck zeigte sich an der Kante des Daches, trat über den Rand hinaus, überzog den Himmel. Es war ein neuer Regenschauer, der von einem furchtbaren Westwind getrieben wurde. Der Tag war rasch zur Neige gegangen, die Stadt lag schwarz da in einem fahlen Schein, der den Häuserfronten eine Tönung von altem Rost gab. Fast unmittelbar darauf ging der Regen nieder. Die Straßen wurden leergefegt. Schirme wurden vom Wind umgestülpt, Spaziergänger, die nach allen Seiten flohen, verschwanden wie Strohhalme. Eine alte Dame hielt mit beiden Händen ihre Röcke fest, während der Regenguß schwer wie aus einer Dachtraufe auf ihren Hut klatschte. Und der Regen 330
wanderte, man konnte den Flug der Wolke an dem rasenden Lauf des Wassers auf Paris verfolgen; die Flut der dicken Tropfen ergoß sich über die Uferstraßen im Galopp eines durchgegangenen Pferdes und wirbelte dabei einen Staub auf, dessen feiner weißer Dunst mit wunderbarer Schnelligkeit dicht über den Boden hinrollte; sie zog die Champs-Elysées hinunter, stürzte sich in die langen geraden Straßen des Saint-Germain-Viertels, füllte mit einem Satz die weiten Strecken, die leeren Plätze, die verödeten Straßenkreuzungen. In wenigen Sekunden verblaßte die Stadt hinter diesem immer dichter werdenden Gewebe und schien zu zerfließen. Es war, als sei ein Vorhang schräg vom weiten Himmel zur Erde herabgezogen worden. Dämpfe stiegen auf, das ungeheure Plätschern klang wie der ohrenbetäubende Lärm von durcheinanderklirrendem Eisen. Ganz benommen von dem Getöse, wich Jeanne zurück. Es war ihr, als habe sich eine bleifahle Mauer vor ihr aufgebaut. Aber sie schwärmte für Regen, sie stützte sich wieder mit den Ellbogen auf, streckte ihre Arme aus, um zu fühlen, wie die dicken kalten Tropfen auf ihren Händen zerplatzten. Das machte ihr Spaß, sie wurde bis zu den Ärmeln hinauf pitschnaß. Ihre Puppe mußte ebenso wie sie Kopfschmerzen haben. Daher hatte sie sie rittlings auf die Brüstung gesetzt, mit dem Rücken an die Mauer gelehnt. Und als sie sah, wie die Tropfen sie bespritzten, dachte sie, das werde ihr guttun. Der Puppe, die sehr steif mit dem ewigen Lächeln ihrer Zähnchen dasaß, troff das Wasser von einer Schulter, während ihr Windstöße das Hemd hochhoben. Ihr armer Körper, der keine Kleie mehr in sich hatte, bibberte vor Kälte. Warum nur hatte ihre Mutter sie nicht mitgenommen? Jeanne fand in diesem Wasser, das auf ihre Hände 331
schlug, eine neue Versuchung, draußen zu sein. Man mußte sich auf der Straße sehr wohl fühlen. Und sie sah hinter dem Schleier des Regengusses wieder das kleine Mädchen, das einen Reifen auf dem Bürgersteig vor sich hertrieb. Es war nicht zu leugnen, diese da war mit ihrer Mutter ausgegangen. Sie schienen sogar beide hübsch zufrieden zu sein. Das bewies, daß man die kleinen Mädchen mitnahm, wenn es regnete. Aber man mußte eben wollen. Warum hatte man nicht gewollt? Da dachte sie wieder an ihre rote Katze, die mit hocherhobenem Schwanz über die gegenüberliegenden Häuser fortgelaufen war, dann an jenen kleinen dummen Sperling, den sie zum Essen hatte bewegen wollen, als er tot war, und der so getan hatte, als begriffe er nicht. Diese Geschichten fielen ihr immer wieder ein, man liebte sie nicht stark genug. Oh, sie wäre in zwei Minuten fertig gewesen; an den Tagen, an denen ihr das gefiel, kleidete sie sich schnell an; die Stiefelchen, die Rosalie zuknöpfte, den Mantel, den Hut, und fertig war sie. Ihre Mutter hätte gut zwei Minuten auf sie warten können. Wenn sie zu ihren Freunden hinunterging, überstürzte sie sich nicht so; wenn sie zum Bois de Boulogne ging, führte sie sie gemächlich an der Hand spazieren und blieb mit ihr vor jedem Laden in der Rue de Passy stehen. Und Jeanne erriet es nicht, ihre schwarzen Augenbrauen zogen sich zusammen, ihre so feinen Züge nahmen jene eifersüchtige Härte an, die ihr das bleiche Gesicht einer bösen alten Jungfer gab. Sie fühlte verworren, daß ihre Mutter irgendwo sei, wo Kinder nicht hingehen. Man hatte sie nicht mitgenommen, um ihr etwas zu verbergen. Bei diesem Gedanken krampfte sich ihr Herz in unsäglicher Traurigkeit zusammen, es tat ihr weh.
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Der Regen wurde feiner, durchsichtige Stellen entstanden in dem Vorhang, der Paris verhüllte. Der Invalidendom kam leicht und zitternd im leuchtenden Flimmern des Regengusses zuerst wieder zum Vorschein. Dann tauchten ganze Stadtteile aus der Woge empor, die sich zurückzog, die Stadt schien mit ihren triefenden Dächern aus einer Sintflut hervorzugehen, während noch Flüsse die Straßen mit Dunst erfüllten. Doch plötzlich sprühte eine Flamme auf, ein Strahl fiel mitten in den Regenguß. Das war für einen Augenblick ein Lächeln unter Tränen. Es regnete nicht mehr über dem Viertel um die ChampsElysées, der Regen peitschte das linke Seine-Ufer, die Cité, die Fernen der Vorstädte; und man sah die Tropfen wie Stahlpfeile fein und dicht in der Sonne dahinschießen. Nach rechts zu entbrannte ein Regenbogen. In dem Maße, in dem der Strahl sich ausbreitete, bepinselten rosa und blaue Schraffierungen den Horizont in dem bunten Farbengemisch einer kindlichen Tuschzeichnung. Es war ein Aufflammen, ein goldener Schneefall auf eine kristallene Stadt. Und der Strahl erlosch, eine Wolke hatte sich herangewälzt, das Lächeln ertrank in den Tränen, mit lang anhaltendem Schluchzen tropfte Paris ab unter dem bleifarbenen Himmel. Jeanne, deren Ärmel pitschnaß waren, bekam einen Hustenanfall. Doch sie spürte nicht die Kälte, die sie durchdrang, war jetzt nur mit dem Gedanken beschäftigt, daß ihre Mutter nach Paris hinuntergegangen sei. Sie hatte schließlich drei Bauwerke erkannt: den Invalidendom, das Panthéon, den Turm Saint-Jacques; sie wiederholte ihre Namen, sie zeigte mit dem Finger auf sie, ohne sich vorstellen zu können, wie sie wohl aussehen mochten, wenn man sie sich aus der Nähe anschaute. Sicherlich befand sich ihre Mutter dort unten, und sie dachte sie 333
sich im Panthéon, weil das Panthéon sie am meisten in Erstaunen setzte, ungeheuer groß und ganz in die Luft hingepflanzt wie der Helmbusch der Stadt. Dann stellte sie sich Fragen. Paris blieb für sie der Ort, wo Kinder nicht hingehen. Man führte sie niemals dorthin. Sie hätte gern Bescheid gewußt, um sich ruhig sagen zu können: »Mama ist dort, sie tut das und das.« Aber ihr kam das alles zu weitläufig vor, man fand da niemand wieder. Ihre Blicke sprangen zum anderen Ende der Ebene hinüber. War sie nicht vielmehr in diesem Häuserhaufen links auf einem Hügel? Oder ganz nah unter den großen Bäumen, deren kahle Äste Reisigbündeln glichen? Wenn sie doch die Dächer hätte abheben können! Was war das nur, dieses so schwarze Bauwerk? Und diese Straße, auf der etwas Dickes lief? Und dieses ganze Stadtviertel, vor dem sie Angst hatte, weil man sich dort ganz sicher prügelte. Sie konnte nichts deutlich unterscheiden; aber ohne zu schwindeln, das bewegte sich, das war sehr häßlich, die kleinen Mädchen sollten nicht hinschauen. Allerlei unklare Vermutungen, die sie weinerlich stimmten, verwirrten ihre kindliche Unwissenheit. Das unbekannte Paris mit seinen Rauchschwaden, seinem fortwährenden Grollen, seinem gewaltigen Lehen wehte bei diesem milden Tauwetter einen Geruch von Elend, Unflat und Verbrechen bis zu ihr herauf, so daß sich alles in ihrem jungen Kopf drehte, als habe sie sich über einen jener verpesteten Brunnen gebeugt, die aus ihrem unsichtbaren Schlamm den Erstickungstod aushauchen. Der Invalidendom, das Panthéon, der Turm Saint-Jacques, die nannte sie bei Namen, die zählte sie auf; dann wußte sie nichts weiter, sie verharrte erschreckt und beschämt bei dem eigensinnigen Gedanken, ihre Mutter sei irgendwo
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in diesen garstigen Dingen, wo sie es nicht ahnte, ganz tief dort unten. Jäh drehte sich Jeanne um. Sie hätte geschworen, daß jemand im Zimmer gegangen sei; eine leichte Hand hatte sogar ihre Schulter gestreift. Doch das Zimmer war leer, in der lastenden Unordnung, in der Hélène es verlassen hatte; der Morgenrock, der ausgestreckt, hingeschmettert auf der Kopfrolle lag, weinte noch immer. Da schaute Jeanne, die ganz weiß war, mit einem Blick im Zimmer umher, und es brach ihr das Herz. Sie war allein, sie war allein. Mein Gott! Ihre Mutter hatte sie beim Weggehen von sich gestoßen, und zwar sehr heftig, so daß sie sie fast zu Boden geworfen hätte. Daran erinnerte sie sich in quälender Angst, der Schmerz über diese Roheit packte sie an den Handgelenken und an den Schultern. Warum hatte man sie geschlagen? Sie war doch artig, sie hatte sich nichts vorzuwerfen. Man sprach gewöhnlich so sanft mit ihr, diese Züchtigung empörte sie. Sie empfand wieder jene Kindheitsängste, als habe man ihr mit dem Wolf gedroht und sie schaue sich um, ohne ihn zu erblicken; es waren im Dunkel gleichsam Dinge, die sie erdrücken wollten. Doch ihr schwante etwas, ihr Gesicht war bleich geworden, allmählich gedunsen von eifersüchtigem Zorn. Plötzlich mußte sie beide Hände an ihre Brust pressen bei dem Gedanken, daß ihre Mutter die Leute, zu denen sie geeilt war, als sie sie so heftig wegschubste, mehr lieben müsse als sie. Jetzt wußte sie's. Ihre Mutter betrog sie. Über Paris war in der Erwartung eines neuen Windstoßes große Angst entstanden. In der finsterer gewordenen Luft war ein Raunen, dichte Wolken schwebten einher. Jeanne hustete am Fenster heftig; doch sie fühlte sich gleichsam gerächt, weil sie fror, sie hätte sich gern etwas weggeholt. Die Hände an die Brust gedrückt, fühlte sie, 335
wie dort ihre Beklemmung zunahm. Es war ein Bangen, in dem sich ihr Körper hingab. Sie zitterte vor Angst und wagte nicht mehr, sich umzuwenden, fror am ganzen Leibe bei dem Gedanken, noch einmal in das Zimmer zu schauen. Wenn man klein ist, hat man keine Kraft. Was war es nur, dieses neue Übel, dessen Anfall sie mit Scham und bitterer Süße erfüllte? Wenn man sie neckte, wenn man sie trotz ihres Lachens kitzelte, hatte sie manchmal dieser erregte Schauer überlaufen. Ganz erstarrt wartete sie in einem Aufbegehren ihrer unschuldigen und jungfräulichen Glieder. Und aus der Tiefe ihres Wesens, des in ihr erwachten Weibes, sprühte ein heftiger Schmerz auf, als hätte sie von weitem einen Schlag bekommen. Und während sie in Ohnmacht fiel, stieß sie einen erstickten Schrei aus: »Mama! Mama!«, ohne daß man wissen konnte, ob sie ihre Mutter zu Hilfe rief oder ob sie sie anklagte, daß sie ihr dieses Übel schickte, an dem sie starb. In diesem Augenblick brach das Unwetter los. In der angstvoll lastenden Stille heulte der Wind über der schwarz gewordenen Stadt; und man hörte das nachhallende Krachen von Paris: Fensterläden, die auf und zu klappten, Dachschiefer, die davonflogen, Schornsteinrohre und Dachrinnen, die auf das Straßenpflaster prallten. Für ein paar Sekunden trat Ruhe ein; dann ging ein neues Wehen vorüber, erfüllte den Horizont mit einem solchen Riesenatem, daß das aufgewühlte Meer der Dächer seine Wogen emporzuschleudern schien und in einem Strudel verschwand. Einen Augenblick lang herrschte das Chaos. Wie Tintenflecke zerlaufene, ungeheure Wolken eilten dahin mitten zwischen kleineren, verstreuten und flatternden Wolken, die Lumpen glichen, die der Wind zerfetzte und Faden um Faden mitfortriß. Einen Augenblick 336
griffen zwei Wetterwolken einander an, zerschellten mit Krachen und übersäten die kupferfarbene Weite mit Trümmern; und jedesmal, wenn der Sturm so aufsprang, von allen Enden des Himmels herwehte, hörte man in der Luft das Zerschmettern von Armeen, ein ungeheures Einstürzen, dessen schwebende Trümmer nun gleich Paris zerschmettern würden. Es regnete noch nicht. Auf einmal barst eine Wolke über dem Zentrum der Stadt, eine Wasserhose wälzte sich den Lauf der Seine aufwärts. Das grüne Band des Stromes, das durchsiebt und beschmutzt war vom Niederprasseln der Tropfen, verwandelte sich in einen Schlammgraben; und hinter dem Regenguß kamen eine nach der anderen die Brücken wieder zum Vorschein, schmaler geworden und schwerelos im Dunst, während rechts und links längs der grauen Linie der Bürgersteige die menschenleeren Uferstraßen wütend ihre Bäume schüttelten. Im Hintergrund teilte sich die Wolke über der Notre-Dame-Kathedrale, ergoß einen solchen Sturzbach, daß die Cité überschwemmt wurde; allein die Türme oberhalb des ertränkten Stadtviertels schwammen in einem lichten Streifen wie Schiffstrümmer. Doch von allen Seiten tat sich der Himmel auf, das rechte Ufer schien dreimal nacheinander versunken zu sein. Ein erster Regenguß verwüstete die fernen Vorstädte, breitete sich aus, schlug auf die Spitzen der Kirche Saint-Vincent-de-Paul und des Turms SaintJacques, die weißgewaschen wurden unter der Woge. Zwei weitere Regengüsse prasselten Schlag auf Schlag auf den Montmartre und die Champs-Elysées nieder. Für Augenblicke unterschied man die großen Glasfenster des Palais de l'Industrie, die im Zurückspritzen des Regens dampften, die Kirche Saint-Augustin, deren Kuppel wie ein erloschener Mond auf einem Nebelhintergrund dahin337
rollte, die Madeleine-Kirche, die ihr flaches Dach erstreckte gleich den blankgescheuerten Steinplatten irgendeines verfallenen Tempelhofs, während hinten die ungeheure und düstere Masse der Oper an ein mastenloses Schiff gemahnte, das mit dem Kiel zwischen zwei Felsen festgefahren ist und den Angriffen des Unwetters widersteht. Auf dem linken Ufer, das ein Sprühregen verschleierte, gewahrte man den Invalidendom, die Kirchturmspitzen von Sainte-Clotilde, die Türme der Kirche Saint-Sulpice, die verschwammen und sich in der von Feuchtigkeit durchtränkten Luft auflösten. Eine Wolke breitete sich aus, der Säulenbau des Panthéon schleuderte weite Wolkentücher empor, die die tiefer gelegenen Stadtviertel zu überschwemmen drohten. Und von diesem Augenblick an trafen die Regenstöße die Stadt überall; man hätte meinen können, der Himmel stürze sich auf die Erde; Straßen versanken im Abgrund, gingen unter und schwammen wieder oben, unter Erschütterungen, deren Heftigkeit das Ende der Stadt anzukündigen schien. Ein anhaltendes Grollen erhob sich, die Stimme der angeschwollenen Gossen, das Donnern der Wasser, die in die Abflüsse stürzten. Indessen zerfransten sich über dem schlammigen Paris, das diese Unwetter mit ein und demselben gelben Farbton beschmutzten, die Wolken, nahmen eine fahle Blässe an, die gleichmäßig ausgebreitet war ohne einen Riß noch einen Fleck. Der Regen wurde dünner, straff und schneidend; und wenn noch ein Windstoß dahinfuhr, schillerten große Wellen über die grauen Schraffierungen, man hörte die schräg, fast waagerecht niedersausenden Tropfen mit einem Pfeifen die Mauern peitschen, bis sie, nachdem der Wind sich gelegt hatte, wieder gerade herniederfielen und den Boden mit sanfter Beharrlichkeit durchstachen, vom 338
Abhang von Passy bis zum flachen Land von Charenton. Alsdann breitete die unermeßliche Stadt, die gleichsam zerstört und gestorben war nach einer letzten Zuckung, ihr Feld von umgestürzten Steinen unter dem verlöschenden Himmel aus. Jeanne, die am Fenster zusammengesunken war, hatte von neuem »Mama! Mama!« gestammelt, und eine ungeheure Müdigkeit ließ sie ganz schwach werden angesichts des versunkenen Paris. In dieser äußersten Entkräftung bewahrte sie mit fliegendem Haar und von Regentropfen nassem Gesicht den Geschmack der bitteren Süße, unter der sie soeben erschauert war, während das Bedauern um etwas Unwiederbringliches in ihr weinte. Alles schien ihr zu Ende, sie begriff, daß sie sehr alt wurde. Die Stunden mochten verrinnen, sie schaute nicht einmal mehr in das Zimmer. Es war ihr gleichgültig, vergessen und allein zu sein. Eine solche Hoffnungslosigkeit erfüllte ihr Kinderherz, daß es um sie her finster wurde. Würde man sie schelten wie früher, wenn sie krank war, so wäre das sehr ungerecht. Das brannte in ihr, das befiel sie wie Kopfweh. Sicher hatte man vorhin irgendwo etwas in ihr zerbrochen. Sie konnte das nicht verhindern. Sie mußte schon mit sich geschehen lassen, was man mit ihr machen wollte. Schließlich war sie zu müde. Sie hatte ihre beiden Ärmchen auf der Brüstung ineinandergeschlungen, und Schläfrigkeit überkam sie, sie stützte den Kopf auf und öffnete von Zeit zu Zeit ihre Augen ganz weit, um den Regenguß zu sehen. Immerzu, immerzu fiel der Regen, der bleiche Himmel zerfloß in Wasser. Ein letzter Windhauch war vorübergeweht, man hörte ein eintöniges Rollen. Der alles beherrschende Regen prasselte unaufhörlich inmitten einer feierlichen Unbeweglichkeit auf die stille und menschen339
leere Stadt, die er erobert hatte. Und hinter dem gestreiften Kristall dieser Sintflut lag ein gespenstisches Paris mit zitternden Linien, das sich aufzulösen schien. Es brachte Jeanne nur noch ein Schlafbedürfnis mit häßlichen Träumen, als sei all sein Unbekanntes, das Böse, von dem sie nichts wußte, in Nebel ausgeströmt, um sie zu durchdringen und sie zum Husten zu bringen. Jedesmal, wenn sie die Augen aufschlug, schüttelten sie Hustenanfälle, und sie betrachtete ein paar Sekunden lang Paris; wenn sie dann den Kopf wieder fallen ließ, nahm sie das Bild von Paris mit sich fort, und es war ihr, als breite sich die Stadt über ihr aus und erdrücke sie. Der Regen fiel noch immer. Wie spät mochte es jetzt sein? Jeanne hätte es nicht sagen können. Vielleicht ging die Uhr nicht mehr. Es schien ihr zu anstrengend, sich umzudrehen. Es war mindestens acht Tage her, daß ihre Mutter fortgegangen war. Sie hatte aufgehört, auf sie zu warten, sie ergab sich darein, sie nicht mehr wiederzusehen. Dann vergaß sie alles, das Leid, das man ihr zugefügt, das seltsame Übel, an dem sie eben noch gelitten hatte, sogar die Verlassenheit, in der die Welt sie ließ. Eine Schwere senkte sich in sie herab mit der Kälte eines Steins. Sie war nur sehr unglücklich, oh, ebenso unglücklich wie die kleinen armen Kinder, die verlassen unter den Toren standen und denen sie Geld gab. Niemals würde das aufhören, sie würde Jahre hindurch so sein, das war zu groß und zu schwer für ein kleines Mädchen. Mein Gott! Wie man hustete, wie man fror, wenn man nicht mehr geliebt wurde! Sie schloß ihre schweren Lider in dem Schwindelgefühl einer fiebrigen Schläfrigkeit, und ihr letzter Gedanke war eine undeutliche Kindheitserinnerung, ein Besuch in einer Mühle mit gelbem Ge-
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treide, ganz kleinen Körnern, die unter hausgroßen Mühlsteinen dahinflossen. Stunden, Stunden vergingen, jede Minute brachte eine Ewigkeit mit sich. Der Regen fiel ohne Unterlaß in derselben ruhigen Weise hernieder, als habe er reichlich Zeit, eine Ewigkeit, um die Ebene zu ertränken. Jeanne schlief. Neben ihr lag ihre Puppe, über der Fensterbrüstung zusammengeknickt, die Beine im Zimmer und den Kopf draußen, sah aus wie eine Ertrunkene mit ihrem Hemd, das an ihrer rosigen Haut klebte, den starren Augen, dem von Wasser triefenden Haar; und sie war zum Weinen mager in ihrer komischen und herzzerreißenden Haltung einer kleinen Toten. Jeanne hustete im Schlaf; doch sie öffnete die Augen nicht mehr, ihr Kopf rollte auf den verschränkten Armen hin und her, der Husten endete in einem Pfeifen, ohne daß sie erwachte. Es gab nichts mehr, sie schlief im Finstern, sie zog nicht einmal ihre Hand zurück, deren gerötete Finger helle Tropfen einen nach dem anderen in die Tiefe der unermeßlichen Weiten fallen ließen, die sich unter dem Fenster höhlten. Das dauerte noch Stunden, Stunden. Am Horizont war Paris vergangen wie der Schatten einer Stadt, der Himmel verschwamm im wirren Chaos des Weltenraums, beharrlich fiel noch immer der graue Regen.
