Ein Hüter erwacht � von Timothy Stahl
Mensch und Tier waren ertrunken in einer Flut, wie sie nie zuvor und nie mehr he...
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Ein Hüter erwacht � von Timothy Stahl
Mensch und Tier waren ertrunken in einer Flut, wie sie nie zuvor und nie mehr hernach die Welt heimgesucht hatte. Der Allmächtige selbst hatte seine mißratene Schöpfung voller Zorn vom Antlitz der Erde getilgt. Nur die Familien Noahs und seiner Söhne fanden Gnade vor dem Herrn. Er befahl ihnen, ein gewaltiges Schiff zu bauen, in dem sie Zuflucht finden würden, bis daß die gewaltigen Wasser versiegten. Danach sollte das Geschlecht Noahs sich mehren und die Erde füllen. Und so geschah es. Untertan machen konnten die Menschen sich die Erde indes nicht. Denn noch etwas hatte die Sintflut überlebt – die seit jeher wahren Herrscher dieser Welt!
Was bisher geschah … � Lilith Eden, Tochter eines Menschen und einer Vampirin, wird von der Urmutter aller Vampire benutzt, um deren Versöhnung mit Gott in die Wege zu leiten. Nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hat und der Fluch von der Ur-Lilith genommen wurde, sendet Gott eine Seuche auf die Erde, die alle Sippenoberhäupter infiziert und von ihnen auf die Vampire und Dienerkreaturen überspringt. Sie sterben, als sie ihren Blutdurst nicht mehr löschen können. Lilith erhält den Auftrag, die verbleibenden Oberhäupter zu töten. Als sich durch das Sterben der Vampire das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse auf der Erde verschiebt, wird Gabriel geboren, eine Inkarnation Satans. Erst ist sich der Knabe, der rasch heranwächst, seiner Identität nicht bewußt, doch schließlich erkennt er seine Aufgabe: ein Tor zur Hölle zu öffnen, das von der Bruderschaft der Illuminati vor den Toren Roms im Kloster Monte Cargano bewacht wird. Letztlich scheitert das Vorhaben – nicht zuletzt durch Lilith Eden, die gemeinsam mit ihrem ärgsten Feind Landru durch das Tor in die Hölle – eine Dimension, die durch den Fall des Engels Luzifer entstand – gerissen wird. Bei ihrer Flucht aus den Gefilden der Hölle werden Liliths und Landrus Persönlichkeit gelöscht. Während Salvat, Führer der Illuminati und in Wahrheit der Erzengel Michael, in einer verzweifelten Aktion den Klosterberg sprengt und das Tor somit versiegelt, können die beiden entkommen. Sie wissen nichts mehr über ihr früheres Leben; nicht einmal, daß sie Vampire sind! Über Landrus Tarnidentität Hector Landers finden sie erste Spuren. Die seinen weisen nach Paris, die ihren nach Sydney. So trennen sich ihre Wege. In Frankreich wird Landru mit seiner dunklen Vergangenheit konfrontiert und erfährt als erster die Wahrheit über sich. Auf der anderen Seite der Erdkugel findet Lilith den Ort ihrer Geburt, wird aber von der dortigen Macht nicht mehr erkannt. Schließlich greift Moskowitz sie auf, ein Kollege von Liliths ehemaliger Freundin Beth MacKinsey.
Von ihm hofft Lilith mehr über sich zu erfahren – doch Moskowitz kennt ihre wahre Identität nicht und weiß auch nicht, daß sie Beth unter einem verderblichen Einfluß vor Monaten getötet hat. Derweil kommt es in Paris zur Begegnung zwischen der Werwölfin Nona und Landru. Landru erkennt seine Geliebte nicht – ein mörderischer Kampf entbrennt, aus dem Nona als Verliererin hervorgeht und flieht. Da sucht Gabriel, der ebenfalls den Untergang von Monte Cargano überlebt hat, Landru auf und bietet ihm einen Pakt an, den Landru nicht ablehnen kann. Der Knabe gibt ihm seine verlorenen Erinnerungen zurück. Daraufhin folgt Landru Nona und erfährt von ihr, daß sie im Dunklen Dom war, der Heimstatt der ersten Vampire. Der Dom ist zerstört – aber sie spürte eine mächtige Präsenz. Irgend etwas geht dort vor …
Prolog � Und der Herr … sprach in seinem Herzen: � Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen � um der Menschen willen … � 1. Buch Mose, Kap. 8, Vers 21 In Sumer hatten sie den Menschen als Götter gegolten. Sie selbst hatten sich »die Hohen« genannt. Und tatsächlich waren sie Geschöpfe von ganz besonderer Art, deren wahres Wesen indes nur einem einzigen Menschen bekannt war: ihrer Mutter Lilith, Adams erstem Weib. Heimlich war die Brut einst, ganz am Anfang der Zeit, ihrem Leib entschlüpft, und um sie vor dem Zugriff Gottes zu schützen, hatte Lilith ihre Geheimen Kinder in die Zukunft dieser gerade erst geschaffenen Welt geboren und ihnen auf den Weg hinaus in die Zeit Kräfte gegeben, die sie von allen Menschen dort unterschieden und über sie erhoben. Ihr göttlicher Status in jener Zeit fußte auf eben jener Macht, und Liliths Kinder nutzten sie weidlich – unbarmherzig und rücksichtslos. Anum, Ea, Schamasch, Ischtar und wie sie alle hießen – sie schwangen sich auf zu Herrschern über das Volk im Lande Sumer. Angst neigte den Menschen die Köpfe in scheinbarer Ehrfurcht; Opfer wurden den Göttern dargebracht, die sich vom Blute der Bedauernswerten nährten. Als die alles verschlingende Flut nahte, wurde auch den Hohen diese Kunde zugetragen. So ließen sie ein riesenhaftes Schiff zu ihrer Rettung erbauen, ganz in der Art, wie der alte Noah es tat. Und obgleich Bauweise und selbst Details einander glichen, bestand doch ein Unterschied zwischen beiden Schiffen – einer, der nicht mit dem Auge zu sehen, sondern allenfalls zu erahnen und mit einem tiefe-
ren Sinn zu erspüren war: Noahs Arche trug den Keim für neues Leben in mannigfaltiger Art in die Zukunft, war Hoffnung selbst; im Schiff der Hohen jedoch überdauerte allein Grausamkeit die Zeit der Flut, und es war, als atme ihr Holz all jene Gewalt, die sich in ihrem Schutz verbarg, als bösen Odem, der sich darumlegte wie eine schwarze Aura. Vielleicht nannten die Hohen Wesen ihr Gefährt deswegen die Dunkle Arche … Als die Wasser nach vielen Tagen und Nächten endlich versiegten, erreichte die Dunkle Arche ebenso wie die Noahs jenen gewaltigen Berg, den man auch heute noch Ararat nennt. Doch ankerte das Schiff der Hohen nicht am Fels – sondern darin! Eine Grotte, nah am Gipfel gelegen, nahm die Dunkle Arche auf, verschlang das monströse Schiff wie das Maul eines Ungeheuers. Im hohlen Herzen des Berges kam die Arche der Hohen zur Ruhe – und veränderte sich. Verschmolz mit dem Fels des Ararat. Holz und Stein wurden eins, und es erwuchs aus dieser Verbindung das vielleicht größte Geheimnis dieser Welt – und eines, das nie ein Mensch lüften sollte. Der Dunkle Dom war entstanden, und darin sanken die Hohen Wesen in tiefen Schlaf, ein jeder in einer eigenen Kammer. Denn zugleich war dies auch die Geburtsstunde der Hüter. Ihre Bestimmung war es seitdem, ein eigenes Volk zu begründen unter den Menschen und es anzuleiten und zur Herrschaft zu führen über jene, die ihm fortan Werkzeug und Nahrung in einem sein sollten. Noch aber verstrich lange Zeit, ehe der erste der Hüter erwachte. Erst als draußen der Boden bereit war, verließ er die Heimstatt im Ararat und ging hin, um seine unheilige Saat auszubringen. Tausend Jahre genügten ihm, ein Volk zu erschaffen, das er die Alte Rasse hieß. Die Menschen aber gaben ihm einen anderen Namen. Vampire …
* Lange vor Christus … Die Nacht war von schwüler Wärme, und die Luft quoll wie zähflüssig durch die Fensteröffnungen der Lehmbauten, kaum atembar, weil sie die Gerüche und Dämpfe der Stadt von draußen hereinspülte. Das Keuchen des ineinanderverwundenen Paares klang wie das Röcheln Sterbender, und Schweiß hüllte ihre Leiber wie in die Schwaden eines heißen Bades. Nicht einmal in Nächten wie diesen konnte Keret von Moira lassen, trotzdem ihm die Hitze jeden Stoß seines Beckens zur Qual geraten ließ. Ihr süßer Duft und Geschmack jedoch, die er mit Nase und Zunge von ihrer Haut nahm, gierig wie ein Ertrinkender, der nach dem allergeringsten Tröpfchen lechzte, vergalten ihm alle Anstrengung. Die feuchte Wärme ihres Schoßes umschmiegte sein Glied gleich einem Futteral. Keret wand sich wie in Krämpfen auf Moiras nacktem Leib, den sie so fest an ihn preßte, als wollte sie mit ihm verschmelzen, ganz und gar und für alle Zeit. »Laß mich«, stöhnte er, als er sich aus ihr zurückziehen wollte, um sich noch nicht in sie verströmen zu müssen. Jede Ader im Leibe schien ihm unter der Macht des kochenden Blutes zu platzen. Moira erwiderte jeden seiner Laute und drängte ihr Becken immer fester gegen das seine, bis er einen süßen Tod zu sterben meinte und sich beinahe schon gewaltsam aus der Klammer ihrer herrlich samtenen und doch so kräftigen Beine befreite. Völlig ermattet, erschöpft und keuchend sank er neben ihr aufs Lager. Vier, allenfalls fünf Atemzüge lang gönnte Moira ihm Ruhe. Dann spürte er die sanfte Berührung ihrer Finger von neuem. Im ersten Moment wollte er sich ihr entziehen, doch ein Blick in Moiras Ge-
sicht genügte, Kraft und Lust in ihm aufs neue zu wecken. Der volle Mond goß sein Licht durch das Fenster über ihrem Nachtlager. Moiras Haut schimmerte wie Alabaster, und die makellose Glätte unter Kerets streichelnden Händen kam dem Vergleich noch zugute. Er lächelte, tief berührt. Und sehr glücklich. Moira war die Schönste der Stadt, in seinen Augen jedenfalls, und daß sie sich ihm zum Weibe geschenkt hatte, konnte er mit Worten und Gedanken nicht genug vergelten. Seine nie versiegende Lust auf sie sollte Moira ein Zeichen sein, wie sehr er sie liebte und begehrte. Und überdies konnte er schlicht nicht anders, als sie zu wollen – immer und immer wieder und zu jeder Zeit. Wie durch ein Wunder hatte die Geburt ihrer Kinder Moiras Körper nichts von seinem wunderbaren Reiz genommen. Im Gegenteil, die Schwangerschaften schienen ihre Rundungen vollendet zu haben, wie die Hände eines geschickten Künstlers. Ein Blick, oft sogar nur der Gedanke an Moira genügte, um Kerets Blut in Wallung zu bringen. Ihr anmutiges Antlitz, ihr leises Lächeln entschwanden nunmehr seinem Blick. Ihr dunkler Schopf kam auf Höhe seiner Lenden zur Ruhe, wie ein Schleier breitete sich ihr Haar dort aus, als gelte es zu verhüllen, was Moira tat. Aller Lust und neu erstehender Leidenschaft zum Trotz schmerzte ihn die Berührung ihrer Lippen nach dieser langen Nacht. So bedeutete er Moira, über ihn zu kommen. Erst saß sie rittlings auf seinem Becken, doch er zog sie höher, bis sie nahe genug war, daß er sie mit Lippen und Zunge liebkosen konnte. Moira wand sich und sank schließlich zurück, massierte sich selbst die vollen Brüste und rieb deren dunkle Knospen, während Keret nicht innehielt, der Geliebten Freuden zu spenden. Und dann – war es vorbei! Von einem Lidschlag zum nächsten. So plötzlich, daß Keret schier erschrak.
Hatte er eben noch Moiras im Mondlicht blasse Haut mit Alabaster verglichen, so schien sie nun mit einemmal tatsächlich ganz und gar daraus zu sein. Erstarrt, wie versteinert lag sie auf ihm, und sie schien ihm um vieles schwerer, als sie es wirklich war. Das Atmen bereitete ihm noch ärgere Mühe denn zuvor. »Was ist?« Keret preßte die Worte über die Lippen. Zwei, drei Atemzüge lang regte Moira sich noch immer nicht. Eisiges Entsetzen sackte Keret in alle Glieder. War sie –? Nein! Keret keuchte, erst erschrocken, dann erleichtert, als Moira sich doch endlich rührte. Sie wandte den Kopf, richtete den Blick ins Dunkel des Raumes, wohin das Licht des Mondes nicht mehr reichte und sich im Finstern die Türöffnung verbarg. Der Vorhang aus gläsernen Perlen, Muscheln und anderem Zierat klirrte ganz leise in einem trägen warmen Windhauch, der durchs Fenster hereinwehte. »Still!« zischte Moira, und Keret verbot sich selbst den Atem daraufhin. Moira lauschte sichtlich angestrengt ins Nichts, und er tat es ihr nach. Indes ohne etwas wahrzunehmen, das nicht steter Teil der Nächte gewesen wäre – Stimmen aus der Ferne etwa, und die Geräusche einer Stadt überhaupt, die zu keiner Zeit recht zur Ruhe kam. »Was ist?« fragte Keret ein weiteres Mal. Der Schrecken ließ von ihm ab, hinterließ jedoch Beunruhigung wie als Echo seiner schwindenden Präsenz. »Hast du nichts gehört?« fragte Moira leise. »Nein, was …« »Da war etwas«, stieß Moira überzeugt hervor. Als wäre sie erst jetzt wieder Herr ihres Körpers, glitt sie hastig von Keret und entschwand nackt ins Dunkel. Er folgte ihr hinaus in das nicht überdachte und winzige Karree, das den Innenhof ihres Hauses darstellte und wo sich zugleich auch der größte Teil ihres Familienlebens abspielte. Von hier aus führten
die Türen zu den wenigen weiteren Kammern ab. Keret sah Moira in jene Öffnung eintauchen, hinter der ihr Jüngster schlief. Die Hitze der Nacht schien mit einemmal wie fortgeblasen. Eine Kälte, wie Keret sie nie zuvor am eigenen Leib verspürt hatte, trat an deren Stelle und ließ ihn schaudern bis ins Mark – noch bevor Moiras spitzer Schrei sein Herz schier gefrieren ließ! Im nachhinein vermochte Keret sich nicht mehr daran zu erinnern, den Raum überhaupt betreten zu haben. Er stand unvermittelt dort, wie von fremder Macht hineingetragen, und unfähig, auch nur das kleinste Glied zu rühren. Das Nachtlager der Kammer – war verlassen. Moira schluchzte. Erstickt hörte Keret den Namen ihres jüngsten Sohnes heraus. »Tithonos …« Nach einer Weile trat Keret an das Fenster des Zimmers. Die Stadt draußen war im Mondenschein ein Gewirr aus Licht und kantigen Schatten. Ein Stück die Straße hinab jedoch – Keret gab sich nur zu bereit dem Glauben hin, einer Täuschung erlegen zu sein. Und im nächsten Moment sah er sie denn auch schon nicht mehr – die beiden schattenhaften Gestalten, die eine dritte, um vieles kleinere mit sich in die Nacht führten … Keret ahnte wohl, was geschehen war. Nun hatte es also auch seine Familie getroffen. Aber wie die anderen, deren Schicksal Keret nunmehr teilte, würde er nichts unternehmen wegen des Verschwindens seines Sohnes; nicht einmal in Gedanken war er willens, von Raub zu reden. Moira trat neben ihn. Der Schweiß war auf ihrer Haut erkaltet, und als sie sich nun gegen Keret drückte, klebten sie fast aneinander, als wollte das Ereignis dieser Nacht sie für alle Zeit noch enger aneinander binden. »Was wird mit ihm geschehen?« flüsterte Moira heiser.
Keret schluckte hart. Das Sprechen bereitete ihm Mühe, und seinen Worten fehlte die wahre Überzeugung. »Es wird ihm wohl ergehen«, sagte er. »An nichts wird es unserem Sohn mangeln.« Sein Blick wanderte hinauf zum höchsten Ort der Stadt. Die Nacht schlug ihn ein in ihren dunklen Mantel, den das Mondlicht nicht durchdrang. Kerets Stimme sank zu einem Flüstern, in dem ein ganz vager Hauch von Ehrfurcht klang. »Die Götter haben ihn zu sich genommen …«
* In derselben Nacht, in dieser Stadt – nur wenig später Eines Menschen Auge mußte hier nahezu blind sein. Die Lichter waren so sparsam gesetzt wie Sterne an einem verhangenen Nachthimmel, und so erhellten sie den Ort kaum, sondern vertieften seine Finsternis eher noch. Doch die elf Kinder, die in der Mitte des Raumes zusammengetrieben worden waren, kannten keine Furcht, nicht vor der Dunkelheit, und auch ihr ungewisses Schicksal ängstigte sie nicht. Jene, die die Kinder – keines von ihnen älter als im vierten Jahr – an diesen Ort gebracht hatten, aus den Häusern und Hütten ihrer Eltern heraus entführt, hatten ihnen alle Angst genommen und ihren Willen gebrochen, so daß sie nun gehorsam, teilnahmslos dastanden und der Dinge harrten, die ihnen in dieser Nacht bestimmt waren. Ihren Entführern indes genügte das wenige Licht sehr wohl zum Sehen. Ihr besonderer Blick bestrich alles mit rötlichem Glanz, wie von frischem Blut. In manchem Augenpaar funkelte mühsam bezwungene Gier nach dem Blute eben dieser Kinder, doch es war ihnen tabu.
Dennoch waren die Kinder schon dem Tode geweiht. Noch in dieser Nacht sollten sie sterben, um dann jedoch zu neuem Leben zu erwachen. In der Obhut derer, die sie unter allen Kindern der Stadt ausgewählt hatten, würden sie aufwachsen, viel schneller als jedes gleichaltrige Menschenkind, und alsbald schon würden sie vollwertige Mitglieder der Sippe sein. Wenn ihr Blut erst einmal geschwärzt war nach dem Trunk aus dem unheiligen Gral der Alten Rasse … Um zwölf junge Brüder sollte die Sippe der Stadt in dieser Nacht wachsen. Und eben wurde das letzte Kind gebracht. Zwei Vampire führten den Knaben zwischen sich ins Innerste des Tempels, in dem die Menschen draußen tatsächlich die Wohnstatt von Göttern sahen. Daß in den Priestern und Wächtern dieses Tempels längst alles Leben erloschen war und nur der Tod sie noch bewegte, ahnte keiner. Zu groß war die Ehrfurcht der Menschen, als daß es auch nur einer gewagt hätte, die Geheimnisse dieses Ortes ergründen zu wollen. »Endlich«, seufzte Priamos, als er der beiden letzten Ausgesandten ansichtig wurde. »Was hielt euch auf?« Einer der beiden Angesprochenen, Paris, verzog die Lippen zu einem häßlichen Grinsen. »Die Eltern dieses Knaben boten uns ungewollt ein köstliches Schauspiel, dem wir eine Weile beiwohnten.« Seine Geste war eindeutig. »In Nächten wie dieser sollt ihr euch nicht mit solcherlei Vergnügen ablenken«, belehrte das Sippenoberhaupt den Vampir, in dessen düsterem Blick das voyeuristische Vergnügen noch nachzuglimmen schien. »Wenn der Hüter seinen Besuch ankündigt, soll die Ehre unserer Aufmerksamkeit allein ihm zuteil werden.« »So sei es.« Paris neigte demütig das Haupt vor seinem Blutvater, während der zweite den Sohn Kerets und Moiras zu den anderen Knaben brachte. Im Kreis umstanden die Vampire dann die Kinder, wartend auf die Ankunft des Kelchhüters, aus dessen Hand sie alle einst im Lau-
fe von annähernd tausend Jahren den Tod und neues Leben in einem empfangen hatten. Stunde um Stunde verging. Geduldig und reglos harrten sie aus. Bis das erste Licht des neuen Tages draußen an den Mauern hochkroch. Der Hüter jedoch kam nicht. Nicht in dieser Nacht, und in keiner der nächstfolgenden. Und so geschah etwas, das in tausend Jahren nicht geschehen war in dieser Stadt und nie wieder geschah: Die Todgeweihten durften auf Priamos’ Geheiß hin heimkehren zu ihren Familien. Weil die Sippe nicht zu ihrer neuen Heimstatt geworden war und das Oberhaupt im Nichterscheinen des Hüters ein Zeichen dafür sah, daß diese Kinder wohl unberührt von der Alten Rasse bleiben mußten …
* Der Gedanke und das damit einhergehende Gefühl waren eigenartig, und der Hüter wußte nicht, woher beides rührte. Aber unleugbar waren sie da, in ihm. Und er zog eine Art seltsamer Erleichterung daraus. Der Kreis schließt sich, zum ersten Mal … Unvermittelt hielt der Hüter inne. Er zog am Zügel seines Pferdes, das unruhig auf der Stelle tänzelte, während er hinaufsah zum höchstgelegenen Bauwerk der Stadt, deren Tore ihm wie all die Male zuvor bereitwillig geöffnet worden waren. Keines Wortes hatte es dazu bedurft, ein bloßer Blick in die Augen der Wächter hatte genügt. Dort oben warteten sie auf ihn. Sie, die ihm ihre besondere Kraft, ihr besonderes Leben verdankten – ihm und dem Kelch, den er hütete und von Land zu Land trug. Seit tausend Jahren. Der Verwalter des Unheiligtums der Alten Rasse ließ den Blick
umherschweifen, über die Stadt hinweg. Wie sehr hatte sie sich doch verändert in all dieser Zeit. Aus einer kleinen Ansiedlung war ein jetzt schon bedeutendes Handelszentrum geworden, und dem Wachstum dieser Stadt schien kein Ende zu sein. Ein Lächeln ging über die Züge des Hüters. O ja, es war damals die rechte Entscheidung gewesen, hier in dieser Stadt einen der Grundsteine zu legen, auf denen die Macht der Alten Rasse sich gründen sollte. Es war diese Entscheidung so richtig gewesen wie viele andere. Er hatte die Aufgabe nicht nur des Kelchhüters, sondern mehr noch des Schöpfers eines ganzen Volkes mit Bravour gemeistert. In tausend Jahren war es aus kleinen Anfängen prachtvoll gediehen, und heute reichten die Wurzeln der Alten Rasse schon tief hinein in jedes Menschenvolk dieser Welt. Die tausendjährige Reise hatte an den Kräften des Hüters gezehrt, obgleich er sich an ihren Anfang noch erinnerte, als läge er kaum einen Tag zurück. In tiefer Dunkelheit war er einst erwacht und in vollkommener Stille, die ihm rückblickend noch tiefer erschien als jene des Todes, die er im Laufe der langen Jahre ein ums andere Mal kennengelernt hatte. Nichts und niemand hatte ihm damals eingesagt, was fortan seine Aufgabe wäre; er hatte sie übernommen, als wäre sie Teil seines umfassenden Wissens, das alles Notwendige über die Menschheit und die Welt an sich enthalten hatte. Und so hatte er den Ort seines langen Schlafes, dessen Vorher ihm nie von Interesse gewesen war, verlassen und war hingegangen, um seinen Auftrag zu erfüllen. Über die Jahrhunderte hatte er das Wachsen seines Volkes verfolgen können, und mit der Zeit hatten sie ihn in einen besonderen Status erhoben – sie sahen in ihm eine Art Gott; in jedem Fall aber hielten sie ihn für den Mächtigsten aller Vampire, und das mochte er wohl auch sein, wenngleich er seine wahre Macht selbst nie erfahren hatte, denn es war nicht notwendig gewesen, sie bis zur Neige auszuschöpfen. Die Ignoranz und Dummheit der Menschen hatten stets
für Kelch und Hüter gearbeitet, so daß es kaum je Schwierigkeiten gegeben hatte, die Alte Rasse zu etablieren. Obwohl aber die Macht der Vampire prächtig gediehen war und Früchte trug, durfte der Hüter in seinem Bemühen, diese Macht zu mehren, nicht nachlassen. Denn die Welt wuchs stetig in dieser Zeit; neues, bis dahin unbekanntes Land wurde besiedelt, und überall dort war das Wirken von Kelch und Hüter erforderlich, sollte die Geheime Herrschaft der Alten Rasse weiter wachsen. Und das sollte sie, natürlich, aus gutem Grunde, der da hieß – Der Ausdruck im wahren Gesicht des Hüters (in jenem also, das unter seiner Maske lag) wurde überlegend. Der Grund, über den er eben nachgesonnen hatte – er wußte, daß es ihn gab; und doch kannte er ihn nicht. Noch nicht … Zugleich aber hatte er das Gefühl, daß dieser Grund zum Greifen nahe war – daß er ihn erfahren würde, bald schon. Als Lohn für sein Wirken? »Was ist nur mit mir«, fragte er sich leise, »daß mich gerade in dieser Stunde solche Gedanken heimsuchen?« Als müßte er sich dazu zwingen, sah der Hüter wieder hinauf zum Versammlungsort der hiesigen Sippe. Dorthin mußte er, dort wurde er erwartet, wohl sehnlichst schon. Gerade wollte er seinem Pferd die Fersen in die Weichen stoßen, um es weiter den Weg hinaufzutreiben, als er inmitten der Bewegung verhielt. Weil – etwas zu ihm sprach! Etwas, das ihn tausend Jahre lang begleitet und immerdar geschwiegen hatte. Und nun plötzlich … »Deine Zeit ist um! Geh dorthin zurück, woher du einst kamst! Geh sofort. Du wirst erwartet!« Der Hüter spürte die unmögliche Bewegung auf seinem Gesicht, und die Worte kamen von Lippen, die zu seinen geworden waren. Dennoch war es nicht seine Stimme, die da sprach, sondern – – die der Maske! � Sie lebte! Diese tote Haut, die sein wahres Gesicht seit tausend Jah-
ren vor jedem Blick verbarg, lebte! Damals, als er erwacht war, hatte er die Maske zu seinen Füßen gefunden. Wie von selbst hatte er sie sich übergestülpt und an seiner Haut befestigt, und im Laufe der Zeit war sie ihm so vertraut geworden, als wäre sie sein eigenes Antlitz, das taub geworden darunter lag. Warum er sie trug, diese Frage hatte er sich nie gestellt. Erst jetzt kam sie ihm in den Sinn – und vielleicht würde die Maske selbst sie ihm ja beantworten. Hastig riß er sich die dünne Haut vom Gesicht. Die Nähte, die Maske und Fleisch miteinander verbunden hatten, rissen, ohne daß der Hüter Schmerz gespürt hätte. Die winzigen Wunden in seiner Haut schlossen sich in der Art und Dauer eines Lidschlags. Ein feines Prickeln belebte sein eigenes, so lange verstecktes Gesicht. Mit beiden Händen spannte er die Maske und sah in ihre so gestrafften Züge, die leer und ausdruckslos wirkten, tot eben. »Was redest du da?« fragte er. »Und wer bist du? Mit wessen Stimme sprichst du?« Der leere Mund, durch dessen Spalt er die Mähne seines Pferdes sehen konnte, bewegte sich, redete ohne Zunge und doch klar und deutlich. »Deine Zeit ist um«, wiederholten die Lippen. »Kehre zurück in die Heimstatt.« »Aber … weshalb?« Nie hatte der Hüter die Kälte des Todes erfahren. Jetzt griff sie nach ihm, nahm ihn in ihre gewaltigen Klauen, grub sich tief in ihn und ließ sein ohnedies schon kaltes Fleisch gefrieren, wie ihm schien. Die Maske – veränderte sich. Die Ausdruckslosigkeit schwand und machte fremden Zügen Platz. Der Hüter sah in das Gesicht eines Vampirs, dem er nie zuvor begegnet war. Dennoch war etwas unbestimmbar Vertrautes daran; etwas, das den Hüter – beruhigte … erleichterte?
