Sergio Bambaren Ein Strand für meine Träume Zu diesem Buch John Williams, ein Workaholic, hat alles erreicht, was im Leben zu zählen scheint: Geld, Erfolg, ein tolles Haus und gesellschaftliches Ansehen. Nur sein persönliches Glück, das hat er noch nicht gefunden. Immer stärker spürt er die innere Leere und Unzufriedenheit. Da trifft er einen geheimnisvollen Weisen, den alten Simon, der sein Freund wird und ihm zeigt, wo der Strand seiner Träume und der Schlüssel zum Glück liegen. John muß erkennen, daß Statussymbole nicht alles bedeuten, und lernen, ehrlich mit sich selbst zu sein. Als er es wagt, loszulassen und zu verzichten, macht er die wertvollste und schönste Erfahrung seines Lebens. Eine bewegende und poetische Geschichte voll Wärme und Menschlichkeit darüber, wie die große Sehnsucht nach Glück Wirklichkeit wird und wozu wir tief im Innersten fähig sind, wenn wir diese Sprache verstehen.
Aus dem Englischen von Elke vom Scheidt Mit 10 farbigen Illustrationen von Heinke Both
Sergio Bambaren, geboren 1960 in Peru, Studium in den USA. Seine Suche nach der perfekten Welle führte den passionierten Surfer um die ganze Welt. Bambaren lebt nach längerem Aufenthalt in Sydney heute als Schriftsteller wieder überwiegend in Peru. Auf deutsch erschienen außerdem seine Bestseller »Der träumende Delphin« (1998), »Das weiße Segel« (2001) und »Der Traum des Leuchtturmwärters« (2002). Piper München Zürich
Von Sergio Bambaren liegt in der Serie Piper außerdem vor: Der träumende Delphin (2941) Der Traum des Leuchtturmwärters (3643)
Sie können Sergio Bambaren direkt erreichen über
[email protected] Ungekürzte Taschenbuchausgabe Piper Verlag GmbH, München 1. Auflage Januar 2001 6. Auflage April 2002 © 1996 Sergio F. Bambaren Titel der australischen Originalausgabe: »Beach of dreams«, McPhersons Printing Group, Victoria © der deutschsprachigen Originalausgabe: 1999 Kabel Verlag GmbH, München Umschlag: Büro Hamburg Stefanie Oberbeck, Katrin Hoffmann Umschlagabbildung: Heinke Both Satz: Wirth, München Reproduktion der Abbildungen: Lorenz & Zeller, Inning a. A. Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-492-23229-9 www.piper.de
Für Olga, wo immer Du gerade bist
Der glückliche Mensch ist nicht der, der anderen glücklich erscheint, sondern der sich selbst glücklich schätzt. PUBLILIUS SYRUS, Moralische Sprüche Glück hängt, wie die Natur zeigt, weniger von äußeren Dingen ab, als die meisten annehmen. WILLIAM COWPER
Prolog Ich stand vor dem Foto auf meinem Schreibtisch und starrte den Mann an, der eine schöne goldene Muschel auf seiner Handfläche hielt. Ich hatte ihm diese Muschel geschenkt. Nichts geschah. Ich schloß ganz fest die Augen, um mich zu konzentrieren, und versuchte, Kontakt mit ihm aufzunehmen, mich an den Zauber zu erinnern, den er einst in meinem Herzen entfacht hatte. Nichts geschah. Anscheinend war der Zauber verflogen. »Ich vermisse dich, Simon«, hörte ich mich selbst flüstern. Langsam rann eine Träne über meine Wange. Ich trank einen Schluck Portwein, den gleichen rubinroten Portwein, den ich so oft mit Simon geteilt hatte, wenn wir noch lange nach Sonnenuntergang
an seinem »Strand der Träume«, wie er ihn nannte, saßen und redeten; diesem magischen Ort auf der Welt, an dem Simon und seine Träume in einer alten, verfallenen Hütte lebten. Und unwillkürlich mußte ich an ihn denken, der mich so viel gelehrt hatte, fern von den Menschenmengen der Großstadt, in der Einsamkeit seiner geheimen Welt. Einen Mann, der mich auf eine Entdeckungsreise zu mir selbst geführt hatte; eine Reise auf der Suche nach dem Glück, das in jedem von uns wohnt. Diese unglaubliche Reise begann unmittelbar vor meinem vierzigsten Geburtstag. An dem Tag fingen meine Falten zu schwinden an. Die auf meinem Gesicht und die in meinem Herzen. Aber das ist schon Teil der Geschichte ...
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1 Wenn ich Ihnen ein halbvolles Glas zeigte, würden Sie es als halb voll oder als halb leer bezeichnen ?
Es war Morgen, und die Wolkenkratzer der Stadt filterten die Strahlen der frühen Sonne. Während ich gedankenverloren zur Arbeit ging, umgeben vom Lärm der vibrierenden Großstadt, dachte ich an die Vorstandssitzung, an der ich an diesem Vormittag bei Williams Amalgamated teilnehmen würde, der Finanzgesellschaft, die ich vor fünfzehn Jahren gegründet hatte. Normalerweise versuchte ich, wenn ich zur Arbeit ging, die Boulevards zu nehmen, die die Innenstadt kreuz und quer durchschneiden, um dem betäubenden Lärm der morgendlichen Stoßzeit auszuweichen. Dies, das wußte ich, war ein Mittel geworden, mich vor der Realität zu verstecken; ein Abwehrmechanismus, mich selbst glauben zu machen, daß ich nicht Teil von dem war, was mich umgab. Aber an diesem Morgen blieb ich stehen und sah auf meine Uhr. Ich habe noch eine Viertelstunde, dachte ich. Zu früh, um ins Büro zu gehen; also machte ich einen Umweg durch den Park.
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Der kleine Park, nicht weit von meinem Büro entfernt, war das einzig Natürliche, was in diesem Betondschungel übriggeblieben war. Von Gebäuden eingeschlossen, langsam vergiftet von den Tausenden von Autos, die jeden Tag durch die Straßen fuhren, war dieser kleine Park ein Tribut an das Überleben; die Blumen darin versuchten noch immer zu blühen, die alten Bäume, die in den Überresten dessen standen, was noch vor hundert Jahren ein schönes, grünes Tal gewesen war, gaben nicht auf. »Wenn diese Bäume reden könnten ...«, sagte ich zu mir selbst. Ich setzte mich auf eine Parkbank, drei Blocks von dem Büro entfernt, in dem ich in den letzten fünfzehn Jahren Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat die besten Stunden meines Lebens verbracht hatte. Ich war das, was die Leute einen erfolgreichen Mann nennen würden. Schon in sehr jungen Jahren hatte ich sehr hart gearbeitet. Ich hatte eine bemerkenswerte Jugend mit fabelhaften Freunden, Privatschulen und privaten Universitäten erlebt und meine Abschlüsse mit Auszeichnung gemacht. Zwei Diplome, die an der Wand meines Büros hängen, zeugen davon. Morgen würde ich vierzig werden. Im Büro
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würde es eine große Party geben, gefolgt von einem kleinen Beisammensein nach der Arbeit und den üblichen drei oder vier Drinks. Ich hatte mein ganzes Leben lang hart gearbeitet, viele Stunden täglich, und an all den Luxus gedacht, den ich mir eines Tages würde leisten können. Und jetzt besaß ich ihn endlich: ein großartiges Haus, einen schicken Sportwagen und Leute, die mich bewunderten und um meine Stellung und meine finanzielle Sicherheit beneideten. Ich war auf dem Gipfel meiner Karriere angekommen, und alles schien möglich. Die Welt lag mir zu Füßen. Ich schätzte mein Leben und die Freiheit, mir alles leisten und tun zu können, was mir gefiel, aber irgend etwas stimmte nicht, und ich glaubte zu wissen, was das war. Bei all der Hetze von einer Konferenz zur nächsten, den Versuchen, ein Geschäft nach dem anderen abzuschließen, den Flügen von einer Stadt zur anderen und den Übernachtungen in so vielen Hotels, daß ich manchmal nicht mal mehr wußte, wo ich eigentlich gerade war, wenn ich morgens aufwachte, fehlte mir etwas, und jetzt wurde mir klar, was das war.
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Ich war nicht mehr glücklich. Ich erinnerte mich, wie ich es als Kind genossen hatte, meine Tage am Strand zu verbringen, auf den Wellen zu reiten und die Möwen hoch oben am Himmel, den Sonnenuntergang am Horizont, die anmutig in der Brandung spielenden Delphine zu beobachten. Jetzt schien mir jeglicher Genuß an den einfachen Freuden des Lebens abhanden gekommen zu sein. Obwohl ich alles besaß, was ich mir auf dieser Welt wünschte, hatte ich in Wirklichkeit nichts. »Wenn ich Ihnen ein halbvolles Glas zeigte, würden Sie es als halb voll oder als halb leer bezeichnen?« »Wie bitte?« »Ich frage mich manchmal, was mit der Welt passieren würde, wenn jeder sein Glas als halb voll bezeichnen könnte.« Das waren seine ersten Worte, und sie trafen mich völlig unvorbereitet. Dann lächelte der Fremde mich an. Er lächelte, wie ich es nie zuvor bei jemandem gesehen hatte, und nur für einen Moment kam mir ein Gedanke in den Sinn: Er hat die Antwort, nach der ich suche. Er dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde. 16
»Kenne ich Sie?« fragte ich. »Ich denke schon.« Ausgeschlossen, dachte ich. Der Mann sah aus wie ein Bettler. Mit seinem langen Haar, dem langen Bart und den zerfetzten Kleidern war es schlichtweg unmöglich, daß ich ihn kannte. Doch aus irgendeinem Grund erinnerte er mich an jemanden, an wen, wollte mir aber nicht einfallen. »Übrigens, ich heiße Simon«, sagte er. »Williams. John Williams.« »Sehr erfreut, Sie an diesem schönen Tag zu treffen, Mister Williams.« Bist du verrückt? dachte ich. Was fällt dir ein, mitten im Park mit diesem Bettler zu reden? Jetzt kennt er deinen Namen. Wer weiß, was er von dir will ... »Sie müssen sich irren«, sagte ich. Ich zog einen Fünf-Dollar-Schein aus der Brieftasche und reichte ihn ihm. »Nehmen Sie das und kaufen Sie sich etwas Warmes.« »Nein danke, Mister Williams. Behalten Sie das, bis wir uns am Strand der Träume treffen.« »Wenn Sie es nicht wollen ...« »Behalten Sie es einfach, bis wir uns am Strand der Träume treffen«, wiederholte er. 17
»Na gut, wie Sie wollen«, meinte ich und steckte die Banknote wieder in die Brieftasche. Ich stand auf, um zu gehen. Und dann begann ich zu laufen. Ich rannte schneller, als ich je zuvor in meinem Leben gerannt war. Und wieder stieg dieses seltsame Gefühl in mir auf, das ich schon mehrfach erlebt hatte, seit ich meinen Weg auf der Welt verloren hatte, und formte sich zu der Frage: »Wovor läufst du weg, John Williams?«
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Was auch immer das Beste für mich ist, muß nicht zwangsläufig auch für Sie das Beste sein ...
Ich weiß nicht, wie ich an diesem Morgen ins Büro kam. Ich fand mich einfach an meinem Schreibtisch wieder, mit meinem Lieblingsstift spielend, den ich durch die Finger rollen ließ. »Mister Williams? Mister Williams, geht es Ihnen nicht gut?« Ich kehrte auf die Erde zurück. »Oh, doch. Entschuldigung, Sarah, ich habe Sie gar nicht gehört.« Ich starrte die Frau vor mir an. Ja, das war Sarah, meine loyale Sekretärin, die seit der Gründung von Williams Amalgamated zu mir gehalten hatte. Immer da, in guten wie in schlechten Zeiten. »Alles in Ordnung, Mister Williams? Einen Moment lang dachte ich, Sie wären ganz woanders. Sie sahen sehr traurig aus, und ...« »Sarah, haben Sie jemals von einem Ort irgendwo an der Küste gehört, der >Strand der Träume< heißt?« »Hmm, eigentlich nicht. Sie etwa?« 20
»Ich habe noch nie von einem Strand dieses Namens gehört, aber aus irgendeinem Grund erinnert er mich an etwas.« »Ich habe auch noch nie von einem Strand gehört, der so heißt, Sir. Zumindest nicht in der Nähe unserer Stadt.« »Macht nichts, Sarah, trotzdem vielen Dank. Und jetzt - was wollten Sie mir denn nun sagen ...« Der Tag im Büro verging wie gewöhnlich mit der Lösung dessen, was vielbeschäftigte Leute wichtige Fragen nennen; mit der Diskussion von neuen Entwicklungen und Venturegeschäften, an denen man sich beteiligen sollte. Die Vorstandssitzung fand statt, ebenso die Konferenz des Managements, nur daß diese länger als sonst dauerte. Es war neun Uhr abends, und ich war müde. Wieder ein vergeudeter Tag, dachte ich. Da muß es doch noch etwas anderes geben. Und dann erinnerte ich mich an den Bettler. »Wenn ich Ihnen ein halbvolles Glas zeigte, würden Sie es als halb voll oder als halb leer bezeichnen?« 21
Mein Leben fühlt sich an wie ein halbleeres Glas, dachte ich. Ich nahm mein Jackett und schickte mich an, das Büro zu verlassen. »Es war ein langer Tag, Mister Williams. Ich hoffe, Sie kommen zur Ruhe. Schönen Abend.« »Schönen Abend, Sarah. Bitte vergessen Sie nicht, das Büro abzuschließen.« Ich wollte schon gehen, doch dann hielt ich einen Moment inne. »Sarah?« »Ja, Mister Williams?« »Sarah, finden Sie, daß diese zehn oder zwölf Stunden Arbeit täglich, Tag um Tag, Jahr um Jahr, finden Sie, daß sie die Anstrengung wirklich wert sind? Oder haben wir uns einfach daran gewöhnt und können nicht mehr anders?« »Sie stellen heute seltsame Fragen, Mister Williams.« »Nein, ich meine es ernst, Sarah. Würden Sie lieber etwas anderes machen als hier sein und das tun, was wir jeden Tag tun?« Sie sah mich mit ihrem typischen warmen, mütterlichen Ausdruck an. »Mister Williams, ich kenne Sie seit fünfzehn Jahren, und ich glaube, ich kenne 22
Sie gut. Ich habe gesehen, wie Ihre Energie sich mit den Jahren verzehrt hat, aber ich habe auch all die wunderbaren Dinge gesehen, die Sie erreicht haben, und den Respekt, den die Leute vor Ihnen haben.« Dann fuhr sie fort und blickte mich dabei unumwunden an: »Ich glaube, keiner kann beurteilen, ob es das wert war, nur Sie allein, Mister Williams.« Sie hielt einen Moment inne und sprach dann weiter: »Würde ich lieber woanders sein? Ich glaube nicht. Ich habe ein gutes Leben gehabt, mit guten und schlechten Momenten natürlich, aber ich bin glücklich, für Sie zu arbeiten. In gewisser Weise erinnern Sie mich an jemanden, der mir sehr wichtig ist. Aber vergessen Sie nicht, was auch immer das Beste für mich ist, muß nicht zwangsläufig auch für Sie das Beste sein. Meinen Sie nicht?« Ich sah starr aus dem Fenster und versuchte, eine Antwort zu finden. »Ich weiß es nicht, Sarah. Ich weiß es einfach nicht mehr.«
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Die Zukunft kommt früh genug. Ganz gleich, was man tut. Und dann wird einem klar, wie wichtig es ist, daß man sich Zeit nimmt zu leben, glücklich zu sein.
Wenn es einen Ort auf der Welt gäbe, wo ich klar denken und all meine Probleme hinter mir lassen könnte, dann wäre das »die Bucht«. Das war meine liebevolle Bezeichnung für den Strand vor meinem Haus. Der vordere Balkon des Hauses ging direkt auf einen langen Sandstrand zwischen zwei Klippen hinaus, die ihn effektvoll vom Rest der Küste trennten. Der Strand zwischen diesen beiden Klippen hatte die Form einer Mondsichel, daher der Name »die Bucht«. Tatsächlich ging ich immer nachmittags, wenn es mir möglich war - und das war in letzter Zeit nicht allzuoft der Fall gewesen - die ganze Länge des Strandes ab und dann wieder zurück. Ich liebte es, die reine Luft mit dem frischen Meeresgeruch einzuatmen und das flüsternde Geräusch der Brandung in den Ohren zu haben. An diesem Nachmittag glitten am Horizont zwei Möwen dahin. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte sein wie sie, dachte ich. Sie scheinen zu wis-
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sen, was sie machen, ihr Tun als sinnvoll zu erleben. Wenn ich sie fliegen sehe, weiß ich, daß sie sind, was sie sein sollen. Ich wünschte, für mich würde das auch gelten. »Was für ein wunderschöner Nachmittag, Mister Williams«, sagte eine Stimme. »Freut mich, daß Sie diesen prachtvollen Augenblick der Natur genießen, wenn die Sonne das Meer trifft.« Ich konnte es nicht glauben. »Simon?« »Ich bin froh, daß Sie sich noch an mich erinnern, Mister Williams. Ich hatte mir ein bißchen Sorgen um Sie gemacht. Nach unserem Treffen neulich im Park dachte ich ...« »Was machen Sie hier?« hörte ich mich schreien. »Ich genieße den Augenblick, genau wie Sie, Sir.« Jetzt weiß er, wo ich wohne, dachte ich, und zu ihm sagte ich: »Ich habe Sie noch nie an diesem Strand gesehen. Was machen Sie hier?« »Ich wohne hier in der Nähe, Mister Williams«, antwortete Simon. Mit diesen Kleidern unmöglich, dachte ich. Ich mußte es darauf ankommen lassen. »Ich wohne fünf Blocks südlich von hier, Simon. Wo ist Ihr Haus?« 28
»Das habe ich Ihnen schon gesagt. Mein Haus liegt am Strand der Träume. Kein großes Haus, aber mir ist es gerade recht so.« »Und die Adresse?« fragte ich ihn. »Es ist ein Ort, ein Ort, den Sie auch kennen, Mister Williams.« Ich sah seine Augen. Er blickte traurig drein und sagte: »Sie erinnern sich bloß nicht.« »Ist das irgendein Trick, Simon? Was wollen Sie wirklich von mir? Geld, einen Job oder was?« Sein Ausdruck veränderte sich, und er lächelte. »Ich möchte bloß, daß Sie glücklich sind, Mister Williams. Das ist alles.« »Nun, wenn Sie wollen, daß ich glücklich bin, dann lassen Sie mich bitte in Ruhe. Ich möchte nicht mit Ihnen reden, und ich will Sie auch nicht wiedersehen.« Mit diesen Worten drehte ich mich um und machte mich auf den Rückweg. Im Weggehen hörte ich ihn sagen: »Wie Sie bereits entdeckt haben, Mister Williams, die Zukunft kommt früh genug. Ganz gleich, was man tut. Und dann wird einem klar, wie wichtig es ist, daß man sich Zeit nimmt zu leben, glücklich zu sein.« 29
Ich fing an zu laufen, schneller und schneller, versuchte ihm zu entkommen, aber als ich gerade im Begriff war, mein Haus zu erreichen, durchfuhr mich wie ein Blitz ein Gedanke: Bin ich vor Simon davongelaufen oder vor der Wahrheit?