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Fünfter Teil Kapitel I Es war längst dunkel, als Hélène heimkam. Während sie, sich aufs Geländer stützend, mühsam die Treppe hinaufstieg, tropfte das Wasser von ihrem Regenschirm auf die Stufen. Vor ihrer Tür blieb sie einige Sekunden stehen, um Atem zu schöpfen, noch betäubt vom Trommeln des Regengusses um sie her, vom Ellbogengestoße der eilenden Menschen, vom Widerschein der Straßenlaternen, der die Pfützen entlangtanzte. Sie wandelte in einem Traum, in der Verwunderung über jene Küsse, die sie soeben empfangen und erwidert hatte; und während sie ihren Schlüssel suchte, dachte sie, daß sie weder Gewissensbisse noch Freude empfand. Das war nun einmal so, sie konnte nichts daran ändern. Doch sie fand ihren Schlüssel nicht; zweifellos hatte sie ihn in der Tasche ihres anderen Kleides vergessen. Sie war sehr ärgerlich, es kam ihr vor, als habe sie selber sich aus ihrer eigenen Wohnung ausgesperrt. Sie mußte klingeln. »Ah, Sie sind's, Madame«, sagte Rosalie, als sie öffnete. »Ich fing schon an, unruhig zu werden.« Und während sie den Regenschirm nahm, um ihn in die Küche in den Spülstein zu stellen, fuhr sie fort? »Na, das ist aber ein Regen! – Zéphyrin, der gerade gekommen ist, war pitschnaß ... Ich habe mir erlaubt, ihn zum Abendessen hierzubehalten, Madame. Er hat bis zehn Uhr Ausgang.« Hélène folgte ihr mechanisch. Sie schien das Bedürfnis zu haben, alle Zimmer ihrer Wohnung wiederzusehen, bevor sie ihren Hut abnahm. »Sie haben recht getan, meine Tochter«, antwortete sie. Einen Augenblick verweilte sie auf der Schwelle der 342
Küche und betrachtete das flackernde Herdfeuer. Mit einer unwillkürlichen Bewegung öffnete sie einen Schrank und schloß ihn wieder. Alle Möbel standen an ihrem Platz; sie fand sie wieder, das machte ihr Freude. Indessen hatte sich Zéphyrin ehrerbietig erhoben. Sie lächelte und nickte ihm leicht zu. »Ich wußte nicht recht, ob ich den Braten ansetzen sollte«, begann das Hausmädchen wieder. »Wie spät ist es denn?« fragte sie. »Bald sieben Uhr, Madame.« »Wie! Sieben Uhr!« Und sie war sehr erstaunt. Sie hatte den Sinn für die Zeit verloren. Es war für sie wie ein Erwachen. »Und Jeanne?« fragte sie. »Oh, sie ist sehr brav gewesen, Madame. Ich glaube sogar, sie ist eingeschlafen, denn ich habe sie nicht mehr gehört.« »Haben Sie ihr denn kein Licht gebracht?« Rosalie war verlegen, denn sie wollte nicht erzählen, daß Zéphyrin ihr Bilder mitgebracht hatte. Das Fräulein habe sich nicht gerührt, weil das Fräulein eben nichts brauchte. Doch Hélène hörte ihr nicht mehr zu. Sie ging ins Schlafzimmer, in dem eine große Kälte sie ergriff. »Jeanne! Jeanne!« rief sie. Niemand antwortete. Sie stieß gegen einen Sessel. Die Tür des Eßzimmers, die sie halboffen gelassen hatte, erhellte eine Ecke des Teppichs. Ein Schauer überlief sie, man hätte meinen können, der Regen fiele ins Zimmer mit seinem feuchten Hauch und seinem ununterbrochenen Plätschern. Da
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erblickte sie, als sie sich umwandte, das bleiche Viereck, das das Fenster ins Grau des Himmels schnitt. »Wer hat denn dieses Fenster geöffnet?« rief sie. »Jeanne! Jeanne!« Noch immer keine Antwort. Eine tödliche Unruhe preßte ihr Herz zusammen. Sie wollte am Fenster nachsehen; doch als sie sich dorthin tastete, fühlte sie einen Haarschopf. Jeanne war da. Und als Rosalie mit einer Lampe herbeieilte, kam das Kind zum Vorschein, war ganz weiß und schlief, mit der Wange auf den gekreuzten Armen, während das Spritzen der vom Dach fallenden Tropfen es durchnäßte. Jeanne atmete nicht mehr, zu Boden gestreckt von Verzweiflung und Müdigkeit. Ihre großen bläulichen Lider hielten in ihren Wimpern zwei dicke Tränen fest. »Unglückseliges Kind!« stammelte Hélène. »Ist das denn die Möglichkeit! – Mein Gott, sie ist ganz kalt! – Hier einzuschlafen, und bei solchem Wetter, wo man ihr doch verboten hatte, das Fenster anzurühren! – Jeanne, Jeanne, antworte mir, wach auf!« Rosalie hatte sich klugerweise aus dem Staube gemacht. Die Kleine, von ihrer Mutter in die Arme genommen, ließ ihren Kopf hängen, als könne sie den bleiernen Schlaf nicht abschütteln, der sich ihrer bemächtigt hatte. Jedoch endlich öffnete sie die Lider; und sie blieb erstarrt, verstört, die Lampe tat ihren Augen weh. »Jeanne, ich bin's ... Was hast du? Sieh, ich bin eben heimgekommen.« Aber Jeanne begriff nicht und murmelte mit einem Ausdruck von Bestürzung: »Ach! – Ach!« Sie sah ihre Mutter prüfend an, als habe sie sie nicht erkannt. Dann fröstelte sie plötzlich, 344
schien die große Kälte des Zimmers zu spüren. Ihre Gedanken kehrten zurück, die Tränen rollten von ihren Wimpern über ihre Wangen herab. Sie wehrte sich und wollte nicht, daß man sie anrühre. »Du bist es, du bist es! – Oh! Laß sein, du drückst mich zu sehr. Ich fühlte mich so wohl.« Und als sie ihrer Mutter aus den Armen geglitten war, hatte sie Angst vor ihr. Mit einem unruhigen Blick schaute sie von ihren Händen bis zu ihren Schultern hinauf; eine Hand war ohne Handschuh, sie wich vor dem nackten Handgelenk, der feuchten Handfläche, den warmen Fingern zurück mit dem scheuen Gesichtsausdruck, mit dem sie vor der Liebkosung einer fremden Hand floh. Das war nicht mehr derselbe Verbenenduft, die Finger mußten länger geworden sein, die Handfläche wahrte eine gewisse Weichheit; und sie war außer sich bei der Berührung mit dieser Haut, die ihr verändert vorkam. »Nun, ich schelte dich ja nicht«, fuhr Hélène fort. »Aber wirklich, ist das denn vernünftig? – Gib mir einen Kuß.« Jeanne wich noch immer zurück. Sie erinnerte sich nicht daran, dieses Kleid, diesen Mantel an ihrer Mutter gesehen zu haben. Der Gürtel war lose, die Falten fielen in einer Art, die sie erboste. Warum kam sie denn so schlecht gekleidet zurück, mit etwas sehr Häßlichem und sehr Traurigem in all ihren Sachen. Sie hatte Schmutz an ihrem Rock, ihre Schuhe waren aufgeplatzt, nichts saß ordentlich an ihrem Körper, wie sie selber sagte, wenn sie sich über die kleinen Mädchen ärgerte, die sich nicht anzuziehen verstanden. »Gib mir einen Kuß, Jeanne.« Aber das Kind erkannte auch die Stimme nicht wieder, die ihm lauter vorkam. Jeanne hatte zum Gesicht hinauf345
geschaut, sie wunderte sich über die vor Müdigkeit klein gewordenen Augen, über die fiebrige Röte der Lippen, über den seltsamen Schatten, der das ganze Gesicht ertränkte. Sie mochte das nicht, es begann ihr wieder weh zu tun in der Brust, als füge man ihr ein Leid zu. Gereizt durch das Nahen dieser unwägbaren und abstoßenden Dinge, die sie witterte, begriff sie, daß sie da den Geruch des Verrats einatmete, und brach jetzt in Schluchzen aus. »Nein, nein, ich bitte dich ... Oh, du hast mich allein gelassen! Oh, ich bin zu unglücklich gewesen!« »Aber wenn ich doch wieder da bin, mein Liebling ... Weine nicht, ich bin ja wieder da.« »Nein, nein, es ist aus ... Ich will dich nicht mehr ... Oh, ich habe gewartet, ich habe gewartet, es hat mir zu weh getan!« Hélène hatte sie wieder umfaßt und zog sie sanft an sich, während das Kind eigensinnig immer wieder sagte: »Nein, nein, das ist nicht mehr dasselbe, du bist nicht mehr dieselbe.« »Wie? Was sagst du da, mein Kind?« »Ich weiß nicht, du bist nicht mehr dieselbe.« »Du willst sagen, daß ich dich nicht mehr liebe?« »Ich weiß nicht, du bist nicht mehr dieselbe ... Sag nicht nein ... Du riechst nicht mehr wie sonst. Es ist aus, aus, aus. Ich will sterben.« Ganz blaß war Hélène, und sie hielt sie wiederum in ihren Armen. Das war also ihrem Gesicht anzusehen? Sie küßte Jeanne, aber die Kleine erschauerte mit einem Ausdruck so tiefen Unbehagens, daß sie ihr keinen zweiten Kuß auf die Stirn drückte. Sie behielt sie jedoch in den Armen. Keine von beiden sprach mehr. Jeanne weinte ganz leise in dem nervösen Aufbegehren, das sie steif machte. Hélène dachte, daß man den Launen der Kinder 346
keine Bedeutung beimessen solle. Im Grunde empfand sie eine dumpfe Scham; als sie die Last ihrer Tochter auf ihrer Schulter fühlte, errötete sie. Da stellte sie Jeanne auf die Erde. Beide fühlten sich erleichtert. »Jetzt sei vernünftig, wisch dir die Augen ab«, begann Hélène wieder. »Wir werden alles in Ordnung bringen.« Das Kind gehorchte, zeigte sich sehr sanft, ein wenig furchtsam, schaute mit heimlichen Blicken um sich. Doch jäh wurde es von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. »Mein Gott! Nun bist du krank. Ich kann wirklich nicht eine Sekunde fortbleiben ... Du hast gefroren?« »Ja, Mama, im Rücken.« »Da, nimm dieses Tuch um. Der Ofen im Eßzimmer ist angezündet. Dir wird schon warm werden ... Hast du Hunger?« Jeanne zögerte. Sie wollte die Wahrheit sagen und nein antworten; doch sie blickte scheu von der Seite, wich zurück und sagte leise: »Ja, Mama.« »Nun, es wird nichts weiter sein«, erklärte Hélène, die das Bedürfnis hatte, sich zu beruhigen. »Aber ich bitte dich, du schlimmes Kind, mach mir nicht mehr solche Angst.« Als Rosalie wiederkam, um zu melden, daß aufgetragen sei, schalt sie sie tüchtig aus. Das kleine Hausmädchen senkte den Kopf und murmelte, es sei schon wahr, sie hätte auf das Fräulein achtgeben müssen. Um die gnädige Frau zu beruhigen, half sie ihr dann beim Auskleiden. Lieber Gott! Die gnädige Frau war ja in einem schönen Zustand! Jeanne schaute zu, wie die Kleidungsstücke eines nach dem anderen fielen, als wolle sie sie ausfragen, während sie darauf gefaßt war, jeden Augen347
blick zu sehen, wie aus dieser von Schmutz durchnäßten Wäsche die Dinge herausglitten, die man vor ihr verbarg. Besonders die Schnur eines Unterrockes wollte nicht aufgehen; Rosalie mußte sich eine Weile mühen, um den Knoten zu lösen; und das Kind kam näher, fühlte sich hingezogen, teilte die Ungeduld des Hausmädchens, ärgerte sich über diesen Knoten, war neugierig zu erfahren, wie er gemacht war. Doch sie konnte nicht bleiben, sie flüchtete sich hinter einen Sessel, fern von den Kleidern, deren Wärme ihr lästig war. Sie wandte den Kopf ab. Niemals hatte es sie, wenn ihre Mutter sich umzog, so mit Unbehagen erfüllt. »Madame soll sich bequem fühlen«, sagte Rosalie. »Trockene Wäsche, die tut gut, wenn man durchnäßt ist.« Hélène in ihrem Morgenrock aus blauem Molton stieß einen leichten Seufzer aus, als habe sie tatsächlich ein Wohlbehagen empfunden. Sie war wieder zu Hause, war erleichtert und hatte an ihren Schultern nicht mehr das Gewicht dieser Kleider, die sie umhergeschleppt hatte. Das Mädchen mochte noch so oft wiederholen, daß die Suppe auf dem Tisch stehe, sie wollte sich sogar das Gesicht und die Hände gründlich waschen. Als sie ganz rein und noch feucht war und den Morgenrock bis zum Kinn zugeknöpft hatte, kam Jeanne wieder zu ihr, nahm eine ihrer Hände und küßte sie. Bei Tisch jedoch sprachen Mutter und Tochter nicht. Der Ofen bullerte, das kleine Eßzimmer wirkte heiter mit seinem schimmernden Mahagoni und seinem hellen Porzellan. Doch Hélène schien in jene Erstarrung zurückgesunken zu sein, die sie am Denken hinderte; sie aß mechanisch, mit einem Anschein von Appetit. Jeanne, die ihr gegenübersaß, schaute heimlich über ihr Glas hinweg und ließ sich keine ihrer Bewegungen entgehen. 348
Sie hustete. Ihre Mutter, die sie vergessen hatte, beunruhigte sich plötzlich. »Wie! Du hustest noch immer ... Wirst du denn nicht wieder warm?« »Oh doch, Mama, mir ist schön warm.« Hélène wollte Jeannes Hand befühlen, um zu sehen, ob sie log. Da bemerkte sie, daß Jeannes Teller noch voll war. »Du hast doch gesagt, daß du Hunger hast ... Du magst das wohl nicht?« »Doch, Mama. Ich esse.« Jeanne gab sich alle Mühe, schluckte einen Bissen hinunter. Hélène paßte einen. Augenblick auf sie auf, dann kehrte ihre Erinnerung nach dort unten, in jenes von Dunkelheit erfüllte Schlafzimmer zurück. Und das Kind sah wohl, daß es nicht mehr zählte. Gegen Ende der Mahlzeit waren Jeannes arme zerschlagene Glieder schlaff auf den Stuhl gesunken, sie glich einer kleinen Greisin mit den blassen Augen einer sehr alten Jungfer, die niemals mehr jemand lieben wird. »Mademoiselle ißt heute kein Eingemachtes?« fragte Rosalie. »Dann kann ich wohl den Tisch abräumen?« Hélène blieb mit verlorenem Blick sitzen. »Mama, ich bin müde«, sagte Jeanne mit veränderter Stimme, »willst du mir erlauben, schlafen zu gehen? – In meinem Bett wird mir besser sein.« Wiederum schien ihre Mutter aus dem Schlaf hochzuschrecken. »Tut dir etwas weh, mein Liebling? Wo tut es dir weh? Sprich doch!« »Aber nein, wenn ich's dir sage! – Ich bin müde, es ist ja Zeit zum Schlafengehen.«
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Sie rutschte vom Stuhl und richtete sich wieder auf, um den Eindruck zu erwecken, daß ihr nichts fehle. Ihre eingeschlafenen Füßchen stolperten über das Parkett. Im Schlafzimmer stützte sie sich auf die Möbel, sie war so tapfer, nicht zu weinen, trotz des Feuers, das überall in ihr brannte. Ihre Mutter wollte sie zu Bett bringen; doch sie konnte nur noch ihre Haare für die Nacht zu einem Knoten schlingen, so sehr hatte sich das Kind beeilt, selber seine Kleider auszuziehen. Es schlüpfte ganz allein unter die Decke und schloß schnell die Augen. »Fühlst du dich wohl?« fragte Hélène, während sie die Decken heraufzog und unter der Matratze feststeckte. »Sehr wohl. Laß mich, bewege mich nicht ... Nimm das Licht mit.« Sie wünschte nur eins; im Dunkeln zu sein, um die Augen wieder zu öffnen und ihr Weh zu fühlen, ohne daß jemand sie anschaute. Als die Lampe nicht mehr da war, öffnete sie die Augen ganz weit. Indessen ging Hélène nebenan im Schlafzimmer hin und her. Ein sonderbares Bedürfnis nach Bewegung ließ sie aufbleiben; der Gedanke, zu Bett zu gehen, war ihr unerträglich. Sie sah auf die Stutzuhr; zwanzig Minuten vor neun, was sollte sie tun? Sie wühlte in einem Schuhfach, erinnerte sich nicht mehr, was sie suchte. Dann trat sie an den Bücherschrank, warf einen kurzen Blick auf die Bücher, konnte sich nicht entschließen, war gelangweilt vom bloßen Lesen der Titel. Die Stille des Zimmers summte in ihren Ohren; diese Einsamkeit, diese drückende Luft wurden ihr zur Qual. Sie hätte am liebsten Lärm herbeigewünscht, viele Leute, irgend etwas, was sie von sich selber ablenkte. Zweimal horchte sie an der Tür des kleinen Zimmers, in dem von Jeanne nicht ein Hauch zu hören war. Alles schlief, sie ging noch umher, nahm die
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Gegenstände, die ihr gerade unter die Hände kamen, von ihrem Platz und stellte sie wieder hin. Doch da kam ihr jäh ein Gedanke, ihr fiel ein, daß Zéphyrin noch bei Rosalie sein mußte. Erleichtert, glücklich bei dem Gedanken, nicht mehr allein zu sein, ging sie jetzt, in ihren Pantoffeln schlurfend, auf die Küche zu. Als sie im Vorzimmer war und schon die Glastür zum kleinen Flur aufstieß, vernahm sie zu ihrer Überraschung das laute Klatschen einer mit voller Wucht versetzten Ohrfeige. Rosalies Stimme rief: »He, willst du wohl 'das Kneifen lassen! – Weg mit den Pfoten!« Während Zéphyrin, das R rollend, murmelte: »Das macht gar nichts, meine Schöne, grad so lieb ich dich ... Und drum hast du noch eins ...« Doch die Tür hatte geknarrt. Als Hélène eintrat, hatten der kleine Soldat und die Köchin, die seelenruhig am Tisch saßen, beide die Nase über ihrem Teller. Sie taten gleichgültig, sie waren es nicht gewesen. Allein sie waren sehr rot, ihre Augen leuchteten wie Kerzen, sie hüpften vor Quecksilbrigkeit auf ihren Strohstühlen. Rosalie stand auf, stürzte ihrer Herrin entgegen. »Wünschen Madame irgend etwas?« Hélène hatte sich keinen Vorwand zurechtgelegt. Sie kam, um sie zu sehen, um zu plaudern, um mit Menschen zusammen zu sein. Doch Scham ergriff sie, sie wagte nicht zu sagen, daß sie nichts wollte. »Haben Sie warmes Wasser?« fragte sie schließlich. »Nein, Madame, und mein Feuer ist ausgegangen ... Oh, das macht nichts, ich werde es Ihnen in fünf Minuten geben. Es kocht ja im Nu.« Sie legte Kohle nach, stellte den Wasserkessel auf. Als sie sah, daß ihre Herrin dort 351
auf der Schwelle stehenblieb, sagte sie dann: »In fünf Minuten, Madame, bringe ich es Ihnen.« Hélène machte eine unbestimmte Bewegung. »Ich habe es nicht eilig, ich werde warten ... Lassen Sie sich nicht stören, meine Tochter; essen Sie, essen Sie ... Der junge Mann wird bald in die Kaserne zurückkehren müssen.« Rosalie setzte sich, bereitwillig wieder hin. Zéphyrin, der stehen blieb, grüßte militärisch und schnitt dann wieder sein Fleisch, wobei er die Ellbogen abspreizte, um zu zeigen, daß er sich zu benehmen wußte. Wenn sie nach dem Abendessen der gnädigen Frau so zusammen aßen, rückten sie nicht einmal den Tisch in die Mitte, sie zogen es vor, sich nebeneinanderzusetzen, die Nase der Wand zugekehrt. Auf diese Weise konnten sie sich mit den Knien stoßen, sich kneifen, sich Klapse versetzen, ohne sich einen Happen entgehen zu lassen; und wenn sie hochschauten, hatten sie den erfreulichen Anblick der Kasserollen. Ein Strauß Lorbeer und Thymian hing an der Wand, die Gewürzdose hatte einen pfeffrigen Geruch. Um sie her stellte die Küche, die noch nicht aufgeräumt war, das heillose Durcheinander des nicht abgewaschenen Geschirrs zur Schau; doch sie blieb trotzdem ein sehr angenehmer Aufenthalt für Verliebte mit gutem Appetit, die sich dort Dinge gönnten, mit denen man in der Kaserne niemals aufwartete. Es roch vor allem nach Braten, der mit einem winzig kleinen Schuß Essig, Salatessig, pikant abgeschmeckt war. Der Widerschein der Gasflamme tanzte auf den kupfernen und schmiedeeisernen Geräten. Da der Herd eine furchtbare Hitze verbreitete, hatten sie das Fenster halb geöffnet, und ein frischer Windhauch, der vom Garten hereinkam, blähte den blauen Kattunvorhang. 352
»Sie müssen pünktlich um zehn zurück sein?« fragte Hélène. »Ja, Madame, mit Verlaub zu sagen«, antwortete Zéphyrin. »Das ist ja ein schönes Stück Weg! – Sie nehmen doch den Omnibus?« »Oh, Madame, manchmal ... Sehen Sie, mit einem hübschen kleinen Dauerlauf geht es noch besser.« Sie war einen Schritt in die Küche hineingekommen, mit herabhängenden und über ihrem Morgenrock ineinandergeschlungenen Händen lehnte sie sich an die Anrichte. Sie plauderte noch über das häßliche Wetter an diesem Tag, darüber, was es beim Militär zu essen gab, über den hohen Preis der Eier. Doch jedesmal, wenn sie eine Frage gestellt und die beiden geantwortet hatten, versiegte die Unterhaltung. Sie störte sie, wenn sie so hinter ihrem Rücken stand; sie wandten sich nicht mehr um, sprachen in ihre Teller hinein und zogen unter ihren Blicken die Schultern ein, während sie ganz kleine Bissen hinunterschluckten, um anständig zu sein. Hélène war ruhig geworden und fühlte sich hier wohl. »Werden Sie nicht ungeduldig, Madame«, sagte Rosalie, »das Wasser summt schon ... Wenn das Feuer besser brennen würde ...« Hélène wollte nicht, daß sie sich stören lasse. Später. Sie spürte einzig eine große Müdigkeit in den Beinen. Mechanisch schritt sie durch die Küche, ging ans Fenster, wo sie den dritten Stuhl sah, einen sehr hohen Holzstuhl, der sich in einen Schemel verwandelte, wenn man ihn umkippte. Doch sie setzte sich nicht sofort. Sie hatte auf einer Ecke des Tisches einen Haufen Bilder erblickt.
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»Sieh mal einer an!« sagte sie, während sie sie in dem Verlangen, Zéphyrin eine Freude zu machen, in die Hand nahm. Der kleine Soldat lachte still in sich hinein. Er strahlte, folgte den Bildern mit dem Blick und nickte, wenn ein schönes Stück der gnädigen Frau unter die Augen kam. »Das da«, sagte er plötzlich, »das habe ich in der Rue du Temple gefunden ... Es ist eine schöne Frau, die Blumen in ihrem Korb hat ...« Hélène hatte sich gesetzt. Sie betrachtete aufmerksam die schöne Frau, den vergoldeten und lackierten Deckel einer Bonbonschachtel, den Zéphyrin sorgfältig abgewischt hatte. Ein Küchentuch auf der Lehne des Stuhls hinderte sie, sich anzulehnen. Sie schob es fort, vertiefte sich von neuem. Als die beiden Verliebten die gnädige Frau so gütig sahen, taten sie sich keinen Zwang mehr an. Sie vergaßen sie schließlich sogar. Hélène hatte die Bilder eines nach dem anderen auf ihre Knie fallen lassen; und unbestimmt lächelnd, betrachtete sie die beiden und hörte ihnen zu. »Sag doch, mein Kleiner«, murmelte die Köchin, »willst du nicht noch einmal von der Hammelkeule?« Er antwortete weder ja noch nein, schaukelte sich, als habe man ihn gekitzelt, setzte sich dann vor Behagen breit hin, als sie ihm eine dicke Scheibe auf seinen Teller legte. Seine roten Schulterklappen hüpften, während sein runder Kopf mit den großen abstehenden Ohren in seinem gelben Kragen wie ein Pagodenkopf wackelte. Sein Rücken zuckte vor Lachen, er platzte fast aus seinem Waffenrock, den er in der Küche aus Ehrerbietung gegenüber der gnädigen Frau niemals aufknöpfte. »Das schmeckt besser als Vater Rouvets Rüben«, sagte er schließlich mit vollem Mund. 354
Das war eine Erinnerung an die Heimat. Beide prusteten vor Lachen; und Rosalie hielt sich am Tisch fest, um nicht hinzufallen. Eines Tages, es war vor ihrer Erstkommunion, hatte Zéphyrin dem Vater Rouvet drei Rüben gestohlen; sie waren hart, die Rüben, oh, hart, um sich die Zähne daran auszubeißen; aber Rosalie hatte trotzdem ihren Teil hinter dem Schulhaus aufgeknappert. Jedesmal also, wenn sie zusammen aßen, versäumte Zéphyrin nicht zu sagen: »Das schmeckt besser als Vater Rouvets Rüben.« Und jedesmal prustete Rosalie so doll, daß dabei die Schnur ihres Rockes zerriß. Man hörte, wie die Schnur abging. »Na? Du hast sie wohl zerrissen?« meinte der kleine Soldat triumphierend. Er streckte die Hände aus, er wollte sich vergewissern. Aber sie versetzte ihm ein paar Klapse. »Sei ruhig, du wirst sie doch nicht wieder flicken ... Das ist zu dumm, mir meine Schnur zu zerreißen. Jede Woche ziehe ich eine neue ein.« Als er dann trotzdem herumtastete, zwickte sie ihn mit ihren dicken Fingern in das Fleisch auf seiner Hand und drehte es zusammen. Diese Zärtlichkeit reizte ihn nur noch mehr, worauf sie mit einem wütenden Blick auf die gnädige Frau wies, die ihnen zuschaute. Ohne allzusehr verwirrt zu sein, stopfte er sich mit einem ungeheueren Bissen die Backe voll, zwinkerte mit der Miene eines gewitzten Kommißhengstes, als wolle er sagen, die Frauen verabscheuten so was nicht, seihst die Damen nicht. Klar, wenn die Leute sich liebhaben, habe man immer Freude daran, sie zu sehen. »Sie müssen noch fünf Jahre lang Soldat bleiben?« fragte Hélène, die auf dem hohen Holzstuhl zusammen355
gesunken war und sich in einer sanften Stimmung gehenließ. »Ja, Madame, vielleicht bloß vier, wenn man mich nicht braucht.« Rosalie begriff, daß die gnädige Frau an ihre Heirat dachte. Sie rief in gespieltem Zorn: »Oh, Madame, er kann noch zehn Jahre bleiben, ich werde nicht hingehen und ihn von der Regierung zurückverlangen ... Er kitzelt zuviel herum. Ich glaube schon, daß er verdorben wird ... Ja, lach du nur. Aber bei mir verfängt das nicht. Wenn der Herr Bürgermeister erst da ist, werden wir ja sehen, ob dir dann noch zum Scherzen zumute ist.« Und da er noch mehr grinste, um sich vor der gnädigen Frau als Verführer aufzuspielen, wurde die Köchin vollends böse. »Geh mir aber, das kann ich dir raten! – Im Grunde, wissen Sie, Madame, ist er so ein Trottel. Man hat keine Vorstellung, wie dumm die Uniform sie alle macht. So führt er sich nur unter seinen Kameraden auf. Wenn ich ihn vor die Tür setzte, würden Sie ihn auf der Treppe weinen hören ... Ich pfeife auf dich, mein Kleiner! Denn wenn ich will, bist du bestimmt da, um nachzusehen, woraus meine Strümpfe sind?« Sie schaute ihn ganz nah an; aber als sie ihn so sah mit seinem gutmütigem Sommersprossengesicht, das unruhig zu werden begann, war sie plötzlich gerührt. Und ohne sichtlichen Übergang sagte sie: »Ach, ich hab dir das noch nicht erzählt, ich habe einen Brief von der Tante bekommen ... Die Guignards wollen ihr Haus verkaufen. Ja, fast umsonst ... Man könnte vielleicht später ...« »Donnerschlag!« sagte Zéphyrin freudestrahlend. »Man hätte ein eigenes Dach über dem Kopf ... Es ist Platz für zwei Kühe da.«
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Da schwiegen sie. Sie waren beim Nachtisch. Der kleine Soldat leckte mit kindlicher Naschhaftigkeit an dem Weinbeermus auf seinem Brot, während die Köchin mit mütterlicher Miene sorgfältig einen Apfel schälte. Er hatte jedoch seine freie Hand unter den Tisch gesteckt und krabbelte sie an den Knien, aber so leise, daß sie tat, als merke sie es nicht. Wenn er anständig blieb, wurde sie nicht böse. Sie schien es sogar recht gern zu haben, ohne das einzugestehen, denn sie hüpfte vor Vergnügen leicht auf ihrem Stuhl. Kurz und gut, heute war bei dem Schmaus alles dran. »Madame, da kocht Ihr Wasser«, sagte Rosalie nach einem Schweigen. Hélène rührte sich nicht. Sie fühlte sich gleichsam eingehüllt in die zärtliche Liebe der beiden. Und sie spann für sie ihre Träume fort, sie stellte sie sich dort unten vor, in dem Haus der Guignards, mit ihren zwei Kühen. Sie mußte lächeln, als sie ihn so ernst sah, die Hand unter dem Tisch, während sich das kleine Hausmädchen sehr steif hielt, um sich nichts anmerken zu lassen. Alle Abstände waren zusammengerückt, sie hatte keine klare Vorstellung mehr, weder von sich selbst noch von den anderen, weder davon, wo sie war, noch davon, was sie hier tat. Die Kupfergeräte flammten an den Wänden, eine Schlaffheit hielt sie zurück mit gedankenversunkenem Gesicht, ohne daß sie über die Unordnung in der Küche gekränkt gewesen wäre. Diese Selbsterniedrigung vermittelte ihr den tiefen Sinnengenuß eines befriedigten Verlangens. Ihr war nur sehr heiß, das Herdfeuer trieb ihr Schweißtropfen auf die bleiche Stirn; und hinter ihr wehten durch das halbgeöffnete Fenster köstliche Schauer über ihren Nacken.
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»Madame, Ihr Wasser kocht«, wiederholte Rosalie. »Es wird nichts im Kessel bleiben.« Und sie stellte den Kessel vor sie hin. Hélène, die einen Augenblick überrascht war, mußte sich erheben. »Ach ja! – Ich danke Ihnen.« Sie hatte keinen Vorwand mehr, sie ging langsam und ungern davon. In ihrem Zimmer war ihr der Kessel im Wege. Aber Leidenschaft brach jetzt wieder in ihr durch. Diese Erstarrung, die sie wie betäubt niedergehalten hatte, zerschmolz in einer Woge glühenden Lebens, dessen Strömen sie verbrannte. Sie erschauerte von der Wollust, die sie gar nicht empfunden hatte. Erinnerungen kamen ihr wieder, ihre Sinne erwachten zu spät mit einem unermeßlichen, ungestillten Verlangen. Aufrecht stand sie mitten im Zimmer, reckte sie ihren ganzen Körper, rang ihre erhobenen Hände und ließ ihre entnervten Glieder knacken. Oh! Sie liebte ihn, sie wollte ihn, so würde sie sich das nächste Mal hingeben. Und in dem Augenblick, da sie ihren Morgenrock abstreifte und ihre nackten Arme betrachtete, beunruhigte sie ein Geräusch, sie glaubte, Jeanne habe gehustet. Da nahm sie die Lampe. Das Kind, das mit geschlossenen Lidern dalag, schien eingeschlafen. Doch als die Mutter beruhigt den Rücken gewandt hatte, öffnete Jeanne die Augen ganz weit, schwarze Augen, die ihr nachsahen, während sie ins Schlafzimmer zurückkehrte. Sie schlief noch nicht, sie wollte nicht, daß man sie zum Schlafen brachte. Ein neuer Hustenanfall zerriß ihr die Kehle, und sie vergrub den Kopf unter der Bettdecke, sie erstickte den Anfall. Jetzt konnte sie hinübergehen, ihre Mutter würde es nicht mehr merken. Sie behielt die Augen offen
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in der Nacht, wußte alles, als habe sie darüber nachgedacht und sterbe daran ohne eine Klage. Kapitel II Hélène hatte am nächsten Morgen allerlei praktische Gedanken. Sie erwachte mit dem gebieterischen Bedürfnis, selber über ihr Glück zu wachen, und zitterte vor Furcht, Henri durch irgendeine Unvorsichtigkeit zu verlieren. Zu dieser fröstelnden Stunde des Aufstehens, während das erstarrte Zimmer noch schlief, betete sie ihn an, begehrte sie ihn in einer Aufwallung ihres ganzen Wesens. Niemals hatte sie diese Sorge, auch ja geschickt zu sein, an sich gekannt. Ihr erster Gedanke war, daß sie Juliette noch am selben Morgen besuchen müsse. So würde sie unerfreuliche Erklärungen und Nachforschungen vermeiden, die alles gefährden konnten. Als sie gegen neun Uhr bei Frau Deberle ankam, war diese bereits auf, sah blaß aus und hatte gerötete Augen wie die Heldin eines Dramas. Und sowie sie sie erblickte, warf sich die arme Frau weinend in ihre Arme und nannte sie ihren guten Engel. Sie liebe diesen Malignon überhaupt nicht, oh, sie schwöre es! Mein Gott! Was für ein albernes Abenteuer! Sie wäre daran gestorben, das war sicher! Denn jetzt fühlte sie sich nicht im allergeringsten für solche Geschichten geschaffen, für die Lügen, Leiden, Tyranneien eines immer gleichen Gefühls. Wie gut schien es ihr, wieder frei zu sein! Sie lachte vor Freude; dann schluchzte sie wieder und flehte ihre Freundin an, sie nicht zu verachten. Auf dem Grunde ihrer fiebrigen Erregung herrschte Angst, sie glaubte, ihr Mann wisse alles. Gestern abend war er aufgeregt nach Hause gekommen. Sie überschüttete Hélène mit Fragen.