»Dies ist dein Nachfolger«, erklärte die Maske dumpf, nun aus dem Mund des Fremden. »Übergib ihm den Kelch. Deine Arbeit ist getan.« Einen zeitlosen Moment lang wollte sich etwas im Hüter des Kelches aufbäumen; etwas, dessen Kraft im Laufe von tausend Jahren nachgelassen hatte und das doch nicht gänzlich vergehen wollte. Doch der Hüter schloß die Augen, konzentrierte sich ganz auf dieses Etwas tief in ihm – und er bezwang es. Ergeben nickte er. »So gehe ich denn.« Als wäre nichts geschehen, befestigte er die Maske wieder über seinem Gesicht. Das kaum erwachte Gefühl wich aus seinem Gesicht, Taubheit und Kälte krochen ins Fleisch zurück. Dann ließ der Hüter sein Pferd kehrtmachen und trieb es den Weg hinab, ohne noch einmal zum Versammlungsort der hiesigen Sippe aufzusehen. Seine Arbeit war getan, seine Zeit war um. Die eines anderen würde beginnen, und er würde das Werk fortsetzen … Längst jenseits der Mauern und nahe des Flusses Skamandros machte der Gralshüter noch einmal Halt. Von der Anhöhe herab übersah er die Stadt. Er hoffte, daß sein Nachfolger sich ihr in gleicher Weise widmen würde, wie er es stets getan hatte. Sie war es wert, im Auge behalten zu werden. Die Zukunft würde ihre Macht noch mehren. Der Hüter war sich dessen gewiß, daß diese Stadt noch eine gewichtige Rolle spielen würde in der Weltgeschichte – und nicht zuletzt würden die Vampire maßgeblichen Einfluß darauf haben. Auf das Schicksal Trojas …
* Wie mit eisigen Klingen hieb der Wind in dieser für jeden Menschen unerreichbaren Höhe nach dem Hüter. Der Schmerz war von solcher Intensität, daß er selbst einem Wesen wie ihm zumindest doch
unangenehm war. Dennoch ließen die ledernen Schwingen nicht nach in ihrer gleichförmigen Bewegung; sie schlugen weiter durch die vor Kälte starr scheinende Luft und trugen den bepelzten Leib immer höher hinauf, den im Licht des vollen Mondes silberglänzenden Gipfeln des höchsten Berges weit und breit zu. Vor tausend Jahren hatte der Hüter die Heimstatt im Ararat verlassen. Er entsann sich noch gut jener Nacht, da er über die Welt gekommen war. Unberührt und unschuldig war sie ihm erschienen, und doch auch einem fruchtbaren Acker gleich, der nur darauf wartete, bestellt zu werden. Und eben das hatte er getan. Des ersten Hüters Soll war nunmehr erfüllt. Ein anderer mochte sich fortan seiner Saat annehmen, auf daß sie fürderhin gedieh und sich mehrte. Ein eisiger Windstoß fuhr heulend und fauchend über die Felsgrate, packte die widernatürlich große Fledermaus und brachte sie für Augenblicke ins Trudeln. Ein für Menschen unhörbarer Laut fuhr aus ihrem aufgerissenen Maul, erschrocken und wütend in einem, als der Lilienkelch ihren Klauen entgleiten wollte und ins Bodenlose zu stürzen drohte. Hastig faßte der Hüter nach, schloß seine Krallen so fest um den Stiel des Kelches, als wollte er sie in das Material, das weder Stein noch Metall war, hineinbohren. Dann hielt er den Gral wieder sicher und trug ihn weiter mit sich, den höchsten Zinnen des Berges zu. Wären einem Menschen Flügel gewachsen und hätten sie ihn in solche Höhe zu tragen vermocht, so wären seine Augen doch blind gewesen für den Anblick, der sich dem Hüter nun, beinahe schon am Ende seiner Reise, erschloß. Er erfaßte ihn mit den Sinnen des Tieres, dessen Gestalt er nutzte, weil der Gipfel des Berges auf anderem Wege nicht zu erreichen war. Die Flanke des Ararat war narbenzerfurcht wie die Haut eines altgedienten Kriegers und mit steinernen Geschwüren übersät wie der Leib eines Sterbenden, den alle Seuchen dieser Welt zugleich befallen hatten. Dunkle Spalten wanden sich zwischen aufragenden Kämmen in den Fels, und die Nacht füllte sie mit Finsternis, als
würde flüssiges Pech hineingegossen. Einer dieser Klüfte galt die besondere Aufmerksamkeit des Hüters. Dicht unterhalb des schneegekrönten Hauptes des Ararat spaltete sie den Fels. Keine Auffälligkeit unterschied sie von anderen Kerben, die wie mit der Axt eines Giganten in den Stein geschlagen aussahen. Dieser einen jedoch wandte der Kelchhüter sich zu. Als er sich unmittelbar darüber befand, legte er die Schwingen an, und wie ein fallender Stein stürzte er der Schwärze drunten entgegen. Ganz so, als söge sie ihn und den Kelch an, tauchte er in die Lichtlosigkeit der Felskluft ein, und weiter ging sein rasender Fall einen schroffwandigen Schlot hinab, so sicher jedoch, daß kein vorstehender Grat den pelzigen Leib oder die Flügel der Fledermaus auch nur berührte, geschweige denn verletzte, obschon das haltlos tiefer und tiefer stürzende Wesen der Felswandung ein ums andere Mal gefährlich nahe kam. Dann plötzlich – ganz so, als wäre ihm der Befehl dazu eingeflüstert worden – spreizte der Hüter die Schwingen. Sofort staute sich eisige Luft unter den ledernen Häuten. Die Fledermaus wurde ein Stückweit wie auf unsichtbarem Polster federnd in die Höhe getragen, dann glitt sie von eigenem Fügelschlag getragen weiter, tief hinein in ein Labyrinth aus Stollen und Spalten, die den Berg durchzogen wie versteinertes Aderwerk – – das schließlich im hohlen Herzen des Ararat mündete: im Dunklen Dom, der die Heimstatt der Hüter war. Der Raum war riesig in seinen Ausmaßen, gewaltiger als jeder Palast und Tempel, den der Hüter auf seiner tausendjährigen Wanderung gesehen hatte. Die Form des Domes war der eines Vulkankegels nachempfunden. Die Felswände ragten steil auf, um sich weit über dem Boden zu treffen; doch lag dieser Punkt so hoch droben, daß nicht einmal des Hüters Blick ihn auszumachen imstande war. Bis auf einen altarartigen Block in der Mitte war der Dunkle Dom leer. Ringsum führten verschlossene und versiegelte Gänge ab, die in Kammern mündeten, wie der Hüter wußte. Schließlich war er
selbst in einer solchen Kammer erwacht, und der Weg, der ihn damals in den Dunklen Dom geführt hatte, lag als einziger von allen offen da. Tausend Jahre waren spurlos vorübergegangen an diesem Ort. Nun wieder in seiner ursprünglichen Gestalt, wandte der Hüter sich dem Altar inmitten des Felsendomes zu. Grünliches Licht, das aus den Wänden selbst sickerte, belegte alles mit fahlem Schein. Breite Stufen, die sich bei der Entstehung des Domes zufällig gebildet haben mochten, führten zu dem altarähnlichen Block hinauf. Den Kelch mit beiden Händen umfassend, schritt der Hüter dorthin, langsamen, gemessenen Schrittes. Er befand sich gerade auf halbem Wege, als ein Geräusch ihn innehalten ließ – ein Knirschen und Reißen wie von uraltem Holz, das beinahe schon versteinert war. Ohne Erschrecken richtete der Hüter den Blick in die Richtung, aus der die Laute zu ihm drangen. Einer der Gänge, die zu den Kammern der Hüter führten, öffnete sich. Das Holz löste sich aus dem Verbund mit dem Fels ringsum – und verschwand. In der nahezu runden Öffnung, die sich dahinter auf tat, erschien eine Gestalt, deren Details das Dämmerlicht noch nicht preisgab. Erst als sie aus dem Gang trat und schweigend näherkam, erkannte der Hüter Einzelheiten. Die Kleidung des anderen glich jener, die er getragen hatte, nachdem er einst erwacht war – ein dunkles, schlichtes Gewand, das bis zum Boden reichte. Dann, als der andere so wie er die Hälfte der Strecke zum Altar hin zurückgelegt hatte, konnte der Kelchhüter dessen Gesicht ausmachen. Es war ihm nicht fremd, entsprach es doch genau jenem, das die Maske ihm vor Tagen gezeigt hatte, als ihre Stimme ihn zurück zur Heimstatt befohlen hatte. Aber es war ihm nicht allein deshalb vertraut; ihm war vielmehr so, als kenne er es schon seit langer, seit sehr langer Zeit … Stumm musterten sie einander eine Weile lang. Dann, wie auf ein geheimes Zeichen hin, setzten sie den Weg fort, bis sie sich am Altar
gegenüberstanden. Der Hüter fand in den so seltsam bekannten Zügen des anderen nichts, was ihm verraten hätte, daß die Vertrautheit auf Gegenseitigkeit beruhte. Schließlich senkte er den Blick, und jetzt erst sah er das fleischfarbene Etwas, das der andere in Händen hielt: die Maske des Hüters. Er zweifelte nicht daran, daß sie der seinen absolut gleichsah. Den Vampirsippen würde der Amtswechsel verborgen bleiben; die Maske machte einen Hüter dem nächsten gleich. Jeder Nachfolger konnte das Ansehen, das sein Vorgänger sich erworben hatte, nutzen und darauf bauen. Die Oberfläche des Blockes wies eine Aussparung auf, in die der Fuß des Kelches sich paßgenau fügte. Von genau dieser Stelle hatte der Hüter den Gral einst genommen, und dort stellte er ihn nun wieder ab. Einen zeitlosen Moment lang hielt er den Kelch noch mit beiden Händen umfaßt, als wollte er ihn jetzt, im allerletzten Augenblick, doch nicht abgeben. Schließlich tat er es doch. Seine Hände glitten wie kraftlos geworden an der splittrigen Wandung des Lilienkelchs ab und – – etwas geschah! Weder war es zu sehen, noch wurde es in sonst einer Weise augenfällig, und der Nachfolger im Amt des Hüters mochte es nicht einmal bemerkt haben. Was da vorging, war allein dem nunmehr einstigen Hüter bestimmt. Und nur er registrierte es. Obschon auch er sich nicht erklären konnte, was es wirklich war und wie es vonstatten ging. Es war – – Wissen. Mit einemmal, in dem Augenblick, da sein körperlicher Kontakt zum Kelch abriß für alle Zeit, wußte er um Dinge, von denen er nie zuvor erfahren hatte! Und doch war es so, als wäre das Wissen darum schon immer in ihm gewesen – nur war es jetzt erst geweckt worden.
Durch den Kelch? Oder vielmehr die Macht, die dem Gral innewohnte – die im Grunde nichts anderes tat, als sich darin zu verbergen? Der ehemalige Hüter wußte jetzt auch darüber alles. Er hob den Blick, sah seinen Nachfolger an – und kannte dessen Namen. So wie er die Namen all derer kannte, die in den versiegelten Kammern noch immer ruhten und es noch lange tun würden. So lange, bis auch der letzte von ihnen tausend Jahre lang den Lilienkelch verwaltet und den Einfluß der Alten Rasse gemehrt haben würde. Dann erst, wenn dereinst der letzte Hüter in den Dunklen Dom zurückkehrte … Ein Lächeln wehte schattengleich über das Gesicht des ersten Hüters. Für einen flüchtigen Moment zeigte der Nachfolger sich darob erstaunt, doch er schwieg und streifte seine Maske über, befestigte sie an seiner Haut und griff dann nach dem Kelch. »Gehe nun hin und walte deines Amtes«, sagte sein Vorgänger, »zum Wohle unseres Volkes – und der Hohen.« »Der Hohen?« fragte der andere. Der erste Hüter unterdrückte ein Lächeln. Natürlich, der andere wußte nichts anzufangen mit den Hohen; wußte nicht, daß er selbst einer von ihnen war. Auch ihm selbst war jede Erinnerung an ihr früheres Dasein abgegangen, damals, vor tausend Jahren … Erst jetzt hatte er es zurückerhalten, jenes Wissen um Vergangenes, und mehr noch: das Wissen um die Zukunft – um ihre Zukunft … »Gedulde dich und tue, was deine Aufgabe ist«, erwiderte er schließlich. Auf seine Handbewegung hin wandte der andere sich ab, ging durch den Dom und entschwand im Dunkel. Auch der erste Hüter ließ den Altar hinter sich. Entlang der versiegelten Kammern schritt er seiner eigenen zu. Im Vorübergehen sah er die Zeichen auf den Türen; vor tausend Jahren waren sie ihm fremd gewesen, jetzt jedoch verstand er sie zu lesen. Ihr Sinn verknüpfte sich mit dem, was er im Moment der Kelchübergabe erfah-
ren hatte, und wieder lächelte er, so düster und abseitig, daß einem Menschen, hätte er es gesehen, angst und bange geworden wäre … In seiner angestammten Kammer angelangt, legte der einstige Hüter sich hin und schloß die Augen. Sein neues und doch so altes, wahrhaft uraltes Wissen würde ihm Traum sein in einem Schlaf, der lange Zeit währen sollte, viele tausend Jahre lang … Jahrtausend um Jahrtausend verstrich. Und doch endete der Schlaf des ersten Hüters zu früh. Er wußte es in dem Moment, da er die Augen aufschlug! Weil etwas ihn geweckt hatte. Lange vor der Zeit. Und es schien, als wäre alles Wissen, das ihm den regenerierenden Schlaf versüßt hatte, hinfällig geworden – – in dieser falschen Zeit!
* Heute Indien, Neu Delhi Das Haus kauerte hinter verfilztem Buschwerk und verkrüppelten Bäumen wie ein finsterer Moloch. Die Dunkelheit wirkte um das Gemäuer her dichter als anderswo, als wäre es in schwarzes Gespinst gewoben. Und mit jedem Schritt, den Radhey Pai näher darauf zutat, meinte er ein stetes Absinken der Temperatur zu spüren. Was freilich nur Unsinn sein konnte! Und doch – Die Eindrücke waren stets die gleichen, wenn Radhey Pai auf dem Nachhauseweg diesen bestimmten Teil der Grand Trunk Road erreichte. Jedesmal nahm er sich fest vor, beim nächsten Mal lieber einen Umweg in Kauf zu nehmen, ehe er auch nur noch ein einziges Mal an diesem unheimlichen Haus vorüberging. Aber jedesmal
schalt er sich im Stillen einen Narren deswegen, und wie um sich selbst zu beweisen, daß seine Sinne ihm nur böswillige Streiche gespielt hatten, ging er immer wieder die Grand Trunk Road entlang – und an jenem Haus vorüber … Auch heute Nacht. Unweigerlich verlangsamte Radhey Pai seinen Schritt, als das seltsame Haus (das tote Haus! flüsterte es in ihm) in Sichtweite kam – obwohl er am liebsten gerannt wäre, nur um es so schnell wie möglich hinter sich zu lassen! Aber je näher er kam, desto schwerer fiel es ihm, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Als müßte er durch einen Sumpf waten, der ihm zäh anhing. Ob in dem Haus überhaupt jemand lebte, wußte Radhey nicht. Er selbst hatte dort noch nie einen Menschen ein- oder ausgehen sehen. Von anderer Seite indes waren ihm absonderliche Gerüchte zu Ohren gekommen. Die einen meinten, es würde ein böser Magier darin hausen; andere wiederum behaupteten, das Haus wäre die Heimstatt von Dämonen. Radhey glaubte, daß die Wahrheit irgendwo dazwischen liegen mochte. Denn daß es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gab, als die Schulweisheit (die sich in seinem Fall auf das Nötigste beschränkte) sich träumen ließ, davon war Radhey Pai überzeugt, obwohl er sich ansonsten doch mehr der westlichen und damit eher nüchternen Denkweise verschrieben hatte. Wenn er auch gegenüber den Touristen und Geschäftsreisenden, denen er als Führer die Schönheiten und Geheimnisse seiner Heimatstadt zeigte, mitunter die Maske des Abergläubigen und Traditionalisten zur Schau trug. Was jedoch dieses Haus anbelangte, da empfand Radhey Pai eine geradezu urnatürliche Angst, die tief in ihm wurzelte, dort wohl, wo sein ureigenes und wahres Wesen lag, das sich um keinen Deut von dem seiner Ahnen unterschied. Etwas an diesem Haus rührte an Radheys Seele, zupfte daran wie mit eisigen Spinnenbeinen, und alle selbsterzwungene Überzeugung, daß er es doch mit nichts anderem als einem alten, leerstehen-
den Haus zu tun hatte, kam gegen diese kreatürliche Furcht nicht an. Um sich abzulenken, ließ Radhey Pai die Geldscheine, die er über den Tag verdient hatte, in seiner Hosentasche knistern. Ein alberner Versuch, der nur eines zur Folge hatte: Er lauschte noch angestrengter auf die Geräusche seiner Umgebung – auf das leise Rascheln des Gestrüpps jenseits der brüchigen Mauer, auf das säuselnde Singen des Nachtwindes, der sich an Ecken und Kanten des unheimlichen Hauses fing … … und wie so oft meinte Radhey Pai Worte darin zu hören! Worte, die der junge Mann nicht verstand; nicht, weil sie etwa einer fremden Sprache entstammten, sondern weil sie sich miteinander vermengten, als kämen sie aus vielen Mündern zugleich. Trotzdem entnahm Radhey Pai den geflüsterten Worten eines: Sie schienen ihm eine Art Warnung zu sein, ihn vertreiben zu wollen von diesem Ort – manchmal in wohlmeinendem Tonfall, dann wieder bösartig drohend. Wie immer jedoch verfingen die Worte nicht. Radhey Pai blieb stehen. Unmittelbar vor dem übermannshohen Tor in der Mauer. Zwischen den rostigen Gitterstäben hindurch sah er zum Haus hinüber, wie gebannt. Er wollte es nie, und doch tat er es immer wieder. Zum einen, weil er hoffte, irgendwann doch einmal eine Bewegung dort drüben auszumachen; einen Hinweis auf den Bewohner oder wenigstens doch das Treiben in dem alten Haus zu entdecken. Und zum anderen … den zweiten Beweggrund, der ihn stets aufs neue hier verharren ließ, konnte Radhey Pai nicht benennen. Er entzog sich allem rationalen Verständnis, war wie ein fremder Wille, dem der junge Mann einfach gehorchen mußte. Doch wie in all den Nächten zuvor rührte sich nichts dort drüben bei jenem Haus. Weder zeigte sich in den schwarzen Fensterhöhlungen der geringste Lichtschimmer, noch war eine Bewegung zu sehen. Das Haus war tot wie eh und je, und wenn etwas darin war,
dann mußte es ebenso tot sein. Radhey Pai verspürte eine Art absurder Erleichterung und wollte sich abwenden – – als er wie urplötzlich von Lähmung befallen innehielt! Jeder Muskel schien ihm mit einemmal aus Stein, und bleierne Schwere füllte seine Glieder, während Eiseskälte sein Innerstes umkrustete. Dabei bot das, was Radhey eben – und eigentlich nur noch aus den Augenwinkeln – registriert hatte, kaum Anlaß zu solchem Entsetzen. Es war doch nicht mehr gewesen als – Licht … Ein purpurner Glanz, der für den Bruchteil einer Sekunde die Schwärze hinter den Fenstern des Hauses vertrieben und ihr sofort wieder Platz gemacht hatte, wie das Blitzen eines fernen Gewitters. Aber – war es wirklich nur in den Fenstern zu sehen gewesen? War der Purpurschimmer nicht durch das Mauerwerk gedrungen, als hätten die Bruchsteine selbst aufgeleuchtet wie in unirdischer Glut? Radhey Pai wollte sich dessen nicht sicher sein. Aber er war es. Das flüchtige Bild seiner Erinnerung ließ keinen Zweifel zu: Das Haus selbst war für einen winzigen Moment in purpurnem Licht erstrahlt … Unmöglich! war sein nächster Gedanke. Doch als wollte etwas ihn vollends überzeugen, glaubte er das Ganze noch einmal zu sehen. Radhey wußte, daß es diesmal nur eine Täuschung war – aber unzweifelhaft war es eine Reflexion dessen, was er zuvor tatsächlich gesehen hatte: Eine lautlose Explosion purpurfarbenen Lichtes, die das Haus ganz und gar durchdrungen hatte, ohne es indes zu zerstören oder auch nur im geringsten zu beschädigen. Denn jetzt stand es dort inmitten des dschungelartigen Filzes aus Sträuchern und Bäumen wie ehedem – schattenumhüllt und reglos, als hielte die Zeit selbst in seiner unmittelbaren Umgebung den
Atem an. Selbst der laue Wind war eingeschlafen, und mit ihm waren auch die eigenartigen Stimmen verstummt. Stumm und reglos stand auch Radhey Pai da. Ohne mit der Wimper zu zucken, starrte er zu dem Haus hinüber. Tief in ihm schrie etwas, daß er fortlaufen möge, so schnell ihn seine Beine nur trugen. Sekunden vergingen, reihten sich zu Minuten – – und dann endlich konnte Radhey Pai sich wieder bewegen. Doch er wandte sich nicht ab, lief nicht die Grand Trunk Road hinab, ging nicht nach Hause. Statt dessen – – schlossen sich seine Fäuste um das rostrauhe Gitter des Tores. Zogen daran. Öffneten es. Und Radhey Pai betrat den verwilderten Garten. Weil jemand – oder etwas – ihn zu sich befahl. Um Hilfe rief! Nicht mit Worten, sondern auf Wegen, die Radhey Pai auch dann nicht verstanden hätte, wenn er sie hätte ergründen wollen. Aber sein Wille war ausgeschaltet, funktionierte nur noch auf einer Ebene, die sich seinem bewußten Zugriff entzog. Er handelte einzig noch nach dem Wunsch jenes Fremden. Es befand sich in dem Haus, das ihm seit Jahren nur Furcht eingeflößt hatte und auf das er nun ohne Zögern zuging. Das, was ihn da zu sich rief, gehörte nicht in dieses Haus. Und er, Radhey Pai, sollte es wegholen und dorthin zurückbringen, wo sein angestammter Platz war. In den – Dunklen Dom …?
* Mit dem Begriff »Dunkler Dom« wußte Radhey Pai nichts anzufangen. Aber er dachte auch nicht darüber nach, ebensowenig wie er überlegte, was er da eigentlich tat. All das schien ihm selbstverständlich, und er kam nicht einmal auf den Gedanken, sich zu widersetzen, weil die entsprechenden Bahnen seines Denkens regel-
recht blockiert waren. Angst zu empfinden war ihm allerdings noch erlaubt. Und als konzentrierte sich sein anderweitig brachliegendes Bewußtsein einzig darauf – auf die Möglichkeit, sich zu fürchten –, zitterte Radhey Pai wie Espenlaub. Wenn auch nur innerlich, denn seine Schritte waren fest und entschlossen. Fast kam der junge Mann sich vor wie ein Gefangener seines Körpers, dessen Bewegungen und Handeln ein anderer steuerte. So sah er seine eigene Hand wie die eines Fremden, als sie das dunkle, rissige Holz der Eingangstür des Hauses berührte und dagegen drückte. Mit einem Ächzen, das klang, als quälte es sich aus menschlicher Kehle, schwang die Tür nach innen – und entschwand Radheys Blick, weil die Finsternis sie schier fraß. Die Dunkelheit lag hinter der Schwelle wie eine amorphe Masse; wie etwas Lebendes, dem alles Nahrung war, was ihm nur nahe genug kam. Radhey Pai wollte den entscheidenden Schritt nicht tun, um nichts in der Welt wollte er in diese Finsternis treten, und er sammelte allen Willen, der ihm noch verblieben war, um seinen Fuß an der Bewegung zu hindern – doch da stand er längst schon inmitten des stockdunklen Raumes, der sich jenseits der Eingangstür anschloß. Ein beißender, stinkender Wind traf ihn aus dem Nichts und schlug hinter ihm mit dumpfem Laut die Tür zu. Wie im Reflex wollte Radhey sich danach umdrehen, doch mehr als das bloße Wollen blieb ihm nicht. Sein Nacken schien ihm steif wie der eines Toten. Um keinen Zentimeter ließ sein Kopf sich wenden. Dafür bewegten sich seine Beine nun von neuem, trugen ihn tiefer in die Finsternis hinein, ohne daß Radhey selbst es wollte. Unter seinen Füßen knirschte Dreck, unsichtbar wölkte Staub auf und legte sich ihm kratzend auf die Atemwege. Radhey wollte sich räuspern, doch nicht einmal das vermochte er. Dann – – stolperte er unvermittelt! � Im Dunkeln waren seine Füße gegen ein Hindernis gestoßen. Rad-
hey taumelte und stürzte schließlich. Hart schlug er mit dem Gesicht zu Boden, Staub drang ihm in den Mund und vermengte sich mit dem metallenen Geschmack seines eigenen Blutes, das ihm aus den aufgeplatzten Lippen und der Nase rann. Umständlich ließ die fremde Kraft ihn auf die Beine kommen und weitergehen. Wenig später strauchelte Radhey ein weiteres Mal, diesmal jedoch ohne zu stürzen. Dafür blieb ihm Gelegenheit, das unsichtbare Hindernis deutlicher zu spüren. Es fühlte sich weich an, zugleich aber schien es schwer genug, daß seine Berührung es nicht von der Stelle bewegte. Wie ein menschlicher Körper …! durchfuhr es den jungen Mann. Brechreizerregender Gestank stieg ihm in die Nase. Wie von einem Toten … Radhey schauderte ob des Anblicks, den seine Sinne ihm vorgaukelten: das Bild eines verwesenden Leichnams, in dessen leeren Augenhöhlen sich bleiches Gewürm wand, während über die faulenden Lippen schwarze Käfer krochen … Bittere Galle brannte mit einemmal ätzend in seiner Speiseröhre und füllte ihm den Mund. Dann ging es weiter und plötzlich abwärts, die Stufen einer gewundenen Treppe hinab. An ihrem unteren Ende glomm fahles Licht, das Radhey als das von Fackeln und Kerzen identifizierte, als er unten angelangt war. Ein seltsames Licht war es, das den Gang und die davon abführenden Stollen schwach erhellte. Seine Kraft reichte kaum über die Flammen hinaus, und es gab keinen verschwimmenden Übergang zwischen Hell und Dunkel, sondern etwas wie eine direkte Grenzlinie, die beide scharf voneinander trennte. Nur dort, wo die Lichtquellen dichter beieinander lagen, waren Einzelheiten der unmittelbaren Umgebung auszumachen: grobes Mauerwerk, das Spinnen im Laufe von Jahren mit ihren Gespinsten überzogen hatten wie mit alterslöchrigen Tapeten. Darin schimmerten vereinzelt Wassertropfen wie kostbare Perlen. Und auf dem Boden –
– Leichen. Radhey erbrach sich. Was ihm seine Phantasie oben noch vorgemacht hatte, war kaum eine Übertreibung der Tatsachen gewesen. Entlang des Ganges, soweit die Sicht eben reichte, sah Radhey Pai drei Menschen liegen. Daß sie weder nur schliefen noch bewußtlos waren, daran konnte es keinen Zweifel geben. Ihre Körper befanden sich in den unterschiedlichsten Stadien der Verwesung, und grobe Nähte schlossen gräßliche Wunden, die allein schon kein Mensch überleben konnte. Weitere Zeit zur Betrachtung blieb Radhey nicht, und fast war er dankbar dafür. Die fremde Kraft dirigierte ihn weiter voran, ließ ihn über die Toten hinwegsteigen – um ihm nur ein paar Schritte später den Blick auf die nächsten zu ermöglichen … Soweit Radhey erkennen konnte, mußte ein wahres Labyrinth von Gängen das Haus an der Grand Trunk Road unterhöhlen. In unregelmäßigen Abständen führten Türen in anliegende Gewölbe ab, in die er allerdings keinen Blick zu werfen vermochte; zu rasch mußte er voranschreiten, und zudem konnte er den Kopf weder nach links noch nach rechts wenden. Schließlich fühlte er sich gezwungen, zu rennen – ganz so, als drängte mit einemmal die Zeit … Noch immer vernahm er den lautlosen Ruf des Fremden. Nach wie vor erfolgte er ohne Worte, sondern – wenn er sich denn überhaupt erklären ließ – über Bilder, die ihm »eingegeben« wurden. Radhey sah Dinge, die er nicht verstand, und doch wußte er, was zu tun von ihm erwartet wurde. Vor einer der Kammern blieb er schließlich stehen. So abrupt, als wäre der Gang an dieser Stelle zu Ende, obgleich er tatsächlich noch endlos weiter zu führen schien. Radhey machte eine eckige Halbdrehung, und noch bevor er den Raum jenseits der Türöffnung betrat, konnte er hineinsehen. Die Kammer war leer. � Bis auf ein seltsames schwarzes Gebilde in der Mitte. Mit sehr viel �
Wohlwollen ließ es sich am ehesten noch als Altar bezeichnen. Aber es schien weder aus Stein noch aus Holz oder sonst einem herkömmlichen Material zu bestehen, sondern vielmehr – etwas Lebendes zu sein. Oder wenigstens doch etwas, das einmal gelebt hatte. Obwohl Radheys Phantasie nicht genügte, sich auszumalen, um was für eine Lebensform es sich dabei gehandelt haben könnte. Und je länger er gezwungen war, es anzustarren, desto weniger wollte er es wissen … Das mysteriöse »Ding« war jedoch nicht der wirklich zentrale Punkt des Gewölbes. Das eigentlich Bedeutende hier war das, was sich in dem »Ding« befand – – die Quelle der Rufe, die Radhey Pai hierher gelotst hatten. Ein Gefäß. Ein – Kelch! Seine Form schien der Blüte einer Lilie nachempfunden, und er sah aus, als wäre er aus Abertausenden winziger Splitter zusammengesetzt, die selbst das geringste bißchen Licht auffingen und spiegelten und den Kelch wie in eine gleißende Aura hüllten. Aus dem dunklen Gebilde darunter rankten sich Stränge wie die Tentakel eines Kraken an dem Kelch empor und hielten ihn fest. Doch sie schienen mürbe und brüchig, und im Nähertreten erkannte Radhey feine Risse darin. Es mußte leicht sein, den Kelch aus diesem Griff zu lösen, zu befreien – – und es war leicht. Die dünnen Ausstülpungen des monströsen Altars brachen mit widerwärtig feuchtem Knirschen, als Radhey Pai die Hände um den Kelch schloß, ihn anhob und schließlich zurücktrat und den Raum verließ – – der sich plötzlich veränderte! � Erschrocken riß Radhey den Mund auf, doch kein Laut kam über � seine Lippen. Noch immer hielt ihn das Fremde in seinem Bann. Purpurnes Glosen füllte auf einmal die Wände der Kammer, als
begännen die Steine in der Hitze unirdischen Feuers zu glühen. Im nächsten Augenblick schon schien das Mauerwerk nicht länger aus einzelnen Steinen zu bestehen, sondern ganz und gar aus diesem unheilvollen Leuchten. Zugleich geriet Bewegung in das schwarze Gebilde, dem Radhey eben den Kelch entrissen hatte. Es blähte sich wie ein mißgestalteter Balg, seine Konsistenz schien wie die kochenden Teeres. Schlangengleich fuhren dünne Auswüchse daraus hervor, zuckten peitschend nach Radhey, der sich wie von einer Gigantenfaust zur Seite gedroschen fühlte. Gerade noch rechtzeitig – zwei, drei der teerigen Tentakel rissen dort Steinsplitter aus der Wand, wo er eben noch gestanden hatte. Radhey Pai rappelte sich auf, den Kelch fest an die Brust gedrückt, und rannte los, ohne zu wissen, ob er wieder selbst Herr seines Körpers war oder ob ihn noch immer fremder Wille antrieb. Wie auch immer – der Beweggrund mußte im Augenblick derselbe sein, und er hieß: Nichts wie raus hier! Wie ein Hürdenläufer setzte Radhey über die im Wege liegenden Toten hinweg. Über einen noch, dann würde er die Treppe erreicht haben, dann nach oben und – – Radhey stürzte! Eine totenkalte Klaue hatte seinen Knöchel im Sprung umklammert und den jungen Mann zu Fall gebracht. Ein Schrei brach über Radheys Lippen, kaum daß er auf den Boden geprallt war. Schmerzhaft drückte sich ihm der Kelch gegen die Rippen. Doch dieser Schmerz war ihm in diesem Moment ebenso gleichgültig wie die Tatsache, daß er endlich die Kontrolle über seinen Körper zurückerhalten hatte – – denn der Anblick, der sich ihm bot, erfüllte ihn bis in die letzte Faser mit eisigem Entsetzen und erlaubte ihm keine andere Empfindung! Eine ledrige Fratze stierte ihn an. Im allerersten Moment reglos – dann verzerrten sich die fast schon fleischlosen Lippen zu einem wi-
derlichen Grinsen – – während entlang des Kellerganges die Toten auferstanden!