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Vergessen Sie nie, daß Ihr Herz frei ist. Sie brauchen bloß den Mut, ihm zu folgen.
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Eines Nachmittags spazierte ich barfuß die Bucht entlang. Gerade nahe genug am Wasser, um mit den Füßen in den nassen Sand einzusinken. Ich ging, wie ich immer ging, versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen und etwas frische Luft zu genießen, fern von dem Lärm und Verkehr, die die Straßen meiner Geschäftswelt verstopften. Plötzlich erregte etwas meine Aufmerksamkeit. Nicht weit vor mir erhob sich eine Klippe. Ich erkannte sie nicht als diejenige, die meine Bucht vom nächsten Strand trennte. So schnell kann ich nicht gegangen sein, dachte ich. Normalerweise brauchte ich dreißig Minuten, um von meinem Haus aus zur südlichen Klippe zu kommen, aber ich hatte das Gefühl, erst fünf Minuten unterwegs zu sein. Muß wohl an der Hitze liegen, überlegte ich. Ich ging näher heran, um mich zu vergewissern, daß es sich tatsächlich um die Klippe handelte, die ich so viele Male gesehen hatte; vermutlich war ich so in Ge-
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danken versunken gewesen, daß ich jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Je näher ich kam, desto weniger vertraut kam mir die Klippe vor. Sie ist zu klein, dachte ich. Ich konnte es nicht dabei belassen, sondern mußte sehen, was sich auf der anderen Seite befand. Also fing ich an, die Klippe hinaufzuklettern. Irgend etwas stimmt nicht, ging es mir durch den Kopf. Ich spürte, wie mein Herz schneller und schneller schlug und das Adrenalin durch meinen Körper strömte. Endlich erreichte ich die Spitze. Ich traute meinen Augen nicht. Vor mir lag ein kleiner Hügel, vielleicht hundert Meter von der Klippe entfernt. Üppiges grünes Gras bedeckte den Abhang zum Strand hinunter, wo der weißeste Sand, den ich je gesehen hatte, mit dem unberührten smaragdgrünen Wasser verschmolz. »Willkommen an meinem Strand der Träume, Mister Williams«, sagte Simon mit diesem Lächeln, das ich inzwischen so gut kannte. Ich konnte es einfach nicht glauben. Dort, inmitten dieses paradiesischen Fleckchens, saß Simon vor einer winzigen, heruntergekommenen Hütte. »Sind Sie's, Simon?« 33
»Willkommen an meinem Strand der Träume, Mister Williams. Bitte, kommen Sie herüber und leisten Sie mir Gesellschaft.« Ich tat, was er sagte. Nur wenige Minuten zuvor war ich noch gefahrlos die Bucht entlanggegangen. Und jetzt wußte ich nicht, wo ich mich befand. »Wo sind wir, Simon?« fragte ich und zitterte dabei. »Es scheint, daß wir an einem sehr schönen Strand sind, der von grasbewachsenen Hügeln umgeben ist«, antwortete er. »Nein, Simon, ich meine, ich habe diese Stelle noch nie zuvor gesehen. Ich bin wie üblich die Bucht entlanggegangen, als ich plötzlich eine Klippe sah, die ich nicht erkannte, und jetzt bin ich an diesem Strand, den ich noch nie gesehen habe, und ...« »Doch, Sie waren schon hier, Mister Williams«, sagte er. »Es ist nur viele Jahre her, seit Sie zum letztenmal hier waren, und Sie erinnern sich einfach nicht daran. Aber Sie werden sich schließlich erinnern.« Er starrte mich an. »Wenn Sie entschlossen genug waren, diese Klippe zu erklimmen, um zu sehen, was auf der anderen Seite ist, dann werden Sie sich auch erinnern.« 34
Ich fühlte mich verwirrter denn je. »Das ist nicht mehr lustig, Simon. Ich weiß, daß Sie alle möglichen Tricks beherrschen. Ich habe Sie im Park gesehen; ich habe gesehen, wie Vögel sich Ihnen nähern, wie Kinder zu Ihnen kommen und lächeln. Aber das hier ist zuviel. Ich hatte einen schrecklichen Tag im Büro und ...« »Und Sie waren gerade im Begriff aufzugeben und sich zu sagen, daß das, was Sie tun, keinerlei Sinn hat und daß Sie eine radikale Veränderung darin vornehmen müssen, wie Sie mit dem Leben umgehen?« »Woher wissen Sie das? Ist das auch einer Ihrer Tricks?« »In diesem Geschäft gibt es keine Tricks, Mister Williams. Ich habe mich bloß irgendwann in der Vergangenheit einmal genauso gefühlt wie Sie heute, habe eine Lebenskrise durchgemacht und nicht gewußt, wohin ich gehen sollte.« Simon wirkte jetzt traurig. »Ich weiß, wie sich das anfühlt, Mister Williams, ich war auch dort.« »Was machen Sie dann hier?« fragte ich. »Nun, es scheint, als ob wir uns am Beginn eines sehr interessanten Gesprächs in sehr friedlicher Umgebung befinden. Bitte kommen Sie, leisten Sie mir 36
Gesellschaft bei einem Glas süßem, schön gereiftem, rubinrotem Portwein.« Er reichte mir ein Glas. Ich trank es in einem Zug leer. Der Portwein schmeckte gut. »Seien Sie vorsichtig, Mister Williams«, riet er mir lachend. »Dieser Tropfen hat schon einige sehr geübte Trinker umgeworfen. Und außerdem wollen Sie doch sicher den schönen Sonnenuntergang nicht verpassen, den wir gleich erleben werden, oder?« »Sonnenuntergang?« Ich sah auf meine Uhr. Es war vier Uhr. »Wovon reden Sie, Simon? Die Sonne geht erst in ein paar Stunden unter, und ...« Ich konnte nicht weitersprechen. Ich beobachtete den Horizont, sah die goldene Sonne, die gleich untergehen würde, die wunderschönen Farben, in die der Himmel jetzt getaucht war: rosa, gold und rot. »Noch ein Trick, nicht wahr?« Simon blickte mich an. »Mister Williams, heute haben Sie den schwierigsten Schritt getan, den ein Mensch nur tun kann.« »Was meinen Sie, Simon?« 37
»Sie haben begriffen, daß Sie nicht imstande sein werden, auf dem Weg, den Sie gehen, Glück zu finden, ganz gleich, wie viele Geschäfte Sie abschließen, wie viele Millionen Sie verdienen oder wie viele Menschen Sie respektieren. Letztendlich geht es um Sie und um Ihr Herz, und das ist es, was Sie endlich erkannt haben.« Er sah mir direkt in die Augen. »Keine Sorge, Mister Williams. Sie haben nichts zu beweisen, weil Sie wissen, wer Sie sind.« »Was meinen Sie damit, Simon?« »Daß all die Dinge, die Sie sich gekauft haben, um Ihre Tage schöner zu machen, Ihnen am Ende nur ein falsches Gefühl der Sicherheit einbringen.« Ich hatte Schwierigkeiten, dem zu folgen, was Simon sagte. Ich versuchte, ihn in die Enge zu treiben. »Aber die Menschen wünschen sich schöne Dinge, Simon. Es ist normal, daß Menschen versuchen, ihre Lage zu verbessern.« »Daran ist ja auch nichts auszusetzen, Mister Williams«, entgegnete Simon. »Sie müssen nur erkennen, daß all die Dinge, die Sie sich wünschen, nicht unbedingt die Dinge sind, die Sie brauchen.« 38
Er nahm noch einen Schluck von seinem Portwein. »Wir setzen uns so sehr unter Druck, in allem Erfolg zu haben, daß wir Glück zu einer weiteren Sache gemacht haben, die wir erlangen müssen. Also jagen wir ihm nach und setzen es mit Reichtum und Erfolg gleich, ohne zu merken, daß die Menschen, die diese Dinge bereits besitzen, nicht unbedingt glücklich sind. Im Laufe der Jahre, Mister Williams, habe ich viele Menschen gesehen, die den gleichen Fehler begangen haben: >Wenn ich erst dies habe, werde ich aufhören<, sagen sie. >Wenn ich erst jenes habe, werde ich aufhören. Das ist wirklich alles, was ich will.< Aber wenn sie es erst einmal haben, fangen sie an, etwas anderes zu sehen, was sie auch wieder unbedingt haben wollen. Jedesmal, wenn sie einen Berg bestiegen haben, ist dahinter noch ein anderer, höherer, der grüner und ferner aussieht, und sie wollen auch den bezwingen. Das nennt man Gier, Mister Williams. Man hört nie auf. Und auf einmal, wenn man erkennt, was mit dem eigenen Leben passiert ist, ist es für gewöhnlich zu spät, um dem nachzugehen, was man sich wirklich wünscht. 39
Vergessen Sie nicht, Sie leben nur einmal, Mister Williams.« Er verstummte für einen Moment und fuhr dann fort: »Was Sie lernen müssen, ist, zwischen den Dingen zu unterscheiden, die Ihnen helfen, Ihr Leben zu bereichern, und den Dingen, die Ihnen nur ein vorübergehendes Gefühl von Leistung oder Status bringen, weil Sie früher oder später entdecken werden, daß der Preis, den Sie für die Statussymbole bezahlt haben, viel größer war als das daraus bezogene Glück.« Plötzlich veränderte sich Simons Ausdruck. Er lächelte und sagte: »Vergessen Sie nie, daß Ihr Herz frei ist, Mister Williams. Sie brauchen bloß den Mut, ihm zu folgen.« »Aber wie kann ich das?« »Ich habe eine einfache Methode, die immer funktioniert. Suchen Sie sich einfach einen ruhigen Platz, den Sie mögen, und denken Sie vor einer Entscheidung, ob Sie etwas wirklich haben wollen, darüber nach, was Sie damit machen werden. Kommt die Idee, es zu besitzen, aus Ihrem Herzen, oder ist sie nur eine exzellente Marketingstrategie der Person, die versucht, es Ihnen zu verkaufen? Wären Sie 40
glücklicher, wenn Sie es hätten, oder würde es nur für eine Weile eine leere Stelle in Ihrem Herzen füllen? Das Schlüsselwort lautet hier Glück.« »Sie haben leicht reden«, antwortete ich ärgerlich. »Vermutlich haben Sie immer in Ihrer Hütte gewohnt und besitzen gar nicht die Mittel, besser zu leben.« »Sie sind sehr hart in Ihrem Urteil über jemanden, den Sie gerade erst kennengelernt haben, Mister Williams. Schauen Sie sich um. Was sehen Sie?« Ich betrachtete den Ort und versuchte zu erraten, welche Antwort er von mir erwartete. »Ich sehe eine Hütte inmitten eines leeren Strandes.« »Sehr gut, Mister Williams. Und jetzt schauen Sie bitte noch einmal.« Ich versuchte immer noch dahinterzukommen, was er dachte. »Ich sehe noch immer einen leeren Strand mit einer Hütte«, sagte ich. Er starrte mich an und lächelte dabei. »Wissen Sie, was ich sehe, Mister Williams?« »Was sehen Sie, Simon?« »Ich sehe einen Strand voller Träume und einen 41
Ort, an dem man nachts ausruhen kann. Seit ich ein Kind war, war es das, wonach ich gesucht habe. Ein Ort, wo ich in Frieden mit meinem wahren Selbst leben konnte. Lange Zeit habe ich meinen Weg verloren, bis ich diesen Ort fand, und glauben Sie mir, Mister Williams, ich habe niemals zurückgeschaut. Hier habe ich mich selbst wiedergefunden. Ich fing an, wieder glücklich zu sein.« »Aber wie leben Sie, wovon ...« »Ich habe ein kleines Einkommen, das meinen Bedürfnissen sehr gut entspricht. Es mag sich unlogisch anhören, aber jedesmal, wenn Sie sich von etwas befreien, das Sie nicht brauchen, wird in Ihrem Kopf Raum für einen Gedanken frei. Einer der Gründe, warum wir Menschen uns in der Welt manchmal so verloren fühlen, ist, daß wir zuviel Zeit damit verbringen, darüber nachzudenken, wie wir all die materiellen Dinge behalten können, die wir um uns herum ansammeln. Wenn Sie sie nicht haben, Mister Williams, dann brauchen Sie sich auch keine Sorgen um sie zu machen, und das gibt Ihnen Zeit. Zeit, um über die wichtigen Dinge im Leben nachzudenken; Zeit, um glücklich zu sein; Zeit, um sich selbst und Ihr Leben zu schätzen.« 42
»Simon, was Sie sagen, ist völlig utopisch. Die wirkliche Welt funktioniert nicht so, wie Sie sagen. Sie müssen für die Dinge kämpfen, die Sie sich wünschen. Manchmal ist das da draußen ein Dschungel. Da gibt es Wettbewerb, Neid, Gier ...« Er starrte auf den Ozean, als erinnere er sich an etwas. »Früher habe ich genauso gedacht, Mister Williams. Bis ich eines Tages merkte, daß ich mehr als nur eine Wahl hatte. Ich konnte weiterhin kämpfen, um meine Stellung in diesem >Dschungel< zu behaupten, von dem Sie sprechen, aber ich konnte auch fortgehen, wenn ich wollte.« Simon schwieg einen Augenblick und dachte nach. »Gewöhnlich sagt man uns, daß es im Leben nur zwei Möglichkeiten gibt, Mister Williams: so hart zu kämpfen, wie man kann, um die Spitze zu erreichen und erfolgreich zu sein, oder sich denen anzuschließen, die man gemeinhin die Heerscharen der Verlierer dieser Welt nennt, den Leuten, die nie irgendwelche Aufmerksamkeit erregen werden.« Simon machte eine Pause und schaute auf den dunkler werdenden Horizont. 43
»Es gibt eine dritte Möglichkeit, Mister Williams. Sie können beiseite treten und anfangen, die Person zu sein, die Sie sein möchten. Sie brauchen das Spiel der anderen nicht mitzuspielen. Diese Leute brauchen Sie. Nicht umgekehrt.« Simons Worte überrumpelten mich. Ich hätte mit ihm argumentieren können, um ihn zu überzeugen, daß er sich irrte, aber ich war nicht dazu imstande. Dies war keine Vorstandssitzung, bei der Themen diskutiert und Argumente gefordert wurden. Jetzt gab es keine Diskussion, es gab keine Argumente auf den Tisch zu legen. Dieser Simon, wie er sich nannte, lebte so, wie er redete, und das flößte mir ein sehr unbehagliches Gefühl ein, denn im Grunde meines Herzens wußte ich, daß er mitten an diesem kleinen, schönen Strand mit einer Hütte als Wohnhaus und nicht mehr materiellem Besitz als einer Flasche gut gereiftem Portwein ausgesprochen glücklich war. »Ist das so einfach, Simon? Ich meine, glücklich zu sein, in Frieden mit sich selbst zu sein?« »Es ist nicht einfach, Mister Williams, aber jeder kann es. Man muß nur sicher sein, daß man es aus dem richtigen Grund tut: für sich selbst.« 44
In dieser Nacht sprachen wir über viele Dinge, und ich begriff allmählich, daß der Mensch, über den ich so voreilig geurteilt hatte, tatsächlich ein sehr weiser und sanftmütiger Mann war, der genauso lebte, wie er sprach. Es war lange her, seit ich das letzte Mal ein wichtiges Gespräch geführt hatte, ohne ein einziges Wort über Arbeit zu verlieren. Die Unterhaltung brachte uns auf entscheidende Fragen danach, wer wir sind, nach dem Leben; nach seinen Problemen und seiner Komplexität, seinen Herausforderungen und Hoffnungen. Und erst die aufgehende Sonne am Morgen lenkte mich von diesen magischen Augenblicken der geistigen Erleuchtung ab. »Ich muß zur Arbeit, Simon. Ich möchte nicht, aber ich muß. Das Team erwartet mich zu einer Konferenz.« »Ich weiß, Mister Williams. Danke, daß Sie gekommen sind. Ich hoffe, Sie werden in der Lage sein, mich wieder zu besuchen.« »Darauf können Sie wetten, Simon. Diese Nacht ohne Schlaf war besser als all die Nächte, in denen ich Pillen nehmen mußte, um zu schlafen. Ich fühle mich großartig!« 45
»Das ist gut, Mister Williams. Ich bin sehr froh.« »Ich werde wiederkommen, Simon.« »Einstweilen auf Wiedersehen, Mister Williams.« Ich wollte gehen, hielt dann aber inne. »Simon?« »Ja, Mister Williams?« »Das mit der Fünf-Dollar-Note, die ich Ihnen im Park angeboten habe, tut mir leid. Ich habe Sie falsch beurteilt, aber das wird nicht wieder vorkommen.« »Ich werde es Ihnen nicht nachtragen, Mister Williams. Sie können sich gar nicht vorstellen, was die Leute schon alles zu mir gesagt oder mir nachgeworfen haben, einfach wegen meines Aussehens; aber ich mache mir nichts daraus, weil ich weiß, daß es Teil des Tests ist.« »Danke, Simon.« »Nein, ich danke Ihnen, Mister Williams.« Ich machte mich auf den Weg zur Klippe. Ich drehte mich nicht um, aber ich wußte, daß er es war, der direkt zu meinem Herzen sprach: »Vergessen Sie nie, daß Ihr Herz frei ist. Sie brauchen nur den Mut, ihm zu folgen.«
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Glück trägt, wie Tugend, seinen Lohn in sich. Er wohnt im Herzen und nirgendwo sonst.
