George Sand Ein Winter auf Mallorca
Heimeran Verlag
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George Sand Ein Winter auf Mallorca
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George Sand Ein Winter auf Mallorca
George Sand
Ein Winter auf Mallorca Herausgegeben und ins Deutsche übertragen von Ulrich C. A. Krebs
Heimeran
Inhaltsverzeichnis
Seite Vorwort des Herausgebers Seite J. B. Laurens Erinnerungen einer Kunstreise nach Mallorca George Sand Ein Winter auf Mallorca Seite Erster Teil Seite Zweiter Teil Seite Dritter Teil Seite Geschichte meines Aufenthalts auf Mallorca Seite Bibliographie Seite Bildquellen
Vorwort des Herausgebers Alles hat einmal angefangen, auch Familienreisen nach Mallorca. Zufälligerweise besitzen wir über die erste dieser Erholungsfahrten gen Süden einen sehr ausführlichen Bericht, der um so wertvoller ist, als er aus der Feder einer wortgewandten Schristellerin stammt und gleichzeitig den Rahmen für das kühne Abenteuer eines berühmten Liebespaares abgibt. Zu dieser Reise hatte man sich aus mehreren Gründen entschlossen. George Sand und Frédéric Chopin wollten dem Pariser Betrieb und Klatsch entweichen, nur für wenige verschwiegene Freunde brieflich erreichbar sein; außerdem hatte der Arzt einen Klimawechsel angeraten. George Sand war mit Sohn Maurice und Tochter Solange schon um die Oktobermitte von Paris aufgebrochen und hatte die Reise bis zum Treffpunkt Perpignan in gemütlichen Etappen mit Stationen unterwegs bei Freunden gemacht. Chopin mit seinen moralischen Bedenken und gesellschalichen Rücksichten war heimlich gefolgt und hatte die Strecke mit der Eilpostkutsche ohne Unterbrechung in vier Tagen zurückgelegt. Von Perpignan ging es dann gemeinsam im Reisewagen nach Port-Vendres und wei
ter per Schiff nach Barcelona; wegen des Bürgerkrieges wäre die Straße zu unsicher gewesen. Man gönnte sich einige Tage Ruhe und schie sich am Nachmittag des . November auf dem erst ein Jahr zuvor in Dienst gestellten Raddampfer von Tonnen ›El Mallorquin‹ zu der stündigen Überfahrt nach Palma ein. Die Beschwerlichkeiten einer damaligen Reise von dieser Länge kann man sich kaum noch vorstellen. Das wagemutige Unternehmen hätte sich nie durchführen lassen, wäre George Sand nicht eine Frau gewesen, für deren Energie und Zielstrebigkeit es keine unüberwindlichen Hindernisse gab. Die abgelegene Insel war damals in der Tat unterentwickelt. George Sands abfällige Kritik an den Straßen- und Wohnverhältnissen, an Lebensart und Eßkultur war durchaus berechtigt, und ihre Beobachtungen werden von zeitgenössischen spanischen Autoren bestätigt. Für eine Dame der komfortgewohnten französischen Gesellscha und für einen leidenden, hilflosen und verhätschelten Musiker mußte der Kontrast besonders kraß sein. Doch mit ihrer starken Persönlichkeit fand sich George in jede Lage und meisterte alle Widrigkeiten. Es ist ihr allerdings nicht zu verdenken, daß sie dem Herzen in ihren Aufzeichnungen Lu macht, nicht aus Groll über die selbst erlittenen Nöte, sondern eher weil sie ihre Familie nicht so versorgen konnte, wie sie es gewünscht hätte.
Daß sie mit Bauern und Fischern, Fuhrleuten und Dienstboten, Handwerkern und Hausbesitzern, Ärzten und Adligen nicht umzugehen wußte, war kein Grundzug ihres Charakters. Daheim konnte sie es sehr wohl. Auf Mallorca vermochte sie es nicht, sich mit der Bevölkerung zu verständigen. Das lag weniger an Sprachschwierigkeiten als an der Unfähigkeit, von ihrer Warte der freigeistigen Intellektuellen herabzusteigen und sich auf die Mentalität der Bewohner einer Insel einzustellen, an deren Ufern die Zeitströmungen kaum einen Kiesel von der altgewohnten Stelle gerückt hatten. Alles Ungemach, das sie von Mallorquinern erfuhr, deutete sie aus einem bösartigen Volkscharakter. Zudem konnte sie nicht begreifen, daß der Name George Sand hier nichts galt, daß man sie sogar kaum verhohlenen Tadel und eine gewisse Feindseligkeit spüren ließ, anstatt der berühmten Frau das Recht auf Eigenheiten einzuräumen, das ihr kein Franzose absprach. Solche Konzessionen empfand sie als ihrer Persönlichkeit gebührend, ohne je auf den Gedanken zu verfallen, den Motiven dieser insularen Animosität nachzugehen und als die Überlegene selbst lächelnd Konzessionen zu machen. Sie wollte die Welt verändern, die Menschen zu ihren aufgeklärten Ansichten bekehren. Die Realität der geistigen und sozialen Verhältnisse und deren Ursachen versuchte sie nicht zu ergründen.
Den strenggläubigen Mallorquinern bedeuteten diese gottlosen Franzosen die Inkarnation der Sünde; man glaubte sich also Gott wohlgefällig, wenn man dem Teufel heimzahlte, und fühlte sich vielfach gerechtfertigt: das Paar war nicht verheiratet und machte die Kinder zu täglichen Zeugen eines Konkubinats. Keiner der vier ließ sich je in der Messe blicken. Der Mann hatte eine Krankheit, die man fürchtete wie die Pest; die Kinder wurden der Ansteckung unbekümmert ausgesetzt. Mutter und Tochter liefen in Hosen herum, anstatt sich geziemend zu kleiden. Kein Wunder also, daß man die absonderlichen Feriengäste als Pfahl im Fleische empfand, daß man vor dem geistesabwesenden und unnahbaren Señor tief den Hut zog, daß man die Señora als Hexe verschrie, die Kinder machen ließ und die ›Gruppe‹ nur duldete, weil sie gutes Geld unter arme Leute brachte. Aus dieser Frontenstellung heraus muß man den Bericht verstehen. Eine Annäherung zweier so konträrer Geisteshaltungen war unmöglich, weil die Frequenzen nicht aufeinander abstimmbar waren; um so fruchtbarer war die Begegnung mit dem Objekt. George Sands Augen waren von einer seltenen Aufnahmefähigkeit für alles Schöne, das sich ihnen darbot; es entflammte ihr Herz und konnte ihrer Feder wahre Dithyramben eingeben. Es war eine souveräne Beziehung, ein ungetrübter Blick, den kein menschlicher Einfluß störte.
Infolgedessen liegt der Hauptwert ihres autobiographischen Berichts in der Schilderung des Eigenlebens der Familie und in der Skizzierung der mallorquinischen Landscha, der auch der enthusiastischste Werbetext einer modernen Touristik nichts auch nur annähernd Gleichwertiges entgegenzusetzen vermag. Ihre Beschreibungen sind heute so gültig wie damals. Was sie von der Bevölkerung sagt, muß unter den komplexen Vorzeichen der Zeit und der befremdlichen Umstände verstanden werden. Jeder heutige Besucher der Insel wird erfahren, daß er nicht ausgebeutet wird, sondern daß man auf ihn und seine Wünsche vorbehaltslos eingeht, auch wenn Mann und Frau keine Eheringe tragen. Man lebt ja davon. Der Druck, unter dem man fortwährend stand, und vor allem die Verschlechterung in Chopins Zustand erklärt das fast fluchtartige Verlassen der Insel nach einem Aufenthalt von nahezu hundert Tagen. In erster Linie hatte er den Kindern, vor allem dem erholungsbedürigen Maurice wohlgetan; sie hatten die Zeit ihres Lebens im ungebundenen Umhertollen zwischen Berg und Meer gehabt. Am . Februar bestieg man den Dampfer zur Rückfahrt nach Barcelona, um nach längerer Rast in Marseille schließlich Ende Mai wieder daheim zu landen. George Sand, die in gewohnter Weise auch auf Mallorca die Nächte an Romanen durchschrie
ben hatte, verfiel erst lange nach der Rückkehr auf den Gedanken, über die Reise zu berichten. Einmal gefaßt, bestand der Vorsatz ausschließlich darin, ihre Landsleute mit der unbekannten Insel und ihren Besonderheiten, Reizen und Schrecken vertraut zu machen. Wie sie mehrfach betont, wollte sie eigene Erlebnisse beiseite lassen. Sie beschae sich das spärliche, damals verfügbare Material und machte sich an die Fleißarbeit des Exzerpierens. Das war gewiß verdienstvoll, weil sie ihren Zeitgenossen und einem sicheren Leserstamm weitgestreute und schwer auffindbare Informationen über Topographie und Geschichte der Insel, über ethnologische, linguistische und heraldische Dinge und über die politischen und religiösen Probleme einer Zeit der Wirren in Form von Zitaten zugänglich machte und mit Kommentaren aus eigener Beobachtung und o leidenschalicher Überzeugung versah. Diese strenge Linie einzuhalten gelang ihrer munteren Feder jedoch nicht; immer wieder glitt sie ins persönliche Erlebnis ab, so daß das Buch letzten Endes überwiegend aus dem Ferienbericht bestand. Was man darin vermißt: ein Bild Chopins, seines Wesens und seiner Kunst aus der Feder des einzigen Menschen, mit dem er je eine starke und dauernde Intimbeziehung erlebte. Dieser Mangel wird einigermaßen wettgemacht in der / veröffentlichten Autobiographie George Sands, die
unter dem Titel ›Histoire de ma vie‹ erschien. Da sie nach dem Tode Chopins geschrieben wurde, brauchte George Sand auf seine Empfindlichkeit keine Rücksicht mehr zu nehmen. Der Reisebericht wäre unvollständig ohne den Kommentar aus der Sicht des persönlichen Erlebens. Diese Passagen werden deshalb als Anhang abgedruckt. George Sand hat ihr Buch aus der Erinnerung und unter dem Einfluß von starken Gemütsbewegungen geschrieben. Ihr Ortssinn war schwach ausgebildet, um Akribie machte sich die Dichterin keinen Kummer. Mit der unrühmlichen Ausnahme von ›Lelia‹, dem Roman, aus dem sie in revidierter Fassung ein schlechteres Buch machte, änderte sie ihre Texte nie wesentlich, nahm sie kaum ein Wort zurück, auch wenn sie später schwere Irrtümer erkennen mußte. Man kann ihr auch hier eine ganze Reihe nachweisen, obwohl ein solches Unterfangen wenig Sinn hätte. Man muß George Sand nehmen, wie sie ist, und hätte geringen Gewinn, wenn man sie überführte, daß eine Richtungsangabe nicht stimmt, daß die Beschreibung der Lokalitäten im Kloster Valldemosa höchst ungenau ist, daß es Weintrauben von Pfund und Amaryllis unmöglich gegeben haben kann oder daß nicht die kochende Volksseele sondern ein amtlich beauragter Bauunternehmer für den Abbruch des Dominikanerklosters verantwortlich war. Diese Unrichtigkeiten entspringen gutem Glauben. Sogar echte
Geschichtsklitterungen kann man ihr nachfühlend verzeihen. ›Un hiver à Majorque‹ wurde zuerst in drei Fortsetzungen ab Januar in der ›Revue des Deux Mondes‹ veröffentlicht, der literarischen Zeitschri, die heute noch Weltgeltung besitzt und vermutlich bewahrt haben wird, wenn sie auf ihr jähriges Bestehen zurückblickt. Die erste Buchausgabe folgte ; bis heute wurde der Originaltext immer wieder neu aufgelegt. Eine spanische Übersetzung existiert seit , mehrere englische Fassungen kamen in neuerer Zeit heraus. Unter ihnen ist vor allem die von Robert Graves, dem Urenkel Leopold von Rankes besorgte wegen ihrer Vollständigkeit und des inselkundigen Kommentars bemerkenswert. Eine Übertragung ins Deutsche fehlte bisher. Viele moderne Mallorcafahrer machen die Pilgerfahrt nach Valldemosa. Sie haben ein Anrecht auf den authentischen Bericht, auch wenn er hier uns einige langatmige Zitate aus Werken anderer Autoren gekürzt wurde. Um einen Eindruck von der belebten Szenerie zu geben, vor der die Handlung abrollt, wurde diese Ausgabe mit zeitgenössischen Illustrationen ausgestattet.
J. B. Laurens Erinnerungen einer Kunstreise nach Mallorca Lithographien
, während der Monate September und Oktober, unternahm Joseph-Bonaventure Laurens ( bis ) eine Reise nach Mallorca. Er war der erste KünstlerTourist, dem wir einen authentischen Bericht über die Balearen-Insel verdanken. Seine Eindrücke sind in dem Buch festgehalten ›Erinnerungen einer Kunstreise nach Mallorca‹, das mit Lithographien in Paris bei Arthus Bertrand und Gihaut frères erschien. Diesem Band sind die folgenden Abbildungen entnommen, die hier etwas verkleinert wiedergegeben werden.
Renaissance-Haus aus dem . Jahrhundert
Haus des Konsistoriums in Palma
Straße in Palma
Blick von der Innengalerie des Schlosses Bellver
Schloß Bellver, die ehemalige Residenz der Könige von Mallorca
Hafen von Palma
Marktplatz Saint-Antonio (Palma)
Bauerntrachten, Hirt und Priester
Trachten aus Katalonien
Das Kastell Soller
Innenhof eines Hauses (. / . Jahrhundert)
Olivenbäume
Friedhof von Valldemosa
Die Kartause von Valldemosa von Süden
Der Aufstieg zur Kartause
Erster Teil
I Im Jahre entdeckten zwei englische Touristen das Tal von Chamonix; so jedenfalls bezeugt es eine Inschri, die am Zugang zum Gletscher Mer de glace in einen Felsblock eingemeißelt ist. Bei der geographischen Lage des Tals ist dieser Anspruch ganz einfach anmaßend; und dennoch ist er in gewissem Sinne berechtigt, denn diese Touristen waren die ersten, die Malern und Dichtern den Weg zu den romantischen Gefilden wiesen, wo Byron sein dramatisches Gedicht Manfred erträumte. Für die elegante Welt und für Künstler wurde die Schweiz eigentlich erst im vorigen Jahrhundert Mode. Jean-Jacques Rousseau ist der wahre Entdecker der Alpenpoesie und, wie Chateaubriand erkannte, der Vater der französischen Romantik. Ich habe nicht ganz die gleichen Anrechte auf Unsterblichkeit wie Jean-Jacques, und wenn ich auch einen Anteil abbekommen wollte, hätte ich mich vielleicht nach Art der beiden Engländer des Tals von Chamonix auszeichnen und die Entdeckung der Insel Mallorca für mich beanspruchen können. Nun sind aber die Anforderungen inzwischen so hochgeschraubt worden, daß sie heutzutage nicht
erfüllt wären, wenn ich meinen Namen in irgendeinen balearischen Felsbrocken hätte einmeißeln lassen. Man würde von mir eine recht exakte Beschreibung verlangen oder doch zumindest einen poetischen Reisebericht, durch den die Touristen Lust auf eine Mallorcareise bekommen. Da ich aber während meines Aufenthalts keineswegs begeistert von der Insel war, habe ich auf Entdeckerruhm verzichtet und die Tat weder auf Granit noch auf Papier verewigt. Hätte ich unter dem Druck von Gram und Ärger geschrieben, wie ich sie damals empfand, wäre es mir unmöglich gewesen, mich mit dieser Entdekkung zu brüsten; ein jeder hätte mich nach der Lektüre gefragt: na, was ist da schon dran? Heute allerdings kann ich sagen: es ist etwas dran, denn Mallorca ist für den Maler eines der schönsten Fleckchen auf dieser Erde und eines der am wenigsten bekannten. Doch wo es nur bildhae Schönheit zu schildern gibt, versagt die Feder, so daß ich nicht einmal versucht habe, sie in Worte zu fassen. Nur Zeichensti oder Stichel können uns die Herrlichkeit und Anmut der Natur offenbaren. Wenn ich also heute meine Erinnerungen aus ihrem Schlaf rüttele, so tue ich dies, weil ich kürzlich ein hübsches Buch auf meinem Schreibtisch fand: Souvenirs d’un voyage d’art à l’île de Majorque (Erinnerungen an eine Kunstreise nach Mallorca) von J. B. Laurens.
Es hat mir wirkliche Freude gemacht, Mallorca mit seinen Palmen und Agaven, seiner arabischen Bauweise und seinen griechischen Trachten wieder zu begegnen. Ich sah alle Szenen in ihrem berückenden Kolorit, und die damaligen Eindrücke, die ich längst verblichen geglaubt hatte, wurden wieder lebendig. Keine Hütte, kein Gebüsch, das in mir nicht eine Welt von Erinnerungen geweckt hätte; und das gab mir Kra, wenn auch nicht von meinen eigenen Erlebnissen, so doch wenigstens über die Reise des Herrn Laurens zu berichten. Diesem klugen, emsigen und gewissenhaen Künstler gebührt fraglos die Ehre der Entdeckung der Insel, die ich beinahe mir selbst angemaßt hätte. Die Reise des Herrn Laurens in die Weite des Mittelmeers, zu Gestaden, wo das Meer zuweilen ebenso unwirtlich ist wie seine Bewohner, hat sehr viel mehr Verdienst als der Spaziergang unserer beiden Engländer zum Montenvers. Auf alle Fälle würde Mallorca der Schweiz schweren Abbruch tun, sobald die europäische Zivilisation einmal soweit gediehen ist, daß Zöllner und Gendarmen, diese Verkörperungen des Mißtrauens und des Fremdenhasses, abgescha und direkte Schiffsverbindungen zwischen Frankreich und der Insel eingerichtet sind. Die Reise würde dann kaum länger dauern, und man fände dort ebenfalls Szenerien von saner Anmut bis zu seltsamer Erhabenheit, die dem Maler neue Motive lieferten.
Unter den heutigen Umständen kann ich diese Reise guten Gewissens nur körperlich robusten und geistig beschwingten Künstlern empfehlen. Aber die Zeit wird bestimmt kommen, wo ein zarter Schöngeist und sogar elegante Damen ebenso mühelos und bequem nach Palma fahren können wie nach Genf. Herr Laurens sollte jedenfalls finden, was er auf der Insel gesucht hatte. Alle seine Erwartungen wurden erfüllt, denn, wie gesagt, Mallorca ist des Malers Dorado. Alles ist pittoresk, vom bescheidensten Bauernhaus im traditionellen maurischen Stil bis zum Kind, ›das zerlumpt in seinem naiven Schmutz triumphiert‹, wie Heinrich Heine von den Kräuterweibern des Marktes von Verona sagt. Die Landscha, reicher an Vegetation als die afrikanische Küste, besitzt ebensoviel Weite und Ruhe. Es ist eine grüne Schweiz unter kalabrischem Himmel mit dem feierlichen Ernst des Orients. Im Schweizer Landschasbild verursachen die Bäche, die überall rinnen, und die Wolken, die ständig ziehen, einen unablässigen Wechsel der Farbtöne und damit eine Unstetigkeit, welche wiederzugeben der Malkunst nicht immer gelingt. Die Natur scheint sich über den Maler lustig zu machen. Auf Mallorca hingegen scheint sie ihn zu erwarten und aufzufordern. Die Vegetation nimmt großartige und bizarre Formen an, entfaltet jedoch nicht jenen Überschwang, unter dem in der Schweiz die
großen Linien o verschwimmen. Der felsige Gipfel steht in harten Umrissen gegen den leuchtenden Himmel, die Palme neigt sich über den Abgrund, ohne sich die majestätische Mähne von der Brise zerzausen zu lassen, und alles bis zum verkümmerten Kaktus am Wegesrand scheint sich eitel in Positur zu werfen. Zunächst möchte ich eine kurze Beschreibung der größten Baleareninsel geben, und zwar in der für Handbücher gebräuchlichen nüchternen Form. Das ist gar nicht so einfach, wie man annimmt, insbesondere wenn man sich an Ort und Stelle durch eigene Anschauung unterrichten will. Die Vorsicht des Spaniers und das Mißtrauen des Insulaners werden dort so weit getrieben, daß der Fremde nicht einmal die harmloseste Frage an einen beliebigen Einwohner stellen kann, ohne für einen Spitzel gehalten zu werden. Der gute Laurens hatte die Ruinen eines Kastells zu skizzieren gewagt, dessen malerische Lage ihm gefiel; er wurde verhaet und beschuldigt, einen Plan der Festung angelegt zu haben. Durch Fürsprache des französischen Konsuls wurde er zwar nach einigen Stunden wieder auf freien Fuß gesetzt, begnügte sich aber fortan mit der Erkundung von Gebirgspfaden unter Verzicht auf Ausküne durch Ruinenquader; er war nicht gewillt, sein Skizzenbuch in einem mallorquinischen Gefängnis abzuschließen. Jedenfalls wäre ich nach vier Monaten in Mallorca nicht
weitergediehen als er, wenn ich nicht gleich ihm aus den spärlichen Quellen der Überlieferung geschöp hatte. Aber dabei wurde ich bald wieder schwankend, denn diese Werke sind nicht nur veraltet, sondern widersprechen sich nach altem Brauch der Reiseschristeller; einer macht den anderen schlecht und behauptet das Gegenteil. Ich mußte also einige Ungenauigkeiten richtigstellen auf die Gefahr hin, zahlreiche neue Fehler zu begehen. Getreu meiner Rolle als Reiseschristeller beginne ich jedenfalls mit der Erklärung, daß mein Bericht unbestreitbar alle früheren weit in den Schatten stellt.
II Mallorca hieß bei den Römern Balearis Major und soll vor ihrer Zeit mit Clumba oder Columba bezeichnet worden sein. Der heutige Name leitet sich von dem lateinischen Adjektiv her, galt aber niemals für die Hauptstadt der Insel, wie von einigen Geographen behauptet wird; sie hieß stets Palma. Die Balearen sind Überbleibsel eines Festlandstrakts, in den das Mittelmeer eingebrochen ist. Da sie einst sowohl mit Spanien als auch mit Afrika verbunden waren, haben sie Klima und Vegetation von beiden. Mallorca ist die größte und fruchtbarste Insel der Gruppe. Sie liegt Seemeilen ( m) südwestlich von Barcelona, Seemeilen vom nächsten Punkt der afrikanischen Küste und, wie ich glaube, bis Seemeilen von der Reede von Toulon. Die Fläche beträgt Quadratmeilen ( Meile = m), der Umfang , die größte Ausdehnung , die kleinste Meilen. Die Bevölkerungsziffer von im Jahre ist bis heute auf etwa gestiegen. Palma hat jetzt gegenüber damals Einwohner. Die Temperaturen schwanken recht beträchtlich je nach Standort. In den Niederungen ist der Sommer
brennend heiß, doch hat die Bergkette, die sich von Nordost nach Südwest erstreckt, großen Einfluß auf die Wintertemperaturen. So wird berichtet, daß das ermometer während des schrecklichen Winters von am Hafen von Palma ein einziges Mal im Januar auf Grad Réaumur über dem Nullpunkt fiel; an anderen Tagen stieg es auf Grad, hielt sich aber meist um Grad. Jedenfalls war es ungefähr diese Temperatur, die wir während eines normalen Winters in den Bergen von Valldemosa hatten, ein Landstrich, der als einer der kühlsten der Insel gilt. In den kältesten Nächten mit cm Schnee hatten wir immer noch bis Grad Wärme. Um Uhr morgens erwärmte es sich auf bis , mittags auf bis Grad. Gegen drei Uhr, nachdem die Sonne für uns hinter der Bergkette untergegangen war, sank das ermometer meist ganz plötzlich auf oder sogar Grad. Der Nordwind bläst dort o mit Macht, und die Winterregen fallen mit Heigkeit und Ausdauer; wir in Frankreich können uns davon keine Vorstellung machen. Im allgemeinen ist das Klima gesund und üppig im Südteil, der Afrika zugekehrt ist und den das zentrale Hügelland sowie der hohe Wall des mächtigen Bergzuges vor der Wut nördlicher Winde schützt. Ihrer Gestalt nach ist die Insel also eine schiefene Ebene, die sich von Nordwest nach Südost neigt; Schiffahrt im Norden ist
wegen der Zerrissenheit der Steilküste und deren gefährlichen Klippen so gut wie unmöglich, jedoch leicht und sicher im Süden. Mit Fug und Recht wurde Mallorca von den alten Römern die goldene Insel genannt, denn sie ist äußerst fruchtbar, und die Landesprodukte sind von hervorragender Qualität. Der Weizen ist so rein und fein, daß er ausgeführt wird; so verwendet man in Barcelona ausschließlich diese Sorte zur Herstellung des weißen, duigen Gebäcks, das man pan de Mallorca oder ensaimada nennt. Die Mallorquiner beschaffen sich für ihre Ernährung aus den kantabrischen Provinzen gröberes und billigeres Getreide. So ißt man in einem Lande, das so reich an gutem Weizen ist, ein widerliches Brot. Ich weiß nicht, ob dieser Tausch sehr vorteilha ist. In Mittelfrankreich, wo unsere Landwirtscha am rückständigsten ist, beweist die Arbeitsweise des Bauern nichts weiter als seine Unwissenheit und seinen Dickschädel. In Mallorca ist es noch schlimmer; man arbeitet zwar sehr emsig, aber die Landwirtscha steckt noch in den Kinderschuhen. Nirgends sonst habe ich beobachtet, daß der Boden mit so viel Geduld und doch so wenig gründlich bearbeitet wurde. Selbst die einfachsten Maschinen sind unbekannt; Menschenarme, recht mager und schwach im Vergleich zu unseren, tun alles,
aber mit unglaublicher Langsamkeit. Man braucht einen halben Tag, um weniger Erde umzugraben als bei uns in zwei Stunden; fünf oder sechs der stärksten Männer müssen ran, um eine Last von der Stelle zu bringen, die der schmächtigste unserer Träger fröhlich auf seinen Schultern wegschleppt. Trotz dieser Lässigkeit ist der gesamte Boden auf Mallorca bebaut, und allem Anschein nach wohlbebaut. Wie man sagt, hat die Bevölkerung niemals Not kennengelernt; aber gesegnet mit allen Schätzen der Natur und dem schönsten blauen Himmel, ist ihr Leben viel primitiver und freudloser als das unserer Bauern. Reisende pflegen über das glückselige Leben der Südländer viele schöne Worte zu machen. Sie sehen ihre Gesichter und malerischen Trachten am strahlenden Sonntag und halten die Ideenarmut und den Mangel an Voraussicht für den Inbegriff des heiteren Landlebens. Das ist ein Irrtum, dem auch ich verfallen war, von dem ich aber geheilt bin, vor allem seitdem ich Mallorca gesehen habe. Es gibt nichts Erbärmlicheres und Elenderes auf der Welt als diesen Bauern, der nur beten, singen und arbeiten kann und niemals denkt. Sein Gebet ist eine leere Formel ohne Sinn für seinen Verstand; seine Arbeit ist eine Muskeltätigkeit, zu deren Erleichterung ihm sein Kopf beim besten Willen nicht verhelfen kann; und sein Gesang ist der Ausdruck jener düsteren Melancholie, die ihn unversehens
überkommt und deren Poesie uns beeindruckt, ihm selbst aber nie bewußt wird. Erweckte ihn nicht die Eitelkeit von Zeit zu Zeit aus seiner Erstarrung, um ihn zum Tanz zu treiben, würde er die Festtage verschlafen. In allen mir zugänglichen Handbüchern fand ich folgende kurze Angabe, die ich zwar bestätige, auf die ich jedoch später einschränkend zurückkommen werde: »Diese Inselbewohner sind sehr freundlich (bekanntlich sind auf allen Inseln die Menschen entweder Kannibalen oder sehr freundlich). Sie sind von saner Gemütsart und gastfrei. Verbrechen sind selten, und Diebstahl ist so gut wie unbekannt.« Hierauf komme ich später zurück, denn fast hätte ich die strenge Regel außer Acht gelassen, wonach ein geographischer Artikel zunächst die wirtschalichen Verhältnisse abhandeln muß; erst nach dem Vieh wird an letzter Stelle auf den Menschen eingegangen. Wie schon gesagt, der Boden Mallorcas ist erstaunlich fruchtbar. Bestellte man ihn rationeller und systematischer, ließe sich der Ertrag verzehnfachen. Die wichtigsten Ausfuhrprodukte sind Mandeln, Orangen und ... Schweine. O ihr wunderschönen Hesperidenbäume, die ihr von ekligen Drachen bewacht seid: es ist nicht meine Schuld,
daß ich euch in meiner Erinnerung mit diesem gemeinen Borstenvieh koppeln muß, auf das der Mallorquiner versessener und stolzer ist als auf eure duenden Blüten und goldenen Äpfel! Ich komme also auf meine Schweine zurück. Diese Tiere sind die schönsten von der Welt. Ein spanischer Autor des . Jahrhunderts zollt in schlichter Einfalt einem jungen Schwein Bewunderung, das im unschuldigen Alter von 1⁄2 Jahren Arrobas, d. h. etwa Pfund wog. Damals genoß die Aufzucht von Schweinen in Mallorca nicht den gleichen Glanz, in dem sie jetzt erstrahlt. Der Tierhandel war durch die Raffgier der Konzessionäre beeinträchtigt, denen die spanische Regierung Lieferungsgenehmigungen erteilte oder besser verkaue. Kra ihrer unumschränkten Vollmacht unterbanden diese Unternehmer allen Export von Rind, während sie sich das Recht auf unbegrenzten Import vorbehielten. Dieses habsüchtige Verhalten hatte zur Folge, daß die Landwirte die Lust an der Rinderzucht verloren. Nachdem das Fleisch nur mit Verlust verkäuflich und die Ausfuhr untersagt war, blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich zu ruinieren oder die Rinderzucht vollständig aufzugeben; damit starb das Rind bald aus. Der gleiche Autor trauert der Zeit der arabischen Besetzung der Insel nach, als allein das Bergland von Artá mehr trächtige Kühe und edle Stiere zählte, als man heutzutage in der
gesamten mallorquinischen Ebene zusammentreiben könnte. Die Mißwirtscha auf diesem Gebiet war nicht die einzige, die den natürlichen Reichtum des Landes schwinden ließ. Die gleiche Quelle berichtet, daß die Berge und insbesondere diejenigen von Torella und Galatzo mit den herrlichsten Bäumen der Welt bestanden waren. Ein Olivenbaum hatte einen Umfang von Fuß und einen Durchmesser von , aber diese prächtigen Holzbestände wurden von den Schiffszimmerleuten geplündert, die daraus anläßlich der spanischen Algerienexpedition eine ganze Flottille von Kanonenbooten bauten. Die Schikanen, denen die Eigentümer dieser Gehölze damals ausgesetzt wurden, und die schäbige Entschädigung, die man ihnen zubilligte, veranlaßten die Mallorquiner, eher ab- als aufzuforsten. Heutzutage ist die Vegetation noch so reichlich und so schön, daß der Besucher nicht veranlaßt wird, sich nach Vergangenem zu sehnen; aber jetzt wie damals ist die obrigkeitliche Willkür auf Mallorca wie auch in Spanien überhaupt noch immer der ausschlaggebende Machtfaktor. Indessen hört der Reisende niemals Klagen, denn zu Beginn eines ungerechten Regimes hält der Schwache aus Furcht das Maul und schweigt aus Gewohnheit weiter, wenn das Unheil angerichtet ist. Obwohl das Diktat der Konzessionäre aufgehört
hat, konnte sich die Rinderzucht von ihrem Tiefstand nicht erholen und wird es auch nicht, so lange die Ausfuhrgenehmigung auf den Schweinehandel beschränkt bleibt. Man sieht sehr wenig Kühe und Ochsen in der Ebene und gar keine im Bergland. Ihr Fleisch ist mager und zäh. Die Schafe sind zwar von guter Rasse, aber schlecht genährt und vernachlässigt. Die Ziegen sind afrikanischer Herkun und liefern kaum den zehnten Teil der Milch, die unsere heimischen Ziegen geben. Dem Boden mangelt es an Düngung, und trotz allen Lobes, welches die Mallorquiner ihren Bebauungsmethoden spenden, glaube ich, daß der Seetang, den sie verwenden, ein sehr düriger Dünger ist und daß die Erträge des Landes weit unter dem liegen, was bei einem so üppigen Klima erzielbar wäre. Ich habe mir den Weizen genau betrachtet, den die Einwohner für so kostbar ansehen, daß sie sich dessen Verbrauchs nicht für würdig halten: es ist der gleiche wie der in Mittelfrankreich angebaute, den unsere Bauern weißen oder spanischen Weizen nennen. Bei uns ist er trotz des anderen Klimas ebenso fein. Dabei sollte das mallorquinische Erzeugnis dem beträchtlich überlegen sein, welches wir unseren so harten Wintern und wechselhaen Frühjahren abtrotzen. Zugegeben, daß auch unsere Landwirtscha sehr rückständig ist und daß wir in dieser Beziehung noch viel zu lernen haben, aber der französische Bauer besitzt eine Zielstrebigkeit
und Energie, auf die der Mallorquiner wie auf eine Geistesstörung hinabblicken würde. Feigen, Oliven, Mandeln und Orangen wachsen auf Mallorca im Überfluß, doch hat der Handel damit wegen der dürigen Wegeverhältnisse im Innern der Insel längst nicht die mögliche Ausdehnung und Betriebsamkeit. Orangen kosten beim Erzeuger ungefähr Francs; um aber diese umfängliche Last auf Maultierrücken vom Innern an die Küste zu befördern, muß man fast den gleichen Betrag rechnen, den der Warenwert ausmacht. In Anbetracht dessen vernachlässigt man den Orangenanbau im Innern der Insel. Nur im Tal von Soller und an den Buchten, wo unsere kleinen Fruchtschiffe laden können, gibt es zahlreiche Orangenbäume. Sie würden jedoch überall gedeihen. So hatten wir in unserem Bergland von Valldemosa, einer der kühlsten Gegenden der Insel, Zitronen und herrliche Orangen, obgleich sie später reien als die von Soller. In La Granja, ebenfalls in bergigem Gelände, haben wir kopfgroße Limonen gepflückt. Mir scheint, als könnte Mallorca allein ganz Frankreich mit seinen köstlichen Früchten zum gleichen Preis versorgen, den wir für die gräßlichen Orangen aus Hyères und von der genuesischen Küste anlegen müssen. Dieser Erwerbszweig, mit dem sich die Mallorquiner so brüsten, wird wie alles andere durch stolze Lässigkeit niedergehalten.
Das gleiche gilt für den reichen Ertrag der Olivenbäume, die sicher die schönsten auf der Welt sind und die von den Mallorquinern dank der maurischen Überlieferung mit großer Kennerscha kultiviert werden. Leider können sie aus den Oliven nur ein ranziges Öl gewinnen, von dem uns übel wird; es stinkt derart, daß jedes Haus, jeder Mensch, jedes Fahrzeug auf der Insel, ja sogar die Lu auf den Feldern von dem Gestank durchtränkt ist. Da alle Gerichte mit diesem Öl zubereitet werden, steigen seine Dünste täglich zwei- oder dreimal von jedem Herd auf und setzen sich im Mauerwerk fest. Wenn man sich in freiem Gelände verläu, braucht man nur zu schnuppern; trägt einem die Brise die Witterung von ranzigem Olivenöl zu, darf man gewiß sein, daß sich hinter diesem Felsen oder in jenem Kaktusgestrüpp eine menschliche Behausung befindet. Wird einem an der unwirtlichsten und einsamsten Stelle dieser Du zugetragen, braucht man bloß aufzuschauen; man wird in hundert Schritten Entfernung einen Mallorquiner auf seinem Esel sehen, wie er den Hügel herab auf einen zutrabt. Das ist kein Witz und keine Übertreibung, sondern die reine Wahrheit. Dieses widerliche Öl läßt sich in nennenswerten Mengen nur nach Spanien exportieren, wo man ebenfalls Geschmack daran findet. Spanien ist aber selbst überaus reich an Olivenbäumen; Öllieferungen aus Mallorca werden daher nur aufgenom
men, wenn sie zu sehr niedrigem Preis angeboten werden. Wir haben einen enormen Konsum von Olivenöl in Frankreich; was man aber bekommt, ist schlecht und unerhört teuer. Wendete man unsere Raffinierungsverfahren auf Mallorca an und hätte die Insel ein Straßennetz, bestünden schließlich regelmäßige Schiffsverbindungen, so würden wir über sehr viel billigeres Olivenöl verfügen, das zudem reiner und reichlicher wäre, selbst wenn der Winter hart war. Ich bin mir völlig bewußt, daß unsere Unternehmer, die den Ölbaum des Friedens in Frankreich anbauen, viel lieber wenige Tonnen der kostbaren Flüssigkeit zum Preis ihres Gewichtes in Gold verkaufen, um es letztlich über den Kolonialwarenhändler nach bedenkenloser Verpanschung mit Rüb- und Mohnsamenöl ›zum Einstandspreis‹ an den Mann zu bringen. Es wäre aber unfaßbar, daß man darauf beharrt, dieses Produkt unserem unfreundlichen Klima abzuringen, wenn wir es uns aus einer Entfernung von Stunden Überfahrt billiger und besser beschaffen können. Unsere französischen marktbeherrschenden Unternehmer brauchen jedoch nichts zu befürchten; selbst wenn wir den Mallorquinern – oder gar den Spaniern insgesamt – zusagten, uns bei ihnen einzudecken und ihren Wohlstand zu verzehnfachen, würden sie ihre Gewohnheiten auch nicht im geringsten ändern. Sie empfinden eine so tiefe Ver
achtung für alle Reformvorschläge aus dem Ausland und insbesondere aus Frankreich, daß es mir sehr fraglich erscheint, ob sie für Geld (was sie übrigens im allgemeinen durchaus nicht verachten) bereit wären, etwas an einem Verfahren zu ändern, das ihnen von ihren Vätern überkommen ist.
III Der Mallorquiner versteht sich also nicht auf die Rindermast, auf die Wollverarbeitung und auf das Melken von Kühen (Milch und Butter schätzt er nämlich ebenso wenig wie Industrie); er ist nicht fähig, genügend Weizen zu erzeugen, um sich davon zu ernähren; er kann sich kaum dazu aufraffen, Maulbeerbäume anzubauen und Seide zu gewinnen; die einst blühende Kunst der Tischlerei ist ihm abhanden gekommen und völlig in Vergessenheit geraten; er besitzt keine Pferde, denn das spanische Mutterland requiriert alle Fohlen für das Heer, und der friedliche Mallorquiner ist nicht so dumm, für die Ausrüstung der königlichen Kavallerie zu arbeiten. Da er es nicht für notwendig hält, eine einzige Straße, auch nur einen einzigen brauchbaren Weg auf der Insel zu unterhalten, da die Ausfuhrrechte der Willkür einer Regierung anheimgegeben sind, die keine Zeit hat, sich mit solchen Lappalien zu befassen, blieb dem Mallorquiner nichts anderes übrig, als zu vegetieren, als seinen Rosenkranz abzuleiern und seine Hosen zu flicken, die in einem traurigeren Zustand sind als die von Don Quijote, seinem Vorbild in Armseligkeit und Stolz.
Schließlich aber kam das Schwein als Retter. Der Export des Borstenviehs wurde gestattet, und eine neue Ära, die Zeit des Wohlstandes brach an. In Mallorca wird die Nachwelt unser Jahrhundert das Zeitalter des Schweins nennen, ähnlich wie die Moslems in ihrer Geschichte mit einem Zeitalter des Elefanten rechnen. Heutzutage liegen Oliven und Johannisbrot nicht wie früher unter den Bäumen herum, die Kaktusfeige dient den Kindern nicht mehr als Spielzeug, und die Hausmütter haben gelernt, mit Saubohnen und Kartoffeln sparsam umzugehen. Das Schwein erlaubt keine Vergeudung und läßt nichts umkommen. Es ist das beste Beispiel herzhaer Gefräßigkeit bei bescheidenen Ansprüchen an Kost und Logis, das man den Massen vorhalten kann. Daher genießt es in Mallorca Vorrechte, die man früher nicht einmal menschlichen Wesen eingeräumt hätte. Man hat die Gehöe ausgebaut und besser belüet; Frucht, die am Boden verrottete, wurde aufgesammelt, verlesen und eingelagert, und eine Schiffsverbindung zwischen der Insel und dem Festland, die man vordem für überflüssig und abwegig gehalten hatte, wurde eingerichtet. Ich habe es also dem Schwein zu verdanken, daß ich die Insel Mallorca besuchen konnte. Wäre ich nämlich drei Jahre früher auf die Idee gekommen, hätte mich vermutlich die lange und gefährliche Reise auf einem Kutter den Plan aufgeben lassen.
