GUSTAV OTTO DIX
DURAN
___ EIN PFERD UNTERWEGS
NEUMANN VERLAG
RADEBEUL UND BERLIN
31.-40. Tausend Schutzumschlag...
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GUSTAV OTTO DIX
DURAN
___ EIN PFERD UNTERWEGS
NEUMANN VERLAG
RADEBEUL UND BERLIN
31.-40. Tausend Schutzumschlag und Textillustrationen von Kunstmaler Rudolf G. Werner 1954 Lizenznummer 151•310/110/54 • Alle Rechte vorbehalten Neumann-Verlag GmbH • Radebeul 1 • Dr.-Schmincke-Allee 19 Satz und Druck VEB Offizin Andersen Nexö in Leipzig III/18/38 pkr 2003/01
Mit diesem Buche möchte ich ein bleibendes Denkmal setzen meinem eigenen, unvergessenen, treuen und ergebenen vierbeinigen Weggenossen unzähliger Kilometer in Eisstürmen und glühender Sonne und all den vielen Tausenden von Pferden aller Nationen, die im Wahnsinn des letzten Krieges verbluteten, vor Hunger zusammenbrachen, erfroren oder zu Tode geprügelt wurden. Möchten alle daran denken, daß auch das wieder sein wird, wenn der starke Arm friedliebender Menschen in aller Welt erlahmt !
KLEINE SCHWIERIGKEITEN
Riesengroß und schwefelgelb hängt der Mond wie eine Ampel über dem Dorf. Wie man auch schauen mag, man sieht keinen Stern. Warm umfächelt der Wind die alten dürren Giebel und klappert an den Schindeln, als ob tausend Kobolde sich regen und ihr Unwesen treiben. Christian Schnuhr sitzt beim Essen in der einfenstrigen, schwarzen Küche, klopft die Brotkrümel von der alten, oft genug und bunt geflickten Weste. Jetzt steht er auf, um das knarrende Radio abzustellen, hatte da nicht etwas wieder gepoltert? Er setzt sich wieder und kaut langsam weiter — wieder ein Poltern und Rumoren. Da hält es ihn nicht länger, er nimmt die Lampe vom Brett und zündet sie an. Pfff — macht es, als er die Türe zum Vorraum aufschlägt, und er steht wieder im Dunkeln, nur durch die Glasscheiben im Haustor fällt gelbes Mondlicht und zeichnet den Schatten seines plumpen Körpers auf die Diele. Christian flucht und zündet die Lampe wieder an. Jetzt hat er mehr Glück und schlurft über das Holperpflaster des Hofes. Bumpadumm geht es wieder, Christian erlauscht die Richtung und schiebt den Riegel der Pferdestalltür zurück. Er hält die Lampe hoch und sagt wie immer „hohooo", wenn er eintritt. Der Wallach Fritz hat gedöst und dreht sich schläfrig um, aber Lisa schnarcht und schnaubt, ihr schöner, edler Kopf nickt auf und nieder, die Kette rasselt am Trog, sie tritt vor und geht wieder zurück, dann trampelt sie mit den Hufen, als wollte sie zum Galopp ansetzen. Christian sagt noch einmal „hohooo" und tritt genau hinter das Tier mit dem starken, tonnenförmigen Leib. Er hebt wieder die Lampe und vergleicht, wo der Leib dicker ist, rechts oder links. Da huscht ein Schatten über die rechte Flanke, Christian hält inne und konzentriert sich auf den eben verschwundenen Fleck. Totenstill ist es im Stall, nicht einmal die Ratten hinter der Haferkiste knastern am Holz. Noch einmal sieht Christian die jähe Bewegung an der Seite der Stute, gerade wie einen Stoß, dann verläßt er den Stall. Schneller und zielbewußter strampeln seine krummen Beine der Küche zu. Hastig schiebt er einen Stuhl beiseite und reißt den mit Fliegendreck bedeckten Beilagekalender aus dem Volksboten von der Wand. Sein Finger gleitet über die Spalten, aber er muß den Kalender wieder weglegen, denn er kann das Geschreibe darauf nicht erkennen. Seine Hände fahren klopfend auf die Brusttaschen der Weste, wie ein hungriger Geier reckt er gleichzeitig den starken Hals nach dem Ofenbrett, wo seit undenklichen Zeiten die Porzellanbüchsen mit den Aufschriften Mehl, Zucker, Graupen und Sand stehen. Niemals war das drin, was daraufsteht, aber das ist hier auch unwesentlich, Christian sucht jedenfalls im Moment seine Brille. „Herrjeh, wo ist denn nur wieder das Mistding", — murmelt er im Selbstgespräch und schießt auf den Kammkasten zu, unter dessen halb geöffnetem Deckel ein Drahtbügel hervorlugt. Hastig greift er zu und zerrt das Drahtgestell heraus. Hierher hat sie wieder das Ding versteckt, das... dämliche „Frauenzimmer" — wollte er noch sagen, aber er läßt es unausgesprochen, schüttelt nur wie zum Protest den Kopf, setzt die Brille auf die Nase und nimmt den Kalender wieder auf. Er öffnet den Mund und zieht die Augenbrauen hoch — das tut er immer so, wenn er sich geistig konzentriert. Mehrmals fährt sein Kopf ruckartig auf und nieder, man sieht, daß sein Blick die Spalten abfährt. Hier hält er inne, streicht mit dem Zeigefinger der rechten Hand den Bart zur Seite und fängt zu zählen an, erst laut, dann leiser und immer
schneller. Mit einem „Ei Gott, ei Gott" schiebt er das Blatt über den Tisch und nimmt wieder die Lampe. Prinz, der dumme Lauseköter, kläfft, als Christian wieder den Hof betritt. Ärgerlich über die Störung scheucht er ihn in die Hütte. Gerade als er wieder die Stalltür aufgestoßen hat, gibt es einen lauten Platsch, als ob man einen Eimer Spülwasser in den Hof schüttet. Gelblichbraunes, warmes Fruchtwasser fließt in der Stallrinne ab. Bewegung kommt jetzt in Christians schwerfälligen Leib, mehrmals rennt er hin und her, will einen Gedanken zur Tat werden lassen und verwirft ihn wieder, ehe er ihn ausgeführt hat. Ein Besen stört ihn, er schleudert ihn beiseite. Tausend Hände möchte er jetzt haben, und niemand ist da, der ihm helfen könnte. Sein Ehegespons, Minna, mit dem er zeitlebens Stank hatte, ist zum Bäcker, Sauerteig holen, und kommt ewig nicht wieder, der Junge ist zur Versammlung ins Nachbardorf gefahren. Das ist immer so, wenn er jemand braucht, ist keiner da — immer das alte, elende Lied. Lisa krampft es den Leib zusammen, sie stöhnt lange und dumpf, dann rennt sie wieder nach vorn gegen die Krippe, senkt den Kopf und verheddert sich mit dem Halfter in der Anbindekette. Christian zwängt sich zwischen der unruhigen Mutter und der Wand nach vorn und streift ihr mit einem Ruck die Halfter ab. Lisa empfindet die Befreiung, rangiert rückwärts, rennt in die Stallgasse und will sich in den Stand von Fritz mit hineinzwängen. Sie ist kopflos vor Schmerz, denn schon wieder reißt es schneidend durch den Leib. Mit einem Satz stolpert Christian zu der seit langem vorbereiteten Abfohlboxe, reißt das Gatter auf und klemmt die Türe fest. Lisa wendet und fährt zum Loche hinein. Zinkeimer rasseln um. Christian wirft das Gatter zu und schiebt den Riegel vor. Da erscheint Minnas dürrer Hals in der Tür, und der magere Vogelkopf seines Eheweibes starrt wesenlos in die Lampe. „Was ist denn los?", kreischt die helle, schnarrende Stimme seines Weibes, das er mehr als einmal zum Teufel gewünscht hat. Christian murmelt etwas von Stroh holen und ist auch schon in der Scheune verschwunden. Minna stakelt ihm nach, und bald fliegen ein halb Dutzend Bündel gelockert in die Boxe. „So", sagt Christian, klopft die Weste und verläßt eilends den Hof. In der Küche beim Oberschweizer Kühnbaum ist noch Licht. Christian klopft an das Fenster und ruft: „Richard!" Ein Kahlkopf öffnet und spricht mit Christian, der gleich wieder langsam zurückgeht. Richard Kühnbaum zieht die Jacke auf der Straße an, und beide stapfen hastig voran. Ihre Gesichter verraten Spannung, und nur der Mond macht sein ewig unergründliches, gleichgültiges Gesicht. Christian atmet hastig und knöpft sich etwas auf, er schwitzt am Halse — kein Wunder, seit langem haben sich die Ereignisse nicht so überstürzt. Lisa liegt, als die Männer ankommen, und wälzt sich unruhig hin und her, es zieht sie zusammen wie eine Harmonika, und man könnte meinen, der Leib müßte reißen. Jetzt liegt sie mit dem Hinterzeuge an der Gattertüre, und Christian leuchtet mit der Lampe an den Wurf, aus dem handlang zwei dünne Beine herausragen, ganz dünn, mit strohgelben Hufen. „Meinst du, daß es jetzt vorwärts geht?" fragt Christian. „Tja, wollen mal noch etwas warten", sagt Richard Kühnbaum, „meiner Ansicht nach dürfte das nicht mehr lange dauern." „Hm, wie du denkst", entgegnet Christian und erhebt sich, um nach der Küche zu gehen. Er will die Pause ausnützen, um zwei Zigarillos zu holen und eine neue Birne für die Stallampe. Wie oft hatte er es schon gesagt, daß da einmal eine neue Birne hinein muß — nein, wenn man nicht immer alles selber macht. Es ist zum Heulen mit dem Weibsvolk. Die Männer rauchen und warten — Lisa stöhnt vor
reißendem Schmerz im Leibe, die Asche an den Zigarren wird lang und fällt zu
Boden.
Da sagt Richard Kühnbaum zu Christian: „Du, ich glaube, da stimmt etwas nicht,
ich möchte da jedenfalls nichts daran machen, ich denke, du sagst mal Bescheid."
„Hm, besser ist besser", antwortet Christian, holt seine Mütze und verschwindet.
— Blendend weiß erstrahlt das Schild „Öffentlicher Fernsprecher" an Emil Hagedorns Hoftür. Es ist kein Licht mehr, denn der dicke Mann hat gut gegessen und liegt schwer zu Bette. Christian nimmt das Taschenmesser aus dem Hosensack und pocht heftig. „Emil, Emil", ruft er stoßend, aber es rührt sich nichts, nur der Hund macht Radau und tobt an der Kette. Endlich wird im Hofe Licht gemacht, und ein feister Kopf erscheint am Fenster. Christian steckt das Messer wieder ein und sagt, daß die Stute nicht fohlen kann. „Tjo", antwortet Emil Hagedorn verärgert, daß er im ersten, bekanntlich dem besten Schlaf gestört wurde, und schlägt das Fenster zu. In Pantoffeln schlürft er zum Telefon, dreht rudelnd an der Kurbel und nimmt den Hörer ab. „Dr. Fenzlein" — sagt er, als sich das Fräulein nach langer Zeit, ebenfalls im ersten Schlaf gestört, meldet. Dr. Fenzlein ist nicht zu Hause, aber die Frau ist da und verspricht, daß er gleich kommt. Christian steht schon wieder an der Hoftür und schaut die Straße entlang. Der laue Wind spielt in seinem Haar und kühlt sein erhitztes Gesicht. Die Zigarre ist ihm ausgegangen, er hat das Ziehen vergessen. Es dauert zu lange, und er stapft zur Küche, verläßt sie aber gleich wieder, weil er hier jetzt nichts zu suchen hat, und storcht steifbeinig wieder zur Hoftüre. Von weitem sieht er ein Licht blinken, dessen Schein über den weißen Sand der Straße tanzt. Das kann er noch nicht sein — er lauscht angespannt, aber, obwohl er besser hört als sieht, kann er kein Motorengeräusch vernehmen. Das Licht kommt näher und wird größer. Es ist der Junge, der mit dem Rade zurückkommt. Christian geht in den Stall und sieht Richard Kühnbaum an, der sich inzwischen auf die Haferkiste gesetzt hat. Er schüttelt mit dem Kopfe und macht ein teilnahmsloses Gesicht. Da huscht ein Lichtschein über den Hühnerstall, und die Pappeln werfen ihre Schatten drehend über Hof und Misthaufen, grell sind jetzt die Fenster des Obergeschosses beleuchtet, und den Gottessegen über der Tür kann man deutlich lesen. Surrend fegt ein Wagen die Dorfstraße entlang und hält vor dem Hofe, der Motor steht still, und die Lichter löschen aus. „n'Abend", sagt Dr. Fenzlein, reicht Christian die Hand und geht leichten Schrittes der Stalltüre zu, er weiß im Hofe Bescheid. Lisa ist aufgesprungen und steht zitternd mit dem Kopf an der Tür, da fühlt sie einen brennenden Stich wie von einer Bremse an der linken Halsseite, sie will abwehren, aber Christian hält sie am Kopfe fest. Dann läßt er los, wie ihm der Doktor gesagt hat, und die Männer bleiben wieder in der Stallgasse stehen. Lisa fühlt, wie etwas in ihren Adern läuft, was nicht hineingehört, eine Gleichgültigkeit überkommt sie, sie wird müde, unendlich müde. Ihre gespannten Bauchmuskeln werden locker, und das würgende Ziehen läßt nach. Ihr wird wohl, sie möchte sich legen und schlafen, viel, viel schlafen. Aber wenn sie nieder will, reißt sie Christian am Kopfe wieder hoch und gibt ihr mit der flachen Hand einen Schlag auf die Nase, daß sie erschreckt hochfährt. Da merkt sie, wie sich etwas Langes langsam in ihre Weichteile vorschiebt, aber es tut gar nicht mehr weh, kaum spannen tut es noch. Christian steht am Kopfe und klopft auf den Hals. Was ist, soll sie angespannt werden, was bedeutet dieses Ziehen nach hinten? Sie stemmt sich nach vorn,
aber der Zug wird immer stärker, und es fängt auch wieder an, weh zu tun. „Langsam", sagt jemand hinter ihr, und sie fühlt ein spannendes Gleiten, es wird ihr leicht, ganz leicht, und auf einmal merkt sie gar nichts mehr. So wurde er geboren, Johann, der Hengst. Dr. Fenzlein hat seine Jacke wieder angezogen und putzt sorgsam an der Hornbrille. „Na, es ging nochmal, der Kopf wollte nicht mit", sagt er halb zu Christian gewendet, „nun paß gut auf und nimm der Alten die Eisen ab, hättest es schon längst tun sollen—."
„Ja", meint Christian, „ich rechnete doch mindestens noch..." „Weiß schon", unterbricht ihn Dr. Fenzlein, „das kommt mal vor." Johann liegt im weichen, gelben Stroh und schüttelt den Kopf, er ist patschnaß, wie später oft in seinem Leben. Die Mutter rollt ihn hin und her, und er strampelt mit den langen, ach so langen Beinen. Husten quält ihn und Schleim quillt aus seinem Maule hervor, dann huschelt er sich zusammen, legt den Kopf ganz lang und döst. Die Stalltür hat sich geschlossen, es wird ganz ruhig, nur die Mutter schnaubt, und Johann fühlt den warmen Atem, das tut wohl, denn ihm ist kalt.
Wie lange er geschlafen hat, weiß er nicht, aber es drückt ihn, und er quirlt sich in Bauchlage und schaukelt mit dem Kopfe. Unendlich schwer wird er ihm, und schon liegt er wieder flach wie ein schlafender Hund vor der Hütte. Riesengroß steht die Mutter über ihm und stupst ihn mit den Nüstern an. Da reißt er sich mit einem Ruck hoch, schiebt erst das linke und dann das rechte Vorderbein vor und will sich hochziehen. Klatsch, schon liegt er wieder, das war zuviel auf einmal, und er holt tief Atem. Die Mutter wendet sich um, denn jemand ist mit einem Eimer in den Stall gekommen und sagt „Hohooo!" — Lisa schnarcht und schnaubt, es rattert förmlich, aber ein warmer Duft kommt ihr entgegen, und sie streckt den Hals vor. Christian hält ihr den Eimer hin, und sie schlürft in tiefen Zügen. Der Alte setzt den Eimer ab und will langsam wiegenden Schrittes wie ein Pastor vor der Leiche in die Boxe gehen, um Johann näher zu besehen. Da legt Lisa die Ohren an, klappt zweimal mit den Lippen, streckt den Kopf vor und schnappt nach Christians Hemdärmel. „Schscht" — macht der und klopft ihr den Hals. Noch jemand ist also jetzt in der Boxe außer der Mutter. Das sieht Johann und mit einem Satz ist er hoch auf allen vier Beinen. Ganz breit wie ein Sägebock steht er, schaukelt ein paarmal wiegend hin und her, da wird es ihm übel und schwach, alles dreht sich, und schon liegt er wieder im Stroh. Christian hat die Alte, die ihm das Hinterteil zugekehrt hat und auskeilen will, beruhigt. Jetzt steht er ganz dicht bei Johann, der ihn mit seinen großen, tiefen Augen anblickt. Der Alte bückt sich und streckt seine Hand vor, Lisa rattert beängstigend, es hat scheinbar keinen Sinn, die Menschen nehmen sich schon, was ihnen nicht gehört. Seine Hand berührt Johanns Kopf — die Hand eines Menschen. Johann schüttelt, als wolle er sagen: „Nein."
BLICK IN DIE WELT MIT DEM ALTEN KERL Frühling ist überall im Lande. Christian pfeift ausnahmsweise, und auch die alte Minna kekert wie ein Fuchs, dem ein Rivale einen Bücklingskopf streitig machen will. Tausend kristallene Perlen hängen an Gras und Halm, wenn sich die Sonne ausgeschlafen hat und über den Allersberg ihre ersten Strahlen schickt. Es ist ein Sausen und Brausen überall, — im ewigen Kreislauf erneuert sich das Leben in diesen besungenen Tagen. Singen sollte er eigentlich auch, Herr Karnatz oben im Apfelbaum, dieser Herr auf dem Pflocke vor dem windschiefen Kasten. Anstatt dessen äfft er bald mit Geknätsch die quietschende Windmühle nach, bald glückt er wie jener böse schwarze Vogel, der mit langen Sprüngen über die Beete setzt und von Minna verfolgt wird wie die Pest. Entscheidend ist aber nicht, was den Menschen Freude macht, was kümmert es ihn, er hat jedenfalls Freude daran und nicht zu klagen, seitdem er da ist und das ruppige Spatzengesindel herausgehackt hat aus seiner alten Behausung. Freude und Jauchzen überall im Lande, denn es ist Frühling und Friede. Weit ist Gatter und Stalltür offen, große Brummer mit grünschimmerndem Leib und glänzenden Flügeln burren heran, und an den Wänden hört man das Särren der Mistfliegen, wenn sie sich aufeinander setzen. An der Hütte liegt einer in tiefem Schlafe, und selbst Herrn Karnatz hört man nicht äffend kreischen, denn er ist ausgeflogen. Es ist ein Sonntagnachmittag, Stunden der Besinnung, wenigstens hier am Ende der Welt. Hier stört niemand, hier braucht man nicht zu erschrecken vor rüden Burschen, die mit Kochtöpfen und Trommeln überall lärmend herumstrolchen, hier liegen keine Bierflaschen im Grase, und keine Blumen sind zertreten. Hier kann man einen Ausflug wagen, und Johann tappelt in das grelle Licht vor der Türe. Er hat gar keine Angst, denn die Mutter bummelt vor ihm her, kaut ein wenig an einem gefundenen Reisigbesen und nimmt aus einem Korbe etwas Heu. Das dumme, hysterische Hühnervolk beachtet Johann nicht, er kennt das schläfrig im Sande quarrende Federzeug schon aus der Boxe, da waren sie auch immer und scharrten breitbeinig im Mist. Auch Miez stört ihn nicht, sie war schon oft zu Besuch und hatte sogar einmal dicht angekuschelt an der Mutter schnurrend geschlafen. Wahrscheinlich hat sie die beiden Bummler auch gar nicht bemerkt, denn sie ist mit einem Plane beschäftigt und verschwindet, ohne sich umzusehen, im Loche am Scheunentor. Plack — knack — macht da etwas knallend, und Johann fährt zu Tode erschrocken zusammen. Auch die Mutter fährt hoch und drückt Johann zwischen sich und die Wand. Ein Windstoß fährt über den Zaun, und noch einmal klatscht es. Ach, da sind Bettücher, im Garten aufgehängt, ganz weiße, und der Wind spielt mit ihnen. Johann spannt zwischen den Beinen der Mutter durch, aber es ist wieder alles still. Da wendet er um, fummelt mit der Nase ein wenig am Euter der Mutter, nimmt einen Strich und saugt schmatzend. Das Bettuch hat er vergessen. Nichts geschah, was ihn sonderlich beeindruckt hätte, und er faßt Vertrauen zu sich und der Welt. So gehen die Tage dahin mit Christian, der Mutter und Johann. Die alte Frau kümmert sich wenig um sie, und der Junge hat eine bunte Mütze auf, fährt mit einer dummen Gans aus dem Nachbardorfe Rad und sagt, er habe viel zu lernen — in den Büchern, versteht sich.
Johanns Beine werden kräftiger, und der spillrige Leib runder. Da tritt etwas ein,
was den Frieden im Hause stört und eine jähe Wandlung bringt. Christian ist in
Holzpantoffeln über den Hof gegangen und auf einer matschigen Rübe ausgeglitten, er hat den Knöchel gebrochen, und der Doktor ist lange bei ihm. Am nächsten Tage kommt ein Auto aus der Kreisstadt, und Christian wird hineingeschoben. Es folgen einige lieblose Tage, an denen das Heu von dem Jungen mit der Mütze hineingeschmissen wird wie ein alter Korb. Auch mit dem Putzen hat es seine Not, die Mutter scharrt sich oft und stampft mit den Hufen auf. Eines Tages erscheint ein Kerl im Hofe mit einem Rade und einem Sack darauf gebunden. Er stellt es an die Wand und geht zur Küche, wo Minna Kartoffeln schält. Der Mann sagt, Christian habe ihn geschickt, er soll hierbleiben und arbeiten. Josef Ernemann ist fünfzig Jahre alt und soll, wie Bekannte wissen wollen, im Weltkriege in Afrika gewesen sein. Jedenfalls ist er ein Eigenbrötler, und manche, die ihn kennen, meinen, er leide noch unter dem Tropenkoller und habe nicht alle Tassen im Schrank. — Doch das wird wohl übertrieben sein, wie alles, was die Nachbarn an Neuigkeiten bieten, um sich interessant zu machen. Mag nun sein, wie es will, Josef Ernemann bleibt da und fängt an. Zweierlei hat er zu tun; nämlich: erstens die ganze Wirtschaft zu besorgen und zweitens das Gekeif der Alten über sich ergehen zu lassen. Letzteres ist das schwierigste Problem, denn vom frühen Morgen bis zum späten Abend erschallt Lärm und Gekreisch im Hofe. Die Ruhe ist dahin. Aufgeregt und mit ausgebreiteten Flügeln wie Segelflieger stieben die Gänse davon, wenn sich ein Fenster öffnet, und Hänschen, der Ganter, hätte zu gern wie früher immer an dem blinkenden Messingschild der Milchkanne herumgeschnabelt. Da stürmt Miez wie von einer Tarantel gestochen aus dem Hause und „Hasch, häschäää", schnarrt die alte Frau mit der dürren Hand scheuchend, wenn Johann im Spiel auf dem Hofe die Schürzen von der Leine zerrt. Josef Ernemann scheint davon keine Notiz zu nehmen, es scheint fast, als höre er es gar nicht. Oder will er nicht? Da steht er nun vor Johann und der Mutter, streckt die Hand vor, als habe er einen leckeren Bissen, und zietscht mit dem Munde. Die Mutter streckt den Hals vor, schnaubt und schüttelt sich, der riecht anders als Christian. Aber Johann ist vorwitzig vorgeprellt und, erschrocken über seine eigene Kühnheit, macht er plötzlich auf der Hinterhand kehrt und verkriecht sich hinter die Alte. Josef dreht sich langsam um und geht seiner Wege. Kommst du heute nicht, dann kommst du morgen, denkt er, nur nicht alles auf einmal erzwingen wollen. Der nächste Tag verläuft schon befriedigender, der Johann läßt sich an der Schnippe kraulen und schnappert mit den Lippen nach Josefs Fingern, — wartet nur ah, so wird es schon gehen. Und so wurden alle drei bald zutrauliche Freunde. „Duhann, Duhann, Duhann", ruft Josef lockend im Hofe, denn er kann kein „J" sprechen infolge eines Sprachfehlers, und das „O" in einem Worte spricht er wie „U". Dieses Lied verfehlt seine Wirkung nie, denn, kaum gehört, und schon trappelt der kleine Kerl aus der Boxe, manchmal vergißt er sogar die Mutter. Zu verlockend ist alles das, was Josef bei sich trägt, und die viel zu weite Leinenjacke reizt zu sehr zum Herumzerren und Anschnabbeln. Wird das Spiel gar zu toll, dann wehrt wohl Josef einmal mit der Hand ab, aber das kann man doch nicht als Ernst auffassen. Husch — ist man wieder vorn und streicht den Hals an seiner Hüfte oder reibt den Kopf an seinen Stiefeln, wenn er auf der Bank sitzt, um einen Korb auszuflicken. „Duhann, Duhann", stottern nachäffend die Dorfrangen über den Zaun, aber ihn stört es nicht — nicht einmal einen Blick schenkt er ihnen. Doch das Leben hat, wie alles andere auch, zwei Seiten: eine gute und eine böse. — Die böse ist hier zweifellos die alte Minna — da heißt es aufpassen und sich in Deckung bringen, wenn sie in der Nähe ist; denn irgendeine Heimtücke hat sie immer im Schilde. Blitzschnell hatte neulich Hänschen einen Kübel schmutziges Aufwaschwasser über den blütenweißen Frack, und gestern ergriff die Tarantel sogar einen Besen,
um ihn wie eine Lanze in Richtung Duhann zu werfen, der die Blumenstöcke der Reihe nach vom Fenster gerissen hatte, daß die Töpfe zerschellten. „Ratschii, pitsch, pitsch, pitsch", hatte Karnatz auf dem Kastenpflocke gemacht und war vor Vergnügen von Ast zu Ast gehüpft — das war etwas nach seiner Art. Mag sein, daß sie seine Art, sich zu geben, für offensichtliche Schadenfreude hielt und noch mehr zur Wut gereizt wurde, jedenfalls war Duhann so erschrocken, daß er, jählings parierend, fast fehlgetreten und in die Jauche am Rande des Misthaufens gefallen wäre.
So lernt Duhann die Vorsicht und das Zweifeln am Guten im Menschen. Bei Josef besteht allerdings vorerst kein Grund — aber wer kann wissen? Die Tiere sind unberechenbar, sagen die Menschen, und wissen gar nicht, daß sie sie selbst oft erst dazu machen. Sind sie es nicht selbst auch? Blindes Vertrauen schadet nur. Duhann hat das bald spitz und richtet sich danach. Leider ist es der Unrechte, der die Probe des Mißtrauens dem Menschen gegenüber zuerst zu spüren bekommt, der harmlose Briefträger Bieräugel nämlich. Zum Tore hereintretend und den „Volksboten" schwenkend, drückt er den stöbernden Duhann versehentlich gegen den hinteren Schieber des Breschwagens und — zack, zack — keilen ihm die harten Hufe vor die dicke Ledertasche am Bauche. In Zukunft wird er sich in acht nehmen müssen, wenn er den Hof betritt, und Duhann wird ebenfalls aufpassen. Das Winken mit der Zeitung war doch nicht etwa als Ausdruck einer feindlichen Absicht auszulegen? Duhann
liebt die fahrigen Bewegungen nicht. Stall und Hof mit Baum und Karnatz darauf war bisher die Welt Duhanns gewesen. Jetzt tritt ein Stück neue Welt hinzu, der große Garten hinterm Hause. Josef hat die rückwärtige Hoftüre aufgelassen und wedelt mit beiden Armen die Mutter und Duhann hindurch. Ach, wie weit und schön ist die Welt, überall steht alles im Wachstum, bunte Schmetterlinge und Falter gaukeln von Blüte zu Blüte, große behaarte Hummeln surren wie schwere Transporter durch die Luft, und der Grashupfer übt sich in langen Sätzen. Ganz hinten fließt gurgelnd und rauschend unter wildem Rhabarber und krüppligen Weiden versteckt der Bach in großen Umwegen durch die Flur, die sanft zum Allersberg hin ansteigt. Die Mutter fängt zu traben an, und Duhann hüpft verzückt vor soviel Freiheit von den Vorder- auf die Hinterbeine. Dann zieht er den Schwanz ein und steigt kerzengerade hoch, ein helles zitterndes Wiehern ausstoßend. Mehrmals umkreist er die Mutter, windet unter ihr durch und verschwindet sogar hinter dem Geräteschuppen. Da ist aber schon die Mutter heran, und ein herrliches Fangspiel beginnt. Sausend und im gestreckten Galopp geht es zwischen den Apfelbäumen hindurch, und Duhanns kleines Herz pocht wie ein Hammer. Vergessen ist alle Vorsicht vor dem Bösen, in Jauchzen und Freude vergehen die Stunden, bis die Schatten länger werden und Josef wieder zietschend am Tore steht. Diese Nacht schläft Duhann wie ein Toter nach soviel herrlichem Toben und Auslauf, und auch die Mutter ist müde und atmet ruhig und gleichmäßig. Tage und Wochen eines herrlichen Sommers vergehen so in ungetrübter Freiheit, Duhanns Körper wird rund und fest, seine Muskeln straffen sich, und er hat das Gefühl, als könne nichts ihn bändigen. Christian ist auch wieder im Hause, und Josef Ernemann kann bleiben, weil Christian nicht recht laufen kann — einer muß ja im Hofe auf Draht sein, schon des Viehes wegen. Der Junge macht sich nichts draus, und Minna hat den Teufel im Leibe. Noch eine andere Welt, die viel feindlicher ist als Hof und Garten, lernt Duhann nun bald kennen — die Welt der Straßen und Felder —, denn er darf neben der Mutter herlaufen, wenn sie mit dem Wallach am hochbeladenen Erntewagen zieht. Ach, sind das Aufregungen, wenn man nicht weiß, wohin jagen vor Angst. Kamen doch neulich ein Motorradfahrer und das Milchauto zu gleicher Zeit angefahren, Duhann dazwischen, und es hätte nicht viel gefehlt, da wäre es geschehen. Der Fahrer flucht über das verrückte Vieh, Josef schimpft zurück, es sind keine schönen Momente, und Duhann weicht hinfort nicht mehr von der Seite der Mutter. „Den binden wir an", sagt Josef zu Christian, „der macht nichts", und so geschah es denn auch. Bald gehen sie Kopf an Kopf, Duhann vorerst noch zappelnd und trottelnd, denn seinen Kopf kann er nicht mehr frei bewegen, immer zerrt der leidige Strick nach links. Aber die Mutter ist daneben, und hinten geht Josef, das beruhigt. So geht auch der Spätsommer dahin, Karnatz auf dem Baume ist bereits mit seinem Anhang abgereist, und bunte Blätter fallen von den Bäumen in den Hof. Die Natur, alles um den Hof, den Bach und den Allersberg hat ein buntes Kleid angelegt, alle Farben sind vertreten, vom tiefsten Blau bis zum hellsten Gelb. Pastellfarben leuchtet der Himmel, in dem weiße Ballwolken dahinsegeln, manche wie dicke, aufgeplusterte Bauernbetten, andere wie schmucke, schlanke Segler. Hoch oben in den Lüften jagen die Vögel dahin, wenden und drehen vielgeformte Figuren und Zirkel, alles bereitet sich vor auf die große Umstellung. Hochbeladene Wagen schaukeln noch immer die Dorfstraße entlang, und der Wind weht heftiger über die Stoppeln. Duhann verspürt ein leises Jucken am ganzen Körper, auch der Mutter scheint es so zu gehen, denn sie scheuert sich oft am Standbaume. Sie bekommen ein neues, dickes und warmes Kleid, das zottige und struppige
Winterhaar, das die Pferde oft unansehnlich macht. Auch Duhann büßt viel von seiner Schönheit ein. Wenn er nachts gelegen hat, dann verkleben die Haare, und er sieht aus, als ob er wochenlang nicht gebürstet worden wäre. Immer mehr Blätter fallen von den Bäumen, und immer magerer strecken sie ihre kahlen Äste in den Himmel. Huiii, schlägt es die Stalltüre zu, es ist besser, man nimmt von großen Ausflügen Abstand, denn gestern war es schon bitter kalt. Duhann sieht jetzt morgens die Welt verändert, Dach und Flur sind weiß überzuckert. Christian und Josef haben die Hände in den Taschen, auf dem Hof prasselt es unter den Hufen, Minnas Plantschwasser und die Jauche im Mist haben sich mit einer dünnen Schicht überzogen. Immer häufiger fallen große schwarze Vögel auf dem Baume ein, der einst Karnatz' Eigentum war, und vollführen ein elendes Gekrächz. Erschrecken und ausrutschen kann man, wenn sich diese Teufelsbrut plötzlich erhebt und kreischend und krähend hochzieht. „Zäng", fliegt etwas schneidend durch die Luft, und Duhann sitzt ausgleitend auf der Hinterbacke. Aber nicht ihm galt der Schuß aus dem Tesching, sondern einem dieser schwarzen Halunken, der auch sogleich wie ein Stein mit ausgebreiteten Flügeln, von Ast zu Ast aufstoßend, zu Boden fällt. Da hätte man das andere Gesindel sehen sollen, wie sie schreiend und kreischend davonstieben. Josef tritt mit der Flinte drohend aus der Scheunentüre hervor und hebt die gefallene Krähe auf. „Kupfschuß", sagt er wie im Selbstgespräch. „Ja, ja, ja, was ein alter Schütze ist, da, Prinz, friß!" Der hatte, aus der Hütte fahrend, schon lange gespannt, und japp, und schon fliegen die schwarzglänzenden Federn. „Die Nächste hängen wir an den Baum", sagt Josef wendend, „da werden wir eine Zeit Ruhe haben, ich kann das Totengesindel nicht leiden." Eines Morgens ist dicker, weißer Schnee gefallen, Duhann prüft scharrend den Untergrund und stürzt dann zum Stalle hinaus wie ein Schwimmer, der sich mutig ins kühle Naß stürzt. — Die Gartentüre steht offen, und schon ist er draußen. Hei, wie gut ist die Luft, und er verspürt Lust, sich zu wälzen wie oft im Sommer auf der Wiese. Gerade als er die Beine unter sich versammeln will, um niederzugehen, erscheint Minna mit dem Holzkorbe, da heißt es aufpassen und lieber hinter den Reisighaufen abziehen, man weiß da nie...
ZWEI UNANGENEHME GESCHICHTEN
So vergeht die Zeit, es wird wieder Frühling mit Karnatz auf dem Baume und dem hysterischen Geschrei der Hühner — und wieder Frühling. Duhann hat nichts bemerkt, was sich im Hofe verändert hätte. Doch in ihm war allerlei vorgegangen, was er sich nicht recht erklären konnte. Er hatte keinen Appetit und mußte oft stallen. Was war es nur, was in seinem Blute so strömte und wallte? Seine Schüchternheit hatte er abgelegt, er dachte gar nicht mehr daran, sich von Christian oder Josef immer und überall tätscheln zu lassen. Freiheit und jagen wollte er, und oft keilte er mit beiden Hinterhufen zugleich steil himmelhoch in die Luft. Kamen Gespanne die Allersbergstraße, die am Gartenzaun entlangläuft, gefahren, dann trabte Duhann hochaufgereckt mit geblähten Nüstern auf sie zu, laut trompetend wie ein Elefant. Er reckt den Hals über den Zaun und läuft nebenher, bis das Ende des Zaunes seinem erregten Leib Halt gebietet. Ein furchtbares Ding hatte da eines Tages Christian angebracht und unter lautem „Hohooo" und „Na-naaa" quer durchs Maul gezogen. Wie sehr er auch mit der Zunge dagegen gebolzt und gebohrt hatte, sich am Reisighaufen gerieben und niedergewälzt, das kalte, harte Ding war nicht gewichen. Josef hatte sogar zwei Lederriemen daran befestigt, und wenn Duhann nach vorn drängte, zuckte Josef ein paarmal und zog nach unten. Ein scheußlicher Druck brannte da auf dem Unterkiefer, und Duhann biß fest die Zähne zusammen, das Eisending dazwischenklemmend. Schon wenn Josef das Ding vom Haken nahm, wurde Duhann wütend, stellte den Kopf steil aufwärts und drängte nach vorn. Aber blitzschnell wurde er jedesmal mit dem Hinterzeug in die Ecke gedrängelt, bekam das Lederdings über die Ohren gestreift und das kalte Eisen gegen die Schneidezähne gepreßt. Wenn Josef nun noch die Finger vor die Backzähne schob und preßte, dann war es meist auch vorbei, und das Ding saß wieder auf der Zunge. Eines Abends wird wie immer Futter geschüttet, nur Duhanns Krippe bleibt leer, auch in die Raufe wird kein Heu aufgesteckt. Was weiß Duhann von dem Gespräch, das Christian vor acht Tagen mit Dr. Fenzlein hatte? Er sieht die Mutter und den Wallach schnurpsend kauen und verspürt den Hunger doppelt. Christian hat die Anbindekette kurz geschnallt, so daß es nicht gelingt, auch nur einen Happen aus der Nachbarkrippe zu erwischen, so sehr er auch zerrt, mit den Beinen strampelt und scharrt. Wieso diese Vergeßlichkeit? Nein, es ist Absicht, Dr. Fenzlein braucht für das, was er vorhat, einen mit leerem Magen, das sieht auch Christian ein. Auch am nächsten Morgen gibt es wieder nichts, Duhann kommt bald um vor Hunger, aber da wird er abgelenkt. Vor dem Hause hat ein Auto gehalten, und Dr. Fenzlein ist mit einer Kiste und einem Beutel unterm Arm ausgestiegen. Auf dem Hofe ist ein breites Strohlager ausgelegt, und mehrere Männer, die Duhann nur flüchtig kennt, kommen an. Die alte Minna bringt Stuhl, Wasser und Handtuch. Dr. Fenzlein zieht den Rock aus und krempelt die Hemdsärmel hoch. An das nun Folgende kann sich Duhann nur wie im Schlafe erinnern. Er wird an das Strohlager herangeführt, und die Männer legen schwere Riemen um seine Fesseln. Er will sich wehren, aber Josef hält ihn fest mit einem schneidenden Strick an der Oberlippe, so schmerzhaft und schneidend, daß er kaum den kleinen, scharfen Stich verspürt an seiner linken Halsseite. Noch ein paar Sekunden, dann werden seine Glieder matter und matter, ein Brausen klingt in Ohren und Kopf, als überschwemme das Blut wie von einer Sturzflut getrieben
den Schädel. Der Baum im Hofe, das Scheunendach, auf dem auf einmal Josef, mit den Beinen in der Luft baumelnd, sitzt, Dr. Fenzlein mit Brille, alles dreht sich wie auf einer rotierenden Kulisse. Da zieht es ihm die Beine unter dem Leib zusammen, und schwer wie ein Sack fällt er zu Boden. Der Plumps hat ihn etwas ernüchtert, er will noch einmal hoch und strammt noch einmal gegen die Fesseln, aber es ist zwecklos, er fühlt sich zu matt und legt den Kopf lang. In seinem Schädel summt es wie in einem Bienenstock, und violette Wolken stürmen auf ihn ein. Zwischen seinen Hinterschenkeln arbeitet Dr. Fenzlein mit blitzenden Instrumenten, die er aus weißen Tüchern wickelt. In unruhigem Schlafe vernimmt Duhann ein beißendes Ziehen zwischen den Beinen wie von einem Peitschenhieb, er krümmt sich zusammen, aber es ist gleich wieder vorbei. Noch einmal dasselbe schneidende Gefühl, und dann schläft er lange, wer weiß wie lange... Wie er wieder in den Stall gekommen ist, weiß er nicht, immer deutlicher wird das Bild der Mutter und der Krippe, Heu wird aufgesteckt, aber er hat keinen Appetit, es riecht scharf und unangenehm im Stalle, und zwischen den Beinen brennt es wie Feuer. Da dusselt er wieder ein und besinnt sich erst wieder, daß er Durst hat, als Josef mit dem Zinkeimer klappert. Duhann war Hengst.
DES LEBENS ERNST BEGINNT
Wieder wird es Frühling, Sommer und Winter, da sagt Christian zu Josef eines Tages: „Sieh zu, daß er was lernt." „Hm", hat Josef geantwortet und ist in den Raum gegangen, wo die Geschirre an Holzpflöcken aufgehängt sind. Die Mutter wird eingespannt, und auch Duhann drängelt man gegen die Deichsel. Aber er tritt immer auswärts, und der geduldige Josef hat alle Not, die Stränge anzubinden. Rups — da bricht er nach der Seite aus, stößt Josef vor die Brust und zerrt die Deichsel schräg nach außen, auch die Mutter ruckt die plötzlich gespannte Aufhängekette nach der falschen Seite. Hastig keilt er mit den Hufen in die Taue und haut schmerzhaft die Knochen an die hölzernen Ortscheite. Da ist Josef schon wieder heran und faßt ihn am Kopfe. „Hüh", schnauzt er scharf und zerrt ihn am Halfter nach vorn. Da prellt er vor, denn auch die ruhige Mutter hat sich neben dem Zappelhans in Bewegung gesetzt. Im geöffneten Hoftore erblickt man jetzt Christian, der mit den Armen fuchtelt wie ein Verkehrsschutzmann, als wolle er sagen: frei! In stechendem Kurzschritt, drängelnd und tänzelnd, geht es jetzt über die Kopfsteine des Torweges und hinaus, scharf rechtsum, dann legt die Mutter einen Schritt zu, und Josef muß traben, wenn er Schritt halten will. So geht es die Straße zum Allersberg hinauf, dann links ab über den Fuchsklamm, wieder hinab zu den Teichwiesen, wo Reineke gerade gestört wird. Duhann wird warm, und auch Josef hat längst die Weste ausgezogen. So beginnt der Ernst des Lebens für Duhann. Mutter und Sohn ziehen ihn bald gemeinsam, den Karren, der alles laden kann, Frucht und Freude, aber auch Eisen und Elend. Und wie oft gerade das letztere, weil wenige es wollen und viele denken, es müßte so sein. Eines Tages werden sie in den leichten Breschwagen eingespannt. Der Junge hat angerufen von der Bahn, er will abgeholt sein, weil er viel Gepäck aus der Universitätsstadt mitgebracht hat. Josef zieht die gute Jacke an und setzt die Schildmütze auf, auch die Zigarre vergißt er nicht, die größte, die es für billigstes Geld gibt. Nicht daß er damit renommieren wollte, nein, nur weil das meiste dran ist. Das leichte Wägelchen macht den beiden Freude, und in zügigem Trabe geht es der Bahnstation zu. Dort steht er schon, der junge Herr im Lodenmantel, zwischen einem Berg voll Koffern. Ein paar Freunde hat er auch gleich mitgebracht. „Na, alte Haut", sagte der junge Herr, „wie geht's, also mal ran an die Rampe und den Schamott aufladen, aber Vorsicht, hier die Kiste nehme ich selber, da kommt keiner ran, der Kasten kostet mich ein Vermögen..." Nachdem das Gepäck verladen ist, steigen sie auf. Der junge Herr legt eine Decke auf die Knie und setzt die Kiste langsam drauf. „So, Josef, nun aber langsam, damit mir die Röhren nicht so erschüttert werden, auf unserm Kaff gibt es da keinen Ersatz — Ober-SuperSpezial mit Übertragung in die Nebenräume und Park." „Schöne Pferde", meint er nach einer Weile plötzlich, halb zu Josef gewandt — eine dumme Bemerkung, nur um eine Unterhaltung in Gang zu bringen. „Tja", antwortet Josef gleichmütig — dann schweigt er wieder. „Was versteht der schon von Pferden", denkt er. Schließlich unterhalten sich die jungen Leute, über allerlei witzelnd und spöttelnd, ohne etwas von der schönen Gegend zu sehen. Heute ist lange Licht vorn im Hause, und die Türen plauzen, daß man es im Stalle hört. Duhann merkt, daß andere Leute im Hause sind, die nicht hineingehören, er wird nicht viel mit ihnen zu tun haben. Ein paarmal angaffen wird man ihn und wohlwollend auf den Hals klopfen, das wird alles sein, vor denen braucht man keine Bedenken zu haben, die kennen sich in der Welt der Tiere nicht aus. Schon am nächsten Mittag dringen
scharfe Kommandostimmen aus dem Hause, Duhann kennt den Tonfall nicht. Scharf und abgehackt klingt es, das kann weder Christian noch Josef sein, auch Minna ist es nicht, diese Stimmen kann er genau auseinanderhalten. Da verstummt das schneidende Geschrei, und grelle Fanfaren ertönen. Dann folgt Marschmusik und dann wieder Fanfaren — bis in die späte Nacht geht das, und viel junge Leute kommen mit Fahrrädern und bleiben lange da. Ununterbrochen geht nachts das Hoflicht an und aus, es ist eine ewige Unruhe. „Der elende Kasten macht einen noch ganz meschugge", hatte Josef einmal gemurmelt und den Siedekorb vom Rücken geworfen, als er wieder einmal früh zum Füttern gekommen war, „keine Nacht kann man mehr schlafen." Viel Leute sieht Duhann jetzt, aber bald hat er sich daran gewöhnt und erschrickt auch nicht mehr vor den grellbunten Papierplakaten, die an jeder Hauswand kleben, manchmal abgerissen und im Winde flatternd. Schneidende Marschmusik und Gesang schallt oft über die Dorf- und Landstraße. Ganze Kolonnen von Männern gehen in langen Zügen zusammen. Ach, ist das eine Unruhe in den Frühjahrstagen 1933. Die Tage, Sommer und Winter kommen und gehen. Duhann wird ein strammer, großer Kerl, keinen Wagen und keine Fuhre läßt er im Stich. Noch so schlammig oder staubtrocken mögen die Felder sein, wenn Duhann und die Mutter sich in die Taue legen und das Leder knirscht, dann rollt es — oder es reißt. Das wissen alle im Dorfe, und Christian ist stolz auf sie, stolzer aber ist Josef, der Knecht. Wenn keine mehr die schweren Stämme aus dem Fuchsklamm ziehen können, dann kommen die Bauern höflich angekrochen, wie immer, wenn sie Hilfe brauchen. Noch nie hat sie Josef oder Christian abgewiesen, obwohl kaum einer ein Dankeswort übrig hatte, wenn es geschafft war. Viel fremde Leute kommen und gehen jetzt im Hofe ein und aus, Kinder, die mit Blechbüchsen klappern, und andere, die lange Listen in den Händen tragen. Kein Sonntag vergeht, ohne daß nicht ein Lärm in diesem ruhigen Winkel ist. Bald ziehen lange Kolonnen schwer bepackt über Wege und Felder, bald wimmelt es auf den Teichwiesen von Kindern, die auf große Trommeln pauken und weiße, dreieckige Zelte aufbauen. Die Bauern schimpfen dann oft, wenn nach Abzug der Gesellschaft das Gras zertreten ist, Scherben und Papier herumliegen und verstreutes Stroh zusammengekehrt werden muß. Neulich kam ein dicker Mann in senfgelber Uniform und sprach lange mit Christian, immer wieder mit der Hand auf den Allersberg weisend und große Bogen in die Luft streichend oder mit spitzen Fingern mehrmals auf einen Punkt stechend. Dann gingen sie durch Stuben und Stall, sich drehend und wendend, abschreitend und notierend. Duhann und die Mutter konnten sich nicht erklären, was hier vor sich gehen sollte, aber bald sollten sie es gewahr werden. — Der große Tafelwagen wird aus der Schmiede geholt, und es geht nach dem Bahnhof, wo viele Holzbretter und Planken aufgestapelt sind.