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Da erzählte ihr Hélène mit einer Kühnheit und einer Leichtigkeit, über die sie sich selber wunderte, eine Geschichte, deren Einzelheiten sie nacheinander in reicher Fülle erfand. Sie schwor ihr, daß ihr Gatte nichts ahne. Sie selber sei, da sie alles erfahren hatte und sie retten wollte, auf den Gedanken gekommen, das Stelldichein auf diese Weise zu stören. Juliette hörte ihr zu, glaubte diesen Roman; ihr Antlitz hellte sich unter Tränen in überströmender Freude auf. Sie fiel ihr nochmals um den Hals. Und ihre Liebkosungen machten Hélène keineswegs verlegen, sie spürte keines der Ehrbarkeitsbedenken, unter denen sie früher gelitten hatte. Als sie Juliette verließ, nachdem sie ihr das Versprechen abgenommen hatte, ruhig zu sein, lachte sie innerlich über ihre Geschicklichkeit und ging entzückt fort. Einige Tage vergingen. Hélènes ganzes Dasein hatte sich umgestellt; sie lebte nicht mehr bei sich zu Hause, sie lebte mit ihren Gedanken zu jeder Stunde bei Henri. Nichts gab es mehr als das kleine Nachbarhaus, in dem sein Herz schlug. Sowie sie einen Vorwand fand, eilte sie hinüber und verweilte dort, zufrieden, dieselbe Luft zu atmen. In diesem ersten Entzücken über den Besitz des Geliebten rührte sie der Anblick Juliettes, da diese gleichsam zu Henri gehörte. Henri hatte sie jedoch noch keinen Augenblick allein treffen können. Sie schien es darauf anzulegen, die Stunde des zweiten Stelldicheins hinauszuzögern. Als er sie eines Abends bis in die Diele hinausbegleitete, hatte sie ihm nur den Schwur abgenommen, das Haus in der Passage des Eaux nicht wieder aufzusuchen, und hatte hinzugefügt, er würde sie sonst bloßstellen. Beide bebten in der Erwartung der leidenschaftlichen Umarmung, mit der sie einander wieder 360
umfangen würden, sie wußten nicht wo, irgendwo, eines Nachts. Und von diesem Verlangen geplagt, lebte Hélène von nun an nur noch für diese Minute, gleichgültig gegenüber den anderen, verbrachte ihre Tage in der Hoffnung darauf, war sehr glücklich und fühlte sich in ihrem Glück nur dadurch beunruhigt, daß Jeanne in ihrer Nähe hustete. Jeanne hatte einen kurzen, trockenen, häufig wiederkehrenden Husten, der gegen Abend schlimmer wurde. Sie hatte jetzt leichte Fieberanfälle; Schweißausbrüche schwächten sie im Schlaf. Wenn ihre Mutter sie befragte, antwortete sie, sie sei nicht krank, ihr tue nichts weh. Es war zweifellos eine abklingende Erkältung. Und Hélène, die durch diese Erklärung beruhigt und sich nicht mehr klar bewußt war, was neben ihr vor sich ging, fühlte jedoch weiterhin in dem Entzücken, in dem sie lebte, verworren einen Schmerz, wie eine Last, deren Druck sie an einer Stelle Muten ließ, die sie nicht hätte nennen können. Zuweilen befiel sie inmitten einer dieser grundlosen Freuden, die sie in Zärtlichkeit badeten, eine Angst, ihr war, als stehe ein Unheil hinter ihr. Sie wandte sich um und lächelte. Wenn man zu glücklich ist, zittert man immer. Niemand war da. Jeanne hatte gerade gehustet, aber sie trank Kräutertee, es würde nichts weiter sein. Eines Nachmittags jedoch hatte der alte Doktor Bodin, der als Freund des Hauses heraufkam, seinen Besuch besorgt in die Länge gezogen und Jeanne mit seinen kleinen blauen Augen von der Seite her gemustert. Er fragte sie aus, wobei er so tat, als spiele er mit ihr. An jenem Tag sagte er nichts. Doch zwei Tage später erschien er wieder; und diesmal brachte er, ohne Jeanne zu untersuchen, mit der Heiterkeit eines alten Mannes, der viele Dinge gesehen hat, das Gespräch auf Reisen. Früher 361
sei er Militärarzt gewesen; er kenne ganz Italien. Das sei ein herrliches Land, das man im Frühling bewundern müsse. Warum fahre Frau Grandjean nicht mit ihrer Tochter dorthin? So kam er nach geschickten Überleitungen darauf, einen Aufenthalt dort unten, im Lande der Sonne, wie er sagte, anzuraten. Hélène sah ihn starr an. Da verwahrte er sich; keine von beiden sei krank, bestimmt nicht! Allein eine Luftveränderung verjünge. Sie war ganz weiß geworden, von einer tödlichen Kälte erfaßt bei dem Gedanken, Paris zu verlassen. Mein Gott! So weit fortgehen, so weit! Henri plötzlich verlieren, ihrer Liebe keine Zukunft lassen! Das versetzte ihr einen solchen Stich ins Herz, daß sie sich zu Jeanne niederbeugte, um ihre Verwirrung zu verbergen. Wollte Jeanne denn wegreisen? Das Kind hatte fröstelnd seine Fingerchen ineinandergeschlungen. O ja, sie wolle gern! Sie wolle gern in die Sonne gehen, ganz allein, sie und ihre Mutter, oh, ganz allein! Und auf ihrem armen abgemagerten Gesicht, auf dessen Wangen das Fieber brannte, strahlte die Hoffnung auf ein neues Leben. Doch Hélène hörte nicht mehr zu, war empört und mißtrauisch, nunmehr überzeugt, daß alle unter einer Decke steckten, der Abbé, Doktor Bodin, Jeanne selber, um sie von Henri zu trennen. Als der alte Arzt sie so bleich sah, glaubte er, er habe es an Vorsicht fehlen lassen; er sagte schleunigst, daß es damit keine Eile habe, und war fest entschlossen, auf dieses Gespräch zurückzukommen. Gerade an jenem Tage mußte Frau Deberle zu Hause bleiben. Sowie der Doktor gegangen war, setzte Hélène hastig ihren Hut auf. Jeanne weigerte sich auszugehen; 362
sie fühle sich wohler am Feuer; sie würde schön brav sein und nicht das Fenster öffnen. Seit einiger Zeit quälte sie ihre Mutter nicht mehr mit der Bitte, sie zu begleiten, sie schaute ihr nur mit einem langen Blick nach. Wenn sie dann allein war, machte sie sich ganz klein auf ihrem Stuhl und blieb stundenlang so sitzen, ohne sich zu rühren. »Mama, ist das weit, Italien?« fragte sie, als Hélène zu ihr trat, um sie zu küssen. »Oh, sehr weit, mein Liebling.« Doch Jeanne hielt ihren Hals umschlungen. Sie ließ sie nicht gleich wieder los und murmelte: »Nicht? Rosalie würde hier auf deine Sachen achtgeben. Wir würden sie nicht brauchen ... Siehst du, mit einem nicht zu großen Koffer ... Oh, das wäre schön, meine liebe gute Mutter! Nur wir beide! – Ich würde dick und rund zurückkommen, sieh mal, so dick!« Sie blies die Wangen auf und machte die Arme rund. Hélène sagte, man werde sehen; dann schlüpfte sie hinaus und trug Rosalie auf, gut auf das Fräulein achtzugeben. Da kauerte sich die Kleine in die Kaminecke, schaute zu, wie das Feuer brannte, war in eine Träumerei versunken. Von Zeit zu Zeit streckte sie mechanisch die Hände aus, um sie zu wärmen. Der Widerschein der Flamme ermüdete ihre großen Augen. Sie war so in Gedanken verloren, daß sie nicht hörte, wie Herr Rambaud eintrat. Seine Besuche wurden häufiger, er kam, wie er sagte, wegen jener gelähmten Frau, die Doktor Deberle noch immer nicht im Spital hatte unterbringen können. Als er Jeanne allein antraf, setzte er sich in die andere Kaminecke und plauderte mit ihr wie mit einer Erwachsenen. Es sei recht ärgerlich, die arme Frau warte seit einer Woche; 363
aber er werde nachher hinuntergehen und den Doktor aufsuchen, der ihm vielleicht eine Antwort geben werde. Er rührte sich jedoch nicht von der Stelle. »Hat deine Mutter dich denn nicht mitgenommen?« fragte er. Jeanne zuckte müde mit den Schultern. Das sei ihr zu lästig, zu anderen Leuten zu gehen. Nichts gefalle ihr mehr. Sie fügte hinzu: »Ich werde alt, ich kann nicht immer spielen ... Mama vergnügt sich draußen, ich, ich vergnüge mich drinnen; also sind wir eben nicht zusammen.« Schweigen entstand. Das Kind fröstelte, hielt beide Hände vor die Glut, die mit großem rosigem Schein brannte; und sie glich in der Tat einem alten Weiblein, eingemummelt in ein riesiges Umschlagetuch, ein Tüchlein um den Hals, ein anderes um den Kopf. Man hatte das Gefühl, als sei sie in all diesen Hüllen nicht dicker als ein kranker, zerzauster Vogel, der sich aufplustert. Herr Rambaud, der die Hände über den Knien gefaltet hielt, schaute ins Feuer. Dann wandte er sich zu Jeanne um und fragte sie, ob ihre Mutter gestern ausgegangen sei. Sie antwortete mit einem Nicken. Und vorgestern, und vorvorgestern? Sie bejahte immerfort mit einer Bewegung des Kinns. Ihre Mutter gehe alle Tage aus. Da sahen Herr Rambaud und die Kleine sich lange an, mit bleichen und ernsten Gesichtern, als hätten sie einen großen Kummer gemeinsam zu tragen. Sie sprachen nicht darüber, weil ein kleines Mädchen und ein alter Mann darüber nicht miteinander reden können; aber sie wußten wohl, warum sie so traurig waren und warum sie gerne so rechts und links vom Kamin saßen, wenn das 364
Haus leer war. Das tröstete sie beide sehr. Sie rückten nah aneinander, um ihre Verlassenheit weniger zu empfinden. Aufwallungen von Zärtlichkeit überkamen sie, am liebsten hätten sie sich geküßt und geweint. »Du frierst doch bestimmt, Onkel ... Rück näher ans Feuer.« »Aber nein, mein Liebling, ich friere nicht.« »Oh, du lügst! Deine Hände sind eiskalt ... Rück näher ran, oder ich werde böse.« Dann machte er sich Sorgen. »Ich wette, daß man dir keinen Hustentee dagelassen hat ... Ich werde dir welchen machen, soll ich? Oh, ich kann dir einen prima Tee machen ... Du wirst sehen, wenn ich dich pflege, fehlt es dir an nichts.« Er erlaubte sich keine deutlicheren Anspielungen. Jeanne erwiderte lebhaft, der Hustentee sei ihr zuwider; man gebe ihr zuviel davon zu trinken. Doch zuweilen ließ sie es sich gefallen, daß Herr Rambaud sich wie eine Mutter um sie zu schaffen machte; er schob ihr ein Kopfkissen unter die Schultern, gab ihr ihre Arznei, die sie sonst vergessen würde, stützte sie, wenn sie in seinen Arm eingehängt im Zimmer umherging. Diese Art, Jeanne zu verwöhnen, rührte sie beide. Wie Jeanne mit ihren tiefen Blicken sagte, deren Flamme den guten Mann so verwirrte, spielten sie Papa und Töchterchen, während ihre Mutter nicht da war. Plötzlich befiel sie beide Traurigkeit, sie sprachen nicht mehr und musterten einander heimlich in gegenseitigem Mitleid. An jenem Tag wiederholte das Kind nach einem langen Schweigen die Frage, die es seiner Mutter schon gestellt hatte: »Ist das weit, Italien?«
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»Oh, ich glaube schon«, sagte Herr Rambaud. »Das liegt dort unten hinter Marseille, verteufelt weit ... Warum fragst du mich danach?« »Darum«, erklärte sie ernst. Dann beklagte sie sich, daß sie nichts wisse. Sie sei immer krank, man habe sie niemals in ein Pensionat gegeben. Beide schwiegen, die große Hitze des Feuers schläferte sie ein. Indessen hatte Hélène Frau Deberle und ihre Schwester Pauline in dem japanischen Gartenhäuschen gefunden, wo sie häufig den Nachmittag verbrachten. Es war sehr warm, aus einer Heizöffnung wehte ein erstickender Atem. Die breiten Glasfenster waren geschlossen, man sah den schmalen Garten in winterlichem Gewand, gleich einer großen, in wunderbarer Vollendung ausgeführten Sepiazeichnung, die die kleinen schwarzen Zweige der Bäume von der braunen Erde abhob. Die beiden Schwestern stritten heftig miteinander. »Laß mich doch in Ruhe!« rief Juliette. »Unser selbstverständliches Anliegen ist es, die Türkei zu unterstützen.« »Ich, ich habe mit einem Russen gesprochen«, entgegnete Pauline ebenso lebhaft. »Man liebt uns in Sankt Petersburg, unsere wahren Verbündeten sind auf dieser Seite.« Doch Juliette setzte eine ernste Miene auf, verschränkte die Arme und sagte: »Nun, und was wird aus dem europäischen Gleichgewicht?« Die Orientalische Frage43 erregte Paris leidenschaftlich, die Unterhaltung drehte sich nur darum, keine Dame, die ein bißchen unter Leute kam, konnte anständigerweise von etwas anderem sprechen. Deshalb stürzte 366
sich Frau Deberle seit zwei Tagen mit Überzeugung in die Außenpolitik. Sie hatte sehr bestimmte Ansichten über die verschiedenen Möglichkeiten, die einzutreten drohten. Ihre Schwester Pauline reizte sie sehr, weil sie so eigenbrötlerisch sein wollte, entgegen den offenbaren Interessen Frankreichs, Rußland zu unterstützen. Juliette wollte sie überzeugen, dann wurde sie ärgerlich. »Ach, schweig, du sprichst wie eine dumme Gans ... Wenn du wenigstens die Frage mit mir zusammen gründlich durchgegangen wärest ...« Sie unterbrach sich, um Hélène zu begrüßen, die eben eintrat. »Guten Tag, meine Liebe. Es ist sehr nett von Ihnen, daß Sie gekommen sind ... Sie wissen nichts? Es wurde heute früh von einem Ultimatum gesprochen. Die Sitzung des Unterhauses ist sehr stürmisch gewesen.« »Nein, ich weiß nichts«, erwiderte Hélène, die die Frage verblüffte. »Ich gehe so selten aus!« Juliette hatte übrigens die Antwort nicht abgewartet. Sie setzte Pauline auseinander, weshalb man das Schwarze Meer neutralisieren müsse, wobei sie dann und wann mit tadelloser Aussprache englische und russische Generäle völlig vertraut mit Namen nannte. Doch Henri war soeben mit einem Packen Zeitungen in der Hand aufgetaucht. Hélène begriff, daß er ihretwegen herunterkam. Beider Augen hatten sich gesucht, und ihre Blicke ruhten fest ineinander. Dann hüllten sie sich ganz und gar in den langen und stummen Händedruck, den sie austauschten. »Was steht in den Zeitungen?« fragte Juliette fiebernd. »In den Zeitungen, meine Liebe?« sagte der Doktor. »Aber da steht doch nie etwas drin.«
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Jetzt vergaß man einen Augenblick die Orientalische Frage. Es war mehrmals die Rede von jemand, auf den man rechnete und der nicht kam. Pauline machte darauf aufmerksam, daß es gleich drei Uhr schlagen werde. Oh, er werde schon kommen, versicherte Frau Deberle, er habe es ausdrücklich versprochen. Aber sie nannte keinen Namen. Hélène hörte zu, ohne etwas zu verstehen. Alles, was nicht Henri war, interessierte sie nicht. Sie brachte keine Handarbeit mehr mit, sie machte zwei Stunden lange Besuche, beteiligte sich nicht an der Unterhaltung, und ihr Kopf war oft mit demselben kindischen Traum beschäftigt, in dem sie sich vorstellte, die anderen verschwänden durch ein Wunder und sie bliebe mit ihm allein. Indessen gab sie Juliette Antwort auf ihre Frage, während Henris Blick, der immer in dem ihren ruhte, sie köstlich ermattete. Er ging hinter ihr vorbei, als wolle er einen Store hochziehen, und an dem leisen Schauer, mit dem er ihr Haar streifte, fühlte sie deutlich, daß er ein Stelldichein forderte. Sie willigte ein, sie hatte nicht mehr die Kraft zu warten. »Es hat geklingelt, das muß er sein«, sagte Pauline plötzlich. Die beiden Schwestern setzten eine gleichgültige Miene auf. Malignon kam herein, noch korrekter als sonst, mit einem Anflug von Ernst. Er drückte die Hände, die sich ihm entgegenstreckten; aber er vermied seine üblichen Scherze, er betrat feierlich wieder das Haus, in dem er seit einiger Zeit nicht mehr erschienen war. Während der Doktor und Pauline sich über die Seltenheit seiner Besuche beklagten, neigte sich Juliette zu Hélènes Ohr, die trotz ihrer überlegenen Gleichgültigkeit überrascht war.
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»Na? Das wundert Sie! – Mein Gott! Ich nehme es ihm nicht übel. Im Grunde ist er ein so guter Junge, daß man ihm nicht lange böse sein kann ... Stellen Sie sich vor, er hat einen Gatten für Pauline ausfindig gemacht. Das ist doch nett, finden Sie nicht?« »Zweifellos«, murmelte Hélène aus Gefälligkeit. »Ja, einen seiner Freunde, der sehr reich ist und nicht im geringsten daran dachte, zu heiraten, und den er zu uns bringen will, wie er geschworen hat ... Wir erwarteten ihn heute, um die endgültige Antwort zu bekommen ... Sie verstehen also, ich habe über vieles hinwegsehen müssen. Oh, es besteht keine Gefahr mehr, wir kennen uns jetzt.« Sie lachte reizend, errötete ein wenig bei der Erinnerung, die sie heraufbeschworen; dann bemächtigte sie sich rasch Malignons. Hélène lächelte ebenfalls. Diese Leichtlebigkeit war eine Entschuldigung für sie selber. Man hatte wirklich unrecht, von düsteren Dramen zu träumen, alles löste sich mit bezaubernder Harmlosigkeit. Doch während sie so ein feiges Glück genoß, indem sie sich sagte, daß nichts verboten sei, hatten Juliette und Pauline die Tür des Gartenhäuschens geöffnet und Malignon mit sich in den Garten gezogen. Auf einmal hörte sie hinter ihrem Nacken Henris leise und glühende Stimme: »Ich bitte Sie, Hélène, oh, ich bitte Sie!« Sie zuckte zusammen, schaute sich mit plötzlicher Unruhe um. Sie waren allein, sie sah die drei anderen mit kleinen Schritten auf einem Gartenweg dahingehen. Henri hatte gewagt, sie bei den Schultern zu fassen, und sie zitterte, und ihr Schrecken war voller Trunkenheit. »Wann Sie wollen«, stammelte sie, wohl begreifend, daß er sie um ein Stelldichein bat. 369
Und rasch wechselten sie ein paar Worte. »Erwarten Sie mich heute abend in jenem Haus in der Passage des Eaux.« »Nein, ich kann nicht ... Ich habe Ihnen erklärt, Sie haben mir geschworen ...« »Dann anderswo, wo es Ihnen beliebt, wenn ich Sie nur sehe ... Bei Ihnen, heute nacht?« Sie begehrte auf. Aber von Angst ergriffen, weil sie die beiden Frauen und Malignon zurückkommen sah, konnte sie nur mit einer Handbewegung ablehnen. Frau Deberle hatte so getan, als nähme sie den jungen Mann mit, um ihm ein Wunder zu zeigen, Veilchenbüschel, die trotz des kalten Wetters in voller Blüte standen. Sie beschleunigte den Schritt, sie trat als erste strahlend wieder ein. »Es ist abgemacht!« sagte sie. »Was denn?« fragte Hélène, die noch ganz mitgenommen war und sich nicht mehr erinnerte. »Na, diese Heirat doch! – Ach, die Last ist man los! Pauline begann schon, unbequem zu werden ... Der junge Mann hat sie gesehen und findet sie bezaubernd. Morgen werden wir alle bei Papa zu Abend essen ... Ich hätte Malignon für seine gute Nachricht einen Kuß geben mögen.« Henri hatte es mit vollendeter Kaltblütigkeit so einzurichten gewußt, daß er nicht mehr in Hélènes Nähe stand. Auch er fand Malignon reizend. Er schien sich mit seiner Frau sehr darüber zu freuen, ihre kleine Schwester endlich versorgt zu sehen. Dann machte er Hélène darauf aufmerksam, daß sie gleich einen Handschuh verlieren werde. Sie dankte ihm. Im Garten hörte man Pauline scherzen; sie neigte sich zu Malignon, flüsterte ihm abgerissene Worte zu und brach in Lachen aus, als er ihr e370
benfalls etwas ins Ohr sagte. Zweifellos machte er ihr vertrauliche Mitteilungen über den Zukünftigen. Durch die offengelassene Tür des Gartenhäuschens atmete Hélène mit Wonne die kalte Luft. Eben in diesem Augenblick schwiegen oben im Schlafzimmer Jeanne und Herr Rambaud, waren benommen durch die große Hitze der Glut. Das Kind brach dieses lange Schweigen und fragte plötzlich, als sei diese Frage die Schlußfolgerung seines Träumens: »Wollen wir in die Küche gehen? – Wir werden sehen, ob wir Mama nicht erblicken.« »Ja, gern«, antwortete Herr Rambaud. Sie war kräftiger an jenem Tag. Sie kam, ohne gestützt zu werden, in die Küche und lehnte ihr Gesicht an eine Fensterscheibe. Auch Herr Rambaud schaute in den Garten. Es waren keine Blätter an den Bäumen, man konnte durch die großen klaren Glasfenster deutlich das Innere des japanischen Gartenhäuschens erkennen. Rosalie, die gerade eine Rindfleischsuppe zubereitete, schalt das Fräulein neugierig. Doch die Kleine hatte das Kleid ihrer Mutter erkannt, und sie zeigte darauf; um besser zu sehen, drückte sie sich das Gesicht am Fenster platt. Indessen hob Pauline den Kopf und winkte. Hélène erschien, gab mit der Hand zu verstehen, sie solle zu ihr kommen. »Man hat Sie bemerkt, Mademoiselle«, sagte die Köchin mehrmals. »Sie sollen herunterkommen.« Herr Rambaud mußte das Fenster öffnen. Man bat ihn, Jeanne herunterzubringen, alle verlangten nach ihr. Jeanne hatte sich ins Schlafzimmer geflüchtet, sie weigerte sich heftig und beschuldigte ihren Onkel Rambaud, er habe absichtlich ans Fenster geklopft. Sie schaue gern ihrer Mutter zu, aber sie wolle nicht mehr in dieses Haus gehen; und auf alle flehenden Fragen, die Herr 371
Rambaud an sie richtete, antwortete sie ihm mit ihrem schrecklichen »Darum«, das alles erklärte. »Gerade du solltest mich nicht zwingen«, sagte sie schließlich mit finsterer Miene. Doch er sagte ihr immer wieder, daß sie ihrer Mutter viel Kummer bereiten würde, daß man den Leuten keine dummen Streiche spielen dürfe. Er werde sie warm anziehen, sie werde nicht frieren; und während er sprach, schlang er das Umschlagetuch um ihre Hüfte, nahm das Tüchlein ab, das sie um den Kopf hatte, um ihr eine kleine gestrickte Kapuze aufzusetzen. Als sie fertig war, erhob sie noch immer Einspruch. Endlich ließ sie sich mitnehmen unter der Bedingung, daß er sie sofort wieder nach oben bringe, wenn sie sich zu krank fühlen sollte. Die Concierge öffnete ihnen die Verbindungstür, man empfing sie im Garten mit Freudenrufen. Frau Deberle vor allem legte eine große Zuneigung zu Jeanne an den Tag; sie brachte sie in einem Sessel neben der Heizöffnung unter, wollte, daß man sogleich die Fenster schließe, und wies darauf hin, daß die Luft für das liebe Kind ein bißchen scharf sei. Malignon war fortgegangen. Und als Hélène die zerzausten Haare der Kleinen unter die Kapuze schob und sich etwas schämte, sie so in ein Umschlagetuch gewickelt und mit einer Kapuze auf dem Kopf unter Leuten zu sehen, rief Juliette aus: »Lassen Sie doch! Sind wir nicht im Familienkreis? – Die arme Jeanne! Sie hat uns tüchtig gefehlt.« Sie klingelte, sie fragte, ob Fräulein Smithson und Lucien noch nicht von ihrem täglichen Spaziergang zurückgekehrt seien. Sie waren noch nicht zurückgekehrt. Übrigens werde Lucien unmöglich, er habe gestern die fünf Fräulein Levasseur zum Weinen gebracht.
