Emanuel Todd
Weltmacht USA Ein Nachruf
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Die aggressive Außenpolitik von US-Präsident George W. Bush beu...
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Emanuel Todd
Weltmacht USA Ein Nachruf
s&c by unknown
Die aggressive Außenpolitik von US-Präsident George W. Bush beunruhigt die Welt. In diesem aufsehenerregenden Bestseller weist Emmanuel Todd nach, daß diese Politik kein Zeichen von Stärke, sondern von Schwäche ist: In Wirklichkeit sind die Vereinigten Staaten wirtschaftlich und politisch vom Rest der Welt abhängig, befindet sich die einstige „alleinige Supermacht" im Niedergang. Von dieser Tatsache lenkt die Bush-Administration ab, indem sie gegen die von ihr erfundene „Achse des Bösen" zu Felde zieht... ISBN 3-492-04535-9 Original »Apres l'empire. Essai sur la décomposition du Systeme américain« Aus dem Französischen von Ursel Schäfer und Enrico Heinemann © Piper Verlag GmbH, München 2003
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Die Zeit der imperialen Herrschaft Amerikas ist vorbei! Mit dieser These legt Emmanuel Todd ein Buch vor, das in Frankreich eine große Diskussion auslöste und mittlerweile in 11 Sprachen übersetzt ist. Die Welt ist zu groß, zu vielgestaltig, zu dynamisch, sie nimmt die Vorherrschaft einer einzigen Macht nicht mehr hin. Und die USA selber haben nicht mehr das Ziel, die Demokratie zu verbreiten, obwohl Präsident George W. Bush nicht müde wird, das zu behaupten. In Wirklichkeit geht es darum , die politische Kontrolle über die weltweiten Ressourcen zu sichern. Denn die USA sind mittlerweile vom „Rest der Welt" viel abhängiger als umgekehrt. Amerika versucht, seinen Niedergang zu kaschieren durch einen theatralischen militärischen Aktionismus, der sich gegen relativ unbedeutende Staaten richtet. Der Kampf gegen den Terrorismus, gegen den Irak und die „Achse des Bösen" ist nur ein Vorwand. Die wichtigsten strategischen Akteure sind heute Europa und Rußland, Japan und China. Amerika hat nicht mehr die Kraft, sie zu kontrollieren, und wird noch den letzten verbliebenen Teil seiner Weltherrschaft verlieren. In Zukunft wird Amerika eine Macht neben anderen sein.
Autor
Emmanuel Todd , geboren 1951, absolvierte das Institut d'Etudes Politiques de Paris und promovierte dann in Cambridge in Geschichte. Von 1977 bis 1984 war er Literaturkritiker für Le Monde. Seitdem arbeitet er als Wissenschaftler am Institut National d'Etudes Démographiques. Bereits 1976 sagte er in seinem Buch La chute finale den Zusammenbruch der Sowjetunion voraus. Die französische Originalausgabe seines Buches Apres l'empire stand monatelang auf den Bestsellerlisten und wurde als eines der meistdiskutierten politischen Bücher bislang in 11 Sprachen übersetzt.
Für Magaly
Inhalt Vorwort für die deutsche Ausgabe ....................................... 6 Einführung.......................................................................... 10 KAPITEL 1 Der Mythos vom weltweiten Terrorismus..... 35 KAPITEL 2 Die große demokratische Bedrohung ............ 61 KAPITEL 3 Die imperiale Dimens ion............................... 78 KAPITEL 4 Die Unsicherheit des Tributs ....................... 101 KAPITEL 5 Der Rückgang des Universalismus.............. 125 KAPITEL 6 Dem Starken die Stirn bieten oder den Schwachen angreifen? ...................................................... 150 KAPITEL 7 Die Wiederkehr Rußlands ........................... 175 KAPITEL 8 Die Emanzipation Europas .......................... 202 Schluß ............................................................................... 229 Anmerkungen................................................................... 243
Vorwort für die deutsche Ausgabe Dieses Buch kam in Frankreich Anfang September 2002 heraus. Von der Kritik wurde es insgesamt positiv aufgenommen, offenbar konnte man die These, daß Amerika sich im Niedergang befindet, mit Gelassenheit in Betracht ziehen. Der Gang der Ereignisse seither hat die hier formulierten Interpretationen und Mutmaßungen weitestgehend bestätigt. Wir können sogar von einer Beschleunigung des Prozesses sprechen. Die Vereinigten Staaten, die noch bis in allerjüngste Zeit ein internationaler Ordnungsfaktor waren, erscheinen nun immer deutlicher als Unruhestifter. Die amerikanische Wirtschaft gibt uns zunehmend Rätsel auf: Wir können nicht mehr genau sagen, welche Unternehmen tatsächlich real existieren. Wir verstehen vor allem nicht mehr, wie die US-Wirtschaft funktioniert, und wir wissen nicht, welche Wirkung es auf die verschiedenen Bereiche dieser Wirtschaft haben wird, wenn die Zinsen endgültig bis auf null gesenkt sein werden. Die Besorgnis der amerikanischen Politiker ist beinahe mit Händen zu greifen. Sie hat bereits zur Entlassung des amerikanischen Finanzministers O'Neill geführt. Tag für Tag verfolgt die Presse mit gespannter Aufmerksamkeit die Entwicklung des Dollarkurses. Zum wirtschaftlichen Durcheinander kommt noch ein außenpolitisches und militärische s Chaos hinzu. Die Irakpolitik der Vereinigten Staaten zielt darauf ab, die Welt in den Krieg zu stürzen. Aber der hektische Aktionismus der amerikanischen Regierung, ihr Beharren darauf, unbedingt »Stärke« zu demonstrieren, verrät nur, wie unsicher Amerika in wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, kultureller und strategischer Hinsicht ist. Denn die USA beherrschen längst nicht mehr die Welt, sie sind dabei, die Kontrolle zu verlieren. Noch vor einem möglichen Angriff auf den Irak könnte die -6-
Auflösung des amerikanischen Systems beginnen. Für amerikanische Politiker und Journalisten war es bisher selbstverständlich, in Deutschland den ergebenen Verbündeten zu sehen. Nun widersetzt sich Deutschland dem Krieg, es hat gewissermaßen das Signal für den Aufbruch Europas in die strategische Autonomie gegeben. Dank der deutschen Haltung konnte Frankreich wirksam bei der UNO tätig werden und die amerikanischen Kriegspläne verzögern. Bei der Diskussion über die Resolution 1441 zur Rüstungskontrolle im Irak kam man der pragmatischen Realisierung eines am Schluß von »Weltmacht USA - Ein Nachruf« formulierten Vorschlages sehr nahe: Frankreich sollte seinen Sitz im Sicherheitsrat und sein Vetorecht mit Deutschland teilen. Denn ohne den deutschen Widerstand gegen einen Irakkrieg hätte Frankreich nichts bewirken können. Die beiden Partner Deutschland und Frankreich arbeiten wieder effektiv zusammen, und das beweist die globale Orientierung der Europäer. Berlin und Paris brauchen natürlich die stillschweigende Unterstützung der anderen Mitglieder der Europäischen Union. Es ist jedoch höchst beeindruckend, welches Maß an soft power - um die Formel von Nye aufzugreifen - Deutschland und Frankreich entfalten, wenn sie einig sind: in Europa und in der Welt. Die amerikanischen Verantwortlichen in der Politik und in den Medien waren in diesem Fall ganz außerordentlich verblendet. Sie behaupteten, Deutschland sei isoliert, während doch gerade dieser Akt der Unabhängigkeit und das Bekenntnis zum Frieden die internationale Legitimität Deutschlands stärkten. Wohl zum ersten Mal betrachtete man in Paris die Fahne der Bundesrepublik mit uneingeschränktem Wohlwollen. Die nächste Etappe bei der Auflösung des amerikanischen Systems wird eine explizite Annäherung zwischen Europa und Rußland sein in dem Bestreben, einen ausreichend soliden Gegenpol zu bilden und die Amerikaner aufzuhalten. Wenn der Krieg gegen den Irak kommt, muß dieser Schritt rasch erfolgen. -7-
Außerdem muß sich Ostasien von den Vereinigten Staaten emanzipieren, und dies gilt vor allem für Japan und Südkorea. Im Verhältnis zu Rußland wird einmal mehr, ich betone es, die Haltung Deutschlands ausschlaggebend sein, und zwar meines Erachtens aus offensichtlichen historischen und geographischen Gründen. Die Haltung Großbritanniens bleibt ungewiß. Tony Blair scheint gelähmt, weil ihm offenbar jede strategische Vision fehlt. Aber seine Politik der bedingungslosen Gefolgschaftstreue zur amerikanischen Regierung ist zerstörerisch für die internationale Bedeutung seines Landes, und wir dürfen nicht übersehen, daß auch die britische Öffentlichkeit in der Frage von Nutzen und Sinn eines Krieges gegen den Irak gespalten ist. Die gegenwärtige Situation hat uns zur Rolle des Vereinigten Königreichs zweierlei gelehrt: Zum einen kann Großbritannien nur wenig Einfluß auf den Kurs Europas nehmen, wenn Deutschland und Frankreich sich einig sind. Umgekehrt hat auch Kontinentaleuropa wenig Möglichkeiten, auf das Vereinigte Königreich Einfluß zu nehmen. Aggressives Auftreten seitens der Europäer, das Ausüben von Druck auf die Briten, in einer bestimmten Weise gegenüber den Vereinigten Staaten aufzutreten, bewirken nur das Gegenteil und binden den Inselstaat enger an seinen transatlantischen Partner. Die Europäer sollten lieber abwarten, bis die Briten durch das Verhalten der Vereinigten Staaten ihrer Bündnistreue überdrüssig werden, zu zweifeln beginnen und sich auf ihre europäische Identität besinnen. Die Europhobie der amerikanischen Eliten wird auch Großbritannien nicht verschonen, zumal Großbritannien für die Vereinigten Staaten in gewisser Weise der eigene Ursprung ist, und folglich die Quintessenz Europas. Erst wenn Rußland, Japan, Deutschland - und warum nicht auch Großbritannien? - ihre außenpolitische Handlungsfreiheit wiedergewonnen haben, wird die Epoche des Kalten Krieges, der ein Ergebnis des Zweiten Weltkrieges war, endgültig -8-
überwunden sein. Das Zeitalter der Ideologien wird vorüber sein. Das Gleichgewicht der Mächte - Europa, Amerika, Rußland, Japan, China - wird die internationale Politik prägen. Keine einzelne Macht wird für sich in Anspruch nehmen können, sie allein verkörpere »das Gute« auf der Welt. Und der Frieden wird dann sicherer sein. Dezember 2002 Emmanuel Todd
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Einführung
Die Vereinigten Staaten sind auf dem besten Weg, zu einem Problem für die Welt zu werden. Dabei waren wir daran gewöhnt, daß sie die Lösung verkörperten. Ein halbes Jahrhundert lang standen die USA für politische und wirtschaftliche Freiheit, aber heute erscheinen sie immer mehr als ein Faktor der internationalen Uno rdnung, und wo sie können, fördern sie Instabilität und Konflikte. Sie fordern von der ganzen Welt, sie solle anerkennen, daß bestimmte zweitrangige Staaten eine »Achse des Bösen« darstellten, die vernichtend geschlagen werden müsse: Saddam Husseins Irak, der zwar großspurig auftritt, aber als Militärmacht eher unbedeutend ist, Nordkorea unter Kim Jongil, das erste (und letzte) kommunistische System, in dem die Macht nach dem Erstgeburtsrecht weitergegeben wurde. Dieses Regime ist Relikt einer vergangenen Epoche und wird ganz ohne äußeres Zutun verschwinden. Der Iran, das andere obsessiv verfolgte Ziel, ist von strategischer Bedeutung, aber befindet sich unverkennbar im Übergang zu innerem und äußerem Frieden. Die amerikanische Regierung stigmatisiert den Iran gleichwohl zum vollwertigen Mitglied der »Achse des Bösen«. Die Vereinigten Staaten haben China provoziert mit der Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad im Kosovo-Krieg und indem sie eine für die chinesische Führung bestimmte Boeing mit leicht zu entdeckenden Abhöreinrichtungen präparierten. Zwischen drei medienwirksamen Umarmungen und der Unterzeichnung von zwei Abrüstungsvereinbarungen haben sie Rußland herausgefordert durch Sendungen in tschetschenischer Sprache auf Radio Free Europe, durch die Entsendung von Militärberatern nach Georgien und durch die Einrichtung von Militärbasen im ehemals sowjetischen Mittelasien, und das alles -10-
Auge in Auge mit der russischen Armee. Und schließlich der Gipfel dieser militaristischen Betriebsamkeit: Das Pentagon läßt Informationen durchsickern, daß über Nuklearschläge gegen Staaten nachgedacht werde, die gar keine Nuklearwaffen besitzen. Die Regierung in Washington wendet damit eine klassische strategische Denkfigur an, die aber ungeeignet ist für ein Land von der Größe eines Kontinents: die »Strategie des Verrückten«, nach der man potentiellen Gegnern möglichst unberechenbar erscheinen sollte, weil sie das noch stärker einschüchtere. Die seit langem diskutierte Einrichtung eines Schutzschildes im Weltraum würde das nukleare Gleichgewicht erschüttern und letzten Endes den Vereinigten Staaten erlauben, den Rest der Welt mit Schrecken zu beherrschen. Doch heute gehört dieses Projekt noch ins Reich der Science Fiction. Ist es angesichts all dieser Aktivitäten verwunderlich, daß nach und nach Furcht und Mißtrauen jene Länder ergreifen, die ihre Außenpolitik auf ein beruhigendes Axiom gegründet haben: Daß die einzige verbliebene Supermacht verantwortungsbewußt agieren wird? Die traditionellen Verbündeten und Schutzbefohlenen der Vereinigten Staaten sind vor allem beunruhigt, weil sie nicht weit von den Regionen entfernt liegen, die ihre Führungsmacht als unzuverlässig bezeichnet. Südkorea wiederholt bei jeder Gelegenheit, daß es sich von seinem in der kommunistischen Steinzeit verbliebenen Nachbarn im Norden nicht bedroht fühlt. Kuwait versichert, daß es sich nicht in einem Konflikt mit dem Irak befindet. Für Rußland, China und den Iran hat die wirtschaftliche Entwicklung absolute Priorität, und in strategischer Hinsicht bewegt sie nur ein Gedanke: gelassen auf die Provokationen Amerikas zu reagieren, nichts zu tun oder, in Umkehrung der Konstellation vor zehn Jahren, möglichst für Ordnung und Stabilität in der Welt zu kämpfen. Die großen Verbündeten der Vereinigten Staaten sind -11-
zunehmend konsterniert und vor den Kopf gestoßen. Pflegte in Europa bislang allein Frankreich stolz seine Unabhängigkeit, sehen wir nun mit einiger Überraschung ein verärgertes Deutschland und ein Vereinigtes Königreich, den treuesten aller treuen Verbündeten, das sehr beunruhigt ist. Am anderen Ende Eurasiens drückt das Schweigen Japans eher wachsendes Unbehagen aus als unverbrüchliche Bündnistreue. Die Europäer verstehen nicht, warum Amerika den Konflikt zwischen Israel und Palästina nicht regelt, obwohl es dazu in der Lage wäre. Sie fragen sich allmählich, ob es Washington ins Konzept passen könnte, daß dieser ständig schwelende Krisenherd im Nahen Osten existiert und daß die arabischen Völker wachsende Feindseligkeit gegenüber der westlichen Welt bekunden. Die Al Quaida, eine Bande kranker und zugleich genialer Terroristen, ist in einer bestimmten, abgegrenzten Region des Planeten entstanden, in Saudi-Arabien, auch wenn Bin Laden und seine Offiziere einige Flüchtlinge in Ägypten und eine Handvoll verirrter Seelen in westeuropäischen Vorstädten rekrutiert haben. Die USA bemühen sich trotzdem, die Al Quaida als eine ebenso stabile wie bösartige Organisation hinzustellen, als Verkörperung des allgegenwärtigen - von Bosnien bis zu den Philippine n, von Tschetschenien bis Pakistan, vom Libanon bis zum Jemen - »Terrorismus«. Sie rechtfertigen mit dem Verweis auf die Al Quaida jede Strafaktion an jedem beliebigen Ort der Erde und zu jedem beliebigen Zeitpunkt. Die Erhebung des Terrorismus in den Status einer universellen Kraft institutionalisiert einen permanenten Kriegszustand auf dem gesamten Planeten: Mit einem vierten Weltkrieg hätten wir es zu tun, haben einige amerikanische Kommentatoren geschrieben, die keine Angst haben, sich dadurch lächerlich zu machen, daß sie den Kalten Krieg als den Dritten Weltkrieg bewerten. 1 Es sieht ganz danach aus, als wäre den Vereinigten Staaten, aus welchem Grund auch -12-
immer, daran gelegen, ein bestimmtes Niveau internationaler Spannungen zu erhalten, einen begrenzten, aber endemischen Kriegszustand. Nur ein Jahr nach dem 11. September 2001 ist diese Wahrnehmung amerikanischer Politik erstaunlich. Denn in den Stunden nach dem Anschlag auf das World Trade Center erlebten wir die amerikanische Hegemonie von ihrer überzeugendsten und sympathischsten Seite: eine akzeptierte Supermacht in einer Welt, die in der großen Mehrheit anerkannte, daß der Kapitalismus in der Wirtschaft und die Demokratie in der Politik die einzig vernünftigen und möglichen Organisationsformen sind. Wir sahen ganz klar, daß die größte Stärke Amerikas die Legitimität war. Die Länder der Welt bekundeten umgehend ihre Solidarität, alle verurteilten die Anschläge. Von den europäischen Verbündeten kam der Wunsch nach aktiver Solidarität im Rahmen der NATO. Rußland ergriff die Chance zu zeigen, daß es vor allem gute Beziehungen zum Westen wünscht. Die Russen lieferten der afghanischen Nordallianz die Waffen, die sie brauchte, und eröffneten den amerikanischen Streitkräften den unverzichtbaren strategischen Raum in Mittelasien. Ohne die aktive Beteiligung Rußlands wäre die amerikanische Offensive in Afghanistan nicht möglich gewesen. Die Anschläge vom 11. September haben die Psychiater fasziniert: Die Erfahrung, daß Amerika verwundbar ist, hat weltweit nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder beunruhigt. Die Welt stürzte in eine seelische Krise, und sie machte die mentale Struktur des Planeten sichtbar: Amerika, die einzig verbliebene und legitime Supermacht, war eine Art rational nicht erfaßter Schlußstein im Bogen dieser mentalen Architektur. Die Anhänger Amerikas wie die Amerikagegner verhielten sich wie Kinder, denen die Bezugsperson abhanden gekommen war, die sie brauchten, sei es um sich zu unterwerfen oder um gegen sie zu rebellieren. Kurzum, die Anschläge vom -13-
11. September haben deutlich gemacht, daß wir uns freiwillig in das Abhängigkeitsverhältnis von Amerika begeben hatten. Joseph Nyes Theorie der soft power wurde eindrucksvoll bestätigt: Amerika herrschte nicht oder wenigstens nicht in erster Linie mit Waffen, sondern weil seine Werte, seine Institutionen und seine Kultur in hohem Ansehen standen. Drei Monate nach den Anschlägen hatte die Welt anscheinend ihr normales Gleichgewicht wiedergefunden. Amerika hatte gesiegt, war dank einiger Bombardements wieder allmächtig. Die Vasallen glaubten, sie könnten sich wieder ihren eigenen Problemen zuwenden, hauptsächlich wirtschaftlichen und innenpolitischen. Die Amerikagegner schickten sich an, die ewige Litanei ihrer Vorwürfe an die Weltmacht Amerika dort fortzusetzen, wo sie unterbrochen worden waren. Gleichwohl rechnete man allgemein damit, daß die Verwundung durch den 11. September - die relativiert wird, wenn man daran denkt, welche Wunden der Krieg Europa, Rußland, Japan, China oder auch Palästina geschlagen hat Amerika näher an den Rest der Welt heranbringen und die Supermacht aufgeschlossener für die Probleme der Armen und Schwachen machen würde. Die Welt hatte eine Vision: Alle oder fast alle Länder würden die Legitimität der amerikanisehen Herrschaft anerkennen, und daraus würde ein wahres Reich des Guten entstehen. Die Beherrschten dieser Erde würden eine zentrale Macht anerkennen, die amerikanischen Herrscher jedoch würden sich der Idee der Gerechtigkeit unterwerfen. Doch das Verhalten der Vereinigten Staaten auf der internationalen Bühne erschütterte nach und nach diese Vision. Das ganze Jahr 2002 hindurch erlebten wir eine Renaissance des Unilateralismus, der sich bereits in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre gezeigt hatte, als Amerika im Dezember 1997 den Vertrag von Ottawa über das Verbot von Antipersonenminen nicht unterzeichnet und im Juli 1998 die Vereinbarung über die Einrichtung eines internationalen -14-
Strafgerichtshofes nicht akzeptiert hatte. Allem Anschein nach ging die Geschichte in den alten Bahnen weiter, ganz im alten Geiste verweigerten die Vereinigten Staaten die Unterzeichnung des Kyoto-Protokolls über die Reduzierung der Treibhausgase. Der Kampf gegen Al Quaida hätte die Legitimität der Vereinigten Staaten institutionalisieren können, wenn sie ihn besonnen und vernünftig geführt hätten. Statt dessen verstärkte er den Eindruck der Verantwortungslosigkeit Amerikas. Das Bild eines narzißtischen, unberechenbaren und aggressiven Amerika trat an die Stelle des Bildes von der verletzten, sympathischen und für das Gleichgewicht auf unserem Planeten entscheidenden Nation. So ist die Lage heute. Doch was bedeutet das für uns? Besonders beängstigend ist in der gegenwärtigen Situation im Grunde die Tatsache, daß es keine überzeugende Erklärung für das amerikanische Verhalten gibt. Warum ist die »einsame Supermacht« nicht entsprechend der Tradition, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert hat, die benevolente und vernünftige Herrscherin? Warum verhält sie sich so hektisch und destabilisierend? Weil sie allmächtig ist? Oder im Gegenteil, weil sie merkt, daß ihr die Herrschaft über die Welt, die allmählich entsteht, zu entgleiten droht? Bevor wir uns daran machen, ein Erklärungsmodell für das Verhalten der Vereinigten Staaten auf internationaler Ebene zu entwickeln, müssen wir uns von dem Klischee befreien, daß das einzige Problem der USA das Übermaß an Macht sei. Die notorischen Amerikagegner werden uns dabei nicht weiterhelfen, hingegen können uns die Denker des Establishments den richtigen Weg weisen. Das Problem des drohenden Niedergangs Aus der Ecke des strukturellen Antiamerikanismus kommt die -15-
übliche Reaktion: Amerika ist von Natur aus schlecht, es ist die Staat gewordene Verkörperung der Bösartigkeit des kapitalistischen Systems. Die unverbesserlichen Amerikagegner erleben heute eine Blütezeit, ob sie nun Bewunderer kleiner lokaler Despoten vom Schlage eines Fidel Castro sind oder nicht, ob sie begriffen haben oder auch nicht, daß das System der zentralen Planwirtschaft total versagt ha t. Denn sie können nun endlich darlegen, inwiefern die Vereinigten Staaten dem Gleichgewicht und dem Glück auf dem Planeten geschadet haben, ohne daß sie belächelt werden. Täuschen wir uns nicht: Diese Amerikagegner verhalten sich zur Realität und zur Zeit wie eine Uhr, die stehen geblieben ist - zweimal am Tag zeigt sie die richtige Stunde. Die typischsten Vertreter dieser Denkrichtung sind im übrigen Amerikaner. Lesen Sie die Schriften von Noam Chomsky: Sie werden ihnen nicht entnehmen, daß die Welt sich weiterentwickelt hat. Amerika ist nach dem Fall des Sowjetsystems nicht anders als davor, es ist militaristisch, repressiv, spiegelt eine Liberalität vor, die es nicht hat, das zeigt sich heute im Irak wie vor fünfundzwanzig Jahren in Vietnam. 2 Und Chomskys Amerika ist nicht nur böse, sondern auch allmächtig. Aus einem eher kulturellen und moderneren Blickwinkel argumentiert Benjamin Barber in seinem Buch Coca-Cola und Heiliger Krieg. Er malt das Bild einer Welt, die geprägt ist von der Konfrontation zwischen der verachtenswerten amerikanischen Unkultur und gleichermaßen unerträglichen Relikten einzelner Stammeskulturen. 3 Barber zufolge wird die Amerikanisierung den Sieg davontragen, und das läßt vermuten, daß er aller Kritik zum Trotz und ohne sich dessen voll bewußt zu sein, ein amerikanischer Nationalist ist. Auch er überschätzt die Macht seiner Nation. In die Kategorie der Überschätzung fällt auch die Rede von der amerikanischen Hypermacht. Auch wenn die Außenpolitik des ehemaligen französischen Außenministers Hubert Védrine -16-
dem Beobachter durchaus Respekt abnötigt, müssen wir sagen, daß dieser Begriff, der ihm so sehr am Herzen liegt, die Analyse eher behindert als fördert. Derartige Konzepte bringen uns bei dem Bemühen, die aktuelle Situation zu verstehen, nicht weiter. Sie setzen ein überzeichnetes Bild von Amerika voraus, überzeichnet manchmal, was die bösen Seiten angeht, stets jedoch, wenn von der Macht die Rede ist. Sie hindern uns daran, das Geheimnis der amerikanischen Außenpolitik zu erkennen, denn die Lösung liegt in der Schwäche und nicht in der Stärke. Der erratische und aggressive strategische Kurs, kurz das trunkene Taumeln der »einsamen Supermacht«, kann nur befriedigend erklärt werden durch die Aufdeckung ungelöster und vielleicht unlösbarer Probleme und durch die Gefühle von Insuffizienz und Furcht, die aus dieser Situation resultieren. Aufschlußreicher ist da die Lektüre von Analysen, die vom amerikanischen Establishment produziert wurden. Jenseits aller Unterschiede finden wir bei Paul Kennedy, Samuel Huntington, Zbigniew Brzezinski, Henry Kissinger und Robert Gilpin das gleiche abwägende Urteil über ein Amerika, das ganz und gar nicht unbesiegbar ist und vor der Aufgabe steht, mit dem unvermeidlichen Machtverlust in einer immer stärker bevölkerten und immer mehr entwickelten Welt fertigzuwerden. Die Analysen der amerikanischen Stärke fallen unterschiedlich aus: Kennedy und Gilpin sehen sie vorrangig auf wirtschaftlichem Gebiet, Huntington auf kulturellem und religiösem, Brzezinski und Kissinger auf diplomatischem und militärischem. Aber immer überwiegt eine gemeinsame Sorge: Die Macht der Vereinigten Staaten über die Welt erscheint brüchig und bedroht. Kissinger bleibt wie eh und je den Prinzipien des strategischen Realismus treu und ist sehr beeindruckt von seiner eigenen Intelligenz, aber darüber hinaus fehlt es ihm heute an einer umfassenden Vision. Sein jüngstes Werk Die -17-
Herausforderung Amerikas ist nicht viel mehr als eine Aufzählung lokaler Probleme.4 Aber in einem älteren Werk, in Paul Kennedys Aufstieg und Fall der großen Mächte, das bereits 1988 erschienen ist, finden wir ein sehr brauchbares Konzept: Kennedy schreibt, Amerika sei von imperial overstretch, imperialer Überdehnung, bedroht, einer diplomatischen und militärischen Überbelastung, die sich klassischerweise einstellt, wenn die relative ökonomische Stärke abnimmt.5 Samuel Huntington hat 1996 in seinem Buch Der Kampf der Kulturen die Langfassung von Gedanken vorgelegt, die er bereits 1993 in einem Beitrag für die Zeitschrift Foreign Affairs formuliert hat. Seine Sicht ist eindeutig pessimistisch. 6 Viele Passagen erinnern sehr an Spenglers Untergang des Abendlandes. Huntington geht sogar so weit, daß er den weltweiten Vormarsch der englischen Sprache kritisiert. Er empfiehlt einen bescheidenen Rückzug der Vereinigten Staaten auf die westeuropäische Allianz, den katholisch-protestantischen Block unter Ausschluß der »Orthodoxen« in Osteuropa. Die beiden anderen Pfeiler des amerikanischen strategischen Systems, Japan und Israel, tragen das Stigma der »fremden« Kulturen und sollen deshalb ihrem Schicksal überlassen werden. Robert Gilpin verbindet in Global Political Economy (Globale politische Ökonomie) ökonomische und kulturelle Überlegungen, seine Analyse ist sehr akademisch, sehr vorsichtig und sehr intelligent. Gilpin glaubt an den Fortbestand des Nationalstaates und registriert darum mit scharfem Blick die potentiellen Schwächen des amerikanischen Wirtschafts- und Finanzsystems, die angesichts einer »Regionalisierung« des Planeten dramatische Wirkungen entfalten könnten: Wenn Europa und Japan ihre jeweiligen Einflußsphären organisieren, würde Amerika als Zentrum der Welt überflüssig, und die Neudefinition der wirtschaftlichen Rolle der Vereinigten Staaten in einer solchen Konstellation dürfte einige Schwierigkeiten bereiten. 7 -18-
Zbigniew Brzezinski hat 1997 seine Analyse Die einzige Weltmacht vorgelegt und erweist sich darin als der scharfsinnigste der genannten Autoren, trotz seines erkennbaren Desinteresses für wirtschaftliche Fragen. 8 Wer seine Sicht der Dinge verstehen will, sollte am besten einen Globus betrachten und sich die außerordentliche geographische Isolation der Vereinigten Staaten vor Augen halten. Das politische Zentrum der Welt liegt weit ab vom Schuß. Man hat Brzezinski oft vorgeworfen, er sei ganz einfach ein arroganter und brutaler Imperialist. Seine strategischen Empfehlungen entlocken dem Leser tatsächlich zuweilen ein Lächeln, insbesondere wenn er schreibt, daß sich das Augenmerk Amerikas ganz besonders auf die Ukraine und Usbekistan richten müsse. Aber seine Vision, daß die Weltbevölkerung und die Weltwirtschaftskraft sich in Eurasien konzentrieren, einem nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wiedervereinten Eurasien, und die Vereinigten Staaten, isoliert in ihrer »Neuen Welt«, in Vergessenheit geraten, ist eine großartige Eingebung, eine hellsichtige Vorwegnahme der tatsächlichen Gefahren, die das amerikanische System bedrohen. Fukuyamas Paradox: Amerika triumphiert und ist überflüssig Um zu verstehen, welche Sorgen das amerikanische Establishment umtreiben, müssen wir uns auch ernsthaft damit auseinandersetzen, welche strategischen Implikationen Fukuyamas These vom Ende der Geschichte für die Vereinigten Staaten hat. Fukuyama hat seine Gedanken in einem Aufsatz und einem Buch aus den Jahren 1989 und 1992 formuliert. Die Pariser Intellektuellen haben sich über seine These amüsiert und zugleich gestaunt, wie Fukuyama Hegel vereinfachte und auf sehr eingängige Weise zur Untermauerung seiner 9 Argumentation nutzte. Die Geschichte habe ein Ziel, so behauptete er, und ihr Endpunkt werde erreicht sein mit der -19-
universellen Verbreitung der liberalen Demokratie. Der Zerfall der kommunistischen Systeme sei nur eine Etappe auf dem Weg zur Freiheit aller Menschen, zuvor sei bereits eine andere wichtige Etappe zurückgelegt worden: der Sturz der Diktaturen in Südeuropa, in Portugal, Spanien und Griechenland. In diese Entwicklungslinie gehörten auch der Übergang der Türkei zur Demokratie und die Stabilisierung der demokratischen Systeme in Lateinamerika. Fukuyama veröffentlichte sein Modell vom Gang der menschlichen Geschichte genau zu dem Zeitpunkt, als das Sowjetsystem zusammenbrach. In Frankreich wurde es als typisches Beispiel für den naiven Optimismus der Amerikaner rezipiert. Wer den wahren Hegel kannte mit seiner Loyalität gegenüber Preußen, seiner lutherischen Achtung vor der Autorität, seiner Staatsverehrung, der mochte seine Umwertung zu einem individualistischen Demokraten erheiternd finden. Was Fukuyama uns da präsentierte, war eine in Hollywoodmanier weichgespülte Version Hegels. Der deutsche Philosoph interessierte sich für den Gang des Geistes in der Geschichte, bei Fukuyama hingegen geht es immer um die ökonomischen Aspekte, auch wenn er von Bildung spricht, und oft scheint er Marx näher, dem Propheten eines ganz anderen Endes der Geschichte.10 Die Entwicklung von Bildung und Kultur spielt in Fukuyamas Modell nur eine untergeordnete Rolle. Damit ist er ein sehr seltsamer Hegelianer, ohne Zweifel infiziert von der unter amerikanischen Intellektuellen grassierenden Fixierung auf das Ökonomische. Abgesehen von diesen Einschränkungen müssen wir Fukuyama jedoch zugestehen, daß er die Zeitgeschichte mit einem sehr wachen und durchdringenden empirischen Blick betrachtet. Es ist eine beachtliche Leistung, daß er bereits 1989 die universelle Ausbreitung der liberalen Demokratie als eine ernsthaft zu prüfende Möglichkeit erkannte. Die europäischen Intellektuellen zeigten weniger Gespür für den Gang der Geschichte und konzentrierten ihre analytischen Fähigkeiten auf -20-
die Abrechnung mit dem Kommunismus, das heißt auf die Vergangenheit. Fukuyama gebührt das Verdienst, daß er über die Zukunft spekuliert hat: Das ist zwar schwieriger, aber auch lohnender. Nach meiner Einschätzung enthält Fukuyamas Vision viel Wahrheit, erfaßt aber zu wenig den Anteil, den Bildung und Demographie an der Stabilisierung des Planeten haben. Lassen wir für den Augenblick die Frage beiseite, inwieweit Fukuyamas These von der Demokratisierung der Welt zutreffend ist, und konzentrieren wir uns auf die mittelfristigen Konsequenzen für die Vereinigten Staaten. Fukuyama integriert in sein Modell Michael Doyles Gesetz, daß es zwischen liberalen Demokratien keinen Krieg gibt. Doyle hat das Gesetz Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts mehr in Anlehnung an Kant als an Hegel aufgestellt.11 Mit Doyle haben wir ein zweites Beispiel angelsächsischer Empiriegläubigkeit vor uns, die naiv daherkommt, sich in der Praxis aber als produktiv erweist. Die Geschichte zeigt, daß liberale Demokratien durchaus auch Kriege geführt haben, allerdings mit anderen politischen Systemen und niemals untereinander. Die moderne liberale Demokratie bewies unter allen Umständen eine Neigung zum Frieden. Der französischen und der britischen Demokratie kann man ihr kriegerisches Gebaren in den Jahren 1933-1945 nicht zum Vorwurf machen, man kann nur mit Bedauern die isolationistische Haltung der amerikanischen Demokratie bis zum Überfall auf Pearl Harbor konstatieren. Ohne bestreiten zu wollen, daß es vor 1914 in Frankreich und Großbritannien einen nationalistischen Schub gegeben hat, muß man doch anerkennen, daß Österreich-Ungarn und Deutschland, zwei Länder, in denen die Regierung dem Parlament nicht wirklich verantwortlich war, Europa in den Ersten Weltkrieg gestürzt haben. Allein der gesunde Menschenverstand spricht dafür, daß es in -21-
einem Land mit gehobenem Bildungsniveau und akzeptablem Lebensstandard unter gewählten Parlamentariern kaum eine Mehrheit für eine Kriegserklärung geben wird. Zwei Völker mit ähnlichen Institutionen werden aller Wahrscheinlichkeit nach im Konfliktfall eine friedliche Lösung finden. Aber die ohne Kontrolle agierende Clique, die definitionsgemäß in einem nicht demokratischen und nicht liberalen System die Macht hat, besitzt sehr viel mehr Handlungsspielraum und kann nach Gutdünken Feindseligkeiten eröffnen, ohne Rücksicht auf den Wunsch nach Frieden, der im allgemeinen die Mehrheit der Bevölkerung beherrscht. Wenn wir zur universellen Ausbreitung der Demokratie (Fukuyama) die Unmöglichkeit eines Krieges zwischen Demokratien (Doyle) hinzufügen, haben wir einen Planeten, auf dem der ewige Frieden gesichert ist. Ein Zyniker vom alten europäischen Schlag wird lächelnd daran erinnern, daß es schlicht in der Natur des Menschen liege, Kriege zu führen und Böses zu tun. Doch halten wir uns mit diesem Einwand nicht auf und setzen wir unsere Überlegungen fort: Untersuchen wir die Implikationen eines solchen Modells für Amerika. Im Laufe der Geschichte ist es Amerikas weltpolitische Rolle geworden, das demokratische Prinzip zu verteidigen, wenn es bedroht erschien: durch den deutschen Nationalsozialismus, den japanischen Militarismus, den russischen und chinesischen Kommunismus. Der Zweite Weltkrieg und der Kalte Krieg haben diese historische Funktion Amerikas gewissermaßen institutionalisiert. Doch wenn die Demokratie weltweit triumphiert, ergibt sich die paradoxe Situation, daß die Vereinigten Staaten als Militärmacht überflüssig werden und sich damit abfinden müssen, eine Demokratie wie alle anderen zu sein. In dieser Weise überflüssig zu werden, ist eine der beiden großen Ängste Washingtons und ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der amerikanischen Außenpolitik. Die -22-
amerikanischen Politiker drückten ihre Angst, wie das oft der Fall ist, durch das Gegenteil aus: Im Februar 1998 hat Madeleine Albright, die Außenministerin der Regierung Clinton, bei ihren Bemühungen, Raketenangriffe auf den Irak zu rechtfertigen, die Vereinigten Staaten als die unverzichtbare Nation12 definiert. Wie Sacha Guitry einmal treffend gesagt hat, kommt das Gegenteil der Wahrheit der Wahrheit häufig sehr nahe. Wenn man offiziell erklärt, daß die Vereinigten Staaten unverzichtbar sind, heißt das, daß die Frage ihres Nutzens für die Welt bereits aufgeworfen ist. Mitunter lassen Politiker durch vermeintliche Versprecher die Sorgen der strategischen Analytiker nach außen dringen. Madeleine Albright sprach gewissermaßen die Verneinung der Brzezinski- Doktrin aus, die Amerika in einer isolierten Position am Rande sieht, fernab von dem so bevölkerungsreichen und geschäftigen Eurasien, wo sich der weitere Gang der Geschichte in einer befriedeten Welt vollziehen könnte. Im Grunde nimmt Brzezinski die in Fukuyamas Paradox enthaltene implizite Bedrohung ernst und zeigt einen Weg, wie die Vereinigten Staaten doch noch diplomatisch und militärisch die Kontrolle über die Alte Welt behalten können. Huntington ist kein so guter Verlierer: Er stimmt dem sympathischen Universalismus von Fukuyamas Modell nicht zu und weigert sich, in Betracht zu ziehen, daß die liberaldemokratischen Werte sich tatsächlich über den gesamten Planeten ausbreiten könnten. Er verlegt sich statt dessen auf eine religiöse und ethnische Klassifizierung der Völker mit dem Ergebnis, daß die meisten von Natur aus für das »westliche« Modell ungeeignet sein sollen. An diesem Punkt der Reflexion müssen wir nicht zwischen verschiedenen historischen Möglichkeiten wählen: Ist die liberale Demokratie universell praktikabel? Und wenn ja, wird sie Frieden bringen? Aber wir müssen uns klar machen, daß Brzezinski und Huntington auf Fukuyama antworten und daß -23-
die Aussicht auf eine mögliche Marginalisierung der Vereinigten Staaten die amerikanischen Eliten beunruhigt, so paradox das in einer Situation auch klingen mag, in der die Welt besorgt ist wegen der Omnipotenz der USA. Der Isolationismus ist keine Versuchung für Amerika, vielmehr hat Amerika Angst davor, isoliert zu werden, allein in der Welt dazustehen und nicht mehr gebraucht zu werden. Aber warum hat Amerika auf einmal Angst davor, während doch von der Unabhängigkeitserklärung 1776 bis Pearl Harbor 1941 die Abgrenzung die Staatsraison der USA schlechthin war? Von der Autonomie zur wirtschaftlichen Abhängigkeit Die Angst, überflüssig zu werden und darum in die Isolation zu geraten, ist für die Vereinigten Staaten nicht einfach eine neue Weltsicht, es ist eine regelrechte Umkehr ihrer historischen Position. Der Bruch mit der verderbten Alten Welt ist ein Gründungsmythos der Vereinigten Staaten, vielleicht sogar der wichtigste. Sie wollten sich als Land der Freiheit, der unbegrenzten Möglichkeiten und der moralischen Überlegenheit unabhängig von Europa entwickeln, ohne sich in die verwerflichen Konflikte der zynischen Mächte der Alten Welt einzumischen. Die Isolation im 19. Jahrhundert war tatsächlich nur diplomatischer und militärischer Natur, weil das Wirtschaftswachstum der Vereinigten Staaten aus zwei nicht versiegenden Quellen von Europa aus gespeist wurde: dem Zufluß von Kapital und dem Zufluß von Arbeitskräften. Die europäischen Investitionen und die Einwanderung von Arbeitskräften mit einem hohen Alphabetisierungsgrad wurden zu den beiden Triebfedern der wirtschaftlichen Entwicklung Amerikas. Am Ende des 19. Jahrhunderts besaß Amerika nicht nur die stärkste Volkswirtschaft der Erde, sondern auch die -24-
unabhängigste: Sie verfügte über reichlich eigene Rohstoffe und erwirtschaftete hohe Überschüsse im Handel mit anderen Ländern. Anfang des 20. Jahrhunderts brauchten die Vereinigten Staaten die Welt nicht mehr. Vor dem Hintergrund ihrer tatsächlichen Stärke waren die ersten Interventionen in Asien und Lateinamerika sehr maßvoll. Aber seit Beginn des Ersten Weltkrieges brauchte die Welt die Vereinigten Staaten. Sie widerstanden dem Ruf nicht lange, genaugenommen bis 1917. Danach wählten sie wieder die Isolation und verweigerten die Ratifizierung des Vertrages von Versailles. Erst nach Pearl Harbor und nach der deutschen Kriegserklärung nahmen die Vereinigten Staaten gewissermaßen auf Initiative Japans und Deutschlands wieder den Platz in der Welt ein, der ihnen nach ihrer Wirtschaftskraft zukam. Im Jahr 1945 entsprach das amerikanische Bruttosozialprodukt der Hälfte des weltweit erwirtschafteten Bruttosozialprodukts, und die Dominanz wurde unmittelbar, gewissermaßen automatisch spürbar. Zwar beherrschte der Kommunismus um 1950 das Herz Eurasiens von Ostdeutschland bis Nordkorea. Aber als Macht zu Wasser und in der Luft übte Amerika strategische Kontrolle über den Rest des Planeten aus mit dem Segen einer Vielzahl von Verbündeten und Vasallen, für die der Kampf gegen das Sowjetsystem höchste Priorität hatte. Die amerikanische Hegemonie entstand mit dem Einverständnis eines großen Teils der Welt, auch wenn etliche Intellektuelle, Arbeiter und Bauern hie und da Sympathien für den Kommunismus bekundeten. Wenn wir den weiteren Gang der Ereignisse verstehen wollen, müssen wir anerkennen, daß Amerika über viele Jahrzehnte, von 1950 bis 1990, ein gütiger Hegemon war. Ohne diese Einsicht wird nicht verständlich, wie schwerwiegend der spätere Sturz der Vereinigten Staaten von der Nützlichkeit in die Überflüssigkeit war. Und es wird auch nicht klar, welche -25-
Probleme daraus entstanden, sowohl für die Vereinigten Staaten wie für uns. Die amerikanische Hegemonie der Jahre 1950 bis 1990 über den nicht kommunistischen Teil des Planeten könnte man beinahe als amerikanisches Weltreich bezeichnen. Dank seiner wirtschaftlichen, militärischen und ideologischen Ressourcen besaß Amerika alle Merkmale einer Weltmacht. Die Dominanz liberaler ökonomischer Prinzipien in dem politisch und militärisch von Washington kontrollierten Teil der Welt veränderte schließlich die ganze Welt - und diesen Prozeß bezeichnen wir als Globalisierung. Sie hat im Laufe der Zeit auch die innere Struktur der dominierenden Nation tiefgreifend verändert, ihre Wirtschaftskraft geschwächt und ihre Gesellschaft deformiert. Der Prozeß ging zuerst langsam und allmählich vonstatten. Ohne daß die historischen Akteure sich dessen bewußt wurden, gerieten die Vereinigten Staaten in ein Verhältnis der Abhängigkeit von der Sphäre, die sie beherrschten. Ende der siebziger Jahre wies die amerikanische Handelsbilanz erstmals ein Defizit auf, und das prägte künftig die Struktur der Weltwirtschaft. Der Zusammenbruch des Kommunismus beschleunigte diesen Prozeß sehr stark. Zwischen 1990 und 2000 erhöhte sich das amerikanische Handelsbilanzdefizit von 100 auf 450 Milliarden Dollar. Um die Zahlungsbilanz auszugleichen, braucht Amerika Kapitalzuflüsse in entsprechender Höhe. Zu Beginn des dritten Jahrtausends kann Amerika nicht mehr allein von seiner eigenen Produktion leben. In dem Augenblick, da die Welt in Bildung, Bevölkerungs- und Demokratieentwicklung eine Stabilisierung erlebt und feststellt, daß sie auf Amerika verzichten kann, merkt Amerika, daß es nicht mehr auf die Welt verzichten kann. Die Diskussion über die »Globalisierung« ist teilweise realitätsfremd, weil man allzu oft von der orthodoxen Vorstellung ausgeht, daß die Handels- und die Finanzströme symmetrisch und homogen flössen und kein Land dabei eine -26-
Sonderstellung einnähme. Abstrakte Begriffe wie Arbeit, Gewinn und freier Kapitalverkehr verschleiern eine grundlegende Tatsache: die besondere Rolle der wichtigsten Nation in der neugeordneten Weltwirtschaft. Amerika hat zwar eine starke Einbuße seiner relativen Wirtschaftskraft hinnehmen müssen, es schöpft aber immer mehr von der Weltwirtschaft ab: Amerika ist objektiv gesehen ein räuberischer Staat geworden. Muß man dies als Zeichen von Macht oder von Schwäche deuten? Fest steht jedenfalls, daß Amerika politisch und militärisch um die Hegemonie kämpfen muß, die unverzichtbar ist, wenn es den Lebensstandard seiner Bürger erhalten will. Die Umkehrung der wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisse ist der zweite schwerwiegende Faktor, der zusammen mit dem erstgenannten - der Zunahme demokratischer Staaten - erklärt, warum die gegenwärtige Situation der Welt so seltsam ist, warum sich die Vereinigten Staaten so sonderbar verhalten und warum die weltweite Verwirrung so groß ist. Wie steuert man eine Supermacht, die wirtschaftlich abhängig und politisch überflüssig geworden ist? Wir könnten hier mit der Erörterung dieses beunruhigenden Modells aufhören und uns zur Beruhigung ins Gedächtnis rufen, daß Amerika doch immerhin eine Demokratie ist und daß Demokratien untereinander keine Kriege führen. Folglich kann Amerika dem Rest der Welt nicht gefahrlich werden, es wird niemanden angreifen und keinen Krieg beginnen. Durch Versuch und Irrtum wird die Regierung in Washington schließlich Wege für eine ökonomische und politische Anpassung an die neuen Gegebenheiten in der Welt finden. Warum sollte es anders sein? Aber wir müssen uns auch bewußt sein, daß die Krise der fortgeschrittenen Demokratien, die gerade in Amerika immer deutlicher und immer beunruhige nder zutage tritt, uns nicht mehr erlaubt, die Vereinigten Staaten als von Natur aus friedfertig zu betrachten. Die Geschichte bleibt nicht stehen: Auch angesichts der -27-
weltweiten Ausbreitung der Demokratie dürfen wir nicht vergessen, daß die ältesten Demokratien - insbesondere die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich - sich kontinuierlich verändern. Gegenwärtig spricht alles dafür, daß sie sich Schritt für Schritt in oligarchische Systeme verwandeln. Das Konzept der Umkehrung der Verhältnisse, das die wirtschaftliche Beziehung der Vereinigten Staaten zum Rest der Welt zutreffend beschreibt, ist auch hilfreich für die Analyse, wie sich die Demokratie weltweit entwickelt: Die Demokratie wird dort stärker, wo sie schwach war, und sie wird schwächer, wo sie stark war. Der Niedergang der amerikanischen Demokratie und die Möglichkeit eines Krieges Fukuyama hat das Verdienst, daß er sehr früh einen Prozeß der Stabilisierung in der nicht westlichen Welt benannt hat. Aber seine Wahrnehmung der Gesellschaften ist, wie wir gesehen haben, ganz von der ökonomischen Perspektive geprägt. Bildung ist für ihn keine wichtige Triebkraft der Geschichte, und die Demographie interessiert ihn nicht sonderlich. Fukuyama erkennt nicht, daß die massenhafte Alphabetisierung die unabhängige Erklärungsvariable für die von ihm geschilderte universelle Verbreitung der individualistischen Demokratie ist. Daher rührt sein Hauptirrtum, daß er aus der weltweiten Verbreitung der liberalen Demokratie das Ende der Geschichte ableiten will. Dieser Schluß setzt voraus, daß die Demokratie eine stabile, womöglich perfekte Staatsform ist und daß ihre Geschichte mit ihrer Verwirklichung endet. Aber wenn die Demokratie nur der politische Überbau einer kulturellen Etappe ist, der Expansion der Grundbildung, dann wird die weitere Entwicklung der Bildung mit dem Ausbau der höheren und universitären Ausbildungssysteme die Demokratie dort, wo sie sich zuerst -28-
etabliert hat, destabilisieren, während sie langsam Fuß faßt in den Ländern, die sich gerade erst im Stadium der Alphabetisierung der Massen befinden. 13 Die höheren und vor allem die universitären Bildungssysteme führen in die geistige und ideologische Organisation der entwickelten Gesellschaften wieder den Begriff der Ungleichheit ein. Nach einigem Zögern und Überwindung des schlechten Gewissens halten sich die »höher Gebildeten« schließlich für überlegen. In den fortgeschrittenen Ländern entsteht eine neue Klasse, auf die, grob geschätzt, 20 Prozent der Bevölkerung und 50 Prozent der Wirtscha ftskraft entfallen. Diese neue Klasse hat zunehmend Schwierigkeiten damit, sich dem Zwang des allgemeinen Wahlrechts zu unterwerfen. Die Verbreitung der Grundbildung hat uns in die Welt Tocquevilles geführt, für den der Gang der Demokratie ein »Werk der Vorsehung« und damit »unaufhaltsam« war, beinahe eine Folge des göttlichen Willens. Die Verbreitung der höheren Bildung führt uns heute auf einen anderen »unaufhaltsamen« und unglückverheißenden Weg: den der Oligarchie. Das ist ein überraschender Rückgriff auf Aristoteles, bei dem die Oligarchie auf die Demokratie folgt. In dem Augenblick, da die Demokratie Eurasien erobert, verkümmert sie an ihrer Geburtsstätte: Die amerikanische Gesellschaft entwickelt sich immer mehr zu einem fundamental ungleichen System, das hat Michael Lind in The Next American Nation14 (Die nächste amerikanische Nation) sehr überzeugend dargelegt. Lind liefert vor allem die erste systematische Beschreibung der neuen, postdemokratischen Herrschaftsklasse in Amerika, der overclass. Wir haben keine Veranlassung, Amerika zu beneiden. Frankreich ist in dieser Hinsicht fast genauso weit fortgeschritten. Es sind seltsame »Demokratien«, diese politischen Systeme, in denen sich elitäres Denken und Populismus gegenüberstehen, in denen das allgemeine -29-
Wahlrecht gilt, aber die rechten und die linken Eliten gemeinsam jegliche Neuorientierung der Wirtschaftspolitik blockieren, die eine Verringerung der Ungleichheit bewirken würde. Es ist eine verrückte Welt, in der vor der Wahl Titanenkämpfe geführt werden und nach der Wahl alles beim alten bleibt. Das Einvernehmen innerhalb der Eliten, so etwas wie ein höheres Gesetz, verbietet, daß das bestehende politische System sich auflöst, selbst wenn der Ausgang der allgemeinen Wahlen auf eine Krise hindeutet. George W. Bush ging aus einem undurchsichtigen Prozeß als Präsident der Vereinigten Staaten hervor, ohne daß man sagen kann, er hätte im arithmetischen Sinne die Wahlen gewonnen. Und die andere große »historische« Republik, Frankreich, zeigte wenig später genau das umgekehrte Bild und kam damit nach der Logik Sacha Guitrys dem amerikanischen Beispiel sehr nahe: In Frankreich wurde der Präsident mit 82 Prozent der Stimmen gewählt. Die Beinahe- Einstimmigkeit des französischen Wahlergebnisses rührt von einem anderen soziologischen und politischen Blockademechanismus her: Die oberen und die unteren 20 Prozent der Bevölkerung kontrollieren ideologisch heute de facto die 60 Prozent in der Mitte. Das Ergebnis ist wieder das gleiche: Die Wahl hat keinerlei praktische Bedeutung, und die Zahl der Nichtwähler steigt immer weiter. In Großbritannien finden die gleichen kulturellen Umschichtungsprozesse statt. Sie wurden schon sehr früh von Michael Young in seiner kurzen Abhandlung Es lebe die Ungleichheit untersucht, einer geradezu prophetischen Analyse, denn sie entstand bereits 1958.15 Doch die demokratische Phase in Großbritannien begann spät und verlief gemäßigt: Die feudale Vergangenheit liegt noch nicht lange zurück und lebt in sehr klar erkennbaren Unterschieden der Sprechweise der Menschen immer noch fort, und das erleichtert den sanften Übergang in die neue Welt der westlichen Oligarchie. Die neue amerikanische Klasse ist im übrigen auf unbestimmte Weise von Neid erfüllt, -30-
was in einer Anglophilie zum Ausdruck kommt, mit der eine viktorianische Vergangenheit verklärt wird, die keineswegs die eigene Vergangenheit ist.16 Es wäre darum falsch und ungerecht, die Krise der Demokratie nur in den Vereinigten Staaten zu konstatieren. Großbritannien und Frankreich, die beiden liberalen Nationen der alten Welt, die mit der Geschichte der amerikanischen Demokratie verbunden sind, machen zur selben Zeit ähnliche Prozesse des oligarchischen Verfalls durch. Aber Großbritannien und Frankreich sind im globalisierten politischen und ökonomischen System der Welt nicht Herrschende, sondern Beherrschte. Deshalb müssen sie darauf achten, daß ihre Handelsbilanz ausgeglichen ist. In gesellschaftspolitischer Hinsicht werden sich ihre Wege zu einem bestimmten Zeitpunkt vom Weg der Vereinigten Staaten trennen. Und ich glaube nicht, daß man eines Tages von »westlichen Oligarchien« sprechen wird, wie man einst von »westlichen Demokratien« gesprochen hat. Aber dies ist die zweite große Umkehrung der Verhältnisse, die erklärt, warum die Beziehungen zwischen Amerika und dem Rest der Welt so schwierig sind. Der weltweite Vormarsch der Demokratie verschleiert eben die Schwächung der Demokratie gerade dort, wo sie entstanden ist. Diese Umkehrung wird von den Akteuren der Weltpolitik nicht richtig wahrgenommen. Amerika reklamiert für sich immer noch sehr wirkungsvoll mehr aus Gewohnheit als aus Zynismus - die Begriffe von Freiheit und Gleichheit. Und natürlich ist auch die Demokratisierung des Planeten noch lange nicht vollendet. Aber der Übergang in ein neues, ein oligarchisches Stadium hat die Folge, daß Doyles Gesetz, wonach die überale Demokratie zwangsläufig den Frieden sichert, für die Vereinigten Staaten nicht mehr zutrifft. Wir müssen uns auf aggressives Verhalten einer unzureichend kontrollierten politischen Führungskaste und auf militärische Abenteuer gefaßt -31-
machen. Einerseits erlaubt uns die These, daß Amerika oligarchisch geworden ist, den Gültigkeitsbereich von Doyles Gesetz einzuschränken, andererseits ermöglicht sie uns, die empirische Realität anzuerkennen, daß die Vereinigten Staaten aggressiv geworden sind. Wir können nicht einmal mehr von vornherein die strategische Hypothese ausschließen, daß Amerika auch demokratische Staaten angreifen könnte, seien es nun alte Demokratien oder neue. Mit einem solchen Schema vor Augen versöhnen wir - zugegeben nicht ohne eine gewisse Schadenfreude - die angelsächsischen »Idealisten«, die von der liberalen Demokratie das Ende aller bewaffneten Konflikte erwarten, und die gleichfalls angelsächsischen »Realisten«, in deren Augen die internationalen Beziehungen ein anarchisches Feld sind, das für alle Zeiten bevölkert wird von aggressiven Staaten. Wenn wir sagen, daß die liberale Demokratie zum Frieden führt, sagen wir auch, daß der Niedergang der liberalen Demokratie zum Krieg führen kann. Selbst wenn Doyles Gesetz gültig sein sollte, wird es keinen ewigen Frieden im Sinne Kants geben. Ein Erklärungsmodell Ich werde in dem vorliegenden Essay ein in seiner Form paradoxes Erklärungsmodell entwickeln, dessen Kern sich ganz kurz zusammenfassen läßt: In dem Augenblick, da die Welt die Demokratie entdeckt und feststellt, daß sie politisch auf Amerika verzichten kann, verliert Amerika nach und nach seine demokratischen Züge und stellt fest, daß es ökonomisch nicht auf die Welt verzichten kann. Die Welt steht damit vor einer doppelten Umkehrung der Verhältnisse: Die wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Vereinigten Staaten und anderen Ländern kehren sich um, und die Dynamik der demokratischen Entwicklung -32-
kehrt sich um, in Eurasien erleben wir einen Zuwachs an Demokratie, in Amerika einen Rückgang. Vor dem Hintergrund dieser schwerwiegenden Veränderungen ist nachzuvollziehen, warum manche Handlungen Amerikas so unverständlich erscheinen. Den Vereinigten Staaten ist nicht mehr daran gelegen, die liberaldemokratische Ordnung zu verteidigen, denn in Amerika selbst verliert sie immer mehr von ihrer Substanz. Vorrangiges Anliegen ist nun die Versorgung mit verschiedenen Gütern und mit Kapital: Das fundamentale strategische Ziel der Vereinigten Staaten ist die weltweite politische Kontrolle über die Ressourcen des Planeten. Jedoch können die Vereinigten Staaten wegen ihres ökonomischen, militärischen und ideologischen Machtverlustes die Welt, die zu groß geworden ist, zu bevölkerungsreich, zu gebildet, zu demokratisch, nicht mehr so effektiv lenken wie in der Vergangenheit. Die wahren strategischen Akteure sind nun Rußland, Europa und Japan, sie stehen der amerikanischen Hegemonie im Wege, und der Anspruch, diese Hindernisse zu beseitigen, ist überzogen und deshalb unerreichbar. Mit diesen neuen Akteuren muß Amerika verhandeln, und oft genug muß es ihnen nachgeben. Aber auf jeden Fall muß es eine Lösung, sei sie real oder nur ein Phantasiegebilde, für seine beängstigende wirtschaftliche Abhängigkeit finden. Amerika muß zumindest symbolisch im Zentrum der Welt bleiben, und darum muß es seine »Macht«, pardon, seine »All- Macht«, demonstrieren. Wir werden Zeugen, wie ein theatralischer Militarismus entsteht, der drei wesentliche Merkmale aufweist: - Ein Problem wird nie endgültig gelöst, denn so kann die »einzige Supermacht«, die auf der Welt verblieben ist, beliebige militärische Aktionen rechtfertigen. - Man konzentriert sich auf Kleinstmächte - Irak, Iran, Nordkorea, Kuba usw. Der einzige Weg, politisch im Zentrum der Welt zu bleiben, besteht darin, kleinen Akteuren -33-
»entgegenzutreten«. Das stärkt die Macht Amerikas und verhindert oder verzögert zumindest bei den großen Mächten die Erkenntnis, daß sie aufgerufen sind, die Weltherrschaft mit den Vereinigten Staaten zu teilen: Das gilt mittelfristig für Europa, Japan und Rußland und längerfristig für China. - Es werden neue Waffen entwickelt, die den Vereinigten Staaten einen »großen Vorsprung« im Rüstungswettlauf geben, der niemals aufhören darf. Diese Strategie macht aus Amerika ohne Zweifel ein neues und unerwartetes Hindernis für den Frieden in der Welt, aber sie hat noch keine bedrohlichen Ausmaße erreicht. Wieviele und welche Staaten ins Visier Amerikas geraten, hängt von seiner objektiven Macht ab, allenfalls ist Amerika in der Lage, den Irak, Iran, Nordkorea oder Kuba anzugreifen. Es gibt keinen Grund, die Nerven zu verlieren und sorgenvoll davon zu sprechen, daß ein amerikanisches Imperium im Entstehen begriffen sei, denn in Wahrheit befindet es sich ein Jahrzehnt nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums im Niedergang. Eine solche Sicht auf die Kräfteverhältnisse weltweit führt natürlich zu einigen strategischen Folgerungen, nicht mit dem Ziel, die Gewinne dieses oder jenes Landes zu vergrößern, sondern mit dem Ziel, den Niedergang Amerikas im Interesse aller so gut wie möglich zu meistern.