Männer in weißen Drillichanzügen laufen umher und knallen, Kommandos schreiend, Planken auf die breite Tafel, bis der Wagen turmhoch beladen ist. Mehrere setzen sich noch oben drauf und zünden Zigaretten an, als die Fuhre schwankend anfährt. Sie ist schwer, und Duhann liegt keuchend in den Sielen, besonders auf der Straße zum Berg hinauf müssen sie oft halten, und jedesmal kommt Josef und klatscht beide auf den nassen Hals. „Die Zossen schwitzen, die sind zu fett", sagt da ein rothaariger Lümmel, „denen muß mal etwas Dampf unter den Frack gemacht werden", und blickt sich beifallheischend ob seiner soldatischen Sprache im Kameradenkreise um. Josef hat es gehört, aber er würdigt den hageren Bengel keines Blickes. „Hörst du nicht, Alter", stößt er Josef an, „los, weiter — Mensch, wann sollen wir denn da zum Essen fassen kommen!" Da reißt dem sonst ruhigen Josef aber die Geduld, er nimmt die kurze Pfeife aus dem Munde und faucht den Bengel an: „Halt dein Maul, du Lausejunge, was verstehst du von Pferden, du Affenkopp, du..." Er sucht nach Worten, die ihm Luft schaffen, aber er findet sie nicht. Der Bengel klopft sich an die Stirn, und die anderen lachen verlegen. Oben auf dem Berge wühlen Hunderte von Männern wie Ameisen, die Gipfel der Bäume drehen eine halbe Ellipse in den Himmel, dann rauschen sie immer schneller zu Boden und krachen elastisch federnd auf. Motorsägen kreischen singend, und schwere Hämmer bolzen auf stählerne Keile. Alle Vögel sind verschwunden, natürlich auch Reineke, dem diese Störungen nicht ins Geschäft paßten. Rasch werden die Plan ken vom Wagen gezogen, und hinab geht es wieder zum Bahnhof. So geht es tagelang, und man sieht immer neue Baracken entstehen. Einmal werden große, braune Kessel aufgeladen, und ein andermal muß Duhann ein ganzes Haus, aus dem eine Esse qualmt, auf winzigen Rollen hinauf schleppen. Dann folgen
Eisenbahnschienen und Geräte. Auch Pferde kommen mit, große, starke Tiere,
viele sind weiß. Es ist eine unruhige, lärmende Zeit am Allersberge.
Da ist ein Junge soeben aus dem Hofe gegangen und hat einen Zettel abgegeben
für „Herrn Landwirt Christian Schnuhr" — wie drauf gestanden hatte. Minna hat ihn
abgenommen und wie immer vergessen, dem Jungen das Boten-Ei zu geben.
„Christian, Christian", keift jetzt ihre messerscharfe Stimme über den Hof.
„Jo", antwortet dieser aus der Tiefe der Scheune und schlurft, sich die Hose
klopfend, der Küche zu. Dort liest er das Papier und sagt: „No da."
Schon viel zu früh wird zum Sonntag die Türe zum Stalle aufgeriegelt und der große Futterkorb hereingebracht, auch Fritz und die Mutter haben es nicht erwartet, so eine zeitige Störung. Dann nimmt Josef Striegel und Kartätsche und putzt alle ab, Christian kommt mit einer großen Büchse schwarzen Fettes und reibt die Hufe blank. Weshalb legen die Männer den Pferden Strickhalfter unter die Trensen und binden die Leinen hoch? — Schon um sechs Uhr ist Abmarsch aus dem Dorfe, Josef nimmt die Mutter und Duhann, der noch gar nicht fertig ist mit seinem Futter. Hinterher krakelt Christian mit dem Wallach, aber der alte Mann kann nicht lange, und bald winkt er einer vorbeifahrenden Kutsche des Schweinehändlers Prinzler, und Josef muß auch noch den Wallach mitnehmen. Aus allen Hoftoren sind sie herausgetreten und ziehen nun die Straße entlang der Kreisstadt entgegen. Gott, was ist da für ein Betrieb auf dem Marktplatz vorm Rathaus, soviel Pferde hat Duhann in seinem Leben noch nicht gesehen: Füchse, Braune, Schimmel, Falben, kohlschwarze Rappen, große und kleine, selbst die bei den Ponys von Inspektors Kindern sind mit da, jene Wollknäuel, über die jeder lacht. Und immer noch mehr quellen aus den Seitenstraßen hervor, geführt von Bauern und Knechten, denen dicke, in Papier eingewickelte Frühstücke aus den Joppentaschen gucken. Pflastersteine sind herausgerissen, Pfähle eingerammt und lange Leinen gezogen. Die ganze Stadt ist auf den Beinen, Feuerwehr, der Arbeitsdienst vom Allersberge, SA, alles und jedes kommandiert und ordnet. An kleinen Täfelchen sind Ortsnamen aufgeschrieben, und hierhin und dorthin streben die Gruppen. Da erscheint Christian im Gedränge und winkt mit dem Finger zu folgen. An den Leinen entlang schieben sie sich bis hinüber vor das Haus des Zigarrenhändlers Putze, wo die Linden stehen. Auch zwischen den Bäumen sind Leinen gespannt, und Josef macht alle drei fest. Jetzt erst hat er Zeit, sich umzuschauen. Am Eingang zum Ratskeller drängen sich die Menschen vor langen Tischen, hinter denen Soldaten in Schildmützen sitzen, vor sich lange Listen, die mit Steinen beschwert sind, damit sie der Wind nicht fortbläst. Geschäftig eilen andere mit großen Meßlatten in den Händen hin und her — und dort steht auch Dr. Fenzlein — jener mit der gelben Hornbrille — direkt vor dem Brunnen. Acht Uhr schlägt die Turmuhr, von der Schlossergasse her hört man Autohupen und Rollen von Wagen — da biegen sie ein, und die Menschen machen Platz. Die Pferdemusterungskommission ist eingetroffen und steigt aus. Die Soldaten springen auf und machen Ehrenbezeigungen, und die ausgestiegenen Herren verbeugen sich knapp nach hierhin und dorthin. „Tag, mein lieber Bernsdorf", kräht die scharfe Stimme eines Rittmeisters, und der angeredete Zivilist lüftet den grünen Jägerhut, „wollen mal sehen, was sich da für ein Material bietet, sind ja tolle Mücken dabei, tolles Zeug, aber ich habe auch im Vorbeifahren was Anständiges gesehen, na, wollen mal schauen — also los da mal, Behrens, ortsweise aufrufen!" Wachtmeister Behrens von der Fahr-ErsatzAbteilung steigt auf den Brunnenrand und pfeift auf einer Trillerpfeife, die an einer dicken, grünen Schnur hängt. „Achtung!" heißt der schrille Pfiff, und Menschen
und Tiere heben die Köpfe, Blickrichtung Brunnenrand, Wachtmeister Behrens. „Ich verlese jetzt die Reihenfolge der Orte — die gemusterten und geschätzten Pferde werden sofort nach dem Wegtreten im Garten der Stadtschänke beim dortigen Abholekommando abgegeben —, Ordnung halten, um so schneller sind wir fertig!" Duhanns Ort kommt an dritter Stelle, und Josef hat Zeit, sein Frühstück zu essen. Aber was ist das, er hat keinen Appetit, irgend etwas würgt in seinem Halse, und er schluckt mehrmals angestrengt. Nur Duhann ist noch guter Dinge, schnabbelt mit den Lippen nach dem Papier und reißt ein Stück ab. Josef nimmt es ihm wieder weg und streicht den Schöpf glatt, der wie bei einem wilden Jungen herabhängt. Dabei sieht er dem Pferd in die Augen, die schwarz und unergründlich tief erscheinen. Zärtliche Worte murmelt er, aber niemand kann sie verstehen, so leise sind sie gesprochen. Auch der zigeunerschwarze Knecht des Pferdeschlächters Scharrig, der mit seinen zwei Pferden neben ihm steht, hat nichts gehört. „Meine nehmen sie nicht, Josef", sagt er, „der eine ist über achtzehn, und der Fuchs, der Neunjährige hier, der geht lahm..., hähähä, verstehst du das? Nein, was? Ist ja auch nicht nötig. — Aber lahme Gäule können die doch nicht ge brauchen, kapierst du das? Auch nicht? Was? Na, denn nicht, aber eine Zigarre kannst du haben. Da, rauch!" Josef hat nicht verstanden, was der Zigeuner meint; er hat auch keine Lust nachzudenken, denn der Wallach Fritz fängt an, an einer Akazie herumzuzerren und muß zur Räson gebracht werden. „Vorziehen!" schrillt eine scharfe Stimme, und die Männer knoten die Anbindestricke von den Leinen los. Noch eine ganze Reihe steht vor den vieren, aber es geht rasch, die Kommission arbeitet mit der Uhr in der Hand, und ununter brochen prasseln Zahlen und Namen auf die Schreiber ein, die keinen Augenblick aufsehen. Jetzt ist schon der Vordermann an der Reihe. Mehrere Zahlen schwirren, und schon haben Helfer in grauem Drillichzeug den Wallach Fritz und die Mutter am Zaumzeug gepackt. Christian steht schon bei den Herren, aber Josef muß antworten. So schnell geht es bei Christian nicht mehr. „Name!" ruft einer der Wachtmeister. „Schnuhr, Christian", sagt Josef. „Wie alt ist der Wallach?" „Achtzehn Jahre." Mit einem raschen Griff hat ihm ein Soldat im weißen Kittel ins Maul gefaßt und einem Offizier ein Zeichen gegeben. „Weg!" sagt dieser, „und die Stute?" „Fünfzehn oder sechzehn." „Weg!" „Und der Wallach?" „Neun", stottert Josef, und eine jähe Hitzewelle drängt ihm nach dem Kopfe. „Aufschreiben!" rattert schematisch die fremde Stimme, „brauner Wallach mit Stern, hinten links weiß gekrönt mit zwei schwarzen Punkten, Neun, — Wert?" Der fremde Offizier sieht sich einen Augenblick im Kreise um, dann sagt er: „Achtzehnhundert?" Die anderen Männer nicken, und noch einmal sagt er laut, zu dem Schreiber gewandt: „Achtzehnhundert." „Name des Pferdes?" „Duhann." „Was?" „Duhann!" „Mann, reden Sie doch deutlich, wir haben keine Zeit. — Quatsch, schreiben Sie auf: Duran, ist ja ganz egal, wie die Zossen heißen. In fünf Minuten ist doch alles eine Suppe." „Also dann 'rüber mit dem in die Stadtschänke, Trensen ab machen — weiter!" Und der Schreiber schreibt: laufende Nummer 1794 „Duran". Josef ist wie benommen; alles dreht sich im Kreise und gaukelt, in Zerrbilder verwandelt, durcheinander. Der Kirchturm senkt sich, und die Giebel der Markthäuser wollen auf die Straße fallen — er muß stehengeblieben sein, denn eine blecherne Stimme knetscht ihm nahe ins Ohr: „Na, Mensch, machen Sie doch, daß Sie antraben; Sie warten wohl noch auf den nächsten warmen Regen." Da taumelt er nach vorn
und zieht Duhann nach, seinen Duhann. Die nächsten Minuten erlebt er wie in einem bösen Traum. Durch den runden Torbogen sieht er ihn noch klappern. Da bleibt er vor dem Rinnstein an der Akazie stehen; die kalte Zigarre von dem Zigeuner entfällt seinen Lippen, und der Kopf sinkt schwer nach vorn auf den Hemdenlatz. Niemand hat ihn nach Hause gehen sehen, und auch seine Kammer blieb leer — eine volle Woche. Dann war er wieder da, grüßte und dankte niemandem mehr. Sein Gesicht blieb versteinert, und niemand kann sich entsinnen, daß er je wieder gelacht hätte, auch nicht hüstelnd, was er sonst manchmal tat, wenn ein drolliges Ereignis ihm Freude machte. Er schleicht wie ein Schatten, kalt und lieblos, umher, ein alter Mann, der sein Herz verloren hat. Noch einmal, viel später in seinem Leben, hat es geschlagen, hell und sprudelnd. Aber auch davon hat kein Mensch Kenntnis erhalten, nur sein Tier — Duhann. Der Marktplatz leert sich, die Knechte ziehen mit den Gäulen ab, und die Schenken füllen sich mit Landvolk. Christian ist nicht mit unter ihnen, er hat die Nase voll und ist mit dem Milchauto nach Hause gefahren. Ja, die großen Erfolge möchte er schon sehen, wie in diesen Tagen in Polen — aber nur nicht auf seine Kosten —, er ist eben ein Bauer.
ETAPPEN-KOMMISS
Wachtmeister Behrens hat einen großen, grauen Wäschebeutel mitgebracht, in den er die eingesammelten Aufstellungen stopft. Er begibt sich in die Stadtschänke und füllt einen in den Hals. „Unteroffizier Ziegemeyer, rufen Sie mal den Güterbahnhof an, ob die Waggons da sind. Wir wollen hier abziehen, können doch nicht mit den Zossen im Garten stehenbleiben." Unteroffizier Ziegemeyer nimmt das Rad und geht. Duran steht mit einem ganzen Trupp von Pferden an einer Kastanie angebunden. Keinen kennt er. Wo ist die Mutter und der Wallach? Er hebt den Kopf und sieht über die Rücken der Kameraden hin, aber er kann niemanden finden, auch Josef und Christian kommen nicht. Da tritt er herum, zerrt am Halfter und will weg; den ganzen Kreis bringt er ins Treten und Trampeln — er will weg hier. Da kommt ein großer Kerl mit einem Strickhalfter und schlägt es ihm pfeifend um die Ohren. „Verdammte Lerche, ich werde dir schon helfen. Paß einmal auf, du Sauzahn, rumm, rumm!" Der Strick hat Duran ins Auge getroffen. Er fühlt einen brennenden Schmerz, und Tränen fließen herunter. Er blinzelt und versucht, das Auge wieder zu öffnen. Aber es schmerzt zu sehr, und da läßt er es lieber zu. Auch an anderen Bäumen herrschen Unstimmigkeiten. Am Eingang zur Kegelbahn steigt eine braune Stute unentwegt kerzengerade hoch, beißt und keilt auf die Nachbartiere ein. Eine lange, braune Fahrerpeitsche knallt klatschend auf die Kruppe, und die blanken Hinterhufe pfeifen blitzschnell hoch, fast bis an die unteren Blätter der Kastanie. „Ruhe, nur Ruhe hier", sagt ein kleiner Reservist. „Dreschen hat hier gar keinen Sinn. Immer nur mit der Ruhe!" Die Waggons sind noch nicht da, ununterbrochen passieren Transportzüge den Bahnhof Richtung Westen. Behrens spricht mit dem Wirt, und die Türe zum Tanzsaal wird aufgeschlossen zwecks Besichtigung des Raumes. Bald schleppen Männer Strohbündel herbei, und Duran versucht ein paar Halme zu erwischen. Er hat rasenden Hunger, denn es ist schon 4 Uhr nachmittags, und seit dem Morgengrauen hat er nichts mehr gefressen. Auch die Kameraden sehen sich um
und zerren an den Halftern. Das Abholekommando richtet ein Nachtlager, denn wer weiß, wann die Waggons kommen. Da erscheint ein Offizier, derselbe, der vorhin Duran ins Maul gegriffen hat, mit mehreren Herren. Wachtmeister Behrens macht Meldung, und der Offizier spricht mit ihm. Endlich werden sie in Gruppen losgebunden und durch den Torweg auf die Straße an den langen Steinbrunnen geführt. Herrlich schmeckt das tiefkühle, klare Wasser, und Duran pumpt sich voll, denn Staub und Wärme haben ihn wie ausgedörrt. Als er mit den Kameraden an den Baum zurückkommt, findet er einen großen Haufen Heu vor, und alle kauen mit vollen Mäulern.
Armer Duran, welch glückliche Tage noch mit geregelter Verpflegung, Tränke und Heimat — oh, wie anders kann es sein — wie anders! Die Nacht müssen sie im Freien verbringen, aber es ist nicht schlimm, nur ungewohnt. Man ist satt und träumt vor sich hin. Wenn die Schritte der Wache auf dem Kies knirschen, hebt mancher den Kopf. Nur Duran ist fest eingeschlafen, der brennende Schmerz in seinem Auge hat etwas nachgelassen. Noch glitzern die Sterne durch das nachtdunkle Laubdach., da wird Licht im Saale gemacht. Im Garten werden Stimmen laut, und die Soldaten laufen mit Decken und Wäsche beuteln umgehängt durcheinander. Befehle werden gegeben, Behrens und Ziegemeyer teilen ein. Duran ist mit drei Kameraden fast am Ende der langen Reihe, die jetzt durch den Torweg klappert. Am Ende geht die braune Stute, die unentwegt tänzelt und zappelt wie ein Fisch an der Angel. „Abstände halten!" ruft eine Stimme von vorn, und die schlaftrunkenen Soldaten brummen: „Ja, ja." Kühl ist der Morgen, und die vielen Hufe quirlen den Staub auf; alle blasen und schnauben mit den Nüstern, und die Soldaten schneuzen über den Daumen. Über dem Allersberg, fern am Horizont, wird ein schmaler, heller Streifen sichtbar, und die Sterne am Himmel verlöschen einer nach dem anderen. Niemand schaut hin, nur Duran bemerkt es, denn es ist bald Zeit zum Futterschütten — aber noch immer laufen sie, Kopf an Kopf, viele, viele Pferde. So nüchtern ist es einem im Magen, fast elend, und der Staub legt sich auf die Leiber der Tiere und Soldaten. Von vorn kommt ein langgezogenes „Haalt!", und die nebenher laufenden Männer sagen: „Brrr, steh!" Alles macht halt, und die Gruppen drängen sich an den Straßenrand, wo staubiges Gras wächst. „Heda", zerren die Männer, und dünne Ruten schmitzen um die Ohren. „Verfressene Bande, zurück, zurück!" Der Mann mit der Stute am Ende ist kochgar und hat die Feldmütze eingesteckt. „Paß nur auf, Freundchen, dich werden wir schon warm machen; das zahle ich dir heim, du Giftmorchel, du elendige. Warte nur, wenn die Koffer durch den Himmel segeln, da kannst du zeigen, was du kannst, da kannst du dich austoben. Dir werden wir den Mut schon nehmen", so schimpft der Mann und rückt am Halfter. „Anführen!" ertönt es wieder von vorn, und die Kolonne setzt sich wieder in Bewegung. Die Soldaten recken die Hälse. War das nicht der schrille Pfiff einer Lok? Natürlich — schon zeichnen sich die Unirisse des Bahngeländes halblinks ab, noch zehn Minuten, dann müssen sie da sein. Duran hat brennenden Hunger und versucht, ein paar Blätter von den Apfelbäumen der Straße zu erhäschen. Manch mal gelingt es ihm, aber das Zeug schmeckt gallenbitter und reizt erst recht den Appetit. Kopfsteinpflaster kommt, und die Kolonne biegt auf die breite Verladerampe ein. Ein langer Zug steht da; die Waggontüren der Güterwagen sind weit offen und gähnen wie schwarze Löcher. Gruppe auf Gruppe marschiert über die Laufbretter hinein, jetzt ist die Reihe an Duran. Sein Halfter wird ergriffen, und er marschiert nach. Ängstlich prüft er mit den Hufen die schwan kende Beschaffenheit der schmalen Planken, dann huscht er schnell darüber. „Bumm, bumm, padumm", wie hohl der Stallboden klingt und wie eng es hier ist! Am Kopfe drückt ihn der Soldat und schiebt ihn zwischen zwei Schimmel. Wie die Heringe in der Tonne sind sie eingepreßt, auf jeder Seite vier Kameraden, davor eine dicke Leine. Duran hat Aussicht nach der Rampe, wo der Tanz mit der Stute wieder losgeht; sie will anscheinend nicht über die Laufplanken in das schwarze Loch. Einer zerrt vorn am Halfter, zwei andere haben lange Peitschen und schmitzen ihr unter die Beine. Mit allen vieren springt sie gleichzeitig hoch und, wieder am Boden, schießt sie jählings nach vorn, den Halter umreißend. Ein
Ruck mit dem Kopfe, und schon ist sie frei und galoppiert, den Haltestrick zwischen den Beinen baumelnd, die Rampe entlang, in Richtung Stationsgebäude. Geschrei erhebt sich, mehrere Männer rennen ihr nach, weite Bogen schlagend. Am Wasserkran hat man sie gestellt und eingekreist. Ein Mutiger geht auf sie zu, ergreift das Halfter und klopft ihr den tropfnassen Hals. Wie ein Lamm läßt sie sich zurückführen. Kräftige Soldaten halten ein Seil bereit und umgehen sie rückwärts; da wird vorn gezogen und hinten mit dem Seil nachgeschoben, und schon rutscht sie über den Steg in den Waggon. Ein kurzer Ruck, und die Türe rollt zu. Die Männer grinsen: „So eine Mistkrähe." Ein Stoß erschüttert Durans neuen Stall, den er mit acht Kameraden und zwei Soldaten teilen muß. Fast hätte er sich auf die Hinterbacke gesetzt, aber er reißt sich hoch und schießt nach vorn gegen die Sperrleine. Auch den anderen Kameraden ist der Schreck in die Glieder gefahren, sie trappeln, torkeln und schnarchen vor Angst. Bald spürt Duran nur noch ein rhythmisches Poltern und Stoßen unter den Hufen; ununterbrochen zittern die Beine und Sehnen, die Glieder fangen an zu schmerzen, er möchte sich legen. Aber wenn er die Beine unter dem Leib versammelt hat, kommen ihm Bedenken, und er streckt sich wieder steif hoch. Einer von den Soldaten sieht es und sagt zu seinem Kameraden: „Du, der wird doch nicht Kolik haben?" „Ach, der will sich bloß legen. Siehst doch, daß er gemistet hat — die haben doch gar nichts gefressen. Woher soll denn da bloß eine Kolik kommen?" „Es gibt aber doch auch — ..." „Ach, rede nicht, los! Ziehen wir die Turnschuhe an, mir brennen die Füße wie Feuer. Hast du was zu rauchen?" Der Oberveterinär der Reserve, Dr. Gustav Ränke, von den Soldaten des Heimatpferdelazaretts X. wegen seines kubischen Schädels mit Hindenburgbürste „Amboß" genannt, fährt aus seinem tiefen Mittagsschlaf hoch. Er hält ihn regelmäßig wegen seines Herzens, das in der Bergstraße wahrscheinlich sein Leben lang zu viel Wein verarbeiten mußte. Er ordnet die Knöpfe seines Rockes, den er beim Tagesschlaf, von dem er viel hält, nie ablegt, und räkelt sich hoch. „Was isch denn da wieder los?" Sein Blick bohrt sich durch das Fenster. „Ach, du lieber Gott, immer wieder Gäule, das nimmt ja diese Woche gar kein Ende." Und der Gute legt insgeheim das Datum für den nächsten Herzanfall fest, weil er vom Blutprobenehmen und Zähneberaspeln, einer Maßnahme, die sofort durchgeführt werden muß, absolut nicht eingenommen ist, wiewohl er natürlich im Kasino als eifriger Streiter für die Zahnberaspelung gilt, und zwar deshalb, weil sie der Chef für unbedingt notwendig hält. „Jawohl", sagt er dann, und hebt den Finger, „die Bieschter könne dann viel besser fresse." Und die Unterveterinäre kichern in die Teller. In den weiten Hof der Dragonerkaserne zieht die lange Reihe der Pferde, sie hängen müde die Köpfe und stolpern viel, auch die Soldaten schlürfen dahin und sind froh, daß das Personal des Stalles 6 ihnen die Leinen abnimmt. Duran wird in einen Stall wahllos hineingeschoben und angebunden. Sein erster Blick gilt der Krippe. Sie ist gefüllt mit goldgelbem Hafer, und wild fährt er hinein. Bald hört man nur noch Mampfen und Mahlen im Stalle. Heu wird aufgesteckt, und bald verlassen die Soldaten den Stall. Nur vorn am Eingang sitzen zwei auf Strohballen und rauchen heimlich eine Pfeife. Duran ist satt und müde, er legt sich in trockenes, gelbes Stroh, schließt die Augen, und sein Kopf sinkt immer tiefer herab. Oberveterinär Ränke hat seinen Herzanfall planmäßig bekommen, und der Unterveterinär Dietz übernimmt vertretungsweise die Abteilung Zwo (Zugänge). Vom Abendessen läßt sich der Mann mit der Hindenburgbürste entschuldigen, er bedarf der Ruhe, der arme Mann. Wie schön läßt es sich an solchen Abenden
davon träumen, wie man es am besten anstellt, baldmöglichst krankheitshalber dienstuntauglich geschrieben zu werden, nur um in das geliebte Schwabenstädtle zurückkehren zu können, zum abendlichen Stammtisch in den Ratskeller oder in die „Bergstraße" zum Kegelschieben. Sollte das nicht gehen — dann könnte vielleicht auch der Landrat ein triftiges U.K.-Gesuch einreichen. Aber jedenfalls war man noch Soldat, und die Anweisung, daß morgen Blutprobe von allen Zugängen zu nehmen ist und alle Zähne beraspelt werden müssen, war an die Vertretung ergangen. Damit nahm er einen tiefen Zug aus dem Glase und schlief hinüber in ein besseres Land. Punkt acht Uhr erscheint Unterveterinär Dr. Dietz im Hofe. Tisch, Stuhl, Blutnadeln, Gläschen, Listen mit Schreibern dahinter und Pferde sind aufgestellt. Es ist ein grauer, trüber Morgen, und wie immer bei solchen Verrichtungen, die tunlichst im Freien durchgeführt werden, fängt es leise, aber dauerhaft an zu regnen. Man zieht um in die große Reitbahn, wo Stabsveterinär Dr. Zielasky, den man ob seines fuchsroten Haares und seiner verrosteten Stimme den „Rostnagel" nennt, eben den Reitunterricht beginnen will. Peinliches Durcheinander, der „Rostnagel" ist empört und erklärt, als aktiver Veterinäroffizier, daß es in diesen Tagen wichtiger sei, den dummen Kerlen das Reiten beizubringen als Gäulen Blutproben zu nehmen. „Und die Zähne beraspeln, damit sie besser fressen können, hat Herr Oberveterinär befohlen", wirft der im Inneren vor Lachen platzende Unterveterinär Dietz betont ergeben ein. Die zunächst stehenden Leute grinsen dämlich, und der „Rostnagel" verläßt wütend die Reitbahn. Was soll nun werden, draußen stehen Pferde und Männer und regnen durch und durch; die vom Winde geschüttelten Bäume duschen ganze Schauer auf sie herab. Duran empfindet es kaum, denn wie oft hat er oben am Allersberge gepflügt, wenn es goß, er hat eine gesunde Natur und Speck auf den Rippen, das hält warm. Da kommt eine Ordonnanz vom Chef, die Reitstunde wird auf nachmittag verlegt, die Reiter verlassen die Halle, und die Zugänge ziehen zwecks Blutprobe ein. Seitdem ist der „Rostnagel" der erbittertste Feind des Unterveterinärs. Durch eine ergebene Ordonnanz erhält der schonungsbedürftige „Amboß" laufend Bericht über den Stand der Arbeit. Als es am frühen Nachmittag geschafft ist, wird ihm wohler, vor allem deshalb, weil er erfahren hat, daß heute nach dem Abendessen eine Bowle auf gelegt wird. Da kann man nicht fehlen. Duran wird im Stalle hin und her gezogen, bald erhält er einen Platz im Stalle A., bald kommt er in die B.-Abteilung, und schließlich landet er im Stalle S., dem Stamm-Stall, wo Obergefreiter Zierloch residiert. Hier werden nur fromme Tiere aufgenommen, mit denen sich gut fouragieren läßt. Zierloch ist Beamter bei der Post und liebt keine Aufregungen, weder mit nervösen Zivilisten, noch erst recht nicht mit „Böcken", wie er seine Insassen nennt. Diese Geruhsamkeit färbt auch auf das Stallpersonal ab, durchweg ältere Herren über vierzig, die laut Abteilungsbefehl weder zu Wach-, noch zu anderen Diensten herangezogen werden dürfen. Hier ist der Männerskat zu Hause, hier setzt man an, und hierher wandern die Sonntagsurlaubsscheine regelmäßig und reichlich verteilt. Die Montage zeigen, wie richtig diese Disposition ist, denn reichlich wandern die „schönen Grüße" an das Abteilungsgeschäftszimmer, und nicht zuletzt an Obergefreiten Zierloch selbst. Duran kennt die Tour schon, wenn es zum Tore hinaus links oder rechts abgeht, entweder zur Bäckerei oder die Gemüse-Fleischtour. Erstere ist ihm lieber, weil es in der Bäckerei immer reichlich Bruchbrot zu fressen gibt und sein Fahrer meist noch einen großen Sack mitnimmt, letztere liebt der Fahrer Fischmann mehr wegen der Magenwurst, die er über alle Maßen schätzt. Auch die Aktentasche des Herrn Oberzahlmeisters Zwetsch wird regelmäßig prall gefüllt im Bockkasten
verstaut. Alle sind zufrieden, so zufrieden, daß sie von der Einnahme von Paris förmlich überrumpelt sind. „Nun ist der Krieg bald aus", hat der Oberveterinär Ränke im Kasino gesagt und damit den „Rostnagel" scharf getroffen, würde doch letzterer dann wahrscheinlich abgebaut, was gar nicht in seinem Sinne lag, schon der Pension wegen nicht. So gehen die Wochen dahin, und jeder setzt Speck an, Duran besonders, weil ihm der gute Fischmann noch zusätzlich Hafer stiehlt und mit Bruchbrot anfüllt. Keiner ahnt, daß die „goldenen Zeiten" sich bald ändern. Im Abteilungsgeschäftszimmer ist lange Licht. Oberstabsveterinär Verbühlen sitzt mit zwei Schreibern über einem Befehl und über langen Listen. „Tja", sagt er, mit dem Rotstift aufstoßend, „da hätten wir ja ausverkauft, meine Herren, selbst die Reitpferde müssen daran glauben, und an Stall S müssen wir auch ran, nützt nichts, nützt alles nichts — dann Schluß für heute und morgen Transporte zusammenstellen... n'Nacht." „Gute Nacht, Herr Oberstabsveterinär." Auf dem Korridor zu den Buden stoßen sich die Schreiber in die Rippen. „Mensch, ich könnte laut brüllen, hast du das gesehen, hast du das gehört — Gottlieb, selbst dem Rostnagel seine Zita und die Kutschpferde vom Amboß hat der Alte mit auf die Liste gesetzt. — Morgigen Tag möchte ich erleben — mein Herz jauchzt vor Wonne, komm, wir nehmen noch einen." „Das wird ein Theater, nur in der Nähe aufstellen, daß man die beiden beobachten kann, ich glaube, dem Rostnagel brennen vor Wut die Haare ab, wenn die Puppe abgeht. Und der alte Stänker muß die Kutsche selber ziehen. Oh-la-la." Am nächsten Morgen gleicht der Hof einem aufgestöberten Ameisenhaufen, der ganze Park wird umgekrempelt, die Unterveterinäre und Veterinärwachtmeister krähen sich die Hälse aus, bis alles in langer Reihe steht, wohlgeordnet nach Klassen. Auch Duran hat es erwischt, und sein Täfelchen, auf dem mit Kreide sein Name steht, schaukelt einsam und verlassen über seinem Stande am gespannten Draht. Der alte Fischmann macht die Streu, Duran steht zwischen einem Rappen und einem Fuchs, ganz vorn an der Wache, es ist ihm nicht wohl, denn lange hat er solchen Aufzug nicht wieder mitgemacht. — Zu Mittag gibt es heute Schweinsbraten mit Rotkraut und Pellkartoffeln, aufgeräumt gockelnd erscheinen die Herren — weniger Arbeit, denn die Ställe sind fast leer, daher bessere Laune, mit Versetzungen ist kaum zu rechnen, werden also „sonnige Tage" sein, bis sich der Laden wieder langsam füllt, und wozu hat man schließlich Unterveterinäre und Veterinärwachtmeister? Der Chef ist ernst, irgend etwas scheint ihn zu drücken, der scharfe Beobachter bemerkt, wie er ver meidet, den Rostnagel anzusehen, und sich ungewöhnlich lange allein mit Unterveterinär Ziegler, der ihm sonst unsympathisch ist, unterhält. Da platzt er ganz unvermittelt heraus: „Tja, meine Herren, da sind wir auf einmal alles los, auch Ihr Pferd konnte ich nicht halten", dabei sieht er den „Amboß" und den „Rostnagel", Entschuldigung heischend, an. „Ging alles furchtbar schnell, hm, tut mir leid." Rostnagels Fuchshaar sträubt sich, und die Gabel entfällt klirrend seiner sommersprossigen Hand, ein Klecks Rotkohlsauce spritzt auf die Litewka, gerade dahin, wo eigentlich schon längst das Kriegsverdienstkreuz zweiter Klasse hätte sitzen müssen. Sein Atem stockt, den Klecks beachtet er nicht. — „Mein Pferd, die Zita...?" „Ja, Ihr Pferd, ich konnte nicht einmal die angeforderte Zahl an Reitpferden stellen, an der Front sind sie nötiger als hier, also, wie gesagt..." Dem Amboß, der beim Essen eine runde, schwarze Brille trägt, ist der Mund offen stehen geblieben wie einem Silvesterkarpfen, dem man eins auf den Kopf gegeben hat. Unterveterinär Dietz kann ob dieses Anblicks das Lachen nicht halten und
schneuzt sich. „Ja, was soll mer denn da vor die Kutsche spanne?" „Also, meine Herren...!" sagt der Chef gereizt und hebt abwehrend und zurückweisend die Hand. Der Rest der Mahlzeit wird wortlos eingenommen, nur die untere Tischhälfte ist im Gespräch. Wie man berichtet, soll der Amboß auf längere Zeit infolge seines sich rasch verschlimmernden Herzleidens in ein Offizierserholungsheim im Allgäu gekommen sein, und den Rostnagel hat man kurze Zeit später am anderen Ende Deutschlands, in Torgau, wiedergesehen.
NACH WESTEN
Duran und seine Kameraden rollen und rollen, Tag und Nacht, dann stehen sie wieder lange auf einem toten Geleise, die Fesseln schwellen an vom ewigen Stehen, wenn man doch etwas Bewegung hätte. — Dazu noch das häufige Stoßen und Schieben, ganz steif und stacksig zieht man ihn und die Kameraden heraus. Wie in einem riesigen Käfig befindet er sich, über ihm spannen sich hoch am Himmel die schwarzberußten Gerippe und aufgebogenen Eisenstangen der ehemaligen Bahnhofshalle. Überall Trümmer von Schienen und ausgebrannten Waggons, Steine, Schotter, Bohlen und an langen Drähten herabbaumelnde Lampen und Schalter. Vom Winde abgerissen, klatscht ein Blechschild direkt vor Duran auf den Bahnsteig. — Ein französisches Wort steht darauf — die Pferde schrecken zurück und wollen sich losreißen, ein Gewürge entsteht. Da ruft einer: „Achtung, Flieger", und schon sagt es ein paarmal: „Pang, pang — tuck, tuck." Duran hat aufgeschaut und wird von drängenden Nachbarn gegen eine Bank geklemmt, die Soldaten haben sich hingeworfen, wo sie gerade standen. Wenige Sekunden nur hat der Spuk gedauert, und schon traben losgerissene Pferde über den Schotter der Geleise. Eine Französin rennt mit einem schreienden Kinde zwischen die Pferde und drängt sich an die zitternden Leiber. Auch Duran hat sich losgerissen und stolpert über die Weichen einem Häuschen zu, seine Flan ken schlagen wild, und die Nüstern blähen sich angstvoll. Da bricht blutüberströmt ein Mann vor ihm zusammen, seine Hände verkrampfen sich in niedrigen Drähten, und er stöhnt „Mon dieu". Bis an die Pappelallee, die nach Westen führt, sind manche Pferde schon gelaufen, und die Mannschaften haben Mühe, alle wieder einzufangen. Langsam setzt sich die Kolonne in Marsch. Duran zieht diesmal vorn mit, offenbar ist er froh, diesem engen, ewig schaukelnden und stoßenden Stall entronnen zu sein. Was war es bloß, was diesen eigenartigen pfeifenden Luftstoß abgegeben hatte, den er so empfindlich fühlte, und dieses burrende und singende Geräusch in der Luft? Die Männer sehen hin und wieder nach oben, aber nichts dergleichen geschieht wieder. Jedenfalls ist Duran jetzt im Bilde und wird scharf aufpassen und sofort weglaufen, wenn sich dieses scheußliche Vibrieren wieder seinen Nerven mitteilt. Hart klappern die vielen Hufe auf dem gepflegten Asphalt der Straße, und die Köpfe nicken im Takte dazu. Eine Kolonne kommt entgegen, müde Soldaten mit offenen, khakifarbenen Mänteln und Baskenmützen, sie haben Säcke umgehängt und tragen Bündel über den Armen. Keiner schaut auf, auch die wenigen Soldaten in grauer Uniform pendeln teilnahmslos dahin. Endlos ist dieser Zug. Die Spitze der Pferdekolonne nähert sich einem Dorfe, es wird Zeit zum Füttern. Der Führer wendet von der Straße ab, und rechts und links verteilen sich die Gruppen in die Obstgärten. Die Soldaten binden die Halfter auseinander, und schon fahren die Köpfe in das grau überstaubte Gras. Duran bläht die Nüstern, ein leiser, kaum wahrnehmbarer Brand- und Fäulnisgeruch weht ihn an. Er kommt aus den Trümmern des Gehöftes, das weiter rechts an den Pappeln liegt. Hoch recken sich die ausgebrannten Giebel und Mauern rauchgeschwärzt in die herbstliche Luft, über verkohlte Balken und Trümmer schleichen ein paar armselige Katzen und huschen in den Eingang eines schwarzen Kellerloches. Auch einer der Soldaten scheint den Geruch wahrgenommen zu haben, denn er sagt zu seinen Kameraden: „Was hier nur so stinkt, merkst du es auch?" „Wird noch Vieh unter den Trümmern dort liegen und verfaulen — stopf deine Nase zu, eine Stunde wollen wir wenigstens
schlafen." Und die Männer schieben wieder die Pferdedecke unter die Köpfe, kauen noch ein wenig an einem Grashalm und schlummern ein. Hoch oben am blauen Himmel zeichnen sich drei feine, weiße Striche ab. Drei Tage sind sie schon unterwegs und haben immer Hunger. Das wenige Gras, das sie in den Marschpausen aufnehmen können, reicht nicht zum Sattwerden, es hält kaum eine Stunde nach. Alle sind müde und hängen die Köpfe. Ja, man muß sich erst langsam an Anstrengungen und Strapazen gewöhnen, alles trägt dazu bei, daß man schlapp ist. Das ewige Laufen, nachts in einem Obstgarten angebunden, im Freien schlafen und das wenige Futter. Besser schon möchte es den Soldaten gehen, sie kauen mit dicken Backen und trinken aus großen Flaschen. Dann schlafen sie wie die Steine und rühren sich nicht. So ein Kommando hat seine Schattenseiten, aber auch seine Reize. An einem Abend übernachten sie auf einer großen Wiese, die an ein verlassenes Gehöft angrenzt. In einer Hütte haben es sich die Soldaten bequem gemacht, einige stöbern im Dorfe und fangen Hühner. „Ich möchte nur wissen, warum die jetzt so viele Gäule hierher ziehen, es ist doch Schluß mit dem Kriege in Frankreich, wir haben doch bloß die Arbeit. Sollen ein paar Panzerdivisionen hier lassen und Schluß mit dem Rummel, alles nach Hause, mein Bruder ist schon in Polen gefallen, was soll denn mit der Wirtschaft zu Hause werden" —, so quasselt einer im grauen Pullover. „Mensch, die wollen doch noch nach England", sagt ein Schmied in blauer Jacke. „Aber doch nicht etwa mit den Pferden?" „Warum denn nicht — ich habe beim Stab schon gehört, daß es bald hinauf an die Küste geht zu Verladeübungen." Schallendes Gelächter antwortet. „Mensch, die ersaufen uns doch im Kanal wie die Katzen im Sacke — glaubst du vielleicht, daß wir da drüben recht gemütlich ausladen und satteln und anschirren können — meine Herren —, ich sage nur ein Wort: Luftwaffe!" Herbstlich kühl ist es schon, als sie das Flüßchen Canche und den kleinen Ort, in dem die Veterinärkompanie liegt, erreichen. Endlich haben Duran und die Kameraden wieder ein Dach über dem Kopfe, wenn auch nicht gerade dicht, aber es schützt vor den kalten Winden, die ununterbrochen vom Westen von der See her wehen. Endlich wieder eine volle Krippe mit trockenem Hafer, der besser sättigt als das dünne Gras der Obstgärten und Wiesen. Duran und die Kameraden schlafen den Schlaf der Gerechten, und auch der Posten, der mit der Laterne herumgeistert, stört sie nicht. Am nächsten Morgen werden sie aufgestellt, alle, wie sie gekommen sind. Fast wie damals, als sie gemustert wurden, dazwischen treiben sich Soldaten mit Gummimänteln und Autobrillen, Offiziere und Wachtmeister herum und reden aufeinander ein. Ein hoher Herr in altmodischem Soldatenrock erscheint, der Chef, und die Männer machen Front. Hierhin und dorthin werden die Pferde gezogen, bis der ganze Haufen listengemäß aufgestellt ist. Andere Männer nehmen wieder Listen und Stricke in die Hände und stapfen davon, dem Lauf der Canche nach. Ein kalter Wind treibt feuchte Nebel vor sich her, als die kleine Kolonne mit Duran und sieben Kameraden Einzug hält in das winzige, verlassene Nest im Nordwesten Frankreichs, in dem die zweite Batterie eines Artillerie-Regiments einquartiert ist. Seitdem der letzte Schuß gefallen ist, sind sie herumgezogen und haben sich hier niedergelassen in drangvoller Enge. Man teilt sich mit Zivilisten und hält Ruhe. Futtermeister Gerns läßt Duran in einen dichten, warmen Stall stecken, er schätzt selber die Geruhsamkeit einer traulich warmen Hütte, besonders wenn Lucienne darin bäckt und brät. Auch der Chef, Oberleutnant Sieler, hat es nicht eilig, die Zugänge zu besehen, er hat heute seinen Schachnachmittag mit Monsieur Duroque und wünscht, besonders bei dieser
Beschäftigung nicht gestört zu werden. Kurz, man hat hier keine Eile, denn der Winter wird lang sein und viel Regen und Sturm bringen. Am Sonnabend nun stehen sie alle an der Wiese, neben dem Estaminet des Monsieur Maas. In ganzen Schauern schüttelt der vom Meere kommende kalte Wind bunte Blätter auf den freien Plan, wirbelt sie wieder turmhoch auf und jagt sie über die Dächer. Duran fühlt sich trotzdem wohl unter der warmen Decke, die ihm ein fremder Soldat umgehängt hat. Er steht mit seinen Marschkameraden ganz am Anfang der langen Reihe, denn der Batteriechef will die Zugänge zuerst sehen. Duran wird der Feldküche zugeteilt als Stangenhandpferd, nicht gerade eine elegante Beförderung für ein gutgebautes Pferd — aber was tut das, die Zeiten sind ohnehin vorbei, in denen man sich nicht genugtun konnte mit Erzählungen über edle Pferde, Morgenritte und schneidige Attacken. Heute herrschen andere Maßstäbe im Zeitalter der Bomben und Panzer. Gewiß, man wird nicht ganz auf Duran und seine Kameraden verzichten können, aber sie sind nicht mehr entscheidend, wenigstens vorerst nicht. An der Schmiede wird ihm eine Nummer tief in den Huf eingebrannt, und der Schreiber auf dem Geschäftszimmer trägt Namen und Nummer in die Pferdestammrolle ein. Geruhsam vergehen die Tage in dem trostlosen Neste, und des Nachts, wenn sie im Stroh warm eingepackt kuscheln, satt und müde, brummen die großen Vögel am Himmel dahin. Dann ziehen auch die Kanoniere und Fahrer die Decken fester um die Ohren und drehen sich schnarchend um.
Die Stürme des Spätherbstes heulen um die niedrigen Häuser und klappern an den Ziegeln oder reißen Bleche und Schilder von den Wänden. Ununterbrochen peitscht der Meereswind seine Regengüsse gegen Fenster und Stallwände, und die Menschen huschen, Zeltbahnen um die Schulter geschlungen, von Haustür zu Haustür. Alle halten Winterschlaf, Menschen und Pferde.