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»Wollen wir spielen ›Alles, was Federn hat, fliegt hoch‹?« fragte Pauline, die der Gedanke an ihre baldige Heirat närrisch machte. »Das ist nicht anstrengend.« Doch Jeanne lehnte mit einem Kopfschütteln ab. Lange ließ sie zwischen ihren gesenkten Wimpern hindurch ihren Blick über die Personen schweifen, die sie umgaben. Der Doktor hatte soeben Herrn Rambaud mitgeteilt, daß sein Schützling endlich im Spital aufgenommen sei, und dieser drückte ihm sehr bewegt die Hände, als sei ihm persönlich eine große Gefälligkeit erwiesen worden. Jeder machte es sich in einem Sessel bequem, die Unterhaltung nahm eine reizende Traulichkeit an. Man sprach langsamer, zuweilen trat Schweigen ein. Da Frau Deberle und ihre Schwester miteinander plauderten, sagte Hélène zu den beiden Herren: »Doktor Bodin hat uns zu einer Reise nach Italien geraten.« »Ach, deshalb hat Jeanne mich gefragt!« rief Herr Rambaud. »Es würde dir also Freude machen, dort hinzufahren?« Die Kleine legte, ohne zu antworten, ihre beiden Händchen auf die Brust, während sich ihr graues Gesicht aufhellte. Ihr Blick war angstvoll zum Doktor hinübergeglitten; denn sie hatte begriffen, daß ihre Mutter ihn um Rat fragte. Er war leicht zusammengezuckt, er blieb sehr kühl. Doch plötzlich mischte sich Juliette in die Unterhaltung, denn sie wollte wie üblich überall mitreden. »Wie? Sie reden von Italien? – Sagten Sie nicht, daß Sie nach Italien reisen? – Ach! Das trifft sich drollig! Gerade heute früh habe ich Henri gequält, mit mir nach Neapel zu reisen ... Stellen Sie sich vor, daß ich seit zehn Jahren davon träume, Neapel zu sehen. In jedem Frühjahr verspricht er es mir, aber dann hält er nicht Wort.« 373
»Ich habe nicht zu dir gesagt, daß ich nicht will«, murmelte der Doktor. »Wie? Das hast du nicht zu mir gesagt? – Du hast es rundweg abgeschlagen und mir erklärt, du könntest deine Kranken nicht im Stich lassen.« Jeanne hörte zu. Eine große Furche durchschnitt ihre reine Stirn, während sie mechanisch einen ihrer Finger nach dem anderen umbog. »Oh, meine Kranken!« entgegnete der Arzt. »Für ein paar Wochen könnte ich sie schon einem Kollegen anvertrauen ... Wenn ich geahnt hätte, daß ich dir damit eine so große Freude bereite.« »Doktor«, unterbrach Hélène, »sind Sie auch der Ansicht, daß eine solche Reise für Jeanne gut wäre?« »Ausgezeichnet, das würde sie wieder völlig auf die Beine bringen ... Kindern tut eine Reise immer gut.« »Dann«, rief Juliette, »nehmen wir Lucien mit, wir reisen alle zusammen ... Willst du?« »Aber gewiß, ich will alles, was du willst«, antwortete der Doktor mit einem Lächeln. Jeanne senkte den Kopf und trocknete zwei dicke Tränen des Zorns und des Schmerzes, die ihr in den Augen brannten. Und sie ließ sich in die Tiefe des Sessels sinken, um gleichsam nichts mehr zu hören und nichts mehr zu sehen, während Frau Deberle, entzückt über diese unverhoffte Zerstreuung, die sich ihr darbot, in laute Reden ausbrach. Oh! Wie nett doch ihr Mann war! Sie küßte ihn zur Belohnung. Sogleich sprach sie von den Vorbereitungen. Man werde in der kommenden Woche abreisen. Mein Gott! Niemals werde sie bis dahin mit allem fertig! Dann wollte sie eine Reiseroute entwerfen; man müsse in dieser Richtung reisen; man würde acht Tage in Rom bleiben, in einer reizenden Gegend haltma374
chen, von der Madame de Guiraud ihr erzählt hatte; und sie stritt sich schließlich mit Pauline, die verlangte, daß man die Reise hinausschiebe, damit sie mit ihrem Gatten dabeisein könne. »Oh, nein! Das wäre ja noch schöner!« sagte Juliette. »Man wird die Hochzeit nach unserer Rückkehr ausrichten.« Man vergaß Jeanne. Starr beobachtete sie ihre Mutter und den Doktor. Gewiß, jetzt willigte Hélène in diese Reise, die sie Henri näherbringen mußte. Das war eine große Freude: zusammen ins Land der Sonne zu reisen, die Tage Seite an Seite zu verleben, die freien Stunden auszunutzen. Ein Lachen der Erleichterung stieg auf ihre Lippen, sie hatte solche Angst gehabt, ihn zu verlieren, sie war so glücklich, mit allen ihren Lieben reisen zu können! Und während Juliette die Gegenden, durch die sie kommen würden, aufzählte, glaubten beide, schon in einem idealen Frühling zu wandeln, sagten sie sich mit einem Blick, daß sie sich dort lieben würden, und dort auch, überall, wo sie zusammen hinkommen würden. Indessen fiel es Herrn Rambaud auf, den eine Traurigkeit nach und nach schweigsam gemacht hatte, daß sich Jeanne unwohl fühlte. »Ist dir nicht gut, mein Liebling?« fragte er leise. »Oh, nein! Mir ist furchtbar schlecht ... Bring mich nach oben, ich flehe dich an.« »Aber ich muß deiner Mutter Bescheid sagen.« »Nein, nein, Mama ist beschäftigt, sie hat keine Zeit ... Bring mich nach oben, bring mich nach oben.« Er nahm sie in seine Arme, er sagte zu Hélène, das Kind fühle sich etwas überanstrengt. Da bat sie ihn, oben auf ihn zu warten, sie komme nach. 375
Obwohl die Kleine sehr leicht war, glitt sie ihm aus den Händen, und er mußte im zweiten Stock haltmachen. Sie hatte den Kopf an seine Schulter gelehnt, sie sahen einander mit großen Kummer an. Kein Geräusch störte das eisige Schweigen im Treppenhaus. Er murmelte: »Du freust dich, nach Italien zu gehen, nicht wahr?« Doch sie brach in Schluchzen aus und stammelte, sie wolle nicht mehr, sie wolle lieber in ihrem Zimmer sterben. Oh, sie würde nicht gehen, sie würde krank werden, sie spüre es deutlich. Sie würde nirgends, nirgends hingehen. Man könne ihre Schuhchen den Armen geben. Dann sprach sie unter Tränen ganz leise zu ihm: »Erinnerst du dich noch, was du mich eines Abends gefragt hast?« »Was denn, mein Liebling?« »Ob du immer bei Mama bleiben könntest, immer, immer ... Nun, wenn du noch willst, ich will es auch.« Tränen traten Herrn Rambaud in die Augen. Er küßte sie zärtlich, während sie, die Stimme noch mehr senkend, hinzufügte: »Du bist vielleicht böse, weil ich damals so zornig wurde. Siehst du, ich wußte nicht ... Aber dich will ich. Oh, gleich! Ja? Gleich ... Ich habe dich mehr lieb als den anderen ...« Unten im Gartenhäuschen versäumte sich Hélène wiederum. Man sprach noch immer über die Reise. Sie empfand ein gebieterisches Bedürfnis, ihr übervolles Herz zu öffnen, Henri das ganze Glück zu sagen, das ihr den Atem benahm. Da beugte sie sich, während Juliette und Pauline die Anzahl der mitzunehmenden Kleider erörterten, zu ihm und verabredete mit ihm das Stelldichein, das sie eine Stunde zuvor verweigert hatte. 376
»Kommen Sie heute nacht, ich erwarte Sie.« Und als sie endlich nach oben ging, traf sie Rosalie, die verstört die Treppe hinunterlief. Sowie das Hausmädchen seine Herrin erblickte, rief es: »Madame, Madame! Beeilen Sie sich! – Dem Fräulein geht es nicht gut. Es spuckt Blut.«
Kapitel III Als man vom Tisch aufstand, sprach der Doktor zu seiner Frau von einer Dame, die heute niederkomme und bei der er wahrscheinlich die Nacht werde verbringen müssen. Er ging um neun Uhr fort, stieg zum Flußufer hinunter, spazierte in der stockdunklen Nacht die menschenleere Uferstraße entlang; es wehte ein leichter, feuchter Wind, die angeschwollene Seine wälzte tintenschwarze Wogen dahin. Als es elf schlug, stieg er die Abhänge des Trocadéro wieder hinauf und strich um das Haus, dessen große viereckige Masse wie eine noch dichtere Finsternis wirkte. Doch die Fenster des Eßzimmers waren noch erleuchtet. Er ging um das Haus herum, auch das Küchenfenster warf einen grellen Schein. Da wartete er erstaunt, wurde allmählich unruhig. Schatten glitten über die Vorhänge, Aufregung schien die Wohnung zu erfüllen. Vielleicht war Herr Rambaud zum Abendessen dageblieben? Doch niemals verweilte der würdige Mann länger als bis zehn Uhr. Und er wagte nicht, hinaufzugehen. Was sollte er sagen, wenn Rosalie ihm öffnete? Toll vor Ungeduld und alle Vorsichtsmaßregeln außer acht lassend, klingelte er schließlich gegen Mitternacht und ging, ohne zu antwor-
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ten, an Frau Bergerets Conciergeloge vorbei. Oben empfing ihn Rosalie. »Sie sind's, Herr Doktor. Treten Sie ein. Ich werde sagen, daß Sie gekommen sind ... Madame wird Sie sicher erwarten.« Sie zeigte keinerlei Überraschung, ihn zu dieser Stunde zu sehen. Während er ins Eßzimmer trat, ohne daß ihm ein Wort einfiel, fuhr sie verstört fort: »Oh, dem Fräulein geht es sehr schlecht, sehr schlecht, Herr Doktor ... Was für eine Nacht. Ich stehe mir schon die Beine in den Leib.« Sie ließ ihn allein. Der Doktor hatte sich mechanisch hingesetzt. Er vergaß, daß er Arzt war. Unten an der Uferstraße hatte er von diesem Zimmer geträumt, in das Hélène ihn führte, einen Finger auf die Lippen legend, damit sie Jeanne nicht aufweckten, die im Nebengemach schlief; die Nachtlampe würde brennen, das Zimmer von Dunkel ertränkt sein, ihre Küsse lautlos. Und jetzt saß er da wie zu Besuch, hatte seinen Hut auf den Knien und wartete. Ein hartnäckiger Husten hinter der Tür zerriß allein die große Stille. Rosalie erschien, schritt mit einer Waschschüssel in der Hand rasch durch das Eßzimmer und warf ihm nur die Worte hin: »Madame hat gesagt, Sie sollen nicht hereinkommen.« Er blieb sitzen und konnte sich nicht entschließen fortzugehen. Das Stelldichein sollte also auf einen anderen Tag verschoben werden? Das verblüffte ihn wie etwas Unmögliches. Dann stellte er eine Überlegung an: die arme Jeanne war wirklich nicht sehr gesund; man hatte nur Kummer und Unannehmlichkeiten mit den Kindern. Doch die Tür öffnete sich wieder, Doktor Bodin kam herein und bat ihn tausendmal um Entschuldigung. Und eine Weile erging er sich in Redensarten; man habe 378
ihn geholt, er sei immer sehr glücklich, wenn er seinen berühmten Kollegen um Rat fragen könne. »Freilich, freilich«, sagte Doktor Deberle mehrmals, dem die Ohren sausten. Der alte Arzt war beruhigt und tat, als sei er unschlüssig, als schwanke er wegen der Diagnose. Die Stimme senkend, erörterte er die Krankheitserscheinungen mit Fachausdrücken, die er unterbrach und mit einem Augenzwinkern beendete. Es sei ein Husten ohne Auswurf, eine sehr große Entkräftung, hohes Fieber. Vielleicht habe man es mit einem Nervenfieber zu tun. Allerdings sprach er sich nicht näher darüber aus, die anämische Neurose, derentwegen man die Kranke schon seit so langer Zeit behandelte, ließ ihn unvorhergesehene Komplikationen befürchten. »Was halten Sie davon?« fragte er nach jedem Satz. Doktor Deberle antwortete mit ausweichenden Gesten. Während sein Kollege sprach, fühlte er sich allmählich beschämt, daß er da war. Weshalb war er heraufgekommen? »Ich habe ihr zwei Zugpflaster aufgelegt«, fuhr der alte Arzt fort. »Ich warte ab, was soll ich sonst tun! – Doch Sie werden ja gleich sehen. Sie werden sich dann äußern.« Und er führte ihn ins Schlafzimmer. Zitternd trat Henri ein. Das Zimmer war durch eine Lampe sehr schwach beleuchtet. Er erinnerte sich an andere, ähnliche Nächte, an den gleichen warmen Geruch, die gleiche schwüle und gestaute Luft, mit dunklen Vertiefungen, in denen die Möbel und die Wandbehänge schliefen. Doch niemand kam ihm wie einst mit ausgestreckten Händen entgegen. Herr Rambaud, der niedergeschlagen in einem Sessel saß, schien zu schlummern. Hélène stand im weißen 379
Morgenrock vor dem Bett und wandte sich nicht um; und diese bleiche Gestalt kam ihm sehr groß vor. Eine Minute lang betrachtete er jetzt prüfend Jeanne. Sie war so schwach, daß sie die Augen nicht mehr ohne Anstrengung öffnen konnte. In Schweiß gebadet, lag sie stumpf da mit bleichem Antlitz, auf dessen Wangenknochen eine Flamme entbrannt war. »Es ist eine akute Schwindsucht«, sagte er schließlich ganz laut, ohne es zu wollen, und zeigte keinerlei Überraschung, als habe er den Fall seit langem vorausgesehen. Hélène hörte es und sah ihn an. Sie war ganz kalt, hatte trockene Augen und war schrecklich ruhig. »Meinen Sie?« fragte Doktor Bodin lediglich und nickte mit der beipflichtenden Miene eines Mannes, der sich nicht als erster hatte äußern wollen. Er horchte das Kind von neuem ab. Jeanne überließ sich mit leblosen Gliedern der Untersuchung, ohne anscheinend zu begreifen, weshalb man sie quälte. Einige rasche Worte wurden zwischen den beiden Ärzten gewechselt. Der alte Doktor murmelte etwas von »amphorischer Atmung« und von »Rasselgeräuschen«; doch er tat so, als schwanke er noch, er sprach jetzt von einer capillären Bronchitis. Doktor Deberle erklärte, ein zufälliger Anlaß müsse die Krankheit zum Ausbruch gebracht haben, höchstwahrscheinlich eine Erkältung, doch habe er schon mehrmals beobachtet, daß die Anämie die Brustleiden begünstige. Hélène stand hinter ihm und wartete. »Horchen Sie selbst«, sagte Doktor Bodin und überließ Henri seinen Platz. Henri beugte sich nieder, wollte Jeanne anfassen. Sie hatte die Lider nicht gehoben; von Fieber verbrannt, gab sie sich hin. Ihr beiseite geschobenes Hemd ließ eine 380
kindliche Brust sehen, auf der die werdenden Formen der Frau kaum angedeutet waren; und nichts war keuscher und herzzerreißender als dieses schon vom Tode berührte heranreifende Kind. Sie hatte sich unter den Händen des alten Doktors nicht aufgelehnt. Doch sowie Henris Finger sie auch nur leicht streiften, war es, als bekäme sie einen Stoß. Ein glühendes Schamgefühl weckte sie aus der völligen Kraftlosigkeit, in die sie versunken war. Sie machte die Gebärde einer jungen Frau, die überfallen und vergewaltigt wird, sie preßte ihre armen mageren Ärmchen an die Brust und stammelte mit bebender Stimme: »Mama ... Mama ...« Und sie öffnete die Augen. Als sie den Mann erkannte, der da war, ergriff sie Entsetzen. Sie sah sich nackt, sie schluchzte vor Scham und zog hastig das Bettuch wieder hoch. Es war, als sei sie in ihrem Todeskampf plötzlich um zehn Jahre gealtert und mit ihren zwölf Jahren in der Nähe des Todes reif genug, um zu begreifen, daß dieser Mann sie nicht anrühren und ihre Mutter nicht in ihr wiederfinden dürfe. Sie schrie von neuem, rief um Hilfe: »Mama ... Mama ... ich bitte dich ...« Hélène, die noch nicht gesprochen hatte, trat ganz nah an Henri heran. Sie sah ihn starr an mit ihrem marmornen Gesicht. Als sie ihn berührte, sagte sie mit erstickter Stimme nur die beiden Worte zu ihm: »Gehen Sie!« Doktor Bodin bemühte sich, Jeanne zu beruhigen, die in ihrem Bett von einem Hustenanfall geschüttelt wurde. Er schwor ihr, man werde sie nicht mehr ärgern, alle müßten fortgehen, um sie in Ruhe zu lassen. »Gehen Sie«, wiederholte Hélène mit ihrer leisen und tiefen Stimme ihrem Geliebten ins Ohr. »Sie sehen doch, daß wir sie getötet haben.« 381
Da ging Henri, ohne daß ihm ein Wort eingefallen wäre. Er blieb noch einen Augenblick im Eßzimmer und wartete, er wußte selbst nicht worauf, auf irgend etwas, was vielleicht geschehen würde. Als er sah, daß Doktor Bodin nicht herauskam, ging er dann fort, stieg er im Finstern tappend die Treppe hinunter, ohne daß Rosalie sich auch nur die Mühe machte, ihm zu leuchten. Er dachte an den verheerenden Verlauf der akuten Schwindsucht, ein Fall, den er eingehend studiert hatte: die miliaren Tuberkeln würden sich mit Schnelligkeit vermehren, die Erstickungsanfälle würden zunehmen, Jeanne würde sicher keine drei Wochen mehr überstehen. Acht Tage verstrichen. Die Sonne ging auf und ging wieder unter über Paris an dem großen Himmel, der sich vor dem Fenster ausbreitete, ohne daß Hélène ein klares Empfinden für die unbarmherzige und gleichmäßig ablaufende Zeit hatte. Sie wußte, daß ihre Tochter aufgegeben war, sie war wie betäubt in dem Entsetzen über den Riß, der sich in ihr vollzog. Es war ein Warten ohne Hoffnung, eine Gewißheit, daß der Tod keine Gnade üben werde. Sie hatte keine Tränen, sie ging leise im Zimmer umher, war immer auf den Beinen und pflegte die Kranke mit langsamen und bestimmten Bewegungen. Zuweilen sank sie von Müdigkeit übermannt auf einen Stuhl und betrachtete sie stundenlang. Jeanne wurde immer schwächer; sehr schmerzhaftes Erbrechen erschöpfte sie völlig, das Fieber hörte nicht mehr auf. Wenn Doktor Bodin kam, untersuchte er sie einen Augenblick, ließ ein Rezept da; und wenn er sich zurückzog, drückte sein gebeugter Rücken ein solches Unvermögen aus, daß die Mutter ihn nicht einmal mehr hinausbegleitete, um ihn zu befragen.
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Gleich am Tage nach der Krise war Abbé Jouve herbeigeeilt. Er und sein Bruder kamen jeden Abend, wechselten einen stummen Händedruck mit Hélène und wagten nicht, sie nach dem Befinden zu fragen. Sie hatten sich erboten, abwechselnd zu wachen, aber sie schickte sie gegen zehn Uhr fort, sie wollte zur Nacht niemand im Zimmer haben. Eines Abends nahm der Abbé, der seit dem Vortag sehr mit einem Gedanken beschäftigt zu sein schien, sie beiseite. »Ich habe an eine Sache gedacht«, murmelte er. »Das liebe Kind ist wegen seiner anfälligen Gesundheit in manchem zurückgeblieben ... Es könnte hier seine Erstkommunion empfangen ...« Hélène schien zunächst nicht zu begreifen. Dieser Gedanke, in dem trotz seiner Duldsamkeit ganz und gar der Priester mit seiner Sorge um die Interessen des Himmels zum Vorschein kam, überraschte sie, verletzte sie sogar etwas. Sie winkte ab und sagte: »Nein, nein, ich will nicht, daß man sie quält ... Wenn es überhaupt ein Paradies gibt, wird sie geradewegs hineinkommen.« Doch an jenem Abend empfand Jeanne eine dieser trügerischen Besserungen, die die Sterbenden täuschen. Mit dem feinen Ohr der Kranken hatte sie den Abbé gehört. »Du bist es, Onkel«, sagte sie. »Du sprichst von der Kommunion. Es wird bald soweit sein, nicht wahr?« »Gewiß, mein Liebling«, antwortete er. Da wollte sie, daß er näher komme, um mit ihr zu plaudern. Ihre Mutter hatte sie mit dem Kopfkissen hochgestützt, sie saß da, war ganz klein; und ihre verbrannten Lippen lächelten, während in ihren klaren Augen schon der Tod vorüberglitt. 383
»Oh, es geht mir sehr gut«, begann sie wieder, »ich könnte aufstehen, wenn ich wollte ... Sag, bekomme ich ein weißes Kleid mit einem Strauß? – Wird die Kirche ebenso schön sein wie im Marienmonat?« »Schöner, mein Liebling.« »Wirklich? Werden ebenso viele Blumen dasein, wird man ebenso liebliche Sachen singen? – Bald, bald, du versprichst es mir?« Sie war voller Freude. Von Verzückung ergriffen, betrachtete sie die Bettvorhänge vor sich und sagte, sie habe den lieben Gott sehr gern und sie habe ihn gesehen, als man die Choräle sang. Sie hörte Orgelmusik, sie schaute Kerzen, die sich drehten, während die Blumen in den großen Vasen wie Schmetterlinge dahinsegelten. Doch ein heftiger Husten schüttelte sie, warf sie ins Bett zurück. Und sie lächelte weiter, sie schien nicht zu wissen, daß sie hustete, und sagte immer wieder: »Morgen werde ich aufstehen, ich werde meinen Katechismus ohne einen Fehler lernen, wir werden uns alle sehr freuen.« Hélène, die am Fuße des Bettes stand, schluchzte auf. Sie, die nicht weinen konnte, fühlte, wie ihr eine Tränenwoge in die Kehle stieg, als sie Jeannes Lachen hörte. Sie erstickte fast, sie flüchtete in das Eßzimmer, um ihre Verzweiflung zu verbergen. Der Abbé war ihr gefolgt. Herr Rambaud hatte sich rasch erhoben, um die Kleine zu beschäftigen. »Horch! Mama hat geweint, hat sie sich weh getan?« fragte Jeanne. »Deine Mama?« erwiderte er. »Aber die hat doch gar nicht geweint, im Gegenteil, sie hat gelacht, weil es dir gut geht.« Im Eßzimmer erstickte Hélène, deren Kopf auf den Tisch gesunken war, ihr Schluchzen in ihren gefalteten Händen. Der Abbé beugte sich nieder, bat sie flehent384
lich, sich zu fassen. Aber während sie ihr tränenüberströmtes Gesicht hob, klagte sie sich an und sagte ihm, sie habe ihre Tochter getötet; und eine richtige Beichte entrang sich in abgerissenen Worten ihren Lippen. Niemals hätte sie diesem Manne nachgegeben, wenn Jeanne bei ihr geblieben wäre. Sie hatte ihn in jenem unbekannten Zimmer treffen müssen. Mein Gott! Der Himmel hätte sie zusammen mit ihrem Kind zu sich nehmen sollen! Sie könne nicht mehr leben. Der erschrockene Priester beruhigte sie, indem er ihr Vergebung verhieß. Es klingelte, Stimmengeräusch kam aus dem Vorzimmer. Hélène trocknete die Augen, als Rosalie eintrat. »Madame, es ist Doktor Deberle ...« »Ich will nicht, daß er hereinkommt.« »Er fragt nach dem Befinden des kleinen Fräulein.« »Sagen Sie ihm, daß sie sterben wird.« Die Tür war offengeblieben, Henri hatte gehört. Da ging er, ohne auf das Hausmädchen zu warten, wieder hinunter. Jeden Tag kam er herauf, bekam die gleiche Antwort und ging wieder fort. Was Hélène völlig zerbrach, waren die Besuche. Die wenigen Damen, deren Bekanntschaft sie bei den Deberles gemacht hatte, glaubten ihr Trost bringen zu müssen. Frau de Chermette, Frau Levasseur, Frau de Guiraud und noch andere stellten sich ein; und sie baten nicht, eintreten zu dürfen, aber sie fragten Rosalie so laut, daß der Lärm ihrer Stimmen durch die dünnen Wände der kleinen Wohnung drang. Da empfing Hélène sie, von Ungeduld ergriffen, stehend im Eßzimmer mit knappen Worten. Sie blieb den ganzen Tag über im Morgenrock, vergaß, die Wäsche zu wechseln, und hatte ihr schönes Haar nur zusammengedreht und hochgesteckt. Die Augen 385
fielen ihr zu vor Müdigkeit in ihrem geröteten Gesicht, ihr bitterer und verschleimter Mund fand keine Worte mehr. Wenn Juliette heraufkam, konnte sie ihr das Schlafzimmer nicht verschließen, sie ließ sie einen Augenblick neben dem Bett Platz nehmen. »Meine Liebe«, sagte diese eines Tages freundschaftlich zu ihr, »Sie lassen sich zu sehr gehen. Haben Sie ein wenig Mut.« Und Hélène mußte antworten, wenn Juliette sie zu zerstreuen suchte, indem sie von den Ereignissen sprach, die Paris beschäftigten. »Sie wissen ja, daß es bestimmt Krieg geben wird ... Ich bin sehr ärgerlich, ich habe zwei Vettern, die einrücken müssen.« Sie kam so bei der Rückkehr von ihren Besorgungsgängen durch Paris herauf, angeregt durch einen ganzen verschwatzten Nachmittag, und brachte den Wirbel ihrer langen Röcke in dieses andachtserfüllte Krankenzimmer; und sie mochte noch so sehr die Stimme senken, ein noch so mitleidsvolles Gesicht machen, ihre hübsche Gleichgültigkeit drang dennoch durch, man sah, daß sie glücklich war und frohlockte, selber bei guter Gesundheit zu sein. Hélène, die niedergeschlagen vor ihr stand, litt unter einer eifersüchtigen Angst. »Madame«, murmelte Jeanne eines Abends, »warum kommt Lucien nicht spielen.« Juliette, die einen Augenblick verlegen war, begnügte sich mit einem Lächeln. »Ist er auch krank?« begann die Kleine wieder. »Nein, mein Liebling, er ist nicht krank ... Er ist im Gymnasium.« Und als Hélène sie ins Vorzimmer begleitete, wollte sie ihr ihre Lüge erklären. »Oh, ich würde ihn gern mitbringen, ich weiß, daß es nicht ansteckend ist ... 386
Aber die Kinder erschrecken sofort, und Lucien ist so dumm! Er wäre imstande zu weinen, wenn er Ihren armen Engel sieht ...« »Ja, ja, Sie haben recht«, unterbrach sie Hélène, der es das Herz zerriß, wenn sie an diese so heitere Frau dachte, die ihr gesundes Kind zu Hause hatte. Eine zweite Woche war vergangen. Die Krankheit nahm ihren Lauf, führte mit jeder Stunde etwas von Jeannes Leben hinweg. Sie beeilte sich keineswegs in ihrer verheerenden Schnelligkeit, brauchte, um dieses zerbrechliche und anbetungswürdige Geschöpf zu zerstören, alle vorgesehenen Phasen, ohne ihm eine einzige in Gnaden zu erlassen. Der blutige Auswurf war verschwunden; zuweilen ließ der Husten nach. Eine solche Beklemmung erstickte das Kind, daß man an der Beschwerlichkeit seines Atemholens die Verwüstungen verfolgen konnte, die das Übel in seiner kleinen Brust anrichtete. Das war zu roh für so viel Schwäche; die Augen des Abbés und des Herrn Rambaud wurden von Tränen feucht, wenn sie dieses Atemholen hörten. Tagelang, nächtelang hörte man den Atem hinter den Vorhängen, die arme Kreatur, die anscheinend ein bloßer Anstoß töten mußte, wurde mit dem Sterben nicht fertig bei dieser Anstrengung, die sie in Schweiß brachte. Die Mutter, die mit ihrer Kraft am Ende war und dieses Röcheln nicht mehr ertragen konnte, ging in das Nebenzimmer und lehnte den Kopf an eine Wand. Nach und nach löste sich Jeanne von der Welt. Sie sah die Leute nicht mehr, sie hatte einen versunkenen und traumverlorenen Gesichtsausdruck, als habe sie schon irgendwo ganz allein gelebt. Wenn diejenigen, die um sie waren, ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollten und sich bei Namen nannten, damit sie sie erkenne, sah sie sie 387
starr an, ohne ein Lächeln, drehte sich dann mit müdem Ausdruck wieder zur Wand. Ein Schatten hüllte sie ein, sie ging hinüber mit dem gereizten Schmollen aus ihren bösen, eifersüchtigen Tagen. Doch gewisse Krankenlaunen weckten sie noch manchmal. Eines Morgens fragte sie ihre Mutter: »Ist heute Sonntag?« »Nein, mein Kind«, antwortete Hélène. »Wir haben erst Freitag ... Warum willst du das wissen?« Sie schien sich schon nicht mehr an die Frage zu erinnern, die sie gestellt hatte. Doch als am übernächsten Tag Rosalie im Zimmer war, sagte sie leise zu ihr: »Heute ist Sonntag ... Zéphyrin ist da, bitte ihn, daß er kommt.« Das Hausmädchen zögerte; aber Hélène, die das gehört hatte, gab ihr ein Zeichen der Zustimmung. Das Kind sagte immer wieder: »Bring ihn her, kommt alle beide, ich werde mich freuen.« Als Rosalie mit Zéphyrin eintrat, richtete sie sich auf dem Kopfkissen auf. Der kleine Soldat mit bloßem Kopf und ausgebreiteten Händen wiegte sich hin und her, um seine starke Rührung zu verbergen. Er hatte das Fräulein gern, und es verdroß ihn ernstlich, mit anzusehen, wie sie zur großen Armee abberufen wurde, wie er in der Küche sagte. Deshalb war er trotz Rosalies Warnungen, die ihm ans Herz gelegt hatte, lustig zu sein, stumpfsinnig und machte ein verstörtes Gesicht, als er sie so blaß sah, zu einem Nichts zusammengefallen. Er war trotz seines forschen Gebarens gefühlvoll geblieben. Ihm fiel nicht eine dieser schönen Redensarten ein, die er jetzt zu drechseln verstand. Das Hausmädchen kniff ihn von
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hinten, um ihn zum Lachen zu bringen. Aber es gelang ihm nur, zu stammeln: »Ich bitte Sie um Verzeihung ... Mademoiselle und Sie alle miteinander ...« Jeanne stützte sich noch immer auf ihre abgemagerten Arme. Sie öffnete ihre großen leeren Augen, es sah aus, als suche sie etwas. Ein Zittern schüttelte ihren Kopf, zweifellos blendete sie die große Helligkeit in diesem Dunkel, in das sie bereits hinabstieg. »Treten Sie näher, mein Freund«, sagte Hélène zu dem Soldaten. »Das Fräulein hat darum gebeten, Sie zu sehen.« Die Sonne schien zum Fenster herein, eine breite gelbe Bahn, in der der Staub des Teppichs tanzte. Der März war gekommen, draußen begann der Frühling. Zéphyrin tat einen Schritt, erschien in der Sonne; sein kleines rundes, mit Sommersprossen bedecktes Gesicht hatte den goldenen Widerschein reifen Getreides, während die Knöpfe seines Waffenrockes funkelten und seine rote Hose wie ein Mohnblumenfeld blutete. Da erblickte ihn Jeanne. Doch ihre Augen wurden von neuem unruhig und unsicher und wanderten von einer Ecke zur anderen. »Was willst du, mein Kind?« fragte ihre Mutter. »Wir sind alle da.« Dann begriff sie. »Rosalie, kommen Sie näher ... Das Fräulein will Sie sehen.« Rosalie trat nun auch in die Sonne vor. Sie trug eine Haube, deren über die Schultern zurückgeworfene Bänder wie Schmetterlingsflügel aufflogen. Goldener Staub fiel auf ihr hartes schwarzes Haar und auf ihr gutmütiges Gesicht mit der plattgedrückten Nase und den dicken Lippen. Und nur noch sie beide waren in dem Zimmer,
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der kleine Soldat und die Köchin, Seite an Seite im Sonnenstrahl. Jeanne schaute sie an. »Nun, mein Liebling«, begann Hélène wieder, »sagst du ihnen nichts? – Da sind sie nun beide zusammen.« Jeanne schaute sie an und zitterte dabei mit dem Kopf, zitterte leicht wie eine Greisin. Sie standen da wie Mann und Frau, drauf und dran, einander unterzufassen, um in die Heimat zurückzukehren. Die laue Luft des Frühlings wärmte sie, und in dem Wunsche, das Fräulein aufzuheitern, lachten sie einander schließlich mit törichtem und zärtlichem Ausdruck ins Gesicht. Ein guter Geruch nach Gesundheit stieg von ihren rundlichen Rücken auf. Wenn sie allein gewesen wären, hätte Zéphyrin sicherlich Rosalie gepackt, und er hätte eine gehörige Ohrfeige von ihr bekommen. Das konnte man ihren Augen ansehen. »Nun, mein Liebling, hast du ihnen nichts zu sagen?« Jeanne schaute sie an und bekam noch weniger Luft. Sie sagte kein Wort. Jäh brach sie in Tränen aus. Zéphyrin und Rosalie mußten sofort das Zimmer verlassen. »Ich bitte Sie um Verzeihung ... Mademoiselle und Sie alle miteinander ...«, wiederholte der kleine Soldat bestürzt beim Hinausgehen. Es war dies eine der letzten Launen Jeannes. Sie verfiel in eine düstere Stimmung, aus der nichts sie mehr herausbrachte. Sie löste sich von allem, sogar von ihrer Mutter. Wenn diese sich über das Bett beugte, um ihren Blick zu suchen, bewahrte das Kind ein stummes Antlitz, als sei nur der Schatten der Vorhänge über ihre Augen geglitten. Sie hatte das Schweigen, die düstere Ergebenheit einer Verlassenen, die fühlt, daß sie sterben wird. Zuweilen verharrte sie lange mit halbgeschlossenen Li390
dern, ohne daß man aus ihrem schmalen Blick erraten konnte, welch hartnäckiger Gedanke sie beschäftigte. Es gab nichts mehr für sie als ihre große Puppe, die an ihrer Seite lag. Man hatte sie ihr eines Nachts gegeben, um sie von unerträglichen Qualen abzulenken; und sie weigerte sich, sie wieder herzugeben, sie verteidigte sie mit einer wilden Gebärde, sowie man sie ihr fortnehmen wollte. Die Puppe mit ihrem Pappkopf auf der Kopfrolle lag ausgestreckt da wie eine Kranke, bis zu den Schultern zugedeckt. Zweifellos pflegte die Kleine sie, denn von Zeit zu Zeit betastete sie mit ihren brennendheißen Händen die Glieder aus rosiger Haut, die ausgerissen waren und keine Kleie mehr in sich hatten. Stundenlang wandten sich ihre Augen nicht ab von den immer starren Emailleaugen, von den weißen Zähnen, die unaufhörlich lächelten. Dann überkamen sie zärtliche Regungen, das Bedürfnis, sie an ihre Brust zu drücken, ihre Wange an die kleine Perücke zu schmiegen, deren liebkosende Berührung ihr Erleichterung zu verschaffen schien. So flüchtete sie sich in die Liebe zu ihrer großen Puppe, vergewisserte sich, wenn sie aus ihrem Dämmerzustand erwachte, daß sie noch da war, sah nichts als sie, plauderte mit ihr, hatte zuweilen den Schatten eines Lachens auf dem Antlitz, als habe die Puppe ihr etwas ins Ohr geflüstert. Die dritte Woche ging zu Ende. Der alte Doktor richtete sich eines Morgens zum Bleiben ein. Hélène begriff, daß ihr Kind den Tag nicht überleben würde. Seit dem Abend war sie in einer Betäubung, so daß sie sich nicht mehr bewußt war, was sie tat. Man kämpfte nicht mehr gegen den Tod, man zählte die Stunden. Da die Kranke brennenden Durst litt, hatte der Arzt nur angeordnet, daß man ihr ein opiumhaltiges Getränk gebe, um ihr den 391
Todeskampf zu erleichtern; und dieser Verzicht auf jegliches Heilmittel machte Hélène ganz schwach. Solange Arzneien auf dem Nachttisch herumstanden, hoffte sie noch auf ein Wunder der Heilung. Jetzt waren die Fläschchen und Schachteln nicht mehr da, ihr letzter Glaube schwand dahin. Sie hatte nur noch das eine inbrünstige Verlangen, bei Jeanne zu sein, sie nicht zu verlassen, sie anzuschauen. Der Doktor, der sie dieser gräßlichen Betrachtung entheben wollte, bemühte sich, sie fernzuhalten, indem er ihr kleine Aufträge erteilte. Aber sie kam zurück, unwiderstehlich angezogen, mit dem physischen Bedürfnis zu sehen. Ganz aufrecht und mit hängenden Armen stand sie da, in einer Verzweiflung, von der ihr Gesicht aufgedunsen wurde, und sie wartete. Gegen ein Uhr kamen Abbé Jouve und Herr Rambaud. Der Arzt ging ihnen entgegen, sagte ihnen ein Wort. Beide erbleichten. Sie blieben ergriffen stehen, und ihre Hände zitterten. Hélène hatte sich nicht umgewandt. Es war ein herrlicher Tag, einer jener sonnigen Nachmittage gegen Anfang April; Jeanne bewegte sich in ihrem Bett. Der Durst, der sie verzehrte, ließ sie zuweilen mühsam ein wenig die Lippen bewegen. Sie hatte ihre armen durchsichtigen Hände unter der Bettdecke hervorgeholt und bewegte sie leise im Leeren. Die dumpfe Arbeit der Krankheit war vollendet, sie hustete nicht mehr, ihre erloschene Stimme glich einem Hauch. Seit einem Augenblick wandte sie den Kopf, sie suchte mit den Augen das Licht. Doktor Bodin öffnete das Fenster ganz weit. Da bewegte Jeanne sich nicht mehr, sie blieb mit der Wange auf dem Kopfkissen liegen, die Blicke auf Paris gerichtet, mit ihrem beklommenen Atem, der immer langsamer wurde. 392
Während dieser drei Leidenswochen hatte sie sich viele Male so der am Horizont ausgebreiteten Stadt zugewandt. Ihr Gesicht wurde ernst, sie sann nach. In dieser letzten Stunde lächelte Paris unter der blonden Aprilsonne. Von draußen kamen laue Lüfte, Kinderlachen, Spatzengezwitscher. Und die Sterbende setzte ihre letzten Kräfte darein, noch einmal zu sehen, den fliegenden Rauchwolken nachzuschauen, die von den fernen Vorstädten aufstiegen. Sie fand ihre drei Bekannten wieder, den Invalidendom, das Panthéon, den Turm SaintJacques; dann begann das Unbekannte, ihre müden Lider schlossen sich halb angesichts des unermeßlichen Dächermeeres. Vielleicht träumte sie, daß sie allmählich sehr leicht werde, daß sie wie ein Vogel davonfliege. Endlich also würde sie es wissen, sie würde sich auf die Kuppeln und auf Turmspitzen setzen, sie würde nach sieben oder acht Flügelschlägen die verbotenen Dinge sehen, die man vor den Kindern verheimlicht. Doch eine neue Unruhe bewegte sie, ihre Hände suchten noch immer; und sie beruhigte sich erst, als sie ihre große Puppe mit ihren Ärmchen an ihre Brust drückte. Sie wollte sie mit sich nehmen. Ihre Blicke verloren sich in der Ferne zwischen den Schornsteinen, die über und über rosig waren vor Sonnenschein. Es hatte soeben vier Uhr geschlagen, der Abend ließ schon seine blauen Schatten niedersinken. Das war das Ende, ein Ersticken, ein langsamer Todeskampf ohne Erschütterung. Der liebe Engel hatte nicht mehr die Kraft, sich zu wehren. Überwältigt fiel Herr Rambaud auf die Knie, von lautlosem Schluchzen geschüttelt, und schleppte sich hinter einen Vorhang, um seinen Schmerz zu verbergen. Der Abbé war mit gefalteten Händen am Kopfende niedergekniet und stammelte die Sterbegebete. 393
»Jeanne, Jeanne«, murmelte Hélène, zu Eis erstarrt in einem Grauen, das ihr eine große Kälte in die Haare wehte. Sie hatte den Doktor zurückgestoßen, sie warf sich zu Boden, lehnte sich an das Bett, um ihre Tochter ganz aus der Nähe zu sehen. Jeanne öffnete die Augen, doch sie sah ihre Mutter nicht an. Ihre Blicke gingen noch immer nach dort unten, über Paris hin, das sich verdunkelte. Sie drückte ihre Puppe, ihre letzte Liebe, fester an sich. Ein schwerer Seufzer entrang sich ihr, dann seufzte sie noch zweimal leichter auf. Ihre Augen erblaßten, ihr Gesicht drückte einen Augenblick lebhafte Angst aus. Doch bald schien sie erleichtert, sie atmete nicht mehr, hatte den Mund offen. »Es ist zu Ende«, sagte der Doktor und nahm ihre Hand. Jeanne schaute mit ihren großen leeren Augen auf Paris. Ihr Antilopengesicht war noch länger geworden, hatte strenge Züge und einen grauen Schatten, der sich von den gerunzelten Brauen herabgezogen hatte; und so hatte sie im Tode ihr bleiches Gesicht einer eifersüchtigen Frau. Die Puppe mit dem hintenübergefallenen Kopf und den herabhängenden Haaren schien tot zu sein wie sie. »Es ist zu Ende«, wiederholte der Doktor, der die kleine kalte Hand zurücksinken ließ. Mit verzerrtem Gesicht preßte Hélène ihre Stirn in ihre Fäuste, als fühle sie, wie sich ihr Schädel öffne. Sie weinte nicht, sie ließ ihre Blicke irr umherschweifen. Dann zerschellte ein Aufschluchzen in ihrer Kehle; sie hatte soeben am Fußende des Bettes ein kleines Paar Schuhe gesehen, das dort vergessen worden war. Es war zu Ende, 394
Jeanne würde sie niemals mehr anziehen, man konnte die Schuhchen den Armen geben. Und ihre Tränen flossen, sie blieb auf der Erde liegen und bewegte ihr Gesicht auf der herabgeglittenen Hand der Toten hin und her. Herr Rambaud schluchzte. Der Abbé betete lauter, während Rosalie in der halbgeöffneten Tür des Eßzimmers in ihr Taschentuch biß, um nicht laut zu weinen. Gerade in dieser Minute klingelte Doktor Deberle. Er konnte es nicht lassen, heraufzukommen, um sich nach dem Befinden zu erkundigen. »Wie geht es ihr?« fragte er. »Ach, Herr Doktor«, stammelte Rosalie. »Sie ist tot.« Er blieb unbeweglich stehen, erstaunt über diesen Ausgang, den er von Tag zu Tag erwartete. Dann murmelte er: »Mein Gott! Das arme Kind! Was für ein Unglück!« Und ihm fiel nichts weiter ein als diese dumme und herzzerreißende Bemerkung. Die Tür hatte sich wieder geschlossen, er ging hinunter.