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KAPITEL 1 Der Mythos vom weltweiten Terrorismus
Das in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren im Westen vorherrschende Bild vom Zustand der Welt war von Katastrophen geprägt. Tag für Tag führten uns die Medien einen Planeten vor, auf dem es nichts als Haß und Gewalt gab, wo in immer rascherer Folge Morde an einzelnen Menschen und Massaker an ganzen Völkern begangen wurden: der Genozid in Ruanda, die religiös motivierten Zusammenstöße in Nigeria und an der Elfenbeinküste, die Kämpfe zwischen somalischen Clans, der grauenvolle Bürgerkrieg in Sierra Leone, Kriminalität und Gewalt in Südafrika nach dem Ende der Apartheid, die Morde an weißen Farmern in Simbabwe, der Terror in Algerien. Oder wechseln wir den Kontinent: die islamische Revolution im Iran, die mittlerweile allerdings in friedliche Bahnen gelenkt wurde, der Konflikt in Tschetschenien, die Anarchie in Georgien, der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Herrschaft über Bergkarabach, die Autonomieansprüche der Kurden gegenüber der Türkei und dem Irak, der Bürgerkrieg in Tadschikistan, die Anschläge von Bewohnern Kaschmirs in Indien, die Revolte der Tamilen auf Sri Lanka, die Zusammenstöße zwischen Hindus und Muslimen in Gudjarat, die muslimische Guerilla im Süden der Philippinen, der radikale Islamismus in der Provinz Aceh im Norden von Sumatra, die in Osttimor von indonesischen Spezialkräften verübten Massaker an Christen, das bizarre Taliban-Regime in Afghanistan. Lateinamerika erscheint mit den Entführungen durch linksorientierte Guerillas in Kolumbien und die Revolte des Subcommandante Marcos beinahe als ein friedlicher Kontinent, und das gilt auch für Europa, wo die Auflösung Jugoslawiens, die Morde an Kroaten und muslimischen Bosniern, an Serben -35-
und Kosovaren den Eindruck vermitteln konnten, daß die Gewalt, der steigenden Flut gleich, auch auf unsere so friedliche, reiche Alte Welt überschwappen könnte. Um der Gerechtigkeit willen muß in diesem Zusammenhang auch das Vorgehen des chinesischen Regimes gegen die protestierenden Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 erwähnt werden. Und schließen wir diese Liste ab mit dem Anschlag auf das World Trade Center, begangen im Namen Allahs von Selbstmordattentätern, die aus dem Teil der Welt stammten, den wir gemeinhin als die Dritte Welt bezeichnen. Ebenso wie die Medien an einem beliebigen Tag erhebe auch ich hier keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Dennoch kann man aus dieser Liste mörderischer Ereignisse nur den Schluß ziehen, daß die Welt verrückt geworden ist und wir auf einer halbwegs geschützten Insel der Seligen leben - sofern wir die Tatsache, daß in unseren Vorstädten Autos in Flammen aufgehen, daß im Frühjahr 2002 in Frankreich Anschläge auf Synagogen verübt wurden und daß Jean-Marie Le Pen im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen im selben Jahr so viele Stimmen erhielt, daß er am zweiten Wahlgang teilnehmen konnte, nicht als Vorboten einer Verrohung des Westens werten wollen. Die vorherrschende Vorstellung von einer Welt, die von Gewalt zerrissen ist, fördert eine ganz bestimmte Sicht der geschichtlichen Entwicklung: Rückschritt statt Fortschritt. All diese Metzeleien bedeuten demnach nur eines: Die Erde ist im Verfall begriffen, die Entwicklung ist mißlungen, die Idee des Fortschritts muß als gescheitert zu den Akten gelegt werden, sie ist nur eine alte Illusion aus dem Europa des 18. Jahrhunderts. Tatsächlich können in der gegenwärtigen Situa tion einige Fakten ausgemacht werden, die objektiv einen Rückschritt anzeigen. Jenseits der erschütternden Fernsehbilder erleben wir, wie weltweit die wirtschaftlichen Wachstumsraten einbrechen und die Ungleichheit sowohl in den armen wie in den reichen -36-
Ländern zunimmt, beides Begleiterscheinungen der wirtschaftlichen und finanziellen Globalisierung. Sie ergeben sich ganz einfach logisch aus dem Freihandel1 , der die aktiven Bevölkerungsteile aller Länder der Welt zueinander in Konkurrenz bringt mit der Folge, daß die Löhne sinken und die Nachfrage weltweit stagniert. Überdies führt der Freihandel dazu, daß sich innerhalb einer jeden Gesellschaft ein Grad an Ungleichheit einstellt, der den Einkommensunterschieden zwischen den Reichen in den reichen Ländern und den Armen in den armen Ländern entspricht. Doch wer sich weigert, einer simplifizierenden ökonomischen Darstellung zu folgen, ob sie nun von links oder von rechts kommt, marxistisch oder neoliberal inspiriert ist, kann aus einer überwältigenden Fülle an statistischen Daten ablesen, was für einen großartigen kulturellen Fortschritt die moderne Welt gemacht hat. Dafür gibt es zwei Indikatoren: die Alphabetisierung der Massen und die Verbreitung der Geburtenkontrolle. Die Kulturrevolution Von 1980 bis 2000 ist die Alphabetisierungsquote bei Personen über fünfzehn, das heißt der Anteil der erwachsenen Bevölkerung, der lesen und schreiben kann, in Ruanda von 40 auf 67 Prozent gestiegen, in Nigeria von 33 auf 64 Prozent, an der Elfenbeinküste von 27 auf 47 Prozent, in Algerien von 40 auf 63 Prozent, in Südafrika von 77 auf 85 Prozent, in Simbabwe von 80 auf 93 Prozent und in Kolumbien von 85 auf 92 Prozent. Selbst in Afghanistan hat sich die Alphabetisierungsquote in diesem Zeitraum von 18 auf 47 Prozent erhöht. In Indien ist sie von 41 auf 56 Prozent gestiegen, in Pakistan von 28 auf 43 Prozent, in Indonesien von 69 auf 87 Prozent, auf den Philippinen von 89 auf 95 Prozent, in Sri Lanka von 85 auf 92 Prozent, in Tadschikistan von 94 auf 99 Prozent. Im Iran konnten 1980, kurz nach der islamischen Revolution, 51 -37-
Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben, im Jahr 2000 waren es 77 Prozent. In China lag die Alphabetisierungsquote 1980 bei 66 Prozent, heute liegt sie bei 85 Prozent. Solche Statistiken könnten wir für alle armen Länder aufstellen. Offensichtlich befinden sie sich alle in einem Prozeß der kulturellen Entwicklung, auch besonders weit zurückgebliebene Länder wie Mali, wo die Alphabetisierungsquote immerhin von 14 Prozent 1980 auf 40 Prozent im Jahr 2000 angestiegen ist, und Niger mit einem geringeren Anstieg von 8 auf 16 Prozent. Dieser Wert ist noch niedrig, aber wenn man nur die jungen Leute im Alter zwischen 15 und 24 Jahren betrachtet, erreicht Niger eine Alphabetisierungsquote von 22 Prozent und Mali von 65 Prozent. Der Prozeß ist nicht abgeschlossen, und die kulturellen Entwicklungsniveaus sind sehr unterschiedlich. Aber es zeichnet sich ab, daß in einer nicht allzu fernen Zukunft alle Menschen auf der Erde lesen und schreiben können werden. Wenn wir eine leichte Beschleunigung der Entwicklung annehmen, können wir die Vermutung formulieren, daß bei den jungen Generationen die universelle Alphabetisierung im Jahr 2030 erreicht sein wird. Um 3000 v.Chr. wurde die Schrift erfunden, es hat dann also gut 5000 Jahre gedauert, bis die ganze Menschheit die Revolution hin zur Alphabetisierung vollzogen hat. Alphabetisierung und Globalisierung Lesen und schreiben lernen - nicht zu vergessen elementares Rechnen, was auch dazugehört - ist nur ein Aspekt, eine Etappe der geistigen Revolution, die schließlich den gesamten Planeten erfaßt hat. Sobald die Menschen lesen, schreiben und rechnen können, übernehmen sie quasi natürlich die Herrschaft über ihre physische Umwelt. In Asien und in Lateinamerika ist heute der -38-
wirtschaftliche Aufschwung eine automatische Folge der Verbreitung von Bildung, genau wie es in Europa vom 17. bis zum 20. Jahrhundert der Fall war. Durch den Freihandel und die Globalisierung der Finanzmärkte wird das Wirtschaftswachstum gebremst und verzerrt, aber es ist da. Amerikaner, Europäer und Japaner müssen sich der Tatsache bewußt sein, daß Produktionsstätten nur deshalb in Niedriglohnländer verlagert werden konnten, weil die Bildung in Brasilien, Mexiko, China, Thailand und Indonesien so große Fortschritte gemacht hat. Die Arbeiter in diesen ehemaligen Drittweltländern, deren Niedriglöhne die Arbeitsmärkte und Löhne in Amerika, Europa und Japan belasten, können lesen, schreiben und rechnen, und deshalb können sie ausgebeutet werden. Niemand verlagert Produktionsstätten in Regionen, wo die Bildung noch nicht so weit vorangeschritten ist, zum Beispiel nach Afrika. Die wirtschaftliche Globalisierung ist kein zeitloses Prinzip, sondern ein Instrument zur Gewinnmaximierung unter historisch spezifischen Bedingungen weltweit: Außerhalb der Zentren, in denen der Aufschwung begonnen hat, sind heute überreichlich Arbeitskräfte mit elementarer Bildung vorhanden. Die Bildung spielt auch eine Rolle bei den gegenwärtigen Zuwanderungsströmen nach Europa und Amerika. Die Menschen, die sich vor den Toren der reichen Welt drängen, fliehen natürlich vor materiellem Elend in ihren bitterarmen Ländern. Aber ihr Wunsch, dem Elend zu entkommen, zeugt von wachsenden Ansprüchen an das Leben, und dies hängt wiederum mit der Bildungsexpansion in ihren Heimatländern zusammen. Bildung hat eine Vielzahl von Folgen, eine davon ist die geistige Entwurzelung der Menschen. Die demographische Revolution Sobald auch die Frauen lesen und schreiben können, beginnt -39-
die Geburtenkontrolle. Unsere Welt, die um das Jahr 2030 vollständig alphabetisiert sein dürfte, vollendet derzeit ihren demographischen Übergang. Im Jahr 1981 lag weltweit die durchschnittliche Geburtenzahl pro Frau bei 3,7 Kindern. Dies bedeutete einen raschen Anstieg der Weltbevölkerung und sprach für die These einer anhaltenden Unterentwicklung. Im Jahr 2001 ist die Geburtenzahl auf 2,8 Kinder pro Frau gesunken, und in absehbarer Zeit wird sie bei 2,1 liegen, das heißt die gegenwärtige Bevölkerung wird nur noch eins zu eins ersetzt. Diese wenigen Zahlen lassen erwarten, daß in nicht allzu ferner Zukunft, vielleicht im Jahr 2050, die Bevölkerungsentwicklung stagniert und wir eine Welt im Gleichgewicht haben werden. Bei der Betrachtung der Geburtenzahlen für die einzelnen Länder verblüfft vor allem, daß die arithmetische Schranke zwischen der entwickelten Welt und der unterentwickelten Welt gefallen ist. Tabelle l Geburtenzahlen weltweit 1981
2001
Vereinigte Staaten Kanada
1,8
2,1
1,8
1,4
Großbritanni en Frankreich BRD Italien Spanien
1,9
1,7
1,9 1,3 1,7 2,5
1,9 1,3 1,3 1,2 -40-
1981
2001
Indien
5,3
3,2
Sri Lanka Argentin ien Mexiko Bolivien Peru Brasilien
3,4
2,1
2,9
2,6
4,8 6,8 5,3 4,4
2,8 4,2 2,9 2,4
DDR
1,9
Kolumbi 3,9 2,6 en Rumänien 2,5 1,3 Venezue 4,9 2,9 la Polen 2,3 1,4 Südafrik 5,1 2,9 a Rußland 2,0 1,2 Ruanda 6,9 5,8 Ukraine 1,9 1,1 Sambia 6,9 6,1 Japan 1,8 1,3 Simbab 6,6 4,0 we China 2,3 1,8 Kenia 8,1 4,4 Taiwan 2,7 1,7 Tansania 6,5 5,6 Südkorea 3,2 1,5 Äthiopie 6,7 5,9 n Nordkorea 4,5 2,3 Zaire 6,1 7,0 Vietnam 5,8 2,3 Elfenbei 6,7 5,2 nküste Thailand 3,7 1,8 Sierra 6,4 6,3 Leone Philippinen 5,0 3,5 Liberia 6,7 6,6 Entwicklung der Geburtenzahlen, Kinder pro Frau Quelle: Population et sociétés, Sept. 1981 und Juli- Aug. 2001, Nr. 151 und Nr. 370, INED. Tabelle l zeigt die Entwicklung der Geburtenzahlen von 1981 bis 2001 für eine Auswahl besonders bevölkerungsreicher oder besonders typischer Länder der gesamten Welt. Bei sehr vielen liegt die Geburtenzahl zwischen zwei und drei Kindern pro Frau. Einige Länder, die bis vor kurzem der unterentwickelten Welt zugerechnet wurden, haben die gleichen Geburtenzahlen wie die westlichen Industrieländer. China und Thailand stehen -41-
mit 1,8 Kindern pro Frau zwischen Frankreich und Großbritannien mit 1,9 und 1,7 Kindern. Der Iran, vollwertiges Mitglied der »Achse des Bösen«, hatte 2002 mit 2,1 Kindern pro Frau (2001 noch 2,6) die gleiche Geburtenzahl wie die Vereinigten Staaten, die selbsternannte Führungsmacht - und wie ich hoffe, bald auch das einzige Mitglied der »Achse des Guten«.2 Der demographische Übergang ist noch nicht überall vollzogen. Nehmen wir zum Beispiel Bolivien mit 4,2 Kindern pro Frau, in manchen islamischen Ländern und im größten Teil Afrikas sind die Geburtenzahlen noch höher. Aber selbst in Afrika sehen wir, daß mit Ausnahme einiger besonders unterentwickelter Länder wie Niger und Somalia die Geburtenzahlen sinken. In den meisten muslimischen Ländern sind sie bereits sehr tief gesunken. Die Analyse der Fruchtbarkeitsquoten zeigt vor allem, daß die muslimische Welt unter demographischen Gesichtspunkten keine Einheit darstellt. Die Unterschiede sind zu groß, die Zahlen reichen von 2 Kindern pro Frau in Aserbaidschan bis zu 7,5 Kindern in Niger. Die Gesamtheit der islamischen Länder ist wie ein verkleinertes Abbild der Dritten Welt im Übergang. Die ehemaligen Sowjetrepubliken im Kaukasus und in Mittelasien, wo die Alphabetisierung durch das kommunistische Regime forciert wurde, stehen mit Geburtenzahlen von 2 (Aserbaidschan) und 2,7 (Usbekistan) an der Spitze. Recht weit fortgeschritten ist auch Tunesien, mit einer Geburtenzahl von 2,3 schneidet es deutlich besser ab als Algerien mit 3,1 und Marokko mit 3,4. Insgesamt schreiten die ehemaligen französischen Kolonien in Nordafrika schneller voran als der Nahe Osten, das Herz der arabischen Welt, der dem direkten Zugriff Europas weitgehend nicht ausgesetzt war. Wer das Sinken der Geburtenzahlen als ein notwendiges Element des Fortschritts betrachtet, muß anerkennen, daß Frankreich in Nordafrika einen positiven Einfluß ausgeübt hat -42-
und noch deutlicher Rußland in Mittelasien. Der französische Einfluß war diffus, wie Youssef Courbage nachgewiesen hat3 , eine vielschichtige Wirkung der Wanderungsbewegungen zwischen Kolonien und Mutterland und des Kontakts mit der Lebensweise im Mutterland. Der russische Einfluß war direkter und massiver: Die Sowjetunion setzte in ihrer gesamten Einflußsphäre die vollständige Alphabetisierung durch, eine Leistung, die keiner anderen Kolonialmacht gelang. Insofern hat die Kolonialherrschaft kommunistischer Prägung auch positive Spuren hinterlassen. Tabelle 2 Geburtenzahlen in muslimischen Ländern 1981 2001 1981 2001 Aserbaidscha
3,1
2,0
Libyen
7,4
3,9
Turkmenistan Tunesien Kirgisistan
4,8 5,0 4,1
2,2 2,3 2,4
Qatar Syrien Kuwai
7,2 7,2 7,0
3,9 4,1 4,2
Sudan Irak Pakist an SaudiArabien Seneg al Nigeri a Palästi na
6,6 7,0 6,3
4,9 5,3 5,6
7,2
5,7
6,5
5,7
6,9
5,8
6,9
5,9
n
t Tadschikistan Libanon Türkei
5,6 4,7 4,3
2,4 2,5 2,5
Iran
5,3
2,6
Indonesien
4,1
2,7
Usbekistan
4,8
2,7
Bahrain
7,4
2,8
-43-
Algerien
7,3
3,1
Malaysia
4,4
3,2
Bangladesh Marokko Ägypten Vereinigte Arabische Jordanien
6,3 6,9 5,3 Emirate 7,2 4,3
3,3 3,4 3,5 3,5 3,6
Afgha nistan Maure tanien Oman Mali Jemen Somali a Niger
6,9
6,0
6,9
6,0
7,2 6,7 7,0 6,1
6,1 7,0 7,2 7,3
7,1
7,5
Entwicklung der Geburtenzahlen, Kinder pro Frau Quelle: Population et sociétés, Sept. 1981 und Juli-Aug. 2001, Nr. 151 und Nr. 370, INED.
Die muslimischen Länder außerhalb der arabischen Welt, die niemals kolonisiert wurden, haben wie die Türkei mit einer Geburtenzahl von 2,5 im Jahr 2001 und der Iran mit 2,1 im Jahr 2002 den demographischen Übergang beinahe vollendet. Noch weiter von Arabien entfernte und spät islamisierte Länder wie Indonesien und Malaysia4 nähern sich mit Geburtenzahlen von 2,7 und 3,2 ebenfalls dem Ende des Übergangs. Die nicht - oder spät oder unvollständig - kolonisierten arabischen Länder sind noch nicht so weit, schreiten aber rasch voran. Im Jahr 2001 betrug die Geburtenzahl in Syrien noch 4,1 Kinder pro Frau, in Ägypten hingegen waren es 3,5 Kinder, kaum mehr als in Marokko. In einigen muslimischen Ländern steht die Geburtenkontrolle erst am Anfang, und die Geburtenzahlen liegen dementsprechend über 5 Kindern pro Frau: 5,3 im Irak, 5,6 in Pakistan, 5,7 in Saudi-Arabien, 5,8 in Nigeria5 . Der hohe palästinensische Wert von 5,9 ist eine soziologische und historische Anomalie: Die Palästinenser führen einen »Dschihad -44-
der Wiegen« gegen die Besatzungsmacht, die palästinensische Geburtenrate hat im übrigen ihr Gegenstück in der Geburtenzahl der Juden in Israel, die für eine westlich orientierte Gesellschaft mit gehobenem Bildungsniveau untypisch hoch ist. Schaut man sich die Zahlen für die Juden in Israel genau an, ergibt sich das Bild einer regelrechten kulturellen Spaltung der Gesellschaft: Bei den »laizistischen« Juden und den »gemäßigt religiösen« beträgt die Geburtenzahl 2,4, bei den »orthodoxen« und den »ultraorthodoxen« hingegen 5, bei ihnen ist ein Anstieg der Geburtenzahlen zu verzeichnen. 6 Es bleibt eine Gruppe muslimischer Länder übrig, in denen der demographische Übergang noch nicht richtig begonnen hat und die Fruchtbarkeitsquote bei 6 oder mehr Kindern pro Frau liegt: 6 in Afghanistan und Mauretanien, 7 in Mali, 7,3 in Somalia, 7,5 in Niger. Der Anstieg der Alphabetisierungsquoten in diesen Ländern garantiert jedoch, daß auch sie den gleichen Weg gehen werden wie die übrige Menschheit: Die Geburtenzahlen werden sinken. Die Übergangskrise Der weltweite Anstieg der Alphabetisierungsquote und die Verbreitung der Geburtenkontrolle geben Anlaß zu der Hoffnung, daß die Zukunft der Welt nicht so düster aussieht, wie die Fernsehnachrichten sie darstellen. Diese Parameter sprechen dafür, daß die Menschheit dabei ist, sich aus dem Zustand der Unterentwicklung zu befreien. Wenn uns diese Zahlen besser präsent wären, wären wir nicht nur optimistischer, sondern wir würden auch die Tatsache preisen, daß der Mensch in ein entscheidendes Stadium seiner Entwicklung eingetreten ist. Doch wir dürfen nicht den Massenmedien die Schuld für unser verzerrtes Bild vom Gang der Geschichte geben. Der -45-
Fortschritt ist nicht, wie die Denker der Aufklärung meinten, eine lineare und stets leichte Bewegung hin zum immer Besseren. Wenn die Menschen herausgerissen werden aus ihren Traditionen, aus dem eingespielten Gleichgewicht von Analphabetentum, hohen Geburtenzahlen und hoher Sterblichkeit, erzeugt das zunächst paradoxerweise fast genauso viel Orientierungslosigkeit und Leiden wie Hoffnung und Bereicherung. Sehr oft, vielleicht sogar in den meisten Fällen, geht der kulturelle und geistige Aufbruch mit einer Übergangskrise einher. Die Menschen haben den Halt verloren, die Folge ist Gewalt in Gesellschaft und Politik. Der Eintritt in die geistige Moderne wird oft von einer Eruption ideologischer Gewalt begleitet. Dieses Phänomen war zum ersten Mal nicht in der Dritten Welt zu beobachten, sondern in Europa. Die meisten heute so friedlichen europäischen Länder haben eine Phase des gewaltsamen, blutigen ideologischen Kampfes durchgemacht. Die Werte, für die gekämpft wurde, waren sehr unterschiedlich. In der Französischen Revolution ging es um liberale und egalitäre Werte, in der russischen Revolution um egalitäre und autoritäre, im deutschen Nationalsozialismus um autoritäre und inegalitäre. Wir dürfen auch das vernünftige England nicht vergessen, das immerhin das erste revolutionäre Land in Europa war; das moderne politische Zeitalter in England begann mit der Enthauptung von König Karl I. im Jahr 1649. Die so weit zurückliegende englische Revolution illustriert sehr gut das Paradox der Modernisierung. Niemand wird bestreiten, daß England eine ganz entscheidende Rolle für den politischen und wirtschaftlichen Aufbruch Europas gespielt hat. Die Alphabetisierung setzte in England bereits früh ein. Doch eine der ersten Auswirkungen des englischen Übergangs in die Moderne war eine ideologische, politische und religiöse Krise. Sie führte zu einem Bürgerkrieg, dessen Frontlinien die Europäer heute kaum noch verstehen würden. Wir lehnen zwar -46-
den Gebrauch von Gewalt bei Auseinandersetzungen ab, glauben aber, wir könnten den Sinn dahinter erkennen, soweit es um die Französische und russische Revolution und den deutschen Nationalsozialismus geht. Die von diesen Bewegungen vertretenen Wertvorstellungen, seien sie positiv oder negativ, erscheinen uns immer noch modern, weil sie nicht religiöser Natur sind. Doch wie viele Europäer könnten heute im metaphysischen Streit zwischen Cromwells Puritanern und den kryptokatholischen Parteigängern der Stuart-Könige eine Seite wählen? Im Namen Gottes haben sie sich im 17. Jahrhundert in England gegenseitig - halbwegs maßvoll - die Köpfe eingeschlagen. Ich habe meine Zweifel, ob die Engländer selbst in der Militärdiktatur Cromwells heute noch eine notwendige Etappe sehen, die zur Glorious Revolution von 1688 führte. Pierre Manent hat zu Recht an den Anfang seiner Anthologie des Liberalismus das Manifest des Dichters und Revolutionärs Milton über »die Freiheit, ohne Genehmigung und Zensur drucken zu können«, aus dem Jahr 1644 gestellt.7 Aus diesem Text spricht freilich ebenso sehr religiöser Eifer wie die Verteidigung der Freiheit, und fünf Jahre später rechtfertigte der Verfasser in einer anderen Schrift die Hinrichtung Karls I. Der heilige Krieg im Namen Allahs, den wir in den letzten Jahren erleben, ist in allen seinen Dimensionen nicht wesentlich anders. Natürlich geht es dabei nicht um liberale Werte, aber der Dschihad bedeutet nicht so sehr Rückschritt, sondern ist Ausdruck einer Übergangskrise. Die Gewalt, der religiöse Zelotismus, sind nur vorübergehende Erscheinungen. Der Iran ist in dieser Hinsicht ein exemplarischer Fall. 1979 wurde der Schah in der Islamischen Revolution vertrieben. Es folgten zwei Jahrzehnte ideologischer Exzesse und blutiger Konflikte. Die Alphabetisierungsquote war zum Zeitpunkt der Revolution bereits hoch. Dies erklärt, warum die iranischen Massen überhaupt in Bewegung kamen, und später führte es zu einer allgemeinen geistigen Modernisierung. Der Rückgang der -47-
Geburtenzahlen setzte bald nach der Machtübernahme von Ayatollah Khomeini ein. Die ideologischen Debatten, ausgedrückt in der Sprache des schiitischen Islam, sind für Europäer mit christlichem Hintergrund nicht nachvollziehbar, sie ergeben ebensowenig »Sinn« wie die Auseinandersetzungen der protestantischen Sekten zur Zeit Cromwells. Die schiitische Theologie prangert die Ungerechtigkeit in der Welt an und enthält insofern ein revolutionäres Potential, genau wie die ursprüngliche protestantische Metaphysik, die den Menschen und die Gesellschaft als verderbt ansah. Luther und mehr noch Calvin, die beiden Ayatollahs des 16. Jahrhunderts, trugen zur Erneuerung und Reinigung der Gesellschaft bei: Amerika ist ebensosehr wie der moderne Iran ein Kind des religiösen Überschwangs. Die iranische Revolution mündet heute zur allgemeinen Überraschung und obwohl die amerikanische Regierung sich beharrlich weigert, dies zur Kenntnis zu nehmen, in eine demokratische Stabilisierung mit Wahlen, die zwar noch nicht frei, aber doch pluralistisch sind, weil sich Reformer und Konservative, linke und rechte Kräfte gegenüberstehen. Die Abfolge Alphabetisierung - Revolution - Rückgang der Geburtenzahlen ist zwar nicht universell zu beobachten, aber doch ein klassisches Muster. Die Alphabetisierung der Männer schreitet überall schneller voran als die der Frauen, eine Ausnahme bilden allein die Antillen. Die politische Destabilisierung ist ein Werk der Männer und geht im allgemeinen der Geburtenkontrolle voraus, die hauptsächlich von den Frauen abhängt. In Frankreich breitete sich die Geburtenkontrolle nach der Revolution von 1789 aus, in Rußland begann der massive Rückgang der Fruchtbarkeitsquoten nach der Machtübernahme der Bolschewiken und setzte sich die gesamte Stalinzeit hindurch fort.8
-48-
Demographie und Politik Alphabetisierung und sinkende Geburtenzahlen, zwei universell zu beobachtende Phänomene, ermöglichen die universelle Verbreitung der Demokratie, die Fukuyama mehr beschreibt und voraussagt, als daß er sie erklärt. Er schenkt der geistigen Transformation zu wenig Aufmerksamkeit, die den Gang der politischen Geschichte bestimmt. Ich weiß aus Erfahrung, daß Politologen ohne demographische Kenntnisse und Demographen ohne politologische Kenntnisse ungläubig reagieren, wenn man die These formuliert, daß zwischen dem Rückgang der Geburtenrate und der politischen Modernisierung eine Korrelation besteht. Es ist eben sehr bequem, die verschiedenen Ebenen der menschlichen Geschichte getrennt zu betrachten und so zu tun, als existierten das politische Leben und das Familienleben völlig unabhängig voneinander, als könnte man Männer und Frauen in Scheiben schneiden, und jede Scheibe lebte für sich allein entweder im Bereich der Politik oder im Bereich der Reproduktion. Zur Untermauerung dieser These erlaube ich mir, auf die Argumentation zurückzugreifen, die ich 1976 in meinem Buch Vor dem Sturz verwendet habe. Darin habe ich aus dem Rückgang der Geburtenzahlen in Kombination mit anderen Indikatoren auf das Ende des Kommunismus in der Sowjetunion geschlossen. 9 Die damals geläufigen Theorien und die Mehrzahl der berufsmäßigen Erforscher der Sowjetunion folgten der vor allem von dem russischen Dissidenten Alexander Sinowjew formulierten These, sechzig Jahre Diktatur und Terror hätten einen neuen Menschentypus hervorgebracht, den Homo sovieticus. Die geistige Struktur dieses Homo sovieticus sei dauerhaft verändert worden, und das garantiere den unbegrenzten Fortbestand des Totalitarismus. Ich bin von meiner Ausbildung her nun einmal Historiker und Demograph, und so leitete ich aus dem Rückgang der Geburtenzahlen in der -49-
Sowjetunion - 42,7 Geburten auf 1000 Einwohner in den Jahren 1923-1927, 26,7 in den Jahren 1950-1952, 18,1 im Jahr 1975 ab, daß dort immer mehr ganz normale Menschen lebten, die zweifellos in der Lage wären, den Kommunismus abzuschütteln.10 Für Rußland gilt wie für Frankreich und Deutschland, daß der Übergang eine besonders turbulente Phase war, in der die Veränderung der sexuellen Verhaltensweisen den durch die Alphabetisierung verursachten Orientierungsverlust noch verschlimmert hat. In Rußland war dies die Stalinzeit. Auch wenn es schwierig ist und auf den ersten Blick nicht einsichtig erscheint, müssen wir uns mit dem Gedanken anfreunden, daß die Krisen und Gewaltausbrüche, die uns die Medien unermüdlich vorführen, in den meisten Fällen keinen Rückschritt anzeigen, sondern Ausdruck von Regelverlusten in Übergangszeiten sind und folglich zum Prozeß der Modernisierung gehören. Auf den Umbruch folgt automatisch eine Stabilisierung, ganz ohne Intervention von außen. Der Übergang in den islamischen Staaten Wenn wir uns die Liste der Regionen der Welt ansehen, in denen zu Beginn des 3.Jahrtausends die Gewalt regiert, dann finden wir darunter auffallend viele muslimische Länder. In den letzten Jahren hat sich darum ein Bild des Islam verbreitet, wonach er ganz besonders aggressiv, bösartig und seinem Wesen nach problematisch ist. Huntington beschreibt zwar China als den wichtigsten Gegenspieler der Vereinigten Staaten, doch die Aggressivität des Islam und seine angebliche Gegnerschaft zum christlichen Abendland durchziehen die Argumentationen in seinem Buch Der Kampf der Kulturen. Das Gerüst dieses grob geschnitzten Werkes ist eine Klassifikation der Staaten nach ihrer Religion. Die Einordnung Rußlands als orthodox und Chinas als konfuzianisch kann für jeden, der die -50-
fundamentale Areligiosität der russischen und chinesischen Bauern kennt, nur grotesk klingen. Die ursprüngliche Schwäche der Religion in den beiden Ländern hat im übrigen wesentlichen Anteil daran, daß die kommunistischen Revolutionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dort Erfolg hatten. Huntingtons »Theorie« ist im Kern ein Abkömmling des modernen Dschihad, eine konzeptionelle Rückkehr zur Vision des Ayatollah Khomeini, der genau wie der scharfsinnige amerikanische Stratege fest an den Kampf der Kulturen glaubte. Es ist jedoch nicht nötig, auf das Wesen des Islam zu verweisen, seine angebliche Neigung zum Krieg - die in der militärischen Rolle Mohammeds zum Ausdruck kommen soll zu stigmatisieren oder die Unterjochung der Frauen in der arabischen Welt anzuprangern, wenn man das Aufbrechen ideologischer Leidenschaften und die Gewalt in der islamisch geprägten Region erklären möchte. Die muslimische Welt ist, was das Bildungsniveau betrifft, zwar sehr heterogen, insgesamt ist es jedoch viel niedriger als in Europa, Rußland, China und Japan. Deshalb vollziehen gerade heute, in der historischen Phase, in der wir uns befinden, viele muslimische Länder den großen Übergang. Sie wenden sich von den friedlichen Denkstrukturen einer Welt ab, in der nur wenige lesen und schreiben können, und bewegen sich auf den anderen stabilen Zustand zu, der durch universelle Alphabetisierung gekennzeichnet ist. Dazwischen liegt der Abgrund der Leiden und Verwirrungen der geistigen Entwurzelung. Einige muslimische Staaten haben den Übergang bereits geschafft nach Überwindung einer fundamentalistischen Krise, die logischerweise hauptsächlich die erst vor kurzem alphabetisierten jungen Leute erfaßt hat und darunter insbesondere die Studenten der Naturwissenschaften. Im Iran kommt die Revolution langsam zur Ruhe. In Algerien erschöpft sich der islamistische Eifer der Heilsfront, die zu einer terroristischen, mörderischen Organisation verkommen ist. In -51-
der Türkei gewinnen religiöse Parteien zwar an Stärke, aber sie stellen keine Bedrohung für den laizistischen Staat des Staatengründers Kemal Atatürk dar. Wir können Gilles Kepel nur zustimmen, der in seinem Schwarzbuch des Dschihad den weltweiten Niedergang des Islamismus schildert.11 Mit großer historischer und soziologischer Überzeugungskraft lokalisiert Kepel den Anfang vom Ende der politischreligiösen Krise in Malaysia, einem Land mit einer besonders hohen Alphabetisierungsquote (88 Prozent im Jahr 2000). Kepel analysiert den Niedergang des Islamismus nahezu erschöpfend, doch einen Aspekt sollten wir hinzufügen, und das ist das Scheitern des religiösen Militantismus in Mittelasien. In Tadschikistan hat es zwar einen Bürgerkrieg zwischen verschiedenen Clans gegeben, von denen sich einige auf einen gereinigten Islam beriefen, und Usbekistan lebt in der Angst vor einem Angriff fundamentalistischer Kräfte. Doch insgesamt spielt der religiöse Faktor in den ehemaligen Sowjetrepubliken in Mittelasien nur eine untergeordnete Rolle. Zahlreiche Beobachter erwarteten, daß der Zerfall des Kommunismus eine wahre Explosion muslimischer Gefühle auslösen würde. Doch die Sowjetunion hatte für die vollständige Alphabetisierung ihrer ehemaligen Sowjetrepubliken gesorgt, und im Zeitraum von 1975 bis 1995 gelang ihnen ein rascher demographischer Wandel.12 Die politischen Systeme jener Staaten tragen noch den Stempel der Sowjetherrschaft, und von wahrer Demokratie sind sie denkbar weit entfernt. Aber sie werden auf keinen Fall von religiösen Denkmodellen beherrscht. Die nächsten Krisenherde: Pakistan und Saudi-Arabien Einige muslimische Länder haben jedoch erst vor kurzem den Weg zu Alphabetisierung und geistiger Modernisierung eingeschlagen. Die beiden wichtigsten in dieser Kategorie sind -52-
Saudi-Arabien mit 35 Millionen Einwohnern im Jahr 2001 und Pakistan mit 145 Millionen, zwei Hauptakteure im Zusammenhang mit den Ereignissen, die in den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon kulminierten. Die Armee und der Geheimdienst von Pakistan haben das TalibanRegime in Afghanistan installiert, Pakistan diente der Terrororganisation Al Quaida als Hinterland. Aus Saudi-Arabien stammten die meisten der Selbstmordattentäter, die die Anschläge in den Vereinigten Staaten verübten. Offensichtlich besteht ein Zusammenhang zwischen der wachsenden Amerikafeindlichkeit in diesen beiden Ländern und dem kulturellen Aufbruch, der dort stattfindet. Im Iran gewann der Antiamerikanismus in ähnlicher Weise an Stärke, als in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre die Alphabetisierung massiv voranschritt. Mit dem Iran haben die amerikanischen Politiker ein Beispiel dafür vor Augen, daß ein ehemaliger Verbündeter zu einem erbitterten Feind geworden ist. Sie haben darum allen Grund, sich wegen ihrer strategischen Position diesseits und jenseits des Persischen Golfes Sorgen zu machen. SaudiArabien und Pakistan werden mindestens für die nächsten zwanzig Jahre gefährliche Regionen bleiben, die politische Instabilität dort dürfte ein erhebliches Ausmaß erreichen. Jedes Engagement in dieser Region birgt Risiken, das hat Frankreich im Mai 2002 schmerzlich erfahren, als auf eine Gruppe französischer U-Boot-Techniker ein Selbstmordanschlag verübt wurde. Aber man kann von der Feindseligkeit dieser beiden muslimischen Bevölkerungen in Ländern, die direkt in die amerikanische Einflußsphäre einbezogen sind, nicht darauf schließen, daß der Terrorismus ein weltweites Phänomen ist. Ein großer Teil der muslimischen Welt hat bereits einen friedlichen Weg eingeschlagen. Es wäre zu einfach, wenn man aus der aktuellen Krisenstatistik ableiten wollte, daß der Islam eine diabolische -53-
Macht darstellt. Global betrachtet, durchläuft die islamische Welt gerade ihre Modernisierungskrise und ist folglich gewiß keine Oase des Friedens. Die entwickelten und friedlichen Länder ihrerseits können ihren derzeitigen Zustand nicht als ihr Verdienst verbuchen, ein nachdenklicher Blick auf ihre eigene Vergangenheit sollte für sie Anlaß zur Bescheidenheit sein. Die Französische und die englische Revolution waren gewaltsame Ereignisse, genauso wie der russische und der chinesische Kommunismus, genauso wie der japanische Militarismus und Imperialismus. Die Werte, die explizit mit dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und dem Sezessionskrieg verbunden werden, sind für uns wegen der historischen und kulturellen Nähe auf Anhieb nachvollziehbar. Aber auch den Vereinigten Staaten ist die Übergangskrise nicht erspart geblieben. 13 Bestimmte ideologische Debatten, die zur amerikanischen Krise dazugehören, sind für uns trotz allem schwer einsichtig, so etwa die zentrale Diskussion über die Hautfarbe. Diese amerikanische Idiosynkrasie ist für einen Europäer genauso fremd wie die hysterischen Debatten über den Status der Frau, die für die islamischen Revolutionen typisch sind. Der Fall Jugoslawien: Mehrere Krisen gleichzeitig Das Ende des Kommunismus in Jugoslawien und der Zerfall des jugoslawischen Bundesstaates entsprechen zwar auch dem allgemeinen Gesetz, daß Fortschritt mit geistigem Orientierungsverlust einhergeht, aber der Fall Jugoslawien weist doch einige Besonderheiten auf, die daher rühren, daß die verschiedenen Bevölkerungsgruppen des ehemaligen Bundesstaates sich auf unterschiedlichen Niveaus der bildungsmäßigen und demographischen Entwicklung befanden. 14 Der demographische Übergang bei den Serben, den Kroaten und den Slowenen erfolgte zwar nicht so früh wie in Westeuropa, war aber im wesentlichen 1955 abgeschlossen. Die -54-
Geburtenziffer lag 1955 bei 2,5 in Kroatien und Slowenien und in ganz Serbien bei 2,8. In diesen drei Teilrepubliken hatte die fortschreitende Alphabetisierung einen Geburtenrückgang ausgelöst und gleichzeitig der kommunistischen Ideologie Auftrieb verschafft. Weiter im Süden, in Bosnien, im Kosovo, in Mazedonien und in Albanien, wurde der Kommunismus seinerzeit Gesellschaften übergestülpt, die im Bildungsniveau und hinsichtlich der geistigen Modernisierung noch nicht so weit waren. Die Geburtenziffer lag 1955 in Bosnien bei 4,3, in Mazedonien bei 4,7, in Albanien und im Kosovo bei 6,7. Die mittleren Werte für Bosnien und Mazedonie n spiegeln die religiöse Heterogenität der dortigen Bevölkerung wider: Katholiken, Orthodoxe und Muslime in Bosnien, Orthodoxe und Muslime im Kosovo und in Mazedonien. Wir wollen hier der religiösen Klassifizierung gar keine übermäßige Bedeutung zumessen und betrachten sie nur als eine Etikettierung unterschiedlicher kultureller Systeme. Aber auch mit dieser Einschränkung müssen wir sagen, daß die muslimischen Bevölkerungsgruppen der Region hinsichtlich ihrer Fortschritte auf dem Weg in die Moderne eindeutig den christlichen Bevölkerungsgruppen hinterherhinkten. Dem allgemeinen Gesetz des Übergangs waren sie jedoch ebenfalls unterworfen. Die Fruchtbarkeitsziffer sank auf 2,3, in Bosnien war dies 1975 erreicht, in Mazedonien 1984, im Kosovo 1998. Albanien folgte knapp dahinter, dort lag die Geburtenzahl 1998 bei 2,5 Kindern pro Frau. Mit Hilfe der demographischen Analyse können wir auf dem Staatsgebiet des ehemaligen Jugoslawien somit zwei gegeneinander verschobene Übergangskrisen identifizieren. Die erste Krise entfaltete sich in den Jahren 1930 bis 1955 in diese Zeit fällt auch der Übergang zum Kommunismus und brachte die »christlichen« Bevölkerungsgruppen, vor allem Kroaten und Serben, demographisch und geistig in die Moderne. Die zweite Krise dauerte von 1965 bis 2000 und betraf die zum Islam -55-
konvertierten Bevölkerungsteile. Aber ein Unglücksfall der Geschichte - die verspätete geistige Revolution im muslimischen Teil traf mit der Auflösung des Kommunismus zusammen, die für Serben und Kroaten so etwas wie eine zweite Phase hätte sein sollen, die Bewältigung der Modernisierungskrise. Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen sind miteinander verwoben, und die Überwindung des Kommunismus, die allein schon ein erhebliches Problem darstellte, wurde von der Übergangskrise des muslimischen Bevölkerungsteils überlagert. Der mörderische Alptraum war die Folge. Die Tatsache, daß die ersten Auseinandersetzungen zwischen Serben und Kroaten stattfanden, bedeutet nicht, daß der »muslimische« Faktor zu Beginn der Krise nicht existiert hätte. Wir müssen uns vor Augen halten, daß der ungleiche Stand beim demographischen Übergang zur Folge hatte, daß sich das relative Gewicht der einzelnen Bevölkerungsgruppen innerhalb der jugoslawischen Föderation dauernd veränderte, was Ängste vor Überfremdung schürte. Serben und Kroaten hatten die Geburtenzahlen bereits früh gesenkt. Sie erlebten nun, wie ihr Bevölkerungswachstum sich verlangsamte, während die »muslimische« Bevölkerung immer zahlreicher wurde; aus ihrer Sicht drohte damit die Gefahr, daß sie demographisch überrollt werden könnten. Die ethnische Obsession nach dem Ende des Kommunismus spitzte sich durch die unterschiedlichen Dynamiken der Bevölkerungsentwicklung noch zu und vermischte sich mit dem Problem, daß die Kroaten sich von den Serben trennen wollten. Hier bewegen wir uns auf einem ideologischen und mentalen Feld, auf dem eine Verifikation im wissenschaftlichen Sinn des Wortes nicht möglich ist. Aber die ethnischen Säuberungen bei Serben und Kroaten hätten wohl kaum das bekannte Ausmaß angenommen, hätte es den Katalysator der muslimischen Bevölkerungsentwicklung nicht gegeben, das heißt eine rasch wachsende Bevölkerungsgruppe, die gleichzeitig mitten in der -56-
Übergangskrise steckte. Die Loslösung der Slowenen vom Staatenverbund, einer Bevölkerungsgruppe weit im Norden ohne Kontakt zu den Muslimen, hat nicht zu heftigeren Reaktionen geführt als die Aufspaltung der Tschechoslowakei in eine tschechische und eine slowakische Republik. Meine Absicht ist es nicht, mit dieser Analyse nachzuweisen, daß jegliche humanitäre Intervention nutzlos ist. Wenn die betroffenen Länder klein sind, ist anzunehmen, daß Eingreifen von außen die inneren Spannungen vermindern kann. Das Bemühen, historisches und soziologisches Verständnis zu entwickeln, sollte gleichwohl begleitet sein von Interventionen solcher bewaffneter Mächte, die die Schrecken der Modernisierung längst hinter sich haben. Als Reaktion auf die Krise in Jugoslawien gab es reichlich moralische Erklärungen und wenig echte Analysen. Das is t um so bedauerlicher, als schon ein Blick auf die Weltkarte zeigt, daß nicht nur das Christentum und der Islam viele geographische Berührungspunkte haben, wie Huntington betont, sondern auch der Kommunismus und der Islam von Jugoslawien bis nach Mittelasien aneinander grenzten. Daß der Niedergang des Kommunismus und die Übergangskrise der islamischen Welt zeitlich zusammenfielen - der Abschluß der geistigen Modernisierung im einen Fall, ihr Beginn im anderen Fall -, war in den neunziger Jahren häufig zu beobachten und verdient eine umfassende soziologische Analyse. Die Auseinandersetzungen im Kaukasus und die weniger langwierigen Konflikte in Mittelasien haben einige Gemeinsamkeiten mit der Situation in Jugoslawien. Es bleibt festzuhalten, daß die Überlagerung zweier Übergangskrisen die Krisenerscheinungen nur verschärfen kann, was aber nicht bedeutet, daß zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen ein struktureller und permanenter Konfliktzustand entsteht. Geduld und Zeit -57-
Für die Feststellung, daß mit der geistigen Modernisierung beziehungsweise mit ihren beiden Hauptkomponenten, der Alphabetisierung und dem Rückgang der Geburtenrate, ideologischer und politischer Aufruhr einhergeht, der Klassen, Religionen und Völker in Konflikt bringt, finden wir vielfache Bestätigung. Manche Völker haben zwar die mit dem Übergang verbundenen Ängste verspürt, haben aber keine Phase wiederholter Eruptionen von Gewalt erlebt. Doch ich scheue mich, entsprechende Beispiele zu nennen, weil ich fürchte, daß ich die eine oder andere Krise, das eine oder andere Massaker vergessen haben könnte. Am besten steht vielleicht Skandinavien da, wenn wir einmal Dänemark, Schweden und Norwegen herausgreifen. Finnland mit einer nicht zur indogermanischen Sprachfamilie gehörenden Sprache hat sich nach dem Ersten Weltkrieg, im Gefolge der russischen Revolution, einen durchaus erwähnenswerten Bürgerkrieg zwischen roten und weißen Truppen geleistet. Wenn wir noch einmal zur protestantischen Reformation zurückkehren, dem Ausgangspunkt auf dem Weg zur allgemeinen Alphabetisierung, sehen wir eifernde Schweizer, die, von der religiösen Leidenschaft ergriffen, ohne weiteres imstande waren, im Namen hehrer Prinzipien sich gegenseitig umzubringen und Häretiker und Hexen zu verbrennen. Doch nach Überwindung dieser Übergangskrise entwickelte dasselbe Land seine legendäre Sauberkeit und Pünktlichkeit, begründete es das Rote Kreuz und erteilte es der ganzen Welt Lektionen in staatsbürgerlichem Konsens. Wir sollten deshalb allein aus Gründen des Anstands darauf verzichten, den Islam als von Natur aus anders zu betrachten und über sein »Wesen« zu urteilen. Die Ereignisse vom 11. September 2001 haben bedauerlicherweise auch die Folge gehabt, daß das Konzept vom »Kampf der Kulturen« allgemeine Verbreitung fand. Weil wir -58-
aber so »tolerant« sind, erfolgte die Verbreitung meist in Form einer Verneinung: Zahllose Intellektuelle und Politiker bekräftigten in den Tagen, Wochen und Monaten nach den Anschlägen, von einem »Kampf der Kulturen« zwischen Islam und Christentum könne keine Rede sein. Die Inflation dieser Beteuerung zeigt, daß diese schlichte Vorstellung in den Köpfen allgegenwärtig war. Die politisch korrekte Rücksicht auf die religiösen Gefühle - die Ideologie der oberen 20 Prozent - verbat es, den Islam direkt zu beschuldigen. Aber der islamische Fundamentalismus ging als »Terrorismus« in die Umgangssprache ein, und viele sehen darin ein weltweites Phänomen. Tatsächlich erfolgten die Anschläge vom 11. September zu einem Zeitpunkt, als das Feuer des Islamismus schwächer loderte. Die Fortschritte bei Alphabetisierung und Geburtenkontrolle geben uns den Schlüssel zur Beschreibung und Erklärung dieser ideologischen Entwicklung an die Hand. Eine derartige Analyse ermöglicht es uns zu sagen, daß die Vereinigten Staaten und diejenigen ihrer Verbündeten, die ihnen folgen werden, erst ganz am Anfang ihrer Konflikte mit SaudiArabien und Pakistan stehen, weil diese beiden Länder gerade erst zum Sprung in die Moderne ansetzen und die unvermeidlich damit verbundenen Erschütterungen noch vor sich haben. Die Rede vom weltweiten Terrorismus erlaubt den Vereinigten Staaten, sich als führende Nation in einem universellen »Kreuzzug« neu zu definieren, nach Belieben überall punktuell und oberflächlich einzugreifen, wie auf den Philippinen und im Jemen geschehen, oder Stützpunkte in Usbekistan und Afghanistan zu errichten und Vorstöße nach Georgien und an die Grenze von Tschetschenien zu unternehmen. Doch wenn man sich den tatsächlichen Zustand der Welt anschaut, gibt es keinerlei soziologische und historische Rechtfertigung für die Rede vom weltweiten Terrorismus. Aus der Sicht der islamischen Welt ist diese Vorstellung absurd. Sie wird ihre -59-
Übergangskrise ohne Eingriff von außen überwinden und automatisch wieder zur Ruhe kommen. Die Rede vom weltweiten Terrorismus nützt nur den Vereinigten Staaten, weil sie eine durch den permanenten Kriegszustand in Atem gehaltene Alte Welt brauchen.
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KAPITEL 2 Die große demokratische Bedrohung
Die Betrachtung der beiden Parameter Bildung und Demographie weltweit bringt Fleisch auf das Skelett von Fukuyamas These vom Sinn in der Geschichte. Alphabetisierung und Geburtenkontrolle erscheinen uns heute als Universalien der Menschheit. Daher ist es leicht, diese beiden Aspekte des Fortschritts mit dem Aufstieg eines wie auch immer gearteten »Individualismus« zu verbinden, dessen Vollendung nur die Behauptung des Individuums in der politischen Sphäre sein kann. Eine der frühesten Definitionen von Demokratie stammt von Aristoteles, der - durch und durch modern - Freiheit (eleutheria) und Gleichheit (isonomia) als die beiden wesentlichen Elemente der Demokratie bezeichnet hat, weil sie dem Menschen erlaubten, »sein Leben zu führen, wie er es möchte«. Wer lesen und schreiben kann, erreicht eine höhere Ebene des Bewußtseins. Der Rückgang der Geburtenzahlen zeigt an, wie weit diese psychische Veränderung reicht, nämlich bis in den Bereich der Sexualität. Dementsprechend ist die Beobachtung durchaus logisch, daß in einer durch Alphabetisierung und demographisches Gleichgewicht geeinten Welt immer mehr politische Systeme der liberalen Demokratie zuneigen. Wir können die These aufstellen, daß Individuen, die durch die Alphabetisierung zu Bewußtheit und Gleichheit gelangt sind, nicht mehr auf unbestimmte Zeit autoritär regiert werden können, oder anders formuliert: Die Kosten, die es verursacht, wenn Menschen mit einem bestimmten Grad von Bewußtheit autoritär regiert werden sollen, sind so hoch, daß die betreffende Gesellschaft ökonomisch nicht mehr konkurrenzfähig ist. Wir könnten unendlich über die Wechselwirkungen zwischen -61-
Bildung und Demokratie spekulieren. Männern wie Condorcet war der Zusammenhang vollkommen klar, nicht umsonst stellte er die Förderung der Bildung in den Mittelpunkt seines Entwurfs einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes1 . Es ist nicht allzu schwierig, mit diesem gewichtigen Faktor Tocquevilles Vision einer »unaufhaltsamen« Entwicklung hin zur Demokratie zu erklären. Diese Sichtweise ist in meinen Augen sehr viel ehe r authentisch »hegelianisch« als die Sichtweise Fukuyamas, der sich in eine ökonomistische, auf den materiellen Fortschritt fixierte Perspektive verrennt. Sie erscheint mir auch realistischer und überzeugender als Erklärung für die Ausbreitung demokratischer Entwicklungen: in Osteuropa, der ehemals sowjetischen Einflußsphäre, in Lateinamerika, in der Türkei, im Iran, in Indonesien, Taiwan und Südkorea. Daß auf einmal in so vielen Teilen der Welt pluralistische Wahlen stattfinden, kann man nicht mit wachsendem Wohlstand erklären. Im Zeitalter der Globalisierung erleben wir einen Rückgang der wirtschaftlichen Wachstumsraten, der Lebensstandard vieler Menschen erhöht sich nur noch langsam, manchmal sinkt er sogar, und nahezu überall nehmen die Ungleichheiten zu. »Ökonomistische« Erklärungen sind nicht überzeugend: Wie könnte wachsende materielle Unsicherheit als Erklärung dafür dienen, daß diktatorische Regime stürzen und Wahlen an Bedeutung gewinnen? Der Verweis auf die Entwicklung der Bildung hingegen erlaubt, die Verbreitung der Gleichheit auszumachen, die von der wirtschaftlichen Ungleichheit verdeckt wird. Welche Einwände man auch immer gegen Fukuyama vorgebracht hat, seine These ist durchaus einleuchtend, daß die Welt eines Tages durch die liberale Demokratie geeint sein wird und daß in Anbetracht von Doyles Gesetz, wonach Demokratien keine Kriege gegeneinander führen, die Aussicht auf allgemeinen Frieden besteht. Wir müssen aber zugeben, daß die verschiedenen Nationen und Regionen der Welt sehr -62-
unterschiedliche Wege beschreiten. Allein der gesunde Menschenverstand läßt uns daran zweifeln, daß Länder mit so unterschiedlichen historischen Erfahrungen wie der englischen und der Französischen Revolution, dem Kommunismus, Nationalsozialismus, Faschismus, der islamischen Revolution Khomeinis, dem vietnamesischen Nationalkommunismus und der Herrschaft der Roten Khmer eines Tages Abbilder ein und desselben Modells des ökonomischen und politischen Liberalismus sein werden. Fukuyama reagiert auf eigene Zweifel an dieser Konvergenz, wenn er auf das Beispiel der gegenwärtigen japanischen Demokratie verweist. Japan ist formell eine tadellose Demokratie, allerdings mit der Besonderheit, daß seit dem Zweiten Weltkrieg, mit Ausnahme einer etwa einjährigen Phase der Unsicherhe it 1993-1994, die liberaldemokratische Partei an der Macht ist. In Japan findet die Auswahl der Regierenden nicht zwischen Parteien statt, sondern in Machtkämpfen zwischen Gruppierungen innerhalb der herrschenden Partei. Fukuyama zufolge spricht die Tatsache, daß Japan keinen Parteienwettbewerb kennt, nicht gegen den demokratischen Charakter des japanischen Regierungssystems, weil die Wähler auch so zwischen Alternativen wählen können. Das schwedische Modell, geprägt von der langen Dominanz der sozialdemokratischen Partei, erinnert in mancher Hinsicht an Japan. Da das schwedische System endogen entstanden ist, nicht als Folge der Besetzung des Landes durch eine ausländische Macht wie das japanische, können wir Fukuyama wohl zustimmen, wenn er sagt, daß der Wechsel der Regierungspartei kein Definitionsmerkmal einer liberalen Demokratie ist. Allerdings spricht das Nebeneinander von Regierungswechsel nach angelsächsischem Vorbild und japanischer oder schwedischer Kontinuität dafür, daß es sehr verschiedene Unterformen der liberalen Demokratie gibt, die Konvergenz mithin nie vollständig sein kann. -63-
Ursprüngliche anthropologische Vielfalt Das fundamentale Problem der orthodoxen politischen Wissenschaft besteht darin, daß sie bis heute keine überzeugende Erklärung für die dramatischen ideologischen Unterschiede der Gesellschaften in der Phase der Modernisierung zu geben vermag. Wir haben im vorangehenden Kapitel gesehen, daß zum kulturellen Aufbruch, so verschieden er von Fall zu Fall sein mag, stets bestimmte Elemente gehören: Alphabetisierung, Rückgang der Geburtenzahlen, politische Aktivierung der Masse, nicht zu vergessen Orientierungslosigkeit und Gewalt in der Übergangsphase, die auf die geistige Entwurzelung folgt. Wir müssen aber einräumen, daß die Militärdik tatur Cromwells, die den Zerfall der Kirchen in rivalisierende protestantische Sekten zuließ, und die Diktatur der Bolschewiken, die ein ganzes Land in ein Konzentrationslager verwandelte, sehr verschiedene Wertvorstellungen vertraten. Und wir müssen zugeben, daß der kommunistische Totalitarismus, der ganz dem Grundsatz der Gleichheit der Menschen verpflichtet war, nichts mit den Wertvorstellungen der Nationalsozialisten gemein hatte, für die oberster Glaubenssatz die Ungleichheit der Völker war. Ich habe 1983 in meinem Buch La troisième planète. Structures familiales et systèmes idéologiques (Der dritte Planet. Familienstrukturen und ideologische Systeme) eine anthropologische Erklärung für die politischen Unterschiede zwischen Gesellschaften in der Phase der Modernisierung vorgeschlagen. 2 Der Verweis auf die Familienstrukturen erlaubt heute zu erklären, warum die im Entstehen begriffene demokratische Welt so vielgestaltig bleiben wird. Die Familienstrukturen der durch die Modernisierung entwurzelten ländlichen Bevölkerungen waren von sehr -64-
unterschiedlichen Werten geprägt: liberale und autoritäre, egalitäre und inegalitäre. Sie gaben in der Phase der Modernisierung die Bausteine für die Ideologien ab. - Der Liberalismus angelsächsischer Prägung projizierte das für englische Familien typische Ideal der wechselseitigen Unabhängigkeit von Eltern und Kindern in die Sphäre der Politik und dazu auch die Ungleichheit in der Beziehung zwischen den Geschwistern. - Die Französische Revolution verwandelte den liberalen Austausch zwischen Eltern und Kindern und die Gleichheit zwischen den Geschwistern, wie sie im 18. Jahrhundert für die bäuerlichen Familien im Pariser Becken typisch waren, in die Doktrin von Freiheit und Gleichheit aller Menschen. - Die russischen Bauern, die Muschiken, behandelten ihre Söhne zwar egalitär, aber ein Sohn, ob verheiratet oder nicht, blieb bis zum Tod seines Vaters unter dessen Gewalt. Die russische Ideologie der Übergangsphase, der Kommunismus, war darum nicht nur egalitär wie die französische, sondern auch autoritär. Dieses Muster wurde überall übernommen, wo Familienstrukturen ähnlich den russischen bestanden: in China, in Jugoslawien, in Vietnam, nicht zu vergessen einige Landstriche in Europa, wo bevorzugt kommunistisch gewählt wurde, wie in der Toskana, im Limousin und in Finnland. - In Deutschland trugen die autoritären und inegalitären Werte der traditionellen Familie, die in jeder Generation nur einen Abkömmling zum Erben bestimmte, zum Aufstieg des Nationalsozialismus bei, einer autoritären und inegalitären Ideologie. Japan und Schweden sind stark abgeschwächte Varianten dieses anthropologischen Typs. Die arabisch- muslimische Familienstruktur liefert eine Erklärung für bestimmte Aspekte des radikalen Islamismus, einer Übergangsideologie neben anderen, für die eine besondere Kombination von Egalitarismus und gemeinschaftlichem -65-
Anspruch typisch ist, ohne daß dies zu einer Überbewertung des Staates führt. Diesen ganz speziellen anthropologischen Typus finden wir auch in vielen Ländern außerhalb der arabischen Welt, so im Iran, in Pakistan, in Afghanistan, Usbekistan, Tadschikistan, Kirgisistan und Aserbaidschan sowie in Teilen der Türkei. Auffallendstes Merkmal ist die sehr untergeordnete Stellung der Frau in Familien dieses Typs. Mit der Ausrichtung auf die Gemeinschaft und der großen Nähe zwischen Vätern und verheirateten Söhnen ähnelt er dem russischen Modell, aber er unterscheidet sich wesentlich davon durch die starke Präferenz für Eheschließungen zwischen Geschwisterkindern. Die Heirat zwischen Cousins und Cousinen ersten Grades, insbesondere zwischen den Kindern zweier Brüder, bringt in die familiären wie die ideologischen Strukturen ein spezifisches Verhältnis gegenüber Autoritäten ein. Die Beziehung zwischen Vater und Sohn ist nicht wirklich autoritär. Die Sitte zählt mehr als der väterliche Wille, und die horizontale Verbindung zwischen Brüdern ist die grundlegende Familienbeziehung. Das System ist sehr egalitär, sehr ge meinschaftsorientiert, aber es fördert nicht den Respekt vor Autoritäten im allgemeinen und vor staatlichen im besonderen. 3 In den einzelnen Ländern ist die Endogamie unterschiedlich stark ausgeprägt: In der Türkei liegt die Quote der Eheschließungen unter Verwandten bei 15 Prozent, in der arabischen Welt zwischen 25 und 35 Prozent, in Pakistan jedoch bei 50 Prozent. Ich gebe zu, daß ich mit der Neugier des Anthropologen darauf warte, wie der Prozeß der geistigen und ideologischen Modernisierung in Pakistan ablaufen wird, einem Land, das durch seine maximale Endogamie in anthropologischer Hinsicht eine Sonderstellung einnimmt. Man kann schon jetzt sagen, daß der Umbruch in Pakistan anders aussehen wird als im Iran, wo die Quote der familiären Endogamie nur bei 25 Prozent liegt.