Aber mit dem Schweineexport hat die Zivilisation hier Fuß gefaßt. Man kaue in England ein nettes kleines Dampfschiff, das zwar gegen den steifen Nordwind nicht ankommt, aber bei gutem Wetter einmal in der Woche zweihundert Schweine und beiläufig einige Passagiere nach Barcelona befördert. Auf unserer Rückfahrt von Palma nach Barcelona war es lustig zu sehen, mit welcher behutsamen Rücksicht diese Herren (ich spreche nicht von den Passagieren) an Bord behandelt und wie liebevoll sie an Land gesetzt wurden. Der Kapitän des Dampfers ist ein reizender Mensch, der durch das Zusammenleben mit diesen edlen Tieren ganz ihr Grunzen und Quieken und sogar etwas von ihrer Ungezwungenheit angenommen hat. Wenn sich ein Passagier über den Saulärm beklagt, antwortet der Kapitän, das sei der Klang von Goldstücken, die auf dem Zahlbrett klimpern. Wenn eine Frau so zimperlich ist, sich über den Gestank zu beschweren, den sie im Schiff verbreiten, hat ihr Mann die Antwort bereit, daß Geld nicht stinkt und daß es ohne Schweine für sie weder Hüte oder seidene Kleider aus Frankreich noch Mantillas aus Barcelona gäbe. Wenn jemand seekrank wird, braucht er gar nicht zu versuchen, einen Matrosen um Beistand zu bitten. Schweine werden nämlich auch seekrank, und diese Unpäßlichkeit ist bei ihnen von einer absonderlichen Teilnahmslosigkeit und
einem derartigen Lebensüberdruß begleitet, daß man um jeden Preis dagegen ankämpfen muß. Alles Mitleid und menschliche Gefühl über Bord werfend – denn es geht um die Existenz seiner liebsten Passagiere – stürzt sich der Kapitän höchstpersönlich mit einer Peitsche bewaffnet mitten unter sie. Hinter ihm drein stürmen Matrosen und Schiffsjungen; jeder grei sich, was ihm gerade in die Hände fällt, der eine eine Eisenstange, der andere ein Tauende, und unverzüglich bezieht die ganze Saubande, die reglos und stumm hingefläzt lag, eine väterliche Tracht Prügel. Die Tiere werden dadurch gezwungen aufzustehen, sich zu bewegen und durch die gewaltsame Ablenkung den unheilvollen Einfluß des Schlingerns zu bekämpfen. Bei unserer Abfahrt von Mallorca im Februar war es drückend heiß, doch wir konnten nicht an Deck. Selbst wenn wir riskiert hätten, daß uns ein übelgelauntes Schweinevieh die Beine abbeißt, wäre es uns vom Kapitän sicher nicht erlaubt worden, die Biester durch unsere Anwesenheit zu belästigen. Zunächst verhielten sie sich völlig ruhig, aber um Mitternacht fand der Steuermann, sie schliefen wie in dumpfe Schwermut versunken. Also wurde ihnen die Peitsche verabfolgt, und wir wurden regelmäßig alle Viertelstunde von einem derart fürchterlichen Zetern und Quieken aufgeweckt – Schmerz- und Wutgeschrei der Gepeinigten einerseits und Anfeuerungsrufe des Kapitäns begleitet
von Flüchen der wetteifernden Peiniger andererseits –, daß wir manchmal dachten, die Schweine fräßen die Mannscha auf. Als das Schiff in Barcelona vor Anker gegangen war, verlangte uns natürlich nach raschem Abschied von der sonderbaren Gesellscha, und ich muß gestehen, daß mir die menschliche fast so unerträglich geworden war wie die der Tiere. Aber wir duren nicht an die Lu, ehe die Schweine ausgeschi waren. Wir hätten ruhig in unseren Kabinen ersticken dürfen, ohne daß sich jemand um uns gekümmert hätte, solange auch nur noch ein Schwein vom rollenden Schiff an Land zu bringen war. Mir macht die Seefahrt nichts aus, aber ein Mitglied meiner Familie war schwer krank. Die Überfahrt, der Gestank und Mangel an Schlaf hatten seine Leiden nicht gemildert. Die einzige Aufmerksamkeit, die uns der Kapitän erwies, war uns zu bitten, den Kranken nicht in die beste Koje der Kabine zu legen, denn nach spanischen Begriffen ist jede Krankheit ansteckend; und da sich unser Kapitän bereits vorgenommen hatte, die infizierte Koje zu verbrennen, sollte es die schlechteste sein. Zwei Wochen danach, auf unserer Heimreise nach Frankreich mit Le Phénicien, einem herrlichen Dampfschiff unserer Nationalität, konnten wir die Zuvorkommenheit des Franzosen mit der Gastlichkeit des Spaniers vergleichen. Der Kapitän von El Mallorquin hätte einem Todeskandidaten das
Lager nicht gegönnt; der Kapitän aus Marseille fand ihn nicht gut genug gebettet und gab ihm die Matratzen seiner eigenen Koje ... Und als ich unsere Passage bezahlen wollte, meinte der Franzose, ich gäbe ihm zuviel; der Mallorquiner hätte mich doppelt zahlen lassen. Daraus schließe ich nicht etwa, daß der Mensch an einer Stelle unserer Weltkugel aus Erde und Wasser immer nur gut und an einer anderen immer nur schlecht sei. Moralische Mängel sind beim Menschen nur die Auswirkung materieller Mängel. Not erzeugt Angst, Mißtrauen, Betrug, jegliche Art von Kampf. Der Spanier ist unwissend und abergläubisch; infolgedessen glaubt er an Ansteckung, fürchtet Krankheit und Tod, ist weder aufrichtig noch barmherzig. Er ist arm, steht unter schwerer Steuerlast; das macht ihn geizig, selbstsüchtig und unehrlich im Verkehr mit Fremden. Aus der Geschichte wissen wir, daß er Größe bewiesen hat, wenn ihm Gelegenheit dazu gegeben war. Aber er ist ein Mensch, und im Privatleben erliegt der Mensch, wo er erliegen muß. Ich muß diesen Grundsatz aufstellen, ehe ich von den Menschen spreche, wie ich sie in Mallorca gefunden habe, denn ich hoffe, man erspart es mir, mich noch weiter über Schweine auszulassen. Schon die Länge meiner Ausführungen gehört sich eigentlich nicht. Ich bitte diejenigen um Vergebung, die sich dadurch persönlich verletzt fühlen könn
ten, und ich mache mich nun ernstlich an meinen Bericht. Während ich anfangs meinte, weiter nichts tun zu müssen, als Herrn Laurens Schritten zu folgen, sehe ich jetzt, daß mir eine Menge entfallen ward, wenn ich in der Erinnerung wieder die rauhen Pfade Mallorcas abschreite.
IV Hatte ich mir auch fest vorgenommen, möglichst wenig von mir und den Meinen zu erzählen, so werde ich doch o ich und wir sagen müssen, wenn ich von meinen Eindrücken in Mallorca berichte. Ich und wir bezeichnen die zufällige Subjektivität, ohne die sich das objektive Mallorca unter gewissen, dem Leser wesentlichen Gesichtspunkten nicht erschließen würde. Ich bitte daher, meine Person als etwas vollkommen Passives zu betrachten, etwa wie ein Fernrohr, durch das man beobachten kann, was in jenen fernen Ländern vorgeht, von denen man gern sagt: Ich glaube lieber, als daß ich hinfahre und selbst nachschaue. Außerdem darf der Leser überzeugt sein, daß ich ihm keine Anteilnahme an den Mißgeschicken abverlange, die mich betrafen. Wenn ich sie hier nachzeichne, so verfolge ich damit gewissermaßen eine philosophische Absicht; und wenn ich meine Gedanken dazu ausgedrückt habe, wird man gerechterweise anerkennen, daß es mir nicht um mich geht. Ich will ohne Umschweife sagen, warum ich auf die Galere gegangen bin: Ich hatte einfach Reiselust. Und nun frage ich den Leser: Aus welchem Grunde unternehmen Sie eine Reise?
Ich höre ihn genauso antworten, wie ich es auch tun würde. »Ich reise, um zu reisen.« »Ich weiß sehr wohl, daß Reisen ein Vergnügen an sich ist; was aber veranlaßt Sie zu diesem kostspieligen, anstrengenden, o gefährlichen und immer von zahllosen Enttäuschungen getrübten Vergnügen?« »Das Bedürfnis zu reisen.« »Na schön, aber sagen Sie mir doch bitte, was das eigentlich für ein Bedürfnis ist, warum wir alle davon mehr oder weniger besessen sind, warum wir dem alle nachgeben, selbst wenn wir wieder und wieder erkannt haben, daß sich dieser Wahn hinter uns in den Sattel schwingt, um uns nicht loszulassen und uns keinerlei Befriedigung zu verschaffen.« Wenn Sie mir diese Frage nicht aufrichtig und unumwunden beantworten wollen, will ich es in aller Offenheit an Ihrer Stelle tun. Der Grund ist, daß wir uns heutzutage nirgends wirklich wohl fühlen und daß von allen Gesichtern, die das Ideal – oder wenn Ihnen das Wort nicht paßt, die Sehnsucht nach dem Besseren – aufsetzt, das Gesicht der Reise am reizendsten lächelt, dabei aber auch am trügerischsten. Im öffentlichen Leben geht alles schlecht; wer das bestreitet, empfindet es ebenso tief und mit noch größerer Bitterkeit als der Vertreter dieser Meinung. Trotzdem nähren wir unentwegt die göttliche Hoffnung; sie wirkt in unseren Herzen und
haucht uns ständig die Sehnsucht nach dem Besseren ein, schickt uns auf die Suche nach dem Ideal. Unsere Gesellschasordnung gefällt nicht einmal denen, die für sie eintreten, befriedigt also keinen von uns; jeder tut, was ihm paßt. Der eine wir sich auf Kunst, der andere auf Wissenscha; die meisten betäuben sich, so gut sie können. Alle, die wir etwas Muße und Geld haben, reisen oder vielmehr wir fliehen, denn es handelt sich nicht so sehr ums Reisen als ums Wegkommen. Wer von uns hätte sich nicht von irgendeinem Kummer abzulenken oder ein Joch abzuschütteln? Ich behaupte, daß es niemand, der nicht voll von seiner Arbeit in Anspruch genommen oder durch Trägheit abgestump ist, lange am gleichen Ort aushalten kann, ohne zu leiden und sich einen Wechsel zu wünschen. Ein glücklicher Mensch – wozu man heute sehr überlegen oder sehr schlapp sein muß – bildet sich ein, er würde vom Reisen noch glücklicher; Liebespaare und Jungverheiratete fahren in die Schweiz oder nach Italien ebenso wie Müßiggänger und Schwermütige. Kurz, wer Lebenshunger oder Todesahnung verspürt, wird vom Fieber des ewigen Juden gepackt und macht sich auf den Weg, um sich rasch in der Ferne ein Liebesnest oder ein Sterbelager zu suchen. Ich möchte um Himmels willen nicht den Eindruck erwecken, ich hätte etwas gegen die Beweglichkeit der Menschen und wünschte mir, sie blieben red
lich im Lande, auf ihrem Acker, in ihrem Haus wie ein Polyp in seinem Schwamm! Wenn aber Verstand und Verhaltensweise mit der industriellen Entwicklung Schritt halten sollen, scheint es mir, als seien die Eisenbahnen nicht dazu bestimmt, von einem Punkt der Erde zum anderen Menschenmassen zu befördern, die vom Spleen gepackt sind oder von Platzangst verzehrt werden. Ich wünsche mir die Menschen glücklicher und infolgedessen gelassener und aufgeklärter. Sie würden zwei Leben führen, die einander ergänzen: ein statisch-seßhaes fürs Glück daheim, für die Bürgerpflichten, für die Besinnung beim Studium und für die philosophische Sammlung; und ein dynamisches für den ehrlichen Austausch anstelle der schamlosen Geschäemacherei, die wir Handel nennen, für das künstlerische Schaffen, für die wissenschaliche Forschung und vor allem für die Verbreitung der Kenntnisse. Ich meine daher, Sinn und Zweck des Reisens bestehe darin, das Kontaktbedürfnis zu befriedigen, indem man Verbindungen herstellt und Gedanken austauscht; ohne Pflichten kein Vergnügen. Hingegen scheinen die meisten heutzutage zu verreisen, weil sie das Geheimnis suchen, sich absondern wollen; vielleicht tun sie es auch wegen eines gewissen Mißtrauens, welches unsereins persönlichen Eindrücken entgegenbringt, seien sie nun angenehm oder unangenehm.
Was mich anbelangt, so habe ich mich auf den Weg gemacht, um ein Ruhebedürfnis zu stillen, das ich damals sehr stark empfand. Da es uns in dieser Welt, die wir uns gezimmert haben, an Zeit für alles mangelt, dachte ich, daß sich ein ruhiger, abgelegener Schlupfwinkel finden lassen müßte, wo ich keine Karten zu schreiben, keine Zeitungen zu lesen und keine Besuche zu empfangen brauchte; wo ich ständig mein Hauskleid tragen könnte, wo der Tag zwölf Stunden hätte, wo ich aller gesellschalichen Pflichten ledig wäre; wo ich mich freimachen könnte von der geistigen Unrast, die uns Franzosen so plagt, wo ich mich ein oder zwei Jahre etwas mit geschichtlichen Studien beschäftigen und gemeinsam mit meinen Kindern die Grundzüge der französischen Sprache erarbeiten könnte. Wer von uns hätte sich nicht dem egoistischen Traum hingegeben, eines schönen Tages seine Geschäe, seine Gewohnheiten, seine Bekanntschaften und sogar seine Freunde im Stich zu lassen und sich auf eine verwunschene Insel zu begeben, um dort ohne Sorgen und Scherereien, ohne Verpflichtungen und vor allem ohne Zeitungen zu leben? Man kann mit vollem Ernst sagen, daß die Presse, dieses erste und letzte aller Dinge, für den Menschen ein völlig neues Leben geschaffen hat, ein Leben des Fortschritts mit seinen Vorteilen und seinen Problemen. Diese Stimme weckt uns jeden
Morgen damit auf, daß sie uns sagt, wie die Menschheit am Vortage gelebt hat. Sie verkündet einmal große Wahrheiten, dann wieder erbärmliche Lügen, verzeichnet aber jeden Schritt des Menschen und läutet jede Stunde des Gemeinwesens. Ist das nicht etwas Großartiges trotz allen Schmutzes und Elends, von dem man auch erfährt? So notwendig die Presse für die Gesamtheit unseres Denkens und Handelns ist, so abstoßend ist es, den Hader der Parteien im einzelnen zu verfolgen und zu beobachten, wie Wochen und Monate mit Beleidigungen und Drohungen vertan werden, ohne daß eine einzige Frage geklärt oder ein merklicher Fortschritt verzeichnet wäre. Und dieses Warten kommt uns um so länger vor, je eingehender man uns über alle Phasen der Debatte berichtet. Möchten wir Künstler, die wir nichts am Ruder zu schaffen haben, uns nicht am liebsten im Bauch des Schiffes schlafen legen und erst nach Jahren angesichts der neuen Welt aufwachen, in die man uns verbracht hat? Ja wirklich, wenn man sich vom kollektiven Leben ausschließen, wenn man eine Zeitlang jeglicher Berührung mit der Politik entgehen könnte, wäre man bei Rückkehr aus der Abgeschiedenheit erstaunt über die Veränderungen, die sich außerhalb unseres Blickfeldes vollzogen haben. Aber das ist uns nicht gegeben; und wenn wir den Ort der Handlung fliehen, um bei einem Volk Vergessen
und Ruhe zu suchen, dessen Tempo gemächlicher und dessen Geist weniger hitzig ist als der unsere, machen wir bittere Erfahrungen, die sich nicht voraussehen ließen, und bereuen es, das Heute für das Gestern, die Lebendigen für die Toten aufgegeben zu haben. Das ist kurz umrissen das ema meines Buches und der Grund, warum ich die mir gar nicht so angenehme Mühe auf mich nehme, es zu schreiben. Anfangs hatte ich mir zwar vorgenommen, meine eigenen Empfindungen möglichst zurückzudrängen, doch kommt mir dieses Ausweichen jetzt als Feigheit vor, und ich nehme mein Wort zurück.
V An einem der ersten Novembertage des Jahres kamen wir in Palma an; es war so warm wie bei uns im Juni. Bei der Abreise aus Paris vor vierzehn Tagen war es ungewöhnlich kalt gewiesen; wir hatten also den ersten Hauch des Winters verspürt und waren froh, den Feind hinter uns zu lassen. Hinzu kam das Vergnügen, eine Stadt von besonderem Charakter und mit einer Reihe von Sehenswürdigkeiten von ungewöhnlicher Schönheit oder Eigenart zu durchstreifen. Aber die Schwierigkeit, eine geeignete Unterkun zu finden, machte uns bald Kummer, und wir erkannten, daß die Spanier, die uns Mallorca als gastfreundlich und mit allem Nötigen versehen gepriesen hatten, nicht nur sich, sondern auch uns getäuscht hatten. Bei der Nachbarscha der großen europäischen Zivilisationen hätten wir nicht erwartet, daß es auch nicht einen Gasthof gab. Dieses Fehlen einer Unterbringungsmöglichkeit für Reisende hätte uns schon ahnen lassen müssen, was Mallorca im Vergleich zur übrigen Welt darstellt; es hätte uns veranlassen sollen, unverzüglich nach Barcelona umzukehren, wo es doch wenigstens eine elende Herberge gibt, die sich
großspurig Hotel des Quatre-Nations nennt. In Palma muß man zwanzig der einflußreichsten Persönlichkeiten empfehlend angekündigt sein; nur wenn man seit Monaten erwartet wird, kann man hoffen, nicht unter freiem Himmel kampieren zu müssen. Alles was man für uns hatte tun können, war, uns zwei winzige, kaum möblierte Zimmer in einer üblen Straße zu beschaffen, wo die Fremden sich glücklich preisen dürfen, wenn jeder ein Gurtbett, weich und federnd wie eine Schieferplatte, und einen Stuhl mit strohgeflochtenem Sitz vorfindet, und als Nahrung ... Pfeffer und Knoblauch à discrétion. Nach weniger als einer Stunde hatten wir begriffen, daß man uns scheelen Blickes als Flegel und Nörgler oder doch zumindest mitleidig als Verrückte ansehen würde, wenn wir von diesem Empfang nicht begeistert waren. Wehe dem, der in Spanien nicht mit allem zufrieden ist! Man braucht nur die Miene ein bißchen zu verziehen, wenn man Ungeziefer im Bett oder einen Skorpion in der Suppe findet, und schon zieht man sich die tiefste Verachtung zu und bringt alle Welt gegen sich auf. Wir haben es also ängstlich vermieden, uns zu beklagen, und sind langsam dahintergekommen, was es mit der Knappheit an Mitteln und dem auffälligen Mangel an Gastfreundscha für eine Bewandtnis hat. Abgesehen von der geringen Aktivität und Ener
gie der Mallorquiner hatte damals der Bürgerkrieg, der Spanien schon so lange zerrüttete, den Verkehr zwischen der Insel und dem Festland gedrosselt. Mallorca war der Zufluchtsort von so viel Spaniern geworden, wie es fassen konnte, und die Einheimischen hatten sich in ihre Häuser verkrochen und hüteten sich, sie zu verlassen, um im Mutterland Abenteuer zu suchen und Hiebe zu beziehen. Hinzu kommt das völlige Fehlen von Industrie verbunden mit maßlosen Zöllen auf alles, was das Leben lebenswert macht. Beispielsweise verlangte man von uns Franken Zoll auf ein Klavier, das wir uns aus Frankreich kommen ließen; das war nahezu der Wert des Instruments. Es zurückzuschicken war nicht erlaubt; es zunächst im Hafen einzulagern war verboten; es unter Umgehung der Stadt auf unseren Landsitz zu schaffen und damit Torgeld zu sparen, war gegen die Vorschrien; es in Palma zu lassen, um die Maut für die Ausfuhr aus der Stadt zu vermeiden, war unstattha. Wir hätten es höchstens ins Meer werfen können, vorausgesetzt, man hätte es genehmigt. Nachdem wir Tage lang verhandelt hatten, erreichten wir, daß wir es durch ein Seitentor ausführen duren, und kamen mit etwa Franken davon. Das Stadtgebiet von Palma faßt eine bestimmte Zahl von Einwohnern. Wenn dieses Maß überschritten wird, drängt man sich etwas mehr zusammen, baut aber keine neuen Häuser. Auch die
Inneneinrichtung wird nicht erneuert; außer bei vielleicht zwei oder drei Familien ist sie seit zweihundert Jahren unverändert geblieben. Die Mode regiert hier nicht; man hat auch keine Bedürfnisse nach Luxus, nicht einmal nach den Annehmlichkeiten des Lebens. Aus Gleichgültigkeit einerseits, aus Geldschwierigkeiten andererseits läßt man alles, wie es ist. Man hat das unbedingt Notwendige, aber nichts Überflüssiges. Deswegen kommt die Gastfreundscha auch über Floskeln nicht hinaus. Wie überall in Spanien wird auch in Mallorca der Spruch geklop: ›Das Haus und alles darin steht Ihnen zur Verfügung.‹ Um nichts herleihen zu müssen, wird alles angeboten. Man kann kein Gemälde betrachten, keinen Stoff anfühlen, keinen Stuhl anheben, ohne daß einem mit größter Liebenswürdigkeit gesagt wird: ›Está a la disposición de Usted.‹ Man hüte sich aber, auch nur eine Stecknadel anzunehmen, denn das wäre ein grober Fauxpas. Kurz nach meiner Ankun in Palma habe ich einen solchen Verstoß gegen den guten Ton begangen, und ich glaube, man wird ihn mir niemals verzeihen. Ich war einem jungen Salonlöwen, einem Marquis, sehr warm empfohlen worden, so daß ich glaubte, das mit so viel Charme vorgebrachte Angebot seines Landauers für eine Spazierfahrt annehmen zu dürfen. Am nächsten Tag belehrte er mich mit ein paar Zeilen, daß ich den
Anstand verletzt hätte, und ich schickte das Gefährt unbenutzt zurück. Allerdings gab es Ausnahmen von dieser Regel, doch handelte es sich dann um Personen, die in der Welt herumgekommen waren. Und von denen, die uns herzensgern freundliche Aufnahme gewährt hätten, wäre keiner in der Lage gewesen, uns ein Eckchen seines Hauses zu überlassen, ohne sich derartigen Unannehmlichkeiten und Einschränkungen auszusetzen, so daß es wirklich taktlos von uns gewesen wäre, hätten wir solche Angebote angenommen. Die Schwierigkeiten, die diesen Leuten entstanden wären, konnten wir erst richtig einschätzen, als wir selbst auf die Suche nach einer Bleibe gingen. Wir konnten in der ganzen Stadt keine einzige Unterkun finden, die bewohnbar gewesen wäre. Eine Wohnung in Palma besteht aus vier völlig nackten Wänden ohne Türen und Fenster. In den meisten Bürgerhäusern gibt es keine Fensterscheiben, und wenn man sich diese im Winter durchaus notwendige Annehmlichkeit verschaffen will, muß man sich zunächst Fensterrahmen anfertigen lassen. Beim Wohnungswechsel – der kaum vorkommt – nimmt der Mieter seine Fenster, seine Schlösser und sogar die Türangeln mit. Der neue Mieter ist gezwungen, sie durch andere zu ersetzen, es sei denn, er lebt lieber in frischer Lu, was in Palma nicht selten ist.
Man braucht infolgedessen mindestens sechs Monate, um nicht nur Türen und Fenster einsetzen, sondern auch Betten, Tische, Stühle anfertigen zu lassen, eben die gesamte Einrichtung, und sei sie auch noch so einfach und primitiv. Die wenigen verfügbaren Handwerker arbeiten nicht gerade schnell; es fehlt ihnen an Werkzeug und Material. Irgendwie hat es der Mallorquiner niemals eilig. Das Leben ist so lang! Man muß schon Franzose, das heißt extravagant sein, um zu verlangen, daß etwas sofort gemacht wird. Und wenn man bereits sechs Monate gewartet hat, warum kann man dann nicht weitere sechs Monate warten? »Ihnen gefällt unser Land nicht? Warum bleiben Sie dann hier? Wir kommen auch ohne Sie aus. Sie glauben wohl, daß Sie bei uns alles auf den Kopf stellen können? Oh, keineswegs! Schauen Sie, wir lassen die Leute reden, und wir tun, was uns paßt.« »Gibt es denn nichts zu mieten?« »Zu mieten? Meinen Sie Möbel mieten? Als gäbe es so viel, daß man noch welche vermieten könnte.« »Gibt es denn keine zu kaufen?« »Zu kaufen? Dafür brauchte man fertige Möbel. Als hätten wir überschüssige Zeit, um Möbel zu bauen, die niemand bestellt hat. Wenn Sie welche haben wollen, lassen Sie die doch aus Frankreich kommen. Da gibt’s doch alles.« »Das dauert mindestens sechs Monate und kostet Zoll. Wenn man also so töricht gewesen ist, hier
her zu kommen, kehrt man wohl am besten gleich wiederum?« »Dazu kann ich Ihnen nur raten. Oder haben Sie Geduld, viel Geduld; mucha calma, sagen wir in Mallorca.« Gerade als wir diesen Rat befolgen wollten, erwies man uns einen schlechten, sicher aber wohlgemeinten Dienst mit dem Angebot eines zu vermietenden Landhauses. Son Vent (Haus des Windes) war die Villa eines reichen Bürgers, der sie uns mit der gesamten Einrichtung für hundert Franken im Monat überlassen wollte. Für französische Verhältnisse war der Preis eher mäßig, für die Insel jedoch ziemlich hoch. Wie alle einheimischen Landhäuser war es möbliert mit Gurtbetten oder mit grün angestrichenen Holzbetten, von denen einige aus zwei Böcken mit zwei Brettern und einer dünnen Matratze darüber bestanden; dazu die landesüblichen Stühle mit strohgeflochtenem Sitz und Tische aus massivem Holz. Die Wände waren schön weiß gekalkt, und als Gipfel des Luxus hatten fast alle Fenster Scheiben. Zur Zierde des sogenannten Wohnzimmers gab es vier scheußliche Kaminschirme, wie man sie bei uns in den ärmlichsten Dorfgasthöfen findet; Señor Gomez, unser Wirt, hatte sie in seiner Naivität sorgsam rahmen lassen, als seien es kostbare Stiche, mit denen man die Täfelung eines Herrensitzes schmückt. Im übrigen war das Haus geräumig, luig (zu luig), mit guter
Raumverteilung und in reizender Lage zu Füßen von Bergen mit sanen, fruchtbaren Hängen am Abschluß eines üppigen Tals mit Blick auf die gelben Mauern von Palma, die gewaltige Kathedrale und das glitzernde Meer am Horizont. Die ersten Tage an unserem Zufluchtsort waren ausgefüllt mit Spaziergängen und süßem Müßiggang, wozu uns das herrliche Wetter und eine reizvolle, uns völlig neue Umgebung einlud. Ich bin niemals weit aus meinem Heimatland herausgekommen, obwohl ich viel unterwegs war. Es war also das erste Mal, daß ich eine Vegetation und eine Landscha erlebte, die sich von denen unserer gemäßigteren Breiten wesentlich unterschieden. Als ich Italien bei der Landung am toskanischen Gestade sah, hegte ich die Vorstellung von einer derartigen Großartigkeit, daß ich der pastoralen Lieblichkeit und der lächerlichen Anmut keinen Geschmack abgewinnen konnte. Am Ufer des Arno kam ich mir vor wie an meiner heimatlichen Indre, und auf dem ganzen Weg nach Venedig konnte mich nichts in Erstaunen versetzen oder gar erschüttern. Aber in Mallorca fehlte mir das Bild, mit dem ich vergleichen konnte. Die Menschen, die Häuser, die Pflanzen und sogar die unscheinbarsten Kiesel auf dem Weg hatten ihre Eigenart. Meine Kinder waren beeindruckt davon, daß sie alles sammelten; sie wollten unsere Koffer füllen mit Brocken aus Quarz und feingeädertem,
buntem Marmor, wie sie an den Feldrainen aufgeschichtet sind. Wenn die Bauern uns beim Auflesen sogar von trockenen Zweigen beobachteten, hielten sie uns wahrscheinlich entweder für Apotheker oder ganz einfach für Irre.
VI Die Insel verdankt die Mannigfaltigkeit ihres Landschasbildes den häufigen Erdbewegungen in grauer Vorzeit. Von unserem Haus bei Establiments boten sich uns an einem Horizont von wenigen Meilen Ausblicke ganz unterschiedlichen Charakters. In unserer Nähe war die gesamte Bebauung des Landes auf den fruchtbaren Hängen in Form von Stufen angelegt, die sich in regellosen Formen um die Hügel ziehen. Diese Terrassenkulturen finden sich in all den Teilen der Insel, die ständig von Regengüssen und dem plötzlichen Anschwellen der Bäche bedroht sind; sie eignen sich besonders für Bäume und verleihen der Landscha das Aussehen eines hervorragend gepflegten Obstgartens. Zu unserer Rechten stiegen die Hügel allmählich von san gewelltem Weideland bis zu den tannenbestandenen Bergen an. Zu Füßen dieser Berge rinnt im Winter und während der Sommergewitter ein Bach, der bei unserer Ankun nichts als ein Bett voller Geröll war. Aber die hübschen Moose auf den Steinen, die kleinen Stege, durch die Feuchtigkeit wie mit Grünspan überzogen, durch die Kra des Sturzwassers geborsten und halb ver
steckt unter den überhängenden Zweigen der Weiden und Pappeln, das Verflochtensein dieser schlanken dichtbelaubten Bäume, die, einander zugeneigt, von einem Ufer zum anderen ein grünes Wiegendach bildeten; ein schmales Rinnsal, das lautlos durch Riedgras und Myrten lief, und stets irgendeine Gruppe von Kindern, Frauen und Ziegen, hingelagert auf die lauschige Uferböschung; alle diese bildhaen Szenen riefen nach einem Maler. Jeden Tag hüpen wir im Bachbett von Stein zu Stein und nannten dieses Fleckchen unseren Poussin, weil seine ungezwungene Grazie und stolze Melancholie uns an die Landschaen erinnerte, die dieser große Maler besonders geliebt haben muß. Ein Stück unterhalb unseres Landhäuschens teilte sich der Bach in mehrere Zweigläufe und schien sich in der Ebene zu verlieren. Die Oliven- und Johannisbrotbäume breiteten ihre Äste über die bestellten Äcker; es sah wie Wald aus. Auf den vielen Buckeln am Rande dieser Baumzone standen Gehöe, die zwar großartig in der Anlage, aber winzig in den Abmessungen waren. Man kann sich nicht vorstellen, wie viele Scheunen und Schuppen, Ställe, Höfe und Gärten ein Bauer auf einem Morgen Land unterbringen kann und mit wieviel Geschmack und Phantasie er sie unbewußt anordnet. Das Wohnhaus hat meist zwei Stockwerke und ein Flachdach; das vortragende Sims beschattet ein durchbrochenes Dachgeschoß,
das sich mit dem Zinnenkranz eines florentinischen Palastes vergleichen läßt. Diese symmetrische Krönung verleiht den hinfälligsten und ärmlichsten Gebäuden einen Anschein von Glanz und Kra, und die riesigen Bündel von Maiskorn, die zum Trocknen aus jeder Dachluke heraushängen, bilden mit den langen Ketten von Tomaten und Pfefferschoten eine dichte Girlande in Dunkelgelb und Rot; das wirkt dekorativ und unglaublich üppig. Das Haus ist gewöhnlich von einer dichten Feigenkaktushecke umgeben; deren bizarre Teller verschlingen sich zu einer Mauer, welche die wackeligen Schaürden aus Seegras und Schilfrohr vor den kalten Winden schützt. Da diese Bauern sich untereinander nie bestehlen, brauchen sie keine weitere Umzäunung. Mandel- und Orangenbäume fassen die Gärten ein, in denen außer Pfefferschoten und Tomaten kein anderes Gemüse angebaut wird. Das Farbenspiel von all dem ist prächtig, und das hübsche Bild wird o durch eine einzelne Palme vervollständigt, die im Hof ihren gefiederten Schirm aufspannt oder sich von der Seite her der Häusergruppe grüßend zuneigt wie ein edler Federbusch. Dieser Landstrich gehört zu den blühendsten Gegenden der Insel. Dies wird auch von dem französischen Konsul bestätigt, der unter dem Empire in Mallorca auf Posten war. Überdies gelangt Grasset de Saint-Sauveur in seinem Buch zu dem gleichen
Urteil wie ich über die Unzulänglichkeit der mallorquinischen Landwirtscha im allgemeinen. Die Beobachtungen, welche er über die Gleichgültigkeit und Ignoranz der mallorquinischen Bauern machte, veranlaßten ihn, deren Ursachen nachzuspüren. Er kam zu dem Ergebnis, daß hauptsächlich zwei Faktoren für die Umstände verantwortlich sind. Da ist zunächst die große Zahl von Klöstern, welche einen Teil der ohnehin spärlichen Bevölkerung in Anspruch nehmen. Dank Mendizabals drakonischer Enteignung des kirchlichen Grundbesitzes ist dieser Übelstand inzwischen behoben; die Frommen auf Mallorca werden es ihm jedoch niemals verzeihen. Der zweite Faktor ist die eingefleischte knechtische Gesinnung, welche die Mallorquiner zu Dutzenden in den Dienst der Reichen und Adligen trieb und auch heute noch treibt. Jeder mallorquinische Aristokrat hat eine vielköpfige Gefolgscha, für deren Unterhalt sein Einkommen kaum ausreicht und obwohl er keinen Nutzen daraus zieht. Man kann unmöglich schlechter bedient werden, als man es von diesen gleichsam ehrenamtlich Bediensteten tatsächlich ist. Wenn man sich fragt, wofür ein reicher Mallorquiner seine Einküne in einem Land ausgeben kann, in dem es weder Luxusartikel noch irgendwelche Versuchungen gibt, so findet man die Erklärung erst, wenn man sein Haus voller heruntergekommener Nichtstuer beiderlei Geschlechts
sieht, die einen zu diesem Zweck bestimmten Flügel des Gebäudes bewohnen und nach einem Probejahr Anrecht auf lebenslange Unterkun, Kleidung und Ernährung erwerben. Wer sich aus dem Dienstverhältnis lösen will, kann es unter Verzicht auf gewisse Leistungen tun, bleibt jedoch nach altem Brauch berechtigt, jeden Morgen mit seinen ehemaligen Kumpeln Schokolade zu schlecken und wie Sancho Pansa bei Camacho an allen Festlichkeiten des Hauses teilzunehmen. Auf den ersten Blick muten diese Sitten patriarchalisch an, und man ist geneigt, den republikanischen Geist zu bewundern, der in den Beziehungen zwischen Herrn und Knecht waltet; doch man erkennt rasch, daß es sich um ein Republikanertum nach Art des alten Rom handelt und daß diese Bediensteten Klienten sind, die wegen Faulheit oder Armut an die Eitelkeit des Patrons gekettet sind. Auf Mallorca ist es verschwenderischer Luxus, wenn ein Personal von Leuten in einem Haushalt herumlungert, der allenfalls zwei vertrüge. Und wenn man ganze Landstriche brachliegen sieht, wenn man beobachtet, wie die Industrie heruntergekommen ist und jede fortschrittliche Idee aus purer Unfähigkeit und Gleichgültigkeit verpönt wird, dann weiß man nicht recht, ob man eher den Herrn verachten soll, der so die moralische Erniedrigung seiner Mitmenschen fördert und verewigt, oder den Knecht, der entehrenden Müßiggang ei
ner Arbeit vorzieht, die es ihm gestatten würde, eine der menschlichen Würde gemäße Unabhängigkeit zurückzugewinnen. Allmählich entschlossen sich jedoch einige mallorkinische Großgrundbesitzer, deren Ausgaben mit den Einnahmen nicht mehr Schritt hielten, der Trägheit ihrer Zinsleute und der Armut der Landarbeiter abzuhelfen. Sie verkauen einen Teil ihrer Ländereien gegen eine Leibrente an Bauern, und es stellte sich heraus, daß auf allen großen Besitzungen, auf denen man diese Maßnahmen ergriffen hatte, der scheinbar unfruchtbare Boden unter den Händen von Männern mit Interesse an seiner Ergiebigkeit in derartiger Fülle produktiv geworden war, daß die jeweiligen Vertragspartner innerhalb weniger Jahre auf ihre Kosten kamen. So ist das Gebiet von Establiments heute zu einem riesigen Garten geworden; die Bevölkerung hat zugenommen, viele neue Häuser sind auf den Hügeln gebaut worden, und die Bauern sind zu einem gewissen Wohlstand gekommen, der sie zwar noch nicht viel gescheiter gemacht, ihre Leistungsfähigkeit jedoch gesteigert hat. Es wird noch Jahre dauern, bis der Mallorquiner emsig und fleißig wird; und wenn er wie wir Franzosen zunächst die schmerzliche Phase der Profitmachern durchmachen muß, um zu begreifen, daß dies letztlich nicht das Ziel der Menschheit ist, so wollen wir ihm inzwischen ruhig seine Gitarre und seinen Rosen
kränz als Zeitvertreib gönnen. Aber zweifelsohne ist diesen Völkern in Kinderschuhen ein besseres Geschick bestimmt als das unsere-, eines Tages werden wir sie in die höhere Zivilisation einweihen, ohne ihnen vorzuhalten, was wir alles für sie getan haben. Sie sind noch nicht erwachsen genug, um den revolutionären Stürmen zu trotzen, die das Streben nach Vervollkommnung über unseren Köpfen entfesselt hat. Allein, verteufelt, verspottet und bekämp von allen übrigen Völkern der Erde haben wir Franzosen gewaltige Fortschritte gemacht, aber der Lärm unserer gigantischen Kämpfe hat dieses Völkchen, das auf seiner Mittelmeerinsel im Bereich unserer Kanonen schlummert, nicht aufwecken können. Einst wird der Tag kommen, da sie von uns die Taufe der wahren Freiheit empfangen werden, und sie werden sich zum Festmahle setzen wie die Arbeiter im Weinberg, die in der elen Stunde gedungen wurden. Laßt uns das Rätsel unseres sozialen Geschicks lösen, unsere hochfliegenden Träume verwirklichen; und während die angrenzenden Völker nach und nach in unsere revolutionäre Kirche eintreten, werden sich diese unglückseligen Insulaner, durch ihre Schwäche in ständiger Gefahr, die Beute böser Nachbarn zu werden, unserer Gemeinde anschließen. Bis zu dem Tage, wo wir Franzosen als erste in Europa die Gleichheit aller Menschen und die Unabhängigkeit aller Völker verkünden werden, be
stimmt das Recht des Stärkeren im Kriege oder des Schlaueren im diplomatischen Spiel die Kräeverhältnisse; das Völkerrecht ist nur eine Phrase, und den kleinen, abseitsliegenden Ländern droht das Schicksal, von einem Eroberer verschluckt zu werden. Wenn es so bliebe, wünschte ich mir in Mallorca weder Spanien oder England noch gar Frankreich als Schutzmacht, sondern ich würde mich für die weitere Entwicklung der Dinge ebensowenig interessieren wie für die seltsame Zivilisation, die wir nach Afrika exportieren.