Kapitel IV Als Frau Deberle von Jeannes Tod erfuhr, weinte sie, bekam eine jener plötzlichen Leidenschaftsanwandlungen, die sie achtundvierzig Stunden lang in helle Aufregung versetzten. Es war eine lärmende, jedes Maß übersteigende Verzweiflung. Sie ging nach oben, um sich Hélène in die Arme zu werfen. Dann bemächtigte sich ihrer auf ein Wort hin, das sie aufgefangen hatte, der Gedanke, der kleinen Toten ein ergreifendes Leichenbegängnis zu bereiten, und dieser Gedanke füllte sie bald 395
völlig aus. Sie erbot sich, sie übernahm die geringsten Einzelheiten. Die Mutter blieb, erschöpft vom Weinen, völlig vernichtet auf einem Stuhl sitzen. Herr Rambaud, der in ihrem Namen handelte, verlor den Kopf. Er willigte mit überströmender Dankbarkeit ein. Hélène erwachte einen Augenblick und sagte, sie wolle Blumen, viele Blumen. Da gab sich Frau Deberle, ohne eine Minute zu verlieren, unendliche Mühe. Sie benutzte den nächsten Tag dazu, zu allen Damen zu laufen, um ihnen die schreckliche Nachricht mitzuteilen. Ihr Traum war es, einen Trauerzug kleiner Mädchen in weißen Kleidern zusammenzukriegen. Sie brauchte mindestens dreißig, und sie kehrte nicht eher heim, als bis ihre Rechnung aufging. Sie war selber zum Bestattungsinstitut gegangen, hatte die einzelnen Preisklassen erörtert und die Trauerbehänge ausgewählt. Man würde das Gittertor des Gartens bespannen und die Leiche mitten unter den Fliederbüschen aufbahren, die schon mit feinen grünen Spitzen bedeckt waren. Das würde bezaubernd sein. »Mein Gott! Wenn es morgen nur schön ist!« entschlüpfte es ihr am Abend, nachdem sie ihre Besorgungen erledigt hatte. Der Morgen war strahlend, blauer Himmel, goldene Sonne, mit diesem reinen und lebendigen Hauch des Frühlings. Das Trauergeleit war für zehn Uhr festgesetzt. Um neun Uhr wurden die Behänge angebracht. Juliette gab den Arbeitern Ratschläge. Sie wollte, daß man die Bäume nicht völlig verdecke. Die weißen Vorhänge mit Silberfransen bildeten eine Vorhalle zwischen den beiden Flügeln des Gittertors, die man in die Fliederbüsche zurückgeschlagen hatte. Doch sie kehrte rasch in den Salon zurück, um die Damen zu empfangen. Man versammelte 396
sich bei ihr, um nicht die beiden Zimmer von Frau Grandjean zu überfüllen. Nur war sie recht verdrossen, ihr Gatte hatte am Morgen nach Versailles reisen müssen: eine Konsultation, die man nicht aufschieben könne, sagte er. Sie blieb allein, niemals würde sie damit zurechtkommen. Frau Berthier traf mit ihren beiden Töchtern als erste ein. »Denken Sie sich«, rief Frau Deberle, »Henri läßt mich im Stich! – Nun, Lucien, willst du nicht guten Tag sagen?« Lucien war da, fix und fertig angezogen für die Beerdigung, mit schwarzen Handschuhen. Er schien erstaunt beim Anblick von Sophie und Blanche, die gekleidet waren, als gingen sie zu einer Prozession. Ein Seidenband hielt ihr Musselinkleid zusammen, ihr Schleier, der bis zum Boden herabfiel, verbarg ihr Häubchen aus Seidentüll. Während die beiden Mütter plauderten, sahen die drei Kinder einander an, die sich etwas steif fühlten in ihrer Aufmachung. Dann sagte Lucien: »Jeanne ist tot.« Ihm war das Herz schwer, aber er lächelte dennoch mit einem erstaunten Lächeln. Seit gestern ließ ihn der Gedanke, daß Jeanne tot war, artig sein. Da seine Mutter, die zu sehr beschäftigt war, ihm nicht antwortete, hatte er die Dienstboten gefragt. Man bewegte sich also nicht mehr, wenn man tot war? »Sie ist tot, sie ist tot«, wiederholten die beiden Schwestern, die ganz rosig waren in ihren weißen Schleiern. »Ob wir sie sehen werden?« Einen Augenblick überlegte er, und mit gedankenverlorenem Blick und offenem Mund, als suche er zu erra-
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ten, was es dort unten gäbe, jenseits von dem, was er wußte, sagte er leise: »Wir werden sie nicht mehr sehen.« Inzwischen kamen andere kleine Mädchen herein. Auf einen Wink seiner Mutter ging Lucien ihnen entgegen. Marguerite Tissot wirkte in ihrer Musselinwolke mit ihren großen Augen wie eine kindliche Madonna; ihre blonden Haare stahlen sich unter dem Häubchen hervor, legten gleichsam einen golddurchwirkten Umhang unter das Weiß des Schleiers. Ein verstohlenes Lächeln ging durch den Raum bei der Ankunft der fünf Fräulein Levasseur; sie waren alle gleich gekleidet, man hätte meinen können, ein Pensionat komme daher, die Älteste voran, die Jüngste am Schluß; und ihre Röcke bauschten sich so, daß sie eine ganze Ecke des Zimmers einnahmen. Aber als die kleine Guiraud erschien, wurden die flüsternden Stimmen lauter; man lachte, man reichte sie einander weiter, um sie anzusehen und zu küssen. Sie sah aus wie eine weiße Turteltaube mit zerzausten Federn, nicht größer als ein Vöglein inmitten des Bebens der Gazeschleier, die sie ungeheuer groß und kugelrund machten. Selbst ihre Mutter fand ihre Hände nicht mehr. Der Salon füllte sich allmählich mit einem Schneefall. Einige Knaben im Überrock bildeten schwarze Flecken in dieser Reinheit. Da Luciens kleine Frau tot war, suchte er eine andere. Er schwankte sehr, er hätte am liebsten eine Frau gehabt, die größer war als er, so wie Jeanne. Er schien sich jedoch für Marguerite zu entscheiden, deren Haar ihn in Erstaunen setzte. Er wich ihr nicht mehr von der Seite. »Die Leiche ist noch nicht heruntergebracht worden«, sagte Pauline zu Juliette.
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Pauline war in Bewegung, als handele es sich um die Vorbereitungen zu einem Ball. Ihre Schwester hatte mit viel Mühe durchgesetzt, daß sie nicht in Weiß erschien. »Wie!« rief Juliette. »Was denken die sich bloß? – Ich werde mal hochgehen. Bleibe bei den Damen.« Sie verließ rasch den Salon, in dem die Mütter in dunkler Toilette mit halber Stimme plauderten, während sich die Kinder nicht zu rühren wagten aus Angst, ihre Kleider zu zerknittern. Als sie oben das Totenzimmer betrat, ergriff sie große Kälte. Jeanne lag noch im Bett mit gefalteten Händen; und wie Marguerite, wie die Fräulein Levasseur hatte sie ein weißes Kleid, ein weißes Häubchen, weiße Schuhe. Ein Kranz aus weißen Rosen, der auf dem Häubchen lag, machte sie zur Königin ihrer kleinen Freundinnen, die von allen unten wartenden Leuten gefeiert wurde. Vor dem Fenster stand auf zwei Stühlen der mit Atlas ausgeschlagene Eichensarg, offen wie ein Schmuckkästchen. Die Möbel waren zurechtgerückt, eine Kerze brannte; in dem abgeschlossenen, verdunkelten Zimmer herrschte der feuchte Geruch und der Frieden einer seit langer Zeit zugemauerten Gruft. Und Juliette, die aus der Sonne kam, aus dem lächelnden Leben von draußen, verharrte stumm, war plötzlich stehengeblieben und wagte nicht mehr, zu sagen, daß man sich beeilen solle. »Es sind schon viele Leute da«, murmelte sie schließlich. Da sie keine Antwort bekam, fügte sie dann, um noch etwas zu sagen, hinzu: »Henri hat zu einer Konsultation nach Versailles fahren müssen, Sie werden ihn entschuldigen.« Hélène, die vor dem Bett saß, schaute mit leeren Augen zu ihr hoch. Man konnte sie nicht von diesem Zimmer losreißen. Seit sechsunddreißig Stunden saß sie da 399
trotz der flehentlichen Bitten Herrn Rambauds und Abbé Jouves, die mit ihr Totenwache hielten. Die beiden Nächte vor allem hatten sie völlig zerbrochen in einem endlosen Kampf mit dem Tode. Dann war der gräßliche Schmerz des letzten Ankleidens gekommen, die weißen Seidenschuhchen, die sie der kleinen Toten unbedingt selber anziehen wollte. Sie rührte sich nicht mehr, war am Ende mit ihrer Kraft, gleichsam eingeschläfert durch das Übermaß an Kummer. »Haben Sie Blumen?« stammelte sie mühsam, die Augen noch immer auf Frau Deberle gerichtet. »Ja, ja, meine Liebe«, antwortete Juliette. »Quälen Sie sich nicht.« Seit ihre Tochter den letzten Seufzer getan, hatte sie nur noch diesen einen Gedanken: Blumen, Berge von Blumen. Jedesmal, wenn sie jemand sah, wurde sie unruhig, schien sie zu fürchten, daß man niemals genug Blumen auftreiben könne. »Haben Sie Rosen?« begann sie wieder nach einem Schweigen. »Ja ... Ich versichere Ihnen, Sie werden zufrieden sein.« Sie nickte und verfiel wieder in ihre Reglosigkeit. Jedoch die Angestellten des Bestattungsinstituts warteten auf dem Flur. Man mußte ein Ende machen. Herr Rambaud, der selber schwankte wie ein Betrunkener, machte Juliette ein flehendes Zeichen, sie möge ihm helfen, die arme Frau fortzubringen. Beide faßten sie sanft unter die Arme: sie hoben sie auf und führten sie zum Eßzimmer. Doch als Hélène begriff, stieß sie sie in einem Anfall höchster Verzweiflung zurück. Es war eine herzzerreißende Szene. Sie hatte sich vor dem Bett auf die Knie geworfen, sich an die Bettücher geklammert und erfüllte das Zimmer mit dem Toben ihres Aufbegehrens, 400
während Jeanne, die in ewigem Schweigen ausgestreckt, starr und kalt dalag, ein steinernes Antlitz bewahrte. Das Gesicht hatte sich etwas umwölkt, sie machte das Schmollmündchen eines rachsüchtigen Kindes, und diese düstere und gnadenlose Maske einer eifersüchtigen Tochter brachte Hélène schier um den Verstand. Sie hatte seit sechsunddreißig Stunden wohl gesehen, wie sie in ihrem Groll erstarrte, wie sie immer menschenscheuer wurde, je mehr sie sich der Erde näherte. Welch eine Erleichterung, wenn Jeanne ihr ein letztes Mal hätte zulächeln können! »Nein, nein!« schrie sie. »Ich flehe Sie an, lassen Sie sie mir einen Augenblick ... Sie können sie mir nicht nehmen. Ich will sie küssen ... Oh, einen Augenblick, einen einzigen Augenblick ...« Und mit ihren zitternden Armen hielt sie sie fest, sie machte sie diesen Männern streitig, die sich mit gelangweilter Miene im Vorzimmer verbargen und ihr den Rücken zukehrten. Aber ihre Lippen erwärmten das kalte Antlitz nicht, sie fühlte, wie Jeanne eigensinnig blieb und sich sträubte. Da überließ sie sich den Händen, die sie fortzogen, sie sank im Eßzimmer auf einen Stuhl mit der zwanzigmal wiederholten dumpfen Klage: »Mein Gott ... mein Gott ...« Die Aufregung hatte Herrn Rambaud und Frau Deberle völlig erschöpft. Als Juliette nach einem kurzen Schweigen die Tür einen Spalt öffnete, war es zu Ende. Es hatte kein Geräusch gegeben, kaum ein leichtes Rascheln. Die vorher geölten Schrauben schlossen den Sargdeckel für immer. Und das Zimmer war leer, ein weißes Tuch verhüllte den Sarg. Jetzt blieb die Tür offen, man ließ Hélène frei. Als sie ins Schlafzimmer zurückkehrte, blickte sie fassungslos auf die Möbel rings au den Wänden. Man hatte die Leiche soeben fortgetragen. Rosalie hatte die Bettdecke 401
zurechtgezogen, um auch noch das leichte Gewicht derer zu verwischen, die davongegangen war. Und die Arme mit einer irren Gebärde ausbreitend, stürzte Hélène mit ausgestreckten Händen zur Treppe. Sie wollte hinuntereilen. Herr Rambaud hielt sie zurück, während Frau Deberle ihr erklärte, daß man das nicht tue. Aber sie schwor, sie werde vernünftig sein und dem Leichenzug nicht folgen. Man könne ihr wohl erlauben, ihn zu sehen; sie werde sich im Gartenhäuschen ruhig verhalten. Beide weinten, während sie ihr zuhörten. Man mußte sie ankleiden. Juliette verbarg Hélènes Hauskleid unter einem schwarzen Umschlagetuch. Allein sie fand keinen Hut; schließlich entdeckte sie einen, von dem sie einen Strauß roter Verbenen abriß. Herr Rambaud, der den Trauerzug anführen sollte, nahm Hélène am Arm. Als man im Garten war, flüsterte Frau Deberle: »Verlassen Sie sie nicht. Ich, ich habe eine Menge zu tun ...« Und sie eilte davon. Hélène ging mühsam und blickte suchend vor sich hin. Als sie ins helle Tageslicht hinaustrat, seufzte sie auf. Mein Gott! Welch schöner Morgen! Doch ihre Augen hatten sich geradewegs dem Gittertor zugewandt, sie hatte soeben den kleinen Sarg unter den weißen Tüchern erblickt. Herr Rambaud ließ sie nur auf zwei oder drei Schritte herangehen. »Nun, seien Sie tapfer«, sagte er und zitterte selber über und über. Beide schauten sie hin. Der schmale Sarg war von einem Sonnenstrahl umflossen. Zu seinen Füßen lag auf 402
einem Spitzenkissen ein silbernes Kruzifix. Links war ein Weihwedel in einen Weihwasserkessel getaucht. Die großen Kerzen brannten ohne eine Flamme und fleckten nur die Sonne mit kleinen tanzenden Seelen, die davonflogen. Hinter den Tüchern bildeten die Zweige der Bäume mit ihren blaßvioletten Knospen eine Laube. Ein Stückchen Frühling war das, in den durch einen Spalt in den Vorhängen der Goldstaub des breiten Sonnenstrahles herniederfiel, der die abgeschnittenen Blumen, mit denen der Sarg bedeckt war, zum Erblühen brachte. Da war eine Blumenlawine, Unmengen weißer Rosensträuße, weiße Kamelien, weißer Flieder, weiße Nelken, ein ganzer Schneehaufen aus weißen Blütenblättern; der Leichnam verschwand darunter, weiße Dolden glitten von dem Bahrtuch herab, weiße Immortellen und weiße Hyazinthen waren auf die Erde gefallen und entblätterten sich. Die wenigen Leute, die durch die Rue Vineuse kamen, blieben mit einem gerührten Lächeln vor diesem sonnigen Garten stehen, darin diese kleine Tote unter den Blumen schlief. All dieses Weiß sang, eine strahlende Reinheit flammte im Licht, die Sonne erwärmte die Behänge, die Sträuße und Kränze mit einem Lebensschauer. Über den Rosen summte eine Biene. »Die Blumen ... die Blumen«, murmelte Hélène, die keine anderen Worte fand. Sie drückte ihr Taschentuch an ihre Lippen, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Es schien ihr, daß Jeanne es warm habe, und dieser Gedanke zerbrach sie noch mehr in einer Rührung, in der Dankbarkeit lag gegenüber denen, die das Kind mit all diesen Blumen zugedeckt hatten. Sie wollte weitergehen, Herr Rambaud dachte nicht mehr daran, sie zurückzuhalten. Wie schön es unter den Behängen war! Ein Duft stieg auf, kein Hauch bewegte die laue Luft. Da bückte sie sich 403
und wählte nur eine Rose. Eine Rose wollte sie holen, um sie in ihr Mieder zu stecken. Aber ein Zittern befiel sie. Herr Rambaud erschrak. »Bleiben Sie nicht hier«, sagte er und zog sie fort. »Sie haben versprochen, daß Sie sich nicht krank machen wollen.« Er bemühte sich, sie in das Gartenhäuschen zu führen, als die Tür des Salons sich ganz weit öffnete. Pauline erschien als erste. Sie hatte es übernommen, den Zug zu ordnen. Eines nach dem anderen kamen die kleinen Mädchen herab. Es war, als sei das ein frühzeitiges Blühen, wunderbarerweise erblühter Weißdorn. Die weißen Kleider bauschten sich in der Sonne, nahmen einen durchsichtigen Schimmer an, auf dem alle zarten Schattierungen von Weiß wie auf Schwanenflügeln vorüberzogen. Ein Apfelbaum ließ seine Blütenblätter herabfallen, Sommerfäden schwebten in der Luft, die Kleider waren die Unschuld des Frühlings selbst. Sie nahmen kein Ende, sie umringten schon den Rasenplatz, und es kamen noch immer welche die Freitreppe herab, leicht, schwebend wie Flaumfedern, auf einmal im Freien erblüht. Als der Garten ganz weiß war, kam Hélène angesichts dieser losgelassenen Schar kleiner Mädchen eine Erinnerung. Sie dachte an den Ball im vorigen Frühjahr mit der tanzenden Freude der kleinen Füße. Und sie sah Marguerite wieder als Milchmädchen mit ihrem am Gürtel aufgehängten Milchtöpfchen, Sophie als Kammerkätzchen, die sich am Arm ihrer Schwester Blanche drehte, an deren Kostüm als Torheit ein Glockenspiel läutete. Dann kamen die fünf Fräulein Levasseur als Rotkäppchen mit ihren Häubchen aus hochrotem Atlas mit schwarzen Samtbändern, während die kleine Guiraud mit der Schmetterlingshaube einer Elsässerin im Haar wie eine 404
Wilde vor einem Harlekin umhersprang, der zweimal so groß war wie sie. Heute waren alle weiß. Auch Jeanne war weiß auf dem Kissen aus weißem Atlas, in den Blumen. Die zierliche Japanerin mit dem von langen Nadeln durchbohrten Haarknoten, mit ihrem mit Vögeln bestickten Purpurgewand ging im weißen Kleide davon. »Wie groß sie geworden sind!« murmelte Hélène, die in Tränen ausbrach. Alle waren da, ihre Tochter allein fehlte. Herr Rambaud ließ sie in das Gartenhäuschen treten; doch sie blieb auf der Schwelle stehen, sie wollte sehen, wie der Zug sich in Bewegung setzte. Einige Damen kamen und grüßten sie taktvoll. Die Kinder schauten sie an mit ihren erstaunten blauen Augen. Währenddessen ging Pauline hin und her und gab Anweisungen. Sie dämpfte ihre Stimme wegen des traurigen Umstandes, doch zuweilen vergaß sie sich. »Vorwärts, seid artig ... Sieh doch, kleines Dummchen, du bist schon schmutzig .... Ich komme euch holen, rührt euch nicht.« Der Leichenwagen kam, man konnte aufbrechen. Frau Deberle erschien und rief: »Man hat die Sträuße vergessen! – Pauline, schnell die Sträuße.« Jetzt entstand ein wenig Verwirrung. Man hatte einen Strauß weißer Rosen für jedes kleine Mädchen bereitgelegt. Diese Rosen mußten verteilt werden; entzückt hielten die Kinder die großen Büschel vor sich hin wie Kerzen. Lucien, der Marguerite nicht mehr von der Seite wich, atmete mit Wonne den Duft ein, während sie ihm ihre Blumen ins Gesicht stubste. All diese kleinen Dinger mit ihren blumengeschmückten Händen lachten im Son405
nenschein, wurden dann plötzlich ernst, als sie mit den Augen dem Sarg folgten, den Männer auf den Leichenwagen hoben. »Ist sie da drin?« fragte Sophie sehr leise. Ihre Schwester Blanche nickte. Dann sagte sie: »Für die Männer ist so was so groß.« Sie sprach vom Sarg, sie breitete ihre Arme aus, soweit sie konnte. Doch die kleine Marguerite mußte lachen, sie hatte die Nase in den Rosen und erzählte, daß sie das kitzele. Da steckten auch die anderen ihre Nasen in die Sträuße, um mal zu probieren. Man rief sie, sie wurden wieder artig. Draußen zog der Leichenzug vorbei. An der Ecke der Rue Vineuse weinte eine Frau mit bloßem Kopf und Latschen an den Füßen und trocknete sich die Wangen mit ihrem Schürzenzipfel ab. Einige Personen hatten sich an die Fenster gestellt, mitleidsvolle Ausrufe stiegen auf im Schweigen der Straße. Der Leichenwagen rollte geräuschlos dahin, mit weißen Tüchern mit Silberfransen ausgeschlagen; man hörte nur gedämpft die taktmäßigen Tritte der beiden Schimmel auf der gestampften Erde des Fahrdammes. Es war gleichsam ein Berg von Blumen, von Sträußen und Kränzen, die der Wagen davontrug; man sah den Sarg nicht, leichte Stöße schüttelten die aufgetürmten Blumengarben, der Wagen streute Fliederzweige hinter sich aus. An den vier Ecken flatterten lange weiße Moirébänder, die vier kleine Mädchen festhielten, Sophie und Marguerite, ein Fräulein Levasseur und die kleine Guiraud, die so allerliebst war und so häufig stolperte, daß ihre Mutter neben ihr ging. Die anderen umgaben in dichtgedrängter Schar den Leichenwagen mit ihren Rosensträußen in der Hand. Sie schritten sacht dahin, ihre Schleier flogen auf, die Räder 406
drehten sich inmitten dieses Musselins, gleichsam auf einer Wolke getragen, in der zarte Engelsköpfe lächelten. Dann folgten hinter Herrn Rambaud, der mit bleichem und gesenktem Gesicht dahinschritt, Damen, ein paar kleine Jungen, Rosalie, Zéphyrin, die Dienstboten der Deberles. Fünf Trauerkutschen fuhren leer hinterdrein. In der sonnenerfüllten Straße flogen weiße Tauben auf, wo dieser Frühlingswagen vorüberkam. »Mein Gott! Wie ärgerlich!« sagte Frau Deberle wiederholt, als sie sah, wie sich der Leichenzug in Bewegung setzte. »Wenn Henri diese Konsultation doch verschoben hätte! Ich habe es ihm ja gesagt.« Sie wußte nicht, was sie mit Hélène anfangen sollte, die im Gartenhäuschen auf einen Stuhl gesunken war. Henri wäre bei ihr geblieben. Er hätte sie ein wenig getröstet. Es war sehr unangenehm, daß er nicht da war. Glücklicherweise bot Fräulein Aurélie gern ihre Dienste an; sie liebte traurige Dinge nicht, sie würde sich gleichzeitig um den Imbiß kümmern, den die Kinder bei ihrer Rückkehr vorfinden sollten. Frau Deberle beeilte sich, den Leichenzug einzuholen, der sich durch die Rue de Passy auf die Kirche zubewegte. Jetzt war der Garten leer, Arbeiter legten die Trauerbehänge zusammen. Auf dem Sand lagen an der Stelle, an der Jeanne vorübergekommen war, nur noch die abgefallenen Blütenblätter einer Kamelie. Und Hélène, die plötzlich dieser Einsamkeit und dieser großen Stille überlassen war, spürte von neuem die Angst, das herzzerreißende Scheiden bei der ewigen Trennung. Ein einziges Mal noch bei ihr sein, ein einziges Mal! Die fixe Idee, daß Jeanne böse, mit ihrem stummen und vor Groll finsteren Gesicht fortgegangen war, durchdrang sie mit dem 407
gleichen heftigen Schmerz, wie wenn ein rotglühendes Eisen sie brannte. Da sie wohl sah, daß Fräulein Aurélie sie bewachte, sann sie jetzt voller List darauf, ihr zu entschlüpfen und zum Friedhof zu eilen. »Ja, das ist ein großer Verlust«, sagte die alte Jungfer immer wieder, die es sich in einem Sessel bequem gemacht hatte. »Ich, ich hätte Kinder abgöttisch geliebt, vor allem kleine Mädchen. Ach ja, wenn ich darüber nachdenke, bin ich froh, nicht geheiratet zu haben. Das erspart einem manchen Kummer ...« Sie glaubte Hélène zu zerstreuen. Sie sprach von einer ihrer Freundinnen, die sechs Kinder gehabt hatte; alle waren gestorben. Eine andere Dame blieb allein mit einem großen Sohn, der sie schlug; er hätte ruhig sterben können, seine Mutter hätte sieh unschwer getröstet. Hélène schien ihr zuzuhören. Sie rührte sich nicht mehr, wurde einzig von einem ungeduldigen Zittern geschüttelt. »Sie sind jetzt ruhiger«, sagte endlich Fräulein Aurélie. »Mein Gott! Man muß sich schließlich immer ins Unvermeidliche fügen.« Die Tür des Eßzimmers führte in das japanische Gartenhäuschen. Fräulein Aurélie hatte sich erhoben, sie stieß diese Tür auf und machte einen langen Hals. Teller mit Kuchen bedeckten die Tafel. Rasch entfloh Hélène durch den Garten. Das Gittertor stand offen, die Arbeiter vom Bestattungsinstitut trugen ihre Leiter fort. Links biegt die Rue Vineuse in die Rue des Reservoirs ein. Dort befindet sich der Friedhof von Passy. Eine riesige Stützmauer erhebt sich von der Avenue de la Muette, der Friedhof ist gleichsam eine ungeheure Terrasse, die die Höhen, das Trocadéro, die Alleen, ganz Paris 408
beherrscht. Mit zwanzig Schritten war Hélène vor dem sperrangelweit geöffneten Tor, hinter dem sich das öde Feld der weißen Grabsteine und der schwarzen Kreuze ausbreitete. Sie ging hinein. An den Ecken der ersten Allee standen zwei große Fliederbüsche in Knospen. Selten wurde hier jemand beerdigt, Unkraut wuchs, einige Zypressen durchschnitten das Grün mit ihren düsteren Balken. Hélène ging geradeaus tief hinein; ein Schwarm Spatzen wurde aufgescheucht, ein Totengräber hob den Kopf, nachdem er seine Schaufel Erde mit vollem Schwung emporgeschleudert hatte. Der Leichenzug war sicher noch nicht angekommen, der Friedhof schien leer. Sie kürzte rechts den Weg ab, drang bis zur Brüstung der Terrasse vor; und als sie umherblickte, gewahrte sie hinter einer Akaziengruppe die weißgekleideten Mädchen, die vor der Gruft knieten, in die man soeben Jeannes Leichnam hinabgelassen hatte. Abbé Jouve erteilte mit ausgestreckter Hand einen letzten Segen. Sie hörte nur noch das dumpfe Geräusch der steinernen Gruftplatte, die wieder zurücksank. Es war zu Ende. Inzwischen hatte Pauline sie erblickt und machte Frau Deberle auf sie aufmerksam. Diese wurde fast böse und murmelte: »Wie? Sie ist doch gekommen! Aber das tut man doch nicht, das ist sehr geschmacklos!« Sie trat zu ihr, gab ihr durch ihren Gesichtsausdruck zu verstehen, daß sie ihr Verhalten mißbillige. Neugierig kamen andere Damen nun auch näher. Herr Rambaud war zu ihr getreten und stand aufrecht und schweigend neben ihr. Sie hatte sich an eine der Akazien gelehnt, da sie sich schwach werden fühlte, völlig erschöpft durch all diese Leute. Während sie mit Kopfnicken auf die Beileidsbezeigungen antwortete, erstickte sie ein einziger 409