Mutter, die stolz auf ihren Sohn ist. »Danke, Sarah«, sagte ich. »Und nun - würden Sie mir bitte die heutige Post bringen?« »Mister Williams!« rief Sarah. »Was in Gottes Namen ist denn mit Ihnen passiert?« »Was meinen Sie, Sarah?« Ich verstand nicht. »Waren Sie in einem dieser Schönheitssalons für Männer?« »Wieso fragen Sie?« »Ihre Falten, Mister Williams. Sie sind weg.« Sie sah verwirrt aus. »Ich könnte schwören, daß seit ungefähr zehn Jahren Falten unter Ihren Augen zu sehen waren. Und jetzt sind sie verschwunden!« »Damit das ganz klar ist, Sarah: Erstens, ich war in keinem Schönheitssalon, ich war noch nicht einmal bei meinem Friseur. Und zweitens, was diese Falten angeht - vielleicht lerne ich, meinen Streß zu kontrollieren und besser mit meinen Problemen fertig zu werden.« »Nennen Sie es, wie Sie wollen, Mister Williams, aber was immer Sie tun, machen Sie bloß weiter damit!« Ich sah ihr schönes Lächeln; es glich dem einer
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An diesem Tag arbeitete ich fröhlich vor mich hin und fühlte mich nicht unter Druck gesetzt, weil ich Dinge erledigen und an Konferenzen teilnehmen mußte. Zum erstenmal seit Monaten fing meine Arbeit wieder an, mir sinnvoll zu erscheinen. Es gab in der Firma einen jungen Angestellten namens ROSS Macalister, den ich schon einige Zeit beobachtet hatte. Er besaß genau diesen Elan, den ich selbst so gut kannte. Er war der typische junge Mann voller Träume, voller Ehrgeiz, in einer Welt, in der man sich mit Geld und Prestige einen Namen und Respekt erkaufen, es sich ermöglichen kann, jemand zu sein. Aber dieser ROSS Macalister besaß noch etwas anderes. Ich hatte an ihm eine Tugend bemerkt, die es in der Geschäftswelt sonst fast nicht gab: er spielte fair. So ehrgeizig er auch war, ich hatte nie gesehen, daß er manipulierte oder täuschte, um das zu bekommen, was er wollte. 49
Ich drückte den Knopf der Gegensprechanlage. »Sarah?« »Ja, Mister Williams?« »Würden Sie Mister Macalister bitten, in mein Büro zu kommen?« »Sofort, Mister Williams.« Ich schaltete die Sprechanlage aus, stand auf und machte mir eine Tasse Kaffee. Es klopfte an die Tür. »Sie wollten mich sprechen, Mister Williams?« »Ja, ROSS. Bitte, kommen Sie herein und setzen Sie sich. Kaffee?« »Nein, danke, Mister Williams.« Ich kam sofort zur Sache. »Ross, wie Sie wissen, haben wir heute nachmittag eine Vorstandssitzung.« »Ja, Sir, ich weiß.« »Und Sie wissen auch, daß wir über einige wichtige Fragen bezüglich der Richtung diskutieren müssen, die diese Firma in Zukunft einschlagen soll.« »Ja, Sir. Ich habe alle notwendigen Informationen vorbereitet, die Sie haben wollten.« »Sehr gut, Ross, denn ich möchte, daß Sie an meiner Stelle an dieser Sitzung teilnehmen.« 50
Er fiel fast vom Stuhl. »Wie bitte?« »Sie haben richtig gehört, Ross. Ich werde mir heute nachmittag frei nehmen. Es gibt ein paar wichtige Dinge, um die ich mich kümmern muß, und ich glaube, daß Sie der richtige Mann sind, um bei so einer Sitzung den Vorsitz zu führen. Sie kennen diese Firma fast so gut wie ich, und ich weiß, daß Sie so sorgsam damit umgehen, als wäre es Ihre eigene. Ich werde Sie am späten Nachmittag anrufen und mich erkundigen, wie es gelaufen ist.« Ich erhob mich und beendete damit die Unterredung. »Danke, daß Sie gekommen sind, Ross.« »Nein, ich danke Ihnen, Mister Williams. Ich werde Sie genauestens über alles informieren.« »Das weiß ich, Ross.« Der verblüffte junge Mann ging hinaus und schloß leise die Tür hinter sich. »Sarah?« »Ja, Mister Williams?« »Bitte teilen Sie dem Vorstand mit, daß Ross Macalister heute nachmittag den Vorsitz für mich übernehmen wird.« »Und was ist mit Ihnen, Sir?« 51
»Ich nehme mir den Nachmittag frei, Sarah. Ich muß ein paar Dinge klären. Ich nehme mir ein bißchen Zeit zum Leben.«
Ich wollte einen Spaziergang machen und wartete damit bis zum späten Nachmittag. Ich hatte bereits mit ROSS Macalister gesprochen, und wie erwartet war die Vorstandssitzung glatt verlaufen. Dieser junge Mann hat das Zeug dazu, dachte ich. Ich schaltete die Lichter im Haus aus, verschloß die Tür und machte mich auf den Weg zum Strand. Wieder so ein schöner Abend. Wie konnte ich nur so beschäftigt sein, nicht mehr solcher Abende zu genießen? Ich hatte Lust, Simon noch einmal zu besuchen. Den ganzen Tag hatte ich an ihn gedacht, und je mehr ich an ihn dachte, desto mehr fing ich an, mich an meine Vergangenheit zu erinnern, an Dinge, die ich fast vergessen hatte. Es gab so vieles, worüber ich mit ihm sprechen wollte, so viele Fragen, die ich ihm gern stellen wollte. 52
Ich lief und lief, entdeckte aber kein Zeichen für diesen magischen Ort, den ich zuvor gefunden hatte. Wie kann ich Sie erreichen, Simon? Ich begann nachzudenken. Und dann fiel es mir ein. »Vergessen Sie nie, daß Ihr Herz frei ist«, hatte Simon zu mir gesagt. »Sie brauchen bloß den Mut, ihm zu folgen.« Binnen eines Augenblicks begriff ich: »Ich muß wieder glauben. Ich muß mir klarmachen, daß magische Dinge geschehen.« Ich hob den Kopf und lächelte. Dieselbe Klippe, die mir beim erstenmal so fremd erschienen war, lag vor mir, damit ich sie erklimmen konnte. »Mister Williams! Ich freue mich so, Sie zu sehen.« »Ich freue mich auch, Sie zu sehen, Simon.« Ich starrte ihn an. Dieser Mann hatte etwas Besonderes, und es fühlte sich gut an, mit ihm zusammenzusein. Er wußte, wohin er im Leben ging. Ich konnte es spüren. »Was führt Sie an diesem schönen Abend hierher, Mister Williams?«
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»Oh, nichts Besonderes. Ich habe mir nur einen freien Nachmittag genommen und hatte Lust auf ein gutes Gespräch bei einem schönen Glas Portwein.« »Dann bin ich entschieden Ihr Mann«, sagte er. »Ich hole Ihnen einen.« Er ging in die Hütte und kam mit zwei Gläsern von dem herrlichen rubinroten Portwein zurück. Er reichte mir eines und hob sein Glas. »Auf den Anfang Ihres neuen Lebens, Mister Williams!« »Auf das Glück«, erwiderte ich. An diesem Abend tranken wir unseren Portwein wie alte Freunde und redeten über Dinge, über die ich seit meiner Jugend nicht mehr gesprochen hatte. Simon sprach von Wundern und davon, daß sie dauernd geschehen, von Träumen und Hoffnungen und daß man sie leicht vergißt. Darüber, wie man sich in der Welt verirren kann, ohne es auch nur zu merken, und darüber, daß manche Erfahrungen unser Leben für immer verändern können. »Jetzt, da Sie davon sprechen, Simon, erinnere ich mich an zwei Augenblicke, die mir entscheidend dafür vorkommen, daß ich die Sprache des Glücks in meinem Leben verloren habe. Über den ersten werden Sie vermutlich lachen.« 55
»Keiner sollte jemals über etwas lachen, das einem anderen am Herzen liegt.« »Nun, wissen Sie, Simon, das erste, was mein Leben für immer veränderte, war der Tag, an dem ich erfuhr, daß der Weihnachtsmann nicht existiert. Als ich noch ein Kind war, verbrachte ich viele Stunden damit, darauf zu lauern, wie der Weihnachtsmann durch den Kamin unseres Hauses kam, aber ich schlief immer ein, und wenn ich am nächsten Morgen aufwachte, fand ich unter dem Weihnachtsbaum meine Geschenke. Doch an einem Weihnachtsabend trank ich, ohne daß meine Eltern es wußten, drei Tassen starken schwarzen Kaffee. Danach konnte ich drei Nächte lang nicht schlafen. Ich war wie üblich zu Bett gegangen und lag eine Weile ruhig da, so daß meine Eltern glaubten, ich schliefe. Als ich unten Geräusche hörte, ging ich leise zur Treppe und dachte, diesmal würde ich den Weihnachtsmann erwischen. Aber ich sah nur meinen Vater, der die Geschenke für mich und meinen Bruder unter den Baum legte. Ich war am Boden zerstört. Wenn es keinen Weihnachtsmann gab - wie viele andere Dinge hatten die Erwachsenen dann womöglich noch erfunden?« 56
»Ich kann Ihnen Ihre Traurigkeit nachfühlen, Mister Williams. Das muß sehr schmerzhaft gewesen sein.« »Ja, das war es.« Ich hatte Tränen in den Augen. »Auf einmal begann meine Welt zu zerbröckeln. Ich verlor nach und nach das Interesse an Dingen, die ich nicht sehen, nicht beweisen konnte. Ich schwor mir, daß mir nie wieder jemand Geschichten erzählen würde, die nicht wahr waren.« »Und was war das zweite?« »Das zweite war der Tag, an dem meine Mutter diese Welt verließ. Ich hatte von Leuten gelesen, die bei Autounfällen, im Krieg, sogar bei Schießereien oder im Krankenhaus sterben; ich erinnerte mich auch vage an die Beerdigung meines Großvaters, aber näher war ich dem Tod noch nie gekommen. Mit meiner Mutter war das anders. Sie starb in meinen Armen, und zum erstenmal in meinem Leben wurde mir klar, daß Menschen wirklich sterben. Zumindest verlassen sie ihren Körper. Dieses Gefühl hatte ich bei ihr. Und dann flehte ich sie Nacht für Nacht an, zurückzukommen und bei mir zu bleiben, nur für ein Weilchen. Aber sie tat es nicht.« »Ich denke, Sie sind zu hart zu ihr«, meinte 57
Simon. »Ist sie Ihnen jemals im Traum erschienen?« »Nun, ich denke schon, aber ich kann es nicht beweisen. « »Die Tatsache, daß Sie etwas nicht beweisen können, bedeutet nicht unbedingt, daß es nicht wahr ist. Tagsüber können Sie an diesem Strand spüren, wie die Sonne Ihre Haut erwärmt. Sie sehen nicht, daß die Sonnenstrahlen Sie berühren, doch weil Sie die Hitze spüren, wissen Sie, daß sie real sind.« »Sie meinen, wie jemand, der im Traum kommt, Simon?« »Genau. In der Welt der Träume können Sie Menschen spüren und sehen. Die Tatsache, daß Sie sie nach dem Aufwachen nicht mehr sehen, bedeutet nicht, daß sie nicht da waren und nicht real sind. Unser Körper ist so beschaffen, daß wir mit diesen Menschen nur auf bestimmte Arten und bei bestimmten Gelegenheiten kommunizieren können. Haben Sie zum Beispiel in Ihren Träumen jemals jemanden gesehen, den Sie nicht erkannten oder noch nie gesehen hatten?« »Jetzt, da Sie es erwähnen, ja, mehrmals sogar.« »Besagt also die Tatsache, daß Sie diesen Men58
sehen in diesem Leben nie begegnet sind, daß sie Ihnen nichts bedeuten? Vielleicht in der Vergangenheit oder in der Zukunft?« Simon starrte aufs Meer hinaus. »Die Menschheit hat immer nach Antworten gehungert, die dem Leben einen Sinn geben können, einen Grund für die Existenz. So sind Jesus, Mohammed, Buddha und andere auf die Welt gekommen, um uns zu sagen, daß das Leben mit dem Tod nicht zu Ende ist. Daß wir nur versuchen müssen, der einfachsten aller Regeln zu folgen: glücklich zu sein, indem wir einander lieben und respektieren. « Simons Stimme hatte einen traurigen Ton angenommen. »Schauen Sie sich an, was einige Individuen mit den Religionen und dem Glauben der Menschen gemacht haben. Die Tatsache, daß diese Messiasse an verschiedenen Orten zur Welt kamen, gab den Völkern dieser Länder das Gefühl, sie seien besonders, weil der Erwählte in ihrem Land geboren wurde; und deswegen haben sie seit Anbeginn der Zeiten Kriege geführt, Mister Williams. Jedesmal, wenn sie kämpfen, rechtfertigen sie ihre Grausamkeit mit der 59
Behauptung, sie verträten ihre Interessen im Namen Gottes.« Simon machte eine Pause, lang genug, daß seine Worte bei mir ihre Wirkung taten. »Ich möchte Ihnen eine Anekdote erzählen, Mister Williams. Vor einiger Zeit habe ich die Iberische Halbinsel bereist, die jetzt Spanien heißt, ein Land, das zur Zeit dessen, was wir im Westen als Kreuzzüge bezeichnen, von vielen anderen Völkern besetzt wurde. Damals sprachen sie von einem Heiligen Krieg. Wie auch immer, ich besichtigte eine schöne christliche Kathedrale, die restauriert und in ihren prachtvollen Urzustand zurückversetzt wurde. An der Seite dieses herrlichen Bauwerks sah ich einige Männer, die etwas ausgruben, was ein Keller oder das Fundament einer alten Stadt zu sein schien. Ich fragte einen Mann, der vorbeikam, ob er mir sagen könne, was das sei. >Das<, sagte er, >sind die Überreste der alten maurischen Stadt. Aus der Zeit, als die Wilden aus dem Süden in unser Land einfielen und unser Volk töteten. < >Und was ist mit der Kirche?< fragte ich den Mann. 60
>Nun, das ist eine andere Geschichte«:, erklärte er mit stolzer Miene. >Als die Mauren in dieses Land einfielen, haben die Kreuzfahrer vor ihrer Abreise die Statue der Jungfrau mit Lehm bedeckt und vor den Mauren versteckt. Fünfhundert Jahre vergingen, und keiner wußte, daß die Statue da war, bis eines Tages plötzlich ein Stück Lehm von einer der Wände in der Kirche abfiel und die Statue enthüllte. Unberührt und von allen zu bewundern. Un milagro<, sagte er und bekreuzigte sich.« »Was bedeutet >un milagro« fragte ich Simon. »Das ist das spanische Wort für Wunder, Mister Williams. Der Mann war überzeugt, daß das Abfallen des Lehms von der Wand und das plötzliche Erscheinen der Statue der Jungfrau ein Zeichen war, etwas Übernatürliches. Ein Wunder. Nach ein paar Tagen verließ ich das Land der Stierkämpfe und des Sherrys und überquerte die Straße von Gibraltar, um in das Königreich Marokko zu fahren. Es war, als käme ich in eine andere Welt. Es ist unglaublich, wie verschieden zwei Länder sein können, die bloß durch ein Stück Meer getrennt sind. Ich kam in der Hafenstadt Tanger an. Die Leute 61
trugen lange Gewänder, Alkohol war verboten, und abends sah man auf den Straßen fast keine Frauen. Zu allem anderen war ich auch noch während des Ramadan gekommen, des Monats, in dem die Moslems von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang weder essen noch trinken dürfen. Tagsüber darf nichts mit ihrem Mund in Berührung kommen, damit ihr Körper geläutert wird. Das dauert einen Monat, und wenn der vergangen ist, gibt es im ganzen Königreich ein großes Fest.« »Ich sehe, Sie sind in der Welt herumgekommen, Simon.« »Reisen ist eine gute Art, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist«, sagte er. »Wenn man reist, ist man meistens ein unvoreingenommener Beobachter, der seine Schlüsse ziehen kann, ohne emotional beteiligt zu sein. Es ist wie ...« Simons Stimme verklang. »Bitte, fahren Sie fort«, drängte ich. Er sah mich an und lächelte. »Sehr wohl, Mister Williams. Wie ich schon sagte, ich war also an diesem seltsamen neuen Ort angekommen und ging in die Medina. So nennen die Araber den alten Teil des Stadtzentrums, der früher von Mauern umgeben 62
war. Die Straßen waren erfüllt vom Duft exotischer Krauter und Gewürze, und in der Dämmerung hallte der Himmel wider vom Klang der Gebete aus den Moscheen. Ich trank einen Kaffee und studierte eine alte Karte des Königreichs, auf der mir die Stadt Meknes ins Auge fiel. Ich hatte das Gefühl, dort müsse ich hingehen, denn dort würde ich etwas Wichtiges sehen. Also nahm ich am nächsten Morgen einen Zug und fuhr dritter Klasse nach Meknes. Die Stadt sah ähnlich aus wie Tanger, nur gab es dort einen riesigen Palast, im sechzehnten Jahrhundert erbaut von Sultan Mulai Ismail, der Meknes zur Kaiserstadt machte. Irgend etwas an dem Palast faszinierte mich, also besichtigte ich ihn. Tatsächlich ist Ismails Palast der größte der Welt. Er ist ein gigantischer Bau, errichtet, um das Ego eines Monarchen zu befriedigen. Mitten in der Wüste gelegen, ist er von prachtvollen künstlichen Gärten umgeben. Es heißt, der Sultan hätte mehr als zweitausend Frauen und achttausend Kinder gehabt. Um diesen Palast zu schützen, errichtete er vierundzwanzig Kilometer Mauern und zusätzlich Kerker für seine vierzigtausend christlichen Sklaven.« 63
Simon schwieg einen Moment. »Ich wollte den Palast gerade verlassen, als ich sah, daß man an einer Stelle irgendwelche archäologischen Ausgrabungen vornahm. Ich trat zu einem der Arbeiter und fragte, was da vor sich gehe. >Gestern wurde eine große Entdeckung gemacht<, sagte er. >Nach Jahrhunderten ist eine neue Kammer des Palasts von Ismail gefunden worden. Und sie ist intakt! Gelobt sei Allah der Große .. .< schloß er. >Und was sind das für Tunnels ?< fragte ich ihn. >Ach, das ist nichts, Sir. Bloß die Tunnels, die benutzt wurden, um die Wilden aus dem Norden zu bringen, die Abtrünnigen aus den vier Ecken des Reiches, die den Palast unseres Königs erbauten.< >Wie lang sind diese Gänge ?< >Das weiß keiner genau. Vielleicht Hunderte von Kilometern. < >Und was geschah mit den Sklaven, nachdem sie den Palast fertig gebaut hatten?< >Die meisten verhungerten. Sie waren Feinde Allahs. Abtrünnige ...<« Simon verfiel in Schweigen und schaute in den schönen, sternenübersäten Nachthimmel; noch einer 64
dieser magischen Augenblicke, die ich inzwischen so sehr genoß. »Verstehen Sie, Mister Williams? Der Spanier war von seinem Gott genauso überzeugt wie der Moslem von dem seinen. Ihre Vorfahren hatten ihnen immer beigebracht, ihr Gott sei der einzig wahre Gott, und dabei hatten sie ihm in Wirklichkeit nur verschiedene Namen gegeben.« »Was wollen Sie mir damit sagen, Simon?« »Daß die Antworten auf Fragen nach dem Glück in unserem Geist unklar sind, weil wir manchmal etablierten Ideologien folgen, selbst wenn wir vielleicht in unserem Herzen nicht daran glauben.« »So wie ich empfand, nachdem ich herausgefunden hatte, daß der Weihnachtsmann nicht existierte«, sagte ich. Simon sah mich an. »Die Gabe der Rede wurde der Menschheit verliehen, damit wir einander verstehen, Mister Williams, und nicht, um uns zu verwirren. Wieviel einfacher wäre es gewesen, wenn wir, statt Geschichten zu lernen, die die Völker dieser Welt spalteten, die Sprache des Herzens gelernt hätten und wüßten, daß wir alle nach denselben Antworten suchen.« 65
Danach schwieg Simon, da er mit dem fertig war, was er zu sagen hatte. Ich konnte meine Bewunderung für diesen Mann, den ich anfangs so falsch beurteilt hatte, nicht verhehlen. »Jetzt bin ich müde, Mister Williams«, sagte er. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich ausruhen ließen.« »Kann ich Sie morgen wieder besuchen kommen?« Es klang fast so, als würde ich ihn anflehen. »Dieser Ort wird Ihnen immer offenstehen, Mister Williams. Solange Ihr Herz offen ist für die Wahrheit dieser Welt.« »Danke, Simon.« »Danken Sie nicht mir, Mister Williams. Danken Sie sich selbst für das, was mit Ihnen geschieht. Erinnern Sie sich, daß Glück, wie Tugend, seinen Lohn in sich trägt. Er wohnt im Herzen und nirgendwo sonst.«
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6 Addieren Sie all Ihre kleinen Glücksmomente., und Sie werden erkennen, daß wir dem Glück nicht nachzujagen brauchen, weil es rings um uns wartet.