Wer beschreibt das Schimpfen und Fluchen, als da in solch einer Teufelsnacht an die niedrigen Fenster der Quartiere getrommelt wird, gerade zwei Tage vor dem Heiligen Abend? „Alarm, Alarm!" gellt es über die Dorfstraße. Die verschlafenen Menschen blicken auf die Uhr, es ist halb zwölf. Posten rennen mit wedelnden, umgehängten Zeltbahnen umher und rufen laut: „Offiziere und Unteroffiziere auf das Geschäftszimmer!" In den Ställen werden die Pferde ob der späten, ungewohnten Störung munter und trampeln hin und her. Was mag sein? „Um fünf Uhr steht die Batterie marschbereit, Batterietrupp bei Maas", heißt der Befehl. Schon um drei Uhr schüttet der Küchenfahrer Becker eine ganze Wagenladung Hafer in den Trog, er meint es immer gut mit Duran und klopft ihn häufig an Backen und Schenkel. Alle fressen sich satt. Schlaftrunken noch und schimpfend stapfen die Männer, hinter sich die Pferde herziehend, schon um vier Uhr aus den Ställen den Fahrzeugen zu. Es ist eine Nacht, wie sie der Teufel schuf. Heulend treibt der eiskalte Wind spitze Regentropfen peitschend ins Gesicht, am Himmel steht kein Stern, und auch die großen Vögel brummen heute nicht. An der Feldküche schiebt ihn Becker zur Hand an die Stange, das Sattelpferd Felix ist schon geschirrt. Aus dem Schornstein der Küche quillt beißender Rauch, alles ist naß und ersäuft in der schwarzen Tinte. „Möchte nur bloß wissen, was da wieder los ist, in solch einer Suppe herumplantschen — steh, Felix", so brummt der gute Becker. Dann ziehen sie vor auf die Straße und verlassen das Dorf. Die Straße steigt an, windet ein paarmal und erreicht in einer halben Stunde die Höhe. Ganze Wasserkaskaden stürzen auf Menschen und Tiere herab. Sie marschieren und halten die triefenden Köpfe gesenkt. — Fahl und grau dämmert der Morgen, die Pappeln an der Straße recken die kahlen Ruten in den Himmel, der mit der Erde eins zu sein scheint. Ein Schwarm Krähen zieht tief dahin und fällt auf schmutzigbraune Wiesen und Felder ein. Die Spitze erreicht jetzt die ersten Häuser eines kleinen Städtchens. Holpernd und stoßend rattern die schweren Wagen und Geschütze über die Kopfsteine, rutschen in tiefe Schlag löcher und schaben sich wieder heraus. Auf dem Marktplatz wird aufgefahren und gehalten, eine halbe Stunde Marschpause ist angesagt. Um Duran herum wird es lebendig, die Soldaten kommen mit Kochgeschirren und Feldflaschen an die Küche. Von vorn dringen Befehle durch, die Gurte der Pferde werden wieder angezogen, und die Männer sitzen auf. Die Spitze der Batterie biegt in dieselbe Richtung ein, aus der sie gekommen sind — was soll denn das heißen? Die Männer in den Sätteln drehen sich um und rufen einander zu. Stunde um Stunde marschieren sie nun wieder und erreichen gegen Mittag die verlassenen alten Quartiere. In den alten Behausungen sitzen sie nun in gewechselten Unterhosen, und über dem Ofen tropfen die triefenden Klamotten. „Natürlich", sagt Unteroffizier Brand, „Übungsmarsch, gerade drei Minuten vor Weihnachten, um uns einmal richtig mürbe zu machen. Nun seht euch bloß mal die Weihnachtspakete an." Auf dem Boden liegen Schachteln und Kartons mit dem wenigen Backwerk, das sich die Familien abgespart haben — zerbröckelt und naß — in der Hast irgendwohin gestopft und zerdrückt. Duran erhält eine große Hand voll Bröckel, das ist ganz nach seinem Geschmack. Kurz nach Weihnachten muß Duran seinen kleinen, warmen Stall verlassen, hinter das Bahngelände geht es, in eine große, luftige Scheune. Sein Hals ist geschwollen, und aus der Nase läuft Schleim und Eiter. Er friert trotz mehrerer Decken, und kein Halm schmeckt ihm mehr. Im Stalle steht schon eine ganze Reihe von Kameraden, schnarchend und pustend, um die Verstopfung in der Nase loszuwerden. „Krankenstall" steht über der Eingangstür, und es riecht beißend nach Arznei und Kresol. Duran sträubt sich, aber es nützt nichts, er wird gezerrt und geschoben. Auf einem Ofen in der Ecke werden Ziegelsteine heiß gemacht und
rasch vor die Pferde in die Krippe gelegt. Ein anderer Soldat schüttet aus einer Flasche einige Tropfen darauf, und schon entwickelt sich stechender, weißer, bestialisch stinkender Qualm, der zum Husten reizt. Der ganze Stall ist erfüllt von diesem Gestank, und Duran reibt sich die brennenden Augen an den Vorderknien. Das geht mehrmals so am Tage, und gegen Abend wird ihm der Kehlgang mit einer übelriechenden Salbe dick eingeschmiert. Das zieht und brennt die ganze Nacht, und am nächsten Tage geht die Stänkerei im Stalle weiter. Man kann vor Husten und Prusten kaum noch Luft holen, und der Schleim löst sich in ganzen Flocken. Da wird die Türe aufgerissen, und herein treten der Unterveterinär Dietz, der inzwischen hierher versetzt wurde, und ein winziger knabenhafter Offizier mit riesiger Mütze, einer der Schrecken der Division, Oberstveterinär Mühle, „Gift zwerg" genannt. Das ist auch einer der Stammgäste der Herzbäder, der es sich aber angelegen sein läßt, seine Männer wie es ihm paßt anzuschreien, wenn sie vielleicht bescheiden die Bitte um Urlaub nach so und so langer Zeit höflich vortragen. Seine hohe Fistelstimme piepst: „Den Katarrhstall haben Sie hier, was stänkern Sie denn da?" „Ich helfe mir mit Terpentinölräucherungen, das desinfiziert die Schleimhäute und befördert infolge der Reizwirkung den Auswurf." „Das glauben Sie doch selber nicht." „Doch...!" Der „Giftzwerg" verfärbt sich kirschrot und ringt nach Luft ob dieser Insubordination. Da rettet Duran die Situation. In starkem Strahle stallt er auf den harten Tennenboden, der die Spritzer wie ein Springbrunnen nach allen Seiten auseinandersprüht. Der „Giftzwerg" erhält eine saftige Dusche auf Reithose und Hände. Er schrickt zurück und, ehe Herr Unterveterinär Dietz warnen kann, ist er wie ein Igel zur Tür hinausgefahren. Die Männer lösen sich aus ihrer Er starrung und brechen in helles Gelächter aus. Von allen Seiten stürmt man auf Duran ein und füttert ihn mit Kommißbrot. Er hat, wenn auch nicht direkt, so aber doch auf alle Fälle, den „Giftzwerg" vollgeschifft — das hatte noch keiner gemacht, und Duran wird in der Batterie bekannt und ist der Held des Tages. Über eine Woche steht er nun schon im Stalle, sein Hals schmerzt noch immer. Da tritt eines Tages Dr. Dietz mit einem spitzen Messer an ihn heran, sein Kopf wird gestreckt gehalten und zack, zack, hat er ein paar Schnitte in der Kehle. Es wird ihm wohler, der spannende Schmerz läßt fühlbar nach, und Duran fühlt sich wie befreit. Warm eingedeckt steht er nun täglich im Freien, an einer langen Stange angebunden, oder wird die alte Runde geführt, die er seit langem kennt. Nach 14 Tagen holt ihn Becker wieder ab und klopft ihm an den Bauch. Etwas schmaler auf der Rippe ist er doch geworden, ja, so ein Katarrh spielt dem stärksten Pferde mit. In der Geschirrkammer neben seinem Stalle hört er jetzt öfter die Soldaten laut miteinander reden. Wachtmeister Gerns hat dort einen Kanonenofen setzen lassen, und wer Zeit hat, drückt sich dort auf ein paar Minuten. Auch macht der Wachtmeister dort ungestört in einem alten Korbstuhle von Madame Dubois mit Vorliebe ein Schläfchen. Eines Abends sagt der Bursche von Gerns zu einem anderen: „Hast du es schon gehört, die Zwote rückt ab zu Verlade übungen an den Kanal." „Bist wohl verrückt — jetzt nach England." „Tja, ich habe es von dem Stabsmelder, der ist oben gewesen, lauter große Eisenschlepper sollen hoch auf dem Strande liegen — die ganze Batterie wollen sie in 5 Kästen verladen." „In eisernen Schiffen, na, das möchte ich mal sehen!" „Da soll ein Dampfer davor gespannt werden, und hinüber geht's, 40 km soll es bloß sein bis zur englischen Küste." „Und die Gäule auch mit?" „Freilich, wir sollen nach den Fallschirmfritzen Stoßdivision sein."
„Ich könnte mir das noch mit motorisierten Verbänden vorstellen, aber mit uns, nä, mein Lieber..." Damit flog die Tür zu.
PROBESPRUNG NACH ENGLAND
Vom blödsinnigsten Gerücht bis zur Tat ist es nicht weit, wenigstens beim Barras. Wenige Tage später befindet sich Duran schon mit der Feldküche auf dem Marsche. Auf hartem Beton und Asphalt marschieren sie fast pausenlos vom Morgengrauen bis zum Abend und die Nacht hindurch. Eisiger, kalter Wind weht von See her. Gegen Morgen des kommenden Tages beobachten sie, daß Wiesen und Äcker spärlicher werden, gelbweißer Sand trägt eisenhartes, schilfiges Gras, das sich unter der Wucht des Sturmes hin und her biegt. Große Seevögel segeln hoch in den Lüften dahin, wiegen auf und nieder, verhalten im Fluge oder schießen pfeilschnell dahin. Duran und auch die Kameraden haben Durst, denn die Luft ist salzig, und auch das Wasser vom letzten Tränken schmeckte schon fahl, so daß viele nur widerwillig getrunken hatten. Die Feldküchenkameraden haben einen großen Abstand von der Batterie, die jetzt auf einer sich steil bis in den Horizont hinauf windenden Dünenstraße dahinzieht. Die ersten hatte schon der Horizont verschluckt. Da treiben die Reiter die Pferde an, und die großen Lederpeitschen klatschen auf die müden Rücken. Stolpernd traben sie dahin und schnauben. „Marsch", rufen die Reiter immer wieder, und die Peitsche klatscht im Takt dazu. Noch hundert Meter — „da, das Meer — das Meer!" rufen alle wie aus einem Munde und halten an. Auf der Höhe der Düne stehen sie jetzt und heben die Köpfe. Unten kräuselt ein weißer Schaumstreifen und beleckt die Küste. Endlos und weit ist das Meer, das Duran und die Männer das erstemal sehen. Wie Spielzeug aus einem Baukasten liegen die kleinen Häuschen und Villen in den Schoß der Dünen gekuschelt, einstmals Villen und Erholungsstätten reicher Franzosen, heute Truppenunterkünfte und Pferdeställe. Noch eine halbe Stunde schwerer Zug im weichen Sande, dann sind sie da in der großen Sommervilla. Duran und die Kameraden erhalten Unterkunft im Waschhaus, nicht gerade geräumig, aber wenigstens warm und winddicht. Endlich wird reichlich Futter geschüttet, und alle schlafen bald im Stehen ein. Ein Küchenpferd bei der Artillerie hat es immer gut — für die Kameraden an den Geschützen kommt zum Schluß immer noch ein schweres Stück Arbeit, bei der es meist Hiebe und Sporenstiche setzt — das Einfahren in die Stellung.
Schon halb schlafend hört Duran welche kommen, die Unterkünfte mit den Protzen, im Gebäude eines großen Schuppens beziehen wollen. Dann hören sie nichts mehr, nur der Wind rattert und rumort an Türen und Fensterläden. In den unteren Räumen der Villa haben sich die Offiziere der Batterie einquartiert. Nach dem Essen gibt der Chef bekannt, daß zunächst Befehl zu Verladeübungen vorliegt, anschließend im Abschnitt Q bis S Küstenschutz zu übernehmen ist. Man nickt zufrieden, endlich einmal eine kleine Abwechslung in dem einförmigen Dasein. Nach einem Ruhetag beginnen die Übungen. Eine halbe Stunde vom Quartier liegen ein halb Dutzend mächtige, mit Tarnfarbe bunt bemalte Eisenkähne am Strande. Zum torartig aufgeklappten Heck hinauf führt himmelhoch und steil die Verladebrücke. Die Pferde werden abgeschirrt und verschwinden im riesigen Leib der eisernen Särge, eng aneinandergepreßt wie Heringe in der Tonne. Das gäbe einen Fraß für die Fische, wenn solch eine Ladung absäuft. In knappen drei Stunden ist alles in den Kähnen verstaut, die Ausladung beginnt. Das ist drei Tage etwas Neues, dann beginnt wieder das ewige Einerlei des Tages. In Bunkern und Ständen hocken die Leute und gähnen. Duran und die Kameraden werden wie Gefangene täglich eine Stunde in den Dünen herumgeführt und gähnen den Rest des Tages ebenfalls. Auf einem hohen Holzturme sitzt der Posten und späht gelangweilt auf das Meer. Gestern soll die Fernsicht gut gewesen sein — alle haben sie gesehen, die englische Küste, oder wenigstens es sich eingebildet. — Nichts ereignet sich in diesen Wintertagen des Jahres 1940/41 am Kanal gegenüber England, wenigstens nicht in dem Abschnitt, den Durans Feldküche versorgt. Und über die anderen Abschnitte weiß man nichts, interessiert sich auch nicht, denn der Krieg ist ja sowieso aus, das heißt abgesehen von England — das kann ja aber nicht die Welt sein — hin und her, die Leute wollen auf alle Fälle nach Hause. Gleichmäßig trommelt der Regen und heult der Sturm. So vergehen die Tage, und die großen Brummer surren Nacht für Nacht, Nacht für Nacht. Noch heftiger steigern sich Sturm und Regen im Frühjahr — es ist eine Höllenecke da oben. Im März wird ein Gerücht von Ohr zu Ohr getuschelt, die einen wiegen die Köpfe, andere lachen, und wieder andere machen abweisende Hand bewegungen. Duran ist inzwischen schneckenfett und übermütig geworden, er hat nichts zu tun, die kleinen Ausmärsche reichen ja kaum aus, um sich die steifen Knochen zu vertreten. Im April verdichten sich die Gerüchte, und die Franzosen sprechen ganz offen davon oder fragen schüchtern. „Gerüchte sind alle wahr", sagt Durans Pfleger, „das stimmt immer, wenigstens beim Kommiß." Die Aktiven lassen sich Kisten machen, und die Chefs und Kommandeure fahren in Urlaub. Die ganz besonders vorsichtigen von den höheren Stäben besinnen sich auf das alte Herzleiden und rüsten für die längere Erholungskur im Gasteiner Tal. Vielleicht stimmt das doch mit der Verladung an die polnisch-sowjetische Grenze — da möchte man denn doch lieber etwas vorbeugen, man kann nicht wissen, was man da vorhat. Nervosität überall, jeder hat seinen Kopf voll Gedanken, und es scheint fast, als ob die Pferde auch etwas von der Stimmung merkten. Manche unterhalten sich stundenlang mit ihren Gäulen und schütten ihr Herz aus über unbegreifliche Dummheiten und Bosheiten dieser Welt.
GEN OSTEN
Da kommt es aus ganz zuverlässiger Quelle, und auch der Befehl zum Verladen soll schon dasein. — Herrlich duftet das zarte Maiengrün in Höfen und kleinen Hintergärten, als Duran und die anderen wieder in den engen, schaukelnden Stall wandern. In der Mitte des Wagens liegen zwei Ballen Preßheu, und darauf sitzen die Fahrer. Tag und Nacht rollt es wieder, und die Hufe fangen wieder an zu schmerzen, denn an Legen ist nicht zu denken. Übermüdet läßt Duran den Kopf hängen, schon drei Tage und Nächte geht das so. An einer Haltestelle zieht man aus dem Nachbarwaggon einen großen Braunen heraus, er ist ganz steif und läuft wie auf Eiern. Ein Soldat mit hoher Mütze und knallgelbem Lederzeug befühlt die Hufe, dann schreibt er einen Zettel aus und knotet ihn in die Mähne. Soldaten der Bahnhofswache schieben und zerren den Braunen von den Schienen weg, dann fährt der Zug wieder an. Armer Alex, nun bist du allein, und alle andern fahren und fahren... Ein Soldat steht noch lange an der offenen Waggontür, dann setzt er sich wieder auf den Heuballen und sagt: „Ach ja." Nachts hält irgendwo wieder der Zug. Es ist pechschwarze Nacht und gießt in Strömen. „Wo sind wir?" quarrt eine schlaftrunkene Stimme aus einem Wagen. „Keine Ahnung", antwortet der Posten, der die Zeltbahn über den Kopf gezogen hat. „Da vorn muß aber ein Bahnhof sein." Im Morgengrauen gibt es einen Ruck, die schlaftrunkenen Pferde erschrecken, und einige fallen auf die Keulen oder Knie. Wenn doch diese Tortur für Mensch und Tier erst vorüber wäre! Langsam und tastend poltert der lange Zug über die Weichen einer verlassenen Rampe zu — da dreht sich ein Schild vorbei: Biala Podlaska steht darauf. Noch hundert Meter, und kreischend ziehen die Bremsen an. „Ausladen!" kommt durch, und alles macht sich bereit. Durans Wagen, der in der Mitte des Zuges gefahren ist, hinter der Küche, muß noch warten, aber dann werden die Laufbrücken auch herangeschoben, und einer nach dem ändern tappt bocksteif heraus. Feldküche und Planenwagen sind schon herunter, und dann wird Duran an ein Rad gebun den. Penetrant steigt ihm der Geruch aus der offenen Küche entgegen. Was mag das nur wieder sein heute, was der Kerl da zusammenbraut? Duran zerrt und stemmt sich rückwärts, er möchte loskommen aus dem Bereich des Geruchs. Ein vorbeikommender Fahrer brennt ihm eins mit der Peitsche auf. „Steh doch, du Bock — paß auf, Richard, der zerreißt noch das Halfter." „Willst du — paß auf du", und der Koch schwingt drohend den großen Rührer. — Am Nachmittag zieht die Batterie auf einer holprigen Straße dem Städtchen zu. Ach, es ist mehr ein Tappen und Trippeln, denn jede Unebenheit des Weges verursacht Höllenschmerz. Löcher wie Badewannen, mit schmutzigem Regenwasser gefüllt, müssen umgangen werden, rumpelnd und polternd torkeln die schweren Wagen und Geschütze von Loch zu Loch, von Pfütze zu Pfütze. Alles ist abgesessen und läuft, von Insel zu Insel hüpfend, Duran zieht wie immer seinen Strang und kümmert sich wenig um Wasser und Schlamm. Endlich hört auch der Regen auf, und das Leben wird wieder lebenswerter. Da pflanzt sich ein Ruf fort: „Rechts heran!", und ehe sich Pferde und Männer versehen, läuft ihnen ein Sturzbach von Schlamm über die Figur. Duran hat alles über den Kopf bekommen und schüttelt sich wie ein Waldesel. Vier große Autos eines hohen Stabes sind im Höllentempo vorbeigebraust und haben in wenigen Sekunden Menschen, Tiere und Gerät von oben bis unten eingeschlammt — tagelange Arbeit. Durans Fahrer flucht, und überall schwingen die Fahrer die Peitsche oder drohen mit der Faust. Immer schlechter wird die Straße, kleine, niedrige Holzhäuser stehen
erst vereinzelt, dann in zusammenhängender Reihe am Wege. Aus den trüben Scheiben blicken ängstliche Gesichter. Die Kolonne nähert sich einem großen Platz — eine Stunde Halt. Duran und die Pferde prusten, ungewohnt sind diese plötz lichen Fahrten, wenn man so lange nichts Rechtes getan hat, und die Hufe schmerzen. Stundenlang sind sie nun schon wieder unterwegs, die Straße führt durch Mischwald, und wenn die Zweige niedrig hängen, fangen die Pferde einen Bissen Laub. Da — halt, die Fahrer ziehen die Leine an, und die Reitpferde machen alle linksum. Eine geschlagene Stunde stehen sie schon, niemand weiß, was los ist — alle Pferde fressen hastig das vorgelegte kleine Futter, auch Duran kaut, aber er ist müde und überanstrengt. Die Stute Regina trampelt aufgeregt hin und her, strafft den Rücken und streckt die Hinterbeine, als ob sie sich verschlafen dehnen wollte, dann versammelt sie alle vier Beine unter dem Leibe, trampelt wieder und macht Anstalten, sich im Geschirr zu legen. Ein Peitschenschlag klatscht ihr unter den Leib und bringt sie wieder hoch, man schirrt sie ab und führt sie am Waldrande auf und ab. Sie wird klatschnaß und bläht aufgeregt die Nüstern. „Die hat's auf der Blase", sagt ein Bauer mit sachkundigem Blick, „holt doch den Veterinär." Regina erhält eine Spritze in die Halsader und wird bald ruhig — sie darf im Schatten der Bäume stehenbleiben. Glühend brennt die Sonne herab, in den dicken, unbequemen Röcken schwitzen die Menschen, die Pferde patschen mit den Schwänzen die Fliegen und schlagen mit den Hufen nach dem Leib, wo die großen Brummer stechen. Endlich geht es weiter, und wieder nicken die Köpfe im Takte der Schritte. Sternenklar und warm ist die Nacht, die sie auf einer Lichtung verbringen,
betäubend der Duft frischer Blumen und Gräser, geheimnisvoll dringen die Laute des nahen Waldes zu ihnen. Der Mond leuchtet rein und hell wie eine große Bogenlampe und bewacht ihren Schlaf. Kiuwitt, kiuwitt, hört man eine Stimme aus dem Walde die halbe Nacht schreien, und huhuhu — huuuu pfeift hohl eine andere wie der Ruf einer verirrten Seele. Mücken singen leise ihr metallisches Lied, und die Birken huscheln sich, wenn ein Windhauch sich in Blätter und Geäst verfängt. Duran und die Gefährten sind an einen Munitionskarren angebunden. Alle sind lausig müde und haben die Köpfe bis an die Vorderknie gesenkt. Es ist eine geruhsame Nacht, auch für die Männer, die, die Sättel unterm Kopfe, schnarchen. Ach, waren das noch Nächte, wo man schlafen und ruhen konnte, ohne diese ewige Nervosität und Hast, aufgehoben und geborgen im Schoße der Sicherheit — ach, wie oft dachte man zurück an diese schöne Lichtung vor dem Bug. Matter und blasser wird das Licht der tausend Sterne, nur der Mond hält sich noch eine Weile tapfer, bis auch er hinter dem großen, dunklen Wald schlafen geht. Lange schon ist die Batterie in glühender Hitze auf dem Marsch, die Reiter haben sich von den Fahrzeugen abgesetzt und sind vorausgeritten, man kann sie nicht mehr sehen. Jetzt biegt auch die Kolonne der Wagen und Geschütze von der Straße ab und lenkt ein in einen breiten, staubigen Waldweg. Hochauf wirbelt und quirlt feiner Pulverstaub und bedeckt Menschen und Tiere mit einer grauen, dicken Schicht. Die Räder der schweren Geschütze und Wagen sinken ein, und das Lederzeug der Geschirre knirscht. Vor einer Steigung macht alles halt und rastet. Dann geht es einzeln heran. Bis an die Waden sinken die Männer ein, die schreiend und anfeuernd neben den Fahrzeugen her stapfen. Klatschend sausen die Fahrerpeitschen auf die nassen Leiber der schwitzenden Tiere, während Kanoniere und Schreiber an den Speichen hängen. Duran und die Kameraden fahren an, schneidend fährt ihm ein paarmal die schwere Lederpeitsche über die gespannten Muskeln, nur voran, nur jetzt nicht steckenbleiben. Das Anziehen in dem grundlosen Sand und Staub kostet immer Geschrei und Hiebe — da ist es auch schon passiert. Sie sind zu weit nach links geraten, und das linke Rad der Protze hat sich an einem Sandstein festgefahren. Die Deichsel schnellt herum und prellt an Durans Schulter. Von plötzlichem Schmerz getroffen, bricht er aus der Zugrichtung, und schon läßt alles nach. Geschrei und Schimpfen, wie immer, wenn etwas passiert. Die Pferde schnaufen hart, und die Flanken gehen, Duran hebt vor Schmerz das Bein an. Da fassen die Leute schon wieder in die Zügel, die Peitschen klatschen und schwirren über den Kruppen. Durans Zugtaue hängen schlaff, er kann kaum auftreten, so schmerzt ihn die Schlagstelle von der Deichsel. Ein blöder Kerl von einem anderen Fahrzeug zieht ihm eins über die Hinter backe, daß ihm Hören und Sehen vergeht. Da wirft er sich gegen das Brustblatt und hinkt voran. Noch hundert Meter, dann haben sie es geschafft. Zitternd und erschöpft stehen sie auf der Kuppe und haben keinen Blick für die tiefen, dunklen Wälder am Bug, zwischen Biala und Brest-Litowsk. Eine weite Lichtung nimmt alle auf, Pferde und Menschen, zwei altersschwache Holzbuden und ein wenig Zaun ist alles, was von der Anwesenheit von Menschen zeugt. In die eine Bude zieht der Kommandeur, in die andere die Zahlmeisterei. Es soll gezeltet werden, aber die Pflöcke halten nicht in dem tiefen Sandboden. Wie lange hier geblieben wird, weiß keiner. Unerträgliche Hitze verbrennt das letzte Hälmchen Gras — und diese Nächte! Umschwirrt von Tausenden sirrender Stechmücken wälzen sich die Männer hin und her auf dem Sande und finden keine Ruhe. Nicht anders geht es den Pferden. Ununterbrochen peitschen sie mit den Schwänzen, hacken und stampfen mit den Füßen nach den Quälgeistern. Manche haben dicke Quaddeln und Beulen, gegen die die Reiter und Fahrer mit nasser Erde angehen. Aber Wasser ist mehr als knapp, ein einziger, winziger Ziehbrunnen muß alle versorgen.
Trotzdem nichts getan wird, schleicht alles müde und verquollen umher. Da hat Durans Fahrer Becker ein glänzendes Abwehrmittel gegen die Bremsenplage gefunden. Bald hat jeder eine Blechbüchse organisiert und uriniert regelmäßig hinein. Mit einem getränkten Lappen werden die Pferde naß überwischt und siehe, die Quälgeister setzen sich zwar auf, schwirren aber sofort wieder ab, ohne gestochen zu haben. Diese Arznei wird bald kostbar und begehrt, außerdem erhält Becker den Ehrentitel „Doktor". — Alles verdreckt und verstaubt, was soll denn nun hier wieder losgehen? Eines Tages wird ein Kommando zusammengestellt und reitet ab in Richtung Bug, es soll dort in einem Forsthause Quartier nehmen. Täglich fährt Duran mit seinem Kameraden Felix das Essen vor. Eine Erquickung, wenn sie nach einem Kilometermarsch im tiefen, dunklen Mischwald untertauchen. Weshalb hat man sie nicht hierher gesteckt alle miteinander? Der Rückmarsch ist ganz besonders angenehm. Becker spannt an einer bestimmten Stelle aus und läßt Duran und Felix im Wald bummeln. Er selbst setzt sich nieder, zieht seine Sachen aus und tummelt sich nackt ein wenig im Schatten der Bäume. Manchmal schreibt er auch einen Brief oder liest etwas in einem kleinen Buche. Eines Tages haben die Gefährten einen Gast auf dem leichten Wagen — den Unterveterinär Dietz. Nachdem das Essen beim Kommando abgeladen ist, fahren sie in großem Bogen zum Bugufer, spannen ab und ziehen sich aus. Dietz hat ein Fernglas mit und betrachtet das gegenüberliegende Ufer. Dort steht ein Mann mit einem Gewehr und winkt mit seiner Mütze, sie winken wieder. „Übrigens", sagt Becker, „glauben Sie dran, daß wir dort einmal hin müssen, Herr Unterveterinär?" „Nein, das glaube ich nicht, immerhin, ich werde ein Gefühl nicht los, das mir sagt..., können Sie eigentlich schwimmen, Becker, also dann wollen wir uns doch etwas abkühlen." Die Männer schwimmen, Duran und Felix sind auch herangebummelt und plantschen im seichten Ufer herum. Es ist ein herrlicher Nachmittag, und keiner hat Lust, zurückzugehen zum großen Haufen. Irgend etwas liegt wieder in der Luft, das spüren alle. Der Kommandeur fegt öfters mit dem Kartenbrett umher, und die jungen Offiziere tun geheimnisvoll wissend. Doch das, was jeder bangend vermutet, wird verscheucht, weil es jedem unmöglich erscheint. Mitte Juni wird umgezogen, weit nach vorn in den Wald — endlich weg von der verdammten Sandlichtung. Duran und Felix erhalten unweit der Feldküche Standplatz zwischen zwei schattigen Bäumen. Es ist eine unheimliche Ruhe. In einer stockdunklen Nacht werden Stimmen laut, man winkt und ruft nach dem und jenem, auch die Pferde hören auf zu dösen und schnauben. Geschützbedienung und Fahrer satteln und schirren, die Muni-Kolonnen spannen an. „Was ist denn los?" fragt Unterveterinär Dietz irgendeinen, der im Dunkeln umherirrt und etwas sucht. „Weiß auch nicht, wahrscheinlich Stellungswechsel an den Fluß", heißt die schlaftrunkene Antwort. Da fahren auch schon die ersten Wagen auf den schmalen Sandweg und ziehen knarrend ab, zuletzt Duran mit der Feldküche. Kaum sind sie eine halbe Stunde im Gange, heißt es auch schon wieder Halt. In stockdunkler Nacht rennen die Pferde an Äste und Bäume, Knüppel sperren sich quer, die Leute schimpfen, zerren und fluchen. Nachdem sich alles heillos verkeilt und festgefahren hat, tritt wieder Ruhe ein, bis das fahle Dämmerlicht des Morgens sich über die Gipfel der Bäume breitet. Futtermeister Gerns hat alle Hände voll zu tun, die Knäuel zu entwirren. Ein lichtes Birkenwäldchen ist vollgestopft mit Protzen, Planwagen, Kistenstapeln, man kann kaum noch treten. In dieses Lager hinein wird noch die Küche gepreßt, und Duran und Felix haben am Schmiedewagen kaum noch Platz zum Stehen. „Warum denn diese Massierung, ist doch genug Platz in der weiten Welt — wenn hier eine reingeht, ist doch alles zermatscht", meint Becker. „Da geh erst mal in den Wald dort, was da los ist bei den Granatwerfern und
Infanteriegeschützen, da kann kein Sperling austreten", entgegnet ein alter Fahrer von der zweiten Muni-Staffel. Die Pferde haben Hunger und fangen an, an der Rinde der Birken zu nagen, gestern abend hat es das letztemal Futter gegeben. Endlich bringt Becker zwei Futterbeutel und hängt sie den Gäulen vor. Gierig fahren sie hinein und mahlen behaglich. Wasser gibt es nicht, obwohl der Bug kaum achthundert Meter entfernt ist. Dort darf keiner hin, weil da Infanterie und Sturmpioniere übereinander liegen. Becker möchte mit einem Wassersack nach dem Forsthaus gehen, um wenigstens einen Tropfen zu holen — aber es darf keiner weg, keiner. Die Männer sitzen auf den Munitionskisten und holen den versäumten Schlaf nach, Becker putzt an Duran und Felix herum, nur um etwas zu tun. Mittags gibt es Graupen mit Büchsenfleisch, die Männer löffeln schweigsam und dösen wieder, Unterveterinär Dietz schreibt in einem Buche. Es wird kaum ein Wort gesprochen, jeder bemüht sich, seine innere Unruhe zu verbergen. Lange ist es hell heute, und der Durst quält, wenn es doch Kaffee gäbe, aber es kann niemand nach hinten, Wasser holen, weil angeblich alles verstopft ist und die wenigen Brunnen bereits restlos ausgeschöpft sind. Angezogen vom Dunst der Pferde und Menschen fallen, als die Dämmerung herabsinkt, Mil lionen von Stechmücken ein. In den Augenwinkeln der Pferde ballen sich ekelhafte Fliegenschwärme zusammen. Jeder macht sich, so gut es geht, ein Lager. An Schlaf ist nicht zu denken —, denn jedem ist Gewißheit geworden, daß die Nacht vor dem größten Totentanz, den die Welt je erlebt hat, angebrochen ist. Bis vierundzwanzig Uhr ist noch der 21. Juni 1941. Neben Duran stehen Dietz und Becker am Schmiedewagen. Dietz nestelt an seiner Taschenuhr mit dem Leuchtzifferblatt. „Ein Uhr zehn ist X-Zeit", sagt er beiläufig. „Was ist 'n das?" fragt Becker. „Die Zeit, wo es losgeht." „Was geht los?" „Die Schießerei!" Die Männer schweigen, Duran schaukelt an einer Anbindekette, die am eisernen Radreifen schabt und rasselt. Dietz wehrt ihn ab. Langsam wie im Grabe vergehen die Minuten. „Wenn meine Uhr richtig geht, sind es noch fünf Minuten", unterbricht Dietz das Schweigen. Von fern her gellt der Pfiff einer Lokomotive durch die Nacht, eine andere antwortet. „Das wird am Bahnhof Therespol sein, die Getreidezüge aus der Sowjetunion rangieren", murmelt Becker. Still ist es im lichten Wald, kein Blatt rührt sich.
DER TOTENTANZ BEGINNT
Da zerreißt ein Kanonenschuß die Stille — ein zweiter folgt, ein dritter, zehn, zwanzig, hundert, tausend fallen ein, es ist, als ob eine Riesenorgel braust. Man hört keinen Abschuß mehr, es ist ein ununterbrochenes Wuppern. Heftige Luft stöße jagen durch die Bäume und wehen die Menschen förmlich um. Ungeheuere Erschütterungen lassen die Erde erbeben und erzittern, alles ist im Nu hoch und hat die Helme aufgesetzt. — In der Dunkelheit haben sich verängstigte Pferde losgerissen und stürmen zwischen Kisten, Fahrzeugen und Menschen umher. Duran reißt an seiner Anbindung und drängelt Felix gegen eine dünne Birke, die abbricht und sich beiden zwischen die Beine klemmt. Becker versucht das Hindernis aus Laub und Holz zu beseitigen, aber es gelingt nicht, und die Unruhe steigert sich. Über den Wipfeln fahren grellgelbe Leuchtkugeln steil in den Himmel, leuchten auf wie eine helle Bogenlampe und fallen langsam zu Boden. Ge spenstisch wird der Wald erhellt, schemenhaft verzerrt sind Schatten von Menschen, Tieren und Geräten. Um so schwärzer wird es, wenn die Leuchtkugeln verlöschen, aber immer neue steigen auf, und das Spiel von Licht und Schatten hört nicht auf. Becker brüllt Dietz etwas ins Ohr, aber es ist in dem Getöse nicht zu verstehen. Niemand hat nach der Uhr gesehen, als das Wummern nachläßt, aber es wird langsam dämmerig über den Wipfeln. An diesem Morgen, dem 22. Juni 1941, stehen ein Vierteltausend Divisionen mit Hunderttausenden von Pferden bereit, von Rumänien bis nach Finnland, und treten den sinnlosen Marsch an nach Osten — in die Unendlichkeit. Die Pontonbrücke über den Bug schwankt und schaukelt, die Pferde prüfen vorsichtig mit den Hufen den Boden, dann ziehen sie langsam und unregelmäßig an. Die Peitschen klatschen. Es geht langsam, das Übersetzen, denn drüben müssen die Fahrzeuge einen sandigen Steilgang hochgezogen werden. An beiden Seiten stehen Leute mit Peitschen, die unbarmherzig auf die Pferde einschlagen. Schiebekolonnen hängen an den Speichen der Räder. Die Küche rumpelt über die Brücke, jetzt kommt die Sandstrecke, die Hufe finden keinen Halt, aber erbarmungslos klatschen die schweren Peitschen. Futtermeister Gerns hat schon alles zerdroschen und schnallt jetzt sein Koppel ab. „Marsch, marsch", schreit es von jeder Seite, und die Gäule liegen in den Sielen und stampfen. Endlich ist es geschafft, mit schlagenden Flanken, zitternd vor Erregung und klatschnaß, halten sie an einem Kusselrande. Der Boden ist zerwühlt von Tausenden von Granaten, riesige Trichter gähnen überall, und — niemand wurde getroffen, denn kein Mensch war hier. Das wenige Wasser, das Becker im Wassersack beim Übersetzen geschöpft hat, muß alle erfrischen, Felix, Duran und die beiden anderen Kameraden. Es ist lauwarm, aber Duran saugt gierig aus dem Beutel. Becker nimmt einen Lappen und wischt über sein Fell, die Striemen von den Peitschenhieben schwellen an und brennen — armer Duran, muß denn das sein, diese Schinderei? Durch die Schinderei ist alles durcheinandergeraten, neben Duran hält ein vollkommen erschöpftes Gespann mit einem Wagen, auf den eine Brezel gemalt ist — wahrscheinlich sind die von einer Bäckereikompanie. Die Küchenfahrer ziehen die Bauchgurte wieder an, es geht weiter im tiefen Sande, würgend und quälend. Längst ist alles abgesessen und stampft nebenher, die Lederzeuge knirschen, und über den Brustblättern schäumt der Schweiß. Nach einer Stunde treffen sie wieder einen Haufen Fahrzeuge der Batterie. Leutnant Rohner sammelt die Versprengten, es soll gerastet werden. Die armen, zerschundenen Gäule bleiben im Geschirr, nur die Woilachs werden abgenommen
und zum Trocknen aufgehängt. Der vorgehängte Hafer schmeckt sandig — Wasser fällt wieder weg. Vor Durst beleckt Duran die eisernen Beschläge an der Deichselstange, das kühlt etwas. Kaum haben die Pferde die Futterbeutel geleert, da schrillt auch schon wieder die Trillerpfeife „Fertigmachen!" Die eben aufge hängten Decken werden zusammengerafft und aufgelegt, die Gurte festgezogen, alles zieht an. Sie laufen und stampfen die ganze Nacht, den Tag und wieder die Nacht. Die Tage sind glühend heiß, die wenigen Wasserstellen haben kaum Wasser für die Feldküche, außerdem ist es nur eine dunkelbraune Brühe, denn jeder hat darin herumgewühlt. Alles, Pferde und Männer, geht mit gesenkten Köpfen und aschgrauen Gesichtern dahin — ob sich die Menschen der Bedeutung dieser Stunden bewußt sind? In einem Kübelwagen jagt der Kommandeur vorbei, riesige Staubwolken aufwirbelnd. Keiner blickt auf. „Mir scheint, wir laufen nach Norden, anstatt nach Osten", sagt Becker zu dem dicken Koch Senf, der trotz Verbotes seinen Rock ausgezogen hat und in Hemdsärmeln keucht. „Mir egal, wo wir hinlaufen, mir wäre es lieber, wenn wir nach Westen gingen", entgegnet der Dicke gereizt. „Da ist aber doch nicht Rußland." „Na, was wollen wir denn auch da?" Auch diese schwüle, mückenschwangere Nacht vergeht, der Wald hört auf, der Boden wird fester, und im Ganzen nimmt sich die Umgebung im Zwielicht des Morgens zivilisierter aus. Da biegen sie in eine feste Straße ein — wie eine Feder rollen plötzlich die schweren Karren. Die beiden dicken Brauereigäule an der Stange des Schmiedewagens fangen zu taumeln an wie Betrunkene, auch bei der 2. Muni-Staffel ruft man nach Unterveterinär Dietz. Am 1. Geschütz will sich ein schwarzer Wallach legen, die Fahrer klatschen ihm eins unter den Bauch, daß er erschrocken wieder hochfährt. Die Morgensonne beleuchtet die Stadt BrestLitowsk.
„MARSCHIER ODER KREPIER!"
An einer Straßenkreuzung steht ein himmelhoher Feldgendarm mit Blechschild und leitet die bespannten Fahrzeuge wieder in die Seitenwege ab. Wie lange wurde schon keine größere Rast gemacht! Wann wurde das letztemal richtig satt getränkt, gefüttert, gegessen und geschlafen? Am Spätnachmittag taumelt alles wie schlaftrunken in eine Ansiedlung. Aus einer großen Scheune wird Streu herbeigeschafft, die Brunnenkette rasselt ununterbrochen. Duran und Felix taumeln halb geschoben, halb gezogen in eine große balkengedeckte Halle und schlürfen gierig das frische Wasser aus dem vorgehaltenen Eimer. Dann lassen sie sich plumpsend fallen, Felix liegt ganz lang und streckt die Beine von sich. Das Futter rühren sie nicht an, sie sind zum Fressen zu müde. In der Feldküche dampfen wieder Graupen mit Dosenfleisch, aber nur vereinzelt kommen die Leute mit den Kochgeschirren — sie haben sich hingehauen, neben oder unter den Fahrzeugen, wo sie gingen und standen. Wie die frommen Lämmer von Jericho stehen die Pferde und rühren sich nicht, weder Mann noch Roß hört in dieser Nacht das pausenlose Rumpeln schwerer motorisierter Fahrzeuge oben an der Straße. Im Morgengrauen zerrt Becker nach reichlichem Tränken und Füttern die Gefährten bocksteif aus dem Stalle. Das war der letzte für viele, viele Monate. Quälend schaukeln die schweren Karren weiter durch Nächte, die zum Tage werden — rollen und holpern über Waldwurzeln und zermahlen den Sand brennender Ebenen. Das angesetzte Fett geruhsamer Tage schwindet zusehends, die schweren Pferde taumeln wie Betrunkene in den Geschirren, die kleinen und leichten halten sich noch tapfer. Duran zieht gehorsam den Strang, Becker hat keinen Ärger mit ihm. Seit mehreren Tagen haben sie keine anderen Truppen gesehen, ob sie die Rokitnosümpfe verschlungen haben oder die großen Mäuler der dicken Frösche in den Tümpeln? Ein Motorradfahrer hat sich verfahren und erzählt, daß da vorn ein großer Fluß ist und dahinter kommen mehrere, alle fließen von Norden nach Süden. Einen großen Fluß mit klarem Wasser — und Ruhe müßte man haben, wenigstens einen Tag und eine Nacht. Es ist so, wie der Mann sagt, aber das Dorf am Flusse ist verbrannt, die Erde aufgewühlt. Ausgebrannt liegt ein schwerer Panzer an der Straße. Daneben liegt die Be satzung, verkohlt und verbrannt, zusammengeschrumpft und verkrampft. Hochaufgebogen hat es einen, und anklagend reckt er seine schwarzen Arme wie dürre Äste gen Himmel. Der da aus der Turmluke halb heraushängt mit dem Kopf nach unten, dem hatte wahrscheinlich der vom Luftdruck zuschlagende Deckel das Kreuz zerschmettert, und nun hängt er wie eine Ratte in der Falle. Ob die acht Mütter jemals erfahren, wie ihre Söhne gestorben sind? — Ein Posten schleust alle in eine schmale Gasse, die steil hinabführt, dann kommt die Pontonbrücke — Bremsen kreischen, schuckernd rumpeln die Wagen über die Brücke, dazwischen drängen sich die Menschen. Am anderen Ufer steht der Kommandeur im weiten Kradmantel. Unterveterinär Dietz grüßt und fragt bescheiden: „Soll denn nicht einmal gerastet werden, wir müssen unbedingt tränken, die Pferde können nicht mehr." Der Kommandeur gibt keine Antwort, Dietz geht weiter. „Was hat er geantwortet?" fragt Becker. „Nichts." Sie marschieren, marschieren, wieder einen Tag und wieder eine Nacht. Fast an allen Fahrzeugen hängen taumelnde Gäule hinten angebunden, um so mehr geht es über die Kräfte der noch ziehenden her. Bei jedem Halt brechen einige zusammen. Manchmal gelingt es, sie mit Schlägen wieder hochzutreiben, die
meisten, vor allem die schweren Gesellen, bleiben liegen und strecken sich. Unterveterinär Dietz bleibt zurück, und dann knallen kurz hintereinander die Schüsse aus der Pistole. Ganz allein geht er weiter, er möchte niemanden um sich haben und nichts gefragt sein. Dort an der grauen Birke liegt wieder einer. „Rita, bist du es?" Sie hebt den schmalen, feinen Kopf und rudert matt mit den schlanken Beinen, kleine Erdbröckchen rollen davon. Da setzt er sich nieder und bettet das weiche Maul ein wenig auf seinem Schoß. Wie warm und sauber es ist und wie tief kann man in die klugen Augen der Stute sehen. Müder werden ihre Bewegungen, ein großer Falter taumelt wonnetrunken heran und setzt sich auf das Zweiglein, das über ihrem Ohre wippt. Da drückt Dietz ab, und der Falter fliegt erschrocken davon. In einem großen, lichten Walde halten die Fahrzeuge, die Geschütze fahren weiter bis an den Rand und gehen in Stellung. Duran ist an der Küche geblieben, obwohl auch diese Spannpferde abgeben mußte. Becker hat eine Zeltbahn voll Gras irgendwo erwischt und wirft sie den beiden Pferden vor. Sie mampfen erschöpft ein wenig. Auf dem ausgefahrenen Sandweg wühlt eine Kolonne Pakgeschütze vorbei — es muß hier etwas im Gange sein. Duran und Felix haben sich niedergetan, daneben schlafen Dietz, Becker und der dicke Senf unter einer Zeltbahn. Tiefschwarz zeichnen sich die Wipfel der Bäume am Himmel ab. „Man sieht gar keine Sterne", murmelt der dicke Senf, „ob es Regen geben wird?" „Das könnte eine schöne Schmierseife werden", entgegnet Becker, „lieber nicht. Was meinen Sie, Herr Dietz?" „Ich weiß es nicht, ich kenne mich in Wettersachen nicht aus, also gute Nacht." Senf pustet noch eine Weile und zieht die Stiefel aus, dann wird es ganz still in der Runde, nur die Mücken singen das ewige Lied der Sümpfe. Nichts regt sich in dieser Sumpfnacht, aber kaum wird es grau über den Wipfeln, da stöbert man die zerstochenen Schläfer hoch, und schon nach einer halben Stunde rollen sie wieder und taumeln gähnend, ungewaschen und ungekämmt dahin. Sie kommen in offenes Gelände, wogend und wiegend biegt sich das Korn auf endlosen Feldern — da, eine Salve Schüsse rattert über die Batterie, noch eine, noch eine, von allen Seiten rattern und stoßen Maschinenpistolen. Die Reiter und Kanoniere, seit Tagen allesamt zu Fuß gehend, haben sich hingeworfen, Gäule bäumen auf und brechen, sich in den Geschirren verhaspelnd, zusammen. Die vordere Hälfte der Batterie stürmt nach allen Seiten ins Korn auseinander, die Mitte fährt aufeinander und verkeilt sich, während der Troß hinten zu wenden versucht. Duran verspürt einen schweren Schlag am oberen Halse und wirft den Kopf hoch. Blut quillt aus der Wunde und fließt über das Brustblatt. Noch immer rattern die Pistolen der unerkannten Schützen. Wie auf ein Kommando wird es jetzt still, die Kanoniere werden gesammelt und ins Korn gejagt. Sie rennen wie die gescheuchten Hühner kreuz und quer, schreien und rufen, aber niemand wird gefunden. Dietz und die Wachtmeister besehen den Schaden — zwölf Pferden hat der Überfall das Leben gekostet. Aus Durans Wunde quillt noch immer Blut, Becker hat sein schmutziges Taschentuch mit einem Zipfel hineingestopft, in das große Ausschußloch stopft er Kommißbrot, das er etwas gekaut hat. Endlich kommt Dietz, ohne Jacke und mit blutverklebten Händen, an den Küchenwagen. „Ist hier was passiert?" „Hier, Herr Unterveterinär", sagt Becker, „den Duran hat's erwischt, ich glaube aber, es ist nicht schlimm." Dietz probiert mit einer dicken Sonde, dann wird die Wunde ausgestopft, mit einem Tuche bedeckt und ein breiter Gurt drübergezogen. „Glatter Durchschuß", sagt Dietz, „da hat er Schwein gehabt, unser alter Bursche." Trotz Dreck, Fliegenschwärmen und Schweiß heilt die Wunde gut. „Er hat eben gesundes Blut", meint Becker zum dicken Senf, „wenn du
eine vor die Plautze bekommst, brauchst du länger, Fett heilt schlecht!" „Wenn das einer zu mir sagte", entgegnet Senf, „würde ich ihn einatmen. Dummheit frißt viel und bleibt eben mager." Nur die Geschütze fahren jetzt noch vierspännig, an manchem Karren hängt noch ein kleiner, struppiger Gaul, den man eingefangen hat. Unbarmherzig brennt die Sonne und dörrt die Leiber der Marschierenden aus. Halbmannshoch liegen aufgedunsene Pferde am Wegrande und verbreiten einen bestialischen Gestank — dicke, weiße Maden wimmeln auf ihnen herum. „Sieh, Senf", sagt Becker, „da hat sich nun einer Mühe gegeben, bis so ein Stück Vieh groß wurde, nun liegt es da in der Sonne und wird aufgefressen — ist das nicht zum Kotzen?" „Uns geht es doch auch mal nicht anders, glaubst du, um uns kümmert sich mal einer?" „Will ich nicht sagen, wenn Zeit sein wird, bekommst du schon ein Loch, es sei denn..." „Ach, halt's Maul, der ganze Krieg hängt einem zum Halse raus, so ein Blödsinn, so ein..., wenn man sich das überlegt, so was Hirnverbranntes — paß mal auf, das Ventil am Kesseldeckel hängt, halt mal an, wir müssen mal aufschrauben." Nach Tagen kommen sie wieder an einen der großen Flüsse, die von Norden nach Süden fließen — lichter Mischwald nimmt sie auf —, die Geschütze fahren nach vorn an ein Feldbahngleis und gehen in Stellung. Die meisten Pferde legen sich sofort — auch Duran hat sich im Schatten einer großen Buche niedergetan. Becker legt ihm Heu vor, aber er nimmt nichts, er ist zu matt. Ganz lang liegt sein Kopf auf dem weichen Boden, Ameisen kriechen ihm ins Ohr, er schüttelt nur müde, sein Herz schlägt schnell und oberflächlich. Staubtrocken, ledern und von zermürbendem Durchfall gequält, schleichen die Leute zwischen den Lagern umher. Senf schüttet seine Nudelsuppe in ein Loch. Wer holt denn Nudelsuppe mit Rindfleischkonserve bei solch einer Temperatur? Vom Stab aus kommt das Gerücht, daß hier länger geblieben wird, bis alles an den Seiten nach ist, wer weiß denn, was überhaupt los ist, seit Tagen haben sie keine fremden Soldaten gesehen, nur ein paar verirrte Pferde eingefangen. Die Kommandantur ist nicht mehr zu sehen, die irrt wahrscheinlich im Gelände herum und erkundet. Wie wohl tut doch diese Ruhe, am nächsten Tage schon gehen sie alle baden an den Fluß. Duran war noch nie im Wasser und rangiert rückwärts, als ihn Becker an der Strickhalfter hineinziehen will. Felix macht schon eher Geschick hinter die Sache und steht bis über den halben Leib im Flusse. Duran zottelt langsam fühlend voran — geheuer ist ihm jedenfalls nicht. Da kommt von hinten der „Morgenstern", jener halbdumme Bierwagengaul vom MG-Wagen und rempelt ihn derart an, daß er nach vorn schießt und den Boden unter den Füßen verliert. Wild rudert er mit den Beinen, alles schaukelt vor seinen Augen, Wasser läuft in die Nasenlöcher, er wendet den Kopf und will drehen, aber Becker hält ihn am Strick und zerrt in die Mitte des Stromes. Eine Strecke treiben sie jetzt stromab bis an die Stelle, wo die große Sandbank ist, dann drängen sie dem Ufer wieder zu. Becker hat ihn losgelassen — schnell springt er, ein paarmal noch stolpernd und auf dem baumelnden Strick tretend, ans Ufer und galoppiert dem Walde zu. Nein, das ist nicht nach Durans Geschmack, damit sollen sie ihm fernbleiben, prustend und schnaubend schüttelt er sich und reibt die Augen am Vorderknie. Indessen steigt beißender Rauch im Walde auf, die Leute haben Fische gefangen und fangen an, am offenen, qualmenden Feuer zu braten. „Fische eß ick für mein Leben jern", sagt ein kleiner Berliner, „Senf, haste nich ein Lorbeerblatt, det jibt ein janz andres Aroma!" Senf ist gereizt, denn er sieht es schon kommen, daß seine Graupen wieder nicht
alle werden, und antwortet patzig: „Steck doch deine Feldmütze in den Kübel, da haste ooch Aroma." Da rattert ein Krad mit Beiwagen auf dem Sandwege herein, ein Melder springt ab und ruft: „Alles fertigmachen, sie greifen an!" Im Nu ist alles auf den Beinen, Kochwasser und Pfannen fliegen samt den Fischen in die Feuer, die nur noch mehr qualmen, die Geschirre werden übergeworfen und die Wagenplanen geschlossen.