* Wie von selbst schnellte Radhey Pais freier Fuß im Liegen vor – und mitten hinein ins mürbe Gesicht des Untoten, der nach wie vor seinen Knöchel umklammert hielt. Die Wucht des Trittes genügte, den anderen ein wenig zurückzustoßen. Seine steife Klaue rutschte ab. Radhey sprang auf und rannte weiter. Ein hastiger Blick über die Schulter zurück verriet ihm, daß die anderen lebenden Leichen seine Verfolgung aufnahmen. Nicht sonderlich schnell zwar, taumelnd und unsicheren Schrittes, aber allein die Tatsache, daß es ihnen möglich war, ließ Radhey glauben, sie hätten ihn schon so gut wie erwischt. Seine Füße schienen die Stufen kaum zu berühren, so schnell raste er die Treppe empor. Trotzdem war das obere Ende noch weit entfernt, als er hinter sich bereits die Schritte seiner untoten Häscher vernahm. Schneller! trieb er sich selbst an. »Schneller!« Trotz der erst kurzen Flucht kam Radhey das Wort keuchend von den Lippen. Sein Atem rasselte. Sein Herz raste. Das Grauen der Situation machte ihm viel mehr zu schaffen als die bloße Anstrengung des Laufens. Düsternis lag über dem Ende der Treppe. Jenseits der letzten Stufe erwartete Radhey Pai völlige Dunkelheit. Er stürzte sich in die Schwärze, rannte noch vier oder fünf Schritte vom eigenen Schwung getrieben, ehe er stehenblieb. Wohin sollte er sich wenden? Es gab nichts in der Finsternis, das ihm Orientierungshilfe gewesen wäre. Dann kamen sie. Radhey hörte ihre Schritte, und er meinte wogende Schatten im Dunkeln zu sehen. Das Geräusch ihrer Schritte wurde lauter, näherte sich. Verwesungsgestank hüllte ihn ein, raubte ihm den Atem.
»Nein!« brüllte er. Wild und ziellos drosch er mit den Armen um sich. Etwas Weiches streifte ihn, im nächsten Moment zogen hornige Klauen eine blutige Spur über seinen Arm. Radheys Gedanken wirbelten. Was sollte er nur tun? Zur Wand! durchfuhr es ihn. Du mußt zur Wand. Dich daran entlang tasten. Dann findest du die Tür – vielleicht … Von neuem stürmte Radhey los. Blindlings rannte er geradeaus durch die Finsternis. Hart prallte er gegen Widerstand, der unter der Wucht aufstöhnend zur Seite wich. Im nächsten Moment war es Radhey selbst, der stöhnte. Mauerwerk stoppte seinen blinden Lauf. Er versuchte noch, sich mit den Armen abzustützen, doch er war so schnell gerannt, daß seine Gelenke die Kraft nicht abfedern konnten. Mit dem Gesicht schlug Radhey gegen die Wand. Warm rann es ihm von der schmerzenden Stirn übers Gesicht. Er drehte sich um, preßte den Rücken gegen die Mauer. Den linken Arm streckte er zur Seite; mit der rechten Hand hielt er den Kelch fest an sich gedrückt. Dann bewegte er sich nach links, wobei die Finger seiner Hand wie Spinnenbeine über das rissige Mauerwerk krabbelten. Irgendwann mußten sie die Türöffnung erreichen – bald hoffentlich … Die Schritte aus dem Dunkel wurden wieder lauter, kamen schleifend auf Radhey zu, als wäre er ein Magnet, der sie anzog. Am schlimmsten war es, nichts sehen zu können. Radhey Pai hätte dem Grauen lieber buchstäblich ins Gesicht gesehen, als ihm blind und hilflos ausgesetzt zu sein. So aber mußte er sekündlich mit einer Berührung aus dem Nichts rechnen, damit, daß eine totenkalte Klaue nach ihm griff, ihn packte und – Radheys Linke tastete ins Leere. Die Tür! Die Rettung? Der junge Mann warf sich nach links. Gerade noch rechtzeitig. Hinter ihm schlug ein Körper schwer und dumpf gegen die Wand,
während er selbst schon das Holz der Tür spürte. Mit fliegenden Fingern tastete er nach dem Griff, fand ihn endlos lange nicht. Gab es keinen? So schien es. Radhey krallte die Finger um die Kanten der Tür, zerrte daran. Nägel brachen ihm ab, Holzsplitter bohrten sich ihm wie glühende Dornen ins Fleisch. Dann endlich – Die Tür öffnete sich so überraschend, daß Radhey fast nach hinten gefallen wäre. Irgendwie schaffte er es noch, sich mit der Hand am Rahmen festzuhalten. Und in der gleichen Bewegung zog er sich nach draußen und rannte auch schon los. Durch den Garten, durchs Tor hinaus auf die Grand Trunk Road. Und immer weiter. Ohne sich auch nur ein einziges Mal umzusehen. Als könnte er alles hinter sich lassen wie einen bösen Traum. Aber Radhey Pais Alptraum hatte gerade erst begonnen …
* Stille kehrte wieder ein in das Haus an der Grand Trunk Road – Totenstille, wie sie seit jeher geherrscht hatte im Hause des Erweckers. Der Erwecker selbst, der Nekromagier Sahya Patnaik, war lange tot. Aber nicht zuletzt sein Tod hatte Dinge in Bewegung gesetzt, die bis heute wirkten. Der Tod selbst hatte sich eingenistet an diesem Ort, als wäre er das Erbe jenes Mannes, der den Tod zu eigener Lebzeit dutzendfach betrogen und ihm ein ums andere Mal Opfer entrissen hatte, um sie mit selbstgemachtem Leben zu erfüllen, auf daß sie ihm Gesellschaft waren in diesem Haus. Heute also war einzig noch der Tod hier zu Hause – in zwölffacher Gestalt. Diese Zwölf nannten sich selbst »die letzten Hüter des Kelches«, denn sie waren erfüllt von Fragmenten der letzten Kelchseele, dem Innersten eines kleinen Jungen namens Nehru, der als letzter durch den schwarzen Bluttrunk aus dem Unheiligtum der Alten Rasse ge-
storben war. Mit Nehrus Kelchtaufe hatte damals Landru die tödliche Seuche ausgelöst, an der die Vampire in aller Welt – die Oberhäupter der Sippen ausgenommen – zugrunde gegangen waren. Gott selbst hatte den vernichtenden Keim in den Lilienkelch gesetzt, und sein Plan war aufgegangen.* Doch hatte sich eben jener Plan nicht im Untergang der Alten Rasse erschöpft. Der Kelch selbst, das Instrument, das den Fortbestand des vampirischen Volkes gesichert hatte, sollte fürderhin jedem möglichen Zugriff entzogen werden. Als Landru, der einstige Hüter des Grals, die Veränderung des Kelches erforschen und Maßnahmen dagegen ergreifen wollte, gab er ihn zu diesem Zwecke in die Hand des Nekromagiers Sahya Patnaik. Unter dessen Bemühen jedoch fuhr die Kraft Gottes aus dem Kelch und schuf eine Schutzzone um das Unheiligtum der Alten Rasse herum. Und mit dieser Kraft verließ auch die letzte Kelchseele ihren dunklen Kerker und fuhr ein in zwölf Untote, die Sahya Patnaik sich in seinem Hause hielt. Ihre Aufgabe sollte es fortan sein, den Lilienkelch zu bewachen** – – doch sie hatten versagt. � Weil etwas gänzlich Unvorhergesehenes geschehen war! � Die zwölf Wächter des Kelches kannten weder dessen Ursache � noch Wirkungsweise. Nur die Auswirkung hatten sie erfahren, am eigenen Leibe. Etwas hatte sie in der Art eines unsichtbaren Blitzes getroffen und wie endgültig tot niedergehen lassen. Zugleich hatte das Fremde aus der Ferne auch die Schutzzone um den Kelch erreicht – und sie erst brüchig gemacht und schließlich aufgehoben! Ein Teil des Ganzen mochte durchaus vom Kelch selbst ausgegangen sein. Das fremde Etwas schien die ihm eigene Kraft stimuliert und für eine kurze Zeit über alle andere Macht erhoben zu haben. Der Kelch, oder die Macht in ihm, hatte schließlich jemanden zu sich *siehe VAMPIRA T01: »Der Durst nach Blut« � **siehe VAMPIRA T13: »Der Hüter und das Kind« �
gerufen, der ihn aus seinem Kerker befreite und fortbrachte. Und sie, die Wächter, die von Gott befohlenen letzten Hüter des Lilienkelches, hatten nichts dagegen unternehmen können, weil ihre Kräfte nur langsam zurückgekehrt waren – zu langsam. Dennoch waren sie ihrer Aufgabe damit nicht ledig geworden. Sie definierten sie neu, ernannten sich selbst von Hütern zu Jägern! Die Witterung des Lilienkelches war ihnen vertraut geworden in den langen Wochen, da sie ihn behütet hatten. Sie würden seiner Spur folgen, wohin der Gral auch gebracht werden mochte. Und wer immer ihn in Händen hielt, die zwölf Häscher würden ihm den Kelch entreißen – um jeden Preis, mit allen Mitteln. Geisterhaft wisperte es durch die Finsternis im Haus an der Grand Trunk Road, aus zwölf Mündern, die des Sprechens kaum noch fähig waren, weil der Tod ihre Zungen und Lippen lähmte. »Lassst unsss …« »… ruhennn …« »… bisss …« »… unnnsssserrre …« »… Krrraffft …« »… wiederrr die alllte …« »… issst …« »… dannn holennn …« »… wirrr ihnnn …« »… zurrrück …« »… wie esss unsss …« »… befohlennn isst.« Zwölf Gestalten versanken im Dunkeln in absolute Reglosigkeit. Nur tief in ihrem fauligen Fleisch pulsierte es, als Kraft sich regenerierte. Zeit verging. Bis die Zwölf bereit waren für die Jagd nach dem Lilienkelch.
* � Neu Delhi war eine Stadt voller architektonischer Gegensätze. Dominierte in der einen Straße noch der Baustil der britischen Kolonialherrschaft, so konnte eine Ecke weiter das alte Delhi zutage treten mit schlichten Häusern oder ärmlichen Hütten, die Wege dazwischen weder gepflastert noch asphaltiert, sondern nur aus festgestampftem Lehm bestehend, den der Monsunregen in Schlamm verwandelte. Diese Widersprüchlichkeit fand sich auch im Umkreis der Grand Trunk Road. Radhey Pai kam es oft vor, als würde ihn ein einziger Schritt von einer Welt in eine andere bringen, wenn er in die Gasse eintauchte, an der sein Zuhause lag, inmitten einer langen Reihe von Hütten unterschiedlichster Größe, teils aus Lehm, teils aus Stein gebaut, und einige davon so verfallen, daß nur die Wände der benachbarten Behausungen sie am Einsturz zu hindern schienen. Heute Nacht jedoch befiel Radhey Pai kein solcher Gedanke. Zu tief saß das Entsetzen, und seine Kraft war von der Flucht aus dem furchtbaren Haus derart aufgebraucht, daß sie kaum mehr zum Denken reichte. Erschöpft wie ein Todkranker schleppte er sich die dunkle Gasse entlang, mühsam Schritt um Schritt, und bei jedem glaubte Radhey, es müßte sein letzter sein. Die Versuchung, sich einfach fallenzulassen, wurde fast übermächtig. Doch jedesmal, wenn er kurz davor war, dem Drang nachzugeben, fiel sein Blick wie zufällig auf den Kelch, den er nach wie vor fest an sich hielt, und dann war der Wunsch, diesen Kelch in Sicherheit zu bringen, doch größer als alle Müdigkeit. Radhey stürzte regelrecht über die Schwelle der schloßlosen Tür und ins Dunkel des Häuschens, das ihm von Geburt an Zuhause war. Mehr reflexhaft als wirklich bewußt griff er haltsuchend um sich, riß dabei einen Stuhl um und irgendwelche Dinge von einem
Regal, die scheppernd und klirrend zu Boden fielen. Dann sank der junge Mann auf die Knie nieder, keuchend und schluchzend in einem. Die Ruhe währte nur zwei, drei Sekunden. Dann entstand im hinteren Teil des Raumes Bewegung. Etwas raschelte und ächzte, und schließlich glomm das rötlich-trübe Licht einer Öllampe auf. Ein Schatten kroch durch die Insel ihres Leuchtens und auf Radhey zu. »Bei allen Göttern!« Radhey fuhr erschrocken auf, als er angesprochen wurde. Die Wolke aus Alkoholdunst, die ihm mit den Worten entgegenwehte, beruhigte ihn jedoch ob ihrer Vertrautheit. »Was ist mit dir, Radhey?« fuhr sein Bruder fort. »Du siehst aus, als ob …« »Wie, Dinesh?« entgegnete Radhey und brachte sogar ein winziges Lächeln zustande. »Als ob ich dem Tod von der Schippe gesprungen wäre?« Dinesh Pai nickte stumm. Alkohol und Staunen ließen seine dunklen Augen wie glasierten Stein schimmern. »So war es auch«, flüsterte Radhey seinem älteren Bruder zu, dann sank sein Haupt vornüber, und sein ganzer Körper geriet wie unter heftigem Wind ins Wanken. »Du redest irr«, befand Dinesh. Dann plötzlich veränderte sich sein Tonfall; die Besorgnis wich daraus, lauernde Neugier trat an ihre Stelle: »Was hast du da?« Radhey spürte die Berührung Dineshs am Arm, sah, wie sein Bruder nach dem Kelch greifen wollte, und rückte hastig von ihm ab. »Nichts«, sagte er rasch. »Nichts, was dich etwas anginge!« »O doch!« erwiderte Dinesh. »Wir sind Brüder, Radhey. Wir sollten alles teilen. Das wäre auch der Wunsch unserer Eltern.« »Nicht wieder diese Tour!« Radhey zog sich auf Knien noch ein Stück weiter zurück. Dinesh war sein Bruder, und er liebte ihn, ohne Einschränkung
und aus tiefem Herzen. Aber es gab Momente, da haßte und verabscheute er ihn in fast gleichem Maße. Immer dann, wenn Dinesh zuviel getrunken hatte und keinerlei Hehl mehr daraus machte, daß er im Grunde einzig auf Kosten seines kleinen Bruders lebte; wenn er behauptete, Radhey wäre ihm dieses oder jenes schuldig – im Gedenken an ihre verstorbenen Eltern … Ums Haar hätte Radhey ausgespuckt! Wo immer die Seelen ihrer Mutter und ihres Vaters sich befinden mochten (Radhey war kein sonderlich gläubiger Mensch), sie mußten sich mit Grausen abwenden, wenn sie sahen, was für ein elender Hund ihr Ältester bisweilen sein konnte! »Zeig her!« verlangte Dinesh, und der Glanz seiner Augen veränderte sich, wurde zu einem metallischen Schimmern. »Nein! Laß mich!« Radhey barg den Kelch in beiden Händen. Längst ging es ihm nicht mehr nur darum, sich gegen seinen Bruder durchzusetzen. Vielmehr mußte er den Kelch vor jedwedem Zugriff und allen Blicken schützen! Zur Not mit seinem Leben … Seltsame Bilder entstanden und vergingen vor Radhey Pais geistigem Auge. Begriffe dröhnten ihm, unhörbar für jeden anderen, im Ohr. Eine fremde Kraft (der Kelch?) wollte ihn dazu bewegen, sich zu erheben, um den Weg fortzusetzen, jetzt – sofort! Den Weg zum … Dunklen Dom …? Noch immer wußte Radhey nicht, was es damit auf sich hatte. Ebensowenig kannte er den Weg dorthin, was und wo immer dieser Ort letztlich auch sein mochte. Aber er war sicher, daß er ihn finden würde – irgendwie … … nur jetzt nicht. Er war müde, zu Tode erschöpft. Er mußte sich erst ausruhen. »Dinesh!« Radhey schrie erschrocken auf, als er den heftigen Ruck spürte. Alle Lethargie schien mit einemmal aus ihm zu weichen, als er sei-
nen Bruder ansah – in dessen Hand nun der Kelch lag! »Nun hab dich nicht so«, grinste Dinesh, sprang auf und lief zurück zu der Lampe. In deren Schein begutachtete er den Kelch. »Sag, was ist das für ein Ding?« fragte er. »Wo hast du es her?« Radhey folgte ihm, doch die Furcht vor der überlegenen Kraft des Bruders ließ ihn zögern. »Das kann ich dir nicht sagen.« »Du willst es mir nicht sagen, he?« Dinesh wandte sich Radhey zu, ein ebenso gieriges wie gefährliches Funkeln in den Augen, das der Jüngere nur allzu gut kannte – aus übler Erfahrung. »Weil dort, wo du das Ding gefunden hast, noch mehr von dieser Art liegt, was?« »Nein, so ist es nicht«, beteuerte Radhey. »Du wolltest die Sachen verkaufen, ohne mir etwas davon zu sagen, du kleiner Lump, he?« fuhr Dinesh unbeirrt fort. »Nein, gewiß nicht. Ich werde den Kelch nicht verkaufen, und es gibt sonst nichts dort, wo ich ihn gefunden habe. Nur –« »Nur?« »Den Tod.« Etwas im Tonfall seines Bruders irritierte Dinesh sichtlich. Fast schien es, als schliche sich für eine Sekunde tiefe Furcht in seine Züge. Doch schon in der nächsten war der Eindruck verschwunden. »Was redest du nur für albernes Zeug?« lachte Dinesh, wenn auch etwas unsicher. »Schau mich an«, verlangte Radhey. »Sagtest du nicht selbst, ich würde aussehen, als sei ich dem Tod gerade noch entkommen?« »Wer weiß, wem du das Ding gestohlen hast«, meinte Dinesh verächtlich. »Mag ja sein, daß er dich umgebracht hätte, wenn er dich erwischt hätte.« Er reckte Radhey den Kelch hin. »Ich werde ihn einem Händler anbieten. Mal sehen, was er zu zahlen bereit ist.« »Das wirst du nicht!« Radhey kannte seine eigene Stimme kaum wieder, weil plötzlich eine Kraft darin lag, die ihm fremd war – und ihn fast erschreckte. Wie auch Dinesh. Doch er hatte sich rasch wieder in der Gewalt
und erwiderte den Ton seines Bruders in gleicher Weise. »Wer will mich daran hindern?« fragte er provozierend. »Du etwa? Dann komm her und versuch es!« Radheys Angriff erfolgte ansatzlos. Kein Zucken seiner Mimik und keine Geste verrieten, was er vorhatte. Aus dem Stand schnellte er sich Dinesh entgegen, flog wie vom Katapult geschleudert auf ihn zu und stieß ihn zurück. Hart prallte der Ältere gegen die Wand und sank aufkeuchend daran nieder, derweil Radhey ihm eine Faust ins Gesicht schlug und mit der anderen Hand nach dem Kelch langte. Dinesh reagierte reflexhaft. Er streckte den Arm, so daß sein Bruder den Kelch nicht erreichen konnte, ohne von ihm ablassen zu müssen. Als Radhey es schließlich tat und sich regelrecht auf Dineshs Hand, die den Kelch hielt, werfen wollte, zog er sie rasch fort und riß die Faust in die Höhe – um sie dann sofort wieder nach unten rasen zu lassen! Ein dumpfer Laut. Dunkel und warm spritzte Blut auf. Radhey wollte noch nach der Verletzung an seinem Hinterkopf greifen, doch die Bewegung seiner Hand erstarb auf halbem Wege. Stöhnend sackte der junge Mann zusammen und blieb reglos liegen. Einen endlosen Moment lang hockte Dinesh Pai schreckensstarr da und stierte hinab auf seinen Bruder. Blut rann Radhey in den Nacken. War er –? Dinesh berührte ihn mit zitternder Hand, wollte seinen Puls oder Atem spüren, als Radhey leise ächzte. Der Ältere seufzte erleichtert, doch der Laut war kaum verklungen, als auch schon ein gemeines Lächeln auf seine Lippen trat. Glitzerndes Blickes schaute er auf den Kelch in seiner Hand hinab. Das Ding sah merkwürdig aus, aber immerhin ungewöhnlich genug, daß es sich in seinem Wert niederschlagen mochte. Und Dinesh kannte jemanden, dessen Interesse an solchen Dingen sich für ihn
schon so manches Mal ausgezahlt hatte. Still und heimlich wie ein Dieb verließ er das Haus und tauchte unter im Schutz der Nacht. Er sah nicht, daß sich von anderer Seite her dunkle Gestalten näherten. Zwölf an der Zahl.
* Im Dunklen Dom Tief im Fels begann etwas sich zu regen. Was Tausende von Jahren wie tot auf den versteinerten Planken der Dunklen Arche geruht hatte – erwachte! Sein Leib schien ihm so schwer und ungelenk, als wäre er, wie einst das Holz der Arche, eins geworden mit dem Fels des Berges. Spürbar kälter denn zu seiner Hüterzeit kroch ihm das schwarze Blut durch die Adern, so zäh, daß es schmerzte. Kraft sickerte so langsam in seine Glieder, daß es Ewigkeiten dauern mußte, bis ihr Maß auch nur für die geringste Bewegung genügen mochte. Derweil er noch starr und unbeweglich dalag, stiegen erste Fragen auf aus dem Dunkel, in dem sein Geist Äonen schlafend zugebracht hatte. Wer bin ich? Die Antwort schien der Frage schon anzuhängen. In der Sekunde, da er sie sich im Stillen stellte, wußte er es auch schon: Er war der erste Hüter des Lilienkelchs gewesen. Doch diese Zeit war vorüber. Nur das Wissen, das ihm mitgegeben worden war, war ihm geblieben, und er vermochte es zu nutzen wie eine endlose Schrift. Er erkannte sich als das wieder, was er vor langer Zeit – noch vor seinem Dasein als Hüter – gewesen war: ein Hoher! Ein Wesen, dessen Macht die eines jeden der Alten Rasse
übertraf. Wo bin ich? Auch auf diese Frage fiel ihm die Antwort leicht. Er hatte geruht, in seiner ureigenen Kammer in der Heimstatt der Hüter, und dort würde er sich unverändert wiederfinden – wenn er erst die Kraft gefunden hatte, die Augen zu öffnen. Warum bin ich erwacht? Wieder glaubte er die Antwort zu kennen. Denn auch sie war Teil seines Wissens. Daß sein Schlaf jetzt endete, konnte nur eines bedeuten: Die Hohe Zeit war gekommen … Ein Knirschen, als bräche Fels entzwei, störte unvermittelt seine Gedanken. Dann wiederholte sich der Laut, und noch einmal – – in jenem Rhythmus, in dem der Hohe, unbewußt erst und nun willentlich, seine Finger krümmte. Seine Gelenke knackten, als wären sie morsch – die seiner Finger und Hände ebenso wie die seiner Beine, als er den Versuch wagte, sie zu bewegen. Nach einer Weile, als müßte er noch Kraft sammeln für den vergleichsweise geringen Akt, schlug er die Augen auf. Wie sprödes Leder rieben die Lider über die Augäpfel. Und dann sah er, nach ungezählten Jahrtausenden zum ersten Mal wieder, und im wörtlichen Sinne augenblicklich wußte er, daß etwas – falsch war! Obwohl seine Kaverne selbst sich nicht verändert hatte in den vielen Jahrtausenden, spürte der Hohe die Veränderung, die draußen vorgegangen war, ohne sie indes zu sehen. Im fahlen Schein der schimmernden Adern, die den Fels der Decke und Wände seiner Kammer durchwirkten, erhob er sich von seinem Lager – auf dem er noch sehr lange Zeit hätte ruhen sollen … Aber etwas hatte die Ruhe der Hohen im Ararat gestört, weit vor der Zeit, die ihnen als die des Erwachens bestimmt war … Der Hohe trat aus seiner Kammer hinaus auf den Gang, der in den Dunklen Dom mündete. Mit sehnigen Fäusten brach er das Siegel,
das den Gang verschloß. Ungeduld und Unruhe trieben ihn zur Eile, genährt von Fragen ohne Antworten: Was war geschehen? Und – waren noch andere erwacht wie er? Die Stille des Todes empfing den Hohen – und ein Anblick, der selbst ihm, der er einst als Gott verehrt worden war und ein ganzes Volk gegründet hatte, tief ins kalte Herz schnitt! Der Dunkle Dom war – zerstört. Vernichtet. Die Heimstatt der Hüter war unwiederbringliche Vergangenheit. Tiefe Klüfte spalteten den Boden des Felsendomes. Tonnenschwere Gesteinsbrocken hatten sich unter Urgewalt aus den steilaufragenden Wänden gelöst, türmten sich zu riesenhaften Haufen. Hier und da entdeckte der Hohe Spuren geschmolzenen Felses, die im Laufe der Zeit wieder erstarrt waren. Wie selbst zu Fels erstarrt stand der Hohe am Rande des einst so gewaltigen Rundes. Die Zeit schien stillzustehen, die Welt draußen sich nicht länger zu drehen. Kein Schrei, keine Regung hätte Ausdruck des Entsetzens sein können, als dessen Gefangener der Hohe Mann sich fühlte. So blickte er stumm und starr auf das Ausmaß der Verwüstung – und sah im Geiste doch etwas gänzlich anderes: Das Ende aller Verheißung – noch ehe es wirklich begonnen hatte … Was war die Ursache für den Untergang des Dunklen Domes? Der Hohe fand keine Antwort. Auch deshalb nicht, weil ihn eine andere Frage mehr beschäftigte: Was war mit den anderen? Mit seinen einstigen Nachfolgern im Amt des Kelchhüters, die sich nach tausend Jahren wie er hierher zurückgezogen haben mußten, um gemeinsam schlafend auszuharren, bis ihre Zeit des Erwachens gekommen wäre … Er riß sich los vom Bild der Zerstörung und wandte sich der nächstliegenden Kammer zu. Wie Metalldornen gruben sich seine Finger in das Siegel, zerrissen es. Vier, fünf energische Schritte brachten ihn durch den dahinterliegenden Gang in die Kammer – – seines Bruders Schamasch.