Daß ich einen Teil meiner Zeit mit Simon verbrachte, hatte allmählich eine positive Wirkung auf mich, und obwohl ich nicht wußte, wohin dieses magische Abenteuer mich führen würde, wußte ich, daß ich das Richtige tat, genauso, wie ich wußte, daß ich es nicht in Frage stellen sollte. Niemals erwähnte ich Simon meiner Familie oder jemandem von Williams Amalgamated gegenüber. Ich hatte Angst, den Bann zu brechen, und etwas tief in meinem Inneren sagte mir, dies sei die Chance, das Glück zurückzuholen, das ich einst im Herzen getragen hatte. Es war jetzt fast eine Woche vergangen, seit ich das erste Gespräch mit Simon geführt hatte, weit entfernt am friedlichen Strand der Träume. Ich machte mir ein wenig Sorgen, denn Simon war beim letzten Treffen sehr müde gewesen, und ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Ich beschloß, ihn später zu besuchen. Ich ging in mein Schlafzimmer, um mir frische 68
Kleidung zu holen, bevor ich duschte. Der Tag versprach herrlich zu werden, ideal für ein Sonnenbad fern von allem. Ich nahm eine kurze Hose heraus. Das Hemd, das ich suchte, lag ganz zuoberst auf dem Stapel im Kleiderschrank. Ich versuchte es zu erreichen, aber es war zu weit oben. Ich stieg auf den Rand der untersten Schublade, um hinzukommen. Doch im gleichen Moment brach die Schublade unter mir zusammen. »Verdammt!« entfuhr es mir. Ich hatte mir den Fuß verletzt, und noch schmerzlicher war der Gedanke, daß ich jetzt auch die Schublade reparieren mußte. Ich starrte auf den Boden und das, was aus der zerbrochenen Schublade gefallen war. Das Fotoalbum meiner Kindheit. Das hatte ich ganz vergessen, dachte ich. Ich fürchtete mich, es zu öffnen, weil ich wußte, daß irgendein verborgenes Gefühl an die Oberfläche kommen und mich traurig machen würde. Das wollte ich vermeiden. Aber meine Neugier war stärker als meine Angst. Ich nahm das Album und setzte mich auf den Balkon, wo die Strahlen der Morgensonne allmählich die Luft erwärmten. 69
Langsam schlug ich das Album auf. Auf der ersten Seite stand: »Heute morgen gegen vier Uhr dreißig schenkte Mrs. Rose Williams einem Knaben das Leben. Sein Gewicht beträgt fast drei Kilogramm, seine Länge ...« Ja, das war wirklich ich. Das war mein Eintritt in diese Welt voller Fremder und das erste von vielen Malen, daß ich in Zeitungen und Zeitschriften erwähnt wurde. Neben meiner Geburtsurkunde war stolz ein Fußabdruck von mir als »mein Markenzeichen« abgebildet. Ich blätterte die Seite um. Da war ein schon etwas vergilbtes Foto von mir vor etwas mehr als dreißig Jahren, lächelnd. Ich lächelte neben Vater und Mutter, fühlte mich sicher bei ihnen, wußte, daß alles gut werden würde. Ich erinnerte mich an sie. Komisch, dachte ich. Melancholie kommt ohne Vorwarnung. Sie überfällt einen einfach, wenn man am wenigsten damit rechnet. Ich erkannte sie sofort an dem, was ich als »Kloß-im-Hals-Syndrom« bezeichnete. Man möchte sprechen, aber man kann nicht; man möchte weinen, aber man tut es nicht; man versucht zu lachen, aber auch das klappt nicht. Man hängt in der Luft zwi70
sehen Glück und Traurigkeit, als könne das Gehirn die Information, wie auf Weltschmerz zu reagieren sei, nicht verarbeiten. Es war Jahre her, seit ich das Album zuletzt geöffnet hatte. Langsam blätterte ich die Seiten um und durchlebte jede Erinnerung noch einmal. All diese gemischten Gefühle setzten mir zu. Am besten klappst du es zu, solange noch Zeit ist, entschied ich. Ich schloß gerade das Album, als ich ein Klopfen an der Tür hörte. Nur wenige Leute besuchten mich in meinem so weit von der Innenstadt entfernten Haus. Wer kann das so früh sein, fragte ich mich, stand auf und ging zum Fenster, um nachzusehen, wer draußen stand. »Mister Williams, ich hoffe, ich störe Sie nicht.« »Simon! Was für eine angenehme Überraschung. Ich bin gleich da.« Mein Herz schlug schnell. Woher wußte er, wo ich wohnte? Hatte er mir nachspioniert? Es ist Zeit, daß du anfängst, wieder Vertrauen zu haben, ermahnte ich mich selbst. Ich öffnete die Tür. »Willkommen, Simon.« »Danke, Mister Williams. Ich schäme mich ein 71
bißchen, Sie in diesen Kleidern zu besuchen. Sie passen gar nicht in Ihr schönes Haus.« Simon sah großartig aus. Er hatte Haare und Bart gestutzt und trug einen Anzug, der aussah, als habe er jahrelang versteckt in einem Schrank gehangen. Doch man erkannte trotz der schäbigen Kleidung den Gentleman. Dieser Mann sah nach großer Weisheit und Würde aus. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, daß ich etwas roten Portwein mitgebracht habe, Mister Williams. Nur für den Fall, daß wir uns wieder ein bißchen unterhalten.« »Natürlich nicht«, antwortete ich. »Ihr milder Portwein beflügelt immer das Gespräch.« Ich trug die Flasche in die Küche. »Danke, Mister Williams.« Er ging auf den Balkon und atmete tief ein. »Sie haben von hier aus einen wundervollen Blick.« »Danke, Simon. Ich habe das Haus so angelegt, daß man den Ozean von jedem Zimmer aus sehen und hören kann.« »Wirklich sehr weise«, bemerkte Simon. Er wollte noch etwas sagen, doch da fiel ihm das Fotoalbum auf. 72
»Ihres?« fragte er. »Oh, das Album, nun, ja. Alte Fotos, wissen Sie, aus meiner Jugend und ...« »Darf ich es ansehen?« »Na ja, wenn Sie möchten. Ich wollte es gerade wieder in den Schrank räumen.« »Warum, haben Sie es sich schon angesehen?« »Nun ja, ich habe angefangen es anzuschauen, und ...« Und da wurde es mir klar. Simon hatte genau gewußt, in welchem Moment er kam. »Je besser ich Sie kennenlerne, Simon, desto mehr überraschen Sie mich. Jetzt wissen Sie also auch schon genau, wann Sie auftauchen müssen.« »Solche Dinge lernt man auf der langen Reise, die man Leben nennt, Mister Williams. Bitte, ich würde mich geehrt fühlen, wenn ich Ihr Familienalbum sehen dürfte.« Wir setzten uns auf den Balkon. Langsam schlug ich das Album auf. Ein Foto von mir und meinem Bruder, für den Schulkarneval kostümiert, nahm eine ganze Seite ein. »Sind Sie das in dem Delphinkostüm, Mister Williams?« 73
»Ja, Simon.« »Eine großartige Wahl, Mister Williams. Ein schönes Geschöpf; stark und trotzdem zart; weise und doch verspielt.« »Als Kind habe ich immer davon geträumt, mich eines Tages in einen Delphin zu verwandeln und die Meere zu bereisen«, erzählte ich ihm. »Haben Sie diesen Traum denn nicht mehr?« fragte Simon. »Doch, könnte ich behaupten, aber Sie wissen, daß das gelogen wäre. Aus irgendeinem Grund habe ich den Traum unterwegs verloren.« »Es ist traurig, wie viele wundervolle Gedanken man im Alltagsleben verlieren kann, Mister Williams, ohne sie je zurückzugewinnen oder sich daran zu erinnern.« Plötzlich erhellte ein breites Lächeln Simons Gesicht. »Aber jetzt erinnern wir uns, Mister Williams! Wir erinnern uns an Ihre Kindheit, und der erste schwierige Schritt ist getan. Sie haben ein Werkzeug gefunden, das Ihrem Herzen immer nahe war, um sich an das Glück dieser goldenen Kinderjahre zu erinnern.« Simon hatte recht. Ganz gleich, wie hart ich gegen 74
mich selbst war, ich fing tatsächlich und ohne es zu merken an, etwas zu unternehmen, um mich zu erinnern, um mein Lächeln zurückzugewinnen. Wir sprachen über meine und seine Kindheit. Und wir entdeckten, wie viele Gedanken und Träume Kindern gemeinsam sind. Binnen weniger als drei Stunden hatten wir Sandburgen gebaut, gegen feuerspeiende Drachen gekämpft und uns in Delphine verwandelt, die mit Walen und Tümmlern umherschwammen. »Ich habe ein gutes Gefühl, Simon. Ich glaube, daß ich allmählich verstehe, was Sie über die wichtigen Dinge im Leben gesagt haben.« »Mister Williams, Sie müssen in der Lage sein, die einfachen Dinge im Leben zu schätzen. Es hat keinen Wert, wenn man nur den sogenannten >großen Dingen< Bedeutung beimißt. Sie müssen die Schönheit sehen, die auch in den einfachsten Dingen liegt. Das wird Ihnen das Gefühl geben, etwas Besonderes zu sein, glücklich zu sein. Benjamin Franklin hat einmal gesagt, menschliches Glücksgefühl werde nicht so sehr durch große Glücksfälle hervorgerufen, die selten vorkommen, sondern durch kleine positive Geschehnisse, die sich jeden Tag ereignen.« 75
Simon hielt einen Moment inne und fuhr dann fort: »Die andere wichtige Sache besteht darin, Gutes zu tun, ohne daß andere es merken. So können Sie sich wirklich beweisen, daß Sie, was immer Sie Gutes tun, dies tun, weil Sie es möchten, und nicht, damit andere Sie bewundern. Eine Menge Leute beklagen sich über ihr Schicksal, und trotzdem sehen sie die tausend kleinen Gelegenheiten nicht, die täglich in ihrem Leben vorkommen und die sie glücklicher und besser machen könnten. Das geschieht, weil sie sich nicht klargemacht haben, daß sie immer die Möglichkeit hätten, anders zu leben, als sie es tun. Es ist die Angst vor dem, was andere sagen werden, die einen Menschen von einer persönlichen Entscheidung abhält. Es gibt eine bessere Art zu leben, Mister Williams. Das Geheimnis liegt in dem, was man für sein Leben wählt.« »Aber Simon, es gibt Dinge, die man tun muß, wenn man irgendwo hinkommen will.« »Genau, Mister Williams. Das meine ich ja. Ganz gleich, wie oft Sie es zu vermeiden suchen, wenn es etwas gibt, das Sie tun müssen, um zu lernen, dann 76
werden Sie es schließlich auch tun. Sehen Sie, Mister Williams, wenn wir unsere Anstrengungen darauf konzentrieren, das zu tun, was andere von uns erwarten, bemühen und bemühen wir uns, und nichts geschieht, weil wir das eigentlich nicht tun sollten. Es ist, als würde man versuchen, auf dem Wasser zu laufen. Warum tun wir das nicht? Weil wir wissen, daß wir untergehen würden. Das ist das Geheimnis: etwas zu wissen. Unglücklicherweise, Mister Williams, ist uns der größte Teil der Information, mit der wir geboren wurden, durch die Auferlegung von Regeln nach und nach abhanden gekommen. Wir wurden wie alle anderen Geschöpfe geboren, mit Instinkt, aber weil wir uns all diesen Geschöpfen überlegen fühlen, füllen wir unsere Köpfe mit Normen, die schließlich dem Instinkt keinen Raum mehr lassen. Haben Sie schon einmal vom Möwensturmvogel gehört, Mister Williams?« »Nein, Simon.« »Dieser kleine Vogel wird auch kurzschwänziger Sturmtaucher genannt, und er ist kleiner als meine Handfläche. Jedes Jahr beginnt er seinen Zug in der Arktis, nördlich von den japanischen Inseln und 77
ganz nahe an der sibirischen Savanne. Der kleine dunkelgraue Seevogel macht sich in Schwärmen zu Zehntausenden auf den Weg über das Meer, den ganzen Weg hinunter zu den südpazifischen Inseln und nach Tasmanien, fünfzehntausend Kilometer weit, wo er während des nördlichen Winters nistet. Er wird allein von einem Instinkt geleitet, den seine Spezies seit Tausenden von Jahren besitzt. Wie auch immer, auf der ganzen Reise, bei der die Vögel bis zu vierhundert Kilometer am Stück zurücklegen, fliegen sie in einer bestimmten Formation. Jedes Mitglied des Schwarms kennt seine Position genau. Die Vögel halten an Stellen inne, um zu fressen und zu rasten, die von ihren Vorfahren regelmäßig besucht wurden, aber noch nicht von ihnen. Die meisten erreichen diese Inseln zum erstenmal, und doch wissen sie, wie sie zu finden sind! Wie schaffen sie es, ein Stück Land nicht zu verfehlen, das so klein ist, daß selbst ein Flugzeug es ohne die ausgefeilteste Radarausrüstung nicht ausmachen kann? Instinkt, Mister Williams. Sie erreichen ihr Ziel, weil sie wissen, daß sie es können, weil sie wissen, wohin sie gehen.« 78
Simon hielt eine Sekunde inne, trank einen Schluck Portwein und fuhr dann fort: »Das ist nur ein Teil der Schönheit dieses >Wundervogels<, wie ich ihn nenne. Das Unglaubliche geht weiter, wenn sie die warmen tropischen Inseln des Südpazifiks erreichen, eine perfekte Formation aus Tausenden von Individuen, die mit mehr als dreißig Knoten fliegen, wobei der Flügel des einen fast den des nächsten berührt. Und plötzlich, aus keinem bekannten Grund, mitten im Flug, im Bruchteil einer Sekunde, zerstreuen sie sich. Einige beenden ihre Reise in Fidji, andere in Neukaledonien, einige auf den Cook Inseln und in Tasmanien. Aus irgendeinem Grund, den wir nicht verstehen, wissen sie, daß sie angekommen sind. Und statt ihren Augen zu vertrauen, die nirgendwo Land sehen können, vertrauen sie ihrem Instinkt, und jeder einzelne schlägt den Weg ein, der für ihn richtig ist. Die Individualität bestimmt das Ende der Reise. Können Sie sich vorstellen, was aus diesen kostbaren kleinen Vögeln werden würde, wenn einer aus dem Schwärm plötzlich sagen würde: >Laßt uns Landkarten benutzen, damit wir wissen, wo wir sind, dann werden wir unser Ziel viel leichter errei80
chen Sie würden ihre eigene innere Stimme nicht mehr hören können und sich auf etwas anderes verlassen. Sie würden anfangen, miteinander zu streiten, in der Luft zusammenstoßen, die Orientierung verlieren. Warum sollten sie ihr eigenes Wesen herausfordern? Sie haben recht, das nicht zu tun, und dasselbe sollte für den Menschen gelten. Genau wie der Schwärm der Sturmtaucher treten wir den Flug gemeinsam an, weil wir uns entwickeln müssen, aber dann kommt eine Zeit, in der jeder von uns auf sein eigenes Herz horchen, nach seinem eigenen Schicksal Ausschau halten muß, und genau wie diese großartigen Vögel sollten wir uns trennen und jeder seinen eigenen Weg einschlagen. Leider sind wir dazu in den meisten Fällen nicht fähig. Wir sind dazu erzogen, auf eine bestimmte Weise zu leben, und das legt unser Leben für die nächsten zehn oder fünfzehn Jahre fest. Und wenn wir endlich die Wahrheit erkennen und entdecken, daß wir anders sind als die Person, die zu sein man von uns erwartet, denken wir, daß schon zuviel Zeit vergangen ist und wir keine Chance mehr haben, unser wirkliches Selbst wiederzuentdecken. Bei einigen sind tragischerweise der Instinkt und die 81
innere Wahrheit für immer zum Schweigen gebracht. Es ist nie zu spät, Mister Williams. Es ist nur schwerer, je länger man braucht, bis man anfängt, wieder man selbst zu sein. Thomas Edison wurde fünfmal von der Schule geworfen. Isaac Newton konnte keine Schulstunde durchstehen, ohne einzuschlafen; Albert Einstein kümmerte sich nicht um seine äußere Erscheinung, und trotzdem entdeckte er die Relativitätstheorie, die Gesetze, die unsere physikalische Welt regieren. Und alle diese Leute haben sich immer so verhalten, wie sie es tun zu müssen glaubten, und deshalb begannen sie die Entdeckungsreise zu sich selbst sehr viel früher als die meisten, und so bewirkten sie innerhalb ihrer Lebensspanne auf dieser Welt außergewöhnliche Fortschritte.« »Was wollen Sie damit sagen, Simon? Daß wir so sein sollten, wie wir uns fühlen, ganz gleich, was andere über uns denken?« »Ja, Mister Williams. Es ist Ihr Leben, von dem Sie sprechen; und glauben Sie mir, wenn für Sie die Zeit kommt, Rechenschaft abzulegen, was Sie damit gemacht haben, werden all jene, die Ihnen immer 82
vorgeschrieben haben, Sie müßten sich auf eine bestimmte Art verhalten, nicht da sein, um Sie zu verteidigen, weil es Ihr eigenes Schicksal ist, für das Sie verantwortlich sind, und niemand sonst.« Er sah mich an, und mit dem Lächeln, das ich so sehr bewundern gelernt hatte, sagte er: »Addieren Sie all Ihre kleinen Glücksmomente, Mister Williams, und Sie werden erkennen, daß wir dem Glück nicht nachzujagen brauchen, weil es rings um uns wartet.«
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7 Ganz gleich, was Sie als Ihr eigenes Glück entdecken, früher oder später werden Sie herausfinden, daß das vollkommenste Glück darin liegt, anderen zu helfen.