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Tabelle 3 Prozentsatz der Eheschließungen zwischen Verwandten ersten Grades in der ersten Hälfte der neunziger Jahre Sudan 57 Pakistan 50 Mauretanien 40 Tunesien 36 Jordanien 36 Saudi-Arabien 36 Syrien 35 Oman 33 Jemen 31 Qatar 30 Kuwait 30 Algerien 29 Ägypten 25 Marokko 25 Vereinigte Arabische 25 Emirate Iran 25 Bahrain 23 Türkei 15 Quelle: Demographic and Health Survey.
Pakistan, dieser nicht sehr zuverlässige Verbündete der Vereinigten Staaten, hat seine ideologische Botschaft noch nicht vollständig vorgebracht und wird uns noch erstaunen. Man könnte die Liste der Beispiele und Entwicklungswege noch verlängern. Wichtig dabei ist zu erkennen, daß es vor dem Beginn der Modernisierung eine ursprüngliche anthropologische -67-
Dimension gibt, die in den Sitten und Gebräuchen des ländlichen Raumes verwurzelt ist. Regionen und Völker mit unterschiedlichen Familienwerten sind zu unterschiedlichen Zeitpunkten und mehr oder weniger heftig vom gleichen Prozeß der Entwurzelung betroffen. Wenn wir uns die ursprüngliche Verschiedenheit der ländlichen Welt hinsichtlich der Familienstrukturen, die anthropologische Variable, klarmachen und zugleich die Universalität der Alphabetisierung, die historische Variable, dann können wir gleichzeitig den Sinn der Geschichte erfassen und die Unterschiede zwischen Völkern und Regionen. Ein mögliches Muster: Von der Hysterie des Umbruchs zur demokratischen Konvergenz Die Krise des Übergangs erschüttert in der ersten Phase die Wertvorstellungen der Menschen. Die Entwurzelung durch die Moderne führt als Reaktion zu einer ideologischen Neubestätigung der traditionellen Familienwerte. Deshalb sind alle Übergangsideologien in gewisser Weise fundamentalistisch: Alle bekräftigen bewußt oder unbewußt die Verbindung mit der Vergangenheit, selbst wenn sie sich durch und durch modern geben wie etwa der Kommunismus. Die Einheitspartei, die Zentralverwaltungswirtschaft und vor allem der KGB übernahmen in Rußland die traditionell totalitäre Funktion der ländlichen Familie.4 Alle traditionellen Gesellschaften durchlaufen den gleichen historischen Prozeß: die Alphabetisierung. Aber der Übergang verschärft die Gegensätze zwischen Ländern und Völkern. Die Antagonismen zwischen Franzosen und Deutschen, zwischen Angelsachsen und Russen scheinen unüberwindlich, weil jeder gewissermaßen in ideologischer Verbrämung seine ursprüngliche anthropologische Besonderheit hinausschreit. -68-
Heute dramatisiert die arabisch- muslimische Welt ein letztes Mal ihre Verschiedenheit vom Westen, vor allem bezüglich der Rolle der Frau, während doch im Iran und in arabischen Ländern die Frauen auf dem Weg sind, sich mittels Geburtenkontrolle zu emanzipieren. Nach dieser ersten Phase ebbt die Krise ab. Es scheint, als würden alle anthropologischen Systeme gleichermaßen, wenn auch zeitlich versetzt, die Aufwallung des Individualismus durchmachen, die mit der Alphabetisierung einhergeht. Und schließlich zeichnet sich die demokratische Konvergenz ab. Wohlgemerkt: Nicht alle anthropologischen Systeme erleben den Anstieg des demokratischen Individualismus in der gleichen Weise. Wie sollten sie auch? Die Freiheit ist für manche Systeme, vor allem für das angelsächsische und das französische, ein ursprünglicher Wert, verankert in der Familienstruktur; der Gang der Geschichte bringt dann nur eine Formalisierung und Radikalisierung der Forderung nach Freiheit. In anderen Systemen wie dem deutschen, dem japanischen, dem russischen, chinesischen und arabischen werden durch den wachsenden Individualismus bestimmte ursprüngliche anthropologische Werte in Frage gestellt, und deshalb vollzieht sich der Übergang gewaltsamer, und das Ergebnis sieht von Fall zu Fall ganz unterschiedlich aus. Die Werte, die ursprünglich hinsichtlich Autoritäten und Gemeinschaftlichkeit galten, verlieren an Gewicht, verschwinden aber nicht ganz. Damit können wir die Unterschiede zwischen den Ausprägungen der Demokratie in den Ländern erklären, die den demographischen Übergang hinter sich haben und in eine Phase der Beruhigung eingetreten sind. Japan mit seiner unerschütterlichen liberaldemokratischen Regierungspartei, seiner sozialen Kohäsion und seinem auf industrielle Produktion und Export ausgerichteten Kapitalismus ist anders als Amerika. Rußland nach dem Ende des Kommunismus und der Iran nach Khomeini werden nicht eine -69-
so hyperindividualistische Gesellschaftsform entwickeln, wie sie in den Vereinigten Staaten besteht. Es ist wohl nicht zu erwarten, daß alle nach solchen Übergangsprozessen entstandenen »Demokratien« im wesentlichen stabil sind oder sein werden und ähnlich funktionieren werden wie die liberalen Demokratien angelsächsischer und französischer Prägung. Die Möglichkeit einer friedlichen Welt ins Auge zu fassen, eine allgemeine Tendenz zu mehr Individualismus anzuerkennen und an den universellen Triumph der liberalen Demokratie zu glauben, sind sehr verschiedene Dinge. Für den Augenblick besteht jedenfalls kein Grund, daß wir Fukuyamas These geringschätzig vom Tisch wischen. Selbst die Tatsache, daß der erste postkommunistische Demokratisierungsversuch in China gescheitert ist und mit der Etablierung eines gemischten Systems endete, in dem wirtschaftlicher Liberalismus und politischer Autoritarismus nebeneinander bestehen, ist kein Gegenargument. Dies könnte durchaus nur ein vorläufiger Zustand sein. Das Beispiels Taiwans, wo seit einigen Jahren die Entwicklung einer echten Demokratie zu beobachten ist, spricht dafür, daß China und die Demokratie nicht grundsätzlich unvereinbar sind, wie Huntington es behauptet. Paradoxerweise haben wir viel mehr Mühe damit, uns die langfristige demokratische Stabilisierung Lateinamerikas vorzustellen, einer Region mit atomisierten Familienstrukturen, einem Höchstmaß an wirtschaftlicher Ungleichheit, in der sich seit dem 19. Jahrhundert demokratische Phasen und Militärregime abwechseln. Selbst eine langfristige autoritäre Stabilisierung ist vor dem Hintergrund der lateinamerikanischen Geschichte unwahrscheinlich. Doch die argentinische Demokratie hat sich behauptet, allen enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und allen politischen Krisen zum Trotz. In Venezuela haben Unternehmerkreise, die Kirche, mehrere -70-
private Fernsehsender und ein Teil der Armee im April 2002 einen Staatsstreich gegen den Präsidenten Hugo Chavez versucht, und in dieser Situation hat das Land eine überraschende demokratische Stabilität gezeigt. Die Alphabetisierungsquote der erwachsenen Bevölkerung liegt dort heute bei 93 Prozent und die der jungen Leute zwischen 15 und 24 Jahren bei 98 Prozent. Ein paar Fernsehsender schaffen es nicht, eine Bevölkerung zu manipulieren, die lesen kann und nicht nur schauen. Der Wandel der Einstellungen reicht tief: Die Frauen in Venezuela betreiben Geburtenkontrolle, die Zahl der Kinder pro Frau ist auf 2,9 im Jahr 2002 gesunken. Die Widerstandsfähigkeit der venezolanischen Demokratie hat vor allem die amerikanische Regierung sehr überrascht, die sich beeilt hatte, den Staatsstreich zu billigen - ein interessantes Indiz für eine neue Gleichgültigkeit gegenüber den Prinzipien der liberalen Demokratie. Fukuyama dürfte begeistert gewesen sein über die demokratische Widerstandskraft Venezuelas, weil sie seine These bestätigt, aber womöglich hat er mit einiger Verwirrung registriert, daß die Vereinigten Staaten sich öffentlich über die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit hinwegsetzten, und dies ausgerechnet in einer Phase, in der diese Prinzipien in der ehemaligen Dritten Welt triumphieren. Das vorliegende Buch verfolgt das begrenzte Anliegen, die Neuordnung des Verhältnisses von Amerika zur übrigen Welt zu untersuchen. In diesem Rahmen ist es nicht unbedingt erforderlich, eine endgültige Antwort auf die Frage zu geben, wie es mit der generellen Demokratisierung des Planeten steht. Wir beschränken uns auf die Feststellung, daß die Gesellschaften nach einer mehr oder weniger turbulenten Phase der Modernisierung wieder zur Ruhe kommen und eine nicht totalitäre Regierungsform finden, die von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert wird. Wir können einer Minimalversion von Fukuyamas These über die universelle Ausbreitung der liberalen Demokratie zustimmen. Entsprechendes gilt auch für -71-
Doyles Gesetz, daß Demokratien untereinander keine Kriege führen. Vielleicht könnten wir das Gesetz sogar »ausdehnen« und formulieren, ohne damit ein neues Gesetz aufstellen zu wollen, daß ein Krieg zwischen Gesellschaften, die nach dem Übergang zur Ruhe gekommen sind, unwahrscheinlich ist. Die Frage, ob Demokratisierung und universelle Alphabetisierung aus den politischen Systemen genaue Entsprechungen des angelsächsischen oder französischen liberalen Modells gemacht haben, spielt in diesem Kontext eine ganz untergeordnete Rolle. Die Vereinten Nationen von Europa Westeuropa ist ohne Zweifel die bevorzugte Region, um von Fukuyama und Doyle abgeleitete Thesen zu testen, auch wenn die westeuropäischen Erfahrungen insofern nicht absolut beweiskräftig sind, als die Region nicht aus eigener Kraft ihr Gleichgewicht gefunden hat. Die Vereinigten Staaten haben nach dem Zweiten Weltkrieg die Durchsetzung und die Festigung der liberalen Demokratie militärisch abgesichert. Westdeutschland war damals wie Japan einige Jahre lang ein regelrechtes amerikanisches Protektorat. Nach zwei Jahrhunderten ideologischer Aufgeregtheit und kriegerischer Zusammenstöße hat Europa endlich zu einem Zustand von Frieden und Kooperation zwischen allen Ländern gefunden, der auf die Möglichkeit des universellen Friedens hindeutet. Im Herzen Europas zeigt vor allem das Beispiel der deutschfranzösischen Freundschaft, daß aus einem langwierigen Kriegszustand etwas werden kann, das sehr nahe an den ewigen Frieden herankommt. Überga ng zum Frieden und demokratische Stabilisierung bedeuten keineswegs, daß alle europäischen Staaten genaue Abbilder eines einzigen gesellschaftlichen und politischen Modells sind. Die verschiedenen Sprachen, gesellschaftlichen -72-
Strukturen und Traditionen der alten Nationen sind immer noch sehr lebendig. Wir erkennen ihren Fortbestand an den unterschiedlichen Konfliktlösungsmechanismen, Parteiensystemen und Formen des Regierungswechsels. Aber wir können uns auch direkter und grundsätzlicher einfach nur an die Demographie halten. In demographischer Hinsicht haben alle europäischen Länder den Übergang hinter sich. Ihre Geburtenraten sind jedoch sehr unterschiedlich, sie reichen von 1,1 bis 1,9 Kindern pro Frau. Wenn wir uns die einstigen großen Mächte Europas anschauen, die heute im weltweiten Kontext kleine und mittlere sind, können wir unterschiedliche Fruchtbarkeitsquoten mit unterschiedlichen ideologischen Traditionen korrelieren. Großbritannien und Frankreich heben sich von den anderen Ländern durch etwas höhere Geburtenraten ab: Sie liegen bei 1,7 und 1,9 Kindern pro Frau und damit nahe bei dem Wert, mit dem eine Generation vollständig ersetzt wird, und nahe an den 1,8 Kindern pro Frau, die in der »weißen europäischen« Bevölkerung der Vereinigten Staaten erreicht werden. 5 Die drei alten liberalen Demokratien sind hinsichtlich des Reproduktionsverhaltens nahe beieinander geblieben. In den anderen Ländern sind die Geburtenzahlen eingebrochen: 1,3 Kinder pro Frau in Deutschland und Italien, l,2 in Spanien - drei Länder, in denen während der Übergangsphase in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Diktatoren die Macht ergriffen. Diese Verteilung der Geburtenraten ist vielleicht nicht zufällig. Im Zeitalter der modernen Verhütungsmittel befinden sich die Paare gewis sermaßen im gesellschaftlichen Normalzustand der Unfruchtbarkeit. Früher hieß Geburtenkontrolle, daß man der Natur Einhalt gebieten und sich gegen Kinder entscheiden mußte. Heute muß man sich dafür entscheiden, ein oder mehrere Kinder zu bekommen. Den Gesellschaften mit individualistischer Tradition wie Amerika, Frankreich und England scheint die Entscheidung für Kinder leichter zu fallen. -73-
In Ländern mit einer eher autoritären Vergangenheit hat sich in demographischer Hinsicht eine passivere Einstellung zum Leben gehalten. Die Entscheidung für die Fruchtbarkeit, die aktiv getroffen werden muß, scheint den Menschen in diesen Ländern schwerer zu fallen. Dies erklärt die Beobachtung, daß tiefe Mentalitätsunterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen in Europa fortbestehen, insbesondere zwischen Franzosen und Deutschen. Sie haben freilich keinen negativen Einfluß auf die Funktionsweise der beiden politischen Systeme, die die demokratischen Spielregeln respektieren, auch wenn Regierungswechsel in Deutschland selten sind, während es in Frankreich einem politischen Lager nur im Ausnahmefall gelingt, zwei Wahlen hintereinander zu gewinnen. Die europäischen Nationalstaaten existieren somit fort, trotz ihrer gemeinsamen Institutionen, ihrer gemeinsamen Währung und ihrer technologischen Kooperation. Insofern wäre es wohl realistischer, allerdings auch weniger enthusiastisch, von den Vereinten Nationen Europas zu sprechen. Machen wir den Schritt auf die weltweite Ebene, und bleiben wir bei einer sehr allgemeinen historischen Betrachtung, nur gestützt auf unseren gesunden Menschenverstand und ohne nach Absicherung durch philosophische und politische Reflexionen zu suchen. Ist es denn nicht unmittelbar einleuchtend, daß eine alphabetisierte Welt, die ein demographisches Gleic hgewicht erreicht hat, eine fundamentale Neigung zum Frieden zeigt, so daß sich die jüngere europäische Geschichte bald weltweit wiederholen könnte? Ist es nicht naheliegend, daß zur Ruhe gekommene Länder sich mit ihrer geistigen und materiellen Entwicklung befassen? Ist nicht zu vermuten, daß die ganze Welt den Weg einschlagen wird, den nach dem Zweiten Weltkrieg bereits die Vereinigten Staaten, Westeuropa und Japan gegangen sind? In gewisser Hinsicht bedeutete das den Triumph der Idee der Vereinten Nationen. -74-
Vielleicht ist eine solche Welt ein Traum. Gewiß ist aber, daß sie, wenn es sie eines Tages geben sollte, ihre vollendete politische Form im Triumph der Organisation der Vereinten Nationen fände und daß die Vereinigten Staaten keine Sonderrolle mehr spielen würden. Amerika wäre aufgefordert, wieder ein liberaldemokratisches Land wie die anderen zu werden, militärisch abzurüsten und strategisch in den wohlverdienten Ruhestand zu gehen, begleitet von den guten Wünschen eines dankbaren Planeten. Aber so wird die Geschichte nicht aussehen. Wir wissen noch nicht, ob die universelle Ausbreitung der liberalen Demokratie und des Friedens ein historisch zwangsläufiger Prozeß ist. Wir wissen jedoch, daß eine solche Welt eine Bedrohung für Amerika wäre. Weil Amerika wirtschaftlich vom Rest der Welt abhängig ist, braucht es ein bestimmtes Niveau an Unordnung und Unruhe, denn nur so kann es seine politische und militärische Präsenz in der alten Welt rechtfertigen. Rückkehr zum strategischen Realismus: Rußland und der Frieden Hören wir dort auf, wo wir begonnen haben, mit dem Land, dessen demokratische Erschütterung Fukuyamas frühe Vision bestätigt hat: mit Rußland. Rußland war nach seiner ideologischen Implosion durch seine geographische, demographische und militärische Größe eine Bedrohung für alle Staaten auf dem Planeten. Das militärische Expansionsstreben der Sowjetunion stellte für die Demokratien eine große Gefahr dar und rechtfertigte für sich allein schon, daß die Vereinigten Staaten die Rolle des Beschützers der freien Welt übernahmen. Der Zusammenbruch des Kommunismus könnte mittelfristig zur Folge haben, daß Rußland zu einer liberalen Demokratie wird. Wenn eine Demokratie definitionsgemäß andere Demokratien -75-
nicht angreift, würde demnach die Transformation Rußlands allein ausreichen, unseren Planeten zu einem friedlichen Ort zu machen. Ist Rußland erst einmal ein gutmütiger Gigant, können die Europäer und Japaner auf die Vereinigten Staaten verzichten. Für Amerika ist das eine bedrohliche These, weil es auf die beiden nach Wirtschafts- und Finanzkraft produktiven Pole der Triade nicht verzichten kann. Treiben wir die Spekulation noch einen Schritt weiter. In der Alten Welt ist Frieden eingekehrt, sie braucht die Vereinigten Staaten nicht mehr, umgekehrt sind die Vereinigten Staaten wirtschaftlich ausbeuterisch und zu einer Bedrohung geworden, und die Rolle Rußlands ändert sich von Grund auf. A priori spricht nichts gegen die Vision, daß ein liberales, demokratisches Rußland seinerseits die Welt vor einem Amerika beschützt, das versucht, seine Weltmachtposition zurückzuerobern. Ich werde die wirtschaftliche Situation und die strategische Rolle Rußlands noch im Detail analysieren. Für den Augenblick genügt es, wenn wir uns vor Augen halten, daß Rußland auch nach seinem militärischen Niedergang das einzige Land ist, dessen nukleares Waffenarsenal der militärischen Alleinherrschaft der Vereinigten Staaten Paroli bieten kann. Auch nach der Vereinbarung über nukleare Abrüstung, die George W. Bush und Wladimir Putin im Mai 2002 unterzeichnet haben, bleiben noch rund 2000 nukleare Sprengköpfe übrig, das heißt an dem alten Gleichgewicht des Schreckens ändert sich nichts. Wenn das Verhältnis Amerikas zum Rest der Welt in Zukunft ein grundsätzlich anderes sein sollte und nicht mehr von Schutz, sondern von potentieller Aggression bestimmt wird, dann wird auch die Rolle Rußlands eine andere werden, und potentieller Schutz wird an die Stelle von Aggression treten. In einer solchen Welt ist das einzige stabile Element schließlich der fortdauernde Antagonismus zwischen Rußland und Amerika. -76-
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KAPITEL 3 Die imperiale Dimension
Der Vergleich mit zwei antiken Weltreichen, Athen und Rom, drängt sich geradezu auf, wenn man versucht, die Analyse des amerikanischen Systems durch einen Blick in die Geschichte zu untermauern. Die Amerikabewunderer werden besonders gern auf das Beispiel Athen verweisen, die Amerikagegner auf das Beispiel Rom. Bei einer positiven Einstellung gegenüber den Vereinigten Staaten bietet sich Athen als Vergleichsobjekt an. Man kann betonen, daß die Vereinigten Staaten die Etablierung einer Sphäre der politischen Dominanz nicht wie Rom zu militärischen Eroberungen genutzt haben. Für Rom war die territoriale Ausdehnung der Sinn der Geschichte. Das Prinzip der Expansion mit militärischen Mitteln scheint geradezu im genetischen Code der Stadt verankert gewesen zu sein. Alles übrige - Innenpolitik, Wirtschaft, Kunst war zweitrangig. Athen hingegen war ursprünglich eine Stadt der Händler und Künstler, Geburtsstätte der Tragödie, der Philosophie und der Demokratie. Das Schicksal, auch eine Militärmacht zu sein, wurde Athen durch die persische Aggression aufgezwungen, in deren Verlauf Athen zusammen mit Sparta den Widerstand der griechischen Städte anführte. Nach der ersten Niederlage der Perser zog sich Sparta, die Landmacht, aus dem Kampf zurück, und Athen, die Seemacht, führte den Kampf fort mit dem Attisch-Delischen Seebund, dem Bündnis der Insel- und Küstenstädte des Ägäischen Meeres. Die besonders mächtigen Mitglieder stellten Schiffe zur Verfügung, die schwächeren Geld. Auf diese Weise entstand die Einflußsphäre der athenischen Seemacht mit einer in Ansätzen demokratischen Führung. -78-
Auch die Vereinigten Staaten entwickelten sich aufgrund ihrer geographischen Gegebenheiten nach dem Sezessionskrieg zu einer Seemacht. Bis Pearl Harbor verhielten sie sich isolationistisch, und man konnte ihnen gewiß nicht den Vorwurf machen, daß Militarismus und territorialer Imperialismus zu ihrer Natur gehörten, wie es bei Rom der Fall war. Die Gründung der NATO entsprach voll und ganz dem Wunsch der europäischen Verbündeten der Vereinigten Staaten. Der Vergleich zwischen der Atlantischen Allianz und dem AttischDelischen Seebund ist darum sehr treffend, und der Sowjetunion fallt dabei die Rolle der persischen Gefahr zu. Diese optimistische, liberale Vision der atlantischen Partnerschaft wird freilich nur jene überzeugen, die vergessen haben, wie die Geschichte Athens weiterging. Der Seebund zerfiel ziemlich bald. Die meisten verbündeten Städte zogen es vor, sich ihrer militärischen Verpflichtungen dadurch zu entledigen, daß sie Athen Tribut zahlten, den phoros, sie gaben lieber Geld, als daß sie Schiffe und Männer zur Verfügung stellten. Die Führungsmacht Athen riß schließlich den gemeinsamen Schatz an sich, der auf der Insel Delos verwahrt wurde, und finanzierte damit nicht nur die Sanktionen gegen die widerstrebenden Bündnispartner, sondern auch den Bau der Tempel auf der Akropolis. Das Beispiel ist nicht passend oder vielleicht gerade allzu passend: Es könnte die Europäer warum nicht auch die Japaner? - veranlassen, »realistisch« über ihr eigenes militärisches Verhalten nachzudenken. Athen unterlag schließlich Sparta und wurde durch die Macht der Ereignisse zum Streiter für die griechischen Freiheiten. Leider reichen die überlieferten historischen Fakten nicht aus, daß wir im Detail analysieren können, welche wirtschaftlichen Vorteile Athen aus seiner »Weltherrschaft« zog und wie sich das auf die soziale Struktur des Stadtstaates auswirkte.1 Am Anfang der wirtschaftlichen Globalisierung stehen Politik -79-
und Militärwesen Die sehr viel zahlreicheren Kommentatoren, die den Bezug zum römischen Imperialismus herstellen, betonen, daß die Geschichte des amerikanischen Weltreiches nicht erst 1948 mit dem Umsturz in Prag und der als Reaktion darauf folgenden Errichtung der sowjetischen Einflußsphäre begonnen hat. Das amerikanische System existierte seit 1945, dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nachdem die Amerikaner im Krieg ihre industrielle und militärische Vorherrschaft bewiesen hatten. Die wichtigsten Eroberungen der ab 1945 amtierenden Weltmacht Amerika waren das westdeutsche und das japanische Protektorat, zwei wegen ihrer Wirtschaftskraft bedeutende Zugewinne. Deutschland war vor dem Krieg der zweitstärkste Industriestaat der Welt, Japan ist es heute. Die Vereinigten Staaten setzten mit ihrer militärischen Stärke die Macht über diese beiden für die Kontrolle der Weltwirtschaft wichtigen Partner durch. Darin besteht die Verwandtschaft zum Römischen Reic h. Über die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Rom wissen wir besser Bescheid als über die in Athen. Wir können angeben, in welchem Ausmaß die Tatsache, daß die Reichtümer aus dem militärisch von Rom beherrschten Raum vom politischen Zentrum akkumuliert wurden, die gesellschaftlichen Strukturen deformierte. In den hundert Jahren nach dem entscheidenden Sieg über Karthago nach dem zweiten Punischen Krieg dehnte sich Rom rasch nach Osten aus und herrschte bald über den gesamten Mittelmeerraum. Damit besaß Rom unerschöpfliche Ressourcen an Land, Geld und Sklaven. In seiner gesamten Einflußsphäre schöpfte es Geld ab, und damit konnte es in großem Umfang Lebensmittel und sonstige Waren importieren. Die Handwerker und Bauern in Italien selbst waren in der durch die politische Herrschaft Roms global gewordenen Wirtschaft des -80-
Mittelmeerraums nicht mehr wichtig. Die Gesellschaft polarisierte sich: auf der einen Seite die ökonomisch bedeutungslose Masse, ihr gegenüber eine räuberische Plutokratie. Eine mit Reichtümern übersättigte Minderheit herrschte über ein in Armut verelendetes Proletariat. Die Mittelklasse konnte sich dazwischen nicht behaupten, und das bedeutete das Ende der Republik und die Errichtung des Kaiserreichs. Das Schicksal Roms entsprach genau der Analyse des Aristoteles', der geschrieben hatte, daß das Vorhandensein einer mittleren Gesellschaftsschicht für die Stabilität einer Verfassungsform unerläßlich ist.2 Da man die ungehorsame, aber geographisch zentrale Plebs nicht loswerden konnte, verlegte man sich darauf, sie mit Brot und Spielen zu versorgen. Für jeden, der sich für die gegenwärtige wirtschaftliche Globalisierung, angeführt von den Vereinigten Staaten, interessiert, ist der Vergleich mit den antiken Weltreichen höchst lehrreich, und zwar sowohl wegen der Gemeinsamkeiten wie wegen der Unterschiede. Ob als Vergleichsobjekt Athen dient oder Rom, jeder Vergleich zeigt, daß die wirtschaftliche Dominanz ihren Ursprung in politischer und militärischer Stärke hat. Der politische Blick auf die Wirtschaft korrigiert - unter diesem Blickwinkel - die gegenwärtig herrschende Lehre, die uns die Globalisierung als ein apolitisches Phänomen darstellt. Angeblich gibt es eine liberale Weltwirtschaft ohne Nationen, ohne Staat, ohne Militärmacht. Doch ob wir von Athen ausgehen oder von Rom, wir können nicht ignorieren, daß die Herausbildung einer globalisierten Weltwirtschaft das Ergebnis eines politischmilitärischen Prozesses ist, und bestimmte seltsame Erscheinungen der globalisierten Wirtschaft können ohne Bezug auf die politischmilitärische Dimension des Systems nicht erklärt werden. Von der Produktion zum Konsum -81-
Die liberale Wirtschaftstheorie läßt sich sehr wortreich über die Vorzüge des Freihandels aus, der angeblich allein in der Lage ist, Produktion und Konsum zum höchstmöglichen Nutzen aller Menschen auf der Erde auszutarieren. Die Theorie betont nachdrücklich, daß jedes Land sich auf die Güter und Dienstleistungen spezialisieren müsse, für deren Erzeugung es die besten Voraussetzungen mitbringt. Es wurde unendlich viel darüber geschrieben, wie sich die Anpassungen durch das Wirken der Marktkräfte automatisch vollziehen: Auf wundersame Weise stelle sich dank der Wertschwankungen der nationalen Währungen ein Gleichgewicht zwischen Produktion und Konsum, zwischen Import und Export ein. Die wirtschaftswissenschaftliche Orthodoxie erkennt, beschreibt und erfindet eine ideale Welt mit perfekt symmetrischen Beziehungen, in der jedes Land den ihm gemäßen Platz einnimmt und seinen Teil zum Wohle aller beiträgt. Diese Theorie, deren Grundlagen von Adam Smith und David Ricardo gelegt wurden, wird bis heute hauptsächlich - man kann sagen zu 80 Prozent - in den großen amerikanischen Hochschulen gehegt und gepflegt. Sie ist neben der Popmusik und den Hollywoodfilmen der dritte kulturelle Exportschlager der Vereinigten Staaten. Ihr Realitätsgehalt ist ähnlich dem der Hollywoodfilme sehr gering. Weniger wortreich, geradezu stumm wird die Theorie, wenn man von ihr eine Erklärung für das verwirrende Faktum fordert, daß die Globalisierung nicht von Symmetrie bestimmt ist, sondern von Asymmetrie. Es ist zunehmend so, daß die Welt produziert, damit Amerika konsumieren kann. In den Vereinigten Staaten bildet sich kein Gleichgewicht zwischen Importen und Exporten heraus. Die autonome, geradezu überproduktive Volkswirtschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit ist zum Zentrum eines Systems geworden, in dem ihre Berufung der Konsum ist und nicht die Produktion. -82-
Die Liste der Länder mit einem Handelsbilanzüberschuß gegenüber den Vereinigten Staaten ist eindrucksvoll, denn sie umfaßt alle wichtigen Länder der Welt. Einige Zahlen für das Jahr 2001: 83 Milliarden Dollar amerikanisches Defizit im Handel mit China, 68 Milliarden gegenüber Japan, 60 Milliarden gegenüber der Europäischen Union, davon 29 Milliarden gegenüber Deutschland, 13 Milliarden gegenüber Italien und 10 Milliarden gegenüber Frankreich, 30 Milliarden Defizit gegenüber Mexiko, 13 Milliarden gegenüber Südkorea. Selbst Israel, Rußland und die Ukraine weisen einen Handelsbilanzüberschuß gegenüber den Vereinigten Staaten aus, er beträgt 4,5 Milliarden, 3,5 Milliarden beziehungsweise 0,5 Milliarden Dollar.3 Wie aus der Liste der Länder mit einem Handelsbilanzüberschuß zu ersehen, ist der Hauptgrund für das amerikanische Defizit nicht der Import von Rohstoffen, was für ein hochentwickeltes Land noch normal sein könnte. Das Erdöl, die Obsession der amerikanischen Militärstrategie, erklärt beispielsweise in 2001 nur 80 Milliarden des gesamten Defizits, andere Produkte, hauptsächlich verarbeitete Güter, sind für 366 Milliarden Dollar Defizit verantwortlich. Wenn wir das amerikanische Handelsbilanzdefizit nicht als Prozentsatz des gesamten Bruttoinlandsproduktes (BIP) darstellen, das heißt unter Einbeziehung von Landwirtschaft und Dienstleistungen, sondern nur als Prozentsatz des Teils des BIP, der in der Industrie erwirtschaftet wird, kommen wir zu dem verblüffenden Ergebnis, daß die Vereinigten Staaten bei 10 Prozent ihres Verbrauchs an Industrieerzeugnissen von Importen abhängen; diesen 10 Prozent stehen keine entsprechenden Exporte gegenüber. Das Defizit bei der industriellen Produktion war 1995 gerade halb so groß und lag bei 5 Prozent. Es wäre ein Irrtum zu glauben, das Defizit bestünde hauptsächlich bei Gütern von niedrigem technologischem Niveau und die Vereinigten Staaten würden sich ganz auf Spitzentechnologie -83-
konzentrieren. In einigen Bereichen ist die amerikanische Industrie tatsächlich nach wie vor führend: Computer sind das prominenteste Beispiel, aber auch Biotechnologie und Luftfahrt sind hier zu nennen. Aber Jahr für Jahr wird der Vorsprung der Vereinigten Staaten in allen Bereichen kleiner, auch in der Spitzentechnologie. Im Jahr 2003 wird das Airbus-Konsortium zahlenmäßig genauso viele Flugzeuge produzieren wie Boeing, die wertmäßige Parität dürfte um 2005-2006 erreicht sein. Der amerikanische Überschuß beim Handel mit technischen Produkten ist von 35 Milliarden Dollar im Jahr 1990 auf 5 Milliarden in 2001 zusammengeschmolzen, und im Januar 2002 war dieser Bereich defizitär.4 Das Tempo, mit dem sich das amerikanische Defizit beim Handel mit Industrieerzeugnissen ausgeweitet hat, ist einer der interessantesten Aspekte der gegenwärtigen Veränderungen. Am Vorabend der Weltwirtschaftskrise 1929 entfielen 44,5 Prozent der weltweiten Industrieproduktion auf die Vereinigten Staaten, 11,6 Prozent auf Deutschland, 9,3 Prozent auf Großbritannien, 7 Prozent auf Frankreich, 4,6 Prozent auf die UdSSR, 3,2 Prozent auf Italien und 2,4 Prozent auf Japan. 5 Siebzig Jahre später liegt der in der Industrieproduktion erwirtschaftete Teil des amerikanischen BIP leicht unter dem entsprechenden Wert der Europäischen Union und geringfügig über dem japanischen. Dieser massive Einbruch der wirtschaftlichen Macht wird durch die Geschäft stätigkeit amerikanischer multinationaler Konzerne nicht kompensiert. Seit 1998 sind die Gewinne, die aus Geschäften im Ausland in die Vereinigten Staaten zurückfließen, geringer als die Gewinne, die ausländische Firmen in den Vereinigten Staaten erwirtschaften und in ihre Heimatländer mitnehmen. Wir brauchen eine kopernikanische Wende: Schluß mit den »Inlands-« Statistiken -84-
Noch am Vorabend der Rezession, die 2001 begann, pries die große Mehrheit der Wirtschaftskommentatoren die phantastische Dynamik der amerikanischen Wirtschaft und feierte die angebliche Geburt eines neuen Paradigmas, das hohe Investitionen, dynamischen Konsum und geringe Inflation verbinden sollte. Die Quadratur des Kreises, die die Volkswirte in den siebziger Jahren bewegt hatte, schien endlich gelungen, Amerika hatte einen Weg gefunden, wie stetiges Wachstum ohne übermäßig hohe Preissteigerung zu erreichen war. Anfang 2002 gehörte es zu den Selbstverständlichkeiten der Wirtschaftsberichterstattung in unserer Presse, daß man besorgt den Produktivitätsrückstand in Europa und Japan erörterte. Zur gleichen Zeit mußte die amerikanische Regierung ihre veraltete Stahlproduktion mit Schutzzöllen absichern, und die japanischen Spielkonsolen PlayStation II und Game Cube machten Microsofts Versuch lächerlich, mit der X-Box in den Wettbewerb auf diesem Markt einzugreifen. In Kalifornien brach zu dem Zeitpunkt die Stromversorgung zusammen, und New York hatte Probleme mit der Trinkwasserversorgung! Bereits vor rund fünf Jahren hatte ich Zweifel an der optimistischen, um nicht zu sagen überschwenglichen Bewertung der amerikanischen Volkswirtschaft und der Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts, das als Indikator immer weniger zuverlässig ist. Wir müssen uns entscheiden: Sollen wir den Zahlen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung folgen, die die Wertschöpfung aller innerhalb der Vereinigten Staaten tätigen Unternehmen berücksichtigt, oder müssen wir die Realität anerkennen, die die Handelsbilanz uns vor Augen führt? Die Handelsbilanz mißt den Austausch zwischen Ländern und enthüllt die industrielle Schwäche Amerikas. Wenn der Import eines Produktes sich als schwierig erweist, entstehen reale Spannungen. Das war die Situation bei der kalifornischen Stromversorgung: Die Pannen in den eigenen -85-
Elektrizitätswerken zeigten die Schwächen. Ich habe seit langem Zweifel an der angeblichen wirtschaftlichen Dynamik der Vereinigten Staaten. Die Affäre Enron und mehr noch die Affäre Andersen, die sich daraus entwickelte, haben bei mir den Ausschlag für eine Meinungsänderung gegeben. Durch den Zusammenbruch des Energiekonzerns Enron wurden 100 Milliarden Dollar Umsatz vernichtet, eine magische, virtuelle, mythische Zahl, die in der Presse immer wieder auftauchte. Da die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Andersen in die Bilanzfälschung verstrickt war, kann man heute nicht mehr sagen, welcher Teil dieser Summe tatsächlich »Mehrwert« war und insofern in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung hätte eingehen müssen. 100 Milliarden Dollar sind ungefähr l Prozent des amerikanischen BIP. Wie viele Unternehmen haben wohl noch mit Hilfe von Arthur Andersen und anderen Buchhaltungsund Wirtschaftsprüfungsfirmen ihre Bilanzen gefälscht? Die immer neuen Skandale, die in jüngster Zeit ans Licht kamen, lassen vermuten, daß die Mehrheit der Unternehmen betroffen ist. Was sollen wir von einer Volkswirtschaft halten, in der der Finanzdienstleistungssektor, die Versicherungsund Immobilienbranche zwischen 1994 und 2000 doppelt so schnell gewachsen sind wie die Industrieproduktion bis auf einen »Wert«, der 123 Prozent des Wertes der Industrieproduktion ausmacht? Ich habe den Begriff Wert in Gänsefüßchen gesetzt, weil der Unterschied zwischen dem Wert dieser Dienstleistungen und dem Wert von Industrieerzeugnissen darin besteht, daß die erstgenannten größtenteils nicht auf internationalen Märkten gehandelt werden können - mit Ausnahme natürlich des Teils dieser Wirtschaftsaktivitäten, der die Versorgung der amerikanischen Volkswirtschaft mit Kapital sicherstellt, mit dem frischen Geld, das Ame rika braucht, um seine Importe zu bezahlen. Aufgebläht durch die von den Wirtschaftsprüfern abgesegneten Fehlbuchungen der -86-
Privatunternehmen sind die Zahlen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung in den Vereinigten Staaten mittlerweile ungefähr so zuverlässig wie einst in der Sowjetunion. Tabelle 4 Wirtschaftssektoren und Wachstumsraten in den Vereinigten Staaten
Anteil am BIP 1994 - 2000 Wachstum 2000 in in % % BIP 100 40 Landwirtschaft 1,4 15 Rohstoffgewinnung 1,3 41 Bauwesen 4,7 68 Fertigwarenindustrie 15,9 28 Transportwesen 8,4 35 Großhandel 6,8 41 Einzelhandel 9,1 44 Finanzdienstleistung 19,6 54 en, Versicherungen, Immobilien sonstige 21,9 59 Dienstleistungen Staat 12,3 27 Quelle: Bureau of Economic Analysis http://www.bea.gov/dn2/gpoc.htm+1994-2000
Die klassische ökonomische Theorie kann den Rückgang der Wirtschaftstätigkeit im industriellen Sektor nicht erklären, die Verwandlung Amerikas in eine Region, die sich auf den Konsum spezialisiert hat und für ihre Versorgung vom Rest der Welt abhängig ist. Ein Weltmachtkonzept nach dem Vorbild -87-
Roms erlaubt indes, diese Entwicklung als wirtschaftliche Folge einer bestimmten politischen und militärischen Organisation zu verstehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als Europa und Japan in Trümmern lagen und der Obstblock sich als neuer Machtfaktor etablierte, organisierten die Vereinigten Staaten ihre Einflußsphäre als globales System, in dem sie das Zentrum bildeten. Schritt für Schritt setzten sie in dem System für Handel und Finanzen Spielregeln durch, die ihren ideologischen Präferenzen entsprachen mit dem einzigen Ziel, den geographischen Raum zusammenzuschweißen, den sie militärisch und politisch kontrollierten. Es steht außer Zweifel, daß die Vereinigten Staaten zu Anfang vollkommen zu Recht behaupteten, sie sorgten für Wohlstand auf dem größten Teil des Planeten. Es wäre absurd, die Entstehung dieser Weltordnung als zerstörerischen Vorgang zu betrachten: Die Wachstumsraten der Jahre 1950-1975 belegen das Gegenteil. Der Marshallplan versorgte Europa mit den notwendigen Mitteln für den Wiederaufbau und bewahrte die Vereinigten Staaten vor einer neuerlichen Wirtschaftskrise wie 1929. Er war ein Akt politischer und wirtschaftlicher Intelligenz, wie es nur wenige andere in der Geschichte gibt. Wir können diese Zeit darum als positiven Imperialismus bezeichnen. Die Vereinigten Staaten waren ganz auf den Kampf gegen den Kommunismus fixiert und sich der Beständigkeit, des quasi ontologischen Charakters ihrer wirtschaftlichen Vorherrschaft etwas zu sicher. Sie gaben der politischen Integration der Sphäre, über die sie militärisch herrschten, absolute Priorität. Im Interesse dieses Ziels öffneten sie ihren Markt für europäische und vor allem für japanische Produkte und opferten weite Bereiche ihrer industriellen Produktion, zunächst ohne sich dessen richtig bewußt zu sein, später mit einiger Sorge. Das Defizit im Außenhandel tauchte erstmals Anfang der siebziger Jahre auf. Seitdem hat es sich über die Sphäre der -88-
ursprünglichen politischen Dominanz hinaus auf den Handel mit der gesamten Welt ausgedehnt. Der Zusammenbruch des kommunistischen Herrschaftsbereichs hat es ermöglicht, daß neue wichtige Staaten in dieses System des asymmetrischen Austausches eindrangen: Heute weist nicht mehr Japan oder Europa den größten Überschuß im Handel mit den Vereinigten Staaten aus, sondern China. Der übermäßige Konsum in den Vereinigten Staaten ist mittlerweile das Schlüsselelement einer weltwirtschaftlichen Struktur, die von manchen als imperial bezeichnet wird. Amerika ist jedoch nicht mehr als Produzent wichtig für die Welt, sondern als Konsument, zumal in einer Phase der weltweiten Nachfrageschwäche, die eine Folge des Freihandels ist. Der keynesianische Staat in der schwachen Weltwirtschaft Die Liberalisierung der weltweiten Handelsbeziehungen hat in diesem Fall einmal ganz im Einklang mit der ökonomischen Theorie - die Ungleichheiten weltweit vergrößert. Es ist zu beobachten, daß sich in jedem einzelnen Land die Einkommensunterschiede abbilden, die weltweit bestehen. In allen Ländern hat die internationale Konkurrenz dazu geführt, daß die Einkommen der Arbeitnehmer stagnieren und die Gewinne der Unternehmen stark ansteigen, regelrecht explodieren. Der durch den Freihandel entstandene Druck auf die Arbeitseinkommen reaktiviert das traditionelle Dilemma des Kapitalismus, wir sehen es heute weltweit Wiederaufleben: Es wird immer mehr produziert, aber den Menschen fehlt das Geld, die Produkte zu kaufen. Diese banale Tatsache wurde von Malthus und Keynes in England beschrieben und von den meisten sozialistischen Ökonomen im 19. und 20. Jahrhundert. Heute ist dieser Zusammenhang den unorthodoxen Ökonomen -89-
in Amerika vollkommen klar. Auch die Wirtschaftswissenschaftler des universitären Establishments in Amerika räumen im allgemeine n ein, daß die Ungleichheiten infolge des Freihandels zugenommen haben. Aber die Stagnation der Nachfrage ist ein Tabu, auch für falsche Unorthodoxe wie Paul Krugman. Wer diesen Aspekt der Globalisierung anspricht, zeigt, daß er mit der bestehenden Ordnung gebrochen hat, und nur echte Rebellen wie der Asienexperte Chalmers Johnson wagen den Finger in diese Wunde zu legen. In seinem Buch Ein Imperium verfällt. Wann endet das Amerikanische Jahrhundert? rechnet er gnadenlos mit dem Verhalten der Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg ab.6 Robert Gilpin, der sonst so hellsichtige Analytiker der Globalisierung, der sich der Fortdauer der Nationalstaaten, der strukturellen Unterschiede zwischen dem angelsächsischen und dem japanischen oder deutschen Kapitalismus sehr genau bewußt ist und ein feines Gespür für die ökonomische und ideologische Anfälligkeit der amerikanischen Hegemonie hat, wagt dieses Problem nicht anzusprechen, wohlwissend, daß er damit gegen den Wohlverhaltenskodex des Establishments verstoßen würde. Mit dieser Darstellung bin ich ungerecht gegenüber Joseph Stiglitz, dem ehemaligen Chefvolkswirt der Weltbank, der unbestritten ein Angehöriger des wirtschaftswissenschaftlichen Establishments ist, wie die Tatsache beweist, daß er den Wirtschaftsnobelpreis bekommen hat. In seinem Buch Die Schatten der Globalisierung erörtert er das Problem der weltweiten Nachfrageschwäche und weist wiederholte Male auf das Versagen des Internationalen Währungsfonds hin, der die Probleme einzelner Länder oder ganzer Regionen vor allem in Asien nicht erkannt habe.7 Aber Stiglitz bleibt ein Anhänger des Freihandels und kann darum eigentlich nicht beklagen, daß eine weltweite Regelungsinstanz fehlt. Ich weiß nicht, ob er naiv ist oder listig, wahrscheinlich ist er beides zugleich: Er geht hart -90-
mit den Bürokraten beim IWF ins Gericht, hält aber die Lehrsätze seiner Zunft hoch. Doch fordern wir nicht zuviel: Wenn einer der großen Vertreter der amerikanischen Wirtschaftswissenschaften nach Keynes schreibt, daß die Gefahr eines weltweiten Nachfrageeinbruchs besteht und daß eine weltweite Regelungsinstanz vonnöten ist, bezeichnet das einen Wendepunkt, obwohl die Regierung in Washington per definitionem sicher ungeeignet ist, die weiteren Schritte zu »verhandeln«. Die Stagnation bei der Nachfrage als Folge des Freihandels und des Drucks auf die Einkommen der Arbeitnehmer ist offensichtlich, sie erklärt den Rückgang der wirtschaftlichen Wachstumsraten weltweit, die immer raschere Abfolge von Rezessionen. All das ist nicht neu, aber uns geht es hier um die strategischen Implikationen des Konsumeinbruchs für die Vereinigten Staaten in ihrer gegenwärtigen Situation. Die weltweite Nachfrageschwäche erlaubt den Vereinigten Staaten, ihre Rolle als Regulator und als Ausplünderer der »globalisierten« Wirtschaft zu rechtfertigen. Dadurch können sie in die Rolle des Staates schlüpfen, der für die gesamte Weltwirtschaft die nach Keynes erforderlichen Steuerungsfunktionen übernommen hat. In einer daniederliegenden Weltwirtschaft erscheint „die Neigung Amerikas, mehr zu konsumieren als es produziert, schließlich als ein Segen für den ganzen Planeten. In jeder Rezession wird aufs neue begeistert die Kauflust der amerikanischen Konsumenten gepriesen, sie ist der Silberstreif am Horizont in einer Weltwirtschaft, deren Unproduktivität man nicht sehen will. Die Sparquote in Amerika liegt nahe Null. Aber bei jedem »Wirtschaftsaufschwung« importieren die Vereinigten Staaten mehr Güter aus allen Teilen der Welt. Das Handelsbilanzdefizit wird immer größer, Jahr für Jahr sind neue Rekorde zu verzeichnen. Aber wir sind zufrieden oder vielmehr erleichtert. Es ist die Umkehrung der bekannten Fabel von La -91-
Fontaine: Die Ameise fleht die Grille an, sie möge doch bitte Nahrung annehmen. Die Weltbevölkerung befindet sich gegenüber den Vereinigten Staaten in der Position von Untertanen in einem keynesianischen Staat, die darauf warten, daß der Staat für eine Wiederbelebung der Wirtschaft sorgt. Tatsächlich ist aus keynesianischer Sicht eine Funktion des Staates der Konsum, um die Nachfrage anzukurbeln. Am Ende seiner Allgemeinen Theorie wirft Keynes einen kurzen Blick auf die Pharaonen, die Erbauer der Pyramiden, die mit ihrer Verschwendung die Wirtschaftstätigkeit gesteuert haben. Im Sinne dieses Vergleichs wäre Amerika unsere Pyramide, an der die ganze Welt baut. Unübersehbar gehören die beiden Einschätzungen - Amerika als keynesianischer Regulator der Weltwirtschaft und die politische Interpretation der Globalisierung - zusammen. Die amerikanischen Auslandsschulden sind nach diesem Modell der Tribut, den die amtierende Weltmacht erhebt. Aus ökonomischer Sicht hat die amerikanische Gesellschaft die Funktion der Globalsteuerung für den ganzen Planeten übernommen. Die US-Gesellschaft steht indes von Natur aus dem Staat feindselig gegenüber und ist bemüht, seinen Einfluß auf die Wirtschaft zu reduzieren. Das war auch der Sinn der Deregulierung in der Ära Reagan. Doch die Ablehnung des Staates in der Gesellschaft hat dazu geführt, daß die Gesellschaft in die Rolle des Staates geschlüpft ist. Damit hat sie teilweise auch die negativen Merkmale übernommen, die die klassischen und neoklassischen Ökonomen dem Staat zuschreiben: Unproduktivität und mangelndes Verantwortungsbewußtsein im Umgang mit Geld. Auf der anderen Seite gibt es das positive Potential, das die Keynesianer dem Staat zusprechen: Er kann in Zeiten der wirtschaftlichen Depression die Nachfrage stimulieren. Die monetären und psychologischen Mechanismen liegen im Dunkeln, aber die so dynamischen Amerikaner, die mit den -92-
Unsicherheiten eines deregulierten Arbeitsmarktes so gut zurechtkommen, sind für die Weltwirtschaft samt und sonders zu Staatsbediensteten geworden: Sie produzieren nichts und konsumieren nur. Die massive Ausweitung der individuellen Verantwortlichkeit hat zu kollektiver Verantwortungslosigkeit geführt. Die »imperiale« Gesellschaft
Deformation
der
amerikanischen
Die »imperiale« Entwicklung der Ökonomie, die an die Verhältnisse in Rom zur Zeit der römischen Herrschaft über den Mittelmeerraum erinnert, hat die einzelnen Bereiche der amerikanischen Gesellschaft und Wirtschaft in unterschiedlicher Weise verändert. Die Industrie und die bislang der Mittelschicht zugerechnete Arbeiterschaft wurden mit voller Wucht davon getroffen. Ihre teilweise Auflösung erinnert daran, wie es der Schicht der Bauern und Handwerker in Rom erging: Sie wurde durch den Zustrom von landwirtschaftlichen Produkten und Waren aller Art aus Sizilien, Ägypten und Griechenland weitgehend zerstört. Mit Blick auf die Situation der amerikanischen Arbeiter in der Zeit von 1970 bis 1990 können wir von Verelendung sprechen, von relativer und manchmal auch von absoluter. Ohne hier im Detail auf die ökonomischen Mechanismen einzugehen, können wir mit einer gewissen Verallgemeinerung sagen, daß die imperiale Entwicklung der Ökonomie zur Folge hat, daß aus den obersten Schichten der amerikanischen Gesellschaft die obersten Schichten einer imperialen Weltgesellschaft (einer globalen Gesellschaft, wie man heute sagt) werden, daß ihr Status über den Rahmen der Nation hinaus wirkt. Die gesellschaftliche Globalisierung hat zunächst zur Integration der freien Welt geführt und dann, nach dem Ende -93-
des Kommunismus, praktisch den gesamten Planeten erfaßt. In den Vereinigten Staaten entfielen 1980 auf die 5 Prozent der reichsten Amerikaner 15,5 Prozent des »Volks‹‹Einkommens und im Jahr 2000 bereits 21,9 Prozent. Der Anteil der reichsten 20 Prozent an diesem Einkommen stieg von 43,1 auf 49,4 Prozent. Der Anteil der restlichen 80 Prozent ging in dem Zeitraum von 56,9 auf 50,6 Prozent zurück. Der Anteil der vier untersten Quintile sank von 24,7 auf 22,9 Prozent, von 17,1 auf 14,9 Prozent, von 10,6 auf 9,0 Prozent und von 4,5 auf 3,7 Prozent. Dem Magazin Forbes zufolge waren die 400 reichsten Amerikaner im Jahr 2000 zehnmal reicher als die 400 reichsten zehn Jahre zuvor, das Bruttoinlandsprodukt hat sich im selben Zeitraum nur verdoppelt. Der sagenhafte Einkommenszuwachs an der Spitze der amerikanischen Gesellschaft ist ohne Bezug auf das imperiale Modell nicht zu erklären, ebensowenig der sehr bescheidene Anstieg bei den Einkommen der Masse der Bevölkerung. Wenn wir den Zeitraum 1980-2000 in zwei Phasen unterteilen, wird deutlich, daß die Ungleichheit nicht über den gesamten Zeitraum zugenommen hat, sondern eine Art Phase I der imperialen Umstrukturierung darstellt. Zwischen 1980 und 1994 war der Einkommenszuwachs um so größer, je reicher jemand war. Bei den reichsten 5 Prozent der Gesellschaft betrug der Zuwachs 59 Prozent, und bei jedem nachfolgenden Quintil war der Zuwachs geringer, die ärmsten 20 Prozent hatten schließlich gar keinen Einkommenszuwachs zu verzeichnen. Insofern müssen wir von einer dramatischen Zuspitzung der Ungleichheit sprechen.