Der Erwachte kannte dessen Namen wie seinen eigenen, wußte um die Verbindung, die zwischen ihnen bestand. Und er wußte, sah, weshalb Schamasch nicht erwacht war wie er. Und es wohl nie tun würde … Die Kaverne Schamaschs war zerstört wie der Dom selbst. Herabstürzende Gesteinsmassen waren zum Grabhügel dieses Hohen Mannes geworden. Nur sein Schädel lag noch frei – oder das, was einmal Schamaschs Haupt gewesen war … Ein Felsbrocken hatte ihm Gesicht und Schädelknochen zertrümmert. Die längst krustig gewordenen Reste klebten einer dunklen Patina gleich am Stein ringsum. Und sein Hoher Bruder mußte feststellen, daß ein toter Gott nicht minder stank als ein lange verreckter Mensch … Dennoch – auf seltsame Weise glich Schamaschs Leichnam doch nicht dem eines Menschen. Er wirkte auf seinen erwachten Bruder, als weigerten sich Fäulnis und Verwesung, den Körper zu verzehren. Gerade so, als wohnten dem zerschlagenen Leib noch immer Kräfte inne, die seinen Zerfall verhinderten, und mehr noch: die ihn … wiederherstellten, mühsam und unendlich langsam? Weder Schmerz noch Trauer beseelten den Hohen, als er sich ruckartig abwandte und hinaus in den Dom stürmte. Nur Wut trieb ihn an, unbändiger Zorn, der kein Ziel fand, weil der Hohe nicht wußte, was geschehen war – wen er für all das zur Rechenschaft ziehen konnte! Nach und nach drang er in die weiteren Schlafkammern der einstigen und künftigen (denn die Zeit der Hüterschaft konnte noch nicht vorüber sein!) Hüter ein, soweit nicht unbewegliche Felsmassen ihm den Weg verwehrten. Doch überall bot sich ihm ein ganz ähnliches Bild wie in der Kaverne von Schamasch … Er selbst schien der Einzige zu sein, der den Untergang des Dunklen Domes überstanden hatte. Doch konnte die Vernichtung der Heimstatt nicht der Grund gewe-
sen sein, aus dem er erwacht war. Alles wies darauf hin, daß die Zerstörung schon einige Zeit zurücklag, vielleicht schon Hunderte von Jahren. Was also war es, das ihn geweckt hatte? Was oder – wer? Die Frage zog unweigerlich neue nach sich, und eine schien dem Hohen drängender als die andere. Wie stand es um die Alte Rasse, wenn den Hütern in ihrem eigenen Sanktuarium ein solches Schicksal widerfahren war? Gab es überhaupt noch einen Kelchhüter, der sich des Wohles der Vampire annahm? Oder waren auch draußen unerwartete Entwicklungen vorgegangen? Der Hohe Mann wußte so vieles. Alles über den vorgesehenen Werdegang der Alten Rasse war ihm in dem Moment, da er den Kelch einst abgetreten hatte, offenbart worden. Doch die Zerstörung des Domes, die Vernichtung der Hüter waren nicht Teil dieser Verheißung gewesen … Der Erwachte brauchte Antworten. Und er wußte, wie er sie bekommen konnte: Das Unheiligtum ihrer Rasse würde sie ihm verraten – oder zumindest den Weg weisen zum Verwalter des Grals. Wenn es ihn denn noch gab … Der Hohe bereitete sich innerlich auf das Schlimmste vor. Der Weg aus dem Dom, den er vor Jahrtausenden gegangen und gekommen war, existierte nicht mehr. Was immer die Heimstatt vernichtet hatte, es hatte auch den Pfad der Hüter verschüttet – dafür aber einen neuen geöffnet. Der Hohe fand und ging ihn – ohne zu wissen, daß ihn kürzlich erst auch jene genutzt hatte, die letztlich die Zerstörungen und sein Erwachen ausgelöst hatte: Nona, die Werwölfin.* Endlich verließ der Hohe das gewaltige Grab, zu dem der Dunkle Dom den Seinen geworden war, und mächtige Schwingen trugen ihn schließlich hinauf zu den Gipfeln des Ararat. Dort angelangt rief er, inmitten von Schnee und Eis stehend, den *siehe VAMPIRA T29: »Die Wölfin«
Lilienkelch! Er tat es mit der Stimme eines Sturmes, die über jede Entfernung trug, ohne von eines Menschen Ohr gehört zu werden und doch so machtvoll war, daß das Firmament selbst darunter erbebte. Die nachtdunklen Wolken über dem Berg gerieten in brodelnde Bewegung. Energien entluden sich donnernd in einem Gewitter, wie kein Mensch es je gesehen hatte. Purpurne Blitze fuhren vom Himmel herab und hüllten den Hohen Mann in knisternde Elmsfeuer. Seine Wille bündelte das Licht und zwang es über seine vorgestreckten Arme, bis hin in die geballten Fäuste, und dort entstand – – der Kelch. Als Projektion aus purpurfarbenem Licht bebte er im Griff des Hohen – und wies ihm die Richtung, in der das Original zu finden war. Ein gewaltiger Ruck, der einem Menschen die Arme aus den Schultern gerissen hätte, zerrte an ihm und dirigierte ihn. Und dann – war es vorüber. So rasch, wie es begonnen hatte. Der Blick des Hohen fiel in südöstliche Richtung. Er kannte nun seinen Weg. Wußte, wo die Antworten zu finden waren. Und er würde sie sich holen. Bald schon. Er setzte den ersten Schritt. Und überwand Zeit und Raum. Jeder einzelne Schritt brachte ihn seinem Ziel um Meilen näher. Denn seine Macht war nicht mehr nur die eines Hüters. Sondern die eines – Gottes!
* Ein Moloch wie Delhi kam nie wirklich zur Ruhe. Hier im alten Teil der Stadt, rund um die Chandra Chowk und gegenüber des Red Fort, war der Unterschied zwischen Tag und Nacht im Grunde nur am Himmel abzulesen, und selbst das fiel in dem Gewirr schmaler und winziger Gassen mitunter schwer, denn oft genug war der Himmel der drangvollen Enge wegen kaum auszumachen. So
herrschte also auch jetzt, zu dieser späten (oder schon wieder frühen) Stunde ein wahres Tausendundeine-Nacht-Gewoge in den Ladenstraßen und – sträßchen, und die Gerüche, die aus den verschiedenen Geschäften wehten, vermengten sich zu einer bisweilen geradezu benebelnden Mixtur, die so manches Rauschmittel in der Wirkung noch übertraf. Dinesh Pai kam sich in der Menge vor wie ein Fischlein, das gegen den Strom zu schwimmen hatte. Immer wieder wurde er von seinem eigentlichen Weg abgedrängt, und ein ums andere Mal sprachen Bekannte und Freunde ihn unvermittelt an, um ihn für ein Schwätzchen aufzuhalten. Aber jeden von ihnen speiste Dinesh mit ein paar unwirschen Worten ab, um gleich weiterzueilen, fast so, als brenne ihm der Boden unter den Füßen. Und so weit war der Vergleich nicht einmal hergeholt: denn tatsächlich hatte Dinesh Pai seit geraumer Zeit schon das unangenehme Gefühl, als würde etwas Brennendes ihn vorantreiben; ein Feuer, das direkt auf seiner Haut lohte – dort, wo er den merkwürdigen Kelch unter seinem Gewand verborgen hielt. Ein klein wenig bereute er, Radhey den Kelch abgenommen zu haben. Weil es schlicht kein gutes Gefühl war, das Ding bei sich zu tragen. Die Aussicht auf den Verkaufserlös jedoch machte es ihm erträglich. Und zudem würde er ja gleich am Ziel sein. Im Grunde, dachte er, konnte Radhey froh sein, daß er, Dinesh, ihm den Kelch abgeluchst hatte. Denn mit dem Geld, das er dafür bekommen würde, konnte er sich gewiß eine ganze Weile über Wasser halten – und Radhey würde in dieser Zeit nicht für den Unterhalt seines Bruders aufkommen müssen. Daß Dinesh den Erlös nicht mit Radhey teilen würde, gereichte dem Jüngeren überdies noch zum Vorteil – weil das Geld dann länger für Dinesh reichte … Er grinste häßlich und erntete erstaunte Blick derjenigen, die ihm gerade begegneten und meinten, sein Grinsen gelte ihnen. Das Basarviertel Delhis war eine Welt für sich. Zum großen Teil
bestand es aus belebten Gassen, doch gab es auch welche, in die nur vereinzelt jemand vordrang. In diesen Bereichen schien ewige Nacht zu herrschen, Schatten nisteten wie lauernd in Winkeln und Ecken, und aus dem Dunkel heraus fühlte jeder Eindringling sich von unsichtbaren Augen beobachtet. Dinesh Pai kannte das Gefühl zur Genüge, schließlich trieb er sich oft genug hier herum, trotzdem vermochte er sich nicht daran zu gewöhnen und schauderte jedes Mal aufs neue, wenn er herkam. Seine überreizten und vom Alkohol ohnedies stimulierten Sinne gaukelten ihm Bewegung vor, wo keine war, und ließen ihn zischelnde Stimmen hören, die direkt in seinem Kopf zu wispern schienen. Eine elende, verfluchte Gegend war das, und Dinesh wünschte, die Leute, mit denen er mitunter »geschäftlich« zu tun hatte, würden sich endlich anderswo niederlassen. Nur hier und da hing eine Laterne vor einem der Häuser, die dicht an dicht standen und im Grunde nur Teile eines ganzen, gewaltigen Bauwerks waren, weil geheime Schlupflöcher und Gänge sie miteinander verbanden. Die trüben Lichter schufen kaum Helligkeit, sondern waren nur Markierungspunkte, die eine Dunkelheit von der nächsten abgrenzten. Sich hier zu orientieren und den richtigen Weg zu finden, fiel selbst Dinesh Pai schwer. Und gerade jetzt war er schon versucht zu glauben, er hätte sich verirrt. Seufzend hielt er inne – »Dinesh?« Der junge Inder ruckte herum. Drei, vier Schritte entfernt glomm eine Lampe in Kopfhöhe an der grauen Mauer, und dahinter im Finstern – rührte sich etwas. »Dinesh Pai! Du bist es.« Ein Teil der Dunkelheit jenseits des Laternenscheins schien sich zu verdichten, Gestalt anzunehmen, und dann endlich trat diese Gestalt hervor. Eine ebenso furchteinflößende wie mitleiderregende Gestalt … So spindeldürr, daß man meinen mochte, es befände sich
nicht die geringste Faser von Fleisch zwischen Haut und Knochen. Das Gesicht wie das eines Skeletts, mit braunem, rissigem Leder überzogen. Die Augen tot wie dunkle Glasperlen. Der Mund eine dunkle Höhlung, aus dessen schwärzlichem Zahnfleisch nur zwei oder drei gelbliche Zähne ragten, schief wie die Grabsteine eines uralten Friedhofs. Dinesh Pai lächelte zufrieden. »Jug Suraiya! Welch glückliche Fügung.« »Du hast mich gesucht?« fragte der – vielleicht nur scheinbar – Alte. »So ist es«, sagte Dinesh. »Dann nehme ich an, du hast etwas für mich?« forschte Jug Suraiya lauernd. »In der Tat.« »Hoffentlich von besserer Güte als deine letzten Angebote.« »Du wirst begeistert sein«, versprach Dinesh. »Zeig her!« »Nicht hier«, wehrte Dinesh Pai ab. Seine Blicke tasteten unstet durch die Finsternis der engen Gasse. »Dann komm mit«, sagte Jug Suraiya. Er drehte sich um und verschwand in der Schwärze der Türöffnung unterhalb der Laterne. Dinesh Pai folgte ihm, siegesgewiß lächelnd. Jug Suraiya war ein Händler von ganz besonderer Art, ein geschickter und erfolgreicher noch dazu, seinem seltsamen Äußeren zum Trotz. Seine Verbindungen reichten zum einen bis in die höchsten Kreise nicht nur der Stadt, sondern des Landes, und obendrein noch über die Grenzen Indiens hinaus. Warum er dennoch in dieser Gasse hauste und sich nicht längst einen Palast errichtet hatte, darüber hatte Dinesh Pai längst aufgehört sich zu wundern … Jug Suraiyas Behausung erinnerte ihn stets an etwas wie eine Hexenküche oder die Wohnstatt eines Zauberers. Nun, vielleicht war der Alte ja etwas in der Art … Alle möglichen und unmöglichen
Utensilien stapelten und türmten sich in den kleinen Räumen, so daß dazwischen nur schmale Wege freiblieben, an manchen Stellen nicht einmal breit genug, daß man sie problemlos begehen konnte. Allerlei Gerüche hingen in der stickigen Luft, und mit jedem Schritt wehte dem Besucher ein neuer in die Nase. Mit Licht ging Jug Suraiya so sparsam um, daß der weiteste Teil seines Zuhauses im Dunkeln und der Rest in trübem Zwielicht blieb. In einem der hinteren Räume, wo zumindest Platz genug für ein paar Sitzgelegenheiten am Boden blieb, wandte Suraiya sich seinem jungen Besucher zu. »Nun, was hast du?« fragte er. Dinesh Pai griff unter seine Kleidung, wartete noch einen kleinen Moment, wie um die Spannung zu erhöhen, dann zog er den Kelch hervor und hielt ihn Jug Suraiya hin. Selbst im hier herrschenden Halbdunkel schien das blütenartig geformte Gefäß zu funkeln, als wäre es tatsächlich in der Lage, jedes noch so geringe Licht anzuziehen. Sekundenlang starrte Jug Suraiya es schweigend an. Wenn er davon angetan war, dann zeigte er es jedenfalls nicht. Natürlich nicht, denn eher geringes Interesse seinerseits drückte den Preis. Dinesh Pai ließ den Alten jedoch nicht aus den Augen. Keine noch so geringe Regung würde ihm entgehen. Schließlich kannte er Jug Suraiya lange und – wie er meinte – gut genug. »Na?« machte er schließlich. »Was hältst du davon?« »Hm …« Suraiya griff nach dem Kelch, wog ihn in seinen spinnenartigen Händen, besah ihn sich von allen Seiten. »Keine Sorge«, grinste Dinesh. »Weder ›Made in China‹ noch sonstwo.« »Daran zweifle ich nicht«, brummte Suraiya. »In der Tat ein schönes Stück.« Die Frage nach der Herkunft ersparte er sich. Dinesh Pai würde sie ihm nicht verraten, ebensowenig wie die anderen es taten,
die ihm Sachen zum Kauf anboten; und in manchen Fällen war es sogar besser, nicht zu wissen, wo die Dinge herstammten – denn oft genug klebte, wenn auch unsichtbar, Blut daran … Dinesh Pai hatte Mühe, seinen Triumph zu verbergen. Hatte Jug Suraiya sich nicht eben verraten? Hatten seine wie tot wirkenden Augen nicht gerade, für einen winzigen Moment nur, gefunkelt? Und war da nicht plötzlich etwas Lauerndes, etwas wie mühsam bezwungene Gier in seinen verdorrten Zügen? »Weißt du, worum es sich dabei handelt? Ob der Kelch einen – Namen hat?« fragte Jug Suraiya, und es klang in Dineshs Ohren eindeutig so, als kenne der Alte selbst diesen Namen schon. »Nein«, antwortete er. »Du etwa?« »Nein, nein.« Die Antwort kam für Dineshs Dafürhalten zu schnell, um wahr zu sein. Dinesh Pai wurde des Spielchens überdrüssig. Dazu kam noch, daß er sich weder in Jug Suraiyas Gegenwart noch in dessen Haus sonderlich wohl fühlte, so daß er sich nicht länger hier aufhalten wollte, als unbedingt nötig. »Was bietest du mir dafür?« fragte er. Jug Suraiya zögerte kurz, dann nannte er einen Betrag, der Dinesh Pais Vorstellung noch übertraf. Zugleich war es ihm deutliches Zeichen dafür, daß er dem Alten tatsächlich einen »echten« Schatz ins Haus gebracht haben mußte. Einen Moment lang spielte Dinesh mit dem Gedanken, mehr zu fordern. Doch dann sah er davon ab. Er wußte, daß Suraiya über ein kleines Heer gedungener Helfer verfügte, die allzu große Unverschämtheit bestraften. Mehr als einer von Dinesh Pais Sorte war schon auf Nimmerwiedersehen verschwunden, nachdem er sich mit Jug Suraiya angelegt hatte … »Gilt«, sagte er deshalb nur. Jug Suraiya entlohnte den jungen Mann, der sich daraufhin mit einem gemurmelten Gruß abwandte, um zu gehen. Doch die Stimme des Alten hielt ihn zurück.
»Warum so eilig?« fragte Suraiya. »Wie wär’s mit einem Schluck von meinem besten Tropfen auf den Weg?« Nun, warum nicht? dachte Dinesh Pai, der auch minderen Tröpfchen nie abgeneigt war. Aus dem Wust von Dingen ringsum zog Jug Suraiya eine einfache Flasche hervor, öffnete sie, indem er einen Zahn in den Korken grub und daran zog, und dann schenkte er ein – in den Kelch. »Möge der Wein dir munden«, sagte er und reichte Dinesh Pai den Kelch. »Wer mit solchen Angeboten zu mir kommt, ist stets ein gerngesehener Gast in meinem Hause.« Dinesh hielt die Nase über den Kelch. Feinwürziger Duft stieg davon auf. In der Tat hatte Jug Suraiya ihm vom Besten eingeschenkt. Trotzdem zögerte er, davon zu trinken. Nicht des Inhaltes wegen, sondern … Wer wußte denn schon, was sich zuvor in diesem alten Kelch befunden hatte? »Na, was ist?« fragte Jug Suraiya. »Willst du mich beleidigen?« Er lächelte milde – und irgendwie auch seltsam … »Nein, gewiß nicht«, beteuerte Dinesh. Egal, dachte er, in dem Zeug wird hoffentlich genug Alkohol sein, daß es jeden Keim abtötet … Er setzte den Kelch an die Lippen und trank. Einen kleinen Schluck erst, dann stürzte er den Rest auf einmal hinunter. »Was sagst du dazu?« wollte Suraiya wissen. Er sah den jungen Mann auf merkwürdige Weise an; als lauerte er darauf, daß irgend etwas geschah. Aber Dinesh Pai achtete jetzt nicht mehr darauf. »Wäre es sehr vermessen, dich darum zu bitten, noch einmal nachzuschenken?« grinste er. »Keineswegs.« Den zweiten Trunk nahm Dinesh Pai langsamer. Ein verdammtes Gebräu hatte Jug Suraiya ihm da eingeschenkt – ein verdammt gutes! Er hielt den Kelch in die Höhe.
»Weißt du schon, wem du das gute Stück anbieten wirst?« erkundigte er sich. Der Alkohol ließ seinen Ton jovial werden. Der Alte nickte. »Ich kenne da ein paar Verrückte, die ganz versessen auf solche Sachen sind.« »So? Wen denn?« Jug Suraiya machte eine wegwerfende, kaum verhohlen verächtliche Handbewegung. »Engländer.«
* Die schwarzen Nebel lichteten sich nur zäh um Radhey Pai herum, als würden sie wie Spinnenfäden in seinem Geist kleben. Je weiter sie von ihm abrückten, desto mehr Raum schienen sie für etwas anderes zu schaffen: Schmerz. Das Zentrum des quälenden Pulsierens saß in Radheys Hinterkopf, und von dort aus breitete der Schmerz sich in Wellen aus, ritt auf seinen Nervenbahnen bis in die entlegensten Bereiche seines Körpers. Der wiederum schien Radhey wie aus Blei oder Stein, so schwer jedenfalls, daß er ihn kaum zu bewegen imstande war. Zudem die geringste Regung den Schmerz in seinem Kopf neu anfachte. Irgendwann und irgendwie schaffte er es, sich zumindest auf Hände und Knie aufzurichten. In dieser Haltung jedoch mußte er minutenlang verharren, so lange eben, bis der Schmerz auf ein erträgliches Maß herabgesunken war. Der Gedanke an seinen Bruder Dinesh half ihm ein wenig dabei, den Schmerz wenigstens teilweise zu ignorieren. Dinesh, dieser Schuft! Ach was, Schuft – ein Gauner war er, ein Verbrecher! Radhey hatte nicht übel Lust, den Bruder nie mehr ins Haus zu lassen. Der Kerl machte ihm das Leben stets schwer und manchmal zur Hölle. Damit mußte endlich Schluß sein. Radhey würde darüber nachdenken, wie er Dinesh loswerden konnte. Spä-
ter … Wenn das Denken nicht mehr so fürchterlich weh tat … Im Moment hatte Radhey Pai nur eines im Sinn: Er mußte irgendwie die Strecke bis hin zu seinem Bett überwinden. Und dann wollte er nichts anderes als schlafen, so lange, bis der Schmerz vergangen war. Einen ganzen Tag lang, wenn es sein mußte. Doch kaum verliefen Radheys Gedanken wieder in halbwegs geordneten, wenn auch simplen Bahnen, drängte sich ihm einer auf, der nach wie vor nicht sein eigener, wohl aber inzwischen altbekannt war: der Gedanke an den Kelch. »Ich habe versagt …« Die Worte kamen Radhey unbewußt über die Lippen, leise und schwach und doch auch verzweifelt. Als bedauere er aus tiefstem Herzen, daß ihm der Kelch abhanden gekommen war. »Muß … ihn … zurück … holen«, keuchte er matt, und wieder gegen seinen Willen. Fremde Kraft drängte schmerzhaft in seine Glieder und zwang ihn in die Höhe. Wankend wie ein Halm im Wind stand er schließlich da – und stürzte doch wieder zu Boden. Von neuem und noch ärger flammte der alte Schmerz auf, wob ihn wieder ein in Schwärze, die ihn alles vergessen lassen wollte – und es doch nicht vermochte. Weil etwas anderes geschah; etwas, das ihn mit grausamer Brutalität in die Realität zurückzerrte! Die Tür des Häuschens schwang auf. Schatten drängten über die Schwelle. Unter Radheys Blicken schienen sie hereinzuschweben, aber er hörte ihre Schritte, die näher kamen, ihn umrundeten und schließlich verstummten. Augen wurden auf ihn gerichtet, und von ihren eisigen Blicken fühlte er sich aufgespießt wie von kalten Klingen, die ihm ins Fleisch fuhren. »Wer …?« setzte er an und verstummte gleich wieder, jedoch nur, um zu wimmern und zu winseln wie ein getretener Hund. Zum Schreien fehlte im die Kraft, obgleich er es von Herzen gern getan hätte –
– denn die schwarzen Wolken hatten sich etwas gelichtet und ihm den Blick freigegeben auf jene, die ihn da umstanden. Verwesende Fratzen starrten auf ihn herab, bleich schimmerten hier und da Knochen durch das löchrige Fleisch, und ihr Gestank hüllte Radhey ein. Die lebenden Toten aus dem Haus an der Grand Trunk Road! »W-was w-wollt ihr von mir?« stammelte Radhey. »L-laßt m-mich … bitte! Tut m-mir nichts! Ich …« »Dennn Kelchchch!« Es war Radhey unmöglich festzustellen, welcher der Untoten zu ihm gesprochen hatte. Alle zugleich? So hatte es geklungen. »Ich habe ihn nicht m-mehr«, sagte Radhey hastig. »Er wurde mir … gestohlen!« »Werrr …« »… isst …« »… derrr Dieb?« Die Worte klangen dumpf, waren schwer verständlich. »Mein …«, begann Radhey, zögerte einen Moment, ob er die Wahrheit sagen und Dinesh womöglich ans Messer liefern sollte, und tat es dann doch, »mein Bruder hat ihn genommen und fortgebracht.« »Erwarrrtessst …« »… du ihnnn …« »… zurrrückck?« »Meinen Bruder?« hakte Radhey nach. Für den Moment schwand die Furcht aus seiner Stimme, und sein Ton klang resignierend und ein klein wenig wütend zugleich. »Bestimmt kommt der wieder …« »Wirrr …« »… warrrtennn …« »… aufff ihnnn.« Radhey schluckte trocken. »Und was«, flüsterte er angstvoll, »werdet ihr mit ihm tun? Und – mit mir?«
»Wirrr …« »… werrrden …« »… dichch …« »… bestrrrafennn!«
* Jug Suraiya starrte noch ins Dunkel des Raumes, nachdem Dinesh Pai längst das Haus verlassen hatte. Schwankend war der junge Mann gegangen, aber das hatte wohl allein vom Alkohol hergerührt, den er getrunken hatte – noch zwei weitere Male hatte Suraiya ihm nachgeschenkt –, nicht jedoch am Kelch selbst. Einen Beweis dafür, daß er mit seiner Vermutung falsch lag, sah Jug Suraiya darin jedoch nicht. Als wolle er das Gewicht des Gefäßes abschätzen, wog er es in der mageren Hand und sah nachdenklich darauf hinab. Noch immer hielt er das Ding für mehr als irgendein Gefäß, irgendeinen Kelch, sondern für – etwas ganz Besonderes: für den Kelch überhaupt – für den Gral …! Und nur deshalb hatte er Dinesh Pai daraus trinken lassen. Um zu sehen, was daraufhin geschehen würde. Ob der Trunk daraus überhaupt irgendwelche Folgen zeitigte. Nun, es war zwar nichts passiert, dennoch – Jug Suraiya hielt an seinem Verdacht fest. Und er wollte ihn überprüfen. Schwerfällig erhob er sich. Sein Ächzen klang schauerlich wie das einer ganzen Horde von Geistern, seine Gelenke knackten wie brechendes Holz. Den Kelch in der Hand, schlurfte er aus dem Raum, in den nächsten und weiter bis hin zu einer überladenen Regalwand. Dort drehte er einen verborgenen Knauf, woraufhin das Regal rumpelnd ein Stück in die Wand zurück und schließlich zur Seite glitt. Dahinter lag ein weiteres Zimmer, düsterer noch als die anderen des Hauses und kaum weniger vollgestopft mit allen möglichen Dingen. Trotzdem hätte selbst ein unbedarfter und zufälliger
Besucher die Besonderheit dieses Raumes zumindest erahnt – es schien in der Luft zu liegen, und irgendwie war auch die Stille hier von anderer Art als draußen in den anderen Zimmern. Dies hier war die wahre Schatzkammer Jug Suraiyas. Hier bewahrte der Händler all jene Dinge auf, die er niemals und für keinen Preis der Welt aus den Händen geben würde. Und mitunter handelte es sich dabei auch um Dinge, von denen besser niemand wußte, daß Suraiya sie in seinem Besitz hatte … Achtlos ging der alte Mann an Artefakten vorüber, die als Heiligtümer galten, und an Dingen, deren Existenz die Menschheit für Legende hielt … Gut so, dachte Jug Suraiya beiläufig. Er wandte sich der hinteren Wand des Raumes zu, wo sich Folianten aneinander reihten, deren Ledereinbände teils hart wie Stein geworden waren im Laufe unzähliger Jahre. Eines der Bücher nahm Suraiya zielsicher hervor, legte es auf einer eilends freigelegten Fläche ab und schlug es auf. Staub wölkte auf, ließ den Alten niesen und husten in einem, daß man fürchten mußte, es würde seinen dürren Leib schlicht zerbrechen. Er selbst schien es nicht einmal recht wahrzunehmen. Seite um Seite blätterte er um, seine steinern wirkenden Augen ruckten hin und her, während sein Blick über die größtenteils handbeschriebenen Seiten wanderte. Er kannte den Kelch, den Dinesh Pai ihm gebracht hatte. Freilich hatte er ihn nie zuvor im Original gesehen, nur auf einer Abbildung, als uralte Zeichnung, die nicht einmal von sonderlichem Geschick gewesen war. Aber die Form des Kelches war so charakteristisch, daß sie selbst in dieser schlichten Darstellung erhalten geblieben war. »Wußte ich’s doch! Da ist es ja! Ja, auf das Hirn in diesem alten Kopf ist doch noch Verlaß.« Suraiya tippte sich gegen die Stirn. Die aufgeschlagene Doppelseite zeigte eine ganze Reihe von Abbildungen, teils alte Stiche, andere wieder handgemalt, und die eine
oder andere Zeichnung schien von Hand direkt auf dieses Papier gebracht worden zu sein, so daß es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Unikate handelte. Samt und sonders handelte es sich bei den Darstellungen um – Kelche. Jeder war von anderer Form, und sie unterschieden sich überdies durch Größe und Zierat. Etliche der abgebildeten Gefäße waren sehr schlicht, nur aus Holz oder einfachem Metall gefertigt, andere dagegen aus edlem Material und aufwendig mit allerlei Steinen besetzt. Allen jedoch war eines gemeinsam – jeder einzelne der dargestellten Kelche sollte, den Verfassern des Buches zufolge, der einzig wahre Heilige Gral sein! Und unter den Abbildungen fand Jug Suraiya auch eine, die seinen Kelch zeigte … Er stellte das Gefäß neben das Buch und verglich es mit der betreffenden Darstellung. Sie waren nicht identisch, aber die Ähnlichkeit war unleugbar. Womöglich hatte der Illustrator den Kelch nur ein einziges Mal, vielleicht ganz kurz nur gesehen und als Vorlage lediglich das Bild seiner Erinnerung gehabt, mutmaßte Suraiya. Er hatte viel gehört und gelesen über den Heiligen Gral (wie auch über viele andere sagenumwobene Artefakte), und ohne es sich selbst einzugestehen, hatte er sich gewünscht, den Kelch, in den einst das Blut Jesu Christi geflossen sein sollte und der seit zweitausend Jahren durch die Geschichte der Menschheit geisterte, irgendwann einmal in die Hände zu bekommen. Nun schien es, als wäre sein Wunsch in Erfüllung gegangen. Suraiya hielt es sogar für wahrscheinlich. Denn er glaubte nicht, daß einer der aufwendigen Kelche, die in dem Buch zu sehen waren, der echte Gral sein könnte. Wenn er nicht nur Legende war, dann mußte es sich um ein eher schlichtes Gefäß handeln … Und vielleicht war etwas an all den Wunderdingen dran, die man sich über den Gral im Laufe der Zeit erzählt hatte … Auch wenn Suraiyas erster Versuch mit Dinesh Pai offenbar fehlgeschlagen war, wollte er die Probe aufs Exempel noch einmal vornehmen – an sich selbst.