In letzter Zeit hatte ich bemerkt, daß sich in mir etwas zu verändern begann. Das erste Mal, als ich das fühlte, wanderte ich allein durch die Bucht. Den ganzen Morgen hatte ich darüber nachgedacht, daß meine Firmengründung vielleicht einen besonderen Zweck gehabt hatte und nicht alles nur darauf ausgerichtet war, Geld zu verdienen. Wenn ich nur herausfinden könnte, was die beste Art ist, alles in einen Zusammenhang, eine Perspektive zu bringen, dann hätte ich vielleicht eine klarere Vorstellung davon, wonach ich suche. Ich setzte mich in den Sand. Es war ein schöner Morgen, das Meer sah aus wie ein silberner Spiegel, der die Strahlen einer goldenen Sonne reflektiert. Es gab keinen Seegang. Der Ozean legt eine Pause ein, dachte ich. Ich mochte es, morgens früh aufzuwachen und dann am Strand entlang zum Zeitungskiosk zu wandern, die Tageszeitung zu kaufen, nach Hause zu gehen und die Nachrichten zu lesen, ehe ich zur Arbeit aufbrach. 86
An diesem speziellen Morgen erregten mehrere Artikel auf der Titelseite meine Aufmerksamkeit. In armen Ländern herrschten verheerende Kriege; bei einem Autounfall, den ein betrunkener Fahrer verursacht hatte, war eine ganze Familie ums Leben gekommen; eine Studie hatte herausgefunden, daß die Zahl der Leukämiefälle bei Kindern in hochentwickelten Ländern zunahm ... Solche Nachrichten konnten jeden zur Verzweiflung bringen, auch wenn er noch so positiv dachte. Ich war wütend, sehr wütend. Warum ist das Leben so unfair? Warum haben manche Menschen so viel und andere so wenig? Wenn es irgendwo da draußen einen Gott gibt, wie kann er all diese Ereignisse zulassen? Warum siegen so oft die Bösen? Am Ende, grübelte ich, sterben wir doch alle, und es ist vorbei. Warum sollten wir dann überhaupt versuchen ... ? »Weil wir alle einen Lebenszweck haben.« »Simon?« »Ich kann spüren, daß Sie sehr wütend sind, Mister Williams.« »Das bin ich. Wie kann ich diesen Morgen genie87
ßen, wenn ich weiß, daß so viele Menschen auf der ganzen Welt leiden? Haben Sie heute morgen die Zeitung gelesen? Oh, Verzeihung, ich habe Ihre Tricks vergessen. Sie wissen wahrscheinlich, was drinsteht.« Herausfordernd starrte ich ihn an. »Kommen Sie schon, Simon, Sie wissen alles. Sagen Sie es mir. Wie können Sie von einem Kind mit einer tödlichen Krankheit, von jemandem, der gerade bei einem Autounfall seine Familie verloren hat, weil an diesem Abend irgendein Krimineller zuviel getrunken hat, oder von Menschen, die in vom Krieg zerstörten Ländern leben, verlangen, daß sie glücklich sind?« Er sah mich traurig an. »Fragen an den Wind, Mister Williams. Ich habe sie tausendmal gehört, habe sie früher selbst dauernd gestellt, bis ich es eines Tages leid war, mir selbst immer wieder die gleiche negative Botschaft vorzusagen, wo ich doch wußte, daß das keinem half und mich gleichzeitig selbst zerstörte, denn ich fiel in eine tiefe Depression. Um all diese Fragen zu beantworten, Mister Williams, müßte ich viele Dinge über die Welt wissen, 88
die ich noch immer nicht weiß; aber vergessen Sie nicht, die Tatsache, daß wir sie nicht verstehen, bedeutet nicht, daß es keinen Grund dafür gibt, daß sie passieren.« Er blickte zum Horizont. »Wie können wir von diesen Menschen verlangen, über Glück nachzudenken, wenn sie sich inmitten einer persönlichen Tragödie befinden? Ich würde versuchen, mit einer Gegenfrage zu antworten. Was möchten Sie, daß diese Menschen tun? Möchten Sie, daß sie für den Rest ihres Lebens ihren Glauben verlieren, wo doch Menschen wie Sie und ich wissen, daß Glück erreichbar ist? Versuchen Sie mir zu sagen, daß diese Leben nicht wichtig sind, daß sie ein Ende haben sollten, damit die Menschen nicht mehr leiden müssen? Meinen Sie nicht, daß ihre Voraussetzungen, wenn sie ihre Tragödie erst überwunden haben, besser sind als Ihre und meine, ihr eigenes Glück zu erreichen? Die Menschen, die Sie erwähnt haben, Mister Williams, haben schon gelernt, an irgendeiner Hoffnung auf ein besseres Leben festzuhalten. Ein Kind mit einer tödlichen Krankheit wird seine kurze Lebensspanne erfüllter leben, als Sie und ich uns jemals vorstellen können. Diese vom Krieg zerrissenen Familien verlangen kein frisches Brot, 89
sie danken ihrem Gott für einen weiteren überlebten Tag und für was immer sie zu essen finden mögen. Verstehen Sie nicht? Das Glück ist in ihren Herzen. Es ist die physische Umgebung, die ihren Weg anspruchsvoller, den Schmerz stärker und die Belohnung am Ende größer macht. Und was die Schuldigen betrifft, Mister Williams, so lassen Sie sich sagen, daß sie nicht gewinnen. Sie sind weiter vom Glück entfernt als alle anderen. Sie laufen weiterhin im Kreis herum, das Herz voller Haß; in dem, was die Christen Hölle nennen.« Jetzt sah Simon mich wie ein Vater an und lächelte. »Und da passen Sie in den universalen Plan, Mister Williams.« »Was meinen Sie damit, Simon?« »Das Leben hat Ihnen alles gegeben, was Sie von ihm verlangt haben. Vielleicht wird Ihr Glück darin liegen, das, was Sie erreicht haben, mit anderen zu teilen und dabei gleichzeitig Ihr eigenes Glück zu finden. Gehen Sie in die Vergangenheit zurück, Mister Williams, zu Ihrem ersten Job. Spüren Sie noch einmal die Erregung, mit der Arbeit zu beginnen und die ganze Welt vor sich zu haben, um sie zu erobern. 90
Jetzt denken Sie scharf nach und versuchen Sie, sich zu erinnern, was Sie mit Ihrem ersten Gehaltsscheck gemacht haben. Haben Sie ihn für eine besondere Gelegenheit aufgespart, oder hatten Sie etwas im Sinn, um sich selbst glücklich zu machen - oder vielleicht jemand anderen glücklich zu machen?« »Jetzt erinnere ich mich«, sagte ich. »In jenem Sommer hatte ich in der örtlichen Bibliothek sehr hart gearbeitet. Nicht nur, um Geld für mich zu verdienen, sondern um ein besonderes Geschenk zum fünfzigsten Geburtstag meines Vaters kaufen zu können. Ich weiß auch noch, daß ich sehr hart gearbeitet habe, um ... Natürlich! Mit diesem Geld habe ich mein erstes Surfbrett gekauft!« »Sehen Sie, Mister Williams? Es war Glück, das Sie durch Ihre harte Arbeit errangen, und nicht Geld, was Ihnen ein gutes Gefühl gab. Das ist der Schlüssel. Jetzt, da Sie sich erinnert haben, werden Sie in der Lage sein, nur die Dinge zu benutzen und zu behalten, die Sie auf dem langen Weg zur Selbsterfüllung leiten. Und wer weiß, vielleicht werden Sie auch anderen helfen können, das zu verstehen.« »Wie meinen Sie das, Simon?« 91
»Ganz gleich, was Sie als Ihr eigenes Glück entdecken, früher oder später werden Sie herausfinden, daß das vollkommenste Glück darin liegt, anderen zu helfen.« 8
Solange Sie auf Ihr Herz hören und ein glückliches Leben führen, können Sie sicher sein, daß es keine Grenzen gibt außer denen, die Sie sich selbst setzen.
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Ein Monat verging, bevor ich Simon wiedersah. Ich hatte sehr viel zu tun gehabt und war nach Übersee gereist, um ein Geschäft zum Abschluß zu bringen, das für Williams Amalgamated einen Meilenstein darstellte. Endlich war ich wieder im Büro und würde in den nächsten paar Wochen erst mal nicht verreisen müssen. Auf einer meiner Geschäftsreisen hatte ich in einem luxuriösen Badeort an einer Konferenz teilgenommen. Das Hotel lag am Rand eines schönen weißen Sandstrandes. In gewisser Weise erinnerte er mich an die Bucht, denn ich konnte stundenlang ungestört am Wasser entlanggehen. Meine Füße versanken im nassen Sand, das warme Wasser dieses tropischen Paradieses kam und ging mit der sanften Brandung, und die Palmen wiegten sich leicht in der frischen nachmittäglichen Meeresbrise. Ich setzte mich einen Moment hin, um die dunkelrote Sonne mit dem Horizont verschmelzen und langsam im tiefblauen Meer versinken zu sehen.
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Das erinnerte mich an den letzten Sonnenuntergang, den ich mit Simon zusammen erlebt hatte, mit einem Glas rubinrotem Portwein im Sand des Strandes der Träume sitzend. Sie fangen an, mein Leben zu verändern, mein Freund, dachte ich. Ich erinnerte mich, ihm gesagt zu haben, wenn ich all die Dinge, die er mir wieder ins Gedächtnis gerufen hatte, eher gewußt hätte, »wer weiß, wo ich dann jetzt wäre«. Und Simon in seiner unendlichen Weisheit hatte geantwortet: »Ob Sie es glauben oder nicht, Mister Williams, jedes Ding hat seine Zeit. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn man sagt: >Was wäre, wenn<. Die Entscheidung, einen anderen Kurs einzuschlagen, können Sie erst treffen, wenn Sie eine Weggabelung erreicht haben, und nicht vorher. Die meisten unserer Irrtümer beruhen bloß auf Mangel an Erfahrung. Der weiseste Mensch von allen ist der mit der meisten Erfahrung, derjenige, der mehr gelernt hat, weil er mehr Fehler gemacht hat, weil er etwas versucht hat, statt nichts zu tun. Haben Sie keine Schuldgefühle wegen Ihrer falschen Entscheidungen, Mister Williams. Lernen Sie einfach daraus.«
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Die Sonne war fast hinter dem Horizont verschwunden, und der Himmel schien in Rot- und Rosatönen zu explodieren, während die Kumuluswolken die letzten Sonnenstrahlen einfingen. Zwanzig oder dreißig Meter von mir entfernt sah ich im Sand etwas glitzern. Die Brandung, die mit der Flut kam, trug es mit sich, und jedesmal, wenn sie innehielt, sprang mir sein goldener Glanz ins Auge. Was ist das wohl, überlegte ich. Meine Neugier war geweckt. Ich stand auf und ging hin, um nachzusehen. Als ich mich der Brandung näherte, begann das »Ding« Form anzunehmen. Es war die schönste Muschel, die ich je gesehen hatte; sie glühte wie von innen erleuchtet. Ich hob sie auf und legte sie auf meine Handfläche, um nachzusehen, ob noch irgendein Lebewesen in dieser prachtvollen Schale wohnte. Doch sie war leer. Ein Palast für ein Meeresgeschöpf, dachte ich. Aber dann fiel es mir plötzlich ein: oder ein großartiges Geschenk für Simon! Jetzt, als ich darüber nachdachte, wurde mir klar, daß ich Simon niemals als Zeichen meiner Dankbar96
keit etwas geschenkt hatte. Wir haben so viele magische Augenblicke geteilt, und er hat seine Weisheit mit mir geteilt, aber ich habe ihm nie etwas dafür zurückgegeben. Das wäre das perfekte Geschenk für einen Mann, der das Meer so sehr liebt!