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Tabelle 5 Einkommensentwicklung in den Vereinigten Staaten Durchschn. Einkommen in Dollar in 2000
1980
5% Reichste 20% Reichste (oberstes Quintil)
1994
2000
1994/ 1980
2000/ 1994
132551 210684 250146
+ 59%
+ 19%
91634
121943 141620
+ 33%
+ 16%
folgende 20% (4. Quintil) 52169 folgende 20% (3. Quintil) 35431
58005 37275
65729 42361
+ 11% + 5%
+ 13% + 14%
folgende 20% (2. Quintil) 21527
22127
b25334 + 3%
+ 14%
folgende 20 %(1. Quintil) 8920
8934
10190
+ 14%
+ 0%
Quelle: http://www.census.gov/hhes/income/histinc/h03.html
Von 1994 bis 2000 haben sich Inhalt und Richtung der Bewegung verändert: Der Einkommensvorsprung an der Spitze ist zusammengeschmolzen, für die obersten 20 Prozent liegt er nur noch bei 19 Prozent, und alle anderen Gruppen, auch die Gruppe der Ärmsten, haben einen nahezu gleichen Zuwachs von 13 bis 16 Prozent zu verzeichnen. Die Botschafter der »New Economy« sehen darin die egalitäre Phase eines Prozesses der Modernisierung, die zu Anfang angeblich unvermeidlich zu wachsender Ungleichheit führt. In der kleinen Welt der HarvardÖkonomen ist das eine bevorzugte Theorie. Aber wenn wir bei unserem Vergleich mit dem alten Rom bleiben, ist die Parallele mit der Phase II der gegenwärtigen Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft verblüffend. Der Einkommenszuwachs ist gleichmäßiger über die gesellschaftlichen Gruppen verteilt, gleichzeitig ist das Handelsbilanzdefizit enorm gewachsen, von 100 Milliarden Dollar im Jahr 1993 auf 450 Milliarden in 2000. Das System der imperialen Abschöpfung von Gütern hat seinen Höhepunkt erreicht, und nun profitiert die gesamte Bevölkerung davon. Im Zeitraum von 1970 bis 2000 durchliefen die Vereinigten -95-
Staaten einen Prozeß der gesellschaftlichen Polarisierung ähnlich dem in Rom. Auf der einen Seite bildete sich eine Plutokratie heraus, auf der anderen Seite wuchs die Plebs, eine Plebs in dem Sinne, wie sie im römischen Kaiserreich bestand. Die Begriffe Plutokratie und Plebs bezeichnen hier nicht nur Unterschiede im Besitz, sondern die Tatsache, daß der Besitz, egal ob groß oder klein, nicht die Frucht produktiver Tätigkeit ist, sondern sich unmittelbar der politischen Herrschaft über die Welt außerhalb der eigenen Grenzen verdankt.8 Im nächsten Kapitel werde ich den ziemlich geheimnisvollen Mechanismus untersuchen, wie dieser Reichtum im Kontext einer liberalen Wirtschaft abgeschöpft und umverteilt wird, aber an dieser Stelle ist mir wichtig, die Stichhaltigkeit des Vergleichs mit der römischen Weltherrschaft zu betonen. Demnach ist Amerika im Zeitraum 1994-2000 eher in die Phase von panem et circenses eingetreten als in die Wunderwelt von »New Economy« und »Datenautobahnen«. Zugegebenermaßen spitze ich zu, um die Überzeugungskraft des Arguments deutlich zu machen. Die Ökonomen, die so gern an die Effizienz und Produktivität der amerikanischen Volkswirtschaft glauben möchten, haben sich durchaus einen Rest von Vernunft bewahrt. Im gegenwärtigen Stadium ist das einzig Unvernünftige das Fehlen oder vielmehr das Verstummen der Diskussionen, die in den Jahren 1990-1995 geführt wurden. Ein Thema war damals die Skepsis hinsichtlich der realen Effizienz der amerikanischen Volkswirtschaft. Wenn wir vom Modell zur historischen Realität übergehen, könnten wir sagen, daß Amerika in den letzten zwanzig Jahren zwischen zwei Wirtschafts- und Gesellschaftsformen geschwankt hat: Nation auf der einen Seite und Weltreich auf der anderen Seite. Amerika hat keineswegs alle nationalstaatlichen Merkmale verloren, und als Weltreich wird es scheitern. Aber es ist offensichtlich, daß sich zwischen 1990 und 2000 die Entwicklung in der imperialen Richtung -96-
beschleunigt hat, vor allem zwischen 1994 und 2000. Das amerikanische Außenhandelsdefizit in Milliarden Dollar
Quelle: http://www.census.gov/foreigntrade
Die Diskussion der Jahre 1990-1995: Nation contra Weltreich Die Entscheidung, wirtschaftlich in die Rolle einer Weltmacht zu schlüpfen, ging mit Diskussionen und Auseinandersetzungen einher. Viele Ökonomen, hauptsächlich in Amerika und weniger in Europa, blickten kritisch auf den Freihandel und seine Folgen für die amerikanischen Arbeitnehmer - zugegebenermaßen gehörten sie meist nicht den renommiertesten Hochschulen des Establishments an. In den Vereinigten Staaten entdeckte man Friedrich List neu, den deutschen Theoretiker des Protektionismus, einer Wirtschaftsform, in der ein nationaler Raum von der Außenwelt abgeschottet wird, im Inneren aber nach liberalen Prinzipien funktioniert.9 Die Strategie traders in den Vereinigten Staaten, die eine Abschottung der -97-
amerikanischen Industrie gegenüber Asien im allgemeinen und Japan im besonderen befürworten, haben zahlreiche Schriften veröffentlicht und erlangten zu Beginn der ersten Amtszeit von Präsident Clinton eine gewisse politische Bedeutung. Die Strategie traders betrachteten die Probleme aus der Perspektive von Binnenwirtschaft und Handel. Michael Lind hat 1995 als erster ein Modell vorgestellt, wie die amerikanische Gesellschaft sich bei konsequenter Bejahung des Freihandels entwickeln könnte. Er ließ es nicht dabei bewenden, die negativen Auswirkungen für die Arbeiterschaft und die breite Masse anzuprangern. Sein wichtigstes Verdienst besteht darin, daß er die neue amerikanische Führungsklasse beschrieben hat, die white overclass, die sich nicht nur durch ihr Einkommen definiert, sondern durch ihre Lebensweise und ihre Einstellung. Lind zufolge ist charakteristisch für die white overclass die Bevorzugung juristischer Studiengänge gegenüber technischen, eine oberflächliche Anglophilie, in ethnischer Hinsicht eine Vorliebe für affirmative action (oder »positive Diskriminierung« von Minderheiten) und ihr großes Geschick, wenn es darum geht, die eigenen Kinder im höheren Bildungswesen vor intellektueller Konkurrenz zu schützen. Lind zeichnet das Bild einer Schichtgesellschaft, in der die Gewerkschaften keinen Einfluß mehr auf die demokratische Partei haben und deren demokratischer Charakter immer mehr verblaßt.10 Er hat, wie mir scheint als erster, die Umkehrung des Verhältnisses zwischen Europa und den Vereinigten Staaten registriert: Die Alte Welt ist mittlerweile demokratischer als die Neue Welt.11 Lind, ein Intellektueller und politischer Aktivist, forderte eine nationale Neudefinition Amerikas als für sich selbst sorgender und demokratischer anstatt abhängiger und oligarchischer Staat. Das war 1995. Der Anstieg des Außenhandelsdefizits zwischen 1994 und 2000 sowie die Einkommensentwicklung sprechen dafür, daß der Kampf um Demokratie und wirtschaftliche Unabhängigkeit in den Jahren 1995 bis 2000 -98-
verloren wurde. Die zeitliche Abfolge und die erkennbare Beschleunigung der imperialen Dynamik stehen ohne Zweifel in einem Zusammenhang mit dem unübersehbaren Hervortreten des Rivalen Rußland, des Gegenpols. Darauf werden wir in Kapitel 6 im Zusammenhang mit der Logik der amerikanischen Außenpolitik eingehen. Die Entwicklung der Vereinigten Staaten hin zu einem voll ausgebildeten imperialen System hängt in der Tat nicht nur und nicht einmal vorrangig von den Kräfteverhältnissen im Innern der amerikanischen Gesellschaft ab. Die imperiale Position bezeichnet ein bestimmtes Verhältnis zur Welt: Die Welt muß beherrscht, absorbiert und zu einem Teil der eigenen amerikanischen Innenpolitik gemacht werden. Werden wir in Zukunft noch von der Weltmacht Amerika und vom amerikanischen Weltreich sprechen? Die gesamte Geschichte hindurch wiesen echte Weltreiche immer zwei Merkmale auf, die durch funktionale Beziehungen miteinander verbunden waren: - Das Weltreich entstand aus einer militärischen Notwendigkeit heraus, und diese Zwangslage erlaubte die Erhebung von Tributzahlungen an das Zentrum. - Das Zentrum behandelte schließlich die unterworfenen Völker wie normale Bürger und die normalen Bürger wie unterworfene Völker. Die Dynamik der Machtausübung führte zu einem universalistischen Egalitarismus, der nicht in der Freiheit aller gründete, sondern in der Unterdrückung aller. Im Laufe der Zeit beinhaltete diese aus der Despotie hervorgegangene Form der Gleichbehandlung ein Gefühl der Verantwortung gegenüber allen Untertanen, die in einem gemeinsamen politischen Raum lebten, in dem es keine nennenswerten Unterschiede mehr gab zwischen den eroberten Völkern und dem Eroberer. Wenn wir diese beiden Kriterien anlegen, erkennen wir sofort, daß Rom, zu Anfang räuberisch und auf Eroberung aus, dann universalistisch und der Wohltäter, der Straßen baute, -99-
Aquädukte, der für Frieden und für Recht sorgte, sehr wohl den Titel Weltmacht verdient, Athen hingegen nur unzureichend diesem Typus entsprach. Zur Not könnten wir die Zweifel in militärischer Hinsicht noch zugunsten Athens beiseite wischen und als Beweis für seine militärische Macht die Tatsache werten, daß die Mitglieder des Attisch-Delischen Seebundes Athen Tribut zahlten, den phoros. Aber Athen hat nie den Schritt in Richtung Universalismus getan. Athen hat allenfalls versucht, auf der Grundlage seines eigenen Rechts juristische Streitigkeiten zwischen Bürgern der verbündeten Stadtstaaten zu regeln. Es hat aber nie wie Rom sein Bürgerrecht auf die anderen Städte ausgedehnt, sondern sich vielmehr von ihnen abgeschottet. Die Vereinigten Staaten weisen hinsichtlich der beiden Kriterien signifikante Defizite auf. Ihre Analyse erlaubt uns die sichere Voraussage, daß es im Jahr 2050 die Weltmacht Amerika nicht mehr geben wird. Den Vereinigten Staaten fehlen vor allem zwei »imperiale« Ressourcen: Ihre militärischen und ökonomischen Zwangsmittel reichen nicht aus, um das gegenwärtige Niveau der Ausbeutung des Planeten aufrechtzuerhalten. Und ihr weltanschaulicher Universalismus ist im Niedergang begriffen. Menschen und Völker werden nicht mehr egalitär behandelt in dem Bestreben, ihnen einerseits Frieden und Wohlstand zu schenken und sie andererseits auszubeuten. In den beiden folgenden Kapiteln werden wir diese grundlegenden Defizite untersuchen.
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KAPITEL 4 Die Unsicherheit des Tributs
Die amerikanischen Streitkräfte werden häufig als übermäßig groß kritisiert, und dies wird als Indiz überzogener Weltmachtansprüche gewertet. Man verweist darauf, daß die Militärausgaben der »einzig verbliebenen Supermacht« ein Drittel der Militärausgaben weltweit ausmachen. Nun dürfen wir von amerikanischen Politikern nicht erwarten, daß sie ihre eigenen Streitkräfte schwächen! Die genaue Betrachtung der Militärausgaben zeigt, daß Präsident Bush von ernsthafter Sorge um die militärische Schlagkraft Amerikas getrieben war, denn er forderte bereits vor den Anschlägen vom 11. September eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben. Wir bewegen uns in einem Zwischenbereich: Der amerikanische Militärapparat ist für die Verteidigung des Landes zu groß, aber zu klein für die Kontrolle über ein Weltreich und vor allem für die Verteidigung der Hegemonie in Eurasien, das so weit von Amerika entfernt liegt. Die Schwäche Amerikas in militärischer Hinsicht hat in gewisser Hinsicht strukturelle Ursachen. Sie ist begründet in der Geschichte eines Landes, das sich nie mit einem gleichwertigen Gegner messen mußte. Man denkt sofort an die prägende Rolle der Kriege gegen die Indianer, wo sich in radikal asymmetrischer Weise ungebildete, schlecht bewaffnete Kämpfer und eine moderne, europäische Armee gegenüberstanden. Das traditionelle militärische Unvermögen Es gibt so etwas wie einen Urzweifel an der militärischen -101-
Berufung der Vereinigten Staaten. Das spektakuläre Aufgebot Ökonomischer Ressourcen im Zweiten Weltkrieg kann über die mäßigen Leistungen der US-Armee auf den Schlachtfeldern nicht hinwegtäuschen. Lassen wir die Frage nach dem Sinn der massiven Bombardierungen der Zivilbevölkerung durch die Briten einmal beiseite: Ihr strategischer Wert ist umstritten, und sie hatten wohl hauptsächlich den Effekt, daß sie die deutsche Bevölkerung im Widerstand gegen die alliierte Offensive zusammenschweißten. Die strategische Wahrheit zum Zweiten Weltkrieg ist einfach: Er wurde an der Ostfront von Rußland gewonnen. Die russischen Opfer an Menschenleben vor, während und nach Stalingrad machten es möglich, den Militärapparat der Nazis zu zerschlagen. Die Landung in der Normandie im Juni 1944 kam spät, die deutsche Verteidigung der Ostfront stand vor dem Zusammenbruch. Die ideologische Verwirrung nach dem Zweiten Weltkrieg ist nur zu verstehen, wenn man sich vor Augen hält, daß für viele damals der russische Kommunismus den deutschen Nationalsozialismus besiegt und damit den größten Beitrag für die Befreiung Europas geleistet hatte. In allen Phasen des Krieges agierten, das hat der britische Militärhistoriker Liddell Hart überzeugend dargelegt, die amerikanischen Truppen langsam, bürokratisch und ineffektiv, und zwar besonders gemessen an ihrer Übermacht bei materiellen und menschlichen Ressourcen. 1 Wo immer möglich, übertrugen sie Operationen, die eine gewisse Opferbereitschaft verlangten, alliierten Kontingenten: Polen und Franzosen verteidigten Dorf und Kloster Cassino, und Polen schlossen den Kessel von Falaise in der Normandie. In Afghanistan praktizierten die Amerikaner wieder die »Methode«, für jede Operation Stammesführer anzuheuern und zu bezahlen. Es ist das alte, in Abständen immer wieder praktizierte Verfahren. Mit dieser Methode ähnelt Amerika weder Rom noch Athen, sondern gleicht eher Karthago, das Söldner aus Gallien und von -102-
den Balearen anwarb. Die amerikanischen B-52-Bomber wären demnach das Äquivalent zu den karthagischen Elefanten, aber die Rolle des großen Feldherrn Hannibal ist nicht besetzt. Unbestreitbar ist hingegen die Überlegenheit Amerikas in der Luft und zur See. Sie wurde bereits im Pazifikkrieg offensichtlich, auch wenn manchmal die ungeheure Diskrepanz zwischen Amerikanern und Japanern beim Materialeinsatz vergessen wird. Nach einigen ersten heroischen Auseinandersetzungen wie der Schlacht von Midway, in der das Kräfteverhältnis fast ausgeglichen war, entwickelte sich der Pazifikkrieg bald in eine ähnliche Richtung wie der »Indienkrieg«: Die eklatante Ungleichheit bei der technischen Ausrüstung hatte eklatante Unterschiede bei den Verlusten zur Folge.2 Nach dem Zweiten Weltkrieg enthüllte jeder Schritt, der die amerikanische Armee in die Nähe einer Konfrontation mit dem wahren Sieger zu Lande brachte, mit der Sowjetunion, wie schwach Amerika als Militärmacht tatsächlich war. In Korea überzeugte es nur halb, in Vietnam überhaupt nicht, ein direktes Kräftemessen mit der Roten Armee fand zum Glück nicht statt. Der Golfkrieg wurde gegen einen Mythos gewonnen: die irakische Armee, militärischer Arm eines unterentwickelten Landes mit 20 Millionen Einwohnern. In letzter Zeit hat sich das Konzept des Krieges ohne Tote, zumindest ohne amerikanische Opfer, in den Vordergrund geschoben, und damit wird die Asymmetrie auf die Spitze getrieben. Mit diesem Konzept wird die traditionelle amerikanische Schwäche bei der Bodenkriegführung festgeschrieben und verstärkt. Ich will es hier den Vereinigten Staaten nicht zum Vorwurf machen, daß sie nicht in der Lage sind, Krieg zu führen wie andere, das heißt sinnlos ihre Gegner und ihre eigene Bevölkerung abzuschlachten und abschlachten zu lassen. Es kann einer klugen, utilitaristischen Logik entsprechen, Krieg so -103-
zu führen, daß die Kosten für einen selbst möglichst gering sind und für den Feind möglichst hoch. Trotzdem bleibt die Tatsache, daß die amerikanische Erfahrung mit Bodenoperationen die Besetzung eines Territoriums verbietet und damit auch die Errichtung eines Weltreiches im herkömmlichen Sinne. Die russische Armee ist heute nur noch ein Schatten ihrer selbst. Man spottet über ihre Schwierigkeiten in Tschetschenien. Doch im Kaukasus ist Rußland auf dem besten Weg zu zeigen, daß es von seiner Bevölkerung nach wie vor einen Blutzoll fordern kann, und das mit Billigung der Wähler. Das ist eine militärische Ressource, ein gesellschaftlicher und psychologischer Pluspunkt, und Amerika droht mit dem Konzept vom Krieg ohne Tote genau diese Ressource zu verlieren. Die Geographie des » Weltreiches« Acht Jahre nach dem Zerfall des Sowjetsystems, 1998, kurz bevor der »Kampf gegen den Terrorismus« ausgerufen wurde, war die Stationierung der amerikanischen Truppen weltweit noch ganz von den großen Auseinandersetzungen der Vergangenheit, vom Kalten Krieg, bestimmt. Außerhalb der Vereinigten Staaten standen 60053 Mann in Deutschland, 41257 in Japan, 35 663 in Südkorea, 11677 in Italien, 11 379 im Vereinigten Königreich, 3575 in Spanien, 2864 in der Türkei, 1679 in Belgien, 1066 in Portugal, 703 in den Niederlanden und 498 in Griechenland.3 Die Verteilung der amerikanischen Streitkräfte und ihrer Stützpunkte vermittelt einen einigermaßen objektiven Eindruck, wie das amerikanische »Weltreich« aussieht, soweit man von einem Weltreich sprechen kann. Die beiden wichtigsten Besitzstände der Vereinigten Staaten, ihre Bastionen in der alten Welt, sind, wie es Brzezinski ganz klar ausgesprochen hat, das Protektorat Europa und das Protektorat -104-
im fernen Osten, ohne die es keine amerikanische Weltmacht gäbe. Die beiden Protektorate beherbergen und ernähren - das gilt vor allem für Japan und Deutschland - 85 Prozent des im Ausland stationierten amerikanischen Militärpersonals. Gegenüber diesen beiden Bastionen sind an den neuen Polen in Südosteuropa, in Ungarn, Kroatien, Bosnien und Mazedonien 1998 nur 13774 Soldaten stationiert. In Ägypten, Saudi-Arabien, Kuwait und Bahrain standen 9956 Mann beziehungsweise 12820, wenn man die Türkei noch dazuzählt, die eine Drehscheibe zwischen Rußland und dem Nahen Osten ist. Die meisten amerikanischen Soldaten wachten nach wie vor an den Grenzen des ehemaligen kommunistischen Herrschaftsbereiches, sie umzingelten regelrecht Rußland und China. Die Stationierung von 12000 Mann in Afghanistan und von 1500 Mann in Usbekistan hat die grundlegende geographische Verteilung eher komplettiert als verändert. Tabelle 6 Im Ausland stationiertes amerikanisches Militärpersonal 1998
Land mit Stationierung von Deutschland Japan Südkorea Italien Großbritannien BosnienHerzegowina Ägypten Panama Ungarn Spanien
mehr als 200 Mann 60053 41257 35663 11677 11379 8170 5846 5400 4220 3575 -105-
Türkei Island Saudi-Arabien Belgien Kuwait Kuba (Guantanamo) Portugal Kroatien Bahrain Diego Garcia Niederlande Mazedonien Griechenland Honduras Australien Haiti Insgesamt Zu Land Auf Schiffen
2864 1960 1722 1679 1640 1527 1066 866 748 705 703 518 498 427 333 239 259871 218957 40914
Quelle: Statistical Abstract of the United States: 2000, S. 368.
Ein unterbrochener Rückzug Diese Feststellungen bedeuten nicht, daß man Amerika eine feste und beständige Absicht zur Aggression unterstellen kann. Es ist vielmehr sogar möglich, gegenteilige Argumente vorzubringen: In den zehn Jahren nach dem Zerfall des Sowjetreiches spielten die Amerikaner loyal das Spiel der Deeskalation, des Rückzugs. 1990 belief sich der amerikanische -106-
Militärhaushalt auf 385 Milliarden Dollar, 1998 waren es nur noch 280 Milliarden, das heißt 28 Prozent weniger. Zwischen 1990 und 2000 wurde die Zahl des aktiven amerikanischen Militärpersonals weltweit von 2 auf 1,4 Millionen reduziert, das ist ein Rückgang um 32 Prozent in zehn Jahren. 4 Wie auch immer es insgesamt um das amerikanische BIP bestellt sein mag, der Teil, der auf Verteidigungsausgaben entfallt, ging von 5,2 Prozent in 1990 auf 3 Prozent in 1999 zurück. Eine Reduzierung in diesem Umfang kann man eigentlich nicht als Indiz für Weltmachtstreben werten. Es ist absurd, den Vereinigten Staaten permanent vorzuwerfen, ihr Ziel sei der Griff nach der Weltherrschaft. Der Rückgang der amerikanischen Militärausgaben kam erst in den Jahren 19961998 zum Stillstand, erst 1998 begann ein neuerlicher Anstieg. Wir können somit zwei Phasen unterscheiden, die eine Wende in der amerikanischen Militärstrategie kurz nach der Mitte der neunziger Jahre bezeichnen. Wieder einmal erscheint der Zeitabschnitt von 1990-2000 nicht homogen. - Von 1990 bis 1995 ist in militärischer Hinsicht ganz klar ein Rückzug aus der Weltmachtrolle zu beobachten. In der Zeit wurde verstärkt die Diskussion über den Protektionismus und über die nationale Konzentration in Wirtschaft und Gesellschaft geführt. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus hat man die Neudefinition der Vereinigten Staaten als große Nation, Anführerin der freien und demokratischen Welt, die jedoch den anderen gleichgestellt sein sollte, ernsthaft ins Auge gefaßt. Die Entscheidung dafür hätte die Rückkehr zu »relativer« wirtschaftlicher Unabhängigkeit beinhaltet: nicht Autarkie und nicht einmal eine Verminderung des Außenhandels, sondern eine ausgeglichene Außenhandelsbilanz, das maßgebliche wirtschaftliche Zeichen für die Gleichheit von Staaten. - Dieser Kurs wurde schr ittweise verlassen. Oder wir sollten besser sagen, er scheiterte Zug um Zug. Zwischen 1997 und 1999 explodierte das Defizit im Außenhandel. Zwischen 1999 -107-
und 2001 leitete Amerika eine Remilitarisierung ein. Es besteht ein klarer Zusammenhang zwischen der Zunahme der wirtschaftlichen Abhängigkeit und der Ausweitung des Militärapparates. Die Verstärkung der Streitkräfte spiegelt wider, daß Amerika sich seiner wachsenden wirtschaftlichen Verwundbarkeit bewußt wurde. Die Entscheidung für die von Präsident George W. Bush angekündigte Steigerung der Militärausgaben um 15 Prozent war schon vor dem 11. September 2001 gefallen. Um 1999 erkannte das politische Establishment Amerikas die Unzulänglichkeit seines militärischen Drohpotentials vor dem Hintergrund einer imperialen, das heißt abhängigen Wirtschaft. Eine Großmacht, die davon lebt, daß sie ohne Gegenleistung den Reichtum anderer Länder abschöpft, hat andere Sicherheitsprobleme, als sie Länder mit einer ausgeglichenen Handelsbilanz haben. Im Falle der Vereinigten Staaten ist es jedoch schwierig, diese Form der Bereicherung als Eintreiben von Tributzahlungen im herkömmlichen, nationalstaatlichen oder imperialen, Sinn zu interpretieren, die durch unmittelbare Gewalt, durch militärischen Zwang beschafft wurden. Nur die Kosten für Unterkunft und Verpflegung der amerikanischen Truppen, die Japan und Deutschland aufbringen, kommen als Tributzahlungen im klassischen Sinn in Betracht. Insgesamt ist es merkwürdig, um nicht zu sagen rätselhaft und zudem gefährlich, wie es Amerika gelingt, ohne Gegenleistung zu konsumieren. Ein eigenartiger und spontaner Tribut Amerika importiert und konsumiert. Um seine Importe zu bezahlen, schöpft es überall in der Welt Geld ab, aber auf eine originelle Weise, wie es sie nie zuvor in der Geschichte von Weltreichen gegeben hat. Athen bekam den phoros, den -108-
jährlichen Tribut der Städte des Seebundes, zuerst freiwillig, später wurde er gewaltsam eingetrieben. Rom plünderte in der Anfangszeit seiner Herrschaft über den Mittelmeerraum die Schätze der unterworfenen Völker und leerte dann, durch Naturalabgaben oder in Form von Steuern, die Kornspeicher in Sizilien und Ägypten. Die gewaltsame Abschöpfung gehörte so sehr zum Wesen der römischen Herrschaft, daß Cäsar einräumte, er könne Germanien nicht erobern, weil die dort lebende Bevölkerung mit ihrer Wanderwirtschaft nicht in der Lage sei, die römischen Legionen zu ernähren. Die Vereinigten Staaten nehmen gewaltsam nur einen Teil des Geldes und der Waren, die sie benötigen. Es gibt, wie wir gesehen haben, die Unterbringung und Versorgung amerikanischer Truppen in Japan und Deutschland. Es gab im Golfkrieg Zahlungen der amerikanischen Verbündeten, die sich nicht wie Großbritannien und Frankreich an den Militäroperationen beteiligten. Das kam dem phoros der Verbündeten Athens sehr nahe. Und schließlich gibt es noch die Waffenexporte. Der Verkauf dieser Waren bringt Geld ein, aber ihr Wert wird nicht, wie in der liberalen Wirtschaftstheorie angenommen, durch die individuellen Präferenzen der Verbraucher bestimmt. Die Kräfteverhältnisse zwischen Staaten erlauben derartige Geschäfte, und manchmal üben die Amerikaner ganz unverhohlen Druck aus, wie kürzlich die gutgläubigen Repräsentanten von Dassault in Südkorea erfahren mußten. Das Geld, das aus Waffenverkäufen nach Amerika fließt, ist ein Äquivalent für Tributzahlungen, die auf politischem oder militärischem Weg eingefordert werden. Aber ihr Volumen würde den Amerikanern absolut nicht erlauben, ihr gegenwärtiges Konsumniveau zu halten. Der klassische Antiamerikanismus verweist zu Recht auf die überwältigende Bedeutung der Amerikaner bei den Waffenexporten: Ihr Wert belief sich 1997 auf 32 Milliarden Dollar, das waren 58 Prozent -109-
des Wertes aller Waffenexporte weltweit. In militärischer Hinsicht ist dieser Anteil außerordentlich. In wirtschaftlicher Hinsicht war das Volumen damals noch halbwegs vernünftig, weil das Außenhandelsdefizit erst bei 180 Milliarden Dollar lag, ein vergleichsweise bescheidener Betrag gegenüber den 450 Milliarden im Jahr 2000. Die Kontrolle über bestimmte Regionen, in denen Öl gefördert wird, ist ein wichtiges Element des traditionellen Tributs. Die wirtschaftlich wie politisch dominierende Position der amerikanischen Ölkonzerne erlaubt den Vereinigten Staaten, weltweit eine Rente einzufordern, aber ihre Höhe würde heute nicht mehr ausreichen, um die Einfuhr von Gütern der unterschiedlichsten Art zu bezahlen. Die dominierende Rolle des Erdöls in dem geographischen Bereich, der einen politischen Tribut an Amerika entrichtet, erklärt aber die geradezu obsessive Fixierung der amerikanischen Außenpolitik auf dieses bestimmte Gut. Es bleibt noch zu sagen, daß der größte Teil der Tributzahlungen an die Amerikaner ohne politischen und militärischen Druck entrichtet wird, auf liberalem Weg, spontan. Amerika bezahlt für seine Einkäufe weltweit. Die Vertreter der amerikanischen Wirtschaft beschaffen sich die Devisen, die sie für ihre Einkäufe brauchen, auf dem internationalen Finanzmarkt, der so frei ist wie nie zuvor in der Geschichte. Sie tausche n Dollar gegen ausländische Währungen, und der Dollar, dieses magische Geld, hat in der Zeit, als das Defizit immer größer wurde, mindestens jedoch bis April 2002, nicht an Wert verloren. Der Dollar ist so magisch, daß manche Ökonomen schon die Schlußfolgerung gezogen haben, die Rolle der Vereinigten Staaten in der Weltwirtschaft sei es nicht mehr, wie andere Staaten Waren zu produzieren, sondern Dollars. Die O'Neill-Doktrin -110-
Nach der reinen Lehre der Wirtschaftstheorie müßte die Nachfrage nach Devisen zur Finanzierung von Importen einen Wertverlust des Dollars zur Folge haben, einer wenig nachgefragten Währung, weil amerikanische Produkte weltweit immer weniger konkurrenzfähig sind. Derartige Kursbewegungen waren noch in nicht allzu ferner Vergangenheit zu beobachten, vor allem in den siebziger Jahren, als die USA erstmals ein Außenhandelsdefizit hatten. Auch wenn manche unbelehrbare Gaullisten in Frankreich anderer Meinung sind: Der Dollar ist zwar weltweit eine Reservewährung, aber für die Vereinigten Staaten bedeutet das ganz und gar nicht, daß ihre Kaufkraft unabhängig von der Leistungsfähigkeit ihrer Wirtschaft bei den Exporten gesichert ist. Ein Vierteljahrhundert später, zu Anfang des dritten Jahrtausends, ist der Dollar immer noch hart, trotz eines beispiellosen Handelsbilanzdefizits, trotz niedriger Zinsen, trotz einer im Vergleich zu Europa und Japan hohen Inflationsrate. Denn das Geld der Welt fließt in die Vereinigten Staaten. Überall auf der Welt kaufen Unternehmen, Banken, institutionelle Anleger und Privatanleger Dollars und sorgen so dafür, daß der Wechselkurs des Dollars gegenüber anderen Währungen hoch bleibt. Mit den Dollars kaufen sie keine Waren, sondern damit werden Direktinvestitionen in den Vereinigten Staaten getätigt und Wertpapiere erworben: Staatsanleihen, Unternehmensanleihen und Aktien. Die Bewegung des internationalen Kapitals sichert den Ausgleich der amerikanischen Zahlungsbilanz: Jahr für Jahr, wenn wir den Mechanismus hier einmal stark vereinfachend darstellen, erlaubt der Kapitalstrom in die Vereinigten Staaten ihnen, weltweit Güter zu kaufen. Wenn wir bedenken, daß die meisten importierten Waren für den Konsum bestimmt sind, weil die kurzfristige Nachfrage unerschöpflich ist, daß aber das -111-
in die Vereinigten Staaten geflossene Kapital überwiegend für mittel- und langfristige Investitionen gedacht ist, müssen wir zugeben, daß dieser Mechanismus einigermaßen paradox ist, um nicht zu sagen strukturell höchst instabil. Der in London erscheinende Economist hat die wiederholten Äußerungen des amerikanischen Finanzministers O'Neill griffig, aber auch ein wenig besorgt als »O'Neill- Doktrin« bezeichnet: die Behauptung, daß in unserer Welt ohne Grenzen Auslandsschulden kein Problem darstellen. 5 Felix Rohatyn, der ehemalige amerikanische Botschafter in Paris, hat die Angst der politisch Verantwortlichen in den Vereinigten Staaten auf den Punkt gebracht, als er im Zusammenhang mit Überlegungen, wie sich die Enron-Affare wohl auf die ausländischen Investitionen in Amerika auswirken dürfte, daran erinnerte, daß Amerika Zuflüsse in Höhe von l Milliarde Dollar pro Tag benötigt, um sein Außenhandelsdefizit auszugleichen. 6 Das Bureau of Economic Analysis in Amerika beobachtet mit einiger Besorgnis, wie alljährlich die Importe durch die Finanzströme gedeckt werden. Solange es nationale Währungen gibt, muß irgendwie ein Ausgleich geschaffen werden. Die beruhigenden Beteuerungen von O'Neill - er war immer in seinem Element, wenn er zur Beruhigung der Finanzmärkte etwas erzählen konnte - wären sinnvoll nur in einem einheitlichen monetären Weltreich, wenn der Dollar einen Zwangskurs hätte und Amerika weltweit von seinen Schulden befreien könnte. Die Mindestvoraussetzung dafür wäre allerdings, daß Amerika ein absolutes militärisches und staatliches Zwangspotential hätte. Den amerikanischen Streitkräften ist es bislang weder gelungen, Mullah Omar noch Bin Laden zu fassen, sie scheinen für die beschriebene Mission die weltweite Durchsetzung des Monopols der legitimen Gewaltanwendung im Sinne Max Webers, aus geübt von den Vereinigten Staaten ungeeignet. Die traditionellen Regeln sind nach wie vor gültig: Wenn die Amerikaner zuviel konsumieren -112-
und der Geldfluß nach Amerika versiegt, wird der Dollar an Wert verlieren. Aber vielleicht erliege ich hier einer vollkommen veralteten Auffassung von Weltreich und Macht und messe der politischen und militärischen Seite des Zwangs deshalb zuviel Gewicht bei. Der gegenwärtige Kapitalfluß könnte auf dem heutigen Entwicklungsniveau des globalisierten Kapitalismus eine unverzichtbare Notwendigkeit geworden sein, das stabile Element einer imperialen Wirtschaftsordnung neuen Typs. Diese These müssen wir zumindest prüfen. Eine Supermacht ohne Perspektive Die geläufige Interpretation, die von Wirtschaftswissenschaftlern vorgebracht wird, die keinen Ärger wollen (sei es, weil sie einer Universität des amerikanischen Establishments angehören, sei es, weil sie in Institutionen arbeiten, die finanzielle Unterstützung brauchen), besagt, daß Geld nach Amerika fließt, weil die amerikanische Wirtschaft dynamischer ist, risikofreudiger und profitabler. Warum sollte es auch nicht so sein? Die »physische« - technologische und industrielle - Unproduktivität einer Volkswirtschaft wie der amerikanischen bedeutet nicht automatisch, daß ihre finanzielle Rentabilität gering ist. Es ist anzunehmen, daß über einen erheblichen, aber begrenzten Zeitraum hinweg in einer Volkswirtschaft zahlreiche unproduktive Sektoren und einige besonders profitable Sektoren nebeneinander bestehen können, ohne daß es Probleme gibt. Die Transaktionen im finanziellen Sektor können eine Zeitlang ohne Bezug zur Warenwelt ablaufen und Gewinne abwerfen, ohne daß real etwas produziert wird. Wie wir gesehen haben, ist der Anteil der Finanztransaktionen an der amerikanischen Volkswirtschaft mittlerweile größer als der Anteil der Warenproduktion. Wir können sogar noch einen Schritt weiter gehen und sagen: Wenn in Sektoren mit einem geringen technologischen und -113-
industriellen Potential hohe Gewinne erwirtschaftet werden, führt das eine Volkswirtschaft über kurz oder lang in die Unproduktivität. Die Maklergeschäfte von Enron waren in dieser Hinsicht geradezu klassische Beispiele, weil sie dazu dienten, aus Vermittlungsoperationen, die nicht selbst produktiv waren, Gewinne zu ziehen. Die Wirtschaftstheorie versichert uns, derartige Operationen dienten dazu, die Abstimmung von Produktion und Konsum zu »optimieren«. In einer anderen Zeit, als es die virtuelle Welt noch nicht gab, hätte man das wohl mit den Worten kommentiert, daß die Qualität des Puddings dadurch geprüft wird, daß man ihn ißt. Bei Enron ist mittlerweile klar, daß es nichts zu essen gab, zumindest keine realen Produkte. Doch das Phänomen Enron hat existiert und einige Jahre lang daran mitgewirkt, die reale Wirtschaft in die Unproduktivität zu steuern, im konkreten Fall in unzureichende Energieversorgung. Wenn man sagt, daß das Geld in die Vereinigten Staaten fließt, weil man sich dort eine besonders gute Rendite erhofft, unterwirft man sich der herrschenden Lehre unserer Zeit, die lautet, daß der Traum der Reichen hoher Gewinn um den Preis eines erhöhten Risikos ist. Diese Motive - die Liebe zum Gewinn und die Lust am Risiko - hätten zur Folge, daß bevorzugt auf Aktien und Direktinvestitionen in den Vereinigten Staaten gesetzt würde. So ist es aber nicht. Nicht alle Geldflüsse in die Vereinigten Staaten entsprechen der dynamischen und abenteuerlustigen Vision einer »new frontier« im weltweiten Maßstab, nicht alle gehören zur »new economy« mit Internet und Datenautobahnen. Wie wir sehen werden, zählt die Sicherheit mehr als die Rentabilität. Besonders auffällig bei der Betrachtung der amerikanischen Zahlungsbilanz sind die Schwankungen beim relativen Anteil, den die einzelnen Anlagearten Staatsanleihen, Unternehmensanleihen, Ak tien und Direktinvestitionen - beim Ausgleich des Defizits haben. 7 Die heftigen Ausschläge lassen sich nicht durch Veränderungen bei den Zinsen erklären, die -114-
Zinsen schwanken weder im selben Rhythmus noch im selben Umfang. Langlaufende Staatsanleihen und Unternehmensanleihen werden sicher deshalb gekauft, weil man eine gute Rendite erhofft, aber auch, weil festverzinsliche Anlagen Sicherheit versprechen, wenn ein zuverlässiges wirtschaftliches und politisches System, Währungs- und Bankensystem dahintersteht. Mit Anlagen in den Vereinigten Staaten kauft man Sicherheit, und dieser Aspekt ist sehr wichtig für die Finanzströme, die ins Land fließen. Klammern wir in unserer Analyse einmal den wichtigen, schwankenden und nicht ganz durchschaubaren Posten der verschiedenen Arten von Schulden, Bankschulden und anderen Schuldverschreibungen aus, und konzentrieren wir uns auf die klassischen, beruhigenden Aspekte der Bewegungen des Finanzkapitals. Konzentrieren wir uns weiter auf die neunziger Jahre, das entscheidende Jahrzehnt, in dem die Welt mit dem Zerfall des kommunistischen Blocks fertig werden mußte und den Höhepunkt der finanziellen Globalisierung erlebte. Der Anstieg des Kapitalflusses in die Vereinigten Staaten ist beeindruckend: von 88 Milliarden Dollar in 1990 auf 865 Milliarden in 2001. In diesen Zahlen ist natürlich die umgekehrte Bewegung nicht enthalten, der Abfluß von Kapital aus den Vereinigten Staaten, der knapp halb so hoch war. Im Jahr 2000 waren Zuflüsse von 485 Milliarden vonnöten, um das Defizit im Handel mit Waren und Dienstleistungen auszugleichen. Doch abgesehen von der schieren Menge des in die Vereinigten Staaten strömenden Geldes ist auffallend, wie sich im Laufe von zehn Jahren die Anlagepräferenzen verändert haben: 1990 standen die Direktinvestitionen im Vordergrund, die Gründung oder der Kauf von Unternehmen durch Ausländer (55 Prozent des Geldzuflusses). 1991 entfiel der größte Teil auf Anlagen in Aktien und festverzinslichen Papieren (45 Prozent). 1991, 1992, 1995, 1996 und 1997 spielten die langlaufenden Staatsanleihen die -115-
maßgebliche Rolle bei der Deckung des amerikanischen Haushaltsdefizits. Von 1997 bis 2001 gewannen Aktien und Unternehmensanleihen an Bedeutung, ihr Anteil stieg von 28 auf 58 Prozent. Wir könnten den Eindruck bekommen, daß wir hier die Apotheose der freien Bewegung des Kapitals vor uns haben, die effiziente Allokation an der Börse. Doch wenn wir, was für die Jahre 2000 und 2001 möglich ist, beim Posten »Erwerb von Finanztiteln privater Emittenten« unterscheiden zwischen dem Kauf von Aktien mit schwankender Rendite und dem Kauf von Rentenpapieren mit fester Verzinsung, dann stellen wir fest, daß das vorherrschende, gewissermaßen heroische Bild vom Geldanleger, der maximalen Profit sucht um den Preis des maximalen Risikos und sich deshalb auf Aktien verlegt, der Realität nicht entspricht. Tabelle 7 Erwerb von Wertpapieren und ausländische Direktinvestitionen in den Vereinigten Staaten Gesamt in StaatsMillionen Dollar anleihen in%
1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000
88861 78020 116786 191387 243 006 343 504 441952 715472 507790 747786 985470
-3 24 32 13 14 29 35 20 10 -3 -5
Aktien/ Renten in%
2 45 26 42 23 28 29 28 43 46 49
-116-
Direktinvestitionen in%
55 30 17 27 19 17 20 15 35 40 29
Schulden in%
46 1 26 19 43 26 16 37 12 16 27
2001
865584
2
58
18
22
Quelle: http://www.bea.doc.gov/bea/international
Auf dem Höhepunkt der Transaktionen im Jahr 2000 kauften Ausländer amerikanische Aktien im Wert von 192,7 Milliarden Dollar, aber Rentenpapiere im Wert von 292,9 Milliarden. Wenn wir das Volumen dieser Transaktionen als Prozentsatz des Zuflusses von frischem Geld in die Vereinigten Staaten ausdrücken, dann ergibt das 19 Prozent bei den Aktien und 30 Prozent bei den Rentenpapieren. In 2001, dem Jahr der Rezession und der Terroranschläge, fiel der Anteil der Aktien auf 15 Prozent des gesamten Kapitalzuflusses, aber der Anteil der Rentenpapiere erreichte einen Rekordwert von 43 Prozent. Das Ergebnis dieser Analyse ist, um das Wortspiel zu verwenden, »kapital«. Wie es schon Keynes treffend ausgedrückt hat: Beim Geldanlegen ist der Mensch von zwei Ängsten getrieben: der Angst, es zu verlieren, und der Angst, nicht genug damit zu verdienen. Er sucht Sicherheit und Profit zugleich. Entgegen den Annahmen des modernen Neoliberalismus zeigt die jüngste Geschichte der Finanzbewegungen, daß bei der Entscheidung für die Anlage in den Vereinigten Staaten die Sicherheit des investierten Kapitals den Ausschlag gibt. Damit entfernen wir uns vom liberalen Kapitalismus und nähern uns einer politischen, imperialen Konzeption der wirtschaftlichen und finanziellen Globalisierung an, denn die Vereinigten Staaten sind das politische Herz dieses wirtschaftlichen Systems, und bis in die jüngste Zeit hinein erschienen sie als der sicherste Ort, an dem man sein Geld anlegen konnte. Dies hat sich nun geändert, aber nicht durch die Anschläge vom 11. September, sondern durch die Aufdeckung der Bilanzfälschungen. Ein Problem ist indes nach wie vor ungelöst: Die ganze Welt -117-
hat offensichtlich ihr Geld am liebsten in den Vereinigten Staaten angelegt. Aber wie kommt es, daß weltweit so viel Geld vorhanden ist, das angelegt werden kann? Eine Analyse der finanziellen Folgen der wirtschaftlichen Globalisierung in den einzelnen Ländern zeigt eine n ganz einfachen Mechanismus. Ein Staat für die Reichen Selbst wenn man anerkennt, daß der Kapitalismus die einzige vernünftige wirtschaftliche Organisationsform ist (was ich tue), muß man einräumen, daß in dem System, bleibt es sich allein überlassen, rasch eine Reihe grundlegender Fehlfunktionen auftreten, die auch die Reichen treffen. Versuchen wir es mit einer ganz unparteiischen Darstellung. Lassen wir einmal die Masse der Arbeitnehmer beiseite, deren Löhne und Gehälter immer mehr unter Druck geraten, lassen wir auch das Gemeinwohl beiseite, für das sich bei der allgemeinen Neigung zum Defizit anscheinend niemand interessiert. Versetzen wir uns nur in die Lage der Privilegierten, versuchen wir, kurzsichtig zu sein, und schauen wir nur auf ihre Sorgen, das heißt auf das Schicksal ihrer Gewinne. Der Zuwachs bei den Gewinnen steigert die Einnahmen der oberen Schichten, aber das Einnahmeplus hat keine materielle Substanz. Der Großteil der Gewinne existiert auf dem Papier, als Ansammlung von Zahlen, und die Besitzenden können gar nicht alles für ihren persönlichen Konsum ausgeben. Sie können ihre Ausgaben für Personal steigern und durch den Einkauf von Dienstleistungen einen Teil des Geldes nach unten umverteilen. In den Vereinigten Staaten ist das schon in erheblichem Umfang zu beobachten. Die Entwicklung des Dienstleistungssektors hat dort nicht zu einem modernen tertiären Bereich geführt, sondern bedeutete vielmehr die Rückkehr zur alten Verschwendungssucht der aristokratischen Gesellschaften der -118-
Vergangenheit. Damals konzentrierte sich aller Reichtum bei den Adligen, und sie ernährten Heerscharen von Dienern, die in Haus und Hof arbeiteten oder für ihre Herren kämpften. Die neue Plutokratie beschäftigt heute Anwälte, Steuerberater und Wachpersonal. Die besten Analysen dieser Umverteilungsprozesse stammen immer noch von den englischen Ökonomen wie Adam Smith, die damals, am Ende des 18. Jahrhunderts, die massive Umverteilung von Geld nach unten durch die Beschäftigung von Dienstboten vor Augen hatten. »Ein Mann wird reich, indem er viele Arbeiter beschäftigt. Und er wird arm, indem er viele kleine Bedienstete unterhält.«8 Aber heute geht es um viel größere Summen. Weiter oben haben wir den sagenhaften Zuwachs beim Anteil der reichsten 20 Prozent oder auch 5 Prozent der Amerikaner am Volkseinkommen erwähnt. In weniger ausgeprägtem Maße ist dieses Phänomen für alle Länder charakteristisch, die der globalisierten Weltwirtschaft angehören. Was soll man mit dem überschüssigen Geld tun, wie kann man es unterbringen? Oder wenn wir von der Sorge des reichen Mannes zu seiner Hoffnung übergehen: Wie kann man es gewinnbringend anlegen, so daß es sich ganz von selbst erhält und vermehrt? Geld anzulegen ist eine Notwendigkeit, genauer gesagt: Das Vorhandensein einer sicheren Instanz, bei der Gewinne zusammenfließen, ist für den Kapitalismus eine ontologische Notwendigkeit. Früher gab es den Staat als Kreditnehmer, eine Rolle, die Marx sehr genau beschrieben hat: Die staatliche Rente war schon sehr früh für die Angehörigen des Bürgertums eine Möglichkeit, sich finanziell abzusichern. Doch heute fließen die Gewinne an die Börse. Vor dem Hintergrund eines weltweiten Kapitalismus, der innerhalb weniger Jahre in den ungezügelten Zustand zurückgefallen ist, hatte das Land, das der Vorreiter bei diesen Finanzentwicklungen war, der Staat im Zentrum des neuen Wirtschaftssystems, zu Anfang gewissermaßen einen -119-
komparativen Kostenvorteil und konnte besonders viel von den weltweit explodierenden Gewinnen abschöpfen in der Form der sicheren Anlage. Amerika brachte alle Voraussetzungen mit: eine passende Weltsicht, den größten Militärapparat weltweit und anfangs die höchste Börsenkapitalisierung. Von Japan einmal abgesehen, erschien die Börsenkapitalisierung in den anderen westlichen Ländern im Vergleich mit den Verhältnissen in Amerika um 1990 geradezu verschwindend gering. Japan mit einem ganz anderen Wirtschaftssystem, einem nationalen und abgeschotteten, und einer Sprache, die geradezu eine Gewähr für Undurchschaubarkeit ist, konnte kein ernsthafter Konkurrent sein. Tabelle 8 Börsenkapitalisierung (in Milliarden Dollar)
Vereinigte Staaten Japan Großbritannien Deutschland Frankreich Kanada Italien
1990
1998
Steigerungsrate
3059
13451
340%
2918 849 355 314 242 149
2496 2374 1094 992 543 570
-15% 180% 208% 216% 124% 283%
Quelle: Statistical Abstract of the United States: 2000, Tabelle 1401.
Die Vereinigten Staaten, die wirtschaftliche und militärische Führungsmacht, boten zu Anfang maximale Sicherheit. Die Börsenindizes der Wall Street schienen der ganzen Welt den Kurs vorzugeben (gestern nach oben, heute nach unten), die Wall Street ist die Verkörperung dieses finanziellen Mechanismus: 1990 lag die Börsenkapitalisierung in den Vereinigten Staaten bei 3059 Milliarden, 1998 bei 13451 -120-
Milliarden. Aber all diese Zahlen sagen wenig über wirtschaftliche Effizienz aus, über Produktivität im materiellen, realen Sinn, auch wenn die »neuen Technologien« schon ein deutlich mythisches Element in den Prozeß eingebracht haben. Die Steigerung der Börsenkapitalisierung in den Vereinigten Staaten, die in keinem Verhältnis zum realen Wachstum der amerikanischen Volkswirtschaft steht, ist in Wahrheit nichts anderes als Ausdruck der Inflation der Reichen. Die Abschöpfung von Gewinnen bläht die Einkommen auf, und das überschüssige Geld wird an der Börse investiert. Die relative »Knappheit« der dort gehandelten »Güter«, der Aktien, hat zur Folge, daß die steigende Nachfrage ihren nominellen Wert in die Höhe treibt. Mehr Unsicherheit Die Ausbeutung der Arbeitskräfte in den entwickelten Ländern und ihre noch massivere Ausbeutung in den Entwicklungsländern wären kein unlösbares Problem für das Gleichgewicht in der globalisierten Gesellschaft, wenn die Führungsschichten in allen Ländern der Erde und vor allem im europäischen und japanischen Protektorat der Vereinigten Staaten dabei auf ihre Kosten kämen. Die zunehmende Gefahrdung der amerikanischen Hegemonie rührt zum Teil daher, daß der regulierende Mechanismus zu einer Bedrohung für die privilegierten Schichten der abhängigen Peripherie wird, ob es sich um die Vermögenden in Europa und Japan handelt oder um die Neureichen in den Entwicklungsländern. Wir müssen uns nun daran machen, den weltweiten Weg der Gewinne genauer zu verfolgen, und in dem Zusammenhang können wir es nicht dabei bewenden lassen, die Abschöpfung von Gewinnen moralisch zu verurteilen, sondern wir müssen auch untersuchen, auf welche Weise die Gewinne sich -121-
verflüchtigen. Wenn wir von einem allgemeinen, abstrakten Modell ausgehen, die Begriffe Kapitalismus, Profit, Reiche, Börse aufnehmen und in die reale Welt übertragen, dann müssen wir ganz einfach sagen, daß ein wichtiger Teil der weltweit anfallenden Profite an die amerikanischen Börsen fließt. Ich würde nicht den Anspruch erheben, allein sämtliche Wege nachzuzeichnen, wie dieses aus dem Ausland stammende Geld in den Vereinigten Staaten neu verteilt wird. Zu viele finanzielle und ideologische Fallstricke machen das System zu einem Kabinett verzerrender Spiegel: von der Beschäftigung eines Heeres von Anwälten und Steuerberatern durch die Kapitalbesitzer über die Verschuldung der durchschnittlichen Haushalte bis zu den regelmäßigen Ausverkäufen an der Wall Street. Nicht vergessen werden sollten in diesem Zusammenhang auch die kontinuierlich sinkenden Kosten für das Leihen von Geld. Wie es aussieht, wird der reale Zinssatz bald bei Null liegen, und das kommt in einer Wirtschaft, die von Spekulation getrieben wird, der kostenlosen Verteilung von Geld gleich. Aber wenn wir anerkennen, daß die amerikanische Wirtschaft in ihrer materiellen Realität wenig produktiv ist, wofür der massive und wachsende Import von Konsumgütern spricht, dann müssen wir annehmen, daß die Börsenkapitalisierung eine Schimäre ist und daß Geld, das in die Vereinigen Staaten fließt, buchstäblich in einer Fata Morgana verschwindet. Auf geheimnisvollen Wegen dient das Geld, das die Privilegierten der Peripherie als Investition nach Amerika bringen, schließlich den Amerikanern dazu, den Konsum von Gütern zu finanzieren, die sie überall in der Welt einkaufen. In der einen oder anderen Weise verflüchtigen sich die Investitionen damit. Die Wirtschaftswissenschaft mag spekulieren, analysieren und vorausschauen: der Einbruch an den Börsen, der Untergang von Enron, der Zusammenbruch der -122-
Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Andersen, all dies sind Indizien und Ansatzpunkte für Hypothesen. Jeder Firmenzusammenbruch in Amerika bedeutet für die europäischen und japanischen Banken Verluste bei den Aktiva. Und wir in Frankreich wissen aus eigener Erfahrung - das haben uns der Skandal um Crédit Lyonnais und der amerikanophile Größenwahn von Jean-Marie Messier gelehrt -, daß ein massives finanzielles Engagement in den Vereinigten Staaten gleichbedeutend ist mit der Ankündigung einer Katastrophe. Wir wissen noch nicht, wie und in welchem Rhythmus die europäischen, japanischen und anderen Investoren gerupft werden, aber sie werden gerupft werden. Das wahrscheinlichste Szenario ist eine Panik an den Börsen von unvorstellbarem Ausmaß, gefolgt von einem tiefen Sturz des Dollars. Damit wäre es mit der »imperialen« Position der Vereinigten Staaten in wirtschaftlicher Hinsicht vorbei. Wir wissen noch nicht, ob der seit April 2002, nach der Affäre Enron-Andersen, zu beobachtende Wertverlust des Dollars nur ein Zufall war oder der Anfang vom Ende des Systems. Nichts von all dem war gewollt oder vorhergesehen. Die Implosion des gesamten Gefüges wird uns genauso überraschen wie seine Entstehung. Da die Einkommen der Armen, der Mittelschichten und der Privilegierten zwischen 1995 und 2000 in den Vereinigten Staaten ungefähr im selben Rhythmus gestiegen sind, könnte ein Moralist einen gewissen Trost in der finalen Vision finden, daß die amerikanische Plebs einen Teil des Reichtums der gesamten Welt, insbesondere Europas, an sich reißt. Es ist so etwas wie die Rückkehr zu Jesse James9 : Man nimmt von den Reichen und gibt den Armen - den Armen im eigenen Land. Zeigt das nicht die Vereinigten Staaten in einer Weltmachtposition, die der Roms vergleichbar ist? Aber Amerika hat nicht die militärische Macht des antiken Roms. Amerika kann über die Welt nur herrschen, soweit die tributpflichtigen herrschenden Schichten der Peripherie damit -123-
einverstanden sind. Wenn der Tribut eine bestimmte Höhe übersteigt und die finanzielle Unsicherheit ein bestimmtes Maß erreicht, ist es für die herrschenden Schichten der Peripherie keine vernünftige Option mehr, in dem amerikanisch dominierten Weltreich zu bleiben. Unsere freiwillige Unterwerfung besteht nur fort, wenn die Vereinigten Staaten uns von gleich zu gleich behandeln, besser noch, wenn sie uns zunehmend als Angehörige der dominanten Gesellschaft im Mittelpunkt des Reiches betrachten. So funktionieren alle Weltreiche. Sie müssen uns durch ihren Universalismus in Worten und Taten davon überzeugen, daß der Satz gilt: Wir sind alle Amerikaner. Aber tatsächlich ist es ganz anders: Wir werden nicht immer mehr als Amerikaner behandelt, sondern als Untertanen zweiter Klasse - denn zum Unglück für die Welt ist die Abwendung vom Universalismus gegenwärtig die weltanschauliche Haupttendenz in Amerika.