VII Wir waren seit drei Wochen in Establiments, als die Regenperiode einsetzte. Bis dahin hatten wir herrliches Wetter gehabt; die Zitronenbäume und Myrten blühten noch, und an einem der ersten Dezembertage blieb ich bis fünf Uhr morgens im Freien auf der Terrasse und fühlte mich wohlig warm. Gerade mir kann man das glauben, denn ich kenne niemand auf der Welt, der so leicht fröstelt; nicht einmal die Begeisterung für erlesene Naturschönheiten kann mich gegen die leichteste Kühle unempfindlich machen. Übrigens war meine Nachtwache trotz der berükkenden Mondlandscha und des Blumendues nicht sehr aufregend. Ich saß da, nicht etwa wie ein Dichter auf der Suche nach Inspiration, sondern als ein müßiger Mensch, der ganz einfach hört und sieht. Ich erinnere mich, daß ich vollauf beschäigt war, die Geräusche der Nacht zu registrieren und zu deuten. Unbestreitbar hat jede Landscha ihre Wohl- und Klagelaute, ihre Rufe und ihr geheimnisvolles Raunen, und diese sinnliche Sprache der Umwelt gehört zu den Merkmalen, die dem Reisenden auffallen. Das mysteriöse Plätschern des Kanalwas
sers an den kühlen Marmormauern, der schwere und gemessene Schritt der Sbirren auf der Uferstraße, der scharfe und fast kindliche Schrei der Ratten, die sich balgen und jagen, alle diese heimlichen und merkwürdigen Geräusche, welche die düstere Stille der venezianischen Nacht kaum stören, gleichen in nichts dem monotonen Rauschen des Meeres, dem quién vive? der Streife und dem melancholischen Singsang der serenos, wie die Nachtwächter in Barcelona heißen. Die Klangfarbe des Lago Maggiore ist anders als die des Genfer Sees. Das ständige Knacken der Tannenzapfen in den Schweizer Wäldern hat auch keinerlei Ähnlichkeit mit dem Knacken, das man auf den Gletschern hört. Auf Mallorca ist die Stille tiefer als anderswo; unterbrochen wird sie nur zuweilen, wenn Esel und Maultier auf nächtlicher Weide ihre Glocken schütteln, die heller und melodischer klingen als die der Schweizer Kühe. Der Bolero ist in den dunkelsten Nächten an den verlassensten Orten zu hören. Es gibt keinen Bauern ohne Gitarre; sie begleitet ihn jederzeit. Von meiner Terrasse aus vernahm ich auch das Meer, aber so fern und schwach, daß mir die seltsam ergreifenden Verse der Dschinn wieder einfielen:
On doute La nuit ... J’ écoute: – Tout fuit. Tout passe; L’ espace Efface Le bruit. Im nächsten Gehö schrie ein kleines Kind; ich hörte auch seine Mutter, die es wieder in den Schlaf sang mit einem hübschen, sehr monotonen, sehr traurigen, sehr arabischen Volkslied. Aber andere, weniger poetische Stimmen erinnerten mich bald an die groteske Kehrseite Mallorcas. Die Schweine wachten auf und machten einen unbeschreiblichen Lärm. Der Bauer und Familienvater wurde von der Stimme seiner geliebten Säue geweckt wie die Mutter vom Weinen ihres Kindes. Ich hörte ihn ans Fenster kommen und die Stallinsassen in strengem Tone ausschimpfen. Die Schweine verstanden ihn sehr wohl, denn sie wurden still. Anscheinend als Schlafmittel begann der Bauer, seinen Rosenkranz herzubeten; seine dröselige Stimme hob und senkte sich wie das ferne Murmeln der Wellen, je nachdem, wie seine Schläfrigkeit zu- oder abnahm. Von Zeit zu Zeit entfuhr den Schweinen noch ein wilder Aufschrei; der Bauer wurde darauin lauter, ohne sein Gebet zu un
terbrechen, und die lieben Tierchen, beruhigt durch ein Ora pro nobis oder Ave Maria in einem bestimmten Tonfall, schwiegen sogleich. Das Baby lauschte sicher mit offenen Augen in jener Art von Betäubung, wie sie durch unerklärliche Geräusche auf des Wiegenkindes erwachende Sinne ausgeübt wird, die ja erst nach langen, rätselhaen Vorgängen im Innern die Schwelle des Bewußtseins überschreiten. Auf diese heiteren Nächte folgte unvermittelt die Sintflut. Nachdem eines Nachts der Wind unseren Schlaf mit seinem langgezogenen Stöhnen begleitet hatte, während der Regen an unsere Fensterscheiben trommelte, weckte uns am Morgen das Tosen des Baches, der sich seinen Weg durch das steinige Bett bahnte. Am nächsten Tag tobte er lauter und am übernächsten rollte er die Steine, die ihm im Weg waren. Alle Bäume waren ihrer Blüten beraubt, und das Regenwasser rann durch die undichten Zimmer. Es ist unverständlich, wie wenig sich die Mallorquiner gegen die Landplagen Sturm und Regen wappnen. Aus Einbildung oder auch aus Angabe leugnen sie diese gelegentlichen aber heigen Unfreundlichkeiten ihres Wetters glatt ab. Bis zum Ende der beiden Monate strömenden Regens, die wir durchstehen mußten, beharrten sie darauf, daß es in Mallorca niemals regnet. Hätten wir die Berggipfel und die Windrichtungen besser beobachtet,
wären wir uns rechtzeitig der unvermeidlichen Widrigkeiten bewußt geworden, die uns bevorstanden. Aber noch eine weitere Enttäuschung erwartete uns; ihre Ursache habe ich schon vorweggenommen, als ich meinen Bericht mit der Rückfahrt begann. Einer von uns wurde krank; zart von Natur, bekam er eine starke Kehlkopfentzündung und spürte bald die Wirkungen der Feuchtigkeit. Das ›Haus des Windes‹ wurde unbewohnbar; die Mauern waren so dünn, daß sich der Kalk, mit dem die Zimmerwände verputzt waren, vollsaugte wie ein Schwamm. Ich habe nie so sehr unter Kälte gelitten, obwohl es so kalt eigentlich nicht war, aber für uns, die wir an Heizung im Winter gewöhnt sind, war dieses Haus ohne Kamin wie ein eisiger Mantel; ich fühlte mich wie gelähmt. Zudem konnten wir uns nicht an den erstickenden Geruch der braseros, dieser höllischen Holzkohlebecken, gewöhnen; unser Patient hatte zu leiden und fing an zu husten. Von dem Augenblick an wurden wir zu Schreckgespenstern für die Leute von Establiments. Man bezichtigte und überführte uns des Delikts der Lungenschwindsucht, die nach der vorgefaßten Meinung der spanischen Medizin so ansteckend und mörderisch ist wie die Pest. Ein reicher Arzt, der sich für das bescheidene Honorar von Franken zu einer Visite herbeiließ, meinte, es sei nichts
Ernstliches, und verordnete auch nichts. Wir nannihn Dr. Eibisch wegen des einzigen Rezepts in seinem Repertoire. Ein anderer Arzt kam uns freundlicherweise zu Hilfe, aber die Apotheke von Palma war derart ausgepowert, daß wir uns nur den letzten Dreck an Medikamenten beschaffen konnten. Im übrigen sollte sich die Krankheit durch Umstände verschlimmern, gegen die weder Wissenscha noch Pflege etwas ausrichten konnten. Als wir eines Morgens ernstlich besorgt waren wegen des unablässigen Regens und des dadurch mittelbar oder unmittelbar verursachten Ungemachs, erreichte uns ein Brief des Grobians Gomez; er erklärte uns in echt spanischem Stil, wir ›beherbergten‹ eine Person, die eine Krankheit ›beherberge‹ und damit Ansteckungskeime in sein Haus trage. Da dies Leben und Gesundheit von Mitgliedern seiner Familie gefährde, ersuche er uns, seinen Palast möglichst rasch zu räumen. Eigentlich war es uns ganz recht, denn wir konnten dort nicht länger ohne das Risiko bleiben, im Zimmer zu ertrinken; andererseits dure man bei dem Zustand des Kranken den Transport nicht wagen, schon wegen der mallorquinischen Verkehrsmittel, aber auch des Wetters wegen. Eine andere schwierige Frage war, wohin? Das Gerücht von unserer Schwindsucht hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und wir brauchten nicht mehr zu hof
fen, irgendwo unterzukommen, nicht für Gold und nicht für eine einzige Nacht. Es war uns völlig klar, daß sich gefällige Leute mit einem Angebot der Aufnahme selbst der Verfemung ausgesetzt hätten, denn durch die Berührung mit uns wären sie vom gleichen Bann getroffen worden, der schon auf uns lag. Hätte der französische Konsul nicht Wunder vollbracht, um uns gastfreundlich unter seinem Dach zu empfangen, wären wir wie richtige Zigeuner gezwungen gewesen, in einer Höhle Unterschlupf zu suchen. Ein zweites Wunder geschah und bescherte uns ein Winterasyl. In der Kartause von Valldemosa lebte ein spanischer Emigrant, der sich dort aus mir unbekannten Gründen verborgen gehalten hatte. Bei einem Besuch der Kartause hatten es uns seine vornehme Art und die melancholische Schönheit seiner Frau angetan; auch gefielen uns die rustikalen und doch bequemen Möbel ihrer Zelle. Die poetische Stimmung dieser Kartause hatte mich betört. Es ergab sich, daß das mysteriöse Paar die Insel eilig verlassen wollte; daher waren die beiden ebenso froh, uns Zelle samt Mobiliar abzutreten, wie wir am Erwerb. Für den bescheidenen Betrag von tausend Franken kamen wir also in den Besitz eines kompletten Haushalts. In Frankreich hätte es uns die Häle gekostet, so rar, teuer und schwer aufzutreiben sind in Mallorca die notwendigsten Gegenstände des täglichen Bedarfs.
Vier Tage blieben wir in Palma; ich habe mich zwar kaum vom Kamin gerührt, den der Konsul zum Glück besaß – es schüttete nämlich noch immer –, aber ich möchte hier doch einige Notizen über die Hauptstadt Mallorcas einschalten. Sie stammen von M. Laurens, der Palma im Jahre nach unserem Besuch durchforschte und die schönsten Aspekte mit dem Zeichensti festhielt. Er wird dem Leser ein kompetenterer Cicerone sein als ich.
Zweiter Teil
I Obwohl Mallorca mehr als vierhundert Jahre lang von den Mauren besetzt war, hat ihr Aufenthalt nur karge Spuren hinterlassen. Meist sind sie durch spätere Umbauten verdeckt, so daß die arabischen Bäder als einziges Zeugnis arabischer Architektur gelten. Die Reste aus der Zeit der Römer und Karthager sind ebenfalls spärlich. Das maurische Stilempfinden hat sich jedoch selbst in den geringsten Bauelementen fortgepflanzt, und M. Laurens mußte alle architekturgeschichtlichen Irrtümer seiner Vorläufer richtigstellen, damit so ungebildete Reisende wie ich nicht auf Schritt und Tritt meinten, authentische Überreste arabischer Baukunst zu entdecken. »In Palma habe ich«, schreibt M. Laurens, »überhaupt keine Häuser hohen Alters angetroffen. Die architektonisch und historisch interessantesten stammten aus dem Anfang des . Jahrhunderts; jedoch stellt sich die graziöse und glanzvolle Kunst dieser Epoche nicht in der gleichen Form dar wie in Frankreich. Diese Häuser besitzen über dem Erdgeschoß nur ein Stockwerk und einen sehr niedrigen Kornboden. (Es handelt sich nicht eigentlich um Korn
böden, sondern eher um Trockenböden, die man hierzulande porchos nennt.) Der Eingang von der Straße besteht aus einem Rundbogenportal ohne jede Verzierung, doch verleihen ihm seine Ausmaße und die große Anzahl von strahlenförmig angeordneten behauenen Quadern ein stattliches Aussehen. Hohe Fenster, unterteilt durch überschlanke Säulen, gestatten dem Tageslicht Eintritt in die großen Räume der ersten Etage und lassen das Ganze völlig orientalisch wirken. Dieser Stilcharakter ist so ausgeprägt, daß ich mehr als zwanzig Häuser dieser Bauweise besichtigen und sie in allen ihren Konstruktionselementen studieren mußte, ehe ich zu der Gewißheit gelangte, daß diese Fenster nicht aus den Wänden jener wahrha märchenhaen maurischen Paläste herausgebrochen worden waren, für die uns die Alhambra in Granada als Musterbeispiel geblieben ist. Nur auf Mallorca habe ich zwei Meter hohe Säulen mit einem Durchmesser von cm angetroffen. Die Feinheit des Marmors, aus dem sie bestehen, und die Form der Kapitelle an ihrem Kopf hatten mich einen arabischen Ursprung vermuten lassen. Wie dem auch sein mag, diese Fenster wirken ebenso hübsch wie originell. Das Dachgeschoß ist eine Galerie oder vielmehr eine Lukenreihe, die der Balustrade auf der Lonja oder Börse exakt nachgebildet ist. Ein weit vor
springendes Dach, das von kunstvoll geschnitzten Balken gestützt wird, schützt dieses Geschoß vor Regen und Sonne und verursacht eigenartige Lichteffekte durch die langen Schatten, die es auf das Haus wir, und durch den Kontrast zwischen der bräunlichen Masse des Gebälks und den strahlenden Tönen des Himmels. Die großartige Freitreppe führt von einem zentralen Innenhof nach oben und ist vom Portal durch eine Vorhalle getrennt, deren Pilaster Kapitelle mit Blattornamentik oder mit von Engeln gehaltenen Wappenschilden tragen. Noch mehr als ein Jahrhundert nach der Renaissance haben die Mallorquiner großen Luxus an ihre Privathäuser gewendet. Ohne von dem Konstruktionsschema abzugehen, modifizierten sie ihre Vorhallen und Treppen je nach dem Wandel der architektonischen Stile. So begegnet man häufig tuskischen oder dorischen Säulen; Rampen und Balustraden geben den Palästen der Aristokratie stets ein prächtiges Aussehen. Die gleiche Vorliebe für die ornamentale Ausgestaltung der Treppe und die Anhänglichkeit an den arabischen Stil treten auch an den ärmlichsten Häusern zutage, und wenn auch nur eine einfache Treppe direkt von der Straße zum ersten Stock hinaufführt. Dann nämlich ist die Steigung jeder Stufe mit Fayencekacheln in leuchtend blauen, gelben oder roten Blumenmustern ausgelegt.«
M. Laurens’ Beschreibung stimmt genau, und seine Zeichnungen geben den Reiz dieser Innenhöfe getreu wieder. In unseren eatern würde ein solches Peristyl schöne Bühnenbilder von äußerster Einfachheit abgeben. Diese kleinen ausgefliesten Innenhöfe mit ihrer Säuleneinfassung wie beim cortile der venezianischen Paläste besitzen meist in der Mitte einen schlichten Ziehbrunnen, vermutlich ein Nachfahre des römischen impluvium. In Bestimmung und Aussehen unterscheiden sie sich völlig von unseren schmutzigen und nackten heimischen Höfen. Sie sind nicht Zugang zu Ställen und Remisen, sondern Halle und Mittelpunkt des Hauses wie das Atrium. Wenn der Säulenumgang mit Blumentöpfen geschmückt und mit Binsenmatten behangen ist, wirkt er gleichzeitig elegant und streng. Den edlen mallorquinischen Herren entgeht allerdings dieser poetische Reiz, denn sie entschuldigen sich ständig für das hohe Alter ihrer Häuser. Wenn man aber den guten Stil bewundert, lächeln sie in der Meinung, man mache sich über sie lustig; vielleicht verachten sie auch im Innern diesen Überschwang an französischer Höflichkeit. Übrigens ist am Haus eines mallorquinischen Aristokraten nicht alles gleichermaßen poetisch. Ich käme in große Verlegenheit, sollte ich dem Leser gewisse unappetitliche Einzelheiten schildern, es
sei denn, ich täte es auf Lateinisch, aber das beherrsche ich wiederum nicht. Das Innere dieser Paläste entspricht in keiner Weise dem Äußeren. Es gibt nichts, was ein Volk oder eine Person besser kennzeichnete als die Art und Anordnung der Wohnungseinrichtung. In Paris, wo Modelaunen und der Überfluß an Gebrauchsgütern erhebliche Variationen des Einrichtungsstils ermöglichen, genügt ein Blick auf den häuslichen Rahmen eines wohlsituierten Menschen, um sich ein Bild von seinem Charakter zu verschaffen, um sich sagen zu können, er hat Geschmack oder Ordnungssinn, er ist geizig oder schlampig, gefühls- oder verstandesbetont, gastlich oder protzig. Wie andere auch, habe ich da mein eigenes System, was jene und mich nicht hindert, häufig falsche Schlüsse zu ziehen. Besonders abscheulich finde ich ein Zimmer mit wenigen Möbeln, die akkurat ausgerichtet sind. Es sei denn, ein großer Geist mit einem weiten Herzen lebte dort jenseits allen materiellen Kleinkrams wie unter einem Zelt, aber dieser Bewohner müßte wohl ein Hohlkopf mit einem kalten Herzen sein. Ich begreife nicht, wie man in seinen eigenen vier Wänden nicht das Bedürfnis verspüren kann, diesem Raum, und sei es nur mittels Holzscheiten und Weidenkörben, die Leere zu nehmen und etwas Lebendiges um sich zu haben, sei es auch nur ein armseliger Goldlack oder ein gewöhnlicher Spatz.
Leere und Starre lassen mich schaudern; Symmetrie und strenge Ordnung machen mich trübsinnig; und wenn ich mir eine Vorstellung von der Verdammnis machen könnte, so wäre meine Hölle sicher das ewige Leben in gewissen Provinzhäusern von peinlicher Ordentlichkeit, wo nichts jemals seinen Platz wechselt, wo man nichts herumliegen sieht, wo nichts abgenutzt oder angeknackst ist und wo kein Tier Zugang hat unter dem Vorwand, das Belebte ruiniere das Unbelebte. Meinetwegen können alle Teppiche der Welt zum Teufel gehen, wenn ich mich an ihnen nur unter der Bedingung freuen darf, daß ich darauf nie ein Kind, einen Hund oder eine Katze herumtollen sehe. Dieser Sauberkeitsfimmel entspringt nicht etwa einem echten Hang zur Sauberkeit, sondern maßloser Trägheit oder schmutzigem Geiz. Mit etwas Umsicht und Gewandtheit kann eine Hausfrau nach meinem Herzen leicht jenen Grad von Sauberkeit einhalten, ohne den auch ich mich nicht wohl zu fühlen vermag. Aber was soll man vom Wesen einer Familie halten, deren Heim öde und leblos ist, ohne daß für diesen Zustand die Ausrede der Sauberkeit gelten könnte? So leicht man sich auch, wie schon gesagt, in seinen individuellen Urteilen täuschen kann, so viel weniger riskiert man sich zu irren, wenn es sich um allgemeine Schlußfolgerungen handelt. Der Cha
rakter eines Volkes offenbart sich ebenso durch Kleidung und Behausung wie durch Gesichtsausdruck und Sprache. Während meiner Wohnungssuche in Palma war ich in vielen Häusern; sie ähnelten einander in allem und jedem so stark, daß ich daraus auf einen einheitlichen Charakter der Bewohner schließen konnte. Beim Betreten dieser Räumlichkeiten befiel mich stets Herzbeklemmung infolge von Widerwille oder Langeweile; ich brauchte nur die nackten Wände, die fleckigen und staubbedeckten Fliesen, die wenigen schmuddligen Möbel zu sehen. Alles zeugte von stumpfer Untätigkeit; kein Buch, keine weibliche Handarbeit; die Männer lesen nicht, die Frauen nähen nicht einmal. Das einzige Zeichen häuslichen Wirkens ist der Du von Knoblauch, der diskret verrät, daß gekocht wird; die einzigen Spuren eines gemütlichen Zeitvertreibs sind die über den Fußboden verstreuten Zigarrenstummel. Dieses Fehlen einer geistigen Atmosphäre macht eine Behausung zu etwas Starrem und Leerem, desgleichen es in Frankreich nicht gibt; dem Mallorquiner verleiht es mehr Ähnlichkeit mit dem Orientalen als mit dem Europäer. Diese Häuser, in denen eine Generation der anderen folgt, ohne daß sich etwas verändert oder persönliche Spuren an den Dingen haen bleiben, wirken eher wie Karawansereien als wie Wohnungen; und während sie bei
uns als Nest für die Familie dienen, scheinen sie dort Quartiere zu sein, in denen Nomaden gleichgültig eine Nacht verbringen. Gute Kenner Spaniens haben mir erzählt, daß es im ganzen Lande ähnlich sei. Das Atrium im Palais eines Cavellers – so nennen sich die vornehmen Mallorquiner noch heute – vermittelt, wie gesagt, den Eindruck großzügiger Gastfreundscha und Wohlhabenheit. Sobald man aber die elegante Treppe hochgestiegen ist und das Innere des Hauses betreten hat, glaubt man sich an einem Ort, der ausschließlich zum Mittagsschlaf bestimmt ist. Riesige Säle in langgestrecktem Rechteck, sehr hoch, sehr kalt, sehr düster, völlig nackt unter weißer Tünche und bar jeden Schmucks, abgesehen von großen, altersgeschwärzten Familienbildern, die in einer Reihe so hoch hängen, daß man überhaupt nichts erkennen kann; vier oder fünf Stühle, bespannt mit schmierigem, wurmstichigem Rindsleder, das mit großen, vergoldeten und seit zweihundert Jahren nicht mehr geputzten Ziernägeln am Rahmen befestigt ist; einige Matten oder langhaarige Schaffelle, willkürlich über den Steinfußboden verteilt; die sehr hoch liegenden Fenster, von dicken Vorhängen umrahmt; breite Türen aus dem gleichen dunklen Eichenholz wie die Deckenbalken, omals hinter einer Portiere aus altem Goldbrokat mit reichgesticktem Familienwappen, aber verschossen und zernagt vom
Zahn der Zeit: so sehen Mallorcas Paläste drinnen aus. Es gibt kaum Tische außer solchen, von denen gegessen wird; Spiegel sind sehr rar und nehmen in der gewaltigen Täfelung einen so winzigen Platz ein, daß sie kaum Helligkeit verbreiten. Den Hausherrn tri man stehend an; in tiefem Schweigen raucht er seine Zigarre. Die Dame des Hauses sitzt in einem breiten Armstuhl, spielt mit dem Fächer und denkt an nichts. Kinder sieht man nie: sie leben mit den Domestiken in der Küche, auf dem Dachboden, wer weiß wo; die Eltern kümmern sich nicht um sie. Ein Kaplan kommt und geht; was er im Hause tut, ist nicht ersichtlich. Die zwanzig oder dreißig Dienstboten halten Siesta, während ein altes struppiges Mädchen den Besucher einläßt, nachdem er zum fünen Mal geschellt hat. Dieses Leben hat gewiß seinen Stil, aber wenn man den ruhigsten unserer Bürger dazu verdammte, würde er entweder vor Verzweiflung durchdrehen oder aufsässig werden.
II Die drei bedeutendsten Bauwerke Palmas sind die Kathedrale, die Lonja und der Königspalast der Almudaina. Die Kathedrale, von der gesagt wird, man verdanke sie Jaime, dem Eroberer, dem ersten christlichen König von Mallorca und für die Inselbewohner sozusagen ihr Karl der Große, wurde tatsächlich während seiner Regierungszeit ( bis ) zu bauen begonnen, aber erst fertiggestellt. Sie besteht durchweg aus sehr feinporigem Kalkstein von hübscher Bernsteinfarbe. Dieser imposante Klotz am Meeressaum ist sehr beeindruckend, wenn man in den Hafen einfährt, doch hat der Bau nichts von wirklich architektonischem Wert aufzuweisen, es sei denn das Südportal, welches M. Laurens als das schönste Beispiel gotischer Kunst bezeichnet, das er je zu zeichnen Gelegenheit hatte. Das Innere ist recht streng und dunkel. Weil die Seewinde mit Wucht durch die breiten Ritzen im Hauptportal hineinfuhren und während des Gottesdienstes Heiligenbilder und Meßkelche umwarfen, vermauerte man auf dieser Seite die Türen und die Fensterrose. Das Schiff hat eine
Länge von nicht weniger als Spannen und eine Breite von Spannen (recte × m). In der Mitte des Chors steht ein sehr schlichter Marmorsarkophag; man öffnet ihn für den fremden Besucher, um ihm den mumifizierten Leichnam des Königs Jaime II zu zeigen. Dieser Sohn des Eroberers war fromm und so schwach und milde, wie sein Vater unternehmungslustig und streitbar gewesen war. Die Mallorquiner behaupten von ihrer Kathedrale, sie sei der von Barcelona weit überlegen, wie sie ja auch ihre Lonja ungleich schöner finden als die von Valencia; da ich dort nie war, kann ich diesen Anspruch nicht nachprüfen. Jedenfalls ist die erste Behauptung haltlos. In beiden Kathedralen bemerkt man eine sonderbare Trophäe, wie sie in den meisten spanischen Provinzhauptstädten zu finden ist: einen garstigen, beturbanten Mohrenkopf aus bemaltem Holz, der an der Orgel den Zwickel des Gewölbebogens abschließt. Derartige Abbilder eines abgeschlagenen Kopfes sind o mit einem langen, weißen Bart ausgestattet, der an seinem Ende mit roter Farbe besprenkelt ist, um das unreine Blut des Besiegten zu veranschaulichen. In den Schiffen sind die Schlußsteine der Gewölbe häufig als Wappenschilde ausgebildet, denn für die mallorquinischen Adelsfamilien war die Anbringung ihres Wappens im Gotteshaus ein Privileg, das
sie sich viel Geld kosten ließen. Doch konnte die Kathedrale dank dieser Eitelkeitssteuer während eines Jahrhunderts vollendet werden, als die Frömmigkeit stark abgekühlt war. Es wäre allerdings ungerecht, allein den Mallorquinern eine Schwäche nachzusagen, die sie mit den frommen Edelleuten der ganzen damaligen Welt gemein hatten. Die Lonja ist das Bauwerk, das mich am meisten beeindruckt hat. Seine ausgefallenen Proportionen mindern keineswegs die Harmonie und geschmackvolle Schlichtheit. Diese Börse wurde in der ersten Häle des . Jahrhunderts gebaut und besteht aus einem einzigen riesigen Saal, der von sechs schlanken, spiralförmig gewundenen Säulen getragen wird. Sie, die früher als Treffpunkt der zahlreichen, nach Palma strömenden Händler und Schiffer diente, zeugt von dem einst glänzenden Handelsplatz, heutzutage wird sie nur noch für öffentliche Festlichkeiten benutzt. Es wäre interessant gewesen, die Mallorquiner in den prächtigen Kostümen ihrer Vorväter zu sehen, wie sie sich bedächtig in diesem alten Ballsaal tummeln. Aber der Regen hielt uns derzeit in den Bergen gefangen, so daß wir in diesem Karneval nicht teilnehmen konnten; weniger berühmt, so ist er doch vielleicht weniger langweilig als der von Venedig. So angetan von der Lonja ich auch immer war, so hat sie doch in meiner Erinnerung jenes wundervolle Kleinod nicht ausgestochen, das
man Ca’ d’oro nennt, die alte Münze am Canale Grande. Der Königspalast soll im Jahre gebaut worden sein. M. Laurens erwähnt, daß ihn die kleinen Zwillingsfenster und die merkwürdigen Säulchen verwirrt hätten, die er an diesem Gebäude untersucht hat. Wäre es vielleicht zu kühn, die Stilwidrigkeiten, die man an so vielen mallorquinischen Bauten feststellt, damit zu erklären, daß ältere Bauteile in spätere Gebäude eingesetzt wurden? Zur Zeit der Renaissance wurden in Frankreich und Italien echte griechische und römische Medaillons und Basreliefs in die skulpturelle Ausgestaltung übernommen; ist es da nicht möglich, daß die Christen Mallorcas nach der Demolierung aller maurischen Bauten aus den gehaltvollen Trümmern das Brauchbare herausgelesen haben, um es bei ihrem Wiederauau zu verwenden? Wie dem auch sei, der Königspalast von Palma bietet einen recht pittoresken Anblick. Es gibt nichts, was unregelmäßiger, wirrer und von wüsterer Mittelalterlichkeit sein könnte als dieser Herrensitz, ebenso aber nichts Stolzeres, Eigenwilligeres und Hidalgomäßigeres als diese Burg; mit ihren Galerien, Türmen, Terrassen und Arkaden, von denen eine über die andere bis zu einer beträchtlichen Höhe klettert, gipfelt sie in einen gotischen Engel, der aus den Wolken über das Meer gen Spanien blickt.
Dieser Palast, in dem die Archive auf bewahrt werden, ist die Residenz des Generalkapitäns, der ranghöchsten Persönlichkeit der Insel. M. Grasset de Saint-Sauveur beschreibt das Innere: »Zunächst gelangt man in eine Art Vorhalle, die als Wache dient. Nach rechts geht es dann in zwei große Säle, in denen kaum ein Stuhl steht. Der dritte ist der Audienzsaal; in ihm steht ein ron in Purpursamt mit goldenen Fransen auf einer Estrade von drei Stufen, die mit Teppich ausgelegt sind. Flankiert wird der ron von zwei Löwen aus vergoldetem Holz. Der Baldachin darüber ist ebenfalls aus Purpursamt und trägt eine Zier aus Straußenfedern. Über dem ron hängen Bilder des Königs und der Königin. An Galatagen empfängt der Generalkapitän in diesem Saal Behördenvertreter, die Offiziere der Garnison sowie auswärtige Besucher von Rang.« Für den Generalkapitän, der als Gouverneur fungiert, hatten wir Empfehlungsschreiben; er erwies uns die Ehre, denjenigen von uns in diesem Audienzsaal zu empfangen, der die Überbringung auf sich genommen hatte. Unser Reisegefährte traf den hohen Beamten in der Nähe seines rones an, offenbar der gleiche, den Grasset im Jahre beschrieb, denn er war abgenutzt, ausgeblichen, verschlissen und voller Öl- und Wachsflecken. Die beiden Löwen zeigten kaum noch Spuren von Vergoldung, schnitten aber noch immer grimmige
Fratzen. Nur die Königsbilder waren ausgewechselt worden; jetzt hing dort das Konterfei der ach so keuschen Isabella, ein gräßliches Tingeltangelplakat in dem alten, vergoldeten Rahmen, in dem sich ihre erhabenen Vorfahren abgelöst hatten wie Vorlagen im Passepartout eines Kunstschülers. Obwohl der Gouverneur untergebracht war wie der Fürst Irenäus in E. T. A. Hoffmanns Kater Murr, so war er doch ein Mann von hohem Ansehen und von vornehmer Leutseligkeit. Ein viertes bemerkenswertes Gebäude ist das Ayuntamiento oder Rathaus aus dem . Jahrhundert, dessen Stil o zu Recht mit dem florentinischer Paläste verglichen wird, weil es wie diese ein weit vorspringendes Dach besitzt, wie man es übrigens auch am Schweizerhaus findet. Es hat jedoch die Besonderheit, daß es von Caissons mit reichgeschnitztem Rosettenmuster gestützt wird, die sich mit langgestreckten Karyatiden abwechseln. Dieses Gebäude, das ich nie betreten habe, beherbergt eine Gemäldegalerie mit den Porträts der großen Männer Mallorcas sowie einen herrlichen Heiligen Sebastian von Van Dyck, auf den mich aufmerksam zu machen niemand in Mallorca für nötig gehalten hat. Laut M. Laurens hat die Kunstschule von Palma eine stattliche Reihe bedeutender Maler, Bildhauer, Architekten usw. hervorgebracht. Ich gestehe aber ganz unbefangen, daß ich während meines Auf
enthalts in Palma auch nicht im geringsten die Nähe so vieler großer Männer spürte oder Anzeichen ihrer Existenz bemerkte. Wenn man von den wenigen Gemälden der spanischen Schule im Besitz der reichen Familien absieht, so findet man in Geschäen oder bei einfachen Bürgern nur primitive Farbdrucke, wie sie bei uns in Frankreich von Hausierern armen Bauern angedreht werden. Palma ist besonders stolz auf das Palais des Grafen von Montenegro, eines alten Herrn von über Jahren; der ehemalige Genepalkapitän ist wegen seiner edlen Abkun und seines Reichtums eine der angesehensten und einflußreichsten Persönlichkeiten der Insel. Er besitzt eine Bibliothek, die zu besuchen uns gestattet wurde. Ich habe allerdings keinen einzigen Band aufgeschlagen – mein Respekt vor Büchern ist so groß, daß sie mir fast Bange machen –, und ich wäre nicht imstande, auch nur das Geringste darüber auszusagen, hätte mich nicht ein gelehrter Landsmann auf die Bedeutung dieser Schätze hingewiesen, unter denen ich mich achtlos bewegte wie der Hahn der Fabel unter den Perlen. Ich war viel mehr an der Behausung eines alten, unverheirateten Cavallers interessiert: ein nüchternes und deprimierendes Interieur, über das stumm ein Priester waltete. Unter den Kostbarkeiten, die uns gezeigt wurden, befand sich auch die schöne Seekarte des Mallor
quiners Valseca aus dem Jahre , ein Meisterwerk der Topographie und des Illuminierens, das in liebevoller Arbeit mit Miniaturen ausgeschmückt worden war. Diese Karte hatte Amerigo Vespucci gehört, der sie sehr teuer bezahlt hatte, wie aus einer zeitgenössischen, handschrilichen Notiz auf der Rückseite hervorgeht: Questa ampla pelle di geographia fu pagata da Amerigo Vespucci CXXX ducati di oro di marco. Beim Schreiben dieser Zeilen sträuben sich mir die Haare, denn ich muß an einen entsetzlichen Zwischenfall denken. Der Kaplan entrollte vor uns die unschätzbare Seekarte, für die ein Montenegro vermutlich noch mehr Dukaten ausgegeben hatte als Amerigo Vespucci, als einer der oder Diener die glorreiche Idee hatte, ein Schreibzeug aus Kork zur Beschwerung auf eine der Ecken des Pergaments zu stellen; das Tintenfaß war randvoll! Plötzlich regte sich das an seine Rollenform gewöhnte Pergament; vielleicht von einem hämischen Kobold angestachelt, machte es knackend einen Hopser und rollte sich unter Mitnahme des Schreibzeugs wieder ein, sichtlich erleichtert, den Zwang los zu sein. Ein allgemeiner Aufschrei; der Kaplan wurde bleicher als das Pergament. Mit einem letzten Schimmer von Hoffnung wurde die Karte langsam wieder aufgerollt. O weh! das Tintenfaß war leer. Die Karte war überschwemmt, und die niedlichen Miniaturkönige schwammen
buchstäblich in dunkleren Fluten als die des Schwarzen Meers. Alles verlor den Kopf; ich glaube, der Kaplan wurde ohnmächtig. Diener kamen mit Eimern voll Wasser gelaufen, als gelte es, Feuer zu löschen, und machten sich mit Schwämmen und Bürsten eifrig ans Säuberungswerk; Könige und Meere, Inseln und Kontinente wurden weggewischt. Ehe wir diesen fatalen Eifer steuern konnten, waren Teile der Karte verdorben. Zum Glück war der Schaden wieder gutzumachen, weil nach einer genauen Kopie restauriert werden konnte. Aber was hatte der Kaplan seinem Herrn zu beichten? Im Moment der Katastrophe standen wir zwar alle in zwei Meter Entfernung vom Tisch, doch bin ich ganz sicher, daß uns die gesamte Schuld in die Schuhe geschoben wurde und daß dieser Umstand nicht dazu beigetragen hat, die Franzosen in Mallorca beliebter zu machen. Dieser tragische Zwischenfall hinderte uns daran, die übrigen Schätze des Palais Montenegro zu bewundern oder auch nur zu Gesicht zu bekommen. Es entging uns also das Münzkabinett mit wertvollen keltiberischen, maurischen, griechischen, römischen und mittelalterlichen Stücken – es soll fachmännische Aufnahme und Klassifizierung dringend nötig haben –; dann die Sammlung antiker Bronzen und Marmorskulpturen, die großenteils von den Ausgrabungen in Ariccia stammen, und
schließlich die Gemälde der spanischen und italienischen Schulen, unter denen einige den bedeutendsten Galerien Europas zur Zierde gereichen würden. Wir flüchteten lieber, bevor der Herr des Hauses erschien, und haben uns dort nie wieder hingetraut. Schließlich muß ich noch das Schloß Bellver erwähnen, die ehemalige Residenz der Könige von Mallorca; ich habe es nur von weitem auf seinem Hügel liegen sehen, von dem aus es das Meer majestätisch überblickt. Der sehr alte Bau ist jetzt Festung, eines der strengsten spanischen Staatsgefängnisse. ›Die Mauern, wie sie heute stehen‹, schreibt M. Laurens ›wurden am Ende des . Jahrhunderts errichtet; sie sind in ausgezeichnetem Erhaltungszustand und umfassen eins der merkwürdigsten Beispiele militärischer Architektur des Mittelalters.‹ Als er es besuchte, fand M. Laurens etwa karlistische Gefangene vor; sie waren halbnackt unter Lumpen, einige fast noch Kinder, und aßen mit lärmender Fröhlichkeit aus Blechnäpfen die derben Makkaroni, die mit Wasser in einem Kessel gekocht worden waren. Die Wachmannschaen saßen, die Zigarre im Mund, dabei und strickten Strümpfe.