Nach meiner Rückkehr von der Konferenz ging ich vom Büro aus direkt nach Hause, zog mir bequeme Kleidung an und öffnete den Schrank im Schlafzimmer. Aus der zweiten Schublade nahm ich hübsches Geschenkpapier, eine Schere und ein Stück Band. Sorgfältig maß ich das Papier ab und schnitt es zurecht. Ich holte die schöne Muschel aus meinem Handgepäck und entfernte das Papier, in das ich sie gewickelt hatte. Ich lege sie besser in eine Schachtel, überlegte ich. Ich öffnete eine andere Schublade, in 'der ich all die Dinge aufbewahrte, die man für Gelegenheiten aufhebt, bei denen man sie wirklich braucht, und fand eine kleine Dose aus Holz, die genau die richtige Größe für die Muschel hatte und sogar zu ihren gelblichen Farbtönen paßte. Vorsichtig legte ich die Muschel auf einigen 97
Schichten weicher Watte in das Schächtelchen, wikkelte es ordentlich in das Geschenkpapier und band das goldene Band darum. Ich war sehr stolz auf meine Arbeit. Ich steckte das Päckchen in die Tasche, und da der Abend kühl war, nahm ich einen Pullover und machte mich auf die Suche nach Simon. Der Abend war wunderschön. Der Vollmond stand hoch am Himmel, und die Sterne waren stille Zeugen der Schönheit dieses Augenblicks. »Mister Williams!« hörte ich ihn rufen. »Simon?« »Wo sind Sie gewesen, Mister Williams? Ich war vor Sorge um Sie ganz krank. Über einen Monat habe ich Sie nicht gesehen. Ich dachte, Ihnen wäre vielleicht etwas passiert.« »Nun, Sie hätten in meinem Büro anrufen können.« »Es gibt einige Dinge, die ich nicht tun kann, Mister Williams.« »Was meinen Sie?« fragte ich. »Spielt keine Rolle. Also, wo sind Sie gewesen?« »Ich war in Übersee, um ein paar Verträge abzuschließen, die meine Firma in eine sehr starke Position versetzen werden.« 98
»Das sind sehr gute Nachrichten, Mister Williams. Ich hoffe, Sie haben nicht zu hart gearbeitet. Erinnern Sie sich, der Zweck, zu arbeiten und etwas zu leisten, besteht darin, besser und glücklicher zu sein. Tolstoi hat einmal gesagt, Geld als solches sei eine neue Art der Sklaverei.« »Ich glaube, ich werde nie wieder so hart arbeiten, Simon. Sie haben mich eine große Wahrheit gelehrt, indem Sie mir geholfen haben, meine Prioritäten richtig zu setzen. Jetzt, da ich mir die Zeit zu leben nehme, scheint alles einfacher zu sein, sogar mein Beruf. Dafür danke ich Ihnen, Simon.« »Danken Sie nicht mir, Mister Williams, danken Sie sich selbst dafür, daß Sie herausgefunden haben, wer Sie wirklich sind.« »Nein, Simon. Sie haben viel damit zu tun, und ich werde das nie vergessen. Aber inzwischen würde ich Ihnen meine Wertschätzung gern mit etwas zeigen, von dem ich hoffe, daß es Ihnen gefällt.« Ich reichte ihm das Päckchen. »Ist das für mich?« fragte er ungläubig. »Ja, Simon. Und nochmals danke.« »Mister Williams, das hätten Sie nicht tun sollen.« »Kommen Sie, packen Sie es aus.« 100
»Ich?« »Natürlich«, ermunterte ich ihn lachend. »Es gehört Ihnen.« Vorsichtig nahm er das Päckchen und zog sehr langsam, um das Papier nicht zu zerreißen, das Band ab. Ich konnte sehen, daß er jeden Augenblick genoß. »Sie sind wirklich ein glücklicher Mensch, Simon«, sagte ich. »Und dank dem hier jetzt noch glücklicher, Mister Williams.« Er hatte das Päckchen ausgewickelt. Jetzt nahm er vorsichtig den Deckel von der Schachtel und hob behutsam den Inhalt heraus. »O mein Gott!« sagte er. »Ich hoffe, sie gefällt Ihnen, Simon.« »Sie ist überwältigend, Mister Williams. Woher haben Sie sie?« »Ich fand sie auf einer meiner Reisen an einem Strand, und ich dachte, sie würde Ihnen gefallen.« »Haben Sie nachgesehen, ob ...« »Keine Sorge, Simon. Ich habe mich zuerst vergewissert, daß sie nicht bewohnt war.« »Ah, gut«, sagte er. Er begann, die Muschel zu be101
wegen, und in der schönen Vollmondnacht strahlte sie in seiner Hand wie verzaubert. »Ich werde sie in Ehren halten, Mister Williams. Sie wird mich an die Schönheit erinnern, die aller Natur innewohnt, und daran, daß ich das Glück hatte, einen Freund wie Sie zu haben. Und jetzt brauche ich einen Ort, um sie aufzubewahren, und Sie werden mir helfen, einen zu finden.« Er ging auf seine Hütte zu. Ich rührte mich nicht von der Stelle. »Bitte, kommen Sie herein, Mister Williams. Sie ist nicht groß, aber mehr brauche ich nicht.« »Das Zuhause eines Menschen ist sein Palast.« »Brillante Worte, die vor langer Zeit jemand gesagt hat«, antwortete Simon. »Auch die haben wir zerstört. Wir haben sie wörtlich genommen, und in einem Palast zu leben, hat mehr mit Status zu tun als mit Glück.« Er wollte noch etwas sagen, hielt dann aber inne. »Wie auch immer, bitte kommen Sie herein.« Simon ergriff eine alte Kerosinlaterne, die draußen an der Hütte hing. Behutsam zündete er sie an und hängte sie an einen Haken, der innen an das Dach der Hütte geschraubt war. 102
Ich trat ein. Wir mußten vorsichtig sein, da die Tür nicht besonders stabil in den Angeln hing. »Das sieht hier alles so aus, als sei es sehr alt, Simon.« »O ja, das ist es, Mister Williams. Ich bin nicht der erste, der hier wohnt. Vor mir haben hier mehrere andere gelebt.« Er beugte sich vor und zündete zwei Kerzen in einem Kerzenständer an. »Was meinen Sie mit >vor Ihnen« »Mister Williams, die Sache mit dem Glück ist so alt wie die Menschheit selbst. Wir haben unsere Lebensweise verändert, und die Technologie hat uns viele Dinge gebracht, die uns das Leben jetzt bequemer machen; aber wir haben immer nach Glück gestrebt. « »Aber wie können hier vor Ihnen viele Menschen gewesen sein?« »Glauben Sie, wir wären die einzigen, die nach Glück trachten? Menschen wie uns gibt es überall, Mister Williams. Einige sind fortgeschrittener als andere, einige kämpfen noch, aber alle suchen dasselbe: Erfüllung im Leben.« Endlich hatten meine Augen sich an das Halbdunkel des Raumes gewöhnt. Die Hütte war innen grö103
ßer, als sie von außen wirkte. Ein schmales Holzbett stand in einer Ecke, dem Fenster zugewandt, das auf die sich brechende Brandung hinausging. In der Mitte des Zimmers stand ein alter Holztisch mit zwei Stühlen, der als Eßtisch diente. Strom gibt es hier zweifellos nicht, dachte ich. Obwohl die Möbel alt waren, war alles tadellos sauber. »Schön haben Sie's hier, Simon.« »Oh, Mister Williams, das ist sehr höflich von Ihnen. Danke, aber glauben Sie mir, mir genügt es«, sagte er nicht ohne Stolz. »Und jetzt ist es an der Zeit, dieser schönen Seemuschel den Platz zu geben, den sie verdient.« Simon nahm die Muschel und legte sie auf ein altes Regal. Wegen der Dunkelheit konnte ich nicht sehen, was er sonst noch dort aufbewahrte. Ich nahm den Kerzenhalter und trat näher. Bücher. Alte Bücher. Das ganze Regal war mit alten Büchern gefüllt. Ich begann zu blättern. Sokrates, Descartes, Gibran, Ptolemäus, Da Vinci, Dante ... »Simon, das ist eine tolle Sammlung.« Und Shakespeare, Aristoteles, Demetrius, Dar104
win, Einstein, Marconi, die Bibel, der Koran und viele andere ... »Woher haben Sie die, Simon?« »Sie gehören nicht mir, Mister Williams. Sie waren schon hier, als ich kam.« »Was meinen Sie damit, daß sie schon hier waren?« Ich war verwirrt. »Wie konnten sie an einem Ort sein, von dem ich manchmal denke, daß er nur in meinem Kopf existiert?« »Sie fangen wieder an, wie ein Erwachsener zu reden, Mister Williams.« »Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie auf einmal all diese Dinge entdeckten, Simon? Ich versuche, in all dem einen Sinn zu erkennen, aber manchmal kann ich es einfach nicht.« »Die Tatsache, daß Sie diese Erfahrungen noch nicht verstehen können, bedeutet nicht, daß sie nicht geschehen, Mister Williams.« Er sah mir direkt in die Augen. »Was haben all diese Bücher gemeinsam?« fragte er. »Nun, ich nehme an, daß sie von berühmten Leuten geschrieben wurden.« »Falsch. Ich dachte dasselbe, als ich zum erstenmal hierherkam. Das ist der Fehler, den wir seit 105
zweitausend Jahren machen. Die meisten von ihnen waren zu ihrer eigenen Zeit nicht berühmt. Einige wurden als Ketzer bezeichnet, wie Galileo, weil er der Welt sagte, daß die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist; andere, wie Johannes der Täufer, wurden enthauptet, weil sie ihren Überzeugungen folgten. Einer von ihnen nannte sich selbst den Sohn Gottes und wurde dafür gekreuzigt.« Wieder sah Simon mich an und sagte: »Sie haben in Ihrem Leben viel erreicht, Mister Williams. Was glauben Sie, wie Sie dahin gekommen sind, wo Sie heute sind?« »Harte Arbeit?« fragte ich. »Vergessen Sie die harte Arbeit, Mister Williams. Das ist nicht die Antwort, das ist das Mittel.« Plötzlich wußte ich, worauf er hinauswollte. »Phantasie.« »Genau. All diese Bücher sind von Menschen geschrieben worden, die ihre Phantasie benutzten, und obwohl einige von ihnen gesteinigt wurden, sind sie unsterblich geworden.« Simon lächelte. »Ich habe fast alle diese >Schätze<, wie ich sie nenne, gelesen, und sie alle führen mich zu ein und derselben Schlußfolgerung. « 106
»Zu welcher, Simon?« »Daß wir, solange wir auf unser Herz hören und ein glückliches Leben führen, sicher sein können, daß es keine anderen Grenzen gibt als die, die wir uns selbst setzen. Wir alle haben unser eigenes, einzigartiges Leben, Mister Williams. Wir alle haben das Recht, etwas Besonderes zu sein. Es ist nur so, daß von Anfang an von uns erwartet wird, diese berühmten Leute zu bewundern, ohne sie in Frage zu stellen, statt zu verstehen, was sie wirklich getan haben. Wir sollen nicht denken, daß sie möglicherweise gar nicht so anders sind als wir, wie wir vielleicht annehmen. Doch genug der Philosophie«, schloß er. »Jetzt wird gefeiert.« Er drehte sich um. »Suchen Sie das hier?« Ich hielt zwei mit Portwein gefüllte Gläser in den Händen. »Sie lernen schnell, Mister Williams.« »Ich habe den besten Lehrer.« »Danke, Mister Williams, aber denken Sie daran, daß Sie mir heute eine große Lektion erteilt haben.« »Wie könnte die lauten, Simon?« »Diese Muschel, die ich hier ins Regal gelegt habe, wird mich immer daran erinnern, daß es kein schö107
neres Beispiel gibt, dem man folgen sollte, als das der Natur, die uns umgibt, und daß Augenblicke wahren Glücks wie der, den wir soeben geteilt haben, nur in unseren Herzen wohnen können.« 9 Träume es. Tue es. Und du schaffst es.
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An diesem Abend kam ich sehr spät nach Hause. Es war einer jener Tage im Büro gewesen, an denen ich nicht zur Ruhe kam. Alles schien chaotischer als gewöhnlich. Sarah war gereizt, und alle hatten einen schweren Tag gehabt. Ich schenkte mir ein Glas Brandy ein und setzte mich auf den Balkon. Es war schön, das Meer zu riechen und die Kühle der Nacht zu spüren. Ich schloß die Augen und entspannte mich. Auf der Stelle schlief ich ein. Ich träumte, ich sei an einem seltsamen Ort. Ich saß vor einer Reihe von Stühlen in einem Raum, der wie ein geschlossener Gerichtssaal aussah. Dann kamen plötzlich nacheinander lauter Menschen herein, die ich nicht kannte, alle schwarz gekleidet. Sie wirkten grimmig. Sie setzten sich auf die Stühle, und einer begann zu sprechen: »John J. Williams, wir sind hier, um im Namen des Lebens über Sie zu urteilen.«
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»Soll das ein Witz sein?« fragte ich. »John Williams, wir sind hier, um zuzuhören. Was haben Sie über Ihr Leben zu sagen?« »Was soll mit meinem Leben sein?« »Ihnen wurde ein Leben geschenkt, damit Sie nach besten Kräften damit umgehen und glücklich sind. Was haben Sie damit gemacht?« »Nun, ich habe sehr hart gearbeitet, um den wirtschaftlichen und sozialen Status zu erreichen, den...« »Bitte beantworten Sie die Frage, Mister Williams.« Ich begann zu schwitzen. »Was meinen Sie damit? Das versuche ich ja.« »Sind Sie glücklich, Mister Williams?« »Nun ja, natürlich bin ich glücklich. Ich meine, nicht vollkommen glücklich, aber ...« »Sind Sie glücklich oder nicht, Mister Williams?« »Nein.« »Mister Williams ist also nicht glücklich.« Im Gerichtssaal erhob sich Gemurmel. »Aber ich weiß nicht, was ich tun soll ...« »Sie wissen nicht, was Sie tun sollen, Mister Williams? Seit Sie ein kleiner Junge waren, haben Sie im Leben alles bekommen, was sich ein Mensch 111
nur wünschen und erhoffen kann. Sie können sich nicht vorstellen, wie viele Menschen, die nicht so ein Glück hatten wie Sie, mit einem Zehntel davon vollkommen glücklich sein würden. Wie Sie bereits entdeckt haben, Mister Williams, kommt die Zukunft tatsächlich früh genug, ganz gleich, was Sie tun. Und dann erkennen Sie, wie wichtig es ist, sich die Zeit zum Leben genommen zu haben. Die Zukunft ist bereits hier, Mister Williams. Haben Sie erkannt, wie wichtig es ist, sich Zeit zum Leben zu nehmen?« »Ich fange gerade an zu lernen. Mich zu erinnern.« »Die Zukunft ist schon da, Mister Williams, und es muß ein Urteil gefällt werden. Sie haben die Frage bereits beantwortet, und wir befinden Sie für schuldig ... « Ich begann zu schreien: »Nein, bitte. Geben Sie mir noch eine Gelegenheit, damit ich lerne, glücklich zu sein, all die Gaben zu erkennen, die ich bekommen habe. Nur noch eine einzige Chance ...« »Schuldig!« Das einstimmig gerufene Wort ging mir durch Mark und Bein. 112
Ich erwachte schwitzend und zu Tode erschrokken. Werde ich jetzt verrückt? Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so deprimiert gefühlt, so allein. »Nein!« rief ich. Ich sprang aus dem Sessel. Mein ganzer Körper war schweißnaß, und ich zitterte in der kühlen Nachtluft. Die Erfahrung hatte sich so real angefühlt, daß ich mich jetzt fragte, ob sie wirklich nur ein Traum gewesen war. Ich mußte raus ins Freie. Ich ergriff meinen Mantel, öffnete die Tür, ohne zurückzuschauen, und begann zu laufen, ohne zu wissen, wohin ich gehen oder was ich tun sollte. Mein Herz pochte heftig, das Blut hämmerte in meinen Schläfen. »Haben Sie Probleme mit Ihren eigenen Dämonen, Mister Williams?« »Simon!« »Die Zeit ist reif, Mister Williams, Sie müssen eine Entscheidung treffen.« »Wie bin ich hierhergekommen?« »Nun, es ist offensichtlich, daß Sie an einer Weggabelung Ihres Lebens angelangt sind, und etwas tief 113
in Ihnen sagt Ihnen, daß es jetzt Zeit ist, eine Entscheidung zu treffen.« »Aber was ist mit all der Anstrengung, die ich in den Aufbau meiner Firma gesteckt habe, Simon?« »Keiner sagt, daß Sie Ihre Sachen packen, Lebewohl sagen und weglaufen müssen, Mister Williams. Tatsächlich wird Ihre Leistung für immer bestehen bleiben, und eine Menge Leute werden Nutzen daraus ziehen. Was ich meine, ist, daß Sie Ihr Lächeln zurückgewinnen müssen, Ihr Glück. Sie haben einen Punkt in Ihrer Karriere erreicht, an dem Sie keine Freude mehr an dem haben, was Sie tun. Sie tun es, weil Sie es schon so lange getan haben. Früher gab es einen Zweck für Ihr Handeln, ein Ziel. Aber das ist nicht mehr da.« »Was meinen Sie also, was ich tun sollte, Simon?« »Das ist etwas, das Sie selbst beantworten müssen, Mister Williams. Ich kann Ihnen nur sagen, was ich getan habe.« »Und was war das?« »Ich habe mich für die Einfachheit entschieden. Ich habe beschlossen, nur die Dinge zu behalten, die mich wirklich glücklich machen, und mich von all den Dingen zu befreien, mit denen ich mich um114
geben hatte und die mir das Gefühl gaben, in einer Falle zu sitzen. Wenn Sie die Kraft hatten, diese Dinge zu erwerben, dann haben Sie auch die Kraft, sie abzulegen. Erst als ich das getan hatte, konnte ich sehen, was dahinter lag: der wirkliche Weg zum Glück.« »Was soll ich tun, Simon?« »Niemand, ich eingeschlossen, kann Ihnen sagen, was für Sie am besten ist, Mister Williams, und wie Sie Ihr Glück zurückgewinnen. Ich kann Sie nur anleiten und Ihnen vorschlagen, welche Art für Sie die beste ist, eine vernünftige Entscheidung zu treffen. « »Und welche ist das, Simon?« »Tief in Ihrem Inneren wissen Sie es.« Er sah mich an und fuhr fort: »Wie haben Sie Entscheidungen getroffen, als Sie ein Kind waren, Mister Williams?« »Das weiß ich wirklich nicht. Ich schätze, ich kann mich nicht mehr erinnern.« »Dann ist es Zeit, daß Sie sich erinnern, lieber Mister Williams.« Simon schwieg. Ich stand da, schaute auf den Ozean und versuchte, in seiner ungeheuren Größe 115
eine Antwort zu finden. Und dann fiel es mir mit einemmal ein. »Natürlich! Jetzt erinnere ich mich.« »Gut!« sagte Simon, und seine Stimme hatte einen triumphierenden Unterton. »Wenn man jung ist, trifft man Entscheidungen mit dem Herzen. Man denkt nicht zuviel über etwas nach. Man tut es einfach.«. »Richtig, Mister Williams. Es ist das, was wir Instinkt nennen, und leider verlieren wir diese Eigenschaft, mit der wir geboren werden, wenn wir anfangen, uns selbst und unser Denken einzugrenzen. Es ist nichts gegen Regeln einzuwenden, die man befolgt; das Problem ist nur, daß wir, wenn wir einmal anfangen, zu viele Regeln zu befolgen, vergessen, unsere eigene Urteilskraft zu benutzen. Wir hören nicht mehr auf das, was unser Herz uns zu sagen versucht. Es ist traurig. Vor langer Zeit hat einmal jemand gesagt, der Grund, warum die Menschen allen anderen Geschöpfen überlegen seien, liege darin, daß sie kraft ihrer Fähigkeit zu denken zu Entscheidungen gelangen können. Tiere reagieren mit dem Instinkt. Vielleicht ist das ihr Verdienst.« 116
»Ich glaube, ich fange jetzt an, klar zu sehen, Simon. Die ganze Zeit habe ich gedacht, ich würde meine eigenen Entscheidungen treffen, aber das war nicht so.« »Das passiert uns allen, Mister Williams. Zu irgendeiner Zeit in unserem Leben verlieren wir aus den Augen, wer wir sind, und fangen an, anderen zu folgen. Früher oder später entdecken wir, daß es nicht möglich ist, auf diese Weise weiterzumachen. Zuerst müssen wir uns innerlich gut fühlen, um auch nach außen besser zu sein.« »Ist Ihnen das je passiert, Simon?« »Mehr als einmal, Mister Williams, glauben Sie mir. Wir alle müssen die gleichen Höhen und Tiefen durchleben, um herauszufinden, wer wir wirklich sind.« Er machte eine Pause. »Diese Dämonen, die Sie sehen, Mister Williams, sind schon vor langer Zeit in Ihnen entstanden, ohne daß Sie es auch nur bemerkt hätten. Jetzt sind sie zum Leben erwacht, weil Sie sie bekämpfen. Wenn Sie anfangen zu lernen und Ihrem eigenen Instinkt zu vertrauen, um die Entscheidungen zu treffen, vor denen Sie stehen, werden Sie sehen, daß die Dämo117
nen allmählich verschwinden. Und mit der Zeit, wenn Sie ausdauernd genug sind, werden Sie zurückblicken und sehen können, daß Sie alle Träume gelebt haben, die Sie einmal hatten.« Simon verstummte und entspannte sich. »Jetzt werden Sie mir eine Ihrer Geschichten erzählen, nicht wahr, Simon?« »Ich sehe, daß Sie mich allmählich richtig gut kennen, Mister Williams.« Er lächelte und trank einen Schluck Portwein. »Die Südküste Australiens ist eine der schönsten Küsten der Welt. Zerklüftete Klippen über stürmischer See mit hohen Wellen, die von den Roaring Forties erzeugt werden.« »Was sind die Roaring Forties?« fragte ich. »Winde, die vom Südpol kommen, aus der Antarktis. Sie wehen bis zu hundert Knoten stark. Schiffsbesatzungen in diesen Gewässern fürchten sie, und der Ozean hat ihretwegen viele Schiffe untergehen sehen. Wie auch immer, die Küste ist von schönen Farmen und Eukalyptuswäldern gesäumt; in Australien heißt diese Gegend >the bush<. In dieser Landschaft können Sie fühlen, wie Ihre Sinne wachsen.« 118
Er legte eine Pause ein und starrte in den Himmel. »Ich wanderte an dieser Küste entlang, Mister Williams, als ich an einem alten Farmtor ein Schild hängen sah. Ich werde es nie vergessen. In perfekter Harmonie waren darauf die acht wichtigsten Worte geschrieben, die ich je gelesen habe.« »Wie lauten sie?« Er schaute mit starrem Blick zum Horizont. Ich wußte, daß er ganz woanders war. »Träume es. Tue es. Und du schaffst es.« Träume es. Tue es. Und du schaffst es, dachte ich. Das Geheimnis eines glücklichen und erfüllten Lebens. »Von dieser alten Farm hatte man den atemberaubendsten Blick auf den Ozean, den ich je gesehen habe, Mister Williams. Sie klebte an einer steilen Klippe über herrlicher Brandung; das Meer in all seiner Pracht. Sehen Sie, Mister Williams, überall auf der Welt werden Sie Menschen finden, die sich ihren eigenen Himmel oder ihre eigene Hölle bauen. Am Ende ist es die Einstellung, die ein Mensch zum Leben hat, die am meisten zählt.« 120
Er verstummte. Ich hatte auf einen solchen Moment gewartet, um ihm eine Frage zu stellen, die mich schon lange beschäftigte. »Simon?« »Ja, Mister Williams?« »Gibt es einen Himmel, Simon?« Er lächelte genauso, wie er an jenem Tag im Park gelächelt hatte, als ich ihn zum erstenmal traf. »O ja, Mister Williams, es gibt einen Himmel. Es ist der Ort in Ihrem Herzen, wo das Glück wohnt, wo Träume Wirklichkeit werden.« »Sie sprechen vom Strand der Träume, nicht wahr?« fragte ich. Er blickte unverwandt aufs Meer hinaus, als erinnere er sich an die Vergangenheit. »Konfuzius hat einmal gesagt: >Mein Haus ist sehr klein, aber seine Fenster öffnen sich auf eine große und wundervolle Welt<.« Ich sah Simon an und sagte mit breitem Lächeln: »Genau wie Ihre kleine Hütte am Strand der Träume, Simon.« Er erwiderte meinen Blick und lächelte ebenfalls. »Vielleicht, Mister Williams. Vielleicht.«
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10 Das, was ein Leben rettet, rettet in Wirklichkeit eine ganze Welt.