Gedanke: sie war zu spät gekommen, sie hatte das Geräusch der Steinplatte gehört, die wieder zurücksank. Und ihre Augen kehrten immer wieder zu der Gruft zurück, deren Stufe ein Friedhofswärter abfegte. »Pauline, gib auf die Kinder acht«, sagte Frau Deberle immer wieder. Die kleinen knienden Mädchen erhoben sich wie ein Schwarm weißer Sperlinge. Ein paar, die zu klein waren und deren Knie sich in ihren Röcken verfangen hatten, hatten sich auf die Erde gesetzt; man mußte sie aufheben. Während Jeanne hinuntergelassen wurde, hatten die größeren Mädchen den Kopf vorgestreckt, um auf den Grund des Loches zu sehen. Es war stockfinster, ein Frösteln ließ sie erblassen. Sophie versicherte ganz leise, daß man Jahre und Jahre darin bleibe. »Nachts auch?« fragte ein Fräulein Levasseur. Sicher, nachts auch, immer. Oh, nachts! Blanche wäre dort gestorben. Alle sahen einander mit sehr großen Augen an, als hätten sie eine Räubergeschichte gehört. Doch als sie wieder frei um die Gruft herumstanden, gewannen sie ihre rosige Farbe zurück; das stimme ja gar nicht, man erzähle solche Geschichten bloß zum Spaß. Es war zu schön, dieser Garten war hübsch mit seinem hohen Gras; wie schön hätte man hinter all diesen Steinen Verstecken spielen können! Die kleinen Füße tanzten schon, die weißen Kleider flatterten gleich Flügeln. In der Stille der Gräber ließ der laue und langsame Regen der Sonne diese Kinder aufblühen. Lucien hatte schließlich seine Hand unter Marguerites Schleier gesteckt; er berührte ihre Haare, er wollte wissen, ob sie nichts darauf tue, damit sie so gelb würden. Die Kleine tat sich wichtig. Dann sagte er ihr, sie würden einander heiraten. Marguerite wollte wohl, doch sie hatte
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Angst, er werde sie an den Haaren ziehen. Er berührte sie noch einmal, er fand sie weich wie Briefpapier. »Geht nicht so weit«, rief Pauline. »Nun also, gehen wir«, sagte Frau Deberle. »Wir haben hier nichts mehr zu tun, die Kinder müssen Hunger haben ...« Man mußte die kleinen Mädchen wieder zusammenholen, die wie ein Pensionat in der Freistunde auseinandergestoben waren. Man zählte sie, die kleine Guiraud fehlte; endlich erblickte man sie sehr weit weg in einer Allee, wo sie mit dem Sonnenschirm ihrer Mutter würdevoll umherspazierte. Jetzt gingen die Damen auf das Tor zu und trieben dabei die Woge weißer Kleidchen vor sich her. Frau Berthier beglückwünschte Pauline zu ihrer Heirat, die im kommenden Monat stattfinden sollte. Frau Deberle sagte, sie reise in drei Tagen mit ihrem Mann und Lucien nach Neapel ab. Die Leute verliefen sich, Zéphyrin und Rosalie blieben als letzte. Dann entfernten auch sie sich. Sie faßten einander unter, waren trotz ihres großen Kummers über diesen Spaziergang entzückt; sie verlangsamten den Schritt, und ihr Rücken, der Rücken verliebter Leute, tanzte noch einen Augenblick im Licht am Ende der breiten Allee. »Kommen Sie«, murmelte Herr Rambaud. Aber Hélène bat ihn mit einer Gebärde, etwas zu warten. Sie blieb allein, ihr war, als sei ein Blatt aus dem Buch ihres Lebens ausgerissen worden. Als sie die letzten Leute hatte verschwinden sehen, kniete sie mühsam vor der Gruft nieder. Abbé Jouve in seinem Chorhemd hatte sich noch nicht wieder erhoben. Beide beteten lange. Dann half ihr der Priester, ohne zu sprechen, mit seinem schönen Blick voller Barmherzigkeit und Vergebung, sich aufzurichten. 411
»Reich ihr deinen Arm«, sagte er lediglich zu Herrn Rambaud. Am Horizont erblondete Paris unter dem strahlenden Frühlingsmorgen. Auf dem Friedhof sang ein Fink. Kapitel V Zwei Jahre waren verflossen. An einem Dezembermorgen schlief der kleine Friedhof in großer Kälte. Es schneite seit gestern, feiner Schnee, den der Nordwind jagte. Vom verblassenden Himmel fielen die immer seltener werdenden Flocken mit der schwebenden Schwerelosigkeit von Federn. Der Schnee wurde bereits hart, ein hoher Schwanenpelz säumte die Brüstung der Terrasse. Jenseits dieser weißen Linie dehnte sich Paris in der nebelhaften Blässe des Horizontes. Frau Rambaud betete noch und kniete dabei vor Jeannes Grab im Schnee. Ihr Gatte hatte sich soeben schweigend wieder erhoben. Sie hatten im November in Marseille geheiratet. Herr Rambaud hatte sein Haus bei den Markthallen verkauft, er weilte seit drei Tagen in Paris, um diese Angelegenheit zu Ende zu führen; und der Wagen, der in der Rue des Reservoirs auf sie wartete, sollte am Hotel vorbeifahren, um ihre Koffer abzuholen und sie dann zur Bahn zu bringen. Hélène hatte die Reise in dem einzigen Gedanken gemacht, hier niederzuknien. Sie verharrte unbeweglich mit gesenktem Kopf, gleichsam weltverloren, und fühlte die kalte Erde nicht, die ihr die Knie zu Eis erstarren ließ. Inzwischen ließ der Wind nach. Herr Rambaud war auf die Terrasse vorgegangen, um sie dem stummen Schmerz ihrer Erinnerungen zu überlassen. Nebel stieg auf aus den Fernen von Paris, dessen Unermeßlichkeit in der fahlen Verschwommenheit dieses Gewölks versank. Zu Füßen 412
des Trocadéro wirkte die bleifarbene Stadt tot unter dem langsamen Fall der letzten Schneeflocken. In der reglos gewordenen Luft waren es blasse Tupfen auf dem dunklen Grund, die mit einem kaum wahrnehmbaren und ununterbrochenen Wiegen niedersanken. Jenseits der Schornsteine der Militärbäckerei, deren Backsteintürme den Farbton alten Kupfers annahmen, verdichtete sich das endlos herabgleitende Weiß, man hätte es für schwebende Gazeschleier halten können, die Faden um Faden auseinandertrieselten. Nicht ein Seufzer stieg von diesem Traumregen auf, der, in der Luft verzaubert, schläfrig und gleichsam eingewiegt niederging. Die Flocken schienen ihren Flug zu verlangsamen, wenn sie sich den Dächern näherten; sie legten sich aufeinander, unaufhörlich, zu Millionen, in einer solchen Stille, daß Blüten, die sich entblättern, mehr Geräusch machen; und ein Vergessen der Erde und des Lebens, ein erhabener Friede ging von dieser in Bewegung befindlichen Menge aus, deren Gang durch die Weite man nicht hörte. Der Himmel hellte sich auf einmal überall immer mehr auf in einem milchigen Farbton, den Rauchschwaden noch trübten. Allmählich hoben sich die glänzenden Häuserblocks ab, in der Vogelperspektive kam die Stadt zum Vorschein, durchzogen von ihren Straßen und Plätzen, deren Einschnitte und Schattenlöcher das gigantische Knochengerüst der Stadtviertel andeuteten. Hélène hatte sich langsam wieder erhoben. Auf der Erde blieben die Abdrücke ihrer beiden Knie im Schnee zurück. Eingehüllt in einen weiten, dunklen, pelzverbrämten Mantel, wirkte sie sehr groß mit ihren prächtigen Schultern in all diesem Weiß. Der Rand ihres Hutes, ein Geflecht aus schwarzem Samt, legte ihr den Schatten eines Diadems auf die Stirn. Sie hatte ihr schönes ruhiges 413
Gesicht wiedergefunden, ihre grauen Augen und ihre weißen Zähne, ihr rundes, etwas starkes Kinn, das ihr einen vernünftigen und sicheren Ausdruck verlieh. Als sie den Kopf wandte, nahm ihr Profil wieder die ernste Reinheit einer Statue an. Das Blut schlief unter der ruhigen Blässe der Wangen, man fühlte, daß sie wieder eingegangen war in die Hoheit ihrer Ehrbarkeit. Zwei Tränen waren von ihren Lidern herabgerollt, ihre Ruhe war an die Stelle ihres alten Schmerzes getreten. Und sie stand aufrecht vor dem Grabmal, einer schlichten Säule, auf der Jeannes Name stand, dahinter zwei Daten, die das kurze Dasein der zwölfjährigen kleinen Toten bemaßen. Um sie her breitete der Friedhof sein weißes Tuch aus, das Kanten von verrosteten Grabmälern und Eisenkreuze, die menschlichen Armen in Trauerkleidung glichen, zerrissen. Allein Hélènes und Herrn Rambauds Schritte hatten einen Pfad in diesen entlegenen Winkel gebahnt. Es war eine makellose Einsamkeit, in der die Toten schliefen. Die Wege zogen sich tief dahin zwischen den schwerelosen Schemen der Bäume. Zuweilen fiel geräuschlos eine Schneelast von einem allzu beladenen Zweig; und nichts rührte sich mehr. Am anderen Ende war ein schwarzes Getrappel vorübergekommen; man begrub jemand unter diesem Leichentuch. Ein zweiter Trauerzug kam links. Die Särge und die Gefolge zogen schweigend dahin wie Schatten, die sich auf der Blässe eines Linnens abhoben. Hélène erwachte aus ihrer Träumerei, als sie neben sich eine Bettlerin bemerkte, die sich mühsam fortschleppte. Es war Mutter Fétu, deren Tritte in den aufgeplatzten und mit Bindfäden geflickten groben Männerschuhen durch den Schnee gedämpft wurden. Niemals hatte sie sie in so schwarzem Elend schlottern, mit 414
schmutzigeren Lumpen bedeckt gesehen; sie war noch fetter geworden, sah verblödet aus. Die Alte folgte jetzt bei häßlichem Wetter, bei starkem Frost, bei strömendem Regen den Leichenzügen und spekulierte dabei auf das Mitleid mildtätiger Leute; und sie wußte, daß auf dem Friedhof die Angst vor dem Tode die Leute dazu bringt, Geld herauszurücken; sie besuchte die Gräber und näherte sich den Knienden in dem Augenblick, da sie in Tränen zerflossen, weil sie sie dann nicht zurückweisen konnten. Sie war mit dem letzten Leichenzug eingetreten und belauerte seit einer Weile Hélène aus der Ferne. Aber sie hatte die gute Dame nicht wiedererkannt; die Hand ausgestreckt, erzählte sie unter kleinen Schluchzern, daß sie zwei Kinder zu Hause habe, die am Verhungern seien. Hélène hörte ihr zu, stumm vor dieser Erscheinung. Die Kinder hätten nichts zu heizen, das Älteste sterbe an Auszehrung. Auf einmal hielt Mutter Fétu inne; in den tausend Falten ihres Gesichts arbeitete es, ihre winzigen Augen zwinkerten. Wie! Das war die gute Dame! Der Himmel hatte also ihre Gebete erhört! Und ohne die Geschichte von den Kindern richtigzustellen, begann sie zu jammern mit einer unversiegbaren Flut von Worten. Es fehlten ihr noch mehr Zähne, man verstand sie kaum. Alles Elend des lieben Gottes sei über sie hereingebrochen. Ihr Herr habe sie entlassen, sie habe gerade drei Monate im Bett gelegen; ja, sie sei das noch immer nicht los, jetzt krabbele das überall in ihr herum, eine Nachbarin habe gesagt, ihr sei im Schlaf bestimmt eine Spinne in den Mund gekrochen. Wenn sie nur wenigstens etwas Feuer gehabt hätte, dann hätte sie sich den Bauch gewärmt; nur noch das verschaffe ihr Erleichterung. Aber nichts, gar nichts, nicht ein Streichholzendchen. Madame sei vielleicht auf Reisen gewesen? Doch 415
das sei ihre Sache. Kurzum, sie fand sie hübsch, gesund und frisch und schön. Gott würde ihr das alles vergelten. Als Hélène ihre Börse zog, schnaufte Mutter Fétu, während sie sich auf das Gitter von Jeannes Grab stützte. Die Leichenzüge hatten sich fortbegeben. Irgendwo in einer nahen Grube hörte man die regelmäßigen Hackenschläge eines Totengräbers, den man nicht sehen konnte. Die Alte hatte jedoch wieder Atem geschöpft und starrte auf die Börse. Um das Almosen zu erhöhen, zeigte sie sich jetzt sehr schmeichlerisch und sprach von der anderen Dame. Man könne nichts dagegen sagen, das sei eine mildtätige Dame; aber sie wisse es nicht richtig anzufangen, ihr Geld bringe keinen Nutzen. Sie schaute Hélène vorsichtig an, während sie diese Dinge sagte. Dann wagte sie es, den Doktor zu erwähnen. Oh, der sei gut wie gutes Brot! Im letzten Sommer habe er wieder eine Reise mit seiner Frau gemacht. Ihr Kleiner wachse heran, ein schönes Kind. Doch Hélènes Finger, die die Geldbörse öffneten, hatten gezittert, und Mutter Fétu veränderte plötzlich die Stimme. Stumpfsinnig und verstört hatte sie eben erst begriffen, daß die gute Dame hier am Grabe ihrer Tochter war. Sie stammelte, seufzte, bemühte sich, sie zum Weinen zu bringen. Ein so nettes Kleinchen mit allerliebsten Händchen, die sie noch vor sich sah, wie sie ihr Silberstücke gaben. Und was sie für langes Haar hatte, wie sie die Armen mit großen Augen voller Tränen ansah! Ach, ein solcher Engel sei nicht zu ersetzen; solche gäbe es nicht mehr, man könne in ganz Passy suchen. In der schönen Jahreszeit werde sie jeden Sonntag einen Strauß Gänseblümchen herbringen, die sie im Festungsgraben pflücken würde. Beunruhigt über die Gebärde, mit der Hélène ihr das Wort abschnitt, schwieg sie. Fiel ihr denn nichts mehr ein, was sie sagen mußte? Die gute 416
Dame weinte nicht, und sie gab ihr nur ein Zwanzigsousstück. Herr Rambaud war indessen an die Brüstung der Terrasse getreten. Hélène holte ihn ein. Der Anblick des Herrn ließ Mutter Fétus Augen aufleuchten. Den da kannte sie nicht; das mußte ein Neuer sein. Mit den Füßen schlurfend, ging sie hinter Hélène her, wobei sie alle Segnungen des Paradieses auf sie herabrief; und als sie nahe bei Herrn Rambaud war, sprach sie wieder vom Doktor. Der würde ein schönes Begräbnis bekommen, wenn er mal sterbe, wenn die armen Leute, die er umsonst behandelt habe, seiner Leiche folgten! Er treibe sich ein wenig herum, niemand sage das Gegenteil. Manche Damen in Passy kennten ihn sehr gut. Doch das hindere ihn nicht, seine Frau anzubeten, eine so nette Frau, die einen schlechten Lebenswandel hätte führen können und nicht einmal mehr daran dachte. Ein wahres Turteltaubenpärchen. Ob Madame ihnen guten Tag gesagt habe? Sie seien ganz gewiß zu Hause, sie habe eben gesehen, daß die Fensterläden in der Rue Vineuse offenstünden. Die beiden hätten Madame früher so geliebt, sie würden sich so freuen, sie zu umarmen! Während die Alte an diesen Satzfetzen kaute, schielte sie zu Herrn Rambaud hin. Er hörte ihr mit der Ruhe eines rechtschaffenen Mannes zu. Die vor ihm heraufbeschworenen Erinnerungen legten keinen Schatten auf sein friedliches Gesicht. Er glaubte nur zu bemerken, daß die Hartnäckigkeit dieser Bettlerin Hélène lästig war; und er wühlte in seiner Tasche, er gab ihr seinerseits ein Almosen und schickte sie mit einer Handbewegung fort. Als Mutter Fétu ein zweites Silberstück sah, brach sie in Dankesbezeigungen aus. Sie würde ein bißchen Holz kaufen, sie würde ihr Übel wärmen; nur noch das könne ihren Bauch 417
beruhigen. Ja, ein wahres Turteltaubenpärchen, als Beweis könne sie erzählen, daß die Dame im letzten Winter ein zweites Kind zur Welt gebracht habe, ein schönes kleines Mädchen, rosig und wohlgenährt, das bald vierzehn Monate alt sein müsse. Am Tage der Taufe habe der Doktor ihr an der Kirchentür hundert Sous in die Hand gedrückt. Ach, die guten Herzen begegnen einander, Madame bringe ihr Glück. Mein Gott, mach, daß Madame keinen Kummer habe, überschütte sie mit allem Glück! Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, amen. Hélène blieb aufgerichtet stehen im Angesicht von Paris, während Mutter Fétu zwischen den Gräbern davonging und drei Paternoster44 und drei Ave-Maria vor sich hin murmelte. Es hatte aufgehört zu schneien, die letzten Flocken hatten sich mit müder Trägheit auf die Dächer gelegt; und an dem weiten perlgrauen Himmel entzündete hinter den zerfließenden Nebeln der Goldton der Sonne eine rosige Helligkeit. Ein einziger Streifen Blau säumte über dem Montmartre den Horizont, von einem so wäßrigen und so zarten Blau, daß man es für den Schatten von weißem Atlas hätte halten können. Paris löste sich aus den Dünsten, breitete sich aus mit seinen Schneefeldern, seinem Eisgang, der es in einer todesgleichen Reglosigkeit erstarren ließ. Jetzt gaben die fliegenden Tupfen der Stadt nicht mehr jenes große Erschauern, dessen blasse Wellen auf den rostfarbenen Häuserfronten zitterten. Die Häuser traten ganz schwarz aus den weißen Massen hervor, in denen sie schliefen, wie verschimmelt durch Jahrhunderte von Feuchtigkeit. Ganze Straßen schienen verfallen, von Salpeter zerfressen, die Dächer dem Ertrinken nahe, die Fenster schon eingedrückt. Ein Platz, dessen gipsfarbenes Viereck man 418
erblickte, füllte sich mit einem Trümmerhaufen. Doch in dem Maße, wie der blaue Streifen am Montmartre größer wurde, floß ein Licht herab, das klar und kalt war wie Quellwasser, und legte Paris unter spiegelndes Glas, in dem selbst die Fernen die Klarheit eines japanischen Bildes annahmen. Hélène stand da in ihrem Pelzmantel, ihre Hände wirkten wie verloren am Rande der Ärmel, und sie sann nach. Ein einziger Gedanke kehrte wie ein Echo in ihr wieder. Die beiden hatten ein Kind bekommen, ein kleines Mädchen, rosig und wohlgenährt; und sie sah es in dem liebenswerten Alter, in dem Jeanne einst zu sprechen begann. Die kleinen Mädchen sind so allerliebst mit vierzehn Monaten! Sie zählte die Monate; vierzehn, das waren beinahe zwei Jahre, wenn man die anderen mitrechnete; genau die Zeit, bis auf vierzehn Tage. Da stellte sie sich im Geiste das sonnige Italien vor, ein wunderbares Land mit goldenen Früchten, wo die Liebenden in balsamisch durchdufteten Nächten eng umschlungen dahinschritten. Henri und Juliette wandelten vor ihr im Mondenschein. Sie liebten einander wie Ehegatten, die wieder zu Liebenden werden. Ein rosiges und wohlgenährtes kleines Mädchen, dessen nacktes Fleisch in der Sonne lacht, während es versucht, verworrene Worte zu stammeln, die seine Mutter unter Küssen erstickt! Und sie dachte an diese Dinge ohne Zorn, mit stummem Herzen, während sich ihre Ruhe in der Traurigkeit noch vertiefte. Das Land der Sonne war verschwunden, sie ließ ihre langsamen Blicke über Paris hinschweifen, dessen großen Leib der Winter steif werden ließ. Marmorkolosse schienen in dem erhabenen Frieden ihrer Kälte dazuliegen, die Glieder müde von einem alten Leiden, das sie 419
nicht mehr fühlten. Ein blaues Loch war über dem Panthéon entstanden. Ihre Erinnerungen gingen jedoch noch einmal die vergangenen Tage zurück. Sie hatte in Marseille in einer Art Betäubung gelebt. Als sie eines Morgens durch die Rue des Petites-Maries ging, hatte sie vor dem Haus ihrer Kindheit zu schluchzen begonnen. Damals hatte sie zum letzten Mal geweint. Herr Rambaud kam oft; sie fühlte ihn um sich wie einen Schutz. Er forderte nichts, er öffnete niemals sein Herz. Als es zum Herbst ging, war er eines Abends mit geröteten Augen hereingekommen, von einem großen Kummer gebrochen: sein Bruder, Abbé Jouve, war gestorben. Da hatte sie nun ihn getröstet. Dann erinnerte sie sich nicht mehr deutlich. Der Abbé schien unaufhörlich hinter ihnen zu stehen, sie gab nach, gerührt von der entsagungsvollen Ergebenheit, in die er sie einhüllte. Da er es noch immer wollte, fand sie keinen Grund, es abzuschlagen. Das erschien ihr sehr vernünftig. Von sich aus hatte sie, als ihre Trauerzeit zu Ende ging, alle Einzelheiten bedachtsam mit Herrn Rambaud geregelt. Die Hände ihres alten Freundes zitterten vor fassungsloser Zärtlichkeit. Wie sie wolle, er warte seit Monaten auf sie, ein Wink genüge ihm. Sie hatten in schwarzen Kleidern geheiratet. Am Hochzeitsabend hatte auch er ihre nackten Füße geküßt, ihre schönen Statuenfüße, die wieder zu Marmor wurden. Und das Leben rollte abermals ab. Während der blaue Himmel am Horizont größer wurde, war dieses Erwachen ihrer Erinnerung eine Überraschung für Hélène. War sie denn ein Jahr lang irre gewesen? Wenn sie heute die Frau heraufbeschwor, die fast drei Jahre in jenem Zimmer in der Rue Vineuse gelebt hatte, glaubte sie eine Fremde zu beurteilen, deren Ver420
halten sie mit Verachtung und Erstaunen erfüllte. Welch Anfall seltsamer Tollheit, welch abscheuliches Übel, blind wie der Blitzschlag! Sie hatte es doch nicht herbeigerufen. Sie lebte ruhig, in ihrem Winkel verborgen, und ging auf in der Vergötterung ihrer Tochter. Der Weg erstreckte sich vor ihr ohne Neugier, ohne Verlangen. Und ein Hauch war vorübergeweht, und sie war zu Boden gefallen. Noch zu dieser Stunde vermochte sie sich nichts zu erklären. Ihr Wesen gehörte ihr nicht mehr, die andere handelte in ihr. War es möglich? Sie tat jene Dinge! Dann ließ eine große Kälte sie zu Eis erstarren, Jeanne ging dahin unter den Rosen. Da wurde sie in der Fühllosigkeit ihres Schmerzes wieder sehr ruhig, ohne Verlangen, ohne Neugier, und setzte ihren langsamen Weg auf der schnurgeraden Straße fort. Ihr Leben begann von neuem mit seinem strengen Frieden und seinem Stolz einer ehrbaren Frau. Herr Rambaud trat einen Schritt auf sie zu und wollte sie von dieser Stätte der Trauer fortführen. Doch mit einer Handbewegung bedeutete ihm Hélène, daß sie noch bleiben wolle. Sie war an die Brüstung getreten, sie schaute hinunter auf die Avenue de la Muette, eine Droschkenhaltestelle, wo am Rande des Bürgersteigs vor Alter zerschlissene Droschken eine lange Schlange bildeten. Die ausgeblichenen Verdecke und Räder, die moosbedeckten Pferde schienen seit uralten Zeiten dort zu faulen. Die Kutscher saßen unbeweglich da, erstarrt in ihren gefrorenen Mänteln. Auf dem Schnee schoben sich andere Wagen einer nach dem anderen mühsam voran. Die Tiere glitten aus, streckten den Hals vor, während die Männer, die von ihrem Bock herabgestiegen waren, sie fluchend am Zügel hielten; und hinter den Scheiben sah man Gesichter von geduldigen Reisenden, die, in die 421
Kissen zurückgelehnt, sich damit abgefunden hatten, einen Weg von zehn Minuten in drei Viertelstunden zurückzulegen. Watte erstickte die Geräusche; nur die Stimmen stiegen in diesen erstorbenen Straßen mit einem eigentümlichen Schweigen grell und deutlich auf: Rufe, Gelächter von Leuten, die auf dem Glatteis ausrutschten, Wutausbrüche von Fuhrmännern, die ihre Peitschen knallen ließen, ängstliches Pferdeschnauben. Weiter rechts waren die großen Bäume der Uferstraße wie Wunderdinge anzusehen. Man hätte meinen können, es seien Bäume aus gesponnenem Glas, ungeheure venezianische Kronleuchter, deren mit Blumen besteckte Arme von Künstlerlaunen gedrechselt waren. Der Nordwind hatte die Stämme in Säulenschäfte verwandelt. Oben entstand ein Gestrüpp von flaumbedeckten Zweigen, von Reiherbüschen, ein köstlicher Scherenschnitt schwarzer, mit weißen Fädchen verbrämter Zweiglein. Es fror, kein Hauch ging durch die klare Luft. Und Hélène sagte sich, daß sie Henri nicht kannte. Ein Jahr lang hatte sie ihn fast jeden Tag gesehen; Stunden um Stunden hatte er sich an sie geschmiegt, Auge in Auge mit ihr geplaudert. Sie kannte ihn nicht. Eines Abends hatte sie sich hingegeben, und er hatte sie genommen. Sie kannte ihn nicht, sie strengte sich ungeheuer an, ohne das begreifen zu können. Woher kam er? Wieso war er bei ihr? Was für ein Mann war er, daß sie ihm nachgegeben hatte, sie, die lieber gestorben wäre, als einem anderen nachzugeben? Sie wußte es nicht, es war da ein Taumel gewesen, in dem ihre Vernunft ins Wanken geriet. Am letzten wie am ersten Tage blieb er ihr fremd. Vergebens suchte sie die verstreuten kleinen Begebenheiten zusammen, seine Worte, seine Handlungen, alles, was sie von ihm im Gedächtnis behalten hatte. Er 422
liebte seine Frau und sein Kind, er lächelte fein, er wahrte die untadelige Haltung eines wohlerzogenen Mannes. Dann sah sie wieder sein flammendes Gesicht, seine Hände, die sich vor Begierde verirrten. Wochen verflossen, er verschwand, er war fort. Zu dieser Stunde hätte sie nicht zu sagen gewußt, wo sie zum letzten Mal mit ihm gesprochen hatte. Er ging vorüber, sein Schatten war mit ihm davongegangen. Und beider Geschichte hatte keine andere Lösung. Sie kannte ihn nicht. Über der Stadt entfaltete sich ein makelloser blauer Himmel. Hélène hob den Kopf, war der Erinnerungen müde, war glücklich über diese Reinheit. Es war ein durchsichtiges, sehr blasses Blau, kaum ein blauer Schimmer im Weiß der Sonne. Das Gestirn, das tief am Horizont stand, hatte den Glanz einer silbernen Lampe. Es brannte ohne Wärme im Widerschein des Schnees mitten in der eisigen Luft. Unten breiteten weitläufige Dächer, die Dachziegel der Militärbäckerei, die Schieferplatten der Häuser an der Uferstraße weiße, schwarz umränderte Tücher aus. Auf der anderen Seite des Stromes entrollte das Viereck des Champ-de-Mars eine Steppe, auf der dunkle Punkte, vereinzelte Wagen, an russische Schlitten gemahnten, die mit Schellengeläut dahineilen, während sich die Ulmen des Quai d'Orsay, die durch die Entfernung kleiner wirkten, in ihrer Blütenpracht aus feinen Kristallen nebeneinanderreihten und vor Eisnadeln starrten. In der Reglosigkeit dieses großen Gletschers wälzte die Seine zwischen ihren Ufern, die sie mit Hermelin verbrämten, erdige Wasser dahin; sie führte seit dem Vorabend Treibeis mit sich, und man hörte deutlich, wie an den Pfeilern der Pont des Invalides die Eisblöcke zermalmt wurden, die sich unter den Brückenbögen verfingen. Dann staffelten sich die Brücken gleich 423