III Auf den ersten Blick ist das Wesen Palmas schwer auszumachen. Man muß schon des Abends durch die abgründigen, geheimnisvollen Gassen der Innenstadt schlendern, um den eleganten Stil und die originelle Anlage auch der einfacheren Häuser auf sich wirken zu lassen. Von der Nordseite, also vom Innern der Insel her, zeigt Palma wohl am ehesten sein ganzes afrikanisches Gesicht. M. Laurens empfand diese romantische Schönheit, die einen einfachen Altertumsforscher ungerührt gelassen hätte; er zeichnete dann auch einen dieser Ausblicke nach, der mich durch seine Großartigkeit und Melancholie am meisten beeindruckt hatte. Es handelt sich um eine Partie der Stadtmauer, auf der sich unweit der San Agustin geweihten Kirche ein gewaltiger quadratischer Block ohne jede Öffnung außer einer kleinen überwölbten Pforte erhebt. Eine Gruppe schöner Palmen krönt diesen Quader, letztes Überbleibsel einer Festung der Tempelritter und, überwältigend in seiner trübseligen Nacktheit, Vordergrund für das herrliche Gemälde dahinter: die lachende, fruchtbare Ebene, die in der Ferne durch die blauen Berge von Valldemosa
begrenzt wird. Gegen Abend wechselt die Stimmung dieser Landscha von Stunde zu Stunde und wird zunehmend harmonischer. Bei Sonnenuntergang haben wir sie in funkelndem Rosa gesehen; dann ging der Ton von einem prächtigen Purpur in silbriges Lila über und wandelte sich beim Eintritt der Nacht zu einem durchsichtigen Blau. M. Laurens skizzierte eine Reihe weiterer Ansichten von Palmas Stadtwall aus. ›Jeden Abend‹, schreibt er, ›wenn die Sonne alles in lebhae Farben taucht, schlenderte ich über den Wall und hielt bei jedem Schritt inne, um die glücklichen Zufälligkeiten zu betrachten, die sich aus dem Zusammenspiel der Konturen der Berge und des Meeres mit denen der Gebäude in der Stadt ergaben.‹ ›Hüben war die innere Böschung des Stadtwalls mit einem undurchdringlichen Agavendickicht bewachsen, aus dem zu Hunderten jene hohen Stengel herausragten, deren Blütenstand ihnen das Aussehen von riesigen, vielarmigen Kandelabern gibt. Drüben in den Gärten standen Gruppen von Palmen inmitten von Feigenbäumen, Kakteen, Orangenbäumen und baumhohen Rizinusstauden, dahinter erschienen Erker und rebenbeschattete Terrassen; schließlich zeichneten sich die Fialen der Kathedrale sowie die Glockentürme und Kuppeln der vielen Kirchen in Silhouette gegen die leuchtende Reinheit des Himmels ab.‹
Ein anderer Spaziergang, auf dem die Empfindundungen von M. Laurens mit den meinen übereinstimmten, war der zu den Ruinen des Dominikanerklosters. Am Ende eines rebenberankten, auf Marmorsäulen ruhenden Laubenganges stehen vier hohe Palmen; dadurch, daß der Garten in Terrassen ansteigt, wirken sie ins Riesenhae gesteigert, zumal sie infolge dieser gehobenen Stellung in das Stadtbild vollkommen eingegliedert sind, denn ihre Gipfel liegen auf gleicher Ebene mit den Dächern. Durch ihre Wedel sieht man den oberen Teil der Fassade der Kirche des San Francisco de Padua, den massigen Turm mit dem einst berühmten Glockenspiel und den Engelsturm des Königspalastes. Dieses Kloster der Inquisition, heute ein Trümmerfeld, wo einige Sträucher und aromatische Kräuter hier und da den Schutt durchstoßen, ist nicht vom Zahn der Zeit zernagt worden. Die jähere und unerbittlichere Faust der Revolution hat vor wenigen Jahren dieses Bauwerk zermalmt und fast in Staub verwandelt. Man sagt, es sei ein architektonisches Meisterwerk gewesen; jedenfalls wird die einstige Pracht von den Überresten bezeugt, von Fragmenten reichen Mosaiks, von einigen grazilen Bögen, die stehengeblieben sind und sich in die Leere recken wie Skelette. Die Zerstörung solcher erhabenen Stätten christlicher Kunst in ganz Spanien erbittert noch immer
den mallorquinischen Adel und betrübt zu Recht die Künstler. Vor zehn Jahren wäre vielleicht auch ich mehr von dem Vandalismus dieser Zerstörung betroffen gewesen als von dem Blatt der Geschichte, das er illustriert. Aber obwohl man durchaus die schwache und gleichzeitig gewalttätige Seite der Aktionen bedauern mag, die durch das notorische Dekret ausgelöst werden sollten, so muß ich doch gestehen, daß ich auf diesem Trümmerhaufen nicht jenes Gefühl der Trauer verspürte, das Ruinen gewöhnlich auommen lassen. Der Blitz hatte dort eingeschlagen, der Blitz, der ein blindes Werkzeug ist, eine ungebändigte Kra wie der Zorn des Menschen; aber die Vorsehung, welche die Elemente lenkt und über ihre scheinbare Unruhe waltet, weiß genau, daß die Keime neuen Lebens unter der Trümmerasche verborgen sind. Am Tage, als die Klöster untergingen, war etwas wie ein Bedürfnis nach Erneuerung in der politischen Atmosphäre Spaniens, ein Bedürfnis, wie es die Natur bei ihren fruchtbaren Krampf zuständen empfindet. Was man mir in Palma erzählt hat, glaube ich nicht; danach hätten einige Unzufriedene, die auf Rache oder Beute aus waren, diese Greueltat vor den Augen der entsetzten Bevölkerung vollbracht. Es hätte vieler Unzufriedener bedur, um einen derart riesenhaen Gebäudekomplex in Schutt zu legen, und es hätte unter der Bevölkerung recht wenig Mit
gefühl geben müssen, um so den Vollzug eines Dekrets mitanzusehen, gegen das sich die Herzen auflehnten. Ich glaube viel eher, daß der erste, vom Scheitel dieser Kuppeln herausgebrochene Stein in der Volksseele ein Gefühl der Furcht und des Respekts erstickte, das dort noch ebensowenig Halt hatte wie der klösterliche Glockenturm auf seinen Grundfesten. Ich glaube ferner, daß jeder empfand, wie sein Innerstes von einem merkwürdigen, jähen Drang aufgerührt wurde und sich auf den Kadaver mit einer Mischung von Mut und Angst, Wut und Reue stürzte. Das Mönchswesen bemäntelte wahrlich viele Übeltaten und gab viel Egoismus Vorschub. Frömmigkeit ist eine Macht in Spanien, und zweifellos hat manch ein Trümmerheld bereut und tags darauf den Mönchen gebeichtet, die er gerade aus ihrem Heim verjagt hatte. Aber im Herzen des einfältigsten und blindesten Menschen existiert etwas, das ihn vor Begeisterung erbeben läßt, wenn ihm das Schicksal eine souveräne Aufgabe stellt. Mit seinen Pfennigen und seinem Schweiß hatte das spanische Volk diese hofartigen Paläste der Ordensgeistlichkeit erbaut und an deren Pforte seit Jahrhunderten den Obolus müßiger Bettelei und die Krumen geistiger Versklavung empfangen. Es hatte sich an den Verbrechen dieser Geistlichkeit beteiligt und die Hand im niederträchtigen Spiele gehabt. Es hatte die Scheiterhaufen der Inquisition
errichtet. Es war Komplize und Denunziant bei der grausamen Verfolgung ganzer Rassen gewesen, die man ausrotten wollte. Die Vertilgung jener Juden, durch die es reich geworden war, und die Verbannung jener Mauren, denen es seine Zivilisation und Größe verdankte, wurde ihm vergolten mit der himmlischen Strafe der Misere und der Ignoranz. Es war zu befangen und zu fromm, um es die Geistlichkeit, sein Geschöpf, seinen Verderber und seine Geißel entgelten zu lassen. Es litt zwar lange Zeit gebeugt unter diesem selbstgefertigten Joch, doch eines Tages drangen seltsame, kühne Stimmen an sein Ohr und sprachen zu seinem Gewissen von Erlösung und Befreiung. Es begriff den Irrtum seiner Väter, schämte sich seiner Erniedrigung, entrüstete sich über sein Elend und zerbrach die Götzenbilder, wenn es auch seine Verehrung für Heilige und Reliquien nicht auf gab; es glaubte einfach stärker an sein Recht als an seine Religion. Was ist eigentlich diese geheimnisvolle Macht, die den zerknirschten Frommen plötzlich so weit mitreißt, daß er eines Tages fanatisch auf die Idole losgeht, die er sein ganzes Leben angebetet hat? Bestimmt ist es weder Unzufriedenheit mit den Menschen noch Verdruß an Dingen. Es ist die Unzufriedenheit mit sich selbst, der Verdruß an dem eigenen Kleinmut. Und das spanische Volk bewies mehr Größe an
jenem Tag, als man meinen könnte. Es vollbrachte eine entscheidende Tat und begab sich selbst der Mittel, seinem Entschluß untreu zu werden wie ein Kind, das erwachsen werden will und seine Spielsachen zerbricht, um nie wieder in die Versuchung zu geraten, mit ihnen zu spielen. Was nun Don Juan Mendizabal angeht – als Premierminister während des fraglichen Jahres Spiritus rector der antimonastischen Dekrete –, so war er, wenn meine Informationen über ihn als Politiker zutreffen, eher ein Mann der Grundsätze als ein Mann der Tat, was nach meiner Ansicht das höchstmögliche Lob ist. Wenn dieser Staatsmann vielleicht zu Zeiten den geistigen Zustand Spaniens überschätzt, zu anderen wieder unterschätzt hat, wenn er manchmal schlecht abgepaßte oder halbe Maßnahmen ergriff und seine Ideen auf unfruchtbaren Acker aussäte, wo der Samen erstickt oder weggefressen werden mußte, so mag das ausreichen, um ihm die Durchsetzungskra und Ausdauer abzusprechen, die für den kurzfristigen Erfolg seiner Unternehmungen vonnöten gewesen wäre. Dies ist jedoch kein Grund, weshalb die Geschichte, vom höheren philosophischen Standpunkt aus betrachtet, ihn nicht eines Tages als einen der mutigsten und fortschrittlichsten Geister Spaniens anerkennen sollte. Diese Gedanken kamen mir o auf den Ruinen der mallorquinischen Klöster; wo ich hören mußte,
wie Mendizabals Name verflucht wurde, hätte man es uns sicher verargt, wenn wir uns beifällig über ihn geäußert hätten. Ich sagte mir infolgedessen, daß außer Ansichten über politische Tagesfragen, für die ich mit Verlaub weder Neigung noch Verständnis auringe, auch ein Gesamturteil über Männer und sogar über Ereignisse existiert, das ich abgeben kann, ohne befürchten zu müssen, völlig fehl zu gehen. Man braucht ein Volk nicht, wie meist behauptet wird, aus eigener Anschauung zu kennen, nicht seine Sitten und äußeren Umstände von Grund auf studiert zu haben, um sich einfühlend eine richtige Vorstellung von seiner Geschichte, seiner Zukun, kurz von seinem geistigen Wesen zu machen. Mir scheint es in der allgemeinen Geschichte des menschlichen Lebens eine allen Völkern gemeinsame große Linie zu geben, die sich verfolgen läßt und an die sämtliche Fäden ihrer besonderen Geschichte anknüpfen. Diese Linie kennzeichnet das Bewußtsein eines Ideals und das ständige Streben danach oder, wenn man so will, den Drang zur Vervollkommnung, den die Menschen ebenso im Zustand blinden Instinkts wie in dem blendender Geistesbildung in sich getragen haben. Alle wirklich großen Männer waren davon durchdrungen und suchten, jeder auf seine Art, danach zu handeln; und die beherztesten, die der klarsten Erleuchtung teilhaig waren und die in der Gegenwart die schwersten Schläge führten, um
die Zukunsentwicklung zu beschleunigen, waren diejenigen, welche von ihren Zeitgenossen fast immer verkannt wurden. Man hat sie geschmäht und verdammt und sie erst beim Pflücken der Früchte ihrer Arbeit wieder auf das Piedestal zurückgestellt, von dem man sie wegen einiger vorübergehender Enttäuschungen und schwer verständlicher Rückschläge hinabgestoßen hatte. Wieviele unserer berühmten Revolutionshelden sind verspätet und zagha rehabilitiert worden? Und wie mangelha erklärt man auch heute noch ihre Sendung und Leistung? In Spanien war Mendizabal einer der am härtesten verurteilten Minister, weil er der mutigste, vielleicht der einzige mutige war, und die Tat, die seine kurze Zeit im Amt unvergeßlich macht, nämlich die Zerstörung von Klöstern, ist ihm so hart vorgeworfen worden, daß ich das Bedürfnis habe, hier für diesen tapferen Entschluß und für den Rausch der Begeisterung einzutreten, mit dem das spanische Volk ihn aufnahm und ausführte. Jedenfalls übermannten mich solche Gefühle beim Anblick dieser Ruinen, welche die Zeit noch nicht geschwärzt hat und die gleichermaßen gegen die Vergangenheit zu protestieren und das Erwachen der Wahrheit beim Volk zu proklamieren scheinen. Ich glaube nicht, die Liebe zur Kunst und die Achtung vor ihr verloren zu haben; ebensowenig bin ich rachdürstig oder zerstörungswütig; auch ge
höre ich nicht zu denen, die den Kult des Schönen nutzlos finden, und es für sinnvoller halten, wenn man historische Bauten in Fabriken umwandelte. Ein Kloster der Inquisition, vom Arm des Volkes niedergerissen, ist jedoch ein ebenso großartiges, ebenso lehrreiches und ebenso herzbewegendes Blatt der Geschichte wie ein römischer Aquädukt oder ein Amphitheater. Eine Behörde, die kaltblütig die Zerstörung eines Gotteshauses aus niedrigen Motiven der Zweckmäßigkeit oder lächerlicher Sparsamkeit verfügte, würde die Schuld einer rohen Tat auf sich laden. Aber ein Politiker, der im entscheidenden und gefahrenträchtigen Moment Kunst und Wissenscha höheren Werten wie Vernun, Gerechtigkeit, Religionsfreiheit opfert, und ein Volk, das trotz seiner angeborenen Frömmigkeit, seinem Hang zu katholischem Pomp und seinem Respekt vor Mönchen genügend Herzen und Arme rühren kann, um dieses Dekret in die Tat umzusetzen, handelt wie eine Schiffsbesatzung, die ihre Wertsachen über Bord wir, um ihr Leben zu retten. Weine drum, wer mag, über die Ruinen! Fast alle Bauwerke, deren Fall wir beklagen, waren Kerker, in denen Jahrhunderte hindurch Seelen und Körper von Menschen geschmachtet haben. O kämen doch Dichter, die anstatt die Flucht der Welt Jugendzeit zu bejammern, in ihren Versen auf diesen Trümmern von vergoldetem Flitterwerk und blut
befleckten Ruten das Mannesalter besängen, das sich davon freigemacht hat. Adalbert von Chamisso hat sehr schöne Verse über das Schloß Boncourt, den Stammsitz seiner Ahnen, gemacht, das während der französischen Revolution zerstört wurde. Dieses Gedicht enthält einen Gedanken, der in der Poesie so neu ist wie in der Politik: So stehst du, o Schloß meiner Väter, mir treu und fest in dem Sinn und bist von der Erde verschwunden, der Pflug geht über dich hin. Sei fruchtbar, o teurer Boden, ich segne dich mild und gerührt, und segne ihn zwiefach, wer immer den Pflug nun über dich führt. Nachdem ich die Erinnerung an dieses schöne Gedicht wachgerufen habe, darf ich es wagen, hier einige Seiten Prosa einzufügen, zu denen mich das Dominikanerkloster inspirierte? Warum nicht, denn auch der Leser sollte Nachsicht üben können, wo es sich für ihn darum handelt, einen Gedanken zu beurteilen, den die Autorin ihm unter Aufopferung ihrer Selbstachtung und eingefleischter Neigungen unterbreitet? Möge dieses Fragment zumindest etwas Abwechslung in die vorstehende trockene Aufzählung von Bauwerken bringen!
IV Das Kloster der Inquisition Auf den Trümmern eines Klosters begegneten sich zwei Männer im klaren Schein des Mondes. Der eine stand offenbar in der Blüte seines Lebens, der andere war gebeugt unter der Last der Jahre und dennoch der jüngere von ihnen. Beide erschraken, als sie sich plötzlich gegenüberstanden, denn zu so später Nachtstunde waren die Straßen ausgestorben, und vom Turm der Kathedrale schlug die Uhr gemessen und unheilverkündend. Der scheinbar ältere sprach als erster: »Wer du auch immer sein magst, Mann; fürchte nichts von mir, denn ich bin schwach und gebrochen. Erwarte auch nichts von mir, denn ich bin nackt und arm auf dieser Welt.« »Freund«, antwortete der andere, »nur wer mich angrei ist mein Feind, und ich bin wie du zu arm, um Räuber zu fürchten.« »Warum zittertest du dann, Bruder, als ich vor dir stand?« »Weil ich wie alle Künstler ein bißchen abergläubisch bin, und weil ich dich für den Geist eines jener verblichenen Mönche gehalten habe, deren verwüstete Gräber wir mit unseren Füßen treten. Und
weshalb bist auch du erschrocken, als du mich plötzlich vor dir sahst?« »Weil ich wie alle Mönche sehr abergläubisch bin, und weil ich dich für den Geist eines jener Mönche gehalten habe, die mich lebendig in das Grab gesperrt haben, das du mit deinen Füßen trittst.« »Was sagst du da? Bist du vielleicht einer jener Mönche, nach denen ich emsig aber vergeblich in ganz Spanien gesucht habe?« »Bei Tageslicht wirst du uns nirgends mehr finden, aber im Schatten der Nacht magst du uns noch begegnen. Nun ist dein Wunsch erfüllt; aber was willst du schon von einem Mönch?« »Ihn betrachten, ihm Fragen stellen, Pater, mir seine Züge einprägen, um sie im Bild nachzuzeichnen, seine Worte in mich aufnehmen, um sie meinen Landsleuten zu wiederholen, kurz, ihn kennenlernen, um mich vollzusaugen mit all dem, was es an Geheimnisvollem, an Poesie und Größe im Wesen des Mönches und im Klosterleben gibt.« »Wie kommst du auf so ausgefallene Gedanken, Fremdling? Bist du nicht aus einem Land, wo der Papst nichts mehr zu sagen hat, wo die Mönche geächtet und die Klöster aufgehoben sind?« »Unter uns gibt es immerhin noch einige, deren fromme Seelen an der Vergangenheit hängen und deren glühende Phantasie von der Poesie des Mittelalters angefacht wird. Alles was uns davon einen auch noch so schwachen Du zutragen kann, su
chen wir, verehren wir, beten wir fast an. Glaubt nur nicht, Pater, wir seien allesamt blinde Frevler. Wir Künstler hassen dieses brutale Volk, das alles, was es anfaßt, beschmutzt und zerbricht. Weit davon entfernt, seine mörderischen und destruktiven Erlasse zu unterschreiben, bemühen wir uns in unseren Bildern, unseren Gedichten und eaterstücken, kurz in allen unseren Werken, die alten Traditionen wiederzuerwecken und den Geist des Mystizismus, der jenes herrliche Kind, die christliche Kunst, zeugte, neu zu beleben.« »Was sagst du da, mein Sohn? Ist es möglich, daß sich die Künstler deines freien und blühenden Landes ihre Inspirationen anderwärts holen als in der Gegenwart? Für sie gibt es doch so viele neue Dinge zu besingen, zu malen, zu verherrlichen! Und sie sollten, wie du sagst, über die Erde gebeugt leben, in der ihre Ahnen ruhen? Sie sollten im Staub der Grüe eine heitere und fruchtbare Eingebung suchen, wenn Gott in seiner Güte ihnen ein so angenehmes Leben in einer schönen Zeit beschert hat?« »Ich weiß nicht, guter Mönch, woher du deine Vorstellungen von unserer Zeit und unserem Leben beziehst. Wir Künstler befassen uns nicht mit Politik, und soziale Fragen interessieren uns noch weniger. Es wäre vergeblich, suchten wir Poesie in dem, was um uns herum vorgeht. Die Künste siechen dahin, der Hauch des Geistes wird erstickt,
der schlechte Geschmack triumphiert, die materielle Seite des Lebens nimmt alle Menschen in Anspruch. Hätten wir uns nicht den Kult der Vergangenheit erhalten, und besäßen wir nicht die Denkmäler des jahrhundertealten Glaubens, um uns zu beschwingen, wir würden das heilige Feuer ganz und gar verlieren, das wir mit Mühe und Not bewahren.« »Man hat mir aber doch erzählt, daß menschlicher Geist noch niemals so große Fortschritte gemacht habe wie jetzt in eurem Umkreis auf dem Gebiet des Sozialwesens, des industriellen Wachstums und der Meinungsfreiheit. Hat man mich etwa belogen?« »Wenn man dir gesagt hat, Pater, daß man noch zu keiner früheren Zeit aus materiellen Reichtümern einen solchen Luxus, einen solchen Wohlstand und aus den Trümmern des ancien régime eine so erschreckende Vielfalt von Geschmacksrichtungen, Meinungen und Doktrinen geschöp hat, dann hat man dir die Wahrheit gesagt. Wenn man dir aber verschwieg, daß uns alle diese Dinge, anstatt uns glücklich zu machen, erniedrigt und entwürdigt haben, so hat man dir nicht die volle Wahrheit gesagt.« »Wie kann denn aber ein so widersinniges Resultat Zustandekommen? Hat sich etwa alles Wasser aus den Quellen des Glücks auf euren Lippen in Gi verwandelt? Und wie konnte es zugehen, daß
das, was den Menschen groß, gerecht und gut werden läßt, nämlich Wohlergehen und Freiheit, euch klein und erbärmlich gemacht hat? Erkläre mir diese Ungereimtheit.« »Pater, muß gerade ich dich daran erinnern, daß der Mensch nicht von Brot allein lebt? Seit wir unseren Glauben verloren haben, konnten alle unsere sonstigen Errungenschaen unserer Seele nichts nützen.« »Erkläre mir doch bitte noch, mein Sohn, wie ihr euren Glauben verloren habt, wo doch Verfolgungen aus religiösen Gründen bei euch aufgehört hatten und ihr infolgedessen imstande wart, eure Seelen weit zu machen und eure Augen zum göttlichen Licht zu erheben? Der Zeitpunkt des Wissens hätte doch der Zeitpunkt des Glaubens sein sollen. Und in dem Augenblick habt ihr gezweifelt? Was hat eure Köpfe umwölkt?« »Die Wolke der Schwäche und des menschlichen Elends. Ist Forschung denn nicht unvereinbar mit Glaube, Pater?« »Genauso könntest du mich fragen, junger Mann, ob Glaube und Wahrheit miteinander vereinbar seien. Glaubst du denn an nichts, mein Sohn? Oder glaubst du vielleicht an Trug?« »Ach, ich glaube nur an die Kunst. Aber genügt das nicht, um der Seele Kra, Vertrauen und höchste Wonnen zu verschaffen?« »Nicht daß ich wüßte, mein Sohn, und mir leuch
tet das nicht ein. Es muß doch schließlich bei euch noch glückliche Menschen geben? Und du selbst, hast du dich nun vor Mutlosigkeit und Leid bewahren können?« »Nein, Pater, die Künstler sind die unglücklichsten, die erbittertsten, die gequältesten von allen, weil sie täglich den Gegenstand ihrer Verehrung tiefer fallen sehen, und weil sie trotz allen Bemühens machtlos sind, ihn wieder aufzurichten.« »Aber wie ist es möglich, daß so von Idealen durchdrungene Menschen die Künste verkommen lassen, anstatt sie zu beleben?« »Weil sie nicht mehr glauben, und weil Kunst ohne Glaube sinnlos ist.« »Sagtest du mir nicht soeben, die Kunst sei für dich eine Religion? Du widersprichst dir, mein Sohn, oder ich bin schwer von Begriff.« »Freilich widersprechen wir uns selbst, Pater, wir, denen Gott eine Sendung anvertraut hat, von der die Welt nichts wissen will; wir, vor denen die Gegenwart die Pforten des Ruhms, der Inspiration, des Lebens verschließt; wir, die wir gezwungen sind, in der Vergangenheit zu leben und die Toten nach den Geheimnissen der ewigen Schönheit zu befragen, deren Kult den heutigen Menschen abhanden gekommen ist, seit ihre Altäre umgestürzt wurden. Wenn uns vor den Werken der großen Meister die Hoffnung lächelt, es ihnen gleichzutun, erfüllt uns Kra und Begeisterung. Wenn uns
aber bei der Verwirklichung unserer ehrgeizigen Träume eine ungläubige und bornierte Welt den kalten Hauch der Verachtung und des Spotts spüren läßt, können wir nichts schaffen, das unserem Ideal entspricht, und der künstlerische Funke erstirbt in uns, ehe er Flamme werden konnte.« Der junge Künstler sprach mit Bitterkeit in der Stimme. Der Mond beleuchtete sein kerniges und schwermütiges Gesicht, und der Mönch betrachtete ihn regungslos in naivem und wohlwollendem Erstaunen. »Setzen wir uns doch«, sagte er dann nach einer Pause des Schweigens und schritt voran zu der massigen Balustrade einer Terrasse, welche die Stadt, die Landscha und das Meer beherrschte. Diese Ecke des Gartens der Dominikaner war einstmals reich an Blumen, Springbrunnen und kostbaren Marmorarbeiten; heute war sie mit Trümmern besät und von hohen Unkräutern überwuchert, wie sie so kräig und rasch auf Ruinen sprießen. In seiner Erregung zerdrückte der Künstler eins davon in der Hand und warf es mit einem Schmerzensruf weit von sich. Der Mönch lächelte. »Das Brennen ist heig«, sagte er, »aber völlig ungefährlich. Mein Sohn, diese Brombeerranke, die dich verletzt, wenn du sie unvorsichtig berührst, ist symbolisch für jene groben Menschen, über die du dich vorhin beklagtest. Sie dringen in Paläste und Klöster ein. Sie steigen auf die Altäre und ma
chen sich auf den Scherben vergangener Pracht dieser Welt heimisch. Schau, mit welchem Sa und welcher Kra diese geilen Kräuter die Beete in Besitz genommen haben, auf denen wir mit großer Sorgfalt zarte und kostbare Pflanzen aufzogen; nicht eine einzige von ihnen hat den Mangel an Pflege überlebt! Gleicherweise haben sich die einfachen und halbwilden Menschen, die man wie diese nutzlosen Unkräuter ausjätete, wieder ihr Recht verscha und jene Gipflanze erstickt, die im Schatten wuchs und die man Inquisition nannte.« »Hätten sie diese Pflanzen nicht auch ersticken können, ohne die heiligen Stätten christlicher Kunst samt ihren Meisterwerken zu zerstören?« »Die maledeite Pflanze mußte mit der Wurzel ausgerissen werden, denn es war ein perennierendes Kriechgewächs. Man mußte die Klöster bis auf die Grundfesten zerstören, denn dort staken ihre Wurzeln.« »Doch, Pater, worin liegt die Schönheit dieser stachligen Eindringlinge, wozu taugt das Unkraut?« Der Mönch sann einen Augenblick nach und antwortete: »Da du ja Maler bist, wie du sagst, machst du doch sicher eine Skizze von diesen Ruinen?« »Natürlich. Worauf willst du hinaus?« »Wirst du dann in deiner Zeichnung diese langen Brombeerranken fortlassen, welche die Trümmer umkränzen und sich im Winde wiegen, oder wirst
du aus ihnen ein willkommenes Beiwerk deiner Komposition machen, wie ich es auf einem Gemälde von Salvator Rosa gesehen habe?« »Sie sind unzertrennliche Gefährten der Ruinen. Kein Maler würde ihrer entraten wollen.« »Dann hätten sie also ihre Schönheit, ihren Sinn und infolgedessen auch ihren Nutzen.« »Deine Parabel wird damit nicht stichhaltiger, Pater. Wenn du Bettler und Zigeuner auf diesen Ruinen gruppierst, werden sie dadurch nur noch unheimlicher und wüster. Die Bildkomposition mag davon gewinnen, aber was gewinnt die Menschheit?« »Vielleicht ein schönes Bild und ganz sicher eine wichtige Lehre. Aber ihr Künstler, die ihr diese Lehre erteilt, begrei nicht, was ihr tut, und seht hier nichts weiter als Steinhaufen und wucherndes Unkraut.« »Du bist hart. Wenn du so redest, könnte man dir entgegnen, du sähest in dieser Katastrophe nur die Zerstörung deines Gefängnisses und die Wiedererlangung deiner Freiheit, denn ich habe dich im Verdacht, Pater, daß das Kloster nicht nach deinem Geschmack war.« »Und du, mein Sohn, würdest du so viel Liebe zu Kunst und Poesie besitzen, um hier zu leben, ohne es leid zu werden?« »Nach meiner Vorstellung hätte es für mich kein schöneres Leben auf der Welt gegeben. O was für
ein gewaltiges und stilvolles Kloster dies gewesen sein muß! Welch raffinierte Pracht diese Überreste bezeugen! Wie wohltuend es gewiß war, des Abends hierher zu kommen, die sane Brise einzuatmen und beim Rauschen des Meeres zu träumen, umgeben von luigen, mit reichem Mosaik ausgelegten Bogengängen, beim Plätschern des kristallklaren Wassers in den Marmorbecken und beim Schimmer der silbernen Ampel, die wie ein blasser Stern im Grunde des Sanktuariums glomm! Welch tiefen Friedens, welch majestätischer Stille ihr teilhaig gewesen sein müßt, als Achtung und Vertrauen der Menschen euch mit einer unbezwinglichen Mauer umgaben, als man bei gesenkter Stimme jedesmal das Kreuz schlug, wenn man vor einem eurer geheimnisvollen Portale vorbeikam! Wer hätte nicht allen Sorgen, allen Mühen und allem ehrgeizigen Streben des Lebens in der menschlichen Gesellscha abschwören wollen, um sich hier in der Ruhe und im Vergessen der ganzen Welt zu vergraben unter der Bedingung, Künstler bleiben zu dürfen und zehn, vielleicht zwanzig Jahre einem einzigen Gemälde widmen zu können: man hätte es bedächtig poliert wie einen kostbaren Diamanten und hätte erlebt, wie es auf einen Altar gesetzt wird, nicht um vom ersten besten Dummkopf beurteilt und bekrittelt, sondern um begrüßt und angerufen zu werden als würdige Darstellung der Gottheit selbst!«
»Fremdling«, sagte der Mönch mit Strenge in der Stimme, »deine Worte sind anmaßend, und deine Träume eitel. In dieser Kunst, von der du mit so viel Emphase sprichst und die du so in den Himmel hebst, erblickst du nur dich selbst; und die Abgeschlossenheit, nach der du dich sehnst, wäre dir nur ein Mittel, um dich zu steigern und zu vergöttlichen. Ich verstehe jetzt, wie du an diese egoistische Kunst glauben kannst, ohne an eine Religion und eine Gemeinscha der Menschen zu glauben. Aber vermutlich hast du dir diese Dinge nicht reiflich überlegt, bevor du sie äußertest; vielleicht ist dir unbekannt, was sich in diesen Höhlen der Verderbnis und des Schreckens abspielte. Komm mit mir; was ich dir zeigen werde, ändert womöglich deine Gefühle und Gedanken.« Über Trümmerberge mit ihrer bröckelnden Unsicherheit machte der Mönch den Führer auf der nicht ganz gefahrlosen Klettertour zum Kern des zerstörten Klosters. An der Stelle, wo sich das Gefängnis befunden hatte, ließ er den jungen Mann vorsichtig hinabsteigen längs einer Fuß dicken Mauer, die von Pickel und Spaten in ihrer ganzen Mächtigkeit aufgerissen worden war. Im Grunde dieser unheimlichen Kruste aus Stein und Mörtel starrten wie klaffende Mäuler aus der Tiefe der Erde die Zellen ohne Licht und ohne Lu, voneinander getrennt durch Mauern gleicher Stärke wie die Schlußsteine der düsteren Gewölbe.
»Junger Mann«, sagte der Mönch, »diese Schächte, die du hier siehst, sind keine Brunnen, es sind auch keine Grüe; es sind die Verliese der Inquisition. Jahrhunderte hindurch sind hier alle Menschen eines langsamen Todes gestorben, die es, ob schuldig oder unschuldig vor Gott, ob vom Laster verdorben, ob vom Wahn gepackt, ob von genialen und tugendhaen Gedanken beflügelt, gewagt haben, anders zu denken als das Heilige Offizium. Diese Dominikaner waren Gelehrte, hochgebildet und auch Künstler. Sie hatten riesige Bibliotheken, wo die Spitzfindigkeiten der eologie in goldgeprägten Maroquinbänden auf Ebenholzregalen ihre Inkrustationen von Perlen und Rubinen zur Schau stellten; – indessen versenkten sie den Menschen, in dem Gott eigenhändig seine Gedanken aufgeschrieben hat, bei lebendigem Leibe und hielten ihn im Bauch der Erde verborgen. Sie besaßen Gefäße aus ziseliertem Silber, Kelche funkelnd von Edelsteinen, herrliche Gemälde und Madonnen aus Gold und Elfenbein, – indessen überlieferten sie den Menschen, Gottes lebendes Ebenbild, dieses auserwählte Gefäß, diesen Kelch gefüllt mit himmlischer Gnade, bei lebendigem Leibe der Todeskälte und den Würmern des Grabes. Mancher von ihnen züchtete Rosen und Narzissen mit der gleichen liebevollen Sorgfalt, wie man sie einem aufwachsenden Kind angedeihen läßt, empfand jedoch kein Mitleid, wenn er seinesgleichen, seinen Bru
der im moderigen Verlies bleichen und verrotten sah. – Das ist der Mönch, mein Sohn, das ist das Kloster. Einerseits wilde Brutalität, andererseits feige Angst. Raffinierte Selbstsucht oder gefühllose Frömmigkeit, das ist die Inquisition. Und weil die befreiende Hand beim öffnen dieser stinkigen Höhlen zum Einlaß des himmlischen Lichts einige Säulen stürzte und einige Vergoldungen trübte, sollte man deswegen über den verbleichenden Opfern die Grabplatten wieder an ihren Platz rücken; und sollte man über das Schicksal ihrer Henker Tränen vergießen, weil sie des Goldes und der Sklaven entraten müssen?« Der Künstler war in eins der Kellerlöcher hinabgestiegen, um die Wände zu untersuchen. Er bemühte sich einen Augenblick um eine Vorstellung von dem Ringen, das der lebendig begrabene menschliche Wille gegen die fürchterliche Verzweiflung einer solchen Gefangenscha durchzuhalten vermag. Kaum hatte sich aber dieses Bild in seiner lebhaen und empfänglichen Phantasie abgezeichnet, als er auch schon von Furcht und Schrecken erfaßt wurde. Er meinte, die Last dieser eisigen Gewölbe auf seiner Seele zu spüren, er zitterte an allen Gliedern, er rang nach Lu, er fühlte seine Kräe versagen, als er sich aus diesem Abgrund herausarbeiten wollte. Mit ausgebreiteten Armen schrie er dem Mönch zu, der oben am Rande stand:
»Hel mir, Pater, in des Himmels Namen, hel mir hier heraus!« »Also, mein Sohn«, sagte der Mönch und reichte ihm die Hand, »deine Empfindungen jetzt beim Anblick der glänzenden Sterne über deinem Kopf lassen dich sicher ahnen, was ich verspürte, als ich die Sonne nach zehn Jahren solcher Qualen wiedererblickte.« »Unglückseliger Mönch!« rief der junge Künstler aus, während er eilends zum Klostergarten zurückstrebte, »Ihr habt es zehn Jahre beinahe tot ausgehalten, ohne den Verstand oder das Leben zu verlieren? Wäre ich dort unten nur einen Moment länger geblieben, wäre ich bestimmt blöde oder wahnsinnig geworden. Nein, ich hätte nicht geglaubt, daß der bloße Anblick eines Kerkers so tiefe Schrecken einjagen kann, und ich vermag nicht zu verstehen, daß sich der Geist daran gewöhnt und damit abfindet. Ich habe die Folterwerkzeuge in Venedig gesehen, auch die Verliese des Dogenpalastes mit der finsteren Sackgasse, wo die Opfer von unsichtbarer Hand niedergestreckt fielen, und die Steinplatte, durch deren Löcher das Blut in den Kanal abfloß, ohne Spuren zuhinterlassen. Dort dachte ich nur an einen mehr oder weniger raschen Tod. Aber in diesem Kerker ist es der entsetzliche Gedanke an das Leben, der einen überkommt. O mein Gott, dort zu sein und nicht sterben zu können!« »Schau mich an, mein Sohn«, sagte der Mönch und
entblößte seinen kahlen, runzligen Schädel. »Ich bin nicht älter an Jahren, als dein mannhaes Gesicht und deine klare Stirn ausweisen, und dennoch hast du mich gewiß für einen Greis gehalten. Es ist unerheblich, womit ich mir meine langsame Agonie verdient, und wie ich sie ertragen habe. Ich verlange kein Mitleid; ich brauche es nicht, glücklich und jung, wie ich mich heute beim Anblick dieser eingerissenen Mauern und dieser leeren Verliese fühle. Ich möchte dir auch keinen Abscheu vor Mönchen einflößen; sie sind frei, und ich bin es ebenfalls. Gott ist gütig zu allen. Aber da du Künstler bist, wird es dir gut tun, eine jener Regungen erfahren zu haben, ohne die ein Künstler sein eigenes Werk nicht verstünde. Und wenn du jetzt diese Ruinen malst, auf denen du gerade das Schwinden besserer Zeiten betrauert hast und die ich jede Nacht aufsuche, um mich in den Staub zu werfen und Gott für die Gegenwart zu danken, werden deine Hand und dein Geist vielleicht von höheren Gedanken als von feigem Bedauern und steriler Bewunderung beflügelt werden. Viele Bauwerke von unschätzbarem Wert für den Kunsthistoriker haben keinen anderen Verdienst, als die Taten zu verewigen, welche die Menschen durch ihre Errichtung rechtfertigen wollten, und diese waren o unrecht oder kindisch. Da du ja weitgereist bist, wirst du in Genua den überdimensionalen Viadukt gesehen haben, der über eine Schlucht
zu einer preziösen und prätentiösen Kirche in einem öden Stadtteil führt; ein eitler Patrizier hatte die Kirche mit großem Aufwand bauen lassen, weil er nicht gemeinsam mit den Frommen seiner Gemeinde in einem Gotteshaus knien wollte, und den Viadukt, weil ihm der beschwerliche Weg zu seiner Kirche durch die Schlucht und den Bach in ihrem Grunde nicht behagte. Du hast vielleicht auch die Pyramiden in Ägypten gesehen, diese fürchterlichen Zeugen der Knechtscha eines Volkes, oder jene Hünengräber, über die einst menschliches Blut in Strömen rann, um den unstillbaren Durst barbarischer Götter zu löschen. Aber ihr Künstler habt bei Menschenwerk meist nichts weiter im Sinn als die Schönheit oder Besonderheit der Ausführung, ohne euch mit der Idee zu befassen, die in dem Werk Form geworden ist. So begeistert sich euer Intellekt o für die Gestaltung eines Gefühls, das euer Herz ablehnen würde, wenn es sich dessen bewußt wäre. Darum verfälschen eure eigenen Werke o das wirkliche Lebenskolorit, insbesondere, wenn ihr euch kaltsinnig bemüht, das von Toten, für die ihr kein Verständnis auringt, zu interpretieren, anstatt das von lebendigen, tätigen Menschen wiederzugeben.« »Pater«, antwortete der junge Mann,»ich verstehe deine Argumente und lehne sie nicht völlig ab. Glaubst du jedoch, daß Kunst sich von einer derartigen Philosophie inspirieren lassen könnte? Mit
einem Verstand auf der Höhe der heutigen Zeit deutest du eine Geisteshaltung, die in poetischer Wallung von dem rindigen Aberglauben unserer Väter konzipiert worden war. Wenn wir an die Stelle der lächelnden Götter Griechenlands unverhüllt die banalen Allegorien setzten, die unter ihren üppigen Formen versteckt sind, wenn wir statt der göttlichen Madonna der Florentiner eine dralle Schankmagd malten wie die Holländer, wenn wir schließlich aus Jesus, Gottes Sohn, einen Naturphilosophen der platonischen Schule machten – so hätten wir anstelle von Gottheiten nur noch Menschen, ebenso wie wir hier anstelle eines christlichen Gotteshauses nur einen Trümmerhaufen vor Augen haben.« »Mein Sohn«, entgegnete der Mönch, »wenn die Florentiner der Madonna göttliche Züge verliehen, so taten sie es, weil sie noch an sie glaubten; und die Holländer gaben ihr alltägliche Züge, weil sie nicht mehr an sie glaubten. Und ihr tut euch heutzutage etwas darauf zugute, daß ihr sakrale Vorwürfe für eure Bilder wählt, obwohl ihr nur an die Kunst, d. h. an euch selbst glaubt. Damit werdet ihr nie Erfolg haben! Versucht also nur das nachzubilden, was für euch handgreiflich und lebendig ist. Wäre ich Maler gewesen, so hätte ich den Tag meiner Befreiung zum ema eines schönen Bildes gemacht; ich hätte kühne, stämmige Männer mit einem Hammer in der rechten und ei
ner Fackel in der linken Faust dargestellt, wie sie in diese Vorhölle der Inquisition eindringen und von den schmierigen Steinplatten gespenstische Wesen mit erloschenem Blick und irrem Lächeln aufrichten. Über allen Köpfen hätte man gleich einem Glorienschein das Himmelslicht gesehen, wie es aus dem Riß in der Mauer auf ihre Scheitel fällt. Und das wäre ein gutes Bildthema gewesen, das für meine Zeit ebenso bedeutend ist, wie es das Jüngste Gericht für die Zeit Michelangelos war, denn diese Männer aus dem Volke, die du wegen ihrer groben Zerstörungswut verachtest, kamen mir schöner und edler vor als alle Engel des Himmels, ebenso wie diese Ruine für dich etwas Trauriges und Beklemmendes hat, für mich aber eine Stätte tieferer Religiosität ist, als sie es jemals vor ihrem Fall war. Wenn ich einen Altar zu errichten hätte, der späteren Zeitaltern Zeugnis von der Größe und Macht des unsrigen ablegen soll, so würde ich nichts anderes als diesen Trümmerberg nehmen, an dessen Spitze ich in den geweihten Stein meißeln würde: In den Tagen der Ignoranz und der Grausamkeit beteten die Menschen an diesem Altar zu einem rächenden und strafenden Gott. Am Tage des Gerichts und im Namen des Menschengeschlechts haben Männer diese blutbefleckten Altäre, diese Greuel im Auge des barmherzigen Gottes, umgestürzt.«
V Nicht in Palma, sondern im Haus der Inquisition zu Barcelona habe ich diese Verliese mit massiven Mauern von Fuß Stärke gesehen. Es ist durchaus möglich, daß das Volk diejenigen von Palma ohne Insassen antraf, als es dort eindrang. Für diesen Fall muß ich die empfindlichen Mallorquiner um Vergebung für die dichterische Freiheit bitten, die ich mir in dem Dialog des vorigen Kapitels gestattet habe. Da man nichts erfindet, was nicht einen wahren Kern hätte, muß ich allerdings sagen, daß ich in Mallorca einen Priester, heute Pfarrer einer Gemeinde getroffen habe, der mir erzählte, er habe sieben Jahre seines Lebens, die Blüte seiner Jugend, in den Gefängnissen der Inquisition verbracht und sei nur durch die Protektion einer Dame, die ihn sehr schätzte, freigekommen. Er war ein Mann in der Vollkra der Jahre mit lebhaen Augen und munterem Wesen; das Regiment des Heiligen Offiziums schien er nicht arg zu vermissen. Über dieses Dominikanerkloster möchte ich einen Passus aus Grasset de Saint-Sauveur zitieren, dem man Parteilichkeit nicht vorwerfen kann, denn er beginnt mit einer schwülstigen Lobhudelei der In
quisitoren, mit denen er auf Mallorca in Verbindung stand: ›Im Kreuzgang von St. Dominik sieht man jedenfalls noch jetzt Bilder, die an die damaligen Judengreuel gemahnen. Jedes der armen Verbrennungsopfer ist auf einem Bild dargestellt, das eine Unterschri mit Namen, Alter und Datum der Verbrennung trägt.‹ Man hat mir versichert, daß die Nachkommen dieser Unglücklichen, die heute unter den Einwohnern Palmas eine Gruppe für sich mit der Bezeichnung xuetas bilden, vor wenigen Jahren vergeblich recht beträchtliche Summen geboten hätten, um die Tilgung dieser traurigen Gedenktafeln zu erreichen. Mit ist das unglaubha vorgekommen. Ich werde jedoch nie einen Tag vergessen, an dem ich durch den Kreuzgang der Dominikaner schlenderte und diese beklemmenden Bilder trübsinnig betrachtete. Ein Mönch trat auf mich zu und machte mich darauf aufmerksam, daß einige dieser Bilder mit gekreuzten Knochen markiert waren. ›Dies sind die Portraits von denjenigen‹, sagte er, ›deren Asche exhumiert und in alle Winde verstreut wurde.‹ Das Blut erstarrte mir in den Adern. Wehen Herzens und verstörten Sinnes ergriff ich die Flucht. Der Zufall spielte mir einen Bericht in die Hände, der im Jahre auf Veranlassung der Inquisition gedruckt worden war und Vor- und Zunamen,
Beruf und Vergehen der Unglücklichen enthielt, die auf Mallorca zwischen und verurteilt wurden. Schaudernd las ich diese Schri. Ich erfuhr, daß vier Mallorquiner, darunter eine Frau, wegen ihres Judentums lebendig verbrannt worden waren. andere waren aus dem gleichen Grunde in den Verliesen der Inquisition umgebracht und ihre Leichen verbrannt worden; in drei Fällen wurde die Asche exhumiert und in die Winde verstreut. Ein des Protestantismus angeklagter Holländer, ein Mallorquiner als Mohammedaner verdächtigt, sechs Portugiesen, darunter eine Frau, und sieben Mallorquiner, die des Judentums beschuldigt wurden, waren in effigie verbrannt worden, da sie sich in Sicherheit gebracht hatten. Ich zählte andere Opfer, Mallorquiner und Fremde, die des Judentums, des Mohammedanismus oder der Ketzerei angeklagt, aus dem Gefängnis jedoch entlassen worden waren, nachdem sie öffentlich widerrufen hatten, um in den Schoß der Kirche zurückzukehren. Dieser unheimliche Katalog schließt mit einem Erlaß der Inquisition, der nicht minder grauenvoll ist: Alle in dem vorliegenden Bericht erwähnten Schuldigen sind vom Heiligen Offizium öffentlich als ausgesprochene Ketzer verurteilt worden; all ihr Hab und Gut wurde konfisziert und dem königlichen Fiskus übergeben. Sie wurden für untauglich und unfähig erklärt, irgendwelche geistlichen oder
weltlichen Würden oder Pfründen, öffentliche oder ehrenamtliche Stellungen zu bekleiden oder verliehen zu bekommen. An ihrer Person dürfen sie weder Gold noch Silber, Perlen, Edelsteine, Korallen, Seide, Kamelott oder Feintuch tragen; das gleiche gilt für alle Personen ihres Haushalts. Es ist ihnen untersagt, Pferde zu reiten, Waffen zu tragen oder anderes auszuüben oder zu benutzen, was durch gemeines Recht, Gesetze und Verordnungen dieses Königreichs, Erlasse und Gerichtsbrauch des Heiligen Offiziums den derart entehrten Individuen verboten ist; das nämliche Verbot erstreckt sich im Falle von zum Feuertode verurteilten Frauen auf deren Söhne und Töchter und im Falle von Männern bis zu deren Enkeln in männlicher Linie. Ferner ist das Andenken derjenigen auszulöschen, die in effigie hingerichtet wurden mit der Maßgabe, daß ihre Gebeine (soweit von denen gläubiger Christen unterscheidbar) zu exhumieren und dem Arm der weltlichen Justiz zwecks Verbrennung und Veraschung zu übergeben sind; daß letztlich alle Inschrien oder Wappen an Grabstätten welcher Art auch immer, seien sie gemalt oder anderswie ausgeführt, zu verwischen oder auszukratzen sind, und zwar derart, daß von ihnen auf dem Antlitz der Erde nichts verbleibt als die Erinnerung an ihre Verurteilung und deren Vollzug.‹ Wenn man derartige Dokumente aus gar nicht so
ferner Zeit liest und den unüberwindlichen Haß bemerkt, mit dem noch heute nach oder Generationen zum Christentum bekehrter Juden diese unglückliche Rasse auf Mallorca verfolgt wird, erscheint es einem unglaubwürdig, daß der Geist der Inquisition dort so gänzlich verloschen sein soll, wie man zur Zeit von Mendizabals Erlaß angab.