Es fiel mir mit der Zeit immer leichter, den Strand der Träume zu erreichen. Ich hatte endlich begriffen, daß nicht die Art und Weise, wie ich dorthin gelangte, sondern der Grund, warum ich das Bedürfnis verspürte, zum Strand der Träume zu gehen, mir seine magische Welt öffnete. »Eine Menge Leute gelangen nirgendwohin, weil sie sich nur darüber Gedanken machen, wie sie dorthin kommen, statt das Glück zu schätzen, das sie empfinden werden, wenn sie erst dort sind«, hatte Simon einmal gesagt. Ich öffnete die obere Schublade meines Nachttisches und nahm meine Minolta 103 heraus. Ich sah nach, ob ein Film eingelegt war. Ja, es gab noch reichlich Material für Aufnahmen. Ich steckte die Kamera in die Jackentasche und machte mich auf den Weg zum Strand. Schwere Dünung peitschte das Ufer, und schäumende Brandung umtanzte die Felsblöcke der Küste. Mein Herz wurde leichter.
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Ich erinnere mich, Simon, dachte ich. Diese Augenblicke, die ich am Strand verbrachte, fühlten sich an wie die Momente vor so langer Zeit, als ich noch jede Minute meines Lebens genoß; als jeder neue Tag neue Herausforderungen, neue Hoffnungen brachte. Ich konnte mich auch an meine Mutter und daran erinnern, wie sie mich mitnahm, um die Wellen gegen die Klippen krachen zu sehen, während am Horizont prachtvoll die Sonne unterging. Von all meinen Freunden und meiner Familie war meine Mutter der einzige Mensch, für den ich eine ebensogroße Liebe empfand wie für das Meer. Sie hatte das Leben, für das ich mich entschieden hatte, niemals in Frage gestellt und mich immer unterstützt; jetzt erinnerte ich mich, wie ungeheuer ihre Weisheit im Herbst ihres Lebens gewachsen war. »Mein geliebter John«, sagte sie einmal zu mir, »geh einfach den Weg weiter, den du gewählt hast, und genieße die kleinen Dinge im Leben, die zu schätzen und zu verstehen dir so leicht fällt. Sei immer glücklich und teile dieses Glück mit anderen, indem du einfach du selbst bist.« Wie recht sie hatte, dachte ich jetzt. Ich hatte mich 125
endlich erinnert und den Kreis meines Lebens geschlossen, und ich hatte nicht nur Simon gefunden, sondern auch mein Lächeln zurückgewonnen. Meinen eigenen Strand für meine Träume ... Ich ging weiter, und ohne es auch nur zu merken, war ich schon angekommen. »Guten Morgen, Mister Williams.« »Guten Morgen, Simon, ich habe endlich ...« »Ich weiß, Mister Williams, und ich kann Ihnen sagen, daß sie sehr glücklich ist ...« »Sie stecken voller Überraschungen, Simon.« »Das gehört dazu, wenn man ein glücklicher Mensch ist, Mister Williams. Manchmal müssen Sie denken wie ein Kind, und manchmal müssen Sie auch wie eines handeln!« Er sah mich mit seinen tiefen grünen Augen an. »Was führt Sie heute hierher?« fragte er. »Ich habe endlich eine Entscheidung über meine Zukunft getroffen, Simon. Ich glaube, ich habe die Antwort und weiß jetzt, was ich tun muß.« »Bitte verraten Sie mir, woran Sie denken, Mister Williams.« »Sie hatten recht, als Sie zu mir sagten, daß viel Anstrengung in meine Firma gesteckt worden ist 126
und daß es keinen Sinn hat, sie zu demontieren, nachdem wir so viel erreicht haben.« »Bitte fahren Sie fort«, drängte Simon mit gespanntem Blick. »Heute abend habe ich mit dem Vorstand gesprochen und ihn informiert, daß ich in eine Art >halben Ruhestand< trete und mit sofortiger Wirkung mein Amt als Vorsitzender niederlege. ROSS Macalister, ein junger Spitzenmann, der von Anfang an bei der Firma war, wird diese Position übernehmen.« »Sind Sie sicher, Mister ...« »Bitte, Simon, lassen Sie mich zu Ende sprechen. Gleichzeitig hat der Vorstand einstimmig dafür votiert, einen Treuhandfonds namens >Simons Strand< zu gründen, dessen Anstrengungen darauf gerichtet sein werden, jungen Menschen zum Glück zu verhelfen. Diejenigen mit unheilbaren Krankheiten oder aus zerrütteten Familien werden Vorrang haben. Wir werden ein Kurheim errichten, in dem diese Jugendlichen die notwendige Zeit verbringen werden, um sich selbst zu finden, umgeben nur von der Natur und den wirklich guten Dingen des Lebens. Dieser Fonds wird mit fünfzig Prozent der 127
Gewinne der Firma unterhalten werden. Die anderen fünfzig Prozent gehen an die Mitarbeiter, diejenigen, denen die Firma wirklich gehört.« Ich fixierte Simon. »Ich möchte ihnen helfen, glücklich zu sein. Genau so, wie Sie mir geholfen haben.« »Und was ist mit Ihnen, Mister Williams?« »Ich habe endlich gelernt, daß ich mehr Geld habe, als ich brauche, Simon. Ich habe endlich erkannt, daß wahres Glück im Herzen wohnt und nirgendwo sonst.« Simon schloß die Augen und sagte mit vor Bewegung zitternder Stimme: »Danke, Mister Williams. Ich danke Ihnen aus tiefstem Herzen.« Er sah mich an. »Der Kreis hat sich endlich geschlossen, und es ist an der Zeit, eine letzte Lektion mit Ihnen zu teilen.« Er ging in seine Hütte. »Was meinen Sie, Simon? Letzte Lektion? Wo gehen Sie hin?« »Warten Sie einfach hier, Mister Williams. Ich bin in einer Sekunde zurück.« Ich war bestürzt und nervös über das, was ich gehört hatte, und fragte mich, warum Simon mir so ausweichend geantwortet hatte. 128
In diesem Augenblick erinnerte ich mich an meine Kamera. »Simon?« »Ja, Mister Williams?« »Könnten Sie mir einen großen Gefallen tun? Könnten Sie bitte die Muschel herausbringen, die ich Ihnen geschenkt habe?« »Natürlich, Mister Williams.« Er kam mit einem kleinen Buch in der einen Hand und der Muschel in der anderen zurück. Sie sah leuchtender aus denn je. »Halten Sie sie eine Sekunde still, Simon.« Bevor er etwas erwidern konnte, hatte ich mit der Kamera eine Aufnahme gemacht. »Großartig!« Ich war begeistert. Simon war im Begriff, etwas zu äußern, doch statt dessen fragte er mich, ob ich einen Portwein wolle. »Natürlich«, sagte ich. Ich wußte, wenn Simon mir einen Portwein anbot, war das das Zeichen für den Beginn einer interessanten Unterhaltung. Ich schaute auf das Buch, das Simon im Sand liegengelassen hatte. Es hatte einen schönen alten Einband aus Leder, auf den zwei goldene Buchstaben geprägt waren: »S. W.« 129
Das ist wahrscheinlich sein Name, dachte ich. Und dann las ich unter den Initialen noch etwas: »3rd & 27th Street, New York, 1955.« Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. »Das ist unmöglich«, rief ich. »Was ist unmöglich, Mister Williams?« »Gehört dieses Buch Ihnen, Simon?« »Ja, Mister Williams. Warum?« »Diese Initialen habe ich schon einmal gesehen. Sagen Sie bloß nicht, Sie sind ...« »Doch, Mister Williams, ich bin's. Wie Sie sehen, ist nichts unmöglich.« Ich trank das ganze Glas Portwein auf einen Zug leer. »Simon Weizmann, der berühmte Börsenmakler? Der Guru des Aktienmarktes? Ich habe Gerüchte gehört, er sei eines Tages spurlos verschwunden.« »Nun, er verschwand tatsächlich, Mister Williams. Eines Tages entschied er, es sei genug und er müsse sein Glück wiederfinden.« «Ich habe gehört, er habe sein ganzes Geld den Armen gegeben.« »Die Medien erzählen immer gern solche Geschichten, Mister Williams, aber es stimmt nicht. Ich 130
habe mein Geld nicht den Armen gegeben. Ich habe einfach den Ertrag meiner harten Arbeitsjähre mit Menschen geteilt, die Hilfe nötig hatten.« Er nahm einen Schluck Portwein, ehe er weitersprach: »Aus irgendeinem Grund fühlen Sie sich jedesmal, wenn Sie etwas für jemanden tun und nur an dessen Glück denken, besser; und das bringt am Ende Glück in Ihr Herz. Diese Erfahrung kann Ihr Leben für immer verändern.« Er hielt einen Augenblick inne. Dann fuhr er fort: »Sehen Sie, Mister Williams, die Artikel, in denen stand, ich hätte alles hergeschenkt, sind nicht ganz korrekt. Sie erzählen nicht die ganze Geschichte. Daß ich anderen Glück brachte, indem ich meine Wertpapiere verschenkte, ja. Aus irgendeinem Grund scheint die Welt materielle Dinge höher zu schätzen, und alles muß berechnet werden. Die Leute lieben Zahlen. Können Sie sich vorstellen, wie oft sie versucht haben herauszufinden, wieviel von meinem Vermögen ich abgegeben hatte? Sie waren einfach auf der Suche nach einer Geschichte, etwas, das sie auf die Titelseite ihrer Zeitungen setzen konnten, um mehr Exemplare zu verkaufen. Glauben Sie, sie hät131
ten mich je gefragt, warum ich das tat oder was ich als nächstes tun würde? Nicht ein Mal, Mister Williams. Nicht ein einziges Mal.« Ich sah, daß Simon sehr traurig war. Er litt, und ich wußte nicht, wie ich ihm helfen sollte. Mir kam ein Gedanke. »Nun, Simon, vielleicht wissen sie nicht, was sie tun. Vielleicht werden sie eines Tages sehen, was Sie sehen, und dann werden sie verstehen.« »Meinen Sie, Mister Williams?« »Ich bin mir ganz sicher, Simon.« Er lächelte. »Na, das ist etwas, worauf man sich freuen kann.« Wir leerten unsere Gläser, saßen schweigend da und starrten auf den Horizont. Einige weiße Möwen kreisten spielerisch in der Luft. »Dieser Ort fühlt sich gut an, Simon. Ich habe das Gefühl, daß dieser Strand eine Menge Antworten auf die Fragen bereithält, die mich noch immer beschäftigen.« »Ich sehe, daß Sie weiterhin lernen, Mister Williams.« Er schaute mich an. »Vermutlich ist hier der Ort, an dem Sie eine neue Lektion beginnen müssen ...« 132
Ich fühlte mich unbehaglich. »Tja, vielleicht, Simon. Ich kann weiterhin kommen, und Sie können mir helfen zu ...« »Ich denke, wir wissen beide, daß meine Aufgabe hier erfüllt ist, Mister Williams. Es geht nur darum, daß Sie jeden Tag ein bißchen mehr darüber herausfinden, wer Sie sind, wer der wirkliche John Williams ist. Er ist Ihr bester Lehrer.« »Natürlich, Simon. Wir können zusammen eine Menge Dinge lernen. Glauben Sie nicht?« »Natürlich, Mister Williams. Wir werden viele Dinge zusammen lernen. Irgendwo, irgendwann.« Ich wollte etwas sagen, aber er kam mir zuvor: »Ich muß mich jetzt ausruhen, Mister Williams. Sie können bleiben, solange Sie möchten.« »Danke, Simon.« »Nein, ich danke Ihnen, Mister Williams. Danke dafür, daß Sie Ihr halbvolles Glas gefüllt haben.« Er sah mich mit seinem liebevollen Blick an. »Vergessen Sie nie, daß der, der ein Leben rettet, in Wirklichkeit eine ganze Welt rettet.«
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11 Wenn Sie glücklich sein wollen, dann h'ören Sie auf Ihr Herz, denn es birgt alle Antworten, die Sie brauchen.