weißen, immer zarter werdenden Klöppelspitzen, bis zu den glänzenden Felsen der Cité, die die Türme von Notre-Dame mit ihren schneebedeckten Gipfeln überragten. Links durchbohrten andere Spitzen die einförmige Ebene der Stadtviertel. Die Kirche Saint-Augustin, die Oper, der Turm Saint-Jacques waren wie Berge, auf denen ewiger Schnee herrscht; etwas näher zeichneten die Pavillons der Tuilerien und des Louvre, die durch die neuen Gebäude miteinander verbunden waren, den Grat einer Gebirgskette mit unbefleckten Gipfeln. Und rechts waren noch die weißen Firste des Invalidendoms, der Kirche Saint-Sulpice, des Panthéon, das in weiter Ferne auf dem Himmelblau die Umrisse eines Traumpalastes mit Verkleidungen aus bläulichem Marmor zeigte. Keine Stimme stieg herauf. Straßen waren an grauen Spalten zu erraten, Straßenkreuzungen schienen sich mit Krachen ausgehöhlt zu haben. Ganze Häuserreihen waren verschwunden. Allein die Nachbarfassaden waren an den tausend Strichen ihrer Fenster zu erkennen. Dann schmolzen die Schneetücher ineinander, verloren sich in einer blendenden Ferne, in einem See, dessen blaue Schatten das Blau des Himmels fortsetzten. Unermeßlich und hell leuchtete Paris bei diesem scharfen Frost unter der silbernen Sonne. Da umfaßte Hélène mit einem Blick zum letzten Mal die fühllose Stadt, die ihr ebenfalls unbekannt blieb. Sie fand sie wieder, ruhig und gleichsam unsterblich im Schnee, so wie sie sie verlassen, wie sie sie drei Jahre hindurch jeden Tag gesehen hatte. Paris war für sie voll von ihrer Vergangenheit. Mit Paris hatte sie geliebt, mit Paris war Jeanne gestorben. Doch dieser Gefährte all ihrer Tage bewahrte die heitere Ruhe seines riesigen Antlitzes, ohne ein Gefühl der Rührung, stummer Zeuge 424
des Lachens und der Tränen, deren Woge die Seine dahinzuwälzen schien. Je nach der Stunde hatte sie Paris für blutgierig wie ein Ungeheuer oder für gutmütig wie einen Riesen gehalten. Heute fühlte sie, daß sie die Stadt in ihrer Gleichgültigkeit und Weite niemals kennen werde. Paris breitete sich aus, Paris war das Leben. Indessen berührte Herr Rambaud sie leicht, um sie fortzuführen. Sein gutmütiges Gesicht wurde unruhig. Er murmelte: »Gräme dich nicht.« Er wußte alles, er fand nur diese Worte. Seine Frau sah ihn an und war beruhigt. Ihr Gesicht war rosig vor Kälte, ihre Augen klar. Schon war sie fern von allem. Das Leben begann von neuem. »Ich weiß nicht mehr, ob ich den großen Koffer gut verschlossen habe«, sagte sie. Herr Rambaud versprach, sich zu vergewissern. Der Zug fuhr mittags, sie hatten Zeit. Auf den Straßen wurde gestreut, ihr Wagen würde keine Stunde brauchen. Doch plötzlich hob er die Stimme: »Ich bin sicher, du hast die Angelruten vergessen!« »Oh, ganz und gar vergessen!« rief sie, überrascht und ärgerlich über ihre Vergeßlichkeit. »Wir hätten sie gestern kaufen sollen.« Es waren sehr handliche Angelruten, wie es sie in Marseille nicht zu kaufen gab. Sie besaßen am Meer ein kleines Landhaus, wo sie den Sommer verbringen würden. Herr Rambaud sah nach der Uhr. Auf dem Weg zum Bahnhof konnten sie noch die Angelruten kaufen. Man würde sie mit den Regenschirmen zusammenbinden. Jetzt führte er sie fort, sie stapften davon und kürzten den Weg mitten durch das Gräberfeld ab. Der Friedhof war leer, nur noch ihre Fußspuren waren im Schnee. Die tote Jeanne blieb allein im Angesicht von Paris, für immer.
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Anmerkungen 1 Concierge – Portier oder Portiersfrau, die in den Pariser Mietshäusern eine sehr wichtige Stellung einnehmen und u.a. auch die Post verteilen. 2 Théâtre de Vaudeville – 1792 gegründetes Pariser Lustspieltheater. 3 Bois de Boulogne – großer Park in Paris; Napoleon III. überließ 1852 den Bois de Boulogne der Stadt Paris, die damals mehrere Millionen für seine Verschönerung ausgab. 4 Gare d'Orléans – (franz.) Orleans-Bahnhof. 5 Beauce – reiches Landwirtschaftsgebiet südwestlich von Paris zwischen Seine und Loire mit dem Hauptort Chartres. 6 Kaiser – Charles-Louis-Napoléon Bonaparte (1808– 1875). Neffe Napoleons I.; wurde 1848 zum Präsidenten der Französischen Republik gewählt. Durch seinen Staatsstreich vom 2.12.1851 verlängerte er seine Amtszeit unter Verfassungsbruch um weitere zehn Jahre. Am 2.12.1852 ließ er sich als Napoleon III. zum Kaiser der Franzosen ausrufen, wurde jedoch nach der Kapitulation bei Sedan durch die Ausrufung der Republik am 4.9.1870 abgesetzt. Seine Herrschaft begünstigte die »Ausbeutung Frankreichs durch eine Bande politischer und finanzieller Abenteurer« (Marx). 426
7 1848 – Gemeint ist die Februarrevolution 1848. Der Aufstand der Pariser Arbeiterschaft vom 24.2.1848 führte zum Sturz Louis-Philippes (1773–1850) und zur Ausrufung der Republik. In der Folge waren die Ereignisse durch den Verrat der Bourgeoisie bestimmt, die der neugewählten Nationalversammlung die Aufgabe erteilte, die »Resultate der Revolution auf den bürgerlichen Maßstab zurückzuführen« (Marx). 8 Théâtre des Variétés – 1790 gegründetes Pariser Lustspiel- und Operettentheater. 9 Théâtre des Folies-Dramatiques – 1831 gegründetes Pariser Operettentheater. 10 »Die weiße Dame« – Oper des französischen Komponisten François-Adrien Boieldieu (1775–1834). 11 »Ivanhoe« – historischer Roman des schottischen Schriftstellers Walter Scott (1771–1832). 12 Jardin des Plantes – botanischer und zoologischer Garten von Paris. 13 Tuilerien – Schloß in Paris; im Zweiten Kaiserreich Residenz Napoleons III., 1871 von der erzürnten Volksmenge zerstört. Heute sind nur noch die Gärten und einige dem Louvre angeschlossene Nebengebäude vorhanden.
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14 Trocadéro – Platz im Westen von Paris, auf dem 1878 das Palais du Trocadéro erbaut wurde; seit der Weltausstellung 1938 baulich völlig umgestaltet. 15 Champ-de-Mars – (franz.) Marsfeld; großer Platz mit Gartenanlagen vor der Pariser Ecole militaire, der um 1700 als Exerzierplatz angelegt wurde und seit 1867 Zentrum großer, meist internationaler Ausstellungen ist. 16 Ecole militaire – (franz.) Militärakademie. 17 Cité – in Paris die größte Seine-Insel, auf der sich der älteste Teil der Stadt befindet. 18 Champs-Elysées – nach den elysäischen Gefilden, dem Ort der Seligen in der griechischen Mythologie, benannte Pariser Parkanlage. 19 Palais de l'Industrie – 1853 bis 1855 erbautes Ausstellungsgebäude in den Champs-Elysées, 1897 bis 1900 abgerissen. 20 Vendôme-Säule – 1806 in Paris aus dem Metall von 1200 erbeuteten Geschützen auf dem Place Vendôme errichtete Säule mit dem Cäsarenstandbild Napoleons I. 21 Turm Saint-Jacques – erhaltener spätgotischer Turm der 1789 abgerissenen Kirche Saint-Jacques- de-laBoucherie. 22 Louvre – ehemaliges Königsschloß in Paris, das seit der französischen bürgerlichen Revolution von 1789
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eines der reichhaltigsten Kunstmuseen der Welt beherbergt. 23 Panthéon – wurde von 1764 bis 1790 als Kirche der heiligen Genoveva erbaut. 1791 gab die Nationalversammlung dem Gebäude seinen heutigen Namen und erklärte es zur Beisetzungsstätte bedeutender Franzosen. Émile Zola wurde 1908 ins Panthéon übergeführt. 24 Butte des Moulins – heute nicht mehr vorhandener Hügel auf dem rechten Seine-Ufer, der künstlich aufgeschüttet und dicht bebaut war. 25 Père Lachaise – wegen seiner prachtvollen Denkmäler berühmter Pariser Friedhof, der seinen Namen vom Palais des Paters François de la Chaise (1624–1709) hat, der Beichtvater des französischen Königs Ludwig XIV. (1638–1715) war. Auf dem Père-Lachaise finden alljährlich Gedenkfeiern an der »Mauer der Föderierten« statt, der Gedenkstätte für die 1871 hier von der Reaktion ermordeten Communarden. 26 Institut de France – 1795 gegründete und später mehrfach organisatorisch veränderte oberste Körperschaft Frankreichs für Wissenschaft und Kunst, in der die fünf Akademien zusammengefaßt sind. 27 Jardin des Tuileries – (franz.) Tuileriengarten (s. Anm. Tuilerien zu S. 63). 28 das Los getroffen – Bei der Aushebung zum Heeresdienst wurde in Frankreich damals durch das Los entschieden, wer dienen mußte. 429
29 Ludwig XV. – (1710–1774), König von Frankreich von 1715 bis 1774; seine Regierungszeit gilt als der Höhepunkt der Mätressenwirtschaft und der moralischen Verkommenheit des französischen Hofes. 30 Pompadour – Jeanne-Antoinette Poisson, Marquise de Pompadour (1721–1764), übte als Geliebte Ludwigs XV. einen bedeutenden Einfluß auf die europäische Politik aus. 31 Yedo – bis 1868 der Name der japanischen Hauptstadt Tokio. 32 Brioche – (franz.) windbeutelartiges Gebäck aus feinem Mehl, Butter und Eiern. 33 Magnificat – der mit den Worten »Magnificat anima mea Dominum« – (lat.) Meine Seele erhebt den Herrn – beginnende Lobgesang der Jungfrau Maria, der in der katholischen Kirche bei der Vesper gesungen oder gebetet wird. 34 Ave Maria, gratia plena (lat.) »Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade«, Anfangsworte eines katholischen Gebetes zur Verehrung der Jungfrau Maria; ein Hauptbestandteil des Rosenkranzes. 35 Arc de Triomphe – der als Siegesmal für Napoleon I. begonnene und 1836 vollendete Triumphbogen auf dem Place de l'Etoile, unter dem sich seit 1920 das Grab des Unbekannten Soldaten befindet.
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36 Hôtel de Ville – (franz.) Rathaus. 37 »Die Favoritin« – Oper des italienischen Komponisten Gaetano Donizetti (1797–1848). 38 Régence – (franz.) Regentschaft; hier die Regentschaft, die Herzog Philipp von Orleans (1674–1723) von 1715 bis 1723 für den unmündigen Ludwig XV. (1710– 1774) ausübte. Die Régence war für die herrschende Klasse eine Zeit zügellosen Genußlebens. 39 Louis-Quinze-Stil – Stil der Zeit des französischen Königs Ludwig XV. (1710–1774), gehört in den Gesamtrahmen des Barock und zeichnet sich durch großen Luxus der Innenausstattung, verbunden mit einer prunkvollen, überladenen äußeren Formgebung von Gebäuden und Gegenständen aus. 40 »Eine Laune« – Komödie des französischen Dichters Alfred de Musset (1810–1857). 41 Comédie-Française – seit 1687 Name der 1680 als Théâtre-Français gegründeten staatlichen Schauspielbühne Frankreichs. 42 Faubourg Saint-Antoine – Stadtteil im Pariser Osten, in dem hauptsächlich Arbeiter und Kleinbürger wohnten. 43 Orientalische Frage – während des Kongresses von Verona 1822 aufgekommene Bezeichnung für alle Konflikte im 18./19. Jahrhundert, die im Zusammenhang mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches zwischen den europäischen Großmächten entstanden. 431
44 Paternoster – (lat.) Vaterunser.
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Zolas Bilderzyklus von Paris oder Zum Verhältnis von Beschreibungskunst und Bildtechnik Die gesamte erzählerische Leistung des 18. Jahrhunderts reduzierte sich für Maupassant auf einen einzigen Roman, »Manon Lescaut«. Die Lektüre dieses Werkes, so meinte er, lohne sich auch noch zu seiner Zeit, weil die tragische und doch gelegentlicher komischer Effekte nicht entbehrende Lebensgeschichte des unbesonnenen und leidenschaftlichen Ritters Des Grieux und der liebenswürdig leichtsinnigen, koketten Manon Lescaut von dem Menschlichsten künde, was den Menschen überhaupt zu bewegen vermag, der Allgewalt der Liebe. Gründete sich für einen Schriftsteller wie Maupassant die bleibende literarische Bedeutung dieses Romans auf seine ewig menschliche Problematik, so interessierte einen Literaturhistoriker wie Auerbach an »Manon Lescaut« ein ganz anderer Aspekt. In der »Mimesis«, seiner Untersuchung zur »Dargestellten Wirklichkeit in der abendländischen Literatur«, analysiert er die bekannte Szene des Abendessens kurz vor der Verhaftung Des Grieux' durch die Dienstleute seines Vaters. Mit Hilfe einer feinsinnigen Interpretation der sprachlichen Mittel gelingt es Auerbach, nachzuweisen, wie Abbé Prévost, in deutlicher Abhebung gegenüber der »gedämpften« Sprache der Leidenschaft bei Racine, ganz im Stile des »Rokoko«, durch Andeutungen, halbe Darstellungen, kommentierende Ausrufe des aus der späteren Sicht her erzählenden Helden jene irisierende erotische Atmosphäre erzeugt, die nicht nur das psychologische und moralische Klima dieser Epoche, 433
sondern zugleich das ganz persönliche, einmalige Erleben dieser beiden Menschen in adäquater Weise spürbar macht. Aber man könnte gerade diese Stelle noch unter einem ganz anderen Gesichtspunkt betrachten. Die eigentümliche Atmosphäre und Stimmung dieser Szene resultiert nicht nur aus dem besonderen Wortgebrauch. Sie ist ebenso das Ergebnis einer neuartigen Verflechtung handelnder und beschreibender Partien, eines eigentümlichen Zusammenspiels von Menschen und Dingen, die sich wechselseitig erhellen und bedingen und gleichsam ineinandergreifend die Gesamtszene gestalten. Diese »Aufwertung« der gegenständlichen Welt, ihre aktive Einbeziehung in die menschliche Handlung, so daß Raum und Ort, Gegenstände und Dinge nicht nur für sich genommen als toter, bestenfalls Dekor schaffender Hintergrund behandelt werden, sondern zu den Menschen selbst in Beziehung treten, mit ihnen gleichsam verschmelzend, eine neue und plastischere Wirklichkeit erzeugen, war noch ein relatives Novum in der realistischen Erzählliteratur der Zeit. Lesage hatte wohl im »Gil Blas« (7. Buch, 13. Kapitel) als erster versucht, den Beruf eines seiner Helden durch die Beschreibung seiner Wohnung so eindeutig zu charakterisieren, daß der Leser ihn erraten mußte, noch ehe der Autor ihn expressis verbis nannte. Und wenn er Gil Blas im Buch selbst die Lösung nicht finden läßt, so hat dies die prickelnde Befriedigung des Lesers, die richtige Auflösung gefunden zu haben, sicher nur noch erhöht. Aber diese Technik bedurfte noch einer weitgehenden Perfektionierung, ehe sie zu einem für den kritischrealistischen Roman Balzacs geradezu charakteristischen Mittel wurde. 434
Balzac war auch der erste, der die Gesetzmäßigkeiten dieser neuen Gestaltungsmethode richtig und in ihrer vollen Bedeutung erkannte und theoretisch formulierte. Nach Balzacs Darlegungen im Vorwort zu seiner »Menschlichen Komödie« (1842) gehören zu den Konstitutiven des modernen Romans, außer der Einbeziehung des dramatischen Elementes, die Verwendung von Dialog, Porträt, Landschaftsschilderung und Beschreibung. Für den Schriftsteller bedeutet dies, daß er ein ebenso guter. Kenner des menschlichen Herzens sein muß wie ein Fachmann in den verschiedenen Berufen und ein Spezialist für Inneneinrichtungen und Mobiliare der verschiedenen sozialen Schichten (archéologue du mobilier social, nomenclateur des professions). Balzac unterstreicht vor allem auch die Bedeutung des lebensechten Details, das hier in ganz anderer Weise als bei Hugo oder Vigny zum Angelpunkt der künstlerischen Wahrheit als adäquater Erfassung der Wirklichkeit wird und nicht zur Verklammerung einer Hilfskonstruktion dient, die ein auf einem absolut gesetzten Ideal errichtetes Phantasiegebäude stützen soll. Mit dieser Theorie vom »wahrheitsgetreuen Detail« war das Fazit aus einer literarischen Entwicklung gezogen, an der die realistischen Erzähler seit Lesage, Marivaux und Prévost mitgewirkt hatten. Lebenswahr bis in die kleinste Einzelheit hinein, diese Forderung zielte ebenso auf die genaue, ja fast umständliche Beschreibung der Pension Vauquer (im »Vater Goriot«) mit ihrem dunklen, leicht muffigen, verstaubten Speisezimmer, ihren bunt zusammengewürfelten und nicht immer ganz sauberen Gästen, ihrem krampfhaften Bemühen, den äußeren Anschein einer gutbürgerlichen Pension zu erwecken, mit ihren primitiv und billig einge435
richteten Zimmern und den knarrenden Treppen, dem traurigen, dunklen Hof und den spärlichen Bäumen, mit der ewig umherstreichenden Katze und der majestätisch thronenden Madame Vauquer, wie auf die bis in technische Einzelheiten exakte Beschreibung der Buchdruckerei eines David Séchard (in den »Verlorenen Illusionen«) oder die eines Fachmannes würdige Einführung in die Raritäten eines Antiquitätenladens (im »Chagrinleder«). Durch die vollendete Beherrschung aller erzählerischen Möglichkeiten gelang es Balzac, die Menschen in der sie umgebenden Welt und Umwelt so plastisch und klar erstehen zu lassen, daß ein Maler, der seine Bücher illustrieren wollte, keines allzu großen Phantasieaufwandes bedürfte, um diese Pension Vauquer, diese Druckerei oder diesen Kramladen in ein Bild zu bannen. Er brauchte gleichsam nur, von Balzacs Hand geführt, die vorgezeichneten Linien nachzuziehen und die Flächen in den angegebenen Farben weiter anzulegen. Aber Detailtreue und -echtheit erzielen nicht nur bildhafte Plastizität. Ein zweites kommt hinzu. Wären z.B. alle Bücher über BuchdruckereiEinrichtungen in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts vernichtet und nur Balzacs »Verlorene Illusionen« erhalten geblieben, man könnte sich allein auf Grund ihrer Beschreibung in diesem Roman ein ziemlich genaues Bild von der maschinellen Ausrüstung dieses Gewerbezweiges machen. An dokumentarischem Wert der vermittelten Fakten stehen die Romane Balzacs einem Fachbuch kaum nach. Und trotzdem ist auch damit die Bedeutung der Balzacschen Forderung nach Faktentreue noch nicht ausgeschöpft. Malerisch bildhafte Plastizität, exakte Sachkenntnis sind Eigenschaften, die dem Roman Balzacs 436
eine ganz neue Qualität verleihen, seine Gestalten in ganz anderer Lebendigkeit, ja fast körperlicher Nähe dem Leser vor Augen führen und unabdingbare Voraussetzungen schaffen, um die Sittengeschichte, die Balzac schreiben wollte, konkret in Raum und Zeit erstehen zu lassen. Um diese Sittengeschichte als epochenspezifische Sozialgeschichte vorzuführen, mußten Welt und Umwelt, Dinge und Gegenstände als Klassifikationsmerkmale der verschiedenen menschlichen »species« dargestellt werden. Die minutiöse Beschreibung der Pension Vauquer, die sachkundige Aufzählung der Letterntypen in Séchards Druckerei sind nicht um ihrer selbst willen da, sondern sollen Rastignac oder Vater Goriot, David Séchard oder Lucien charakterisieren. Da ihr Dasein mit dieser Umgebung verknüpft ist, kann es in seinem Werden und seinem Verlauf nicht ohne sie verstanden werden. Wegen dieser Rückbezogenheit handelt es sich bei den neuen Beschreibungsgegenständen um eine echte Gebietserweiterung der Literatur. Die Dämmerstimmung in der Pension Vauquer mit dem schräg einfallenden Licht, den verschwimmenden Konturen von Tischen und Stühlen und der verblichenen Farbe der verschlissenen Bezüge, d.h. die Trivialität eines Alltagsmilieus als poetischen Gegenstand, zu behandeln wäre keinem Dichter der Klassik je eingefallen. Das künstlerische Interesse an diesen Dingen der Außenwelt konnte erst entstehen, da das Wesen des Menschen selbst im Konnex mit seiner Umwelt, seinem Beruf, seiner Umgebung gesehen und erkannt wurde. Als der Verfasser des »Gil Blas« in seinem Lustspiel »Turcaret« den sozialen Stand seines Helden nicht nur 437
als rubrizierendes Etikett behandelte, sondern in die Verwicklungen der Intrige selbst mit einbezog, war ein erster und entscheidender Schritt über die realistische Charakterkomödie Molières hinaus getan. Die bis dahin unter ihrem rein moralisch-charakterlichen Aspekt als gegeben hingenommene Gestalt des Geizigen oder des Frömmlers (in »Tartuffe«) wurde nun auf das Woher ihres Seins, ihres Wesens, ihres Charakters, auf das Gewordensein ihrer Art befragt und damit als Ergebnis aus dem Zusammenspiel von Kräften erkannt, die im sozialen Bereich wirksam waren. Mehr und mehr drang mit dieser Dynamisierung der Gestalten auch die dinglich-gegenständliche Welt, das sachliche Detail, als vergegenständlichter Ausdruck der schöpferischen Potenzen des vergesellschafteten Menschen in die Literatur ein, und auf diesem Wege war es möglich, die Poesie der Dinge zu entdecken und zu gestalten. Sie war nicht das Ergebnis einer besonderen Veranlagung eines genialen Dichters, der sie divinatorisch erschloß, nicht der Ausfluß des eigentümlichen Sehvermögens des »romantischen Menschen«, wie manche Wissenschaftler annehmen. Die Romantik hatte im Gegenteil gerade zu dieser Entwicklung am wenigsten beigetragen; wenn überhaupt, dann aus einem ganz anderen Impuls heraus, der allerdings auch von jenen veränderten historisch- sozialen Verhältnissen ausging, die der Nährboden für den kritisch-realistischen Roman Balzacs und damit für die »moderne« Beschreibungskunst waren. Die geschichtliche Bewegung dieser ersten zwei Jahrzehnte des neuen Jahrhunderts, die, von den Umwälzungen der Revolution ausgelöst, so tiefgreifende Wandlungen in der gesamten gesellschaftlichen Struktur nach sich gezogen hatte, hämmerte gleichsam den Köpfen der 438
zeitgenössischen Generation einen historischen Sinn ein, der sich in irgendeiner Form auch in den literarischen Produkten niederschlagen mußte. Bei den Romantikern, ganz gleich, ob sie zur bürgerlichen oder feudalen Gruppe, zu den Konservativen, Liberalen, Progressiven oder Oppositionellen gehörten, ging er in der Literatur meist über ein Interesse am pittoresken historischen Kostüm nicht hinaus. Doch schon die Lösung selbst dieser begrenzten Aufgabe, das Lokalkolorit genau wiederzugeben, erheischte eine sorgsame Beachtung des Details, obwohl der Schriftsteller damit seine beschreibende Fertigkeit gleichsam nur am isolierten Objekt übte. Allgemein gesehen, kam auch diese handwerkliche Erfahrung der Verfeinerung der gestalterischen Ausdrucksmittel zugute, aber die letzten in der Einbeziehung dieses Gegenstandes angelegten Möglichkeiten für den Gesamtaufbau eines Werkes zu nutzen oder gar auszuschöpfen vermochte sie nicht. Zola selbst hat die Bedeutung der romantischen Werke in dieser Hinsicht sehr richtig eingeschätzt. Er spricht von den »Beschreibungsorgien der Romantik, dieser heftigen Reaktion der Farbe« (»Experimentalroman«) gegen die Körperlosigkeit der klassischen Tradition, die gleichsam ins andere Extrem führten und erst durch Balzac und die Schriftstellergeneration nach ihm wieder als echte Bestandteile der Gesamthandlung in den Roman eingegliedert wurden. Er sieht auch, daß eine Untersuchung des modernen Romans von den Werken eines Fräulein von Scudéry bis herauf zu Flaubert unter diesem Aspekt, der Vervollkommnung der Beschreibungstechnik, interessante Aufschlüsse über die gesamte Entwicklungsrichtung der neueren Literaturen zu liefern vermöchte. Denn die Schriftsteller tasteten sich zunächst nur 439
langsam und schrittweise auf diesem neuen, ungewohnten Wege vorwärts. Wenn Marivaux in der bekannten Kirchenszene seines Romans »Marianne« die bewußten Verführungskünste des Mädchens durch das Spiel der Hände, des Armes, das Drehen des Kopfes, das Heben des Gesichts beschreibt, so wendet sich sein Interesse zwar noch nicht vom Menschen weg und den Objekten zu, aber wir sind doch weit entfernt von jener Zeit, da, wie im Rolandslied, allein die Augen Seelisches zu verraten vermochten. Rousseau hat in der »Neuen Heloise« die leidenschaftliche Bewegung und Erregung Saint-Preux' in dem Augenblick, da er Julie in ihrem Zimmer erwartet, ebenfalls indirekt beschrieben. Der ganze Raum, die auf Bett und Stühlen verstreuten Kleidungsstücke der Geliebten zaubern ihm gleichsam ihr Bild vor Augen, lassen ihn im voraus die Freuden und Wonnen erleben, die er von den nächsten Stunden erhofft. Hier verschmelzen die Gegenstände – zunächst Kleidungsstücke, die gleichsam unmittelbar zum Menschen dazugehören, aber doch auch schon der ganze Raum – so vollkommen mit dem Wesen, der Art des Menschen, dem sie gehören, daß seine mittelbare Erfassung in ihrem Spiegel unmittelbarer ist als seine direkte Beschreibung. Ähnlich wie in die Szene vom unterbrochenen Abendessen in »Manon Lescaut« der Tisch, die Kerze, die Tafel, die knarrenden Schritte auf der Treppe, all die kleinen Dinge des Alltags handelnd eingreifen. Von dieser realistischen Linie der Darstellung ist die »Poesie der kleinen Dinge« abgeleitet und ausgebildet worden. Denn die Poesie der kleinen Dinge des Alltags entdecken gönnte nur eine Literaturrichtung, die den Menschen als Schöpfer seiner selbst bejahte, in den Werken seiner Hände den Ausdruck seiner eigenen Kraft und 440