Dritter Teil
I Um die Dezembermitte machten wir uns an einem klaren Morgen bei strahlender Herbstsonne nach Valldemosa auf den Weg, um unsere Kartause in Besitz zu nehmen. Als wir die fruchtbare Ebene von Establiments hinter uns gelassen hatten, erreichten wir jenes wechselhae Gelände, bald waldig, bald felsig-trocken und dann wieder feucht und frisch, wie von unsichtbarer Hand durcheinandergewürfelt. Ausgenommen einige Täler der Pyrenäen hat sich die Natur mir gegenüber niemals so freigebig in ihren Erscheinungsformen gezeigt wie in diesem mallorquinischen Buschland, das eine recht beträchtliche Fläche bedeckt und die prahlerische Behauptung der Mallorquiner Lügen zu strafen scheint, sie hätten den gesamten Boden der Insel mit höchster Vollkommenheit kultiviert. Ich dachte nicht daran, ihnen deswegen böse zu sein, denn nichts ist schöner als solche verwilderten Gegenden: verkrümmte, verbogene, zerzauste Bäume, furchterregende Dornensträucher, herrliche Blumen, Moos- und Binsenteppiche, stachelige Kapernbüsche, zarte und bezaubernde Asphodelen. Alles nimmt Formen an, wie sie dem Schöpfer gerade in den Sinn kamen: ein Tobel, ein Hügel, ein
steiniger Pfad, der unvermittelt an einem Abgrund endet, ein Weg im Grünen, der sich arglistig in einem Bach verliert, eine Wiese, die den Wanderer erst freundlich einlädt und ihm dann eine steile Felswand vor die Füße setzt, Gehölze mit Felsbrocken übersät, daß man meinen könnte, sie wären vom Himmel gefallen, Hohlwege entlang dem Gießbach, umwuchert von Myrte und Geißblatt, und schließlich ein Bauernhof, hingeworfen wie eine Oase mitten in diese Wüste mit seiner Palme gleich einem Wachtturm, der den Wandersmann durch die Einsamkeit geleitet. In der Schweiz und in Tirol habe ich nicht diese freie und ursprüngliche Schöpfung empfunden, die mich auf Mallorca so bezaubert hat. In den wildesten Gegenden der Schweizer Berge scheint mir die allzu rauhen Wettereinflüssen ausgelieferte Natur der Hand des Menschen nur deshalb entzogen, um vom Himmel in noch härtere Zucht genommen zu werden und sich selbst zu zerfleischen wie ein Tobsüchtiger, der mit sich alleingelassen wird. In Mallorca erblüht sie unter den Küssen eines feurigen Himmels und lächelt unter den Stößen der lauen Winde, die bei ihrer Jagd auf den Meeren über sie hinwegfegen. Nach dem Unwetter richtet sich die sturmgebeugte Blume kräiger auf als zuvor, und der geknickte Baumstamm treibt neue Sprossen. Obwohl es auf der Insel eigentlich keine Wüstenstriche gibt, verleiht ihr das Fehlen gebahn
ter Wege ein vernachlässigtes und rebellisches Aussehen, das dem der schönen Savannen Louisianas ähneln muß, wo ich in den Lieblingsträumen meiner Jugend Chateaubriands René folgte, wenn er die Spuren Atalas oder Chactas suchte. Ich bin ziemlich sicher, daß dieses Loblied auf Mallorca den Mallorquinern gar nicht gefallen wird, da sie doch glauben, sie hätten sehr schöne Straßen. Schön zu sehen, das wird nicht bestritten; aber schön befahrbar für Wagen? – Nun, Sie werden selbst urteilen. Der Mietwagen des Landes ist die tartana, eine Art Kremser ohne jede Federung, von einem Pferd oder Maultier gezogen; oder der birlocho, eine viersitzige Droschke, die ebenfalls auf einer Gabeldeichsel aufsitzt. Beide haben Scheibenräder mit massiven Eisenreifen und sind im Innern mit einer zwei Handbreit dicken Schicht von Flockwolle ausgekleidet. Diese Polsterung gibt einem etwas zu denken, wenn man sich einem Gefährt von so einladendem Wesen das erste Mal anvertraut. Der Kutscher sitzt auf einem Brett, das ihm als Bock dient; mit je einem Fuß auf einem der Deichselarme nimmt er die Kruppe des Pferdes zwischen die Beine, so daß er nicht nur alle Stöße seines Karrens, sondern auch alle Bewegungen seines Gauls spüren kann und gleichzeitig fährt und reitet. Mit dieser Kutschiererei scheint er durchaus zufrieden zu sein, denn er singt die ganze Zeit, so fürchter
lich er auch durchgerüttelt werden mag. Er unterbricht sich nur, um gelassen die gräßlichsten Flüche auszustoßen, wenn sein Pferd zögert, sich in einen Abgrund zu stürzen oder eine Felswand zu erklimmen. Denn so geht die Reise: Hohlwege, Gießbäche, Schlammlöcher, Hecken, Gräben sperren die Fahrt vergebens; wegen solcher lächerlichen Kleinigkeiten hält man nicht an. Das Ganze nennt sich übrigens ›Straße‹. Anfangs hält man dies Hindernisrennen für einen schlechten Witz und fragt den Lenker, was ihn wohl gepiekt habe. »Das ist die Straße«, antwortet er. »Aber dieser Bach?« »Das ist die Straße.« »Und das tiefe Loch?« »Die Straße.« »Und das Dickicht?« »Gehört auch zur Straße.« »Sei’s drum.« Sodann bleibt einem nichts anderes übrig, als sich abzufinden, die Polsterung zu segnen, ohne die man um Knochenbrüche nicht herumkäme, seinen Geist in Gottes Hand zu befehlen, die Landscha zu betrachten und auf den Tod oder ein Wunder zu warten. Und dennoch erreicht man sein Ziel zuweilen unversehrt, weil der Wagen in sich stabil ist, weil das Pferd kräige Beine hat und vielleicht auch wegen des Gleichmuts des Kutschers, der es gewähren läßt, die Arme verschränkt und gelassen seine Zigarre raucht, während sich ein Rad am Berg und das andere über dem Abgrund dreht. An eine Ge
fahr, aus der andere sich nichts machen, gewöhnt man sich rasch; sie bleibt nichtsdestoweniger echt. Man kippt nicht immer um. Aber wenn es passiert, kommt man so leicht nicht wieder auf die Beine und Räder. Auf der Insel haben fast alle Leute irgendein Gefährt. Der Adel schätzt Karossen à la Louis XIV. mit kelchförmigem Wagenkasten, der bis zu acht Fenster haben kann, und mit riesigen Rädern, die allen Hindernissen trotzen. Vier bis sechs kräige Maultiere ziehen diese schweren, schlecht gefederten Kisten mit Leichtigkeit. Bei aller protzigen Mißgestalt sind sie doch geräumig und gut ausgewogen und befördern einen im Galopp und mit unglaublichem Schneid durch die schauerlichsten Schluchten; ohne blaue Flecke, Beulen am Kopf und zumindest das Gefühl völliger Zerschlagenheit geht es allerdings nicht ab. In der Nähe von Städten sind die Straßen etwas weniger gefährlich, haben jedoch den großen Nachteil, zwischen zwei Mauern oder Gräben eingeengt zu sein, so daß zwei entgegenkommende Wagen sich nicht ausweichen können. Bei einer solchen Begegnung muß man die Ochsen vom Karren oder die Pferde vom Wagen ausspannen, und eines der beiden Gefährte muß o eine beachtliche Strecke zurücksetzen. Da gibt es dann endlose Diskussionen darüber, wer von den beiden nachgeben soll. Und während dieses unfreiwilligen Aufent
halts kann der Reisende nichts besseres tun, als sich zu seiner Erbauung den mallorquinischen Wahlspruch zu wiederholen: mucha calma. Bei den geringen Kosten, die sie sich mit deren Unterhalt machen, verfügen die Mallorquiner doch über Straßen in Fülle. Aber wer die Wahl hat, hat die Qual. Ich habe den Weg zwischen der Kartause und Palma nur dreimal hin und zurück gemacht; sechsmal ging es über eine andere Straße, sechsmal hat sich der Kutscher verfahren und sechsmal ist er mit uns bergauf und bergab umhergeirrt unter dem Vorwand, eine siebente Straße zu suchen, welche die beste sei. Gefunden hat er sie nie. Von Palma nach Valldemosa sind es etwa km; dafür braucht man mindestens drei Stunden, wenn man zügig fährt. Während der beiden ersten steigt das Gelände unmerklich an; dann aber kommt man in die Berge und folgt einer Terrasse, die – vermutlich von den Kartäusern angelegt – zwar gut eingeebnet, aber sehr schmal und steil ist und viel gefährlicher als der Rest des Weges. Dort wird einem bewußt, daß man sich auf der gebirgigen Seite der Insel befindet; aber wenn sich auch links und rechts der Schlucht die Berge türmen und der Bach von Felsblock zu Felsblock hüp; erst mitten im Winter nimmt die Gegend jenes wilde Aussehen an, welches die Mallorquiner ihr zuschreiben. Trotz der Regengüsse der letzten Zeit war der Bach im Dezember noch ein liebliches Bächlein, das durch
Gräser und Blumen rinnt; der Berg lächelte, und der Talkessel von Valldemosa öffnete sich vor uns wie ein Garten im Frühling. Um die Kartause zu erreichen, muß man aussteigen, denn kein Gefährt kann den gepflasterten Weg bewältigen, der zu ihr hinaufführt; er entzückt das Auge, wie er sich unter den schönen Bäumen dahinwindet; herrliche Ausblicke eröffnen sich bei jedem Schritt und werden schöner und schöner, je höher man steigt. Ich habe nie etwas Reizenderes und gleichzeitig Melancholischeres gesehen als diese Landscha, wo Steineiche und Johannisbrotbaum, Pinie und Olivenbaum, Pappel und Zypresse die verschiedenen Farbtöne ihrer Blätter in tiefen Lauben vermischen, wahre Abgründe von Grün, und wo der Bach unter üppigem Buschwerk von unvergleichlicher Anmut hinabeilt. Ich werde nie eine Beuge der Paßstraße vergessen, wo ein Blick rückwärts auf eins jener hübschen kleinen arabischen Häuser fällt, die ich schon beschrieben habe; es liegt auf einer Hügelkuppe, halb versteckt hinter seiner Feigenkaktushecke und flankiert von einer großen Palme, die sich über den Steilhang neigt und ihre Silhouette in den Himmel schreibt. Wenn mir in Paris Dreck und Nebel auf die Nerven gehen, schließe ich die Augen und sehe wie im Traum jene grüne Kuppe, jene fahlen Felsen und jene einzelne Palme, verloren im rosafarbenen Firmament. Die Berge von Valldemosa steigen in immer schma
ler werdenden Plateaus bis zu einer Art von Kessel an, der von hohen Kämmen umgeben im Norden durch eine letzte geneigte Hochfläche mit dem Kloster an der Talseite abgeschlossen ist. In gewaltiger Arbeit haben die Kartäuser die Strenge dieses romantischen Erdenwinkels gemildert. Sie machten aus dem oberen Tal einen weiten Garten, gegliedert durch Terrassenmauern, die den Blick nicht behindern; eine Einfassung von pyramidenförmigen Zypressen, die paarweise auf verschiedenen Ebenen angeordnet sind, erinnert an Friedhofskulissen einer Operndekoration. Dieser Garten, bestanden mit Palmen und Mandelbäumen, nimmt den ganzen Talschluß ein und steigt in weiten Terrassenabsätzen bis zum Felsgürtel an. Wenn der Schatten bei Mondschein die Ungleichheit dieser Stufen verschwimmen läßt, meint man, ein Amphitheater für die Kämpfe von Riesen vor sich zu haben. In der Mitte sammelt unter einer Palmengruppe ein steinernes Becken das Wasser, das von den Bergen herunterfließt, und verteilt es auf die tieferliegenden Terrassen durch ein System von Kanälen, die mit Platten ausgelegt sind. Die Anlage ist so weitläufig und kunstvoll, daß sie wohl von den Arabern stammt. Die ganze Insel ist mit solchen Kanälen überzogen, und diejenigen, welche vom Garten der Kartause ausgehen und neben dem Bachbett verlaufen, führen Palma das ganze Jahr hindurch Quellwasser zu.
Auf der Nordseite der Paßhöhe mit der Kartause öffnet sich ein geräumiges Tal, das sich verbreitert und san ansteigend an den Klippen endet, deren Fuß vom Meer gepeitscht und zernagt wird. Infolge des Klosters auf dem Sattel überragt es das Meer nach zwei Seiten hin; während man es im Norden grollen hört, sieht man es im Süden als feine, glänzende Linie jenseits der allmählich abfallenden Berge und der weiten Ebene. Es ist ein erhabenes Bild: im Vordergrund von dunklen, fichtenbestandenen Felsen gerahmt, der nächstweitere Prospekt in einer Einfassung von zackigen Bergen mit einem Saum herrlicher Bäume, und im Hintergrund eingegrenzt von Hügelkuppen, die von der sinkenden Sonne in warmen Tönen vergoldet werden und auf deren Scheitel das Auge selbst bei der Entfernung die winzigen Silhouetten der Bäume ausmacht – fein wie Schmetterlingsfühler, schwarz und scharf wie der Strich einer Federzeichnung auf goldglänzendem Grund. Und dieser Grund ist die Ebene, die man schon für das Meer halten könnte, wenn in der Ferne die Dünste von den Bergen aufzusteigen beginnen und einen durchsichtigen Schleier über die Tiefe breiten. Aber das Meer ist noch ferner; und wenn die Sonne wieder aufgeht und die Ebene wie ein blauer See daliegt, bildet das Mittelmeer einen hellen Silberreif als Abschluß dieser berückenden Fernsicht. Es ist einer jener überwältigenden Ausblicke, die
keinen Wunsch offen, der Phantasie keinen Spielraum lassen. Alles was Dichter und Maler sich erträumen können, hat die Natur hier geschaffen: ein gewaltiges Ganzes mit unendlichen Einzelheiten in unerschöpflicher Vielfalt, wirre Formen, scharfe Konturen, verschwommene Tiefen, alles ist vorhanden, und Kunst könnte dem nichts hinzufügen. Um Gottes Werk zu würdigen und zu verstehen, reicht der Geist nicht immer aus, und wenn er in sich kehrt, spürt er seine Ohnmacht, dieser Unermeßlichkeit des Lebens, die uns fesselt und berauscht, einen angemessenen Ausdruck zu verleihen. Ich möchte den Künstlern, die von Eitelkeit verzehrt werden, nur raten, sich solche Landschaen genau anzusehen, und es o zu tun, denn ich glaube, sie würden dann ihre Überschwenglichkeit in der Form mäßigen, einfach aus Respekt vor der göttlichen Kunst, die in der ewigen Schöpfung der Dinge waltet. Ich jedenfalls habe niemals die Hohlheit der Worte so stark gespürt wie während jener besinnlichen Stunden in der Kartause. Ich hatte gewiß religiöse Anwandlungen, aber die einzigen Worte, die meine Begeisterung mir eingaben, waren: Gelobt seist Du, Gott, der Du mir gute Augen geschenkt hast! Im übrigen glaube ich, daß der gelegentliche Reiz dieser herrlichen Szenerie zwar erfrischt und wohltut, daß jedoch der ständige Reiz eine Gefahrenquelle ist. Man gewöhnt sich daran, mit dem Außer
gewöhnlichen zu leben, und mit der Übersättigung stumpfen die Sinne ab. So erklärt sich, warum Mönche o kein Gefühl für die Poesie ihrer Klöster haben und warum die Schönheit ihrer Berge den Bauern und Hirten gleichgültig ist. Für uns war die Zeitspanne zu kurz, um Überdruß daran auommen zu lassen, denn fast jeden Abend bei Sonnenuntergang senkte sich der Nebel herab und beschleunigte das Schwinden des Tageslichts, das in unserem Kessel und zu dieser Jahreszeit ohnedies karg war. Bis Mittag hüllte uns der große Berg zur Linken in seinen Schatten, und um drei Uhr gerieten wir in den des anderen zur Rechten. Aber welche Lichteffekte haben wir beobachten können, wenn die schrägen Strahlen durch Risse im Fels drangen oder zwischen Berggraten hindurchglitten, um der Landscha im Mittelgrund Helmzierden in Gold und Purpur aufzusetzen! Manchmal tauchten unsere Zypressen – schwarze Obelisken, die dem Hintergrund des Bildes als Folie dienten – ihre Wipfel in diese feurige Flut: die Fruchtbüschel unserer Dattelpalmen wurden zu Trauben von Rubinen, und eine lange Schattenlinie im Schrägschnitt über dem Tal teilte es in eine lichtgetränkte sommerliche Zone und eine zweite: bläulich und kalt wie eine Winterlandscha. Die Kartause von Valldemosa, die nach der Ordensregel mit dreizehn Mönchen einschließlich des Priors belegt war, fiel nicht unter das Regierungs
dekret von , wonach alle Klöster mit weniger als zwölf Insassen abzureißen waren; wie alle anderen war auch diese Klostergemeinscha aufgelöst und der Besitz säkularisiert, d. h. zur staatlichen Domäne erklärt worden. Die Regierung in Palma wußte nicht recht, was sie mit der riesigen Anlage anfangen sollte, und hatte beschlossen, sie allmählich verfallen zu lassen, mittlerweile jedoch die Zellen an Reflektanten zu vermieten. Obwohl man eine sehr bescheidene Miete verlangte, hatten die Dorewohner von Valldemosa kein Kapital daraus schlagen wollen, vermutlich wegen ihrer tiefen Frömmigkeit oder aus Mitgefühl für ihre Mönche, vielleicht aber auch aus abergläubischer Furcht. Das hinderte sie zwar nicht, in Karnevalsnächten dort zu tanzen, wie man noch sehen wird, ließ sie aber unsere unehrerbietige Anwesenheit in den heiligen Hallen scheelen Blickes betrachten. Mittlerweile ist die Kartause während der Sommerhitze größtenteils bewohnt, und zwar von Leuten aus dem Mittelstand, die in dieser Höhenlage und unter den dicken Gewölben frischere Lu suchen als in der Ebene oder in Palma. Beim Herannahen des Winters vertreibt sie jedoch die Kälte, so daß das Kloster während unseres Aufenthalts außer von mir und meiner Familie nur vom Apotheker, dem Sakristan und von Maria Antonia bewohnt war. Maria Antonia war eine Art Haushälterin, die, so
viel mir bekannt ist, vom spanischen Festland herübergekommen war, um dem Elend zu entgehen. Sie hatte sich eine Zelle gemietet, um die Sommergäste auszubeuten. Sie lag neben der unsrigen und diente uns als Küche, während Maria Antonia als unsere Wirtschaerin galt. Eine verwelkte Schönheit, war sie noch immer schlank und adrett, gab vor, aus guter Familie zu sein, hatte charmante Manieren und eine angenehme Stimme, war katzenfreundlich, redete einem nach dem Munde und übte eine sonderbare Art von Gastfreundscha. Sie pflegte den Neuankömmlingen ihre Dienste anzubieten, aber mit tief gekränkter Miene und vor Entsetzen das Gesicht verbergend lehnte sie jede Art von Entlohnung für ihre Mühe ab. Sie würde es tun, so sagte sie, Gott zuliebe, aus Hilfsbereitscha und in der einzigen Absicht, sich die Nachbarn zu Freunden zu machen. Ihr Mobiliar bestand aus einem Gurtbett, einem Fußwärmer, einem brasero, zwei Stühlen, einem Kruzifix und etwas Tongeschirr. Großzügig stellte sie all das zur Verfügung, brachte das Dienstmädchen bei sich unter und übernahm das mitgebrachte Küchengerät. Sobald sie aber die Regentscha eines Haushalts angetreten hatte, rahmte sie für sich das Beste von Putzkram und Eßbarem ab. Ich habe nie einen frommen Mund gesehen, der genäschiger war, oder flinkere Finger, um, ohne sich zu verbrennen, aus kochenden Töpfen zu fischen, oder einen dehnba
reren Schlund, um heimlich den Zucker und den Kaffee der geliebten Herrscha zu verschlucken und dabei ein Kirchenlied zu summen oder einen bolero zu trällern. Für einen unbeteiligten Beobachter wäre es vermutlich erheiternd gewesen, der guten Antonia, der großen valldemosaner Hexe, unserem Stubenmädchen Catalina, und der niña, dem kleinen struppigen Scheusal, das uns Hilfsdienste leistete, zuzuschauen, wie sie sich alle drei über unser Essen hermachten. Das war zur Stunde des Angelus, des Gebets, das herzumiauen diese drei Katzen niemals versäumten: die beiden Alten im Duett beim Einbauen auf alle Gänge unserer Mahlzeit, die Kleine jeweils Amen respondierend und dabei mit unvergleichlicher Geschicklichkeit ein Kotelett oder eine kandierte Frucht stibitzend. Wenn es auch ein Bild zum Malen war, war es doch klüger so zu tun, als sähe man nichts; als aber Regen häufig die Verbindung mit Palma unterbrach und die Lebensmittel knapp wurden, fanden wir die ›Bedienung‹ nach Art der Maria Antonia und ihrer Bande weniger drollig, und ich mußte mich mit meinen Kindern ablösen, unsere Vorräte zu bewachen. Ich kann mich erinnern, daß ich, unter meinem Kopissen, einen Korb voll Zwiebäcke bebrütet habe, die wir fürs Frühstück am nächsten Morgen brauchten, und daß ich manchmal wie ein Geier über dem Fischgericht auf unserem Herd im Freien schwebte, um die kleineren Raubvögel zu
verscheuchen, die uns nichts als Gräten übriggelassen hätten. Der Sakristan war ein stämmiger junger Mann, der den Kartäusern vielleicht früher als Meßbube gedient hatte und jetzt die Klosterschlüssel verwaltete. Er hatte eine Skandalgeschichte auf dem Kerbholz: er war angeklagt und schuldig befunden worden, ein junges Mädchen, das einige Monate mit ihren Eltern in der Kartause zugebracht hatte, verführt und geschwängert zu haben; zu seiner Verteidigung hatte er angegeben, er sei vom Staat nur beauragt gewesen, die Jungfrauen auf den Bildern im Kloster zu behüten. Nicht im geringsten gut aussehend, gab er sich doch als Dandy und trug, anstelle der kleidsamen halbarabischen Landestracht seiner Klasse, eine ›europäische‹ Hose und Hosenträger, die den Mädchen des Ortes sicher in die Augen stachen. Seine Schwester war die schönste Mallorquinerin, die ich je sah. Die Familie war reich und stolz und hatte ein Haus im Dorf; man machte täglich die Runde und besuchte dabei auch Maria Antonia, die alle einlud, unser Abendbrot zu essen, wenn sie selbst keinen Appetit hatte. Der Apotheker war ein ehemaliger Kartäuser, der sich in seiner Zelle einschloß, um seine einst weiße Kutte anzulegen und einsam in großem Staat eine Messe zu singen. Wenn man an seiner Tür klingelte, um ihn um Eibischsirup oder Kreuzwurz – die einzigen Heilmittel, die er besaß – zu bitten, sah
man ihn hastig seine Kutte unter das Bett werfen und in schwarzer Hose, Strümpfen und kurzer Weste erscheinen: in dem Kostüm der Ballettänzer, die Molière in seinen Zwischenspielen aureten ließ. Wenn der alte Mann auch mißtrauisch war, so beklagte er sich doch nie; war er auch vielleicht für den Sieg von Don Carlos und betete für die Rückkehr der heiligen Inquisition, so hätte er doch niemandem ein Leid angetan. Er verkaue uns seine Kreuzwurz für ihr Gewicht in Gold, und vielleicht trösteten ihn diese kleinen Profite darüber hinweg, daß er von seinem Armutsgelübde entbunden worden war. Seine Zelle lag weit von der unsrigen entfernt am Eingang des Klosters in einer Art von Nische hinter einem üppigen Gebüsch von Rizinusstauden und anderen Heilkräutern. Dort versteckt wie ein alter Hase, der die Hunde auf seine Spur zu bringen fürchtet, ließ er sich kaum blicken, und wenn wir nicht einigemale zu ihm gegangen wären, um uns Hustensa und andere Tränke zu holen, hätten wir nie geahnt, daß es noch einen Kartäuser im Kloster gab. Architektonische Schönheit besitzt diese Kartause nicht, doch ist es ein sehr großzügig angelegter Gebäudekomplex. In einer solchen Einfriedigung aus behauenen Steinen hätte ein ganzes Armeekorps Platz; dabei wurde das ausgedehnte Hauptgebäude für nur zwölf Personen errichtet. Man nennt es das Neue Kloster, denn es ist das dritte, das im
Laufe der Jahrhunderte neben den jeweils älteren Bau gesetzt wurde. Jede der zwölf Zellen besteht aus drei großen Räumen, die alle nach der gleichen Seite gehen. Rechtwinklig zu dieser Zellenflucht sind an den beiden Seitenfronten jeweils sechs Kapellen angeordnet, denn jeder Mönch hatte seine eigene, in die er sich zu einsamem Gebet einschloß. Diese Kapellen sind alle verschieden ausgestattet, überladen mit Vergoldungen und behängt mit Bildern von gröbstem Geschmack; die Heiligenfiguren aus bemaltem Holz fand ich so entsetzlich, daß ich gestehen muß, ich wäre ihnen nicht gern nachts außerhalb ihrer Nischen begegnet. Der Boden dieser Kapellen ist mit glasierten Fliesen ausgelegt, deren Mosaikmuster außerordentlich wirkungsvoll sind; man spürt hier noch den maurischen Einfluß und damit den einzigen guten Stil, der sich in Mallorca gehalten hat. In jeder Kapelle befindet sich übrigens ein Wasserhahn über einem Muschelbecken aus schönem einheimischem Marmor. Ein Kartäuser war gehalten, sein Bethaus täglich zu waschen. In diesen dunklen Gewölben mit ihrem Fliesenboden herrscht eine Kühle, die während der brennenden Hitze der Hundstage sehr wohl die langen Stunden des Gebets fast zu einer Art sinnlicher Lust werden lassen konnte. Längs der vierten Front des Neuen Klosters liegt die Kirche, zu der man über einen kleinen Innenhof gelangten diesem stehen symmetrisch angeordnet
Buchsbäume, die noch immer nicht die ihnen von den Scheren der Mönche verliehene Pyramidenform ganz verloren haben. Die Kirche ist hübsch. Ihre kühle Sauberkeit steht in angenehmem Kontrast zu der Verwahrlosung und Leere des Klosters. Wir hatten geho, dort eine Orgel zu finden, hatten allerdings vergessen, daß die Ordensregel der Kartäuser jegliches Musikinstrument als eitlen Tand und Sinnenkitzel verbannt. Die Kirche ist einschiffig, und ihr Fußboden ist mit schönen Fliesen ausgelegt, die mit kunstvoll arrangierten Blumensträußen wie auf einem Teppich in zarten Tönen bemalt sind. Die Holzvertäfelung, die Beichtstühle und die Türen haben zwar einfache Muster, aber die Vollkommenheit der Grate und die saubere Ausführung der gediegenen und unaufdringlichen Ornamentik zeugen von einem handwerklichen Geschick, das man bei Tischlern in Frankreich heute nicht mehr antri; leider ist diese Gewissenhaigkeit jetzt auch in Mallorca verlorengegangen. Der Tischler, den wir in Valldemosa beschäigten, war gewiß ein Künstler, allerdings nur in Musik und Malerei. Als er eines Tages in unsere Zelle gekommen war, um einige Weichholzregale anzubringen, betrachtete er unseren Künstlerkram mit jener naiven und zudringlichen Neugier, die ich früher einmal bei den slawonischen Griechen beobachtet hatte. Skizzen von ausgelassenen Mönchen, die mein Sohn nach Vorlagen von Goya gemacht und
damit unser Zimmer geschmückt hatte, schockierten ihn etwas; als er jedoch einen Nachstich der Kreuzabnahme von Rubens entdeckt hatte, blieb er lange in tiefe Betrachtung versunken. Wir fragten ihn, was er dazu meinte. »Auf der ganzen Insel Mallorca gibt es nichts so Schönes und so Natürliches«, war seine Antwort. Dieses Wort ›natürlich‹ aus dem Munde eines Bauern mit der Mähne und den Manieren eines Wilden überraschte uns sehr. Wenn er unseren Künstler Klavier spielen hörte, geriet er in eine Art von Verzückung. Er ließ seine Arbeit liegen und postierte sich hinter dem Stuhl des Pianisten mit halboffenem Mund und hervortretenden Augen. Dieses Hochgefühl hinderte ihn keineswegs daran, die Fremden zubegaunern, wie es alle mallorquinischen Bauern tun, und das ohne jeden Skrupel; andererseits sagt man, sie seien untereinander von frömmster Redlichkeit. Für seine Arbeit forderte er einen enormen Preis und konnte seine begierigen Finger nicht lassen von den kleinen französischen Gebrauchsgegenständen, die wir mitgebracht hatten. Ich hatte die größte Mühe, den Inhalt meines Toilettenkoffers vor dem Verschwinden in seinen großen Taschen zu retten. Was ihn am meisten lockte, war ein Becher aus geschliffenem Glas oder vielleicht die Zahnbürste darin, von der er sicher nicht wußte, wozu sie bestimmt war. Dieser Mann hatte das künstlerische Sehnen eines Italieners und die
räuberischen Instinkte eines Malaien oder Kaffern. Diese Abschweifung soll mich nicht vergessen lassen, das einzige Kunstwerk zu erwähnen, das wir in der Kartause antrafen. In der Klosterkirche stand eine bemalte Holzfigur des heiligen Bruno, die in Entwurf und Farbgebung beeindruckend war. Die wundervoll ausgearbeiteten Hände waren in inbrünstiger und herzzerreißender Anrufung erhoben; Kopaltung und Gesichtsausdruckwaren sublimierter Glaube und Schmerz. Und doch war es das Werk eines Stümpers, denn die gegenüberstehende Figur, offensichtlich von gleicher Hand, war in jeder Hinsicht erbärmlich. Beim Erschaffen des heiligen Bruno muß er eine Erleuchtung gehabt haben, einen Impuls religiöser Begeisterung, der ihn über sich selbst hinaushob. Ich glaube nicht, daß der heilige Fanatiker aus Grenoble jemals sonst mit so viel tiefer und leidenschalicher Einfühlung dargestellt worden ist. Es war die Personifizierung der christlichen Askese. Aber sogar in Mallorca steht das Sinnbild dieses Glaubensfanatismus der Vergangenheit einsam und verlassen. Der Zugang zum Neuen Kloster führt durch das alte hindurch um ein paar Ecken herum; er ist an sich unkompliziert, aber wegen meines mangelhaen Ortssinns konnte ich mich nie zurechtfinden, ohne mich vorher ins dritte Kloster verlaufen zu haben. Diesen dritten und kleinsten Teil des Gebäudekomplexes müßte ich eigentlich den er
sten nennen, weil er der älteste ist. Er ist entzükkend anzusehen. Der Innenhof, den er mit seinen abgebröckelten Mauern umgibt, war einstmals der Friedhof der Mönche. Keine Inschri bezeichnet diese Gräber, welche die Kartäuser zu Lebzeiten ausheben mußten; nichts sollte dem Tod seinen Anspruch streitig machen, ihr Andenken auszulöschen. Nur an einer leichten Wölbung der Grasdecke sind die Grabstätten auszumachen. Laurens hat das Bild dieses Klosterhofes in einer hübschen Lithographie erfaßt, die mir ein freudvolles Wiedersehen bescherte mit dem kleinen Brunnen unter seinem Spitzbogen, mit den Fensterkreuzen aus Stein unter dem Wildwuchs der um Ruinen rankenden Wucherpflanzen und mit den schlanken, hohen Zypressen, die nachts wie schwarze Gespenster um das weiße Holzkreuz lauern. Ich bedauere, daß er den Mond nicht gesehen hat, wie er über die schönen Berge aus bernsteinfarbenem Sandstein steigt, die sich hinter dem Kloster auftürmen, und daß er in den Vordergrund nicht einen alten Lorbeerbaum mit riesigem Stamm und verdorrter Krone gestellt hat; aber der war vielleicht nicht mehr vorhanden, als er die Kartause besuchte. Ehrenvolle Erwähnung wird jedoch in seiner Zeichnung wie auch im Begleittext der niedlichen Zwergpalme (chamaerops humilis) zuteil, die von allen ihrer Art in Europa vielleicht am besten gedeiht; ich habe diesen Baum vor dem Natur
forscherdrang meiner Kinder verteidigen müssen. Um diesen kleinen Hof herum liegen die alten Kapellen der Mönche des . Jahrhunderts. Sie sind fest verschlossen, und der Sakristan öffnet sie niemandem, was unsere Neugier um so mehr reizte. Wenn wir auf unseren Spaziergängen durch die Ritzen luchsten, glaubten wir, die Reste von schönen alten Möbeln und von frühen Holzfiguren entdecken zu können. In diesen geheimnisvollen Rumpelkammern könnten viele verborgene Schätze liegen, deren Staub abzuschütteln sich ein Mallorquiner niemals einfallen lassen würde. Das zweite Kloster besteht, wie die anderen auch, aus zwölf Zellen und zwölf Kapellen. Selbst in ihrem verfallenen Zustand haben seine Arkaden viel Charakter. Sie brauchen nichts mehr zu stützen, und wenn wir sie abends bei schlechtem Wetter passierten, empfahlen wir Gott unsere Seele, denn jeder Sturm, der über das Kloster hinwegfegte, brachte ein anderes Stück Mauer zum Einsturz oder einen anderen Gewölbestein zu Fall. Niemals habe ich den Wind derartige Klagelaute und Verzweiflungsschreie ausstoßen hören wie in diesen hohlen, widerhallenden Gängen: das Rieseln der Bäche, die wilde Jagd der Wolken, das monotone Rauschen des Meeres, unterbrochen vom Sausen des Sturmes, und die klagenden Schreie der Möwen, die ganz erschrocken und von den Windstößen abgetrieben vorbeistrichen. Und dann die dicken Ne
bel, die sich plötzlich herabsenkten wie ein Leichentuch; wenn sie durch die brüchigen Arkaden ins Kloster eingedrungen waren, machten sie uns unsichtbar und ließen die kleine Lampe, mit der wir uns leuchteten, wie ein Irrlicht erscheinen, das in den Gängen herumtanzt: diese und tausend andere Umstände, die sich in meinem Gedächtnis drängeln, machten aus dem mönchischen Leben in der Kartause den romantischsten Aufenthalt von der Welt. Es kam mir nicht ungelegen, so manches Mal in voller Wirklichkeit zu erleben, was ich nur im Traum oder in beliebten Balladen oder in der Nonnenszene von Robert, der Teufel in der Oper gesehen hatte. Wir hatten sogar unheimliche Erscheinungen, von denen bald die Rede sein wird. Und diese Romantik, die vor mir sichtbare Gestalt annahm, veranlaßte mich, über die Romantik im allgemeinen einige Betrachtungen anzustellen. Zu der beträchtlichen Anzahl von Gebäuden, die ich schon beschrieben habe, muß man noch den Teil hinzufügen, der für den Prior reserviert war und den wir ebensowenig besichtigen duren wie manche anderen geheimnisvollen Winkel; ferner die Zellen der Laienbrüder, eine zur alten Kartause gehörende kleine Kapelle, mehrere Nebengebäude für Leute von Stand, die sich dort zurückzogen oder Bußübungen verrichteten, eine Reihe von kleinen Wirtschashöfen, umgeben von Stäl
len für das Vieh der Klostergemeinscha, Logis für das zahlreiche Gefolge der Besucher – kurz, das ganze Instrumentarium einer Produktionsund Lebensgemeinscha, wie sie von Charles Fourier ersonnen wurde, jedoch unter der Schirmherrscha der Jungfrau und des heiligen Bruno. Wenn das Wetter für Ausflüge in die Berge zu schlecht war, machten wir unseren Spaziergang unter Dach im Kloster, und wir hatten stundenlang zu tun, um den riesigen Komplex zu erkunden. Ich weiß nicht, was meine Neugier reizte, das innerste Geheimnis mönchischen Lebens in diesem verlassenen Gemäuer aufzuspüren. Seine Spur war noch so frisch, daß ich stets meinte, das Klappern der Sandalen auf den Fliesen und das Murmeln von Gebeten unter den Gewölben der Kapellen zu hören. Gedruckte lateinische Gebete waren in unseren Zellen an die Wand geklebt und noch lesbar; wir fanden sie sogar auf den geheimsten Örtchen. Ich hätte niemals gedacht, daß man dort hinginge, um sein oremus zu sagen. Auf unseren Erkundungsgängen in den oberen Stockwerken stießen wir unversehens auf eine hübsche Empore, von der aus wir in eine große und schöne Kapelle hinunterblickten, die so vollständig und ordentlich eingerichtet war, daß man meinen konnte, sie sei erst gestern verlassen worden. Der Armsessel des Priors stand noch an seinem Platz, und das Wochenprogramm der geistlichen
Übungen hing in einem Rahmen aus schwarzem Holz vom Gewölbebogen mitten über dem Chorgestühl herab. Auf die Rücklehne eines jeden Chorstuhls war ein Bildchen geklebt, vermutlich das vom Schutzheiligen des jeweiligen Mönchs. Der Weihrauchdu, mit dem die Mauern während so vieler Jahre gesättigt worden waren, hatte sich noch nicht ganz verflüchtigt. Die Altäre waren mit verwelkten Blumen geschmückt, und halb niedergebrannte Kerzen standen in ihren Leuchtern. Die Ordnung und Unberührtheit dieser Dinge kontrastierten eigentümlich mit der Verfallserscheinung von draußen, mit den Brombeerranken, welche die Fenster überwucherten, und mit dem Lärm der Gören, die in den Gängen mit Mosaiksteinchen Schusser spielten. Was meine Kinder angeht, so trieb sie der Hang zum Wundersamen noch viel stärker zu diesen munteren und leidenschalichen Expeditionen. Sicher erwartete meine Tochter, auf den Dachböden der Kartause ein Feenschloß voller Wunderdinge zu finden, während mein Sohn die unter den Trümmern verborgenen Spuren einer seltsamen und schrecklichen Bluttat zu entdecken hoe. Mir war manchmal angst und bange, wenn ich sie wie die Katzen auf verkrümmten Planken und über schwanke Balkone turnen sah; oder wenn sie einige Schritte vor mir plötzlich in einer Wendeltreppe verschwanden, glaubte ich, sie wären verloren, und ich be
schleunigte meine Schritte voller Schrecken, wobei der Aberglaube vielleicht auch eine gewisse Rolle spielte. Denn wenn man sich noch so sehr dagegen wehrt: diese unheimlichen Gebäude, die einem noch unheimlicheren Kult gewidmet sind, regen die Phantasie an; und ich möchte mit dem ruhigsten und kühlsten Kopf wetten, daß er dort nicht lange bei klarem Verstand bleibt. Diese kleinen eingebildeten Ängste, wenn ich sie so nennen darf, sind nicht ohne Reiz; andererseits sind sie wirklich genug, um alles zu tun, sie in seinem Innern zu bekämpfen. Ich gestehe, daß ich abends durch das Kloster nicht o ohne ein aus Angst und Lust gemischtes Gefühl gegangen bin, was ich meinen Kindern aber nie verraten habe, weil ich fürchtete, es auf sie zu übertragen. Sie schienen jedoch dafür nicht anfällig zu sein und rannten bei Mondschein gern unter den zerbrochenen Bögen herum, die wirklich zu Sabbattänzen aufzufordern schienen. Zum Friedhof habe ich sie um Mitternacht einige Male geführt. Nachdem wir einen großen alten Mann getroffen hatten, der zuweilen in den finsteren Gängen herumstrich, ließ ich sie indessen abends nicht mehr allein weggehen. Es handelte sich um einen ehemaligen Knecht oder Hintersassen des Klosters, den der Wein und religiöser Wahn o unzurechnungsfähig machten. Wenn er betrunken war, schwankte er durch die Gänge, klope an die Tü
ren der verlassenen Zellen mit einem schweren Pilgerstab, an dem ein langer Rosenkranz hing, und rief mit weinseliger Stimme die Mönche an oder lallte hohltönende Gebete vor den Kapellen. Da er einen schwachen Lichtschein durch die Ritzen unserer Zellentür dringen sah, schlich er mit Vorliebe dort umher, um Drohungen und schreckliche Flüche auszustoßen. Er ging zur Maria Antonia hinein, die sich sehr vor ihm fürchtete, und hielt ihr lange Predigten, unterbrochen von gemeinen Kraausdrücken; schließlich machte er es sich an ihrem brasero bequem, bis der Sakristan ihn mit Höflichkeit oder List hinausbeförderte, denn beherzt war der Sakristan nicht und wollte sich den Mann auch nicht zum Feinde machen. Der Alte kam dann und klope an unsere Tür zu den unmöglichsten Stunden, und wenn er es endlich müde wurde, vergebens nach Pater Nicolas, seiner fixen Idee zu rufen, ließ er sich zu Füßen der Madonna in einer Nische nicht weit von unserer Tür hinsinken und schlief ein mit dem offenen Messer in der einen und dem Rosenkranz in der anderen Hand. Der Krach beunruhigte uns nicht weiter, weil dem Kerl nicht zuzutrauen war, Leute unversehens zu überfallen. Da man schon von weitem sein Gestammel und sein Stockstampfen auf die Fliesen hören konnte, hatte man Zeit genug, sich zu verdrücken und dem wilden Tier auszuweichen; un
sere doppelte Zellentür aus massivem Eichenholz hätte viel schwerere Belagerungen ausgehalten. Aber diese hartnäckigen Angriffe waren nicht immer komisch, weil wir doch einen leidenden Kranken hatten, dem er Stunden des Schlafs raubte. Man mußte ihn jedenfalls mit mucha calma ertragen, denn von der Polizei am Ort hatten wir keinen Schutz zu gewärtigen: wir gingen nie zur Messe, und unser Gegner war ein heiliger Mann, der keine einzige versäumte. Eines Abends wurden wir von einer anderen Art von Erscheinung aufgescheucht, die ich nie vergessen werde. Es fing mit einem unerklärlichen Lärm an, den ich nur mit dem von tausend Säcken voller Nüsse vergleichen kann, die unablässig über den Fußboden gerollt werden. Wir gingen rasch hinaus auf den Gang, um zu sehen, was los war; der aber war leer und finster wie immer. Doch der Lärm kam näher und näher, und bald erhellte ein Lichtschimmer die Gewölbe in der weiten Tiefe. Allmählich zunehmend stellte sich das Leuchten als von mehreren Fackeln ausgehend heraus, und in ihrem rötlichen Dunst erschien eine Horde von Wesen: Gott und den Menschen zum Ekel. Es war niemand weniger als Luzifer in Person, umgeben von seinem gesamten Hofstaat: ein gehörnter Oberteufel, ganz in Schwarz und mit blutrotem Gesicht, inmitten eines Schwarms von Teufelchen mit Vogelköpfen, Pferdeschwänzen und anderen Scheuß
lichkeiten in allen Farben, dazwischen Teufelinnen oder auch Schäferinnen in weißen und rosa Kleidern, die aussahen, als seien sie von diesen bösen Geistern entführt worden. Nach meinem oben abgelegten Geständnis kann ich wohl zugeben, daß ich mich während ein oder zwei Minuten und sogar nachdem ich begriffen hatte, was gespielt wurde, arg zusammennehmen mußte, um meine Lampe angesichts dieser gräßlichen Maskerade nicht fallen zu lassen, der die Stunde, der Ort und der Fakkelschein ein wahrha übernatürliches Aussehen gaben. Es waren Leute vom Dorf, reiche Bauern und Kleinbürger, die Fastnacht feierten und gekommen waren, um sich in der Zelle der Maria Antonia mit Volkstänzen zu belustigen. Der seltsame Lärm, mit dem sie anrückten, ging von Kastagnetten aus, die gleichzeitig von mehreren Buben in schmieriggräßlichen Masken geschlagen wurden, aber nicht in regelmäßigem Takt wie in Spanien, sondern in kontinuierlichem Rattern wie von Trommeln auf dem Schlachtfeld. Diese Begleitung ihrer Tänze ist ein so grelles und scharfes Geräusch, daß man Nerven wie Stricke haben muß, um es auch nur eine Viertelstunde zu ertragen. Bei ihren Festzügen unterbrechen sie es unvermittelt, um alle miteinander eine coplita über ein musikalisches Motiv anzustimmen, das sich immer wiederholt und nie enden will; dann fangen die Kastagnetten wieder
für ein paar Minuten zu klappern an. Es gibt nichts Barbarischeres, als seine Fröhlichkeit auszutoben, indem man sich mit Holzgeklapper das Trommelfell sprengt. Andererseits wächst das Motiv, das an sich nichts Besonderes ist, zu einer gewissen Größe, wenn es nach langen Lärmpausen aulingt, zumal gesungen von diesen sehr eigenartigen Stimmen, die selbst bei höchster Lautstärke verschleiert und bei höchster Lebendigkeit gedehnt klingen. Ich kann mir denken, daß da noch viel aus der arabischen Tradition mitschwingt. In der lauen und dunklen Nacht unserer Überfahrt von Barcelona nach Palma, wo die einzige Lichtquelle eine eigenartige Phosphoreszenz im Kielwasser des Schiffes war, schlief alles an Bord mit Ausnahme des Rudergängers, der zur Abwehr seiner eigenen Schlafanwandlungen die ganze Nacht sang, aber mit einer derart sanen und gemessenen Stimme, daß man meinen konnte, er scheue sich, die anderen Männer von der Wache zu wekken, oder er sei selbst im Halbschlaf. Wir wurden es nicht satt, ihm zuzuhören, denn sein Gesang war ganz sonderbar mit einem Rhythmus und Modulationen, die wir nicht gewohnt waren. Der Klang seiner Stimme schien zu entschweben wie der Rauch aus dem Schornstein, von der Brise gewiegt und davongetragen. Es war eher eine Träumerei als ein Lied, ein unwillkürliches Schweifenlassen der Stimme, wobei das Bewußtsein kaum
beteiligt war. Aber die Töne waren im Einklang mit dem Rollen des Schiffes und dem Wasserrauschen an den Schaufelrädern; sie machten zwar den Eindruck einer vagen Improvisation, waren jedoch in eine sane, monotone Regel gefügt. Dieser besinnliche Gesang hatte großen Charme. Doch zurück zu den Teufeln. Als sie alle vor unserer Zelle angelangt waren, umringten sie uns unaufdringlich und manierlich, denn die Mallorquiner sind in ihrer Art weder wild noch aggressiv. König Beelzebub war so gnädig, mich in Spanisch anzureden, und er sagte mir, er sei Rechtsanwalt. Um Eindruck bei mir zu schinden, versuchte er dann, Französisch zu sprechen und fragte mich, wie es mir in der Kartause gefiel. Dabei übersetzte er das spanische Wort cartuja mit dem französischen cartouche (Kartätsche), was etwas sinnverwirrend war. Aber man kann vom mallorquinischen Teufel nicht verlangen, daß er alle Sprachen spricht. Ihre Tänze sind nicht lustiger als ihre Lieder. Wir folgtem dem Schwarm in Maria Antonias Zelle, die mit Efeugirlanden dekoriert war, an denen kleine Papierlaternen hingen. Das Orchester bestand aus einer großen und einer kleinen Gitarre, einer Art Geige und drei oder vier Paaren von Kastagnetten; es begann, die einheimischen jotas und fandangos zu spielen, die den spanischen ähneln, deren Rhythmus jedoch origineller und deren Gangart forscher ist.