Ich kam um halb neun im Büro an. An diesem Morgen war ich sehr glücklich aufgewacht, nachdem ich den größten Teil der Nacht am Strand der Träume zugebracht hatte. Endlich hatte ich in meinem Leben Zeit gefunden, die Dinge zu tun, die ich wirklich tun wollte, und ich hatte auch einen Weg gefunden, andere glücklich zu machen durch all die Anstrengungen, die ich und meine Angestellten unternommen hatten, um Williams Amalgamated aufzubauen. In einem gewissen Sinne verdienen sie es mehr als ich, dachte ich. »Guten Morgen, Mister Williams.« »Guten Morgen, Sarah. Ich hoffe, es geht Ihnen gut an diesem wunderschönen Tag.« »Entschieden nicht so gut wie Ihnen, Mister Williams. Übrigens, vergessen Sie nicht, daß Sie um neun Uhr eine Konferenz mit dem Vorstand haben.« »Danke, Sarah, ich werde es nicht vergessen.« »Mister Williams?« »Ja, Sarah?«
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»Wir werden Sie vermissen.« Ich sah die Traurigkeit in ihrem Lächeln. »Nun kommen Sie, Sarah, davon geht doch die Welt nicht unter! Ich werde ab und an ins Büro kommen, nur um zu sehen, ob alles klappt.« »Seien Sie ehrlich mit sich selbst, Mister Williams. Sie könnten dem Büro gar nicht ganz fernbleiben und alle Anstrengungen der letzten fünfzehn Jahre einfach so vergessen, oder?« Sie hat recht, dachte ich. Nun, da ich begriffen hatte, wofür all die Mühe gewesen war, empfand ich ein besonderes Gefühl für diesen Ort, den ich immer als »das Büro« bezeichnet hatte. »Alle wissen schon, was Sie vorhaben, Mister Williams«, sagte Sarah. »Ich bin sehr stolz auf Sie.« Sie beugte sich zu mir herüber und gab mir einen dicken Kuß. »Sarah, bitte! Was sollen denn die anderen denken!« »Es ist mir egal, was sie denken, Mister Williams. Das ist der Kuß einer stolzen Mutter. Ich weiß, Ihre Mutter wäre stolz auf Sie.« »Danke, Sarah.« Wieder konnte ich den Kloß in meiner Kehle spüren. 137
»Ach, das hätte ich fast vergessen, Mister Williams; dieses Päckchen ist heute früh gekommen.« »Was ist das?« »Ich weiß nicht. Es wurde durch einen Boten zugestellt und trägt keinen Absender.« Ich legte das Päckchen auf meinen Schreibtisch und öffnete es vorsichtig. Es enthielt einen kurzen Brief und ein in Leder gebundenes Buch. Ich erkannte es sofort. »Simon!« »Alles in Ordnung, Mister Williams?« »Sarah, bitte nehmen Sie all meine Anrufe entgegen, bis ich mich wieder melde.« »Und was ist mit der Vorstandssitzung?« »Bitte sagen Sie ihnen, sie sollen warten.« Ich nahm den Brief, der an das Buch geheftet war, und las: Lieber Mister Williams, bevor Sie etwas Dummes tun und zu irgendwelchen voreiligen Schlüssen kommen, lesen Sie bitte diesen Brief. Es war mir eine Freude, Sie in diesen letzten Monaten kennenzulernen, so vieles mit Ihnen zu teilen und 138
die Ehre zu haben, Ihnen ein oder zwei Tricks über das Glück beizubringen. Ich empfinde großen Stolz auf meine Leistung, ja mehr als das, ich bin glücklich für Sie, denn ich weiß, ein ganz neues Leben erwartet Sie, voll von all den Dingen, die Sie immer tun und erleben wollten. Sie sind in einer beneidenswerten Lage. Sie werden Ihr Glück finden und gleichzeitig all jene glücklich machen können, die vom Schicksal weniger begünstigt sind als Sie. Wenn es etwas gibt, dessen ich sicher bin, dann, daß Sie großartige Arbeit leisten werden. Mein letzter Wunsch, ehe ich Sie verlasse, Mister Williams, ist, Ihnen dieses Notizbuch zu schenken, damit Sie mit anderen teilen können, was ich mit jemandem geteilt habe, der es mir beigebracht hat. Daran ist nichts Magisches, und was Sie darin finden, wird Ihnen den einfachsten Weg zeigen, zu Ihrem Glück und dem Glück anderer zu gelangen. Es ist das, was ich meine »Liste für das Glück« nenne, meine Brücke zu einem besseren Leben. Obwohl nicht zwei Leute dieselben Dinge aussuchen, Mister Williams, kann es bei jedem funktionieren. Es ist jedoch wichtig, daß Sie Ihre Liste aufstellen, wenn Sie allein sind, weit weg von hektischen 139
Städten, in Frieden mit Ihrem Herzen und allem um Sie herum. Ich habe einen Strand gewählt, um die Liste zu schreiben, aber Sie können es überall tun, solange Sie sich völlig frei fühlen, auf Ihr Herz zu hören, denn es birgt alle Antworten, die Sie brauchen. Dies ist ein Geschenk an Sie für all das Glück, das Sie in mein Leben gebracht haben. Und weil ich weiß, daß Sie guten Gebrauch davon machen werden. Jetzt kommt der traurige Teil. An diesem Punkt wird Ihnen vermutlich klar sein, daß dies ein Abschiedsbrief ist, zumindest für jetzt. Ich kann Ihnen nicht versichern, daß wir uns wiedersehen werden, aber ich kann Ihnen versichern, daß, wo immer Sie sein werden, ich glücklich sein werde, weil ich weiß, daß Sie glücklich sind. Ich habe im Laufe meiner Jahre viel gelernt, Mister Williams, aber es gibt immer noch etwas Neues zu lernen. Denken Sie nicht, ich wüßte alle Antworten, denn das stimmt nicht. Das Glück liegt auf dem Wege, darin, etwas zu erreichen. Das glaube ich in meiner Zeit mit Ihnen getan zu haben. Und ich danke Ihnen dafür, daß Sie es mich haben tun lassen. Immer Ihr Freund Simon 140
Ich öffnete das Notizbuch. Darin entdeckte ich eine sehr alte Eintragung, datiert vom 24. Dezember 1955. Das war einen Tag vor Simon Weizmanns Verschwinden, dachte ich. Das Notizbuch enthielt nur zwei Seiten. Still begann ich, die erste zu lesen: Gestern ging ich zum letztenmal an den Strand der Träume, um Matthew zu besuchen, der mich so viel gelehrt hat und der in der alten Hütte wohnt. Ich fand eine Nachricht von ihm, die besagt, seine Aufgabe mit mir sei erfüllt und es sei an der Zeit, daß wir beide auf unseren eigenen, einzigartigen Pfaden weitergingen. Ich war sehr traurig, aber ich weiß, daß es stimmt, was er sagte. Jetzt fühle ich mich bereit. Heute tue ich den ersten Schritt zum Anfang meines neuen Lebens. Ich habe das Glück wiedergefunden, und ich werde es packen und für immer in meinem Herzen festhalten. Ich habe erkannt, daß ich, um glücklich und mit der Welt in Frieden zu leben, erst mit mir selbst Frieden schließen muß. Und zu diesem Zweck werde ich die Prioritäten in meinem Leben neu ordnen. 141
Nie wieder werde ich mich von Gier und Ruhm versklaven lassen, denn das sind die beiden Übel, die uns die wirklichen Schätze des Lebens vergessen lassen: die kleinen Dinge, die wir Tag für Tag tun sollten, um ein Leben voller Glück aufzubauen. Ich werde diesen Prinzipien folgen und mir in meinem Leben Ziele setzen. Ich werde eine Liste der Dinge aufstellen, die ich wirklich tun möchte, und ich werde sie tun. Die Liste, die ich aufstellen werde, ist eine, die sich verwirklichen läßt, denn ich habe gelernt, daß unsere Grenzen von uns selbst gesetzt werden und von niemandem sonst. Dies ist der Beginn meines neuen Lebens, der Beginn eines neuen Abenteuers: der Eroberung des Glücks. Des Privilegs, einen eigenen Strand für meine Träume zu haben. Ich blätterte die Seite um. Da stand eine Liste: Traum Nr. 1: Ab sofort werde ich in meinem Leben glücklich sein. Traum Nr. 2: Ich werde um die Welt reisen, um selbst die Wahrheit zu sehen. Um zu verstehen und zu fühlen, was Glück bedeutet. 142
Traum Nr. 3: Ich werde meinen materiellen Besitz denen geben, die ihn nötiger haben als ich. Ich werde nur behalten, was notwendig ist, um ein glückliches Leben zu führen. Traum Nr. 4: Ich werde arbeiten, um den Strand der Träume zu finden, und ich werde dort wohnen, bis ich das Gefühl habe, daß es an der Zeit ist, jemand anderen dort wohnen zu lassen. Traum Nr. 5: Ich werde dieses Wissen an jemanden weitergeben, der meine Hilfe braucht. Das wird den Kreis schließen, wie es bei Matthew und mir der Fall war. Ich werde glücklich sein, weil ich jemand anderen glücklich gemacht habe. Traum Nr. 6: Ich werde wissen, was zu tun ist, wenn ich erst all diese Träume verwirklicht habe. Er hat seine Träume verwirklicht, dachte ich. Ich lief zur Tür. »Sarah, bitte sagen Sie die Vorstandssitzung ab. Ich muß weg.« »Alles in Ordnung, Mister Williams?« »Bitte, sagen Sie einfach die Sitzung ab. Ich werde versuchen, heute nachmittag ins Büro zurückzukommen. « 143
Ich eilte zu meinem Wagen und fuhr an die Bucht. Tun Sie mir das nicht an, Simon. Noch nicht ... Auf der Uferpromenade hielt ich an, sprang aus dem Wagen, lief an den Strand und setzte mich hin. Ich konzentrierte mich und versuchte, Kontakt aufzunehmen. Nichts. Ich dachte verzweifelt an all die glücklichen Augenblicke und daran, wie Simon mir gesagt hatte, der Strand der Träume würde immer da sein, wenn ich ihn brauchte. Nichts geschah. Der Mann, der den Strand reinigte, tat gerade seine Arbeit. Ich lief zu ihm hinüber. »Entschuldigen Sie, haben Sie heute morgen den alten Bettler gesehen, der sich oft an diesem Strand aufhält?« »Ich habe hier weit und breit noch nie einen Bettler gesehen, Sir. Bettler dürfen sich an diesem Strand gar nicht aufhalten.« »Erzählen Sie mir doch nichts. Ich habe mich gestern noch mit ihm unterhalten, genau hier, wo wir jetzt stehen.« 144
»Das ist unmöglich, Sir. Ich arbeite hier seit zwanzig Jahren, und ich kann Ihnen versichern, an diesem Strand hat es niemals einen Bettler gegeben.« »Was ist mit den Klippen?« »Welchen Klippen?« »Denen, die ab und an rings um den Strand der Träume erscheinen.« »Geht es Ihnen gut, Sir? Wenn Sie möchten, kann ich die Sanitäter rufen.« Ich holte tief Luft. »Nein, danke, es geht mir gut«, sagte ich nur. Damit machte ich mich auf den Rückweg zu meinem Wagen. Ich hatte Simon für immer verloren.
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Epilog
Solange Ihr Herz offen ist für die Wahrheit, werden Sie den Strand Ihrer Träume finden.
Die Vorstandssitzung wurde auf den folgenden Nachmittag verschoben. Ich brauchte etwas Zeit für mich selbst, und mir fiel nichts Besseres ein, als meinen Kummer in Brandy zu ertränken. Der Schmerz, Simon verloren zu haben, war unerträglich. Es gab noch so viele Gespräche zu führen, so viele Fragen, auf die ich eine Antwort brauchte. Es ist wahrscheinlich immer so, dachte ich. Das Leben ist ein Buch voller Fragen, und die Antworten auf diese Fragen bekommt man nur durch Erfahrung. Endlich riß ich mich zusammen und machte mich auf den Weg ins Büro. Es war Zeit, mich der Realität zu stellen. Meiner Realität. Die Vorstandssitzung verlief wie vorgesehen. Beide Maßnahmen wurden einstimmig gebilligt, und ROSS Macalister wurde zum Vorsitzenden gewählt. Hinterher kam er zu mir, um sich dafür zu bedanken.
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»Danke, daß Sie mir diese Chance geben, Mister Williams. Ich werde Sie nicht enttäuschen. Ich werde genauso hart arbeiten wie Sie, das verspreche ich.« »Wenn Sie mich nicht enttäuschen wollen, Mister Macalister, dann tun Sie nicht, was ich getan habe.« »Wie bitte?« »Arbeiten Sie nicht so hart, wie ich gearbeitet habe. Finden Sie in Ihrem Leben die Zeit, um glücklich zu sein und das zu genießen, was Sie tun, und denken Sie immer an das Glück Ihrer Mitarbeiter.« Er starrte mich an und lächelte dann. »Genau das werde ich tun, Sir.« »Gut ...« Nach der Vorstandssitzung fand eine Zusammenkunft statt, und sämtliche Mitarbeiter waren da, um sich von mir zu verabschieden. Alle amüsierten sich bestens. Ich sah Sarah. Sie lächelte mir zu. »Es ist gut, so viele Menschen glücklich zu sehen, Mister Williams, und all das ist Ihnen zu verdanken.«
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»Nicht mir, sondern allen.« »Was werden Sie jetzt tun, Mister Williams?« »Ich weiß noch nicht, Sarah. Vermutlich werde ich an all die Orte auf der Welt reisen, die ich schon immer sehen wollte. Nur, um zu erfahren, was es sonst noch gibt.« »Das wird Ihnen guttun, Mister Williams. Gehen Sie den Weg weiter, den Sie gewählt haben, und genießen Sie die kleinen Dinge des Lebens, die zu schätzen und zu verstehen Ihnen so leicht fällt.« Ich konnte nicht glauben, daß ich richtig gehört hatte. »Wo haben Sie das her, Sarah?« »Nirgendwoher, Mister Williams. Es kam einfach direkt aus meinem Herzen.« Ich spürte einen Kloß in der Kehle. »Wir können nur auf bestimmte Arten mit denen kommunizieren, die diese Welt bereits verlassen haben«, hatte Simon gesagt. Er hatte so recht, dachte ich. »Danke, Sarah.« Ich trat näher zu ihr und gab ihr einen Kuß. »Mister Williams!« 150
»Das war ein doppelter Kuß, Sarah. Einer für Sie und einer für meine Mutter, wo immer sie ist.«
Ich blieb bis zum Ende der Zusammenkunft, um sicher zu sein, daß ich mich bei allen für die vielen Jahre harter Arbeit mit mir zusammen bedankt hatte. Jetzt, da jedem ein Anteil an der Firma gehörte, waren sie stolzer denn je auf Williams Amalgamated. Es gibt nichts Netteres als einen Raum voller Leute, die von Herzen lächeln, dachte ich.
Ich ging in mein Büro, um Abschied zu nehmen. Morgen würde ich es ausräumen und fünfzehn Jahre Erinnerungen mitnehmen. Ich stand vor dem Foto auf meinem Schreibtisch und starrte den Mann an, der die schöne Muschel auf seiner Handfläche hielt, die Muschel, die ich ihm einst geschenkt hatte. Nichts geschah. Ich schloß ganz fest die Augen, konzentrierte 151
mich, versuchte, mit ihm in Kontakt zu treten, erinnerte mich an den Zauber, den er einst in meinem Herzen entfacht hatte. Nichts geschah. Anscheinend war der Zauber verflogen. »Ich vermisse dich, Simon«, hörte ich mich flüstern. Eine Träne rann mir über die Wange. Ich trank einen Schluck Portwein, den gleichen rubinroten Portwein, den ich so oft mit Simon geteilt hatte, wenn wir noch lange nach Sonnenuntergang an seinem »Strand der Träume« saßen, wie er ihn nannte, und uns unterhielten, an diesem magischen Ort auf der Welt, an dem Simon und seine Träume in einer alten, verfallenen Hütte lebten. Ich nahm einen letzten Schluck Portwein, zog meinen Mantel an und wollte das Büro verlassen. Ich war gerade im Begriff, die Lichter auszuschalten, als mir plötzlich etwas auffiel. Simons Foto. Irgend etwas stimmte nicht mit diesem Foto. »O mein Gott«, entfuhr es mir. Ich mußte mich am Schreibtisch festhalten. Da auf dem Foto war Simon mit offener Handfläche ... aber die Muschel war nicht da! 152
»Solange Ihr Herz offen ist für die Wahrheit, werden Sie den Strand Ihrer Träume finden«, hatte Simon zu mir gesagt. Du weiser alter Mann, dachte ich. Ich lächelte und schaltete die Lichter aus. Und ich wußte, wohin ich gehen mußte, um die schöne Muschel zu finden.
Sergio Bambaren
Der Traum des Leuchtturmwärters Ein Ort für Deine Sehnsüchte. Aus dem Englischen von Gaby Wurster. Mit 10 farbigen Illustrationen von Heinke Both. 120 Seiten. Serie Piper 3643
Als Martin auf einer seiner Reisen der zauberhaften Paola begegnet, weiß er, daß sie die Frau ist, auf die er so lange gewartet hat. Auch für Paola ist es Liebe auf den ersten Blick. Gemeinsam suchen sie nach einem Ort für ihre Sehnsüchte, nach einem Platz, der nur ihnen beiden gehört. An der paradiesischen Küste Chiles entdecken sie die ideale Stelle: in der Nähe eines alten Leuchtturms mit Blick auf die faszinierenden Stimmungen des Meeres. So verlassen die Idylle auch wirkt - es gibt noch jemanden, der hier einst sein Glück gefunden hat, der vor langer Zeit Herr über den ehemals so stattlichen Leuchtturm, über Schiffe und Gezeiten war, der die Liebe seines Lebens traf und wieder verlor ... Sergio Bambarens Buch ist eine berührende Geschichte über den Mut, den man braucht, um seine eigenen Träume wahr zu machen - und zu erkennen, daß es die ganz große Liebe nur einmal im Leben gibt.
Sergio Bambaren Der träumende Delphin Eine magische Reise zu dir selbst. Aus dem Englischen von Sabine Schwenk. 95 Seiten mit 10 farbigen Illustrationen von Heinke Both. SP 2941 Was du tust ist wichtig, wichtiger aber ist, wovon du träumst - und daß du an deine Träume glaubst. Dies ist die Botschaft, die wir von dem träumenden Delphin lernen können. Wie einst »Die Möwe Jonathan« hat dieses Buch unzählige Leserinnen und Leser auf der ganzen Welt begeistert. Der junge Delphin Daniel Alexander ist ein Träumer: Er ist davon überzeugt, daß es im Leben mehr gibt als Fischen und Schlafen, und so verbringt er seine Tage damit, auf den Wellen zu reiten und nach seiner eigenen Bestimmung zu suchen. Eines Tages spricht die Stimme des Meeres zu ihm und verkündet, Daniel werde den Sinn des Lebens finden, und zwar an dem Tag, an dem ihm die perfekte Welle begegnet. So beschließt der junge Delphin, das sichere Riff seiner Artgenossen zu verlassen. Auf seiner langen Reise trifft er nicht
nur viele andere Fische und einige menschliche Wellenreiter, sondern schließlich auch die perfekte Welle ... Sergio Bambaren erzählt eine wunderbare Geschichte über unseren Mut, unsere Ängste und unsere persönlichen Grenzen - ein Plä doyer für die selbstbestimmte Suche nach dem Sinn des Lebens und die Realisierung der eigenen Träume. »Eine hinreißende mit wunderschönen nen.« MAX
Geschichte Illustratio-
Ein Strand für meine Träume Aus dem Englischen von Elke von Scheidt. 160 Seiten mit 10 farbigen Illustrationen von Heinke Both. SP 3229
Miss Read Gute Nachbarn und andere Freunde Roman. Aus dem Englischen von Dorothee Asendorf. 231 Seiten. SP 2488 Sommerleid und Winterfreud Roman. Aus dem Englischen von Dorothee Asendorf. 224 Seiten. SP 2486 Wieder einmal blüht der Klatsch in dem beschaulichen Dorf Thrush Green. Der gute Pfarrer Charles Henstock hat große Schwierigkeiten mit einigen Pfarrkindern seiner neuen, herrschaftlichen Gemeinde in Lulling. Vor allem die gräßliche Mrs. Thurgood und ihre kunstbeflissene Tochter Janet machen dem Pfarrer das Leben schwer. Und Albert Piggott leidet unter der Ankündigung seiner untreuen Frau Nelly, wieder zu ihm zurückzukehren. Doch eine Hochzeit, mit der niemand gerechnet hat, verändert das Leben einiger Dorfbewohner gründlich.
Lästermäuler und Klatschbasen Roman. Aus dem Englischen von Dorothee Asendorf. 223 Seiten. SP 2487 Das friedliche englische Dorf Thrush Green erlebt dieses Mal eine Reihe von Erschütterungen: Als Pfarrer Henstock und seine Frau Dimity in Urlaub fahren, brennt das Pfarrhaus ab. Die Tierfreundin Dotty Harmer wird imme r wunderlicher: Muß sie in ein Heim? Und während die Lästermäuler noch heftig klatschen, tauchen im Dorf merkwürdige junge Leute auf. Ein Krimi bahnt sich an ...
Sergio Bambaren
Das weiße Segel Wohin der Wind des Glücks dich trägt. 192 Seiten. Mit 10 farbigen Illustrationen von Heinke Both. Geb. Aus dem Englischen von Barbara Röhl.
Nach »Der träumende Delphin«, der die Menschen auf der ganzen Welt begeistert hat, macht auch Sergio Bambarens neues Buch Mut, sich seine Träume zu erfüllen: Wie Kate und Michael, deren Leben in der Sackgasse zu stecken scheint - bis sie bereit sind, sich auf ein echtes Abenteuer einzulassen, und von Neuseeland zur großen Reise ins Ungewisse aufbrechen. Mit ihrem Segelschiff Distant Winds entdecken sie die zauberhafte Welt des Südpazifiks und lernen so magische Orte wie die Fidschiinseln und Tonga kennen. Doch die kostbarste Erfahrung, die die beiden unterwegs machen, führt sie an ein Ziel zurück, das schon fast verloren war: zu sich selbst und ihrer Liebe füreinander.
KABEL