»Ewiges Leben«, flüsterte er heiser. So sagte man, unter anderem: Wer aus dem Gral trank, dem wäre ewiges Leben beschieden. Jug Suraiya stellte das Buch zurück und verließ seine geheime Kammer. Draußen in einem anderen Raum holte er eine Flasche hervor (nicht jene mit dem billigen Gepansch, das er Dinesh Pai als »edlen Tropfen« angedient hatte) und schenkte sich ein. Sekundenlang sah er dann in den Kelch hinein. Seltsam, dachte er, es sieht aus, als wäre nichts darin – nur Schwärze … Dann endlich trank er. Einen kleinen Schluck erst, dann mehr und schließlich alles. Langsam setzte Jug Suraiya den Kelch ab. Wartete darauf, daß etwas geschah – daß er sich anders fühlte, auf welche Weise auch immer besser. Und tatsächlich veränderte sich etwas. Er fühlte sich – unwohl. Als greife heimlich eine Krankheit nach ihm. Und dieses Gefühl blieb ihm, verschlimmerte sich noch. Übler Kopfschmerz befiel Jug Suraiya. Und dieser Schmerz schürte schließlich einen Wunsch in ihm: Er wollte den Kelch loswerden. Rasch! Je schneller, desto besser! Schon wollte er sich aufmachen, um sein Haus zu verlassen. Doch er schaffte nur den halben Weg zur Tür. Der Schmerz wurde unerträglich, so daß Suraiya meinte, der Schädel müßte ihm platzen. Er ging zu Boden, sank hin. Und schließlich wünschte er sich, sein Kopf würde wirklich platzen! Weil dann vielleicht die grauenhaften Bilder, die urplötzlich darin waren und ihn quälten, vergangen wären! Aber er wurde nicht erlöst. Und so mußte Jug Suraiya den schlimmsten Alptraum seines Lebens bis zum Ende durchleben und – leiden, endlose Stunden lang. Den Traum von einer Welt, wie sie hoffentlich nie sein würde – regiert und geknechtet von Wesen, die sich die Menschheit hielten wie Vieh …
* � Der neue Tag kroch von Osten her auf Delhi zu. Sein Licht tauchte die Dächer der Stadt in glühendes Licht und kleidete die Kuppeln der Moscheen wie in gehämmertes Kupfer, während sich die Schatten in den Gassen drunten eher noch vertieften, als zöge sich alle Dunkelheit dorthin zurück auf der Flucht vor dem Morgen. Dies war die Zeit, da die Stadt Atem zu schöpfen schien, für ein Weilchen wenigstens. Denn manch einer, der sich in ihren Straßen umtrieb, verhielt in diesen Minuten und ließ sich einfangen von der Zelebration aus Licht und Schatten, ehe er das neue Tagwerk aufnahm und mitgerissen wurde von jenem Fluß, der Delhis Leben war. Vielleicht war Dinesh Pai der Einzige, dessen Augen blind waren für all dies. Wie hoffnungslos verirrt taumelte er aus einer der Passagen und hinein in den einsetzenden Verkehrsstrom, hindurch und zurück ins Dunkel, das am Grund der Gassen nistete – – und ihm unvorstellbare Schrecken entgegenspie, wohin er seinen Fuß auch setzte! Denn Dinesh Pai war auf der Flucht! Er floh vor Wesen, die Delhi heimlich, über Nacht erobert hatten. Und er selbst, so schien es ihm, war der Letzte, dessen sie noch nicht habhaft geworden waren … Begonnen hatte die Jagd auf ihn, kaum daß er Jug Suraiyas Haus verlassen hatte. Der gräßliche Schmerz in Dinesh Pais Kopf war lediglich der Auftakt gewesen; hatte er da noch geglaubt, es könnte ihm nichts Schlimmeres widerfahren, so sah er sich alsbald grausam getäuscht – – als sie aus den Schatten kamen! Erst folgten sie ihm nur in einigem Abstand, schließlich kamen sie näher, und dann überholten sie ihn, stets im Schutz der Dunkelheit, so daß Dinesh Pai ihrer nicht wirklich ansichtig wurde. Aber er ver-
meinte selbst über die Distanz die frostige Aura zu spüren, in die sie gehüllt waren. Er sah die dunkle Glut ihrer Augen, die ihn mit ihren Blicken kalt berührte. Er hörte ihr gieriges Hecheln, und er wußte, wonach sie gierten – nach seinem Leben, seinem Blut! Er wußte es einfach. Dann hatte Dinesh Pai die anderen gesehen – jene Menschen, die die Jäger schon erwischt und erlegt hatten. Sie waren vom Tode auferstanden und ihren Mördern zum Gefolge geworden, beteiligten sich an der Hatz nach Dinesh Pai, der schreiend floh, wie blind ins Nichts, und doch gab es kein Entkommen, denn sie waren längst überall. Was war nur geschehen? hämmerte es in seinem schmerzenden Schädel. Wie hatte all das nur passieren können? Das war doch – völliger Irrsinn! Wieder griffen Klauen aus den Schatten nach ihm, und wieder gelang es Dinesh Pai im allerletzten Augenblick, dem Griff zu entschlüpfen. Als wollten sie ihn gar nicht wirklich packen – noch nicht … Der Kelch! Irgendwie geriet der Kelch in Dinesh Pais wirre, panikgetränkte Gedanken. Warum? Hatte das Ding etwas mit all dem hier zu tun – das verfluchte Ding? Der Gedanke ging unter in wahngeborenen Bildern, die Dinesh Pai eine Welt vorgaukelten, die einzig für ihn existierte. Durch die er rannte – und dabei doch seinem wirklichen Zuhause näher und näher kam. In einem lichten Moment erkannte er es. Die Umgebung war vertraut, das Haus, in dem er mit seinem Bruder Radhey wohnte, ganz nahe. Dort mußte er hin! Vielleicht würde der Wahnsinn dann ein Ende haben; dort, wo alles vertraut war und sicher. Die blutgeilen Horden auf den Fersen und ihren hechelnden Atem wie einen kalten Wind im Nacken spürend, erreichte Dinesh Pai
schließlich das kleine Haus. Er stürzte gegen die Tür, stolperte über die Schwelle – – und wurde von Gestalten empfangen, die grauenerregender waren als jene, von denen er sich verfolgt glaubte. Und sehr viel realer …
* Radhey Pai war davon überzeugt gewesen, daß die Untoten aus dem Haus an der Grand Trunk Road ihn umbringen würden. Nur das konnten sie damit gemeint haben, als sie sagten, daß sie ihn bestrafen würden. Er hatte sich geirrt. Sie rührten ihn nicht an, blieben nur weiter im Kreis um ihn herum stehen, stumm und reglos und unüberwindbar. Ihre Strafe indes war grausamer, als sein Tod es gewesen wäre. Radhey Pai erfuhr es, als sein Bruder Dinesh wie von Furien gehetzt, schweißüberströmt und glitzernden Blickes zur Tür hereinstürzte. »Hilf mir, Radhey! Bitte, hilf mir!« keuchte Dinesh. Er sah sich um, als wäre da jemand hinter ihm, der ihn jagte. Doch Radhey sah niemanden. Nur das Licht des Tages, der draußen längst begonnen hatte. Ehe er etwas erwidern konnte, stieß Dinesh gegen einen der lebenden Toten. Der rührte sich unter dem Ansturm um keinen Deut, stand wie festzementiert. Dafür aber bewegten sich die beiden neben ihm stehenden. Ihre Klauen schossen vor, krallten sich in Dineshs Arme, der kaum wußte, wie ihm geschah, und dann hatten sie ihn auch schon zu Boden geworfen – – um sich noch im selben Moment auf ihn zu stürzen! Die Zwölf begruben Dinesh Pai regelrecht unter sich, und obwohl Radhey nicht recht sah, was sie seinem Bruder antaten, genügte das Wenige, das er erkannte, um sich den furchtbaren Rest vorstellen zu können. Radhey war ziemlich sicher, daß sie Dinesh »verhörten«. Aber es
geschah ohne jedes Wort. Sie schienen Dineshs Wissen unmittelbar anzuzapfen, es ihm zu entreißen – und ihren Bewegungen und den widerlichen Lauten zufolge war dieses Entreißen offenbar wörtlich zu nehmen … Dineshs Gegenwehr erstarb rasch – schneller jedenfalls, als er selbst starb. Selbst als sie endlich von ihm abließen, schien noch ein Funke Leben in ihm zu sein. Und er erlosch erst, als Radhey zu Dinesh hingekrochen und seinem stumpf werdenden Blick noch einmal, ein allerletztes Mal begegnete. Darin sah Radhey Pai die ihm angedrohte Strafe: daß er Zeuge des Todes seines Bruders hatte werden müssen. Und es war noch nicht vorbei … »Errr hattt …« »… dennn Kelchch …« »… forrrtgegebennn …« »… du wirrrssst …« »… unnnssszzzu ihmmm führrren.« Die Worte fielen wie Eisregen auf Radhey Pai nieder. »Aber«, heulte er, »ich … ich weiß nicht, wo er ist!« »Hierrr!« Sie teilten das Wissen, das sie Dinesh entrissen hatten, mit Radhey. Stießen es ihm buchstäblich ins Hirn hinein! Er schrie auf, brüllte unter den Schmerzen, endlos lange, wie ihm schien. Dann endlich verebbte der Schmerz. Und Radhey wußte, was Dinesh getan hatte – und er wußte, weshalb sie ihn noch am Leben ließen: weil sie ihn brauchten, möglicherweise. Es war ihnen daran gelegen, wenig Aufsehen zu erregen, und dem stand schon ihr Auftreten entgegen. Er, Radhey, konnte sich jedoch unauffällig unter den Menschen bewegen. Er würde ihr Werkzeug und ihr Führer sein. Und so machte er sich auf, um die Zwölf dorthin zu bringen, wo Dinesh den Kelch zurückgelassen hatte. Er führte sie auf Wegen
dorthin, die auch am Tage dunkel blieben. Unsichtbar und unbemerkt schlich der Tod durch Delhi.
* Jug Suraiya schlug die Augen auf und wünschte sich, sie nie mehr schließen zu müssen – weil er wußte, daß der schreckliche Traum, die bluttriefenden, grausamen Visionen einer furchtbaren Welt auf ewig hinter seinen Lidern lauern würden. Genauso jedoch wußte er, daß es nicht zu verhindern sein würde. Wie lange konnte er ohne Schlaf auskommen? Gewiß, eine ganze Weile. Aber nicht bis ans Ende seines Lebens. Das Ende seines Lebens … Jug Suraiya wollte auflachen, aber es wurde nur ein erschöpftes Ächzen daraus. Er wußte, wo sein Leben enden würde: in diesem Traum. Irgendwann würde er die Visionen nicht mehr verkraften können, und dann, wenn seine Kräfte im Traum erstarben, würde er auf ewig gefangen sein in dieser verdammten Welt … Der Trunk aus dem Kelch mußte all dies bewirkt haben! Jug Suraiya war sich dessen ganz sicher, wie er sich nach dem Trunk auch so vieler anderer Dinge sicher war. Ob es etwas nutzen würde, sich des Kelches zu entledigen, wußte er nicht. Aber es war einen Versuch wert, und überdies wollte er mit dem elenden Ding nichts mehr zu schaffen haben. Es mußte aus seinem Haus verschwinden, vielleicht würde er sich dann zumindest ein klein wenig besser fühlen. Mochte der Kelch anderen Unglück bringen – Menschen, die es seiner Meinung nach nicht besser verdient hatten. Engländer … Schließlich waren deren Vorfahren es gewesen, die Indien und seinem Volk einst die Würde genommen hatten mit ihrer großkotzigen
Kolonialherrschaft. Suraiya spuckte aus, und zugleich lächelte er. Er haßte die Briten, immer noch, aber andererseits waren sie auch die Quelle, aus der er schöpfte. Diese Irren kauften ihm alles ab. Er mußte ihnen nur die passende Geschichte zu den jeweiligen Artefakten liefern, den Dingen Geheimnisse und Legenden andichten. Und das konnte Jug Suraiya wie kein anderer. Mit dem Kelch würde er ihnen etwas ganz Besonderes anbieten. Etwas, an dem der Verfluchte, der den Zuschlag erhielt, lange Freude haben würde … Lachend verließ Jug Suraiya sein Haus und tauchte ein in das Labyrinth der alten Kernstadt. Noch immer schmerzte ihm der Kopf, und jeder Schritt bereitete ihm Mühe. Aber jeder Schmerz war erträglicher als dieser Alptraum, dem er entronnen war – einstweilen … Sein Ziel lag im Süden Delhis, dem Teil der Stadt, den man zurecht Neu Delhi nannte, weil er mit dem ursprünglichen kaum mehr etwas gemein hatte. Fast jeder Strauch war hier ein Zeichen dafür, wer diesen Teil der Stadt zu Beginn dieses Jahrhunderts entworfen und angelegt hatte. Eine neue Machtzentrale des britischen Empires hatte es werden sollen. Nach dem zweiten Weltkrieg war es damit zwar vorbei gewesen; die Spuren der Kolonialherren jedoch hatten die Jahrzehnte überdauert. Jug Suraiya passierte das India Gate, schlenderte ein Stück die Prachtavenue Rajpath entlang und tauchte dann ein in die Straßen jenseits des National Museums. In dessen Nähe befand sich in einem prunkvollen Bau die Residenz der »Tigers of Britain«, ein Herrenclub, der sich als Elite von eigenen Gnaden gefiel. Für Jug Suraiya eine der größten Ansammlungen von Idioten, die sich in Delhi finden ließ – und mithin wie geschaffen für ihn und seine Geschäfte … Vordergründig ging es den Mitgliedern dieser versnobten Bande
um den niveauvollen Gedankenaustausch mit Gleichgesinnten, und tatsächlich mochten die Kerle ab und an etwas Sinnvolles tun – etwa, wenn sie einen kleinen Teil ihrer unverschämt großen Reichtümer für wohltätige Zwecke spendeten. Tatsächlich aber, und das wußte Jug Suraiya aus eigener Anschauung, war der Club Tarnung für mitunter dubiose Geschäfte und Alibi für private Eskapaden. Daß die Eheweiber dieser ehrenwerten Gentlemen selbigen nicht nachstanden, wußte Suraiya ebenso. Sie frönten ihren bisweilen abseitigen Vergnügen in ähnlich elitären Zirkeln. All das kümmerte Jug Suraiya jedoch nicht wirklich, es ging ihm nur durch den Sinn, während er das wuchtige Gebäude umrundete und zum Hintereingang ging. Der wurde zwar ebenso bewacht wie das Portal an der Front, hier jedoch ließ man Suraiya passieren, die Uniformierten grüßten ihn sogar mit einem Nicken. Suraiya winkte ihnen zu und verschwand dann im Gewirr der Wirtschaftsräume. Auch hier hielt ihn niemand auf; im Gegenteil. Hier und da wurde er nur begrüßt wie ein alter Bekannter. Über eine Treppe gelangte er schließlich hinauf in die Räumlichkeiten, die der Club nutzte. Im Hintergrund einer kleinen Halle hielt er sich dann verborgen. Mit einem leisen Pfiff machte er einen der livrierten Bediensteten auf sich aufmerksam und winkte ihn zu sich. »James, alter Knabe, wie stehen die Dinge?« fragte er den Diener aufgesetzt freundlich. Der ältere Mann verzog mißbilligend das Gesicht über soviel Vertraulichkeit, ging ansonsten aber darüber hinweg. »Mister Suraiya, was kann ich für Sie tun?« fragte er nur distanziert. »Holen Sie Eddie her«, verlangte der Händler und konnte sich nicht verkneifen, ein befehlendes »Flott!« hinzuzufügen. Er liebte es, die Nachfahren der einstigen Kolonialherren herumzuscheuchen … »Ich nehme an, Sie wünschen Sir Edward zu sprechen?« hakte der Diener nach.
»Sag’ ich doch«, gab Suraiya sich ungeduldig. »Eddie. Los, holen Sie ihn her.« »Einen Moment bitte, Mister Suraiya.« Der Mann wandte sich ab und verließ die Halle. Noch in derselben Minute kehrte er zurück, blieb an der Tür stehen und wies mit knapper Geste in Jug Suraiyas Richtung. Ein anderer folgte ihm und kam dann mit großen Schritten auf den Händler zu. Sein schneeweißes Haar war ihm ob der Eile etwas in Unordnung geraten. Zwei Strähnen hingen ihm wirr in die hohe Stirn. Sein Schnurrbart sträubte sich sichtlich, als er vor dem Besucher stehenblieb. »Suraiya!« fuhr Sir Edward Montgomery zischend auf. »Wie oft muß ich Ihnen noch sagen, daß Sie nicht unangemeldet hier aufkreuzen sollen? Sind Sie denn von Sinnen?« Wenn du wüßtest, wie sehr …, dachte Jug Suraiya, aber er lächelte unverbindlich und hob beschwichtigend die Hand. »Nur die Ruhe«, sagte er milde, »wenn Sie erst sehen, was ich Ihnen anzubieten habe, werden Sie dankbar für mein Kommen sein – und dafür, daß ich mich zuerst an Sie gewandt habe.« Ohne ein weiteres Wort griff er unter sein Gewand und holte den Kelch hervor. Dabei behielt er das Gesicht Montgomerys aufmerksam im Auge und lächelte zufrieden, als sich die gewünschte Reaktion darauf abzeichnete: fast schon eine Grimasse aus Überraschung, Erschrecken, Ehrfurcht und ein paar weitere Regungen, die einander zuckend ablösten. »Nun?« fragte Jug Suraiya nur. »Ein selten schönes Stück«, flüsterte Montgomery andächtig. »Mehr als nur das«, erklärte der Händler. »Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich bei diesem Kelch um etwas, dem die Menschen seit annähernd zweitausend Jahren nachjagen«, ergänzte er geheimnisvoll. Edward Montgomery legte die Stirn in Falten, ließ offenbar Su-
raiyas Worte sekundenlang in sich nachklingen, dann ging etwas wie ein Leuchten über seine Züge, das aber umgehend einem zweifelnden Ausdruck Platz machte. »Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß …«, begann der Engländer und wies zögernd auf den Kelch. »O doch, das will ich. Wie gesagt, ich bin fast sicher, daß es sich bei diesem Stück –«, er hielt den Kelch ein wenig in die Höhe, als wollte er den anderen daran riechen lassen, »– um den Heiligen Gral handelt.« »Unsinn!« Jug Suraiya zuckte lächelnd die Schultern. »Nun gut, dann nicht, Sir Edward. Ich bin sicher, daß ich einen anderen Interessenten …« Montgomery hob hastig die Hände. »Langsam, Suraiya, Moment. Ich habe ja nicht gesagt, daß ich nicht interessiert wäre.« »Aber Sie wissen offensichtlich den Wert dieses Kelches nicht zu schätzen.« »Wieviel verlangen Sie dafür?« Jug Suraiya schürzte die Lippen, tat, als würde er nachdenken und den Preis im Kopf festlegen. »Eine Million Pfund.« Sir Edward wandte erschrocken den Kopf, Jug Suraiya sah auf. Weder er noch Montgomery hatten gesprochen. Der dunkelhaarige, scheinbar alterslose Mann, der unbemerkt zu ihnen getreten war, wiederholte sein Angebot. »Ich biete Ihnen eine Million Pfund für diesen Kelch.«
* »Sir Geraint? Wie …?« Edward Montgomery, selbst nicht einer der Kleinsten, mußte den Blick heben, um dem plötzlich aufgetauchten Mann ins markante Gesicht sehen zu können. Dessen stahlblaue Augen funkelten
scheint’s vergnügt, das Lächeln indes, das er zur Schau trug, wirkte aufgesetzt. »Wie ich Wind von Ihrem kleinen Handel hier bekommen habe, wollen Sie sicher fragen, nicht wahr?« Der Mann, der ebensogut Anfang der Dreißig wie Ende der Vierzig sein konnte, deutete lax auf den Kelch, dann legte er den Finger bezeichnend an die Nase. »Ich habe einen Riecher für gute Geschäfte«, sagte er und blinzelte Sir Edward scheinbar freundschaftlich zu. Damit verriet er seinem Clubkollegen Edward Montgomery kein Geheimnis. Sein Händchen für lohnende Geschäfte war nicht nur hier allen bekannt. Sir Geraint Wyngaard unterhielt – dem Vernehmen nach, wirklich Genaues wußte niemand – ein weltweit geknüpftes Firmennetz, das sich in die unterschiedlichsten Branchen erstreckte. Wie er es aufgebaut hatte und wo seine familiären Wurzeln lagen, wußte niemand. Geraint Wyngaard war ein geheimnisvoller Bursche, aber eben auch ein erfolg- und einflußreicher und somit als Clubmitglied qualifiziert. Was Wyngaard sich jetzt allerdings erdreistete, ließ Edward Montgomery alle Wertschätzung und Achtung vergessen. »Ich muß doch sehr bitten, Sir Geraint!« entrüstete er sich. Er erschrak über seine eigene Lautstärke und sprach dann deutlich leiser, aber nicht weniger aufgebracht weiter: »Mister Suraiya hat mir persönlich sein Angebot unterbreitet, und mir steht damit das Recht zu …« »Eine Million«, wiederholte Geraint Wyngaard an den Händler gewandt, der bislang nur atemlos von einem zum anderen gesehen hatte. Montgomery lief ob dieser Arroganz Wyngaards rot an. »Wyngaard!« zischte er. »Überbieten Sie meinen Preis«, meinte der nur, ohne Montgomery anzusehen. »Eine Million Pfund! Das ist lächerlich! Und jedes Pfund, das ich mehr böte, wäre …«
»Wäre was?« fragte Wyngaard kaltlächelnd. »Mehr, als Sie sich leisten können?« »Wyngaard, übertreiben Sie das Spielchen nicht! Ich werde dafür sorgen …«, ereiferte sich Edward Montgomery weiter. »Sir Edward«, fiel ihm der andere ins Wort, »ich fürchte, Ihr Herz wird diese Aufregung nicht mehr lange verkraften. Sie sollten sich –«, er berührte Montgomery fast sanft am Kinn und drehte dessen Gesicht in seine Blickrichtung, »– zurückziehen.« Ohne seinen Blick von Montgomery abzuwenden, fuhr Wyngaard fort: »Und – vergessen Sie das Ganze hier, hm? Dieser Kelch muß Sie nicht interessieren.« Edward Montgomery schluckte heftig, blinzelte verwirrt. »Nein, natürlich nicht«, flüsterte er dann, vage den Kopf schüttelnd, »bitte, verzeihen Sie, Sir Geraint …« »Schon gut«, lächelte Wyngaard. Er vollführte eine flatternde Handbewegung. »Nun gehen Sie schon.« »Ja, sicher.« Montgomery drehte sich um und stakste mit steifen Schritten davon. Dabei murmelte er unverständliche Worte. Schwungvoll wandte Geraint Wyngaard sich dem indischen Händler zu und lächelte ihn strahlend an. »So, nun zu uns beiden.« »Ihr Angebot gilt tatsächlich?« vergewisserte sich Jug Suraiya ungläubig. »Natürlich«, erwiderte der andere und warf sich in die Brust. »Zweifeln Sie an einem Wort Sir Geraints?« Mit theatralischer Geste wies er an seiner Statur hinab. »N-nein, selbstverständlich nicht«, beeilte sich Suraiya zu versichern. »Es ist nur … Sie haben sich den Kelch ja noch gar nicht richtig angesehen.« »Nicht nötig«, erklärte Wyngaard. »Ich … Nun, das muß Sie nicht interessieren. Eine Million Pfund also. Akzeptieren Sie einen Scheck?«
»Bargeld wäre mir angenehmer.« »Kein Problem.« Geraint Wyngaard schnippte laut mit den Fingern und rief: »– James!« Wie ein Geist aus dem Unsichtbaren erschien der livrierte Diener von vorhin in der Halle und trat näher. Derweil hatte Wyngaard ein Scheckbuch aus seinem längst nicht mehr modischen Gehrock gezogen und eines der Formulare ausgefüllt. »Sir?« Wyngaard reichte dem Diener den Scheck. »Lösen Sie ihn bitte ein und händigen Sie die Summe Mister … wie war noch Ihr Name?« »Suraiya. Jug Suraiya. Stets zu Diensten«, zeigte sich der Alte beflissen und unterwürfig. »Ja ja, bringen Sie ihm das Geld, James.« Der Diener warf einen wie beiläufig wirkenden Blick auf den Scheck. »Sir?« hakte er dann nach, fast atemlos und erschrocken. »Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe, James«, verlangte Geraint Wyngaard eindringlich. »Und dann – Schwamm drüber, wie man heutzutage so sagt, nicht wahr?« Mit einer fließenden Bewegung schnappte er sich den Lilienkelch aus Jug Suraiyas Griff und wandte sich ab. »Ich empfehle mich für heute«, sagte er im Gehen. Dann hatte er das Gebäude auch schon verlassen. Lächelnd, als wäre ihm das größte Glück dieser Welt geradewegs in den Schoß gefallen. Und in gewisser Weise traf dies durchaus zu. Denn Geraint Wyngaard hielt zumindest das größte Glück seiner Welt in Händen …
* Die verspielte Fassade des Hauses in einer Seitenstraße der Lodi �
Road war so strahlend weiß, daß Passanten meinen mochten, sie würde allmorgendlich frisch getüncht. Dahinter jedoch hätte ein unbedarfter Besucher sich in einer Gruft wiederzufinden geglaubt. In einer möblierten freilich, und die Räumlichkeiten waren durchaus wohnlich gestaltet; aber Behaglichkeit mußte ein Fremdwort bleiben in diesem Haus. Die Fenster waren mit samtenen Vorhängen verhangen, das wenige Licht rührte von kerzenbestückten Leuchtern her. Wände und Mobiliar blieben weitgehend im Dunkel, die Luft war kühl und feucht. Und über allem hing ein Geruch wie von Moder und Verwesung. Irgendwo klimperte ein Cembalo eine alte Melodie. »Nirgends ist es so schön wie zu Hause.« Geraint Wyngaard seufzte und schloß die Tür hinter sich. Schatten hüllten ihn ein, als umschmeichelten sie ihn lebenden Wesen gleich. Lächelnd genoß er das imaginäre Gefühl, willkommen geheißen zu werden. Nach einer Weile schritt er durch die düstere Halle und der Quelle der gespenstischen Musik zu. Dabei sah Wyngaard auf den Kelch hinab, den er auf dem Weg zu seinem Haus unter dem Gehrock verborgen gehalten hatte. Zwar war es unwahrscheinlich, daß jemand ihn als das erkannt hätte, was er wirklich war, aber man wußte ja nie … Er selbst hatte die bloße Nähe des Kelches schließlich zu spüren vermocht, und möglicherweise war er, Wyngaard, ja doch nicht der einzige seiner Art in Delhi … Obschon ihm der Gedanke gefiel – eine ganze Stadt für sich zu haben. Des angenehmen Gefühls, das damit einherging, war er in all den Jahren nicht überdrüssig geworden. Und es hatte ihm geholfen, den schmerzhaften Verlust, der tief in der Vergangenheit wurzelte, zu überwinden. Nur manchmal verspürte er ihn noch, gepaart mit Trauer, wenn in melancholischen Momenten seine Gedanken zurückirrten in jene schreckliche Nacht … Aber vielleicht war die Zeit
der Erinnerung ja vorüber. Vielleicht begann heute eine neue … Geraint Wyngaard tänzelte zu den Klängen des Cembalos durch die dämmerige Halle, den Kelch mit beiden Händen haltend, als führte er eine Tanzpartnerin übers Parkett. Schließlich langte er an der Tür des Salons an, in dem das Instrument gespielt wurde. Der Raum hinter der Schwelle war leer bis auf eine Sitzgruppe, die in einer Insel aus Kerzenlicht lag; etwas entfernt davon und durch Dunkelheit abgespalten befand sich das Cembalo, ebenfalls illuminiert von flackernden Licht. Daran saß, mit dem gebeugten Rücken zur Tür, eine schmale Gestalt, in eine schwarze Livree gekleidet. »Alfred, mein getreuer Diener!« Die letzten Akkorde schienen sich in der Dunkelheit des Salons zu verfangen wie in einem Spinnengewebe, dann vergingen sie. Stille kehrte ein, in der das Rascheln der Kleidung Alfreds überlaut klang. »Ihr seid schon zurück, Herr?« »Wie du siehst«, erwiderte Geraint mit einer Fröhlichkeit, die sein Diener kaum einmal zuvor an ihm erlebt hatte. Ein müdes Lächeln wischte über dessen eingefallenes, bleiches Gesicht. »Es freut mich, Euch in so guter Laune zu sehen, Herr. Mir dünkt, ich sah Euch das letzte Mal in solcher Verfassung, als Ihr diese MißWahl in New York aufgesucht hattet.« Geraint Wyngaard machte eine wegwerfende Geste. »Kein Vergleich, mein Bester! Nie zuvor hatte ich solchen Grund zum Feiern wie heute.« Alfred erhob sich, eine hagere Gestalt, deren Kräfte ihren Zenit längst überschritten hatten, und kam auf Geraint zu. »Und der wäre, wenn die Frage gestattet ist?« »Später, Alfred, später. Erst möchte ich mich stärken. Mich gelüstet nach einem kräftigenden Mahl.« »Natürlich, Herr.« Der Diener ging an Wyngaard vorüber, bat, ihm zu folgen, und öffnete eine der anderen Türen, die von der Halle abgingen. Den
Raum dort dominierte eine langgestreckte Tafel, an deren Enden je ein hochlehniger Stuhl stand. Und auf dem Tisch selbst – – lag ein dunkelhäutiges Mädchen von kaum zwanzig Jahren, die Augen im Schlaf geschlossen und nackt bis auf ein weißes Tuch, das seine Blöße verdeckte. Alfred trat zu ihm und zog das Tuch fort, um dann einladend auf das Freigelegte zu weisen. »Es ist angerichtet, Herr.«
* Die Angst der jungen Frau währte nur Sekunden. Kaum daß Geraint Wyngaard sie aus dem Schlaf gelockt hatte, nahm er ihren angstvoll flatternden Blick mit dem seinen gefangen, und wie über eine unsichtbare Rinne floß Ruhe hinüber, drang tief in das Mädchen vor und ertränkte seine Furcht. »So gefällst du mir«, flüsterte Geraint Wyngaard, während seine Finger wie von eigenem Leben erfüllt über die nackte Haut wanderten. Weich war sie, fast samten, und Geraint korrigierte seine Schätzung des Alters um drei, vier Jahre nach unten. »Wie ist dein Name?« fragte er. »Sham«, kam es leise zurück. »Sham. Wie hübsch.« »Danke, Herr.« Geraint Wyngaard schüttelte amüsiert den Kopf. »Ach, nenn mich nicht Herr, meine liebe Sham. Wir wollen doch ganz vertraut miteinander umgehen, nicht wahr?« Sham nickte. »Wenn ihr wollt.« »Geraint, nenn mich Geraint, ja?« »Ja … Geraint.« Sham hielt den Namen ihres Verführers wie kostend auf der Zunge. Wyngaard rückte ein wenig von dem Mädchen ab, das auf der Ta-
fel aus dunklem Edelholz saß. »Hilf mir, Sham.« Er breitete die Arme aus und nickte ihr auffordernd zu, mit einem aufgesetzt schamhaften Lächeln. Sham glitt von der Tafel herunter und trat vor Geraint hin. Ihre Finger zitterten, als sie an den Knöpfen von Wyngaards Kleidern zu nesteln begann. »Gemach«, beruhigte Geraint ihn. »Wir haben alle Zeit der Welt.« Seine Worte und sein Ton verfingen; Sham wurde ruhiger, streifte dem anderen den Rock ab, öffnete ihm dann das rüschenbesetzte Hemd und hauchte ihren warmen Atem auf die kalte Brust Geraints. Der erschauerte darunter und stöhnte wohlig auf. »Alfred versteht es, unter Tausenden die Richtige zu finden«, seufzte er tief befriedigt. Derweil hatte Sham sich auf die Knie niedergelassen, wobei sie Geraint die Hose an den Beinen hinabstreifte. Was sie darunter erblickte, schien sie einen Moment lang wie fasziniert innehalten zu lassen. Dann jedoch widmete sie sich Geraint Wyngaards längst prallem Glied mit Hingabe und doch so vorsichtig, als fürchtete sie, eine allzu heftige Berührung könnte ihr übelgenommen werden. »Nur zu«, ermunterte Geraint sie, und Sham gehorchte. Wyngaards Finger wühlten sich in den dunklen Schopf des Mädchens und dirigierten dessen Bewegungen, wie es ihm gefiel. Dann, als er fast daran war, sich zu verströmen, wies Geraint die junge Frau zurück auf den Tisch. Dort legte Sham sich lang, und Wyngaard vergalt ihr auf ähnliche Weise, was er eben hatte erfahren dürfen. Doch er hielt nicht inne, als er spürte, wie Sham der Grenze hin zu allergrößter Lust näher und näher kam und sich endlich aufbäumte unter Wyngaard, als kochten alle Säfte ihres Leibes über. Geraint gönnte ihr ein Weilchen, sich zu erholen, dann beugte er sie in solcher Weise über die Tafel, daß er den nächsten Akt im Spiel ihrer Lust einleiten konnte – und schließlich ließ Geraint strömen, was da aus ihm wollte …
Lange Minuten war hernach nichts zu hören außer dem heftigen Atmen des Mädchens und den um vieles rareren, aber auch tieferen Zügen seines Verführers. Dann aber kam Geraint von neuem über Sham – diesmal jedoch mit anderer Absicht. Erst setzte er nur die Spitzen seiner Eckzähne in das weiche Fleisch ihres Halses; dann, als erstes Blut aus den winzigen Wunden trat, senkte er sie tiefer hinein. Sham schrie leise auf, leidend und leidenschaftlich in einem, und versank dann in kaum hörbares Wimmern, während Geraint ihr das Blut aussog – – längst nicht alles jedoch. Denn Geraint Wyngaard hatte noch andere Pläne mit Sham. Nachdem er sich die Lippen gesäubert hatte, strich er dem Mädchen mit der Hand übers schweißfeuchte Gesicht und schloß ihm die Augen, wie man es bei Toten zu tun pflegt. »Schlaf«, befahl Geraint, »ruh dich aus. Du wirst deine Kraft noch brauchen – für meinen Plan …« Dann nahm er den Kelch und ging.