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KAPITEL 5 Der Rückgang des Universalismus
Eine wesentliche und erhaltende Kraft in Weltreichen, ein Prinzip von Dynamik und Stabilität zugleich, ist der Universalismus, die Fähigkeit, Menschen und Völker gleich zu behandeln. Eine universalistische Haltung erlaubt die kontinuierliche Ausdehnung der Machtbasis, weil immer mehr eroberte Völker und Individuen in den Kern der Macht einbezogen werden. Die Herrschaft reicht über die ursprüngliche ethnische Basis hinaus. Immer mehr Menschen identifizieren sich mit dem System, weil es die Beherrschten in die Lage versetzt, sich als Herrschende zu fühlen. In den Köpfen der unterworfenen Völker verwandelt sich die anfängliche Gewalt des Eroberers in die Großmut des Herrschers. Der Erfolg Roms und das Scheitern Athens sind, wie wir gesehen haben, weniger auf unterschiedliche militärische Fähigkeiten zurückzuführen als darauf, daß Rom immer mehr Menschen Zugang zu seinem Bürgerrecht gewährte und Athen sich immer mehr abschottete. Das Volk von Athen blieb ethnisch homogen, definiert durch die Abstammung: Ab 451 v.Chr. erhielt jemand nur das Bürgerrecht, wenn er nachweisen konnte, daß beide Elternteile athenische Bürger waren. Die Römer, die ursprünglich kein sonderlich ausgeprägtes ethnisches Bewußtsein hatten, dehnten das Bürgerrecht hingegen immer weiter aus und bezogen nach und nach die Bevölkerung Latiums, Italiens und schließlich des gesamten Mittelmeerraumes ein. Im Jahr 212 n. Chr. gewährte Kaiser Caracalla in einem Gesetz allen frei geborenen Einwohnern des Imperium Romanum das römische Bürgerrecht. Die Mehrzahl der römischen Kaiser stammte aus den Provinzen. -125-
Wir könnten weitere Beispiele für universalistische Systeme anführen, die dank der egalitären Behandlung vo n Menschen und Völkern eine Stärke erlangten, die weit über ihre militärische Schlagkraft hinausging: China, heute noch das Land mit der größten Zahl von Menschen, die einer einzigen Staatsgewalt unterworfen sind, oder das erste arabische Reich, dessen fulminanter Eroberungszug ebensosehr durch den extremen Egalitarismus des Islam zu erklären ist wie durch die militärische Stärke der Eroberer und die Auflösung des Römischen Reiches und des Partherreiches. In moderner Zeit fällt das Sowjetreich in diese Kategorie. Es ging schließlich an seiner wirtschaftlichen Schwäche zugrunde, verdankte seine Stärke aber der Fähigkeit, die Völker gleich zu behandeln, was ursprünglich wohl mehr ein Charakterzug des russischen Volkes war als ein Element des ideologischen Überbaus, des Kommunismus. Frankreich war, bis sein relativer demographischer Niedergang begann, eine echte Weltmacht nach europäischem Maßstab, und auch hier galt ein universalistischer Kodex. Von den in jüngerer Vergangenheit gescheiterten Großreichen ist das nationalsozialistische Dritte Reich zu nennen. Sein radikaler Ethnozentrismus verhinderte, daß die Macht der eroberten Völker sich mit der ursprünglichen Stärke Deutschlands verbinden konnte. Die vergleichende Betrachtung legt den Schluß nahe, daß die Fähigkeit eines Eroberervolkes, Besiegte von gleich zu gleich zu behandeln, nicht auf äußere Faktoren zurückgeht, sondern in so etwas wie einem ursprünglichen anthropologischen Code verankert ist. Diese Fähigkeit ist kulturell vorgegeben. Völker mit einer egalitären Familienstruktur, in der die Brüder als gleichwertig betrachtet werden - wie es in Rom der Fall war, in China, in der arabischen Welt, in Rußland und in Frankreich im Pariser Becken - neigen dazu, generell Menschen und Völker als gleichwertig anzusehen. Die Prädisposition zur Integration resultiert aus dieser egalitären Betrachtungsweise. Die Völker -126-
mit einer nicht strikt egalitären Definition der Brüder - die Situation in Athen und noch viel deutlicher in Deutschland entwickeln auch keine egalitäre Einstellung gegenüber Menschen und Völkern. Der militärische Kontakt verstärkt in der Regel noch das »ethnische« Selbstbild des Eroberers. Es führt zu einer eher fragmentierten als homogenen Sichtweise der Menschheit, einer eher differenzierenden oder ausgrenzenden als universalistischen Haltung. Die Angelsachsen sind schwer zwischen den beiden Polen Differenzierung und Universalismus einzuordnen. Die Engländer bevorzugen klar die Differenzierung, so ist es ihnen gelungen, über die Jahrhunderte hinweg die Identität der Waliser und der Schotten zu bewahren. Das britische Weltreich, das auf der anderen Seite des Ozeans dank einer überwältigenden technologischen Überlegenheit aufgebaut wurde, bestand nicht lange. Es wurde nie versucht, die unterworfenen Völker zu integrieren. Die Engländer verlegten sich auf die indirekte Herrschaft, die indirect rule, und ließen die lokalen Sitten und Gebräuche unangetastet. Ihr Rückzug aus den Kolonien verlief relativ schmerzlos, es war ein Meisterstück an Pragmatismus, weil nie zur Debatte gestanden hatte, daß sie Inder, Afrikaner oder Malaien zu guten Engländern machen wollten. Viele Franzosen hingegen träumten von einer Assimilation von Vietnamesen und Algeriern, und Frankreich hatte große Probleme mit dem Rückzug aus seinen Kolonien. Motiviert durch den latenten Universalismus, verteidigte es sein Weltreich um den Preis einer Reihe militärischer und politischer Katastrophen. Die differenzierende Einstellung der Engländer können wir gar nicht genug betonen. Die Tatsache, daß England ein kleines Land ist, das britische Weltreich aber eine enorme Ausdehnung hatte, wenn auch nicht für lange Zeit, zeugt davon, daß die eroberten Völker relativ egalitär und anständig behandelt wurden. Die Hauptwerke der britischen Sozialanthropologie, die -127-
Untersuchungen von Evans-Pritchard über die Nuer im Sudan und von Meyer Fortes über die Tallensi in Ghana, gleichermaßen bewundernswert wegen ihres Einfühlungsvermögens und ihrer analytischen Strenge, entstanden beide in der Kolonialzeit. Darin verbinden sich die traditionelle Stärke der Engländer, ethnische Besonderheiten zu beschreiben, und ein scharfer Blick für universelle menschliche Züge, die durch unterschiedliche Strukturen verborgen werden. Der angelsächsische Individualismus richtet den Blick immer direkt auf das Individuum, auf den Menschen, wie er ist, und fragt nicht nach der Übereinstimmung mit einem anthropologischen Grundmodell. Das Beispiel Amerika illustriert die angelsächsische Ambivalenz gegenüber den beiden konkurrierenden Prinzipien Universalismus und Differenzierung. Die Vereinigten Staaten können zunächst einmal als das nationale und staatliche Ergebnis eines radikalen Universalismus beschrieben werden. Die amerikanische Gesellschaft ist aus der Verschmelzung von Immigranten aus allen Völkern Europas entstanden. Der ursprüngliche englische Kern hat eine bemerkenswerte Fähigkeit gezeigt, Menschen von unterschiedlicher ethnischer Herkunft zu integrieren. Die Immigration brach in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre ab und setzte in den sechziger Jahren wieder ein, dabei dehnte sie sich auf Asien, Mittel- und Südamerika aus. Die Fähigkeit zu integrieren, das Zentrum zu erweitern, war der entscheidende Faktor für den amerikanischen Erfolg, die gelungene Etablierung eines amerikanischen Weltreiches. Allein die Bevölkerungsentwicklung - 285 Millionen in 2001, geschätzte 346 Millionen in 2025 - zeugt davon, wie erfolgreich die Integration war. Aber die Vereinigten Staaten können auch mit der entgegengesetzten Begrifflichkeit der radikalen Differenzierung und Diskriminierung beschrieben werden. In ihrer Geschichte gab es immer auch das Andere, Verschiedene, nicht zu -128-
Assimilierende, zur Vernichtung oder häufiger noch zur Separation Verdammte. Der Indianer und der Schwarze spielten lange diese Rolle, bei den Schwarzen ist es bis heute so geblieben, von den Indianern ist die Rolle auf die Hispanos übergegangen. In der amerikanischen Weltsicht verbinden sich Universalismus und Differenzierung zu einem Ganzen: Die beiden scheinbar gegensätzlichen Konzepte verhalten sich in Wirklichkeit komplementär. Am Anfang stand die Unsicherheit angesichts eines Gegenübers, das man nicht von vornherein als gleich oder anders bezeichnen konnte. Manche Ausländer erscheinen als gleichartig und gleichwertig, andere als verschieden und minderwertig. Gleichartigkeit und Verschiedenheit, Gleichwertigkeit und Minderwertigkeit entstanden gemeinsam durch Polarisierung. Die Ablehnung der Indianer und der Schwarzen hat es den irischen Immigranten ermöglicht, Deutsche, Juden und Italiener von gleich zu gleich zu behandeln. Umgekehrt hat die Gleichbehandlung dieser Immigrantengruppen untereinander es ihnen erlaubt, Indianer und Schwarze zu diskriminieren. Die angelsächsische Unsicherheit über den Status des anderen ist kein modernes Faktum: Sie rührt wahrscheinlich von einer gewissen anthropologischen Primitivität her, der Zugehörigkeit der Engländer zu einer peripheren historischkulturellen Schicht der alten Welt, die in die nachfolgenden Reiche wenig oder gar nicht integriert wurde und mit den Prinzipien von Gleichheit und Ungleichheit nicht gut umgehen konnte. Diese Primitivität betrifft nur den familiären Bereich; sie hat England und die Vereinigten Staaten in keiner Weise daran gehindert, in der jüngsten Phase der Geschichte als Pioniere der wirtschaftlichen Modernisierung aufzutreten. Typisch für die englische Kultur ist die Unbestimmtheit der Werte Gleichheit und Ungleichheit, die im allgemeinen in Eurasien sehr klar definiert sind.1 Wenn wir zu dem anthropologischen Modell zurückgehen, das anthropologische -129-
Struktur und ideologische Wahrnehmung a priori verbindet, können wir tatsächlich in der traditionellen englischen Familie die gleiche Unbestimmtheit ausmachen wie in der ideologischen Sphäre: Die Brüder sind verschieden, weder gleich noch ungleich. Werden in Deutschland und Japan die Erben ungleich behandelt, in Frankreich, Rußland, den arabischen Staaten und China gleich, ist für England die Testierfreiheit der Eltern typisch: Sie können ihren Besitz ganz nach Belieben unter ihren Kindern aufteilen. Im allgemeinen führt diese Regelung, vielleicht mit Ausnahme der Aristokratie, zu keinen derart krassen Unterschieden, wie sie auftreten, wenn alle übrigen Kinder zugunsten eines einzigen von der Erbfolge ausgeschlossen werden. Die Spannung zwischen Differenzierung und Universalismus gestaltet das Verhältnis der Angelsachsen zum anderen, zum Fremden, ganz eigentümlich und interessant: Es ist instabil. Universalistische Völker definieren von vornherein und ein für allemal fremde Völker als ihnen ähnlich. Allenfalls werden sie ungeduldig, wenn bestimmte Fremde ihre ideologische Vorannahme nicht bestätigen. Das fremdenfeindliche Potential universalistischer Völker ist offensichtlich: Die Franzosen erregen sich darüber, wie arabische Frauen eingesperrt werden, die Chinesen der klassischen Epoche und die antiken Römer verachteten die Barbarenvölker, die ihre Frauen nicht unterdrückten, oder nehmen wir die heftige Ablehnung der Russen gegenüber Schwarzen, eine Hautfarbe, mit der sie selten zu tun hatten. Aber niemals wird das entgegengesetzte anthropologische System theoretisch gefaßt und verurteilt. Die stark differenzierenden Völker ordneten zumindest in der Phase ihrer Eroberungen - die Deutschen bis zum Dritten Reich, die Japaner in ihrer militaristischen Ära die Menschheit in eine feste Hierarchie ein mit überlegenen und minderwertigen Völkern. Das Verhältnis der Angelsachsen zur Welt ist ständig in Bewegung. Sie haben eine anthropologische Barriere im Kopf, -130-
die universalistische Völker nicht haben und die sie in die Nähe der differenzierenden Völker rückt, aber diese Barriere kann sich verschieben, und zwar sowohl nach innen wie nach außen, in Richtung auf mehr Gemeinsamkeit oder mehr Abgrenzung. Es gibt uns und die anderen, aber von den anderen sind einige wie wir, und einige sind von uns verschieden. Von denen, die verschieden sind, können einige als ähnlich klassifiziert werden und von den Ähnlichen wiederum einige als anders. Aber immer besteht eine Grenze, die den vollständigen Menschen vom anderen trennt, »there is some place where you must draw the line«. Der geistige Raum der Engländer kann auf ein Minimum reduziert werden, auf sie selbst, aber er kann sich auch auf alle Bewohner Großbritanniens ausdehnen, und heute dehnt er sich offensichtlich nach und nach auf alle Europäer aus. Die Geschichte der Vereinigten Staaten kann wie eine Abhandlung über die Verschiebung dieser Grenze gelesen werden: von der Unabhängigkeit bis 1965 kontinuierliche Ausweitung der Gruppe im Mittelpunkt, von 1965 bis heute kontinuierlicher Rückzug nach innen. Zu Anfang waren die Amerikaner durch und durch Engländer, und sie lernten, alle Europäer zu integrieren, nach merklicher Skepsis, ob Iren, Italiener und Juden tatsächlich gleich wären. Die Kategorie »weiß« erlaubte es, eine Regel für die partielle Ausweitung aufzustellen und Indianer, Schwarze und Asiaten auf der anderen Seite der geistigen Barriere anzusiedeln, die Gleiche und Verschiedene trennt. Zwischen 1950 und 1965 erfolgte ein neuer Expansionsschub: Die Asiaten und die indianischen Ureinwohner wurden nunmehr als vollwertige Amerikaner definiert, ablesbar daran, in welchem Umfang Frauen asiatischer und indianischer Abstammung auf dem Heiratsmarkt auftauchten. Frauen dieser beiden Bevölkerungsgruppen waren nicht länger tabu für die Männer der dominanten Bevölkerungsgruppe, man konnte sie heiraten. Hingegen wurde beim Umgang mit den Schwarzen zwischen -131-
1950 und 1965 eine maximale Spannung zwischen Universalismus und Differenzierung erkennbar: Auf dem Niveau des bewußten politischen Handelns kämpfte die Bürgerrechtsbewegung für die Einbeziehung der Schwarzen in zentrale Bereiche der Gesellschaft. Auf dem Niveau der unbewußten Überzeugungen veränderte sich die Situation kaum und die Zahl der Eheschließungen von Weißen mit schwarzen Frauen nahm nur in verschwindend geringem Umfang zu. Aus einem optimistischen Blickwinkel könnte man die Expansionstendenz damit erklären, daß die menschliche Vernunft endlich doch zu der Einsicht geführt hat, daß der andere so ist wie man selbst. Diese Interpretation unterstellt eine autonome Dynamik in egalitärer Richtung, eine wesensmäßige Überlegenheit des Prinzips der Gleichheit gegenüber dem Prinzip der Ungleichheit. Aber wenn wir die letzte und leider nur vorübergehende Blüte des Universalismus in Amerika in den Jahren 1950-1965 betrachten, die Phase, in der die Bezeichnung Weltmacht wirklich zutraf, können wir einen zweiten Erklärungsfaktor nicht ausklammern: die Konkurrenz mit dem sowjetischen Weltreich. In der Epoche des Kalten Krieges erreichte der amerikanische Universalismus seinen Höhepunkt. Rußland hat die seit der Französischen Revolution wohl am stärksten universalistische Ideologie ersonnen und versucht, sie der Welt aufzuzwingen: den Kommunismus. Die Französische Revolution brachte den Grundsatz der Gleichheit aller Menschen. Die russische Revolution, nicht weniger egalitär, brachte der Menschheit den Gulag für alle. Welche Fehler der Kommunismus auch immer gehabt haben mag, man kann ihm ganz gewiß nicht vorwerfen, daß die unterworfenen Völker diskriminiert worden wären. Die Betrachtung der konkreten Funktionsweise der Sowjetherrschaft zeigt, daß von staatlicher Gewalt und Ausbeutung das russische Zentrum sehr viel stärker betroffen war als die Peripherie der annektierten Völker, die -132-
osteuropäischen Volksdemokratien genossen sogar ein Maximum an »Freiheit«. Der russische Universalismus ist klar und offensichtlich. Er enthält eine starke verführerische Komponente, deren Wirkung bei der Gründung der Kommunistischen Internationale zu beobachten war. Wie die französischen Revolutionäre schienen auch die Bolschewiken eine natürliche Disposition dafür zu haben, alle Menschen und alle Völker auf die gleiche Weise zu betrachten, eine sympathische Disposition, die darüber hinaus auch der politischen Expansion förderlich ist. Im Kalten Krieg mußte Amerika auf diese Bedrohung reagieren, im Inneren wie außerhalb seiner eigenen Grenzen. In den Außenbeziehungen drückte sich der amerikanische Universalismus in der Weise aus, daß die verbündeten Industrieländer in die homogene liberale Wirtschaftsordnung einbezogen wurden und daß die Entkolonialisierung in der ganzen westlichen Hemisphäre vorangetrieben wurde. Im Inneren der amerikanischen Gesellschaft führte die Konkurrenz zum kommunistischen Universalismus zum Kampf gegen die Ausgrenzung der Schwarzen. Die Welt, vor die Wahl gestellt, sich für eines der beiden Modelle zu entscheiden, konnte nicht für Amerika votieren, wenn das Land einen Teil seiner Bürger wie Untermenschen behandelte. Die Assimilierung der Japaner und der Juden war unbestreitbar erfolgreich. Die Integration der Schwarzen in das politische System ging nicht mit einer wirtschaftlichen Emanzipation einher und durchdrang nicht die ganze amerikanische Gesellschaft. Es hat sich zwar eine schwarze Mittelschicht herausgebildet, aber sie hat ihre eigenen Gettos neben den sehr viel zahlreicheren Gettos der armen Schwarzen. In allerjüngster Zeit, seit es den kommunistischen Rivalen nicht mehr gibt, ist ein Rückgang des amerikanischen Universalismus zu beobachten. Es scheint, als habe der Druck des Konkurrenzreiches die Vereinigten Staaten dazu gebracht, in -133-
ihrer universalistischen Haltung über sich selbst hinauszuwachsen. Dieser Druck besteht nun nicht mehr, und so kehrt Amerika zum natürlichen Gleichgewicht zurück, was bedeutet, daß der Kreis der fremden ethnischen Gruppen, die zu integrieren man bereit ist, enger gezogen wird. Der Rückgang des Universalismus im Inneren: Was der Umgang mit Schwarzen und Hispanos uns lehrt Der »multirassische« Charakter der amerikanischen Gesellschaft und die Statistik erlauben uns, die Abschwächung des amerikanischen Universalismus gleichsam »von innen« zu verfolgen. Wir können anhand von demographischen Analysen das Scheitern bei der Integration der Schwarzen nachvollziehen. Dies gilt auch für die Abgrenzung einer dritten Gruppe, der »Hispanos«: der Einwanderer aus Mittel- und Lateinamerika, die in der überwältigenden Mehrheit indianischer Abstammung oder Mexikaner sind. Die amerikanische Statistik zeigt auf den ersten Blick einen leichten Anstieg bei der Zahl der Eheschließungen zwischen männlichen schwarzen Amerikanern und weißen Amerikanerinnen: In der Altersgruppe über fünfundfünfzig sind 2,3 Prozent der Schwarzen mit einer weißen Partnerin verheiratet, in der Altersgruppe von fünfzehn bis vierundzwanzig 11 Prozent. Bei den schwarzen Frauen ist jedoch keine vergleichbare Veränderung zu beobachten, was für den Fortbestand eines grundlegenden rassischen Tabus spricht: Die Männer der herrschenden ethnischen Gruppe sollen keine Frauen der beherrschten ethnischen Gruppe heiraten. Eheschließungen zwischen schwarzen und weißen Partnern kommen geringfügig häufiger in den Schichten mit höherer Bildung vor. Bei den Asiaten hingegen ist der Anstieg erheblich: von 8,7 Prozent auf 30,1 Prozent der Eheschließungen in den -134-
entsprechenden Altersgruppen. Bei den jungen amerikanischen Juden liegt der Anteil der ethnisch gemischten Eheschließungen bei 50 Prozent. Der Eintritt auf den allgemeinen Heiratsmarkt, das heißt die Ausweitung der Gruppe, ging mit einem eklatanten Anstieg der aktiven Solidarität mit dem Staat Israel einher. Statistiken aus allerjüngster Zeit zufolge setzt sich der zwischen 1980 und 1995 zu beobachtende leichte Anstieg bei den Eheschließungen zwischen Schwarzen und Weißen in den Folgejahren nicht fort. Die statistischen Jahrbücher dokumentieren ein minimales Aufweichen der Rassenschranken zwischen 1980 und 1995 und eine erneute Verfestigung in den folgenden Jahren. Bei den Frauen lag die Zahl der gemischten Eheschließungen 1980 bei 1,3 Prozent und 1990 bei 1,6 Prozent. 1995 war sie auf 3,1 Prozent gestiegen, und 1998 stagnierte sie bei 3 Prozent. Aber für die amerikanischen Statistiker war das vielleicht schon zuviel. Sie spürten instinktiv, daß der Anstieg, so gering er auch sein mochte, eigentlich gar nicht sein durfte: »Enough is too much already.« Im Jahr 1999 schlossen sie klugerweise die weißen und schwarzen Hispanos aus der Statistik aus, eine bedeutungsschwere Entscheidung mit der Folge, daß der Anteil der gemischten Eheschließungen bei schwarzen Frauen auf 2,3 Prozent zurückging. 2 Das war falscher Alarm, denn eine Minderheit, die Träger des spanischen Universalismus war, hatte einen enormen Anteil an gemischten Eheschließungen, nämlich die Puertoricaner. Gegenwärtig haben 98 Prozent der schwarzen Frauen, die mit einem Mann zusammenleben, einen schwarzen Partner. Wenn wir zu dieser praktisch absoluten ethnischen Endogamie die Tatsache hinzunehmen, daß ein erheblicher Teil der schwarzen Frauen alleinerziehende Mütter und folglich bestimmt nicht mit Weißen verheiratet sind, kommen wir zu dem Ergebnis, daß das Rassenproblem in einem erheblichen Ausmaß fortbesteht. Wir sollten wohl sogar eher davon sprechen, daß die Lage sich verschlechtert hat, denn auch andere demographische Daten -135-
deuten auf eine Rückentwicklung hin. Die Säuglingssterblichkeit - definiert als Anteil der Kinder, die im Laufe des ersten Lebensjahres sterben - ist in den Vereinigten Staaten bei der schwarzen Bevölkerung traditionell sehr viel höher als bei der weißen: 1997 starben 6 von 1000 weißen Kindern und 14,2 von 1000 schwarzen Kindern. Auch die weißen Amerikaner liegen damit nur im Mittelfeld, Japan und alle westeuropäischen Länder haben eine geringere Säuglingssterblichkeit. Aber immerhin sinkt die Zahl bei der weißen Bevölkerung, 1999 lag sie bei 5,8 von 1000 Kindern. In der schwarzen Bevölkerungsgruppe, und das ist ganz außergewöhnlich, ist sie zwischen 1997 und 1999 von 14,2 auf 14,6 angestiegen. 3 Lesern, denen die soziologische Interpretation demographischer Befunde nicht geläufig ist, mag dieser Anstieg, wenn sie nur ihren gesunden Menschenverstand befragen, gering erscheinen. Sie glauben vielleicht, daß die Säuglingssterblichkeit für eine Gesellschaft nicht von allzu großer Bedeutung ist. Tatsächlich ist dieser Indikator aber außerordentlich bedeutsam, denn er sagt etwas aus über die reale Lage der Schwächsten in einer Gesellschaft oder in einem bestimmten Sektor der Gesellschaft. Der leichte Anstieg der Säuglingssterblichkeit in Rußland im Zeitraum zwischen 1970 und 1974 zeigte mir bereits 1976 die Verschlechterung der Lage in der Sowjetunion an und erlaubte mir, den Zusammenbruch des Systems vorauszusagen. 4 Der leichte Anstieg der Säuglingssterblichkeit bei den Schwarzen in Amerika ist ein Zeichen dafür, daß die Integration dieser Bevölkerungsgruppe nach einem halben Jahrhundert der Bemühungen gescheitert ist. Die Mentalität in Amerika zu Beginn des 3.Jahrtausends unterscheidet jedoch nicht zwei ethische Gruppen, sondern drei, insofern im Alltagsleben und in der Statistik die Kategorie der Hispanos geschaffen wurde, in der Regel Mexikaner mit indianischen Vorfahren, eine zahlenmäßig sehr bedeutende Gruppe.5 Die amerikanische Gesellschaft ist insofern zu der -136-
Dreiheit zurückgekehrt, die sie zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit hatte und auch als Tocqueville sie zu Anfang des 19. Jahrhunderts analysierte: Indianer, Schwarze und Weiße. Über die mexikanische Bevölkerungsgruppe wissen die Soziologen nur wenig. Bestimmte Ind ikatoren wie die Tatsache, daß die Kinder aus dieser Gruppe sehr gut englisch lernen, sprechen für verstärkte Assimilation, allen leidenschaftlichen Debatten über die kulturelle Verschiedenheit des spanischen Sprachraums zum Trotz. Aber festzuhalten ist, daß nach einem Anstieg bei den jüngsten Generationen ein Rückgang der Eheschließungen mit Weißen zu beobachten ist: von 12,6 Prozent bei den über 55jährigen über 19 Prozent bei den 15- bis 24jährigen zu nur 17,2 Prozent bei den 25- bis 34jährigen und 15,5 Prozent bei den 15- bis 24jährigen. 6 Dieser Rückgang zeigt nicht unbedingt einen Einstellungswandel bei den betreffenden Bevölkerungsgruppen an, sondern könnte sich auch gewissermaßen zwangsläufig daraus ergeben haben, daß in bestimmten grenznahen Regionen von Texas und Kalifornien die mexikanische Bevölkerung mehr oder weniger abgeschottet lebt. Es bleibt aber die Tatsache, daß selbst dieser rein territoriale Effekt eine Separation der weißen und, sagen wir, der hispanistisch-indianischen Bevölkerungsgruppe anzeigt. Die unterschiedlichen Fruchtbarkeitsquoten, wie sie die Statistiken für 1999 ausweisen, deuten auf anhaltend tiefe Mentalitätsunterschiede hin: 1,82 bei den nicht hispanistischen Weißen (eine abenteuerliche linguistischrassische Mischkategorie), 2,06 bei den nicht hispanistischen Schwarzen und 2,9 bei den Hispanos.7 Im Jahr 2001 lag die Fruchtbarkeitsquote in Mexiko bei 2,8. Ist die Beobachtung tatsächlich erstaunlich, daß in einer Gesellschaft, die die Verherrlichung der rechtlichen Gleichheit durch die Heiligung der »Verschiedenheit« ersetzt hat Verschiedenheit der Abstammung, der Kulturen, der Rassen, genannt »Multikulturalismus« -, ausgerechnet die Integration -137-
der Verschiedenen scheitert? Der Bedeutungsverlust des Wertes der Gleichheit in der amerikanischen Gesellschaft ist nicht auf den Bereich der ethnischen Beziehungen beschränkt. Die wirtschaftliche Entwicklung der Jahre 1980-1995 kann, wie wir gesehen haben, als ein Eilmarsch in Richtung auf mehr Ungleichheit beschrieben werden, und das ha t für bestimmte Gruppen mit geringem Einkommen - scheinbar zufällig in der großen Mehrzahl Schwarze - Niedergang und Zerfall bedeutet. Einmal mehr müssen wir uns hüten, in die karikaturhafte Zuspitzung zu verfallen, und versuchen, die angelsächsische Mentalität umfassend zu verstehen. Sie braucht die Ausgrenzung der einen, der Schwarzen mit Sicherheit, der Mexikaner vielleicht, um die anderen zu assimilieren, die Japaner und die Juden. Wir können deshalb eher von einer differenzierenden als einer universalistischen Assimilation sprechen. Die Integration der Juden in den Kern der amerikanischen Gesellschaft ist besonders bedeutsam vor dem Hintergrund eines rückläufigen Universalismus innerhalb der Gesellschaft, weil sie Auswirkungen auf die strategischen Entscheidungen Amerikas hat. Gleichzeitig ist auch ein Rückgang des Universalismus in den Außenbeziehungen zu beobachten, ablesbar am Verhältnis Amerikas zu anderen Staaten der Welt, ganz besonders offensichtlich im Umgang mit dem Nahostkonflikt. Israel wird im Inneren wie in den Außenbeziehungen in das mentale System Amerikas integriert, die Araber bleiben wie die Schwarzen und die Mexikaner ausgeschlossen. In den Vereinigten Staaten ist die ideologische Fixierung auf den Staat Israel nicht auf die Juden beschränkt. Die These, daß der amerikanische Universalismus generell im Rückgang befindlich ist, läßt die Fixierung verständlich werden. Aber wir müssen die historischen Hintergründe vorsichtig analysieren: Die Festigkeit des Bandes zwischen Amerika und Israel ist neu, das hat es in der Vergangenheit nicht gegeben. Darum geht es -138-
hier nicht so sehr darum, sie zu »erklären«, als darum, sie als »Indikator« für grundlegende Tendenzen in den Vereinigten Staaten zu begreifen. Die Parteinahme für Israel ist die sichtbarste Manifestation der Abkehr Amerikas vom Universalismus und der Hinwendung zur ausgrenzenden Betrachtung. Außenpolitisch kommt das in der Zurückweisung der Araber zum Ausdruck, innenpolitisch in den Schwierigkeiten bei der Integration der Mexikaner und der fortbestehenden Diskriminierung der Schwarzen. Der Rückgang des Universalismus in den Außenbeziehungen: Die Entscheidung für Israel Die Treue Amerikas zu Israel ist für die Spezialisten der strategischen Analyse ein großes Rätsel. Die Lektüre der jüngst erschienenen Werke der Klassiker bringt keine Aufklärung. Kissinger behandelt das Nahostproblem sehr detailliert, aber mit der Gereiztheit eines Vertreters der »realistischen« Schule, der mit irrationalen Völkern zu tun hat, die sich um den Besitz eines gelobten Landes streiten. Für Huntington gehört Israel nicht zu der Sphäre der westlichen Zivilisation, die er zu einem strategischen Block machen möchte.8 Brzezinski und Fukuyama erwähnen Israel überhaupt nicht. Das ist sehr verwunderlich, wenn man bedenkt, was für einen erheblichen Anteil die Bindung an Israel daran hatte, daß die Vereinigten Staaten eine generell antagonistische Beziehung zur arabischen Welt und zur muslimischen Welt insgesamt aufbauten. Ob die Bindung an Israel nützlich und vernünftig ist, läßt sich schwer sagen. Der Hinweis auf die Notwendigkeit einer Kooperation zwischen Demokratien verfängt nicht. Das Unrecht, das den Palästinensern tagtäglich angetan wird durch die israelische Besetzung ihrer Gebiete, ist ein täglicher Verstoß gegen das Prinzip der Gleichheit, das doch zur Basis der -139-
Demokratie gehört. Die anderen demokratischen Staaten, besonders die europäischen, stehen im übrigen keineswegs so bedingungslos auf der Seite Israels wie die Vereinigten Staaten. Mehr Gewicht hätte der Verweis auf den militärischen Wert der israelischen Armee. Die Schwäche des amerikanischen Heeres, das so schwerfällig ist und zunehmend unfähig, Verluste zu ertragen, hat zur Folge, daß Amerika bei Bodenoperationen immer mehr auf die Kontingente von Verbündeten oder gar auf Söldner setzt. Vielleicht wagen die amerikanischen Politiker in ihrer Fixierung auf die Einnahmen aus dem Erdölgeschäft nicht, auf die Unterstützung der wichtigsten Armee im Nahen Osten zu verzichten: der Streitkräfte Israels, eines kleinen Landes, das mit seiner geographischen Form und modernster Bewaffnung zunehmend an einen fest verankerten Flugzeugträger erinnert. Aus der realistischen strategischen Perspektive Amerikas, sei sie militärisch oder zivil, könnte es wichtiger sein, daß ma n auf Streitkräfte zählen kann, die jede beliebige arabische Armee innerhalb von Tagen oder Wochen vernichten können, als daß man sich Achtung und Zuneigung in der muslimischen Welt erwirbt. Wenn das tatsächlich das Kalkül ist, warum sprechen es die »realistischen« Strategen dann nicht aus? Und können wir uns ernsthaft vorstellen, daß eine israelische Armee dauerhaft die Ölquellen in Saudi- Arabien, Kuwait und den Emiraten kontrolliert, nachdem sie nur mit schweren Verlusten einst den Südlibanon kontrollieren konnte und heute bereits im Westjordanland alle Hände voll zu tun hat? Alle Deutungen, die auf die Rolle der Juden in den Vereinigten Staaten abheben und betonen, daß sie großen Einfluß auf den Ausgang der Wahlen hätten, enthalten ein Körnchen Wahrheit. Das ist die Theorie von der »jüdischen Lobby«. Man könnte sie noch ergänzen um eine Theorie der fehlenden arabischen Lobby. Da eine arabische Bevölkerungsgruppe nicht vorhanden ist, die hinreichend groß wäre, um ein Gegengewicht zur jüdischen darzustellen, dürften -140-
die Kosten für die Unterstützung Israels jedem amerikanischen Politiker, der seine Wiederwahl anstrebt, als nahezu null erscheinen. Warum sollte er es riskieren, die Stimmen der jüdischen Wähler zu verlieren, wenn nicht ebenso viele arabische Stimmen zu gewinnen sind? Aber man darf das Gewicht der jüdischen Bevölkerungsgruppe auch nicht überbewerten, es sind 6,5 Millionen oder 2,2 Prozent der Gesamtbevölkerung. Zudem hat Amerika durchaus auch antisemitische Traditionen, und man könnte sich vorstellen, daß ein erklecklicher Teil der 97,8 Prozent nicht-jüdischen Wähler die israel- freundlichen Politiker abstraft. Aber die Antisemiten sind gar nicht israel- feindlich eingestellt. Und damit sind wir beim Kern des Rätsels. Die Gruppen, die die amerikanischen Juden selbst als antisemitisch betrachten, die christlichen Fundamentalisten, stehen politisch auf der Seite der republikanischen Rechten. 9 Aber unter den republikanischen Wählern ist die Unterstützung für Israel besonders groß, und die religiöse amerikanische Rechte, die hinter Bush steht, hat neuerdings geradezu ihr Herz für den Staat Israel entdeckt als positives Gegenstück zu ihrem Haß auf den Islam und die arabische Welt. Wenn wir dann noch bedenken, daß drei Viertel der amerikanischen Juden nach wie vor politisch links stehen, die Demokraten wählen und die christlichen Fundamentalisten fürchten, kommen wir zu einem ganz zentralen Paradox: Es gibt eine implizit antagonistische Beziehung zwischen den amerikanischen Juden und dem Teil der amerikanische n Wählerschaft, der am nachdrücklichsten den Staat Israel unterstützt. Daß immer mehr Amerikaner ihre Sympathie für Israel unter Ariel Scharon bekunden, ist darum nur vor dem Hintergrund der These zu verstehen, daß es zwei ganz verschiedene Arten von Sympathie für Israel gibt, die sich in der Motivation widersprechen. Je nachdem, welche Gemengelagen aufeinandertreffen, ergeben sich Kontinuitäten und Brüche in -141-
der amerikanischen Politik gegenüber Israel. Auf der einen Seite haben wir die traditionelle Unterstützung der amerikanischen Juden für Israel. Wenn die demokratische Partei an der Macht ist, zeigt sie politische Bestrebungen, Israel zu schützen und gleichzeitig soweit wie möglich die Rechte der Palästinenser zu achten. Clintons Engagement für das Friedensabkommen von Camp David muß so interpretiert werden. Neuer und überraschender sind die Sympathien der republikanischen Rechten für Israel. Sie projiziert in den Nahen Osten ihre Vorliebe für die Art von Ungleichheit, die Amerika gegenwärtig prägt. Denn es kann eine Vorliebe für Ungleichheit und Ungerechtigkeit geben. Die Anhänger der universalistischen Idee proklamieren die Gleichwertigkeit aller Völker. Diese »gerechte« Einstellung vermittelt uns, daß das Gleichheitsprinzip eine notwendige Voraussetzung für ein Bündnis zwischen Völkern ist. Man kann sich jedoch mit einem anderen identifizieren, ohne an das Gleichheitsprinzip zu glauben. Während des Peloponnesischen Krieges unterstützte Athen, die Wiege der Demokratie, natürlich immer, wenn es konnte, die Demokratien im griechisch geprägten Raum. Hingegen setzte Sparta, die Urform einer Oligarchie, in jedem eroberten Stadtstaat eine oligarchische Führung ein. 10 Ende des 18. Jahrhunderts gelang es den verschiedenen Monarchen in Europa ohne große Schwierigkeiten, sich zu einer Koalition gegen die Französische Revolution mit ihrem Gleichheitsprinzip zusammenzuschließen. Das spektakulärste Beispiel für eine Identifizierung auf Distanz zwischen zwei Regimen, die nicht nur dem Gleichheitsprinzip ablehnend gegenüberstanden, sondern auch der Idee anhingen, daß die Völker nicht gleichwertig sind, waren indes Deutschland und Japan im Zweiten Weltkrieg. Nach Pearl Harbor erklärte Hitler den Vereinigten Staaten den Krieg aus Solidarität mit Japan. In den Beziehungen zwischen Staaten wie in den -142-
Beziehungen zwischen Menschen kann es eine Vorliebe für das Böse oder, abgeschwächt, für die Ungerechtigkeit geben, wenn man selbst böse oder ungerecht ist. Die fundamentale Triebkraft bei der Identifikation mit dem anderen ist nicht, daß man das Gute in ihm erkennt, sondern daß man sich selbst wiederkennt. Wir könnten sogar sagen, daß das Gefühl, man selbst habe sich zum Schlechten verändert, den Wunsch verstärkt, Doppelgänger zu finden, die die eigene Entwicklung rechtfertigen. Unter diesem Blickwinkel muß man, so meine ich, die neue Nähe zwischen Amerika und Israel betrachten. Weil Israel einen schlechten Weg eingeschlagen hat, billigt Amerika, das sich ebenfalls auf einem schlechten Weg befindet, das immer gewalttätigere Vorgehen Israels gegen die Palästinenser. Amerika glaubt immer mehr an die Ungleichheit der Menschen und immer weniger an die Einheit des Menschengeschlechts. All dies können wir ohne Einschränkung auch über den Staat Israel sagen. Seine Politik gegenüber den Arabern geht mit einer inneren Spaltung einher, das Land ist gespalten durch wirtschaftliche Ungleichheit und unterschiedliche Glaubensüberzeugungen. Die zunehmende Unfähigkeit der Israelis, die Araber als menschliche Wesen wahrzunehmen, ist für jeden evident, der Nachrichten sieht und liest. Aber der inneren Gespaltenheit des Landes sind wir uns weniger bewußt, der Tatsache, daß die israelische Gesellschaft wie die amerikanische von einem Fieber der Ungleichheit erfaßt ist." Israel hat mittlerweile mit die größten Einkommensunterschiede unter den entwickelten und »demokratischen« Ländern. Die verschiedenen Gruppen - nicht religiöse, aschkenasische, sephardische und ultraorthodoxe Juden - entfernen sich immer weiter voneinander, ablesbar an den unterschiedlichen Geburtenraten, die von 2 Kindern pro Frau bei den Nichtreligiösen bis zu 7 Kindern pro Frau bei den Ultraorthodoxen reichen. Am Anfang ihrer Beziehung gehörten Israel und die -143-
Vereinigten Staaten zur Sphäre der liberalen Demokratien. Darüber hinaus gab es ein konkretes Band, weil in Amerika die größte jüdische Gemeinschaft in der Diaspora lebte, nicht zu vergessen das biblische Band zwischen Calvinismus und Judentum. Ein Protestant mit einem einigermaßen wortwörtlichen Verständnis der Bibel identifizierte sich mit dem Volk Israel. Die amerikanischen Puritaner des 17. Jahrhunderts waren als Immigranten in ein neues gelobtes Land gekommen, und ihre Abscheu vor götzenverehrenden Völkern Differenzierung im Sinne der Bibel - fand ein Feindbild bei Indianern und Schwarzen. Die in jüngster Zeit zu beobachtende Fixierung der Vereinigten Staaten auf Israel hat wahrscheinlich nicht mehr sehr viel mit der ursprünglichen religiösen Wurzel zu tun, mit der Liebe zur Bibel und einer positiven, optimistischen Identifikatio n mit dem auserwählten Volk. Ich bin davon überzeugt: Wäre Frankreich, als republikanischer oder katholischer Staat, immer noch in einen Krieg in Algerien verstrickt und würde es dort Araber unterdrücken, einsperren und töten, wie Israel das in Palästina tut, dann würde sich das heutige Amerika - auf Ausgrenzung bedacht, inegalitär und gequält von seinem schlechten Gewissen - mit der vom Universalismus abgefallenen Kolonialmacht Frankreich identifizieren. Wenn man selbst das Lager der Gerechten verlassen hat, gibt es nichts Beruhigenderes, als zu sehen, daß auch andere Unrecht tun. Wenn Israel heute Unrecht tut, nimmt die Führungsmacht der westlichen Welt keinen Anstoß daran. 12 Es ist zentral wichtig für die strategische Analyse der Weltsituation, die tiefere Logik hinter dem amerikanischen Verhalten zu erkennen: Die Unfähigkeit der Amerikaner, in den Arabern Menschen zu sehen, gehört zu der allgemeinen Tendenz, daß der Universalismus in der amerikanischen Gesellschaft schwindet.
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Die Sorgen der Juden in Amerika Das hier dargelegte Modell macht die Unruhe der amerikanischen Juden verständlich. Eigentlich könnte man erwarten, daß die Juden sich einfach über ihre gelungene Integration freuen würden und von der Loyalität Amerikas gegenüber Israel begeistert wären. Tatsächlich verhält es sich genau umgekehrt. Diese privilegierte Bevölkerungsgruppe pflegt einen beunruhigenden, um nicht zu sagen neurotischen Kult um den Holocaust.13 Unermüdlich gedenken die Juden in Amerika des Mordens, dem sie entgangen sind. Unaufhörlich kritisieren sie den wachsenden Antisemitismus weltweit, und sie machen sich um alle Gemeinden in der Diaspora, vor allem in Frankreich, mehr Sorgen als die Gemeinden selbst, auch nachdem im Frühjahr 2002 in einigen französischen Städten Anschläge auf Synagogen verübt wurden. Die französischen Juden aschkenasischer Abstammung, für die der Holocaust eine viel konkretere Realität ist als für die amerikanischen Juden, weil ihre eigenen Familien davon betroffen waren, leben allem Anschein nach viel sorgloser und blicken viel zuversichtlicher in die Zukunft, auch wenn man ihnen von jenseits des Atlantiks beständig vorhält, sie seien Renegaten ohne Gemeinschaftsgefühl und würden irgendwann schon noch Opfer des ewigen französischen Judenhasses werden. Die fortbestehende Angst der Juden in Amerika, dem Land mit der angeblich »allmächtigen jüdischen Lobby«, hat etwas Paradoxes.14 Unsere These, daß der Universalismus sich in Amerika auf dem Rückzug befindet, erlaubt eine Erklärung, warum die Angst der Juden dort so groß ist. Fassen wir unser Erklärungsmodell noch einmal zusammen. Die angelsächsische Mentalität hat zwei Merkmale, was das Verhältnis zum Anderen anbetrifft: Sie muß ausschließen, um einschließen zu können, und die Grenze zwischen Eingeschlossenen und Ausgeschlossenen ist nicht fest. In -145-
manchen Phasen wird die Grenze erweitert, in anderen enger gezogen. Dem Einschluß der amerikanischen Juden entspricht der Ausschluß der Schwarzen und vielleicht auch der Mexikaner. Die Juden werden eingeschlossen zu einer Zeit, da der Universalismus rückläufig ist und die Differenzierung zunimmt in der geläufigen amerikanischen Begrifflichkeit ausgedrückt, da das ethnische Bewußtsein einen Aufschwung erlebt. Wie kann man mit gutem Gewissen und einem Gefühl der Sicherheit einen derart paradoxen Prozeß der Integration mitgestalten? Muß eine solche Form der Einbeziehung nicht fragil, gefährdet und gefahrvoll zugleich erscheinen? Die amerikanischen Juden projizieren eine Angst, die sie empfinden, auf die Außenwelt, denn sie spüren diffus, daß sie eher der Spielball einer rückwärtsgewandten, diskriminierenden Dynamik in der amerikanischen Gesellschaft sind als daß sie von der integrierenden Großzügigkeit universalistischen Typs profitieren. Dieser Standpunkt ist nicht nur das Ergebnis theoretischer Überlegungen. Mir wurde das Anfang der achtziger Jahre in einem Gespräch mit meinem Großvater erstmals klar, einem amerikanischen Juden, der aus Österreich stammte. Bei einem Besuch in Disneyland enthüllte er mir inmitten tanzender Mickymäuse seine beständige Angst: Die leidenschaftliche Beschäftigung der amerikanischen Gesellschaft mit Rassenfragen erinnerte ihn unangenehm an die Verhältnisse im Wien seiner Jugend. Von den französischen Juden in meiner Verwandtschaft hat keiner jemals eine derartige Sorge geäußert. Ein Weltreich kann nicht auf Differenzierung setzen Die amerikanische Rede vom »Reich des Bösen«, von der »Achse des Bösen« und jeder anderen Manifestation teuflischer -146-
Mächte auf Erden bringt uns zum Lachen oder zum Schreien je nach Zeitpunkt und je nach individuellem Temperament -, weil dieses Gerede ganz offensichtlich Unsinn ist. Doch wir müssen diese Formeln ernst nehmen, allerdings erst, nachdem wir sie entschlüsselt haben. In ihnen drückt sich objektiv die amerikanische Besessenheit vom Bösen aus, das in der Außenwelt gesehen wird, während es doch in Wahrheit im Inneren wirkt. Die Bedrohung durch das Böse ist in der Tat allgegenwärtig: Abkehr von der Gleichheit, Aufstieg einer verantwortungslosen Plutokratie, die einzelnen Konsumenten und das ganze Land leben auf Kredit, immer häufiger wird die Todesstrafe verhängt, Rassenfragen sind immer wichtiger. Nicht vergessen dürfen wir in diesem Zusammenhang auch die Aufregung um die Anthrax-Anschläge, die, wie es scheint, von verwirrten und außer Kontrolle geratenen Angehörigen eines Geheimdienstes verübt wurden. Gott segnet in diesen Tagen Amerika wahrlich nicht. Überall sieht es das Böse lauern, während es doch selbst den Weg des Bösen eingeschlagen hat. Dieser Rückfall kann uns vielleicht daran erinnern, was wir dabei sind zu verlieren: Das Amerika der Jahre 1950 bis 1965, das Land der Massendemokratie, der Meinungsfreiheit, der Ausweitung der sozialen Rechte, des Kampfes um die Bürgerrechte - dieses Amerika war das Reich des Guten. Was man heute als amerikanischen Unilateralismus bezeichnet, die in der internationalen Politik geläufige Umschreibung für Differenzierung und Diskriminierung, soll freilich hier nicht unter einem primär moralischen Blickwinkel betrachtet werden. Vielmehr wollen wir seine Ursachen und seine konkreten Folgen untersuchen. Die entscheidende Ursache ist, wie wir gesehen haben, der Rückgang der egalitären und universalistischen Einstellung in den Vereinigten Staaten selbst. Als wichtigste Folge haben die Vereinigten Staaten eine ideologische Ressource verloren, die für ein Weltreich unverzichtbar ist. Ohne die Vorstellung, daß alle Menschen und -147-
alle Völker gleich sind, kann Amerika über eine zu groß und zu verschieden gewordene Welt nicht herrschen. Das Wissen um Recht und Unrecht ist ein Herrschaftsinstrument, und Amerika besitzt es nun nicht mehr. Die unmittelbare Nachkriegszeit - der Zeitraum 1950 bis 1965 war in gewisser Weise der Höhepunkt des Universalismus in der amerikanischen Geschichte. Wie der Universalismus des römischen Weltreiches war auch der des siegreichen Amerika zurückhaltend und großzügig. Die Römer erkannten die Überlegenheit der Griechen in Philosophie, Mathematik, Literatur und bildender Kunst an. Die römische Aristokratie übernahm griechische Lebensformen, der militärische Sieger paßte sich in vielen Punkten der überlegenen Kultur des besiegten Reiches an. Rom unterwarf sich auch vielen Religionen, und zuletzt sogar einer einzigen Religion aus dem Osten des Imperiums. Die Vereinigten Staaten waren in der Zeit, als sie eine echte Weltmacht darstellten, offen für die Welt um sie herum und respektierten sie. Wohlwollend beobachteten und analysierten sie die verschiedenen Gesellschaften auf der Erde mit den Mitteln der Politikwissenschaft, der Anthropologie, der Literatur und des Kinos. Der wahre Universalismus bewahrt das Beste aus allen Welten. Die Kraft des Siegers ermöglicht die Verschmelzung der Kulturen. Diese Epoche, in der sich in den Vereinigten Staaten wirtschaftliche und militärische Macht verbanden, scheint lange vergangen. Heute haben wir ein geschwächtes, unproduktives Amerika vor uns, das nicht mehr tolerant ist. Dieses Amerika behauptet, es verkörpere ein exklusives menschliches Ideal, es allein besitze den Schlüssel zu wirtschaftlichem Erfolg, und nur seine Filme seien wahres Kino. Der Anspruch auf die gesellschaftliche und kulturelle Hegemonie, wie er in jüngster Zeit erhoben wird, dieser narzißtische Expansionswunsch, ist nur ein Indiz neben anderen für den dramatischen Verfall der tatsächlichen wirtschaftlichen und militärischen Macht und für den Niedergang des Universalismus in Amerika. Da Amerika nicht -148-
mehr fähig ist, die Welt zu beherrschen, bestreitet es die autonome Existenz der Welt und die Vielfalt der Gesellschaften auf unserem Planeten.
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KAPITEL 6 Dem Starken die Stirn bieten oder den Schwachen angreifen?
Der Wandel der amerikanischen Gesellschaft und Wirtschaft hin zur Ungleichheit und vor allem zur Ineffizienz hat die Beziehungen der USA zur übrigen Welt schließlich auf den Kopf gestellt. Amerika, das 1945 noch eine unabhängige Supermacht war, ist für die Weltwirtschaft ein halbes Jahrhundert später zu einer Art Schwarzem Loch geworden, das Waren und Kapital in sich aufsaugt, ohne selbst gleichwertige Güter liefern zu können. Um sich die Herrschaft über die Welt zu sichern, von der es ernährt wird, muß es zu einer anderen Rolle finden als zu der des Endabnehmers im keynesianischen Sinn. Den USA fällt dies nicht leicht. Ihre neue Selbstbestimmung als hegemoniale Macht kann nur politischer und militärischer Natur sein: Sie müssen sich als Staat auf dem gesamten Planeten durchsetzen und dabei ein weltweites Gewaltmonopol erringen. Allerdings fehlen Amerika für diese Neuorientierung die unabdingbaren Ressourcen, mit Blick auf die hard power wie auf die soft power, um Joseph Nyes Begriffe zu gebrauchen. Wie bereits erwähnt, bringt der freie Warenaustausch auf globaler Ebene Probleme des Wachstums mit sich und bremst inzwischen die Entwicklung des weltweiten Wohlstands. Kurzfristig sorgt er dafür, daß die USA nach einem seltsamen Mechanismus leben: Der von ihnen ausgelöste Mangel an Nachfrage verschafft ihnen zugleich die Rolle des »unverzichtbaren Konsumenten«, während die Schere der Ungleichheiten, die andere Konsequenz des Systems, Gewinnsteigerungen ermöglicht und sie so mit dem frischen -150-
Kapital versorgt, das sie für ihren Konsum benötigen. Die Stellung der USA als zentraler Regler ist prekär, weil die Erhebung des Herrschaftstributs, wie erwähnt, nicht auf autoritäre Weise, sondern nach einem »liberalen«, freiwilligen, subtilen und instabilen Mechanismus erfolgt, der in hohem Maße vom guten Willen der dominanten Klassen an der beherrschten Peripherie, vor allem in Europa und Japan, abhängt. Man kann der Wall Street und den amerikanischen Banken alle möglichen Betrügereien vorwerfen, aber nicht, daß sie die Leute zwängen, bei ihnen ihr Geld anzulegen und es dadurch zu verlieren. Die kapitalistische Herrschaft der deregulierten Vielfalt, deren Meister die USA sind, verliert zusehends ihren legitimen Anschein: So tauchte die Kritik an der Globalisierung als strategische Bedrohung der USA an prominenter Stelle in der Ausgabe von Foreign Affairs vom Januar/Februar 2002 auf. Kompliziert wird dieses ökonomische Problem durch die Unzulänglichkeit der amerikanischen Streitkräfte. Während die USA mit ihren Flugzeugträgern unstrittig effizient operieren können, sind ihre Landstreitkräfte nicht in der Lage, den geographischen Raum, aus denen die USA ihre Produkte und ihr Kapital ziehen, unmittelbar zu kontrollieren. Hinzu kommt vor allem, daß ihre Luftwaffe, die theoretisch nur über die Drohung mit Bombardements eine absolute Herrschaft ausüben könnte, nach wie vor vom guten Willen der einzigen Macht abhängt, die sie mit ihrer Luftabwehrtechnologie teilweise oder ganz neutralisieren könnte: von Rußland. Solange diese Macht existiert, verfügen die USA nicht über die unumschränkte Herrschaft, die ihr in ihrer jetzigen Situation der Abhängigkeit von der Welt auf lange Sicht wirtschaftliche Sicherheit garantierten könnte. Wirtschaftliche Abhängigkeit und militärische Schwäche diesem Bild der Vereinigten Staaten ist ein weiteres wichtiges Element hinzuzufügen: der Verlust einer universalistischen -151-
Betrachtungsweise, der verhindert, daß die USA die Welt vor dem Hintergrund von Gleichheit, Gerechtigkeit und Verantwortung wahrnehmen. Der Universalismus ist eine grundlegende Ausgangsposition für jeden Staat, der danach strebt, eine Nation oder ein größeres, mit verschiedenen Ethnien besiedeltes Reich zu beherrschen und diesem seine Regeln aufzuzwingen. An dieser Stelle zeigt sich der Grundwiderspruch der Stellung der USA in der Welt: Die Supermacht muß in einem Herrschaftsbereich dauerhaft ein stabiles wirtschaftliches Gleichgewicht aufrechterhalten, ohne dafür über die entsprechenden militärischen und ideologischen Voraussetzungen zu verfügen. Will man die amerikanische Außenpolitik verstehen, muß man sich mit der Entstehung dieses Grundwiderspruchs befassen und sich fragen, wie dieses prekäre, halb imperiale, halb liberale Dilemma entstanden ist. Bei der Reihe von Entscheidungen, die Amerika in dieses Dilemma führten, deutet nämlich nichts auf eine Planung von langer Hand hin. Die imperiale Option ist jüngeren Datums: Sie ging nicht aus einem starken Willen hervor, sondern offerierte sich der amerikanischen Führung als eine einfache Lösung. Sie ist schlicht das Ergebnis äußerer Umstände: Der Zusammenbruch des Sowjetsystems, der einen Augenblick lang die Illusion der Allmacht vermittelte, weckte in den USA zu zwei Zeitpunkten den Traum von einer stabilen globalen Vorherrschaft. Das entscheidende Jahr war dabei weniger 1990 als vielmehr 1995. Vom Zusammenbruch des Kommunismus zum Kollaps Rußlands Weder Amerikas politische Führung noch seine Strategen hatten den Zusammenbruch des Sowjetsystems vorhergesehen, -152-
des kommunistischen Widersachers, dessen Konkurrenz der liberalen Welt in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine Art negativen Zusammenhalt gesichert hatte. Anfang der neunziger Jahre wurden sich die USA übrigens der eigenen wirtschaftlichen Schwächen bewußt. So beschrieb schon 1990 Michael Porter in der Originalausgabe von Nationale Wettbewerbsvorteile: erfolgreich konkurrieren auf dem Weltmarkt die verschiedenen Formen des Kapitalismus in Japan, Deutschland, Schweden und Korea hinsichtlich der Produktivität als effizienter als die angelsächsische, weil diese Staaten liberale Regeln nur dann akzeptierten, wenn sie daraus Vorteile ziehen konnten. 1 Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus, des Hauptfeindes, schien zunächst die Rivalität zwischen den einzelnen kapitalistischen Mächten in Europa und Asien in den Vordergrund zu rücken. 1993 sagte Lester Thurow in der Originalausgabe von Kopf an Kopf einen Wirtschaftskrieg zwischen den Vereinigten Staaten, Europa und Japan voraus.2 Bleibt anzumerken, daß in dieser Phase weder die amerikanische noch die anderen Führungen, die Jahre zuvor vom Zusammenbruch des Kommunismus völlig überrascht worden waren, den Untergang Rußlands als Supermacht in Betracht zogen. Hatte die entwickelte Welt zuvor die wirtschaftliche Stärke des Kommunismus überschätzt, so unterschätzte sie nun die Schwierigkeiten beim Umbau der kommunistischen Wirtschaft. Anfang der neunziger Jahre galt eine Hypothese als die wahrscheinlichste: Rußland werde ein strategisches Gewicht in einer Welt behalten, die ihre ideologische Polarisierung überwunden habe, obwohl es nach wie vor zwei Supermächte gebe. Möglich schien sogar der Traum einer auf Gleichberechtigung und Ausgleich beruhenden Welt der Natione n, in der alle schließlich dieselben Spielregeln beachteten. Vor diesem Hintergrund setzten die Vereinigten -153-
Staaten auf eine Rückkehr zum Gleichgewicht der Kräfte. Wie erwähnt, unternahmen sie spektakuläre Anstrengungen zur Abrüstung. 3 Nichts deutete damals auf eine imperiale Option der USA hin. Dann aber wurde zwischen 1990 und 1995 die politische Auflösung der ehemaligen sowjetischen Einflußsphäre offenkundig, während zugleich die Wirtschaftsleistung in den verschiedenen Republiken auf dramatische Weise schrumpfte. Die russische Produktion sank in diesem Zeitraum um 50 Prozent. Die Investitionsquote ging dramatisch zurück, und die Geldwirtschaft verlor an Bedeutung: In bestimmten Regionen hielt wieder der Naturaltausch Einzug. Durch die Unabhängigkeit der Ukraine, Weißrußlands und Kasachstans, das zur Hälfte mit Russen bevölkert ist, verlor das »slawische« Zentrum des Gefüges 75 Millionen Staatsangehörige. Rußland büßte seine Stellung als Staat ein, der den USA in demographischer Hinsicht fast ebenbürtig war. Hatten 1981 die Sowjetunion 268 und die USA 230 Millionen Einwohner, so waren es 2001 in Rußland nur noch 144 Millionen, während die Bevölkerung in den USA auf 285 Millionen angewachsen war. Noch schlimmer wirkte sich aus, daß die nationalen oder ethnischen Forderungen nicht nur in den einstigen Sowjetrepubliken, sondern auch in den autonomen Regionen innerhalb der russischen Föderation vom Kaukasus bis nach Tatarstan laut wurden. Der Zentralverwaltung drohte die Kontrolle über die fernen Regionen Sibiriens zu entgleiten. Schon wurde über einen Bruch der Beziehungen zwischen den rein russischen Regionen, über eine Art feudale Zersplitterung des russischen Staates spekuliert.4 Eine totale Auflösung der russischen Föderation schien durchaus möglich. Um 1996 sah es so aus, als würde der alte strategische Gegner der Amerikaner schlicht und einfach verschwinden. Zu diesem Zeitpunkt wird in den USA die imperiale Option sichtbar: Die Annahme einer aus dem Gleichgewicht geratenen Welt, die militärisch vollkommen -154-
unter der Vorherrschaft Amerikas steht, wird in gewisser Weise wahrscheinlich. Die USA müssen nur ein wenig nachhelfen, die Peripherie der Russischen Föderation, den Kaukasus und Mittelasien, die beiden Schwachstellen, zur Unabhängigkeit ermuntern und Provokationen starten, und schon kann die Partie gewonnen werden. 1997 erscheint die Originalausgabe von Brzezinskis Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft, das konsequenteste Werk über die Notwendigkeit und die Mittel, mit denen die USA eine strategische Vorherrschaft in Eurasien zu erringen trachten. Der Zusammenbruch Rußlands macht die USA zur einzigen militärischen Supermacht. Gleichzeitig beschleunigt sich die Globalisierung der Finanzmärkte: Zwischen 1990 und 1997 klettert der Finanzüberschuß bei den Kapitalzuflüssen zwischen Amerika und der übrigen Welt von 60 auf 271 Milliarden USDollar. Die Amerikaner können sich eine Konsumsteigerung leisten, die durch die eigene Produktion nicht gedeckt ist. Der Gedanke einer imperialen Option darf freilich nicht zu der Vorstellung verleiten, daß sich die amerikanischen Führungskreise mit besonderer Hellsicht und genialer Berechnung im richtigen Augenblick für eine Strategie entschieden und diese dann konsequent umgesetzt hätten. Ganz im Gegenteil greifen sie zur imperialen Option, weil sie den Dingen dadurch freien Lauf lassen und konsequent den Weg des geringsten Widerstands gehen können. Die amerikanische Führungsklasse läßt Willenskraft und Planungsbereitschaft noch stärker vermissen als die der europäischen Satelliten, die wegen ihrer Schwäche so oft kritisiert werden. Immerhin verlangt der Aufbau des europäischen Hauses Bemühungen um Verständigung und Entwicklung von Organisation, zu denen die amerikanische Führungsklasse in der gegenwärtigen Phase keineswegs in der Lage wäre. Für die USA wäre eine langfristig sehr viel sicherere Lösung deshalb eine nationale Option gewesen. Wegen der Ausdehnung -155-
des Staates über einen ganzen Kontinent und wegen seines zentralen Finanzsystems hätte sie zudem leichter realisiert werden können als anderswo. Aber sie hätte der USAdministration große Anstrengungen hinsichtlich Organisation und Regulierung abverlangt: eine Energiepolitik und eine Politik zum Schutz der Industrie, zwei wesentliche Begleiterscheinungen einer multilateralen Außenpolitik, die andere Nationen und Regionen zu mehr Selbständigkeit ermuntern, die wiederum für alle förderlich ist. Die erneute Dynamisierung der entwickelten Wirtschaften auf einer »regionalisierten« Basis hätte es in der Tat ermöglicht, die Entwicklungsländer durch einen Schuldenerlaß als Ausgleich für wieder eingeführte protektionistische Maßnahmen effizient zu unterstützen. Mit einem globalen Plan dieses Typs hätten die USA zur unumstrittenen und endgültigen Führungsmacht auf dem Planenten avancieren können. Aber einen solchen Plan zu durchdenken und umzusetzen wäre sehr mühsam gewesen. Viel einfacher, ja dankbarer war es da, auf den endgültigen Zusammenbruch Rußlands und den Aufstieg der USA zur einzigen Supermacht zu vertrauen, den Zustrom an Kapital zu konstatieren und ein immer höheres Handelsbilanzdefizit in Kauf zu nehmen. Die imperiale Option, gerechtfertigt mit der liberalen Ideologie des freien Spiels der Kräfte, war, psychologisch gesehen, so vor allem das Ergebnis einer Politik des »Laissez aller«. Diese Strategie, hinter der ehrgeizige Ziele, aber ein schwacher Wille steckten, beinhaltete ein größeres Risiko: 1997 war noch nicht sicher davon auszugehen, daß die russische Macht endgültig zerfallen würde. Jede Außenpolitik, die sich auf eine so ungewisse Annahme gründete, bedeutete für die USA eine kolossale Gefahr: Sie könnten eines Tages in massive wirtschaftliche Abhängigkeit geraten, ohne den anderen Mächten militärisch überlegen zu sein, kurz, sie könnten aus einer halbimperialen in eine pseudoimperiale Position geraten. -156-
Wenn hinter der diplomatischen und militärischen Strategie dieser imperialen Option ein starker Wille gestanden hätte, wäre sie durch die USA konsequent und systematisch verfolgt worden. Dies war nicht der Fall. Daß kontinuierliche Anstrengungen hier unterblieben, läßt sich am einfachsten anhand der rationalsten und am offensten vorgetragenen imperialen Ziele zeigen - anhand des Modells von Brzeszinski -, wobei dann untersucht werden muß, inwieweit sich die amerikanischen Führer an dieses Modell gehalten haben oder nicht. Dabei stellt sich für die jüngere Geschichte heraus, daß sie alle einfacheren Bestandteile tatsächlich umgesetzt und all diejenigen außer acht gelassen haben, die ein hohes Maß an Zeit und Energie gekostet hätten. Vom großen diplomatischen Schachbrett... Brzezinskis Plan ist klar und prägnant umrissen, auch er suggeriert, daß man Rußland zum eigenen Wohl den Todesstoß versetzen müsse. Um dieses Ziel zu erreichen, müsse sich der Westen die Ukraine einverleiben und Usbekistan dazu nutzen, um Mittelasien der russischen Einflußsphäre zu entziehen. Verschwiegen wird jedoch, daß eine Umzingelung Rußlands zwangsläufig dazu führen müßte, daß sich das Kernland auflöst. Bei aller hohen Strategie hält sich Brzezinski hier diplomatisch zurück. Und noch bei einem weiteren Punkt hält er sich bedeckt: Er klammert die Ineffizienz der amerikanischen Wirtschaft und die Notwendigkeit für die USA aus, die Reichtümer dieser Welt auf politischem und militärischem Weg unter ihre Kontrolle zu bringen. Wegen seiner kulturellen Prägung formuliert er dieses zentrale Ziel des Landes nur indirekt. Er hebt hervor, daß Eurasien an der Weltbevölkerung und an wirtschaftlichen Aktivitäten den größten Anteil stellt, und weist dann auf die große Entfernung zwischen Amerika und Eurasien hin. Im Klartext bedeutet dies: Aus Eurasien stammen die Ströme an -157-
Waren und Geld, die Amerika benötigt, um seinen Lebensstandard aufrechtzuerhalten, und dies gilt für den der oberen Schichten wie für den des einfachem Volkes. Trotz der genannten Vorbehalte ist das Projekt kohärent. Die einzige auszumachende Bedrohung für das amerikanische Reich ist Rußland, das folglich isoliert und zerstückelt werden muß. Man kann von einer Bismarckschen Herangehensweise an die Probleme sprechen, wobei Rußland die Stellung einnimmt, die zwischen 1871 und 1890 das besiegte Frankreich innehatte. Reichskanzler Bismarck war dank der vernichtenden französischen Niederlage 1870/71 die deutsche Reichseinigung gelungen. In den folgenden zwanzig Jahren bemühte er sich um eine Aufrechterhaltung der guten Beziehungen zu allen anderen europäischen Mächten, um Frankreich, von dem wegen der Abtretung Elsaß-Lothringens revanchistische Bestrebungen zu erwarten waren, als einzigen Gegner zu isolieren. Brzezinski empfiehlt den Vereinigten Staaten einen kooperativen Kurs gegenüber allen Nationen außer Rußland. In der vollkommen richtigen Erkenntnis, daß eine echte Herrschaft der USA über Eurasien hauptsächlich von der Zustimmung des europäischen und des japanischen Protektorates abhängt, rät er zu einer Konsolidierung ihrer Machtpositionen. Japan soll eine eher globale als rein asiatische Rolle spielen, und dem Aufbau des europäischen Hauses soll wohlwollend begegnet werden. Nur England wird herablassend als »Nicht-Akteur« definiert. Das deutsch- französische Tandem erwähnt Brzezinski respektvoll als den bedeutendsten strategischen Spieler. Mit besonderer politischer Hellsicht rät er sogar zu einer verständnisvolleren Haltung gegenüber Frankreich. Hinter dieser Sichtweise steckt ein scharfer Blick: Solange Europa und Japan sich mit der amerikanischen Führungsrolle abfinden, ist das Reich unverwundbar: In seinem engeren Umfeld ist der wichtigste Teil der weltweiten technologischen und ökonomischen Macht konzentriert. Von diesem Kern seiner Strategie abgesehen, rät -158-