Größe, ja seines Wesens sah, im Letzten mit ihrer Zeit ging und nicht gegen sie. Und diese Haltung zur eigenen Zeit verbindet bei allen epochenbedingten und individuellen Unterschieden auch Zola und Balzac. Zola war vom technischen Fortschritt des Jahrhunderts ebenso fasziniert wie Balzac von den naturwissenschaftlichen Entdeckungen seiner Epoche, verurteilte ebenso alle jene, die im bizarren Geäst einer modernen Stahlkonstruktion, deren schwarze Konturen sich wie eine Federzeichnung vom blauen Himmel abheben, kein poetisches Objekt zu erblicken vermögen und zu ihrer dichterischen Inspiration mittelalterlicher Ruinen und Dome oder exotischer Landschaften bedürfen. Für beide kündet die vom Menschen gestaltete, veränderte, nach seinen Bedürfnissen eingerichtete und durch seine Tätigkeit verwandelte Welt und Umwelt von seiner alles bezwingenden Schöpferkraft, für beide ist das »Milieu«, um diesen späteren Terminus Taines zu gebrauchen, objektivierter Ausdruck menschlichen Denkens, Planens, Schaffens. Und dennoch bricht gerade hier die zwischen Balzac und Zola in ihren theoretischen Anschauungen und ihren literarischen Werken verlaufende Grenze klar und unübersehbar auf. In Balzacs Werk verliert der Mensch nie die Regie über die Dinge, geht die ihnen verliehene Poesie über das poetische Maß der Personen nie hinaus. Sie sind das Zentrum, von dem Licht und Schatten ausgehen. In demselben Maße aber, wie die Gestalten im Naturalismus immer mehr an ihre erbbiologischen Determinanten gebunden erscheinen und die Dinge damit gleichsam ein unabhängiges Eigenleben gewinnen, gerät die dichterische Phantasie in Gefahr, sie in unangemessenen Propor441
tionen zu überhöhen. Der Verdinglichungsprozeß menschlicher Verhältnisse wird ergänzt durch den »Vermenschlichungsprozeß« der Dinge. Sie erscheinen als aktiv, wollend, den Menschen beherrschend und fixieren damit den Eindruck, unter dem sich dem Auge des Betrachters die Erscheinungen des Lebens im Alltag darbieten, nur daß der Schriftsteller ihre Oberfläche damit so verdichtet, daß ein Hindurchblicken auf die hinter ihr verborgenen, ihr Funktionieren bestimmenden Wesenskräfte oft nicht erleichtert, sondern manchmal sogar erschwert wird. Ästhetisch gesprochen, verliert er das Maß, mit dem er allein eine werkbezogene Auswahl unter den unendlichen Erscheinungen der Wirklichkeit treffen kann. Und wenn man die Entwicklungslinie dieser Beschreibungstechnik bis in die Gegenwart verfolgt, so zeigt sich, daß z.B. im Nouveau Roman die Disgregation zwischen Menschen und Dingen vollendet ist. Robbe-Grillet greift die »psychologisierende«, den Objekten eine »falsche Tiefe« unterschiebende Beschreibungskunst des »alten« Realismus deshalb auch aufs schärfste an. Denn sie gehe von der überholten Vorstellung von dem Menschen als dem Maß aller Dinge aus und dem Recht und der Fähigkeit des Schriftstellers, als Demiurg der von ihm geschaffenen Welt ihren inneren Zusammenhang zu erschließen. Die einzig angemessene Haltung, die der Mensch und mit ihm der Schriftsteller einnehmen könne, sei die der Beobachtung, der unvoreingenommenen, registrierenden Aufnahme mit den Augen, mit dem Blick. Denn das einzige, was es an ihnen zu erkennen gebe, sei ihr Vorhandensein. Die existentialistische Grundposition des Autors ist in diesen Worten unschwer auszumachen, aber
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sie ist ja selbst nur ein ideologischer Reflex einer bestimmten sozialhistorischen Konstellation. Im Zeitalter der industriellen Revolution konnte ein Balzac, um ein Bild von Marx zu gebrauchen, noch in der erzeugten gegenständlichen Welt das aufgeschlagene Buch menschlicher Wesenskräfte erblicken. Im Zeitalter der technischen Revolution kann unter kapitalistischen Bedingungen für einen bürgerlichen Schriftsteller das Gefühl des Ausgeliefertseins an nicht durchschaubare und nicht beherrschbare, in der materiellen Produktion wirkende Gewalten so übermächtig sein, daß er sie gleichsam nur noch in der Negierung als Menschenwerk zu ertragen vermag und mit dem distanzierenden Blick von sich abzuhalten versucht. Zolas Zeit ist in der ökonomischen Sphäre durch den Beginn dieser zum heutigen Stand führenden Entwicklung des Kapitalismus gekennzeichnet. Sein Verhältnis zur Dingwelt und ihrer literarischen Behandlung war deshalb nicht zufällig ambivalent ebenso wie sein Verhältnis zur Tradition der Beschreibungskunst. Deshalb verurteilte er mit scharfen Worten sein »Romantisieren«, dieses Ausbrechen in dem Sujet der einzelnen Romane oft so wenig angemessene Beschreibungsorgien, bezichtigte sich seines Verfallenseins an die Tradition Hugos, wo er doch so gern die Tradition Balzacs in der maßvollen Bändigung Flauberts fortsetzen wollte. In Flaubert sah Zola den großen, unerreichten Meister, das Musterbeispiel, an dem der moderne Schriftsteller die Beschreibungskunst erlernen konnte. Ihm selbst dagegen war die Feder nur zu oft unter der Hand davongeeilt, ganz gleich, ob es darum ging, den raunenden Stimmen auf dem nächtlichen Friedhof in Plassans zu lauschen oder sich von den Düften des Paradou einhüllen zu las443
sen, die verlockend, verführend Albine und Serge umwehen, ob es galt, in den Pariser Markthallen Berge von Käse, Fleisch, Gemüse und Fischen zu Sachsymphonien aufzutürmen oder die Arbeiterheere durch das morgendliche Paris zu begleiten, ein Waschhaus mit allen Details zu beschreiben oder die Inneneinrichtung eines Boudoirs wiederzugeben. Je weniger liebenswert die Menschen in der Darstellung wurden, mit um so größerer Liebe neigte sich der Künstler den Dingen zu, überhöhte sie, verschönerte sie, vergrößerte sie, überhauchte sie mit allem poetischen Glanz, den er seinen Gestalten versagte. Dabei veranlaßten Zola in den seltensten Fällen ausgesprochen artistische Gesichtspunkte, weit ausladende Beschreibungen und handlungssprengende Sachsymphonien in seine Romane einzufügen. Die fünf Parisbeschreibungen in »Ein Blatt Liebe« stellen insofern fast eine einmalige Ausnahme dar. Als Zola in »Doktor Pascal«, am Ende seiner »Rougon-Macquart« angekommen, kritisch sein eigenes Werk überblickte und gleichsam seine künstlerische Absicht kommentierte, unterstrich er noch einmal die Vielgesichtigkeit dieser zwanzigbändigen Reihe: »Welche entsetzliche Masse ist da in Bewegung gesetzt ... Da ist ein Stück reine Geschichte ... Da sind soziale Studien ... einfache menschliche Studien, intime Seiten, Liebesgeschichten, der Kampf der Geister und Herzen gegen die ungerechte Natur, der Untergang jener, die von einer allzu schweren Aufgabe zermalmt werden, der Aufschrei der sich opfernden Güte, die den Schmerz besiegt ... Da ist Erdichtetes, der Höhenflug der Phantasie über die Grenzen der Wirklichkeit hinaus, unermeßliche Gärten, die zu jeder Jahreszeit in Blüte stehen, Kathedralen mit herrlich gearbeiteten Pfeilern, wunderbare Geschichten aus dem Para444
dies ... Es ist von allem darin, Gutes und Böses, Gemeines und Erhabenes, Blumen, Schmutz, Schluchzen, Lachen, der Strom des Lebens selber, auf dem die Menschheit endlos dahintreibt!« Bunt und vielgestaltig wie das Leben selbst, sollte dieses gewaltige Werk mit immer neuen überraschenden Wendungen den Leser in seinem Bann halten. Dazu war es notwendig, die einzelnen Romane auch untereinander kontrastieren zu lassen. Nach dem Skandal wegen der angeblichen »Amoralität« des »Totschlägers« schien Zola das einzige angemessene »Kraftstück« ein Roman, der durch seine gewollte Zartheit und seinen betont moralischen Ausgang das Publikum in Erstaunen versetzte. In seinen Briefen an Hennique, Céard, Alexis, Huysmans und Goncourt betont Zola immer wieder, wie zufrieden er über die Farblosigkeit dieses Stoffes sei, daß er diese »neue Note« nach dem »Totschläger« gewollt habe, auch wenn sie weniger kraftvoll und persönlicher als die andere wäre, auch wenn das Ganze ein wenig grau und platt bliebe und einen Roman für Pensionatstöchter ergäbe. Aber er täuschte sich natürlich nicht darüber hinweg, daß dieser Roman nicht den Publikumserfolg des »Totschlägers« erzielen würde. Vorbeugend schreibt er an Frau Charpentier deshalb, daß man zufrieden sein müsse, wenn davon 10000 Exemplare verkauft würden, und setzt sogleich tröstend hinzu: mit dem nächsten Roman, mit »Nana«, werde man diesen halben Mißerfolg wieder wettmachen. Mit diesem Roman werde er wieder in sein eigentliches Element zurückkehren. Und so scheint durch alle zur Schau getragene Zufriedenheit doch immer wieder das leise Mißbehagen durch, mit dieser einfachen Geschichte von Liebe
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und Eifersucht die bisherige Bahn der Reihe ein wenig verlassen zu haben. Tatsächlich hing »Ein Blatt Liebe« mit der Familiengeschichte der »Rougon-Macquart« nur sehr lose zusammen. Zwar war Hélène eine Rougon, stellte Jeannes krankhaftes Verhalten einen Sonderfall von Entwicklungsstörungen dar, der sich in die physiologische Aufgabenstellung des Romanzyklus einfügte, wurde der Reihenzusammenhang rein äußerlich durch den gleichzeitig mit diesem Roman veröffentlichten Stammbaum unterstrichen, aber in den Planentwürfen war der Roman nicht vorgesehen gewesen. Sein reales Interesse liegt auch weniger im äußeren Handlungsablauf – in dieser etwas banalen Liebesgeschichte zwischen Hélène und Doktor Deberle mit dem eifersüchtigen Dazwischentreten der Tochter, den Gewissensbissen der Mutter und ihrem schließlichen Verzichten – als vielmehr in der Art der psychologischen Darstellung. Zola hat sowohl die fortschreitende, zunächst noch unbewußt sich bahnbrechende Leidenschaft der Mutter, ihre seelischen Kämpfe, ihr Erliegen und Verzichten, wie auch die krankhaft übersteigerte Liebe der Tochter zur Mutter, all die vielfältigen, widerspruchsvollen Schwierigkeiten, mit denen ein junges Mädchen gerade in den entscheidenden Entwicklungsjahren zu kämpfen hat, die feinsten Regungen und Nuancen ihres Verhaltens mit so viel Beobachtungsgabe und Einfühlungsvermögen erfaßt und dargestellt, daß die Banalität der Fabel hinter der Größe dieser psychologischen Studie zurücktritt. So gesehen, kann man Hélène und Jeanne aus »Ein Blatt Liebe« neben die Gestalten der Marthe aus der »Eroberung von Plassans« und der Gervaise aus dem »Totschläger« stellen. 446
Und trotzdem forderte diese psychologische Studie nicht Zolas ganzes schöpferisches Vermögen. Als einer Art »Ersatzbeschäftigung« wandte er sich deshalb der Lösung von beinahe ans Artistische grenzenden formalen Problemen zu. Auf den ersten Blick ist sichtbar, daß Zola noch keinen Roman so gewollt, von äußeren Gesichtspunkten her, gegliedert hatte. Mit geometrischer Genauigkeit werden die fünf Teile zu je fünf Kapiteln angeordnet wie in einem streng gebauten klassischen Theaterstück. Die großen Parisbeschreibungen, mit denen jeder Teil im fünften Kapitel schließt, unterstreichen nur noch die wohlausgewogenen äußeren Proportionen und das formale Ebenmaß des Ganzen, und Zola hat sicher nicht zufällig davon gesprochen, daß sie in diesem fünfaktigen Roman eine ähnliche Funktion wie der Chor im antiken Theater erfüllen sollten. In seinen Briefen an Céard gesteht Zola auch offen ein, daß er durch gewisse »Feinheiten« wettzumachen suchte, was dem Roman an »Kraft« mangelte, und Huysmans kündigte er diese »Feinheiten«, worunter er seine Parisbeschreibungen verstand, als das Beste an, was er bisher geschrieben habe. Der ganze Ton verrät die Zufriedenheit eines Künstlers, dem offensichtlich die Bewältigung einer schwierigen Aufgabe gelungen ist. Tatsächlich waren diese Parisbeschreibungen, auch wenn man sie nur auf das demonstrierte handwerkliche Können hin überprüft, eine beachtliche schriftstellerische Leistung. In solcher Vollständigkeit hatte Zola noch nie ein Gesamtbild von Paris entworfen, obwohl seine Reihe, geographisch gesehen, schwerpunktmäßig auf die Hauptstadt konzentriert war. Die gelegentlichen Abstecher, in seine heimatliche Provence, nach Aix-Plassans, später in 447
die Beauce, zu den Kohlengruben von Anzin und zu den Kriegsschauplätzen im Norden, trugen demgegenüber episodischen Charakter, führten ihn mit beinahe unwiderstehlicher Gewalt immer wieder nach Paris zurück, diese von Haussmann, dem Planer der großzügigen Boulevards, in einen einzigen riesigen Bauplatz verwandelte Hauptstadt des Kaiserreichs, die Metropole der Spekulation, der Politik, der Industrie, des Handelns und des Genusses, diesen Treffpunkt der Potentaten Europas, der Dirnen und Hochstapler. In der Rue de la Goutte-d'Or, auf den Brücken der Seine, im Viertel um die Markthallen und die Börse, am Parc Monceau, in den Gemächern der Tuilerien, im Bois de Boulogne oder auf den Höhen des Montmartre vollzieht sich das Leben von Gervaise und Claude, von Lisa Quenu und Saccard, von Renée und Eugène Rougon, von Nana und Maurice. Straße um Straße, Stadtviertel um Stadtviertel ersteht vor unseren Augen. Aber sooft auch die Schauplätze wechseln, so genau auch die einzelnen Stadtteile mit ihren Boulevards und Straßen und Gassen, ihren Palästen, Häusern und Gärten in allen Einzelheiten beschrieben werden, immer bleibt die Beschreibung der Stadt irgendwie ausschnitthaft, ergibt kein großes Gesamtbild von Paris. Dennoch hat Zola in »Ein Blatt Liebe« nicht zum erstenmal und auch nicht das einzige Mal das Gesamtpanorama der Stadt entrollt. Schon in der »Beute« läßt er den Leser mit den Augen Saccards vom Montmartre auf das weite Häusermeer zu beiden Seiten der Seine hinabschauen. Aber eben mit den Augen Saccards, und die sehen die Dinge nicht, wie sie sind, sehen auch diese Stadt nicht als Stadt. Unter ihrem Blick wandelt sich alles, wie von jenem sagenhaften König Midas berührt, in Geld und Gold und Gewinn. Das endlose 448
Gewoge der Dächer, das Spitzengerank der Türme und Brücken, das flimmernde Band der Seine zaubert ihm nicht das Traumbild dieser märchenhaft schönen Stadt vor Augen, sondern die Vision der Haussmannschen Boulevardbauten. Wo heute noch das Leben pulsiert, Kinder spielen und Mädchen lachen, steigen für ihn bereits die Staubwolken der morgen eingerissenen Häuser auf, beginnt der Tanz der Millionen, von denen er sich sein Teil zu sichern hofft. Und so wandeln sich die flackernden Lichter der Straßenlaternen im nächtlichen Paris in gleißende Zwanzigfrancsstücke, in einen Goldregen, den er auffangen zu können glaubt, um ihn in seinen Taschen nach Hause zu tragen. Das Stadtbild wird vom Symbolgehalt des darüber gelagerten Assoziationsbildes völlig aufgesogen. Ähnliches vollzieht sich auch am Ende des »Zusammenbruchs«, dem vorletzten Band der Reihe, mit dem die Geschichte des Kaiserreichs praktisch abschließt. Der Standort, von dem Zola aus im letzten Kapitel die Stadt beschreibt, ist der gleiche wie in der »Beute«. Von der Höhe des Montmartre herab blickt Maurice, der in den letzten Barrikadenkämpfen tödlich verwundet worden ist, auf das zu seinen Füßen liegende Paris. Aber es ist nicht mehr das Paris der friedlichen, glücklichen Tage, sondern das brennende Paris der Commune. Ein Stadtteil nach dem andern lodert auf, bis das ganze Häusermeer schließlich in einem einzigen Flammenwirbel zu versinken scheint. Ein Bild, so grauenvoll, so düster, so gespenstisch, daß aus dem glutroten Himmel gleichsam die Erinnerung an den furchtbaren Untergang sagenhafter Städte, an Sodom und Gomorrha, an den Brand von Troja und an das brennende Rom, Neros Wannsinnstat, herniedersteigt und das brennende Paris zu einem einzigen gewaltigen 449
Symbol für die Apokalypse des Kaiserreichs wird. Und auf die Schaffung dieses Symbols kommt es Zola gerade an. Das brennende, lodernde, flammende Paris will er zeigen und nicht ein Panorama der Stadt entwerfen. Ganz anders dagegen verhält es sich in »Ein Blatt Liebe«. Hier will Zola tatsächlich die Silhouette dieser Stadt auf seine Leinwand bannen. Vor Hélène und Jeanne entrollt sich das Bild von Paris wie vor den Augen eines Malers. Und mit malerischen Mitteln ist es auch beschrieben. Schließlich war Zola nicht umsonst seit seiner Jugend mit Cézanne befreundet, nicht umsonst hatte er jahrelang in den Kreisen der Impressionisten verkehrt, nicht umsonst seine Laufbahn als Kunstkritiker mit einer aufsehenerregenden Artikelserie über Manet begonnen. Von den Malern hatte er gelernt, die Wirkung von Farbe und Licht zu berechnen, die Gegenstände nach den Erfordernissen von Komposition und Perspektive sinnvoll auf das Gesamtbild zu verteilen und dem Auge Haltepunkte zum Ausruhen zu schaffen. Daraus ergibt sich eine Art Grundschema seiner Beschreibungstechnik, wonach bei genauerem Zusehen fast alle großen Bilder Zolas gearbeitet sind, ganz gleich, ob es sich um Massenszenen wie in den Kämpfen um Sedan, Naturschilderungen oder Ortsbeschreibungen wie im vorliegenden Roman handelt. Zola beginnt mit einem großen Gesamteindruck: das morgendliche Paris, dessen Umrisse sich nur langsam und beinahe zögernd aus dem Frühdunst lösen; die endlose dunkle Weite, die sich wie ein schwarzes Meer geheimnisvoll in der Tiefe des Tales ausbreitet, ein Bild der Ruhe, des Friedens, des Glücks, aus dem plötzlich ein einzelnes Licht wie ein Fragezeichen aufleuchtet; die verschwommene Silhouette der Stadt, die ein Regen450
schleier dem Blick entzieht; das kalte Morgenlicht der Dezembersonne über den schneeerstickten, schmutzigweißen Dächern der Stadt ... Dann erst, nachdem er den Leser gleichsam in einem ersten Rundblick den Gesamteindruck hat aufnehmen lassen, treten aus dem weiten Horizont einzelne feste Punkte hervor, die in allen fünf Beschreibungen kaum abgewandelt werden. Im Norden die Anhöhe des Montmartre, dann auf dem rechten Seine-Ufer die Oper, die Tuilerien, der Louvre, die Kuppel von Saint-Augustin, der Turm Saint-Jacques und nach Osten zu die Arbeiterviertel und Vorstädte an der Peripherie, auf dem linken Ufer die Kuppel des Panthéon, die ungleichen Türme von Saint-Sulpice, die Kuppel des Invalidendoms und der viereckige Block der Ecole militaire. Als Mitteldiagonale bietet sich automatisch die Seine an, deren Brücken, in feinen Bögen übereinandergelagert, die Tiefenperspektive des Gesamtbildes unterstreichen. Nicht alle diese Bauten waren zu der Zeit, da der Roman spielt, schon vorhanden. Die Kritik hatte dies Zola übel vermerkt. In einem Vorwortbrief, den er 1884 gelegentlich einer Luxusausgabe dieses Romans an den Verlag schrieb, verteidigte und begründete er seine Verstöße gegen die historische Treue: »Einige Kritiker haben ... entdeckt, daß ich einen unverzeihlichen Anachronismus begangen habe, indem ich an den Horizont der großen Stadt die Dächer der neuen Oper und die Kuppel von Saint-Augustin gesetzt habe, und das in den ersten Jahren des Zweiten Kaiserreichs, als diese Gebäude überhaupt noch nicht erbaut waren. Ich gestehe meinen Fehler ein, ich halte meinen Kopf hin. Als ich im April 1877« (der Roman ist 1878 erschienen) »auf die Höhen von Passy hinaufstieg, Um mir Notizen zu machen ... war ich sehr 451
in Verlegenheit, weil ich im Norden keinen Haltepunkt fand, der meine Beschreibungen hatte stützen können. Nur die neue Oper und Saint-Augustin tauchten aus dem unbestimmten Meer der Schornsteine empor. Zunächst schwankte ich wegen chronologischer Bedenken. Aber diese Massen waren zu verführerisch, wie sie da am Himmel brannten und mir meine Arbeit erleichtern konnten, indem sie mit ihren herausragenden Umrissen einen ganzen Teil von Paris verkörperten ... und so bin ich erlegen ...« Es kam nicht oft vor, daß Zola aus rein künstlerischen, in diesem Fall malerischen Erwägungen heraus auf historische Exaktheit verzichtete. Wahrscheinlich gesellte sich zu dem Wunsch, das Relief der Stadt plastischer herauszuarbeiten, noch ein zweiter Grund. Wenn dieses Stadtbild wirken sollte, mußte der Leser des Jahres 1878 darin das Paris seiner Tage wiederfinden, und daraus war die Oper zumindest nicht wegzudenken. Doch zu Zolas beabsichtigter Wirkungsstrategie gehörte vor allem ein zweites. Ein leeres Häusermeer blieb tot, auch wenn die Gebäude darin den Lesern noch so vertraut und gegenwärtig waren. Und so holte Zola wie mit einem Feldstecher einzelne Punkte aus diesem großen Gemälde näher heran und führte sie vollständiger aus, erfüllte sie mit Menschen, Wagen, Tieren, brachte Leben und Bewegung hinein und schuf jene markanten Einzelheiten, durch deren Haftenbleiben in der Erinnerung der Gesamteindruck selbst nicht verblaßt. Hatte sich das Bild so in mehreren Wellen gleichsam auf den Betrachter zubewegt, wurde es in einem zusammenfassenden Schlußsatz wiederum an seinen ursprünglichen Platz zurückgenommen.
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Die fünfmal wiederholte Behandlung des gleichen Gegenstandes in dieser Weise war aber nur dadurch möglich, daß Zola das Stadtbild jeweils mit wechselnden Naturbildern koppelte. Er beschreibt nicht Paris schlechthin, sondern Paris an einem Frühlingsmorgen, an einem Sommerabend, da die Stadt nach einem Regenguß wie nach einem Bad reiner und strahlender emportaucht, in einer lauen Augustnacht, an einem trüben Spätherbstnachmittag, der unter den Regenböen eines fürchterlichen Unwetters Häuser, Straßen und Brücken begräbt, und an einem kalten Wintermorgen, da eine fahle Sonne das schneebedeckte Paris noch trostloser erscheinen läßt. Die wechselnden Tages- und Jahreszeiten mit ihrem wechselnden Spiel des Lichts, der Farben und Stimmungen schaffen zugleich die Möglichkeit, die fünf Parisbeschreibungen symbolisch mit der Handlung, mit dem Erleben von Jeanne und Hélène zu verbinden. Auch dieser Technik hat sich Zola häufig bedient. In jedem Roman ließen sich Beispiele dafür finden. Sofern dem Symbolgebrauch eine Ersatzfunktion zukam, nämlich die in den Romanen nicht genügend tief erfaßten gesellschaftlichen Zusammenhänge zu erhellen, ist er mit Recht kritisiert worden. Unterstreicht er dagegen wie in »Germinal« Ereignisse, die in der Gesamtdarstellung ausgeführt werden, oder wie im vorliegenden Roman seelische Vorgänge, deren Ablauf in einer fein nuancierten psychologischen Studie nachgezeichnet wird, so erhöht er die poetische Gesamtwirkung. Denn wenn Zola hier einem strahlenden Frühlingsmorgen die symbolische Bedeutung freudig erregten Hoffens unterlegt, ein Gewitter zum Ausdruck tiefster Verzweiflung, Gefühlsverwirrung, quälenden Verlassenseins macht, die Schneedecke einer Winterlandschaft 453
wie einen Mantel des Vergessens über die schmerzliche Vergangenheit breitet, dann ist diese Symbolik so unmittelbar mit Bildern und Vorstellungen menschlicher Alltagserfahrung verbunden, daß die auf identifizierende Teilnahme der Leser an dem Romangeschehen hin angelegte Erzählstrategie dadurch verstärkt wird. Zola hat tatsächlich in jedem dieser fünf Parisbilder die Naturstimmung herausgegriffen, die dem jeweiligen Seelenzustand Hélènes genau entspricht. Dadurch wird das große, weite Paris, der stumme Zeuge ihrer Hoffnung, ihrer Liebe und ihres Schmerzes, gleichsam mit einbezogen in ihr Erleben, und es ist, als weite der gewaltige Atem der Stadt ihr kleines Schicksal, verleihe ihrer Liebe jene Kraft, von der Maupassant meinte, daß sie das Weiterleben eines literarischen Werkes sichere. Rita Schober
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