Eine Flugzeugstaffel Tiefflieger jagt über den Wald, ein paar Bomben fallen in den Fluß und rumpsen dumpf. Da orgelt es schon heran, pfeift heulend über die Protzenstellung hinweg und schlägt dumpf dröhnend hinter ihr ein. Alle haben sich hingeworfen, wo sie gerade waren, dumpf pauken vier Abschüsse, und schon heult es wieder über den Gipfeln. Betäubende Einschläge sitzen mitten zwischen Men schen, Tieren und Fahrzeugen! Baumkrepierer! Abschüsse und Einschläge sind nun nicht mehr zu unterscheiden. Riesige Bäume entwurzeln, beschreiben eine halbe Ellipse am Himmel, torkeln, fallen noch einmal und schlagen, kleinere Bäume mit sich reißend, rauschend und alles unter zerfetzten, grünen Ästen begrabend, zu Boden. Eine Lage zerhackt jetzt den Sandweg und wirbelt das Krad des Melders hoch über die Wipfel einer Silbertanne. Unregelmäßig folgen wahnsinnige Explosionen, die Muni-Staffel muß Volltreffer erwischt haben, die Munition explodiert und zerfetzt den Wald. Wo sie gestanden hat, ist im Nu eine riesige Lichtung. Am Sandweg fängt das Holz zu brennen an und schickt qual mende, beißende Schwaden über den Wald des Todes. Halbzerfetzte, hinkende Pferde jagen im Gewirr umher, überschlagen sich, kommen wieder hoch und brechen, von den Splittern einer neuen Lage getroffen, für immer zu Boden. Ein Teil von ihnen ist schwer verletzt nach dem Sumpfbache durchgebrochen und kämpft im nachgebenden, weichen Morast. Der Luftdruck einer schweren Lage hat
ein Beutepferd hochgerissen und auf den Rücken in den Sumpf geworfen, wo es versunken ist. Nur seine vier Beine ragen wie vier Stummel starr ausgestreckt hervor. Dort liegt auch die Küche mit abgerissenem Schornstein, daneben Senf, der gute Senf, neben seiner Graupensuppe, die wahrscheinlich niemand geholt hätte, der leckeren Fische wegen. Niemand von denen, die jetzt immer zu Sechsen in die engen Sani-Wagen geschoben werden, oder von jenen, die herumhocken und sich abtasten, ob sie noch alles bei sich haben, weiß mehr, wann es zu Ende war. Duran und Felix waren bei der ersten Lage losgestürmt bis zum Schmiedewagen. Dort drückten sie die schweren Äste einer stürzenden Kiefer zu Boden, eine starke Birke legte sich quer darüber, und darauf kippte der schwere Schmiede wagen. So lagen sie unbeweglich von schwerer Last an den Boden gedrückt und rangen nach Luft. Aber eines hatte doch die Sache für sich — sie waren vor Splittern geschützt. Ein müder, zerschundener Haufen sammelt achthundert Meter vom Ort des Grauens in einem dichten Hochwalde, Fahrzeuge und Gerät, Pferde und Menschen. Laufend knallen die Schüsse im Todeswalde, und eine gequälte Kreatur — gehetzt, geprügelt und verstümmelt — schließt für immer die Augen. Eigenartig, wie schmal und dünn sie sind, wenn sie so liegen beim Sterben. Unterveterinär Dietz, der mit Becker wie durch ein Wunder unverletzt blieb, schiebt einen neuen Rahmen ein, seine Lippen sind schmal wie ein Strich, seine Augen müde und abgespannt. „Also, wieviel waren es bis jetzt?" „Zweiundzwanzig, Herr Unterveterinär!" „Dann mal hier weiter — Bauch aufgerissen —, treten Sie mal etwas zur Seite..., dreiundzwanzig!" Ein brauner Wallach will noch einmal hoch, auf drei Beinen, das vierte hängt baumelnd davon, noch einmal drückt Dietz ab, direkt ins Ohr, da schlägt er lang hin und streckt sich aus zum langen Schlafe. Eine müde Kolonne zieht den endlosen Sandweg weiter nach Osten durch Wälder und reife Saaten, die niemand ernten wird. Nach rückwärts quält sich humpelnd und fiebernd im Gänsemarsch ein Zug Pferde der Veterinärkompanie zu, die irgendwo sein muß — irgendwo. Wenn sie an diese Stelle kommen, dann ist sie auch wieder weitergezogen, und sie stehen da und beraten wieder, die wenigen Leute, wer von den Mitgeschleiften lieber aufhören soll zu leben, anstatt weiterge zogen und ewig angetrieben zu werden auf dem langen, endlosen Wege der Qual. Dann kommen Käfer und Ameisen, vielleicht auch ein paar Füchse, und im nächsten Jahre schieben roter Mohn und Kornblumen ihre Stengel durch die weißen Rippen und decken alles zu, was einst einem Menschenherzen so nahe stand. Duran ist mager und dünn geworden, das Futter ist knapp und unregelmäßig, die Märsche aber um so länger. Am Bahnhof einer Stichbahn werden Gäule ausgeladen, riesige weiße Elefanten aus Belgien oder Nordfrankreich, und der Batterie zugeteilt. Da stehen sie nun neben den kleinen Panjes und wünschen zwanzig Pfund Hafer pro Tag und geruhsame Fahrt wie vor einem Bierwagen der Dortmunder Union. Sie werden nicht lange mitmachen, die Kolosse, und übrigblei ben werden immer wieder die kleinen struppigen Beutepferde aus dem Osten und die wenigen deutschen Gäule. Am Abend eines Marschtages sitzen sie am Waldrande, Duran hat sein Gras gefressen und zerrt an einer Birke herum, er verspürt immer Hunger und wird nie richtig satt. Grünfutter schmeckt zwar gut und ist erfrischend, aber es hält eben nicht nach — die Kraft fehlt, seitdem so wenig Heu aufgetrieben werden kann. Felix hatte gestern schlappgemacht und mußte ausgeschirrt werden, wie ein Betrunkener war er hinter der Küche noch eine Weile hergeschwankt bis zur Rast, dann ging es wieder einigermaßen. Die beiden Panjepferde, die jetzt als Vorderpferde ziehen, sind zwar auch nicht fett, aber zäh und unermüdlich — zweifellos eine gewaltige Erleichterung. Da fährt ein
Windstoß durch die Bäume, und die Blätter der Birken zeigen ihre silbrige Un terseite. Eine große Buche schüttet einen Stoß in den Wind, torkelnd auf und ab tanzend segeln sie davon. Da fällt ein Blatt auf Dietz' Kartentasche, auf der er schreibt. Er betrachtet es lange, dann sagt er zu Becker: „Sieh, es wird schon gelb und rot!" „Ja", antwortet Becker und krault Duran an der weichen Nase, die an seiner Feldmütze herumschnabbelt. „Wir bekommen einen zeitigen Winter, mich hat heute nacht gefroren wie einen Schneider, wir müssen die Pferde bald nachts zudecken." Die beiden Soldaten schwiegen. „Wie weit ist es noch bis Moskau — Herr Unterveterinär", fragt Becker unvermittelt. „Wie kommen Sie denn darauf?" „Nun, ich meine nur..." „Weiß ich auch nicht, vielleicht noch dreihundert Kilometer oder vier!" „Hm!" Bald deckt morgens dicker Reif die Zeltbahnen, unter denen sie zusammengerollt schlafen. Die Pferde sind alle in der Haarung, aus Durans Haut drängt sich der Winterpelz vor. Hoch in den Lüften segeln große Vögel dahin, keilförmig oder auch einzeln fliegend, nach Süden, dem Meere zu. Der Waldboden ist bedeckt mit einem bunten Blätterteppich, und die warme Sonne bleibt immer tiefer und kürzer bei den Marschierenden. Huiiii — wie der Ostwind an den Planen zerrt und in den Mähnen der Pferde zaust. An einem Nachmittage dringt Sturmregen aus dicken, dunklen Wolken. Peitschend jagt er den Männern und Pferden ins Gesicht und klatscht auf die mageren Rippen. Unter die umgehängten Zeltbahnen jagt er und bläht sie auf wie ausgestopfte Bettkissen. Diese Nacht kriechen sie im Walde wieder unter, naß und frierend. Wenn der Sturm in den Kronen rüttelt, prasseln die Tropfen herab und trommeln auf die Planen. Duran und Felix stehen mit gesenkten Köpfen neben der Küche, die wieder einen notdürftigen Schornstein erhalten hat. Ihre Mähnen triefen, und die vollgesogene Decke wärmt nicht. Ja, wenn man wenigstens einen halben Eimer Hafer im Leibe hätte, aber der Zahlmeister kommt immer seltener mit dem Futter-LKW, er muß immer weiter fahren, bis er an ein Depot kommt. Müde, hungrig und fröstelnd ziehen sie wieder vor der Küche, der Boden ist aufgeweicht, und die dünnen Räder sinken tief ein. Wie schwer geht es doch heute. Durans Flanken pumpen, seine Nüstern sind weit aufgebläht und der dünne Hals weit vorgestreckt. Der gute Becker geht meist an seinem Kopfe und klopft ihn mit der flachen Hand auf den Hals. Straff sind zwar die Zugtaue, aber es ist keine Kraft mehr dahinter, alle Augenblicke muß gehalten werden. Hier muß es schon mehr geregnet haben, Raupen von Panzern haben den Weg aufgewühlt, und schmutziges Wasser steht tief in den Rinnen. In den Pausen, wenn die Gurte gelockert sind, drohen sie umzusinken vor Müdigkeit und halten die Köpfe tief gesenkt. Pfeifend klatscht die Peitsche über den Rücken, wenn es wieder „Marsch!" heißt und sie kraftlos anziehen. Drei-, viermal muß angezogen werden, ehe die schwerfälligen Kästen wieder rollen. „Wenn jetzt noch Steigungen kommen, ist es aus", sagt Becker, „oder wir müssen die Fahrzeuge einzeln hochziehen, wenn wir die Gäule nicht halbtot schlagen wollen!" „Steigung kommt keine, höchstens ein Abgrund", erwidert Dietz und zerrt die Plane über den Kopf. „Wieso Abgrund...?" „Ach, laß mich...!" entgegnet Dietz und kämpft sich durch den Morast weiter. Es regnet — es regnet — und bald strecken die Bäume ihre Äste und Ruten kahl in den trostlosen Himmel. Endlich eine längere Rast in einem großen Dorfe. Duran und Felix kommen in einem geräumigen Schuppen unter, in dem sogar etwas Stroh liegt, faul und naß, aber immerhin Stroh. Der gute Becker hat mit einem Bauern einen halben Sack Hafer gegen eine Büchse Rindfleisch getauscht, nach langer Zeit wieder einmal Wärme und Wohlbehagen im Leib und ein Dach überm Kopfe. — Als sie nach ein
paar Tagen wieder anziehen, ist der Boden fest gefroren, und feiner Schnee stiebt vom grauen Himmel. Wohin jetzt in diesen Nächten? Endlos streckt sich der Wald, erstorben und erstarrt ist alles Leben. Irgendein Dorf muß erreicht werden — und wenn es nicht geht, dann fahren sie unter Bäume und schlagen die Zelte auf, in denen sie dann fröstelnd die Nacht hocken. Eine dicke Schneedecke überzieht die weiten Ebenen und Lichtungen. Wie tausend Diamanten funkelt und glitzert es, wenn die Sonne mittags ihre Strahlen darüber wirft. Doch schnell bricht wieder die Nacht herein, und die Hast nach dem Dorfe, irgendeinem Dorfe, geht wieder los. Duran hat eine warme Decke, die ihm Becker nachts mit zwei Obergurten um den Leib wickelt, darüber kommt noch eine Plane aus Segeltuch, das genügt einigermaßen, aber der Hunger, der zerrende Hunger, der in den Därmen wühlt und nicht in Schlaf kommen läßt. Alles, was Duran erwischen kann, frißt er in sich hinein, kein Brett, kein Balken ist vor ihm sicher. Der wenige Hafer bedeckt kaum den Boden des Futterbeutels, und im Dorfe selbst ist nichts zu finden. Wenn die Ställe und Hütten niedrig genug sind, zerren sie an den Strohdächern herum und fressen das altersschwarze Zeug, das gallenbitter und hölzern schmeckt. Durans Maul brennt jedesmal wie Feuer, und im Magen grimmt es, als ob ein Stein darinliegt. Trotzdem zerren und rupfen sie ab, und wenn das ganze Dach unten läge, es würde in einer Nacht aufgefressen sein. Da nützt kein Wegziehen und Über-die-Köpfe-Schlagen, der Hunger treibt sie immer wieder an zu fressen, und wenn es ein Sack ist aus Papiergewebe. Unfähig, noch einen Kilometer zu fahren, taumeln sie in ein verschneites Dorf in einem Talkessel. Das ist ein Schneeloch, wie es der Teufel in seiner besten Stunde schuf. Zwanzig kleine Holzhäuschen kuscheln sich eng in der Talsohle zusammen, als ob sie sich gegenseitig wärmen wollten. Tief hängen die Dächer über die braunverwitterten Balkenwände herab mit ihrer weißen Schneedecke und sehen aus wie eine viel zu große, weiße Mütze, die ein kleiner Kerl im Spaß aufgesetzt hat. Dünner Rauch kräuselt aus niedrigen Schornsteinen aus Holz und Lehm, Wärme und Behaglichkeit versprechend. Ängstlich blicken die Bewohner auf die Pferde und Soldaten, die jetzt überall einziehen und ihre Pferde in Schuppen und Scheunen drängen. Am tiefsten Punkte des Dorfes, dort, wo der Bach durchwindet an der Brücke, steht die Küche und Durans Stall — ein dünner Bretterverschlag, durch dessen Ritzen es eisigkalt pfeift. Kaum hat Felix noch Platz, sie stehen Leib an Leib, aber das wärmt wenigstens etwas. Wenn man morgen noch hierbleibt, wird Becker mit etwas altem Zeug die Wände abdichten — aber jetzt bricht schnell die Nacht herein. Weißgrau und kalt wie die vielen Nächte im Osten, wenn der Mond nicht leuchtet. Noch stehen die Geschütze mit den Protzen auf der Dorfstraße — was soll denn damit werden — sollen sie hier stehenbleiben die paar Stunden? Da gellen die Trillerpfeifen der Wachtmeister durch das Dorf: „Fertigmachen, Geschützstaffel satteln und schirren! Alles antreten an der Küche!" „Die Geschütze werden igelförmig auf der Höhe ums Dorf in Stellung gebracht. Gerns, lassen Sie die Taue abladen und mindestens zwanzig Panjegäule Vorspann, alles ans erste Geschütz — also los!" — so spricht Oberleutnant Sieler und verschwindet mit einem Trupp hinter einer Scheune. In der Dunkelheit wird gesucht und gemurkst. Steil und lang ist der große Trichterrand, an dem sie jetzt emporkeuchen, bis an die Knie im Schnee einsinkend. Zwanzig Panjes sind im Vor spann, es ist kaum zu glauben, was sie leisten. Die Männer hängen in den Zugtauen, die in den Radösen eingehängt sind. Noch zweihundert Meter, dann geht es wieder eben hin, und die Stellung ist erreicht. Das erste Geschütz soll auf den Ostrand kommen, die Pferde müssen gewechselt werden, viermal schaffen sie es nicht.
„Holt doch mal die Küchengäule mit ran, die faulen Säcke liegen schon wieder im Bette — wenn was los ist — immer bloß die Panjes", so schimpfen die Leute zu Gerns. Der Futtermeister kann sich der Richtigkeit dieser Einwände nicht verschließen. Wenn länger gehalten wird, kommt für die anderen immer noch das Einfahren in die Stellung als letzter Schlauch, während die Küchengäule schon am Baume oder Rade angebunden sind und dösen. Becker fegt den Schnee von der Brettertüre und schiebt die beiden eng aneinander Gekuschelten rückwärts heraus und an die Stange des Zwoten. Davor kommen wieder eine große Reihe von großen und kleinen Gäulen, deutsche und Panjes. Der Zug zieht an. Hinter dem großen Magazinschuppen beginnt die Steigung, unaufhörlich sausen die schweren Peitschen auf die Tiere nieder. „Hü, Hüo, marsch", so schreien die Männer unaufhörlich im Nebenherstapfen. Da kracht es splitternd, und das schwere Geschütz verschwindet bis an den Verschluß. Alles kommt zum Stehen. Die in den Zugtauen liegenden Männer laufen zurück und schleppen Balken herbei. Wahrscheinlich sind sie über die Balkendecke eines Kartoffelkellers gefahren, und nun hängt das Siebzig-Zentner-Ding in dem Loche. Über eine Stunde würgen, pressen, heben und stemmen die Leute, dann fassen die Männer in die Zäume und Leinen. Fünfzig schwere, weitausgeholte Schläge der Lederpeitschen prasseln auf ein Kommando auf die hochfahrenden Leiber der Pferde nieder. Sie jagen nach vorn an die Brustblätter, noch einmal prasseln die Schläge, daß sie sich krümmen, aber es ist kein gleichmäßiger Zug, und der Koloß schaukelt nur ein wenig auf den untergelegten Bohlen. Drei Minuten Pause für die zitternden, gequälten Leiber, dann wiederholt sich das Manöver mit fürchterlichem, erschreckendem Geschrei — das Geschütz rollt knirschend drei Meter heraus und steht auf festem Boden. Wieder Pause, wieder fürchterliche, brennende Hiebe, dann geht es Meter für Meter bergan bis an den Rand. Menschen und Tiere sind am Ende. Abwärts taumelnd, bricht Duran mehrmals auf die Vorderknie, die seinem Leib keinen Halt mehr geben können. Jeder Schlag, den ihm Becker versetzen mußte, brannte ihm selbst wie Feuer auf dem Leibe. — Gottlob, daß es dunkel ist und man die wehen, fiebernden Augen der Gequälten nicht sehen kann. Im engen Verschlag sackt Duran zusammen. Matt und rasch geht sein Atem, wie flach seine Brust jetzt ist, als ihn Becker mit dem Windfeuerzeug ableuchtet. Felix steht noch, aber er schaukelt wie ein Elefant im Zoo hin und her. „Jessas, die Pferde", murmelt Becker im Selbstgespräch — „ei, ei, ei, muß denn das sein, diese verdammte Schinderei, es hat ja alles keinen Sinn — ich muß mal nach Dietz sehen, vielleicht kann der was machen!" Immer den Namen des Freundes rufend, als fürchte er, er könne verschwunden sein, der einzige, der ihm zugetan ist — stapft er mit wedelnden Armen balancierend davon. „Dietz, Dietz, Herr Unterveterinär, Herr Unterveterinär!" so schreit er, seine Stimme überschlagend, durch die Nacht. Ein Fahrer vom vierten Geschütz taumelt, gegen aufkommenden Wind ankämpfend, in eine Ecke. „Was schreist du denn so wie ein angestochenes Kalb — was ist denn los, Mensch?" Hastig faßt ihn Becker am Ärmel und schreit ihn an, als ob jener da taub wäre. „Hast du den Dietz nicht gesehen, schnell, wo ist er, der Duran macht's, glaube ich, alle — das darf nicht sein, mein Pferd — um Gottes willen - hast du ihn nicht gesehen?" „Deshalb brauchst du doch nicht so zu schreien, hast wohl noch keine Gäule krepieren sehen — wenn's alle ist, hört's auf —, ich weiß ooch nicht, wo der Unterveterinär ist, guck mal nach, wo Licht ist in den Buden, da wird er schon sitzen und schreiben, vielleicht dort... da...", und die Hand des Fahrers weist auf eine niedrige Hütte mit Puppenstubenfenstern. Ohne zu pochen, stürzt Becker hinein, Wachtmeister Holzapfel hockt mit einigen
Leuten um ein Hindenburglicht. „Was'n los?" „Der Duran, Herr Wachtmeister, der Duran — wo ist Herr Unterveterinär Dietz?" „Nebenan, glaube ich — geh mal nachsehen, hier ist er nicht." Becker stürzt davon in die Nachbarhütte, ein schwarzes Loch gähnt ihm entgegen, warmer Mief weht ihn an. „Ist hier drin Herr Unterveterinär" — keucht der verzweifelt Suchende. „Ja, was ist denn", ruft eine Stimme aus dem Dunkeln. „Kommen Sie bitte schnell, der Duran stirbt, schnell, bitte schnell." Mit einem Satze ist Dietz hoch, langt nach Pistole und Spritzentasche und trampelt über die zusammengepferchten Leiber nach dem Ausgang. „Ach, Becker, du bist es — unser Duran, wie kam denn das?" Im Hasten und Stolpern erzählt Becker mit abgerissenen Sätzen die Schinderei beim Einfahren des zwoten Geschützes. Jetzt sind sie am Schuppen angekommen, dessen Tür noch offensteht. Dietz reißt ein Streichholz an, der Wind bläst es sofort wieder aus. Sie treten ein und ziehen die Türe hinter sich zu. Becker nimmt jetzt das Windfeuerzeug und setzt ein Hindenburglicht in Gang. Da liegt er noch, wie ihn Becker verlassen hatte, lang und dünn hingestreckt. Dietz tastet sich zwischen den Beinen vor nach seinem Kopf und fühlt den Puls. Im flackernden Schein des schwachen Lichtes starren die Augen des müden Tieres die Männer an, deren Schatten groß und verzerrt auf Felix und die Brettertüre fallen. Grell und weißgelb dringt jetzt schneidendes Licht durch die breiten Ritzen von Tür und Wand und zeichnet bizarre Reflexe in den Raum. Oben bei den beiden Geschützen haben sie eine Leuchtkugel abgeschossen, die langsam baumelnd wie eine Ampel im Winde abbrennt und für eine knappe halbe Minute die Nacht zum Tage werden läßt. „Der Puls geht noch einigermaßen, Becker, lediglich erschöpft, eben Erschöpfung", sagt Dietz und wendet dem Fahrer sein Gesicht zu, das im Scheine der Beleuchtung wie eine Fastnachtsmaske aussieht. „Wir wollen ihm etwas Rephrin einspritzen zur Stärkung, geh, lauf an die Feldküche und hol im Trinkbecher etwas warmen Kaffee, ich muß die Ampullen anwärmen." Becker eilt davon — aber der Kaffee ist alle. „Dann mach den Becher voll Schnee, und wir halten ihn etwas über das Licht!" Da hocken die beiden Männer zwischen den Beinen des Pferdes und halten abwechselnd den Becher am Aluminiumhenkel über den Docht. Jetzt ist die eingetauchte Ampulle warm — ein Stich in die Halsader, und langsam fließt das kräftigende, belebende Element in die Blutbahn des müden Tieres. Becker holt noch seine Decke und legt sie zusätzlich über, mehr können sie nicht tun. Der Morgen graut mit fahlem Lichte, Durans rechte Seite, auf der er liegt, ist eiskalt und gefühllos. Er hebt den Kopf, wippt ein paarmal und richtet sich auf der Brust auf. So bleibt er liegen und verschnauft erst mal etwas, dann schiebt er die Vorderbeine vor und stützt sich, wie ein Hund sitzt er auf den Keulen. Noch einen Ruck, und hoch ist er. Wie taub steht und schwankt er. Das rechte Hinterbein ist eingeschlafen und kribbelt mit tausend feinen Stichen; es scheint, als habe er nur drei Beine. Da stößt Becker, die Feldflasche in der Hand, die Türe auf, verhält einen Augenblick und stürzt, sich zwischen den Leibern der beiden Tiere durchzwängend, nach dem Kopf des guten Kameraden. Felix ist neidisch, legt die Ohren an und schnappt nach Beckers Ärmel. Zärtliche Worte flüstert der alte Kerl und legt sein unrasiertes Gesicht an die Nase des guten Tieres. Niemand hat gehört, was sie miteinander sprachen, die beiden — aber als Becker zur Küche kam, war der Kaffee schon alle — er war zu lange im Stalle bei den Pferden gewesen. Futtermeister Gerns läßt sich erweichen, einen ganzen Futterbeutel Hafer aus eisernem Bestande opfert er auf Dietz' Bitten. Becker hat noch ein Kommißbrot
organisiert und bröckelt es klein dazwischen. Langsam und bedächtig kaut Duran, er scheint zu fühlen, daß ihn ein wenig Wärme und Kraft durchrinnt. Auch etwas angewärmtes Wasser saugt er aus dem Eimer, das tut gut. Müde und schlapp schläft er im Stehen ein. Der ganze Tag vergeht, bis das dritte und vierte Geschütz in Stellung sind. Ein berittener Trupp, der mit dem Regiment Verbindung aufnehmen soll, bekommt am Waldrand Beschuß aus MGs und Gewehren, auch ein Infanterie-Spähtrupp, der nach dem LKW des Oberzahlmeisters Ausschau halten soll, muß umkehren, weil er an jeder Stelle des Kreises auf den Feind stößt. — Da wird es gewiß, das Dorf mit der Batterie ist eingeschlossen. Nachts tackt jetzt häufig das Zwillings-MG vom MG-Wagen, vereinzelt zerreißt auch ein Schuß aus den Geschützen die Kälte der Nacht.
Ununterbrochen jagen nachts die Leuchtkugeln in den Himmel. Die Funker drehen an dem grauen Kasten herum, bekommen aber keine Verbindung — was mag da wohl los sein? Sicherlich wieder zu weit vorgeschossen und abgeschnitten. Am vierten Tage geht es weiter — weiter in die Unendlichkeit des weißen Landes. Duran hat sich in den Tagen im Schuppen leidlich erholt. Mit einer Decke warm eingedeckt, läuft er am Schmiedewagen angebunden hinterdrein — man hat Rück sicht auf seinen Zustand genommen und will ihn drei Tage nur marschieren lassen — nur marschieren ... Wer nichts zu tragen braucht und nichts zu ziehen hat, ist
König in diesen Tagen des quälenden Vormarsches bei einer bespannten Ab teilung. Eisige Kälte und Tauwetter, trockener, feiner Pulverschnee und Schlackenmatsch wechseln miteinander ab. Duran und die Kameraden hungern entsetzlich, ihre Kraft schwindet zusehends dahin. An morastigen Stellen würgen sie manchmal einen ganzen Tag, um einen Kilometer vorwärts zu kommen. Einzeln oder in Gruppen müssen die Geschütze oder Wagen mit Vorspann bewegt werden, dreimal, viermal ist von den Vorspannkommandos derselbe Weg zurückzulegen. Jeder Hieb auf die mageren Tiere schneidet den Fahrern ins Herz — aber was nützt das alles, „der Vormarsch hat planmäßig weiterzugehen".
DAS WEISSE GRAB
Anfang November wird das Wetter beständig — klarer, tiefer Frost — der Vormarsch erstarrt im Eis. Feine Schneeflocken in dichter Masse sprühen Tag und Nacht, vom Wind in schräger Ost-West-Richtung getrieben, zu Boden und hüllen das Land ein in ein knietertiefes, weißes Leichentuch. Wer da hineinsinkt von den Pferden und vor Erschöpfung liegenbleibt, hat es gut. Schnell ist die Kälte bis ans Herz gekrochen, dann kommt die große Müdigkeit mit dem ewigen Schlafe, und in einer halben Stunde ist das weiße Tuch darübergespannt. Wenn einmal gegen mittag die Sonne durchbricht, funkeln Millionen glitzernde Diamanten über dem endlosen weißen Grabe, das ungezählte Leben aufnehmen kann — zwei- und vierbeinige, ganz nach Belieben. Wenn im Vorfelde die schweren Brocken mit Spätzündern einschlagen, gähnt für kurze Zeit ein schwarzer, häßlicher Trichter und verschandelt das weiße Tuch des ewigen Friedens wie ein Tintenklecks eine reine Tischdecke, aber es dauert nicht lange, dann ist alles wieder weiß und sauber. Wenn dann in der warmen Frühlingssonne die Decke schmilzt, dann mag sie der einsame Wanderer wohl finden, die Gerippe der schlafenden Seelen, aber Gras und Blumen nehmen sich dann schnell wieder ihrer an und decken sie zu, damit sie weiter schlafen können. Käfer, Schnecken und vielleicht auch ein paar Füchse werden dabei helfen, und bald ist alles zurückgekehrt, was aus friedsamer Erde kam. In einem großen, frostknackenden Walde liegen sie alle verstreut und halb erstarrt. Duran und Felix können nicht mehr weiter vor Schwäche und Hunger. Wo sie angebunden sind, ist der Baum bald seine Rinde los, soweit sie sie erreichen können. Gottlob, daß die Deichselspitze einen Beschlag hat, sie hätten sie längst aufgefressen. Vor dem eisigen Walde liegt der Fluß mit der Holzbrücke. Sie soll heute nachmittag überschritten werden, dann kommt keine Brücke und kein Fluß mehr vor der Hauptstadt des großen Landes — es ist dann nicht mehr weit. Auf der Waldstraße steht ein Geschütz quer, die matten Gäule ziehen nicht an, als ein großer Omnibus mit qualmendem Schornstein angefahren kommt. „Wie heißt der nächste Ort an der Brücke?" fragt ein aussteigender Offizier in dickem Pelzmantel. „Ich weiß nicht", antwortet Dietz, aber er wußte es genau, denn sie sollten drüben in Stellung gehen. Der Omnibus rollt langsam weiter. — „Warum haben Sie es ihnen nicht gesagt" — fragt Becker. Dietz antwortet nicht, versonnen blickt er der rollenden Wärmflasche nach mit den Herren im Pelzmantel. Am Spätnachmittag fahren sie an. Straße, Brücke und der drüben liegende Hang liegen unter Artilleriefeuer. Alles ist aufgesessen auf den mageren Rücken. Ununterbrochen sausen die Peitschen nieder. Das heisere und sich überschlagende Geschrei wird übertönt von den Einschlägen. Der Schmiedewagen erhält Volltreffer und ist im Nu nur noch ein Knäuel von Brettern, Kisten, Stricken und Geschirren, in denen rasende, blutende Pferde miteinander verschlungen liegen und wild um sich schlagen. Jetzt jagt die Küche heran, macht einen großen Bogen um den Knäuel des Todes und rumpelt auf die ersten Bohlen. Noch steht die Brücke — hochaufgerichtet stehen die Fahrer in den Steigbügeln und schlagen weitausholend die Peitschen nieder. In irrsinniger Angst stürmen und taumeln die Pferde vorwärts, die Brücke schwankt und ächzt in allen Fugen — noch dreißig Meter, zwanzig, fünfzehn... „Hüo, Hüo, marsch", schreien die Menschen und wollen dem Tode entlaufen. Noch fünf Meter, die ersten Pferde sind schon drüben, da hat auch die Protze und gleich darauf die Küche die Bohlen verlassen. Jetzt nur schnell weg und den Hang
hinan. Über den Köpfen der Reiter orgelt es jetzt wieder heran, ein ohrenbetäubender Einschlag, niemand sieht sich um, geduckt hasten und keuchen sie den Hang hinan. — Hinter ihnen hat niemand mehr die alte Brücke passiert. Das vierte Geschütz versank mit Pferden und Menschen unterm Eis, die Brücke selbst flog in den grauen, schneeschweren Himmel. Nach rechts biegt jetzt die Küche ab und erreicht eine kleine Ansiedlung. Die Männer steigen von den Pferden und fallen in den Schnee. Ihre Beine, vor Anstrengung zitternd, versagen den Dienst. Felix zittert ein wenig, schaukelt nach hinten und wieder nach vorn und fällt auf die Seite in den Schnee, die Stange der Küche schief mit sich reißend. Niemand kümmert sich um ihn, sie sehen nicht einmal hin. Duran hat die Augen weit offen und stiert auf die Häuser, seine mageren Beine erscheinen jetzt wie Bohnenstangen, die man eingesteckt hat. Viel zu groß ist ihm Trense und Sattel geworden, die Ohren hängen herab wie bei einer alten Ziege. Steif stelzend erheben sich die Leute, kommen an den Zug und zerren an den Schnallen von Felix' Geschirr. „Er ist schon tot", sagt Becker, „unser Felix ist tot!" Dabei lacht er hysterisch wie eine alte Hexe — „mausetot!" Erschrocken blicken ihn die Fahrer an mit fragenden, weit aufgerissenen Augen. „Der hat wohl einen Klaps gekriegt — wie der redet", murmelt ein hagerer Kerl mit dürrem Vogelhals. Da haben sie ihn freigezerrt vom Geschirr. Dorthin soll die Küche, an den Schuppen mit dem überhängenden Dach. „Hüo, marsch", die Peitschen klatschen, träge rollt die Protze an, bockt ein wenig, als sie über Felix Beine holpert, dann ruckert das linke Küchenrad noch einmal, und beide rollen dem Schuppen zu, Küche und Protze. Ohne sich um seine Sachen und um Duran zu kümmern, ist Becker in eine Hütte gegangen und hat sich auf eine Bank gelegt. Kalt ist es in dem Räume, denn die Bewohner haben den Ort verlassen — auf dem Tische liegen gefrorene Kartoffeln. Nachdem der dicke Senf am Sumpfbach liegengeblieben war, hatte Zergiebel, ein Fleischer aus Hamburg, die Küche übernommen. Zwar hat er keinen Pferdeverstand, aber daß Duran in der schneidenden Kälte nicht stehenbleiben kann, leuchtet ihm ein. So nimmt er ihn am Halfter und stopft ihn zusätzlich zu zwei Panjes, die einen Verschlag fast ausfüllen mit ihren dicken Pelzen. Der Fahrer der Panje-Vorderpferde hat in einem Hause einen gefüllten Strohsack gefunden, reißt ihn auf und wirft das klare Zeug den Tieren vor die Vorderbeine. Gierig und wild fahren die Panjes hinein und mampfen mit vollen Mäulern. Duran rührt nichts an, er senkt nicht einmal den Kopf. Diese Nacht hat er auch keine Decke um, wer weiß, wo sie geblieben ist, die Panjes haben keine, brauchen auch keine. Ununterbrochen hört man das Rollen schwerer Panzer, die Geschütze fangen zu feuern an. Leuchtkugeln jagen reihenweise zischend in den Himmel, flammen grell auf und taumeln blakend und flackernd zu Boden. Am nächsten Morgen werden die meisten Pferde des noch übriggebliebenen Trosses der Batterie nach vorn in die Protzenstellung in den Wald halbrechts von der Ansiedlung gezogen. Duran wird herausgeschoben aus dem Verschlag und läuft ein paar anderen Gäulen nach, die ein Mann am Halfter hinter sich führt, auch die Panjes schließen sich an. Becker hockt wie abwesend an einer Brettertür und zählt die Finger seiner Handschuhe. Als Duran vorbeischleicht, zieht er sie an und verschwindet im Hause. Von der Protzenstellung aus kann man den Rest der Geschütze sehen, sie stehen wenige hundert Meter vom Waldrand entfernt auf dem offenen Schneefelde. Die Kanoniere sind dabei, einen Schneewall um sie herum zu scharren. Duran hat seit vorgestern nichts gefressen, seine Glieder sind schlaff wie Gummi, den Baum mit der dicken Rinde, an dem er angebunden wird, beachtet er
nicht, nur etwas Schnee schnappt er auf und kaut langsam — ihn dürstet. Mittags schickt Gerns etwas gefrorenes Stroh und für jedes Geschützpferd einen halben Futterbeutel Wehrmachts-Futterkonserve. Für die genügsamen Panjes ist das ein Fressen, Heu ist zwar besser, aber Stroh tut's auch, daß es gefroren ist, macht nichts. Duran kostet ein wenig von dem bitteren, klumpigen Zeug, dann hört er auf. In der Nacht scheint der Mond weiß und fahl, es ist etwas dunstig, die Kälte kriecht durch das dünne Zeug der Uniformen und Decken. Eine Ewigkeit dauert eine solche Nacht. Im Morgengrauen knattern Schüsse von der dünnen Linie der Infanterie, die dicht vor den Geschützen liegt. Kugeln fahren durch die Baumkronen, pfeifen spitz oder burren dumpf wie Hummeln. Dünn und matt bricht die Sonne durch, es wird noch kälter, wie immer, wenn der Dunst hochzieht. Im Schußfeld der Geschütze kommen Infanteristen zurückgerannt: „Panzer, Panzer!" gellt der Ruf. Ein Wachtmeister hält sie an und fragt: „Wo denn, ihr Kerle seht wohl wieder Gespenster?" Da pfeift auch schon die erste Panzergranate heran — die Leute haben sich in den Schnee gehauen und ziehen die Köpfe ein. Ein ganzes Rudel steht da drüben im Bürstenwalde und knallt jetzt herüber, verzweifelt feuert nun auch der Rest der Batterie. Es gellt auch von hinten derselbe Schreckensruf, mit ganzer Kraft wenden die Kanoniere das erste. In der Protzenstellung bäumen die Pferde und zerren an der Anbindung — sie kennen das Fauchen und Heulen zur Genüge. „Panzer von hinten — Panzer von hinten!" Duran scheint zu wissen, daß er jetzt seine letzten Kräfte zusammennehmen muß, er stemmt sich rückwärts, stramm spannt sich das Halfter — ratsch — sein Kopf ist frei. Geruhsam bummelt er rückwärts in den Wald. Keinem ist es eingefallen, ihn anzuhalten, alle Männer liegen flach im Schnee zwischen den Bäumen und Fahrzeugen. Da pfeift wieder eine heran, er legt einen Schritt zu und trabt wie ein müder Lastesel. Von dem Ungetüm, das auf der sanften Höhe hinter der Brücke am Flusse steht, prasselt eine MG-Garbe heran, sie galt Duran — aber die Schüsse liegen ein wenig zu hoch, instinktmäßig schlägt er einen Haken und beschleunigt seinen Trab. Immer westwärts läuft er, Kilometer um Kilometer. Niemand hemmt seinen Lauf — wer sollte auch —, hinter der ersten, dünnen Linie kommt lange, lange nichts mehr in diesen Tagen. Gegen Abend trottelt er einem dichten Walde zu und bleibt in einem dicken Gestrüpp von Brombeeren stehen. Das Geschirrzeug, das ihn anfangs beim Laufen störte, hat er verloren, ebenso den Woilach. Ganz nackt, so wie er damals im Stalle von Christian Schnuhr geboren wurde, steht er da in der knackenden Kälte.