Brzezinski zu einer kooperativeren Haltung auch gegenüber China, das erst auf lange Sicht zum Rivalen werden könnte, und gegenüber dem Iran, dessen weitere Entwicklung seiner Ansicht nach nicht zur Konfrontation führen wird. Rußland, das von Europa und Japan umzingelt und von China und dem Iran abgeschnitten ist, würde in Eurasien so praktisch jeden Handlungsspielraum verlieren. Fassen wir zusammen: Als die einzige Supermacht müssen die USA gegenüber allen zweitrangigen Mächten einen Kurs der Kooperation fahren, um die einzige unmittelbare militärische Bedrohung für seine Vorherrschaft durch Rußland endgültig auszuschalten. Welchen Teil dieses Konzepts hat die amerikanische Diplomatie nun umgesetzt? Im Grunde nur die Aktion gegen Rußland durch die Osterweiterung der NATO, die Avancen gegenüber der Ukraine und die Nutzung von allen möglichen Vorwänden, um den amerikanischen Einfluß im Kaukasus und in Mittelasien auszuweiten. Der Krieg gegen die Al Quaida und das Regime der Taliban ermöglichte die Stationierung von 12000 amerikanischen Soldaten in Afghanistan, 1500 in Usbekistan und einer Hundertschaft in Georgien. Aber hier begnügte sich die amerikanische Regierung nur mit der Nutzung der sich bietenden Gelegenheiten: Wie im folgenden Kapitel noch zu sehen sein wird, unternahm sie zu geringe und halbherzige Anstrengungen, um Rußland entscheidend zu destablisieren. Für ein solches Vorhaben besitzt Amerika jedoch inzwischen gar nicht mehr die Mittel. Im übrigen beging die amerikanische Diplomatie, die keinerlei Bismarcksche Brillanz zeigte, so katastrophale Fehler wie einst Wilhelm II. Kaum hatte der sich des eisernen Kanzlers entledigt, brach er einen Konflikt mit den beiden Großmächten Europas vom Zaun: mit Großbritannien und Rußland, eine Entwicklung, die Frankreich Gelegenheit gab, sich in ein wichtiges Bündnissystem einzubinden, was dann direkt in den Ersten Weltkrieg und zum Ende der deutschen Vorherrschaft -159-
führte. Dagegen vernachlässigt und demütigt Amerika seine europäischen Bündnispartner durch unilaterale Aktionen und läßt die NATO, das zentrale Machtinstrument der USA, einfach außen vor. Es begegnet Japan mit Herablassung, indem es die japanische Wirtschaft, die effizienteste der Welt und für Amerikas Wohlstand wichtig, immer wieder als überholt hinstellt. Es provoziert unermüdlich China und zählt den Iran zur angeblichen Achse des Bösen. Amerika scheint es geradezu darauf anzulegen, aus ganz verschiedenen Ländern, die es durch sein sprunghaftes Verhalten vor den Kopf stößt, eine eurasische Koalition zu schmieden. Von Brzezinski leicht abweichend, können wir zudem darauf verweisen, daß die USA durch die nahezu bedingungslose Unterstützung Israels ihren Konflikt mit den Palästine nsern beharrlich auf alle Teile der islamischen Welt ausdehnen. Diese amerikanische Tolpatschigkeit kommt freilich nicht von ungefähr: Ganz wie die imperiale Option ist sie das Ergebnis der Haltung der USA, den Dingen freien Lauf zu lassen und nur auf unmittelbare Erfordernisse zu reagieren. Die beschränkten wirtschaftlichen, militärischen und ideologischen Ressourcen lassen den Vereinigten Staaten, wenn sie ihre Rolle als Weltmacht behaupten wollen, keine andere Möglichkeit, als den kleinen Mächten übel mitzuspielen. In dem an einen Alkoholiker erinnernden Benehmen der amerikanischen Diplomatie steckt durchaus eine Logik. Das wahre Amerika ist so schwach, daß es nur mit militärischen Zwergen eine Konfrontation suchen kann. Durch die Provokation aller zweitrangigen Akteure behauptet es seine Rolle als Weltmacht. Seine wirtschaftliche Abhängigkeit von der Welt macht auf die eine oder andere Art universelle Präsenz notwendig. Der Mangel an Ressourcen veranlaßt die USA zu einem theatralischen und hysterischen Umgang mit zweitrangigen Konflikten. Weil Amerika der Großteil einer universalistischen Betrachtungsweise abhanden gekommen ist, verliert es im übrigen auch aus den Augen, daß es seine -160-
wichtigsten Verbündeten, Europa und Japan, die gemeinsam die Weltwirtscha ft beherrschen, als gleichrangig behandeln muß, wenn es weiterhin herrschen will. ... zum kleinen militärischen Spiel Die unsinnigen Spannungen, welche die USA zu Nordkorea, Kuba und zum Irak - Relikten der Vergangenheit - unbeirrbar aufrechterhalten, ze igen alle Anzeichen der Irrationalität. Ebenfalls zu nennen sind hier die Feindseligkeit gegenüber dem Iran, der sich deutlich erkennbar auf dem Weg in eine demokratische Normalisierung befindet, und die häufigen Provokationen gegenüber China. Dagegen würde eine echt imperiale Politik zum Streben nach einer Pax americana führen, die dadurch gekennzeichnet wäre, daß die USA den Regierungen dieser Länder in ihren Entwicklungsprozessen abwartend und mit Geringschätzung begegneten: Die Regime Nordkoreas, Kubas und des Irak würden auch ohne äußere Einmischung stürzen. Der Iran durchläuft vor unseren Augen eine positive Wandlung. Unübersehbar ist dagegen, daß die aggressive amerikanische Politik den überholten kommunistischen Regimen den Rücken stärkt, die irakische Führung zusammenschweißt und die Position der antiamerikanischen Konservativen im Iran festigt. In China, wo die kommunistischen Machthaber das Land mit einem autoritären Kurs in den Kapitalismus steuern, liefern die Amerikaner dem Regime die Waffen zur eigenen Rechtfertigung und Legitimation, weil es nach willkommenen Provokationen stets nationalistische und fremdenfeindliche Stimmungen schüren kann. Auch bietet sich dem pyromanen Feuerwehrmann neuerdings ein weiterer möglicher Einsatzort: der Konflikt zwischen Indien und Pakistan. Die USA, die für die augenblickliche Destabilisierung und den lokal aufflammenden Islamismus in Pakistan weitgehend verantwortlich sind, -161-
präsentieren sich jedoch auch hier als unersetzlicher Vermittler. Dieses Gebaren, das der Welt keinen Fortschritt bringt und die Verbündeten verärgert, hat gleichwohl seinen Sinn. Die Konflikte, die militärisch ein Null-Risiko darstellen, ermöglichen es nämlich den Vereinigten Staaten, überall auf der Welt »präsent« zu sein. Sie erhalten die Illusion eines instabilen und gefährdeten Planeten aufrecht, auf dem die USA Ordnung schaffen müssen. Der erste Krieg gegen den Irak, den Bush I. geführt hatte, diente in gewisser Weise als Vorbild für die in Amerika augenblicklich vorherrschende Haltung - von einer Strategie zu reden wäre hier verkehrt, weil die auf sehr kurze Zeiträume ausgerichteten Maßnahmen der USA deren Stellung in der Welt mittelfristig wohl radikal schwächen werden. Was ist der Irak? Ein ölproduzierendes Land, das von einem Diktator beherrscht wird, dessen Bedrohungspotential nur von lokaler Bedeutung ist. Die Umstände der Aggression gegen Kuwait liegen im dunkeln, wobei nicht auszuschließen ist, daß die USA Saddam Hussein zu seinem Abenteuer bewußt ermuntert haben, indem sie signalisierten, sie hätten gegen die Annexion Kuwaits nichts einzuwenden. Obwohl diese Frage zweitrangig ist, kann als gesichert gelten, daß die Befreiung Kuwaits die USA auf eine weitere Option festgelegt hat: vornehmlich den Konflikt mit Mächten zu suchen, die über geradezu lächerliche Streitkräfte verfügen und mit dem Begriff »Schurkenstaat« belegt werden können, was auf deren Boshaftigkeit und unbedeutende Größe anspielt, um so Amerikas Stärke zu »demonstrieren«. Der Gegner muß schwach sein: In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß die USA das noch immer kommunistische, aber zu Recht reale militärische Potentiale symbolisierende Vietnam in Frieden lassen. Die übertriebene Darstellung der irakischen Bedrohung angeblich der Welt viertgrößte Armee! - war wohl nur der Auftakt zu einer ganzen Serie von Inszenierungen, bei denen der -162-
Welt angebliche Bedrohungen vorgeführt werden. Der Krieg in Afghanistan, eine Folge der Anschläge vom 11. September, hat die USA in der Entscheidung zugunsten dieser Option bestärkt. Einmal mehr stürzten sich die amerikanischen Führer in einen Konflikt, den sie nicht vorhergesehen hatten, der aber ihre zentrale Taktik bestätigt, die man als theatralischen Mikromilitarismus bezeichnen könnte: zu zeigen, daß Amerika in der Welt gebraucht wird, indem man unbedeutende Gegner langsam stranguliert. Im Fall Afghanistans gelang diese Demonstration allerdings nur unvollkommen. Sie führte der Welt zwar vor Augen, daß jedes Land, das nicht über eine funktionstüchtige Luftabwehr oder über nukleare Abschreckung verfügt, dem Terror aus der Luft auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Aber die Unfähigkeit der amerikanischen Streitkräfte zum Landkrieg rief zugleich das grundlegende militärische Manko einer Supermacht in Erinnerung, die von lokale n Stammeschefs und vor allem vom guten Willen der Russen abhing, die dank ihrer geographischen Nähe allein in der Lage waren, die Nordallianz rasch zu bewaffnen. Als Ergebnis konnten weder Mullah Omar noch Bin Laden gefaßt werden. Die lokalen Kriegsherren überstellten ihren amerikanischen Auftraggebern nur ein paar unbedeutende Pechvögel, die auf dem Militärstützpunkt Guantanamo auf Kuba interniert wurden, dessen Führer Fidel Castro mit den fundamentalistischen Islamisten allenfalls den Enthusiasmus für Bärte teilt. So wird eine fiktive Beziehung zwischen dem »kubanischen Problem« und der Al Quaida hergestellt, eine für die Medien bestimmte Konstruktion einer Achse des Bösen, die zu den amerikanischen Zielen gehört. Die Fixierung auf den Islam Die Verteilung der amerikanischen Streitkräfte auf der Welt -163-
offenbart die reale Struktur des Weltreichs oder seiner Überbleibsel, wenn man davon ausgeht, daß sich dieses eher im Zerfall als im Aufstieg befindet. Die meisten für den Auslandseinsatz bestimmten Truppen sind noch immer in Deutschland, Japan und Korea stationiert. Die Einrichtung von Stützpunkten seit 1990 in Ungarn, Bosnien, Afghanistan und Usbekistan bedeutet rein rechnerisch keine dramatische Veränderung mit Blick auf die allgemeine Ausrichtung, die ein Relikt aus dem Kampf gegen den Kommunismus darstellt. Aus dieser Zeit sind als erklärte Gegner nur Kuba und Nordkorea übriggeblieben. Diese völlig unbedeutenden Staaten werden unermüdlich stigmatisiert, allerdings ohne daß auf diese Geißelungen jemals eine Militäraktion erfolgt wäre. Inzwischen konzentrieren die USA das Gros ihrer Aktivitäten im Namen des »Kampfs gegen den Terror«, dieser letzten offiziellen Form des »theatralischen Mikromilitarismus«, auf die islamische Welt. Die Fixierung Amerikas auf die se Religion, die sich faktisch mit einer Region deckt, läßt sich mit drei Faktoren erklären. Jeder von ihnen verweist auf eine weitere Schwäche der USA - die ideologische, wirtschaftliche und militärische -, was deren imperiale Ressourcen angeht: - Der Niedergang der universalistischen Ideologie führt in den USA verstärkt zu Intoleranz bezüglich der Stellung der Frau im Islam. - Der dramatische Verlust an wirtschaftlicher Effizienz hat die Obsession zur Folge, sich das arabische Öl sichern zu müssen. - Angesichts der militärischen Unzulänglichkeit wird die islamische Welt, die militärisch besonders schwach ist, zur bevorzugten Zielscheibe. Angelsächsischer Feminismus und Arroganz gegenüber der arabischen Welt
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Amerika begegnet der Verschiedenheit auf der Welt mit immer größerer Intoleranz. Deshalb wurde die arabische Welt spontan als Gegner identifiziert. Dieses Feindbild hat primitive, subrationale und auf anthropologischen Unterschieden basierende Ursachen, die weit über die Sphäre des Religiösen hinausgehen, anhand dessen Huntington die islamische Welt gegen die westliche Welt abgegrenzt hat. Für den Anthropologen, der sich professionell mit Sitten und Gebräuchen beschäftigt, sind das angelsächsische und das arabische System absolute Gegenwelten. Die amerikanische Familie ist um ihren Kern zentriert und individualistisch ausgerichtet, wobei die Frau eine gehobene Stellung hat. Dagegen umfaßt die arabische Familie einen erweiterten Kreis, ihr Erbrecht ist patrilinear, und die Frau lebt in maximaler Abhängigkeit. Eheschließungen zwischen Cousins und Cousinen sind in der angelsächsischen Welt mit einem besonderen Tabu belegt, in der arabischen Welt jedoch besonders beliebt. Der Feminismus in den USA ist im Lauf der Jahre immer stärker in Dogmen erstarrt. Er wurde aggressiver und gegenüber der realen Vielfalt der Kulturen intoleranter. Diese Bewegung war geradezu darauf programmiert, mit der arabischen oder - allgemeiner - mit jenem Teil der islamischen Welt in Konflikt zu geraten, dessen Familienstrukturen den arabischen ähneln. Man könnte hier von einer arabischmuslimischen Welt sprechen, eine Definition, die Pakistan, den Iran und bis zum gewissen Grade auch die Türkei mit einschließt. Ausgeschlossen bleiben dagegen Indonesien, Malaysia und die islamisierten Völker an der Küste Ostafrikas, wo die Frau eine höhere Stellung in der Familie hat. Die Reibereien zwischen Amerika und der arabischmuslimischen Welt sind so die Zuspitzung eines anthropologischen Konfliktes, einer irrationalen Konfrontation zwischen Werten, deren jeweilige Überlegenheit über die jeweils anderen grundsätzlich nicht beweisbar ist. Es hat etwas -165-
Beunruhigendes, daß solche Konstrukte zu einem wichtigen Faktor in den internationalen Beziehungen werden können. Nach dem 11. September hat dieser Kulturkonflikt eine possenhafte und erneut theatralische Seite gewonnen, er wirkt nun wie eine globalisierte Boulevardkomödie. Hier Amerika, das Land der kastrierenden Frauen, dessen Präsident vor einem Untersuchungsausschuß nachweisen mußte, daß er nicht mit einer Praktikantin geschlafen hatte, dort Bin Laden, ein polygamer Terrorist mit zahllosen Halbbrüdern und Halbschwestern: Das Ganze ist die Karikatur einer untergehenden Welt. Um sich auch bei den Sitten und Gebräuchen weiterzuentwickeln, benötigt die islamische Welt von Amerika gewiß keine Ratschläge. Allein der dramatische Rückgang der Geburtenrate in weiten Teilen der islamischen Welt spricht für eine Verbesserung der Stellung der Frau. Zunächst einmal deshalb, weil dieser Rückgang eine erhöhte Alphabetisierungsrate bei den Frauen voraussetzt, und zum anderen, weil in einem Land, das wie der Iran eine Geburtenrate von nur noch 2,1 Kindern pro Frau aufweist, zwangsläufig eine große Anzahl von Familien leben, die auf einen Sohn verzichtet und so mit der patrilinearen Tradition gebrochen hat.5 In Ägypten, einem der wenigen Länder, für das kontinuierliche Untersuchungen vorliegen, sind die Ehen zwischen Cousins und Cousinen von 25 Prozent 1992 auf 22 Prozent im Jahr 2000 zurückgegangen. 6 Während des Krieges in Afghanistan entspann sich sporadisch auf dem europäischen Kontinent, vor allem aber in der angelsächsischen Welt eine Diskussion über einen Kulturkampf für die Stellung der afghanischen Frau, wobei Forderungen nach einer Reform der traditionellen Lebensweise erhoben wurden. Die B-52-Bomber erschienen in diesem Zusammenhang geradezu als Waffen im Kampf gegen die islamische Versklavung der Frau. Solche westlichen Forderungen sind freilich lächerlich. Ein kultureller Wandel findet zwar -166-
tatsächlich statt, aber in Form von langsamen Prozessen, auf die ein mit modernen Mitteln geführter Krieg allenfalls verzögernd wirken kann: Er stellt eine Verbindung zwischen der westlichen Zivilisation mit ihrem Feminismus und den militärischen Grausamkeiten her und beflügelt den Männlichkeitskult, indem er die afghanischen Krieger zu Helden verklärt. Der Konflikt zwischen der angelsächsischen und der arabischmuslimischen Welt liegt tief. Dabei gibt es Schlimmeres als die feministischen Stellungnahmen der Damen Bush und Blair zur Lage der afghanischen Frauen. Die gesellschaftliche und kulturelle Anthropologie der angelsächsischen Welt zeigt erste Degenerationserscheinungen. Auf das - für Evans-Pritchard oder Meyer Fortes einst typische - Bemühen um ein Verständnis von Individuen aus einem anderen Kulturkreis ist inzwischen - durch ignorante Suffragetten - die Geißelung der männlichen Vorherrschaft in Neu-Guinea oder der Lobpreis auf die matrilinearen Strukturen an den Küsten Tansanias oder Moòambiques gefolgt, wo die Bevölkerung im übrigen mehrheitlich muslimisch ist. Wenn sich bereits eine Wissenschaft daran macht, Plus- und Minuspunkte zu verteilen, wie soll man dann von Regierungen und Armeen noch ausgewogene Standpunkte erwarten? Wie oben erwähnt, ist »Universalismus« nicht gleichbedeutend mit Toleranz. So begegnen beispielsweise die Franzosen den nordafrikanischen Einwanderern mitunter durchaus mit Feindseligkeit, weil die Stellung der arabischen Frau in deren Familien dem eigenen Wertesystem widerspricht. Ihre Reaktion ist allerdings eher von Instinkten geprägt und bleibt ohne jedwede ideologische Untermauerung, die mit einem Pauschalurteil über das anthropolo gische System der arabischen Welt einherginge. Der Universalismus verhält sich gegenüber Unterschieden a priori blind und kann deswegen nicht zu einer expliziten Verurteilung des einen oder anderen Systems verleiten. Dagegen gab der »Krieg gegen den Terrorismus« -167-
Anlaß zu endgültigen und unwiderruflichen Urteilen über das afghanische (oder arabische) anthropologische System, er führte zu radikalen Verdikten, die mit egalitären Ansätzen unvereinbar sind. Was wir hier auflisten, ist folglich keine Anekdotensammlung, sondern die Auswirkung eines Schwunds an Universalismus in der angelsächsischen Welt, der Amerika die klare Sicht auf die tatsächlichen internationalen Beziehungen nimmt und es ihm verbietet, mit der islamischen Welt angemessen - und das heißt aus strategischer Sicht: effizient umzugehen. Wirtschaftliche Abhängigkeit und Besessenheit vom Öl Die Ölpolitik der Vereinigten Staaten, die sich naturgemäß auf die arabische Welt konzentriert, ist faktisch eine Auswirkung der wirtschaftlichen Beziehungen Amerikas zur Welt. Die USA, die bei der Entdeckung, der Förderung und dem Einsatz des Öls historisch eine führende Rolle spielten, sind in den letzten dreißig Jahren zu einem großen Importeur dieses Rohstoffs geworden. Verglichen mit Europa und Japan, die nur über eine geringe oder überhaupt keine Förderung verfügen, hat sich die Situation dabei allerdings nur normalisiert. Noch 1973 förderten die USA täglich 9,2 Millionen und importierten 3,2 Millionen Barrel Öl. 1999 waren es bei der Produktion 5,9 und beim Import 8,6 Millionen Barrel.7 Erhalten die USA ihre gegenwärtige Förderquote aufrecht, werden ihre Reserven bis zum Jahr 2010 erschöpft sein. Von daher ist die amerikanische Besessenheit vom Öl und die übergroße Repräsentanz der »Öllobby« in der Bush-Administration nur verständlich. Gleichwohl kann die Fixierung der USA auf diese Energiequelle aus mehreren Gründen nicht als völlig rational und als Ausdruck einer wirkungsvollen imperialen Strategie -168-
betrachtet werden. Zunächst einmal, weil dem Thema Öl angesichts der allgemeinen Abhängigkeit der US-Wirtschaft von Importen eher ein symbolischer als ein zentraler Stellenwert zukommt. Ein Amerika, das im Überfluß über Öl verfügte, aber nicht ausreichend mit Waren versorgt würde, hätte in gleicher Weise mit einem Konsumrückgang zu kämpfen wie eines ohne Öl. Der Ölimport macht, wie erwähnt, zwar einen beträchtlichen, aber eben nur zweitrangigen Teil des amerikanischen Handelsbilanzdefizits aus: 80 von 450 Milliarden Dollar im Jahr 2000. Tatsächlich wäre Amerika durch jede Art Boykott verwundbar, und die zentrale Bedeutung des Themas Öl ist mit einer rein wirtschaftlichen Logik nicht zu erklären. Vor allem dürfte die Angst vor der Ölknappheit nicht zu einer Fixierung auf den Nahen Osten führen. Amerikas Lieferanten sind über den gesamten Erdball verteilt. Obwohl die arabische Welt bei der Produktion und vor allem bei den weltweiten Reserven eine herausragende Stellung einnimmt, hält sie die USA keineswegs in einem Würgegriff. Die Hälfte der amerikanischen Ölimporte kommt aus der militärisch abgesicherten Neuen Welt: vor allem aus Mexiko, Kanada und Venezuela. Rechnet man deren Liefermengen zur Eigenförderung hinzu, dann stammen 70 Prozent des USVerbrauchs aus der westlichen Sphäre, wie sie nach der Monroe-Doktrin definiert ist. Tabelle 9 Amerikanische Ölimporte 2001 (in Millionen Barrel) Insgesamt
3475
Algerien
3
Kongo (Brazzaville)
16
Kongo (Kinshasa) Irak Iran Katar
5 285 0 0
Ägypten Malaysia Nigeria
2,5 5 309
Kuwait
88
Ecuador
43
-169-
Oman Saudi-Arabien Vereinigte Arabische Emirate
6 585 5
Kanada Mexiko Niederländische Antillen Peru
485 498 6 2,5
Angola Brunei China Indonesien
122 2 5 15
Trinidad und Tobago Venezuela
19 520
Übrige Welt
453
Quelle: http://www.census.gov/foreigntrade
Verglichen mit Europa und Japan, die real vom Nahen Osten abhängen, ist die Ölversorgung der USA ziemlich gut abgesichert. Insbesondere die Länder am Persischen Golf liefern nur 18 Prozent des amerikanischen Ölverbrauchs. Die USMilitärpräsenz in der Region, die Luftstreitkräfte und Bodentruppen in Saudi- Arabien, der diplomatische Kampf gegen den Iran und die wiederholten Angriffe auf den Irak sind gewiß Teile einer Strategie zur Sicherung von Öl. Aber die Energie, um deren Kontrolle es geht, wird nicht in den Vereinigten Staaten verbraucht, sondern in der übrigen Welt und insbesondere in den beiden industriell produktiven und exportorientierten Polen der Triade: in Europa und Japan. Hier kann die amerikanische Politik tatsächlich als imperial gelten, und das ist alles andere als beruhigend. In der augenblicklichen Lage sind die Länder Iran, Irak und inzwischen sogar Saudi- Arabien wegen ihrer gewaltig angewachsenen Bevölkerungen gezwungen, Öl zu verkaufen, wenn sie soziale Spannungen vermeiden wollen. Europäer und Japaner haben so für ihre Versorgung und Handlungsfreiheit nichts zu befürchten. Während die USA behaupten, sie sicherten die Ölversorgung ihrer Bündnispartner, wollen sie sich mit der Kontrolle über die Energielieferanten in Wahrheit die Option erhalten, auf Europa und Japan massiven Druck auszuüben. Was ich hier schildere, ist allerdings nur das Planspiel eines -170-
alten Militärstrategen, der allein in Zahlen und Landkarten denkt, also des Archetyps eines Rumsfeld. In Wirklichkeit haben die USA die Kontrolle über den Iran und den Irak verloren. Saudi- Arabien ist dabei, ihnen ebenfalls zu entgleiten, und die Einrichtung von festen Stützpunkten in diesem Land nach dem ersten Krieg gegen den Irak kann nur als letzter Versuch gewertet werden, die Kontrolle über die Region nicht vollständig zu verlieren. Dieser Verlust an Einfluß bildet die Grundlage für die strategische Aufstellung der USA. Keine Armada aus Flugzeugträgern kann - über eine solche Entfernung zu den Vereinigten Staaten hinweg - eine militärische Vormachtstellung aufrechterhalten, wenn die Nationen vor Ort ihnen die Unterstützung versagen. Die saudischen und türkischen Basen sind logistisch wichtiger als die amerikanischen Flugzeugträger. In der Fixierung auf das Öl der islamischen Welt kommt so sehr viel stärker die Angst vor einem Verlust an Einfluß als ein Expansionsstreben zum Ausdruck. Sie offenbart weniger die Macht als vielmehr die Befürchtungen der USA: zum einen die Angst vor einer inzwischen generellen wirtschaftlichen Abhängigkeit, in der dem Energiedefizit ein symbolischer Stellenwert zukommt, zum anderen aber auch die Befürchtung, die USA könnten die Kontrolle über die beiden produktiven Protektorate der Triade, über Europa und Japan, verlieren. Eine kurzfristige Lösung: die Schwachen angreifen Abgesehen von allen vorgeblichen Motiven der Vereinigten Staaten - die Empörung über die Stellung der arabischen Frau, die Bedeutung des Öls - ergibt sich die Entscheidung, die islamische Welt zur Zielscheibe und zur bevorzugten Bühne einer amerikanischen Militärinszenierung zu machen, ganz einfach aus der Schwäche der arabischen Welt. Die -171-
Demonstration der »strategischen Allmacht« der Vereinigten Staaten ist de facto billig. Huntington merkt an - ob bedauernd oder mit Genugtuung, weiß man nicht -, daß die islamische Kultur über keinen vorherrschenden Kernstaat - in seiner Terminologie core-state - verfügt. Tatsächlich gibt es in der arabisch- muslimischen Sphäre keinen Staat, der gemessen an Bevölkerung, Industrien oder Streitkräften echte Stärke besäße. Weder Ägypten noch Saudi-Arabien, Pakistan, der Irak oder der Iran besitzen die materiellen Ressourcen und Soldaten, um den USA echten Widerstand leisten zu können. Im übrigen hat Israel mehrfach die gegenwärtige militärische Schwäche der arabischen Staaten demonstriert, deren Entwicklungsstand und Staatsaufbau mit den Erfordernissen eines effizienten Militärapparats derzeit offenbar nicht in Einklang zu bringen sind. Die Region eignet sich folglich ideal als Bühne, auf der die Vereinigten Staaten mit einer an Videospiele erinnernden Leichtigkeit »Siege« erringen können. Die amerikanische Militärführung, die um die Unfähigkeit ihrer Soldaten am Boden weiß, hat die Niederlage in Vietnam vollkommen verinnerlicht: So erinnert sie bei jeder Gelegenheit daran - ob mit dem Lapsus eines Generals, der Afghanistan mit Vietnam verwechselt, oder mit ängstlichen Warnungen vor einem Einsatz von Bodentruppen -, daß die USA einen Krieg nur gegen einen schwachen Gegner führen können, dem zudem eine wirksame Luftabwehr fehlt. Mit der Wahl eines schwachen Kontrahenten, mit der sie ganz auf militärische Ungleichheit setzen, knüpfen die amerikanischen Streitkräfte übrigens an eine ganz bestimmte, an Diskriminierung gekoppelte Militärtradition an an die Kriege gegen die Indianer. Die antiarabische Option der Vereinigten Staaten ist eine sehr bequeme Lösung. Sie ergibt sich aus vielen unterschiedlichen, objektiven Parametern, vor allem aber aus der Notwendigkeit für Amerika, den Anschein eines imperialen Wirkens -172-
aufrechtzuerhalten. Dabei resultiert sie aber nicht aus einer überlegten und an zentraler Stelle gefällten Entscheidung, die darauf abzielt, die Chancen des amerikanischen Weltreichs auf lange Sicht zu optimieren. Im Gegenteil. Die führenden Persönlichkeiten der Vereinigten Staaten gehen stets den Weg des geringsten Widerstands. Jedesmal wählen sie die unmittelbar einfachste Aktion aus, die in wirtschaftlicher, militärischer und sogar planerischer Hinsicht möglichst geringe Investitionen erfordert. Man spielt den Arabern übel mit, weil sie militärisch schwach sind, weil sie das Öl haben und weil der »Mythos Öl« es ermöglicht, das Wesentliche zu kaschieren: die umfassende Abhängigkeit der USA von der Versorgung mit sämtlichen Gütern. Man spielt den Arabern auch deshalb übel mit, weil sie in der amerikanischen Innenpolitik keine einflußreiche Lobby haben und weil man in Amerika nicht mehr in der Lage ist, universalistisch und egalitär zu denken. Wenn wir die Vorgänge verstehen wollen, müssen wir uns von der Vorstellung von einem Amerika, das nach einem globalen, rational begründeten und systematisch umgesetzten Plan handelt, unbedingt verabschieden. Zwar läßt die amerikanische Außenpolitik durchaus eine Linie erkennen, aber die folgt immer dem geringsten Widerstand, ähnlich einem Bach, der abwärts fließt, sich mit anderen Bächen zu einem Fluß oder Strom vereinigt und schließlich ins Meer oder in den Ozean mündet. Der Bachlauf hat folglich eine Richtung, obwohl hinter ihm keinerlei Überlegung und kontrollierte Aktion stecken. Auf diese Weise legt Amerika seine Marschroute fest, ein Land, das eine Supermacht ist, die aber nicht über ausreichende Macht verfügt, um eine allzu große und in ihrer Vielfalt allzu starke Welt zu beherrschen. Jede Option, auf die Amerika wegen ihrer Einfachheit setzt, führt immer dann zu größeren Schwierigkeiten, wenn andere Taten erforderlich wären: handeln, zeitweise gegen den Strom schwimmen, den Weg des geringsten Widerstands verlassen und Hindernisse überwinden. -173-
Dazu gehörte auch, eine eigene Industrie aufzubauen, die Interessen treuer Verbündeter zu berücksichtigen, dem eigentlichen - russischen - strategischen Gegner kraftvoll entgegenzutreten, statt ihn immer nur zu schikanieren, oder Israel zu einem gerechten Frieden zu zwingen. Das amerikanische Gebaren am Golf, die Attacken gegen den Irak, die Drohungen gegen Korea und die Provokationen gegenüber China sind alle Teil der amerikanischen Strategie des theatralischen Mikromilitarismus. Diese Possen amüsieren eine Zeitlang die Medien und verblüffen die Regierungen der Verbündeten. Aber die Grundzüge einer realistischen amerikanischen Strategie sucht man vergeblich: Wie sollen die Kontrolle der USA über die beiden industriell produktiven Pole der Triade, über Europa und Japan, erhalten und China und der Iran durch eine wohlwollende Haltung neutralisiert werden? Und wie soll der einzige reale militärische Gegner ausgeschaltet werden: Rußland? In den beiden letzten Kapiteln dieses Buchs werde ich zeigen, wie Rußlands Rückkehr ins Kräftegleichgewicht und Europas und Japans Unabhängigkeitsbestrebungen Amerika mittelfristig aus seiner Führungsrolle drängen werden. Und wie Amerikas mikromilitärische Aktionen eine Annäherung zwischen den wichtigsten strategischen Akteuren Europa, Rußland und Japan fördern, also genau die Konstellation herbeiführen, welche die Vereinigten Staaten zum Erhalt ihrer Herrschaft verhindern müßten. Der Alptraum, der sich hinter Brzezinskis Traum verbirgt, wird gegenwärtig zur Wirklichkeit: Eurasien strebt ein Gleichgewicht ohne die Vereinigten Staaten an.
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KAPITEL 7 Die Wiederkehr Rußlands
Die Vereinigten Staaten sind mit ihrem Versuch, Rußland in die Knie zu zwingen, oder dem bescheideneren, es zu isolieren, im Scheitern begriffen, auch wenn sie noch immer so tun, als ob ihr alter strategischer Gegner nicht mehr zähle: mit Demütigungen, mit Demonstrationen eines Wohlwollens, wie man es Sterbenden schuldet, oder zuweilen auch mit einer Kombination aus beidem. Ende Mai 2002 reiste George W. Bush mit der Ankündigung, er wolle mit Rußland kooperieren, durch Europa, während er im gleichen Augenblick in Georgien, im Kaukasus, seine Soldaten stationierte. Meist findet Washington einen unübersehbaren Gefallen daran, der Welt zu zeigen, daß auch ohne Moskaus Einverständnis die NATO erweitert oder mit dem Bau eines Raketenabwehrsystems im All begonnen werden kann. Rußlands Bedeutung zu leugnen hieße freilich, die Realität zu verkennen, denn ohne aktive russische Unterstützung hätten die amerikanischen Streitkräfte keinen Fuß auf afghanischen Boden gesetzt. Aber der theatralische Mikromilitarismus braucht solche Auftritte. Amerika muß seine Herrschaft simulieren, insbesondere in einem Augenblick, in dem es sich in eine taktische Abhängigkeit von Rußland begibt. In der russischen Frage verfolgten die Amerikaner zwei strategische Ziele: während das erste unerreichbar geworden ist, rückt das zweite in eine immer weitere Ferne. Das erste Ziel: die Auflösung Rußlands, die Amerika durch eine Förderung der Unabhängigkeitsbestrebungen im Kaukasus und durch eine amerikanische Militärpräsenz in Mittelasien beschleunigen konnte. Diese Demonstrationen der Stärke sollten die separatistischen Kräfte auch in den ethnisch mehrheitlich -175-
russischen Provinzen innerhalb der Russischen Föderation stärken. Dabei unterschätzten die USA freilich bei weitem den nationalen Zusammenhalt der Russen. Das zweite Ziel: Mit der Aufrechterhaltung eines gewissen Niveaus an Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und Rußland sollte die Annäherung zwischen Europa und Rußland die Wiedervereinigung des Westteils von Eurasien - verhindert und so der Antagonismus, der aus dem Kalten Krieg übriggeblieben war, möglichst lange am Leben gehalten werden. Allerdings schufen das Chaos und die Unsicherheiten, die Amerikas Nahostpolitik hervorgerufen ha tte, gerade optimale Bedingungen für eine Rückkehr Rußlands in das internationale Kräftespiel, eine Situation, die Wladimir Putin sofort zu nutzen wußte. In einer eindrucksvollen und hauptsächlich in Deutsch gehaltenen Rede vor dem deutschen Bundestag versprach Putin dem Westen am 25. September 2001 eine endgültige Beendigung des Kalten Krieges. Aber welchem Westen? Daß die Russen die Vereinigten Staaten bei ihren mikromilitärischen und medienwirksamen Operationen in Afghanistan, dem Land der strategischen Wunschprojektion, kurzfristig unterstützen, dient nur der Wahrung des kooperativen Scheins. Wesentlich ist dagegen die Annäherung Rußlands an Europa, an die führende Industriemacht auf der Erde. Die Größenordnungen der Transfers bei den Importen und Exporten verraten, was in der subtilen Dreiecksbeziehung, die sich zwischen Rußland, den Vereinigten Staaten und Europa entwickelt, letztlich auf dem Spiel steht. Im Jahr 2001 hat Rußland mit den Vereinigten Staaten Güter im Wert von 10 Milliarden Euro ausgetauscht. Im Handel mit der Europäischen Union betrug das Volumen dagegen 75 Milliarden Euro, also das 7,5fache. Rußland kommt folglich ohne die Vereinigten Staaten aus, nicht jedoch ohne die EU. Auf militärischer Ebene bietet sich Rußland für Europa als ein Gegengewicht zum amerikanischen Einfluß an und verheißt dem -176-
Kontinent zudem eine gesicherte Energieversorgung. Ein solcher Handel ist verlockend. Wie hellsichtig Brzezinskis Buch auch sein mag, das Bild des Schachbretts, das im Originaltitel (The Grand Chessboard) auftaucht, erscheint als eine Art Freudsche Fehlleistung, die auf einen künftigen Mißerfolg hindeutet: Man sollte sich mit den Russen nicht auf eine Partie Schach einlassen, weil dieses Spiel ihr Nationalsport ist. Dank geistigen Trainings wissen sie den Fehler, den der Gegner von ihnen erwartet, zu vermeiden: in dem Fall auf substanzlose Provokationen in Georgien oder Usbekistan töricht zu reagieren. Einen Schlagabtausch vermeiden, eine Figur aus der Schußlinie nehmen oder einer kleineren örtlichen Konfrontation ausweichen, dies ist das A und O des Schach. Wichtig ist dies gerade in einer Zeit, in der man sich in einer Position der Schwäche befindet. Vielleicht taucht in den Lehrbüchern der Diplomatie dereinst eine »Putin-Abwehr« auf, die sich ungefähr so formulieren ließe: Wie kann man vor dem Hintergrund seiner zerfallenen Macht die Verhältnisse bei den Bündnissen auf den Kopf stellen? Allerdings darf man die Bedeutung von Berechnung und bewußter Entscheidung bei Regierungen nicht überbewerten. Das Kräftegleichgewicht in der Welt hängt grundlegend weder von den Aktionen Bushs II. und seines Teams noch von der politischen Intelligenz Putins ab. Ein wesentlicher und bedeutender Faktor ist hier die Wandlungsfähigkeit oder unfähigkeit der russischen Gesellschaft. Allerdings scheint Rußland im Begriff, nach dem Jahrzehnt des Chaos, das auf die Abkehr vom Kommunismus folgte, erneut auf der Bildfläche zu erscheinen und sich im Gleichgewicht der Kräfte zu einem stabilen und zuverlässigen Partner zu entwickeln. Gleichwohl darf man die Lage nicht idealisieren. Die demographischen Parameter der russischen Krise -177-
Die russische Gesellschaft ist vollständig alphabetisiert, wobei weiterführende Schulen und eine höhere Bildung eine große Rolle spielen. Trotzdem ist Rußland noch immer arm und hat mit einer besonders hohen Gewaltkriminalität zu kämpfen. Die russische Gesellschaft ist wohl eine der wenigen, in denen Ende der neunziger Jahre bei den Tötungsdelikten eine Rate von 23 auf 100000 Einwohner und eine ebenso exzessive Selbstmordrate von 35 auf 100000 Einwohner zu verzeichnen war - Zahlen, die zu den höchsten der Welt gehören. Dieses Ausmaß an nichtstaatlicher Gewalt in der russischen Gesellschaft wird bei allen Ländern, für die Zahlen vorliegen, nur von Kolumbie n übertroffen, einer Gesellschaft, bei der man angesichts der allgemeinen Anarchie von einem kollektiven Wahn sprechen kann, auch wenn dieser zum Teil in die pseudorevolutionären Phrasen der Farc gekleidet wird. Selbstmord und Tötungsdelikte erklären im wesentlichen die geringe Lebenserwartung in Rußland. Lag diese - mit 64 Jahren 1989 - schon in der Schlußphase der Sowjetunion eher niedrig, so sackte sie bis 1994 auf einen Tiefpunkt von 57 Jahren ab. Dann stieg sie bis 1998 auf 61 leicht an, worauf 1999 erneut ein geringer Rückgang auf 60 Jahre erfolgte. Die Entwicklung der Säuglingssterblichkeit verdeutlicht die dramatische Lage in den Jahren des Postkommunismus. Nach 17,6 auf 1000 Kinder 1990 erreichte sie 1993 eine Rate von 20,3. 1998 sank sie wieder auf 16,5 ab, kletterte dann aber wieder bis 1999 leicht auf 16,9. Wegen der regionalen Unterschiede in der Föderation ist dieser neuerliche Anstieg für das Kernland statistisch allerdings nicht bedeutsam. Die beiden letzten Zahlen, nach den Maßstäben der entwickelten Welt wahrlich deprimierende Zahlen, sind trotzdem die niedrigsten registrierten in der gesamten russischen Geschichte.
-178-
Tabelle 10 Säuglingssterblichkeit und Lebenserwartung der russischen Männer Säuglingssterb-
Lebenserwar -
Säuglingssterb-
Lebenserwar -
lichkeit
tung bei
lichkeit
tung bei
Männern
Männern
1965
27,0
64,6
1983
19,8
62,3
1966
25,6
64,3
1984
21,1
62,0
1967
25,6
64,2
1985
20,8
62,3
1968
25,5
63,9
1986
19,1
63,8
1969
24,4
63,5
1987
19,4
65,0
1970
22,9
63,2
1988
19,1
64,8
1971
21,0
63,2
1989
18,1
64,2
1972
21,6
63,2
1990
17,6
63,8
1973
22,2
63,2
1991
18,1
63,5
1974
22,6
63,2
1992
18,4
62,0
1975
23,6
62,8
1993
20,3
58,9
1976
24,8
62,3
1994
18,6
57,3
1977
21,4
62,0
1995
18,2
58,2
1978
23,5
61,8
1996
17,5
59,7
1979
22,6
61,7
1997
17,2
60,9
1980
22,0
61,5
1998
16,5
61,3
1981
21,5
61,5
1999
16,9
59,9
1982
20,2
62,0
Quelle: Datenbank Statistiques demographiques des pays industriels, erstellt vom Institut National d'Études Demographiques von Alain Monnier und Catherine de Guit›ert-Lantoine.
Der beunruhigendste demographische Parameter - mit evidenten Auswirkungen - ist der dramatische Rückgang der Geburtenrate. Nach der Statistik lag sie in Rußland 2001 bei nur noch 1,2 Kindern pro Frau. Ebenso niedrig lag sie in Weißrußland und noch niedriger - bei 1,1 - in der Ukraine. Aus diesen Geburtenraten läßt sich entgegen dem äußeren Anschein freilich nicht auf eine kulturelle Besonderheit auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion schließen, denn diese niedrigen Zahlen liegen dicht an denen in Mittel- und Südeuropa. Es sei daran erinnert, daß Spanien eine Geburtenrate von l,2 und Italien, Deutschland und Griechenland von 1,3 aufweisen. -179-
Angesichts der hohen Sterblichkeit müßten die schwachen Geburtenraten in Rußland zu einem bedeutenden Bevölkerungsschwund führen. Jedenfalls deuten darauf die äußerst besorgniserregenden mittelfristigen Prognosen hin. Von den 144 Millionen Einwohnern im Jahr 2001 wird die russische Bevölkerung bis zum Jahr 2035 auf 137 Millionen schrumpfen. Die Bevölkerung der Ukraine wird von 49 auf 45 Millionen zurückgehen. Diese Prognosen setzen freilich voraus, daß die besonders ungünstigen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen in den Ländern bestehen bleiben. Hier ist allerdings ein Wandel, ja eine Trendwende zu verzeichnen. Die wirtschaftliche Erholung und die Wiederkehr des Staates Seit 1999 kommt die russische Wirtschaft wieder in Fahrt. Auf den Rückgang des Bruttoinlandsproduktes (1998 noch -4,9 Prozent) folgte schließlich eine Erholung: In den Jahren 1999, 2000 und 2001 war ein Wachstum von 5,4, 8,3 und 5,5 Prozent zu verzeichnen. Diese Steigerungen sind nicht nur das Ergebnis der Exporte von Öl und Erdgas, die in jeder Lage eine Stärke der russischen Wirtschaft darstellen. Das Wachstum der Industrie betrug 1999 und 2000 nach Schätzungen 11 bis 12 Prozent. Besonders stark fiel es in den Bereichen Maschinenbau, Chemie, Petrochemie und Papier aus. Aber auch die Leichtindustrie verzeichnete einen substantiellen Aufschwung. Auf wirtschaftlicher Ebene scheint Rußland aus seinem unruhigen Fahrwasser herauszukommen. Es kann nicht mehr als ein Land im wirtschaftlichen Notstand bewertet werden. Der Prozeß der Demonetarisierung - der Übergang zur Tauschwirtschaft - ist eingedämmt, und auch in diesem Bereich ist eine Trendwende zu beobachten. Der Staat, der in Auflösung begriffen schien, tritt wieder als selbständiger Akteur im sozialen Leben auf, ein Phänomen, das sich am einfachsten und grundlegendsten an seiner neuerlichen Fähigkeit ablesen läßt, -180-
einen Teil des natio nalen Reichtums abzuschöpfen. Im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt sind die Ressourcen des Staates von 8,9 Prozent 1998 auf 12,6 Prozent im Jahr 2000 geklettert. Der Haushaltsüberschuß betrug im Jahr 2000 2,3 Prozent des BIP.1 Diese erneute Präsenz des Staates, die für das innere Gleichgewicht der russischen Gesellschaft unabdingbar ist, wirkt sich auf internationaler Ebene auf zweierlei Art aus. Rußland kann erneut als zuverlässiger Finanzpartner auftreten, weil es seine ausländischen Gläubiger problemlos bedienen kann. Zudem konnte es vor dem Hintergrund der unberechenbar und aggressiv auftretenden Vereinigten Staaten den Wiederaufbau einer minimalen Militärkapazität in Angriff nehmen: Wurden 1998 für Verteidigung nur 1,7 Prozent des BIP aufgewendet, so waren es 1999 2,4 Prozent und 2000 immerhin 2,7 Prozent. Obwohl es vollkommen abenteuerlich wäre, davon auszugehen, daß Rußland sämtliche oder auch nur seine wichtigsten Probleme gelöst habe, zeichnet sich die Ära Putin bereits jetzt als eine Periode ab, in der sich das gesellschaftliche Leben in Rußland stabilisiert und eine Lösung der wirtschaftlichen Probleme angepackt wird. Der konfuse und brutale Versuch, die Wirtschaft in den Jahren 1990 bis 1997 mit Hilfe amerikanischer Berater zu liberalisieren, hatte das Land in die Katastrophe gestürzt. In diesem Punkt können wir uns der Diagnose Gilpins anschließen, der den Zusammenbruch des Staates während des russischen Umbaus weitgehend für die soziale und wirtschaftliche Anarchie verantwortlich macht.2 Gerade diese Art Katastrophe wußte China in der Hochzeit der wirtschaftlichen Liberalisierung zu vermeiden, indem es die autoritären staatlichen Strukturen aufrechterhielt. Die demokratische Frage in Rußland -181-
Die Frage der wirtschaftlichen Dynamik belastet nicht als einzige Rußlands Zukunft. Die andere grundlegende Unbekannte ist die Fortentwicklung des politischen Systems, das niemand als demokratisch und liberal bezeichnen kann. Die westliche Presse und das Fernsehen führen uns täglich in Schrift und Bild vor Augen, daß die Medien in Putins Land einer regelrechten Gleichschaltung unterzogen wurden. Fernsehsender und Zeitungen wurden von der Staatsmacht der Reihe nach auf Kurs gebracht, auch wenn die westlichen Beobachter zuweilen einräumen müssen, daß nicht die Abschaffung der Pressefreiheit angestrebt werde, sondern eine drastische Einschränkung der Macht der Oligarchen, die in der pseudoliberalen Anarchie der Jahre 1990 bis 2000 hochgekommen sind. Ein staatliches Fernsehmonopol, das umstritten war und gebrochen wurde, gab es vor nicht allzu langer Zeit freilich auch in Frankreich obwohl kein vernünftiger Mensch das Land unter de Gaulle als auf dem Weg in den Totalitarismus beschrieben hätte. In Rußland herrschen ein starker, nach allgemeinem Stimmrecht gewählter Präsident sowie ein weniger mächtiges, aber ebenfalls demokratisch gewähltes Parlament. Außerdem gibt es eine Vielzahl von politischen Parteien, die wie in Frankreich und im Gegensatz zu den USA eher vom Staat als von den großen Konzernen finanziert werden. Drei grundlegende Kräfte lassen sich unterscheiden: eine kommunistische Partei, ein Regierungszentrum und eine liberale Rechte. Wie die japanische hat die russische Demokratie nicht die klassische Form des angelsächsischen Typs mit wechselnden Regierungen angenommen. Sollte sich das augenblickliche System stabilisieren, können wir von einer Anpassung der Demokratie an einen auf die Gemeinschaft ausgerichteten anthropologischen Hintergrund sprechen. Die russische Demokratie durchläuft sicherlich eine Phase, in der die Zentralregierung die Zügel wieder stärker anzieht, eine -182-
notwendige Entwicklung nach den Jahren der Anarchie 1990 bis 2000. Putins Regierung führt in Tschetschenien, an den Außengrenzen der Russischen Föderation, einen schmutzigen Krieg mit Methoden, die man zu Recht anprangern kann. Aber angesichts der zahllosen ethnischen Minderheiten innerhalb der Föderation muß Rußland gleichwohl das Recht zugebilligt werden, Tschetschenien zur Ordnung zu rufen, weil sonst die endgültige Auflösung der Föderation drohen würde. Die Aktivitäten der CIA im Kaukasus in den letzten zehn Jahren und die Stationierung amerikanischer Militärberater in Georgien geben dem Konflikt in Tschetschenien eine internationale Dimension. Was dort stattfindet, ist eine Konfrontation zwischen Rußland und Amerika, wobei beide Mächte für das menschliche Leid gleichermaßen die Verantwortung tragen. Wenn wir Rußland beurteilen wollen, müssen wir die kurzsichtigen Tageskommentare beiseite lassen und einen weiteren Blickwinkel wählen. Es gilt zu erfassen, was Rußland in zehn Jahren inmitten gewaltiger wirtschaftlicher Probleme und sozialer Leiden geleistet hat. Das Land hat das umfassendste totalitäre System, das es in der Menschheitsgeschichte je gegeben hat, aus eigener Kraft abgeschüttelt. Es hat seine osteuropäischen Satelliten und dann auch die Baltenstaaten sowie die Republiken im Kaukasus und in Mittelasien ohne Gewaltanwendung in die Unabhängigkeit entlassen. Es hat das Auseinanderbrechen des russischen Kernlandes, die Abspaltung Weißrußlands und der Ukraine, akzeptiert, ohne daß die großen russischen Minderheiten in den meisten neu entstehenden Staaten dabei als Hindernisse angesehen worden wären. Diese Entwicklung darf zwar nicht verklärt werden, denn es ist durchaus hervorzuheben, daß Rußland keine andere Wahl hatte und diese jetzt im Ausland lebenden Minderheiten eine Chance für die Zukunft darstellen. Aber auch vor diesem Hintergrund hat die russische Führung bewundernswerte Intelligenz und großen Sachverstand -183-
bewiesen, weil sie nicht auf die einfache Lösung einer sofortigen, aber sinnlosen Gewaltanwendung setzte, sondern auf eine ferne Zukunft. Die einstige Supermacht von vor zehn Jahren hat sämtliche Gebietsverluste, die Milosevics Serbien ablehnte, friedlich akzeptiert und sich so als eine große Nation gezeigt, die sich von kühlen Überlegungen und Verantwortung leiten ließ. Trotz der Schrecken des Stalinismus wird man eines Tages den positiven Beitrag Rußlands zur Geschichte würdigen müssen - zusammen mit seinen Leistungen in der Literatur, die mit Gogol, Tolstoi, Dostojewski, Tschechow, Turgenjew und vielen anderen zu einer der universellsten überhaupt gehören. Die rückwärtsgewandte Geißelung des Kommunismus stellt keine erschöpfende Darstellung der russischen Geschichte dar. Der russische Universalismus Um richtig einschätzen zu können, welche positive Rolle Rußland in der gegenwärtigen Welt spielen kann, müssen wir uns zunächst den Gründen für den gewaltigen Einfluß des Landes auf die vergangene Welt zuwenden. Der Sowjetkommunismus, eine in Rußland entwickelte Doktrin und Praxis der Knechtschaft, hat über die Grenzen des Reichs hinaus auf Arbeiter, Bauern und Lehrer Anziehungskraft ausgeübt, wodurch die kommunistischen Bestrebungen zur globalen Kraft avancierten. Der Erfolg des Kommunismus erklärt sich hauptsächlich dadurch, daß in einem Großteil der Welt, vor allem im zentralen Teil von Eurasien, egalitäre und autoritäre Familienstrukturen vorherrschten, welche die kommunistische Ideologie als positive und ganz natürliche Anschauung erscheinen ließen. Allerdings ist es Rußland dabei gelungen, diese Bewegung auf einer weltweiten Ebene zu organisieren und sich als Kern eines auf Ideologie gegründeten Weltreichs zu etablieren. Warum war dies möglich? -184-
Rußlands Grundhaltung zum Menschen ist universalistisch. Im Zentrum der Familienstruktur der russischen Bauern stand die Gleichbehandlung, denn es galt ein vollkommen symmetrisches Erbrecht. Unter Peter dem Großen hatte sogar der russische Adel das Recht des Erstgeborenen abgeschafft, mit dem der älteste Sohn im Erbrecht auf Kosten aller anderen bevorzugt worden war. Wie die frisch alphabetisierten Bauern des revolutionären Frankreichs teilten die neuerlich alphabetisierten Bauern im Rußland des 20. Jahrhunderts spontan die Anscha uung von der a priori vorhandenen Gleichheit der Menschen. Der Kommunismus setzte sich als eine universelle, der gesamten Welt offenstehende Lehre durch, wenn auch zu deren Schaden, wie ich einräumen muß. Dieser universalistische Ausgangspunkt hat die Umwandlung des russisehen Reichs in die Sowjetunion erst ermöglicht. Der Bolschewismus band die Minderheiten dieses Reichs in seine Führungszirkel ein: Balten, Juden, Georgier oder Armenier. Wie einst Frankreich zeigte Rußland die bestechende Fähigkeit, alle Menschen als gleichberechtigt zu betrachten. Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus ist die anthropologische Basis auf dem Gebiet der einstigen Sowjetunion in einem langsamen Wandel begriffen. Wenn sich die junge russische Demokratie erfolgreich behaupten kann, wird sie weiterhin so manche Besonderheiten auszeichnen, die wir im Auge behalten müssen, wollen wir Prognosen über ihre künftigen Auftritte auf der internationalen Bühne erstellen. Die liberalisierte russische Wirtschaft wird sich niemals zu einem individualistischen Kapitalismus angelsächsischer Prägung entwickeln. Sie wird ihre auf die Gemeinschaft ausgerichteten Züge beibehalten und dabei assoziative, horizontale Formen ausbilden, die sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht beschreiben lassen. Das politische System wird wahrscheinlich nicht nach dem amerikanischen oder englischen Modell des Wechsels zwischen zwei Parteien funktionieren. Wer über die -185-
künftige Staatsform Rußlands spekulieren möchte, tut sehr gut daran, Anatole Leroy-Beaulieus klassisches Werk Das Reich der Zaren und die Russen (dt. 1898)3 zu lesen. Es beinhaltet eine umfassende Beschreibung der Einstellungen und Institutionen, in denen die Sensibilität für die Interessen der Gemeinschaft zum Ausdruck kam. Diese bestanden schon zwanzig bis vierzig Jahre vor dem Siegeszug des Kommunismus. Die universalistische Ausrichtung der russischen Außenpolitik wird fortbestehen - und zu Reflexen und instinkthaften Reaktionen ähnlich denen in Frankreich führen, das beispielsweise mit seiner »egalitären« Betrachtungsweise des israelisch-palästinensischen Konfliktes in den Vereinigten Staaten für Irritationen sorgt. Im Gegensatz zu den Amerikanern gibt es in den Köpfen der Russen keine von vornherein vorhandene Grenzlinie, welche die vollwertigen Menschen von den anderen, den Indianern, den Schwarzen oder Arabern, trennt. Als Beispiel ließe sich anführen, daß die Russen während der Eroberung Sibiriens ab dem 17. Jahrhundert ihre Indianer Baschkiren, Ostiaken, Mari, Samojeden, Burjaten, Tungusen, Jakuten, Jukuten und Tschuktschen -, die zur heutigen komplizierten Bevölkerungsstruktur Rußlands beitragen, anders als die Amerikaner eben nicht ausgerottet haben. Der gegenwärtigen internationalen Politik fehlt es auf dramatische Weise an der universalistischen Grundeinstellung Rußlands. Der Untergang der Sowjetmacht, die den internationalen Beziehungen einen egalitären Stempel aufprägte, erklärt zum Teil die verschärfte Neigung Amerikas, Israels und anderer, wieder ganz auf Differenzierung zu setzen. Die kleine universalistische Melodie Frankreichs kann sich wegen der fehlenden russischen Macht kaum noch Gehör verschaffen. Die Rückkehr Rußlands auf die Bühne der internationalen Beziehungen kann für die Organisation der Vereinten Nationen eigentlich nur eine Trumpfkarte darstellen. Wenn Rußland nicht in Anarchie und Autoritarismus versinkt, kann es im -186-
Gleichgewicht der Kräfte zu einem stabilisierenden Faktor werden: als eine starke Nation, die keine Vorherrschaft ausübt und die in die internationalen Beziehungen egalitäre Betrachtungsweisen einbringt. Eine solche Haltung fallt Rußland um so leichter, als es anders als die Vereinigten Staaten wirtschaftlich nicht von einer einseitigen Abschöpfung von Waren, Kapital und Öl aus der übrigen Welt abhängt. Die strategische Unabhängigkeit Angesichts der anhaltenden russischen Schwierigkeiten bei der Bevölkerungsentwicklung und im Gesundheitswesen kann man das wirtschaftlich wiedererstarkte Rußland noch nicht endgültig als Akteur auf der neuen weltpolitischen Bühne ansehen. Gleichwohl muß man die Hypothese zu Ende denken und sich fragen, über welche Trümpfe eine russische Ökonomie verfügen wird, die wieder ins Gleichgewicht gekommen ist und ihre Wachstumschancen zurückgewonnen hat. Eine Schlußfolgerung liegt nahe: Rußland würde eine herausragende Wirtschaftsmacht werden, bei der ein relativ hoher Bildungsstand der Bevölkerung mit einer vollständigen Unabhängigkeit von Importen gepaart ist. Ein Vergleich mit Großbritannien, das über Öl aus der Nordsee verfügt, wäre an dieser Stelle oberflächlich, denn Rußland ist mit seiner Öl- und vor allem Erdgasförderung im Energiesektor ein Exporteur von Weltgeltung. Auch darf dabei nicht vergessen werden, daß Rußland mit seinem riesigen Territorium über weitere schier unerschöpfliche natürliche Ressourcen verfügt. Anders als die abhängigen USA ist Rußland von Natur aus von der Außenwelt unabhängig. Seine Handelsbilanz ist deswegen auch positiv. Diese Situation ist nicht den Entscheidungen von Menschen zu verdanken, hat aber gleichwohl Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Systeme: Rußlands riesige Territorien, sein -187-
Reichtum an Bodenschätzen und Energieträgern hatten Stalins Konzept vom Sozialismus in einem einzigen Land erst ermöglicht. In der Zeit der Globalisierung und der allgemeinen Verflechtungen könnte sich Rußland nach einem Szenario, das auf den optimistischsten Hypothesen beruht, zu einer mächtigen Demokratie entwickeln, die in einer von den USA dominierten Welt über eine ausgeglichene Handelsbilanz und über energiepolitische Unabhängigkeit verfügte. Damit würde es, kurz gesagt, einen gaullistischen Traum verkörpern. Wenn wir den fieberhaften Aktionismus Washingtons zum Teil darauf zurückführen, daß die Versorgung der USA mit Öl, aber im gleichen Maß auch mit Waren und Kapital mittelfristig mit Unsicherheitsfaktoren behaftet ist, dann können wir uns im Umkehrschluß die Gemütsruhe der künftigen russischen Führer ausmalen: Wenn es ihnen gelingt, die staatlichen Institutionen und Grenzen - in Tschetschenien und anderswo - zu konsolidieren, dann sind sie von niemandem mehr abhängig. Sie verfügen im Gegenteil schon jetzt über den seltenen Trumpf ihrer Öl- und vor allem ihrer Erdgasexporte. Die strukturelle Schwäche Rußlands liegt dagegen in seiner demographischen Entwicklung, die sic h aber, wie wir noch sehen werden, sogar zu einem Trumpf entwickeln könnte. Auf eine geradezu ironische Weise tragen diese Faktoren dazu bei, daß Rußland, das den Kommunismus überwunden hat, sich tendenziell zu einer friedfertigen Nation entwickelt, weil es - im Gegensatz zu den aggressiven, da räuberisch lebenden Vereinigten Staaten - nicht auf die Energieressourcen der übrigen Welt angewiesen ist. Die Bestandteile Rußlands neu zentrieren Das vordringliche Problem Rußlands ist freilich nicht sein Bild im Ausland, sondern die Rückgewinnung eines eigenen strategischen Aktionsgebiets, das eigentlich weder zum Inneren -188-
noch zum Äußeren gehört. Die ehemalige Sowjetunion wies eine ganz eigentümliche Struktur auf, die zu einem Teil ein Erbe aus der Zarenzeit darstellte, weshalb denn auch nicht auszuschließen ist, daß sich diese Struktur als dauerhafter erweisen wird als der Kommunismus. Um Rußland ließen sich zwei Einflußbereiche unterscheiden: zunächst ein »slawischer« oder, besser gesagt, ein »im weitesten Sinn russischer« Kern, auf den sich der traditionelle Ausdruck »alle Russen« bezieht und der neben dem Kernland Weißrußland und die Ukraine umfaßt. Als zweites die Regionen, die heute der übrigen Gemeinschaft Unabhängiger Staaten im Kaukasus und Mittelasien entsprechen. Der Aufschwung der russischen Wirtschaft könnte diesem Gefüge neues Leben einhauchen und gewissermaßen den einstigen russischen Einfluß auf diese Regionen wiederherstellen, ohne daß dabei von einer Vorherrschaft im üblichen Sinn die Rede sein könnte. Falls sich eine solche Dynamik tatsächlich einstellt, ist sie im übrigen nicht nur der Unfähigkeit der (von der kapitalistischen Depression stark geschwächten) westlichen Wirtschaften zu verdanken, die das vor einem Jahrzehnt entstandene Vakuum nicht ausfüllen können, sondern auch der wirtschaftlichen Erholung im russischen Kernland des Gefüges. Im europäischen oder, genauer, im skandinavischen Raum sind dagegen nur die drei baltischen Republiken historisch verankert. Daß eine »sowjetische« Sphäre tatsächlich wieder in Erscheinung tritt, ist freilich ebenso ungewiß wie die Dauerhaftigkeit von Rußlands wirtschaftlichem Aufschwung. Gleichwohl zeichnet sich schon jetzt ab, daß diese Erholung nicht besonders spektakulär ausfallen muß, damit sich diese erneute Zentralisierung einstellt. Zwischen sämtlichen aus dem Zerfall der Sowjetunion hervorgegangenen Nationen bestehen anthropologische Affinitäten, die aus der Zeit vor dem Kommunismus herrühren. In allen Ländern dieser Sphäre herrschten ohne Ausnahme auf die Gemeinschaft ausgerichtete Familienstrukturen, nach denen -189-
der Vater und seine verheirateten Söhne traditionell einen Verband bildeten. Dies gilt für die Balten ebenso wie für die Völker des Kaukasus oder Mittelasiens. Der einzig feststellbare Unterschied ist die - zuweilen schwach ausgebildete - Vorliebe für innerfamiliäre Eheschließungen bei einigen islamisierten Völkern wie den Aseris, Usbeken, Kirgisen, Tadschiken und Turkmenen. Die Kasachen sind dagegen wie die Russen exogam. Trotz dieser »anthropologischen« Verwandtschaft handelt es sich freilich um eigenständige Völker. Die Letten, Esten, Litauer, Georgier und Armenier führen wie die muslimischen Völker eine eigenständige Existenz, auch wenn die Nationen in Mittelasien, die aus dem Untergang des Kommunismus hervorgingen, durch eine politische »Fabrikation« seitens der Sowjetherrschaft stark geprägt wurden, wie Olivier Roy erklärte.4 Dennoch gibt es zwischen den Völkern der ehemaligen Sowjetunion noch immer echte kulturelle Ähnlichkeiten, insbesondere eine überall vorhandene Sensibilität für die Belange der Gemeinschaft. Der Fortschritt der Demokratie in dieser Zone vollzieht sich vor dem Hintergrund eines Widerstands gegen jeden allzu krassen Individualismus. Diese anthropologische Verwandtschaft liefert die Erklärung für ein neueres Phänomen in der Entwicklung der postkommunistischen Gesellschaft auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR und macht zudem ein künftiges Phänomen absehbar. Zu dem neueren Phänomen: Die liberale Revolution ist in Rußland in den Führungszentren des Systems entstanden und hat die Peripherie, die Republiken, in denen der Individualismus noch »unnatürlicher« erscheint als in Rußland, vorerst nicht erreicht. Die Unabhängigkeit hat die - slawischen oder nichtslawischen - Republiken an den Rändern des ehemaligen Reichs vor dieser zweiten liberalen russischen Revolution bewahrt und dort Regime gefestigt, die noch autoritärer sind als das System Rußlands. -190-
Das für die Zukunft absehbare Phänomen: Die künftige Entwicklung der Demokratie in den Nachbarregionen der Russischen Föderation wird genauso stark oder noch stärker vom Einfluß Rußlands abhängen als von dem schwach ausgeprägten und schlecht angepaßten des Westens. Rußland erkundet augenblicklich einen Weg, der aus dem Kommunismus herausführt, sucht sich auf ein wirtschaftliches und politisches System festzulegen, das zwar liberalisiert, aber dennoch in der Lage ist, die dort herrschende starke Sensibilität für Belange der Gemeinschaft zu berücksichtigen. In diesem beschränkten Sinn könnte Rußland zum Modellfall für die gesamte Region werden. Der gemeinsame anthropologische Hintergrund sämtlicher Republiken der ehemaligen UdSSR erklärt die leicht zu entdeckenden ähnlichen kulturellen Eigenheiten in sämtlichen Regionen, beispielsweise bei der Bereitschaft, Gewalt zur Konfliktlösung einzusetzen, die sich in den Raten der Tötungsdelikte wie der Selbstmorde niederschlägt. Ähnlich spektakulär hohe Zahlen wie Rußland weisen hier nur die Ukraine, Weißrußland, Kasachstan und die drei Baltenrepubliken Estland, Lettland und Litauen auf. Die Übereinstimmung ist so ausgeprägt, daß sie sich aus dem Vorhandensein russischer Minderheiten, auch wenn diese wie in Estland und Lettland sehr stark sind, nicht vollständig erklären läßt. Was die Mentalitäten angeht, so hat sich die sowjetische Sphäre jenseits der Einzelstaaten und sogar der politischen Systeme noch nicht vollständig aufgelöst. Als die Baltenstaaten die Unabhängigkeit erlangten, haben sie sich eilends Nationalgeschichten zurechtgelegt, die angeblich durch eine dauerhafte Gegnerschaft zu Rußland geprägt gewesen sein sollen - eine Darstellung, die einer anthropologischen Analyse kaum standhält. Nord- und Zentralrußland, die Zentren der Entstehung des russischen Staates, und die baltischen Republiken gehörten ursprünglich zur selben kulturellen Sphäre, die stark auf die Gemeinschaft -191-
ausgerichtet war wegen der vorherrschenden Familienstrukturen wie der ideologischen Bestrebungen während des Übergangs zur modernen Gesellschaft. Wie die Verteilung der bolschewistischen Stimmen bei den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung von 1917 zeigt, war in Lettland die kommunistische Wählerschaft noch stärker vertreten als in Nord- und Zentralrußland. Letten stellten von Anfang an einen bedeutenden Anteil in der sowjetischen Geheimpolizei. So überrascht es denn auch nicht, wenn einige statistische Parameter, die Raten bei den Tötungsdelikten und Selbstmorden, die einen Teil der Mentalitäten widerspiegeln, auf eine dauerhafte Nähe zwischen der russischen und der baltischen Kultur hindeuten. Dagegen ist die unbedeutende Selbstmordrate in Aserbaidschan für ein muslimisches Land typisch: Der Islam und die ihm eigenen engen und innigen Familienbande scheinen das Individuum gegen selbstzerstörerische Impulse dauerhaft zu immunisieren. Allerdings sind die Raten in den anderen islamischen Ex-Sowjetrepubliken in Mittelasien für solche Länder »zu« hoch, so auch in Kasachstan, wo die Russen immerhin die Hälfte der Bevölkerung stellen. Eine solche Abweichung deutet auf eine unerwartet starke Prägung durch die Sowjetkultur hin - ebenso wie die vollständige Alphabetisierung, die niedrigen Geburtenraten und die Bedeutungslosigkeit des Islamismus im postsowjetischen Mittelasien. Diese russische Prägung der Kultur in der Region wird von Olivier Roy in seinen bemerkenswerten Werken wohl unterschätzt. Als dauerhafte Spur dieses Einflusses entdeckt er hier kaum mehr als die russische Sprache, die unter den Führungsschichten Mittelasiens als Lingua franca dient, wobei er dies aber als vorübergehend ansieht.5 Auch wenn ich keinen Augenblick an die Gegenthese glaube, wonach die sowjetische Sphäre unter der Oberfläche fortlebt, würde ich als amerikanischer Geostratege in dieser Region vorsichtiger -192-
vorgehen: Die 1500 Soldaten, die Washington in Usbekistan stationiert hat, sind eine unbedeutende Streitmacht fernab ihrer Welt. Aus dieser Speerspitze von heute könnte schon morgen eine Gruppe von Geiseln werden. Tabelle 11 Tötungsdelikte und Selbstmorde in der Welt (auf 100000 Einwohner) Tötungsdelikt
Selbstmord
Insgesamt
Rußland 1998
22,9
35,3
58,2
Weißrußland 1999
11,1
33,5
44,6
Ukraine 1999
12,5
28,8
41,3
Estland 1999
16,1
33,2
49,3
Lettland 1999 Litauen 1999
12,7 8,0
31,4 42,0
44,1 50,0
Aserbaidschan 1999
4,7
0,7
5,4
Kasachstan 1999 Kirgisien 1999 Usbekistan 1999 Tadschikistan 1995
16,4 7,0 6,8 6,1
26,8 11,5 3,3 3,4
43,2 18,5 10,1 9,5
Turkmenistan 1998
8,4
6,9
15,3
Deutschland 1998
0,9
14,2
15,1
Vereinigte Staaten 1998 Finnland 1998
6,6 2,4
11,3 23,8
17,9 26,2
Frankreich 1997 Ungarn 1999 Japan 1997 Großbritannien 1998
0,9 2,9 0,6 0,7
19,0 33,1 18,6 7,4
19,9 36,0 19,2 8,1
Schweden 1996 Argentinien 1994 Kolumbien 1994
U 4,6 73,0
14,2 6,4 3,2
15,4 11,0 76,2
Mexiko 1995 Venezuela 1994
17,2 15,7
b3,2 5,1
20,4 20,8
Quelle: Demographische Jahrbücher der Vereinten Nationen.