Dieses Fest wurde zu Ehren von Rafael Torres, einem reichen Pächter der Umgegend veranstaltet, der sich ein paar Tage vorher mit einem recht hübschen Mädchen verheiratet hatte. Der frischgebakkene Ehemann war der einzige, der dazu verdammt war, fast den ganzen Abend mit den Frauen zu tanzen, die er eine nach der anderen aufforderte. Und während dieses pas de deux hockten alle anderen ernst und schweigend nach orientalischer Art auf dem Boden; selbst der Bürgermeister mit seiner Mönchskapuze und seinem großen, schwarzen Stab mit silbernem Knauf machte keine Ausnahme. Die mallorquinischen boleros haben eine altertümliche Gemessenheit und nichts von der sinnlichen Anmut, die man in Andalusien bewandert. Herr und Dame halten die Arme unbeweglich ausgestreckt, während die Finger rasch und ununterbrochen auf den Kastagnetten spielen. Der schöne Rafael tanzte seine Pflicht. Als er seinen Frondienst abgeleistet hatte, hockte er sich hin wie die anderen, und die Dorfgecken kamen an die Reihe, ihre Künste zu zeigen. Ein schlanker, junger Bursche mit einer Wespentaille erregte allgemeine Bewunderung durch die abgehackte Präzision seiner Bewegungen und durch Sprünge auf der Stelle, die an galvanische Zuckungen erinnerten, dabei erhellte nicht das geringste Fünkchen von Fröhlichkeit sein Gesicht. Ein vierschrötiger Landarbeiter, der sehr von sich eingenommen war, wollte Tanz
schritte mit angewinkelten Armen im spanischen Stil machen, wurde aber ausgelacht, wie er es verdiente, denn es war tatsächlich die lächerlichste Karikatur, die man sich vorstellen kann. Dieser Dorfball hätte uns lange gefesselt, wenn diese Damen und Herren nicht einen derartigen Du von ranzigem Öl und Knoblauch verbreitet hätten, daß er einen wirklich an der Gurgel packte. Die Faschingskostüme hatten weniger Interesse für uns als die einheimischen Trachten, denn diese sind sehr elegant und anmutig. Die Frauen tragen eine Art von Schleier aus weißen Spitzen oder Musselin, den man rebozillo nennt und der aus zwei sich überlappenden Teilen besteht; einer, der rebozillo en amunt, ist am Hinterkopf befestigt und verläu unter dem Kinn wie eine Nonnenhaube, der andere oder rebozzillo en volant fällt wie ein Umhang lose über die Schultern. Das glatte Haar ist in der Mitte gescheitelt und hinten in einen dicken Zopf geflochten, der aus dem rebozillo hervortritt und seitlich an einer Hüe von unten her in den Gürtel gesteckt wird. Werktags ward der Zopf nicht geflochten, sondern das Haar fließt lose über den Rücken. Das ausgeschnittene, kurzärmelige Mieder aus Merinowolle oder schwarzer Seide ist oberhalb der Ellbogen und längs der Rückennähte mit Metallknöpfen geschmückt, über die silberne Ketten sehr geschmackvoll und üppig gehängt sind. Diese Frauen und Mädchen sind schlank und gut
gewachsen und haben sehr zierliche Füße, die sie an Festtagen in nette Schuhe stecken. Ein einfaches Dorfmädchen trägt durchbrochene Strümpfe, Satinschuhe, eine goldene Kette um den Hals und meterweise Silberketten um die Taille und am Gürtel hängend. Gute Figuren habe ich häufiger gesehen als hübsche Gesichter; deren Züge sind so regelmäßig wie die der Andalusierinnen, aber der Ausdruck ist offener und lieblicher. In der Gegend von Soller, wo ich nie war, sollen sie besonders schön sein. Die Männer, denen ich begegnet bin, waren nicht gerade gutaussehend, schienen es aber auf den ersten Blick wegen ihrer vorteilhaen Kleidung zu sein. Sie besteht feiertags aus einer buntscheckigen Seidenweste, die herzförmig geschnitten ist und weit offen getragen wird, sowie dem sayo, einer kurzen, schwarzen Jacke, die wie das Mieder bei Frauen eng um die Taille schließt. Ein strahlend weißes Hemd mit gestickten Borten an Hals und Handgelenken läßt die Kehle frei und verdeckt die Brust mit feinem Linnen, was dem Anzug stets eine glänzende Note gibt. Der Leib ist mit einer farbigen Schärpe stramm umwickelt, und die Beine stecken wie bei den Türken in weiten Pumphosen aus einheimischem, gestreiem Baumwoll- oder Seidenstoff, dazu weiße, schwarze oder hellbraune Zwirnstrümpfe sowie Schuhe aus naturfarbenem, nicht appretiertem Kalbsleder. Der Hut aus Wild
katzenfilz mit breiter Krempe, Kordeln und Quasten und schwarzseidenen und goldenen Fäden beeinträchtigt den orientalischen Charakter der Kleidung. Daheim umwickeln sie sich den Kopf mit einem seidenen Schal oder Kattuntuch in einer Art Turban, was ihnen viel besser steht. Im Winter tragen sie o ein Käppchen aus schwarzer Wolle, das ihre Tonsur bedeckt, denn sie rasieren sich wie die Priester den Wirbel, sei es aus Gründen der Reinlichkeit – doch dazu trägt es, weiß Gott, nicht viel bei –, sei es aus Frömmigkeit. Ihre üppige, bauschige, störrische, krause Mähne wallt also um ihren Hals, soweit man bei solchen Mähnen von wallen sprechen kann. Ein Ponyschnitt auf der Stirn vervollständigt diese Haartracht, die der Mode des Mittelalters entspricht und jedem Gesicht einen kravollen Ausdruck verleiht. Auf dem Feld ist ihr Anzug zwangloser und noch viel malerischer. Die Beine sind bloß oder bis zu den Knien mit gelben Ledergamaschen bedeckt, je nach Jahreszeit. Bei heißem Wetter tragen sie weiter nichts als Hemd und Pumphose. Im Winter hängen sie sich ein graues Cape um, das wie eine Mönchskutte aussieht, oder auch ein großes Ziegenfell mit dem Haar nach außen. Wenn man vor sich eine Gruppe von ihnen in diesen lichtbraunen Fellen mit einem schwarzen Streifen den Rücken entlang und vom Kopf bis auf die Füße reichend gehen sieht, könnte man sie für eine Herde von
Ziegen auf Hinterfüßen halten. Auf dem Wege zum Feld oder zurück nach Haus marschiert fast immer einer von ihnen an der Spitze, der Gitarre oder Flöte spielt; die anderen trotten schweigend hinterdrein mit gesenktem Kopf und einer Miene vollkommener Unschuld und Einfalt. Man wäre jedoch schön dumm, wenn man sich davon täuschen ließe, denn an Schläue fehlt es ihnen nicht. Sie sind meist von hohem Wuchs, und durch ihre schlankmachende Tracht wirken sie noch größer. Ihr immer ausgeschnittener Hals ist schön und kräig, und der niemals in Hosenträger und enge Westen eingespannte Oberkörper ist offen und gut entwickelt, aber sie haben fast alle krumme Beine. Von den älteren Männern hatten wir den Eindruck, daß ihr Gesichtsschnitt wenn nicht schön, so doch ernst und gewissermaßen edel war. Sie sahen alle ein wenig aus, wie sich ein Poet Mönche vorstellt. Die junge Generation erschien uns dagegen gewöhnlich und recht munter, was Zweifel an der Abstammung auommen läßt. Sollten die Mönche erst vor einigen zwanzig Jahren aufgehört haben, in die häusliche Intimsphäre einzugreifen?
II Ich erwähnte schon, daß ich dem Geheimnis klösterlichen Lebens hier an diesem Ort auf den Grund kommen wollte, wo seine Spuren noch so frisch waren. Damit soll nicht gesagt sein, daß ich geheimnisvolle, mit gerade dieser Kartause zusammenhängende Umstände aufdecken wollte; ich forderte vielmehr von diesen verlassenen Mauern, mir die geheimsten Gedanken der schweigsamen Einsiedler zu enthüllen, welche sie jahrhundertelang von den lebendigen Menschen abgeschieden hatten. Ich wäre gern dem dünn gewordenen oder gerissenen Faden christlichen Glaubens in diesen Seelen gefolgt, die jede Generation dort hineinwarf gleichsam als Holokaust für diesen eifersüchtigen Gott, dem Menschen ebenso wie den heidnischen Göttern geopfert werden mußten. Schließlich hätte ich am liebsten einen Kartäuser des fünfzehnten und einen des neunzehnten Jahrhunderts wieder lebendig gemacht, um sie einander gegenüberzustellen: beides Katholiken, aber in ihrem Glauben – ohne sich dessen bewußt zu sein – durch Abgründe getrennt; und dann hätte ich jeden von ihnen gefragt, was er vom anderen hält. Es kam mir verhältnismäßig einfach vor, das Le
ben des einen mit einiger Wahrscheinlichkeit in Gedanken zu rekonstruieren: ich sah diesen mittelalterlichen Christen aus einem Guß, inbrünstig glaubend, aufrichtig und gebrochenen Herzens angesichts der Kriege, der Zwietracht und der Leiden seiner Zeitgenossen. Auf der Flucht vor diesem Abgrund des Bösen sucht er in asketischer Versenkung so weit wie möglich einem Leben zu entrinnen, in dem die Vorstellung von der Möglichkeit, die Menschen zu vervollkommnen, der Vorstellung des Einzelnen nicht faßbar war. Aber der Kartäuser des neunzehnten Jahrhunderts, der die Augen verschloß vor dem deutlichen Fortschritt der Menschheit, der unbeteiligt am Leben anderer Wesen weder Religion, Papst, Kirche, Gesellscha noch sich selbst verstand und in seiner Kartause nur eine geräumige, angenehme und sichere Bleibe und damit die Wohlgeborgenheit seiner Existenz sah, während seine Berufung ihm Straffreiheit für das Austoben seiner Triebe und ein Mittel bedeutete, ohne eigenes Verdienst sich die Achtung und Willfährigkeit der Frommen, Männern wie Frauen, zu verschaffen – diesen zweiten Mönch konnte ich mir sehr viel weniger leicht vorstellen. Ich war nicht in der Lage, auch nur einigermaßen exakt das Ausmaß seiner Gewissensnöte, Verblendung, Heuchelei oder Aufrichtigkeit abzuschätzen. Nur bei völliger Geistesarmut konnte ein solcher Mann überzeugten Glauben an die römische Kirche
auringen. Andererseits konnte er auch kein ausgesprochener Atheist sein, denn dann wäre sein ganzes Leben eine abscheuliche Lüge gewesen. Ich vermag einfach nicht zu glauben, daß ein Mensch vollkommen dumm oder vollkommen schlecht sein kann. Wie ein Bild der Hölle stand mir die Vorstellung von seinen inneren Kämpfen, von seinem Zwiespalt zwischen Auflehnung und Unterwerfung, zwischen philosophischem Zweifel und abergläubischer Furcht vor Augen. Und je mehr ich mich in diesen letzten Kartäuser, der meine Zelle vor mir bewohnt hatte, hineinversetzte, um so schwerer fühlte sich meine aufgewühlte Phantasie belastet von seinen Ängsten und Verwirrungen. Ein vergleichender Blick auf die alten Klostergebäude und die neue Kartause genügte, um die ständig wachsenden Ansprüche an Komfort, Hygiene und sogar Eleganz zu verfolgen, die sich in das Leben dieser Einsiedler eingeschlichen hatten, und zweifelsohne eine Lockerung der klösterlichen Regel, die Entlastung des Geistes von Buße und Kasteiung erkennen ließen. Während die alten Zellen dunkel, eng und undicht waren, sind die neuen hell, luig und gut gebaut. Die Beschreibung der von uns bewohnten wird einen Eindruck von der Strenge der Kartäuserregel geben, auch wenn ich einen kleinen Dämpfer aufsetze. Unsere Zelle bestand aus drei großen, schön ge
wölbten Räumen und wurde hinten durch hübsche Rosetten belüet, die von sehr reizvollem, immer verschiedenem Muster in die fast meterstarke Wand eingelassen waren. Dem Gang zu liegt ein kleines, dunkles Vestibül, das mit einer schweren Eichentür abschließt. Der mittlere Raum war zu Lektüre, Gebet und Meditation bestimmt und besaß als einziges Möbelstück ein in die Wand eingebautes riesiges Betpult von mehr als zwei Meter Höhe, das eine Rückenlehne hatte und dadurch auch als Lesestuhl geeignet war. Das Zimmer zur Rechten war der Schlafraum des Mönchs mit einer Bettnische, die sehr niedrig und wie eine Grabkammer oben mit Fliesen ausgelegt war. Zur Linken lag der Arbeitsraum, der gleichzeitig als Eßzimmer und Vorratskammer diente, mit einem Schrank, der ein Fach nach hinten offen hatte, damit man dem Mönch vom Gang aus durch diese Luke Lebensmittel hineinschieben konnte. Seine Küche bestand aus zwei kleinen Feuerstellen, die nach außen gewandt lagen, aber nach strenger Ordensregel nicht im Freien: eine zum Garten offene, gewölbte Mauervertiefung schützte die Kochkünste des Klosterbruders vor Regen und gestattete ihm, sich dieser Beschäigung etwas mehr zu widmen, als der Gründer es wohl gewünscht haben mag. Übrigens war der in dieses dritte Zimmer eingebaute Kamin kennzeichnend für manche anderen Erleichterungen, obwohl das Können des
Baumeisters nicht so weit gegangen war, daß der Kamin auch zog. In Höhe der Rosetten lief entlang der Hinterfront der Zellen ein enger, dunkler Belüungsstollen und darüber ein Dachboden zum Speichern von Mais, Zwiebeln, Bohnen und anderen frugalen Wintervorräten. Nach Süden gingen die drei Räume auf einen Vorplatz, dessen Abmessungen genau denen der gesamten Zelle entsprachen; er war von dem benachbarten durch eine Mauer von drei bis vier Meter Höhe getrennt und ruhte auf einer Terrassenstufe oberhalb des Orangenhains, der den nächsten Absatz den ganzen Hang entlang einnahm. Auf der Stufe darunter war ein Weingarten, auf der folgenden standen Palmen und Mandelbäume und so fort bis zum Talgrund, der, wie ich schon sagte, ein einziger riesiger Garten war. Jeder Vorplatz besaß längs der gesamten rechten Grenzmauer einen Trog aus Steinplatten von etwa anderthalb Meter Breite und ebensolcher Tiefe, dem Bergwasser aus Kanälen in der Terrassenbrüstung zufloß; von dort aus ergoß es sich in steinerne Rinnen, welche die Fläche des Vorplatzes in vier gleiche Quadrate teilten. Ich habe nie begriffen, warum eine derartige Wassermenge nötig war, um den Durst eines einzigen Mannes zu stillen oder um eine Fläche von sieben Metern im Quadrat zu bewässern. Wenn man nicht wüßte, welchen Abscheu Mönche vor einem Bad haben
und welche Mäßigung sich Mallorquiner in dieser Hinsicht auferlegen, könnte man meinen, daß die guten Kartäuser wie indische Priester ihr ganzes Leben mit frommen Waschungen verbrachten. Dieser mit Granatapfel-, Zitronen- und Orangenbäumen bestandene Vorplatz war umrandet von einem Weg auf etwas erhabenen Ziegeln, der ebenso wie der Wassertrog von Bogenlauben aus würzigen Kletterpflanzen beschattet war. Es war wie ein Salon aus Blumen und Grün, wo ein Mönch an feuchten Tagen trockenen Fußes wandeln und bei sengender Hitze seinen Rasen mit fließendem Wasser erfrischen konnte, wo er am Rand einer schönen Terrasse den Du der Orangenbäume einatmen dure, deren buschige Kronen zu seinen Füßen von Blüten und Früchten strotzende Kuppeln bildeten, und wo er in völliger Ruhe die herbe wie liebliche, melancholische wie großartige Landscha zu betrachten vermochte. Hier war es ihm vergönnt, zu seiner Augenweide seltene und kostbare Blumen zu züchten, zur Stillung seines Durstes die köstlichsten Früchte zu pflücken, auf das erhabene Rauschen des Meeres zu horchen, in die herrliche Sommernacht unter einem makellosen Himmel zu starren und den Ewigen Gott in dem schönsten Tempel anzubeten, den er dem Menschen je im Schoße der Natur erschlossen hat. So stellte ich mir zuerst die unsagbaren Wonnen
des Kartäusers vor, und solche Wonnen versprach ich mir selbst, als ich mich in einer der Zellen einrichtete, die wie dafür gemacht schienen, die großartigen Launen der Phantasie oder des Traums einer ausgesuchten Schar von Dichtern und Künstlern zu befriedigen. Aber wenn man sich die Existenz eines Mannes ohne Geist und infolgedessen ohne die Fähigkeit zu träumen und zu meditieren vorstellt, eines Mannes vielleicht ohne Gläubigkeit, das heißt ohne Verzückung und ohne Andacht, der in diese Zelle mit ihren massigen, tauben und stummen Mauern eingesperrt ist, verhärtet durch die von der Klosterregel aufgebürdeten Entbehrungen und gezwungen, diese Regel dem Buchstaben nach zu befolgen, ohne deren Sinn zu verstehen; eines Mannes, der, verdammt zu den Schrecken der Einsamkeit, darauf angewiesen ist, das Treiben der Menschen im Talgrund nur von ferner Bergeshöhe wahrzunehmen, und der auf ewig entfremdet bleiben muß den paar anderen eingekerkerten Seelen, die, demselben Schweigen geweiht und in dieselbe Gru verschlossen, immer nah und immer getrennt sind, sogar im Gebet – kurz, wenn man sich selbst als freier und denkender Mensch aus Mitgefühl zu gewissen Greueln und Schwächen hingezogen fühlt, so wirkt dies alles traurig und düster wie ein Leben des Nichts, des Irrtums und der Ohnmacht. Dann versteht man den unermeßlichen Verdruß
dieses Mönchs, an den die Natur ihre schönsten Aspekte verschwendet hat, dem der Genuß jedoch versagt ist, weil er keine Menschenseele hat, die er an seinen Freuden teilhaben lassen kann; die grausame Schwermut dieses Büßers, der wie eine Pflanze nur Kälte und Hitze empfindet; die tödliche Erstarrung dieses Christen, dem nichts den Geist der Askese zu immer wieder neuem Leben anfacht. Verdammt, allein zu essen, allein zu arbeiten, allein zu leiden und zu beten, kann er eigentlich weiter kein Bedürfnis haben, als dieser entsetzlichen Klausur zu entfliehen; wie man mir erzählt hat, war dieser Drang bei einigen der letzten Kartäuser so stark, daß sie sich ganze Wochen und Monate entfernt haben, ohne daß es dem Prior möglich gewesen wäre, sie zur Rückkehr ins Kloster zu bewegen. Ich fürchte, ich habe unsere Kartause lang und breit beschrieben, ohne auch nur den geringsten Eindruck davon vermittelt zu haben, welchen Zauber sie auf uns zuerst ausgeübt hat und wie sie ihren poetischen Charme bei näherer Bekanntscha einbüßte. Wie es mir so leicht passiert, habe ich meinen Erinnerungen allzu freien Lauf gelassen, und ich frage mich jetzt, warum ich nicht mit zwanzig Zeilen ausdrücken konnte, was ich auf zwanzig Seiten gesagt habe. Es ist wohl einfach so, daß die unbekümmerte Ruhe des Geistes und alles, was diesen Zustand herbeiführt, einem müden Kopf
köstlich erscheinen, daß sich aber die Faszination verflüchtigt, sobald die Überlegung einsetzt. Nur ein Genie vermag, ein lebendiges und vollständiges Bild mit einem einzigen Pinselstrich zu entwerfen.
III Das Dorf Valldemosa, das stolz auf sein Stadtrecht aus der Araberzeit ist, liegt im Schoße der Berge auf gleicher Höhe mit der Kartause, deren Anhängsel es zu sein scheint. Wie eine Kolonie von Nestern der Seeschwalbe klebt es kaum zugänglich am Berg, und die Männer, meist Fischer, gehen frühmorgens fort, um erst spät am Abend heimzukommen. Tagsüber wimmelt das Dorf von den geschwätzigsten Weibern der Welt, die auf der Schwelle ihres Hauses sitzend damit beschäigt sind, Netze oder die Hosen des Mannes zu flicken, und dabei aus vollem Halse singen. Sie sind so fromm wie ihre Männer, aber ihre Frömmigkeit ist weniger intolerant, weil sie echter ist. Darin sind die Frauen hier wie überall sonst dem anderen Geschlecht überlegen. Im allgemeinen ist der weibliche Hang zum Kirchenbesuch eine Angelegenheit der Schwärmerei, der Gewohnheit oder der Überzeugung, während bei Männern Ehrgeiz und der Vorteil die Hauptrolle spielen. Vorsicht und Zurückhaltung sind die Hauptzüge ihres Charakters, wie die Mallorquiner selbst eingestehen. Wenn man einem Bauern auf dem Lande begegnet, wird stets ein Gruß ausgetauscht; so
bald man aber ein Wort mehr an ihn richtet, ohne ihm bekannt zu sein, antwortet er sogar dann nicht, wenn man ihn in seinem Dialekt anredet. Fremdartiges Aussehen genügt schon, um ihn scheu werden und einen weiten Bogen um einen machen zu lassen. Wir hätten mit den braven Leuten in gutem Einvernehmen leben können, wenn wir in die Kirche gegangen wären. Das hätte sie zwar nicht daran gehindert, uns bei jeder Gelegenheit übers Ohr zu hauen, aber wir hätten zumindest nicht riskiert, im Vorbeigehen aus einem Gebüsch einen Stein an den Kopf zu bekommen. Es wäre klug von uns gewesen, wenn wir uns in der Kirche gezeigt hätten, aber es kam uns anfangs gar nicht in den Sinn. Wir hatten fast bis zum Schluß keine Ahnung, wie sehr sie von unserer Art und Weise schockiert waren. Sie nannten uns Heiden, Muselmänner oder gar Juden, die nach ihrer Ansicht die Schlimmsten von allen sind. Der Bürgermeister empfahl uns der Mißbilligung seiner Gemeinde, und ich weiß nicht, ob uns der Pfarrer nicht gelegentlich zum Text einer Predigt gewählt hat. Über die Bluse und die Hose meiner Tochter entrüsteten sie sich ebenfalls. Sie fanden es sehr unpassend, daß ein neunjähriges Mädchen ›als Mann verkleidet‹ durch die Berge streie. Und es waren nicht nur die Bauern, die sich mit dieser Prüderie zierten. Sonntags rief uns in der Kartause das Posthorn
vergebens, das durch Dorf und Fluren erklang, um die Säumigen an die Messe zu gemahnen. Zuerst waren wir taub, weil wir den Sinn des Signals nicht kannten. Als wir ihn begriffen hatten, waren wir es noch mehr. Um Gottes Herrlichkeit zu rächen, fanden die Dörfler ein Mittel, das gar nicht christlich war. Sie verschworen sich, uns Fisch, Eier und Gemüse nur zu Wucherpreisen zu verkaufen. Es nützte uns nichts, wenn wir uns auf die üblichen Marktpreise beriefen. »Ach, Sie wollen keine?« sagte der Bauer süffisant wie ein Grande, »dann sollen Sie auch keine haben.« Sprach’s, stopfte seine Zwiebeln oder Kartoffeln wieder in den Quersack und nahm würdevoll seinen Abgang, ohne daß wir vermocht hätten, ihn zurückzuholen, um doch noch zu einer Einigung zu kommen. Er ließ uns einfach hungern zur Strafe dafür, daß wir zu handeln gewagt hatten. Wir mußten tatsächlich hungern. Es gab keine Konkurrenz unter den Verkäufern und damit auch keine Unterbietungen. Wenn der zweite kam, verlangte er das Doppelte, der dritte das Dreifache, so daß wir ihnen ausgeliefert waren und das Leben von Eremiten führen mußten, das aufwendiger war als das eines Prinzen in Paris. Wir hatten allerdings eine andere Quelle in Palma, von wo aus uns ein rettender Engel, verkörpert im Koch des französischen Konsuls, versorgte; wäre ich römischer Kaiser gewesen, hätte ich seine Kochhaube
in den Rang der Sternbilder erhoben. Aber an Regentagen war ein Bote um keinen Preis als Zubringer zu bekommen. Da es zwei Monate lang regnete, war unser Brot o hart wie Schiffszwieback, und unsere Mahlzeiten waren wie die eines strengen Kartäusers. Das wäre nicht so schlimm gewesen, wenn wir uns alle bei guter Gesundheit befunden hätten. Ich bin sehr mäßig und sogar von Natur aus spartanisch, was das Essen angeht. Der prächtige Appetit meiner Kinder machte Bolzen aus jedem Holz und einen Festschmaus aus einer grünen Zitrone. Der Junge, der bei unserer Ankun schwach und kränklich gewesen war, erholte sich wie durch ein Wunder und heilte ein schweres rheumatisches Leiden aus, indem er wie ein Hase auf der Flucht vom frühen Morgen an, durchnäßt bis zum Gürtel, durch das Gestrüpp der Berge rannte. Die Vorsehung erlaubte der guten Mutter Natur, dieses Mirakel für ihn zu vollbringen. Wir hatten auch wirklich genug an einem Kranken, dem die feuchte Lu und die Entbehrungen schlecht bekamen. Sein Zustand verschlechterte sich in erschreckender Weise. Obwohl er von der gesamten Ärztescha Palmas als unheilbar aufgegeben worden war, hatte er kein chronisches Leiden; aber nach einer Halsentzündung hatte ihn das Fehlen einer kräigenden Diät in einen sehr matten Zustand versetzt, von dem er sich nicht wieder aufrappeln konnte.