Hunger verspürt er nicht, nur Schwäche, unsagbare Müdigkeit. Tief hält er den Kopf gesenkt, die Mähne fällt ihm über die Augen — er dämmert ein wenig dahin. Unter dem Gestrüpp raschelt es, wird still und raschelt wieder. Irgendein Erdbewohner sucht vielleicht den Eingang zu seiner Höhle. Duran nimmt keine Notiz von dem Geräusch. Langsam werden seine Beine klamm und steif, er probiert einmal und scharrt im Schnee. Da fängt er wieder an, langsam zu marschieren, den aufkommenden Mond zur Linken, seinen Schatten zur Rechten. Wie lange er gegangen ist, weiß er nicht, die Umgebung, Gefühl und alles Leben ist für ihn tot, er pendelt mechanisch, ohne aufzusehen. In der kurzen Abenddämmerung nähert sich der kleinen Ansiedlung ein magerer, dünner Schatten. Der Posten des Feldpostamtes, das hier in den wenigen Hütten zusammengedrängt haust, bemerkt ihn wohl. Sich auf die Zehen stellend, klopft er an ein Fenster und ruft: „Kommt mal raus, draußen kommt ein Gaul angewackelt." Ein älterer Landser schlürft in warmen Pantoffeln die kleine Treppe herab. „Wo denn?" „Dort! Wie mager er ist — Jessas, der kann kaum noch!" Der alte Herr geht ihm ein paar Schritte entgegen, faßt in die Mähne und leitet ihn vors Haus. Noch mehrere Leute kommen hinzu und begutachten den Fund. „Das ist kein Deutscher", meint einer mit offener Jacke. „Glaub ich nicht, hier ist ein Hautbrand", sagt ein anderer. Sie untersuchen seine Hufe und finden noch einen verschwommenen Hornbrand ganz unten über dem Eisen. „Sicherlich ein Deutscher, wer weiß, wo der abgekommen ist!" versetzt der Posten, der ihn zuerst gesehen hat. Die Männer bringen ihn in einen dichten, warmen Stall hinter dem Hause, wo noch eine fette Kuh steht. Große Decken fliegen über seinen mageren, schartigen Rücken und werden mit einem Seil zugewickelt. Heu wird herbeigeschleppt und vorgeworfen — Duran ist Patient geworden. Der Chef des Feldpostamtes ist mit dem Vorschlag, das Pferd zu behalten und hochzupäppeln, nicht einverstanden. „Dafür ist die Veterinärkompanie zuständig, Herrschaften", sagt er, mit dem Finger wedelnd — „was wollen wir Motorisierten mit einem
Pferde — wenn wir verlegen, muß er stehenbleiben." „Braucht er nicht, wir nehmen ihn auf einem LKW mit — ein Pferd kann man in diesem Lande immer gebrauchen", sagt der mit den Pantoffeln. „Also Schluß mit der Debatte, der Gaul kommt fort, wie wollen wir denn das mit der Futterzuteilung, Bestandsmeldung usw. usw. machen — meinem Feldpostamt steht kein Pferd zu — ich — ich..." Und damit verläßt der Chef den Platz der Debatte. — Herr Möbius ist Verwaltungsmensch und kennt sich aus in den Fragen der Zuständigkeit, wegen eines mageren Gaules, der noch nicht einmal Papiere bei sich hat — man also gar nicht weiß, wo er her ist —, setzt er sich beim Stabe wohl in die Nesseln, kurz vor seiner Beförderung — ausgeschlossen! Damit ist der Fall entschieden. Wohlig müde sinkt Duran in den weichen, warmen Mist neben die Kuh. Ein wenig Heu hat er geknabbert, von innen und außen durchdringt ihn kribbelnde Wärme. Endlich ist er fest eingeschlafen, wohlgeborgen im Stalle des Bauern Dowidenkow neben der dicken, gelben Kuh. Vier Tage darf er hier verbringen im Schoße von Sicherheit und Wärme, die Geräusche und das Toben der Front dringen nicht bis hierher, noch haben die Wellen der großen Absetzbewegungen das Feldpostamtsdorf nicht erreicht. Ende der Woche schieben die Fahrer einen großen LKW dicht an den Misthaufen rückwärts heran und lassen den Deckel nieder. Mit ein paar Schippen Schnee und wenigen Brettern wird eine Schräge geschaffen. Duran blinzelt, als er in das weiße, blendende Licht herausgeführt wird, das Auge muß sich erst an die Helligkeit gewöhnen. Doch er fühlt sich etwas kräftiger und atmet einmal ganz tief die kalte, frische Luft ein. Steif vom Stehen und Liegen stakelt er, geführt von einem Soldaten, über den Misthaufen in den großen LKW. Die Klappe wird geschlossen, die im Umgang mit Pferden unerfahrenen Männer atmen auf. Der Post-LKW rückt an, und Duran, des Stoßes nicht gewärtig, schlägt auf den mit Eisenblech beschlagenen Boden ausgleitend auf die Plattform nieder. Noch zweimal gibt es einen tüchtigen Ruck, dann holpert und stuckert der Wagen in gleichmäßigem Tempo dahin in die weiße Unendlichkeit, immer der Reihe schwarzer Telegrafenstangen folgend. Duran stöhnt leise, wenn die Knochen seiner mageren Beine geprellt werden und schmerzen, aber die Leute vorn hören es nicht, der Motor rattert zu laut. Einmal schauen sie durch das kleine Rückfenster der Fahrerkabine in den Laderaum. „Er hat sich hingelegt", meint der Beifahrer, und sie sind froh, daß der magere Zosse nicht herummanövriert und Scherereien macht. „'s ist ja eine Schande, wie die armen Biester niedergemacht werden — können sich nicht mal wehren —", sagt der Fahrer und fummelt nach einem Streichholz. „Freilich", antwortet der Beifahrer, „den Menschen geht es ja aber nicht anders, mein lieber August, jeden macht der Krieg fertig, jeden. Da haben sie nun ein Tierschutzgesetz und möchten den Bierkutscher oder Kohlenfahrer steinigen, der seinen fetten Gäulen mal eins überzieht; gleich laufen die Tanten zusammen und schreien Zetermordio —, aber in der Politik, da können sie sich nicht genug aufblasen und den Kessel heizen, bis er zerspringt. Wer gegen die Leiden ist, die dieser, jeder Krieg mit sich bringt, zwangsläufig mit sich bringt, der muß konsequent bleiben und nüchtern denken, seinen klaren Kopf behalten. Wer sind denn die, die am Kriege verdienen und sonst die frommen Heiligen spielen und dies durch Riesenstiftungen für Wohlfahrtseinrichtungen dem Volke beweisen wollen, um ihre Ziele, die Riesengewinne, zu verdecken?" „Recht hast du schon, aber sagen darfst du es nicht", antwortet der Fahrer, angestrengt nach der nächsten Stange spähend, denn es fängt an, dick und flockig zu schneien. „Die Frauen dieser Herrschaften bekommen nicht die Postkarten, die wir manchmal sackweise hinten drauf haben", fährt er fort, „die
sind alle u. k., ach, wenn man darüber nachdenkt, man könnte irre werden an sich selbst." „Hier in der Nähe muß irgendwo die Veterinärkompanie liegen", fragen die Freunde ein paar Landser, die einen kleinen Wagen entladen. „Nee, was heißt Nähe, 50 Kilometer weiter hinten bei der Armee soll eine sein — fahrt nur den Stangen weiter nach, dort hinten am Walde kommt ihr auf die Rollbahn, da könnt ihr dann aufdrehen, die Straße ist gut." Im Dämmerlicht des sinkenden Tages taucht der große Marktflecken P. vor ihnen auf, die Telefonstangen können die vielen dicken, schwarzen Drähte kaum noch tragen. Hier liegt die Armee mit dem General im warmen Winterquartier. Gleich an dem ersten Hause ist ein großes Schild angenagelt: „Zur Veterinär-Kompanie 1 Kilometer." Der Post-LKW schaukelt die seichte Böschung hinunter, noch ein paar Minuten, dann ziehen die Bremsen an, und der Wagen hält inmitten einer großen Kolchose.
ENTRONNEN
Das Personal des Aufnahmestalles schlägt den Deckel nieder, Duran liegt seit langem flach auf der Seite und hat alle viere von sich gestreckt, die Augenbrauen sind aufgeschlagen, und das ganze rechte Auge dick verquollen. Qualvoll hebt er ein wenig den Kopf, als es unter der Plane heller wird. „Den hättet ihr vorne lassen können, der ist ja schon halbtot", meint ein langer Kerl und pendelt mit dem Kopfe. „Das kann uns Wurscht sein", erwidert der Postfahrer, „wir haben den Befehl, den Gaul hier abzuladen —, also los, runter damit, wir wollen ins Quartier." Halb geschoben, halb gezogen, wird der arme Duran herausgeholt und in einen geräumigen Stall geschleift. Hier stehen schon eine Menge Pferde in sauberen, warmen Ständen. Über ihnen hängen Blechschilder, mit Papierblättern besteckt, an langen Drähten. Genau so schrieb es das Reglement in der Dragonerkaserne vor, wo einst der „Amboß" regierte. Der wird jetzt wohl beim Abendschoppen zu Hause sitzen. Duran kommt in eine weiche Boxe mit warmem Stroh, eine große Plane wird über ihn gedeckt und die Türen geschlossen, denn draußen sind dreißig Grad Kälte. Morgen bei der Durchsicht wird ihn der Herr Stabsveterinär Dr. Faß einweisen —, wenn er noch nicht in den Pferdehimmel eingegangen ist. Die Untersuchung ist am Morgen rasch beendet. „Verletzung?" fragt Dr. Faß den diensthabenden Unteroffizier des Aufnahmestalles. „Hab nichts gesehen — das Auge bissei aufgeschlagen vom Transport, sonst wüßte ich nicht", antwortet der alte Spezialist. „Also dann Erschöpfung — verhungert — rüber in Stall B mit Zusatzfutter", ordnet der Stabsveterinär an — ein guter Stern beginnt über Durans magerem Körper aufzugehen. Im Stalle B stehen nur zwanzig Bilder des Jammers, ausgemergelte Gerippe, die nichts tun als fressen und dösen. Täglich werden sie warm eingedeckt und eine Stunde geführt, damit die Knochen nicht steif werden. Vor Durans Kopf rieselt es gelb in die Krippe — Hafer, viel Hafer und noch mehr Häcksel. Ein paarmal bläst er tüchtig und mit aller Kraft hinein, daß die Häckselspelzen stieben, rührt mit dem Maule ein paarmal um und bläst wieder. Ein Pfleger beobachtet ihn und meint zu seinem Kameraden: „Guck mal den da, das ist ein Ausbläser, wart, Freundchen, heut abend bekommst du eingequollen, da kannst du blasen, solange du willst — man soll es kaum für möglich halten, dürr wie eine Spindel, aber noch wählerisch." Mit der Zeit gewöhnt sich auch Durans Magen wieder an gutes und regelmäßiges Futter — er bekommt Appetit und kann es gar nicht erwarten, bis aufgesteckt und geschüttet wird. Sein Nachbar, ein rabenschwarzer, dürrer Kerl, zerreißt bald die Anbindekette, verschlingt alles, ohne richtig zu kauen, und maust dann mit böse angelegten Ohren von seinen Nachbarn, die noch was haben. Schon drei Monate steht der Essenrüpel da, ohne ein Gramm zuzunehmen, der Unteroffizier hat das schon lange bemerkt. Das ist ein Futterneider, den man allein sperren muß, denn wer schlecht kaut, nimmt auch nicht zu — alte Sache. An seinen Platz kommt jetzt ein Muli, einer jener Sorte, die man nie auskennt, von denen aber jeder weiß, daß sie nicht totzukriegen sind. Das Eselblut schlägt durch, die Wesensart jener kleinen Gesellen, die seit Jahrtausenden von den Menschen nur gequält und geprügelt werden. Es ist ja auch kein Wunder, daß sie sich dann entsprechend bedanken. Leider oft nur an der falschen Anschrift. Mit Duran hat der Kerl schnell Freundschaft geschlossen. Friedsam und einträchtig fressen sie aus dem gemeinsamen Troge, und beim paarweise Führen rund um die Kolchose gehen sie
friedsam nebeneinander, ohne zu keilen. Nur den Essenrüpel, der immer die Ohren angelegt hat, kann er nicht leiden. Sobald er seiner ansichtig wird, legt er die langen Eselsohren an und keilt schräg nach hinten aus. Auch auf den sanftmütigen Duran scheint diese Abneigung abzufärben, wild bläht er die Nüstern und tänzelt. „Aha", meint da der Kolonnenführer, „sieh mal einer an, die sticht schon wieder der Hafer, na wartet nur, meine Herrschaften, bald fliegt ihr wieder raus hier, nach vorn an die Stränge, da könnt ihr den Mut abkühlen." Inzwischen sind drüben im traulichen Dorfe allerlei Veränderungen vor sich gegangen. Lange LKW-Kolonnen, Omnibusse und PKWs stehen auf Straßen und Nebenwegen. Strippenzieher mit großen Rollen klettern auf den Masten herum und holen die dicken, schwarzen Kabel ein. Berge von Koffern und Kisten türmen sich vor den Fahrzeugen, Möbel, Betten, Klubsessel und Stehlampen versperren die Hauseingänge. Seitdem man nachts das Murren schwerer Geschütze hört, ist's mit der Ruhe dahin. Natürlich hört man den Geschützdonner weit in der glockenreinen Nachtluft — aber wenn man es schon einmal hört, dann dauert es meist auch keine Ewigkeit mehr, besonders wenn Luftwaffe und Lazarette durchfahren. Nicht lange, und man trifft drüben nur noch ein paar Leute, die die Schilder von Häusern und Pfählen abnehmen und aufladen. Dann sind auch diese weg, und für einen Tag ist Ruhe, bis ein Divisionsstab einzieht. Auch die Veterinär-Kompanie rüstet zum Aufbruch, und lange Kolonnen von Wagen und Panje-Fahrzeugen werden mit Stroh und Säcken beladen. Der Abtransport der nicht marschfähigen Pferde aus der Lazarettstaffel macht keine Schwierigkeiten. Waggons stehen am Bahnhof bereit und nehmen alle Lazarusse auf. Was marschfähig ist, hat zu laufen, neunzig Kilometer rückwärts soll die neue Unterkunft sein, nach der das Vorkommando abrollt. Am nächsten Morgen zieht die lange Kolonne der Pferde, immer zu vieren zusammengebunden, dahin. Frostig und kälteklirrend ist der Tag, denn die Sonne vergaß, aus ihrem Versteck herauszukommen. In der kurzen Zeit, in der Duran im B-Stalle mit Zusatzfutter ist, kann man natürlich noch keinen Fettansatz bemerken, aber er fühlt sich bedeutend wohler und kräftiger. Die drei Marschtage überwindet er ohne besondere Anstrengungen, zumal häufig gerastet wird und kleine Portionen Heu auf den weichen Pulverschnee gestreut werden. Manchem der Kameraden fällt es viel schwerer, sind doch welche mit, die erst drei Tage in der Kompanie waren. Von wesentlicher Erholung kann bei denen natürlich keine Rede sein. Aber Pausen und immer ein Happen Futter lassen alle durchhalten. So kommen sie am Abend des dritten Marschtages wieder in einer großen Kolchose an und ziehen in die warmen, nach Blockhausart gebauten Ställe ein. Eine Kolonne Soldaten ist dabei und reißt große Ballen Preßheu auseinander, das in großen Mengen an der Bahn lagert. Die äußere Schicht ist zwar etwas stockig und gefroren, aber der Kern ist noch gut und riecht auch nicht schlecht. Beim ersten Ausführen kann man die Umgebung in Augenschein nehmen, das heißt, viel zu sehen gibt es eigentlich nicht, denn nach Osten breitet sich eine unendliche Ebene bis zum Horizont aus, nur nach Westen streckt sich eine Waldnase bis dicht an ein langes Stallgebäude heran. Zum Greifen tief hängt der graue Himmel und stäubt ganze Wolken feinen Pulverschnees hernieder auf die Erde, die sich immer mehr damit zudeckt. Kurz vor Weihnachten fängt es von Osten her zu stürmen an und heult tagelang in gleichmäßiger Stärke um die Unterkünfte, ständig riesige Schneemassen vor sich her treibend und an festen Punkten auftürmend. Fast zugeweht bis an die Dächer ist am Heiligen Abend die Ansiedlung, und die Männer kommen mit dem Freischaufeln schmaler Wege von Stalltür zu Stalltür kaum nach. Schnell sinkt die Nacht hernieder, und aus den kleinen Fenstern des langgestreckten Verwaltungsgebäudes, das als Magazin
dient, dringt Licht in das Dunkel. Leise und gedehnt hört der Posten die Melodien,
die vom Frieden auf Erden künden.
„Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen, das hat man uns
besorgt",so murmelt er im Selbstgespräch, reißt das Gewehr mit barschem Griff,
als ob dieses an allem Elend schuld sei, von einer Schulter auf die andere und
biegt um die Ecke.
Nichts ereignet sich in den Wochen und Monaten, in denen der feine Schnee sich
türmt und der Wind sein ewiges Lied bläst. Kaum daß die Pferde bewegt werden
— wer hat denn Lust und Laune, in dem schneidenden Sturm herumzustapfen im dünnen Mantel. Schnell ein paar Runden und wieder hinein in den warmen Stall. „Der macht sich ganz gut", sagt einer der Pfleger, „kannst du dich noch entsinnen, wie der aussah, als wir ihn vom Wagen zogen?" Dabei zeigt er mit dem Finger auf Duran, der eben wieder seine Portion restlos vertilgt hat. So ist es auch tatsächlich, über die hervorstehenden Rippen hat sich wieder ein glattes Polster gezogen, die schmale Brust und die Kruppe ist voller geworden, nur der Rücken steht noch zu scharfkantig hervor wie bei einem spitzgiebeligen Hause. Doch das möchte auch noch werden, wenn erst der Frühling kommt mit Sonne und ein wenig Weide. — Ende März hört es auf zu schneien, und die Sonne lacht am Mittag vom wolkenlosen Himmel. Hier und da fällt ein Tropfen vom dickverschneiten Dache. Immer länger werden nun die Tage, und die Sonne steigt höher und höher. Der April bringt Tauwetter, und in dicken Bächen rinnt das Schmelzwasser einem Wiesenbache zu. Hier und da zeigen sich schon braune Flecken in der Steppe, wo der Schnee dünn lag, aber die Nächte sind noch kalt und lassen alles wieder erstarren. Doch auf die Dauer muß auch der hartnäckigste Frost der wärmenden Sonne weichen — die Schlammperiode, ebenso gefürchtet wie der Winter, tritt auf einen halben Monat an seine Stelle — dann aber — über Nacht, ist der Frühling da. Frühling im Osten — nach solch einem Winter — der erste Frühling! In zartem, pastellfarbenem Grün fächeln die Birken, die weiten Ebenen prangen im Schmucke der ersten zarten Spitzen. Noch wenige Tage, und schon strecken die Blumen ihre Stengel hoch über den grünen Teppich, Farne breiten ihre Wedel am Waldrande und zwischen den Stämmen aus, und der wilde Rhabarber schießt am Bachrande empor. Jubelnd und trillernd steigen die Lerchen hoch, kreisen und schwingen und erfüllen aus tausend goldenen Kehlen die Luft vor Tau und Tag mit ihrem Gesang. Als noch Friede war, nahmen jetzt die Bauern den Kalkeimer und tünchten die Hütten, damit ihr Aussehen sauber und festlich werde wie das der sich ewig verjüngenden Natur. Frühling in Steppe und Wald — Frühling in Herzen und Hütten und — Frühling in den Köpfen über den großen Kampfkarten. — Und schon rollen wieder die schweren Kolosse über das Land und zerstampfen, was die allmächtige Natur eben zu blühendem Leben erweckt hat. Ununterbrochen rollen Transportzüge mit Mannschaften, Geschützen und Panzern nach Osten, der Front zu. Wenn die Sonne sich jetzt morgens über der Steppe im Osten erhebt, öffnen die Leute die Stalltüren, binden die Pferde los und geben ihnen einen Klaps auf den Hintern. Da traben sie hinaus auf die riesige, grenzenlose Weide. Duran tut sich nieder und wälzt sich vor Wonne über den Rücken, mit den Beinen in der Luft quirlend, springt wieder auf, schüttelt sich, reckt den Kopf und wiehert schallend. — Es geht zusehends aufwärts mit den „Erschöpften" aus dem Stalle B — rein äußerlich gesehen. Ob und wieweit allerdings ihre Lungen und besonders das Herz verbraucht sind, das kann man auf den ersten Blick nicht erkennen. Höher und höher wachsen Gras und Blumen, und die Steppe gleicht einem wogenden Meere. Bis über die Vorderknie stehen die Kameraden im duftenden Grün üppigen Futters. An einem sonnigen Morgen weiden Duran und der unzertrennliche Muli
neben einer ganz hellen Stute, ein liebevoller Züchter müßte ihr den Namen „Sonnengold" gegeben haben. Während alle Pferde die Köpfe tief gesenkt haben und im Grase rupfen, trippelt sie aufgeregt hin und her, nimmt wohl einmal, rasch mit dem Kopfe nickend, ein paar Halme und kaut flüchtig, aber es ist kein richtiges Durchfressen. Nun versammelt sie alle vier Beine unter dem Leib und läßt sich fallen, rollt einmal halb rechts und springt mit einem Satze wieder auf. Da schauen schon zum Wurf zwei dünne Beine heraus und bald darauf ein schmaler, schlanker Kopf. In wenigen Augenblicken fällt er ins grüne, weiche Bett, der kleine nasse Kerl. Sofort wendet die Stute und fährt auf Duran und den Muli los mit Bissen und Auskeilen. Erschrocken trappeln die beiden davon, sie hatten ja gar nicht vor, der neidischen Mutter das Fohlen wegzunehmen. Am Nachmittag kollert sich eine kleine, dickleibige Panjestute im Grase und fohlt ab. Nicht größer als ein Schaukelpferdchen ist das kleine Fräulein, das da strampelt und schon hoch will. Die Wache hat es wohl bemerkt, aber nun kommt ein Problem: Alle Pferde können in der Herde eingetrieben werden, nur die beiden Stuten stehen in der Steppe und weichen nicht von ihren krabbelnden Fohlenkindern. Wer sich nähert, wird wütend abgebissen und angekeilt. Da kommt einem die Erinnerung an die seligen Tage der Kindererzählung mit Lasso und Indianerromantik. Ja, das Pferd ist da, auch das Heuseil — aber die Schlinge will nicht drehen, trotz verzweifelter Versuche. Man soll die Tiere einfach nachts draußen lassen, morgen, spätestens übermorgen laufen die Fohlen ganz alleine mit. Wie von ungefähr kommt da ein kleiner Kerl an mit einer Schwinge Hafer und hält sie der Stute hin. Wild fährt sie hinein — da greift er ihr an den Schöpf, schiebt eine dünne Leine um den Hals und zieht an, immer ein paar Schritte nach vorn mit der Haferschwinge lockend. Zwei Meter neben der Mutter liegt jetzt das Fohlen. Da springt ein beherzter Mann zu und hebt es auf seine Arme. Kopfschüttelnd läßt der Mann mit der Haferschwinge den Strick los, und die Mutter trippelt tänzelnd, schnarchend und pustend neben dem Soldaten her, der ihr Fohlen vor sich trägt auf den Armen wie das Ordenskissen eines großen Admirals. Ebenso klappt die Geschichte mit der Panjestute, und bald sind alle wohlgeborgen im Stalle. — Weiß Gott, man kommt manchmal auf das Nächstliegende nicht. In den nächsten Wochen fallen noch ein paar kleine, niedliche Kerlchen in den morgenfrischen Tau oder bei der untergehenden Sonne ins Gras. Trillernde Lerchen singen ihnen das erste Willkommen auf dieser Welt — oder schwingende, auf und ab gaukelnde, bunte, große Falter tummeln sich um ihren kleinen, hochbeinigen Leib. — Der Fohlenstall mit Müttern und Kleinen weidet jetzt getrennt von den andern — das ist besser so, der Futtermeister ist Bauer und weiß Bescheid. Mit süßem Nichtstun, Weiden, Fressen, Schlafen und wieder Weiden vergeht ein herrlicher Sommer. Nichts hat den Frieden auf der Kolchose gestört, die Front vor ihr ist scheinbar stehengeblieben. Weiter im Süden des riesigen Landes ballen sich dunkle Wolken zusammen und verfinstern die Sonne — wie lange wird es dauern, und der Sturm treibt sie auch hierher in das sonnige Pferdeparadies. Immer häufiger nennt der Wehrmachtsbericht in diesen Tagen ein Wort, das allen Menschen diesseits und jenseits der Fronten, allen Menschen der Welt überhaupt Schrecken und Angst, Zweifel oder gläubiges Hoffen einflößt, ein Wort, das blutrot und leuchtend am Himmel dieses Jahrhunderts stehen wird mit unauslöschlichen Lettern für die Ewigkeit geschrieben:
STALINGRAD!
Die riesigen Märsche und Kämpfe bringen zwangsläufig einen ungeheuren Verlust an Menschen, Tieren und Material mit sich. Ganz Europa arbeitet fieberhaft. Immer von neuem werden die Bestände an Menschen und Tieren ge sichtet und ausgehoben — die Verwundeten verlassen, kaum notdürftig ausgeheilt, die überfüllten Lazarette. Die letzten Pferde aus Frankreich, Holland, Belgien, Norwegen, Dänemark und Polen verlassen ihre Ställe — alles wandert in den unersättlichen Schmelztiegel der wahnsinnigen Vernichtung. Tage und Nächte rollen die Transportzüge, fliegen von Minen hochgejagt in den Himmel und werden zur Seite an die Bahndämme gerissen, um neuen Platz zu machen. Die übrigen Fronten halten den Atem an. Da klopft auch die eiserne, unerbittliche Faust an das Tor der einsamen, sommerlichen Kolchose, in der viele der abgetriebenen, zerrissenen, wieder geflickten und aufgefütterten Pferde Erholung und Genesung gefunden haben. Eines Morgens stehen sie da in langer Reihe, immer zu dreien, vorn die KV-Mannschaften, dahinter die Pferde. Noch einmal verliest der Spieß der Veterinär-Kompanie die lange Liste der „Abstellungen zu Neuaufstellungen". Stabsveterinär Dr. Faß in sommerlich weißer Litewka spricht die Abschiedsworte und gibt der Hoffnung Ausdruck, daß wir den kommenden Winter alle wieder zu Hause mit unsern Lieben verbringen dürfen; dann tritt die Kolonne ab — Futter für den größten Schmelzofen der Welt. Duran ist nicht gerade fett, aber wohl bei Leibe. Wie er so stramm daherschreitet am Anfang der Reihe, könnte man Gefallen an ihm finden. Sein Freund, der Muli, durfte daheimbleiben bei der Kompanie, aber der „Essenrüpel", dieses widerborstige Biest, den hatte der Futtermeister mit besonderem Genusse bezeichnet und gesagt: „Endlich werden wir diese Mistkrähe los, es wird auch höchste Zeit — sofort aufschreiben!"
DER GROSSE TRIEB
Herrlich sind die Herbsttage in Wald und Steppe vor der Schlammperiode. Nicht zu beschreiben die Pracht des Mischwaldes, die Symphonie von Farbe, Licht und Dunkel. In den Tümpeln und an den Rändern der Bäche quarren Frösche, unterm Haselstrauche wird tüchtig gegraben am warmen Winterbau, und der Altweibersommer zieht lange Fäden. Weitab von den großen Verkehrsadern zieht die Kolonne dahin, nach Süden, dem Hinterlande der großen Schlacht zu. Zwei Tage marschieren Mensch und Tier zunächst zusammen, dann müssen sie sich trennen; die Pferde werden von einem Reitertrupp übernommen. Ohne Zaumzeug und Geschirre, blank, wie sie die Natur geschaffen hat, laufen sie jetzt querfeldein in schnurgerader Richtung. Bei Sonnenaufgang knallen die Reiter mit langen Peitschen, da geht der Marsch los, bald trabend, bald in zügigem Schritt gehend. Überall ist reichlich Futter vorhanden, und die Bäche spenden für alle Trank und Erfrischung. Wenngleich die Nächte schon kühl sind, merken sie wenig, ein ausgefütterter Leib friert nicht so schnell wie ein magerer, abgetriebener. Über einen Monat dauert nun schon der Zug nach Süden. Duran fühlt sich wohl und gesund trotz der täglichen, langen Märsche. Was der Tag sündigt, macht die Nacht wieder gut, da können die Pferde ungestört fressen und weiden, bis der Leib voll ist.
Das müssen sie auch, denn Hafer ist seit Wegzug von der Kompanie weggeblieben. Die Sonne erhob sich immer genau zu ihrer Linken, wenn sie morgens im Bodennebel und nassen Gras marschierten, seit einigen Tagen aber geht sie genau vor ihren Köpfen auf und beschreibt ihren großen Bogen am Himmel — sie marschieren jetzt genau nach Osten, dahin, wo die Pfeile auf den großen Karten zeigen. Wie so oft schon in den letzten Wochen geht der Mond nachts ganz tief am Horizont auf, als schiebe er sich über den Rand einer großen Scheibe. Das Pferdekommando lagert an einem Schuppen im Freien, denn drinnen liegt knietief nasser Schweinemist. Der Führer, Wachtmeister Müller I, faltet umständlich eine große Karte auseinander, legt sie richtungsgemäß auf den Boden neben ein kleines, flackerndes Feuerchen und studiert. „Wir sollten das Feuer ausmachen, wenn sie das sehen, hauen sie uns ein paar auf die Köpfe, sieh doch morgen früh nach, wo wir sind", murmelt ein kleiner Kerl.
„Hierher kommt doch keiner, Mensch, hast du einen Dampf, wenn die alle Feuerchen im weiten Lande ausblasen wollten, hätten sie viel zu tun", entgegnet der Wachtmeister verärgert über die Störung seines Kartenstudiums. Dann fährt er fort: „Also hört mal alle her, wir sind jetzt hier etwa bei G s u w... Schjuf... na, egal, wie das Nest heißt, also jedenfalls hier — wir könnten also in vier Tagen am Don sein — wenn alles gut geht." Fragend blickt er in der Runde herum. „Hm", sagen die Leute, „in vier Tagen— und was dann?" „Nun, dann übergeben wir die Gäule und rücken wieder so schnell als möglich zum Haufen ab." „Wenn die uns fortlassen", wirft Obergefreiter Stange ein. „Die haben uns gar nischt zu sagen, wir haben unsern Marschbefehl, und damit basta", meint Müller I. „Die nicht, aber die Feldjäger, die werden uns die Hammelbeine schon langziehen, von wegen Einrücken zur Stammeinheit — vorn ist die Musik, meine Herren", trumpft der kleine Kerl auf. „Abwarten und Teetrinken", sagt der Wachtmeister und faltet die große Karte zusammen. In allen Farben des Regenbogens leuchtet noch einmal der Himmel über der endlosen Steppe, dann verlöscht das Licht, und schwarze Schatten kriechen über Gras und Erde. Der Pulk der Pferde und Reiter kommt angetrabt und streicht wie ein dunkler Schemen über den Boden. Eine Bodenwelle nimmt sie auf, für Minuten hat sie die Erde verschluckt, dann geht es einen sanften Hang hinan und... da liegt es vor ihnen, das breite, silberne Band des Don — des heiligen Don. Auf der Höhe der Welle sitzen alle ab und rasten. Die Pferde sind ermüdet und hungrig, gierig fahren sie ins Gras. Wachtmeister Müller I steht hochaufgerichtet neben Duran und blickt in die Ferne. „Der Don", sagt er im Selbstgespräch, „dann die Wolga, dann der Ural, dann..."
AM RANDE DER HÖLLE
Die Baukompanie steht fix und fertig zum Abmarsch in einer kleinen Ansiedlung am Ufer — nur die Bespannung fehlt noch. Da treffen sie ein — über hundert vom großen Pulk abgezweigte Pferde werden jetzt hinterm Dorfe aufgestellt und betrachtet. Eine bunte Mischung aller Rassen und Kaliber zwar, aber es sind wenigstens Gäule, die nicht allzu mager sind. Die kleineren, schwächlicheren werden den Panjewagen zugeteilt, aus denen der Fahrzeugpark der Kompanie zumeist besteht, die größeren, stärkeren werden für die deutschen Militärwagen bestimmt. Duran muß an die Stange eines großen Planwagens, der Handwerkszeuge geladen hat, dazu — Gott sei es geklagt — der Essenrüpel. Gleich beim Zusammenstellen hat das heimtückische Biest die Ohren angelegt und den armen, braven Duran so in den Hals gebissen, daß ein Stück Fell herabhängt. Das mag eine schöne Fuhre werden, aber der Essenrüpel ist ein „Passer", und beim Militär geht es nicht nach dem Gemüt, sondern nach dem festgelegten Maß. Auch wenig entzückt über diese Zusammenstellung scheint der Fahrer, Oberkellner Sittig, zu sein. Schmalbrüstig, klein, mit nervösen, ängstlichen und grauen Zügen, Auswirkungen seiner Tätigkeit im Nachtkabarett „Tornado" — durchschaut er sofort mit geschultem Blick das Mistvieh bis auf den Grund seiner schwarzen Seele. Der schwere Knüppel in seiner linken Hand läßt erraten, was passiert, wenn die Harmonie in irgendeiner Form gestört werden sollte. Oberleutnant Hartmann besichtigt die Gespanne und hat, wie immer, für jeden der alten Kriegsteilnehmer, aus denen der Haufen ausschließlich besteht, freundliche Worte. „Der mag gehen", sagt Sittig und zeigt mit spitzem Finger auf Duran, „aber das hier scheint ein Schwerverbrecher zu sein"; dabei droht er dem Essenrüpel, der anscheinend verstanden hat und die Ohren anlegt, mit geballter Faust. „Versuchen Sie es nur einmal mit Ruhe, Sittig, mit Ruhe kommt man da weiter als mit Schlägen, manchmal sind die Böcke auch bloß verdorben und richten sich ganz gut wieder ein, wenn sie richtig angefaßt werden. Überhaupt, was ich Ihnen schon einmal gesagt habe, Sie müssen ruhiger werden, viel ruhiger. Wenn etwas sein soll, dann nützt alles nichts, Sie reiben sich ja ganz auf. Also ... versuchen Sie es, Sittig, sich mehr in der Gewalt zu haben." Dabei nickt er ihm beruhigend zu und geht weiter zu ein paar kleinen Möpsen von Pferden, die an einem Panjewagen angespannt sind. Längst liegt die schaukelnde Pontonbrücke über den Don hinter ihnen, in endlosen Märschen näherten sie sich dem Südrande des gewaltigen Tiegels. Unaufhörliche Regengüsse verwandelten den Steppenboden in einen grundlosen Morast — dann gefroren die Rinnen der Fahrzeuge, immer knapper wurden die Rationen, und nun läßt erbarmungsloser Frost das Blut in den Adern zu Eis erstarren. Gleichmäßig heulend pfeift der Wind aus Osten, nirgends findet er Widerstand in der endlosen Weite der Kalmückensteppe. Dann wird der Himmel grau und fahl, vereinzelt schießen feinste Eisgraupeln dahin, vermehren sich und peitschen in ganzen Schauern hernieder. Als sie am anderen Tage aus ihren Verstecken unter Planen, Säcken und Kisten hervorkriechen, hat sich das weiße Leichentuch über die Steppe gebreitet. Vom wolkenlosen, ewig grauen Himmel stiebt es nun Tag und Nacht hernieder, alles dick zudeckend, was an das große Sterben erinnert. Große, graue Vögel brummen zum Greifen tief über den Boden dahin und verschwinden im Nichts des unendlichen weißen Vorhanges. Längst sind auch die knappen Vorräte in den kleinen Ansiedlungen aufgefressen, der Nachschub hat aufgehört. Zusehends schwinden die Kräfte der Pferde dahin, die Kraftreserven, die im Sommer aufge
stapelt waren, sind aufgebraucht. Durans Kräfte lassen zusehends nach, und immer häufiger knallt Sittig mit der schweren Peitsche über den mager gewordenen Rücken. Wer genau hinsieht, wird auch bemerken, daß Duran in den knappen Pausen stoßweise pumpend atmet. Sonst ging ihm die Luft immer leicht ein und aus, jetzt hat er häufiger damit zu ringen und bleibt stehen. Aber sobald seine Stränge schlapp werden, zieht ihm Sittig eins über, daß er erschrocken wieder auffährt. Seine Nüstern sind gebläht, die Augen, aus denen schon wieder der Hunger starrt, sind weit aufgerissen. Nur der Essenrüpel scheint noch nichts zu merken, selten, daß ihn Sittig aufschwartet, wie ein Stier zieht er noch die Hälfte von Duran mit. Die Beißerei und Keilerei ist ihm vergangen, das ungestüme Wesen hat er aber, wenigstens vorläufig, noch behalten. In die feuchtgewordene und dann gefrorene Futterkonserve, die letzten Reste, fährt er wie ein Geier hinein und verschlingt alles, ohne zu kauen. Strohdächer, Maisstrunken, Holzteile, Kuhmist, alles würgt er hinab in den hungrigen Leib. Immer kürzer werden die Marschtage, immer schleppender quält sich die Kolonne der übermüdeten Kompanie dahin. Oberleutnant Hartmann geht zu Fuß ganz am Ende der Reihe, muntert auf und spricht zu, wenn eines der Fahrzeuge zu lange hält und der Abstand zu den anderen zu groß wird. Über einen Kilometer sind die Fahrzeuge schon auseinandergezogen, jeder stapft und kämpft für sich allein mit seiner Last. Im eisigen Schneesturm tauchen plötzlich Schuppen und Gebäude auf, ein Ruf pflanzt sich von Wagen zu Wagen fort, „die Bahn, die Bahn!" In wenigen Minuten holpern die Räder über Schotter und Gleise der Bahnlinie, die vom Kaukasus kommt und direkt nach Stalingrad hineinführt. Endlich eine längere Rast, endlich einen Bretterschuppen, in den man hineinkriechen kann. Draußen sinkt das Thermometer bis vierzig unter Null. Irgend jemand hat einen großen Haufen Maisstucken und Blätter unter dem Schnee entdeckt — jedes Pferd erhält soviel wie einen Blumenstrauß. Alles, Pferde und Menschen, kriechen unter dem großen Bretterschuppen eng zusammen. Die Strünke werden in zwei Haufen im Inneren aufgestapelt, mit Benzin übergössen und angebrannt. Für wenige Minuten schlägt eine heiße Flamme bis fast unters Dach und spendet unerträgliche Hitze, dann verlischt sie, und beißender, zischender Qualm erfüllt den langen, niedrigen Raum. Für Pferde und Menschen ist es nicht zum Aushalten. Duran prustet und reibt sich die Augen am Vorderknie, auch die Menschen husten und reiben sich die Augen. Da nützt alles nichts, die Tore müssen aufgerissen werden, und so schnell wie sie entstanden, so schnell verfliegt sie auch wieder, die Wärme, nach der sich alle so gesehnt hatten. Neben Duran hat der Sanitätsunteroffizier eine Stallaterne auf eine Kiste gestellt und hält Revierstunde ab. Ein Drittel der Leute hat die Füße erfroren, fast alle die Ohren und ein großer Teil Finger und Hände. Eine ganze Reihe muß am nächsten Tag auf der Station zurückbleiben und soll auf einen Zug warten, der von Norden nach Süden fährt. Ob da noch einer kommt? Oberleutnant Hartmann hat Marschbefehl nach X, einem Vorort südlich von Stalingrad. Vorbeikommende Landser wissen nicht, wie es oben steht, sie sind versprengt worden und irren durch den Schneesturm bis zur Bahnstrecke. Gegen Morgen rumpelt ein langer Zug durch nach Norden, schwere, dumpfe Einschläge künden von der Nähe der Front. Duran und der Essenrüpel sind jetzt Spitzenfahrzeug. Hartmann hat sich entschlossen, nicht den kürzeren Weg durch die Steppe zu nehmen, sondern entlang den Schienen zu laufen. Irgendwie fühlt man sich doch hier mit dem Leben verbunden, einmal muß doch jemand entlang kommen. In Kutelnikowo ist noch einmal zwei Tage Rast, ein kleines Magazin rückt einige Ballen Preßheu, zwei Sack Hafer und ein paar Papiertüten
Futterkonserve heraus, das ist die letzte Zuteilung für die kommenden Wochen. Hartmann besichtigt prüfend noch einmal die Kompanie — hat es denn überhaupt noch einen Sinn, weiterzutaumeln? Das wichtigste Gerät wird auf eine Handvoll Panjewagen verladen, die meisten Pferde müssen wegen völliger Erschöpfung zurückbleiben. Ein großer Teil der Leute leidet an Magen- und Darmstörungen, hauptsächlich aber an Erfrierungen, und bleibt ebenfalls hier. Die Nachrichten widersprechen sich, niemand weiß etwas Genaues, selbst die Kommandantur ist über die große Lage nicht im Bilde. — Duran, der Essenrüpel und Sittig bekommen jetzt einen leichten Panjewagen, auf dem die Verpflegung verstaut ist — lächerliche Winterverpflegung: Brot, Tubenkäse und Vierfruchtmarmelade nebst einer Kiste Rindfleisch, in Dosen. Alles steinhart gefroren — selbstverständlich. Durans Zustand ist bejammernswert, viel zu weit schaukelt ihm das Sielengeschirr um die magere, spitze Brust. Am nächsten Morgen brechen sie auf. Hartmann hat einen langen Stock gefunden und stapft damit, zu Fuß gehend, der Kolonne voran, alle anderen gehen neben den Fahrzeugen her. Der Weg ist nun nicht mehr zu verfehlen. Tieffliegende Staffeln, ununterbrochen dröhnend, zeigen zweifelsfrei die Richtung an. Es ist diesig und schneit leicht, aber beständig. Ein Panzer taucht vor ihnen auf, sie winken, aber der im Turm stehende Soldat nimmt keine Notiz, in wenigen Sekunden ist das Ungetüm im Nebel verschwunden. Nach drei Stunden machen sie eine Pause, die Köpfe der Pferde fahren in den Schnee und fressen das kalte Zeug in sich hinein, die Leute setzen sich auf die Wagen, springen wieder herunter und tanzen von einem Bein auf das andere. Bei dieser Steinkälte kann man keinen Augenblick ruhig sitzenbleiben. „Es scheint mir, als laufen wir im Kreise", sagt Sittig, „vorhin kam das Dröhnen von dort, jetzt kommt es von da..." „Unsinn", entgegnet Hartmann, „die Front zieht sich doch den ganzen Bogen herum, und wir sind doch dicht ran, da raucht's mal hier und da, wir gehen schon richtig, also los, weiter; hier können wir nicht stehenbleiben." Nachmittags zwei Uhr bricht die Dämmerung herein — um drei Uhr ist es Nacht — , stockfinster trotz hohen Schnees. „Halt", sagt Hartmann, „Pferde ausschirren!" „Was soll denn werden?" fragen die Leute. „Wir bleiben hier, bis es wieder hell wird." „Hier...?" „Na, meinen Sie vielleicht, hier wäre ein Soldatenheim", herrscht er den dummen Fragesteller an. Vier Panjewagen werden zusammengeschoben zu einem Viereck, einige Planen darüber und rundum gespannt. Eine luftige Hütte zwar, aber es schützt wenigstens etwas. Auf ein paar Säcken und Kisten, die man hineinschiebt, kauern sich die Männer zusammen, alle ziehen die Stiefel aus und reiben die Füße mit Schnee. Auf einem Feuerchen, dessen Schein durch die Planen wenigstens etwas verdeckt wird, kochen sie in den Kochgeschirren etwas Tee. „Ich hab' eine Idee", sagt Sittig und stochert in der Flamme herum, „auf dem Wagen ist noch eine Kiste Marketenderschnaps, da nehmen wir ein paar Flaschen und kippen sie rein — erstens wärmt das, und zweitens wird man beduselt und merkt nischt." „Aber nur ganz wenig", befiehlt Hartmann, „der Schnaps macht auch schlapp." Die Kiste wird geholt, jeder bekommt einen halben Trinkbecher, und alle schlürfen. „Was wird denn nun mit den Pferden", wirft Hartmann, den heißen Becher schwenkend, ein. „Was wollen wir denn nun füttern?" Schweigen in der Runde — es ist nichts mehr da. „Ich hab's", sagt ein breitschultriger Fahrer, „wir opfern für jedes Pferd ein Brot, macht vierzehn Brote." „Sind doch steinhart gefroren", entgegnet Sittig. „Na, die hauen wir einmal mit der Axt durch und
stapeln sie ums Feuer herum auf, in einer Stunde sind sie aufgetaut." „Schön", erwidert Hartmann, „ein Notbehelf, spätestens übermorgen müssen wir ja Anschluß bekommen, da sind doch ein paar hunderttausend Menschen im Gange, da müssen doch auch Vorräte sein, so geht's ja nun auch nicht — also los, Wagner, 'rein mit einem Sack und aufgehackt." Unter Drehen und Wenden tauen sie die Brotlaibe auf, zerbröckeln sie in die Futterbeutel und hängen den Pferden vor. Da, ein entsetzlicher Schrei, Schimpfen und Schlagen vor dem Wagen. Sittig stürzt unter die Planen mit blutender Hand. Der Essenrüpel war besinnungslos vor Hunger zugefahren und hatte Sittig in die Hand gebissen. Während er verbunden wird, grölen zweie, die sich gemeinsam eine Decke umgehängt haben. „Der Herr im Garten wünschte wohl hastig zu speisen, Herr Ober, einmal Stamm, thähähäää, etwas dalli, Kellner", so höhnen und johlen sie und fangen an, die Rosemarie zu grölen, die Köpfe ab und zu unter die Decke steckend. „Haltet euren dämlichen Schnabel", herrscht sie Unteroffizier Breinel an, „euch steigt wohl der Fusel in den Kragen?" Nach und nach wird Ruhe in der Runde, mit angezogenen Beinen nicken die meisten ein wenig im Sitzen, nur die beiden Gröler schnarchen tief hintenübergesunken. Langsam brennt das Feuerchen ab, mehr Holz darf nicht aufgelegt werden. Draußen kaut Duran bedächtig an den Resten seines Brotes, die anderen sind längst fertig. Eisige Kälte kriecht Menschen und Tieren durch Mark und Bein. Grau wird der Himmel über der tiefverschneiten Steppe, bocksteif erheben sich die Männer von den Kisten und Säcken und versuchen stampfend, in die glashart gefrorenen Stiefel zu kommen. Nur zweie rühren sich nicht, Breinel stößt sie mit dem Fuß an. Da liegen sie nun, vom Sack im Schlafe heruntergerollt, unterm Wagen im Schnee, die beiden heimlichen Schnapstrinker, und schlafen, zu Stein gefroren, bis sie das Jüngste Gericht weckt. „Ein schöner Tod", sagt Breinel, „besoffen, eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht — beneidenswert ..." Kriechend wie ein Ochsentreck zieht die Kolonne weiter, tief und müde hängen die Köpfe der Pferde über den Brustblättern herab. Wieviel Kilometer und wie lange sie laufen, weiß und verspürt niemand mehr, noch drei Tage und Nächte geht es quälend weiter nach Nordosten, nachts ein Brot für die Pferde und für die Leute Tubenkäse und Tee. In der Dämmerung des vierten Tages taucht eine winzige Ansiedlung aus der Steppe auf. Mit letzter Kraft taumeln Pferde und Männer hinein. Die Hütten sind mit rumänischen Soldaten bis zur Tür vollgepreßt und mit beißendem Qualm angefüllt. Hartmann sucht einen Offizier, aber es ist keiner zu finden. Da die Hütten überbelegt sind, bleiben alle wieder im Freien in den Höfen, entzünden mit Maisstucken und getrockneten Kuhfladen, dem Brennmaterial der Steppe, ein verdecktes, scheußlich qualmendes und stinkendes Feuerchen und kauern sich herum. Den Pferden geht es heute nacht gut, in einem Stall findet Breinel getrocknete Maisblätter und einen Haufen Sonnenblumenkerne. Gerecht in die Futterbeutel aufgeteilt, ergibt der Fund eine sättigende Mahlzeit. Der Essenrüpel frißt zusätzlich das halbe Strohdach eines Hammelstalles und grunzt zufrieden. Heulend jagt der Schneesturm um die Ansiedlung in der Steppe. Mitternacht mochte vorbei sein, da mischt sich das dumpfe Schuppern eines Maschinengewehrs in das Orgeln des Windes, dumpf grollt das Rumoren eines Panzers, dann ist es wieder still. Alle horchen gespannt, das Feuerchen wird ausgetreten. Wieder schuppert das MG, anscheinend ganz nahe. Am Nordosteingang des Dorfes hört man Schreien und Jagen hastender Menschen. Hartmann läßt sofort anspannen und verteilt die wenigen Leute um die Fahrzeuge. Haufenweise stürzen Rumänen jetzt durch den Ort, alles wegwerfend, was sie am Laufen hindert. Die Einquartierung schließt sich an — eine Leuchtkugel fährt grell in den Himmel. Fast zu gleicher Zeit jagt eine Panzergranate in ein Haus, jäh
wie eine Stichflamme schießt der Brand in die heulende Schneenacht. Gellende Schreie, Rufen und Schießen. Wie das wilde Heer jagen Reiter durch das Dorf, von den Pferden herab in die hastenden und flüchtenden Menschen aus Maschinenpistolen feuernd. „Sofort marsch, raus hier, raus!" brüllt Hartmann in das Toben. Das erste Fahrzeug fährt zwischen dem Hammelstall und einem niedrigen Hause durch in die schneestäubende Nacht. Ein fürchterlicher Schlag mit einer Latte trifft Durans Kreuz. Mit den Vorderbeinen hoch aufspringend, galoppiert er mit dem Essenrüpel an. Ununterbrochen schlägt die Latte auf ihn und den Rüpel ein. Wahnsinnig vor Angst und Schmerz jagt das Gespann dahin, immer geradeaus, nur weg von der brennenden Hölle des einsamen Dorfes. Hartmann und Breinel springen beide auf das letzte Fahrzeug und galoppieren den ändern nach. Im Schneesturm ist nichts zu sehen, Sittig blickt sich auch nicht um — wie lange ist er dahingejagt? Vom Feuerschein des Dorfes und von Reitern ist nichts mehr zu sehen. „Wo sind denn die anderen?" fragt er im Selbstgespräch. Nochmals ruft er langgezogen, seine Hände trichterförmig an den Mund haltend, nach allen Richtungen — ein aussichtsloses Beginnen, denn der Sturm verschlingt den Laut sofort mit seinem Tosen. Duran ist völlig erschöpft und ausgepumpt. Kalter Schweiß bedeckt seinen Körper, die Beine zittern ihm wie Espenlaub. Der Essenrüpel verlangsamt seinen Schritt und bleibt stehen. Schweratmend steigt Sittig vom Wagen, nimmt zwei Decken und einen Maissack und hängt sie den beiden über. „Oach", stöhnt Duran aus gepreßtem Leib und will sich hinlegen. Sittig schlägt ihm eins mit der flachen Hand an den Bauch, daß er wieder hochfährt. Langsam torkeln sie weiter, Schritt für Schritt, bis der Morgen graut. Der Schneesturm hat nachgelassen, nur der eisige Ostwind jault noch in gleicher Stärke. Sittig nimmt zwei Brote vom Wagen, schlägt sie in kleine Stücke und hält sie den beiden Pferden vor. Der Rüpel verschluckt das hartgefrorene Brot, fast ohne zu kauen. Duran schnurpst langsam, er war nie ein hastiger Fresser, auch nicht in den Wochen des schlimmsten Hungers. Als er den Sack wieder aufladen will, murmelt Sittig vor sich hin: „Was soll ich denn noch das Gerät mitschleppen, runter damit..." Und schon kollern Schaufeln, Hacken und anderes Pioniergerät neben dem Wagen in den Schnee. Nur die Verpflegung, die Plane und die paar Decken läßt er oben. „Na, kommt, gleich ist es leichter", sagt er zu den beiden und klopft sie auf die brettdünnen Hälse. Mechanisch pendeln sie dahin — immer geradeaus bis zum Horizont, dann wieder geradeaus. Ab und zu späht Sittig aufmerksam in die Runde, seine Hand fängt an, furchtbar zu schmerzen.