-193-
Die ukrainische Frage Zwischen 1990 und 1998 führte die voranschreitende Auflösung der einstigen UdSSR dazu, daß der russische Staat die Kontrolle über ethnisch russische Bevölkerungsteile verloren hat. Bei den baltischen Staaten, dem Kaukasus und Mittelasien, den wichtigsten nichtrussischen Regionen, kann man diese Tendenz als Rückzug der Imperialmacht oder als eine Entkolonialisierung auffassen. Mit Weißrußland, der Ukraine und der Nordhälfte Kasachstans verlor Rußland einen Teil seines traditionellen Herrschaftsbereichs. Weißrußland und der Norden Kasachstans hatten niemals als eigenständige staatliche Gebilde existiert. In diesen beiden Fällen kann der Verlust des Herrschaftsbereichs als die paradoxe Auswirkung einer Anarchie gelten, welche die in der Sowjetzeit gezogenen Grenzen der autonomen Republiken respektierte. Komplizierter liegt der Fall bei der Ukraine mit ihren drei Bevölkerungsteilen, den unierten (katholischen) Ukrainern im Westen, den orthodoxen Ukrainern im Zentrum und den Russen im Osten. Hier erschien der Gedanke an eine endgültige Ablösung realistischer. Doch hat Huntington, der eine Gegenposition zu Brzezinski vertritt, wohl eher recht mit der Prognose, wonach es die Ukraine in die Einflußsphäre Rußlands zurückzieht. Zurückzuweisen ist dabei freilich seine vereinfachende, primär religiös begründete Deutung dieser Tendenz. Die Abhängigkeit der Ukraine von Rußland resultiert aus deutlich intensiveren, subtileren und dauerhafteren historischen Beziehungen. Die Ukraine empfing alle modernen Anstöße aus Rußland, wobei wir hier von einer historischen Konstante sprechen können. Die bolschewistische Revolution nahm ihren Ausgang in Rußland, genauer in dem geschichtlich dominanten Teil, dem Großraum um die Achse Moskau-Petersburg. In dieser Region ist der russische Staat entstanden. Von hier gingen vom 16. bis -194-
ins 20. Jahrhundert die großen Modernisierungswellen aus. Und hier gelang auch der liberale Durchbruch der neunziger Jahre. Der Sturz des Kommunismus und die bis heute anhaltenden Reformwellen nahmen von Rußland aus ihren Lauf, getragen von der russischen Sprache. So kommt die Ukraine nach der Abspaltung von Rußland auf dem Weg der Reform denn nur sehr langsam voran, unabhängig von der ideologischen und verbalen Agitation, die der Internationale Währungsfonds dort betreibt. Historisch und soziologisch ist die Ukraine eine strukturschwache, profillose Region, von der noch nie eine bedeutende Modernisierungsbewegung ausging. Im Grunde bildete sie eine Randzone des russischen Reiches, die ihre Anstöße aus dem Zentrum empfing und sich zu jeder Zeit durch konservatives Verhalten auszeichnete: antibolschewistisch und antisemitisch 1917/18 und nach 1990 tiefer als Rußland im Stalinismus verwurzelt. Westliche Kreise haben sich durch deren geographische Lage im Westen und durch die Präsenz einer starken Minderheit, der Gläubigen der unierten Kirche, die dem Katholizismus nahesteht, täuschen lassen: Dabei verkannten sie, daß die Ukraine sich mit der Unabhängigkeit von der demokratischen Revolution Moskaus und Petersburgs abwandte, auch wenn sie sich damit Zugang zu westlichen Krediten verschaffte. Die provinziellen konservativen Tendenzen der Ukraine dürfen allerdings auch nicht überschätzt werden. Ihre Schwierigkeiten, das rein autoritäre Präsidentialsystem zu überwinden, sind mit denen Kasachstans oder Usbekistans nicht zu vergleichen. Das von Brzezinski entworfene Szenario ist gleichwohl nicht völlig aus der Luft gegriffen. Die kulturellen Unterschiede zu Rußland sind ausreichend groß, damit sich die Ukraine als eigenständig definieren kann. Aber mangels einer eigenen Dynamik vermag sie sich dem russischen Einfluß nicht zu entziehen, ohne unter den einer anderen Macht zu geraten. Die -195-
amerikanische Sphäre ist zu weit entfernt und materiell zu wenig präsent, um das russische Gewicht auszubalancieren. Europa mit Deutschland als Kern ist eine reale Wirtschaftsmacht, aber in militärischer und politischer Hinsicht nicht dominant. Falls Europa eine einflußreiche Stellung in der Ukraine anstrebt, liegt es nicht in seinem Interesse, sie zu einem Satelliten zu machen, benötigt Europa doch Rußland als Gegenpol zu den USA, wenn es sich von der amerikanischen Vormundschaft emanzipieren will. Hier können wir ermessen, wie wenig die Vereinigten Staaten im Herzen Eurasiens wirtschaftlich konkret präsent sind: Ihr verbaler Einfluß ist kein Ausgleich für eine fehlende Produktion, schon gar nicht mit Blick auf ein Entwicklungsland wie die Ukraine. Vom Export einiger Militärgüter und Computer abgesehen, haben die USA ihr wenig zu bieten. Sie können weder die Produktions- noch die Konsumgüter liefern, die das Land benötigt. Zudem saugen sie Kapital ab und entziehen den Entwicklungsländern allgemein so jene Ressourcen, die in Europa und Japan frei werden. Amerika kann hier nur die Illusion einer Finanzmacht verbreiten - und zwar über die politische und ideologische Kontrolle des Weltwährungsfonds und der Weltbank, der beiden Institutionen, auf die am Rande bemerkt - Rußland dank seiner Überschüsse inzwischen verzichten kann. Amerika bietet sich natürlich als möglicher Abnehmer von Gütern an, welche die Ukraine dereinst herstellen wird und die es mit Anleihen aus Europa, Japan oder anderswo bezahlen kann. Dagegen offenbaren die wirtschaftlichen Verflechtungen der Ukraine deren Abhängigkeit von Rußland, Europa und anderen Regionen außerhalb der USA. Im Jahr 2000 importierte die Ukraine für 8,04 Milliarden Dollar Waren und Dienstleistungen aus der Gemeinschaft der Unabhängigen Staaten. Weitere Importe im Wert von 5,916 Milliarden Dollar stammten aus der übrigen Welt, hauptsächlich aus Europa.6 Die -196-
Einfuhren aus den USA betrugen dagegen nur 190 Millionen Dollar und stellten so gerade einmal 1,4 Prozent des Gesamtvolumens dar.7 Im gleichen Jahr exportierte die Ukraine Waren und Dienstleistungen für 4,498 Milliarden in die GUS und für 10,075 Milliarden Dollar in die übrige Welt, davon nur für 872 Millionen, also ganze 6 Prozent des Gesamtwertes, in die Vereinigten Staaten. Und während die Ukraine ihren Außenhandel mit den GUS-Staaten zu nur 56 Prozent deckt, erzielt sie im Austausch von Waren und Dienstleistungen mit der übrigen Welt einen Überschuß mit einer Deckungsrate von 170 Prozent. An dieser Stelle zeigt sich am deutlichsten, daß Amerikas Weltherrschaft in materieller Hinsicht praktisch nicht existent ist: Die USA decken ihre Importe aus der Ukraine nur zu 22 Prozent mit Exporten dorthin. Dabei darf auch der dynamische Aspekt dieses Prozesses nicht vergessen werden: Der Handel der USA mit der Ukraine weist erst seit 1994 ein Defizit auf, während sie 1992 und 1993 noch ein leichtes Plus erzielten. Der Konsum entwickelt sich immer deutlicher zum grundlegenden Merkmal der amerikanischen Wirtschaft im internationalen System. Die Vereinigten Staaten befinden sich, gelinde gesagt, nicht mehr in einer Situation der Überproduktivität wie in der unmittelbaren Nachkriegszeit, weshalb sie denn auch nicht als Geberland eines neuen Marshall-Plans auftreten konnten, wie ihn die im Umbau begriffene n ehemaligen kommunistischen Länder benötigt hätten. Deshalb spielen sie vielmehr in der ehemaligen sowjetischen Sphäre - wie auch anderswo - eine räuberische Rolle. Was die Entwicklung der Ukraine angeht, so ist lediglich ihre geographische Lage sicher. Eine Annäherung an Rußland ist wahrscheinlich, eine einfache Übernahme durch Moskau dagegen unmöglich. Wenn Rußlands Wirtschaft wieder richtig in Gang kommt, entwickelt sich das Land zu einem Gravitationszentrum für die Nachbarregionen. Die -197-
Gemeinschaft der Unabhängigen Staaten könnte sich zu einem neuen funktionierenden politischen Gebilde entwickeln, das unter russischer Führung mehrere Einflußsphären umfaßt. Daraus ergäbe sich folgendes Szenario: Weißrußland wird faktisch annektiert, die Ukraine bleibt real selbständig, entwickelt sich aber zu einem zweiten, kleinen oder neuen Rußland. Der Begriff »alle Russen« erhält im Bewußtsein der lokalen und internationalen Akteure wieder einen realen Gehalt. Südlich des Kaukasus behält Armenien den Status des Verbündeten als ein Bollwerk gegen die Türkei, die noch für Jahre der bevorzugte Bündnispartner der Vereinigten Staaten bleibt. Georgien reiht sich wieder in das Gebilde ein. Die mittelasiatischen Staaten kehren in die russische Einflußsphäre zurück, wobei das halb von Russen besiedelte Kasachstan in diesem Szenario eine herausragende Stellung einnimmt. Durch die neuerliche Rolle Rußlands als dynamischer wirtschaftlicher und kultureller Akteur in der Region geraten die in Usbekistan und Kirgisistan stationierten US-Truppen natürlich in eine seltsame Situation, wobei der Ausdruck »corps étranger« dann im Sinne von »Fremdkörper« ganz wörtlich zu nehmen ist. Nach diesem Szenario entstünde unmittelbar östlich der erweiterten Europäischen Union ein zweites multinationa les politisches Gebilde mit Rußland als der zentralen Führungsmacht. Allerdings ist bei dem komplexen Charakter solcher politischen Gefüge eine echt aggressive Außenpolitik eher unwahrscheinlich: Es ist kaum davon auszugehen, daß sich der neu entstandene Block auf einen größeren militärischen Konflikt einlassen würde. Die Schwäche als Trumpf Das hier entworfene Bild eines idealen Rußlands, das die Welt für ihr Gleichgewicht benötige, hat freilich stilisierte Züge. Die so beschriebene Nation hat virtuellen Charakter. Im -198-
Augenblick zeichnet sich Rußland noch immer durch ein Niveau an Gewaltkriminalität aus, das fast nirgendwo sonst erreicht wird. Der Staat kämpft auf fiskalischer Ebene um seine Handlungsfähigkeit, sucht im Kaukasus seine Grenzen zu sichern und muß sich in Georgien und Usbekistan die - eher provozierende als strategisch effiziente - Umzingelung durch die Amerikaner gefallen lassen. Die westliche Presse zeigt sich selbstgerecht, wenn sie Rußland wegen seiner an die Kandare genommenen Medien oder seiner rechtsradikalen Jugendgruppen geißelt, kurzum wegen der Mißstände einer Nation, die sich unter Schmerzen wieder vom Boden erhebt. Von unserer Luxusgesellschaft verwöhnt, gefallen sich hier viele unserer Medienvertreter darin, das Bild einer russischen Bedrohung zu zeichnen. Derweil verkünden die amerikanischen Strategen unablässig, zur Gewährleistung unserer Sicherheit müsse Rußland deutlich gemacht werden, daß die Phase seiner Weltherrschaft zu Ende ist - womit sie wohl die Sorgen der USA um die Ausdehnung ihres Herrschaftsbereichs offenbaren. Dabei ist unmittelbar einsichtig, daß Rußland seine Zeit als expandierende Macht hinter sich hat. Wie sein künftiger Führungsstil - ob demokratisch oder autoritär - auch aussehen mag, seine demographische Ent wicklung deutet in die andere Richtung. Die russische Bevölkerung nimmt ab und überaltert, eine Tatsache, die allein dafür spricht, daß diese Nation weniger als eine Bedrohung als ein Faktor der Stabilität auftreten wird. Diese demographische Entwicklung hat für Amerika zu einem seltsamen Paradox geführt. Anfangs hat der Rückgang der russischen Bevölkerung - mit dem Zusammenbruch der Wirtschaft - den Vereinigten Staaten eine Stellung als einzige Supermacht beschert und Träume von einer nicht realisierbaren Weltherrschaft hervorgebracht. Amerika geriet in Versuchung, den russischen Bären zu erlegen. Nun aber dämmert der Welt allmählich, daß ein geschwächtes Rußland sein -199-
Bedrohungspotential verloren hat. Und mehr noch: daß es gegenüber einem übermächtigen Amerika, das im internationalen Kräftespiel allzu raubgierig und unberechenbar auftritt, zu einem ausgleichenden Partner wird. So konnte Wladimir Putin in Berlin verkünden: »Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, daß Europa einen Ruf als mächtiger und selbständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotentialen Rußlands vereinigen wird.« Ich kann dem nur zustimmen. Wir können im Grund nicht absolut sicher sein, ob sich in Rußland eine demokratische Gesellschaft durchsetzen kann, ob sich Fukuyamas Traum einer Universalisierung der liberalen Gesellschaft dort für immer oder wenigstens für lange Zeit mit neuem Inhalt füllen wird. In diesem Sinne ist Rußland kein absolut zuverlässiger Kandidat. Ein zuverlässiger Partner ist es dagegen auf diplomatischer Ebene, und zwar aus zwei wesentlichen Gründen. Zunächst einmal wegen seiner Schwäche. Neben der inneren Stabilisierung des Landes ist sie paradoxerweise Wladimir Putins wichtigster Trumpf: Rußlands Schwäche macht es möglich, sich bei den Europäern wieder als potentieller Verbündeter ins Spiel zu bringen. Aber Rußland ist auch deshalb zuverlässig, weil es, ob liberal oder nicht, eine universalistische Grundeinstellung besitzt, die das Land in die Lage versetzt, die internationalen Beziehungen auf einer Ebene der Gleichheit und Gerechtigkeit zu betrachten. Gekoppelt an die Schwäche, die jeden Traum einer Vorherrschaft zunichte macht, kann sich der russische Universalismus auf das Gleichgewicht der Kräfte in der Welt nur positiv auswirken. Diese sehr optimistische Sicht von Rußland als einem Pol des Ausgleichs müßte ein »Realist« der klassischen amerikanischen -200-
Schule, ob von Kissinger geprägt oder nicht, keineswegs teilen. Für den realistisch denkenden Strategen muß ein militärisches Gegengewicht nicht auch moralisch gut sein. Als die Griechen die Macht der Athener schließlich satt hatten, riefen sie Sparta zur Hilfe, das in Sachen Demokratie und Freiheit zwar kein Vorbild war, dafür aber wegen seiner Ablehnung jeder territorialen Expansion geschätzt wurde. Damit endete die Vo rherrschaft Athens - mit der Zerschlagung nicht durch Perser, sondern durch Griechen. Es wäre eine Ironie der Geschichte, würde man in den kommenden Jahren miterleben, wie Rußland die Rolle Spartas übernimmt, die des oligarchischen Stadtstaates, der zur Verteidigung der Freiheit herbeigerufen wurde, nachdem Rußland zuvor die Rolle der Perser übernommen hatte, dieses Vielvölkerreichs, das alle Nationen bedrohte. Aber der Vergleich hinkt: Die heutige Welt ist für eine Neuauflage des Peloponnesischen Krieges zu groß und zu komplex geworden. Amerika fehlen ganz einfach die wirtschaftlichen, militärischen und ideologischen Mittel, um seine europäischen und japanischen Verbündeten gegen deren Willen in Abhängigkeit zu halten.
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KAPITEL 8 Die Emanzipation Europas
Die Terrorangriffe vom 11. September waren für die Europäer anfangs eine Gelegenheit für eine gut gemeinte Demonstration ihrer Solidarität. Ihre Regierungschefs legten Wert darauf, das Verteidigungsbündnis der NATO in einen vage definierten »Kampf gegen den Terrorismus« einzubinden. Aber im folgenden Jahr erlebte die Welt eine kontinuierliche Verschlechterung der Beziehungen zwischen Europäern und Amerikanern, wobei die tieferen Ursachen dieser unerbittlich fortschreitenden Entwicklung mysteriös erschienen. Hatten die terroristischen Gewalttaten Solidarität ausgelöst, so brachte nun der amerikanische Krieg gegen den Terrorismus, der mit brutalen und unzulänglichen Methoden, ja mit unklaren Zielen geführt wurde, zwischen Europa und Amerika schließlich einen echten Antagonismus zum Vorschein. Die unermüdliche Geißelung einer »Achse des Bösen« und die beharrliche Unterstützung Israels bei gleichzeitiger Arroganz gegenüber den Palästinensern veränderten Zug um Zug den Blick Europas auf die USA. Der einstige Friedensstifter war zum Störenfried geworden. Die Europäer, die wie gehorsame Kinder Amerikas paternalistische Macht lange Zeit respektiert hatten, entwickelten jetzt beängstigende Zweifel am Verantwortungsbewußtsein der Führungsmacht. Das bislang Undenkbare trat ein: Die Franzosen, Deutschen und Briten entwickelten schrittweise, wenn auch noch nicht vollständig, eine Sensibilität für ihre gemeinsame internationale Verantwortung. Bei den Franzosen kann das Mißtrauen gegenüber den Vereinigten Staaten nicht als Novum gelten. Aber bei den Deutschen ist diese Entwicklung verblüffend. Der Gehorsam der -202-
Führung im wichtigsten Protektorat im Westen, ein unverzichtbares Instrument für den amerikanischen Einfluß auf dem Kontinent, wurde in Washington als selbstverständlich vorausgesetzt. Dieses stillschweigende Vertrauen wurzelte in zwei Tatsachen, über die nicht gerne gesprochen wird: Die USA legten zwischen 1943 und 1945 deutsche Städte mit Bomben in Schutt und Asche, und die Deutschen zeigen für diese Demonstration militärischer Übermacht bis heute eine gewisse Bewunderung. Im übrigen bringen sie den Amerikanern, die sie vor dem Kommunismus beschützten und ihnen ein Wirtschaftswunder ermöglichten, auch Dankbarkeit entgegen. Durch eine Beziehung, die auf Stärke und einem Be wußtsein für Eigeninteressen basierte, schien die Loyalität Deutschlands für die Ewigkeit gesichert. Nicht weniger überraschend ist nun auch die zögerliche Haltung des britischen Bündnispartners gegenüber den USA. Daß Großbritannien ganz auf der US-Linie lag, war für die amerikanischen strategischen Analysten ein durch die Natur vorgegebenes und gewissermaßen kongeniales Verhalten, das aus der gemeinsamen Sprache und einer gemeinsamen Grundhaltung und Kultur hervorging. Die Selbstverständlichkeit, mit der Brzezinski die britische Unterstützung voraussetzt, ist charakteristisch. Daß in Großbritannien neuerdings bei Rechten wie Linken im politischen Spektrum - ein Antiamerikanismus auftaucht, erscheint insofern paradox, als sich die Briten unmittelbar zuvor auf eine nie dagewesene Weise an der Seite der USA engagiert hatten, während es ihnen doch einst gelungen war, sich aus dem Vietnam-Krieg herauszuhalten. Tatsächlich ist dieses Paradox einer starken Annäherung, auf die in kurzem Abstand eine Entfremdung folgt, geradezu klassisch. Mit unterschiedlichen Intensitäten tauchte es bei allen europäischen Nationen auf: Wenn Dinge oder Personen allzu eng zusammenrücken, werden unerträgliche Unterschiede deutlich. -203-
Detaillierte Analysen der Presse in den jeweiligen Ländern der Alten Welt (und nicht nur den Ländern Europas), den Mitgliedern der atlantischen Allianz, würden die wachsenden Befürchtungen und dann eine zunehmende Verärgerung illustrieren. Allerdings kann man den Stimmungsumschwung noch einfacher anhand seiner Auswirkungen aufzeigen: Zur Empörung der militärischen und zivilen Führer der USA einigten sich die Europäer auf die Fabrikation eines als Militärtransporter geeigneten Airbus. Ebenso starteten sie das Projekt Galileo zur Satellitenortung, welches das amerikanische Monopol beim Satellitennavigationsystem GPS brechen soll. Die dreißig Satelliten, die dazu in Umlaufbahnen um die Erde geschossen werden müssen, sind eine konkrete Demonstration der wirtschaftlichen und technologischen Stärke Europas. Wenn Europa will - also wenn sich Deutsche, Briten und Franzosen einigen -, dann kann es auch. Im Juni 2002 zeigten die Europäer - mit der Zustimmung Großbritanniens und Deutschlands - sogar Entschlossenheit, als sie den USA wegen der Erhöhung von deren Importzöllen auf Stahl detaillierte Sanktionen androhten. Auf internationalen Konferenzen werfen inzwischen immer mehr amerikanische Vertreter - aus der Wissenschaft, dem Militär oder den Medien - den Europäern säuerlich, ja verbittert ein mangelndes Verständnis oder fehlende Loyalität vor - und neiden ihnen sogar ihren Reichtum, ihre Stärke und ihre wachsende Unabhängigkeit. Diese Entwicklung ist mit den Ereignissen eines Jahres, die nur die Oberfläche der Dinge erhellen können, allein nicht zu erklären. In den jüngsten politischen Differenzen kommt eher eine plötzlich bewußte Wahrnehmung der Gegensätze als deren eigentliche Substanz zum Ausdruck. Hier wirken zwischen Europa und Amerika tiefere Kräfte, und einige bewirken Anziehung, andere jedoch Abstoßung. Und die Verhältnisse sind noch komplizierter: Die Kräfte der Annäherung wie die der Abstoßung werden beide gleichzeitig stärker. So steht in Europa -204-
dem wachsenden Bedürfnis nach einem Aufgehen in den USA der immer stärkerer Wunsch nach einer Abspaltung entgegen, wobei die letztere Tendenz zusehends die Oberhand gewinnt. Dieses Spannungsfeld ist typisch für eine näherrückende Scheidung. Die beiden Optionen: Integration ins Weltreich oder Unabhängigkeit? Seit dem Zweiten Weltkrieg ist das Verhältnis der europäischen Regierungen zu den Vereinigten Staaten zwiespältig, wie auch die Regierung in Washington den europäischen Aufbau mit gemischten Gefühlen beobachtet. Die Amerikaner benötigten eine französisch-deutsche Aussöhnung, um die Atlantische Allianz auf dem Kontinent gegen die Russen zu sichern. Außer acht gelassen haben sie dabei die Möglichkeit, daß diese Aussöhnung zu einem konkurrierenden strategischen Bündnis führen könnte. Daß ihre Stimmung von Sympathie und Ermunterung über Mißtrauen und Bitterkeit schließlich in eine Gegnerschaft umschlug, ist eine verständliche Entwicklung. Dagegen hatten die europäischen Regierungen nach dem Februarumsturz 1948 in Prag und der Sowjetisierung Osteuropas sehr zu Recht das Bedürfnis nach dem Schutz Amerikas verspürt. Aber jetzt, da sich die Katerstimmung des Zweiten Weltkriegs verzogen hat und der Kommunismus gestürzt ist, stellen sich Zweifel und die Sehnsucht nach der einstigen Unabhängigkeit ein. Denn wie es alle führenden Kreise auf dem Alten Kontinent sehen, ist die Geschichte der einzelnen europäischen Nationen schließlich dichter, reichhaltiger und interessanter als die der Vereinigten Staaten, die nur drei Jahrhunderte umfaßt. Daß die Europäer die USA beim Lebensstandard eingeholt haben, nährt Zweifel an deren Führungsanspruch und gibt den emanzipatorischen -205-
Bestrebungen Substanz. Und all das gilt auch ohne Abstriche, am anderen Ende der eurasischen Landmasse, für Japan. Aber die gegenläufigen Kräfte, das Bestreben hin zu einer vollständigen Eingliederung in das amerikanische System, machten sich in den letzten zwanzig Jahren ebenfalls bemerkbar. Die liberale Revolution (die ultraliberale Reaktion in der Terminologie der Linken) bedeutete für die führenden Schichten Europas so etwas wie eine nie dagewesene Versuchung. Wie erwähnt, werden in der entwickelten Welt zusehends oligarchische Bestrebungen erkennbar. Die neu in Erscheinung tretenden gesellschaftlichen Kräfte benötigen eine neue Führungsmacht. So werden die USA im gleichen Augenblick, da ihre militärische Rolle überflüssig zu werden scheint, zur globalen Speerspitze einer Revolution gegen die Gleichheit, eines oligarchischen Umbaus, der auf alle Eliten eine Anziehungskraft ausüben dürfte. Inzwischen steht Amerika nicht mehr für den Schutz der liberalen Demokratie, sondern für noch mehr Geld und Macht für die Reichsten und Mächtigsten. In den Jahren 1965 bis 2000 haben es die europäischen Führer versäumt, zwischen den beiden Optionen, der Integration und der Emanzipation, eine klare Entscheidung zu treffen. Sie haben in einem Zug ihre Wirtschaft liberalisiert und ihren Kontinent vereinigt und die Amerikaner so zu Beginn des 21. Jahrhunderts in eine seltsame Lage gebracht: Die USA wissen nicht mehr, ob die von ihnen abhängigen Länder Verräter oder loyale Untertanen sind. Europa hat sich ihren Wünschen entsprechend zur Freihandelszone entwickelt, ohne einen Schutz des gemeinsamen Marktes, wenn man das Überbleibsel der Agrarpolitik außer acht läßt. Allerdings errichtete die Einführung des Euro und dessen Wertverfall um 25 Prozent gegenüber dem Dollar bis zum Februar 2002 eine Zeitlang de facto neue Schutzmechanismen zugunsten der europäischen gegenüber der US-Wirtschaft, weil Europas Exportgüter billiger und Importe aus Amerika teurer geworden sind. Die laute -206-
Empörung von Politikern und Journalisten des Alten Kontinentes, als Präsident Bush in der ersten Jahreshälfte 2002 erneut Schutzzölle auf Stahl und Agrarsubventionen einführte, deuten darauf hin, daß die europäischen Führungen sich der Folgen ihrer Handlungen nicht restlos bewußt sind: Sie übersehen, daß schon allein der Euro die Vereinigten Staaten unter Druck setzte, anfangs durch seinen Wertverfall und in der letzten Phase durch seine Erholung. Diese unzulängliche Wahrnehmung zeigt, daß sie keine echte Entscheidung für die Integration ins amerikanische System oder für die Emanzipation getroffen haben. Die Option der »Integration ins Weltreich« würde im Denken der europäischen Eliten eine doppelte Revolution voraussetzen: Sie müßten die Nation zu Grabe tragen und gewissermaßen in ein Reich einheiraten. Damit würden sie einerseits darauf verzichten, die Unabhängigkeit ihrer Völker zu verteidigen, und würden dafür andererseits als vollwertige Mitglieder in die amerikanischen Eliten eingegliedert. Dazu drängte es einen großen Teil der französischen und europäischen Eliten nach dem 11. September, als alle »amerikanisch« fühlten die Phantasmagorie Jean-Marie Messiers. Da wohlhabende Europäer an der Wall Street und durch amerikanische Unternehmen und Banken immer häufiger ausgeplündert werden, verliert diese Option zusehends an Attraktivität. Und weil sich im rechten Spektrum der amerikanischen Politik inzwischen eine regelrechte Europhobie bemerkbar macht, muß man sich sogar fragen, ob die USA eine Entscheidung nicht selbst herbeiführen, indem sie den Verbündeten klar machen, daß ihnen auch für die Zukunft nur die Rolle als Bürger der zweiten Zone zusteht. Daß Amerika neuerdings wieder verstärkt auf Differenzierung oder Ausgrenzung setzt, trifft zunächst einmal die Schwarzen, Latinos und Araber, in geringerem Maß aber auch die Europäer -207-
und Japaner. Die Option der »Emanzipation« wäre ein Ergebnis der objektiven wirtschaftlichen Stärke des Kontinents und der Einsicht der Europäer, daß sie sich durch gemeinsame Werte von den Amerikanern unterscheiden. Vorausgesetzt ist dabei die Fähigkeit, daß sie für ihre militärische Verteidigung selbst sorgen können. Diese Option erscheint sehr kurzfristig als realistisch. Europa ist industriell stärker als die Vereinigten Staaten. Es wird von dem stark geschwächten Rußland militärisch nicht mehr bedroht. Dennoch muß Europa, und das wird nie offen ausgesprochen, zu einer echten strategischen Unabhängigkeit gelangen, indem es seine nukleare Schlagkraft erhöht. Das zwischen den Vereinigten Staaten und Rußland noch immer bestehende Gleichgewicht des Schreckens verschafft Europa ausreichend Zeit, um diese Vergrößerung des Potentials, falls es denn angestrebt werden sollte, auch zu realisieren. Das einzige grundlegende Problem ist Europas Defizit beim Bevölkerungswachstum, das für den Kontinent nicht gegenüber Rußland, aber gegenüber den Vereinigten Staaten - auf längere Sicht zu einer Schwächung führt. Wenn man solche Optionen erörtert, suggeriert man die Möglichkeit zur freien Entscheidung. Man kann sich Führungsklassen vorstellen, die sich in bewußte, sozusagen anthropomorphe Akteure verwandelt haben und je nach den Interessen, Geschmäckern und Werten entscheiden, welche Richtung sie einschlagen. Solche Wunder hat es in der Geschichte durchaus gegeben: Beispiele sind der Senat der Römischen Republik, die Führer der Athener Demokratie zur Zeit des Perikles, der Nationalkonvent in Frankreich 1793, die Eliten des viktorianischen Reichs zur Zeit von Gladstone und Disraeli sowie der preußische Adel unter Bismarck. Doch wir leben nicht in einer solchen großen Epoche. Bewußte Entscheidungen lassen sich vielleicht gerade noch den Eliten der heutigen USA zuschreiben, aber mit Abstrichen, weil diese, -208-
wenn entschieden werden muß, stets den Weg des geringsten Widerstandes gehen, was dann doch keiner echten Entscheidung entspricht. Dagegen schließt die nationale Zersplitterung bei den europäischen Eliten, die in gewissem Maß noch zu schwierigen und unangenehmen Entscheidungen fähig sind, ein kollektives Denken von vornherein als illusorisch aus. Schwerwiegende Faktoren, die den Akteuren nicht bewußt sind, bestimmen die jeweiligen Haltungen Europas und Amerikas zueinander. Wie man früher sagte, werden sich Europa und Amerika durch den »Lauf der Dinge« auseinanderleben. Der Zivilisationskonflikt Vereinigten Staaten
zwischen
Europa
und
den
Die trennenden Kräfte sind allerdings nicht nur wirtschaftlicher Art. Auch die kulturelle Dimension spielt eine Rolle, selbst wenn Kultur und Wirtschaft nicht völlig losgelöst voneinander betrachtet werden können. In Europa herrschen die Werte des Agnostizismus, des Friedens und des Ausgleichs vor, die der amerikanischen Gesellschaft dieser Tage fremd sind. Der wohl bedeutendste Irrtum Huntingtons besteht darin, daß er die amerikanische Herrschaftssphäre auf das reduzieren will, was er den Okzident nennt. Er bemäntelt die amerikanische Aggressivität mit kulturellen Besonderheiten, indem er die islamische Welt, das konfuzianische China und das orthodoxe Rußland aufs Korn nimmt, aber die Existenz einer »westlichen Sphäre« annimmt, deren Natur selbst nach seinen Kriterien völlig unklar bleibt. In diesem zusammengewürfelten Westen werden Katholiken und Protestanten zu einem einzigen kulturellen und religiösen System vermengt, ein schockierendes Durcheinander für jeden, der sich mit den gegensätzlichen theologischen Anschauungen und Riten oder einfach mit den -209-
blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Gläubigen beider Konfessionen im 16. und 17. Jahrhundert befaßt hat. Abgesehen davon, daß Huntington sein Kriterium der Religion inkonsequent verwendet, stößt man, wenn man es korrekt und auf die Gegenwart bezogen anlegt, nur allzu rasch auf einen latenten Gegensatz zwischen Europa und Amerika. So bestimmen religiöse Phrasen das Leben Amerikas, in dem die Hälfte der Bevölkerung behauptet, am Wochenende in die Kirche zu gehen, während tatsächlich nur ein Viertel am Gottesdienst teilnimmt. Dagegen ist Europa ein Reich des Agnostizismus, die aktive Teilnahme am religiösen Leben der Konfessionen strebt geradezu gegen Null. Dennoch setzt die Europäische Union das biblische Gebot »Du sollst nicht töten« konsequenter um: Die Todesstrafe ist abgeschafft, während die Rate der Tötungsdelikte in der Gesellschaft mit ungefähr einem auf 100 000 Einwohner pro Jahr sehr niedrig liegt. Demgegenüber werden in den USA, wo nach einem geringen Rückgang zwischen 6 und 7 von 100000 Einwohnern jährlich durch Mord oder Totschlag sterben, zum Tod Verurteilte routinemäßig hingerichtet. Für Amerikaner spielt die Abgrenzung gegenüber den anderen eine mindestens ebenso große Rolle wie universalistische Betrachtungsweisen. Und die amerikanische Gewalt, die Zuschauer in den Kinos fesselt, wird mitunter auf unerträgliche Weise in der Form diplomatischen oder militärischen Handelns nach außen getragen. Zu den zahllosen Bereichen, in denen zwischen Amerikanern und Europäern kulturelle Unterschiede zutage treten, gehört die Stellung der amerikanischen Frau, die Kastrationsängste weckt und europäische Männer ebenso einschüchtert wie der übermächtige arabische Mann die europäischen Frauen. Zu erwähnen sind vor allem auch die tiefgreifenden Unterschiede in den altüberlieferten amerikanischen und europäischen Anschauungen, die sich mit dem Entstehungsprozeß der jeweiligen Gesellschaften erklären -210-
lassen. Auf dieser Ebene der Betrachtung lassen sich kulturelle und wirtschaftliche Merkmale nicht auseinanderhalten, so daß man hier besser von zivilisatorischen Unterschieden spricht. Die europäischen Gesellschaften gingen aus der Knochenarbeit armer Bauern hervor, die jahrhundertelang unter der Kriegslust der herrschenden Schichten litten und denen Frieden und Wohlstand erst sehr spät beschieden waren. Neben den meisten Ländern der Alten Welt gilt dies auch für Japan. In all diesen Gesellschaften herrscht deswegen, wie durch einen genetischen Code bestimmt, noch immer ein instinktives Verständnis für ausgewogene Wirtschaftsweisen vor. In der praktischen Ethik knüpfen sich daran nach wie vor die Begriffe von Arbeit und Lohn, auf der rein wirtschaftlichen dagegen die von Produktion und Konsum. Dagegen ist die amerikanische Gesellschaft das jüngere Ergebnis eines kolonialen Experiments, das zwar sehr erfolgreich verlief, aber noch keinem Nachhaltigkeitstest unterzogen wurde: Sie bildete sich in drei Jahrhunderten durch die Zuwanderung einer bereits alphabetisierten Bevölkerung heraus, die ein bislang noch jungfräuliches, an Bodenschätzen reiches und fruchtbares Land besiedelte. Amerika ist sich offenbar noch immer nicht bewußt, daß seine Erfolgsgeschichte auf der Ausbeutung und einseitigen Nutzung von Ressourcen beruht, zu denen es selbst nichts beigetragen hat. Die tiefere Einsicht der Europäer, der Japaner und aller anderen Völker Eurasiens in die Notwendigkeit ökologischer Rücksichten oder einer ausgeglichenen Handelsbilanz ist das Ergebnis einer langen Geschichte bäuerlichen Wirtschaftens. So hatten die Europäer, Japaner, Chinesen und Inder beispielsweise schon im Mittelalter mit ausgelaugten Böden zu kämpfen, die ihnen die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen vor Augen führten. Dagegen erschlossen sich in den USA einer Bevölkerung, die ihre Vergangenheit ablegen konnte, scheinbar unerschöpfliche natürliche Ressourcen. Die Wirtschaft verlor -211-
ihre Bedeutung als eine Disziplin, die sich mit der optimalen Nutzung knapper Ressourcen befaßt, und erhob sich statt dessen zu einer Wachstumsreligion, die sich um den Begriff der Ausgewogenheit nicht zu kümmern braucht. Die Ablehnung des Protokolls von Kyoto durch die USA wie die O'Neill- Doktrin von der Bedeutungslosigkeit eines Außenhandelsdefizites sind mit ein Ergebnis dieser zivilisatorischen Tradition. Von jeher verlief Amerikas Wirtschaftsentwicklung über die Auslaugung seiner Böden, die Verschwendung seines Öls und die Rekrutierung neuer Arbeitskräfte im Ausland. Das amerikanische Gesellschaftsmodell bedroht Europa Die Menschen in europäischen Gesellschaften sind stark ortsgebunden. Die Bevölkerung ist nur halb so mobil wie die in den Vereinigten Staaten. Selbst in England wechselten 1981 ähnlich wie in Frankreich (9,4 Prozent) und Japan (9,5 Prozent) nur 9,6 Prozent der Einwohner ihren Wohnort - gegenüber 17,5 Prozent in den Vereinigten Staaten. 1 Aber während die Mobilität der amerikanischen Bevölkerung oft als Beweis für deren wirtschaftliche Dynamik gepriesen wird, läßt die geringe Produktivität der US-Industrie Zweifel aufkommen, ob diese zur wirtschaftlichen Effizienz tatsächlich beiträgt. Die Japaner, die ihren Wohnort nur halb so oft wechseln, produzieren immerhin doppelt soviel. Europas Bürger unterhielten zu ihrem Staat seit jeher ein Verhältnis des unausgesprochenen Vertrauens. Die verschiedenen staatlichen Institutionen galten niemals als Feinde im Gegensatz zu den USA, wo die liberale Ideologie nur den sichtbaren und präsentablen Teil einer Einstellung gegenüber dem Staat darstellt, die im Denken der Menschen geradezu paranoide Züge annehmen kann. Nicht einmal in Großbritannien, wo die liberale Revolution eine viel -212-
bedeutendere Rolle spielte als in Frankreich, Deutschland oder Italien, gibt es Bürgerwehren, die den angeblichen Manipulationen des Zentral- oder - nach der amerikanischen Terminologie - des Bundesstaates bewaffneten Widerstand entgegensetzen wollen. 2 In allen europäischen Gesellschaften bildet die soziale Absicherung den Kern des staatlichen Ausgleichs. Vor diesem Hintergrund stellt der Export des USamerikanischen Modells vom deregulierten Kapitalismus für die europäischen Gesellschaften, aber auch für die japanische, die den fernen europäischen Vettern mit Blick auf all diese Konstanten besonders nahe steht, eine Bedrohung dar. In den Jahren 1990 bis 2000 wurde heftig über eine Formenvielfalt des Kapitalismus nachgedacht, über einen deutschen, rheinischen Industriekapitalismus, der nachhaltig den sozialen Zusammenhalt, die Stabilität, die Ausbildung von Arbeitskräften und technische Investitionen fördere und so ein Gegenmodell zum angelsächsischen liberalen Kapitalismus bilde, der auf kurzfristige Profite sowie auf die Mobilität von Arbeit und Kapital setzt. Dabei steht Japan, natürlich mit Abweichungen, hinsichtlich seines Wirtschaftsmodells wie seines anthropologischen Hintergrundes - mit der von Frederic Le Play immer wieder beschworenen Stammfamilie - näher an Deutschland. Nachgedacht wurde dabei über die Vorteile und Schattenseiten des jeweiligen Modells, wobei nach Ansicht der meisten Kommentatoren der deutsche und japanische Typ in den Jahren 1980 bis 1990 der erfolgreichere war, während der angelsächsische in den Jahren 1990 bis 2000 eher auf einer ideologischen Ebene als hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der Industrie - zusehends Aufwind bekam. Die Frage der wirtschaftlichen Vorteile und Defizite rückt in gewissem Sinn in den Hintergrund: Dem amerikanischen System gelingt es nicht mehr, die eigene Bevölkerung zu versorgen. Schwerwiegender aus europäischer Sicht sind allerdings die ständigen Versuche, die Gesellschaften des alten -213-
Kontinents, die stark in ihren Traditionen und staatlichen Regularien verwurzelt sind, diesem liberalen Modell anzupassen. Der sich daraus ergebende soziale Sprengstoff schlägt sich in einem regelmäßigen Vormarsch der extremen Rechten nieder, die in einer Wahl nach der anderen Erfolge verbuchen kann. Betroffen sind inzwischen Dänemark, die Niederlande, Belgien, Frankreich, die Schweiz, Italien und Österreich, während Deutschland, das mit Rückblick auf die dreißiger Jahre ganz unerwartet zu einem Pol des Widerstands gegen den »Faschismus« avancierte, gegen den Aufstieg der Rechten vorerst gefeit scheint. Die geringe Anfälligkeit Großbritanniens erklärt sich auf den ersten Blick mit dessen besserer Anpassungsfähigkeit an das ultraliberale Modell, auch wenn sich hier Besorgnisse und eine neuerliche Begeisterung für staatliche Eingriffe ins wirtschaftliche und soziale Leben zeigen, sei es bei der Bildung, der Gesundheit oder der Verwaltung der Eisenbahn. In Spanien und Portugal ist man sich dagegen bewußt, daß die Immunität gegen die extreme Rechte hier nur vorübergehend und einem relativen wirtschaftlichen Rückstand zu verdanken ist. Deutschland und Japan haben dem Druck folglich vorerst widerstanden. Aber nicht deswegen, weil beide Länder flexibler sind und mit sozialer Unsicherheit besser fertig werden könnten, sondern weil ihre besonders starken Wirtschaften die Volksmassen und Arbeiter bis in jüngste Zeit vor Einkommensverlusten schützten. Man darf davon ausgehen, daß eine Deregulierung nach amerikanischer Art in diesen Ländern, in denen das Solidaritätsprinzip noch stark verankert ist, der extremen Rechten verstärkt Zulauf verschaffen wird. Genau hier ist das ideolo gische und strategische Gleichgewicht bedroht: Der Typ Kapitalismus, der im amerikanischen Modell aufgeht, bedroht zusehends die Gesellschaften, die ihm bislang am hartnäckigsten widerstanden haben. Deutschland und Japan, die führenden Industrienationen, -214-
einst Nutznießer des Freihandels, werden jetzt von der schwachen Nachfrage auf dem Weltmarkt stranguliert. Selbst Japan kämpft mit steigenden Arbeitslosenraten. Von den arbeitenden Schichten kann der Druck der Globalisierung nicht mehr ferngehalten werden. Die ideologische Vorherrschaft des Ultraliberalismus führt im Inneren dieser Gesellschaften zu einer Kontroverse, die sich auf das geistige Klima wie auf das politische Gleichgewicht verheerend auswirken könnte. Die amerikanische Wirtschaftspresse fordert unablässig Reformen dieser »unmodernen«, »geschlossenen« Systeme, die in Wahrheit nur den Fehler haben, daß sie allzu produktiv sind: In Zeiten der weltweiten Rezession leiden die Wirtschaften von Industrienationen stets stärker als die rückständigen oder weniger produktiven. So hatte die Krise von 1929 die amerikanische Wirtschaft wegen ihrer damals starken Industrie ins Mark getroffen. Dagegen waren die schwach produktiven USA im Jahr 2000 besser gewappnet, um einer rückläufigen Nachfrage zu begegnen. Auc h enthalten die Artikel der amerikanischen Wirtschaftspresse, die eine Modernisierung des deutschen und japanischen Systems verlangen, eine unfreiwillige Komik, könnte man sich doch ernsthaft fragen, wie die Weltwirtschaft funktionieren würde, wenn Deutschlands und Japans Handelsbilanzen die gleichen Defizite aufwiesen wie die der USA. Dennoch führt der ideologische Druck durch Amerika und die Vorherrschaft liberalistischer Anschauungen in den für den Welthandel zuständigen Organisationen für die beiden wichtigsten Verbündeten der USA, die am stärksten exportorientierten Industrienationen, zu grundlegenden Problemen. Die Stabilität des amerikanischen Systems ruhte anfangs auf zwei Grundpfeilern: auf Deutschland und Japan, die im Zweiten Weltkrieg von Washington erobert und gezähmt worden waren. Aber jetzt nehmen die USA angesichts ihres Defizits, ihres Scheiterns und ihrer Angst neuerdings bei einer Intoleranz -215-
Zuflucht, mit der sie sich beide Partner entfremden. Das eigentlich bedeutsame Phänomen in Europa ist die veränderte Haltung der dominanten Wirtschaftsmacht Deutschland. Für den sozialen Zusammenhalt in der Bundesrepublik stellt die amerikanische liberale Revolution eine sehr viel größere Bedrohung dar als das republikanische Modell Frankreichs, das durch eine Kombination aus Eigenverantwortung und staatlicher Absicherung in der Ausgestaltung liberaler ausfällt. In Begriffen der »gesellschaftlichen Werte« gedacht, ist der Konflikt zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten nur eine Meinungsverschiedenheit, während die amerikanischen und deutschen Anschauungen einen absoluten Gegensatz darstellen. Sichtbar wurde diese deutsch-französische Verwerfungslinie während der Reise George W. Bushs im Mai 2002 nach Europa. Die Demonstrationen gegen seinen Besuch waren östlich des Rheins sehr viel größer als auf der Seite der französischen Nachbarn. Dabei glaubten sich die Franzosen, die hartnäckig an der Erinnerung an General de Gaulle festhalten, bis in jüngste Zeit als einzige in der Lage, gegenüber Amerika Fla gge zu zeigen. Ein Deutschland, das sich im Namen eigener Werte auflehnt, können sie sich bislang kaum vorstellen. Dennoch wird die Emanzipation Europas, falls sie stattfindet, den Deutschen ebenso sehr zu verdanken sein wie den Franzosen. Die Europäer sind sich ihrer Probleme mit Amerika, das sie mit ihrer schieren Masse schützt und zugleich unterdrückt, lebhaft bewußt. Spärlich ausgeprägt ist dagegen ihr Bewußtsein dafür, welche Probleme umgekehrt sie den Vereinigten Staaten bereiten. Oft erntet Europa Spott, weil es als wirtschaftlicher Gigant angeblich weder über ein Bewußtsein noch über politisches Handlungsvermögen verfüge. Diese zumeist berechtigte Kritik läßt freilich außer acht, daß wirtschaftliche Stärke unabhängig existiert und daß die aus ihr hervorgehenden Mechanismen der Integration und Konzentration für die -216-
Strategien der Länder mittel- oder langfristig unvorhergesehene Folgen haben können. Deshalb fühlte sich Amerika schon vor der Einführung des Euro von Europas wachsender Wirtschaftskraft bedroht. Die wirtschaftliche Stärke Europas Der Freihandel schafft in der Praxis noch keine vereinigte Welt, auch wenn er den Warenaustausch zwischen den Kontinenten fördert. Die Globalisierung spielt hier eine untergeordnete Rolle. Beim Wegfall von Handelsschranken wird, statistisch gesehen, zunächst einmal der Austausch zwischen benachbarten Ländern intensiviert, und auf den einzelnen Kontinenten werden integrierte Wirtschaftsregionen geschaffen: in Europa, Nord- und Mittelamerika, Südamerika und in Fernost. Die liberalen Spielregeln, die unter der amerikanischen Federführung festgelegt wurden, unterminieren so die Vorherrschaft der Vereinigten Staaten, indem sie fern von Nordamerika regionale Blöcke entstehen lassen. Europa wird so fast gegen seinen Willen zu einer selbständigen Macht. Und es kommt für die Amerikaner noch schlimmer: Das Spiel der wirtschaftlichen Kräfte sorgt dafür, daß auch Europa - durch geographische Nähe und Diffusionserscheinungen - dazu verurteilt ist, sich an seinen Rändern neue Regionen einzuverleiben. Fast gegen seinen Willen bringt es hier seine Stärke zur Geltung. Sein wirtschaftliches Gewicht auf dem Kontinent führt dazu, daß es die politische und militärische Macht der Vereinigten Staaten fortschreitend zurückdrängt und beispielsweise amerikanische Stützpunkte, wo diese existieren, mit seiner realen physischen Masse umschließt. Aus strategischer Sicht kann man die Welt auf zwei Arten sehen: Militärisch betrachtet, erscheinen die Vereinigten Staaten -217-
in der Alten Welt durchaus als präsent, während bei einer wirtschaftlichen Betrachtungsweise deutlich wird, daß sie nicht nur in Europa, sondern in ganz Eurasien immer stärker an den Rand geraten. Bei einer militärischen Betrachtung könnte man ein weiteres Mal die US-Stützpunkte auf der Erde - in Europa, Japan, Korea und anderswo - aufzählen. Leicht zu beeindruckenden Gemütern mögen die 1500 versprengten Soldaten in Usbekistan oder die 12 000 des Stützpunkts Bagram in Afghanistan als strategisch wichtige Präsenz erscheinen. Meiner Ansicht nach handelt es sich dabei eher um eine Art Bankniederlassungen, die der Verteilung von Subventionen an die lokalen Warlords dienen, die noch immer die eigentliche Macht vor Ort ausüben - und so beispielsweise auch die von Amerika gesuchten angeblichen oder tatsächlichen Terroristen entkommen lassen können. Bei aller Bescheidenheit sind diese Finanztransfers ausreichend: In der stark unterentwickelten Region lassen sich lokale Söldner zum Schnäppchenpreis anwerben. Betrachten wir die strategischen Fragen unter einem ökonomischen Gesichtspunkt hinsichtlich der Teile der Welt, die sich tatsächlich entwickeln, in denen Industrien entstehen, in denen die Gesellschaft erwacht und sich demokratisiert - zum Beispiel an den Rändern Europas -, so zeigt sich sehr deutlich, daß Amerika auf wirtschaftlicher und materieller Ebene hier eigentlich gar nicht präsent ist. Bedeutsam sind hier beispielsweise an der Peripherie der Eurozone drei Länder, die für die Vereinigten Staaten in strategischer Hinsicht eine Schlüsselposition innehaben: - die Türkei, ein wichtiger Verbündeter, der als Brücke zwischen Europa, Rußland und dem Nahen Osten dient; - Polen, das es aus gutem Grund besonders eilig hat, in die NATO einzutreten, um sich gegen die russische Vorherrschaft, die bereits vor der kommunistischen Diktatur bestanden hatte, -218-
endgültig abzusichern; - Großbritannien, der natürliche Verbündete der Vereinigten Staaten. Tabelle 12 Der Außenhandel der Türkei, Polens und Großbritanniens (in Millionen Dollar) 2000
Türkei Import
Polen
Großbritannien
Export
Import
Export
Import
Export
USA
7,2
11,3
4,4
3,1
13,4
15,8
Europa der 12
40,8
43,4
52,3
60
46,6
53,5
Rußland
7,1
2,3
9,4
2,7
0,7
0,4
Japan
3
0,4
2,2
0,2
4,7
2
China
2,5
0,3
2,8
0,3
b2,2
0,8
Quelle: OECD: Monatliche Statis tik zum internationalen Handel, November 2001.