Er schickte sich darein, wie man es tun kann, wenn es sich um das eigene Geschick handelt; wir aber konnten uns mit seinem Los nicht abfinden, und ich machte mir zum ersten Mal große Sorgen wegen kleiner Widrigkeiten: Wut wegen einer zu stark gepfefferten oder von den Mädchen verwässerten Bouillon, Unruhe wegen frischen Brots, das nicht kam oder sich auf dem Maultierrücken beim Überqueren des Wildbachs in einen Schwamm verwandelt hatte. Ich erinnere mich ganz bestimmt nicht mehr daran, was ich in Pisa oder Triest gegessen habe, aber ich werde nie die Ankun des Korbes mit Lebensmitteln in der Kartause vergessen, und wenn ich hundert Jahre alt werde. Was hätte ich nicht für eine Tasse Fleischbrühe oder ein Glas Bordeaux gegeben, um es jeden Tag unserem Kranken zu bieten! Mallorquinisches Essen und insbesondere seine Zubereitung, wenn wir sie nicht selbst übernahmen oder zumindest überwachten, riefen bei ihm einen unüberwindlichen Widerwillen hervor. Soll ich sagen, inwiefern dieser Widerwille begründet war? Als man uns eines Tages ein mageres Huhn servierte, sahen wir auf seinem dampfenden Rücken Meister Floh in mehreren prächtigen Exemplaren herumhupfen, aus denen E. T. A. Hoffmann ebenso viele böse Geister gemacht, die er aber gewiß nicht mit Soße gegessen hätte. Meine Kinder bekamen einen derartigen Lachanfall, daß sie fast unter den Tisch fielen. Der
Grundstock der mallorquinischen Küche ist unweigerlich das Schwein in allen Erscheinungsformen. Hier wäre der Ausspruch des kleinen Savoyarden im Märchen am Platze gewesen, als er seine Spelunke pries und verkündete, man äße dort fünf Sorten Fleisch: Schwein, Spanferkel, Eisbein, Schinken und Speck. In Mallorca bereitet man sicher mehr als zweitausend Gerichte mit Schwein zu, und es gibt mindestens zweihundert Arten von Wurst, die derart reichlich mit Knoblauch, Pfeffer, Paprika und allen möglichen anderen beizenden Spezereien gewürzt sind, daß man bei jedem Bissen sein Leben riskiert. Man sieht, wie bei Tisch zwanzig Schüsseln aufgetragen werden, deren Inhalt einen ganz manierlichen Eindruck macht. Dem Schein darf man jedoch nicht trauen: es ist Höllensud, vom Teufel persönlich gebraut. Zum Nachtisch kommt dann eine recht vertrauenerweckende Pastete mit einer Verzierung, die man für Orangenscheiben mit Zucker bestreut halten kann, bis sich herausstellt, daß es sich um eine durch Knoblauch angereicherte Pastete mit Schweinsfrikassee handelt, daß die Scheiben von Tomaten und Pfefferschoten stammen und daß die so unschuldig dreinschauende Zuckerstreu in Wirklichkeit schönes, weißes Salz ist. Freilich gibt es Hühner, aber sie bestehen nur aus Haut und Knochen. In Valldemosa hätte man uns zweifellos für jedes Korn zur Mästung eines Huhns einen Real abverlangt. Der Fisch, den
man uns brachte, war so fade und trocken wie die Hühner. Eines Tages kauen wir uns einen pulpo oder Polypen, weil wir uns so ein Ungetüm einmal näher angucken wollten. Ich habe nie etwas Gräßlicheres gesehen. Sein Leib war so groß wie der eines Puters, seine Augen waren dick wie Orangen, und seine schlaffen, gräßlichen Arme waren ausgestreckt anderthalb Meter lang. Sein Äußeres vertrieb uns den Appetit; wir stieten das Biest unserer Maria Antonia, die es zubereitete und mit Genuß aß. Wenn sich diese guten Leute auch wegen unseres Getues um einen pulpo lustig machten, so konnten wir uns doch einige Tage später revanchieren. Als wir von den Bergen herunterkamen, sahen wir die Bauern ihre Arbeit im Stich lassen und auf einige Leute unten am Weg zulaufen, die in einem Korb ein Paar wunderbare, unerklärliche, nie gesehene Vögel trugen. Das gesamte Bergvölkchen wurde durch das Auauchen dieser unbekannten Federtiere in helle Aufregung versetzt. »Was fressen denn die?« fragte einer der Gaffer. »Die fressen vielleicht gar nicht«, war eine Antwort. »Leben die auf der Erde oder auf dem Wasser?« »Wahrscheinlich sind die immer in der Lu.« Die beiden Vögel wären beinahe von der öffentlichen Meinung und Anteilnahme erstickt worden; immerhin konnten wir noch rechtzeitig feststellen, daß es sich weder um Kondore noch um Phoenixe oder
Hippogryphen handelte, sondern ganz schlicht um zwei schöne Gänse, die ein reicher Herr von seinem Landgut aus einem seiner Freunde als Geschenk überbringen ließ. Wie in Venedig sind auch in Mallorca die Likörweine reichlich vertreten und hervorragend im Geschmack. Der Muskateller, den wir gewöhnlich tranken, war so gut und billig wie der Zyperwein, den wir von der Adria kannten. Aber die Rotweine, deren Bereitung eine wirkliche, den Mallorquinern unbekannte Kunst ist, sind herb und dunkelfarbig, brennen auf der Zunge und haben einen hohen Alkoholgehalt; dabei sind die teurer als unser einfachster französischer Landwein. Alle diese feurigen und zu Kopf steigenden Weine waren so schädlich für unseren Kranken und auch für uns, daß wir fast immer Wasser tranken, das uns ausgezeichnet behagte. Vielleicht war es die Reinheit dieses Quellwassers, der eine bald eintretende Wirkung zuzuschreiben war: unsere Zähne wurden strahlend weiß, wie es kein Schönheitspflegeinstitut in Paris jemals für die elegante Welt zustandegebracht hätte. Die Ursache kann aber auch unsere übertriebene Enthaltsamkeit gewesen sein. Da wir keine Butter hatten und das Schweinefett, das eklige Öl und die empörenden Kochverfahren der Einheimischen nicht vertragen konnten, lebten wir von magerem Fleisch, Fisch und Gemüse, alles schmackha gemacht mit, als Soßenersatz, Quell
wasser, dem wir manchmal bei schlemmerischen Anwandlungen den Sa einer grünen Orange beimischten, die wir auf unserem Gartenvorplatz frisch gepflückt hatten. Zum Ausgleich hatten wir herrliche Sachen als Nachtisch: süße Kartoffeln aus Malaga, kandierte Kürbisse aus Valencia und Weintrauben, des Landes Kanaan würdig. Die weißen oder hellroten Weinbeeren sind länglich und haben eine ziemlich dicke Schale, die jedoch dazu verhil, daß sie sich monatelang halten. Sie sind köstlich, und man kann davon essen, soviel man will, ohne daß man sich aufgebläht fühlt. Unsere Sorte aus Fontainebleau ist saig und erfrischend, die von Mallorca fleischig und süß; die eine ist zum Trinken, die andere zum Essen. Die Trauben, von denen manche zwanzig bis fünfundzwanzig Pfund wogen, hätten einen Maler begeistert. Für uns war es die Rettung aus der Not in Zeiten der Knappheit. Die Bauern meinten, uns mit ihrer Forderung des vierfachen Marktpreises teuer zahlen zu lassen, aber sie wußten nicht, daß das im Vergleich zu Frankreich nichts war; jedenfalls hatten wir das Vergnügen, daß sich der eine über den anderen lustig machen konnte. Um Kaktusfeigen wurde nicht gefeilscht, denn das ist die abscheulichste Frucht, die ich kenne. Wenn diese frugale Lebensweise, wie ich schon sagte, nicht auf einen von uns ungünstige und sogar schädliche Auswirkungen gehabt hätte, wären
wir anderen ganz damit einverstanden gewesen. Sogar in Mallorca, sogar in einer verlassenen Kartause, sogar im ständigen Kampf mit den verschlagensten Bauern der Welt, war es uns gelungen, uns eine Art von Behagen zu schaffen. Wir hatten Fensterscheiben, Türen und ein Prachtstück von Ofen, für dessen Anfertigung der beste Schmied von Palma einen ganzen Monat gebraucht und der uns hundert Franken gekostet hatte. Es war einfach ein eisernes Rohr mit einem Abzugstutzen durchs Fenster. Er brauchte eine gute Stunde, bis er brannte, und wenn er es schließlich tat, fing er an zu glühen. Zuerst mußte man alle Türen aufreißen, um den Rauch abziehen zu lassen, und bald darauf wieder, weil die Hitze unerträglich wurde. Außerdem hatte der Ofenbauer das Innere anstatt mit Kitt, mit einem Stoff ausgefugt, mit dem die Inder aus Frömmigkeit ihre Häuser und sogar sich selbst beschmieren, denn die Kuh und alles, was von ihr kommt, gilt ihnen als heilig. So seelenläuternd dieser hehre Du auch sein mag, so muß ich doch bezeugen, daß er die Nase nicht gerade erquickt. Während des Monats, den dieser Kitt zum Austrocknen brauchte, konnten wir meinen, wir befänden uns in dem danteschen Höllenkreis der Schmeichler. Ich habe mich vergebens bemüht, ein Vergehen dieser Art wieder ins Gedächtnis zu rufen, durch das ich mir derartige Qualen verdient hätte; auch konnte ich mich nicht erinnern, jemals
vor einem Mächtigen gekrochen zu sein oder einen Papst oder König durch meine Schmeicheleien ermuntert zu haben, in seinem Irrtum zu verharren. Ich hatte nicht einmal einen Boten oder einen Gerichtsdiener auf dem Gewissen und konnte mir keine Verbeugung vor einem Polizisten oder Journalisten vorwerfen. Zu unserem Glück verkaue der Apothekermönch ausgezeichnetes Benzoeharz, einen Restbestand von Dustoffen, mit dem man seinerzeit in der Klosterkirche das Gottesbild beräuchert hatte; und diese himmlische Emanation focht in unserer Zelle einen siegreichen Kampf gegen die Ausdünstungen des achten Kreises der Hölle. Unser Mobiliar war hervorragend: Gurtbetten, an denen nichts auszusetzen war, nicht zu weiche Matratzen, die teurer als in Paris, aber neu und sauber waren, sowie große und schöne Steppdecken, die man bei den Juden in Palma recht billig kaufen konnte. Eine französische Dame, die auf Mallorca wohnte, war so liebenswürdig gewesen, uns einige Pfund Federn abzugeben, die sie aus Marseille hatte kommen lassen und mit denen wir zwei Kopissen für unseren Kranken stopfen konnten. Das war bestimmt ein großer Luxus in einer Gegend, wo man Gänse für phantastische Wesen hält und es die Hühner noch juckt, wenn sie vom Spieß kommen. Wir besaßen ein paar Tische und mehrere Stühle
mit strohgeflochtenem Sitz, wie man sie in unseren Bauernhäusern sieht, sowie ein sinnbetörendes Sofa aus Weißholz mit Leinenkissen, die mit Schafwolle gefüllt waren. Der sehr unebene und staubige Boden der Zelle war mit valencianischen Matten aus Langstroh, die wie von der Sonne vergilbter Rasen aussehen, und mit feinen, langhaarigen Schafsfellen bedeckt, die man hierzulande wunderbar mollig und schneeweiß anzufertigen versteht. Wie in Afrika und im Orient gibt es in den alten mallorquinischen Häusern und vor allem in den Mönchszellen keine Schränke. Man bewahrt seine Sachen in großen, einfachen Truhen auf, so daß unsere Koffer aus hellbraunem Leder für hochelegante Möbel gelten konnten. Aus einer großen, buntkarierten Wolldecke, die uns auf der Reise die Beine warmgehalten hatte, wurde eine Portiere vor der Bettnische, und mein Sohn schmückte den Ofen mit einem dieser hübschen Tonkrüge aus Felanitx, deren Form und Ornamentik von reinstem arabischen Stil sind. In Felanitx blüht die Töpferei, deren Erzeugnisse weite Verbreitung in Europa verdienten. Sie sind so leicht, daß man meinen möchte, sie seien aus Kork, und so feinkörnig, daß man den Ton für ein kostbares Material halten könnte. Man macht dort kleine, wohlgeformte Krüge, die man als Karaffen benutzt und die das Wasser wunderbar frisch hal
ten. Der Ton ist so porös, daß das Wasser rasch durch die Wände verdunstet; es braucht keinen halben Tag, bis der Krug leer ist. Ich verstehe nichts von Physik, und man wird meine Bemerkungen sicher für mehr als einfältig halten; jedenfalls war es für mich wie ein Wunder, und mein Tonkrug kam mir vor wie verzaubert. Wir stellten ihn voller Wasser auf den Ofen, dessen Platte fast immer glühte. Obwohl er dort nach Verflüchtigung des Wassers manchmal trocken stehen blieb, brach er nie. Solange er auch nur einen Tropfen Wasser enthielt, war es eiskalt, während auf die Platte gelegtes Holz ansengte. Unser Tonkrug, umschlungen von einer Efeuranke, die wir an unserer Außenwand abgemacht hatten, war dem kunstverständigen Auge ein erfreulicherer Anblick als alle Vergoldungen unseres modernen Sèvres-Porzellans. Das Pleyel-Klavier, das wir den Händen der Zöllner nach dreiwöchigen Verhandlungen gegen eine Gebühr von Franken entrissen hatten, erfüllte das hohe, hallende Gewölbe der Zelle mit wundervollen Tönen. Schließlich hatte der Sakristan sich bereitfinden lassen, uns einen großen, geschnitzten, gotischen Eichenstuhl abzugeben, an dem in der Alten Kapelle Ratten und Würmer genagt hatten. Sein Kasten diente uns als Bibliothek, während abends bei Lampenlicht sein feines Maßwerk und die schlanken Fialen ihren Schatten als
schwarzes Spitzenmuster und als Turmzier vergrößert an die Wand warfen und dadurch der Zelle ihren altertümlichen und klösterlichen Charakter zurückgaben. Señor Gomez, der uns damals sein Landhaus Son Vent heimlich vermietet hatte, weil es nicht als fein gilt, daß ein Mallorquiner mit Vermieten Geld verdient, hatte uns eine Szene gemacht und mit einem Prozeß gedroht, wenn wir ihn nicht für ein paar zu Bruch gegangene irdene Teller entschädigten; wir bezahlten ihm den Preis, den sie in chinesischem Porzellan gehabt hätten. Außerdem mußten wir – immer unter Drohungen – wegen der Gefahr der Ansteckung mit Halsentzündung für den Verputz und Neuanstrich des gesamten Hauses auommen. Aber alles Schlechte hat auch seine guten Seiten. Er bestand darauf, uns die Hauswäsche zu verkaufen, die er uns geliehen hatte, um alles loszuwerden, was mit uns in Berührung gekommen war, und ließ nicht locker, bis wir ihm den Wert neuer Wäsche bezahlt hatten. Ihm war es zu verdanken, daß wir keinen Flachs anzubauen brauchten, um eines Tages Laken und Tücher zu haben wie jener italienische Edelmann, der seinen Pagen Hemden versprach. Man sollte mich nicht kindisch nennen, weil ich Unannehmlichkeiten beschreibe, derentwegen ich ganz bestimmt keinen Groll mehr hege; auch mein Geldbeutel hat schließlich seine Schmerzen ver
winden können; aber niemand wird bestreiten, daß das Interessanteste, was es in einem fremden Lande zu beobachten gibt, die Menschen sind. Und wenn ich nun sage, daß ich mit den Mallorquinern keine einzige, noch so geringfügige Geldsache hatte, bei der ich nicht auf schamlose Unehrlichkeit und gemeine Habsucht gestoßen wäre, und wenn ich hinzufüge, daß sie ihre Gläubigkeit vor uns zur Schau stellten, während sie so taten, als seien sie über unsere Ungläubigkeit entsetzt, dann wird man zugeben, daß die Frömmigkeit einfacher Seelen, die heutzutage von manchen Konservativen so gepriesen wird, nicht immer so arg erbaulich und moralisch ist, daß der Wunsch gestattet sein sollte, Gott auf eine andere Art verstanden und verehrt zu sehen. Mir hat man bis zum Überdruß in den Ohren gelegen mit diesen Gemeinplätzen: daß es verbrecherisch und gefährlich sei, selbst gegen einen vermoderten Irrglauben anzugehen, weil man nichts an seine Stelle zu setzen hat; daß nur die Menschen, die noch nicht vom Gi der philosophischen Forschung und der revolutionären Tobsucht infiziert sind, noch moralisch, gastfrei und aufrichtig seien, und daß man bei ihnen allen noch Poesie, Größe und die antiken Tugenden finde, und so weiter, und so weiter ... Alle diese erhabenen esen kamen mir offengestanden in Mallorca noch lächerlicher vor als anderswo. Wenn ich meine Kinder sah, wie sie, die phi
losophisch in Abscheu vor Trübsal erzogen worden waren, freudig einem kranken Freund halfen und ihn versorgten, sie ganz allein unter Mallorquinern, die sich mit unmenschlicher Härte und feiger Angst von einer angeblich ansteckenden Krankheit abgewandt hatten – dann sagte ich mir, daß diese kleinen Schlingel mehr Rechtschaffenheit und Barmherzigkeit besaßen als diese ganze Bevölkerung von Heiligen und Aposteln. Diese frommen Diener Gottes konnten nicht umhin, mir zu sagen, ich beginge ein großes Verbrechen, indem ich meine Kinder der Ansteckung aussetze, und der Himmel würde ihnen zur Strafe für meine Verblendung die gleiche Krankheit schicken. Ich entgegnete ihnen, daß, wenn einer aus unserer Familie die Pest hätte, die anderen nicht von seinem Bett weichen würden, daß nach französischem Brauch vor wie nach der Revolution der Kranke nicht im Stich gelassen werde, daß spanische Gefangene mit den bösartigsten Krankheiten unser Land während der Napoleonischen Kriege durchquert und daß unsere Bauern ihnen von ihrer Suppe und ihrer Wäsche abgegeben hätten, daß diese Bauern im abgetretenen eigenen Bett nicht von ihnen gewichen wären, um sie zu pflegen, daß allerdings einige davon ihrem Edelmut zum Opfer gefallen und der ansteckenden Krankheit erlegen wären, was die Überlebenden nicht daran gehindert hätte, weiterhin Gastfreundscha und Mild
tätigkeit zu üben. Der Mallorquiner schüttelte den Kopf und lächelte nachsichtig. Der Gedanke der Aufopferung an einen Unbekannten wollte ihm ebensowenig in den Kopf wie der Begriff der Redlichkeit einem Fremden gegenüber oder gar die Möglichkeit, ihm einen Gefallen zu tun. Alle Reisenden, die das Innere der Insel besucht haben, waren indessen begeistert von der Gastlichkeit und Uneigennützigkeit des mallorquinischen Bauern. Sie berichteten voller Bewunderung, daß es zwar keine Gasthäuser gebe, daß es aber trotzdem leicht und angenehm sei, das Land zu bereisen, in dem es genügt, eine einfache Empfehlung vorzuweisen, um freundlich aufgenommen und kostenlos untergebracht und bewirtet zu werden. Man braucht also nur eine solche Empfehlung an einen Bauern von einem noblen oder reichen Herrn, und schon öffnet sich einem die Tür. Wenn man jedoch ohne empfohlen zu sein, um ein Glas Wasser bittet, wird man sich umgucken. Nichtsdestoweniger ist der mallorquinische Bauer san und gutmütig, friedlich, ruhig und geduldig. Er liebt das Böse nicht, kennt aber auch nicht das Gute. Er geht zur Beichte, er betet, es beschäigt ihn unablässig, wie er sich die Aufnahme ins Paradies verdienen kann, aber er weiß nicht, worin die wahren menschlichen Pflichten bestehen. Er ist nicht hassenswerter als ein Ochse oder ein Schaf, denn er ist nicht mehr Mensch als das Wesen, das
unschuldig im Tier schlummert. Er spricht seine Gebete, er ist abergläubisch wie ein Wilder, aber er würde seinen Mitmenschen bedenkenlos auffressen, wäre es des Landes so der Brauch und gäbe es nicht Schweine in Menge. Er betrügt, prellt, lügt, beschimp und plündert ohne auch nur die mindesten Gewissensbisse. Ein Fremder ist für ihn kein Mensch. Obwohl er einem Landsmann nicht einmal eine Olive entwenden würde, sind die Menschen von jenseits der Meere nach Gottes Ratschluß nur dazu da, um den Mallorquinern nette kleine Profite zu verschaffen. Wir hatten Mallorca ›Affeninsel‹ genannt, weil wir uns inmitten dieser tückischen, diebischen und dennoch unschuldigen Biester daran gewöhnt hatten, vor ihnen auf der Hut zu sein, ohne ihnen mehr zu grollen und zu zürnen als die Inder den schelmischen und scheuen Orang-Utans. Indessen nimmt man es allmählich hin, diese Kreaturen menschlicher Gestalt mit dem göttlichen Zeichen derart in einem Bereich dahinvegetieren zu sehen, der so gar nicht dem des heutigen Menschen entspricht. Man spürt sehr wohl, daß dieses unvollkommene Wesen Auffassungsgabe besitzt, daß es entwicklungsfähig ist und daß seine Zukun auch nicht anders aussehen wird als die der Menschen auf einer höheren Stufe des Fortschritts; diesen Vorsprung aufzuholen ist nur eine Frage der Zeit, die uns lang vorkommt, im Abgrund der
Ewigkeit aber winzig ist. Je mehr man das Gefühl hat, daß diese Fähigkeit zur Vervollkommnung vorhanden ist, desto betrübter ist man, sie durch die Ketten der Vergangenheit gehemmt zu sehen; und dieser Rückstand, der die Vorsehung nicht kümmert, erfüllt uns bei der Kurzlebigkeit unseres Daseins mit Schauder und Mitleid. Man empfindet mit dem Herzen, mit dem Kopf, im tiefsten Innern, daß das Leben aller anderen Menschen mit dem unsrigen verknüp ist, daß wir es nicht entbehren können zu lieben und geliebt zu werden, zu verstehen und verstanden zu werden, Hilfe zu leisten und zu empfangen. Das Bewußtsein geistiger und moralischer Überlegenheit macht nur den Hochmütigen stolz. Nach meiner Vorstellung würden alle großherzigen Menschen am liebsten nicht etwa hinabsteigen, um sich anzugleichen, sondern vielmehr rasch alle ihnen unterlegenen zu sich emporheben, um endlich das wirkliche Leben der Sympathie, des Gedankenaustauschs, der Gleichheit und der Gemeinscha zu führen, welches das religiöse Ideal des menschlichen Gewissens ist. Ich bin sicher, daß dieses Bedürfnis im Grunde eines jeden Herzens da ist und daß diejenigen unter uns, die dagegen angehen und es mit fadenscheinigen Argumenten abzuwürgen trachten, ein eigenartiges Gefühl der Bitterkeit empfinden, das sie nicht definieren können. Die Menschen der un
teren Schichten verzehren sich oder verlöschen, wenn sie vergeblich hochzukommen suchen, und die der oberen Ränge sind entsetzt oder betrübt, wenn sie ihnen vergeblich die Hand reichen; und diejenigen, welche niemandem helfen wollen, werden zernagt von Langeweile und der Angst vor der Einsamkeit, bis sie in einen vertierten Zustand absinken, der unter dem der Niedrigsten liegt.
IV Abgesondert und allein waren wir in Mallorca, so allein wie in der Wüste, und wenn wir im Geplänkel mit den Affen unser täglich Brot erobert hatten, versammelten wir uns um den Ofen und amüsierten uns darüber. Mit fortschreitendem Winter trübten sich jedoch alle Bemühungen um Frohsinn und Unbeschwertheit. Der Zustand unseres Kranken verschlechterte sich zusehends, der Wind heulte in der Schlucht, der Regen schlug gegen die Scheiben, das Rollen des Donners drang durch die dikken Mauern und setzte einen unheimlichen Akzent auf das heitere Spiel der Kinder. Im Schutze des Nebels kühner geworden, stießen Adler und Geier herab und verschlangen unsere armen Spatzen auf dem Granatapfelbaum, der die Aussicht aus meinem Zimmer versperrte. Kein Boot wagte sich auf das wilde Meer hinaus; wir fühlten uns gefangen, fern jeder verständnisvollen Hilfe und jeder wirksamen Teilnahme. Der Tod schien über unseren Häuptern zu schweben, um sich des Schwächsten von uns zu bemächtigen, und wir standen allein, ihm seine Beute streitig zu machen. Kein einziges menschliches Wesen war in Reichweite, das ihn nicht am liebsten rascher ins Grab befördert
hätte, um die angebliche Gefahr seiner Nähe zu beseitigen. Das Gefühl dieser feindseligen Stimmung war fürchterlich bedrückend. Andererseits fühlten wir uns stark genug, um die Hilfe und Zuneigung, die uns von draußen versagt wurden, durch Anhänglichkeit und gegenseitige Liebesdienste zu ersetzen. Ich glaube sogar, daß unter solchen widrigen Umständen das Herz sich weitet und die Liebe Flügel bekommt, weil sie neue Kra aus dem Gefühl menschlicher Solidarität schöp. Innerlich aber litten wir darunter, daß wir unter Menschen geraten waren, die keinen Sinn für diese Empfindungen und keinerlei Mitgefühl für uns hatten, die wir aber umgekehrt aufs tiefste bemitleiden mußten. Außerdem quälte mich meine Hilflosigkeit. Ich besitze keinerlei wissenschaliche Kenntnisse, und ich hätte Arzt, ein großer Arzt, sein müssen, um die Krankheit zu behandeln, für die alle Verantwortung mein Herz belastete. Der Arzt, der uns besuchte und dessen Eifer und Tüchtigkeit ich nicht anzweifle, hat sich geirrt, wie es jedem und selbst dem berühmtesten Arzt passieren kann; jeder ernsthae Wissenschaler gibt übrigens zu, sich o getäuscht zu haben. Auf die Bronchitis war jetzt eine Nervenentzündung gefolgt, die mehrere Symptome einer Kehlkopuberkulose zum Vorschein brachte. Der Arzt, der diese Erscheinungen gelegentlich beobachtet,
nicht jedoch die Konträrsymptome wahrgenommen hatte, die mir zu anderen Zeiten aufgefallen waren, verordnete eine Behandlung, wie sie für Schwindsuchtsfälle indiziert ist: Aderlaß, Diät und Milchkur. Alle diese Anordnungen waren völlig falsch, und der Aderlaß wäre sogar tödlich gewesen. Der Kranke spürte das, und ohne medizinische Kenntnisse hatte ich, die ich schon viele Kranke gepflegt habe, die gleiche Ahnung. Ich zitterte jedoch davor, diesem vielleicht trügerischen Gefühl nachzugeben und entgegen den Anweisungen eines Fachmannes zu handeln; als der Zustand des Kranken sich verschlimmerte, stand ich dann Ängste aus, die jeder verstehen wird. Ein Aderlaß könnte ihn retten, sagte man mir, und er wird sterben, wenn Sie sich dem widersetzen. Indessen sagte mir eine innere Stimme, die selbst während des Schlafs nicht verstummte: ein Aderlaß würde ihn töten, und er wird am Leben bleiben, wenn Du ihn davor bewahrst. Gewiß war es die Stimme der Vorsehung, und heute, wo unser Freund, der Schrekken der Mallorquiner, als ebensowenig schwindsüchtig erkannt ist wie ich, danke ich dem Himmel, daß er mir die Zuversicht ließ, die uns gerettet hat. Die Diät bekam ihm überhaupt nicht. Sobald wir deren schlechte Auswirkungen bemerkten, hielten wir uns so wenig wie möglich an die Verordnung. Doch gab es leider kein Mittelding zwischen der einheimischen gepfefferten Küche und den frugal
sten Gerichten. Milch, deren verheerenden Effekt wir später feststellten, war glücklicherweise so spärlich in Mallorca, daß sie keinen Schaden anrichten konnte. Zu der Zeit meinten wir noch, Milch würde Wunder wirken, und taten alles nur erdenkliche, um uns welche zu beschaffen. Es gibt keine Kühe in diesen Bergen, und die Ziegenmilch, die man uns verkaue, wurde unterwegs immer von den Buben getrunken, die uns den Krug brachten, der seltsamerweise bei uns voller ankam, als er ursprünglich gewesen war. Es war ein Wunder, das dem frommen Überbringer jeden Morgen geschah, vorausgesetzt, er verrichtete sein Gebet im Hof der Kartause, d. h. neben dem Brunnen. Um mit diesen Wundern Schluß zu machen, besorgten wir uns eine Ziege. Es war das netteste und liebenswerteste Geschöpf von der Welt, eine hübsche, kleine, ungehörnte afrikanische Ziege mit kurzem, gelbbräunlichem Haar, mit einer Hakennase und hängenden Ohren. Diese Ziegen sind sehr verschieden von den unseren. Sie haben das Fell eines Rehs und das Profil eines Schafs, nicht jedoch den schelmischen und eigensinnigen Gesichtsausdruck unserer verspielten Zicklein. Sie scheinen im Gegenteil recht melancholisch zu sein. Von unseren unterscheiden sie sich auch dadurch, daß sie sehr kleine Euter haben und sehr wenig Milch geben. Wenn sie voll ausgewachsen sind, hat diese Milch einen strengen und wilden Ge
schmack, den die Mallorquiner sehr schätzen, der uns jedoch widerwärtig war. Unser liebes Tierchen hatte seine erste Mutterscha vollbracht; es war noch keine zwei Jahre alt, und seine Milch schmeckte recht gut. Aber es war eine geizige Ziege, besonders als sie sich von der Herde getrennt fand, mit der sie nicht etwa herumzutollen – dazu war sie zu seriös, zu mallorquirtisch –, sondern träumend auf den Bergen zu stehen gewohnt war, denn nun verfiel sie einer Schwermut, die der unsrigen irgendwie entsprach. Obwohl es auf unserem Rasen schönes, saiges Gras gab und dort noch von den Kartäusern angepflanzte aromatische Kräuter entlang der Bewässerungsrinnen wuchsen, konnte sie nichts über ihre Gefangenscha hinwegtrösten. Sie irrte verstört und verzweifelt durch die Klostergänge und meckerte zum Steinerweichen. Zur Gesellscha gaben wir ihr ein dickes Schaf mit einem spannenlangen, dichten, weißen Fell, eines von der Art, die man bei uns nur noch in Spielwarenläden oder auf den Fächern unserer Großmütter sieht. Durch diese nette Gefährtin wurde sie etwas ruhiger, und wir erhielten etwas mehr ziemlich fette Milch. Aber trotz guter Ernährung lieferten die beiden eine so geringe Menge, daß die häufigen Besuche, die Maria Antonia, die niña und Catalina unseren Haustieren abstatteten, uns verdächtig zu werden begannen. Wir brachten die Tiere daher hinter Schloß und
Riegel auf einen kleinen Hof am Fuße des Kirchturms und übernahmen das Melken selbst. Diese leichte Milch versetzt mit Mandelmilch, die meine Kinder und ich abwechselnd auspreßten, ergab ein gesundes und ganz angenehmes Getränk. Nichts anderes war verfügbar. Alles Zeug aus Palma war unerträglich unsauber. Der aus Spanien importierte, schlecht raffinierte Zucker ist von dunkler Farbe, ölig und wirkt als Abführmittel auf die, welche nicht daran gewöhnt sind. Eines Tages wähnten wir uns gerettet. Wir sahen Veilchen im Garten eines reichen Bauern und erhielten die Erlaubnis, einige zu pflücken, um einen Tee davon aufzubrühen. Als wir unseren kleinen Strauß hatten, ließ er uns einen Sou pro Veilchen bezahlen: wohlgemerkt, einen mallorquinischen Sou, dessen Wert dem von drei französischen Sous entspricht. Zu diesen Hausarbeiten kam hinzu, daß wir unsere Zimmer und Betten selber machen mußten, wenn wir nachts schlafen wollten; denn das mallorquinische Mädchen brauchte dort nur etwas anzufassen, und schon hinterließ sie uns mit unerträglicher Freigebigkeit die gleichen Biester, über die sich die Kinder so amüsiert hatten, als sie auf dem Rücken eines gebratenen Huhns erschienen waren. Es blieben uns kaum ein paar Stunden für Arbeit und Spaziergang, aber sie waren gut genutzt. Die Kinder paßten auf beim Unterricht und
machten fleißig ihre Schularbeiten; anschließend brauchten wir nur die Nase aus unserem Bau zu stecken, und schon befanden wir uns in der herrlichsten, abwechslungsreichsten Landscha. Auf dieser Szene mit der gewaltigen Bergkulisse bot sich bei jedem Schritt ein malerischer Anblick: ein Kapellchen auf einem schroffen Felsen, ein Rhododendrongebüsch wie hingeworfen an einen steilen, rissigen Abhang, eine Einsiedlerklause neben einer von hohem Schilfrohr umstandenen Quelle, eine Baumgruppe auf einem mächtigen, moosbewachsenen und efeuberankten Felsbrocken. Wenn die Sonne geneigt war, sich einen Augenblick zu zeigen, glitzerten diese vom Regen besprühten Pflanzen, Steine und Erden in lebhaen Farben und Funken. Wir machten vor allem zwei Ausflüge, die einen Bericht verdienen. An den ersten denke ich nicht gern zurück, obwohl wir viel Schönes gesehen haben. Aber unser Kranker, der damals zu Beginn unseres Aufenthalts auf Mallorca gut beisammen war, wollte uns begleiten; er hatte sich jedoch zuviel zugemutet, und die Anstrengung war der Grund für den Ausbruch seiner Krankheit. Unser Ziel war eine Einsiedelei, etwa drei Meilen von der Kartause entfernt. Wir folgten dem rechten Zug der Bergkette und stiegen von Hügel zu Hügel einen steinigen Pfad hinauf, der uns auf wunden Füßen zur Nordküste hinführte. An jeder
Wegbiegung hatten wir das großartige Schauspiel des Meeres, das wir von hoch oben über eine Strekke reicher Vegetation hinweg liegen sahen. Es war das erste Mal, daß ich ein fruchtbares Ufer mit Bäumen und anderem Grün bis an die erste Welle heran sah, ohne fahle Klippen, ohne schlammige Marsch und ohne langweiligen Strand. Wo immer ich in Frankreich die Küste erlebt habe, sogar auf den Höhen von Port-Vendres, wo sie sich mir endlich voller Schönheit präsentierte, überall kam mir das Meer schmutzig und abstoßend vor. Selbst der gepriesene Lido von Venedig ist nichts als fürchterlich nackter Sand, der von riesigen Eidechsen wimmelt; man braucht nur einen Schritt zu machen, und schon springen sie zu Tausenden unter dem Fuß auf und scheinen einen in ständig wachsender Zahl zu verfolgen wie in einem bösen Traum. In Royant, in Marseille, fast überall an unseren Küsten verleidet uns ein Gürtel schmieriger Tanghaufen und öden Sandes den Zugang zum Meer. In Mallorca sah ich es endlich, wie ich es mir erträumt hatte: klar und blau wie der Himmel, san gewellt wie eine Ebene aus Saphiren, die sich, von einem unsichtbaren Pflug beständig in Furchen gelegt, aus einer gewissen Höhe gesehen nicht merklich bewegt und von dunkelgrünen Forsten eingerahmt ist. Mit jedem Schritt, den wir auf dem gewundenen Bergpfad machten, bot sich uns ein erhebenderer Ausblick als der vorherige. Zur Ein
siedelei mußten wir ein gutes Stück absteigen; hier ist die Küste zwar sehr schön, aber längst nicht so überwältigend wie an einer anderen Stelle, zu der ich einige Monate später kam. Die vier oder fünf Einsiedler sind keine poetischlyrischen Figuren. Ihre Behausung ist so erbärmlich und roh, wie es ihr Gelübde erheischt; und zu Füßen ihres Terrassengartens, den umzugraben sie gerade beschäigt waren, bietet sich ihren Blikken die große Einsamkeit des Meers. Uns kamen sie als die einfältigsten Menschen der Welt vor. Sie trugen keine geistliche Tracht. Ihr Superior legte seinen Spaten aus der Hand und kam in seinem hellbraunen, unordentlichen Wams auf uns zu; seine kurzen Haare und der schmutzige Bart hatten nichts Malerisches. Er sprach uns von den Entbehrungen, die dieses Leben auferlegt, und vor allem von der unerträglichen Kälte, die an dieser Küste herrscht; als wir ihn aber fragten, ob es gelegentlich Frost gäbe, konnten wir ihm nicht begreiflich machen, was Frost ist. Er kannte das Wort in keiner Sprache und hatte nie von einem Land gehört, wo es kälter als in Mallorca ist. Indessen hatte er eine gewisse Vorstellung von Frankreich, weil er unsere Flotte auf ihrem Wege zur Eroberung Algiers im Jahre hatte vorbeifahren sehen; es war das schönste, aufregendste, man kann sagen, sein einziges Erlebnis. Er fragte uns, ob es den Franzosen gelungen sei, Algier einzunehmen.
Als wir ihm erzählten, sie hätten kürzlich auch noch Constantine besetzt, machte er ganz große Augen und rief aus, die Franzosen seien ein großes Volk. Er führte uns nach oben in eine kleine, ziemlich schmutzige Zelle, wo wir den Veteran der Einsiedler trafen. Er kam uns vor, als wäre er hundert Jahre alt, dabei war er erst achtzig, wie wir zu unserer Überraschung hörten. Der Mann war völlig verblödet, obwohl er mit seinen aschgrauen, zittrigen Händen noch ganz mechanisch Holzlöffel anfertigte. Er nahm keine Notiz von uns, wenngleich er nicht taub war. Als der Superior ihn anrief, hob er einen massigen Kopf wie aus Wachs und zeigte uns ein Gesicht von bestialischer Häßlichkeit, in dessen verzerrten Zügen sich ein ganzes Leben geistiger Verkümmerung abzeichnete. Ich mußte rasch meine Augen von dem erschütterndsten und quälendsten Menschenbild abwenden, dem ich je begegnet bin. Wir gaben ihnen ein Almosen, denn sie gehörten einem Bettelorden an; von den Bauern werden sie noch immer sehr verehrt und mit allem Notwendigen versorgt. Auf unserem Rückweg kamen wir in einen furchtbaren Sturm, der uns mehrere Male umwarf und unseren Marsch so anstrengend machte, daß unser Kranker völlig erschöp war. Den zweiten Ausflug machten wir nicht lange vor unserer Abreise von Mallorca; ich werde ihn nie
vergessen. Es war der gewaltigste Eindruck, den mir die Natur jemals vermittelt hat, und ich bin höchstens drei- oder viermal in meinem Leben ähnlich ergriffen gewesen. Der Regen hatte endlich aufgehört, und der Frühling war plötzlich gekommen. Es war Februar; die Mandelbäume standen in voller Blüte, und die Wiesen waren mit duenden Narzissen übersät. Abgesehen vom Farbton des Himmels und dem frischen, jungen Grün der Landscha führten die Blumen den einzigen Unterschied zwischen den beiden Jahreszeiten vor Augen, denn die Bäume dieser Gegend sind zumeist immergrün. Was früh ausschlägt, braucht keine Frostschäden zu befürchten, das Gras bleibt saig, und die Blumen brauchen nur einen sonnigen Morgen, um ihre Nase in den Wind zu heben. Als unser Garten unter spannendickem Schnee lag, wiegte der Wind an unseren Bogenlauben niedliche, kleine Kletterrosen, die zwar etwas blaß waren, aber dennoch guter Dinge zu sein schienen. Eines Morgens, an dem es unserem Kranken gut genug ging, um zwei oder drei Stunden alleingelassen zu werden, bestimmte mich ein Blick aufs Meer vom Nordtor des Klosters, mich mit den Kindern auf den Weg zu machen, um die Küste nach jener Seite kennenzulernen. Bisher war ich darauf nicht im mindesten neugierig gewesen, obgleich mir meine Kinder, die wie die Gemsen spran
gen, versicherten, es sei das schönste Fleckchen auf der Welt. Sei es, daß von unserem Besuch der Einsiedelei als Ursache unserer Sorgen eine gewisse berechtigte Unlust nachgeblieben war, sei es, daß mir ein Meeresblick von unten nicht so vielversprechend vorkam wie der von der Höhe aus; jedenfalls hatte ich noch keine Versuchung gespürt, mich aus dem bergenden Tal von Valldemosa zu wagen. Wie gesagt steht die Kartause an einer Stelle, wo sich der Gebirgszug teilt und eine leicht geneigte Ebene zwischen den beiden sich ausbreitenden Armen auf das Meer zu ansteigt. Wenn ich bei meinem täglichen Blick in dieser Richtung das Meer sich am Horizont weit über diese Ebene erheben sah, befanden sich Auge und Hirn in einem seltsamen Irrtum. Anstatt mir klarzumachen, daß die Ebene zunächst anstieg, dann aber gar nicht weit von mir plötzlich abbrach, bildete ich mir ein, sie senke sich allmählich bis zum Ufer in etwa fünf bis sechs Meilen Entfernung. Woher sollte ich denn wissen, daß dieses Meer, das scheinbar mit der Kartause auf gleicher Höhe lag, tatsächlich mehr als Meter tiefer gelegen war. Es wunderte mich schon zuweilen, daß seine Stimme bei dem von mir angenommenen Abstand so laut bis zu uns drang. Ich hatte ganz einfach nicht nachgedacht, und ich frage mich, mit welcher Berechtigung ich mich manchmal über kleine Leute in Paris mokiere,
wo meine eigenen Mutmaßungen doch mehr als einfältig waren. Ich erkannte nicht, daß der Meereshorizont, über den mein Blick streie, oder Meilen von der Küste entfernt war, während man das Gestade, an dem sich die Wellen brechen, in einer halben Wegstunde von der Kartause erreichen konnte. Wenn also meine Kinder mich dazu bewegen wollten, mit ihnen bis zu der Stelle zu kommen, wo man einen weiten Blick aufs Meer hinaus hat, und behaupteten, es seien nur ein paar Schritte bis dahin, hatte ich nie Zeit dafür, weil ich glaubte, es handele sich um ein paar Kinderschritte, was in Wirklichkeit Riesenschritte bedeutete. Kinder marschieren ja bekanntlich mit dem Kopf, ohne jemals in ihre Füße zu denken, und Däumlings Siebenmeilenstiefel sind ein Symbol dafür, daß Kinder um die ganze Erde laufen könnten, ohne es zu merken. Schließlich ließ ich mich von ihnen mitschleppen und war überzeugt, daß wir dieses ferne Märchenufer niemals erreichen würden. Mein Sohn behauptete, den Weg zu kennen; da aber alles Weg ist, wenn man Siebenmeilenstiefel anhat, und da ich seit langem nur noch in Pantoffeln durchs Leben latsche, wandte ich ein, daß ich nicht wie er und seine Schwester über Gräben, Hecken und Bäche springen könne. Während einer Viertelstunde ging es offensichtlich nicht abwärts zum Meer, denn die Bachläufe rannen uns hurtig entgegen, und je wei
ter wir vorankamen, desto tiefer schien das Meer am Horizont in den Abgrund zu sinken. Am Ende glaubte ich, wir gingen in der entgegengesetzten Richtung, und nahm mir vor, den ersten Bauern, der uns begegnete, zu fragen, ob wir Aussicht hätten, so ans Meer zu gelangen. In einem modderigen Graben unter einer Weidengruppe waren drei Hirtinnen, vielleicht drei verkleidete Feen, damit beschäigt, mit Schaufeln im Dreck zu wühlen, um ich weiß nicht was für einen Talisman oder Salatkopf zu finden. Die erste hatte nur einen Zahn und war vermutlich die Fee Dentue, die ihren Hexensud mit diesem einzigen, entsetzlichen Zahn in ihrem Kessel rührt. Die zweite Alte war allem Anschein nach die böse, bucklige Carabosse, die Todfeindin orthopädischer Institute. Beide schnitten uns eine fürchterliche Fratze. Die erste fletschte ihren Zahn in Richtung auf meine Tochter, deren Jugendfrische ihren Appetit reizte. Die zweite warf den Kopf zurück und schwing ihre Krücke, um meinem Sohn, vor dessen geradem und schlankem Wuchs ihr grauste, das Kreuz zu brechen. Die dritte war jung und hübsch; sie sprang behende auf den Grabenrand, warf ihren Umhang über die Schultern und machte uns ein Zeichen mit der Hand, ihr zu folgen. Sie war sicher eine gute kleine Fee, nannte sich aber unter ihrer Verkleidung als Gebirglerin Périca de Per Bruno. Périca ist das netteste einheimische Geschöpf, dem
ich auf Mallorca begegnet bin. Sie und meine Ziege sind die einzigen lebenden Wesen, die in Valldemosa ein Stückchen meines Herzens zurückbehalten haben. Das junge Mädchen war so verdreckt, wie die kleine Ziege sich geschämt hätte, es zu sein; als sie aber eine Weile durch das feuchte Gras gegangen war, wurden ihre bloßen Füße zwar nicht gerade weiß, aber niedlich wie die einer Andalusierin. Ihr anmutiges Lächeln, ihr zutrauliches und neugieriges Geplapper, ihre uneigennützige Gefälligkeit gaben uns das Gefühl, wir hätten in ihr etwas so Reines wie eine kostbare Perle gefunden. Sie war sechzehn Jahre alt und hatte ein feingeschnittenes Gesicht, das ganz rund war und samtig wie ein Pfirsich. Sie besaß das Ebenmaß und die Harmonie einer griechischen Statue, war schlank wie eine Gerte, und ihre nackten Arme hatten einen tieraunen Ton. Unter ihrem rebozillo aus grobem Leinen quoll wie ein Fohlenschwanz das wirre, flatternde Haar hervor. Unter ihrer Führung überquerten wir den Rain ihres Ackers und eine baumbestandene Wiese, umrahmt von großen Felsblöcken. Das Meer konnte man nicht mehr sehen, so daß es mir vorkam, als stiegen wir in die Berge und die schelmische Périca hielte uns zu Narren. Doch am Ende der Wiese öffnete sie ein kleines Gatter, und wir befanden uns auf einem Pfad, der um eine Felsnadel in Form eines Zuckerhuts her
umführte. Nach einigen Windungen standen wir plötzlich wie durch Zauberei hoch über dem unermeßlichen Meer mit der seitlichen Sicht auf die gegenüberliegende Küste der kleinen Bucht zu unseren Füßen. Dieser unerwartete Blick machte mich zunächst schwindlig, so daß ich mich erst einmal hinsetzen mußte. Aber diese Anwandlung verging allmählich; ich wurde wieder beherzt und ging sogar den Pfad weiter hinunter, obwohl er nicht für Menschenfüße, sondern eher für Ziegen gedacht war. Was ich sah, war so schön, daß meine Gedanken diesmal keine Siebenmeilenstiefel, sondern Schwalbenflügel bekamen, und ich zog los, um die Meter hohen Sandsteinnadeln herum, die am Saum der Klippen wie wachsame Riesen dastanden. Die ganze Zeit hielt ich Ausschau nach dem Ufer der kleinen Bucht zur Rechten, in der Fischerboote, winzig wie Fliegen, lagen. Plötzlich sah ich nichts mehr vor mir und unter mir als das strahlend blaue Meer. Der Weg hatte sich irgendwie verlaufen. Périca rief von oben, und meine Kinder, die mir auf allen Vieren folgten, fingen an, noch lauter zu schreien. Ich drehte mich um und sah meine Tochter ganz in Tränen aufgelöst. Ich kehrte um, aber ehe ich sie fragen konnte, was los ist, wurde mir rasch bewußt, daß die verzweifelte Angst meiner Kinder nicht ohne Grund war. Hätte ich auch nur einen Schritt mehr gemacht, wäre ich viel schneller unten gewesen, als
mir lieb sein konnte, es sei denn, es wäre mir gelungen, wie Fliegen an der Zimmerdecke umgekehrt zu laufen, denn der Felsen, auf den ich zusteuerte, war überhängend und der Inselblock unten tief ausgewaschen. Als ich die gefährliche Lage sah, in die ich meine Kinder fast mit hineingezogen hätte, packte mich ein entsetzlicher Schrecken, und ich machte, daß ich wieder zu ihnen hinauam. Nachdem ich sie aber hinter einem der großen Zuckerhüte in Sicherheit gebracht hatte, wurde ich erneut von dem Drang besessen, auf den Grund der Bucht zu kommen und die Auswaschungen von unten zu sehen. Niemals in meinem Leben hatte ich etwas dem Vergleichbares gesehen wie das, was ich da unten erahnte und was meine Phantasie beflügelte. Ich konnte es nicht lassen, auf einem anderen Pfad noch einmal abzusteigen, indem ich mich an Brombeerranken festhielt und die Felsnadeln umklammerte, die jeweils einen neuen Absatz der Tiefe zu bezeichneten. Endlich konnte ich einen Blick vom riesigen Maul des ausgehöhlten Gesteins erhäschen, in das sich die Wellen mit seltsamen Lauten stürzten; ich weiß nicht, welche Zauberklänge ich zu hören und welche unbekannte Welt ich zu entdecken meinte, als mich mein Sohn beängstigt und ziemlich wütend packte und zurückriß. Unweigerlich mußte ich einen recht prosaischen Fall tun, nämlich nicht vornüber, denn das wäre das Ende
des Abenteuers und meiner selbst gewesen, sondern aufs Sitzfleisch, wie ein vernüniger Mensch. Mein Sohn hielt mir meine Unbedacht mit so schönen Worten vor, daß ich meine Absicht aufgab, allerdings nicht ohne Bedauern, das selbst heute noch nicht ganz erstorben ist, denn meine Pantoffeln werden jedes Jahr schwerer, und ich glaube nicht, daß mir die Flügel, die ich an jenem Tage hatte, jemals wiederwachsen werden, um mich an solche Gestade zu tragen. Ich weiß natürlich wie jeder andere, daß das, was man sieht, nicht immer dem gleicht, was man sich erträumt; nur bei Kunstwerken und menschlichen Leistungen tri es zu. Bei mir liegt es entweder daran, daß meine Phantasie im allgemeinen schwerfällig arbeitet, oder daran, daß Gott begabter ist als ich – was nicht ganz ausgeschlossen ist – jedenfalls habe ich die Natur meist sehr viel schöner gefunden, als ich sie mir vorgestellt hatte, und ich kann mich nicht daran erinnern, sie als langweilig empfunden zu haben, es sei denn zu Zeiten, als ich selbst langweilig war. Ich werde also nie darüber hinwegkommen, daß ich es um die nächste Felsenecke nicht mehr gescha habe. Vielleicht hätte ich Amphitrite leibhaig in einer Perlmuttgrotte gesehen, bekränzt mit raschelndem Seegras. Statt dessen sah ich nur Felsnadeln, teils wie Säulen von Schlucht zu Schlucht aufragend, teils wie Stalaktiten von Höhlung zu
Höhlung herabhängend, und alle bizarr in der Form und phantastisch in der Stellung. Über den Abgrund neigten sich Bäume von erstaunlicher Lebenskra, alle krumm und schief und halb vom Winde entwurzelt. Aus der Tiefe dieses Abgrundes erhob sich senkrecht ein anderer Berg gen Himmel, ein Berg von Kristall, Diamant und Saphir. Es war das Meer, das, von hoch oben gesehen, sinntäuschend als vertikale Fläche erscheint. Erkläre es, wer mag. Meinen Kindern kam es in den Sinn, Pflanzen mitzunehmen. Die schönsten Liliengewächse sprießen zwischen den Felsen. Mit vereinten Kräen buddelten wir drei die Zwiebel einer scharlachroten Amaryllis aus, die aber so schwer war, daß wir sie nicht bis zur Kartause gebracht haben. Mein Sohn schnitt sie in Stücke, um unserem Kranken wenigstens ein Fragment dieser wundervollen Pflanze zu zeigen; es war so groß wie sein Kopf. Périca, mit einem Bündel Reisig beladen, das sie unterwegs aufgesammelt hatte, rempelte uns infolge ihrer jähen und hastigen Bewegungen dauernd damit an. Sie geleitete uns bis zum Dorfeingang, aber ich bestand darauf, daß sie zur Kartause mitkam, um ihr ein kleines Geschenk zu machen, das sie erst nach vielem Hin und Her annahm. Arme kleine Périca, du wußtest nicht und wirst niemals wissen, wie wohl du mir getan hast, indem du dich mir unter all den Affen als sanes, liebens
würdiges und gefälliges menschliches Geschöpf ohne Hintergedanken erwiesen hast! An diesem Abend waren wir alle miteinander froh, Valldemosa nicht verlassen zu müssen, ohne einem sympathischen Wesen begegnet zu sein.