* »Und Ihr seid sicher, Herr, daß er es ist – der … Lilienkelch?« Alfred saß seinem Herrn gegenüber in den weichen Polstern eines Sessels; ein kleiner Rauchtisch trennte sie. Und darauf stand, in der Art eines Ziergegenstandes, der Kelch, den der Vampir seinem Diener als Grund seiner ausgelassenen Laune präsentiert hatte. Geraint nickte. »Ganz sicher«, sagte er. »Zwar habe ich ihn nicht oft gesehen zu jener Zeit, da er noch nicht als verschwunden galt – ein- oder zweimal nur suchte der Hüter unsere Sippe zuvor noch auf –, aber es ist nicht nur seine Form, die mich nicht an seiner Echtheit zweifeln läßt. Etwas an ihm, was den Menschen vielleicht ein Geruch wäre, erkenne
ich wieder, auch nach dieser langen Zeit. Ich nahm es wahr, als der Alte ihn in den Club brachte, noch bevor ich des Kelches ansichtig wurde.« Nachdenklich betrachtete er den Gral seiner Rasse. »Wo mag er gesteckt haben in all den Jahren?« »Hätte es Euch der Händler nicht verraten können?« fragte Alfred. Geraint winkte ab. »Gewiß nicht. Ich bin sicher, daß er ihn nicht gefunden hat, sondern daß er zuvor durch andere Hände ging.« Er machte eine kurze Pause, ehe er fortfuhr: »Und überdies – was soll mich seine Vergangenheit kümmern? Die Zukunft ist es, die zählt!« Alfred lächelte bitter. »Ihr täuscht mich nicht, Herr – Ihr seid der Vergangenheit noch immer mehr verhaftet als der Gegenwart oder gar der Zukunft.« Geraint erwiderte das Lächeln seines Dieners. »Du kennst mich scheint’s besser als ich mich selbst. In jedem Falle aber besser als jede Dienerkreatur sonst auf der Welt ihren vampirischen Herrn kennt.« »Nun, immerhin begleite ich Euch schon seit sehr langer Zeit auf Euren Wegen um die Welt«, erinnerte ihn der Diener. »Ja«, seufzte Geraint. »Ich entsinne mich der Zahl der Jahre kaum mehr, so lange bist du schon bei mir …« »Zweiundfünfzig sind es nun.« Alfred lächelte wieder, eine Spur bitterer diesmal. »In der Tat eine lange Zeit«, sagte Geraint. »Länger als das Dasein der meisten anderen Dienerkreaturen währen mag.« »Ihr habt stets wohl für mich gesorgt«, erwiderte Alfred und wies wie zufällig auf die verhangenen Fenster. »Ihr habt nie etwas von mir verlangt, das meine Existenz gefährdet hätte. Wenn Ihr erlaubt, Herr, dann möchte ich gar sagen, daß Ihr mich nie wie eine niedere Kreatur behandelt habt. Eher schon wie –« »– einen Freund?« vollendete Geraint. Alfred nickte. »Ich sehe in dir auch einen Freund, mein lieber Alfred«, fuhr der
Vampir dann fort. »Der einzige Gefährte, der mir noch blieb, nachdem meine Sippe …« Der Diener hob einhaltend die Hand. »Ihr solltet nicht daran denken, Herr«, meinte er. Geraint zuckte die Schultern. Ein müdes Lächeln huschte über seine noch immer jungen Züge. »Ich werde immer daran denken müssen, Alfred, immer wieder. Es zählt zu den Dingen, die auch ein Wesen nicht vergessen kann, dessen Leben nach Jahrhunderten zählt. Jene Nacht bleibt – unvergeßlich. Wie auch der Schmerz, den sie mir bescherte …« Geraints Gedanken eilten hinfort, zurück in vergangene Zeiten, weg aus Delhi, nach … … Berlin. Und Geraint begann zu erzählen. Mit einer Stimme, die ihm selbst fremd war, und so kam es ihm vor, als lausche er den Worten und der Geschichte, der Lebensgeschichte eines ganz anderen. »Wir waren den Menschen nie wirklich nahe – unsere Sippe nicht, und gewiß auch keine andere. Wir lebten unter den Menschen, in ihren Städten, und wir nahmen Einfluß auf ihre Geschicke, aber es verband uns nichts mit ihnen – von ihrem Blut freilich abgesehen, das uns seit jeher Nahrung ist. Damals jedoch, in jener Nacht, die nun schon über fünfzig Jahre zurückliegt, teilten wir, meine Sippe und die Menschen Berlins, ein und dasselbe Schicksal. Ich bin mir dessen nicht sicher, aber vielleicht geschah es zum ersten Mal in der Geschichte der Alten Rasse überhaupt, daß von Menschenhand Geschaffenes den Vampiren zum Verhängnis wurde. Dabei war es doch, wenn ich jetzt zurückblicke, so rasch vorbei, daß es weniger als ein Tropfen im Meer aller Zeit ist. Aber bedeutend, denn es hat mein Leben verändert und in eine ganz neue Bahn gelenkt … Unsere Sippe wechselte häufig ihren Versammlungsort in dieser
Zeit. Denn keiner blieb lange genug geheim, als daß wir ihn auf Dauer zu nutzen vermocht hätten. Menschen, deren Häuser zerstört wurden, suchten allerorten Unterschlupf vor den Greueln des Krieges, und so kam es, daß sie auch zu jenen Orten kamen, wohin wir uns zurückgezogen hatten. Wir überließen ihnen bereitwillig das Terrain, denn letztlich war uns am meisten daran gelegen, unerkannt und unauffällig zu bleiben. Schließlich lagerten wir in einem Haus, dessen Dach und obere Stockwerke im Granatenhagel vernichtet worden waren, und es stand nicht anzunehmen, daß ein Mensch hier Zuflucht suchen würde. Nun, von dieser Seite drohte uns auch keine Gefahr. Von anderer allerdings! Ich erinnere mich noch, daß Gundolf, unser Oberhaupt, uns zur Flucht auftreiben wollte, kaum daß wir den heulenden Lärm von Motoren aus der Ferne vernahmen. Aber er wurde viel zu rasch laut und schließlich so dröhnend, daß die Mauern um uns her erbebten, als daß uns die Zeit zur Flucht noch genügt hätte. Ein paar, unter ihnen Gundolf selbst, versuchten es trotzdem noch. Sie verwandelten sich in ihre geflügelten Gestalten und stiegen auf in die Nacht, die von ringsum brennenden Feuern längst taghell erleuchtet wurde. Sie erwischte es als erste – wenn auch nur unwesentlich früher als die anderen … Es war ein Heulen und Pfeifen in der Luft wie von dämonischen Chören, und die Detonationen der Bomben und Granaten waren die Paukenschläge in diesem höllischen Konzert! Flammenpilze stiegen auf und verzehrten jene, die sich gerade in die Luft erhoben hatten, während rings um mich her ein Wehklagen einsetzte, das nur kurz währte und mir doch heute noch in den Ohren klingt. Die Todesschreie meiner sterbenden Brüder und Schwestern … Die Gewalt der Explosionen zerriß ihre Leiber, die Feuer fraßen sie, und ich kam mir vor, als hätte es mich inmitten des Infernos auf
eine winzige Insel verschlagen, die wie durch ein Wunder verschont blieb. Dennoch wünschte ich mir in diesem Moment, mit ihnen allen sterben zu dürfen, jetzt gleich! Denn daß ich letztlich ebenso den Tod finden würde, daran zweifelte ich nicht, aber jede Sekunde des Lebens, die mir geschenkt war, bedeutete mir unsagbare Qual. Weil mich die Todesimpulse meiner Sippe marterten! Ganz in meiner Nähe schlug eine weitere Bombe ein, und wer die bisherigen überlebt hatte, starb in dieser Explosion. Nur ich nicht … Mich packte die Druckwelle wie die Faust eines Riesen – und sie trug mich fort, schleuderte mich hinaus aus dem Flammenpfuhl, in den unser Unterschlupf sich längst verwandelt hatte! Irgendwann kam ich wieder zu mir, inmitten eines Schlachtfeldes voller Trümmer und Asche. Und ich spürte, daß ich allein war. Daß nur ich das Inferno überstanden hatte. Doch mehr als die Trauer über den Verlust der Sippe, meiner Familie, traf mich der Schmerz des Wissens um meine Zukunft: Ich war dazu verdammt, sie in Einsamkeit zu verbringen … Ich brauchte lange Jahre, bis ich mein Schicksal endlich in den Griff bekam. Ich zog umher, mit meiner einstigen Heimat nur durch eine Handvoll Asche und Staub verbunden, die ich vom Boden nahm, ehe ich Berlin verließ und fortan in einem Beutel bei mir führte: Heimaterde, die ich nach alter Sitte auf meine wechselnden Lager streute, so daß ich Ruhe darauf fand. Schließlich ging ich mehr und mehr unter die Menschen, deren Gesellschaft mir letztlich lieber war als ewige Einsamkeit, und mit der Zeit wurde ich in gewisser Weise einer von ihnen. Ich lebte mich ein in ihre Gepflogenheiten, und meine besonderen Talente und Kräfte, die mich über jeden Menschen erhoben, ermöglichten es mir, das zu werden, was sie wohlhabend und erfolgreich nennen. Zu dieser Zeit traf ich auch auf dich, mein lieber Alfred. Aus der
besten Butlerschule Englands erwählte ich mir dich zum Leibdiener. Das mag anfangs durchaus ein Spleen meinerseits gewesen sein, inzwischen aber bist du so sehr Teil meines Lebens geworden, daß ich dich nicht mehr missen möchte.« Geraint lächelte, ganz ohne wie auch immer geartetes Beiwerk, sondern schlicht so, wie es ihm vom dunklen Herzen her kam – auf seine ganz besondere Weise glücklich. »Und nun scheint es, als würden wir ein neues Kapitel in Eurer Geschichte aufschlagen«, meinte Alfred nach einer Weile, in der sie einander nur schweigend angesehen hatten. Er wies auf den Kelch. Geraint nickte. »Möglicherweise.« Er nahm den Kelch in die Hand und fuhr fort: »Ich habe dir ja schon vieles über den Lilienkelch erzählt, Alfred. Daß er sich bis vor knapp dreihundert Jahren in der Hand des Hüters befand, der damit von Sippe zu Sippe reiste, um vampirischen Nachwuchs zu taufen. Dann aber verschwanden Kelch und Hüter, und niemand wußte, weshalb oder wohin. Den Sippen wurde der Verlust erst nach und nach bewußt, schließlich kam der Hüter nur wenige Male in hundert Jahren zu ihnen. Schließlich verbreitete sich das Gerücht jedoch, und alsbald wurde Gewißheit daraus. Nicht zuletzt durch einen Vampir namens Landru, der sich selbst zum Jäger des Lilienkelchs ernannt hatte und versuchte, das Unheiligtum wiederzufinden. Ohne Erfolg jedoch, wie ich hörte.« Wieder schwieg Geraint eine Zeitlang, sah sinnierend auf den Kelch in seiner Hand. »Daß der Gral gerade jetzt wieder auftaucht, scheint mir wie ein Wink des Schicksals«, sagte er dann. »Wer immer ihn einst gestohlen und über die Zeit versteckt haben mag, hat ihn vielleicht ganz bewußt jetzt wieder freigegeben. Weil es Zeit ist für einen Neubeginn.« »Ihr meint, das Verschwinden des Kelchs und das unerklärliche Sterben der Alten Rasse, das wir im vergangenen Jahr auf unseren Reisen beobachten mußten, wäre vergleichbar mit der –«, Alfred zö-
gerte kurz, weil er wußte, wie übel seine folgenden Worte Geraint aufstoßen mußten, »– biblischen Sintflut?« In der Tat zuckte der Vampir kurz zusammen, wenn auch kaum merklich. Er räusperte sich und rückte wie unbehaglich in seinem Sessel hin und her. »Die Parallele scheint mir eindeutig«, erwiderte er nickend. Alfred sah seinen Herrn an, und in seine Züge schlichen sich Zweifel ebenso wie Überraschung. »Das heißt …«, setzte er schließlich an. »Ihr wollt …?« Er deutete zögernd in Richtung des Kelches. Geraint nickte. »Ich sagte doch: ein Wink des Schicksals. Die Alte Rasse ist nahezu ausgerottet, der Hüter seit langer Zeit verschwunden – und mir wurde der Gral in die Hände gespielt. Welchen anderen Schluß läßt all dies zu?« »Ihr wollt ihn benutzen«, stellte Alfred fest, und es klang nüchtern, fast resigniert. Es stand ihm nicht zu, seinem Herrn zu raten oder abzuraten. Wohl hatte er es in der Vergangenheit mitunter getan, und Geraint war seinen Empfehlungen bisweilen sogar gefolgt; in diesem Fall jedoch schien es ihm von vornherein aussichtslos. »Natürlich«, erklärte der Vampir frei heraus. »Weshalb sonst sollte ich ihn bekommen haben?« »Darf ich Euch daran erinnern, daß Ihr ihn nicht bekommen, sondern erworben habt«, warf Alfred ein. »Was mir ohnedies nicht erklärlich ist – ebensogut hättet Ihr den Händler dazu bringen können, Euch den Kelch ohne Bezahlung zu überlassen. Eine Million Pfund …!« Er schüttelte tadelnd den Kopf – »Papperlapapp!« fiel Geraint ihm unwirsch ins Wort. »Man mag mir alles mögliche nachsagen können, aber ein Dieb bin ich gewiß nicht.« »Verzeiht, Herr.« »Schon gut. Wie auch immer – ich habe den Lilienkelch, und ich
werde ihn nutzen. Zumindest für einen Versuch.« Geraint sah bezeichnend zur Tür hin. Alfred folgte seinem Blick und ahnte, was sein Herr damit meinte. »Ihr wollt das Mädchen …?« fragte er, um sich zu vergewissern. »Natürlich. Was meinst du, warum ich ihr nicht alles Blut nahm?« Alfred seufzte nur. »Aber gönnen wir ihr noch ein Weilchen, um zu Kräften zu kommen. Bis dahin – wie wäre es mit ein wenig Musik, Alfred?« »Wie Ihr wünscht, Herr.« Der Diener erhob sich und verließ den Raum. Wenig später wehten wieder die Klänge des Cembalos durch das Haus. Und Geraint Wyngaard (den Zunamen hatte er einem seiner ersten Geschäftspartner, einem Niederländer, abgenommen, nachdem dieser mangels Leben keine Verwendung mehr dafür gehabt hatte …) wiegte sich versonnen zur Musik und schwelgte in Träumen, die es wert waren, wahr zu werden. Weil sie das Ende von Geraints Einsamkeit bedeuten konnten.
* »Niemand gilt als guter Bürger Indiens, der nicht fünfzig Leprakranken, jeder in einem anderen Stadium des Verfaulens, gleichgültig gegenüber stehen kann.« Diese Worte hatte einst der indische Gelehrte Nirad Chaudhuri gesagt. Ihnen zufolge waren Radhey Pai und seine zwölf Begleiter ausnahmslos guten Bürgern Neu Delhis begegnet: Niemand hatte Anstoß an ihnen genommen oder der dahineilenden Schar auch nur mehr als einen längeren Blick gewidmet. Womöglich wäre es nicht einmal anders gewesen, hätten die zwölf Jäger des Kelches ihre Totenleiber nicht mit dunklen Tüchern verhüllt. Den Weg zu Jug Suraiyas Haus zu finden, fiel Radhey nicht leicht. Er war nur zwei- oder dreimal selbst dort gewesen, und die Gegend
darum her mied er, wann immer es ging. Es lebten dort keine Leute, mit denen Radhey Umgang pflegte; eher schon suchte Dinesh die Gesellschaft solcher Art – Radheys Gedanken stockten – Dinesh hatte solche Gesellschaft gesucht … Er trauerte um seinen Bruder, aller Wut, die er auf ihn gehegt hatte, zum Trotz, und die Art seines Todes bereitete ihm noch jetzt, Stunden danach, Übelkeit. Aber das taten seine Begleiter nicht minder … Der Unmut der Zwölf stieg, je länger sie unterwegs waren. Sie glaubten sich von Radhey mit Absicht in die Irre geführt, und so erteilten sie ihm in einer dunklen Ecke eine kleine Lektion, aus der er blutig geschunden hervorging. Daß er wenig später tatsächlich Jug Suraiyas Haus entdeckte, war jedoch purer (und glücklicher) Zufall … Radhey wollte die Höflichkeit wahren und anklopfen, die Kelchjäger indes hielten nichts davon. Endlich am Ziel, stießen sie den jungen Mann kurzerhand zur Seite und drangen in Suraiyas Haus ein. Radhey war ihnen kaum gefolgt, als er sie auch schon in der mittlerweile gewohnt vielzüngigen Art und Weise flüstern hörte – und aus den Worten sprachen deutlich Unmut und Zorn der Zwölf. »Errr …« »… issst …« »… nichcht daaa!« Daß die Rede nicht von Jug Suraiya war, erfuhr Radhey Pai noch im gleichen Moment. Die fistelnde Stimme des Alten kam aus dem Halbdunkel eines angrenzenden Raumes. »So viel Kundschaft zugleich, das erleb’ ich selten. Wie kann Jug Suraiya den Herren zu Dien- ugghh!« Die letzten Silben wurden Jug Suraiya buchstäblich im Halse erstickt. Eine kalte Hand quetschte ihm die Kehle, und von ihrem feuchten Fleisch kroch ein bleicher Wurm hinüber auf den faltigen Hals des Alten, wie Radhey mit seltsamer Deutlichkeit bemerkte, als wäre dies das Wichtigste des Augenblicks.
Der Wächter drückte Suraiya mit Gewalt gegen den Türrahmen, während die anderen auf ihn eindrangen. Ihr Wispern füllte das ganze Haus, und es war Radhey unmöglich, einzelne Worte herauszuhören. Der alte Händler wimmerte unter der Flut der auf ihn einstürzenden Stimmen und Fragen aus zwölf Mündern zugleich, zudem peinigten sie ihn noch mit ihren im Tode gewachsenen Klauen, auf daß er ihnen den Verbleib des Kelches preisgab, dessen Präsenz die Jäger nicht mehr spürten. »Verkauft«, winselte Suraiya schließlich. »Ich hab’ das elende Ding verkauft.« »Woooo …?« »… annn wennn?« Ihre Fragen klangen wie das Zischeln einer Schlange. »Im Club …«, preßte der Alte hervor. Unter dem Würgegriff war ihm längst der Atem knapp geworden. Die Klaue ließ ihm gerade genug Luft zum Reden. »Tigers of Britain …« »Annn wennn?« wurde die Frage wiederholt. »Ich kenne … seinen Namen … nicht«, keuchte Suraiya. Bei dieser Behauptung blieb Jug Suraiya selbst in höchster Pein – bis in den Tod. Achtlos wandten die Zwölf sich von ihm ab, als er leblos zu Boden sank. Radhey Pai tat es ihnen gleich, aber nicht, weil ihm der Tod des Alten gleichgültig gewesen wäre, sondern weil der Anblick seines Leichnams ihn an Dinesh erinnerte. »Du hassst …« »… esss …« »… gehörrrt …?« Radhey nickte. »Kennssst …« »… duuu diesssennn …« »… Orrrt?«
»Ja«, antwortete Radhey und schicksalsergeben. »Folgt mir.« Er wußte, daß er den Tod diesmal nicht zu nur einem Mann führen würde. Trotzdem weigerte er sich nicht, es zu tun, kam nicht einmal auf den Gedanken. Weil ihm jener Kelch, einmal gespürt, längst zur Herzenssache geworden war – wichtiger als jedes Leben. Letztlich wohl wichtiger sogar als sein eigenes …
* Geraint barg den Lilienkelch an seinem Herzen, und nach einer Weile meinte er, dessen trägen Schlag aus der Schwärze widerhallen zu hören, die den Kelch füllte. Darin wiederum – ob es nun tatsächlich so war oder nur eine Täuschung – meinte er ein weiteres Zeichen zu sehen: ein Zeichen dafür, daß er wirklich berechtigt sei, den Kelch zu besitzen – und zu benutzen. Der Vampir lächelte stolz. Wer weiß? ging es ihm durch den Sinn. Vielleicht bin wirklich ich der legitime Nachfolger des Hüters … Ein Führer, der die Alte Rasse in eine neue Zeit geleiten soll! »Mir ist nicht wohl bei der Angelegenheit.« Alfred nestelte unruhig an seinem Kragen, der ihm auf einmal viel zu eng zu sein schien. Geraint legte ihm jovial die Hand auf die Schulter. »Alfred, mein Freund«, sagte er, »du bist eine verfluchte Unke!« »Ich meine ja nur …« »Geh doch raus, wenn du’s nicht mitansehen kannst.« »Nein, schon gut. Tut, was Ihr nicht lassen könnt, Herr.« »Irrtum, mein Bester: Ich tue, was ich tun muß.« Geraint trat vor und an die Tafel, auf der Sham noch immer schlief. In gleicher Weise, wie der Vampir dem Mädchen vor Stunden die Augen geschlossen hatte, öffnete er sie ihm nun wieder, und Sham, nackt wie zuvor, sah noch im gleichen Moment hellwach zu
ihm auf, als hätte sie trotz der geschlossenen Lider nicht wirklich geschlafen. »Hallo, mein Liebe«, gurrte Geraint. »Herr …«, flüsterte Sham und reckte die Arme nach ihm. Geraint wehrte die Geste ab und schob ihre suchenden Hände sanft zurück. »Jetzt nicht«, sagte er lächelnd. »Ich habe ganz anderes mit dir im Sinn – etwas vielfach Größeres, als unsere Leidenschaft es war und je sein könnte.« »Was könnte das sein, Herr?« fragte Sham erstaunt. »Steh auf, meine Liebe«, wies er sie an, ohne auf die Frage zu antworten, und bot ihr galant die Hand dar. Fließend richtete sich die junge Frau in eine sitzende Position auf. Ihr Gesicht war so anmutig, daß Geraint einen Moment lang um Beherrschung rang. Nur zu gern hätte er sich ein weiteres Mal … Aber nein, anderes war wichtiger, und Alfred konnte ihm gewiß gleichwertigen Ersatz besorgen. »Was habt Ihr vor, Herr?« Der Vampir hob spielerisch mahnend den Finger. »Sagte ich dir nicht, du mögest mich Geraint nennen?« »Ja, He… Geraint.« Sham lächelte beschämt. »Verzeiht.« Erwartungsvoll sah sie dem Vampir ins Gesicht. Geraint streckte ihr die Hand mit dem Kelch entgegen. »Daraus wirst du trinken – wie ich es vorhin aus dir getan habe.« »Ihr meint«, erwiderte Sham, »Ihr wollt Euer – Blut mit mir teilen?« Ihre Stimme klang fasziniert, doch tief in ihren Augen erkannte Geraint ein vages Flackern, das von Ekel kündete. »So ist es.« Es lag lange zurück, daß er letztmals einer Kelchtaufe beigewohnt hatte. Dennoch entsann Geraint sich ihrer, als wäre es gestern erst gewesen. Das Ritual war von solcher Bedeutung, daß kein Vampir es je vergessen könnte. Diesmal jedoch war es nicht das Blut eines Sippenoberhauptes, das
in den Lilienkelch floß. Diesmal wurde ihm selbst diese Ehre zuteil! Geraint reichte dem Mädchen den Kelch. Zitternd hielt Sham ihn fest, während der Vampir sich die rüschenbesetzte Manschette seines Hemdes den Unterarm hinaufschob. Der Nagel seines rechten Zeigefingers wuchs mit fast hörbarem Knirschen zur Klaue, und die senkte Geraint in Fleisch und Ader seines linken Handgelenks. Schwarz und zäh trat Blut aus der sichelförmigen Wunde, und er ließ den Nagel darin, damit sie sich nicht gleich wieder schloß. Die ersten Tropfen rannen zu Boden, dann hatte Geraint seine Hand über den Kelch gebracht, und der Kelch fing das Blut auf, lautlos, als fände es in der Schwärze dort keinen Widerhall. Eine ganze Weile ließ Geraint seinen Lebenssaft so rinnen, dann zog er die Klaue aus seinem Fleisch und strich mit den Fingern über die Wunde, die daraufhin nahezu verschwunden war. Schließlich nahm er Sham den Kelch aus der Hand, sah in dessen Öffnung hinein und schwenkte ihn kreisförmig. Die dunkle Bewegung darin fiel kaum auf. »Wenn du nur um die Bedeutung dieses Momentes wüßtest«, sagte er, als er den Kelch an Shams Lippen hob. »Geraint, ich …« Die Barrieren, die Geraint um Shams Willen errichtet hatte, schienen brechen zu wollen. »Schweig!« befahl der Vampir, und augenblicklich beruhigte sich das Mädchen. Gehorsam öffnete es den Mund. »Und trink«, lächelte Geraint. Er kippte den Kelch. Schwarz rann es über Shams Lippen. Heftig begann sie zu schlucken. Immer höher richtete Geraint das Ende des Kelches. »Ja, trink, trink alles …« Sham begann zu husten und schluckte dennoch weiter. Der letzte Tropfen schwarzen Blutes perlte aus dem Kelch. Sham würgte, ohne zu erbrechen. Ihr Hals krampfte sich zusam-
men wie im unbarmherzigen Griff einer unsichtbaren Hand. Ihre eigenen Hände fuhren hin, die Nägel krallten sich in die Haut um ihre Kehle, als wollten sie sie aufreißen. Dann verkrampfte sich ihr ganzer Körper, schien zu versteinern – – und in dieser Haltung kippte Sham vornüber. Hart schlug sie am Boden auf. Erst dort streckte sie sich, bebend und stöhnend. Ein letzter rasselnder Atemzug – dann war es vorüber. Starr lag Sham da, tot. »Ist das … normal?« Alfreds Frage klang zweifelnd. Geraint wiegte sachte den Kopf. »Ja … Ich glaube, ja.« »Ihr glaubt?« »Nun, auch die Kinder, die der Hüter mit dem Kelch auf diese Weise taufte, starben. Und nach einer Weile erwachten sie wieder – als Vampire«, erklärte Geraint. »Mit Verlaub, Herr: Die junge Lady hier erweckt mir nicht den Eindruck, als könnte sie sich je wieder erheben«, wandte Alfred ein. Er war nähergekommen und stieß jetzt mit der Fußspitze gegen die Tote. »Es dauert vielleicht ein Weilchen«, meinte der Vampir. Schweigend sahen sie auf Sham hinab. Nichts rührte sich an ihr. Keine Regung verriet, daß neues Leben in ihr keimte. »Alfred …«, begann Geraint schließlich. Der Diener fiel ihm nickend ins Wort. »Ich weiß, Herr: Musik, nicht wahr?« Geraint lächelte. »So ist es.« Er wandte sich zur Tür, drehte sich auf halbem Wege jedoch nach seinem Diener um: »Ach, Alfred, nehmen Sie unsere junge Freundin mit. Ich möchte sie im Auge behalten.« Der Vampir ging hinüber in den Musiksalon. Alfred folgte ihm – um vieles langsamer und unter seiner Last laut ächzend. »Langes Leben hat durchaus auch seine Nachteile«, hörte Geraint ihn ungehalten keuchen.