Als er wieder aufschaut, sieht er kleine Pünktchen am Horizont, dort wieder welche, eine ganze Gruppe — wer mag das sein? „Hallo, haaallooo", ruft er langgezogen und gedehnt, aber die Pünktchen antworten nicht. Wieder nimmt er zwei Brote und füttert sie den Pferden, dann liegen noch acht auf dem Wagen, er kann sich ausrechnen, wann das weiße Tuch sich auf die Pferde legt, wenn nicht... „Ich muß wieder zu Menschen — los, langsam Trab, vielleicht holen wir sie ein." Langsam, mit gesenkten Köpfen, pendeln sie dahin, Duran fühlt kaum den schneidenden Schmerz in seinem Leibe — das gefrorene Brot! Von einem Schuß aufgeschreckt, blickt Sittig nach rechts. Fast am Horizont steht ein dunkles Etwas, das er für ein Fahrzeug hält, daneben dunkle und helle Punkte, eine ganze Reihe. Voraus, Richtung auf die vorhin gesehenen Gruppen haltend und immer rechts blickend, zieht er langsam voran. Der Abstand verringert sich, sie fahren anscheinend im spitzen Winkel aufeinander zu. „Jetzt nur kein Schneesturm — jetzt nur kein Schneesturm, sonst ist es aus mit uns", brummt er vor sich hin und zieht Duran eins über. Wieder blickt er nach rechts und sieht einen Mann hochaufgerichtet auf dem Wagen stehen und ein Ding wie eine Fahne schwenkend. Da entschließt er sich, scharf nach rechts zu wenden und auf die Gruppe zuzufahren. Bald erkennen sie sich, es ist Hartmann und Breinel mit ein paar Leuten von der Kompanie und einem Haufen stumpfsinnig und verstört dreinblickender Rumänen. „Wo sind die anderen?" fragen fast alle gleichzeitig. „Ich bin anscheinend allein gefahren, ich bin niemandem begegnet", antwortet Sittig. „Da wird wohl niemand mehr kommen — Sittig —, Breinel, nehmen Sie vorläufig den Wagen, bis seine Hand wieder gut ist — also los denn." Im Schritt geht es weiter, die Rumänen in den hohen Pelzmützen stapfen hinter den Fahrzeugen her — keiner spricht ein Wort. Gegen Mittag erblickt Hartmann durch das Glas, das er immer wieder, die Steppe absuchend, an die Augen führt, am Horizont niedrige, langgestreckte Gebäude, die sich in den hohen Schnee ducken. Sie fahren noch ein Stück, dann
geht Breinel mit ein paar Rumänen voran, um zu sehen, was dort los ist. Wenn die Luft rein ist, wollen sie mit einem ans Gewehr gebundenen Mantel wedeln. Über eine halbe Stunde dauert es, bis das ersehnte Zeichen gegeben wird, dann fahren sie drauf zu. Die Rumänen haben einen steinalten Kalmücken aufgestöbert und bringen ihn zu Hartmann. „Wie heißt der Ort?" kauderwelscht er mit dem Greis. Nach endlosem Palaver mit allen möglichen Künsten haben sie es herausgebracht — es ist die Motorenstation S. „Und hier...?" fragt Breinel, mit dem Finger auf die Pferde zeigend und die unmißverständliche Bewegung des Fressens nachahmend. Der alte Mann nickt und führt sie in einen langen Schuppen, der voller Heu und Maiskörner liegt. Wortlos umarmen sich Breinel und Hartmann, mit den Händen sich gegenseitig den Rücken klopfend, wie zwei Freunde, die sich lange nicht gesehen haben. Augenblicklich wird ein kleiner, dichter Raum fertiggemacht, die Pferde hineingesteckt und Heu vorgeworfen. Vor jedes Pferd kommt außerdem noch eine Kiste Mais. Die vier Pferde leben auf, der Essenrüpel beißt nach rechts und links, als ob er den ganzen Schuppen fressen wollte. Das ist ein Mahlen und Mampfen, ein Schlingen und Kauen, Heu, trockenes, duftendes Heu — welch eine Gabe des Himmels! Duran kann nicht mehr, so prall und satt ist er, wohlig durchkriecht wieder Wärme seinen mageren Leib, alle drei Pferde legen sich nieder ins Einstreu, nur der Rüpel bleibt die ganze Nacht stehen und frißt, sein Leib ist wie ein Faß ohne Boden. Den einen Raum des Verwaltungsgebäudes beziehen die Rumänen, den anderen belegt der Trupp Hartmann. Ein tiefes Heulager wird geschüttet, im Nu sind die eisernen Öfen rotglühend. Als Sittig, der die erste Wache geschoben hatte, eintritt, weht ihm Zwiebel- und Bratenduft entgegen. Die Kameraden kauen in Hemdsärmeln und schwitzen vor Anstrengung. „Wünschen Sie Leber oder Filet, mein Herr?" erkundigt sich freundlich ein Kamerad, der in einem riesigen Tiegel ein Stück Fleisch brutzelt. Die Runde grinst. Ungläubig hält Sittig seinen Kochgeschirrdeckel hin und erhält ein Riesenstück mit Soße, dazu Fleischbrühe und einen Kanten Brot. Wie ein Träumender sinkt er ins Heu und kostet vorsichtig, als ob er an einen üblen Scherz glaube. „Iß nur", ermuntert ihn Breinel, „dann werde ich es dir erzählen." Als die Pfeife angesteckt ist, beginnt er: „Als wir aus dem Dorfe abrückten, holten wir bald den Wagen von Stephan ein, der die zwei kleinen Panjes hatte. Wir hielten uns ständig im Trab die ganze Zeit im Schneesturm zusammen. Auf einmal schreit Stephan, wir sollten halten. Der kleine Braune, der Piccolo, war zusammengebrochen. Als wir den anderen abschirrten, entwetzte uns das Luder und rannte davon, wer hätte ihm nachrennen sollen, man sah ja keine zehn Meter weit. Als der Chef sah, daß Piccolo nicht mehr hochzukriegen war, stach ihn Wendt ab. Mit vereinten Kräften zogen wir Magen und Därme heraus und warfen den Kerl auf den ersten Wagen — die Geräte haben wir weggeworfen. — Tja, was sollten wir machen, den Wagen
mit der Verpflegung hattest du ja. Nun haben wir Fleisch für viele Tage, die Rumänen fressen jetzt drüben den Kopf und den Hals." „Hm", sagt Sittig und zieht den Mantel aus, ihm wird zu warm, „habt ihr etwas von den anderen gehört?" „Bis jetzt noch nichts wieder..." „Also mal herhören", unterbricht Hartmann das Gespräch der beiden Männer, „da oben in Stalingrad scheint's bald aus zu sein, wir müssen machen, daß wir nach Rostow kommen, nur ist die Frage die, wer früher da ist." „Wie weit ist es bis dorthin?" fragt der Filetkoch. „Wenn wir etwa vierzehn Tage bis drei Wochen jeden Tag laufen, müßten wir da sein", antwortet Hartmann. „Wir sollten sehen, daß wir an eine motorisierte Kolonne Anschluß bekommen — drei Wochen, bis dahin ist die Krähe längst tot." „Und was soll mit den Pferden werden?" „Erschießen!" sagt Wendt, „wenn wir sie laufen lassen, sind sie bald verhungert." „Ich habe da einen anderen Plan", widerspricht Hartmann. „Mit den Pferden kommt man überall zuverlässig durch, wenn man Futter hat, und das ist hier der Fall. Mit den mo torisierten Fahrzeugen hat es immer seinen Haken. Wir machen hier morgen Pause und lassen die Pferde ausruhen, dann geht es weiter." Im Morgengrauen des übernächsten Tages verläßt die Kolonne die Motorenstation. Durans Wagen bleibt zurück. Dafür zieht er jetzt mit dem Essenrüpel eine lange, schlittenartige Schleppe, die man aus ein paar aufgebogenen Eisenstangen und Sparren zusammengefügt hat. Hochauf türmen sich Säcke mit Mais und zusammengepreßtem Heu darauf, gut mit Stricken verschnürt. Der Piccolo kommt in Stücke verpackt und abgezogen auf den Wagen, der unter die Räder ebenfalls ein paar provisorisch zusammengerichtete Kufen erhalten hat. Erstaunlich, wie die wenigen Stunden Ruhe und das unerschöpfliche Futter die Pferde gekräftigt haben. Satt und warm ziehen sie an — für die nächsten Tage ist für alle gesorgt. Sobald es dämmerig wird, suchen sie einen Unter schlupf, nachdem Breinel gespannt hat, ob der Feind in der Nähe ist. An einem Abend waren sie in einem Schafstall untergekrochen, hatten abgekocht und waren gerade im Be griff, sich in der Nähe des geschützten Feuers ein warmes Lager zu bereiten, als der Posten angestürzt kam: „Draußen Motorengeräusche!" ruft er unter die Planen. Hartmann tritt vor den Stall und lauscht. „Das sind keine Panzer, das müssen Lastwagen sein", ant wortet er dem fragenden Posten, „ist ja einerlei, hier können wir sowieso nicht weg." In wenigen Minuten halten zwei LKWs vor dem Stall, es sind Fahrzeuge einer Nachrichten abteilung, die am Südrande des Kessels eingeschlossen und fast aufgerieben wurde. Die Leute wissen Näheres über die Lage und schalten die Geräte ein, aber es kommt nichts, was für die Versprengten von Bedeutung wäre. Am nächsten Morgen fahren sie wieder ab und nehmen Sittig, dessen Arm dick aufgeschwollen ist, und ein paar Rumänen mit erfrorenen Füßen mit. Immer kleiner wird der Trupp der einsamen Wanderer. Der Bericht der Nachrichtenleute hat Hartmann still und einsilbig gemacht, kaum daß er antwortet, wenn ihn Breinel fragt. Meist geht er vor den Fahrzeugen vor Duran und dem Essenrüpel her, ab und zu auf die Karte sehend. Seit drei Tagen ist schon kein Schnee mehr gefallen, sternenklar und eisig sind die Nächte. Wie eine große, weiße Scheibe breitet sich die Steppe unter dem dunklen Himmel aus. Sie ziehen jetzt nur noch nachts, sobald der Morgen graut, wird gehalten, abgekocht, gefüttert und geschlafen. Gestern nacht stießen sie auf zwei große deutsche Pferdewagen, vor denen die Gäule noch lagen, erschöpft, zusammengebrochen und erfroren. Dem einen fehlte die Keule, wahrscheinlich hatten sie die Fahrer als Marschverpflegung abgeschnitten. Dieser Fund barg eine Kostbarkeit: die großen Planen mit Bügeln und — Brennholz. In wenigen Augenblicken ist alles abmontiert und auf den Futterschlitten, der bereits wesentlich leichter geworden ist, verstaut. Wenn sie jetzt halten, werden schnell die Planen mit den Bügeln aufgestellt, und alles kriecht darunter. Wendt hat aus den leeren Marmeladeeimern zwei Öfchen mit kleinem Rohr gebaut, prachtvolle Dinger mit Henkel sogar. Wenn die unter den tunnelartig gewölbten Wagenplanen bullern, ist es nicht
auszuhalten vor Hitze. Duran und Essenrüpel werden mit den andern beiden Panjes im Windschatten des Wagens und der Schleppe angebunden und mit je einer Decke und einer Plane zugedeckt. So läßt es sich leben bei vierzig Grad unter Null, bei eisigem Ostwind — zwar nicht komfortabel, aber leidlich geschützt. Duran wendet den Kopf, und auch der Essenrüpel schnarcht ob der seltsamen Geräusche, die an ihr Ohr dringen, unter den Planen summen sie ein Lied, während sich eine dünne, kaum sichtbare Rauchsäule aus dem Konservendosenschornstein in die glockenreine Luft kräuselt. Erquickender Schlaf, gekochter Mais und Pferdefleisch im Magen hat alle gestärkt, und neuer Mut erfüllt den kleinen Trupp, als sie aufbrechen. Da gellen kurz hintereinander zwei Pfiffe durch die sternenklare Nacht — wie vom Schlage getroffen bleibt alles stehen, Duran und die anderen Pferde heben die Köpfe und spitzen die Ohren —, noch einmal die Pfiffe, wieder lauschen sie gespannt. „Eine Lok war das, die Bahn, die Bahn...!", so rufen sie und springen jauchzend auf die beiden Fahrzeuge. Ohne gepeitscht zu werden, fallen die Pferde in gemächlichen Zotteltrab, als ob sie ahnten, daß die Rettung aus der weißen Wüste nahe ist. Noch eine Stunde, dann stehen sie zwischen den niedrigen Gebäuden des Bahnhofes Metschetinskaja, zwei Tagesreisen vor Rostow. Bahnhof und Ort sind überfüllt, Loks rangieren lange Züge, vollgestopft mit Truppen aller Gattungen. Versprengte suchen ihre Einheiten — die Komman dantur ist bereits weg —, auf der Bahnhofskommandantur gehen wilde Gerüchte um. Zwischen einer Gruppe niedriger Hütten finden Duran und die Kameraden ein windgeschütztes Plätzchen und fressen die reichliche Portion zusammen, die man ihnen, in Anbetracht der Nähe der Rettung, vorgeworfen hat. In den Häusern ist keine Unterkunft mehr zu finden. „Streiten wir uns nicht, Planen aufgeschlagen und Feuer machen", ordnet Hartmann an. Breinel klemmt sich eine Flasche Schnaps unter den Arm und kommt mit einem Rie sensack Steinkohlen angeschleift. Wieder glühen die Öfen, und in den Kochgeschirren brodelt Mais mit Pferdefleisch. Der brave Piccolo! Als sie sich hinlegen wollen, steckt ein langer Rumäne in hoher Pelzmütze den Kopf unter die Plane und sagt in gutem Deutsch: „Herr Offizier, bitte kommen Sie her, die rumänischen Soldaten wollen heute nacht weiter und möchten sich bedanken." Hartmann tritt vor das Planenzelt. Da stehen sie alle, die guten braven Kerle, und nehmen ihre Pelzmütze ab. „Dankä, dankä", stammeln sie und reichen ihm die schwe ren, vom Frost aufgequollenen Hände. Nach und nach kommen auch die anderen herausgekrochen und nehmen Abschied. Ein kleiner, untersetzter Mann in zerrissenem, braunem Rumänenmantel tritt auf Hartmann zu, reckt ihm die Faust hin und öffnet sie. Hartmann sieht auf vier kleine Stückchen Würfelzucker. „Und?" fragt er zweifelnd, was er damit soll. Da geht der Rumäne auf die Pferde zu, küßt alle auf die Stirn und gibt jedem ein Stück Zucker — es war ihre letzte Kostbarkeit, die sie in den Taschen hatten. Hartmann nickt mit dem Kopfe, geht unter das Planenzelt und zieht die Decke übers Gesicht. Von allen Seiten sehen die Wanderer jetzt Menschengruppen, Fahrzeuge, Zugmaschinen und vereinzelte leichte Panzer gen Westen ziehen. Sie fahren querfeldein, denn die Straße ist hoffnungslos verkeilt. Ihr Schritt ist beschleunigt und greifend, denn auf den Fahrzeugen ist kaum noch Ballast, und sie können sich wechselweise ein wenig aufsetzen. Nur wenige Stunden gönnen sie sich Rast, jedoch so ausreichend, um die Pferde satt zu füttern. Am Morgen des letzten Marschtages dringt Gefechtslärm von Norden an ihr Ohr. Tiefflieger huschen über das Feld, und in wenigen Sekunden hört man das Rumpsen krepierender Bomben. An Straße und Bahn stehen Geschütze in Stellung und feuern orgelnd über sie hinweg nach Norden. Panzer und leichte Pakgeschütze jagen vor den Pferden vorbei. Breinel treibt die Pferde an, und alle sitzen auf. Die große Schlacht um
Rostow hat begonnen! Neben der neugebauten Brücke fährt ein verlorener Haufen mit vier Pferden und zwei seltsamen Fahrzeugen erschöpft über den Don. „Ihre Division liegt meines Wissens in Taganrog oder Mariupol zur Neuaufstellung — ich kann es nicht genau sagen", berichtet ein langer Hauptmann. „Sehen Sie, daß Sie dorthin kommen." „Wir brauchen Verpflegung für uns und die Pferde?" wirft Hartmann ein. „Am Ortsausgang ist ein Verpflegungslager, sehen Sie dort nach, ob etwas zu bekommen ist." Hartmann geht die Straße entlang, in der sich die Trosse der Kampftruppen stauen. Auf einem großen Platze stehen schwere Geschütze mit Schußrichtung Nordost, im Süden und Südwesten rumpelt es ununterbrochen. Vom Bahnhofe fahren die letzten drei Züge, zwei Lazarettzüge und eine Schlächtereiabteilung, nach Westen ab. Im Verpflegungslager herrscht Andrang wie in einem Kaufhaus, aber es gibt wenigstens etwas für drei Tage und reichlich Futterkonserve, bis Taganrog, das sind zwei Marschtage, wird es ausreichen. Duran und die Kameraden sind zwar nicht kräftig, aber frisch und ausgeruht, als die Gruppe Hartmann bei Einbruch der Dunkelheit aufbricht. Strahlend be leuchtet der Mond die mit Fahrzeugen vollgestopfte Straße, die sie nicht verfehlen können. Wie gut es ist, daß man die Pferde behalten hat, das erweist sich immer wieder, man ist nicht an die Rollbahn gebunden und kommt immer voran, bei jedem Wetter und bei jeder Bodenbeschaffenheit. Da liegen sie nun vor einer der vielen Bodenwellen und wühlen im Schnee, die riesigen LKWs mit und ohne Anhänger. Gewiß, wenn sie einmal rollen, dann geht es auch ein Stück voran, wenn...! Als der Morgen graut, haben sie den halben Weg zurückgelegt und rasten unter den Planenzelten bis zum Abend, es lohnt sich nicht, nach Quartier umherzuirren, wo doch alles überfüllt ist in den wenigen Hütten am Wege. In Rostow hat Breinel eine Menge Decken und dicke Planen organisiert, unter denen die Pferde mit gesenkten Köpfen dösen. Dicke Rundverschnürung hält die Umhänge zusam men, darunter können sie nicht frieren, die guten Kerle. Nachdem sie sich auf mitgebrachten Strohsäcken aus einem Lazarett lang gemacht haben, eng aneinandergekuschelt und warm zugedeckt, fragt Breinel unvermittelt: „Ob Pferde denken können, Herr Oberleutnant?" „Wie kommen Sie denn jetzt darauf?" „Och, mir kam es gerade so in den Sinn, ob Pferde eine Seele haben?" „Tja, Breinel, darum streiten sich die Gelehrten", antwortet Hartmann und zündet sich eine Zigarette an, „so darf man wohl auch nicht fragen. Menschliche Maßstäbe darf man an ein Tier nicht anlegen. Denken, sinngemäß und logisch kombinieren, das kann ein Pferd auf keinen Fall — meiner Ansicht nach. Aber empfinden und aus Erfahrung Gefahren und Freuden erkennen, das glaube ich wohl. Insofern ist natürlich eine gewisse geistige Tätigkeit zuzugestehen, aber man darf da nicht zu weit gehen." „Aber mit einem Hund ist es anders", wirft Wendt ein, „der denkt."
„Nun, so ist es auch nicht ganz richtig", entgegnet Hartmann — „natürlich dürfte er geistig höher entwickelt sein als das Pferd, wenn man schon menschliche Maßstäbe anlegen will, das kommt davon, weil er Jahrtausende lang in engerer Verbundenheit mit den Menschen gelebt hat als das Pferd. Er wachte und schlief, fischte und jagte, aß und trank mit den Menschen und behielt ihn ständig im Auge. Ein Pferd lernt das Ziehen und Gehen unterm Sattel unter Zwang, niemals tut es etwas freiwillig. Braucht man es nicht mehr zur Arbeit, dann stellt man es weg und überläßt es sich selbst. Erklärlich, daß es geistig nicht so entwickelt sein kann wie der Hund, der auch um den Menschen ist, wenn es für ihn nichts zu tun gibt. Trotzdem ist das Denkvermögen des Hundes nicht mit dem seines Herrn zu vergleichen. Auf tausendmal gesehene, immer gleichbleibende Handlungen, nur seinem Herrn eigene Bewegungen, den immer gleichbleibenden Wort- und Tonformulierungen folgen tausendmal dieselben Ereignisse, gute oder böse — das lernt der Hund aus der Erfahrung deuten und verhält sich entsprechend. Im Tonfall erkennt er die Stimmung, an den Bewegungen die Absicht seines Herrn oder eines Menschen — aus Erfahrung." Tiefe Schnarchtöne verkünden, daß die anderen interessiert zugehört haben; nur Breinel hat den Kopf auf die Arme gestützt und lauscht den Worten des alten Jägers. „Wollen jetzt schlafen, heute abend müssen wir weiter, wer hat Wache, Breinel?" „Senf, Herr Oberleutnant." „Also, denn gute Nacht allerseits." Leise stieben feine Flöckchen vom eisgrauen Himmel und setzen sich auf die Plane, unter der die müden Landser einschlafen. In Taganrog finden die Pferde zwei herrliche Ruhetage in einem dichten Schuppen nahe dem Meere. Breinel macht die Schmiede einer Veterinär-Kompanie aus und läßt alle beschlagen, denn ihre Hufe sind lang und spitz geworden, die Eisen zu eng und zu klein. Schon vor Rostow hat der Essenrüpel beide Hintereisen verloren und geht seither barfuß. So abgetrieben der Bursche ist, Schwierigkeiten muß er beim Beschlag machen, so daß der Beschlagmeister ihm erst die „Brille" auf die Nase setzen muß, jenen Zwangsknebel, mit dem man widerspenstige Brüder zur Raison bringt. Endlich können sich die Männer mit warmem Wasser einmal wieder waschen, die erfrorenen Glieder behandeln und ein paar Wintersachen organisieren. Hartmann hat auf der Kommandantur die Stammeinheit auch nicht ausfindig machen können — also weiter nach Mariupol. Diese Marschwoche nehmen sie sich Zeit und haben mit den Unterkünften auch mehr Glück. Zwar schneit es noch viel und dicht, aber der eisige Ostwind ist nicht mehr so
schneidend fühlbar — ob er sich hinter den Bodenwellen bei Taganrog gebrochen hat? Fragend und stehenbleibend betrachten Soldaten und Zivilisten die beiden sonderlichen Fahrzeuge, die gegen mittag gemächlich dahintrottend in der geruhsamen Etappenstadt einziehen. Hartmann findet die Stammeinheit, die sie in warme Winterquartiere aufnimmt. Es waren wenige von den ehemaligen Angehörigen, die wiederkamen. Die Männer Hartmanns, Duran und die drei anderen Pferde waren die letzten, nach ihnen kam niemand mehr. Sie liegen zusammengeschossen, verhungert, in den Sielen zusammengebrochen und erfroren irgendwo im Schnee zwischen Dnjepr und Stalingrad — irgendwo in der Steppe.
ZWISCHEN DNJESTR UND PRUTH IM L AND E DE R TRA UB EN
Sommer 1944. Träge und müde fließt der Dnjestr dahin in die große Bucht am Schwarzen Meere. Sirrend und singend schießen große Libellen und winzige Stechmücken an seinen Ufern dahin, besonders da, wo sie verschlammt sind. Brütend und sengend brennt die Sonne vom wolkenlosen Himmel. Ganz hoch zieht ein Schwarm kleiner, schneller Vögel, wer ein schlechtes Auge hat, kann sie kaum erkennen — sie scheuen die Nähe der schnöden Erde. Verschwunden sind die Wasservögel an den Ufern und im Strome, dahin, wo es ruhiger und friedlicher ist — aber wo könnte das sein in diesen bösen Tagen? Ab und zu paukt ein Abschuß auf, zieht singend und orgelnd seine Bahn am glühenden Himmel, um irgendwo einzuhauen in brennender Erde mit schwarzer, aufwirbelnder Wolke. Dann ducken sich ein paar Köpfe und spucken den Staub aus — unanständig, bei solcher Glut noch hastige Bewegungen zu verursachen. Eine Wegstunde ab vom Flusse liegt in einem verschlafenen Neste die neuaufgestellte Kompanie Hartmann. Unter den breiten Veranden und Sonnendächern lümmeln sich die Leute und gähnen. Große Brummer setzen sich auf Hände und Gesicht, werden weggeklatscht und sitzen wieder auf derselben Stelle. Hartmann hat ein Brett auf die Armlehnen seines Langstuhles gelegt und schreibt — was soll man tun, um die Zeit zu vertreiben? Neben seinem Hause stehen unter einem Schilfdach ein paar Pferde, sie passen gar nicht in den allgemeinen Rahmen und auch gar nicht zusammen, das kleine Rollmopsgespann und die beiden größeren. Doch die strengen Maßstäbe der Friedensmusterungs-Kommissionen sind im Staub der Akten versunken, ihre Idealbilder sind tot oder verschollen. Paarweise etwa zusammengepaßt wird alles in die Sielen gesteckt, was leidlich gesund ist und laufen kann. Und daß sie gesund sind und laufen können, Tage und Nächte, Nächte und Tage, das hatten die Vier bereits bewiesen auf einem endlosen Wege unsagbarer Entbehrungen, die Rollmöpse, der Essenrüpel und Duran. Die Bitte, alle zusammenzulassen, wurde gewährt, warum sollte man auch den großen Leiden noch die Schmerzen der Trennung hinzufügen, wenn irgendwie vermeidbar? Durans Leib glänzt wohlgenährt im Spiel von Schatten und Licht, nur seine Form im ganzen ist eckiger und kantiger geworden, die tiefen Gruben über den Augen haben sich nicht wieder gefüllt, auch Maul und Lippen stehen nicht mehr so fest geschlossen beieinander. Wenn er in der Mittagsglut eingeschlafen ist, den Leib prall gefüllt mit gebrochenem Mais, dann hängt die Unterlippe herab und schaukelt ein wenig. Tief ist auch sein Kopf gesenkt, bis über die Vorderknie, und läßt den Widerrist scharf wie ein spitzes Giebeldach hervortreten. Die Rollmöpse sind schneckenfett, soviel Kraftfutter haben sie in ihrem Leben noch nicht auf einem Haufen gesehen, geschweige denn gefressen. Der Essenrüpel ist in seinem Element, jedes heruntergefallene Korn sucht er am Boden auf und, wenn nichts mehr da ist, zerrt er am Schilfdache herum. Sein Magen ist ein unergründliches Loch. Noch in der Morgendämmerung ziehen alle hinter das Dorf auf eine riesige Weide. Die am Tage ausgebrannten Halme heben sich, vom Nachttau erfrischt, und geben allen Pferden reichliche Nahrung. Wenn es heiß wird, ziehen sie heim unter die Sonnendächer und schlafen bis zum Mittags-Mais. Groß und blau reifen die Trauben. Heiß und unerträglich sind die Nächte, die Männer liegen halbnackt auf den Terrassen und klatschen im Halbschlaf nach den sirrenden Quälgeistern. Hartmann ist im Langstuhl eingeschlafen, als ein Reiter bei der Kompanie ankommt. „Meldung für die Kompanie", ruft er dem wandernden Posten zu. „Dort ist der Chef", antwortet der junge Rekrut. „Wo kommst du denn her?" Der Reiter treibt sein Pferd an und reitet zu Hartmann, ohne dem neugierigen Rekruten zu antworten. Hartmann liest, leise vor sich hinsprechend: „Die Kompanie stellt morgen vier bespannte Wehrmachtsfahrzeuge ab, nach vorn, zum Munitionieren. Meldung der
Fahrzeuge vier Uhr in X." Hartmann zündet die Petroleumlaterne an und langt nach der Karte. „Hm", murmelt er, „das wäre also in die HKL ganz vorn — gut. Suchen Sie sich ein Quartier und lassen Sie sich zu essen geben." „Breinel!" „Hier, Herr Oberleutnant!" „Also sehen Sie mal, morgen früh vier Uhr, vier Fahrzeuge nach X — wen nehmen wir da, was meinen Sie?" „Wird nicht lange dauern, ich schlage unsere Pferde vor und die Fahrzeuge von Kloß und Ebeling — wir müssen auch mal wechseln —, unsere Gesellschaft hat nun seit Monaten gefaulenzt, die brauchen mal wieder etwas Bewegung." „Also einverstanden, fahren Sie zu rechter Zeit ab, und daß mir nichts passiert...!" „Jawohl, Herr Oberleutnant." Glockenschlag ein Uhr rollen vier Fahrzeuge zum Dörfchen hinaus, frontwärts. Ein Stern nach dem anderen verlöscht, grau — violett färbt sich der Himmel, und schließlich wird es hell. Strahlend wie jeden Tag erhebt sich der Sonnenball hinter der Bodenwelle am Horizont und überflutet das Land zwischen Dnjestr und Pruth mit goldenen, brennenden Strahlen. Punkt X, ein Dörfchen mit ein Dutzend Hütten und Scheunen, die Protzenstellung einer leichten Batterie, ist erreicht. Hüben und drüben herrscht himmlische Ruhe, nur am Himmel brummen ein paar Flugzeuge, vom Einsatz heimwärts fliegend. Duran hebt den Kopf und zappelt nervös, auch der Rüpel hat sie gesehen und schnarcht. Der Spieß der Batterie weist den Gespannen einen sichtgeschützten Platz an und erklärt, daß mit Einbruch der Dunkelheit Munition aus dem C-Depot herauszukarren ist. Den ganzen glühenden Tag über stehen und dösen sie im Schatten eines überhängenden Daches. Langsam wird es dämmrig, Millionen stechender Insekten erheben sich und erfüllen mit ihrem monotonen, metallischen Singen den schwülen Abend. Um zehn Uhr brechen sie auf und karren die ganze Nacht, bis es wieder grau und dämmrig wird. „Heute ist eine Ruhe — ich weiß nicht, das gefällt mir nicht", sagt der Spieß zu Breinel, der mit ihm gemeinsam ein fettes Huhn verspeist. In der Nacht dieselbe Tour wie in der vor hergehenden — nichts stört die Bewegungen. Fahlgrau wird wieder der Himmel, als sie mit den letzten Granaten hinterm Dorf ankommen. Die Fahrer ziehen die Planen hoch und lösen die Haken aus dem hinteren Wagenbrett. Da paukt ein Abschuß drüben auf, und während er pfeifend seine Bahn zieht, folgen mehrere. Ein kurzes Zischen — ohrenbetäubend jagen die Einschläge mitten ins Dorf. Hochauf in den fahlen Himmel jagen Fontänen von Dreck, Staub, Balken und Brettern. Immer neue Lagen fauchen zischend heran und stülpen das Dorf mit den Protzen um. Vorn gehen Leuchtkugeln steil hoch in den Himmel. Ununterbrochen trommelt die feindliche Artillerie auf den Raum zwischen Fluß und Dorf. Aus den schwarzen, spuckenden und quirlenden Rauchwolken stürmen führerlose Gespanne heraus, irrsinnig vor Schreck, bäumend und galoppierend. Duran war mit Breinel und dem Essenrüpel bei den ersten Einschlägen hinter einem Erdwall in Deckung gegangen, jetzt verhüllt schwerer, schwarzer Qualm jede Sicht. Breinel hat Duran und den Rüpel am Zaumzeug zu fassen gekriegt und will die Deichselketten von den Brustblättern lösen; da trifft ihn der schwere Schlag eines herniederwirbelnden Balkens an Kopf und Schulter, daß er zusammenstürzt. Hochauf bäumt Duran und setzt mit der todbringenden Last an den Zugtauen über ihn hinweg. Im orgelnden Heulen sprengen die Pferde vom Dorfe ab, der schwere Karren schaukelt, schwankt und tanzt über Steine und Gräben. Da gibt es einen Ruck — wie von einer Riesenfaust zurückgestoßen, stürzen die Pferde, sich überschlagend, zu Boden, wälzend, quirlend und sich in den Geschirren verhaspelnd. Zwei vollbespannte Geschütze jagen an ihnen vorbei, dazwischen hasten Männer mit qualmgeschwärzten Gesichtern. Duran wird von einem furchtbaren Hufschlag seines wild um sich schlagenden Kameraden in den Leib getroffen, daß er dumpf aufstöhnt und mit der abgebrochenen Deichsel auf den Rücken rollt. Immer mehr Geschütze, teilweise bespannt, die leichten vielfach von den Männern
geschoben und gezogen, rasen an ihnen vorbei und gehn hinter einer Bodenwelle in Stellung. Gestützt vom Fahrer Kloß, taumelt Breinel, den Kopf unordentlich verbunden, ohne Jacke mit blut- und dreckverkrustetem Hemd, über das ausgedörrte Feld. „Langsam", stöhnt Kloß, „das muß doch unser Wagen sein, leg dich einstweilen lang, ich schneide schnell die Taue durch." Eine schwere Lage zwingt beide zu Boden neben den Granatenwagen. Sie ging weit über sie hinweg, auf den Kamm der Bodenwelle. Da springt Kloß auf und schneidet, reißt und zerrt. Duran spürt, wie die schmerzhaften Einschnürungen um seinen Körper sich lösen, mit größter Anstrengung quirlt er mit den Beinen, sich mit Schwung auf die Brust wälzend. Einen Moment verharrt er, dann springt er auf und steht zitternd neben dem Essenrüpel, der immer noch verstrickt in den Sielen und Tauen auf dem Bauche liegt. Kloß schlägt ihm eins über den Kopf, aber er rührt sich nicht. Ein halb Dutzend Infanteristen kommen im Laufschritt an, die Gewehre über den Rücken gehängt. „Kommt doch mal einen Augenblick, Kameraden, das Pferd aufheben, bloß mal mit anfassen", bittet Kloß die Leute. „Mensch, hau ab und laß den Schinder liegen, sie sind auf unsre Seite übergesetzt, alles niedergedroschen und überrannt, gleich wird es im Dorfe knallen, nur los, auf die Höhe dort, hier hat ja kein Mensch Schußfeld!" schnattern sie hastig durcheinander. „Nur mal umdrehen helfen", fleht Kloß, „das sind doch unsere Pferde, ich kann die doch nicht einfach liegenlassen." Zwei alte Kerle fassen an Widerrist und Schwanz an, schau keln einige Male wippend und kippen den armen Rüpel auf die Seite. „Da", sagt der eine Soldat, mit dem Finger auf den Leib weisend, „nun hau aber ab, dem hängen ja die ganzen Därme raus, der ist ja längst tot", und will sich zum Gehen wenden. „Juuuuu", heult wieder eine schwere Lage heran, und noch ehe sie sich besinnen, wirft sie der Luftdruck der krepierenden Serie zu Boden, den alten Mann mitten hinein in das Gedärm des toten Rüpel. Duran ist stehengeblieben, zittert ein wenig auf der Hinterhand und setzt sich wie ein Hase auf die Keulen. Kloß ist aufgesprungen und würgt den todwunden Breinel hoch. „Nehmt das Pferd mit", schreit er den sich erhebenden Leuten zu, schnell, ehe die nächste Lage kommt, macht doch, los, weg hier...!" Einer der Infanteristen faßt Duran an den Resten des Halfters, der andere schlägt ihm die Flinte ins Kreuz. — „Auf -los!" Mit dem auf drei Beinen hinkenden Duran torkeln sie so schnell wie möglich der Bodenwelle zu. Über dem Brückenkopf jagen Tiefflieger dahin und schuppern mit Bordwaffen in Menschen und Tiere. Eine Stunde fast sind sie gehumpelt, immer das Pferd antreibend. Breinel hat viel Blut verloren und sieht fahl aus, wie eine Kalkwand. „Laß uns ein paar Minuten setzen", stöhnt er, „ich komme sonst nicht weiter — guck mal nach, warum das Pferd so humpelt." Dreck und Staub, Schweiß und Schmiere bedecken das Fell des guten Tieres. Am Dickbein sperrt eine große Wunde mit verkrustetem Blut und herabhängenden Hautfetzen. Kloß stopft ein Verbandspäckchen hinein, aber es hält nicht und fällt zu Boden. „Einen Splitter wird er haben", sagt Kloß, „komm, wir wollen weiter...!" Stöhnend erhebt sich Breinel und taumelt mit bleichen Lippen weiter. Hoch und brennend steht jetzt die Sonne am Himmel; Blutverlust und Durst schwächen die Verwundeten zum Umfallen. „Haben wir noch Kaffee?" fragt Breinel, seiner Stimme mit Gewalt einen lauten, scharfen Ton gebend. „Ich hab noch die ganze Flasche", antwortet Kloß und angelt nach dem Koppel. „Nanu, das Ding is aber leicht, sie war doch voll, guck, hier ein Loch, hüben rein und drüben raus, und mir nicht einmal die Hose naß gemacht. Das nennt man Schwein!" Am Spätnachmittag taumeln sie in ihr Dorf, das einem aufgescheuchten Ameisenhaufen gleicht. Die Mannschaft ist im Halbkreis um den Ort in Stellung gegangen, eben kommen
leichte Panzer an und quetschen sich, Tarnung suchend, an die Häuser. Immer mehr Verwundete treffen ein und lagern am westlichen Ortsausgang. Von Hartmann ist nichts zu sehen, er wird draußen liegen vor dem Dorfe. In der Nacht trifft eine SanitätskompanieMot. ein und schafft weg, was nicht laufen kann. „Kloß", sagt Breinel, im alten Quartier auf der Pritsche fiebernd — „ich werde jetzt mit einsteigen, hier bin ich bald abgekratzt. Weißt du was von unsern Panjes und dem Ebeling?" „Ich habe sie nicht gesehen, sie waren bei der letzten Fahrt aber hinter uns — ein ganzes Stück. Möglich, daß sie Kehrt gemacht haben mit der Muni, als der Rummel in dem Nest losging." „Hm, ich weiß, wo ein Pferdesammelplatz ist, das ist hier hinten in dem großen Ort. Sicher fahren die uns auch dorthin; wenn es geht und der Platz Fahrzeuge hat, bitte ich, daß man ein paar schickt — es kommen doch bestimmt noch mehr Pferde —, sorge dafür, daß unserer mitkommt, und erzähl alles Hartmann." Durans Bein schwillt unförmig an, ihm wird abwechselnd heiß und eiskalt, obwohl die Luft unerträglich schwül ist. Verschwommen hört man von Osten das Rumpsen von Ein schlägen und das ruckweise Stuckern schwerer Maschinengewehre. Kloß wäscht ihm die Wunde mit eiskaltem Wasser aus und schüttet eimerweise kaltes Wasser am Bein her unter zur Kühlung. Der gute Kloß, den ganzen glühenden Tag wedelt er die Fliegen ab, die sich immer wieder in ganzen Trauben auf die Wunde niedersetzen. Ob denn die Pferdetransportwagen in der Nacht kommen? — Wenig Hoffnung — und was soll dann werden, laufen kann er doch nicht mehr, denkt er, schüttet und wedelt. Unerträglicher, spannender und ziehender Schmerz quält Duran den ganzen Tag. Er möchte sich legen, ganz lang hinlegen in den kühlen Schlamm unter seinem Bauche. Sobald er aber ansetzt und seine Beine unter dem Leibe versammelt, fährt es ihm wie eine glühende Lanze durch Mark und Bein. Nur auf drei Beinen kann er noch stehen und knirscht vor bohrendem Schmerz mit den Zähnen. Seine fiebernden Augen starren die Wand an und die Maiskiste, die ihm Kloß gefüllt hingestellt hat. Nur Durst, quälenden brennenden Durst — gierig fährt er in den Zinkeimer und saugt ihn bis zum Boden leer. Als die Dämmerung hereinbricht, geht Kloß ein Stück die Trampelstraße entlang, die nach Westen, dem Pruth zu, führt. Eine lange Kolonne Infanterie kommt müde und mit gesenkten Köpfen angependelt. „Habt ihr Transportwagen gesehen?" fragt er die ersten. „Nee", antworten ihm die erschöpften Landser. Da setzt er sich an den Rand der Straße und lauscht, aber nichts ist zu hören als das ferne Schießen. „Ob sie einen andern Weg gefahren sind? — Ich warte mal lieber am Dorfe", murmelt er vor sich hin und zottelt dem Dache wieder zu, unter dem Duran steht. Wieder lauscht er auf das eine Geräusch aus dem Westen — manchmal bildet er sich ein, etwas zu hören, aber das Brummen verschwindet wieder, anscheinend sind es Flieger, die zum Einsatz fliegen.
Bleierne Müdigkeit befällt seine Glieder, langsam sinkt sein Kopf vornüber. Ein Hupen läßt ihn plötzlich hochschnellen, was war das? Dumpfen Kopfes stiefelt er nach der Straße, wo eben zwei hochbordige Lastwagen mit Anhängern stoppen. „Daß ich sie nicht gehört habe — ich muß doch eingeschlafen sein", murmelt er, seine Schritte vergrößernd. „He, komm mal her, du, hier im Dorfe sollen verwundete Pferde stehen", ruft ihn ein langer Kerl an. „Weißt du was?" Freudig schlägt er dem Mann auf die Schulter. „Ja hier, kommt, ihr seid richtig, mein Pferd dort..." stammelt er und zerrt den Langen am Ärmel fort. Da gellen auch schon langgezogene Befehle durch den Ort; die Männer vom Pferdesammelplatz rufen sie, die Hände trichterförmig an den Mund haltend, nach allen Seiten aus: „Pferdesammelstelle Ortsausgang Westen — alle verwundeten Pferde sofort dorthin! — Achtung! Herhören! Pferdesammelstelle Ortsausgang Westen...!" Zwischen den Hütten wird es lebendig. Stocklahme, zerschossene und abgekämpfte Pferde werden die kurze Strecke bis zu den Wagen geschoben, gezogen und gequält. Unter wahnsinnigen Schmerzen humpelt Duran auf drei Beinen Schritt für Schritt voran. Da packen ihn sechs kräftige Kerle, legen ein dickes Tau um seinen Hintern und schieben ihn die herabgelassene Laufbrücke hinauf in den Kasten. Wie die Heringe in der Tonne werden sie eng aneinandergepreßt, quer zur Fahrtrichtung eingeschoben. Als der letzte Gaul kaum noch Platz zum Stehen hat, heben die sechs die Laufplanke an und pressen den Deckel an die Klinken. Die sechs arbeiten rücksichtslos — da gibt es kein Sträuben und kein Zerren, dem untergelegten Tau kann sich keiner widersetzen. Klappe zu — voll, der nächste! Als die Wagen zum Bersten voll sind, steigen die Männer auf und werfen die Motoren an. „Ja und ich...?" ruft fragend ein Mann mit einem kleinen, schwarzen Pferd, das anscheinend eine schwere Wunde an der Brust hat. „Voll!" ruft ein Mann vom Trittbrett des Wagens herab. „Ich bin noch der einzige, soll denn mein Pferd als einziges hier bleiben?" bittet er. „Voll, sage ich, was voll ist, ist voll, siehst doch, Mensch, daß da keine Latte mehr drauf geht, schieb ab...!" Die Räder rucken an, und die Wagen voll Schmerz und Qual rollen auf
dem Trampelweg nach Westen ab, stoßend und schaukelnd wie große, alte Segler.
Kloß hat sich auf eine Kiste gesetzt und wischt mit der Hand über seine großen,
übernächtigen Augen. Da nimmt der Mann das kleine, schwarze Pferd mit der Wunde
an der Brust um den Hals und verschwindet humpelnd in der weiten Nacht.
Kloß folgt ihm ein Stück, aber sie gehen immer weiter und sehen sich nicht um...
Kloß dreht um und geht an die Stelle, an der Duran gestanden hatte. Auf der Maiskiste
sinkt er nieder und starrt in die Nacht, in der der Wagen mit Duran verschwunden war.
Wachtmeister Havekamp macht im Sammelplatz Meldung: „Neunzehn Pferde zur Stelle,
keine besonderen Vorkommnisse."
„Danke", sagt der Staffelführer, „welche marschfähig?" „Glaube nicht", antwortet
Wachtmeister Havekamp, „das sind alles Lazarettfälle, schlage vor, wir tränken und
fahren weiter nach B. zur Kompanie — in drei Stunden müssen wir dort sein, der Weg ist
trocken und hart." „Also gut, haltet euch nicht lange auf und schlaft erst mal bei der
Kompanie ein paar Stunden. — Wie steht es mit dem Brennstoff?" „Reicht aus."
„Also dann Beeilung und ab nach rückwärts, was sollen wir denn hier damit?"
Hoch steht die Sonne am glühenden Himmel, als die Wagen im Städtchen B., jenem
mücken- und fiebergeschwängerten Orte an der Mündung des Jalpuch in den riesigen
Sumpfsee, ankommen.