Nach den Planspielen der Militärstrategen könnte man sich diese drei Länder als befestigte und stabile Stützpunkte vorstellen, durch die sich die Amerikaner die Kontrolle über die Welt zu sichern hoffen. So zählt im kindlichen Universum eines Donald Rumsfeld beispielsweise allein die physische Stärke. Treten wir aber vom militärischen Pausenhof aus hinaus in die Welt der realen wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse, so erweisen sich die Türkei, Polen und Großbritannien als drei Länder, die schon jetzt im Einflußbereich der Eurozone liegen. Großbritannien setzt im Handel mit 12 Ländern Europas 3,5mal, die Türkei 4,5mal und Polen 15mal so viel um wie mit den Vereinigten Staaten. In einem Wirtschaftskrieg zwischen Europa und den Vereinigten Staaten bliebe Polen keine und der Türkei kaum eine andere Wahl, als sich auf die Seite Europas zu schlagen. Und Großbritannien müßte bei jeder direkten Konfrontation mit dem europäischen Kontinent auf wirtschaftlichem Gebiet einiges an Heldenmut aufbringen, wozu es gegebenenfalls aber durchaus in der Lage wäre. -219-
Diese Verhältnisse sind freilich nicht statisch: Bezieht man in die Statistik die Daten für den Zeitraum zwischen 1995 und 2000 mit ein, so erweist sich Polen als ein Land, das augenblicklich dabei ist, von der Eurozone aufgesogen zu werden. Die Türkei exportiert wie fast alle Länder der Erde etwas mehr in die USA, als es aus ihnen einführt. Hier wie überall bemühen sich die Vereinigten Staaten, ihrer Rolle als allgegenwärtiger Konsument gerecht zu werden, der alle möglichen Waren aufnimmt. Dagegen hat sich Großbritannien trotz seiner vorrangigen Zugehörigkeit zur europäischen Wirtschaftszone in den letzten fünf Jahren etwas stärker den Vereinigten Staaten zugewandt. Der schlecht organisierte und Deflationsängste schürende Weg zum Euro hat hier eher abstoßend als anziehend gewirkt. Diese Zahlen offenbaren vor allem, welche Bedeutung dem Faktor geographische Nähe bei Warenaustausch zukommt. Die Globalisierung wirkt auf zwei Ebenen, einer weltweiten und einer regionalen, führt aber, wie die amerikanischen strategischen Analysten befürchten, vornehmlich zu einer Regionalisierung auf dem jeweiligen Kontinent und Subkontinent. Wo sie sich als echt globaler Prozeß vollzieht, treten die Vereinigten Staaten eher als Verbraucher von Waren und Kapital auf, als daß sie zu der Entwicklung einen positiven Beitrag leisten. Die schiere statistische Logik deutet darauf hin, daß die Globalisierung über den intensivierten Austausch innerhalb geographischer Nachbarschaften dazu führen wird, daß sich der wirtschaftliche Schwerpunkt der Welt nach Eurasien verlagern und Amerika so tendenziell isolieren wird. Das freie Spiel der Kräfte, das anfangs von Amerika selbst gefordert wurde, begünstigt die Entstehung eines integrierten Europas, das in einer Region, die strategisch günstiger liegt als der Einzugsbereich der USA, zur vorherrschenden Macht aufsteigen wird. Wegen der Entwicklung Osteuropas, Rußlands -220-
und islamischer Länder wie der Türkei oder des Iran und virtuell auch der gesamten Anrainerschaft des Mittelmeeres scheint Europa dazu bestimmt, zu einem Pol des Wachstums und der Stärke zu werden. Seine Nähe zum Persischen Golf dürfte den »Vordenkern« der amerikanischen Politik wohl als die dramatischs te Bedrohung der Stellung der USA in der Welt erscheinen. Ein mögliches Krisenszenario führt einem das Zusammenspiel der wirtschaftlichen und militärischen Kräfte deutlicher vor Augen: Was würde geschehen, wenn Europa als der wichtigste Handelspartner Druck auf die Türkei ausübte, damit sie den amerikanischen Streitkräften bei einem eventuellen Angriff auf den Irak die Nutzung des Stützpunktes Incirlik verweigerte? Wenn dies heute geschähe? Oder morgen? Oder übermorgen? Begäbe sich die Türkei auf die europäische Linie, so würde dies Amerikas militärisches Potential im Nahen Osten dramatisch schwächen. Die Europäer ziehen solche Szenarien gegenwärtig nicht ins Kalkül, aber die Amerikaner rechnen mit ihnen. Der Frieden mit Rußland und der islamischen Welt Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten hat Europa keine besonderen Probleme mit seiner Außenwelt. Es unterhält Handelsbeziehungen zu den übrigen Staaten der Erde, kauft dort notwendige Rohstoffe und Energie ein und bezahlt die Importe mit den Gewinnen aus seinen Exporten. Sein langfristiges strategisches Interesse ist folglich der Frieden. Dagegen wird die Außenpolitik der Vereinigten Staaten in immer stärkerem Maß von zwei Hauptkonflikten bestimmt, wobei die Gegner unmittelbare Nachbarn Europas sind. Der eine, Rußland, steht der amerikanischen Vorherrschaft als wichtigstes Hindernis entgegen, kann von den USA aber wegen seiner Stärke nicht aus -221-
dem Weg geräumt werden. Der andere Gegner, die islamische Welt, ist ein Bühnenrivale, der lediglich der Inszenierung der amerikanischen Militärmacht dient. Wegen des europäischen Interesses am Frieden, insbesondere mit den beiden wichtigsten Nachbarregionen, stehen die vorrangigen strategischen Ziele des Kontinents inzwischen in einem radikalen Gegensatz zu den amerikanischen Prioritäten. Daß die Golfstaaten zur Versorgung ihrer wachsenden Bevölkerungen ihr Öl verkaufen müssen, sichert Europa gegen ein Embargo ab. Allerdings kann Europa die Unruhe, welche die Vereinigten Staaten und Israel in der arabischen Welt stiften, nicht auf Dauer hinnehmen. Die wirtschaftliche Realität legt nahe, daß der arabische Raum in eine Sphäre der Kooperation eintreten muß, die sich um Europa zentriert und die USA weitgehend ausschließt. Die Türkei und der Iran haben vollkommen begriffen, wo ihre wirtschaftliche Zukunft liegt. Dabei darf eines freilich nicht übersehen werden: All diese Entwicklungen sorgen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten mittelfristig für einen echten Antagonismus. Mit Rußland, das sich allen Anzeichen nach zu einem verläßlichen Partner entwickelt, der zwar wirtschaftlich und militärisch geschwächt, aber ein bedeutender Exporteur von Öl und Gas ist, kann Europa seine Wirtschaftsbeziehungen auf zahlreichen weiteren Gebieten ausdehnen. Die strategische Schwäche der USA gegenüber Rußland dämpft deren Konfrontationsbereitschaft. Nach aggressiven Handlungen sind sie immer wieder gezwungen, Rußland ihre Freundschaft zu bekunden, wollen sie nicht riskieren, von Europäern und Russen bei künftigen Verhandlungen ganz übergangen zu werden. Mit Blick auf den Islam werden die USA zu einem immer konkreteren Störfaktor. Die islamische Welt versorgt Europa zu einem bedeutenden Anteil mit Zuwanderern: Pakistaner in Großbritannien, Nordafrikaner in Frankreich, Türken in Deutschland, um nur die wichtigsten Gruppen zu nennen. Die -222-
Kinder dieser Einwanderer sind Staatsbürger ihrer Gastländer, neuerdings auch in Deutschland, wo ein neues Zuwanderungsgesetz die Einbürgerung erleichtern soll. Friedliche und einvernehmliche Beziehungen sind fü r Europa so nicht nur wegen der geographischen Nähe zu islamischen Ländern, sondern auch zur Sicherung des inneren Friedens notwendig. Die Vereinigten Staaten treten hier als innere und internationale Unruhestifter auf. Frankreich, wo junge Nordafrikaner aus sozial schwachen Verhältnissen in den ersten vier Monaten des Jahres 2002 Anschläge auf Synagogen verübten, bekam als erstes Land die destabilisierende Wirkung der amerikanischisraelischen Politik zu spüren, auch wenn die tieferen Ursachen des Aufstands in der wachsenden sozialen Ungerechtigkeit innerhalb der französischen Gesellschaft liegen. Es ist davon auszugehen, daß die amerikanische Politik in den kommenden Jahren auch unter den Türken Deutschlands und den Pakistanern Großbritanniens für Unruhe sorgen wird. Das französisch-deutsche Ehepaar... und seine britische Mätresse Spricht man von Europa, seiner Stärke und seinen wachsenden Gegensätzen zu den Vereinigten Staaten, so hat man es hier mit einem völlig unzulänglich definierten Begriff zu tun: Gemeint ist eine Wirtschaftsregion, ein Kulturkreis, ein Konglomerat von Ländern oder, um die Sache besonders unpräzise zu fassen, ein sich weiterentwickelndes Gebilde. Die wirtschaftliche Integration schreitet gegenwärtig voran. Durch seine schiere Größe und Erfolgsgeschichte zieht Europa weitere Mitglieder im Osten an und scheint trotz aller Schwierigkeiten dazu bestimmt zu sein, auch die Türkei aufzunehmen. Aber dieser spontane wirtschaftliche Expansionsprozeß bewirkt auf politischer Ebene zunächst einmal Desorganisation. Die wirtschaftliche Erweiterung führt die europäischen Institutionen -223-
an die Grenzen der Handlungsfähigkeit. Der Fortbestand der Nationen, der sich in unterschiedlichen Sprachen, politischen Systemen und Mentalitäten äußert, erschwert in besonderer Weise eine Reform der Entscheidungsprozesse, der alle EUMitglieder zustimmen müssen. Aus einem globalen strategischen Blickwinkel betrachtet, könnte diese Entwicklung als der Beginn eines Auflösungsprozesses erscheinen. Tatsächlich wird sie wahrscheinlich vor allem in eine vereinfachte dreiteilige Führung münden, wobei Großbritannien, Deutschland und Frankreich ein Triumvirat bilden werden. Sehr wahrscheinlich werden sich - nach einigen Jahren der Mißhelligkeiten Deutschland und Frankreich stärker annähern. Obwohl die Rolle Großbritanniens ein absolutes Novum wäre, kommt sie als Möglichkeit durchaus in Betracht. Wir müssen Brzezinskis grundlegenden Irrtum vermeiden, wonach Großbritannien im Gegensatz zu Deutschland und Frankreich kein »geostrategischer Spieler« sei und seine Politik keine intensive Aufmerksamkeit erfordere. Angesichts der Rolle der britischfranzösischen Zusammenarbeit zur Entwicklung einer europäischen Verteidigung kann dieses Urteil schon jetzt als unzutreffend gelten. Die deutsch- französischen Beziehungen waren zwischen 1990 und 2000 keineswegs gut. Die Wiedervereinigung hatte das europäische Kräftegleichgewicht gestört, weil sich die 60 Millionen Franzosen nun einem Deutschland mit über 80 Millionen Menschen gegenüber sahen. Hinter der Währungsunion, die eigentlich einen optimistischen Schritt in die Zukunft darstellt, steckte in Wahrheit die Absicht, einem möglichen deutschen Vormachtsstreben die Zügel anzulegen. Zur Beschwichtigung der Deutschen stimmten die Europäer allzu rigiden Konvergenzkriterien zu, die Jahre der Stagnation zur Folge hatten. In dieser Zeit, vor allem während des Zerfalls Jugoslawiens, trug Deutschland im Überschwang seiner -224-
Wiedervereinigung nicht zur Beruhigung der politischen Lage bei. Daß diese Zeit inzwischen vorüber ist, hängt zunächst einmal damit zusammen, daß Deutschland mehr Flexibilität und einen Hedonismus entwickelt, mit dem es sich der französischen Mentalität annähert. Wenden wir uns wieder der realen Politik und den Kräfteverhältnissen zu: Die demographische Krise sorgt dafür, daß sich Deutschland unweigerlich zu einer großen europäischen Nation mit einer durchschnittlichen Bevölkerungsstärke zurückentwickelt. Deutschlands Geburtenrate liegt heute leicht unter der Frankreichs, so daß sich das demographische Gewicht beider Länder wieder aneinander angleichen wird. Die deutschen Eliten nehmen diese Rückkehr zum Durchschnitt wahr. Die Euphorie der Wiedervereinigung hat sich gelegt, und die deutsche Führung ist sich bewußt, daß die Bundesrepublik nicht die Rolle der wichtigsten Großmacht im Herzen Europas spielen wird. Zu dieser Rückkehr zum Realitätsprinzip haben auch die konkreten Schwierigkeiten beim Wiederaufbau der neuen Bundesländer beigetragen. Frankreich, das durch die Einführung des Euro und dessen Schwäche von seiner lähmenden Politik des starken Francs befreit wurde, hat dank seiner günstigen Bevölkerungsentwicklung zu einer gewissen Form der Dynamik und des Selbstbewußtseins zurückgefunden. Alles in allem sprechen sämtliche äußeren Umstände für eine Wiederbelebung der deutsch- französischen Zusammenarbeit in einem Klima echten Vertrauens. Allerdings müssen wir einmal mehr feststellen, daß die Dinge auch hier vornehmlich von selbst ihren Lauf nahmen. Die ausgleichende Tendenz bei der Bevölkerungsentwicklung ist nicht Folge einer bewußten Entscheidung. Sie spiegelt vielmehr die Entwicklung der Gesellschaft wider und konfrontiert die Führungen mit einem neuen Faktum. Daß sich zwischen Frankreich und Deutschland bei der Bevölkerung erneut ein -225-
Gleichgewicht einzustellen scheint, ist im übrigen nur ein Aspekt der globalen demographischen Stabilisierung. Im Osten trägt Rußlands rückläufige Bevölkerungsentwicklung mit dazu bei, Deutschland und Europa die alte Angst zu nehmen, gegenüber einer Nation, die einen ganzen Kontinent beherrscht und deren Bevölkerung rasch wächst, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Der russische Bevölkerungsschwund, die deutsche Stagnation und die relativ positive demographische Entwicklung in Frankreich sorgen im weitesten Sinne dafür, daß sich in Europa erneut ein Gleichgewicht einstellt - in einer Umkehrung der Entwicklung, die den Kontinent zu Beginn des 20. Jahrhunderts destabilisiert hatte. Damals hatte die demographische Stagnation Frankreichs zusammen mit dem Bevö lkerungswachstum in Deutschland in der französischen Nation Befürchtungen geweckt. Und im Osten hatte der noch rasantere demographische Zuwachs in Rußland in Deutschland eine regelrechte Russophobie zur Folge. Inzwischen sind die Geburtenraten überall niedrig. Auch wenn diese Entwicklung für die Zukunft Probleme schafft, so hat sie doch das Verdienst, Besorgnisse in diesem Teil der Welt zu beschwichtigen. Sollten sich die niedrigen Geburtenraten allerdings lange halten, so kommt auf Europa eine echte, den Wohlstand des Kontinents bedrohende Krise zu. Zunächst aber bleibt festzuhalten, daß die stark rückläufige Bevölkerungsentwicklung ohne daß dies so recht bewußt wurde - die Verschmelzung der europäischen Volkswirtschaften durch den Freihandel begünstigt hat, weil sie die Ängste vor einem politischen Übergewicht und einer Aggression aus dem Bewußtsein der Akteure getilgt hat. Dagegen begibt man sich mit jeder Prognose zum zukünftigen Verhalten Großbritanniens zwangsläufig aufs Glatteis. Hier ist die britische Zugehörigkeit zu zwei Sphären, der angelsächsischen und der europäischen, als ein durch die Natur der Sache vorgegebenes Faktum zu berücksichtigen. -226-
Von der liberalen Revolution war England stärker betroffen als jede andere europäische Nation, auch wenn die Briten heute erneut davon träumen, ihre Eisenbahn wieder zu verstaatlichen und ihr Gesundheitswesen durch eine solide Finanzierung zu stärken. Die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien gehen über diese enge sozioökonomische Dimension weit hinaus: die Sprache, der Individualismus und ein gewisser kongenialer Sinn für politische Freiheiten. Dies alles ist offensichtlich, läßt aber eine andere Einsicht leicht in den Hintergrund treten: daß die Engländer genauer als die anderen Europäer neben Amerikas Defiziten auch dessen Wandlungen wahrnehmen. Wenn sich Amerika zu seinen Ungunsten verändert, erfassen dies die Briten als erste. Als der engste Verbündete der USA sind sie dem ideologischen und kulturellen Druck von jenseits des Atlantik auch am stärksten ausgesetzt, weil sie im Gegensatz zu den Deutschen, Franzosen oder anderen durch keine Sprachbarriere abgeschirmt werden. Dies ist das Dilemma der Briten: Sie sind nicht nur zwischen Europa und Amerika hin und her gerissen, sondern unterhalten zu den Vereinigten Staaten zudem ein besonders problematisches Verhältnis. Sicher ist, daß die endgültige Entscheidung der Briten für oder gegen den Euro von kapitaler Bedeutung sein wird nicht nur für Europa, sondern auch für die Vereinigten Staaten. Die Integration des Finanzplatzes London - des wichtigsten in der Alten Welt - in die Eurozone würde für die Börse in New York und die USA wegen ihrer Abhängigkeit von den globalen Kapitalströmen einen schweren Schlag bedeuten. Angesichts der defizitären amerikanischen Handelsbilanz könnte Londons Eintritt in das zentrale europäische Finanzsystem die Welt aus dem Gleichgewicht bringen. Es wäre eine Ironie der Geschichte, wenn das von Brzezinski ignorierte Großbritannien durch seine Entscheidung für Europa der amerikanischen Hegemonie den Gnadenstoß versetzte. -227-
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Schluß
Unter Schmerzen finden weltweit Umbrüche bei Bildung und Bevölkerungsentwicklung statt, und dabei bewegt sich die Welt in Richtung Stabilität. Die Länder der Dritten Welt sind bei all ihren ideologischen und religiösen Aufwallungen auf dem Weg zu Entwicklung und mehr Demokratie. Es gibt keine globale Bedrohung, die ein besonderes Engagement der Vereinigten Staaten zum Schutz der Freiheit erfordert. Nur eine einzige Bedrohung schwebt heute über dem weltweiten Gleichgewicht: Amerika selbst ist von einer den Frieden schützenden zu einer räuberischen Macht geworden. Während der politische und militärische Nutzen Amerikas schwindet, merkt Amerika, daß es auf die weltweit produzierten Güter nicht mehr verzichten kann. Aber die Welt ist heute zu groß, zu bevölkert und zu vielfältig, sie wird von zu vielen unkontrollierbaren Kräften bewegt. Keine noch so intelligente Strategie erlaubt es Amerika, seine halbimperiale Situation in ein Imperium de jure und de facto zu verwandeln. Amerika ist dafür wirtschaftlich, militärisch und ideologisch zu schwach. Deshalb löst jeder Schritt, der Amerikas Zugriff auf die Welt verstärken soll, nur negative Rückwirkungen aus, die seine strategische Position weiter schwächen. Was ist in den letzten zehn Jahren geschehen? Zwei sehr reale Weltreiche standen sich gegenüber. Eines der beiden, das sowjetische, ist inzwischen zerfallen. Das andere, das amerikanische, stand ebenso in einem Prozeß der Auflösung. Der Zusammenbruch des Kommunismus hat jedoch die Illusion erzeugt, daß Amerika zur absoluten Macht gelangt wäre. Nach dem Niedergang erst der sowjetischen, dann der russischen Herrschaft glaubte Amerika, es könne seine Hegemonie auf den gesamten Planeten ausdehnen, während in Wahrheit bereits -229-
seine Macht über die eigene Einflußsphäre schwand. Für eine stabile weltweite Hegemonie hätten bei den realen Kräftebeziehungen zwei Bedingungen erfüllt sein müssen: Erstens hätte Amerika uneingeschränkt die Macht über sein europäische s und sein japanisches Protektorat behalten müssen, die beiden Pole, wo mittlerweile reale wirtschaftliche Macht versammelt ist. Reale Wirtschaft heißt in diesem Zusammenhang, daß produziert wird und nicht nur konsumiert. Zweitens müßte die strategische Macht Rußlands endgültig zerschlagen werden: Die ehemalige sowjetische Einflußsphäre müßte sich vollkommen auflösen, das Gleichgewicht des nuklearen Schreckens müßte vorüber sein, so daß nur noch Amerika allein in der Lage wäre, einen Schlag zu führen, einseitig und ohne das Risiko auch nur der geringsten Vergeltung von irgendeinem Land auf der Erde. Weder das eine noch das andere Ziel wurde erreicht. Ungehindert konnte Europa seinen Weg zu Einheit und Autonomie gehen. Weitgehend unbemerkt hat Japan seine Fähigkeit bewahrt, allein zu handeln, falls ihm eines Tages der Sinn danach steht. Rußland stabilisiert sich und beginnt, konfrontiert mit dem theatralischen Neo-Imperialisismus der Vereinigten Staaten, seinen Militärapparat zu modernisieren. Ideenreich und wirkungsvoll spielt es wieder mit auf dem außenpolitischen Schachbrett. Da Amerika die wahren Mächte der heutigen Welt nicht kontrollieren kann - mit Japan und Europa kann es wirtschaftlich nicht mithalten, Rußland kann es als Atommacht nicht ausschalten -, mußte es, um wenigstens den Anschein einer Weltmacht zu wahren, außenpolitisch und militärisch gegenüber unbedeutenden Staaten aktiv werden: gegen die »Achse des Bösen« und gegen die arabische Welt, zwei Sphären, deren Schnittmenge der Irak bildet. Das militärische Handeln ist nach Intensität und Risiko irgendwo zwischen echtem Krieg und -230-
einem Videospiel angesiedelt. Man verhängt Embargos über Länder, die sich nicht wehren können, man wirft Bomben auf unbedeutende Armeen. Immer raffiniertere Waffensysteme werden konstruiert und produziert, die genauso präzise sind wie die Waffen in Videospielen, aber in der Praxis setzt man unbewaffnete Zivilisten Bombardierungen aus, die dem Bombenkrieg im Zweiten Weltkrieg nicht nachstehen. Das Risiko für die Streitkräfte der Vereinigten Staaten ist praktisch null. Alles andere als null ist es hingegen für die amerikanische Zivilbevölkerung, weil die asymmetrische Herrschaft terroristische Reaktionen aus den beherrschten Regionen provoziert. Das aus der Sicht der Terroristen erfolgreichste Beispiel sind die Anschläge vom l1.September 2001. Der demonstrative Militarismus Amerikas, der dazu dienen soll, die militärtechnische Unterlegenheit aller anderen Akteure weltweit vorzuführen, hat schließlich die wahren Mächte der Erde beunruhigt, und sie zur Annäherung veranlaßt: Europa, Japan und Rußland. Hier erweist sich die amerikanische Taktik als besonders kontraproduktiv. Die verantwortlichen Politiker in den Vereinigen Staaten glaubten, sie würden höchstens eine Annäherung zwischen der Großmacht Rußland und den beiden weniger bedeutenden Mächten China und Iran riskieren, während Japan und Europa ihnen als Protektorate erhalten bleiben würden. Tatsächlich aber riskieren die Vereinigten Staaten, wenn sie sich nicht besinnen, eine Annäherung zwischen einer bedeutenden Nuklearmacht, Rußland, und zwei dominierenden Wirtschaftsmächten, Europa und Japan. Europa wird sich langsam der Tatsache bewußt, daß Rußland nicht nur keine strategische Bedrohung mehr darstellt, sondern im Gegenteil einen Beitrag zur europäischen Sicherheit leistet. Wer kann denn wirklich sagen, ob die Vereinigten Staaten, würde es Rußland als strategisches Gegengewicht nicht geben, die Einführung der gemeinsamen europäischen Währung gebilligt hätten, die mittelfristig eine große Gefahr für die -231-
amerikanische Geldversorgung ist, und ebenso die Mission Galileo, die das amerikanische Monopol auf ein militärisch nutzbares Satellitennavigationssystem brechen wird? Das ist der tiefere Grund, warum die Osterweiterung der NATO keinen Sinn mehr ergibt oder einen anderen Sinn bekommt. Zu Anfang konnte man die Einbeziehung der ehemaligen Volksdemokratien in die NATO nur als aggressive Wendung gegen Rußland interpretieren, ein verwunderlicher Schritt angesichts des würdigen und friedlichen Endes der Sowjetunion. Damals sprach man von einer symbolischen Assoziierung Rußlands, die heute in den Verträgen niedergelegt ist, kosmetische Verpackung einer enger gezogenen Einkreisung. Aber die Einbeziehung Rußlands in die Konsultations- und warum nicht auch in die Entscheidungsprozesse innerhalb der NATO wird nach und nach für die Europäer zu einer wirklich reizvollen Perspektive, weil damit ein strategisches Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten etabliert würde. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die NATO die Amerikaner immer weniger interessiert und sie immer mehr »selbst handeln« wollen auf der Bühne des theatralischen Militarismus. Die Kontrolle über die Ölfelder am Persischen Golf und in Mittelasien erscheint wie ein rationales Ziel amerikanischen Handelns gegenüber schwachen Ländern. Es scheint nur rational, weil Amerika mittlerweile in allen Bereichen abhängig ist und nicht nur beim Erdöl. Aber gerade hier erzeugt das Handeln der Vereinigten Staaten die deutlichsten Gegenreaktionen. Die Unruhe und Aufregung, die die Amerikaner in der Golfregion schüren, ihr offenkundiger Wunsch, die Energiereserven der Europäer und Japaner zu kontrollieren, werden die beiden Protektorate über kurz oder lang dazu bringen, daß sie in Rußland, dem zweitgrößten Erdölproduzenten der Welt und dem wichtigsten Gaslieferanten, einen unverzichtbaren Partner erkennen. Rußland wiederum erlebt, daß es als Erdöllieferant handfeste Unterstützung findet, -232-
von Zeit zu Zeit noch verstärkt durch hektische Aktivitäten Amerikas im Nahen Osten - ein schönes Geschenk, zu dem es sich nur gratulieren kann. Wenn die amerikanische Diplomatie für Aufregung und Unruhe sorgt, fließen um so mehr Devisen aus Erdölgeschäften nach Rußland. Eine weitergehende Abstimmung zwischen Europäern und Japanern, die beide vor der Situation stehen, daß Amerika ihre Energieversorgung kontrolliert, erscheint in dieser Situation unausweichlich. Die Ähnlichkeiten zwischen der europäischen und der japanischen Wirtschaft, beide nach wie vor von der industriellen Produktion geprägt, werden mit Sicherheit zur Annäherung führen. Das zeigt sich sehr deutlich in der jüngsten Entwicklung der japanischen Direktinvestitionen im Ausland Übernahmen und Neugründungen von Unternehmen. 1993 hat Japan 17 500 Milliarden Yen in Amerika investiert und nur 9200 Milliarden in Europa. In 2000 hat sich das Verhältnis umgekehrt: Investitionen in Höhe von 27000 Milliarden in Europa standen nur 13 500 Milliarden in Nordamerika gegenüber.1 Für die Liebhaber theoretischer Modelle ist das Verhalten Amerikas eine ausgezeichnete Gelegenheit zu studieren, wie zuverlässig negative Gegenreaktionen erfolgen, wenn ein strategischer Akteur ein Ziel ansteuert, das zu groß für ihn geworden ist. Jeder Schritt Amerikas in dem Bestreben, die Kontrolle über den Planeten zu behalten, führt zu neuen Problemen. Das Spiel geht langsam voran, weil alle beteiligten Mächte nicht nur Amerika - grundlegende Schwächen aufweisen. Europa ist durch seine mangelnde Einigkeit und durch seine demographische Krise behindert, Rußland durch seine wirtschaftliche und demographische Schwäche, Japan durch seine geographische Isolierung und ebenfalls durch seine demographische Situation. Deshalb wird die Partie nicht mit einem Matt enden, das heißt mit dem Sieg einer einzelnen -233-
Macht, sondern mit einem Patt, einer Situation, in der keiner mehr herrscht. Europa, Rußland und Japan zusammen sind zweieinhalbmal so stark wie Amerika. Der seltsame Aktionismus der Vereinigten Staaten in der muslimischen Welt drängt die drei Mächte der Nordhalbkugel immer mehr zu einer langfristigen Annäherung. Die Welt, die dadurch entsteht, wird kein Weltreich mehr sein, in dem eine einzige Macht das Sagen hat. Wir werden es vielmehr mit einem komplexen System zu tun haben, in dem sich etliche Staaten und Metastaaten ausbalancieren, die gleichgewichtig sind, ohne gleich im eigentlichen Wortsinn zu sein. Bei bestimmten Einheiten wie dem russischen Pol wird im Mittelpunkt ein einziges Land stehen. Das gilt auch für Japan, geographisch ein Zwerg, aber wirtschaftlich ein Riese mit einer Industrieproduktion so groß wie die der Vereinigten Staaten. Wenn Japan wollte, könnte es in fünfzehn Jahren Amerika in militärischer und technologischer Hinsicht einholen oder gar überholen. Auf sehr lange Sicht wird China zu dieser Gruppe aufschließen. Europa ist eine Ansammlung von Staaten mit den beiden Partnern Deutschland und Frankreich im Mittelpunkt, aber seine wahre Macht hängt von der Beteiligung Großbritanniens ab. Südamerika wird sich allem Anschein nach unter brasilianischer Führung organisieren. Demokratien und Oligarchien Die Welt, die aus dem Zusammenbruch des Sowjetreichs und der Auflösung des amerikanischen Herrschaftssystems hervorgeht, wird nicht einheitlich demokratisch und liberal sein, wie Fukuyama es erträumt hat. Es wird aber auch keine Rückfälle in Formen des Totalitarismus geben, weder in einen nationalsozialistischen noch in einen faschistischen, noch in einen kommunistischen. Eine doppelte Bewegung bestimmt den -234-
Fortgang der menschlichen Geschichte. Die Entwicklungsländer bewegen sich in Richtung Demokratie, angetrieben durch die massenweise Alphabetisierung, die kulturell homogene Gesellschaften hervorbringt. In der entwickelten Welt mit den drei Mächten wird in unterschiedlichem Ausmaß eine Tendenz zur Oligarchie spürbar, ausgelöst durch eine Differenzierung der Gesellschaften nach Bildungsniveaus, wodurch die Gesellschaften in neue Schichten mit »oberen«, »unteren« und verschiedenen »mittleren« Niveaus gegliedert werden. Allerdings dürfen wir den antidemokratischen Effekt der Ausdifferenzierung von Schichten nach unterschiedlichen Bildungsniveaus nicht übertreiben: Die allgemeine Alphabetisierung ist in den entwickelten Ländern gegeben, und sie müssen irgendwie mit dem Widerspruch zurechtkommen, daß die Alphabetisierung der Massen eine Tendenz zur Demokratisierung entfaltet und die Differenzierung durch die höhere Bildung eine Tendenz zur Oligarchisierung. Die Etablierung neuer Formen des Protektionismus in den oben erwähnten Großregionen oder Metanationen könnte die demokratische Tendenz stärken, weil sie im wirtschaftlichen Bereich und bei der Verteilung des Volkseinkommens (oder des Einkommens einer Region) die Arbeiter und die technische Intelligenz begünstigen würde. Der unbeschränkte Freihandel fordert die Ungleichheit der Einkommen und wird deshalb die umgekehrte Wirkung haben, das heißt das oligarchische Prinzip unterstützen. Wenn Amerika über eine vom Freihandel geprägte Weltwirtschaft regierte, würden wir die Entwicklung erleben, die sich bereits zwischen 1995 und 2000 abgezeichnet hat: die Verwandlung des amerikanischen Volkes in die Plebs eines Weltreiches, die ernährt wird mit Waren aus den Volkswirtschaften des gesamten Planeten. Doch wie ich zu zeigen versucht habe, ist es sehr unwahrscheinlich, daß diese imperiale Situation Wirklichkeit wird. -235-
Erst verstehen, dann handeln Was können wir tun, wir als Bürger und unsere Politiker, wenn wir in dieser Weise wirtschaftlichen, soziologischen und historischen Kräften ausgesetzt werden? Zuerst einmal müssen wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie ist, und uns von Ideologien und Illusionen des Augenblicks freimachen. Wir dürfen uns von dem permanenten falschen Alarm der Medien nicht beeindrucken lassen. Wenn wir die realen Kräfteverhältnisse erkennen, ist schon sehr viel gewonnen. Immerhin haben wir dann die Chance, sinnvoll zu handeln. Amerika ist keine Supermacht mehr. Im gegenwärtigen Zustand kann Amerika nur kleine Länder tyrannisieren. Bei den wirklich globalen Konflikten ist Amerika dem gemeinsamen Willen von Europäern, Russen und Japanern ausgeliefert. Diese drei Mächte zusammen haben theoretisch die Möglichkeit, Amerika zu überwältigen. Amerika kann von seiner Wirtschaftstätigkeit allein nicht leben, es braucht Kapitalzuflüsse von außen, um sein Konsumniveau zu halten: gegenwärtig 1,2 Milliarden Dollar täglich. Heute ist es so weit, daß Amerika ein Embargo fürchten muß, wenn es für die Welt zu bedrohlich werden sollte. Einige amerikanische Strategen wissen das, aber ich fürchte, daß sich die Europäer nicht immer der strategischen Auswirkungen bewußt sind, die manche ihrer Entscheidungen in sich bergen. Der Euro, geboren in Konflikt und Unsicherheit, wird in Zukunft, wenn er sich behaupten kann, eine beständige Bedrohung für das amerikanische System sein. Durch den Euro ist ein Wirtschaftsraum entstanden, der größer ist als der amerikanische. Die beteiligten Staaten können in einem Ausmaß gemeinsam handeln und mit einer Kraft, die bestehende Gleichgewichte erschüttern oder vielmehr das Ungleichgewicht -236-
zu Lasten der Vereinigten Staaten verstärken kann. Vor der Einführung des Euro konnten die Vereinigten Staaten bei allem, was sie taten, auf die Asymmetrie zählen. Die Schwankungen des Dollarkurses wirkten sich auf die ganze Welt aus. Die Kursschwankungen der kleinen Währungen neutralisierten sich gegenseitig und hatten keine Auswirkung auf die Vereinigten Staaten. Heute müssen die Vereinigten Staaten mit dem Damoklesschwert weltweiter Bewegungen in einer Richtung leben. Ein Beispiel ist der Absturz des Eurokurses von seiner Einführung bis Februar 2002. Diese weder beabsichtigte noch geahnte Entwicklung führte zwar zu einer Kapitalflucht in die Vereinigten Staaten, hatte aber auch die Folge, daß die Preise für europäische Waren um 25 Prozent sanken. Mit dem Euro wurde de facto ein tarifäres Handelshemmnis errichtet. Daß die Europäer später protestierten, als die Amerikaner Strafzölle auf Stahlerzeugnisse erhoben, spricht für ein einigermaßen schlechtes Gewissen. Oder schlimmer noch: Es zeigt, daß sie sich ihrer tatsächlichen Macht gar nicht bewußt waren. Die Herren protestierten, als wären sie Diener. Wenn der Wechselkurs des Euro wieder steigt, kann das langfristig der amerikanischen Industrie zugute kommen, kurzfristig wird es aber die Kapitalversorgung der Vereinigten Staaten von einem Tag auf den anderen austrocknen. Der Euro wird die europäischen Länder zu größerer wirtschaftspolitischer Abstimmung und wahrscheinlich irgendwann zu einer gemeinsamen Haushaltspolitik veranlassen in einem Umfang, wie es das bisher noch nicht gegeben hat. Wenn das nicht gelingt, wird der Euro wieder verschwinden. Aber die Europäer müssen wissen, daß eine konzertierte Haushaltspolitik auf europäischer Ebene weltweite makroökonomische Auswirkungen haben und das amerikanische Monopol auf die Steuerung der Konjunktur brechen wird. Wenn die Europäer Maßnahmen zur weltweiten Belebung der Konjunktur einleiten, machen sie schlagartig den -237-
einzigen realen Dienst zunichte, den die Vereinigten Staaten der Welt noch erweisen: die Förderung der Nachfrage mit keynesianischen Mitteln. Wird Europa ein autonomer Pol der keynesianischen Konjunktursteuerung, was wünschenswert ist, dann wird es damit de facto das amerikanische System zerschlagen. Ich wage nicht, auf wenigen Seiten die unzähligen Effekte und Interaktionen zu skizzieren, die eine solche Verhaltensänderung hätte, die Wirkungen auf die Handelsströme, die Finanzströme und die Wanderungsbewegungen weltweit. Aber das Endergebnis ist leicht vorauszusehen: Ein regulierender Pol würde in Eurasien entstehen, näher am ökonomischen Herzen der Welt, und es wäre zu erwarten, daß sich die Waren-, Geld- und Menschenströme, von denen Amerika heute lebt, neu ausrichten würden. Amerika müßte dann so leben wie die anderen Länder auch, es müßte sein Handelsbilanzdefizit ausgleichen, und das würde für die amerikanische Bevölkerung eine Senkung des Lebensstandards um 15 bis 20 Prozent bedeuten. In dieser Schätzung ist bereits berücksichtigt, daß nur importierte und exportierte Waren international zu Buche schlagen. Die Mehrzahl der Waren und Dienstleistungen, die derzeit Eingang in die Berechnung des amerikanischen BIP finden, haben auf den internationalen Märkten keinen Wert und werden bei der Berechnung massiv überbewertet. Die Aussic ht auf eine derartige Neuanpassung hat nichts Beängstigendes. Ein Rückgang des Lebensstandards in dieser Größenordnung ist nicht im entferntesten mit dem vergleichbar, was die Russen nach dem Zerfall des Kommunismus erlebt haben (ein Rückgang um mehr als 50 Prozent), und das von einem Pro-Kopf-Einkommen ausgehend, das erheblich niedriger lag als in den Vereinigten Staaten. Die amerikanische Volkswirtschaft ist von Natur aus flexibel, und wir können voller Zuversicht mit einer raschen Anpassung rechnen, die für -238-
die gesamte Weltwirtschaft von Vorteil wäre. Über der kritischen Analyse der gegenwärtigen Entwicklungen dürfen wir die ureigensten Qualitäten Amerikas nicht vergessen, ob das nun die wirtschaftliche Flexibilität ist oder die Treue zum Prinzip der politischen Freiheit. Vernünftig über die Zukunft Amerikas nachzudenken kann nicht bedeuten, daß man es loswerden oder demütigen möchte oder sonstigen bizarren oder gewaltsamen Visionen nachhängt. Was die Welt braucht, ist nicht, daß Amerika untergeht, sondern daß Amerika wieder es selbst wird, ein demokratisches, liberales, produktives Land - soweit das möglich ist, denn in der menschlichen Geschichte wie in der Entwicklung aller Tierarten gibt es keine vollkommene Rückkehr in statu quo ante. Die Dinosaurier sind nicht zurückgekommen. Die großzügige Weltmacht, die Amerika in den fünfziger Jahren war, wird es nie mehr sein. Was können wir sonst noch tun, außer die Realitäten der Welt mit klarem Blick zu betrachten? Wir können bescheiden kleine Schritte unternehmen, um den Übergang zu erleichtern, der ganz von selbst vonstatten geht. Keine Außenpolitik kann angesichts der weltweiten wirtschaftlichen, demographischen und kulturellen Kräfteverhältnisse heute den Gang der Geschichte noch beeinflussen. Wir können nur versuchen, die Entstehung einer vernünftigen politischen Superstruktur zu erleichtern und gewaltsame Konfrontationen möglichst zu verhindern. In dem Zustand der Unsicherheit, in dem sich die amerikanische Wirtschaft und Gesellschaft heute befinden, ist das Gleichgewicht der atomaren Abschreckung nach wie vor unverzichtbar, ob es nun durch das russische Waffenarsenal aufrechterhalten wird oder ob die Europäer ein gemeinsames Abschreckungspotential aufbauen. Europa und Japan, die bezahlen können, was sie importieren, müssen direkt mit Rußland, dem Iran und der arabischen Welt über die Sicherung ihrer Ölversorgung verhandeln. Sie haben keinen Grund, sich auf militärische Showinterventionen nach -239-
amerikanischem Vorbild einzulassen. Die Vereinten Nationen müssen als Vertretung einer bestimmten Weltanschauung wie als politische Organisation die Institution werden, die weltweit für Ausgleich sorgt. Insofern haben die Vereinigten Staaten mit ihrer feindseligen Haltung gegenüber der UNO die Gefahr korrekt vorweggenommen. Damit die große Weltorganisation effizienter sein kann, muß sie die realen ökonomischen Kräfteverhältnisse stärker einbeziehen und ihnen genauer Rechnung tragen. In einer Welt, wo Krieg mit ökonomischen Mitteln geführt wird, müssen die beiden großen Wirtschaftsmächte Japan und Deutschland einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat haben. Ihre bisherige Abwesenheit zeugt nur davon, daß sie sich dem amerikanischen System unterwerfen. Einen ständigen Sitz für Japan zu fordern gebietet allein der gesunde Mensche nverstand. Japan hat als einziges Land einen Angriff mit Nuklearwaffen erlebt. Es ist durch und durch pazifistisch und damit Träger einer authentischen Legitimität geworden. Seine wirtschaftlichen Vorstellungen weichen von denen der angelsächsischen Welt stark ab, und damit kann Japan ein für die ganze Welt nützliches Gegengewicht darstellen. Bei Deutschland liegen die Dinge komplizierter, weil die europäischen Länder im Sicherheitsrat schon stark überrepräsentiert sind und weil es nicht angehen kann, daß das Ungleichgewicht durch einen zusätzlichen Sitz noch verstärkt wird. Hier könnte Frankreich Klugheit beweisen und anbieten, seinen Sitz mit Deutschland zu teilen. Ein gemeinsamer Sitz mit Deutschland hätte sehr viel mehr Gewicht als der gegenwärtige französische Sitz: Das deutsch- französische Paar könnte ein echtes Vetorecht ausüben. Ein Beitrag zur Anpassung der politischen Super-Struktur der Welt an die ökonomischen Realitäten könnte auch darin bestehen, daß die Standorte einiger Weltorganisationen von den Vereinigten Staaten nach Eurasien verlegt würden. -240-
Wahrscheinlich wäre es sehr viel leichter und weniger konfliktträchtig, neue Organisationen zu schaffen, als den Sitz von IWF oder Weltbank zu verlegen, zweier Organisationen, die heute in der öffentlichen Meinung weltweit wenig Ansehen genießen. Bei diesen Vorschlägen geht es um sehr viel mehr als nur darum, eine institutionelle Form für das zu finden, worauf es wirklich ankommt: daß wir uns der tatsächlichen wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse auf unserem Planeten bewußt werden. Wenn die Welt durch das natürliche Spiel der demographischen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Kräfte wirklich zu Gleichgewicht und friedlichem Ausgleich tendiert, dann bedarf es keiner großen Strategie. Doch eines ist sehr wichtig: Wir dürfen nicht vergessen, daß heute wie gestern die großen bewegenden Kräfte Demographie und Bildung sind und daß die wahre Macht wirtschaftlicher Natur ist. Es nützt nichts, wenn wir uns in das Trugbild einer militärischen Konkurrenz zu den Vereinigten Staaten verrennen, einer militärischen Pseudo-Konkurrenz, mit der Folge, daß wir dauernd irgendwo in Ländern ohne wirkliche strategische Bedeutung intervenieren. Wir dürfen nicht nach dem Vorbild der amerikanischen Armee das Konzept des Kriegsschauplatzes ersetzen durch ein Konzept des Kriegsschauspieles. Sollten wir an der Seite der Vereinigten Staaten im Irak intervenieren, würden wir eine Komparsenrolle in einer blutigen Posse übernehmen. Im 20. Jahrhundert ist es keinem Land gelungen, seine Macht durch Krieg oder auch nur durch Aufrüstung zu vergrößern. Frankreich, Deutschland, Japan und Rußland haben durch Krieg und Rüstungswettlauf unendlich viel verloren. Die Vereinigten Staaten haben sich als Sieger des 20. Jahrhunderts behauptet, weil es ihnen über einen sehr langen Zeitraum gelungen ist, sich nicht in die militärischen Auseinandersetzungen der Alten Welt hineinziehen zu lassen. Folgen wir dem Beispiel dieses -241-
Amerika, des erfolgreichen Amerika. Wagen wir es, stark zu sein, indem wir den Militarismus ablehnen und bereit sind, uns auf die inneren wirtschaftlichen und sozialen Probleme unserer Gesellschaften zu konzentrieren. Schauen wir zu, wie das gegenwärtige Amerika seine verbliebenen Kräfte im »Kampf gegen den Terrorismus« vergeudet als Ersatz für den Kampf zur Verteidigung einer Hegemonie, die nicht mehr existiert. Wenn Amerika weiter darauf beharrt, seine Allmacht zu demonstrieren, wird es schließlich der Welt nur seine Ohnmacht enthüllen.
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Anmerkungen
Einführung 1 Norman Podhoretz, »How to Win World War IV«, in: Commentary, Februar 2002, S. 19-28. 2 Vgl. zum Beispiel Noam Chomsky, Rogue States. The Rule of Force in World Affairs, London 2000. 3 Benjamin R. Barber, Coca-Cola und Heiliger Krieg. Der grundlegende Konflikt unserer Zeit, Bern, München, Wien 2001. 4 Henry Kissinger, Die Herausforderung Amerikas. Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München, Berlin 2001. 5 Paul Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000, Frankfurt am Main 1989 (englische Ausgabe 1988). 6 Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1996. 7 Robert Gilpin, Global Political Economy. Understanding the International Economic Order, Princeton 2001. 8 Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Berlin 1997. 9 Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992. 10 Ebenda, Kapitel 10. Bildung erscheint als eine Folge der Entwicklung zur Industriegesellschaft. 11 Michael Doyle, »Kant, Liberal Legacies, and Foreign Policy«, in: Philosophy and Public Affairs, I und II, 1983 (12), S. 205-235 und S. 323-353. 12 »If we have to use force, it is because we are America. We are the indispensable nation. We stand tall. We see further into -243-
the future.« (»Wenn wir Gewalt anwenden müssen, dann deshalb, weil wir Amerika sind. Wir sind die unverzichtbare Nation. Wir sind groß. Wir blicken weiter in die Zukunft.«) 13 Zu Einzelheiten dieses Zusammenhangs vgl. mein Buch Die neoliberale Illusion. Über die Stagnation der entwickelten Gesellschaften, Zürich 1999, Kap. 5. 14 Michael Lind, The Next American Nation. The New Nationalism and the Fourth American Revolution, New York 1995. 15 Michael Young, Es lebe die Ungleichheit. Auf dem Weg zur Meritokratie, Düsseldorf 1961 (englische Ausgabe 1958). 16 Michael Lind, op. dt., S. 145. Kapitel l 1 Für eine detaillierte Analyse vgl. mein Buch Die neoliberale Illusion. Über die Stagnation der entwickelten Gesellschaften, Zürich 1999, Kap. 6. 2 Den demographischen Übergang im Iran untersucht Marie Lädier, Population, société et politique en Iran, de la monarchie à la république islamique, Dissertation EHESS, Paris 1999. 3 Youssef Courbage, »Demographic Transition Among the Maghreb Peoples of North Africa and in the Emigrant Community Abroad«, in: Peter Ludlow, Europe and the Mediterranean, London 1994. 4 In Malaysia gibt es eine starke chinesische Minderheit. 5 In Nigeria gibt es eine starke christliche Minderheit. 6 Youssef Courbage, »Israel et Palestine: combien d'hommes demain?«, in: Population et sociétés, Nr. 362, November 2000. Die Geburtenrate der Ultraorthodoxen allein liegt bei 7. 7 Pierre Manent, Les liberaux, Paris 2001. 8 Zur allgemeinen Analyse dieser Beziehungen vgl. -244-
Emmanuel Todd, L'enfance du monde. Structures familiales et développement, Paris 1984, sowie Ders., L'invention de l'Europe, Paris 1990. 9 Ders., Vor dem Sturz. Das Ende der Sowjetherrschaft, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1977. Vgl. auch Kapitel 5. 10 Vgl. Jean-Claude Chesnais, La transition démographique, Schriftenreihe des INED; Nr. 113, 1986, S. 122. 11 Gilles Kepel, Das Schwarzbuch des Dschihad. Aufstieg und Niedergang des Islamismus, München, Zürich 2002. 12 Von 1975 bis 2000 ist die Zahl der Kinder pro Frau in Usbekistan von 5,7 auf 2,7 zurückgegangen, in Turkmenistan von 5,7 auf 2,2 und in Tadschikistan von 6,3 auf 2,4. 13 Ganz dem klassischen Muster folgend, ist der Sezessionskrieg in einer Phase ausgebrochen, als die Geburtenrate der ursprünglichen angelsächsischen Bevölkerung sank. Im Sezessionskrieg sind mehr Menschen gestorben 620000, davon 360000 aus den Nordstaaten - als in allen anderen Konflikten (einschließlich Vietnam), an denen die Vereinigten Staaten seit 1776 beteiligt waren. 14 Zur Entwicklung der Fruchtbarkeit in dieser Region siehe J.-P. Sardon, Transition et fécondité dans les Balkans socialistes, sowie B. Kotzamanis und A. Parant, L'Europe des Balkans, différente et diverse?, Konferenz in Bari, Juni 2001. Kapitel 2 1 Geschrieben 1793, deutsche Ausgabe Frankfurt am Main 1976. 2 Neuausgabe unter dem Titel La diversité du monde, Paris 1999. 3 Zu weiteren Einzelheiten vgl. La troisième planète, op. cit., Kap. 5. Die Muslime in Jugoslawien, Albanien und Kasachstan sind patrilinear, gemeinschaftlich, egalitär, aber nicht endogam. -245-
Die Muslime in Malaysia und Indochina haben ein vollkommen anderes Familiensystem, die Stellung der Frau ist sehr viel höher, und es gibt eine wichtige matrilokale Abweichung: Ein Paar lebt nach der Eheschließung meist in der Nähe der Familie der Frau. 4 1853 schrieb Tocqueville in einem Brief an Gustave de Beaumont über die russische Landbevölkerung, sie sei wie »ein Amerika ohne Aufklärung und Freiheit. Eine demokratische Gesellschaft, vor der man Angst bekommen könnte.« (A. de Tocqueville, (Euvres complètes, Bd. VIII, Correspondance d'Alexis de Tocqueville et de Gustave de Beaumont, Paris 1967, Bd. 3, S. 164.) 5 Aus dem Landesdurchschnitt von 2,1 werden die Hispanos und die Schwarzen herausgerechnet. Kapitel 3 1 Zu dem Gesamtkomplex vgl. R. Meiggs, The Athenian Empire, Oxford 1972. 2 Siehe G. Alföldy, Histoire sociale de Rome, Paris 1991. 3 http:// www.census.gov/foreigntrade/balance 4 U.S. Trade Balance With Advanced Technology, U. S. Census Bureau, http://www.census.gov/foreigntrade/balance/cOOOV.html 5 Arnold Toynbee und Mitarbeiter, The World in March 1939, London 1952. 6 Chalmers Johnson, Ein Imperium verfällt. Wann endet das amerikanische Jahrhundert?, München 2000, über den Nachfrageeinbruch und die Folgen S. 252ff. 7 Joseph Stiglitz, Die Schatten der Globalisierung, Berlin 2002. Originalausgabe unter dem Titel Globalization and Its Discontents, New York 2002. 8 Es ist wohl kein Zufall, daß in einem großen -246-
Hollywoodstreifen, Gladiator, das Römische Reich erstmals im Prinzip sehr positiv dargestellt, nur seine Degeneration kritisiert wird (panem et circenses). Wir sind weit entfernt von antirömischen Spielfilmen wie Quo vadis?, Spartacus und Ben Hur. 9 Friedrich List, Das natürliche System der politischen Ökonomie, Berlin 1927 (Originalausgabe 1841). 10 Michael Lind, The Next American Nation, New York 1995. Im Jahr 1984 spendeten die Unternehmen der demokratischen Partei mehr als die Gewerkschaften, ebenda S. 187. 11 Ebenda, S. 231. Kapitel 4 1 B. H. Liddell Hart, Geschichte des Zweiten Weltkrieges, Düsseldorf 1972. 2 Die verfügbaren Zahlen erlauben uns nicht, nach Frontlinien und Kriegsschauplätzen zu unterscheiden, aber die Gesamtstatistik der Gefallenen gibt schon einen Hinweis: Vereinigte Staaten (gegen Deutschland und Japan): 300000 Vereinigtes Königreich: 260000 Frankreich: 250 000 Rußland: 13000000 Japan (gegen alle Feinde): 1750000 Deutschland: 3250000 3 U.S. Census Bureau, Statistical Abstract of the United States: 2000, Tabelle 580. 4 Eine sehr gute Analyse der Realitäten bei den amerikanischen Militärausgaben und der militärischen Stärke liefert M. E. O'Hanlon, Defense Policy Choices for the Bush Administration 2001-2005, Brookings Institution Press 2001. -247-
5 Interview in Les Echos, 11. April 2002. 6 In einem Artikel mit dem Titel »The Betrayal of Capitalism«, erschienen in der New York Review of Books, 31. Januar 2002, kürzlich nachgedruckt in Le Monde. l Bureau of Economic Analysis, U.S. International Transactions Account Data. 8 The Wealth of Nations (deutsch: Der Wohlstand der Nationen), London 1979, S. 430. In dem wirtschaftlichen Sinne, wie Smith es verwendet, würde das Wort »dienen« sicher auch für die neue Dienstleistungsgesellschaft in Amerika zutreffen. 9 In den Jahren 1860-1880 ein berühmtberüchtigter Outlaw im Wilden Westen. Zusammen mit seinem Bruder stand er an der Spitze einer Bande, die Banken ausraubte und Züge überfiel. Kapitel 5 1 Diesen Punkt werde ich demnächst in einem Buch mit dem Titel L'origine des systèmes familiaux (Der Ursprung der Familiensysteme) näher ausführen. Darin werde ich den, anthropologisch gesprochen, relativ archaischen Charakter der angelsächsischen Familienstruktur darlegen. Die Diagnose, daß die Struktur in anthropologischer Hinsicht archaisch ist, sagt ganz und gar nichts über die kulturellen und ökonomischen Entwicklungspotentiale der Regionen aus, für die diese Familienstruktur typisch ist. In dem Buch werde ich gleichfalls Gelegenheit haben zu zeigen, daß bestimmte im anthropologischen Sinn hochentwickelte Familienstrukturen die arabischen und chinesischen - ein Entwicklungshemmnis darstellen. Mit anderen Worten: Die Familienstruktur kann die Entwicklung von Bildung und Wirtschaft behindern. 2 Statistical Abstract of the United States 2000, S. 51, Tabelle 54. 3 National Vital Statistics Report, Bd. 49, Nr. 8, September 2001. -248-
4 Emmanuel Todd, Vor dem Sturz. Das Ende der Sowjetherrschaft, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1977. 5 Genaugenommen unterscheidet die amerikanische Statistik fünf ethnische Gruppen: die Weißen, die Schwarzen, die Hispanos, die Asiaten und die Indianer. Nach dem heutigen Stand der Dinge müssen die Indianer, eine zahlenmäßig kleine Gruppe, die durch Eheschließungen integriert ist, genau wie die gleichfalls durch Eheschließungen integrierten Asiaten als »Relikte« oder ideologische »Köder« betrachtet werden. 6 American Demographics, November 1999. 7 http://www.census.gov/population/projections/nations/ summary 8 Mit typischem Opportunismus hat Commentary, die neokonservative Zeitschrift, die vom American Jewish Committee herausgegeben wird, in ihrer Rezension von Huntingtons Buch (März 1997) den Punkt verschwiegen, daß er Israel nicht zur westlichen Sphäre zählt. 9 The American Jewish Committee, 2007 Annual Survey of American Jewish Opinion, http://www.ajc.org 10 Aristoteles, Politik, Zürich 1955, Buch V, 7 (14). 11 Vgl. den bemerkenswerten Beitrag von Ilan Greilsammer in Le Débat, 118, Januar-Februar 2002, S. 117-131. 12 Während ich diese Zeilen schreibe, kommt mir - aber ist es wirklich ein Zufall? - ein Bericht in der Liberation über ein Interview in die Hände, das Jean-Marie Le Pen der israelischen Zeitung Haaretz gegeben hat. Darin bekundet der Führer der französischen Rechtsextremisten Verständnis für den Kampf der israelischen Armee gegen den Terrorismus und gegen die Araber und vergleicht ihn mit dem Kampf, den die französische Armee vor vierzig Jahren in Algerien führte (Liberation, 22. April 2002). 13 Peter Novick, Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem -249-
Massenmord, Stuttgart, München 2001. 14 Siehe zum Beispiel das erstaunliche Cover des konservativen Wochenmagazins Weekly Standard in der Ausgabe nach dem ersten Durchgang der französischen Präsidentschaftswahlen: im Hintergrund die Farben der französischen Trikolore, blau, weiß, rot, darauf der Schriftzug »Freiheit, Gleichheit, Judenphobie« (6. Mai 2002). Kapitel 6 1 Michael Porter, Nationale Wettbewerbsvorteile: erfolgreich konkurrieren auf dem Weltmarkt, Frankfurt a. M. 1999. 2 Lester Thurow, Kopf an Kopf: Wer siegt im Wirtschaftskrieg zwischen Europa, Japan und den USA, Düsseldorf 1993. 3 Siehe oben, S. 113. 4 Eine ausgezeichnete Beschreibung dieser Phase siehe Jacques Sapir, Le chaos russe, Paris 1996. 5 Rein theoretisch wäre auch ein auf der patrilinearen Struktur basierendes Gesellschaftsmodell mit einer Geburtenrate von zwei Kindern pro Frau möglich: Dazu müßten alle Ehepaare nach der Geburt des ersten Sohnes auf weitere Kinder verzichten und alle Ehepaare so lange weiter Kinder zeugen, bis ein erster Sohn geboren ist. Diese Hypothese ist allerdings völlig unrealistisch, denn sie schließt die Möglichkeit aus, daß Ehepaare zwei Söhne bekommen. Dies widerspricht aber einer arabischen Wertvorstellung in der Familie: der Solidarität zwischen Brüdern und der Vorliebe für Eheschließungen zwischen deren Kindern. 6 Egypt Demographic and Health Survey, 1992 und 2000. 7 Statistical Abstract of The United States: 2000, S. 591. Kapitel 7 -250-
1 OECD, Economic Surveys 2001-2002, Russian Federation, Vol. 2002/5. 2 Global Political Economy, Princeton 2001, S. 333-339. 3 Die endgültige französische Originalversion L'empire des tsars et les Russes datiert von 1897/98. Die erste Ausgabe erschien 1881/82. 4 Olivier Roy, La nouvelle Asie centrale ou la fabrication des Nations, Paris 1997. 5 Ebenda und Olivier Roy, L'Asie centrale contemporaine, Paris 2001. 6 La Documentation francaise, Le Courner des Pays de l'Est, Nr. 1020, November/Dezember 2001, S. 175. 7 U.S. Census Bureau, http://www.census.gov/foreigntrade/balance/c4623.html. Kapitel 8 1 L. Long, »Residential mobility differences among developed countries«, in: International Regional Science Review, 1991, Bd. 14, Nr. 2, S. 133-147. 2 Anthony King, »Distrust of government: explaining American exceptionalism«, in: Susan J. Pharr und Robert D. Putnam, Disaffected Democracies, Princeton 2000, S. 74-98. Schluß l http://www.jin.jac.02.jp/stat/stats/08TRA42.html
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