»Keine Müdigkeit vorschürzen, mein Freund!« rief er ihm zu. »Ich würde dich ungern entlassen müssen. Vergiß nicht: Es dürfte schwierig sein, in deinem Alter noch einen neuen Job zu finden.« Geraints Lachen hallte durch das Haus, zersplitterte in Dutzende von Echos und schien schließlich jeden einzelnen Raum zu füllen.
* James Harvester haßte seinen Vornamen. Weil er ihm wie ein Fluch schien. Ein Fluch, der ihm diesen Beruf eingebracht hatte. Butler … Daß es ihn noch dazu nach Indien verschlagen hatte, dieses Land, das – zumindest für ihn – mit dreckig, staubig, stinkend, lärmend, häßlich und heiß ebenso ausreichend wie zutreffend charakterisiert war, machte ihm sein Leben noch unerträglicher. Dennoch ertrug er all das mit stoischer Gelassenheit. Wie es eben sein Job war … Irgendwann, so schwor James Harvester sich gerade wieder einmal, würde er ein Buch schreiben über diese versnobte und verachtenswerte Gesellschaft, in deren Diensten er stand. Am liebsten hätte er ja seine Faust in jede einzelne dieser hochnäsigen Fressen geschlagen, wie sie da um ihn herum versammelt waren und in den wuchtigen Ledersesseln hockten. Aber das hätte ihm nicht mehr eingebracht als ein kleines bißchen persönlichen Triumph – und die Stellung gekostet. Nein, in seinem Buch würde er diesen Kerlen die Maske des Biedermannes abreißen und ihr wahres Wesen darstellen. Er kannte die mitunter perversen Geheimnisse eines jeden einzelnen von ihnen, und ein Buch darüber würde ihm eine Menge Geld einbringen – selbst dann, wenn er es nicht zur Veröffentlichung freigab … »Noch einen Drink, Sir Edward?« fragte Harvester mit dezenter Verbeugung.
Er war sicher, daß Edward Montgomery nicht einen Tropfen mehr brauchte; der Kerl war bereits voll wie ein Whiskyfaß, und er stank auch so. Trotzdem nickte Montgomery, etwas brabbelnd, das entfernt klang wie »Einnnkleinnoch«. Irgend etwas schien Sir Edward Montgomery heute gehörig aus der Bahn geschleudert zu haben. Er war zwar nie ein Abstinenzler gewesen, aber so betrunken hatte James Harvester ihn im Club noch nie erlebt. Er brachte Montgomery das Gewünschte und zog sich dann lautlos wieder in seine Ecke zurück, von der aus er den Salon ebenso wie einen Teil der Eingangshalle überblicken konnte. Auf seltsame Weise fühlte James Harvester mit Montgomery. Ganz so, als wisse er, was mit diesem los sei – und als teile er, was immer Montgomery beschäftigte. Ein merkwürdiger Tag war das. Nur – warum? Womit hatte es – was immer es auch war – begonnen? Jug Suraiya. Der Name tauchte urplötzlich und wie aus dem Nichts hinter Harvesters Stirn auf. Weshalb? Was hatte der geheimnisvolle alte Händler mit allem zu tun? Er war doch heute gar nicht hier im Club gewesen … Oder doch? Natürlich, ja. Er war gekommen. Und dann? Was war danach geschehen? James Harvester grübelte darüber nach. Erfolglos. Als wäre das Wissen darum aus seinem Gedächtnis gelöscht worden wie Worte von einer Tafel. Mühsam versuchte er es zu rekonstruieren, hangelte sich von einem Gedanken zum nächsten. Aber alles blieb unzusammenhängend und diffus wie Bilder, die hinter Nebeln lagen … Der Tag endete jedoch noch um vieles ungewöhnlicher, als er begonnen hatte.
Es fing damit an, daß der junge Bursche auftauchte. Plötzlich stand er in der breiten Tür zum Salon, und James Harvesters erster Gedanke galt nicht dem Grund dieses Auftritts, sondern der Frage, wie der junge Inder es geschafft hatte, an den uniformierten Security-Männern draußen am Eingang vorbeizukommen. Er trat einen Schritt vor, wodurch der Eingangsbereich in sein Blickfeld kam – und sah die Antwort: Die beiden Guards lagen auf den Marmorfliesen, die vom Blut der beiden mit neuen Mustern überwoben wurden! Und um die beiden Toten herum standen zwölf vermummte Gestalten, die James Harvester nicht nur wegen ihres offensichtlich brutalen Vorgehens Entsetzen einjagten. Irgend etwas an ihnen – »Wer von Ihnen ist Edward Montgomery?« Die Frage des jungen Mannes hallte durch den Salon, der auf Harvester mit einemmal wie eine Fotografie wirkte. Niemand rührte sich, die Szenerie war regelrecht eingefroren. Alle Blicke richteten sich starr auf den jungen Inder. Bewegung kam erst wieder in die Männer, als die zwölf Vermummten in der Tür auftauchten. Sekunden vergingen. »Ich«, sagte dann eine Stimme. »Ich bin Edward Montgomery.« Harvester wandte sich dem Sprecher regelrecht erstaunt zu. Sir Edward schien von einer Sekunde zur anderen nüchtern geworden zu sein. Der Anblick der Fremden schien auf wundersame Weise den Alkohol aus seinem Blut vertrieben zu haben. Ohne jedes weitere Wort gingen Radhey Pai und die zwölf Kelchjäger auf Montgomery zu, umringten ihn dann und beugten sich über ihn. Keiner der Anwesenden sah, was im Sichtschutz der Zwölf geschah, aber sie hörten es! Edward Montgomerys Brüllen war ihnen Zeichen genug. Seine Stimme sank zu einem Wimmern herab und verstummte schließlich ganz. Die Zwölf richteten sich auf und wandten sich synchron in – – James Harvesters Richtung!
Der Butler stand starr vor Grauen, unfähig, etwas zu sagen oder sich zu rühren. Dafür kam in den Rest der Gesellschaft Bewegung. Einige von ihnen suchten das Weite, andere kamen heran und warfen sich auf die zwölf Gestalten. Die Männer bezahlten ihren waghalsigen Einsatz mit dem Leben. So rasch, daß James Harvester es mit Blicken kaum verfolgen konnte. Dolchartige Klauen senkten sich tief in ihr Fleisch. Blut spritzte wie warmer Regen durch den Salon, und ihre Schreie waren der Donner in diesem Gewitter der Gewalt. Wie von unsichtbaren Blitzen getroffen sanken die Männer zu Boden. Nach kaum zehn Sekunden stand kein einziger mehr. Nur James Harvester. Wie von stinkenden Wogen getragen, fluteten Worte auf ihn zu. »Derrr …« »… Kelchchch …« »… wo isst …« »… errr?« Harvester schluckte hastig. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Sein Herz schlug, als müsse es gleich zerbersten. Eiskalter Schweiß näßte seine Haut und ließ ihn schaudern wie in ärgster Winterkälte. »W-welcher Kelch?« bibberte es von seinen Lippen. »I-ich weiß nicht, wovon Sie reden, meine Herren.« »Verraten Sie es!« Es war der junge Inder, der jetzt sprach. »Sie haben von Edward Montgomery erfahren, daß Sie um den Verbleib des Kelches wissen. Also reden Sie, Mann. Es ist zu Ihrem Besten!« »Von Montgomery erfahren?« echote Harvester ungläubig. »Wie?« »Sie haben ihm sein Wissen genommen«, erklärte Radhey Pai. »Und das steht Ihnen auch bevor, wenn Sie nicht …« Zu spät.
Die Zwölf hatten James Harvester erreicht. Und sie nahmen sich sein Wissen! Ihre Hände tasteten nach seinem Gesicht, und kaum hatten sie seine schweißnasse Haut berührt, schienen sie sich zu verändern, ihre Stofflichkeit zu verlieren. Finger, die zu nebelhaftem Gewürm geworden waren, durchdrangen James Harvesters Gesicht und glitten tiefer. Eiskalten Skalpellen gleich teilten sie seinen Geist, trennten Interessantes von Unwichtigem. Harvester hörte sich schreien, hörte, wie seine Stimme erstarb, während die Zwölf sein Wissen durchforsteten und zerpflückten. Wie sie letztlich fündig wurden, bekam er schon nicht mehr mit. Gebrochenen Blickes und mit zerschundenem Gesicht lag James Harvester da, während die Zwölf und Radhey Pai sich wieder auf den Weg machten. Ihre Jagd nach dem Lilienkelch nahm ihren Fortgang …
* Jedem Menschen wäre das Szenario bizarr und erschreckend erschienen. Geraint fand es bezaubernd und genoß es. Er selbst saß in einem samtgepolsterten Sessel, die Spitzen der bleichen, sehnigen Finger gegeneinander gelegt. Alfred hatte am Cembalo Platz genommen; seine Hände schienen nur über die Tasten zu schweben. Eine wehmütige Melodie geisterte durch das Haus. Und zwischen ihnen lag Sham, im Tode verkrampft und steif. »Ich versteh’s nicht«, murmelte Geraint halblaut. Alfred hörte ihn dennoch. Er improvisierte einen Schlußakkord, dann sah er auf. »Die Gabe neuen vampirischen Lebens scheint nicht allein im Kelch zu liegen«, meinte er.
Geraint zuckte bedauernd die Schultern. »Offenbar«, sagte er und fügte seufzend hinzu: »Es braucht wohl doch den wahren Hüter zur Kelchtaufe.« Der Vampir erhob sich. »Sei’s drum – es war den Versuch wert.« »Was habt Ihr nun mit dem Kelch vor, da er für Euch wertlos ist?« fragte der Diener. »Vielleicht werde ich versuchen, Landru ausfindig zu machen, um ihm zu übergeben, wonach er Jahrhunderte lang vergeblich gesucht hat«, erwiderte Geraint. Ein verschlagenes Lächeln spielte um seine Lippen. »Der Anblick seines dummen Gesichtes dabei ist mir die Million Pfund wert. Vielleicht wird mein Erfolg ihm die Arroganz austreiben.« »Ihr solltet Euch nicht mit Landru anlegen«, warnte Alfred. »Ich trau’ ihm nicht über den Weg. Möglicherweise gibt er nicht allzu viel auf den Kodex. Wer weiß, wie oft er ihn schon gebrochen hat …« »Du meinst, Landru könnte die Hand gegen seinesgleichen erheben?« fragte Geraint. »Nein, das glaube ich nicht. Immerhin hat er sich stets als Hüter vampirischer Sitten aufgespielt, solange ich ihn kenne.« Alfred wiegte nur den Kopf. »Ich wäre mir da nicht sicher, Herr. Zudem – wer sagt Euch, daß Landru noch lebt? Vielleicht hat das große Sippensterben auch ihn dahingerafft?« »Das glaube ich nicht«, antwortete Geraint. »Soweit ich es in diesem Jahr beobachten konnte, haben die Oberhäupter der Sippen diese Seuche, oder was den Tod der Vampire auch verursacht hat, überstanden. Es scheint also, daß sie wie auch Einzelgänger, wie wir es sind, davon unberührt bleiben oder gar immun dagegen sind, aus welchem Grund auch immer. Insofern gehe ich davon aus, daß auch Landru nicht daran zugrundegegangen ist.« »Wie wollt Ihr ihn finden?« fragte Alfred.
»Mhm«, machte der Vampir, »mal sehen. Dem Vernehmen nach war er in der jüngeren Vergangenheit häufig in Sydney anzutreffen, dieses Hurenbalges Lilith Eden wegen. Vielleicht werde ich dort mit meiner Suche beginnen.« »Soll ich mit dem Packen beginnen, Herr?« wollte der Diener wissen. Geraint überlegte kurz, nickte dann wie geistesabwesend. »Ja, sicher. Packen Sie, Alfred. Wir reisen ab.« »Ganz ohne Abschiedsfest diesmal?« wunderte sich der Diener. Enttäuschung zeichnete sich in seinen müden Zügen ab. »Ja, diesmal ohne Feier.« Geraint lächelte Alfred zu. »Keine Sorge, ich lasse dich schon nicht darben. Wir nehmen unterwegs noch – ein Schlückchen.« »Sehr wohl, Herr.« Alfred wollte sich schon abwenden, verhielt jedoch mitten in der Bewegung. Seine Augen wurden groß. Seine Hand zitterte vor Aufregung, als er zu Boden wies. »Seht nur, Herr!« Der Vampir folgte Alfreds Deuten, sah auf Sham hinab. Reglos lag der Leichnam da – aber nicht unverändert! Seine Haltung war plötzlich eine andere. »Sie hat sich bewegt, Herr!« rief Alfred. »Ich habe es gesehen, ganz deutlich!« Und dann wurde auch Geraint Zeuge davon, wie Sham sich wieder zu regen begann. Stockend, als lösten sich die Krämpfe ihrer Muskeln zögernd, bewegte sie Arme und Beine, wie ein Insekt, das aus der Kältestarre erwacht. Dumpfe Laute drangen aus ihrem Mund, wurden lauter und zu einem Stöhnen – – und schließlich zu unkontrollierten Schreien! � Alfred wollte sich zu Sham hinabbeugen, doch Geraint hielt ihn � zurück. »Laß sie«, sagte er hastig. »Irgend etwas – stimmt nicht mit ihr.« »Was …?« setzte der Diener an.
Und dann überschlugen sich die Ereignisse! Als wäre die Steifheit von einer Sekunde zur anderen aus ihrem Körper gewichen, so rasch sprang Sham auf. Wie zum Angriff geduckt stand sie da. Und dann – – kam das Licht. � Purpurfarbene Glut schien tief in ihrem untoten Leib zu entstehen. � Wie Lava fraß sie sich dann aus ihrem Innersten heraus Bahn, flutete ihr Aderwerk und hüllte Sham wie in eine violette Aura. Geraint und Alfred wichen zurück. Hitze und Kälte schlugen ihnen in einem entgegen. Sham brach in die Knie. Die Purpurglut verbrannte ihren zierlichen Körper. Aber sie brachte sie nicht um. Dann verglomm die Glut, so rasch, wie sie entstanden war, und ließ einen rotbraun versengten Leib zurück – – der sich brüllend vor Schmerz und Zorn erhob. � Und auf Geraint und Alfred zustürzte! � Der Vampir tauchte unter dem Angriff weg. Der Diener war nicht � schnell genug. Das Wesen, das einmal Sham gewesen und zu irgend etwas anderem geworden war, packte ihn und schleuderte die längst nicht mehr kräftige Dienerkreatur durch den Raum. Sofort setzte das Ding Alfred nach, griff wieder nach ihm. Umschlungen wie ein monströses Tanzpaar schwangen sie durch den Salon, bis das Cembalo ihre Bewegung stoppte. Das Monstrum langte nach Alfreds schütterem Schopf und drosch seinen Kopf mit solcher Gewalt gegen das Instrument, daß das Holz darunter splitterte und brach. Ein neuerlicher Schlag trieb Alfreds Schädel so heftig gegen die nunmehr freiliegenden Saiten des Cembalos, daß sie ihm wie höllisch scharfe Klingen das Gesicht zerschnitten. Und die nächste Bewegung Shams brach der Dienerkreatur schließlich das Genick. Nunmehr endgültig tot und erlöst, stürzte Alfred zu Boden.
»Nein!« Geraints Schrei klang wie der eines waidwunden Tieres. Sham wandte sich dem Vampir zu, als würde sie erst jetzt wieder auf ihn aufmerksam. Ihre Attacke erfolgte übergangslos aus der Drehung heraus. Geraint kam kaum zur Gegenwehr. Die rasante Geschwindigkeit der Ereignisse, die völlig unerwartete Situation lähmten ihn. Vielleicht hatte er sich zu lange unter den Menschen bewegt, sich ihnen zu sehr angeglichen im Laufe der Jahre, so daß seine vampirischen Instinkte mit der Zeit verkümmert waren. Jetzt rächte es sich, daß er seiner Rasse solcherart entsagt hatte. Zwei Hiebe verbrannter Fäuste trieben ihn bis zur Wand. Die Wucht dahinter machte ihn benommen. Wie aus Nebeln tauchten zwei häßliche und stinkende Pranken in seinem Gesichtsfeld auf. Er spürte ihre rauhe Berührung an Hals und Gesicht. Ein einziger Ruck würde genügen – »Du Kretin!« Geraint spürte, wie seine Züge sich verzerrten. Fast schmerzte es, weil es lange zurücklag, daß sein Gesicht zum letzten Mal zu solcher Maske mutiert war. Das Dunkle brach auf in ihm, wie aus einem Kokon, in dem es die Jahre überdauert hatte. Explosionsartig schoß es ihm in Muskeln und Glieder. Doch Shams Kraft schien der seinen fast ebenbürtig. Und sie schien ihren Körper zu benutzen wie eine Maschine, die keiner bewußten Steuerung bedurfte. Ihre Schläge kamen ansatzlos, und Geraint mußte sich auf die Verteidigung beschränken, ohne selbst zum Angriff zu kommen. Vampir und Kreatur prügelten sich durch den Salon wie in einer Arena, und ein Ende des Kampfes schien nicht in Sicht. Solange nicht, bis Sham plötzlich eine Waffe zur Hand hatte. Den Kelch! Wohl eher zufällig als beabsichtigt hatte sie ihn zu packen bekom-
men, und nun schlug sie damit auf Geraint ein, in so schneller Folge, daß der Vampir kaum Gelegenheit fand, den Hieben auszuweichen. Seine Kräfte mochten denen eines Menschen überlegen sein; unverwundbar indes war er nicht. Ein Treffer mit dem Kelch ließ seine Schläfe aufplatzen. Kalt und zäh rann das Blut über Geraints Gesicht, und schwarze Wolken erstickten seine Gedanken. Dann fiel er. Bevor er vollends in Dunkelheit versank, sah er Shams verbrannte Fratze noch über sich auftauchen. Und ein allerletzter Gedanke wehte ihm durch den Sinn. Das war’s wohl … Dann – nichts mehr.
* Sie war tot. Trotzdem lebte sie. Und die grausame Ironie daran war: Sie wußte es. Sham gab einen Laut von sich, der ein Schluchzen gewesen wäre – wäre sie noch Mensch gewesen. So aber klang es wie das Keuchen eines stupiden Tieres. Und sie ekelte sich selbst vor dem Geräusch. Rasselnd kam ihr der Atem aus der verbrannten Kehle, als sie sich aufrichtete. Sham wollte Haß in den Blick legen, den sie auf jenen hinabwarf, dem sie ihr furchtbares Schicksal zu verdanken hatte, aber sie konnte es nicht. So viele Emotionen tobten in ihr, daß sie nichts anderes empfinden konnte als nur Verwirrung: Im einen Moment fraß Wut in ihr, im nächsten löste Schmerz die Wut ab, dann wieder überkam sie unsagbare Trauer um sich selbst … Zumindest für eine Sekunde jedoch empfand Sham Befriedigung, als sie auf ihren toten Peiniger hinabsah. Sein schwarzes Blut hatte Geraints Gesicht zu einer Fratze gemacht, die Shams verbrannten Zügen recht ähnlich sah. Und der Alte, der Sham vor vielen Stunden
aus den Straßen der Stadt hierher gelotst hatte, war in den Trümmern des Cembalos inzwischen zu Staub geworden. Gut so … Blieb noch dieser verfluchte Kelch, aus dem Sham den Tod hatte trinken müssen. Auch ihn wollte sie vernichten, damit er keinem anderen mehr Leid bringen konnte. Die Klarheit ihrer Gedanken verging wieder. Chaos kontrollierte Sham. Wie irr brüllend rannte sie aus dem Haus, hinaus in den Abend. Den Kelch in der Hand.
* Geraints erste Empfindung war Verwunderung. Die nächste Erschrecken! Daß er dazu in der Lage war, die Augen zu öffnen, erstaunte ihn. Sham hatte ihn offenbar am Leben gelassen, vielleicht weil sie ihn für schon tot gehalten hatte. Und nun sah der Vampir diese furchtbaren Visagen über sich, anders und doch nicht minder schlimm zugerichtet als Shams Gesicht. Monströsen Trauben gleich hingen sie über ihm. Und allein der Gestank, der von ihnen ausging, verriet dem Vampir, daß diese Wesen – wie Sham – dem Tod entkommen sein mußten, wie auch immer. Was geschah hier? In Ereignisse welcher Art war er da nur hineingeraten? Wäre er doch nur nie wieder nach Delhi gekommen. Was immer hier vorging, es hatte ihn Alfred gekostet, der ihm mehr als ein bloßer Diener gewesen war; und es sah nicht aus, als würde er selbst die Stadt je wieder verlassen dürfen … »Was wollt ihr?« Geraint versuchte seiner Stimme einen kräftigen Klang zu geben. Doch seine Unsicherheit und Furcht vor dem Ungewissen ließen seinen Tonfall zitternd werden.
»Dennn …« »… Kelchchch.« Die Münder der verwesenden Gesichter bewegten sich alle zugleich, und es war unmöglich festzustellen, aus welchem davon die Worte kamen. Geraint lachte hart auf. »Den Kelch«, zischte er. »Ja, nehmt ihn – mit Wonne gebe ich ihn euch!« »Wo …« »… issst errr?« »Das elende Monster wird ihn haben«, erwiderte der Vampir und erhob sich umständlich. »Welchches …« »… Monnnsssterrr?« Eine Klaue krallte sich in Geraints Schulter und wirbelte ihn brutal herum. »Derrr …« »… Kelchchch!« fauchte es ihm stinkend entgegen. »Ist ja gut«, brummte Geraint und befreite sich aus dem Griff der Kreatur. Er sah sich um, ohne fündig zu werden. »Verschwunden«, sagte er dann nur. »Wohinnn?« Geraint zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht.« »Nunnn …« »… dannnn werrrden ….« »… wirrr dichch …« Die Zwölf schlurften auf Geraint zu. Ihre Klauen streckten sich nach seinem Gesicht. Er spürte ihre totenkalte Berührung … »Haltet ein!« Radhey Pai trat zwischen sie. Sein Gesicht wirkte eigenartig verklärt, sein Blick nach innen gekehrt. »Ich spüre ihn«, sagte er leise. »Den Kelch, ich kann ihn spüren!« »Wooo?« zischte es ihm dumpf aus zwölf Mündern entgegen.
»Er wird – benutzt. Zur Taufe …«, murmelte Radhey wie abwesend. »Brrringgg …« »… unssszzzu …« »… ihmmm.« Radhey Pai nickte. Wie in Trance wandte er sich um und ging. »Folgt mir«, sagte er halblaut. Als existiere Geraint nicht mehr, ließen die Zwölf ihn stehen und gingen dem jungen Mann nach. Der Vampir sah dorthin, wo die Trümmer des Cembalos lagen, die von grauem Staub bedeckt waren. Und dazwischen – eine dunkle Livree … »Wartet«, zischte Geraint. »Ich komme mit. Da ist noch eine Rechnung offen.« Dann schloß er sich der unheimlichen Prozession an.
* Ziellos lief Sham durch die Abenddämmerung. Dabei hielt sie sich stets in den Schatten und benutzte verlassene Gassen und Straßen, soweit es ihr möglich war. Trotzdem blieb sie nicht völlig unbemerkt, und obwohl ihr niemand mit wirklichem Entsetzen begegnete, wich man ihr doch aus. Schmerz und Zorn über den eigenen Tod wichen langsam aus dem Mädchen. Verzweiflung trat an deren Stelle. Verzweiflung, die aus dem Wissen um ihr künftiges Schicksal kam. Sie würde eine Ausgestoßene sein, eine Tote unter Lebenden. Einsamkeit würde fortan ihr einziger Begleiter sein. Auf ewig, denn sie war schon einmal gestorben, und nichts, das wußte sie mit grausamer Gewißheit, würde sie noch einmal töten und erlösen können. Es sei denn … Shams verbrannte Züge zuckten im Aufruhr ihrer Gedanken – ih-
rer Idee! Wenn es mehr von ihrer Art gäbe, dann könnten sie ihr Gesellschaft sein, ihr Leid teilen. Es war den Versuch wert. Shams Finger schlossen sich fester um den Kelch. Ihre Schritte wurden zielstrebiger. Der Fluß Yamuna war ihr Ziel. Wo Pilger aus dem ganzen Land sich versammelten, an jedem Tag, zu jeder Zeit. Wo all diese Menschen der Erleuchtung harrten. Sham wollte sie ihnen bringen. Und fast schien es ihm, als schimmere schon ein Hauch davon im Dunkel des Kelches. Ein schwaches Leuchten. Wie ein Licht am Ende des Tunnels …
* Geraint nahm sich vor, nie wieder nach Delhi zurückzukehren. Wenn es ihm denn vergönnt war, die Stadt je wieder zu verlassen … Delhi war eine Kloake, nichts anderes. Zumindest in jenen Teilen, durch die sie sich gerade bewegten, immer diesem jungen Kerl folgend, der ihnen die Richtung wie ein lebender Kompaß bestimmte. Links und rechts der Wege türmten sich Unrat und Dreck. Und je näher sie dem Fluß kamen, desto übler wurde die Szenerie. Kranke kauerten allerorten, und einigen von ihnen war der Tod spürbar schon so nahe, daß sie den nächsten Tag nicht mehr schauen würden. Ihr Wehklagen wehte wie geisterhafter Chorgesang durch die Gassen. Braun wie Schlamm wälzte Yamuna sich durch sein breites Bett, und sein Gestank trug weit über die Ufer hinaus. Die Menschen dort schienen jedoch unempfindlich dafür zu sein. Zu Hunderten, wenn nicht gar zu Tausenden hatten sie sich hier eingefunden, und viele von ihnen standen bis zu den Hüften in der Brühe, rieben sich gar damit ein, als wäre es der feinste Balsam.