IM LAZARETT
Sofort wird die Laufbrücke herabgelassen und entladen. Die meisten Pferde sind bocksteif und müssen auf Stangen, die man unter Leib und Brust schiebt, von einer Trägerkolonne herab und in die Ställe der chirurgischen Abteilung getragen werden. Duran strampelt mit den drei Beinen und will mitlaufen, aber die strammen Kerle halten die Stange zu hoch, und er kann den Boden nicht erreichen. Die geräumigen, kühlen Stallungen der rumänischen Artilleriekaserne bieten reichlich Platz für alle. Punkt drei Uhr erscheint Oberveterinär Dr. Trinks. Er ist ein ruhiger Praktiker und Chirurg, aber kein guter Soldat. Er legt auch keinen Wert darauf und macht auch kein Hehl daraus. Seine Lebensbestimmung liegt auf einem anderen Gebiet. Der älteste Unteroffizier des Operationspersonals macht Meldung: „Achtzehn Zugänge, eins tot abgeladen, alles schwere Fälle." „Na schön, also dann los. Ablegematten aufrollen, Narkose fertigmachen und... Prinzler... die Instrumente." Einer nach dem anderen wird geholt und in dem zur Operationshalle umgewandelten Geschützschuppen behandelt. Duran humpelt wie ein Lamm zur Stätte des Schmerzes und blickt mit ängstlichen Augen auf die Männer in den weißen, leinenen Kitteln. „Der scheint ja einen anständigen Splitter erwischt zu haben", meint der alte Spezialist und langt nach der langen, geknöpften Stahlsonde in der weißen Emailleschüssel. Vorsichtig sondiert er den Wundkanal nach allen Richtungen. An einer Stelle findet die Kugel der Sonde harten Widerstand. Vorsichtig stößt Trinks mehrmals dagegen. „Ruhig mal alles", befiehlt er, „hören Sie, Prinzler, wie das anstößt, täck, täck — hier muß er sein. — Lange Kornzange!" An der Sonde entlang führt er den Schnabel der Zange ein, bis er ebenfalls anstößt. Jetzt öffnet er die Schenkel und faßt zu. „Ratsch" macht es, und „abgeschnappt", sagt Dr. Trinks. Noch einmal faßt er zu, jetzt hat er ihn wieder und drückt die Sperre an den Zangenschenkeln ein. Vorsichtig zieht er an, Duran hebt das geschwollene Bein und krümmt sich vor Schmerz. Langsam läßt der Widerstand in der Wunde nach, und „tatsch" fliegt die lange Zange mit dem großen, zackigen Granatsplitter im Maul in die weiße Schale. „Donnerwetter", staunt Assistent Prinzler, „das ist ein Bursche, was kann der wiegen — bald ein halbes Pfund?" „Na, so ungefähr, scheint aber von weiter her gekommen zu sein, viel Wucht hatte er nicht mehr, sonst hätte er weiter durchgeschlagen", meint Trinks, „also mal weiter. Wunde tüchtig durchspülen und RivanolStäbe einschieben, das ganze Bein mit Kühlbrei anstreichen. — Haben eigentlich alle die Starrkrampfspritzen bekommen?" „Jawohl!" „So, also dann weiter...!" Einer nach dem anderen verläßt den Operationsstand und verschwindet im kühlen Stall. Nach Entfernung des Splitters geht es Duran merklich besser, die Wundspülung und der Kühlbrei tun ihm wohl. Schon am nächsten Morgen versucht er vorsichtig, die Hufspitze des verletzten Beines tastend dem Boden zu nähern. Eitriges, braunschwarzes Wundsekret quillt aus dem faustgroßen Wundloche hervor und vermischt sich, am Bein herunterlaufend, mit dem rosafarbenen Kühlbrei zu einer schmutzigen, stinkenden Schmiere. Täglich kommt er zur Behandlung; die Reinigung der Wunde schafft ihm immer wieder Erleichterung. Bereits nach drei Tagen läuft er langsam, auch mit dem kranken Beine wieder leicht auftretend, allein in den Behandlungsraum. „Granuliert ganz schön zu", sagt Dr. Trinks anläßlich einer Durchsicht, „in vierzehn Tagen kann der mit zum Weidekommando. Ihr glaubt ja gar nicht, was frische Luft und Sonne für ein Doktor ist."
SORGEN HOHER HERREN U ND EIN AUSSEN SEIT ER
Auf der Terrasse des Kasinos, die einen herrlichen Überblick über den See bietet, haben die Herren die Gläser mit schwerem, bessarabischem Wein gefüllt. Der Flieger vom Dienst ist wieder heimgeflogen, ohne Eier abzuwerfen. Strahlend wie eine Ampel geht der Mond auf und versilbert die Kämme millionenfach sich kräuselnder Wellen, die die leichte Abendbrise hin und her fächelt. Wie ein riesiger Strom von reinem Silber liegt er da, der See, aus dem sich jetzt Milliarden teuflischer Moskitos erheben und die Luft erklingen lassen. „Also denn zum allseitig geneigten Wohle, meine Herren, ein bezauberndes Bild, ein bezaubernder Wein — nur die bezaubernde Frau fehlt noch —. Wohl bekomm's", rezitiert der Herr Chef, nimmt sein Glas an den zweiten Jackenknopf von oben gerechnet und verneigt sich hölzern nach allen Seiten. Man schlürft! Zwecks weiterer Gesundung folgen die bekannten gegenseitigen Ovationen mit oder ohne Sich-Erheben, je nach Dienstgrad — die Stimmung steigt, die Welt wird schöner mit jedem Schluck. Der Chef öffnet den Kragen, es ist warm wie in den Tropen, der schwere Wein heizt zusätzlich die Köpfe. Im Fensterstock steht das Radio und spielt Strauß und Lanner aus Wien. Der Chef lehnt sich im Stuhle zurück, dirigiert summend mit beiden Händen und blickt versonnen auf die silberne Platte des Sees. Ja, Madame Romania mit den Blüten im Ohr und dem rabenschwarzen Haar, die goldbraune, blutjunge Katze — wie kommt bloß der alte Knabe von einem rumänischen Ortskommandanten zu so einem Wunder von Charme und Feuer, denkt er. Selbstverständlich, die täglich überreichten Blumenarrangements des Chefs, seine betont sportliche Haltung, die Morgenpromenade auf tänzelndem ausgesuchtem Pferde in weißer Litewka haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Schade nur, daß er über das „bon jour, madame!" nicht hinauskommt und auffällig lange ihre schmale Hand küßt, während der dicke Ortskommandant mit Tellermütze und riesiger, grüner Sonnenbrille im satten Besitzerstolz ölig grinst. Wenn Dr. Trinks nicht parat ist und dumme Phrasen auf französisch verdolmetschen kann, kommt das ganze Arrangement ins Stocken. Aber, ab nächster Woche fährt der Dicke zur Inspektion an die Front, das hat man herausgebracht — da muß man weiterkommen. Der Walzer ist aus, der Chef erwacht aus seinen Träumereien. „Also, meine Herren, prost erst mal, nächste Woche, Sonnabend denke ich, werden wir Madame Romania mit Gefolge zu Gast haben", platzt er heraus und wartet auf Applaus. „Wenn wir noch hier sind", entgegnet Trinks. „Wieso ?" schreit der Chef, aus seiner Traumillusion ob dieses Einwurfs jäh aufschreckend, „gefällt es Ihnen vielleicht hier nicht — was?" „Es dürfte der Aufmerksamkeit der Herren entgangen sein, was sich bei Jassy, am Pruth und am Sereth da oben tut. — Es wäre ratsamer, darüber nachzudenken, ob wir nicht einstweilen unsere Lazarettpferde über den Sereth an die Berge verlegen, ehe die bessarabische Mausefalle zu ist — anstatt Vorbereitungen zu einer Fete mit Madame Romania zu treffen", entgegnet, vom Wein mutig erregt, Oberveterinär Dr. Trinks. „Was sagen Sie da?" schreit aufspringend der Chef, dem Radio abwinkend, aus dem schrille Saxophone aufkreischen, „Sie wollen verlegen? — Ausreißen wollen Sie und machen mit Ihrer Miesmacherei den ganzen Laden verrückt. Sie hören wohl Feindsender? — Sie melden sich morgen um elf Uhr im Ordonnanzanzug bei der Armee — ich werde Ihnen helfen." Mit einer jähen Kehrtwendung ist der Chef, sein Glas verächtlich umstoßend, raschen Schrittes im Hause verschwunden. Die Herren erheben sich peinlich berührt und greifen nach Mütze und Koppel. Oberveterinär Dr. Trinks wird nie in seinem Leben Stabsveterinär.
Anfang August 1944, kurz nach drei Uhr, verläßt ein leichtes Wägelchen, von zwei Trabern gezogen, den Ort. Die wenigen Sachen Dr. Trinks' und seines Fahrers und ständigen Be gleiters sind im Wagenkasten verstaut, obendrauf, ganz sorgfältig in einem Beutel zusammengelegt, die neuen Moskitonetze, die man sich unter großen Schwierigkeiten organisiert hat. Hinter dem Ort ziehen die Männer die Röcke aus und setzen die Mützen ab, der alte Obergefreite Graf schnalzt durch die Zahnlücke, und die Laufmaschinen springen an. Mühelos, ohne zu schwitzen, werden sie die zweiundvierzig Kilometer lange Strecke bis hinauf zum Weidekommando nach D. in zweieinviertel Stunden zurücklegen, ohne eine Pause, ohne einmal zu halten. Das sind zwei kohlschwarze, bessarabische Hengste, edelstes Blut und dabei fromm wie die heiligen Lämmer. Jedes Kind kann mit ihnen spielen und unter ihrem Bauch herumkriechen. Herrlich federn ihre formvollendeten, schlanken Leiber in stets gleichbleibendem Rhythmus dahin; kaum daß die Hufe den Boden berühren und ein Wölkchen Staub aufwirbeln. Riesenlang ist der Schritt ihrer trockenen, schlanken Beine — zwei herrliche Pferde, zum Verwechseln gleich. Die Männer genießen die Stille des frühen Morgens und den kühlen Hauch des Fahrwindes. Trinks ist froher Laune und lehnt sich in dem ausgedienten Autositz, den man aufs Wägelchen montiert hat, zurück. „Gott sei Dank, weg von diesem Haufen, Graf, jetzt wird man wieder Mensch. Dort oben werden wir nach unserer Art leben. — Wieviel Leute sind denn eigentlich oben?" „Sieben, Herr Oberveterinär — der Melder sagte, daß sie sich freuen, wenn Sie kommen." „Wieso?" „Na, sie freuen sich eben, was soll ich da nun sagen. — Wer macht denn aber nun die Chirurgie?" „Einer, der es erstens besser kann und zweitens ein besserer Soldat ist als ich. Das Weidekommando wird meine Sommerfrische — oder soll es wenigstens werden —, hoffentlich gibt's da nicht mal eine hastige Abreise. Haben wir Radio dort?" „Ja, es ist ein guter Apparat da."
IM LETZTEN PARADIES
Herrlich strahlt die Sonne über dem welligen Lande mit den Millionen Weinstöcken, als das Wägelchen zum Gutshofe des kleinen Ortes D. hineinrollt. Alle sind wach und eilen dem Gefährt entgegen. Das ist ein Begrüßen und Händeschütteln alter, unzertrennlicher Freunde. Auf der tiefen, schattigen Säulenveranda, die das ganze Haus umgibt, steht das Frühstück für einen Fürsten bereit, von Freundeshand zum Willkommen gerichtet. „Endlich sind Sie da, wir haben uns immer so einsam gefühlt, es hieß schon einmal, daß Sie strafversetzt werden sollten, aber es war nichts, nun ist es doch geworden", sagt der Kommandoführer und packt den Koch Starke bei den Schultern. Trinks würgt der Empfang dieser guten Kerle den Hals zusammen, aber das für ein halb Dutzend Scheunendrescher berechnete Frühstück erlesenster Leckerbissen, die die alten Schlaufüchse aus dem weggeworfenen Gepäck eines eiligen Herrn aufgetrieben haben, muß hinunter. — Es wäre sonst eine ganz große Beleidigung und keinesfalls zu verzeihen. Der Abend vereint alle zu froher Geselligkeit auf der Terrasse. „Nun, was gibt es Neues in der Welt", beginnt der Unteroffizier, „wir sind ja seit Monaten ohne so die richtigen Nach richten. Wenn der Melder Bartsch kommt, ist er immer eilig, und mit der Feldpost ist es auch immer so eine Sache." „Also denn paßt mal auf, Kinder, — Graf, meine Karte — was uns am meisten interessiert, ist die allgemeine Lage, und die ist ganz kurz geschildert folgende, seht mal her", entgegnet Trinks. „Von Jassy aus stößt der Gegner herunter bis nach Galatz, und der Sack ist geschlossen, mitten drin aber sind wir. Unser Rückweg kann nur folgender sein, wenn überhaupt noch möglich: bei Cagul über den sieben Kilometer langen Damm des völlig versumpften Pruth, dann in Richtung Sereth-Buzau und hinauf in die Karpaten." „Mit den vierhundert Pferden, die wir hier haben, wie sollen denn die mitkommen?" unterbricht der Gefreite Schrater. „Tja, vielleicht treiben wie die Hammel!" „Das ist ausgeschlossen, die verkrümeln sich in die Maisfelder, und aus ist es. Man müßte jetzt geruhsam anfangen zu treiben, solange es noch Zeit ist, dann, wenn alles hopp-hopp geht — na, wir kennen das ja." „Dazu haben wir keinen Befehl", schließt Trinks die Debatte, „was dann eben mitkommt, kommt mit, die anderen bleiben zurück. Kann ich's ändern, im übrigen wissen andere Leute auch, was Pferde sind." Schon am übernächsten Tage kommt der Melder und berichtet, daß ein großer Trupp Erholungspferde und zwanzig Lazarettpferde unterwegs sind. Sofort richten und erweitern die Männer die Unterkünfte. Am nächsten Morgen treffen sie ein. Trinks unterwirft den Lazarett-Trupp einer eingehenden Besichtigung. „Seht mal den da, das war vielleicht ein Splitter, tadellos ist die Wunde verheilt — tadellos. Siehste, alter Freund, Unkraut verdirbt nicht." Klatschend und tätschelnd liebkosen seine Hände Wangen und Hals Durans. Und so ist es auch; fröhlich tränken alle am Brunnen, es ist ein Leben im Hofe wie selten zuvor. Wenn die Sonne zu glühend sticht, treiben sie ein und bleiben bis zum Abend in den Ställen, durch deren offenstehende Türen die Luft streicht. Hochauf getürmt wird das von der Pachtweide gewonnene Heu eingefahren und in riesigen Diemen gestapelt. Alle laufen sie frei herum und können nach Belieben fressen, soviel und sooft sie wollen. Ein zweitägiger Dauerregen hat die Weiden erfrischt, und munter sprießen die satten Halme empor. Durans Wunde ist völlig zugeheilt, von allen Seiten hat sich das Fell wieder über dem Wundloche geschlossen. Ein paar sorglose Tage, frei, satt und munter, verbringen so die Gequälten in Ruhe und Geborgenheit. Dr. Trinks ist viel mit dem Wägelchen unterwegs, kauft hier Heu, dort Mais und Hafer, gewinnt rasch Freunde unter den Nachbarn und — erfährt Genaues über den Stand der Dinge.
Abends kehrt er meist heim und sitzt mit allen zusammen, plaudernd oder spielend. In den letzten Tagen ist er auffallend ruhig geworden, läßt die Wagen auffahren und nachsehen und die Geschirre sorgsamer pflegen. Eines Morgens wählt er Gespann- und Ersatzpferde aus und läßt sie paarweise auffahren. „Ich glaube, es ist bald so weit, bei der Kompanie packen sie auch. Morgen früh beladen wir mit unseren persönlichen Sachen und Hafer oder Mais, soviel, wie 'raufgeht; Geschirre an die Wagen, Gespannpferde bleiben zu Hause", ordnet er an. Die übernächste Nacht schon bleiben alle wach, denn ununterbrochen strömt die Flut versprengter und zurückgehender Trosse und Kolonnen auf der Lehmstraße nach dem Damm bei Cagul dahin. Soviel Menschen und Wirrnis hat das gottvergessene Dorf noch nie gesehen. Schwere Geschütze rumänischer Artillerie und leichte deutsche Kanonen ziehen vorbei; überall haben sich Soldaten aufgesetzt oder wie Trauben angehängt, um rascher vorwärtszukommen. Trinks beschließt, noch bis zum nächsten Abend zu warten, von Norden und Osten der Feind, im Süden das Meer und im Westen Sümpfe, Flüsse und hohe Berge — die Chance ist nicht groß.
HETZJAGD DURCH SÜMPFE UND BERGE
Als der erschöpfte Kradmelder am nächsten Mittag mit dem Abmarschbefehl eintrifft, findet er alle marschbereit im Hofe. Wenige Minuten später werden die Barrieren geöffnet, der Strom der Pferde ergießt sich auf die Lehmstraße in westlicher Richtung. Im Nu sind die wenigen bespannten Fahrzeuge in einer Staubwolke eingehüllt, die die vielen hundert Hufe aufwirbelt. Nur drei Mann sind beritten, die Jüngsten und leichtesten. Mit langen Peitschen versuchen sie, wie Jagdhunde umkreisend, den Trieb zusammenzuhalten und aus den Maisfeldern herauszujagen, in die sie sich zerstreuen, um die saftigen Kolben zu benagen und die grünen Blätter auszureißen. Eine zertrampelte Wüstenei zeichnet den Weg des Triebes kilometerweit. Die zu weit ausbrechen und abgehen, wenn man sie umreiten will, läßt man laufen — zwecklos, sich abzuhetzen wegen ein paar durchgegangener Gäule. Kolonnen marschierender Soldaten werden überflutet. Wie die Bienen stürzen sich die in glühender Hitze dahinschwankenden auf die kräftigsten Tiere, hängen ihnen schnell das Gewehr um den Hals und halten sie daran fest. Brotbeutel- und Gasmaskenbänder dienen als provisorische Halfter, und schon versuchen die ersten auf die Rücken aufzusitzen, werden von den unruhigen Tieren abgeworfen, von den Nachdrängenden überrumpelt und zu Boden gerissen. Wer sitzt, zottelt an und kümmert sich nicht um die anderen, nur ein Gedanke beseelt alle — über den Damm und die riesigen Sümpfe als Rückendeckung haben. Wieder überfällt eine Wagenkolonne den Pulk und zerrt sich die besten Pferde heraus, um sie als Reservepferde hinten an ihre Wagen anzubinden — aus einem riesigen, mannshohen Maisfelde sind sie kaum mehr herauszupeitschen. Dr. Trinks fährt im leichten Wägelchen voran, ohne sich umzusehen und ohne sonderlich von dem unvermeidbaren Zustand berührt zu sein — es war ja vorauszusehen —, genau so mußte es kommen! Duran trottet inmitten des Triebes, immer genau hinter dem letzten Geschirr, ihn irritiert nicht der grüne Mais und nicht das heisere Schreien und Peitschen aufgeregter Reiter und Soldaten. Dick verklebt der Staub seine Nüstern und legt sich beklemmend auf die Lunge — trinken möchte er, einen ganzen Eimer voll auf einmal. Schon mehrere Kilometer vor Cagul stauen sich Menschen und Fahrzeuge, übergehen rechts und links ausbiegend die Marschstraße, um rascher von der Seite kommend an den Eingang des Dammes, der hier das riesige, von Norden nach Süden ziehende Sumpfgelände des Pruth überquert, heranzukommen. Sich zwischen den Kolonnen drängend, umgehend, zwängend und schiebend erreichen sie erst gegen Mitternacht den Eingang. Hier hatte der Trieb die meisten „Abgänge", denn jeder Wagen und jeder Marschierer verschaffte sich Reserve oder ein Reitpferd, um rascher vorwärts zu kommen. Wenig über hundert Tiere strömen, sich zwischen die Wagen klemmend und an den Rändern des Dammes trottend, hinein in die sieben Kilometer lange Sumpf-Straße. Von hastenden, aufeinander auffahrenden Gespannen und von ungeduldig hupenden Lastwagen werden viele über den Bord der Straße hinabgedrängt in den tückisch lauernden Sumpf. Mehrmals überschlagen sie sich, kommen wieder halb hoch, stapfen und würgen sich bäumend und immer tiefer sinkend im schmatzenden Morast, bis nur noch der Kopf frei ist. Wenn nicht das Hupen, Rattern und antreibende Schreien alles andere übertönte, würde man vielleicht manches versinkende Tier schreien hören — aber der Lärm der Panik verschlingt ihren letzten Sterbenslaut. Tückisch glänzt eine Wasserfläche rechts vorn im fahlen Mondlicht. Wasser..., trinken, Wasser! Schon brechen die ersten von der Straße herab. Schnell ein paar Schlucke der fauligwarmen Brühe aufgesogen und zurück die Böschung hinan auf den Damm, aber — der Schlamm hält die Hufe fest, immer zäher legt er sich um die schlanken Beine und zieht sie immer tiefer hinab. Noch zehn Schritte und der feste Boden der Dammböschung wäre erreicht — aber nur wenige von den Gierigen erreichen ihn. Wieder zieht gurgelnder Morast
hinab, was sich in seine tückischen, lockenden Fangarme warf. Als der Trieb in Cagul und am Eingang zum Damm dahinschmolz wie Butter in der Sonne, hatte Dr. Trinks angeordnet, einige gute Pferde für den eigenen Bedarf als Reserve an die Wagen anzubinden. In dem Gedränge und Gewühl von Menschen, Pferden, Wagen, Kraftfahrzeugen und Geschützen gab es da kein großes Wählen. Den nächstbesten Tieren flog eine Schlinge über den Kopf, und die Reserve war gesichert. Duran, der immer noch hinter dem letzten Wagen tapfer hergetrottet war, flog ein dicker Hanfstrick um die Ohren, ein rascher Knoten, und schon war die Marschroute für ihn vorgezeichnet. Neben ihm ist eine gleich große, aber magere Stute mit stark durchgebogenem Rücken am hinteren Schieber mit einem Telefonkabel festgemacht — die Reserve für den letzten Wagen ist gesichert. Endlich ist das Ende des Dammes erreicht, und der Strom der Fahrzeuge und Menschen schiebt sich in die Straße nach Galatz hinein, die genau neben der Bahnlinie nach Süden führt. Kaum fünfzig Pferde mögen es noch sein, die den Wagen folgen und zusammenbleiben, jetzt sogar, da sie angebunden sind, in Reih und Glied trotten und traben. Da die Straße mit motorisierten Fahrzeugen heillos verstopft ist, ziehen und traben sie meist daneben, nur vorwärts nach Süden, denn aus dem Raume Barlad-Tecuci donnern schon die Geschütze. „Wir müssen einmal halten und tränken — es nützt alles nichts, Graf, im nächsten Dorf müssen wir nach Wasser suchen, seit gestern mittag kein Wasser für die Pferde, wenn wir so weiter machen, werden uns die Wagenpferde bald umfallen." Die Reiter traben ein Stück voraus und sind bald in den Staubwolken verschwunden. Erst nach einer weiteren Stunde treffen sie auf ein Dorf mit — restlos ausgeschöpften Brunnen. Weiter! Erst in Frumusita gelingt es, den wenigen Brunnen die letzten Tropfen faulig und fade schmeckenden Wassers abzupressen. Die im Trieb marschierenden Tiere können jedes einen halben Eimer bekommen, die Zugpferde einen ganzen, dann ist es aber mit den Brunnen aus, bestimmt bis übermorgen. Duran schluckt das faulige Zeug in sich hinein, es kühlt wenigstens und stillt den brennendsten Durst. Ein paarmal schnaubt er mit den Nüstern und atmet tief durch wie einer, der einen tiefen Zug aus der Kanne getan hat. „Aufpassen", ruft Dr. Tranks über die Köpfe, „wir biegen jetzt gleich ab in Richtung Pechea, in einer halben Stunde rasten wir bis Nachmittag gründlich, dann geht es weiter, schließlich haben wir bereits fast achtzig Kilometer hinter uns seit gestern, wir müssen auch mal füttern." Ohne lange nach einem geeigneten Platz zu suchen, wird neben der Straße gehalten und Hafer auf ein paar ausgebreitete Planen den Wagenpferden in die Futterbeutel geschüttet. Hastig mahlen und schlingen die Flüchtenden, bis jedes Körnchen aufgezehrt ist. Noch einmal läßt Trinks ordentlich aufschütten, wenn sie die Berge erreichen, hat es keine Not mehr mit dem Futter. Sicher gibt es da Waldweiden mit frischem Grün, wo man nachts weiden und grasen kann. Alle werden satt und lümmeln in der Ruhepause in Nähe der Wagen, hier und da ein paar dürre, verbrannte Halme aufsuchend. Weiter geht es im gleichmäßigen, zügigen Trabe bis an die Bahnlinie, die von Tecuci herunterkommt. An der Brücke über den Sereth das gleiche Gedränge wie am Pruth-Damm, nur noch aufgeregter, denn das Gerücht von Panzern, die bereits in Focsani eingedrungen sein sollen, macht die angestauten Massen völlig kopflos. Im Dorfe am westlichen Ufer angekommen, pflanzt sich ein Ruf von Mund zu Mund fort; rumänische Soldaten ziehen singend durch die Straßen, lehnen ihre Gewehre an die Häuser und werfen die schweren MGs weg. „Der Krieg ist aus, es lebe Rumänien!" rufen sie, schwenken die Mützen und umarmen sich. Trinks wird bleich, und alle sehen sich betroffen und fragend an. „Spannt wieder an, in die Berge — vorwärts, Geschirre drauf, Ersatzpferde einspannen", keucht er mit tonloser Stimme. Einen Gartenzaun niederreißend, stürzen sie über Latten holpernd aufs freie Feld. Im Dorfe weiterzukommen ist aussichtslos, überall tanzen Gruppen von rumänischen Soldaten, sich an den Schultern haltend, einen rumänischen Rundtanz, bald im Kreise nach links und rechts hüpfend, bald aufeinander zugehend und
sich wieder entfernend. „Rumänien ist frei — es lebe Rumänien!" schallen begeisterte Rufe. Aus dem ersten Stock eines Hauses fliegt ein großes Bild zum Fenster heraus, klirrend zerspringt das Glas auf den Steinen. Wild stürzen die Soldaten darauf und zertrampeln es, das Antlitz des Herrn Antonescu, der ihr Land zur Zwingburg irrsinniger Gewaltherrschaft gemacht hatte. Wer kann es ihnen verübeln, jenen Bauern aus den Bergen und den Arbeitern der Ölquellen, die niemals Lust verspürten, in den dunkelbraunen Rock zu kriechen, um sich im Dienste der faschistischen Gewaltherren totschlagen zu lassen. Wo stecken sie eigentlich, diese Feiglinge von Offizieren, die Jahre nichts taten als den groben Knüppel auf ihrem Rücken tanzen zu lassen, sie ohrfeigten und Proviant und Bekleidung verschoben, um die Schulden für sich und ihre Pariser Weiber zu decken? „Rumänien ist frei — es lebe Rumänien!" Trillernd und schrill pfeifen die Flöten. Vortänzer wirbeln inmitten des tanzenden Kreises und locken einen Partner aus der Runde hervor. Ein wilder Rausch hat alle befallen! Schwere Kraftfahrzeuge und bespannte Wagen fahren rücksichtslos in die tanzenden Gruppen und treiben sie mit Fluchen und Peitschenhieben auseinander. Lachen und Jubel, wildes Kreischen der Weiber, Steinwürfe, geballte Fäuste und vereinzelte Pistolenschüsse! An einem Straßenengpaß ist die Stauung lebensgefährlich; da stellt sich ein kleiner Kerl auf einen Panzer, der sich festgekeilt hat, hebt die Maschinenpistole und feuert einen Rahmen in die Luft. Wild kreischen die Tanzenden auf und stürzen auseinander. Im Nu ist die Passage frei. Vornweg rollt der Panzer, hundert Fahrzeuge preschen hinterher, ehe sich wieder alles verstopft. In der Nebenstraße brennt ein Haus und schickt beißenden Qualm durch die Gassen des Ortes. Duran und die magere Stute mit dem durchgebogenen Rücken ziehen das kleine Bauernwägelchen leicht dahin, quer über die Felder den Ort umgehend. Erst als die Qualmfahne des brennenden Hauses am Horizont verschwindet, biegen sie wieder auf die Straße ein, die über Ramnicul Sarat nach Buzau, dem rettenden Orte, führt. Schwer und dumpf rumpelt batterieweises Artilleriefeuer ganz in der Nähe, die Straße Focsani-Ramnicul Sarat ist bereits unterbrochen. In fliegender Hast geht es dahin, Buzau zu. Dr. Trinks schaut sich um, aufgeschlossen fahren die Wagen, dahinter der Trieb mit den Reitern, die schon zweimal die Pferde gewechselt haben. Noch immer zählt der Pulk etwa fünfzig Pferde, es sind die Unentwegten, die nicht abweichen, was auch kommen mag. Ohne geführt und rangiert zu sein, traben sie in einer Staubwolke zu dreien und vieren, wie eine geordnete Formation, dahin, trocken und ausgedörrt. Immer näher rumpelt das Artilleriefeuer, die blauen Berge, die sich jäh aus der Ebene erheben, wollen und wollen nicht größer werden. Mit letzter Kraft jagen sie dahin, auf der Höhe rechts schlagen die ersten Granaten ein und werfen dunkle Wolken auf. Durch das Glas blickend, erkennt Trinks die Häuser und Türme von Buzau, und dahinter erheben sich, steil aus der Ebene emporstrebend, die gewaltigen Bergkulissen der Transsylvanischen Alpen. Obwohl das Feuer nördlich liegt, biegt Trinks nach Norden ab, um Buzau zu umgehen, die Buzau gegebenenfalls mit den Pferden schwimmend zu überqueren und wieder auf die Straße zu stoßen, die nunmehr als Paßstraße längs der Bahn und dem Gebirgsflusse hineinführt in die Berge, steil ansteigend und sich in endlosen Serpentinen hinaufwindend. In die Stadt, als Ausgangspunkt der Paßstraße, hineinzufahren, wäre sinnlos, denn hier stauen sich die Fahrzeuge zu Tausenden und kommen keinen Schritt voran. Wie verlautbart, soll der andere, der Kronstadtpaß, bereits gesperrt sein, daher haben sich die Fahrzeuge aus Ploesti nach Osten gewandt, um den einzig noch möglichen Weg über den Buzaupaß zu nehmen.
Da, über eine Höhe jagend, erblickt Trinks als erster das blaugrüne Band des Bergflusses. Sich im Wägelchen aufrichtend, schreit er zurück, aber ein schwerer Einschlag, wenige hundert Meter hinter dem Trieb, verschlingt seine Worte. Im vollen Trabe jagen die Wagen und der Trieb hinein in das aufspritzende kühle Bergwasser. Der Pulk der Pferde verteilt sich rechts und links und bleibt bis an die Sprunggelenke im Wasser stehen. Die Köpfe aller Tiere neigen sich. Wasser, Wasser..., herrlich kühles Bergwasser! Und sie trin ken und trinken das Geschenk des Himmels in sich hinein. Neue Lebenskraft durchströmt die abgehetzten Tiere. Wasser, Wasser, soviel man trinken will — herrlich kühles, kri stallklares Wasser...! Als ob sie wüßten, worum es geht, ziehen die Wagenpferde wieder an, die Mitte des Flusses ist erreicht; bis über die Bäuche und schon über die Wagenböden reicht das gurgelnde, schäumende und reißende Wasser. Die Männer halten den Atem an — noch fünf Meter — und die Bäuche werden wieder sichtbar. „Marsch — hüo, Marsch!" brüllen sie und richten sich peitschenschwingend auf. Mit aller Kraft wühlen und stampfen die Tiere, dann ist es geschafft, sie haben das andere Ufer erreicht. Dort ist die Straße, auf der dicht aufgefahren Fahrzeug hinter Fahrzeug steht, wartend, bis die Schlange wieder ein paar hundert Meter anruckt. In einem Obstgarten neben der Straße halten sie für einige Minuten, um zu verschnaufen und ein paar Halme des saftigen Grases zu fressen. Rasch haben die Fahrer die Sensen vom Wagen gezogen und einen Haufen zusammengeschlagen und den Wagenpferden vorgelegt. Herrlicher, fetter Klee liegt in Durans Haufen, und er schmaust mit vollen Backen. Trinks ist auf die Straße gegangen, um sich zu erkundigen, was nun losgehen soll. Da hört er zwischen den Häusern eine bekannte Stimme seinen Namen rufen. Es ist der Herr Chef, der mit der motorisierten Abteilung der Kompanie hält und wartet. Die bespannten Staffeln stehen auf der anderen Seite der Straße ebenfalls in einem Garten.
„Na, hierhergefunden?" begrüßt er ihn formell lächelnd, „wir stehen schon seit gestern hier." Trinks salutiert und meldet, daß noch etwa fünfzig Pferde beim ehemaligen Weidekommando sind, dazu die paar Wagen. „Und die anderen Pferde?" „Die hätten auch hier sein können, wenn..." „Also hören Sie zu", unterbricht er ihn, ahnend, daß das Gespräch peinlich für ihn werden könnte, „dort in dem Hause liegt ein Kommandostab der Armee, eben kommt der Befehl, daß bespannte Einheiten nicht auf die Paßstraße dürfen. Die Wagen mit Gerät sind zu vernichten, die Pferde über die Berge mitzunehmen. — Ich errichte einen Meldekopf in Sita — sehen Sie, hier, unweit der ungarischen Grenze am Paß. Bis dahin sind es zirka hundertzwanzig Kilometer, immer dem Flusse, der Straße und der Bahnlinie nach, Sie können sich nicht verlaufen — in fünf Tagen können Sie ungefähr dort sein. Also denn, halten Sie sich ran." Der Chef steckt die Karte ein und dreht den Rücken. Dr. Trinks salutiert und wirft einen schnellen Blick auf den Kommandeurskübelwagen — aber Madame Romania sitzt nicht drin mit den Blüten im Haar. Sicherlich geht sie jetzt im geliebten Bukarest, dem Klein-Paris, spazieren und grüßt mit glühenden Augen die feinen Kavaliere. Trinks wendet sich ab und geht zum Obstgarten, wo die Leute warten. „Kommt mal alle her", ruft er mit der Hand winkend. „Alle Fahrzeuge sind zu vernichten, alle Sättel auflegen, persönliche Habe, Decken und Zeltbahnen, Wertsachen aufschnallen, alle Eimer aufschnallen und alle Säcke — Hafer und Mais ausschütten. — In zwanzig Minuten drüben am Gatter antreten." Wortlos folgen die Männer und arbeiten wie befohlen. Da schießt im Obstgarten auf der anderen Seite eine Flamme hoch — die Staffelfahrzeuge brennen lichterloh. Puffend zischt es auf, wenn die verstöpselten Arzneiflaschen platzen und die großen Ampullenkästen vor Hitze auseinanderfliegen. „Meine schönen chirurgischen Instrumente, der ganze Satz, dies Vermögen", denkt Trinks und wendet sich ab. „Wir sind soweit", meldet Graf, „soll ich die Wagen übergießen?" „Ja", sagt Trinks und sucht nach einem Wisch Stroh an der Scheune. „Zurücktreten!" ruft er, und in hohem Bogen fliegt der angebrannte Strohwisch auf die Wagen. Explosionsartig pufft die Flamme über die Obstbäume hoch. Durch das Gatter am anderen Ende des Gartens ziehen die Reiter mit den bepackten Handpferden hinauf in die Berge voller wilder, romantischer Schönheit, immer dem Laufe der sprudelnden Buzau folgend. Als die Dämmerung hereinbricht, sind die Reiter und Pferde tief in den Bergen verschwunden. Trinks sieht auf die Karte. Wenngleich sich das Echo der rollenden Salven fern im Tale tausendfach an den Wänden der hoch aufragenden, bewaldeten Höhen bricht, einem schweren Gewitter gleichend — hier kommt ihnen keiner so leicht mehr nach, wenigstens diese Nacht nicht. „Bei nächster Gelegenheit rasten wir gründlich", ruft Trinks, sich im Sattel umdrehend, den vor Müdigkeit im Sattel hin und her baumelnden Männern zu. Noch eine Viertelstunde, und die Buzau schmiegt sich eng an die Paßstraße an. An einem Hange steht Mais — das ist der richtige Platz. Trinks biegt darauf zu und springt aus dem Sattel — Schluß für heute! Über der Paßstraße liegt blauer Rohöl- und Benzinqualm; heulend und singend quälen sich die schweren Wagen im ersten Gange die steilen Serpentinen hinan, schalten krachend und heulend wieder auf. Zwischen hohen, mit tiefen, dunklen Tannen bestandenen Wänden quirlt lustig in einem breiten Bett von weißgrauen Steinen die blaugrüne Buzau, kräuselnd und hüpfend von Stein zu Stein. Die Triebpferde verkrümeln sich in das Maisfeld und schmausen sich satt an den grünen Blättern und saftigen milchigen Körnern. Nur die Reit- und Standpferde bleiben in einem Kreise angebunden zusammen und bekommen riesige Haufen vorgeworfen, die die Männer mit den Seitengewehren abschlagen. Duran, der einen Sack Brot und einen anderen mit Trinks' wenigen Sachen auf dem Sattel verschnürt getragen hatte, fühlt sich matt und schlapp, aber die herrlichen frischen Maiskörner schmecken zu lecker, und er bleibt stehen, wenngleich ihn seine Beine kaum noch halten können. Die letzten Wochen waren zu
anstrengend, dazu die Verwundung und die viel zu kurzen Tage der Erholung — es ist ja auch kein Wunder. Tief und schwarz bricht die Nacht herein, golden funkeln die Sterne über den himmelhohen Urtannen und spiegeln sich flimmernd und tanzend im rauschenden Wasser. Nachdem alle Pferde versorgt sind, ziehen sich die Männer nackt aus und waschen sich und ihre Strümpfe mit Seife, bis zum Bauche im Wasser stehend. Ah, eine unsagbare Wohltat nach den Tagen des Hastens und Schwitzens. Wie das erfrischt und belebt! Mit den Händen spritzen sie sich voll und jauchzen wie frohe, übermütige Jungen. Dann wird das Lager unter einem dichten Gebüsch sorgsam bereitet, es soll eine Nacht der Entspannung und Ruhe werden. Eng aneinandergekuschelt und warm zugedeckt fallen alle in tiefen, traumlosen Schlaf, ungeachtet des nicht abreißenden Lärmes der motorisierten Fahrzeuge drüben auf der Straße. Morgen werden sie noch tiefer in den Bergen sein und noch gemütlicher schlafen können. Müde, das Gewehr über der Schulter, pendelt der Posten umher, im Maisfelde stehen alle ruhig auf einem Trampel zusammen und lassen schlafend die Köpfe hängen, unendlich müde und dick satt. Durans Leib ist auch prallvoll schmackhaften Futters, gähnend und prustend schüttelt er sich, versammelt die Beine unter den Leib und läßt sich auf ein Pol ster aus Moos und Flechten fallen. Gegen Mitternacht ruft es am anderen Ufer. Lauschend verhält der Posten. „Hallooo, wir sind deutsche Landser und wollen über den Fluß — wie tief ist es hier —, haallooo ...!" Wieder und wieder ertönt der Ruf. Ob ich antworte, denkt sich der Posten — ob es bloß eine Falle ist, ob ich Trinks wecke —, aber er schläft doch so tief. Noch einmal ertönt der Ruf, dann wird es still. Der Posten steht ganz still und lauscht, gurgelnd rauscht das Wasser. Da pustet es ganz nahe am Ufer, spuckt und faucht. „Halt, wer da?" ruft er in das Dunkel und legt auf das Geräusch an. Zwei Stimmen rufen gleichzeitig wie im Chor zurück: „Nicht schießen, zwei deutsche Soldaten — warum antwortest du denn nicht, wir haben dich von drüben lange genug ge rufen." „Ich habe euch nicht gehört", lügt der Posten, „kommt näher." Zwei Männer im Adamskostüm, ihre Sachen und Maschinenpistolen zu einem Bündel zusammengeschnürt auf dem Kopf balancierend, nähern sich, vorsichtig auf die Steine tretend. „Guten Abend", sagen sie und werfen ihre Bündel ab. „Wo kommt ihr denn her?" fragt der Posten und hängt die Flinte wieder um. „Laß uns erst mal wieder anziehen und gib uns eine Zigarette, wenn du eine hast", sagt der andere der beiden Männer und hüpft wie ein Indianer, um trocken zu werden. Nachdem sie sich angezogen und in eine warme Plandecke eingewickelt haben, erzählen sie: „Unser Panzer bekam auf der Straße von Ramnicul-Sarat nach Buzau einen verwischt und brannte sofort. Wir zweie standen im Turm und konnten gerade noch unsere MPs schnappen und abspringen — die anderen sind wohl verbrannt. Dann sind wir gerannt und gerannt, immer den Bergen zu, hinauf und hinab geirrt in den Schluchten, bis wir hierher an den Fluß kamen. Da hörten wir drüben die Fahrzeuge und dachten, es müßten unsere sein; dann haben wir gerufen, und du hast es nicht gehört. Wer seid ihr?" „Wir sind ein Weidekommando aus Bessarabien, von einer Veterinärkompanie, dort sind unsere Pferde." „Hm, da wollen wir mit euch ziehen, von der Motorisierten haben wir die Nase voll." Die Männer sinken hintenüber, ihre Maschinenpistolen wie kleine Kinder im Arm haltend. Der Morgenstern ist verloschen, grau wird es über den Wipfeln der Urtannen, als die Pferde an den Fluß gehen und tränken — mit dem Wasser wird es nun keine Not mehr haben. Noch einmal fressen sie einen dicken Haufen Mais in sich hinein und machen sich wieder auf den Weg. Duran ist bocksteif vom Liegen und Ruhen, erst allmählich werden seine Glieder wieder geschmeidig. Graf hat ihm wieder den Brotsack und die paar Sachen von Trinks aufgeschnallt. Dr. Trinks reitet immer an der Spitze, um den besten Pfad, möglichst stein- und schotterfrei, zu suchen. Wer sich die Fesseln hier
vertritt und lahmt, muß zurückbleiben, da hilft alles nichts. In langem Gänsemarsch ziehen alle, einem riesigen Lindwurm gleich, dahin. Mehrmals muß der Fluß durchwatet werden, wenn Steilwände den Weg auf der einen Seite versperren. Immer neue Gebirgspanoramen von zauberhafter Schönheit tun sich vor ihnen auf. Himmelanstrebende nackte Felsen und dunkelgrüne Tannen spiegeln sich zitternd im Wasser; riesige moosbewachsene Blöcke, wie von einer Riesenhand hierher geschleudert, sperren den Lauf des Flusses und engen ihn bis auf eine schmale Rinne ein. In dickem Strahle schießt die abgelenkte Flut hindurch und stürzt schäumend und sich wirbelnd wieder auseinander. An anderer Stelle faulen die Stämme dicker Bäume, die dem Angriff des wilden Sturmes nicht mehr standgehalten hatten, im seichten Wasser einer stillen Bucht. Sparrig recken sich ihre von der Sonne weißgedörrten Äste über den silbernen Spiegel, als wollten sie sich anhalten an dem Sonnenfleck, der auf ihnen selbst ruht. Wenn man das Rumpeln und kreischende Schnarren der Motorfahrzeuge nicht Tag und Nacht von der Straße herüber hören würde, wie wohltuend würden die Männer das ewige Rauschen endloser Bergurwälder empfinden. Aber auch in diesem Winkel wilder Schönheit hat die Furie des Krieges hineingeleuchtet und zerstört, was friedliebender Menschen höchstes Glück ist. Eben hat Trinks mit seinem Pferde und Duran an der Hand den Fluß überquert, um am anderen Ufer weiterzureiten, er blickt sich um und wartet, bis alle nachkommen. „Was sind denn das für zwei Herren in den Panzeruniformen, Graf?" „Die sind heute nacht zu uns gekommen und wollen bei uns bleiben, es sind Bauernjungen, die was von Pferden verstehen. Sie schliefen noch, als wir aufbrachen, und nun wollen sie sich bei der nächsten Rast melden." An einer kleinen Uferweide halten sie, um die Pferde etwas fressen zu lassen, und nehmen selbst ein Stück Brot aus Durans Brotsack zu sich. Zukost ist nicht mehr vorhanden. Die beiden Neuen stellen sich vor und berichten, was sie vor den Bergen erlebt haben. „Na ja", meint Trinks, „hier werden wir mit Überraschungen zunächst nicht zu rechnen haben, wir müssen zwar hurtig gehen, brauchen uns aber nicht zu überhetzen. Ehe die Zange so richtig ihr Maul geschlossen hat, müssen wir allerdings weit in Ungarn sein, denn ich bin überzeugt, daß man über die Pässe der Karpaten langsam eindringen wird, schneller schon aus der Donautiefebene, um Ungarn zu zerdrücken." „Man sprach davon, daß man an der Theiß eine neue, große Verteidigungsstellung aufrichten will", sagt einer der Neuen. Trinks antwortet absichtlich nicht, er kennt diese endgültigen Riegel zur Genüge. Am Spätnachmittag tut sich vor ihren entzückten Blicken eine vom Fluß aus sanft nach Osten ansteigende, kleine Bergweide auf, hinter der sich schützend eine hohe Bergkette der Transsylvanischen Alpen erhebt. Sein Pferd antreibend, reitet Trinks voraus und — Donnerwetter, steht dort nicht eine Weidehütte? Frohlockend winkt er mit der Hand — hier wird einmal zünftig ausgeruht, alle haben es bitter nötig. Einen Abend voller Romantik erleben die abgehetzten Pferde und Männer auf diesem paradiesischen Fleckchen Erde. Duran und die Pferde weiden im fetten, würzigen Berggrase, bis sie prall voll sind. Der frische Trunk des kühlen Wassers stärkt und gibt ihnen neue Kraft. In der Hütte sind über altem Heu Zeltplanen und Decken ausgebreitet, auf dem Steinherd knistert ein munteres Feuerchen unter den Kochgeschirren. Alle baden, waschen und rasieren sich. Graf hat auf dem wackeligen Holztisch eine Zeitung ausgebreitet und das Mahl gerichtet: Schweineschmalzbrote und Tee, dazu jeder eine Zigarette, ersatzweise eine halbe Rolle Priem. Trinks kommt vom Baden und bestaunt das Wunder. „Alter Schweinehund, wo hast du denn die Delikatessen noch her?" fragt er scherzend den alten Graf. „Aufgespart, Herr Oberveterinär", antwortet der so höflich Angeredete, „es ist aber das Letzte, und Brot reicht auch nur noch höchstens morgen abend. Wann haben wir eigentlich wieder Anschluß ?" „Was weiß ich?" entgegnet Trinks, „vielleicht in Mittelungarn an der Theiß, vielleicht auch gar nicht wieder — greift zu und eßt, es wird schon wieder Rat werden." Als die Türe zur
Hütte vom Posten geschlossen wird und die Abend Sterne ihre Lichter anzünden, fallen den Männern die Augen zu. Ruhig stehen die Pferde auf der Weide neben der Hütte und grasen. Gestärkt und munter wandern sie alle in den nächsten Tagen immer tiefer hinein in die wilde, zerklüftete Einsamkeit der zauberhaften, unberührten Berge. Immer neue Ausblicke bieten sich den Augen der Reiter, die sich nicht satt trinken können an den Bildern märchenhafter Schönheit. An jedem Abend finden sie ein Fleckchen, wo sich gut rasten läßt und wo auch für Duran und die Kameraden ein paar Halme stehen. „Ich glaube, heute abend müssen wir oben sein am Paß", sagt Dr. Trinks, „dann ist die ungarische Grenze nicht mehr weit." „Und was haben wir dann gewonnen?" fragt der Unteroffizier. „Pau!" knallt es auf einmal vom gegenüberliegenden Steilhang, und „pau, pau, patsch!" fallen mehrere Schüsse ein. Immer stärker wird die Ballerei. Sirrend und pfeifend singen den Reitern und Pferden die Kugeln um die Ohren. Ratternd und stoßweise tackend fällt ein leichtes Maschinengewehr ein. Alle Männer sind aus dem Sattel gesprungen und nehmen hinter den Pferden, die auseinanderzurennen beginnen, Deckung. „Dort in den Wald, Deckung! "schreit Trinks nach rückwärts und strebt geduckt, sein Pferd und Duran am Zügel, über Steine und Geröll stürzend, darauf zu. Immer dichter pfeifen die Kugeln und surren, von den Steinen abprallend, als Querschläger davon. Ein paar Pferde stürzen, raffen sich wieder auf, brechen wieder ein und bleiben strampelnd und rudernd zwischen den Blöcken liegen. Da hat Trinks mit seinem Pferd und Duran den Wald erreicht, hinter ihm brechen Graf und die anderen, sich zwischen den Pferdeleibern deckend, ein. Mehrere Pferde folgen ihnen und rennen wild geworden zwischen dem Gestrüpp umher. „Alles dort hinter die Steine!" brüllt Trinks in das Durcheinander stürmender Menschen, hastender Pferde und bre chender Äste, „alles an den Waldrand und Feuer erwidern!" — Auf reichlich hundert Meter verteilt, arbeiten sich die Männer vor und nehmen hinter Blöcken und Stämmen Deckung. Wie wild gewordene Wespen zischen die Kugeln über sie hinweg in die Äste. Dr. Trinks feuert als erster in die Kuscheln des gegenüberliegenden Steilhanges, dorthin, wo kleine, blaue Wölkchen aufpuffen, die anderen fallen knatternd ein. „Wart nur, ihr Bürschchen", murmelt er und schiebt einen neuen Rahmen ein, „recht habt ihr ja, wenn ihr uns zu guter Letzt noch den Kragen abschneiden wollt, aber wir wollen nichts von euch, nur nach Hause, endlich nach Hause, da dürft ihr uns nicht aufhalten, so leid es mir tut..." Mit einem Satz werfen sich die beiden Panzermänner neben Trinks. Sie wollen hinauf auf die Straße kriechen, ihre MPs schießen doch nur zweihundert Meter. „Vielleicht kommen dort Fahrzeuge, die Maschinengewehre haben", meint der eine. „Dann aber los", erwidert Trinks, „und sofort einsetzen!" Die Neuen hasten geduckt davon an Duran vorbei, der hinter einer mächtigen Eiche steht. „Donnerwetter", denkt Trinks, „wenn das so weiter geht, ist es mit der Gewehrmunition bald aus." Gerade will er den Befehl zu langsamem Feuern durchgeben, als über ihnen auf der Straße ohrenbetäubendes Knallen in rascher Schußfolge fast das Trommelfell sprengt. Alle ziehen die Köpfe hinter die Steine und schmiegen sich fest in das Geröll. Ununterbrochen, fast schon eine halbe Minute, plautzt es in ganzen Schauern über sie und die Köpfe der Pferde hinweg. Trinks lugt über den Stein nach drüben. Der ganze Steilhang ist in eine einzige Staub- und Qualmwolke gehüllt, aus der immer neue Wölkchen hervorpuffen. In das grobe, schuckernde Plautzen mischt sich jetzt das anhaltende Rattern eines schweren Maschinengewehrs, mit Garben glühender Funken den Hang überschüttend — Leuchtspur! Trinks nestelt die Trillerpfeife aus der Brusttasche und schrillt, mit der Hand nach der Straße Marschrichtung anweisend. Die Männer werfen die Gewehre über und langen nach den Pferden. Auf allen vieren kriechen sie, die Pferde hinter sich her zerrend, von Baum zu Baum. Duran hat sich mit dem hochgeschnallten Zuggeschirr an einem sparrigen
Aste festgehakt und kann weder vor noch zurück. Herrgott, auch das noch! Trinks rutscht zurück und zerrt den Bauchgurt hoch, so daß der Ast wippend zur Seite schnellt und den keuchenden Duran freigibt. Nur noch ein paar Meter, dann stehen sie dampfend und außer Atem auf der festen Straße, neben der ausgeschwenkten Vierlings-Flak. Der Kahlkopf von Kanonier auf dem Sitz grinst und steckt sich eine an. „Haben Sie schönen Dank für freundliche Unterstützung", reicht ihm Dr. Trinks lächelnd die Hand, „es war aber auch höchste Zeit." „Oh, bitte recht sehr", entgegnet elegant der Kahlkopf und verbeugt sich mit komischer Verrenkung. Die Männer lachen schallend. „Sie sind mir einer", meint Trinks prustend, „was sind Sie denn von Beruf?" „Ich bin Musicalclown Pippino — wollen Sie meine Fotos sehen? — Nur erste Häuser..." „Nein, danke, Herr Pippino, aber einen Gefallen könnten Sie mir noch tun." „Ich bin arm, aber immer gefällig, Herr Oberleutnant!" „Also schön, wir suchen jetzt unsere Pferde wieder zusammen, und Sie warten mit der Spritze, bis wir alle oben an der Straße sind — man kann nie wissen..." „Selbstverständlich — wir machen eine Rast, aber, Sie können sich darauf verlassen, die lassen uns jetzt ziehen." Es dauert lange, bis sie alle Pferde, die weit auseinander gerannt sind, beisammen haben. Achtmal knallt die 08 auf und läßt das Echo in den Bergen rollen. Jedesmal schließen sich ein paar treue, gute Augen zum ewigen Schlaf. Der Obergefreite Schrater holt wie ein Spitzbube zwei Eimer von Grafs Handpferd und verschwindet wieder den Hang hinab. Trinks hat es wohl bemerkt, mißt aber der Sache keine Bedeutung bei — er wird Wasser holen wollen. Nachdem sie alle marschbereit auf der Straße stehen, rollt die Flak mit dem Musicalclown Pippino wieder an. Trinks und die Männer sitzen auf. Erst nach einer reichlichen Stunde halten sie in einer Ausbuchtung der Straße und tränken in einem Sturzbach, der eilig die Felsen überrennt. „Was war denn nun eigentlich", meint Graf, und die anderen schütteln fragend die Köpfe und sperren den Mund auf. „Och", entgegnet Trinks, „das waren sicherlich heimziehende Rumänen, was soll es weiter gewesen sein? — So zwei Dutzend Leute können allerhand Verwirrung anrichten." „Das haben sie nun davon, die dummen Kerle, schießen auf harmlose Wanderer — sind wir denn freiwillig hier?" wirft Schrater ein und zerrt die Eimer an seinem Handpferd hoch. „Na, das nicht, freiwillig ist wohl keiner von uns hier — aber man kann ja schließlich verstehen, daß die Leute uns hassen wie die Pest." „Wieso denn, haben wir denn nicht ihr Land geschützt?" „Nee, ausgepowert nach Strich und Faden und ihnen als Vergütung fast ein halb Dutzend Jahre Krieg mit ungeheuren Opfern aufgezwungen", entgegnet Graf sichtlich gereizt. „Ich habe ihnen nichts genommen, solange ich hier bin", wehrt sich Schrater. „Du bist ein Schafskopf", erwidert Graf, „es geht doch nicht um die Einzelperson in diesem Weltbrande, sind es denn unsere Herrschaften nicht selbst gewesen, die rund um uns herum die Brandfackeln nacheinander in fast jedes Land geworfen haben? Tja, nun jagen uns die anderen, wo sie uns finden. Wollen hoffen, daß wir hier bald raus sind." Noch eine ganze Weile reiten die Männer dahin, bis die dunklen Schleier sich um Stämme und Zweige winden. Heute wird es wohl keine Weide geben und kein ungestörtes Lager — es kommt aber auch gar nichts, was sich zum Rasten eignet. Nur eine Beruhigung, daß man wenigstens satt getränkt hat. Furchtbar, mit durstenden Pferden eine Nacht im Walde zu verbringen. Da — voraus an der Straße rechts ein matter Lichtschein. „Was mag da vorne sein, Graf?" „Sicher ein paar, die an einem Auto herummachen." „Oder ein Haus!" erwidert Trinks. Aus der Dunkelheit modellieren sich tatsächlich die Umrisse einer niedrigen Hütte, aus deren verhängtem Fenster schwacher Lichtschein spitzt. Trinks reitet heran und sitzt ab, Graf hält den seit kurzer Zeit hinkenden Duran und das Reitpferd. Es wird angepocht.