V Mehrere andere Ausflüge machten wir zwischen diesen beiden, die in Mallorca unser erster und unser letzter waren. Wenn ich die anderen hier nicht aus der Erinnerung zurückrufe, so deswegen, weil ich den Leser zu ermüden fürchte mit meiner Begeisterung für diese rundherum schöne Landscha, die überall durchsetzt ist mit Landhäusern, eines malerischer als das andere, mit Hütten und Palästen, mit Kirchen und Klöstern. Wenn einer unserer großen Landschasmaler jemals nach Mallorca kommt, so empfehle ich ihm den Landsitz Granja de Fortuny an der Straße von Valldemosa nach Esporlas mit den Orangen- und Zitronenbäumen in der Mulde, die sich vor seinen Marmorkolonnaden erstreckend den Weg, der dort hinführt. Aber so weit brauchte er gar nicht zu gehen; keine zehn Schritte könnte er auf dieser Zauberinsel machen, ohne an jeder Wegbiegung stehenzubleiben: hier vor einem arabischen Wassersammelbecken unter Palmen, dort vor einem fein gemeißelten Steinkreuz des fünfzehnten Jahrhunderts oder am Rande eines Olivenhains. Die unverwüstliche Kra und die Formenüppigkeit dieser Urernährer Mallorcas sind unvergleich
lich. Man behauptet auf der Insel, es gebe keine Pflanzung von Olivenbäumen, die nach der Römerzeit angelegt wurde. Da ich das Gegenteil nicht beweisen kann, will ich das nicht anzweifeln. Im übrigen habe ich nicht die geringste Lust dazu, denn bei dem unheimlichen Aussehen, dem regellosen Wuchs und der grimmigen Gebärde dieser geheimnisvollen Bäume hat meine Phantasie sie ohne weiteres als Zeitgenossen Hannibals anerkannt. Beim abendlichen Spaziergang muß man sich immer wieder ins Gedächtnis zurückrufen, daß es Bäume sind. Traute man nämlich seinen Augen und seiner Einbildung, würde einen inmitten dieser wunderlichen Unholde das Grauen pakken: manche krümmen sich wie mächtige Drachen mit aufgerissenem Maul und gespreizten Flügeln; andere sind in sich selbst verschlungen wie schlafende Riesenschlangen; wieder andere umklammern sich wie zyklopische Ringkämpfer. Bald entführt ein galoppierender Zentaur eine häßliche Vettel auf seiner Kruppe; bald verschlingt ein namenloses Reptil ein zuckendes Reh; etwas weiter tanzt ein Satyr mit einem Ziegenbock, der weniger häßlich ist als er. Und o ist es ein einziger rissiger, knotiger, krummer, verwachsener Baum, den man für eine Gruppe von zehn verschiedenen Bäumen hält; er ganz allein verkörpert diese verschiedenen Ungetüme und fügt sie in einem einzigen Kopf zusammen, der gräßlich ist wie der eines in
dischen Götzen und einen einzelnen grünen Zweig als Helmzier trägt. Um die überwältigende Gestalt dieser heiligen Bäume, von denen man jeden Augenblick prophetische Stimmen zu vernehmen erwartet, und den funkelnden Himmel als Hintergrund für ihre scharfen Silhouetten wiederzugeben, bedarf es zumindest des kühnen und großzügigen Pinsels eines éodore Rousseau. Die klaren Wasser, in denen sich Goldwurz und Myrte spiegeln, würden Jules Dupré erfordern. Der strenge Corot hingegen würde sich von kunstvoll gegliederten Szenen angesprochen fühlen, wo sich die Natur trotz ihrer Freiheit nur aus koketter Laune heraus klassisch und hofartig zu gebärden scheint. Um jedoch den köstlichen Wirrwarr aus einer ganzen Welt von Gräsern und Wildblumen, verrotteten Baumstämmen und tränenden Girlanden als Rahmen der geheimnisvollen Quelle darzustellen, in der Störche ihre langen Beine netzen, hätte ich am liebsten Paul Huets Radiernadel als Zauberstab in meiner Tasche verfügbar. Wie o habe ich nicht beim Anblick eines alten mallorquinischen Cavallers auf der Schwelle seines vergilbten verfallenen Palastes an Alexandre Decamps gedacht, an den großen Meister des Genrebildes, an das Genie, das Mauern sogar Geist, Heiterkeit, Poesie, kurz Leben, einzuhauchen versteht? Die hübschen, braungebrannten Kinder, die als
Mönche verkleidet in unserem Kloster spielten, hätten ihm viel Spaß gemacht. Dort hätte er Affen in beliebiger Menge mit ein paar Engeln dazwischen gehabt, außerdem Schweine mit menschlichem Gesicht, unter die sich ebenso dreckige Cherubim gemischt haben: Périca, schön wie Galathee, schmutzstarrend wie ein Pudel und lachend im Sonnenschein wie alles, was schön ist auf dieser Welt. Aber du bist es, Eugène Delacroix, mein alter Freund und lieber Künstler, den ich nachts gern in die Berge begleitet hätte, wenn der Mond die fahlen Fluten mit seinem Licht übergießt. Es war eine herrliche Landscha, in der ich zusammen mit meinem armen vierzehnjährigen Buben fast durch Ertrinken ums Leben gekommen wäre; aber er war tapfer, und mir mangelte es nicht an der Einsicht, daß die Natur sich an diesem Abend äußerst romantisch, irre und sublim gebärdete. Wir waren miteinander in der Zeit der Winterregen von Valldemosa abgefahren, um den grimmigen Zollbeamten in Palma das Pleyel-Klavier zu entreißen. Am Morgen war das Wetter recht gut und der Zustand der Wege brauchbar gewesen, aber während wir unsere Geschäe in der Stadt erledigten, fing es wieder an zu schütten. Bei uns beklagt man sich über den Regen, weiß aber gar nicht, was das ist: unsere längsten Regengüsse dauern keine zwei Stunden; eine Wolke folgt der
anderen, und zwischen den beiden gibt es immer eine kleine Pause. In Mallorca hüllt eine lückenlose Wolkendecke die Insel ein und bleibt dort liegen, bis sie sich bis zum letzten Tropfen entleert hat; das dauert vierzig, fünfzig Stunden, wenn nicht gar vier bis fünf Tage ohne Unterbrechung und ohne Nachlassen. Gegen Sonnenuntergang bestiegen wir wieder unseren birlocho in der Hoffnung, die Kartause nach drei Stunden erreicht zu haben. Wir brauchten sieben, und es fehlte nicht viel, so hätten wir mit den Fröschen auf dem Grund eines frisch gebildeten Tümpels übernachtet. Unser Kutscher war in einer mörderischen Stimmung; er brachte tausend Einwände gegen die Abfahrt vor: sein Pferd habe ein Hufeisen verloren, sein Maultier lahme, die Achse sei gebrochen und was noch! Wir kannten die Mallorquiner mittlerweile genug, um uns nicht beschwatzen zu lassen und forderten ihn auf, auf seine Deichsel zu steigen, wo er während der ersten paar Stunden das trübsinnigste Gesicht von der Welt aufsetzte. Er sang nicht und nahm keine Zigarre an; er fluchte nicht einmal auf seinem Maultier herum, was ein ganz schlimmes Zeichen war; er hatte den Tod im Herzen. Weil er uns bange machen wollte, hatte er von den sieben ihm bekannten Wegen den schlechtesten ausgesucht. Da dieser ständig abwärts ging, waren wir bald am Bach; wir fuhren rein, kamen aber nicht wieder
raus. Dem guten Bach hatte es in seinem Bett nicht mehr behagt; er war also rausgesprungen und hatte den Weg überflutet. Es gab keinen Weg mehr, dafür aber einen reißenden Strom, dessen schäumende Wasser uns mit lautem Getöse entgegenbrausten. Der arglistige Kutscher hatte mit unsrem Mangel an Schneid gerechnet; als er jedoch merkte, daß wir in unserem Vorsatz nicht wankten, verlor er seine Kaltblütigkeit und begann zu fluchen und zu schimpfen, daß der Himmel hätte einstürzen mögen. Die Kanäle aus Steinplatten, welche das Quellwasser nach Palma leiten, waren so angeschwollen, daß sie wie der Frosch in der Fabel geborsten waren. Und als das Wasser nicht mehr wußte wohin, hatte es sich zuerst in Pfützen, dann in Lachen und schließlich in Seen über das gesamte Land ausgebreitet. Bald wußte der Kutscher nicht mehr, welchem Heiligen er sich anbefehlen oder welchem Teufel er sich verschreiben sollte. Er bekam nasse Füße, was er wohl verdient hatte und weswegen wir ihn kaum bedauerten. Der Wagenkasten war dicht, und wir saßen noch im Trocknen; aber die Flut stieg von Minute zu Minute. Wir überließen uns unserem Schicksal, wurden fürchterlich gerüttelt und sackten in Löcher, von denen das letzte uns jedesmal als Gru bestimmt schien. Schließlich bekamen wir eine derartige Schlagseite, daß das Maultier stehenblieb, als wollte es sich sammeln, bevor es seinen Geist aufgab. Der Kutscher
stieg ab und schickte sich an, die Böschung des Weges zu erklimmen, die etwa in Augenhöhe lag, aber er hielt inne, als er im Licht der Dämmerung erkannte, daß es sich vielmehr um die Böschung des Kanals von Valldemosa handelte, der, zum Fluß geworden, sich hier und da in Kaskaden auf unseren Weg ergoß, aus dem unterhalb ebenfalls ein Fluß geworden war. Es war ein tragikomischer Augenblick. Ich hatte etwas Angst um mich, viel mehr jedoch um meinen Jungen. Ich schaute ihn an: er lachte über das Gesicht des Kutschers, wie der breitbeinig auf seiner Deichsel stand, den Abgrund mit den Blicken maß und keineswegs mehr aufgelegt war, sich über uns lustig zu machen. Als ich meinen Sohn so gelassen und fröhlich sah, faßte ich wieder Vertrauen zu Gott. Ich fühlte, daß der Junge instinktiv um sein Schicksal wußte, und verließ mich auf diese Ahnung, der Kinder zwar keinen Ausdruck geben können, die aber ihre Stirn wie eine Wolke oder ein Sonnenstrahl überzieht. Der Kutscher hatte eingesehen, daß er uns unmöglich unserem traurigen Geschick überlassen konnte. Er fand sich also damit ab, es mit uns zu teilen, und wurde plötzlich heroisch: »Habt keine Angst, Kinder!« sagte er in väterlichem Tone. Er stieß einen lauten Schrei aus und gab seinem Maultier die Peitsche; es strauchelte, ging in die Knie, stand auf, strauchelte nochmals und erhob sich schließ
lich halbertrunken. Der Karren legte sich auf die eine Seite: »Auf geht’s!«, auf die andere: »Auf geht’s!«; er knarrte und krachte unheimlich, machte erstaunliche Sätze und ging schließlich triumphierend aus der Prüfung hervor wie ein Schiff, das ein Riff berührt hat, ohne zu zerschellen. Wir schienen gerettet zu sein; wir waren auf dem Trockenen. Aber wir mußten den Versuch einer Seereise per Kutsche noch ein dutzendmal machen, ehe wir die Berge erreichten. Schließlich waren wir bei der Auffahrt zum Kloster angelangt. Hier aber begann das Maultier, das einerseits erschöp und andererseits vom Rauschen des Sturzbaches und des Windes verängstigt war, bis an den Rand des Abgrundes zurückzusetzen. Wir stiegen aus, um jeder an einem Rad zu schieben, während der Kutscher den Meister Langohr an den Löffeln zog. Wie o sich das gleiche eater wiederholte, kann ich nicht mehr sagen; jedenfalls hatten wir nach zwei Stunden keine zwei Kilometer Aufstieg gescha, und als sich das Maultier an allen Gliedern zitternd auf der Brücke hingestreckt hatte, entschlossen wir uns, Kutscher, Maultier und Wagen sich selbst zu überlassen und das letzte Wegstück zur Kartause zu Fuß zu machen. Das war kein geringes Unterfangen. Der steile Weg war zum reißenden Gießbach geworden. Man brauchte kräige Beine, um gegen ihn anzukämpfen. Andere kleinere Wasserstürze tosten von den
Felsen herab und überfielen uns plötzlich von rechts, so daß man o rasch unter ihnen durchlaufen oder auf Gedeih und Verderb durch sie durchspringen mußte, denn sie konnten ja jeden Augenblick unpassierbar werden. Es goß in Strömen; große Wolken, schwärzer als Tinte, verdeckten immer wieder die Scheibe des Mondes. Das zwang uns, die wir von grauen, undurchdringlichen Schatten umhüllt und von einem ungestümen Wind gebeugt waren, die wir spürten, wie sich die Baumkronen bis auf unsere Köpfe neigten, und die wir das Splittern der Tannen und das Rumpeln des Gerölls um uns herum hörten, stehen zu bleiben und zu warten, bis Jupiter, wie es ein Dichter scherzend ausdrückte, die Kerze geschnauzt hatte. In diesen Momenten zwischen Schatten und Licht hätten deine Maleraugen, Eugène, gesehen, wie sich Himmel und Erde abwechselnd verfinsterten und auellten, wobei die unheimlichsten und seltsamsten Reflexe und Silhouetten auraten. Wenn der Mond wieder in vollem Glanz schien, als wolle er von seinem nachtblauen, vom Sturm reingefegten Fleck aus den Himmel aufs neue regieren, dann jagten dunkle Wolken wie gierige Geister heran, um ihn in die Falten ihrer Leichentücher zu hüllen. Sie rasten über ihn hin und rissen ab und an auf, um ihn uns in seiner ganzen Schönheit und Hilfsbereitscha zu zeigen. Dann gab uns das Gebirge mit seinen Wasserstürzen und vom Sturm entwurzelten Bäu
men eine Vorstellung vom Chaos. Wir dachten an jenen wundervollen Hexensabbat, von dir im Traum gesehen und mit einem Pinsel hingeworfen, den Du in die roten und blauen Wogen des Flusses Phlegeton in der Unterwelt getaucht hattest. Und kaum hatten wir dieses Höllenbild betrachtet, zu dem die Wirklichkeit vor uns Modell stand, als der Mond, von den Lugeistern verschlungen, entschwand und uns in einer bläulichen Vorhölle zurückließ, wo wir selbst wie Wolken zu schweben schienen, weil wir sogar den Boden nicht erkennen konnten, auf den wir unsere Füße setzten. Schließlich erreichten wir den gepflasterten Weg am letzten Berg und waren außer Gefahr, weil wir nun aus dem Bachbett heraus waren. Wir waren todmüde und barfuß oder doch nahezu; drei Stunden hatten wir zum letzten Stück gebraucht. Aber das Wetter wurde wieder schön, und der Dampfer konnte seine wöchentlichen Fahrten nach Barcelona wiederaufnehmen. Der Zustand unseres Kranken schien eine Schiffsreise nicht zuzulassen, ebensowenig jedoch eine weitere Woche Aufenthalt in Mallorca. Unsere Lage war entsetzlich; es gab Tage, wo ich jede Hoffnung und allen Mut verlor. Um uns zu trösten, traktierten uns Maria Antonia und ihre Dorumpane im Chor mit den erbaulichsten Gesprächen in Hörweite über das Leben nach dem Tode. ›Dieser Schwindsüchtige
wird zur Hölle fahren, weil er erstens schwindsüchtig ist und zweitens nicht zur Beichte geht. – Deswegen wird er von uns auch nicht in geweihter Erde begraben, wenn er gestorben ist. Niemand hier wird ihn beerdigen wollen; seine Freunde sollen schauen, wie sie damit zurechtkommen. Man wird ja sehen, wie sie sich aus der Affäre ziehen; ich jedenfalls will nichts damit zu tun haben. – Ich auch nicht. – Ich auch nicht, Amen!‹ Endlich ging die Reise los; welche Gesellscha wir hatten und wie man uns auf dem Schiff behandelte, habe ich schon beschrieben. Im Hafen von Barcelona angelangt, eilte es uns derart, mit dieser unmenschlichen Rasse ein und für alle Male Schluß zu machen, daß ich bis zur Ausschiffung nicht warten konnte. Ich schrieb Monsieur Belvès, dem Kommandanten des französischen Flottenpostens, einen Brief, den ich mit Ruderboot überbringen ließ. Unmittelbar darauf holte er uns mit einer Barkasse ab und brachte uns an Bord des Méléagre. Als wir den Fuß auf dieses schmucke ZweimasterKriegsschiff setzten, das sauber und elegant war wie ein Salon, und als wir uns von intelligenten und freundlichen Gesichtern umgeben sahen und die großzügigen und zuvorkommenden Aufmerksamkeiten des Kapitäns, des Arztes, der Offiziere und der gesamten Besatzung entgegennahmen, als wir dann auch noch die Hand des exzellenten und
geistvollen französischen Konsuls, Monsieur Gautier d’Arc, drückten, da machten wir Freudensprünge auf der Brücke und riefen aus vollem Herzen: ›Vive la France!‹ Es kam uns vor, als wären wir von einer Weltumseglung heimgekehrt und nach dem Besuch der Wilden in Polynesien endlich wieder in der Zivilisation angelangt. Und die vielleicht einfältige, doch gewiß aufrichtige Erfahrung von diesem Reiserapport: der Mensch ist nicht dafür geschaffen, mit den Bäumen und Steinen, dem klaren Himmel und dem blauen Meer, mit Blumen und Bergen zu leben, sondern mit seinesgleichen, den Menschen. In den stürmischen Tagen der Jugend bildet man sich ein, Einsamkeit sei die sicherste Zuflucht vor Widrigkeiten, das beste Pflaster für Wunden aus der Schlacht. Das ist ein schwerer Irrtum, und die Erfahrung lehrt uns, daß bei Unfähigkeit, mit seinesgleichen in Frieden zu leben, keine Begeisterung für Poesie und kein Kunstgenuß imstande sind, den Abgrund in der Tiefe unseres Herzens zuzuschütten. Ich habe stets vom Leben auf einer einsamen Insel geträumt, und jeder aufrichtige Mensch wird bekennen, daß er die gleiche Sehnsucht gehabt hat. Aber glaubt mir, meine Freunde, unsere Herzen sind zu liebebedürig, als daß wir ohne einander auskommen könnten, und das Beste, was wir tun
können, ist, uns gegenseitig beizustehen, denn wir sind wie Kinder von einer Brust, die sich miteinander anlegen und zanken, sich sogar verprügeln und doch untrennbar sind.
Geschichte meines Aufenthalts auf Mallorca
Im Jahre entschloß ich mich, Maurice einen milderen als unseren heimischen Winter zu verschaffen. Ich hoe ihn so vor einer Wiederkehr der grausamen rheumatischen Beschwerden des vergangenen Jahres zu bewahren. Gleichzeitig wollte ich einen ruhigen Ort finden, an dem ich mit ihm, aber auch mit seiner Schwester, arbeiten könnte, wo aber auch meine Arbeit ohne Überanstrengung zu ihrem Recht käme. Wenn man niemanden sieht, gewinnt man viel Zeit und braucht sich nicht so viele Nächte um die Ohren zu schlagen. Während ich meine Pläne und Vorbereitungen für die Abreise machte, sagte mir Chopin, den ich täglich sah und dessen Genie und Charakter ich zärtlich liebte, zu verschiedenen Malen, daß er selbst bald von seiner Krankheit geheilt sein würde, wenn er an Maurices Stelle sein könnte. Ich hielt das für richtig; es war aber falsch. Nicht anstelle von Maurice, sondern neben ihm nahm ich ihn in die Reisegesellscha auf. Seine Freunde rieten ihm seit langem, eine Weile im Süden Europas zu verbringen. Man hielt ihn für schwindsüchtig. Dr. Gaubert untersuchte ihn und schwor mir, er sei es nicht. ›Sie werden bestimmt seine Rettung sein, wenn
Sie ihm frische Lu, Spaziergänge und Ruhe verschaffen.‹ Da man sehr wohl wußte, daß Chopin sich niemals dazu entschließen würde, Paris und sein gesellschaliches Leben im Stich zu lassen, wenn ihn nicht ein von ihm geliebter und ihn liebender Mensch entführe, baten mich seine Freunde inständig, ihm seinen zu so gelegener Zeit und so unverho geäußerten Wunsch nicht abzuschlagen. Wie sich herausstellen sollte, hätte ich ihrem Ansinnen und meiner eigenen Besorgnis besser nicht nachgegeben. Es reichte wahrhaig, wenn ich allein mit zwei Kindern ins Ausland verreiste, von denen eines schon krank war und das andere ein Unband strotzend von Gesundheit; wozu sollte ich da noch Herzensangst und ärztliche Verantwortung auf mich laden. Chopin war allerdings in einer gesundheitlichen Verfassung, die keinen Anlaß zur Beunruhigung gab. Ich bat ihn jedoch, seine Standfestigkeit genau zu prüfen, denn er hatte sich seit Jahren niemals ohne Schaudern vorgestellt, Paris, seinen Arzt, seine Bekanntscha, ja sogar seine Wohnung und sein Klavier zu verlassen. Er stand unter dem Zwang der Gewohnheit, und jede noch so geringfügige Veränderung in seinem Leben empfand er als schrecklichen Eingriff. Ich machte mich mit meinen Kindern auf den Weg und sagte ihm, ich würde in Perpignan einige Tage
Station machen, wenn ich ihn dort nicht schon vorfände; käme er nicht innerhalb einer bestimmten Frist an, würde ich nach Spanien weiterreisen. Mallorca hatte ich auf Empfehlung von Leuten gewählt, die sich einbildeten, Klima und Verhältnisse auf der Insel gut zu kennen. Sie hatten aber in Wahrheit keine Ahnung. Unser gemeinsamer Freund, Don Juan Mendizabal, ein großartiger Mann und berühmt als ehemaliger Ministerpräsident und jetziger spanischer Botschaer in Paris, mußte nach Madrid reisen. Er hatte Chopin angeboten, ihn bis zur Grenze mitzunehmen, falls er seinen Reisetraum verwirklichen sollte. Mitte November brach ich mit den Kindern und einem Dienstmädchen auf. Nach Besuchen bei Freunden und Ausflügen nach Vaucluse und Pont du Gard erreichten wir über Lyon, Avignon und Nîmes schließlich Perpignan. Schon am folgenden Tag traf auch Chopin ein; er hatte die Reise sehr gut überstanden. Auf der Fahrt mit dem Schiff nach Barcelona und von dort nach Palma hatte er ebenfalls kaum zu leiden. Bei schönem Wetter und ruhiger See spürten wir, wie es von Stunde zu Stunde wärmer wurde. Maurice ertrug den Seegang fast so gut wie ich. Solange weniger gut. Als aber die steile Küste der Insel mit ihren Zacken von Palmen und Agaven in der Morgensonne auauchte, begann sie fröhlich und frisch auf Deck herumzutollen.
Über Mallorca gibt es hier wenig zu sagen, denn ich habe ja ein ganzes Buch über diese Reise geschrieben und darin auch von den Ängsten berichtet, die ich um den Kranken in meiner Begleitung auszustehen hatte. Auf den Einbruch des Winters, der sich ganz unvermittelt durch strömenden Regen bemerkbar machte, reagierte Chopin ebenso plötzlich mit allen Symptomen einer Lungenentzündung. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn Maurice wieder vom Rheumatismus befallen worden wäre; keiner der verfügbaren Ärzte flößte uns Vertrauen ein, und selbst die einfachsten Medikamente waren kaum aufzutreiben. Sogar der Zucker war o von schlechter Qualität und bekam uns nicht. Maurice, der von morgens bis abends mit seiner Schwester Wind und Wetter trotzte, war Gott sei Dank rasch wieder völlig gesund. Weder Solange noch ich scheuten die überschwemmten Wege und die plötzlichen Regengüsse. In einer verlassenen und teils zerfallenen Kartause hatten wir eine sichere und pittoreske Bleibe gefunden. In den Morgenstunden gab ich den Kindern Unterricht und ließ sie den Rest des Tages stromern, während ich arbeitete; abends streunten war bei Mondenschein miteinander durch die Klostergänge oder lasen in unseren Zellen. In dieser romantischen Einsamkeit ließe sich trotz der Unkultur im Lande und trotz der diebischen Veranlagung seiner Bewohner ein
recht vergnügliches Leben führen, hätten nicht der traurige Anblick der Leiden unseres Gefährten und gelegentlich sogar ernstliche Besorgnis um sein Leben jede Freude an der Reise und alle Erholung geraubt. Als Kranker war der arme große Künstler unausstehlich. Was ich befürchtet, leider aber nicht gründlich durchdacht hatte, traf ein. Er verzagte vollkommen. Obwohl er sein Leiden recht mutig ertrug, konnte er seiner erregten Phantasie nicht Herr werden. Das Kloster war ein Ort der Schrekken und der Geister für ihn, auch wenn er in guter Verfassung war. Er sprach nicht darüber, aber ich ahnte es. Wenn ich mit den Kindern von unseren nächtlichen Streifzügen durch die Klosterruinen zurückkam, fand ich ihn um zehn Uhr bleich an seinem Klavier; sein Blick war verstört, und es schien, als stünden seine Haare zu Berge. Er brauchte eine Weile, bis er uns erkannte. Dann brach er in ein gezwungenes Lachen aus und spielte uns herrliche Musik vor, die er gerade komponiert hatte, oder genauer gesagt die Vertonung von schrecklichen und quälenden Vorstellungen, die sich seines Unterbewußtseins in dieser Stunde der Einsamkeit, des Trübsinns und des Entsetzens bemächtigt hatten. Unter diesen Umständen hat er die schönsten seiner kurzen Stücke geschaffen, die er bescheiden Präludien nannte. Es sind Meisterwerke. Einige
von ihnen klingen, als habe er sie unter dem quälenden Eindruck eines Spuks geschrieben, der ihm einen Zug längst verstorbener Mönche beim Grabgesang vorgaukelte. Andere sind melancholisch und lieblich. Ihre Eingebung verdankte er den sonnigen und gesunden Stunden, wenn das fröhliche Lärmen der Kinder durchs Fenster zu ihm drang, wenn ferne Gitarrenklänge sein Ohr erreichten, wenn er Vogelstimmen im feuchten Laub hörte, und wenn er kleine, blasse Rosen sah, deren Knospen aus dem Schnee herausragten. Andere wieder sind von düsterer Traurigkeit; sie bezaubern das Ohr und zerreißen das Herz. Ein Präludium ist darunter, welches ihm an einem scheußlichen Regenabend einfiel und das einem das Herz schwer macht. Maurice und ich hatten ihn am Morgen in recht gutem Zustand verlassen, um in Palma einige Besorgungen zu machen. Währenddessen setzte strömender Regen alles unter Wasser. Wir brauchten sechs Stunden für die drei Meilen unseres Rückweges durch den Morast und erreichten unser Ziel nach unsäglichen Gefahren mitten in der Nacht, ohne Schuhe, von unserem Kutscher im Stich gelassen. Weil wir wußten, daß unser Kranker sich um uns sorgen würde, beeilten wir uns. Er war tatsächlich in großer Sorge, aber seine Unruhe war zu stiller Verzweiflung erstarrt, und schluchzend spielte er sein wundervolles Präludium. Als er uns in den Raum treten sah, fuhr
er auf und stieß einen lauten Schrei aus. Mit irrem Blick und in seltsamem Tonfall sagte er: ›Ach! Ich wußte ja, daß ihr tot seid!‹ Als er sich wieder gefaßt hatte und den Zustand sah, in dem wir uns befanden, wurde ihm schlecht bei der Vorstellung der Gefahren, denen wir ausgesetzt gewesen waren. Später vertraute er mir an, er habe beim Warten auf uns all das schon in der Phantasie gesehen und sich, unfähig zwischen Trug und Wirklichkeit zu unterscheiden, mit Klavierspielen beruhigt, gleichsam betäubt; er sei überzeugt gewesen, selbst tot zu sein. Er kam sich vor, als wäre er in einem See ertrunken; schwere, eisige Wassertropfen fielen ihm im Takt auf die Brust. Als ich ihn auorchen hieß, denn man konnte tatsächlich den gleichmäßigen Takt von Tropfen hören, die auf das Dach fielen, bestand er darauf, das nicht gehört zu haben. Er wurde sogar ärgerlich, als ich von Tonmalerei sprach, und verwahrte sich heig und mit Recht gegen solche einfältigen musikalischen Nachahmungen von akustischen Eindrücken. Sein Genius war erfüllt von geheimnisvollen Harmonien der Natur, die er durch verfeinerte Äquivalente in seine musikalische Sprache übertrug und nicht etwa durch sklavische Wiedergabe wahrgenommener Töne. Im Präludium, das er an jenem Abend komponierte, sind die Regentropfen zwar vorhanden, die auf das Dach der Kartause schlugen, aber sie hatten sich durch sei
nen tonschöpferischen Geist zu Tränen gewandelt, die vom Himmel auf sein Herz tropen. Chopins Genius ist unsagbar reich an Gefühlen und Stimmungen. Mit einem einzigen Instrument spricht er die Sprache der Unendlichkeit. In zehn Notenzeilen, die selbst für ein Kind nicht schwer zu spielen sind, drängt er o erhabene Poesie, kravolle Dramatik. Nie hat er ein gewaltiges Instrumentarium nötig, um seinem Genius Stimme zu verleihen. Er braucht weder Saxophone und Tuben, um zu erschrecken, weder Kirchenorgeln noch menschliche Kehlen, um andächtig glaubend zu machen und zu begeistern. Die Masse kannte ihn nicht und kennt ihn auch jetzt noch nicht. Populär können seine Werke erst werden, wenn Geschmack und Kunstverständnis beträchtliche Fortschritte gemacht haben. Es wird der Tag kommen, da man seine Musik ohne die geringste Veränderung des Klavierparts orchestrieren wird; dann wird alle Welt auch erkennen, daß sein Genie ebenso groß, umfassend und fachkundig war, wie das der größten Meister, deren Schöpfungen er sich einverleibt hatte, und daß er sich trotzdem eine Individualität bewahrte, die exquisiter ist als die Bachs, kravoller als die Beethovens und dramatischer als die Webers. Er ist alle drei miteinander und dennoch er selbst, das heißt, feiner im Geschmack, herber im Pathos, quälender im Schmerz. Nur Mozart ist ihm überlegen, denn Mozart be
saß zusätzlich die Ausgeglichenheit des Gesunden und damit die Fülle des Lebens. Chopin war sich seiner Stärke und seiner Schwäche bewußt. Seine Schwäche lag gerade im Übermaß jener Stärke, die er nicht bändigen konnte. Er vermochte es nicht wie Mozart – und nur er konnte es –, ein Meisterwerk in einer gleichmäßigen Klangfarbe zu komponieren. Seine Musik ist voller Nuancen und Überraschungen, bisweilen bizarr, geheimnisvoll und gequält. Obwohl er eine Abscheu vor dem Unbegreiflichen hatte, schwemmte ihn die Flut der Gefühle doch unbewußt in Gefilde, in denen nur er sich auskannte. Ich war für ihn vermutlich ein schlechter Kritiker – er konsultierte mich wie Molière sein Dienstmädchen –, weil ich ihn so genau kannte und deshalb mich mit allen Fibern seines Wesens zu identifizieren vermochte. Im Laufe von acht Jahren, in denen ich täglich in das Geheimnis seiner Inspiration und seines musikalischen Meditierens eingeweiht wurde, enthüllte mir sein Klavierspielen den Fluß und den Stau, den Sieg und die Marter seiner Gedanken. Ich verstand ihn, wie er sich selbst verstand; ein außenstehender Kritiker hätte ihn sicher veranlaßt, sich allgemeinverständlicher auszudrücken. In seiner Jugend hatte Chopin zuweilen fröhliche, kugelrunde Einfalle gehabt: polnische Lieder und Romanzen von bezaubernder Schlichtheit und An
mut, die noch unveröffentlicht sind. Auch einige seiner späteren Kompositionen sind wie kristallklare Quellen, in denen sich die strahlende Sonne spiegelt. Aber wie selten und kurz sind diese beschaulichen Anwandlungen! Das Trillern der Lerche im Blau und das würdevolle Gleiten des Schwans auf spiegelglattem See sind ihm wie Blitze von Schönheit aus heiterem Himmel. Der klagende Hungerschrei des Adlers auf den Felsen Mallorcas, der schrille Pfiff des Nordostwindes und die trostlose Gestalt der schneebehangenen Eiben versetzten ihn länger und nachdrücklicher in traurige Laune, als ihn der Du der Orangenblüten, die anmutigen Schlingen der Weinranken und der maurische Gesang der Feldarbeiter froh stimmten. So stand es um ihn in allen Dingen. Während er das eine Mal für innige Neigungen und das Lächeln des Geschicks empfänglich war, verknitterten ihn ein anderes Mal tage- und wochenlang die Tapsigkeit einer sonst gleichgültigen Person oder unbedeutende Widrigkeiten des täglichen Lebens. Und seltsamerweise setzte ihm echter Schmerz weniger zu als ein kleines Wehweh; es schien, als könnte er Leid erst einmal nicht fassen, und es dann nicht empfinden. Es bestand keinerlei Beziehung zwischen der Tiefe seiner Gefühle und deren Ursache. Seinen kläglichen Gesundheitszustand ertrug er heldenha bei ernstlicher Gefahr, quälte sich jedoch fürchterlich mit harmlosen Un
päßlichkeiten herum. Das war und ist wohl das Los aller Wesen mit überfeinertem Nervensystem. Mit seiner Überempfindlichkeit beim geringsten Anlaß, mit seinem Abscheu vor dem Elend und mit seinem Bedarf an raffiniertem Komfort war ihm natürlich Mallorca schon nach wenigen Krankheitstagen ein Greuel; andererseits war er zu schwach für eine Rückreise. Als es ihm besser ging, war das Wetter so stürmisch, daß der Dampfer drei Wochen lang nicht auslaufen konnte; und er war das einzige Verkehrsmittel zum Festland, wenn man ihn überhaupt als solches bezeichnen wollte. Unser Aufenthalt in der Kartause von Valldemosa war infolgedessen eine Qual für ihn und eine Marter für mich. Obwohl er in der Pariser Gesellscha freundlich, munter und charmant war, vermochte einen Chopin als Kranker in diesem engen und abgeschlossenen Kreis zur Verzweiflung zu bringen. Niemand konnte vornehmer, feinfühliger, selbstloser sein, dabei verläßlicher und loyaler in geschälichen Dingen, geistreicher im fröhlichen Beisammensein, kundiger und klüger in seinem Fachgebiet. Andererseits kam ihm leider auch niemand an Launenhaigkeit, Argwohn und fieberhaer Phantasie gleich; er war so hochgradig empfindlich, daß es fast unmöglich war, ihn nicht zu verletzen, und so anspruchsvoll, daß man ihn kaum zufriedenstellen konnte. Aber all das war nicht seine Schuld, sondern lag an seiner Krankheit.
Seine Seele wurde lebendig geröstet; ein zerknittertes Rosenblatt, der Schatten einer Fliege konnten ihn Blut speien lassen. Abgesehen von mir und den Kindern war ihm alles unter spanischem Himmel unsympathisch und zuwider. Er verging viel mehr vor ungeduldiger Erwartung der Abreise als vor Verlangen nach baldiger Beendigung der widrigen Lebensumstände. Endlich im Februar konnte die Überfahrt nach Barcelona und von dort nach Marseille vonstatten gehen. Ich schied von der Kartause mit aus Freude und Schmerz gemischtem Gefühl. Allein mit meinen Kindern hätte ich dort gern zwei oder drei Jahre zugebracht. Wir hatten einen ganzen Koffer voller Schul- und Handbücher, und mir blieb Zeit genug, um den beiden die notwendigen Erklärungen zu geben. Der Himmel wurde herrlich blau und die Insel märchenha schön. Unsere romantische Unterbringung machte uns viel Spaß. Maurice war sichtlich zu Kräen gekommen, und wir drei amüsierten uns nur über die paar Entbehrungen. Wieviel Zeit würde ich dann für ungestörte Arbeit haben! Auch so hatte ich wichtige philosophische und historische Bücher gelesen, wenn ich nicht mit Krankenpflege beschäigt war. Der Kranke seinerseits wäre unwiderstehlich liebenswert gewesen, hätte er gesund werden können. Mit welcher Poesie erfüllte seine Musik den heiligen Ort selbst in den Augenblicken seiner
schmerzvollsten Unrast. Die Kartause war so schön unter ihren Efeuranken, das Tal so wundervoll in seiner Blütenpracht, die Lu so rein in unseren Bergen, das Meer so blau am Horizont! Es ist der schönste Ort, an dem ich je gewohnt habe, und einer der schönsten, die ich je sah. Und ich hatte kaum etwas davon gehabt! Da ich nicht wagte, den Kranken allein zu lassen, konnte ich mich mit meinen Kindern nur für eine kurze Weile am Tage entfernen, und o überhaupt nicht. Abgespannt und unter dauerndem Druck war ich selbst ganz krank geworden.
Bibliographie Bildquellen
Bibliographie George Sand, Un hiver à Majorque, Bände, Paris, Hippolyte Souverain (erste autorisierte Buchausgabe) Un hiver à Majorque in George Sand, Oeuvres autobiographiques Bd. , mit Anmerkungen herausgegeben von Georges Lubin. Paris, Bibliothèque de la Pléiade, Gallimard (beste moderne Ausgabe) George Sand, Histoire de ma vie, Bände, Paris, Victor Lecou / Histoire de ma vie in George Sand, Oeuvres autobiographiques, Bd. und , mit Anmerkungen herausgegeben von G. Lubin. Paris, Bibliothèque de la Pléiade, Gallimard / (beste moderne Ausgabe) George Sand, Geschichte meines Lebens, deutsche Ausgabe in Bänden, Leipzig, Wigand . . Aufl. ibid. J.-B. Laurens, Souvenirs d’un voyage d’art à l’ile de Majorque, Paris, Bertrand et Gihaut . Mit Lithographien Grasset de Saint-Sauveur, Voyage dans les îles Baléares et Pithiuses, Paris, Colin André Maurois, Lélia ou la vie de George Sand, Paris, Hachette ; deutsche Ausgabe: Dunkle Sehnsucht, Das Leben der George Sand, München, List
Bildquellen Baugniet Porträt der George Sand, Lithographie (): Seite dieser Ausgabe Manuel de Cuendias et V. de Féréal L’Espagne pittoresque, artistique et monumentale, Paris, : Seite (Nanteuil) dieser Ausgabe Carlo Davillier L’Espagne, Paris, : Seite (Doré), (Trichoin), (Doré), (Doré), (Doré) und (Doré) dieser Ausgabe J.-B. Laurens Souvenirs d’un voyage à l’île de Majorque, Paris, : Seite bis dieser Ausgabe Les Physiologies Parisiennes, Paris, / : Seite und (beide Janet-Lange) dieser Ausgabe Miguel de Cervantès Saavedra Don Quichotte de la Manche, Paris, / : Seite und (beide Johannot) dieser Ausgabe J. H. Bernardin de Saint-Pierre Paul und Virginie, Pforzheim, : Seite , , , (Huet) dieser Ausgabe George Sand Oeuvres illustrèes, Paris, / : Seite , , , und (allesamt nicht signiert) dieser Ausgabe
Die Originalausgabe erschien bei Hippolyte Souverain, Paris, unter dem Titel ›Un Hiver a Majorque‹ Aus dem Französischen von Ulrich C. A. Krebs, Overijse (Belgien) Ausstattung Hans Peter Willberg, Schwickershausen Lithografien Paja-Klischees, Frankfurt am Main Satz und Druck Richard Wenzel, Goldbach bei Aschaffenburg Bindearbeiten G. Lachenmaier, Reutlingen Papier g holzfrei weißes Werkdruckpapier der Papierfabrik Scheufelen Oberlenningen Printed in Germany ---