Geraint wußte nicht, im Zeichen welcher Gottheit dieser Tag und die anbrechende Nacht standen. Für die Religion der Hindus hatte er sich nie sonderlich interessiert. Und nun, da er die Gläubigen in den dreckigen Wassern stehen sah, wußte er auch, warum. Das Gehabe schien ihm völlig absurd. Aber er war schließlich nicht hierher gekommen, um darüber nachzusinnen. Er wollte diese verfluchte Kreatur zur Rechenschaft ziehen für das, was sie ihm angetan hatte – und er wollte den Kelch zurückhaben! Ein Stück vom Flußufer entfernt blieb Radhey Pai stehen, und auch die Zwölf verhielten im Schritt. Schweigend streckte der junge Mann den Arm aus, deutete auf eine Stelle des Flusses, wo sich die Menschen dicht an dicht drängten. »Da ist er«, sagte Radhey. Geraint hatte es im selben Moment erkannt. In der Mitte der Menge stand Sham. Die Nackten umringten sie wie etwas besonders Sehenswertes. Und sie – taufte die Menschen? So schien es in der Tat. Wieder und wieder tauchte sie den Kelch ins Wasser, schöpfte daraus und goß es über den Köpfen der Umstehenden aus. »Was tut sie da bloß?« murmelte Geraint. Irgend etwas ging mit den solcherart Getauften vor. Sie rückten von Sham ab, machten anderen Platz, und sie schienen dem Vampir wie – trunken; oder irre …? Schweigend setzten sich die Zwölf in Bewegung. Sie gingen an Betenden vorüber und erreichten schließlich das Wasser, stiegen hinein und näherten sich Sham. Geraint und Radhey Pai blieben zurück wie unbeteiligte Zuschauer. Der junge Mann stand wie verloren da, der Vampir lauernd, abwartend. Er spürte – etwas. Wie ein Schatten legte sich dieses Etwas
über das Szenario, und Geraint wußte, daß er gut beraten war, wenn er sich zurückhielt. Die Zwölf erreichten Sham. Ein aus der Distanz lautloses Ringen entstand. Und dann geschah es, trat ein, was Geraint eben noch nur gespürt hatte! Er kam.
* Der Abendhimmel verdunkelte sich vollends, als brodelnde Wolken aus dem Nichts kamen. Das Wasser des Flusses wurde schwarz darunter. Dann schob sich etwas wie ein Schatten zwischen Himmel und Erde, fraß für die Dauer einer Sekunde alles Licht, hüllte den Fluß und seine Ufer in vollkommene Finsternis, die nicht einmal Geraint mit seinem besonderen Blick zu durchdringen vermochte. Und als der Schatten wich und Helligkeit wie flüssig umkroch, sah er ihn. Sahen alle ihn! Die Menschen am Fluß und seinen Ufern warfen sich zu Boden, während er zwischen ihnen einherschritt – eine dunkle Gestalt, wie in ein Gewand aus Schatten gekleidet, groß und kräftig und von einer Aura umgeben, die blanke Macht war. Selbst Geraint erzitterte darunter. Am Ufer des Yamuna blieb der Fremde stehen. Schweigend streckte er die Hand aus, und als überwinde er mit der bloßen Bewegung die Distanz, ruhte plötzlich der Kelch in seinem Griff. Wortlos wandte der Unheimliche sich wieder ab. Nach einigen Schritten jedoch verharrte er noch einmal, sah wieder zum Fluß hin, dann auf den Kelch, und schließlich wieder zurück. Etwas folgte dabei dem Weg seines Blickes, wie eine leuchtende
Spur, die kräftiger wurde, je näher sie der Oberfläche des Yamuna kam, und schließlich gleißend hell, als sie mit dem Wasser verschmolz. In weitem Umkreis leuchtete der Fluß darunter auf. Seine Wasser kochten in unirdischer Hitze. Und alles darin verbrannte. Als wäre nichts geschehen, als hätte nicht er die Todesschreie im Fluß ausgelöst, drehte der Fremde mit dem Kelch sich wieder um und schritt weiter – um unvermittelt direkt vor Geraint zu erscheinen, wie aus dem Nichts getreten! Der Blick seiner dunklen Augen bannte Geraint, wie es sonst nur der seine mit Menschen tat. Die Züge des anderen schienen ihm kalt und starr wie aus Marmor gehauen, uralt und ewig jung in einem. Und seine Stimme war wie ein Sturm, der an seinem Innersten zerrte. »Wisse, daß eine neue Zeit anbricht.« Elfenbeinfarbene Spitzen schimmerten unter der Oberlippe des anderen. »Du …«, begann Geraint, »… bist ein – Vampir?« Zweifel und Verwirrung ließen seine Stimme fremd klingen. »Ich bin der letzte der Hohen. Gehe hin und trage meinen Namen unter unser Volk.« »Unser Volk?« echote Geraint. »Unser Volk ist … nicht mehr.« Der andere schwieg einen Moment lang, ehe er wie nachsinnend und zu sich selbst sagte: »Wenn dem so ist, dann mag dies der Grund sein, weshalb ich erwachen mußte.« »Wer bist du?« fragte Geraint zögernd. Der andere wandte sich um, und ein einziger Schritt schien ihn in weite Ferne, außer Sicht zu tragen. Seine Antwort vernahm Geraint als verwehenden Hauch. »Anum …«
*
Geraint stand noch eine lange Weile wie gelähmt da. Er hatte das sichere Gefühl, Zeuge von etwas Bedeutsamem, von etwas wirklich Großem geworden zu sein. Und aller Verwirrung zum Trotz, die in ihm herrschte, fühlte er keine Furcht oder auch nur etwas Ähnliches. Nur Hoffnung keimte in ihm. Schließlich wandte er sich ab von dem Chaos, das jener, der sich Anum nannte, an den Ufern des Yamuna hinterlassen hatte. Geraint berührte Radhey Pai an der Schulter. Der junge Mann stand noch immer wie in Trance da, und erst die Berührung des Vampirs schien ihn aus seinem Traum zu wecken. Ihre Blicke begegneten sich, doch ehe Radheys Augen sich mit eigenem Glanz füllen konnten, erstickte er auch schon unter dem, was Geraint hineingab. »Komm mit«, sagte er ruhig. Und Radhey tat, wie ihm geheißen ward. Er folgte dem Vampir, wie ein Mann namens Alfred es einst getan hatte. Epilog Schneidender Wind fuhr um die höchsten Zinnen des Berges Ararat. Kristalle aus ewigem Eis stoben auf und hüllten die einsame Gestalt dort oben wie in einen flirrenden Wirbel aus feinsten Diamantsplittern. Doch Anum war nicht empfänglich für Wind noch Wetter. Er war zum Dunklen Dom – oder an den Ort wenigstens, der den Hütern einst Heimstatt gewesen war – zurückgekehrt, nachdem er sich geholt hatte, weswegen er aufgebrochen war: Der Kelch ruhte in seinen Händen, und noch ohne mit geistiger Macht in den Gral eingedrungen zu sein, spürte Anum, daß vieles sich verändert hatte – wenn nicht am Ende gar alles … Was er in der fernen Stadt beobachtet und schließlich mit leichter Hand ausgelöscht hatte, nährte
diesen Eindruck noch. Welches Schicksal der Alten Rasse auch beschieden gewesen sein mochte, das Volk der Vampire konnte nicht mehr jenes sein, das er selbst vor Jahrtausenden begründet hatte. Der Kelch, der mehr war als ein bloßes Gefäß, aus dem der Hüter Tod und Leben schenkte, würde ihm Antworten auf viele Fragen bringen. Doch wie sie auch ausfallen mochten, diese Antworten – Anum fürchtete sie nicht. Denn es war nie zu spät für einen neuen Anfang. Die Macht eines Gottes vermochte unendlich vieles zu bewirken. Und Anum war entschlossen, diese seine Kraft zu nutzen. Zum Wohle seines Volkes. ENDE
Wie es wohl sein mag Leserstory von Michael Dependahl � Teil 2 � Justus ließ dem Jungen Zeit, sich seinem Schmerz hinzugeben, wartete ruhig ab, bedrängte ihn nicht weiter, bis das Schluchzen abebbte, der Junge ruhiger wurde und schließlich wie ein hilfloses Kind an seiner Brust lag. Thomas hatte dabei die Augen geschlossen und sich fallengelassen. Das einzige, was er noch wahrnahm, waren die Eindrücke seines Geruchssinns. Neben dem Salz seiner Tränen roch er vor allem Justus. Eine Mischung aus bittersüßem Schweiß, dem herben Geruch des Cordstoffes seiner Kleidung, Reste kalten Tabakrauchs und über allem lagerte der modrige Duft kalter, feuchter Graberde. Beinahe war es so, als habe der Körper des alten Mannes im Laufe der Jahre bei seiner ständigen Arbeit die Ausdünstungen des Materials angenommen, mit dem er ununterbrochen in Berührung war. Aber konnte das ausreichen, um dieses typischen Aroma an ihm so intensiv werden zu lassen? Was war, wenn es dazu nötig war, immerzu mit lehmiger, kalter Erde in Berührung zu sein? Was war, wenn Justus schon seit langem in einem dunklen Grab gelegen … Abrupt schnellte Thomas von Justus Körper, an dem er sich eine tröstende Zeitlang angelehnt hatte, zurück. Sein Odem flog. Aus noch vor Entsetzen geweiteten Augen sah er, wie sich der Brustkorb des alten Mannes unter regelmäßigen Atemzügen hob und senkte. Er sah die Tränen, die sich aus den faltigen Augenwinkeln in die zerknitterten Ausläufer seines Gesichts verlaufen hatten. Zu seiner Erleichterung sprach der alte Justus ihn schlußendlich auch mit seiner tiefen Stimme an. »Was ist los, mein Junge? Was hat dich erschreckt?« fragte Justus
besorgt über den plötzliche Wandel im Verhalten der Jungen. Der blickte ihn entrückt wie aus weit entfernten Sphären an und wisperte: »Nichts, nichts … nur … ach, ich kann an nichts anderes mehr denken!« Justus horchte auf. Er spürte, daß Thomas gepeinigte Seele sich einen Spaltbreit geöffnet hatte und bereit war, sich zu offenbaren, um sich dem Schmerz zu entledigen. Er mußte jetzt vorsichtig zu Werke gehen, damit ihm diese Möglichkeit, dem Jungen zu helfen, nicht wieder entglitt. »Was ist es, Thomas? Was bedrückt dich so sehr?« fragte er sanft. »Es ist …«, begann der Junge zögernd, holte tief Luft und stieß sie mit einem schweren Seufzen wieder aus, bevor er fortfuhr: »Es ist wegen meiner Mutter. Sie ist tot … und das läßt mir keine Ruhe!« »Ich verstehe«, sagte der alte Mann, zog an seiner inzwischen erloschenen Pfeife, schmeckte nur noch den bitteren Tabaksaft und fügte hinzu: »Das tut mir sehr leid, mein Junge!« »Natürlich! Allen tut es nur leid! Nur, was hat mir das bisher genützt? Gar nichts!« reagierte Thomas gereizt auf das Mitgefühl des Alten. »Alle verstecken sich doch nur hinter schönen Worten! Niemanden interessiert wirklich, was nun aus mir wird. Jetzt, wo ich niemanden mehr habe!« Der alte Justus konnte sich eines Gefühls tiefer Betroffenheit nicht erwehren, obwohl er es ehrlich mit dem Jungen gemeint hatte, als er ihm versprochen hatte, ihm nach Möglichkeit zu helfen. Aber er hatte auch schon zu oft leere Beileidsbekundungen an den Gräbern mitbekommen. Da konnte er sich denken, wie sich der Junge fühlen mußte. »Und was ist mit deinem Vater?« »Der ist fort! Ich glaube, er lebt jetzt bei einer anderen Frau, ich weiß nicht, wo. Nach der Einäscherung von meiner Mutter ist er einfach so verschwunden. Betrunken. So, wie er es immer gemacht hat.« »Und wer kümmert sich nun um dich?«
Thomas hob die schmalen Schultern. Justus griff verstört nach dem Arm des Jungen. »Du willst also sagen, du lebst ganz allein?« »Mein Vater will nichts von mir wissen. Er meint, ich wäre alt genug, alleine klarzukommen. Er zahlt die Miete für unsere … meine Wohnung, schickt mir Geld für Sachen und Essen. Und das war’s auch schon. Meine Mutter hat mir immer gesagt, er hätte uns damals verlassen, weil er uns nicht mit seiner Krankheit belasten wollte. Er hat damals schon sehr viel getrunken, wissen Sie … äh, weißt du, und deswegen wollte sie mir weismachen, er wäre gegangen, weil er Alkoholiker war und sich vor sich selbst schämte. In Wirklichkeit ist er zu dieser anderen Frau gezogen. Meine Mutter wußte das auch ganz genau, wollte es sich aber nicht eingestehen, erst recht nicht vor mir, weil sie ihn immer noch lieb hatte.« Erschüttert schaute der alte Mann den Jungen aus traurigen Augen an und konnte nur ein leises »Mein Gott!« raunen. »Meine Mutter war furchtbar abergläubisch«, schien Thomas nun offenbar das Thema zu wechseln, aber der alte Justus wollte ihn nicht unterbrechen, denn möglicherweise half es dem Jungen ja, wenn er einmal jemandem alles erzählen konnte, was er auf dem Herzen hatte. »Sie ging niemals unter Leitern durch, kriegte einen Riesenschreck, wenn mal eine schwarze Katze ihren Weg kreuzte und solche Sachen«, fuhr Thomas fort. »Richtig schlimm wurde das alles aber erst, als mein Vater uns verließ. Das war an meinem dreizehnten Geburtstag. Ich habe davon alles gar nicht viel mitbekommen, von ihrem Streit, vor allem, weil meine Mutter sich nichts hat anmerken lassen. Erst hinterher, als ich meine Mutter die ganze Nacht weinen hörte und sie am anderen Morgen fragte, da sagte sie mir, daß mein Vater fortgegangen wäre. Das hat sie nie überwunden und von diesem Tag an, wurde ihr Aberglaube eine richtige Manie: Sie hatte zwar schon immer geglaubt, daß die Zahl 13 Unglück bringt, aber nun steigerte sie sich richtig da hinein und verknüpfte sie mit
ihrem persönlichen Schicksal. Sie benutzte keine Treppe mehr, die dreizehn Stufen hatte, betrat niemals die dreizehnte Etage eines Hochhauses in der Stadt, blieb an einem Freitag, den 13. im Bett, meldete sich bei der Arbeit krank … Das ging ein paar Jahre so. Aber ihr Kummer schwand davon nicht, im Gegenteil, es wurde nur noch schlimmer, weil sie dadurch nur noch mehr an die Sehnsucht nach meinem Vater erinnert wurde. Bis zum Freitag, den 13. im letzten Monat. Wieder war sie zu Hause geblieben, hatte den ganzen Tag apathisch auf dem Sofa gelegen und sich abends dazu entschlossen, ein Bad zu nehmen. Ich lag vor dem Fernseher. Als ich irgendwann in der Nacht vor der flimmernden Mattscheibe aufwachte und mich darüber wunderte, daß meine Mutter mich nicht geweckt hatte, als sie zu Bett gegangen war, wurde ich unruhig. Als wenn ich Grund zu einer schlimmen Ahnung gehabt hätte, ging ich ins Schlafzimmer meiner Mutter und fand ihr Bett unbenutzt vor. Sofort rannte ich danach ins Bad, das nicht einmal abgeschlossen war. Da lag sie mit geschlossenen Augen und erzwungenem Lächeln in dem sich langsam abkühlenden Wasser, unter das sich ein roter Nebel gemischt hatte. Auf dem Badewannenrand lagen ein paar Rasierklingen. Sie hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Im Spiegel über dem Waschbecken stand mit Lippenstift geschrieben: NICHT BÖSE SEIN! Böse sein? Meine Mutter war die einzige, die mich immer verstanden hat, die immer gut zu mir gewesen war. Warum sollte ich also auf sie böse sein? Das waren meine einzigen Gedanken, als ich wie betäubt zum Telefon ging und die Notrufnummer wählte. Wie ich meinen Vater erreichen sollte, wußte ich nicht. Und ich wollte es auch gar nicht.« Justus war zu konsterniert, um noch irgend etwas zu sagen. Gerührt und tief betrübt legte er dem Jungen nur seine schwere Hand auf die Schulter. »Wie er es dann schließlich herausgefunden hat, kann ich nicht sa-
gen«, fuhr Thomas fort. »Jedenfalls stand er bei der Trauerfeier auf einmal hinter mir, gerade in dem Augenblick, als ich mich von meiner Mutter verabschieden wollte, als ich ihr dreizehn rote Rosen in die Arme legte. ›Dieses verrückte Huhn‹, flüsterte er mir ins Ohr, als sich das Förderband mit dem Sarg darauf langsam in Bewegung setzte, auf die kleinen Türen zu, hinter der sich der Verbrennungsofen befand, ›hat sich doch tatsächlich wegen ihres Spleens umgebracht! Dreizehn Rosen, hm? Wie es scheint, wirst du ja genau in ihre Fußstapfen treten, was, mein Sohn?‹ Als ich mich zu seiner grinsenden Visage umdrehte und seine Fahne roch, wußte ich zwar, daß er betrunken war, doch ich konnte mich nicht beherrschen: Ich trat ihm mit voller Wucht gegen das Schienbein und ging unter Tränen nach Hause. Ich hatte nicht mal genug Geld für ein richtiges Begräbnis gehabt und mußte meine Mutter einäschern lassen, da tauchte zu allem Überfluß mein Vater auf, der Schuld an allem gewesen war und mußte mir auch noch den Abschied von meiner Mutter verleiden. Als ich schließlich zu Hause ankam, wartete mein Vater schon auf mich. ›Du hast bei deinem überstürzten Aufbruch vorhin etwas vergessen, glaube ich‹, verhöhnte er mich mit lallender Stimme und balancierte eine Urne auf einem Tablett durch das Wohnzimmer nach draußen. ›Willst du sie auf dem Kaminsims haben oder doch lieber im Garten vergraben? Vielleicht bei den Rosen?‹ Ich weiß nicht, wie es passierte und auch nicht, ob es seine Absicht war oder ob es einfach nur daran lag, daß er betrunken war. Jedenfalls kam mein Vater ins Straucheln, ließ die Urne fallen, wobei sich ihr Deckel öffnete und die Asche meiner Mutter im Wind zerstreut wurde! Möglicherweise ließ ihn dies nüchtern werden, denn mein Vater verließ mich daraufhin, ohne ein Wort zu sagen, und ich habe seitdem nichts mehr von ihm gehört. Zum Glück!« Der alte Justus konnte nichts sagen, er hatte nur noch Schweigen für den Jungen. Der aber fuhr fort, ruhig, als hätte er in seinem Innern endlich eine Quelle der Kraft gefunden, deren Plätschern er
bislang in seinem Aufruhr überhört hatte. »Ja, seitdem bin ich allein. Niemand scheint das zu kümmern. Meine Nachbarn wissen alle, daß ich alleine in der Wohnung meiner Mutter lebe. Ihnen ist es egal. Nicht einer ist seit ihrem Tod zu mir herübergekommen und hat gefragt, ob alles in Ordnung ist. Niemand redet mit mir. Nur … vielleicht … meine Mutter. Die hat mir sonst immer zugehört. Aber nun … ich weiß ja nicht mal, wo sie ist, wo ich mit ihr reden kann. Deswegen komme ich immer hierher, an diesen Grabstein, unter dem auch niemand liegt, zu dem man aber gehen kann, wenn man um jemanden trauern will, der irgendwo anders begraben ist. Deswegen habe ich dich gefragt, ob sie uns hören können. Ob sie uns überhaupt verstehen, wenn unsere Stimme erst durch diese ganze Erde muß, die auf ihnen liegt. Oder wenn sie überhaupt nicht unter der Erde liegen …« Der Oberkörper des Jungen sackte nach vorn, und man konnte ihn ganz leise weinen hören. Justus wischte sich die Feuchtigkeit aus den Augenwinkeln und mußte sich mehrmals räuspern, bevor er seine Stimme wiederfand. »Ich verstehe dich, mein Junge!« »Nein, das tust du nicht!« hörte der alte Mann Thomas mit einer Kälte in der Stimme widersprechen, die er zuvor nicht an ihm wahrgenommen hatte. »Niemand versteht mich. Nur meine Mutter hat das getan. Das hat sie immer. Und sie wird mich auch jetzt noch verstehen. Deswegen will ich zu ihr! Ich kann nicht in dieser Welt bleiben, in der sich niemand um den anderen kümmert, in der niemand dem anderen zuhört … ihr habt sie mir genommen, diese Welt! Dann will ich sie auch nicht länger mit euch teilen.« Der alte Justus verstand genau, was der Junge sagte, wußte, daß es gefährlich war, ihn nicht ernst zu nehmen, mit dem, was er sagte, denn als er in dessen entrücktes Gesicht blickte, sah er in den Augen des Jungen bereits ein Licht im Spiegel der ersterbenden Sonnenstrahlen glimmen, das nicht mehr aus der Welt der Vernunft geboren sein konnte.
»Aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll. Ich habe Angst davor, den letzten Schritt zu tun. Darum bin ich immer hier. Ich frage mich … sie, wie es wohl sein mag, wenn man tot ist. Aber bisher hat sie mir nie geantwortet!« »Ich verstehe ganz genau, was du meinst! O ja! Und ich kann dir sagen: Auf ihre Antwort kommt es nicht an!« entgegnete Justus dem Jungen in einem verhältnismäßig beiläufigen Ton, ohne ihn direkt anzuschauen, als wenn die Worte des Jungen ihn eher desinteressiert ließen, was dem aufgewühlten alten Mann allerdings recht schwerfiel. »Blödsinn!« schnaubte Thomas und sprang mit einem wilden Satz von der Onyxplatte. »Du verstehst mich auch nicht. Niemand auf der Welt kann das!« Er langte nach seinem Rucksack und wollte Justus in seiner Seelenpein gerade den Rücken zudrehen, als dieser wie nebenbei den Pfeifenkopf am Absatz seines Gummistiefels ausklopfte und sich zwang, den Jungen trotz seines vor Furcht klopfenden Herzens nur mit ruhiger Stimme, statt einer verzweifelten Umarmung am Fortgehen zu hindern. »Wenn du noch einen Augenblick Zeit hast, mein Junge, würde ich dir gern etwas zeigen!« Thomas blickte zu Boden und rang mit sich selber. Er seufzte leise, aber doch irgendwie erleichtert, als er den sanften Druck einer großen Hand in seiner Armbeuge spürte, die ihn mit sich zog. Sie kamen unter einer Zeder zum Stehen, vor einem gepflegten Grab mit einem einfachen Steinkreuz. Thomas mußte sich ziemlich weit hinunterbeugen, um die goldene Inschrift in dem beinahe schon versickerten Dämmerlicht entziffern zu können. Anna Wiemeier, stand dort. Gestorben am 27. Februar 1944. Justus’ Frau. Und sie lag hier seit beinahe fünfzig Jahren. Seit all den Jahren, in denen Justus hier gearbeitet hatte. »Zuerst habe ich auch gedacht, ich könnte nicht mehr weiterleben,
nachdem sie sie mir nahmen. Mehr als einmal habe ich mit dem Gedanken gespielt, mich ebenfalls zu töten, allem ein Ende zu machen. Und es war nicht einfach, diesem Drang zu widerstehen, das kann ich dir sagen. Aber es hat sich gelohnt!« Nun sah der alte Mann dem Jungen mit festem Blick ins Gesicht. »Man muß nicht einer von ihnen werden, um mit ihnen zu reden, Thomas! Nein, das kannst du hier tun oder an jedem anderen Platz in dieser Welt, solange du ihr Andenken in deinem Herzen bewahrst! Und dann werden sie dich auch hören!« Justus sah die großen, zweifelnden Augen des Jungen und er ergänzte: »Ich kann das zwar nicht beweisen, aber ich glaube ganz fest daran. Und das solltest auch du tun!« Die schwielig-rauhe Handfläche des alten Mannes fuhr über die glatte Wange des Jungen. »Du hast alle deine Möglichkeiten noch vor dir, noch wichtige Erfahrungen zu machen, mein Junge. Ich möchte nicht, daß du darauf verzichtest und dir etwas antust. Bitte versprich mir das!« Der Junge nickte und sagte leise, bevor er sich zum Gehen wandte: »Okay! Ich glaube, ich bin dazu auch viel zu feige!« Als der Junge schon fast den halben Weg zum Friedhofstor zurückgelegt hatte, viel Justus noch etwas ein und er rief in die Dunkelheit: »Und wenn es mal etwas zu bereden gibt … du weißt ja, wo du mich findest!« Einige bange Herzschläge hörte der alte Mann nur den vereinzelten Ruf einer Eule, dann tönte es aus dem Dunkel zurück: »Ja! Und vielen Dank noch mal!« Aufatmend lächelnd bereitete Justus sich nun darauf vor, seine Werkzeuge einzusammeln und einzuschließen. Sein Tagwerk war getan. Am nächsten Morgen, kurz nachdem er das Tor aufgeschlossen hatte, schlurfte Justus durch das taufeuchte Gras zu der Grabplatte, der Gedenkstätte aus schwarzem Onyx. Er wußte nicht mit Bestimmt-
heit zu sagen, warum er dies tat, aber er hatte schlecht geschlafen und suchte die Ursache dafür in seiner Aufgewühltheit wegen der Erlebnisse des Vortages. Insgeheim wollte er sich nicht eingestehen, daß er sich eher Vorwürfe darüber gemacht hatte, den Jungen in diesem labilen Zustand sich selbst überlassen zu haben. Als er dann sein Ziel erreicht hatte, versagten ihm die von seiner schweren Arbeit gestärkten Muskeln bei dem Anblick, der sich ihm hier bot, den Dienst. Der alte Mann fiel vor der Grabplatte, auf der der tote Junge lag, auf die Knie; sein Kopf sackte nach vorn, als ob etwas, das ihn normalerweise aufrecht hielt, in seinem Innern gebrochen war. Der Hut fiel ihm dabei herunter und kollerte über den benetzten Rasen. Aus der Kehle des Alten konnten sich keine Laute lösen, er konnte nur den Jungen ansehen, der mit weit geöffneten, gestorbenen Augen in den dunstigen Morgenhimmel starrte. Justus konnte keine Anzeichen dafür erkennen, daß der Junge einen gewaltsamen oder herbeigeführten Tod gestorben war; am meisten zuwider war ihm noch das friedliche Lächeln, das um seine faltenlosen, bläßlichen Lippen spielte. Justus gab etwas wie das Geräusch eines knirschenden feuchten Astes von sich, als er mit seinen riesigen Pranken nach den zerbrechlich aussehenden, kalkweißen Händen des Jungen griff, die er über seinem Bauch verschränkt hatte. Er fühlte die Kälte, die von ihnen ausging; die noch viel kälter war als die des gerade aufblühenden jungen Morgens. Da sah er, daß Thomas einen Strauß Blumen fest in seinen Armen wog. Dreizehn rote Rosen, zählte der alte Mann, und als sein Verstand sich weigerte zu begreifen, was er sah, verschleierten ihm gnädige Tränen den Blick. Justus stieß einen jammervollen, heulenden Schrei aus, ehe er sein Gesicht auf die Brust des Toten bettete. Wie es wohl sein mag? fragte er sich, in den blauen Himmel über sich starrend, der nur tief blau war und sonst gar nichts. Da hörte er eine vertraute, liebe Stimme hinter sich, eine Stimme, die er sich gesehnt hatte, zu hören. Würden jetzt alle seine Fragen beantwortet werden? Würde sie ihm die Antworten geben? Sie, die ihn immer
verstanden hatte? Als er sich aufrichtete, war das Blau des Himmels verschwunden. Um ihn herum war nur noch Dunkelheit. Und ihre Stimme: Komm zu mir! Er drehte sich um. � UND ER SAH! � ENDE © 1966 Michael Dependahl, Bachstraße 4, 49.143 Bissendorf
Tempel der Unsterblichen � von Adrian Doyle Lange wußte sie nicht, wer sie war, wohin sie gehörte. Die Erkenntnis, anders zu sein, kam bald: Die Sonne bereitete ihr Kopfschmerz, ihr Puls ging viel zu träge, sie benötigte keinerlei Nahrung – außer Blut! Der Schock, eine Vampirin zu sein, stürzte sie in Panik und Verwirrung. Doch dann gibt ihr Begleiter, ein Vampir wie sie selbst, ihr die Vergangenheit zurück. Er findet heraus, wo ihre Wurzeln liegen. Bringt sie zu ihrer Familie ins Hochland von Mexiko, in den Tempel der Unsterblichen. Hier soll sie zu ihrem alten Leben zurückfinden. Sie heißt Lilith Eden. Ihr Begleiter ist ihr alter Todfeind Landru. Und die Heimat, die er ihr gibt, ist so falsch wie die Pläne, die er mit ihr hat …