Lange dauert es, bis die Türe einen Spalt geöffnet wird, Trinks drückt rasch ganz auf.
Krumm und O-beinig erscheint im matt beleuchteten Hausflur die Silhouette eines alten, verschrumpelten Waldmännchens. ,,'n Abend, Rübezahl", sagt Trinks und schiebt den steifen Zwerg, ins Haus tretend, beiseite, „ist noch jemand hier, hm ?" „Härr Offizirr", grunzt der Gnom und wird von einem Hustenanfall geschüttelt. Trinks blickt in den niedrigen Raum, aber es ist niemand da, nur die Rüböllampe blakt stinkend auf dem rohen Tisch. Draußen schieben und zerren die Männer die knapp drei Dutzend Pferde, die noch übriggeblieben sind, in eine kleine Umzäunung hinter dem Hause und nehmen Sättel und Packzeug herunter. Duran hinkt als letzter zum schmalen Spalt des Gatters hinein, ihn brennen und schmerzen die Hufe wie Feuer, und in den Fesselgelenken brummt es ziehend. Kein Wunder, daß die Knochen überanstrengt sind von der ungewohnten Kraxelei in Steinschotter und Geröll. „Was hat der nur", sagt Graf, „ich beobachte schon seit einiger Zeit, daß er hinten lahmt." „Wird sich den Fesselkopf verstaucht haben, morgen geht's wieder besser", entgegnet der Unteroffizier. „Laß uns lieber mal nachsehen, der Chef hält alle zehn Finger auf das Pferd — wenn dem was passiert, um Himmels willen!" Mit der Taschenlampe leuchtend, betrachten die beiden Männer den rechten Hinterhuf. „Hier ist nichts, siehst du was? Mal den anderen!" Mit einem Stöckchen scharren sie im rissigen Horn. „Aha", triumphiert Graf, „guck, hier zwischen dem Strahl ein Steinsplitter, das wird es sein." Mit dem Hölzchen bohrend, winkeln sie das Ding heraus und geben dem Pferde auf den Hintern einen Klaps. Hunger haben sie alle, aber es ist nichts da in dem Zwinger außer dem Maisblätterdach eines verfallenen Hühnerstalles. Duran reißt ein paar Blätter herunter,
aber das Zeug schmeckt gallenbitter, und er geifert es wieder aus. „Also denn mal reinspaziert", ruft Trinks und klatscht mit einem Stöckchen an die Schäfte seiner Lederstiefel, „hier bleiben wir, bis Michel tutet." Die Leute schleppen die Sättel und Decken herein und bereiten ein Lager auf dem Fußboden, während das Waldmännchen auf der Ofenbank hockt und staunt. Dr. Trinks geht noch eine Weile vors Haus und läßt sich auf einem Holzklotz nieder, die Rüböllampe reizt ihn zu sehr zum Husten. Er muß wohl eingeschlafen sein, denn er fährt jäh auf, als ihn einer anstößt. „Wollen Sie nicht essen, Herr Oberveterinär?" „Wieso essen, ich denke, es gibt nichts mehr?" „O ja", sagt der Unteroffizier, „wir haben wieder was." „Woher denn?" „Schrater hat etwas von den gefallenen Pferden herausgeschnitten und in die Eimer gesteckt, auch etwas Leber ist dabei — aber schlecht ausgeblutet. Wir müssen doch was essen!" Dr. Trinks, der sonst kein Verächter von Pferdefleisch ist, wendet sich ab. „Nein, danke", sagt er, „eßt euch nur satt, ich mag nichts." Lange noch sitzt er vor der Türe und saugt an einer erkalteten, letzten Zigarre, während der Posten müde auf und ab schlurft. Der Meldekopf ist leicht zu finden da oben in den paar Hütten, schon an der Straße ist eine Ausschilderung angebracht, aber — es ist niemand mehr da. Wer sollte sich auch solange da oben hinsetzen und warten, bis die letzten über die Berge gekrochen kommen. Mit dickem Kopierstift hat einer darunter geschrieben: „Alles weiter nach Paraid-Des." Wo es Verpflegung und Futter gibt, steht nicht da. „Ich habe es mir gedacht", murmelt Trinks, „da mitten in Ungarn ist es jetzt gemütlicher als hier tief unten; — kommt Herrschaften, gehen wir weiter." Schlängelnd zieht sich die Straße dahin, durchquert weite Täler und verliert sich am Horizont im blauen Dunst eines Waldes. „Dort muß die Grenze sein, wir schlafen heute schon in Ungarn", ruft Trinks nach hinten, und die Männer nicken zustimmend. Noch eine Stunde ziehen sie, da macht der Weg eine Biegung um eine Felskulisse und — da ist der Schlagbaum quer über den Weg. Daneben sitzt ein alter, ungarischer Landstürmer und zieht an einer langen Pfeife — ein Bild himmlischen Friedens. „Grüß dich Gott, edler Freund und Gevatter", begrüßt ihn Trinks, „'s Geschäft geht wohl schlecht, es kommt keiner mehr — hm?" „Sie haben recht", sagt der Ungar in gutem Deutsch, „bis vorgestern rollte hier Fahrzeug hinter Fahrzeug, dann wurden es immer weniger, und heute seid ihr der erste geschlos sene Trupp, der hier durchkommt. Wo soll denn die Reise hingehen?" „Reise ist gut", entgegnet Trinks, „wir möchten hinauf nach Des — wie steht es übrigens mit der Front?" „Tja", zuckt der Mann mit den Achseln, „da weiß wohl keiner so recht, was los ist, vor Sepsiszentgyörgy sollen sie stehen, jedenfalls schoß die Artillerie von dort die ganze Nacht, umreitet lieber den Ort." Trinks blickt auf die Karte. Donnerwetter, sollten sie schon so weit sein — sicherlich über Kronstadt, es ist ja auch natürlich, daß man den Zipfel abschneiden möchte. Ob wir da allerdings noch mittendurch kommen? „Herhören!" ruft er den Männern zu, wir lassen jetzt noch zwei Stunden ausgiebig weiden und tränken dort im Bach, dann müssen wir reiten, was das Zeug hält, wenn wir doch wieder ein kleines Wägelchen hätten, paßt gut auf, wir müssen wieder einen finden, da können wir jedesmal drei Pferde anspannen und laufend wechseln, erstens reiten wir die Pferde nicht so zusammen und zweitens können wir uns etwas schonen. Nach meiner Karte liegt das Gelände zwar auch hoch, aber die Steilhänge scheinen wir doch hinter uns zu haben." Während die Pferde weiden und die Männer essen, sucht sich Trinks ein paar Beeren im Gestrüpp des Baches, aber sie schmecken herb und könnten nicht bekommen.
Rasch und flüchtig traben sie seit Stunden dahin, immer in langem Gänsemarsch am Rande der Nebenstraßen, wo es weich ist. Trinks vermeidet die große Straße, auf der allerhand Verkehr und Unruhe herrscht. Nur voran, nur voran! Mit dem Futter hat es jetzt keine Sorgen mehr, überall stehen Heustadel auf den Feldern und Waldweiden. Rasch heran mit den Pferden, eine Stunde fressen lassen, und weiter geht's, abwechselnd im Schritt und im Trabe. Das Wägelchen, das Wägelchen, denkt Graf, und seine Blicke schweifen sehnsüchtig umher. Als die Sonne hinter den Höhenzügen schlafen geht, biegen sie in ein großes Gut ein und steigen bocksteif aus den Sätteln. Die armen Tiere haben heute was traben müssen. Viele Leute scheinen hier nicht zu sein, denn es läßt sich niemand blicken. Erst als es schon dunkelt, erscheint ein alter Griesgram, anscheinend der Verwalter, und brummt verärgert über das viele Heu, das man aus der Scheune herausgezogen hat. Unordentlich sieht es in dem Hofe aus, als ob jahrelang die ordnende Hand gefehlt. Hinter der Scheune stehen Maschinen und rosten — und Wagen, große und kleine, schwere und leichte, ein ganzer Haufen. Graf hat sie anläßlich einer geheimen Sitzung entdeckt und stürmt mit verzücktem Blick zum Chef, seine Hose knöpfend. „Dort hinten, kommen Sie schnell — da stehen sie — zum Aussuchen!" Trinks macht einen Spaziergang, wie von ungefähr, denn der alte Griesgram äugt wie ein Sperber. Ah, richtig, dort wäre einer nach unserm Geschmack, hohe Räder, federleicht mit langem, niedrigem Kasten, ein richtiger Renner, sogar eiserne Ortscheide sind dran. „Teufel noch mal", sagt Trinks, „den müßte man haben, aber der Alte wird ihn nicht hergeben, und Geld haben wir keins!" „Lassen Sie mich machen", entgegnet der alte Spitzbube, „morgen fahren wir jedenfalls in dem Wägelchen!" Noch ehe die Sonne aufgeht, satteln sie und binden ihre Decken auf die Handpferde. „Graf!" ruft Trinks schallend über den Rücken des noch kauenden Duran hinweg. Blitzschnell packt ihn der eine von den Panzerleuten am Arm, rollt die Augen, daß sie bald aus den Höhlen fallen, und zischt wie eine gereizte Otter: „Pssst!" Trinks schüttelt mit dem Kopf und weiß nicht, was das bedeuten soll. Antrabend und aus den Sätteln den alten Sperber grüßend, der oben aus dem Wohnhausfenster äugt, verlassen sie den Hof. Trinks hat wohl bemerkt, daß zwei seiner Leute fehlen — aber nur sachte, die kommen schon wieder. Als sie ein Viertelstündchen geritten sind, nimmt sie dichter, schattiger Laubwald auf. Auf einmal springt ein Kerl aus dem Walde und fuchtelt mit den Armen wie der Leibhaftige. Trinks Pferde machen einen Satz nach links, und bald wäre Duran in den Wassergraben am Rande gestürzt. „Sie sind vielleicht ein Hammel, mich so zu erschrecken!" schreit Trinks den Panzerfritzen an. „Ich nicht, aber der dort!" gibt der Angefauchte schlagfertig zurück. „W er - wo?" Trinks springt aus dem Sattel und folgt dem Schwarzen ins Gebüsch. „Ihr seid wohl ganz und gar des Teufels", stammelt er fassungslos vor Staunen, als er, unter Gezweig sorgsam getarnt, das Wägelchen erblickt und daneben den Spitzbuben Graf mit Galgenvogelblick. „Und sehen Sie hier", frohlockt der Panzermann, mit der Hand in den Kasten weisend, „fünf Sack Hafer und den Hammel, den Sie vorhin meinten." Trinks muß sich setzen, das geht ihm wider die Natur. In fliegender Eile werden drei Panjepferde angeschirrt, die übrigen Geschirre und Sättel fliegen in den Kasten, alles springt auf, und ab geht die Post im Walde. Wie der Teufel fahren sie den halben Vormittag über Stock und Stein, die Nebenstraßen sind trocken, eher weich, das schont die Hufe und Beine der trabenden Tiere. An einem sprudelnden Bache machen sie Rast, sorgsam auf Zeltplanen geschüttet, erhalten die Pferde eine kräftige Portion Hafer; die gewechselten Zugpferde einen besonderen Schlag zusätzlich. Das ist ein besonders lang entbehrter Genuß, und Duran kaut mit vollen Backen die goldenen Körner in sich hinein.
Wohltuend empfindet er die Freiheit seines Leibes, denn das überall scheuernde und bei jedem Schritt schaukelnde Geschirr liegt im Kasten des Wagens. Leicht und frei trabend mag es noch gehen, wenn aber eine Belastung ihn drückt, ob Zug oder Last, da hat er immer mehr mit dem Atem zu kämpfen, und das Herz pocht wie wild, so arbeitete es. In der schwülen Luft Bessarabiens, vor allem in den Sümpfen, war es besonders schlimm. Die frische, reine und dünnere Bergluft hat ihm wohler getan, und — obwohl ständig steigend und kletternd, empfand er hier die Not seiner Lungen kaum. Immer deutlicher treten seine Rippen hervor, und an der letzten vor dem Bauch senkt sich allmählich eine Rinne ein. Das ist das erste sichere Zeichen der Abnutzung von Herz und Lungen, verbraucht bei all der Schinderei und Hast der letzten Jahre! „Dämpfig" nennen es die Pferdeleute und wissen Bescheid. In Paraid treffen sie auf die flüchtig rastende Kompanie, es gibt hier kein Halten mehr, denn schwer grollen die Donner erbitterter Kämpfe herunter vom Piatrapaß. Auch weiter im Nordwesten, am Duklapaß drängt der Gegner herunter in die Ebene der Theiß. Von Süden aus der Tiefebene der Theiß und Donau stoßen schnelle Verbände unaufhaltsam vor nach dem Herzen des Landes — Budapest! Unaufhaltsam, Tag und Nacht rollt der Wagen und traben die Pferde, um der Zange, die sich bald schließen muß, zu entkommen. Der Blick der Männer gilt nicht dem zauberhaften Reiz dieses gesegneten Landes, in dem sich alles findet, was den Menschen erfreut. Hohe, schneebedeckte Berge, Hänge mit goldenem Wein und weite, heiße Ebenen. Ihr Blick gilt einem Fluß und einer Weide, wo die ewig Trabenden ihren Hunger und Durst stillen können. Die wenigen Tage der Ruhe in Des sind nicht der Rede wert und bedeuten kaum Erholung für die Männer, denn genau von Westen — aus Großwardein, kommen die wildesten Gerüchte. Wie wenig Fahrzeuge und Menschen man sieht — ob sie die Berge nur alle verschlungen haben? Hinter die Theiß, hinter die neue Hauptkampflinie mitten in der ungarischen Tiefebene, heißt jetzt die Parole. Trinks hat von der Kompanie hundert Pferde als Marschkommando zugeteilt bekommen, magere, abgehetzte Tiere, die kaum noch vorwärts zu bringen sind. Debrezin ist fast menschenleer, nur ein paar kleine Lazarette laden Gerät auf, um alsbald zu verschwinden. Prasselnd traben die Hufe der Pferde und rattern die Räder der Wagen über Pflaster und Beton gepflegter Straßen und Alleen. Schnaubend drängen sich die Pferde an Telefonhäuschen und Milchbuden vorbei, bald auf dem Bürgersteig jagend, bald auf glatten Schienen ausgleitend. Der alte Stamm trottet wie gewohnt hinter dem Wägelchen her in Reih und Glied, nicht nach links und rechts schauend. Wenn zu einer kurzen Rast gehalten wird, bleiben sie dort, wohin man sie führt, und sind wieder zur Stelle, wenn das Wägelchen wieder anrollt. Durans Stammplatz ist, wie seit Wochen, immer genau hinter dem Wagen, selten, daß er einmal zur Seite läuft, um weicheren Boden unter den abgewetzten Eisen zu haben. Die von der Kompanie rennen bei jeder Gelegenheit auseinander und kümmern sich um nichts. „Ist das eine disziplinlose Bande, die man uns da aufgehängt hat", flucht der Unteroffizier und verscheucht ein Dutzend mit Steinwürfen aus einem Weingarten, in den sie ohne Grund eingebrochen sind. Den Trieb ohne Anbindezeug mit den wenigen Leuten zusammenzuhalten, ist ganz ausgeschlossen. Die Leute rennen und schaffen sich ab, immer und immer wieder derselbe Zirkus! „Heute abend überschreiten wir noch die Theiß", sagt Trinks, auf die Karte blickend, und tut einen tiefen Seufzer, hoffentlich hält das Kartenhaus noch ein paar Tage, die Pferde können ja nicht mehr, wir können doch nicht bis Wien oder München so weiter machen. In einem kleinen Neste westlich des Flusses verbringen sie die Nacht. Duran und die wenigen Pferde vom alten Stamm ziehen in einen Grasgarten und legen sich fast alle sofort nieder, ohne zu fressen, sie sind völlig erschöpft. Erst gegen Morgen erheben sich einige und fangen an zu weiden. „Hierbleiben, bis weitere Befehle folgen", heißt es in einem Befehl, den der Kompaniemelder im Morgengrauen bringt. „Ein Tag macht hoffentlich das Kraut nicht fett", sagt Trinks, „die armen Pferde können es wirklich
gebrauchen." Wie im tiefsten Frieden bummeln alle am Bache herum und freuen sich über den erwarteten Ruhetag. Noch ein strammer Marschtag führt sie alle nach Nordosten hinauf, wo die steilen, sonnendurchwärmten Weinhänge des Matra-Vorgebirges sich in der Ebene verlieren. Im Norden die Berge, nach Süden die weiten Ebenen, hier an diesem idealen Treffpunkt hat die hohe Strategie den Sammelplatz für alle die Pferde und deren Betreuer festgelegt, die das Chaos in Südosteuropa übrigließ. Um viele Orte weiden und grasen sie, die letzten Abgehetzten endloser Märsche und Hetzjagden in brennenden Ebenen und zerklüfteten Bergen, die müden Wanderer zahlloser Tage und Nächte, zwischen denen es keinen Unterschied gab. Wohlig strecken sich die Männer im Stroh der sauberen Höfe und genießen den Schutz eines dichten Daches, während sich das Laub der hunderttausend Weinstöcke auf den Bergterrassen herbstlich schmückt. Golden strahlt die Sonne vom blauen Septemberhimmel, in dem große weiße Wolken dahinsegeln. Wer ausgeschlafen hat, bummelt hinaus auf die Weiden, um den oder jenen zu besuchen und zu liebkosen, der ihm treuer, unzertrennlicher Freund geworden war und von dem er sich nicht mehr trennen möchte. Oh, sie kennen sich alle und laufen zutraulich aufeinander zu, um die gewohnten Liebkosungen entgegenzunehmen und die zärtlichen Worte zu hören, die an ihren Backen geflüstert werden. Eine Woche der Entspannung, ein paar Tage ungestörter Ruhe liegt vor ihnen. Wer hätte gedacht, daß schon bald Gerüchte umlaufen würden von einem Generalappell, von einer umfassenden, gründlichen Durchsicht aller dieser Invaliden durch höchste Her ren? Doch Gerüchte beim Kommiß sind wahr, das hat man oft genug erfahren, und schon flitzen die Melder zwischen den Resten der Einheiten umher und überbringen die Befehle der hohen Stelle, die, hier bereits seit langem geruhsam die Schönheit des Herbstes genießend, nunmehr den Zeitpunkt für gekommen hält, weil auf Grund der strategischen Lage nach menschlichem Ermessen niemand mehr zu erwarten ist.
Die paar armseligen, abgerissenen Kerle, die, in endlosen Nachtmärschen sich durchschlagend und ein paar müde Gäule hinter sich her ziehend, vielleicht noch über den Fluß schwimmen, werden zahlenmäßig die Generalstatistik nicht beeinflussen, höchstens im Nachtrag zur gehorsamsten Meldung ein paar Zeilen beanspruchen. Demgemäß dürfte der letzte Sonntag im September des Jahres 1944 der geeignetste Tag sein.
DER LETZTE APPELL BEIM GOTT DER KRIEGSPFERDE
Ein strahlend schöner Herbsttag bricht an. In langen Reihen, wohlausgerichtet, beleuchtet die Sonne die Rücken der Pferde, auf die so mancher Peitschenhieb in all den bitteren Jahren herniedergeprasselt ist, und die mageren Leiber, auf denen große, bizarre Narben noch Zeugnis ablegen von furchtbaren Wunden. Seit sechs Uhr morgens stehen sie schon, um fünf Uhr war bereits Antreten. Ja, man will nicht auffallen, und alles soll wie am Schnürchen abrollen. Höher und höher steigt die Sonne, und die Stunden zerrinnen. Gruppenweise stehen die letzten Offiziere in abgeschabten, geflickten Uniformen mit ausgetretenen Stiefeln beieinander, begrüßen hier einen lieben alten, längst totgeglaubten Freund und dort ein paar Pferde, die sie kannten und schätzten. „Es ist bald neun Uhr", sagt Trinks und schiebt Duran und seinem Reitpferd einen Kanten Brot ins Maul, „es wird Zeit, daß wir frühstücken." Graf und die Männer, die mit den alten Gefährten am Anfang einer langen Reihe stehen, ziehen Brote aus der Tasche und fangen ebenfalls ungeniert an zu frühstücken. Da wird auf der Straße ein Kradmelder sichtbar, in weitem Abstand folgt eine schillernde, riesige Limousine. „Er kommt, er kommt!" „Alles an die Pferde!" schreit die Stimme des ranghöchsten Offiziers schneidend scharf über die langen Reihen. Die Offi ziere nehmen auf einem kleinen Hügel Aufstellung, von dem aus ein Rundblick über das „Karree" möglich ist. Trinks sucht verzweifelt nach seinen Handschuhen in allen Ta schen — ach ja, die sind ja auch mit verbrannt da unten im Obstgarten, als die Wagen verbrannten. Da biegt die Limousine von der Straße ab und rollt dem Hügelchen zu. Die Köpfe der Männer rucken nach rechts, die Offiziere strecken den rechten Arm vor. Fingerspitzen in Höhe des Mützenschildes. Ein Adjutant mit Kartenbrett und Aktentasche springt wie ein Attentäter den haltenden Wagen an und reißt den Schlag auf. Gebückt kraucht er heraus, richtet sich auf, zieht die hochgerutschte Jacke nach unten und rückt die Schnalle des schiefgezogenen Koppels an die Knopfreihe. Es ist neun Uhr, die Zeit nach dem ersten Frühstück wohlhabender Leute! Da steht er nun da, der große, massige, schwere Mann, der Gott der Kriegspferde und Veterinäre und zugleich, nicht zu vergessen — der Wissenschaft und Strategie letzte Vollendung. Erstarrt zu Stein verharren die Männer, nur die Gäule nehmen anscheinend keine Notiz von der erhabenen Situation und fummeln mit den Köpfen nutzlos herum. Jetzt schreitet er mit geruhsam abgemessenen Schritten dem Hügelchen zu. Grell blitzend brechen sich die herbstlichen Sonnenstrahlen in dem untadeligen Glanz seiner gepflegten Stiefel, aus denen die fleckenlosen, weit ausgebauchten Breeches mit den breiten, roten Streifen beiderseits der Nähte emporblühen. Untadelig ist der Sitz der hellgrauen, goldbeknöpften Jacke, die den üppigen Schmerbauch umspannt. Frisch, gepflegt und rosig rasiert quellen Halswamme und Nackenschwarte über das blendende Weiß des einen Zentimeter überstehenden Kragens, und feldmäßig krönt das Haupt die weiche, goldverzierte Bergmütze, die einzige Bequemlichkeit, die er sich in schweren Tagen erlaubt. Der Gebieter über Urlaub und dauernde Versetzung, über Beförderung und Bestrafung, der furchtlose Bekämpfer wilder Pferdeseuchen und steten Pferdemangels, der General der Pferde und ihrer zweibeinigen Kameraden erwidert den Gruß. Von einem Zettel abhaspelnd, verliest der Rangälteste die Namen der Einheiten und Zahlen der Pferde, als ob diese Überschwemmung aufs Stück unter der Bergmütze registriert werden könnte. „Schön", sagt der hohe Herr und setzt die Miene verantwortlicher, überarbeiteter Männer auf, „da wollen wir mal sehen, was truppenuntauglich ist von der Gesellschaft — lassen Sie rühren." Mit der Reitgerte wippend, schreitet er auf den Anfang der ersten Reihe zu, gefolgt vom Schwarm der Herren. Fachmännisch prüfenden Blickes, vor- und zurück tretend, hinten umgehend und von vorn betrachtend, begutachtet er Objekt Nummer eins
im Schritt und im Trabe, erkundigt sich nach Alter und Leistung, Einheit und Ver wendungsart. Rührend, welch Interesse der hohe Herr dem Wohlergehen der Nummer eins entgegenbringt. Bei Nummer zwei, drei, vier und fünf wiederholt sich das Spiel von neuem. „Wenn der so weiter macht und die vierhundert Pferde so durchmachen will, stehen wir noch bis zum nächsten Jahr hier", flüstert Trinks einem Freunde zu. „Keine Angst, Otto", gibt dieser zurück, „der läßt sein Mittagsweinchen nicht warm werden." In der Tat, er bekommt es bald satt und begnügt sich damit, die Reihe von hinten abzugehen. Die Pferde, die magere und spitze Schenkel haben, über denen die Beckenknochen zum Mützeaufhängen herausstehen, erhalten einen Klaps mit der Reitgerte und werden zum Heimtransport als TU. verdammt. Was noch einigermaßen Fleisch auf der Rippe hat, bleibt hier. Damit ist noch vor dem Essen die Gruppierung entschieden, und keiner zweifelt an der Treffsicherheit des Urteils. Duran und die meisten des alten Triebes haben den entscheidenden Klaps erhalten — untauglich — Heimat! Während die Kolonnen ihren Weideplätzen wieder zustreben, versammeln sich die Herren an der geräumigen Limousine. Teilnehmend erkundigt sich der dicke Goldene nach ihren Erlebnissen und kann nicht umhin, mancherlei zu tadeln, was hätte keinesfalls vorkommen dürfen, was eigentlich Folgen nach sich ziehen müßte, wenn man da mal genauer hinterhaken wollte. Jedenfalls freut er sich abschließend, die Herren so zahlreich und munter wiederzusehen und gibt bekannt, daß weitere Befehle bezüglich des Abtransportes folgen. Die Arme winkeln sich, die schwere Türe des Wagens fliegt ins Schloß, und eine Staubwolke ist alles, was vom Gott der Pferde zurückbleibt. Noch ein paar Worte, und auch die Herren streben auseinander, plaudernd und sich belustigend. Ganz wohl hat er sich nicht in seiner Haut gefühlt, der Mann mit der Berg mütze; seit den geruhsamen Tagen in Bessarabien und Rumänien hatte ihn niemand wiedergesehen von denen, die dringend seiner Hilfe bedurften. Gewiß, es wäre seine Auf gabe gewesen, an den großen Rückzugslinien Futterplätze und behelfsmäßige Verpflegungsstellen anzulegen und eventuell auch etwas an Sanitätsgerät und Arzneimitteln zu deponieren — aber bei der allgemeinen Unsicherheit bezüglich des Frontverlaufes und dem Durcheinander ist das so eine Sache, bei der man leicht Schaden nehmen kann, und Aufregungen sind bekanntlich kein Balsam für alte Gallenleiden. Dazu kommt, daß man zweifellos auf die sorglose Geborgenheit ausgewählter Quartiere hätte verzichten müssen, nein, das ist nicht nach seinem Sinn. Viel richtiger ist, man behält den klaren Kopf, verzettelt sich nicht in Einzelheiten, sondern behält den allgemeinen großen Überblick. Das kann man aber nur, wenn man Abstand hat von den Dingen. War es vielleicht seine Schuld, daß der Überblick so lange Zeit getrübt war und ihn weitab vom Schuß, im sonnigen Siebenbürgen, geschützt zwischen hohen Bergen, und später, als es auch da brenzlig zu riechen begann, an den Weinhängen Nordungarns mit reichlich Ausweichmöglichkeiten, zur Untätigkeit verdammte und unauffindbar machte? Die Richtig keit seiner Gedankenkombinationen und der daraus resultierenden Ergebnisse war schon längst mit einem hohen Orden ausgezeichnet worden; also stimmte die Rechnung! Das war aber auch sein letzter Appell, denn keines der ausgemergelten Pferde und keiner der Männer in den abgeschabten Uniformen haben ihn jemals wieder persönlich zu Gesicht bekommen. Wohin die große Reiselimousine noch zu rechter Zeit in geruhsamem Tempo ob der Schönheit der herbstlichen Weinberge gerollt ist — wer kann's wissen, welchen Platz im schönen Österreich das zuverlässige Vorkommando bereits erwählt hat. — Die große Offensive auf das Herz des Landes ist angelaufen, rollt schnell programmäßig ab, und der schmale Raum zwischen den von Süden vorstoßenden Einheiten und den nördlichen Bergen wird immer schmäler. Sinnlos, hier noch Ein- und Aufteilungen vornehmen zu wollen mit all dem Bürobetrieb, der zur reibungslosen Abwicklung dieser Dinge nun einmal notwendig ist. Viel zu spät kommt endlich der Verlegungsbefehl für alle
Pferde in den Raum von Komorn hinter das große Donauknie, wo nach menschlichem Ermessen die Rückführung der letzten Überlebenden geruhsamer vor sich gehen kann. Wieder rollt das Wägelchen und trotten die Pferde, hart am Gebirge in gerader Richtung das Ziel ansteuernd, denn die große Straße, die von Budapest in genau östlicher Richtung nach der Theiß führt, ist bereits stark gefährdet. Immer schwerer wird Duran das Traben, und wenn die Wagenpferde zu Schritt kommen und langsam tun, ist es ihm nur recht. Alle Männer fühlen, daß das der letzte Weg ist, den sie und die Pferde zurücklegen müssen, denn nur ein Verblendeter glaubt noch an einen günstigen Verlauf der Dinge. Bevor Duran und die Kameraden in die engen Güterwagen eines langen Zuges hineingeschoben werden, dürfen sie noch ein paar Tage weiden an den lieblichen Ufern der Neutra und sich ausruhen von der Hetze durch Sümpfe, Ebenen und Berge. Dumpf rollen die Salven schwerer Geschütze aus Richtung Budapest und verkünden, daß auch dort der letzte Kampf ausgekämpft wird.
EIN WIEDERSEHEN
In schier endloser Fahrt, rangierend, haltend, planlos bald nach Norden, bald nach Süden abbiegend, erreichen sie den Süden der Heimat und werden bis auf einen kleinen Stamm auf verschiedene, dort eng zusammengedrängte Reserveeinheiten verteilt. Dem Geschick des alten Spitzbuben Graf ist es zu verdanken, daß der alte Stamm zusammenbleibt und in der zerschossenen Fabrik eines Städtchens einziehen kann, in dem die neue Veterinärkompanie für den Endsieg aufgestellt werden soll. Dr. Trinks, Graf und die wenigen Leute beschäftigen sich winters über mit der Anfertigung von Anforderungslisten für Gerät und Personal, wobei jeder sich über die Sinnlosigkeit dieser Tätigkeit im klaren ist, denn schon rauschen die Blätter aus dem Westen heran, vom brausenden Sturme schnell vor sich her getrieben. Unwahrscheinlich, daß die Listen und Aufstellungen ihren Bestimmungsort jemals erreichen bei dem Wirrsal der Verbindungen — ausgeschlossen, daß jemals eine Kiste mit dem angeforderten Gerät eintrifft! Was noch hin und wieder ge bracht wird, sind sich widersprechende oder gegenseitig aufhebende Befehle, deren Durchführung die sich rasch verändernde Lage bereits unmöglich gemacht hat. Trinks hat eine kleine Stube des ehemaligen Gerätelagers der Fabrik zu einem gemütlichen Gemeinschaftsraume einrichten lassen und ein Radio organisiert. „Wie lange wird es noch dauern?" meint Graf, als eines Abends nach den Nachrichten abgeschaltet wird. „Ich weiß es nicht, ein paar Tage vielleicht noch, dann werden sie dasein und uns einen Kaugummi in den Mund stecken als Marschverpflegung", antwortet Trinks und tritt vor die Türe, wo eben ein Auto hält. In eleganter, untadeliger Uniform entsteigt ein hoher Offizier, nimmt einen Hund, der im Auto sitzengeblieben war, auf den Arm und geht auf Trinks zu. „Einheit?" fragt er barsch und knöpft den Mantel auf, denn es ist ein warmer Abend. Trinks macht Meldung. „Danke, gehen wir ins Geschäftszimmer", knattert der Mann mit gereizter Stimme und folgt Trinks, der mit einladender Handbewegung vorausgegangen ist. „Also, übermorgen ist der Amerikaner hier zu erwarten, Sie besetzen mit ihrer Einheit den Ortsrand und halten den Feind auf, bis Verstärkung heran ist. Der Ort ist zu halten bis zum letzten Mann — haben Sie mich verstanden?" „Sehr wohl habe ich verstanden", entgegnet Trinks, „haben auch Sie verstanden, daß ich ganze sieben Mann hier habe?" Wütend springt der hohe Herr auf und läßt den kleinen Hund zu Boden fallen. „Sie wollen wohl damit sagen, daß Sie meinem Befehl nicht nachkommen wollen — Befehlsverweigerung — ich werde Sie standrechtlich erschießen lassen", kreischt er in hysterisch aufwallendem Zorn. „Das können Sie wahrscheinlich nicht", entgegnet Trinks seelenruhig, „Sie werden niemanden finden, der es tut — es sei denn, Sie würden es selbst tun. Aber ich möchte Ihnen nicht raten, es zu versuchen." Schäumend ob dieser Entgegnung reißt sich der hohe Herr auf den Hacken herum, stürmt durch die Türe und schlägt sie knallend zu, daß der Mörtel bröckelt. Der kleine Hund rennt ihm jaulend nach, aber die Türe ist schon zugeflogen. Draußen rollt ein großer Wagen davon nach Nordosten, „Was war denn das hier für ein Krach?" fragen staunend die Leute, als Trinks wieder den Gemeinschaftsraum betritt. „Och, nichts weiter", entgegnet Trinks lächelnd, „da wollte einer seinen eigenen Rückzug gedeckt haben, wir sollten übermorgen den Ami aufhalten." „Wir sieben?" Schallendes Gelächter antwortet. „Also paßt mal auf — zum Lachen ist das nicht, die Sache ist viel zu ernst —, wir müssen jetzt selbständig handeln, für uns, aber auch für unsere Pferde, sie haben es verdient, daß wir ihnen treu bleiben bis zum letzten Augenblick, so wie sie es uns gegenüber waren,
bedenkt, wenn wir sie nicht gehabt hätten... na, ich will das nicht weiter ausschmücken. — Morgen in aller Frühe nehmen wir unsern Rucksack und die Pferde und ziehen nach der Kreisstadt, das sind etwa drei Stunden von hier. Dort ziehen wir im OT-Lager unter und benachrichtigen ein paar Dörfer, daß hier Pferde geholt werden können, wenn die ersten Panzer im Anrollen sind; es sind ja nur achtunddreißig, die werden wir schnell los, und jedes von ihnen hat wieder ein Dach überm Kopf und Futter im Kasten." „Hm", sagen die Leute, „das könnte man machen." „Ich bin Fleischer, Herr Oberveterinär", meint Grafs alter Spezi —, „könnt ich nicht die beiden Panjes für mich mitnehmen?" „Und ich Bauer", fällt der andere ein, „ich nehme mir die beiden anderen." „Macht, was ihr wollt", entgegnet Trinks, „also morgen früh ziehen wir weg." Dumpf grollt es schon hinter dem Hügel, als sie die Fabrik im Morgengrauen verlassen und wegen der schon wieder über die Bäume der Landstraße hinwegjagenden Tiefflieger im Walde verschwinden. Soldaten aller Truppengattungen wandern einzeln oder in Gruppen von Waldstück zu Waldstück, immer den Blick nach dem Himmel gerichtet, wo die großen, bösen Vögel in ganzen Schwärmen dahinhuschen und ihre Bordkanonen auf jede Bewegung loslassen. Erst am Nachmittag erreichen sie das OT-Lager, aber — hier ist keine Möglichkeit, ein paar Pferde unterzustellen zwischen den von Bomben zusammengehauenen Bretterbuden, Holzstapeln und auseinandergerissenen Tonröhren. „Bindet sie drüben am Zaun an unter den Kastanien", rät ein alter OT-Mann, der mit noch einigen Kameraden im Lager verblieben ist. Die Kunde, daß hier Pferde abgeholt werden können, hat sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen, und schon werden die ersten weggeführt. Da kommt einer in abgetragener OT-Uniform wie von ungefähr aus dem Lager gebummelt, ein alter Mann mit müdem Blick, und betrachtet die letzten der noch am Gartenzaun angebundenen. Sein Blick erstarrt, und sein faltiges Gesicht formt sich mit geöffnetem Mund zu einer schrumpeligen Maske. Josef Ernemanns Knie wanken, weit strecken sich die Arme des alten Knechtes vor, und die Finger öffnen sich verkrampft wie bei einem Ertrinkenden, der nach einem Strohhalm greift. „Duh... Duhann", keucht er, taumelt an den Zaun und schlägt die Arme über dem Hals des Pferdes zusammen. Stoßweise wird der dünne Leib unter der einstmals olivgrünen Jacke erschüttert, während über sein lederbraunes, altes Gesicht die Tränen rollen. Klopfend und streichend betasten seine knorrigen Finger den Leib des Tieres, gleiten über die große Narbe und wühlen wieder im Mähnenhaar des knochigen Kopfes.
Da zieht er mit der linken Hand die Schlinge von der Zaunlatte und tappt, den mageren Hals des Tieres mit beiden Armen fest umschlossen, dem Lager zu. „Das war mein Handpferd", sagt Trinks, geht ein Stück abseits und tut, als ob er sich schneuzen müßte, denn die Leute sollen nicht sehen, daß er weint. Wange an Wange, ein dünnes Säckchen auf dem Rücken, zieht Josef Ernemann aus dem Lager, in dem es doch nichts mehr zu besorgen gibt, mit seinem Pferde fort. Als der Morgen überm Allersberg graut, rasten sie oben an der Jakobstanne und blicken hinab auf den Hof mit dem großen Baum, von dem herab einst Karnatz der Star Welt und Menschen verspottete. Da zwinkert der Morgenstern noch einmal und löscht sein Licht aus. Eng aneinandergeschmiegt steigen sie hinab ins Tal, ein alter Mann mit seinem müden Pferd. Und aus den Nebeln auf Wiesen und Feldern stehen sie auf, die Leiber der Gebliebenen, pflügend und säend — daheim.
INHALT KLEINE SCHWIERIGKEITEN 5 BLICK IN DIE WELT MIT DEM ALTEN KERL 10
ZWEI UNANGENEHME GESCHICHTEN 15
DES LEBENS ERNST BEGINNT 17
ETAPPEN-KOMMISS 23
NACH WESTEN 29
PROBESPRUNG NACH ENGLAND 35
GEN OSTEN 37 DER TOTENTANZ BEGINNT 43
„MARSCHIER ODER KREPIER!" 45
DAS WEISSE GRAB 56
ENTRONNEN 62
STALINGRAD! 66
DER GROSSE TRIEB 67
AM RANDE DER HÖLLE 69
ZWISCHEN DNJESTR UND PRUTH IM L AND E DE R TRA UB EN 81
IM LAZARETT 88
SORGEN HOHER HERREN U ND E IN A USS E N S EIT ER 89
IM LETZTEN PARADIES 91
HETZJAGD DURCH SÜMPFE UND BERGE 93
DER LETZTE APPELL BEIM GOTT DER KRIEGSPFERDE 109
EIN WIEDERSEHEN 112